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German Pages 396 Year 2014
Bettina Habsburg-Lothringen (Hg.) Dauerausstellungen
Band 3
Editorial Das Museum, eine vor über zweihundert Jahren entstandene Institution, ist gegenwärtig ein weltweit expandierendes Erfolgsmodell. Gleichzeitig hat sich ein differenziertes Wissen vom Museum als Schlüsselphänomen der Moderne entwickelt, das sich aus unterschiedlichen Wissenschaftsdisziplinen und aus den Erfahrungen der Museumspraxis speist. Diesem Wissen ist die Edition gewidmet, die die Museumsakademie Joanneum – als Einrichtung eines der ältesten und größten Museen Europas, des Universalmuseum Joanneum in Graz – herausgibt. Die Edition stellt eine Museologie als Analyse und Kritik zur Verfügung, die die Praxis der Museumsarbeit inspiriert und die Theorie erweitert. Dort, wo die Praxis blind zu werden droht gegenüber ihren Zielen und Voraussetzungen, lohnt sich die Erinnerung an das, was sie verdrängt hält. Die Reihe wird herausgegeben von Peter Pakesch, Wolfgang Muchitsch und Bettina Habsburg-Lothringen.
Bettina Habsburg-Lothringen (Hg.)
Dauerausstellungen Schlaglichter auf ein Format
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2012 transcript Verlag, Bielefeld
Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Redaktion: Bettina Habsburg-Lothringen, Sophie Koller, Jennifer Carvill Lektorat: Jörg Eipper-Kaiser Grafik: Sophie Koller Übersetzung: Christof Huemer (engl.), Godehard Janzing (franz.) Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1873-0 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
Inhalt
Dauerausstellungen. Erbe und Alltag Bettina Habsburg-Lothringen | 9
TRADITION
UND
K ONTEXT
Zur Geschichte kulturhistorischer Dauerausstellungen im 19. und frühen 20. Jahrhundert Alexis Joachimides | 21 „... nur für Kunsthistoriker und sonstige Sonderlinge“. Museologische Debatten zu Dauerausstellungen um 1900 Martina Griesser-Stermscheg, Monika Sommer | 33 Dauer ausstellen? Ein Versuch über Zeitbotschaften in Jüdischen und anderen Museen Sabine Offe | 45 Archäologiemuseen. Erlebnisse zwischen Natur und Kunst Barbara Porod | 55 Natur ausstellen. Geschichte und Gegenwart einer musealen Aneignung Bettina Habsburg-Lothringen | 67 Ethnografische Museen. Spannungslinien Wayne Modest | 81 Technikmuseen als „Orte der Orientierung“ für die Veränderungsprozesse ihrer Zeit Barbara Wenk | 91 Im Fluchtpunkt der Mensch. Beobachtungen in Medizinhistorischen Museen Michael Fehr | 97
Z UR AKTUELLEN D AUERAUSSTELLUNGSPRAXIS . G ESPRÄCHE Vom Ende vermeintlich ganzheitlicher Erzählungen ... Bernhard Purin, Jüdisches Museum München (D) | 114 Udo Gößwald, Museum Neukölln, Berlin (D) | 126
... und der Notwendigkeit einer Schaffung narrativer Strukturen Heike Gfrereis, Literaturmuseum Marbach (D) | 136 Frank Steinheimer, Projekt Naturkundliches Universitätsmuseum Halle (D) | 146
Visualisierung und Personalisierung abstrakter Inhalte Floris Mulder, Het Dolhuys, Haarlem (NL) | 158 Laura Whalley, Imperial War Museum North, Manchester (GB) | 166
Verbindung von Wissenschaft & Kunst Clementine Deliss, Weltkulturen Museum Frankfurt am Main (D) | 176 Claude d’Anthenaise, Musée de la Chasse et de la Nature, Paris (F) | 186 Ken Arnold, Wellcome Collection, London (GB) | 196 Anke te Heesen, Humboldt-Universität zu Berlin (D) | 208
Strategien und Methoden als konzeptionelle Leitlinie Claudia Dillmann, Deutsches Filmmuseum, Frankfurt/Main (D) | 216 Josef Mühlenbrock, LWL-Museum für Archäologie, Westfälisches Landesmuseum, Herne (D) | 224
Perspektivenwechsel Barbara Porod, Archäologiemuseum, Universalmuseum Joanneum, Graz (A) | 234 Beatrice Tobler, Museum für Kommunikation Bern (CH) | 242
Konzepte aus der Bevölkerung. Konzepte für die Bevölkerung Martin Bellamy, Kelvingrove Art Gallery and Museum, Glasgow (GB) | 250 Janet Dugdale, Museum of Liverpool (GB) | 258 Hannes Geisser, Naturmuseum Thurgau, Frauenfeld (CH) | 266
B EARBEITUNGEN
BESTEHENDER A UFSTELLUNGEN UND TEMPORÄRE I NTERVENTIONEN Das Pitt Rivers Museum, Oxford Jeremy Coote | 278 Erbe und Idee: Das Haus-Museum als Objekt Lutz Becker | 290 Weniger ist mehr. Die Neugestaltung der Dauerausstellung „Glanz des Barock. Sammlung Ludwig in Bamberg“, 1995/2005 Regina Hanemann | 306 Vom Landesmuseum zum TECHNOSEUM – mehr als ein neuer Name! Thomas Herzig | 314 Kann eine heilige Kuh sprechen lernen? Szenarien zum steirischen Trachtensaal im Grazer Volkskundemuseum und die kulturwissenschaftliche Pflicht, Dinge beim Namen zu nennen Eva Kreissl | 324 Dauer im Wechsel in Ausstellungen. Der multimediale Museumsführer im Literaturmuseum der Moderne Ellen Strittmatter | 336 Universelles Design in Ausstellungen Doris Prenn | 346 Flexible Dauer? Beobachtungen zum erwartungsbeladenen Spiel der Differenz Roswitha Muttenthaler | 354
Autorinnen und Autoren | 391
Dauerausstellungen. Erbe und Alltag Bettina Habsburg-Lothringen
Dauerausstellungen1 hat es in Museen, wie auch Depots, Studiensammlungen und Sonderausstellungsbereiche nicht immer gegeben. Sie wurden im Verlauf der Museumsgeschichte mit einer Vergrößerung der Sammlungen und einer inhaltlichen Ausdifferenzierung sowie Öffnung der Häuser erst herausgebildet und sie haben sich, wie die Museen insgesamt, in ihren Funktionen und Erscheinungsformen durchaus immer wieder verändert. Obwohl die Bandbreite dessen, was heute unter dem Begriff Dauerausstellung gefasst wird, enorm ist und von objektbestimmten, klassifizierenden Aufstellungen bis zu inszenierten und auf Teilhabe angelegten Präsentationen reicht, trifft doch folgende Charakterisierung für einen Gutteil dieser zu: In Dauerausstellungen werden repräsentative Objekte einer musealen Sammlung dauerhaft einer breiten Öffentlichkeit, einem größtmöglichen Publikum zugänglich gemacht. Nach innen und außen gelten sie als wichtig für die Identität von Museen. Sie sind „Visitenkarte“ eines Hauses und prägen das Museums- und Selbstverständnis jener, die in einem Museum arbeiten, wesentlich mit. Das Museum als Institution wird unter anderem über ihr Vorhandensein definiert. Bestimmte gesellschaftliche Funktionen des Museums, wie jene Sacharchiv oder Gedächtnisspeicher zu sein, werden mit den ständigen Ausstellungen assoziiert. Dauerausstellungen sind in ihrer Kontinuität berechenbar, was sie für bestimmte Gruppen wie Lehrer/innen und Touristinnen/Touristen berechenbar macht. Sie sind im Umfang zumeist komplexer und räumlich größer angelegt als temporäre Schauen. Dafür sind diese beschränkter und reduzierter in ihren Konzepten und Designs sowie der sozialen Praxis, die sie nahe legen. Museologisch betrachtet haftet vielen Dauerausstellungen, wie es Michael Fehr2 beschreibt, eine gewisse Problematik an: Zeitlos-überzeitlich konzipiert und präsentiert, suggerieren sie eine dauerhaft gültige Deutung von Dingen und die Möglichkeit des objektiven Blicks. Sie verleugnen die Dynamik eines Museums und berauben es seines eigenen historischen Moments. Die Legitimität einzelner Objekte im Rahmen einer permanenten Präsentation wird nicht diskutiert und ihre vielschichtigen Bedeutungsmöglichkeiten zugunsten eines stimmigen Gesamteindrucks ignoriert. In ständigen Ausstellungen zeigt sich das Repräsentationsbedürfnis
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gesellschaftlicher Eliten, wird der Wunsch nach zum Beispiel Geschichtskontrolle besonders deutlich, oft mit dem Resultat gezähmter Historienschauen ohne Positionen und Profil. Dem Laien erschließt sich all das nur bedingt. Problematisch scheinen Dauerausstellungen auch für das Museum als Betrieb: Das Interesse von Publikum und Medien richtet sich auf das Neue. Was sich wie ständige Ausstellungen durch Kontinuität charakterisieren lässt, findet die Aufmerksamkeit nicht. Ist eine neue oder erneuerte Dauerausstellung einmal eröffnet, scheint sie keinen weiteren Artikel, keinen zweiten Besuch mehr wert. In resignativer Anerkennung dieses Umstandes investieren Museen in rasch wechselnde, temporäre Sonderausstellungen, was sie finanziell und organisatorisch (über-)fordert. Diese wechselnden Ausstellungen sind im Regelfall einem Thema bzw. Teilaspekten eines Themas gewidmet, zu dem sie neue wissenschaftliche Erkenntnisse vermitteln oder das sie unter neuer Perspektive vorstellen. Nur auf temporäre Gültigkeit hin angelegt, dürfen Sonderausstellungen, wie es scheint, konzeptionell und gestalterisch experimenteller sein. So wird in ihnen teils bewusst auf klassische museale Bedeutungsträger verzichtet, kühn die Fragestellungen und Perspektiven einzelner Disziplinen oder die Wissenschaft mit der Kunst verbunden. Sonderausstellungen spielen mit den Konventionen musealer Rezeption und sind beispielsweise gezielt auf Interaktion, auf Dialog und Teilhabe angelegt. In ihren Gestaltungskonzepten sind sie von den Lösungen und Strategien anderer Raumund Bild-Medien inspiriert, sie wirken offen gegenüber technischer und medialer Innovation und sind teilweise stark inszeniert. Sonderausstellungen tragen eher die persönlichen Handschriften von Kuratorinnen/Kuratoren und Gestalterinnen/ Gestaltern, als dies bei ständigen Ausstellungen der Fall ist. Dauerausstellungen führen traditionell das Objekt in ihrem Zentrum und folgen konzeptionell der Klassifikation oder der Chronologie: Wie Jana Scholze3 beschreibt, werden im Kontext klassifizierender Ausstellungen exemplarische, weitgehend austauschbare Objekte als Vertreter wissenschaftlicher Systeme genutzt. Die Objekte werden dabei auf ihre formalen und funktionellen Eigenschaften reduziert und mit Informationen zu Fundort, -zeit und -situation etikettiert. Individuelle Geschichten, soziale, regionale, kulturelle Kontexte bleiben unbesprochen. Dank ihrer gedrängten Präsentation, ihrer feinsäuberlich-separierten Ordnung in Vitrinen und Ausstellungsräumen erwecken die Dinge in klassifizierenden Schauen trotz ihrer Unterschiedlichkeit und Vielfältigkeit einen Eindruck von Harmonie, Homogenität und Konformität. Weil sie unabhängig von ihrem Alter gleichermaßen präsent und gegenwärtig sind, wirken die Objekte zeitlos. Dies wird durch ein Minimum an Präsentationsmitteln, durch schlichte oder einheitliche Vitrinen, Schränke oder Pulte und Objektbeschriftungen gestützt. Im Falle chronologischer, linearer Ordnungen werden Ereignisse, Biografien und gegenständliche Überreste als (Ab-)Folgen definiert. Chronologien sind Hilfsmittel zur Darstellung von Zeitverläufen und entsprechen dem Wunsch, Menschen und Dinge in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu verorten und vorstellbar zu
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machen. Ob als schriftlicher Text oder in Form von Objekt- oder Raumordnungen, Chronologien sind nicht weniger artifiziell als Klassifikationen. Da sie sich nicht in erster Linie auf Museumssammlungen beziehen, scheinen Objekte in chronologischen Erzählungen oft untergeordnet und in ihrer Bedeutungsvielfalt reduziert. Dies wird durch ihre Kombination mit weiteren Bedeutungsträgern, wie zum Beispiel Texten verstärkt, die ausschließlich der angestrebten Aussage und Botschaft verpflichtet sind. Für die Rezipientin/den Rezipienten legt die Klassifikation die vergleichende Betrachtung der Dinge nahe und es kann von einem direkten Zusammenhang zwischen Erkenntnismöglichkeit und Vorwissen ausgegangen werden: Je weniger Wissen jemand über einen bestimmten Gegenstand mitbringt, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie/er allein die Ästhetik der Objekte auf sich wirken lassen kann. Chronologien dagegen bedeuten für das Publikum die Möglichkeit narrativer Sinnbildung. Narrative Strukturen und Erzählschemata sind beispielsweise aus Märchen und Alltagskommunikation vertraut und damit im Gegensatz zur Klassifikation der Lebenspraxis näher. Sowohl im Falle chronologischer als auch klassifizierender Darstellungen ist das Gebotene nicht zur offenen Auseinandersetzung und Diskussion freigeben: Vorbei die Zeiten, da, wie es Tony Bennett4 beschreibt, Objekte wie in den Kuriositätenkabinetten des 17. Jahrhunderts als Stichwortgeber für die Konversation durchaus gleichberechtigter Gesprächspartner dienten. Das Museum der Aufklärung ist als Erziehungsinstrument für eine breitere Öffentlichkeit angelegt und die Ordnung der Dinge stützt diese Funktion wesentlich. Obwohl nun das Publikum im Museum den Sammlungs- und Ausstellungsverantwortlichen in hierarchischer Beziehung unterstellt und ihm das Nachvollziehen bestimmten Perspektiven und Parcours empfohlen wird, bedingt die räumliche Organisation und Form der Präsentation doch auch ein Gefühl der Privilegierung: Wie Sharon McDonald5 ausführt, bedingt die Distanzierung der die Vitrinenreihen abschreitenden Betrachtenden das erhebende Gefühl, außer- oder oberhalb des Dargestellten zu stehen und von einem externen Blickwinkel aus die Welt, wie sie ist, geordnet überblicken zu können. Die Form der Präsentation objektiviert ihre Inhalte. Klassifikation und Chronologie sind die traditionellen Formen der musealen Welt-Erfassung und -Darstellung und in Museen aller Sparten nach wie vor präsent. Mit einer Erweiterung der konzeptionellen und gestalterischen Zugänge in den letzten Jahrzehnten ist deutlicher geworden, dass ständige Ausstellungen, wenn auch in geringerem Maß als Sonderausstellungen, Moden unterliegen. Dauerausstellungen sind Produkte ihrer Zeit und bestenfalls Wegweiser hin in eine neue. Sie spiegeln den Stand wissenschaftlicher und museologischer Debatten ebenso wie ästhetische Trends oder die technische und mediale Entwicklung. Und sie veralten, je nach Dynamik dieser. So kommt es in den 1970er-Jahren vor dem Hintergrund eines stärkeren Bekenntnisses zum Bildungsauftrag der Institution Museum 1.) zu einer
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Institutionalisierung der Museumspädagogik und 2.) zu einer weitgehenden und sichtbaren Didaktisierung des Mediums Ausstellung: Die Grafik hält ihren Einzug ins Museum, Bilder, Schautafeln und Modelle werden auch in die Schausammlungen eingebracht, mit dem Ziel, dem Laienpublikum den an den puristisch präsentierten Objekten nur bedingt fassbaren, wissenschaftlichen Wert ins Bewusstsein zu bringen. In den 1980er-Jahren setzt ein Boom ein, sowohl was die Gründung neuer Museen, als auch was das Angebot an temporären Schauen in- und außerhalb der Museen angeht. Eine wesentliche Neuerung bringen kulturhistorische Großausstellungen, die sich durch eine auch inszenatorische Umsetzung der zu vermittelnden Inhalte auszeichnen.6 An die Stelle klassisch reduzierter Objekt/Text-Kombinationen treten sinnfällige, aufmerksamkeitsstrukturierende und teils raumgreifende Inszenierungen. Sie basieren auf Objekten, gestalterischen und künstlerischen Installationen sowie atmosphärischen Medien, sie behaupten die Ausstellung als bildliches und räumliches Medium, das es, vor dem Hintergrund der Didaktisierung der 1970er-Jahre, von einem Übermaß an Text („Texttapeten“, „Ausstellungen als 3-D-Bücher“) zu befreien gilt. Diese Praxis wirkt in den Folgejahren auf die Konzeption und Gestaltung nicht nur kulturhistorischer Dauerausstellungen zurück. Als eine Neuerung der 1990er-Jahre kann die Einbeziehung audiovisueller Medienangebote auch in ständigen Sammlungspräsentationen hervorgehoben werden. Ihre Nutzung ist sowohl didaktisch als auch ästhetisch motiviert, sie dienen der inhaltlichen Vertiefung und Kontextualisierung, der Realraumerweiterung oder atmosphärischen Rahmung bzw. Verdichtung. Die Annahme, ein entsprechender Medieneinsatz würde helfen, die Sammlungen als „modern“ erscheinen zu lassen und neue, vor allem auch junge Besucher/innen-Gruppen in die permanenten Ausstellungen zu locken, hat sich in Anbetracht einer Allgegenwart medialer Angebote, ihrer geringen ästhetischen Halbwertszeit und hoher Folgekosten mittlerweile wieder relativiert. Was lässt sich nun im Zusammenhang mit Dauerausstellungen für die letzten Jahre beobachten? In Museen aller Sparten und Größen, in der Schweiz, in Österreich und Deutschland gleichermaßen, findet sich gegenwärtig eine nahezu unüberblickbare Zahl von in jüngster Zeit erneuerten oder sich eben im Umbau befindlichen Dauerausstellungen. Dies hat damit zu tun, dass nach wie vor neue Museen entstehen. Dies hat damit zu tun, dass mit dem Museumsboom der 1980er-Jahre viele Ausstellungen entstanden sind, die 25 bis 30 Jahre später als inhaltlich und/oder ästhetisch für überholungsbedürftig angesehen werden. Dies hat aber auch damit zu tun, dass sich die Institution Museum in einer Phase der Unsicherheit befindet, was die institutionelle Identität, die gesellschaftliche Funktion und das Selbstverständnis der Verantwortlichen angeht. Diese Unsicherheit findet auch Ausdruck auf Ebene der Dauerausstellungen,
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die dabei trotzdem die im Vergleich zu den temporären Präsentationen konservative museale Form bleiben. Die Folge ist kein völliger Bruch mit dem Bekannten, viel eher die Berücksichtigung neuer Rahmenbedingungen und die Integration neuer Ansätze, Medien und Professionen. So ist der Begriff „Dauer“ relativ geworden: Wo „Wechsel“ und „Expansion“ zu zentralen Begriffen einer Kultur avanciert sind, werden sogenannte ständige Ausstellungen auf 5, 10 oder 15 Jahre, aber keinesfalls für die Ewigkeit angelegt. Auch scheint sich vor diesem Hintergrund das Größenverhältnis zwischen Dauer- und Sonderausstellung teilweise umzukehren: Wurde traditionell der Sammlungspräsentation ein Gutteil der Ausstellungsfläche zugesprochen, wird man heute auch mit „kompakten Dauerausstellungen“ konfrontiert, die einen knappen Überblick beispielsweise einer Stadtentwicklung plus einen Einblick in die Sammlungen gewähren und dabei wachsenden Sonderausstellungsflächen gegenüberstehen. Wo der alte Anspruch einer enzyklopädischer Erfassung der Welt längst aufgegeben und die Möglichkeit allumfassender Dokumentation unglaubwürdig geworden sind, hat die eine, breite, ganzheitliche Erzählung auf Ebene der ständigen Ausstellungen ausgedient. Konzeptionell lösen sich die traditionellen Unterschiede zwischen Dauer- und Sonderausstellung tendenziell auf. So entstehen heute einst objektdichte Dauerausstellungen im wenig komplexen Stil der Sonderausstellungen mit nur noch einer „Story“, reduziert an Objekten, medial hochgradig vermittelt und personalisiert für den einmaligen, 60-minütigen Durchgang neu. Erfolgskonzepte aus dem Bereich temporärer Ausstellungen, wie etwa des Musée Sentimental werden aufgenommen, um Geschichte, Natur und Technik auch permanent in gefälligen, überblickbaren und anschlussfähigen Einheiten zu offerieren. Im Hinblick auf eine derzeit von verschiedenen Gruppen stark geforderte und diskutierte Besucher/innenOrientierung hat die Idee vom Ausstellungsraum als Erfahrungsraum auch die Dauerausstellungen erreicht, und mit ihr neue Formen der Beteiligung und Teilhabe, der Auseinandersetzung und Interpretation. Dort, wo Sammlungen gerade nicht/nicht mehr zu repräsentieren scheinen, was Menschen heute interessiert, dort, wo zu einem ursprünglich begrenzten, zum Beispiel Fachpublikum ein neues, größeres und heterogenes kommen soll, werden Bestände gegenwärtig gern unter tendenziell kulturwissenschaftlichen Fragestellungen und Perspektiven neu versammelt und präsentiert. Objekte der Technik, Natur, Wissenschaftsgeschichte oder Archäologie dienen dann nicht mehr der Veranschaulichung von Erfindungen, fachwissenschaftlichen Erkenntnissen und Zusammenhängen oder Funktionsweisen, sondern werden zum Anlass genommen, um Fragestellungen, nah am Menschen und/oder der Gegenwart zu formulieren. Das technische Objekt wird beispielsweise nicht mehr für die technikversierte, sondern jede interessierte Person aufbereitet, die erfahren soll, wie es auf das Leben, Arbeiten, Kommunizieren zu einer bestimmten Zeit wirkt. Eine Folge dieser Perspektivenwechsel ist die Auflösung der traditionell starren disziplinären Grenzen, selbst jener hin zur Kunst: Wo es eine Fragestellung oder die Komplexität eines
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Sachverhalts fordert, werden Sammlungsbestände der Natur und der Alltagsgeschichte ebenso wie solche der Technik und der Kunst kombiniert. Eine auch unabhängig davon zu beobachtende Tendenz scheint die Annäherung der Präsentationssprachen einzelner Sparten zu sein: Die Ethnologie zitiert die Kunst, die Natur vollzieht die seit den 1980er-Jahren erprobte Inszenierungspraxis der Kulturgeschichte nach. Im Hintergrund dieser Entwicklung steht die Professionalisierung des Ausstellungswesens. Die interdisziplinären Teams der teilweise beachtlich großen und international tätigen Ausstellungsagenturen pflegen einen durchaus ungezwungenen Umgang mit der Geschichte der Institution Museum und den Darstellungskonventionen einzelner Disziplinen. Etwas spitz könnte man meinen: Was man nicht weiß, kann den eigenen kreativen Prozess nicht belasten. Im Positiven bedeutet eine gewisse Respektlosigkeit auch Erneuerung und Bewusstseinsbildung. Die Einbeziehung von Fachleuten aus den Bereichen Bühnenbild, Medien, Kunst, Theaterpädagogik, Film, Literatur oder Musik hat dazu geführt, dass auch den in den Museen tätigen Fachwissenschafterinnen/Fachwissenschaftern deutlicher geworden ist, dass die Ausstellung als bildliches und räumliches Medium mehr mit Theater und Film als mit einem Buch zu tun hat. Die genannten Agenturen führen zu einer zweiten Beobachtung: Was im 19. Jahrhundert, beispielsweise im Bereich der Natur, die weitere Verbreitung klassifizierender Aufstellungen und die frühe Ausbildung einer professionellen Lehrmittelindustrie an Einheitlichkeit und Gleichförmigkeit in den Ausstellungssälen mit sich gebracht hat, taucht heute, wie vor allem in großen Museen zu beobachten, durch Ausstellungsagenturen wieder auf, die in ganz Europa als kompetente Partner die unabhängig von der Sparte immer ähnlichen und tendenziell austauschbaren Ausstellungen produzieren. Davon unterscheiden sich Projekte an kleinen und mittelgroßen Häusern, die die Leidenschaft und den Eigenwillen einzelner Verantwortlicher atmen, die ihre Entwicklung vorangetrieben hat. Vielleicht auch vor diesem Hintergrund einer tendenziellen, konzeptionellen und ästhetischen Gleichschaltung erfährt „das Alte“ als „Alleinstellungsmerkmal“ und authentischer Beleg eigener Institutionengeschichte neue Beachtung und Aufmerksamkeit. Man besinnt sich barocker Hängungen, über Jahrzehnte verstaubter Dioramen, translozierter Kammern und setzt offen auf den Charme Zigtausender, in Reih und Glied aufgespießter Käfer. Das Publikum schätzt die immersive Kraft dieser Atmosphärenräume, über die man kurzzeitig in eine andere Zeit und ein anderes Weltverständnis eintauchen kann. Auf die immersive Kraft ganzheitlicher Inszenierungen bauen auch Dauerausstellungen, die abstrakte Inhalte mit Gegenwartsbezug vermitteln. Fern ist die Idee der Dauerausstellung als Sammlungspräsentation, wenn Ausstellungen Themen wie Gentechnik oder Hirnforschung, Alter oder Armut, die Zukunft der Städte oder die der Natur aufgreifen und die Verantwortlichen für die Konstruktion einer Aussage und Bedeutung stärker auf Architektur, gestalterische Maßnahmen und künstlerische Installationen setzen als auf die museumseigenen Sammlungen, die diese Themen nicht oder nur bedingt repräsentieren.
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Durchaus haben die beiden letztgenannten Zugänge – und weitere – auch innerhalb einer einzelnen Dauerausstellung Platz. Im Sinne einer Strukturierung großer Exponatmengen und der Aufmerksamkeit der Besucher/innen bezieht sich das Motto „Von jedem ein bisschen!“ dabei nicht nur auf Oberflächen und Inszenierungspraktiken, sondern auch auf Formate und die soziale Praxis, die sie nahelegen. So ist ein unbeschwertes Infragestellen der traditionsreichen musealen Formate Depot, Studiensammlung, Dauer- und Sonderausstellung zu beobachten, die tendenziell zerfallen: in semipermanente Angebote, Schaudepots, Interventionen, ortsbezogene Arbeiten, Aktionen im Stadtraum, partizipatorische Initiativen etc. Aus ursprünglich einer Dauerausstellung kann so eine Vielzahl von Angeboten entstehen, die unterschiedliche Bildungsniveaus und Zeitbudgets berücksichtigen, diverse Nutzbarkeit gewährleisten, und dabei aus museologischer Perspektive noch den Vorteil bringen, die alte Dauerausstellung als Ort der wissenschaftlichen Wahrheit und Repräsentationsort gesellschaftlicher Eliten in der Diversifizierung elegant entmachtet zu haben. Besondere Berücksichtigung unter den genannten Formen fordern für den hier verhandelten Gegenstand die Schaudepots,7 die in den letzten Jahren an vielen Orten im deutschsprachigen Raum entstanden sind und als Inszenierungsform wieder aufleben lassen, was die alten, objektreichen, chronologisch/genealogisch präsentierten, weitgehend unvermittelten Dauerausstellungen geboten haben: große Mengen an Objekte in schlichter Rahmung. Obwohl sie auf den ersten Blick wie eine zeitgemäße Entsprechung der alten Aufstellungen wirken, lassen sie diese doch nur als Bild wiederauferstehen und verharren in einer Art Vorwirklichkeit, die zu keiner wissenschaftlich begründeten Ordnung und Botschaft zwingt. Als eine letzte Beobachtung ist zu vertiefen, dass Dauerausstellungen heute nicht nur erneuert, sondern auch umgebaut und aktualisiert werden. Die Gründe dafür sind vielfältig. So kann eine Ausstellung aus konservatorischer Sicht nicht mehr den Standards der Zeit entsprechen, eine vertretene Wissenschaftsmeinung und Wertehaltung ebenso unzeitgemäß wie die gestalterische Gesamterscheinung sein. Museumsverantwortlichen könnte daran liegen, die für ein Laien-Publikum, für bestimmte Gruppen wie Schüler/innen oder Angehörige anderer Sprachgemeinschaften schwer bis gar nicht zugänglichen Inhalte einer Ausstellung aufzuschließen oder das verborgene Wissen einer Präsentation – Weltbilder, Museumsgeschichte, Entwicklung der Sammlung usw. – sichtbar zu machen. Neben den auf Dauer angelegten Überarbeitungen von permanenten Ausstellungen liegen auch temporäre Bearbeitungen in Form kuratorischer und künstlerischer Intervention im Trend. Sie zielen darauf Interesse für das Vorhandene zu wecken, alternative oder erweiterte Blicke auf Objekte zu organisieren, neue Informationen, Kommentare und Kontrapunkte anzulagern, vorhandene Repräsentationen, Machtverhältnisse und Werte, die in Ausstellungen zirkulieren zu thematisieren, Präsentationen zu individualisieren, andere ästhetische Erfahrungen einzubringen, denkmalgeschützte Aufstellungen in ihren Ideologien und Wertehaltungen zu reflektieren oder die Geschichte und Gesetzmäßigkeiten des Museums als
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Institution einer breiteren Öffentlichkeit ins Bewusstsein zu bringen. Was bedeutet nun die Erneuerung einer Dauerausstellung für jene, die an den Museen damit befasst sind? Dauerausstellungen bedeuten Kraftanstrengung. Besonders im Falle großer, differenzierter Häuser und Ausstellungen scheint es mit der damit einhergehenden Arbeitsteilung, der Einbeziehung und Beteiligung vieler, auch externer Expertinnen und Experten zunehmend schwieriger, das Haus und die Abteilungen als Einheit zu denken und – angesichts oft ganz unterschiedlicher Sammlungen – so etwas wie einen gemeinsamen Stil zu pflegen oder zu entwickeln. Je größer die Projekte, desto geringer die Chance, so hat es den Anschein, dass sich zwischen der Sicherung der Finanzierung und der Beauftragung der Medienstationen, zwischen der Diskussion konservatorischer Standards und der optimalen Lichtlösungen noch jemand findet, die/der die Ausstellung als ihr/sein Werk ansieht, das dem entspricht, was sie/er sich gewünscht und vorgestellt hatte. Persönliche Handschriften sind nicht erwünscht. Kleinster Nenner ist dann manchmal die Konvention. Gleichzeitig ist der Druck, der mit der Erneuerung einer Dauerausstellung einhergeht, auf die verantwortlichen Museumsleute von vielen Seiten groß. Viele Wissenschafter/innen sind nur ein Mal in ihrer beruflichen Laufbahn in der Situation, eine Dauerausstellung zu realisieren. Umso schwerer wiegt, dass gerade ständige Ausstellungen stark im Fokus der Fachöffentlichkeit und Kollegenschaft, der Medien, der Politik, der Sponsoren und schließlich des Publikums stehen, die sehr unterschiedliche Erwartungen an eine Ausstellung herantragen. Die Frage nach der richtigen und zeitgemäßen Entwicklung bzw. Erneuerung von Dauerausstellungen gehört zu den zentralen der Museumspraxis. Dies spiegelt sich in der museologischen Literatur nicht wieder. Es gab in den letzten Jahren im deutschsprachigen Raum eine durchaus intensive museologische Befassung mit dem Ausstellen, es gibt Publikationen, die sich mit einzelnen gesellschaftlichen Funktionen des Museums, den Anfängen und der Identität der Institution, der Geschichte der Präsentationsästhetik und des Sammelns oder Fragen der Repräsentation befassen. All diese Publikationen tangieren auch Fragen des dauerhaften Ausstellens. In ihrem Zentrum führen sie sie aber nicht. Das wird nun im vorliegenden Buch versucht. Es versammelt dazu Beiträge, die aus unterschiedlichen Perspektiven und Disziplinen die Kontexte und Alltagswirklichkeiten beleuchten, vor deren Hintergründen Dauerausstellungen entstehen. Im ersten Teil der Publikation wird mit Texten zur Geschichte, zu etablierten Ausstellungspraktiken und Fragen, die das dauerhafte Ausstellen in den diversen Sparten heute prägen, ein Rahmen gespannt, in dem die Beiträge des zweiten, zentralen Teils zu lesen sind: In ausführlichen Gesprächen geben Museumsleitende, Kuratorinnen/Kuratoren und Wissenschafter/innen aus ganz unterschiedlichen Museen Einblick in die Fragen, Überlegungen und Lösungsansätze, die ihre Planung und Realisierung eigener, nach Ansicht der Herausgeberin für bestimmte Tendenzen typischer Dauerausstellungsprojekte begleitet haben. Der dritte Teil des Buchs ist, mit Gesprächen und Texten zu konkreten Projekten, der (temporären) Bearbeitung bestehender Dauerausstellungen gewidmet.
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Angesichts der Komplexität der Thematik und der vielfältigen Praxis erhebt das Buch trotz seines Umfangs keinerlei Anspruch, dem Thema der Dauerausstellung allumfassend gerecht zu werden. Die Publikation hätte gänzlich anders konzipiert werden, die eingeladenen Autorinnen und Autoren sowie Gesprächspartner/innen zweifellos auch andere sein können. Das Ziel der Text- und Interviewsammlung ist erreicht, wenn sie jene, die mit der Erneuerung oder Bearbeitung einer Dauerausstellung befasst sind, beim Nachdenken unterstützt, Möglichkeiten aufzeigt und zur gelassenen Einsicht beiträgt, dass es das eine, richtige Dauerausstellungskonzept nicht gibt. Das vorliegende Buch dokumentiert eine gut zweijährige Befassung mit dem Thema im Rahmen eines durch das Österreichische Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung finanzierten forMuse-Projekts. Entsprechend der Philosophie und Arbeitsweise der Museumsakademie haben wir uns in rund 20 Teilprojekten zwischen Theorie und Praxis, in Laborversuchen, Ausstellungsanalysen und -gesprächen, in Tagungen und Workshops zu verschiedenen thematischen Aspekten und gemeinsam mit einer Vielzahl von Museumsfachleuten, Kuratorinnen/Kuratoren, Wissenschafterinnen/Wissenschaftern, Gestalterinnen/Gestaltern, Künstlerinnen/Künstlern und Studierenden auseinandergesetzt. Das Buch gibt Zeugnis davon. Allen am forMuse-Projekt Mitwirkenden sei an dieser Stelle für ihr Interesse, ihre Offenheit und ihren Einsatz herzlich gedankt! Bedanken möchte ich mich auch beim Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung als Fördergeber, namentlich bei Frau Ursula Brustmann für ihre Beratung und Unterstützung in den beiden vorangegangenen Jahren. Christoph Huemer danke ich für die Übersetzungen, meinen Kolleginnen Theresa Zifko und Sabine Fauland für ihre Unterstützung in letzter Minute. Ein besonderer, abschließender Dank gilt zwei Personen, ohne die die Realisierung dieses Buches nicht möglich gewesen wäre: Jörg Eipper-Kaiser, Texter und Lektor am Universalmuseum Joanneum und natürlich Sophie Koller, Museumsakademie, die nicht nur redaktionell am Buch mitgewirkt hat, sondern auch für dessen grafische Gestaltung verantwortlich zeichnet.
A NMERKUNGEN 1 | Synonym werden je nach Zeit, Ort und Museumssparte auch die Begriffe Schausammlung, Sammlungspräsentationen, ständige und permanente Ausstellung verwendet. 2 | Gespräch zur Konzeption des forMuse-Projekts der Museumsakademie Joanneum Für die Ewigkeit gedacht. Zum Dilemma und Potential der ständigen Ausstellungen, August 2008. 3 | Vgl. Jana Scholze: Medium Ausstellung. Lektüren musealer Gestaltung in Oxford, Leipzig, Amsterdam und Berlin, Bielefeld: 2004, S. 86ff. und 122f.
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B ETTINA H ABSBURG -L OTHRINGEN 4 | Vgl. Tony Bennett, »Der bürgerliche Blick. Das Museum und die Organisation des Sehens«, in: Dorothea von Hantelmann, Carolin Meister (Hg.), Die Ausstellung. Politik eines Rituals, Zürich/Berlin: 2010, S. 47–77, hier S. 58f. 5 | Vgl. Sharon MacDonald: »Nationale, postnationale, transkulturelle Identitäten und das Museum«, in: Rosmarie Beier (Hg.), Geschichtskultur in der Zweiten Moderne, Frankfurt a.M./New York: 2000, S. 123–148. 6 | Vgl. Gottfried Korff: »Objekt und Information in Widerstreit«, in: Museumskunde 49 (1984), S. 83–93. Gottfried Korff: »Zielpunkt: Neue Prächtigkeit? Notizen zur Geschichte kulturhistorischer Ausstellungen in der „alten“ Bundesrepublik«, in: Alfons W. Biermann (Hg.), Vom Elfenbeinturm zur Fußgängerzone: drei Jahrzehnte deutsche Museumsentwicklung. Versuch einer Bilanz und Standortbestimmung, Opladen: 1996, S. 53–84. 7 | Tobias G. Natter/Michael Fehr/Bettina Habsburg-Lothringen (Hg.): Das Schaudepot. Zwischen offenem Magazin und Inszenierung, Bielefeld: 2010.
TRADITION
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KONTEXT
Zur Geschichte kulturhistorischer Dauerausstellungen im 19. und frühen 20. Jahrhundert Alexis Joachimides
Das kulturhistorische Museum des 19. Jahrhunderts war wohl die erfolgreichste Neuerfindung des „bürgerlichen Zeitalters“ im Museumswesen. Während die wesentlich früher etablierten Institutionen des Kunstmuseums und des Naturkundemuseums auf eine lange Vorgeschichte nicht oder nur teilweise öffentlich zugänglicher Sammlungen zurückblicken konnten und ihre moderne Ausprägung sich bereits im Laufe des 18. Jahrhunderts abzeichnete, entstand das kulturhistorische Museum erst aus der Reaktion auf die politischen Umwälzungen der Französischen Revolution. Bis es sein institutionelles Dispositiv gefunden hatte, bedurfte es zudem einer allmählichen Evolution, die erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts ihren Abschluss fand. Von dem ebenfalls erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts etablierten Typus des Kunstgewerbemuseums als einer spezialisierten Vorbildersammlung für Handwerk und Industrie unterschieden sich die kulturgeschichtlichen Museen durch ihre äußerst populäre Ausstellungspraxis, die diesen Museumstyp spätestens um 1900 zum unangefochtenen Publikumsmagneten machte, dessen Dauerausstellungen vorübergehend sogar als Vorbild für andere Museumstypen gehandelt werden konnten. Im Laufe des 20. Jahrhunderts allerdings erlebten die kulturhistorischen Museen europaweit einen signifikanten Bedeutungsverlust, der sie inzwischen aus eklatantem Mangel an Publikumsinteresse zu den „Sorgenkindern“ der Museumslandschaft gemacht hat. Viele der aus dem 19. Jahrhundert überkommenen Museen dieses Typs haben in den letzten Jahrzehnten auf die Krise der traditionellen Kulturgeschichte reagiert, indem sie ihre Ausstellungspraxis und teilweise sogar ihre Sammlungen an andere institutionelle Paradigmen wie das klassische Kunstmuseum oder das ausstellungsorientierte Geschichtsmuseum angepasst haben. Aufstieg und Niedergang der Institution lassen sich also in einem rund zweihundertjährigen Zyklus überblicken, ohne dass es bereits eine allgemein anerkannte Antwort auf die Frage gibt, warum der bei weitem populärste Museumstyp des 19. Jahrhunderts seine breite Resonanz beim Museumspublikum verloren hat.1
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Der Schwerpunkt des anschließenden Überblickes über die Entstehungsgeschichte des kulturhistorischen Museumsparadigmas liegt jedoch in der Aufstiegsphase der Institution und endet mit dem Beginn des 20. Jahrhunderts, also in dem Augenblick, als sich die ersten Krisensymptome abzeichnen, die schließlich zum Verlust der institutionellen Eigenständigkeit des Museumstyps führen sollten. Denn aus der Perspektive einer Geschichte der musealen Dauerausstellung interessiert vor allem die Herausbildung seiner spezifischen Ausstellungspraxis, die Entstehung eines Modells der kulturhistorischen Dauerausstellung, dessen Ausstellungsverfahren die Sinnkrise der traditionellen Kulturgeschichte relativ unbeschadet überstanden hat, nachdem es in diverse alternative Institutionen ausgewandert ist. Während die Ursachen für den Bedeutungsverlust des Museumstyps also eher in den veränderten Geschichtsbildern des 20. und 21. Jahrhunderts zu suchen wären, trägt das kulturhistorische Ausstellungsprinzip kaum Verantwortung für diese Entwicklung. Es ist bis heute in den „Period Rooms“ amerikanischer Universalmuseen ebenso lebendig wie in den mit Dermoplastiken ausgestatteten Dioramen der naturwissenschaftlichen Sammlungen und wird auch im temporären Ausstellungsbetrieb immer wieder als Simulation eines historischen Kontextes für die Exponate re-inszeniert. Während sich der Zuspruch des breiten Publikums von der Institution abgewandt hat, die diese Ausstellungspraxis einmal entwickelt hatte, dokumentiert der anhaltende Erfolg der kulturhistorischen Ausstellungspraxis, dass seine Popularität sich von den Inhalten abgelöst hat, die auf diese Weise transportiert werden sollten, und nunmehr offenbar dem Ausstellungsverfahren an sich anhaftet. Verfolgt man die Entstehungsgeschichte dieses Ausstellungsverfahrens im 19. Jahrhundert, so zeichnet sich über eine Reihe von konsekutiven Entwicklungsphasen die Ausprägung eines spezifischen Modells ab, dessen Herausbildung hier exemplarisch anhand von vier konkreten Beispielen veranschaulicht werden soll, deren Dauerausstellungen in ihrem Entstehungsmoment jeweils als charakteristisch für eine bestimmte Entwicklungsstufe betrachtet werden können. Das aus der Revolution geborene und in der Restauration wieder aufgelöste Pariser Musée des Monuments Français steht am Beginn der Institutionsgeschichte. Das zur Kompensation dieses Verlustes am gleichen Ort gegründete Musée de Cluny markiert einen entscheidenden Wendepunkt ihrer Entwicklung. Doch erst das Germanische Nationalmuseum in Nürnberg verallgemeinerte die in Paris ad hoc konzipierte Ausstellungspraxis zum System, und das Schweizerische Landesmuseum in Zürich lieferte schließlich das architektonische Gerüst für ihren durchgängigen Einsatz. Gleichzeitig zeichnet sich um 1900 bereits die Auflösung des Zusammenhanges zwischen dem Museumstyp und seinem Inszenierungsverfahren ab, die am Ende zu dessen Verselbstständigung geführt hat.
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Das Musée des Monuments Français (1795–1818) Die politischen Umwälzungen während der Französischen Revolution schwemmten zunächst in Frankreich, später auch in den von französischen Truppen eroberten Nachbargebieten eine Vielzahl von historischen Artefakten aus ihren traditionellen Verwendungszusammenhängen. Neben den damals bereits ästhetisch rezipierbaren, als Kunstwerke anerkannten Objekten, die in die bereits bestehende Institution des Kunstmuseums integrierbar waren, dislozierte dieser Vorgang aber auch eine große Zahl von historischen Gegenständen, die (noch) nicht als autonome Kunstwerke betrachtet wurden. Waren diese Artefakte nicht durch ihre physische Zerstörung dem politischen Ikonoklasmus der Revolution zum Opfer gefallen, billigte man ihnen den Charakter historischer Dokumente und Erinnerungszeichen zu, die symbolisch die überwundene Welt des Ancien Régimes veranschaulichen konnten. Der radikale und jähe Funktionswechsel dieser Gegenstände von einer liturgischen Verwendung oder von einer Demonstration politischer Ansprüche und von gesellschaftlichem Status hin zu den Bausteinen einer kollektiven Erinnerungskultur spiegelt sich in den ersten Museumsexperimenten in Paris und in den französischen Provinzen, die diese von ihrer Herkunft her heterogenen Objekte in einen neuen, gemeinsamen Sinnzusammenhang überführten. Sie waren durch den Versuch motiviert, die obsolet gewordenen früheren Funktionen der Exponate im Museum durch den Rahmen einer historischen Erzählung zu ersetzen. Modellhaft zeigt das Pariser Beispiel, wie sich ein ad hoc geschaffenes Depot für historische Artefakte, die für das schon länger geplante, aber erst 1793 eröffnete Kunstmuseum im alten Königsschloss des Louvre nicht geeignet erschienen, in kurzer Zeit in eine zielgerichtete Sammlung von Sachzeugnissen zur französischen Nationalgeschichte verwandelte.2 Zunächst nur provisorisch in den weitläufigen historischen Gebäuden eines säkularisierten Augustinerklosters untergebracht, entwickelte sein Leiter Alexandre Lenoir dieses Depot aus Zufallsmaterial mithilfe eigens zu diesem Zweck erworbener zusätzlicher Exponate zu einer didaktisch konzipierten Präsentation, die 1795 erstmals unter der Bezeichnung Musée des Monuments Français eröffnet wurde, um in den Folgejahren immer weiter vervollständigt und ausgebaut zu werden. Diese Veranschaulichung der französischen Geschichte aus einer post-revolutionären Perspektive rückte anhand von mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Architekturfragmenten, Skulpturen, Möbeln und anderen Ausstattungsgegenständen die materielle Lebenswelt vergangener Generationen in den Mittelpunkt. Dabei nutzte Lenoir die unterschiedlichen historischen Stilformen der vorhandenen Klostergebäude, die er, wo nötig, durch Nachschöpfungen historischer Formen ergänzte, bis sich eine chronologisch geordnete Abfolge der Räume ergab, die jeweils einem Jahrhundert zugeordnet waren. So zeigte etwa der „Saal des XIII. Jahrhunderts“ hochgotische Grabmäler und Gewändestatuen unter einem neu eingezogenen, stilistisch nicht ganz adäquaten Kreuzgratgewölbe, der „Saal des XV. Jahrhunderts“
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das Grabmal Ludwigs XII. (reg. 1498–1515) und seiner Ehefrau mit anderen Grabdenkmälern, Portalrahmen und Glasfenstern der französischen Frührenaissance in einem nachmittelalterlichen Klosterraum mit Holzbalkendecke. Auf diese Weise betonte der Museumsrundgang die kontinuierliche Mutation der äußeren Gestalt seiner Exponate über die verschiedenen Jahrhunderte hinweg und popularisierte das vergleichsweise neue, an der antiken Skulptur entwickelte Konzept der „Verzeitlichung der Künste“. Angesichts der noch sehr geringen Erfahrungen im Umgang mit materiellen Geschichtszeugnissen diesseits der klassischen Antike bedurfte es eines Ordnungsrasters für die Zuordnung der einzelnen Exponate zu den Epochenräumen. Dafür eignete sich die seit dem 13. Jahrhundert fast lückenlose Folge der Königsgrabmäler aus der Abtei Saint Denis, deren Überführung in sein Museum Lenoir unter dem Vorwand ihrer Gefährdung durch revolutionären Vandalismus initiiert hatte. Die bekannten Regierungsdaten der Herrscher lieferten ein chronologisches Gerüst, während die Stilformen ihrer Grabmäler sich mit stilistisch ähnlichen Objekten ohne unmittelbaren Bezug zum Königtum verbinden ließen. Bis heute lebt diese Konstruktion, die ihre Vorbilder in der Historiografie des 18. Jahrhunderts hatte, in der französischen Gewohnheit fort, Raumgestaltungen und Möbelformen nach den zu ihrer Entstehungszeit regierenden Herrschern zu benennen, also z. B. das Rokoko als „Style Louis XV.“ zu bezeichnen. In politischer Hinsicht erscheint das Musée des Monuments Français ambivalent. Einerseits musste Lenoir sein Museumskonzept gegenüber der Nationalversammlung, Regierungsstellen und der Öffentlichkeit ausdrücklich als Geschichtskonstruktion aus einer pro-revolutionären Perspektive rechtfertigen, die den jüngst vollzogenen Umsturz der Monarchie als notwendige Konsequenz der gesamten nationalen Geschichte deutete. Auf die politische Restauration der Monarchie 1814 folgte deshalb die Auflösung des Museums und die Rückführung zumindest jener Exponate, deren historischer Kontext bekannt war und der die Revolutionszeit überlebt hatte. So kehrten etwa sämtliche Königsgrabmäler nach Saint Denis zurück. Andererseits konnte Lenoir seine Initiative im Rückblick damit rechtfertigen, dass die von ihm versammelten Gegenstände die Revolutionszeit ohne ihre Musealisierung wohl zum größten Teil nicht überlebt hätten, auch wenn ihm der Vorwurf gemacht werden konnte, diesen Prozess selbst forciert zu haben. Schon vor der Restauration waren die konservativen Gegner der Revolution die größten Bewunderer des Museums, das mitten in Paris eine vorrevolutionäre Vergangenheit atmosphärisch nacherlebbar werden ließ, deren Erscheinungsorte überall sonst in Frankreich zu verschwinden drohten. Diese Kritiker bedauerten dann auch die Auflösung des Museums im Zuge der Restauration, obwohl sie die Wiederherstellung der Monarchie herbeigesehnt hatten.
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Das Musée de Cluny (1832–1844) Die weithin empfundene Lücke, die die Auflösung des Musée des Monuments Français 1818 hinterlassen hatte, inspirierte eine ganze Generation von Privatsammlern während der Restauration, umfangreiche Kollektionen von mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Artefakten zusammenzutragen, die als anschauliche Darstellungen der französischen Geschichte konzipiert waren. Zu einer dauerhaften Institution wurde eine dieser Sammlungen, die Alexandre Du Sommerard seit 1832 im ehemaligen Stadtpalais der Äbte von Cluny, einem Wohnbau des späteren 15. Jahrhunderts in der Nähe der Universität, eingerichtet hatte. Bis zu seinem Tod 1842 restaurierte Du Sommerard dieses Gebäude und arrangierte dort seine private Sammlung mit derartigem Erfolg, dass der französische Staat sich im Folgejahr veranlasst sah, Sammlung und Gebäude, die in der Öffentlichkeit inzwischen als integrale Einheit betrachtet wurden, zu erwerben. Verbunden mit den anschließenden Resten einer antiken römischen Thermenanlage, die bereits seit längerem von der Pariser Stadtverwaltung als Lapidarium genutzt worden war, wurde das nun staatliche Musée de Cluny im Jahre 1844 unter der Leitung Edmond Du Sommerards, des Sammlersohnes, offiziell institutionalisiert. Doch war seine besondere Präsentationsweise schon als privates Museum ein Begriff, da Du Sommerard von Anfang an interessierte Besucher zugelassen und seine Sammlungsbestände und ihre Aufstellung seit 1838 in einer opulenten Buchserie publiziert hatte. Unter staatlicher Regie ist das Museum im späteren 19. und 20. Jahrhundert weitreichenden Veränderungen unterworfen worden, die 1992 in der Abtrennung aller nachmittelalterlichen Exponate und der Umbenennung in Musée national du Moyen Age kulminierten. Diese scharfe inhaltliche Profilierung hat den ursprünglichen Sammlungscharakter vollständig verwischt, der aber durch eine Vielzahl zeitgenössischer Beschreibungen und die reich illustrierten Publikationen von Alexandre Du Sommerard gut dokumentiert ist.3 In seiner ursprünglichen Konzeption unterschied sich das Musée de Cluny erheblich von der Anlage des Musée des Monuments Français, obwohl es dessen Ausrichtung auf eine nationale Geschichtserzählung anhand von authentischen Sachzeugnissen und entlang einer Kette von Herrscherpersönlichkeiten nachzubilden versuchte. Doch Du Sommerards Sammlung bestand vor allem aus Objekten der angewandten Kunst, Möbeln, Wandteppichen, Waffen und Geräten, und die historischen Räume des Hôtel de Cluny waren überwiegend Wohnräume. Ein Bestand mittelalterlicher Monumentalskulpturen wuchs der Institution erst 1844 zu, als das benachbarte städtische Lapidarium integriert wurde, und blieb in der Aufstellung auch weiterhin räumlich getrennt. Die einzige monumentale Rauminszenierung Du Sommerards, die der Präsentation Lenoirs ähnelte, fand sich in der Hauskapelle des 15. Jahrhunderts, die mit stilistisch passender Kirchenausstattung des Mittelalters eingerichtet wurde. Die übrigen Räume waren dagegen Simulationen historischer Wohnräume mit ihrer jeweils zeittypischen Einrichtung,
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die einen Überblick über die Entwicklung des französischen Interieurs vom späten Mittelalter bis ins 17. Jahrhundert darboten. Weiterhin blieb die Abfolge der Könige als Ordnungsprinzip relevant, die die oben angesprochene Bezeichnungspraxis der Möbelstile verfestigte, und einzelne vorbildliche Herrscher wurden als Identifikationsfiguren besonders hervorgehoben. Anders als Lenoir während der Revolution musste Du Sommerard in der Restaurationszeit keine Rücksicht auf antiroyalistische Affekte nehmen, wie die seinerzeit berühmteste und überzeugendste Rauminszenierung bestätigt. Das „Zimmer Franz I.“ war der Persönlichkeit dieses als vorbildlich geltenden französischen Königs (reg. 1515–47) gewidmet und präsentierte ein legendär mit seiner Person verbundenes Himmelbett des 16. Jahrhunderts als Teil einer stilistisch homogenen Möblierung, die von bewaffneten Puppen in Ritterrüstungen bewacht wurde. Dem gleichen Prinzip der Verlebendigung folgte auch die ursprüngliche Einrichtung der Hauskapelle, zu der die Figur eines kniend vor dem Altar betenden Mönches gehörte, dessen vermeintliche Lebendigkeit die zeitgenössischen Besucher zugleich schockierte und faszinierte. Obwohl auch im Musée de Cluny die Monarchen als exemplarische Verkörperungen ihrer Epoche im Mittelpunkt standen, zeichnet sich in diesem Museumsprojekt eine deutliche Verschiebung zugunsten der alltagspraktischen Lebensumwelt vergangener Generationen, ihres Wohnumfeldes und ihrer Handwerkstraditionen ab, die sich im Laufe der späteren Modifikationen der Ausstellungspraxis noch wesentlich verstärkte. So richtete Edmond du Sommerard 1881 einen „Saal des Schmiedehandwerks“ ein, der eine Spezialsammlung von historischem Eisengerät enthielt, und die Wiedereinrichtung nach 1945 orientierte sich an einem mittelalterlichen Kompendium der Gewerke und näherte das Museum vorübergehend noch weiter an die Struktur von Kunstgewerbesammlungen an. Waren seine ursprünglichen Wohnraumsimulationen der zeitgenössischen Malerei des „Style troubadour“ verpflichtet, so entsprach diese Entwicklung dem Prozess, bei dem aus der Historienmalerei im Laufe des früheren 19. Jahrhunderts eine Art von historischer Genremalerei wurde, die den Akzent von der überzeitlichen moralischen Botschaft auf das historische Accessoire und die Rekreation eines scheinbar authentischen Handlungsraumes für die Narration verschob. Mit seiner Form der historischen Wohnraumsimulation ist die Ausstellungspraxis des Musée de Cluny zum Vorbild kulturhistorischer Museumseinrichtungen in ganz Europa geworden.
Das Germanische Nationalmuseum in Nürnberg (1852–1890) Im Zuge der politischen Konflikte zwischen monarchischer Autokratie und Forderungen nach politischer Mitbestimmung, die im Revolutionsjahr 1848 kulminierten, konkretisierte sich in der Geschichtswissenschaft des mittleren 19. Jahrhunderts eine scharfe Opposition zwischen der politischen Ereignisgeschichte, verstanden
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als Handlungen von Herrschern, und der auf Zustände ausgerichteten Kulturgeschichte, verstanden auch als Beschreibung der konkreten Lebensverhältnisse des Volkes in der Vergangenheit. Während die Idealisierung historischer Monarchen und die Simulation historischer Interieurs im Musée de Cluny noch reibungslos ineinandergegriffen hatten, betonte das revolutionäre Bürgertum in den Jahren nach 1848 die auf das Konstrukt einer nationalen Identität ausgerichtete Kategorie des Volkes und seiner Kultur als zentrales Vermittlungsziel kulturhistorischer Museen. Eine dafür bezeichnende, nicht aus staatlicher Entscheidung hervorgegangene Museumsgründung war das Germanische Nationalmuseum in Nürnberg, das 1852 auf Initiative des Privatsammlers Hans Freiherr von und zu Aufseß als Museum und Archiv der Kulturgeschichte des deutschsprachigen Raumes gegründet worden ist. Träger der Institution war ein überregionaler Stiftungsrat, der aus den schon länger bestehenden lokalen und regionalen Geschichtsvereinen hervorging. Sein Ziel einer umfassenden Dokumentation der deutschen Geschichte in Sach- und Schriftzeugnissen kompensierte in charakteristischer Weise die 1848 gescheiterte politische Einigung durch eine symbolische Repräsentation der Nation im Museum. Tatsächlich ließ sich dieser Anspruch am Anfang jedoch nur ansatzweise realisieren, da die Neugründung mit dem Bestand der von Aufseß für diesen Zweck gestifteten Privatsammlung zurechtkommen musste. Zudem sorgte Aufseß dafür, dass das neue Museum in Nürnberg angesiedelt wurde, wo die Stadt ihm 1857 sowohl ihr spätmittelalterliches Kartäuserkloster als auch das darin untergebrachte Lapidarium überließ. Trotz der nationalen Programmatik und einer intensiven Ankaufspolitik blieb das Germanische Nationalmuseum dank dieser Ausgangskonstellation eine regional geprägte Sammlung.4 Die frühen Dauerausstellungen des Museums erscheinen wie ein Hybrid aus den beiden vorangehend beschriebenen Pariser Museen. Die Sammlung vorwiegend mittelalterlicher Gegenstände aus dem Besitz von Aufseß ähnelte im Zuschnitt der Kollektion Du Sommerard mit ihrem Schwerpunkt im Bereich historischer Möbel, Gerätschaften und Waffen, während die historischen Räume des Kartäuserklosters, v. a. eine Kapelle und ein Kreuzgang des 14. Jahrhunderts, und die mittelalterliche Monumentalplastik des Lapidariums das Ergebnis eher dem Erscheinungsbild des Musée des Monuments Français annäherte. Allerdings bot der historische Gebäudekomplex nur eine beschränkte Anzahl von Räumlichkeiten, sodass unter dem Direktorat des Architekten August Essenwein ab 1866 die geplante Bestandserweiterung mit einem ausgreifenden Neubauprogramm verbunden wurde. Dies begann 1872 mit dem Wiederaufbau eines weiteren spätgotischen Kreuzganges aus Nürnberg im Anschluss an die historische Substanz. 1877–80 und noch einmal 1886–88 fügte Essenwein neogotische Anbauten nach eigenen Entwürfen für neue Abteilungen, wie Ur- und Frühgeschichte, eine Abgusssammlung, Gemälde und Volkskunde hinzu. Leitendes Prinzip war die Erzeugung einer malerisch-abwechslungsreichen Baugruppe in stilistisch homogener Ausführung nach dem Muster der historischen
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Klosterreste. Im Inneren enthielten diese Anbauten jedoch Raumgestaltungen in verschiedenen historischen Stilformen, die die unterschiedlichen Bestandsgruppen berücksichtigten. So zeigte Essenwein Gipsabgüsse nach romanischer Plastik in einem neo-romanischen Kirchenraum, der mit Fresken derselben Stillage verziert war. Auch nach seinem Ausscheiden aus dem Amt 1890 setzte sich das Ausbauprogramm nach dem gleichen Verfahren bis in den Ersten Weltkrieg hinein fort. Mit dem Ausbau des Germanischen Nationalmuseums etablierte sich der „Stilraum“ als die eigenständige Ausstellungspraxis für kulturhistorische Museen. Das zugrundeliegende Prinzip seiner Inszenierung war die Veranschaulichung der früheren Funktionalität der Exponate in diametralem Gegensatz zu ihrer Autonomisierung im Kunstmuseum. Dabei war es didaktisch kaum von Belang, ob authentische historische Räume oder bestimmten Stilvorbildern nachempfundene historistische Raumschöpfungen mit Exponaten der vorbildgebenden Stilepoche zu einem solchen Arrangement zusammengeführt worden sind. In beiden Fällen vermochte die Raumgestalt zusammen mit den nach Verwendungszusammenhängen ausgewählten Exponaten bereits auf einer nonverbalen Ebene zu veranschaulichen, wofür die präsentierten Gegenstände einmal hergestellt worden waren. Zwar konnte auch das „Stilraum“Prinzip auf didaktische Erläuterungen nicht ganz verzichten, vor allem, wenn den Besuchern die Funktion eines Objektes aus ihrer eigenen Lebenswelt nicht mehr geläufig war, aber das Verständnis der meisten ausgestellten Gegenstände konnte an die Alltagserfahrung der Rezipienten anknüpfen. Aus dieser lebensweltlichen Anbindung erklärt sich die enorme Popularität des „Stilraum“-Prinzips in der zweiten Jahrhunderthälfte, als es im Wechselspiel zwischen den kulturhistorischen Museen und den Weltausstellungen immer mehr zu einer täuschend echt wirkenden Simulation der Vergangenheit oder der Lebensweise fremder Völker perfektioniert worden ist. Bis heute findet man in kulturhistorischen Museen eine Einebnung der Hierarchie zwischen Kunstwerk und Alltagsobjekt, die gemeinsam als materielle Hinterlassenschaften der Geschichte verstanden werden.
Das Schweizerische Landesmuseum in Zürich (1890–1898) Im Zuge der fortschreitenden Industrialisierung und Massenurbanisierung im späteren 19. Jahrhundert verschoben sich die Akzente bei der Einrichtung kulturhistorischer Museen erneut. Während sich die politisch-revolutionäre Stoßrichtung der Kulturgeschichte im Zuge politischer Kompromisslösungen wie etwa der Reichsgründung in Deutschland 1871 abnutzte, gewann der Museumstyp über die Konstruktion einer lokalen oder regionalen Identität zunehmend eine neue Funktion für die soziale Integration. Auch weiterhin vom bürgerlichen Vereinswesen getragen, sollte die Popularität des „Stilraum“-Prinzips gerade die Integration eines bildungsfernen Publikums aus den neu zugewanderten großstädtischen Unterschichten
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in die bürgerliche Gesellschaft gewährleisten. In vielen mitteleuropäischen Großstädten, die einem dramatischen Modernisierungs- und Veränderungsdruck unterlagen, wurden deshalb in den beiden Jahrzehnten vor und nach 1900 sehr schnell kulturhistorische Museen aus dem Boden gestampft, ohne dass dort wie bei den älteren Vorbildern historische Gebäudekomplexe zumindest als Kristallisationspunkte zur Verfügung gestanden hätten. Angeregt durch das Nürnberger Konglomerat war der neue Bautyp des „agglomerierten Museums“, das in seiner äußeren Form und in seinem Raumprogramm unterschiedliche historische Stilformen collageartig zusammenfügte, die ideale Antwort auf diese Problemlage. Musterbau des „agglomerierten Museums“ wurde das nach einem Entwurf Gustav Gulls ab 1890 errichtete Schweizerische Landesmuseum in Zürich, eine asymmetrische Baugruppe um einen zum Stadtpark und einen zum Hauptbahnhof geöffneten Hof in städtebaulich zentraler Lage mit optimaler überregionaler Verkehrsanbindung. Im Unterschied zu Nürnberg, wo die stilistisch einheitlichen Ergänzungsbauten sämtlich der Typologie der spätgotischen Klosterarchitektur nachgebildet waren, wirkte der auf freier Fläche in einem Zug errichtete Neubau in Zürich trotz auch hier überwiegend mittelalterlicher Stilvorbilder wie ein Konglomerat aus zufällig verbundenen Einzelbauten, die auf funktional unterschiedliche Vorbilder wie Burgturm, Rathaus oder Kapelle zurückgriffen. Diese Auswahl war auf die Schwerpunkte der Sammlung abgestimmt, da die innere, auf unterschiedliche Exponatgruppen abgestimmte Raumform mit der äußeren Erscheinung des Baukörpers übereinstimmen sollte, in dem sie sich befand. Die nachfolgenden Realisationen des „agglomerierten Museums“, wie das Bayerische Nationalmuseum in München (1892–1900) oder das Märkische Provinzialmuseum in Berlin (1898–1908), haben diese Spiegelung des „Stilraum“-Prinzips in die Außenarchitektur weiter perfektioniert und präsentieren mit einem jeweils regional geprägten Akzent Collagen aus romanischen und gotischen Bauteilen, Renaissance- und Barockfassaden.5 Die „gotische Waffenhalle“ mit der mittelalterlichen Waffensammlung bildete in Zürich – eher als die seit den Tagen des Musée de Cluny obligatorische Kirchenraumsimulation der „Kapelle“ – das Herzstück der Baugruppe. Sie ist durch Fresken von Hodler als Ruhmeshalle für die im Spätmittelalter durch ein Bürgerheer geschaffene Eidgenossenschaft ausgezeichnet und gibt dadurch dem nationalen Gründungsmythos der Schweiz eine monumentale Form. Korrespondierend betont der andere Schwerpunkt der Sammlung, eine Reihe im Ganzen translozierter Interieurs aus dem Schweizer Raum vom 15. bis zum 18. Jahrhundert, den bürgerlichen Charakter der Helvetischen Republik. Diese Abfolge unterschiedlicher Lebenswelten der Vergangenheit mithilfe von zusammengehörigen Wandvertäfelungen, Holzdecken und Einrichtungsgegenständen entsprach didaktisch dem Prinzip des „Stilraumes“, betonte aber die historische Authentizität der Ensembles im Unterschied zu den bisher üblichen, fiktiven Nachempfindungen historischer Interieurs. Der Anspruch gesteigerter historischer Exaktheit, der mit diesen Einbauten einherging, kompensierte in gewisser
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Hinsicht die vollständige Entkopplung des historistischen Museumsgebäudes von irgendwelchen historischen Anknüpfungspunkten am Ort seiner Errichtung. Unter der Bezeichnung „Period Room“ ist die Translozierung historischer Raumfassungen in den großen amerikanischen Museen des 20. Jahrhunderts besonders für die Präsentation von angewandter Kunst übernommen worden und wird, etwa im Getty Museum in Los Angeles, bis in die Gegenwart fortgesetzt. Neben authentischen historischen Raumensembles zeigten das Schweizerische Landesmuseum und seine Nachfolgebauten selbstverständlich auch weiterhin museale Zusammenstellungen aus heterogenem historischem Material in historistischen „Stilräumen“, die schon wegen des Sammlungsumfangs unumgänglich waren. Dabei kündigt sich nach der Jahrhundertwende eine gegenläufige Tendenz an, bei der statt einer suggestiven Rekonstruktion von Geschichte der fiktive, erst im Museum geschaffene Gesamteindruck hervorgehoben wird. Am weitesten ist der Architekt Ludwig Hoffmann bei der 1908 eröffneten Dauerausstellung des Märkischen Provinzialmuseums in Berlin in diese Richtung gegangen. Zwar folgten auch hier „Kapelle“ und „Waffenhalle“ mit funktional zusammengestellten Objektgruppen dem Züricher Vorbild, aber in den Mittelpunkt des Museums war die „Große Halle“ gerückt, in deren abstraktem Zitat unspezifischer Sakralbauformen ein nicht durch seinen Verwendungszusammenhang bestimmtes Arrangement von Exponaten nur mehr eine generelle Assoziation von Geschichte hervorrufen sollte. Unter dem Eindruck der Ablösung vom Historismus mutierte die kognitiv-didaktische Konzeption des „Stilraumes“ zu einer von seinem Urheber als „Stimmungsraum“ bezeichneten, den Besucher affektiv ansprechenden Inszenierung.
A NMERKUNGEN 1 | Zur Geschichte des kulturhistorischen Museums vgl. allgemein Bernward Deneke/Rainer Kahsnitz (Hg.): Das kunst- und kulturgeschichtliche Museum im 19. Jahrhundert. Vorträge des Symposiums im Germanischen Nationalmuseum Nürnberg, München: 1977; Susanne Abel (Hg.): Rekonstruktion von Wirklichkeit im Museum. Tagungsbeiträge der Arbeitsgruppe „Kulturhistorische Museen“ in der Deutschen Gesellschaft für Volkskunde, Hildesheim: 1992; Sven Kuhrau/Alexis Joachimides (Hg.): Renaissance der Kulturgeschichte? Die Wiederentdeckung des Märkischen Museums in Berlin aus einer europäischen Perspektive, Dresden/Basel: 2001. 2 | Louis Courajod (Hg.): Alexandre Lenoir. Son journal et le Musée des Monuments Français, 3 Bände, Paris: 1886; Bruno Foucart: »La fortune critique d’Alexandre Lenoir et du premier musée des monuments français« , in: L’information d’histoire de l’art 14 (1969), S. 223–232; Alain Erlande-Brandenburg: »Le Musée des monuments français et les origines du Musée de Cluny«, in: Deneke/Kahsnitz 1977 (wie Anm. 1), S. 49–58; Christopher Greene: »Alexandre Lenoir and the Musée des monuments français
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during the French Revolution«, in: French Historical Studies 12 (1981), S. 200–222; Elke Harten: Museen und Museumsprojekte der Französischen Revolution. Ein Beitrag zur Entstehungsgeschichte einer Institution, Münster: 1989; Dominique Poulot: »Le Musée des Monuments Français d’Alexandre Lenoir«, in: Barry Bergdoll/Michael Camille (Hg.), Le musée de sculpture comparée. Naissance de l’histoire de l’art moderne, Paris: 2001, S. 36–43. 3 | Francis Salet: »Histoire de la collection Du Sommerard«, in: Pierre Verlet (Hg.), Musée de Cluny. Guide sommaire, Paris: 1949, S. 1–15; Pierre Marot: »Les origines d’un ‚Musée d’antiquités nationales‘, de la protection du ‚Palais des Thermes‘ à l’institution du ‚Musée de Cluny‘«, in: Mémoires de la Société nationale des Antiquaires de France 9, 1968, S. 259–327; Stephen Bann: »Historical Text and Historical Object. The Poétics of the Musée de Cluny«, in: History and Theory 17 (1978), S. 251–266; Dany Sandron: »Edmond du Sommerard und das Musée de Cluny. Zur frühen Entwicklungsgeschichte eines Museums (1843–1885)«, in: Hiltrud Westermann-Angerhausen (Hg.), Alexander Schnütgen. Gedenkschrift des Kölner Schnütgen-Museums zum 150. Geburtstag seines Gründers, Köln: 1993, S. 53–66; Viviane Huchard: »Verwandlungen des Musée de Cluny. Eine europäische Sammlung mittelalterlicher Kunst auf ihrem Weg von der romantischen Privatsammlung Du Sommerards zum Musée national du Moyen Age«, in: Kuhrau/Joachimides 2001 (wie Anm. 1), S. 198–210. 4 | Bernward Deneke/Rainer Kahsnitz (Hg.): Das Germanische Nationalmuseum in Nürnberg 1852–1977, München/Berlin: 1978; Rudolf Pörtner (Hg.): Das Schatzhaus der deutschen Geschichte. Das Germanische Nationalmuseum. Unser Kulturerbe in Bildern und Beispielen, Düsseldorf: 1982; Hermann Maué: Das Germanische Nationalmuseum in Nürnberg. Die Bauten und ihre Geschichte vom Kartäuserkloster bis zur Gegenwart, München/Berlin: 1982; Gerhard Bott: »Das Germanische Nationalmuseum in Nürnberg, ein nationales Museum?«, in: Marie-Louise von Plessen (Hg.), Die Nation und ihre Museen, Frankfurt am Main/New York: 1992, S. 169–181; Walter Hochreiter: Vom Musentempel zum Lernort. Zur Sozialgeschichte Deutscher Museen 1800–1914, Darmstadt: 1994, S. 58–86; Irmtraud von AndrianWerburg: Das Germanische Nationalmuseum. Gründung und Frühzeit, Nürnberg: 2002; Georg Ulrich Großmann: »Museen – Tradition und moderne Nationen. Das Germanische Nationalmuseum im 19. Jahrhundert« in: Jacek Purchla (Hg.), Krakau und Nürnberg in der europäischen Zivilisation. Materialien der internationalen Tagung im Internationalen Kulturzentrum Krakau, Krakau: 2006, S. 111–128. 5 | N. N. (Hg.): Festgabe auf die Eröffnung des Schweizerischen Landesmuseums in Zürich am 25. Juni 1898, Zürich: 1898; Dietrich W. H. Schwarz (Hg.): Das Schweizerische Landesmuseum 1898–1948. Festbuch zum 50. Jahrestag der Eröffnung, Zürich: 1948; Lukas Wüthrich: Schweizerisches Landesmuseum gestern – heute. 75 Jahre im Dienst der Öffentlichkeit 1898–1973, Zürich: 1973; Hanspeter Draeyer: Das Schweizerische Landesmuseum Zürich. Bau- und Entwicklungsgeschichte 1889–1998, Zürich: 1999; François de Capitani: »Das Schweizerische Landesmuseum. Gründungsidee und wechselvolle Geschichte«, in: Zeitschrift für schweizerische Archäologie
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A LEXIS J OACHIMIDES und Kunstgeschichte 57 (2000) S. 1–16; Thomas Sieber: »Das Schweizerische Landesmuseum zwischen Nation, Geschichte und Kultur. Ein Rückblick«, in: Zeitschrift für schweizerische Archäologie und Kunstgeschichte 63 (2006) S. 15–24; zu den Nachfolgebauten u. a. Ingolf Bauer (Hg.): Das Bayerische Nationalmuseum. Der Neubau an der Prinzregentenstraße 1892–1900, München: 2000; Nikolaus Bernau/Kai Michel: Das Märkische Museum, Berlin: 1999.
„... nur für Kunsthistoriker und sonstige Sonderlinge.“ Museologische Debatten zu Dauerausstellungen um 1900 Martina Griesser-Stermscheg, Monika Sommer
Viele Museen stehen aktuell vor der Herausforderung, sich mit ihren ständigen Ausstellungen auseinandersetzen zu müssen. Die Gründe dafür sind, unabhängig davon, um welchen Museumstyp es sich handelt, vielfältig: Die dargestellten wissenschaftlichen Inhalte erweisen sich als überholt oder überfrachtet, die Präsentationsästhetiken erscheinen veraltet, bislang nicht repräsentierte Bevölkerungssegmente reklamieren ihre Integration in die Darstellung der Geschichte einer Stadt, einer Region oder einer Nation; das gesellschaftspolitische Narrativ eines (historischen) Ereignisses hat sich verändert, oder die ständige Ausstellung steht im Gegensatz zu den anderen Aktivitäten – wie z. B. dem Wechselausstellungsprogramm oder partizipatorischen Projekten mit Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger – eines Museums. Manchmal wollen sich auch politische Repräsentantinnen und Repräsentanten mit der Neugestaltung profilieren, bzw. (neu besetzte) Museumsleiter/ innen oder Kuratorinnen/Kuratoren können sich nicht mehr mit der bestehenden Schausammlung identifizieren. Abstrahiert gesehen, liegen die Ursachen für den Wunsch nach der Neugestaltung bestehender ständiger Schausammlungen einerseits in der Transformation von Wissens- und Sehgewohnheiten, andererseits in den gesellschaftspolitischen Aufgaben, die sich für Museen heute stellen. Motoren für Veränderungen sind somit gesellschafts- und bildungspolitische Forderungen von Repräsentantinnen/Repräsentanten und von Anspruchsgruppen der Museen sowie – leider nur in Ausnahmefällen – Neuerungen in den Wissenschaften. Die Bewertung der Möglichkeiten, die ständige Ausstellungen bieten, schwankt offenbar zwischen „Potenzial und Dilemma“ – so die Initiatorinnen und Initiatoren des vorliegenden Forschungsprojekts. Ziel dieses Beitrags ist es, die aktuelle Fragestellung nach den Chancen und den Schwierigkeiten von Dauerausstellungen um eine historische Dimension zu erweitern, wobei wir die Aufmerksamkeit vor allem auf die Jahre von 1905 bis 1914
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lenken wollen. In dieser Zeit ist im deutschsprachigen Raum ein enormer Professionalisierungsschub feststellbar, der beispielsweise in der 1905 gegründeten Zeitschrift Museumskunde Ausdruck findet. Diese dient uns hier als Ausgangspunkt und maßgebliche Quelle für den Stand der Diskussionen von Museumsfragen zwischen „museum professionals“, die sich spartenübergreifend austauschten, Erfahrungen schilderten und (selbst)kritisch reflektierten. Die Artikel in den elf Jahrgängen bis zum Ersten Weltkrieg dokumentieren die – bemerkenswert leidenschaftlich betriebenen – Bemühungen, die Museumsarbeit wissenschaftlich zu fundieren. Internat ionale Praxisbeispiele wurden rezipiert und in loser Reihenfolge sogar englischsprachige Artikel in der Museumskunde abgedruckt. Nach Österreich-Ungarn wurde der Blick nur selten gerichtet: Seit der neuen Hängung der Kaiserlichen Gemäldegalerie nach Meistern und Schulen im Oberen Belvedere durch Christian von Mechel 1778 vollzogen die Wiener Museen internationale Entwicklungen nur langsam nach, sie waren allerdings – bis zur Errichtung der Sezession, deren Ausstellungsgebäude als vorbildhaft gelobt wurde,1 und bis die neue Ausstellungspraxis der Sezessionisten international Beachtung fand2 – kein Hort der Innovation.3 Lediglich in Ausnahmefällen publizierten auch engagierte österreichische Museumsverantwortliche in dem Fachjournal. So forderte 1905 beispielsweise der Architekt und Direktor des Mährischen Gewerbemuseums, Julius Leisching, eigene Ausbildungen für Museumsbeamte einzuführen, da das vielfältige, für Museumsarbeit notwendige Wissen auf den Universitäten allein nicht vermittelt wurde4 – eine Idee, die Wilhelm Bode mit einem zweijährigen Ausbildungsprogramm in Berlin in die Tat umsetzte,5 wobei dies nur eine von vielen Maßnahmen war, die der ursprünglich als Jurist ausgebildete Museumsdirektor realisierte: Nicht zuletzt durch seinen Reformgeist konnte Berlin als Hauptstadt des 1871 neu gegründeten Deutschen Reichs an die kulturellen Leistungen und die Vormachtstellung von Paris und London anschließen. Vor allem aber legt die Zeitschrift Zeugnis ab von der Gleichzeitigkeit von Krise und Konjunktur des Mediums Museums, das in Deutschland gerade reformiert wurde:6 Zahlreiche Berichte von Museumsneugründungen stehen einer Vielzahl von Beiträgen über notwendige Neuaufstellungen von ständigen Ausstellungen gegenüber, denn die Museen wurden als muffig und abgehoben empfunden: Sie würden „totes erstarrtes Leben“ beherbergen und seien zur „Pflegestätte akademischen Strebens“ geworden, so lauteten die zeitgenössischen Vorwürfe.7 Die Futuristen opponierten wohl am heftigsten gegen die Hängung nach kunstgeschichtlichen Kriterien, die sich in den Kunstmuseen im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts durchgesetzt hatte und forderten 1909 gar deren „Abfackeln“. Alexis Joachimides (2001) kann für die deutschen Kunstmuseen eine regional gesteuerte Opposition gegen die großstädtische Institution Museum nachweisen und interpretiert den Widerstand als „Ausdruck eines konservativen Kulturpessimismus, dem die Zentralisierung der Kulturwerte als ein weiterer, durch die moderne Gesellschaft verursachter Traditionsverlust erschien.“8 Der Kunsthistoriker Eugen Kalkschmidt beschrieb um
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1906 die „Museumskrise“ zwischen der „Museumsflucht der Ungebildeten“ und dem „Museumsekel der ästhetisch Sensiblen“.9 Die ästhetischen Schwächen, die bereits die Zeitgenossen beklagten, kommentiert Walter Grasskamp (2007) bei der Beschreibung des vorliegenden historischen Bildmaterials nicht minder kritisch: „Man kann sich die Ausstellungsräume des späten 19. Jahrhunderts nicht überladen, farbintensiv und prächtig genug vorstellen, jedenfalls wirken sie auf das heutige Auge beinahe unerträglich.“10 Viele Aspekte, die in der gegenwärtigen Diskussion um Schausammlungen bedeutsam sind, prägten in ähnlicher Form auch schon die Museumsarbeit im 19. Jahrhundert, die Hanno Möbius (2006) in drei „Spannungsverhältnisse“ gliedert: 1. Konflikte zwischen nationalen und internationalen Perspektiven, 2. die ursprünglich enzyklopädische Ausrichtung vieler Sammlungen versus zunehmender Spezialisierung und 3. die Balance zwischen antiquarischer Bewahrung und gegenwartsbezogener Ausstellungspraxis.11 Besonders der letzte Punkt wurde um 1900 virulent: Die Frage, für wen die Museen agieren – für Fachwissenschafter oder bildungshungrige Laien – implizierte eine neue Befragung der bisherigen Praktiken des Sammelns, Deponierens und Ausstellens. Mit der Verschiebung der Fokussierung von den Dingen hin zu den sich mit den Exponaten auseinandersetzenden Menschen vollzog sich ein bedeutsamer Perspektivenwechsel in der Museumsarbeit. Das Museum, so ein Tenor, sollte sich als lebendige Institution verstehen, das Leben berühren und sich als Stätte der Volksbildung begreifen. Im deutschsprachigen Raum hatte die Diskussion 1903 einen Höhepunkt auf der von der Zentralstelle für Arbeiterwohlfahrtseinrichtungen in Mannheim organisierten Tagung „Museen als Volksbildungsstätten“ erreicht. Im selben Jahr fand die von der britischen Museums Association veranstaltete „Aberdeen Conference“ in Schottland statt, zu der Museumsfachleute aus ganz Europa und den Vereinigten Staaten geladen waren. Beide Tagungen sollten die Debatten der Fachwelt nachhaltig prägen, wie in der Zeitschrift Museumskunde, aber auch in der damals führenden Zeitschrift des angelsächsischen Raums, dem britischen Museums Journal, nachzulesen ist. Die Gründer und Herausgeber der Zeitschriften, Francis Arthur Bather (British Museum, Präsident der Museums Association) und Karl Koetschau (Historisches Museum Dresden), standen in reger Korrespondenz. Immer wieder wurden einzelne Fachbeiträge im Volltext, Tagungs- und Reiseberichte, Buchrezensionen, ja sogar Leserbriefe wechselseitig übersetzt, um die Leserschaft auf beiden Seiten mit den aktuellsten Themen der Museumspraxis zu versorgen und miteinander vernetzen zu können. Die Tagungen in Mannheim und Aberdeen wurden in beiden Zeitschriften ausführlich kommentiert und folglich zur Referenz für alle deutsch- und englischsprachigen Autoren, die sich der Frage nach Krise und Zukunft des Museums stellen wollten bzw. die konkret um die Spaltung der Bestände in eine Studien- und eine Schausammlung rangen. „Wie allgemein diese Teilung als nötig anerkannt wird, zeigte die Mannheimer Konferenz“,12 berichtete etwa Hans Dedekam (1905) von diesem Konsens unter den fortschrittlichen Museumsverantwortlichen.
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Am Beginn seiner Eröffnungsrede in Aberdeen beschrieb Präsident Francis Bather seine Sicht der grundsätzlichen Aufgaben von Museen.13 Er stellte dem traditionellen Begriffspaar Forschung und Vermittlung (research and education) ein neues begriffliches Dreigespann gegenüber: Untersuchung, Belehrung und Inspiration (investigation, instruction and inspiration). Das Publikum teilt er in drei entsprechende Ziel- bzw. Interessensgruppen: 1. Forscher und Wissenschafter (investigation), 2. Studenten, Schüler, Sammler, Amateure (instruction) und 3. das breite Publikum (inspiration). Für die Museumspraxis schlägt Bather als logische Konsequenz eine Dreiteilung der Sammlungen vor: 1. Eine Depot-Sammlung, nur den Forschern zugänglich, 2. eine nicht-öffentliche Studiensammlung zur exklusiven Belehrung von Studierenden und Sammlern, sowie 3. eine kleine Auswahl von Exponaten in bestmöglicher Präsentation für das breite Publikum. Letzterem, also dem, was wir heute als Schausammlung bezeichnen, widmet er den größten Anteil seiner Überlegungen. Wie in Mannheim steht für ihn die Aufgabe der Volksbildung an oberster Stelle, insbesondere für die großen Museen. Den kleineren Häusern empfahl er, sich auf eine der drei Aufgaben bzw. auf konkret ausgewählte Zielgruppen zu spezialisieren und genau diese optimal zu bedienen. Bather betont in seiner Eröffnungsrede die Notwendigkeit zur Inspiration des „kleinen Manns von der Straße“: „... to inspire people with [...] beauty [...] and to induce a divine discontent with the ugliness in which they live. [...] With the democratic spirit of our time, the museum must no longer be a holy shrine, removed from the touch of common men.“14 Die konsequente Trennung der Sammlungen sei Mittel zur Inspiration. Abschließend wies er seine internationalen Fachkollegen auf die große Bedeutung der Mannheimer Tagung hin, die einige Monate darauf stattfinden sollte. Der aufgeschlossene Direktor des Kunstmuseums Hamburg und Museumsreformer, Alfred Lichtwark, zählte in Aberdeen zum geladenen Kreis von Experten und Kommentatoren. In Mannheim war er für die Eröffnungsrede zuständig:15 Mit scharfen Worten kritisierte er die Museen in ihrem Nicht-Verhältnis zum breiten Publikum. Er forderte eine Abgrenzung von den Universitäten und die Entwicklung neuer, eigenständiger Formate zur Wissensvermittlung im Museum. Einer seiner Nachredner, Direktor Ernst Grosse vom Kunstmuseum Freiburg, wies zu diesem Zweck auf die Notwendigkeit zur Trennung der Sammlungen, aber auch auf den nötigen Wechsel der Dauerausstellungen in regelmäßigen Intervallen hin. Seine Vorschläge ernteten Applaus und wurden im Laufe der Tagung immer wieder aufgegriffen. So auch von Eduard Leisching, Direktor des Österreichischen Museums für Kunst und Industrie in Wien, der für die Wiener Sammlungen eine Trennung zwischen wissenschaftlicher Sammlung und Schausammlung befürwortete.16 Eduard Leisching (der Bruder des erwähnten Julius Leisching) war in Mannheim übrigens der einzige Vertreter, der für die österreichischen Museen das Wort erhob. Der Tagungsbericht eines britischen Teilnehmers schildert im Museums Journal die Aufbruchsstimmung der Mannheimer Tagung. An gleicher Stelle relativiert dieser aber sogleich:
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„No museum supposed that it could turn a road-mender into a connoisseur on a Sunday morning, but it might be proud to have inspired only one or two per cent of its visitors.“17 Die Idee zur Trennung der Sammlungen war aber weder in Aberdeen noch in Mannheim geboren worden. Sie wurde hier nur für die Fachwelt salonreif gemacht. Generell waren die naturwissenschaftlichen Sammlungen wichtige Vorreiter in der Diskussion um die Praktiken des Ausstellens von Wissen in Hinblick auf die sich wandelnde Öffentlichkeit.18 Als anerkannte historische Referenz galt den Kongressteilnehmern in Aberdeen und Mannheim das Agassiz Museum des Harvard College, Cambridge (USA), wo der Sammlungsgründer Louis Agassiz bereits um 1860 eine didaktische Trennung der zoologischen Sammlungen zwischen jenen für Studierende und anderen für das breite Publikum herbeiführte.19 Durch die enge Anbindung an die Universität war dieses international herausragende museologische Konzept in seiner eigenständigen Entwicklung aber gehemmt worden, so erklärten die Zeitgenossen.20 Auch der Direktor des Berliner Naturkundemuseums, Karl Möbius, hatte bereits 1891 die Trennung der Bestände in Schau- und Studiensammlungen vorgeschlagen.21 Er rezipierte damit eine Entwicklung, die maßgeblich vom Natural History Museum in London ausging, das mit dem 1880 eröffneten Neubau in South Kensington (davor waren die Sammlungen Teil des British Museum) einige Neuerungen versprach. John Edward Gray war als Wegbereiter zu sehen für den Weg, den sein Nachfolger William Henry Flower, Direktor des neu eröffneten Natural History Museum ab 1884, einschlagen konnte. Gray propagierte bereits um 1862 die Reduzierung der Bestände in der ständigen Ausstellung und die Notwendigkeit zur Trennung der Sammlungen in Schau- und Studiensammlung. Flower sprach sich ebenso dafür aus und publizierte seine Gedanken in Essays on Museums and other subjects connected with Natural History (1898). Inkludiert war ein idealisierter, schematischer Grundriss, der erstmals Rückschlüsse auf die gedachte Relation zwischen den Raumeinheiten zulässt: Der Bereich der „reserve collections“ präsentiert sich in seiner Ausdehnung genauso groß und gleichberechtigt wie der Bereich der „public exhibition“. Die zwei wesentlichen Aufgaben eines nationalen Museums, so Flower, könnten durch diese Raumanordnung bestens erfüllt werden: die Wissensvermittlung an ein breites Publikum, aber auch die Förderung der Forschung. Die hauseigenen Kustoden und externen Wissenschafter sollten „in the most convenient way possible“ die Möglichkeit zur uneingeschränkten Forschung haben.22 In der Museumskunde wird 1906 als weitere internationale Referenz das niederländische Modell vorgestellt: Als Idealmuseum, ja sogar „Zukunfts-Museum“, wird das Naturhistorische Museum in Leiden gepriesen, das beim Neubau der Anlage (1905) den Besucherbereich für die ständige Ausstellung vom „Magazin für Unika und Rariora“ in einem eigenen Gebäude separierte.23 1905 wurde auch im Zoologischen Museum der Breslauer Universität – aufgrund der „wachsenden Anforderungen in der wissenschaftlichen Bearbeitbarkeit und Darstellung“ – eine
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Veränderung in der Aufstellung der Sammlungen vorgenommen: Es kam zur Trennung in 1. „Schaumuseum“ für das Publikum, 2. „tausend Nummern abgespalten“ für Unterrichtszwecke und 3. „die große Masse der übrigen Objekte, die nur für Zwecke wissenschaftlicher Untersuchungen und Vergleichungen zu dienen hat“ werden „in geeigneten Räumen magaziniert“.24 Über das Märkische Museum informierte Albert Kiekebusch (1909): Die archäologischen Sammlungen wurden hier ebenso dreigeteilt in 1. ständige Ausstellung, 2. Studiendepot und 3. Magazin. Für das nicht öffentliche Magazin (es ist das, was wir heute in unseren Museen gemeinhin als „Depot“ bezeichnen) gibt Kiekebusch genaue Handlungsanweisungen zur Inventarisierung und Standortverzeichnung.25 Das nicht öffentliche Depot stellte die Museumsfachleute vor eine neue, schwierige Verwaltungsaufgabe – das Ablegen und das auch für eine spätere Generation ermöglichte Wiederauffinden von zwar gesammelten, aber weder in der ständigen Ausstellung noch im Studiendepot sichtbaren Objekten. Dem Modell der Trennung wurde allerdings auch mit Skepsis begegnet, vor allem von den traditionellen Kunstmuseen. In Dresden und Frankfurt positionierten sich die Direktoren der Gemäldegalerien klar dagegen, wenn auch aus unterschiedlichen Motiven. Für das Städelsche Kunstinstitut galt (1905): „Ein nützliches Mittel zur Erleichterung, nämlich kräftiges Deponieren, kann in Frankfurt vorläufig noch nicht angewendet werden. Die künstlerisch weniger wertvollen Stücke, [...] sie in abgetrennten Räumen nur für Kunsthistoriker und sonstige Sonderlinge aufzuhängen, dafür ist Frankfurt zu klein, und zu fest in seinen Traditionen, ganz anders als in Berlin, wo kein Mensch sich mehr erinnern kann, wie es vor zehn oder gar zwanzig Jahren in der Galerie ausgesehen hat.“26 Überzählige Bilder wurden, um Platz für die stark reduzierte Neuhängung zu schaffen, in den Büro- und Verwaltungsräumen untergebracht.27 Im Dresdner Zwinger dachte Direktor Karl Woermann (1907), dass für die minder wertvollen Bilder der Sammlung die Nebenräume jedenfalls geeigneter seien als „ein eigens errichteter Magazin-Neubau; denn die Grenze zwischen den alten Bildern, die nur den Kunstforscher interessieren, und jenen, die die weitesten Kreise künstlerisch begeistern, ist durchaus nicht so scharf zu ziehen, daß ihre Trennung [...] nicht zu den lebhaftesten Klagen Anlaß geben würde.“28 Der Anspruch, die Museen in Hinblick auf diversifizierte Benützeranliegen zu spezifizieren und neu zu ordnen, entstand nicht allein vor dem Hintergrund eines gesellschaftlichen Wandels und der Forderung nach mehr Bildungsangeboten. Vielmehr ging er Hand in Hand mit Transformationen in den wissenschaftlichen Arbeitsweisen und kollidierte mit der faktischen Situation in den Museen: Platznot bestimmte in fast allen Häusern die tägliche Praxis. Im Erweiterungsbau des Österreichischen Museums für Kunst und Industrie durch Architekt Ludwig Baumann wurde für die immer größer werdende Sammlung 1909 ein Depot vorgesehen.29 Künftig sollten bei Museumsneubauten Depots von Beginn an berücksichtigt werden. Die Geschichte
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des zwischen 1903 und 1909 von Otto Wagner geplanten, allerdings nie realisierten, Kaiser Franz Josef-Stadtmuseums in Wien zeigt diese Neukonzeptionen der Raumverteilung, mit der auch eine Bedeutungsveränderung verbunden ist, gut an: Waren in den ersten Plänen Depotflächen noch nicht vorgesehen gewesen, waren die Räume für die „nicht allgemein zugänglichen Sammlungen“ in der letzten von fünf Versionen direkt neben dem Büro des Direktors und der Kustoden konzipiert worden.30 Diese sind am Grundriss im Hochparterre als „Räume für nicht auszustellende Gegenstände“ gekennzeichnet und entsprechen etwa der Grundfläche aller Büroräume.31 Insgesamt sollten sich die Flächen im Vergleich zum alten Standort im Rathaus vervierfachen, und dadurch „mehr als ein Jahrhundert reichen“, wie der Gemeinderat vermerkte.32 Der Zuwachs an Objekten bestimmte auch die Arbeit in den kunst- und kulturhistorischen Museen. Die Leidenschaft, Objekte anzuhäufen, erfasste zahlreiche Kustoden, sodass oftmals die sachgerechte Lagerung und die wissenschaftliche Bearbeitung der gehorteten Gegenstände auf kommende Generationen übertragen wurden. So erinnert sich etwa Wilhelm Bode in seiner Autobiografie daran, 1882/83 mit der Sichtung von mehr als tausend Gemälden beschäftigt gewesen zu sein, die seit 1830 unbeachtet, verschmutzt und in schlechtem Zustand, im „Magazine auf dem Dache“ im Alten Museum lagerten33 und klagte über die „unerträgliche Überfüllung“ der Sammlungen, insbesondere der ethnografischen. „Kaum einer der Direktoren war für eine Mäßigung im Sammeln oder gar Magazinierung und Abgabe zu haben. Der Direktor der umfangreichsten und durch jene Übelstände am stärksten betroffenen Sammlung [...] leugnete den Begriff der Dublette überhaupt und war unersättlich in der Aufstapelung [...]“34 Konsequenterweise sorgte er im Kaiser-FriedrichMuseum, heute Bode Museum, für die Schaffung von Depoträumlichkeiten für die Gemälde35 und für das Kaiserliche Münzkabinett, das 1905 im ersten Jahrgang der Museumskunde hervorgehoben und abgebildet worden war:36 Es war das, was wir heute als High-tech-Depot bezeichnen würden und ließ sowohl aus konservatorischer als auch aus sicherheitstechnischer Sicht kaum Wünsche offen. Die Vorzüge der eisernen Münzschränke werden ausführlich beschrieben und dokumentieren die überraschend hohen Anforderungen und Standards in der Depotausstattung. In der Museumskunde spiegelt sich sowohl in einzelnen Beiträgen als auch im Anzeigenteil die zunehmende Professionalisierung in konservatorischen und ausstellungstechnischen Belangen – eine Entwicklung, die vor allem von den Kunst- und kulturhistorischen Museen ausging; folgt man den Beiträgen in der Museumskunde, stellten insbesondere die Alte Pinakothek in München und das Kaiser-FriedrichMuseum Berlin Vorreiter dar.37 Das hohe Niveau der Diskussion und die Bereitschaft zur verschränkten Grundlagenforschung von Museen und Industrie sind beeindruckend. Vor dem Ersten Weltkrieg gipfelte diese Entwicklung in der Einführung von museumstechnischen Ausstellungen, beispielsweise in Leipzig,38 wo sich diese Tradition ja bis heute erhalten hat.
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Gleichzeitig differenzierte sich die Arbeit der Museumskustoden, sie mussten nun die Dinge nicht nur mit sprachlichen Kategorien in Verbindung bringen, d. h. klassifizieren, sondern sie auch neuen Räumen (Schausammlung, Studiensammlung, Depot) zuweisen, wobei ihre ästhetische Dimension ein wichtiges Kriterium war. Moderne Museumskustoden mussten sich nun Gedanken machen, welche Objekte sie anschaulich ausstellten. Mit der Diskussion um die Trennung von ausgestellten Sammlungen war auch die Veränderung eines Berufsbildes verbunden, das von den bisherigen Kustoden, die die Sammlungen bewahrten und verwalteten, verlangte, aus den bereits musealisierten Objekten auszuwählen, zu reduzieren und sich vom Anspruch auf Vollständigkeit zugunsten einer größeren Verständlichkeit zu verabschieden. Die bisherige Ausstellungspraxis wollte man hinter sich lassen: „Nineteenth-century museums were marked by an obsessive curatorial fixation on chronology that overruled all other considerations, and completeness of displays dominated.“39 Bather (1903) führte auf der Konferenz in Aberdeen seine Vorstellungen, wie ständige Ausstellungen konzipiert werden sollten, genau aus: „As for the objects, avoid crowding, by the selection only of the best. One work of the first rank has more influence than a whole museum of mediocrity. Escape monotony by varying the objects.“40 Im Sinne der Volksbildung sollte dem Publikum ein „geführter Blick“ durch eine kuratorische Vorauswahl und die Reduzierung der Bestände in den Schausammlungen ermöglicht werden – „Best of “-Überblicke sind bis heute eine beliebte Ausstellungspraxis. Nicht weniger instruktiv fällt folgende Empfehlung (1911) aus: „Als Aufgabe der Schausammlung ist zu bezeichnen, daß sie leicht und mühelos ästhetisches Genießen und schauendes Lernen ermögliche.“41 Otto Lehmann aus Altona (1910) ging, in Anlehnung an seinen französischen Kollegen Gutave Gilson, sogar so weit vorzuschlagen, die Museen generell in „wissenschaftliche“ und in „propädeutische“ zu trennen, letztere „haben ihre Sammlungen nach didaktischen Gesichtspunkten geordnet, sie vermitteln die Einführung in die Wissenschaft.“42 Die grundlegende Debatte machte vor keinem Museumstypus Halt: Eine detaillierte Abhandlung über die Aufgaben von Museen sowie den Vor- und Nachteilen unterschiedlicher Ausstellungs- bzw. Präsentationsmodi bietet die über drei Jahrgänge (1908–1910) in der Museumskunde erschienenen Serie an Beiträgen von Oswald Richter. Seine Ausführungen sind zwar den ethnografischen Museen gewidmet, aber durchaus auf andere Sammlungstypen übertragbar.43 Besonders für die Kunstgewerbemuseen wurden neue Aufstellungsprinzipien gefordert, so setzte sich beispielsweise Eduard Leisching für die Einführung einer zweiten Form der Ausstellungspraxis ein: „Die bisherige Aufstellung nach Material und Technik sei pädagogisch nicht richtig; es solle parallel dazu eine nach kulturhistorischen-stilgeschichtlichen Kriterien erfolgen. Es müssen Interieurs geschaffen werden und keine Zergliederung in Spezialsammlungen.“44 Die Einrichtung von Stil- bzw. Epochenräumen als pädagogisch-ästhetisches Aufstellungsprinzip schien sowohl für kulturhistorische als auch für kunstgewerbliche Museen die
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richtige Inszenierungsform zu sein. In seiner Zeit als Generaldirektor der staatlichen Museen (1905–1920) trat Bode für die Übertragung des Aufstellungsprinzips nach Stilräumen von den kulturhistorischen Museen auf die Kunstmuseen und somit für die klare Trennung der Sammlungen in Schau- und Lehrsammlungen ein.45 Gegen diese Praxis der Ästhetisierung opponierte der spätere Direktor des Museums für Hamburgische Geschichte, Otto Lauffer, aus der Sicht der historischen Museen in einer Artikelserie in der Museumskunde, indem er versuchte, für die historischen Museen ein klares Profil zu fordern und zu erarbeiten sowie einer Annäherung der beiden Museumsgattungen entgegen zu wirken.46 Neben der Forderung, die Museen für ein über die Fachleute hinaus reichendes Publikum attraktiv zu machen, ist die Empfehlung, die Provenienz der Dinge und die Berücksichtigung des Lokalen zu einem entscheidenden Kriterium für die Auswahl zu machen, wiederkehrendes Thema in der Artikelserie von Otto Lauffer. Schon 1905 hatte Alfred Lichtwark in der Museumskunde gefordert, „das Nächstliegende“ zu berücksichtigen. Er stellte ein Desiderat in der Museumslandschaft fest: „Es gibt jedoch nirgend eine Anstalt, die es sich zur Aufgabe gemacht hätte, in einer durch Abbildungssammlung ergänzten Galerie eine Vorstellung von dem Verlauf der Ortsgeschichte zu gewähren.“47 In seiner regionalen Ausrichtung sollte das Museum aber „nicht mehr nur eine Dienerin der Vergangenheit“ sein, sondern „gegenwärtige Normen und aktuelle politische Vorstellungen“ beleuchten.48 Das Trennen von Sammlungen in ständige Schau-, Studien- und Depotsammlung wurde am Ende des 19. Jahrhunderts im theoretischen Diskurs der deutschund englischsprachigen Museen verstärkt aufgegriffen, verhandelt und zögerlich auch umgesetzt. Die Konferenzen in Aberdeen und Mannheim 1903 sind, vor allem was die bildungs- und gesellschaftspolitischen Beweggründe für eine Reform der ständigen Ausstellungen betrifft, hierbei als Meilensteine zu betrachten. Anhand der 1905 gegründeten deutschen Zeitschrift Museumskunde lässt sich der zeitgenössische Diskurs, aber auch die Skepsis gegenüber einem reformierten Präsentations- und Zeigemodus und der damit verbundenen Trennung der Sammlungen belegen. Dem Problem der Dauerausstellung wird beispielsweise damit begegnet, dass Rotationen in regelmäßigen Intervallen vorgeschlagen werden. Ein jähes Ende der Diskussionen setzt der Erste Weltkrieg. Viele Themen, die schon im ersten Jahrzehnt der Zeitschrift verhandelt wurden, werden in den 1920er- und 30er-Jahren jedoch wieder aufgegriffen – diesmal auch verstärkt in Österreich.49 Die museologische Pionierarbeit, die in der Zeitschrift Museumskunde ab 1905 geleistet worden war, dient über Jahrzehnte weiterhin als Referenz. Das von uns gewählte Zeitfenster 1905–1914 beleuchtet spannende Jahre, in denen Museumsfachleute allmählich Abschied von der Utopie der Vollständigkeit nahmen. Das moderne Museum eröffnet die ständige Ausstellung als umstrittenes Feld, das immer Lückenprogramm bleiben wird, allerdings einen diskursiven Raum der Reflexion von gesellschaftlichen, künstlerischen oder wissenschaftlichen Prozessen sowie deren Repräsentation im Museum schaffen kann.
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A NMERKUNGEN 1 | Hans Dedekam: »Reisestudien«, in: Museumskunde 1 (1905), S. 75–91, S. 91. 2 | Walter Grasskamp: »Die weiße Ausstellungswand – Zur Vorgeschichte des white cube«, in: Marianne Eigenheer (Hg.), Curating Critique, ICE Reader 1, Frankfurt: 2007, S. 340–365, S. 345f. 3 | So kommt Wien beispielsweise in der internationalen Standard-Publikation von Karsten Schubert gar nicht vor. Vgl. Karsten Schubert: The Curator’s Egg. The evolution of the museum concept from the French Revolution to the present day, London: 2009. 4 | Julius Leisching: »Museumskurse«, in: Museumskunde 1 (1905), S. 91–94. 5 | James J. Sheehan : Geschichte der deutschen Kunstmuseen. Von der fürstlichen Wunderkammer zur modernen Sammlung, München: 2002, S. 247 (nach: Wilhelm von Bode: »Beruf und Ausbildung eines Museumsbeamten«, in: Die Woche 14 (1912), S. 810ff.). 6 | Siehe hierzu: Alexis Joachimides: Die Museumsreformbewegung in Deutschland und die Entstehung des modernen Museums 1880–1940, Dresden: 2001. 7 | Ernst Schur : »Die Museen als dekoratives Gesamtkunstwerk«, in: Museumskunde 4 (1908), S. 187–194, hier S. 191. 8 | Alexis Joachimides: Museumsreformbewegung, hier S. 63. 9 | James J. Sheehan: Kunstmuseen, hier S. 214 (nach Kalkschmidt, Eugen: Das Museum der Zukunft, München: 1906, S. 4). 10 | Walter Grasskamp: Ausstellungswand, hier S. 344. 11 | Hanno Möbius: »Konturen des Museums im 19. Jahrhundert (1789–1918)«, in: Bernhard Graf, Hanno Möbius (Hg.), Zur Geschichte der Museen im 19. Jahrhundert 1789-1918, Berlin: 2006, S. 11–22, insbesondere S. 12. 12 | H. Dedekam: Reisestudien, hier S. 84. 13 | Francis Arthur Bather: »Museums Association. The Aberdeen Conference 1903. Address by the President«, in: The Museums Journal 3 (1903), S. 71–94, S. 110–132 (appendices). 14 | Ebd., hier S. 94. 15 | Alfred Lichtwark: »Museen als Volksbildungsstätten«, in: Centralstelle für Arbeiter-Wohlfahrtseinrichtungen (Hg.), Die Museen als Volksbildungsstätten, Ergebnisse der 12. Konferenz der Centralstelle für Arbeiter-Wohlfahrtseinrichtungen, Berlin: 1904, S. 6–12. 16 | Eduard Leisching: »Diskussion«, in: Centralstelle für ArbeiterWohlfahrtseinrichtungen (Hg.), Die Museen als Volksbildungsstätten, Ergebnisse der 12. Konferenz der Centralstelle für Arbeiter-Wohlfahrtseinrichtungen, Berlin: 1904, S. 101–106, S. 103. 17 | N. N.: »The Mannheim Conference on Museums as Places of Popular Culture«, in: The Museums Journal 3 (1903), S. 105-109, hier S. 107.
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18 | Vgl. Carsten Kretschmann: Räume öffnen sich. Naturhistorische Museen im Deutschland des 19. Jahrhunderts, Berlin: 2006; Susanne Köstering: Natur zum Anschauen. Das Naturkundemuseum des deutschen Kaiserreichs 1871–1914, Köln/ Weimar/Wien: 2003. 19 | Hans Dedekam: Reisestudien, S. 84. 20 | Anton Fritsch: »The Museum Question in Europe and America«, in: The Museums Journal 3 (1904), S. 247–256, S. 255. 21 | Alexis Joachimides: Museumsreformbewegung, S. 105 (nach Karl A. Möbius: »Die zweckmäßige Einrichtung großer Museen«, in: Deutsche Rundschau 68 (1891), S. 352–360. 22 | Arthur Mac Gregor: Curiosity and enlightenment. Collectors and collections from the sixteenth to the nineteenth century, New Haven/London: 2007, S. 262f. 23 | Otto Finsch: »Das Reichs-Museum für Naturgeschichte in Leiden und seine Umgestaltung in ein Ideal-Museum«, in: Museumskunde 2 (1906), S. 29–40, S. 32–34. 24 | Willy Kükenthal: »Das Zoologische Museum der Breslauer Universität«, in: Museumskunde 1 (1905), S. 216–226, hier S. 216f. 25 | Albert Kiekebusch: »Aufgabe und Einrichtung der vorgeschichtlichen Sammlungen«, in: Museumskunde 12 (1916), S. 1–30, S. 22–25. 26 | Ludwig Justi: »Die Neuordnung der Gemäldegalerie im Städelschen Kunstinstitut«, in: Museumskunde 1 (1905), S. 205–215, hier S. 206. 27 | Ebd., S. 207. 28 | Karl Woermann: »Die Raumfrage in der Dresdener Gemäldegalerie. Ein Rückblick und Ausblick«, in: Museumskunde 3 (1907), S. 140–157, hier S. 155. 29 | N. N.: »Der Erweiterungsbau des k.k. Österreichischen Museums«, in: Kunst und Kunsthandwerk 1909, S. 597–607, S. 597. 30 | Otto Antonia Graf: Otto Wagner. Band 2. Das Werk des Architekten 1903–1918, Wien/Köln/Weimar: 1994, S. 477. Für diesen Hinweis danken wir Andreas Lehne. Diese Idee wurde schließlich im von Architekt Oswald Haerdtl und Museumsdirektor Franz Glück realisierten Museumsbau ausgeführt, der 1959 der Öffentlichkeit übergeben wurde. 31 | Ebd., Abb. 687–115 auf S. 476. 32 | Ebd., S. 481 (Exposé über den gegenwärtigen Stand der Frage des Baues des Kaiser-Franz-Josef-Stadtmuseums 1909) 33 | Wilhelm von Bode: Mein Leben, herausgegeben von Thomas W. Gaehtgens und Barbara Paul, Bd. 1 (Textband), Berlin: 1997, S. 183. 34 | Ebd., S. 323. 35 | Ebd., S. 328 36 | Julius Menadier: »Die Neueinrichtung des königlichen Münzkabinetts im Kaiser Friedrich-Museum zu Berlin«, in: Museumskunde 1 (1905), S. 16–33. Das Münzkabinett und seine großteils erhaltene Ausstattung (Tresor, Sammlungs-, Bibliotheks- und Büromobiliar) wurden 2004 restauriert. Die Ausstattung erfüllt auch heute noch die Anforderungen, die eine Münzsammlung stellt.
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M ARTINA G RIESSER -S TERMSCHEG, M ONIKA S OMMER 37 | Siehe dazu: Friedrich Rathgen: »Luftdichte Museumsschränke«, in: Museumskunde 5 (1909), S. 97–102; Ernst Berger: »Die Aufgaben des Konservators in unseren Museen«, in: Museumskunde 6 (1910), S. 236–243; R. Stegemann: »Die Lösung der Heizfrage bei Gemäldegalerien und ähnlichen Sammlungsgebäuden«, in: Museumskunde 10 (1914), S. 133–145. 38 | Ernst Wilhelm Bredt: »Die museumstechnische Ausstellung in Leipzig 1914«, in: Museumskunde 9 (1913), S. 214–216. 39 | Karsten Schubert: Curator’s Egg, S. 25. 40 | Francis Arthur Bather: Aberdeen Conference, S. 82. 41 | Wilhelm Freiherr von Weckberger: »Die Museen unter verwaltungstechnischem Gesichtspunkte«, in: Museumskunde 7 (1911), S. 222–236, hier S. 223. 42 | Otto Lehmann: »Propädeutische Museen«, in: Museumskunde 6 (1910), S. 28ff., S. 30. 43 | Oswald Richter: »Über die idealen und praktischen Aufgaben der ethnographischen Museen«, in: Museumskunde 4 (1908), S. 92–106 und 5 (1909), S. 231–236 und 6 (1910), S. 40–60. 44 | N. N.: »Vorlesungen«, in: Mittheilungen des k.k. österr. Museums für Kunst & Industrie N.F. 136 (1897), S. 347–349. 45 | Wilhelm von Bode: Mein Leben, S. 384. 46 | Otto Lauffer: »Das Historische Museum. Sein Wesen und sein Wirken und sein Unterschied zu den Kunst- und Kunstgewerbe-Museen«, in: Museumskunde 3 (1907), S. 1–14, 78–99, 179–185, 222–245. 47 | Alfred Lichtwark: »Das Nächstliegende«, in: Museumskunde 1 (1905), S. 40-43, hier S. 41. 48 | Olaf Hartung: Kleine deutsche Museumsgeschichte. Von der Aufklärung bis zum frühen 20. Jahrhundert, Köln/Weimar/Wien: 2010, hier S. 53. 49 | Siehe dazu: O. Wulff: »Lehrsammlungen. Eine Neuaufgabe unserer Museen«, in: Museumskunde 15 (1920), S. 121–147; Robert Pfaff-Giesberg: »Gestaltungsprobleme des völkerkundlichen Museums«, in: Museumskunde N.F. 1 (1929), S. 69–73: „Der künftige Weg heißt – eine alte Forderung – Trennung der musealen Schätze in eine wissenschaftliche leicht zugängliche und gut bearbeitete Studiensammlung, dann aber [...] in eine, oft durch Sonderdarbietungen ergänzte, eigentliche Schausammlung.“ (S. 70f.); Anton Reichel: »Die Albertina und ihre Ausstellungsräume«, in: Museumskunde N.F. 2 (1930), S. 168–172; Thomas Bruno: »Die Neuaufstellung der Waffensammlung des kunsthistorischen Museums in der Neuen Burg zu Wien«, in: Museumskunde N.F. 9 (1937), S. 144–164.
Dauer ausstellen? Ein Versuch über Zeitbotschaften in Jüdischen und anderen Museen Sabine Offe
1. Dauer und die Ressource Aufmerksamkeit Ob eine Dauerausstellung eine auf Dauer angelegte Ausstellung ist oder Dauer ausstellt, bleibt grammatisch jedenfalls zweideutig. Diese Zweideutigkeit greift der Titel auf und scheint mir für meine folgenden Überlegungen hilfreich, aber sie schafft auch Probleme. Denn was eine Dauerausstellung ist, versteht jeder, aber die Frage, was „Dauer“ ist, konfrontiert mit dem Problem allen Denkens und Redens über „Zeit“, das Augustinus in einem der wohl meistzitierten Sätze dazu formuliert hat: „Was also ist die Zeit? Wenn niemand mich danach fragt, weiß ich es; wenn ich es jemandem auf seine Frage hin erklären will, weiß ich es nicht.“1 Dauerausstellungen, soviel lässt sich trivialerweise sagen, dauern länger als Wechselausstellungen. Aber wann beginnt Dauer? Wann hört sie auf? Ich weiß es nicht, aber ich werde unter der Prämisse solchen Nichtwissens zu zeigen versuchen, dass „Dauer“ eine wichtige „Zeitbotschaft“ von Museen ist, die über Dauer-Ausstellungen, aber auch über die Geschichte, die Gebäude, die kulturellen Praktiken und Wirkungen der Institution vermittelt wird. Die Rolle und Berechtigung von Dauerausstellungen in Museen wird zunehmend infrage gestellt. Das hängt zusammen mit gesellschaftlichen Veränderungen, die auch in anderen Bereichen dazu führen, dass wohlfahrtsstaatliche und bildungspolitische Aufgaben an ihrer betriebswirtschaftlichen Rentabilität und mit deren Kriterien gemessen werden, auch wenn solche Kriterien sich als für solche Aufgaben völlig ungeeignet erweisen.2 Finanzierungs- und Budgetproblemen soll begegnet werden mit Teilprivatisierung von Einrichtungen und mit Marketingstrategien, wie sie im Bereich von Produktwerbung üblich sind. Museen arbeiten inzwischen mit mannigfachen Tricks und Tipps der Werbung, die sich vermeintlich vorhandenen oder zu schaffenden Erwartungen und Bedürfnissen von Museumsbesuchern anpassen sollen, um deren Zahl und damit die Einnahmen zu steigern. Das gelingt
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oft eher über befristete Blockbuster-Ausstellungen als über die Dauerausstellung. Im neoliberalen Kapitalismus werden neue Selbstvermarktungsstrategien von Museen entwickelt, um ihre Corporate Identity in Konkurrenz mit anderen kommerziellen und kulturellen Anbietern zu Markte zu tragen. Die Botmäßigkeit gegenüber dieser Entwicklung und den damit verbundenen Zumutungen führt dazu, aber hat vielleicht auch ihre Ursachen darin, dass in der Konkurrenz um die knappe Ressource „Aufmerksamkeit“3 jeder sein eigener Selbstvermarktungsexperte ist, und diese Aufmerksamkeit selbst zur Ware geworden ist, deren Wert sich an Einschalt- oder Besucherquoten misst. Der Pluralisierung kultureller Lebenswelten in unseren Gesellschaften entsprechen Konformität und Anpassungsdruck, denn um ein sich immer mehr differenzierendes Publikum zu erreichen, müssen Konsumgüter ebenso wie kulturelle Programme affirmativ und leicht verständlich sein, sichtbar und wiedererkennbar, sei es beim Shoppen oder beim Museumsbesuch.4 Die mit der wachsenden Marktförmigkeit der Institution und mit der Adressierung der Besucher als Konsumenten einhergehenden Veränderungen und Zumutungen für Museen werden gern als neue „Herausforderungen“ schöngeredet, ich sehe sie jedoch als Elemente teils geplanter, aber auch oft unbeabsichtigter und undurchschauter Erosionen traditioneller Aufgaben und Leistungen des Museums.
2. Alte Dauerausstellung und neues Marketing am Beispiel des Wiener Jüdischen Museums Jüdische Museen – ich beschränke mich hier auf Deutschland und Österreich, da beiden Ländern gemeinsam ist, dass während des Nationalsozialismus Jüdische Museen zerstört und großenteils erst seit den 1980er-Jahren neu gegründet wurden5 – sehen sich mit denselben gesellschaftlichen Veränderungen und Zwängen konfrontiert wie andere Museen. Aber anders als andere Museen – man denke an so prominente Einrichtungen wie die auf der Museumsinsel in Berlin oder das Naturund Kunsthistorische Museum in Wien, deren Gebäude, Sammlungsbestände und Ausstellungen auf Dauer und Überdauern seit weit über 100 Jahren verweisen – sind die Jüdischen Museen in beiden Ländern kaum älter als 20 Jahre, und sie verfügen nicht über „Dauer“-Ausstellungen, die traditionsreiche institutionelle Sammlungsbestände zeigen könnten, sondern sie zeigen, „was übrig blieb“,6 was in den vergangenen Jahren erworben oder dem Museum überlassen wurde, oder, wie in München, mangels einer eigenen Sammlung vorwiegend medial gestaltete Installationen. Sofern sie in historischen Gebäuden ausstellen – in ehemaligen Synagogen wie in der Oranienburger Straße Berlin, in Augsburg, in vielen weiteren Orten, oder im Rothschildpalais in Frankfurt am Main, oder im Palais Eskeles in Wien – verweist eben deren Musealisierung auf eine Geschichte, die keine Dauer hatte, auf die ehemalige anderweitige Nutzung durch jüdische Bewohner oder jüdische Gemeinden und deren Ende durch Vertreibung und Vernichtung. Und auch die in jüngster Zeit
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neu gebauten Jüdischen Museen wie in Berlin (eröffnet 2001), in München (2007), oder das zukünftige Museum in Köln thematisieren, sei es im Medium der Architektur wie mit den Voids von Daniel Libeskind oder in Ausstellungen und Projekten, dass die Zeitbotschaft von „Dauer“ in Museen von der Geschichte Jüdischer Museen widerlegt wird. Eben darum scheinen mir Jüdische Museen besonders geeignet, über „Dauer“ unter sich verändernden Bedingungen der gegenwärtigen Museumsarbeit nachzudenken. Anlass für meine folgenden Überlegungen ist eine Kontroverse über die Demontage der Dauerausstellung im Jüdischen Museum Wien und eine weniger bekannte Vorgeschichte, an der sich jenseits personaler, lokaler und tagespolitischer Besonderheiten dieses Falles einige strukturelle Aspekte der marktförmigen Entwicklungen von Museen zeigen lassen. Es sei vorausgeschickt, dass zu der Zeit, in der der vorliegende Text geschrieben wurde, die neue Dauerausstellung des Jüdischen Museums Wien noch nicht eröffnet war, ihre Konzeption daher auch nicht berücksichtigt werden kann, ein Vergleich zwischen alter und neuer Dauerausstellung ist daher ebenso wenig beabsichtigt wie ein Plädoyer für oder gegen die Erneuerung von Dauerausstellungen im Allgemeinen. Das Jüdische Museum Wien war seit seiner Gründung (1988) eines der ästhetisch, theoretisch und politisch anspruchsvollsten kulturgeschichtlichen Museen weltweit. Die im Sommer 2010 eingestellte neue Direktorin hatte im Zuge ihrer Erneuerungswünsche das Museum geschlossen und ohne Rücksprache mit Mitarbeitern und ohne eine öffentliche Debatte eines der wichtigsten Exponate, die „Hologramme“ in der Dauerausstellung, zerstören lassen.7 Das Vorgehen der Museumsleitung stieß auf nahezu einhellige Proteste von Vertretern Jüdischer Museen in Europa und darüber hinaus. Ich will hier auf die Einzelheiten der Kontroverse nicht eingehen, sie finden sich, sehr gut dokumentiert und kommentiert, im Internet.8 Die Hologramme zeigten Bilder von Museumsobjekten, die wie ephemere Dias auftauchten und verschwanden, je nach Perspektive der Besucher, und damit an Zerstörung und Abwesenheit der vernichteten Wiener jüdischen Kultur vor 1938 erinnerten. Sie machten Fragmente dieser Kultur sichtbar, aber entzogen den Besuchern zugleich die in der Tradition von Museen zu erwartende physische Präsenz von Objekten. Damit verweigerte sich diese „Dauerausstellung“ der Illusion von Dauer als Dauer der Geschichte ebenso wie als Möglichkeit dauerhafter Rekonstruktion und Erinnerung daran im Museum.9 Zur Vorgeschichte der Demontage solcher die Dauer problematisierenden Dauerausstellung im Jüdischen Museum Wien gehört meiner Einschätzung nach die im Folgenden vorgestellte Werbekampagne der neuen Leitung des Museums im Kontext der alten Dauerausstellung. Sie wirft Fragen der Selbstpräsentation und damit des Selbstverständnisses von Museen auf, die mir nicht überholt, sondern exemplarisch zu sein scheinen für aktuelle und zukünftige Vermarktungsstrategien auch anderer Museen.
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Mit einer sechsseitigen Fotostrecke im österreichischen Magazin für Lifestyle, Fashion und Personality FIRST10 hatte die neue Direktorin das Jüdische Museum im August 2010 beworben. Das erste großformatige Foto zeigt sie in rotem Kleid vor einer großen Wand-Vitrine im Erdgeschoss, in der Ritualobjekte ausgestellt wurden. Die Bildunterschrift dazu lautet: „Neues Leben. Seit 1. Juli ist »ZIB 1«-Ikone Danielle Spera, 52, Direktorin des Jüdischen Museums in Wien. FIRST traf sie exklusiv an ihrer neuen Wirkungsstätte. /Fashion: Kleid von Boss Black bei Don Gil Donna, 449 Euro.“ Auf der nächsten Seite: Zwei Familienfotos, Titel: „Glückliche Familie“, auf der vierten Seite Frau Spera in weißem Hänger, „Fashion: Kleid von Red Valentino bei Mondial, 439 Euro“, schließlich auf der letzten Doppelseite die Direktorin hinter einer Tischvitrine der damaligen Sonderausstellung, einer Installation mit vier Rimonim (silberne Tora-Aufsätze zum Schmuck der Torarolle). Kommentar: „On Location. Für FIRST posiert Danielle Spera erstmals im Jüdischen Museum, wo noch bis 31. 10. 2010 die Ausstellung »Türken in Wien« läuft. /Fashion: Jäckchen und Rock La Perla bei Fisher’s, 489 Euro.“ Mit den Fotos in FIRST wurde die alte Dauerausstellung zur Kulisse von Homestories und Modewerbung. Zur Ausstellung von „Dauer“ steht zunächst die Kurzfristigkeit solcher Erregung von „Aufmerksamkeit“ in krassem Widerspruch. Objekte im Museum sind unverkäuflich und dem Warenverkehr entzogen, sie unterliegen – jedenfalls gemäß dem Ethos der Institution – nicht dessen Gesetzen. Auch wenn sie den Wunsch auslösen mögen, sie zu besitzen, wissen Museumsbesucher, dass das, was im Museum steht, einen anderen als den Geldwert hat, dass es nicht zu haben und dass es für alle da ist. Das Marketing von Konsumobjekten im Museum vermittelt daher eine der Ausstellung von Dauer entgegengesetzte Botschaft. Die Käuflichkeit der Kleider propagiert das Primat der Ökonomie, Zeit ist Geld, sowohl was den Aufwand an Lebenszeit angeht, um es zu verdienen, als auch, um es auszugeben. Arbeit und Konsum konsumieren – also verbrauchen – Zeit, die sich berechnen lässt. Die zur Schau gestellten Markenkleider suggerieren die Möglichkeit narzisstischer Befriedigung vermeintlicher Wünsche, ohne Aufschub, jetzt gleich und für 400 Euro, und sie unterlaufen damit eine zentrale Botschaft des Museums, dass nämlich die Dinge im Museum, die sich dem Besucher ebenfalls zur Schau stellen, dauerhaft Objekte von Aufmerksamkeit oder Begehren nur repräsentieren können, weil sie für Geld nicht zu haben und doch ein Gewinn sind oder sein können, an Zeit nämlich, die Besucher sich nehmen, um sie anzuschauen. In solchem Zeitgewinn zeigen sich Widerständigkeit und kritisches Potenzial der von den Dingen im Museum repräsentierten Dauer, die zu erodieren drohen, wenn Institutionen und Personen den Zwängen kurzfristiger „Aufmerksamkeit“ nicht nur ausgesetzt sind, sondern ihnen Vorschub leisten. Die alte Dauerausstellung in Wien forderte Besucher auf, über „Dauer“ im Museum und deren Repräsentationen in Objekten, insbesondere in einem Jüdischen Museum, nachzudenken, indem sie mit den Hologrammen und mit anderen Mitteln darauf verwies, dass Dauer angesichts der Geschichte der Gewalt im 20. Jahrhundert
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nur imaginär zugänglich, dass sie eine stets nur gebrochene Erfahrung im Raum des Museums sein kann. Die zukünftige Dauerausstellung werde sich, so die Direktorin des Jüdischen Museums Wien in FIRST, „auf neuen Wegen“, bewegen, ihr „großer Wunsch“ sei es, „eine Dauerausstellung zu konzipieren, die das jüdische Leben in allen Facetten zeigt.“ Das waren Sätze für ein Publikum, dem nicht mehr unterstellt wird, es könnte an einer Diskussion darüber ernsthaft interessiert oder gar anderer Meinung sein, widersprechen, sich als kritische Öffentlichkeit einmischen, an deren Entstehung doch das bürgerliche Museum einmal beteiligt war und sein wollte oder doch sollte. Und es klang bereits im vergangenen Sommer wie das Ende eines Museums, das sich, wie vielleicht kein anderes seiner Art, dem ideologischen und autoritären Anspruch verweigert hat, „alle Facetten“ jüdischen Lebens zeigen, erzählen, erklären, vermitteln zu können. Im zentralen Raum der alten Dauerausstellung des Jüdischen Museums wurde eine Sammlung von schönen und kostbaren Ritualobjekten gezeigt – gereiht und geordnet in Vitrinen, wie im Museum zu erwarten. Es war der Raum, der zunächst noch am ehesten konventionellen Ausstellungsstrategien und Besuchererwartungen zu entsprechen schien. Aber es fehlten die Erläuterungen, die Museumsbesucher erwarten. Bibelzitate, die auf das Glas der Vitrinen geklebt wurden, erschwerten und verdeckten den Blick auf diese Objekte, verwiesen auf den Vorrang der Schrift gegenüber der Materialität der Dinge im Judentum, stellten räumlich im Museum die historische, zeitliche Distanz her, hielten die Besucher auf Abstand und verweigerten ihnen das Begreifen im doppelten Sinne, konfrontierten sie mit einer ganz anderen Zeit, die ausgestellt und doch zugleich verstellt erschien. Die Objekte waren einmal im Besitz jüdischer Familien oder Gemeinden. Ein kleiner Kameraschwenk hätte beim ersten Foto in der Zeitschrift FIRST genügt, um die neben der Vitrine angebrachte Widmung des Sammlers zu zeigen, die an seine in Auschwitz ermordete Familie erinnert.
3. Dauer und andere Zeitbotschaften im Museum „Dauer“ lässt sich nicht messen, außer an individueller Wahrnehmung oder Vorstellung oder an institutionellen Konventionen. Sie kann „lang“ oder „kurz“ und, von der jeweiligen Gegenwart aus, sowohl retrospektiv als auch prospektiv gedacht werden. Bereits die lexikalische Geschichte des Begriffs „Museum“ führt vor, wie retrospektive Dauer der Legitimation von Museen eingeschrieben wird. Bis hin zu Wikipedia gehen Einträge in allen einschlägigen Enzyklopädien und auch die konventionelle Museumsgeschichtsschreibung aus von einer Verwandtschaftsbeziehung mit dem „museion“, ursprünglich das Heiligtum der Musen, oder mit antiken Akademien in Alexandrien, Athen oder Rom, die über die lediglich etymologische hinaus geht.11 Solche behauptete und konstruierte Verwandtschaft gehört zu den Gründungsmythen einer Institution, die in ihrer heutigen Form, als Ort einer öffentlich
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zugänglichen Sammlung/Ausstellung, erst im 18. Jahrhundert entsteht, in der Folge gesellschaftlicher Umbrüche und im Prozess der Aufklärung. Ihre Entstehung und Einrichtung ist Teil gesellschaftlicher Selbstverständigung über die Konstruktion und Rekonstruktion von Vorstellungen über Glauben und Aberglauben, Kunst und Wissenschaft, Geschichte und Gedächtnis. Museen sind moderne Institutionen, die den Geltungsanspruch überkommener Positionen verbindlicher Wahrheit, insbesondere der Religionen, der Kritik einer sich in doppeltem Sinne bildenden bürgerlichen Öffentlichkeit aussetzen. Aber sie lösen solche Positionen nicht nur ab, sondern sie treten in einem mehrfachen Sinne deren Erbe an. Dazu gehört die Zeitbotschaft der Dauer, die die ersten bürgerlichen Museen in Gebäuden, Sammlungen, Ausstellungen formulieren: antikisierender oder anders historistischer architektonischer Prunk von Fassaden und Innenräumen, Schaustücke, die ferne und längst vergangene imperiale Traditionen repräsentieren, erzählen und legitimieren mit der Usurpation einer Herkunft aus mythischer oder doch grauer Vorzeit den auch von religiösen Institutionen vertretenen Anspruch auf auch prospektive Dauer, eine zukünftige Ewigkeit – Napoleons Beute ägyptischer Kunstschätze, die Elgin Marbles im British Museum oder der Pergamonaltar in Berlin sind anschauliche Beispiele, aber das Argument gilt auch für weniger spektakuläre Objektdokumente wie Pfeilspitzen oder Mammutzähne. Solche Legitimation der neuen Herrschaftsund sozialen Verhältnisse trägt dazu bei, dass veränderte Welt- und Selbstdeutungen der Gegenwart im Medium des Vertrauten auftreten können, nicht als kontingente Erneuerungen und Bruch mit Traditionen, sondern als Kontinuität erfahrbar und ideologisch verfügbar. Die kolonialen, imperialen und die identitätspolitischen Absichten, die die sich formierenden Nationalstaaten mit solchen Strategien auch über die Einrichtung von Museen verfolgten, sind vielfältig erforscht und belegt. Aber die Wirkungen der Zeitbotschaft „Dauer“ gehen, wie ich meine, in diesen Absichten nicht auf. Sie verweisen auf die komplexere Genealogie und gesellschaftliche Funktion der Institution. Museen werden Orte sozialer und kultureller Inszenierungen von Handlungen und Erfahrungen, die Privileg religiöser Einrichtungen gewesen waren, aber sie sind Räume, in denen auch „die Gottlosen“ „ihre Gedanken denken können“ sollten.12 Museale Narrative von Ursprung und von „longue durée“ der Naturgeschichte, der Weltgeschichte und der Menschheitsgeschichte konfrontieren Besucher mit der Erfahrung von „Dauer“ jenseits der je individuellen Lebenszeit. Die Unverfügbarkeit von Zeit und Dauer, wie sie ein Museum in den Dimensionen von Vergangenheit und Zukunft ausstellt, verweist Besucher auf die eigene Sterblichkeit und lässt sich einerseits vorstellen als eine Erfahrung überwältigenden Schreckens und der Ohnmacht, aber sie erschließt auch andere Erfahrungen, Erfahrungen anderer Zeit, die Besuchern Teilhabe an einer Generationenkette, die über individuelle Lebenszeit hinaus reicht, ermöglicht. Diese Teilhabe an einer fiktiven – memorialen – Unsterblichkeit dessen oder derer, die Objekte der Anschauung in den Räumen des Museums sind, stellt ein anderes Verhältnis zur eigenen Zeit, zur Lebenszeit, her:
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Die Erfahrung der Entlastung von profanen Zeitzwängen im Raum des Museums könnte die eigene Lebenswirklichkeit und deren zeitliche Grenzen in Zeithorizonte rücken, in denen sich über solche Grenzen hinaus gehende Vorstellungen etwa von alternativen Lebensentwürfen oder Geschichtsverläufen entwickeln ließen. Ob diese hier konjunktivisch gefasste Botschaft von Zeit und Dauer im Museum über das Museum hinaus Wirkungen zeitigt, ob eher eskapistische oder kritische, soll hier dahingestellt bleiben.
