Das Widerstandsrecht: Entwickelt anhand der höchstrichterlichen Rechtsprechung der Bundesrepublik Deutschland [1 ed.] 9783428421466, 9783428021468


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German Pages 164 Year 1969

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Das Widerstandsrecht: Entwickelt anhand der höchstrichterlichen Rechtsprechung der Bundesrepublik Deutschland [1 ed.]
 9783428421466, 9783428021468

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Günther Scheidle / Das Widerstandsrecht

S c h r i f t e n zum ö f f e n t l i c h e n R e c h t Band 98

Das Widerstandsrecht Entwickelt anhand der höchstrichterlichen Rechtsprechung der Bundesrepublik Deutschland

Von

Dr. Günther Scheidle

DUNCKER & HUMBLOT / BERLIN

Alle Rechte vorbehalten © 1969 Duncker & Humblot, Berlin 41 Gedruckt 1969 bei Alb. Sayffaerth, Berlin 61 Printed in Germany

Meinen Eltern

Vorwort I n der Fülle der meist rein theoretischen Darstellungen zum Widerstandsrecht glaubt die vorliegende Arbeit Legitimation aus ihrer Zielsetzung zu gewinnen, die zahlreichen Entscheidungen der bundesdeutschen Obergerichte zu Widerstandsfällen während der Zeit des Nationalsozialismus, i n der SBZ, i n der Bundesrepublik und i n Südt i r o l kritisch zu sichten und ihre Anregungen für die Fortentwicklung des Widerstandsrechts systematisch zu verwerten. Die Verarbeitung und Systematisierung der widerstandsrechtlichen Judikatur erscheint gerade i m Hinblick auf den neugeschaffenen Widerstandsartikel des Grundgesetzes von besonderer Bedeutung. Der A r t i k e l 20 I V GG hat auf Grund seiner überhasteten Aufnahme i n die Verfassung eine nur höchst unzulängliche Formulierung gefunden, die zu Mißverständnissen führen muß, wenn die Interpretation den Erfahrungsschatz der widerstandsrechtlichen Präjudizien außer acht lassen sollte. Die vorliegende Untersuchung hat als Inaugural-Dissertation der Juristischen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität München vorgelegen. Es ist m i r ein Anliegen, für die Anregung zu diesem Thema, die verständnisvolle Betreuung und stete Unterstützung meinem verehrten Lehrer, Herrn Privatdozent Dr. H. Scholler, auch an dieser Stelle Dank zu sagen. Für fördernde Gespräche und Ratschläge danke ich Herrn Professor Dr. F. C. Schröder, Regensburg, Herrn Wiss. Ass. Dr. Josef Isensee und meinem Bruder, Dr. Helmut Scheidle. Der Stiftung Volkswagenwerk bin ich für das m i r gewährte Promotionsstipendium zu großem Dank verpflichtet, ebenso Herrn Ministerialrat a. D. Dr. Johannes Broermann für die Aufnahme der Arbeit i n sein Verlagsprogramm. Günther Scheidle

Inhaltsverzeichnis

§ 1 Einleitung

15

Erstes

Kapitel

Die Darstellung des Standes der Lehre an Hand eines Problemkataloges des Widerstandsrechts § 2 Der Begriff des Widerstandsrechts

17

§ 3 Die A k t i v l e g i t i m a t i o n

18

§ 4 Die Passivlegitimation

21

§ 5 Die Staatslage

23

§ 6 Die Widerstandslage

25

§ 7 M i t t e l u n d Formen des Widerstandes

27

§ 8 Zulässiges Ziel des Widerstandes

29

§ 9 Widerstandsrecht u n d Übermaß

30

1. Der Grundsatz der Erforderlichkeit

31

2. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit

32

§ 10 Die Begründung des Widerstandsrechts

Zweites

34

Kapitel

Die widerstandsrechtlichen Fallerfahrungen der höchstrichterlichen Rechtsprechung der Bundesrepublik 1. Abschnitt:

Widerstandsfälle

aus der Zeit des Nationalsozialismus

38

§11 Allgemeines

38

§ 12 Die Präambel des B E G

39

§ 13 Die Verfolgungsgründe

des § 1 1 B E G

39

1. Politische Überzeugung — politische Gegnerschaft

39

2. Die Rasse

43

10

nsverzeichnis 3. Der Glaube

45

4. Die Weltanschauung

46

5. Der Einfluß der Präambel auf die Auslegung des § 1 1 B E G

46

§ 14 Die Gleichstellungsgründe nach § 1 I I Nr. 1 B E G

52

§ 15 Die Verfolgungsfiktion des § 1 I I I Nr. 2 B E G

53

§ 16 Die Befreiung v o m Ausschließungsgrund des § 6 1 Nr. 1 B E G

60

§ 17 Zusammenfassung

63

2. Abschnitt:

Widerstandsfälle

in der SBZ

65

1. Unterabschnitt: Die Rechtsprechung zum B V F G

65

§ 18 Allgemeines

65

§ 19 Entscheidungen unmittelbar zum Widerstandsrecht

68

§20 Entscheidungen zu Wirtschaftsstraftaten

72

§ 21 Entscheidungen zur Meinungsäußerungsfreiheit

74

§ 22 Entscheidungen zu anderen Grundrechten

77

1. Allgemeines

77

2. Z u r

78

Gewissensfreiheit

3. Z u m Recht auf Familie

79

4. Z u r Berufsfreiheit

80

5. Z u m Recht auf Eigentum

81

2. Unterabschnitt: Sonstige Rechtsprechung zum Flüchtlingsrecht

82

§ 23 Entscheidungen zum H H G

82

§ 24 Entscheidungen zum N A G

86

3. Unterabschnitt

86

§ 25 Zusammenfassung

86

3. Abschnitt:

Widerstandsfälle

in der Bundesrepublik

88

§ 26 Das „ K P D - U r t e i l "

88

§ 27 Die Rechtsprechung zu A r t . 5 GG

92

1. Das „ L ü t h - U r t e i l "

93

2. Das „ B l i n k f ü e r - U r t e i l "

95

nsverzeichnis 3. Das

„Pätsch-Urteil"

98

4. Zusammenfassung 4. Abschnitt:

Widerstand

101 in Italien

102

§28 Der „ S ü d t i r o l - F a l l "

102

5. Abschnitt

104

§29 Zusammenfassung der Rechtsprechung

104

Drittes

Kapitel

Die Formkräfte der Lehre Verarbeitung der Ergebnisse der Rechtsprechung §30 Methode

107

1. Abschnitt: Begriff, standsrechts

Charakterisierung

und

Begründung

des Wider109

§31 Begriff und Wesen des Widerstandes

109

§32 Überpositives Notwehrrecht u n d politisches Widerstandsrechts

114

§ 33 Rechtskonstruktion u n d Begründung

115

2. Abschnitt:

118

Die Einzelprobleme

§ 34 Die A k t i v l e g i t i m a t i o n

118

§35 Die Passivlegitimation

123

§36 Die Staatslage

125

§ 37 Die Widerstandslage

126

§ 38 M i t t e l u n d Formen des Widerstandes

130

§ 39 Zulässiges Ziel des Widerstandes

132

§40 Widerstandsrecht u n d Übermaß

134

1. Der Grundsatz der Erforderlichkeit

135

2. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit

137

nsverzeichnis

12

Viertes

Kapitel

Auseinandersetzung mit der Kodifikation des Widerstandsrechts in Art. 2 0 I V GG

§41 Die Problematik einer Kodifikation des Widerstandsrechts

141

1. Staatstheoretische Bedenken

141

2. Die Vorgegebenheit des Widerstandsrechts

142

3. Die Lückenhaftigkeit einer Kodifikation

143

4. Die Praktikabilität einer Kodifikation

144

§42 Die Gesetzgebungstechnik bei Art. 2 0 I V GG

145

§ 43 Der materiell-rechtliche Gehalt des Art. 2 0 I V GG

147

Thesen

153

Literaturverzeichnis

155

Abkürzungsverzeichnis a. A a.a.O. a. M . Anm.

= = = =

anderer Ansicht am angegebenen Ort anderer Meiung Anmerkung

AöR AP

= Archiv des öffentlichen Rechts = Arbeitsrechtliche Praxis

ARSP Art. Aufl. BayVBl.

= Archiv f ü r Rechts- u n d Sozialphilosophie = Artikel = Auflage = Bayerische Verwaltungsblätter

Bd.

= Band

BEG BGBl. BGH BGHSt BGHZ BVerfG BVerfGE BVerfGG BSozG BT BVerwG BVFG BVG Diss. DÖV DVB1. GG h. L . h. M . hrsg.

= = = = = = = = = = = = = = = = = = = =

Bundesentschädigungsgesetz Bundesgesetzblatt Bundesgerichtshof Entscheidungen des Bundesgerichtshofs i n Strafsachen Entscheidungen des Bundesgerichtshofs i n Zivilsachen Bundesverfassungsgericht Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts Bundesverfassungsgerichtsgesetz Bundesozialgericht Bundestag Bundesverwaltungsgericht Bundesvertriebenengesetz Bundesversorgungsgesetz Dissertation Die öffentliche Verwaltung Deutsches Verwaltungsblatt Bonner Grundgesetz herrschende Lehre herrschende Meinung herausgegeben

JR JuS JZ LG LM

= = = = =

Juristische Rundschau Juristische Schulung Juristenzeitung Landgericht Nachschlagewerk des Bundesgerichtshofs, hrsg. von Linden« mayer/Möhring

14 LS MDR

Abkürzungsverzeichnis =

Leitsatz

=

Monatsschrift f ü r Deutsches Recht

NAG n. F.

=

Notaufnahmegesetz neue Folge

NJW Nr. NS

=

ns. OLG OVG Rd. Nr. RG RGZ ROW RzW S. SBZ SJZ Sp. StGB VGH vgl. VRspr. WdStRL VwGO ZgesStW ZLA

=

= = =

Neue Juristische Wochenschrift Nummer Nationalsozialismus nationalsozialistisch

Oberlandesgericht Oberverwaltungsgericht = Randnummer Reichsgericht = Entscheidungen des Reichsgerichts i n Zivilsachen = Recht i n Ost u n d West. Zeitschrift f ü r Rechtsvergleichung und = interzonale Rechtsprobleme =

=

= = = = = = = = = =

= =

Neue Juristische Wochenschrift — Rechtsprechung zur Wiedergutmachung Seite Sowjetische Besatzungszone Süddeutsche Juristenzeitung Spalte Strafgesetzbuch Verwaltungsgerichtshof vergleiche Verwaltungsrechtsprechung Veröffentlichungen der Vereinigung der deutschen Staatsrechtslehrer Verwaltungsgerichtsordnung Zeitschrift f ü r die gesamte Staatswissenschaft Zeitschrift f ü r den Lastenausgleich

§ 1 Einleitung

Von dem Ende der Revolution von 1848 an bis 1945 war der Gedanke des Widerstandsrechts i n Deutschland tot 1 . Die Folgezeit hat eine Renaissance des Widerstandsrechts gebracht. M i t dem Zusammenbruch des Positivismus, dessen Gefahren die sich an nichts gebunden fühlende Diktatur des Nationalsozialismus bewußt gemacht hatte, konnte das meist aus überstaatlichen Quellen hergeleitete Widerstandsrecht wieder i n die staatsrechtliche Diskussion gelangen. Doch sind die Erfahrungen aus der nationalsozialistischen Zeit nicht der einzige Grund für die Neubelebung des Widerstandsrechts. Die andere Ursache liegt i n der Krise unseres Gewaltenteilungssystems. Seit die Parlamentsmehrheit die Spitze der Exekutive kreiert, vernachlässigt sie die Kontrolle der Regierung. Diese systemfremde Verflechtung zwischen gesetzgebender und vollziehender Gewalt w i r d durch den Trend zum Justizstaat nur mühsam abgefangen. Die Krise der Gewaltenteilung ist eine Krise des Staatsrechts überhaupt. Schon Ende des 18. Jahrhunderts stellte A. L. Schlözer fest, daß „aus der Frage von dem iure resistendi i n der Folge notwendig das Staatsrecht erwachsen mußte" 2 . Der Ausbau des Staatsrechts war damals Hand i n Hand m i t dem Abbau des Widerstandsrechts gegangen. Die gegenwärtige Krise des Staatsrechts mußte deshalb zur Renaissance des Widerstandsrechts führen. Widerstandstaten während der Zeit des Nationalsozialismus und in der SBZ haben das Widerstandsrecht zu einem nahezu alltäglichen Problem für die Gerichte werden lassen. Das Wiedergutmachungsrecht hat es den Zivilgerichten, das Flüchtlingsrecht den Verwaltungsgerichten aufgegeben, Inhalt und Grenzen des Widerstandsrechts zu bestimmen. Die Unruhen der jüngsten Zeit werden die Gerichte vor neue Aufgaben stellen. Bei der Durchsicht der Rechtsprechung und Literatur zum Widerstandsrecht fällt auf, daß die Praxis die Theorie und die Theorie die Praxis kaum zur Kenntnis nimmt. Vor den Gefahren, die die Trennung von juristischer Theorie und Praxis mit sich bringt, warnt schon Savigny nachdrücklich: Es beruht alles Heil darauf, daß in ι Vgl. Heyland, Widerstandsrecht, S. 76. Allgemeines StatsRecht u n d StatsVerfassungsLehre, S. 83.

2

16

§1 Einleitung

diesen gesonderten Tätigkeiten jeder die ursprüngliche Einheit fest i m Auge behält, daß also i n gewissem Grade jeder Theoretiker den praktischen, jeder Praktiker den theoretischen Sinn i n sich erhält und entwickelt. Wo dies nicht geschieht, wo die Trennung zwischen Theorie und Praxis eine absolute wird, da entsteht unvermeidlich die Gefahr, daß die Theorie zu einem leeren Spiel, die Praxis zu einem bloßen Handwerk herabsinkt 3 . Auch die heutige Methodendiskussion sieht die Notwendigkeit einer engen Verbindung von Theorie und Praxis. Ausgehend von der topischen Grundstruktur der Jurisprudenz erwartet sie von der Rechtsprechung die von der Problematik des Einzelfalls erzwungene Fortbildung des Rechts, von der Theorie die Einarbeitung der neuen Ergebnisse i n die vorhandene Systematik. Nach Ehmke besteht zwischen Theorie und Praxis „ein ständiges Geben und Nehmen" 4 . Esser spricht von einem , ; schubweisen Stoffwechsel zwischen den Neuerfahrungen der Fall-Praxis und den Formkräften der Schule" 5 . Dieser methodische Gedanke leitet die vorliegende Arbeit. Es w i r d deshalb zunächst, nach Problemgesichtspunkten geordnet, ein Überblick über den Stand der Literatur gegeben. Diese Darstellung soll es ermöglichen, die Entscheidungen der Gerichte i m 2. Kapitel kritisch darzustellen. I m 3. Kapitel w i r d versucht, die Fallerfahrungen der Praxis systematisch einzufangen und theoretisch zu formen. Soweit Problemlösungen der Praxis nicht vorliegen, sollen sie nach eigenen Vorstellungen auf Grund der in der Literatur vertretenen A n schauungen gesucht werden, um eine einigermaßen geschlossene Darstellung des Widerstandsrechts zu geben. Zu Beginn dieser Arbeit war es nicht vorauszusehen, daß der Bundestag das Widerstandsrecht i n das Grundgesetz aufnehmen werde. Die nun i n Art. 20 GG eingeführte Widerstandsbestimmung kann aber nicht ohne die von der Rechtstradition und Rechtsprechung entwickelten Maßstäbe betrachtet werden. Das Widerstandsrecht, das sich zu allen Zeiten ohne Rücksicht auf die positive Rechtsordnung durchgesetzt hat, kann i n seinen existentiellen Bereichen nicht von einer Kodifikation abhängig sein. Es soll deshalb erst am Schluß der Arbeit eine Auseinandersetzung m i t dem neugeschaffenen Widerstandsartikel auf Grund der gewonnenen Ergebnisse unternommen werden.

a System des heutigen Römischen Rechts, Bd. I , S. X X . 4 Verfassungsinterpretation, S. 56. s Grundsatz u n d Norm, S.7.

Erstes

Kapitel

Die Darstellung der Lehre an Hand eines Problemkataloges des Widerstandsrechts § 2 Der Begriff des Widerstandsrechts Unter Widerstand läßt sich rein sprachlich jedes Gegenverhalten verstehen. Das Wider-Stehen setzt etwas Be-Stehendes voraus, dessen Kräfte gebrochen werden sollen. Als allgemeine Erscheinung der Natur ist der Widerstand für die juristische Betrachtung unergiebig, so daß sein Begriff i m Rahmen einer rechtlichen Untersuchung wenigstens auf gesellschaftliche Bezugspunkte eingeengt werden muß. Daraus ergibt sich als weiteste relevante Definition des Widerstandes: „Jegliche menschliche Abwehrreaktion innerhalb einer Gemeinschaft gleichgültig aus welchen Gründen 1 ." Damit sind sämtliche sozialen Konflikte angesprochen, wie Lohnverhandlungen und Streik, parlamentarische Opposition und Revolution, Machtkämpfe i n Vereinen, Verbänden und Parteien 2 . Die Weite der damit erfaßten Fälle liegt durchaus i m Bereich des Wortsinnes „Widerstand". Jedoch ist der Begriff vom historischen Befund her dahingehend eingeengt, daß i m allgemeinen nur ein Gegenverhalten gegen den Staat als Ausübung des Widerstandsrechts angesehen wird. Von diesem i m großen und ganzen hinzunehmenden Ausgangspunkt lassen sich weitere Begriffseinengungen i n verschiedenen Richtungen treffen. Vielfach w i r d Widerstand und Revolution getrennt, d.h. aus der widerstandsrechtlichen Betrachtung w i r d die Ersetzung „eines herrschenden gesellschaftlichen oder kulturellen Systems durch ein anderes" ausgeklammert und nur Handlungen einbezogen, die „ i m Rahmen des überlieferten Rechts gegen die Staatsgewalt" begangen werden und „auf Erhaltung oder Wiederherstellung des alten Systems" 3 zielen 4 . ι So Wertenbruch (Rechtfertigung, JS 321), der diese weite Definition aber wieder einschränkt. a Vgl. Dahrendorf, Gesellschaft u n d Freiheit, S. 125. a Gerstenmaier, Widerstandsrecht, Sp.2497. 4 Die Revolution nehmen bei der Behandlung des Widerstandsrechts aus: 2 Scheid!«

18

1. Kap. Darstellung der Lehre an Hand eines Problemkataloges

Es lassen sich Begriffseinschränkungen auf der Ebene der Widerstandsgegner (Passivlegitimierten) treffen, indem man i n die Betrachtung nur Aktionen gegen oberste Staatsträger einbezieht 5 , wie auch i m Bereich der Widerstandslage, indem man ζ. B. grobes staatliches Unrecht voraussetzt 6 . Theoretisch lassen sich als Arbeitshypothese i n zulässiger Weise beliebige Begriffseinschränkungen vornehmen. Für den Zweck der Arbeit sollen die Möglichkeiten begrifflicher Bestimmung lediglich angedeutet werden, um zu sehen, wie die Rechtsprechung den Widerstandsbegriff faßt. Begriffliche Offenheit w i r d es am ehesten ermöglichen, alle relevanten Entscheidungen zu berücksichtigen und nichts für das Thema Wesentliches durch Begriffseinengung abzuschneiden.

§3 Die Aktivlegitimation Die Frage, wer berechtigt ist, Widerstand zu leisten, ist so alt und so umstritten wie das Widerstandsrecht selbst. Eike von Repgow lege i m Sachsenspiegel getreu den germanischen Rechtsvorstellungen 7 ein individuales Recht und eine individuale Pflicht jedes einzelnen Untertanen gegen ungesetzliche Machthaber fest: „Der Mann muß auch wohl seinem König und Richter, wenn dieser Unrecht tut, widerstehen und sogar dazu helfen, i h m zu wehren, i n jeder Weise, selbst wenn jener sein Verwandter oder Lehensherr ist. Und damit verletzt er seine Treuepflicht nicht 8 ." Dagegen w i r d von den Staatstheoretikern zur Zeit des Ständestaates der Personenkreis der zum Widerstand Legitimierten eingeschränkt. So lehrt Marsilius von Padua i n seinem „Defensor pacis", daß das Volk den Herrscher, der die i h m vom Volk übertragenen Befugnisse überschreite, nicht selbst absetzen könne, sondern nur durch sog. statuti ad hoc, eigens hierfür eingesetzte Organe. Diese statuti ad hoc sind nichts anderes als Vertreter der einzelnen von Marsilius von Padua unterschiedenen Stände des Volkes, also Personen, die i n seiner Staatskonstruktion eine derjenigen der Stände i m wirklichen Staatsleben entsprechende Stellung einnehmen 9 . Bertram, Widerstand, S. 12; Gerstenmaier, a.a.O.; Grundmann, Widerstandsrecht, Sp. 2501; Weinkauff, Widerstandsrecht, S. 4; Wertenbruch, Rechtfertigung, S. 322. s Weinkauff, Widerstandsrecht, S. 3 f. β Wertenbruch, Rechtfertigung, S. 322. 7 Vgl. Kern, Gottesgnadentum, S. 145 ff. β Sachsenspiegel I I I , 78, §2. » Vgl. Heyland, Widerstandsrecht, S. 28; Wolzendorff, Staatsrecht u n d Naturrecht, S. 18. Ä h n l i c h L u p o i d v o n Bebenburg, der zwar dem V o l k ein

§ 3 Die A k t i v l e g i t i m a t i o n

19

Calvin differenziert zwischen aktivem und passivem Widerstandsrecht. Dieses steht auch dem einzelnen zu, jenes ist auf Staatsrepräsentanten beschränkt, die der Überwachung der Staatsgewalt gewidmet sein müssen 10 . I n der evangelischen Theologie ist vor allem Walter Künneth ganz der reformatorischen Tradition verhaftet Den aktiven Widerstand w i l l er nur einem Personenkreis erlauben, der den Standespersonen von einst entspricht. Er hält nur solche Männer für berufen, die sich i n einer verantwortlichen staatlichen Position befinden, also ordnungsgemäße Amtsträger sind oder wenigstens i n früherem Staatsdienst sich als solche bewährt haben 11 . Doch auch aus diesem Kreis w i l l Künneth nur solche Amtsträger legitimieren, die aus einer „einzigartigen Lageerkenntnis und Lagedeutung heraus, sei es des Generals, des Staatsmannes oder des Juristen an führender Stelle", Einsicht i n die Staatssituation haben 12 . Auf juristischer Seite gehen die Ansichten Wertenbruchs und Weinkauf f s etwas i n diese Richtung, jedoch i n abgemilderter Form. Nach Wertenbruch ist das aktive Widerstandsrecht kein „Normalmenschenrecht" 1 3 , da der Widerstandsleistung ein besonders sorgfältiger Erkenntnisvorgang m i t Gegenständen faktischer, moralischer, politischer und rechtlicher A r t vorauszugehen habe. Dies überfordere den „Jedermann" i n aller Regel weit 1 4 . Dagegen sei jedermann zum passiven Widerstand legitimiert, da dieser nur die individuelle Einsicht i n die Widerstandssituation zur Vorausseazung habe 15 . Weinkauff billigt das Widerstandsrecht grundsätzlich jedermann zu, sieht jedoch den Kreis der wirklich berechtigten Widerstandskämpfer dadurch sehr eingeengt, Absetzungsrecht zuerkennt, seine Ausübung aber n u r durch die Kurfürsten als Repräsentanten der Gesamtheit zuläßt (vgl. Wolzendorff, ebenda). Eine erstmalige Institutionalisierung des Widerstandsrechts w u r d e 1215 i n der Magna Charta L i b e r t a t u m vorgenommen, nach deren §61 ein Widerstandsausschuß m i t 25 Baronen gebildet werden sollte. Dieser sollte i m Falle einer Rechtsverletzung durch den K ö n i g f ü r die Wiederherstellung des Rechts auch unter Anwendung v o n Z w a n g sorgen (vgl. Heyland, Widerstandrecht, S. 15). m Vgl. Krüger, Staatslehre, S. 946; ähnlich w i e Calvin auch L u t h e r (vgl. Thielicke, Ethik, 112, S. 446 ff.). 11 P o l i t i k zwischen Dämon u n d Gott, S. 308. 12 a.a.O., S. 309. Ä h n l i c h Kinder (in: Vollmacht des Gewissens, S. 54 ff.): „ D e r verkehrte Staat ist i m m e r noch besser als die Anarchie." Widerstand k o m m t n u r als u l t i m a ratio i n Betracht. „Nicht Hinz u n d K u n z können die u l t i m a ratio sehen, sondern n u r der, welcher i n der besonderen Verantwortung steht. A k t i v e r Widerstand w i r d also nicht allgemein v o m Prinzip her freigegeben. Gegen Hinz u n d K u n z hat auch die verderbte Staatsführung i m m e r noch Recht." ia Rechtfertigung, S. 336. " a.a.O., S. 340. « a.a.O., S. 339.

2*

20

1. Kap. Darstellung der Lehre an Hand eines Problemkataloges

daß nicht viele das erforderliche klare und sichere Urteil über die Widerstandslage hätten 1 6 . Neuerdings fordert der Soziologe Herbert von Borch wieder eine Institutionalisierung des Widerstandsrechts bei konkret bestimmten Trägern. Er schlägt dafür das Beamtentum vor, da es das „unentbehrlich notwendige Werkzeug eines freiheitsgefährdenden Herrschaftswillens" darstelle 17 . I m soziologischen Bedingungsnetz des heutigen „Zentralverwaltungsstaats" könne Widerstand außerhalb des Herrschaftsapparates, dieser sowohl als zivile Bürokratie wie als m i l i tärische Befehlshierarchie verstanden, nicht wirksam sein. Er müsse innerhalb des Herrschaftsapparates rechtzeitig i n Funktion treten 1 8 . Auch Heyland ist der Ansicht, daß den Staatsorganen selbst bei der Ausübung des Widerstandes eine wichtige Funktion zukomme, ohne jedoch damit, wie anscheinend v. Borch 19 , dem einzelnen das Widerstandsrecht abzusprechen 20 . Bertram weist darauf hin, daß heute neben dem einzelnen insbesondere die politischen Parteien zur Ausübung des Widerstandes berufen seien, da der einzelne seinen politischen Willen praktisch nur auf dem Wege über die Parteien zur Geltung bringen könne 2 1 . Nach Alfred Weber sind die Gewerkschaften vor allem zur Widerstandsleistung berechtigt, da sie sich als einziger Verband um den ständigen Vollzug der Menschenrechte kümmerten und sie es seien, die den Menschen allmählich ein menschenwürdiges Dasein bereiten wollten 2 2 . Die Mehrzahl der Autoren ist jedoch mit Heyland und Bertram der Ansicht, daß das Widerstandsrecht jedermann zustehe 23 . Vor allem Thielicke hat die Aktivlegitimation jedes einzelnen m i t der Begründung verfochten, daß innerhalb der neuzeitlichen Situation des Staates, die durch die These von der Mündigkeit der Bürger bestimmt sei und die dieser Mündigkeit i n der Demokratie einen institutionellen 16

Widerstandsrecht, S. 18 ff. Obrigkeit u n d Widerstand, S. 209. Z u m Problem des Widerstandes durch die Gerichte vgl. Becker, SJZ 1947, Sp. 480 ff. Z u m Widerstandsrecht der Universitäten vgl. Bauer, Dokumente, S. 181 ff.; Smend, Die Göttinger Sieben, S. 405 ff.; J. v. Gierke, Widerstandsrecht, S.24. 18 a.a.O., S. 213 f. a.a.O., S. 211 f. 20 Widerstandsrecht, S. 87. 21 Widerstand, S. 37. 22 Staat u n d gewerkschaftliche Aktion, S. 478 ff. 23 Vgl. j . ν . Gierke, Widerstandsrecht, S. 20; Arnot, Widerstandsrecht, S. 122; Grundmann, Widerstandsrecht, Sp. 2507; Weniger, Gehorsamspflicht, S. 418; E. Berggrav, Staat u n d Kirche, S.41; Thielicke, Ethik, 112, S. 445 ff.] Angermair, Widerstandsrecht, Sp.674ff.; Pribilla (Schicksalsfragen, S.302f.), der von einem Widerstands-recht des Volkes spricht u n d den einzelnen n u r Vollstrecker des Gesamtwillens sein läßt. Ä h n l i c h Welty, Widerstand, S. 266. 17

§4 Die Passivlegitimation

21

Ausdruck verschafft habe, das Privileg, Träger des Widerstandes zu sein, nicht einem bestimmten Kreis vorbehalten bleiben könne 2 4 . A u f dem Standpunkt, daß jedermann das Widerstandsrecht ausüben könne, stehen auch die Landesverfassungen von Hessen, Bremen und Berlin 2 5 .

§ 4 Die Passivlegitimation Die Frage, gegen wen sich der Widerstand richten darf 2 6 , erscheint zunächst simpel. Man denkt an Damon, der m i t dem Dolch i m Gewände zum Tyrannen schlich. Seit jedoch i m modernen Staat die Staatsgewalt auf viele Träger verteilt ist, ist die Bestimmung des Widerstandsadressaten schwieriger geworden 27 . Dies w i r d augenfällig, wenn man daran geht, den Widerstandsartikel der Hessischen Verfassung zu interpretieren. Dort w i r d bestimmt, daß sich der Widerstand gegen verfassungswidrig ausgeübte öffentliche Gewalt zu richten hat. Nach Heyland w i r d öffentliche Gewalt immer dann eingesetzt, „wenn die dem Staate eigentümliche ,Befehls- und Zwangsgewalt 1 ausgeübt wird, einerlei, ob dies durch die verfassungsmäßig oder gesetzlich dazu berufenen Organträger des Staates und anderer öffentlicher Verbände oder durch Personen oder Personengruppen geschieht, die sich die Ausübung staatlicher Befehls- und Zwangsgewalt rechtswidrigerweise angemaßt haben" 2 8 . 24 Thielicke, a.a.O., S. 445 f. 25 A r t . 147 der Hessischen Verfassung: Widerstand gegen verfassungswidrig ausgeübte öffentliche Gewalt ist jedermanns Recht u n d Pflicht. Wer von einem auf Verfassungsbruch gerichteten Unternehmen Kenntnis erhält, hat die Pflicht, die Strafverfolgung des Schuldigen durch A n r u f u n g des Staatsgerichtshofs zu erzwingen. Näheres bestimmt das Gesetz. A r t . 19 der Bremer Verfassung: Wenn die i n der Verfassung festgelegten Menschenrechte durch die öffentliche Gewalt verfassungswidrig angetastet werden, ist Widerstand jedermanns Recht u n d Pflicht. A r t . 23 I I I der Berliner Verfassung: Werden die i n der Verfassung festgelegten Grundrechte offensichtlich verletzt, ist jedermann zum Widerstand berechtigt. 26 Interessant, w e n n auch wegen ihres theologischen Bezuges n u r sehr beschränkt verwendbar, ist hier die Lehre Luthers (vgl. J. Heckel, Widerstand gegen die Obrigkeit?): Aus der Zwei-Reiche-Lehre entwickelt L u t h e r konsequent den geistlichen Tyrann, der m i t geistlichen M i t t e l n bekämpft werden muß, u n d den weltlichen Tyrann, gegen den sich auch leiblicher Widerstand richten darf; dieser k a n n allerdings seine Rechtfertigung n u r aus der „ l e x charitatis" erhalten. Gegen den T y r a n n beider Reiche, den tyrannus universalis, der Herrschergewalt m i t Recht gleichsetzt, wendet sich L u t h e r m i t großer Leidenschaft; m a n müsse diesem Verbrecher ein Ende machen w i e einem reißenden Tier. 27 Vgl. dazu vor allem Geiger, Widerstand, S. 106 f. 28 Widerstandsrecht, S. 88.

22

1. Kap. Darstellung der Lehre an Hand eines Problemkataloges

Damit treten als mögliche Objekte des Widerstandes nicht-verfaßte Organe i n Erscheinung, intermediäre Gewalten wie Parteien und Verbände, Personen und Personengruppen. Daß gegen sie Widerstand geleistet werden darf, setzt nach Heyland voraus, daß sie verfassungsw i d r i g Befehls- und Zwangsgewalt ausüben 29 . Hier eine gültige Grenze zu finden, wann der Druck einer Interessengruppe i n den Bereich öffentlicher Gewalt greift, dürfte nicht leicht fallen. Nach H. Sladeczek darf gegen außerstaatliche Personen dann Widerstand geleistet werden, wenn diese den technischen Apparat der Daseinsvorsorge zerstören. Weil die Zerstörung des technischen Apparates die körperliche Möglichkeit, menschlich zu leben, ernstlich bedrohe, gerate die politische Gemeinschaft in die „Not der Lebensverfassimg", die den Widerstand rechtfertige 30 . Das Problem des Widerstandes gegen Dritte w i r d i n der Literatur nur spärlich behandelt 3 1 ; umso mehr verdient Erwähnung, was F. K e r n über den Kampf gegen die frühmittelalterliche „Lobby" berichtet: „Es konnte aber auch vorkommen, daß ein Herrscher getäuscht und mißbraucht von Ratgebern und Günstlingen schlecht regierte. Dann stand des Königs allergetreueste Opposition auf ,aus Treue zum König und Reich, nicht um die Majestät abzusetzen oder zu entehren 4 , sondern u m sie und das Land gewaltsam von der Tyrannei jener Räte zu befreien; das Volk focht dann unverzagt ,für den Fürsten gegen den Fürsten' 3 2 ." I m Bereich unmittelbarer, eindeutiger Staatlichkeit lassen sich die Adressaten des Widerstandes leichter bestimmen. Hier läßt sich Widerstand denkbarerweise ausüben durch die Beseitigung des Staates selbst, eines institutionalisierten Organs, der betreffenden Amtsträger oder der Unrechtszustände. Den Staat als Angriffsobjekt scheidet Wertenbruch begrifflich aus, da das Widerstandsrecht als staatsrechtlicher Begriff die Existenz des Staates voraussetze 33 . Dem läßt sich zum einen entgegenhalten, daß es so sicher nicht ist, daß es sich beim Widerstandsrecht um einen staatsrechtlichen Begriff handelt, ergo ein daraus abgeleiteter Schluß sehr zweifelhaft sein muß. Zum anderen heißt es dem, der Widerstand leisten w i l l , Steine statt Brot geben, wenn Fälle wie der „Ver29 Vgl. die gegen den politischen Streik gerichtete Resolution der CDU von Königswinter v o m Januar 1951, i n der es heißt: „ D e n Gesetzgeber durch Streikdrohungen unter Druck setzen, ist ein Verfassungsbruch." (Zitiert bei Rühe, Widerstand, S. 92.) so Sladeczek, Problem des Widerstandes, S. 388. 3! Vgl. aber Mauerer (Zwischen Agenten u n d Lobbyisten, S. 54), der zum moralischen Widerstand gegen korrumpierte Lobbyisten aufruft. 32 Kern, Gottesgnadentum, S. 154 f. 33 Rechtfertigung, S. 329.

§ 5 Die Staatslage

23

rat" des Oberst Oster schon begrifflich gar nicht i m Widerstandsrecht untergebracht werden, sondern auf allenfalls anderweitig bestehende Rechtfertigungsgründe verwiesen wird. Zum dritten ist zu bedenken, daß der Angriff auf den Staat dem herrschenden Regime gilt; der Widerstand gegen die staatliche Existenz selbst ist daher eher eine Frage des zulässigen Mittels als des Gegners. Nach Wertenbruch scheidet auch jedes Handeln gegen ein institutionalisiertes (verfassungsmäßiges) Organ als solches aus, da der Staat nur durch seine Organe handeln könne und Staat und Organe denknotwendig eine Einheit seien 34 . Als Objekte rechtmäßiger Widerstandsleistung läßt er nur die durch Amtsmißbrauch entstandenen Unrechtszustände und ihren (oder ihre) Verursacher gelten 35 . Ähnlich sagt Geiger, daß sich die Widerstandshandlung gegen die Inhaber von Staatsgewalt richten müsse. Er hebt hervor, daß das Widerstandsrecht i m modernen gewaltengeteilten Staat m i t seinem weitverzweigten Behördenapparat diffus und dubios geworden sei 36 . Dagegen w i l l Weinkauff Widerstand nur gegen die Unrecht tuenden obersten Träger der Staatsgewalt zulassen 37 .

§5 Die Staatslage I n einem Staat, der sich m i t dem Recht identifiziert und daher auch keine Möglichkeiten bereithält, gegen staatliche Mißstände und „Unrechts"-Handlungen vorzugehen 38 , kann der Bürger seine Rechtsvorstellungen nur durch Widerstand und Revolution durchsetzen. Der Widerstand, der üblicherweise als das letzte Mittel, die ultima ratio, angesehen wird, stellt sich von vornherein als der einzige Behelf dar. Arnot kann daher nur zugestimmt werden, wenn er i n diesem Fall den Widerstand als die prima ratio bezeichnet 39 . Dem eben geschilderten Staatstyp steht der andere gegenüber, der, von Mißtrauen gegen sich selbst erfüllt, durch Gewaltenteilung, Grundrechte und Rechtsschutz Sicherungen gegen mögliche staatliche Ubergriffe eingebaut h a t Wo gegen staatliches Unrecht der Rechtsweg Ebenda. 35 Rechtfertigung, S. 330. 36 Widerstand, S. 106 f. 37 Widerstandsrecht, S. 19. 38 Einen solchen Staat bezeichnet P. Schneider als Unrechtsstaat (Widerstandsrecht, S. 17), obwohl die Verweigerung staatlichen Rechtsschutzes noch nichts darüber aussagt, ob i n einem solchen Staat tatsächlich Unrecht geschieht. Andere (vgl. z.B. von Witzleben, i n : Vollmacht des Gewissens, S. 17) verstehen darunter einen pervertierten Staat ohne alle Rechtsgrundlagen. 39 Widerstandsrecht, S. 114.

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1. Kap. Darstellung der Lehre an Hand eines Problemkataloges

eröffnet ist, hält die h. M. Widerstand für unzulässig, da das Widerstandsrecht als Selbsthilferecht subsidiär sei 40 . Daraus werden zwei gegensätzliche Schlußfolgerungen bezüglich der Existenz des Widerstandsrechts i m Rechtsstaat gezogen. Die eine Meinung geht dahin, daß das Widerstandsrecht i m modernen funktionsfähigen Rechtsstaat keinen Platz mehr habe 41 . Es sei aufgesogen durch die zahlreichen Widerspruchsgelegenheiten, die dieser Staat dem einzelnen oder Gruppen zur Verfügung stelle 42 . Bei Herbert Krüger, der das Wort Schlözers, daß das Staatsrecht aus dem Widerstandsrecht erwachsen sei, dahingehend umformuliert, daß es an dessen Stelle getreten sei 43 , stößt man auf die historische Wurzel dieser Meinung: 1793 legte der französische Philosoph und Politiker Condorcet dem Nationalkonvent einen Verfassungsentwurf vor, worin großes Gewicht auf die Frage nach der Ausübung des Widerstandsrechts gelegt wurde. Er stellte dabei den Grundsatz auf, daß die i m Staate vereinigten Menschen ein gesetzliches M i t t e l zum Widerstand gegen Bedrückung haben müßten. Dazu wollte er eine Rechtsschutzorganisation schaffen, die dem einzelnen Bürger die Verhinderung unrechtmäßiger Ausübung der Staatsgewalt ermöglichen sollte. Für den Fall jedoch, daß die Rechtsschutzeinrichtungen nicht mehr funktionieren, hält Condorcet keine Lösungen bereit 4 4 . Das Widerstandsrecht reicht nach dieser Auffassung nur noch so weit, wie weit es als Rechtsmittel vom Staat konzediert w i r d ; das „fundamentale Verteilungsprinzip, nämlich die prinzipielle Unbegrenztheit der menschlichen Freiheit und die prinzipielle Begrenztheit des Staates ist damit aufgegeben" 45 . Nach der anderen Meinung ist das Widerstandsrecht auch i m Rechtsstaat immer noch prinzipiell vorhanden, jedoch eingeschränkt durch das Prinzip der ultima ratio und der Subsidiarität 4 6 ; das bedeutet, daß in allen Fällen, wo gegen staatliches Unrecht der Rechtsweg offensteht, die Berufung auf das Widerstandsrecht versagt ist, jedoch in Ausnahmefällen auch i m Rechtsstaat auf dieses Recht zurückgegriffen werden kann. 40 Vgl. z . B . Weinkauff, Widerstandsrecht, S. 18; Bertram, Widerstand, S. 32 f.; E.V.Hippel, Widerstand, S.225. Vgl. P. Schneider, Widerstandsrecht, S. 16; Arnot, Widerstandsrecht, S. 56; Wolzendorff, Staatsrecht u n d Naturrecht, S. 486 ff. 42 Vgl. P. Schneider, a.a.O., S. 12. 43 Staatslehre, S. 202. 44 Ausführlich zum Verfassungsentwurf v o n Condorcet Wolzendorff, Staatsrecht u n d Naturrecht, S. 390 ff.; Heyland, Widerstandsrecht, S. 63 ff. 45 C. Schmitt, Verfassungslehre, S. 164.