4. Das Museum als Imaginationshöhle Hans Blumenberg13 hat in einer philosophischen Fabel vom Ursprung der Gattungsgeschichte einen Ort erfunden, den er Imaginationshöhle nennt, um den Übergang von einer unter dem Diktat der Selbsterhaltung und -verteidigung stehenden menschlichen Natur-Existenz zur kultur- und symbolproduzierenden ins Bild zu setzen. Die beschränkte Handlungsoption zwischen Flucht und Angriff, die die „Jäger“ in der Wildnis haben, wird ergänzt durch diejenigen, die nicht „draußen“ jagen, sondern in der Höhle zurückbleiben und an „Imaginationen“ arbeiten. Die Höhle bietet Schutz und Zuflucht, und sie bietet Zeit zu verweilen, nachzudenken, zu zögern, während das Überleben „draußen“ den Zwängen körperlicher und sensorischer Reaktionsmuster gehorcht und dem „Absolutismus der Wirklichkeit“14 verhaftet bleibt. Anders als die „ewig langweiligen Jagdgeschichten“15der heimkehrenden Jäger führen die Imaginationen der in der Höhle Verweilenden zu alternativen Erzählungen des nicht notwendig Wirklichen. Es entstehen im – fiktiven – Verlauf dieser Entwicklung Rituale und Kulte, Formen der Vergesellschaftung. Das Handeln der Jäger und die Erzählungen in der Höhle bleiben aufeinander angewiesen, das Verhältnis ist keines der Missachtung profaner und der Privilegierung kultureller Tätigkeit. Erst die Freistellung vom Kampf um das Überleben und die damit gewonnene Zeit jedoch setzt Fähigkeiten zur Deutung und Verständigung frei, erst jenseits unmittelbarer Existenzsicherung und erst im Prozess der Erfahrung anderer Zeit – im Innehalten, in der Höhle – lässt sich vergangene und zukünftige Zeit denken. Dieses Denken über die unmittelbaren Notwendigkeiten hinaus, rückblickend in die Vergangenheit, vorausschauend in die Zukunft, ermöglicht Reflexion auf das Verhältnis von Lebenszeit und Dauer, von Erinnerungen und Erwartungen und ermöglicht in deren Folge Artikulation kultureller Bedürfnisse, Wünsche und Hoffnungen. Aber wenngleich die Höhle Ort und Zeit für die Artikulation von Wünschen bietet, ist sie keineswegs ein Ort der Wunscherfüllung, in dem es sich auf Dauer bequem einrichten ließe, vielmehr ermöglicht sie mit dem Nachdenken über die Möglichkeiten erst die Erfahrung der Beschränkungen der profanen Welt und Zeit. Denn mit der Zunahme von Wünschen einher geht die Einsicht in deren Nichterfüllbarkeit, mit dem als Hoffnung Artikulierbaren die Erfahrung von Vergehen und Verlust der Zeit, die dessen Realisierung bräuchte.
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Das Bild der Imaginationshöhle erschließt eine auch langfristige gesellschaftliche Bedeutung von Museen, die über alte Fragen wie Lernort oder Musentempel oder aktuelle wie die von Nutzen und Kosten von Dauerausstellungen hinaus weist auf das kritische Potenzial der Institution gegenüber der absolutistischen Wirklichkeit, auf ein utopisches Moment, das im Vorgriff auf imaginierte Dauer von Zeit generiert wird und das noch in Entzug und Versagung als kritische Perspektive auf die Gegenwart erhalten bleibt. Meine Deutung der Zeitbotschaft des Museums im Bild der Imaginationshöhle ist eine recht steile Vorlage für Überlegungen zu Dauerausstellungen und Ausstellen von Dauer. Aber wie ließe sich der Aufwand, der in der gesellschaftlichen Praxis – ökonomisch, politisch, ideologisch – geleistet wird, um sich Museen leisten zu können, anders verstehen? Wie ließe sich der Aufwand an museumstheoretischen Imaginationen verstehen, wie Krysztof Pomians16 vielzitierte Ausführungen zur Transformation von Museumsobjekten in „Semiophoren“, die zwischen sichtbarer und unsichtbarer Welt, zwischen Lebenden und Toten vermitteln, wie Walter Benjamins17 vielzitierte Aura als „Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag“, mit der ästhetische Wirkung und Rezeption auch musealer Objekte beschrieben werden, oder auch wie Klaus Heinrichs Notizen über das Museum als Opferhöhle18 , wo wieder eine Höhle mythischer Provenienz als Vergleich gewählt wird, wie also ließen sich alle diese und viele andere Imaginationen verstehen, wenn nicht mit der nicht nachlassenden Faszination von Museen und ihrer Zeitbotschaft einer „anderen Zeit“? Das Bedürfnis nach Transzendierung von Zeitgrenzen, nach einer Differenzierung von Lebensbereichen zwischen Höhle und Draußen, wie sie die oben angedeutete Fabel in Szene setzt, ist vermutlich ein allgemein menschliches. Museen können darauf eskapistisch oder konfrontativ reagieren, sie können entlastende Geschichten erzählen, die die traumatischen Spuren des „Absolutismus der Wirklichkeit“, so die Katastrophe der Zivilisationsgeschichte im 20. Jahrhundert, abspalten, oder sie können, wie die alte Dauerausstellung des Wiener Jüdischen Museums, diese Spuren der Reflexion und der Erinnerung zugänglich machen.
5. Dauer und Zukunft in/von Museen Vielleicht schärfen neuere Entwicklungen hin zur Kommerzialisierung der Institution den Blick für solche Unterscheidungen und zwingen alle Beteiligten zu deutlicheren Positionierungen angesichts der Erosionen von Museumspolitiken und der Transformation der Besucher in Konsumenten. „Dauer ausstellen“ ist nicht beschränkt auf und nicht gebunden an Dauerausstellungen, sondern an Museen insgesamt als Zeugnisse für Vergangenes, dessen wir uns anders nicht versichern können, für Geschichten und Geschichte, die uns dazu anhalten, über Lebenszeit, über deren Dauer und deren Grenzen nachzudenken. Museen führen uns vor, dass es Dinge und Einsichten gibt, die man nicht kaufen, geschweige denn dauerhaft
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besitzen, sondern allenfalls in Museen bewahren kann. Anders als die (auch in überfüllten Shopping-Malls) privatisierten und isolierten Bereiche von Konsum und Kommerz sind Museen soziale Orte, und die Dinge, die sie zeigen, sind soziale Objekte, die in Kontakt mit den Erwartungen und Deutungen der Besucher treten. Dafür brauchen Museen, Jüdische Museen ebenso wie andere, Besucher, die sich wie die Höhlenbewohner Zeit nehmen, um nachzudenken über die Erfahrung der Gebrechlichkeit und Endlichkeit menschlicher Lebenszeit. Und sie brauchen Ausstellungen, die ihren Besuchern die affektive und intellektuelle Wahrnehmung von Distanz, Befremden, Respekt, Angst und Trauer angesichts der uns dauerhaft entzogenen Geschichte ermöglichen und zumuten. Ich schließe mit einer Frage, die der ehemalige Leiter eines Museums in Washington, Stephen Weil, in einer seiner unterhaltsamen und anregenden Meditationen über Museen gestellt hat: Do Museums Matter?19 Er schlägt seinen Lesern vor, sich zwei identische, aber voneinander völlig isolierte Inseln (Fantasy Islands) vorzustellen, deren einziger Unterschied darin besteht, dass die Bewohner der einen plötzlich anfangen, Museen und alles, was dazu gehört, einzurichten. Was für Folgen hätte das nach zwei, drei oder vier Generationen? Stephen Weil will diese Frage keineswegs beantworten, und er verzichtet auf jegliche Suggestion, die uns erlauben würde, uns auf die Seite der Museums-Insel zu schlagen, denn, so sagt er, wären wir noch derselben Ansicht, wenn der Verzicht auf Museen die Verbesserung der Wohlfahrtsleistungen begünstigen würde und wir derer gerade dringend bedürftig wären? Erst während meiner hier angestellten Überlegungen zu Zeitbotschaften im Museum bin ich einer Antwort näher gekommen: Es geht nicht um die Konkurrenz zwischen ökonomischen Bedürfnissen (die hier übrigens nicht als konsumistische, sondern als solche einer notwendigen Grundversorgung gefasst werden) und Museen, nicht um die Frage der Konkurrenz zwischen der Welt der Jäger und der Imaginationshöhle. Es geht auch in meinem Text nicht um die Frage des Für und Wider von Dauerausstellungen und Dauer ausstellen. Sondern es geht darum, das Museum als ein Forum zu verstehen, wo Bürger, entlastet von Denkhemmnissen wie der „Knappheit der Zeit und der Vordringlichkeit des Befristeten“,20 mit institutioneller Fantasie, mit „Imaginationen“ ausgerüstet werden, um über eben diese und andere Fragen, über die Rolle und Bedeutung des Museums für die Gegenwart und über die wohlverstandenen Interessen der Bürger, öffentlich zu streiten, über Kultur und Kommerz, über Dauer und Dauerausstellungen und darüber, wie es gewesen ist und wie es weitergehen könnte und sollte, mit Museen, mit uns.
A NMERKUNGEN 1 | Zu „branding“ am Beispiel von Tate Modern vgl. Julian Stallabrass : »Selling the Museum«, in: Institut für die Wissenschaft vom Menschen (Hg.), IWMpost 105 (2010), S. 21–22.
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S ABINE O FFE 2 | Vgl. Gottfried Fliedl: Blog Museologien, »What does Society demand from Museums« (7.11.2011). 3 | Georg Franck: Ökonomie der Aufmerksamkeit. Ein Entwurf, München/Wien: Hanser 1998. 4 | Zu „branding“ am Beispiel von Tate Modern vgl. Julian Stallabrass a. a. O. 5 | Vgl. Sabine Offe: Ausstellungen, Einstellungen, Entstellungen. Jüdische Museen in Deutschland und Österreich, Berlin: Philo 2000. 6 | So der programmatische Titel einer Ausstellung in Frankfurt am Main, vgl.: Jüdisches Museum Frankfurt (Hg.): Was übrig blieb. Das Museum Jüdischer Altertümer in Frankfurt 1922–1938, Frankfurt: 1988. 7 | Vgl. Gottfried Fliedl: Blog Museologien, »Stichwort Jüdisches Museum Wien« (7.11.2011). 8 | Ebd. 9 | Vgl. Gottfried Fliedl/Sabine Offe: »Entgleitende Bilder. Über die Dauerausstellung des Jüdischen Museums Wien«, in: Wiener Jahrbuch für Jüdische Geschichte, Kultur und Museumswesen, 2004, Bd. 6, S. 19–26. 10 | Vgl. FIRST, Magazin für Lifestyle, Fashion und Personality, 7 (2010), S. 22–27. 11 | Vgl. dazu Melanie Blank/Julia Debelts: Was ist ein Museum? „... eine metaphorische Complication...“, Wien: Turia und Kant 2002. 12 | Zum Wandel von Sakralarchitektur zu „Reflexionsarchitektur“ vgl. Hartmut Böhme: »Auch die Gottlosen brauchen Räume, in denen sie ihre Gedanken denken können«, in: Der Architekt 3 (2001), S. 16–23. 13 | Hans Blumenberg: Höhlenausgänge, Frankfurt am Main: 1989. Meine sehr verkürzte und für das Museum aufbereitete Paraphrase folgt der anregenden Darstellung bei Philipp Stoellger: Metapher und Lebenswelt. Hans Blumenbergs Metaphorologie als Lebenswelthermeneutik und ihr religionsphänomenologischer Horizont, Tübingen: Mohr Siebeck 2000, vgl. S. 334–358 und passim. 14 | Bei Blumenberg wiederkehrender Begriff, gegen den er seine Mythen- und Metapherntheorie entfaltet. 15 | Philipp Stoellger: Metapher, S. 346. 16 | Vgl. Krysztof Pomian: Der Ursprung des Museums. Vom Sammeln, Berlin: 1998. 17 | Vgl. Walter Benjamin: »Kleine Geschichte der Photographie« (1931), in: Gesammelte Schriften Bd. 2, Frankfurt am Main: 1977, S. 378. 18 | Klaus Heinrichs: »Notizen über das Museum als Opferhöhle«, in: Jürgen Harten/ Horst Kurnitzky (Hg.), Die Macht des Geldes. Über die seltsame Natur des Geldes in Kunst, Wissenschaft und Leben, Düsseldorf: 1971, S. 15. 19 | Stephen Weil: Making Museums Matter, Smithsonian Institution Washington D.C. 2002. 20 | So der vielzitierte Titel eines Aufsatzes, Niklas Luhmann: »Die Knappheit der Zeit und die Vordringlichkeit des Befristeten«, in: Politische Planung. Aufsätze zur Soziologie von Politik und Verwaltung, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 1994, S. 143.
Archäologiemuseen. Erlebnisse zwischen Natur und Kunst Barbara Porod
Hat man aber erst eine genügend große Anzahl archäologischer Museen besucht, so kann man feststellen, daß sie sich zwischen zwei Polen einordnen lassen. An dem einen findet man Museen, die hauptsächlich Kunstwerke ausstellen und Gegenstände, die aus kostbarem Material gearbeitet sind. [...] Am entgegengesetzten Pol findet man Museen, deren Vitrinen und Magazine in der Mehrzahl mit Gegenständen ganz anderer Natur gefüllt sind: Werkzeuge, [...] Keramikscherben, [...] Waffen, Gewichte, Figürchen, Zierat, Schmuck, Textilien und andere Stücke, die oft sehr bescheiden und anonym sind. Krzysztof Pomian1
Archäologische Schausammlungen sind spezielle Orte einer Geschichte der materiellen Kultur. Diese vermag im Idealfall die Geschichte derer zu erzählen, die aufgrund fehlender schriftlicher Quellen ansonsten vergessen wären. Das betrifft nicht nur vorgeschichtliche Kulturen ohne (eigene) Schriftkultur, sondern auch jene sozialen Klassen, deren Leben in der Historiografie allenfalls am Rande berücksichtigt wird. Darüber hinaus kann das durch Schriftquellen gezeichnete Bild durch kontextualisierte Objekte revidiert oder ergänzt werden. Die beiden unterschiedlichen Wurzeln des Faches – zum einen eine humanistische Altertumskunde und zum anderen eine dem Kontext verpflichtete Typochronologie – bleiben bis heute oft unvereinbare Gegensätze, nicht zuletzt deshalb, weil die musealen Repräsentationen die beiden Positionen auf das Ästhetische bzw. das Didaktische reduziert haben. Ist nun der „erlebnisorientierte Ansatz“ in den Archäologiemuseen ein dritter Weg oder nur eine neue Verpackung der beiden älteren Positionen?
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Woher/Wohin? Das Sammeln von archäologischen Objekten kann auf eine Geschichte verweisen, die mehrere Jahrhunderte älter ist als das wissenschaftliche Fach Archäologie, das erst etwa seit 150 Jahren besteht. Bei diesen Objekten handelte es sich zunächst um Kunst der römischen Kaiserzeit; prominentestes Beispiel mag die 1506 gefundene Laokoongruppe sein. Mit der Einführung der Grand Tour in die Erziehung der europäischen Aristokratie stieg das Interesse und wuchs der Markt. Die dadurch konditionierte Wertschätzung ließ Privatsammlungen entstehen, die den Grundstock prominenter enzyklopädischer Museen bildeten. Parallel dazu entstand das Interesse an den Spuren der römischen Kaiserzeit in den Provinzen. Erst im 19. Jahrhundert, im Gefolge des Darwinismus und durch Adaption des stratigrafischen Modells aus der Geologie, bildete sich das Interesse an der Vor- und Frühgeschichte heraus. Die musealen Präsentationen der klassischen und der prähistorischen Archäologie blieben bis in das späte 20. Jahrhundert, als beide von musealen Erlebniswelten abgelöst wurden, an die jeweiligen Ursprünge in der Kunstgeschichte und der Naturgeschichte angelehnt. So durften Besucherinnen und Besucher eines Museums der griechisch-römischen Antike – unabhängig von der Zeitstellung der Objekte – eine ästhetische, dekontextualisierte Präsentation erwarten, während prähistorische Sammlungen, angelehnt an naturwissenschaftliche Präsentationsformen, nicht nur Objekte im Fundzusammenhang zeigten, sondern häufig auch mit Figurinen ausgestattete Dioramen. Nur sehr selten findet man Figurinen in klassisch-archäologischen Museen. Ein Diorama der „attischen Familie am Vorabend der Perserkriege“ scheint uns absurd, wenn auch die Quellenlage in jeder Hinsicht günstiger wäre als für die allgegenwärtigen von Neandertalern, seltener auch Neandertalerinnen, bevölkerten Gegenstücke. Nicht zu unterschätzen ist der Beitrag musealer Präsentation in der Herausbildung der einzelnen Fachdisziplinen, eine Entwicklung, die traditionell eher aus der Geschichte der Universitäten erklärt wird.2 Als Identifikationspunkte der Fachvertreterinnen und -vertreter trugen und tragen museale Displays auch selbst zur Dichotomie der Archäologie bei. Flashar nennt die drei großen Stationen und Parameter in der Beziehung von Archäologie und Öffentlichkeit: die Grand Tour, den Mythos Schliemann und den Massentourismus.3 Das entspricht dem aristokratischen (und später dem bürgerlichen) Bildungskanon zum einen, zum anderen dem autodidakten Bildungsnachahmer, dem Robin Hood der humanistischen Bildung, dem „Hobbyarchäologen“ und zuletzt dem Konsum von „Erlebnissen“. Die musealen Erlebniswelten der Gegenwart präsentieren eine Überfülle an Reizen, aus welchen das Publikum wählen kann, eine Form der Wahrnehmung, die durch die moderne Lebenswelt, Internet, Fernsehen, Supermärkte, trainiert ist und entsprechend auch im Museum erwartet wird.
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Ob jedoch die Besucherinnen und Besucher wegen der Authenzität der Objekte ins Museum kommen, darf bezweifelt werden: Offenbar ist es vor allem der Gesamteindruck eines Hauses, der angenehme „quality time“ mit Familie und Freunden verspricht. Erlebnisorientiert ist der Museumsbesuch also in jedem Fall, weil er das Programm, den Hintergrund, die Folie, den Mehrwert zu einem Sozialkontakt abgibt. Dies ist jedoch durchaus kein neues Phänomen, sondern macht seit der Antike den Reiz des Besuchs einer Sammlung aus.
Archäologie im Museum: Objekte und Narrative Timothy Insolls 1997 erschienenes Buch Archaeology. The Conceptual Challenge beginnt mit den Sätzen: „The central questions this book seeks to address are these: Are we trying to reconstruct a past in our own image, chained to our own unacknowledged emotional, intellectual, and philosophical traditions, or should we look beyond this at the fundamental concepts we often take for granted? If these concepts are recognised as constructs of the relatively recent past, can we begin to acknowledge our limitations and potentially more profitably engage with archaeological evidence in various ways?“ Ausstellungen sind eine spezielle Form der Historiografie, deren Autorinnen und Autoren die Kuratorinnen und Kuratoren sind. Die Fragmentiertheit des Wissens über die vor- und frühgeschichtlichen Epochen sorgt für ein besonders starkes Bedürfnis nach Erläuterungen. Ob dieses „durch vielfältigen Einsatz von Medien sinnvoll befriedigt werden“4 kann und – vor allem – soll, oder ob nicht Besucherinnen und Besucher erwarten dürfen, dass Fakten und Interpretation erkennbar bleiben, sollte eigentlich nicht mehr debattiert werden müssen. Leider ist es (anders als in den 1970er-Jahren) bei neuaufgestellten archäologischen Sammlungen nicht mehr üblich, das Museumskonzept zu diskutieren. Dieses Defizit fällt auch in den Besprechungen von Neuaufstellungen auf, die sich oft auf Architektur, Grafik und Ausstellungstexte beschränken.5 Bevor jedoch diskutiert werden kann, wie museale Displays das Bild der Vor- und Frühgeschichte konstruieren, ist zu klären, welche Quellen zur Verfügung stehen, wie diese erfasst und interpretiert werden.
Objekte: Dinge versus Fakten Eines der zentralen Probleme der Archäologie ist das Verhältnis von Objekten und Interpretation. Speziell in der archäologischen Feldarbeit werden zunächst Dinge – oft mit Daten gleichgesetzt – gesammelt, deren Interpretation sich aus ihnen selbst und ihrer lokalen Beziehung zueinander, dem Kontext, ergeben soll. Diese nach subjektiven Kriterien gesammelten Objekte – der/die Ausgräber/in entscheidet vor Ort und während des Prozesses der Ausgrabung auf Basis der persönlichen Erfah-
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rung über Zusammenhänge (Schichtgrenzen) und wissenschaftlichen Wert der Dinge – werden häufig von derselben Person ausgewertet, interpretiert und publiziert. Dabei werden naturgemäß Entscheidungen über das Ein- oder Ausschließen von Funden und Befunden getroffen. Die Vorstellung von den Dingen als Fakten unterscheidet sich deutlich vom Verständnis von Fakten in den Geschichtswissenschaften, in denen Dinge als Quellen gesehen werden. Das bedeutet auch, dass die Quellen der Archäologie bereits Produkte von Interpretationsprozessen sind. Der Unterschied zwischen Geschichte auf Basis von schriftlichen Quellen und Archäologie kann nicht die geringere Detailgenauigkeit, sondern nur eine grundsätzlich andere Ebene der Erzählung sein. In diesem Sinne sieht Eggert mit dem Ende des 20. Jahrhunderts in der Archäologie auch das Ende der charismatischen Deuter gekommen.6 Diese Veränderung in der archäologischen Methode, im Verständnis der Grenzen des Erkennbaren und dem daraus resultierenden Selbstverständnis der Archäologinnen und Archäologen ist besonders im musealen Kontext problematisch. Die Wertschätzung eines Kunstwerkes ist ein vergleichsweise einfacher Prozess, gemessen an den konstruierten Wertzuschreibungen von archäologischen Objekten, für die es zwischen Wissenschafterinnen und Wissenschaftern sowie Besucherinnen und Besuchern oft keinen Konsens gibt. Das Publikum wurde in den letzten fünfzig Jahren an große, detailreiche Geschichtskontrukte gewöhnt, die zu dekonstruieren für die Kuratorin/den Kurator der Gegenwart immer die Gefahr birgt, die Besucher/innen zu enttäuschen und zu frustrieren. Die Authentizität der Objekte verleiht der Geschichtskonstruktion der Museen gegenüber jener konkurrierender Medien – wie dem Fernsehen – zusätzlich auch noch besondere Autorität.7 Da sich viele Häuser noch dem „Glanz der traditionellen Deutung“8 verpflichtet fühlen, entsteht beim Publikum der Eindruck, dass man in manchen Museen mehr über dieselbe Vergangenheit wisse als in anderen. Zu diesem Problem tragen Kuratorinnen und Kuratoren selbst bei, indem sie argumentieren, das Publikum selbst wünsche diese Darstellung archäologischer Forschung. Auf kuratorischer Seite entsteht durch diese Praxis der das Publikum bevormundenen Simplifizierung und Fiktionalisierung eine unbehagliche Inkongruenz von Wissenschafts-Ich und Museums-Ich. Die Zuschreibung von Bedeutung kann ein rationaler Prozess sein, wobei die Resultate naturgemäß nur subjektive Annäherungen an die Wirklichkeit sein können. Neben anderen aus Gegenstand und Methode entstehenden Unschärfen gehen Archäologinnen und Archäologen zumeist davon aus, dass die Tätigkeiten der Menschen in der Frühzeit immer sinnhaft und nützlich waren und dass die Geschichte eine Entwicklung zum immer Sinnhafteren und Nützlicheren ist. Eine zunehmend stärker werdende Methodendiskussion innerhalb der archäologischen Disziplinen gibt es im deutschen Sprachraum erst seit den 1980er-Jahren.9 Ein Museumsobjekt kann naturgemäß niemals den „originalen Kontext“ für sich in Anspruch nehmen, da es den Prozess der Musealisierung bereits durchlaufen
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hat. Objekte lassen sich auch niemals „wie ein Text lesen“, Archäologinnen und Archäologen schreiben selbst den Text, der dann Grundlage der Interpretation ist.
Objekte I: Illegaler Handel mit Kulturgut Das ideale archäologische Museumsobjekt stammt aus einer wissenschaftlichen Grabung jüngeren Datums, besitzt einen Kontext, ist vollständig publiziert und Anknüpfungspunkt für eine Vielzahl von möglichen Narrativen. Tatsächlich sind die Objekte archäologischer Sammlungen, mit Ausnahme der sogenannten „Highlights“, oft nur ungenügend wissenschaftlich bearbeitet, stammen aus Altgrabungen ohne oder mit einer der jeweiligen Epoche entsprechenden Dokumentation oder, noch schlimmer, haben keinerlei glaubhafte Provenienz, da sie aus dem Kunsthandel stammen. Die meisten archäologischen Objekte, die in den Kunsthandel gelangen, stammen aus illegalen Grabungen. Die Nachfrage von privaten Sammlern und Museen hat einen Markt entstehen lassen, dessen Umsätze derzeit ein geschätztes jährliches Volumen von 100 Mio. $ ausmachen.10 Der Handel mit illegalen archäologischen Objekten verursacht daher die Zerstörung des kulturellen Erbes und dekontextualisiert Objekte bis zur wissenschaftlichen Wertlosigkeit. Die museale Rekontextualisierung kann dann nur in einem fiktiven historischen Kontext nach „Kulturen“, oder – häufiger – einer ästhetischen Ordnung bestehen. In diesem Prozess muss das einzelne Objekt ohne Provenienz einem Herkunftsort zugeschrieben werden, um es datieren und deuten zu können. Es gibt ganze Gattungen von archäologischen Objekten – etwa die im gesamten Mittelmeerraum verhandelte korinthische Gefäßkeramik – an welche moderne Fragestellungen wie die der Distribution nicht gestellt werden können, weil einfach zu wenige Exemplare aus wissenschaftlichen Grabungen stammen.11 In den vergangenen 30 Jahren hat sich zur Frage des illegalen Handels mit Gegenständen des kulturellen Erbes eine lebhafte Diskussion entwickelt. Die starke Ablehnung des Handels mit Objekten ohne Provenienz, die viele Archäologinnen und Archäologen an den Tag legen, entspringt dem Wunsch, Raubgrabungen für immer zu stoppen. Eine gegenteilige Position wird nach wie vor unter anderem von Cuno und de Montebello vertreten. Es sei unabdingbar, dass wir weiterhin enzyklopädische Museen aufbauen, und in ihnen einen sicheren Hafen für archäologische Objekte ohne Provenienz.12 Solche Objekte seien nicht weniger als andere Objekte wichtige Artefakte der Menschheitsgeschichte, sie hätten denselben Anspruch, das museale Ideal von Verstehen, Toleranz und der Auflösung von Ignoranz und Aberglauben.13 De Montebello argumentiert, dass nur die großen Museen in der Lage seien, ungehinderten Zugang zum kulturellen Vermächtnis der gesamten Menschheit zu ermöglichen.14 Demgegenüber ist festzustellen, dass, ginge es tatsächlich um den „ungehinderten Zugang zum kulturellen Vermächtnis der gesamten Menschheit“, kein Museum Depotflächen brauchte; auch gäbe es deutlich weniger unpubliziertes Material, da es
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gängige Praxis der Machtausübung unter Archäologinnen und Archäologen ist, den Zugang zu Objekten einzuschränken.15 Ist es also legitim, eine nach wissenschaftlichen Maßstäben durchgeführte, unpublizierte Ausgrabung mit Objekten aus Raubgrabungen in Museumssammlungen zu vergleichen? Dieser Ansicht sei entgegengehalten, dass Funden und Befunden aus wissenschaftlichen Ausgrabungen zumindest das Potenzial für eine angemessene Auswertung innewohnt. Cuno nennt das „kulturelle Erbe“ ein politisches Konstrukt nationalistischer Staaten; nur Personen – so meint er – machten Kultur, nicht Nationen.16 Die Regierungen von Staaten griffen nicht nur durch das Erteilen von Grabungsbewilligungen, sondern auch durch die staatlich finanzierte Konservierung von ausgewählten Stätten und Objekten, durch Schulbücher und Tourismusbroschüren in die Archäologie ein. Die Regulationen in staatlichem Auftrag hätten unvermeidbar eine nationalistische Agenda.17 Tatsächlich ist für viele Museen die Mitwirkung an der kulturellen Identität einer Region oder eines Staates Teil ihres Selbstbildes, allerdings trifft dies auch in gleichem Maß auf amerikanische Museen, die von Cuno zu Vertretern der „gesamten Menschheit“ stilisiert werden, zu. Was Cuno als „Wohl der Allgemeinheit“ bezeichnet, meint in dieser spätimperialistischen Debatte indirekt immer das Interesse der eigenen Nation. Von Watt wurden in der Debatte um den illegalen Handel mit Objekten ohne Provenienz zwei extreme Ansichten geäußert: Je mehr schriftliche Quellen existierten, desto weniger wichtig sei der archäologische Kontext als Fundzusammenhang der Objekte. Dies beträfe etwa China oder die klassische Antike.18 Daneben seien nach Erreichen eines kritischen Punktes des Sammelns von archäologischen Daten zusätzliche Daten aus Ausgrabungen überflüssig.19 Nur ein Beispiel aus der klassischen Antike soll, abgesehen von der bereits erwähnten korinthischen Gefäßkeramik, erwähnt werden: Von mutmaßlich 30 000 Terrakotten aus Tarent, einer griechischen Kolonie in Unteritalien, wurden etwa 6000 nach den wissenschaftlichen Methoden des späten 19. Jahrhunderts geborgen, der Rest gelangte über Kunsthändler in verschiedene öffentliche und private Sammlungen der westlichen Welt. Selbstverständlich existieren schriftliche Quellen zur Stadt Tarent, vor allem zu ihrer politischen Geschichte. Diese sind jedoch bei der Beantwortung von Fragen nach der Kultpraxis, der Vermischung von autochthonen und griechischen Formen von Kultur oder der Produktion und Distribution der musealisierten Terrakotten wenig hilfreich. Eine 30 000-fach belegte Praxis der klassischen Antike bleibt trotz der schriftlichen Quellen unverständlich, als Folge davon muss die wissenschaftliche Beschäftigung im Stilkritischen, also Ästhetischen, verharren. Als Alternative zur Bestrafung von Raubgrabungen schlägt Carman vor, die professionellen Codes im Umgang mit dem kulturellen Erbe schärfer zu definieren, etwa Museen anzuhalten, Kontakte zu Händlern und Privatsammlern abzubrechen.20 Dies würde allerdings die Rolle der Museen als Generatoren und Verteiler von Status an die für die Musealisierung selektierten Objekte, das Publikum und auch die Kuratorinnen und Kuratoren schmälern.
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Lösgelöst vom wissenschaftlichen Wert existiert also der vom Kunstmarkt zugeschriebene materielle Wert, jener Wert, an dem Sammler (und damit auch Museen) vorrangig interessiert sind. So werden archäologische Objekte zur Ware. In Australien werden allen Sammlungsobjekten von Museen im Sinne des Australian Accounting Standard Marktwerte zugeschrieben, um als öffentlich finanzierte Institutionen ihre Ausgaben an öffentlichen Geldern durch den bewiesenen Wert der Institution zu rechtfertigen. In diesem Sinne können Museen als große Warenhäuser verstanden werden.21 Mit der gedanklichen und sprachlichen Wende von kulturellem Erbe zur Ressource in den vergangenen zehn Jahren wurden und werden archäologische Stätten und Objekte zunehmend als etwas aufgefasst, das mit finanziellem Gewinn benutzt oder auch verbraucht werden soll.22
Objekte II: Menschliche Überreste Eine besondere Quellengattung archäologischer Forschung sind menschliche Überreste. Während diese nach einer anthropologischen Auswertung Auskunft über Verwandtschaftsverhältnisse, Sterbealter, Ernährung und Krankheiten geben können, oder – im Falle paläolithischer Reste – auf eine bestimmte menschliche Spezies schließen lassen können und damit unmittelbarer als jede andere Quellengattung einen Blick in das Alltagsleben einer bestimmten Epoche erlauben, stellt sich doch die Frage nach dem Aussagewert menschlicher Überreste in Museumsdisplays. Ein Häuflein kaiserzeitlichen Leichenbrandes reicht nicht aus, das zähe Festhalten an der Brandbestattung in Teilen des Römischen Reiches zu erklären, Skelette in fiktiven „Situationen der Auffindung“ als Illustrationen der archäologischen Arbeit zeichnen ein falsches Bild des Faches, und von dem ewig gleichen Text des griechischen Autors Herodot begleitete Mumien werden trotz gegenteiliger Beteuerungen der Kuratorinnen und Kuratoren vom Publikum vor allem wegen des Gruselfaktors geliebt.
Archäologische Narrative Nach der Diskussion ausgewählter Aspekte des Umgangs mit Objekten sollen nun die Erzählungen, in welche die einzelnen Dinge eingebettet werden, einer genaueren Betrachtung unterzogen werden. In der museologischen Debatte unter Archäologinnen und Archäologen entspricht der Gegensatz prähistorisch/klassisch fast immer dem Gegensatz didaktisch/ästhetisch. Ein nicht pädagogisch ausgerichtetes Konzept wird in dieser Sichtweise immer als elitär verstanden, und so gibt es für ein neues Museumskonzept unter Archäologinnen und Archäologen kein vernichtenderes Urteil, als dass es ästhetisch sei. Die Simplifizierung von Inhalten, deren dünne Quellenlage wenig
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konkrete Aussagen zulässt, gilt jedoch als publikumsgerecht und daher besonders wünschenswert. Spezifisch archäologische Medien der pädagogischen Publikumsverwirrung sind neben Zeittafeln vor allem auch Verbreitungskarten und Visualisierungen.
Verbreitungskarten Verbreitungskarten konstruieren homogene Felder im Raum, wobei die Prämisse ist, dass innerhalb der Grenzen „Gleiches“ existiert; dass es von ethnisch Gleichen auf die selbe Art benutzt wird, ist der unkommentierte Subtext. Nicht nur, dass die Benutzung eines Gebrauchsgegenstandes auch anders denn als Zeichen der Zugehörigkeit zu einer Gruppe gewertet werden kann, lässt die bildliche Darstellung einer fragmentierten Überlieferungssituation ein völlig falsches Bild entstehen, in welchem für möglicherweise gar nicht gleichzeitige Phänomene zugleich ethnische, räumliche und zeitliche Homogenität suggeriert wird. Darüber hinaus beschäftigt sich die Archäologie zumeist mit Kulturen, die keine Karten besaßen und deren Wahrnehmung von Raum dementsprechend eine vollkommen andere gewesen sein muss.23 Dies ist vor allem problematisch, da die Museumsbesucher/innen ihre moderne, an zeitgenössischen Karten geschulte Erfahrung des Raumes auf die Verbreitungskarten projizieren. Der deutschen Forschungstradition, der die österreichische durchaus zuzurechnen ist, verdanken wir die Einteilung der Welt in „Kulturen“. Mit der Entstehung eines nationalstaatlichen Bewusstseins im 19. Jahrhundert entstand auch das Bedürfnis nach Rückprojektion der Nationalstaatlichkeit in die ferne Vergangenheit. Das Verhältnis zwischen menschlichem Verhalten und punktuell nachweisbarer materieller Kultur ist immer noch ein zentrales Problem der Archäologie. Die Gleichsetzung von „Kulturen“ mit „Völkern“ ist problematisch, wie bereits vor mehr als einem halben Jahrhundert festgestellt wurde.24 Die Geschichte der prähistorischen Archäologie ist im Besonderen mit der Entstehung der Nationalstaaten im 19. Jahrhundert und dem Wunsch des Fortschreibens der eigenen Geschichte bis in die fernste Vergangenheit verbunden.25
Visualisierungen Rekonstruktionen, Dioramen, digitale Visualisierungen und – als spezielles Medium – auch verschiedene Ausprägungen von Living History sind die bekanntesten Formen der Visualisierung archäologischer Sachverhalte. Bei diesen Displays handelt es sich nach Aussage vieler Ausstellungsgestalter/innen um die Bereiche mit der längsten Verweildauer, sie werden also vom Publikum intensiver rezipiert als Texte oder Objekte. Im Museum entsteht durch die Kombi-
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nation dieser virtuellen „Realitäten“ mit authentischen Objekten ein verstärkter Anspruch auf Wahrhaftigkeit. Ist bereits ein Modell, das aus Pfostenlöchern oder Fundamenten ein gesamtes Gebäude mit definierten Strukturen und Oberflächen entstehen lässt, in seinem Wahrheitsgehalt fragwürdig, so trifft dies in verstärktem Maß zu, sobald die Architektur mit handelnden Figuren gefüllt wird. Jede einzelne Figur ist Produkt zahlloser kuratorischer Entscheidungen. Als besonders gewichtig dürfen in diesen Visualisierungen Geschlechterstereotype gewertet werden, die bestimmte Handlungen Männern oder Frauen zuschreiben. Gegenwärtig werden vielfigurige Dioramen zumeist zugunsten von lebensgroßen Einzelfigurinen und computergenerierten menschenleeren Visualisierungen aufgegeben. Emele nennt die computergenerierte Realität kritisch „die ideale Überhöhung [...], hochtechnisch, unangreifbar“.26 Als Medium allgegenwärtig, führe sie zur „Verflüchtigung von Geschichtszeit und Geschichtsraum“. Materialität und Authentizität würden dabei zu irrelevanten Faktoren.27 In diesem Kontext wird auch das Objekt zur verzichtbaren Größe, wie etwa die Besucherzahlen des Neanderthal-Museums, eines „stark medial ausgerichteten Informationszentrums“,28 zeigen.
Zum Abschluss zwei mögliche Wege In den vergangenen zehn Jahren wurden etliche archäologische Sammlungen im deutschsprachigen Raum neu aufgestellt; bemerkenswert ist dabei, dass in der Konzeption sehr unterschiedliche Wege gegangen wurden, die von der Einbeziehung der Opulenz eines historischen Gebäudes (Antikensammlung des Kunsthistorischen Museums Wien) über die Fokussierung auf archäologische Methoden (Museum für Archäologie des Westfälischen Landesmuseums Herne) und ein medienlastiges Informationszentrum wie das Neanderthal Museum in Mettmann bis hin zur Auflösung der Präsentationsformen archäologischer Museen im Archäologiemuseum des Universalmuseums Joanneum in Graz reichen. Nur zwei Häuser sollen am Ende exemplarisch herausgegriffen werden, das Landesmuseum für Vorgeschichte in Halle und der Archäologische Park Xanten. Trotz vieler Unterschiede sind beiden Museen ihr Bekenntnis zur Vermittlung komplexer Inhalte sowie zur Forschung inklusive eigener Feldforschung gemein. Landesmuseum für Vorgeschichte Halle Das Landesmuseum für Vorgeschichte in Halle ist Teil des Landesamtes für Denkmalpflege und Archäologie Sachsen-Anhalt; denkmalpflegerische, restauratorische und museale bzw. landesgeschichtliche Aufgaben sind also in einer Institution vereint. Das Museum verwaltet 15 Millionen Sammlungsobjekte aus Mitteldeutschland. Die Neuaufstellung folgt zwar einer chronologischen Ordnung, wobei eine Fülle von Inhalten in unterschiedlichen Präsentationsformen dargestellt wird, der Einstieg in jede Epoche wird jedoch über jeweils ein raumgreifendes emotionales
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Display vermittelt. Die Dermoplastik des denkenden Neandertalers von Halle ist nach nur wenigen Jahren Teil unseres visuellen Vokabulars über die Fähigkeiten früher Hominiden geworden. Die neolithischen Bestattungen von Eulau, in einem methodisch und technisch beeindruckenden Triptychon senkrecht in der Ausstellung montiert, und die eine gesamte Wand füllenden, auf einen teilweise bearbeiteten Stamm herabregnenden Beile können auf einen Blick Inhalte über soziale Bindungen oder die Neolithisierung transportieren, die anderswo trotz großer Textmengen unverständlich bleiben. Die Strategie, über einen emotionalen Zugang die Neugier auf komplexe Inhalte zu wecken, scheint in Halle aufgegangen zu sein, denn hier sah die Verfasserin erstmals Besucherinnen und Besucher ungeduldig auf das Öffnen des Museums warten. Zu den jeweiligen Abschnitten können in der Ausstellung vertiefende Informationen mittels analoger Medien abgerufen werden, wobei es auch Leerstellen geben darf. Zusätzlich gibt es Kataloge, die jede Epoche fachlich differenziert aufbereiten. Die Himmelsscheibe von Nebra, ein von Raubgräbern gefundenenes Objekt der Bronzezeit, das zugleich der bekannteste archäologische Bodenfund des deutschsprachigen Raumes ist, begründet eine besondere mediale Präsenz dieses Hauses, dessen Neugestaltung die archäologische Arbeit im Land wiederspiegelt. Hier gelang es beispielhaft, die Aufmerksamkeit des interessierten Publikums dauerhaft zu erhalten. LVR-Archäologischer Park Xanten Im selben Jahr wie Halle eröffnete 2008 der LVR-Archäologische Park Xanten, ursprünglich 1977 als Außenstelle des Rheinischen Landesmuseums Bonn gegründet, das neue LVR-RömerMuseum, das bereits am Eröffnungswochenende von 20 000 Interessierten besucht wurde und seither jährlich mit neuen Besucherrekorden aufwarten kann. Der Park selbst, der fast das gesamte Areal der römischen Stadt von über 70 Hektar einnimmt, kann mit mehreren rekonstruierte Bauten (Hafentempel, Amphitheater, Herberge, Stadtmauer und Tore) aufwarten und präsentiert sich als archäologisches Freilichtmuseum der Superlative, wobei auch an Kinderspielplätze und gastronomische Angebote gedacht wurde. Das LVR-RömerMuseum und der Schutzbau der großen Thermen haben mit ihrer Ästhetik, die das Ausformulieren von architektonischen Details bewusst vermeidet, die Dimensionen der kaiserzeitlichen Gebäude jedoch wiedergibt, hoffentlich Vorbildwirkung. Der dreijährigen Bauzeit des LVR-RömerMuseums ging eine längere Planungsphase voran, in welcher nicht nur fachliche Aspekte eine Rolle spielten, sondern auch HLQHPXVHRORJLVFKH5HÀH[LRQVWDWWIDQG%HLGHU8PVHW]XQJZXUGHNRQVHTXHQWHLQ erlebnisorientierter Ansatz verfolgt, der auf die Erwartungen und Bedürfnisse der Museumsbesucher/innen zugeschnitten ist. In der Vielzahl von Displays treten vielleicht spektakuläre Installationen wie ein konserviertes kaiserzeitliches Schiff, das frei im Raum aufgehängt ist und Stationen, wie etwa die sehr kluge und stimmig umgesetzte Auseinandersetzung mit kaiserzeitlichen Entfernungen nicht angemessen hervor. In einem auf Kinder und Jugendliche zugeschnittenen Rundgang
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werden nicht nur mit modernen Medien Inhalte vermittelt, sondern auch alle Sinne angesprochen. Ein umfassendes Rahmenprogramm, das in den Sommermonaten auch Führungen auf den Ausgrabungen beinhaltet, rundet ein Angebot ab, das einen ORKQHQGHQ$XVÀXJIU0HQVFKHQDOOHU$OWHUVVWXIHQYHUVSULFKW
A NMERKUNGEN 1 | Krzysztof Pomian: Der Ursprung des Museums. Vom Sammeln, Berlin: 1988, S.91. 2 | Vgl. Christopher Whitehead: Museums and the Construction of Disciplines. Art and Archaeology in Nineteenth-Century Britain, London: 2009, S. 8. 3 | Martin Flashar: »Archäologie und Öffentlichkeit – Ein seltsam widersprüchliches Spannungsverhältnis«, in: Peter Noelke (Hg.): Archäologische Museen und Stätten der römischen Antike auf dem Weg vom Schatzhaus zum Erlebnispark und virtuellen Informationszentrum? 2. Internationales Colloquium zur Vermittlungsarbeit in Museen, (Köln, 3.–6. Mai 1999), Köln: 2001, S. 23. 4 | Gerd C. Weniger: »Neanderthal – Zweieinhalb Jahre danach. Erfahrungsbericht aus einem ‚multimedialen‘ Museum«, in: Noelke 2001, S. 268 5 | Hans-Joachim Schalles: »Lasst Objekte mitsprechen – Gedanken zur Neukonzeption des Regionalmuseums Xanten«, in: Noelke 2001, S. 52 6 | Manfred Eggert: »Between facts and fiction: Reflections on the archaeologist‘s craft«, in: Peter F. Biehl/Alexander Gramsch/Arkadiusz Marciniak (Hg.): Archäologien Europas/Archaeologies of Europe. Geschichte, Methoden, Theorien/History, Methods and Theory, Tübingen: 2002, S. 126. 7 | Vgl. Christopher Whitehead 2009, S. 20. 8 | Manfred Eggert: »Die konstruierte Wirklichkeit: Bemerkungen zum Problem der archäologischen Interpretation am Beispiel der späten Hallstattzeit«, in: Hephaistos 10 (1991), S. 16. 9 | Vgl. Manfred Eggert 2002, S. 121. 10 | Vgl. http://lootingmatters.blogspot.com/2011/06/scale-of-market.html (20.6.2011). 11 | Vgl. Nancy Bookidis: »The Corinth Theft«, in: James F. Rhodes (Hg.): The Acquisition and Exhibition of Classical Antiquities, Notre Dame: 2007, S. 129. 12 | Vgl. James Cuno (Hg.): Whose Culture? The Promise of Museums and the Debate over Antiquities, Princeton: 2009, S. 28. 13 | Vgl. ebd., S. 15. 14 | Vgl. Philippe de Montebello: »And What Do You Propose Should Be Done with Those Objects?«, in: Cuno 2009, S. 56. 15 | So auch John Boardman: »Archaeologists, Collectors, and Museums«, in: Cuno 2009, S. 120f. 16 | Vgl. James Cuno: »Art Museums, Archaeology, and Antiquities in an Age of Sectarian Violence and Nationalist Politics«, in: Rhodes 2007, S. 11.
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B ARBARA POROD 17 | Vgl. ebd., S. 14. 18 | James C. Y. Watt: »Antiquities and the Importance – and Limitations – of Archaeological Contexts«, in: Cuno 2009, S. 89. 19 | Ebd., S. 103. 20 | John Carman: Against Cultural Property. Archaeology, Heritage and Ownership, London: 2005., S. 25. 21 | Vgl. ebd., S. 51. 22 | Ebd., S. 59. 23 | Vgl. Timothy Insoll: Archaeology. The Conceptual Challenge, London: 2007, S. 25. 24 | Vgl. Ian Hodder/Scott Hutson: Reading the Past. Current Approaches to Interpretation in Archaeology, Cambridge: 2003, S. 14. 25 | Vgl. Manfred Eggert 2002, S. 119. 26 | Martin Emele: »Virtuelle Welten: Besser, sauberer und glaubwürdiger als jede andere Realität«, in: Noelke 2001, S. 262. 27 | Vgl. ebd., S. 265. 28 | Hans-Joachim Schalles 2001, S. 52.
Natur ausstellen. Geschichte und Gegenwart einer musealen Aneignung Bettina Habsburg-Lothringen
History will be written by the winners, while nature will be defined by the survivors. Timothy W. Luke1
Naturmuseen2 sind in den museologischen Debatten nach wie vor unterrepräsentiert. Dabei stammt ein Gutteil der weltweit ausgestellten Museumsobjekte aus dem Bereich der Naturkunde und die traditionell gleichermaßen wissenschaftliche wie gesellschaftliche Bedeutung dieses Museumstyps ist enorm. Heute zählen zu den Naturmuseen große, traditionsreiche Einrichtungen wie jene in Berlin oder Wien mit ihren internationalen geologischen, mineralogischen, botanischen, paläontologischen, zoologischen und anthropologischen Sammlungen ebenso wie Häuser, die die Natur eines begrenzten geografischen Raums (Bundeslandes, Kantons) dokumentieren, erforschen und vermitteln oder kleine spezialisierte, städtische und Vereins-Museen, die sich teils sehr professionell auf eine überschaubare Region oder ein Thema beziehen. Zu diesen sind in den letzten Jahren diverse Einrichtungen getreten, die durch ihre Forschungs- oder Vermittlungsarbeit zumindest in Teilbereichen als naturmuseumsähnlich zu bezeichnen sind. Vor diesem Hintergrund scheint die Möglichkeit eines Überblicks oder generell gültiger Aussagen über Naturmuseen und ihre Dauerausstellungen unmöglich. Dennoch möchte ich im Folgenden einige Beobachtungen formulieren, ohne Anspruch auf Allgemeingültigkeit oder Vollständigkeit. Naturmuseen gehen auf die Kunst- und Naturalienkabinette der europäischen Fürstenhäuser sowie auf akademische und bürgerliche Sammlungen zurück, die sich ab dem 18. Jahrhundert in die in ganz Europa entstehenden öffentlichen Museen auflösen. Nach Susanne Köstering3 lassen sich die frühen Naturmuseen unter anderem durch geregelte Öffnungszeiten und die Zugänglichkeit für ein breites Publikum, die inhaltliche Professionalisierung und Profilierung sowie die planmäßige Entwicklung
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der Sammlungen charakterisieren. Diese wachsen im Verlauf des 19. Jahrhunderts durch koloniale Beutezüge und Forschungsreisen stark an. Innovationen im Bereich der Landwirtschaft und Industrie führen sowohl zu einer Erforschung der Natur im Hinblick auf ihre optimale Nutzung als auch zum kompensatorischen Bedürfnis ihrer musealen Konservierung. Und schließlich avanciert die Auseinandersetzung mit Natur zur identitätsstiftenden Praxis für Bürgerinnen und Bürger, die sich ihr Land durch seine möglichst vollständige Erfassung symbolisch aneignen wollen. Die Funktion der Naturmuseen ist seit ihren Anfängen immer zugleich die der Forschung und der Vermittlung gewesen, tendenziell, so Susanne Köstering, gewinnt die Bildungsfunktion und damit die öffentliche Seite des Museums im Verlauf des 19. Jahrhunderts an Bedeutung. In der Folge kommt es in den Naturmuseen vor allen anderen Museen zur räumlichen Trennung der wissenschaftlichen Sammlungen von den öffentlichen Schausammlungen und zur Schaffung weiträumiger öffentlicher Bereiche für ein klassenübergreifendes Massenpublikum. Gefüllt werden die Schausäle mit Objekten und Fragmenten der belebten und unbelebten Natur, mit Mineralien, Edelsteinen und Meteoriten, mit Fossilien und Skeletten, mit konservierten Pflanzen sowie Sammlungen von Früchten und Samen, mit prähistorischen menschlichen Überresten, in Alkohol konservierten Fischen und Lurchen, getrockneten Spinnen und Insekten, präparierten Vögeln und Säugetieren: Naturmuseen zeigen vorgefundene, aus dem natürlichen Kreislauf herausgenommene, für die Präsentation zugerichtete Objekte natürlichen Ursprungs. Damit diese möglichst authentisch wirken, werden die Methoden und Techniken ihrer Erhaltung und Präparation ab dem 18. Jahrhundert beständig weiter entwickelt. Ein Beispiel ist die Verbreitung der Dermoplastiken, jener mit Tierhäuten überzogenen künstlichen Körper aus Ton, Gips und später Kunststoff, die Tierdarstellungen ein viel lebendigeres Aussehen verleihen, als das die früheren, mit Holz oder Stroh gefüllten Stopfpräparate vermögen. Die physische Präsenz der Objekte in den Ausstellungsräumen soll die Natur für Prüf- und Deutungsprozesse zugänglich machen, Objekte berichten vom Besonderen und Einzigartigen, sie stehen für Form und Funktion, werden als Beweis für Vorkommen und Verbreitung eingesetzt oder als Repräsentanten in wissenschaftlichen Ordnungssystemen. Naturobjekte im Museum sind Fakten, an welchen die Diskussion von Variation und Entwicklung möglich wird. Naturmuseen setzen zur Vermittlung ihrer Inhalte aber nicht nur auf Objekte natürlichen Ursprungs. Wo Natürliches nicht mehr auffindbar, aufgrund seiner Größe nicht in den Ausstellungsraum überführbar oder mit freiem Auge sichtbar ist, kommen Stellvertreter zum Einsatz, die den jeweiligen Stand von Forschung und Technik spiegeln. Mithilfe von Modellen werden so Pflanzen in beliebiger Größe naturgetreu wiedergegeben. Rekonstruktionen auf der Basis von Knochenfunden und mumifizierten Resten vermitteln einen Eindruck von der Erscheinung ausgestorbener Tiere. „Naturgetreu“ bemalte Abgüsse von Fossilien liefern exakte Kopien ihrer äußeren Form.4 Während Präparate, so Hans-Jörg Rheinberger,5 stofflich in der Materialität des untersuchten Gegenstandes bleiben, vollzieht sich mit
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Modellen, Rekonstruktionen, Moulagen und Abgüssen der Übergang in ein anderes Material und Medium. Wie die natürlichen Objekte selbst, werden die Objektstellvertreter von weiteren Bedeutungsträgern – Verbreitungskarten, Zeichnungen, Fotografien, grafischen Darstellungen usw. – erläutert und kontextualisiert. Bereits im 19. Jahrhundert entwickelt sich in Deutschland eine Lehrmittelindustrie, die tendenziell zu einer Standardisierung der Präsentationen führt. Um die Jahrhundertwende kommen deutschsprachige Texte und Ausstellungskonzepte auf, die mehrere Textebenen zur Erschließung der Schausammlungen vorsehen.6 Die Verbindung von Objekten und weiteren Bedeutungsträgern im Museum folgt bestimmten Ordnungen. Wie Michael Fehr7 beschreibt, hat jede Ordnung ein begrenztes Leistungsspektrum und kann einige Gegenstände besser, andere weniger gut und weitere möglicherweise überhaupt nicht in einen sinnstiftenden Zusammenhang bringen. Der Wert einer Ordnung bemisst sich seinen Ausführungen nach an der Anzahl unterschiedlicher Dinge, die sie im Sinn ihrer Logik organisieren kann. Mit den frühen Naturmuseen wird die systematische und taxonomische Aufstellung von Objekten assoziiert, die Präsentation großer Mengen von Exponaten, die – auf wenige ausgewählte Eigenschaften reduziert – beispielhaft und austauschbar als Vertreter einer Art stehen. Derart klassifizierende Aufstellungen fokussieren gemeinsame Merkmale, gleich ob von Mineralien oder Pflanzen, sie ermöglichen summarische Aussagen, dagegen sind individuelle Geschichten und Hintergründe zu einzelnen Stücken nicht von Belang. Hinter dieser Form der Ordnung bzw. Präsentation wird nach Michel Foucault8 ein neues Weltbild – die Moderne – offenbar, und mit ihr die Vorstellung einer Welt des oberflächlich Sichtbaren und einer auf dieser Basis systematisch zu vergleichenden und zu beschreibenden Wirklichkeit. Den bestimmenden Impuls dieser Entwicklung gibt eine damals erst junge Wissenschaft im heutigen Sinn, die sich, überzeugt von der Möglichkeit einer Annäherung an eine für alle verbindliche Wahrheit auf den Gebrauch von Beobachtungs- und Messinstrumenten gründet. Ihre Vertreter wollen sich mit dem Betrachten, Vergleichen und Analysieren weniger Dinge bescheiden, lernen einheitlich zu messen und zu berechnen, empirische Daten in neutrale Bezeichnungen, in semantisch beständige Zeichen zu transkribieren, immer auf der Suche nach Identitäten und Unvereinbarkeiten, nach allgemeingültigen Gesetzen. Dabei schließen sie Kategorien, wie sie in den Kunst- und Wunderkammern eine Rolle gespielt haben – das Hörensagen, Geschmack und Geruch wie andere, in eindeutiger Form nicht zu fassende Parameter – konsequent aus. Die neuzeitlichen Wissenschafter wollen gesicherte Strukturen etablieren, in die jedes Individuum integrierbar ist, endlich Ordnung schaffen, vollständig und endgültig den Überblick über die Wirklichkeit garantieren, die bald zur Gänze berechnet und am Ende kalkulierbar sein soll. Als ein namhafter Protagonist dieser Entwicklung im Bereich der Natur gilt der Arzt und Professor für Medizin und Naturgeschichte, Sammler und Systematiker von Naturalien Carl von Linné. Wenngleich es bereits vor seinem Werk Systema Naturae von 1735 Versuche einer Neuordnung der Natur jenseits
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althergebrachter Differenzierungskriterien gibt, ist es, wie Daniela Kratzsch9 berichtet, die von ihm entworfene Systematik für das Tier- und Pflanzenreich, die unter seinen Zeitgenossen zur Annahme führt, dass Gott die Welt zwar geschaffen, erst Linné sie aber geordnet habe. Er verweist die Fabelwesen und Monstren, die in den Kunst- und Wunderkammern noch allgegenwärtig waren, aus den Sammlungen und etabliert ein hierarchisierendes Klassifikationssystem, indem er die Organismen nach klar definierten Merkmalen in ein Gefüge von Kategorien wie Arten, Gattungen, Familien, Klassen und Stämme systematisiert. In den immer größeren und differenzierteren musealen Sammlungen wird diese neue Ordnung der Welt anschaulich und bestimmend für das Rezeptionsverhalten der Betrachtenden. Wie Stefan Siemer10 ausführt, sind die Naturalien- und Kuriositätenkabinette des 17. Jahrhunderts Orte vielfältiger sozialer Praktiken, der visuellen und sinnlichen Wahrnehmung, des Gesprächs und der Auseinandersetzung, der Forschung und Wissensproduktion. Die Ordnung der Objekte ist noch keine feststehende, sondern wird vor Ort, im Austausch der Sammler mit ihren gelehrten Gästen diskutiert und weiterentwickelt. Im modernen Museum tritt mit den Museumsverantwortlichen die wissenschaftliche Befragung und Erforschung der Sammlung hinter die Kulissen, und das nun größere, weitgehend laienhafte Publikum büßt an Mitspracherecht ein. Es findet sich, so Tony Bennett,11 hierarchisch den Wissenschaftern und Kustoden unterstellt und in der Rolle, die vorbereiteten, belehrenden Settings nachzuvollziehen. Ein Infragestellen der präsentierten Ordnung ist nicht mehr vorgesehen, zum Trost winkt – wie es Sharon McDonald12 beschreibt – das gute Gefühl, die chaotische, irrationale Welt von einem externen, privilegierten Standpunkt aus geordnet schauen bzw. durchschauen zu können. Systematische Aufstellungen sind in Naturmuseen nach wie vor präsent, haben sich aber auch als geeignet erwiesen, neue wissenschaftliche Perspektiven zu integrieren. So wird im 19. Jahrhundert mit dem Eintritt der Evolutionstheorie in die Schausammlungen die Systematik als konzeptionelle Grundlinie nicht abgelöst, sondern zur verlässlichen Basis einer Darstellung problem- und prozessorientierter, evolutionsbiologischer Perspektiven transformiert.13 Mit neuen Perspektiven und Fragestellungen treten auch neue visuelle Konzepte auf, die sich mit den bestehenden verbinden. So bringt eine konzeptionelle Hinwendung zu den Lebensräumen oder den Wechselwirkungen zwischen Organismen und ihrer Umgebung die Schaffung inszenierter, bildhafter Darstellungen mit sich, die in und zwischen die nüchternen, homogen wirkenden Objektreihen platziert werden: Bis heute zählen Dioramen zu den zentralen, vermittelnden Medien in Naturmuseen. Sie zeigen Tiere möglichst naturgetreu vor perspektivischen, gemalten und später fotografierten Hintergründen. Um zu unterhalten und zu gefallen, werden sie mit großem Aufwand künstlerisch gestaltet, das kurzzeitige Eintauchen der Betrachter/innen in eine unbekannte oder ferne Welt sollen auch schriftliche Erläuterungen nicht stören. Dioramen stellen Natur still, den Betrachtenden erschließen sie sich intuitiv. Ihre idealisierende
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Gefälligkeit täuscht dabei darüber hinweg, dass sie nicht Natur sind, sondern – mehr und weniger beabsichtigt – Botschaften und Werthaltungen transportieren.
Schnitt / Gegenwart Wie stellt sich nun gegenwärtig die Situation der Naturmuseen dar? Durch ihre historisch gewachsenen Sammlungen, das Festhalten an etablierten Präsentationsstrategien sowie ihre Identität gleichermaßen als Forschungs- wie Bildungseinrichtung sind Naturmuseen heute eng mit dem Museum des 19. Jahrhunderts verbunden. Dabei haben sich ihre Rahmenbedingungen deutlich verändert: In museologischer Hinsicht treffen Entwicklungen, mit welchen sich die Museen in den letzten Jahren insgesamt konfrontiert sehen, auch die Naturmuseen: Das Ausstellungswesen hat sich dynamisch entwickelt, mit neuen gestaltenden Professionen sind neue konzeptionelle Ansätze und Inszenierungsformen in die Museen gelangt. Traditionelle disziplinäre Grenzen haben dabei an Bedeutung verloren, ebenso die einst strikte Trennung von Wissenschaft und Kunst. Eine Professionalisierung der Museen in betriebswirtschaftlicher Hinsicht hat zu einer Prüfung traditioneller Vermittlungs-Konzepte im Hinblick auf ihre Markt- und Massentauglichkeit und zu einer Neudefinition der Besucher/innen als Kundinnen bzw. Kunden geführt. Verändert hat sich in den letzten Jahrzehnten auch die naturwissenschaftliche Forschung, die abstrakt und ungreifbar geworden ist und gleichzeitig allgegenwärtig scheint, weil sie – mit Erkenntnissen zu Gentechnik und Neurobiologie, Reproduktionsmedizin oder dem Ende des Alterns, Evolutionstheorie versus Intelligent Design, Atom- und alternativen Energien, Klimawandel, Umweltzerstörung oder drohenden Epidemien – wichtige gesellschaftliche Fragen der Gegenwart berührt. Schließlich sind Naturthemen und -kulissen zum beliebten Medien- und Freizeit-Phänomen avanciert. Aufsehenerregende TV-Dokumentationen berichten über „Vulkane des Schreckens“ und die Zukunft der Milchstraße, den Alltag der Saurier und „Monster der Tiefe“, und schließlich darüber, wie sich die Tierwelt in den nächsten 100 000 Jahren entwickeln wird. Großausstellungen der letzten Jahre haben Paradiesgärten von Decken gehängt, Robotern schwarmähnliches Verhalten abgerungen, Berge zerlegt und poliert oder Seen in Ausstellungsräume transferiert. Natur steht im Zentrum: im Science Center, in Nationalparks und Lehrpfaden, den Idyllen internationaler Gartenschauen und abenteuerlichen Welten der Planetarien, in tierbestückten Freilichtmuseen und Zoologischen Gärten, die sich anschicken, ihr Publikum kurzzeitig in die Tropen Südamerikas und die Wüsten Afrikas zu entführen. Im Tourismus ist das alte Thema Natur in neuer Weise präsent, wo nach der Südsee gestaltete Wellness-Oasen inmitten hügeliger Weingärten ihren Platz gleich neben hallengerechten Winteridyllen bei beständigen fünf Grad minus gefunden haben. Die herausragende, sensationelle Natur findet sich – gestapelt und verdichtet, in Kunststoff gegossen und eingefärbt – auch in Brand Lands und Shopping Malls
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mit tropischen Wasserfällen und durchwanderbaren Großaquarien wieder, während Filmstudio-Parks mit Aufzügen Fahrten in 100 Meter Tiefe – samt Temperatur- und Luftdruckveränderungen – simulieren. Die Erfinder der modernen Erlebniswelten haben der Natur längst ganze Einrichtungen zugedacht und schaffen paradiesische Meereslandschaften samt Korallenriffen, Unterwasser-Ruinen und einsamen Buchten, durch die die Besucherin oder der Besucher mit bunten Fischen und echten Delphinen tauchen kann. Insgesamt sind Darstellungen nach der Natur spannend und atemberaubend. Sie scheinen unterhaltend und leicht konsumierbar, ihre Wirkung geschieht voraussetzungslos, wo sie sich sinnlich ansprechend und intuitiv erschließen. Natur bedingt ein Gefühl von Geborgenheit. Angesichts aller Künstlichkeit steht sie für das Authentische. Für die Museen ist aus den fantastischen TV-Welten, aus Großausstellungen und Erlebnisparks eine Konkurrenz erwachsen, die thematisch und vor allem ästhetisch neue Maßstäbe setzt. Entwicklungstendenzen innerhalb der Museumslandschaft und die mediale Präsenz einer gesellschaftlich brisanten Naturwissenschaft fordern eine fachwissenschaftlich sozialisierte Kuratorinnen- und Kuratorenschaft zusätzlich heraus, über das Ausstellen von Natur im Museum und folgende Fragen neu nachzudenken:
Frage nach Objekt- und Ausstellungsgut Die theoretische Zuwendung zu den Dingen hat Konjunktur. Wie Gottfried Korff14 prägnant zusammenfasst, wurden in den letzten Jahrzehnten in den unterschiedlichen Disziplinen verschiedene Werk- bzw. Dingkonzepte und Qualitätsbegriffe für museale Objekte diskutiert. Mit diesen Debatten ist ein Bewusstsein dafür gewachsen, dass Museumsobjekte keine feststehenden Größen sind, sondern in einem nie abgeschlossenen Prozess und je nach Rahmenbedingungen und Interessen der Wissenschafter/innen und Kuratorinnen/Kuratoren immer neue Deutungsprozesse erlauben und in unterschiedlichen Bedeutungszusammenhängen aussagefähig sind: Jedes Objekt ist Ausdruck natürlicher Entwicklung oder menschlichen Gestaltungswillens, es hat physische Eigenschaften wie Materialität oder Alter, es gibt Auskunft über Techniken, Arbeitsorganisation und Gebrauchsfunktion, in ihm steckt Wissen über Sammler/innen und Forscher/innen, es hat kulturgeschichtliche und symbolische Bedeutung, schließlich birgt es Museumswissen: So kann ein Objekt Bericht über die Konventionen der Verwahrung und die Moden der Restaurierung geben, es hat eine Forschungs-, Präsentations- und Rezeptionsgeschichte, es gibt Zeugnis vom Selbst-, Institutionen- und Publikumsverständnis der Verantwortlichen. Für Objekte der Natur stellt sich die Frage, ob eine einheitliche Qualitätsbestimmung angesichts ihrer Vielfalt überhaupt möglich ist. Taugt der Begriff der Authentizität zur Bestimmung von Naturobjekten? Ist ein Präparat ein Objekt der Natur oder der Kultur? Welche Funktionen kann ein Objekt in einer Präsentation übernehmen?
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Welche Rolle darf seine Ästhetik spielen? Was bedeutet die Kombination von Objekten natürlichen Ursprungs mit didaktischen Medien für die Konstruktion von Aussagen und ihre Rezeption? Welchen Sinn und Nutzen haben „lebende Objekte“, die als neue Bedeutungsträger in die Dauerausstellungen Einzug gehalten haben? Spielen ethische Fragen nach dem Töten von Tieren und ihrer musealen Zurschaustellung eine Rolle? Was weiß man über die Provenienz kolonialer Stücke? Und: Ist ein Naturmuseum ohne „echte“ Naturobjekte denkbar? Für viele Naturwissenschafter/innen an Museen haben Objekte eher den Status von Forschungsmaterial denn von Exponaten mit vielfältigen, auch ästhetischen oder symbolischen Qualitäten. Entsprechend wird ein Objekt in einer Ausstellung zur Visualisierung zentraler wissenschaftlicher Erkenntnisse eingesetzt oder auch als kostbar und einzigartig, als das älteste, größte, schwerste, das erste oder letzte seiner Art präsentiert. Museologische Blicke auf naturkundliche Objekte werden dagegen kaum geworfen. Heikel scheint dies insbesondere im Falle zoologischer Stücke. Nach wie vor wird der Tod und die technisch aufwendige Neukonstruktion früherer Lebewesen, die auf spezifischen Konventionen und visuellen Konzepten beruht, in vielen Museen ignoriert. Noch immer erscheinen tote Tiere in den Schausammlungen, wie es Michael Fehr15 formuliert,als „Stillleben“, noch immer werden, so Samuel Alberti,16 zoologische Präparate nicht gezeigt, als wären sie gemacht, sondern als wären sie geboren. Wie unter anderem in der Ausstellung Natur Oberösterreich (Oberösterreichische Landesmuseen, A) zu sehen ist, zählt vor allem die Illusion. Todesursache, Präparation und Ausstellung werden nicht thematisiert. Ohne nun gleich die Neuorganisation der biowissenschaftlichen Sammlungen unter museologischer Perspektive fordern zu wollen, muss in Museen deutlich werden, dass Naturobjekte irgendwann Natur waren, es aber nicht mehr sind. Wie Rachel Poliquin17 ausführt, wirken gerade zoologische Objekte vielleicht „original“, sind dabei aber reanimierte, von Menschen gemachte Repräsentationen eines Dings, die nicht nur als Stellvertreter natürlicher Erscheinungen oder lebendiger Körper interessant sind, sondern auch als Träger kultureller und politischer Positionen, als Teil einer Wissenschafts- und Museumsgeschichte.
Frage nach Ordnung und Ausstellungssprache Vieles von dem, was uns heute in Dauerausstellungen an Ordnungsprinzipien und Präsentationsästhetik begegnet, ist nicht neu, sondern entspricht den naturkundlichen Darstellungs- und Vermittlungsformen des späten 19. Jahrhunderts. Dazu finden sich in den naturkundlichen Dauerausstellungen jene Tendenzen wieder, die auch für andere Sparten zu beobachten sind: Gerade mit Naturmuseen werden große Objektmengen und die Vorstellung von Dauerausstellungen als Sammlungspräsentationen assoziiert. Nun entstehen diese im Sinne ihrer Rezipierbarkeit als Abfolgen überschaubarer Einheiten und Geschichten neu. Das Nationale
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Naturgeschichtliche Museum Naturalis in Leiden (NL), das Naturama Aarau (CH) oder die Archive des Lebens im Naturhistorischen Museum Basel (CH) sind unter anderen Beispiele für eine chronologische und/oder thematische Organisation ausgewählter Sammlungsteile und Themen in fassbare Kapitel unter ansprechenden Titeln. Diese Zergliederung in chronologisch oder thematisch zusammenhängende Themeninseln erlaubt je nach Ausgangsmaterial die Berücksichtigung unterschiedlicher konzeptioneller und gestalterischer Ansätze innerhalb einer Ausstellung, was Vielfalt und Abwechslung bringt und die Aufmerksamkeit des Publikums strukturiert. So wird in einigen Bereichen offen auf die ästhetische Qualität von Objekten, in anderen stärker auf Modelle, Grafiken und Zeichnungen zur Kontextualisierung der Exponate und Verdeutlichung von Zusammenhängen, in dritten auf Beteiligungsmöglichkeiten für das Publikum gesetzt. Wenn gewünscht, wird Anleihe an den Präsentationssprachen anderer Sparten genommen, wo möglich werden alte Aufstellungen belassen, rekonstruiert oder in ihren Prinzipien zitiert. Je nach Thema werden Objekte nah am Alltag der Menschen und mit Gegenwartsbezug vorgestellt oder lebende Tiere integriert. Bestimmend für die Erscheinung so mancher Dauerausstellung sind gegenwärtig audiovisuelle Medien und interaktive Angebote. Rundum-Projektionen zur Simulierung von Lawinenabgängen, auf Beteiligung ausgerichtete Spiele und Mitmach-Stationen, Präparate zum Anfassen und lebende Tiere, die gefüttert werden dürfen (inatura Dornbirn, A), Filme, Animationen und Sauriermodelle, die sich geräuschvoll bewegen (Naturhistorisches Museum Wien, Haus der Natur Salzburg, A): Neben didaktisch motivierten Darbietungen, die am ehesten in technischer Hinsicht innovativ sind, sollen diese Elemente dem Rezeptionsverhalten einer fernseh- und internetsozialisierten Besucher/innenschaft entgegenkommen, die es angeblich laut und bewegt mag und sich an dunklen Ausstellungsräumen nicht stört. Der Zuwendung zu den klassischen Objekten dienen sie – vor allem bei Kindern beobachtet – nicht. Die Bedeutung des einzelnen klassischen Objekts verliert sich tendenziell auch, wo diese zum Bestandteil von Bildern und Environments werden. Die Didaktisierung der 1970er-Jahre zerteilte und zergliederte Natur im Dienste der Bildung, ohne Rücksicht auf ihre ästhetischen Qualitäten zu nehmen. In einer Art Gegenreaktion entstehen seit den 1990ern wieder verstärkt beeindruckende Raumbilder, die das lehrreiche Naturobjekt als ästhetisches betonen, das für sich steht und wirkt. Inszenierungen wie die Grande Galerie de l‘Évolution im Musée national d’Histoire naturelle Paris (F) oder das Theater der Natur im Leidener Naturalis (NL) stehen in der Tradition der freistehenden Tiergruppen des späten 19. Jahrhunderts und am Beginn einer Bewegung, die nicht nur zoologische Großpräparate als bildtauglich erkannt hat und sich mittlerweile sehr spielerisch gibt. So bewacht im Natur-Museum Luzern (CH) ein menschengroßes Insekt in Wärterpose einen Raum voll aufgespießter Schmetterlinge, die goldgerahmt im Stil klassischer Gemälde vorgeführt werden. Im Naturhistorischen Museum der Burgergemeinde Bern (CH) wird die 150 Jahre alte Skelettsammlung des Hauses als die „große Knochenschau“ mit einem Hauch von Jahrmarkt inszeniert.
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Zur Vermittlung abstrakter Inhalte Anders als bei den genannten Präsentationen, die klassische Themen auf Basis klassischer Objekte und schon etablierter Bedeutungsträger vermitteln, und vielleicht neu stellt sich die Frage nach einer zeitgemäßen und themengenehmen Ausstellungssprache – nach Ästhetik oder Didaktik, Objekten oder neuen Medien, bewegt oder unbewegt – dort, wo es um die Darstellung abstrakter, in gewohnter Weise unschaubarer oder zukunftsbezogener Themen geht. Die Funktionsweisen des menschlichen Gehirns, die Anfänge des Lebens oder die Zukunft der Arten lassen sich mit dem, was sich in den Depots der Museen findet, dem Laien nur bedingt näher bringen. Abhilfe und Inspiration versprechen Darstellungsprinzipien anderer Museumstypen sowie die immersiven Vermittlungsstrategien der kommerziellen Erlebniswelten.18 Ausstellungen wie Kosmos im Kopf. Gehirn und Denken19 (Hygienemuseum Dresden, CH, 2000), Zukunft der Natur20 (Landesausstellung Hall/Tirol, A, 2005) oder C´est la vie. Geschichten aus Leben und Tod21 (Naturhistorisches Museum der Burgergemeinde Bern, CH, seit 2008) zeichnen sich konzeptionell dadurch aus, dass sie Themen nicht in ihrer allumfassenden historischen oder thematischen Dimension darzustellen versuchen, sondern spielerisch, assoziativ und alltagsnah einzelne Themenaspekte in prägnanten Kapiteln aufgreifen und nur noch zur Auseinandersetzung mit einer Frage anregen wollen. Die gestalterische Umsetzung ist durch einen Realisierungszwang bestimmt. Es genügt nicht mehr, Spuren anzudeuten, es gilt vielmehr, visuell eindrucksvolle und gegenständlich greifbare Zeichen für das Kleine, Komplexe und Ungreifbare zu erfinden. Dies gilt auf der Ebene der Objekte, die teilweise erst erzeugt werden müssen, hat aber auch Bedeutung auf Ebene der Gesamtpräsentation, wo an die Stelle loser Fragmente, monotoner Objektreihen oder kleinteiliger Dioramen metaphorische und allegorische Bildräume, visuell-dynamische und akustisch angereicherte Environments getreten sind, die das Publikum wie die Szenen eines Films durchschreiten kann. An die Stelle verbindender verbaler Erläuterungen treten dabei optische Texturen. Eine semantisch aufgeladene Architektur verklammert die Bedeutungsträger zwischen Anfang und Ende, mit Ursachen und Wirkungen zu linear vorwärts drängenden Ereignisfolgen. Gleichzeitig sucht die Dramaturgie die Bildung von Hypothesen und Assoziationen, Rhythmen von Spannung und Entspannung gezielt zu steuern. Eine weitgehende Identität mit dem traditionellen Erzählschema begünstigt das Verstehen, aber auch ein spielerischer Umgang mit dramaturgischen Mustern steht dem Merken und Erinnern nicht entgegen, wenn die thematisierten Inhalte zumindest in Ansätzen bekannt sind und so einzelne Zeichen oder Bilder als Auslöser genügen, um im Kopf der Betrachter/ innen Assoziationen und Geschichten zu aktivieren. Ein weiteres Kennzeichen dieser Ausstellungen ist ein weitgehend kreativer Umgang mit gängigen Raum- und Zeitkonzepten. Nun ist das Museum seit jeher Ort alternativer Raumordnungen, ideell verdichteter Umwelten und geraffter Zeitläufe gewesen. Neu ist, dass die
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Raumschöpfungen in keinem Bezug mehr zu realen Vorlagen stehen und anstelle historischer Überblicke auf der Basis von Texten und Objekten Tag und Nacht oder die Jahreszeiten im vorgegebenen Takt mittels atmosphärischer Mittel entstehen. Zur Auflösung von Raum und Zeit kommt jene von Realität und Fiktion hinzu: Die Fiktion wird nicht nur eingelassen, es kommt zu einer Enthierarchisierung von Imagination und Wirklichkeit, wo für das Publikum das nach heutigem Ermessen wissenschaftlich Nachweisbare vom Fantastischen nicht mehr zu unterscheiden ist. Als weitere erfolgversprechende Strategien gelten Personalisierung/Personifizierung und Partizipation. Wie in Geschichts- und ethnografischen Schauen persönliche Schicksale – gleich ob realer oder fiktiver Personen – das Publikum emotional involvieren, werden in Naturpräsentationen Forscher/innen zu Ausstellungsbegleiterinnen und -begleitern, und Tiere werden personalisiert. Durch interaktive Angebote werden aus Besucherinnen und Besuchern aktive Mitspieler/innen, die in virtuellen Welten für positive wie negative Umweltentwicklung verantwortlich sind. Ein wesentliches Moment zur Vereinnahmung des Publikums sind insgesamt Stimmungen und Atmosphären, die aus Architektur, Farben und Licht, akustischen Reizen, Materialien, Gerüchen und Temperaturen entstehen. Ziel der beschriebenen Maßnahmen ist die Schöpfung geschlossener Welten, in welche sich das Publikum ohne die Ablenkungen der Außenwirklichkeit auf die dargebotenen Inhalte konzentrieren kann. Relevanz und Funktion der Bedeutungsträger zeigen sich angesichts solcher Tendenzen gewandelt. Das klassische Objekt ist von einem Geltungsverlust bedroht. Es wird benutzt, um nur noch ein Gefühl des Besonderen zu erzeugen. Ihm werden lebende Protagonisten zur Seite gestellt. In Gesamtszenarien wird es zum Mitspieler unter anderen und zur Illustration von Aussagen degradiert oder fehlt als eine nun scheinbar zu vernachlässigende Größe überhaupt und wird zum Beispiel durch Kunstwerke ersetzt. Auf das traditionelle Ausstellungsmedium Text wird möglichst verzichtet und die Architektur tritt in neuen Rollen auf. Sie ist nicht mehr nur würdevoller Rahmen, sondern schafft Aufmerksamkeit und steht im Dienste von Information und Atmosphäre. In einem gegenteiligen Szenario wird sie zur neutralen Projektionsfläche erklärt, beliebig zu bespielen mithilfe audiovisueller Medien, die ihre Informations- und Dokumentationsfunktion hinter sich gelassen haben und nun als Objektersatz, der Objekterweiterung und -kontextualisierung dienen.
Interdisziplinarität und das Verhältnis zur Kunst Die Komplexität der verhandelten Themen legt ihre ganzheitliche Betrachtung und das Überwinden der disziplinären Grenzen nahe: Wie die Zukunft der Natur ohne Kultur nicht zu denken ist, profitierte Kosmos im Kopf von der Einbeziehung zeitgenössischer kulturtheoretischer, philosophischer und künstlerischer Positionen und ist C´est la vie als Mix aus Natur, Kunst und Sozial- und Geisteswissenschaften angelegt.
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Die Verbindung von Natur- und Kulturwissenschaften bleibt heute aber nicht auf temporäre Ausstellungen beschränkt, sondern hat die Dauerausstellungen erreicht. Ein frühes Beispiel dafür ist die interdisziplinäre Ausstellung im Landesmuseum für Natur und Mensch in Oldenburg, das bereits in den 1990er-Jahren die Integration von Natur- und Kulturgeschichte und das Werden und Wirken von Mensch und Tier darin zur Leitlinie erhob. Besonders ist die Oldenburger Schau auch aufgrund der künstlerischen Umsetzung von Objekten und Themen. Kunst wird hier als Vermittlungshelferin eingesetzt und soll durch Überzeichnungen, Übertragungen und Visualisierungen Neugierde wecken und neue Perspektiven eröffnen. Die Möglichkeiten von Kunst als semantisch dichtes und sublimes Ausdrucksmittel, um reflexive Momente in Ausstellungen einzubringen, wurde auch am Londoner Natural History Museum (GB) erkannt, wo das Department for Innovation Kunstprojekte in der permanenten Ausstellung organisiert. Das Pariser Musée de la chasse et de la nature22 (F) wirft seinen Blick auf Jagd und Natur durch die Brille alter und neuer Kunst, die die menschlichen Bilder und Vorstellungen, die Ordnung und museale Haltbarmachung von Natur im Laufe der Geschichte eindrucksvoll zu spiegeln versteht.
Bezug zur Institutionen- und Wissenschaftsgeschichte Der US-amerikanische Künstler Marc Dion23 legt in seinen Arbeiten konsequent die kulturelle Konstruiertheit unserer Naturbilder offen, er bricht die Ideologie der wissenschaftlichen Objektivität mit Humor und spielt immer wieder mit den Darstellungsweisen, der Atmosphäre und Ästhetik alter Naturpräsentationen. Hans Belting24 beschreibt, wie gern wir dem Zauber und Charme des Museums des 19. Jahrhunderts erliegen, den vermeintlich verstaubten Dingen und ihrer Inszenierung, die die Aura einer anderen Zeit an sich tragen, ohne uns durch aufdringliche Vermittlungsstrategien zu manipulieren. Man besinnt sich heute in Naturmuseen durchaus der Wirkungskraft dieser alten Präsentationen und zeigt sie als Teil einer Institutionengeschichte neu. So hat das Naturhistorische Museum der Burgergemeinde Bern Afrika-Dioramen aus den 1930er-Jahren als Teil seiner institutionellen Identität und historisches Dokument erhalten. Eine umfassende Kontextualisierung25 zu den Umständen der Sammlung, der Präparations- und Präsentationsgeschichte lässt keine Idyllen des Gestern aufkommen. Auch im Naturkundemuseum am Universalmuseum Joanneum in Graz (A), dessen Eröffnung für 2013 geplant ist, wird der atmosphärisch wirkungsvollen Mineraliensammlung eine besondere Rolle eingeräumt und mit der im Museumsbereich vielleicht einzig erhaltenen chemisch-kristallografischen Ordnung aus dem späten 19. Jahrhundert ein seltenes Stück Wissenschaftsgeschichte thematisiert.26 Dagegen wird das Naturhistorische Museum Wien (A) zwar gern mit dem Prädikat „alt“ beworben, im Durchschreiten der Säle lässt sich allerdings angesichts diverser, zumeist didaktisch motivierter
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Einschreibungen, Überzüge und Zugaben nicht mehr so leicht ausmachen, was wann ersetzt und ergänzt wurde, was tatsächlich alt ist und was bloß so wirkt. Dabei würde es sich mit seinen rund 40 Schausälen besonders anbieten, die Geschichte des Museums als eine Geschichte wechselnder Denksysteme, Naturbilder und Sammlungen, Systematiken und Forschungspraktiken, Präparationstechniken, Präsentationsmedien und -sprachen, schließlich verschiedener Museumsbegriffe in ihrer Personengebundenheit vorzustellen. Zumindest in aktuelle Forschungsprojekte gewährt das Naturhistorische Museum, das mit seinen rund 60 wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern zu den großen österreichischen Forschungseinrichtungen gehört, seit 2011 Einblicke. Was in Wien in Form von insgesamt zwölf Säulenvitrinen in den entsprechenden Schausälen vorgestellt wird, ist dem Natural History Museum London (GB) ein neues Gebäude wert. Das 2009 eröffnete Darwin Center vermittelt auf drei Etagen, was die rund 250 Museumswissenschafter/innen in ihrem Arbeitsalltag beschäftigt.
Institutionelle Identität und gesellschaftliche Funktion Das Selbstverständnis der Mitarbeiter/innen scheint vor allem in den großen, nationalen Naturmuseen nach wie vor durch ihre Forschungsarbeit getragen. Mit ihren traditionsreichen Sammlungen sind diese Museen die wichtigsten Sacharchive und ersten Orte der Naturwissenschaftsgeschichte. Ihre Herausforderung liegt darin, gleichzeitig den Sammlungen gerecht zu werden und den Anschluss an die Themen und gesellschaftlichen Fragen der Gegenwart nicht zu verlieren, die im Museum selbst vielleicht nicht beforscht, aber dort vermittelt werden können. Was ihre öffentliche Wahrnehmung anbelangt, erfreuen sich die großen Häuser großer, auch touristischer Beliebtheit. Naturmuseen im Kontext von Landesmuseen, wie in Österreich verbreitet, haben nach wie vor wesentlichen Anteil an der Konstituierung von Landes- und regionalen Identitäten. Auch eigenständige, mittelgroße und kleine Häuser stehen im Dienst einer regionalen Identitätsvergewisserung und tragen zur kulturellen Versorgung von Städten und Regionen bei. Häuser wie beispielsweise das Naturmuseum Thurgau in Frauenfeld (CH) zeigen, das sich kleine Einrichtungen mit klarem Bezug auf einen begrenzten geografischen Raum vielleicht besonders gut eignen, ein Bewusstsein für die Vielfalt einer regionalen Umwelt sowie die Wechselwirkungen und Spannungsfelder zwischen Natur und Mensch zu schaffen. Indem sie Interesse und Freude an der Natur vor Ort wecken, schaffen sie Verständnis für einen nachhaltigen Umgang mit der Natur insgesamt und können für konkrete Handlungsmöglichkeiten im eigenen Lebensbereich sensibilisieren. Die Institution Museum scheint heute in einer Phase der Unsicherheit, was die Möglichkeiten der Sammlungserhaltung und -entwicklung, die eigene Rolle innerhalb der Forschungslandschaft, die Tendenzen im Ausstellungswesen und die gesellschaftlichen Funktionen angeht. Es ist im Moment schwer absehbar, wie sich
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einzelne Museumstypen in den kommenden Jahrzehnten entwickeln werden, und ebenso ist unklar, was von ihnen bleibt, sollte eine in verschiedenen Museumsbereichen begonnene Kommerzialisierung weiter fortschreiten. Ich denke, dass die Museen der Natur gute Voraussetzungen haben, ihre öffentliche Akzeptanz und gesellschaftliche Bedeutung auch in Zukunft zu erhalten und dass ein noch größeres Bewusstsein ihrer Verantwortlichen für die Geschichte der Institution, die Themenzuständigkeit und Bandbreite der gesellschaftlichen Aufgaben, das eigene Objektgut sowie schließlich eine angemessene Ausstellungssprache dazu beitragen kann.
A NMERKUNGEN 1 | Timothy W. Luke: Museum Politics. Power Plays at the Exhibition, Minneapolis/ London: 2002, S. 106. 2 | Ich möchte mich herzlich bei Dr. Bernd Moser, Leiter der Abteilung Geowissenschaften am Universalmuseum Joanneum, Graz, für die kritische Durchsicht des Textes bedanken. Da ich selbst keine Naturwissenschafterin bin, müssen sich meine Ausführungen auf einige museologische Bemerkungen zu den Museen der Natur beschränken. 3 | Vgl. Susanne Köstering: Natur zum anschauen. Das Naturkundemuseum des deutschen Kaiserreichs 1871–1914, Köln: 2003, S. 43ff. 4 | Vgl. Stefanie Jovanović-Krupsel: Naturhistorisches Museum Wien. Ein Führer durch die Schausammlungen, 2010, S. 20f. 5 | Vgl. Hans-Jörg Rheinberger: »Epistemologica: Präparate«, in: Anke te Heesen/Petra Lutz (Hg.), Dingwelten. Das Museum als Erkenntnisort, Köln: 2005, S. 65–76, hier: S. 67ff. 6 | Vgl. Susanne Köstering, wie Anm. 3, S. 191ff. 7 | Vgl. Michael Fehr: »Das Exponat als Event. Bemerkungen zur Einrichtung des Landesmuseums Natur und Mensch Oldenburg«, in: Museumsjournal Natur und Mensch 03/2007, S. 103–110, hier: S. 109. 8 | Vgl. Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, Frankfurt a. M.: 1974, S. 194f. 9 | Vgl. Daniela Kratzsch, »Natur in der Schublade«, in: Bodo-Michael Baumunk/ Jasdan Joerges (Hg.), 7 Hügel_Bilder und Zeichen des 21. Jahrhunderts, II) dschungel. Sammeln, Ordnen, Bewahren: Von der Vielfalt der Natur zur Kultur der Natur, Berlin: 2000, S. 102–106, hier S. 104. 10 | Vgl. Stefan Siemer: »Die Erziehung des Auges. Zur Darstellung und Erfahrung von Natur in naturhistorischen Sammlungen der frühen Neuzeit«, in: www.kunsttexte.de 1/2001. 11 | Vgl. Tony Bennett: »Der bürgerliche Blick. Das Museum und die Organisation des Sehens«, in: Dorothea von Hantelmann/Carolin Meister (Hg.), Die Ausstellung. Politik eines Rituals, Zürich/Berlin: 2010, S. 47–77, hier S. 58f.
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B ETTINA H ABSBURG -L OTHRINGEN 12 | Vgl. Sharon J. MacDonald: »Nationale, postnationale, transkulturelle Identitäten und das Museum«, in: Rosmarie Beier (Hg.), Geschichtskultur in der Zweiten Moderne. Frankfurt am Main/New York: 2000, S. 123–148, hier: S. 129. 13 | Vgl. Susanne Köstering, wie Anm. 3, S. 86. 14 | Vgl. Gottfried Korff, »Betörung durch Reflexion. Sechs um Exkurse erweiterte Bemerkungen zur epistemischen Anordnung von Dingen«, in: Anke te Heesen/ Petra Lutz (Hg.), Dingwelten. Das Museum als Erkenntnisort, Köln: 2005, S. 89–107. 15 | Vgl. Michael Fehr, wie Anm. 7, S. 104. 16 | Vgl. Samuel Alberti: »Constructing nature behind glass«, in: Museum&Society 2/2008, S. 73–97, hier: S. 79. 17 | Vgl. Rachel Poliquin: »The matter and meaning of museum taxidermy«, in: Museum&Society 2/2008, S. 123–134, hier: S. 127. 18 | Vgl. Hans Jürgen Kagelmann: »Erlebniswelten. Grundlegende Bemerkungen zum organisierten Vergnügen«, in: Max Rieder/Reinhard Bachleitner/H. Jürgen Kagelmann (Hg.), ErlebnisWelten. Zur Kommerzialisierung der Emotion in touristischen Räumen und Landschaften, München/Wien: 1998, S. 58–94. 19 | Gehirn und Denken – Kosmos im Kopf. Katalog zur Ausstellung im Deutschen Hygiene-Museum von 14. April bis 25. Oktober 2000, Ostfildern-Ruit 2000. 20 | Das Hotel. Die Mauer. Die Zukunft der Natur. Landesausstellung 05. Tirol, Südtirol, Trentino. Das Buch, hg. v. Martin Heller/Benedikt Erhard, Lana/Südtriol: 2005. 21 | C´est la vie. Geschichten aus Leben und Tod, Broschüre zur Ausstellung, Naturhistorisches Museum der Burgergemeinde Bern 2008. 22 | Allein Matternich (Hg.): The musée de la chasse et de la nature. Ausstellungsführer 2007. 23 | Vgl. Dieter Buchhart/Verena Gamper (Hg.): Marc Dion, Concerning Hunting, Ostfildern: 2008. 24 | Vgl. Hans Belting: »Orte der Reflexion oder Orte der Sensation?«, in: Peter Noever (Hg.), Das diskursive Museum. Ostfildern: 2001, S. 82–94, hier: S. 91. 25 | Vgl. Hanspeter Bunde: »Afrika in Bern. Wie die Safari zweier Bernburger das Naturhistorische Museum verwandelte«, Broschüre Naturhistorisches Museum der Burgergemeinde Bern, 1998. 26 | Bernd Moser: »Naturkundemuseum im Bau: Der letzte Akt im Großprojekt „Joanneum neu“«, in: Museum aktuell 180/2011, S. 35–40.
Ethnografische Museen. Spannungslinien Wayne Modest
In ihrer Einführung zu einer Sonderausgabe der Zeitschrift Ethnos fordern Dahl und Stade1 im Jahr 2000, dass „die Verbreitung von Information über aktuelle Lebenswelten von beispielsweise Arbeitsmigranten, Flüchtlingen und illegalen Einwanderern heutzutage eine oder sogar die zentrale Aufgabe ethnografischer Museen sein sollte.“ Dahls und Stades Einführung bildet den Rahmen für eine Reihe von Artikeln, die vorgeben, „einige der wichtigsten Forschungsstränge, mit welchen sich museumsnahe Ethnologen in letzter Zeit beschäftigten“ zu repräsentieren. Gut zehn Jahre nach Veröffentlichung dieser Textsammlung kann nicht behauptet werden, dass die Auseinandersetzung mit derart aktuellen Themen zum Kern der ethnografischen Museumspraxis geworden wären. Viel eher gewinnt man den Eindruck, dass viele ethnografische Museen die Befassung mit Fragen nach Migration, Vertreibung oder Multikulturalismus dezidiert vermieden haben. Wenn es also nicht die genannten Inhalte sind, welche Themen und Dinge haben stattdessen in den letzten Jahren das Interesse der Verantwortlichen ethnografischer Museen erregt, und wie wurden diese in Ausstellungen umgesetzt? Kann man Trends feststellen oder Verschiebungen in der Praxis, und welche Folgen resultieren aus solchen Trends? Die Sonderausgabe der Zeitschrift Ethnos fällt mit einem in den letzten Jahren zunehmend kritisch gewordenen Blick auf ethnografische Museen zusammen. Ein Teil dieser Kritik fokussiert, was Lidchi2 als „Poesie und Politik“ von Museen beschrieb, die „Praxis der Bedeutungsproduktion durch ihre interne Ordnung und Konfiguration“ beziehungsweise die „Rolle von Ausstellungen in der Wissensproduktion.“ Andere Arbeiten konzentrieren sich auf die Positionierung ethnografischer Museen in der Gesellschaft und ihre gegenwärtige Rolle und Funktion darin. Obwohl ethnografische Museen sowie die Stimmen ihrer Kuratoren in vielen akademischen Kreisen über lange Zeit ignoriert bzw. nicht ernst genommen wurden, hat sich das heutige Museum – und meiner Ansicht nach insbesondere das ethnografische Museum – für Wissenschaftler, die sich mit Repräsentation, Globalisierung, Multikulturalismus, Identitätspolitik und sogar sozialer Gerechtigkeit beschäftigen,
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zu einer wichtigen Quelle entwickelt. Dieses neu erwachte Interesse kommt nicht von ungefähr, sondern resultiert aus signifikanten globalen Veränderungen, die sowohl auf die akademische Welt als auch auf die Museen wirken. Gesellschaftliche Entwicklungen, die in der Theorie der Einfachheit willen mit dem Präfix „Post“ (Post-Strukturalismus, Post-Moderne, Post-Kolonialismus) versehen werden, haben die Vorstellungen von Repräsentation, Staatsbürgerschaft oder Identität in Diskussion gebracht, und in den Museen beispielsweise die Forderung indigener und vormals kolonialisierter Völker nach Mitsprache laut werden lassen, wie die von den Museen während der Kolonialzeit akquirierten Objekte bewahrt und verwendet werden sollten. Die folgende kurze Abhandlung versucht, einige der Ansätze und Ideen zu skizzieren, mit welchen Ethnologie-Museen die angedeuteten Veränderungen aufnehmen und thematisieren. Sie bietet dazu zuerst einen kurzen Überblick über die Geschichte ethnografischer Museen und ihrer Präsentationen. Darauf folgt eine genauere Betrachtung einiger aktueller Trends in der Ausstellungspraxis dieser Museen. Sonderausstellungen sind nicht Gegenstand dieser Publikation, die sich auf Dauerausstellungen konzentriert. Es sei jedoch angemerkt, dass sich diverse Debatten und Lösungsansätze auch sehr augenscheinlich in teils herausragenden Sonderausstellungsprojekten spiegeln und gerade Sonderausstellungen auf die Dauerausstellungspraxis wirken.
Ethnografische Ausstellungen. Eine kurze Geschichte Jeder Versuch, die Geschichte ethnografischer Ausstellungen kurz und knapp darstellen zu wollen, muss scheitern, weil er der langen Tradition dieser Präsentationen, aber auch den regionalen und institutionellen Unterschieden nicht gerecht werden kann.3 In den letzten zwei Jahrzehnten ist die Literatur zur Geschichte ethnografischer Präsentationen stark angewachsen. Viele Publikationen haben dabei die Wechselwirkungen des europäischen und amerikanischen Kolonialismus und der Abbildung der imperialen Geografien in ethnografischen Präsentationen sowohl innerhalb als auch außerhalb der Museen thematisiert. Aufstellungen „exotischer“ Völker und ihrer Objekte für den westlichen Blick werden bereits für das 16. Jahrhundert ausführlich beschrieben, als Ethnographica – sowohl Menschen als auch Objekte – von europäischen Forschern, Reisenden und Kolonisatoren in ihre Herkunftsländer gebracht und als Repräsentanten der „kuriosen“ Völker und Traditionen, die ihnen auf ihren Reisen begegnet waren, gezeigt wurden. Als Ausstellungsstücke in privaten Kuriositätenkabinetten oder Wunderkammern sollten diese Menschen und Objekte ein nur ausgewähltes Publikum begeistern. Erst im 19. Jahrhundert erlangten ethnografische Ausstellungen volle öffentliche Zugänglichkeit. Sie waren vielbesuchte Attraktionen von Kolonial- und Weltausstellungen, die später in ethnografische Museen integriert wurden. Diese ethnografischen
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Darbietungen der musealen Vorzeit bzw. außerhalb der Museen waren mehreren Autoren zufolge wichtige Wegbereiter, um die kolonialisierten Völker in den Museen selbst als „primitiv“, „unzivilisiert“ und von „mangelder Moral“ vorzustellen. Corbey4 schreibt beispielsweise, dass „Personen von Stammeskulturen, die im Westen ausgestellt wurden, kommodifiziert, etikettiert [...] skriptiert, zum Objekt gemacht, essentialisiert, dekontextualisiert, ästhetisiert und fetischiert wurden.“ Ähnlich weist Bennett5 in seiner Reflexion über die Entstehung dessen, was er den „Ausstellungs-Komplex“ nennt, darauf hin, dass die ethnografischen Präsentationen, indem sie Objekte aus aller Welt arrangierten, im Bewusstsein des Publikums „eine progressive Taxonomie des Menschen“ festlegten, die Europa an der Spitze einer Entwicklung und so genannte primitive Völker an ihrem Anfang platzierte: Kolonialisierte Völker wurden durch die Form ihrer Präsentation den westlichen Völkern hierarchisch unterstellt, und durch diese sichtbare Unterordnung wurde die europäische und amerikanische Kolonialpolitik indirekt legitimiert. Eine wichtige Rechtfertigung für die Inbesitznahme kultureller Objekte aus kolonialisierten Gebieten durch europäische Forschende war die Annahme bzw. Behauptung, dass diverse Kulturen und Völker verschwinden und aussterben würden, teilweise auch aufgrund von Kontakten mit Europäern. Vor dem Hintergrund der Vorstellung eines evolutionären Narrativs wurden so im Zuge einer „RettungsEthnologie“ Objekte von sogenannten „primitiven“ Völkern gesammelt, klassifiziert und studiert, um auf dieser Basis die Entwicklung zum zivilisierten, europäischen Menschen hin nachvollziehen zu können. Von diesem Rettungs-Paradigma des 19. Jahrhunderts ausgehend, entwickelte sich das ethnografische Museum als Ort des wissenschaftlichen Studiums und als Ausstellungsraum für die materiellen Relikte von Menschen und Kulturen, die man für „anders“ als die Europäer bzw. die europäische Kultur hielt. Die Repräsentation „des Anderen“ über eine begrenzte Anzahl von Objekten und Sammlungsbeständen ließ diese in ihren kulturellen Äußerungen, ihrer Kunst, ihrer Weltvorstellung oder ihren Wertehaltungen als unveränderlich und konstant erscheinen. Ihr Fortschritt wurde nur im Nachvollziehen einer europäischen Modernisierungspraxis als möglich suggeriert.
Aktuelle Trends Vor diesem Hintergrund sind ethnografische Museen in den letzten Jahren zunehmend unter Kritik geraten und waren gezwungen, sich ihrer komplexen Geschichte zu stellen. Mehrere Wissenschaftler haben die Museums-Ethnologie bezichtigt, der akademischen Ethnologie hinterherzuhinken – eine Anschuldigung, die in vielen Fällen zu Recht erhoben wird. Es wäre jedoch nicht korrekt zu behaupten, dass sich alle Ethnologinnen und Ethnologen an Museen den jüngeren gesellschaftspolitischen Entwicklungen und den entsprechenden theoretischen Debatten verweigert bzw. diese
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komplett ignoriert hätten. Tatsächlich gab es in den letzten drei Jahrzehnten bedeutende Veränderungen in der Museumspraxis, von welchen einige direkt oder indirekt mit den genannten Entwicklungen und Debatten in Zusammenhang stehen. Interaktion mit Communities So lässt sich ein Paradigmenwechsel darin erkennen, wie ethnologische Museen die Beziehungen mit ihren „source communities“, also jenen Gemeinschaften, aus welchen die musealen Sammlungen entstammen, neu definieren. Die Interaktion mit diversen Gruppen und Gemeinschaften ist in den letzten Jahren für viele Museen zu einem wichtigen Thema geworden und lässt sich auf die New-Museology-Bewegung und weitere Trends hin zu mehr gesellschaftlichem Engagement seit den 1980erund 1990er-Jahren zurückführen. In den ethnologischen Museen hat diese neue Praxis angesichts der Institutionen- und Sammlungsgeschichte aber eine tiefgehende Bedeutung und weitreichende Folgewirkungen. Peers und Brown6 beschreiben „den dramatischen Wandel im Wesen der Beziehungen zwischen Museen und ihren source communities“ als „eine der wichtigsten Entwicklungen in der Geschichte von Museen“ überhaupt: Während früher in einem lediglich einseitigen Prozess Objekte und Informationen über bestimmte Gemeinschaften in die Museen kamen, untersucht und von den verantwortlichen Wissenschaftern und Kustoden nach dem Stand der Forschung, nach vorherrschenden Ideologien und Wertehaltungen etc. interpretiert wurden, verlagert sich heute der Schwerpunkt zunehmend hin zu einem wechselseitigen Austausch, in dem Informationen über historische Artefakte an die „source communities“ zurückgegeben werden, ihre Mitglieder mit den Museen zusammenarbeiten, ihre Ansicht und ihr Wissen über die ursprüngliche und gegebenenfalls immer wieder veränderte Bedeutung der Artefakte einbringen.7 Nach Peers und Brown haben Museen Mitglieder dieser „source communities“ mittlerweile nicht nur als Quellen für die Befragung von musealen Sammlungsbeständen, sondern auch als Ausstellungspublikum erkannt, das andere Bedürfnisse und Erwartungen an eine Präsentation mitbringt, die es zu berücksichtigen gilt. Phillips8 zufolge zieht diese Wende hin zu kollaborativen Museums- und Ausstellungskonzepten fundamentale Fragen nach sich: Danach beispielsweise, „wie sich die zeitgenössischen Museen selbst repositionieren, während sie auf die Strömungen des kulturellen Pluralismus, der Dekolonisierung und Globalisierung reagieren“, oder auch über „die sich verändernde Beziehung zwischen Museen und den Gesellschaften, innerhalb derer sie operieren. Phillips sieht den Beginn dieses „collaborative turn“ in den 1990er-Jahren und identifiziert grundsätzlich zwei verschiedene Modelle kollaborativer Ausstellungspraxis. In jenem, das sie als „Gemeinschaftsbasierendes Modell“ beschreibt, und das hier von Interesse sein soll, ist die Rolle der Kuratoren im Vergleich zum klassischen Rollenverständnis stärker eine vermittelnde. Die Kuratoren unterstützen primär die Mitglieder der Communities, die über Inhalte, Texte oder die Gestaltung der Ausstellung entscheiden. Sie schaffen Raum, der durchaus auch unterschiedlichen Perspektiven und Positionen Platz geben soll.
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Dabei ist die Arbeit mit Communities auch im Kontext ethnografischer Museen nicht wirklich neu. Was Phillips – wie auch Peers und Brown – aber als durchaus neuartig herausstellt, ist eine Verschiebung tradierter Machtverhältnisse in Bezug auf das Sammeln, Bewahren und Ausstellen von Objekten. Tatsächlich werden heute an manchen Museen Konzepte und Projekte auf Basis einer Idee der geteilten Autorität entwickelt: Man entscheidet mit Mitgliedern der „source communities“ gemeinsam, wie eine Sammlung erweitert, ein Ausstellungsthema gefunden oder ein Thema in einer Ausstellung umgesetzt wird. Ein Beispiel für eine solche Vorgehensweise ist die Konzeption der Ausstellung African Worlds am Horniman Museum in London. Im Zuge der Entwicklung der Ausstellung, die auf der Afrika-Sammlung des Museums gründen sollte, stellten die Museumsverantwortlichen ein kuratorisches Team und eine Beratergruppe zusammen, welcher sowohl Menschen aus Afrika, der Karibik und Großbritannien als auch Mitglieder der in London lebenden afrikanischen Communities angehörten. Vor dem Hintergrund der diversen Erfahrungen der beteiligten Personen und durch die Form der Zusammenarbeit wurde es in der Ausstellung möglich, verschiedene Missverständnisse und Mythen über den afrikanischen Kontinent offensiv zu thematisieren. So wurde der simplen Fehlannahme, Afrika sei ein Land ebenso begegnet wie etwa dem Glauben, dass Afrika keine Geschichte habe.9 Natürlich stellt sich die Frage, ob jeder, der sich als Teil der afrikanischen Diaspora wahrnimmt, so einfach als Teil einer „source community“ für Objekte aus Afrika angesehen werden kann. Ich habe dies an anderer Stelle10 schon kritisch hinterfragt. Insgesamt scheinen mir derartige Initiativen und Projekte aber ein gutes Beispiele dafür zu sein, wie sich Museen angesichts der teils fragwürdigen Entstehung ihrer Sammlungen heute aktiv positionieren können und ein Zeichen gegen jene, bis heute teils rassistischen Afrika-Diskurse setzen können, an deren Entstehung sie selbst in gewichtiger Position mitgewirkt haben. Gemeinschaftliche Projekte zwischen Museen und verschiedenen Communities sind mittlerweile innerhalb der ethnografischen Museen durchaus üblich geworden. Über das unmittelbare Projekt hinausgehend, verändern diese Praktiken dabei die Art und Weise, wie Museen arbeiten, ihr Selbstverständnis im Sammeln, Bewahren und Ausstellen von Objekten insgesamt. Perspektivisch werden sich die europäischen ethnografischen Museen meiner Einschätzung nach an Entwicklungen und Konzepten in Nordamerika, Neuseeland oder Australien zu orientieren haben, wo gerade die innovativste Arbeit in dieser Hinsicht geleistet wird und die Zusammenarbeit „indigener“ oder „eingeborener“ Kuratoren mit „traditionellen“ Kuratoren am weitersten fortgeschritten ist. Was bedeuten schon Namen: Weltkunst, Ethnologie oder Kulturgeschichte Ob es Weltkultur(en), Ethnologie, Ethnografie, Anthropologie oder Kulturgeschichte ist, die wir „machen“, ist eine Frage, die mittlerweile in vielen ethnografischen
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Museen in ganz Europa aufgeworfen worden ist. Ein erstes Aufflammen entsprechender Diskussionen lässt sich Mitte der 1990er-Jahre festmachen, als Museumsverantwortliche darüber nachzudenken begannen, ob Begriffe wie „Ethnologie“, „Volkenkunde“ oder „Völkerkunde“ noch als geeignet angesehen werden können, um die zeitgemäße Rolle ethnografischer Museen zu vermitteln, oder ob nicht eine bestimmte Sprache und Begrifflichkeit zu sehr an frühere ethnografische Praktiken geknüpft ist. In dieser Zeit wandten sich viele Museen Begriffen wie „Weltkulturen“ oder „Weltkunst“ zu und wählten sie sowohl zur Bezeichnung der Institution als auch zur Neubenennung diverser Abteilungen und Sammlungen. Einer der Vorläufer in dieser Hinsicht war das Museum für Ethnologie Basel, das seinen Namen 1996 in Museum der Kulturen änderte. Das Museum für Volkenkunde in Rotterdam benannte sich in den frühen 2000er-Jahren in Wereldmuseum Rotterdam, und das Museum für Völkerkunde in Frankfurt wurde 2001 zum Museum für Weltkulturen, 2010 zum Weltkulturen Museum. Das Museum der Weltkulturen in Göteborg eröffnete 2004 nach einem langen und zutiefst politischen Prozess rund um die Frage, wie man gleich mehrere Museen in Schweden, die sich mit nicht-westlicher, materieller Kultur beschäftigen, überholen und repositionieren solle. Innerhalb Großbritanniens wurden diese Begriffe zwar nicht aufgenommen, um Museen selbst neu zu benennen, wohl aber wurden in vielen Museen Teile der Sammlungen oder bestimmte Bereiche umbenannt. So verfügt etwa das Brighton Museum über eine Abteilung „Weltkunst“. Nun kann man die Relevanz einer Namensänderung für die tatsächliche Praxis der Museen durchaus hinterfragen. Allein die Neuorientierung auf sprachlicher Seite markiert aber meiner Ansicht nach einen Paradigmenwechsel im Denken der Verantwortlichen ethnografischer Museen im ausgehenden 20. Jahrhundert. Dieser Wandel im Denken und Wahrnehmen innerhalb der Museen korrespondiert mit Veränderungen außerhalb: Die zunehmende Vernetzung der Welt hat zur Hinterfragung hergebrachter Kategorien geführt. Die Globalisierung ist zu einem zentralen Bezugspunkt gesellschaftstheoretischer Überlegungen avanciert. In der zeitgenössischen Kunst ist eine neue Weltkunst kraftvoll zutage getreten. An verschiedenen Universitäten sind Weltkunst-Programme eingerichtet worden. Eine neue, ganzheitliche Welt-Ethnologie sucht die Macht zugunsten einer faireren Balance zwischen dem Westen und dem Rest der Welt – zwischen den Zentren, die Wissen produzieren, und jenen, über die Wissen produziert wird – neu aufzuteilen. Über „Weltkulturen“ oder „Weltkunst“ nachzudenken bringt es zwangsläufig mit sich, die entsprechenden Sammlungen und den analytischen Rahmen, den wir anwenden, um sie zu verstehen, zu überdenken und sich hin zu „einer Zeit und Raum übergreifenden globalen Perspektive“ zu bewegen.11 Sich auf universalisierende Prinzipien zu berufen, muss so früher oder später zu analytischen Kategorien führen, die die in Museen und Wissenschaften so sehr eingeübte Trennung zwischen „uns“ und „sie“, zwischen „wir“ und „die Anderen“ in Kunst und Kultur auflösen.
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Natürlich blieb diese Wende der Museen hin zur „Welt“ nicht ohne Kritik. Immer wieder haben Wissenschaftler darauf hingewiesen, dass allein die Nutzung von Termini wie Weltkunst oder Weltkulturen nicht ausreicht, etablierte museale Praxis zu verändern und sich nachweislich auch nicht in bedeutenderen Veränderungen niederschlug. Museen für Weltkunst oder Weltkulturen fokussieren, auch wenn sie eine globale Interaktion nahelegen oder für einen Neuentwurf des Bekannten stehen sollen, zum Großteil, wenn auch nicht vollständig, auf nicht-westliche Kunst oder Kultur. Die Dichotomie bleibt bestehen: In Ethnologie-Museen gibt es die Weltkunst zu sehen, in den Kunstmuseen die Kunst. Die Museen für Weltkultur bleiben den nicht-westlichen Kulturen vorbehalten. Thematisch versus Regional Die Idee einer sich auf die Welt in ihrer Gesamtheit beziehenden Welt-Ethnologie deckt sich auch mit einer weiteren, an Aufmerksamkeit gewinnenden Veränderung in der Praxis der ethnologischen Museen: Ist das strukturgebende Gerüst der regionalen Umschreibung, welches lange Zeit die kuratorische Expertise, die Sammlungspräsentationen und die Ordnung in den Depots beherrscht hat, heute überhaupt noch vertretbar? In einem kürzlich am Tropenmuseum stattgefundenen Treffen, im Zuge dessen die Sanierung des Rautenstrauch-Joest Museums in Köln diskutiert wurde, merkte der Moderator an, dass Kölns Entscheidung für thematisch anstatt regional perspektivierte Präsentationen der zukünftige Weg für ethnografische Museen wäre. Auch dieser Trend ist nicht vollkommen neu, hat aber doch kürzlich an Popularität gewonnen. Neben Köln haben auch das Museum der Weltkulturen Göteborg oder das im Herbst 2011 neu eröffnete Museum der Kulturen in Basel ähnliche Schritte hin zu globalen Themen unternommen. In ihrer Beschreibung zur thematischen Ausrichtung des Rautenstrauch-Joest Museums schreiben Engelhard und Schneider: „Die neue Ausstellung bildet eine Abkehr vom herkömmlichen Präsentieren größerer geographischer Regionen, wodurch in vergleichbaren Museen der irreführende Eindruck vermittelt wurde, eine Vielzahl an Kulturen in verschiedenen Habitaten, Regionen, Ländern und sogar ganzen Kontinenten – oft über Jahrhunderte hinweg – umfassen zu können“.12 Das Rautenstrauch-Joest Museum setzte dagegen Themen wie „Die Welt erfassen“ oder „Die Welt gestalten“, die jene kulturellen Begegnungen erforschen, welche sowohl die Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Gesellschaften rund um die Welt als auch die westlichen wissenschaftlichen und museologischen Praktiken beeinflussten. Eine derartige Zugangsweise fordert die heute oft als zu reduziert und als falsch erachteten, alten Präsentationen rund um Regionen wie Afrika oder Ozeanien heraus, die in der Regel auf die vielfältigen Unterschiede innerhalb dieser definierten Großregionen keine Rücksicht nehmen. Im Hintergrund dieser Neuausrichtung stehen neuere Fragestellungen und Schwerpunkte in der akademischer Ethnologie und Kulturtheorie, die sich seit den 1990er-Jahren zum Beispiel jenen
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Kräfteverhältnissen zuwandte, die die globale Bewegung mitbestimmten. Die hermetische isolierte Vorstellung bzw. Betrachtung von Kulturen und kulturellen Prozessen war in einer Zeit noch nie da gewesener Migration wie einer zunehmenden Vernetztheit durch globale Medien unmöglich geworden.13
Fazit Ich habe mich in meinen Ausführungen darauf beschränkt, drei Tendenzen herauszugreifen, die in den letzten Jahren für die Entwicklung ethnografischer Museen wegweisend waren. Die skizzierten Strömungen vollziehen, zeitlich verzögert, Debatten der akademischen Ethnologie nach und haben neue Konzepte, Möglichkeiten der Beteiligung und ein neues Verständnis von der gesellschaftlichen Rolle der Institution in die Museen gebracht. Alle drei Trends entstanden aus ähnlichen Impulsen heraus und sind getrieben vom Wunsch, Ungleichheiten in Wissens- und Macht-Relationen, die in den letzten Jahrhunderten entstanden und eng mit euro-amerikanischem Kolonialismus verbunden sind, zu korrigieren. Jeder Trend setzt dabei auf andere Mittel und Strategien, um diesen Ungleichheiten zu begegnen, jeder hat seine Grenze. So wollen Museumsverantwortliche mithilfe von „source-community“Methoden jenen Gemeinschaften, aus welchen die musealen Sammlungen entstammen, eine Stimme geben und Autorität mit ihnen teilen. In der Praxis wird dieses Konzept dafür kritisiert, dass allein die Definition einer „source community“ die Macht auf Seiten des Museums belässt. In der gegenwärtigen, globalisierten Welt ist es für Wissenschafter und Kuratoren oft schwierig zu identifizieren, wer für „die Quelle“ sprechen kann. Zudem gelingt es mit dem „source-community“Ansatz nicht, das ethnografische Paradigma eines euro-amerikanischen „uns“ und eines ehemals kolonialisierten, nicht-westlichen „ihnen“ vollständig aufzulösen. Auch die Methode der Welt-Ethnologie hat versucht, die Strukturen der Wissensproduktion zu dezentralisieren und definitorische Bestimmungen von Kunst und Kultur infrage zu stellen. Unglücklicherweise ist es den Vertretern dieses Ansatzes nicht gelungen, das Publikum, Sammler und Museums-Fachleute davon zu überzeugen, dass der Begriff „Welt“ in diesem Konzept etwas anderes bedeutet als „nicht-westlich“. Der letzte hier skizzierte Ansatz stellt das Bemühen ins Zentrum, die Dichotomie von westlich/nicht-westlich und beunruhigende geopolitische Fassungen von Regionen und Kulturen in globalen Themen aufzulösen. Diese Methode ist noch relativ neu, und es braucht – auch wenn sie in einzelnen Dauerund mehreren Wechselausstellungen angewendet wurde – noch mehr Zeit, um ihre Brauchbarkeit in permanenten Ausstellungen beurteilen zu können. Ungeachtet der in dieser Abhandlung diskutierten Tendenzen bleibt Dahls und Stades Einladung, ein soziales, gesellschaftsrelevantes und gegenwartsbezogenes
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Programm zu entwickeln, für ethnografische Museen weiterhin wichtig. Ethnografische Museen können ihr Publikum dabei unterstützen, die Veränderungen in der gegenwärtigen Gesellschaft bewusst wahrzunehmen und zu reflektieren. Multikulturalismus (sollte dies überhaupt ein Begriff sein, der uns bleibt), Transnationalismus und sich verändernde Vorstellungen von Bürgerschaft und Zugehörigkeit sind aktuelle Belange, denen sich dieser Museumstyp in besonderer Weise widmen kann – dies bedarf jedoch einer andauernden Suche nach geeigneten Modellen und ein breites Bewusstsein für jene tradierten Praxismodelle und Kategorien, die ethnografische Museen nach wie vor umstricken. (Übersetzt aus dem Englischen)
A NMERKUNGEN 1 | Vgl. G. B. Dahl/Ronald Stade: »Anthropology, Museums, and Contemporary Cultural Processes: An Introduction«, in: Ethnos. Journal of Anthropology, 65/2 (2000), S. 157–171. 2 | Henrietta Lidchi: »The Poetics and Politics of Exhibiting Other Cultures«, in: Stuart Hall (Hg.), Representations. Cultural Representations and Signifying Practices. London: 1997, S. 199–219. 3 | Anthony Alan Shelton: »Curating African Worlds«, in: Laura Peers/Alison Kay Brown (Hg.), Museums and Source Communities: A Routledge Reader, London/New York: 2003, S.181–193. 4 | Raymond Corbey: »Ethnographic Showcases, 1870–1930«, in: Cultural Anthropology, 8/3 (1993), S. 338–369. 5 | Tony Bennett: The Birth Of the Museum. History, Theory, Politics, London: 1995. 6 | Vgl. Laura Peers/Alison Kay Brown (Hg.): Museums and Source Communities: A Routledge Reader, London/New York: 2003. 7 | Ebd. 8 | Vgl. Ruth Phillips: »Community collaboration in exhibitions: towards a dialogic paradigm: Introduction«, in: Laura Peers/Alison Kay Brown (Hg.), Museums and Source Communities: A Routledge Reader, London/New York: 2003, S. 155–170. 9 | Anthony Alan Shelton: »Curating African Worlds«, in: Laura Peers/Alison Kay Brown (Hg.), Museums and Source Communities: A Routledge Reader, London/New York: 2003, S. 181–193. 10 | Wayne Modest/Helen Mears: »Museums, African Collections and Social Justice«, in: Richard Sandell/Eithne Nightingale (Hg.), Museums, Equality and Social Justice, London: 2012. 11 | Kitty Zijlmans/Wilfried van Damme: World Art Studies: Exploring Concepts and Approaches. Amsterdam: 2008.
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WAYNE M ODEST 12 | Jutta Engelhard/Klaus Schneider (Hg.): »People in their Worlds: The New Rautenstrauch-Joest Museum, Cultures of the World«, in: Ethnographica, New Series 28 (2011). 13 | Akhil Gupta/James Ferguson: »Beyond „Culture“: Space, Identity, and the Politics of Difference«, in: Cultural Anthropology 7 (1992), S. 6–23.
Technikmuseen als „Orte der Orientierung“ für die Veränderungsprozesse ihrer Zeit Barbara Wenk
Die Zahl, die Formen und Zielsetzungen von Institutionen und Angeboten, die einer interessierten Öffentlichkeit eine Auseinandersetzung mit Technik anbieten, hat in den letzten Jahren sehr zugenommen. Ob traditionelle Technikmuseen, Industrieund Arbeitermuseen, interaktive Science Center, dialogische Wissenschaftsforen oder erfahrungs- und erlebnisorientierte Brand Lands: Technik wird heute an vielen Orten und in vielfältiger Form mit zum Teil sehr unterschiedlichen Zielen vermittelt und verhandelt. Historische Vorläufer dieser Einrichtungen waren die großen Weltausstellungen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts und die aus ihnen hervorgegangenen, repräsentativen, nationalen Technikmuseen in England, Deutschland und Österreich, die rund um die vorletzte Jahrhundertwende mit dem Ziel entstanden sind, technische Leistungen und Neuerungen, Geräte und Produkte einen breiten, internationalen Publikum bekannt zu machen und ihren Funktionsweisen und Leistungsvermögen zu vermitteln. Eisenbahn, Dampfmaschine, später das Telefon und weitere elektrische Geräte wurden auf den Weltausstellungen und in den frühen musealen Präsentationen als „die Wunder der Technik“, als im Alltag noch nicht sehr verbreitete und daher für die meisten Besucher/innen ungewohnte und besondere Errungenschaften vorgestellt. Technikmuseen waren Schaubühnen des menschlichen Schaffensvermögens, sie sammelten, ordneten, forschten und präsentierten die Objekte einer neuen Welt, ihr Blick war nach vorne gerichtet. Auch die in dieser Zeit gegründeten Postmuseen (heute: Museen für Kommunikation) stellten sich als früher Spezialtypus innerhalb der technischen Museen und als erste Firmenmuseen die Aufgabe, die Entwicklung des nationalen Post- und Kommunikationswesens mit entsprechendem Anschauungsmaterial zu dokumentieren. Bis weit ins 20. Jahrhundert hinein dienten die technischen Museen primär der Information und Aufklärung über einen grundsätzlich positiv bewerteten technischen Fortschritt. Erst mit dem Aufkommen von Arbeiter- und Industriemuseen ab den 1980er-Jahren erfuhr Technik eine stärker gesellschaftliche Kontextualisierung und Einbettung: Ganz im Zeichen einer fortgeschrittenen Moderne gewann
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das Bewahren und Erinnern einer entschwindenden Welt an Bedeutung. Hier setzen die zumeist lokal oder regional ausgerichteten Arbeiter- und Industriemuseen an, die sich in der Phase des Übergangs vom „Industrie-“ zum „Technologiezeitalter“ als Orte der Erinnerung und Vermittlung einer verschwindenden industriellen (Arbeits-)kultur etablierten. Vor diesem Hintergrund gerieten neben der Funktion, der Vielfalt und den Möglichkeiten von Technik, ihre Auswirkungen auf den Alltag, das Leben, Arbeiten und Kommunizieren der Menschen ins Blickwelt der Wissenschaftler/innen und Kuratorinnen/Kuratoren und entsprechende Objekte in die Sammlungen und Ausstellungen: Arbeiter- und Industriemuseen gehörten zu den ersten Museen, in welchen Interessierte oder Zeitzeuginnen/Zeitzeugen nicht nur als Publikum angesprochen wurden, sondern an der Begründung der Museen und Konzeption der Ausstellungen mit ihren Geschichten und Sichtweisen beteiligt waren. Anstatt dem Erinnern an die frühe Zeit der Industrialisierung scheinen heute andere Interessen im Vordergrund, der Bezug zu unserer hochtechnologisierten, digitalen Wirklichkeit ist für viele Besucher/innen nur noch schwer herzustellen, was mittlerweile zu einer Infragestellung der Inhalte und Konzepte dieser Museen geführt hat.1 In den letzten Jahren hat das museale Sammeln, Zeigen und Vermitteln von Technik noch einmal eine weitergehende Kontextualisierung erfahren. Vor dem Hintergrund offensichtlich wahrnehmbarer, auch negativer Folgen technischer Innovation sind Fragen rund um die Zielsetzungen und die Folgen von technischen Entwicklungen gesellschaftlich relevant geworden: Welche Technik wollen wir? Wo wollen wir sie wie einsetzen? Welchen Stellenwert soll Technik in gesellschaftlichen Veränderungsprozessen einnehmen? Inwiefern sind die Konsequenzen heutiger technischer Entwicklungen für die Zukunft überhaupt noch absehbar? Für Technikmuseen ergibt sich aus dieser Verschiebung in der Wahrnehmung und Auseinandersetzung mit „Technik“ die Frage nach der inhaltlichen Ausrichtung von Ausstellungen und nach angemessenen Formen der Vermittlung. Welche Objekte können technische Museen zukünftig zeigen? Welche Art der Orientierung für den Umgang mit Technik wollen und können sie vor dem Hintergrund ihrer Sammlungen ihren Besucherinnen und Besuchern anbieten? Die Antworten darauf sind heute so vielfältig wie die technischen Museen selbst. Im Folgenden einige Anmerkungen dazu:2
1. Welche Objekte? Historische Objekte und historisch gewachsene Sammlungen sind für technische Museen seit ihren Anfängen die zentrale Ressource ihrer Forschungs- und Vermittlungsarbeit. Sie bilden die materielle Grundlage, welche die Museen auch künftig von anderen Einrichtung der Technikvermittlung unterscheiden wird. Nach David Andersons3 sind sie der „Kollektive Schatz“ („Common Wealth“), in dem sich
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vergangene und gegenwärtige menschliche Bedürfnisse, Interessen, Intentionen und Ideen materialisieren. Sie stellen, so Anderson, potenziell einen Gemeinschaft und Beziehung schaffenden Reichtum dar, den es von der jeweiligen Gegenwart ausgehend immer wieder neu zu nutzen gilt. Die Herausforderung aktueller Museumsarbeit besteht im Erkunden, im Interpretieren, im Anschließen der alten Objekte an neue Fragestellungen, darin, die in den Objekten verkörperte kulturelle Energie ins Gespräch zu bringen und in neue Bedeutungszusammenhänge zu versetzen. Auch Bruno Latours Interesse4 richtet sich auf die in den Dingen eingeschriebenen menschlichen Ideen und Intentionen. In einer Auseinandersetzung mit den an materiellen Überresten angelagerten Spuren, mit den Argumenten und Diskussionen rund um die Objekte, den Methoden und Vorgehensweisen, den Verständigungs- und Einigungsprozessen, die zur Entstehung und Gestaltung eines Objekts geführt haben, kann seiner Ansicht nach der Weg hin zu einem existierenden Ding in den Blick genommen und das Objekt in musealen Vermittlungskontexten als Produkt von gesellschaftlichen Aushandlungsprozessen thematisiert werden. Ein Beispiel für eine derartige Auseinandersetzung ist die „Erfindungsgalerie“ in der Einstein-Ausstellung des Historischen Museums Bern. Klassischerweise werden mit Objekten in Technikmuseen Relikte der Schwerindustrie, zur Verkehrs- oder Energiegeschichte, zur Entwicklung der Haushaltstechnik oder der Medien mehr und weniger großformatige Maschinen und Produkte assoziiert, die in ihrer Erscheinung den Besucherinnen und Besuchern aus Alltagskontexten teilweise durchaus vertraut und deren Funktion sich aus dem mitgebrachten Erfahrungswissen oder mittels begleitender Informationen erschließen kann. Aktuelle Technik und zukünftige Technologie („Cutting Edge Science“) dagegen scheinen häufig klein, immateriell, unscheinbar oder für das Laienpublikum nicht aussagekräftig zu sein. Die Auswirkungen der Technik im Alltag oder das, was hinter Technik steht, sind ebenso komplex wie abstrakt und lassen sich zunehmend nicht mehr mit physischen Gegenständen illustrieren. Für die Museen ergibt sich daraus die Frage, wie sich Prozesse, Phänomene und Entwicklungen zukünftig visualisieren und ausstellen lassen. Die Frage nach der Fassbarkeit und Vermittelbarkeit heutiger und möglicher zukünftiger Technik betrifft auch die Entwicklung der Sammlungen. Die Einbeziehung von Technik in immer weitere Lebensbereiche, ihre Verflechtung mit wesentlichen Lebensfragen und Fragen des Zusammenlebens, die durchaus kontroversen, öffentlichen Diskussionen technischer Innovation brauchen eine Entsprechung in Sammlungskonzepten und -Leitlinien. Wie kann es möglich sein, heute „Dinge von Belang“ zu sammeln und entsprechend zu dokumentieren, die es Museumsverantwortlichen und Besucherinnen/Besuchern auch in Zukunft erlaubt, möglichst vielfältige Inhalte mithilfe dieser materiellen Hinterlassenschaften zu vermitteln und eine Offenheit für mögliche spätere Fragen und Kommunikationsprozesse zu garantieren?5
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2. Welches Wissen? Zwei Fragen sind es, mit denen sich Verantwortliche von Technikmuseen in diesem Zusammenhang hauptsächlich beschäftigen: 1. Welches Wissen und welche Bedeutungen vermitteln wir? Und 2. Wie erarbeiten und bestimmen wir jenes Wissen und jene Bedeutungen, die wir vermitteln möchten? Technische Museen sind traditionell Orte wissenschaftlichen Wissens. Im Mittelpunkt des Interesses standen seit jeher die Erfindung und Entwicklung von Maschinen und Produkten und die Beteiligten an technischer Innovation. Mit einer Akzentverschiebung schon seit den 1980er-Jahren hin zu den Nutzerinnen/Nutzern und den Betroffenen von Technik sowie zu gesellschafts-, wirtschafts- oder umweltpolitischen Kontexten ist es zu einer Ausdifferenzierung des traditionellen Wissensbegriffs und zur Einbeziehung neuer Wissensformen gekommen. Das als relevant angesehene Wissen ist wie seine Herkunft vielfältiger geworden. Zum enzyklopädisch gesammelten und geordneten, nach wissenschaftlichen Kriterien gesicherten Wissen und den damit verbundenen Deutungszuweisungen ist heute praxis- und erfahrungsbasiertes Wissen dazu gekommen, und auch vorläufiges und partielles Wissen, widersprüchliche Ansätze und Theorien sind im Museum legitim geworden. Eine Institution, die damit sehr offen umgeht, ist das Science Museum London. Mit dieser Öffnung des musealen Wissensbegriffs hat sich tendenziell die Rolle der Kustodinnen/Kustoden und Kuratorinnen/Kuratoren gewandelt, die sich als „vermittelnde Museumswissenschaftler/innen“ nicht mehr so sehr über ihren Hintergrund als (Fach-)Wissenschaftler/innen, sondern über ihre konkrete Aufgabe am Museum und die dazu notwendigen praxisorientierten Kompetenzen und Fähigkeiten definieren. An die Stelle der Forscher/innen an Museen mit fundiertem Überblick zu einem bestimmten, disziplinär klar begrenzten Sachgebiet, sind die forschenden, koordinierenden, in alle erdenklichen Richtungen kommunizierenden und vermittelnden Museumsmitarbeiter/innen getreten, die in Konzeptionsprozessen komplexes Wissen recherchieren und aufbereiten, mit Expertinnen und Spezialisten zum Ausstellungsthema von innerhalb und außerhalb der Museen sowie ganz verschiedener Wissenschaftsdisziplinen zusammenarbeiten, die gewachsene Anzahl an beteiligten gestaltenden und vermittelnden Professionen koordinieren und schließlich die Besucher/innen in die Entwicklung von Themen, Ausstellungen und weiteren Vermittlungsangeboten mit einbeziehen: Wie auch an anderen Museen wurden an Technikmuseen in den letzten Jahren verschiedene Formen der Teilhabe und Beteiligung von Laien entwickelt, Foren und Diskussionsveranstaltungen, Wissenschaftscafés und Workshops für diverse Zielgruppen, verschiedene digitale Kommunikations- und Feedbackmöglichkeiten initiiert, die es dem Publikum erlauben, sich in die Museumsarbeit aktiv einzubringen bzw. sich zu den dort verhandelten Inhalten zu positionieren.
TECHNIKMUSEEN
ALS „O RTE DER
O RIENTIERUNG “
3. Orientierung wohin? Technikmuseen waren bisher sehr mit Veränderungsprozessen in den westlich orientierten Gesellschaften verbunden. Und sie haben vor diesem Hintergrund die Entwicklungen, welche durch die Technisierung und Verwissenschaftlichung unseres Alltags entstanden sind, mit ihren Sammlungen dokumentiert, begleitet und kommentiert. Im Vergleich zu früheren Jahrzehnten hat sich dabei die Konkurrenz verändert: In den seit den 1980er-Jahren auch in Europa zahlreich eröffneten Science Centern wird versucht, dem Publikum technische und naturwissenschaftliche Zusammenhänge und Phänomene durch spielerisches Experimentieren nahezubringen. Im deutschsprachigen Raum wurden vor allem in Deutschland auch in den letzten Jahren verschiedene Science-Center-Projekte realisiert, die ohne Sammlungen auskommen und auf klassische museale Objekte verzichten, auf Lernen durch Erfahrung und Handeln setzen und sich vorwiegend an ein junges Publikum richten. Dazu sind diverse neue, attraktive Unternehmensmuseen, wie zum Beispiel das Nixdorf Museum, die Autostadt Wolfsburg oder das Mercedes-Benz-Museum in Stuttgart entstanden, die als Instrumente zur Öffentlichkeitsarbeit großer Unternehmen mit ihren teils spektakulären technischen und künstlerischen Inszenierungen für die Technikmuseen eine große Herausforderung darstellen. Durch aufwendige Inszenierung zeichnet sich schließlich auch das Produktmarketing auf Messen aus. Für die Technikmuseen stellt sich die Frage, was sie diesen mit vergleichsweise enormen finanziellen Mitteln entwickelten und betriebenen Angeboten im Rahmen ihrer Möglichkeiten entgegen halten können. Worin kann die Stärke einer musealen Ausstellung liegen, wie kann das Museum ein relevanter Ort für die gesellschaftliche Auseinandersetzung mit Technik bleiben? Zum einen wäre eine Besinnung auf die Bandbreite an sozialen Praktiken zu nennen, die die Technikmuseen und ihre Präsentationen seit ihren Anfängen nahe gelegt haben. Technische Museen wurden früh als Orte der Bildung und Vermittlung definiert. Jenseits allzu didaktischer Konzepte der letzten Jahrzehnte meint Bildung im weiteren Sinn heute die Möglichkeit zu Austausch und Erfahrung, und wird der Ausstellungsraum als „Ort der Begegnung“ und „Social Lab“ neu reflektiert.6 Inhaltlich hat die Auseinandersetzung mit gegenwärtigen und zukunftsweisenden Fragen an Bedeutung gewonnen und stellt ein erweitertes Potenzial dar. Wie einst die Weltausstellungen und Technikmuseen der ersten Stunde setzen Technikmuseen heute wieder vermehrt auf „Cutting Edge Technology“ und widmen sich dem Potenzial der Technikwissenschaften für die Gestaltung der Zukunft. Anders als in frühen Ausstellungen werden dabei heute die Kontroversen rund um Technik ernst genommen und auch unangenehme Fragestellungen und Begleiterscheinungen technischer Entwicklung miteinbezogen. Gegenwarts- und Alltagsbezüge sowie die „Vergegenwärtigung“ alter Sammlungsbestände werden als wichtige Vermittlungsstrategie erkannt. Im Bewusstmachen von Erkenntnis- und Entscheidungsprozessen
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wird die Konstruiertheit von Gegenwart und Zukunft sichtbar, und die Möglichkeiten von Einzelpersonen, sich einzubringen, sich in Beziehung zu setzen, damit aktiv an Entwicklungsprozessen mitzuwirken, wird deutlich gemacht.7 In diesem Verständnis hat die Museumsarbeit (gesellschafts-)politische Bedeutung, ist die Institution Museum gesellschaftlich relevant und verantwortlich. Oder wie Neil Postman es formuliert: „Ein gutes Museum muss die Auseinandersetzung mit der Gesellschaft suchen. Und mehr als das, es muss eine zeitgemäße Auseinandersetzung sein. Ein gutes Museum wird die Aufmerksamkeit auf Dinge lenken, worüber nachzudenken, schwierig ist und uns an unsere Grenzen bringt.“8
A NMERKUNGEN 1 | Hartmut John/Ira Mazzoni (Hg.): Industrie- und Technikmuseen im Wandel. Perspektiven und Standortbestimmungen, Bielefeld: 2005, S. 9. 2 | Die Angaben in diesem Essay basieren auf meinen eigenen Erfahrungen in der Ausstellungsarbeit und auf der Forschung zu meiner Promotion: Barbara Wenk: Technology mediated at the Museum. Zur gegenwärtigen Praxis des Ausstellens von Technik am Museum. Promotionsschrift an der Universität Basel, 2008. 3 | David Anderson: A Common Wealth. Museums in the Learning Age. A Report to the Department for Culture, Media and Sport, London: 1999, S. 11. 4 | Vgl. Bruno Latour: Re-assembling the social. An introduction to Actor-NetworkTheory, Oxford: 2005 und Bruno Latour: Elend der Kritik. Vom Krieg um Fakten zu Dingen von Belang, Zürich: 2007. 5 | Kevin Moore: Museums and Popular Culture, London: 2000, S. 27. 6 | Vgl. Andreas Heinecke: The Social Lab as Working Hypothesis. Vortragsmanuskript für die ASTC Conference (St. Paul, November 2003). 7 | Vgl. Beat Hächler: »Gegenwart vergegenwärtigen. Warum das Museum ein Reflexionsort für Gegenwartsfragen werden sollte«, in: Verband der Museen Schweiz (vms) und ICOM Schweiz (Hg.): museums.ch 2 (2007), S. 27–30. 8 | Neil Postman bei einem ICOM-Meeting im Jahr 1989, zitiert nach: Jane R. Glaser/ Artemis A. Zenetou: Museums: A place to work. Planning Museum careers, London: 1996, S. 246.
Im Fluchtpunkt der Mensch. Beobachtungen in Medizinhistorischen Museen Michael Fehr
Museen, das lässt sich generalisierend behaupten, erwachsen aus einer Bewegung des Heranholens, des genauer Sehens und Betrachten-Wollens: Indem sie zeitlich oder räumlich Entferntes in ihren Gehäusen versammeln und vorzeigen, bringen sie uns die Welt buchstäblich näher und lassen uns durch Anschauung an etwas teilhaben, dessen wir ansonsten nicht ansichtig werden könnten. Insoweit sind Museen ganz auf den Menschen bezogen; sei es als Kurator oder Besucher/Nutzer, steht man – konzeptionell gesehen – in ihrem Mittelpunkt: im Fluchtpunkt einer Realität, die mit Dingen, die der Wirklichkeit nicht selten mit Gewalt und fast immer unter Inkaufnahme der Zerstörung ursprünglicher Zusammenhänge entnommen sind, zu deren Verständnis sie in eine künstliche Ordnung gebracht wurden. Museen sind daher nolens volens immer auch Orte der Verfremdung und des Befremdens, und dies gilt auch dann, wenn sie in bester Absicht, wie zum Beispiel mit dem Ziel der Aufklärung und der Vermittlung von Wissen, aufgebaut und betrieben werden. In den folgenden Abschnitten versuche ich einige Beobachtungen zusammenzufassen, die ich im Zusammenhang mit Besuchen in verschiedenen Medizinhistorischen Sammlungen und Museen machen konnte.1 Dabei ergab sich für mich immer häufiger die Frage, welche Rolle den Besuchern solcher Museen zugedacht wird. Nicht nur, weil medizinhistorische Museen oftmals auch naturhistorische Sammlungen beherbergen oder beherbergt haben – das Stichwort ist hier „Vergleichende Anatomie“ –, stelle ich diesen Beobachtungen die knappe Beschreibung eines alten naturkundlichen Museums und Bildungsinstituts als Referenz mit Bezug auf diesen Zusammenhang voran; die Rolle, die in diesem Haus seiner Klientel zugedacht war (und ist), erscheint mir vorbildlich; denn die Menschen, die diese Einrichtung aufsuchten und aufsuchen, wurden und werden eben nicht bloß als Besucher verstanden, sondern angeleitet und ermutigt, die Ressourcen des Hauses in unterschiedlicher Weise zu nutzen.
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1. The Wagner Free Institute of Science in Philadelphia Ein frühes, heute wenig beachtetes Beispiel für den Typus eines aufklärerischen Museums ist das Wagner Free Institute of Science in Philadelphia, Pennsylvania, das 1855 von William Wagner (1796–1885), einem dort geborenen Kaufmann, Philanthropen und Privatgelehrten, gegründet und zehn Jahre später in einem eigens dafür errichteten Gebäude neu eröffnet wurde. Aufgrund glücklicher Umstände – das heißt, gerade weil es im letzten Jahrhundert jahrzehntelang kaum wahrgenommen wurde und daher keine finanziellen Mittel zu seiner Modernisierung zur Verfügung standen – ist es bis zum heutigen Tage im Ganzen wie im Detail nahezu unverändert erhalten und wird erst seit einigen Jahren wieder gepflegt und behutsam zum Leben erweckt.2 So steht das Wagner Free Institute, dessen Bau, Einrichtung und Betrieb William Wagner aus seinem Privatvermögen finanzierte, heute immer noch als ein, wenn auch in die Jahre gekommener, so doch stolzer Solitär auf dem Grundstück eines ehemaligen Bauernhofs in einem ärmlichen, stark heruntergekommenen Stadtteil Philadelphias, der in 1870er- und 1880er-Jahren im Zuge der damaligen Immobilienspekulation aus dem Boden gestampft wurde. Das im Neo-Renaissance-Stil von John McArthur (1828–1890) errichtete, im Vergleich zur umgebenden Bebauung relativ große Gebäude hat den Charakter der für die Zeit typischen, soliden Institutionsarchitektur. Es beherbergt im Erdgeschoss einen Ausstellungsraum, eine große Bibliothek, mehrere Unterrichtsräume und Büros sowie, als Hauptraum, einen 1500 Personen fassenden Vortragssaal, dessen Rednerbühne unmittelbar mit einem an der Stirnseite des Saals liegenden Labor verbunden ist. Das gesamte Obergeschoss des Gebäudes ist dagegen als ein einziger Raum, als eine ca. 600 Quadratmeter große und ca. 9 Meter hohe Halle ausgebildet, die an den Längsseiten von zwei doppelstöckigen Galerien gefasst wird. Die Halle, deren Formensprache an die Architektur des Londoner Crystal Palace erinnert, hat den Charakter einer (ehemals wohl) sehr hellen, nüchternen Industriearchitektur mit Oberlicht und hohen Seitenfenstern, der dem Äußeren des Gebäudes nicht anzusehen ist. Sie dient seit der Gründung des Hauses als museales Gehäuse für Wagners eigene, ca. 23 000 Objekte umfassende naturkundliche Sammlungen, die er zum größten Teil in geschlossenen Schränken aufbewahrte. Nach Wagners Tod führte das von ihm eingesetzte Board of Trustees die Institution weiter. Ihr gelang es, mit Joseph Leidy (1823–1891), Professor für Anatomie an der University of Pennsylvania und Präsident der Academy of Natural Sciences, einen führenden Wissenschaftler seiner Zeit als Direktor der wissenschaftlichen und edukativen Programme des Hauses zu gewinnen. Während seiner Amtszeit (1885–1901) wurden mit dem Geld, das Wagner seiner Institution testamentarisch vermacht hatte, nicht nur das Gebäude, das bis dahin in vielen Details nicht fertig gestellt war, im Sinne seiner Vorstellungen weiter ausgebaut, sondern auch die Sammlungen, zum Teil als Ergebnis von eigenen Forschungskampagnen, bedeutend erweitert und die bis heute erhaltene, umfangreiche Ausstattung der
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Ausstellungshalle mit zahlreichen Vitrinen, verglasten Schränken und anderen Schaumöbeln in Auftrag gegeben. Diese Ausstellungsarchitektur, die erstmals eine mehr oder weniger ungehinderte Betrachtung nahezu aller Exponate möglich machte, war aber die Grundlage für die von Leidy initiierte vollständige Reorganisation der Sammlungen im Sinne der damals noch höchst umstrittenen Theorie von Charles Darwin, also als ein Gang durch die Evolution konzipiert, der, mit der Entwicklung der Erde einsetzend, die Spezies vom Anorganischen zum Organischen und vom einfachsten zum komplexesten Organismus in eine systematische Ordnung brachte – mit dem Menschen als Ziel- und Höhepunkt. Damit war das Wagner Free Institute of Science bei seiner Wiedereröffnung im Jahre 1890 das erste Museum in den USA, das seine Sammlungen im Sinne von Darwins On the Origin of Species (1859) zeigte, und es erreichte so den Stand des damals führenden Muséum national d’Histoire naturelle in Paris. In diesem Zustand, die handschriftlichen Beschriftungen der einzelnen Exponate eingeschlossen, ist es bis heute erhalten. Schon diese kappe Beschreibung mag erkennen lassen, dass das Wagner Free Institute eine auch für seine Zeit höchst ungewöhnliche Einrichtung war, die, indem sie wissenschaftliche Forschung und Bildungsangebote in ihrer Architektur und ihren Programmen integrierte, das Ideal einer freien Wissenschaft und Ausbildung nicht nur propagierte, sondern tatsächlich verwirklichen konnte. Dabei blieb das Wagner Free Institute im Unterschied zu den zahlreichen wissenschaftlichen Gesellschaften seiner Zeit nicht nur den gesellschaftlichen Eliten (und ausschließlich Männern) vorbehalten, sondern war, wie schon an seinem programmatischen Standort in einem Einfache-Leute-Viertel erkennbar, Menschen beiderlei Geschlechts aller sozialen Schichten zugänglich und ermöglichte ihnen verschiedene Zugänge zur Teilhabe an wissenschaftlicher Erkenntnis und Forschung: Ausgehend von der Anschauung der in im Museum ausgestellten Objekte konnten seine Nutzer sich im Vortragssaal mit den jüngsten Erkenntnissen und Experimenten führender Wissenschaftler bekannt machen oder diese über die musealen Bestände und die umfangreiche Bibliothek in größere Zusammenhänge einordnen; schließlich bot die in das Institut integrierte Schule nicht nur Unterricht in verschiedenen naturwissenschaftlichen Gebieten an, sondern ermöglicht es, allgemein anerkannte „degrees“ zu erwerben, die für die eigene wissenschaftliche Arbeit qualifizieren konnten. Das Wagner Free Institute war eine der ersten unabhängigen Erwachsenenbildungseinrichtungen in den USA. Es bietet auch heute noch ein umfangreiches Unterrichtsprogramm an, das – die Tradition des Hauses reflektierend – die alten Curricula um neu entstandene Wissensgebiete ergänzt und nur leicht verändert fortschreibt. So werden die Exponate der naturhistorischen Sammlungen weiterhin als unmittelbares Anschauungsmaterial genutzt und die historische Anlage und Ausstattung des Museums bewusst nicht verändert, sondern jetzt als Lehrstoff eingesetzt, an dem die Relativität des Wissens bzw. der Wissenschaften sowie der unterschiedlichen Arten und Weisen, wie ihre Erkenntnisse zur Anschauung gebracht werden können, demonstriert werden.
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2. The Mütter Museum of the College of Physicians in Philadelphia Nur einige Kilometer vom Wagner Free Institute entfernt entstand mit dem Mütter Museum nahezu zeitgleich ein anderer Typ des Museums, dessen Bestände und Displays ebenfalls bis heute weitgehend erhalten sind.3 Dieses pathologische Museum geht auf ein kleines Cabinet of Pathological Specimen zurück, das im College of Physicians of Philadelphia ab 1849 angelegt wurde und seine entscheidende Aufwertung und Transformation in ein Museum durch den Chirurgen Thomas Dent Mütter (1811– 1859) erfuhr, der dem College 1856 seine private, 1344 Stücke umfassende pathologische Sammlung und dazu 30 000 $ anbot, um den Aufbau und professionellen Betrieb einer solchen Einrichtung zu ermöglichen. Im Unterschied zum Wagner Free Institute war das Mütter Museum als Lehrsammlung ausschließlich Fachleuten und Studierenden zugänglich. Es fand seinen Platz zunächst im 1863 errichteten Gebäude des Jefferson Medical College, um schließlich 1910 mit diesem in ein größeres Gebäude in der Stadtmitte umzuziehen, wo es eigene und eigens eingerichtete Räumlichkeiten erhielt, die 1986 umfassend renoviert und um einen Trakt für temporäre Ausstellungen erweitert werden konnten. Kernbestand des Museums blieb die von Thomas D. Mütter zusammengetragene pathologische Sammlung, die nur um wenige Stücke erweitert wurde. Dagegen sammelt das Museum seit 1871 aktiv medizinische Instrumente und Apparate sowie fotografisches Material und einschlägige Dokumente. Im Hinblick auf seine Sammlungen, die Trocken- und Feuchtpräparate von ausschließlich krankhaft veränderten menschlichen Körperteilen, Knochen und Skelette und darüber hinaus zahlreiche Wachsmodelle umfassen, ist das Mütter Museum ein typisches pathologisches Museum, vergleichbar mit dem Wiener Narrenturm oder Rudolf Virchows Sammlungen im Berliner Medizinhistorischen Museum der Charité. Sein Gehäuse besteht im Wesentlichen aus einem großen, fensterlosen, von einer umlaufenden Galerie gefassten Raum, den man aus dem Vestibül des College wie über eine Empore betritt und von der aus man das wie aus einem Guss gestaltete, elegante Ensemble von hohen, entlang der Wände angeordneten Schauschränken und weiteren, frei aufgestellten Schaumöbeln in der Raummitte überblicken kann, das nahezu ausschließlich von auf die Exponate gerichteten Spotlights erleuchtet wird. Die schon an dieser Stelle, vor dem Betreten des Raumes erfahrbare Ästhetisierung ist aber das Grundprinzip dieses Museums, das in seiner Schausammlung ganz auf die Ästhetik des Hässlichen im Sinne von Karl Rosenkranz setzt: Dies gilt nicht nur für die Moulagen, die im 19. Jahrhundert häufig weit entwickelte, oftmals auch äußerlich entstellende Krankheitsbilder und Verletzungen sinnfällig machen, sondern vor allem für die Ausstellungsstücke, die sich als sehr seltene oder extreme Deformierungen menschlicher Körper (wie zum Beispiel das Skelett von Harry, eines an Fibrodysplasia ossificans progessiva verstorbenen Mannes, oder die so genannte Soap Lady4), Eingriffe an Prominenten (wie zum Beispiel den Tumor, der 1893 Präsident Grover Cleveland aus dem Unterkiefer
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entfernt wurde), nicht zuletzt aber auch skurrile Sammlungen5 als „Pathological Treasures“ herausstellen.6 Dabei werden, wo immer möglich, die „Schauseiten“ der krankhaft deformierten Teile menschlicher Körper oder Skelette vorgezeigt oder Exponate, wie zum Beispiel bei der Konfrontation der Skelette eines Zwergen und eines Riesen, auf den maximalen Effekt hin zusammengestellt.7 Auch wenn das Museum seinen Charakter als wissenschaftliches Forschungsinstitut betont und ein Unterrichtsprogramm für Schulklassen anbietet, so führt doch die von der langjährigen Direktorin Gretchen Worden (1947–2004) entwickelte Strategie, auf die Schönheit des Morbiden zu setzen und einzelne Exponate nach dem Starprinzip zu popularisieren, das Museum hart an den Rand einer wissenschaftlich begründeten „Freakshow“. Dies lässt auch der von ihr herausgegebenen Bildband The Mütter Museum: Of the College of Physicians of Philadelphia erkennen, der neben historischen Aufnahmen Arbeiten von Künstler-Fotografen (u. a. William Wegman, Joel-Peter Witkin and Shelby Lee Adams) enthält, die sich mit dem Museum bzw. einzelnen Exponaten in mehr oder weniger absurder Weise auseinandersetzen. Der Trend zum Spektakel wird – nicht zuletzt mit der schwierigen ökonomischen Lage des Museums begründet – vom amtierenden Direktor Robert Hicks fortgesetzt, wobei der wissenschaftliche Charakter des Instituts als Freiraum genutzt wird, den sich Häuser anderer Sparten nicht (mehr) leisten können. So lenkte er bei einem Besuch meine Aufmerksamkeit auf eine jüngste Errungenschaft des Museums: die Präsentation einer kleinen Sammlung südamerikanischer Schrumpfköpfe, die aus ethischen Gründen in dem ethnologischen Museum, in dem sie vorher aufbewahrt wurden, nicht mehr gezeigt werden durften. Das Eigentümliche am Mütter Museum – und dies mag auch für andere pathologische Sammlungen gelten – ist, dass der Mensch, obwohl hier in allernächste Nähe gerückt, als humanes Wesen bis zur Unkenntlichkeit verschwindet, in jedem Fall aber seinen Charakter als Individuum verliert.8 Völlig anders als in Naturkundemuseen und vor allem zoologischen Museen, evoziert die Anschauung der Exponate hier nicht ein Gefühl des In-der-Welt-Seins oder des Teilhaben-Könnens an einem gemeinsamen großen Ganzen, sondern führt, ganz im Gegenteil, zu einem Gefühl der Abstoßung oder zumindest des Nicht-teilhaben-Wollens, erzeugt also Distanz statt Nähe. Dieses Gefühl scheint allerdings weniger durch die Exponate selbst induziert, die, insoweit sie überhaupt noch als vom Menschen stammend erkannt werden können, durchaus Empathie und Mitleid zu erregen vermögen; vielmehr ist es der kalte, auf die pathologischen Phänomene fixierte und sie in Präparaten, Sektionen und Modellen isolierende Blick der Wissenschaftler und Ärzte auf und in den Menschen, der das tiefgreifende Unbehagen auszulöst. Als Belege für diese These mögen frühe historische Aufnahmen aus dem Mütter Museum dienen, die aufgrund technischer Gegebenheiten – der Tatsache, dass den Fotografen noch keine Nahaufnahmen möglich waren – eben nicht nur die pathologisch interessanten Details, sondern immer den ganzen Menschen, und damit die an jeweiligen Krankheiten leidenden Individuen zeigen.9
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Andererseits zählen die Spezialisierung des diagnostischen Blicks und die Fokussierung auf die krankheitsbedingten Symptome zu den wohl unvermeidbare Bedingungen medizinischer Erkenntnis, die im 19. Jahrhundert vor allem mithilfe von Wachsmodellen und Moulagen vermittelt wurden. Wie immer schaurig-schön anzusehen, sind sie eine sehr wirkungsvolle und gültige Form, wie Krankheitsbilder dargestellt und diagnostiziert werden können. Insoweit bleibt die Bedeutung der alten Exponate auch unter den Bedingungen der modernen Medizin nicht nur erhalten, sondern überbietet nicht selten heute gebräuchliche Dokumentationsmethoden – und dies, weil sie nicht bloß technische Aufnahmen, sondern von Hand gefertigte Modelle sind, die auf der unmittelbaren Beobachtung, das heißt, einer intellektuellen Durchdringung des jeweils Dargestellten beruhen. So faszinieren viele Präparate, insbesondere aber Wachsmodelle, als eigenständige Nachbildungen und lassen, als Objekte von bisweilen hohem kunsthandwerklichen Wert betrachtet, den Anlass für ihre Anfertigung nachgerade vergessen.10
3. Das Josephinum – Medizinhistorisches Museum der MedUni Wien 11 Ein ganz besonderes Beispiel für dieses Phänomen sind die insgesamt 1192 anatomischen und geburtshilflichen Wachsmodelle im Medizinhistorischen Museum der MedUni Wien, die Kaiser Joseph II. nach einem Besuch des Reale Museo di Fisica e Storia Naturale (La Specola) in Florenz als Anschauungsmaterial für den Unterricht an der von ihm gegründeten medizinisch-chirurgische Akademie, dem so genannten Josephinum, anschaffte, wo sie seit 1788 unverändert zu sehen und dem allgemeinen Publikum zugänglich sind. Auch wenn die Darstellungen der Formen und Funktionszusammenhänge des menschlichen Körpers, den die von den beiden Anatomen Felice Fontana und Paolo Mascagni angefertigten Wachsmodelle in geradezu enzyklopädischer Weise entfalten, nach wie vor weitgehend Gültigkeit beanspruchen kann, so werden sie heute allerdings vor allem als kulturhistorisches Denkmal wahrgenommen und so gut wie nicht mehr für das Studium genutzt. Dabei zeichnet sich dieses große Ensemble dadurch aus, dass es nicht den kranken, sondern den gesunden Körper zum Thema hat und insoweit als erstrangige Quelle für eine allgemeine Bildung dienen könnte. Als buchstäblich operatives Gegenstück zu den Anatomiemodellen verfügt das Josephinum mit dem nahezu vollständig erhaltenen Instrumentarium Chirurgicum Viennense über ein kaum weniger bedeutendes Dokument der medizinischen Geschichte, das die Aufwertung der Chirurgie als einer der Medizin gleichgestellten „freien Kunst“ markiert. Von Giovanni Alessandro Brambilla, dem ersten Leiter des Josephinums, gesammelt und ab 1785 gemeinsam mit dem Wiener Instrumentenmacher Joseph Maillard entwickelt, stellt es den damaligen Stand des chirurgischen Wissens nicht nur in Beschreibungen und in Abbildungen dar,
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vielmehr liegt es als ein vielteiliges chirurgisches Besteck unmittelbar vor. In mehr als vierzig, mit rotem Leder bezogenen Kassetten aufgewahrt, diente das Instrumenten-Set, nach Therapieansätzen geordnet, zusammen mit den Beschreibungen der einzelnen Instrumente sowohl der Ausbildung angehender Chirurgen als auch als Vorlage für deren Anfertigung. Dahinter stand der Gedanke, die chirurgische Praxis auf hohem Niveau für den Herrschaftsbereich der K.u.k.-Monarchie und im internationalen Rahmen standardisieren zu können. Als solches ist das Instrumentarium Chirurgicum Viennense aber auch ein wichtiges Dokument für die staatlich geförderte Verflechtung von institutionellen, wissenschaftlichen und wirtschaftlichen Interessen im Zeichen einer fortschrittlichen medizinischen Praxis, die allerdings zum Thema gemacht wird. Das Josephinum – Department und Sammlung für die Geschichte der Medizin der MedUni Wien (MUW), so der offizielle Name, hat seinen Sitz im Gebäude des historischen Josephinums und wurde in seiner gegenwärtigen Form im Juni 2007 als eine eigenständige Einheit der MUW ins Leben gerufen. Das Josephinum soll nicht nur seine eigenen Sammlungen und weitere Bestände aus unterschiedlichen medizinischen Institutionen verwalten, bearbeiten und zugänglich machen, sondern darüber hinaus das Zentrum eines Medizinischen Museumsclusters im 9. Bezirk der Stadt Wien werden, das unter anderem das Freud-Museum, das Pharma- und Drogistenmuseum Wien, die historischen Sammlungen des Departments für Pharmakognosie Wien und das Pathologisch-Anatomische Bundesmuseum im Narrenturm umfassen würde. Allerdings ist von diesen Plänen so gut wie nichts verwirklicht. Der wichtigste Grund dafür scheint in den Unstimmigkeiten zwischen den verschiedenen Institutionen zu liegen, die von unterschiedlichen Trägern (Bundesstaat, Stadt Wien, MUW und Privaten) unterhalten oder gefördert werden. Selbst innerhalb der MUW war es aufgrund von überkommenen Ansprüchen auf Besitzstandswahrung bisher nicht möglich, die einschlägigen Institute unter einen Hut zu bringen und die reichen Bestände12 in einem gemeinsamen Projekt der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. So verfügt das Museum nur über einige, im Gebäude des Josephinums auf verschiedenen Etagen verstreut liegende Räumlichkeiten, bewegt sich, was die Präsentationen und technischen Einrichtungen angeht, auf einem der Bedeutung der Exponate völlig unangemessenen Niveau und ist im Übrigen als Heldengeschichte, als Abfolge von aufgrund ihrer Therapiemethoden, Forschungen oder Erfindungen berühmt gewordener Ärzte angelegt. Letzteres gilt im Prinzip auch für das dem Josephinum assoziierte, in einem Nebengebäude untergebrachte Zahnmuseum, doch lässt sich dort immerhin eine klar und konsequent realisierte Konzeption im Umgang mit den umfangreichen Beständen erkennen. Das Zahnmuseum ist als eine um historische Gerätschaften und Dokumente erweiterte Zahnarztpraxis bzw. als zahntechnisches Labor organisiert, und dies bedeutet, dass man sich in ihm weniger als Besucher denn als potenzieller Patient bewegt. Ein wichtiger Grund für diesen Besuchermodus ist
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natürlich, dass man – im Unterschied zu chirurgischen Eingriffen unter Narkose – bei zahnärztlichen Behandlungen über bewusste einschlägige Erfahrungen verfügt, also beispielsweise die Funktionsweise und Wirkung der ausgestellten Behandlungsstühle, Bohrmaschinen, Zangen und anderen Instrumente oder von Prothesen kennt oder zumindest einschätzen kann bzw. im Sinne eines „Was wäre, wenn ich mich mit diesen (historischen) Geräten oder Methoden behandeln lassen müsste?“ unmittelbar auf sich selbst bezieht. So ist der tatsächlich erlittene oder fantasierte Schmerz bzw. die Angst, ihn behandeln lassen zu müssen, das unausgesprochene, überzeitliche wie potenziell aktuelle, allgemeine und zugleich individualisierbare Thema dieses Museums, über das die historischen Ausstellungsstücke mit der Gegenwart und im Übrigen auch mit Exponaten aus der Tierwelt verbunden werden. Konsequenterweise endet der Rundgang denn auch mit einem Raum zur Prophylaxe, in dem das museumspädagogische Vermittlungsprogramm nahtlos in Anleitungen zur Pflege des eigenen Gebisses übergeht.
4. Das Berliner Medizinhistorische Museum der Charité Wie sich jüngst den Medien entnehmen ließ, zählt der Vorstand der Berliner Charité sein 1899 von Rudolf Virchow als Pathologisches Museum (in einem eigenen Gebäude) eröffnetes und 1998 in Berliner Medizinhistorisches Museum umbenanntes und neu ausgerichtetes Haus nicht mehr zum Kerngeschäft des Universitätsklinikums und denkt offensichtlich laut über dessen Schließung nach.13 Mit dieser Überlegung liegt das Gremium konträr zu den „Empfehlungen zu wissenschaftlichen Sammlungen als Forschungsinfrastrukturen“, die der Deutsche Wissenschaftsrat im Januar 2011 publizierte und in denen unter anderem der Verbleib der Sammlungen im Funktionszusammenhang der Universitäten und ihrer besseren Finanzierung empfohlen wird.14 Auf diese Empfehlungen stützt sich zwar der Direktor des Instituts für Pathologie der Charité und Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Pathologie, Prof. Dr. Manfred Dietel, bei seiner Argumentation für den Erhalt des Museums im oben genannten Artikel, betont aber mehr noch und nachdrücklicher die kulturhistorische und pädagogische Bedeutung der „Bühne Museum“, die „medizinische Themen differenziert und höchst anschaulich der interessierten Öffentlichkeit“ vermitteln könne. „Gesundheit und Krankheit sind zentrale Themen im Leben und Erleben aller. Für diese existenziellen Lebens- und Erfahrungsbereiche bietet das Museum immer wieder von neuem historisch abgeleitete und zugleich aktuelle Erzählungen und Erklärungen an.“ Genau dies ist meiner Beobachtung nach nur bedingt der Fall, weil das Museum weder über ein klares Konzept, wie es seine Klientel ansprechen könnte, noch über eine, um im selbst gewählten Jargon zu bleiben: durchgehende Dramaturgie verfügt. Vielmehr tritt es als eine in ihrer Zusammenstellung oder Abfolge weder historisch noch systematisch nachvollziehbare Kompilation verschiedener
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Sammlungskomplexe und unterschiedlicher Argumentations- und Darstellungsweisen auf, die zudem an höchst unterschiedlichem Material und zu verschiedenen Themen entwickelt werden. So erzählt das Museum in aufwendigen Displays die Geschichte großer Ärzte und Forscher, macht aber mit der Geschichte der Charité dagegen auf langen Texttafeln im gewissermaßen Kleingedruckten bekannt; oder es führt im gleichen Saal auf einer Wand Erkrankungssymptome der Augen anhand von 36 historischen Wachsmodellen vor, doch werden die Krankheiten selbst nicht erklärt. Weiters bleibt diese Sammlung im Abschnitt „Die Geburt der Klink“ ohne weiteren Bezug; ganz so, wie man von der dem Gedenken Rudolf Virchows gewidmeten Wand („Vermessung des Menschen“) unvermittelt zu spärlichen Dokumenten und Ausführungen zur „Medizin im Nationalsozialismus“ gelangt, die wiederum in engster Nachbarschaft zu frühen pathologischen Präparaten stehen. Daher bleibt die große, in einem eigenen Raum aufgestellte pathologische Sammlung Virchows nach wie vor das Herzstück des Museums und damit die historische Form dieses Spezialgebiets der Medizin sein zentrales Thema. Diesen Eindruck kann auch der zweite Hauptraum („Am Krankenbett“), in dem in tatsächlich bühnenartiger Inszenierung zwölf Krankheitsfälle und ihre Therapie ausgebreitet werden, nicht auflösen. Denn auch hier bleibt unklar, in welcher Rolle man sich in diesem Raum bewegt: War man in den anderen Abteilungen mal als historisch Interessierter, mal als möglicher Patient, oder, angesichts der pathologischen Präparate, als eine Art Voyeur eingesetzt, so erfährt man sich in diesem Raum bestenfalls als Laie, der den Arzt auf seiner Visite begleiten darf. Die Visite, also die häufig eher symbolische als tatsächlich diagnostizierende, kursorische Anschauung des Patienten im Krankenhaus, ist womöglich der Nenner, mit dem sich der Argumentationsstil dieses Museums charakterisieren lässt. Denn gerade so, wie man als Patient in der ärztlichen Praxis nicht selten um umfassende Informationen zu Diagnose und Therapie kämpfen muss, zeigt dieses Museum zwar Vieles vor, hält aber weitergehende Hintergrundinformation zurück und spricht gewissermaßen im herablassenden Ton und mit der unanfechtbaren Autorität eines Arztes, der, indem er alles über den Zustand des Patienten zu wissen vorgibt, ihn sich selbst entfremdet und in Abhängigkeit bringt. Nun verfügt das Medizinhistorische Museum trotz der erheblichen kriegsbedingten Verluste über eine große Zahl von wertvollen Exponaten, die sowohl unter medizinhistorischen wie kulturhistorischen und – nicht zuletzt – technikhistorischen Gesichtspunkten bedeutsam sind. Doch geht auch diesem Museum sein eigentliches Thema, der Mensch, auf eigentümliche Weise verloren und verpasst es die Chance, seine Sammlungen in einem konsistenten Zusammenhang zur Anschauung zu bringen, der anstelle der spezialisierten, fachwissenschaftlichen Diskurse auf relevante Fragestellungen setzte, die an den Erfahrungen der Besucher anknüpfen und deren Fähigkeit zur Empathie als Schlüssel zum Verständnis nicht unmittelbar einsichtiger Phänomene nutzte. Dies ist aber umso erstaunlicher, als
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dem Berliner Medizinhistorischen Museum in Verbindung mit dem Hamburger Bahnhof – Museum für Gegenwartskunst bei der gemeinsam veranstalteten Ausstellung Schmerz (2007) genau dies gelang.15
5. The Wellcome Collection in London Eine der weltweit wohl bedeutendsten und größten Sammlungen zur Geschichte der Medizin gehört dem britischen Wellcome Trust und geht auf die Sammlungstätigkeit von Sir Henry Solomon Wellcome (1853–1936) zurück, einem pharmazeutischen Unternehmer, der sein gesamtes Vermögen in eine gemeinnützige Stiftung einbrachte.16 Sie sind über verschiedene Museen in London verteilt, wo sich im Übrigen zahlreiche medizinhistorische Einrichtungen befinden.17 Der vermutlich größte zusammenhängende Bestand befindet sich im Science Museum London und wird hier auf zwei Etagen des Gebäudes gezeigt. Eine Abteilung firmiert unter dem Titel „Science and the Art of Medicine“ und bringt in einer riesigen Zahl von „exhibits“ medizinische Instrumente, Apparate, Modelle und Prozeduren von der Antike bis zum heutigen Tage und aus unterschiedlichen Kulturen in einen technologisch geprägten Zusammenhang, der den nicht spezifisch interessierten oder fachlich vorgebildeten Besucher im Detail wie im Ganzen schlichtweg überfordert, weil ihm die große Linie fehlt (bzw. für mich nicht zu erkennen war). Dagegen bringt die Abteilung „Glimpses of Medical History“ unterschiedliche medizinische Behandlungsformen aus allen Zeiten und verschiedenen Kulturen in einer Abfolge von zwanzig naturalistisch gestalteten Dioramen höchst wirkungsvoll zur Anschauung und ihre Betrachter in eine gewissermaßen teilnehmende Beobachtungsposition. Allerdings werden, wie schon der Name erkennen lässt, weiterführende Informationen nur spärlich gegeben, und so bleibt man zwar beeindruckt, aber letztlich ratlos. Dies gilt auch für die vergleichsweise kleine Dauerausstellung im Gebäude des Wellcome Trusts, in der unter dem Titel Medicine Man so genannte „Medical Curiosities“18 im Modus von Kunstwerken in einen beliebig wirkenden Zusammenhang gebracht sind. Dabei werden in dieser Ausstellung so gut wie keine Informationen gegeben, die die Exponate medizinhistorisch oder kulturhistorisch einordnen ließen, und daher lassen sie sich nur staunend betrachten.19
6. The Hunterian Museum at the Royal College of Surgeons in London Das von John Hunter (1728–1793) ab 1768 aufgebaute Museum unterscheidet sich von den oben genannten in signifikanter Weise, weil der Chirurg und Anatom von Anfang an nicht nur pathologisches Material, sondern in großem Umfang Beispiele für die gesunde Entwicklung des menschlichen Körpers und zur Anatomie von
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Tieren sammelte. Mit rund 14 000 Objekten waren seine Sammlungen, für die er 1783 ein großes Haus am Leicester Square umbaute und einrichtete (es verfügte sogar über einen eigenen Anatomiesaal), seinerzeit die umfangreichsten in Europa. Den größten Teil der Präparate stellte Hunter selbst her, wobei er bei den pathologischen Objekten die Krankengeschichte und Identität der Patienten dokumentierte, wo immer dies möglich war. Nach seinem Tod wurde der Bestand vom Britischen Parlament gekauft und dem Royal College of Surgeons übergeben. Ab 1813 war das Museum in eigens dafür eingerichteten Räumlichkeiten im Haus des College am Lincoln's Inn Field untergebracht, wo es sich bis heute befindet. Im Zweiten Weltkrieg verlor das Museum – wie im Übrigen auch das Berliner Museum – einen großen Teil seiner Sammlungen, darunter ca. 10 000 von Hunter hergestellte Präparate. Das stark zerstörte Gebäude wurde nach dem Krieg in völlig veränderter Struktur wieder aufgebaut, wobei der Forschungsabteilung größerer Raum gegeben und in ihr ein Odontological Museum und die vom Wellcome Trust finanzierten Wellcome Museums of Anatomy and Pathology eingerichtet wurden. Die Überreste des alten Museums wurden erst 1963 als neues Hunterian Museum wieder eröffnet. Nach weiteren Umstrukturierungen und Umbauten wurden schließlich die beiden Wellcome Museums zu einem nur dem Fachpublikum zugänglichen Lehrmuseum und das Odontological und das Hunterian Museum zu einem Komplex zusammengefasst, der als neues Hunterian Museum 2005 wieder der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurde. Das Hunterian Museum wird dem Anspruch eines medizinhistorischen Museums tatsächlich gerecht. Denn es informiert nicht nur umfassend über die verschiedenen Aspekte der Geschichte der Medizin und der ärztlichen Praxis bis in die jüngste Gegenwart, sondern stellt den gesunden wie erkrankten Körper des Menschen in den Mittelpunkt seiner in sieben Abteilungen gegliederten ständigen Ausstellung. Den Hauptraum nimmt die über zwei Stockwerke reichende sogenannte Crystal Gallery ein, die mit einer Büste von John Hunter als Zielbild zahlreiche Feucht- und Trockenpräparate sowohl menschlicher wie tierischer Herkunft in einem ebenso informativen wie beeindruckenden Arrangement zur Anschauung bringt. Der Schwerpunkt der weiteren Präsentationen liegt auf der Chirurgie. Allerdings ist im Hunterian Museum das entsprechende Material in eine nach Eingriffsbereichen bzw. Eingriffsformen geordnete, systematische Ordnung gebracht, innerhalb derer jeweils historische wie jüngere Instrumente, Apparate und andere Gerätschaften gezeigt werden. Darüber hinaus wird in verschiedenen Bereichen anhand von Modellen, Schautafeln und geschickt gestalteten Vorrichtungen nicht nur gezeigt, welche Instrumente bei einem bestimmten Eingriff eingesetzt werden, sondern auch wie und wo sie zum Einsatz kommen. Die „exhibits“ bringen damit auch für den medizinischen Laien zumindest die Grundzüge verschiedener chirurgischer Arbeitsmethoden und -techniken klar zur Anschauung. Im Übrigen lässt die Ausstellung deutlich erkennen, dass und wie sich die operativen Techniken nach
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Einführung der Anästhesie (ab der Mitte des 19. Jahrhunderts) und Hygiene radikal veränderten bzw. sich auf bis dato nicht behandelbare Körperregionen beziehen können, und führt deren Entwicklung bis zum aktuellen Stand vor. Von der an die 11 000 Objekte umfassenden odontologischen Sammlung, die einen großen Bestand von tierischen Schädeln und Zähnen umfasst, wird im Museum nur ein kleiner Teil gezeigt, doch wiederum so, dass man sich anschauend über zum Beispiel die Physik eines Gebisses eingehend informieren kann. Zusammenfassend lässt sich zum Hunterian Museum festhalten, dass es die Geschichte der Medizin in ihren vielfältigen Aspekten tatsächlich museal zur Anschauung bringt. Damit ist gemeint, dass es weder den Charakter einer medizinischen Anstalt oder Praxis hat, noch als eine Variante einer Freakshow oder als Heldengeschichte auftritt, noch als ein Kabinett historisch überholter, gewissermaßen ethnologischer Objekte und Praktiken daher kommt, sondern nüchterne und neutrale, die Schönheit der Natur (der Menschen und der Tiere) durchaus herausstellende, krankhafte Deformationen respektvoll behandelnde Formen des Zeigens gefunden hat, die den Betrachtern in einem fließenden Übergang unterschiedliche Zugangsweisen ermöglicht, also den Laien einfach gut informiert und dem Fachpublikum ein genaueres Studium einzelner Exponate ermöglicht.20
7. Einige Überlegungen zur möglichen Entwicklung von Medizinhistorischen Museen Weitaus weniger als Museen anderer Sparten scheint es den Medizinhistorischen Museen zu gelingen, ihr Thema aus den rein fachlichen Diskursen herauszulösen und einen Perspektivenwechsel zu vollziehen: die Medizin auch von außen, aus der Perspektive von Laien wahrzunehmen und in einen größeren Zusammenhang zu stellen. Medizinhistorische Museen haben vielmehr fast immer den Charakter von Legitimationsanstalten für die ärztliche Praxis. Und dass sie oft, von der Anmutung ihrer Präsentationen bis zum manchmal zu beobachtenden Auftritt ihres Personals in weißen Kitteln, wie erweiterte Klinken erscheinen, ist nur ein Symptom für diesen Befund. Zu ihm gehört auch, dass in ihnen die westliche Schulmedizin mit ihrem technisch geprägten Bild vom Menschen dominiert und sie die Spezialisierung der Disziplin in hochgradig differenzierte Fachgebiete, Technologien und Arbeitsweisen ausbreiten, ohne sie auf den Menschen als Ganzheit zurückzubeziehen. In der Konsequenz finden in ihnen sogenannte alternative medizinische Ansätze, komplementäre Methoden oder traditionelle Medizinsysteme, von solchen in anderen Kulturen ganz zu schweigen, wenn überhaupt, dann nur wenig Raum und werden historische Praktiken auch der Schulmedizin im Sinne einer Fortschrittsgeschichte als tendenziell primitiv zur Darstellung gebracht. Das heißt, zusammengenommen, die Medizinhistorischen Museen sind fast ohne Ausnahme einem überholten Geschichts- und Kulturverständnis verpflichtet und erscheinen nicht selten bloß
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als Tempel der Götter in Weiß. Hinzu kommt, dass in den Häusern durchweg die ökonomische Seite des Themas allenfalls in Einzelaspekten zur Anschauung gebracht wird, wiewohl sie zu allen Zeiten große Bedeutung hatte – und nicht zuletzt viele medizinhistorische Museen sich dem zu Wohlstand oder Reichtum gelangten Ärzten oder Pharma-Unternehmern verdanken. Diese Umstände begründen im Generellen die Tatsache, dass die Medizinhistorischen Museen im gesellschaftlichen Kontext nicht die Rolle einnehmen, die ihnen angesichts der Bedeutung und des Umfangs ihrer Thematik zukommen müsste, und sie deshalb in vielen Fällen um ihre Existenz kämpfen müssen. Dabei könnten Museen, wenn sie denn neutrale und umfassende, auch für den Laien verständliche Informationen zu den verschiedenen Aspekten der Medizin und ihrer Geschichte zugänglich machten, geradezu als ein Teil des Gesundheitssystems fungieren. Denn es gibt in unseren Gesellschaften keinen Ort, an dem man sich einen systematisch und neutral konzipierten, historisch fundierten Überblick über den Stand der Medizin und der Pharmazie, über das Gesundheitssystem: das Zusammenspiel von Krankenkassen, medizinischer Praxis (niedergelassener Ärzte und in Kliniken), der medizinisch-technischen und Pharma-Industrie und dem staatlich-behördlichen Handeln (bzw. den entsprechenden Institutionen), über die verschiedenen Vorstellungen vom menschlichen Körper, die unterschiedlichen Begriffe von Gesundheit und Krankheiten bezogen auf Individuen wie Bevölkerungsgruppen einschließlich der finanziellen Aspekte informieren könnte. Angesichts der Tatsache, dass die medizinische Forschung und Praxis wie die wissenschaftliche im Allgemeinen zunehmend in Dimensionen operiert, die den menschlichen Sinnen nicht zugänglich sind, erscheint es ebenso notwendig wie sinnvoll, nach Wegen und Mitteln zu suchen, wie entsprechende Untersuchungen und Behandlungen auf die Erfahrungswelt zurückbezogen werden könnten. Dabei liegt der Ansatz, wie dies geschehen könnte, gewissermaßen auf der Hand und im ureigenen Gebiet der Medizin selbst: in der Diagnose, die der medizinische Komplex einmal auf sich selbst anwenden müsste. Für einen solchen Versuch ist und bleibt das Museum aber der geeignete Ort.
A NMERKUNGEN 1 | Dieser Text steht im Zusammenhang mit dem „Labor Josephinum“, das im Rahmen des forMuse-Programms 2009–10 stattfand. Für wichtige Anregungen und Hinweise bin ich Frau Dr. Gabriele Dorffner sehr dankbar. Die Auswahl der hier vorgestellten Museen bleibt leider eher zufällig, da ich einige Museen, die ich gerne einbezogen hätte, in der zur Verfügung stehenden Zeit nicht aufsuchen konnte; so fehlt hier vor allem das Deutsche Medizinhistorische Museum in Ingoldstadt; andererseits kann ich an dieser Stelle nicht auf alle Museen, die ich besichtigt habe, eingehen. Wenigstens nennen möchte ich daher hier das kleine, aber sehenswerte Brandenburgische
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M ICHAEL FEHR Apothekenmuseum in Cottbus, das Deutsche Hygiene-Museum Dresden und das unter dem Namen Narrenturm bekannte Pathologisch-anatomische Bundesmuseum in Wien. 2 | Vgl. http://www.wagnerfreeinstitute.org; die folgenden Angaben stammen aus einem unveröffentlichten Papier, das vom Wagner Institute 1989 beim National Register of Historic places zur Nomination als National Historic Landmark eingereicht wurde, bzw. basieren auf einem Besuch des Hauses im Februar 2010, bei dem ich ein Gespräch mit der Direktorin, Susan Glassman, führen konnte. Das Wagner Free Institute gehört zu den wenigen in ihrer ursprünglichen Fassung erhaltenen Museen des 18. bzw. 19. Jahrhunderts wie das Teyler-Museum in Haarlem (1784) oder das Sir John Soane Museum in London (1837). 3 | Der folgende Abschnitt stützt sich auf Gretchen Worden/Mütter Museum: Of the College of Physicians of Philadelphia, New York: 2002, und auf Gespräche mit Mitarbeitern des Museums im Februar 2010. Siehe auch: http://www.collphyphil.org/ Site/mutter_museum.html 4 | Die Soap Lady wurde dem Museum 1874 von Joseph Leidy geschenkt. Über ihn bestand eine Verbindung zwischen den beiden Häusern in Philadelphia. 5 | So beherbergt das Museum u. a. eine ca. 2000 Nummern umfassende Sammlung von verschluckten Objekten, die den Patienten aus dem Magen entfernt wurden, und eine Sammlung von 139 Schädeln, die vom österreichischen Anatomen Joseph Hyrtl angelegt wurde, um ethnische Varianten von Schädelformen zu belegen. Die Sammlung soll übrigens auch Mozarts Schädel enthalten haben. 6 | Der Begriff „Pathological Treasures“ stammt von Gretchen Worden. 7 | Im Hunterian Museum, London, ist ebenfalls das Skelett eines Riesen ausgestellt, doch im Vergleich mit dem eines Mannes durchschnittlicher Größe. 8 | Vgl. zu diesem Abschnitt auch Ralph Rugoff: »Pathological Beauty. The Mütter Museum«, in: ders., Circus Americanus, London: 1995, S. 129–133. Im Übrigen ist die Entindividualisierung ein typisches Merkmal auch der von Gunther von Hagens so genannten Körperwelten. 9 | Hierfür finden sich einige sehr deutliche Beispiele in dem von Gretchen Worden herausgegeben Buch. 10 | Diese Form der Betrachtung stellt sich häufig auch angesichts von Kunstwerken ein, deren Ikonografie ihre Verbindlichkeit verloren hat. Ein typisches Beispiel dafür sind Darstellungen des gekreuzigten Christus, die nur noch als Werke bestimmter Künstler Wertschätzung erfahren. Vgl. dazu auch Liselotte Hermes da Fonseca: »Zur Wiederholung: Heimliches unheimliches Wissen vom Menschen in wissenschaftlichen Museen«, in: Franz Josef Pazzini (Hg.), Unschuldskomödien. Museum & Psychoanalyse, Museum zum Quadrat No. 10, Wien: 1999, S. 76–109. 11 | Vgl. zu diesem Abschnitt Christa Habrich: »Zur Typologie medizinischer Sammlungen im 17. Und 18. Jahrhundert«, in: Andreas Grote (Hg.), Macroscosmos in Microcosmo. Die Welt in der Stube. Zur Geschichte des Sammelns 1450–1800, Opladen: 1994, S. 371–396.
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12 | Neben den schon genannten Sammlungen verfügt das Museum über umfangreiche Bestände zur Geschichte des Gesundheitswesens in Österreich und der Wiener Medizinischen Schule des 18. und 19. Jahrhunderts (Schwerpunkte sind hier die Augenheilkunde und Kinderheilkunde), über eine bedeutende historische Bibliothek, eine große Bildersammlung und eine weit in die Geschichte zurückreichende Archivaliensammlung. Dazu kommen große gerichtsmedizinische, histologische und medizintechnische Sammlungen (die Bestände zur vergleichenden Anatomie sind verloren gegangen) sowie drei privat geführte Sammlungen zur Endoskopie, Anästhesie und ethnologischen Medizin. 13 | Vgl. Manfred Dietel: »Die Nützlichkeit eines Museums der Medizin«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (Beilage Forschung und Wissenschaft) 196 (2011), S. N5. 14 | Wissenschaftsrat, Drucksache 10464-11, Berlin 28.01.2011; siehe auch: http:// www.wissenschaftsrat.de/aktuelles-presse/pressemitteilungen/2011/ nummer-04-vom-31-januar-2011/, (13.10.2011). 15 | Ein weitaus bedeutenderes Projekt war allerdings die Ausstellung Wunderblock. Eine Geschichte der modernen Seele, die 1989 von den Wiener Festwochen und dem Historischen Museum der Stadt Wien veranstaltet wurde. 16 | Vgl. http://www.wellcomecollection.org. 17 | Vgl. http://www.medicalmuseums.org, eine Website, die über einen guten Überblick über alle der Medizingeschichte und Gesundheit gewidmeten Museen und Sammlungen in London gibt. 18 | Vgl. dazu auch Hidi Hawkins and Danielle Olson (Hg.): The Phantom Museum and Henry Wellcome‘s Collection of Medical Curiosities, London: 2003. 19 | http://www.wellcomecollection.org/whats-on/exhibitions/medicine-man.aspx, (14.10.2011). 20 | Das Hunterian Museum und die ihm assoziierten Institute verfügen über eine vorbildliche Website mit umfassenden Informationen aller Art einschließlich eines digitalen Katalogs der Sammlungsbestände: http://www.rcseng.ac.uk/museums.
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ZUR AKTUELLEN DAUERAUSSTELLUNGSPRAXIS . G ESPRÄCHE
Jüdisches Museum München, Ausstellungsansicht mit Schattenwand, Foto: W. Petzi
„Wir müssen rückblickend vieles offen lassen, weil es keine Befunde gibt ...“ Bernhard Purin, Direktor des Jüdischen Museums München, im Gespräch mit Bettina Habsburg-Lothringen
Das Jüdische Museum München wurde 2007 eröffnet. Die mit rund 250 Quadratmeter kleine Dauerausstellung ist lediglich als Einführung in die jüdische Geschichte und Kultur von München konzipiert. In insgesamt sieben Installationen werden einzelne Themen und Sichtweisen schwerpunktmäßig mit je einem Erinnerungsmedium wie die Stimmen von Zeitzeugen, Orte, Bilder und Objekte vermittelt.
Bernhard Purin, seit den ausgehenden 1980er-Jahren wurden im deutschsprachigen Raum zahlreiche Jüdische Museen gegründet. Sie waren an verschiedenen dieser Projekte aktiv beteiligt. Können Sie die Entwicklung dieses Museumstyps – auch im Hinblick auf die Gründung des Jüdischen Museums München – kurz skizzieren? Der eigentliche Paradigmenwechsel im Umgang mit jüdischer Geschichte in Deutschland fand Ende der 1970er-Jahre statt. Die Ausstrahlung der US-Fernsehserie Holocaust hat zu einer intensiven Auseinandersetzung geführt. Es entstanden massenhaft regionalgeschichtliche Untersuchungen, die sich stark auf den Holocaust konzentrierten, oft mit einem noch aus heutiger Sicht naiv anmutenden Zugang: „Plötzlich waren sie alle weg“, „Sie waren unsere Nachbarn“, „Sie lebten unter uns“, unbewusste Betonung auf „unter uns“ – das sind so typische Buchtitel aus der Zeit. Einen weiteren Höhepunkt in der Befassung gab es sicherlich 1988. Der kanadische Soziologe Y. Michal Bodemann hat darauf aufmerksam gemacht, dass es zum vierzigsten Jahrestag der sogenannten Kristallnacht, am 9. November 1988, rund 10 000 Veranstaltungen in der Bundesrepublik gab, die sich in der einen oder anderen Form mit dem Holocaust und der Kristallnacht beschäftigt haben. Unter den 10 000 Veranstaltungen war auch die Eröffnung des Jüdischen Museums in Frankfurt als erstes großes Jüdisches Museum in Deutschland. Schon drei Jahre davor hat man
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in der Synagoge von Augsburg das Jüdische Kulturmuseum Augsburg, das heute noch existiert, eröffnet. Ebenfalls 1988 ist der Wettbewerb für das Berliner Jüdische Museum ausgeschrieben worden, dass dann 13 Jahre später eröffnet worden ist. In Wien ist am Abend des 9. Novembers eine Ausstellung über die Judaica-Sammlung Max Berger eröffnet worden, und der damalige Wiener Bürgermeister Helmut Zilk hat bei der Eröffnung ein Jüdisches Museum für Wien angekündigt. All diese Initiativen waren stark auf den Holocaust bezogen, mit dem Ausgangspunkt, dass alles zerstört worden ist. Diesen Ansatz findet man auch in Titeln, wie beispielsweise der Eröffnungsausstellung in Frankfurt, die übrigens Felicitas Heimann-Jelinek 1988 kuratiert hat, die da hieß Was übrig blieb. Die intensivere Beschäftigung mit jüdischer Geschichte in den letzen 20 Jahren hat herausgebracht, dass sich eigentlich viel mehr erhalten hat, als man angenommen hat. Es ist eine Frage des Wissens, wo man suchen soll, wo die Sachen verblieben sind. Kann man sagen, dass die Eröffnung des Jüdischen Museums München in gewisser Weise einen Endpunkt in dieser Reihe von Museumsgründungen im deutschsprachigen Raum bedeutet? München steht eigentlich am Anfang, weil es schon seit den 1920er-Jahren Pläne gab, ein Jüdisches Museum zu gründen. Damals verschwanden durch die Abwanderung in die Städte ganze Landgemeinden in Bayern, in Schwaben, in Franken, und man wollte das damit verschwindende Kulturgut retten, Pläne, die mit 1933 obsolet wurden. In den 1960er-Jahren gab es wiederum Bemühungen um eine Museumsgründung, die dann in den 1980er-Jahren von einem nichtjüdischen Privatmann aufgegriffen wurden. Mehr oder weniger aus Protest, weil die Stadt inaktiv geblieben ist, hat er auf 28 Quadratmetern in der Maximilianstraße, also in bester Lage, ein privates Jüdisches Museum eröffnet. Schwung in das Ganze kam dann erst Ende der 1990er-Jahre, als in der Israelitischen Kultusgemeinde das Bedürfnis entstand, ein neues Gemeindezentrum und eine neue Synagoge zu bauen. Mit der Entscheidung, der Gemeinde dafür die Brachflächen gegenüber vom Münchner Stadtmuseum am St.-Jakobs-Platz zu übergeben, entschied die Stadt, neben dem Gemeindezentrum und der Synagoge der Kultusgemeinde als drittes Gebäude ein städtisches Jüdisches Museum zu schaffen. Das vergleichsweise lange Zuwarten der Stadtverantwortlichen und ihre Einschätzung, dass ein Jüdisches Museum für München nicht so wichtig wäre, waren dabei vielleicht gar nicht so falsch. Im Vergleich zu anderen deutschen Großstädten wie Hamburg, Frankfurt, Köln, Berlin war die jüdische Geschichte und der Anteil der Juden an der Geschichte der Stadt München ziemlich unbedeutend. Es gab nur eine ganz kleine mittelalterliche jüdische Gemeinde und 1442 die letzte Vertreibung der Juden aus Altbayern. Erst im ausgehenden 18. Jahrhundert begann langsam eine Wiederansiedlung. Die Gemeinde hatte aber nie mehr als 10 000 Mitglieder. Zwar
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gab es einzelne bedeutendere Persönlichkeiten, aber es gab keine Rothschilds wie in Frankfurt, kein sephardisches Zentrum wie in Hamburg. Wo München historisch und aus jüdischer Perspektive seine Stärke hat, ist die Nachkriegsgeschichte, weil München ab 1945 als Teil der amerikanischen Besatzungszone im Zentrum der sogenannten jüdischen Displaced Persons, also der aus Osteuropa kommenden, überlebenden Juden wurde. 1946/47 gab es Zeiten, in denen in und um München zeitgleich 150 000 Juden lebten. Das ist eine ganz interessante Phase, die sich auch ein Stück weit in unserer Dauerausstellung und in unseren Wechselausstellungen widerspiegelt. Ich erwähne das, weil es die Voraussetzungen unserer Dauerausstellung beschreibt. Entsprechend der nicht sehr hohen Bedeutung der Münchner jüdischen Gemeinde ist die Überlieferungslage dünn. Und in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, als die Gemeinde eine kleine Blüte erlebt hat, war diese so ausgesprochen liberal und bürgerlich säkular, dass typisch jüdische Objekte aus der Zeit, zum Beispiel aus dem religiösen Kontext, kaum vorhanden sind. Nun waren Sie in der Situation, vor dem Hintergrund dieser Geschichte und mit spärlichen Quellen trotzdem eine Ausstellung zu planen. Worum geht es in der Dauerausstellung und was wird wie erzählt? Als wir begonnen haben an der Ausstellung zu arbeiten, war einer der ersten abgesicherten Befunde, dass München immer eine Einwanderungsgemeinde war. Wie schon erwähnt, war das so im frühen 19. Jahrhundert, als die Landjuden aus Schwaben und Franken in die Stadt kamen, dann um 1900, als Ostjuden aus Russland vor den Pogromen nach Westen flüchteten, ab 1945 kamen die Displaced Persons aus Osteuropa, und seit 1991 die sogenannten russischen Kontingentflüchtlinge, also Juden, die sich über eine Sonderregelung im deutschen Einigungsvertrag in der Bundesrepublik niederlassen konnten. Gleichzeitig ist München generell eine Einwanderungsstadt: Es ist die deutsche Millionenstadt mit dem geringsten Anteil an Eingeborenen. Das würde man in München vielleicht gar nicht so erwarten, weil alles ein bisschen urig präsentiert wird, aber tatsächlich sind in Berlin um die 40 Prozent der Bevölkerung dort auch geboren, in München knapp 30 Prozent. So ist für den Münchner heute das Ankommen in München als Punkt in der eigenen Biografie eine mit der Mehrheit der Stadtbewohner geteilte Erfahrung. Dabei setzen wir nun an: Wir haben ja eine relativ kleine, überschaubare Dauerausstellung mit knapp über 250 Quadratmetern. Auch um die Besucher ein bisschen zu entschleunigen, haben wir nun als erste von sieben Installationen einen Korridor mit einer Hörinstallation geschaffen. Betrete ich die Ausstellung, höre ich einige der insgesamt 150 Audiozitate von Münchner Juden aus dem 18. Jahrhundert bis heute, die über ihr Ankommen in der Stadt berichten. Dieser Ankunftskorridor führt dann nach München hinein, man landet im nächsten Bereich buchstäblich in München, auf einem interaktiven Teppich, das ist eine von zwei Interventionen in der Dauerausstellung, die wir mit Künstlern gemeinsam umgesetzt haben. Renata Stih und
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Frieder Schnock aus Berlin haben einen Stadtplan von München in Form eines Teppichs gestaltet, den die Besucher durch „Stadtzeichen“ aktivieren können. Die Stadtzeichen verweisen auf jüdische Vergangenheit und Gegenwart in der Stadt, und wenn der Besucher den richtigen Punkt aktiviert, gibt es an der Wand dahinter ein dazu passendes Bild, das diese Geschichte illustriert. Der Stadtplan hilft uns deutlich zu machen, dass wir eine Geschichte in der Ausstellung erzählen, die auch im heutigen München spielt. Zu den „Stimmen“, „Orten“ und „Bildern“ widmet sich ein Bereich den „Zeiten“, umgesetzt in einer Zeitleiste und Synagogenmodellen, als religiöse Zeichen eines etablierten Gemeindelebens. Ein weiteres der sieben Ausstellungskapitel ist den „Ritualen“ gewidmet, der Religion und dem religiösem Alltag. Es ist ein Pflichtprogramm, das jedes Jüdische Museum braucht. Vor dem Hintergrund einer sehr säkularen Münchner Jüdischen Gemeinde im ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhundert, haben wir versucht, das relativ stark zurückzunehmen. Religion ist ein Element jüdischer Identität, aber wir wollen in der Dauerausstellung deutlich machen, dass es ganz viele Möglichkeiten jüdischer Identitäten gibt. Für die Präsentation der Ritualobjekte bedeutet dies, dass sie der Besucher erst mal nur als Schattenrisse erkennen kann. Diese Präsentationsweise entspricht auch der Tatsache, dass im Judentum die Objekte per se keine Bedeutung haben, sondern nur in ihrer Funktion wichtig werden. Das ist so ein Thema, dass es schon lange in Jüdischen Museen gibt. Im Jüdischen Museum Wien beispielsweise waren die Ritualgeräte hinter Text verborgen bzw. der Blick auf sie ein bisschen gestört, durch grundlegende Texte, die jüdische Religion konstituieren. Wenig mit Pflichtprogramm haben dagegen die beiden verbleibenden der insgesamt sieben Bereiche zu tun. Es handelt sich dabei zum einen um mehrere objektbestückte Vitrinen, die nicht durch einen inhaltlichen Zusammenhang verbunden scheinen, zu anderen um einen wandgreifenden Comic am Ende der Ausstellung. Können Sie vielleicht beide Bereiche kurz erklären? Für mich ist das fast der Hauptteil der Ausstellung. Es handelt sich um sieben große, relativ dominante Vitrinen mit sieben Exponaten bzw. Exponat-Ensembles. Ein Einleitungstext macht deutlich, dass Überlieferung immer fragmentarisch ist, weil manches zerstört wurde, weil es wie in München aufgrund der Geschichte einfach wenig Dingliches gibt, das jüdisch konnotiert ist, schließlich weil museales Sammeln immer mit den Interessen, Vorlieben und Arbeitsschwerpunkten der verantwortlichen Kuratoren zu tun hat. Um dem Raum zu geben, haben wir die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Museums gebeten, jeweils ihr Lieblingsobjekt aus der Sammlung auszusuchen und in den Vitrinen zu zeigen. Die ausgewählten Objekte werden nun immer von zwei Perspektiven beleuchtet: Zum einen mittels eines konventio-
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nellen Museumstextes, der das Objekt erläutert und in einen historischen Kontext stellt. Zum anderen mittels eines namentlich gezeichneten, essayistischen Textes, in dem die jeweilige Mitarbeiterin, der jeweilige Mitarbeiter mit Nennung der Autorenschaft in sehr subjektiver Weise seine bzw. ihre Wahl erklärt. Seit Eröffnung der Ausstellung haben wir in diesem Bereich schon zwei Vitrinen für neue Mitarbeiter umgestaltet: Nach einem dreiviertel Jahr, wenn sich ein neuer Mitarbeiter in der Sammlung ein bisschen auskennt, darf er sein eigenes Lieblingsobjekt aussuchen. Insgesamt ergibt das eine vielfältige Mischung unterschiedlicher Objekte, die aber durchaus auch eine gewisse Chronologie vom späten 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart ergeben. Was ich an der Stelle auch noch erwähnen möchte, weil es konzeptionell wichtig ist: Wir hatten im Vorfeld der Museumseröffnung einen Wettbewerb zur künstlerischen Außengestaltung des Museums ausgeschrieben. Diesen Wettbewerb hat eine junge, in London lebende israelische Künstlerin, Sharone Lifschitz, gewonnen. Die „siebte Sache“ in der Dauerausstellung ist ein Video von ihr, das den Entstehungsprozess ihrer Installation zur Außengestaltung darstellt. Für die Künstlerin war es die erste größere Arbeit in Deutschland. Ausgangspunkt ihrer Arbeit waren von ihr geschaltete Zeitungsannoncen, in denen stand: „Young Jewish woman visiting Germany wants to have conversation about nothing in particular with anybody reading this“. Sie wollte wissen, ob es für sie als Jüdin, als Israelin, möglich ist, mit Deutschen über „nichts Bestimmtes“ zu reden. Sie hat ein Regelwerk formuliert und über 100 Leute getroffen. Zitate aus den geführten Gesprächen sind dann in der Wochen vor der Museumseröffnung plötzlich im Stadtraum und auf Plakatflächen aufgetaucht und kurz vor der Museumseröffnung an der Fassade des Museums zu sehen gewesen. Die Videoarbeit, eine Gemeinschaftsarbeit mit Graham Westfield, dokumentiert den Prozess dieser konzeptionellen Arbeit. Und der Comic? Wir haben lange überlegt, am Ende als Schlusspunkt nochmal eine Art Zusammenfassung zu machen und Vergangenheit und Gegenwart miteinander zu verknüpfen, mit der Fragestellung: Was lernen wir aus der Vergangenheit für die Gegenwart? Und was des Gesehenen hilft uns, unseren Blick auf die Gegenwart zu schärfen? Nach vielen Gesprächen entstand dann die Idee mit den Comics. Hintergrund war vielleicht auch, dass wir Kuratoren allesamt in bildungsbürgerlichen Familien in den 1970er-Jahren aufgewachsen sind, wo Comics verpönt waren. Ich beispielsweise sollte immer nur Bücher lesen, die vom Buchklub der Jugend empfohlen waren, Christine Nöstlinger und so. Es war also irgendwie das späte Abarbeiten eines Defizits. Ich musste erst mal das Medium Comic lesen lernen. Nach intensiver Suche haben wir Jordan B. Gorfinkel in Cleveland gefunden, der viele Jahre Editor des Batman Magazins war und für amerikanisch-jüdische Wochenzeitungen die Everything's Relatives erfunden hat: Sieben Charaktere, die so in diesen typischen
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„Four Panel Comic Strips“ jüdisches Leben in Amerika persiflieren und ironisieren. Mit Jordan Gorfinkel gemeinsam ist dann die Idee entstanden, diese Charaktere auf Besuch nach München zu schicken, wo der aus ostjüdischer Familie stammende Großvater geboren war und wohin er nun vom Oberbürgermeister eingeladen wird. Beim letzten Comic und damit am letzten Punkt der Dauerausstellung, verlassen die Hauptprotagonisten, nämlich Sejde, der Großvater, und sein Enkel Berni nach
Jüdisches Museum München, Ausstellungsansicht Comics, Foto: F. Kimmel
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einem Besuch das Jüdische Museum. Berni sagt: „Unser Besuch in München ist fast zu Ende, möchtest du noch irgendwas sehen, fehlt dir irgendwas?“ Und der Großvater sagt dann: „Ja, meine Familie.“ Und dann entschwinden sie, so wie Charlie Chaplin in der Schlussszene von The Tramp. Wir haben die Erfahrung gemacht, dass nichtjüdische Besucher immer ein bisschen frustriert sind, die haben durch ihre Entscheidung, dass sie ins Jüdische Museum kommen, durch ihre Bereitschaft, sich eine Stunde auf die Dauerausstellung einzulassen, Empathie, gesellschaftliche Verantwortung gezeigt und erwarten dafür sowas wie ein Happy-End, das wir nicht bieten können. Jüdische Besucher dagegen reagieren immer gleich, Sie sagen: „Yes, that's it – Ja, so ist es.“ Wir haben jetzt praktisch einen kleinen Durchgang durch die einzelnen Kapitel der Ausstellung absolviert, und es sind mehrere Aspekte, die mich interessieren. So zum Beispiel das Verhältnis von Innen und Außen, von Museumsinnenraum und Stadt, was schon bei der Architektur und dieser sehr offenen Foyersituation beginnt. Es ist dann zweitens diese Flexibilität und potenzielle Erweiterbarkeit der einzelnen „Kapitel“. Es ist weiters die Tatsache, dass die Gegenwart als Ausgangspunkt für diese Geschichten dient bzw. das Verknüpfen von Gegenwart und Vergangenheit sehr zentral ist. Schließlich gibt es für das Museum offensichtlich die Geschichte, allgemein als Folie im Hintergrund, als objektive Geschichte nicht. Die Ausstellung folgt einem klaren Geschichtsverständnis, wie mir scheint. Können Sie das vielleicht kurz beschreiben? München hat im Vergleich zu Städten wie Wien, Berlin oder Frankfurt relativ wenig oder sehr wenig jüdische Geschichte, aber viel jüdische Gegenwart und jüdische Zukunft. Das ist eine Besonderheit in München, die auch in der Dauerausstellung ein bisschen zum Ausdruck kommt. Zudem wollen wir sichtbar machen, dass wir keine abgeschlossene Geschichte erzählen, es nicht können und nicht wollen. Wir müssen rückblickend vieles offen lassen, weil es keine Befunde gibt, oder im Moment noch nicht gibt. Und die Zukunft ist natürlich offen. Das ist ganz bewusst so in der Zeitschiene, dass da noch eineinhalb Meter Platz ist für das, was kommt. Im Unterschied zu uns erzählen manche andere Jüdische Museen oft eine Geschichte, die dann irgendwann in den 1960er-, 1970er-Jahren zu Ende geht. Frankfurt ist so ein gutes Beispiel: 1988 eröffnet, war klar, dass die jüdischen Gemeinden in Deutschland verschwinden werden, weil sie völlig überaltert sind. Erst durch die Zuwanderung aus der ehemaligen zusammenbrechenden Sowjetunion ein paar Jahre später hat sich die Lage wieder völlig gewandelt. Oder auch, um ein weiteres Beispiel zu nennen, in München lebt heute eine größere Anzahl Israelis, die arbeiten, aber zur Israelitischen Kultusgemeinde meist wenig Verbindung haben. So etwas wäre vor zehn, fünfzehn, zwanzig Jahren nicht vorstellbar gewesen. Das sind eben Dinge, für die wir dem Besucher ein Gespür vermitteln wollen. Es geht nicht darum, einzelne jüdische Biografien durchzuarbeiten. Der Besucher soll am Ende so etwas wie ein Gefühl für das Thema mitnehmen.
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Ich sehe in Ihrer Konzeption die Auseinandersetzung mit der Frage nach der Darstellbarkeit einer Geschichte, die man nicht erzählen kann oder erzählen will, weil dies mit geschichtstheoretischen Positionen der letzten zwanzig oder dreißig Jahre überhaupt nicht korrespondiert. Eine der Antworten ist das Personalisieren von Geschichte. Die zweite Antwort lautet Gegenwartsbezug. Beides taugt als Vermittlungsstrategie, weil sie Anknüpfungspunkte für alle Besucher beinhalten. Ich kenne den aktuellen Stadtplan von München, auch als Touristin, in den dann die Geschichte eingeschrieben wird. Jeder kennt heute Flughäfen, was natürlich mit der Ankunft vieler Menschen im 18. und 19. Jahrhundert überhaupt nichts zu tun hat. Natürlich ist die heutige Mehrheit der Juden in München, die zu 75 Prozent oder 80 Prozent russische Zuwanderer sind, mit der Aeroflottmaschine in München gelandet und nicht mit der Eisenbahn gekommen oder sonst irgendwie. Das Gros unserer Besucher, egal ob jüdisch oder nichtjüdisch, weiß über die jüdische Geschichte in München relativ wenig, und auch nach einem einstündigen Museumsrundgang weiß man nicht viel mehr. Für mich ist die Funktion einer Dauerausstellung, Interesse zu injizieren. Dauerausstellungen sind elementar, aber ein Angebot unter anderen. So haben wir einen Studienraum mit multimedial aufbereiteten, vertiefenden Informationen ganz bewusst ans Ende des Museumsrundgangs gesetzt, praktisch als letzten Raum im Rundgang, eine kleine Handbibliothek mit 1500 Bänden geschaffen, die die Inhalte der Ausstellung vertieft. Da gibt es praktisch alles, was es über die jüdische Geschichte und Gegenwart in München gibt. Es gibt Nachschlagewerke, es gibt eine Sektion über jüdische Comics, es gibt praktisch alle Biografien und Autobiografien von Münchner Juden – alles Hinweise an unsere Besucher, dass es viel mehr zu wissen gibt, wenn das Interesse durch unsere Dauerausstellung und die Wechselausstellungen erst einmal geweckt ist. Mich hat das Verhältnis von Dauer- und Sonderausstellungsfläche überrascht. Die Sonderausstellungsbereiche sind im Verhältnis sehr großzügig. Welchen Anteil an der institutionellen Identität hat denn die Dauerausstellung? Ich glaube, und ich denke da spreche ich auch für unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die Dauerausstellung ist mehr so eine Einführung in unser Haus. Um unsere Veranstaltungen, Wechselausstellungen und sonstige Aktivitäten zu verstehen, ist es nicht ungünstig, wenn man sich zuerst die Dauerausstellung anschaut. Weil wir zum Beispiel immer wieder versuchen, die Wechselausstellungen im Dialog mit der Dauerausstellung zu entwickeln. Damit sind Sie weit weg von der alten Idee einer Dauerausstellung als Sammlungspräsentation. Ist es Ihrer Beobachtung nach ein Trend, in ständigen Ausstellungen nur noch kleinste Auszüge aus den Sammlungen zu zeigen oder Geschichten zu finden, die im weiteren Sinn auf den Sammlungen basieren?
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Ich weiß nicht, ob es einen Trend gibt. Und ich überlege gerade, ob es das andernorts auch gibt. Also meine Erfahrung, auch aus früheren Tätigkeiten, ist, dass zu große Dauerausstellungen die Gefahr in sich bergen, dass eine Einrichtung relativ schnell stirbt, weil wenig Veränderung möglich ist. Ich könnte mir vorstellen, dass man auch die gesamte Geschichte Münchens auf gut 250 Quadratmetern abhandeln kann. Also ich wüsste nicht, was man in einer größeren Dauerausstellung zusätzlich an Erkenntnisgewinn einbauen könnte. Man könnte natürlich statt 18 Orten auf dem interaktiven Stadtplan 50 nehmen, und man könnte auch statt 7 Sachen 18 anbieten ... Und die Religion im Allgemeinen viel, viel breiter zum Thema machen. Und die Comicgeschichte noch ein bisschen ausufernder gestalten, aber das bringt meiner Ansicht nach nichts. Kommen wir noch einmal zu den Erzähl- und Vermittlungsstrategien. Wir hatten bereits das Anknüpfen an eine Gegenwart, aktuelle Fragestellungen, bekannte Dinge. Eine andere Strategie, Inhalte in rezipierbare Einheiten zu bringen, scheint mir die Personalisierung zu sein. Vor allem auch in Jüdischen Museen hat man einzelne Schicksale und Menschen an die Stelle von Zahlen und Statistiken gesetzt: Ich sehe Kinder, ich sehe eine Person in meinem Alter, im Alter meiner Eltern oder Großeltern, Menschen mit einem Gesicht und einer Geschichte. In München wird Geschichte personalisiert, beginnend mit den Erzählungen zur Ankunft in der Stadt, die wenn möglich von den jeweiligen Personen selbst oder ihren Nachfahren gesprochen werden. Auch für das Museum stehen einzelne Personen und ihre Lieblingsobjekte. Ich glaube, wir setzen nicht so stark auf diese Strategie, wie es andere tun. Und wir versuchen, wie das schon das Wiener Jüdische Museum mit den 2011 leider zerstörten Hologrammen vor 16 Jahren gemacht hat, neben dieser Nähe auch eine Distanz zu wahren. Wie eine Annäherung an die Geschichte bedingt möglich ist, gilt dies auch für das heutige Judentum und die jüdische Kultur. Wir könnten unsere Besucherzahlen vervielfachen, wenn wir Programme anbieten würden, wo man Schabbatabende nachspielen oder Pessachabende nachfeiern kann. Wir tun es nicht. Aber nicht nur wir als Museum sind von diesem Wunsch nach Nähe betroffen: Es gibt zum Beispiel ein starkes Bedürfnis von Nichtjuden, Gottesdienste hier in der Synagoge zu besuchen, was aber von der Jüdischen Gemeinde sehr restriktiv gehandhabt wird. Es macht einfach keinen Sinn, wenn am Freitag Abend 70 oder 80 Jüdinnen und Juden beten wollen und von 200 Augenpaaren dabei beobachtet werden. Auch können 80 000 oder 100 000 Juden in Deutschland nicht ständig 80 Millionen Deutschen im Dialog begegnen, das geht sich einfach zahlenmäßig nicht aus. Diese Verspannung versuchen wir auch in der Dauerausstellung und in den wechselnden Ausstellungen zu thematisieren.
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Vor dem Hintergrund einer lückenhaft dokumentierten Vergangenheit und des Wunsches, mit verschiedenen Themen nah an der Gegenwart zu sein, würde mich am Ende noch folgendes interessieren: Welche Bedeutung, welcher Anteil an der Vermittlung kommt der Gestaltung zu? Es ist an der Stelle vielleicht noch wichtig zu erwähnen, dass die Ausstellungsfläche mit 250 Quadratmetern ja nicht groß ist, dass jede der sieben Stationen bzw. Installationen eine bestimmte Erscheinung hat und an ein bestimmtes Gedächtnismedium, wie es im Katalog formuliert wird, gebunden ist, also Bilder, Zeitzeugen, Orte, Objekte usw. Das trägt sehr zur Klarheit und Identifizierbarkeit der einzelnen Bereiche bei. Teilweise wurden auch Künstlerinnen und Künstler einbezogen, um einer Botschaft Form zu geben. Wie wichtig ist die Gestaltung und wie sehr haben sich die inhaltlich Verantwortlichen mit der Frage nach der gegenständlichen und räumlichen Umsetzung von Inhalten beschäftigt? Also, was ich ganz grundsätzlich wichtig finde, ist, dass Ausstellungsarchitektur von Architekten gemacht wird. Ich würde nie von Ausstellungsdesign oder Ausstellungsgestaltung sprechen, sondern von Ausstellungsarchitektur, weil es wirklich eine architektonische Aufgabe ist. Ich habe immer ein bisschen Schwierigkeiten mit designten Ausstellungen, die so aus der Tradition des Messebaus kommen oder vom Ladendesign – heute nennt man das wohl lieber „Flagship Store Design“. Ich finde die Rolle des Gestalters wichtig und arbeite seit vielen Jahren immer wieder mit dem Wiener Architekten Martin Kohlbauer zusammen, der von Anfang an in den Konzeptionsprozess, eigentlich Dialogprozess, mit den Kuratoren eingebunden ist, in den dann später Grafiker, Audiospezialisten, Lichtspezialisten etc. eintreten. Für die Münchner Dauerausstellung gibt es kein schriftliches Konzept. Ich habe selber überhaupt noch nie ein schriftliches Konzept für eine Ausstellung gemacht und halte das auch nicht für notwendig, sondern eher hinderlich für einen kreativen Entstehungsprozess. Das ist ungewöhnlich und vielleicht etwas, das nur noch für Ausstellungen bis zu einer bestimmten Größe überhaupt denkbar ist. Was bedeutet dies für die Arbeit und Zusammenarbeit? Für die Arbeit bedeutet es Offenheit und eine schrittweise Annäherung an ein Ergebnis. Es ist ein gemeinsames Entwickeln von Ideen und Lösungen, und zurückblickend kann man oft gar nicht mehr sagen, von wem sie schlussendlich gekommen sind. In manchen Fällen sind Lösungen an bestimmte Raumfunktionen gebunden. So hat dieser Hörkorridor am Anfang eine ganz wichtige gestalterische Funktion, er gliedert den relativ kleinen Raum, der noch dazu so wirken soll, als würde er eine große Ausstellung beherbergen. Ein anderes schönes Beispiel war der Bereich der „Orte“ und „Bilder“. Es gab den Wunsch, dass es irgendwo einen Ort geben sollte, wo sich eine Schulklasse bequem auf den Boden setzen kann. Die Idee, einen Teppich zu verlegen, kam auch aus der Notwendigkeit, auf gewisse akustische
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Probleme des Raums mit seiner Betondecke und dem harten Holzfußboden zu reagieren. Zu diesen Lösungsansätzen im Sinne einer Besucherfreundlichkeit haben sich inhaltliche Wunsch- und Zielsetzungen gesellt. Und während dieses Prozesses kamen wir mit Renata Stih und Frieder Schnock ins Gespräch. Es entstand dann in einem Diskussionsprozess im engsten Team, bestehend aus Jutta Fleckenstein, Martin Kohlbauer, mir und anderen die Idee, den Teppich mit dem Stadtplan von Stih und Schnock zu verbinden. Es zeichnet meiner Ansicht nach gute Ausstellungsarchitekten aus, dass sie ihre Gestaltung aus den Inhalten heraus entwickeln und gegebenenfalls auch alle zurück an den Start rufen, wenn irgendetwas noch zu wage, zu wirr, zu unausgegoren ist. Ich bedanke mich sehr für das Gespräch!
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Museum Neukölln Berlin, Blick in die Dauerausstellung, Foto: F. Hoffmann
„Es sind immer Fragmente, die man zu greifen bekommt …“ Udo Gösswald, Leiter des Museums Neukölln, Berlin, im Gespräch mit Bettina Habsburg-Lothringen
Das Museum Neukölln ist ein Berliner Bezirksmuseum, das 2010 auf dem ehemaligen Gutshof Britz neu eröffnet wurde. Die ständige Ausstellung stellt 99 Originalobjekte der Sammlung zur Geschichte und Gegenwart des Bezirks ins Zentrum. Mithilfe von persönlichen Erzählungen, Fotografien, Filmen und Tondokumenten sowie spielerischen Angeboten werden die einzelnen Objekte sozial- und kulturgeschichtlich kontextualisiert, ohne dass dadurch eine geschlossene Geschichte Neuköllns entstehen würde.
Udo Gößwald, ich möchte Sie bitten, zu Beginn kurz zu skizzieren, wie es zur Ausstellung 99 x Neukölln im Museum Neukölln in Berlin kam. Die ständige Ausstellung des Museums Neukölln ist im Rahmen einer räumlichen Umorientierung entstanden. Das Museum hat einen neuen Standort bekommen und in diesem Zusammenhang hat uns unsere Kulturverwaltung beauftragt, eine ständige Ausstellung zu entwickeln, die für eine möglichst große Anzahl von Besuchern, von klein bis groß und von jung bis alt, einen Einstieg in die Geschichte von Neukölln ermöglicht. Das hat mich herausgefordert, und ich habe ein Konzept vorgelegt, das die Besucher motiviert, in die Geschichte einzusteigen. Es stellt nicht den Anspruch, irgendetwas vollständig darzustellen, sondern ist daran orientiert, Objekte, Einzelstücken, Fragmente als Schlüssel zu verwenden, um verschiedene Felder der Geschichte zu öffnen. Dies entspricht im Grunde genommen dem Verständnis, dass es in einem Museum, wie auch in einem Buch oder Film, unmöglich ist, die Komplexität von Geschichte in einem darzustellen. Es sind immer Fragmente, die man zu greifen bekommt und die einen weiterleiten und dazu bringen, im Sinne des forschenden Lernens etwas Neues zu erfahren.
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Darin steckt nun schon viel von Ihrem Museumsverständnis und der Zielsetzung des Hauses. Vielleicht setzen wir bei der Frage an, worum es inhaltlich in der Ausstellung geht. Also Sie beziehen sich auf einen geografischen Raum? Richtig, wir beziehen uns insgesamt auf die Region des Bezirks Neukölln, das ist – je nachdem in welche historische Epoche Sie schauen – natürlich historisch mit den umliegenden Landkreisen etwas weiter gefasst als heute. Jene 99 Objekte, von denen wir in unserer Präsentation ausgehen, zeigen ein historisches Spektrum von der Vor- und Frühgeschichte bis in die unmittelbare Gegenwart. Thematisch beziehen sie sich auf so verschiedene Felder wie die Verkehrsgeschichte über die direkte Stadtentwicklungsgeschichte, die Alltagsgeschichte, die Kulturgeschichte, Geschlechtergeschichte, alle Bereiche menschlichen Lebens. Die Objekte, die wir ausgewählt haben, sind in den allermeisten Fällen im Kontext menschlicher Strukturbindungen eingesetzt, überliefert und gefunden worden. Wie Sie sagen, ist das Museum Neukölln kein historisches Museum, sondern unter anderem ein historisches Museum. Wie haben Sie es geschafft, die vielfältigen Inhalte in ein Konzept zu binden, das durch eine große Klarheit und Einfachheit besticht? Wir haben versucht, die Objekte so auszuwählen, dass sie als Schlüssel für bestimmte thematische Teilbereiche dienen. Es gibt natürlich bestimmte Markierungspunkte in der Lokal- und Ortsgeschichte, und wir haben uns bemüht, ein allgemeines Wissen über den Bezirk und über den Stadtteil – die frühere Stadt Rixdorf – mit diesen 99 Objekten zu erfassen, nicht abzubilden, sondern zu erfassen. Man könnte es mit einer archäologischen Vorgehensweise vergleichen: Jedes einzelne Stück, jedes einzelne Fragment steht für eine Tiefenbohrung in eine spezifische Thematik, die man angeht. Und Sie haben Recht, wir verstehen uns auch als historisches Museum, aber wir arbeiten eigentlich eher im Sinne der Ethnografie, sind stark am ethnografischen Museum orientiert, wie es vielleicht Gottfried Korff fassen würde. Das heißt: Es gibt eine Reihe von 99 Tiefenbohrungen über Objekte, die nicht näher miteinander in Verbindung stehen, die nicht in gewohnter Weise chronologisch oder thematisch geordnet sind. Wie werden dann diese Objekte kontextualisiert, damit man die an ihnen angelagerten Geschichten auch als Laie erfassen kann? Zunächst mal ist Ihr Eindruck des Nichtzusammenhangs richtig. Die 99 Objekte sind auch so präsentiert, dass sie erst einzeln und dann als Teil einer Gesamtheit wirken. Wir bauen zunächst auf den Effekt, dass die Leute irritiert sind, das heißt sie beginnen ihren Besuch mit der berühmten Fremdheits- und Befremdungserfahrung, die Herr Sloterdijk so schön beschrieben hat. Also der Mensch ist erst mal irritiert, angesichts dessen, was er in der Ausstellung sieht und erst mit dem zweiten Blick nimmt er Dinge wahr, die er in unterschiedlicher Weise kennt. Wir haben drei
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Ebenen der Erkenntnisformen, die man sich im Museum zunutze machen kann. Erstens die Idee: Das kenne ich, da gehe ich darauf zu. Zweitens: Da kenne ich etwas, aber ich weiß eigentlich nicht so recht, und drittens: Ich weiß überhaupt gar nichts. Einmal vor dem Objekt stehend hat der Besucher die Möglichkeit, das, was sich in der Vitrine befindet, über einen beweglichen Monitor auf dem Touchscreen aufzurufen. Vom Objekt ausgehend kann er dann in das jeweilige Thema einsteigen. Hinter den 14 bis 15 Text- und Bildebenen, die er aufrufen kann, bleibt das Objekt immer im Hintergrund präsent, damit man sich nicht in immer weiteren Informationen verliert. Diese von Ihnen eben angesprochenen beweglichen Monitore sind sehr zentral in der Ausstellung. Ich bin eher kritisch, was Medienangebote in Ausstellungen angeht. Im Falle Ihrer Ausstellung hat man aber das Gefühl, dass sehr, sehr genau über Sinn und das Potenzial solcher Angebote nachgedacht worden ist. Also nur noch einmal, damit man sich vorstellen kann, wie diese beweglichen Monitore funktionieren: Man hat eine Vitrine mit Objekten und um sie herum einen fahrbaren Monitor, der jenes Objekt in den Blick nimmt, vor dem man gerade steht. Genau. Sie haben im Raum vier Rundvitrinen, da drehen sich die Monitore rundherum. Zudem sind an den Seiten zwei Randvitrinen, wo Sie den Monitor schräg vor den Objekten hin und her bewegen können. Das heißt also, man schaut zuerst das Originalobjekt an, hat es fixiert, erkennt es dann auf dem Monitor wieder und ist damit schon auf einer Vergleichsebene, die einem erst einmal zum Beispiel bestimmte Größendimensionen klar macht. Der optischen Erfassung des Objekts folgt der nächste Schritt, die Beschäftigung mit den angebotenen Erläuterungen. Also wenn Sie da einen Mammut-Unterkiefer liegen haben, dann wird genau erklärt wo zum Beispiel die Zähne sind, und vom Zahn und vom Mammut-Unterkiefer wird dann auf das Gesamte geschlossen. Das heißt, in diesem Fall ist es ein induktiver Vorgang, der sich direkt vom Objekt immer weiter in verschiedene Erkenntnisdimensionen nach vorne bewegt. Bevor wir vielleicht zu einem konkreten Beispiel kommen, interessiert mich ganz pragmatisch der technische und finanzielle Aufwand, der mit den drehbaren Monitoren verbunden ist. Und inwiefern sind die Inhalte durch Ihr Team erweiterbar? Ja, wir könnten die Inhalte bei Bedarf erweitern, das heißt es basiert auf einem Content Management System, so wie man es auch von Internetseiten kennt, und wir haben hier ein geschlossenes System, das nur unsere Mitarbeiter in einem Netzwerk bedienen können. Die Preise sind immer relativ, es sind keine exorbitanten Summen geflossen, aber es ist ungefähr das Siebenfache dessen gewesen, was wir bei normalen Wechselausstellungen aufwenden. Also Sie können ungefähr davon
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ausgehen, dass die Ausstellung um die 350 000 Euro gekostet hat, umgerechnet auf die 100 Quadratmeter sind das 3500 Euro/Quadratmeter. Das ist schon eine ganze Menge Geld. Aber es ist eine Ausstellung, die auf lange Sicht angelegt ist und die auf intensiven Recherchen zu den Objekten basiert. Aus all den Informationen, die wir zusammengetragen haben, ist ein Wissensnetz, eine Wissensbörse entstanden. Und die Technik ermöglicht uns, dieses Wissen auf verschiedenen Ebenen und in unterschiedlichen Kategorien anzubieten. Das Prinzip Tiefenbohrung verstehen wir
Museum Neukölln Berlin, Ausstellungsansicht Detail Rundvitrine mit Monitor, Foto: F. Hoffmann
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nicht nur alltagsgeschichtlich im Sinne eines „Grabe, wo du stehst!“ Tiefe bedeutet auch die historische Dimension zu sehen. Und da ist es wichtig, eine Vielfalt greifen zu können, was das System unterstützt. Die 99 Objekte, die wir gewählt haben, erlauben auch das Gefühl, einen erkenntnistheoretischen, einen zielorientierten Kern greifen zu können. Das kann ich als Besucherin bestätigen. Nach kurzer Orientierung kommt man mit den unterschiedlichen Ebenen gut zurecht. Vielleicht können Sie das an einem Beispiel ganz konkret veranschaulichen. Wie wird dieses recherchierte Wissen zu den einzelnen Objekten organisiert? Es gibt ja zwei grundsätzlich verschiedene Zugangsmöglichkeiten, vielleicht können wir erst dem Weg „Objekt“, „Wissensnetz“, „Superwissensnetz“, „Story“, „Geschichtsspeicher“ und „Quiz“ folgen. Was verbirgt sich hinter diesen Begriffen, die man zu jedem der 99 Objekte anklicken kann? Das können wir vielleicht am Beispiel der Röntgenaufnahme machen. Wir haben ein Röntgenbild ausgelegt, das den Thorax einer Frau zeigt. Wenn man genau hinschaut, kann man auf diesem Bild einen Splitter erkennen, es handelt sich um einen Munitionssplitter von einer Handgranate. Die Geschichte dazu, um das Objekt jetzt aufzuschließen, ist die, dass dieser Splitter der Frau im Bürgerkrieg im Libanon in den Körper geschossen wurde. Er kann nicht entfernt werden, weil er in der Nähe der Wirbelsäule liegt und eine Entfernung aufgrund der dort verlaufenden Nervenstränge zu gefährlich wäre. Dieser Splitter hat keine unmittelbaren gesundheitlichen Folgen, aber er ist nicht mehr und nicht weniger als ein innerkörperliches Zeichen eines Erlebnisses, das mit Krieg zu tun hat, und er steht in unmittelbarem Zusammenhang damit, dass diese Person heute in unserem Bezirk Neukölln lebt. Sie ist vor ungefähr fünfzehn Jahren aus dem Libanon, damals noch als junges palästinensisches Mädchen, mit ihrer Familie geflohen. Im „Wissensnetz“ wird jetzt ausgehend von diesem subjektiven Erlebnis der Kontext dieser Erfahrung gezeigt: wo es passiert ist, wer durch diese Bombe noch zu Schaden kam – nämlich die Mutter, die nicht überlebt hat –, wie die Familie aus dem Land geflohen ist, dann Asyl in Deutschland gefunden hat, bis zu dem Punkt, dass wir diese Person heute zeigen, wie sie sich in einem arabischen Kulturzentrum aktiv für Migrantinnen und Migranten und in der Nachbarschaftshilfe engagiert. Im „Superwissensnetz“ wird dann darauf eingegangen, dass die Flüchtlingserfahrung für viele Menschen in Neukölln eine durchaus reale und sehr vielfältige ist. Und wir beschreiben verschiedenste Flüchtlingsgruppen wiederum an sehr persönlichen Beispielen, um auf ein fundamentales und prägendes Thema im Bezirk Neukölln und in Berlin insgesamt hinzuweisen. Das heißt, dieses Prinzip vom Speziellen zum Allgemeinen ist ein durchgängiges?
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Ja, das ist ein durchgängiges Prinzip, wobei vom Speziellem zum Allgemeinen auch bedeuten kann, dass man von der Gegenwart in die Vergangenheit geht und umgekehrt. Ein Beispiel dafür wäre die Mütze einer Schule, der berühmten RütliSchule. Es handelt sich dabei um eine schwarze Strickmütze, auf der auf Arabisch „Rütli“ draufsteht. Sie ist Teil einer sogenannten Rütliwear, einer Kollektion, die die Schüler mit einem Sozialarbeiter zusammen entwickelt haben, um das Selbstbewusstsein der Schüler dieser Schule zu steigern. Wir nehmen damit ein sehr gegenwärtiges Problem auf. Die Rütlischule ist eine Schule, wo neue Reformmodelle angewandt werden, um die miserable Situation dieser Realschule zu entschärfen und zu verbessern. Im „Superwissensnetz“ zu diesem Objekt gehen wir zurück in die Geschichte und zeigen, dass die Rütlischule in den 1920er-Jahren schon einmal eine Reformschule, ein zentraler Ort für die Reformpädagogik in Neukölln war. BerlinNeukölln war zur Zeit der Weimarer Republik neben Hamburg eines der wichtigsten Experimentierfelder in der Reformpädagogik, ein Experimentierfeld, das später von den Nazis brutal zerschlagen wurde. Dieser Blick in die Geschichte bietet auch Informationen über einen Lehrer, der in dieser Schule tätig war. Wir nutzen seine Person, um auf ein weiteres Objekt aus dem historischen Kontext zu verweisen, nämlich einen Zirkelkasten eines Lehrers von der Schule. Man kommt also von der „RütliMütze“ zum Zirkelkasten eines Lehrers, der dort in den 1920er-Jahren gearbeitet hat und gezwungen war zu emigrieren. Wie Sie merken, hat das schon einen sehr erzählerischen Gestus, manchmal schon fast etwas Romanhaftes: Das Ganze ist eine große erzählerische Konstruktion, die wir dem Besucher anbieten. Das Konzept scheint den Verantwortlichen viele Freiheiten und Möglichkeiten offen zu lassen, Assoziationen in alle Richtungen sind denkbar. Natürlich. Und da hat der Kurator eine große Verantwortung. Im Sinne des Autorenmuseums von Marie-Luise von Plessen ist es wichtig zu sagen, ja, wir setzten die Themen. Natürlich tun wir das in einem bestimmten Kontext und mit einem bestimmten Horizont. Man muss sich fragen, was will man vermitteln, welche Dimension von Geschichte spricht man an, welcher Gegenwartsbezug liegt in den Themen, die wir behandeln, welche politischen Fragen, die uns tagtäglich betreffen. Eine Möglichkeit, sehr aktuell und gegenwartsbezogen zu sein, eröffnet das Feld „Story“. Können Sie dazu etwas sagen? Nach dem „Superwissensnetz“ kommen Sie auf die Ebene „Story“: Hier finden Sie zu jedem Objekt eine sehr subjektiv geprägte Aussage. Das kann etwas sein, das direkt mit dem Gegenstand zu tun hat, wenn man beispielsweise eine Person kennt, die darüber etwas erzählen kann, oder es handelt sich um einen Quellentext aus einer Zeitung oder ein passendes Dokument. Da es immer die Möglichkeit gibt, dass das Objekt für einen Besucher eine besondere Bedeutung hat, geben wir an
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den Arbeitsterminals die Möglichkeit, eigene Kommentare oder Geschichten aufzuschreiben. Wir sind dabei, diese Funktion noch auszubauen und zu verbessern. Das entspricht unserem Ansatz und unserer Absicht, die Besucher zu motivieren, sich mit den Dingen auseinanderzusetzen und weiter über sie nachzudenken. Welche Rolle spielt da der „Geschichtsspeicher“? Der „Geschichtsspeicher“ bietet die Möglichkeit, das, was einen speziell interessiert und neugierig gemacht hat, noch einmal abzufragen. Die Besucher können sich über den Arbeitsterminal oder das Internet im Geschichtsspeicher, unserem Archiv und Depot anmelden. Nach Voranmeldung bekommen sie dort bestimmte Objekte und Gegenstände vorgelegt, die man im Bereich der 99 Objekte auch aus konservatorischen Gründen nicht dauerhaft zeigen könnte. Das heißt, wer mehr zu einem Thema wissen möchte, geht in den Geschichtsspeicher und kann dann auch zahlreiche Originaldokumente sehen, wenn er denn möchte. Und was erwartet diejenigen, die sich das „Quiz“ vornehmen? Das „Quiz“ ist einfach ein unterhaltsames Moment, das sind drei Fragen, die praktisch in unterhaltsamer Weise rekapitulieren, was auf den verschiedenen Ebenen des Vermittlungskonzepts zu lesen und zu sehen war. Obwohl man auf diesem Weg schon eine unglaubliche Menge an Informationen zu den 99 Objekten bekommen kann, hält das System noch eine weitere Zugangsweise bereit, über die man sich den Objekten annähern kann? Wie erschließen sich die Objekte über die Felder „was, wann, wo“? Wir bieten ganz bewusst neben dem visuellen und interessensbezogenen Zugang einen eher strukturellen Zugang an. Auch wer sich also für bestimmte Orte, Zeiten und spezifische Themen interessiert, kann die Arbeitsterminals nutzen und diese Felder wie in einem Lexikon aufrufen. Man kann beispielsweise unter dem Begriff „Alltag“ zum Thema „Wohnen“ recherchieren und bekommt alle aus den 99 Objekten gezeigt, die mit dem Thema „Wohnen“ zu tun haben. Also zum Beispiel ein Schild, auf dem „Schlafstelle frei“ steht, oder ein Toilettenbecken oder einen Wäscherührstab. Neben einer thematischen ist auch eine topografische Orientierung möglich: Das heißt, man ruft z. B. eine Straße auf und kann sehen, ob es in der Ausstellung ein Objekt zu dieser Straße gibt. Die dritte Möglichkeit der Annäherung erfolgt über bestimmte Zeiträume. Sie können z. B. „18. Jahrhundert“ eingeben und so etwas über die Einwanderungsgeschichte der Böhmen erfahren, die das schöne Habsburgerland verlassen mussten.
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Ich finde, dass in vielen Momenten des Gesprächs Ihr Geschichts- und Ihr Museumsverständnis sehr deutlich geworden sind. Ich möchte kurz dabei bleiben. Nach wie vor findet man in historischen Museen vermeintlich schlüssige Fortschrittsgeschichte in chronologisch geordneten Objekten. Geschichtstheoretische Debatten der letzten Jahrzehnte scheinen in der Museumspraxis nur bedingt angekommen. Der Wunsch von Museumsleuten, eine schlüssige Narration anzubieten, hängt vermutlich u. a. mit dem Wunsch zusammen, dass das, was man vermitteln möchte, auch rezipierbar ist. Und es ist eben einfacher, Geschichten zu folgen, die über Ursache und Wirkung organisiert sind, ihre Helden und Verlierer haben, als sich mit Fragmenten und Brüchen zu mühen. Folgen Sie in Ihrer kuratorischen Arbeit der Einsicht, dass es die eine, vollständig erzählbare Geschichte nicht geben kann, oder kommt die Betonung des Individuellen und die Verweigerung des schlüssigen Ganzen aus einer Neuköllner Wirklichkeit, die radial vielfältig ist und bis in libanesische Flüchtlingslager reicht? Ich denke, Geschichtstheorie lässt sich in das Museum nur schwer hineinlesen, weil das Museum eher ein Ort der Kontemplation, der Betrachtung, der ästhetischen Wahrnehmung und der Erfahrung von Atmosphären ist. Das analytische Konzept der Geschichtsbetrachtung und -analyse ist von daher nicht so ohne weiteres und direkt zu übertragen und die Übernahme z. B. von Verfremdungen aus dem Theaterbereich entspricht dem Museum vermutlich eher. Ich selbst komme aus dem Bereich der Sozial- und Kulturgeschichte, und da gibt es immer den Versuch, aus der Entwicklung von größeren kulturellen Prozessen die soziale Dynamik zu lesen, und umgekehrt am Einzelobjekt etwas über die jeweilige soziale und biografische Situation, aber auch den größeren Zusammenhang zu erzählen und darzustellen. Tun Sie sich da leichter als kleines bzw. mittelgroßes Haus? In den repräsentativen Historienschauen großer Museen verliert man sich immer noch in einer Geschichte der wichtigen Daten und Fakten. Gelingt der Wechsel von Zoom und Distanz, von Mikro und Makro und die Nähe zum Publikum nicht einfach besser, wenn man sich auf einen begrenzten regionalen Raum und seine Menschen beziehen kann? Das glaube ich nicht, das ist eine Frage des Standpunktes, den sie dann auch durchziehen müssen. Möglicherweise ist der Druck, repräsentativ zu sein, in einem großen Stadtmuseum höher als in einem Regionalmuseum, es kann aber auch umgekehrt sein. Das hängt immer auch davon ab, wie sie sich als einzelne Museumsleiterin oder als Museumsleiter positionieren können, ob Sie sich unabhängig machen können von den Wünschen und Projektionen, die auf sie gerichtet sind. Und die Idee der Identitätsschaffung durch Museen, die wieder herumgeistert, lehne ich im Prinzip ab, weil ich der Auffassung bin, dass das Museum eher der Ort ist, wo man gegen den Strich bürstet und Dinge zeigt, die man sonst nicht zu sehen bekommt, wie etwa das Röntgenbild einer Palästinenserin. Ich glaube, es ist entscheidend, dass man sich frei macht von der Einbindung des Museums in diesen funktionalen politischen
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Kontext. Das Museum braucht diese Distanz, um frei zu agieren. Auch im Sinne einer offenen Ästhetik, eines offenen künstlerischen Verständnisses von dem, was man da tut. Eine gewisse Akzeptanz auf Museumsseite, was die Idee angeht, Museen könnten als Identitätsagenturen dazu beitragen, den Menschen einer Nation, Region oder Stadt vermitteln, wer und wie sie sind, hat, denke ich, im Moment auch damit zu tun, dass es hilft, die Institution in einer Phase kleiner werdender Budgets zu legitimieren, dass es also eine gesellschaftliche Funktion erfüllt. Ja, aber das ist doch Kindergarten. Das ist ja nach Ulrich Beck einfach die Grunderkenntnis, wir leben seit mehreren Jahrzehnten in einer Gesellschaft, die immer mehr Verunsicherungen mit sich trägt, die Identitäten verschieben sich. Wir können nicht die Decke über den Kopf ziehen und sagen, ich will davon nix wissen. Und das Museum muss der Ort sein, wo man diese Identitätsverschiebungen auch reflektieren kann. Ich bin der Überzeugung, dass es nicht die eine Identität gibt, sondern dass es verschiedene Identitäten gibt, aus denen der Mensch sich zusammensetzt. Das Reduzieren auf eine einzige wäre ein großer Fehler, Amartya Sen benennt das als Identitätsfalle. Das heißt, wenn man eine Person auf eine Identität reduziert, eine Religion, ethnisch, kulturell oder wie auch immer, dann drängt man sie schon in irgendeine Ecke. Ich habe ein Positivweltbild. Ich denke, man kann über die existierenden Grenzen viel leichter hinweg, wenn man die Vielfalt der Menschen und der Welt zeigt. Ich möchte am Ende fragen, in welchem museologischen Kontext Sie Ihre Dauerausstellung 99 x Neukölln sehen. Auch vor dem Hintergrund dessen, was Sie eben ausgeführt haben: Ist das Museum Neukölln das neue Heimatmuseum? Vergleiche sind immer schwer. Ich denke, wir haben hier auch eine ganz eigene Geschichte hinter uns. Alltags- und Sozialgeschichte, die Einbindung vernachlässigter politischer Bewegungen, die Frage der jüdischen Bevölkerung, die Auseinandersetzung mit Leerstellen der Geschichte sind für uns wichtige Begriffe und Punkte gewesen. Wir haben gemerkt, dass es ein fortwährender Versuch sein muss, Realität zu fassen, und dass Geschichte dabei doch immer relativ und unvollständig bleibt. Ich würde mir langfristig wünschen, dass sich die Besucher noch mehr von den eigenen Interessen leiten lassen, als von irgendwelchen Leitsystemen, Zahlen, Überschriften oder Rundgangserläuterungen. Es gibt den schönen Ausdruck vom berühmten Museumsmann Kenneth Hudson, der hat gesagt, man muss aus einem Museum größer herauskommen, als man reingegangen ist. Vielen Dank für das Gespräch!
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Literaturmuseum der Moderne Marbach, Ausstellungsansicht nexus, © Literaturmuseum der Moderne, Marbach
„Man kann die Exponate unterschiedlich lesen und vernetzen …“ Heike Gfrereis, Leiterin des Literaturmuseums Marbach, im Gespräch mit Bettina Habsburg-Lothringen
Das Literaturmuseum der Moderne in Marbach wurde vom britischen Architektenbüro David Chipperfield Architects geplant und zeigt auf 1000 Quadratmetern Exponate aus den Beständen des Deutschen Literaturarchivs Marbach. Kernstück der dreiteiligen Dauerausstellung ist der Raum nexus. Er ist zugleich eine radikale Archivausstellung und ein Schaudepot mit rund 1300 Exponaten, deren ganz unterschiedliche Lesbarkeit durch die strikte Trennung von Zeige- und Vermittlungsebene möglich wird.
Heike Gfrereis, ich möchte das Gespräch mit der Frage zu den konzeptionellen Grundlinien des Literaturmuseums beginnen. Das Literaturmuseum der Moderne ist von Bund und Land bewilligt worden, um mehr Ausstellungsfläche für den Bestand des Deutschen Literaturarchivs zum 20. und 21. Jahrhundert (immerhin nahezu 1200 Schriftsteller- und Gelehrtennachlässe auf etwa 25 000 Quadratmetern Magazinfläche) zu schaffen. So stand lange, bevor ich Ende 2001 nach Marbach kam und die Entscheidung für ein konkretes Gebäude und Konzept gefallen war, eine Grundlinie fest: Wir zeigen vor allem und in großem Umfang Archivbestände in einer Dauerausstellung. Mit der Entscheidung für den Entwurf von David Chipperfield Architects wurde 2002 eine weitere Linie festgelegt: Wir bespielen das Literatumuseum der Moderne nicht wie eine Ausstellungshalle mit unterschiedlichen, sehr dominanten, aber auch schnell abgenutzten Szenografien, sondern als Haus, als Ensemble ästhetisch gestimmter, atmosphärisch dichter Räume mit einer starken, klaren Materialität. Diese Räume funktionieren auch ohne Ausstellung, sie müssen nicht erst durch die Ausstellung „eingekleidet“ werden und erlauben es uns, dass wir darin sogar mit unseren meist flachen Objekten Raumbilder schaffen können, durch nichts
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anderes als die Art ihrer raumprägenden Anordnung: Vereinzeln, Verdichten, Reihen, Stapeln, Staffeln, Hängen, Stellen, Legen. Aus diesen beiden festen programmatischen Linien – viel Bestand zeigen und mit fast nichts als Bestand Räume einrichten – haben wir dann das Konzept für die Dauerausstellung entwickelt, das bestimmten Marbach-spezifischen Faktoren Rechnung trägt: Wir zeigen Originale; diese Originale sind selbst Objekte der Vermittlung, Gegenstände der Anschauung und Erkenntnis über ihren auratischen Wert hinaus, und nicht nur Informationsvermittler, Übersetzungsmedien von etwas, das man auch ohne sie weiß. Auch die Dauerausstellung muss sich ständig verändern können, weil wir kein abgeschlossenes, sondern ein lebendes, weitersammelndes Archiv sind; sie zeigt auch die kleinen und unbekannten Dinge, die mit Literatur nicht viel zu tun haben, aber sich in Nachlässen erhalten haben, und keinen Kanon der deutschsprachigen Texte und Autoren, weil wir deren großes, aber nicht zentrales Archiv sind, und von manchen, wie z. B. Thomas Mann, keine wichtigen Manuskripte besitzen. Das heißt: eine radikale Archivausstellung mit dem Anspruch, die Bedeutung dieser Archivalien zu vermitteln, eine Literaturausstellung, die den literarischen Text offensiv von der Archivalie trennt und keine Übersetzung einer deutschen Literaturgeschichte, wie sie im Buche steht. Wenn man so ein Projekt beginnt, was sind da die Bezugspunkte des eigenen Tuns? Ich denke mir, dass es im Bereich der Natur, der Geschichte und der Kunst Traditionen gibt, Dinge zu zeigen. Dies ist im Bereich der Literatur weniger der Fall, woran orientiert man sich also? Es gab bis zum Literaturmuseum der Moderne keine literarischen, autorenübergreifenden Ausstellungen in einem eigens und ausschließlich zu diese Zweck errichteten Gebäude. Die klassischen Orte für Literaturausstellungen sind die Geburts- und Wohnhäuser von Dichtern, die Bibliotheken, zunehmend auch die Literaturhäuser. Das Chipperfieldsche Gebäude hat ein ganz anderes Referenzsystem naheglegt: das der Kunstmuseen, der Galerien, in denen man in einer herausgehobenen Stimmung spazieren gehen und besondere Dinge anschauen kann, aber immer auch einen schönen Blick in die Landschaft hat – die Uffizien, der Palazzo Pitti, das Untere Belvedere, englische Landsitze, aber auch moderne Kunstmuseen wie die Fondation Beyeler oder das Davoser Kirchner-Museum und natürlich Mies van der Rohes Neue Nationalgalerie. In diesen Museen will man nichts lernen, man darf sich sogar ein wenig langweilen und muss nicht immer aufpassen, man kommt aber dennoch anders heraus, als man hineingegangen ist. Hinzu kamen die Ausstellungen, in denen das Archiv zum Thema wurde: die Münchner Ausstellung Deep Storage. Arsenale der Erinnerung (1997) etwa, oder das Basler Schaulager (2003). Doch wie stellt man Objekte aus, wenn sie – meist zumindest – nicht selbst Kunstwerke sind? Wie zeigt man Archivalien in einem Museum, ohne eine Installation daraus zu machen und die Archivmagazine zu
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imitieren? Für uns war die Hauptinspirationsquelle das, was wir nicht tun wollten oder tun konnten. Es gab Gegenmodelle, aber keine Vorbilder. Auch international nicht? Nein, das Letterkundig Museum in Den Haag zum Beispiel, das übrigens mit seiner im letzten Jahr eröffneten neuen Dauerausstellung nun unserer in manchem ähnelt, ist Teil einer Bibliothek und hat es mit einem ganz anderen Erwartungshorizont der Besucher zu tun, und auch mit einem anderen Bestandshintergrund. Ebenso der Room of Manuscripts in der British Library in London. Sie stehen in den Hauptstädten und Regierungssitzen, erzählen nationale Literaturgeschichten oder zeigen Handschriften, die nationale Identität stiften. Wer zu uns kommt, läuft nicht zufällig vorbei, er fährt gezielt in eine schwäbische Kleinstadt und wird dort schon von außen mit einer ganz anderen architektonischen Rhetorik konfrontiert: Akropolis, nicht Bibliothek, Landsitz, nicht multifunktionales Medienzentrum, aber auch Eingang in die Marbacher Unterwelt. Das war für uns die besondere Herausforderung, aber auch Chance: Allein das Gebäude verwandelt die Dinge, die wir zeigen. Im Schiller-Nationalmuseum, dem zweiten Marbacher Museum, das das Bild von Marbach bis 2006 geprägt hat, gab es bis zur Innensanierung braunkarierte Teppichböden und bräunlich getönte Raufasertapeten. Ein Putzeimer war dort ein Putzeimer, während er im Literaturmuseum der Moderne von ganz alleine zum Exponat wird. Wie gehen wir mit diesem ästhetischen Überschuss um? Wie nutzen wir diese nahezu sakrale Energie, um neugierig zu machen, Lust auf das Archiv und Spaß an der Literatur zu vermitteln und nicht Angst und falschen Respekt zu verbreiten? Der Objektbegriff und die konzeptionellen Prinzipien der Präsentation sind jetzt schon angeklungen, beides scheint mir sehr wichtig zu sein. Zum Objektbegriff vielleicht kurz: Ich habe das Gefühl, dass in unterschiedlichen Sparten teilweise wenig über das Objekt und seine Identität nachgedacht wird, es werden manchmal vielleicht Debatten nachvollzogen, die es im Bereich der Kulturgeschichte in den 1980ern gab und dann irgendwann in der Natur auftauchen, aber es bleibt insgesamt der Eindruck von relativ wenig Objektbewusstsein bei vielen Fachwissenschafterinnen und Fachwissenschaftern. Und zu den konzeptionellen Prinzipien: Wenn man relativ unvorbereitet ins Museum kommt, dann hat man das Gefühl, dass sehr viel Architektur und Gestaltung aufgewendet wurde, um die Museumswürdigkeit von Archivmaterial zu beweisen, etwas überspitzt vielleicht, dass es Schnipsel sind, die man nicht als Objekt wahrnimmt und die dort als Objekt überhaupt erst etabliert werden, und zwar mit musealen Strategien, im konkreten Fall der Ästhetisierung und der Auratisierung. Ich habe mir die gesamte Ausstellung zuerst ohne Hilfe angesehen, obwohl mir diese gleich beim Betreten der Ausstellung in Form dieses tragbaren Computers (M3) angeboten worden ist. Der M3 bietet Informationen zu einzelnen
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Objekten und schlägt Routen durch den Ausstellungsraum zu verschiedenen Themen vor. Erst mit dem M3 ist mir die Trennung zwischen Ausstellung und Vermittlung bewusst geworden, auch ein Aspekt, der mich sehr interessiert. Die Frage ist, ob es, was diese bloße Anlagerung von Informationen angeht, Vorbilder gab, weil sie dem Trend entgegensteht, die Ausstellungen an sich zu didaktisieren. Wenn man will, so ist das Vorbild ein nie realisierter Traum. Ich habe vor Marbach zwei Jahre lang in einem Büro für Ausstellungsgestaltung (Atelier Lohrer, Stuttgart) gearbeitet und wurde mehrmals mit Projekten konfrontiert, in denen die Objekte nur als Teile einer bestimmten Erzählung oder Gefühlsmaschinerie wichtig waren und dabei zum Teil auch auf eine wissenschaftlich falsche Bedeutung festgelegt wurden. Das Ziel war nie, die Objekte in ihrer Bedeutungsvielfalt zum Leuchten zu bringen und sie die Besucher selber entdecken zu lassen, sondern mit ihnen möglichst einfache Schubladenbegriffe zu illustrieren und die Besucher möglichst schnell durchzuschleusen. Bei diesem Ansatz wäre es viel leichter, billiger und auch ehrlicher gewesen, die Objekte gleich zu erfinden. Da wir dazu nie jemanden überreden konnten, muss ich das jetzt tun: Objekte entdecken und entdecken lassen, die man hat und die sich nicht einfach in eine Bedeutung überführen lassen, und manchmal auch Objekte erfinden, die man braucht. Das zweite macht einfach Spaß, das erste fordert meine literaturwissenschaftliche Neugier: Warum soll man ein Buch, das man auch bequem im warmen Bett lesen kann, im Manuskript – bei 18 Grad und 50 Lux, im Stehen und durch Glas hindurch – anschauen? Das Chipperfieldsche Gebäude sakralisiert oder ästhetisiert unsere Exponate und erreicht damit immerhin schon einmal, dass man sie überhaupt und auch ein wenig länger anschaut und wichtiger nimmt als ohne diesen Rahmen. Bei diesem ästhetischen Überschuss setzt unser didaktisches Konzept an, das bewusst mit Verfremdung, vielleicht auch Verstörung arbeitet: Wir haben die Vermittlung von der sichtbaren Ausstellung getrennt. In der Dauerausstellung erläutert keine Legende, warum die Exponate wichtig sind; sie sind nur codeartig mit dem Nachnamen des Urhebers oder Besitzers und der Jahreszahl ihrer Entstehung oder Benutzung beschriftet. Der Besucher, der wissen möchte, warum ein Exponat es wert ist, dass ihm so viel Aufmerksamkeit geschenkt wird, muss sich diese Frage entweder selbst beantworten oder er kann einen tragbaren, buchgroßen und auch buchschweren Computer zu Rate ziehen, der ihm sehr schell deutlich macht, dass es die eine richtige Antwort auf diese Frage nicht gibt, sondern mögliche, immer nur durch ihre Konsequenz richtige und also nicht beliebige Wege des Schauens und Lesens, des Analysierens und Interpretierens: Man kann die Exponate unterschiedlich lesen und vernetzen, z. B. als Indiz, Ikon oder Symbol, als Zeichen eines Autors oder einer Zeit oder einer Idee oder der Arbeit am Text, als hochartifizielles literarisches Objekt, sentimentalen Gegenstand oder eben Dokument, als Schaustück, Denkbild oder Lesetext.
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Wir haben dieses Denken- und Wissenwollen ebenso inszeniert wie unsere Exponate – einmal durch verstärkte Präsenz, ein anderes Mal durch Wegnahme von Information. Das Archiv und also auch unser Museum lebt von einem Versprechen: Es ist ein unendliches kulturelles Gedächtnis, in dem potenziell alles eine Bedeutung gewinnen kann. Dieses Versprechen wollten wir nicht zerstören, nur weil wir ein Manuskript wie das von Alfred Döblin zu Berlin Alexanderplatz von vornherein in Kapitel wie „Großstadt“, „Collage“ oder „Wichtige Autoren“ einsortieren. Solche Zuordnungen sind subjektiv und zeitgebunden, schnell abgenutzt und immer auch etwas zu einfach und machmal sogar schlicht falsch, wenn man genauer hinsieht. Kulturgeschichte wurde bzw. wird manchmal noch immer so ausgestellt, dass man ein Thema entwickelt und eine Geschichte erzählt, und dann die Objekte dazustellt, die dann eigentlich einen vorgegebenen Text illustrieren. Das wird, so denke ich, auch durch textsozialisierte Historiker/innen verantwortet, die nicht gelernt haben, Ausstellungen als räumliche Medien zu denken. Erstaunlicherweise begreift jemand, der vom Text zur Ausstellung kommt und nicht vom Objekt, manchmal nicht, dass ein Objekt nicht real an verschiedenen Stellen der Ausstellung liegen kann, oder man ein Buch nicht an zehn unterschiedlichen Stellen an fünf Standorten aufschlagen kann. Für mich ist es immer wieder verblüffend, wie ubiquitär und weich gedacht Dinge sind, wie manipulierbar sie gerade auch in sehr um Präzision bemühten Texten sind und wie brutal und auschließlich und genau und auch einfach zu verstehen sie sind, wenn man sie real vor sich hat. Das war übrigens auch ein Grund, die Vermittlungsebene von der Zeigeebene zu trennen: Wir wollten unsere Exponate sehr präzise im Raum verorten und es dennoch jedem, der im Marbacher Archiv arbeitet (immerhin mittlerweile über ganz unterschiedliche 190 Köpfe), ermöglichen, dass er so durch die Ausstellung führen kann, wie er es möchte. Viele der Exponate werden dann interessant, wenn jemand eine oft sehr persönliche Geschichte dazu erzählen kann und mit seiner Leidenschaft für ein Stückchen Papier begeistert, aus dem er einen ganzen Kosmos entfalten kann. Dazu war wichtig, dass die Ausstellung selbst nicht schon vor Begeisterung vibriert. Literatur hat wie das Denken mit Imagination zu tun. Mir ist diese Vielschichtigkeit der Objekte sehr stark im Schillermuseum bewusst worden, wo es gelungen ist, aus Papierschnipseln die Geistesgeschichte einer Zeit, die politische Geschichte und die der Gesellschaft ganz schlüssig heraus zu entwickeln bzw. darzustellen, obwohl relativ wenig Objekte zu sehen sind. Wie im Falle des Literaturmuseums wird im Schillermuseum die Grenze zwischen dem Objekt und seiner Vermittlung bewusst. Gab es denn Vorbilder für diese Trennung von Objektund Vermittlungsebene?
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Es gab auch hier eine gescheiterte Idee: Ich war in unserem Büro für die Gestaltung von Troia – Traum und Wirklichkeit (Landesausstellung Stuttgart, Braunschweig, Bonn 2000–2001) mit zuständig, und wir wollten nach dem Vorbild der Straßburger Ausstellung über die Entzifferung der Hieroglyphen (Mémoires d‘Égypte: Hommage de l‘Europe À Champollion, 1990) alles nur mit einem Audioguide erläutern und auf Text ganz verzichten: Als ob der Besucher aus den archäologischen Resten mit den verschiedenen Fachleuten die Vergangenheit herauslesen würde wie ein Kommissar, der aus Spuren Tatvorgänge rekonstruiert. Gerade bei Troia und Homer gibt es ja auch sehr unterschiedliche Interpretationen. Am Ende hatten wir zwar einen Audioguide, aber auch sehr viele Legenden und Textsorten. Wahrscheinlich gab es nie so viel Text bei einer Ausstellung, und wir haben mit unserem Wunsch nach einem einzigen Hörtext eine sehr große Schreiblust ausgelöst. Daher wollte ich das gern einmal unter günstigeren Bedingungen probieren und nicht nur aus didaktischen Überlegungen heraus, sondern mit einem Erkenntniswunsch, einer wissenschaftlichen, beschreib- und nachvollziehbaren, aber auch sehr sinnlichen Methode verbunden: Was passiert, wenn ich die Exponate zunächst als Dinge in den Raum stelle? Welche Bedeutungen ergeben sich dann? Sehr schnell werden dann Nachbarschaften deutlich, die sich lesen lassen, Zusammenhänge wie in Aby Warburgs Mnemosyne-Atlas, die einen Sinn nahelegen, eine Semantik, die sich aus der Syntax des Legens entwickelt, die man nicht vorhersehen kann und die nur im Raum mit seinen drei Dimensionen möglich ist, in der Horizontalen, in der Vertikalen und in der Tiefe. Dieser zentrale Raum des Literaturmuseums, nexus genannt, scheint mir sehr nah an einer klassischen Dauerausstellung dran zu sein, die eine der Klassifikation folgende Schausammlung bzw. Sammlungspräsentation war, ohne Kontexte für einzelne Objekte zu schaffen. Der Unterschied liegt nun darin, dass das Literaturmuseum der Moderne nicht zwingend die Kennerschaft fordert, sondern diverse Vermittlungsangebote bereit hält. Daran schließt sich für mich die Frage nach dem Publikum an. Inwiefern war der Gedanke an ein potenzielles Publikum in der Planung wichtig, welche Erfahrungen gibt es jetzt seit 2006 mit dem Publikum und wie wird der M3 angenommen, mit seiner Möglichkeit der Objektführungen und der ganz verschiedenen Themenführungen? Das Publikum hat zunächst, etwa ein halbes Jahr lang, durchaus gespalten reagiert, einige waren regelrecht verärgert, dass sie ausgerechnet in einem Literaturmuseum mit einem Medium wie dem tragbaren Computer konfrontiert waren, das nicht sofort „Schrift“ signalisierte. Viele haben es schlicht als etwas komplizierten Audioguide missverstanden und gar nicht bemerkt, dass sie damit auch einfach nur lesen und schauen können und ein mit über 5000 Seiten besonders dickes Buch in der Hand haben, das auf Wunsch auch mit einem spricht. Wir haben daraufhin das Personal, das dieses Vermittlungsmedium ausgibt, noch einmal geschult und die
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obligatorische Hörprobe am Tresen verboten, die dafür verantwortlich war, dass die Besucher immer gleich von Anfang an vollkommen verdrahtet, auf eine Stimme hörend, durchs Museum gingen. Seitdem wird der M3 sehr gut angenommen, was uns auch verschiedene Evaluationen bestätigt haben. 2007 haben sich nur noch 11 Prozent daran gestört, dass wir die Vermittlungsebene nicht mit der Ausstellungsebene verbunden haben. Gerade auch bei Senioren, nicht nur bei Kindern und Jugendlichen, funktioniert unser digitaler „Schlüssel“ sehr gut; und die meisten Klagen („Nach drei Stunden war der Akku leer“) sind indirekt Komplimente. Seitdem wir im November 2009 das Schiller-Nationalmuseum eröffnet haben, in dem wir radikal auf das klassische Beschriftungsmedium setzen und in der SchillerHälfte auch narrative Ausstellungsteile haben, ergänzen sich beide Museen ideal. Das eine vermittelt auf klassischere Weise, was das andere dann in aller Konsequenz tut. Die Hauptschwierigkeit für die beiden doch auf lange Verweildauer angelegten Dauerausstellungen liegt in einem ganz anderen Bereich: Es ist bei uns mit 50 Lux und 18 Grad sehr dunkel und unangenehm kalt, gerade im Sommer. Da sind auch die Fleece-Decken, die wir ausleihen, nur eine verzögernde Maßnahme und ein etwas hilfloses Kommunikationsangebot. Ansonsten arbeiten wir inzwischen gut mit unseren Besuchern zusammen, wir lernen von ihnen und sie von uns. Wir wussten, als wir das Literaturmuseum der Moderne eröffnet haben, dass das Marbacher Stammpublikum ein sehr wichtiges, aber an meine Art der Ausstellungspraxis nicht gewöhntes Publikum war und dafür das sogenannte jüngere Zielpublikum an das „alte“ Marbach nicht gewohnt war. Immerhin gab es im Schiller-Nationalmuseum über 25 Jahre lang eine Daueraustellung. Es war uns von vornherein wichtig, dass wir neue Besuchergruppen gewinnen, nicht nur jüngere und breitere und weiter gestreute, sondern gerade auch die jüngeren Literaturwissenschaftler und potenziellen Archivbenutzer. Das Literaturmuseum der Moderne wurde 2006 eröffnet und das SchillerNationalmuseum 2009 wiedereröffnet. Welche Unterschiede in der Herangehensweise gab es für Sie als Kuratorin, und ist für Sie das eine die Weiterentwicklung des anderen? Die beiden Gebäude und somit auch die Erwartungshorizonte, die sie abstecken, könnten unterschiedlicher nicht sein, auch wenn sie beide Museumsgebäude mit einer sakralen Rhetorik sind. Ich fand dieses Ausstellen in zweierlei Systemen mit zweierlei Beständen von Anfang an sehr reizvoll und habe so mit dem Konzept für das Literaturmuseum der Moderne – komplementär im Kontrast – auch schon das für das Schiller-Nationalmuseum entworfen. In diesem ist etwas möglich, was in jenem unmöglich wäre, und andersherum. Es gibt Ähnlichkeiten – viel Bestand zeigen, die Objekte in den Mittelpunkt stellen, nicht semantisch, sondern methodisch inszenieren –, aber auch deutliche Unterschiede, nicht nur im Bereich der Vermittlung und Beschriftung. Das Schiller-Nationalmuseum führt das Literaturmuseum der
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Moderne nicht fort, es vermittelt dessen Ursachen: Wieso werden von Schriftstellern Manuskripte, Zettelchen und sogar Socken gesammelt? Wieso wird die Literatur wie die Bibel gelesen, der Dichter als Heiliger verehrt? Wie müssen sich dazu das Zeichensystem, die Sprache, aber auch die historische Welt, die Wahrnehmung, die Ideen und Sprechweisen verändern? Das neue Museum exponiert eine Methode des Zeigens und Vermittelns, das alte braucht dies nicht mehr zu tun und exponiert unterschiedliche Arten des Zusammenstellens und Deutens von Exponaten. Es gibt ... … eben keine Chronologie, sondern es ist eine thematisierte Schau mit fünf Bereichen. Ja, in der Schiller-Hälfte trennen wir wie im Literaturmuseum der Moderne in Bestandsgattungen, die auch unterschiedliche Zugänge zu Schiller erlauben und verschiedene Dichterkörper nachzeichnen: Kleider, Porträts, Hausrat, Briefe und Manuskripte, oder eben Hülle, Bild, Horizont, Leben und Werkstatt. In der anderen Hälfte zur Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts allgemein gibt es dann auch Gattungsmischungen, und die Themen verknüpfen bewusst Literatur und Leben. Als Besucherin fand ich gut sichtbar, dass man sich mit diesem Nationalheiligen Schiller und den dazugehörigen „Reliquien“ weiter auseinandersetzt, diese thematisiert und kritisch befragt. Wie aber kann man mit dem Ort umgehen, einer Tempelanlage auf einer Anhöhe? Der Ort ist in der Tat mit einer extremen Erwartung verbunden, mit einer Hemmschwelle auch für den, der darin Ausstellungen macht. Man kann dort nicht ohne weiteres improvisieren oder charmant unperfekt und ironisch Erwartungen unterlaufen. Es wirkt schnell schäbig und peinlich. Eine große Hilfe war deswegen, dass wir mit dem neuen Museum über eine sehr abstrakte, sehr moderne Latte auch in ein anderes Ausstellungsjahrhundert springen durften und konnten, und erst danach das Schiller-Nationalmuseum saniert wurde. Von Anfang an hätten wir dabei übrigens immer sehr gern die Parkanlagen miteinbezogen, um die Museen noch einmal anders einzubetten, idyllisch, aber nicht provinziell, einladend, nicht zurückhaltend. Sie haben ja beide nicht nur die Ausstrahlung von Kirchen, sondern auch den Reiz englischer Landsitze. Dazu müsste man allerdings das Gelände vor der Talseite des Schiller-Nationalmuseums sehr umfassend wieder herrichten. Leichter als diese Landschaftsgestaltung können wir ein anderes Mittel realsieren, um den Standortnachteil der Museen, der natürlich auch ihr größter Vorteil ist, auszugleichen: Wir machen sehr viele Veranstaltungen für Kinder und Jugendliche im Museum, sodass als schöner Nebeneffekt der sakrale Eindruck aufgebrochen wird. Das wäre auch schon meine letzte Frage: In welchem Verhältnis steht die Dauerausstellung zu den übrigen Angeboten des Museums? Ich habe den Eindruck, dass es
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zum einen Museen gibt, die auf Dauerausstellungen überhaupt verzichten und sie ablösen, durch Schaudepots, semipermanente oder temporäre Ausstellungen usw. Mich würde an der Stelle interessieren, ob es für Marbach ein Gesamtkonzept gibt. In welchem Verhältnis stehen Dauer- zu Sonderausstellung, welche Funktionen erfüllen die Sonderausstellungen? Das „Urkonzept“ sah tatsächlich vor, dass die Dauerausstellung den Fundus markiert, der dann in Wechselausstellungen und Museumsveranstaltungen (von der Führung über die besondere Lesung hin zum Aktionstag und zur Tagung) isoliert und vertieft oder anders kombiniert und ergänzt wird. Unsere Wechselausstellungsvitrinen sind daher auch Ableitungen der Dauerausstellungsvitrinen, die anders als diese auch nur einzelne Tablare und gezielte Spots oder auch das Hängen von Exponaten zulassen und somit eine ganz andere, wenn auch durch analoge und sehr einfache, preisgünstige Mittel erzeugte „Ausstellungslandschaft“. Ursprünglich war sogar daran gedacht, dort ebenfalls den M3 einzusetzen, um unseren kleinen Ausstellungsetat zu entlasten, indem wir uns die „harte“ Grafik sparen. So viel Geld war allerdings bei der Ersteinrichtung nicht vorhanden, sodass wir ihn dort nun allerhöchstens als Audiguide einsetzen können, weil die Access Points fehlen, und eben doch nicht ganz so preiswert Ausstellungen machen können, wie geplant. Wir haben auch gelernt, dass wir nicht ganz so puristisch mit den Ausstellungsmitteln umgehen dürfen, weil das sonst sehr schnell kalt und herzlos anmutet, zurückschreckt und ermüdet, oder schlicht schlecht gemacht wirkt. In der Praxis mischen wir jetzt: Etwa jede dritte Ausstellung greift auf andere Präsentationsweisen zurück und verzichtet auf den schon optisch deutlichen Anschluss an die Dauerausstellung, oft schon, weil die Exponate in den Vitrinen keinen Platz haben, Rahmen oder Sockel brauchen, und auch nicht alles in Glaskästen gut aussieht und sich das Spiel mit wenigstens zwei Seiten der Betrachtung vertragen kann. Alle anderen entfalten aus der Daueraustellung mit ihrem Grundvokabular die unterschiedlichsten Themen oder zeigen verschiedene Kondensate aus ihr. Wichtig ist uns, dass es jede der Ausstellungen auf eine für ihr Thema spezifische, also nicht übertragbare, originäre Weise tut, und es trotz dieser Verbindung in den Wechselausstellungen auf alle Fälle andere Raumbilder, Zugänge und Einsichten gibt als in der Dauerausstellung. Sie sind von vornherein subjektiver, zugespitzter, essayistischer als diese. Vielen Dank für das Gespräch!