4® Vgl. E.V.Hippel, Widerstand, S.225 f.; Geiger, Widerstand, S. 108; nicht ganz eindeutig Wertenbruch, Rechtfertigung, S. 328.

§ 6 Die Widérstandslage

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Julius von Gierke ist dagegen der Ansicht, daß selbst bei Klagemöglichkeit unter Umständen gewaltloser Widerstand geleistet werden dürfe, da ein ruhiges Hinnehmen von Verfassungsverletzungen bis zur Klage und während des Verfahrens unmöglich zugemutet werden könne 47 .

§6 Die Widerstandslage Unabhängig von der Qualifizierung des Staates als Rechtsstaat oder Unrechtsstaat ist zu bestimmen, wann der Widerstandsfall eintritt. Solange i n einem Staat überall die Ideen der Gerechtigkeit verwirklicht werden, besteht zu Widerstand kein Anlaß. Unrecht muß geschehen, um berechtigtem Widerstand die Pforte zu öffnen. Doch wie läßt sich feststellen, daß eine staatliche Handlung Unrecht darstellt? Solange sie sich i m Widerspruch zu einer intakten Rechtsordnung befindet, ist die A n t w o r t leicht gefunden. Eine heile Rechtsordnung erlaubt die Rechtswidrigkeit selbst geringer Verstöße i m staatlichen Bereich festzustellen. I m allgemeinen ist man der Ansicht, daß nicht jede staatliche Rechtsverletzung, sondern nur eine solche von einer gewissen Schwere den Widerstandsfall auslöst. So muß es sich nach J. v. Gierke wenigstens um Verfassungsverletzungen handeln 4 8 . Für andere eröffnet nur der grobe Verfassungsbruch, d. h. eine Aktion, die wesentliche Bastionen der rechtsstaatlichen Ordnung zerstört. den Widerstandsfall 49 . Nach theologischer Ansicht ist nur in ganz extremen Situationen die Widerstandslage gegeben. Künneth spricht von der Stunde höchster Gefährdung der Staatsordnung und der Volksexistenz 50 und Pribilla vom außerordentlichen Mißbrauch der Staatsgewalt, der sich vor allem darin verrate, daß alle Freiheit unterdrückt, das Recht durch die Gewalt und das Gemeinwohl durch Partei Wirtschaft völlig verdrängt werde 5 1 . Thielicke fordert, daß der Staat bereits „auf der Seite des Chaos" stehen müsse 52 , und Welty, daß das Staatswohl wirklich vor dem Untergang oder schon mitten drin stehe 53 . Auch zur Prüfung dieser wenig exakten Begriffe, die von theologischer Seite eingeführt werden, dürfte es unumgänglich sein, zu 47 48 49 so 51 52 53

Widerstandsrecht, S. 19 f. Widerstandsrecht, S. 19 f. Vgl. Wertenbruch, Rechtfertigung, S. 328 m i t weiteren Nachweisen. Politik, S. 308. Schicksalsfragen, S. 302. Ethik, I I 2, S. 424. Widerstand, S. 270.

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1. Kap. Darstellung der Lehre an Hand eines Problemkataloges

untersuchen, ob der Staat unrechtmäßig handelt. Dies festzustellen, stößt i n totalitären Staaten auf große Schwierigkeiten. Denn Gewaltregime verstehen sich darauf, ihr Handeln zumindest nach und nach mit allen Normen des positiven Rechts i n Einklang zu bringen. Gewisse Zeit mag man die neue Staatsgewalt noch an den alten Verfassungsnormen messen, aber nicht unbegrenzt. I n manchen Fällen läßt es sich daher nicht vermeiden, den Staat an Hand eines überpositiven Maßstabes zu bewerten. Vielfach w i r d dabei mit den Begriffen der Legalität und Legitimität gearbeitet 54 . Legalität bedeutet die Erfüllung und Einhaltung der vom positiven Recht geforderten Bedingungen, Legitimität die Beachtung gewisser außerpositiver Maßstäbe, wie der sittlichen Ordnung oder der sozialen Gerechtigkeit. Die neuere Anschauung verlangt, daß staatliches Handeln legal und legitim ist. Die Maßstäbe der Legitimität ermöglichen es, ein sich mit der positiven Rechtsordnung vollkommen i n Einklang befindliches Regime als Unrechtsherrschaft zu identifizieren. Der Konflikt von Legalität und Legitimität läßt nach Nawiasky die Widerstandslage entstehen 55 . Die Bestimmung der Maßstäbe der Legitimität w i r d dann zum eigentlichen Problem. Viele Autoren treffen sie durch Heranziehung des Naturrechts 56 . Die Widerstandslage muß aber nicht nur material, sondern auch temporal festgelegt werden. Nach Pribilla kann aktiver Widerstand erst nach Erschöpfung aller friedlichen, verfassungsmäßigen M i t t e l geleistet werden 5 7 . Dagegen hat Herbert von Borch vorgebracht, daß die Vorbedingung der Ausschöpfung aller Rechtsmittel den Widerstand real unmöglich mache. Das zu lange Hinauszögern des Widerstandes erlaube es dem Tyrannen, sich machtmäßig zu etablieren. Die modernen hochgradig technisierten Herrschaftsmethoden würden dann, wie die Erfahrung gezeigt hat, jeden Widerstandsversuch zum Scheitern verurteilen. Es komme deshalb auf eine möglichst frühe, präventive Freiheitsgarantie an; der Zeitpunkt für die Ausübung des Widerstandes müsse vorverlegt werden 5 8 . Für eine Staffelung des Widerstandes nach den verschiedenen Ausübungsberechtigten t r i t t Nawiasky ein. Er spricht von einer Abstufung m Vgl. Nawiasky, Staatsrechtslehre, S.68, 118 ff.; Welty, Widerstand, S.252; Arnot, Widerstandsrecht, S. 59 ff. Z u m Problem der Legalität u n d L e g i t i m i t ä t allgemein C.Schmitt, Legalität u n d L e g i t i m i t ä t ; derselbe, Das Problem der Legalität; J. Winckelmann, Legitimität u n d Legalität, es Staatsrechtslehre, S.68. m Vgl. z.B. Welty, Widerstand, S.252; Weinkauff, Widerstandsrecht, S. 13. 57 Schicksalsfragen, S. 303. 58 Widerstand, S. 160 ff., 214. Z u den Konsequnzen, die v. Borch daraus für die A k t i v l e g i t i m a t i o n zieht, vgl. oben, S. 20.

§7 Mittel und Formen des Widerstandes

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des Widerstandes „nach der Stellung der für das Handeln i n Betracht kommenden Personen je nach ihren Möglichkeiten" 6 9 .

§ 7 Mittel und Formen des Widerstandes Die Widerstandsaktionen gegen das Dritte Reich liefern reiches A n schauungsmaterial möglicher Verhaltensweisen des Widerstandes. „Von der politischen Opposition moderner Massenparteien über die Illegalität eines unterirdischen Propagandakampfes, den Nichtkonformismus der ,inneren Einkehr', den unpolitischen Aufschrei des empörten Gewissens, die kalkulierende Kollaboration zur Erhaltung von Positionen für eine Gegenwirkung bis hin zum Staatsstreich und zum Attent a t " 6 0 wurden alle Stufen durchlaufen. Bei der rechtlichen Würdigung dieser Widerstandshandlungen stellt sich das Problem, ob sich bestimmte Widerstandsformen herausschälen lassen, die zu unterschiedlichen Rechtsfolgen führen, und ob bestimmte Widerstandsmittel von vornherein unrechtmäßig sind. Zur Bestimmung widerstandsrechtlicher Grundtypen w i r d von den meisten Autoren zwischen aktivem und passivem, gewaltsamem und gewaltlosem Widerstand unterschieden 61 . Die Abgrenzung des aktiven vom passiven Widerstand ist umstritten 6 2 , doch läßt sie sich in etwa treffen, wie folgt: Passiver Widerstand stellt ein reines Unterlassen dar, meist eine Gehorsamsaufsage demjenigen gegenüber, der m i t dem Anspruch staatlicher Befehlsgewalt auftritt 6 3 . Er ist wohl nur als gewaltloser Widerstand denkbar. 59 Staatsrechtslehre, S. 68. co Kluke, Widerstandsbewegungen, Sp. 659 f. Z u r Spektrumsbreite möglicher Widerstandshandlungen vgl. auch Weisenborn (Aufstand) und Ehlers (Verschwörung). ei Vgl. Erdsiek, N J W 1962, 313; Grundmann, Widerstandsrecht, Sp. 2501, der zusätzlich zwischen leiblichem u n d geistigem Widerstand unterscheidet; Wertenbruch, Rechtfertigung, S. 330 f.; v. Gierke, Widerstandsrecht, S. 20 ff.; Rühe, Widerstand, S. 90 ff.; Angermair, Widerstandsrecht, Sp. 676 f.; Pribilla, Schicksalsfragen, S. 289 ff.; Welty, Widerstand, S. 252 ff.; ähnlich Arndt, N J W 1962, 431; Künneth, Politik, S. 286 f. A r n o t lehnt die Unterscheidung zwischen a k t i v e m und passivem Widerstandsrecht ab, da jedes Widerstandsverhalten nicht ein „Überhaupt-Nichts-Tun", sondern ein „ A n d e r s - T u n " sei, so daß jeder Widerstand notwendig ein aktiver sei (Widerstandsrecht, S. 5). Sehr kritisch zum passiven Widerstand F. Lassalle (Reden u n d Schriften, Bd. 1, S. 238) : „Der passive Widerstand . . . , das ist der Widerspruch i n sich selbst, es ist der duldende Widerstand, der k e i n Widerstand ist." 62 Vgl. ζ. B. Erdsiek (a.a.O.), Wertenbruch (a.a.O.) u n d Rock (Widerstand, S. 27 ff.), die alle etwas voneinander abweichen. Auch w i r d m a n den passiven Widerstand i. S. der Lehre Luthers heute eher als aktiven, gewaltlosen Widerstand zu qualifizieren haben (vgl. J.Heckel, Widerstand gegen die Obrigkeit?, S. 301). β» So Welty, Widerstand, S. 253.

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1. Kap. Darstellung der Lehre an Hand eines Problmkataloges

Der aktive Widerstand besteht i n einem Tun, einer Aktion. Das Beispiel der „unterirdischen" Propaganda zeigt, daß er nicht immer gewaltsam sein muß. A k t i v e r gewaltsamer Widerstand manifestiert sich besonders deutlich i m Einsatz physischer Gewalt, wie ζ. B. am 20. J u l i 1944. Daneben zeigen sich i m Streik und i n der von Gandhi entwickelten Methode der „Satyagraha" Mischtypen, die Elemente des aktiven und passiven Widerstandes enthalten. Der Streik muß organisiert werden und verlangt damit A k t i v i t ä t ; die Satyagraha kombiniert das Unterlassen mit gewaltloser A k t i v i t ä t 6 4 . Die Unterscheidung zwischen aktivem und passivem Widerstand gewinnt für manche Autoren deshalb entscheidende Bedeutung, weil sie den aktiven Widerstand erst dann für erlaubt halten, wenn die Mißstände nicht durch passiven Widerstand zu beseitigen sind 6 5 . Erdsiek hebt den Gedanken hervor, daß der passive Widerstand unter anderen Gesetzen stehe als der aktive, da jener i n seinen Folgen übersehbar sei und niemand gefährde als den Handelnden selbst 66 . Bestimmte Widerstandsmittel werden von manchen als grundsätzlich unzulässig abgelehnt. So ist Wertenbruch der Ansicht, daß sich der aktive Widerstand bis zu dem Versuch steigern dürfe, die Machthaber ihres Amtes zu entsetzen, um auf diese Weise den Weg für die Wiederherstellung der verfassungsmäßigen Ordnung freizumachen. Der Tyrann dürfe jedoch nicht getötet werden 6 7 . Ebenso scheidet Wertenbruch Hochverrats- und Landesverratsdelikte als erlaubte Widerstandsmittel aus 68 . Angermair hält eine Sabotage, die i h r Ziel nur über die unmittelbare Gefährdung schuldloser Volksgenossen, etwa einen Teil des eigenen Heeres, erreichen könne, für kein erlaubtes M i t t e l zur Verkürzung eines Krieges. Man dürfe nicht Schuldlose, die dem eigenen Lager zugehörten, dem Tode überantworten, um daraus vermeintlich Gutes zu erreichen 69 . Dagegen vertritt Stratenwerth die Ansicht, daß zumindest die Erfahrung des Unrechtsstaates darüber belehrt haben sollte, daß gerade das Gemeinwohl gebieten könne, eine Einwirkung fremder Mächte auf Kosten der äußeren Machtstellung des eigenen Landes (bis hin zur militärischen Niederlage) anzustreben, wenn keine andere Aussicht mehr bestünde, eine menschenwürdige Ordnung zu verteidigen β* Vgl. dazu Gregg , Die Macht der Gewaltlosigkeit, insbesondere S. 66 ff. es So z. B. Welty, Widerstand, S. 263 ff. 66 N J W 1962, 193. 67 Rechtfertigung, S.331. 68 a.a.O., S. 329. 6» Tötung eines Tyrannen, S. 130.

§ 8 Zulässiges Ziel des Widerstandes

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oder wiederzugewinnen 70 . Wer dieser Ansicht Stratenwerths folgen w i l l , muß Werte wie die freiheitliche, demokratische Grundordnung der rechtmäßigen Behauptung seines Staates gegenüber anderen Staaten voranstellen und darf nicht die Meinung von Georg Jellinek teilen, daß „an dem Faktum der staatlichen Existenz alles Hecht seine unübersteigbare Schranke" habe 71 .

§ 8 Zulässiges Z i e l des W i d e r s t a n d e s

Da nicht jedes m i t einer Widerstandshandlung verfolgte Ziel vom Widerstandsrecht gedeckt sein kann, müssen die zulässigen Zielvorstellungen abgesteckt werden. Menschliche Ziele können nur durch Willenseinsatz erreicht werden. Die Forderung nach einer zulässigen Zielvorstellung impliziert die Forderung nach einem darauf gerichteten Widerstandswillen. Egoistische Zielsetzungen werden von der wohl überwiegenden Meinung als nicht vom Widerstandsrecht gedeckt erachtet. So ist Geiger der Ansicht, daß schon begrifflich aus dem Widerstandsrecht alle jene Fälle eliminiert werden müßten, i n denen der einzelne ausschließlich etwas zur Wahrung und zur Verteidigung individueller eigener Rechte, Rechtspositionen und Interessen tue 7 2 . Etwa i n diese Richtung geht auch die Äußerung Wertenbruchs, daß das Ziel des Widerstandes nur die Wahrung (beim tyrannus usurpationis) oder die Wiederherstellung (beim tyrannus regiminis) der rechtsstaatlichen Ordnung sein könne 7 3 . Dagegen finden sich bei Adolf Arndt Ansätze, innerhalb des Widerstandsrechts zu differenzieren zwischen „besonderer Notwehr", um sich oder einen anderen vor unmenschlicher Bedrohung zu retten, und „allgemeiner Nothilfe", die das Staats- und Volks-Ganze von seinen Unterdrückern befreien soll 7 4 . Ähnlich nennt der Historiker Ehlers als M i t t e l des Widerstandes die „humanitäre Sabotage", d. h. ein Verhalten, humanitätsverletzende Befehle nicht auszuführen. Als be70

Publizistischer Landesverrat, S. 36. 71 Allgemeine Staatslehre, S. 358. 72 Widerstand, S. 91. 73 Rechtfertigung, S.330; ebenso E.V.Hippel, Problem des Widerstandes, S. 274; ähnlich Bertram, Widerstand, S. 39. 74 N J W 1962, 431. Es verdient erwähnt zu werden, daß i m germanischen Widerstandsrecht der einzelne auch bei Verletzung seiner wohlerworbenen subjektiven Rechte Widerstand leisten durfte (vgl. Kern, Gottesgnadentum, S. 128 f., 151 ff.). Dieser individuale Zug des germanischen Widerstandsrechts wurde w o h l m i t dem steigenden Einfluß des kirchlichen Widerstandsrechts zurückgedrängt, das das V o l k zum duldenden Gehorsam verpflichtete (vgl. Kern, Gottesgnadentum, S. 175 ff.).

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1. Kap. Darstellung der Lehre an Hand eines Problemkataloges

kanntestes Beispiel für die Nichtausführung eines Führerbefehls, gegen den sich das soldatische und christliche Gewissen des höheren Offizierskorps empörte, bringt Ehlers die Sabotage des Kommissarbefehls, nach dem alle i n Gefangenschaft geratenen Kommissare und Politruks der Roten Armee dem SS-Sicherheitsdienst zur Liquidierung zu übergeben oder an Ort und Stelle zu erschießen waren 7 5 . Zielt der Widerstand auf Verfassungsumwälzung ab, so spricht man von Revolution; durch den angestrebten Verfassungsumsturz unterscheidet sich die Revolution vom Widerstand 7 6 . Diese Andersartigkeit der Revolution w i r d von vielen Autoren als so gravierend angesehen, daß sie das Widerstandsrecht und das ius revolutionis vollkommen trennen, m i t der Folgerung, daß revolutionäre Bestrebungen nie vom Widerstandsrecht gedeckt sein können 7 7 . Dagegen hält es ζ. B. Arnot i m Hinblick auf die gegenwärtige Situation, i n der totalitäre Staaten i n Gestalt von Rechtsbrüchen andere gesellschaftliche Konzeptionen durchsetzten und i n der deshalb das Unrecht nur bekämpft werden könne, wenn man einen als besser angesehenen gesellschaftlichen Zustand anstrebe, für sinnvoller, Widerstand und Revolution einheitlich zu behandeln. Deren Unterschied w i l l er i n der Bewertung der Zulässigkeit bzw. Unzulässigkeit der Widerstandshandlung Rechnung tragen 78 .

§9 Widerstandsrecht und Übermaß I n der wissenschaftlichen Diskussion werden zunächst sehr verschiedenartig wirkende Forderungen an das Widerstandsrecht heran75 Vgl. Ehlers, Verschwörung, S. 45 ff. 7ß Vgl. Bertram, Widerstand, S. 37 f.; Gerstenmaier, Widerstandsrecht, Sp. 2497; Weinkauf f, Das Widerstandsrecht i n juristischer Sicht, Sp. 677; differenzierend P. Schneider, Revolution, Sp. 1866 ff. Von der Heydte (Vom Heiligen Reich, S. 15) untersdieidet nach der ethischen Qualität zwischen Widerstand und Revolution. Widerstand richtet sich gegen die Staatsgewalt, die gegen das Sittengesetz verstoßen hat, Revolution gegen die Staatsgewalt, die das Sittengesetz nicht verletzt hat. Eine ähnliche Bewertung t r i f f t F. J. Stahl (17 parlamentarische Reden u n d Vorträge, S. 234) schon 1852: „Revolution ist die Gründung des ganzen öffentlichen Zustandes auf den W i l l e n der Menschen statt auf Gottes Ordnung u n d Fügung." 77 Vgl. insbesondere Bertram, Widerstand, S. 12 f.; Wertenbruch, Rechtfertigung, S. 329. 78 Arnot, Widerstandsrecht, S . 3 f . Vgl. tauch P.Schneider (Revolution, Sp. 1868 f.), der dazu neigt, die Revolution n u r als eine Fallgruppe i m Rahmen des Widerstandsrechts anzusehen. Weinkauff (Widerstandsrecht, S. 4 und Vollmacht, S. 85) räumt zwar ein, daß das Widerstandsrecht u n d das etwaige Recht zur Revolution i n gewissen geschichtlichen Lagen ineinander übergehen mögen, hält aber an einer prinzipiellen Trennung zwischen Widerstand u n d Revolution fest.

§ 9 Widerstandsrecht und Übermaß

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getragen, die als „Bedingungen" 7 9 , „Voraussetzungen" 80 , „Einschränkungen" 8 1 der Ausübung des Widerstandes, „positive Grundsätze für die ethische Möglichkeit des gewaltsamen Widerstandes" 82 , „taktische Kalkulationen" 8 3 usw. bezeichnet werden. Hauptsächlich w i r d die Beachtung folgender Grundsätze gefordert: Der „ultima-ratio", der Subsidiarität, der Verhältnismäßigkeit, der Erforderlichkeit und der Erfolgsaussicht. Diese Prinzipien werden als einzelne Gerechtigkeitsgedanken dargestellt, ohne i n einen systematischen Zusammenklang gebracht zu werden, obwohl sie sich mühelos als Ausflüsse des Übermaßverbotes einordnen lassen. Ohne ergebnismäßige Festlegung, ob und gegebenenfalls i n welchem Ausmaß das Ubermaßverbot das Widerstandsrecht prägt, sollen die i m Bereich des Widerstandsrechts verwendeten Rechtsprinzipien i m systematischen Zusammenhang der Ausgestaltungen des Übermaßverbotes behandelt werden. Unter der Oberbezeichnung Übermaßverbot lassen sich die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und Erforderlichkeit zusammenfassen 84 . „Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit besagt, die Handhabung eines bestimmten Instruments dürfe zur Erreichung eines bestimmten Zweckes diesem gegenüber nicht unangemessen sein 85 ." Das Verhältnis von M i t t e l und Zweck (Ziel) w i r d abgewogen. Dagegen mißt der Grundsatz der Erforderlichkeit (oder Notwendigkeit) nur das Mittel, ohne Bezug auf das Ziel: „Unter mehreren möglichen ( = zur Zweckerreichung geeigneten) Instrumenten darf nur dasjenige gewählt werden, das die geringsteinschneidenden Folgen hervorruft 8 6 ." Der Maßstab der Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und der Erforderlichkeit ist ein verschiedener; ihre Inhalte decken sich nicht. Es wäre deshalb möglich, daß das Widerstandsrecht nur von einem dieser Grundsätze beherrscht wird, ebensogut wie von keinem oder von beiden. 1. Der Grundsatz

der Erforderlichkeit

Unter den Grundsatz der Erforderlichkeit läßt sich nicht nur der Gedanke einreihen, daß nur dasjenige Widerstandsmittel zulässig ist, das die geringsteinschneidenden Folgen hervorruft, sondern auch das 7» Pribilla, Schicksalsfragen, S. 302. 8° Weinkauff, Widerstandsrecht, S. 19. 8i Erdsieh, N J W 1962, 193. sa Künneth, Politik, S. 308. 8» Arnot, Widerstandsrecht, S. 108. 84 So Lerche (Übermaß, S. 19 ff.), dessen Begriffsbildung gefolgt w i r d . 83 Lerche, Übermaß, S. 19. 86 Lerche, Übermaß, S. 20.

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1. Kap. Darstellung der Lehre an Hand eines Problemkataloges

Ultima-ratio-, bzw. Subsidiaritätsprinzip und ζ. T. auch der Grundsatz, daß der Widerstand Aussicht auf Erfolg haben muß — nämlich als notwendige Vorfrage für die Mitteleignung. Nach dem Grundsatz der Subsidiarität bzw. der ultima ratio ist der Widerstand erst dann zulässig, wenn alle normalen Rechtsbehelfe erschöpft sind. Die Befolgung dieses Gebotes w i r d von den Theoretikern des Widerstandsrechts schon seit jeher gefordert 87 und ist auch nach heute herrschender Meinung Voraussetzung für rechtmäßigen Widerstand 88 . Bei näherer Betrachtung erweist sich der Grundsatz der Subsidiarität alsAusfiuß des Grundsatzes der Erforderlichkeit; denn er geht davon aus, daß es nicht erforderlich ist, Widerstand zu leisten, solange andere Rechtsschutzmöglichkeiten bestehen. I n dieser Ausprägung ist der Grundsatz der Erforderlichkeit mitbestimmend für die Auslösung des Widerstandsfalls. Ist der Widerstandsfall eingetreten, so kommt der Grundsatz der Erforderlichkeit nach der A n sicht vieler noch unter dem Aspekt zur Anwendung, daß von mehreren möglichen Widerstandsmitteln dasjenige zu wählen sei, das die geringsteinschneidendenden Folgen mit sich bringe 8 9 . Da der Grundsatz der Erforderlichkeit die Abwägung wirksamer M i t t e l 9 0 erfordert, ist ihm die Prüfung der Geeignetheit und damit der Erfolgsaussicht der abzuwägenden M i t t e l notwendig vorgeschaltet 9 1 . Das bedeutet, daß derjenige, der den Grundsatz der Erforderlichkeit bejaht, den Grundsatz der Erfolgsaussicht zumindest für die Mittelwahl beachten muß. 2. Der Grundsatz

der

Verhältnismäßigkeit

Daß das m i t dem Widerstand erstrebte Ziel zu den eingesetzten Mitteln i n einem angemessenen Verhältnis stehen müsse, w i r d vielfach 87 Vgl. ζ. B. den Monarchomachen Mariana: „Omnia remedia ad sanandum Principem tentanda, priusque ad e x t r e m u m i l l u d & gravissimum perveniatur", zitiert nach Wolzendorff, Staatsrecht u n d Naturrecht, S. 122. 88 Vgl. Bertram, Widerstand, S. 33; P. Schneider, Widerstandsrecht, S. 14; Weinkauff, Widerstandsrecht, S. 18; Pribilla, Schicksalsfragen, S.303; Welty, Widerstand, S. 265. 89 Vgl. Weinkauff, Widerstandsrecht, S. 19; Rühe, Widerstandsrecht, S. 70; Pribilla, Schicksalsfragen, S. 304; Thielicke, Ethik, I I 2, S. 423. Treffend w i r d der Erforderlichkeitsgrundsatz von Schiller i n der Rütliszene des W i l h e l m T e i l formuliert: „Was sein muß, das geschehe, doch nicht drüber." Auch der Subsidiaritätsgrundsatz findet Anerkennung: „ S i n d alle andern M i t t e l auch versucht?" Überhaupt enthält die Rütliszene eine einzigartig anschauliche Zusammenfassung des Systems des Widerstandsrechts, w i e es i n etwa von den Monarchomachen, Z w i n g l i u n d Althusius aufgebaut worden ist (vgl. Wolzendorff, Staatsrecht u n d Naturrecht, S. 530 f.). »o Deshalb k o m m t auch Arnot (vgl. oben S. 23) zu dem Ergebnis, daß i n totalitären Staaten der Widerstand die prima ratio sei, da keine anderen wirksamen M i t t e l zur Verfügung stünden. «ι Lerche, Übermaß, S.346.

§ 9 Widerstandsrecht und Übermaß

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gefordert. So sagt Geiger, daß die Entscheidungsfreiheit innerhalb der möglichen Skala der Widerstandsmittel durch die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und der Güterabwägung reguliert werde 9 2 . Ä h n lich verlangt Bertram, daß „das bedrohte und zu rettende Rechtsgut gegenüber dem zum Zweck der Rettung des bedrohten Gutes zu verletzenden höherwertig sein" müsse 93 . Auch beim Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ist die Mitteleignung und damit die Erfolgsaussicht notwendige Vorfrage 9 4 . Denn ein Mittel, das keinerlei Aussicht auf Zielerreichung hat, ist m i t einem rechnerischen Wert N u l l einzusetzen und steht zu jedem angerichteten Schaden außer Verhältnis. Die von vielen geforderte Erfolgsaussicht einer Widerstandshandlung 95 ist für den, der den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit bejaht, nur eine Vorstufe bei der Abwägung des Verhältnisses von M i t t e l und Ziel. Der Zusammenhang zwischen dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und dem Erfordernis der Erfolgsaussicht w i r d vollends klar, wenn man auf die von Thomas v o n A q u i n 9 6 begründete Lehre zurückgeht, daß die Unordnung nicht noch durch mehr Unordnung verschlimmert werden dürfe. Der Widerstand darf die Staatssituation nicht verschlechtern. Das durch den Widerstand zu rettende Gut muß dem geopferten nach dieser Lehre wenigstens gleichwertig sein. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit errichtet für Landesverrat und andere Aktionen, die unbeteiligte Dritte i n Mitleidenschaft ziehen, die letzte und höchste Hürde der rechtlichen Billigung. Für die juristische Beurteilung entfalten sich hier die tiefsten Probleme: »2 Widerstand, S. 104. »3 Widerstand, S. 107, unter Berufung auf die Urteile zum strafrechtlichen Notstand i n RGSt 61, 242 u n d B G H S t 2,242. Bertram, der Widerstand u n d Revolution peinlich trennt, hält eine Güterabwägung offenbar n u r bei revolutionären Handlungen f ü r angebracht. Z u m Grundsatz der Verhältnismäßigkeit i m Bereich des Widerstandes vgl. auch P. Schneider, Widerstandsrecht, S. 19 ff. Lerche, Übermaß, S. 348. ss Vgl. Weinkauff, Widerstandsrecht, S. 19; Wertenbruch, Rechtfertigung, S. 340; Welty, Widerstand, S. 265; Künneth, Politik, S. 312; differenzierend spricht Geiger (Widerstand, S. 104 f.) von sinnvollem Widerstand, der keinesfalls auf den F a l l einer vernünftigen Chance des Erfolgs beschränkt sei, sondern auch den hoffnungslosen Widerstand umfasse, i n dem die Idee der Gerechtigkeit, der Freiheit u n d der Sittlichkeit triumphiere. Das Erfordernis der Erfolgsaussicht w i r d abgelehnt von Iwand/Wolf (in: Kraus, Remerprozeß, S. 18) u n d Bertram (Widerstand, S. 40). ββ Summa Theologica, I I , I I , 42, 2 ad 3: " E t ideo perturbatio huius regiminis non habet rationem seditionis; nisi forte quando sic inordinate p e r t u r b a t o t y r a n n i regimen, quod m u l t i t u d o subjecta majus detrimentum p a t i t u r ex perturbatione consequenti quam ex t y r a n n i regimine." V o n diesem Ausgangsp u n k t k o m m t Arndt (NJW 1962, 431) zu dem Ergebnis, daß erst der „blutige Aufstand" das Problem der Erfolgsaussicht stelle. 3

Scheidle

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1. Kap. Darstellung der Lehre an Hand eines Problemkataloges

Abzuwägen, ob eine Million, Zehntausend oder nur ein einziger unschuldiger Bombentoter mehr oder weniger wert ist als eine demokratische Ordnung, entzieht sich, so scheint es zumindest, der A n t wort m i t einem glatten Ja oder Nein.

§10 Begründung des Widerstandsrechts Vorweg sollen kurz die i m Laufe der Geschichte gegebenen Begründungen des Widerstandsrechts dargestellt werden, da sie an Aktualität bis heute nichts eingebüßt haben. Nach germanischer Rechtsüberzeugung standen Untertan und Herrscher unter dem Recht 97 . Dem Recht galten die Treupflichten von Herrscher und Volk; verletzte der Fürst das Recht, so verlor er durch sein Handeln den Anspruch auf Gehorsam, und das Volk und der einzelne durfte i h m Widerstand leisten. Diesen Gedanken hat Ernst von Hippel i n seinem Aufsatz „Widerstand als Recht der Treue" aufgegriffen, wo er jede Bindung an das Rechtswidrige durch staatliche Autorität ablehnt 9 8 . Das kirchliche Widerstandsrecht 99 basierte auf den beiden Bibelworten: „Gebet dem Kaiser, was des Kaisers ist und Gott, was Gottes i s t " 1 0 0 , und „ M a n muß Gott mehr gehorchen als den Menschen" 101 . Bestritten wurde und bestritten w i r d das kirchliche Widerstandsrecht seit jeher m i t dem Wort aus dem Römerbrief: „Jedermann sei Untertan der Obrigkeit, die Gewalt über i h n hat. Denn es ist keine Obrigkeit ohne von G o t t . . . Wer sich nun wider die Obrigkeit setzt, der widerstrebet Gottes Ordnung 1 0 2 ." Wenn sich auch die Kirche gemäß ihrem Streben nach weltlicher Macht i m Mittelalter mehr und mehr zugunsten des Widerstandsrechts entschied, so blieben die christlichen Lehren infolge dieser widersprüchlichen Bibelworte doch bis heute gespalten 103 . Die Uberspannung des kirchlichen Widerstandsrechts durch Gregor V I I . führte zu Bestrebungen, die Stellung des weltlichen Herrschers unanfechtbar zu machen. Man behauptete, die Übertragung der Gewalt vom Volk auf den Herrscher sei unwiderruflich geschehen; w Vgl. dazu F. Kern, Gottesgnadentum, S. 121 ff. u n d 151 ff. 98 S. 221 ff. 9» Vgl. Kern, a.a.O., S. 175 ff. 100 Markus, 12, 17. ιοί Apostelgeschichte, 5, 29. loa Römer 13, 1 u n d 2. ι 0 3 Vgl. dazu die Darstellung bei Arnot, Widerstandsrecht, S. 69 ff.

§ 10 Begründung des Widerstandsrechts

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dabei berief man sich auf die sogenannte Lex Regia, durch welche das römische Volk seine Gewalt auf den Herrscher übertragen haben soll 1 0 4 . Manegold von Lautenbach erkannte den schwachen Punkt dieser Argumentation und wandte sich dagegen, daß das Volk die Gewalt auf den Herrscher unwiderruflich übertragen habe. Er verwandelte die Lex Regia i n eine A r t Dienstvertrag (Herrschaftsvertrag), dessen Verletzung das Volk dank seiner Souveränität von der Gehorsamspflicht entbinde. Diesen Gedanken führten die Monarchomachen fort, Althusius fügte dieser Theorie die Lehre vom Gesellschaftsvertrag (Sozialvertrag) 105 hinzu 1 0 6 und Rousseau radikalisierte i h n zugunsten des Volkes: Nach seiner Volkssouveränitätslehre ist der A k t der Einsetzung der Regierung nicht mehr als Vertrag, sondern als einseitiger Rechtsakt aufzufassen, den das Volk jederzeit ändern oder widerrufen kann 1 0 7 . I n der Französischen Verfassung von 1789 t r i t t das Widerstandsrecht mit dem Anspruch, unveräußerliches Menschenrecht zu sein, auf 1 0 8 . Diese Formulierung geht auf die Entwicklung der Menschenrechte i m angelsächsischen Rechtskreis zurück, die, 1215 von der Magna Charta Libertatum ausgehend, i n den Erklärungen der Menschen- und Bürgerrechte der amerikanischen Staaten i n der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts einen einstweiligen Höhepunkt erfahren hatte 1 0 9 . Die Darstellung der gegenwärtigen Begründungsversuche w i r d m i t der der Geltungsstufe, d.h. dem Standort i n der Normenhierarchie, verbunden. Die Begründung des Widerstandsrechts kann i m positiven und überpositiven Recht gesucht werden. Innerhalb des positiven Rechts kommt eine Rechtfertigung aus Gewohnheitsrecht oder gesetztem Recht in Betracht. Eine Rechtfertigung aus Gewohnheitsrecht 110 stößt i n verschiedener Hinsicht auf Bedenken: 104 Vgl. dazu u n d zum folgenden Kern, Gottesgnadentum, S. 213 ff. 105 Die mittelalterliche Lehre v o m Herrschaftsvertrag betrifft lediglich die Verfassung des Staates; dagegen w i l l der Gesellschaf tsvertrag nicht die Gewalt i m gegebenen Staat ableiten, sondern den Staat selbst konstituieren (vgl. G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 204). 100 Z u r Widerstandslehre des Althusius vgl. Heyland, Widerstandsrecht, S. 39 ff. Vgl. dazu die ausführliche Darstellung bei Wolzendorff, Staatsrecht und Naturrecht, S. 357 ff. 108 v g l . A r t . 2 der Erklärung der Menschen- u n d Bürgerrechte v o m 26. A u gust 1798: „ L e but de toute association est la conservation des droits naturels et imprescriptibles de l'homme. Ces droits sont la liberté, la propriété, la sûreté et la resistance à l'oppression." Joe Vgl. dazu Heyland, Widerstandsrecht, S. 59 ff. no Eine solche k l i n g t bei Heyland (Widerstandsrecht, S. 115) an, w e n n er v o m Wnderstandsrecht als von einer i n den großen westlichen Demokratien festverwurzelten Einrichtung spricht. Gleichzeitig bezeichnet er aber das Widerstandsrecht als „ e i n aus dem Naturrecht stammendes, v o r - u n d überstaatliches Menschen- u n d Freiheitsrecht".



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1. Kap. Darstellung der Lehre an Hand eines Problemkataloges

Einmal sind schon die Voraussetzungen für die Entstehung gewohnheitsrechtlicher Sätze i m Streit 1 1 1 , insbesondere die Frage, ob die Verbindlichkeit des Gewohnheitsrechts von einer staatlichen Gestattung abhängig ist. Selbst wenn man für die Entstehung eine solche A b hängigkeit leugnet, ist das Gewohnheitsrecht zumindest i n seinem Bestand von der staatlichen Duldung abhängig 1 1 2 . Damit wäre i m Dritten Reich ein Widerstandsrecht nicht gegeben gewesen, da es von der Staatsgewalt nicht geduldet war. Zum anderen ist zweifelhaft, ob sich überhaupt eine entsprechende Übung und Rechtsüberzeugung zum Widerstandsrecht gebildet hat. Leitet man das Widerstandsrecht aus Notwehr und übergesetzlichem Notstand 1 1 3 auf dem Geltungsniveau des einfachen Gesetzes ab, so ist die Konsequenz, daß seine Gewährung i n das Belieben des einfachen Gesetzgebers gerückt wird. Eine Verankerung i n der Verfassung bedeutet demgegenüber bereits eine wesentliche Verfestigung des Widerstandsrechts, insbesondere dann, wenn man es zu den Grundrechten zählt und diese i m wesentlichen als unantastbar betrachtet. I m Gegensatz zu den Verfassungen von Hessen, Bremen und B e r l i n 1 1 4 schweigt sich das Grundgesetz zum Widerstandsrecht aus. Eine Positivierung war zwar i m Parlamentarischen Rat diskutiert worden, der Antrag des Mitglieds Seebohm (DP): „Bei Verfassungsbruch sowie rechts- und sittenwidrigem Mißbrauch der Staatsgewalt w i r d ein Widerstandsrecht anerkannt; öffentliche Amtsträger sind i n diesem Fall zum Widerstand verpflichtet" wurde aber abgelehnt 1 1 6 . Eine verbreitete Meinung geht dahin, daß das Widerstandsrecht ungeschriebenes systemimmantes Grundrecht sei 1 1 6 . Sie w i r d damit begründet, daß i n einem Verfassungssystem, das die Grundrechte nicht als zu staatlicher Disposition stehende, sondern als „unverletzliche, unantastbare, i m K e r n unentziehbare, dem Menschen von Natur m Vgl. Fnauf, Gewohnheitsrecht, Sp. 685. 112 v g l . Friauf, Gewohnheitsrecht, Sp. 686. us So Bertram, Widerstand, S. 40 f. u n d 101 ff. 114 Vgl. oben, Fußnote 25. us Parlamentarischer Rat, Verhandlungen des Hauptausschusses, S. 590 f. ne So schon C. Schmitt (Verfassungslehre, S. 164) : „Das Widerstandsrecht gehört wesentlich zu den echten Grundrechten." Ä h n l i c h Rühe (Widerstandsrecht, S. 85): „Bekennt sich ein Staat zu den Grundrechten, dann dürfte das Widerstandsrecht h i e r i n automatisch seine Rechtfertigung finden." So auch Heyland (Widerstandsrecht, S. 115) u n d Geiger (Widerstand, S. 101): „Die A r t , w i e unser Grundgesetz die Grundrechte anerkennt u n d garantiert hat, zwingt folgerichtig zur verfassungsrechtlichen Anerkennung des Widerstandsrechts." Historischer Vorläufer dieser Ansichten ist der A r t . 33 der Erklärung der Menschen- u n d Bürgerrechte v o n 1793: „ L a réstistance à l'oppression est la conséquance des autres droits de l'homme."