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Außenansicht Institutsgebäude Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg Foto: F. Steinheimer.
„Wir erzählen, ohne auf einer Zeitachse aufzubauen …“ Frank Steinheimer, Leiter des Projekts Naturkundliches Universitätsmuseum Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, im Gespräch mit Bettina Habsburg-Lothringen
Die Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg besitzt eine der größten naturwissenschaftlichen Sammlungen Deutschlands. Diese soll künftig in einem neuen Schaumuseum im derzeitigen Institutsgebäude der Physik am Friedemann-BachPlatz 6, vis-à-vis des Kunstmuseums Stiftung Moritzburg und dem neuen Hauptgebäude der Deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina, präsentiert werden. Ein grobes Ausstellungskonzept wurde bereits erarbeitet: Neben einer eigenen Abteilung zur Wissenschaftsgeschichte, in der die Leistungen der über 230-jährigen naturwissenschaftlichen Forschung in Halle gewürdigt werden soll, wird sich die Dauerausstellung vor allem um Evolutionsphänomene drehen.
Frank Steinheimer, Sie arbeiten an der Konzeption einer Dauerausstellung zu den Naturwissenschaftlichen Sammlungen der Martin-Luther-Universität in Halle (Saale). Können Sie zu Beginn bitte kurz etwas über die Ausgangssituation Ihres Projekts, die universitären Sammlungen, die architektonische Gegebenheiten und die Zielsetzungen des zukünftigen Museums sagen? Die Ausgangsituation war, dass die Sammlungen der Martin-Luther-Universität, die zu den größten Naturkundesammlungen Deutschlands gehören, an den Instituten der Universität selbst verortet waren. Die aktuelle Forschung vor Ort, molekulargenetische Forschung, ökologische Forschung etc., basiert aber nicht mehr grundlegend auf diesen Sammlungen. Mit dem Umzug der Institute an neue Standorte innerhalb der Stadt ist die Frage aufgetreten, wie ein zukunftsfähiges Konzept für die Sammlungen aussehen könnte. Und die Universitätsleitung hat sich die Schaffung eines Naturkundemuseums überlegt.
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Bisweilen gibt es zu den Naturkundesammlungen nur eine wirklich dauerhaft öffentlich zugängliche Ausstellung zu den Geiseltal-Fossilien im Geiseltalmuseum. Daneben haben wir ein halböffentliches Museum für Haustierkunde und Sammlungen, die zu speziellen Anlässen geöffnet werden, wie die zoologische Sammlung. Unter der Voraussetzung, die Sammlungen in ein zentrales Gebäude in der Stadt Halle zu bringen und dort ein Naturkundemuseum zu eröffnen, bin ich als Projektleiter engagiert worden. Es wurde sehr schnell klar, dass der Umfang der Sammlungen, es geht um 5,3 Millionen Objekte, es unmöglich macht, die Sammlungen einfach in einem Schaumuseum zu zeigen. So ist es zu einer zweiteiligen Lösung gekommen, die vorsieht, dass es einen Sammlungsteil für Forschung und Lehre sowie ein öffentliches Museum geben soll. Der erste Teil, das Zentralmagazin Naturwissenschaftlicher Sammlungen, ist eine wichtige zentrale Einrichtung der Universität, ähnlich der Universitätsbibliothek. Dort wird mittels der Sammlung geforscht und gelehrt. Die Sammlungen sind so zum Beispiel die Grundlage für Tierbestimmungsübungen oder geologische Grundübungen. Dieses Zentralmagazin hat sich etabliert: Die Forschung ist intensiviert, die Lehre ausgebaut worden. Der zweite Teil, die öffentliche Ausstellung, über die wir hier auch sprechen wollen, ist als Konzept eingereicht. Über die Umsetzung werden vor allem die Finanzen entscheiden. Das bedeutet, mit der Einrichtung des Zentralmagazins ist eine bestimmte Funktion, die ein Naturmuseum traditionellerweise innehatte, erfüllt. Was bedeutet das für die Inhalte und die Konzeption des zweiten Bereichs, des Schaumuseums, mit dem Sie sich beschäftigen? Im Schaumuseum soll die Sammlung und ihre Geschichte für eine breite Öffentlichkeit reflektiert werden, das ist auch der Wunsch des Rektorats gewesen. Dabei ist darauf zu achten, dass nicht ein Naturkundemuseum herauskommt, wie wir es in der unmittelbaren Umgebung schon haben, zum Beispiel in Leipzig; aber auch Magdeburg oder Dessau haben eigene Naturkundemuseen. Diese konzentrieren sich teilweise stark auf die örtlichen Gegebenheiten. Als Universitätsmuseum haben wir andere Aufgaben, so z. B. den Anspruch zu zeigen, was unsere Forscher hier leisten. Das ganze muss aber in eine Geschichte gegossen werden, einen roten Faden bekommen, sodass der Besucher wirklich mitgenommen wird und die teils sehr komplexen Inhalte fassen kann. Wir haben in Halle drei Sammlungen großen Umfangs: Das ist zum einen eine paläontologische Sammlung mit dem Spezialgebiet Eozän-Fossilien aus dem sachsen-anhaltinischen Geiseltal, dann haben wir eine große zoologische Sammlung, die vor allem durch die vielen besonderen entomologischen, also insektenkundlichen Stücke berühmt ist und es gibt schließlich eine sehr große haustierkundliche Sammlung, die vorwiegend aus Skeletten und Fotoglasplatten von verschiedenen Haustieren besteht. Um zwischen diesen Sammlungen einen Zusammenhang herzustellen, den es auch an anderen Museen in
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Deutschland nicht gibt, haben wir überlegt, mit den Sammlungen schrittweise die Begrifflichkeit und das dahinterstehende Konzept der Evolution zu erklären. Denn mit diesen drei und mit einigen kleineren anderen Sammlungen der Universität kann man diesen Begriff Evolution hervorragend – ich nehme jetzt das Wort auch in den Mund – inszenieren. Bevor wir zu diesem zentralen Bereich der künftigen Ausstellung kommen: Sie haben im Vorfeld erzählt, dass es insgesamt drei Bereiche geben wird und dass getrennt von der Evolution Bereiche zur Wissenschaftsgeschichte und den Mineralien gezeigt werden sollen. Ich habe zur Abteilung für Wissenschaftsgeschichte, die als Schaufenster in 230 Jahre universitäre Forschung in Halle angelegt ist, eine Frage. Ist diese Darstellung, wie Forschung passiert und wie Wissen entsteht, immer schon ein Teil naturkundlicher Präsentationen gewesen, oder ist es momentan einfach ein Trend, das zu zeigen? Ich denke da beispielsweise an das Darwin Center in London, wo gleich über mehrere Etagen die Arbeit der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler am Natural History Museum gezeigt wird. Ich würde sagen, das Thema war immer da. Denn schon als James Cook von seinen drei Weltumsegelungen zurückgekommen ist – also er ist ja nicht zurückgekommen, er ist auf der dritten Umsegelung gestorben, aber seine Schiffe sind zurückgekommen –, wurden diese Sachen auch mehr oder minder in den nächsten Jahren öffentlich gezeigt. Man hat sich mit den wissenschaftlichen Ergebnissen, aber auch dem mitgebrachten Neuen, Unbekannten, Kuriosen sogleich in einer öffentlichen Ausstellung auseinandergesetzt. Gleichzeitig wurde der bedeutenden Persönlichkeit Cook wissenschaftsgeschichtlich ein Raum gegeben, der sofort nach seinen Reisen bestückt worden ist. Also insofern gab es das eigentlich schon immer: Ein großes Museum im 19. Jahrhundert hat sich auch dadurch ausgezeichnet, z. B. eine neue Tierart schon zwei Jahre nach dessen Beschreibung zeigen zu können. Man hat solche Objekte zur Werbung genutzt, aber natürlich auch beforscht. Heute ist die Forschung anders und vielfältiger geworden, die Fragestellungen und Antworten komplizierter. Das zeigt sich auch auf der Ebene der Ausstellungen. Natürlich gibt es heute noch alte Aufstellungen, sie sind wie geschichtliche Fenster in eine frühere Präsentationsform. Sehr schön ist da zum Beispiel das Naturkundemuseum in Bamberg oder die Franckeschen Stiftungen mit dem Naturalien- und Kuriositätenkabinett in Halle. Es gibt auch Versuche, historisches Ambiente in Räumen neu zu schaffen, die nie originaler Ausstellungsort waren. So war die King’s Library des British Museum immer Bibliothek und ist erst jetzt ein Ausstellungssaal im Ambiente des späten 18. Jahrhunderts geworden, ein Kuriositätenkabinett, in dem die ganze Bandbreite des damaligen britischen Museums mit Naturgeschichte, Ethnografie, Antikenkunde, Münzkabinett, Glyptothek etc. präsentiert wird.
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Ich möchte nun zum Hauptteil der geplanten ständigen Ausstellung kommen, zum Bereich der Evolution. Wie kam es zu dieser Idee, die ja eine Thematisierung und klare Perspektivierung der Sammlungsbestände bedeutet? Ging es mit dieser Entscheidung auch darum, so etwas wie einen narrativen Bogen zu schaffen? Als Laie gewinnt man in einem klassischen Naturmuseum den Eindruck, dass das Museum zeigt und nicht erzählt: Ich habe die Möglichkeit, mir die massenhaft dargebotenen Objekte anzusehen, ich schaffe es aber nicht, sie in einen erzählerischen Zusammenhang zu bringen, der mir das Merken der Inhalte bestimmt erleichtern würde. Sind Erzählungen nun auch im Naturmuseum gefragt? Sicherlich ist das Thema der Evolution auch deswegen gewählt worden, weil es ein Alleinstellungsmerkmal in der Museumslandschaft bringt. Wir haben keine Mona Lisa, wir haben auch keine Himmelsscheibe von Nebra. Wir haben sehr viele, sehr gute Stücke, es sind auch einige Unikate dabei, aber man kann sie nicht einfach nur zeigen. Dabei ist dieses „nur zeigen“ gar nicht abwertend gemeint. Viele Naturkundemuseen machen es sich zum Beispiel zur Aufgabe, einen Naturraum mit all seinen Bewohnern, Pflanzen wie Tieren zu zeigen, was gut und wichtig ist. Unsere Entscheidung für das Thema Evolution liegt in den Sammlungen begründet. Es gibt uns die Möglichkeit, unsere wirklich sehr verschiedenen Sammlungen unter einen Hut zu bringen. Zusätzlich haben wir mit der Haustierkunde einen Bereich dabei, der in den anderen Naturkundemuseen völlig ausgeklammert ist. Es ist ein Bereich, der sich aber extrem gut eignet, um die genetischen Grundlagen von Evolution und das, was Evolution letztendlich macht, nämlich durch Auswählen, durch Selektionsereignisse über lange Zeit hinweg etwas Neues hervorzubringen, zu veranschaulichen. Eben das macht der Mensch mit der Züchtung auch. Und wird mir die Evolution wirklich als eine durchgängige Geschichte erzählt werden? Wenn ich mir die Themen der einzelnen Ausstellungsräume ansehe – exponentielles Wachstum ohne Selektion, Variation, natürliche und sexuelle Selektion, zeitliche Entwicklungsreihen, historische Artbildungen, Artbildungsprozesse in Aktion, Aussterbeereignisse, Zufälligkeit der Evolution, Einnischungsprozesse etc. – frage ich mich: Lassen sich diese Themen in ein konventionelles Märchenschema bringen, mit Anfang, Höhepunkten und Happy End? Weiß der Laie am Ende, was Evolution ist? Ja, das muss das Ziel sein. Und wir wären dann erfolgreich, wenn jemand mit wenig Zeit und mit keiner Vorbildung aus dem Museum rauskommt und den Begriff „Evolution“ verstanden hat. Der routinierte Besucher von Naturkundemuseen wird sich in unserem Museum neu orientieren müssen. Es gibt viele Museen, die von einem Lebensraum zum nächsten wandern: Man hat die Auenlandschaft, im nächsten Raum dann die Stadtlandschaft und im übernächsten Bereich den Wald. Oder man hat mitteleuropäische Lebensräume und dann die Savanne von Afrika, anschließend den
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Amazonas. Neben diesen auf Lebensräumen aufgebauten Naturkundemuseen gibt es solche, die taxonomisch aufgebaut sind, wie zum Beispiel das Wiener Naturhistorische Museum. In diesen beginnt man vielleicht bei den Primaten, dann hat man die Huftiere in einem Raum, dann die Greifvögel usw. Oder man hat das Naturkundemuseum an einer Zeitachse entwickelt: Da fängt man dann eben im Kambrium an und kommt dann irgendwann mal beim Menschen raus. Das Vorher und Nachher entspricht dem, was man von einer Erzählung erwartet. Das alles gibt es bei unserem Museum nicht. Wir erzählen, ohne auf einer Zeitachse aufzubauen. Die von uns dargestellten Verwandtschaftsbeziehungen sind ungerichtet und nicht auf eine Zeit projiziert. Und Lebensräume werden wir nur dann darstellen, wenn wir sie zum Beschreiben eines Teilbegriffs der Evolution brauchen. Ich möchte konkreter werden: Die Evolution, dieser Begriff lässt sich in einige Abläufe zerlegen und es gibt in diesem Zusammenhang wichtige Begriffe, wie Sie sie bereits in Ihrer Frage aus dem Konzept zitiert haben. Wenn man ganz von vorne anfängt, ist es so, dass jede Art, jedes Lebewesen eine Überproduktion hat. Würde es keine Krankheit geben, keine Beutegreifer usw., dann würde sich jedes Tier und jede Pflanze mehr oder minder exponentiell vermehren. Das ist der erste Schritt und das erste Raumkonzept. Im folgenden Raum geht es darum zu verstehen, dass es innerhalb einer Art eine Variation gibt, dass wir nicht alle gleich sind. Beispielsweise sind der asiatische Marienkäfer oder die Schnirkelschnecke untereinander sehr unterschiedlich, gehören aber jeweils alle zu einer Art. Im nächsten Bereich geht es um die Selektion durch Beutegreifer, Krankheiten usw. Diese führt dazu, dass der „Schlechtest-Angepasste“ längerfristig keine oder weniger Nachkommen hat. Ein Spezialfall ist die sexuelle Selektion: Es spielt eine Rolle, welcher Partner mehr investiert und welcher weniger, wie dann ausgewählt und auf welche Auswahlkriterien gesetzt wird. Diese Selektionsereignisse führen dann über eine lange Zeitachse hinweg zur Evolution. Und da hat man den Begriff Evolution eigentlich schon fast gefasst. Der Rest sind Feinheiten, Aussterbeereignisse oder die Frage, was eine Art ist, wie Koevolution funktioniert, was eine Radiation ist, bis hin zum Ergebnis der Evolution, der Biodiversität. Biodiversität ist dabei nichts Neues. In manchen Bereichen, wie zum Beispiel bei Mollusken, gab es schon eine sehr hohe Biodiversität in der Zeit des Juras. Das führt zu den dahinterliegenden Mechanismen, das ist nämlich die Genetik. Damit sind wir bei den Haustieren angekommen, und dabei, wie der Mensch Einfluss auf Evolutionsereignisse nimmt, durch gerichtete Selektion, Tierzucht usw. Das ist im Großen und Ganzen die Geschichte, die wir erzählen wollen. Evolution – so zeigt Ihr Bericht zum Rundgang – scheint über Text vermittelbar zu sein. Objekte werden das Gesagte veranschaulichen. Im Konzept wird betont, dass die Ausstellung nicht nur die Augen ansprechen wird, sondern alle Sinne. Könnten Sie das an Beispielen konkretisieren? Ja, gehen wir vielleicht noch einmal zurück zum ersten Raum, in dem es um das exponentielle Wachstum von Lebewesen geht, die nicht irgendwie durch Selektionsereignisse
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limitiert werden. Stellen sie sich ein Amselpärchen vor, das im Schnitt zehn bis fünfzehn Nachkommen pro Jahr hat. Schon die Zahl der Enkel ist enorm, und innerhalb weniger Generationen haben wir Tausende Amseln, die alle auf ein Amselpärchen zurückgehen. Eben das wollen wir zeigen und hörbar machen: Das erste Pärchen in seinem Nest mit den Eiern, noch alleine singend. Im nächsten Schritt haben wir bereits fünfzehn singende Pärchen. Schon in der nächsten Stufe haben wir eine Wand voll mit Amselpräparaten und ein Getöse von ganz verschiedenen Gesängen. Für so einen Raum braucht man als Besucher zwei Minuten, um zu verstehen, worum es geht. Man geht rein und man sieht und hört: Aha, hier gibt es ein Wachstum von Generation zu Generation. Und in kurzer Zeit hat man verstanden: Gäbe es keine Selektionsereignisse, hätten wir eine Welt voller Amseln. Dieser Raum ist somit in zwei Ebenen erschließbar – akustisch und optisch, und die Inhalte sind also auch für Menschen mit Einschränkungen des einen oder anderen Sinns wahrnehmbar. Ein zweiter Raum, den ich vielleicht beschreiben kann, ist einer, in dem es um die Zufälligkeit von Evolution gehen wird. Diese Zufälligkeit soll in einer Gegenüberstellung von unseren GeiseltalFossilien mit einem heutigen Lebensraum erfolgen, der in Bezug auf die Pflanzen und die klimatischen Bedingungen sehr, sehr ähnlich ist zu dem, was damals im Geiseltal vor fünfzig Millionen Jahren an Gegebenheiten geherrscht hat. In dieser Gegenüberstellung soll sichtbar werden, dass es im Geiseltal eine enorme Biodiversität gab. Zum Beispiel lassen sich auf kleinstem Raum sechs verschiedene krokodilartige Tiere nachweisen, von welchen sicherlich drei bis vier verschiedene Arten zeitgleich an einem Ort vorgekommen sind. Dies bedeutet, dass sie sich unterschiedliche Nahrungsressourcen erschlossen haben mussten. Heute gibt es zum Vergleich in so einem Biotop nur eine Art an Krokodilen. Es gab im Geiseltal auch große Laufvögel, die wir heute gar nicht mehr finden. In der Gegenüberstellung würden wir dieses Fehlen als eine blanke Stelle umsetzen. Anstatt der großen Laufvögel finden wir heute übrigens sehr viele Singvögel, die gab es damals im Eozän überhaupt nicht. Und dann gab es Arten wie die Prachtkäfer, die sahen damals aus wie heute: Fünfzig Millionen Jahre sind vergangen, ohne Veränderung. Ich sehe diese Gegenüberstellung auch ein bisschen als Gegenpunkt zum Kreationismus, wo alles vorgegeben ist. Wir wollen veranschaulichen, dass die Evolution ungerichtet, nicht vorhersehbar, reiner Zufall ist. Und wie konkret würde dieser Bereich jetzt umgesetzt werden, in einer Mischung aus originalen Fundgegenständen und gestalterischen Elementen? Also ausstellungstechnisch würde ich es in diesem Fall sehr, sehr schlicht halten, damit wirklich diese einmaligen Objekte des Geiseltalmuseums wirken, die in einem extrem guten Erhaltungszustand sind. Es ist unser Vorteil, dass man zum Beispiel einen Krokodil-Schädel zeigen kann und jeder weiß, es ist ein Krokodil. Da braucht es nicht viel Text, um die Arten zu erkennen, zu denen es natürlich für die Interessierten schon Informationen geben wird. Aber zunächst ist es optisch möglich, einfach zuzuordnen
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und diese Zufälligkeit zu verstehen. Und was es nur auf der einen Seite gibt, kann man einfach mit weißem Umriss auf der anderen Seite andeuten. Wenn man sich das Konzept zur neuen Dauerausstellung durchliest, hat man den Eindruck, dass Zusammenhänge mit unterschiedlichen Mitteln sichtbar und verständlich gemacht werden. Nun kennt man vom klassischen naturkundlichen Museum zum einen die wenig besucherorientierte, puristische Sammlungspräsentation in Reih und Glied, die mit wenigen Textbeigaben auskommt. Zum anderen hat das szenische Präsentieren in Dioramen eine lange Tradition und damit das Verbinden von Objekten und gestalterischen Elementen zu geschlossenen Ensembles und Environments. Nun werden Sie natürlich so weit als möglich Objekte und besondere Objekte der Sammlung zeigen. Zum anderen wollen Sie akustisches Material oder Gerüche integrieren. Sind das auch Objekte, die es vielleicht sogar schon in der Sammlung der Universität gibt? Welchen Status haben diese Bedeutungsträger, sind sie auch Objekte, sind sie Gestaltungselemente oder ist vielleicht eine Unterscheidung zwischen beidem gar nicht so wichtig? Letzteres. Ich würde da gar nicht unterscheiden. Es ist wie in anderen Naturmuseen so, dass die Exemplare, die in der Ausstellung gezeigt werden, wissenschaftlich nicht mehr oder weniger bedeutend sind als die, die in der Sammlung bleiben. Und so würde ich das auch bei den akustischen Aufnahmen sehen wollen. Wir wollen jetzt zum Beispiel im Hinblick auf die Ausstellung eine neue Sammlung von Lauten von Haustieren aufbauen. Weil es die so nicht gibt, hat das auch einen wissenschaftlichen Wert. Wie wir dieses Material später wissenschaftlich auswerten, welche Fragen wir entwickeln werden, wird sich zeigen. Aber man wird sicherlich Vergleiche anstellen können, wie das heute beispielsweise bei Hund und Wolf möglich ist, wo sich in der Kommunikation im Laufe von 12 000 bis 10 000 Jahren sehr viel getan hat. Man kann sagen, dass Sie Ihre Ausstellung aus den Fragestellungen entwickeln, die sich ändern können und nicht durch eine Sammlung erzwungen oder nahegelegt werden. Ausstellungen spiegeln Fragestellungen der Gegenwart wider und halten sich nicht sklavisch an das, was die Sammlung vorgibt? Ja, aber auch die Sammlungen sind nicht statisch. Sie werden weiterentwickelt, es gibt Adaptionen je nach Forschungsinteressen und akuten Forschungsfragestellungen. Gleichzeitig ergibt sich eine Sammlungsentwicklung auch aus der Geschichte der Sammlung und man wird zum Beispiel zu gewissen Tiergruppen auch weiter sammeln, selbst wenn wir im Moment die Fragestellungen für die Zukunft nicht sehen oder die Methodik für bestimmte Fragestellungen noch nicht entwickelt haben. Für unsere Ausstellung werden wir, wo Bedarf besteht, auch Präparate herstellen lassen, die wiederum für die Forschung sowie die öffentliche Präsentation von Bedeutung sind.
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Das bedeutet, auch für eine Auseinandersetzung mit aktuellen Fragestellungen eignen sich die Bestände der Sammlung bzw. können Objekte einfach hergestellt werden. Nun ist es so, dass Forschung heute auch abstrakt und unsichtbar geworden ist und es für den Laien mitunter schwierig ist, Sachverhalte überhaupt zu verstehen oder nachzuvollziehen. Für die Museen folgt daraus die Notwendigkeit, Dinge oder Prozesse in irgendeiner Weise sichtbar machen zu müssen. Im Konzept wird erwähnt, dass dafür auch mit Künstlern zusammengearbeitet werden soll. Künstlerinnen und Künstler scheinen sich im Moment die Museen zurückzuerobern. Mich würde interessieren, wie sie sich eine gewinnbringende Zusammenarbeit zwischen Künstlern und Wissenschaftern im Museum vorstellen. Ist ihr geplantes Sonderausstellungsprojekt Cicadas da vielleicht wegweisend? In unserem Fall würde ich nicht sagen, dass die Künstler das Naturkundemuseum zurückerobern oder erobern, sondern es ist eher umgekehrt. Wir haben als Wissenschaftler erkannt, dass wir gerade bei der Erklärung schwieriger Inhalte, wie eben zum Beispiel der Evolution, an einen Punkt kommen, da die Vermittlung des Inhalts mit Präparaten oder Tonaufnahmen zwar möglich ist, aber enorm viel Zeit und Vorwissen auf Seiten der Besucher voraussetzen würde. Nehmen wir zum Beispiel Einnischungsprozesse: Diese sind in der Natur dann gegeben, wenn die Rahmenbedingungen für ein Lebewesen gewisse Restriktionen bringen und das Tier in den Restriktionen agieren muss. Beispiel Singzikaden: Sie können einen gewissen Ton erzeugen, der – im Rahmen der Anatomie des Tieres – sehr flexibel ist. Die erste Rahmenbedingung ist also der Körper des Tieres, die nächste wäre zum Beispiel, dass sich Individuen der gleichen Art erkennen müssen. Eine weitere Rahmenbedingung, im Englischen als „constraints“ bezeichnet, kommt hinzu, sobald eine weitere, ähnliche Art die Kommunikation der ersten Art stört, da diese z. B. in ähnlichen Frequenzen singt. Schon diese wenigen Rahmenbedingungen mit echten Zikadengesängen zu zeigen, würde ein enormes Einhörvermögen der Besucher voraussetzen. Abgesehen davon, dass man manche Situationen eigentlich gar nicht nachstellen kann. Also sind wir an einen international bekannten Klangkünstler aus Argentinien herangetreten, der uns den Klangapparat der Singzikaden in mechanische Einheiten umbaut. Er schafft quasi Kunstzikaden, die genau dieses Kommunikationssystem durchspielen. Wir werden mit den Kunstzikaden zeigen, wie sie sich einnischen in der Frequenz zwischen zwei Arten, sodass sie sich nicht überlappen mit den anderen Arten, die, wenn der Besucher zu nah herantritt, dann auch aufhören zu singen, wie in der Natur beim Auftauchen von Fressfeinden. Das gibt dann wiederum die Chance für die andere Art, lauter und wieder in der vollen Frequenz zu singen, weil die eine ausgefallen ist usw. Mit dieser Interaktionen wollen wir den Besucher sensibilisieren, dass neben anatomischen Rahmenbedingungen, die die Kunstzikaden genauso haben wie echte Zikaden, das Wirken anderer Arten und von Fressfeinden, hier der Ausstellungsbesucher, eine Einnischung des eigenen Gesangs notwendig macht. Spannend wird dies dann aber, wenn es keine anderen Rahmenbedingungen
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mehr gäbe. Welche Komposition würden die Zikaden dann zustandebringen? Diese Installation zeigt genau, wie so ein Lebewesen über Evolution und Selektion hinweg, aber auch als Individuum agieren muss, um eine Kommunikation zwischen den Geschlechtern zu schaffen. Dass dies mit Künstlern einfacher umzusetzen ist als mit einer Kopie aus der Natur, die sehr komplex und kompliziert ist, sagt schon das Wort „Kunst“: Eine vereinfachte Kunstwelt erleichtert den Zugang besser als wilde, ungezähmte Natur. Wir können auch ein weiteres Beispiel nehmen: Jemand, der im Urwald steht, fasst diesen Urwald mit seiner ganzen Fülle schlechter auf, als wenn jemand einer Zeichnung gegenübersteht, in der dieser Urwald schon reduziert und auf wenige Pflanzen aufgeschlüsselt ist. Wird nun diese Zeichnung in ein Ölbild
Entwurfskizze Ausstellungsraum zum exponentiellen Wachstum bei Lebewesen. Handskizze (Kugelschreiber und Bleistift auf Papier), Frank Steinheimer, 2011
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umgesetzt und aus den wenigen Pflanzen wird nur noch diese eine Orchidee herausgearbeitet, dann ist es für den Menschen wahrscheinlich wesentlich einfacher den Sachverhalt zu verstehen, wenn es um die Art dieser Orchidee geht, als wenn er selbst im Urwald direkt vor dieser ganzen grünen Wand stände. Künstler sind Profis der Abstraktion. Da können wir Wissenschaftler gar nicht mithalten. Es geht also um die Vermittlungskompetenz, die Sie der Kunst bzw. dem Künstler zuschreiben? Wissenschaftler oder Fachdidaktiker arbeiten eher mit Modellen und Schemata. Künstler schaffen aber etwas Neues, das oft wesentlich einprägsamer ist als ein Modell, das man schon x-mal in irgendwelchen Museen gesehen hat. Gerade Klänge sprechen uns emotional an. Sie werden viel tiefer im Gedächtnis der Besucher verankert, als Gelesenes oder Gesehenes. Ein künstlerisch umgesetzter Ausstellungsinhalt erfüllt also bei gewissen Themen den Bildungsauftrag nicht weniger. Ist diese Offenheit gegenüber neuen Medien und der Kunst generationenbedingt oder einfach eine individuelle Sache? Also ich würde sagen, es ist nichts Neues. Denken Sie an das Naturalienkabinett der Franckeschen Stiftungen, da wurde das ganze Ambiente den Objekten angepasst. Es wurde mit einem Raumgestalter zusammengearbeitet, es gab einen Maler, alle haben einen Beitrag zu einem Gesamtkunstwerk geleistet. Im 19. Jahrhundert hat man beispielsweise im Wiener Naturhistorischen Museum die Mineralien in Räumen mit entsprechenden Wandbildern zu Minen und Höhlen ausgestellt. Die Geschichte wurde auch damals schon von Wissenschaftlern und Künstlern erzählt. Und es waren nicht die Mineralogen, die über die Zierelemente an den Vitrinen entschieden haben. Von daher würde ich mich bzw. unsere Ideen zur Umsetzung der Ausstellungsinhalte in der Tradition der Naturpräsentationen sehen. Wir wollen aber, abgesehen von künstlerischen Projekten, insgesamt auf einen Wechsel der Medien achten, das ist etwas, was in den Naturkundemuseen viel zu wenig verfolgt wird. Wir zeigen nicht nur Flachware, wie ein Bildermuseum. Der Vorzug der Naturkunde ist, dass wir in drei Dimensionen arbeiten, und auch andere Sinne neben der Optik ansprechen können. Akustik und Geruchssinn wurden schon genannt. Man kann im Naturmuseum aber auch einmal etwas anfassen, was ein Erlebnis plus wissenschaftlichen Aussagewert bringen kann. Zum Beispiel werden wir in der Ausstellung die Züchtung auf Wolle thematisieren. Da nützt es nichts, wenn ich das nur sehe, das muss ich begreifen können, um qualitativ gute von schlechter Wolle zu unterscheiden. Mich würde am Ende noch interessieren, wie Sie sich das Verhältnis zwischen Dauerausstellung und Sonderausstellungen vorstellen?
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Was die zur Verfügung stehenden Flächen für Sonderausstellungen angeht, sind wir an das gebunden, was das historische Gebäude erlaubt. Inhaltlich sehe ich die Sonderausstellungen als Ergänzung zur Dauerausstellung. In den temporären Ausstellungen soll aufgenommen und vertieft werden, was das Publikum besonders interessiert. In diesen soll ganz aktuell und schnell auf auftauchende Themen reagiert werden können. In ihnen können wir aus Forschungsprojekten, wie zur Ökologie der Honigbiene oder Molekulargenetik berichten. In Sonderausstellungen wird aber auch Halle als Spitzenreiter der Fotovoltaik oder die Spitzenforschung der Universität an Plasmakristallen gezeigt werden. Der Bezug zu Halle und zur Gegenwart soll auch eine Identifikationsmöglichkeit der lokalen Bevölkerung und der Studierenden mit ihrer Stadt und ihrer Universität befördern. Die Sonderausstellungen als sichtbares Zeichen einer Spitzenuniversität. Ich danke Ihnen für das Gespräch!
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Het Dolhuys Haarlem, Ausstellungsansicht © Het Dolhuys, Haarlem
„… primär setzen wir darauf, Erfahrungen im Geist unserer Besucher auszulösen.“ Floris Mulder, Chefkurator des Het Dolhuys, Haarlem, im Gespräch mit Jennifer Carvill
Das Het-Dolhuys-Psychiatrie-Museum in der holländischen Stadt Haarlem entstand 2005 aus einer Initiative lokaler psychiatrischer Versorgungseinrichtungen heraus. Die Dauerausstellung verbindet historische Objekte mit gegenwärtigen Problem- und Fragestellungen zum Thema, ist stark personalisiert und inszeniert.
Floris Mulder, das Het Dolhuys wurde 2005 eröffnet. Was steht hinter dieser Initiative, ein Museum der Psychiatrie in Haarlem zu gründen? Die Initiative, ein Museum zu entwickeln, wurde von einigen psychiatrischen Kliniken in dieser Gegend angestoßen. Es gab viele davon hier in den Dünen und Wäldern, man folgte dem alten Konzept, das vorsah, Menschen mit Geisteskrankheiten in eine gesunde Umgebung zu versetzen. Wie Sie vielleicht wissen, hat sich die psychiatrische Gesundheitsvorsorge vor ungefähr 25 Jahren signifikant verändert: Die Patienten gingen zurück in die Städte und gliederten sich in die Nachbarschaften ein, die medizinische Versorgung folgte ihnen. Riesige psychiatrische Institutionen standen plötzlich leer, und sie alle verfügten über historische Sammlungen. Die Leiter der Krankenhäuser entschieden, alle diese Sammlungen zu vereinen und ein neues Museum zu gründen. Unser heutiges Museumsgebäude verlor seine Funktion ebenfalls in dieser Zeit. Im Mittelalter diente es als Leprakolonie und hatte bis 1980 alle möglichen Funktionen, darunter auch jene einer psychiatrischen Anstalt. Die Initiative, hier ein Museum aufzubauen, kam also aus dem psychiatrischen Sektor, der die Entwicklung des Museums auch finanziell unterstützte.
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Wie entwickelte sich – vor dem Hintergrund des besonderen Themas und der Gründungsgeschichte des Hauses – die Identität des Het Dolhuys als Museum und wie lässt sich seine Zielsetzung beschreiben? Unser Hauptanliegen ist es, eine Plattform für Leute zu bieten, die einander begegnen und hier Erfahrungen und Gedanken austauschen können. Der Ausstellungsbereich, die Dauerausstellung, ist ein Teil des Museums, aber wir haben auch Wechselausstellungen und ein umfangreiches Programm mit verschiedenen Aktivitäten, darunter Filmabende, Bildungsangebote und Diskussionen. Unsere Organisation wird von vielen, zwischen 80 und 100 Freiwilligen getragen, die häufig einen beruflichen Hintergrund im Bereich der psychiatrischen Pflege haben oder früher im Gesundheitswesen beschäftigt waren. Und was die Zielsetzung angeht: Wir haben heute eine klare Vorstellung vom Ziel des Museums. Zu Beginn hatten wir historische Sammlungen, die auf die „alten Zeiten“ verwiesen. Die Motivation aber war groß, die Geschichte der Psychiatrie einschließlich ihrer Gegenwart zu zeigen. Da kam ich ins Spiel. Als Kurator wurde es zu meiner Aufgabe, eine Möglichkeit zu finden, all die historischen Objekte zu präsentieren und gleichzeitig eine Nähe zu gegenwärtigen Problem- und Fragestellungen zu schaffen. Das Museum und die Dauerausstellung sollten Diskussionen über die Vorstellungen der Menschen bezüglich psychischer Erkrankungen anregen, über eigene Bilder, Ideen und Vorurteile. Es geht im Het Dolhuys darum, negative Stereotype und Stigmatisierung zu thematisieren und sie zu widerlegen. Aus dieser Zielsetzung heraus haben wir uns entschieden, die Geschichte all der angesammelten Objekte aus einer Perspektive der Stigmatisierung und Entstigmatisierung zu zeigen. Um es anders zu sagen: Wenn man will, dass die Leute ihre Bilder und Vorstellungen von sogenannten „Verrückten“ ändern, geht das am besten, wenn sie diese „Verrückten“ treffen und mit ihnen sprechen. Auf diese Art lernen sie, was in ihnen vorgeht, und das ist wahrscheinlich der beste Weg, gegen die Stigmatisierung anzugehen. In der Praxis ist es natürlich sehr schwierig, die ganze Zeit psychiatrische Patienten für Besuchergespräche hier vor Ort zu haben, und so mussten wir einen anderen Weg finden, um den Besuchern deren Geschichten zu präsentieren. Bevor wir zu den konkreten Inhalten und ihrer Umsetzung in den Ausstellungsräumen kommen, möchte ich Ort und Gebäude ansprechen. Welchen Anteil an der Mission und Erzählung haben Gebäude und Anlage? Das Gebäude war ein Geschenk. Sogar als es leer stand, brauchte es nicht viel, es herrscht eine starke Atmosphäre im Gebäude aufgrund der Geschichte, das war auch ein weiterer Diskussionspunkt mit den Designern. Wir wollten nicht zu präsent sein und das Gebäude überfrachten. Eher sollte das Gebäude die Geschichte so gut wie möglich mit erzählen. Das Gebäude ist vielleicht das wichtigste Ausstellungsstück der Sammlung.
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Man hat tatsächlich den Eindruck einer musealen Situation, die über die einzelnen Ausstellungsräume hinausreicht – eines stimmigen Gesamten. Ja, es war uns wichtig, ein Gesamtkonzept zu haben, das in allen Details durch die Ausstellung selbst hindurch realisiert wird, aber auch am Besucherschalter, beim Eingang und an anderen Orten. Es versucht eine visuelle Sprache zu finden, die überall ist. Eine konsequente Sprache. Worum geht es nun konkret im Museum, welche Themenaspekte werden in der Dauerausstellung aufgegriffen? Zum einen wird ja beschrieben, dass Psychiatrie ein aktuelles Thema ist, weil eine von fünf Personen in den Niederlanden ein psychisches Problem hat. Depressionen, Burn-out und Alzheimer sind hierzulande ebenso präsent wie in anderen europäischen Staaten, und Personen mit psychischen Problemen sind sichtbar, seit die psychiatrische Gesundheitsvorsorge aus dem Tabubereich getreten ist. Zum anderen haben Sie von der Übernahme von Sammlungen aus den psychiatrischen Kliniken der Umgebung gesprochen, was eher für eine Kompetenz im Bereich gravierender psychischer Erkrankungen spricht. Sie befassen sich in der Ausstellung nun mit der Diagnose und Behandlung psychischer Krankheiten, mit ihren Folgen für die Betroffenen, den Grenzen zwischen „normal“ und „verrückt“ etc. Wie ist es angesichts der thematischen Breite gelungen, einen Mittelweg, die Balance zu finden? Dies könnte, denke ich, noch verbessert werden. Die momentane Präsentation besteht tatsächlich aus den für uns verfügbaren Objekten aus Anstalten, die traditionellerweise für „Hardcore“-Psychiatrie eingerichtet waren. Ein großer Teil des Graubereichs wird in der Sammlung nicht behandelt. Es ist uns aber gerade wichtig zu zeigen, dass die Grenze zwischen „normal“ oder „abnormal“ nicht eindeutig ist und sich im Laufe der Geschichte immer wieder verschoben hat. Die mehrdeutigen Formen der eigenen „Seltsamkeit“ und alltägliche Merkwürdigkeiten brauchen damit einen Platz in der Ausstellung. Das ist etwas, das wir in der gegenwärtigen Präsentation noch nicht herausgearbeitet haben, wir würden aber gerne auf dieser Idee aufbauen. Was sehr wohl seinen Platz hat, sind Störungen wie Ängste zum Beispiel, Autismus, Drogen und Alkohol und andere verwandte Probleme: Wir haben eine Art Labor eingerichtet, und die Besucher können in einer eher spielerischen Präsentation ihr eigenes Gehirn testen und werden gleichzeitig für ein ernsthaftes Thema sensibilisiert. Kommen wir zur konzeptionellen und gestalterischen Umsetzung der Inhalte. Wie im bisherigen Gespräch bereits deutlich geworden ist, hatten Sie es mit der Umsetzung einer Sammlung schwer fassbarer Inhalte zu tun. Es war Ihr Ziel, gegenwartsnah und damit anschlussfähig für das Publikum zu sein, es ging auch darum, die individuelle Dimension, die Menschen hinter der Medizingeschichte sichtbar zu machen. Die einzelnen Ausstellungsräume sind der Beantwortung von Fragen gewidmet, so zum
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Beispiel: „Warum finden wir jemanden normal oder abnormal?“, „Was heißt es für jemanden, die Herrschaft über sich selbst zu verlieren?“, „Was ist Wahnsinn und was kann man dagegen tun?“ Um diese Fragen zu beantworten, bedient sich die Ausstellung teils raumgreifender Inszenierungen, die Gestaltung visualisiert Inhalte mittels künstlerischer Installationen und setzt stark auf immaterielle Medien wie Farben, Töne und Licht. Wie ist es dazu gekommen? Wir haben viel diskutiert, um einen Weg zu finden, Geschichten zu präsentieren. Das war nichts, was über Nacht passierte. Wir führten Diskussionen darüber, ob es für unsere Besucher möglich sein würde, mit den Augen eines psychisch Kranken zu sehen, einen Blick in seinen Verstand zu werfen. Das haben wir intensiv erörtert und am Ende entschieden wir uns für die Form, die wir ausgesucht haben: primär darauf zu setzen, Erfahrungen im Geist unserer Besucher auszulösen. Information und Interpretation kommen erst an zweiter Stelle. Eine wichtige Strategie scheint die Personalisierung von Inhalten zu sein, also die Bindung von Sachverhalten an reale oder fiktive Personen, um die Rezeption, das Nachvollziehen von Befindlichkeiten, Ereignissen und Entwicklungen zu erleichtern, sie verständlich und dem Laien zugänglich zu machen. Unsere Sammlungen bestehen größtenteils aus handfesten Objekten. Wir wollen aber die Geschichten hinter diesen Objekten zeigen, und diese sind in den Sammlungen nur bedingt greifbar. Trotzdem bietet die Ausstellung persönliche Geschichten auf allen unterschiedlichen Ausstellungsebenen an. Wir arbeiteten dafür eng mit einer Patientenvereinigung zusammen, die über ein Netzwerk an Patienten verfügt, die es gewöhnt sind, über ihre Erfahrungen zu sprechen und als Fürsprecher in Schulklassen auftreten – Menschen also, die es gewohnt sind, ihre persönliche Geschichte zu erzählen. Einige erlaubten uns, ihre Erfahrungen in die Ausstellung zu integrieren. Sie wurden interviewt, und danach schnitt der Regisseur in unserem Team die Interviews und gab den erzählten Geschichten mehr Struktur und Aufbau. Der Vorteil einer Bindung von Inhalten und Botschaften an einzelne Individuen ist sicher die Möglichkeit zur emotionalen Adressierung des Publikums. Eine personalisierte Geschichte spricht eher an, macht eher betroffen als abstrakte Zahlen und Statistiken. Ein schönes Beispiel dafür findet sich bereits am Beginn der Ausstellung. In einem Raum voller Bildschirme begegnen dem Publikum Menschen mit – wie man vermutet – psychischen Erkrankungen, die das Publikum anzusprechen erscheinen. Man ertappt sich dabei, nach Indizien für eine Erkrankung, nach sichtbaren Zeichen des Andersseins zu suchen, und scheitert bei diesem Versuch durchaus. Immer wieder verdunkeln sich dann die Bildschirme kurz und werden zu Spiegeln, in denen man sich selbst entdecken kann.
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Das ist natürlich Absicht! Und viele Menschen finden das sehr beeindruckend. Es sollte eine Art Einführung bieten und eine Denkart vorstellen, die die Frage anregt, was denn der Unterschied zwischen ihnen und der anderen Person ist. Und dabei in Betracht zu ziehen, dass es zwischen einem selbst und der anderen Person vielleicht gar keine so klare Abgrenzung gibt. Die meisten Besucher sind ziemlich bewegt. Wir haben, was die Reaktionen des Publikums betrifft, ein bisschen Forschung betrieben, und es funktioniert ziemlich gut, ist aber vom Hintergrund der Person abhängig. Jemand, der selbst eine psychiatrische Krankengeschichte hat, reagiert natürlich anders als jemand, der darüber gar nichts weiß. Und für einige Patienten, einige Ex-Patienten, ist es ziemlich konfrontierend. Aber es ist für sie auch beruhigend, dass ihre Geschichte im Museum einen solch prominenten Platz einnimmt. Verbunden werden diese vorgestellten Personen bzw. persönlichen Geschichten immer wieder mit immersiven Raumsituationen: Auf der Basis einer verwinkelten und kleinteiligen Architektur schaffen die Gestalter geschlossene Räume, durch den Einsatz von Licht und Farben Stimmungen und Atmosphären, so z. B. in der Dolcel, einer kleinen, dunklen Einzelzelle, in der früher Patienten verwahrt wurden und in der heute eine Frau über ihre erste Nacht in einer Anstalt erzählt. Aufgrund der räumlichen Situation und des einprägsamen persönlichen Erfahrungsberichts kann man sich dem Ausstellungsraum nur schwer entziehen. Die Leute sind von der Dolcel teils überrascht, aufgrund der Enge des Raums und der Dunkelheit auch schockiert. Eigentlich ist oberhalb ein kleines Fenster, das etwas Licht einlassen sollte, aber es hat sich irgendwie geschlossen. Es sollte dämmrig sein. Und ja, eine persönliche Darstellung des eigenen Lebens und der eigenen Gefühle bedarf sicher einer anderen Perspektive als das Vermitteln rationalerer Informationen ü ber Patienten, Diagnosen und anderer psychischer Erkrankungen und ihrer Symptome. Es ist eine andere Ebene und Perspektive, und daher verwenden wir bei der Präsentation der Inhalte unterschiedliche Wege. Ein auffälliges, immer wiederkehrendes inszenatorisches Element sind die kopflosen Puppen. Sie nehmen einen in Empfang, scheinen auf einen Gesprächspartner zu warten, bevölkern Räume. Dabei sind sie Objekt- und Informationsträger oder tragen etwas in sich, wie etwa die weibliche Figur, die mehrere Babys in sich trägt. Genau. Die Dame, die Sie erwähnten – das wurde extra von ihr für die Ausstellung gemacht. Unser Designer sah eine Installation von Edward Kienholz im Stedelijk Museum in Amsterdam, eine Bar mit Schaufensterpuppen ohne Köpfe, und das hat ihn inspiriert. Die Puppen sind auch eine Möglichkeit auf visuelle Art zu suggerieren, dass man in die Köpfe jener, deren Geschichten man erzählen möchte, hineinschaut.
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Schön fand ich, dass man eingeladen wird, sich zu den Puppen zu setzen, einen Kopfhörer zu nehmen und die Geschichte eines Menschen zu hören. So entstehen scheinbar intime Gesprächssituationen. Ein wichtiges vermittelndes Medium ist dabei der Ton. Er kommt im Zusammenhang mit den Puppen zum Einsatz, wird aber auch in vielen anderen Situationen genutzt, so beispielsweise mit den Wäscheschränken gekoppelt, die als Vitrinen dienen und gemeinsam mit Objekten Geschichten preisgeben, wenn man sie öffnet. Alle Objekte beziehen sich auf persönliche Geschichten. Nehmen wir – um bei den Wäscheschränken zu bleiben – beispielsweise die Geschichte von Peter, der eine bipolare Störung hat und an einem Punkt von einer Reise durch Indien erzählt, wo ihm jemand eine Rupie mit dem Kopf von Gandhi gab und er sich dachte: „Wow, Gandhi, das bin ich.“ Wir haben Geldscheine mit Abbildungen von Gandhi, um diese Verbindung zu zeigen und die Geschichte greifbar zu machen. Natürlich sind es gewöhnliche Objekte, aber sie beziehen sich auf die Geschichte. Und mit den zu öffnenden Schränken als Träger der Geschichte sind wir wieder bei dem Gebäude. Wir wollten es so verwenden, wie es war, und die Schränke waren schon dort. Dauerausstellung bedeutet ja häufig, als Team lange auf eine Präsentation hinzuarbeiten, die dann über viele Jahre lang unverändert erhalten bleibt. Gibt es – auch vor dem Hintergrund des starken Bezugs zur Gegenwart, den die Ausstellung im Het Dolhuys hat – Pläne, die Ausstellung zu erweitern oder zu ergänzen? Gibt es die Notwendigkeit, z. B. durch das Hinzukommen immer neuer Materialien und Geschichten, die Besucher dem Museum nach ihrem Ausstellungs-Besuch anbieten? Unsere Ausstellung ist eine Dauerausstellung, und auch wieder nicht. Wir gewinnen Einsichten, wir wachsen als Museum und unsere Mission entwickelt sich, also versuchen wir dynamisch zu sein. Ursprünglich sollte sie ungefähr fünf Jahre dauern, das haben wir jetzt ein wenig überschritten. Wir werden wahrscheinlich Teile verändern, vielleicht auch alles, und mehr Raum für wechselnde, dynamische Präsentationen schaffen. Die Erweiterung unserer Sammlung durch „Oral History“-Dokumente diskutieren wir gerade. Wir wollen persönliche Geschichten und Erfahrungen als Teil der Sammlung gewinnen, aber wir müssen das noch vorbereiten. Das ist sicher etwas, was wir in näherer Zukunft gerne machen würden. Ich möchte am Ende noch die Vermittlungsaktivitäten des Museums ansprechen. Man darf annehmen, dass ein sensibles Thema wie die Geschichte psychiatrischer Erkrankungen mit all seinen sozialen, kultur- und wissenschaftshistorischen Aspekten ein differenziertes Vermittlungs-Angebot für die unterschiedlichen Besucher-Gruppen nahelegt. Im „Patientenzimmer“ habe ich beispielsweise einen Korb voller Klemmbretter für Schulklassen gesehen. Was hat es damit auf sich?
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Vor zwei Jahren beschlossen wir, einen speziellen Bereich für Schulkinder und Jugendliche zwischen 13 und 18 Jahren zu errichten. Inhaltlich geht es in diesem Bereich darum zu thematisieren, was im menschlichen Gehirn und in den Gehirnen der Jugendlichen passiert. Wir alle haben verschiedene Gehirne und keines ist besser als das andere. Wir sind alle verschieden, und daher funktionieren unsere Gehirne auch unterschiedlich. Das betrifft nicht nur Menschen, die autistisch sind oder ADHS haben – dies bewusst zu machen, war unser Anliegen. Die Ausstellung wird von den Schulen angenommen, wird im Rahmen des Biologie-, oder auch des Staatsbürgerschaftskunde-Unterrichts besucht und korrespondiert durchaus mit dem holländischen Lehrplan. Zudem haben wir unterschiedliche Programme für Studenten in Berufsausbildung oder Krankenpfleger entwickelt. Unser spezieller Fokus liegt zurzeit auf den höheren Schulen. Ich danke Ihnen für das Gespräch! (Übersetzt aus dem Englischen)
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Imperial War Museum North Manchester, Ausstellungsansicht Hauptausstellungsraum, © IWM
„… unsere Rolle ist es, zu zeigen, wie der Krieg Leben prägt.“ Laura Whalley, Ausstellungsmanagerin im Imperial War Museum North, Manchester, im Gespräch mit Jennifer Carvill
Das Imperial War Museum North in Trafford, Greater Manchester, ist in einem Gebäude des Architekten Daniel Libeskind untergebracht und wurde 2002 im Zuge der Sanierung des Stadtteils The Quays eröffnet. Das Museum ist Teil der Imperial War Museum Organisation, deren fünf Zweigstellen – mit Ausnahme des Imperial War Museum North – allesamt im Süden Englands liegen. Die Dauerausstellung ist auf 3500 Quadratmetern zu sehen. Ihre Besonderheit ist die stündliche „Big Picture Show“, eine immersive audiovisuelle Intervention, die Themen eingehender behandelt und es dem Museum erlaubt, seine umfangreiche Oral-History- und Fotosammlung zu präsentieren.
Laura Whalley, das Imperial War Museum wurde 1917 gegründet, das Imperial War Museum North 2002 eröffnet. Warum entschied man sich in dieser Zeit dafür, eine weitere Zweigstelle außerhalb Londons zu eröffnen und wie wurde Trafford als neuer Museumsstandort ausgewählt? Das Imperial War Museum wurde gegen Ende des Ersten Weltkriegs mit dem Ziel gegründet, die Erfahrungen der in den Krieg involvierten Menschen zu sammeln und zu dokumentieren. Der Aufgabenbereich wurde im Verlauf des 20. Jahrhunderts erweitert, mit Fokus auf die jeweilige britische Beteiligung bzw. die Beteiligung des ehemaligen Britischen Weltreichs und Commonwealth an den verschiedenen Kriegen und Konflikten. Das Imperial War Museum hat eine lange Geschichte, und diese Zweigstelle ist die jüngste von fünf. In Trafford wollten die Kuratoren des einzigen nationalen Museums für die Sozialgeschichte des Krieges auch das Publikum im Norden ansprechen. Die Standortentscheidung für Manchester ergab sich dabei aus einem Prozess mit den örtlichen Behörden, die Wahl von Trafford
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aus dem praktischen Umstand, dass hier 15,5 Millionen Menschen innerhalb von zwei Fahrstunden leben, es ein gutes Autobahnnetz und eine lokale TransportInfrastruktur gibt. Einer der Schlüsselfaktoren war schließlich die örtliche Nähe zu The Lowry, einer Kombination aus Kunstgalerie und Zentrum für darstellende Künste, das bereits im Jahr 2000 eröffnet wurde. Die Etablierung von gleich zwei kulturellen Zentren machte die Stadt zu einer attraktiven Destination – mit positiven Folgewirkungen, so zum Beispiel die Entwicklung von Media City, die einige von London hier heraufziehende BBC-Abteilungen beherbergen wird. Ein letzter guter Grund, das Museum hier zu erbauen, war schließlich, dass die Architektur hier experimenteller sein konnte, weil es weniger Planungsbeschränkungen als in bebauterem Gebiet gab. Mit Kriegsmuseum assoziierte man lange Zeit Technik- und Heldengeschichte mit entsprechenden Sammlungen. Wie steht es um die Sammlungen ihres Museums? Das Imperial War Museum lagert den wesentlichen Kern der Sammlung in London und Duxford, wo auch die Kuratoren und Sammlungsmitarbeiter tätig sind. Sowohl unsere Dauer- als auch unsere Wechselausstellungen entstehen aus diesen umfangreichen Beständen: So gibt es eine sehr große Kunstsammlung, die auch Auftragswerke und Arbeiten von Kriegs-Künstlern umfasst. Es gibt eine Abteilung für Dokumente, die man hauptsächlich als persönliche Zeugnisse einstufen kann, also zum Beispiel Tagebücher und Briefe. Beim Tonmaterial handelt es sich weitgehend um Interviews, die unsere Mitarbeiter mit Veteranen und anderen Menschen mit Kriegsoder Konflikterfahrungen geführt haben. Weiters gibt es eine umfassende Bibliothek mit Druck-Erzeugnissen, Zeitungen und Journalen sowie ein Film- und Fotoarchiv. Nicht zuletzt haben wir auch dreidimensionale Exponate. Wir arbeiten in jedem Ausstellungsprojekt eng mit dem Sammlungspersonal in London zusammen, wo Historiker des Imperial War Museum North, begleitet von einem Recherchierenden für jede Ausstellung, die Projekte für diese Zweigstelle betreuen. Nun ist Krieg ein schwer fassbares und darstellbares Thema, es legt keine sinnvolle Narration nahe. Das führt zur kuratorischen Herausforderung, das Thema erst entwickeln und mit den passenden Objekten und Medien umsetzen zu müssen. Die Dauerausstellung des Imperial War Museum North ist ein durchaus beeindruckender Umsetzungsversuch. Schon architektonisch ist er besonders, mit einem unregelmäßig geformten Raum und geneigtem Boden. Die Architektur ist vielleicht bereits das erste Objekt der Ausstellung. Können Sie ein wenig beschreiben, wie die Dauerausstellung insgesamt, inhaltlich und konzeptionell, angelegt ist? Unsere Dauerausstellung ist im Hauptausstellungsraum untergebracht. Dort gibt es rundherum eine „Timeline“, die die Besucher chronologisch durch militärische Konflikte führt, in die Großbritannien, das Commonwealth oder das frühere
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Königreich seit 1914 involviert waren. Wir bewegen uns durch den Ersten Weltkrieg und die Zwischenkriegsjahre, den Zweiten Weltkrieg und dann hinein in den Kalten Krieg, Konflikte in Nordirland und die Falkland-Inseln etc., bis hin zu aktuellen Konflikten in Afghanistan und im Irak. Die „Timeline“ ist eine gute Methode, um einen Überblick zu bieten, aber der Platz, den sie bietet, reicht nicht aus, um eine vertiefende Geschichte der Konflikte seit 1914 zu geben. Zur „Timeline“ kommen thematische Bereiche, die wir „Silos“ nennen. Sie funktionieren als eigenständige Ausstellungsbereiche und erlauben es, verschiedene Themen detaillierter anzusprechen: Silo 1 heißt „Experience of War“ und könnte, um ehrlich zu sein, einen breiteren Themenbereich abdecken als unsere aktuelle Befassung mit Kriegsgefangenen, Internierten und Evakuierten. Silo 2 befasst sich mit „Women and War“, also den Kriegsanstrengungen und persönlichen Geschichten von Frauen. Silo 3, „Impressions of War“, versucht, sich einiger Mythen und dem Einfluss des Krieges auf zeitgenössische Kultur, seiner Darstellung in Filmen und Musik anzunehmen. In Silo 4 geht es um die Commonwealth-Staaten und ihrer Beteiligung an diversen Konflikten. Wir beziehen uns dort auf Kanada oder Indien und betrachten auch Unabhängigkeitsbewegungen. Silo 5 beschäftigt sich mit der Verbindung von Wissenschaft und Krieg und nimmt sich Themen wie Medizin, Kommunikation oder Technologie an. Silo 6 handelt vom Erbe des Krieges. Er wurde 2008 neu aufgestellt und ist unser neuester Bereich. Mittelpunkt sind hier die Langzeit-Folgen des Krieges, der Wiederaufbau, die Kriegsversehrten, die Friedenssicherung, die Gedenkkultur. Der sechste Silo ist, gemessen am Publikumsinteresse, ein ziemlich erfolgreiches Teilprojekt. Ein weiteres Element der Dauerausstellung sind die sogenannten „Timestacks“, das sind thematische Fächer mit Objekten aus der Studiensammlung. Die Besucher können anhand von Beschreibungen des Themas Fächer auswählen und mithilfe einer Art Jukebox Objekte anwählen und betrachten. Zwei Mal am Tag ermöglichen unsere Mitarbeiter – wir nennen sie Interaktionspartner und Dolmetscher – zudem den direkten Kontakt der Besucher mit diesen Objekten. Weitere Elemente der Ausstellung sind über den Raum verteilte „Action Stations“, wo Spiele und interaktive Angebote Familien einladen, sich gemeinsam mit diversen Themen zu beschäftigen. Und dann gibt es schließlich einen 360-Grad-Erfahrungsraum, die „Big Picture Show“, die stündlich abgespielt wird und es erlaubt, unsere Ton- und Bildsammlungen zu zeigen. Betritt man den Hauptausstellungsraum, fällt es schwer, den Raum in seinen Ausmaßen zu erfassen. Die Besucher werden aber von Mitarbeitern begrüßt, die den Aufbau der Dauerausstellung skizzieren und Anregungen zur Parcours-Gestaltung geben. Ist dieses Angebot ein notwendiges Reagieren auf die architektonische Vorgabe oder das Resultat einer Evaluierung der Raumnutzung? Wir haben einige Raumanalysen gemacht und positionieren diese Freiwilligen nun dort, wo sie zur Orientierung beitragen können. Es ist durchaus eine Intention der
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Architektur, desorientierend und für kurze Zeit Teil der Erfahrung einer gewissen Verlorenheit zu sein, die Krieg mit sich bringt. Wir wollen aber nicht zu weit gehen, die Besucher nicht erschrecken und verhindern, dass sie die Exponate, wegen derer sie kommen, nicht finden können. Vorgesehen ist nun, dass die Besucher nach einer kurzen Orientierungsphase beginnen, der „Timeline“ zu folgen und dabei immer wieder Blicke in die Silos werfen. Bei der räumlichen Planung des letzten, sechsten Silos haben wir dabei auf die Erfahrungen aufgebaut, die wir in den letzten Jahren mit den ersten fünf gesammelt haben. Die Leute geraten bei den Silos ein wenig durcheinander: Sie gehen bei einer Tür hinein, bei einer anderen hinaus, und sie meinen, auf der „Timeline“ etwas verpasst zu haben. Die Atmosphäre von Silo 6 unterscheidet sich von jener der anderen Silos. Seine zentrale Vitrine ist in den Raum gerichtet, und er wirkt viel offener als die zuvor geplanten. Handelt es sich bei den Silos um temporäre oder semipermanente Module, deren Inhalte nach einer bestimmten Zeit ausgetauscht werden? Das ist nicht ganz klar. Wir überlegen eigentlich eine umfassendere Neuentwicklung, doch im Moment werden am Standort in London gerade die Erste-Weltkrieg-Räume für den hundertsten Jahrestag 2014 neu aufgestellt. Dieses Projekt hat oberste Priorität. Bei einer Neuentwicklung unseres Dauerausstellungsraumes wäre das Ziel, die Funktion und Effizienz des Raums insgesamt zu verbessern. Der Raum hat einen wesentlichen Anteil an der Botschaft und Atmosphäre der Ausstellung. Bedeutet er nicht auch eine Einschränkung für jede kuratorische Überlegung? Es gibt offensichtliche Parameter, innerhalb derer wir arbeiten müssen, aber wir gehen das unvoreingenommen an. Wir identifizieren Probleme und stellen uns ihnen. Trotz der herausfordernden Architektur sind wir im Hauptausstellungsraum sehr aktiv. Wir arbeiten an der Entwicklung neuer „Big Picture Shows“ oder integrieren neue Objekte. Wir haben ein Programm namens „Reactions“, das aus einer Reihe von Künstler-Interaktionen besteht. In kleinen Wechselausstellungen unter dem Titel In the Spotlight zeigen wir Geschichten an Einzelobjekten. Der rote Faden, der sich dabei durch unsere Arbeit zieht, ist die Frage, wie Krieg das Leben formt. Krieg ist nicht nur ein historisches, sondern auch sehr aktuelles Thema. Seit der Museums-Eröffnung gab es eine britische Beteiligung an Kriegen im Irak und in Afghanistan. Eine wesentliche Frage für viele Museumspraktikerinnen und -praktiker im Zusammenhang mit Dauerausstellungen ist, wie es möglich sein kein, laufende Entwicklungen und aktuelle Bezüge zu integrieren. Dies betrifft besonders Ausstellungen, die nicht nur Sammlungspräsentation sind, sondern alltagsnahe und gegenwartsbezogene Themen verhandeln. Wie gelingt es Ihnen, aktuelles Kriegsgeschehen und aktuell brisante Konflikte in die Dauerausstellung einzubeziehen?
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Häufig nutzen wir unsere Sonderausstellungen, um aktuellere Themen zu reflektieren. So findet sich in unserer momentanen Wechselausstellung War Correspondent Material aus heutigen militärischen Konflikten. In der Dauerausstellung wurden Ende 2009 einige Objekte aus dem Irak und Afghanistan in die letzte Vitrine der „Timeline“ integriert. Diese Vorgehensweise lässt sich aufgrund der Beschaffenheit des Raums nicht weiter fortsetzen, so suchen wir nach anderen Möglichkeiten. Vielleicht haben Sie in der Mitte des Raums das Auto gesehen, das bei einem Bombenattentat auf dem historischen Buchmarkt in der Al-Mutanabbi-Straße in Bagdad vollkommen zerstört wurde. Wir stellen es seit April 2011 aus, zuvor war es in London zu sehen. Ursprünglich wurde es vom Künstler Jeremy Deller erworben, der mit dem Auto durch Amerika getourt ist. Es ist ein sehr kraftvolles Objekt zum Krieg im Irak und seine Auswirkung auf die irakische Zivilbevölkerung. Nun ist es Teil unserer Dauerausstellung und ermöglicht uns, ein zeitnahes Ereignis anzusprechen und zu repräsentieren. Auch eine unserer „Big Picture Shows“ behandelt mittlerweile das eben genannte Selbstmordattentat in der Al-Mutanabbi-Straße. Der Film bezieht sich nicht direkt auf das Auto aus Bagdad, ist aber davon inspiriert. Film und Objekt funktionieren gut miteinander und wir haben beobachtet, dass das Auto für viele ein Gesprächsanlass ist. Derzeit arbeiten wir auch an einer „Big Picture Show“ über eine Familie, die mit 207 Field Hospital verbunden ist. 207 Field Hospital ist eine in Stretford – in der Nähe des Museums – stationierte Armee-Einheit. Viele der Armee-Angehörigen in dieser Einheit arbeiten als Sanitäter im National Health Service. Als Teil der Territorial Army wurden sie aber 2010 als medizinische Unterstützung nach Afghanistan versetzt und kamen dieses Jahr, im Jänner 2011, zurück. Wir verfolgen nun in unserem Projekt die Geschichte einer betroffenen Familie: Die Mutter ist Krankenschwester und musste mit ihrer Versetzung ihre Familie zurücklassen. Uns interessieren die Auswirkungen ihres Afghanistan-Einsatzes für die Familie zu Hause – als eine Möglichkeit, gegenwärtige Konflikte zu präsentieren und Geschichte zu personalisieren. Als letztes Beispiel kann ich vielleicht nennen, dass wir auch Geschichten und Artefakte von Armee-Angehörigen sammeln, die in Afghanistan waren. Diese gehen in ein aktuelles Sammelprojekt namens War Story ein und werden zukünftig Bestandteil unserer Sammlungen sein. Die Besonderheit der Dauerausstellung sind die sogenannten „Big Picture Shows“. Aus zweidimensionalen Sammlungsbeständen entsteht in ihnen eine Art neues, vermittelndes Medien-Objekt. Ich möchte Sie bitten noch einmal zu erklären, was es mit diesen Shows auf sich hat. Der Terminus „Big Picture Show“ beschreibt die großflächige Rundum-Projektion von Bildern im zentralen Ausstellungsraum, die sich mit den im Raum ausgestellten Objekten und Themen vorübergehend verbinden. Die Idee der „Big Picture Show“ erlaubt die Präsentation der umfangreichen Fotobestände in unkonventioneller Weise und entstand schon bevor das Gebäude errichtet wurde. Wenn Sie den Raum
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betrachten werden Sie sehen, dass die hohen leeren Wände für die Projektion von großformatigen Bildern designt und gebaut wurden. Wie entwickeln Sie Themen für die „Big Picture Show“ und auf welche Technologie stützen Sie sich? Als wir eröffneten, gab es Children and War, Weapons of War und Why War? Wir haben das Thema Why War? mittlerweile fallen gelassen und 2006 durch The War at Home ersetzt. Das alte System der „Big Picture Show“ bestand aus Dias und Karussell-Projektoren. Das System wurde von Technikern für audiovisuelle Hardware installiert und eine Filmproduktionsfirma mit der Umsetzung des Inhalts beauftragt. Wir wählten die Themen, und die Firma stellte darauf basierend Recherchen und Forschungen an. Es gab verschiedene Feedback- und Diskussionsschleifen: Das ging bis zu Details wie zum Beispiel der Frage, welchen Soundclip wir verwenden wollten und welches Bild wann gezeigt werden sollte. All das musste sich auf die Geschichte beziehen, die wir erzählen wollten, und natürlich auf unsere Botschaften. Die ausgewählten Bilder wurden dann als Dias produziert. Das war die Art, wie die alten Shows entstanden. Im Jänner 2011 wechselten wir zu einem digitalen System. Die existierenden Shows wurden konvertiert und werden nun mit digitalen Bildern präsentiert. Das neue System kennt die Beschränkung auf eine limitierte Anzahl von Dias, wie sie im alten System gegeben war, nicht mehr. Da die Shows auf einem Server gespeichert sind, können wir sie aufbewahren und sind in ihrer Präsentation flexibler. Auf Basis des neuen Systems haben wir vier Shows entwickelt: Eine davon war Al-Mutanabbi street: A reaction, eine weitere war der Film über 207 Field Hospital. Ein Projekt wird sich dem Thema Remembrance widmen, den wir dann rund um den 11. November zeigen können. (Seit 1919 wird am 11. November in Großbritannien, dem Commonwealth und einigen europäischen Ländern der Remembrance Day begangen. Anm. J. C.). Die vierte Show nennen wir Downtime und sie bezieht sich auf Inhalte wie Poster etc., die zwischen den eigentlichen „Big Picture Shows“ gezeigt werden. Der Ausstellungsraum wurde im Hinblick auf die Shows gestaltet, ihn leer zu sehen kann irritieren und sich anfühlen wie der Besuch eines leeren Kinos. So haben wir beschlossen, den Raum „anzuziehen“, ihn bunter zu machen, ohne von den konventionellen Präsentationen ablenken zu wollen. Wir haben alle neuen Shows im Paket produziert. Zu Beginn haben wir die Themen, die Ziele und unsere Kernbotschaften formuliert. Diese wurden dann mit der Bitte um kreative Reaktionen und Kostenvoranschläge an Kreativagenturen, Filmproduktionsfirmen und AV-Unternehmen gesendet. Auf dieser Basis haben wir unseren Partner gefunden, mit dem gemeinsam das Begonnene fortgesetzt wurde. Zu den diversen Arbeitsschritten gehörten das gemeinsame Entwickeln von Handlungssträngen, Recherchen in den Sammlungen oder Tests im Raum.
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In welchem Zeitraum entsteht eine neue Show? Anfangs waren wir ein bisschen zu ambitioniert bei dem, was wir schaffen könnten. Al-Mutanabbi Street: A Reaction wurde in nur drei Monaten produziert, das war aber ein sehr intensiver Prozess. Der 207 Field Hospital-Kurzfilm wird nach sieben Monaten Arbeit fertig sein. Die existierenden Shows dauern ungefähr 15 Minuten. Im nächstes Jahr wollen wird mit Kurzshows experimentieren, die eine Länge von fünf Minuten haben werden – wir werden sehen, ob das funktioniert. Eine Kurzshow wird auf einem Projekt namens Build the Truce basieren, bei dem es um Konfliktlösung geht. Damit werden wir verschiedene Menschen vorstellen, die in diesem Sektor arbeiten oder Konflikte jüngeren Datums erlebt haben. Wir planen außerdem eine „Big Picture Show“, die speziell auf Kinder und Familien zugeschnitten ist und in der hoffentlich ein paar animierte Geschichten vorkommen werden. Dieser Prozess kann über den Zeitraum von zehn bis zwölf Monaten stattfinden, was ein großzügig bemessener zeitlicher Rahmen ist. Die Dauerausstellung hat verschiedene Ebenen und Schichten der Information, die offenbar auf bestimmte Publikumsgruppen abgestimmt entwickelt wurden. Sie haben bereits erwähnt, dass sich die „Action Stations“ speziell an Familien richten. Ist die „Big Picture Show“ ein Medium, das bei älteren Besuchern besser funktioniert? Ich glaube, es gefällt eigentlich den meisten Besuchern. Klarerweise kann es sein, dass sehr kleine Kinder den Inhalt nicht verstehen oder sich vor der lauten Geräuschkulisse erschrecken. Sie kommen aber gut bei Schulkindern und Gruppen an, vor allem die The War at Home- und Children and War-Shows, weil sie zum nationalen Lehrplan passen. Es ist eine ziemlich gewaltige Erfahrung für Kinder, und die Reaktionen waren positiv. Das betrifft auch die Al-Mutanabbi-Street-Show, von der wir nicht angenommen haben, dass sie ein Thema für Schulgruppen sein würde. Erwachsene und alte Menschen mögen die „Big Picture Show“ ebenfalls. Ich denke, dass die meisten Besucher zumindest eine „Big Picture Show“ während ihres Besuchs sehen, und wir haben die Shows so gestaltet, dass jede etwas für jede unserer Publikumsgruppen bereit hält. Während der 15-minütigen „Big Picture Show“ wird das Licht im Raum gedimmt und die Leute setzen sich oder sehen die Show im Stehen. Haben solche regelmäßigen und großformatigen Interventionen im zentralen Ausstellungsbereich nicht auch Nachteile? Generell sind die Reaktionen positiv, der ganz andere Ansatz wird wohlwollend kommentiert. Natürlich wäre es falsch zu sagen, dass die Shows die Rezeption nicht maßgeblich beeinflussen. Einige Besucher sehen sich mit Beginn der Shows weiter die Präsentationen in den Silos an oder bleiben auf die weiteren Angebote im Raum
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konzentriert – diese Tendenz hat sich mit der neuen, stärkeren Raumausleuchtung durch die Projektoren übrigens verstärkt –, allerdings sind die „Big Picture Shows“ sehr dominant und es wird Menschen geben, die sich durch die Unterbrechung ihrer Lektüre und Befassung gestört fühlen. Ausweichmöglichkeiten bieten gegebenenfalls die Sonderausstellungsräume von Your History und WaterWay und auch der Shop und das Café. Bedeutet die neue Technologie in der Ausstellung auch, dass das ursprüngliche Konzept, Audio- und Fotomaterial zu verwenden, um Film erweitert wurde? Und haben Sie versucht, neue technische Möglichkeiten im Bereich 3-D zu integrieren? Wir haben bewegte Bilder bei Al-Mutanabbi Street: A Reaction verwendet, aber es ist nicht „Film“ im üblichen Sinn, es ist, was man „Compositing“ nennt, erstellte Bilder und Spezialeffekte. Der 207 Field Hospital-Film wird bewegte Bilder beinhalten. Der Regisseur hat die Familie getroffen und sie beim Lesen ihrer Korrespondenz und bei ihren täglichen Routinen gefilmt. Dass bewegte Bilder nun integriert werden können, ist ein weiteres aufregendes Moment am neuen digitalen System. Als wir das Digitalisierungsprojekt begannen, untersuchten wir die Möglichkeit von 3-D, aber es war nicht möglich bzw. leistbar. Und wir hatten auch Bedenken, ob es angebracht wäre: Wollen wir unsere Thematik in 3-D zeigen? Wir wissen nicht, wie lange 3-D als Trend halten wird – es könnte etwas Großes sein, aber genauso gut könnte es in ein paar Jahren von etwas anderem abgelöst werden. Der Einsatz öffentlicher Gelder in Museen bedeutet selbstverständlich, dass wir sie bestmöglich verwenden müssen. Ich glaube, wir haben es richtig gemacht. Es gibt die Frage, ob wir in Zukunft mehr Benutzer-Interaktivität in Bezug auf die „Big Picture Show“ verwenden sollen. Es gibt viele Möglichkeiten für die Zukunft und ich denke, dass wir mit diesem neuen System noch in einer frühen Phase sind. Wenn wir mit der vollen Neuentwicklung des Raumes weitermachen, wird die Rolle der „Big Picture Show“ eines der Hauptthemen sein, die es anzusprechen gilt. Während meines Ausstellungsbesuchs ist mir bewusst geworden, dass viele ältere Besucherinnen und Besucher die Exponate als Ausgangspunkt nutzen, um über ihre Kriegserlebnisse oder ihre Armeezeit zu sprechen und ihre Erfahrungen an ihre Kinder und Enkelkinder weiterzugeben. War diese Zugangsweise intendiert, wurde diese Besuchergruppen immer schon als Zielpublikum angesehen? Definitiv. Wir haben Familiengruppen verschiedener Altersstufen, und Familiengeschichte ist momentan ein großes Thema. Wir haben am Londoner Standort spezielle Berater, die sich damit befassen, was wir im Zusammenhang mit diesem Thema leisten können. Im Untergeschoss unseres Museums findet sich zum Beispiel ein Bereich namens Your History. Dort werden Menschen, die in ihrer Familien-
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geschichte recherchieren wollen, beraten und erhalten Zugang zu den Sammlungen. Es sind durchaus verschiedene Altersgruppen, die dieses Angebot anspricht. Das Imperial War Museum behandelt ein komplexes, schwieriges und belastendes Thema. Wie gehen Sie damit um, dass neben früheren Betroffenen und Opfern, neben Schulklassen und Familien auch Menschen ins Museum kommen, die heute zum Beispiel als Soldatinnen und Soldaten aktiv an militärischen Konflikten und kriegerischen Auseinandersetzungen beteiligt sind? Wir würden nie versuchen, Krieg zu glorifizieren. Wir sind ein Museum über Krieg und unser Auftrag ist es, den Menschen zu helfen, die Ursachen, Entwicklungen und Konsequenzen von Krieg besser zu verstehen. Wir sagen nie „Krieg ist schlecht“ oder „Krieg ist gut“, unsere Rolle ist es, zu zeigen, wie der Krieg Leben prägt. Vielen Dank für das Gespräch! (Übersetzt aus dem Englischen)
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Weltkulturen Museum Frankfurt, Haarschmuck, West-Neuguinea, Foto: W. Günzel.
„Wir machen es einfach [...], wir experimentieren.“ Clémentine Deliss, Direktorin des Weltkulturen Museums, Frankfurt am Main, im Gespräch mit Bettina Habsburg-Lothringen
Das Weltkulturen Museum wurde 1904 von Frankfurter Bürgern gegründet und ist in drei Gründerzeitvillen am Frankfurter „Museumsufer“ untergebracht. Das Herzstück des geplanten Erweiterungsbaus wird die Dauerausstellung bilden, die weder rein geografisch noch rein thematisch gegliedert, sondern stattdessen in einem historischen Teil zur Geschichte der Sammlung des Museums, einem Bereich für innovative Beispiele der Form- und Zweckgestaltung verschiedener Objekte sowie einem zentralen Lesesaal als Ort der Reflexion umgesetzt werden soll.
Clémentine Deliss, Sie sind seit 2010 Direktorin des Weltkulturen Museums in Frankfurt. Ich möchte Sie zu Beginn gern über ihr Museumsverständnis befragen. Ich denke, dass jede an einem Museum beschäftigte Person vor dem Hintergrund ihrer Arbeitsbiografie ein ganz bestimmtes Verständnis dieser Institution entwickelt. Was bedeutet Museum, und speziell das Weltkulturen Museum in Frankfurt, für Sie? Als ich begonnen habe, am Museum zu arbeiten, habe ich oft an Straßen gedacht. Es gibt Museen, die wie Autobahnen funktionieren, man hat einen geordneten Weg, der eine gewisse Geschwindigkeit erlaubt, es gibt Überholmöglichkeiten und gesicherte Rast- und Parkplätze. Viele Museen heutzutage entsprechen dem. Dagegen ist das ethnografische Museum so, als würde man eine Seitenstraße nehmen. Ich habe schon vor meiner Zeit in Frankfurt in meiner Arbeit als Kuratorin versucht, Künstlerinnen oder Künstlern Seitenstraßen anzubieten, zum Beispiel durch die Ermöglichung anderer Formen der Produktion. Das ist die erste Metapher, wenn Sie möchten. Die zweite Metapher ist, dass in der heutigen Zeit, da Museen sehr als Betriebe und Unternehmen verstanden werden, es noch verschlafene Museen, „dormant museums“ gibt, die es wieder aufzuwecken gilt. Von diesen verschlafenen
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Museen gibt es viele. Manche klassische Völkerkundemuseen gehören sicher dazu, aber natürlich ebenso kleine Stadtmuseen, Dorfmuseen, und andere, die oft auch spezielle oder heterogene Sammlungen besitzen, die neu gedacht werden könnten. Meine Idee vom Weltkulturen Museum in Frankfurt ist, dass es zu 50 Prozent avancierte künstlerische Praxis und zu 50 Prozent avancierte Ethnologie ist, und gleichzeitig zu 50 Prozent Forschung und zu 50 Prozent Ausstellung. Es wäre wunderbar, würde man es 50 Jahre nach der Hochphase des Strukturalismus wieder schaffen, mit einer Sammlung, mit einer post-ethnografischen Sammlung eine Art bahnbrechende Forschungssituation zu erzeugen. Da sind wir schon bei einem wesentlichen Punkt. Man gewinnt heute manchmal den Eindruck, dass Museen unter ihren Sammlungen leiden, weil ihre Bewahrung einen beachtlichen Teil der Ressourcen verschlingt und sie gleichzeitig vielleicht nicht mehr repräsentieren, was Menschen heute interessiert. Wie ist das in den ethnologischen Museen, deren Sammlungen ja nicht nur aus einer anderen Zeit stammen, sondern auch vor dem Hintergrund eines ganz bestimmten Weltverständnisses zusammengetragen wurden? Und wie steht es um das Potenzial dieser Sammlungen für heutige Fragestellungen? Ich würde unser Engagement in Frankfurt so verstehen, dass wir an einer Art postethnografischem Museum arbeiten. Es geht nicht mehr um eine Darstellung von Ethnien. Es ist für mich unmöglich, Ausstellungen zu konzipieren, die Ethnien mit ihrem Glauben etc. darstellen. Das heißt aber auch, ich muss andere Wege finden, neue Metaphern, neue Sprachformen, neue Displayformen entwickeln, um damit diese Objekte − im Sinne des englischen Wortes „remediation“ − wieder zu „remediieren“. Gemeint ist mit diesem Wort einerseits eine Art von Heilen, andererseits ein Pflegen der Semantik einer Geschichte, der Aneignung dieser Objekte und gleichzeitig auch ein „shift“, ein Übergang in Medien oder Interpretations- bzw. Vermittlungsformen. Dabei ist klar, dass ethnologische Museen in Deutschland im Vergleich zu britischen oder französischen Museen andere Hintergründe haben. Das Frankfurter Museum basiert auf den Sammlungen von Missionaren, und auch die Handelstätigkeit der Frankfurter Bürger hat eine wichtige Rolle gespielt. Die Bürger gründeten das Museum 1904, weil sie wissen wollten, wie andere Völker in den verschiedenen Regionen der Welt Objekte produzieren. Demzufolge wurde auch die Sammlung des Museums in Regionen gegliedert und in dieser Art fortgeführt. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts mag diese Gliederung schlüssig gewesen sein, heute ist das „Denken in Regionen“ problematisch. Das zeigt sich beispielsweise an folgender Anekdote: Vor ungefähr drei Monaten besuchten mich ein paar junge Mädchen und haben vor meiner Tür eine Skulptur aus Kampala, Uganda, betrachtet. Die Skulptur stammt von einem eigentlich sehr bekannten Bildhauer, Francis Nnaggenda, den ich Anfang der 1990er-Jahre in Kampala getroffen habe. Ich habe dann in unserer Sammlung dieses Stück erkannt und diese große, aus einem Stück Holz gefertigte,
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ganz merkwürdige Frau herausgeholt. Nun standen diese 15-jährigen Mädchen vor meinem Büro und wollten mich sprechen und ich habe zur Begrüßung gefragt: Und übrigens, kennt ihr „Miss Kampala“? Ich frage sie, wisst ihr wo Kampala liegt? Nein. Wisst ihr, wo Uganda liegt? Nein. Ich habe versucht, es zu erklären und eines der
Weltkulturen Museum Frankfurt, oben: Rohrgeflecht, Angola, unten: Speiseschüssel, Sulawesi, Indonesien, Foto: W. Günzel
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Mädchen sagte: Ich kenne mich recht gut mit Südbagdad aus. Sie meinte nicht den Irak, nicht die Stadt, sondern nur ein Viertel, einen Bezirk Bagdads und mir wurde klar, dass es eine enorme Herausforderung sein wird, das, was wir hier haben, für Jugendliche heute verständlich zu machen und zu übersetzen, die ganz andere Weltteile im Blick haben. Und wenn die Welt heute anders ist als vor 100 Jahren, was kann heute noch an diesen zu Abertausenden zusammengetragenen Objekten interessieren? Können die Sammlungen helfen, Antworten auf aktuelle Fragestellungen zu geben? Was mich interessiert, ist, mit unterschiedlichen Experten durch die Sammlung zu gehen, die mit den Ethnologen dialogieren. Ich meine Menschen unterschiedlichster Herkunft und Profession, die sehr geschulte Augen haben und abgesehen von der Top 20 der Stammeskunst, Objekte, die vielleicht Null Geldwert haben, als besonders erkennen: Es gibt Objekte, die ästhetisch spannend sind, oder einen Prototyp darstellen, oder solche, die sehr intelligente ökologische Lösungen anbieten – etwas, worauf früher noch nicht so geachtet worden wäre. Für die Dauerausstellung, die zur Hälfte in einer historischen Villa, zur anderen Hälfte in einem Neubau stattfinden soll, wird für mich auch eine Analyse der Ansätze wichtig sein, die hinter einzelnen Sammlungsstücken stehen. Warum hat man Körbe gesammelt? Was war die Kulturkreislehre? Was war die Kulturmorphologie? Warum hat man gedacht, dass ein Korb einen sehr entfernten Grat der Zivilisation darstellt, wenn umgekehrt geknotete Dinge als elaborierte Darstellungsmethoden gelten? Das bedeutet, dass die Geschichte der Ethnologie, als Wissenschaft und im Museum, eine Ebene in der Dauerausstellung bilden wird? Ja, das ist wichtig, und interessant. Man kann sich zum Beispiel kaum vorstellen, wie manche Objekte nach Frankfurt gekommen sind. So ging beispielsweise 1961 ein Team von Frankfurter Ethnologen entlang des Sepikflusses durch Papua-Neuguinea. Wenn man sich den Verlauf des Flusses auf einer Weltkarte anschaut, ist es unvorstellbar, dass diese Ethnologen mit 5000 Objekten nach Frankfurt zurückgekommen sind: Schlitztrommeln oder Pfosten von Männerhäusern, manche davon 10 Meter lang, die sie zu Wasser und auf Schiffen, und dann über den Mainfluss bis vor die Tür dieses Museums gebracht haben. So etwas ist heute unmöglich geworden, es käme für mich überhaupt nicht infrage, noch Expeditionen durchzuführen. Heute müssen die Methoden des Museums selbst Gegenstand von Feldforschung sein. Dafür muss man eine bestimmte, reflektiere Perspektive entwickeln, auf das Warum der eigenen Sammlung, die Ansätze hinter der eigenen Sammlung blicken.
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So ein Versuch der Auseinandersetzung mit den eigenen Sammlungen ist das Format des Labors, das mich besonders im Hinblick auf die neue Dauerausstellung interessiert. Können Sie dieses Konzept der Labore kurz beschreiben? Das Weltkulturen Museum besteht aus drei Villen und es wird einen Neubau im anschließenden Park geben. Eine der Villen wird derzeit als Labor geführt, das der eigentlich treibende Stoff hinter jeder Überlegung und jeder Ausstellung ist. Und es funktioniert ganz einfach so: Es gibt zwei Wohnungen im obersten Stock der Villa, mehrere Ateliers und Seminarräume sowie das von Mathis Esterhazy mit Möbeln ausgestattete Labor selbst. Wir laden Künstler, Wissenschaftler oder Experten anderer Art ein, im Labor zu arbeiten. Das bedeutet, sie kommen vier Wochen lang zu uns, treffen zu Beginn ihres Aufenthalts die Forschungskustodinnen und besuchen die Depots. Jene Objekte, für die sich die Künstler und Wissenschafter interessieren, werden notiert und ins Labor gebracht, wo eine intensive, nicht öffentliche Beschäftigung mit den Objekten stattfinden kann. Das heißt, unsere Gäste verweilen mehrere Wochen bei uns, können, wenn sie wollen, im Pyjama von der Wohnung ins Labor und das darunter liegende Bildarchiv gehen. Aus ihrer Auseinandersetzung entstehen neue Gedanken und neue Arbeiten, von welchen nach Beendigung des Aufenthalts ein Stück im Museum hinterlassen wird. Für uns bedeutet das den Aufbau einer neuen Sammlung künstlerischer Produktionen und wissenschaftlicher Arbeiten, die total an die Sammlung des Museums anknüpfen. Abgesehen von diesem Leben inmitten der Objekte, inwiefern unterscheiden sich die Rahmenbedingen für die Künstler/innen und Wissenschafter/innen von jenen anderer In-Residence-Programme? Ich sehe den Unterschied vor allem darin, dass etwas da ist, worauf man sich beziehen muss. Es ist nicht ein leer stehendes Atelier, indem man tut, was man möchte und man trifft ein paar Leute und macht am Ende eine Ausstellung. Es gibt den klaren Bezug zur Sammlung, die Möglichkeit, sich über einen langen Zeitraum und sehr frei mit den Objekten zu beschäftigen, auch ohne auf eine bestimmte Ausstellung hin zu arbeiten. In den letzten sechs Monaten hat es sich gezeigt, dass diese Rahmenbedingen sehr, sehr produktiv sind. Können Sie vielleicht konkrete Beispiele nennen, um zu zeigen, wie sich die Interessen, Herangehensweisen und Ergebnisse einzelner Künstler/innen und Wissenschafter/ innen unterscheiden? Otobong Nkanga beispielsweise ist eine nigerianische Künstlerin, die zu uns gekommen ist und vier Bereiche des Afrika-Depots näher untersucht hat: Waffen, genauer Wurfmesser aus dem Kongo, Währung in der Form von großen Bronzeund Messingstücken, Schmuck, also Armreifen, Halsbänder etc. und schließlich
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Almanache und commemorative cloth. Otobong Nkanga hat sich dann überlegt, wie man eine Biografie dieser Objekte entwickeln könnte. Und sie hat nicht nur eine Art Atlas der Objekte und ihrer Geschichten entworfen, sondern auch die Produktion von Almanachen in Nigeria in Auftrag gegeben, die dort eine sehr populäre Form von Plakaten darstellen, um in diesen dann die Biografien der von ihr untersuchten Objekte zu zeigen. Das bedeutet, Otobong Nkanga birgt Wissen aus den Sammlungen und bringt es zurück an den Ursprungsort der Objekte? In gewisser Weise ja. Und sie verwendet ein bekanntes Idiom der Erinnerung, diese afrikanischen Stoffe, auf die z. B. Politiker oder Prominenz abgebildet werden. Otobong Nkanga nutzt dieses grafische System, um die Objekte darzustellen und zu vermitteln. Das ist ein interessantes Projekt. Ein anderes Beispiel ist die Arbeit von Thomas Bayrle, dessen Vater auf die ersten Frobenius-Expeditionen gefahren ist und Maler war. Und damals im Jahr 1934 haben sie sehr viele phallische Stelen, Grabsteine etc. aus Äthiopien mitgebracht, die Alf Bayrle in situ mit Kreide und Stift gezeichnet hat. Wir haben nun erstmals die Möglichkeit, diese zu zeigen. Sie lagen jahrelang unexponiert im Lager des Frobenius-Instituts in Frankfurt. Weiters hat Thomas Bayrle im Labor ein Objekt hergestellt. Inspiriert von Hummer- und Fischfallen, die wir in unserer Sammlung haben, hat er eine Falle für dumme Autos produziert, die der Anfang einer neuen Arbeit für die documenta 13 darstellt, in der es um Carmageddon geht. Spannend ist, dass viele unserer Gäste im Labor die ethnografischen Objekte gezeichnet und gemalt haben. Das finde ich sehr ungewöhnlich. Otobong Nkanga hat gezeichnet, Antje Majewski hat gemalt, Marc Camille Chaimowicz hat anhand der floralen Muster von verschiedenen Objekten Schablonen produziert und Muster auf Holzpanelen aufgetragen. Auch Simon Popper hat sich mit den Inventarkarten der Sammlung mit ihren Aquarellzeichnungen beschäftigt. Das finde ich auch insofern spannend, als Maler auch noch in Zeiten, da es die Fotografie bereits gab, die Expeditionen begleitet haben, um Situationen und Objekte zu dokumentieren. Hier im Museum betreiben wir eine neue Form der Feldforschung und als erstes kommt das Zeichnen oder die Malerei der Objekte zurück. Wie erfolgt die Auswahl der Gäste? Sind es bereits existierende Arbeiten bzw. Arbeitsweisen, die ausschlaggebend für eine Einladung sind? Und das Programm richtet sich gezielt sowohl an Wissenschafter/innen als auch an Künstler/innen? Unsere erste Ausstellung wird Objekt Atlas, Feldforschung im Museum (24.1.2012– 16.9.2012) heißen und im Januar 2012 eröffnet werden. Die Künstlerinnen und Künstler, die wir dafür eingeladen haben, wurden von mir ausgewählt. Zu einem Großteil habe ich schon mit ihnen gearbeitet oder sie interessieren mich, wie eben
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Otobong Nkanga. Unter ihnen ist auch ein Schriftsteller und Verleger, Hans-Jürgen Heinrichs, der in den 1980er-Jahren den Qumran Verlag für Ethnologie und Kunst gegründet hat. Das Weltkulturen Museum hat sein Archiv gekauft, mit tollen Beständen zu Hubert Fichte und Francis Bacon und Michel Leiris, die ganzen Briefe dahinter, und wir zeigen ihn auch in der Ausstellung. Zu Beginn wollte ich die Ausstellung stored code nennen, um die Dekodierung der gelagerten Codes und des gelagerten Wissens der Objekte durch die Künstler zu benennen. Ich habe dann aber langsam gesehen, dass die Künstler eigentlich Assemblagen zusammenstellen und diese Idee des Stored Codes zu beschränkt ist. Um eine Einschränkung zu vermeiden, ist der Begriff des „Objekt Atlas“ im Bezug zu Aby Warburg in den Titel gekommen. Sie haben das Labor im Vorfeld unseres Gesprächs als Probebühne angesprochen. Für mich ist dieses Labor grundlegend. Ich weiß, dass es heute viele Museen gibt, die Laboratorien haben. Für mich passiert Labor aber nicht zusätzlich oder im Nebenzimmer, das Museum soll über das Labor überhaupt neu entwickelt werden. Lassen Sie uns über die Verbindung von Kunst und Wissenschaft sprechen, die in dieser stattfindenden Neuprofilierung des Hauses und der Entwicklung einer neuen ständigen Ausstellung offenbar eine wichtige Rolle einnimmt. Im deutschsprachigen Raum ist die Einbeziehung von Kunst bzw. Künstlerinnen/Künstlern in den letzten Jahren in eigentlich allen musealen Sparten ein Thema geworden. Es gibt unterschiedliche Motive und Formen der Zusammenarbeit. Ich bin manchmal skeptisch, weil ich das Gefühl habe, man holt sich eben eine Künstlerin oder einen Künstler, weil es der Zeitgeist erfordert, oder weil es bequem ist, sich als Kurator/in in sensiblen Fragen nicht positionieren zu müssen. Für das Weltkulturen Museum scheint das Zusammenwirken von Wissenschaft und Kunst eine Grundsäule der Museumsarbeit zu sein. Worin nun sehen Sie die Chance und das Potenzial? Also das Wichtigste für mich ist, dass die künstlerische Befassung mit einem Gegenstand nicht formalisiert ist, dass es eine Form von „inquiry“, fast zur Antiforschung wird, eben in jeder Hinsicht offener ist. Ich werde manchmal gefragt, ob es Museen gibt, welches ich diesbezüglich als vorbildlich ansehe. Das gibt es eigentlich nicht, aber es gibt natürlich Vorväter wie Carl Einstein. Und Carl Einstein hat immer gesagt, man muss eine Wechselwirkung zwischen Dauerausstellung und „Forschungsausstellung“ schaffen, weil man sonst eine Art gläsernes Gefäß kreiert, in dem die Objekte erstarren. Der Kunst kann an dieser Stelle eine wichtige Rolle zukommen. Es besteht also gerade bei Dauerausstellungen die Gefahr, dass Objekte tot gestellt werden?
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Total. Carl Einstein sagt, ein Museum ist eine dynamische Schule. In dem Sinn haben wir eine Abendschule eröffnet und es wird Tische und Stühle in den Ausstellungen geben. Keine kleinen, kosmetischen Tischchen mit einem Katalog drauf, sondern Tische, an den man sich setzen kann, um zu sehen und zu studieren, ohne dass man eine Matura oder Abitur oder Diplom braucht oder vorweisen muss. Nichtakademisch? Eben. Es hat eine Antipsychiatrie in den 1960er-Jahren gegeben, warum soll es keine „Anti-education“ geben? Wie geht das mit dem Selbst- und Institutionenverständnis der wissenschaftlichen Museumspraktiker/innen zusammen? Ich sehe den Bezug zur Wissenschaft und einen wie immer definierten Bildungsauftrag als wichtige identitätsstiftende Momente. Diesem Sicherheit verheißenden Rahmen künstlerische Praxis und „Anti-education“ entgegenzustellen, scheint mir ein radikaler Schritt zu sein. Wenngleich ich gerade im Bereich der Dauerausstellungen angesichts so mancher nur noch schick durchdesignten Ausstellungshalle neue Wege für sehr begrüßenswert halte. Diese durchdesignten Ausstellungshallen sind nicht einmal schick, sie wirken wie Kaufhäuser. Und im Falle ethnologischer Museen kommt mit dieser Kaufhausästhetik eine sehr unangenehme Klassendifferenzierung hinein: Weil die, die da als Besucher kommen, anscheinend nicht so viel verstehen und nicht so viel wissen, meint man auf aufwendige, theatralische Inszenierungen setzen zu müssen. Zu 2 Prozent Sammlung kommt viel Vorhang und viel Bühne. Um Ihre Frage zu beantworten, es gibt zwei mögliche Reaktionen bei den Wissenschaftern. Die erste ist die zu sagen, ja wir wissen schon, es gab Fred Wilson, der hat mal etwas in einem ethnologischen Museen gemacht, damit ist das Thema doch abgehakt, was absurd ist. Die zweite mögliche Reaktion ist Neugierde, die Neugierde zu sehen, was andere denken und machen. Es ist eben vielleicht nicht mehr interessant zu sagen, okay, machen wir etwas über Migration, wir holen uns die Objekte, stellen sie hin und haben eine Ausstellung zu einem gefragten Thema. Spannender ist es, mit Leuten zu arbeiten, die vielleicht andere Objekte aussuchen, neue Begriffe einbringen. Ich kann doch nicht nur Ausstellungen kuratieren, die Frauenwelt, Ritual, Initiation, Magie oder Verwandtschaft heißen. Es muss andere organisatorische Prinzipien geben können. Und wir brauchen neue Begriffe. Das braucht auch Zeit. Man kann nicht in ein Museum kommen und ein komplett neues Programm festlegen. Man muss erst jede Spalte, jede Abteilung analysieren. Was ist ein Bildarchiv in unserem Fall? Wie geht man um mit Veranstaltungen? Wie setze ich diese Idee der Abendschule um? Man setzt an unterschiedlichen Stellen an. Wir machen beispielsweise jetzt etwas, das heißt The World in a Spoon zusammen mit dem Frankfurter Ethnologe Sebastian Schellhaas. Es geht in dem Projekt um
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Gastroethnologie, um heutige Überlegungen zum Thema Ernährung, um verbotene Speisen. Wir werden ein Schwein braten und selbstverständlich werden wir Peter Kubelka einladen. Wir müssen das gar nicht so aufputzen, dass sich das Projekt zwischen Kunst und Ethnologen bewegt. Wir machen es einfach, wir experimentieren. In diesem Projekt, wie auch in der Idee der Abendschule, klingt ein Museum durch, das es in der Frühzeit dieser Institution schon einmal gab, als Forum, als Ort zur Meinungsbildung, als Volksbildungsstätte. Wir finden in Frankfurt Menschen, die in Adis Abeba oder Darfur an der Universität arbeiten würden, hier an der Goethe Universität können sie das aber nicht, obwohl sie Spezialisten in ihrem Fach sind. Diese Leute zu finden und mit ihnen etwas zu entwickeln, das dauert. Sie sind aber wichtig mit ihrem Wissen, das sie nun über das Museum an alle weitertragen können, die interessiert sind. Und diese Expertinnen und Experten sind wichtig, weil sich mit ihnen die Besucherkonstellation ändert. Ich bedanke mich für das Gespräch!
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Musée de la Chasse et de la Nature, Ausstellungsansicht La salle du Cerf et du Loup (Saal des Hirschen und des Wolfes), Foto: S. Durand
Wildes Ausstellen Claude d’Anthenaise, Chefkurator des Musée de la Chasse et de la Nature, Paris, im Gespräch mit Godehard Janzing
Das Musée de la Chasse et de la Nature in Paris, das seit 1967 als Jagd- und Naturmuseum existiert, wurde 2007 neu eröffnet: Es zitiert und bedient sich verschiedener musealer Präsentationsstrategien und widmet sich in einer sehr heterogenen Mischung aus Trophäen, naturkundlichen Präparaten und Waffen, historischen Kunstwerken, zeitgenössischer Kunst und didaktischen Elementen der Beziehung zwischen Mensch und Tier und der Bedeutung der Jagd für die Zivilisation der verschiedenen Epochen.
Das Musée de la Chasse et de la Nature ist seit mehreren Jahren ein Geheimtipp, nicht nur unter Fachleuten der Museumsbranche. Wenn mich Paris-Besucher fragen, welche Ausstellungen sie in dieser Stadt auf keinen Fall verpassen sollten oder welches Museum einen Besuch besonders lohnt, nenne ich immer auch das kleine Jagdmuseum im Marais – und ernte dann oft erstaunte Blicke, weil man von einem Kunsthistoriker wohl andere Vorschläge erhofft. Dem Namen nach erwartet man vielleicht ein recht verstaubtes Haus, eine Art Naturkundemuseum, einschließlich Waffen und Trophäen, wie man es ähnlich schon oft gesehen hat. Aber im Gegenteil: Die Besucher sind von der Gestaltung der Dauerausstellung meist nicht nur begeistert, sondern geradezu bezaubert. Erzählen Sie uns doch etwas über die Entstehung der Sammlung und die Geschichte des Hauses, und wie es zu der recht außergewöhnlichen Inszenierung kam. Die Gründung des Museums geht auf ein Industriellenpaar zurück, François und Jacqueline Sommer, die beide Jäger waren. Außerdem war François Sommer in der Resistance aktiv, woraus sich eine Nähe zu General de Gaulle ergab. Das Paar entwickelte nicht nur eine Passion für die Jagd und für Wildtiere, es teilte auch die Leidenschaft für das Sammeln, wobei ihre Sammlung zunächst deren anderer Jäger sehr ähnelte: Jagdtrophäen, Tierpräparate und Jagdwaffen. François Sommer war ein sehr sachlicher Mann, der mechanische Geräte liebte, weniger ein Ästhet. Er trug diese
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ganzen Objekte zusammen, und da er keine Kinder hatte, erlaubte es ihm die Sammlung in Form der Stiftung und eines Museums zu „überleben“. Er und seine Frau begaben sich auf die Suche nach einem geeigneten Ort. General de Gaulle vermittelte sie an seinen damaligen Kulturminister, André Malraux, der sofort die Möglichkeit erkannt hat, ihre Initiative mit seinem eigenen großen Projekt zu verbinden: der Wiederbelebung des historischen Stadtviertels Marais. Malraux lenkte ihr Interesse auf einen alten Stadtpalast, das Hôtel de Guénégaud, das nach 1651 von François Mansart erbaut wurde. Hier installierte François Sommer seine Stiftung. Und diese beherbergt ein Museum, das – nach dem Wunsch seines Gründers – bezeugen soll, was die Jagd für die Zivilisation erbracht hat, und dies nicht allein mittels Waffen und Trophäen, wie in so vielen Jagdmuseen, sondern auch mit Werken der Kunst und des Kunsthandwerks. Um eine solche Sammlung zu erstellen, rief er einen Kunsthistoriker hinzu, der damals Kustos am Musée de la Vénerie in Senlis war: Georges de Lastic, der weniger jagdbegeistert war, sondern vor allem ein Spezialist der französischen Malerei des 18. Jahrhunderts. Dieser erhielt die Aufgabe, die Sammlung ganz nach seinem Geschmack aufzubauen. Man kann hier von einer glücklichen Allianz sprechen, da er die zur Verfügung stehenden Mittel zum Ankauf von Werken höchster Qualität zu nutzen wusste. Ihm ist es zu verdanken, dass vor allem die Malerei des 18. Jahrhunderts heute so prominent vertreten ist: Er ließ Gemälde von Chardin und Desportes ankaufen und es gelang ihm darüberhinaus, Werke aus den Depots anderer Institutionen wie dem Louvre oder der Porzellanmanufaktur von Sèvres zu erhalten. Können Sie uns den Charakter der ersten Sammlungspräsentation mit ein paar Worten beschreiben? Was die Ausstellung betrifft, wollte François Sommer vor allem einen freundlichen, warmherzigen Ort schaffen. Sein Wille zielte in Richtung eines Hausmuseums („musée maison“), einer wahrhaftigen Heimstätte der Jagd und der Natur. Er wandte sich mit diesem Wunsch mit Georges de Lastic an einen Kustoden, der recht untypisch für seine Zeit, die 1960er-Jahre, war, in denen man die Schausammlungen der Museen zunehmend purifizierte und eher einem funktionellen Ideal folgte. Georges de Lastic hingegen liebte das Dekorative und er gestaltete die erste Dauerausstellung ganz im Stile eines Liebhaberkabinetts des 17./18. Jahrhunderts, mit einer sehr dichten Hängung. Das Museum war ganz von diesem glücklichen Zusammenspiel zweier so unterschiedlicher Temperamente geprägt: Georges de Lastic, dem Ästheten, der ganz durch die Kultur des 17./18. Jahrhundert geprägt ist, und François Sommer, dem Praktiker, der selbst in einem solchen Jagdambiente lebt, mit Waffendekorationen und ausgestopften Tieren an der Wand – und beide Temperamente fügten sich in einer recht originellen Weise zusammen, die in den 1960er-Jahren auch durchaus ihr Publikum fand. Schließlich war es auch jene Zeit, in der Malraux für eine Mischung der Kulturen und ihrer Ausdrucksformen
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plädierte. Mit der ersten Dauerausstellung hat sich François Sommer ein Ziel gesetzt, das deutlich über die ihm zur Verfügung stehenden Mittel hinausging – träumte er doch von einer Art universellen Synthese all dessen, was die Jagd für die Zivilisation der verschiedenen Epochen gebracht hat. Das ist ein kolossales Thema, das mit den Objekten der Sammlung sicher nie vollständig illustriert werden kann. Die Werke, die Waffen und Tierpräparate wurden dazu nach Epochen und Kontinenten angeordnet. Und wie man auf Fotos der ersten Ausstellung erkennen kann, hatte diese Museografie bisweilen einen etwas lächerlichen oder zumindest amüsanten Zug: Um Amerika zu evozieren, zeigt man beispielsweise einige Colts, einen ausgestopften Polarbären, präkolumbianische Töpferwaren und ein Gemälde des 19. Jahrhunderts – mit diesen wenigen Objekten sollte der gesamte amerikanische Kontinent repräsentiert werden. Fast vierzig Jahre lang existiert das Museum in dieser Form, mit abnehmenden Besucherzahlen, weil die Ausstattung der Räume veraltete, aber auch das Unverständnis der Besucher zunahm gegenüber der Art und Weise, wie das Museum zur Frage der Jagd Stellung bezog, einem Thema, das zunehmend als Gewalt gegenüber den Tieren problematisiert wurde. Sie waren maßgeblich für die Neugestaltung des Museums verantwortlich. Welche Prinzipien haben Sie dabei geleitet? Dem Aufsichtsrat des Museums wurde im Jahr 2000 bewusst, dass das Museum einer Überholung bedarf, ohne notwendigerweise eine neue Positionsbestimmung vorzunehmen. Ich wurde mit der Aufgabe betraut, und als ich ankam, sah ich gleich die Chance, sowohl Form als auch Inhalt des Museums neu zu fassen, ökonomischer und für ein breiteres Publikum. Um das Museum nicht auf eine reine Illustration der Geschichte des Jagdwesens, seiner Techniken und seinem Nutzen für die Kultur zu reduzieren, wollte ich eine neue inhaltliche Achse ziehen: die Mensch-TierBeziehung im Allgemeinen. Ich hatte anfangs ganz verschiedene Neuordnungsvorschläge eingereicht, von völlig chaotisch bis extrem sachlich. Schließlich wurde festgelegt, dass das Museum den Charakter eines Hausmuseums beibehalten solle, was meinen Neigungen entgegenkam, da ich mich – wie auch Georges de Lastic – sehr für Fragen des Dekors und der Inneneinrichtung interessiere und mich im Rahmen meiner vorherigen Tätigkeit bei der Denkmalpflege intensiv mit Fragen der Inneneinrichtung historischer Schlösser beschäftigt hatte. Kaum zu übersehen ist aber auch Ihr Interesse an zeitgenössischer Kunst, die Sie in einen intensiven Dialog mit den historischen Kunstwerken und Sammlungsobjekten treten lassen. Das ist sicher eine der Eigenheiten Ihrer Präsentation. Wie kam es dazu? Ich hatte von Beginn an den Wunsch, zeitgenössische Kunst zu integrieren. François Sommer hatte dies bei der ersten Sammlungspräsentation bereits versucht, aber eher in homöopathischer Dosierung und gegen den Geschmack von Georges de Lastic,
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der eher der älteren Kunst zugeneigt war. Er hat einige Künstler beauftragt, wie man heute noch im Trophäensaal am Beispiel des Deckengemäldes von Bernard Lorjou aus den 1960er-Jahren sehen kann. Für mich war diese Präsenz der Kunst der 1960er-Jahre sehr nützlich, weil sie mir half, den Verwaltungsrat davon zu überzeugen, in diesem Sinne weiterzumachen. Die Öffnung hin zur Gegenwartskunst erschien mir einerseits wichtig, um ein breiteres Publikum anzusprechen, aber auch notwendig, wenn man die gewählte Themenstellung – die Mensch-Tier-Beziehung – nicht einfach nur mit historischen Werken illustrieren wollte. Wir haben daher beschlossen, in jedem Saal mit einem Tierthema solche Annäherungen oder Konfrontationen vorzunehmen. Mich würde interessieren, ob und von welchen Vorbildern Sie dazu angeregt wurden. Im Vorgespräch erwähnten Sie das Museum of Jurassic Technology in Los Angeles. Ich könnte mir auch vorstellen, dass die Ausstellungsprojekte von Jean-Martin Hubert, z. B. im Château d‘Oiron, in Ihrem spielerischen Umgang mit historischen Präsentationsformen wie der Kunst- und Wunderkammer für Sie wichtig gewesen sind. Gab es andere, noch konkretere Bezugspunkte? Bevor wir mit der Renovierung anfingen, haben wir gezielt andere Museen mit ähnlicher Thematik besucht, unter anderem war ich in München im Deutschen Jagd- und Fischereimuseum. Das Museum ist wirklich faszinierend, es ist recht nah am Milieu der Jäger und wohl auch direkt von Jagdvereinigungen getragen. Die Ausstellung ist ganz auf eine wörtliche Lektüre ausgelegt. Aber auch für einen kunstinteressierten Besucher, der sich nicht wirklich für die Techniken der Jagd interessiert, bietet das Museum köstliche Momente, weil die Kombination der Objekte bisweilen einen geradezu surrealen Zug erlangt. Da findet man in einer Vitrine beispielsweise ein romantisches Landschaftsgemälde, das sicherlich die spezielle Landschaft illustrieren soll, und direkt davor haben sie eine lange Otterstange aufgehängt. In dieser Konfrontation liegt eine latente Gewalt, als sei man aufgefordert, in das Bild hineinzustechen. Das ist natürlich so nicht vom Museum gewollt, aber, so scheint mir, was die emotionale Seite betrifft, recht effizient. Darüber hinaus hat mich natürlich das Prinzip der Kunstkammer sehr interessiert: Es birgt die Möglichkeit, ein recht technisches Thema zu behandeln, und dabei auch denjenigen, denen das Thema komplett egal ist, einen emotionalen Zugang dazu zu ermöglichen. Wie verstehen Sie den thematischen Aufbau der Säle und deren inhaltliche Stringenz? Kommt man in den Saal der Vögel, fällt man geradezu über ein aufgelassenes Autowrack, durch welches mit der Zeit die Äste eines Baums hindurch gewachsen sind, das also von der Natur zurückerobert wurde. Der Bezug zum Saalthema „Vögel“ wird erst auf den zweiten Blick deutlich, wenn man feststellt, dass in den Ästen einige Vogelnester stecken – eine künstlerische Intervention, die sich zunächst gar nicht als solche zu erkennen gibt. Vergleichbare Störmomente finden sich auf Ihrem Parcours öfter.
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Der Besucher ist vielleicht schon irritiert, wenn er den ersten Saal der Dauerausstellung betritt. Er sieht dort Kunstwerke, darunter einige von herausragender Qualität – flämische Gemälde des 17. Jahrhunderts, von Rubens und Brueghel –, und mitten im Saal trifft er auf ein ausgestopftes Wildschwein, dessen Präsenz insofern verwirrt, als es eben nicht wie ein Ausstellungsobjekt inszeniert ist. Es steht einfach da auf dem Boden rum, als hätte es sich hierhin verirrt – oder als sei es selbst ein Besucher. Diese Präsenz ist ein wenig ungewöhnlich. Und ist der Besucher aufmerksam genug, dann lässt er sich auf dieses Dispositiv ein, denn es gibt dort Kabinettschränke mit Schubladen, in denen er einerseits Kunstwerke wie eine antike Schale aus dem Louvre findet, und direkt in der Lade daneben gibt es Tierexkremente zu sehen, auf der selben Ebene. Und so kommt es immer wieder zu Überraschungen, zu Fremdheitserfahrungen – „Was soll das denn jetzt da?“ – unnatürlichen Zusammenstellungen, die verwirren, weil man nach dem Status der Objekte als Kunstwerk fragt, oder nicht weiß, ob die Gegenstände allein illustrierend gemeint sind. Das gilt auch für die erläuternden Raumtexte: Überall werden pädagogische Medien eingesetzt, aber diese sind Teil eines permanenten Spiels, da man nie weiß, ob die didaktischen Instrumente nicht selbst Kunstwerke sind, oder ob sie vielleicht nur der Dekoration dienen – bisweilen gibt es falsche Erläuterungen, andauernd wird die Seriosität des Museums infrage gestellt. Ich habe vorhin beobachtet, was passiert, wenn die Besucher den ersten Raum, eben jenen Wildschweinsaal, betreten: Zunächst ist da ein Zögern. Offensichtlich ist vielen unklar, wie man das Angebot des Raumes benutzen soll, ob man die Schränke anfassen darf, die Schubladen herausziehen soll. Die Besucher wirken etwas verloren, denn sie müssen angesichts der heterogenen Objekte eine eigene Art der Aneignung entwickeln. Dann eilte ein Conférencier zur Hilfe – arbeiten Sie also mit einer Art Cicerone-Prinzip? Die ersten Jahre nach der Neueinrichtung war ich sehr zurückhaltend – und tatsächlich bin ich immer noch sehr skeptisch gegenüber allen Mitteln der Deutung, wenn sie der Freiheit der Interpretation und der Emotion keinen Raum lassen. Man hat mich oft gedrängt, Audioguides einzusetzen, die ich – selbstverständlich – abgelehnt habe, weil das für mich die Negation jeglicher Freiheit der Empfindungen bedeuten würde. Ich wollte, dass der Besucher etwas Fremden ausgesetzt ist, das er eben nicht sofort versteht. Aber darin liegt natürlich ein Risiko, etliche Besucher werden von dem Museum nicht erreicht – gut, sie finden die Säle hübsch dekoriert, aber sie verstehen überhaupt nicht, dass es sich um ein Spiel handelt. Die École du Louvre hat mir Studenten geschickt, um per Besucherbefragung herauszufinden, wie das Publikum dieses emotionale Angebot des Museums annimmt. Daraufhin haben wir beschlossen, gleich im ersten Raum des Museums Mediatoren aufzustellen, die das vermitteln, was ich die „Regeln des Spiels“ nenne, die eine Einführung geben, auf welche Weise man mit den Angeboten des Museums „spielen“ kann.
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Das Fremdheitsgefühl, das Sie als eines der Gestaltungsziele nennen, scheint mir auch durch eine gezielte Mischung von Präsentationsformen oder Museumstypen verstärkt: Einerseits gibt es den Parcours der Themenräume, die je einer Tiergattung gewidmet sind – der Wildschweinsaal, der Saal der Vögel, des Hirsches, des Einhorns etc. – und andererseits gibt es Räume, deren Einrichtung auf die ehemalige Funktion im historischen Bauwerk rekurrieren, vor allem im Hôtel de Guénégaud: Die Antichambre, der Salon der Gesellschaften, der Waffensaal, der Trophäensaal – Räume, deren Arrangements vielleicht weniger frei verlaufen sind. Zumindest wirken diese Säle fast wie historische Interieurs. Tatsächlich gibt es diese beiden großen Themen: Die Stiftung beherbergt verschiedene Einrichtungen, unter anderem auch einen privaten Klub. Während der Schließzeiten des Museums sollen die Klubmitglieder freien Zugang zu einigen Museumsräumen haben, vor allem im Hôtel de Guénégaud. Zumeist selbst Jäger, wünschten sich die Mitglieder eine schöne Einrichtung, mit Objekten, die sie kennen – daher die thematische Zweiteilung. Im Hôtel de Guénégaud, mit seinen üppigen Dekorationen, habe ich das Bild der Jagd mit vielen Gemälden und Waffen zum Thema gemacht, die Beziehung zwischen Mensch und Tier dagegen im Hôtel de Mongelas. Die akademische Kunstgeschichte hat sich in den vergangenen Jahren zunehmend mit Fragen der Museums- und Sammlungsgeschichte beschäftigt. Es wurden historische Präsentationsformen untersucht und die Rolle, die verschiedenen Formen des Displays – gewissermaßen als dreidimensionalen Wissensordnungen – bei der Konstruktion und Genese von kulturellem Sinn zukommt. Nun finden sich in Ihrem Museum ganz unterschiedliche Formen der musealen Präsentation in einer Art friedlichen (oder weniger friedlichen?) Koexistenz: Einerseits klassische Vitrinen in der Art der Naturkundemuseen, andererseits künstlerische Kombinationen, deren spielerische Zusammenstellung heterogener Objekte der Kultur-, Wissenschafts- oder Kunstgeschichte sich an den visuellen Strategien der Kunstkammern orientiert. Mark Dion wäre hier zu nennen, der in seinen künstlerischen Arbeiten immer wieder historische Präsentationsformen zitiert und auch bei Ihnen einen Raum gestalten durfte. Ja, es war mein Wunsch, eine Auswahl unterschiedlicher Sammlungs- oder Museumsatmosphären zu evozieren, das Naturkundemuseum, die Kunstsammlung, die Kunstkammer oder das Liebhaberkabinett. Das Resultat dieser Mischungen wirkt dabei sehr ausgeglichen. Man fragt sich, ob noch ausreichend Spiel für zukünftige Interventionen und Weiterentwicklungen bleibt? Die Art und Weise, in der wir das Museum konzipiert haben, mit seinem recht dekorativen Zug und den zitierten Atmosphären traditioneller Museen, hat in der Tat etwas recht Rigides, das bei der Weiterentwicklung ein wenig im Weg stehen könnte.
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Hier scheint gerade der zeitgenössischen Kunst eine entscheidende Rolle zuzufallen. Die bildenden Künste kommen ja in zwei Funktionen in Ihrer Sammlung vor: Auf der einen Seite die historischen Kunstwerke, die Tierstudien von Jean-Baptiste Oudry oder Pieter Boel – Werke, denen ursprünglich selbst eine geradezu wissenschaftliche Funktion zukam, da sie ja nicht allein die Schönheit der Tiere festzuhalten suchen, sondern eben auch die visuelle Besonderheit der verschiedenen Spezies bis ins kleinste optische Detail bekunden. Und auf der anderen Seite laden Sie zeitgenössische Künstler ein, derzeit zum Bespiel die Malerin Françoise Pétrovich, ihre Bilder unter die historischen Werke zu mischen. Der Effekt könnte kaum schockierender sein: Der Blick wandert von den altmeisterlichen Vogeldarstellungen, in denen das Gefieder ebenso präzise wie bezaubernd geschildert ist, als seien die Tiere noch am Leben, auf die flüchtig skizzierten Gemälde, welche die Tiere in ihrem prekären, aktuellen Status einfangen: verscheucht oder gefangen, verletzt, oder zerquetscht – richtig tot ... Wir wollten vor allem jeglichen Schematismus vermeiden – immer wenn sich eine Gruppierung von Objekten ergab, sich eine Art Ordnung oder Organisationsform eingestellt hat, wollten wir abweichende Elemente einfügen, damit der Betrachter sich kontinuierlich fragen muss, was er da sieht und was das bedeutet. Gerade in dem Saal, von dem sie sprechen, der zunächst um das Thema des Vogels entwickelt wurde, und dies unter strikt wissenschaftlichen Gesichtspunkten, da die großen Taxinomien und Tierstudien sich im 18. Jahrhundert zunächst den Vogelgattungen zugewandt haben, in diesen ornithologischen Saal haben wir dann den riesigen weißen Polarbären hineingestellt – als deutliche Warnung an den aufmerksamen Betrachter, und auch das Autowrack, ein Eindringen der Gegenwart, wie Sie schon gesagt haben. Ständig gibt es solche Entgleisungen. Und auch in Zukunft wollen wir immer wieder historische Werke vorübergehend durch aktuelle Arbeiten austauschen. Die Interventionen zeitgenössischer Künstler dienen also dazu, die Ordnung immer wieder infrage zu stellen, in dem sie die Aufmerksamkeit herausfordern oder neu stimulieren? Ja, genau. Ich möchte, dass der Besucher permanent wachsam und aktiv bleibt und in keine mechanische Routine verfallen kann. Die zeitgenössische Kunst sorgt hier für eine Art Interpunktion und ruft: „Achtung, Sie haben nicht alles verstanden!“ Aber ist das nicht auch gefährlich? Ich stelle mir vor, eine Schulklasse kommt in Ihr Museum, deren Schüler gerade in anderen Museen mühsam an Klassifizierungen und Ordnungssysteme herangeführt worden sind: Sie sind vor Kurzem noch die ewig gleichen Vitrinen des Musée des arts et métiers hier in der Nachbarschaft abgeschritten, oder – etwas faszinierender vielleicht – haben in der Paläontologischen Sammlung versucht nachzuvollziehen, wie eine Spezies aus der anderen hervorgeht.
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Bei Ihnen liegt dann plötzlich mitten in der Vitrine mit den ausgestopften Vögeln ein kitschiges Porzellanhäschen, das uns mit großen Augen anglotzt – und die ganze schöne Ordnung kollabiert. Klar. Sicher ist das gefährlich … … oder wenn im Trophäensaal zwischen den ganzen Hirschgeweihen ein ausgestopfter Wildschweinkopf plötzlich das Maul aufreißt und zu brabbeln anfängt. Ich denke, diese Formel darf man nicht verallgemeinern, und sie funktioniert auch nur so lange, wie das Museum, das sich herausnimmt, scherzhaft, ausgelassen und frech zu sein, in einem Kontext steht, in dem die anderen Museen seriös bleiben. Nur im Kontrast ist das effektiv. Und der Effekt ist in Ihrem Museum vor allem ein emotionaler? Oh, das hoffe ich! Zunächst das Lachen: Es gibt viele Stellen, an denen der Besucher das Lachen einfach nicht zurückhalten kann. Aber auch die Furcht: Das brabbelnde Wildschwein oder der aufgerichtete Polarbär mit seinen annähernd drei Metern, da schreckt mancher Besucher doch sicher auch erst mal zurück? Ja, das kommt vor. Einen emotionalen Moment habe ich in Ihrem Haus vermisst. Wenn ich an das Besondere der Jagd denke, dann ist da doch vor allem der Schauder, ein Tier als lebendes Gegenüber zu töten. Sicher, in einigen der alten Kunstwerke taucht dieser Moment auf, aber entfernt, als Thema der Mythologie, wie im Gemälde des Meleager. In Bezug auf die zeitgenössische Jagd sehe ich hier eine Fehlstelle. Halten Sie das Thema für nicht darstellbar? Nun, zunächst halte ich das tatsächlich für nicht repräsentierbar. Es gibt da das schlechte Gewissen des Jägers. Als ich die Dauerausstellung konzipiert habe, war mir ihre schöne, liebenswerte, humorvolle Art sehr bewusst, und schließlich könnte es so wirken, als solle auf diese Weise die zentrale Frage verdeckt werden, nach der Gewalt gegenüber dem Tier. Ich habe dann versucht dieses Thema nachträglich einzufügen, vor allem in den temporären Ausstellungen. Gleich die Eröffnungsschau mit den Fotos von Eric Poitevin, welche die alte Kunst mit einem zeitgenössischen Medium befragten, war diesbezüglich hart und zeigte tote Tiere. Interessanterweise gab es zwei völlig entgegengesetzte Reaktionen: Seitens der Kunstwelt gab es viel Unterstützung, man verstand diese Ausstellung so, dass das gesamte Museum als
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Installation gemeint ist – und aus diesem Grund wurde die Darstellung von Gewalt durchaus geschätzt. Vonseiten der Jäger hingegen wurde das geradezu als Verrat verstanden. Man zeigt den Tod des Tieres eben nicht, das verbietet sich von selbst. Und Sie haben recht – in der Dauerausstellung habe ich die Funktionsweisen der Waffen in kleinen historischen Filmen vorzuführen versucht, die aber alle etwas Gefälliges behalten: Da sehen wir den Jäger gegenüber dem Wild, und wenn der Schuss fällt, kommt es jedes Mal zu einer kleinen Volte, das Tier zerbricht das Geschoss oder macht sich aus dem Staub. Es gibt also immer einen kleinen Witz oder ein „Happy End“, weil man eben den Tod nicht zeigen kann. Im Gegenzug finden wir den Tod bei den alten Meistern, vor allem bei den flämischen Malern, die ja zum Teil extrem brutale Kämpfe unter Tieren dargestellt haben. Die zeigen aber eine Gewalt, die von unseren Alltagserfahrungen recht weit entfernt bleibt und die wir uns emotional gut auf Distanz halten können. Erlauben Sie mir eine letzte Beobachtung, die daran anschließt. So spielerisch Ihr Haus angelegt ist und so integrativ es mit den zahlreichen Hands-on-Bereichen die Besucher einbezieht, fehlt mir vor allem ein „Mund-auf-Bereich“. Sie ahnen, was mir vorschwebt: Zum Erlebnis der Jagd gehört doch das Geschmackserlebnis beim Verzehr von Wild ganz entscheidend dazu. Da läge doch gerade in Ihrem Museum – mehr noch als in vielen anderen – die Einrichtung eines Restaurants als wesentlicher, und vor allem auch inhaltlicher Part nahe; nicht allein um verschiedene Wildgerichte kennenzulernen, sondern auch in Hinsicht auf den Mensch-Tier-Bezug. Ehrlich gesagt, kann ich mir kaum eine aktuellere Frage vorstellen, als unseren Umgang mit tierischer Nahrung, der ja inzwischen nahezu komplett denaturalisiert ist. Vielleicht läge darin ja auch ein pädagogischer Auftrag? Zwei Dinge bedaure ich in der Tat in Bezug auf das Museum: Da ist zunächst der Museumsladen, der mir fehlt. Es gibt so viele, wichtige Reflektionen zum MenschTier-Bezug und zur Jagdkultur als Lebenskunst, die man in einer Bücherei zeigen müsste. Und zweitens natürlich das Restaurant: Die Idee, Tiere zu essen, markiert ja den Kern unserer Problematik. Wir sind Fleischfresser – ist das gut oder nicht? Das ist die essenzielle Frage, wie ich sie in meinem letzten Buch L’ art d’accommoder le gibier aufgeworfen habe. Für ein dauerhaftes Restaurant fehlt uns leider der Platz. Aber im Begleitprogramm möchten wir diesen Aspekt in Form kulinarischer Happenings, die sich zwischen zeitgenössischer Kunst und traditioneller Gastronomie bewegen, auf jeden Fall immer wieder mit einbeziehen. Herzlichen Dank für das Gespräch! (Übersetzt aus dem Französischen)
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„Es fühlt sich entweder zu zahm oder zu gefährlich an, mit Kunstwerken ist es interessant …“ Ken Arnold, Leiter der Abteilung Öffentliche Programme an der Wellcome Collection, London, im Gespräch mit Jennifer Carvill
Die Wellcome Collection in der Londoner Innenstadt stützt sich auf die umfangreiche persönliche Sammlung von Sir Henry Wellcome, eines amerikanischen Pharma-Unternehmers, der in Großbritannien lebte. 2007 als Teil des Wellcome Trust – der weltweit größten karitativen Stiftung zur Gesundheitsforschung von Mensch und Tier – eröffnet, besteht die Dauerausstellung aus zwei zusammengehörigen Schauen, die sich aber in puncto Ästhetik und Herangehensweise stark unterscheiden. Medicine Man zeichnet sich durch einen eher traditionellen, ethnografischen Zugang zu Objekten aus und geht auf eine Wechselausstellung zurück, während Medicine Now Medizin auf dem neuesten Stand zeigt und Wissenschaft und Kunst kombiniert.
Ken Arnold, dem Wellcome Trust wurde von Sir Henry Wellcome eine gleichermaßen umfangreiche wie eklektische Sammlung hinterlassen. Wo fängt man an, will man aus so einer Sammlung eine Ausstellung entwickeln? Die Geschichte der Sammlung beginnt mit diesem außergewöhnlichen viktorianischen bzw. edwardianischen Herrn, der mit Pharmaka viel Geld verdient hatte und in seinem Testament den Wellcome Trust einrichtete, einem Mann, der im Sammeln der Welt durch die Augen eines medizinischen Experten eine leidenschaftliche Nebenbeschäftigung gefunden hatte. Er betrachte alles unter dem Gesichtspunkt, was es in Hinblick auf Gesundheit und Wohlergehen bedeutete – ich bin mir nicht sicher, dass er das so formulieren würde – und schließlich hatte er mehr als eine Million Objekte: von Tausenden afrikanischen Speeren und Schildern über Zahnarztstühle und Kochbücher bis hin zu Sexhilfen und Amputationswerkzeugen. Seine Hinter-
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lassenschaft ist eigentlich ein fabelhaftes Kuriositätenkabinett, widerspenstig und im besten Wortsinne undiszipliniert, und mit ziemlich wenigen Vorgaben, was man darüber denken soll und warum es gesammelt wurde. Wellcomes bis 1936 gewachsene Sammlung ist für uns heute eine sagenhafte Aladins-Höhle voller erstaunlicher, inspirierender Dinge, die mit Gesundheit zusammenhängen. Was die im Jahr 2007 gegründete Wellcome Collection betrifft, waren wir von Henry Wellcomes Vision und der Sammlung, die er rund um sie ansammelte, inspiriert. Erfreulicherweise gab es für uns nur wenige Vorgaben, und so konnten wir vieles neu interpretieren. Dazu gab es ein Gebäude, das von der beaufsichtigenden Organisation nicht mehr benötigt wurde. Wir richteten einen temporären Ausstellungsort im Science Museum ein, wo wir Medicine in Context ansetzten, eine Reihe von Übungsausstellungen für das, was wir hier tun würden, und dann arbeitete ich noch an einer großen Wechselausstellung am British Museum, die die erste Version von Medicine Man werden sollte. Unser Ziel war es, das Publikum für etwas zu interessieren, das sich von allen anderen Angeboten in London unterschied. London hat einen ziemlich überfüllten Kulturbereich und wir haben viel Zeit darauf verwendet, Wiederholungen bereits existierender Ausstellungsangebote und -inhalte zu vermeiden. Wichtige Voraussetzung unserer Arbeit war auch, dass die Interessen der Organisation ja nicht nur auf Wissenschaft und Medizin beschränkt waren, sondern sich ebenso auf Geschichte und Anthropologie, auf Archäologie, Kunst und Design bezogen. Es galt, all dies unter dem Konzept von Gesundheit und Wohlergehen zusammenkommen zu lassen. Unser Eröffnungs-Slogan war also Medicine, Life and Art – weit genug, um all das zu fassen, was wir tun würden. Innerhalb dieser Parameter haben wir schon sehr früh das gängige Modell eines Museums umgekehrt und uns die Idee eines Kulturzentrums, vielleicht auch einer Kunsthalle, geborgt, die primär Projekte, Wechselausstellungen und Live-Events auf die Beine stellt, die kurzfristig stattfinden und dann weiterziehen. Diese Projekte platzieren wir am Beginn des Rundgangs und stellen sicher, dass alle, die uns besuchen, eines davon sehen. Erst gegen Ende des Besuchs kommt bei uns das, was in einem Museum normalerweise zentral ist: die Dauerausstellung. Da sich die temporären Präsentationen unten befinden, die Dauerausstellung aber oben zu sehen ist, mussten wir die Funktion der Dauerausstellung überdenken. Sie war ja primär als Ort des zwanglosen Umsehens gedacht, als Ort, den die Leute als lohnend genug empfinden würden, um wieder zu kommen. Vor dem Hintergrund der räumlichen Situation planten wir zwei Bereiche: einen, salopp gesagt, für das „alte Zeugs“ und – im Wissen, dass die Medizin mit Wellcomes Tod 1936 ja nicht aufgehört hatte – einen zweiten, um die Geschichte auf den neuesten Stand zu bringen. Einige Bereiche wurden so konzipiert, dass sie vom einem zum anderen Bereich führen. Wir haben uns aber auch bemüht, zwei verschiedene Orte zu entwickeln. Sowohl Kontinuität als auch Verschiedenheit sind also die Schlüsselbestandteile, die wir gegeneinander auszuspielen versuchen.