§ 10 Begründung des Widerstandsrechts

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zustehende und nicht erst vom Staat verliehene Menschenrechte" anerkenne und gewährleiste, zu diesen notwendig das Widerstandsrecht gehöre 117 . Diese Argumentation Geigers, die das positive m i t dem überpositiven Recht verquickt, führt schon hinüber zu jenen Autoren, die das Widerstandsrecht ausschließlich aus Glaubens- und Naturrechtssätzen ableiten 1 1 8 . Die theologischen Begründungen entziehen sich letztlich rationaler K r i t i k und sind Sache des Glaubens. Die naturrechtlichen Begründungen überschreiten den Charakter von knappen Behauptungen nicht 1 1 9 . Sie unterliegen dem Verdacht, i n die Natur zuvor das hineinmanipuliert zu haben, was sie als ethische Forderung daraus gewinnen 1 2 0 . I n diesem Zusammenhang darf die Reprise der Manegoldschen Lehre durch Siegfried Grundmann nicht unerwähnt bleiben 1 2 1 . Wenn die Regierung die persönlichen Freiheitsrechte antastet, so v e r w i r k t sie nach Grundmann ihr Amtsrecht und das Volk hat als ursprünglicher Träger der Staatsgewalt dann das Recht, sich ihr zu widersetzen. Die Verschiedenartigkeit widerstandsrechtlicher Begründungsversuche liefert den Brennspiegel, um die ganze Umstrittenheit des Widerstandsrechts zu erhellen.

117

Geiger, Widerstand, S. 101. Vgl. Wertenbruch, Rechtfertigung, S.335ff.; E.V.Hippel, Widerstand, S. 221; die katholische (Fuchs, Angermair, Pribilla, Welty) u n d die evangelische (Heckel, Thielicke, Künneth) naturrechtlich-theologische Lehre, dazu Arnot, Widerstandsrecht, S. 69 ff. n® K r i t i s c h auch Arnot, S. 85. 12° Vgl. Zippelius, Wesen, S. 75. " ι Widerstandsrecht, Sp. 2506 f. 118

Zweites

Kapitel

Die widerstandsrechtlichen Fallerfahrungen der höchstrichterlichen Rechtsprechung der Bundesrepublik Erster

Abschnitt

Widerstandsfälle aus der Zeit des Nationalsozialismus § 11 Allgemeines Z u Widerstandsfällen aus der Zeit des NS hat die Rechtsprechung hauptsächlich i m Rahmen der Wiedergutmachungsgesetze Stellung genommen. M i t diesen Gesetzen hat das deutsche Volk die Anstrengung unternommen, den Opfern der nationalsozialistischen Verbrechen den ihnen zugefügten Schaden nach Kräften zu ersetzen. Unter den Opfern dieser Zeit finden sich zahllose politische Gegner des ns.en Regimes, deren ablehnende Haltung sich i n einem breiten Spektrum oppositioneller Verhaltensweisen gezeigt hat, sei es, daß sie Verfolgten i n ihrer Not beigestanden, offen ihre politische Anschauung kundgetan oder gewagte Kampfaktionen mit Waffen unternommen haben. Bei allen diesen Handlungen hatte die Rechtsprechung darüber zu befinden, ob sie nach den Wiedergutmachungsgesetzen einer Entschädigung würdig seien. Es liegt nahe, daß die Gerichte i n diesem Zusammenhang wiederholt auch Inhalt und Grenzen des Widerstandsrechts zu bestimmen hatten. Das BEG hat seine Vorläufer i n den Entschädigungsgesetzen der einzelnen Besatzungszonen und Länder, die ab 1949 i n Kraft getreten sind. Unter dem Namen Bundesergänzungsgesetz zur Entschädigung für Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung 1 (Bundesergänzungsgesetz) trat am 1.10.1953 erstmals eine bundeseinheitliche Regelung i n Kraft. Sie wurde durch das Dritte Gesetz zur Änderung des Bundesergänzungsgesetzes (Änderungsgesetz) vom 29. 6.1956 2 nicht unerheblich geändert. Die bisher letzte Änderung brachte das Zweite Gesetz ι BGBl. 1953, I , 1387. 2 BGBl. 1956, I, 559.

§ 13 Die Verfolgungsgründe des § 11 BEG

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zur Änderung des Bundesentschädigungsgesetzes (BEG-Schlußgesetz) vom 14. 9.1965 3 .

§ 12 Die Präambel des BEG Die Präambel zum BEG bezeichnet den „aus Überzeugung oder um des Glaubens oder des Gewissens willen gegen die nationalsozialistische Gewaltherrschaft geleisteten Widerstand" als „ein Verdienst u m das Wohl des Deutschen Volkes und Staates". Damit stand die Existenz eines Widerstandsrechts während des Dritten Reiches für die Rechtsprechung außer Zweifel, so daß die Gerichte auf die Frage, wie das Widerstandsrecht zu begründen sei, nicht mehr einzugehen hatten. Die Urteile können deshalb nur bezüglich des Inhalts des Widerstandsrechts bedeutsam sein. Daß der Gesetzgeber das BEG m i t einer Präambel versehen hat, zeigt die außerordentliche staatspolitische Bedeutung, die er i h m beimißt. Die Grundsätze der Präambel bestimmen Auslegung und A n wendung des Gesetzes4. Die Wertung der Präambel, daß der Widerstand gegen den NS ein Verdienst um das Wohl des deutschen Volkes und Staates war, muß die Interpretation aller Bestimmungen des BEG wesentlich beeinflussen.

§ 13 Die Verfolgungsgründe des § 1 I BEG 1. Politische

Überzeugung

— politische

Gegnerschaft

Nach dem Bundesergänzungsgesetz (BEG 1953) hatte Anspruch auf Entschädigung u. a. der, der „wegen seiner gegen den NS gerichteten Uberzeugung durch nationalsozialistische Gewaltmaßnahmen verfolgt worden ist und hierdurch Schaden . . . erlitten hat". Den Begriff der „politischen Uberzeugung", den das BEG 1953 aus dem § 1 USEG übernommen hatte, ersetzte das Änderungsgesetz (BEG 1956) durch den der „politischen Gegnerschaft". Beide Begriffe fordern, wenn auch i n unterschiedlichem Maß, einen gewissen objektiven Niederschlag i n Handlungen und Äußerungen gegen das nationalsozialistische Regime 5 . Was die Gerichte als politische Überzeugung oder politische a BGBl. 1965, I, 1315. 4 Vgl. Brunn/Hebenstreit, BEG, Präambel, A n m . 1; ebenso der B a y V e r f G H über die Bedeutung der Präambel der Bayerischen Verfassung i n D Ö V 1956, 762. s Vgl. B G H v. 8.2.1956 - I V ZR 276/55 —, RzW 1956, 142: „Denn eine

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2. Kap. Die Fallerfahrungen der Rechtsprechung

Gegnerschaft anerkannten, läßt Rückschlüsse auf ihre Auffassung zum Widerstandsrecht, insbesondere die zulässigen Zielvorstellungen, zu. Die Gerichte legten den Begriff der politischen Überzeugung allzusehr i. S. einer ethisch ausgerichteten, geistig-sittlichen Grundeinstellung aus, so daß sie zu einer negativen Beurteilung von Handlungen kamen, die an sich den politischen Vorstellungen der Nationalsozialisten zuwiderliefen. So erkannte das OLG Stuttgart i n seinem Urteil vom 17. 2.1950 e als politische Uberzeugung nur an „eine charaktervolle, auf sittlichen Grundlagen beruhende und während einer gewissen Zeitdauer bewährte Grundeinstellung i n Fragen des Verhältnisses zwischen Staat und Einzelpersönlichkeit" 7 . Ähnlich formuliert der B G H i n seinem Urteil vom 22.12.1954 8 : „Von einer politischen Überzeugung kann nur dann die Rede sein, wenn der Verfolgte etwa auf Grund seines Werdegangs oder auf Grund kritischer Prüfung eine feste innere Einstellung zu den Fragen der Politik, d. h. der Zwecke des Staates und der M i t t e l zu ihrer Verwirklichung gewonnen hat." M i t diesen Formulierungen schraubten die Gerichte die inneren Anforderungen an den Regimegegner zu hoch, so daß sie der Bewertung der einzelnen Tat nicht gerecht wurden: Die Tat, derentwegen der Kläger verfolgt worden ist, entsprang nicht „einem Ausbruch tief eingewurzelter Sorge wegen der Verletzung sittlicher oder staatsbürgerlicher Grundrechte durch die nationalsozialistischen Gewalthaber", sondern „einer einmaligen, persönlich bedingten Aufwallung und Anwandlung, die es nicht verdient, als politische Uberzeugung gewertet zu werden" 9 . Diese Uberbetonung der sittlichen Haltung des Täters zeigt auch die Entscheidung des B G H vom 8. 2.1956 10 , wo ausgeführt wird, daß eine große Vorstrafenliste grundsätzlich gegen eine politische Überzeugung des Verfolgten spreche, damit jedoch noch nicht ausgeschlossen sei, daß ausnahmsweise besondere Umstände eine andere Beurteilung erforderten. Es w i r d von einem solchen Verfolgten gleichsam verlangt, daß er durch besondere Widerstandstaten seine persönlichen Fehler ausÜberzeugung läßt sich als ein innerer Vorgang nur auf Grund des Verhaltens ihres Trägers feststellen,..." Zum Begriff der politischen Gegnerschaft vgl. den Bericht des Wiedergutmachungsausschusses, Bundestagsdrucksache 1953, Nr. 2382 zu 1. 7 β— 2/50 —,v oRzW 1949/50, 248. Z u r2 EGR Koppelung n politischer u n d militärischer Überzeugung vgl. die einzige das Widerstandsrecht berührende Entscheidung des BSozG, U r t e i l v o m 25. 5.1960 — 11 R V 812/58 —, BSozGE 12, 175 ff. Sie ist zu § 1 I I d B V G ergangen. β — I V ZR 227/54 —, L M Nr. 1 zu § 1 B E G = RzW 1955, 85 (L). 9 O L G Stuttgart, a.a.O. ίο — I V ZR 276/55 —, RzW 1956, 142.

§ 13 Die Verfolgungsgründe des § 11 BEG

41

gleicht. U m diese Entwicklung zu einer Unausgewogenheit der inneren und äußeren Momente abzuschneiden, führte das BEG 1956 den Begriff der „politischen Gegnerschaft" ein 1 1 . Bei der Rechtsprechung zur politischen Gegnerschaft lassen sich i m wesentlichen zwei für das Widerstandsrecht interessante Fallgruppen aufweisen: Kritische Meinungsäußerungen gegen das ns.e Regime und der Widerstand der Organisationen, die zwar das Hitler-Regime ablehnten, aber der ns.en Ideologie zum Teil nahestanden. Wann Meinungsäußerungen als politische Gegnerschaft gewertet werden und wann nicht, soll zunächst am „ F a l l des Geisteskranken" 12 gezeigt werden. Sachverhalt: Der Kläger, der i n solchem Maße unter Schizophrenie litt, daß er mindestens zeitweise nicht einmal mehr zur Ordnung einfacher Gedanken fähig gewesen war, wurde wegen seiner „staatsgefährdenden Äußerungen" nach § 2 des früheren Heimtückegesetzes i n Verbindung mit § 42 b StGB i n eine Heil- und Pflegeanstalt eingewiesen. Der B G H erkennt den Kläger nicht als politischen Gegner des NS an, w e i l ihm infolge seiner Geisteskrankheit jedes Erkenntnis- und Einsichtsvermögen gefehlt habe. Von einer Gegnerschaft lasse sich nur sprechen, wenn die Ablehnung oder Bekämpfung des genannten Herrschaftssystems auf einem inneren Gegensatz zu i h m beruhe. Das setze die Fähigkeit voraus, das ns.e Herrschaftssystem oder wenigstens seine charakteristischen Züge ungefähr zu beurteilen und zu werten. Dieses Urteil w i r f t ganz allgemein ein Licht auf die Mindestvoraussetzungen, die der erfüllen muß, der politischen Widerstand leisten w i l l . Soweit die Widerstandstätigkeit eine politische Entscheidung auch für andere sein w i l l , w i r d man i n einer gewissen Entsprechung zur Geschäftsfähigkeit eine Widerstandsfähigkeit fordern müssen. Die politische Gegnerschaft wurde weiter i m Fall eines unverbesserlichen Rechtsbrechers abgelehnt, der nach Verbüßung einer erneuten Strafe i n ein Konzentrationslager verbracht worden war und sich dort gegenüber anderen Häftlingen abfällig über den Nationalsozialismus geäußert hatte 1 8 . Nach diesen beiden Entscheidungen ist es überraschend, daß der B G H i m „Fall des Betrunkenen" 1 4 den Kläger als politischen Gegner anerkennt. u Sehr kritisch zu dieser Änderung K. D. Raiser i n RzW 1956, 45. B G H , v o m 7.4.1960 — I V ZR 39/60 —, RzW 1960, 494. 13 B G H , v o m 19.9.1956 — I V Z R 237/55 —, RzW 1957, 17. ι * U r t e i l v o m 18.12.1959 — I V ZR 205/59 —, RzW 1960, 161.

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2. Kap. Die Fallerfahrungen der Rechtsprechung

Sachverhalt: Nach den Feststellungen des Berufungsgerichts war der Kläger ein Gegner der ns.en Herrschaft. Er behielt aber seine den NS ablehnende Haltung für sich und scheute sich, sie nach außen zu erkennen zu geben. N u r wenn er infolge Alkoholgenusses seine Hemmungen verloren hatte, äußerte er sich gegen das Hitler-Regime. Er w a r zwar wegen Wehrkraftzersetzung, Erregung von Mißvergnügen (§ 102 MStGB) und Drohung gegen einen Vorgesetzten (§ 89 MStGB) angeklagt, wurde jedoch nur wegen i n Volltrunkenheit begangener Straftaten nach § 330 a StGB bestraft. Der B G H ist i m Gegensatz zum Berufungsgericht der Ansicht, daß eine Verfolgung aus Gründen politischer Gegnerschaft auch vorliegen könne, wenn eine Person nur wegen eines Vergehens aus § 330 a StGB bestraft worden sei; denn wesentlich sei, daß auch i n diesen Fällen die Bestrafung nicht erfolgt sei, weil der Täter sich i n einen Rauschzustand versetzt habe, sondern weil er i m Rausch Handlungen begangen habe, die sich gegen den NS gerichtet hätten. Als indirekte Aussage des Urteils ist festzustellen, daß Verfolgungen wegen Äußerungen gegen den NS als Verfolgungen wegen politischer Gegnerschaft angesehen werden und damit die politische Meinungsäußerung wohl auch als Form des Widerstandes anerkannt wird. Z u bezweifeln ist, ob das „Betrunkenen-Urteil" dem Geiste der Präambel entspricht. Hier w i r d jemand wie ein Widerstandskämpfer behandelt, der i n normaler körperlicher Verfassung nie den M u t aufgebracht hat, sich gegen den NS zu äußern. Wenn er dann i m Zustand der Volltrunkenheit, also „widerstandsunfähig", entsprechende Äußerungen tut, kann es sich dann um ein Verdienst um das Wohl des Deutschen Volkes und Staates handeln? Auch der Geisteskranke war ja nur eingesperrt worden, weil er „staatsfeindliche Äußerungen" getan hatte. I h n t r i f f t aber nicht der Vorwurf, daß er sich selbst in den Zustand der Unzurechnungsfähigkeit versetzt hat. Große Schwierigkeiten bereitete den Gerichten die Frage, ob Angehörige von dem nationalsozialistischen Gedankengut nahestehenden Organisationen, wie dem Tannenbergbund 15 , der Schwarzen Front Otto Strassers 16 oder dem Stahlhelm 1 7 , die wegen ihrer Opposition gegen Hitler oft Repressalien ausgesetzt waren, aus Gründen politischer Gegnerschaft gegen den Nationalsozialismus verfolgt worden waren. is Vgl. U r t e i l des B G H v o m 12.4.1961 — I V ZR 191/60 —, RzW 1961, 410. 16 Vgl. die Entscheidungen des O L G Bremen v o m 21.10.1959 — U E 3/58 — u n d des B G H v o m 9.3.1960 — I V ZR 166/59 —, RzW 1960, 371 u n d 11.5.1960 — I V ZR 288/59 —, RzW 1960, 449. 17 Vgl. U r t e i l des O L G H a m b u r g v o m 7.5.1956 — 1 U 37B/55 —, R Z W 1956, 263.

§ 13 Die Verfolgungsgründe des § 11 BEG

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M i t der Behandlung dieser Gruppen ist das Problem aufgeworfen, inwieweit systemimmanentes Gegenverhalten politischer Widerstand sein kann. Wenn der B G H i n seinem „ U r t e i l zur Schwarzen Front" vom 9. 3. 1960 die politische Gegnerschaft für den ablehnt, der „Hitler zu stürzen versuchte, weil er glaubte, daß dieser den NS verraten habe, und weil er eine andere Herrschaft aufriditén wollte, u m die Ziele des NS, wie er sie verstand, zu verwirklichen", so steht diese Bestimmung des Begriffs der „politischen Gegnerschaft gegen den NS" m i t dem BEG i n vollem Einklang. Denn das Gesetz lehnt verbindlich eine Entschädigung für den ab, der zwar Gegner Hitlers, aber Nationalsozialist i m damaligen Sinne war. Diese Eigentümlichkeit des BEG bewirkt, daß aus diesen Urteilen nur bedingt Ergebnisse über den systemimmanenten Widerstand gewonnen werden können. Die allgemeine Formel des BGH, daß für eine Entschädigung nicht Personen i n Betracht kommen, die „ i m Rahmen von Auseinandersetzungen innerhalb des NS" Schaden erlitten haben, bedarf für die Bestimmung des Widerstandes der Modifizierung. Sie gilt für den systemimmanenten Widerstand, soweit es sich um rein personale Machtkämpfe handelt, da diese zur Verbesserung der Lage nichts beitragen. Soweit jedoch Sachfragen Kämpfe innerhalb des Systems auslösen, w i r d man dann dem, der sich für die Sache des Rechts einsetzt und Risiken auf sich nimmt, das Prädikat verweigern können, er habe politischen Widerstand geleistet? Diese Frage muß hier offenbleiben. 2. Die Rasse Besonders ein Fall, i n dem sich das K G Berlin 1 8 mit der Verfolgung aus rassischen Gründen zu befassen hatte, verdient m i t Blickrichtung auf das Widerstandsrecht Beachtung. Sachverhalt: Der Kläger half Juden, die Reichsgrenze zu überschreiten. Wegen dieser Tat wurde er als Volksschädling zu 6 Jahren Zuchthaus verurteilt. Obwohl der Kläger selbst kein Jude war, erkannte i h n das K G als rassisch Verfolgten an. Denn eine Verfolgung aus Gründen der Rasse setze nicht voraus, daß der Verfolgte selber der diskriminierten Rasse angehört habe. Es genüge, daß der Betreffende vom NS verpönte Beziehungen zu einem Angehörigen der diskriminierten Rasse unterhalten habe 19 . Das gelte auch für den, der wegen Unterstützung rassisch is U r t e i l v o m 30.6./2.7.1960 — 3 U Entsch. 1387/59 —, RzW 1960, 495. ι® So der B G H v o m 19.9.1956 — I V ZR 140/56 —, RzW 1957, 19 m i t weiteren Nachweisen aus der Rechtsprechung u n d dem Schrifttum.

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2. Kap. Die Fallerfahrungen der Rechtsprechung

Diskriminierter verfolgt worden sei. Das Urteil des Sondergerichts stelle eine ns.e Gewaltmaßnahme dar. Nach dem Gesetzeswortlaut wäre es auch zu vertreten gewesen, nur die Angehörigen der diskriminierten Rasse als rassisch Verfolgte gelten zu lassen. Wenn die Gerichte die weitere Auslegung gewählt haben, so zeigt sich darin ihre Auffassung, daß sich der einzelne an die Bestimmungen der Rassengesetzgebung, die so kraß gegen elementare Rechtsgrundsätze verstießen, nicht zu halten brauchte. Unter Verstoß gegen die damaligen gesetzlichen Bestimmungen durfte er weiterhin Umgang m i t der diskriminierten Rasse pflegen. Das K G hat die Hilfeleistung des Klägers gutgeheißen und ihm eine „anerkennenswerte moralische Haltung" bescheinigt. Es w i r d damit ein Widerstand — durch Mißachtung der Gesetze — gebilligt, der nicht auf den Sturz des NS-Regimes gerichtet ist, sondern nur momentaner Not abhelfen w i l l , und damit als Nothilje bezeichnet werden kann. Noch klarer zeigt sich diese Verbindung von Notwehr- und Widerstandsgedanken i m ,.Fall der Charlotte Klaes" 2 0 , der zwar nicht i m Rahmen des Entschädigungsrechts, sondern des Strafrechts zu beurteilen war, aber zur Verdeutlichung eingeschoben werden soll. Sachverhalt: Die Jüdin C. Klaes wurde durch Sondergerichtsurteil vom 30.11.1942 zum Tode verurteilt und am 27.1.1943 hingerichtet, weil sie Ende des Jahres 1941 zweimal i n Bezirksstellen des W i r t schaftsamtes der Stadt W. eingebrochen war und Bezugsscheine entwendet hatte, um bedrohten Juden zu helfen und für sich selbst und ihre Familie die Flucht vor der Vernichtung zu ermöglichen. I n dem von ihrem Mann angestrengten Wiederaufnahmeverfahren wurde sie vom OLG Bamberg i n zweiter Instanz freigesprochen, weil ihre durch Urteil des Sondergerichts abgeurteilten Handlungen teils durch Notwehr und Nothilfe gerechtfertigt gewesen, i m übrigen i n der nicht auf Fahrlässigkeit beruhenden Meinung begangen worden seien, daß ein gegenwärtiger rechtswidriger Angriff auf sie und ihre Angehörigen vorgelegen habe (Putativnotwehr). Die Unterstützung anderer Juden sieht der Senat als gerechtfertigte Nothilfe an, da die Juden täglich und stündlich mit der Verschleppung und anderen auf ihre Ermordung abzielenden Maßnahmen rechnen mußten. Soweit C. Klaes für sich selbst und ihre Angehörigen Bezugsscheine gestohlen habe, habe sie nur in Putativnotwehr gehandelt, da für sie als privilegierte, w e i l m i t einem deutschen Mann 20 Besehluß des O L G Bamberg v o m 10.7.1961 — Ws 29/61 —, N J W 1962, 457. Vgl. dazu Arndt i n N J W 1962, 430.

§ 13 Die Verfolgungsgründe des § 11 BEG

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verheiratete Jüdin die Verschleppung m i t dem Ziel der Vernichtung nicht unmittelbar bevorgestanden habe. Weiter führt das Gericht aus: Die rechtswidrigen Angriffe auf die Juden gingen von den ns.en Machthabern als Trägern der Staatsgewalt aus. Die Notwehr mußte sich deshalb gegen diese Staatsgewalt richten, durfte dagegen nicht die übrige Bevölkerung angreifen. Sie war deshalb nur gerechtfertigt, soweit sie zwar i m Rahmen der berechtigten Abwehr die von der Staatsgewalt gegebene Wirtschaftsordnung äußerlich verletzte, aber Leben und Gesundheit der Gesamtbevölkerung nicht gefährdete. Uber diese Grenze gingen die von der Angeklagten ergriffenen Notwehrmaßnahmen nicht hinaus. Das OLG wickelt den Fall über die Grundsätze des Notwehrrechts ab. Es prüft daher zu Recht nur, ob die Gesetzesverletzung erforderlich war, nicht aber, ob sie auch verhältnismäßig war. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit hätte nur geprüft werden müssen, wenn Rechtsgüter unbeteiligter Dritter i n Mitleidenschaft gezogen worden wären. 3. Der Glaube Die getreu dem Satz lebten: „Man soll Gott mehr gehorchen als den Menschen" und verfolgt wurden, sollten offenbar für i h r Leid entschädigt werden, als der Gesetzgeber als Verfolgungsgrund den Glauben anerkannte. Ob die Entscheidungen, die die Gerichte zur Wehrdienstverweigerung aus Glaubensgründen erlassen haben, diesen Intentionen v o l l entsprechen, unterliegt Bedenken. Der B G H weigerte sich, einen Zeugen Jehovas, der 1943 aus Gewissensgründen dem Gestellungsbefehl nicht Folge geleistet hatte und deshalb zum Tode verurteilt und hingerichtet worden war, als Verfolgten i. S. des § 1 I BEG anzuerkennen 21 . Ob der Zeuge Jehovas aus Glaubensgründen verfolgt worden sei, prüft der B G H nicht weiter, da er der Meinung ist, die Hinrichtung wegen Wehrdienstverweigerung stelle keine ns.e Gewaltmaßnahme dar, weil ein Verstoß gegen rechtsstaatliche Grundsätze nicht vorliege 22 . Denn nicht nur i n Deutschland und etwa nur zur Zeit der ns.en Herrschaft habe man Wehrdienstverweigerer bestraft, auch andere Länder hätten ζ. T. außerordentlich schwere Strafen verhängt. Während des ersten Weltkrieges sei i n Rußland, Ungarn und den USA 21 U r t e i l v o m 14.11.1956 — I V ZR 147/56 —, RzW 1957, 52. 22 Ebenso das O L G Oldenburg i n der Vorinstanz, RzW 1956, 259. Α. A. O L G Bremen, U r t e i l v o m 23.11.1955 — U E 13/55 —, RzW 1956, 43. Dieses Gericht hält die Vollstreckung der Todesstrafe f ü r eine nationalsozialistische Gewaltmaßnahme.

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2. Kap. Die Fallerfahrungen der Rechtsprechung

öfter auf Todesstrafe erkannt worden, und zwar auch gegen solche Personen, die lediglich aus Gewissensgründen den Wehrdienst verweigert haben. Dieses Urteil zeigt die negative Einstellung des B G H zur Wehrdienstverweigerung. Diese kommt auch i m später zu behandelnden „ F a l l des Bremer Drehers" zum Ausdruck. Die Bestrafung geschlechtlicher Beziehungen zwischen einem Deutschen und einer Jüdin hat der B G H als nationalsozialistische Verfolgungsmaßnahme angesehen 23 . Zu Recht fragt er nicht, ob nicht auch i n anderen Ländern, wie Südafrika die Beziehungen unter verschiedenen Rassen verfolgt werden. Auch wenn i m Fall der Wehrdienstverweigerung die Bestrafung weniger als typisch nationalsozialistisch bezeichnet werden kann, so handelte es sich doch um eine Gewaltmaßnahme, die dazu diente, den NS aufrechtzuerhalten. Sie war ein Druckmittel dieses totalitären Systems 24 . Weder die staatliche Maßnahme noch das Verhalten des Bürgers können ohne Beziehung auf den Gesamtcharakter des Systems beurteilt werden. 4. Die Weltanschauung Das BEG w i l l m i t dem Verfolgungsgrund der Weltanschauung die Schäden wiedergutmachen, die dem weltanschaulichen Gegner durch die ns.e Diktatur zugefügt wurden. Festzuhalten ist, daß der Gesetzgeber die Verletzung dieses elementaren Freiheitsrechtes als entschädigungswürdig behandelt. Für das Widerstandsrecht verwertbare Entscheidungen sind zu diesem Verfolgungsgrund nicht ergangen. Auch die zahlreichen „Astrologenurteile" 2 5 geben diesbezüglich nichts her. 5. Der Einfluß der Präambel auf die Auslegung des §11 BEG Für die Einbeziehung der Präambel i n die Auslegung des § 1 I BEG hat der B G H i n seinem Urteil vom 6. 4.1955 2e eine straffe Konstruktion entwickelt. Diese soll zunächst dargestellt werden, sodann verschiedene Fälle, die für das Widerstandsrecht von Bedeutung sind und sich i m Rahmen der aufgezeigten Konstruktion bewegen. 23 B G H , v o m 19. 9.1956 — I V ZR 140/56 —, RzW 1957, 19. 24 Ebenfalls ablehnend Blessin/Ehrig/Wilden, BEG, § 2, A n m . 8. 25 Vgl. die Urteile des O L G München v o m 12.8.1954 — E G 174/53 RzW 1955, 53, des O L G Düsseldorf v o m 21.5.1957 — 11 U 103/56 —, RzW 1958, 15, des O L G H a m m v o m 16.2.1957 — 13 U 141/57 —, RzW 1958, 180 u n d des B G H v o m 1.10.1958 — I V ZR 125/58 —, RzW 1959, 90. 2β — I V ZR 264/54 —, RzW 1955, 216.

§ 13 Die Verfolgungsgründe des § 11 BEG

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Sachverhalt des Urteils vom 6.4.1955: Der Kläger, seit 1926 M i t glied der KPD, traf sich nach dem Verbot dieser Partei i m Jahre 1933 m i t früheren KPD-Mitgliedern i m kleinsten Kreis, wobei auch illegale Druckschriften, die sich gegen das Hitler-Regime richteten, ausgetauscht wurden. 1937 verhaftet, wurde er 1940 wegen Vorbereitung eines hochverräterischen Unternehmens zu 21h Jahren Zuchthaus verurteilt. Der B G H hält den Kläger für einen Verfolgten i. S. des § 1 I BEG, wenn er die Tat, wegen der er verfolgt worden ist, überwiegend zur Bekämpfung der NS-Diktatur begangen hat und weniger i n der A b sicht, eine Gewaltherrschaft der K P D herbeizuführen 27 . Zwar widerspreche eine Verurteilung wegen Hochverrats an sich nicht rechtsstaatlichen Maßstäben und könne deshalb normalerweise nicht als ns.e Gewaltmaßnahme bezeichnet werden; bei sinngemäßer Auslegung des Vorspruchs zum BEG könne es aber auf die Rechtsstaatlichkeit der Verurteilung i n solchen Fällen nicht ankommen, wo es sich u m Widerstand gegen die ns.e Gewaltherrschaft gehandelt habe. Ein solcher Widerstand sei dann zu bejahen, wenn der Kläger die Tat überwiegend zur Bekämpfung des NS begangen habe. Damit zieht der B G H den Begriff des Bekämpfens, wie er uns i n §§ 1 Ι Π Nr. 2 und 6 I Nr. 1 BEG wiederbegegnen wird, zur Begriffsbestimmung des Widerstandes heran. Das Bekämpfen setzt nach der Definition, die i h m der B G H gegeben hat, voraus, daß die Widerstandshandlung vom damaligen Standpunkt aus geeignet sein konnte, die Herrschaft des NS zu beeinträchtigen 28 . Indem das Gericht den Begriff „Bekämpfen" m i t dem des Widerstands gleichsetzt, engt es diesen ein; denn das Wort Widerstand hat einen weiteren Bedeutungsinhalt als das Wort Bekämpfen. Exakt innerhalb der Konstruktion des B G H bewegt sich das Urteil des OLG Stuttgart vom 25.11.1955 29 . Es verdient Beachtung, w e i l es die Probleme des rechten Zeitpunktes und der Mittelwahl des Widerstandes abhandelt. Sachverhalt: Der Kläger, der bis 1933 kommunistischer Gemeinderat war, beteiligte sich am 31. Januar 1933 an einer Demonstration i n Mössingen, die die Reutlinger KPD-Leitung anläßlich der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler organisiert hatte. I m Verlauf dieser Aktion, an der etwa 800 Personen teilgenommen hatten, wurden Gewalttätigkeiten dadurch begangen, daß die Demonstranten die Stillegung einiger 27 Da dieser P u n k t v o m Berufungsgericht noch nicht hinreichend aufgek l ä r t war, verwies der B G H die Sache zurück. 28 U r t e i l v o m 13. 5.1959 — I V ZR 314/58 —, RzW 1959, 386. 2» EGR 454 —, 7. Zivilsenat, unveröffentlicht.

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2. Kap. Die Fallerfahrungen der Rechtsprechung

Betriebe und die Beteiligung der Belegschaft dieser Betriebe am beabsichtigten Generalstreik erreichen wollten. I n dem darauf folgenden Strafverfahren wurde der Kläger, der m i t ca. 80 anderen Teilnehmern angeklagt war, wegen erschwerten Landfriedensbruchs nach § 125 I I StGB m i t 8 Monaten Gefängnis bestraft. Das OLG Stuttgart bejaht die Verfolgteneigenschaft des Klägers i. S. des § 1 I BEG. Die Bestrafung des Klägers stelle eine ns.e Gewaltmaßnahme dar. Zwar entspreche eine Bestrafung wegen Landfriedensbruchs rechtsstaatlichen Maßstäben, aber sie sei i n diesem Fall dennoch staatliches Unrecht gewesen, w e i l die Tat des Klägers durch sein Widerstandsrecht gedeckt gewesen sei. Diese Auslegung folge aus dem Vorspruch zum BEG. M i t seiner Beteiligung an der Demonstration habe der Kläger auch den NS bekämpft. Wenn die Widerstandshandlung i n einer strafbaren Handlung besteht, kann sie nach Ansicht des Gerichts nur dann als ein Verdienst u m das Wohl des Volkes i m Sinne der Präambel bezeichnet werden, wenn sie „als M i t t e l i m Widerstandskampf nicht i n einem MißVerhältnis zu dem mit ihr konkret erstrebten Erfolg gestanden hat". Das Gericht bekennt sich zum Grundsatz der Verhältnismäßigkeit; die Begründung entnimmt es der Präambel und den Rechtsgedanken des Notstandsrechts. Zur Wertung des geplanten politischen Generalstreiks führt es aus: Die Verhältnismäßigkeit ist gewahrt; „denn der Generalstreik, zu dessen Durchführung der Kläger straffällig wurde, wäre ein geeignetes und dem Ernst der politischen Lage am 31.1. 1933 angepaßtes M i t t e l gewesen, um die eben erst an die Macht gelangte Hitlerregierung zum Rücktritt zu zwingen". Das L G Tübingen hatte i n der Vorinstanz noch angeführt, daß der anläßlich des KappPutsches i m März 1920 durchgeführte Generalstreik die Tauglichkeit des Generalstreiks als eines politischen Kampfmittels klar erwiesen hätte 3 0 » 3 1 . Die Zulassung des politischen Streiks als Kampfmittel des Widerstandes ist eine hochbedeutende Ausnahme von dem nach h. M. bestehenden Verbot des politischen Streiks 3 2 . Die Gewerkschaften «o U r t e i l v o m 15.7.1954 — Ο (WG) 245/53 —, unveröffentlicht. Auch das L A G F r a n k f u r t ist der Ansicht, daß der politische Streik als Widerstandshandlung gegen verfassungswidrig ausgeübte öffentliche Gewalt zulässig sei (JZ 1951, 181). 31 Z u r Rechtsproblematik des Generalstreiks anläßlich des Kapp-Putsches vgl. J. Kaiser, Der politische Streik, S. 50 ff. Kaiser weist nach, daß wegen der von den Gewerkschaften nach dem Zusammenbruch des Kapp-Putsches gegen die Regierungsparteien erhobenen Forderungen die zweite Phase des Generalstreikes ein lehrreiches Beispiel des rechtswidrigen, politischen Streiks sei. 32 Vgl. A. Nickisch t Arbeitsrecht, I I . Band, §65 I I I m i t weiteren Nachweisen.

§ 13 Die Verfolgungsgründe des § 11 BEG

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halten danach eines der wirksamsten M i t t e l des politischen Widerstandes i n Händen. Auch die Führer totalitärer Systeme wissen um die Gefahr intakter Arbeiterorganisationen für ihre Machtstellung. Hitler ließ am 2. Mai 1933 durch die SA die Gewerkschaftshäuser besetzen. Die Gewerkschaften aller Richtungen wurden aufgelöst oder „übernommen" 3 3 . Auch die SED unterwarf am 18. 4.1948 den FDGB der sowjetischen Besatzungszone v o l l ihrer Führung. Das zeigt, daß gerade dieses wichtige Kampfmittel des Widerstandes i n der Regel nicht mehr eingesetzt werden kann, wenn sich das neue System etabliert hat. Helfen kann nur, die Zeitschwelle für die Ausübung des Widerstandsrechts früh anzusetzen. Dem trägt das OLG Stuttgart Rechnung, wenn es die Aufforderung zum Generalstreik am 31.1.1933 nicht als verfrüht ansieht, obwohl sich die Hitlerregierung damals noch nicht als Unrechtsregime entpuppt hatte, sondern lediglich nach ihrem Programm Entsprechendes erwarten ließ. Diesem U r t e i l soll eine Entscheidung des OLG Koblenz gegenübergestellt werden, i n der zwar nicht ausdrücklich, aber dem Sinne nach die Entschädigung verweigert wurde, weil der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nicht eingehalten w a r 3 4 . Sachverhalt: Der Kläger, der sich seit 1928 für die K P D betätigt hatte und seit 1932 Mitglied dieser Partei war, entwendete Ende Februar 1933 i n einem Steinbruch Sprengstoff. Nach den Feststellungen des Gerichts sollte der Sprengstoff dazu dienen, die Justizgebäude, das Gefängnis, das Stadthaus und das Gouvernement i n Mainz i n die L u f t zu sprengen. Das OLG Koblenz wies den Kläger ab. Bei der von i h m beabsichtigten Tat hätten nicht nur seine politischen Gegner, sondern überwiegend am politischen Kampf unbeteiligte Personen zu Schaden kommen müssen. Eine derartige das Leben Unbeteiligter nicht achtende Handlungsweise spreche dafür, „daß ihn niedere Triebe so sehr" beherrscht hätten, daß er geneigt gewesen sei, „diesen Trieben andere Rechtsgüter, insbesondere solche der Gesamtheit, zu opfern". Eine solche Handlungsweise verdiene keine Entschädigung, die nach der Präambel eine Anerkennung für Verdienste um das Deutsche Volk darstelle. Diese gefühlsgetragenen Ausführungen lassen doch erkennen, daß der Senat den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als verletzt empfindet. Das ist auch richtig für den Fall, daß die Aktionen des Klägers tatsächlich so gemeingefährlich und planlos waren, wie es nach dem Sachverhalt aussieht. Dann stünden verletzte Rechtsgüter Dritter 33 Vgl. dazu Wolf gang Abendroth, Die deutschen Gewerkschaften, S. 33 f. 34 U r t e i l v o m 9.12.1954 — 3 U (WG) 12/55 — unveröffentlicht. 4

Scheidle

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2. Kap. Die Fallerfahrungen der Rechtsprechung

und Erfolg i n keinem Verhältnis. Man muß bedenken, daß wenig sinnvolle Terroranschläge das Regime vor der Bevölkerung legitimieren, schärfste Uberwachungs- und Kontrollmaßnahmen zu treffen. Allerdings wäre es wohl notwendig gewesen, die Pläne des Klägers detaillierter festzustellen. Möglicherweise wollte der Kläger den Sprengstoff nur für den Tag eines Gesamtaufstandes bereithalten. Auch könnte die Sprengung eines Verwaltungsgebäudes zur Nachtzeit einen großen demonstrativen Effekt haben, ohne daß dadurch Unbeteiligte i n Mitleidenschaft gezogen würden. I n diesem Zusammenhang darf auch das „Sprengstoff-Urteil" OLG Freiburg vom 12. 7.1952 nicht übergangen werden 3 5 .

des

Sachverhalt: Der Kläger, der den Organisationen der Anarchosyndikalisten angehörte, sammelte i m Jahre 1932 zusammen m i t anderen Sprengstoff zur Herstellung von Handfeuerwaffen und Munition. Damit sollte der gemeinsame Abwehrkampf gegen das ns.e Regime vorbereitet werden. Das OLG billigt dem Kläger eine Entschädigung zu. Zwei Gesichtspunkte machen das Urteil besonders interessant: Der Gedanke der Eskalation und die Vorverlegung der Zeitschwelle. Trotz der Verletzung der Strafgesetze müssen, so führt das Gericht aus, die Handlungen des Klägers gebilligt werden. „Eine Regierung, die allgemein anerkannte Moralgesetze mißachtet und sich zur Erreichung ihrer Ziele bedenkenlos sittlich verwerflicher, teilweise sogar verbrecherischer M i t t e l bedient, zwingt ihre Gegner zum Kampf m i t gleicher Waffe." Je mehr sich die Regierung ins Unrecht setzt, desto heftiger darf die Abwehr sein. Die Steigerung des Unrechts, die das Gericht an der Verletzung der Moralgesetze abliest, führt zur Eskalation der erlaubten Widerstandsmittel. Daß der Sprengstoff bereits i n den letzten Monaten vor der ns.en Machtergreifung gesammelt wurde, steht nach Ansicht des Gerichts der Rechtmäßigkeit des Widerstandes nicht entgegen. A u f Grund der damaligen Lage und der bereits bekannten ns.en Methoden und Ziele sei der Kläger m i t Recht davon ausgegangen, daß es zu einem Kampf zwischen dem NS und seinen demokratischen Gegnern kommen könne. Der Widerstand rechtfertigt i n den Augen des Senats einen Verstoß gegen die Strafgesetze bereits zu einem Zeitpunkt, i n dem die Gefahr einer Unrechtsherrschaft erst droht. Die Zeitschwelle w i r d i n den präventiven Bereich vorverlagert. Der Widerstandskämpfer muß mit seinen den Widerstand vorbereitenden Maßnahmen nicht warten, bis die Perversion der Rechtsordnung vollzogen ist und Gegenaktionen real unmöglich sind. 85 — u w 1/52 —, RzW 1952, 283.

513 Die Verfolgungsgründe des § 11 BEG

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Der Gesichtspunkt der Eskalation findet sich auch i m „Uberfallauf-die-SA-Urteil" des B G H vom 7.11.1962". Sachverhalt: Der Kläger, Mitglied der KPD, leitete einen Uberfall auf Angehörige der SA in Fl. Wegen dieses Verhaltens erhielt er eine Zuchthausstrafe. Der Senat erkennt den Kläger als Widerstandskämpfer an und hält auch die Grenzen des Widerstandsrechts nicht für überschritten: Die Grundsätze der Güterabwägung wurden vom Kläger nicht verletzt. Denn man darf bei dieser Güterabwägung nicht übersehen, daß das Verhalten der damaligen Machthaber und der von ihnen gelenkten Hilfskräfte die Möglichkeit zu einem erfolgreichen Widerstand so eingeschränkt hatte, daß die Verletzung allgemein anerkannter Rechtsgüter Dritter schwer zu vermeiden war. Die damaligen Machthaber suchten ihre Ziele unter grober Mißachtung rechtsstaatlicher Gesichtspunkte durchzusetzen. Staat und Partei verfügten über weitgehende M i t t e l zur Erhaltung und Erweiterung ihrer Machtstellung. Deshalb konnte Widerstand nicht m i t Mitteln geleistet werden, wie sie i n einer staatlichen Ordnung m i t anerkannten und rechtlich sowie tatsächlich geschützten Grundrechten allein zugelassen werden können. Der B G H trägt dem Gesichtspunkt der Eskalation unter einem doppelten Blickwinkel Rechnung. Einmal stellt er heraus, daß i n einem abwehrbereiten, totalitären Regime der Widerstandskampf m i t anderen Mitteln geführt werden muß als i n einer rechtstaatlichen Ordnung, da i n einem tyrannischen System normale Protestmittel u n w i r k sam sind. Die Steigerung der Widerstandsmittel entspricht, so betrachtet, dem Grundsatz der Erforderlichkeit, der den Einsatz des mildesten, aber m i t Sicherheit wirksamen Mittels postuliert. Zum anderen b i l l i g t der B G H die Eskalation auch gemäß dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Die Kampfformen des Widerstandes dürfen gesteigert werden, w e i l das NS-Regime seine Ziele „unter grober Mißachtung rechtsstaatlicher Gesichtspunkte durchzusetzen" suchte. Demgemäß kann der Widerstandskämpfer zu um so gefährlicheren Waffen greifen, je mehr das Regime die Rechtsordnung pervertiert. Gesundheit und körperliche Unversehrtheit einzelner SA-Männer, so führt das Gericht aus, bildeten keine Schranke des Widerstandsrechts. I m politischen Kampf sei die SA überall da eingesetzt worden, wo Gewalt angewendet werden sollte. Der SA sei als soldatisch aufgebauter, innerpolitischer Kampftruppe die Aufgabe zugefallen, die eben erst errichtete, aber noch nicht allseitig gesicherte Gewaltherrschaft zu schützen. 3Q _

4*

I V Z R 65/62 —, RzW 1963, 218.

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2. Kap. Die Fallerfahrungen der Rechtsprechung

M i t diesen Urteilsgründen w i r d der Kreis der möglichen Adressaten des Widerstandes weit gezogen. Nicht nur die höchsten Funktionäre können tätlich bekämpft werden, sondern auch die kleinen Parteigänger, die die Unrechtsherrschaft absichern. Keiner, der das Unrechtsregime fördert, kann sicher sein, daß nicht auch ihn ein Anschlag der Widerstandskämpfer trifft. Obwohl der B G H i n der Urteilsbegründung zum Ausdruck bringt, daß i m Widerstandsrecht, wie auch sonst i n der Rechtsordnung, nur diejenige Rechtsausübung gebilligt werden dürfe, bei der i m gegebenen Falle die gewählten M i t t e l i n einem angemessenen Verhältnis zu den gesteckten Zielen stünden, n i m m t er diese Güterabwägung i n concreto nicht vor. Es erscheint auch sehr zweifelhaft, ob diese Güterabwägung zugunsten des Klägers verlaufen wäre. Der B G H scheint unbewußt die Tat nach Notwehrmaßstäben beurteilt, d. h. die Güterabwägung gar nicht für notwendig gehalten zu haben, da gegen die SA, als rechtswidrigen Angreifer und Adressat des Widerstandes vorgegangen wurde.

§ 14 Die Gleichstellungsgründe nach § 1 I I Nr. 1 BEG Nach § 1 I I Nr. 1 BEG w i r d als Verfolgter i. S. des Abs. 1 behandelt, wer durch ns.e Gewaltmaßnahmen verfolgt worden ist, weil er auf Grund eigener Gewissensentscheidung sich unter Gefährdung seiner Person aktiv gegen die Mißachtung der Menschenwürde oder gegen die sittlich auch durch den Krieg nicht gerechtfertigte Vernichtung von Menschenleben eingesetzt hat. Sinn der Vorschrift ist, „diejenigen Widerstandskämpfer, die keine gegen den NS gerichtete politische 37 Uberzeugung" gehabt haben, nicht von einer Entschädigung auszuschließen 38 . Die Vorschrift t r i f f t damit Fälle eines sachlichen, systemimmanenten Widerstandes. Die, die sich an dem ihnen zugewiesenen Platz innerhalb des Unrechtssystems der Sache des Rechts, der Gerechtigkeit i m einzelnen Fall verschrieben haben, ohne grundsätzliche Gegner des NS zu sein, sollen wie Widerstandskämpfer behandelt werden. Ein gutes Beispiel für diese Fallgruppe liefert das Urteil des B G H vom 11.1.1961 39 . Sachverhalt: Der Kläger war als Amtskommissar in Auschwitz bemüht, die jüdische und polnische Bevölkerung gegen Übergriffe, Unzuträglichkeiten und Freiheitsentziehung der NS-Machhaber zu schützen. 37 Heraushebung v o m Verfasser. 38 BGH, U r t e i l v o m 15. 6.1955 — I V ZR 260/54 —, RzW 1955, 298. 39 _ I V ZR 180/60 —, RzW 1961, 371.

§ 15 Die Verfolgungsfiktion des § 1 I I I Nr. 2 BEG

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Obwohl der Kläger schon durch seine Amtstellung Förderer ns.er Bestrebungen war und auch kein Gegner des NS genannt werden konnte, so w i r d vom B G H doch anerkannt, daß er sich aktiv gegen die Mißachtung der Menschenwürde eingesetzt habe. Der, der die Schreckensherrschaft i m Einzelfall abmilderte, Menschlichkeit gegen die ns.e Vernichtungspolitik durchzusetzen versuchte, w i r d wie ein Widerstandskämpfer behandelt. Sein Platz geht nicht darauf, das ganze System zu beseitigen, er w i l l nur der Not steuern, der er ansichtig w i r d : ein menschlicher Nationalsozialist, der Verfolgten Nothilfe zukommen läßt. Ähnlich sah der B G H einen aktiven Einsatz gegen die auch durch den Krieg nicht gerechtfertigte Vernichtung von Menschenleben in einem Fall, wo der Kläger sich aktiv gegen die Sprengung eines Gefangenenlagers eingesetzt hatte 4 0 . § 15 Die Verfolgungsfiktion des § 1 I I I Nr. 2 BEG Nach ständiger Rechtsprechung des 4. Zivilsenats des B G H liegt eine Verfolgung aus Gründen politischer Gegnerschaft nur vor, wenn die Verfolgung ihren Grund darin hatte, daß der Verfolgte auf politischem Gebiet als ein Gegner der NS-Herrschaft oder NS-Bestrebungen oder -Gedanken angesehen wurde, wenn er also mit anderen Worten nach der Absicht des Verfolgers durch die ihm zugefügte Schädigung wegen seiner politischen Gegnerschaft getroffen werden sollte 41 . Da aber kein Grund zu ersehen ist, warum derjenige, der, um Widerstand zu leisten, eine strafbare Handlung begangen hatte, aber sein wahres Motiv verbergen konnte, keine Entschädigung erhalten sollte, wurde durch das Änderungsgesetz (BEG 1956) die Bestimmung des Abs. 3 Nr. 2 § 1 BEG eingefügt: Als Verfolgter i. S. des Abs. 1 gilt auch der Geschädigte, der eine i h m zur Last gelegte Handlung i n Bekämpfung der ns.en Gewaltherrschaft... begangen hat, aber den Beweggrund der Handlung verbergen konnte. I m Rahmen dieser Bestimmung können nur Widerstandshandlungen Anerkennung finden, die ein Bekämpfen des NS darstellen. 40 U r t e i l v o m 8.10.1958 — I V ZR 97/58 —, RzW 1959, 21. Vgl. auch das U r t e i l des B G H v o m 25.1.1957 — I V ZR 199/56 —, RzW 1957,116: DerKommandant einer Volkssturmeinheit hatte m i t Rücksicht auf die ungenügende Ausrüstung seiner Einheit u n d das Abrücken aller Wehrmachtsverbände seinen n u r m i t Gräben u n d Panzersperren befestigten, bewohnten, militärisch bedeutungslosen O r t nicht verteidigen lassen. E r w a r deshalb hingerichtet worden. Seiner Ehefrau billigte der B G H eine Entschädigung zu, w e i l i h r M a n n zwar nicht Gegner des ns.en Regimes gewesen sei, sich aber a k t i v gegen die sittlich auch durch den K r i e g nicht gerechtfertigte Vernichtung von Menschenleben eingesetzt habe. B G H , U r t e i l v o m 14.7.1961 — I V ZR 71/61 —, N J W 1962, 195.

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2. Kap. Die Fallerfahrungen der Rechtsprechung

Das zeitlich erste bedeutende Urteil zu der neu eingeführten Bestimmung des Abs. 3 Nr. 2 ist das „Partisanenurteil" 4 2 . Sachverhalt: Der Mann der Klägerin wurde 1944 wegen Kriegsverrats zum Tode verurteilt und hingerichtet. I h m wurde u.a. zur Last gelegt, a) eine Pistole m i t Munition jugoslawischen Partisanen geliefert und diese damit i m Kampf gegen das Reich unterstützt zu haben, b) einem gefangenen Partisanen eine zu dessen Befreiung bestimmte Säge übergeben zu haben, c) bereit gewesen zu sein, militärische Ausspähaufträge auszuführen. Der B G H hob das Urteil des OLG auf und verwies die Sache zurück. I n unserem Zusammenhang beachtlich sind seine Ausführungen zu § 1 I I I Nr. 2 BEG, i n denen er zu Inhalt und Grenzen des Widerstandsrechts Stellung nimmt. Entscheidend ist der Satz, daß die Widerstandshandlung auch i n Kriegsverrat durch die Unterstützung feindlicher Verbände bestehen könne. Aus Rechtsgründen dürfe jedoch die Gegnerschaft zum NS nicht schrankenlos betätigt werden, was das Berufungsgericht nicht bedacht habe. Die inhaltlichen Grenzen des Widerstandsrechts seien aus den Grundsätzen zu gewinnen, die Rechtslehre und Rechtsprechung für die Ausübung individueller Notwehr- und Notstandsrechte entwickelt haben. Zwar könne die Verletzung der Rechte unbeteiligter Dritter bei der Ausübung von Widerstands- und Abwehrrechten keine absolute Schranke darstellen, wenn ein Angriff gegen den nach allen Richtungen abgesicherten Machtstaat des NS und seine obersten Träger gewagt werden sollte. Opfer und Erfolg müßten aber auch i n einem solchen Fall objektiv i n einem nach allgemeiner Rechtsüberzeugung gebilligten Verhältnis zueinander stehen. U m einen nach Einfluß und Aufgaben unbedeutenden Träger des ns.en Herrschaftssystems — mag er auch zahlreiche und schwerste Verbrechen begangen haben — zu beseitigen, dürften daher nicht unbeteiligte Dritte ihr Leben verlieren. Derartige Überlegungen seien auch vom Widerstandskämpfer anzustellen. Bemerkenswert ist, daß der B G H eine Abwägung nur zwischen dem Erfolg und den Rechtsgütern unbeteiligter Dritter vornimmt. Die Rechtsgüter des Widerstandsadressaten finden lediglich Schutz entsprechend dem Grundsatz der Erforderlichkeit. Der B G H scheint sich i m vorliegenden Fall zu scheuen, die Abwägung vorzunehmen, ob der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gewahrt sei 43 . Offenbar waren weitere Erkenntnisquellen nicht mehr vor42 B G H , U r t e i l v o m 21.11.1958 — I V Z R 105/85 —, J Z 1959, 770 = RzW 1959, 280. « Darauf macht O. Küster i n seiner A n m e r k u n g zu diesem U r t e i l aufmerksam (JZ 1959, 772).

§ 15 Die Verfolgungsfiktion des § 1 I I I Nr. 2 BEG

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handen; die Abwägung konnte auf Grund der festgestellten Tatsachen vorgenommen werden. Die Unterstützung von jugoslawischen Partisanen brachte sicherlich, und nicht nur, wie der B G H meint, möglicherweise, eine erhöhte Gefährdung der deutschen Soldaten m i t sich. Auf der Erfolgsseite stand ein Beitrag zur Unterstützung der Kriegsfeinde Deutschlands und damit auch zur Niederringung des NS. Damit stellt sich klar die Frage, ob zur Niederringung des bekämpften Regimes die ganze Staatsexistenz und das Leben Unbeteiligter aufs Spiel gesetzt werden darf. Dieser mühsame, blutvolle Weg der indirekten Beseitigung des Regimes durch äußere Mächte macht die Güterabwägung nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nahezu unmöglich. Es ist verständlich, wenn der B G H keine allzu großen Anstrengungen unternommen hat, diese Abwägung durchzuführen. Doch nach diesem ersten behutsamen Schritt bezieht der BGH sieben Jahre später i m „Dienst-in-der-französischen-Armee-Fall" zu diesem Punkt eindeutiger Stellung 4 4 . Sachverhalt: Der Kläger wurde 1933 wegen des Verdachts der Vorbereitung eines hochverräterischen Unternehmens verhaftet, nach 10 Tagen wieder auf freien Fuß gesetzt, jedoch unter Polizeiaufsicht gestellt. I m Januar 1934 flüchtete er ins Saargebiet und nach der Saarabstimmung weiter nach Frankreich. Bei Kriegsausbruch wurde er zur französischen Armee eingezogen und geriet i m Sommer 1940 i n deutsche Kriegsgefangenschaft. Vom Reichskriegsgericht wurde er wegen verbotener Waffenhilfe zu 8 Jahren Zuchthaus und zu 8 Jahren Ehrverlust verurteilt. Er bekundete glaubhaft, er habe sich auch deshalb zum Waffendienst i n der französischen Armee zur Verfügung gestellt, um auf diese Weise einen aktiven Beitrag zur militärischen Niederkämpfung der NS-Gewaltherrschaft zu leisten. Wie das Berufungsgericht befindet der BGH, daß der Kläger nach § 1 I I I Nr. 2 BEG als Verfolgter zu gelten habe. Er habe mit guten Gründen der Ansicht sein können, daß eine Befreiung Deutschlands von der Zwangsherrschaft der Nationalsozialisten aller Voraussicht nach nur noch durch den Einsatz militärischer Gewalt von außen her habe erreicht werden können, nachdem das Hitler-Regime sein totalitäres Machtsystem nach allen Seiten ausgebaut und abgesichert gehabt hätte. „Dabei mußte der Kläger sich freilich sagen, daß eine— von ihm aktiv unterstützte — militärische Niederwerfung des von den ns.en Machthabern beherrschten Deutschen Reiches für das deutsche Volk wahrscheinlich mit unübersehbaren Opfern verbunden sein würde. Man kann ihm jedoch nicht vorhalten, daß er bei einer Abwägung der Schwere dieser Opfer einerseits und des m i t ihnen erkauften Wertes 44 U r t e i l v o m 13.1.1965 — I V Z R 56/64 —, RzW 1965, 262.

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2. Kap. Die Fallerfahrungen der Rechtsprechung

einer Befreiung des deutschen Volkes von der Ideologie und der Gewaltherrschaft des NS andererseits die Weise des von ihm geleisteten Widerstandes nicht für sinnvoll und sittlich billigenswert habe halten können und daß sein Widerstand deshalb nicht als ein Verdienst um das Wohl des deutschen Volkes i. S. der Präambel angesehen werden könne." Auch der B G H empfindet diese Abwägung als höchst heikel. Er begründet nicht von seinem Standpunkt aus, sondern von dem des Klägers. Er formuliert nicht: Dieser Widerstand war ein Verdienst u m das Wohl des Volkes, sondern „man kann ihm (dem Kläger) nicht vorhalten, . . . daß sein Widerstand . . . nicht als ein Verdienst u m das Wohl des deutschen Volkes . . . angesehen werden könne". Wohlweislich spricht der B G H nur vom Wohle des deutschen Volkes und nicht vom Wohle des deutschen Volkes und Staates, wie es i n der Präambel heißt. Denn der Widerstandskämpfer, der sich des Kriegsverrats bedient, muß damit rechnen, daß eine „debellatio" seinem Staat ein Ende macht. Als Verdienst um das Wohl des Staates kann Kriegsverrat kaum gewertet werden. Das Urteil bedeutet, daß der B G H die Existenz des Staates als geringerwertig ansieht als die Existenz des Volkes unter einer freiheitlichen Verfassung. Die Staatsexistenz w i r d nicht als unüberwindliche Barriere für die Ausübung des Widerstandes betrachtet. Die Staatsvernichtung ist mögliches Widerstandsmittel. Uber die Schwächung der Militärkraft des Deutschen Reichs durch Wehrdienstverweigerung galt es „ i m Fall des Bremer Drehers" zu entscheiden. Das hierzu ergangene Urteil des B G H 4 5 kann als das am meisten gescholtene aus der ganzen Wiedergutmachungsrechtsprechung gelten 46 . Sachverhalt: Der Kläger, ein Dreher aus Bremen, leistete nach den Feststellungen des Berufungsgerichts 1939 einem Einberufungsbefehl aus Gewissensgründen sowie einer allgemeinen Gegnerschaft zum NSRegime nicht Folge, wofür ihn ein Kriegsgericht zu 3 V2 Jahren Festungshaft verurteilte. Später zu einer Strafeinheit versetzt, verweigerte er i m Rußlandfeldzug eine Beteiligung am Minenlegen und wurde wegen dieser Handlung erneut zu 1 V2 Jahren Festungshaft verurteilt. Zur Kontrastierung der unterschiedlichen Auffassungen soll zunächst das OLG Bremen, das diesen Fall in der zweiten Instanz zu entscheiden « U r t e i l v o m 14.7.1961 — I V ZR 71/61 — N J W 1962, 195 = RzW 1962, 68. 46 Es ist bedauerlich, daß gerade dieses w e n i g glückliche Judikat vielen allein bekannt ist u n d als repräsentativ f ü r die Einstellung des B G H zum Widerstandsrecht betrachtet w i r d .

§ 15 Die Verfolgungsfiktion des § 1 I I I Nr. 2 BEG

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hatte, zu Wort kommen 4 7 . Der Senat dieses Gerichts hält die Bestrafung des Klägers für eine ns.e Gewaltmaßnahme, weil sie, obwohl rechtsstaatlichen Maßstäben nicht widersprechend, als Unrecht angesehen werden müsse, da die Taten des Klägers durch das Widerstandsrecht gerechtfertigt gewesen seien. Unter den besonderen Bedingungen des ns.en Regimes sei die Wehrdienstverweigerung als Widerstandshandlung gerechtfertigt gewesen. Eine Abwägung zwischen Aussichten und Folgen seines Verhaltens habe der Kläger nicht vorzunehmen brauchen, da er niemanden gefährdet habe als sich selbst. Auch die etwaige Erfolglosigkeit des Verhaltens könne bei Widerstandshandlungen, die allein den Täter gefährdeten, keine Rolle spielen. Der B G H hält die Auffassung des OLG Bremen für rechtsirrtümlich. Es sei nicht richtig, daß der Kläger aus Gründen politischer Gegnerschaft verfolgt worden sei, da dafür die Strafe zu milde ausgefallen sei. Damit kam nur noch § 1 I I I Nr. 2 BEG als Anspruchsgrundlage für den Kläger i n Betracht. I n diesem Rahmen versucht der B G H eine Definition des rechtmäßigen Widerstandes „ i m Sinne der wahren, derzeit an ihrer Verwirklichung gewaltsam verhinderten übergesetzlichen Rechtsordnung": „Ein gegen eine bestehende Unrechtsherrschaft geleisteter Widerstand kann nur dann als sinnvoll und demgemäß eine diesen Widerstand ahndende staatliche Maßnahme nur dann als Unrecht i m Rechtssinne angesehen werden, wenn die Widerstandshandlung nach ihrer A r t und ihrem Gewicht wenigstens eine gewisse Aussicht bietet, i n bezug auf die Übel der bestehenden Unrechtsherrschaft eine w i r k liche Wende zum Besseren herbeizuführen. Zwar kann es nicht von ihrem tatsächlichen unmittelbaren Erfolg oder Mißerfolg abhängen, ob ihr der Charakter der Rechtmäßigkeit i m Sinne einer Offenbarmachung und Verwirklichung (Vollstreckung) des wahren Rechts durch die Beseitigung oder Entmächtigung der seine Geltung tatsächlich verneinenden und gewaltsam unterdrückenden Kräfte zukommt. Sie muß aber i n jedem Falle nach ihren Beweggründen, Zielsetzungen und Erfolgsaussichten als ein ernsthafter und sinnvoller Versuch zur Beseitigung des bestehenden Unrechtszustandes gewertet werden können, der einen lebens- und entwicklungsfähigen Keim des Erfolges i n sich trägt, durch den er selbst bei einem etwaigen äußeren Scheitern als ein gültiges und wirksames Zeugnis für das Recht und für den in dem unterdrückten Volk noch lebendigen Willen zum Recht i n die Zukunft hinaus w i r k t und so jedenfalls zur Vorbereitung der schließlichen Überwindung des allgemeinen Unrechtszustandes einen entscheidenden Beitrag leistet. Von dieser A r t war der Widerstand der Männer des 20. J u l i 1944, den der Gesetzgeber i n der Präambel ersicht47 U r t e i l v o m 14.12,1960 — U E 18/60 —, RzW 1961, 210.

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2. Kap. Die Fallerfahrungen der Rechtsprechung

lieh als den beispielhaften Fall eines rechtmäßigen Widerstandes angesehen hat." Aus diesen gespreizten Formulierungen ist festzuhalten, wie stark der B G H eine Erfolgsaussicht des Widerstandes fordert: Der Widerstand muß eine gewisse Aussicht bieten, eine wirkliche Wende zum Besseren herbeizuführen. Er muß einen lebens- und entwicklungsfähigen Keim des Erfolges i n sich tragen und wenigstens zur Vorbereitung der schließlichen Überwindung des allgemeinen Unrechtszustandes einen entscheidenden Beitrag leisten. Daß diesen hochgeschraubten Anforderungen ein kleiner Wehrdienstverweigerer nicht genügen kann, versteht sich. Dem Urteil loderte denn auch eine „Stichflamme der Urteilsschelte" 48 entgegen 49 . Küster nennt es namens des Volkes gegen das Volk ergangen 50 . Zunächst befremdet es schon, daß der B G H anstatt möglichst eng am zur Entscheidung stehenden Fall zu bleiben, zu einer allgemeinen Definition des rechtmäßigen Widerstandes ausholt. Das Gericht verletzt die goldene Regel des Javolen, bei der Rechtsfindung Behutsamkeit und Zurückhaltung walten zu lassen: „Omnis definitio i n i u r i civili periculosa est, rarum est enim, ut non subverti possit 51 ." Beim Studium der Entscheidung w i r d man den Eindruck nicht los, als habe sich der B G H über die Subsumtionsnorm des § 1 I I I Nr. 2 BEG i m Zusammenspiel mit der Präambel hinweggesetzt und „nach den Sternen gegriffen" 5 2 . Dieser Eindruck bestätigt sich, wenn man der Frage nachgeht, wie der B G H seine Auffassung zum Widerstandsrecht begründet. Er begründet sie nicht, er behauptet sie. Das Zitat eines Vortrages von Weinkauff scheint i h m ausreichende Begründung zu sein. M i t den zahllosen Meinungen der Wissenschaft setzt sich der Senat nicht erkennbar auseinander. Hinzu kommt, daß der B G H i n unzulässiger Weise die Formulierungen Weinkauffs verallgemeinert. Weinkauff sagt zwar, daß der Widerstand Aussicht auf Erfolg haben müsse, aber er begründet das wenige Zeilen weiter damit, daß der gewaltsame Widerstand ein Griff i n das Rad der Geschichte sei. Wer wie die Männer des 20. J u l i das Schicksal des ganzen deutschen Volkes beeinflussen wolle und damit ungeheure Wirkungen auslöse, stehe unter dem Gebot der geschichtlichen Verantwortung 5 3 . Damit spricht Weinkauff unter einem 48 A. Arndt i n seiner leidenschaftlichen Stellungnahme gegen dieses U r t e i l i n N J W 1962, 430. 49 Arndt, a.a.O.; Küster, RzW 1962, 57; Erdsiek, N J W 1962, 192. «o Küster, a.a.O. D. 50, 17, 202. Diese Regel muß auch f ü r das ius p u b l i c u m gelten. m Arndt, a.a.O. m Widerstandsrecht, S. 19 f.

§ 15 Die Verfolgungsfiktion des § 1 I I I Nr. 2 BEG

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anderen Aspekt den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit an. Seine Ausführungen gelten erkennbar nur für den Fall des gewaltsamen Widerstandes. Der B G H hätte sie nicht auf diesen Sachverhalt anwenden dürfen, wo gewaltloser, passiver Widerstand zu beurteilen war. Dies u m so mehr, als noch das Berufungsgericht zum Ausdruck gebracht hatte, daß bei Widerstandshandlungen, die allein den Täter gefährdeten, die Erfolglosigkeit des Verhaltens keine Rolle spielen dürfe 5 4 . Zugunsten des Urteils mag gesagt werden, daß man sich darüber streiten kann, ob passiver Widerstand eines einzelnen als „Bekämpfen" des NS i. S. des § 1 I I I Nr. 2 BEG anzusprechen ist. Zum andern ist zu bemerken, daß der B G H diese anfechtbaren Rechtsauffassungen nur vertreten hat, w e i l er nichts gegen eine höchst anfechtbare Beweiswürdigung der Tatsachengerichte t u n konnte. Nach Presseberichten wurde gegen den Kläger dieses Rechtsstreits ein Verfahren wegen Meineids und Betruges eingeleitet 55 . Aber gerade dann hätte der B G H seine Ausführungen um so weniger i n das Gewand einer Grundsatzentscheidung kleiden dürfen. Das Erfolgsmerkmal w i r d i n zwei späteren Entscheidungen schrittweise aufgegeben. Zunächst i n dem schon oben behandelten „Dienstin-der-französischen-Armee-Fall" 56 , wo es heißt, ein Bekämpfen könne auch vorliegen, wenn der Beitrag für sich betrachtet geringfügig gewesen sei und kaum eine nennenswerte W i r k u n g i n der erstrebten Richtung versprochen habe. I m Urteil vom 9. 3.1966 57 erfolgt dann sogar die leitsatzmäßige Preisgabe des Erfolgserfordernisses: „Darauf, ob der auf diese Weise geleistete Beitrag zur Bekämpfung des NS geringfügig war und von i h m nennenswerte Wirkungen nicht ohne weiteres ausgehen konnten, kommt es nicht an." I n der Entscheidung ging es um die Frage, ob das Abhören von Auslandssendern während des Krieges und das Verbreiten der gehörten Nachrichten als Widerstandshandlung angesehen werden könne 5 8 . Der B G H bejaht das für den Fall, daß es Teil eines Gesamtverhaltens war, das eine gewisse Dauer und Nachdrücklichkeit erkennen ließ und auf einer einigermaßen sinnvollen Planung beruhte. A u f die W i r M Insbesondere weist auch Erdsiek i n seiner Urteilsrezension (a.a.O.) darauf hin, daß der passive Widerstand unter anderen Gesetzen stehe als der aktive. Eine wesentlich günstigere Beurteilung als durch den B G H erfuhr der passive Widerstand durch die Entscheidung des Court of Restitution Appeals v o m 20. 4.1951, RzW 1951, 195. 55 Vgl. Arndt, a.a.O., Fußnote 1. m Vgl. oben S. 55 f. 57 — I V ZR 49/65 — RzW 1966, 410. se Z u m Abhören v o n Auslandssendern vgl. auch das U r t e i l des B G H v o m 13. 5.1959 — I V ZR 314/58 —, RzW 1959, 386.

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2. Kap. Die Fallerfahrungen der Rechtsprechung

kung komme es nicht an, da Widerstandshandlungen i. S. des BEG eine sittliche Entscheidung, nicht aber bestimmte Erfolgsaussichten voraussetzten 59 . Das Tatbestandsmerkmal Erfolg ist damit völlig aufgegeben, vom Täter w i r d nur noch als sittliche Einstellung Bekämpfungswille verlangt. Die Leitsätze des Urteils i m „Fall des Bremer Drehers" und dieser Entscheidung prallen unversöhnlich aufeinander. Man hätte deshalb i n der Entscheidung aus dem Jahre 1966 oder i n der ihr wegbereitenden aus dem Jahre 1965 eine gedankliche Auseinandersetzung m i t der früheren abweichenden Entscheidung erwartet. Dieses Urteil wurde indes überhaupt nicht mehr erwähnt. Dem B G H läßt sich allerdings zugute halten, daß die völlige Preisgabe des Erfolgsmerkmals wohl nur auf den Bericht des Wiedergutmachungsausschusses hin geschah.

§ 16 Die Befreiung vom Ausschließungsgrund des § 6 I Nr. 1 BEG Die hierzu vom B G H entschiedenen Fälle, wo die kleine Münze des Widerstandes achtlos zur Seite geworfen wird, sind zunächst geeignet, den Leser auf die Barrikaden zu rufen 6 0 . Vergegenwärtigt man sich jedoch den Tatbestand des § 6 I Nr. 1 BEG, so w i r d der Unmut rasch zurückgedrängt. Nach § 6 I Nr. 1 BEG ist von der Entschädigung ausgeschlossen, wer Mitglied der NSDAP oder einer ihrer Gliederungen gewesen ist oder der ns.en Gewaltherrschaft Vorschub geleistet hat; eine nominelle Mitgliedschaft schließt den Anspruch auf Entschädigung aber dann nicht aus, wenn der Verfolgte unter Einsatz von Freiheit, Leib oder Leben den NS aus Gründen, die den Verfolgungsgründen des § 1 entsprechen, bekämpft hat und deswegen verfolgt worden ist. Die Ausnahmevorschrift ist eng gefaßt. Nicht nur ein Bekämpfen des NS muß vorliegen, sondern dieses Bekämpfen muß auch unter Einsatz von Freiheit, Leib oder Leben erfolgt sein. Die NSDAP-Mitgliedschaft kann nur durch qualifizierten Widerstand ausgeglichen werden. Das soll das „Sachverständigenurteil" zeigen 61 . Sachverhalt: Der Kläger, Mitglied der NSDAP, wurde i n einem Strafverfahren als Sachverständiger hinzugezogen. Er widersetzte sich dem Wunsch der Parteidienststellen, unrichtige, zu einer Verurteilung s» So der Bericht des Wiedergutmachungsausschusses des Bundestags, B T Drucks. I V 3423 zu A r t . I Nr. 01a zum E n t w u r f des BEG-SchlußG. 60 Vgl. z.B. A. Arndt, N J W 1962, 431. ei U r t e i l v o m 9.7.1958 — I B ZR 37/58 —, RzW 1958, 362 = L M Nr. 18 zu § 6 BEG.

§ 16 Die Befreiung vom Ausschließungsgrund des § 61 Nr. 1 BEG

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des Angeklagten führende Gutachten zu erstatten und fertigte sein Gutachten der Wahrheit gemäß an. Der B G H billigt dem Kläger eine Entschädigung nicht zu, da sein Verhalten nicht als „Bekämpfen" des NS i. S. des § 6 BEG anzusprechen sei. Der Kläger hatte nur das getan, was schon nach den ζ. Z. der ns.en Herrschaft geltenden gesetzlichen Bestimmungen von jedem Staatsbürger allgemein verlangt worden sei. Unerheblich sei, ob Parteistellen dem einzelnen Parteigenossen zugemutet hätten, strafbare Handlungen zu begehen. Die Standhaftigkeit des Klägers könne anerkennenswert sein; da es sich aber um ein rein passives Verhalten gehandelt habe, könne es schon sprachlich nicht als Bekämpfen angesehen werden. Wenn man die enge Ausnahmebestimmung des § 6 I Nr. 1 BEG bedenkt, muß man dem B G H i m Ergebnis Recht geben 62 . Doch kann i h m i n der Begründung nicht gefolgt werden, wenn er das Verlangen der Parteistellen, strafbare Handlungen zu begehen, als unerheblich bezeichnet. Das w i r d der rechtlichen und staatlichen Situation unter der ns.en Herrschaft nicht gerecht. Wenn alle Staatsbürger das getan hätten, was das Gesetz von ihnen verlangte, hätte es nie zu einer solchen Entartung des NS-Regimes kommen können. Das Problem ist: Was macht eine Handlung zur Widerstandshandlung? Dieses Problem ist besonders schwer zu lösen, wenn es an und für sich gesetzmäßige Handlungen zu beurteilen gilt. Der Kläger wurde auf Grund seines Verhaltens aus der Partei ausgeschlossen und aus seiner Stellung entlassen, obwohl er nur den Gesetzen entsprechend gehandelt hatte. Das zeigt die besondere Lage i m Unrechtstaat: Selbst völlig gesetzmäßiges Handeln w i r d von den effektiven Machtträgern des Staatswesens verfolgt. Damit muß das Risiko als das Abgrenzungskriterium gelten, das die gesetzmäßige Handlung zur Widerstandshandlung werden läßt. Wer gesetzmäßig handelt, obwohl er weiß, daß er dies nicht ruhigen Mutes t u n kann, sondern Stellung und persönliche Freiheit riskiert, leistet Widerstand 6 3 . 62

A. A . Otto Küster (RzW 1958, 385), der dieses U r t e i l entschieden ablehnt. I n diesem P u n k t scheint das B V e r w G eine feinfühligere H a n d zu haben. Seiner Ansicht nach k a n n ein Beamter auch m i t einer — nach heutigen Beurteilungsmaßstäben — pflichtgemäßen Amtshandlung den NS bekämpft haben, nämlich dann, w e n n er i m Widerspruch zu inhaltlich unrechtmäßigen oder unsittlichen Weisungen oder Vorschriften eine Amtshandlung vorgenommen u n d d a m i t objektiv u n d subjektiv dem NS entgegengewirkt hat. Allerdings muß es sich u m Handlungen v o n erheblichem Gewicht gehandelt haben. Vgl. die Urteile des B V e r w G v o m 20.3.1958 — I I C 125/57 —, DVB1. 1958, 584 = RzW 1958, 333, v o m 19.12.1958 — I I C 147/57 — E 8/75 = RzW 1959,424 u n d v o m 24. 2.1960 — V I I I C 198/59—, DVB1.160,488 = RzW 1960, 421 = D Ö V 1960, 392 = E 10, 176. Das B V e r w G ist i m Rahmen des Gesetzes zur Regelung der Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts f ü r 63

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2. Kap. Die Fallerfahrungen der Rechtsprechung

A n dem Urteil n i m m t es weiter wunder, daß dem Unterschied zwischen aktivem und passivem Widerstand für die Auslegung des Wortes „Bekämpfen" entscheidende Bedeutung beigemessen wird, während i m Fall des „Bremer Drehers" dieser Unterschied für die Bewertung der Erfolgsaussicht völlig außer acht gelassen wurde. Rechtmäßiger Widerstand wurde sicher auch geleistet i m „ M i l i t ä r grußfall" 6 4 , doch w i r d man dem eine Entschädigung ablehnenden U r teil des B G H wegen des engen Ausnahmetatbestandes des § 6 I Nr. 1 BEG zustimmen müssen 65 . Sachverhalt: Der Ehemann der Klägerin, der Parteimitglied war, beachtete die von den ns.en Gewalthabern nach dem 20. 7.1944 für das Heer angeordnete A r t des Grüßens nicht und erklärte, von einem Offizier des Seefliegerverbandes zur Rede gestellt, unter Hinweis auf den Tod Hitlers, alles sei vorbei und dieser Dreck gehe ihn nun nichts mehr an. Der B G H verneint ein Bekämpfen des NS durch den Kläger, da seine Handlung nicht geeignet gewesen sei, der Herrschaft des NS Abbruch zu t u n oder zumindest ihre schlimmen Folgen i n beachtenswerter Weise zu mildern. Auch wenn man diese Definition des Begriffs „Bekämpfen" ablehnt, w i r d man sagen müssen, daß der Kläger m i t diesem Widerstand seine Unterstützung des NS durch seine nominelle M i t gliedschaft nicht ausgeglichen hat und deshalb als Entschädigungsempfänger fragwürdig erscheint. Meinungsäußerungen gegen den NS werden i m allgemeinen dann als ein Bekämpfen des NS angesehen, wenn sie geeignet waren, der ns.en Herrschaft Abbruch zu tun. Dazu reichen bloße gelegentliche Unlustäußerungen ebensowenig aus wie Erklärungen, i n denen sich jemand als Gegner des NS bekennt 6 6 . A m „Medikamente-Urteil" 6 7 w i r d deutlich, daß der B G H auch i m Rahmen des § 6 I Nr. 1 BEG den Widerstand mit der Nothilfe gleichsetzt. Sachverhalt: Der Mann der Klägerin wurde 1943 als Volksschädling zum Tode verurteilt und hingerichtet. 1940 war er als Architekt der Angehörige des öffentlichen Dienstes v o m 15.11.1951, BGBl. I , S. 291, m i t Entschädigungsfragen befaßt Soweit Verfasser ersichtlich existieren jedoch i n diesem Zusammenhang keine f ü r das Widerstandsrecht relevanten E n t scheidungen. " U r t e i l v o m 12.2.1958 — I V ZR 258/57 —, RzW 1958, 183. « Α. A . Adolf Arndt, N J W 1962, 431. 66 Vgl. die Urteile des B G H v o m 6.5.1959 — I V ZR 315/58 —, RzW 1959, 391 u n d v o m 9.3.1960 — I V ZR 204/59 —, RzW 1960, 263. 67 U r t e i l des B G H v o m 24.11.1956 — I V ZR 189/56 —, RzW 1957, 55 = L M Nr. 2 zu § 6 B E G 1956.