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Herausgekommen ist ein Kabinett für Neugierige, aber kein Kuriositätenkabinett, wie ich betonen möchte. Und wir haben diesen Slogan, von dem ich wünschte, er wäre von mir, wir nennen uns: „Das kostenlose Ziel für die unheilbar Neugierigen“. Sie haben erzählt, dass der Bereich Medicine Man auf eine Wechselausstellung zurückgeht, die Sie im British Museum kuratiert haben. Es ist ungewöhnlich, dass ein Kurator auf eine solche Weise die Möglichkeit erhält, für eine permanente Ausstellung zu „üben“, Dinge auszuprobieren, zu experimentieren. Was haben Sie in Ihrer zweiten Ausstellung anders gemacht? Die erste Ausstellung hat, wie wir glauben, gut funktioniert, aber wir haben auch dazugelernt und erprobten es ein zweites Mal. Manche haben beide Versionen gesehen, und je die Hälfte davon hielt die erste, die andere Hälfte die zweite Ausstellung für die bessere. Für mich bestand bereits ein Unterschied im Wissen um die Dauer der jeweiligen Ausstellung. Die erste Version hatte mehr Platz und fand im Kontext des British Museum statt, es gab also ein einige sehr rigide Kulturauffassungen, mit denen wir konfrontiert waren, aber ich glaube, dass uns das auf seltsame Art geholfen hat. Das British Museum ist sehr geradlinig und man weiß, wo man ist. Wir wollten kreativer sein, wollten eine etwas diagonalere Interpretation von Kultur zeigen. Nicht in Raum und Zeit verankert, sondern in Ideen verwurzelt. Also Medizin durch Zeit und Raum. Das Museum war ein großzügiger Gastgeber und am Projekt interessiert – aber wir entsprachen nicht dem, wie die Welt dort gesehen wird, und waren zum Beispiel ein wenig ungezogen beim Gruppieren gewisser Objekte gemeinsam mit anderen Objekten, was unter British-MuseumAspekten nicht viel Sinn ergab. Es half allerdings, etwas Aufregung für das, was wir tun wollten, zu erzeugen. Wir machten auch ziemlich viele Erhebungen. Unser Umgang mit menschlichen Überresten änderte sich in der zweiten Version. Auch versuchten wir, die Präsenz von Henry Wellcome zu verstärken. Tatsächlich finden manche Leute, dass wir auf dieser ganzen Wand noch zu wenig über ihn zeigen. Wir haben dieselben Vitrinen wieder verwendet. Es sind sehr nette Vitrinen, und hauptsächlich ging es darum, Geld zu sparen. Können Sie die beiden Ausstellungsbereiche Medicine Man und Medicine Now ein wenig näher beschreiben, auch mit dieser Idee der „Kontinuität und Verschiedenheit“, von der Sie sprachen? Tatsache ist, dass einer dieser Bereiche „vorgekocht“ war, wenn Sie so wollen. Wir adaptierten diese Schau, die es im British Museum schon gab, und die andere entstand komplett neu. Das Designteam arbeitete an beiden Ausstellungsbereichen, die zusammenhängend entwickelt wurden. Das British Museum leistet fantastische Arbeit, aber es fühlt sich manchmal so an, als ginge man einfach von einem Raum
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in den nächsten. Man steht dort vor einigen der erstaunlichsten Objekte, aber die Erfahrung ist stets recht genau dieselbe, ganz egal, ob die Exponate aus China oder Ägypten oder Südamerika kommen. In diesem Sinn, denke ich, wollten wir es schockierend anders haben – nicht provokant anders. So, dass man schon ziemlich unaufmerksam sein müsste, um zu denken: „Oh, noch ein Raum voller Zeugs“. Die Ingredienzien blieben aber sehr wohl dieselben. Mich interessiert an Exponaten, dass sie ein Leben haben, das außerhalb des Museums begann. Fast nichts wurde erzeugt, nur um hier gezeigt zu werden. Dieses Wissen setzt sich als Thema durch beide Teile der Ausstellung fort. Grob gesprochen zeigen auch beide die Früchte wissenschaftlicher und künstlerischer Unternehmungen und stellen materielle Überreste unseres alltäglichen Lebens aus. In diesem Sinn sind Kunst, Wissenschaft und Alltagsleben Teile von beiden Bereichen. In unseren Führungen werden die Themen verbunden, indem absichtlich „einst und jetzt“ verglichen wird, beispielsweise bei einem Objekt, das Verbindungen zur Fettleibigkeit hat. In Medicine Now liegt dies auf der Hand, und dann findet man in Medicine Man ein Gemälde, das Daniel Lambert darstellt, jenen Mann aus Leicester, der zu seiner Zeit – Ende des 18., Anfang des 19. Jahrhunderts – der schwerste Mann der Welt war. Wellcome erwarb auch Daniel Lamberts Sessel, er ist jetzt wieder in Leicester, aber ich würde ihn gerne neben all den anderen Stühlen ausstellen. Es gibt diese Verbindungen, und wenn man aufmerksam ist, findet man sie. Wir versuchen sehr stark, kuratorisch experimentell zu sein, sowohl in Medicine Man als auch in Medicine Now. Über allem steht der Versuch, Dinge mittels anderer Ideen zu zeigen, aber auch individuell zu handeln. Gleich und anders, wahrscheinlich. Auch im Bezug auf das Publikum und den diversen Angeboten, wie etwa den AudioSegmenten oder den herausziehbaren Laden, sind die Schauen gut verbunden. Als weitere nette „Brücke“ zwischen den beiden Ausstellungen fallen mir die anatomischen Figuren in Medicine Man und die CT-Scans sowie Gunther von Hagens’ transparente Körperscheiben in Medicine Now ein. Die stärkste Verbindung ist wahrscheinlich das ewige Streben, uns selbst zu kennen. Das ist ein wenig ein Mantra der Medizin, wenn man so will, die Vorstellung, den Körper zu verstehen. Einer der großen thematischen Schaukästen in Medicine Man ist diesem Umstand gewidmet, ebenso wie eines der Hauptthemen in Medicine Now: Visualising the Body. Damals wie heute geht es um dieselbe elementare Idee, in den Körper hineinzusehen und herauszufinden, was da vor sich geht. Inwiefern wurde die Entscheidung zur Zweiteilung der Schau durch die Tatsache nahegelegt, dass Wellcomes Sammeln mit seinem Tod 1936 endete? Und inwiefern war für die Themenwahl im Bereich Medicine Now die heutige Tätigkeit des Wellcome Trust wegweisend?
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Wenn man sehr aufmerksam ist, wird man in Medicine Now, im Bereich über Malaria, ein ganz reizendes Set an Wachsinsekten sehen, das von Wellcome in Auftrag gegeben wurde. Im Großen und Ganzen nimmt Medicine Man Henry Wellcomes Perspektive ein und verwendet die Dinge, die er sammelte. Er starb 1936. Wenn man also Gegenstände auswählt, neigt man dazu, zunächst jene aus der Zeit vor 1936 zu nehmen. Die grundlegende Regel in Medicine Now hingegen war, Medizin ab 1936 als Phänomen um uns herum zu thematisieren. Natürlich passiert nichts ohne historisches Erbe, weshalb auch viele der Objekte in diesem Bereich aus der Zeit vor 2007 stammen, als es das erste Mal aufgestellt wurde. Der Wellcome Trust finanziert einen beachtlichen Teil der weltweiten Medizinforschung und wir sind daher in der privilegierten Position, zu vielen in medizinischer und wissenschaftlicher Hinsicht interessanten Dingen Zugang zu haben. Andererseits wollen wir auf keinen Fall mit irgendeiner Art Marketing verwechselt werden. Es ist nicht unsere Job zu vermitteln, wie wundervoll die wissenschaftliche Forschung ist. Das ist nicht Auftrag einer öffentlichen Galerie. Wo wir uns ein wenig dabei ertappen, ist der Bereich des menschlichen Genoms. Der Trust finanziert ungefähr ein Drittel dieses Programms, es ist also eigenes Terrain. Gleichzeitig gehört dieses Feld zu den konzeptuell interessantesten in der Medizin der letzten zehn oder 20 Jahre. Ich sehe es als glücklichen Zufall, dass die wichtigen Dinge, die wir zeigen wollen, sich manchmal genau mit jenen überschneiden, mit denen der Trust befasst ist. Klarerweise nutzen wir unsere institutionellen Kontakte auch, um Material zu beschaffen. Und wir wollen offen genug sein, auch nicht-wissenschaftliche Exponate zu integrieren. Die Kunstwerke sind nicht in der Ausstellung, um das, was der Wellcome Trust macht, zu beleuchten. Mit wenigen Ausnahmen sind diese Kunstwerke keine Auftragsarbeiten, sondern wurden angekauft, nachdem sie andernorts ausgestellt waren. In einigen Fällen haben wir uns entschieden, Werke in Auftrag zu geben, sie gehören aber nicht zu den besten in der Sammlung. Das Problem bei beauftragten Kunstwerken ist, dass man entweder bekommt, was man in Auftrag gab – dann fragt man sich, warum man einen Künstler dazu gebraucht hat. Oder aber der Künstler ist mutig genug zu sagen: „Egal, wie der Auftrag lautet – ich mache genau das, was ich will.“ Das hält man dann für sehr interessant, aber man kann es nicht zeigen, weil es überhaupt nichts mit dem zu tun hat, was man ausstellen oder sagen wollte. Es fühlt sich entweder zu zahm oder zu gefährlich an, mit Kunstwerken ist es interessant. Wir geben nach wie vor Kunst in Auftrag, es lohnt sich, das zu tun – aber beide Richtungen haben ihre Tücken. In beiden Ausstellungen gibt es etwas, das man „Experten-Intervention“ nennen könnte – wie etwa der Audioteil zu Medicine Man, das vier verschiedene Perspektiven zu einer Reihe von Objekten anbietet, oder künstlerische Interventionen wie in Medicine Now. Können Sie etwas darüber erzählen?
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Diese Interventionen sollen ein wenig das Klischee über das museologische Denken illustrieren, dass nämlich jedes Objekt – je nachdem, wie man es betrachtet – hundert verschiedene Dinge erzählen kann. Wir haben ja all diese kostbaren, bedeutungsschwangeren Objekte, prall voll mit Geschichten, und oft endet es damit, dass sie – einmal ausgestellt – eher eindimensional betrachtet werden: auf die 100 Wörter große Beschriftung beschränkt, die sie zu enthalten scheint. Wie können wir also zeigen, dass diese Dinge zwei oder drei anstatt nur ein Leben hatten? Das war ziemlich genau der Grundgedanke, als wir Medicine Man erstmals aufstellten: Wir hatten einen riesigen Tisch mit sechs besonders sinnträchtigen Objekten im ersten Raum und suchten drei verschiedene Personen, die über jedes der Objekte sprachen. Die Objekte sind heute teilweise andere, die Methode ist dieselbe. Welche Expertinnen und Experten wurden in das Projekt involviert? Es gibt, grob gesagt, die Expertise der Wissenschaftler, der Künstler oder kreativen Interpreten und die der Patienten, Fachleute bzw. Benutzer. Bei vielen ist das also dreigeteilt. Beispielsweise beim vermeintlichen Haar von George III.: Wellcome kaufte es im Glauben, es sei seines, genau genommen wissen wir nicht, ob das stimmt. Also war es für uns interessant, Alan Bennett dafür zu gewinnen, darüber zu sprechen, weil er so ein außergewöhnliches Stück über den Wahnsinn von George III. geschrieben hatte, und das Haar offenbarte ihm eine spezielle Sicht auf ihn als Patient. Dann baten wir einen Wissenschaftler um ein paar Analysen; zu diesem Zeitpunkt war das nicht möglich, sonst hätten sie vielleicht sogar etwas DNA bekommen, auf jeden Fall haben sie hohe Arsen-Werte gefunden und sich gefragt, ob das mit Porphyrie zusammenhängen könnte. Und dann gibt es noch eine Frau namens Ruth Richardson, die sich für Haare in der Kunst interessiert. Wir liebten die Idee von der Stimme über deiner Schulter, die sagt: „Hast du schon mal so darüber nachgedacht?“ Auf diese Weise geht es nicht nur um das Objekt, sondern darum, was man über das Objekt weiß. Das war das Prinzip: ein Versuch, Objekte in Medicine Man auf drei verschiedene Arten zu kuratieren; wie offensichtlich das ist, weiß ich nicht. Neben diesem Prinzip des Blicks aus der Richtung unterschiedlicher Disziplinen gibt es für die Ausstellung weitere Prinzipien. Welche sind das? Insgesamt besteht die Ausstellung aus einer Reihe von Objekten, die sich rund um eigentlich lächerlich breite Themen gruppieren, wie „Ende des Lebens“, „Beginn des Lebens“, „Hilfe suchen“ und „Sich selbst behandeln“. Wegen des geringeren Platzes mussten wir in der zweiten Version sechs Themen auf fünf komprimieren. Wir definierten sie nach thematischeren Gesichtspunkten und machten Dinge, die das British Museum nie tun würde, wir stellten etwas aus dem Alten Ägypten neben etwas Japanisches aus den 1930er-Jahren. Diese schrillen Nebeneinanderstellungen
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haben wir zum Beispiel gewählt, wenn es beim Gegenübergestellten um Sex oder Tod geht. Ein letztes Prinzip wird in einem Art „Museen-Museum“ deutlich. Wellcome sammelte ja in so großem Rahmen, dass er mit ein paar pharmazeutischen Gläsern nicht zufrieden war, er sammelte ganze Apotheken. Es gibt also diese ganze Masse
Wellcome Collection London, Detail Ausstellungsansicht, © Wellcome Images
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an Objekten, und er war sehr von Pitt Rivers und dessen Sammeltätigkeit inspiriert. Wir beschlossen, Geschichten zu erzählen, indem wir verschiedene Objekttypen betrachten und dabei beobachten, wie sie sich schrittweise im Laufe der Zeit und in verschiedenen Kulturen entwickeln, wie bei den Masken. Etwas von dieser Denkweise floss auch bei Medicine Now ein. Auch dort suchten wir nach Themen und fanden sie in Understanding the Body und Genetics; Zweiteres, weil es in der modernen Medizin ein zentrales Thema ist. Außerdem wollten wir einen Bereich zur Frage „Was, wenn der Körper sich nicht benimmt und etwas schief geht?“ Wir veranschaulichen diese Frage an zwei Beispielen: Zum einen am Beispiel einer Malaria-Infektion, wie sie in Entwicklungsländer vorkommt, und zum anderen am Beispiel der Fettleibigkeit, als Mischung aus Lebensstil und genetischen Spuren, wie wir sie aus den entwickelten Ländern gut kennen. Wichtig ist uns dabei auch, zur Reflexion anzuregen. Wir versuchen dies in einer Verbindung von zeitgenössischer Kunst mit wissenschaftlichen Objekten und solchen der Alltagskultur. In Medicine Man mischen sich diese Objekte großzügig, in Medicine Now beschlossen wir, die Kunst in diese Würfel zu setzen, sie also räumlich abzutrennen. Dabei scheinen mir die Grenzen zwischen den von Ihnen genannten Objektgruppen zu verschwimmen. Es gibt Objekte, wie Gunther von Hagens’ Querschnitt durch den menschlichen Körper, der sowohl eine ästhetische Qualität als auch eine erzieherische Intention hat. Der wird außerhalb des Würfels gezeigt. Es ist interessant, denn wir haben da zwei menschliche Formen: eine aus dem frühen 20. Jahrhundert, bei der man einen Knopf drückt und die Organe leuchten innen auf, und eben von Hagens’ transparente Figur. Die beiden sind im Wesentlichen schon fast dasselbe. Sie sind beide transparent und werfen die Frage auf, welche von ihnen Kunst ist. Denkt man an Damien Hirst, sieht von Hagens’ Präparat aus, als könnte es zeitgenössische Kunst sein, aber von Hagens würde erklären, dass es nicht ein Fitzelchen Künstler in ihm gibt. Er ist ein Anatom, der sehr stark zur Selbstdarstellung neigt. Das Objekt außerhalb des Kunstwürfels zu behalten war also genau richtig. Auch das zweite Objekt ist zumindest optisch Kunst. Wir sind hier an einem wichtigen Punkt. Es geht immer auch ein wenig um das Spiel, wie man Dinge betrachtet und was sie sind. Wir sehen es als völlig legitim an, Kunst zu zeigen, obwohl wir absolut keine Kunstgalerie sind. Die Kunstwelt hat die letzten Jahrzehnte damit verbracht, die Wände der Kunstgalerien niederzureißen und Orte zu finden, an denen Kunst außerhalb des „Kunst mit großem K“-Kontexts ins Leben von Menschen treten kann. Insofern machen wir auch etwas für die öffentliche Auseinandersetzung mit Kunst, auch wenn das nicht zu unserem öffentlichen Auftrag zählt. Es liegt ja auch ein gewisser Witz darin, dass diese von Ihnen erwähnten Würfel die Kunst buchstäblich in „White Cubes“ platzieren.
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Das war zweifellos etwas, das die Designerin im Kopf hatte, nachdem sie sie ursprünglich innen rot einfärben wollte. Vielleicht wollten wir aus einem gewissen kuratorischen Konservativismus heraus die weißen Würfel beibehalten. Man hat den Eindruck, dass Ausstellungen der Wissenschaftsgeschichte andere Besucherinnen und Besucher ansprechen, als Kunst-Ausstellungen, dass Präsentationen im klassisch musealen Stil ein anderes Publikum anziehen, als eher experimentelle Schauen zwischen den Disziplinen. Teilen Sie diesen Eindruck? Gefallen die zwei verschiedenen Ansätze in Ihrer Ausstellung auch zwei unterschiedlichen Typen von Besuchern? Ich glaube schon, dass das so ist. Man kann wahrscheinlich sagen, dass Medicine Man von Beginn an populärer war und besser aufgenommen wurde als Medicine Now. Eine gewisse Patina dieses Bereichs legt eher nahe, was man im Museum häufig tut: über Dinge längst vergangener Tage staunen. Sie erfüllt viel von diesem „Guter Gott, bin ich froh, dass ich heute lebe und dass ich mit diesem fies aussehenden Ding dort – was immer es sein mag – nichts zu tun habe.“ Viele moderne Wissenschaftsmuseen unterliegen der Versuchung mürrisch zu sein, und ich schätze es daher, dass wir einen Film bei den Gruselfilm-Machern The Quay Brothers in Auftrag gegeben haben. Wir wollten diese unheimliche, schaurige Atmosphäre, die die Leute zur Frage bringt: „Was passiert hier, wenn die Lichter ausgehen?“ Das ist ein Teil dessen, was uns ausmacht. Ich wollte diese Atmosphäre nicht verlieren, aber eben auch nicht zu dick auftragen. Das ist es, worauf das Publikum in Medicine Man anspricht. Und auch der Kunstwelt gefällt das: In zeitgenössischen Kunstzirkeln gibt es eine große Affinität zu altmodisch komponierten Kuriositätenkabinetten. Ursprünglich überlegten wir, dass es toll wäre, einen Künstler mit einer Installation zu beauftragen, und wir dachten an Mark Dion. Uns wurde dann aber bewusst, dass Wellcome selbst schon ziemlich verwegen war. Er würde einen wahrscheinlich dafür erschießen, wenn man das sagt, aber Wellcome war nahezu ein zeitgenössischer Künstler, er hatte etwas von dieser Empfindsamkeit. Also warum sollten wir nun einen anderen Künstler holen, damit er etwas überlagert oder wiederholt, was ohnehin schon da ist? Medicine Now findet andererseits interessanterweise speziell in der Wissenschaftswelt Anklang. Ohne je wirklich darüber nachgedacht zu haben, denke ich, dass dem so ist. Wissenschaftler mögen die Kunst, weil Wissenschaft so restriktiv sein kann, es gibt kaum Platz für Emotionen: Man muss die Disziplin fokussieren und alle Mehrdeutigkeiten weglassen. Hier findet sich aber eine Ausstellung zur zeitgenössischen Wissenschaft, die Mehrdeutigkeit und persönliche Perspektiven mit offenen Armen aufnimmt. Ich glaube, dass Wissenschaftler darin eine gewisse Freiheit erkennen, die sie mögen. Ich denke, dass wir für Leute, die zeitgenössische Kunst nicht kennen oder nicht sicher sind, was sie davon halten sollen, ein paar sehr interessante Stücke in der Ausstellung haben.
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Was ich an der Art der Einbeziehung von Kunst mochte, war, dass die Beschriftungen erklären konnten, warum ein spezielles Werk an einer bestimmten Stelle der Ausstellung ausgewählt worden war und welche Fragen es in Bezug auf das Thema anspricht oder stellt. Ich halte nichts von dieser Geheimniskrämerei rund um die Kunst, nicht zu sagen, wer ein Werk wann und mit welcher Intention gemacht hat. Mit dem Wissen über eine Arbeit verliert Kunst meiner Ansicht nicht an Subtilität und Mehrdeutigkeit, wie es in Kunstkontexten manchmal befürchtet wird. In der praktischen Umsetzung wollten wir eine gute Balance finden und etwas Erklärung bieten, ohne das Werk gleich ganz wegzuerklären. Die eigentliche Gefahr für Kunst außerhalb des Kunstkontexts ist, dass sie ignoriert wird. Ein kleines bisschen an Wissen oder Information über das Kunstwerk erregt Aufmerksamkeit, ohne das kreative Genie seines Schöpfers zu reduzieren. Im Museum geht es auch nicht darum, die Leute zu verwirren und zu benebeln, das fände ich faul, arrogant und letzten Endes uninteressant. Ich wollte, dass wir nicht in diese Falle tappen, wie es manchmal in Bereichen zeitgenössischer Kunst passiert. Die Art von Kunst bzw. Künstler, die wir einbeziehen, ist sehr speziell. Es sind – im Großen und Ganzen – Künstler, die sich mit einigen Aspekten der Welt befassen, mit denen sich auch medizinnahe Wissenschaftler beschäftigen. Eine sehr eingeschränkte Gruppe also, die ihre persönliche Perspektive im Hinblick auf bestimmte Fragestellungen einbringt. Und wir dachten es wäre nett, einige von diesem künstlerischen Fragen und Teile der Methodologie zu teilen und auf die Vermittlung zu übertragen. Wir hofften, dass die Beschriftung das Werk etwas exponieren und die Auseinandersetzung fördern würde. Das hat im Wesentlichen gut funktioniert, denke ich. Unsere Kuratoren sind auch gute Autoren, und ich hoffe, dass wir größtenteils lebendige Texte haben, die der Erfahrung der Betrachtung des Werks etwas hinzufügen. Wir wollen, dass die Leute das Werk ansehen, sich dafür begeistern, die Beschriftung lesen, etwas Information finden und – wenn das alles gut funktioniert – sich wieder dem Werk zuwenden. Beschriftungen, die gut funktionieren, erlauben es einem niemals, sich dem Werk nicht wieder zuzuwenden. Der Test für eine gute Beschriftung ist, ob man nicht anders kann als zum Objekt zurückzukehren. Wenn man damit zufrieden ist, einfach nur die Beschriftung gelesen zu haben, dann hat sie ihre Aufgabe nicht gut erfüllt. In der Kunst geht es um Körper, in der Ausstellung gibt es aber auch Körper in Form menschlicher Überreste. Man hat den Eindruck, dass auch hier viel Gedankenarbeit über die Form der Einbeziehung und Präsentation aufgewandt wurde. Können Sie abschließend dazu etwas sagen? Die Humain Tissue Authority dachte, dass sie das, was hier im Museum passiert, etwas angeht. Es gab auch eine große Sorge wegen der aktuell international geführten Debatten rund um kulturelles Erbe und Fragen der Restitution. Vor diesem Hinter-
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grund haben wir überlegt, ob es sich lohnt, menschliche Überreste auszustellen. Wir haben uns entschieden, in dieser Sache hartnäckig zu sein. Und mit der Entscheidung, bestimmte Dinge zu zeigen, kam auch die Beflissenheit, sensibel und rücksichtsvoll zu sein. Mit der Präsentation stellen wir uns zum Beispiel die Frage, was diese Materialien verschiedenen Leuten zu verschiedenen Zeiten an verschiedenen Orten bedeutet haben. In unserer ersten Version von Medicine Man hatten wir diese große Vitrine zum Thema Tod, und in der Mitte war eine peruanische Mumie zu sehen. Einigen wäre es lieber gewesen, wenn wir sie nicht gezeigt hätten. Manche Kuratoren des British Museum waren auch ganz unglücklich darüber, dass wir sie mit anderen Materialien kombinierten. Wir überdachten das beim zweiten Mal, beschlossen aber, die Mumie dennoch zu zeigen. Wir konsultierten die peruanische Botschaft, wir forschten viel, debattierten das Für und Wider der Präsentation. Mit dem Rückhalt des damaligen peruanischen Botschafters haben wir die Mumie dann aber doch ausgestellt. Wir zeigen sie nun separat in ihrem eigenen, diskreten Behälter. Vielen Dank für das Gespräch! (Übersetzt aus dem Englischen)
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Cover des Kataloges zu Ausstellung „Le Musée sentimental de Cologne“, 1979
Musée Sentimental und das Ausstellen von Geschichte Anke te Heesen, Professorin für Wissenschaftsgeschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin, im Gespräch mit Bettina Habsburg-Lothringen
Ab dem Frühjahr 2010 und über den Zeitraum von drei Semestern leitete Anke te Heesen (damals Professorin am Ludwig-Uhland-Institut für Empirische Kulturwissenschaft der Universität Tübingen) gemeinsam mit Susanne Padberg (Galerie druck & buch, Tübingen) eine Lehrveranstaltung, die die Entstehungszusammenhänge und Kontexte des Musée Sentimental de Cologne (1979) im Kölner Kunstverein zu ermitteln versuchte. Die mit Marie-Louise von Plessen, Daniel Spoerri und anderen Beteiligten geführten Gespräche waren Grundlage des 2011 im Hatje Cantz Verlag publizierten Buches Musée Sentimental 1979. Ein Ausstellungskonzept.
Anke te Heesen, Dauerausstellungen wirken im Vergleich zu temporären Ausstellungen oft konservativ. Es wäre aber falsch anzunehmen, dass sie nicht auch Moden folgen, und Ansätze und Zugangsweisen, die in temporären Ausstellungen erprobt wurden, finden Eingang in Neukonzeptionen ständiger Ausstellungen. Für historische Ausstellungen scheint das Musée Sentimental so ein Konzept zu sein, das heute auch die Kuratoren und Gestalter neuer Dauerausstellungen inspiriert. Nun haben Sie sich mit einer Gruppe von Studierenden mit dem Musée Sentimental, seinen Prinzipien und Umständen auseinandergesetzt und mit seinen Protagonistinnen und Protagonisten gesprochen. Was hat Sie an dieser Ausstellung – Sie bezogen sich in Ihrem Projekt konkret auf das Kölner Musée Sentimental von 1979 – und seinem Konzept interessiert? Das faszinierende am Musée Sentimental ist, dass es meines Erachtens zeitgenössische Kunst und Geschichte vereint. Musée Sentimental wird ja weitgehend als ein Projekt Daniel Spoerris rezipiert und mit unserem Studienprojekt wollten wir deut-
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lich machen, dass das sicherlich ein ganz wesentlicher Aspekt ist: Daniel Spoerri hatte, wenn ich das richtig verstanden habe, auch die Idee dazu, das Ganze ist auch aus seinem künstlerischen Kontext heraus entstanden. Nichtsdestotrotz hat er sowohl die erste Ausstellung 1977 als aber dann auch die zweite 1979 unter anderem mit Marie-Louise von Plessen gemeinsam vorangetrieben. Sie war zu diesem Zeitpunkt nicht nur ausgebildete Historikerin mit einer Dissertation, sondern gleichzeitig auch als Regisseurin tätig. Auch sie hat einen Blick für künstlerische, für narrative Aspekte gehabt, die vielleicht in einem Objekt oder in einer räumlichen Konstellation liegen konnten. Musée Sentimental bedeutet als sentimentalisches Museum nichts anderes, als dass in ihm Objekte gezeigt werden, die – ganz verkürzt gesagt – eine eigene Geschichte erzählen können, und die mit gewissen Emotionen verbunden sind. Das können Emotionen der Besucher sein, indem diese ein Objekt kennen oder erinnern oder es vielleicht in ihren eigenen Alltagskontext einordnen können. Es können aber auch Objekte sein, die ein großes, bedeutendes Ereignis symbolisieren, sei es auf einer sehr repräsentativen Ebene, dass man beispielsweise ein bestimmtes Tafelsilber ausstellt, sei es aber auch auf einer Alltagsebene mit sehr einfachen, schlichten Objekten. Das Musée Sentimental lebt davon, dass diese Objekte dann in einem Raum gestellt werden und dass sie bestimmte Objektnachbarschaften eingehen, die sehr fremd sein können und sehr gut durchdacht werden müssen. Ein Musée Sentimental schwebt immer zwischen einer künstlerischen Installation auf der einen Seite, und einer Präsentation von Einzelobjekten und ihren Geschichten auf der anderen. Dieser Gedanke, dass die Präsentation von Objekten oder einer Sammlung immer eine den Raum betreffende Installation ist, hat meiner Meinung nach einen wichtigen und ganz zentralen Beginn im Musée Sentimental. In welchem museologischen Kontext stand das Musée Sentimental Ende der 1970er-Jahre? Wodurch unterschied es sich von anderen, damals gebräuchlichen Konzepten klassischer Geschichtspräsentationen oder auch der aufgekommenen Landeausstellungen? Die Alltagsobjekte spielten eine bedeutsame Rolle. Natürlich hat es schon vor dem Musée Sentimental Alltagsobjekte in Ausstellungen gegeben, sie trugen zur möglichst objektiven, möglichst totalen Darstellung einer bestimmten Epoche oder eines bestimmten Ereignisses bei. Diesen Anspruch hat das Musée Sentimental nicht. Musée Sentimental bedeutet eine pointilistisch erzählte Geschichte, die sich auf ein Territorium bezieht, aber nicht auf eine chronologische Einordnung. Das Territorium war in den ersten Fällen immer eine Stadt, also Paris, Köln, Basel, aber es war nicht ein bestimmter Zeitraum, ein bestimmter Epochenbegriff, wie beispielsweise „Aufklärung“, der mit den Objekten gezeigt oder versinnbildlicht werden sollte. Mit anderen Worten, es gab diesen gewohnten wissenschaftlichen Anspruch nicht, er wurde zum Teil erfüllt, zum Teil aber auch nicht. Damit sind wir bei einem weiteren wichtigen Punkt, der einen Unterschied zu anderen Geschichtsausstellungen dieser
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Zeit markiert, nämlich die Vorstellung einer bestimmten Objektivität, die Idee einer vielleicht sogar lückenlosen Darstellbarkeit vergangenen Geschehens. Das wurde im Musée Sentimental dadurch konterkariert, dass es unter anderem auch gefakte Objekte gab. Also Objekte, die man eigens für die Ausstellung hergestellt hat, um dann zu behaupten, sie würden dieses oder jenes belegen, was aber nicht der Fall war. Bei manchen Objekten wurde es dem Besucher vermutlich klar, wie bei den Heinzelmännchen, die nach der berühmten Ballade auf den Erbsen ausrutschen. Eine Erbse wurde in die Ausstellung hineingebracht, aber selbst hier fängt es an zu changieren, sind wir jetzt auf der Ebene der Ballade? Sind wir auf der Ebene der käuflich zu erwerbenden Erbse 1979? Sind wir auf der Ebene eines Märchens? Und das gab es natürlich in den angesprochenen Landesausstellungen und großen Geschichtsausstellungen in diesem Maße nicht. Das bedeutet, im Falle klassischer Ausstellung steht hinter Objektentscheidungen und Botschaften nicht nur die Persönlichkeit der Künstlerin/des Künstlers, der Historikerin/des Historikers, sondern die Tradition ganzer Disziplinen, auf der anderen Seite steht die von wissenschaftlichen Zwängen freie Autorin oder der Autor? Genau. Mit dem Musée Sentimental haben wir ein Beispiel für ein frühes kuratorisches Verständnis, das es so hauptsächlich seit Harald Szeemann gibt. Nämlich, dass der Kurator versucht, Zusammenhänge darzustellen, die aber seinem persönlichen Interesse, seiner Idee, seiner These, seiner Annahme folgen. Und das ist etwas ganz anderes als die Arbeit mit wissenschaftlichen Beiräten, wie es sie bei Landesausstellungen gab und die für Vollständigkeit, Wissenschaftlichkeit, Objektivität, also all diese Begriffe stehen, die wir in den letzten Jahren innerhalb der Wissenschaftstheorie gelernt haben differenzierter zu betrachten. Das Musée Sentimental setzt auf Augenzwinkern und Unvollständigkeit. Selbst das einzelne Objekt kann fragmentarisch bleiben und genügt damit auch nicht den Ansprüchen beispielsweise kustodischer Tätigkeit. Die Objekte wurden zum Teil mit einem notwendigen Schutz ausgestellt, aber im Gesamten doch relativ offen in den Raum des Kunstvereins gesetzt, was man so hauptsächlich aus Kunstausstellungen kannte. Gab es denn dafür Kritik vonseiten der etablierten Wissenschaft, oder fühlten sich Wissenschafter mit ihren Methoden und ihrem Geschichtsverständnis von einer Künstlerausstellung in einem Kunstverein nicht angesprochen oder infrage gestellt? Gute Frage. Man muss vielleicht zwischen zwei Ebenen unterscheiden: Die eine Ebene ist die der allgemeinen Geschichtswissenschaft, die das Projekt nicht unbedingt rezipiert und wahrgenommen hat. Auf lokaler, städtischer Ebene muss man sagen, dass die Studentengruppe um Spoerri und von Plessen auch mit den etablierten Museen der Stadt zusammengearbeitet hat und es eine Auseinandersetzung mit den Historikern und ihrem Verständnis von Geschichte sicher gab. Ich erinnere mich an eine
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Episode: Ein ursprünglich als römischer Spangenhelm bezeichneter Helm wurde in der Vorbereitung der Ausstellung als aus dem Zweiten Weltkrieg stammend identifiziert, dadurch, dass er in einen vollkommen anderen Zusammenhang gesetzt wurde. Über solche Einzelereignisse hinausgehend kam es nicht zu Auseinandersetzungen in dem Sinne, dass man gefragt hätte, was bedeutet diese Ausstellung für unser Geschichtsverständnis oder was bedeutet diese Geschichte für Köln? Insgesamt waren wahrscheinlich alle Beteiligten überrascht, wie sehr diese subjektive Zuspitzung der Stadtgeschichte über fragmentarische Objekte aus vielen Hundert Jahren das Publikum überzeugt hat. Vermutlich war auch zum Zeitpunkt der ersten Ausstellungen noch nicht absehbar, dass diese Form des Umgangs mit Objekten einen Einfluss auf das Darstellen von Geschichte insgesamt nehmen würde. Das ist die nächste Frage, die mich interessiert: Welchen Einfluss hat das Musée Sentimental Ihrer Ansicht nach auf die Geschichtsausstellungen der späteren Jahrzehnte genommen? Und wie ist dieser zu bewerten? Zum Zeitpunkt der Musée Sentimentaux ist niemand davon ausgegangen, dass dieses Darstellungsprinzip wichtig sein wird, ich bin mir nicht sicher, ob das heute alle Beteiligten so sehen würden. Für uns war es eine These, um über die möglichen Herkünfte heutiger Objektpräsentation nachzudenken. Ich denke, dass der Einfluss darin bestand, eine Objektpräsentation vorzuführen, die das Alltagsobjekt in den Rang des Kunstwerkes erhob und damit Geschichten erzählt wurden. Es kamen „high and low“ zusammen, und am einzelnen Objekt, sei es noch so schäbig, wurde eine pointenreiche, menschliche und doch tiefgründige Erzählung aufgehängt. Kurz: Die Nobilitierung des erzählenden Einzelobjekts ist das, was sich seitdem wie ein roter Faden durch die Ausstellungslandschaft zieht. Wir haben mit unserem Projekt der Historisierung dieser Ausstellung von 1979 versucht zu zeigen, vor welchem Hintergrund und in welchem politischen Kontext die Ausstellung entstanden ist. Damit stellt sich die Frage, was können und wollen wir heute im Museums- und Ausstellungswesen weiterentwickeln? Mit anderen Worten: Erst die Ausstellungsgeschichte gibt mir die Möglichkeit, das Ganze in einen Wertehintergrund einzuordnen, heute wie damals. Das wiederum finde ich spannend, und dieses politische Argument bringt mich auf die Kritik, die immer wieder am Musée Sentimental geübt wurde. Zuletzt hat es ja eine ausführliche Kritik von Gottfried Fliedl an dem letzten Musée Sentimental gegeben, das von Bazon Brock und Daniel Spoerri in Krems gemacht wurde. Auch Michael Fehr hat das Projekt schon zuvor kritisiert, indem er gesagt hat, dass man damit eine Ausstellung relativ konservativ in Vitrinen aufgebaut und nette Geschichten dazu erzählt hat, ohne dadurch das Museum selbst als Institution in Turbulenzen zu bringen und zu analysieren. Die Ausstellung habe unseren Blick auf das Museum nicht verändert. Und das kann schon sein, dass die Inhalte als kleine Geschichtchen daherkamen und auf ein homöopathisches Maß zurecht gestutzt schienen.
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Geschichte in rezipierbaren Einheiten? Genau, aber das ist auch zunächst nicht weiter problematisch. Es muss ja nicht alles gleich das Museum revolutionieren. Ich glaube aber durchaus, dass das Musée Sentimental mit seiner Zusammenarbeit zwischen einem Künstler und einer Historikerin in den letzten zwanzig Jahren, ohne dass es immer gleich zitiert worden wäre, unser kuratorisches Verständnis und das, was wir heute als modernen Kurator begreifen, entscheidend geprägt hat. Harald Szeemann hat das in seiner Person ein Stück weit verkörpert. Er stand immer als das einsame Genie dar und so wird er leider auch heute rezipiert. Spoerri und Plessen haben das in einer Rollenaufteilung gelebt, darüber sprechen sie auch in den Interviews. Sie stehen für das, was wir heute mit kuratorischer Arbeit verbinden: Ein Verständnis für Inhalte und Gestaltung, die Beratung mit Fachleuten, ein Vertrauen in deren Kompetenzen und die eigene Fähigkeit, wissenschaftlich versiert mitzudiskutieren, ein Thema voranzutreiben, bestimmte Thesen zu formulieren und zugleich zu visualisieren. Kuratorische Recherche und Arbeit geht also über wissenschaftliche hinaus und nimmt Anleihen bei künstlerischen Methoden und Zugangsweisen? Ja, weil man eine Ausstellung – viel mehr als einen Text – immer und zuallererst im Raum denken und machen muß. Und eine der Begründungen, warum wir diese Freiheit des Kurators heute haben, die liegt meines Erachtens im Musée Sentimental. Mich würde noch einmal diese spezielle Zusammenarbeit zwischen der Historikerin Marie-Louise von Plessen und dem schon renommierten Künstler Daniel Spoerri interessieren. Wie hat diese konkret ausgesehen, lassen sich bestimmte Prinzipien nachvollziehen? Worin lag die Stärke der speziellen Art der Zusammenarbeit? Die Zusammenarbeit lässt sich nur bedingt nachvollziehen. Wenn ich den Aussagen in den Interviews folge, dann ist die Arbeitsteilung so vonstattengegangen, dass die Objekte von der Klasse und Daniel Spoerri gesucht wurden. Die Archivrecherchen, die Legitimierung der Aufnahme eines bestimmten Objekts, die Zuspitzung auf die Geschichte, das ist durch Marie-Louise von Plessen erfolgt. Bestimmt hat auch die Erscheinung und Wirkung eines Objektes darüber mitentschieden, ob es Eingang in die Ausstellung genommen hat. Denn Objekte müssen die Geschichte durch ihr Aussehen oder durch ihr Erscheinen deutlich machen können. Auf der anderen Seite hat Marie-Louise von Plessen im Archiv auch bestimmte Funde gemacht. Also Objektsuche und Objektfunde im Archiv, wobei das jetzt nichts ist, was ich aus den Interviews, sondern aus eigenen Erfahrungen und aus den zahlreichen unautorisierten Gesprächen ziehe. Natürlich hat es Diskussionen gegeben, die eine zentrale Grundlage für die schlussendliche Auswahl waren. In diesen Diskussionen hat es sicherlich geknallt und man musste sich erstmals über
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Objekte verständigen. Dieser notwendige, zeitintensive Weg war im spezifischen Kunstverständnis der 1970er-Jahre viel eher legitim und gehörte viel eher zum normalen Alltagsgeschehen, als das vielleicht heute der Fall ist. Heute schreiben wir viel darüber, geben uns aber nur in den seltensten Fällen die Zeit, es durchzuführen. Also das bedeutet, die Qualität des Projekts ergab sich aus der intensiven Auseinandersetzung zwischen Kunst und Wissenschaft, auch aus einem Sich-Reiben an Fragestellungen. Man hat sich ja mittlerweile daran gewöhnt, dass Kunst in allen möglichen musealen Sparten aus unterschiedlichen Gründen präsent ist: Abstraktere Themen haben Einzug in Ausstellungen gehalten und die Bild- und die Visualisierungskompetenz von Künstlern wird gebraucht, um etwas sichtbar und verständlich zu machen. Der Kunst kommt hier eine vermittelnde Rolle zu. Teilweise werden Künstlerinnen und Künstler auch in die Gestaltung einbezogen, weil man die Werbeästhetik der Agenturen satt hat. Wie sehen Sie diese Entwicklung? Ich glaube nicht, dass das Heilsversprechen für das Museum von morgen darin liegt, immer Kunst miteinzubeziehen, immer Künstler als diejenigen mit hinein zu nehmen, die einen neuen Blick auf die Objekte ermöglichen, den man zuvor nicht hatte. Ich denke, dass auch ein guter Kurator nicht durch einen beispielsweise grundständigen Naturwissenschaftler oder einen grundständigen Künstler ersetzt werden kann. Die kuratorische Fähigkeit besteht darin, selbst ein gewisses Gespür für Fragen zu haben, was beispielsweise dann möglich ist, wenn man in einer interdisziplinären Bandbreite arbeiten kann und auch genuine Kenntnisse aus verschiedenen Bereichen mitbringt. Schade ist, wenn mit der Einbeziehung von Künstlern die eigene Deutungshoheit eines bestimmten Fachs abgegeben wird. Man macht es sich einfach, wenn man sagt, ich bin Naturwissenschaftler, ich habe keine Ahnung von Gestaltung, daher gebe ich sie ab. Damit gibt man auch einen Teil der Deutungshoheit ab, und heraus kommen wieder nur Illustration oder Ästhetisierung. Wir kommen nicht darum, dass beispielsweise der Naturwissenschaftler mit dem Künstler oder dem Gestalter offen diskutiert. Wir brauchen die Zusammenarbeit und eine gewisse Neugier von beiden Seiten. Und das hat Marie-Louise von Plessen eigentlich gemeint, wenn sie von Autorenmuseen und von gegenseitiger Neugier spricht. Was ich zuvor beschrieben habe, ist also nicht neu, aber ich habe das Gefühl, dass wir heute wieder besser darüber nachdenken können, als beispielsweise in den 1990er-Jahren, als das Schlagwort von Kunst und Wissenschaft so allgegenwärtig war. Dieses Abgeben und Auslagern von Verantwortung scheint besonders im Zusammenhang mit politischen oder brisanten Gegenwartsfragen verbreitet. Es ist bezeichnend, dass diese am ehesten in Museen für zeitgenössische Kunst oder Ausstellungshäusern verhandelt werden, wo Institution und Kurator dann hinter Künstler treten, die Position beziehen und offen Meinungen äußern.
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Auf jeden Fall! Da geht es darum, dass wir uns darauf geeinigt haben, dass Kunst dazu da ist, Kritik zu evozieren, dass sie verstören muss, dass sie auch politisch sein darf. Sich in der kuratorischen Arbeit zu positionieren heißt, seine kuratorische Rolle ernst zu nehmen. Die Positionierung im Musée Sentimental zeigte sich in der Auswahl der Objekte und Geschichten. Ich würde mir das politische Moment auch für kulturwissenschaftliche Ausstellungen im weitesten Sinne viel mehr wünschen. Und wie wäre es, am Ende, heute, so ein Musée Sentimental zu konzipieren? Kann man das noch wagen, wäre es noch spannend, oder hat es sich mit seinen Prinzipien und mit seinem spezifischen Objektverständnis so weit in jedes Nachdenken über das Darstellen von Geschichte im Museum eingebrannt, dass es nur noch ein Gefühl von „Schon gesehen!“ provozieren würde? Ja, und deshalb würde es heute nicht mehr ausreichen, ein Musée Sentimental im Stil der späten 1970er-Jahre umzusetzen. Erstens haben wir kulturwissenschaftlich mittlerweile viele der dort aufgeworfenen Themen durchbuchstabiert, und zweitens wurde es unzählige Male kopiert, besser und schlechter, und oftmals falsch verstanden: Im Musée Sentimental spiegelt sich – frei nach Giedion – die Sonne auch in kleinen Objekten wie einem Kaffeelöffel. Das tut sie tatsächlich aber nur dann, wenn andere interessante Objekte in einer bestimmten Konstellation sich dazu verhalten können. Nur dann erkennt man die Sonne und wie unterschiedlich sie scheinen kann. Meines Erachtens ist es in den selteneren Fällen wirklich gelungen, dies umzusetzen. Herzlichen Dank für das Gespräch!
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Filmmuseum Frankfurt, Ausstellungsansicht, © Deutsches Filminstitut, Foto: U. Dettmar
„Was unabhängig von einzelnen Objekten bleibt, sind die Aussagen …“ Claudia Dillmann, Direktorin des Deutschen Filmmuseum, Frankfurt/Main, im Gespräch mit Bettina Habsburg-Lothringen
Das Deutsche Filmmuseum Frankfurt/Main wurde im Sommer 2011 nach knapp zweijährigen Umbauarbeiten an der historischen Villa am Frankfurter „Museumsufer“ wiedereröffnet. Die neue ständige Ausstellung widmet sich auf zwei Etagen den Prinzipien des filmischen Sehens und des filmischen Erzählens. Sie nimmt damit Inhalte der alten, in den 1980er-Jahren entwickelten Dauerausstellung teilweise wieder auf, setzt sie aber unter anderem mit einem Filmraum, der auf vier Großleinwänden die Mittel der Filmsprache sinnlich erfahrbar macht, anders um.
Claudia Dillmann, Sie haben im August 2011 die neue Dauerausstellung im Filmmuseum Frankfurt eröffnet. Worin sehen Sie als Direktorin die Aufgabe eines Filmmuseums? Ich denke, die Aufgabe eines Filmmuseums ist, zum Verständnis der Kulturphänomene Film und Kino beizutragen. Ich bezeichne Film ausdrücklich als Kulturphänomen, weil er in vielen Lebensbereichen eine Rolle spielt, in vielfältiger Weise den Alltag bestimmt, im Kino bestimmte Formen der sozialen Interaktionen ermöglicht oder klassisch als Filmkunst verstanden werden kann. Und obwohl Film nun auch ein Alltagsphänomen ist, denken wir, dass die kulturelle Auseinandersetzung mit Film einer besonderen Form bedarf. Zum Reden über Film, zum Verständnis von Film gehört neben einem emotionalen Zugang auch ein Wissen über Filmgeschichte und die Fähigkeit, die filmischen Mittel, denen wir Tag für Tag begegnen, ihre Wirkungen und ihre manipulative Macht in einem tieferen Sinne zu verstehen. In diesem Dreiklang Emotion – Wissen – Analyse möchte ich nicht einem der drei Faktoren den Vorzug geben. Eine Analyse ohne emotionalen Zugang, ohne die Frage, warum berührt mich dieser Film so, warum bringt er mich zum
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Weinen, zum Lachen, zum Träumen, also ohne diesen emotionalen Zugang, geht es nämlich auch nicht. Dementsprechend widmen wir uns hier im Filmmuseum allen drei Faktoren. Einmal zum Beispiel im Kino, wo wir Filme in Reihen, Klassiker und Raritäten zeigen, also Filmgeschichte vermitteln und ein Publikum heranziehen möchten, das uns vertraut, hier gute, interessante, auch abseitige, auf jeden Fall aber tolle Filme sehen zu können. Das Kino als sozialen Ort und Ort der Interaktion wollen wir verstärken, indem wir noch mehr als bislang in Filme einführen, Gesprächsmöglichkeiten eröffnen und Diskussionsforen bieten werden. In der Dauerausstellung spielt dieser Dreiklang Emotion – Wissen – Analyse vor allem im zweiten Teil, dem filmischen Erzählen eine große Rolle. Im Zentrum des Bereichs steht ein Filmraum, um den herum sich sogenannte Highlight-Exponate und interaktive Angebote befinden. Während der Filmraum emotional anspricht, erlauben die Exponate und interaktiven Stationen im Umfeld das analytische Verstehen, sie bieten Erklärung und Vertiefung. Wir sind nun schon mitten in der Dauerausstellung. Als Laie erwartet man von einem Filmmuseum zum Beispiel einen Überblick über die Geschichte des deutschen, des schweizerischen oder österreichischen Films. Das wird in Frankfurt definitiv nicht geboten. Welchem Konzept folgt ihre Dauerausstellung und welche Prinzipien liegen ihr zugrunde? Schon 1984, als im Filmmuseum Frankfurt die letzte Dauerausstellung eröffnet wurde, hatte sich das Museumsteam gegen eine Chronologie, also eine klassische Geschichte des Films, entschieden. Bereits damals waren wir – und ich sage bewusst wir, weil ich da ein Stück weit schon mitgearbeitet habe – auf der Suche nach anderen Prinzipien und haben uns schließlich entschieden, anhand eines typischen Produktionsprozesses Film und seine Entstehung zu vermitteln. Diesen typischen Produktionsprozess gibt es heute nicht mehr. Im digitalen Zeitalter ist es überall und jederzeit möglich, einen Film zu drehen. Es bedarf nicht mehr einer großen Studiotechnik oder bestimmter anderer technischer Voraussetzungen wie noch in den 1980er-Jahren. 2006, als wir begonnen haben an der neuen Ausstellung zu arbeiten, war klar, dass die digitale Revolution es letzten Endes verbieten würde, diesem Ansatz in der Konzeption der neuen Dauerausstellung noch einmal zu folgen. Der erste Teil der früheren Dauerausstellung war dem filmischen Sehen und der Vorund Frühkinematografie gewidmet. Dieses Thema hat sich als belastbar erwiesen, und so haben wir es beibehalten und noch klarer herausgestellt. Es geht in diesem ersten Bereich heute um Schaulust als ein ganz altes Phänomen und die Geschichte der Schaustellerei. Und natürlich insbesondere um die Entwicklungen im 19. Jahrhundert, um die Frage, wie sich Bilder festhalten und bewegen lassen, eine Frage, die Techniker, Wissenschaftler, Physiker, Mechaniker, Wahrnehmungsphysiologen und -psychologen umgetrieben hat. Wir wollen zeigen, welcher Erfindungen, Irrwege, Techniken und Tüfteleien es bedurfte, bis am Ende 1895 etwas stand, was dann
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Film wurde. Und wir versuchen eben durch diesen Zeitsprung vor die Erfindung des Films eine Art von Distanz herzustellen, die es zugleich ermöglicht, sich dem Phänomen Film nochmal ganz anders zu nähern, nämlich vielleicht auch mit ein wenig Staunen über dieses Wunder, das es Ende des 19. Jahrhunderts war und das uns heute im 21. Jahrhundert natürlich gar nicht mehr so wundervoll erscheint. Der erste Teil der Ausstellung ist also dem filmischen Sehen gewidmet. Im zweiten Teil geht es um das filmische Erzählen. Was ist darunter zu verstehen? Als Grundlage für das filmische Erzählen haben wir analog zum ersten Teil nach den Prinzipien gefragt. Wir haben überlegt, was gehört zum filmischen Erzählen, wie erzielt es seine Wirkungen, warum identifizieren wir uns mit dem, was auf der Leinwand geschieht, gleich ob es durch einen Schauspieler oder ein Punktpunktkommastrichmännlein vorgebracht wird. Was beeinflusst das Maß unserer emotionalen Teilhabe, wodurch wird sie gesteigert oder herabgesetzt? Zum einen sind es natürlich die Kostüme, die Maske, die Ausdrucksfähigkeit der Schauspieler, ihre Mimik, ihre Gestik, ihre Körpersprache. Das Zweite, das uns emotional meist in ungeheurem Maße unbewusst steuert, ist die Musik, sind die Geräusche und die Stimmen. Der dritte Aspekt, der unsere emotionale Teilhabe beeinflusst, ist der Bildaufbau und das Licht: Was liegt im Dunkeln, was wird hell herausgestellt, mit welchen Blickwinkeln arbeitet die Kamera? Als viertem Einflussfaktor nach Schauspiel, Ton und Bildaufbau widmen wir uns der Montage. Film ist eben zusammengesetzt aus all diesen Elementen, und erst die Montage schafft den Bedeutungszusammenhang. Damit da eine Erzählung, eine Narration entsteht, braucht es die Montage. Und wie schafft man es, diese Inhalte im Ausstellungsraum umzusetzen? Die klassisch museale Vorgehensweise wäre gewesen, ein paar Objekte zu versammeln, Bilder und Plakate an die Wand zu hängen und noch einen erläuternden Text dazu zu formulieren. Wir haben uns aber bewusst gemacht, dass die digitale Projektionstechnik heute erstmals so gut ist, dass ein Filmmuseum in die Lage versetzt wird, Filme in High-Definition-Qualität auf eine relativ große Leinwand zu bringen. Diese technische Möglichkeit wollten wir nutzen und Filme in KinoQualität zeigen. So entstand der Filmraum, der aus vier Leinwänden besteht. In einem 40-minütigen Programm kann man dort insgesamt über 100 Filmausschnitte sehen, die in eine starke Interaktion miteinander treten, indem sie sozusagen die Themen der Dauerausstellung verhandeln. Sei es der Blick der Kamera, sei es die Schauspielkunst, das Licht oder bestimmte Motive wie Träumen oder Fliegen – quer durch die Filmgeschichte werden Beispiele gegenübergestellt und aneinandergereiht. Und die Besucher verlassen diesen Bereich mit einem Wissen darüber, wie unterschiedlich ein Motiv inszeniert werden kann und wie sehr zum Beispiel Töne oder Musik ihre Wahrnehmung beeinflussen.
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Ein komparatistischer Ansatz eigentlich. Ja, kann man glatt sagen: vergleichendes Sehen. Der zentrale Filmraum verhandelt mit filmischen Mitteln die Themen der Dauerausstellung, die Prinzipien des filmischen Erzählens, er ist analytisch und emotional zugleich. Um ihn herum haben wir dann sogenannte Highlight-Exponate positioniert, die auf der einen Seite zum Staunen animieren sollen, aber natürlich auch bei jedem einzelnen Besucher Assoziationen, Erinnerungen, Gefühle auslösen können. Beim Oscar von Maximilian Schell beispielsweise kann ich an den Film Das Urteil von Nürnberg von 1961 denken, ein großartiger Film, wahrscheinlich der letzte wirklich große Ensemblefilm Hollywoods. Ich kann aber auch sagen, mein Gott ein Oscar! Es ist großartig, überhaupt einen Oscar einmal aus der Nähe zu sehen. Und schließlich möchten wir in den großen Wandvitrinen zum genaueren Betrachten, Lesen oder Hören animieren, um mehr Wissen über die einzelnen Bereiche zu vermitteln, um es in den interaktiven Stationen noch einmal spielerisch zu vertiefen. Sie haben das Filmmuseum im Vorfeld unseres Gesprächs als kulturhistorisches Museum bezeichnet, es ist aber auch ein Haus der Mediengeschichte, der Technikgeschichte. Sie vermitteln auch naturwissenschaftliche Inhalte. Mich würde vor dem Hintergrund dieser Nähe zu verschiedenen Disziplinen und Sparten ihr Zugang zu den diversen Bedeutungsträgern dieser Ausstellung interessieren. Gibt es eine Hierarchie zwischen Objekten, Texten, Medieninstallationen, Modellen usw. und Regeln, wie die einzelnen Medien zusammenwirken? Beginnen wir vielleicht mit den Objekten. Können Sie etwas über ihren Objektbegriff sagen? Haben denn die 100 Filmausschnitte für Sie Objektstatus? Und was unterscheidet sie von den Highlight-Objekten? Also für mich ist die Installation selbst, diese kompletten 40 Minuten Film, ein Objekt. Wie schon gesagt, erfüllen die einzelnen Objekt-Kategorien unterschiedliche Funktionen, indem sie unterschiedliche Herangehensweisen an das Phänomen Film ermöglichen: eher emotionale oder eher analytische, manchmal auch Mischformen. Und wie wichtig sind die einzelnen Objektbestandteile? Sind sie nicht austauschbar? Das scheint mir bis zu einem bestimmten Grad auch bei den Highlight-Objekten möglich zu sein. Es könnte ja auch ein anderer Oscar sein. Was spielt es für eine Rolle, dass er von Maximilian Schell ist? Mir ist beim Lesen des Konzepts aufgefallen, dass die Erzählungen, wie eben jene zum filmischen Sehen und die Botschaften, sehr im Vordergrund stehen. Dagegen war die Medienberichterstattung rund um die Eröffnung stark auf bestimmte Objekte fokussiert. Man las viel von Schells Oscar und Romy Schneiders Kostüm. Spricht daraus auch eine unterschiedliche Rezipierbarkeit der Ausstellung, war diese intendiert? Nach dem Motto: Du kannst kommen, um bestimmte Originale, die das Wirken namhafter Personen dokumentieren, zu sehen oder du kannst dich analytisch mit Film befassen.
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Nein, das war nicht intendiert und so verhalten sich die Besucher auch nicht in der Praxis. Wir beobachten, dass die Besucherinnen und Besucher sich sehr wohl mit all dem auseinandersetzen, was wir ihnen anbieten. Ich sehe Leute, die sich Interviews mit Filmschaffenden anhören. Ich sehe Leute, die die Inhalte der Vitrinen studieren, ich sehe andere, die die Texte und Materialien lesen. Die von der Presse in den Mittelpunkt ihrer Berichterstattung gestellten Highlight-Exponate sind in der Tat austauschbar. Nicht austauschbar dagegen ist die Idee dahinter, die immer wieder mit neuen Objekten vermittelt werden kann. Ohnehin werden wir zum Beispiel aus konservatorischen Gründen das eine oder andere Objekt auswechseln müssen. Den Entwurf der „Caligari“-Brücke von Walter Reimann aus 1920 können wir nicht
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länger als ein halbes oder dreiviertel Jahr hängen lassen. Aber genau deshalb haben wir uns für dieses Konzept und die Prinzipien entschieden, die sich auf vielfältige Weise, wenn man so will, bebildern lassen. Was unabhängig von einzelnen Objekten bleibt, sind die Aussagen, die Anregung, sich zu beschäftigen, genauer hinzuhören, auszuprobieren. Eine Beobachtung im Zusammenhang mit Dauerausstellungen ist eine gewisse Sorge der Verantwortlichen vor einer Erstarrung, die eintritt, sobald die Ausstellung eröffnet ist. Mit viel Aufwand und Energie wird etwas geschaffen, und dann steht es da. Flexibilität und Offenheit scheinen zwar durchaus erwünscht zu sein, in der Praxis ist das aber dann oft nicht so einfach. Wenn Sie nun davon sprechen, dass durchaus unterschiedliche Objekte die Erzählungen stützen können, spricht daraus doch auch eine gewisse Flexibilität, die Ihr Konzept impliziert. Ich glaube, es ist in diesem Zusammenhang auch vorteilhaft, dass wir keine durchgehende Narration angestrebt haben. Ich denke nicht, dass wir überhaupt in der Lage sind, sozusagen die eine gültige Narration über die Filmgeschichte oder die bedeutendsten Werke oder einen Kanon zu schaffen. Das ist nicht unsere Aufgabe. Oder wir haben es nicht als unsere Aufgabe begriffen. Und ein Medium wie das unsrige, das im nächsten Jahr einen großen Klassiker hervorbringen kann, oder heute oder morgen, braucht ein Museum, das in der Lage ist, anschlussfähig zu bleiben. In der Praxis bedeutet das zum Beispiel die Einbeziehung neuer Filmausschnitte. Das bedeutet aber nicht, dass wir an der Botschaft oder der grundlegenden Form der Ausstellung etwas ändern müssen. Eine wichtige Rolle in der Ausstellung spielen audiovisuelle Angebote und Funktionsmodelle. Ich habe den Eindruck, beides wird bei Ihnen sehr überlegt eingesetzt. Ich habe mir auch die Zeit genommen, Besucherinnen und Besucher beim Gebrauch dieser Angebote zu beobachten und, gleich welcher Altersgruppe, sie scheinen sich gut zurechtgefunden und amüsiert zu haben. Gab es denn in Ihrem Team eine zuständige Person, die sich überlegt hat, was den Inhalten und Prinzipien der Ausstellung entspricht? Kommen die Angebote und Modelle zum Einsatz, weil sie genau dieser speziellen Ausstellung entsprechen oder würden Sie audiovisuelle Medien und interaktive Elemente in jeder Ausstellung einsetzen wollen, ganz egal ob es sich um römische Steine oder zeitgenössische Kunst handelt? Wir haben uns mit diesem Thema eingehend beschäftigt. Sicher ist Ihnen aufgefallen, dass wir im ersten Teil der Dauerausstellung, wo es ja sozusagen um die Vor- und Frühgeschichte des Films geht, kein einziges technisches Medium mit Bewegtbild wie etwa einen Monitor einsetzen, weil es das noch nicht gab. Die ersten Filme finden sich am Ende des Rundgangs: Die Ausstellung im ersten Stock endet in einem kleinen Kino mit ganz frühen Filmen aus der Zeit um 1900, in ihrer ganzen
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Bandbreite und Schönheit. Für die Zeit davor haben wir ganz bewusst auf mechanische Geräte und alte Techniken gesetzt. Um diese zu erklären reicht es nicht aus, sie in Vitrinen zu zeigen. Es geht schließlich um komplizierte Phänomene, es geht um Optik, es geht um Physik, es geht um Mechanik, es geht um Wahrnehmungspsychologie oder -physiologie. Ich muss verstehen, wie sie funktionieren, um das Ganze nachvollziehen zu können. Deshalb nennen wir die Modelle in diesem Bereich auch ganz klar Funktionsmodelle. Sie haben ein sehr puristisches, einheitliches Design, sind schwarz, und alles, was sich daran bewegen lässt, ist aus Messing. Mit dieser einheitlichen und prägnanten Erscheinung unterscheiden sich die Modelle deutlich von den Originalen in den Vitrinen. Für den zweiten Teil haben wir ebenfalls sehr genau definiert, welcher Medieneinsatz welchen Zweck erfüllen soll. Wir unterscheiden prinzipiell zwischen dem Objektstatus von Film, der auf der großen Leinwand zur Geltung kommt, und einer erläuternden Funktion bewegter Bilder, die auf kleinen Monitoren zu sehen sind. Das didaktische Konzept der interaktiven Stationen haben wir zudem in Workshops mit Schulen getestet und modifiziert. Praktisch geht es ja auch im vierten Stock zu, wo es ein Filmstudio gibt. Gehört dieses zur Dauerausstellung? Das Filmstudio ist an die Dauerausstellung angegliedert, es ist sozusagen eine Ergänzung. Wir hatten ursprünglich überlegt, das Filmstudio direkt in die Dauerausstellung zu integrieren, davon dann aber schließlich aus verschiedenen Gründen Abstand genommen. Das Medium Ausstellung verträgt sich nur bedingt zum Beispiel mit fröhlich lärmenden Kindern bei der Filmarbeit. Sie haben nun schon die Filmvermittlung in praktischen Versuchen angesprochen. Wie steht abschließend die neue Dauerausstellung im Verhältnis zu weiteren Angeboten des Museums? Die Dauerausstellung ist eingebunden in das Gesamthaus, sie ist Teil des Museums, ein Baustein wie zum Beispiel das Kino auch, und sie steht in einem spezifischen Verhältnis zu den Wechselausstellungen. Wechselausstellungen erscheinen mir als wichtige Möglichkeit, bestimmte Aspekte der Dauerausstellung zu vertiefen, sie immer wieder um Themenaspekte zu ergänzen. Nicht vergessen möchte ich zudem die Publikationen. Auch sie sind ein wichtiges vermittelndes Medium, und in ihnen ist manches auch besser aufgehoben als in einer Ausstellung. Museum ist nicht die Dauerausstellung allein. Vielen Dank für das Gespräch!
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LWL-Museum für Archäologie Herne, Ausstellungsansicht Grabungsfeld, Foto: LWL/S. Mosch
„… denn mit dem Herausholen der Objekte aus dem Boden ist ja die eigentliche Arbeit nicht getan.“ Josef Mühlenbrock, Leiter des LWL-Museums für Archäologie, Westfälisches Landesmuseum, Herne, im Gespräch mit Bettina Habsburg-Lothringen
Das Westfälische Landesmuseum für Archäologie in Herne wurde 2003 eröffnet. Die gesamte, knapp 4500 Quadratmeter große Ausstellungsfläche liegt im Untergeschoss eines neu errichteten Gebäudes und ist in zwei Bereiche gegliedert, die als Ausgrabungslandschaft und Forschungslabor inszeniert sind. Beide Ausstellungsbereiche sind den Methoden der Archäologie als Wissenschaft gewidmet, konzeptionell, methodisch, in ihren Bedeutungsträgern und ihrer Ästhetik unterscheiden sie sich jedoch radikal voneinander.
Josef Mühlenbrock, ich möchte Sie zu Beginn um ein paar grundlegende Informationen zur Dauerausstellung im Landesmuseum für Archäologie in Herne bitten. In welchem Zeitraum und in welchem Team entstand die Ausstellung? Wie groß ist sie? Was zeichnet sie aus? Unser Museum ist ja noch ein relativ junges, es wurde 2003 am Standort in Herne eröffnet. Zuvor war das archäologische Landesmuseum in Münster gewesen, auf politischen Entschluss sollte es nach Herne verlegt und mit einer vollkommen neuen Konzeption wieder eröffnet werden. Diese Neukonzeption erfolgte ab 1998 in einem fünfköpfigen, sehr jungen Wissenschaftlerteam. Ich selbst kam im Jahr 2000 in dieses Team und habe dann bis 2003 an der Dauerausstellung mitgearbeitet. Eine Besonderheit unserer Ausstellung ist, dass sie unterirdisch stattfindet. Die gesamte, knapp 4500 Quadratmeter große Ausstellungsfläche liegt im Untergeschoss. Wir haben gemeinsam mit den Gestaltern vom Atelier Brückner aus Stuttgart überlegt, was eigentlich das Spannende an der Archäologie ist, und wir sind ganz schnell auf die Ausgrabung gekommen.
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Vielleicht können wir beim Inhalt der Ausstellung beginnen: Worum geht es in dieser Ausstellung und wie werden die Inhalte gegliedert? Wir haben die Idee der Ausgrabung sehr eindeutig umgesetzt. Man geht über einen Steg durch eine chronologisch angeordnete Ausstellung zu Geschichte Westfalens, also durch 250 000 Jahre Menschheitsgeschichte. Der Steg gibt den Parcours vor, er dient aber auch als Träger didaktischer Informationen: In welcher Zeit befinde ich mich? Was sind die wichtigsten Zäsuren in der Geschichte Westfalens? Die Antworten auf diese und weitere Fragen finde ich, wenn ich mich über den Steg bewege. Ich kann den Steg natürlich auch verlassen und mich in die Ausstellungsfläche, in die Ausgrabung hinein begeben, um dort Fundstücke zu entdecken. Beispielsweise ein Großsteingrab aus der Jungsteinzeit, das man als Fund mitsamt Befund besichtigen kann. Wir sind damit eigentlich schon mittendrin in den konzeptionellen Grundlinien dieser Ausstellung. Bewegt man sich durch die Ausstellung, erkennt man rasch, dass es eine Art von Zweiteilung der Präsentation gibt, mit zwei sehr unterschiedlichen Zugangsweisen. Zum einen wird bei den Methoden der Archäologie angesetzt, zum anderen gibt es diese gestalterisch frei assoziierten Bereiche zu einzelnen thematischen Aspekten. Ich möchte mich in dem Gespräch eigentlich auf die wissenschaftlichen Methoden als konzeptionelle Leitlinie konzentrieren. Könnten Sie der Vollständigkeit halber kurz die zweite Zugangsweise skizzieren? Für uns passen die zwei Zugänge gut zueinander. Archäologie als Wissenschaft ist das Hauptthema, das sich als Sujet durch die ganze Ausstellung zieht. Wir wollten aber auch Räume schaffen, in denen man sich emotional einen Zugang zu einer Zeit, einem besonderen Ereignis schaffen kann. Um diese Räume identifizierbar zu machen, haben wir nach einer gestalterischen Lösung gesucht und diese in Anlehnung an das Grabungszelt gefunden. Grabungszelte haben bei Ausgrabungen die Funktion, besondere Funde und Befunde zu schützen. In unseren Grabungszelten arbeiten wir mit Tönen, Inszenierungen, Stimmungen. Im Ausstellungsgelände sprechen wir dagegen eher die kognitive Ebene an. Kommen wir zu den Methoden der Archäologie als konzeptionellen Leitlinien Ihrer Schau. Ich finde diese Orientierung interessant, weil sie auch für andere Sparten Vorbild sein könnte, wenngleich ich das Methodenbewusstsein in unterschiedlichen Disziplinen als nicht einheitlich ausgeprägt wahrnehme. Was bedeuten, mit Blick auf Ihr Grabungsfeld, Methoden der Archäologie? Wie setzt man diese Perspektive um und welche Rolle kommt dabei den verschiedenen Bedeutungsträgern zu? In der Anlage der Grabungslandschaft zeigen wir beispielsweise, wie Stratigrafie funktioniert: Normalerweise sind Schichten, die höher liegen, jünger zu datieren,
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A RCHÄOLOGIE , WESTFÄLISCHES L ANDESMUSEUM , H ERNE
als Schichten, die tiefer liegen, folglich ist der Gang durch die Grabungslandschaft Westfalens auch ein höhenmäßig gestufter Gang. In diese Stufen schreiben wir nun verschiedene Elemente ein und abstrahieren und inszenieren auch wirkliche Grabungsorte. So zeigen wir zum Beispiel alle Funde aus der Balver Höhle, die vom Paläolithikum bis zum Neandertaler, bis zum Homo Sapiens bewohnt wurde. Teilweise haben wir auch Vitrinen in der Ausgrabung positioniert, um zeit- oder ortsübergreifend etwas zeigen zu können. Die Römer, um ein Beispiel zu nennen, haben nur für einen vergleichsweise kurzen Zeitraum von 28 Jahren versucht, Westfalen einzunehmen. Da marschieren also drei Reihen an Vitrinen wie die drei Legionen des Augustus aus der Wand und versinken langsam im Boden. Die Objekte in den Vitrinen entstammen nicht einem Lager, sondern wir haben Funde aus verschiedenen Fundplätzen zusammengebracht und sie thematisch inszeniert. Welche Rolle kommt den einzelnen Bedeutungsträgern in solchen Umsetzungen und Inszenierungen zu? Sie arbeiten mit Objekten, Texten, Modellen und Rekonstruktionen sowie mit audiovisuellen Medienangeboten. Wie steht es denn allgemein um das Objektverständnis in der Archäologie, welche Rolle haben die Objekte in Ihrer Ausstellung und welches Verständnis von Archäologie als Wissenschaft steht hinter dem konkreten Einsatz der Objekte in der Ausstellung? Für uns stehen die Objekte im Zentrum und sie bilden das Zentrum der Ausstellung. Im Gegensatz zu einer Kunstausstellung aber, wo man manchmal einfach ein Bild an die Wand hängen und mit einem kleinen Schildchen versehen kann, ist der Erklärungsaufwand bei uns in der Archäologie wesentlich größer. Um ein möglicherweise kleines, unscheinbares Objekt in voller Dimension für den Besucher verständlich zu machen, bedarf es vielfältigster Mittel. Manchmal tut es ein Text, es kann auch ein Klappbuch sein, in dem man vertiefende Informationen bekommt, oder eine Multimediastation, an der man sich über die Germanen, ihre Schrift oder ihre Art, Burgen zu bauen, informieren kann. Auffällig für mich waren die Texte. Text ist ja ein durchaus klassisches Medium in Ausstellungen, das zum Einsatz kommt, um Überblicke zu geben, Zusammenhänge verständlich zu machen oder Objekte zu erläutern. In Ihrer Dauerausstellung gibt es nicht nur wissenschaftliche Texte, sondern auch literarische Zitate, solche aus religiösen Schriften etc. Gibt es eine bestimmte Idee dahinter? Im Zusammenhang mit den Texten war uns ihre Verständlichkeit sehr wichtig. Wir haben uns vorgenommen, Fachausdrücke nur in begründeten Fällen zu benutzen, und sie dann unbedingt zu erklären. Ein Kind von elf Jahren sollte unsere Texte verstehen. Die von Ihnen genannten Zitate kommen vor allem an den Außenseiten der Grabungszelte zum Einsatz und haben die Funktion, ein Ereignis, das sich vor 2000 Jahren zugetragen hat, an die Gegenwart anzuschließen. Was zum Beispiel die
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Römerzeit angeht, so haben wir eigentlich nur zeitgenössische Schriftquellen, die die Ereignisse aus römischer Sicht wiedergeben. Was die Germanen dazu gesagt haben, wissen wir nicht. Also haben wir bewusst ein Zitat von Elke Sommer gewählt, das da lautet: „Wenn man drei Augenzeugen über den selben Unfall gehört hat, beginnt man darüber nachzudenken, ob an der Weltgeschichte überhaupt etwas Wahres dran ist.“ Das Zitat sagt viel über die Schwierigkeit von Archäologie und Geschichtswissenschaft aus. Menschen wie Elke Sommer einmal in eine Ausstellung zu bringen, fand ich zudem einfach schön. Der Charakter der Ausstellungstexte macht die Präsentation, so mein Eindruck, auch für Nicht-Fachleute anschlussfähig. Manche der Zitate funktionieren als Öffner, auch weil man sie schon einmal irgendwo gehört hat und wiedererkennt. Die Zitate sind das, was am meisten aus unserer Ausstellung nachgefragt wird. Wenn man die Damen vorne bei uns an der Kassa fragen würde, was die Leute häufig mitnehmen möchten, dann ist es eine Auflistung aller Zitate. Was mir in der Ausstellung auch sehr präsent scheint, sind die Medienangebote. Ich nehme im Zusammenhang mit Medien in Dauerausstellungen zwei Haltungen wahr. Eine Gruppe verweigert Medien mit dem Hinweis auf Kurzlebigkeit und Kosten. Die andere Gruppe will auf Medien auch in Dauerausstellungen auf keinen Fall verzichten, weil sie neue Möglichkeiten eröffnen und einfach auch zeitgemäß sind. Wie haben Sie Ihre Medienangebote entwickelt? Ich denke da zum Beispiel an jene Installation, an der man ganz unterschiedliche Informationen zu den Germanen abrufen kann, wobei die Inhalte über Fragen bzw. Antworten organisiert und somit in fassbare Einheiten zerlegt sind. Wir haben inhaltlich und gestalterisch darauf geachtet, dass die Medienangebote in unsere Grabungslandschaft passen. Wir haben also große, schräg angebrachte Tafeln genommen, und ein Millimeterpapier, auf dem Archäologen ihre Befunde zeichnen, als Grundmuster angenommen. Wie an einem Zeichenbrett hat man nun einen Cursor, eine Lupe, die man in der Horizontalen und Vertikalen hin zu verschiedenen Symbolen verschieben kann. Klicke ich ein Symbol an, startet ein Film, der mir verschiedene Fragen zu einem Thema beantwortet. Auf dem Tablett mit den Germanen geht es zum Beispiel darum, wie sie gesprochen, wie sie ausgesehen oder wie sie ihre Häuser gebaut haben. Auffällig ist auch der Gebrauch von Modellen und Rekonstruktionen, die nicht in jeder musealen Sparte als vermittelnde Medien eingesetzt bzw. gebraucht werden. Die Archäologie hat da vielleicht eine besondere Tradition und es gab Modelle und Rekonstruktionen immer schon. Welche Funktion haben sie in der Ausstellung hier in Herne?
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Wir haben es zum Beispiel in der Archäologie häufig mit Verfärbungen im Boden zu tun, die uns anzeigen, wo einmal ein Holzpfosten gestanden hat, und aus dieser Reihung von Holzpfosten kann man dann ein Haus rekonstruieren. Da das einiges an Abstraktionsvermögen verlangt, wollen wir den Besucher an die Hand nehmen und ein paar Schritte im Voraus machen, um im Modell zu zeigen, was sich aus einem Befundplan, der bei einer Ausgrabung herausgekommen ist, rekonstruieren lässt. Natürlich ist klar, dass jede Rekonstruktion nur ein vorläufiger Versuch ist, und gegebenenfalls mit neuen Ergebnissen neu gedacht werden muss. Aber für den Moment kann ein Modell sehr hilfreich sein, um eine Sache vorstellbar zu machen. Als Beispiel möchte ich ein Modell zur römischen Kaiserzeit nennen, das wir hier in der Ausstellung haben. In der römischen Kaiserzeit lebten die Menschen in Westfalen auf Einzelgehöften. An einem Platz in Soest haben wir Spuren verschiedener Gehöfte um einen kleinen Teich oder Opferteich herum gefunden und die Archäologen kamen zum Ergebnis, dass es sich dabei nicht um mehrere Gehöfte handelt, sondern dass ein Gehöft gewandert ist. Ein erstes Gehöft ist irgendwann einmal zum Beispiel abgebrannt und dann hat man jene Baumaterialien, die man noch nutzen konnte, ein paar Meter weitergeschleppt und dort ein neues Haus gebaut. Eben das zeigen wir in dem Modell. Ein weiteres durchgängiges Element sind die Ferngläser. Wozu dienen sie? Die Ferngläser sollen einen Blick in die Landschaft ermöglichen. Die Ausgrabungslandschaft ist natürlich abstrahiert, zudem wurde ihre Oberfläche abgetragen. Mittels der Ferngläser wollen wir einen Blick in die Landschaft bieten, wie sie sich heute zeigt, manchmal auch einen Eindruck ihrer historischen Erscheinung andeuten: Eine Landschaft der Eiszeit sah ganz anders aus als das heutige Westfalen. Allerdings werden wir, auch aus technischen Gründen, die Ferngläser austauschen. Wir planen derzeit einen Multimedia-Guide für unsere Ausstellung, in dem wir vor allem die Ausgräber selbst zu Wort kommen lassen möchten. Und die Landschaftsbilder aus den Ferngläsern werden wir auch in diesem Guide unterbringen. Ist diese Personalisierung von Wissenschaft und Geschichte ein Trend, auch in der Archäologie? Unsere Objekte sprechen nicht für sich. Wenn man sie mit einer Person verknüpfen oder mit der persönlichen Fund- oder Forschungsgeschichte eines Wissenschaftlers verbinden kann, bekommt man einen ganz, ganz anderen Zugang zu einem Objekt. Und darauf wollen wir einfach vermehrt setzen. Um ein Beispiel zu nennen: Wir haben aus dem Übergang von der Bronze- zur Eisenzeit ein Gräberfeld, in dem knapp 20 Leichen von Frauen mit ganz außergewöhnlichem Bronzeschmuck entdeckt wurden. Der Ausgrabungsort heißt Petershagen-Ilse, wir im Museum nennen die Frauen daher „unsere Damen von Ilse“, die Ausgräber haben den Frauen
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noch andere Namen, wie Christa und Daniela gegeben. Ihre Geschichten erzählen wir in der Ausstellung. All die bislang genannten Elemente sind Teile eines gestalteten Ganzen, der Ausgrabungslandschaft. Stand die Idee der Landschaft am Beginn und wurde dann überlegt, wie man sie befüllt? Die Grabungslandschaft war die anfängliche Grundidee. Was sich dann daraus entwickelt hat, verdankt sich der Zusammenarbeit zwischen den Wissenschaftlern und den Gestaltern. Eine wichtige Frage war die der Strukturierung von rund 3000 Quadratmetern Raum. Er sollte nicht sofort komplett einsehbar sein, sondern im Durchschreiten immer neue Ausblicke und Eindrücke ermöglichen, die dazu anregen, um die nächste Ecke schauen zu wollen. Das Konzept und die Ausstellung sind über eine jahrelange Zusammenarbeit und auch Auseinandersetzung gewachsen und zu dem geworden, was es jetzt ist. Ich habe den Eindruck, dass die Ausstellung in Herne relativ stark inszeniert ist, dafür, dass sie eine Dauerausstellung ist. Häufig sind ständige Ausstellungen ja klassisch puristisch gehalten, vor dem Hintergrund der Erwartung, dass sie auch in ihrer Ästhetik 15 Jahre bestehen müssen. Steht die Ausstellung von Herne in einer Tradition der Präsentation von Archäologie? Es gibt ganz unterschiedliche archäologische Museen, die ihre Inhalte auch in ganz unterschiedlicher Weise aufbereiten. Nehmen Sie die Antikensammlung in Berlin mit ihren klassischen Kunstwerken aus Zeiten der Griechen und Römer. Jede Statue spricht dort für sich, auch wenn man sie nur hinstellt. Wenn wir jetzt nach Westfalen schauen, so haben wir natürlich ganz andere Funde zu präsentieren, die für die westfälische Geschichte sehr bedeutend sind, die aber bestimmte Rahmenbedingen brauchen, um ihre Botschaft preiszugeben. Ich kann die Funde, die wir hier zeigen, nicht einfach auf den Sockel stellen und erwarten, dass sie sich selbst erklären. So haben wir versucht, aus den Methoden, aus den Ansätzen, die es anderswo auch schon gab und gibt, die für uns ideale Lösung und Kombination von Funden und Inszenierungen zu finden. Ich möchte unser Gespräch nun hin zu einem weiteren Bereich der Ausstellung lenken, der flächenmäßig viel kleiner, aber mindestens ebenso interessant ist, nämlich zum Forschungslabor. Inhaltlich geht es in diesem Labor darum, dass Archäologen nicht nur graben. Funde führen erst zu Fragen, und um diese zu beantworten, bedienen sich Wissenschafterinnen und Wissenschafter verschiedener Methoden. Können Sie etwas zur Entwicklung und zur Intention dieses Bereichs sagen?
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Das Forscherlabor ist der zweite Teil unserer Dauerausstellung, denn mit dem Herausholen der Objekte aus dem Boden ist ja die eigentliche Arbeit nicht getan. Ist ein Objekt erst geborgen, kommen viele verschiedene Spezialisten, die mit historischen, archäologischen, medizinischen, physikalischen und chemischen Methoden den Objekten noch zusätzlich Informationen entlocken. Um dies sichtbar und verständlich zu machen, haben wir einen Fall mit Tatort genommen und zur Lösung des Falls ein Kriminallabor installiert. Dieses ist in seiner Erscheinung sehr clean gehalten, und es beherbergt 14 Container, die jeweils einer Methode gewidmet sind: der Prospektion, der Stratigrafie, der Typologie, der DANN-Analyse, der Anthropologie, der archäologisch-historischen Methode, der Dendrochronologie, der Radiokarbondatierung, der Archäometallurgie, der Gesteinsbestimmtung, der Experimentellen Archäologie und Ethnoarchäologie, der Archäozoologie und der Archäobotanik. Inhaltlich geht es um die Untersuchung eines jungsteinzeitlichen Großsteingrabs aus Westfalen mit ganz vielen Objekten, Steinen, Tierknochen, Schmuckfragmenten, auch Skeletten von Menschen. Mithilfe der verschiedenen Methoden versuchen wir nun, möglichst viele Erkenntnisse aus diesem Fund zu gewinnen. Was verbirgt sich denn zum Beispiel hinter dem Begriff und der Methode der Typologie? Und wie setzen Sie das, was Sie dazu erzählen möchten, für ein Laienpublikum um? Um die Methode der Typologie geht es im Container 3. Archäologen bringen im Grunde seit Beginn unserer Wissenschaft Objekte, die miteinander verwandt sind, in eine Beziehung. Sie vergleichen Objekte und bringen sie dadurch in eine Chronologie. Wir haben das an der Gattung der Beile durchexerziert, aus Steinbeilen werden Bronzebeile usw. Um Typologie verständlich zu machen, haben wir in einer der Schubladen in diesem Bereich eine Typologie der Handys erstellt, von den ersten Geräten, die noch etliche Kilos gewogen haben und wie riesige dicke Knochen aussehen, bis zum iPhone von heute. Auf diese Weise kann ich dem Besucher von heute näher bringen, wie die archäologische Methode der Typologie funktioniert. Im Forscherlabor hat man das Gefühl einer immensen Materialfülle und Dichte an Information. Diese drängt sich aber nicht auf, man kann sie aktiv abholen, wenn man möchte. Wichtig war uns, allen Besuchern die Möglichkeit zu geben, einen Zugangs zu wählen. Nehmen wir zum Beispiel den Bereich Experimentelle Archäologie. Dort geht es darum, Löcher in kleine Muscheln zu bohren, die früher als Schmuckanhänger auf Ketten gefädelt wurden. Das mag einfach erscheinen, aber es ist gar nicht so leicht, ein Loch in das harte Material zu bohren. Sie können es probieren, die Zeit stoppen und das Ergebnis in eine Liste eintragen, um sich mit den übrigen
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Besuchern zu vergleichen. Wir sind immer wieder erstaunt, wie sehr auch Erwachsene diese praktischen Dinge sehr gerne nutzen und sich dadurch angesprochen fühlen. Existiert die Idee noch, als dritten Bereich der Dauerausstellung die Studiensammlung zu realisieren? Wir planen im Moment, die Studiensammlung nicht wie ursprünglich gedacht umzusetzen. Wir haben ja unser Magazin und quasi unsere Ausgrabungsabteilung in Münster. Dort ist auch das ganze Fundmaterial ausgebreitet und es ist naheliegend, dort mit Massenmaterialien zu arbeiten. Wir in Herne möchten als weiteres Angebot für unsere Hauptbesuchergruppe Familien mit Kindern im Außenbereichs des Museums eine künstliche Ausgrabungslandschaft schaffen, die es ermöglicht, die Schritte, die ein Archäologe tut, selbst nachzuvollziehen: das Glattziehen von Ausgrabungsflächen, das Bestimmen von Funden, das Inventarisieren und all diese Tätigkeiten. Dieses Projekt steckt noch ganz in den Kinderschuhen, aber wir arbeiten darauf hin. Sie nennen als Zielgruppen Kinder und Familien. Ist Ihre Dauerausstellung nicht auch der ideale Ort für Jugendliche, um einen möglichen Beruf kennenzulernen? Wir haben die Universität Bochum in direkter Nähe, die Archäologie ist fünf oder sechs U-Bahnstationen entfernt und wir haben auch immer sehr viele Praktikantinnen und Praktikanten aus den ersten Semestern bei uns im Haus, die unser praxisnahes Konzept sehr schätzen. Darüber hinaus denke ich, dass die Ausstellung sehr gut dazu taugt, bei allen Besuchern ein Bewusstsein dafür zu schaffen, was es heute heißt, wissenschaftlich zu arbeiten. Ich danke für das Gespräch!
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LWL-Museum für Archäologie Herne, Ausstellungsansicht Forschungslabor Foto: LWL/P. Jülich
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Archäologiemuseum, Universalmuseum Joanneum, Graz, Ausstellungsansicht Foto: UMJ/N. Lackner
„Auch wir kennen die eine richtige Antwort nicht.“ Barbara Porod, Chefkuratorin am Archäologiemuseum, Universalmuseum Joanneum, Graz, im Gespräch mit Bettina Habsburg-Lothringen
Im Herbst 2009 wurde auf 600 Quadratmetern die neue Dauerausstellung des Archäologiemuseums am Universalmuseum Joanneum, Graz, in einem Neubau im Park von Schloss Eggenberg eröffnet. Die zeitlich und räumlich weit gestreuten Objekte werden in dieser Ausstellung anders als in klassischen archäologischen Darstellungen nicht in ihrer kontextbezogenen historischen Dimension, sondern als archetypische Konstanten menschlicher Grundbedürfnisse präsentiert: Die Objekte stehen als Lösungsansätze zu Fragen des Mensch-Seins, über die nachzudenken Interviews mit namhaften Österreicherinnen und Österreichern aus Kultur und Wissenschaft einladen.
Barbara Porod, das Archäologiemuseum am Universalmuseum Joanneum wurde 2009 im Park des Schlosses Eggenberg neu eröffnet. Können Sie zu Beginn kurz etwas zur Ausgangssituation der neuen Dauerausstellung erzählen? Die Vorgängerausstellung der heutigen Dauerausstellung war eine streng chronologische Präsentation, in der mit Ausnahme einiger Stücke aus dem kaiserzeitlichen Ptij/Poetovio ausschließlich Objekte aus der Steiermark gezeigt wurden. Diese frühere Dauerausstellung ist 1971 eröffnet worden und blieb mehr als 30 Jahre erhalten, wobei es bereits in den 1980er-Jahren den Wunsch gab, auch Objekte von außerhalb der Steiermark zeigen zu können. Dies wurde dann außerhalb der eigentlichen Dauerausstellung im sogenannten Antikenkabinett auch umgesetzt, das in den Räumen des heutigen Münzkabinetts für die Präsentation von Mumien, Beständen aus Zypern, Unteritalien oder der sogenannten Negauer Helme entstand.
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Es gab also eine Ausstellung, die über 30 Jahre lang weitgehend unverändert geblieben ist und dann durch eine neue Dauerausstellung ersetzt werden sollte. Wie ging das vor sich? Für welche Inhalte und konzeptionellen Grundlinien entschied sich das Ausstellungsteam? Der Wunsch war, in einer neuen Ausstellung alle Bestände gemeinsam zu zeigen. Der Weg dahin war ein langwieriger. In Summe haben rund 20 Personen mehr als vier Jahre lang an der neuen Ausstellung gearbeitet. Bis die thematische Aufstellung, so wie sie heute hier steht, an Kontur gewonnen hat, sind sehr viele unterschiedliche Ideen diskutiert und verworfen worden. Die größte Herausforderung war sicher die Integration aller Sammlungsbestände. Und es herrschte lange Zeit der große Mythos vor, nach dem alle Herzen im Gleichklang schlagen würden, wenn erst das richtige Konzept vorliegen würde. Völlig irrational. Sie haben schon angedeutet, dass die Ausstellung nicht der Chronologie folgt, sondern thematisiert ist. Welche Themen und Kapitel hat die neue Dauerausstellung? Die Themen der Ausstellung sind das Selbst, also die Essenz des Menschen, es geht weiters um die Götter, um die Kommunikation zwischen Menschen und Göttern, es geht um das Töten, um Sex, um Essen und Trinken. Vermittelt werden diese Themen über unsere steinzeitlichen bis frühmittelalterlichen Sammlungen aus steirischen und slowenischen Fundorten. Objekte zum Christentum wurden bewusst ausgeklammert. Und die Objekte wurden dann relativ frei zu den genannten Begriffen assoziiert? Spielten geografische Grenzen oder zeitliche Verortungen für die Ordnung der Dinge eine Rolle? Die Kategorie der Zeit ist insofern berücksichtigt, als es innerhalb der Vitrine eine chronologisch ansteigende Ordnung in Leserichtung gibt. Wir haben dabei die Bedürfnisse von Fachkollegen berücksichtigt, die ins Haus kommen, um zum Beispiel ein Proseminar abzuhalten. Ziel war nicht, dem Publikum über eine derartige Legung beispielsweise die Entwicklung der Lappenbeile zu verdeutlichen. Welche Bedeutung hat in diesen Ordnungen das einzelne Objekt? Welche Bedeutung hat die einzelne Scherbe in der Archäologie? Ich sehe in meiner Arbeit die große Menge an Dingen in ihrer Fragmentiertheit und überlege mir, was man damit erzählen kann, was man sinnhaft noch daraus entwickeln kann. Die einzelne Scherbe, die einzelne Mumie interessiert mich persönlich überhaupt nicht.
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Das Objekt ist aber doch Ausgangspunkt der Überlegungen. Wie schafft man die Verbindung zwischen der einzelnen Scherbe oder der Mumie hin zu dem Thema und einer Erzählung? Wie und wodurch werden die Objekte kontextualisiert? Wir haben zum Beispiel versucht, Kontexte durch Interviews zu schaffen. So fragen wir beim Themenbereich „Götter“, ob wir diese brauchen. Hinter dieser Fragestellung steht das Bemühen, den Besucher in die Situation einzubeziehen. Es ist eben nicht so, dass der Kurator etwas weiß und der Besucher nicht. Auch wir kennen die eine richtige Antwort nicht. Weil immer verschiedene Antworten möglich sind, geben wir die Frage weiter an Expertinnen und Experten von außerhalb der Archäologie. Im Falle der Frage nach den Göttern haben wir den Theologen Adolf Holl um Antwort gebeten. Er hat aus seiner Erfahrung gesprochen, er hat seine subjektiven Eindrücke weitergegeben. Jede Antwort ist subjektiv. Wie kann das Publikum an den Gesprächen teilhaben? An den Wänden, direkt unter den Fragen, finden sich kleine Hörstationen aus brüniertem Stahl. Einen kurzen Ausschnitt aus dem Gespräch hört man dort. Dazu gibt es eine Ruhezone, wo man das Interview in voller Länge hören kann und weitere Angebote, wie zum Beispiel Bücher zum Thema findet. Die Interviews in voller Länge kann man außerdem auf unserer Website abrufen und downloaden. Gewünscht haben wir uns natürlich, dass in der Ausstellung selbst heftig diskutiert wird. Das gelingt manchmal mit Schülergruppen. Sehr spannend fand ich die Diskussion, nach welchen Kriterien ein Krieg als gewonnen gilt. Wer wurde denn zu den anderen Themenbereichen befragt? Die Fotografin Elfie Semotan beispielsweise spricht zur Möglichkeit und Unmöglichkeit, das Wesen des Menschen abzubilden und darzustellen. Der Künstler Hermann Nitsch wurde zum Kult, zur Kommunikation zwischen Menschen und Göttern befragt. Was mir persönlich sehr gefällt, ist das Interview mit Friedrich Orter, einem Kriegsberichterstatter des ORF, zur Frage: „Dürfen wir töten?“ Die ursprüngliche Idee war, eine Person mit Kriegs- und Tötungserfahrung zu befragen, das war aber nicht realisierbar. Ich hatte mich für diese Idee ursprünglich sehr eingesetzt, als möglichst radikaler Kommentar zu den seriell und ästhetisch präsentierten Kriegswaffen in der Ausstellung. Es sollte einfach deutlich werden, dass diese Waffen nie Dekoration waren, sondern dass sie benutzt worden sind. Es sind Waffen für den Krieg mit keiner anderen Funktion, als damit zu töten. Die Interviews wurden von einem österreichischen Wissenschaftsjournalisten, Martin Haidinger, geführt. Er hat mit den Künstlern, Journalisten, Wissenschaftlern
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gesprochen. Warum diese Einbeziehung eines Journalisten? Und warum wurden keine Archäologen um Antworten gebeten? Sobald wir einen Archäologen interviewt hätten, hätte die Antwort den Anspruch einer „richtigen“ Antwort gehabt. Uns war es wichtig, diese Vorstellung der „einen Wahrheit“ zu relativieren. Es gibt verschiedene Meinungen, die der Wissenschaft, die einer Künstlerin, die eines Ausstellungsbesuchers. Neben dieser subjektiven Dimension von Wahrheit, Moral etc. ist mir der starke Bezug zur heutigen Wirklichkeit aufgefallen, der sich aus der beschrieben Vorgehensweise für das Publikum ergibt. Die befragten Personen kennt man mehr oder weniger, aber doch zumindest namentlich aus den Medien. Die Themen der Ausstellung betreffen uns heute, auch wenn man sich den Antworten über alte Dinge annähert. Im Sinne der Rezipierbarkeit gefällt mir das Konzept der Dauerausstellung sehr gut. Leisten aber die beschriebenen Gespräche auch einen Beitrag zum Verständnis der Objekte? Ja, wir haben diesbezüglich sehr positive Rückmeldungen von den Besucherinnen und Besuchern. Das Verankern der Objekte in der aktuellen Wirklichkeit erfolgt auch über die Gestaltung. Die Dauerausstellung ist mit einem sehr einprägsamen Raumerlebnis verbunden. Es gibt nur einen großzügigen Ausstellungsraum, der zur Hälfte Rampe ist. Die Farben im Raum sind sehr blass gehalten, die Atmosphäre ist durch die verwendeten Materialien und die Ordnung der Vitrinen und Möbel kühl. Die Gestaltung steht eigentlich stark im Vordergrund. Sie sagt, die Objekte sind alt, wir betrachten sie aber vor dem Hintergrund unserer aktuellen Welt. Die Fragen, für die die Objekte stehen, sind auch heute noch relevant. Mich überrascht, dass die Gestaltung als dominant wahrgenommen wird. Der Anspruch war eigentlich, dass sie so weit als möglich zurücktritt – daher die neutralen Oberflächen, der sandgestrahlte Beton, all das Glas, der Verzicht auf Farben. Die Gestaltung hilft uns natürlich dabei, bestimmte Perspektiven und Haltungen zu vermitteln. Ein Beispiel: Dass die Objekte vielleicht auch als Antworten auf die von uns formulierten Fragen verstanden werden könnten, setzt voraus, dass die Fragen früher dieselben waren. Weil wir nicht wissen, ob dem so ist, haben wir die Fragen nur projiziert. Die Fragen sind nicht an die Wand geschrieben, weil sie nur unserer heutigen Perspektive auf die Objekte entsprechen. Auch Fragen sind ephemer. Und sie stehen für das, was wir als Deutung in die Vergangenheit projizieren.
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Es kann auch komplett anders gewesen sein, oder gar nicht oder falsch. Auch die Fragen sind eben in Wirklichkeit irrelevant. Am Ende bleiben nur das Objekt und man selber. Und es ist der Mensch, der die Ordnung macht.
Archäologiemuseum, Universalmuseum Joanneum, Graz, Ausstellungsansicht Foto: UMJ/N. Lackner
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Die Relativität wissenschaftlicher Einschätzung und die Konstruktionsleistung im Museum wird wirklich sehr deutlich in der Ausstellung. Ich glaube, dass die Ausstellung damit durchaus einem allgemeineren Trend folgt, der weggeht von diesen vermeintlich schlüssigen Geschichten. Besonders scheint mir, dass in der Grazer Ausstellung ein weiterer Schritt gesetzt wird. Sie macht alte Dinge konsequent unter einem gegenwärtigen Blickwinkel zugänglich. Damit schafft sie Anknüpfungspunkte für Laien, für die manche der Objekte ohne Hilfestellung wahrscheinlich nicht einmal identifizierbar wären. Ist dieses Binden an die Gegenwart wirklich Vermittlungsstrategie und im Sinne der Rezeption entschieden worden oder steckt dahinter ein anderer Grund? Dauerausstellungen im Hinblick auf das Publikum zu entwickeln ist ja vielleicht nicht immer das erste Ziel. Ja, aber in unserem Fall ist es so. Die Ausstellung soll den Besucher wirklich erreichen und geht dafür manchmal auch ein bisschen brachial oder sogar grob vor. Aber die Ausstellung will Kontakt. Das zeigt sich auch auf der Ebene der Texte. Zusätzlich zu den gesprochenen Texten gibt es geschriebene. Gerade im Bereich der Dauerausstellungen, dem eher konservativen Format im Museum, sind Texte zumeist nach wie vor klassisch-distanziert. Im Archäologiemuseum wird das Publikum direkt angesprochen. Können Sie dazu vielleicht etwas sagen? Wir haben konventionelle Texte auch von dem vorhin schon genannten Wissenschaftsjournalisten überarbeiten lassen. Wir haben damit eine abstrakte Sprache verhindert, die suggeriert, dass da einem jetzt die Wahrheit vermittelt wird. Es ist immer eine Person, die spricht und die eben auch einen bestimmten Stil hat. Wenn dieser, wie im Falle unserer Texte, dann etwas salopper ist, kann das auch schon mal irritieren. Dabei deckt sich der Inhalt unserer Texte mit dem ganz konventionellen, durchschnittlichen Museumstext, aber er spricht das Publikum eben direkt an, das ist, was man sich in einem Museum nicht erwartet. Ich denke, dass sich aus unserem Gespräch sehr viel über ihr Wissenschafts- und Museumsverständnis herauslesen lässt. Diese Verweigerung kompletter Anschaulichkeit, die Personengebundenheit und die individuelle Verantwortung in der Vermittlung von Geschichte auf unterschiedlichen Ebenen. Rückblickend war es für mich eine wesentliche Erkenntnis, wie subjektiv das Machen einer Ausstellung doch ist, wie sehr sie schlussendlich die Handschrift der handelnden Personen trägt. Wissenschaftlich stehe ich zu einem subjektiven Positivismus, also dem interpretationsfreien Sammeln von Funden. Was mein Museumsverständnis angeht, schwanke ich. Auf der einen Seite würde ich sehr gerne mit den Besucherinnen und Besuchern in Kontakt treten, dann habe ich wieder das Gefühl,
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dass das völlig unmöglich ist. Folglich bewege ich mich zwischen totalem Rückzug und dem Wunsch nach permanenter Anwesenheit in der Ausstellung. Für mich liegt ein wesentlicher Bruch hin zu klassischen Präsentationen in dieser Auflösung der Vorstellung vom Museum als Ort der Wahrheit. Und in der Relativierung der Autorität dieser Institution. Es ist doch erstaunlich, wenn sich Besucher über Texte beschweren. Wo hat man das schon gehört? Texte haben immer eine wesentliche Rolle für die vermeintliche Objektivität und Anonymität der Museen gespielt. Sie haben die Distanzierung des Publikums von der Präsentation und ihrer unantastbaren, geschlossenen Ordnung wesentlich mitgetragen. Ich möchte vor dem Hintergrund am Ende noch zur Frage kommen, wo Sie die Dauerausstellungen Ihres Museums im Kontext sonstiger neuerer archäologischer Präsentationen sehen. Wie würden Sie das Grazer Konzept da verorten? Es sind in den letzten zehn Jahren sehr viele größere Häuser neu aufgestellt worden und viele haben versucht, dabei neue Wege zu gehen. In der Folge sehe ich heute sehr unterschiedliche Lösungen und Ansätze, was gut und spannend ist. Mit unserer Lösung bin ich nach wie vor sehr glücklich. Wie radikal die Auflösung des Museums eigentlich passiert ist, war mir während der Entstehung nicht bewusst. Hat das mit einem Bewusstseinshandeln innerhalb der Wissenschaften zu tun oder ist das eher eine Folge der stärkeren Einbeziehung von Ausstellungsagenturen, die sich durch Präsentationskonventionen im Bereich der Archäologie oder Objektbegriffe in dieser Disziplin nicht so sehr unter Druck sehen und sehr frei mit den vorhandenen Objekten und wissenschaftlichen Erkenntnissen agieren. Oder hat diese Diversifizierung mit einem Generationenwechsel zu tun? Ja, vielleicht beides. Ich denke, dass die Ausstellungsagenturen schon eine wichtige Rolle spielen in neuen Konzeptfindungen oder dass auch stärker Gestalter einbezogen werden, die ein vielleicht anderes Museums- und Ausstellungsverständnis in die Projekte einbringen. Projektbeteiligte von außen bedeuten immer auch ein erstes kritisches Publikum für kuratorische oder wissenschaftliche Überlegungen. Und wenn diese externen Partner sich langweilen oder eine Erzählung nicht nachvollziehen können, sind sie ein erstes wichtiges Korrektiv. Zusätzlich hat sich in den letzten fünfzehn Jahren ein Interesse für Methodenfragen in der Archäologie entwickelt, was nun mit leichter Verzögerung auch in den Museen sichtbar wird. Besten Dank für das Gespräch!
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Museum für Kommunikation Bern, Detail – Dauerausstellungsansicht aus dem Bereich Der PC: Computer für alles und alle © Museum für Kommunikation/Foto: L. Schäublin
„… wie Technik auf unser Leben wirkt …“ Beatrice Tobler, Kuratorin am Museum für Kommunikation Bern, im Gespräch mit Bettina Habsburg-Lothringen
Das 1907 gegründete Schweizerische Postmuseum wurde 1997 in Museum für Kommunikation umbenannt. Mit der Namensänderung ging eine Neupositionierung einher, die ihren deutlichsten Ausdruck in der kompletten Erneuerung der Dauerausstellungen fand. In einem ersten Schritt entstand bis 2003 eine Ausstellung zur menschlichen Kommunikation und ihrer Entwicklung. Die beiden weiteren Bereiche wurden 2007 eröffnet und zeichnen sich durch stark besucher/innenorientierte Konzepte aus.
Beatrice Tobler, im Zeitraum von 1999 bis 2007 fand im Museum für Kommunikation in Bern eine komplette Erneuerung der dortigen Dauerausstellungen statt. Mit dieser Erneuerung hat sich das Haus von einem technikorientierten Firmenmuseum zu einem kulturhistorischen Museum zum Thema Kommunikation gewandelt. Können Sie eingangs und zur Orientierung etwas zur Entwicklung der Dauerausstellungen berichten, zu den Inhalten und dem Stil der einzelnen Abteilungen? Es war tatsächlich ein langer Prozess, unsere Dauerausstellungen neu zu entwickeln und in zwei Etappen umzusetzen. In die Konzeption der Ausstellungen wurde das ganze Team mit einbezogen und wir haben sehr früh mit einer externen Firma, GSM Design aus Kanada, zusammengearbeitet, um das inhaltliche und gestalterische Erscheinungsbild der Ausstellungen, die Kernaussagen und zentralen Botschaften der einzelnen Abschnitte festzulegen. In einer ersten Etappe wurde die 2003 eröffnete Ausstellung Nah und fern: Menschen und ihre Medien realisiert, die einen Überblick über die Geschichte der Kommunikation bis hin zum Austausch von Informationen mittels neuer Medien bietet. In einem zweiten Schritt entstanden die zwei weiteren Bereiche As Time Goes Byte: Computer und digitale Kultur, sowie Bilder, die haften: Welt der Briefmarken. Bei der Ausstellung Nah und fern: Menschen und ihre Medien wollten wir gestalterisch bewusst mit der vorgegebenen Architektur, diesem langgezogenen Bau brechen. Jede der drei Ausstellungen hat ihre eigene Sprache, Tonalität
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und Stimmung erhalten. Die Farbigkeit spielt dabei zum Beispiel eine wichtige Rolle. So ist die Ausstellung As Time Goes Byte ganz hell und in Weiß gehalten, obwohl sie sich im zweiten Untergeschoss befindet. Wir wollten dieser Keller-Stimmung bewusst etwas entgegen setzen. Der Ausstellungsbereich Nah und fern dagegen ist eher dunkel gehalten, enthält aber farbige Akzente – so wie die Farbstimmungen unterschiedlich sind, unterscheiden sich auch die Zugänge voneinander. Die Ausstellung Nah und fern: Menschen und ihre Medien beinhaltet mehrere Spuren und Lesarten für unterschiedliche Zielgruppen: vom speziellen Weg für Kinder über interaktive Stationen und Workshops für ein breites Publikum bis zum Studium historischer Dokumente. Der inhaltliche Zugang und die Tonalität in As Time Goes Byte. Computer und digitale Kultur sind eher sachlich gehalten und sprechen Jugendliche und Erwachsene an. Bei Bilder, die haften: Welt der Briefmarken bildet ein interaktiver und sinnlicher Eingangsbereich mit allerlei haptischen, akustischen und sogar olfaktorischen Spielereien den Auftakt zum Hauptteil, der die philatelistische Studiensammlung beinhaltet und gestalterisch an einen Tresorraum anspielt. Gibt es denn bei der Verschiedenheit der Inhalte, Objekte und Zugänge konzeptionelle Prinzipien, die für alle drei Teilbereiche der Dauerausstellung gelten? Ein solches Prinzip wäre, dass der Mensch in unseren Ausstellungen im Mittelpunkt steht. Wir haben zu einem großen Teil technische Sammlungen, aber wir benutzen sie nicht, um zu veranschaulichen, wie etwas funktioniert. Vielmehr geht es uns darum zu zeigen, wie eben diese Technologie uns und unseren Alltag beeinflusst, unser Leben und Denken bestimmt. Allerdings gibt es ein paar Ausnahmen, wie im Bereich As Time Goes Byte, wo wir erklären, was analog und digital ist und wie das binäre Zahlensystem funktioniert. Die Umsetzung des Prinzips erfolgt häufig so, dass man Menschen, auch fiktiven Personen, zum Beispiel in Filmen begegnet, die ihre Erfahrungen und Meinungen zu einem Thema wiedergeben. Wir machen selten pauschale Aussagen im Stil von „So und so ist das“, sondern wir versuchen vielmehr Positionen erkennbar zu machen, indem Menschen zu Wort kommen. Gibt es auch Grundsätze, was den Umgang mit den Sammlungen und Präsentation der Objekte angeht? Natürlich ist es bei den Dauerausstellungen wichtig, dass man seine Sammlungen zeigt, nicht zuletzt, weil sie einen großen Teil der Ressourcen absorbieren. Ein gutes Beispiel dafür ist der Bereich Bilder, die haften: Welt der Briefmarken, der sich ganz klar aus einem Sammlungsschwerpunkt heraus erklärt. Wir haben eine der größten öffentlich zugänglichen Briefmarkensammlungen weltweit, die frühere traditionelle philatelistische Präsentation entsprach aber nicht mehr den Interessen eines breiten Publikums. Wir haben uns entschieden, die Briefmarken auch in der neuen
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Ausstellung zu zeigen, und zwar als kulturhistorische Objekte. Ein Verzicht auf die Briefmarken wäre in Anbetracht eines unserer Geldgeber, der Post, undenkbar. Was heißt diese Verantwortung gegenüber einem Förderer und der Sammlung für die Identität des Hauses und wie widerspiegelt sich dies in der Dauerausstellung? Man erwartet ja eigentlich, dass die Identität eines Museums stark an seine Geschichte und die Sammlungen gebunden ist. Wie verhält sich das in einem Kommunikationsmuseum, das als Postmuseum begründet wurde und über entsprechende Objektbestände verfügt? Das Museum war eben früher das PTT-Museum. Dies wurde in den alten Dauerausstellungen, die von 1990 bis 2002 zu sehen waren, sehr deutlich: Im unteren Stock war die Post und oben war Telekommunikation. Und dann kam die Privatisierung. Wir als Museum haben dabei die gleiche Geschichte durchgemacht wie die deutschen Kommunikationsmuseen. Wir sind heute eine Stiftung, die von Post und Swisscom getragen wird, was uns auch die Möglichkeit gab, den inhaltlichen Fokus zu erweitern. Seit 1997 sind wir das Museum für Kommunikation. Für uns stehen nicht nur die Objekte im Zentrum, sondern das Kommunizieren. Für den Umgang mit den Sammlungen bedeutet dies, dass wir nicht nur Objekte sammeln, sondern auch den Kontext und die Geschichten rund um die Objekte. Für die Wechselausstellungen heißt es, dass wir auch Phänomene ohne Objekte thematisieren können, wie beispielsweise das Thema Gerücht. Bleiben wir bei der ständigen Ausstellung. Sie waren im Zuge der Erneuerung der Dauerausstellung für den Bereich As Time Goes Byte. Computer und digitale Kultur zuständig. Das Museum für Kommunikation hat ab den ausgehenden 1990ern eine Computersammlung aufgebaut, die die Grundlage für diesen Bereich bildet. Inhaltlich geht es um eine relativ kurze Geschichte, vom ersten Großrechner bis zum omnipräsenten Gerät in Westentaschenformat, und um die Frage, wie die Computer- und Informationstechnologie unser Leben verändert haben. Nun klingen Begriffe wie PC-Design, digitales Gedächtnis, Software oder Computer, Fenster, Maus – um einige Schlagworte aus der Ausstellung aufzunehmen – sehr abstrakt. Gleichzeitig kennen wir diese Begriffe natürlich aus unserem gegenwärtigen Alltag. Lassen sich die Inhalte hinter den Begriffen mit alten Computern und ähnlichem darstellen? Welche anderen Mittel und Methoden kommen zum Einsatz? Obwohl wir eine kurze Zeitspanne von wenigen Jahrzehnten behandeln, ist es doch eine historische Ausstellung. Auch der erste iPod von 2001 ist historisch. Von daher gilt für uns wie für jede andere historische Ausstellung die Frage, wie wir mit den Objekten aus der eigenen Sammlung arbeiten können. Wir zeigen Geschichte also mithilfe von Geräten, aber wir zeigen eben auch Meinungen, Erfahrungen, Positionen, um sichtbar
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zu machen, wie sehr sich bestimmte Technologien in den Alltag und die verschiedenen Lebensbereiche eingeschrieben haben. Wir zeigen damit keine Technikgeschichte, sondern wie Technik auf unser Leben wirkt, wie der Computer die verschiedenen Welten (Administration, Wissenschaft, Industrie, Privathaushalt) erobert hat, wie sie dabei ihr Äußeres verändert hat usw. Wenn es darum geht, abstrakte Begriffe verständlich zu machen, greifen wir häufig zu Metaphern und setzen diese auch in der Ausstellungsgestaltung um. Das Thema Software erklären wir beispielsweise in einer Küche. Dort stellen wir ein Computerprogramm einem Kochrezept gegenüber (beides sind Algorithmen), vergleichen Programmierliteratur mit Kochbüchern und Softwarepakete wie Microsoft Office mit Fertiggerichten. Selbstverständlich ist dies vereinfachend, und auch die implizite Aussage, dass Programmieren so leicht wie Kochen sei, ist durchaus gewollt. Wir wollen den Schülerinnen und Schülern, die diese Ausstellung besuchen, die Informatik möglichst niederschwellig präsentieren. Was die Mittel und Methoden im Allgemeinen anbelangt, erschließen sich Informationen zu einem großen Teil aus den Texten, die vielleicht auch überbewertet werden, weil sie doch viele nicht lesen. Dann gibt es die Ebene der Videos, die der Audioinstallationen und dann haben wir natürlich auch interaktive Angebote. Wie das Beispiel der Softwareküche zeigt, beinhalten aber auch die Tonalität der Ausstellung, ihre Architektur und die gestalterische Formensprache eine inhaltliche Aussage. Ein Bedeutungsträger wurde noch nicht genannt: Es gibt am Haus eine Kunstsammlung, die in der sogenannten Kunstkabine auch gezeigt wird. Welche Rolle spielt die Kunst in der Dauerausstellung? Wir haben Medienkunstwerke in die Dauerausstellung integriert, zum Beispiel vier interaktive Portraits von Luc Courchesne oder die Arbeit Telematic Vision von Paul Sermon. Wir weisen diese Arbeiten als Kunst aus, sie werden aber nicht als solche wahrgenommen, sondern als weitere interaktive Angebote. Die gezeigten Medienkunstwerke vermögen das auszudrücken, was wir vermitteln wollen und beziehen dabei das Publikum ein. Dies passt ausgezeichnet zu unserem Zugang und fügt sich deshalb nahtlos in unsere Ausstellungen ein. Beinahe am Ende der Ausstellung As Time Goes Byte gibt es einen runden Raum, den wir „Ein Fenster in die Gegenwart und Zukunft“ genannt haben. In diesem Teil präsentieren wir zwischen 2007 und 2010 rund ein Dutzend aktuelle Projekte, welche mit digitalen Technologien realisiert sind oder diese thematisieren. Unsere Vorstellung war die, dass wir mit den Leuten, die beispielsweise Quantencomputer entwickeln, sprechen und sie dann etwas aus ihrer Arbeit vorstellen und zeigen können. Wir haben relativ bald gemerkt, dass diese Leute zwar Konzepte entwickeln und Experimente machen, aber eben nicht Exponate herstellen, die man im Museum zeigen kann. Weil wir dann nicht die Ressourcen hatten, diese für die Ausstellungen zu bauen, ist es schlussendlich darauf hinausgelaufen, dass wir sehr viel Medienkunst gezeigt haben. Die Medienkunst thematisiert die digitale Kultur sehr stark und sie benutzt sie als Umsetzungswerkzeug und Ausdrucksmittel. Das hat also
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sehr gut gepasst. Gleichzeitig bedeutet dieser Bereich in der Ausstellung einen Bruch und manchmal war es recht schwierig, dass die Leute sich zum Beispiel auf die gezeigte Videokunst wirklich einlassen konnten. Manche sind einfach durchgelaufen. Sie haben erzählt, dass es geplant ist, diesen Bereich in ein Wohnzimmer der Zukunft, aus den 2030er-Jahren umzuwandeln. Wenn es schon schwierig ist, an der Gegenwart und ihren Entwicklungen dranzubleiben, wie wollen sie dann die Zukunft thematisieren? Natürlich ist es noch viel unmöglicher die Zukunft zu zeigen, als die Gegenwart, aber man kann bei ganz bestimmten Erwartungshaltungen ansetzen, die sich zum Beispiel aus Science-Fiction-Filmen speisen. Die Vorstellung der Zukunft ist heute noch sehr stark von den 1960er-Jahren geprägt. Das ist sehr retro. Also wir werden ein relativ normales Wohnzimmer zeigen und der Clou wird sein, dass relativ normal aussehende Möbel „smart“ sind, also viel können. Innerhalb der Geschichte von As Time Goes Byte wollen wir zum Beispiel den Weg fort vom Desktopcomputer hin zu Tangible User Interfaces über Alltagsgegenstände zeigen. Die Computertechnologie wird unsichtbar, aber überall sein. Alles wird mit allem vernetzt und die Grundidee sein, dass eigentlich der Computer den Menschen bedient und nicht mehr der Mensch den Computer. Unsere Vision der Computertechnologie der Zukunft basiert auf den Erkenntnissen und Prognosen der heutigen Forschung. Natürlich kann sich der Fokus jeweils verschieben und nicht das, was man heute als spannend empfindet, wird weiter verfolgt werden. Plötzlich gibt es etwas Neues und anderes bekommt eine Nebenrolle. Wir können demnach nicht mit Sicherheit sagen, wie die Zukunft aussehen wird und wissen das, aber wir können eine mögliche Zukunft vorstellen, Tendenzen extrapolieren, die momentan erkennbar sind. Man braucht dafür ein Stilmittel und eine Prise Humor. Wir arbeiten nicht mit so sehr mit Übertreibung, aber mit einem Augenzwinkern. Was mich am Ende noch interessiert, ist die Frage nach dem Publikum. Sie haben im Vorfeld erzählt, dass vor allem Familien mit Kindern in die Dauerausstellung kommen, außerdem nehmen Schulklassen einen wichtigen Platz ein. Wir haben ein Stammpublikum, das sich hauptsächlich aus Familien mit Kindern zusammensetzt. Dazu kommen eben die Schulklassen, für die wir sehr viele Schulführungen und Schulworkshops machen. As Time Goes Byte beispielsweise ist auch beliebt bei älteren Leuten, z. B. bei computeraffinen älteren Herren. Und dann haben wir Special Interest Groups für die Wechselausstellungen. Je nach Thema kann es eine andere Gruppe sein und wir versuchen, sie über die Wechselausstellungen auch für die Dauerausstellung zu gewinnen.
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Wie reagieren die unterschiedlichen Gruppen auf die Angebote der Dauerausstellung? Sie haben zum einen Leute, die möchten die Technik sehen, andere sind historisch interessiert, wieder andere an den Briefmarken. Wie schaffen sie das, dass sie das unter einen Hut bringen? Ich denke, wir müssen unsere unterschiedlichen Zielpublika nicht unter einen Hut bringen. Wir können verschiedene Angebote machen, inhaltlich und auch in der Wahl der Medien. Wenn ich mit meinen Patenkindern durch die Dauerausstellungen gehe, dann gehe ich von interaktiver Station zu interaktiver Station. Dann gibt es ältere Herren, die wahrscheinlich Ingenieure sind, die durch die Computerausstellung gehen und alle Texte lesen, vielleicht auch die Filme anschauen, aber die Interacts nicht ausprobieren. Die Dauerausstellungen bieten ganz verschiedene Lesearten an und ich denke, das ist auch etwas, das eine Dauerausstellung auszeichnen sollte. Man möchte ja, dass die Leute wiederkommen, und sich das eine Mal vielleicht die Timeline vornehmen und das nächste Mal die Objekte in den Schubladen. War die Affinität bestimmter Gruppen zu bestimmten Bedeutungsträgern und das Anbieten von Informationen auf unterschiedlichen Ebenen ein Thema in der Konzeption? Wenn wir eine Ausstellung planen, dann machen wir ein Grob- und ein Detailkonzept, und da sind diese Fragen nach dem Zielpublikum natürlich beinhaltet. Wir arbeiten mit dem Wissen, dass man auch auf kleinem Raum verschiedene Lesearten nahelegen kann, dass man Inhalte natürlich teilweise herunter brechen muss, um sie verständlich zu machen, dass aber andererseits auch komplexe Inhalte zur Vertiefung durchaus ihren Platz bekommen können. Herzlichen Dank für das Gespräch!
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Museum für Kommunikation Bern, Detail Dauerausstellungsansicht aus Zone «Internet – alles, immer, überall» © Museum für Kommunikation / Foto: L. Schäublin
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Kelvingrove Art Gallery and Museum Glasgow, Ausstellungsansicht große Halle © Culture and Sport Glasgow (Museums)
„Muse en sind ohnehin sehr seltsame Orte ...“ Martin Bellamy, Research Manager am Kelvingrove Art Gallery and Museum, Glasgow, im Gespräch mit Jennifer Carvill
Das Kelvingrove Art Gallery and Museum geht auf eine Mitte des 19. Jahrhunderts begründete, private Stiftung zurück. Das Museum wurde in den letzten Jahren komplett erneuert und 2006 mit einem flexiblen, geschichtenbasierenden Konzept neu eröffnet. Die Dauerausstellung umfasst heute Sammlungen von der Naturgeschichte über französische Kunst des 19. Jahrhunderts bis hin zu moderner schottischer Sozialgeschichte. Zur Entwicklung der Dauerausstellung wurden Kommissionen gebildet, um die Interessen verschiedener Publikumsgruppen zu vertreten.
Martin Bellamy, schon vor der Erneuerung war Kelvingrove ein gut besuchtes Museum mit hoher Akzeptanz bei der lokalen Bevölkerung. Was hat Sie dennoch bewogen, das Museum drei Jahre lang zu schließen und die Dauerausstellung komplett zu erneuern? Es stimmt, dass Kelvingrove seit jeher sehr populär bei der einheimischen Bevölkerung war und immens viele Besucher angezogen hat. Vor der Schließung des Museums hatten wir knapp eine Million Besucher pro Jahr, und als wir 2006 wieder eröffneten, wurde nicht so sehr von Wiedereröffnung gesprochen, sondern vielmehr von Neubezug. Das Museum ist im Besitz der Menschen, und jeder hat eine Meinung dazu. Die Glasgower Öffentlichkeit betrachtet es als ihren Ort. Die alte Ausstellung war sehr unflexibel und es brauchte viel Zeit und Ressourcen, um irgendetwas zu ändern. Dies führte dazu, dass ein paar Teile des Museums noch aus den 1970ern stammten. Alles sah sehr müde aus. Das Gebäude litt ziemlich unter seinem Alter, sowohl was die Infrastruktur als auch was die Präsentationen betraf. Die ursprüngliche Idee war, das Museum rechtzeitig zur Hundertjahrfeier des Gebäudes im Jahr 2001 wiederzueröffnen. Die Planung und Finanzierung dauerte aber schließlich viel
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länger. Erst im Jahr 2000 bekamen wir einen Entwicklungszuschuss vom Heritage Lottery Fund, 2002 die volle Subvention von 12,8 Millionen Pfund. Obwohl wir also die Hundertjahrfeier versäumten, haben wir diese zusätzliche Zeit im Sinne der Entwicklung des neuen Museums genutzt. Eine der Prämissen für die Neuaufstellung lautete, das Gebäude so weit wie möglich für das Publikum zu öffnen. Heute sind 30 Prozent mehr an Gebäudefläche für die Öffentlichkeit zugänglich, Büros und Geschäfte wurden in einen anderen Teil der Stadt verlegt. Wir wollten zudem die Zugänglichkeit des Gebäudes erhöhen. Anstelle der steilen Treppen hinauf zu den beiden Haupteingängen wollten wir einen ebenerdigen Eingang. Wir hatten auch beobachtet, wie die Besucher das Gebäude benutzen. Es war so konzipiert, dass die Kunstgalerien im Obergeschoss zu finden waren und die Museumspräsentationen unten. Jedoch gingen nur sehr wenige Besucher nach oben. Wir wollten diese Barriere durchbrechen, indem wir das Gebäude neu organisierten. Wir teilten die Struktur nicht mehr in oben und unten, sondern links und rechts in zwei Hälften. Der multidisziplinäre Ausstellungsansatz bedeutete schließlich, die Kunst mit den weiteren Museumssammlungen zu verbinden. Die Philosophie hinter der Neuaufstellung geht auf den damaligen Leiter Mark O’Neill zurück. Seine Idee war es, einen erzählungsbasierten Zugang zu den Sammlungen zu entwickeln. Früher gab es einen großen Themenraum, den das Publikum am einen Ende betrat, um ihn am anderen Ende erleuchtet zu verlassen. So die Theorie. In der Praxis gehen Menschen nicht vom Anfang bis zum Ende, sondern bleiben bei Dingen hängen, die ihr Interesse wecken. Wir entschieden uns daher, kleinere, in sich geschlossene Aufstellungen zu gestalten, die eine Geschichte erzählen und eine Botschaft vermitteln, ohne gleich die gesamte Geschichte der westlichen Zivilisation zu erklären. In einer frühen Phase der Neukonzeption wurden alle Kuratoren des Museum um Ideen für Geschichten gebeten. Jeder stellte seine Lieblingsideen vor, und auf dieser Basis begann die Diskussion darüber, was eine gute Geschichte ausmacht, sowie die Detailplanung. Wir überlegten die Struktur des Museums und die Möglichkeit, einzelne Geschichten unter bestimmten Themen zu verbinden. Wir befragten die Öffentlichkeit, was sie gerne im neuen Museum sehen würde, was sie begeistern würde. Danach hatten wir eine lange Liste von mehreren Hundert Geschichten, die man nun in den Räumen besichtigen kann. Wie reagierte die Öffentlichkeit auf Ihre Pläne zur Erneuerung? Die Leute erkannten, dass das Gebäude einer Sanierung bedurfte, es machte einen ziemlich verbrauchten Eindruck. Die Atmosphäre des Gebäudes, dieses einzigartigen Ortes aber wollten sie nicht verlieren. Wir standen unter dem großen Druck der Designer, die Pläne für viele aufregende Ideen hatten, mussten aber schützen, was das Gebäude einzigartig machte. So gibt es zu Beginn diese große, offene Halle, die für die Besucher ein Haupttreffpunkt ist. Wir haben uns entschieden, sie von Museumsexponaten frei zu halten. In puncto Architektur war das ein wichtiges Statement.
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Sie haben erwähnt, dass das Museum räumlich insofern neu organisiert wurde, als dass eine Orientierung nicht mehr in oben und unten, sondern in links und in rechts erfolgte. Was stand hinter dieser Entscheidung? Die beiden Hälften sind thematisch definiert. In Life werden vorwiegend Naturund historische Geschichten präsentiert, auf der Expression-Seite die meisten der künstlerischen Geschichten gezeigt. Die thematische Teilung wird aber nicht rigide durchgesetzt, wir wollten die Mischung, ohne die Leute zu verwirren. So finden Sie auch Naturgeschichten auf der Expression-Seite, und Kunst wird im ganzen Museum präsentiert. Auch innerhalb einzelner Erzählungen verfolgten wir einen multidisziplinären Zugang. Eine Geschichte kann also sowohl ein Gemälde als auch ein paar geologische Objekte beinhalten. Die Kunstgalerie voller Gemälde, den Raum voller Fossilien gibt es nicht mehr. Diesen Ansatz haben wir auch gewählt, weil man dadurch viel dynamischere und überraschendere Geschichten schaffen kann. Und der taxonomische und klassifizierende Zugang zu Themen scheint vielleicht den Museumsprofis naheliegend, hat aber nichts mit dem Leben der Besucher zu tun. Wir wollten Geschichten präsentieren, die die Erfahrungen der Menschen in der wirklichen Welt besser reflektieren. Museen sind ohnehin sehr seltsame Orte, und wir wollten versuchen ein paar dieser typischen Barrieren zu durchbrechen. Das Museum präsentiert sich mit seinen Sammlungen als unglaublich vielfältig. Schon wenn man es betritt, bekommt man einen Eindruck davon: Auf der einen Seite steht ein Elefant neben einer Spitfire, auf der anderen Seite baumeln Dutzende Köpfe in einer Installation. Wie war es möglich, beim Erzählen über die Welt und die westliche Gesellschaft auch Schottland und Glasgow zu finden? Vor der Umgestaltung war das Museum durch einen stark westlichen und fortschrittsorientierten Blick auf die Zivilisation bestimmt. Mit den neuen Aufstellungen wollten wir würdigen, dass es viele verschiedene Arten gibt, die Welt zu sehen, und dass es in der Gesellschaft verschiedene Ansichten und Werte gibt, die sich durchaus auch widersprechen. Wir haben heute einen Reichtum an Stimmen, und nicht mehr die Autorität des großen städtischen Museums. Verschiedene Stimmen einzubeziehen bedeutet, Input aus der Gemeinschaft einzuarbeiten. Man kann das oberflächlich betreiben, wir haben aber den Dialog um die Museumsobjekte eröffnet, mit der Folge, dass viele der Präsentationen kontroversiell sind und Kanten haben. In Glasgow Stories zeigen wir zum Beispiel die Geschichte von Glasgows geistiger Gesundheit, Gewalt gegen Frauen, Sektiererei. Vielleicht sind wir in gewisser Weise zu weit gegangen. Wenn man Glasgow als Gast besucht, könnte man meinen, die Glasgower Gesellschaft sei seltsam. Wir wollten uns diesen Themen aber stellen und nicht vor ihnen zurückschrecken. Meiner Meinung nach ist jener Teil, der diese Ehrlichkeit am besten zeigt, Souvenirs of War im Raum Conflict and Consequence. Im Verlauf der gesamten Museumsgeschichte wurden uns Objekte überantwortet,
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die von Soldaten bei ihren Feldzügen im ganzen Empire buchstäblich gestohlen wurden. Früher wurde dies als legitime Art gesehen, Dinge zu sammeln. Man führte Krieg, brachte Sachen nach Hause und spendete sie dem Museum. Wir wollten dies – und damit einen Teil unserer eigene Sammlungsgeschichte – offen zeigen. Wir sagen also ganz ehrlich: „So haben wir das erworben“, wir würden es heute nicht mehr tun, Moral und Ethik sind heute anders, aber dies ist ein Teil der Geschichte des Museums. In der Umsetzung dieser Geschichte haben wir uns auch bemüht, die Bestohlenen zu Wort kommen zu lassen und ihre Meinung darzustellen. Ein anderes Beispiel für ehrlichen Umgang sehe ich in der Präsentation von Waffen und der Waffenkammer, die wir nicht atemberaubend inszeniert haben. Wir wollen bewusst machen, dass diese zum Töten und Verstümmeln von Menschen da sind, deshalb haben wir sie mit Prothesen kombiniert oder zeigen einen Totenschädel, bei denen man sehen kann, welchen Schaden ein Schwert anrichten kann. Jeder der Räume wird mit einer Einleitung eingeführt, die explizit angibt, was hier versucht wird. Wie wird das vom Publikum angenommen? Eine der Schwächen der isolierten Kleingeschichten ist wahrscheinlich, dass sie vielleicht von Museumsprofis innerhalb einer thematischen Struktur verstanden werden, die sich den Besuchern, die die Einführungen nicht lesen, aber nicht ohne weiteres erschließt. Bei manchen Räumen funktioniert es, wie bei Conflict and Consequences, in der es um Krieg geht. Bei Cultural-Survival aber beispielsweise sehen sie möglicherweise ein seltsames Nebeneinander von Dingen, von den Torres Straits Inseln und den letzen Perlenfischern in Schottland. Die Zusammenstellung ergibt Sinn, wenn man das Grundprinzip des Raumes verstanden hat. Wenn man sich damit nicht befasst hat, sagt man vielleicht nur: „Gut, das ist nett“. Die Leute wissen nicht immer, was sie gerade betreten. Das hat auch die Evaluation ergeben. Wir hätten uns da vielleicht mehr bemühen müssen. Eine Besonderheit der Dauerausstellung ist, dass für sie speziell flexible Elemente designt wurden. Wie funktioniert dieses System, und wie steht es um die Kosten? Wir wollten kein Ausstellungssystem, das mit der schon vorhandenen Architektur konkurriert. Es musste daher schlicht sein und die Proportionen des Gebäudes reflektieren. Im Prinzip kann man das System als Satz großformatiger Bausteine beschreiben, die zerlegt und zu neuen Arrangements zusammengesetzt werden können. Alle Elemente sind austauschbar; alle Schilder haben Standardgrößen, auch die Grafik-Elemente. Im Großen und Ganzen ist alles standardisiert. Da jedes Element auch allein stehen können muss, war das System vielleicht etwas teurer als herkömmliche Lösungen. Schlussendlich hielten wir es aber für effektiv. Wir hätten auch ein Meer an Faserplatten-Konstruktionen haben können, das wäre aber keine Langzeitlösung gewesen.