§

Zusammenfassung

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Deutschen Arbeitsfront zugeteilt worden und i n diesem Zusammenhang der NSDAP beigetreten. 1942 hatte er als Treuhänder der D A F die Leitung einer Großschreinerei i n Kowno, die i m Ghetto dieser Stadt eingerichtet war und 200 jüdische Ghettobewohner beschäftigte, übernommen. Diese hatte er auf Bitten ihrer jüdischen Ärzte mehrfach m i t Medikamenten versorgt, die er aus Berlin für sie mitgebracht hatte. Zunächst stellt der B G H fest, daß der Mann der Klägerin nur nominelles Parteimitglied gewesen sei und als Leiter des Fabrikationsbetriebes der ns.en Gewaltherrschaft nicht Vorschub geleistet habe. Dann prüft er die Frage, ob der Architekt den NS bekämpft habe. Hier kommt er zu dem Ergebnis, daß durch diese Tat der Menschlichkeit dem NS kaum ein geringerer Widerstand geleistet worden sei als durch aktiven Kampf. Es entspreche daher dem Sinn des § 6 I Nr. 1 BEG die Besorgung der Heilmittel für die Ghettoinsassen als Bekämpfen des NS anzusehen. Solche Handlungen der Menschlichkeit waren i n keiner Weise geeignet, der ns.en Herrschaft Abbruch zu tun. Sie konnten die Herstellung rechtsstaatlicher Verhältnisse nicht beschleunigen, aber sie milderten die Schrecken i m Einzelfall ab. Diese Nothilfeleistungen werden wie Widerstandshandlungen gewertet 6 8 ; ob sie allerdings unter den gleichen rechtlichen Voraussetzungen stehen, w i r d noch zu untersuchen sein. § 17 Zusammenfassung Die Rechtsprechung der Obergerichte zu Widerstandsfällen i n der Zeit des Nationalsozialismus liefert Anhaltspunkte dafür, daß das Widerstandsrecht eine doppelte Wurzel hat. Einmal ist es ein politisches Recht, das Veränderungen i m Staatsgefüge anstrebt, zum anderen ein der Notwehr sehr ähnliches Recht, das der Abwehr und Milderung momentanen staatlichen Unrechts gilt. Wenn sich dieses Notwehrrecht nach den ergangenen Urteilen auch nicht scharf konturieren läßt, so ist doch festzuhalten, daß es nach der Rechtsprechung egoistischen Zielen unterworfen sein darf 6 9 und auch dem Parteigänger des Unrechtsregimes zusteht 70 . Das „Sachverständigenurteil" hat das Problem aufgeworfen, was eine Handlung zur Widerstandshandlung macht, ist i h m aber nicht es Ähnliche Fälle behandeln die Urteile des B G H v o m 4.2.1959 — I V Z R 234/58 —, RzW 1959, 251 u n d v o m 29. 9.1965 — I V ZR 218/64 —, RzW 1966, 124. «9 Vgl. oben, S. 43 ff. 70 Vgl. oben, S. 62 f.

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2. Kap. Die Fallerfahrungen der Rechtsprechung

gerecht geworden 71 . Die enge Fassung des BEG verhindert weitgehend eine befriedigende Lösung von Fällen des systemimmanenten Widerstandes 72 . Wenn auch grundsätzlich jeder als berechtigt angesehen wird, Widerstand zu leisten, so w i r d doch i m „Geisteskranken-Urteil" hervorgehoben, daß rechtmäßiger Widerstand nur geleistet werden könne, wenn eine A r t Widerstandsfähigkeit ähnlich der Geschäftsfähigkeit vorhanden sei 73 . Unter zwei Aspekten trägt die Rechtsprechung zur Erhellung des Begriffs der Passivlegitimation bei. Die Landesverratsurteile zeigen, daß der Widerstand vor der Staatsexistenz nicht haltzumachen braucht 7 4 . Nach dem „Uberfall-auf-die-SA-Urteil" sind auch die Kampftruppen des Unrechtsregimes (der „Unterbau") Adressaten des Widerstandskampfes 75 . Dieses Urteil gestattet bei gesteigerter Rechtswidrigkeit i m Staate den Einsatz einschneidender Widerstandsmittel und lenkt damit den Blick auf den Begriff der Eskalation. Die Zeitschwelle für den Widerstand verlagern die Oberlandesgerichte Stuttgart 7 6 und Freiburg 7 7 i n den präventiven Bereich vor. Zur Meßbarkeit der Widerstandslage zieht der B G H rechtsvergleichende Gesichtspunkte heran 7 8 . Widerstandsmittel werden i n breitem Umfang anerkannt: Meinungsäußerungen 79 , Verteilung von illegalen Druckschriften 80 , Streik 8 1 , Bereithaltung von Sprengstoff 82 , Überfall auf SA-Männer 8 3 , Kriegsverrat 8 4 , verbotene Waffenhilfe 8 5 , Wehrdienstverweigerung 86 und 71 Vgl. oben, S. 60 ff. 72 Vgl. oben, S. 43. 73 Vgl. oben, S. 41 f. 74 Vgl. oben, S. 54 ff. 75 Vgl. oben, S. 51 f. 7β Vgl. oben, S. 47 ff. 77 Vgl. oben, S. 50. 78 Vgl. oben, S. 45 f. 7» Vgl. oben, S. 41 ff. so Vgl. oben, S. 47. 8i Vgl. oben, S. 47 ff. ω Vgl. oben, S. 49 f. 83 Vgl. oben, S. 51 f. 84 Vgl. oben, S. 54 f. 85 Vgl. oben, S. 55 f. 8β Vgl. oben, S. 56 ff. Die ablehnende Meinung des B G H beruht n u r auf der mangelnden Erfolgsaussicht.

§

Zusammenfassung

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Abhören von Auslandssendern 87 . Wenn die Verweigerung des Hitlergrußes 88 nicht als Widerstand anerkannt und für Meinungsäußerungen und verbotenes Senderhören eine gewisse Intensität gefordert wird, so ist das der Fassung der Bestimmungen des BEG zuzuschreiben. Zur inneren Tatseite der Widerstandshandlung gehört der Bekämpfungswille 8 9 . Die möglichen Widerstandsziele sind durch gesetzgeberischen Willen weit gefaßt, da das BEG die nach § 1 I V Nr. 4 BErGG bestehende Einschränkung, daß kein Anspruch auf Entschädigung zuzusprechen sei, wenn ein Verfolgter einer anderen Gewaltherrschaft Vorschub geleistet habe, aufgegeben hat. Das K r i t e r i u m der Erfolgsaussicht einer Widerstandshandlung w i r d von der Rechtsprechung äußerst uneinheitlich behandelt. Der B G H selbst schwankt zwischen zwei Extremen: Noch 1961 muß die Widerstandshandlung eine gewisse Aussicht haben, eine wirkliche Wende zum Besseren herbeizuführen 90 , 1966 kommt es auf den Erfolg nicht mehr an 9 1 . Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit w i r d i n den Urteilen durchgängig anerkannt, soweit die Verletzung der Rechtsgüter unbeteiligter Dritter i n Frage steht. Zur Begründung des Widerstandsrechts ist die Rechtsprechung zum BEG unergiebig, da die Existenz eines Widerstandsrechts vom Gesetzgeber i m BEG vorausgesetzt wurde.

Zweiter

Abschnitt

Widerstandsfälle in der SBZ 1. Unterabschnitt: Die Rechtsprechung zum BVFG § 18 Allgemeines Das Bundesvertriebenen- und Flüchtlingsgesetz (BVFG) hat sich i n Verbindung m i t anderen Gesetzen die Aufgabe gestellt, die Flüchtlingsfrage als eines der vordringlichsten innerpolitischen Probleme 87 88 8» 90 91 5

Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.

Scheidle

oben, oben, oben, oben, oben,

S. 59 f. S. 62. S. 59 f. S. 58. S. 59 f.

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2. Kap. Die Fallerfahrungen der Rechtsprechung

zu lösen. Das Gesetz unterscheidet zwischen Vertriebenen, Heimatvertriebenen und Sowjetzonenflüchtlingen. Für unsere Erörterung relevant ist, wie die Rechtsprechung zum Begriff des Sowjetzonenflüchtlings judiziert hat. Nach der ursprünglichen Fassung des § 3 B V F G vom 19. 5.1953 92 ist Sowjetzonenflüchtling „ein deutscher Staatsangehöriger oder deutscher Volkszugehöriger, der seinen Wohnsitz i n der sowjetischen Besatzungszone oder i m sowjetisch besetzten Sektor von Berlin hat oder gehabt hat, von dort flüchten mußte, u m sich einer von i h m nicht zu vertretenden und durch die politischen Verhältnisse bedingten besonderen Zwangslage zu entziehen, und dort nicht durch sein Verhalten gegen die Grundsätze der Menschlichkeit oder Rechtsstaatlichkeit verstoßen hat." „Eine besondere Zwangslage", so heißt es weiter i n § 3 I BVFG, „ist vor allem dann gegeben, wenn eine unmittelbare Gefahr für Leib und Leben oder die persönliche Freiheit vorgelegen hat. Wirtschaftliche Gründe allein rechtfertigen nicht die Anerkennung als Sowjetzonenflüchtling. " Von den die Flüchtlingseigenschaft einschränkenden Klauseln kann hier nur von Interesse sein, daß es sich u m eine vom Geflohenen nicht zu vertretende (1), durch die politischen Verhältnisse bedingte (2) besondere Zwangslage (3) handeln muß. I n der Auslegung dieser Klauseln w i r d sich die Auffassung des Gerichts zum Widerstandsrecht erkennen lassen. Doch soll zunächst zur Einführung kurz ganz allgemein geschildert werden, wie die Rechtsprechung die oben genannten Begriffe versteht. (1) Nach der ständigen Rechtsprechung des BVerwG hat „aus dem Gesichtspunkt des Vertretenmüssens ein geflüchteter Sowjetzonenbewohner auf den Flüchtlingsausweis und die m i t seinem Besitz verbundenen Vergünstigungen i m allgemeinen dann keinen Anspruch, wenn er die Verfolgung und Bestrafung, auf die er sich zur Begründung seiner Flucht beruft, i m Bewußtsein dieser voraussichtlichen Folgen selbst herbeigeführt hat durch ein Verhalten, dessen Unterlassen i h m nach den Umständen seines Falles bei Berücksichtigung der Lage der gesamten Bevölkerung der SBZ hätte zugemutet werden können" 9 5 . (2) Nach einer Formulierung des B V e r w G ist eine Zwangslage dann i. S. von § 3 I B V F G durch die politischen Verhältnisse i n der sowjetischen Besatzungszone bedingt, „wenn ihre politischen Ursachen

82 BGBl. 1953, I , 201. m B V e r w G , U r t e i l v o m 22.2.1961 — V I I I C 287/59 —, N J W 1961, 1372.

§ 18 Allgemeines

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nicht hinweggedacht werden können, ohne daß damit zugleich auch die besondere Zwangslage selbst entfallen würde" 9 4 . Die Zwangslage darf also nicht auf privaten familiären oder beruflichen Gründen beruhen. Die Anerkennung einer Zwangslage ist ausgeschlossen, wenn diese auf auch i n einem Rechtsstaat strafbare Handlungen (Diebstahl, Unterschlagung, Mord usw.) zurückzuführen ist 9 5 . (3) Als Beispiel für eine besondere Zwangslage nennt das Gesetz eine unmittelbare Gefahr für Leib und Leben oder die persönliche Freiheit. Danach wäre nur bei objektiv bestehender Gefahr eine besondere Zwangslage gegeben. Die Rechtsprechung hat diesen Begriff jedoch weiter gefaßt und läßt auch subjektive Zwangslagen (Putativzwangslagen) genügen 96 . Sie hat sie dann für gegeben erachtet, wenn der Betroffene die Voraussetzung der Zwangslage i. S. des § 3 B V F G als vorliegend angesehen hat. Die Gefahrenlage muß sich aber für den Betroffenen i n irgendwie bedrohlicher Weise zugespitzt haben, wenn auch tatsächlich, für den Betroffenen jedoch nicht erkennbar, eine objektive Gefahr für Leben oder Freiheit nicht bestand 97 . Auch ein schwerer Gewissenskonflikt ist von der Rechtsprechung 98 als Grund für eine besondere Zwangslage anerkannt worden; und dies schon vor der Ergänzung des § 3 B V F G durch das 2. ÄndGBVFG vom 27. 8.1957 99 . Die damals vorgenommene Einfügung „Eine besondere Zwangslage ist auch bei einem schweren Gewissenkonflikt gegeben" enthält nur eine Bestätigung der Rechtsprechung. Nach der Rechtsprechung des BVerwG ist eine Zwangslage dann nicht zu vertreten, wenn rechtmäßiger politischer Widerstand geleistet wurde, da es einem Deutschen m i t politischem Verantwortungsgefühl nicht zugemutet werden könne, sich m i t den auf der kommunistischen Ideologie beruhenden Zuständen abzufinden 100 . I n diesen Fällen, wo die Gerichte selbst v o m Widerstand und Widerstandsrecht sprechen, läßt sich ihre diesbezügliche Meinung leicht darlegen. Doch sind zahlreiche Fälle entschieden, die zwar eine Widersetzlichkeit gegen das Zonen-Regime enthalten, i n denen aber die Gerichte die Flüchtlings94 U r t e i l v o m 28.6.1962 — V I I I C 70/60 —, N J W 1963, 70. 93 Vgl. Ehrenforth, B V F G , § 3, A n m . 6 e; O V G Hamburg, U r t e i l v o m 22.1. 1958 — B f I 66/57 V I I —, ROW 1958, 207. 9« VgL die Rechtsprechungsübersicht von Raschke i n ROW 1963, 61 f. 97 Vgl. Ehrenforth, B V F G , § 3, A n m . 6 b. 98 Vgl. O V G Hamburg, U r t e i l v o m 23.3.1955; BVerwG, U r t e i l v o m 27.4. 1956 — I V C 040/55 —, zit. bei Ehrenforth, B V F G , § 3, A n m . 6 c. 99 B G B l . I, 1957, 1215 ff. 100 BVerwG, U r t e i l v o m 11.1.1962 — V I I I C 71/60 —, N J W 1962, 1361.

5*

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2. Kap. Die Fallerfahrungen der Rechtsprechung

eigenschaft teils bejahen, teils verneinen, ohne den Begriff des Widerstandes überhaupt zu erwähnen. Auch daraus kann sich das höchstrichterliche Verständnis des Widerstandsrechts ergeben; deshalb ist diesen Fällen ebenfalls Aufmerksamkeit zu schenken. Der einzuschlagende Weg w i r d hier beschwerlicher und problematischer werden. Die schwierigsten Fälle werden indes diejenigen sein, wo die einzige Widersetzlichkeit der Fliehenden i n ihrer Flucht besteht. Wenn das B V F G jedoch grundsätzlich davon ausgeht, daß das Verharren i n der Zone den Bewohnern zugemutet werden könne 1 0 1 , so können die Umstände, unter denen die Gerichte ein weiteres Ausharren für unzumutbar halten und die „Republikflucht" durch Erteilung eines C-Ausweises honorieren, Rückschlüsse darüber ermöglichen, i n welchen Notlagen eine Bindung an Gesetze nicht mehr zugemutet werden kann und damit auch das Recht zum Widerstand gegeben ist. Bei genauerer Sichtung der zunächst verwirrenden Vielzahl von Entscheidungen schälen sich gewisse Falltypen heraus, die eine Behandlung unter übergreifenden Gesichtspunkten ermöglichen. Zunächst sollen die Fälle behandelt werden, i n denen das Widerstandsrecht von den Gerichten unmittelbar angesprochen wurde; dann die große Gruppe der Wirtschaftsstraftaten, schließlich die Fälle abweichender politischer Meinungsäußerung und damit zusammenhängend das Verschaffen verbotener Informationen durch unerlaubtes Abhören fremder Sender. Hier besteht ein gewisser Bezug zu Art. 5 GG. Die Entscheidungen zu anderen Grundrechten (Gewissensfreiheit, Recht auf Familie, Berufsfreiheit und Eigentumsrecht) bilden die letzte Gruppe.

§ 19 Entscheidungen unmittelbar zum Widerstandsrecht Die Meinung des BVerwG zu reinen Widerstandsfällen läßt sich i m wesentlichen am „Demontage-Fall" 1 0 2 darstellen. Sachverhalt: Der Kläger wurde nach Kriegsende i n der sowjetischen Besatzungszone i n einem Industriebetrieb, i n dem er schon seit 1934 ιοί Vgl. ζ. B. das U r t e i l des B V e r w G v o m 14.5.1959 — V I I C 20/59 —, B V e r w G E 8, 292 f.: Der Sinn des B V F G geht dahin, die Bewohner der SBZ „so lange dort zu halten, als dies für sie n i c h t " . . . „durch den E i n t r i t t einer besonderen Zwangslage unzumutbar w i r d " . 102 U r t e i l v o m 11.1.1962 — V I I I C 71/60 —, N J W 1962, 1361 m i t kritischer A n m e r k u n g von O. Küster = M D R 1962, 603 = DÖV 1962, 623 = ROW 1962, 170 m i t zustimmender A n m e r k u n g von Rosenthal = Z L A 1962, 187. Z u anderen Widerstandsfällen vgl. U r t e i l des O V G Koblenz v o m 8.11.1956. AS 5, 266; die Urteile des B V e r w G v o m 12.10.1960 — V I I I C 127/59 —, ROW 1961,, 67 = Z L A 1961, 135 = Buchholz B V e r w G 412.3 Nr. 18 zu § 3 B V F G , v o m 6. 9.1962 — V I I I C 120/60 —, unveröffentlicht, u n d v o m 24. 3.1966 — V I I I C 123/64 —, Z L A 1966, 382.

§ 19 Entscheidungen unmittelbar zum Widerstandsrecht

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tätig gewesen war, unter sowjetischer Leitung weiterbeschäftigt. Als von den Sowjets die Demontage des Werkes angeordnet wurde, vernichtete er i m Jahre 1947 verschiedene technische Unterlagen des Betriebes, um zu verhindern, daß sie i n die Sowjetunion gelangten. Das BVerwG erkennt den Kläger als Flüchtling i. S. des § 3 B V F G an, weil diese Widerstandshandlung gerechtfertigt sei und der Kläger seine besondere Zwangslage daher nicht zu vertreten habe. Zu einer das Widerstandsrecht begründenden Staatslage läßt es das BVerwG genügen, „daß die Machthaber der sowjetischen Besatzungszone" . . . „die Grundsätze der Menschlichkeit und der Rechtsstaatlichkeit vielfach mißachten und dadurch bei der betroffenen Bevölkerung Abneigung und den Wunsch nach einer Änderung der derzeitigen politischen Verhältnisse erwecken". Diese Formulierungen bestechen nicht gerade durch Präzision, aber sie lassen erkennen, daß das BVerwG die sowjetische Herrschaft als Unrechtsherrschaft qualifizieren w i l l . Gleichzeitig enthält das Zitat Ausführungen zur Widerstandslage: Verstoß gegen die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit und Menschlichkeit; Abneigung der Bevölkerung gegen das Regime und Wunsch nach einer Änderung der politischen Verhältnisse. Dem fügt das Gericht weiter unten hinzu, daß durch die Demontagen „die Gefahr einer Massenarbeitslosigkeit und damit einer — später auch wirklich eingetretenen — wirtschaftlichen Verelendung" gedroht habe. Dabei kann es nach Ansicht des Gerichts dahingestellt bleiben, ob die Demontagemaßnahmen rechtmäßig oder rechtswidrig waren. Das BVerwG w i l l damit anscheinend eine A r t „Volksnotstand" als rechtfertigende Widerstandslage anerkennen. Diese eigenartige Rechtsfigur hätte doch etwas ausführlicherer Begründung bedurft. Die Handlungen des Sowjetregimes mißt der Senat an den Grundsätzen der Rechtsstaatlichkeit und Menschlichkeit, ohne auszusprechen, ob diese dem bundesdeutschen oder dem überpositiven Recht zu entnehmen sind. Bemerkenswert ist, wie stark die Begründung auf die Interessen und Vorstellungen der Bevölkerung abstellt: i n i h r besteht A b neigung gegen das Regime und der Wunsch nach politischer Veränderung; sie w i r d von wirtschaftlicher Verelendung bedroht. Die Widerstandshandlung muß „ein der politischen Überzeugung des Täters entspringendes Verhalten" sein, „das dazu bestimmt und wenigstens i n der Vorstellung des Täters, auch dazu geeignet" ist, „das abgelehnte Regime als solches über den Rahmen des Einzelfalles hinaus zu beeinträchtigen". Es darf sich „nicht als eine bloße Widersetzlichkeit bei der Wahrnehmung lediglich persönlicher Interessen oder i m Rahmen einer Unfughandlung" äußern. Damit werden die

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2. Kap. Die Fallerfahrungen der Rechtsprechung

Gesichtspunkte des Widerstandswillens, -Zieles und der Erfolgsaussichten angesprochen. Hinsichtlich des Täterwillens fordert das BVerwG, daß die Tat einer politischen Uberzeugung entspringt, ohne jedoch festzulegen, welche politischen Ziele m i t einer solchen Handlung verfolgt werden müssen. Das Gericht spricht allgemein von dem Wunsch nach einer Änderung der politischen Verhältnisse. Eine Unterscheidung zwischen Widerstand und Revolution w i r d nicht getroffen. Es w i r d sogar gebilligt, daß der Täter nach der Devise: „Lieber verbrennen, als nach Rußland!" handelte und sein Verhalten nur dem Zweck diente, „die Russen zu schädigen". Dagegen w i r d die Wahrnehmung rein persönlicher Interessen nach Ansicht des Gerichts vom Widerstand nicht gedeckt. Deshalb lehnte es der Senat i m „Brillenfall" ab, das Verhalten des Klägers als politischen Widerstand anzuerkennen 103 . Der Kläger, ein Rentner, hatte sich nach sowjetzonalem Recht strafbar gemacht, weil er i n zwei Fällen ein Kilogramm Butter, etwa 100 Eier und etwas Weizen nach West-Berlin gebracht und dort verkauft hatte. Er wollte sich so Geld für eine Brille beschaffen, w e i l er auf gesetzlichem Wege Schwierigkeiten hatte, sich eine solche zu besorgen. Der Erfolg muß eine über den Rahmen des Einzelfalles hinausgehende Beeinträchtigung des abgelehnten Regimes 104 m i t sich bringen, dies aber nur i n der Vorstellung des Täters, rein subjektiv. Die Begründung dazu findet sich i m Urteil des BVerwG vom 12.10. I960 1 0 5 : Wegen der Verstöße der Machthaber der SBZ gegen „die Grundsätze der Menschlichkeit und Rechtsstaatlichkeit" wünscht die Bevölkerung eine „Veränderung der derzeitigen politischen Verhältnisse", die „ m i t Mitteln der Gewalt aufrechterhalten" werden. Man kann es daher von den Bewohnern der SBZ billigerweise nicht erwarten, darauf zu verzichten, sich für die Wiederkehr rechtsstaatlicher Verhältnisse einzusetzen. Hieraus ergibt sich auch, daß „ i n diesem Sinn ein Widerstand gegen das SZ-Regime nur dann beachtlich sein los BVerwG, U r t e i l v o m 14.5.1959 — V I I I C 20/59 —, N J W 1961, 2178 m i t abl. A n m . von Pernutz = B V e r w G E 8, 292. Eine solche w i r d v o m Gericht ohne weitere Prüfung angenommen. Dagegen w i r d sie i m U r t e i l v o m 24.3.1966 — V I I I C 123/64 ( Z L A 1966, 382) abgelehnt („Pelzhändlerfall"). I n diesem F a l l hatte der Kläger Leipziger Pelzhändlern bei der Verbringung von Wirtschaftsgütern i n die Bundesrepublik H i l f e geleistet. Das Gericht scheint hier einen wesentlich strengeren Maßstab angelegt zu haben. Bemerkenswert ist, daß das Gericht bereit gewesen wäre, das Verhalten des Klägers als gerechtfertigten Widerstand anzuerkennen, w e n n es geeignet gewesen wäre, den Widerstandswillen der Bevölkerung zu stärken. los v i n c 127/59, Z L A 1961, 135 (nur dort sind die Ausführungen zum politischen Widerstand veröffentlicht) = ROW 1961, 67 = Buchholz, B V e r w G 412.3, Nr. 18 zu § 3 BVFG.

§ 19 Entscheidungen unmittelbar zum Widerstandsrecht

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kann, wenn er politisch sinnvoll ist, d. h., wenn er sich i n Handlungen äußert, die dazu bestimmt und wenigstens i n der Vorstellung des Täters auch dazu geeignet sind, das abgelehnte Regime über den Rahmen des Einzelfalles hinaus zu beeinträchtigen". Damit postuliert das BVerwG den Grundsatz der Mitteleignung für das Widerstandsrecht, begründet aus dessen Zweck, allerdings nur für den subjektiven Bereich. Für diese Einengung bleibt es die Begründung schuldig. Konsequenterweise hätte demnach das B V e r w G i m „Demontagefall" prüfen müssen, ob der Kläger die Verbrennung der Unterlagen für ein geeignetes M i t t e l hielt, rechtsstaatliche Verhältnisse i n der SBZ herzustellen. Es hat sich aber lediglich auf die Schlußfolgerung des Urteils vom 12.10.1960 berufen, ohne die aus der dort gegebenen Begründung folgenden Konsequenzen zu ziehen. Obwohl der Senat den Grundsatz der Mitteleignung bejaht, bekennt er sich nicht zum Grundsatz der Erforderlichkeit: Es kommt nicht darauf an, ob der Täter „dasselbe Ziel nicht auch m i t anderen, nicht strafbaren M i t t e l n hätte erreichen können. Desgleichen ist die Frage ohne Bedeutung, ob der Kläger wirklich, wie der V G H meint, die Möglichkeit gehabt hätte, den Unwillen über die Demontagen auf i n Rechtsstaaten anerkannten Wegen (ζ. B. durch Resolutionen, Proteste, Artikel, Anrufung internationaler Organisationen u. dgl.) wirksam und sinnvoll zum Ausdruck zu bringen". Der Senat erkennt also nicht an, daß die Widerstandshandlung die ultima ratio sein müsse. Es ist bedauerlich, daß er sich die Begründung dieser Meinung und eine Auseinandersetzung m i t dem Schrifttum, das herrschend die gegenteilige Anschauung v e r t r i t t 1 0 6 , schenkt. Den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit streift die Entscheidung nur hinsichtlich des Gesichtspunktes, ob auch die dem Täter drohende Strafe i n einem Verhältnis zum Erfolg stehen müsse. Sonst stellt sich die Frage nach der Verhältnismäßigkeit i n diesem Fall nicht, da Rechtsgüter Dritter durch die Widerstandshandlung nicht berührt wurden und die Maschinen innerhalb des eigenen Landes ohnehin nicht mehr zum Einsatz gekommen wären. Der Handelnde war Angestellter des Betriebes, der von den Russen demontiert wurde. Auch wenn er insofern eine gewisse Sonderstellung innehatte, w i r d daraus doch die Auffassung des Gerichts ersichtlich, daß grundsätzlich jedermann Widerstand leisten darf 1 0 7 . 10

« Vgl. oben, § 9,1.

107

Ebenso die anderen Urteile der Verwaltungsgerichte zum Widerstandsrecht, siehe oben, Fußnote 102 dieses Kapitels.

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2. Kap. Die Fallerfahrungen der Rechtsprechung

Die Widerstandshandlung richtete sich gegen die sowjetischen Machthaber und damit gegen die damalige Staatsgewalt i n diesen Gebieten.

§ 20 Entscheidungen zu Wirtschaftsstraftaten Die Auffassung des BVerwG soll an Hand des Urteils vom 22. 2.1961 — V I I I C 287/59 108 —(„Textilunternehmerfall") dargestellt werden, das als Grundsatzurteil besonders geeignet erscheint 109 . Sachverhalt: Ein i n der SBZ lebender Inhaber eines Textilgeschäftes hatte auch Zweigniederlassungen i n West-Berlin. Er behauptete, er habe nur deshalb seine i n der SBZ befindlichen Waren trotz gesetzlichen Verbots i n seinen West-Berliner Zweigbetrieb verlagert, weil er damit habe rechnen müssen, i m Zuge der gegen das freie Unternehmertum gerichteten wirtschaftspolitischen Maßnahmen i n naher Zukunft durch die sowjetzonalen Behörden enteignet zu werden. Das Gericht führt aus. daß es an seiner i m Urteil vom 14. 5.1959 110 („Brillenfall") niedergelegten Rechtsprechung festhalte, wonach ein Sowjetzonenflüchtling i n der Regel die besondere Zwangslage zu vertreten habe, die für i h n durch einen bewußten Verstoß gegen w i r t schaftslenkende Vorschriften entstanden sei. Diese Rechtsprechung ist i m Schrifttum vielfach auf Ablehnung gestoßen 111 insbesondere mit der Begründung, sie trage dem Umstände nicht Rechnung, daß die wirtschaftslenkenden Vorschriften der SBZ zu einem großen Teil politische Zwecke — Aufbau des Sozialismus — verfolgten und rechtsstaatswidrig seien. Diese K r i t i k weist das BVerwG unter Hinweis auf die Urteilsgründe i m „Brillenfall" zurück: Da alle Bewohner der SBZ von diesen w i r t schaftslenkenden Vorschriften betroffen seien, liege eine besondere Zwangslage nicht vor. Denn eine solche sei nur anzunehmen, wenn io» ROW 1961, 163. 109 Dabei darf nicht übersehen werden, daß zum Zeitpunkt des Urteilserlasses §3 Satz 4 B V F G noch lautete: „Wirtschaftliche Gründe allein rechtfertigen nicht die Anerkennung als Sowjetzonenflüchtling." Erst durch das 3. Ä n d G B V F G v o m 29.6.1961 erhielt der Satz 4 die heutige Fassung: „ W i r t schaftliche Gründe sind als besondere Zwangslage anzuerkennen, w e n n die Existenzgrundlage zerstört oder entscheidend beeinträchtigt worden ist oder w e n n die Zerstörung oder entscheidende Beeinträchtigung nahe bevorstand." no v g l . oben, S. 70. m Vgl. Erben, ROW 1959, 205; 1961, 18; Pernutz, N J W 1959, 2178; Günther, ROW 1959, 243; Adam, ROW 1960, 68; 1961, 6; D Ö V 1960, 784 u n d 947; Rosenthal, ROW 1960, 199.

§ 20 Entscheidungen zu Wirtschaftsstraftaten

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sie über die Beschwernisse und Gefährdungen hinausgehe, welche die Bevölkerung der sowjetischen Besatzungszone auf Grund der dort herrschenden Verhältnisse allgemein erdulden müsse. Die Befolgung der sowjetzonalen Wirtschaftsvorschrif ten könne den Bewohnern der SBZ i n der Regel zugemutet werden; ein Verstoß gegen diese Bestimmungen sei deshalb normalerweise zu vertreten 1 1 2 . Das BVerwG ist aber der Ansicht, daß der vorliegende Fall eine Ausnahme bilde, wenn die Darstellung des Klägers i n tatsächlicher Hinsicht zutreffe 1 1 3 . Die Sachlage sei dann als nicht zu vertretende, durch die politischen Verhältnisse bedingte Zwangslage zu werten. Das gelte zwar nicht für jede Betriebsenteignung 114 , w o h l aber i m vorliegenden Fall. Wörtlich führt das BVerwG aus, „daß eine solche Enteignung, die dazu beitragen soll, durch eine Ausschaltung des freien Unternehmertums die wirtschaftspolitischen Ziele des Kommunismus zu verwirklichen, nach den i n den westlichen Demokratien geltenden Maßstäben einen rechtswidrigen Eingriff i n das Vermögen des Betroffenen darstellt. Es kann vom Betroffenen billigerweise nicht erwartet werden, daß er diese Maßnahmen stillschweigend und tatenlos geschehen läßt. Ein gesetzlich erlaubter Weg, sein Eigentum zu erhalten, w i r d i h m i n der Regel nicht zur Verfügung stehen. Wenn der Betroffene daher in der ernstlichen und auch nicht offensichtlich unbegründeten Befürchtung, eine Enteignung seines Betriebes stehe bevor, gegen sowjetzonale Gesetze verstoßen hat, u m sein Eigentum einem solchen Zugriff zu entziehen, so muß ihm zugebilligt werden, daß er dies aus zwingenden

menschlichen

Gründen

getan h a t " 1 1 5 .

112 Eine andere Ansicht v e r t r i t t das O V G H a m b u r g i n seiner Entscheidung vom 22.1.1958 — O V G B f I 66/57 V I I —, ROW 1958, 208. Es ist der Meinung, es könne den Bewohnern der SBZ schon grundsätzlich nicht zugemutet werden, rechtsstaatswidrige Anordnungen zu befolgen. 113 Es hat daher die Sache gemäß § 144 I I I Nr. 2 V w G O an den V G H zurückverwiesen. Vgl. die Urteile v o m 15.7.1959 — V I I I C 345/59 — u n d 12.10.1960 — V I I I C 175/59 —, zitiert bei Raschke, ROW 1961, 37, 42; letzteres ist abgedruckt i n Z L A 1961, 136. 115 Eine ähnliche Entscheidung enthält das a m selben Tag ergangene U r teil des B V e r w G — V I I I C 128/59 —, Z L A 1961, 225. E i n A n t i q u a r hatte alte Bücher i m Werte v o n 112 000 D M unerlaubt nach West-Deutschland u n d ins Ausland verschickt, w e i l er, w i e er behauptet, enteignet werden sollte. Das B V e r w G hat die Sache zurückverwiesen, u m aufklären zu lassen, ob dem Kläger tatsächlich Enteignung gedroht habe. Zwingende menschliche Gründe hat das B V e r w G i n einer ebenfalls am 22.2.1961 ergangenen E n t scheidung (— V I I I C 467/59 —, ROW 1961, 166) für folgenden Sachverhalt abgelehnt: Ein arbeitsloser Buchhalter (Kläger) hatte sich von seinem i n West-Deutschland als A r z t tätigen Sohn unter Verstoß gegen devisenrechtliche Vorschriften zur Aufbesserung seiner Rente von monatlich 81 D M Geld schicken lassen. Das Gericht ist der Ansicht, es hätte dem Kläger zugemutet werden können, das Geld vorschriftsmäßig 1:1 zu tauschen, da er einen gesetzlichen Unterhaltsanspruch gemäß §§ 1601 ff. B G B gegen seinen Sohn gehabt habe.

2. Kap. Die Fallerfahrungen der Rechtsprechung

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Vom Widerstand oder Widerstandsrecht spricht das BVerwG i n dieser Entscheidung nicht, sondern „zwingende menschliche Gründe" lassen die Bundesrichter diese Tat gutheißen. Doch folgt man der Definition von Arndt, daß zum Widerstand alles wird, wodurch ein Mensch sich staatlichem Verlangen nach Gehorsam entzieht 1 1 6 , so läßt sich auch diese Handlung i n den Bereich des Widerstandsrechts einbeziehen. Die Besonderheit dieses Falles und wohl auch der Grund, warum ihn das BVerwG nicht dem Widerstandsrecht zuordnet, liegt i n der Zielsetzung des Textilunternehmers. Er strebt nicht Schädigung, Bekämpfung oder Beseitigung der Staatsgewalt an. Sein Handeln zielt nur auf ein „Sich-in-Sicherheit-bringen" ab; der Widerstand w i r d aus rein persönlichem Interesse geleistet. Nicht das Allgemein-, sondern das Einzelinteresse ist zielbestimmend. Eine solche Motivation war i m Bereich der „reinen" Widerstandsfälle vom BVerwG abgelehnt worden. Die Auflehnung gegen die Gesetze findet hier nach Ansicht des Gerichts ihre Rechtfertigung i n zwingenden menschlichen Gründen. Suchen w i r diese rechtlich zu fassen, so ergeben sie sich aus einer staatlichen Verletzung des Eigentumsrechts, der Berufsfreiheit und des Rechts auf freie Entfaltung der Persönlichkeit jeweils i m Wesensgehalt dieser Rechte. Man kann m i t D ü r i g 1 1 7 den Wesensgehalt als verletzt ansehen, weil die Menschenwürde als solche getroffen ist. Der Mensch w i r d durch diese Enteignungen zum Objekt staatlicher Zielvorstellungen herabgewürdigt, „zu einem bloßen Mittel, zur vertretbaren Größe". Der Menschenrechtsgehalt der Einzelgrundrechte 118 w i r d durch diese Maßnahmen getroffen. Er gibt den Ansatzpunkt für die Rechtfertigung des Widerstandes aus Eigeninteresse gegen staatliche rechtswidrige Maßnahmen.

§ 21 Entscheidungen zur Meinungsäußerungsfreiheit Das BVerwG hat seinem Urteil vom 12. 3.1958 — VC 154/57 119 — („Deutschlandlied-Fall") folgenden Leitsatz vorangestellt: „Wer von einem i m Grundgesetz oder i n der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten gewährleisteten Grundrecht, das nicht i n rechtsstaatlicher Weise eingeschränkt ist, Gebrauch macht, ohne dabei i m besonderen aufreizend und herausfordernd zu wirken, hat eine sich daraus ergebende politische Zwangslage i m Sinne des §3 B V F G nicht zu vertreten." Daß der Leitsatz i n diesem weiten Umfang vom N J W 1962, 431. ι " Menschenwürde, S. 127. 118 v g l . Dürig, a.a.O., S. 121. ti® Buchholz

B V e r w G Nr. 412.3, Nr. 3 zu § 3 BVFG.

§21 Entscheidungen zur Meinungsäußerungsfreiheit

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BVerwG nicht durchgehalten wird, zeigen die zu den Wirtschaftsstraftaten ergangenen Urteile, i n denen erst bei Wesensgehaltsverletzung eine nicht zu vertretende Zwangslage angenommen w i r d 1 2 0 . Vielleicht führt deshalb das Gericht den Begriff der politischen Zwangslage ein, der nicht ins System des § 3 B V F G paßt, wonach es nur eine durch die politischen Verhältnisse bedingte besondere Zwangslage gibt. Der Grund für diese Unstimmigkeit ist darin zu finden, daß das Gericht den Leitsatz weiter faßt als es die ratio decidendi zuläßt. I m Urteil war nämlich nur über das Recht der freien Meinungsäußerung i m Sinne des A r t . 5 1 1 GG zu befinden. Sachverhalt des „Deutschlandlied-Urteils": Anläßlich einer Hochzeitsfeier hörten die Gäste den Nachrichtendienst eines Senders i n der Bundesrepublik ab. Als i m Anschluß daran i m Rundfunk das Deutschlandlied gespielt wurde, sang der Kläger gemeinsam m i t den übrigen Gästen das Lied mit und dirigierte den Gesang. Daraufhin wurde i h m fristlos seine Anstellung bei der Konsumgenossenschaft gekündigt. Das Gericht führt aus, daß es einer Erörterung der Frage, ob i n dem Verhalten des Klägers eine Widerstandshandlung zu erblicken sei, nicht bedürfe. Denn jedenfalls habe der Kläger sein Verhalten nicht zu vertreten, da es freiheitlich-rechtsstaatlichen Grundsätzen entsprochen habe. Er habe lediglich von dem Grundrecht der freien Meinungsäußerung Gebrauch gemacht, wie dieses i n A r t . 5 1 1 GG gewährleistet sei; diese Bestimmung beinhalte das Recht auf Meinungsäußerungs- und Informationsfreiheit 1 2 1 . Dafür, daß sich der Kläger bei der Wahrnehmung des i h m zustehenden Rechts auf freie Meinungsäußerung i m besonderen herausfordernd und aufreizend verhalten habe, ergäben sich keine Anhaltspunkte. Daß das Absingen des Deutschlandlieds keine politische Herausforderung des Zonen-Regimes gewesen sei, ist eine Behauptimg des Gerichts, die sich schwerlich begründen läßt. Abweisen wollte das Gericht den Kläger wohl nicht, da es empfand, daß hier ein spontanes Bekenntnis zu einem Deutschland abgelegt wurde 1 2 2 . Es wäre systemgerechter gewesen, wenn der Senat das Verhalten des Klägers unter den Gesichtspunkten des Widerstandsrechts beurteilt hätte. «ο Vgl. auch die K r i t i k von A d a m i n ROW 1961, 168 (169). 121 Z u r Informationsfreiheit vgl. insbesondere das U r t e i l des B V e r w G v o m 16. 6.1960 — V I I I C 167/59 —, Z L A 1960, 315 = ROW 1961, 65 = Buchholz B V e r w G 412.3, Nr. 16 zu § 3 B V F G . Das Abhören westdeutscher Sender sei n u r i n besonderen Fällen zu vertreten, w e n n sich der Betroffene „herausfordernd" oder besonders leichtsinnig verhalten habe. 122 Die Richter scheinen v o m Deutschlandlied ähnlich ergriffen gewesen zu sein w i e die Hochzeitsgäste.

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2. Kap. Die Fallerfahrungen der Rechtsprechung

Diese Rechtsprechung, die i m wesentlichen beibehalten wurde 1 2 3 , setzt wieder bei den Grundrechten als Rechtfertigung für eine Handlung an, die sich dem staatlichen Gehorsamsanspruch entzieht. Sobald jedoch das Verhalten der Flüchtlinge näher an einen enger gefaßten Widerstandsbegriff rückt, desto zurückhaltender ist merkwürdigerweise das BVerwG mit der Anerkennung als Sowjetzonenflüchtling. Dies soll an zwei Fällen 1 2 4 aufgezeigt werden. Sachverhalt des Urteils vom 26. 8.1959 — V I C 89/57 —: Der Kläger erzählte i n der sowjetischen Besatzungszone einer i h m völlig unbekannten Person gegen die dortigen Zustände gerichtete Witze und wurde dann denunziert. Das BVerwG ist der Ansicht, daß der Kläger die besondere Zwangslage zu vertreten habe. Es führt aus: „Der Kläger kann sich nicht ,auf das Grundrecht der freien Meinungsäußerung 4 berufen. Der politische Witz ist regelmäßig nicht so sehr ein M i t t e l der Meinungsäußerung, sondern vielmehr ein M i t t e l des politischen Kampfes. Zwar w i r d auch der Meinungsäußerung sehr oft, wenn nicht sogar i n den meisten Fällen ein Moment der Polemik innewohnen; beim politischen Witz aber überwiegt das polemische Bestreben, ,durch Lächerlichmachen zu töten* regelmäßig so eindeutig, daß das Bekämpfen eines politischen Zustandes, nicht die politische Meinungsäußerung i m Vordergrund steht und sein Wesen prägt." Diese Begründung gibt zu einem doppelten Bedenken Anlaß. Einmal erscheint es sehr zweifelhaft, ob es richtig ist, dem politischen Witz den Schutz des A r t . 5 GG zu versagen. Zum anderen überrascht es, daß das Gericht, obwohl es den Witz als Kampfmittel gegen politische Zustände anerkennt, m i t keinem Wort darauf eingeht, ob das Verhalten des Klägers nicht als Widerstandshandlung anerkannt werden müsse. Der politische Witz w i r d vom Senat zuerst als Kampfmittel hervorgehoben, ja sogar überbewertet, dann aber nicht als Form des politischen Widerstandes rechtlich gewürdigt 1 2 5 . Sachverhalt des Urteils vom 7.12. I960 1 2 6 („Fall des Sportsekretärs"): Der Kläger war Organisationssekretär eines Kreissportausschusses. I n 123 v g l . Urteile des B V e r w G v o m 23.9.1959 — V I I I C 289/59 —, ROW 1960, 158 = DÖV 1960, 188 = Z L A 1960, 55 = DVB1. 1960, 210; v o m 23. 9.1959 — V I I I C 137/59 —, DVB1. 1960, 209 = D Ö V 1960, 187 = JR 1960, 236 = ROW 1960, 72 = Z L A 1960, 57; v o m 9.11.1960 — V I I I C 156/59 —, JR 1962, 36; v o m 6.12.1962 — V I I I C 1/61 —, Z L A 1963, 207. 124 Urteile des B V e r w G v o m 26.8.1959 — V I C 89/57 —, B V e r w G E 9, 115 = Buchholz B V e r w G 234, Nr. 15 zu § 4 G 131 = ROW 1960, 72, u n d v o m 7.12. I960 — V I I I C 155/59 —, ROW 1961, 161 = Z L A 1961, 191. 125 Z u r Problematik des Widerstandes mittels des nolitiSchen Witzes vgl. M.Buchele, Der politische Witz als getarnte Meinungsäußerung gegen den totalitären Staat. 126 Nach den als richtig unterstellten Angaben des Klägers.

§ 22 Entscheidungen zu anderen Grundrechten

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dieser seiner Eigenschaft hatte er an einer Sitzung des Kreissportausschusses teilgenommen und hatte bei der Diskussion der Frage, welche Rolle der Sport bei der Werbung für die Streitkräfte spielen solle, geäußert, er werde, solange er Sekretär des Sportausschusses sei, einen Mißbrauch des Sports zu militärischen Zwecken i n einem geteilten Deutschland nicht zulassen. Das BVerwG verweigert dem Kläger die Anerkennung als Sowjetzonenflüchtling. Seine Zwangslage habe er zu vertreten, da es allgemein bekannt sei, daß die „SBZ-Funktionäre auf politischem Gebiet nur solche Ansichten äußern" dürften, „die den von den politischen Zentralstellen ausgegebenen Richtlinien" entsprächen. Das Grundrecht der freien Meinungsäußerung w i r d nicht geprüft. Es scheint nach Ansicht des Gerichts für Funktionäre der SED nicht zu bestehen. Dabei wäre es doch gerade wünschenswert, wenn nicht linientreue Funktionäre durch ihre Opposition Härten und Radikalisierungen des Systems abmildern würden. So könnte das Recht der freien Meinungsäußerung politische Dienste leisten. Zum Widerstand führt das Gericht lapidar aus: „Eine Widerstandstätigkeit hat der Kläger nicht ausgeübt. Es liegt nichts dafür vor, daß er das SBZ-Regime als solches bekämpft hat oder auch nur hat bekämpfen wollen." Obwohl der Kläger m i t seiner Äußerung gegen eine Militarisierung des Sports freiheitlichen, rechtsstaatlichen Zielen gedient hat, ist diese innerparteiliche Opposition dem BVerwG zu unbedeutend, gerade als ob i n der Bundesrepublik kein Interesse daran bestünde, daß sich die Zonenverhältnisse i n Einzelbereichen verbesserten. N u r ein Bekämpfen des gesamten Regimes w i r d als Widerstand anerkannt 1 2 7 .

§22 Entscheidungen zu anderen Grundrechten 1.

Allgemeines

Die hier darzustellenden Fallgruppen zur Gewissensfreiheit, zum Recht auf Familie, zur Berufsfreiheit und zum Eigentumsrecht 128 sind, wie oben schon erwähnt, i n ihrer Auswertung für das Widerstandsrecht problematisch. Keiner der Fälle kann unter den engen Wider127 A u f dieser L i n i e liegt auch das U r t e i l v o m 24.4.1961 — V I I I C 362/59 —, zitiert bei Raschke (ROW 1963, 63), w o die Frage des Vertretenmüssens i m Falle eines Angestellten bejaht wurde, der aus Anlaß einer politischen Schulung i m Betriebe gegen die Verherrlichung der sozialen Verhältnisse i n der SBZ Stellung genommen hatte. !28 Z u m Recht auf Freizügigkeit vgl. die Entscheidung des B V e r w G v o m 22.10.1958 — VC 571/56 —, Buchholz B V e r w G 412.3, Nr. 8 zu § 3 BVFG.

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2. Kap. Die Fallerfahrungen der Rechtsprechung

standsbegriff des BVerwG gestellt werden. Keiner weist Handlungen auf, deren Zweck es gewesen wäre, das abgelehnte Regime über den Rahmen des Einzelfalles hinaus zu beeinträchtigen. Diese Fälle zeigen aber, wann es die Verwaltungsgerichte für unzumutbar halten, sich den Anordnungen und Gesetzen der sowjetzonalen Machthaber zu beugen. Es sind Fälle, i n denen deutlich gemacht wird, wo der Gehorsamsanspruch der Staatsgewalt endet. Dem kann nicht entgegengehalten werden, diese Entscheidungen seien rein politischer Art., um die Staatsgewalt i n der SBZ auszuhöhlen und zu unterminieren, und deshalb für grundsätzliche Fragen ohne Bedeutimg. Denn das BVerwG sieht den Sinn des B V F G darin, die Bewohner der SBZ „so lange dort zu halten, als dies für sie" nicht infolge einer besonderen Zwangslage unzumutbar wird. „Eine Zwangslage ist nur dann eine besondere, wenn sie über die Beschwernisse und Gefährdungen hinausgeht, welche die Bevölkerung der SBZ auf Grund der dort herrschenden Verhältnisse allgemein erdulden muß. Solange eine besondere Zwangslage noch nicht eingetreten ist, liegt es i m Sinne des Gesetzes, daß die Bewohner der SBZ i n ihrer Heimat bleiben. Dem Gesetzgeber war die politische, wirtschaftliche und seelische Bedrängnis bekannt, die auf ihnen lastet; gleichwohl hat er durch die Fassung des § 3 B V F G der Erwartung Ausdruck gegeben, daß die Bevölkerung die Opfer und Einschränkungen, die m i t dieser allgemeinen Bedrängnis verbunden sind, auf sich n i m m t und am bisherigen Wohnsitz ausharrt 1 2 9 ." Dies beinhaltet, daß man sich i m Normalfall auch an die Gesetze der SBZ zu halten hat. Die Zubilligung einer besonderen Zwangslage durch das BVerwG kann also durchaus Aufschlüsse über die Grenzen der Verbindlichkeit von Gesetzen und über den Ansatz von Notwehrrechten gegen den Staat geben, wiewohl die daraus gewonnenen Ergebnisse nicht überbewertet werden dürfen. 2. Zur

Gewissensfreiheit

Widerstand und Gewissen stehen seit jeher i n enger Beziehung zueinander. Dieses häufig als oberste Instanz empfunden, gab von jeher einen Ansatzpunkt, sich über Tradition und Gesetz hinwegzusetzen. T r i t t das Gewissen i n den Entscheidungen des BVerwG auch nie als revolutionäre Treibkraft i n Erscheinung, so ist es gleichwohl bemerkenswert, daß das BVerwG schon vor der Einführung des Satzes 3 des § 3 I B V F G bei einem schweren Gewissenskonflikt eine besondere Zwangslage anerkannte 1 3 0 . Ein solcher ist nach der Begriffs129 U r t e i l v o m 14.5.1959 — V I I I C 20/59 — („Brillenfall"), B V e r w G E 8, 292 f. 130* U r t e i l v o m 27. 4.1956 — I V C 040/55 —.

§ 22 Entscheidungen zu anderen Grundrechten

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bestimmung des B V e r w G nur gegeben, „wenn der Betroffene vor der Alternative stand, entweder sich dem sein Gewissen belastenden Ansinnen zu fügen oder i m Ablehnungsfalle unzumutbare Nachteile auf sich nehmen zu müssen" 1 3 1 . Der schwere Gewissenskonflikt w i r d ebenso hoch bewertet wie eine unmittelbare Gefahr für Leib und Leben oder die persönliche Freiheit. Wenn das Gewissen die Befolgung von Anordnungen und Gesetzen unzumutbar machen kann, so zeigt es sich als Auffangdamm, an dem sich das ungerechte Gesetz brechen muß. I n diese Richtung geht das U r t e i l des BVerwG vom 20.1.1966 — V I I I C 373/63 132 —, i n dem entschieden wird, daß die Anwendung eines Gesetzes, das i n hohem Maße auf W i l l k ü r beruht oder i n hohem Maße der Gerechtigkeit widerspricht, bei einem Richter einen schweren Gewissenkonflikt auslösen kann. A u f einer solchen Grundlage „Recht" zu sprechen, w i r d i h m nicht zugemutet. Der Gewissenskonflikt, der i n staatlichem Unrecht seine Ursache hat, gibt die Legitimation, sich dem Gehorsamsanspruch des Staates zu entziehen.

3. Zum

Recht

auf

Familie

Die Judikatur zu den Rechten, wie sie i n etwa i n Art. 6 I — I I I GG geschützt sind, soll an Hand einer Entscheidung des V G H BadenWürttemberg 1 3 3 dargestellt werden, die auf der Linie der Rechtsprechung des B V e r w G 1 3 4 liegt. Sachverhalt: Die Klägerin verließ i m A p r i l 1957 m i t ihrem damals 13jährigen Sohn die SBZ, weil sie befürchtete, ihr Junge werde zwangsweise i n ein kommunistisches Erziehungsheim eingewiesen, wenn sie sich wie bisher weigere, dazu ihre Zustimmung zu erteilen. Denn ihr wiederholter Antrag auf seine Unterbringung i n einem christlichen Heim wurde regelmäßig m i t dem Hinweis abgelehnt, eine solche Genehmigung gebe es nicht: „Er (der Sohn) w i r d von uns geholt." A u s d e r „ b e s o r g t e n F r e i h e i t s g e f ä h r d u n g i h r e s Sohnes u n d d e r d a r a u s f o l g e n d e n B e e i n t r ä c h t i g u n g i h r e s E r z i e h u n g s r e c h t s " , entschied d e r V e r rai U r t e i l v o m 16.1.1964 — V I I I C 74/62 —, ROW 1965, 36 unter Berufung auf die Entscheidungen v o m 7.12.1960 — V I I I C 386/69 — v o m 8.11.1962 —1V 3 2I I I C 171/60 —. ROW 1966, 218. Bezüglich weiterer Entscheidungen zum Gewissenskonflikt vgl. die Urteile des B V e r w G v o m 17.1.1963 — V I I I C 12/61 —, Z L A 1963, 286, v o m 16.1.1964 — V I I I C 72/62 —, Z L A 1964, 343 = ROW 1965, 35 u n d v o m 11.3.1965 — V I I I C 318/63 —, ROW 1966, 29 = Z L A 1966, 28. U r t e i l v o m 31.1.1964 — I 499/62 —, ROW 1965, 42. « * v g l . ζ. β . die Urteile v o m 23.9.1957 — V C 488/56 —, Buchholz B V e r w G 412.3, Nr. 1 zu § 3 B V F G u n d v o m 31.10.1963 — V I I I C 43/62 —, ROW 1964, 222 = Buchholz B V e r w G 412.3, Nr. 30 zu § 3 B V F G = Z L A 1967, 15.

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2. Kap. Die Fallerfahrungen der Rechtsprechung

waltungsgerichtshof, habe sich die Klägerin i n einer subjektiven 1 3 5 , durch die politischen Verhältnisse bedingten besonderen Zwangslage befunden. Die Flucht der Klägerin honoriert der Verwaltungsgerichtshof mit der Erteilung des C-Ausweises. Das Erziehungsprimat der Eltern gegenüber staatlicher Lenkung w i r d herausgestellt; dem ungerechtfertigten staatlichen Eingriff i n ihr Sorgerecht darf sich die Mutter durch Flucht entziehen. Sicher leistet sie damit keinen Beitrag, um i n der SBZ rechtsstaatliche Verhältnisse herzustellen. Aber i h r w i r d zugebilligt, daß sie es nicht hinnehmen muß, wenn ihr natürliches Mutterrecht verletzt wird. Wieder ist es ein Grund- bzw. Menschenrecht 136 , das den staatlichen Gehorsamsanspruch enden läßt. Überschreitet der Staat die i h m d u r d i die Menschenrechte gezogenen Grenzen, so darf sich der Bürger wehren. 4. Zur

Berufsfreiheit

Inwieweit die Berufsfreiheit i n der SBZ durch die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts geschützt w i r d und Ansatzpunkte für einen Widerstand des Bürgers i n weitem Sinne sein kann, läßt sich aus den vorliegenden Urteilen nicht ohne weiteres erkennen. Sachverhalte, die die Berufsfreiheit betreffen, werden i n den Urteilen der letzten Jahre über Satz 4 des § 3 I BVFG, d. h. über die Zerstörung der Existenzgrundlage, abgewickelt 137 . Damit ist die Auffassung des Gerichts zur Berufsfreiheit verdeckt und muß erst durch Interpretation gewonnen werden. Dazu soll das Urteil des BVerwG vom 25. 4.1962 — V I I I C 93/60 — dienen 1 3 8 . Sachverhalt: Der Kläger beantragte, i h m den Ausweis C für Sowjetzonenflüchtlinge zu erteilen. Er gab an, er habe die SBZ verlassen müssen, weil seine Tochter wegen ihrer Herkunft aus einer „Kapi135 Der V G H sah i n der Äußerung, daß der Sohn geholt werde, keine objektive Gefahr, sondern lediglich eine Drohung. ise v g l . v.Mangoldt/Klein, GG, A r t . 6, A n m . I V 3 ; Liske, Elternrecht, S,18ff. m i t weiteren Nachweisen. Vgl. auch das U r t e i l des B V e r w G v o m 28. 3.1963 — V I I I C 13/61 —, Z L A 1963, 348, wonach i n der Forderung, ein Studienbewerber müsse sich vor seiner Zulassung zum Hochschulstudium einem Einsatz i n der „ P r o d u k tion" unterziehen, noch keine entscheidende Beeinträchtigung seiner Existenzgrundlage liegt. iss N J W 1962, 1785; vgl. auch die Urteile des B V e r w G v o m 25.4.1962 — V I I I C 41/60 —, ROW 1963, 40 = JR 1963, 154, v o m 28.6.1962 — V I I I C 70/60 —, Z L A 1963, 63 u n d v o m 31.10.1963 — V I I I C 44/62 —, Buchholz B V e r w G 412.3, Nr. 31 zu § 3 B V F G .

§ 22 Entscheidungen zu anderen Grundrechten

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talistenfamilie" nicht zur Mittel- oder Oberschule habe zugelassen werden sollen. U m die Richtigkeit dieser Angaben aufklären zu lassen, verwies das BVerwG die Sache zurück. Das BVerwG sieht eine solche Beschränkung der Ausbildung als Zerstörung der Existenzgrundlage an (§ 3 I 4 BVFG). „Auch ein junger Mensch", führt das Gericht aus, „der seine Berufsbildung noch nicht abgeschlossen hat", kann „eine Existenzgrundlage besitzen. Sie besteht zwar nicht i n dem noch nicht ausgeübten und zunächst nur angestrebten Beruf, sondern i n der Möglichkeit zur Ausbildung für denselben durch Schule, Lehre und Studium." Die vage Anwartschaft, über Ausbildung zu einer tatsächlichen Grundlage der Existenz i m Sinne einer beruflich und wirtschaftlich abgesicherten Position zu kommen, w i r d vom Senat schon m i t der Existenzgrundlage gleichgesetzt. Sie bedarf erheblicher Streckung, um i n das allzu große Gewand zu passen. Dabei wäre es doch viel einfacher gewesen, wenn das Gericht seine Entscheidung m i t dem Grundrecht der Berufsfreiheit begründet hätte. Warum ist es diesen Weg nicht gegangen? Während das Elternrecht und die Gewissensfreiheit als vorstaatliche Menschenrechte angesehen werden, w i r d die Berufsfreiheit vor allem als Teilentscheidung über die Wirtschaftsverfassung betrachtet, die aus sich heraus keineswegs übergesetzlichen Rang hat 1 3 9 . Sie steht i n weit höherem Maße zur Disposition des Gesetzgebers als vorstaatliche Menschenrechte. Sie einschränkende Maßnahmen können erst dann als staatliches Unrecht angesehen werden, wenn sie die Würde des Menschen verletzen 1 4 0 . Es ist deshalb interessant festzustellen, daß das B V e r w G i n dieser Entscheidung nie das Grundrecht der Berufsfreiheit erwähnt, w o h l aber von dem „Recht der Erhaltung seiner Persönlichkeitswürde i n der Arbeit" und von einem „Eingriff i n die Würde seiner Persönlichkeit", also von vorstaatlichen Rechten, spricht. Die eigentliche Legitimation für das Gegenverhalten der Bewohner der SBZ findet sich nicht i n den Rechten des Grundrechtskataloges des Grundgesetzes, sondern i n vorstaatlichen Menschenrechten. Dieses Ergebnis w i r d bestätigt, wenn w i r uns nochmals dem Recht auf Eigentum zuwenden. 5. Zum

Recht

auf

Eigentum

Schon die Behandlung der Urteile zu den Wirtschaftsstraftaten hat gezeigt, daß hinter der Formel „der zwingenden menschlichen Gründe" 139 v g l . u r t e i l des B G H v o m 16.11.1956, N J W 1957, 59. Das g i l t natürlich n u r da, w o nicht eine intakte Verfassung die Berufsfreiheit gewährt. 140

6

Scheidle

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2. Kap. Die Fallerfahrungen der Rechtsprechung

unter anderem eine Verletzung des Menschenrechtsgehalts des Eigentumsrechts verborgen ist. Eine Verletzung der Wirtschaftsgesetze der SBZ hatte der Flüchtling nach Ansicht des Bundesverwaltungsgerichts nur dann nicht zu vertreten, wenn er i n seinen überpositiven Rechten verletzt war. Denn auch für das Eigentumsrecht w i r d zu gelten haben, daß es nur insoweit vorstaatlichen Charakter hat, als es die Würde des Menschen erheischt 141 . Dieses Ergebnis w i r d bestätigt durch das Urteil des BVerwG vom 12.10.1960 — V I I I C 175/59 142 —, wonach die Enteignung eines Betriebes noch keine unzumutbare Zwangslage für den Betroffenen herbeiführt. Eine solche wäre erst dann anzunehmen, wenn der Betroffene hierdurch die Möglichkeit einbüßen würde, künftig i n der SBZ i n zumutbarer Weise seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Solange der Lebensunterhalt auf andere Weise verdient werden kann, ist die Existenz gesichert und auch die Würde des Menschen, soweit sie des Eigentums bedarf, gewahrt 1 4 3 .

2. Unterabschnitt: Sonstige Rechtsprechung zum Flüchtlingsrecht § 23 Entscheidungen zum H H G Das politische Ziel des K H G wurde i n der Bundestagssitzung vom 14. J u l i 1954 von den Abgeordneten Frau Dr. Maxsein und Frau Korspeter ausgesprochen: die Ostzonenbevölkerung i m Widerstandskampfe zu stärken. Den politischen Häftlingen als den echten Widerstandskämpfern gegen das kommunistische System, die für Gesamtdeutschland gelitten hätten und die jahrelang ihrer Freiheit u m ihres Widerstandes w i l l e n beraubt gewesen seien, müsse bewiesen werden, welches Maß an Anerkennung w i r ihnen für ihren Widerstand, den sie drüben geleistet hätten, entgegenbrächten 144 . B V F G und H H G stehen i n Zusammenhang miteinander und ergänzen sich. Beide Gesetze gewähren Hilfe den Deutschen, die Opfer 141 So i n etwa auch Dürig, Menschenwürde, S. 142. A u f den Streit, i n w i e w e i t dem Eigentumsrecht überpositive Rechtsqualität zukommt, braucht hier i m einzelnen nicht eingegangen zu werden. Vgl. dazu den Aufsatz von D ü r i g das „Eigentum als Menschenrecht". M a n w i r d w o h l Maunz auf alle Fälle darin folgen müssen, daß nicht auch „Modalitäten des Eigentumsschutzes" m i t der „Weihe des Naturrechts umkleidet" werden dürfen (VRspr. 2, 129 — K r i t i k zu einer Entscheidving des Bad. Staatsgerichtshofes). 1« Z L A 1961, 136. 143 Den Bezug zwischen Würde des Menschen u n d Existenzminimum hat trefflich F. ν . Schiller formuliert: „Würde des Menschen. Nichts mehr davon, ich bitt* euch! Z u essen gebt i h m , zu wohnen; habt i h r die Blöße bedeckt, gibt sich die Würde v o n selbst." 144 40. Sitzung des Bundestags, BTVerh., 2. Wahlperiode, S. 1907 Α/1909 A.

§ 23 Entscheidungen zum HHG

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der politischen Verhältnisse i n der SBZ und den i h r gleichgestellten Gebieten geworden sind 1 4 5 . „Die Schicksale des politischen Häftlings und des Sowjetzonenflüchtlings gleichen sich: Beide sind Deutsche, denen die quer durch Deutschland gezogene politische Trennungslinie zum Schicksal geworden ist. Der politische Häftling hat das Schicksal erlitten, dem der politische Flüchtling entronnen ist. Bei jenem ist vollendete Tatsache, was diesem bevorstand oder von i h m befürchtet wurde 1 4 6 ." Nach § 1 I Nr. 1 H H G 1 4 7 kann Entschädigung erhalten, wer nach dem 8. 5.1945 i n der sowjetisch besetzten Zone oder i m sowjetisch besetzten Sektor von Berlin oder i n den i n § 1 I I Nr. 3 H H G genannten Gebieten aus politischen und nach freiheitlich-demokratischer Auffassung von i h m nicht zu vertretenden Gründen i n Gewahrsam genommen wurde. Die Auslegung, wann ein Häftling seine Haft zu vertreten habe, entspricht i n etwa der, die der Begriff des Vertretenmüssens i n § 3 B V F G erfahren hat: „Die politischen Gründe der Haft sind i n der Regel zu vertreten, wenn die Verhaftung überwiegend auf ein Verhalten des Häftlings zurückzuführen ist, bei dem er m i t einer Haft rechnen mußte, die der erlittenen nach A r t und Dauer entspricht. Sie sind ausnahmsweise nicht zu vertreten, . . . wenn er durch sein Verhalten politischen Widerstand geleistet h a t 1 4 8 . " Die für das Widerstandsrecht interessanteste Fallgruppe aus dem Häftlingshilferecht bilden die Spionagefälle. Die hierzu ergangene Rechtsprechung ist uneinheitlich. Die Auffassungen des OVG Münster 1 4 9 und des B a y V G H 1 5 0 stehen sich unversöhnlich gegenüber. Das OVG Münster ist der Ansicht, daß als Häftling i. S. des H H G anerkannt werden könne, wer i n Gewahrsam genommen worden sei, weil er i n der SBZ für einen westlichen Geheimdienst spioniert habe. Wenn ein Spion Entgelt angenommen habe, so sei dieses lediglich ein Beweiszeichen dafür, daß er nicht politischen Widerstand geleistet, sondern aus eigennützigen Beweggründen gehandelt habe. I n der Begründung führt das Gericht aus, daß der aktive Widerstandskämpfer die politischen Gründe seiner Haft nicht zu vertreten habe. Auch durch Spionage könne Widerstand gegen die kommunistische Herrschaft geleistet werden. Der kriminelle Spion unter145

Vgl. dazu Schröcker, Verfolgung u n d Widerstand, D Ö V 1963, 455. " β U r t e i l des B V e r w G v o m 9.9.1959 — V I I I C 281/59 —, B V e r w G E 9, 132 (134) = Buchholz 412.6 § 1 Nr. 1 = N J W 1960, 353 = D Ö V 1963, 196 = Fachberater 1960, 83. m BGBl. 1960, I , 478. 148 u r t e i l des B V e r w G v o m 9.9.1959 — V I I I C 281/59 — B V e r w G E 9, 132. " " U r t e i l v o m 7.2.1961 — V I I A 357/60 —, OVGE 16, 216. im U r t e i l v o m 8.4.1965 — Nr. 178 V I I I 63 —, VGHEn.F. 18, 39.



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2. Kap. Die Fallerfahrungen der Rechtsprechung

scheide sich vom Spion aus Gründen des politischen Widerstandes dadurch, daß er aus eigennützigen Beweggründen Spionage treibe, etwa aus Geldgier oder Abenteurerlust. Der Unterschied liege lediglich i m Beweggrund. Die Motive des Klägers, Haß gegen die Rechtlosigkeit und Unfreiheit der kommunistischen Herrschaft, erkennt das Gericht als legitime Beweggründe des Widerstandes an. Ganz anders stellt der B a y V G H seiner Entscheidung vom 8. 4.1965 1 6 1 folgenden Leitsatz voran: „Wer eine nachrichtendienstliche Tätigkeit ausübt, hat keinen Anspruch auf Leistungen nach dem HHG. Dies g i l t auch dann, wenn die Tätigkeit unentgeltlich erfolgte." Wer eine nachrichtendienstliche Tätigkeit ausübe, handele auf eigene Gefahr. Er könne die möglichen Folgen seiner gefährlichen Tätigkeit voraussehen und nehme bei der Ausübung dieser Tätigkeit die i h m drohende Gefahr notwendig i n Kauf. Für sein Risiko habe i h n sein Auftraggeber zu entschädigen. Der Agent könne sich nicht darauf berufen, daß er i m Falle seines Scheiterns das Opfer nicht rechtsstaatlicher Verhältnisse geworden sei; denn Nachrichtendienste unterhielten fast alle Staaten der Welt ohne Rücksicht auf Regierungsform und rechtsstaatliches Fundament. Die Begründung dieser Entscheidung vermag nicht zu überzeugen. Obwohl der Kläger sich darauf berufen hatte, seine Spionagetätigkeit sei als Widerstandshandlung zu werten, w i r d die Widerstandsproblematik vom B a y V G H nicht erörtert. Die eingangs erwähnte Formel des BVerwG zum Begriff des Vertretenmüssens wendet der BayVGH nur teilweise an, wenn er sagt, der Kläger habe den Haftgrund zu vertreten, w e i l er bei seiner Spionagetätigkeit m i t einem entsprechenden Freiheitsentzug habe rechnen müssen. Den Ausnahmeteil der Formel, wonach das nicht für den politischen Widerstand gilt, erwähnt das Gericht gar nicht. Daß auch für unentgeltliche Spionage kein Anspruch auf Leistungen nach dem H H G bestehe, behauptet der Senat zwar, aber er begründet es nicht. Er verweist auf seine unveröffentlichte Entscheidung aus dem Jahre 1961 152 , die nicht ohne weiteres auf diesen Sachverhalt übertragen werden konnte, da es sich dort um Spionage gegen die Tschechoslowakei handelte. Das Widerstandsrecht gegen ein tschechisches Regime w i r d man aber nur tschechischen Staatsbürgern zubilligen können. Das Urteil mag indes aus vernünftigen, aber nicht ausgesprochenen Gründen gefällt worden sein. Nach dem Sachverhalt erscheint es 161 — Nr. 178 V I I I 63 —, VGHEn.F. 18,39. U r t e i l v o m 7.11.1961 — Nr. 102 V I I I 61 —.

§ 23 Entscheidungen zum HHG

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zumindest zweifelhaft, ob die Angaben des Klägers der Wahrheit entsprechen. Der B a y V G H mag hier aus Scheu, den Kläger einer zwar vermuteten, aber nicht absolut zweifelsfreien Unwahrheit zu zeihen, der Versuchung erlegen sein, das „Vertretenmüssen" über das zulässige Maß hinaus auszudehnen 153 . Zum anderen könnte sich der Umstand, daß w i r uns gegenwärtig i n der Phase der Koexistenz zwischen Ost und West befinden, auf die Auslegung des H H G auswirken, das als Kampfmittel des Kalten Krieges gedacht w a r 1 5 4 . Doch können solche etwaigen, unausgesprochenen Erwägungen die Mängel dieses Urteils kaum beheben. Eine mittlere Linie hält das BVerwG ein 1 5 5 . Es geht davon aus, daß der politische Häftling, der wegen aus eigennützigen Zwecken ausgeübter nachrichtendienstlicher Tätigkeit i n Gewahrsam genommen worden sei, den Grund seines Gewahrsams zu vertreten habe. Das Risiko solcher Häftlinge sei durch das Entgelt abgegolten. Ein dadurch entstandener Schaden dürfe deshalb nicht zu Lasten der Allgemeinheit gehen. Zur Prüfung dieser Spionagefälle unter dem Aspekt des Widerstandes kommt das BVerwG gar nicht mehr. Die Entscheidung des BVerwG zum Alliierten Waffenverbot 15 ®, nach der während der Geltungsdauer des Alliierten Waffenverbots bewaffneter Widerstand i n der SBZ nicht zulässig war, stößt zwar i n verschiedener Hinsicht auf Bedenken, ist aber für das Widerstandsrecht nicht auswertbar. Das Gericht begründet seine Entscheidung aus der Zielsetzung des HHG, das dem Alliierten Waffenverbot nicht nachträglich die Anerkennung versagen wolle. Während der Geltungsdauer des Alliierten Waffenverbotes sei es auch dem i n der SBZ lebenden Teil des deutschen Volkes zuzumuten gewesen, bewaffneten Widerstand zu unterlassen und sich gegen die Durchsetzung des Kommunismus auf unbewaffneten Widerstand zu beschränken. A u f Grund dieser anfechtbaren Argumentation kommt das Gericht nicht zur widerstandsrechtlichen Problematik des Falls. Meinungsäußerungen, die zu einer Verhaftung führen, erfahren die gleiche Bewertung wie i m BVFG: Sie sind nicht zu vertreten, soweit sie unter den Schutz des A r t . 5 GG gefallen wären, wenn dessen Geltungsbereich sich auf die sowjetische Besatzungszone etc. erstreckt 153 v g l . Bachof, Verfassungsrecht, Verwaltungsrecht, Verfahrensrecht, Band 1, T e i l 1, D 12. 154 Vgl. Schröcker, a.a.O. «a v g l . U r t e i l v o m 28.2.1963 — V I I I C 39/62 —, unveröffentlicht. 156 U r t e i l v o m 10. 5.1961 — V I I I C 190/60 —, B V e r w G E 12, 236 ff. = N J W 1961, 1692 (nur LS).

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2. Kap. Die Fallerfahrungen der Rechtsprechung

hätte. Doch dürfen sie nicht besonders aufreizend und herausfordernd gewesen sein 1 5 7 . §24 Entscheidungen zum N A G § 1 I N A G 1 5 8 schränkt das i n A r t . 11 GG gewährte Grundrecht der Freizügigkeit dahingehend ein, daß deutsche Staatsangehörige und deutsche Volkszugehörige, die Wohnsitz oder ständigen Aufenthalt i n der sowjetischen Besatzungszone oder dem sowjetischen Sektor von Berlin haben oder gehabt haben, für den ständigen Aufenthalt i n der BRD einer besonderen Erlaubnis bedürfen. Nach Abs. 2 hat auf diese besondere Erlaubnis Anspruch, wer sich einer von i h m nicht zu vertretenden und durch die politischen Verhältnisse bedingten besonderen Zwangslage durch Flucht entziehen mußte. Die Formulierungen des § 3 B V F G finden sich hier wieder. Die wenigen höchstrichterlichen Entscheidungen zum NAG, die für das vorliegende Thema beachtenswert sind, bewegen sich vollkommen i m Rahmen der zum BVFG ergangenen Rechtsprechung 159 , so daß auf eine eigene Behandlung dieser Urteile verzichtet werden kann.

3· Unterabschnitt §25 Zusammenfassung Noch klarer als aus der Rechtsprechung zum Widerstand i m Dritten Reich hat sich aus den Urteilen zum Widerstand i n der SBZ ergeben, daß das Widerstandsrecht einen doppelten Ansatzpunkt hat. Einmal ist es politisches Kampfrecht, das andere M a l Abwehrrecht gegen Ubergriffe der Staatsgewalt. Dieses Notwehrrecht w i r d anerkannt, wenn die Staatsgewalt i n den unverletzlichen Rechtskreis der Menschenrechte eindringt. Es verbleibt jedem ein Rechtsminimum gegenüber allen Einengungsbestrebungen ist u r t e i l des B V e r w G v o m 9.9.1959 — V I I I C 355/59 —, D Ö V 1960, 65 = N J W 1960, 356. 1 5 8 Gesetz über die Notaufnahme v o n Deutschen i n das Bundesgebiet v o m 22. 8.1950, BGB1. 1950, I , 367; Änderungen i n B G B l . 1953, I, 207 u n d B G B l . 1957, I, 1207. 159 Vgl. ζ. B. das U r t e i l des B V e r w G v o m 24.9.1954 — I V C 031/54 —, B V e r w G E 1, 195 ff. = N J W 1955/518, zur politischen Meinungsäußerung.