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Zu Beginn gab es den Plan, jährlich acht Ausstellungseinheiten auszuwechseln, sodass sich in fünf Jahren 50 Prozent der Ausstellung verändern würden. Haben Sie sich in den letzten Jahren an dieses Vorhaben gehalten? Und wie nimmt das Publikum diesen Wechsel in der permanenten Schau wahr? Nicht wirklich. Weil die für dieses Ausmaß an Veränderung notwendigen Ressourcen einfach nicht da waren. Dennoch gab es viele, auch konservatorisch bedingte Änderungen an der Dauerausstellung seit der Eröffnung. Das Publikum bemerkt oder schätzt dies möglicherweise gar nicht. Ein umfassender Wechsel von Geschichten fand bisher eigentlich gar nicht statt, auch weil wir sehen wollten, wie das Publikum auf welche Ausstellung reagiert. Grundsätzlich planen wir, eine ganze Reihe von Geschichten neu zu gestalten. Wie wird entschieden, welche Elemente verändert werden und welche nicht? Welche diesbezüglichen Ergebnisse brachten die Evaluierungen? Wir haben in den letzten Jahren immer wieder evaluiert. Die Basis für den geplanten Wechsel liefert ein großer Bericht, der 2010 entstand. Wir sammeln auch laufend Kommentare von Besuchern und beziehen diese in die Neuplanungen ein. Insgesamt kann ich sagen, dass dies nur bekräftigt hat, was wir schon vermuteten. Es gab keine großen Überraschungen. Schließlich haben wir auch in den letzten Jahren viel Zeit in der Ausstellung verbracht, mit Leuten gesprochen und sie beobachtet. Zum einen gibt es Teile, die für das Publikum schlichtweg keinen Sinn ergeben, andere wiederum wollen sie ausführlicher präsentiert sehen. Beginnen wollen wir mit dem Teil Glasgow Stories, wir möchten sie großzügig ausbauen und weiterentwickeln. Wie ich vorhin schon ausgeführt habe, vermittelt dieser Bereich tendenziell, dass Glasgow vornehmlich ein Ort mit psychischen Störungen, Gewalt gegen Frauen und religiöse Spannungen ist. Vielleicht haben wir zu viel Zeit darauf verwendet, diese schwierigen Themen anzusprechen und nicht genug Zeit, diese mit den positiven Seiten der Stadt auszubalancieren. Es braucht mehr Ausgewogenheit. Es gibt noch weitere Bereiche, etwa Glasgow and the Wild West, die im Kontext der übrigen Themen einfach seltsam wirken. Auch hier wollen wir etwas verändern. Ein interessanter Aspekt in der Entwicklung der Dauerausstellung war die Involvierung eines Gremiums, das speziell einberufen wurde, um die Kuratoren zu beraten und Feedback zu geben. Können Sie dazu etwas erzählen? Wie wurden die Mitglieder dieser Gremien ausgewählt? Wie funktionierte die Zusammenarbeit? Wir sprachen eine Reihe von Organisationen an und fragten nach Freiwilligen. So traten wir zum Beispiel an das Royal National Institute for the Blind heran. Die Zusammensetzung der Gremien passierte nicht durch zufälliges Auflesen von Leuten auf der Straße. Wir suchten gezielt nach Personen, die uns Einblicke in die
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Wünsche und Bedürfnisse unterschiedlicher Gruppen, wie zum Beispiel Jugendlicher oder Menschen mit Sinnesbeeinträchtigungen, geben konnten. Die Gremien konnten ziemlich schnell und unkompliziert einberufen werden, um Ideen zu testen, um Bewertungen und Feedback zu erhalten. Nach Abschluss der Neukonzeption wurden die Gremien fortgeführt und in weitere Projekte einbezogen. Die Mitglieder wechseln durchaus, die Struktur und die Idee der Gremien ist aber konstant. Gab es irgendwelche Unstimmigkeiten zwischen den Gremien und den Kuratoren? Manchmal fällt es Designern und Kuratoren schwer, einen Teil dieser Macht an Leute außerhalb des Museums zu übergeben. Ein Beratungsgremium ist nicht mit einem leitenden Gremium gleichzusetzen. Die Rolle der Mitglieder war die, Empfehlungen zu geben. Nehmen wir zum Beispiel das Junior-Gremium: Die Kinder hatten teilweise großartige Ideen, deren Umsetzung aber mit unseren Ressourcen und Einschränkungen in der Realität einfach nicht möglich gewesen waren. Ihre Energie und Begeisterung veranlasste aber die das Ausstellungsteam, über Dinge neu und anders nachzudenken. Teilweise wurden die Empfehlungen der Kinder und Jugendlichen aber auch direkt übernommen: Im Raum Ancient Egypt sollte die Präsentation auf ein junges Publikum hin ausgerichtet werden und wir hatten damit begonnen, ein paar durchaus angemessene, aber eher langweilige Texte zu verfassen. Wir ließen sie vom Teenager-Gremium evaluieren, und die sagten, das sei unfassbarer Mist, und wir fragten, was sie stattdessen sagen würden. Am Ende hatten wir ein paar brillante Beschriftungen, die viel poetischer und atmosphärischer waren als alles, was wir uns je getraut hätten. Wie wichtig für die Entwicklung der Ausstellung war die Vorstellung eines bestimmten Zielpublikums? Wurde die Ausstellung bzw. wurden einzelne ihrer Bereiche – wie Sie es auch eben angedeutet haben – auf bestimmte Gruppen hin konzipiert? Jede Präsentation zielt auf ein spezifisches Publikum ab und manchmal ist offensichtlich, wer die adressierte Zielgruppe ist. Für uns war es grundlegend zu fragen: „Ok, wer ist unser Publikum? Wie werden wir mit diesem Publikum kommunizieren?“ Natürlich haben wir nicht jede Geschichte auf nur eine Gruppe bezogen, und wenn etwas so ausgestellt ist, dass es den speziellen Bedürfnissen von hörbeeinträchtigten Personen gerecht wird, bedeutet das noch nicht, dass der Rest der Bevölkerung diese Geschichte nicht auch genießen kann. Auch grenzen wir die Angebote für einzelne Gruppen nicht voneinander ab. Es gibt kein Getto der Kinderexponate im Museum. Wo auch immer wir etwas für Kinder zeigten, verwendeten wir ausschließlich echte Objekte. Eine unserer größten Kontroversen gab es zur Höhe, in der wir die Bilder hängten, nämlich viel niedriger als früher, um sie für alle sichtbar zu machen. Speziell umstritten war die Präsentation der französischen Kunst: Einen Picasso in Kinderhöhe zu hängen, weil die Geschichte auf junges Publikum abzielt,
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wurde nicht nur mir Begeisterung aufgenommen. In vielen Museen besteht die Kinderabteilung aus Reproduktionen oder findet sich in einer Ecke der Ausstellung. Wir entschlossen uns – da sie das Publikum der Zukunft sind – ihnen keine zweitklassigen Objekte zu geben. Der Picasso war also ein bewusstes Statement. Gibt es diese Sensibilität vielleicht vor allem, wenn es um Objekte der Kunst geht? Ja, das zeigten diverse Pressereaktionen. Aber versnobte Kunstkritiker sind eben nicht Teil unseres Zielpublikums, und wir haben bewusst versucht, Grenzen einzureißen. Man braucht keinen Abschluss in Kunstgeschichte, um unsere Sammlung genießen zu können. Diese Orientierung am Besucher zeigt sich auch in der Gestalt der gut lesbaren Beschriftungen, die immer die Geschichte zuerst erzählen. Werktitel, Künstler, Datum etc., dieser Standardkram, der Profis fasziniert, kommt danach. Dies kommt bei den Leuten gut an. Ein interessantes Beispiel in dem Zusammenhang ist die Beschriftung des FaerieQueene-Gemäldes, die nicht nur die Szene erklärt und Informationen über den Mythos bietet, sondern auch über die Einstellung gegenüber gehandikapten Menschen im Viktorianismus berichtet. Diese Information lässt einen das Gemälde erneut betrachten. Bei vielen traditionellen Museumsbeschriftungen weckt ein Gemälde Interesse und motiviert, mit einem Blick auf die Beschriftung mehr Informationen zu bekommen, die diese dann aber nicht bietet. Also geht der Besucher weiter. Wir hingegen versuchen, das Objekt zum Schlüssel zu machen. Jede Interpretation soll den Blick der Menschen erneut auf die Objekte richten. Wenn die Leute nach dem Lesen der Beschriftungen einfach weitergehen, haben wir versagt. Wenn diese sie aber dazu veranlassen, die Objekte erneut ins Visier zu nehmen, haben wir unser Ziel erreicht. Wir gehen aber, um vielleicht abschließend noch zwei Beispiele zu nennen, weiter: Looking at Art wurde wie ein Vermittlungsraum mit dem Ziel gestaltet, über den Prozess der Kunstproduktion nachzudenken. Im Bereich der italienischen Kunst geben wir mithilfe einer Projektion auf den Botticelli und ein frühes italienisches Gemälde Einblick in die Arbeiten, indem wir Perspektiven vergleichen. Traditionellerweise gäbe es seitlich einen Monitor mit einem eher langweiligen Kommentar. Wir jedoch verwenden digitale Technologie, um Licht auf das tatsächliche, reale Gemälde zu projizieren und dazu gibt es einen Kommentar. Er motiviert dazu, das Gemälde auf eine ganz spezifische Fragestellung hin zu analysieren. Es geht immer darum, die Besucher dazu zu bringen, sich diese Objekte anzusehen. Dafür sind Museen da. Herzlichen Dank für das Gespräch! (Übersetzt aus dem Englischen)
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Museum of Liverpool, Ausstellunsgansicht Wondrous Place Foto: M. McNulty
„Ich meine gemeinsam produziert.“ Janet Dugdale, Direktorin des Museum of Liverpool, im Gespräch mit Jennifer Carvill
Das Museum of Liverpool eröffnete im Juli 2011 und ist ein in der Mitte des historischen UNESCO-Welterbe-Dockkomplexes gelegenes Museum zur Stadtgeschichte. Es gehört zu den National Museums Liverpool, einer Gruppe von insgesamt acht Museen, die im Ruf stehen, sehr sozialverantwortlich zu agieren und die großen Wert auf die Einbeziehung ganz unterschiedlicher gesellschaftlicher Gruppen in die Museumsarbeit legen. Das neue Museum wurde gemeinsam mit verschiedenen Interessensgruppen und Beiräten entwickelt.
Janet Dugale, das neue Museum of Liverpool basiert auf einem früheren Museum, dem Museum of Liverpool Life. Warum das neue Museum? Die Besucherzahlen des früheren Museum of Liverpool Life stiegen von 10 000 im Jahr 2000 auf 350 000 im Jahr 2006. Wir wussten, dass es eine beinahe unstillbare Nachfrage nach Liverpool-Geschichten und Liverpool-Geschichte gab. Im Museum, das wir hatten, gab es nicht genügend Platz für all die Besucher, es gab nicht genug Platz, um unsere bedeutenden Sammlungen zu Themen wie Transport oder Stadtgeschichte zu zeigen oder um große Sonderausstellungen zu machen. Also entwickelten wir alle paar Jahre eine ganz neue Ausstellung, was unser Nachdenken über das neue Museum sehr beeinflusste. Auch fehlten uns Räumlichkeiten wie ein Vermittlungsraum, ein Café oder ein Shop. Aus all diesen Gründen entwickelten wir uns also das Konzept für ein neues, großes Stadtgeschichte-Museum. Das neue Museum ist das größte neu gebaute Museum in Großbritannien seit über einem Jahrzehnt. Es ist groß! Das Museum hat ungefähr 10 000 Quadratmeter, davon sind rund 8000 Quadratmeter öffentlicher Raum, der unterschiedlich genutzt wird, vor allem aber als Ausstellungsfläche. Das Museum erstreckt sich über drei durch ein Atrium
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verbundene Geschosse. Wir wollten seit jeher, dass es ein geselliger und einladender Raum wird. Die Besucher sollen wissen, dass sie ihn auf jede erdenkliche Art erforschen und erkunden können. Im Grunde genommen betritt man mit dem Museum sein Herzstück und Zentrum. Man kann in jedes der drei Geschosse abzweigen und wieder zum Zentrum zurückkehren: Es gibt keine vorgeschriebene Route, wir haben aber die Möglichkeit, Empfehlungen auszusprechen. Die Größe und Raumorganisation wird uns hoffentlich helfen, dem Publikum einen Eindruck von Liverpool zu vermitteln. Es geht immer um Mutmaßungen, wenn Museen den Leuten ihre Geschichte erzählen. Städte haben nicht eine Geschichte, sie haben viele. Städte sind komplex und befinden sich in permanenter Bewegung. Das zu vermitteln, sehen wir als eine ziemliche Herausforderung. Die Stadt wird auch vom zweiten Stock aus sichtbar. Riesige Fenster gehen dort zum einen auf das Irische Meer und den Atlantik hinaus, zum anderen über die Stadt. Wir wollen, dass die Leute hierher kommen, das Museum als Ausgangspunkt nehmen, wenn sie die Stadt und die Region erforschen möchten. Es gibt in Liverpool keinen besseren Ort für ein Museum über die Stadt als hier am Ufer, direkt in ihrem Herzen. Es fungiert auch als Vermittler zwischen der urbanen Landschaft und dem Naturraum, der Liverpool seit jeher prägt. Außerdem sind wir hier zwischen den Depots des Albert Docks, dem Kai und dem Pier-HeadGebäude, das zu den opulenten edwardianischen Bauten Liverpools zählt, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts sagten: „Wir gehören auch zu den großen Städten!“ Unser Ziel sind 750 000 Besucher jährlich, das haben wir unseren Geldgebern gesagt, an sich aber erwarten wir ein wenig mehr. Die National Museums Liverpool insgesamt gehen sehr gut, wir haben in all unseren Ausstellungsstätten sechs Millionen Besucher und das Maritime Museum (Meeres- und Schifffahrtsmuseum) allein hatte 2010 eine Million. Viele Leute interessiert das, was wir anbieten, es ist ihre Geschichte. Offensichtlich nützt uns auch, dass der Eintritt frei ist. Es gehört zu unserer Verantwortung, uns vor allem um die lokale Bevölkerung als Kernpublikum zu bemühen. Ständige Ausstellungen werden stark mit den je eigenen Sammlungen assoziiert. Was bedeutet die Entwicklung von einem kleinen Schauplatz hin zu einem großen für das Nachdenken über die Sammlungsentwicklung? Wir haben Sammlungskonzepte und bekommen viele Angebote für unsere Sammlungen. Wir wissen, dass manche Themenfelder noch schwach besetzt sind und dass wir uns in Zukunft entsprechend bemühen müssen. Wie die aktuelle Befassung mit unserer Sammlungspolitik für die kommenden zehn Jahre aussehen soll, basiert stark auf den Erfahrungen, die wir mit der Planung der Dauerausstellung gemacht haben. Das Museum of Liverpool Life war ein sozialgeschichtliches Museum. Trifft das auch noch auf das Museum of Liverpool zu, und inwiefern hat man in der Konzeption der neuen Schau andere Wege beschritten als im alten Museum?
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Als das Museum of Liverpool Life 1993 eröffnete, war es Teil einer Entwicklung, die gerade die Museen erreichte und veränderte. Die Sozialgeschichte stand am Anfang ihrer großen Zeit. Wir führen diesen Ansatz im Geschichtenerzählen weiter. Das neue Museum erzählt Geschichten, die Sammlung illustriert diese. Im Mittelpunkt der Geschichten stehen persönliche Zeugnisse und Oral-History-Dokumente. Unser Ziel war es, zumindest 800 Lebensgeschichten zusammenzutragen, und das haben wir geschafft. Daraus haben wir Liverpool Voices kreiert, als Spiegel der Stimmungen, Meinungen und Ausdrucksweisen der Bevölkerung. Abgesehen vom Ausbau der Oral-History-Sammlung haben sich die Bestände nicht sehr verändert. Wir zeigen rund 5000 Objekte aus der bestehenden Sammlung und ein paar Hundert Leihgaben. Das dritte Element, das wir vom Museum of Liverpool Life übernommen haben, ist der Wechsel von Ausstellungen und Präsentationen. Wir kreierten früher sehr schnell aufeinanderfolgende Sonderausstellungen und hatten den Eindruck, dass einige davon besser waren als unsere Dauerausstellung, in den Ansätzen, in der Vermittlung teils auch schwieriger Inhalte, der medialen Aufbereitung. In der Entwicklung der neuen Dauerausstellung orientierten wir uns daran und versuchten Räume zu schaffen, die man einzeln verändern konnte, ein Wechsel aber keine Sonderausstellungen bilden sollte. Man sieht diesen Ansatz im neuen Museum auf dreierlei Art: Zum einen haben wir das Museum so flexibel wie möglich designt: Die Licht- und Stromsysteme des Gebäudes sind für Veränderungen offen. Es wurde so entwickelt, dass es einen Güteraufzug und Hinterhaus-Räumlichkeiten gibt, die alle komplett versteckt sind, sodass wir ganze Ausstellungsräume ändern können, ohne dass der Besucherfluss gestört oder geändert wird. Der zweite Aspekt ist das ganze Ausstellungssystem, das wir für all die Sonderausstellungen und flexible Räume entwickelt haben. Wir wollten etwas, das weiter ging als das, was sie bereits produzierten, also ließen wir ein neues System entwickeln. So haben wir ein neuartiges Wandsystem und ein System zur Unterbringung der audiovisuellen Elemente bekommen. Zur langfristigen Nutzung haben wir ein paar wirklich hochqualitative wiederverwendbare Komponenten, die wir immer wieder neu zusammensetzen können. Und drittens haben wir sieben Räume, von denen vier wirklich groß sind. Alle haben im Kern Dauerausstellungen mit einer „Lebenserwartung“ von zumindest zehn Jahren. Um sie herum gruppieren wir temporäre Ausstellungen mit zwei bis drei Jahren Laufzeit. Werden diese angelagerten Ausstellungen als Wechselausstellungen beworben? Teilweise, je nach Projekt. Wenn wir eröffnen, werden wir zuerst natürlich das Museum als Ganzes bewerben. Bei Global City beispielsweise, die einen stark einleitenden Charakter hat, sind nur 20 Prozent dauerhaft aufgestellt. Schon mit der Eröffnung gibt es dort eine Sonderausstellung mit dem Titel East meets West, über Shanghai und Liverpool, die dort zwei oder drei Jahre lang zu sehen sein wird. Die nächste Ausstellung in diesem Bereich werden wir dann als Sonderausstellung
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bewerben. Unsere Erfahrungen aus den letzten Jahren haben auch gezeigt, dass das Publikum nicht so sehr zwischen temporär und permanent unterscheidet. Wir haben während der Entwicklung des neuen Museums ein paar große Ausstellungen gemacht. Beispielsweise Spirit of the Blitz über Liverpool im Zweiten Weltkrieg, oder die Magical History Tour, die beide am Maritime Museum zur 800-Jahr-Feier von Liverpool liefen. Im Weltmuseum für die Europäische Kulturhauptstadt machten wir The Beat Goes On, die Geschichte der Popmusik, und weil die Organisation in diese Ausstellungen viel investiert hatte, dachten viele Besucher, sie wären permanent. Wir hoffen für die Zukunft, flexibel reagieren und die Dauer der Ausstellungen auch an das Publikumsinteresse anpassen zu können. Unser Programm wird veränderlicher sein, eine Mischung aus dem, was wir machen wollen und dem Nützen von Möglichkeiten. Und aus dem, was der Markt sagt. Bleibt es bei aller Tendenz zur Grenzauflösung zwischen den Formaten Dauer- und Sonderausstellung dabei, dass in den permanenten Teilen der große Überblick geboten wird, den die Sonderausstellungen vertiefen und verdichten? Ja, es geht darum, große Geschichten in Form von Dauerausstellungen einzubringen und sie mit Sonderausstellungen und anderen Angeboten zu bereichern. Vergessen wir nicht, dass wir auch Vorträge veranstalten, Filme zeigen, Workshops veranstalten. Es gibt eine ganze Bandbreite von Möglichkeiten, um Geschichten an die Leute zu bringen, es muss nicht immer eine Ausstellung sein. Die Flexibilität des Ausstellungssystems erlaubt uns, in Reihen von kleinen Schauen viele Themenfacetten zu berücksichtigen. Wir wollen uns beispielsweise der Politik und dem Gruppen-Aktivismus über einen gewissen Zeitraum widmen, es gibt also eine kleine Ausstellung über das Frauenwahlrecht, gemeinsam mit einer Gruppe des 1918 Club. Der Club wurde 1918 von Eleanor Rathbone gegründet, die die Präsidentin der Liverpooler Frauenwahlrechts-Gesellschaft war. Sie war die ideale Gruppe für eine Zusammenarbeit zu diesem Thema. Die Schau war nicht groß, aber kleine Präsentationen machen es leichter, laufend neue zu entwickeln. Überhaupt arbeiten wir mit unterschiedlichen Communities in der Stadt zusammen, Leute für eine Zusammenarbeit zu finden, ist nicht schwer. Ob es sich nun um Mitglieder der walisischen Gemeinschaft oder Vertreter der örtlichen Skateboard-Kultur handelt. Mit Letzteren wollten wir erarbeiten, wie Communities die Straßen der Stadt für sich beanspruchen. Herausgekommen ist eine Präsentation namens Made Up: The Liverpool Look, die im Wesentlichen aus 30 bis 40 Barbie-Puppen besteht, die von verschiedenen jungen Leuten so angezogen wurden, wie sie sich den Liverpool-Look vorstellen. Wie finden Sie Ihre Gruppen und Communities für solche Projekte? Treten Sie an diese heran oder kommen Vertreterinnen und Vertreter zu Ihnen?
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Beides, eigentlich. Wir haben im Museum of Liverpool das Konzept der Koproduktion entwickelt. Es wäre leicht zu sagen: „Hier ist der Raum, mach irgendein Kunstwerk und stell es auf.“ In Wirklichkeit steht hinter jeder Kooperation aber viel Arbeit. Wir arbeiten beispielsweise seit etwa drei Jahren mit Menschen des Gemeinderats für West Everton zusammen, um gemeinsam ein Modell von Everton zu produzieren. Wir diskutierten, was aus dem Modell hervorgehen sollte, dann kam der Designer, dann gab es eine Lücke von fast einem Jahr, bis wir einen Vertragspartner an Bord brachten, der das Modell produzierte. Es braucht viel Kraft, Leute zu motivieren, an einer Sache dran zu bleiben, die sich über einen so langen Zeitraum erstreckt. Große Projekte brauchen Zeit, bei Sonderausstellung geht alles schneller. Wenn Sie „gemeinsam produziert“ sagen, meinen Sie auch wirklich gemeinsam produziert? Ich meine gemeinsam produziert. Man hört ja durchaus, dass solche gemeinschaftlichen Projekte problembeladen sind. Das Modell ist dafür wieder ein gutes Beispiel. Everton hat sich während der letzten 200 Jahre sehr verändert – es hat sich von einem Dorf mit Grünflächen Mitte des 19. Jahrhunderts zu etwas hoch Urbanem voller Reihenhäuser entwickelt, wurde im 20. Jahrhundert dann quasi mit ein paar mittlerweile wieder verschwundenen Hochhäusern neu gebaut, und jetzt gibt es dort, wo in den letzten 150 Jahren eine hohe Bevölkerungsdichte war, wieder Grünflächen und einen Park. Die beteiligten Leute wollten ein Modell schaffen, das all das mithilfe von Pop-up-Teilen zeigt. Schlussendlich hatten wir dafür nicht das Geld, also mussten wir uns etwas ausdenken, das diese Geschichte auf einfachere Art transportierte. Der Kompromiss waren vier Modelle, die zeitliche Momentaufnahmen liefern und meiner Ansicht nach wirklich aussagekräftig sind. Der Weg dahin war lang und diskussionsreich. Wir haben einen eigenen Kurator für „Community Content“, der unglaublich viel arbeitet. Er spricht mit den Leuten, bearbeitet aber beispielsweise auch die Texte der verschiedenen Gruppen redaktionell so nach, dass diese ein einheitliches Bild ergeben. Das ist heikel und zieht Verhandlungen nach sich. Wir hatten viele sehr unterschiedliche Beteiligungsprojekte, auch im Hinblick auf die neue Dauerausstellung. In manchen Fällen gingen wir einfach nur hinaus und sprachen mit den Leuten über ihre Wünsche, und das half uns sehr, ein paar Ideen für das Museum zu formen. In den letzten Jahren hatten etwa 10 000 Menschen in irgendeiner Weise Kontakt mit unseren Mitarbeitern, und vier Jahre lang hatten wir einen „Community Consultation Coordinator“. Wir arbeiteten auch mit Vertretern spezieller Interessensgruppen, zum Beispiel mit einer Kleinkindergruppe, die half, Little Liverpool zu entwickeln, mit einer Gruppe von Lehrern, mit der wir das Vermittlungsprogramm berieten, oder einem Beirat, der helfen sollte,
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die Interessen der Stadtbevölkerung möglichst gut zu erfassen. Irgendwann gibt es in einem Projekt den Punkt, wo man nur noch Details, aber nicht mehr das Ganze ändern kann. Man muss auch eine Vorstellung davon haben, wann man aufhört mit den Menschen zu sprechen. Man muss ihnen erst wirklich zuhören und dann gibt es einen Punkt, ab dem es keinen Sinn mehr ergibt, die Leute nach ihrer Meinung zu fragen. War Ihnen zu Beginn schon klar, wann die Einbeziehung wieder zu enden hatte? Bis einen Monat vor der Eröffnung tagten wir mit dem Beirat. In den letzten Meetings sahen sich die Mitglieder Rohschnitte der Videos an, die wir produziert hatten, es gab aber einen strikten Redaktionsablauf, es war also mehr eine Geste, sie nochmals zu präsentieren. Davor gab es viele hilfreiche und gute Diskussionen. Beispielsweise haben wir überlegt, wie wir mit dem Ersten Weltkrieg im Bereich namens From Waterfront to Western Front umgehen sollten. Erst im Gespräch mit den Leuten, unter anderem Vertreter einer militärische Gruppierung sowie auch Menschen mit Flüchtlings- und Asylsuche-Hintergrund erkannten wir, dass es hier tatsächlich unterschiedliche Perspektiven gibt, was uns beim Kuratieren wirklich geholfen hat. Wenn man also Krieg und Waffen ausstellt, erkennt man im Kontakt mit Menschen, dass sie das Thema nicht mit 1918 assoziieren, sondern mit 1989 oder 1999. In Ausstellungsprozessen neigen wir dazu, uns auf das zu versteifen, was demnächst abzuliefern ist: eine Themenliste, eine Geschichte, einen Film. Und da ist es sicherlich förderlich, sich zwischendurch an die Interessen und Erwartungen verschiedener Besucher und Publikumsgruppen zu erinnern. Mit Personen von außerhalb der Institution zusammen zu arbeiten, ist nicht immer der einfachste Weg, Dinge zu erledigen, es ist aber der richtige Weg. Die National Museums Liverpool sind allesamt für ihre Besucher-Orientierung bekannt. Wo wird diese, auch vor dem Hintergrund der Beteiligung diverser Communities, in der Ausstellungsvorbereitung im neuen Museum offenbar? Zum einen haben wir eine Reihe von Räumlichkeiten im Museum entwickelt, Aktivitätsräume in jedem Stockwerk beispielsweise, die von Gruppen gebucht werden können, sowohl um sich mit dem Museum auseinanderzusetzen als auch um Privates ins Museum zu bringen. Thematisch sind wir, auch dank des Engagements der beteiligten Gruppen im Vorfeld, nah an den Menschen. Alle unsere Räume haben große Themen wie Liverpool: The World’s Port, Liverpool: The People’s Republic, Wondrous Place über Entertainment oder Liverpool: A Global City. Mit History Detectives haben wir uns zum ersten Mal der Archäologie zugewandt. Es geht aber nicht nur darum, mit Themen vorhandene Interessen zu treffen. Wir haben die Verantwortung, über Dinge zu sprechen, die hier an diesem Ort wichtig sind, auch wenn man darüber nicht oder nicht gern spricht. Wir haben uns zum
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Beispiel die Statistiken zu Arbeitslosigkeit und Invaliditätsgeld-Bezug angesehen. Harte Fakten. Und es ist wichtig, über bestimmte Dinge nachzudenken, auch wenn wir vielleicht nicht auf alle Fragen Antworten haben. Wir haben uns vor keinem Thema gescheut. Ich hoffe nur, dass wir auch weit genug in die Tiefe gegangen sind. Es ist manchmal schwer, bei all den durch Wortanzahl, Grafiken, Bildauswahl und Filmentwicklung gegebenen Einschränkungen einem Thema gerecht zu werden. Insgesamt hoffe ich, dass man uns zum einen als ein Museum über Menschen, in dem Menschen zu Wort kommen, wahrnimmt, und in dem man aber zum anderen auch die starke kuratorische Vermittlung sieht. Ausstellungen sind eine Gemeinschafts- und Vermittlungsleistung. Sie haben kurz die Statistiken erwähnt, auf die Sie sich beziehen. Was sagen diese über Liverpools Identität und Geschichte aus, und gab es Ihrerseits bewusste Versuche, stereotype Vorstellungen von der Stadt und ihren Bewohnern zu widerlegen? Nun, unsere Botschaft ist die von Liverpools Wachstum zu einer globalen Stadt und ihres rapiden Niedergangs und auch, dass man nur mit Blick auf das massive, auf den Docks und dem Handel basierende Wachstum des 18. und 19. Jahrhunderts verstehen kann, warum Liverpool ist, wie es ist. Warum es aussieht, wie es aussieht, mit diesen großen, prachtvollen Gebäuden, seinem kommerziellen Wohlstand, seiner Macht auf der einen Seite und seiner späteren Arbeitslosigkeit und Armut auf der anderen Seite. Es ist wichtig, diese Geschichte zu sehen, um eine Stadt zu begreifen, die prachtvoll aussieht, aber eigentlich sehr arm ist. Liverpool zählt immer noch zu den ärmsten Städten Europas. Das Leben ist für viele Leute hier ein Kampf. Wir im Museum versuchen damit offen umzugehen. Das ist nicht immer angenehm. Bis zur Eröffnung des Museum of Liverpool war der jüngste Neuzugang zu den National Museums Liverpool das International Slavery Museum. Ich kann mich erinnern, dass sein Leiter, Richard Benjamin, rund um die Eröffnung sagte, es sei ein „Campaigning Museum“. Ist das auch etwas, das Ihnen vorschwebt? Ja, das ist es. Bei vielen Aktionen des International Slavery Museum geht es um Rassismus, um das Erbe der Sklaverei und um moderne Sklaverei. Das ist absolut richtig und wichtig und kommt in vergleichbarer Weise auch im Museum of Liverpool vor. Wir freuen uns darauf, hier in Zukunft eine Rolle und auch Verantwortung in der Stadt zu übernehmen. Vielen Dank für das Gespräch! (Übersetzt aus dem Englischen)
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Naturmuseum Thurgau, Ausstellungsansicht Lebensräume im Thurgau Foto: D. Steiner
„Was uns Naturmuseen zugutekommt: Unsere Objekte sind einfach toll, ganz ehrlich.“ Hannes Geisser, Direktor des Naturmuseums Thurgau, Frauenfeld, im Gespräch mit Bettina Habsburg-Lothringen
Das Naturmuseum Thurgau in der Schweiz ist ein regionales Naturkundemuseum, dessen ständige Ausstellung ab 2004 und in insgesamt drei Etappen bis 2010 neu entwickelt wurde. Inhaltlich ist das Museum den regionalen Lebensräumen und der Naturgeschichte der umliegenden Landschaft verpflichtet, die konzeptionellen Entscheidungen stehen im Dienste der Besucher/innen-Orientierung, mit leichten und eleganten gestalterischen Lösungen ist die Einpassung der Ausstellung in die klein-räumige Architektur des Patrizierwohnhauses, in dem das Museum untergebracht ist, gelungen.
Hannes Geisser, Sie sind Direktor des Naturmuseums Thurgau in der Schweiz. Das Museum hat für seine Dauerausstellung 2007 den Prix Expo der Schweizerischen Akademie der Naturwissenschaften bekommen und wurde für den Europäischen Museumspreis 2012 nominiert. Völlig zu Recht, würde ich nach dem Besuch des Hauses sagen. Ich möchte Sie zu Beginn unseres Gesprächs bitten, dass Sie grundsätzlich etwas zur Geschichte des Museums und zur Entwicklung seiner neuen Dauerausstellung sagen. Was macht die Identität des Naturmuseums Thurgau aus? Wo sehen Sie Ihre ständige Ausstellung im Vergleich oder im Kontext anderer Naturpräsentationen? Lassen Sie mich mit dem Gebäude anfangen. Das Naturmuseum Thurgau steht in der Altstadt von Frauenfeld, der Hauptstadt des Kantons Thurgau. Das Museumsgebäude ist ein altes Patrizierwohnhaus aus dem Jahr 1771. Die Geschichte des Museums selbst geht zurück auf das Jahr 1859, da hat die Thurgauische Naturforschende Gesellschaft beschlossen, eine naturkundliche Sammlung über den Kanton Thurgau anzulegen. 1917 wurde dann die Thurgauische Museumsgesellschaft
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gegründet, die das Luzernerhaus, in dem wir uns bis heute befinden, übernommen und 1924 ein erstes Thurgauisches Museum eröffnet hat. Damals war es noch so, dass die kulturhistorische Sammlung und Teile der naturkundlichen Sammlung der Naturforschenden Gesellschaft gemeinsam präsentiert wurden. 1958 wurden das Gebäude und die verschiedenen Sammlungen vom Kanton Thurgau übernommen und 1972 wurde schließlich das Naturmuseum Thurgau in den heutigen Räumlichkeiten der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. 1996 ist im Nachbargebäude ein Museum dazugekommen, das Museum für Archäologie. Mit den Kollegen der Archäologie teilen wir uns heute die Infrastruktur, beispielsweise den Eingangsbereich oder den Wechselausstellungssaal. Im Jahr 2002 haben wir mit der Planung einer neuen Dauerausstellung begonnen. Ab 2004 und in insgesamt drei Etappen bis 2010 entwickelten wir unsere neue ständige Ausstellung. Dabei war es unser Bestreben, die inhaltlichen und formalen Qualitäten der alten Dauerausstellung, die beim Publikum bis zuletzt sehr beliebt war, mit Blick auf die Geschichte des Museums und seiner Sammlung neu zu interpretieren und konsequent auf unser aktuelles Zielpublikum auszurichten. Vielleicht noch zwei, drei grundsätzliche Angaben: Frauenfeld ist eine Kleinstadt mit rund 23 000 Einwohnern. Das Museum versteht sich als regionales Naturkundemuseum. Wir haben etwa 550 Quadratmeter Dauerausstellungsfläche und 150 Quadratmeter Wechselausstellungsfläche. Worum geht es nun inhaltlich in Ihrer Ausstellung? Sie haben bereits den Bezug zur Region angesprochen. Wir beschäftigen uns ganz stark mit dem Kanton Thurgau, mit seinen Lebensräumen, mit seinen Pflanzen und Tieren und natürlich mit der Naturgeschichte dieser Landschaft. Vielleicht ungewöhnlich für ein Naturmuseum, versuchen wir auch die Kulturgeschichte der umliegenden Landschaft, wo sinnvoll und möglich, in der Ausstellung zu thematisieren. Die Dauerausstellung erstreckt sich über drei Geschosse und ist dreigeteilt: Im ersten Geschoss zeigen wir die vier Hauptlebensräume, wie sie im Thurgau vorkommen, etwas, das in Naturmuseen weit verbreitet ist: Bei uns sind die Lebensräume das Siedlungsgebiet, die Wälder, die offene Kulturlandschaft und die Gewässer. In diesem Bereich versuchen wir den Besuchenden die Natur vor der Haustür und die Vielfalt der Thurgauer Landschaft näher zu bringen, immer verbunden mit verschiedenen ökologischen Fragestellungen oder übergeordneten Themen. Dieser erste Teil ist eine Art Ist-Aufnahme des Naturlebensraums Thurgau.In einem zweiten Teil des ersten Stocks rekonstruieren wir die Geschichte dieser Landschaft. Uns interessiert dabei aber weniger die Geologie, wie man es erwarten könnte, sondern die Kulturgeschichte der Landschaftsentwicklung. Das heißt, wir schauen uns den Zeitraum ab etwa 9000 v. Chr. an, aus dem wir die ersten Hinweise auf menschliche Spuren im Kanton Thurgau haben. Ab dieser Zeit hat der Mensch die Naturlandschaft in eine Kulturlandschaft verwandelt. Diesen Prozess machen wir am Beispiel des Seebachtals sichtbar. Das Seebachtal ist
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nur wenige Kilometer vom Museum entfernt, und wir bieten auch Exkursionen zu dieser sehr gut untersuchten Kulturlandschaft an. Dann gibt es ein zweites Stockwerk. Die Kleinräumigkeit des Patrizierwohnhauses auf dieser Etage legt es nahe, jeden Raum einzeln zu bespielen. So platzierten wir verschiedene Themenausstellungen, die jeweils einen Bezug zum Kanton Thurgau haben: Es gibt einen Raum zur Geologie, eine Ausstellung zum Biber mit einem nachgebauten Biberbau in Originalgröße, ein Bereich thematisiert unsere national bedeutende Insektensammlung usw. Diese Ausstellungen stehen untereinander in keinem inhaltlichen Zusammenhang, es gibt keine zwingende Abfolge. Dadurch können wir jeden Raum bei Bedarf mit tragbarem Aufwand auch wieder einmal neu einrichten. In zweiten Obergeschoss haben wir zudem unser „Kabinett“, in dem wir jährlich zwei bis drei kleine Wechselausstellungen zeigen. Im dritten Geschoss schlussendlich befindet sich – nebst dem eigentlichen, 150 Quadratmeter großen Wechselausstellungssaal – unser „Sammlungsfenster“, das den Besuchern über drei große Scheiben einen Blick in einen unserer Sammlungsräume ermöglicht. Wir machen damit unsere Sammlung sichtbar und versuchen auch zu erklären, seit wann und wieso wir eine Museumssammlung unterhalten. Was sind denn nun die Prinzipien Ihrer Konzeption? Frauenfeld hat im Umkreis von rund 50 Kilometern drei weitere vergleichbare Institutionen: Es gibt das Sea Life Center in Konstanz, das Naturmuseum in Winterthur und das Naturmuseum in St. Gallen. Wir haben also auf engstem Raum eine relativ hohe Dichte an naturvermittelnden Institutionen. Daher war es für uns als kleinstes Haus in diesem Quartett ganz wichtig, eine gewisse Einzigartigkeit zu erreichen. Wir haben das durch die Festlegung bestimmter Leitlinien versucht. Erstens entwickelten wir unsere Dauerausstellung ganz klar aus der Geschichte des Museums und seiner Sammlung heraus. Wir haben beispielsweise, mit wenigen Ausnahmen, mit hauseigenen Sammlungsobjekten gearbeitet. Dann haben wir versucht, unser Konzept konsequent auf unser Zielpublikum auszurichten – ich komme noch darauf. Und wir wollten eine Dauerausstellung, die wir mit den jetzigen finanziellen und personellen Möglichkeiten unterhalten können. Denn nur so garantieren wir, dass die Ausstellung über die nächsten Jahre auch ihre Qualität behalten kann. Im Zuge der Konzeptentwicklung sind wir noch auf weitere wichtige Punkte gekommen: Bei unserem Fokus auf den Lebensraum Thurgau war es uns wichtig, die Rolle des Menschen in der Natur aufzuzeigen. Er ist nicht nur Gegenspieler in einem System, wie man das zum Teil in den 1980er- und 90er-Jahren mit dem Hintergedanken des Umweltschutzes getan hat, sondern gestaltet die heutige Kulturlandschaft auch positiv mit. Dann haben wir uns mit unserer Zielgruppe beschäftigt: In unserem Haus wird seit den 1970ern intensive museumspädagogische Vermittlungsarbeit betrieben und wir wollten an dieser Tradition festhalten. Wir verstehen
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uns heute als ein Museum, das in erster Linie Familien mit Kindern bis zum 13., 14. Lebensjahr anspricht. Zudem möchten wir Angebote für Schulkassen und ihre Lehrpersonen bereitstellen. Folglich war uns eine im weitesten Sinn kinderfreundliche Konzeption und Umsetzung sehr wichtig. Kinderfreundlichkeit heißt für uns unter anderem die Möglichkeit zur aktiven Teilhabe und ein weitgehender Verzicht auf Technik. Insbesondere die interaktiven Angebote funktionieren bei uns weitgehend mechanisch. Die Technik selbst ist, dort wo wir sie brauchen und abgesehen von der Beleuchtung, zu 100 Prozent versteckt. Zielgruppenorientierung bedeutete weiter eine Auseinandersetzung und Weiterentwicklung der Dioramen, dieser schon im 19. Jahrhundert beliebten Lebensraumdarstellungen. Dioramen sind für das Publikum sehr attraktiv aber auch wahnsinnig aufwendig in der Herstellung und im Unterhalt. Da klassische Dioramen unsere Möglichkeiten übersteigen, haben wir eine Neuinterpretation dieses Mediums versucht und unsere „Lebensraumtheaterbühnen“ dann an verschiedenen Stellen in der Dauerausstellung verteilt. Unsere Ausstellung darf dabei bewusst auch unter Tageslicht und mit Blick nach draußen stattfinden, weil wir der Meinung sind, dass man die Natur in einem Naturmuseum nicht aussperren kann. Weiters haben wir beschlossen, dem Trend zu immer mehr lebenden Tieren im Museum nicht zu folgen, da wir der Überzeugung sind, dass unsere Präparate und Objekte per se sehr attraktiv sind. Einzig eine Kröte, ein Salamander, Kellerasseln, ein Ameisenvolk und einige einheimische Fische werden lebend gehalten. Und was die Gestaltung angeht, haben wir auf eine hohe Material- und Verarbeitungsqualität geachtet, weil wir davon ausgehen, dass unsere Dauerausstellung zwischen 15 und 20 Jahre Bestand haben muss. Inwiefern gab es im Zuge dieser Festlegungen auch eine Auseinandersetzung mit den Objekten? Es scheint mir doch eine bestimmte Haltung gegenüber den Objekten sichtbar zu werden. Ich glaube, es gibt da mehrere nennenswerte Aspekte. Der eine ist, das Objekt möglichst ohne Glas zu präsentieren. Das klingt vielleicht ein bisschen banal, ist es aber nicht. Auf Glas zu verzichten bringt die Gefahr der Beschädigung, der Verschmutzung, des Ausbleichens usw. mit sich. Das freie Aufstellen war uns aber wichtig, weil die Begegnung mit einem Tierpräparat ohne das Glas dazwischen einfach viel unmittelbarer ist. Allein schon das Wissen, dass ich den Hirsch theoretisch am Fell kratzen könnte, hat einen hohen Erlebnischarakter. Zudem verfolgen wir mit den Objekten zwei gegensätzliche Präsentationsstrategien. Auf der einen Seite haben wir die Lebensraumdarstellungen, wo wir Natur auf engstem Raum in hochkonzentrierter Form lebensecht nachbauen. Die dort versammelten einzelnen Elemente findet man draußen nie in dieser Dichte. Wir spielen also irgendwie Naturtheater, das zum Staunen, Entdecken und Stöbern einladen soll. Die andere Präsentationsform widerspiegelt eine ganz andere Haltung. Da steht das Objekt einfach auf einem grauen Sattelpunkt. Diese Reduktion auf ein Minimum hat eine
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ganz andere Wirkung. Das einzelne Objekt steht im Zentrum, verschwindet nicht im Lebensraum, wie das im Falle der Dioramen möglich ist. Sie haben zum einen gemeint, dass man Natur im Naturmuseum nicht aussperren kann oder soll. Nun haben sie den Begriff des „Naturtheaters“ verwendet. Wie steht es um das Verhältnis zwischen dem Museumsinnenraum und der Natur draußen? Man hat ja bei Naturmuseen manchmal den Eindruck einer besseren, weil stillgelegten und damit sichtbaren Natur, die mir den Spaziergang durch den Wald erspart. Wir sehen den Besuch im Naturmuseum als Vorbereitung für den nächsten Spaziergang oder die nächste Wanderung. Natürlich ist es in einem Museum angenehm, dass der Rehbock nicht wegspringt und man einmal die Krähe unmittelbar neben dem viel grösseren Kolkraben sieht. Bestimmte Beobachtungen oder Vergleiche sind nur im Museum möglich, wo die Tiere als bewegungslose Präparate dastehen. Und das schult dann das Auge oder weckt vielleicht die Neugier. Es kommen immer wieder Besucher, die sagen, sie wissen jetzt, dass ein Bau, den sie entdeckt haben, zu einem Fuchs und nicht zu einem Dachs gehört, weil sie das so in unserem Museum
Naturmuseum Thurgau, Ausstellungsansicht Insektenwand mit beweglicher Lupe, Foto: D. Steiner
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gesehen haben. Das sind dann Rückmeldungen, wo ich sage: Jawohl! Genau das wollen wir. Wir wollen nicht die Natur ersetzen oder irgendein heiles Naturbild vorgaukeln, ganz im Gegenteil. Aber wir wollen die Leute in ihrer Beobachtung, in ihrer Wahrnehmung sensibilisieren. Das geht durchaus auch in einem Museum. Wir sind nun eigentlich schon mittendrin in der Besucherorientierung, die in Ihrem Haus sehr groß geschrieben wird und ein wichtiges Moment der Dauerausstellung ist. Sie haben zu Beginn als Zielgruppen die Familien mit Kindern und Jugendlichen erwähnt, Sie haben die Schulklassen genannt. Was bedeutet es für eine Themenwahl, sich am Publikum zu orientieren? Was bedeutet es auch für die Konzeption? Ich komme noch einmal zurück auf unser Zielpublikum. Zu uns kommen in erster Linie und das schon seit den 1970er-Jahren Schulklassen und Familien aus der näheren und weiteren Umgebung von Frauenfeld. Kinder machen besucherzahlenmäßig bis zu 60 Prozent aus. Wenn man sich für eine neue Ausstellung vornimmt, diese Gruppe besonders zu berücksichtigen, hat das natürlich inhaltliche Konsequenzen, aber vor allem hat es Auswirkungen auf die Umsetzung dieser Inhalte. Auf inhaltlicher Ebene setzen wir einen Fokus auf regionale Themen und leisten damit vielleicht auch einen Beitrag zur lokalen Identität. Über den Elefanten und über die Giraffe hören Sie bei uns nichts. Wenn Sie Schulen als wichtige Zielgruppen anerkennen, dann gibt es Themen, die lehrplanrelevant sind. Wir haben uns da kundig gemacht, nehmen jetzt aber nicht unbedingt bestimmte Themen in der Ausstellung auf, das war uns dann doch irgendwie zu starr. Vielmehr entwickeln wir in der Dauerausstellung museumspädagogische Angebote für Schulen, die sich am Lehrplan im Kanton Thurgau orientieren.Was uns Naturmuseen dabei besonders zugutekommt: Unsere Objekte sind einfach toll, ganz ehrlich. Für den Laien von der Straße ist doch eine schön präparierte Wildsau, wenn sie neben einem schönen alten Barockmöbel steht – was soll man sagen: Die meisten Leute finden die Sau wohl toller als das Möbel. Ich glaube auch. Obwohl das Möbel vielleicht einen Wert von 100 000 Franken hat. Für uns ist das eine Riesenchance, sie gibt uns eine große thematische Freiheit – was wiederum natürlich die Herausforderung schafft, in der Themenwahl nicht beliebig zu werden. Um wieder auf die Zielgruppen zu kommen. Es geht manchmal gar nicht so sehr darum, welches Thema wir anbieten, sondern wie wir es umsetzen. Ich kann also diese Sau, um bei diesem Wildschweinpräparat zu bleiben, auf die eine oder auf die andere Art und Weise zeigen. Ich könnte das Wildschwein in der zoologischen Systematik vorstellen. Aber das machen wir nicht. Wir zeigen das Wildschwein als Tier in seinem Lebensraum. Und wenn Sie wollen, dass sich die Kinder mit dieser Sau auseinandersetzen, dann ist dies ganz stark eine Frage der Präsentation,
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der Gestaltung. Bei uns steht das Tier in einer Wasserpfütze. Diese Wasserpfütze ist aus Plexiglas, auf Hochglanz poliert und sie glauben nicht, wie viele Kinder – und auch Erwachsene – das auf den ersten Moment nicht begreifen. Sie denken, das Schwein steht wirklich in richtigem Wasser und sie fassen dieses Plexiglas an. Zum einen sind sie beruhigt, dass sie getäuscht worden sind, gleichzeitig sind sie auch irritiert, wollen wissen, wie es gemacht wurde. Die Neugier ist geweckt, um mehr über das Wildschwein zu erfahren, und vielleicht den einen oder anderen Text dazu zu lesen.Neben solchen gestalterischen Lösungen kommt, wie schon erwähnt, der weitgehende Verzicht auf Vitrinenglas unseren Besuchern entgegen. Wir zeigen zudem viele Objekte in einer Höhe, die den Kindern die Sicht darauf überhaupt möglich macht. Das viele Tageslicht und die alten, knarrenden Holzböden schaffen außerdem angenehme, freundliche Räume. Ich teile Ihre Ansicht, dass der Gestaltung eine wichtige Rolle zukommt, wenn es darum geht, besucherfreundlich zu sein: All die interaktiven Angebote, das Ansprechen der Sinne, die Raumatmosphäre, das Licht, die hellen Farben, die angenehme Akustik und der großzügige Bewegungsraum in der Ausstellung. Aber ich denke, ein Bemühen um den Besucher zeigt sich deutlich schon in der inhaltlichen Konzeption. Sie berücksichtigen in ihrem Konzept verschiedene Interessen und Bildungsniveaus, Sie arbeiten mit Humor, Sie zeigen kulturelle und sozialökonomische Zusammenhänge, die vielen Besuchern vielleicht näher sind als rein naturwissenschaftliche Inhalte. Sie setzen an der bekannten Umgebung an. Sie denken vergleichend und exemplarisch. Was mir auch gut gefallen hat, ist die Alltagsnähe mit diesen, ans Publikum gerichteten Auf-forderungen, die es teilweise in der Ausstellung gibt. Vielleicht können Sie dazu etwas sagen? Ich bin eigentlich kein Freund des Umweltschutz-Drohfingers. Das ist eine Geschichte aus den 1980er-Jahren, wo man schon fast mit einem gewissen Zorn gesagt hat: „He, passt auf, wenn wir nicht auf unsere Umwelt aufpassen, dann geht die den Bach runter!“ Das ist vorbei, das wollen die Leute nicht mehr hören. Trotzdem wollen und müssen wir als Naturmuseum versuchen, umweltrelevante Themen zu vermitteln. Ich möchte es an einem Beispiel erläutern. Bei uns ist Littering, das Liegenlassen von Abfall, ein aktuelles Problem. Abfall ist nun in unseren Lebensraumdarstellungen fast omnipräsent. Ich glaube, es gibt keine Lebensraumdarstellung, wo nicht mindestens eine Bierbüchse, eine Zigarettenkippe oder eine Bananenschale rumliegt. Wir gehen da so weit, dass das erste, was der Besucher beim Betreten der Dauerausstellung sieht, eine Parkbank ist, neben der ein voller Abfalleimer steht. Die Abfallthematik wird damit inszeniert. Der Abfall stört, genau das ist der Punkt. Wenn ich mit Kindern z. B. vor dem Biberbau arbeite, ist die häufigste Frage, was denn diese Bierdose da beim Biber vor seinem Eingang in den Bau verloren hat? Das irritiert die Schulkinder ungemein, daran kann man anknüpfen. Und diese Bierdose ist nicht erklärt. Da gibt es keine Legende dazu, da wird auch nicht darauf hingewiesen. Die ist einfach nur da.
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Kommen wir noch zu einem weiteren Beispiel, in dem stark vergleichend und beispielhaft gearbeitet wird, dem Raum zum Seebachtal. Das Konzept sieht die Beantwortung der immer gleichen Fragen über Jahrtausende vor. Ich finde, das ist ein sehr guter, anschaulicher und konkreter Weg, um es Laien zu ermöglichen, sich ein Bild zu machen. Wir versuchen, den Mut zur Lücke zu leben. Allzu oft wird versucht, möglichst viele Objekte und Inhalte in eine Ausstellung hineinzubringen. Als Besucher wird man dann einfach erschlagen von all den Informationen. Wenn Sie nun eine Landschaftsgeschichte über 11 000 Jahre rekonstruieren und den Leuten nahe bringen wollen, dann macht es keinen Sinn, dies lückenlos ausstellerisch umsetzen zu wollen. Also haben wir beschlossen, uns auf drei Zeitfenster zu beschränken, weil wir darin ganz wichtige Veränderungen und Phänomene darstellen können und dafür die geeigneten Objekte haben – dabei profitieren wir ganz stark von der Nähe und der guten Zusammenarbeit mit den Kolleginnen und Kollegen des benachbarten Museums für Archäologie. Für den Besucher bedeutet diese Reduktion und Konzentration, dass er, so denke ich, zumindest zwei, drei wesentliche Aspekte dieser „landschaftskulturgeschichtlichen“ Entwicklung des Thurgaus am Beispiel des Seebachtals mitnehmen kann. Hat man es einmal geschafft, sich auf wesentliche Punkte zu konzentrieren, wie eben auf diese drei Zeitfenster, dann ist es einfach, mit diesen relevanten Aspekten auch vergleichend zu arbeiten. Am Ende möchte ich noch auf Vermittlungsangebote zu sprechen kommen, die nicht integraler Bestandteil der Dauerausstellung sind, aber darauf Bezug nehmen. Auf der Website gibt es dazu diverse Hinweise. Entsprechend unserem Zielpublikum verfolgen wir zwei parallele Wege. Auf der einen Seite gibt es öffentliche Veranstaltungen und Angebote für Familien. Das sind die mittlerweile vielerorts etablierten Veranstaltungsformen wie Kinderführungen, Workshops oder Kinderexkursionen. Für diese Angebote arbeiten wir mit entsprechenden Fachpersonen zusammen. Wir haben eine fest angestellte Museumspädagogin im Rahmen einer halben Stelle und zusätzlich noch externe Mitarbeiter. Diese Angebote sind nicht wahnsinnig speziell, aber es sind etablierte und gut funktionierende Gefäße. Unser Schwerpunkt ist die Arbeit mit Schulklassen, im Museum, aber auch im Klassenzimmer. Die Schulklassen haben bei uns das Privileg, dass ihnen das Museum am Vormittag allein gehört: Frauenfeld ist als Kantonshauptstadt kein touristischer Ausflugsort. Vormittags kommt kaum jemand zu uns ins Haus. Es lohnt sich darum nicht, das Museum für das Laufpublikum zu öffnen. Gleichwohl öffnen wir das Haus für Schulen. Für Schulen hat das den Vorteil, dass sie ein zweistündiges Zeitfenster reservieren können und dann immer ein ganzes Ausstellungsgeschoss oder die aktuelle Sonderausstellung in diesen zwei Stunden für sich alleine haben. Und sie haben Platz, ihre ganzen Sachen abzulegen und im museumspädagogischen
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Raum mit den Materialien und Unterlagen zu arbeiten, die wir für sie vorbereiten. Selbstverständlich bieten wir zudem Themenführungen und Führungen für alle Schulstufen an. Wir bringen uns im Bereich Aus- und Weiterbildung der Lehrkräfte ein. Lehrpersonen müssen erst einmal erfahren, dass es uns gibt, und dass man das Museum als außerschulischen Lernort sehr gut in den Unterricht integrieren kann. Da setzen wir bereits bei der Lehrerausbildung an. Der Kanton Thurgau hat eine pädagogische Fachhochschule und die Lehramtsstudierenden kommen im Laufe ihrer Ausbildung zweimal in unser Haus. Wenn sie dann einmal im Beruf stehen, müssen wir wiederum dafür sorgen, dass sie uns nicht vergessen und das tun wir, indem wir uns in der Lehrerfortbildung jedes Jahr mit etwa acht bis zehn Kursen engagieren, mit ganz bestimmten Themen, z. B. zu Sonderausstellungen, aber auch zu anderen Themen. Auch mit unseren Lehrexkursionen gelingt eine sehr hohe Bindung ans Haus. Der Aufwand dafür ist allerdings beträchtlich. Schlussendlich haben Lehrpersonen noch die Möglichkeit, das Museum quasi ins Schulzimmer zu holen. Wir haben 16 Themenkoffer mit viel Anschauungsmaterial, Präparaten, Büchern, DVDs usw. zu ganz verschiedenen Themen. Diese Koffer können die Lehrer kostenlos ausleihen. Abgesehen vom schulischen Nutzen bieten die Koffer eine gute Möglichkeit, bei den Lehrpersonen im Gespräch zu bleiben und diese wichtige Besuchergruppe auch langfristig für unser Museum zu interessieren. Ich bedanke mich herzlich für das Gespräch!
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BESTEHENDER A UFSTELLUNGEN UND TEMPORÄRE I NTERVENTIONEN
Pitt Rivers Museum, Oxford, Ausstellungsansicht © Pitt Rivers Museum
„... versuchen wir, die Dinge zu verändern, während wir so tun, als würden sie gleich bleiben.“ Jeremy Coote, Sammlungsleiter am Pitt Rivers Museum, Oxford, im Gespräch mit Jennifer Carvill
Das Pitt Rivers Museum in Oxford wurde 1884 gegründet, um die der Universität von Oxford gespendete ethnografische und archäologische Sammlung von General Augustus Pitt Rivers zu beherbergen. Dieser war ein beachteter Archäologe und Sammler, bekannt für seine innovativen methodischen und museologischen Ansätze. Das Museum ist für seine historischen Schaukästen berühmt, in welchen sich die Objekte primär nach Verwendung und Thema, und nicht nach Kultur oder Region klassifiziert finden. Im Rahmen einer in zwei Phasen durchgeführten Erneuerung der ständigen Ausstellung wurden die Prinzipien der Präsentationen in großen Vitrinen und im viktorianischen Stil beibehalten, es wurde aber Raum für Vermittlungs- und Forschungstätigkeiten geschaffen.
Jeremy Coote, das Pitt Rivers Museum ist für seine einzigartigen historischen Schaukästen berühmt, die eher nach Typ als nach Kultur arrangiert sind. Wie sieht die Geschichte dieser Vitrinen aus und wie hat sie sich während der letzten 130 Jahre verändert? Das Museum wurde 1884 gegründet, um die Sammlung von, wie wir nun wissen, rund 20 000 ethnografischen und archäologischen Objekten zu beherbergen – ich füge mittlerweile meistens die Kategorien altertümlich, Folklore und Sozialgeschichte hinzu, hauptsächlich handelt es sich aber um ethnografische und archäologische Objekte, die General Pitt Rivers der Universität überließ. Basierend auf der Sammlung wurde ein Gebäude errichtet und Edward Burnett Tylor wurde berufen, über die Themen der Sammlung Vorlesungen zu halten. Henry Balfour wurde der erste Kurator und war für das Ausstellen der Sammlung verantwortlich. Ihm war es möglich, einige der Vitrinen zu verwenden, die Pitt Rivers selbst ausgestattet hatte,
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als die Sammlung in Bethnal Green und South Kensington gezeigt wurde. Bald begann er neue Materialien hinzuzufügen und die Vitrinen zu verbessern, zu verändern und weiterzuentwickeln. Ungefähr zur selben Zeit beschloss die Universität ihre Sammlungen zu rationalisieren, und das schon im Museum für Naturgeschichte befindliche ethnografische Material wurde in die Pitt Rivers Sammlungen integriert. 1886 wurde auch die ethnografische Sammlung des Ashmolean Museums – das im 17. Jahrhundert gegründet wurde und eine lange Erwerbsgeschichte hat – ins Pitt Rivers transferiert. Die Sammlungen begannen also sehr schnell zu wachsen und speziell Balfour war, was das Erweitern der Sammlungen betrifft, proaktiv, so wie auch Tylor, und diese Entwicklung wurde bis heute so fortgesetzt, da es nun mehr als 300 000 Objekte und eine entsprechende Zahl an historischen Fotografien und dazu Manuskriptsammlungen und Tonaufnahmen gibt. Die Gründungssammlung von 20 000 Objekten repräsentiert jetzt ungefähr 7,5 Prozent der Objektsammlungen und ihr Anteil schrumpft, da das Museum weiterhin sammelt. Das Museum ist insbesondere dafür berühmt, dass es Dinge nach Objekttyp anstatt nach geografischer Region zeigt, und das kann bis zu Pitt Rivers zurückverfolgt werden, der den Wert von geografischen und kulturellen Aufstellungen erkannte, aber auch der Meinung war, eine typologische Aufstellung wäre wichtig, um die Evolution von Kultur und Ideen zu zeigen. Henry Balfour war in einigen Punkten anderer Meinung als Pitt Rivers, aber er hatte einen ähnlichen Zugang. Die Schaukästen waren bis zum Zweiten Weltkrieg im Kern nach Typus und nicht nach geografischer Herkunft organisiert. Wichtig ist, dass sie auf die eine oder andere Art als evolutionäre Serie organisiert waren, etwa um die Entwicklung eines Formentyps von simpel hin zu komplex zu zeigen. Diese Idee der Evolution der materiellen Kultur war in der Anthropologie bis zum Zweiten Weltkrieg wirklich sehr aus der Mode. Nachdem also Henry Balfour 1939 gestorben war, wurden die Schaukästen schnell verändert, und während weiterhin primär nach Typus ausgestellt wurde, waren es doch keine evolutionäre Serien mehr. Dieser Zugang wurde bis zum heutigen Tag, wo die große Mehrheit der Schaukästen nach Typus organisiert ist, weiter verfolgt. Wir verstehen das als Weg, Menschlichkeit, Einfallsreichtum und Kreativität zu zelebrieren, man wird also in jedem beliebigen Schaukasten Material aus Zentralafrika, Nord-Australien, Indien und Frankreich oder Italien finden, oder auch aus Oxfordshire. Der wesentliche Punkt des Museums ist, die Verschiedenheiten und Ähnlichkeiten in den Wegen zu beleuchten, in denen Menschen zu verschiedenen Zeiten an verschiedenen Orten mit dem Problem der Conditio humana umgegangen sind. Eine Möglichkeit darüber nachzudenken, könnte man als Technisches Museum verstehen, wenn man einen weiten Fokus anlegt: Wir illustrieren die materiellen und technologischen Aspekte der verschiedenen Arten, in denen Menschen mit den Problemen, die das Leben aufwirft, umgehen: Wie bleibt man warm, wie macht man Licht, wie jagt man und bekommt Essen, wie kocht man? Also eine ganze Bandbreite an Fragen, die beinahe alle menschlichen Gesellschaften in irgendeiner Weise beantwortet haben.
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Die jüngeren Dauerausstellungen an der Wellcome Collection – speziell die dortige Schau Medicine Man – sind auch nach Typus aufgestellt und widerspiegeln, wie Henry Wellcome von Pitt Rivers beeinflusst wurde. Haben Sie den Eindruck, dass diese Präsentationsmethode wieder bedeutender wird? Ich denke, sie kommt wieder, und es gibt einige Gründe dafür. Bei uns hat es lang gedauert, und wir müssen uns immer noch bemühen, den Menschen zu erklären, dass unsere Schaukästen nicht evolutionär sind und man nach Objekttypen organisierte Schaukästen zusammenstellen kann, die keine Botschaften über unterlegene und überlegene oder entwickelte und weniger entwickelte Gesellschaften kommunizieren. Es hat lange gedauert zu zeigen, dass es nicht das ist, worum es in diesem Museum geht. In der Literatur kommt es immer noch vor, dass die Menschen das heutige Pitt Rivers Museum so auffassen, als illustrierte es Pitt Rivers’ Ideen der 1870er- und 1880er-Jahre, was unglaublich frustrierend ist, da das Museum mit diesen Ideen seit 60 oder 70 Jahren nichts mehr zu tun hat. Ich denke, es musste eine richtige Trennung zwischen Pitt Rivers’ Idee der Evolution und der Präsentation von Dingen nach Typus erfolgen, bevor die Leute ihren Wert erkannten. Ich denke aber auch, dass es im „Global Village“ generell eine größere Wertschätzung und mehr Verständnis gibt für diese Art, Dinge auszustellen. Es gibt ein größeres Interesse an Weltkunst, an Musik, Technologie und der Erfahrung, dass wir all dem mehr ausgesetzt sind – auch im Bildungssystem werden etwa die Leute in nicht-westlicher Kunst und religiösen Überzeugungen unterrichtet. So kann man Inhalte und Ideen vermitteln und illustrieren, die in kulturell und geografisch arrangierten Präsentationen verloren gingen. Das bedeutet nicht, dass alle Museen plötzlich diese Art Präsentation loswerden sollen, es geht mir nur um ein Bewusstsein, dass es wertvoll sein kann, es auf diese andere Art zu versuchen. Pitt Rivers selbst war der Meinung, dass es am besten sei, eine Serie an konzentrischen Kreisen anzulegen: Abhängig davon, ob man rund um die Kreise herum geht oder die Radien hinauf und hinunter, sähe man die Objekte dann entweder nach geografischer Herkunft oder nach Typus. In den 1960ern entwickelte der damalige Kurator Fagg den Vorschlag, ein neues Pitt Rivers Museum solcherart einzurichten. Es wäre etwas nördlich vom heutigen Standort, in einem größeren, neuen Bau untergebracht gewesen. Ich denke, das Museum war damals wahrscheinlich an seinem Tiefpunkt. Materielle Kultur spielte in der Anthropologie und der akademischen Welt nicht wirklich eine Rolle, und das Museum wurde als Anachronismus gesehen. Niemand hatte eine Vorstellung davon, wie etwas, das als viktorianischer Anachronismus galt, in eine topaktuelle Institution des 20. Jahrhunderts verwandeln werden konnte, und so wollte man es an einen anderen Ort und in ein anderes Gebäude mit komplett neu organisierten Schaukästen verlegen. Glücklicherweise – ich glaube, die meisten von uns denken so – passierte das nicht.
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Die Sammlungen in der von Ihnen skizzierten Weise neu zu arrangieren würde ein gewaltiges Vorhaben bedeuten. Ist dieses Konzept aber vielleicht nutzbar für zukünftige Wechselausstellungen? Wir haben das Architekten-Modell immer noch! Es wäre sehr kompliziert. Ich habe ein wenig mit dem Vorschlag gearbeitet, habe versucht, ihn in seinem historischen Kontext zu verstehen, es wäre eine außergewöhnliche Leistung gewesen. Es wäre – vermute ich – sehr schwer umzusetzen, wenn es nicht sehr organisiert, didaktisch und systematisch werden sollte: All das wird mit dem heutigen Pitt Rivers Museum nicht assoziiert. Auch wenn wir die Dinge ziemlich stark organisieren und dem, was wir tun, viele Systeme und Logiken zugrunde liegen, ist es doch sehr leicht, all das zu ignorieren, es nicht zu beachten und nur die Schaukästen zu genießen. Was in den 1960ern geplant wurde, wäre vielleicht entsetzlich didaktisch gewesen und hätte vielleicht sehr rasch wieder komplett geändert werden müssen, hätte sich aber vielleicht doch auch im Zentrum einer interdisziplinären und multidisziplinären Entwicklung befunden: Es sollte sich im Zentrum der Universitätsabteilungen für Anthropologie, Archäologie, Kunstgeschichte und Umweltstudien befinden. Auch das wäre revolutionär gewesen. Vielleicht wurde damals also auch eine Chance vertan. In Anbetracht dessen, wie sehr wir das Museum an seinem alten Schauplatz lieben, können wir es aber nicht bereuen, dass die Neueröffnung nicht an einem anderem Standort stattfand. Das Museum wurde in den letzten Jahren in zwei Phasen erneuert, was den Dauerausstellungs-Bereich sowie wie das Museum insgesamt verändert hat. Welche Veränderungen wurden vorgenommen und warum waren diese nötig? Die erste Phase war die Entwicklung dessen, was manchmal „der neue Ausbau“ oder „Forschungszentrum“ genannt wird, wir wollen es aber einfach das Museum nennen. Es ist ein neuer Bau, der auf allen drei Geschossen an das Museum anschließt und alle Aktivitäten zusammenführt, die hinter den Kulissen ablaufen, und es beherbergt auch das Personal, das eine Generation lang über ganz Oxford verstreut war. Lange Zeit war das Vermittlungspersonal, das Sammlungspersonal und das Konservierungspersonal an verschiedenen Orten, was auf vielerlei Arten wirklich absurd und ineffizient war. Mitte der 1990er-Jahre waren wir zu einer Institution geworden, die in der Forschung sehr aktiv war, mit vielen fremdfinanzierten Projekten, die ihren Fokus fast alle auf das Museum und die Sammlungen richteten, was bedeutete, dass das Museum sich seiner selbst und der Sammlungen sehr bewusst geworden war. Daraus resultierte die Möglichkeit, beim Science Research Investment Fund um eine größere Subvention für den Bau eines neuen Gebäudes anzusuchen. 2007 zogen wir ein. Das war die erste Phase. Davon profitierte auch die Öffentlichkeit, denn das Museum hat nun zum ersten Mal in seiner Geschichte öffentliche Toiletten und es gibt einen neuen Ausstellungsraum, Tagungsräume und viele andere Dinge.
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In der zweiten Phase sollten am Museum selbst ein paar Verbesserungen vorgenommen werden, darunter das Entfernen der Fläche für Sonderausstellungen, welche in den 1960ern hinzugefügt worden war, um so zu ermöglichen, vom Museum für Naturgeschichte direkt ins Pitt Rivers spazieren zu können, anstatt gleich in den Sonderausstellungsraum zu gelangen. Es gibt auch einen verbesserten Informationsbereich, was vorher wirklich fehlte, eine Art Foyer, in dem das Personal die Besucher begrüßen und sie mit Information versorgen kann. Dort bekommt man auch die Taschenlampen zum Aufziehen, die sowohl Kinder als auch Erwachsene gerne benutzen. Auch einen Lift für Eltern mit Kindern und Rollstuhlfahrer gibt es nun, der es ermöglicht, ins Erdgeschoss des Museums zu gelangen, ohne, wie zuvor, zehn Stufen hinuntergehen zu müssen. Der Eingang zum Museum befindet sich jetzt auf einer angehobenen Plattform, und darunter war es uns möglich, einige Luftregulierungseinheiten unterzubringen, die die Luftzirkulation verbessern und die Temperatur stabilisieren, beides sowohl zum Wohle der Objekte als auch der Öffentlichkeit, da es im Museum im Sommer sehr heiß und im Winter sehr kalt werden kann. Diese sehr fundamentalen Veränderungen und Entwicklungen waren im Sinne des Besuchserlebnisses wichtig. Sie machten jedoch das Abmontieren einer Reihe von Schaukästen notwendig. In einem weiteren Schritt schufen wir einen von der Clore Duffield Foundation finanzierten Vermittlungsbereich am Balkon des ersten Stocks. Das ist nun ein offener Bereich, der für Aktivitäten von Schulkindern genutzt werden kann – die verwenden ihn wahrscheinlich am meisten –, aber auch für Erwachsenengruppen und andere Veranstaltungen. Die Schaukästen dort wurden abmontiert und dorthin gebracht, wo die alte Sonderausstellungsfläche gewesen war. Wir mussten 6000 Objekte verpacken und transportieren und wieder aufstellen. Die meisten von ihnen wurden entnommen und dann wieder in dieselben Schaukästen getan, im Wesentlichen also vom ersten Stock ins Erdgeschoss übersiedelt. Einige wurden neu eingerichtet und es wurde auch die Gelegenheit ergriffen, mit der Schaffung der Plattform und des neuen Vermittlungsbalkons neue Vitrinen zur Verfügung zu stellen; diese wurden mit Objekten befüllt, die man über viele Jahre als Reserve behalten hatte. Für das Erdgeschoss entschied man sich, Themen zu reflektieren, die schon vorhanden waren, klassische Pitt-Rivers-Themen – beispielsweise die menschliche Form in der Kunst, die Tierform in der Kunst, geometrische Formen in der Kunst, und zwar mit neuen Schaukästen, die Material aus der Sammlung zeigten, welches lange nicht präsentiert worden war. Und im ersten Stock machten wir tatsächlich etwas ein wenig anderes und konzentrierten uns auf die Kunst australischer Ureinwohner. Dies zum Teil deshalb, weil es vorher schon einen kleinen Schaukasten zu diesem Thema gegeben hatte, der für Phase eins abgebaut worden war und uns dies die Möglichkeit gab, ihn wieder einzubringen. Es hatte jedoch auch damit zu tun, dass die neuen Vitrinen auf dem Vermittlungsbalkon sehr flach waren und die Art der Materialien, die verwendet werden konnten, beschränkt war. Ein weiterer Grund war schließlich auch, deutlich zu machen, wie wichtig diese Sammlungen
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generell für die Geschichte des Museums und die Geschichte der Anthropologie waren. In gewisser Weise – obwohl ich mir nicht sicher bin, wie bewusst wir uns dessen damals waren – hatte man in der Frühzeit des Museums, zu Zeiten der evolutionären Schaukästen, die australischen Ureinwohner an das Ende des evolutionären Kontinuums gestellt, das australische Material war dort also immer das simpelste und primitivste. Und ich denke, dass die neuen Vitrinen sich dem klar entgegenstellen. Diese Kultur und Kunst in prominenter Position im Museum zu präsentieren ist ein Statement, wie sehr die Anthropologie und das Museum sie und ihren Beitrag zur Weltkunst heute schätzen. Zur Neueröffnung beschrieb die Museumszeitschrift der britischen Museumsvereinigung die Entscheidung, die Schaukästen beizubehalten, als „mutig“. Wie sehen Sie das? Es wäre sowieso nicht möglich, alle Schaukästen zu verändern, das würde ewig dauern. Es gibt in etwa 80 000 bis 90 000 Objekte im Museum, und jeder neue Schaukasten bedeutet furchtbar viel Arbeit für uns. Als wir ein paar Schaukästen abbauten, hätten wir entscheiden können, etwas anderes zu machen, aber die generellen Themen beizubehalten war keine wirklich schwierige Entscheidung. Wir haben in den letzten 10 bis 20 Jahren im Rahmen eines fortlaufenden Neuaufstellungs-Programms immer wieder Veränderungen vorgenommen. In manchen Fällen haben wir einfach entfernt, was in den Kästen war, wir haben sie neu gestrichen und ein paar Verbesserungen vorgenommen, alles konserviert, uns womöglich dagegen entschieden, ein paar Dinge erneut hineinzustellen, weil sie vielleicht gelitten hatten. Wir haben neues Material hinzugefügt und oft versucht, auch etwas Farbe hineinzubringen: Ethnografische Sammlungen tendieren zur Farbe Braun, wir wollten also etwas Farbe hinzufügen, wenn wir die Möglichkeit hatten, und auch neue, zeitgemäße Beschriftungen bieten. Das heißt nicht, dass die alten Beschriftungen, die die Leute so sehr mochten, verschwunden sind. In den 1970ern und 1980ern gab es eine Periode, in der das passierte, aber in den frühen 1990er-Jahren hatten wir erkannt, dass das ein Fehler war. Nun belassen wir sie, außer wenn sie dem Objekt physisch schaden oder Informationen enthalten, die beleidigend bzw. potenziell beleidigend oder irreführend sind. Wenn es sich beispielsweise um einen Ländernamen gehandelt hätte, den es nicht mehr gibt, hätten wir sie nicht entfernt, hätte es sich um etwas Unangemessenes gehandelt, wäre es sicherlich entfernt worden. Das ist die einfache Art, neu aufzustellen, doch wir versuchen zusätzlich auch Dinge viel dreidimensionaler zu zeigen. In manchen der sehr alten Schaukästen ist alles flach gegen die Rückwand des Kastens oder am Boden positioniert, ziemlich genau so, wie man einen Teller in einem Buch sehen würde, die Kästen waren sehr flach und zweidimensional, einfach deshalb, weil man die Dinge eben so gemacht hat. Was wir während der letzten Jahrzehnte also bewusst gemacht haben, war, die drei Dimensionen des Kastens zu verwenden, um besser zu zeigen, dass die
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Objekte selbst dreidimensional sind. Vieles überlagert sich. Ich sage oft, dass dies wahrscheinlich das einzige Museum ist, in dem die Designer den Kurator um mehr Objekte bitten. An vielen anderen Museen will der Gestalter mehr Platz für Design, man muss also ein paar Objekte loswerden; hier aber, da wir das ganze Volumen der Schaukästen nutzen und die Dinge sich überlagern lassen, werden die Kuratoren nicht selten um mehr Objekte gebeten, was Leute von anderen Institutionen oft schockiert. Wir haben dieses einfache Neuaufstellen mit Dingen wie zum Beispiel Körben oder Perlen gemacht. In anderen Fällen gibt es stärkere kuratorische Interventionen. Als wir beispielsweise einige neue Schaukästen zum Thema Körperkunst machten, verwendeten wir das Material und einige der vorhandenen Themen, entschieden uns aber, ihre Präsentation neu zu überdenken. Die Themen, auf die wir uns einigten, wurden mit teils neuen Objekten dargestellt. Wir entschlossen uns auch, mehr Bilder und Fotos zu zeigen. So wie wir das sehen – ein paar Rezensenten haben das auch gesagt –, versuchen wir, die Dinge zu verändern, während wir so tun, als würden sie gleich bleiben. Tatsächlich gab es viele Neuerungen und Interventionen. Der Trick ist aber, dies so zu machen, dass niemand glaubt, dass es jetzt nicht mehr nach Pitt Rivers aussieht. Hätte ich einen Zauberstab, würde ich alle Schaukästen über Nacht verändern. Auch wenn die Universität das Museum ordentlich finanzieren würde und man sich nicht ständig mit Ansuchen um Fremdfinanzierungen auseinandersetzen müsste, dann hätten wir ein viel weitreichendes Neuaufstellungsprogramm. Ich bin nicht dafür, einen alten Schaukasten beizubehalten, nur weil er alt ist. Wenn es eine Möglichkeit gibt, Dinge visuell zugänglicher zu machen, ergibt es keinen Sinn, viele Objekte um ihretwillen in einen Schaukasten zu drängen. Man will ja, dass die Leute sich mit den Objekten auseinandersetzen können. Das bedeutet nicht notwendigerweise viel Text, es bedeutet, dass es ihnen möglich sein soll, die Objekte physisch zu sehen, und in einigen der älteren Schaukästen sind sie nun kaum mehr visuell zugänglich, da sie eher müde und alt wirken. Die Dinge sind, wenn man nicht hart daran arbeitet, nicht wirklich sichtbar. Alle diese Schaukästen würde ich also sehr gerne über Nacht ändern, dabei aber ihre Ordnung und die Dichte der Präsentation beibehalten. Ist das nicht ein unlösbarer Spagat: die Authentizität und diesen Charme des „Museen-Museums“ zu bewahren und gleichzeitig die Vermittelung zu stärken? Nun ja, ich glaube, es funktioniert. Die Leute reagieren auf die erneuerten Schaukästen nicht negativ, vielleicht auch, weil sie sie nicht als neu wahrnehmen. Es ist seltsam, wenn man Besucher und Journalisten durch den erneuerten Bereich führt, und man zeigt ihnen ein Objekt, das deutlich sichtbar gerade erst vor zwei oder drei Jahren gemacht wurde – auch die Beschriftung sagt das –, und dann verabschieden sie sich und schreiben so, als wäre alles von General Pitt Rivers gesammelt worden und nichts hätte sich verändert. Das ist ziemlich merkwürdig. Ich versuche den „Museen-Museum“-Begriff zu vermeiden, und glaube nicht, dass das auf unser
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Museum zutrifft. Ich glaube allerdings, dass wir uns alle dessen bewusst sind, dass das Museum von seiner Wahrnehmung als „alt und viktorianisch“ profitiert. Tatsächlich gibt es im Museum sehr wenig, das tatsächlich viktorianisch ist. Die Sammlungen sind größtenteils post-viktorianisch, alle Schaukästen sind post-viktorianisch, und – was die Leute immer ziemlich schockiert – bis 1970 gab es ein Glasdach, der Ort war also in ganz ähnlicher Weise mit Licht erfüllt, wie es das Naturhistorische Museum noch ist. Die Menschen haben diese Vorstellung eines viktorianischen, mysteriösen, dunklen Dachbodens, aber bis in die 1970er-Jahre war es voller Licht. Es gibt heute in der Museologie eine verstärkte Auseinandersetzung mit der Natur und Herkunft von Sammlungen, speziell auch ethnografischer Sammlungen. War bzw. ist das ein Thema für Sie? Das Problem unserer vollgefüllten Kästen ist, dass man sie nicht alle halben Jahre umgestalten kann. Wir sind auf dieser Ebene relativ unflexibel, wenn es darum geht, die neuesten museologischen Debatten zu reflektieren. Wenn man in einem Schaukasten mit vielleicht 100 bis 200 Stücken aus der ganzen Welt und aus verschiedenen historischen Zeiträumen zeigen möchte, wie man Feuer macht oder Götter repräsentiert, kann man sich in ihnen nicht auch noch mit Fragen des Imperialismus, Kolonialismus oder der kulturellen Aneignung befassen. Das geht einfach nicht. Das Museum hat sich aber natürlich auf allerlei andere Art an den von Ihnen angesprochenen Debatten beteiligt. Es gibt einen Einführungs-Schaukasten circa aus dem Jahr 2002, der versucht, die Geschichte des Museums zu beleuchten und der unter anderem über die verschiedenen Wege erzählt, auf denen die Objekte ins Museum gekommen sind. Er berichtet von sammelnden Anthropologen, von Spenden, Kolonialbeamten und Missionaren. In den unteren Räumen, um ein weiteres Beispiel zu nennen, wo wir den Schaukasten Court Art of Benin zeigen, wird die Expedition und die Plünderung des Palastes 1897 diskutiert und mit der Form des Austauschs kontrastiert, wie sie während Cooks Reisen nach Polynesien und Melanesien üblich war. Es gibt Stellen im Museum, an denen über diese Dinge gesprochen wird, und sie sind auch Inhalt auf unterschiedlichen Ebenen der Vermittlung. Sie werden in Audioguides und verschiedenen Publikationen behandelt und wir machen viel von diesem Material online verfügbar. In den letzten 20 Jahren hatte das Museum viele fremdfinanzierte Projekte, und alle hierbei gewonnenen Informationen wurden online verfügbar gemacht. Zur Geschichte des Pitt Rivers Museum wurde in den letzten Jahren viel geforscht. Es gibt ein Projekt namens England: The Other Within, das die englischen Objekte innerhalb der Sammlung untersuchen will und im Kontext eines Trends, „Englishness“ zu erforschen, beschrieben wurde. Auch das Rethinking Pitt Rivers Project befasst sich mit der Wahrnehmung des Museums und seiner Sammlung. Können Sie zu diesen Projekten etwas erzählen?
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Ich war an The Other Within nicht sonderlich beteiligt, aber es entstand, nachdem wir retrospektiv das Museumsarchiv digitalisiert hatten, was uns erlaubte, alle möglichen statistischen Kalkulationen durchzuführen. Wir waren verblüfft, wie groß die europäischen, britischen und englischen Sammlungen waren und haben in weiterer Folge untersucht, ob diese etwas zum Verständnis der EnglishnessDebatten im späten 19. und frühen 20 Jahrhundert beitragen konnten. Inspiriert war das teilweise von damals aktuellen politischen Debatten: Die Übertragung von Macht nach Wales und Schottland führte zu Diskussionen darüber, was es bedeutet, Brite oder Engländer zu sein. Die Arbeit am Projekt läuft übrigens immer noch, und die Schlüsse sind noch nicht gezogen. Das Projekt Rethinking Pitt Rivers geht in vielerlei Hinsicht auf das zurück, worüber wir eingangs gesprochen haben, nämlich auf die Tatsache, dass die Leute denken, im Pitt Rivers Museum in Oxford gehe es irgendwie um General Pitt Rivers, was ja nicht stimmt: Am Beginn des Museums stehen seine Sammlungen, sie stellen heute aber nur noch 7,5 Prozent unserer Bestände dar und der Anteil wird jedes Jahr kleiner. Die Schaukästen, die seit dem Zweiten Weltkrieg entstanden sind, haben wenig mit dem zu tun, worum es Pitt Rivers ging. Man kann argumentieren, dass die Schaukästen ohnehin nie seine waren, sondern immer die von Henry Balfour, der natürlich von Pitt Rivers beeinflusst war, aber die Schaukästen doch so gestaltete, wie sie seiner Meinung nach sein sollten. Es ist also ein Museum von Sammlungen anderer Leute, und nicht nur jener von Pitt Rivers, das von Ideen und Debatten geformt wird, die mit ihm sehr wenig zu tun haben. Aber es bleibt die Vorstellung, dass das Museum einem etwas über Pitt Rivers erzählt. Andererseits fuhr General Pitt Rivers nach 1884 bis zu seinem Tod im Jahr 1900 weitere 16 Jahre mit dem Sammeln fort und baute so eine weitere Sammlung auf, die in der Größe mit jener vergleichbar war, die er Oxford gegeben hatte. Sie blieb in der Familie, bis sie seit den 1950er-Jahren langsam verkauft wurde. Sie ist nun über die ganze Welt verstreut. Für lange Zeit führte er aber Buch über seine Erwerbungen, die auch in einem von seinem Personal geführten Katalog illustriert waren. Während diese Sammlung mittlerweile also über die ganze Welt verstreut ist, gibt es außergewöhnlichste Aufzeichnungen über sie. Bei Rethinking Pitt Rivers geht es darum, General Pitt Rivers als Sammler zu betrachten, nicht nur zu sehen, was wir hier haben, sondern auch die zweite Sammlung und ihre Entwicklung zu berücksichtigen. Pitt Rivers war ganz das Gegenteil von beispielsweise Henry Wellcome, der einfach erwarb und erwarb und erwarb. Pitt Rivers machte immer etwas mit seinen Sammlungen. Unsere Sammlung war in Bethnal Green gezeigt worden, im heutigen Museum of Childhood, und er hatte schon viel über sie publiziert, bevor er sie Oxford übergab. Er baute dann eine zweite Sammlung auf und verlieh Stücke für Ausstellungen, hielt Vorträge und Reden. Dann gründete er sein eigenes, privates Pitt Rivers Museum. Er war also ein außerordentlich aktiver Mann und wir versuchen die Bandbreite an Aktivitäten, in die er involviert war, neu zu durchdenken und zu illustrieren.
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War man je versucht, den Namen des Museums zu ändern? Das könnten wir gar nicht. Die Schenkungsurkunde legt fest, dass das Museum – also nicht nur die Gründungssammlung – unter den Namen Pitt Rivers Collection bekannt sein soll. Wenn Leute etwas stiften, bleibt ihr Name selbstverständlich permanent damit verbunden, doch es wird Teil der Pitt Rivers Collection. Ich möchte am Ende noch ein bisschen auf die Vermittlung eingehen. Innerhalb des Hauptausstellungsraums gibt es weder große Einführungstafeln noch HightechInteraktiva, die man in vielen anderen Museen mittlerweile sieht. Die Aufziehtaschenlampen sind unglaublich interaktiv – low-tech, aber effektiv. Haben Sie weitere Angebote entwickelt, um die Inhalte der Ausstellung für bestimmte Gruppen aufzuschließen? Bis dato hat die Taschenlampen eigentlich noch niemand als Interaktiva bezeichnet, aber das sind sie sicherlich und ich werde sie ab jetzt als solche bezeichnen. Allgemein versuchen wir die Objekte im Kontext ihrer Schaukästen für sich selbst sprechen zu lassen. Darüber hinaus haben wir in jüngerer Zeit vieles unternommen, um den Museumsbesuchern zu helfen, das Museum und die Schaukästen besser zu verstehen. Die an der einen oder anderen Stelle verschwundenen Kastenbeschriftungen haben wir zur generellen Orientierung wieder eingesetzt. Wenn die Leute also vor einem Schaukasten stehen, wissen sie, dass sie zum Beispiel auf medizinische Geräte blicken. In vielen Fällen wurde auch ein kurzer einführender Text hinzugefügt, der ein wenig über das Thema des jeweiligen Kastens sagt. Wir bleiben dabei generell sehr kurz und weisen auf etwas Besonderes oder auf einzelne Stücke hin. Ich war besorgt, dass die Besucher nur herumgehen, diese Texte lesen und die Objekte gar nicht mehr betrachten würden, wie etwa auch in Kunstgalerien einige Leute nur die Beschriftungen lesen, aber das scheint nicht passiert zu sein. Wir haben auch diverse Angebote entwickelt – Audioguides, spezielle Rundgänge, Informationsblätter über bestimmte Objekte oder Themen, die zusätzliche Informationsschichten anlagern. Manche der Angebote fokussieren einen bestimmten Schaukasten, andere beziehen sich auf Gruppen von Kästen, oder Themen, wie beispielsweise Ägypten, das sich an vielen Orten findet. Eine weitere wichtige Sache sind die Online-Ressourcen, die ich früher schon im Zusammenhang mit den Forschungsprojekten erwähnt habe. Allgemein gesagt wird jedes Material, das generiert wird, online verfügbar gemacht. Die Museums-Datenbanken sind online und experimentieren mit Vermittlungsmöglichkeiten, mit Texten, Fotos bis hin zu Podcasts im Netz. Es gibt alles Mögliche, von Interviews mit Akademikern bis hin zu Filmen, die von örtlichen Schulkindern produziert wurden und die einige der in den Schaukästen impliziten oder expliziten Themen erforschen. Anregend bleiben dabei immer die Schaukästen selbst. Sie bringen die Besucher dazu, nachzudenken, nachzufragen, in Dialog zu treten. Unsere Informationen auf der Website sollen den
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Leuten „Stoff “ für diese Gespräche geben. Der Raum im Museum ist den Objekten gewidmet, das Internet fungiert als Lieferant von Materialien für die Auseinandersetzung. Dienen die Online-Materialien also der Vorbereitung? Die Leute bereiten sich vor, für Schulausflüge oder organisierte Besuche, das passiert häufig. Ursprünglich wollten wir, dass die Leute, inspiriert von dem, was sie sehen, an den Themen des Museums dran bleiben. Mir wäre es ehrlich gesagt auch lieber, die Menschen kommen erst ins Museum, um sich anregen zu lassen, anstatt mit der Website anzufangen und dann die Objekte als Illustration von etwas zu sehen, was sie schon zu wissen meinen. Danke sehr für das Gespräch! (Übersetzt aus dem Englischen)
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Sir John Soane’s Museum, Außenansicht Foto: M. Charles
Erbe und Idee: Das Haus-Museum als Objekt Lutz Becker
Seit ihrer Einrichtung im 19. Jahrhundert sind die nationalen Museen Großbritanniens bei freiem Eintritt für die Öffentlichkeit zugänglich. Dies bedeutet aber auch, dass sie finanziell von Steuergeldern abhängig sind. In den letzten 20 Jahren haben aufeinander folgende Regierungen die Fördergelder stark reduziert, sodass sich aufgrund dieser Einschränkungen die Museen in einer finanziell kritischen Situation befanden. Folglich mussten sie Wege suchen, die eingetretene Finanzschwäche zu überwinden. Um zusätzliche Mittel zu gewinnen, wurden eigens Sonderausstellungen konzipiert, um Eintrittsgelder erheben zu können. Die Regierung verschlimmerte die Situation, da sie die Museen dazu verpflichtete, als Preis für die generelle Befreiung von Eintrittsgebühren die Publikumszahlen durch Zugewinn eines weiteren Besucherkreises radikal zu erhöhen. Vor dem Hintergrund dieser Anforderungen kommen die Museen nicht umhin, Teile ihrer ursprünglichen Identität aufzugeben, dies betrifft sowohl den administrativen als auch den kuratorischen Bereich der Institutionen. Das Bewusstsein um Wert und Bedeutung von Sammlungen und ihre wesentlichen Bestandteile nimmt langsam ab. Die einer neuen Generation von kuratorischen Vermittlungspersonen auferlegte Zuständigkeit hält sie von der Auseinandersetzung mit dem einzelnen Kunstobjekt ab. Das Erkennen der großen kulturellen Vielfalt von Kunst verblasst in der derzeitigen Überbetonung kommerzieller Interessen. Im Versuch der Museen, mit populären wissenschaftlichen TV-Sendungen zu konkurrieren, geht der traditionelle Kuratoren-Ethos innerhalb des Museums verloren. Gestaltungs- und Beleuchtungskonzepte, die in Kaufhäusern verwendet werden, kommen nun in Museen zum Einsatz und verwandeln Galerien in Erlebnisräume sowie Besucherinnen und Besucher in passive „window shoppers“. Gestalterische Mittel, die für die Inszenierung von temporären Ausstellungen adäquat sind, werden unreflektiert für die Neugestaltung von gesamten Abteilungen übernommen, wenngleich langfristige Lösungen gefragt wären. Museen müssen Orte bleiben, an denen es die Möglichkeit gibt, über Kulturenvielfalt und Geschichte zu sinnieren. Wir müssen am Zweck und der Bedeutung von Museen festhalten: Sie
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sind Produkte einer Geschichte, in der europäische Nationen nach der Entdeckung neuer Kontinente, anderer Völker und Rassen, anderer Götter und Geschichten sich selbst zu definieren begannen. Die Erweiterung des Wissens und des analytischen Denkens in der Zeit zwischen der Renaissance und dem Ende des 19. Jahrhunderts bedingte die Entwicklung des modernen Museums. Es wurde zu einem Ort, der sich der Sammlung wichtiger Artefakte widmete und das Studium sowie die Interpretation der Geschichte, Theorie und Praxis der Kunst ermöglichte. Um das Museum als Institution, seine charakteristisch-immanenten Methoden des Sammelns und Präsentierens zu beleuchten, habe ich zwei historische britische HausMuseen als Beispiele gewählt: das Sir John Soane’s Museum, das im frühen 19. Jahrhundert in London errichtet wurde, und Kettle’s Yard in Cambridge, gegründet Mitte des 20. Jahrhunderts. Beide Häuser sind bezeichnend für das vorausschauende Denken ihrer Gründer sowie der intellektuellen und emotionalen Werte der Zeit ihrer Gründungen. Haus-Museen sind nicht bloß „interesting time-capsules“, sondern authentische Objekte, die es wert sind, sie für kommende Generationen zu erhalten. Sogar diese kleinen Museen befinden sich derzeit in Veränderungs- und Erweiterungsprozessen, um den steigenden Anforderungen bei Dienstleistungen und Bildungsangeboten gerecht zu werden. Direktoren und Beiräte haben sich der Aufgabe angenommen, Systeme zu aktualisieren und Strukturen auszubauen. Gleichzeitig besteht der Anspruch, das Konzept der Gründer zu bewahren.
Sir John Soane‘s Museum Eines der außergewöhnlichsten Museen Londons ist das Haus des Architekten Sir John Soane am Lincoln’s Inn Fields, Holborn, nur fünf Gehminuten vom British Museum entfernt. Hier schuf Soane ein Denkmal aus dem Geist der Aufklärung, ein Museum gewordenes Ideenkonstrukt mit einer Sammlung von architektonischen Materialien, Zeichnungen und Modellen, eine facettenreiche Mischung aus altertümlichen Gegenständen, Kunstwerken und Artefakten. 1833 vermachte Soane sein Haus Nr. 13 Lincoln’s Inn Fields mittels Parlamentsgesetzes dem Britischen Staat, welches in seinem Todesjahr 1837 in Kraft trat. Das Museum wurde einem Kuratorium übergeben, unter der Bedingung, dem Wunsch des Gründers zu folgen, nämlich das Museum in jenem Zustand zu erhalten, in dem er es übergeben hatte – soweit die Umstände es gestatten – und zugleich Studierenden und der Öffentlichkeit kostenfreien Zugang zu gewähren, um die Sammlungen zu nutzen. Bis Mitte des 20. Jahrhunderts wurde das Museum von Kuratoren betreut, blieb aber weitgehend unbekannt, nur wenige Fachleute besuchten es. In seiner eigenen Geschichte verloren, ruhte es für hundert Jahre nahezu unverändert in seinem Originalzustand. Im 20. Jahrhundert begann die Wiederentdeckung und schrittweise Erforschung des Museums, ein Prozess, der noch immer andauert. Bemerkenswerte Kuratoren wie Sir John Summerson, unterstützt von
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Dorothy Stroud, Peter Thornton und Margaret Richardson, verpflichteten sich dem Haus, seiner Geschichte und seiner Erhaltung. Heute wird es von Tim Knox geleitet. Wer war John Soane? Sir John Soane (1753–1837) wurde als Sohn eines Maurers in Goring-on-Thames geboren. Im Alter von 15 Jahren wurde er erstmals in London von George Dance dem Jüngeren in Architektur unterrichtet, ab 1771 an den Royal Academy Schools von Henry Holland. Nachdem er die Silber- und Goldmedaillen der Academy und das King-George-Reisestipendium erhalten hatte, ging Soane zwischen 1777 und 1780 auf eine Studienreise nach Italien. Er besuchte Vicenza, Verona, Rom und Tivoli, fuhr südwärts, bis Sizilien und Paestum. Die romantische Faszination des jungen Mannes für antike Ruinen, archäologische Stätten sowie Stiche und Zeichnungen Giovanni Battista Piranesis stärkten seine Vorliebe für den klassizistischen Stil. Zurück in England gründete er ein kleines Architekturbüro in East Anglia und heiratete 1784 Elizabeth Smith, die Nichte und Erbin des Stadtbaumeisters George Wyatt. 1788 wurde Soane zum Architekten und Gutachter der Bank of England bestellt, eine Funktion, die er fast sein ganzes Berufsleben über beibehielt. Der Bau dieses monumentalen Werks erlaubte es ihm, sich vollends kreativ zu entfalten und zugleich seinen sozialen Status erheblich zu verbessern. Er wurde einer der berühmtesten Architekten Londons. Er entwarf fortan Stadthäuser, übernahm Aufträge für Denkmäler, Mausoleen und Kirchen. Auch Gutachtertätigkeiten versorgten ihn mit regelmäßiger Arbeit. Gemeinsam mit John Nash und seinem ehemaligen Schüler Robert Smirke wurde er 1813 zum offiziellen Architekten des „Office of Works“ und 1814 ins „Metropolitan Board of Works“ berufen. 18 Jahre später, 1831, wurde Soane zum Ritter geschlagen. Während des Viktorianischen Zeitalters wurde seine Architektur allerdings nur wenig geschätzt. Viele seiner Gebäude, Kirchen, bedeutende Häuser und Innenräume wurden im Laufe der Modernisierung von London verändert oder zerstört.1 Sein eigenes Haus hingegen, Nr. 13 Lincoln’s Inn Fields, wurde sein Vermächtnis. In ihm befindet sich das Museum, das historisch mit den Häusern Nr. 12 und Nr. 14 verwoben ist. Soane kaufte, entkernte und baute diese drei Häuser in mehreren Jahren um. Das Haus Nr. 12 verwandelte er zwischen 1792 und 1794 in seinen Hauptwohnsitz. Aufgrund seiner Ernennung zum Professor für Architektur an der Royal Academy 1806 konnte er es sich in Folge leisten, das Nebenhaus Nr. 13 zu erwerben. Dort gründete er 1808/09 ein Zeichenbüro und das Museum, den Raum dafür schuf er, indem er die ehemaligen Pferdestallungen an der Rückseite des Hauses eingliederte. 1812 errichtete er eine klassizistische Portlandstein-Fassade. 1823 kaufte er das Haus Nr. 14, welches er bis 1824 ebenfalls umbaute.2 Die ersten Besucher Die Studenten, die Soane an der Royal Academy ab 1806 unterrichtete, waren die ersten regulären Besucher seines Museums. Einen Tag vor und nach seinen Vorle-
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sungen an der Akademie lud er sie in das Atelier in seinem Haus ein, um dort die Sammlung von Gipsabdrücken architektonischer Ornamente sowie Modelle historischer Gebäude zu zeichnen und zu studieren. In der ersten Beschreibung des Museums, die 1827 von John Britton veröffentlicht wurde, wird Soanes Haus einschließlich seiner Sammlung als eine „Academy of Architecture“3 beschrieben. Soane war ein vielbewunderter Lehrer, an seinen Entwürfen und natürlich auch an seinem Haus konnten die Studierenden sich orientieren. Das Haus nutzte er als architektonisches Experimentierfeld, er veränderte ständig die Innenräume und verfeinerte die Präsentation seiner Sammlungen. Dieses kontinuierliche Umgestalten der Räumlichkeiten und ihrer Ausstattung waren ideal als Anschauungsunterricht für die jungen Architekten. Voller Begeisterung inspizierten die Studierenden die Räume ihres Lehrers: die in pompejanischem Rot ausgemalte Bibliothek mit ihren gotischen Stilelementen, den Frühstücksraum mit seinem Gewölbe und den darin eingelegten konvexen Spiegeln, die kleinen Räume und Gänge, die mittels optischer Täuschungen, Spiegeln, eingefärbten Glas und ausgeklügelten Lichtführungskonzepten scheinbar vergrößert wirkten sowie Soanes eigenes, mit einer Sammlung römischer Fundstücke gefülltes Studio. Das Haus und seine Räume Der spannendste Teil des Hauses ist „The Dome“, ein von Tageslicht erhellter Ausstellungsraum im hinteren Teil des Hauptgebäudes. Es handelt sich hierbei um ein mit einer Altertümer-Sammlung und mittelalterlichen Architekturfragmenten gefülltes Labyrinth. Die drei Etagen, über die sich der Raum erstreckt, stehen sinnbildlich für archäologische Sedimente und historische Schichten. Bereits vor der eigentlichen Fertigstellung des Museums stellte sich Soane das Haus als zukünftige Ruine vor, das Konzept dafür beschrieb er in seiner Publikation Crude Hints Towards a History of My Home in L(incoln’s)I(nn) Fields aus dem Jahr 1812.4 25 Jahre lang beschäftigte er sich mit der detaillierten Gestaltung des Hauses und arbeitete an einer möglichst ausgeklügelten Präsentation der Ausstellungsstücke. Am Anfang sollte die Tabula rasa eines archäologischen Ausgrabungsortes simuliert werden, den er, Soane, in seiner imaginierten Rolle als Künstler aus der Zukunft entdeckt und entschlüsselt. Das Resultat war ein rätselhaftes architektonisches Selbstporträt, ein Sinnieren über das Verhältnis von Mensch und Architektur, ein gebautes Gedankenspiel, das den Besucher aus dem 21. Jahrhundert empfängt. Durch das Gebäude sollte ein fiktiver Mönch führen, Soanes Alter Ego, Padre Giovanni, der in einer dunklen Zelle neben dem sogenannten Mönchshof untergebracht ist. Oberhalb befindet sich ein Raum, ein Sinnbild des Geistes der Aufklärung, an dessen östlichen Ende eine in römischem Stil gehaltene Büste von John Soane selbst steht. An dieser Stelle tritt sie in Dialog mit der Umgebung, mit den Originalen und Abgüssen antiker Skulpturen. Verspiegelte Oberlichten erhellen hier den zentralen Bereich, um den herum weitere Räume arrangiert sind, bis hinunter in die Grabkammer, wo der prachtvolle 3000 Jahre alte Alabaster-Sarkophag des ägyptischen Pharaos Seti steht. Zwischen griechi-
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schen Vasen und römischen Büsten, Aschenurnen und Plastiken aus dem 18. Jahrhundert, platzierte Soane die Gips- und Terrakotta-Skulpturen seines Freundes John Flaxman. An der Rückseite des Hauses Nr. 14 schuf Soane ein architektonisches Wunder: seinen Bilderraum. In dieser kleinen Galerie mit hohen Decken und beweglichen Wänden werden Gemälde und Zeichnungen auf aufklappbaren Faltpaneelen ausgestellt, wo man, wenn diese geöffnet werden, weitere Gemälde findet. Dieses raffinierte „interaktive“ Ausstellungssystem mit verschiebbaren Ebenen erlaubt das Hängen von drei Mal mehr Arbeiten als ein Raum dieser Größe normalerweise fassen könnte. Darüber hinaus schafft er überraschende Assoziationsebenen. Hier erhalten die Zeichnungen seines Lehrers George Dance und 15 seltene PaestumSkizzen von Piranesi Ehrenplätze. Diese Arbeiten werden gemeinsam mit Meisterwerken von Canaletto, Watteau, Fuseli und Turner ausgestellt. Einen besonderen Platz erhielt vor allem das Werk des Malers und Kupferstechers William Hogarth, ein interessanter Hinweis auf Soanes Reflexionen über die Dualität von Ethik und Ästhetik in der Kunst. Soane fühlte sich diesem Künstler des 18. Jahrhunderts ideell verbunden, weil Hogarth mit seinen Zyklen modern moral subjects als einer der ersten Maler auf satirische Weise Gemälde mit sozialkritischem Inhalt schuf. Hogarths acht Gemälde umfassende Serie A Rake’s Progress aus dem Jahr 1735 und die vier Bilder Humours of an Election über lokale Korruption während der Parlamentswahlen in Oxford 1754 zählen zu den großen Attraktionen des Museums. Restaurierung und Ergänzung des Museums Sir John Soane’s Museum hat in den letzten 25 Jahren einen Kultstatus erlangt und zieht jährlich um die 110 000 Besucher an, wobei nur 70 Personen zur gleichen Zeit ins Haus-Museum dürfen, die anderen müssen sich vor der Haustür anstellen und warten. Das Museum hat nun mit einem umfangreichen Sanierungs- und Umbauvorhaben begonnen. Das Gebäude wird während des in drei Phasen verlaufenden Projekts weiterhin geöffnet bleiben. Die Fertigstellung ist für 2014 geplant. Dank Zuschüssen der Regierung und öffentlichen Spendenaufrufen konnten für die Durchführung dieser Umgestaltung sieben Millionen Pfund aufgebracht werden. „Trotz der Rezession“, sagt Museumsdirektor und Initiator des Projekts Tim Knox, „sind die Reaktionen auf unsere Fundraising-Bemühungen bisher wunderbar. Das Projekt scheint das Interesse der Menschen tatsächlich geweckt zu haben und zeigt, wie beliebt das Museum wirklich ist.“5 Einen prestigeträchtigen Beitrag leisteten im Jahr 2010 etwa 180 in London arbeitende Künstler und Architekten, die einer „Inspired by Soane“ betitelten Fundraising-Auktion Zeichnungen und Fotografien zur Verfügung stellten. Das Museum wird vollständig restauriert und stellenweise in den im 19. Jahrhundert verlorenen bzw. durch Kriegsschäden 1944 zerstörten Originalzustand zurückgeführt. Direktor Knox meint: „Das ist kein gewöhnlicher Eingriff, unsere Interventionen können mit Mikro-Chirurgie verglichen werden. Das Projekt wird die Reinigung, Restaurierung und Neuaufstellung Hunderter
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dem Staat vermachter Objekte beinhalten. Wir werden die Zimmer und Räumlichkeiten, die Soane entworfen hat, sorgfältig restaurieren, sodass wir sie bald wieder im Bestzustand präsentieren können.“ Mit einem Beispiel für das geringe Maß an Intervention fährt er fort: „Das Soane Museum hat nach wie vor nur einen Eingang, die Haustür. Das bedeutet, dass jeder Besucher das Gefühl hat, ein Privathaus zu betreten. Um ihnen diese Erfahrung nicht zu nehmen, haben wir die Garderobe nach nebenan in das Haus Nr. 12 verlegt, anstatt sie in der Vorhalle unterzubringen. Besucher sollen ihre Mäntel und Taschen im Nebenhaus abgeben und dann zum Haupteingang zurückkommen. Der Besuch des Soane’s Museums beginnt in dem Moment, in dem der Besucher durch die Haustür tritt. Es ist entscheidend, das Haus und seine Atmosphäre genauso zu belassen, wie es war.“ Haus Nr. 14 beherbergt bereits ein neues Studienzentrum, eine Fachbibliothek und ein erweitertes Education Department, entworfen von Julian Harrap Architects. Neue Räumlichkeiten für Büros, Archive und Restaurierungs-Ateliers sollen zu gegebener Zeit hinzukommen. Diese Einrichtungen werden aber in keiner Weise das Museumserlebnis beeinträchtigen, sondern vielmehr den Aufenthalt bereichern. Knox: „Mir war bewusst, dass ich mir alle drei Gebäude als eine Einheit vorstellen musste, um die Integrität des zentralen Hauses zu erhalten. Ich stellte fest, dass, wenn wir die Büros vom obersten Stock des Hauptgebäudes Nr. 13 ins Gebäude Nr. 14 nebenan verlegen, wir Sir John Soanes private Wohnräume dorthin bringen können, wo sie ursprünglich waren. In Folge fingen wir an, nach den Originalmöbeln zu suchen und entdeckten, dass 90 Prozent der in den Inventaren aufgelisteten Objekten immer noch irgendwo im Gebäude waren.“ Die Zimmer, die nun rekonstruiert werden, waren nach Soanes Tod demontiert worden. Der Rekonstruktionsprozess wird dadurch erleichtert, dass es Aquarellskizzen von jedem Raum gibt, die um 1820 von Soanes Architekturstudenten angefertigt wurden, beispielsweise seines Schlaf- und Badezimmers, des Ankleidezimmers seiner Frau und einer kleinen Zelle, die er die Kapelle nannte, den Schrein für seine verstorbene Frau. Dass die Ausstattung jedes Raumes zusätzlich akribisch in Inventarlisten festgehalten wurde, ist eine wertvolle Hilfe bei der originalgetreuen Positionierung der Möbel und Objekte. Trotz ihrer über die Jahre hinweg unterschiedlichen Nutzung bewahrten auch die Nachbarhäuser viel von Soanes individuellem Stil und enthalten noch immer Spuren seines unermüdlichen Strebens, ihr Potenzial zu wecken. Die Rekonstruktion des Modellraums, des legendären Lagers von über 500 Architekturmodellen, ist vielleicht der aufregendste Aspekt des ganzen Bauvorhabens. Derzeit wird die Modellsammlung selbst restauriert. Kurz nach Soanes Tod wurde der Modellraum, mit seinem zweieinhalb Quadratmeter großen Modell von Pompeji im Zentrum abgebaut, um Platz für Büroräume zu schaffen. Dies führte nicht nur zum Verlust einer von Soanes originellsten Inneneinrichtungen, sondern zerstörte auch das Gleichgewicht im Museum, da es das zentrale Thema schwächte, nämlich die Dialektik zwischen gegenwärtigem Verfallszustand und vergangener Perfektion aufzuzeigen. Korkmodelle repräsentieren antike Ruinen und imitieren
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aufgrund und ihrer natürlichen Textur den Zustand der Erosion und Fragmentierung, Gipsmodelle hingegen sollen den Idealzustand darstellen. Modelle von Soanes eigenen Projekten, die sein Bewusstsein um den zukünftigen Verfall seiner Gebäude darstellen, sollen wieder zwischen den vorhandenen Kork- und Gipsmodellen aufgestellt werden. Die Architekten Adam Caruso und Peter St John wurden beauftragt, mit dem Innenausbau der kürzlich neu entstandenen Räumlichkeiten im Haus Nr. 12 zu beginnen, wo eine Garderobe, eine Buchhandlung und eine neue Fläche für Wechselausstellungen geschaffen wird. Der wichtigste Beitrag, den Architekten für die Neugestaltung von Soanes Gebäuden leisten können, kann nur der Respekt vor dem historischen Ensemble und der Bausubstanz sein. Caruso und St John sind sich einig: „Unsere Arbeit soll einen nahtlosen Übergang zwischen Zeichnungen, Objekten, Interpretation, Merchandise-Artikeln und dem ‚Raum‘ leisten. Möbel, Schränke und Wandverkleidungen, die nötig sind um die Zimmer auszustatten, sollen jeweils in Position, Material und Verwendung harmonieren.“6
Kettle‘s Yard – Haus und Galerie Die neun der Universität von Cambridge angeschlossenen Museen sind Zeugnis verschiedenster Stadien der Bildungs- und Kulturgeschichte Großbritanniens. Dazu gehört das Fitzwilliam Museum, errichtet zwischen 1816 und 1848, welches neben dem British Museum als eine der ältesten und wichtigsten Kunstsammlungen der Nation gilt. Sieben weitere kleine Museen, die in die Fakultäten der Universität integriert sind, widmen sich der Archäologie, Anthropologie, Botanik, Zoologie, Geologie, der Wissenschaftsgeschichte und der Polarforschung. Das neunte Museum, das Haus und die Galerie Kettle’s Yard, nimmt im kulturellen Leben der Universität und der Stadt eine Sonderposition ein. Kettle’s Yard, das jüngste der Cambridge Museen, war zwischen 1957 und 1973 das Wohnhaus von Jim und Helen Ede. Die Eigentümer übergaben es 1966 an die Universität von Cambridge. Als ehemaliges Privathaus, wichtige Kunstsammlung und sozialer Mittelpunkt spiegelt das Haus Aspekte des Idealismus des 20. Jahrhunderts, seiner Kunst und seiner intellektuellen und kulturellen Werte wider. Harold Stanley Ede Harold Stanley Ede (1895–1990), genannt „Jim“, wurde in Cardiff, Wales, geboren und besuchte in Cambridge die Schule. Während des Ersten Weltkriegs unterrichtete er als Teil seines Militärdienstes Offizierskadetten am Trinity College. Im Fitzwilliam Museum ging er seinen frühen künstlerischen Interessen nach, später studierte er an der Slade School of Fine Art, London. Im Jahr 1921 arbeitete er als Hausfotograf an der National Gallery in London und blieb gleichzeitig seiner Leidenschaft, der Malerei, treu. Von 1922 bis 1936 war er Assistent des Leiters der Tate Gallery
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Charles Aitken und in dieser Position mit dem Aufbau der zeitgenössischen Sammlung der Galerie beauftragt. Während dieser Zeit freundete er sich mit einer Gruppe britischer Künstler an (darunter Ben und Winifred Nicholson, Christopher Wood und David Jones, Henry Moore und später Barbara Hepworth und dem Emigranten Naum Gabo) und erwarb viele ihrer Werke für seine Sammlung. Ede, der sich selbst nicht als Sammler, sondern eher als „Künstlerfreund“ verstand, reiste für die Tate Gallery häufig von London nach Paris, wo er einige der bedeutendsten Künstler seiner Zeit traf – George Braque, Constantin Brancusi, Marc Chagall, Joan Miró und Pablo Picasso. Entscheidend für Edes Karriere als Kunstwissenschaftler und Sammler war seine Entdeckung des Nachlasses des französischen Bildhauers Henri Gaudier-Brzeska, der eng mit der englischen Futuristengruppe, den Vorticisten, in Kontakt stand, zu der auch der Bildhauer Jacob Epstein, Maler wie Percy Wyndham Lewis und David Bomberg sowie der Autor Ezra Pound zählten. Gaudier fiel 1916 im Alter von nur 23 Jahren an der Westfront. Sein Vermächtnis war bereits nahezu vergessen, als es Ede 1927 mithilfe von Freunden gelang, den Inhalt seines Atelier zu erwerben. Der Ankauf wurde zwischen der Contemporary Art Society, der Tate Gallery und Edes eigener Sammlung aufgeteilt. Edes Buch über Gaudiers Leben und Kunst, Savage Messiah, wurde 1931 erstmals veröffentlicht.7 Es wurde zu einem Bestseller in Großbritannien, Frankreich und den USA und trug maßgeblich zur Entwicklung und Erhaltung des internationalen Rufs des Künstlers bei. 1936 verließ Ede die Tate und zog mit seiner Frau Helen nach Marokko. Sie ließen sich in Tanger nieder, ihr Haus „White Stone“ war immer offen für in Gibraltar stationierte britische Soldaten. Während der 1940er- und 1950er-Jahre unternahm Jim Ede ausgiebige Reisen durch Europa und die USA, hielt Vorträge, sprach in Rundfunksendungen und sammelte Gelder für das Rote Kreuz. 1956 beschloss das Ehepaar Ede nach Großbritannien zurückzukehren und sich in Cambridge niederzulassen. Sie entdeckten vier halbverfallene Häuser am Kettle’s Yard neben der St. Peter’s Church, nahe dem historischen Stadtzentrum. Der Umbau dieser Häuser in ein zusammenhängendes Gebäude wurde vom Architekten Roland Aldridge durchgeführt und 1957 beendet. Jim Edes wollte die Idee eines offenen Hauses, wie sie sich in Tanger bewährt hatte, auch in Cambridge umsetzen. Während seinen Reisen durch die USA besuchte er Institutionen, die als ehemalige Privathäuser testamentarisch Universitäten überlassen worden waren, wie zum Beispiel „Dumbarton Oaks“ oder die „Phillips Memorial Gallery“, beide in Washington, DC. Sein Haus sollte genauso werden, ein offener Ort, an dem sich Studierende aller Disziplinen und Nationen willkommen fühlen. Das Gebäude sollte ein Privathaus bleiben, aber allen zugänglich sein, die Kunst und Musik liebten. Eine noch immer vom Krieg und seinen psychologischen Nachwirkungen belastete Studentengeneration sollte hier, in unmittelbarer Nähe ihrer Universität, einen ruhigen, kultivierten Platz vorfinden. Es sollte, so Ede, „ein lebendiger Ort sein, an dem sich junge Menschen ungehindert von der formalen
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Strenge eines Museums oder einer öffentlichen Kunstgalerie in häuslicher Umgebung an Kunstwerken erfreuen können und an dem eine gewisse Informalität die zugrundeliegende Formalität durchdringen würde.“8 Ede realisierte seine Vision mit großem Engagement und mit Voraussicht. Die sorgfältig eingerichteten Räume mit gescheuerten Böden und weiß gekalkten Wänden boten Flächen und Nischen, um seine Gemälde und Zeichnungen effektvoll zu präsentieren, sowie exklusive Texturen und Oberflächen, um seine Skulpturen, Keramiken, Gläser und Fundstücke wie antike Überreste, Muscheln und Steine von der Seeküste ausbreiten zu können. Seine Komposition der Objekte, mit dem Ziel einer ausgewogenen Beziehung zwischen Objekten, Affinitäten, Proportionen, Nachbarschaften sowie Distanzen, sollte ein harmonisches Gesamterlebnis ermöglichen. Edes Ansatz, Räume zu schaffen, die der Sprache der Kunst Resonanz verschaffen sollten, spiegelt sich auch in seinen Gesprächen mit Winifred Nicholson wider, dieser schrieb er 1954: „Das Bild des heutigen Wohnhauses muss das eines Sicherheitsankers sein, es muss das eines Lichtes der Freude, eine Quelle des Friedens sein [...]. Es sollte wie eine Leiter sein [...] auf der der durchsichtige Gedanke hinauf und weit weg steigen kann und auch wieder hinab und zurück kommt zum heimischen Kaminfeuer.“9 In diesem Geiste gestaltete Ede sein Haus, in dem noch heute in einfachen Räumlichkeiten seine ausgewählten Objekte ausgestellt sind, in einer von ihm angestrebten Harmonie, räumlichen Tiefe und meditativen Ruhe. Diese Räume sind das bleibende Vermächtnis seiner Philosophie und seiner Spiritualität, die stark von christlichen und orientalischen Lehren geprägt war. Kettle’s Yard Kettle’s Yard etablierte sich über die Jahre zu einem urenglischen Erlebnis, in dem Kunst, Musik, Philosophie und Religion zusammenkommen, zu einem Ort, der jeden Besucher auf besondere Art beeinflusst und berührt. Jeden Tag war das Haus nachmittags für Studierende und Lehrende geöffnet. Zudem gab es wöchentliche Musikabende mit bekannten Musikern und Komponisten, etwa jene, die der Komponist Alexander Goehr arrangierte, und auch Abende, an denen gefeierte Solisten wie der Pianist Daniel Barenboim und die Cellistin Jaqueline du Pré auftraten. Es gab Teestunden und Gespräche mit Studierenden, gelegentliche Diskussionen, Vorlesungen und Seminare, die sich mit der Kunst und den Künstlern befassten, die das Haus mit ihrer Energie erfüllten. Regelmäßig verlieh Ede Gemälde und Zeichnungen an Studenten, damit sie für die Dauer eines Semesters von der Schönheit und Kraft originaler Kunst schöpfen konnten. Ben Nicholson und Christopher Wood Zusammentreffen mit Mitgliedern der lokalen Künstlerschaft bereicherten das Leben im Haus. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte in Cambridge ein solcher Ort gefehlt, an dem Studenten die Kunst des 20. Jahrhunderts sehen und erleben konnten. Die
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Wertschätzung der modernen Kunst wurde durch die direkten Begegnungen mit arbeitenden Künstlern, ihren Werken, ihren Techniken und mentalen Prozessen gesteigert. Vor allem die aktive Teilnahme der in Cambridge ansässigen Künstler Cecil Collins und Elisabeth Vellacott war hier besonders wertvoll. Ihre Werke und jene der amerikanischen Künstler William Congdon und Richard Posette-Dart wurden in die Sammlung aufgenommen. Besonders die Vielzahl von Gemälden und Reliefs von Ben Nicholson erlaubte einen umfassenden Überblick über die Karriere und das Repertoire dieses bedeutenden Künstlers: die Landschaften Cornwalls und intimen Stillleben aus den frühen 1920er-Jahren, die schwarzen Bilder der frühen Dreißigerjahre und auch die abstrakten und semiabstrakten Arbeiten der Fünfziger- und frühen Sechzigerjahre. Dank Nicholson und Christopher Wood lernte Ede das Werk zweier Laienmaler, Alfred Wallis und Bryan Pearce, aus Cornwall kennen. Ihr einfacher Stil stand im klaren Gegensatz zu den Meisterwerken von Braque, Brancusi, Miró und Max Ernst. Mit dem Beginn eines allgemeinen internationalen Interesses am Œuvre von Gaudier-Brzeska, das dem Künstler einen Platz in der Geschichte der Avantgarde sicherte, kamen Kunsthistoriker und Museumskuratoren aus ganz Europa, um sich mit den Arbeiten des Künstlers anhand der in Kettle’s Yard aufbewahrten Dokumentation zu befassen. Neue Eigentümer und neue Räume 1966 beschloss Ede, um das Haus und seine Sammlungen zu erhalten und seinen wichtigen sozialen und vermittelnden Funktionen eine gesicherte Zukunft geben zu können, Kettle’s Yard in den Besitz der Universität von Cambridge zu übergeben. Für die nächsten sieben Jahre leitete er das Haus als „ehrenamtlicher Kurator“ und arbeitete unermüdlich an einem modernen Anbau an die Originalhäuser, der Platz für die stetig wachsende Kunstsammlung schaffen sollte, einschließlich Neuerwerbungen von Werken Italo Valentis, Roger Hiltons und William Scotts. Es wurde aufgrund der stetig steigende Besucherzahl dringend notwendig zusätzliche Räume und Einrichtungen sowie eine Kunstbibliothek und einen Musikraum zu schaffen. Die Aufgabe, das ursprüngliche Gebäude zu erweitern, wurde den Architekten Sir Leslie Martin und David Owers übertragen. Der zweigeschossige Neubau wurde im Mai 1970 eröffnet. Die Erweiterung ist im Erd-und Mittelgeschoss mit dem bestehenden Gebäude verbunden. Es gelang erfolgreich, das Neue in das Alte zu integrieren, die Authentizität der Originalvision zu bewahren und zugleich die häusliche Intimität und private Atmosphäre des Haus-Museums zu erhalten. Gleichzeitig erfüllt der Anbau alle notwendigen Anforderungen, und er bietet auch Platz für einen kleinen Büroraum. Ein neues Element kam hinzu: Eine kleine Galerie für Wechselausstellungen aus Edes Sammlung, für die sich im Haus kein Platz mehr fand. Dies war der Beginn eines längerfristigen Plans, der in den folgenden Jahrzehnten Erweiterungen von Kettle’s Yard erlaubte und den Interessensbereich des Hauses in Richtung internationaler Moderne und zeitgenössischer Kunst erweiterte.
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Darüber hinaus wurde ein System für interpretative und pädagogische Aktivitäten entwickelt, das das Konzept des Hauses stärkte, aber nicht grundlegend änderte. Als Jim und Helen Ede sich 1973 nach Edinburgh zurückzogen, wurde die Leitung von Kettle’s Yard im Auftrag der Universität an ein Team von Direktoren und Kuratoren übergeben. Ihr Auftrag war und ist bis heute die Erhaltung der authentischen Struktur des Hauses, seiner Räume, seines Inhaltes und seiner Ausstellungen, im Sinne der ursprünglichen Intentionen des Gründers. In seinem Buch von 1984, A Way of Life, beschrieb Jim Ede seine persönlichen Beweggründe, die zur Entstehung von Kettle’s Yard geführt hatten, untersuchte künftige Möglichkeiten und den fortwährenden Bedarf, Kunst in den Alltag zu integrieren.10 Kettle’s Yard heute Edes Nachfolger bleiben den Ideen des Gründers treu, indem sie das Haus für junge Besucher offen halten, um der Entfaltung ihrer Kreativität und Selbstdarstellung Raum zu geben. Von 1992 bis 2011 wurde Kettle’s Yard von Michael Harrison geleitet, der Ede persönlich kannte. Harrison schafft es, eine Balance zwischen steigenden Besucherzahlen und Beibehaltung der unaufdringlichen, häuslichen Atmosphäre des Museums zu finden: „Jim wollte Kettle’s Yard zu einem Wohnhaus insbesondere für junge Leute machen. Er selbst verstand sich als ein ‚Vortragender auf der Suche nach einem Publikum‘. Er suchte das Gespräch mit Studenten, von denen viele noch im Grundstudium waren und später einen künstlerischen Weg einschlugen. Er wollte, dass seine Besucher sich wohl fühlen, in den Fauteuils sitzend die Bücher aus seiner Bibliothek lesen und seine Sammlung genießen – das ist noch immer die Philosophie des Museums.“ Der Originalbestand des Hauses wird, wie seit jeher, ohne Beschriftungen gezeigt und nur minimal mit künstlichem Licht beleuchtet. Die Kunstobjekte sollen für sich sprechen. Das Konzept des offenen Hauses existiert weiterhin und die Leihsammlung erlaubt es Studierenden noch immer, Kunst als Teil ihres täglichen Lebens zu erfahren. Artists-in-residence wird die Möglichkeit gegeben, spezifische Projekte zu entwickeln und etwaige Interventionen im Haus zu realisieren. Darüber hinaus produzieren Gastkuratoren in den Bereichen der bildenden Kunst und Musik spezielle Ausstellungen und Konzertveranstaltungen. Die kleine, 1970 erbaute Galerie, wurde bereits drei Mal erweitert, zuletzt 1993/1994. Darin wird ein abwechslungsreiches Programm an Gruppen- sowie Einzelausstellungen präsentiert, darunter auch Ausstellungen, die sich thematisch mit Aspekten der Kunst des 20. Jahrhunderts auseinandersetzen, die die Sammlung und Architektur des Hauses reflektieren. Harrison hält fest: „Heute vermittelt Kettle’s Yard zwischen den parallelen Funktionen von Galerie, Museum und Wohnhaus, zwischen Belangen der jüngeren Vergangenheit und der Gegenwart. Das kontinuierliche Bemühen um eine Synthese dieser Ideen wurzelt in Jim Edes ‚harmonisierender Vision‘ und der ständigen Sammlung. Es ist die Vision Edes, gepaart mit seiner Fähigkeit, scheinbar gegensätzliche Objekte und Konzepte in einer stillen, doch energievollen Einheit
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zusammenzubringen, die die Besucher bis hinein ins 21. Jahrhundert weiterhin bereichern wird.“ Nach dem Motto „Kettle’s Yard fertigstellen“ bemüht sich eine Initiative zur Zeit um die endgültige Realisierung von Edes Vision. Viele Jahre des Wartens vergingen bis es Möglichkeit gab, zwei benachbarte Reihenhäuser zu erwerben und genügend finanzielle Mittel zu sammeln, um mit dem Erweiterungsbau zu beginnen. Im letzten Jahrzehnt besuchten pro Jahr über 70 000 Menschen das Haus. „Wir leiden an unserem eigenen Erfolg“, meint Harrison „es ist daher unerlässlich, dass das Ganze funktioniert. Das Schöne an Kettle’s Yard ist ja, dass es ein Ort der Widersprüche ist: Das Haus war einerseits als Zufluchtsort gedacht, andererseits als Ort der Anregungen. Das Haus muss sorgsam bewahrt werden und gleichzeitig wird verlangt, dass es sich weiter entwickeln soll. Es gibt also sehr spannende Widersprüche die zum Weiterdenken einladen.“11 Zwei neue Räume werden gebaut, um die erweiterte Vermittlungsabteilung unterzubringen, die Galerie- und Bibliotheksflächen werden vergrößert und Vortrags- und Seminarräume geschaffen, wo Workshops stattfinden können. Auch ein Leseraum soll entstehen. Ein neues Café soll die Art und Weise verändern, wie Haus und Galerie von Einheimischen genutzt werden können. Vermächtnisse und Schenkungen haben die Sammlung um wichtige Kunstwerke und Dokumente erweitert, für die nun Ausstellungs- und Lagerräume geschaffen werden müssen. Der kanadische Architekt Jamie Fobert wurde damit beauftragt, diese neuen Erweiterungen zu gestalten. Seine Entwürfe wurden ausgewählt, weil sie die Integrität des originalen Kettle’s Yard zu bewahren versprechen und sicherstellen, dass künftige Besucher das Haus und die Galerie in noch größerem Umfang erleben können.
Fazit Die Liebe und Loyalität, die die Öffentlichkeit für diese kleinen Museen hegt, sind Indikatoren dafür, dass sie das richtige Maß gefunden haben. Wie ich aufzuzeigen versuchte, repräsentieren beide Haus-Museen – das Sir John Soane’s Museum sowie Kettle’s Yard – eine lebende Antithese zu jenem radikalen Prozess der Kommerzialisierung, der momentan in einigen der großen Museen Großbritanniens angestrebt wird. Doch es gibt Hoffnung. Eine mutige Initiative des Leiters des British Museum, Neil MacGregor, unterstrich die Tatsache, dass umfangreiche Erweiterungspläne, auch großer Nationalmuseen nicht notwendiger Weise zur totalen Auslieferung an den Populismus führen müssen. In einem gemeinsam mit BBC Radio 4 durchgeführten Projekt präsentierte MacGregor eine Serie von 100 Radiosendungen mit dem Titel A History of the World in 100 Objects.12 In diesen 15-minütigen Sendungen erzählte er Geschichten der menschlichen Entwicklung und Zivilisation beispielhaft anhand von Objekten aus seinem Museum. MacGregor sprach über die verschiedenen Kulturen und die Entstehung der Artefakte, er erörterte die geschichtlichen Zusammenhänge einschließlich deren divergierenden Interpretationen durch zeit-
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genössische Historiker und ihre Vorgänger. Diese Sendungen stießen auf reges Interesse, sie hatten regelmäßig bis zu vier Millionen Zuhörer. Tausende von ihnen kamen ins British Museum, um anhand eines Übersichtsplans die Verwahrungsorte der Objekte aufzuspüren, von denen sie im Radio gehört hatten. Die Radiogespräche bewiesen deutlich die Macht der Objekte und weckten das Bedürfnis einer breiteren Öffentlichkeit, sich den Objekten real zu nähern und ihre Bedeutung persönlich zu erkunden. In Zeiten, in denen wir dachten, wir hätten die Fähigkeit des Staunens verloren, trug MacGregor zur Neubewertung des Museumsobjekts bei. Dafür das Medium des Rundfunks gewählt zu haben, war – wie ich meine – ein Geniestreich: Er projizierte Bilder und Geschichten von den in seiner Obhut befindlichen Objekten in die Fantasie der Hörerschaft und brachte sie dazu, die beschriebenen Objekte mittels ihrer eigenen Vorstellungskraft neu zu schaffen. (Übersetzt aus dem Englischen)
A NMERKUNGEN 1 | Der bedeutende Komplex an Gebäuden, Hallen und Höfen der Bank of England, die das Herzstück von Soanes Œuvre bildeten, wurden in den 1920er-Jahren entfernt, um von neuen, vom Architekten Herbert Baker errichteten Gebäuden ersetzt zu werden. Nur die Außenmauern blieben erhalten. 2 | Nachdem er in Haus Nr. 13 eingezogen war, vermietete er sein ehemaliges Wohnhaus Nr. 12, das bei seinem Tod gemeinsam mit Haus Nr. 13 der Nation vermacht wurde, mit der Intention, die Mieteinnahmen könnten die zukünftige Instandhaltung des Museums finanzieren helfen. Das Haus Nr. 14 wurde zugunsten seines Sohnes verkauft. 3 | John Britton: The union of architecture, sculpture and painting. Exemplified by a series of illustrations, with descriptive accounts of the house and galleries of John Soane, London: 1827. 4 | John Soane: »Crude Hints Towards a History of My Home on L[incoln’s] I[nn] Fields«, in: Visions of Ruin (Transkript des Manuskripts datiert auf 1812), Sir John Soane Museum und Hadderstone Ltd, 1999. 5 | Interview mit Tim Knox, 9. Dezember 2009. 6 | Adam Caruso und Peter St John, Prospectus 2009. 7 | H.S. Ede: Savage Messiah. A Biography of the Sculptor Henri Gaudier-Brzeska, Henry Moore Institute und Kettle’s Yard, 2011. 8 | Jim Ede: Einführung in „Handlist“, Kettle’s Yard, 1970. 9 | Andrew Nicholson (Hg.): Unknown Colour: Paintings, Letters, Writings by Winifred Nicholson, London: 1987, S. 234–235. 10 | H. S. Ede: A Way of Life, Cambridge: 1984.