§ 25 Zusammenfassung

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der Staatsgewalt, das er gegen jeden staatlichen Eingriff verteidigen darf. Dieses Hecht ist ein rein persönlichen Zielen dienendes Verteidigungsrecht, das den für die Staatsgewalten unantastbaren Bereich absichern soll. Dagegen fordert das politische Widerstandsrecht nach Ansicht des BVerwG ..ein der politischen Uberzeugung des Täters entspringendes Verhalten", das nicht eine „bloße Widersetzlichkeit bei der Wahrnehmung lediglich persönlicher Interessen" sein darf 1 6 0 . Das Problem des systemimmanenten Widerstandes wurde durch das „Sportsekretär-Urteil" 1 6 1 nicht befriedigend gelöst. I m Zusammenhang mit den Spionageentscheidungen ist das Problem aufgetreten, ob das Widerstandsrecht nur den Staatsangehörigen zusteht 1 6 2 . I m übrigen stellen die Gerichte keine besonderen Anforderungen an den Widerstandskämpfer; grundsätzlich ist jeder berechtigt, Widerstand zu leisten. Wie das ns.e Regime w i r d auch das Zonen-Regime als Unrechtsherrschaft angesehen, so daß die Ergebnisse nicht ohne weiteres auf die gegenwärtige Lage i n der Bundesrepublik übertragen werden können. I m „Demontage-Fall" hebt das BVerwG hervor, daß Verstöße gegen die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit und Menschlichkeit, die A b neigung der Bevölkerung gegen das Regime und der Wunsch nach einer Änderung der politischen Verhältnisse die Widerstandslage auslösen 163 . Die Einzelungerechtigkeit eines Staatsaktes spielt dann keine Rolle mehr; es darf generell Widerstand geleistet werden. Der durch Meinungsäußerung geleistete Widerstand w i r d unterbewertet. Dagegen sind die Gerichte beim Abhören von Westsendern großzügig. Wie insbesondere die Spionagefälle gezeigt haben, spielt die innere Tatseite für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit einer Widerstandshandlung eine ganz erhebliche Rolle. Nach dem „Sportsekretär-Urteil" muß der Widerstand Leistende die Bekämpfung des ganzen Regimes anstreben. Hier zeigt sich, daß es sich bei der Beseitigimg des ZonenRegimes nicht u m eine Wiederherstellung der alten Ordnung, sondern nur u m eine Revolution (von rechts) handeln kann, da die Wiedereinführung des NS rechtswidrig, die der Weimarer Republik unzweckmäßig wäre. Ein Widerstand i m konservierenden Sinne ist nicht möglich. 16 o Vgl. oben, S. 69. i«i Vgl. oben, S. 76 f. ιβ* Vgl. oben, S. 83 ff. 163 v g l . oben, S. 69.

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2. Kap. Die Fallerfahrungen der Rechtsprechung

Bezüglich der Erfolgsaussicht hält das B V e r w G eine mittlere L i n i e ein: I n der Vorstellung des Täters muß die Widerstandshandlung eine über den Rahmen des Einzelfalles hinausgehende Beeinträchtigung m i t sich bringen. Eigenartigerweise lehnt das B V e r w G den für das Widerstandsrecht herrschend anerkannten Grundsatz der Subsidiarität bzw. der u l t i m a ratio ab. Z u m Verhältnismäßigkeitsgrundsatz liegt keine auswertbare Stellungnahme vor. Ebensowenig w i e die Zivilgerichte begründen die Verwaltungsgerichte das Widerstandsrecht, w o h l w e i l das B V F G und das H H G ein Widerstandsrecht der Zonenbewohner voraussetzen. Die Äußerung des BVerwG, daß es einem Deutschen m i t politischem Verantwortungsgefühl nicht zugemutet werden könne, sich m i t den auf der kommunistischen Ideologie beruhenden Zuständen abzufinden 1 6 4 , kann als Begründung nicht genügen. Festzuhalten ist die Methode des B V e r w G von der Funktion des Widerstandsrechts her, dessen einzelne Tatbestandsmerkmale zu gewinnen. Da der politische Widerstand den Sinn habe, rechtstaatliche Verhältnisse einzuführen, könne er n u r dann beachtlich sein, wenn er das Regime über den Rahmen des Einzelfalls hinaus beeinträchtige 1 6 5 .

Dritter

Abschnitt

Widerslandsfälle in der Bundesrepublik § 26 Das „ K P D - U r t e i l "

Das BVerfG hat i m „ K P D - U r t e i l " 1 6 6 zum Widerstandsrecht Stellung genommen. Seinen Äußerungen kommt i n doppelter Hinsicht besondere Bedeutung zu: Z u m einen ist es als Hüter der Verfassung w i e kein anderes Gericht dazu berufen, zu dem staatsrechtlich hochbrisanten Problem des Widerstandes gegen den Staat Stellung zu nehmen. Z u m anderen beziehen sich seine Äußerungen auf die gegenwärtige Staats«4 Vgl. oben, S. 67. ™ Vgl. oben, S. 70 f. 166 u r t e i l v o m 17.8.1956 — 1 B v B 2/51 —, BVerfGE 5, 85, 358 ff., 376 ff. Vgl. dazu die Stellungnahme A. v. Winterfelds i n N J W 1956, 1417.

§ 26 Das „KPD-Urteil"

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läge, die i n den Entscheidungen zum Entschädigungs- und Flüchtlingsrecht nicht angesprochen wurde. Sachverhalt, soweit hier von Bedeutung: U. a. war die Aufforderung der K P D zum nationalen Widerstand zu würdigen. Es lagen Äußerungen folgender A r t vor: „Der nationale Widerstand . . . macht es allen deutschen Patrioten zur Pflicht, Landsknechtsdienste für imperialistische Kriegstreiber zu verweigern 1 6 7 ." Die K P D berief sich darauf, daß sich ihre Betätigung i m legalen Rahmen gehalten hätte, und nahm nur eventualiter ein Widerstandsrecht i n Anspruch. Das BVerfG qualifiziert die Aufforderung der K P D zum nationalen Widerstand als illegal und geht deshalb auf das „echte Widerstandsrecht" ein. Obwohl das Grundgesetz ein Widerstandsrecht nicht erwähne, sei damit die Frage, ob ein solches Widerstandsrecht innerhalb der grundgesetzlichen Ordnung anzuerkennen sei. nicht von vornherein verneinend entschieden. Das BVerfG neigt dazu, gegenüber einem evidenten Unrechtsregime ein Widerstandsrecht anzuerkennen, da ein solches der neueren Rechtsauffassung nicht mehr fremd sei. Dies bedürfe jedoch keiner näheren Untersuchung, da das von der K P D bekämpfte Regime i n der Bundesrepublik sicher kein Unrechtsregime der hier vorausgesetzten A r t sei. Für die Inanspruchnahme eines Widerstandsrechts gegen einzelne tatsächliche oder vermeintliche Grundgesetzwidrigkeiten gelte folgendes: „Berücksichtigt man die Abwehr von Verfassungsverletzungen, die schon i m System der gegenseitigen Hemmung und des Gleichgewichts staatlicher Gewalten gegeben ist, und den wirksamen Rechtsschutz, der i n der Bundesrepublik gegen Verfassungsverstöße und »Verfälschungen von Staatsorganen durch den weiten Ausbau der Gerichtsbarkeit, vor allem der Verfassungsgerichtsbarkeit besteht, so fragt sich, ob überhaupt noch ein Bedürfnis für ein Widerstandsrecht anzuerkennen ist. Diese Frage braucht hier nicht erörtert zu werden; denn selbst wenn man auch hier das grundsätzliche Bestehen eines Widerstandsrechtes bejaht, so sind an seine Ausübung jedenfalls A n forderungen zu stellen, die bei der K P D nicht vorliegen. Ein Widerstandsrecht nur i m konservierenden oder Wiederherstellung Widerstande bekämpfte

gegen einzelne Rechtswidrigkeiten kann es Sinne geben, d. h. als Notrecht zur Bewahrung der Rechtsordnung. Ferner muß das m i t dem Unrecht offenkundig sein und müssen alle

167 Zitiert i n BVerfGE 5, 366.

2. Kap. Die Fallerfahrungen der Rechtsprechung

90

von der Rechtsordnung wenig

Aussicht

auf

zur Verfügung

wirksame

Abhilfe

gestellten Rechtsbehelfe so

bieten,

daß d i e A u s ü b u n g des

Widerstandes das letzte verbleibende M i t t e l zur Erhaltung oder Wiederherstellung des Rechts ist." Diese rechtlichen Voraussetzungen eines Widerstandsrechtes gegen einzelne Rechtswidrigkeiten seien hier offenkundig nicht gegeben. Etwaige Verletzungen des Grundgesetzes durch Bundesorgane seien auf jeden Fall nicht offenkundig, so daß die Frage i m Tatsächlichen nicht weiter untersucht werden müsse. Ebensowenig könne davon gesprochen werden, daß alle gesetzlich verliehenen Rechtsbehelfe so wenig Aussicht auf wirksame Abhilfe böten, daß zum Widerstandsrecht als dem letzten M i t t e l gegriffen werden dürfe. „Wer hier bereits ein Widerstandsrecht anerkennen wollte, übersähe den grundsätzlichen Unterschied zwischen einer intakten Ordnung, i n der i m Einzelfalle auch Verfassungswidrigkeiten vorkommen mögen, und einer Ordnung, i n der die Staatsorgane aus Nichtachtung von Gesetz und Recht die Verfassung, das Volk und den Staat i m ganzen verderben, so daß auch die etwa i n solcher Ordnung noch bestehenden Rechtsbehelfe nichts mehr nützen." Daß der K P D als einer kleinen Partei nicht ebenso umfassende Möglichkeiten zur rechtlichen Bekämpfung von Verfassungswidrigkeiten vor dem BVerfG zur Verfügung stünden wie einer großen Partei — etwa nach A r t . 93 I Nr. 2 GG —, ändere hieran nichts. Es wäre widersprüchlich, wenn die K P D deshalb unmittelbar zum Widerstand schreiten dürfte, w e i l sie zu unbedeutend sei, u m das Bundesverfassungsgericht umfassend anrufen zu können. Diese Argumentation des BVerfG legitimation

zum

Widerstand

wirft

im Rechtsstaat

das Problem der

Aktiv-

auf. D e r Rechtsweg, der

nach Ansicht des Gerichts den gewaltsamen Widerstand verdrängt, steht für die Uberprüfung von Verfassungsverletzungen nur den i m BVerfGG Legitimierten zu. Für ein verfassungsrechtlich so wichtiges Verfahren wie den Organstreit (Art. 93 I Nr. 1 GG) sind nach dem Wortlaut des § 63 BVerfGG nur oberste Bundesorgane antragsberechtigt. Das BVerfG hat diese Bestimmung ausdehnend interpretiert, indem es i n ständiger Rechtsprechung die politischen Parteien als parteifähig bezeichnet hat. Soweit die Stellung der politischen Parteien als Faktoren des Verfassungslebens reicht, sind sie als andere Beteiligte, die durch die Verfassung m i t eigenen Rechten ausgestattet sind, parteifähig 1 6 8 . Gemeinden, Kirchen usw. hat das BVerfG von tes BVerfGE 1, 209, Leitsatz 4; 4, 27 ff.; 6, 88; 6, 102 u n d ständige Rechtsprechung.

§ 26 Das „KPD-Urteil"

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der Parteifähigkeit ausgeklammert 169 . Für die abstrakte Normenkontrolle ist der Kreis der Antragsberechtigten noch begrenzter: Bundesregierung, Landesregierung oder ein D r i t t e l der Mitglieder des Bundestages (Art. 93 I 2 GG, § 76 BVerfGG). Die Auffassung des Gerichts führt zu folgenden Konsequenzen: Einzelne Verfassungswidrigkeiten i m Rechtsstaat müssen auf dem Rechtsweg bekämpft werden, solange dieser noch Aussicht auf Erfolg bietet. Auch Rechtswege, die nur obersten Staatsorganen offenstehen, schließen ein Widerstandsrecht des Staatsbürgers aus. Rechtswege, die Inhabern der Staatsgewalt offenstehen, verdrängen das Widerstandsrecht des Staatsbürgers gegen die Staatsgewalt. Diese Ansicht erscheint bedenklich, soll jedoch einer kritischen Würdigung erst später unterzogen werden. Das BVerfG setzt seine Urteilsgründe m i t der Überlegung fort, daß die K P D vor allem deshalb das Widerstandsrecht nicht i n A n spruch nehmen könne, weil ihr Widerstand nicht auf die Erhaltung der bestehenden Ordnung gerichtet sei. „Was die K P D mit ihrem Widerstand erreichen w i l l , ist eine andere, eine nach ihrer Ansicht bessere Ordnung. Hierzu aber dürfte das Widerstandsrecht nur dann benutzt werden, wenn die bestehende Ordnung ein offenbares und fundamentales Unrechtsregime wäre." Das bedeutet, daß die Formel des BVerfG, ein Widerstandsrecht könne es nur i m konservierenden Sinne geben, nur für den Staatszustand gilt, wo ein legitimes Regime die Macht innehat. N u r für diese Staatssituation w i r d die Revolution aus dem Bereich des Widerstandsrechts ausgeklammert, jedoch nicht begrifflich, sondern nur rechtlich: Bei einer solchen Staatslage (legitimes Regime) fehlt dem Revolutionär (Widerstandskämpfer) die Legitimation zur Bekämpfung der bestehenden Ordnung. Dagegen deckt nach Ansicht des BVerfG das Widerstandsrecht auch die Revolution, d. h. die Einführung einer besseren Ordnung, also nur eine Revolution, die gewisse qualitative Anforderungen erfüllt, wenn die bestehende Ordnung ein offenbares und fundamentales Unrechtsregime ist. Das BVerfG zieht keine begriffliche Trennungslinie zwischen

Widerstand

und

Revolution.

I m weiteren begründet das BVerfG, warum es die Ordnung in der Bundesrepublik für legitim hält. Da die Begriffe der Legalität und Legitimität für das Widerstandsrecht von wesentlicher Bedeutung sind, sollen die Kriterien, auf Grund deren das BVerfG die Legitimität ice BVerfGE 1, 227; ebenso Heimatbünde, BVerfGE 13, 81.

92

2. Kap. Die Fallerfahrungen der Rechtsprechung

der Bundesrepublik bejaht, hier wiedergegeben werden. Das ist einmal die demokratische Entstehung des Staatswesens und seine Bestätigung durch das Volk i n freien Wahlen. Zum anderen w i r d vom BVerfG hervorgehoben, daß die Bundesrepublik Ausdruck der sozialen und politischen Gedankenwelt sei, die dem gegenwärtig erreichten kulturellen Zustand des deutschen Volkes entspreche. Ihre Wertsetzungen würden von der übergroßen Mehrheit des deutschen Volkes aus voller Uberzeugung bejaht. Hieraus erwachse der Ordnung die innere Verbindlichkeit, die das Wesen der Legitimation ausmache. N u r wer gegen Störung dieser Ordnung Widerstand leiste, dürfe für diesen Kampf selbst Legitimität i n Anspruch nehmen. Die Illegitimität des Regimes begründet danach die Legitimität des Widerstandskämpfers. Freie Wahlen, Übereinstimmimg der Staatsverfassung m i t der gegenwärtigen sozialen und politischen Gedankenwelt und Billigung der verfassungsmäßigen Wertsetzung durch die Bevölkerung begründen die Legitimität des Regimes. Der Wandel der Anschauungen kann ein früher legitimes Regime illegitim machen. Dann könnte das Widerstandsrecht nicht mehr gegen Störungen dieser nunmehr illegitimen Ordnung eingesetzt werden, vielmehr würde seine Stoßrichtung auf Beseitigung derselben zielen. Die Funktion des Widerstandsrechts besteht daher nach Ansicht des BVerfG nicht i n einer Zementierung der bestehenden Ordnung. Sie besteht vielmehr i n der Zementierung der Legitimität des Regimes und geht dahin, Staatsverfassung auf der einen Seite und Wertüberzeugung des Volkes und politisches und soziales Gedankengut auf der anderen Seite i n größtmöglicher Harmonie zu halten. Das Widerstandsrecht hat danach konservierenden Charakter, solange die Staatsordnung legitim ist, bekommt aber einen dynamischen Impuls, wenn die Staatsordnung zum Unrechtsregime wird. Es ist allerdings zu bedenken, daß das BVerfG die Ausübung des Widerstandsrechts m i t revolutionärer Zielsetzung nur gegen ein offenbares und fundamentales Unrechtsregime zulassen w i l l .

§ 27 Die Rechtsprechung zu Art. 5 GG Zunächst w i r d es überraschen, daß i n einer Arbeit, die sich m i t dem Widerstandsrecht zu befassen hat, der Rechtsprechung zu A r t . 5 GG Raum gewidmet wird. Es w i r d sich jedoch i m weiteren Verlauf zeigen, daß A r t . 5 GG heute zu einem Angelpunkt der staatsbürgerlichen Grundrechte schlechthin geworden ist. Für die Rechtsprechung scheint er eine nicht versiegende Quelle zu sein, dem Staatsbürger politische Aktionsmöglichkeiten zu erschließen. Der Wortlaut und

§ 27 Die Rechtsprechung zu Art. 5 GG

93

ursprüngliche Sinngehalt des A r t . 5 GG w i r d ausgeweitet, teilweise sogar gesprengt. Dabei stößt die Rechtsprechung i n „klassische Bereiche" des Widerstandsrechts vor. Ihre Entwicklung soll exemplarisch an Hand von drei Fällen demonstriert werden: Dem „ L ü t h - U r t e i l " , dem „ F a l l Blinkfüer" und schließlich dem „Pätsch-Urteil".

1. Das

„Lüth-Urteil"

170

Sachverhalt: I m Jahre 1950 warnte der Hamburgische Senatsdirektor L ü t h öffentlich davor, Veit Harlan, den Drehbuchverfasser und Regisseur des Films „Jud Süß", als Repräsentanten des deutschen Films herauszustellen. Er bezeichnete es als die Pflicht aller anständigen Deutschen, sich i m Kampf gegen diesen unwürdigen Repräsentanten des deutschen Films über den Protest hinaus auch zum Boykott bereitzuhalten. Daraufhin wurde er von der Produktionsund der Verleihfirma, für die Harlan damals den F i l m „Unsterbliche Geliebte" drehte, auf Unterlassung seiner Äußerungen verklagt und von den Zivilgerichten diesem Antrag entsprechend verurteilt. A u f seine Verfassungsbeschwerde h i n hob das BVerfG die Verurteilung auf, da es seine Äußerungen trotz des den klagenden Firmen daraus entstehenden Schadens für zulässig hielt. Das BVerfG kommt i n seiner Begründung zu dem Ergebnis, daß das Grundrecht der freien Meinungsäußerung i n seiner W i r k u n g auf das Privatrecht vom L G verkannt worden sei. Das Wertsystem des Grundgesetzes, das seinen Mittelpunkt i n der innerhalb der sozialen Gemeinschaft sich frei entfaltenden Persönlichkeit und ihrer Würde finde, müsse als verfassungsrechtliche Grundentscheidung für alle Bereiche des Rechts gelten; so beeinflusse es selbstverständlich auch das bürgerliche Recht. Insbesondere seien die Generalklauseln als die „Einbruchsstellen" der Grundrechte i n das bürgerliche Recht zu betrachten. Zwar könnten auch zivilrechtliche Vorschriften „allgemeine Gesetze" i. S. des A r t . 5 I I GG sein und so das Grundrecht auf Freiheit der Meinungsäußerung beschränken, eine solche Relativierung durch einfaches Gesetz entspreche aber nicht der grundlegenden Bedeutung der Meinungsäußerungsfreiheit für den freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat: „Das Grundrecht auf freie Meinungsäußerung ist als unmittelbarster Ausdruck der menschlichen Persönlichkeit i n der Gesellschaft eines der vornehmsten Rechte überhaupt. Für eine freiheitlich-demokratische Staatsordnung ist es schlechthin konstituierend, denn es er170 u r t e i l des BVerfG v o m 15.1.1958 — 1 B v R 400/51 —, BVerfGE 7, 198 ff.

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2. Kap. Die Fllerfahrungen der Rechtsprechung

möglicht erst die ständige geistige Auseinandersetzung, den Kampf der Meinungen, die ihr Lebenselement ist. Es ist i n gewissem Sinn die Grundlage jeder Freiheit überhaupt 1 7 1 ." Daraus w i r d eine Wechselw i r k u n g zwischen den „allgemeinen Gesetzen" und dem Grundrecht gefolgert i n dem Sinne, daß die allgemeinen Gesetze aus der Erkenntnis der wertsetzenden Bedeutung des Grundrechts der freien Meinungsäußerung i n ihrer das Grundrecht begrenzenden W i r k u n g eingeschränkt werden müßten 1 7 2 . Dann bestimmt das BVerfG die Reichweite des Rechts der Meinungsäußerung: Da es Sinn dieses Rechts sei, geistige W i r k u n g auf die Umwelt ausgehen zu lassen, meinungsbildend und überzeugend auf die Gesamtheit zu wirken, sei nicht nur die Meinungsäußerung sondern auch ihre geistige W i r k i m g grundrechtlich geschützt. Wo diese Wirkung aber gesetzlich geschützte Rechtsgüter anderer verletze, werde eine Güterabwägung erforderlich: „Das Recht der Meinungsäußerung muß zurücktreten, wenn schutzwürdige Interessen eines anderen von höherem Rang durch die Betätigung der Meinungsfreiheit verletzt würden." Dabei müsse der Schutz des privaten Rechtsgutes um so mehr zurücktreten, je mehr die Meinungsäußerung einen Beitrag zum geistigen Meinungskampf i n einer die Öffentlichkeit wesentlich berührenden Frage durch einen Legitimierten leiste. Da das L G sein Urteil auf § 826 BGB stützte, wägt das BVerfG i m Anschluß an diese allgemeinen Darlegungen ab, ob die Aufforderungen Lüths nach diesen Maßstäben sittenwidrig waren, u m dies dann zu verneinen. I n unserem Zusammenhang interessiert das Urteil aus zwei Gründen: Einmal zeigt es, daß das BVerfG jedenfalls an die inhaltliche Grenze des A r t . 5 GG geht, die dann vom B G H i m „ F a l l Blinkfüer" überschritten wird. Zum anderen erlaubt es auf Grund der D r i t t w i r k u n g den meinungsmäßigen Kampf gegen unerwünschte Strömungen, die von Dritten ausgehen. Nipperdey lehnt das Urteil des BVerfG scharf ab: „Eine ethisch an sich begrüßenswerte Einstellung und Zielsetzung, kraft der Meinungsäußerungsfreiheit geäußert, berechtigt nicht zum handfesten Boykottaufruf 1 7 3 ." „ A u f die Meinungsfreiheit kann man kein Faustrecht π ι a.a.O., S. 208. 172 Das BVerfG folgt damit praktisch R. Smend, der als allgemeines Gesetz i. S. des A r t . 118 I 1 W V jedes die Meinungsäußerung einschränkende Gesetz ansieht, das Vorrang vor der Äußerungsfreiheit verdient (Das Recht der freien Meinungsäußerung, S. 52 f.). 173 DVB1. 1958, 445 ff., 451; vgl. aber auch die zustimmende A n m e r k u n g von G. Dürig i n D Ö V 1958, 194 ff.

§ 27 Die Rechtsprechung zu Art. 5 GG

95

stützen 1 7 4 ." Unter Berufung auf Häntzschel hält Nipperdey den Boykottaufruf für unzulässig, da die geistige Wirkung dort ihre Grenze finde, wo die Rechtsgüter Dritter verletzt würden. Die Vorschriften des BGB über unerlaubte Handlungen, die Rechtsgüter gegen Eingriffe schützten, würden als allgemeine Gesetze i. S. des A r t . 5 I I GG dem Grundrecht der freien Meinungsäußerung eine absolute Schranke setzen. Wenn auch die Interessenabwägung des BVerfG eine sachgerechtere Lösung verspricht, so braucht diesem Problem hier i m einzelnen nicht nachgegangen zu werden. I n unserem Zusammenhang kommt es nur darauf an, zu zeigen, wie stark das BVerfG die aktiv-rechtliche Seite des Grundrechts der freien Meinungsäußerung hervorhebt 1 7 6 . Neben dem negatorischen Freiheitsrecht sieht das BVerfG i n A r t . 5 GG ein politisches Aktionsrecht, das „ i m Kampf der Meinungen" zur Verwirklichung der Grundwerte der Verfassung dienen soll. Die Stoßrichtung des Grundrechts geht hier nicht gegen den Staat, sondern gegen den Mitbürger. Seine Interessen müssen zurücktreten, wenn das Recht der freien Meinungsäußerung als schutzwürdiger anzusehen ist. Diese Drittwirkung der Grundrechte könnte auch für das Widerstandsrecht gelten; doch scheint das „ B l i n k f ü e r - U r t e i l " 1 7 6 geeigneter, darauf näher einzugehen. 2. Das

„Blinkfüer-Urteil"

Sachverhalt: I n der Wochenzeitung „Blinkfüer" wurde auch noch nach dem Mauerbau das Rundfunk- und Fernsehprogramm der SBZ abgedruckt. Ende August 1961 verteilten die beiden Verlagsgesellschaften A x e l Springers an sämtliche Zeitschriftenhändler i n H. ein Rundschreiben, i n dem diese aufgefordert wurden, den Vertrieb solcher Zeitschriften und Zeitungen einzustellen, die Programme des sowjetzonalen Rund- und Fernsehfunks veröffentlichen. Den sich dieser A u f forderung widersetzenden Händlern wurde angedroht, künftig nicht mehr m i t den Erzeugnissen der Springerpresse beliefert zu werden. Da die Auflage des „Blinkfüer" dadurch zurückging, klagte sein Herausgeber auf Schadensersatz. Während er vor dem L G und OLG Erfolg hatte, wies der B G H seine Klage ab. Der B G H hält das Vorgehen der Beklagten für nicht rechtswidrig. Sowohl i h r Ziel als auch ihre M i t t e l seien durch das Grundrecht der freien Meinungsäußerung gedeckt. Denn die nach dem „ L ü t h - U r t e i l " vorzunehmende Interessenabwägung ergebe, daß unter Berücksichti" 4 a.a.O., 450. «« Vgl. dazu H . Scholler, Person u n d Öffentlichkeit, S. 269 ff. 176 u r t e i l des B G H v o m 10.7.1963 — I b ZR 214/62 —, N J W 1964, 29 = JZ 1964, 95.

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2. Kap. Die Fallerfahrungen der Rechtsprechung

gung der damaligen Situation (Mauerbau) dem vom Beklagten i n Anspruch genommenen Grundrecht des A r t . 5 1 1 GG vor der gewerblichen Betätigung des Klägers der Vorrang gebühre. Diese Entscheidung stieß i m Schrifttum allgemein auf Ablehnung 1 7 7 . Der Ib-Senat hat i n der Tat gewichtige Gesichtspunkte übersehen. So stößt die Interessenabwägung aus zwei Gründen auf Bedenken: Der B G H stellt dem Interesse des Beklagten an der freien Meinungsäußerung lediglich das des Klägers an der Ausübung seines Gewerbebetriebes gegenüber; er läßt außer acht, i n die Waagschale des Klägers die Pressefreiheit zu legen; denn nach A r t . 5 1 2 GG ist das Recht des Klägers, auch Programme kommunistischer Sender zu publizieren, verfassungskräftig gewährleistet 1 7 8 . Das andere Bedenken betrifft die Bewertimg der Mittelwahl. Unter Berufung auf das „ L ü t h - U r t e i l " hält der B G H auch die Wirkung einer Meinungsäußerung durch A r t . 5 GG für gedeckt und deshalb auch den Boykott. Auch hier hebt A r n d t 1 7 9 richtig den grundsätzlichen Unterschied der beiden Fälle hervor. L ü t h stand „keine andere Macht zur Verfügung als der Einfluß seines Wortes". Dagegen wurde Blinkfüer durch die ganze wirtschaftliche Macht des Springerkonzerns bedroht. Der Druck konnte u m so wirksamer ausgeübt werden, als die Z w i schenhändler i n einer gewissen wirtschaftlichen Abhängigkeit vom Springerkonzern standen. Das Urteil ist ein weiteres Beispiel dafür, daß die Rechtsprechung A r t . 5 GG zum Ausgangspunkt nimmt, die Aktivrechte des Staatsbürgers zu stärken. Es w i r d das B i l d eines Staatsbürgers gefördert, der nicht i n abwehrender Reaktion sich egoistisch einen möglichst großen Freiheitsraum abzustecken sucht, sondern sich kämpferisch für die Belange der demokratischen Grundordnung einsetzt. I n diesem Sinn hebt der B G H das Ziel des Boykottaufrufs hervor, die mittelbare Unterstützung der sowjetzonalen Angriffe, die i n der Veröffentlichung der Ostprogramme zu sehen sei, zu unterbinden. Ist diese Entwicklung der Rechtsprechung auch zu begrüßen, da sie dem demokratischen Gedanken Rechnung trägt, so hat sich der B G H hier doch wohl in einer falschen Sache „stark gemacht". Helle und Larenz, die die Entscheidung kritisiert haben, sind durchaus bereit, 177 Vgl. Z.B. Arndt, N J W 1964, 2 3 1 ; Biedenkopf, JZ 1965, 555ff.; Helle, N J W 1964, 1497 ff.; Larenz, A P 1965, 130ff. 178 A u f diesen Gesichtspunkt weist vor allem Arndt (a.a.O.) h i n ; auch das O L G Hamburg hatte i m vorausgegangenen Verfahren der einstweiligen Verfügung diesem Topos Rechnung getragen (Urteil v o m 15.2.1962 — 3 U 213/61 —, N J W 1962, 917). 17» a.a.O.; ebenso wieder das O L G Hamburg, a.a.O.

§ 27 Die Rechtsprechung zu Art. 5 GG

97

einen „Boykott à la Blinkfüer" zu akzeptieren, wenn er notwendig ist, die freiheitlich-demokratische Grundordnung zu schützen 180 . Danach wäre es zulässig, auch gegen Dritte, die sich verfassungswidrig verhalten, Widerstand zu leisten. Den Abdruck der Zonenprogramme als verfassungswidriges Verhalten anzusehen, als einen Mißbrauch des Grundrechts der Pressefreiheit i. S. des A r t . 18 GG, dürfte kaum angängig sein. Dieser Boykott kann daher nicht durch ein Widerstandsrecht gegen Dritte gedeckt gewesen sein. Bedeutung könnte das Widerstandsrecht gegen Dritte dagegen i m Boykottaufruf der Gruppe 47 gegen A x e l Springer gewinnen. Die „47er" verfaßten folgende Resolution gegen den „Zeitungskönig" 1 8 1 : „Der Springer-Konzern kontrolliert 32,7 Prozent aller deutschen Zeitungen und Zeitschriften. Dadurch ist die zuverlässige Information der Öffentlichkeit gefährdet. Die Schriftsteller der Gruppe 47 halten diese Konzentration für eine Einschränkung und Verletzung der Meinungsfreiheit und damit für eine Gefährdung der Grundlagen der parlamentarischen Demokratie i n Deutschland. W i r haben daher beschlossen: 1. W i r werden i n keiner Zeitung Konzerns mitarbeiten.

oder Zeitschrift des Springer-

2. W i r erwarten von unseren Verlegern, daß sie für unsere Bücher i n keiner Zeitung oder Zeitschrift des Springer-Konzerns inserieren. 3. W i r bitten alle Schriftsteller, Publizisten, K r i t i k e r und Wissenschaftler, die Kollegen i m PEN und i n den deutschen Akademien, zu überprüfen, ob sie eine weitere Zusammenarbeit m i t dem SpringerKonzern noch verantworten können." Dieses Vorgehen der Gruppe 47 liegt, was den Einsatz der M i t t e l betrifft, zwischen den Fällen „ L ü t h " und „Blinkfüer". Es geht über den Fall L ü t h hinaus, da es als organisierte A k t i o n m i t gewissem w i r t schaftlichem Druck auf die Verleger 1 8 2 den Bereich der „geistigen Wirkung" einer Meinungsäußerung verläßt. Indes liegt das wirtschaftliche Machtübergewicht nicht bei den Boykottierenden wie i m Falle „Blinkfüer". Der Bereich des A r t . 5 GG dürfte jedoch auch hier verlassen sein. N u r ein allgemeines Aktionsrecht des Staatsbürgers oder ein Widerstandsrecht gegen Dritte kann den Boykott rechtfertigen. Es ιβο Helle, a.a.O., S. 1499; Larenz, a.a.O., B l a t t 132. lei Vgl. Notiz der „Süddeutschen Zeitung" v o m 10.10.1967. 182 L a u t M i t t e i l u n g der „Süddeutschen Zeitung" v o m 14./15. Oktober 1967 unterzeichneten die Verlage Suhrkamp, Rowohlt, Insel, Hanser, Luchterhand, Wagenbach u n d Kippenheuer & Witsch auf der Frankfurter Buchmesse prompt den A u f r u f der Gruppe 47. 7

Scheidle

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2. Kap. Die Fallerfahrungen der Rechtsprechung

ist aber zu berücksichtigen, daß A x e l Springer das Grundrecht der Pressefreiheit für sich i n Anspruch nehmen kann. Soweit jedoch durch die Konzentration des Pressewesens i m Hause Springer Gefahren für die Informationsfreiheit des Bürgers und damit auch für die demokratische Ordnung unseres Staates entstehen, muß die Frage beantwortet werden, welche Verteidigungsrechte dem Staatsbürger zustehen, und ob sich das Widerstandsrecht gegen Dritte, quasiöffentliche Gewalten, richten kann. Aus den vorliegenden Entscheidungen ist der Schluß zu ziehen, daß die Rechtsprechung bereit ist, dem Bürger weitgehende Rechte auch gegen Dritte einzuräumen. 3. Das

„Pätsch-Urteil"

m

Dieses Urteil setzt zwar nicht die Drittwirkungsproblematik fort, bekräftigt aber die Status-activus-Seite des A r t . 5 GG und zeigt auf, wie sehr sich dieses Grundrecht und das Widerstandsrecht berühren können. Sachverhalt: Pätsch war von 1956—1963 als Sachbearbeiter i m Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) tätig. I m Laufe der Zeit bekam er Bedenken wegen der rechtlichen Zulässigkeit gewisser Maßnahmen des BfV, insbesondere der Teilhaberschaft des B f V an dem den Westalliierten verbliebenen Vorbehaltsrecht der Post- und Telefonüberwachung. Nach Besprechung m i t dem Rechtsanwalt Dr. Augstein, von dem er sich rechtlich beraten ließ, informierte er i n gewissem Umfang die Presse von den Vorgängen i m BfV. Die Anklage machte i h m zum Vorwurf, er habe durch seine Mitteilungen gegen die §§ 100 c I, 353 b I Halbsatz 1 StGB verstoßen. Der B G H n i m m t den Fall zum Anlaß, zu Grundfragen des gesetzwidrigen Staatsgeheimnisses Stellung zu nehmen. Er folgt dabei der Ansicht von Jeschek, daß auch das illegale Staatsgeheimnis unter dem Schutz der §§ 99 ff. StGB stehe 184 . Ob das auch zu gelten habe, wenn ein schwerer Verstoß gegen die verfassungsmäßige Ordnung vorliege, läßt das Gericht offen 1 8 5 . Die Preisgabe von illegalen Staatsgeheimnissen ist danach i n der Regel tatbestandsmäßig; als möglichen Rechtfertigungsgrund untersucht der B G H A r t . 5 GG. «s u r t e i l des 3. Strafsenats des B G H v o m 8.11.1965, BGHSt. 20, 342; vgl. i n diesem Zusammenhang auch das T e i l u r t e i l des BVerfG v o m 9. 8.1966 i m „Spiegel-Fall" (BVerfGE 20, 162 ff.), das i n den Urteilsgründen bezüglich der hier interessierenden Punkte teilweise einen ähnlichen Weg w i e der B G H einschlägt. Kritisch zum „Pätsch-Urteil" Zillmer i n N J W 1966, 910, der §100 I I I StGB als allgemeinen Rechtfertigungsgrund gelten lassen w i l l . 184 Pressefreiheit u n d Staatsgeheimniss, S. 28 f. 185 Jeschek (a.a.O.) verneint f ü r ein Staatsgeheimnis, das gegen elementare Rechtsgrundsätze verstößt, die Anwendbarkeit der §§99 ff. StGB.

§ 27 Die Rechtsprechung zu Art. 5 GG

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Dem Grundrecht der freien Meinungsäußerung entnimmt er die grundsätzliche Befugnis des Bürgers einen Gesetzes- und Verfassungsverstoß wie jeden Mißstand i m öffentlichen Leben m i t dem Ziele der Beseitigung zu rügen. Dabei betont er stark die aktivrechtliche Seite dieses Grundrechts: „Der verantwortungsbewußte Staatsbürger sieht darin (im Grundrecht der freien Meinungsäußerung) nicht nur ein Recht, sondern einen A u f r u f zu tätiger Mitarbeit am Staat 1 8 6 ." Die Entscheidung fährt dann etwas abrupt fort, daß das Grundrecht der freien Meinungsäußerung aber seine Schranke i n den Vorschriften der allgemeinen Gesetze finde, wozu auch die Landesverratsvorschriften der §§ 99 ff. StGB zu rechnen seien. I n Anlehnung an das „ L ü t h Urteil" bejaht der 3. Strafsenat eine Wechselwirkung von Grundrecht und allgemeinen Gesetzen, u m dann die i m Widerstreit liegenden Belange gegeneinander abzuwägen: Seiner Ansicht nach sind dies die Belange des Staates und das Grundrecht des Staatsbürgers. Das befremdet; denn die eben noch so betonte aktiv-rechtliche Seite des Grundrechts der freien Meinungsäußerung soll doch dem Wohle des Staates zugutekommen. Die abzuwägenden Interessen sind die Rechtmäßigkeit und die Sauberkeit der Staatsführung auf der einen und die Staatssicherheit auf der anderen Seite 1 8 7 . I m Grundrecht des status activus t r i t t neben dem subjektiven Interesse des einzelnen stark das objektive Interesse der Gesellschaft an der Erhaltung der Rechtsordnung i n Erscheinung. I m Rahmen der Güterabwägung verlangt der B G H die Einhaltung des Grundsatzes der Erforderlichkeit. Der Bürger habe den Weg einzuschlagen, auf dem der Kreis der Einzuweihenden auf möglichst wenige zuverlässige Personen beschränkt bleibe. Deshalb solle der Rügende erst der zuständigen Behörde, einem Abgeordneten oder der Volksvertretung den Vorfall melden (§ 100 I I I StGB, A r t . 17 GG), bevor er auf dem Weg über Presse, Rundfunk und Fernsehen die Öffentlichkeit anrufe. Diese Einschränkung des Rügerechts w i l l der B G H jedoch nicht ausnahmslos gelten lassen. Durch Auslegung des Begriffs „Wohl der Bundesrepublik" kommt er zu dem Ergebnis, daß bei schweren Verstößen gegen die verfassungsmäßige Ordnung die Öffentlichkeit unmittelbar angerufen werden dürfe. W i r begegnen hier wieder dem Gedanken der Mitteleskalation, auf den w i r schon i n der Rechtsprechung zum BEG gestoßen waren 1 8 8 . Der B G H begründet seine 186 a.a.O., S. 362 f. A h n l i c h das B V e r f G i m „ K P D - U r t e i l " (BVerfGE 5,134 f.) u n d i m „Parteienfinanzierungs-Urteil" (BVerfGE 20, 98): „Aus dem G r u n d recht der freien Meinungsäußerung ergibt sich ein grundsätzliches Recht der freien politischen Betätigung." 187 Ä h n l i c h das B V e r f G i m „Spiegel-Urteil", a.a.O., S. 177 f. iss Vgl. oben, S. 50 f. 7*

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2. Kap. Die Fallerfahrungen der Rechtsprechung

Meinung m i t der Rangordnung der Werte i n einem Verfassungsgefüge wie dem der Bundesrepublik: „Alles politische Wirken ist der höheren Idee des Rechts unterworfen und durch sie begrenzt; denn das Recht ist kein Werkzeug der Macht. N u r dieses Rangverhältnis entspricht dem Wesen eines Rechtsstaates, wie er durch das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland geschaffen worden ist. Die Wahrung dieser obersten Rechts- und Verfassungswerte geht allen politischen Zweckmäßigkeitserwägungen vor. Es gibt deshalb einen Kernbereich des Verfassungsrechts, bei dessen Verletzung jeder das Recht haben muß, sofort und ohne jeden Umweg die Öffentlichkeit anzurufen, auch wenn dies zwingend zur Preisgabe von Staats- und Amtsgeheimnissen f ü h r t 1 8 9 . " Diese wertmäßige Vorrangstellung der Rechts- und Verfassungswerte durch den B G H ist wesentlich, da nach der Rechtsprechung i n vielen Bereichen des Widerstandsrechts Güter und Interessen abzuwägen sind. Verwunderlich ist, daß i n dieser Entscheidung das Widerstandsrecht überhaupt nicht erwähnt wird. Eigenartigerweise taucht es auch i n der das illegale Staatsgeheimnis behandelnden Literatur nicht auf, obwohl es sich hier doch u m einen typischen Bereich des Widerstandsrechts handelt. Pätsch hat verfassungswidrige Zustände angeprangert. Seine Rügen dienten der Erhaltung der Rechtsordnung gegenüber Einzelverstößen gegen die Verfassung. Der Fall liegt damit i m grundsätzlichen Bereich des Widerstandsrechts. Auch wenn man m i t dem B V e r f G 1 9 0 der Meinung ist, daß das Widerstandsrecht erst als letztes M i t t e l i n Betracht kommt, wenn alle gesetzlich verliehenen Rechtsbehelfe keine Aussicht auf Erfolg mehr bieten, w i r d man diese Sachlage dem Widerstandsrecht zurechnen müssen. Denn ein aus A r t . 5 GG abgeleiteter Rechtfertigungsgrund kann nicht als Rechtsbehelf qualifiziert werden. Wenn dem B G H die Konstruktion über A r t . 5 GG nicht zur Verfügung gestanden hätte, wäre i h m nur das Widerstandsrecht oder als i m staatlichen Bereich ähnliche Rechtsfigur der übergesetzliche Notstand verblieben, u m eine solche Tat zu rechtfertigen. Die derzeitige Auslegung des A r t . 5 GG durch die Rechtsprechung erlaubt es, alle Fälle, i n denen Widerstand durch Meinungsäußerung (plus Wirkung) geleistet wird, über das Grundrecht des A r t . 5 GG abzuwickeln. Die gedankliche Nähe von Widerstand und A r t . 5 GG spürt auch der BGH, wenn er die Ähnlichkeit der rechtlichen Bewertimg zwischen Rügerecht und Notwehr herausstellt 191 . 189 a.a.O., S. 365. " ο BVerfGE 5, 377. 191 a.a.O., S. 368.