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11 | Interview mit Michael Harrison, 16. Juni 2011. Sein Nachfolger als Direktor von Kettle’s Yard ist seit Anfang 2012 der Kunsthistoriker und Kurator Andrew Nairne. 12 | Ian MacGregor: A History of the World in 100 Objects, London: 2010.
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Museen der Stadt Bamberg, Sammlung Ludwig. Fayence und Porzellan, Affenkapelle mit 27 Figuren, Meißen, Johann Joachim Kaendler und Peter Reinicke, 1753–1765/66, © Museen der Stadt Bamberg
Weniger ist mehr. Die Neugestaltung der Dauerausstellung „Glanz des Barock. Sammlung Ludwig in Bamberg“, 1995/2005 Regina Hanemann Sich im Porzellanladen richtig zu bewegen, ist eine sprichwörtliche Kunst. Porzellan als Kunst zu präsentieren und nicht wie im Geschirrladen, ist ein noch schwierigeres Unterfangen. Die Wahrnehmung historischer Keramik ist eine heikle Angelegenheit – sie bewegt sich zwischen den Polen der Kennerschaft von Sammlern und Liebhabern auf der einen und der landläufigeren Einstellung gegenüber irdenen Gebrauchsgegenständen sowie „Nippesfiguren“ auf der anderen Seite. Erschwerend kommt hinzu, dass die museale Ausstellung von Porzellan und Fayence eine Herausforderung für die Präsentationstechnik ist. Fingerspitzengefühl verlangt hier nicht nur das fragile Material. Und wenn der für den Porzellanladen zur Verfügung stehende Etat nicht von elefantöser Dimension ist, wird die Gestaltung einer solchen Sammlung zur echten Kunstübung. Von einer solchen Herausforderung, die sich in Bamberg gestellt hat, soll im Folgenden die Rede sein. In der alten Kaiser-, Bischofs- und Residenzstadt mit großer Vergangenheit, viel alter Bausubstanz und hohem Tourismusaufkommen betreibt die Kommune (70 000 Einwohner) die Museen der Stadt Bamberg an drei Standorten. Das zentrale Haus ist das Historische Museum, untergebracht in der Alten Hofhaltung auf dem Domplatz, also im Kerngebiet sowohl der Besiedlung als auch des Fremdenverkehrs. Die Fläche des Museums in der alten Bischofsresidenz erstreckt sich über 4000 Quadratmeter. Die 1838 gegründete „Städtische Kunstund Gemäldesammlung“ heißt heute nach zweimaliger Umbenennung – etwas verwirrend – „Historisches Museum“.1 Ausgestellt sind vor allem Gemälde, außerdem Kunst- und Kulturschätze aller Epochen, summa summarum also ein Gemischtwarenladen mit Schwerpunkt Kunst. Der zweite Standort ist die Stadtgalerie Bamberg – Villa Dessauer. In dem repräsentativen Haus, das im 19. Jahrhundert von jüdischen Hopfenhändlern erbaut worden war, finden ausschließlich Sonderausstellungen – meist zur zeitgenössischen Kunst – statt.
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Das dritte Haus, die Sammlung Ludwig Bamberg, soll hier im Mittelpunkt stehen. In einem pittoresken Barockbau mitten im Fluss, dem Alten Rathaus auf der Oberen Brücke, werden aus dem Besitz von Peter und Irene Ludwig (Aachen) Porzellan und Fayence überwiegend aus Meißen und Straßburg ausgestellt. Das Gebäude, in dem sich das kunstgewerbliche Spezialmuseum befindet, darf man zu den markantesten Fotomotiven des deutschen Städtetourismus zählen. Man ging deshalb bei der Gründung des Museums 1995 davon aus, dass an einem solch attraktiven Standort von den über zwei Millionen Touristen, die jährlich durch die Stadt und zum größten Teil durch den Torbogen dieses Monuments strömen, ein nennenswerter Prozentsatz das Museum besuchen würde. Das allerdings erwies sich als Irrtum – denn eine Porzellan- und Fayencesammlung ist ein Spezialmuseum, das eher von einem Publikum mit speziellem Interesse und Vorbildung betreten wird. Die Sammlung Ludwig zählt 8000 bis 15 000 Besuche im Jahr (nicht eingerechnet die zahlreichen Gäste der Stadt, die zu Empfängen ins Haus kommen). Seit 1999 ist die jetzige Museumsleitung im Amt, ab 2001 konnte sie zusätzlich zur Dauerausstellung im Erdgeschoss und im ersten Obergeschoss auch einen Sonderausstellungsbereich im Flussgeschoss einrichten, von dem weiter unten die Rede sein wird. Das barocke Alte Rathaus und die Sammlung barocker Porzellane und Fayencen von Peter und Irene Ludwig sind heute zu einem einzigartigen Ensemble verschmolzen. Gezeigt werden Geschirre, Vasen, Figuren und Figurengruppen, Schaugerichte, Tischdekorationen aller Art, Terrinen in Tierform, Duftgefäße, also alles, was in der Tischkultur des 18. Jahrhunderts eine Rolle spielte. Neben einer hochbedeutenden Sammlung von Straßburger Fayencen wird vor allem die Entwicklung des Meißner Porzellans dargestellt, vom Böttgersteinzeug über das Böttgerporzellan bis hin zur Entwicklung der Farbglasuren. Es gehören herausragende Figurenensembles dazu, z. B. auch die 27 Figuren zählende berühmte Affenkapelle von J. J. Kaendler, von der noch die Rede sein wird. Dazu kommen vergleichende Exponate aus anderen Porzellanmanufakturen: Hoechst, Fürstenberg, Nymphenburg, Berlin, Frankenthal und vielen anderen. Die Einrichtung des Museums erfolgte durch den damaligen Museumsdirektor Lothar Hennig, von Beruf Architekt. Er entwarf selbst die sogenannten „zeitlosen“ Vitrinen der Firma Schöninger für das Historische Museum und die Sammlung Ludwig. Das Design mit den beschriftbaren Seitenteilen hat sich über die Jahre sehr bewährt, da man die Beschriftungen einfach und kostengünstig austauschen kann. Ein wichtiges Kriterium, wenn – wie bei den Museen der Stadt Bamberg – die Personaldecke dünn ist. Denn es wäre noch euphemistisch, wollte man das wissenschaftliche Personal als unterbesetzt bezeichnen. Es gibt die Museumsdirektorin und ihre Stellvertretung, beides Kunsthistorikerinnen. Ergänzt wird die wissenschaftliche Ebene durch zwei Volontariate. Jährlich werden acht bis zehn Sonderausstellungen in den Museen der Stadt Bamberg durchgeführt, davon eine in der Sammlung Ludwig. Im Jahr 2011 war dies z. B. Von A–Z – Manufakturen von Ansbach bis Zürich aus eigenen Beständen,
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oder 2010 zum Meißen-Jubiläum Im Fokus: 300 Jahre Meißen. Glanzstücke aus der Sammlung Ludwig. Im Obergeschoss befindet sich mit dem Rokokosaal die „gute Stube“ der Stadt Bamberg, zu der die Museumsbesucher Zugang haben, solange keine Empfänge oder Trauungen anstehen. Insgesamt gibt es auf drei Stockwerken rund 600 Quadratmeter Schaufläche. Bis zur Umgestaltung im Jahre 2005 waren sämtliche Leihgaben der Stiftung Ludwig – und damit über 300 Objekte bzw. Objektgruppen (wie Service und Figurenensembles) – ständig ausgestellt. Ästhetisch war die damals vorhandene Ausstellung nicht zufriedenstellend, weil zu viele Objekte sehr gedrängt aufgestellt waren und dies der Schönheit und Kostbarkeit der Objekte nicht angemessen war. Der Sammler Peter Ludwig starb im Jahr 1996 überraschend – kurz nach der Eröffnung des Museums. Seine Frau Irene Ludwig hat danach persönlich stets großen Anteil genommen an der Weiterentwicklung der Präsentation ihrer Sammlung. Sie besuchte Bamberg jährlich ein- oder zweimal, zuletzt im Mai und im September 2010. Gerade an den Porzellangegenständen hingen für sie viele Erinnerungen – vielleicht noch mehr als an Objekten anderer Gattungen aus der riesigen Sammlung, die sie zusammen mit ihrem Mann aufgebaut hatte: Denn vieles stammte aus ihrem Elternhaus in Aachen. Die Familie Monheim war eine alteingesessene Apothekerfamilie und besaß unter anderem eine Schokoladenfabrik (Trumpf Schokolade). Auch gehörten, wie man in den Lebenserinnerungen von Peter Ludwig2 nachlesen kann, die ersten Sammlungsobjekte des Ehepaares dem Bereich Keramik an. So freute sich Irene Ludwig besonders an unserer Neuaufstellung der Meißner Affenkapelle, die hier als erstes Beispiel für die eigentlich einfache, behutsame, aber wirkungsvolle Umgestaltung der gesamten Sammlung stehen soll. Auf dem Polaroidfoto von ca. 1996 sieht man die berühmten Affen mit Musikinstrumenten in der oberen Etage einer ziemlich vollgestopften Vitrine. In der unteren Etage stehen dazu noch unter anderem zwei Figurengruppen, die „Dame mit Mohr“ und der „Entdeckte Liebhaber“. Beide Gruppen gehören zu den Spitzenstücken der Sammlung und waren hier unbefriedigend und beliebig präsentiert; den Wert erkannte nur der Spezialist. Es zeigt sich, dass eine solche Aufstellung von Porzellanfiguren dem nahe kommt, was dem Schreckbild des unentschlossenen Besuchers entspricht: „lauter langweilige Nippes-Figürchen“, von deren Betrachtung er sich keinen Gewinn oder Erkenntniswert verspricht und der deswegen eher nicht bereit ist, dafür auch noch Eintritt zu bezahlen. Ziel einer verbesserten Präsentation ist es, keine Langeweile aufkommen zu lassen und zu zeigen, dass Porzellan etwas sein kann, das sich zu betrachten und zu bewundern lohnt. Dass sich große Themen der Kulturgeschichte für jeden Besucher erzählen lassen – man denke an den Komplex Tee, Kaffee und Schokolade – ist nicht selbstverständlich. Anstoß und Idee zur Umgestaltung gab Professor Dr. Peter Pachnicke, damals tätig in der Ludwiggalerie Schloss Oberhausen. Er schlug eine Ausstellungskooperation der beiden Ludwigmuseen vor, aus der für Bamberg eine einfache, aber doch grundlegende Verbesserung mit geringem finanziellen Mitteleinsatz hervorgehen sollte. Die Umgestaltung erfolgte
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mit den Werkstätten der beiden Museen, in enger Abstimmung mit der Museumsleitung in Bamberg und vor allem mit der in Bamberg für Porzellan zuständigen Kuratorin, Dr. Eva Schurr. Von dieser auf der einen Seite elementaren, auf der anderen Seite aber einfachen Umgestaltung soll nun die Rede sein. Wie schon bei der Dame mit Mohr erwähnt, waren in der alten Präsentation kunst- oder kulturhistorisch besonders bedeutende Objekte oft nicht als solche hervorgehoben und erkennbar. So waren die beiden Straßburger Figuren des Abbé und des Gilles, die – soweit bekannt – als Paar heute einzig in der Sammlung Ludwig erhalten sind, in der oberen Etage einer größeren Vitrine präsentiert: nicht als Solitäre, wie es ihnen zustünde, sondern zusammen mit einer Terrine, zwei Potpourris, einem Schaugericht und anderen Stücken. Auch die sehr seltene schwarz glasierte Böttgersteinzeugvase, ein Objekt der frühsten Meißner Produktionszeit und Zeuge der Experimente mit Glasuren, ist ein solch markantes Stück. Ihre Besonderheit war für den Laien in dieser Aufstellung nicht erkennbar. Darüber hinaus war das in der Ebene darunter stehende braune Böttgersteinzeug mit Goldrand unelegant auf dem grauen Vitrinenboden abgestellt, zum Teil auf unschönen Acrylpodesten. Zum 10-Jahr-Jubiläum der Sammlung Ludwig in Bamberg wurde dann die Neuaufstellung durchgeführt. In Oberhausen wurde die große Ausstellung Welt der Gefäße vorbereitet, zu der viele Bamberger Objekte als Leihgaben erwünscht waren. Die Zeit der Abwesenheit der Objekte sollte in Bamberg praktischerweise für den Umbau genützt werden. Diesen Plan unterstützten sowohl die Stiftung Ludwig als auch Irene Ludwig persönlich; die intensive Kooperation zwischen Bamberg und Oberhausen wurde so finanziert. Zu den Synergieeffekten gehörte auch, dass ein Teil der Sonderausstellung dann als „Jubiläumsbeitrag“ in die neugestalteten Räume nach Bamberg reisen konnte. Das gestalterische Hauptelement der neuen Präsentation ist viel Spiegelfläche. Zwar waren bereits 1995 Spiegel verwendet worden, aber man erzielte damit kaum einen Effekt, da die Spiegel nur gelegentlich als schmale Streifen hinten innen an die Vitrinenrückwand geklebt worden waren. Weiters wurde die Zahl der Objekte in den Vitrinen reduziert und auch die Zahl der Vitrinen selbst. Die lichtdurchfluteten Räume des schmalen Gebäudes kommen damit besser zur Geltung. Zu den Herausforderungen bei der musealen Präsentation gehörte hier nämlich die spezifische stadträumliche Position des Gebäudes: Aus den Fenstern bieten sich spektakuläre Blicke auf die Altstadt und ihre Einbindung in die Flusslandschaft. Der Drang der Besucher zu den Fenstern war also nicht nur zu berücksichtigen, sondern idealerweise auch fruchtbar zu machen. Die Besucher müssen sich durch die neue Auflockerung nun nicht mehr durch eine Vitrinenwand zum Fenster hindurchdrängen. Man kann bei den Führungen sehr gut beobachten, dass die Besucher, wenn sie die Räume betreten, meist zuerst zum Fenster laufen. Zunächst also ist der Ausblick – verständlicherweise – attraktiver als die Ausstellungsstücke. Nach dem Genuss des Fensterblicks drehen sich die Besucher aber wieder um und interessieren sich für die Porzellane.
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Ein schönes Beispiel für die eigentlich sehr einfachen Eingriffe stellt die Aufstellung der Affenkapelle dar, die zu den besonderen Highlights der Sammlung gehört. Sie war immer noch recht lieblos auf dem Glasboden abgestellt, die Acrylpodeste waren ein hilfloser Versuch, die Menge der musizierenden Tiere zu strukturieren. Heute gibt es eine kleine Inszenierung mit einem Orchesterpodest. Die Figurengruppe ist in den Akten der Meißner Manufaktur im Jahr 1753 als „Musikalische Komödie“ verzeichnet. Bereits zu Weihnachten desselben Jahres kaufte die Marquise de Pompadour, porzellanliebende Mätresse Ludwigs XV. von Frankreich, bei einem Kunsthändler in Paris 19 musizierende Affen samt Notenpult. Joachim Kaendler hatte mit diesem Entwurf nicht nur ihren, sondern den Geschmack vieler Porzellanliebhaber getroffen, denn der Affenkapelle war ein so großer Erfolg beschieden, dass die oft benutzten Formen bereits nach zwölf Jahren überarbeitet werden mussten. Ob die musizierenden und singenden Affen eine höfische Satire oder eine Parodie auf ein bestimmtes Dresdner Orchester sein sollten, bleibt Spekulation. Wir haben versucht zu rekonstruieren, wie im 18. Jahrhundert ein solches Orchester aufgestellt gewesen sein könnte und welche Instrumente beieinander gestanden haben könnten. Auch wenn dies nicht eindeutig zu lösen ist, da zum Beispiel die Baßinstrumente fehlen, merken die Besucher der jetzigen Aufstellung an, dass sie wohlüberlegt ist. Vielleicht lässt sich eines Tages der Traum verwirklichen, ein Ensemble dazu zu bringen, in dieser Besetzung in der Sammlung Ludwig ein Konzert zu geben? Zu den Veränderungen gehörte auch, die Objekte jetzt meist statt auf den Boden der Vitrinen direkt auf Spiegel zu stellen; in einigen Räumen wurden raumhohe Spiegelwände vor die Wände gestellt und so die Wirkung eines Spiegelkabinetts erzielt. Es wurde bewusst nicht alles gleich verspiegelt, damit es nicht zu verwirrend wird. Die Spiegelwände können sehr wirkmächtig werden, weswegen darauf geachtet wurde, dass die Vitrinen von der Wand abgerückt sind und auch noch Abstand von den Spiegelwänden haben. Nur in einem einzigen Raum sind die Spiegel schließlich so gestellt, dass unendliche Spiegelungen erzielt werden. Ein Bruch ist darin zu sehen, dass im mittelalterlichen Gebäude des Alten Rathauses die Böden und Wände nicht lotrecht, sondern schief sind, was eine ganz eigene Wirkung hat. Die schönen Ausblicke auf die Altstadt und das Wasser sind Teil der Einrichtung geworden. Die Spiegel haben außerdem den Vorteil, dass man die auf der Porzellanunterseite versteckten Informationen zu sehen bekommt. Man kann die Historie der Objekte als Besucher entdecken – alte Aufkleber, Signaturen und natürlich die eventuell vorhandenen Marken der Manufakturen. Die Marken werden dazu auf den Raumtexten oder im Katalog erläutert. Ein chinesisches Schachspiel, das vorher in einer zugehörigen Lederschachtel einfach ausgebreitet war, wurde aufgestellt. Die Informationen zu diesem besonderen Spiel, dem andere Regeln zugrunde liegen als beim heute gebräuchlichen Schach, ist ein „Hingucker“ für die männlichen Besucher, die es nicht bevorzugt in dieses Museum zieht, sondern die meist im Schlepptau ihrer Partnerinnen kommen: Eine historische Veränderung der Interessen, wenn man
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bedenkt, dass die Sammler und Porzellanfreunde im 18. Jahrhundert fast immer Männer waren, und noch Peter Ludwig in dieser Tradition stand. Didaktisch war die Ausstellung eher unstrukturiert zu nennen, die Beschriftung sehr knapp und wenig informativ. Angegeben war jeweils nur die Inventarnummer und die Kurzbezeichnung des Objekts. Zur Neuordnung gehörte daher eine angemessene Beschriftung der ganzen Sammlung Ludwig – ein Thema aus dem Museumsalltag, das Bücher füllt und wohl nie zu Ende diskutiert sein wird. Zwei Texthierarchien wurden für notwendig erachtet: Die höhere Ebene besteht aus allgemein gehaltenen und thematisch übergeordneten Texten, die auf grafisch ansprechend gestaltete Wandfahnen gedruckt sind. Hier werden die Besonderheiten der Porzellane und Fayence erläutert, z. B. „Vom Kaolin zur Kaffeekanne. Wie Porzellan entsteht“ oder „Böttgersteinzeug. Der lange Weg zum Porzellan“. Die textilen Wandfahnen können bei Bedarf ohne zu hohen finanziellen Aufwand ausgetauscht werden. Im unteren Bereich jeder Fahne gibt es einen kurzen englischen Text. Die niedrigere Textebene bilden die Objektbeschriftungen, die sich auf Papier gedruckt in den auskragenden Seitenteilen der Vitrinen unter Acrylglas befinden. Hier wurde jetzt deutlich mehr Information hinterlegt, als das vorher der Fall war. Beispielsweise kann auch die Grundinformation über eine kleine und nur einmal in der Sammlung vertretene Manufaktur hier untergebracht sein. Vorher waren diese Informationen nur in einem 2001 herausgegebenen Kurzführer erhältlich, da grundlegende und präzise Informationen über die Manufakturen und zur Technik der Porzellanherstellung von Laien und Fachpublikum eingefordert wurden. 2010 wurde der Sammlungskatalog völlig überarbeitet und neu herausgegeben. Für die Umgestaltung wurden finanzielle Mittel in der Höhe von insgesamt rund 20 000 Euro verwendet; enthalten sind darin die Spiegelfachböden in den Vitrinen sowie der komplette Einbau der Spiegelwände durch externe Schreiner, mit Schalungswand, Montage und Transporten. Ein Beispiel, wie mit relativ geringem, aber sehr gezieltem Geldeinsatz ein wirkungsvoller Effekt erreicht werden konnte. Einige Jahre später erfolgte im Wechselausstellungsbereich ein weiterer Umbau, der ebenfalls zum Thema „weniger ist mehr“ passt. Die Sonderausstellungsfläche im Flussgeschoss (zur Oberen Brücke ist es ein Kellergeschoss, zur Unteren Brücke ebenerdig) ist mit eigenem Eingang nutzbar. Dort wurden Vitrinen aus der alten Dauerausstellung im Historischen Museum aufgefrischt und wieder eingesetzt. Es ist also durchaus von Vorteil, wenn man mehrere Museen hat. Diese eigentlich nicht unattraktiven Vitrinen, von denen niemand im Museum mehr zu sagen wusste, wann sie angeschafft worden waren, standen seit über zehn Jahren in einem Lagerraum; zum Wegwerfen oder Wegschenken zu schade. Ein schon gut abgelagerter Werbebrief einer Firma aus Leipzig, die vor Jahren ein Angebot gemacht hatte, dass sie alte Vitrinen recycelt, kam zur rechten Zeit wieder aufs Tapet. Mit der Firma „museal“ war somit ein idealer Partner gefunden, die alten Hahn-Vitrinen des Historischen Museums wieder „aufzumöbeln“. Als es an die Detailplanung ging, stellten die Techniker aus Leipzig erstaunt fest, dass sie eine Zement-Verkittung, wie sie diese
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Vitrinen hatten, entweder noch gar nicht gesehen hätten oder die Älteren zuletzt in ihrer Lehrzeit. Daraus konnte man schließen, dass die Vitrinen mindestens 30 Jahre alt und zu ihrer Zeit sehr teuer gewesen sein mussten. Die Mechanik der Schiebetür wurde als noch sehr gut beurteilt, sodass sich nach 30 Jahren die teure Anschaffung der Vorgänger für die Stadt Bamberg noch einmal bezahlt machte. Eine komplette Überarbeitung – neue Lackierung, Verglasung, neue Glastablare, Beleuchtung, Schließanlage, neue Hängevorrichtung für die neuen Tablare – für insgesamt 13 Vitrinen belief sich auf rund 30 000 Euro, also pro Stück unter 2500 Euro. Dies ist günstig in Anbetracht der Größe und Qualität. Mit der Umgestaltung einher ging auch eine Belebung und Steigerung der Attraktivität des Museums: So gibt es Mitnehmtexte in vielen Sprachen, Schulführungen und die Möglichkeit, Kindergeburtstage als höfisches Fest im Museum zu feiern. Insgesamt ist die Verbindung zwischen alter und neuer Präsentation gelungen. Die Entscheidungen haben die Museumsdirektorin und die zuständige Wissenschaftlerin gemeinsam getroffen; der externe Partner mit dem Blick von außen inspirierte uns. Was noch fehlt, sind ein Audioguide, deutsch und fremdsprachig, und eine Medienstation zum Thema Porzellanherstellung. Ansonsten können und sollen unsere Exponate einfach für sich selbst sprechen. Beweis genug sind die Auszüge aus dem Gästebuch: „Danke für die Präsentation, in der die Exponate gut zur Geltung kommen“, „fantastic exhibit – the mirrors help to see all the pieces, thank you for the excellent displaying “, „Die Ausstellung hat mich sehr beeindruckt, vor allem die Art der Präsentation, nicht zu dicht gedrängt, erlaubt genauere Betrachtung“, „complimenti per la dimensione otistica“, und „Eine gut dargestellte Präsentation interessanter Objekte“. Der Besucher nimmt die behutsamen Umgestaltungen also wahr und weiß sie zu würdigen – was will man mehr in einem Porzellanladen, dem man ohne elefantöse finanzielle Mittel zu größerer Attraktivität zu verhelfen versucht hat.
A NMERKUNGEN 1 | Regina Hanemann: »Nomen est omen. Der Museumsname als Problem für die Sammlungskonzeption«, in: museum heute 34 (2008), S. 18–24. 2 | Peter Ludwig: Offener Blick. Über Kunst und Politik, Regensburg: 1995, S. 46.
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Vom Landesmuseum zum TECHNOSEUM – mehr als ein neuer Name! Thomas Herzig
Start des TECHNOSEUMs 2010 Seit dem 1. Januar 2010 heißt das frühere Landesmuseum für Technik und Arbeit (LTA) in Mannheim TECHNOSEUM. Der Name verbindet die Begriffe Technologie und Museum und steht programmatisch für die Aufgabenstellungen des Hauses: Das TECHNOSEUM macht in unserer immer komplexer gewordenen Welt technische Entwicklungen verständlich und veranschaulicht ihren Einfluss auf die Lebens- und Arbeitsbedingungen der Menschen. Dabei werden Chancen und Risiken aufgezeigt sowie Gegenwartsprobleme und Zukunftsfragen diskutiert.1 Zehn Tage lang hatte die Bevölkerung der Metropolregion Rhein-Neckar Gelegenheit, das neue TECHNOSEUM kostenlos kennenzulernen. Das alte Jahr 2009 war mit rund 143 000 Besuchen zu Ende gegangen, zwölf Monate später, Ende 2010, waren es 50 000 Besuche mehr, etwa 195 000 – eine Steigerung um 35 Prozent. Was bedeutete dieser Erfolg des TECHNOSEUMs: „Neuer Wein in alten Schläuchen“ oder ein Erfolg dank grundlegender struktureller Veränderungen? Ein Blick zurück erklärt, warum nach relativ kurzer Zeit seit Eröffnung des Museums im Jahr 1990 eine grundlegende Überarbeitung und Erweiterung der Dauerausstellung vonnöten war.
Rückblick: Der Weg zum Landesmuseum für Technik und Arbeit 1980–1990 Die Konzeption des damaligen Landesmuseums basierte auf einem parlamentarischen Beschluss. Der Landtag von Baden-Württemberg legte 1980 fest: Nicht nur die südwestdeutsche Technikgeschichte sollte exemplarisch dargestellt, sondern auch die Verflechtungen von Technik, Arbeit und Gesellschaft sollten verfolgt und anschaulich präsentiert werden. Wo immer möglich galt es, Maschinen oder Objekte
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aus der Arbeits- und Alltagswelt nicht einzeln für sich, sondern in Form von Ensembles zu zeigen. Arbeitsabläufe waren anhand der Arbeitsmittel zu präsentieren, ebenso auch historische Wohn- und Arbeitssituationen, um die Wechselwirkungen von Sozial- und Technikgeschichte zu verdeutlichen. Angestrebt war nicht ein Haus wie das Deutsche Museum, in dem entsprechend dem Untertitel „Meisterwerke der Naturwissenschaften und Technik“ präsentiert werden. Auch hatte das damalige LTA – im Gegensatz etwa zum Technischen Museum Wien – keine lange Sammlungstradition, deshalb galt es neue Wege zu beschreiten. 1982/83 ging nach einem Wettbewerb die Berliner Architektin Ingeborg Kuhler mit einem architektonisch anspruchsvollen Gebäude als Siegerin hervor. Gewünscht hatten sich die Museumsleute seinerzeit zwar einen Flachbau, um vor allem die schweren Objekte eines Technikmuseums statisch besser planen zu können, durchgesetzt hatte sich aber Ingeborg Kuhler mit einem Hochbau, der städtebaulich besser in das Stadtbild von Mannheim passte. 1985 wurde aus der bisherigen Behörde eine Stiftung des öffentlichen Rechts, getragen zu zwei Dritteln vom Land Baden-Württemberg und einem Drittel von der Stadt Mannheim. Das Land übernahm die gesamten Bau- und Einrichtungskosten bis zum Eröffnungszeitpunkt, die Stadt stellte das Grundstück zur Verfügung. Insgesamt erforderte das Museum 135 Millionen DM für den Bau, hinzu kamen 25 Millionen DM für die innere Fertigstellung. Insgesamt standen im Ausstellungshaus 15 000 Quadratmeter zur Verfügung, davon war etwa die Hälfte für die Dauerausstellung nutzbar. Die restlichen Flächen bilden sechs markante Rampen – die auch das Signet des Hauses darstellen –, sowie weitere Verkehrsflächen auf den sechs Ebenen. Der idealtypische Rundgang durch das Museum war in einer Raum-Zeit-Spirale geplant: Chronologisch sollten alle Regionen und alle wichtigen Wirtschaftsbranchen von Baden-Württemberg abgebildet werden. Dies funktionierte nur bedingt, die wichtige Region Bodensee-Oberschwaben etwa fällt inhaltlich im Museumsrundgang zurück. Andererseits hat sich der chronologische Rundgang als Orientierung für die Besucher bestens bewährt, er ist der „rote Faden“. Themenschwerpunkte sind je nach Bedeutung für die Industrialisierung des Landes verschiedene Zeiträume und Regionen sowie herausgehobene Branchen, die idealtypischerweise die Geschichte Südwestdeutschlands geprägt haben: Automobilbau, Papier- und Textilindustrie, Maschinenbau, Energie- und Elektrotechnik.
Das Museumswunder von Mannheim? 1990–1996 Am 28. September 1990 wurde das LTA eröffnet als eines der herausragenden Häuser in Europa zur Darstellung von Technik- und Sozialgeschichte im Industriezeitalter. Die überregionale Presse, wie etwa die FAZ, berichtete vom „Museumswunder von Mannheim“.2 Damit spielte man auf die außergewöhnliche Architektur an und erwähnte den Museumsneubau in einem Atemzug mit der Erweiterung der
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Stuttgarter Staatsgalerie durch James Sterling oder mit dem Frankfurter Museum für Kunsthandwerk des Architekten Richard Meier. Stellvertretend sei ferner Manfred Sack aus der ZEIT zitiert: „Von allen Kunst- und Geschichtsbewahrstätten des letzten Jahrzehnts ist es das ungewöhnlichste, das couragierteste, auch das an Gedankenarbeit reichste […]. Es wäre ein würdiger Schlusspunkt im Museumsbau – wenn es so etwas gäbe.“3 Die Nutzer des Museums folgten allerdings bald der Kritik eines Berufskollegen von Architektin Ingeborg Kuhler, die sinngemäß lautete: Ein großer Wurf – mit tausend Mängeln im Detail.4 Gelobt wurde seinerzeit aber auch die besondere Art der Vermittlung: In einem Rundgang durch die Geschichte der Industrialisierung wurden die Auswirkungen technischer Erneuerungen auf Leben und Arbeit dargestellt – unterstützt durch die kontextuelle Einbindung der Exponate in Inszenierungen und vermittelt durch zahlreiche Vorführstationen mit Arbeit an historischen Maschinen. Einzigartig in Kontinentaleuropa präsentierte sich das LTA als das Museum, in dem man die Geschichte der Industrialisierung idealtypisch unter einem Dach erfahren konnte – ein Alleinstellungsmerkmal. Neben der erwähnten Raum-Zeit-Spirale ist das zweite Standbein des Museums der Vorführbetrieb. Techniker erläutern den Besuchern nicht nur die Funktionsweise und den Betrieb alter Maschinen und Anlagen, sondern geben auch vertiefende Informationen zu den Arbeitsbedingungen. Eines der schönsten Ensembles behandelt die Textilindustrie „Vom Hausgewerbe zur Textilfabrik: Lebens- und Arbeitsbedingungen in der südbadischen Spinnerei und Weberei nach 1835.“ Die Textilindustrie war in jedem Industrialisierungsprozess, der bislang weltweit stattgefunden hat, der Leading Sector, der den Durchbruch zum Industrieland ermöglichte. Die einleitende Abbildung zeigt eine Haus-in-HausKonstruktion auf drei Ebenen, die auch historisch-chronologisch zu interpretieren ist: Auf der obersten Ebene sehen wir die bescheidenen Anfänge im 19. Jahrhundert des Familienbetriebes als Handweber, etwas Landwirtschaft und Fischfang trugen zur Existenz bei; auf der mittleren Ebene hat die inzwischen eingerichtete mechanische Weberei bescheidenen Wohlstand gebracht, repräsentiert durch ein kleines Büro und eine Wohnzimmerinszenierung; im unteren Bereich steht das Maschinenensemble aus sieben Webstühlen und einigen Spulmaschinen für die seit 1876 eingerichteten Arbeitsplätze in der Textilindustrie. Bis 1982 arbeitete und lebte die Familie fast wie vor 100 Jahren unter einem Dach. Die Dominanz der Architektur zog aber auch Vorgaben an Innengestaltung und grafische Umsetzung nach sich. Die gesamte Inneneinrichtung musste mithilfe von Sekundärstrukturen, wie etwa dem beispielhaft gezeigten Einbau der mechanischen Weberei Elzach, strukturiert werden, als architektonische Vorgabe mit einem Mindestabstand zum Bau, also zur Primärstruktur. Bei der grafischen Umsetzung galt, dass Schnittbilder etc. zur Veranschaulichung nur zweidimensional dargestellt wurden. Das hatte bei komplexen technischen Objekten, wie einer FrancisTurbine, Verständnisprobleme beim Betrachter zur Folge. Hier wurde durch Funktionsmodelle mittlerweile Abhilfe geschaffen. Eine weitere Schwierigkeit lag
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darin, dass das Museum als Tageslichtmuseum von allen Seiten der Sonneneinstrahlung ausgesetzt war. Das brachte Probleme für empfindliche Objekte aus Holz oder Leder, aber auch Schwierigkeiten, mithilfe von gerichtetem Licht über Spots die gewünschten Beleuchtungssituationen zu schaffen. Ein Defizit bedeutete auch das Fehlen einer adäquaten Wechselausstellungsfläche. Anfangs waren nur knapp 200 Quadratmeter für Sonderausstellungen vorgesehen, die Fläche lag noch dazu mitten in der Dauerausstellung ohne Absperrmöglichkeiten beim Auf- und Umbau. Der Museumstrend ging aber zu mehr Sonderausstellungen. Folglich wurde 1994 die Sonderausstellungsfläche um 250 auf 450 Quadratmeter unter Aufgabe eines weniger attraktiven Teils der Dauerausstellung erweitert. Die Ausweitung der Sonderausstellungsaktivitäten ist aber teuer und personalintensiv. Zudem erwies sich der neugeschaffene Platz als immer noch zu gering, weshalb zusätzlich eine der genannten sechs Rampen als inhaltliche Zuführung für die jeweilige Sonderausstellung einbezogen wurde. Gravierender Nachteil: Der chronologische Besucherrundgang durch das Haus von oben nach unten wurde zerschnitten. Ein hehres Ziel war schon 1990 ausgegeben worden: Die 16 Ausstellungseinheiten der Dauerausstellung sollten spätestens alle sieben Jahre komplett umgebaut werden, gelungen ist dies nur bei zwei Ausstellungseinheiten. Aus heutiger Sicht versank die Dauerausstellung nach der Eröffnung in eine Art Dornröschenschlaf, obwohl doch die Ziele hoch gesteckt waren. Die Folge: Entgegen manchen Erwartungen vor der Eröffnung von bis zu einer halben Million Besucher pro Jahr zog das Haus in den Folgejahren rund 200 000 Besucher jährlich an, das öffentliche Interesse bröckelte zunehmend.
Event lebt? 1997–2001 Ab 1996 wurde das Haus organisatorisch neu strukturiert in Richtung stärkerer Kundenorientierung und mehr Außenrepräsentationen, Sonderausstellungen mit ausführlichen Rahmenprogrammen und vielen Vortragsveranstaltungen. Eine neue Abteilung Kommunikationsdienste vermarktete das Landesmuseum offensiv als Veranstaltungsort: So wurde „Jazz in der Montagehalle“ initiiert, eigentlich ein Ort für die Restaurierung von Großobjekten, Zuarbeit von Sonderausstellungen usw. Zur Vorbereitung der eigentlichen Jazz-Konzerte waren jeweils rund 10 Mann für eine Woche im Einsatz zur Aus- und Einräumung für die rund 250 Zuhörer – nach fünf Veranstaltungen endete dieses Experiment aus ökonomischen Gründen. Das LTA zeigte durchaus erfolgreiche Sonderausstellungen wie etwa eine Ausstellung zur Bionik (1998), insgesamt aber präsentierte das Museum zu viele Ausstellungen an externen Orten. So kamen im Jahr 2001 rund 190 000 Besucher in das Stammhaus, extern waren es fast 280 000. Doch der Glanz noch so guter Ausstellungen, an fremdem Ort gezeigt, strahlt kaum auf das eigene Haus zurück.
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Er bringt sicherlich in der Fachwelt Renommee, aber keine neuen Besucher für die eigenen Angebote. Ein Ausnahmezustand war 1997/98 die Präsentation der Ausstellung Körperwelten – Einblicke in den menschlichen Körper. Knapp 800 000 Besucher kamen in vier Monaten in das Museum, bis dahin die bestbesuchte Sonderausstellung in Deutschland. Zum Schluss herrschte Tag- und Nachtbetrieb, ein Rundfunksender berichtete live, das Haus aber verschmutzte, Böden und Wände waren danach sanierungsbedürftig. Das Presse-Echo war zwar national wie international hervorragend, vielleicht auch, weil die Ausstellung in Gesellschaft und Politik sehr umstritten war; so sprachen sich die Kirchen gegen einen Besuch aus, was noch mehr Publicity brachte. Die politische „Strafe“ kam bald: Im Folgejahr nach der Ausstellung wurden über 1,5 Millionen DM von den Mehreinnahmen über eine globale Minderausgabe zurück an die Träger des Museums transferiert. Die Dauerausstellung erfuhr in dieser Zeit einen absoluten Stillstand, es gab keinerlei Investitionen für Veränderungen mehr. So fehlten beispielsweise Anpassungen an das neue Rezeptionsverhalten, viele Texte, etwa historische Quellen, waren zu lang, Filme nicht neuen Sehgewohnheiten angepasst; zudem schliefen die Sammlungsaktivitäten völlig ein. Auch der inhaltliche Druck auf das Museum wuchs: Vor dem Hintergrund des gesellschaftlich beklagten Mangels an Nachwuchs im naturwissenschaftlich-technischen Bereich wurde dem Museum vorgeworfen, dass es zu „sozialgeschichtlich“ sei und mehr Anstrengungen hin zur Technik und deren Verständnis erwartet würden.
Krisenjahre und Neustart mit der Elementa 2002–2005 Die Zeit nach 2002, als der langjährige Gründungsdirektor in den Ruhestand ging, war von mehrfachen Leitungswechseln geprägt. Die äußeren Bedingungen waren schwierig: Stagnierende bzw. sinkende finanzielle Zuweisungen, steigende Sanierungs- und Baulasten für das Museumsgebäude, die Besuchszahlen der Dauerausstellung fielen deutlich unter 100 000. Nachdem Ende 2003 der zwischenzeitliche Leiter das Museum verließ, geriet das LTA endgültig in die Krise. Die Träger des Hauses, voran das Finanzministerium, erwogen eine Schließung und dienten das Gebäude mehrfach Science Centern zur Nutzung an. Doch das Museum schaffte eine Neukonzeption aus eigener Kraft: Der seinerzeitige kommissarische Direktor – ein fachfremder früherer Kanzler der Universität Karlsruhe, also Verwaltungsfachmann – stellte entscheidende Weichen für die weitere Entwicklung. Eine Arbeitsgruppe aus Vertretern der zuständigen Landesministerien und der Stadt Mannheim sollte ein Konzept für die künftige Finanz- und Rahmenbedingungen des Museums erarbeiten. Der kommissarische Leiter führte zahlreiche Gespräche mit den Museumsmitarbeitern, den Stiftungsträgern sowie mit dem Museumsverein und analysierte den Sachstand. Eine der ersten Maßnahmen war die Entscheidung für eine Neuausrichtung der Dauerausstellung mit folgenden Zielen:
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Exponate mit interaktiven Experimentierstationen verbinden Vermittlung von naturwissenschaftlichem und technischem Grundwissen zu den Museumsobjekten und zu den Grundlagen der Industrialisierung als Wurzeln unseres Wohlstands Rundgang zur Industrialisierung integriert in eine naturwissenschaftlich orientierte Versuchslandschaft Umwandlung der Dauerausstellung von einer historischen Schaubühne in einen Ort experimenteller Erfahrung Neugierde auf die „Wunder der Technik“ und Interesse an Zukunftsentwicklungen wecken
Vorangegangen waren Besuche verschiedener Science Center und Informationsgespräche mit deren Betreibern. Letztere bestärkten das LTA darin, sich nicht zu einem reinen Science Center zu wandeln, sondern die klassischen Exponate des Museums mit interaktiven Experimentierstationen zu verbinden, um den Besuchern naturwissenschaftliches und technisches Grundwissen zu den Museumsobjekten und den Grundlagen der Industrialisierung zu vermitteln. In den seit der Eröffnung gezeigten Rundgang zur Technik-, Wirtschafts- und Sozialgeschichte wurde eine naturwissenschaftlich orientierte Versuchslandschaft entsprechend den o. a. Zielsetzungen eingebunden. Mit diesen Experimentierfeldern sollten erlebnispädagogische Komponenten in die Dauerausstellung eingebracht werden, die geeignet waren, die Funktion des Landesmuseums als außerschulischen Ort lebenslangen Lernens in Kooperation mit dem Schulbereich entscheidend zu stärken. Eine entscheidende Voraussetzung für diesen Neuanfang war die Verhinderung eines teuren, von außen übergestülpten Konzepts. Erst die Neukonzeption als eigenständige Leistung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Hauses ermöglichte schier Unglaubliches: Die Umsetzung – eigentlich unter Umgehung der Konzeptphase – begann Ende 2003, die Realisierung erfolgte in weniger als einem halben Jahr. Als Teil der Dauerausstellung veranschaulicht die im Mai 2004 eröffnete Elementa 1: Zukunftswerkstatt 1800 bahnbrechende Erkenntnisse aus Naturwissenschaften und Technik zu Beginn der Industriellen Revolution. Im Unterschied zum Science Center wird aber, wo immer möglich, das Experiment in Bezug zu einem historischen Exponat gestellt. So wird der bisher schon bestehende Tretkran zwar weiterhin im Vorführbetrieb präsentiert, aber ergänzt durch Experimente zum Flaschenzug, durch Modelle und Abbildungen historischer Krananlagen sowie für die kleinen Museumsbesucher durch einen Kinderkran, in dem spielerisch Hebearbeiten nachvollzogen werden können. Im Jahr 2005 folgte die Elementa 2: Zukunftswerkstatt 1900 mit Experimenten zur Hochindustrialisierung wie etwa Thermodynamik, Elektrizität, Aerodynamik, Kommunikation, Psychotechnik und anderen Themen. Auch hier werden nicht nur die naturwissenschaftlichen und technischen Grundlagen gezeigt, sondern auch, zu welchen praktischen Nutzen diese führten: Etwa in der industriellen Anwendung oder im alltäglichen Gebrauch – all
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dies steht im Mittelpunkt der Elementa. Innerhalb von zwei Jahren konnten dank Elementa 1 und 2 die Besuchszahlen um über 60 000 gesteigert werden: Die Öffentlichkeit hatte das Museum wieder angenommen. Elementa 1 bis 3 liegen folgende Anforderungen zugrunde: Die Experimente und Anordnungen dürfen nicht zu komplex und zu anspruchsvoll sein, sonst sind sie zu anfällig im Alltagsbetrieb und benötigen zu viel Betreuungskapazität. Die Ausführung ist – da Teil der Dauerausstellung – sehr robust, um Wartungskosten zu reduzieren. Die Versuche sind grundsätzlich mit tutorieller Betreuung versehen, aber nicht zu jedem Versuch wird ein Tutor gestellt. Denn: Versuche müssen selbsterklärend sein, nach kurzer Zeit soll den Besuchern klar sein, um was es geht, sonst verlieren sie ein weitergehendes Interesse am Experiment. Wichtig ist auch, je mehr man sich Gegenwarts- und Zukunftstechnologien nähert, die Grenzen der Veranschaulichung von Grundlagenwissen zu beachten, problematisch etwa sind Black-Box-Versuche oder mechanische Analogien. Der Umgang mit Medienstationen erfolgt sparsam, Interaktionen sollen nicht per Knopfdruck oder Mausklick möglich sein, was jeder für sich zu Hause bewerkstelligen kann. Wichtiger ist es, auf die Anwendungen in der Alltagswelt einzugehen. Zur zusätzlichen Information werden alle Experimente als Download zur Vor- und Nachbereitung zur Verfügung gestellt. Erklärt wird nicht nur wie etwas funktioniert, sondern auch das „Woher und Wozu“, das heißt historische Zusammenhänge, die industrielle Anwendung oder der alltägliche Nutzen werden erläutert. Ferner wird für Lehrkräfte ein zusätzliches Schulheft kostenlos angeboten.5
Exkurs: Bauliche Sanierung 2006–2009 Nachdem die Erfolge von Elementa 1 und 2 die Öffentlichkeit und vor allem die Politik zufriedengestellt hatten, folgte Mitte 2005 ein Ministerratsbeschluss: Das Land Baden-Württemberg und die Stadt Mannheim stellten rund zwölf Millionen Euro zur baulichen Sanierung und zur Schaffung einer neuen, vergrößerten Sonderausstellungsfläche zur Verfügung. Auch wenn mit Rücksicht auf die Architektur die dringend gebotene Verschattung der weitflächigen Glasfassaden von innen statt von außen erfolgte, gelang es, eine deutliche Reduzierung der direkten Sonneneinstrahlung zu erreichen. Verbesserte Fenster bedeuten im Winterhalbjahr zudem eine Energieeinsparung. Die neue Sonderausstellungsfläche – Gesamtkosten: vier Millionen Euro – wurde zu etwa 50 Prozent über Spenden, die der Förderverein des Museums eingeworben hatte, finanziert. Der Haken oder besser Skandal an diesem „Finanzierungsmodell“: Das Museum muss, um die als zinsloses Darlehen zur Verfügung gestellte Bausumme zurückzahlen zu können, 30 Stellen reduzieren: Das Budget bleibt gedeckelt, aber der Abbau von 100 auf 70 Vollzeitäquivalente hat harte Einschnitte für den Museumsbetrieb nach sich gezogen.
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Mit dem TECHNOSEUM in die Zukunft Der neue Name steht, wie eingangs erwähnt, für die inhaltliche Neuausrichtung seit 2004. Aus einem eher beschaulichen historischen Museum zur Darstellung der Sozial- und Technikgeschichte wurde ein interaktives Haus, in dem nach Herzenslust experimentiert und spielerisch gelernt werden kann. In Abgrenzung zu Science Centern steht das Experiment, wo immer möglich, in kontextualem Bezug zu den authentischen Objekten. So ist es gelungen, den Anteil der Dauerausstellungsbesucher mittlerweile auf zwei Drittel zu steigern, die Sonderausstellungen machen den Rest aus – der Anteil letzterer dürfte sich aber wieder erhöhen, denn während der baulichen Sanierung fanden keine Sonderausstellungen statt. Hinsichtlich der Besucherstruktur stellen Schüler etwa ein Drittel, ebenso Familien, der Rest verteilt sich auf sonstige Besucher. Die Einführung der Elementa 1 wurde zeitlich rasch vollzogen, weshalb Fehler korrigiert werden mussten: Die Eingangssituation des historischen Rundganges wurde neu gestaltet, heute werden die Besucher auf die Elementa 1 aus historischer Perspektive zugeführt. Sie betreten die Dauerausstellung in der letzten Phase vor der Industrialisierung im 18. Jahrhundert und bewegen sich aus dem „hölzernen Zeitalter“ in das „Theatrum Machinarum Novum“, in die Welt der mechanischen Künste. Die Elementa wurden mehrfach evaluiert, die Handreichungen überarbeitet und entschlackt. Es hatte sich beispielsweise herausgestellt, dass die Darlegung ausführlicher technischer Formeln die Laienbesucher überfordert, während sie für Fachleute selbstverständlich sind. Die sinnvolle Verbindung von Experiment und Exponat wird auch zunehmend in die historische Dauerausstellung integriert, indem historische Objekte durch interaktive Experimente ergänzt werden, um deren Funktion besser verstehen zu können. Das erfolgreiche Konzept der interaktiven Experimente wurde aber auch auf Sonderausstellungen übertragen, etwa 2005/06 bei Einstein begreifen – durchaus wörtlich gemeint –, bei der großen Landesausstellung Abenteuer Raumfahrt: Aufbruch ins Weltall, 2006/07, bei Macht Musik oder zuletzt bei Nano! Nutzen und Visionen einer neuen Technologie. Am Ende des Rundgangs durch die Geschichte der Industrialisierung, im Anschluss an die Fläche mit Themen des 20. Jahrhunderts und der Gegenwart, werden mit der Elementa 3: Zukunftswerkstatt 2000 seit Mai 2011 Ausblicke auf Tendenzen und Möglichkeiten der künftigen wissenschafts- und technologiebasierten Gestaltung unserer Lebens- und Arbeitswelt gegeben. Das Motto lautet: Zukunft geschieht nicht einfach so, Zukunft wird von uns selbst gemacht! Die Akteure sind wir – ob wir uns dessen immer bewusst sind oder nicht. Die Elementa 3 will das Bewusstsein hierfür schärfen, will Zusammenhänge aufzeigen, Neugier wecken, will anregen, neue Ideen zu entwickeln und auszuprobieren. Im Mittelpunkt des knapp 700 Quadratmeter neuen Experimentierfeldes mit ca. 30 interaktiven Stationen stehen Technologien, die heute aktuell sind und die weitere Entwicklung des 21. Jahrhunderts prägen werden. Dazu gehören unter
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anderem die Materialforschung, die Energie- und Umwelttechnik sowie Fertigung und Robotik. Auch die immer zahlreicheren Schnittstellen zwischen Mensch und Maschine sowie die Unterschiede zwischen den menschlichen Sinnen und technischen Sensoren werden in den Fokus genommen. Auf dem Gebiet der Materialien etwa gelingt es durch Nano- und Biotechnologie, Materie auf der molekularen und atomaren Ebene gezielt zu beeinflussen und so Eigenschaften bewusst anzuwenden, oft mit verblüffenden Ergebnissen. In der Energie- und der Umwelttechnik stehen wir vor der Aufgabe, die natürlichen Ressourcen nachhaltig zu nutzen und durch regenerative Verfahren zu schonen. Ein Beispiel ist ein Demonstrationsmodell, in dem unsere künftige Energieversorgung simuliert wird – ganz ohne Kernkraft und Kohle. Notwendig hierzu sind sogenannte „Smart Grids“, also intelligente Vernetzungssysteme, die beispielsweise Wasserkraft aus Norwegen und aus den Alpen dann zur Verfügung stellen, wenn die eigenen Ressourcen aus lokaler Windkraft, Wasserkraft, geothermischer Energie oder auch Biomasse nicht ausreichend sind und auch keine zusätzliche Sonnenergie aus Nordafrika (Projekt Desertec) zur Verfügung steht. Wir haben uns bei der gestalterischen Umsetzung bewusst auf eine „grüne Zukunftstechnik“ festgelegt: Die Wände vermitteln den Eindruck von Strukturen einer Halbleiterplatine, aber auch eines Bambuswaldes oder ähnlicher natürlicher Strukturen: Wir haben es in der Hand, die Zukunft selbst zu gestalten. Vom Landesmuseum zum TECHNOSEUM – mehr als ein neuer Name: Nachdem zwischen 2006 und 2010 auch die baulichen Probleme des Hauses in einer grundlegenden Sanierung behoben werden konnten, steht das TECHNOSEUM inhaltlich gerüstet für künftige Anforderungen in einem Umfeld zunehmender konkurrierender Freizeiteinrichtungen und besinnt sich dennoch seiner Wurzeln, der Idee eines historischen Museums zur Darstellung der Technik- und Sozialgeschichte Südwestdeutschlands.
A NMERKUNGEN 1 | Der Beitrag basiert auf der nachstehend aufgeführten Literatur zum Museum sowie vor allem auf den langjährigen Erfahrungen des Autors aufgrund seiner Tätigkeit am Landesmuseum Mannheim/TECHNOSEUM seit dem 1. April 1987. 2 | Michael Mönninger: »Tempel für die menschliche Arbeit. Der Glücksfall von Mannheim: Zur Eröffnung des Landesmuseums für Technik und Arbeit«, in: FAZ (28.09.1990). 3 | Die Zeit (19.10.1990). 4 | Amber Sayha: »Landesmuseum für Technik und Arbeit in Mannheim«, in: Bauwelt 42/43 (1990), S. 2134. 5 | http://www.technoseum.de/schulen/unterrichtsmaterial (30.06.2011).
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Volkskundemuseum am Universalmuseum Joanneum, Graz, Figurinen des Trachtensaals, Montage. Foto: UMJ/N. Lackner
Kann eine heilige Kuh sprechen lernen? Szenarien zum steirischen Trachtensaal im Grazer Volkskundemuseum und die kulturwissenschaftliche Pflicht, Dinge beim Namen zu nennen Eva Kreissl
Er hat das Zeug zur Polarisierung, der Trachtensaal im Grazer Volkskundemuseum.1 Acht gewaltige Vitrinen, die zu ihrer Zeit mit ihrer Monumentalität und Sachlichkeit State of the Art waren und damals dem Rest des Museums eine Ahnung von Moderne verliehen, sind in dem langen, schmalen Raum in Reihe ausgerichtet. Ihre Zeit, das war 1938. Um jede gibt es Platz, sie zu umrunden und von allen Seiten hineinzuschauen. Aus den Vitrinen hinaus starren 42 handgeschnitzte Figurinen gefasst ins Leere. Sie wurden in uneinheitlicher, mal sehr feiner, meist aber grobtechnischer Manier von den beiden Künstlern Alexander Silveri (1910–1986) und Hans Mauracher (1885–1957) geschaffen und niemand kann heute noch exakt ausmachen, welche Figurine welchem Künstler zuzuordnen ist. Ihre hölzernen Körper sind mit Gewändern umhüllt. Um die geht es hier in diesem Saal. Er gehört zu den bedeutenden Hinterlassenschaften Viktor Gerambs (1884–1958), der nicht nur das Volkskundemuseum 1913 gründete, sondern auch Österreichs erster Professor dieses Fachs an der Universität Graz war. Grundlage dieses Saals war das zweibändige Steirische Trachtenbuch,2 das Geramb 1932 aus Vorarbeiten seines Freundes, des volkskundlichen Privatforschers Konrad Mautner, herausgab und das heute noch als unumstößliche „Bibel“ in allen trachtlichen Authentizitätsfragen gilt. Dem Trachtensaal gab Viktor Geramb die Funktion eines Lehr- und Studiensaals, in dem die Ergebnisse seiner und Mautners Arbeit reale Gestalt annahmen, als eine Art autochthoner Genealogie der steirischen Tracht von der Hallstattzeit bis zum Ende des 19. Jahrhunderts. Er benutzte bildliche Vorlagen – seien dies römerzeitliche Grabsteine, Skizzen von Moorfunden, Buchillustrationen, Kirchenmalereien, Votivbilder oder die Werke der Kammermaler Erzherzog Johanns – und ließ die darauf abgebildete Kleidung penibel genau nachschneidern. Je näher seine
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Entwicklungsgeschichte an die Gegenwart rückte, konnte er auch originales Material in die Präsentation einflechten, wie das Lodengewand eines alten Mannes aus Weißenkirchen in der Obersteiermark, von dessen ehemaligem Besitzer, dem „alten Eibensteiner“, Geramb sich gar ein Foto besorgte, dem dann die Züge der Figurine nachempfunden wurden.3 Doch Geramb hatte nicht nur die Rekonstruktion von Tracht im Sinn: „Die Volkstracht ist meistens entweder bereits dahin oder doch im Verschwinden begriffen. Das ist nicht nur vom heimatlichen und ästhetischen Standpunkt aus zu beklagen, sondern auch in völkisch-sittlicher Beziehung bedenklich. Das Vordringen der Kultur, das auf der einen Seite dem Menschen so viele Vorteile schaffte, hat in dieser Richtung entschieden eine schädigende Wirkung. Das alte, bodenständige, das farbkräftige Volkstum wird gleichgehobelt, grau und nichtssagend gemacht, nicht nur in der Tracht, sondern in allem. Das ist die schlimmste Art der Entnationalisierung, weil sie nicht an den Rändern, sondern in der Wurzel des Volkstums frißt. Die sorgfältige Neubelebung, und wo dies fruchtlos wäre, doch die Sammlung und das Studium der alten Volkstracht ist deshalb von mehr als bloß musealem Standpunkte aus notwendig.“4 Er sah neben vielen weiteren volksbildnerischen Aufgaben vor allem die Trachtenpflege als seine Pflicht im Sinne der von ihm vertretenen angewandten Volkskunde und bemühte sich zeitlebens, den Menschen das Tragen echter Tracht, wie sie auf steirischem Boden entstanden war, wieder ans Herz zu legen. Diese Kleidung sollte, befreit sowohl von bürgerlich-modischen Einflüssen als auch von den überbordenden trachtlichen Fantasien der volkstümelnden Vereine, die um die Jahrhundertwende wie Pilze aus dem Boden geschossen waren, das schlichte, ländliche Bewusstsein der Steirerin und des Steirers ausdrücken. Den deutschnationalen Impetus, der eingrenzt, um auszugrenzen, der Eigenheiten konstruiert sowie genealogisch belegen und ein vor jeglicher Dynamik beschütztes Gesellschaftsbild bewahren will, fand Geramb bei seinem großen Vorbild Wilhelm Heinrich Riehl (1823–1897). Der hessische Journalist und Kulturhistoriker, dessen Studien zur „Gesittung“ des deutschen Volkes die Begründung der Volkskunde als Wissenschaft in Deutschland beflügelt hatten, sah im Bauernstand, dem sich Viktor Geramb auch biografisch verbunden fühlte, die heilende Kraft der Gesellschaft – und beide meinten natürlich den Deutschen Bauern mit seinem „geistigen Habitus des ‚volkhaften Menschen‘“.5 Der verehrte Riehl formulierte das Programm: „Der Bauer hat in unserem Vaterlande eine politische Bedeutung wie in keinem anderen Lande Europas; der Bauer ist die Zukunft der deutschen Nation.“6 Im ideologischen Rucksack des Trachtensaals steckt noch ein weiteres erklärtes Vorbild Viktor Gerambs. Denn im Grunde war wohl Erzherzog Johann (1782–1859) der erste Trachtenforscher der Steiermark, oder vielmehr ließ er forschen. Im Zuge seiner statistischen und topografischen Erhebungen, die der aufgeklärte Habsburger in der ganzen Steiermark anstellen ließ, schickte er im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts auch seine Kammermaler durch die gesamte Steiermark oder ließ sich von ihnen bei seinen Wanderungen und Streifzügen, auf denen er Land und Leute
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kennenlernen wollte, begleiten. Er beauftragte sie, nicht nur die landschaftliche Schönheit seines Herrschaftsgebietes, sondern auch dessen Bewohner mit ihren Gebräuchen festzuhalten. Neben Jakob Gauermann und Matthäus Loder war es vor allem Karl Ruß, der die einfachen Menschen in ihrer Alltags- oder Festtagskleidung porträtierte und in detailreichen, wunderschönen Aquarellen wie Thalhamerin, Wirtin aus Kallwang, Bauernbursche aus Veitsch um 1810 oder Oststeirische Bauern um 1820 nach lebenden Modellen abbildete. Einige dieser Werke befinden sich am Universalmuseum Joanneum, die meisten gehören nach wie vor zum Familienbesitz Meran. Doch nicht alleine die enzyklopädische Neugier trieb Erzherzog Johann an, das Kleidungsgebaren der Bevölkerung, dessen Vielfalt und landschaftliche Typik abbilden zu lassen. Denn so sehr er sich auf wirtschaftlichem Gebiet bemühte, den Fortschritt in die grüne Mark zu tragen, rationellere Methoden in Landwirtschaft, Bergbau und Eisenverarbeitung (mit allen sozialen Folgen, die eine industrielle Produktionsweise nach sich zieht) zu schaffen, so sehr orientierte er sich auf kulturellem Gebiet an traditionellen Werten und bemühte sich in volksbildnerischem Eifer, den Menschen einen Lebens- (und Kleidungs-)Stil wieder nahe zu bringen, dessen realem ökonomischen Nährboden er gleichzeitig die Grundlage entzog. Sich selbst inszenierte er als Vorbild einer noblen Schlichtheit, mit der ein Großteil der Steirerinnen und Steirer weder wirtschaftlich noch geistig mithalten konnte: „Der graue Rock, von manchen verkannt, von den Besseren erkannt, wurde ein Ehrenrock und ich ziehe ihn nicht mehr aus, ebenso wenig weiche ich von meiner Einfachheit, lieber gebe ich mein Leben hin.“7 So spricht jemand, der zu viel vom Zuviel hat und sich die Einfachheit aussuchen kann. Der regional und sozial identifizierbare Kleidungsstil der Tracht, wie ihn Geramb später rekonstruieren sollte, verdankt sich jedoch zum einen einem ständischen Gesellschaftsprinzip, einer wahrnehmbaren ökonomischen Rückständigkeit und zudem einer gewissen Abgeschiedenheit von kulturell und sozial fremden Einflüssen, also allesamt Bedingungen, die Erzherzog Johann als liberaler Industriegründer abschaffen wollte. Damit übte er jene geistige Turnübung der aufgeklärten Romantik für die Steiermark ein – den Spagat zwischen einer modernistischen realen Wirtschaftsentwicklung und einem traditionalistischen kulturellen Überbau –, die bis heute mentale akrobatische Höchstleistungen von jenen erfordert, die sich individuell nostalgisch oder behördlich verordnet zur Pflege von Äußerlichkeiten einer Volkskultur anschicken, deren Untergang bereits Erzherzog Johann gleichermaßen befürchtete wie antrieb. Viktor Geramb nahm diesen Faden wieder auf: „Wenn unter ‚Romantik‘ das verstanden wird, was sie im tiefsten Grunde ihres Wesens wirklich gewesen ist, ein Abhorchen des Herzschlages unseres Volkes, ein Heimfliegen des Geistes in die Gründe primärer Unverblümtheit, dann können wir diesen ‚Rückfall‘ nur aus ganzem Herzen segnen!“8 (Spät-)romantisches Empfinden ließ Geramb auch bei der stilistischen Orientierung des Volkskundemuseums walten. Beeinflusst vom königlich bayerischen Generalkonservator Georg Hager wollte er „nicht die üblichen, auf die Dauer eben
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durch ihre Gleichmäßigkeit langweiligen Museumsvitrinen“ benützen, sondern Schaukästen „dem Raumgeist entsprechend“ gestalten. Dies war ein für die damalige Zeit sehr fortschrittlicher museologischer Ansatz, da versucht wurde, die in Museen weithin verbreitete ‚sterile‘ Aufschichtung von Objekten, wodurch eine Musealie eher aus ihrem ursprünglichen, bäuerlichen, ‚vormusealen‘ Kontext herausgerissen erscheint, zu vermeiden.“9 Daher ließ er bei der ersten Einrichtung des Museums ab dem Jahre 1913 wo immer Vitrinen unvermeidbar waren, diese nach dem Vorbild bäuerlichen Mobiliars anfertigen und mit floralem Dekor bemalen. Als er 1938 jedoch den Trachtensaal der Schausammlung hinzufügte, möblierte er diesen im Stil der Neuen Sachlichkeit, um darin seine Theorie einer archaischen Urtracht und die Beispiele echter steirischer Tracht zu präsentieren – schließlich sah er seinen Trachtensaal als Lehrsammlung. Doch er vernachlässigte, dass Räume auch dann eine Stimmung haben, wenn diese nicht inszeniert wird. Nach einigen Änderungen und Erweiterungen, die hier vernachlässigt werden können, wurde im Jahre 2003 das Museum nach einer 17-jährigen Schließzeit und einem Totalumbau in architektonisch puristischem, mit viel Stahl und Glas versehenem Glanz wieder eröffnet, der die Schausammlung des Hauses in ein zeitgemäßes Licht hüllen sollte. Der Trachtensaal aber trat dabei eine Rückwärtsbewegung10 an. Museumsgestalter Dieter Bogner definierte ihn als Museum im Museum und gemeinsam mit den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Hauses versuchte er, ihn so weit wie möglich an seinen Urzustand aus dem Jahre 1938 zurückzuführen. Diese Idee war nicht vollständig umzusetzen, da der zwischenzeitlich etwas laxe Umgang mit konservatorisch günstigen Voraussetzungen einigen Objekten ein Leben in präsentabler Würde gekostet hatte. Doch im Großen und Ganzen findet man den Kern des Trachtensaals heute wieder so vor, wie Viktor Geramb ihn einst konzipiert hatte. Vor dem Betreten des Saals über eine mit Glas umhüllte Brücke, die in luftiger Höhe den Hof des Museums überspannt, wird das Publikum kursorisch in die Phasen des Umgangs mit Tracht im 19. und frühen 20. Jahrhundert eingeführt, die Geramb dazu veranlasst hatten, seine ausgedehnten Studien zur Rekonstruktion eines echten, von alters her überlieferten und allen modischen Auswüchsen entgegenzuhaltenden Bekleidungsstils der ländlichen Bevölkerung in Angriff zu nehmen. Daran schließt sich ein interner Szenendiskurs, belegt durch einige Dirndln, Broschüren und Materialien aus der Trachtenerneuerungsbewegung, an, der ab den späten 1950er-Jahren mit Lichtbildvorträgen und Kursen das Bewusstsein für die „richtige“ Tracht nach zentral bestimmten Richtlinien verbreiten sollte. Im Trachtensaal selbst wird dann seitlich in einem kurzen Statement, doch für aufmerksame Besucherinnen und Besucher durchaus wahrnehmbar, erläutert, dass es sich um eine Rekonstruktion als museologisches Zeitzeugnis handelt und auch auf die Bildhauer der Figurinen, Alexander Silveri und Hans Mauracher, hingewiesen. Verlässt man den Saal wieder, wird die Vorgehensweise Viktor Gerambs zur Rekonstruktion von Tracht skizziert und einige Exemplare rezenter Kleidungsstücke der steirischen Landbevölkerung sowie Versandhauskataloge und die Videoimpression
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„Sonntag auf dem Land“ weisen darauf hin, dass auch heute – und immer häufiger – Verstöße gegen die Geramb’schen Trachtenregeln zu orten sind. Der Film ist entwaffnend ehrlich: Er zeigt Menschen beim sonntäglichen Kirchgang, einige tragen irgendetwas Trachtiges, die meisten nicht. Ob manche der Damen in Schürze und Puffärmeln oder vereinzelt Herren mit den dunkelgrünen Stehkrägen am blassgrünen Rock nun etwas „Echtes“ oder „Richtiges“ tragen oder nicht, vermögen Laien – selbst wenn sie sich zuvor lange im Trachtensaal aufgehalten haben – nicht einzuschätzen. Die gefilmten Menschen jedenfalls sind alle irgendwie halbwegs sonntäglich gekleidet und scheinen insgesamt auf das Trachtenvermächtnis des Viktor Geramb zu pfeifen. Doch wozu tut sich erst ein vom restlichen Museum abgehobener Tempel der Tracht auf, wenn kurz darauf dokumentiert wird, dass ohnehin die meisten vom Glauben an ein Reglement der historisch verbrieften Trachtenschneiderkunst abgefallen sind? Diesen Widerspruch verstehen viele Besucher/innen ebenso wenig wie die bewusste Aufnahme eines Altbestandes in die Neuaufstellung mit seiner statischen Festschreibung eines archaischen Kleidungsstils, mit der
Volkskundemuseum am Universalmuseum Joanneum, Graz, Blick in eine Vitrine des Trachtensaals, Foto: UMJ/N. Lackner
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zumindest befremdlich wirkenden physiognomischen Sprache der Figurinen und unzeitgemäßen Vermittlungsmedien (handgeschriebene Täfelchen in Fraktur) – vor allem wenn sie keine Führung durch das Haus in Anspruch nehmen. Auch das interne Ringen verschiedener Strömungen und Haltungen innerhalb der Zunft der Trachtentragenden und Trachtenverbreitenden in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg wird nur ohnehin eingeweihten Trachtenkennern nachvollziehbar. So beschloss im Frühjahr 2010 die Geschäftsführung des Universalmuseums Joanneum ein neues Konzept für das Thema Kleidung und Tracht von der Sammlungsleiterin Roswitha Orac-Stipperger und mir als Ausstellungskuratorin erarbeiten zu lassen – das dann aus finanziellen Gründen bislang nicht umgesetzt werden konnte. Und so scheidet der Trachtensaal bis heute die Geister. Die einen sehen in dem Saal ein zeithistorisches Dokument, das es um jeden Preis zu bewahren gilt und nicht einer gerade aktuellen museologischen Strömung geopfert werden sollte. Diese, quer durch alle weltanschaulichen Lager formierten, wissenschaftlich angeleiteten Befürworter/innen des rekonstruierten Trachtensaals werden von kundigen Praktikerinnen und Praktikern unterstützt, die hier nach wie vor Vorbild und Motivation suchen, um der Spur Gerambs folgend eine Durchdringung der steirischen Bekleidungsweisen mit echter, authentischer Tracht zu befördern. Manche räumen ein, man könne freilich den zeithistorischen Kontext im räumlichen Vorfeld noch etwas stärker herausarbeiten, andere finden, dass die Person Viktor Gerambs noch stärker ins Licht gerückt werden solle. Der Grundtenor aber lautet: Der Trachtensaal muss bleiben – und das unabhängig davon, wie oft die Vertreter/innen dieser Ansicht wirklich ihren Fuß in den Saal setzen. Andere Meinungen formen sich vorwiegend im Feld jener, die nicht mit Tracht und der Existenz des Trachtensaals quasi aufgewachsen sind und ihn erst kennenlernen, wenn sie darin stehen, sein Wesen also nur durch seine Erscheinung erfassen können. Im frischen Eindruck vom Trachtensaal eröffnet sich nämlich eine andere Perspektive: Die Gravität und Grenzen deklarierenden Vitrinenschreine, die starren Figurinen, die – wohlmeinend interpretiert – ein ähnliches Wollen dokumentieren, wie etwa Albin Egger-Lienz es in seinen sozialkritischen, wohl auch oft missverstandenen, monumentalen Werken ausgedrückt hat. Doch sei es ihrer hölzernen Materialität, ihrer alles andere als zurückhaltenden Nicht-Präsenz als Kleiderständer, ihrer vielmehr dominanten eigenen Aussagekraft oder der dokumentierten Einflussnahme Gerambs auf den künstlerischen Schaffensprozess geschuldet, aus welchem Grund auch immer – die Figurinen wirken mit ihren grob geformten Zügen, mit ihren unnatürlichen Proportionen, vor allem mit ihren riesigen Händen, auf manche regelrecht gespenstisch. Der Eindruck trügt nicht: Hans Mauracher, einer der beiden Bildhauer, schuf in den Jahren nach Einrichtung des Trachtensaal weitere Skulpturen, die wie aus dem Trachtensaal ausgeborgt wirken, nur tragen sie nun nationalsozialistische Hoheitszeichen.11 Eine in Aussicht gestellte Umgestaltung wirft die Frage auf, für wen denn der Trachtensaal eigentlich da ist. Wem soll er was sagen? Jenen, die in ihm die Herleitung
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eines wie immer gearteten Gefühls von heimischer Verortung sehen, jenen, die auch die unliebsamen Zeugnisse der österreichischen Geschichte ausgestellt wissen wollen, eingefleischten Spezialisten und Volkskundlern auf dem aktuellen Stand der Trachtenforschung oder jenen, die sich sozial, historisch oder geografisch ohne Traditionsanbindung oder Vorwissen dem Phänomen Tracht nähern wollen? Unser Konzept geht davon aus, dass ein Volkskundemusem den unterschiedlichsten Rezipienten etwas mitteilen können muss – wenn auch nicht allen alles – und dass der Trachtensaal einer mehrstimmigen Befragung nicht standhält. Denn auch die Konzeption aus dem Jahre 2003 bietet nicht viel mehr als eine trachtengeschichtliche Chronologie, die eine mittlerweile zweihundertjährige Wirkungsgeschichte der Tracht seit ihrer Entdeckung als bewusst aufgenommener Kleidungsstil bestenfalls notlichtartig illuminiert, doch sicher nicht erhellt. Ein Volkskundemuseum kann es sich heute nicht mehr leisten, das Thema Tracht aufzugreifen und dabei eine angeblich „echte“ Tracht, die rekonstruiert, gepflegt oder missachtet werden kann, unkommentiert zu protokollieren. „Die ‚reine‘ (Volks)-Tracht hat es nie gegeben, vielmehr hatte der Begriff von Anbeginn seiner modernen Karriere an sehr unterschiedliche – doch zusammengehörige – Phänomene zu bezeichnen, ein Gewirr aus Bildern, Zeichen und Ideen.“12 Daher galt es, einen Entwurf vorzustellen, der den Trachtensaal zwar als Meilenstein der volkskundlichen Betrachtung ausweist, aber weder als ihren Höhe- noch als ihren Schlusspunkt. Seine Historizität sollte als geschichtliche Etappe mit Vergänglichkeitswert dargestellt werden und nicht als Denkmal. Er sollte markanter Teil einer Entwicklungslinie werden, der von der Entdeckung der Tracht zu Beginn des 19. Jahrhunderts bis zu ihren verschiedenen Ausformungen im Jahre 2010 reicht – nicht weniger und nicht mehr. Das neue Konzept will kleidungsgeschichtliche Entwicklungen nicht vernachlässigen, im Gegenteil: Ein Exkurs auf Materialien und Techniken sollte den bislang alleine auf Formen eingestellten Blick erweitern. Nicht dass es heute von lebenswichtiger Bedeutung wäre, Abaschten oder Rupfen zu kennen, schweres Tuch von leichtem Loden unterscheiden zu können oder zu wissen, wie man ein Froschgoscherl gleichmäßig hinbekommt. Viel solchen Wissens vergammelt in ländlichen Heimatmuseen als Botschaft eines besseren Lebens. Doch schiebt man die sozialromantischen Bewertungen einer je nach weltanschaulicher Richtung guten oder auch schlechten alten Zeit beiseite, vergisst am besten gleich auch ihren Missbrauch als penibler Ge- und Verbotskanon der moderneren Volkskultur, dann lässt solches Umgangswissen seine Schlaglichter auf Lebensweisen und Mentalitäten werfen und kann als Kulturtechnik die Verwobenheit von Lebensentwurf und materialer Textur dechiffrieren. Auch historische Produktions- und Vertriebsformen sollten nicht länger ausgeblendet bleiben, sondern können etwa auf ihre wirtschaftshistorischen, biografischen und kommunikativen Funktionen abgeklopft werden, die freilich ein anderes Bild auf die ländliche Kultur werfen, die wesentlich durchlässiger sowohl für sozial als auch geografisch entfernte kulturelle Einflüsse war, als sich das die Festlegung auf die aus Einzelfunden konstruierte Typik von Trachtenregionen gedacht hätte.
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„Ethnologische Wissenschaften [stellen] nicht mehr wertende Echtheitsfragen, sondern suchen Formen historischer Lebenswirklichkeiten in den Blick zu bekommen.“13 In diesem Sinne sieht das neue Konzept vor, nach dem erweiterten kulturhistorischen Blick auf das ländliche Kleidungswesen, mit einer Reihe von Themeninseln den immanenten Trachtendiskurs zu verlassen und „Blicke auf die Tracht“ zu werfen, also sowohl kulturanthropologische Deutungen und Hintergründe freizulegen als auch Funktionalisierungen und Instrumentalisierungen der Tracht bis heute zu beleuchten und dabei durchaus über die Steiermark hinaus zu blicken. Augenfällig ist die politische Dimension der Tracht. Denn seit Tracht thematisiert wird, ist sie politisch konnotiert. So legten auch die Wittelsbacher in Bayern Tracht an, um sich volksnah zu zeigen und nutzten Trachtenpflege bewusst zur Stabilisierung ihres Staatswesens und eines monarchisch orientierten Nationalbewusstseins nach den modernistischen Einflüssen Napoleons.14 Daher sind die Bemühungen Erzherzog Johanns, die großen Trachtenumzüge vom späten 19. Jahrhundert bis weit ins 20. ahrhundert hinein (noch einmal aufgenommen im großen Erzherzog-Johann-Jahr anlässlich seines hundertsten Todestages im Jahre 1959) und auch die volksbildnerische Trachtenerneuerung Viktor Gerambs nicht singulär zu betrachten, sondern sie repräsentieren ein vergleichbares Phänomen, sobald man auf die Kombination von Nationalbewusstsein und schöner, bäuerlicher Landschaft trifft. Bis heute ist Selbstversicherung durch Tracht ein politisches Motiv, das im schlachtenbummelartigen Event „Aufsteirern“ seit einigen Jahren zu den unumstrittenen volkskulturellen Highlights der Landeshauptstadt Graz zählt. Es wurde zwar von dem FPÖ-Politiker Leopold Schöggl initiiert, der sich ansonsten um die Förderung der steirischen Industrie im Bereich der Nanotechnolgie verdient gemacht hat (die Parallele zum Spagat im Engagement Erzherzog Johanns drängt sich da regelrecht auf), doch unterstützen alle großen politischen Parteien dieses steirische Kostümspektakel in seltener Einhelligkeit und schätzen dieses steirische Wir-Gefühl der verkleideten Massen. Die weitaus ältere und opulentere Parallele Oktoberfest braucht man hier nur als Stichwort zu erwähnen. Brenzlig werden die Fragen zur politischen Dimension der Tracht allerdings bei ihrer Rolle im Dritten Reich. Dazu sei angemerkt, dass Konrad Mautner der Sohn jüdischer Großindustrieller war, der sein Leben der Förderung von steirischem Liedgut und Tracht widmete und neben den Arbeiten zum Trachtenbuch auch eine Liedgutsammlung, das „Steyerische Raspelwerk“, herausgegeben hatte. Er starb 1924 jung an Krebs und musste nicht mehr erleben, dass ihm das Tragen von Tracht verboten wurde. Sein älterer Bruder Stephan hingegen war davon wie Tausende andere Juden betroffen und wurde 1944 in Auschwitz ermordet.15 Trachtenkultur ist ein Produkt des fremden Blicks. Sie entstand bei der Entdeckung von Sehnsuchtslandschaften durch zunächst aristokratische und bürgerliche, oft jüdische Feriengäste, die im differenziellen Abstand der Lebensweise in den Bergen zur eigenen Wirklichkeit das Bild eines besseren Lebens im wahrsten Sinne dingfest machen konnten. Erzherzog Johann verkörperte die gelebte Kritik am
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imperialen Prunk seiner Familie, seine Tante Marie Antoinette tröstete sich über ihr Unglück am französischen Hof mit ihrem dörflichen Weiler Hameau de la Reine, in das sie sich zurückziehen und als alpine Schäferin verkleiden konnte. Auch Konrad Mautner, der mehr musisch interessierte Geschäftsführer eines gewaltigen Textilkonzerns mit Tausenden einfachen Menschen als Arbeiterinnen und Arbeitern quer über die Monarchie verstreut – 1500 von ihnen wurden später als „Die Arbeitslosen von Mariental“ berühmt –, verbrachte seine Zeit lieber in der Gesellschaft der einfachen bäuerlichen Menschen im Ausseer Land. „Er sprach ihre Mundart genau wie sie selbst, er trug ihre Tracht, er ‚jagerte‘, fischte, fuhr ‚Plätten‘ und Holzschlitten wie sie, er sang und ‚jagizte‘, tanzte, ‚paschte‘, liebte, rauchte und arbeitete mit ihnen und wie sie.“16 So prominente Bewunderer der eigenen Kultur färben das Selbstbild und treiben zurück in die trachtlichen Hüllen, die man ohne jene beinah schon aufgegeben hätte. Außer den hier angeführten Förderern der Tracht wären bei einer Neuaufstellung noch weitere Personen und Institutionen, wie das von Viktor Geramb gegründete und seit 1979 selbstständige Heimatwerk als Kongregation für die Trachtenlehre zu beleuchten, die oft gerambscher waren als Geramb selbst. Und schön ist es ja, das Trachtengewand, selbst viele Stücke ohne Echtheitsgarantie. Kaum jemand vermag sich seinem ästhetischen Reiz zu entziehen. Das neue Konzept erlaubt sich jedoch auch einen Blick auf die Frage, was das „Schöne“ an der Tracht denn ausmacht. Ist es die Ästhetisierung des Ländlichen mit blitzweißen Blusen und zünftigen Lederranzen? Ist es die geschlechtliche Akzentuierung, die Taillen konturiert, Busen emporwölbt, Waden geschickt umstrickt, Hosenlätze auffällig bestickt und auch in ihrer Materialität der aktuellen Hinwendung zum Androgynen Widerstand leistet? Ist es der Schein der Solidität einer stabilen Genderordnung, die sich im Ästhetischen niederschlägt? Werden archetypische Muster zum Klingen gebracht, wenn gebauschte Kittel die Hüften umschwingen und genageltes Schuhwerk den Schritt fest wirken lassen? Zumindest aber erlaubt Tracht allen Altersgruppen die Betonung von Geschlechtsunterschieden und -merkmalen. Sie bietet dem körperlichen Verfall zumindest im modischen Signal Einhalt. Eine Seniorin kann den gleichen Leibkittel tragen wie ein junges Mädchen, ohne belustigende Blicke für eine vergeblich beschworene Jugendlichkeit einzufangen. Ein Männerrock kann ohne Statusverluste in der Peergroup vom Großvater auf den Enkel vererbt werden. Die Tracht macht aus einem Körper eine Figur. Deren Silhouette – das gilt jedenfalls für die süddeutschen und ostalpinen Trachten – stellt eine historische Momentaufnahme im Zusammenwirken von Mode und Tracht dar, an deren Bedeutung noch ebenso wenige Fragen gestellt wurden, wie an die Zeichenhaftigkeit von Dekor und Performanz der Tracht. Diese und weitere Fragen wie die nach Einfluss und Bedeutung der wohltätigen Trachtenvereine auf das Leben der Landbevölkerung in touristisch attraktiven Orten, der aktuelle Trachtenhype in der internationalen Modeszene, der vorwiegend mit trachtlichen Versatzstücken, wie Edelweißmotiven, Strickmustern oder Accessoires in Loden und Leder in nostalgischem Rückgriff auf die 50er- und 60er-Jahre Stimmungen aus vergleichsweise heilen Kindheitstagen wachruft und sie gerne auch
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mit Abbildungen von Elvis Presley, Marilyn Monroe oder mit Limonadenetiketten mixt. Die Bandbreite der Tracht als Projektionsfläche bleibt auch im harmlosen Konsum groß. Die „Blicke auf die Tracht“ sollen ihrer Bespielbarkeit als Medium nachgehen. Alle Fragen werden wir auch im neuen Trachtensaal nicht beantworten können. Doch wir würden sie gerne stellen. Damit sprengt das Konzept eine Dauerausstellung im klassischen museologischen Sinn. Sie wird zur kommentierten Schausammlung, sie nimmt Stellung und muss daher mehr können, als die edelsten Stücke aus den Depots zu holen und in objektgerechter Weise und entlang eines irgendwie verlegten roten Fadens ansprechend zu präsentieren. Die Umsetzung wird einiges an Recherchearbeit erfordern, die das am Museum vorhandene trachtenkundliche Fachwissen um zeithistorische, semiotische und kulturanthropolgische Aspekte erweitert und nach weiteren Bildern, Foto-, Ton- und Filmaufnahmen, nach Sachzeugnissen wohl auch in Reproduktionen suchen muss, um Tracht in einen umfassenden Bedeutungskontext gestellt zu einem Thema zu machen, das es weiten Kreisen lohnend macht, sich mit ihr zu befassen. Dieses Projekt wird sich sicher nicht glatt und nicht widerspruchsfrei präsentieren lassen. Doch es erfüllt genau die Aufgaben eines modernen Volkskundemuseums. Es richtet den Blick auf gesellschaftliche Zustände, unterfüttert das individuelle Handeln im kollektiven Selbstverständnis mit historischem Wissen und fordert heraus zu Diskussionen oder zumindest zum Nachdenken. Wenn uns dies in hoffentlich wiederkehrenden wirtschaftlich besseren Zeiten dereinst gelänge, wäre das doch schon einmal was. Und ja, um auf den Titel dieses Beitrages zurückzukommen: Nein, eine Kuh kann nicht sprechen lernen, selbst eine heilige nicht. Die darf man nicht einmal schlachten. Aus einer ganz normalen Kuh ohne Nimbus aber kann man sehr viele nützliche und schmackhafte Dinge machen, wenn man will und weiß, wie das geht.
A NMERKUNGEN 1 | Ich danke meiner Kollegin Roswitha Orac-Stipperger für die langen, oft auch kontrovers geführten Diskussionen rund um dieses Thema, bei denen ich von ihr sehr viel lernen durfte. 2 | Konrad Mautner/Viktor Geramb: Steirisches Trachtenbuch, Graz: 1932. 3 | Vgl. Bernhard Schweighofer: „Heimatschutz und Volksbildung“. Zur Geschichte des Steirischen Volkskundemuseums von 1911 bis 1949, Phil. Dipl. Arb., Graz: 2000, S. 166. 4 | Viktor Geramb: »Die volkskundlichen Sammlungen im neuen Museumsgebäude. Ein Führer und ein Programm«, Graz: Landesmuseum Joanneum 1911, S. 24f. 5 | Wie Leopold Kretzenbacher Gerambs Haltung auf einer Tagung 1983 charakterisierte: »Volkskunde als Faktor der Kulturprägung im Österreich der Zwischenkriegszeit«, in: Internationales Kulturhistorisches Symposion Mogersdorf, Tagungsband 12, (1983), S. 90.
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6 | Wilhelm Heinrich Riehl: Die bürgerliche Gesellschaft, Stuttgart und Tübingen: 1851, S. 33f. 7 | Erzherzog Johann in einem Brief an Anna Plochl vom 23. 11.1824, zit. bei Viktor Theiss, Erzherzog Johann, der Steirische Prinz, Graz: 1950, S. 119. 8 | Viktor Geramb: »Urverbundenheit«, in: Hessische Blätter für Volkskunde 36 (1937), zit. nach: Michael J. Greger/Johann Verhovsek, Viktor Geramb 1884–1958. Leben und Werk, Wien: 2007, S. 45. 9 | Schweighofer: „Heimatschutz und Volksbildung“, 2000, S. 84. 10 | Zu den grundsätzlichen Überlegungen der Neugestaltung 2003 vgl: Roswitha Orac-Stipperger: Phönix aus der Asche, in: Franz Grieshofer/Margot Schindler (Hg.), Netzwerk Volkskunde. Ideen und Wege. Festgabe für Klaus Beitl zum siebzigsten Geburtstag, Wien: 1999, S. 215–227. 11 | Vgl. Günther Holler-Schuster/Otto Hochreiter: Die Kunst der Anpassung. Steirische KünstlerInnen im Nationalsozialismus zwischen Tradition und Propaganda. Ausstellungskatalog Neue Galerie Graz – Universalmuseum Joanneum und Stadtmuseum Graz, Graz: 2010, S. 82f. 12 | Bernhard Tschofen: »Von alten Hüten und modernen Liebschaften. Notizen zur historischen Trachtenbegeisterung«, in: Tobias G. Natter (Hg.), Schappele, Chräusle & Co. 96 traditionelle Kopfbedeckungen der Sammlung Kinz. Katalog zur Ausstellung im Vorarlberger Landesmuseum, Hohenems: 2008, S. 11. 13 | Wolfgang Brückner: »Moderne Trachtenforschung einer konstruktivistischen Volkskunde«, in: Österreichische Zeitschrift für Volkskunde LVII/106 (2003), S. 298f. 14 | Thekla Weißengruber: Zwischen Pflege und Kommerz. Studien zum Umgang mit Trachten in Österreich nach 1945, Münster: 2004, S. 23 15 | Vgl. Gerhard Milchram: »Konrad Mautner und Eugenie Goldstern. Identitätsstiftung in den Alpen oder universale Ethnologie?«, in: Hanno Loewy/Gerhard Milchram (Hg.), Hast du meine Alpen gesehen? Eine jüdische Beziehungsgeschichte. Katalog zur Ausstellung des Jüdischen Museums Hohenems und des Jüdischen Museums Wien in Kooperation mit dem Österreichischen Alpenverein, 2009. 16 | Konrad Mautner/Viktor Geramb: Steirisches Trachtenbuch, Band 1, Graz 1932, S. 5.
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Literaturmuseum der Moderne, mit dem M3 in nexus. © Literaturmuseum der Moderne, Marbach
Dauer im Wechsel. Der multimediale Museumsführer im Literaturmuseum der Moderne Ellen Strittmatter
Es liegt ganz in der Hand des Betrachters, ob er sich von ihm als persönlichem Begleiter durch das Museum führen lässt, ihn nur hin und wieder zur schriftlichen Auskunft nutzt oder ob er ihn gar nicht einsetzt: Der mobile, multimediale Museumsführer M3, der durch die Dauerausstellung des Literaturmuseums der Moderne (LiMo) navigiert, das wiederum zum Deutschen Literaturarchiv Marbach gehört, passt sich den Bedürfnissen jedes einzelnen Besuchers an. Je nachdem, wie dieser die Fülle der Exponate erfassen möchte – ob schauend, hörend oder lesend, sich auf eines konzentrierend oder alles miteinander verbindend und vergleichend, in Ruhe oder eilend, vertraut mit der Literatur oder sie gerade erst entdeckend, wissend oder interessiert, allein oder in einer Gruppe –, je nachdem also, wie er sich im Raum bewegen möchte, wählt er die zu sich passende Gangart des Geräts aus.
1. Viele Perspektiven. Der M3 in nexus Der Ort, an dem der M3 den Betrachter als Cicerone oder Erzähler, Leser, Zeiger und Übersetzer begleitet, ist die Dauerausstellung zur Literatur des 20. Jahrhunderts. nexus ist der Raum der Verbindung und Vernetzung. Auf den durchsichtigen Böden der 39 Glasvitrinen liegen, als würden sie im Raum schweben, über 1300 Originale: kleines, vordergründig unscheinbares, teilweise vergilbtes, oftmals sehr empfindliches Papier. Was von der Literatur der Dichter sichtbar ist und gesammelt werden kann, von Fontane, Rilke, Hofmannsthal, Kafka, Nietzsche, Mann, Schwitters, Döblin, Heidegger, Kaléko, Kästner, Benn, Celan, Bachmann, Sebald, was also von literarischen Werken von jeher sichtbar war und bleibt, wird hier bei 50 Lux ins Licht gerückt: Das beschriebene Papier, die Handschrift, die hinterlassene Arbeitsspur, der aufgetürmte Manuskriptstapel, das gedruckte Buch und manchmal noch die Feder, mit der geschrieben, oder die Computertastatur, auf der getippt
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wurde, ebenso wie die Gegenstände, die vom Dichter benutzt und als Motiv oder Schreibanlass in seine Literatur eingegangen sind. Gezeigt wird also das Material der Literatur, das sich bei allen Dichtern ähnelt und doch ganz individuell eingesetzt und in ein einzigartiges literarisches Werk verwandelt wurde. Damit dieser Kosmos aus Papieren und Zetteln, gedruckten oder handschriftlichen Zeichen wirken, damit innerhalb dieses raumprägenden Materialbildes jedes der Exponate seinen spezifischen Ausdruck, seine oftmals fragile Sinnlichkeit oder widerspenstige Beredsamkeit entfalten kann, wurde in der Dauerausstellung eine klare Trennung von Ausstellungs- und Vermittlungsebene vollzogen. So gibt es weder Wand- noch Vitrinentexte; jedes Exponat ist ausschließlich mit einer Jahreszahl und dem Nachnamen des Autors gekennzeichnet. Der Besucher kann sich dadurch zunächst eigenständig im Raum orientieren und die Fülle der Originale auf sich wirken lassen, ohne unfreiwillig mit einem Deutungsangebot überfrachtet zu werden. Der Ausstellungsraum ist buchstäblich nach allen Seiten hin geöffnet, hat genau genommen weder Anfang noch Ende, weder Startpunkt noch Ziel, keine vorgegebene Vitrinenabfolge oder Leserichtung. Ohne willkürlich oder beliebig zu sein, lautet sein Angebot für den Besucher, dass dieser mit dem Schauen dort beginnen kann, wo er möchte, dass er in Augenschein nehmen soll, was ihn anspricht oder interessiert, dass er sich auf seine Sinne verlassen, sich von ihnen leiten und die Ausstellung ganz individuell erkunden kann. Wenn er möchte, wird er in der Dauerausstellung zum Forscher. Dieses Ausstellungsprinzip gibt dem Ausstellungsraum seinen Namen: nexus steht nicht nur für die vielen Verbindungen, welche die auf fünf gläsernen Ebenen liegenden Exponate miteinander eingehen können, er bezeichnet vor allem den Akt der Vernetzung durch den Ausstellungsbesucher. Das Neben-, Hinter- und Untereinander der Papiere wird durch die Bewegung des Betrachters im Raum hergestellt; nexus lädt ihn ein, sich zu den Exponaten zu beugen, zu strecken oder zu bücken, sich sitzend in sie zu vertiefen oder sie beim Gehen mit dem Blick zu streifen. Es ist dem Wunsch des Besuchers überlassen, wie er Einzelobjekte fokussieren, historische Hintergründe und Zusammenhänge erfassen und ob er einen bestimmten Zeitgeist in Augenschein nehmen möchte. Durch seinen spezifischen Gang durch den Raum und seinen individuellen Blick erweckt er die Dinge der Ausstellung zum Leben. Der M3 dient ihm dabei zum einen als Vergrößerungsglas und ermöglicht ihm, kleinste Schriftzeichen zu erkennen und unleserliche Texte zu entziffern. Zum anderen begleitet er ihn als externes Gedächtnis, kann das Gesehene identifizieren, einordnen und verstehen helfen. Er trägt das Wissen von über 5000 Textseiten – umgerechnet also eine mehrbändige Buchausgabe – in sich, ohne den Besucher zu belasten. Mit einem Display, das so groß ist wie ein aufgeschlagenes Taschenbuch, verortet sich der Mini-Computer, der auch in etwa das Gewicht eines Buches hat, im Ausstellungsraum. Die einfachste Funktion, die der Besucher auswählen kann, ist die des Audioguides. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt speichert der M3 mehrere zwischen
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20- und 60-minütige Führungen für ganz unterschiedliche Zielgruppen: für Eilige, Schaulustige oder Leser ebenso wie für Kinder, Jugendliche, englisch- und französischsprachige Gäste. Spezialführungen zu den neusten Ausstellungsstücken können ebenso angewählt werden wie eine eigens für das Marbacher Museum geschriebene und gesprochene Führung des Stuttgarter Autors Heinrich Steinfest, der den Besucher auf eine kriminalistische Spuren- und Indiziensuche durch nexus schickt. Wann immer sich eine Themenführung durch die Dauerausstellung anbietet, lässt sie sich problemlos auf das Multifunktionsgerät einspielen. Weil die Dauerausstellung halbjährlich aktualisiert wird, weil jeweils am 6. Juni, dem Geburtstag des Literaturmuseums der Moderne, und am 6. Dezember eines Jahres einhergehend mit einer kleinen Führung, Veranstaltung oder Tagung Exponate in den Vitrinen ausgetauscht oder die Seiten der ausgestellten Objekte umgeschlagen werden, wird auch der M3 stetig überarbeitet. Der Besucher ist auf diese Weise immer über die Neuerwerbungen und -entdeckungen des Deutschen Literaturarchivs informiert. Wer mehrfach in die Ausstellung kommt, erlebt dort immer wieder etwas Neues. So wie die Dauerausstellung bleibt also auch ihr Vermittlungsmedium im ständigen Wechsel. Der Besucher ist nicht auf Führungen angewiesen; er kann sich mit dem M3 auch eigenständig durch die Vitrinenreihen bewegen. Über winzige, in den Vitrinenrahmen angebrachte Sensoren (Beacons) verbindet sich der M3 mit dem Ort, an dem der Besucher gerade steht und liefert ihm eine Übersicht über alle Objekte in der Vitrine. Mit einem zum Gerät gehörigen Stift (oder in Zukunft mit einem Fingerzeig) kann er auf einer übersichtlichen und mit einfachsten Bedienungsmöglichkeiten ausgestatteten Benutzeroberfläche die Informationen anwählen, die er braucht: Um eine Gesamtansicht des Exponates anzusehen, öffnet der Besucher eine Fotografie des Objekts, die je nach Bedarf vergrößert werden kann, sodass auch die Feinheiten, die mit bloßem Auge schlecht zu erkennen wären – kleinste Streichungen oder Kritzeleien beispielsweise –, gut lesbar sind. Zusätzlich kann er die Transkription des ausgestellten Textes anwählen oder den zugehörigen Kommentar, der das Objekt in seinen zeitlichen, biografischen oder geistesgeschichtlichen Kontext stellt. Manche Exponate erklären sich fast von selbst, andere benötigen mehr Erläuterung. So ist beispielsweise Erich Kästners Manuskript zu Emil und die Detektive, auf wenigen kleinen Blättern in Gabelsberger Handschrift verfasst, heute ohne Transkription gar nicht mehr zu lesen. Auch die mikrogrammartige Schrift Martin Mosebachs in dessen Manuskript Der Nebelfürst lässt sich kaum mit bloßem Auge entziffern. Bei einigen Exponaten sind jenseits der Audio-Führungen auch Hörbeispiele anzuwählen, wie zum Beispiel bei Hugo von Hofmannsthals singender Postkarte, einem 1959 für die Lesung des Gedichtes Manche freilich erzeugten Phonogramm, oder bei Hans Blumenbergs Stenoretten, einer Sammlung von unveröffentlichten Diktatmitschnitten. Über eine zusätzliche Vernetzungsfunktion können mit einem einzigen weiteren Fingerzeig alle im LiMo präsentierten Werke des gerade ausgewählten Autors
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angezeigt werden. Wenn er vor Franz Kafkas Prozess steht, erfährt der Besucher, dass von dem Dichter auch noch Briefe, Fotografien, ein Abrechnungszettel seines Verlages, das Abiturzeugnis und eine Silbergabel im Ausstellungsraum zu finden sind. Ebenso kann er sich über die Jahreszahl in der Ausstellung vernetzen und sich vom M3 mitteilen lassen, welche Texte in einem bestimmten Jahr entstanden sind. Gleichzeitig mit Kafkas Prozess, so sieht er dann auf einen Blick, wurden auch die Tagebücher von Harry Graf Kessler, das Reisealbum von Paul Mühsam, die Kriegstagebücher von Ernst Jünger oder die Hebräischen Balladen von Else Lasker-Schüler geschrieben. Diese beiden M3-Funktionen erlauben es jedem Besucher, der sich vor allem für einen Autor oder eine bestimmte Zeit interessiert, auf Spurensuche zu gehen mit zwei eingängigen Gesichtspunkten der diachronen beziehungsweise synchronen Betrachtungsweise. Der Besucher ist nicht auf ihn angewiesen, aber bei Bedarf öffnet der M3 die unterschiedlichsten Ebenen des Sehens und Erkennens, des Lesens und Verstehens. Wer sich dafür entscheidet, ohne M3 durch die Ausstellung zu gehen, kann sich auf das Material konzentrieren, das Papier, die Schriftzeichen, die zum Einsatz gebrachten farbigen Tinten. Durch bloßes Schauen kann er poetische Arbeitsprozesse nachvollziehen, erfahren, ob ein Dichter viel oder wenig gestrichen, Gedanken in einem oder vielen Schritten zur Vollendung gebracht, wie er das Format genutzt und die Buchstaben aufs Blatt gesetzt hat. Mit einem Blick erahnt er dabei auch die Fülle des Archivs, dessen Sammelschwerpunkte und Ordnungskriterien. Wenn er dann zum mobilen Museumsführer greift, wird ihm zusätzlich das Unlesbare transkribiert, Rückseiten von Exponaten sichtbar gemacht und das Augenmerk auf die für den jeweiligen Zeigegestus nötige Facette des Objekts gelenkt. In aller Kürze werden ihm die Grundkoordinaten benannt, mit denen es in einen größeren Zusammenhang treten kann. Mit dem multimedialen Museumsführer in den Händen kann jeder selbst bestimmen, wie tief er sich in die Kulturgeschichte des Schreibens hineinbegeben möchte. Wie die Erfahrungen gezeigt haben, ist der M3 dabei sowohl für Einzelpersonen als auch für Gruppen geeignet. Er lädt dazu ein, sich ganz auf ihn zu konzentrieren, sich in sein Angebot hinein zu vertiefen, ins Zwiegespräch mit dem angesteuerten Exponat zu treten. Gleichzeitig ist er aber auch gruppentauglich, kann viele Besucher um sich herum versammeln und zum gemeinsamen Erkunden und Vernetzen anregen. Weil er leicht zu bedienen und individuell einsetzbar ist, wird der M3 von Ausstellungsbesuchern unterschiedlichsten Alters sehr gut angenommen.
2. Nachlesen und Recherchieren. Der M3 in den Tageslichträumen des LiMo Wer die Ausstellung durchschritten, Texte gelesen und ein spezifisches Gefüge an Beziehungen erkundet hat, kann sich in dem an nexus angrenzenden Tageslichtraum
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des Museums in Ruhe die Ergebnisse seines Spaziergangs durch das 20. Jahrhundert ansehen: Der M3 besitzt eine Gedächtnisfunktion, die jederzeit abgerufen werden kann. Zusätzlich lässt sich hier die persönliche Recherche noch vertiefen. Anhand von unterschiedlichen Schlagworten, die ebenfalls halbjährlich aktualisiert werden, können neue und andere mögliche Wege durch die Literatur des 20. Jahrhunderts ausgekundschaftet werden. Der M3 macht hier vielseitige Themenvorschläge und liefert zugehörige Exponate (im Juni 2011 für: Schreibrationalisierung – Körperspur – Bildformel: Der Mann – Selbstverortung – Plan – Verpackungsmaterial – Schiller – Werbung – Literatur und Leben – Zensur – Selbstdarstellung – Arbeit am Werk – Bildformel: Die Frau – Lesespur – Widmung – Dichterklischee – Zeitspeicher – Rückseite – Schreibmaschine – Beschreibungsmaterial – Zeitstempel – Liste – Arbeit am Wort – Geheim – Provenienz – Ohne Worte – Idee: Fahr-Räder – Moderne – Collage – Exil – Kritzelspuren – Neue Exponate 6.12.2007 – Neue Exponate 6.6.2008 – Neue Exponate 6.12.2008 – Neue Exponate 9.6.2009 – Neue Exponate 10.12.2009 – Neue Exponate 4.7.2010 – Neue Exponate 6.12.2010 – Neue Exponate 6.6.2011). Das Durchklicken der unter einem Schlagwort versammelten Exponate ist nur in den Tageslichträumen möglich, nicht aber in der Ausstellung selbst, wo sich der Besucher ganz aufs Gehen und Schauen konzentrieren kann. Es schärft seinen Blick, verhilft ihm, intensiver zu sehen, wenn er die Informationen nicht schon vor dem Betrachten erhält. Der Blickkontakt mit dem Exponat und dessen Identifikation ist in der Ausstellung immer die Voraussetzung für das Erschließen von Infomationen. In Zukunft soll es möglich sein, den zurückgelegten Weg oder die persönliche Schlagwort-Recherche auf dem Server des Deutschen Literaturarchivs zu speichern, damit er später über die Internetseite auch von zu Hause aus nachvollzogen werden kann.
3. Decodieren. Der M3 in stilus Die Möglichkeiten des multimedialen Museumsführers sind damit noch lange nicht erschöpft. Er ist nicht nur in nexus, sondern auch in den anderen Räumen der Dauerausstellung als Orientierungshilfe einsetzbar. Im unmittelbar an nexus angrenzenden stilus-Raum, der ein ganz eigenständiger Teil der Dauerausstellung ist, verwandelt er sich zu einer Art Spielkonsole. In einem raumgroßen Buchstabenfangspiel wird die Literatur auf ganz andere Weise zum Leben erweckt: Hier stehen nicht die kleinen Zettel und Archivalien im Zentrum, ebensowenig die Kulturgeschichte des Schreibens, sondern die Texte und ihre Machart: Hinter jedem Buchstaben, der sich über die Wände der Rauminstallation bewegt, verbirgt sich eine literarische Quelle, ein kurzes Textstück, das der M3 entschlüsseln hilft. Der Besucher kann Buchstaben fangen, sich in eine kurze, schöne, bekannte oder unbekannte Stelle der Literatur vertiefen, sie sehen, lesen oder hören, und sich deren Struktur vom M3 erläutern lassen. Dank des Gerätes kann ein poetischer Text in unterschiedlichste
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Schichten zerlegt und wieder zusammengesetzt werden: in einzelne Worte, Buchstaben, Satzzeichen und Pausen. Wie ein Röntgengerät durchleuchtet der M3 das Innere der Texte, zeigt an ihrem Knochengerüst, wie sie komponiert sind. Derzeit ist stilus mit Texten von A bis Z aus dem 20. Jahrhundert bespielt, von Adornos Hinter den Spiegel bis Unica Zürns Tausend Zaubereien. Seit der Neueröffnung des
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Schiller-Nationalmuseums 2009 zum 250. Geburtstag Friedrich Schillers können nun auch Schillertexte zu jedem Buchstaben des Alphabets geangelt und Texte zu den Marbacher Jahresthemen gelesen werden.
4. Erleben. Der M3 in fluxus In fluxus schließlich, dem kleinsten Dauerausstellungsraum, der den Wechsel der Präsentationen, die unterschiedlichen Blicke auf die Literatur zu seinem Prinzip macht, hilft der M3 ebenfalls bei der Orientierung. Im Abstand von etwa drei Monaten werden hier Dichter und Denker, also etwa Autoren, Verleger, Schauspieler, Künstler, Wissenschaftler oder auch Schüler zu ihrem persönlichen Umgang mit der Literatur befragt. In einem bei dieser Veranstaltung gefilmten, im fluxusRaum projizierten und im M3 angekündigten Gespräch geben sie darüber Auskunft, wie sie lesen, was sie oft oder nie gelesen haben und was sie bei der Lektüre berührt, abstößt oder aufstört. Nicht selten bringen sie für ihre Geschichten und Reflexionen persönliche Fundstücke oder eigens hergestellte Exponate mit, die sie – als externe Kuratoren – im fluxus-Raum zeigen. Der Ausstellungsraum gehört damit ganz der Gegenwart, weshalb er nach dem Fluss benannt ist, in den man nie mehrmals steigen kann, ohne dass er sich verändert hat. Der Museumsführer kann hier jede für die spezifische Präsentation benötigte Funktion einnehmen und ist so flexibel zu bespielen, dass er neben den Ankündigungstexten auch Bilder oder das gefilmte Gespräch einspielen kann.
5. Entwicklung. Der M3 als Gegenstand der Forschung Hinter den Funktionen, die der M3 in den Ausstellungsräumen hat, steht eine eigens für das Literaturmuseum der Moderne entwickelte Software. Sie ist einfach zu bedienen und erlaubt es, auch kurzfristige Änderungen auf alle Geräte einzuspielen. Werden Exponate der Dauerausstellung in Wechselausstellungen präsentiert oder als Leihgaben außer Haus gegeben, kann auf dem M3 eine passende Mitteilung angezeigt werden. Die Datenbank, die so jederzeit erweiterbar ist, dient außerdem hausintern als Recherche-Katalog und trägt damit auch wesentlich zur Erschließungsaufgabe des Archivs bei. Nicht zuletzt ist der M3 für die Besucherforschung der Museen von großer Bedeutung. Seit 2007 finden regelmäßige Besucherbefragungen statt, die dokumentieren, wie sich die Marbacher Gäste im LiMo zurechtfinden und wie sie mit dem M3 umgehen. Immer wieder werden das LiMo und seine Vermittlungsstrategien zum Gegenstand von Bachelor- und Magisterarbeiten.1 Die anonym auf dem Gerät aufgezeichneten Daten lassen darüber hinaus eine Auswertung des Besucherverhaltens in den Ausstellungsräumen zu. Wie häufig welches Exponat in nexus angewählt
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wurde, welchen Objekten die Besucher den Vorzug geben, inwiefern das etwas mit der Lage des Exponats in der Vitrine oder der Beschaffenheit des Ausstellungsstückes zu tun hat, erforscht zur Zeit eine im Rahmen des BMBF-Projektes „ArchivExponat – Evidenz: Generierung und Transformation von kulturellem Wissen im Literaturmuseum“ durchgeführte Besucherstudie. An sie schließt sich eine mit dem Einverständnis des Besuchers realisierte Eye-tracking-Untersuchung an, welche die Blickführung des Museumsbesuchers beim Schauen, Lesen und Verbinden der Exponate in der Vitrine erfassen soll.2 Die Ergebnisse der gegenwärtigen Besucherforschung sowie die täglichen Erfahrungen, die von Besuchern und Museumsaufsichten seit Bestehen des LiMos erfragt, gesammelt und weitergegeben werden, fließen in die Überlegungen zu einer Aktualisierung des M3 ein. Eine Überarbeitung des Geräts soll spätestens bis zum zehnjährigen Jubiläum des Museums im Jahr 2016 abgeschlossen werden. Bewusst soll dabei nicht die bestehende Dauerausstellung verändert – schließlich hat die in Marbach präsentierte Schausammlung im Laufe der Jahre nichts an Aktualität eingebüßt, sondern vielmehr ihr Gesicht mit den neuen Beständen des Archivs stetig gewandelt –, sondern der mobile Museumsführers den Möglichkeiten der neusten Technik angepasst werden. Die Kontinuität der Präsentation wird also gerade durch die Innovation gewährleistet. Eine der wesentlichen technischen Erweiterungen soll den M3 in allen Räumen des Literaturmuseums der Moderne einsetzbar machen, also auch in den vielen großen und kleinen Wechselausstellungsräumen. Auch hier soll die Möglichkeit hergestellt werden, Ausstellungs- und Vermittlungsebene bei Bedarf voneinander trennen zu können. Darüber hinaus sollen die Recherchefunktionen erweitert und kommunikative Aspekte des Geräts ausgebaut werden. In Zukunft sollen sich die Museumsbesucher gegenseitig Vorschläge für geeignete Rundgänge durch die Literatur des 20. Jahrhunderts geben können und Lieblingsobjekte weiterempfehlen. Über die Website des Deutschen Literaturarchivs sollen sie ihren Weg durch das Museum nachvollziehen können. Das Gerät kann heute und soll auch in Zukunft ganz bewusst nicht alles können, was multimedial möglich ist: In seinem Design, seiner Handhabung, seiner Bedienungsoberfläche und seinen Funktionen darf es nicht ablenken von seinem Gegenstand, dem ausgestellten Papier. In erster Linie ist und bleibt der M3 ein zurückhaltendes Rechercheinstrument, das weder den Objekten etwas von ihrer Attraktivität noch dem Besucher die Eigenständigkeit nimmt. Es bleibt im Hintergrund, kann bei Bedarf aber eine ganze Welt der Vernetzung, Erklärung und des Zugangs zur Literatur öffnen. Darüber hinaus animiert es zur Dynamik beim Schauen und zur Bewegung im Raum. Zur Konzeption aller Marbacher Dauer- und Wechselausstellungen gehört es, die Aufmerksamkeit des Besuchers zu wecken, indem dieser auf seine eigene Wahrnehmung verwiesen wird.3 Wenn er mit allen Sinnen und dem ganzen Körper anwesend ist, vollzieht er im Schauen und Lesen nach, wie literarische Texte entstehen, und nicht zuletzt, was beim Schreiben von poetischen Texten
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im Kopf des Dichters vorgeht. Auch mithilfe des M3 gelangt er über die Anordnung der Buchstaben auf dem Papier spielerisch zu den inneren Strukturen der Literatur und ihren Voraussetzungen, zur literarischen Fantasie.
A NMERKUNGEN 1 | Vgl. zum Beispiel Melanie Waldheim: Die Besucher des Literaturmuseums der Moderne, Magisterarbeit, Institut für Kulturmanagement Ludwigsburg 2007; Claudia Ziegler: Das Deutsche Literaturarchiv Marbach als musealer Ort. Zur Konzeption der Dauerausstellung des Literaturmuseums der Moderne, Bachelorarbeit, Universität Siegen 2008. 2 | www.wissen-und-museum.de (1.6.2011). 3 | www.dla-marbach.de/dla/museum/ausstellungen/wechselausstellungen/index.html (1.6.2011).
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Museum Innviertler Volkskundehaus in Ried im Innkreis, Ausstellungsansicht mit Orientierungsband, taktilen Porträts und Silhouetten. Foto: Lang und Lang
Universelles Design in Ausstellungen Doris Prenn
Barrierefreiheit im Spannungsfeld zwischen Inhalt und Gestaltung Barrierefreiheit ist mehr als nur die Sicherstellung physischer Zugänge zu Bildung, Kunst und Kultur für Menschen mit Beeinträchtigung.1 Rampen, Durchgangsbreiten, Transporthilfen sowie optische und akustische Leitsysteme sind in Österreich im Bundes-Behindertengleichstellungsgesetz seit dem 1. Jänner 2006 gesetzlich geregelt. Diese Baurichtlinien erfassen jedoch nur einen schmalen Aspekt der Barrierefreiheit im Museums- und Ausstellungswesen und sind hauptsächlich auf die Bedürfnisse mobilitätseingeschränkter Personen zugeschnitten. Die Gewährleistung inhaltlicher Zugänge im Sinne eines Audience Developments liegt nach wie vor in der Selbstverantwortung von Auftraggeberinnen und Auftraggebern, Kuratorinnen und Kuratoren, Gestaltenden und Vermittelnden. Barrierefreie Museen und Ausstellungen gelten dabei auch unter Insidern als Herausforderung für Design und Didaktik. Die zu klärenden Fragen reichen vom Orientierungssystem über die Auswahl der Exponate bis hin zu deren Präsentation. Oft unterbleibt die Schaffung inhaltlicher Zugänge mit der Begründung, dass die Gruppe der potenziellen Nutzer/innen keine finanziell interessante Zielgruppe bildet. Zahlen und Fakten sprechen jedoch klar für sich: Fast jeder dritte Österreicher (29,9 Prozent, das sind über 2,1 Millionen) weist laut aktuellen Mikrozensus-Daten der Statistik Austria unter Mitwirkung aller Bundesministerien2 mindestens eine körperliche Beeinträchtigung auf. 476 000 Personen, und damit 6,7 Prozent der Bevölkerung, haben eine Bewegungsbeeinträchtigung, wobei die Zahl der Personen mit Querschnittslähmungen rund 4000 beträgt, mit halbseitiger Lähmung 14 000. Auf den Gebrauch von Rollstühlen sind 24 000 Personen angewiesen. 456 000 Personen, also 6,4 Prozent der Bevölkerung, sind hörbeeinträchtigt, wobei Schwerhörigkeit an beiden Ohren am häufigsten vorkommt. 9100 dieser Personen sind gehörlos. 3 087 000 Personen, das ist mit 43,4 Prozent fast die Hälfte der Bevölkerung Österreichs, weisen mindestens eine Sehbeeinträchtigung auf, die jedoch in fast 90 Prozent der Fälle mittels Sehbehelfen oder operativ weitestgehend korrigiert
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werden kann. 4600 Personen sind vollblind, wobei hier zwischen geburtsblinden und späterblindeten Menschen zu unterscheiden ist. Neben anderen Faktoren sind viele Beeinträchtigungen altersabhängig. Mit zunehmendem Alter treten – wenig überraschend – zumeist auch mehrere Beeinträchtigungen zusammen auf. 60 Prozent aller 60- bis 69-Jährigen und 72 Prozent aller 70- bis 79-Jährigen sind körperlich beeinträchtigt. Etwa 80 000 Österreicher – das ist rund ein Prozent der Bevölkerung – weisen psychische Behinderungen auf. Diese Zahl geht auf eine Schätzung von Johannes Wancata von der Wiener Universitätsklinik für Psychiatrie am AKH zurück. In der Studie Zur Lebenssituation behinderter Menschen in Österreich von Christoph Badelt von der Sozialpolitischen Abteilung der Wirtschaftsuniversität und seinem Mitarbeiter August Österle wird die Zahl geistig beeinträchtigter Menschen lediglich auf etwa 48 000 (0,6 Prozent der Bevölkerung) geschätzt. Nicht berücksichtigt in allen Statistiken sind dabei jene 675 000 bis 1 400 000 Personen, deren Lese- und Schreibkompetenzen so minimal sind, dass sie in der Gesellschaft allein nicht zurechtkommen. Die Ergebnisse der PISA-Studie3 aus dem Jahr 2003 zeigen, dass 20 Prozent der 15-jährigen Österreicher/innen entweder überhaupt nicht oder nicht sinnentnehmend lesen können. Die Mathematikkompetenz dürfte bei 50 Prozent der Österreicher/innen mangelhaft bis fehlend sein. Uneingeschränkte und gleichwertige Zugänglichkeit betrifft somit nicht nur den physischen, sondern auch den inhaltlichen Zugang, den eine Institution mit ihrer Ausstellung dem Publikum präsentieren möchte. Da zumeist eine zwischen Publikum und Objekt agierende Vermittlungsperson fehlt, kommt der barrierefreien Gestaltung der medialen Elemente ein besonders hoher Stellenwert zu. Zudem bedienen sich Ausstellungen seit jeher der visuellen und akustischen Vermittlung ihrer Inhalte. Es stellt sich daher die Frage, inwieweit Menschen mit Beeinträchtigungen, wie blinde oder gehörlose Personen, daran überhaupt sinnlich teilhaben können. Nach den ethischen Richtlinien für Museen von ICOM (International Council of Museums)4 „[...] müssen Gebäude und Einrichtungen eines Museums geeignet sein, diesem die Erfüllung seiner grundlegenden Aufgaben zu ermöglichen: Sammeln, Forschen, Lagern, Bewahren, Vermitteln und Ausstellen. Alle Auflagen des Gesetzgebers bezüglich Gesundheit, Sicherheit und Zugänglichkeit sind umzusetzen. Dabei sollte auch Rücksicht auf die speziellen Bedürfnisse behinderter Menschen genommen werden. [...] Das Museum hat die wichtige Aufgabe, seine bildungspolitische Funktion weiterzuentwickeln und ein immer breiteres Publikum aus allen Bereichen der Gesellschaft [...] anzuziehen. Es sollte diesen Menschen Möglichkeiten bieten, sich im Museum zu engagieren und seine Ziele und Aktivitäten zu unterstützen. Für die gesellschaftliche Funktion des Museums ist die Interaktion mit den Bevölkerungsteilen, die sein potentielles Publikum bilden, äußerst wichtig [...]“. Menschen mit Beeinträchtigung sind eine explizit angesprochene wichtige Zielgruppe von Museen und Ausstellungen, die wie alle anderen Besucher/innen kulturelle Angebote nützen wollen. Dies zeigt klar die Wichtigkeit der Erarbeitung
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neuer Standards, um Inhalte und Qualität einer Ausstellung allen Bevölkerungsgruppen zu vermitteln. Erforderlich für eine qualitätvolle Umsetzung sind dabei die enge Kooperation von Wissenschaft, Gestaltung, Vermittlung und Fachleuten in eigener Sache als wesentliche Voraussetzung zur verständlichen und barrierefreien Präsentation der Ausstellungsinhalte. Besucherorientierung, Auswahl und Zusammenstellung der Exponate, Gestaltung der Präsentation sowie didaktische Überlegungen und Entscheidungen sind immer unter dem Aspekt des freien Zugangs für alle zu betrachten. Ziel ist, eine Atmosphäre zu schaffen, in der sich Besucher/innen mit und ohne Beeinträchtigung wohlfühlen und Bedingungen zu bieten, die affektive und kognitive Erkenntnisund Wahrnehmungsprozesse unterstützen. Barrierefreiheit in allen Bereichen kommt dabei allen Besucherinnen und Besuchern zugute und nicht nur jenen, die es von Anbeginn unabdingbar benötigen. Didaktische Elemente, Multimedia, Texte, Grafiken oder Symbole können jene Inhalte mit multisensorischen Mitteln zugänglich machen, die sonst unerfahrbar blieben. Da unter Barrierefreiheit vor allem der physische Zugang bzw. Hilfsangebote für Menschen mit speziellen Bedürfnissen, die sich als winzige Gruppe vom fiktiven Standardmenschen (defizitär) abheben, verstanden wurde, wurde der Begriff Barrierefreiheit in den letzten Jahren zunehmend durch den Begriff Universelles Design abgelöst. Universelles Design soll Informationen für alle Menschen – unabhängig von ihren geistigen und körperlichen Fähigkeiten – zugänglich machen. Dabei gilt es, gleichwertige Angebote, die einander harmonisch ergänzen, ohne Ausgrenzung oder Stigmatisierung eines definierbaren Personenkreises zu schaffen. Die Lösungen müssen für die Nutzer/innen flexibel anwendbar, sensorisch wahrnehmbar, einfach und intuitiv nutzbar, fehlertolerant, mit geringem körperlichen Aufwand gut zugänglich und nicht zuletzt attraktiv sein. Universelles Design nutzt somit allen Menschen, denn mentale und sensorische Fähigkeiten, Bildung, Geschlecht, Alter und vieles mehr machen alle Interessierten mit und ohne Bewegungshilfe gleichermaßen zu Menschen mit differenzierten Bedürfnissen. Museen gehören (noch) nicht zur Massenkultur, sind aber ein wesentlicher Aspekt des kulturellen Lebens. Das museale Edutainment, u. a. im Rahmen von temporären Sonderausstellungen, entfaltet daher zunehmend Breitenwirkung. Museen sind soziale Orte5 und sollten – vor allem, da das staatliche Mäzenatentum schwindet – aus wirtschaftlichen Gründen offen für alle und nicht nur für den völlig fiktiven Standardmenschen sein. Denn der – hoffentlich schon als Jugendlicher - gewonnene Stammgast bleibt nicht für alle Ewigkeit derselbe Mensch. Allein bezogen auf das fortschreitende Alter bedeutet das, dass das Spektrum der Fähigkeiten, Einschränkungen und Bedürfnisse jedes Individuums ständigem Wandel unterliegt. So sinken mit zunehmendem Alter Körperkraft, Beweglichkeit und Fingerfertigkeit ebenso wie Seh- und Hörvermögen, Tast-, Geruchs- und Geschmackssinn lassen nach und Koordinations-, Reaktions- sowie Gedächtnisfähigkeiten schwinden.6 Das Motto universellen Designs lautet: Entwickle für die Jungen, und Du schließt die Alten aus. Entwickle für die Alten, und Du schließt die Jungen ein.7
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Accessibility in Dauerausstellungen – Ried im Innkreis Universelles Design im Museums- und Ausstellungswesen ist noch viel zu wenig verbreitet. Es bedarf spezifischer Qualifikationen, um ebenso unverwechselbares wie raum- und inhaltsbezogenes Universelles Design zu entwickeln, wobei spezielle Anforderungen an Wahrnehmungsfähigkeiten mit dem Nutzwert jener kombiniert werden müssen, die dieses Design nicht grundsätzlich benötigen. In den letzten Jahren entwickelte prenn_punkt entsprechende Konzepte für neue Projekte und setzte davon u. a. den Lern- und Gedenkort Schloss Hartheim,8 die kulturhistorische Ausstellung Rieder Stadtgeschichte, das Outdoor-Projekt Kulturwanderweg Aschach – Markt am Strom9, den Kirchenführer Eferding10 und die Dauerausstellung WunderWeltWald11 des Waldkompetenzzentrums der BöhmerWaldArena um. Exemplarisch soll der Einsatz multisensorischer Elemente am Beispiel der Ausstellung Rieder Stadtgeschichte im Museum Innviertler Volkskundehaus in Ried im Innkreis12 verdeutlicht werden. Die Ausstellung ist mehr als nur rollstuhlgerecht und setzt neue Maßstäbe in der Vermittlung von Bildungsinhalten und für multisensorische Leitsysteme, die gehörlosen, sehbeeinträchtigten und blinden Besucherinnen und Besuchern das gleichwertige, selbstständige Begreifen und Erfassen ermöglichen. Beginnend mit der schwellenfreien Zugänglichkeit für Personen mit Mobilitätseinschränkungen war es oberste Priorität, die Inhalte allen Besucherinnen und Besuchern zugänglich zu machen. Der Übersichtsplan am Eingang der Ausstellung ist auch taktil „lesbar“. Der große Raum wird zum strukturierten Gefüge mit Rampe und Vitrinen. Taktile Raumorientierung ist eine Grundvoraussetzung für Menschen mit fehlender oder stark verminderter Sehkraft, um selbstständig eine Ausstellung zu besuchen. Wichtige und – aufgrund ihrer umsetzbaren Struktur – geeignete Dokumente, Bilder und Fotografien wurden mit einer transparenten Relieffolie überzogen, auf der in Braille oder als Oberflächenstruktur die Inhalte tastbar werden. Sie bieten gleichwertige tastbare Text- und Bildflächen zu den Informationen in Schwarzschrift. Das Original bleibt dabei für Sehende weiterhin sichtbar und macht zugleich mit anderen, oft unbekannten Wahrnehmungsmethoden vertraut. Dass dabei das Original zusätzlich geschützt wird, ist ein weiterer Vorteil. Ausführlich beschreibende und bildhafte Audiodeskriptionen, begleitet von haptisch erfahrbaren Elementen, komplettieren den inhaltlichen Zugang für sehbeeinträchtigte und blinde Personen. Historische Fotografien als überlebensgroße Blow-ups werden mit dreidimensionalen Exponaten im wahrsten Sinn des Wortes begreifbar gemacht. Für Gehörlose sind Videozuspielungen in Gebärdensprache in die Ausstellung integriert.
Aktualisierung – Implementierung – Aufwertung Eine Kombination aller Elemente auf engstem Raum ist bei einer Neugestaltung unnötig und sollte auch nicht Ziel sein. Multisensorische Elemente sollen harmo-
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nisch und abwechslungsreich in das Gesamtkonzept eingefügt werden und einen Beitrag zum Gesamtverständnis leisten.Vielfältige multisensorische Angebote, stimmig in das Ausstellungsdesign implementierte Audiodeskriptionen und Tastobjekte für sehbeeinträchtigte und blinde Personen, Videozuspielungen in Gebärdensprache und Easy-to-read-Texte für Menschen mit Lernbeeinträchtigungen, Deutschlernende und Kinder dienen allen. Auf diese Weise werden Besucher/ innen, die diese multisensorischen Elemente (noch) nicht brauchen, aber durchaus verwenden, für die Bedürfnisse von Mitmenschen sensibilisiert. Kerninhalte einer Ausstellung sollen durch Objekte belegt werden. Dabei soll die frontal-inaktive Informationsbündelung, die ein extrem hohes Bildungsniveau beim Publikum voraussetzt, vermieden werden. Anspruchsvolle, weil nicht alltägliche Inhalte erfordern eine kommunikativ-aktive Interaktion zwischen Publikum und Exponat. Um in bereits bestehende Ausstellungen auf spezielle Bedürfnisse zugeschnittene Elemente zu integrieren, bedarf es daher sensibler Entwicklung und Umsetzung, um sowohl der inhaltlichen Linie zu folgen als auch um diese indentitätsstiftend zu vermitteln. Dass sogar auf engstem Raum maximale Vermittlung stattfinden kann, die dennoch attraktiv ist, belegen die für Aschach als Outdoor-Elemente entwickelten Schwarzblechstelen. Sie bündeln Videozuspielungen in Gebärdensprache, Audiodeskriptionen, taktile Fassadenmodelle (frei schwenkbar, im Stehen und Sitzen tastbar) und Easy-to-read-Texte.
Bedarf und Ausblick Zwischen staatlich verordneter Barrierefreiheit, wirtschaftlichen und technischen Sachzwängen sowie inhaltlich-gestalterischer Publikumsorientierung ist die Suche nach den besten Lösungen eine stets neue Herausforderung. Gelungene Kommunikation zwischen Museumsinhalten und Publikum erfordert das Finden einer gemeinsamen Basis, das Ansprechen aller Sinne und das Wahrnehmbarmachen des Nicht-Wahrnehmbaren durch das zielgerichtete Verknüpfen von heterogenen Sinnesreizen. Die Besucherstrukturen haben sich seit den Gründungstagen der Museen massiv verändert. Der Besuch der imposant distanzierten Musentempel des 19. Jahrhunderts war für den Adel und das gehobene Bildungsbürgertum ein Pflichttermin. Seither haben sich nicht nur die sozialen Strukturen verändert, sondern auch die Ansprüche an Bildung, Unterhaltung, „Pflichttermine“ und nicht zuletzt die Überprüfung des Preis-Leistungs-Verhältnisses in Relation zur privaten Finanzierbarkeit. Zugleich ist die Besuchermaximierung für viele Museen betriebswirtschaftliche Basis geworden. Es sollte daher bedacht werden, dass Besucher/innen genau abwägen, was sie geboten bekommen. Umso mehr wächst die Bedeutung von Universellem Design als ausschlaggebende Schnittstelle zwischen Inhalt, Exponat und Kommunikation mit dem Publikum. Besucher/innen wollen in einem stimmigen Ambiente willkommen sein und sich in den Räumen zurechtfinden (Ausstellung, Garderobe,
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WC, Sitzgelegenheiten). Sie wollen mit allen Sinnen Neues erfahren, und das ohne inhaltliche Über- oder Unterforderung. Zwischen wissenschaftlichem Fachartikel und einem Easy-to-read-Text ist publikumsbewusstes Agieren mit abwechslungsreichen und multisensorischen Mitteln nötig (Original, Hands-on-Objekte/ bewegliches Model, Texthierarchien, Grafiken und Bilder sowie abrufbare weiterführende Informationen [Computer, Touchwall etc.]). Besucher/innen wollen aus einem Angebot auswählen dürfen und zugleich von keinem ausgeschlossen sein. Das bedeutet viel mehr, als nur linear vom Eingang bis zum Ausgang die Auswahl zwischen Text und/oder Objekt zu haben. Sie wollen am Ende ihres Rundganges denken, dass sie, obwohl sie nicht alles gesehen und getan haben, abwechslungsreich informiert wurden und auch deswegen wieder kommen wollen. Um langfristig erfolgreich zu sein, müssen Museen publikumsorientiert konzipieren. Ein wichtiger Aspekt ist, bestehende monosensorische Gestaltungen im Sinne des universellen Designs multisensorisch aufzubereiten. Für die Umsetzung bedarf es nicht zuletzt eines eingespielten Gestaltungs- und Grafikteams, das die Ansprüche des Hauses und dessen Inhalte professionell aufbereitet. Universelles Design gewährleistet gleichberechtigte Teilhabe an den Inhalten einer Ausstellung. Erfassen mit allen Sinnen darf nicht an ungeeigneten oder fehlenden Angeboten für Augen, Ohren und Händen scheitern oder ausschließlich durch personale Vermittlungsprogramme bestritten werden. Zusätzlich bewirkt eine gelungene multisensorische Präsentation über die bloße Inhaltsvermittlung hinaus, dass völlig unaufdringlich die Anforderungen und Wahrnehmungsformen von Menschen mit Beeinträchtigungen ins Blickfeld rücken. Damit setzt bei allen Besucherinnen und Besuchern ein leider immer noch notwendiger Bewusstwerdungs- und Sensibilisierungsprozess ein. Auf diese Weise macht Universelles Design unaufdringlich deutlich, was von bestimmten Bevölkerungsgruppen benötigt und von allen anderen Besucherinnen und Besuchern gerne in Anspruch genommen wird. Design für alle Menschen zu entwickeln ist daher eine Kernforderung an verantwortungsvolles und zukunftsorientiertes Ausstellungsdesign.
A NMERKUNGEN 1 | Doris Prenn: »Universal Design. Sind Museen wirklich für ALLE?«, in: museums.ch 4 (2009), S. 101 ff. 2 | Bundesministerium für soziale Sicherheit und Generationen. Bericht über die Lage der behinderten Menschen in Österreich, 2003. 3 | Manfred Prenzel/Jürgen Baumert/Werner Blum u. a. (Hg.): PISA-Konsortium Deutschland. PISA 2003. Ergebnisse des zweiten internationalen Vergleichs. 4 | ICOM – International Council of Museums ist ein der UNESCO assoziierter, nichtstaatlicher Berufs- und Interessensverband für Museen und deren Mitarbeiter/innen. ICOM besteht aus 116 Nationalen Komitees, 28 Internationalen Fachkomitees, 7 regi-
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onalen und 14 angegliederten Organisationen mit weltweit rund 18 000 Mitgliedern mit Sitz in Paris. http://icom.museum. Das österreichische ICOM-Nationalkomitee orientiert sich an den Standards des Internationalen Museumsrats und vermittelt die aktuellen Trends im Museumswesen an Mitglieder und Museen in Österreich. www. icom-oesterreich.at 5 | Eeva Rantamo: »Das ACCU-Projekt Zugang zum Kulturerbe«, in: Antje Bernier (Hg.), Blind Date mit Architektur – Zugang für alle geplant. Fakultät für Wirtschaftswissenschaften Wismar Business School, Konferenzprotokoll Wismar (17. Mai 2006), Sonderheft 02, S. 19. 6 | Holger Biermann/Heinz Weißmantel: »Benutzerfreundliches und Seniorengerechtes Design (SENSI Regelkatalog)«, in: VDI-Fortschrittsberichte, Reihe 1, Konstruktionstechnik 247 (2003), S. 5–8. 7 | Gero von Randow in: Die Zeit 13 (1993), S. 22. 8 | Nominierung für den „Wanderpreis für barrierefreien Tourismus 2007“ (Innovative Technologien) des Bundesministeriums für Wirtschaft und Arbeit (Österreich). 9 | Sigrid Strohschneider-Laue: »Aschach – Markt am Strom. Barrierefrei Kultur wandern«, in: Kulturbericht Oberösterreich mit Oö. Museumsjournal 63/1 (2009), S. 26. Barrierefreier Zugang und multisensorische Funktionen können auf engstem Raum kombiniert und dauerhaft öffentlich präsentiert werden. Sigrid Strohschneider-Laue in: http://hwelt.de/c/content/view/3108/1 (14.01.2009). 10 | Doris Prenn: »Kultur- und Kunstgeschichte als Erlebnis für ALLE – taktiler Eferdinger Kirchenführer«, in: Neues Museum 2 (2006), S. 47–48. 11 | Siehe dazu Sigrid Strohschneider-Laue in: Ebensolch Rez-E-zine 53 (2009), http://www.ebensolch.at/blog/archives/491 (Juni 2011). 12 | Ausgezeichnet mit dem „Wanderpreis für barrierefreien Tourismus 2007“ (Innovative Technologien) des Bundesministeriums für Wirtschaft und Arbeit (Österreich).
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Technisches Museum Wien, Intervention Quergeblickt, Werner Reiterer, Speakers Corner, 2009, © TMW
Flexible Dauer? Beobachtungen zum erwartungsbeladenen Spiel der Differenz Roswitha Muttenthaler Dörrobst – Dürre – Dauerfrost nannte Bodo-Michael Baumunk seinen Beitrag im Fachgespräch über Beständigkeit und Veränderungswünschen in permanenten Aufstellungen.1 Die heute vielfach negative Konnotation von Dauer zeigt sich seit einigen Jahren auch im Museumsdiskurs zur ständigen Ausstellung. Nach dem Befund von Bettina Habsburg-Lothringen ist die Selbstverständlichkeit, dass Museen Dauerausstellungen einrichten, fragwürdig geworden, wenn auch in der Praxis noch weithin gängiger Konsens. Als problematisch gelte das Dilemma, dass Wissenschaftsannahmen, gesellschaftliche Werte und Wahrnehmungsmuster über einen längeren Zeitraum hinweg festgeschrieben sind und deren Veränderungen unberücksichtigt bleiben. Konzeption und Gestaltung haben anders als bei Sonderausstellungen Zeit zu veralten. Für Dauerausstellungen, die nicht auf den Bekanntheitsgrad ihrer Objekte oder die Popularität ihrer Präsentationen aufbauen können, werde häufig ein Mangel an Publikumsfrequenz und Medienecho beklagt. Doch dem Zugang, alle kritikwürdigen Aspekte an der Praxis von permanenten Präsentationen dem Format Dauer per se anzulasten und in Flexibilisierungsideen den Ausweg zu sehen, verwehrte sich in besagter Diskussion nicht allein Baumunk. Zur Anforderung der Flexibilität setzte etwa Michael Fehr jene der Verbindlichkeit, die das Publikum von einem Museum auch erwarten würde. Parameter, was in der Sammlung und im Feld, zu dem gesammelt und geforscht wird, als verbindlich anzusehen wäre, können mit austauschbaren Elementen eine produktive Dynamik eingehen. Diskussionswürdig galt den Gesprächsteilnehmerinnen und -teilnehmern das unhinterfragte Bedürfnis nach Flexibilität, der Wunsch, stetige Veränderung in eine Institution hineinzutragen, in der Dauer eine grundlegende Dimension darstellt. Der Begriff Flexibilität hat als Imperativ des 21. Jahrhunderts, der das gesamte Gesellschaftssystem neu fasst, eine zentrale Bedeutung. Aus der Arbeitswelt und sozialen Sphäre stammend, bedeutet das variable Angleichen von Lebens- und Arbeitsmodellen neue Optionen, verurteilt aber gleichzeitig zur Flexibilität und wirft die Frage auf, wer in welcher Weise von ihr profitiert und wer wie zur ständigen Anpassungsleistung gezwungen ist. Wenn nun Flexibilität nicht nur Lebens- und
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Arbeitsformen bestimmt, sondern zum grundlegenden Wert einer Gesellschaft mutiert, sind auch kulturelle Bereiche an das Manifest des Flexiblen geknüpft. Damit ist der Wunsch nach flexibel gestaltbaren Dauerausstellungen auch Ausdruck heutiger Normen – gleichermaßen Zeitgeistlabel und State of the Art im Sinne einer mobilen Gesellschaft – und in einem Dilemma gefangen. Angela Jannelli brachte das gespaltene Verhältnis auf den Punkt: Einerseits kann das Museum bzw. die Dauerausstellung angesichts des ständig hohen Anpassungsdrucks der Lebens- und Arbeitswelt als ein Ort der Entschleunigung und Beständigkeit einen Kontrapunkt bilden. Verlässlichkeit und die Erfahrung, dass Dinge gleich bleiben, würde als eine Qualität wert geschätzt. Andererseits gebe es eine Verpflichtung gegenüber der Öffentlichkeit, aktuell zu sein. Und da permanente Präsentationen enorme räumliche, finanzielle und personelle Ressourcen über einen längeren Zeitraum binden, bestehe ein berechtigter Wunsch, diese veränderbar zu halten, wobei zu fragen wäre, was aktualisieren heißen soll. Sind die Dauerausstellungen selbst zu modifizieren, offensichtliche Eingriffe zu machen oder ist ein Raum für Aktualisierungen zu schaffen? Kann dies auch flüchtig und performativ erfolgen oder auch nur im Kopf der Betrachter/innen stattfinden, deren Denken sich über die Jahre verändert und die Objekte in ihren Nachbarschaften anders wahrnehmen lässt? Werden Aktualisierungsmöglichkeiten gestärkt, wenn Dauerausstellungen einen hohen Assoziationsspielraum bieten? Und wird Letzterer durch Konzepte und Gestaltungen, die Objekte auf einen Fokus kontextualisieren, zu stark beeinträchtigt?
Kommentierend Ausstellen Die museologische Auseinandersetzung um Dauerausstellungen im Spannungsfeld von Verbindlichkeit und dem Versprechen der Beständigkeit einerseits und dem Problem der Festschreibung von sich ändernden Paradigmen und Wahrnehmungsgewohnheiten über einen längeren Zeitraum hinweg andererseits, das eine Flexibilisierung wünschenswert erscheinen lässt, steht erst am Beginn. Mein Beitrag hier umfasst eher Rechercheergebnisse und Beobachtungen denn Analysen zu einer Praxis der Flexibilisierung bzw. Aktualisierung von Dauerausstellungen, zur so genannten Intervention. Wichtig ist mir zu zeigen, dass es bereits eine Bandbreite an Projekten gibt. Soweit verfügbar interessieren mich programmatische Aussagen zu Funktion und Zielsetzung sowie zu den Einblicken in Rahmenbedingungen und institutionelle Verankerungen. Es geht mir nicht darum, die einzelnen Projekte hinsichtlich ihres (Nicht-) Gelingens zu werten, sondern ich wähle Fragmente, um Potenziale zu zeigen und von dieser Basis aus Fragen zu entwickeln, die helfen, Effekte, Relevanzen, Rahmenbedingungen, Deutungsinstanzen zu reflektieren. Auch wenn ich den Begriff Intervention für die Beschreibung der darunter laufenden Formate nur zum Teil geeignet halte, werde ich ihn aus Mangel einer Alternative, die alle Praktiken des Eingreifens, Hinzufügens, Querens, Kommentierens, Störens etc. umfasst, beibehalten.
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Mein Interesse an der Thematik entstand quasi als Nebenprodukt der langjährigen Beschäftigung mit der Analyse von Ausstellungen. Im Bestreben, den Narrativen einer Ausstellung hinsichtlich Gender, Race und Class mit methodischen Verfahren nicht nur auf die Spur zu kommen, sondern die Erkenntnisse wieder in die Ausstellung zurückzuspielen, griffen Regina Wonisch und ich auf die Idee der Intervention zu. Unser Anliegen, strukturelle Aspekte der Dauerausstellung, ihre Wahrnehmungsdispositionen und musealen Implikationen unter dem spezifischen Fokus Geschlecht in den Blick zu nehmen, traf sich mit dem Interesse des Wien Museums am Format Intervention. Wir wurden eingeladen, eine genderspezifische Intervention zu kuratieren. Für dieses Vorhaben formulierten wir unsere Vorstellungen folgendermaßen: Die Interventionen verstehen wir als eine Art Kommentar. Sie sollen nachvollziehbar machen, wie die Deutungsangebote und Repräsentationssysteme der Dauerausstellung funktionieren, wie durch Auswahl und Ausstellungsweisen Erzählungen gestützt werden. Anknüpfungspunkt ist nicht allein das Sichtbare, sondern auch das Unsichtbare im Sinne eines mitlaufenden Subtextes oder des Ausgeblendeten. Die ursprüngliche Präsentationsweise bleibt präsent, gleichzeitig wird ihre Wirkweise durch veränderte Kontexte, neue Akzentuierungen und Verschiebungen des Blicks sichtbar. Dies kann mittels vielfältiger Eingriffe erzeugt werden, wie durch das Hinzufügen von Objekten, Installationen, Lichtführung, Medien und Texten. Oder es werden Inszenierungsweisen betont, überspitzt, auf den Punkt gebracht. Dabei soll das ursprüngliche Ausstellungsdisplay nicht als Kulisse des Geschehens fungieren. Verstanden als Ausstellung in der Ausstellung sind Interventionen als Statements zu begreifen, die mit den ursprünglichen Präsentationen in ein dialogisches Verhältnis treten bzw. aus der Differenz ein Spannungsfeld eröffnen. Inhalte sollen miteinander ins Spiel kommen und neue Situationen, Subjekte und Interpretationen sollen entstehen, die Besucher/innen anregen, genauer hinzusehen und Dauerausstellung als auch Intervention als Positionierungen wahrzunehmen. Diese Konzeption von Interventionen realisierten wir auf Basis der Analyse der Dauerausstellung. Davon ausgehend, dass jedem Ausstellen Diskurse zugrunde liegen, fragten wir, was das Wien Museum explizit und implizit an Geschichtskonstruktionen, Bildern und Erzählungen zum Geschlechterverhältnis, zu Männern und Frauen vermittelt, was ausgeblendet bleibt. Mit diesem Blick gingen wir durch die Dauerausstellung und setzten uns mit dem Potenzial der Sammlungen des Wien Museums auseinander, vielfältige Geschichten zu zeigen. Wir entschieden, die Interventionen vorwiegend mit dem Sammlungsbestand zu machen und nicht flächendeckend, sondern punktuell in die Dauerausstellung einzugreifen. Alle Eingriffe und Hinzufügungen waren mittels einer Leitfarbe zu erkennen. Wir konzipierten fünf Displays, von denen ich eines vorstelle.2 Gewählt hatten wir die so genannte Grillparzer-Wohnung, da unser Blick hier auf verschlossene, verstellte Türen gefallen war und wir bei unseren Erkundungen, wohin diese führten, feststellten, dass die Räume Teil einer größeren Wohnung waren. Der Schriftsteller Franz Grillparzer hatte hier nicht allein gelebt, sondern
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in Wohngemeinschaft mit Anna, Katharina und Josephine Fröhlich, denen die Wohnung gehörte. Das Ziel war nicht, allein die ausgelassenen Frauen in die Erzählung einzubringen, sondern es ging um wechselseitige Geschlechterrollen in Beziehungskonstellationen und damit auch um einen geschlechtersensiblen Blick auf die Person Grillparzer. Vor dem Eingang in die Wohnung kamen zum vorhandenen Porträt von Franz Grillparzer jene der Schwestern Fröhlich so hinzu, dass sie das GrillparzerBild partiell überlagerten, ohne es aber zu verdecken. Im Vorraum war nunmehr der Plan, der die gesamte Wohnsituation zeigte, zu sehen. Zudem war eine Klanginstallationen zu hören, die überwiegend auf dem Briefverkehr zwischen Grillparzer und den Fröhlich-Schwestern basierte und Einblicke in das Beziehungsgeflecht und Zusammenleben der Schwestern untereinander und zu Grillparzer gab. Auch im Wohnzimmer blieb es bei minimalen aber pointierten Eingriffen. Der Kleiderkasten, der die Verbindungstür zur Fröhlich-Wohnung verstellte, wurde etwas verrückt und der entstehende Spalt beleuchtet. Die nun gut sichtbare Tür stand für gemeinsames Wohnen und lebenslange Freundschaft, der Kasten für die unterbrochene Beziehung Franz Grillparzers zu Katharina Fröhlich, da er die geplante Heirat rückgängig gemacht hatte. Gegenüber dem lichtbetonten Spalt war ein Ring platziert, ein Geschenk Grillparzers an Katharina Fröhlich, als symbolisches Objekt der Kontinuität. Der Ring und der Kasten konnten als gegensätzliche Symbole ihres ambivalenten Verhältnis aufgefasst werden: Demonstrierte der Ring Verbundenheit, sorgte der Kasten für Abstand. Dazu war wieder eine Klanginstallation zu hören, die anhand des Briefverkehrs zwischen Franz Grillparzer und Katharina Fröhlich deren Beziehung nahe brachte. Im schmalen Ausgang wurde mit wenigen Dokumenten auf die Tätigkeit der Schwestern als Musikerinnen und als Erbeverwalterinnen Grillparzers nach dessen Tod verwiesen. Außerhalb der musealisierten Räume, dort, wo die Wohnräume der Schwestern Fröhlich gewesen wären, wurde die Sammlungsund Ausstellungswürdigkeit von Dingen thematisiert: Alle Objekte aus dem Sammlungsbestand des Wien Museums, die den Schwestern Fröhlich gehörten, waren in einem Depotregal präsentiert. Im Gegensatz zu der auf Vollständigkeit zielenden Überlieferung des Grillparzerensembles handelte es sich um wenige Fragmente, die zudem bislang im Depot lagerten.
Experiment und Mainstream Diese Intervention blieb nicht die einzige, im Rahmen meiner Tätigkeit im Technischen Museum Wien war und bin ich ebenfalls – in verschiedenen Rollen – in Interventionsprojekte involviert, allerdings handelte es sich nunmehr um das Kuratieren von künstlerischen Interventionen. Dazu später. Im Zuge der Arbeit an Interventionen wurde mir zusehends undeutlicher, wie eine Intervention zu definieren sei, was sie leisten solle. Ich versuchte den Weg der Begriffsbestimmung und
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recherchierte bisherige Praktiken. Der Begriff stammt aus politischen, wirtschaftlichen und sozialen Kontexten, in denen intervenieren dazwischentreten, hinzukommen, durchkreuzen, vermitteln meint: In konfliktträchtigen Situationen werden Eingriffe vorgenommen, um Veränderungen herbeizuführen. Dies kann therapeutisch relevantes Handeln in der Psychologie sein, zielgerichtetes Eingreifen in der Sozialpädagogik, diplomatische Bemühungen oder auch militärische Eingriffe in der Politik. Die Formen sind also vielfältig, reichen vom militärischen Einsatz bis zum Konfliktmanagement, vom Wort zur Tat. In allen Fällen scheint es sich um ein differenzschaffendes Vorgehen zu handeln: Eine Intervention verändert den vorhandenen Status zugunsten eines anderen erstrebenswerteren Zustandes, besetzt einen Ort. Oder mittels einer Intervention wird ein Spannungsfeld eröffnet, das den ursprünglichen Zustand befragt, neue Perspektiven einführt, Deutungen verschiebt. Diese Intentionen decken sich mit der Idee des Eingreifens, die seit den 1970er-Jahren in Kunst- und Ausstellungspraktiken Anwendung fand. Nur zum Teil wurde und wird dafür der Begriff Intervention verwendet, vielfach heißt es zu Beginn ortsbezogenes Arbeiten, es folgen Benennungen wie Plug-in (Van Abbemuseum Eindhoven), Contrepoint (Louvre) oder die Projekte laufen undifferenziert unter Ausstellung oder Installation (Freud Museum London). Zwischen Museum – und hier sind nicht allein die Kunstmuseen gemeint – und Kunst besteht seit den 1970er-Jahren ein insbesondere vom Diskurs der institutionellen Kritik geprägtes Wechselverhältnis. Die im Museumskontext entwickelten Arbeitsweisen des Sammelns und Präsentierens und deren erkenntnistheoretischen und gesellschaftlichen Implikationen waren Anstoß zu neuen künstlerischen Strategien. Umgekehrt reagierte das Museum auf der Suche nach neuen Wahrnehmungsdispositionen für Objekte und Kunstwerke auf künstlerische Entwicklungen. Dieses vielfach auch konflikthafte Wechselverhältnis manifestierte sich in einer Fülle von Kunstwerken und Ausstellungen.3 Neben dem Spiel der Aneignung museologischer Arbeitsweisen waren Kunstschaffende an den strukturellen und diskursiven Parametern sowie den gesellschaftspolitischen Kontexten von Museum und Ausstellung interessiert. Dieses Anliegen traf sich mit dem von Museen, ein traditionelles Image loszuwerden, neues Publikum anzuziehen und selbstreflexive Tendenzen von Museen zu fördern. Museen begannen Kunstschaffende einzuladen, mit den Sammlungen oder in Ausstellungen zu arbeiten. Diese Möglichkeit eines experimentellen Feldes für Museologie, Ausstellungspraktiken, visuelle Kultur und Kunst überlagerte sich mit Erwartungen, die Außenwirkung und den Publikumszuspruch partiell neu zu fassen. In der Folge spielten Medienecho und Eventcharakter, das Image, dem Zeitgenössischen oder aktuellen Moden gegenüber aufgeschlossen zu sein und eine der Gegenwart zugewandte Publikumsschicht anzusprechen, ohne die konservativeren Teile des Museumspublikums zu sehr vor den Kopf zu stoßen, eine wesentliche Rolle. Auch wenn auf eine 40-jährige Praxis geblickt werden kann, gerieten interventionistische Praktiken erst in jüngster Zeit in die verstärkte Aufmerksamkeit von Museen, Ausstellungsmacherinnen und Austellungsmachern und
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Kunstschaffenden. Interventionen scheinen gegenwärtig als ein Geschäft mit gegenseitigem Vorteil gesehen zu werden: Während Museen Alternativen zum White Cube bieten und Kunstschaffende ihre Vorstellungen von Museum und Ausstellung auch kuratorisch ausagieren können, sollen künstlerische Arbeiten zur Reanimierung von Sammlung und Ausstellung sowie zum veränderten Selbstverständnis des Museums beitragen. Eingriffe finden sich sowohl in Institutionen von Weltrang wie dem Louvre als auch in kleinen Häusern wie den Wiener Bezirksmuseen. Ob der Bandbreite an Museen und Museumssparten, in denen interveniert wurde, und ob der unterschiedlichen Formen, die zur Anwendung kamen, wirken die Projekte auf den ersten Blick vielfältig. Dennoch lassen sich Muster erkennen. Eine Unterscheidung ist jene zwischen künstlerischen und die wissenschaftlichgestalterischen Interventionen, jedoch überwiegt die künstlerische Art bei weitem, sodass Interventionen häufig mit zeitgenössischen Kunstprojekten synonym gesehen werden. Eine interdisziplinäre Verknüpfung von künstlerischen und wissenschaftlichgestalterischen Formen, wie dies beim Ausstellen Eingang gefunden hat, ist mir bislang nicht begegnet. Sie waren lediglich nebeneinander anzutreffen, wie beim Projekt Quergeblickt noch ausgeführt wird. Werden nun die Museumssparten mitbedacht, ergibt sich ein erweitertes Bild. Die künstlerische Intervention ist in allen Museumsparten zu finden, in Kunstmuseen ebenso wie in Natur-, Technik- und kulturgeschichtlichen Museen. Die wissenschaftlich-gestalterische Form ist nicht gleichermaßen verbreitet, Kunstmuseen werden von nicht der Kunst zugehörigen Wissenschaften bislang nicht berührt. Im Folgenden beschreibe ich ausgewählte Beispiele, wobei ich einen Schwerpunkt auf Projekte in Österreich lege und nur auf von Museen getragene bzw. erlaubte Interventionen eingehe. Unberücksichtigt bleiben nicht-autorisierte Formen.4 Die Beispiele gruppiere ich in drei Kapitel5, die sich auf die beiden Formen der Intervention – künstlerische und wissenschaftlich-gestalterische – und die beiden Museumssparten Kunstmuseen und Kulturgeschichts- bzw. Wissenschaftsmuseen beziehen, wobei ich letztere undifferenziert und verkürzt als Wissenschaft tituliere. Dies sind jedoch keine Kategorien, sondern nur analytisch-praktische Trennungen, die sich auch überschneiden können.
Kunst trifft Kunst Ein bestimmendes Format ist, Interpretationen und Präsentationsformen von Kunst – traditionelle kunsthistorische Räume und Aufstellungen sowie jene klassischer Archäologie und historischer nichtwestlicher Kunst – mit aktueller zeitgenössischer Kunst, Literatur, Theater, Tanz und Performance zu konfrontieren. Dazu kommt ein selten zu sehendes Format – etwa in der Tate Britain: Das Historische wird nicht mit Zeitgenössischem konfrontiert, sondern weitere historische Objekte werden unter einem thematischen Aspekt hinzugefügt. Künstler/innen einzuladen kennt verschiedene Ausformungen: Vorhandene Werke werden ausgewählt oder
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ortspezifische, eventuell auch thematisch gebundene Auftragswerke vergeben, es kann monografisch eine Person intervenieren oder es sind mehrere Künstler/innen geladen, es kann ein von Ausstellungskuratorinnen und-kuratoren angeleitetes Projekt sein oder den Kunstschaffenden wird die kuratierende Rolle zugedacht. Ein zentrales Motiv für Eingriffe und Hinzufügungen waren seit jeher Fragen der (Re-)Präsentation und Deutungsmacht. Im British Museum werden seit den 1990er-Jahren immer wieder Künstler/innen eingeladen, ortspezifische Arbeiten zu machen. In der ägyptischen Abteilung stellte beispielsweise Richard Wentworth 1997 unter dem Titel Questions of Taste den ägyptischen Trinkgefäßen moderne Trinkbehältnisse gegenüber, die in der Nähe des Museums weggeworfen wurden. Diese wurden gleichermaßen beschriftet. Damit stand die für Museen grundlegende Differenzierung zwischen wertvollen und wertlosen, einzigartig handgemachten Objekten und massenproduzierten Verpackungen zur Disposition. Im Pergamon Museum Berlin machte 1992 Alfredo Jaar in Referenz auf Peter Weiss eine Intervention mit gesellschaftspolitischen Implikationen. In Ästhetik des Widerstandes querte Jaar die Tradition, klassische Architektur auf seine ästhetischen Dimensionen und seine Konnotation mit hoher Kultur zu beschränken. Mittels Neonleuchtröhren brachte er Namen deutscher Städte, in denen Immigrantinnen und Immigranten angegriffen wurden, auf den Stufen des Pergamon-Altares an. Auch das Interesse von Andrea Fraser galt in den 1980er-Jahren dem Anteil des Museums, unseren Blick auf Kunst zu formen. Ihre Befragung von institutionellen Narrativen erfolgte allerdings nicht mit installativen Mitteln, sondern setzte auf die künstlerische Strategie der Performance. In Museum Highlights: A Gallery Talk von 1989 schlüpfte sie in die Rolle der Dozentin Jane Castelton, die am Philadelphia Museum of Art Führungen anbot. In ihrer Performance erklärte sie nicht lediglich das Ausgestellte in bekannter kommentierender Manier, sondern ebenso Heizungsund Handlöschgeräte oder die Ausstattung von Shop und Cafeteria. Sie verwob dabei nahtlos recherchierte Zitate aus Museumsschriften. Mittels Wiederaufführung fixierter Vermittlungs- und Interpretationsmuster von Museen machte sie eine Verschiebung, die die Praktiken der Aneignung von Kultur selbst und die gesellschaftlichen Aufgaben von Museen als Bildungseinrichtungen sowie ihre Ausschließungsmechanismen aufs Tapet brachte. Sie zielte auf Deutungsmuster, die durch die Anordnung und Auswahl der Kunstwerke, durch die Architektur des Gebäudes und die Vermittlungsangebote Wirkungsmacht erhalten. Das Format, bei dem sich die Rollen von Künstler/in und Kurator/in mischen, hat ebenfalls eine lange Tradition. Als eines der frühesten Beispiele, in dem ein Künstler eingeladen wurde, seinen Blick auf Kunst richten, gilt das kuratorische Experiment Raid the Icebox von Andy Warhol (1969–1970). In drei Museen der USA wurde eine von Warhol getroffene Auswahl von Objekten aus den Depots des Museum of Art der Rhode Island School of Design gezeigt. Diese Art, Künstler/ innen als Kuratorinnen und Kuratoren und Kritiker/innen einzubeziehen und ihre Bewertung und persönliche Interpretation von Kunstwerken zu zeigen, nahm
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sowohl die Form einer Sonderausstellung6 als auch jene der Interventionen in die permanenten Ausstellungen an. Gleichzeitig Künstler/in und Kurator/in zu sein, Kunst zu machen und andere Kunstwerke in Bezug zu setzen, führt zu verschiedenen Formen der Verschränkung – bis hin zur Ununterscheidbarkeit. So war die Arbeit von Willem de Rooij in der Neuen Nationalgalerie Berlin 2010/11 sowohl als kuratierte Auswahl von Werken anderer Künstler als auch als ein Werk von de Rooij selbst zu rezipieren. Die Arbeit Intolerance verband holländische Vogeldarstellungen des 17. Jahrhunderts, gemalt von Melchior d’Hondecoeter, und Federobjekte des 18. und 19. Jahrhunderts aus Hawai – also außereuropäisc he Objekte und europäische Malerei. Laut Pressemitteilung zur Ausstellung zielte das Interesse von de Rooij auf Konventionen von Präsentation und Repräsentation, von institutionellen Arbeitsweisen und Ausstellungspraktiken, auf die Spannung zwischen gesellschaftlich-politisch gebundener und autonomer Bildproduktion: Mit Intolerance wollte er die Grenzen von Referenzialität, Authentizität und Autorschaft ausloten. „Confusion about the nature of his project is first mobilized when you are greeted by the artist’s name in a booming typeface (as any artist’s name, but no curator’s, would usually appear), only for this to open onto a group of paintings by 17th-century Dutch painter Melchior d’Hondecoeter presented together with a group of Hawaiian ceremonial objects from the 18th and 19th centuries. [...] What struck me most, however, was the project’s questioning of the ideological underpinnings of ‘the exhibition’ in the process. What was the difference, after all, between an (autonomous) artwork and an exhibition made of others’ art works? If artists have, as we know, been long involved in curating, rarely have they presented their exhibitions as signed art works so explicitly as this.“7 Wie verbreitet der Trend ist, zeitgenössische Kunst – je nach Sicht – als Kontrapunkt, Blickfänger, Dialog, Eingriff, Ergänzung, Postulat in einem Museum für alte oder auch angewandte – westliche wie nichtwestliche – Kunst zu verstehen, zeigt sich daran, dass viele bekannte Häuser in den letzten 20 Jahren mit Formaten experimentierten – beispielsweise in Berlin fast alle Häuser der Staatlichen Museen wie Neue und Alte Nationalgalerie, Pergamonmuseum und die Museen außereuropäischer Kunst in Dahlem, in Paris Louvre und Musée Guimet, in London British Museum, Tate Britain und Victoria & Albert Museum, in Wien Kunsthistorisches Museum, Belvedere und Museum für angewandte Kunst usw. Das Musée Guimet zeigte 2010 erstmals eine Intervention. In die Dauerausstellung wurde die Ausstellung Perpetuel Paradoxe mit Werken des zeitgenössischen pakistanischen Künstlers Rashid Rana integriert. Die thematisch gegliederten Arbeiten rekurrierten zum Teil formal auf die ausgestellten Objekte und schleusten Bilder aus dem heutigen Leben ein. So nahmen Fotocollagen aus der Ferne gesehen das Muster von traditionellen Teppichen an. Aus der Nähe angeschaut bestanden sie aus einer Vielzahl kleiner Fotos, die irritieren konnten. Oder eine riesige Fotocollage, die von weitem betrachtet eine Menschenmenge zeigte, ergänzte aktuell die historischen Skulpturen. Das Projekt wurde auf der Homepage des Museums
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als erster Schritt hin zur zeitgenössischen Kunst ausgewiesen: „The museum is much more than a safety-deposit box for antiques. In view of the value of the Asian dynamic in our modern-day world [...] the time has come, we believe, to reflect on and reconsider our notion of the museum.“8 Der Begriff Intervention wurde nicht verwendet, die aktuellen und historischen Werke sollen „Hand in Hand“ gehen, um Zeitgenössisches mit Historischem vergleichen zu können. Der Louvre nennt das entsprechende Format Contrepoint, in dessen Rahmen bisher bereits fünf Projekte von einer eigens bestellten Leiterin für zeitgenössische Kunst kuratiert wurden. Diese Reihe ist nur ein Teil einer breiten Palette, mit zeitgenössischen Kunstschaffenden zu arbeiten. Anlässlich des ersten Kontrapunkts 2004/05 war programmatisch zu lesen: „When the contemporary meets the art of the past, shared ideas and artistic concerns emerge, leading the viewer to exciting new discoveries rooted in both similarities and differences. Showing at the Louvre is an undreamed-of opportunity for today’s artists. The Louvre aims to promote a discreet, stimulating, potentially subversive contemporary presence: a breath of living creativity in a traditional museum setting. The ‚Counterpoint‘ exhibition – ten artists in dialogue with the full range of the collection – embodied the strategy to perfection.“9 Jede Künstlerin, jeder Künstler wählte einen bestimmten Ort, ein Werk oder ein mythologisches Sujet für ihre/seine Arbeit. Öffnung und Dialog werden als Ziele genannt. Alte und zeitgenössische Kunst in Bezug zu setzen soll sowohl zwischen heute lebenden Künstlerinnen und Künstlern und der Institution Louvre, als auch zwischen Museum und Publikum einen Dialog ermöglichen. Argumentiert wird, dass mit der Präsenz alternativer Sichtweisen auch Interpretationen jenseits der kunstwissenschaftlichen Disziplin Eingang finden und damit zum einen die traditionelle Rolle der Schausammlungen um Experiment und Interaktion erweitern, und zum anderen auch das Publikum zu animieren, zeitgenössische und alte Kunst alternativ zu entdecken und eigene Deutungen zu machen. 2008 wurde in der Reihe Contrepoint erstmals ein einzelner Künstler geladen, zu Werken der niederländischen, flämischen und deutschen Schule zu arbeiten. In L’Ange de la métamorphose fügte Jan Fabre eigene Skulpturen, Fotografien, Zeichnungen, Installationen und Performances hinzu. Das Ziel war, den Blick Fabres als neues Schau- und Erfahrungsangebot zu offerieren. „The itinerary proposed by Jan Fabre through the museum’s collections may be perceived as a ‚mental drama’ featuring the major elements of his own life work and those of the old masters. The artist seeks to connect his universe with the main themes running through the Louvre’s collections: death and resurrection, the vanities of human life, sacrifice, money, madness, carnival, battles, the artist’s studio. [...] The continuity of the dialogue between Jan Fabre and the Dutch, Flemish and German old masters, a legacy ever present in the artist’s approach to his work, as well as the types of interventions placed on view, enhance the power and mystery of the works in the Louvre’s collections and endow them with new meanings.“10
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Auch das Kunsthistorische Museum Wien folgt dem Trend, zeitgenössische Kunst einzubeziehen. Dieses Interesse findet – ähnlich dem Louvre – seinen institutionalisierten Ausdruck in der Bestellung eines Adjunct Kurator für moderne und zeitgenössische Kunst. Jasper Sharp, der diese Position gegenwärtig einnimmt, argumentiert das Zeitgenössische mit der Gründungsidee kunsthistorischer Museen im Sinne einer erzieherischen akademischen Rolle – einem Museum, das zu zeitgenössischem Schaffen anregt – und der ursprünglich engen Verbindung von Museum und lebenden Künstlern. Er zitiert den damaligen zeitgenössischen Künstler Walter Sickert: „Und das [...] ist der Anspruch, den wir Maler in Bezug auf die alten Meister erheben: Sie gehören uns, nicht ihnen. [...] Wir sind ihre Erben, Testamentsvollstrecker, Treuhänder, Sachwalter. Wir sind brave Söhne, aber von nun an sind wir es, die ihre Wünsche deuten und alle Macht haben, diese beiseite zu schieben und durch unsere eigenen Wünsche zu ersetzen, wann und wo immer uns das angebracht erscheint. Sie hätten sich das so gewünscht.“11 Und auch T. S. Eliot zieht Sharp heran, um diese Herangehensweise sozusagen mit Tradition zu versehen. Vorhandene Denkmäler stellen „untereinander eine ideale Ordnung dar, die dadurch, dass ein neues (ein wirklich neues) Kunstwerk sich ihnen zugesellt, eine gewisse Veränderung erfährt. Die bis dahin gültige Ordnung ist gleichsam abgeschlossen, bevor das neue Werk auftaucht. Damit sie auch nach dessen Erscheinen fortbestehe, muss die ganze bestehende Ordnung einen, sei es auch noch so unmerklichen, Wandel erfahren; und so werden die Beziehungen, Verhältnisse, Werte jedes einzelnen Kunstwerkes dem Ganzen gegenüber wieder in ihr rechtes Verhältnis gesetzt; so erst entsprechen das Alte und das Neue einander. Hat man sich einmal diese Idee der Ordnung [...] zu eigen gemacht, so wird man in der Behauptung nichts Widersinniges erblicken, dass das Vergangene durch das Gegenwärtige eine genau so große Umwandlung erfährt, wie das Gegenwärtige seine Richtlinien von dem Vergangenen her empfängt.“12 Laut Generaldirektorin Sabine Haag will das Museum einmal pro Jahr Künstler/ innen einladen, Arbeiten und Ideen im Kontext der alten Meister zu präsentieren: „Ein Museum ist wie ein Buch, das man lesen können muss. Für uns, als ein Museum alter Meister, ist es besonders interessant zu sehen, wie zeitgenössische Kunst dieses Buch nutzt.“13 Nach Interventionen von Elena Elagina & Igor Makarevich 2009 und von Absolventinnen und Absolventen der Universität für angewandte Kunst Wien 2010 lud das Museum 2011 Jan Fabre ein, in Fortführung der Projekte in Antwerpen 2006 und im Pariser Louvre 2008 eigene Werke zu denen der alten Meister der Gemäldegalerie zu geben. Fabre wählte 30 Zeichnungen und Skulpturen aus der Serie Die Blaue Stunde, entstanden zwischen 1986 und 1990. Fabre entschied nicht nur, zu welchen Gemälden er seine Werke platzieren will, sondern er unterwarf auch die hinzugefügten Zeichnungen selbst einem räumlichen Ordnungsprinzip. Letzteres wurde auf dem Orientierungsplan der Gemäldegalerie deutlich. Vom zentralen Stiegenhaus zweigen auf einer Seite die Räume der italienischen Schule ab, auf der anderen die der niederländisch-deutschen Schule. In diese symmetrische
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Anordnung der Räume setzte er ebenso spiegelgleich seine Markierungspunkte. Zur Arbeitsweise schilderte Fabre:14 „Meine Mitarbeiterin Barbara und ich, wir haben das Museum sicher zwanzig Mal besucht. Wir sind durch die Räume gegangen und haben eine Art Buch, eine Art geistige Dramaturgie entwickelt. [...] Wir haben die Gründe gesucht und notiert, weshalb eine Zeichnung zu einem Gemälde passt. [...] Bei einigen ist dieser Dialog sehr naheliegend. Schauen Sie sich die Medusa von Rubens an und meine Zeichnung mit der Schlange. Manchmal wollte ich den Dialog nicht so deutlich machen. Manchmal braucht es auch diesen Geistesblitz. Diese farbenprächtigen barocken Gemälde, oftmals Kennzeichen der Macht, neben etwas sehr Stillem und Reduziertem. Hier haben wir den Gegensatz zelebriert.“ Das Konzept, den vorhandenen Gemälden aus seinem vielfältigen Œuvre nur Zeichnungen gegenüberzustellen, begründete er mit der Umkehrung des Verhältnisses von Zeichnung und Gemälde: „Sie [die Gemälde] alle beginnen mit einer Zeichnung, und dann wird Farbe aufgetragen, die die Zeichnung verdeckt. Auch deshalb fand ich es schön, Zeichnungen aufzuhängen, in diesen Räumen voller Gemälde. Meine Zeichnung ist hier keine Skizze mehr, für ein Gemälde oder eine Skulptur. Die Zeichnung ist hier ein unabhängiges Medium.“ Zwar waren auch Umhängungen nötig, um Fabres Werk Raum zu geben, doch wurde möglichst dem Prinzip des Hinzufügens zu Vorhandenem gefolgt. Laut Pressemitteilung sollte der Dialog von Fabres Werk mit den Gemälden die Betrachter/innen dazu zu bewegen, historische Bilder zeitgenössischer zu sehen, an vertrauten Bildern unvertraute Aspekte zu erkennen. Damit war gefordert, nicht nur die Werke Fabres, sondern seine Gedanken und Entscheidungen als intervenierender Künstler zu deuten, sich auf seine Blickweise einzulassen. Zwar changierten die Texte im vor Ort aufgelegten Mitnahmeheft zwischen Informationen zu den Werken Fabres und zu deren Positionierung. Doch waren diese nur teilweise informativ, was das Verhältnis von Vorhandenem und Hinzugefügtem betraf. Die Frage, inwiefern eine hohe Rezeptionsleistung einer verstärkten Unterstützung bedarf, betrifft alle Interventionen. Als Beispiel für ein kontinuierlich stattfindendes monografisches Format ziehe ich noch das Obere Belvedere in Wien heran. 2007 wurde die Ausstellungsreihe Intervention initiiert. Zweimal jährlich werden zeitgenössische Künstlerinnen und Künstler eingeladen, eine Arbeit in Bezug zur Architektur, Geschichte und Sammlung im Haus zu integrieren, um laut Homepage „neue und ungewöhnliche Einblicke“ bereit zu stellen. Gudrun Kampl und Franz Kapfer setzten sich beispielsweise mit der barocken Bauplastik und der Person des Bauherrn Prinz Eugen auseinander. Während Kampl 2007 textile Objekte als markante Zeichen verwendete, um Skulpturen von Sälen und auf der Prunkstiege zu bekleiden und – laut Ausstellungsinformation – Objekte zwischen „spielerischer Leichtigkeit und Vergänglichkeit“ einzuschleusen, lenkte Kapfer in seiner Installation mit Spiegeln und Gerüst 2008/09 den Blick auf Herrschaftsnarrative eines Deckenfreskos, auf dem der als Sieger verherrlichte Prinz Eugen von vier gefesselten Türkensklaven umgeben ist. Anders als im Kunsthistorischen Museum Wien erstreckt sich die Sammlung
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des Belvedere bis in die Gegenwart, ohne Letzterer aber bislang eine permanente Ausstellungsfläche bereitstellen zu können. Künstler/innen einzuladen, sich mit dem Belvedere auseinandersetzen und sich in diesen Ort vorübergehend einzuschreiben, ermöglicht, der Gegenwart Raum zu geben und eine stärkere Verbindung zwischen der Institution und den Kunst Schaffenden bzw. an ihr Interessierten herzustellen. Obgleich das Belvedere die Arbeiten unter einem ausgewiesenen Format fasst, veröffentlicht es keine Begründungen, wie dies das Kunsthistorische Museum versucht. Eine Vermutung könnte sein, dass das Kunsthistorische Museum einen höheren Erklärungsbedarf für die Zuwendung zu zeitgenössischer Kunst verspürt und die Rechtfertigung paradoxerweise stark in der Gründungsidee des 19. Jahrhunderts verortet – und somit als Tradition markiert. Sich performativ in Dauerausstellungen zu positionieren fand in unterschiedlichen Konstellationen Eingang, neben der Kunstperfomance – wie die schon erwähnte von Andrea Fraser – gibt es spartenübergreifend Projekte mit Tanz, Schauspiel, Musik. Ein in Wien gut besuchtes Projekt war Ganymed boarding (2010/2011) im Kunsthistorischen Museum. Sechzehn meist österreichische Autorinnen und Autoren wurden eingeladen, einen Text über ein selbst gewähltes Bild der Gemäldegalerie zu schreiben. Angeleitet durch eine Regisseurin wurden die Texte von Schauspielerinnen und Schauspielern vor den jeweiligen Gemälden zur Aufführung gebracht. Alle Aufführungen fanden zeitgleich statt und jede lief über einen Zeitraum von ca. vier Stunden mehrmals im Loop. Die Besucher/innen entschieden bei ihrem Rundgang durch die Gemäldegalerie selbst, in welcher Abfolge und wie lang sie vor der einen oder anderen „Bühne“ verweilen wollten. Nicht nur die literarischen Formen waren verschieden – von Fabel bis Essay – auch die Bezugnahme zum Gemälde war vielfältig gelöst. Manche setzten sich eng mit dem Bildsujet auseinander, bei manchen war die Beziehung lose, manche führten ein Bildnarrativ in unerwarteter Weise weiter. Das Bild diente als Auslöser sowohl von nah umkreisenden als auch weit abschweifenden Assoziationen, konnte Angelpunkt oder Nebenschauplatz von (Selbst-)Reflexionen aller Art sein. Besonders beeindruckend fand ich die Fabel über einen Esel von Juli Zeh, für die Sánchez Coellos Porträt des Infanten Don Carlos den Ausgangspunkt bildete. Die Beschreibung des Aussehens sowie der Lebensumstände und „Gedanken“ des Esels bildete keineswegs eine banale Parallele zum gemalten Infanten. Denn über diesen scheinbaren Umweg kam er überdeutlich und in neuer Weise als Individuum jenseits der Repräsentationsebene in den Blick. Der Text von Elfriede Jelinek Prinzessinnen! Brennendes Unterholz! zu Velázquez’ Bildnissen der Infantinnen erfuhr zeitgleich eine doppelte Interpretation. Die Schauspielerin Anne Bennent rezitierte den gesamten Text und verdeutlichte dabei in ihrer Körpersprache die Gefangenheit der Prinzessinnen in ihrer einschränkenden Kleidung sowie die Befreiung davon. Dem gegenüber drückte die Performerin Doris Uhlich ihre Interpretation vorwiegend in körperlicher Bewegung aus, den Text sprach sie nur fragmentarisch zeitgleich oder versetzt zu Bennent. Paulus Hochgatterers Beitrag Ganymed boarding widmete sich
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Correggios Bild der Entführung des Ganymed in einer auf die Gegenwart übertragenen Konstellation: Statt von Zeus in Adlergestalt in die Lüfte gezogen, spielte sich die Kindesentführung in einer Flugzeugkabine ab, zudem wurde der Text als Handpuppenspiel aufgeführt. Dem Status von Meisterwerken in ihren goldenen Rahmen entsprechend waren auch die Schauspieler/innen golden „gerahmt“, das heißt, sie trugen goldene Schuhe und goldene Unterwäsche bzw. um den Körper geschlungene Stoffe. Davon abgesehen waren sie nackt. Dies sollte wohl wieder eine Parallele zu den Gemälden bilden, in denen Nacktheit vielfach zu sehen ist, und gleichzeitig für eine gewisse Irritation sorgen, da diese nicht auf die Bilder gebannt blieb. In Gegenwart der Bilder den literarischen Bezugnahmen eine Bühne zu geben konnte sowohl den Effekt des Spektakels, das Aufmerksamkeit vom Bild abzog, als auch den Effekt einer erweiterten Kunstbetrachtung haben, die aus dem Spannungsverhältnis von Bild und Text neue Erfahrungen und Sichtweisen generierte. Ein Erfolg war die Veranstaltung in Besuchszahlen und in ihrem Eventcharakter: Die 7 Termine waren ausverkauft, sodass Wiederholungen angeboten wurden. In den kleinen Kabinetten staute sich häufig das Publikum derart, dass Aufführung und Bild vielfach gar nicht erst in den Blick kamen. Abschließen möchte ich dieses Kapitel mit jenem Interventionsformat, das nicht auf der Einbeziehung zeitgenössischer Künstler/innen, sondern auf einer wissenschaftlichen Setzung basierte, die mit Kunst bzw. Kunsthandwerk operierte.15 Tate Britain zeigte 2006/07 in den Räumen, die britische Kunst von 1500 bis heute präsentiert, die Ausstellung East – West: Objects between Cultures, mit der Vorstellungen zu Nationalgeschichte, Kunst und Identität befragt werden sollten. Von externen Fachwissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern kuratiert wurde den christlich-muslimischen Beziehungen der letzten 500 Jahre nachgegangen, wie sie sich in Kunst und Kunsthandwerk manifestierten. Mittels eines Planes war erkenntlich, in welchen Räumen die großteils hinzugefügten Objekte zu finden waren, die zwischen den Kulturen geformt oder transformiert worden waren oder die Aspekte repräsentierten wie Handel, Politik, muslimische Communities in Großbritannien. In 12 Räumen wurden zu 30 Objekten Informationen angeboten, aber auch Fragen gestellt. Zum Porträt des Botschafters um 1600 lautete diese: „What does the ambassadors’s gaze suggest about his status in England?“ Oder zu Porträts von King George mit Söhnen 1842 und von Queen Elizabeth 1960, die von östlichen Künstlern stammten und denen Porträts von westlichen Künstlern gegenübergestellt wurden, war zu lesen: „If this display offers an ‚orientalist‘ perception of the East by the West, do these objects offer an opposing ‚occidentalist‘ view?“
Kunst trifft Wissenschaft Obgleich Interventionen bislang überwiegend künstlerischer Art sind, finden sie nicht nur in Kunstmuseen statt. Sie sind in allen Museumssparten, in großen
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bekannten Institutionen genauso wie in ehrenamtlich geführten kleinen Häusern zu finden. Und vielfältig sind auch die Motivationen, Formen und Effekte. Zu den prägnantesten Arbeiten, gesellschaftliche Verfasstheiten von musealer Geschichtsdarstellung offenzulegen, zählen jene von Fred Wilson. Er interessiert sich, wie tradierte institutionelle Präsentationsformen kulturelle und ethnische Differenzen, Privilegien und Vorurteile vergessen lassen. In Mining the Museum zielte er durch pointierte Gegenüberstellungen auf die verborgene Geschichte von Rassismus: Eine Sklavenkette ergänzte kunstvoll gearbeitete Silberwaren oder eine Ku-Klux-Klan-Kapuze kam im Kinderwagen zum Liegen. In The Museum: Mixed Metaphors arrangierte Wilson die Dauerausstellung um, betextete sie neu, fügte Objekte ein oder entfernte sie. Seine Eingriffe folgten der Strategie der „getarnten“ Intervention. Sie waren subtil mit dem Vorhandenen verwoben, und es erforderte Aufmerksamkeit, um sie zu erkennen. Wilson entwickelte eine künstlerische Praktik, die die Grenzen zwischen der Rolle des Künstlers und des Kurators verwischte. Doch verstand er seine Ausstellungen – ganz im Sinne konzeptioneller Kunst – primär als Ausdruck seines künstlerischen Schaffens und nicht als kuratorische Tätigkeit. Ausstellung als Sprechakt zu verstehen, in den auch das Publikum durch seine Rezeption involviert ist, entspricht heute gängigen museologischen Erkenntnissen. Als Reflexion zu Geschichte und Praktiken von Museen sei auf zwei Projekte verwiesen, die anlässlich von Jubiläen stattfanden: im Technischen Museum Wien und im Wien Museum. Aus Anlass der Errichtung des heutigen Museumsbaus 1959 wurde 2009 im Wien Museum die Ausstellung Fifty Fifty. Kunst im Dialog mit den 50er-Jahren gezeigt, in der Arbeiten von 23 Künstlerinnen und Künstlern zu sehen waren, darunter zehn ortsspezifisch für die Ausstellung entwickelte Werke. Anders als bei den wissenschaftlich-gestalterischen Interventionsprojekten der Jahre 2004-06 wurde nun nicht der Begriff Intervention verwendet und das Konzept bezog sich auch nicht auf die Dauerausstellungen. Das Projekt lief unter der Bezeichnung Ausstellung, die nur nicht in einem Sonderausstellungsraum, sondern dezentral verstreut stattfand. Allerdings kam der in der Kunst geläufige Begriff ortsspezifisch ins Spiel. Ein Teil der künstlerischen Beiträge bezog sich auf die Architektur, Gestaltung und die Atmosphäre des von Oswald Haerdtl errichteten Gebäudes, das als Schlüsselbau der Nachkriegsmoderne – Schlagwort moderate Moderne – gilt, andere reflektierten allgemein auf das ästhetisch-politische Klima dieser Zeit. Mit der Idee, Kunst quer durch das Museum zu zeigen, wurden die Ausstellungsgeschosse, das Dach und der Außenbereich, Foyer, Stiegenhaus und ehemalige Direktion zu Spielorten. „Ein Museumsbau, der nach 50 Jahren den räumlichen und funktionalen Anforderungen eines zeitgemäßen Museums kaum mehr entspricht, wird transformiert, kommentiert und gestört.“ Diese im Ausstellungsfolder zu lesende Intention korrespondierte auch mit den realen Bemühungen des Museums, einen Neubau zu erhalten.
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Zum 100-Jahr-Jubiläum des Technischen Museums Wien 2009 wurde die Intervention Quergeblickt gezeigt. Auf Basis von Interviews mit Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern und gemeinsamen Reflexionsprozessen entwickelte das Ausstellungsteam die Idee, Manifestationen zu den 100 Jahren nicht in Sonderausstellungsflächen, sondern im ganzen Haus stattfinden zu lassen. Zudem sollten neben vom Haus aufbereiteten Präsentationen zur Geschichte, Museumsarbeit und zum Selbstverständnis des Museums auch künstlerische Arbeiten einbezogen werden. Beide Formate wurden unter drei Leitbilder gefasst: Rückblicke befassten sich mit der Gründung und Geschichte des Museums, Einblicke sollten die Museumsarbeit sichtbar machen und Ausblicke widmeten sich den Perspektiven. Annina Zwettler, die Projektleiterin der Kunstinterventionen, beschrieb die Erwartungen und das Vorgehen folgendermaßen:16 Künstlerische Positionen wurden als Option gesehen, die interne Auseinandersetzung um weitere Ebenen und Außenperspektiven anzureichern. Reflektiert wurde zudem auf die Fähigkeit, Blicke pointiert einzubringen, Fragen des Museums und an das Museum auf unkonventionelle Weise zu beantworten und damit in der Rezeption etwas auszulösen, was vom Museum verfasste Informationen und Präsentationen nicht können. Erwartet wurde ein unabhängiger Blick, der einen Diskussionsraum sowohl innerhalb des Hauses als auch bei den Besucherinnen und Besuchern eröffnet. Die eingeladenen Künstler/innen wurden mit Frage- bzw. Aufgabenstellungen konfrontiert, das heißt das Ausstellungsteam erstellte Themenprofile, zu denen gezielt Künstler/innen angefragt wurden. Auch in der Folge wurde mit den Künstlerinnen und Künstlern diskutiert, ihnen nahe gebracht, was Selbstverständnis, Anliegen und Probleme des Museums sind, wie die Auseinandersetzung mit Technik in einem Museum verstanden wird etc. Obgleich beide Formate gleichermaßen in den drei Leitbildern gefasst waren, waren sie in der Regel nicht verschränkt, allenfalls nebeneinander platziert, und korrespondierten – bis auf wenige Ausnahmen – weder inhaltlich noch formal mit der Umgebung, in die sie eingebettet wurden. Sie erschienen als autonome Inseln in den Dauerausstellungen sowie im Eingangs- und Treppenbereich und an der Außenfassade. Zu den Ausnahmen, wo eine Verbindung zwischen Vorhandenem und Hinzugefügtem bestand, zählten die Beiträge von Werner Reiterer und Miriam Bajtala. Reiterer war mit der Aufgabe betraut worden, eine Arbeit zur Außenwirkung des Museums zu machen. Er griff Wünsche auf, die in den Diskussionen von Museumsmitarbeiterinnen und -mitarbeitern formuliert worden waren: Das Museum möge in der Öffentlichkeit mehr wahrgenommen werden. Sein Beitrag Speakers’ Corner war ein rotes Riesenmegafon an der Eingangsfront des Hauses. Zu hören waren Funktionsgeräusche von im Haus stumm gestellten Objekten – z. B. von einem Zug, Auto, Telefon, Staubsauger – aber auch Ansagen wie „Herr Mayer bitte in die Direktion kommen.“ Ein Megafon an der Außenfassade macht visuell und akustisch aufmerksam, ist eine pointierte Irritation, rekurriert auf die Ausrichtung einer Institution auf eine Öffentlichkeit hin und auf das Wechselverhältnis
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Technisches Museum Wien, Intervention Quergeblickt, Miriam Bajtala, ohne Namen, 2008/2009, © TMW
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von innen und außen. Die Rezeption kann unterschiedlich erfolgen: Zum einen suggeriert die Art der Ausführung Öffnung nach außen und Kommunikation. Zum anderen kann das Megafon auch als einseitiger Sprechakt und nicht als Dialog gesehen werden, mit dem Effekt, die autoritative Institution Museum zu bestätigen, das machtvolle Gebäude durch das Megafon im Gestus zu unterstützen. Wie auch immer interpretiert, kommt die Frage aufs Tapet, wie ein Museum beabsichtigt zu kommunizieren. Solange das Megafon mit seinen Konnotationen nicht als Antwort erscheint, kann sich ein Reflexionsfeld eröffnen. Dezidiert mit einem Ort verknüpft war die Installation ohne Namen – eine Auseinandersetzung mit der Ehrentafel, mit der Miriam Bajtala beauftragt wurde. Die jetzige Ehrentafel stammt aus dem Jahr 1942 und ersetzte die aus der Gründungszeit stammende. Der Aufforderung, die zwei jüdischen Namen zu entfernen, war nachgekommen worden, indem sämtliche Namen der Gründer und Stifter zum Verschwinden gebracht wurden. Damit die Tafel Aufmerksamkeit bekam, stellte Bajtala vor die Wand mit der Ehrentafel eine Glasplatte: Von außen überlagerte das dunkel getönte Glas die Ehrentafel, die aber sichtbar blieb, innen wurde das Glas zum Spiegel. Gingen die Besucher/innen zwischen Wand und Glasplatte durch, sahen sie sich im Spiegel gemeinsam mit der Ehrentafel. Dazu bot eine Hörstation Passagen aus dem Schriftverkehr zwischen dem Museum und den NS-Behörden. Für das Problem der Verortung ziehe ich die Beiträge von Ricarda Denzer und Nikolaus Gansterer heran. Denzer platzierte das Thema unsichtbare Industrie- und Arbeitswelt in den Dauerausstellungsbereich Stahlerzeugung zum LD-Tiegel. Vor einer Wand mit verblassten Spuren eines Betriebsorganigramms, die zwar nicht dekodierbar waren, aber ein strukturiertes System konnotieren ließen, waren drei weiße Mäntel schwebend angeordnet. Hinter der Wand war ein Foto einer Arbeitssituation, zu dem eine Stimme von Arbeitsabläufen erzählte, und eine Projektion zu sehen, in der ein Beatboxer Geräusche aus einem Industriebetrieb interpretierte. Denzer verwies auf das in der Ausstellung nicht mehr Sichtbare, die ehemalig mit den Objekten verbundenen Produktions- und Arbeitsprozesse, und stellte damit die Frage nach der Konzeption von Ausstellungen, den vermittelten und unberücksichtigten Kontexten und Narrativen. Doch funktionierte diese Verknüpfung nicht. Dass der beigestellte Text meines Erachtens wenig geeignet war, sich mit dem Kunstwerk auseinanderzusetzen – dies traf gleichermaßen auch auf andere Beiträge zu –, war nicht das Hauptproblem. Zwar war die Kunstinstallation in der Nachbarschaft des LD-Tiegels, zu dem Denzer Bezug nahm, aber eben nicht allein. Denn nebenan war raumgreifend auch die vom Haus erstellte Station Wer besucht das Museum? zu sehen, die dreidimensional visualisierte Besuchsstatistiken und Fotografien von Besuchen zeigte, und wo man sich auch fotografieren lassen konnte. Der Einleitungstext zu dieser Station war dabei vor der Kunstintervention von Ricarda Denzer platziert. Damit wurde eine Verknüpfung suggeriert, die in die Irre führte. Aber auch ohne den Text zu lesen, legte die unmittelbare Nachbarschaft eine Verbindung nahe, die scheitern musste und zudem zur Folge haben konnte, den leichter
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verständlichen Statistiken Aufmerksamkeit zu geben und nicht dem erschwert rezipierbaren Kunstwerk. Die Arbeit von Nikolaus Gansterer dient mir als Beispiel für die Schwierigkeit, wenn Interventionen Metaebenen thematisieren, diese aber nicht objekt-, displayoder architekturgebunden sind und dennoch in eine Umgebung gesetzt werden, die kein White Cube ist. Gansterers Memoseum setzte sich in anregender Weise mit der Strukturierung und dem Konstrukt Sammlung auseinander. Er schuf eine Landschaft aus Schachteln, in denen Blätter mit Zeichnungen gestapelt waren, die zum Teil auf gefundenes Bildmaterial zurückgehen. Sie hatten zudem entweder eine Nummer, die an Inventarnummern erinnert, oder eine Bezeichnung wie schwarze, weiße etc. Sammlung, Kategorie, Kriterien, Kernthesen, Konstellationen, Erinnerungsträger, Sammlung von Denkfiguren, Gedankenstützen, Umraumungen, Vergessene Erfindungen. Damit war eine Fülle an Anknüpfungspunkten gegeben, museologisch, formal, assoziativ. Die Installation war zwar in einer entleerten Ecke, aber dennoch im Dauerausstellungsbereich Energie verortet und bildete dort einen Fremdkörper. Vermittlung und Verortung bzw. Bezugnahme zum Vorhandenen sind in der hausinternen Reflexion des 100-Jahr-Projekts als wichtige Angelpunkte erkannt worden, die es beim Format Intervention zu berücksichtigen gilt. Demgegenüber wurden die produktiven Aspekte darin gesehen, dass die künstlerischen Interventionen der internen Reflexion gedient haben und begonnen wurde, neue Zielgruppen anzusprechen. Zudem gelang der seltene Fall, dass das Technische Museum im Feuilleton wahrgenommen wurde. Dieser Befund diente als zu bedenkende Grundlage für die nächsten Interventionsprojekte. Mit der Intervention Wunschmaschinen (2010) wurde versucht, das Augenmerk auf die Bezugnahme zum Vorhandenen zu legen. Und bei der für das Jahr 2012 geplanten Intervention zum Thema Arbeit wird auch die Vermittlungsdimension neu gedacht. Wunschmaschinen war eine Kooperation mit der Universität für angewandte Kunst Wien. 16 Studierende erhielten die Möglichkeit, unter der Perspektive des Wunsches auf die Dauerausstellung Alltag – eine Gebrauchsanweisung zu reagieren, hier Vorstellungsräume zu eröffnen, Projektionsflächen der technischen Glücksversprechen zu thematisieren. Anders als bei Quergeblickt bestimmten die Studierenden, wo und zu welchen konkreten Aspekten sie Arbeiten präsentieren wollten. Ihre Wahl von Ort und Thema legte offen, was die künstlerische Aufmerksamkeit anzog. Die Lösungen waren breit: Es wurden Themen weitergeführt oder neu formuliert, Aspekte oder Blicke durch Installationen und Medien eingebracht, in Objektanordnungen eingegriffen, neue Alltagsobjekte konstruiert und den vorhandenen beigestellt. Dabei zeigten sich auch die disziplinären Verankerungen der Studierenden. So wählten zwei das Thema Müll. Elisabeth Falkinger, deren Studienschwerpunkt Landschaftsdesign war, entwarf Verpackungen aus verrottendem Material – Schokoladeverpackung aus getrockneten Rotkrautblättern, Behältnisse aus einem ausgehöhlten und getrocknetem Sellerie usw. – und integrierte ihre Objekte und ein Video, das
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die Produktion der Verpackungen und ihre Verwendung im Lebensmittelhandel zeigte, in die vorhandene Präsentation zur Müllentsorgung. Rudolf Stefanich, der Industrial Design mit einem Interessenschwerpunkt auf Medien studierte, wählte den Aspekt digitaler Müll und spielte formal mit analogen Wegwerftraditionen: Ein PC-Bildschirm nach dem anderen wird wie Papier zerknüllt, bis der Bildschirm voller weggeworfener „Papiere“ ist. Einige Studierende griffen nicht ein bestimmtes Thema der Dauerausstellung auf, sondern beschäftigten sich mit grundlegenden Aspekten von Wunschprojektionen. Beispielsweise unterlief Leonie Spitzer die an Alltagstechnik gestellte Erwartung, zu funktionieren. Die in einem Wohnzimmerambiente eingebetteten technische Funktionen hielten nicht, was sie zu versprechen schienen: Der Lichtschalter aktivierte das Telefon, das schaltete wiederum eine Lampe ein und so fort. Die Arbeiten waren in der Regel eng in die Dauerausstellung verwoben, die Markierung erfolgte allein auf grafischer Ebene durch farbige Beschriftungstafeln. Trotz dieser Kennzeichnung wurden die Tafeln vielfach vom Publikum nicht von den übrigen Texten differenziert. Die Dichte der Dauerausstellung, die nunmehr um – oft kleine – Eingriffe angereichert war, und die Verwobenheit von Vorhandenem und Hinzugefügtem ließ die Frage nach der Les- und Sichtbarkeit auftauchen. Muss der Eingriff oder das beigestellte Differenzierungsmerkmal von Weitem auf Anhieb erkannt werden? Oder bedarf es dieses zweiten Blicks, den generell jedes Kunstwerk und jede Ausstellung braucht, um die eingelagerten vielfältigen Bedeutungsdimensionen wahrzunehmen? Ich teile hier Michael Fehrs Ansicht, dass es eine Qualität sein kann, wenn eine Intervention so integriert ist, dass sie auf den ersten, flüchtigen Blick nicht erkannt wird. Ein demonstrativer Hinweis à la „Achtung Intervention“ ist fragwürdig. Fehr begegnet dem Vorwurf mangelnder Erkennbarkeit mit einer Hinterfragung des Rezeptionsverhaltens: Wenn etwas nicht wahrgenommen wird, stellt sich auch die Frage, inwieweit Besucher/innen überhaupt Aufmerksamkeit auf Displays richten. Denn man würde – vorausgesetzt, man schaut – immer alles sehen, die Frage sei nur, ob man in der Lage und willens ist, es zu artikulieren und eine eventuelle Irritation als Irritation zu verbuchen oder sie zu ignorieren. Mangelt es an Aufmerksamkeit und Bereitschaft zur Irritation, könne ein nachträgliches Erkennen oder Hingewiesenwerden dazu führen, von sich selbst irritiert zu sein, dies aber nicht zuzulassen sondern als Argument zu nutzen um zu verlangen, das hätte vermittelt werden müssen.17 Auch viele der Studierenden wollten ihre künstlerischen Beiträge so eingebettet haben, dass sie als selbstverständlicher Teil der Dauerausstellung erschienen. Sie setzten damit auf die subversive Kraft ihrer Beiträge, zu irritieren, sobald der Blick der Betrachtenden sie entdeckte – eine vielfach verfolgte künstlerische Strategie, etwa von Fred Wilson oder Sophie Calle. Gut funktionierte diese Strategie etwa bei Milena Georgieva. Sie implementierte zu einer großen Anzahl aufgereihter Prothesen aus der Zeit des Ersten Weltkrieges die Prothese einer Bärentatze, die sie in gleicher Manier gemacht hat, und nannte dieses Objekt Bärenstark. In der
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Vielzahl der Prothesen gliederte sich die Bärentatze recht unauffällig ein, doch zeigte sich die befremdliche Wirkung sofort, sobald man ihrer ansichtig wurde. Zeitgenössische Kunstinterventionen mussten nicht das vorrangige Ziel haben, Geschichte und Praktiken von Museen und Ausstellungen bzw. ihre Wahrnehmungsdispositionen direkt kritisch zu befragen. Dies konnte dennoch ein Effekt sein, selbst wenn ästhetisch wirkungsvolle oder spielerische Eingriffe, persönliche Auseinandersetzungen mit Objekten und deren Erzählungen oder Selbsterkenntnis- und Selbsterfahrungsprozesse für das betrachtende Publikum im Vordergrund standen. Wenn künstlerische Arbeiten als persönliche Konstruktionen sichtbar werden, können sie einen produktiven Gegenpol zu musealen Präsentationen darstellen, die von wissenschaftlichen Konventionen und Ordnungssystemen bestimmt sind. Das Freud Museum in London ist bereits seit den 1990er-Jahren regelmäßig Schauplatz von Interventionen. Künstler/innen werden eingeladen, auf ein heimisches Interieur, das durch den Kontakt mit Sigmund und Anna Freud auratisch aufgeladen ist, bzw. auf das Leben und Denken dieser beiden Personen zu reagieren. Ein wichtiger Protagonist für dieses Format war und ist James Putnam, der auch im British Museum für prägende Interventionen sorgte und der sich seit Jahrzehnten mit dem Verhältnis Kunst und Museum beschäftigt. Seine Kuratorenschaft wird auf der Homepage des Freud Museum besonders gewürdigt: Die jeweilige Arbeit sei “the latest in the critically acclaimed ongoing series of Freud Museum exhibitions curated by James Putnam“.18 Aus der Bandbreite wähle ich zwei Beispiele, in denen Putnam Kurator war, und eine Intervention, die ich 2011 sah. Sophie Calle nannte ihre Installation von 1999 Appointment with Sigmund Freud.19 Sie verwob Andenken aus ihrem „persönlichen Museum“ mit Freuds Dingen zu einem Dialog. Beispielsweise gesellte sie ihren Hochzeitsring zu Freuds Skulpturen, hängte ihren Morgenmantel über einen Sessel, drapierte ihr Hochzeitskleid auf der Couch. Jede Installation war von einem Text begleitet, der eine Erinnerung aus ihrer Kindheit oder ihrem Liebesleben erzählte. Wie in Calles Arbeiten üblich, vermischte sie Fakten und Fiktionen. Ihr Interesse an Identität, Fantasie und Rollenspiel trafen auf Sigmund Freud bzw. die Psychoanalyse. Durch die Parallelen zu Freuds psychoanalytischen Theorien und Sammelleidenschaft wurde Freuds Erbe neu aktiviert. Eine andere von James Putnam kuratierte Arbeit war Andy Hope 1930 At The Freud von Andreas Hofer (2010), dessen Werk häufig auf Comics und Science Fiction rekurriert. Der Zufall, dass der Comic Superman erstmals in dem Monat erschien, als Freud nach London kam, nahm Hofer zum Anlass, eine Installation von Andy-Hope-Masken und Superhelden-Capes zu entwerfen. Seine weiteren Eingriffe waren ebenfalls Referenzen auf das Werk Freuds. So installierte er in Freuds Arbeitszimmer die Porträtserie Monty, die von Montgomery Clift in John Hustons Freud-Film inspiriert war, in dessen Fokus die Hypnosebehandlung von Hysterie stand. Im Rekurs darauf, dass Freud seine Theorien in der klinischen Arbeit mit Frauen entwickelte, stellte Hofer im oberen Stock die expressive Frauenporträtserie
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Sweet Troubled Souls aus. Weiters gesellte er Science-Fiction-Figuren aus seiner Sammlung zu Freuds Antikensammlung, wodurch Parallelen von Götter- und Heldentraditionen nachgegangen werden konnte. Die Intervention von Alice Anderson Childhood Rituals 2011 bemächtigte sich weithin sichtbar des Gebäudes. Das von ihr bevorzugte Material Puppenhaar – eine Referenz auf ihre Kindheit – war zu dicken Seilen verarbeitet um das Gebäude gespannt. Die Seile schienen in der Erde zu wurzeln und das Haus mit einem Netz zu umfangen oder auch gefangen zu halten. Im Inneren wurde diese Perspektive verkehrt, sobald man in Anna Freuds Zimmer im ersten Stock kam und dekodieren konnte, dass der hier befindliche Webstuhl Ausgangspunkt des Konzeptes war. „As a wry play on Freud’s idea that weaving is a cover for ‚genital deficiency‘ she takes Anna Freud’s loom as a starting-point and arranges the dolls hair in lines and grids, straightening the strands into taught ropes.“20 Die Seile und die vorwiegend aus Haar gefertigten Gegenstände, die in den verschiedenen Räumen in das vorhandene Ambiente implementiert waren, wurzelten nunmehr in einer menschlichen Produktion, statt aus der Erde zu sprießen. Nicht eine monografische, sondern eine Gruppenausstellung in die vorhandene Ausstellung zu setzen, erfolgte unter anderem in den Interventionsprojekten Auf Bewährung im Kulturhistorischen Museum für das Fürstentum Lüneburg 1991 und Der Vogel Selbsterkenntnis im Tiroler Volkskunstmuseum in Innsbruck 1998. Auf Bewährung gehört zu den frühesten Interventionen im deutschsprachigen Raum. Dabei wurde der Grundsatz postuliert: Wenn ein Museum auf dem Prüfstand zeitgenössischer Kunst steht, muss sich nicht nur die geprüfte Institution sondern auch die Kunst bewähren. „Die eigens für diesen Ort erstellten Arbeiten der eingeladenen Künstler müssen sich vor den für museumswürdig befundenen Sammlungsgegenständen ebenso behaupten, wie diese ihre bis in die Gegenwart reichende Bedeutung unter Beweis stellen müssen. Wenn das gelungen ist, ist allerdings erreicht, was lange für unmöglich gehalten wurde: Die historische Sammlung eines Museums wird zum öffentlichen Raum und bereitet neue Wege zum Verständnis zeitgenössischer Kunst.“21 Für bis heute relevant halte ich, dass Anforderungen präzisiert wurden: Es wird ein Kunstwerk geschaffen, dieses solle orts- und/oder themenspezifisch auf Vorhandenes reagieren und müsse sich im nachbarschaftlichen Dialog mit dem Ausgestellten des Museums bewähren. Und die Ausstellung müsse zudem auch als Ausstellung funktionieren. Dazu kämen die Anforderungen an die Rezeption: Das Publikum rezipiere die vor Ort entstandenen Arbeiten im kulturhistorischen Kontext der vorhandenen Ausstellung, wobei es sich angesichts der divergierenden Kunstpraktiken und der unterschiedlichen Handschriften von Kunst und kulturgeschichtlichem Ausstellen ständig neu orientieren müsse. Das Resümee: Zuletzt wären auch die Besucher/innen auf dem Prüfstand,22 wie sie ihre Aufmerksamkeit auf Vorhandenes und Ergänztes, Geschichte und Kunst sowie auf den Dialog zwischen beiden lenken. Im Tiroler Volkskunstmuseum wurden vorwiegend bereits bestehende Arbeiten von 25 Künstlerinnen und Künstlern in
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die Dauerausstellung integriert, um „ungehörige“ Nachbarschaften und Verfremdungen zu schaffen. Als Ziel galt auch damals schon, zur Reflexion des Verhältnisses von Tradition und Gegenwart einzuladen und Selbstverständlichkeiten in einem neuen Licht erscheinen zu lassen.23 Zur Vielfalt der Kunstrichtungen, denen die Künstler/innen angehörten, kamen unterschiedliche Formen, die Werke in die Dauerausstellung zu implementieren. Als Bezugspunkt diente ein Objekt oder eine Inszenierung, manche brachten neue Aspekte ein oder hatten eine für mich schwer nachvollziehbare, auf individueller Assoziation beruhende Anbindung. Naheliegende Bezugnahmen waren die Reliktinstallation Orgien-Mysterien-Theater von Hermann Nitsch im Ausstellungsbereich Religion oder die maschinenhaften Skulpturen Decker & Black und Schraubstöcke und Schreibstifte von Pavel Schmidt im Raum mit Maschinen und Werkzeugen der Flachs- und Wollproduktion. In Räume, in denen Mobiliar ausgestellt war, wurden Arbeiten hinzugefügt wie Martin Gostners Öde Gallenküche II oder Elmar Trenkwalders thronartige Skulptur aus grün lasierten, gebrannten Kacheln. Funktionalität, Zweckgebundenheit, Material und Formgebung der Museumsobjekte sowie die in ihnen inkorporierten Projektionen und ausgeführten Arbeiten und Rituale konnten durch die beigestellten Kunstwerke deutlicher in den Blick kommen. Trotz naher Bezüge waren viele Kunstwerke schnell als Interventionen sichtbar. Anders bei Peter Laurens Mol, seine Plastiktulpe zierte diskret eine Kommode. Und in einer Vitrine mit Heiligenbildern und Memento mori fand sich unter dem Titel Testicles of Oblivion eine Kartonschachtel ein, in der zwei eiförmige Kohlestücke auf Watte lagen. Der Objekttext bezeichnete diese als „Hoden der Vergesslichkeit“. Die Ergänzungen waren auf den ersten Blick kaum bemerkbar, erschienen aber bei genauerem Hinsehen als Irritation, die mal subversive, ironische Perspektiven auf die umgebenden Objekte bzw. thematisierten Inhalte eröffnete, mal als eher selbstreferenziell gesehen werden konnte, jedenfalls aber Aufmerksamkeit und neue Blicke auf die vorhandene Objekte angeregte. Nicht ergänzend, sondern die Raumatmosphäre vollkommen verändernd war die Inszenierung von Kazuo Katase in zwei der vielen im Museum installierten Wohnräume. In das erste Zimmer stellte er die Skulptur eines stark vergrößerten Stuhls, dessen Beine auf Schiern standen, und tauchte den Raum in unwirklich scheinendes blaues Licht. Im anschließenden Zimmer positionierte er einen raumeinnehmenden Behälter, dem Apfelgeruch entströmte, mit dem beziehungsvollen Titel Ort-Raum: Apfelgarten (Die Suche nach der verlorenen Zeit). Gängige Vorstellungen und Erinnerungen etwa aus der Kindheit wurden durch eine Mischung aus Bekanntem – Schi, Geruch – und Verfremdung – Skulptur, Licht – provoziert. Ähnlich wie bei vielen Interventionen war der Anspruch des Projekts Spuren legen – Künstlerische Interventionen formuliert, das 2010 und 2011 jeweils in fünf Wiener Bezirksmuseen im Rahmen des Wiener Festwochenprogramms Wir sind Wien. Festival der Bezirke realisiert wurde: Betont wurde, dass es nicht darum ginge, „Gegenwartskunst zu ‚präsentieren‘ sondern um das Zusammenspiel aller visuellen
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und inhaltlichen Parameter. Die anonyme Sammlung und die Autorenkunst transportieren sich gegenseitig, [...].“ Doch waren diese Informationen nur im Internet zu lesen. Im Programmheft zu Wir sind Wien gab es 2010 lediglich den kurzen Hinweis, dass in Wien lebende Künstler/innen mit integrierten Beiträgen konterkarieren, kommentieren, Kontexte verschieben und ein neues Licht auf Bezirksmuseen werfen. Dazu wurden die Namen der beiden Projektleiter und pro Museum die Namen der teilnehmenden Künstlerinnen und Künstler genannt. Kein Text, lediglich diese Namen waren den Postkarten zu entnehmen, die in den Bezirksmuseen zur Mitnahme bereit lagen. Vor Ort lagen zumeist keine allgemeinen Informationen zum Interventionsprojekt auf, nur zu den einzelnen Kunstwerken waren die üblichen Daten oder auch erklärende Texte zu lesen. In manchen Bezirksmuseen gaben Mitarbeiter/innen Hinweise. Ich führe diese Rahmenbedingungen deshalb an, weil sich hier eine Problematik von Deutungsangeboten und Autor/innenschaft zugespitzt äußert, die ich in unterschiedlichem Ausmaß in vielen Projekten beobachtet habe. Die Frage ist nicht nur, welcher Art von Information eine Intervention bedarf, sondern auch wer durch die Positionierung der Kunstwerke und durch beigefügte Texte spricht. Informationen zum Kunstwerk allein negieren den Kontext, womit fragwürdig wird, warum der White Cube verlassen wurde. Texte, die sich zum Spannungsfeld zwischen Hinzugefügtem und Vorhandenem äußern, etwa die Ideen und Assoziationen zur Positionierung eines Kunstwerkes in der Dauerausstellung darlegen, versuchen den Charakter einer Intervention deutlich zu machen. Dennoch kommt es in beiden Fällen zu Unsicherheiten hinsichtlich der Autor/ innenschaft. Spuren legen ließ offen, wer hier wie seine/ihre Blicke zeigte. Haben die genannten Projektleiter die Interventionen kuratiert oder nur organisiert? Wer hat die ausgewählten oder eigens erstellten Werke der eingeladenen Künstler/innen in der vorhandenen Ausstellung positioniert, die genannte externe Projektleitung, die Bezirksmuseen, die Künstler/innen oder alle in gleichwertiger Kooperation? Wie die Rollen von Kurator/in und Künstler/in gehandhabt werden, wird bei Interventionen oft nicht oder ungenügend ausgewiesen. Selbst Begründungen, warum für ein Kunstwerk dieser spezifische Ort in der Dauerausstellung gewählt wurde, bleiben diesbezüglich oft nebulos. Bei Fabres Intervention im Kunsthistorischen Museum wurde im vor Ort aufliegenden Begleitheft und auf der Homepage deutlich gemacht, dass der Künstler die Wahl bestimmt hat. Bei Quergeblickt im Technischen Museum wurde zwar erwähnt, zu welchen Fragestellungen die Künstler/ innen eingeladen wurden, doch blieb dem Publikum verborgen, dass die Künstler/ innen, obwohl sie Auftragswerke machten, diese nicht selbst platzierten. Die Zuweisung an bestimmte Orte im Haus erfolgte primär durch die Kuratorinnen und Kuratoren. Die Blicke und Assoziationsfelder, die aufgrund des Aufeinandertreffens von hinzugefügtem Kunstwerk und vorhandenem Kontext eingerichtet wurden, waren jene des Museums. Bei Vogel Selbsterkenntnis oder Auf Bewährung vermute ich eine Kooperation, doch war dies nicht dezidiert dargelegt. Mir geht es hier nicht um Credits. Da Interventionen als ein zentrales Motiv das Einrichten anderer Blicke,
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das Spiel mit Deutungsinstanzen nennen, ist es von Relevanz zu erkennen, welcher Deutungsmacht ich als Rezipientin nun begegne.
Wissenschaft trifft Wissenschaft Diese Form, mittels kulturgeschichtlicher Positionierungen in Denk- und Formierungsprozesse von Museen und Ausstellungen einzugreifen, ist am wenigsten häufig zu finden. Hierzu zählen die Interventionen des Wien Museums 2004 bis 2006, die realisiert wurden, um für Abwechslung und neue Blicke in der Schausammlung zu sorgen, sie zu kommentieren oder gezielt Aspekte der Geschichte einzubringen. Eine markante Farbgebung akzentuierte jede und machte sie von der Dauerausstellung unterscheidbar. Die erste Intervention Migrationsziel Wien erfolgte 2004 parallel zur Sonderausstellung Gastarbajteri und wurde von Kuratorinnen und Kuratoren des Hauses gemacht. In der gesamten Dauerausstellung thematisierten gelbgrüne Texttafeln die Umstände von Migration. Zumeist wurde an vorhandene Objekte angeknüpft, nur zum Teil werden Exponate hinzugefügt. Das Ziel war, Stadtgeschichte als Migrationsgeschichte sichtbar zu machen. Durch die Vielzahl an Texttafeln wurde deutlich, wie sehr Wiens Geschichte von vielfältigen Wanderungsbewegungen geprägt war, ob es nun jene von Prinz Eugen oder die von böhmischen Ziegelarbeitern waren. In der zweiten Intervention Batzen, Wuschel und Zapfen. Witzzeichner besuchen das Museum lud ein extern bestellter Kurator Karikaturistinnen und Karikaturisten ein, aus ihrer Perspektive die Dauerausstellung zu kommentieren. Die Karikaturen bezogen sich in der Regel auf ein ausgestelltes Objekt und waren neben diesem platziert – diesmal durch die Leitfarbe orange markiert. Sie zielten etwa auf ein mit dem Objekt verknüpftes historisches Geschehen, auf Objektauswahl und BedeutungsGenerierung oder den Mangel an Gegenwartsbezogenheit und gesellschaftlichen Kontexten. Intendiert war, zum Lachen, aber auch Nachdenken anzuregen. Die ersten beiden Interventionen verband eine starke Bezogenheit auf einzelne Objekte, die kommentiert wurden. Erweiterte die erste Intervention die Objekte bzw. Dauerausstellung um einen thematischen Aspekt, versah die zweite die Exponate mit assoziativen, hinterfragenden Deutungen. Strukturelle Aspekte der Dauerausstellung, ihre Wahrnehmungsdispositionen und musealen Implikationen stärker in den Blick zu nehmen, darauf zielte die eingangs beschriebene dritte Intervention ab, allerdings unter einem spezifischen Fokus, der Kategorie Geschlecht. Eine mehrere Institutionen querende Ausstellung war Beschlagnahmt. Die Sammlung des Wiener Jüdischen Museums von 1995, die von den Kuratorinnen und Kuratoren nicht als Intervention bezeichnet wurde, aber als solche angesehen werden kann. Die Ausstellung wurde vom Jüdischen Museum Wien gemacht, fand aber in jenen drei Wiener Museen und zwei Bibliotheken statt, in die die 1938 beschlagnahmte Sammlung des Jüdischen Museums verbracht wurde. Im Naturhistorischen
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Museum, dem Museum für Völkerkunde und dem Museum für Volkskunde wurden Objekte samt jenen Dokumenten ausgestellt, die auf die gewaltsame Enteignung verwiesen. Damit sollte nicht nur die Geschichte der Sammlungen des Jüdischen Museums gezeigt werden, sondern auch die Museen und Bibliotheken mit deren Geschichte konfrontiert werden. Unter anderem wurde die 1939 eröffnete antisemitische Ausstellung im Naturhistorischen Museum angesprochen. Geschaffen wurde an jedem der fünf Schauplätze eine Art Insel, die durch Vitrine, Informationsstele und Bodenfarbe immer gleich gestaltet war. Diese Inseln bildeten an den Schauplätzen bewusst Fremdkörper. Ein museologisch reflexives Projekt realisierte das Museum zu Allerheiligen in Schaffhausen. Wie in vielen Museen war die Dauerausstellung durch die ständige Erneuerung zu einem Konglomerat unterschiedlichster Ausstellungs- und Gestaltungskonzepte geworden, die nun als Anschauungsmaterial für ein Nachdenken über das Wesen des Museums sichtbar werden sollten: Alles, was das Museum zeigt, und alles, was das Publikum vorfindet oder vermisst, sei als Aussage über ein Thema, das Museum oder das Verhältnis von Publikum und Museum zu lesen. Die Dauerausstellung bzw. das Museum selbst wurde 2005 zum Gegenstand der Intervention 50 Blicke hinter die Dinge – auf der Suche nach den Geheimnissen des Museums. Die hinzugefügte Metaebene, die ein neues Verständnis des Gesehenen und Einsichten in das Wesen des Museums möglich machen sollte, ließ die vorhandene Aufstellung unberührt. Ausgangspunkt für die Aussagen bildete jeweils ein Exponat. Dabei umrissen Texte die jeweilige museologische Frage, die das Ausstellungsteam an diesem Objekt interessiert hatte, oder konkrete Probleme, mit denen es das Museum zu tun hat.24 Auf diese Weise wurden sowohl übergreifende als auch den verschiedenen Disziplinen geschuldete Aspekte des Mehrspartenhauses deutlich. In der Kunstabteilung kamen spartenspezifische Fragen aufs Tapet, wie Qualitätskriterien von Gegenwartskunst, Auktionsankäufe, Restaurierungsverfahren oder sich ändernde Bewertungen eines Kunstwerkes. Anknüpfungspunkte boten etwa die Überwachungsanlagen – Sicher sichtbar thematisierte Gefahren und Sicherheitsvorkehrungen bzw. vorbeugende Konservierung – und die Präsentationsform, Eins nach dem anderen widmete sich der Hängung. In der Abteilung der klassischen und präkolumbischen Archäologie wurden Problematiken aufgeworfen wie das Eigentum an Sammlungsgut, die Raubgräberei und der internationale Kulturgütertransfer sowie das Ausstellen mumifizierter Körper. Letzteres erfolgte anhand eines Trophäen-Schädels, wobei auch offen gelegt wurde, dass manche Museumsmitarbeiter/innen gegen eine Aufstellung eintraten und als Kompromiss eine unaufdringliche Präsentation gewählt wurde. Zu diesen kamen allgemeine Aspekte wie das Kontextualisieren oder Isolieren von Objekten, der Leihverkehr und die teilweise mangelnde Aktualität von wissenschaftlichen Erkenntnissen in lange bestehenden Dauerausstellungen. Unter dem Titel Das uralte Babyface wurde dargelegt, dass es zu dieser Statue unterschiedliche Deutungen gibt und gefragt, welche und wie viel an Information das Publikum lesen will.
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Im naturkundlichen Bereich thematisierte der Text Die Handschrift des Sammlers anhand von Vogelpräparaten sowohl das Prinzip der Ordnung dieses Sammlers als auch die Aura, die den originalen handschriftlichen Beschriftungstafeln beigemessen wird. Zu einem Display mit Baum und Reh wurde der Zusammenhang zwischen Leitidee und Umsetzungsweise offen gelegt: Da zu dieser Zeit der Naturschutzgedanke zentral war, war die Verwendung natürlicher Materialien für die Gestaltung konsequent. Auf Präsentationsweisen verwiesen die meisten Abteilungen. In der Geschichtsabteilung sprach der Text In Reih und Glied die Präsentation von Waffen in Bezug zu einem gewandelten Bewusstsein zu Krieg und Waffen an. Weitere Aspekte waren hier die Musealisierung von Räumen bzw. rituellen Objekten, zu denen der Zunftsaal und Grabplatten die Anknüpfungspunkte boten, oder die Problematik, dass Sammlungsbestände vorwiegend Zeugnisse für Eliten repräsentieren. Und nicht zuletzt war auch der Architektur des Museumsgebäudes eine Station gewidmet, unter dem beziehungsvollen Titel Sachliche Schale für einen kostbaren Kern. War vielfach die – wenn auch grafisch aufbereitete – Informationsebene im Zentrum von Eingriffen, spielten bei manchen auch gestalterische Lösungen eine größere Rolle, etwa bei Interventionen im Landeszeughaus Graz oder bei der vom Ausstellungsteam Hürlimann+Lepp kuratierten temporären Installation Herzlichen Glückwunsch Rudolph Virchow im Medizinhistorischen Museum Berlin 2001. Bei Letzterer wurde der Rhythmus der vorhandenen Aufstellung aufgenommen – die serielle Reihung der Objekte in gleichermaßen aufgestellten Vitrinen –, indem die zugefügten Geburtstagstelegramme an Virchow wie ein Band den Vitrinen und der Fensterwand entlang liefen.25 Die Intervention Rock und Rüstung. Frauenleben im Zeughaus 2003 setzte auf das Spiel mit Material. Das Zeughaus ist zwar eine museale Institution, hat aber den Charakter der ursprünglichen Lagerung von Waffen und Rüstungen. Das heißt, in den den Raum füllenden Holzregalen und -stellagen sind dicht gedrängt die metallenen Objekte gereiht. Die Eingriffe der beiden Kostümbildnerinnen Birgit Hutter und Esther Geremus kontrastierten nun das Material Metall mit dem des Stoffes. In den Gängen zwischen den dicht bestückten Regalen war zum einen wie ein Teppich rote Frauenkleidung ausgelegt, über die man gehen konnte. Am Beginn stand in roter Schrift am Boden: „Ziehen Sie Ihre Schuhe aus und genießen Sie gefahrlos das ungewöhnliche Erlebnis über einen Teppich aus roten Frauenkleidern zu schweben!“ Zum anderen wurden den Rüstungen Frauenkleider aus den Epochen Renaissance, Barock und Rokoko beigestellt, die aus unterschiedlichem Material gefertigt gegensätzliche Effekte erzielten. So ließen die Renaissancekleider, die aus einem grauem Kunststoffmaterial hergestellt waren, diese wie Metall steif und glänzend wirken. Keine optische Parallele zu den Rüstungen, sondern einen Kontrast bildeten die barock-voluminösen Frauenkleider aus aufwendig gearbeiteten, bunten Stoffen. Und schließlich wurden Rokoko-Kleider aus weißem, luftigem Stoff abgehängt, auf die ornamenthaft Stoffmuster, Gemälde, Architektur der Epoche sowie Verzierungen von Rüstungen projiziert wurden. Bewusst wurde
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auf die sinnliche Wirkung von Materialien und Atmosphären und damit verbundene Assoziationen gesetzt. Es wurde darauf vertraut, dass sich auch ohne begleitenden Text eine inhaltliche Positionierung zu Krieg und Geschlechterrollen ablesen lässt. (Ich möchte hier nicht auf den Genderaspekt eingehen.) Denn zu den Inszenierungen selbst gab es keine Informationen, lediglich ein Einführungstext und der Folder beschrieben die präsentierten Kleidermoden und erwähnten kurz die Intention, eine Gegengeschichte zu den Geschichten vom Tod zeigen und auf den abwesenden Körper verweisen zu wollen, der sich durch Kleidung rüstet.
Spiel mit different gerichteten Aufmerksamkeiten Um zum Ausgangspunkt, der flexiblen Dauer, zurückzukehren, möchte ich Fragestellungen zu Kontinuität und Differenz, Verbindlichkeit und Flexibilität resümieren, die ich für relevant halte, um Analyse und Praktiken weiterzuentwickeln. Dauerausstellungen bewegen sich in ihren Ausstellungsweisen zwischen Objekt- bzw. Sammlungszentriertheit, narrativ oder assoziativ geleiteten szenografischen Präsentationen und sensorischem (Be-)Greifen. Dies wird in unterschiedlichen Gewichtungen von Anforderungen der Repräsentation, Gedächtnis-/Identitätsstiftung, gesellschaftlichen Relevanz, Bildung, Interaktion und Kommunikation und Erlebnishaftigkeit/ Eventisierung angeleitet. Auch wenn die Aufgaben einer Dauerausstellung hinterfragbar und veränderbar sind, bedarf es dennoch einer Diskussion, mit welchen Zielen vorhandene Funktionen adaptiert und um neue erweitert werden sollen. Ist es eine Option, dass eine klare Haltung einer Dauerausstellung als Zeugnis einer bestimmten Zeit gesehen werden kann und sich dadurch die Frage der Erneuerung weniger stellt? Sind Dauerausstellungen anders als Wechselausstellungen das Format, das nicht der Beschleunigung Raum gibt und den kurzfristigen Moden die Widerständigkeit einer auf Kontinuität angelegten Sammel-Institution entgegensetzt? Schließen sich Anforderungen gegenseitig aus oder können etwa Qualitäten einer Präsentation für den konzentrierten „langen Blick“26 mit aktivitätsorientierten Event-und Zirkulationsflächen einher gehen? Forderungen für Langlebigkeit und Flexibilität einer Dauerausstellung ergeben sich nicht nur aus Funktionen und inhaltlichen Zielsetzungen. Zu bedenken sind auch Wahrnehmungskonventionen, die von der visuellen und medialen Kultur einer Zeit geprägt sind. Vor dieser Folie werden Urteile über das visuelle Erscheinungsbild einer Dauerausstellung getroffen – zeitlos, vertraut, veraltet, als Retroästhetik wieder gefragt, zeitgemäß. Zudem spielen durchaus widersprüchliche Parameter in Bezug auf Publikumserwartung, Marketing und Öffentlichkeitsarbeit eine Rolle. Die Präsentationssicherheit, dass Objekte von hohem Bekanntheitsgrad bzw. ein Bestandskanon immer ausgestellt sind oder ein Stadtmuseum auf alle Fälle Stadtgeschichte zeigt, konkurriert mit dem Neuheitswert oder der Attraktivitätssteigerung durch zeitgeistige, schicke Labels, die veranlassen sollen, die Dauerausstellung erneut aufzusuchen. Hierbei
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stellt sich auch die Frage, welche Besuchsgruppen Interesse haben, ob Aufstellungen stabil bleiben oder mit Abwechslung punkten. Sind es Lehrer/innen, denen es für ihren Lehrplan wichtig ist, dass bestimmte dauerhafte Angebote vorhanden sind? Wird auf Touristinnen und Touristen, die Must-Sees erwarten, oder Jugendliche, die Neuheit suchen, reflektiert? Und nicht zuletzt bestimmt die Ressourcenfrage Beständigkeit oder Abwechslung. Beispielsweise führt die Problematik, dass Museen vielfach ihre Forschungsaufgaben immer weniger erfüllen können, zu mangelndem Wissen über Sammlungen und ungenügender Reflexion über Präsentationen. Dies fördert vermutlich eher kanonisierte und bewährte Bestandspräsentationen oder die Flucht in gestalterische Lösungen aufwendiger Inszenierungen statt experimentell neue Wege zu gehen. Als zentrale Aufgabe von permanenten Ausstellungen kann formuliert werden, dass sie die jeweiligen Kernaufgaben eines Museums repräsentieren, eine Verräumlichung des spezifischen Museumsleitbildes sind und damit Haltung und Verbindlichkeit zeigen. Dies inkludiert keine statisch gedachte Dauer, doch sind Ausstellungen kein schnell aktualisierbares Medium. Veränderungen und Erweiterungen bedürfen nicht unbeträchtlicher Ressourcen an Arbeit, Zeit und Geld, wenn sie inhaltlich tragend sein und professionellen Standards genügen sollen. Um die Präsentationsund Kommunikationsformate der Dauerausstellung flexibler zu halten, wurde begonnen, mehr oder minder große Module als immer neu bespielbare Bereiche einzuführen, die im Gegensatz zu Wechselausstellungen dem Gesamtkonzept der Dauerausstellung verpflichtet sind. Hierbei gibt es zwei Optionen. Entweder werden die Module in gleicher Weise wie die übrige Dauerausstellung von Museumsmitarbeiterinnen und -mitarbeitern oder zugezogenen Fachkolleginnen und -kollegen immer wieder neu gemacht oder sie dienen als Experimentierfeld, als partizipativ gedachter Ort, an dem eingeladene Personen/Gruppen aus ihrer Sicht präsentieren können. Freiheiten und Beschränkungen der Themenwahl ergeben sich aus der Gesamtkonzeption und den ihr zugrundeliegenden systematischen, alphabetischen, chronologischen, thematischen Ordnungen oder Storylines. Einen hohen Grad an Freiheit erlauben relativ homogene Sammlungen und serielle Anordnungen wie im Literaturmuseum der Moderne in Marbach. In anderen Fällen stellt insbesondere auch die gestalterische Ebene eine Herausforderung dar. Wenn nicht immer neu Mobiliar entworfen werden soll, bedarf es eines modularen Ausstellungssystems, das in Bezug auf Objektgrößen und Gestaltungswünschen aber nur begrenzt adaptierbar sein kann. Die Konzentration auf Objektgruppen und/oder Themen erleichtert die Anforderungen. Beliebt scheinen Module zu sein, die in wechselnder Folge Personen bzw. persönliche Geschichten präsentieren – so im Salzburg Museum, im Historischen Museum Basel. Auch bei der Konzeption der Dauerausstellung Frankfurt einst? im Historischen Museum Frankfurt soll es ein Modul für austauschbare Biografien geben, wobei die Besucher/innen abstimmen sollen, wer als nächstes gezeigt wird. Zwar sind diese Module flexibel bespielbar, aber für Aktualisierungswünsche an Dauerausstellungen nur teilweise geeignet. Wird etwa ein
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Themenkomplex fixiert, können im Modul nicht beliebige aktuelle Fragen aufgegriffen werden. Und vor allem bilden einzelne Module nur begrenzt einen Ausweg, die Deutungen und Wahrnehmungsmuster der übrigen Dauerausstellungsteile zu aktualisieren. Gleichzeitig verhindert eine konzeptionelle Bindung, dass Dauerausstellungen wie Steinbrüche behandelt werden. Ich vertrete die Ansicht, Dauerausstellungen, selbst wenn ich sie für kritikwürdig halte, in ihrer Konzeption ernst zu nehmen. Dies bedeutet, sie weder mit partiellen Veränderungen zu einem Stückwerk zu machen, noch autoritativ zu richten, sondern Haltungen zu argumentieren. Die Antwort hat eine konzeptionelle, kommunikative zu sein, die der vorhandenen zur Seite oder entgegentritt. Letzteres gilt auch für den anderen Weg von Aktualisierung, jenen, der Dauerausstellungen im Grunde belässt, aber unterschiedliche Zugangsweisen zum Präsentierten bereit stellt. Dazu gehören die eben besprochenen temporären Interventionen. Auf Zugangsweisen, die an der Schnittstelle zu Vermittlungsangeboten sind, möchte ich hier nicht eingehen. Gemeint sind etwa analoge wie virtuelle Wanderkarten, die Routen durch eine Dauerausstellung legen, oder performative Elemente, wie die vom Historischen Museum in Luzern angebotenen Theatertouren. Die Idee der Intervention erschöpft sich nicht in den oben dargelegten Beispielen und Gruppierungen. Entgegen früheren Bemühungen zu definieren, was unter Intervention zu subsumieren sei, denke ich, dass Formatsbestimmungen und Typologien kein Regelwerk, sondern vorrangig Hilfskonstruktionen sind, die der Reflexion sowie der Wiedererkennung und der Öffentlichkeitsarbeit dienlich sind. So steht nicht nur der Name zur Disposition, auch die Formen und Funktionen changieren von Eingriffen, die das Vorhandene queren, kontrastieren, pointieren, relativieren oder kommentieren, bis zu Co-Ausstellungen im Sinne von Schichten hinzufügen, einen Aspekt vertiefen. Eingriffe gelten als neue, je nach Sicht interdisziplinäre, zeitkonforme, gesellschaftsrelevante Wege oder werden mit Tradition belegt. Typologisch gesehen können Interventionen auf Metaebenen wie das Selbstverständnis, die Traditionslogiken und die Geschichte von Institutionen, auf den gebauten Raum oder auf Objekte, Displays und Präsentationskonventionen von Dauerausstellungen bezogen sein. Sie äußern sich durch konkretes oder performatives Hinzufügen, Wegnehmen oder Verändern. Sie können in ihren Intentionen und Wirkungen sowohl Aufmerksamkeiten erzeugen, Wahrnehmungen (um)lenken als auch tendenziell unsichtbar bleiben: harmonisierend befrieden, ungehörig besetzen, sichtbar korrigieren, forschend befragen, konfrontierend positionieren, sinnenschärfend differenzieren, effektvoll überschreiben, verwebend einschreiben, analysierend rahmen, tarnend verschieben, kommentierend hinzutreten, eruptiv hervortreten, dialogisch eröffnen, befremdlich einlagern, anregend verpacken ... Formate festzumachen und zu kennen kann den beteiligten Protagonistinnen und Protagonisten helfen, ihre Absichten und Konzeptionen genauer zu denken, wobei ich keiner Kanonbildung das Wort rede. Im Gegenteil scheint es mir eher fruchtbar, auf der Basis der Kenntnisse von Formaten, diese flexibel zu handhaben,
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ihnen aber dabei ein Profil zu geben, das Wiedererkennung ermöglicht. Diese Bestimmung muss sich nicht in allen Museen gleichen, sondern für ein Haus funktionieren. In diesem Sinne sehe ich auch Doris Rothauers Plädoyer für Nachhaltigkeit: Um wahrgenommen zu werden, bräuchten Interventionen nicht nur einen angemessenen Raum und eine gewissen Großzügigkeit, die ihre Wertschätzung zeigen, es bedürfe auch einer Konsequenz. Wenn sich ein Museum für ein Informationsformat entscheidet, müsse es dieses über Jahre immer wieder machen, damit es sich beim Publikum als charakteristische Positionierung dieser Institution festsetzt. Das müssten nicht alle mögen, aber als ein Differenzierungsmerkmal zeugt es von einer Haltung. Dieses Commitment müsse sich auch betriebswirtschaftlich niederschlagen: Qualität koste Geld, bedarf Arbeitskapazitäten.27 Damit komme ich auf den Aspekt der Rahmenbedingungen zu sprechen, verbunden mit den Erwartungen an Interventionen bzw. Flexibilität allgemein. Bei der Beschreibung der Praktiken machte sich zunehmend der Gedanke breit, ob Interventionen einen Mangel repräsentieren. Mangel möchte ich nicht per se als negativ wertend verstanden wissen. Dient er als reflexiver Moment, ist der Mangel produktiv. Bevor ich aber darauf eingehe, möchte ich mich dem Mangel zuwenden, der auf materielle wie geistige Ressourcen bzw. Engpässe bezogen ist. Letzteres betrifft die schon erwähnte Wertschätzungs- und Qualitätsfrage. Das Victoria & Albert Museum ist ein Beispiel, wo räumliche Engpässe und verstärktes Interesse an zeitgenössischen Fragen bzw. Design zum (Aus-)Weg führten, die Dauerausstellungen zu nutzen. Jedoch erhielt dieses Format in der Folge Wertschätzung. Wie Jana Scholze ausführte, werden sowohl die permanenten Schauräume für Zeitgenössisches als auch die Sonderausstellungsflächen als zu beschränkt gesehen, um den neuen Sammlungen und Fragestellungen gerecht zu werden. Als beliebtes Mittel wird daher der temporäre Ausstellungsraum erweitert und Objekte zusätzlich auch in die Schausammlungen gesetzt,28 was auch vom Publikum und den Medien positiv aufgenommen würde. Aufgrund der riesigen Schausammlungsflächen könne man auf diese Weise Räume entdecken, die man bisher nicht oder kaum besuchte. Das Publikum gezielt in Räume zu schicken wurde seitens der Öffentlichkeit als Intention wahrgenommen, wäre aber ein Nebeneffekt gewesen. Diese Form der Raumnutzung birgt aber das schon bekannte Problem, dass diese dort zumeist Fremdkörpercharakter haben, da sie nicht auf die Umgebung sondern die räumlich entfernte Sonderausstellung hin Sinn machen. Fremdköper können zwar einen Reiz darstellen, der sich aber bei Wiederholungen aufgrund des Gewöhnungseffekts reduziere. Zwar bestehe der Wunsch von Kuratorinnen und Kuratoren, mittels temporären Eingriffen die ständigen Sammlungen mit Gegenwärtigem ins Gespräch zu bringen – ob nun im Zusammenspiel mit Sonderausstellungen oder unabhängig davon –, doch scheiterte dies bisher an den Ressourcen. Denn für qualitätsvolle Befragungen bedürfe es der intensiven Auseinandersetzung, um aktuelle Fragestellungen zu finden, die zu den Sammlung bzw. den Präsentationen passen.29 Die Frage der Ressourcen korrespondiert mit den Erwartungen und Funktionen, die
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an Interventionen gebunden sind. Häufig besteht die Vorstellung, Interventionen bedürften nicht gleicher Rahmenbedingungen wie Sonderausstellungen, sollten – wohl angeregt vom Primat des Flexiblen und der Idee des Flüchtigen – ein schnelles, unaufwendiges Format sein. Auch wenn es wünschenswert ist, Formate zu haben, mit denen aktuell und schnell agiert werden kann, halte ich Interventionen dafür in der Regel wenig geeignet, wenn die Anforderung besteht, einen relevanten Dialograum zu eröffnen. Dann genügt es nicht, wenn die geschaffene Differenz darin besteht, Museen und Ausstellungen, in die interveniert wurde, lediglich attraktiver zu machen. Es gilt, das Publikum klug zu unterhalten, das Spannungsverhältnis im Sinne einer anregenden Erkenntnis- bzw. Erfahrungsdifferenz zu nutzen. Das heißt auch, dass Interventionen nicht ähnlich autoritativ oder monologisch wie die vorhandenen Präsentationen verfahren, sondern ihre Kommunikation mit dem Publikum reflektieren. Dies kann, aber muss nicht bedeuten, das Publikum mit Zumutungen herauszufordern, zu irritieren oder zu stören. Doch dürfen Interventionen Mängel der Dauerausstellung auch befrieden? Ist anzustreben, (Selbst-) Erfahrungsprozesse in Gang zu setzen? Sind Interventionen Ansporn und Mittel, ein anderes institutionelles Selbstverständnis zu entwickeln, etwa partizipative Wege zu gehen, sich befragen zu lassen, Praktiken zu transformieren? Ist es spielerisches, ästhetisches oder diskursives Experimentierfeld für das Publikum oder für die institutionsinterne Reflexion? So wie Ausstellungen nicht Ausstellungen sind, ist auch an Interventionen die Frage nach der Qualität, dem Effekt, den Erwartungen zu stellen, die an sie gerichtet werden können oder sollen. Dabei knüpfe ich an die schon 1991 gestellte Forderung des Interventionsprojekts Auf Bewährung an: Wenn künstlerische Arbeiten auf Museums- und Ausstellungspraktiken treffen, steht nicht nur das Museum auf dem Prüfstand; auch die Kunst muss sich bewähren. Dies gilt in ähnlicher Weise für die wissenschaftlichen Interventionen. Wenn mit dem Begriff Intervention ein differenzschaffendes Verfahren und eine gerichtete Aufmerksamkeit verbunden sind, dann gilt es, das Augenmerk auf den Effekt zu legen, der aus dieser Differenz und Sichtbarmachung entsteht. Die Qualität einer Intervention liegt damit nicht allein bei ihrer Qualität als Kunstwerk oder als wissenschaftlich-gestalterische Arbeit, sondern auch darauf, was diese im Hinblick auf die inhaltlichen Kontexte und Wahrnehmungsdispositionen leistet, in die es interveniert. Das erhöht die Anforderungen – sowohl für die Intervenierenden, die sich mit dem Vorhandenen auseinandersetzen und den Eingriff in diesem Kontext positionieren müssen, als auch für die Vermittlung und Öffentlichkeitsarbeit. Diese Problematik zeigte sich beispielsweise bei den Interventionsprojekten im Wien Museum und im Technischen Museum. Anders als bei Sonderausstellungen erlaubte das verfügbare Budget etwa nicht, eine öffentlichkeitswirksame Bewerbung zu machen und/oder ein Vermittlungsprogramm anzubieten. So wird zwar ein anspruchsvolles Angebot gemacht, aber gleichzeitig die Rezeption nicht gestützt. Vom Usus, Ausstellungen über Medien und Werbung bekannt zu machen, und durch Vermittlungsprogramme die Auseinandersetzung zu fördern, gerade
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dort Abstand zu nehmen, wo ein Format erst geläufig werden muss, ist kontraproduktiv. Rahmenbedingungen und Ressourcen bezeugen Wertschätzung. Ganymed boarding oder Jan Fabre wurden etwa gleichermaßen wie große Sonderausstellungen beworben. Auch wenn Erfolg nicht auf Besuchszahlen zu reduzieren ist, muss dem Sichtbar- und Zugänglichmachen Aufmerksamkeit zukommen. Anders als mit dem ressourcengebundenen Mangel verhält es sich mit dem zuvor angesprochenen fruchtbar gewendeten Mangel. Soll eine Intervention ein produktiver Umgang mit Ausstellungsnarrativen oder Objektzusammenstellungen sein, die in welcher Weise auch immer unzulänglich befunden werden, etwa weil ihnen ein aktueller Blick oder die Vielstimmigkeit fehlt oder die Deutungen überholt sind? In einigen der oben angeführten programmatischen Ausführungen wird darauf rekurriert: So solle aktuelle Kunst institutionelles Selbstverständnis, museale Konventionen und Ausstellungspraktiken reflektieren helfen. Doch wird dies auch eingelöst? Oder wird dem Mangel abgeholfen, indem ein neues, schickes Label bedient wird, mit dem sich Intervenierende und Museen schmücken können? Generieren die interventionistischen Strategien, dem Mangel zu begegnen, Diskursrelevanz – hausintern, im museologischen Feld, in der Öffentlichkeit? „Often, artists’ interventions can lead the way to improved communication within the departments of the museum itself. When Timothy Anglin Burgard, curator of American art at the Fine Arts Museums of San Francisco, invited a series of contemporary artists to participate in a four-part, interdisciplinary show, the resulting ‚Art of the Americas‘ crossed departmental boundaries and, as he puts it, ‚demonstrated that chronology, nationality and media are not always the most logical or most useful organizing or educational principles‘.“30 Dieser Befund von Marcia Tucker, andere Sichtweisen und Kommunikation zu eröffnen, wird fachlich-museologisch vielfach geteilt – in der Praxis allerdings mit der Einschränkung, dass zumeist nur diejenigen profitieren, die aktiv in Interventionsprojekte involviert sind.31 Die offene Frage ist, inwieweit sich dieses Reflexionspotenzial breiter in einer Institution verfestigen kann oder als Außenseiterposition verbleibt. Unsicherheit besteht auch darüber, wie öffentlichkeitswirksam Interventionen sind bzw. welche Erwartungen hier gestellt werden – hinsichtlich der quantitativen Ebene der Besuchszahl, des Medienechos, aber auch der Rezeptionseffekte. Ich möchte hier die Frage der Evaluierung nicht verfolgen, sondern nur einen mir wichtigen Aspekt ansprechen. Sind Interventionen eine der Möglichkeiten, um der Vielstimmigkeit auf Kosten der autoritativen Deutungsmacht des Museums Raum zu geben? Können sie dialogische oder partizipative Interaktions- und Kommunikationsstrukturen stützen? In diesem Sinne argumentierte Angela Jannelli das in Planung befindliche Ausstellungsformat Frankfurt jetzt! als eine Art Dauerintervention. Es wird als eine der gegenwärtigen Stadtgesellschaft verpflichtete Parallele zur historischen Dauerausstellung Frankfurt einst? konzipiert. Ein wesentliches Modul ist hier das Stadtlabor, eine flexibel bespielbare, Veranstaltungs- und Ausstellungsfläche. Ausstellungen, die hier stattfinden, sollen in Kooperation mit möglichst diversen Gruppierungen der Stadtgesellschaft zu
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einer Vielfalt an Themen realisiert werden. Das Partizipationsmodell erlaube, verschiedene Wissensformen ins Museum zu holen. Ziel sei, dass ein Panoptikum der Stadtgesellschaft entsteht und die soziale Trägerschaft verbreitert wird. Frankfurt einst? und Frankfurt jetzt! sollen wechselseitig verzahnt werden, indem es etwa interventionistische Möglichkeiten geben soll, zu kommentieren, Querverweise zu machen. Das Stadtlabor sieht Jannelli als Chance und gleichzeitig auch Zwang zur permanenten Aktualisierung. Aktualisierung sei damit institutionalisiert, auch im Sinne einer Kommentarfunktion. Indem sich das Museum bewusst positiver wie negativer Kritik und auch Forderungen aussetze, sei es in der Verpflichtung, darauf zu reagieren. Damit hätte Partizipation den Effekt einer Dauer-Intervention, nicht primär in die Dauerausstellungen, sondern in Bezug auf das Museum insgesamt: Das Museum wird mit diversen Stadtexpertisen und Wissensformen sowie vom eigenen Verständnis abweichenden Vorstellungen von Ästhetik, Objektbedeutung, Präsentationsstrategien, Themenrelevanz konfrontiert werden. Es wird gezwungen sein, die eigenen selbstverständlichen museologischen Annahmen zu hinterfragen. Wenn ein Museum Partizipation lebt, hätte dies etwas grundsätzlich Interventionistisches, da die Institution – und damit auch deren Manifestationen wie eben die Dauerausstellung – nicht unberührt bleiben könne.32 An den Aspekt der Vielstimmigkeit, der durch Interventionen – nicht nur bei partizipativen Formaten – eingebracht werden kann, möchte ich nochmals die Problematik unklarer AutorInnenschaft anknüpfen. Die Praxis, dass in Ausstellungen die Standorte derjenigen, die sie machten, zumeist verborgen bleiben, findet bei Interventionen häufig ihre Fortführung. Doch wenn Interventionen ein Spiel mit Differenzen und gerichteten Aufmerksamkeiten sind, halte ich es für kontraproduktiv, Standorte und Blickeinrichtungen zu verwischen: Handelt es sich bei der Wahl, mit einem Kunstwerk bestimmte Objekte oder Themen einer Dauerausstellung zu befragen, um den persönlichen Blick der der Künstlerin bzw. des Künstlers oder die kunstwissenschaftliche Deutung der eines Kurators, einer Kuratorin oder die Stimme des Museums? Jene, die zeigen und sprechen, sichtbar zu halten, sehe ich als förderlich, eine dialogische Kommunikation mit dem Publikum herzustellen. Resümierend denke ich, dass Interventionen produktives Potenzial für Dauerausstellung, Museum und Publikum haben. Inwieweit dieses auch zum Tragen kommen kann, hängt zum einen von den Rahmenbedingungen der ihnen zugesprochenen Funktionen, der Ressourcen und institutionellen Wertschätzung ab, zum anderen vom Bestreben, einen „intelligenten Grenzverkehr“ mit Dauerausstellungen wahr werden zu lassen.33 Und so schließe ich, womit ich begonnen habe – mit Bodo-Michael Baumunk und seinen von geologischen Begriffen ausgehenden Assoziationsfeldern, die helfen mögen Interventionen vielfältig zu denken: als Schicht, Tiefenbohrung, Vulkan, Krater, Kristallbildung und Einschluss.
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A NMERKUNGEN 1 | Alle Ausführungen in diesem Kapitel entstammen dem Fachgespräch im Rahmen des forMuse-Forschungsprojekts Dauerausstellungen. Potenzial und Dilemma ständiger Ausstellungen der Museumsakademie Joanneum, (12./13.1.2011). Ich danke allen Teilnehmerinnen und Teilnehmern für die Anregungen. 2 | Vgl. Roswitha Muttenthaler/Regina Wonisch: Rollenbilder im Museum. Was erzählen Museen über Frauen und Männer, Schwalbach: 2010, S. 153ff; Roswitha Muttenthaler: »Interventionen als „intelligenter Grenzverkehr“ mit Dauerausstellungen?« in: Neues Museum. Die österreichische Museumszeitschrift 3 (2009), S. 16–23. 3 | Vgl. James Putnam: Art and Artifact. The Museum as Medium, London: 2001; Roswitha Muttenthaler: »Querungen – zwischen Ausstellungsweisen und Kunstpraktiken«, in: Dirk Luckow (Hg.), SEE history 2008. Kreative Vision, Kunsthalle zu Kiel (2009), S. 87–95. 4 | Interventionen fanden in der Regel in Übereinkunft mit dem Museum statt. Nur selten erfolgten sie nicht-autorisiert. Bekannt sind die feministischen, als Interventionen zu bezeichnenden Aktionen der Guerilla-Girls. 5 | Für die vierte Option Wissenschaft trifft Kunst habe ich bislang keine Beispiele gefunden. 6 | Frühe Beispiele dieses Formats sind die Reihe The Artist’s Eye der National Gallery London und Artist‘s Choice des Museum of Modern Art in New York. 7 | Interview mit Elena Filipovic, »Looking Back, Looking Forward«, in: frieze, 136 (2011), http://www.frieze.com/issue/article/looking-back-looking-forward (24.8.2011). 8 | Direktor Jacques Giès, in: http://www.guimet.fr/rashid-rana-perpetual-paradoxe (2.9.2010). 9 | Magazine: Contemporary Art at the Louvre, 5 (2005). 10 | Presseinformation zu Jan Fabre at the Louvre. The Angel of the Metamorphosis, 2008. 11 | Jasper Sharp: »Das Buch, mit dem wir lesen lernen«, in: Jan Fabre. Die Jahre der blauen Stunde, Wien: 2011, S. 130. 12 | T. S. Eliot: »Tradition und individuelle Begabung« (1919), zit. n. Jasper Sharp: Das Buch, mit dem wir lesen lernen, S. 142. 13 | Interview aus dem auf die Homepage gestellten Video Homo Fabre: Im Reich der blauen Stunde. Sabine Haag als auch der Katalogbeitrag des Kurators Jasper Sharp schließen an ein Zitat Paul Cézannes an, der den Louvre als „das Buch, mit dem wir lesen lernte“ bezeichnete. 14 | Alle Aussagen Fabres stammen aus dem Video der Homepage (siehe Anm. 14). 15 | Sie könnte eventuell auch unter der Rubrik Wissenschaft trifft Kunst subsumiert werden, zu der ich keine Beispiel fand. 16 | Annina Zwettler im Rahmen des Fachgesprächs (siehe Anm. 1). 17 | Michael Fehr im Rahmen des Fachgesprächs (siehe Anm. 1).
F LEXIBLE D AUER ? I NTERVENTIONSPROJEKTE 18 | http://www.freud.org.uk/exhibitions/72540/andy-hope-1930-at-the-freud (4.7.2011). 19 | Vgl. Ausstellungskatalog: Sophie Calle. Appointment with Sigmund Freud. London: 2005. 20 | http://www.freud.org.uk/exhibitions/74077/alice-andersonâ’s-childhood-rituals (4.7.2011). 21 | Auf Bewährung. Ein Museum auf dem Prüfstand zeitgenössischer Kunst. Ausstellung der Universität Lüneburg in Zusammenarbeit mit der Stadt Lüneburg und dem Museum für das Fürstentum Lüneburg. Lüneberg: 1991, S. 11. 22 | Auf Bewährung, S. 13. 23 | Peter Weiermair(Hg.): Der Vogel Selbsterkenntnis. Aktuelle Künstlerpositionen und Volkskunst, Zürich/New York: 1998, S. 6. 24 | Vgl. Roger Fayet (Hg.): Im Land der Dinge. Museologische Erkundungen (= Interdisziplinäre Schriftenreihe des Museums zu Allerheiligen Schaffhausen, 1), Baden: 2005, S. 109–203. 25 | Vgl. Annemarie Hürlimann/Nikola Lepp: »Interventionen – Erkundungen zu den Aggregatszuständen des Museums«, in: neues museum 3 (2009), S. 24–29. 26 | Aleida Assmann: »Die Sprache der Dinge. Der Lange Blick und die wilde Semiose«, in: Hans-Ulrich Gumbrecht/Karl Ludwig Pfeiffer (Hg.), Materialität der Kommunikation, Frankfurt: 1988, S. 237–251. 27 | Doris Rothauer im Rahmen des Fachgesprächs (siehe Anm. 1). 28 | Diese Form begegnete mir auch im Historischen Museum Luzern. Die Sonderausstellung Spleen. Von angefressenen Tüftlerinnen und verwegenen Sammlern porträtierte 2010 die Leidenschaften von 17 Personen. Ein Stück von jeder dieser Tätigkeiten war assoziativ in das Schaudepot eingeschleust. 29 | Jana Scholze im Rahmen des Fachgesprächs (siehe Anm. 1). 30 | Marcia Tucker: »Museums Experiment With New Exhibition Strategies«, 1999, http://www.nytimes.com/1999/01/10/arts/museums-experiment-with-newexhibition-strategies.html (2.9.2010). 31 | Dies äußerten Mitarbeiter/innen des Technischen Museums, Wien Museums und Victoria & Albert Museum im Rahmen des Fachgesprächs (siehe Anm. 1). 32 | Angela Jannelli im Rahmen des Fachgesprächs (siehe Anm. 1). 33 | „Intelligenter Grenzverkehr“ habe ich von Peter Sloterdijk ausgeborgt, der den Museen grundsätzliche die Rolle zudachte, einen intelligenten Grenzverkehr mit dem Fremden zu ermöglichen. Peter Sloterdijk: »Museum: Schule des Befremdens«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (17.3.1989), S. 62.
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Autorinnen und Autoren
d’Anthenaise, Claude seit 1998 Chefkonservator des Musée de la Chasse et de la Nature, zuvor Inspektor der Denkmalpflege und Mitglied der Kulturabteilung des französischen Außenministeriums. Zahlreiche Ausstellungen und Publikationen zum Thema der Landschaft und zum Bild des Tieres. Arnold, Ken Studium der Wissenschaftsgeschichte, Promotion über die Frühgeschichte der Museen im UK. Tätigkeiten am Smithsonian, am Museum of Mankind und am Croydon Museum sowie für den Wellcome Trust. Mitentwicklung von „Sci-art“ sowie öffentlicher Sammlungs-Präsentationen, heute Leiter der Abteilung Öffentliche Programme. Becker, Lutz Studium der Malerei und Kunstgeschichte in Berlin und Hannover, 1966–1971 Malerei- und Filmstudien an der Slade School of Fine Art, UCL, London. Seit 1971 Direktor, Produzent und Schreiber von Dokumentarfilmen sowie Dozent, Kurator und Maler, lebt und arbeitet in London. Bellamy, Martin Promotion in Geschichte an der Glasgow University. Seit 2002 Research Manager der Glasgow Museums, Mitglied im Projektmanagement-Team zur Neu-Entwicklung des Kelvingrove Art Gallery and Museum. Carvill, Jennifer Studium der Archäologie in Durham und der Museum Studies in Leicester, seit 2010 Dissertation am Institut für Geschichte der Universität Wien. Arbeitsschwerpunkt: sozialen Aufgaben von Museen. Coote, Jeremy Studium der Anthropologie in Ostanglien und in Oxford. Feldforschung im Südsudan, seit 1994 wiss. Mitarbeit am Pitt Rivers Museum, Leitung des Bereichs fremdfinanzierte Projekte mit dem Schwerpunkt Museumsgeschichte und Sammlungen.
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D AUERAUSSTELLUNGEN
Deliss, Clementine Studium der Ethnologie und Gegenwartskunst in Wien, Paris und London, Promotion an der University of London. Künstlerische Leiterin von „africa95“, 1996–2007 Herausgeberin der Künstler- und Autorenreihe METRONOME, 2003–2010 Leitung des wiss. Langzeit-Projekts „Future Academy“ in Edinburgh, seit 2010 Direktorin des Weltkulturen Museums in Frankfurt/Main. Dillmann, Claudia Studium der Germanistik, Kunstgeschichte sowie Theater-, Film- und Fernsehwissenschaften in Frankfurt/Main. Redakteurin der Frankfurter Rundschau, seit 1992 stellvertretende Leiterin, seit 2006 Direktorin des Deutschen Filmmuseums Frankfurt. Dugdale, Janet Stadt- und Sozialhistorikerin, seit 1997 für das National Museum in Liverpool tätig, Kuratorin für Sozial- und Gemeinschaftsgeschichte am nun geschlossenen Museum of Liverpool Life, seit Projektbeginn im Jahr 2001 Direktorin des Museum of Liverpool. Fehr, Michael Studium der Kunstgeschichte und Geschichte in Bochum. 1987– 2005 Direktor des Karl Ernst Osthaus-Museums Hagen, seit 2003 Vorstand des Werkbundarchivs e. V. – Museum der Dinge, seit 2005 Professor und Direktor des Instituts für Kunst im Kontext, Universität der Künste Berlin. Geisser, Hannes Studium der Verhaltensökologie, Anthropologie und Biomathematik in Zürich, Promotion 2000. Bis 1993 freischaffender Biologe, 1994–1997 wiss. Assistent am Naturmuseum St. Gallen, seit 1998 Direktor des Naturmuseums Thurgau in Frauenfeld. Gfrereis, Heike Studium der Germanistik und Kunstgeschichte in Stuttgart, Tübingen und Marburg, Promotion 1994, 1994–1999 wiss. Mitarbeiterin an der Universität Stuttgart. Seit 2001 Leiterin des Museums im Deutschen Literaturarchiv Marbach – Schiller-Nationalmuseum und Literaturmuseum der Moderne. Gößwald, Udo Studium der Politischen Wissenschaften und der Europäischen Ethnologie an der Universität Marburg sowie der FU Berlin, Promotion an der HU Berlin. Seit 1985 Leiter des Museums Neukölln in Berlin, Lehrbeauftragter am Fachbereich Europäische Ethnologie an der HU Berlin und im Masterstudiengang Museum und Ausstellung an der Carl-von-Ossietzky Universität Oldenburg, von 2005–2010 Präsident von ICOM-Europe.
A UTORINNEN
UND
A UTOREN
Griesser-Stermscheg, Martina Studium der Konservierung und Restaurierung sowie der Kunstgeschichte in Wien. Mitarbeit bei „schnittpunkt. ausstellungstheorie & praxis“ sowie im Leitungsteam des Masterlehrgangs für Ausstellungstheorie und -praxis ECM, Senior Scientist an der Universität für angewandte Kunst Wien, derzeit Habilitationsprojekt „Unruhe im Museumsdepot“. Habsburg-Lothringen, Bettina Studium der Geschichte und Deutschen Philologie in Graz, Promotion 2003. Seit 2005 wiss. Mitarbeiterin, seit 2010 Leiterin der Museumsakademie Joanneum, Graz, 2009–2011 Leiterin des durch das BMUKK finanzierten forMuse-Projekts Für die Ewigkeit gedacht. Dilemma und Potenzial der ständigen Ausstellungen. Hanemann, Regina Studium der Kunstgeschichte, Volkskunde und Archäologie des Mittelalters, Promotion im Fach Kunstgeschichte. Organisation zahlreicher Ausstellungen zu kunst- und kulturhistorischen Themen, seit 1999 Direktorin der Museen der Stadt Bamberg, seit 2006 Vorsitzende der Arbeitsgemeinschaft Museen in Bayern. Te Heesen, Anke Wissenschaftshistorikerin und Kuratorin mit den Arbeitsschwerpunkten Museums- und Sammlungsgeschichte sowie Mediengeschichte der Wissenschaften und des Wissens, seit 2011 Professorin für Wissenschaftsgeschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin. Herzig, Thomas Studium der Wirtschafts-, Sozial- und Technikgeschichte, Geografie, Germanistik und Volkskunde, Promotion zur Energiegeschichte. Seit 1987 am TECHNOSEUM. Landesmuseum für Technik und Arbeit in Mannheim, bis 2006 Leiter Sammlungen und Dokumentation, seit 2007 Abteilungsleiter Ausstellungen. Janzing, Godehard Kunsthistoriker, seit 2008 wiss. Referent am Deutschen Forum für Kunstgeschichte in Paris und dort an deutsch-französischen Forschungs- und Ausstellungsprojekten beteiligt, zuvor wiss. Mitarbeiter am Deutschen Historischen Museum in Berlin. Joachimides, Alexis Studium der Kunstgeschichte und Klassischen Archäologie in Berlin und London, 1996 Promotion in Berlin. 2000–2007 wiss. Assistent an der Universität München und seit 2011 Professor für neuere Kunstgeschichte an der Kunsthochschule der Universität Kassel.
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Kreissl, Eva Studium der Volkskunde und Kunstgeschichte in Freiburg/Breisgau und Wien, Promotion 1985. 1989–2005 Lehrbeauftragte am Institut für Europäische Ethnologie der Universität Wien, freiberufliche Kuratorin und Kulturwissenschaftlerin, seit 2005 Ausstellungskuratorin am Universalmuseum Joanneum in Graz. Modest, Wayne Studium der Chemie und der Museologie in Kingston (Jamaika) und Amsterdam, 2008–2010 Leiter der Anthropologie am Horniman Museum and Gardens in London, seit 2010 kuratorischer Leiter des Tropenmuseums Amsterdam. Mühlenbrock, Josef Studium der Klassischen Archäologie, Lateinischen Philologie und Alten Geschichte in Münster, Promotion über römische Architektur. Wiss. Referent in Münster und Haltern, seit 2008 Leiter des LWL-Museums für Archäologie, Westfälisches Landesmuseum in Herne. Mulder, Floris Studium der Geschichte und der Philosophie. Chefkurator des Het Dolhuys in Haarlem und seit dem Beginn der Konzeption im Jahr 2003 Leiter der ständigen Ausstellung. Muttenthaler, Roswitha Kuratorin und Kustodin für „Haushaltstechnik“ am Technischen Museum Wien, freiberufliche Museologin und Kulturwissenschaftlerin, u. a. Dozentin im Studiengang „ausstellen & vermitteln“ an der Zürcher Hochschule der Künste. Offe, Sabine Forschung, Lehre und Publikationstätigkeit zu Jüdischen Studien, Gedächtnisgeschichte und kulturellen Konzepten von Trauma, bis 2010 wiss. Mitarbeiterin am Institut für Religionswissenschaft, Fachbereich Kulturwissenschaften der Universität Bremen, Beratungstätigkeit zu Ausstellungskonzeptionen Jüdischer Museen und Vermittlungsformen jüdischer Geschichte. Porod, Barbara Studium der Klassischen Archäologie in Graz. 1998–1999 an der Akademie für angewandte Photographie tätig, 2002–2004 Psychotherapeutisches Propädeutikum, seit 2007 Lehrauftrag am Institut für Archäologie, seit 2010 Sammlungskuratorin, seit 2012 Chefkuratorin Provinzialrömische Sammlung & Antikenkabinett am Universalmuseum Joanneum, Graz. Prenn, Doris Studium der Archäologie und Kunstgeschichte, Kulturwissenschafterin und Ausstellungsarchitektin, Gründerin und Leiterin von „prenn_punkt buero fuer kommunikation und gestaltung“ mit den Schwerpunkten Kulturvermittlung, Ausstellungsgestaltung und „Universelles Design“, diverse Lehraufträge, lebt und arbeitet in Alkoven, Österreich.
A UTORINNEN
UND
A UTOREN
Purin, Bernhard Studium der Empirischen Kulturwissenschaft und Geschichte in Tübingen. Mitglied des Editorial Board der Zeitschrift „Images. A Journal of Jewish Art and Visual Culture“, Mitglied der wiss. Beiräte der Jüdischen Museen Augsburg und Dorsten sowie des Kuratoriums des Museums Alte Synagoge Erfurt, seit 2003 Gründungsdirektor des 2007 eröffneten Jüdischen Museums München. Sommer, Monika Studium der Geschichte in Graz und Wien. 1999–2003 wiss. Mitarbeiterin der Kommission für Kulturwissenschaften und Theatergeschichte der ÖAW Wien, 2002/03 Junior Fellow am IFK Wien, seit 2003 wiss. Mitarbeiterin und Kuratorin am Wien Museum, seit 2006 Co-Leiterin des Masterlehrgangs für Ausstellungstheorie und -praxis ECM an der Universität für angewandte Kunst, Wien. Steinheimer, Frank Studium der Biologie, Zoologie und Ökologie in ErlangenNürnberg und Wien. Wiss. Mitarbeiter am Natural History Museum London und am Museum für Naturkunde Berlin, 2005 Promotion an der Universität Rostock, seit 2006 Arbeit für den Wissenschaftsverlag Lynx in Barcelona, seit 2008 Leiter des Projekts Naturkundliches Universitätsmuseum in Halle, Saale. Strittmatter, Ellen Studium der Germanistik und Kunsterziehung in Freiburg und Stuttgart. Promotion an der Universität Stuttgart, seit 2007 wiss. Mitarbeiterin im Museum des Deutschen Literaturarchivs Marbach, dort Kuratorin u. a. der Dauerausstellung im Schiller-Nationalmuseum und zahlreicher Wechselausstellungen. Tobler, Beatrice Studium der Volkskunde/Europäischen Ethnologie, Kunstgeschichte und Lateinischen Philologie in Basel und Göttingen. 1996–1999 wiss, Assistentin am Seminar für Volkskunde/Europäische Ethnologie der Universität Basel, seit 1999 Kuratorin für Kommunikationstechnologien und digitale Kultur im Museum für Kommunikation in Bern. Wenk, Barbara Historikerin, Museologin und Prozessbegleiterin mit dem Arbeitsschwerpunkt Lern- und Vermittlungssettings und -strategien an Museen, seit 2010 freischaffend in den Bereichen Wissenschaftsvermittlung, Ausstellungsarbeit, Erwachsenenbildung und Prozessbegleitung tätig. Whalley, Laura Studium der Geschichte, der Kunstgalerie- und Museumswissenschaften in Manchester. Tätigkeit für das Imperial War Museum London, Ausstellungsleiterin für den Haupt-Ausstellungsraum im Imperial War Museum North, derzeit Projektleiterin für die Big Picture Show.
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Edition Museumsakademie Joanneum Gottfried Fliedl Die Pyramide des Louvre Die Entstehung des Museums aus der Idee der Demokratie Dezember 2012, ca. 148 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 18,80 €, ISBN 978-3-8376-1004-8
Gottfried Fliedl, Gabriele Rath, Oskar Wörz (Hg.) Der Berg im Zimmer Zur Genese, Gestaltung und Kritik einer innovativen kulturhistorischen Ausstellung 2010, 148 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 21,80 €, ISBN 978-3-8376-1248-6
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de