§ 27 Die Rechtsprechung zu Art. 5 GG

101

Erst i m „ F a l l Pätsch" erscheint die widerstandsfreundliche Auslegung des Begriffes „allgemeine Gesetze" i. S. von A r t . 5 I I GG i n vollem Licht. Die schrankenbeschränkende Wirkung, die das BVerfG i m „ L ü t h - U r t e i l " dem A r t . 5 I GG beigelegt hat, erlaubt die Lösung klassischer Widerstandsfälle durch das dort gewährte Grundrecht. Noch 1928 hatte das Reichsgericht i n einem ähnlich gelagerten Fall die Berufung auf das Grundrecht der freien Meinungsäußerung lapidar abgelehnt: „Denn nach dieser Verfassungsbestimmung hat jeder Deutsche das Recht, nur innerhalb der Schranken der allgemeinen Gesetze, zu denen das StGB ohne Zweifel gehört", seine Meinung „durch Wort, Schrift, Druck, B i l d oder i n sonstiger Weise frei zu äußern 1 9 2 ." Gegen diese richterrechtliche Erfassung bestimmter Fallgruppen des Widerstandes ist nichts einzuwenden. Jedoch muß bewußt bleiben, daß hier eigentlich vom Widerstandsrecht Gebrauch gemacht wird, so daß für den Fall, daß ein Widerstandsrecht auch i n unserem Staatssystem zu bejahen ist, dieser Ausformung des A r t . 5 GG durch die Rechtsprechung lediglich deklaratorischer Charakter zukommt 1 9 3 . Das Urteil zeigt eine enge Verflochtenheit von normaler Grundrechtsausübung und Widerstandsrecht. Es ist nicht ein plötzliches, rechtstechnisches Einrasten, das das Widerstandsrecht zur Entstehung bringt, vielmehr läßt sich kaum feststellen, wann Meinungsäußerungsfreiheit und Widerstandsrecht sich zu decken beginnen. Wenn Pätsch sich nur an den Behördenleiter gewandt hätte, wäre niemand auf den Gedanken gekommen, das Widerstandsrecht zu bemühen, wohl auch dann nicht, wenn er nur von seinem Grundrecht nach Art. 17 GG Gebrauch gemacht hätte. Aber die Preisgabe eines Staatsgeheimnisses an die Öffentlichkeit bringt diesen Gedanken näher. Die Wahrnehmung der Meinungsäußerungsfreiheit führt stufenlos i n den Bereich des Widerstands. Das staatsbürgerliche Grundrecht der Meinungsfreiheit w i r d bei Gefahr für die verfassungsmäßige Ordnung zum Rechtfertigungsgrund für Landesverrat intensiviert. 4.

Zusammenfassung

Die Rechtsprechung zum Grundrecht der freien Meinungsäußerung (Art. 5 1 1 GG) ist durch eine doppelte Entwicklung gekennzeichnet: Zum einen w i r d die einst nur als Abwehrrecht verstandene Meinungsäußerungsfreiheit zu einem Bürgerrecht ausgebaut; diese Entwicklung kann als Funktionsausweitung bezeichnet werden. Zum anderen findet durch die Anerkennung der D r i t t w i r k u n g eine Objektausweitung 194 192 RGSt 62, 65/67. 193 Vgl. dazu Heyland, Das Widerstandsrecht des Volkes, S. 115. 194 Etwas anders H. Scholler, der v o n „ U m f u n k t i o n i e r u n g " u n d „ O b j e k t verschiebung" spricht (Person u n d Öffentlichkeit, S. 176, 212 ff., 236 ff.).

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2. Kap. Die Fallerfahrungen der Rechtsprechung

statt 1 9 5 . Gleichzeitig vermag die Stärkung des status activus die Subjektverschiebung zugunsten sozialer Institutionen zu bremsen 196 . Die Stärkung des status activus in A r t . 5 1 1 GG führt die Meinungsäußerungsfreiheit i n das Gebiet des Widerstandsrechts m i t der Folge, daß durch Meinungsäußerung ausgeübter Widerstand heute einer richterrechtlichen Verankerung entgegenstrebt. Diese Auslegung des A r t . 5 GG steht der Annahme, das Widerstandsrecht sei ungeschriebenes Grundrecht, freundlich gegenüber. Die enge Verflochtenheit von Widerstandsrecht und Meinungsäußerungsfreiheit erlaubt es, die D r i t t w i r k u n g der Meinungsäußerungsfreiheit i n gewissem Umfang für das Widerstandsrecht fruchtbar zu machen.

Vierter

Abschnitt

Widerstand in Italien § 28 Der „Südtirol-Fall" Sachverhalt: Die Angeklagten unternahmen von der Bundesrepublik aus mehrere Aktionen, u m i n Südtirol Sprengungen an Hochspannungsmasten und Brücken vorzunehmen. Durch diese Anschläge wollten sie die Weltöffentlichkeit auf das Südtirolproblem aufmerksam machen. Zur Ausführung einer Sprengimg kam es nie. Das L G München hat die Angeklagten wegen Geheimbündelei und Teilnahme an einer kriminellen Vereinigung (§§ 128, 129 StGB) verurteilt. Die von zwei Angeklagten eingelegten Revisionen hat der B G H verworfen 1 9 7 . Die Angeklagten machten zum K e r n ihrer Verteidigung, daß ihre Straftaten durch übergesetzlichen Notstand, vor allem kraft des „Selbstbestimmungsrechts der Südtiroler" und ihres „Rechts zum Widerstand gegen die italienische Unrechtsherrschaft" gerechtfertigt seien. 195 Bedenken gegen diese Entwicklung der Rechtsprechung hegt v o r allem E. Forsthoff i n seinem Beitrag f ü r die Carl-Schmitt-Festschrift „Die U m bildung des Verfassungsgesetzes" u n d i n seiner Abhandlung „ Z u r Problem a t i k der Verfassungsauslegung". i»e v g l . dazu H. Scholler, a.a.O., S. 319 ff. 187 U r t e i l v o m 12.10.1965 — 3 StR 15/65 —, N J W 1966, 310.

§28 Der „Südtirol-Fall"

103

Eine Berufung auf das Selbstbestimmungsrecht lehnt der B G H ab, weil grundsätzlich niemand vor dem Gericht eines Rechtsstaates damit gehört werden könne, er habe das Selbstbestimmungsrecht mit Gewalt durchsetzen dürfen. Die Anwendung von Gewalt sei schon durch A r t . 2 I V der Satzung der Vereinten Nationen verboten. Der Senat räumt allerdings ein, daß Gewaltmaßnahmen evtl. dann als nicht rechtsw i d r i g anzusehen seien, wenn die Nichtgewährung der Selbstbestimmung i n einem Lande einen menschenunwürdigen, unzumutbaren Zustand entstehen lasse. Diese Formulierung erinnert an den „Textilunternehmer-Fair 1 9 8 , wo dem Kläger nach Ansicht des BVerwG aus zwingenden menschlichen Gründen die Einhaltung der Wirtschaftsgesetze der SBZ nicht zugemutet werden konnte. I n beiden Fällen werden Menschenrechtsverletzungen als Rechtfertigungsgrund für eine Mißachtung staatlicher Bestimmungen angesehen. I m Gegensatz zum „Textilunternehmer-Fall" wurde i m „Südtir ol-Fall" nicht i n rein persönlichem Interesse gehandelt, sondern i m Interesse einer ganzen Bevölkerungsgruppe. Die Einlassung der Angeklagten, daß das Widerstandsrecht ihre Taten rechtfertige, tut der B G H kurz ab: „Abwegig ist es, wenn die Verteidigung sich auf das,Widerstandsrecht' gegen eine verbrecherische Staatsgewalt berufen w i l l . Das Attentat des 20. 7.1944 richtete sich gegen diejenigen, die ihre Staatsgewalt rechtswidrig mißbrauchten. Die Anschläge Dr. B. und seines Kreises, die übrigens der bedrohten Südtiroler Volksgruppe nicht angehörten, richteten sich indessen gegen unbeteiligte Dritte i n dem Wahn, dadurch ,die Weltöffentlichkeit wachzurütteln'. M i t Recht weist das L G darauf hin, daß an die Stromversorgungsanlagen, die gesprengt werden sollten, Krankenhäuser und viele andere lebenswichtige Betriebe angeschlossen waren. Zudem würde auch das ,Widerstandsrecht' durch den Grundsatz der Güterabwägung eingeschränkt sein, der hier nicht eingehalten ist." Das Attentat vom 20. J u l i n i m m t der B G H als Richtschnur, u m eine Berufung auf das Widerstandsrecht als abwegig zu bezeichnen. Da sich die geplante Sprengung nicht wie damals gegen die gerichtet habe, die ihre Staatsgewalt rechtswidrig mißbrauchten, könne sie nicht gerechtfertigt sein. Für einen kurzen Augenblick drängt sich der Gedanke auf, ob nach Ansicht des Senats ein Attentat auf die italienische Staatsspitze gerechtfertigt gewesen wäre. Mag man auch den Anschlag vom 20. J u l i als Modellfall rechtmäßigen Widerstandes betrachten, so ist er doch, wie die Entscheidungen der Gerichte gezeigt haben, bei weitem nicht die einzige rechtmäßige Möglichkeit. Der B G H selbst hat i m „Partisanen-Fall" entschieden, daß iss vgl. oben, § 20.

104

2. Kap. Die Fallerfahrungen der Rechtsprechung

rechtmäßiger Widerstand u. U. auch durch Kriegsverrat geleistet werden könne 1 9 9 . Durch einen so gearteten Widerstand werden unbeteiligte Dritte i n weit größerem Umfang in Mitleidenschaft gezogen. Trotzdem hat der B G H einen solchen indirekten Schlag gegen die Staatsgewalt nicht schlechthin abgelehnt. Ebensowenig können die Ausführungen des Senats zur Güterabwägung befriedigen. Die Feststellung, daß das L G zu Recht darauf hinweist, daß an die Stromversorgungsanlagen, die gesprengt werden sollten, viele lebenswichtige Betriebe angeschlossen waren, enthält eine zu ungenaue Bestimmung der tatsächlich gefährdeten Rechtsgüter. A u f der anderen Seite w i r d die mögliche W i r k u n g der Sprengstoffanschläge unterschätzt. Der Plan der Südtiroler, durch Unruhe i n ihrer Provinz „die Weltöffentlichkeit wachzurütteln", kann nicht als „Wahn" bezeichnet werden. Für die gegenwärtigen Verhandlungen zwischen der italienischen Regierung und den Vertretern Südtirols über deren rechtliche Besserstellung dürften die Sprengstoffanschläge eine wesentliche Ursache gewesen sein. Das eigentliche Problem des Falls: Rechtfertigt die Staatslage i n Südtirol Widerstandshandlungen? wird, so hat man den Eindruck, vom B G H übergangen, u m sich die peinliche Untersuchung über rechtsstaatliche Verhältnisse i n Italien ersparen zu können. Damit werden auch die weiteren Fragestellungen 200 dieses Falles ausgeklammert.

Fünfter

Abschnitt

§ 29 Zusammenfassung der Rechtsprechung Trotz aller Verschiedenheit der zu behandelnden Rechtsmaterien zeigen die Urteile i n den großen Zügen eine erfreuliche Einheitlichkeit. Gewisse Rechtsprinzipien durchziehen gleichmäßig die meisten Judikate. I n Ubereinstimmung m i t dem demokratischen Gedanken w i r d jeder für berechtigt erklärt, Widerstand zu leisten. Die Zielvorstellungen, die nach Ansicht der Gerichte den Widerstandskämpfer legitimieren, decken sich weitgehend, wenn verlangt wird, daß sich dieser für das Recht und die Wünsche der Bevölkerung einsetzen müsse. Egoistische Interessen werden vom politischen Widerstandsrecht regelmäßig ausgenommen. Sie finden Anerkennung, wenn sich der Mensch gegen die Verletzung seiner persönlichsten Rechte wendet. BVerwG und iw Vgl. oben, S. 54 ff. 200 v g l . Bertram, Berufimg auf das Widerstandsrecht Staat.

im

unbeteiligten

§ 29 Zusammenfassung der Rechtsprechung

105

B G H sprechen dem einzelnen dieses Notwehrrecht zu. I n eindrucksvoller Ubereinstimmung messen die Gerichte die Widerstandstaten, die Rechtsgüter Dritter verletzen, am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Ebenso w i r d der Subsidiaritätsgrundsatz, von der Entgleisung des BVerwG i m „Demontage-Fall" abgesehen, einheitlich verwirklicht. Die Gerichte unterscheiden scharf zwischen Rechtsstaat und Unrechtsstaat. Der systemimmanente Widerstand w i r d unterbewertet. Man kann jedoch den diesbezüglichen Urteilen nur gerecht werden, wenn man sich vergegenwärtigt, daß die Gerichte die Frage zu entscheiden hatten, ob der Verfolgte, sei es i m Dritten Reich, sei es i n der SBZ, sich i n solchem Maße verdient gemacht hat, daß i h m eine Entschädigung zugebilligt werden kann. Wenn es nur um die Frage gegangen wäre, ob der Verfolgte rechtmäßig gehandelt hat, wären die Urteile wohl anders ausgefallen 201 . Wer aber den Karren des Unrechtsregimes mindestens ebenso gezogen wie gebremst hat, bei dem ist es doch sehr fraglich, ob er entschädigungswürdigen Widerstand geleistet hat. Dieser Gesichtspunkt, daß die Gerichte bei Anwendimg des B V F G und BEG über Entschädigungsansprüche zu entscheiden haben, darf auch nicht übersehen werden, wenn man die Entscheidungen zum gewaltlosen Widerstand, insbesondere zu systemkritischen Meinungsäußerungen, beurteilen w i l l . Eine einmalige abfällige Äußerung gegen das Unrechtsregime ist noch keine entschädigungswürdigeWiderstandshandlung. Vor allem die Meinungsäußerungen i n der Zone haben eine starke Unterbewertung erfahren, wenn man bedenkt, welches Gewicht dem Widerstand durch freie Meinungsäußerung für unsere Staatsform beigelegt wird. Man w i r d indes den Gedanken nicht los, daß i n diesen Fällen das BVerwG einem verdeckten Urteilsgrund nachgegeben haben könnte: Die Anerkennung politischer Meinungsäußerungen und politischer Witze als Widerstandshandlungen hätte es i n der Zeit vor dem Mauerbau den Bewohnern der Zone allzu leicht gemacht, sich einen Fluchtgrund zu „besorgen". Man hätte nur irgend jemand einen politischen Witz erzählen und gleich darauf fliehen müssen. Hieraus könnte sich auch die Diskrepanz zwischen B G H und BVerwG bezüglich politischer Meinungsäußerungen erklären. Wer i n der Zeit des NS politische Witze erzählte, konnte sich nicht, wie vor dem 13. 8. 1961 die Zonenbewohner, dem damit verbundenen Risiko durch Flucht 201 Das ergibt sich auch aus den Straftilgungsgesetzen, die geringere A n forderungen an die Widerstandshandlungen stellen; vgl. z.B. f ü r die N S Zeit für Bayern das Gesetz Nr. 21 zur Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts i n der Strafrechtspflege (GVB1. 1946, 180), f ü r die SBZ das Gesetz über die innerdeutsche Rechts- u n d Amtshilfe i n Strafsachen v o m 2.5.1953, B G B l 1953, I, 161. Einschlägige widerstandsrechtliche E n t scheidungen zu diesen Gesetzen w u r d e n dem Verfasser nicht bekannt.

106

2. Kap. Die Fallerfahrungen der Rechtsprechung

entziehen. Wer für solche Taten eingesperrt wurde, verdient weit eher eine Entschädigung. Die Rechtsprechung zum Häftlingshilfegesetz hätte deshalb nicht i n den gleichen Bahnen laufen dürfen wie die zum BVFG. Eine unlösliche Differenz i n der Rechtsprechung besteht allerdings hinsichtlich der Frage, ob eine Widerstandshandlung Aussicht auf Erfolg haben muß. Hier ist auch praktisch der einzige Punkt, wo die Richter von ihrer ζ. T. sehr intuitiven Rechtsfindung w i r k l i c h i m Stich gelassen wurden. Den Gerichten kann indes nicht vorgeworfen werden, sie hätten sich zuwenig an der Wissenschaft orientiert, da auch von dieser bis jetzt keine zuverlässigen Kriterien zu diesem Problem entwickelt worden sind. Es handelt sich hier um eine gänzlich ungeklärte Frage des Widerstandsrechts. Nicht alle Gerichte haben zu allen Problemen des Widerstandsrechts Stellung genommen, so daß das Aufzeigen weiterer Gemeinsamkeiten oder Divergenzen an der Lückenhaftigkeit der Rechtsprechung scheitert. Das Problem Widerstand und Revolution w i r d vom B G H kaum behandelt. Die Frage der D r i t t w i r k u n g taucht nur i n den Urteilen zu A r t . 5 GG auf. Die Vielzahl der Widerstandsformen wiederum t r i t t uns nur i n der Rechtsprechung zur ns.en Zeit entgegen. A u f die Funktion des Widerstandsrechts gehen nur das BVerwG und das BVerfG ein, und auch diese beiden Gerichte nur sehr knapp. Versuche, das Widerstandsrecht zu begründen, fehlen überhaupt.

Drittes

Kapitel

Die Formkräfte der Lehre Verarbeitung der Ergebnisse der Rechtsprechung § 30 Methode Der eingangs dargestellte Leitgedanke der Arbeit, die Fallerfahrungen der Praxis für eine Fortentwicklung des Widerstandsrechts fruchtbar zu machen, führt jetzt an das methodische Problem, wie die Entscheidungen der Gerichte ausgewertet werden können. Nicht jedes Judikat kann ohne weiteres als rechtsfortbildend betrachtet werden; manches Urteil muß eher als entwicklungshemmend gelten. Es sind deshalb Maßstäbe zu suchen, an denen die Qualität der Urteile gemessen werden kann. Innerhalb des kodifizierten Rechts liefern Gesetzeswortlaut und -systematik wichtige Anhaltspunkte für eine Überprüfung der Richtigkeit der Urteile. Für das Widerstandsrecht als einem ungeschriebenen Recht scheiden die meisten Interpretationsmethoden von vorneherein zumindest teilweise aus: Die grammatische Methode läßt sich allenfalls hinsichtliche des Wortes „Widerstand" verwerten. Die systematische Auslegung läßt sich nur bezüglich der Einbettung des Widerstandsrechts ins Verfassungssystem berücksichtigen. Keine Rolle können die Vorstellungen des Gesetzgebers spielen; trotzdem kann man i n gewissem Umfang die historische Methode anwenden, wenn man der geschichtlichen Gewachsenheit des Widerstandsrechts Beachtung schenkt. Für das Widerstandsrecht als ungeschriebenem Recht eignet sich aber besonders die teleologische Methode, die nicht vom Wortlaut einer Bestimmung ausgeht, sondern von Funktion und Zweck des Instituts. Eine solche funktionale Betrachtung kann am ehesten den strukturellen und verfassungsrechtlichen Änderungen der Gesellschaftsordnung Rechnung tragen 1 . Daneben bietet sich das Widerstandsrecht als unkodifizierte Rechtsmaterie geradezu an, an seinen Systembau allgemeine Rechtsprinzipien heranzutragen. Es ist das gegebene Feld, u m außerhalb eines Kodifikationskorsetts i n offener Problembehandlung weiterentwickelt zu 1

Vgl. dazu Scholler, Person u n d Öffentlichkeit, S. 213.

108

3. Kap. Die Formkräfte der Lehre

werden. Die richterliche Rechtsfortbildung braucht sich hier keiner verschleiernden Methoden zu bedienen, vielmehr scheinen die Gerichte an erster Stelle dazu berufen, i n einem „reasoning from case to case" 2 die Rechtsentwicklung voranzutreiben. Diese zentrale Stellung des Urteils i m Rechtsfindungsprozeß bezüglich des Widerstandsrechts macht eine kurze Erörterung über die prinzipielle Wertung eines Urteils notwendig. Neuestens hat Kriele die Ansicht vertreten, daß der Gesetzgeber kein Rechtsetzungsmonopol, sondern nur eine Rechtsetzungsprärogative habe 3 . Betrachtet man die von uns behandelten Rechtsmaterien des BEG und des BVFG, so erweist sich die Richtigkeit der Meinung Krieles. I m B V F G wurde die von den Verwaltungsgerichten vollzogene Rechtsentwicklung vom Gesetzgeber aufgegriffen und i n diesem Sinne positiviert 4 . Dagegen mußte sich der B G H an seinem Verständnis des Wiedergutmachungsrechts gesetzgeberische Korrekturen gefallen lassen5. Daraus ergibt sich zum einen, daß die Gerichte tatsächlich — insbesondere bei nicht sorgfältig durchgearbeiteten Gesetzen — zu einem subsidiären Gesetzgeber werden, zum anderen, daß dieses Zugeständnis an die Gerichte die Rechtsstellung des Gesetzgebers gar nicht so sehr trifft, da er jederzeit die Möglichkeit zu Nachkorrekturen hat. Man w i r d m i t Kriele weiter davon ausgehen können, daß eine Richtigkeitsvermutung zugunsten des Präjudizes besteht 6 . Dafür sprechen neben praktischen Erwägungen vor allem die Gesichtspunkte der Entlastung und Kontinuität, des Fortschritts und der Bewahrung. Das w i r d uns jedoch nicht der Mühe entheben, an den Punkten, wo der Rechtsprechung gewichtige Argumente entgegengehalten werden können, zu versuchen, die Urteile auf richtigere Bahnen zu lenken.

2 Esser, Grundsatz u n d Norm, S. 53. 3 Theorie der Rechtsgewinnung, § 14. Überhaupt scheint sich i m kontinentalen Rechtssystem der Schwerpunkt v o m kodifizierten System auf ein an Prinzipien orientiertes richterliches Problemdenken zu verschieben (vgl. Esser, Grundsatz u n d Norm, S. 23 f.). 4 Vgl. oben, S. 67, 72. « Vgl. oben, S. 60. β Theorie der Rechtsgewinnung, S. 243 ff.

§ 31 Begriff und Wesen des Widerstandes Erster

109

Abschnitt

Begriff, Charakterisierung und Begründung des Widerstandsrechts §31 Begriff und Wesen des Widerstandes Der Kampf ums Recht als Motiv des Widerstandes durchlief wie ein roter Faden die besprochenen Entscheidungen. Es wurde gekämpft für das Recht i m Staat und für die eigenen Rechte des Bürgers; i n den totalitären Staatsgebilden der SBZ und des NS getreu dem Worte Schillers: „Wenn der Gedrückte nirgends Recht kann finden, wenn unerträglich w i r d die L a s t . . Λ " I n seiner ganzen reichen Geschichte geht es dem Widerstandsrecht u m das Recht, wie es das westgotische Sprichwort: Rex eris, si recte facies, et si non facias, non eris, das sich i n vielfachen Varianten durch das ganze Mittelalter hindurch bis i n die Neuzeit verfolgen läßt, eindrucksvoll belegt 8 . Widerstand kann geleistet werden, wenn das Recht verletzt wird, aber nicht, wenn politische Zweckmäßigkeitsfragen zur Entscheidung anstehen 9 . Der Widerstandsfall w i r d grundsätzlich durch rechtswidrige Maßnahmen der Staatsgewalt ausgelöst, wobei an dieser Stelle dahingestellt bleiben soll, ob es sich um Verfassungsverletzungen handeln muß. Setzt sich die Staatsgewalt i n Widerspruch zum positiven Recht, handelt sie also illegal, so ist der Rechtsbruch i n der Regel eindeutig und der Widerstandsfall i m Grunde gegeben. Schwierigkeiten treten erst bei der Frage auf, ob legale Staatsakte rechtswidrig sein können, d.h. ob ihre Bekämpfung rechtmäßige Ausübung des Widerstandsrechts sein kann. Das ist nur dann möglich, wenn das positive Recht nicht seinen Maßstab i n sich selbst trägt, sondern an höheren Kriterien gemessen werden kann. Immanuel K a n t hat für seine Zeit das bis dahin als höherer Maßstab anerkannte Naturrecht beseitigt und lehnt deshalb folgerichtig ein Widerstandsrecht des Volkes nachdrücklich ab: „Der Grund der Pflicht des Volkes, einen, selbst den für unerträglich ausgegebenen Mißbrauch der obersten Gewalt dennoch zu ertragen, liegt darin: daß sein Widerstand wider die höchste Gesetzgebung selbst niemals anders 7 W i l h e l m Teil, 2. Aufzug, 2. Szene. β Vgl. Bauer, Dokumente, S. 52 ff.; siehe dazu auch Kern (Recht u n d Verfassung i m Mittelalter, S. 61): „Der Einzelne schützt das Recht gegen jedermann, auch gegen die Staatsgewalt. Jeder einzelne ist hierzu berufen, berechtigt, j a verpflichtet. Das ist der Sinn des Widerstandsrechts, . . . " » Ebenso Geiger, Widerstand, S. 104.

110

3. Kap. Die Formkräfte der Lehre

als gesetzwidrig, ja als die ganze gesetzliche Verfassung zernichtend gedacht werden muß. Denn um zu demselben befugt zu sein, müßte ein öffentliches Gesetz vorhanden sein, welches diesen Widerstand erlaubte, d. i. die oberste Gesetzgebung enthielte die Bestimmung i n sich, nicht die oberste zu sein, und das Volk als Untertan i n einem und demselben U r t e i l zum Souverän über den zu machen, dem es untertänig ist; welches sich widerspricht, . . . 1 0 ." Zu einem ähnlichen Ergebnis muß Hans Kelsen kommen, der seine Rechtstheorie auch angesichts der nationalsozialistischen Erfahrungen nicht geändert hat: „ V o m Standpunkt der Rechtswissenschaft ist das Recht unter der Naziherrschaft ein Recht. W i r können es bedauern, aber w i r können es nicht leugnen, daß es das Recht war. Die Grundnorm kann an der Gegebenheit des Rechts nichts ändern 1 1 ." Die Mehrzahl der deutschen Juristen suchte jedoch nach 1945 unter dem Eindruck der Ereignisse während des NS den düsteren Horizont nach überpositiven Rechtsgrundsätzen ab. Man forscht nach einem Maßstab, „an dem gemessen das Unrecht Unrecht bleibt, auch wenn es i n die Form eines Gesetzes gegossen ist" 1 2 . Das führte zu „zahlreichen naturrechtlichen Reprisen, von denen die meisten die gleichen konstitutionellen Schwächen aufweisen, die das Naturrecht schon früher unglaubwürdig gemacht hatten, w e i l sie allzusehr die eigenen subjektiven Wünsche in die Dinge hineintrugen, u m sie dann als (scheinbar) objektive Normen aus ihnen wieder herauszuholen" 13 . Diese erste Freude am Naturrecht hat heute kritischeren Überlegungen Platz gemacht. I n unserem Zusammenhang soll besonders auf die Untersuchungen über den Geltungsgrund des Rechts und die Bemühungen um ein relatives Naturrecht 1 4 eingegangen werden. Die individuelle Anerkennungstheorie leitet die Verbindlichkeit des Rechts von der Zustimmung des einzelnen ab. Erst individuelles Einverständnis bzw. Billigung durch das Rechtsgefühl oder das Gewissen des einzelnen machen das Recht verpflichtend. Diese Lösung, die das Recht vollkommen von der Gewissenszustimmung des einzelnen abhängig macht, würde zu einer unerträglichen Erschütterung des faktischen Bestandes und der Effektivität des Rechts führen 1 6 . io Metaphysik der Sitten, S. 144. η Kelsen bei F. M. Schmoelz, Das Naturrecht i n der politischen Theorie, S. 148. Es ist bezeichnend, daß sich Kelsen zum Problem des Widerstandsrechts i n seiner Staatslehre ausschweigt. 12 Gustav Radbruch, Die Wandlung, 2. Jahrgang (1947), S. 9. 13 Welzel, A n den Grenzen des Rechts, S. 6. 14 Wieacker spricht von „Naturrechtsdenkern des offenen Typus" (Zum heutigen Stand der Naturrechtsdiskussion, S. 10, 21). is Vgl. hierzu die Darstellung Welzels ( A n den Grenzen des Redits, S. 8 ff.),

§ 31 Begriff und Wesen des Widerstandes

111

Dieses für die Hechtssicherheit unerträgliche Ergebnis vermeidet die generelle Anerkennungstheorie, die besagt, daß die positive Geltung des Rechts i n erster L i n i e darauf basiere, daß es von den von i h m Betroffenen — i m großen und ganzen — als verpflichtend empfungen werde 1 6 . Diese Ansicht „ermöglicht es, die folgenschwere Identifikation der Positivität (Faktizität) der Rechtsgeltung m i t der bloßen Durchsetzbarkeit eines Befehls abzuwehren und das Recht schon auf der Ebene der Positivität vom bloßen Macht- oder Zwangsakt zu unterscheiden" 17 . Die Abhängigkeit des Rechts von der Zustimmung der größeren Volksgruppe hätte es jedoch auch nicht vermocht, die spanische Inquisition, die Hexenprozesse und die Nürnberger Gesetze zum Unrecht zu machen, da sie durchaus dem Geiste der Volksmehrheit entsprachen. Aus diesem Grunde kann die generelle Anerkennung allein nicht jede Norm zum Recht machen, ebensowenig wie sie einziges K r i t e r i u m zur Bestimmung der Legitimität eines Regimes sein kann. Das BVerfG griff i m „ K P D - U r t e i l " 1 8 zur Bestimmung des Begriffs der Illegitimität die Gedanken der generellen Anerkennungstheorie auf, als es sagte, daß die Bundesrepublik legitim sei, weil ihre Wertsetzungen von der übergroßen Mehrheit des deutschen Volkes aus voller Uberzeugung bejaht würden. Doch diese Bejahung durch den „Volksgeist" genügt dem BVerfG noch nicht, sicher weil es die Gefahren der generellen Anerkennungstheorie gesehen hat. Als weiteres K r i t e r i u m nennt es deshalb, daß die Bundesrepublik Ausdruck der sozialen und politischen Gedankenwelt sei, die dem gegenwärtig erreichten kulturellen Zustand des deutschen Volkes entspreche. Sie beruhe auf einer ungebrochenen Tradition, die — aus älteren Quellen gespeist — von den großen Staatsphilosophen der Aufklärung über die bürgerliche Revolution zu der liberal-rechtsstaatlichen Entwicklung des 19. und 20. Jahrhunderts geführt und der sie selbst das Prinzip der sozialen Verpflichtung hinzugefügt habe. Eine legitime Staatsordnung muß danach eine feste Verbindung zu den staatsphilosophischen Anschauungen der Vergangenheit haben, sie darf sich, um es negativ zu formulieren, nicht aus der Tradition früher errungener Erkenntnisse herausbegeben. Das BVerfG macht die Legitimität nicht davon abhängig, daß sich die Staatsordnung nicht der als Vertreter der individuellen Anerkennungstheorie Carl Theodor Welcker, Ernst Rudolf Bierling u n d Rudolf L a u n nennt. Z u Recht sagt Scholler (Gestalt der Freiheit, S. 35 f.), der das Widerstandsrecht als Gestaltwerdung eines Gewissensaktes ansieht, daß das Widerstandsrecht überall da entarte, w o es sich selbst i n seiner Subjektivität absolut setze. ie v g l . Heller, Staatslehre, S. 191 ff.; als Vertreter der Neuhegelianer Karl Larenz, Methodenlehre, S. 144 ff. 17 Welzel, a.a.O., S. 13. is Vgl. oben, § 26.

112

3. Kap. Die Formkräfte der Lehre

gegen Naturrechtssätze vergeht; vielmehr stellt es auf den Bezug zur Geschichte ab. Es begibt sich damit i n die Nähe der Anhänger eines relativen Naturrechts 19 . Diese Lehre trägt dem prinzipiellen Einwand gegen das Naturrecht, dem Hinweis auf die Geschichtlichkeit des Rechts und aller ethischen Bewertungsmaßstäbe, Rechnung, indem sie einen absoluten Naturrechtskodex ablehnt. Sie sieht aber i n den geschichtlichen Wert- und Gerechtigkeitserfahrungen, die „seit Jahrhunderten i n der praktischen Tradition des Naturrechts selbst, i n den Grundrechten, i n bewährter Judikatur und Dogmatik gleichsam gehortet sind" 2 0 , einen Schatz, der „jeweils i n einer gegebenen geschichtlichen Lage überpositive Maßstäbe und Weisungen der Gerechtigkeit" 2 1 liefern kann. D i e Verbindung

der

Volksgeistlehre

mit

der

Lehre

vom

relativen

Naturrecht zur Bestimmung des Rechts und der Legitimität erscheint glücklich: Die Gefahr, durch manipulierte Volksmeinung Gesetze beliebigen Inhalts zu Recht machen zu können, ist gebannt. Diese Rechtskonzeption, die sowohl den Staat als auch den Bürger an das Recht bindet, gibt auch einer Minderheit das Recht zum Widerstand gegen eine Mehrheit 2 2 . Gleichzeitig erlaubt eine Fortentwicklung des Rechtsethos der Allgemeinheit auf dem Boden gewonnener Gerechtigkeitserfahrung eine sinnvolle Erweiterung des historischen Naturrechtsschatzes. Kontinuierliche Rechtsentwicklung ohne zerstörende Vulkanausbrüche w i r d so am ehesten gewährleistet. Wenn w i r zur Ausgangsfrage, ob das positive Recht an höheren Kriterien gemessen werden kann, zurückkehren, so muß die A n t w o r t nach diesem Exkurs lauten, daß die Rechtsüberzeugung der Bevölkerung i n Verbindung mit der historischen Ethiktradition einen Gültigkeitsmaßstab für das positive Recht liefert. Das Wesen des Widerstandsrechts, der Kampf ums Recht, ist damit der Kampf um die Einheit von positivem Recht, Rechtsüberzeugung und fortschrittlicher Rechtstradition. Das Widerstandsrecht kann i n der historischen Situation statisch sein, muß es aber nicht; vielmehr kann eine andere historische Situation nur eine dynamische Ausübung des Widerstandsrechts erlauben. Diesem Umstand ist das BVerwG i m i» Eberhard Schmidt, Gesetz u n d Richter, S. 16 ff.; Mitteis, Über das Naturrecht, S. 7; Dahm, Deutsches Recht, S. 39; Arthur Kaufmann, Naturrecht u n d Geschichtlichkeit; Larenz, Methodenlehre, S. 127; Enneccerus/ Nipperdey, Allgemeiner T e i l des Bürgerlichen Rechts, I , S. 219 ff.; Wieacker, Z u m heutigen Stand der Naturrechtsdiskussion; Arndt, Rechtsdenken i n unserer Zeit. 2 ® F. Wieacker, Naturrechtsdiskussion, S. 22. 21 F. Wieacker, Naturrechtsdiskussion, S. 23. 22 Ebenso Geiger, Widerstand, S. 102 f.

§ 31 Begriff und Wesen des Widerstandes

113

„Demontage-Fall" gerecht geworden. Es hat damals nicht gefordert, daß der Widerstand i m konservierenden Sinne ausgeübt werden müsse, sondern es hat eine Beeinträchtigung des Unrechtsregimes zugunsten, das darf man dem Senat w o h l unterstellen, einer legitimen Ordnung verlangt. Bertram n i m m t das Urteil sehr zu Unrecht zum Anlaß, dem BVerwG vorzuwerfen, es unterscheide nicht zwischen Widerstand und Revolution und sprenge den Rahmen des Widerstandsrechts 23 . Kampf gegen das Zonenregime bedeutet Kampf gegen ein illegitimes Regime, Kampf u m Rechtsüberzeugung des Volkes und überlieferte Gerechtigkeitserfahrungen. Er läßt sich nur mit revolutionärer Zielsetzung führen 2 4 . Das muß auch gelten, wo ein Regime illegitim wird, w e i l es sich außerhalb des Volkswillens und einer fortschrittlichen Rechtstradition stellt. So gesehen kann das Widerstandsrecht zum Druckmittel für eine sinnvolle Evolution werden und seinen tiefsten Sinn, den Ernstfall nicht eintreten zu lassen, erfüllen. Uber der rechtsethischen Frage nach dem Wesen des Widerstandsrechts sollen zwei begriffliche Probleme nicht vernachlässigt werden: Zum einen, wie der systemimmanente Widerstand zu bewerten ist, zum anderen, ob nur dann Widerstand geleistet wird, wenn gegen Gesetze verstoßen wird. Die Entscheidung des BVerwG i m „ F a l l des Sportsekretärs" konnte nicht befriedigen, w e i l der persönliche M u t des Klägers keine entsprechende Würdigung erfahren hatte. Daß es hier galt, eine Widerstandstat zu beurteilen, w e i l sich der Kläger für die Sache des Rechts eingesetzt hatte, hätte der Senat herausarbeiten müssen. Diese Haltung des Klägers war auch durch das Widerstandsrecht gerechtfertigt. Der Kläger hätte vom BVerwG nur mit der Begründung abgewiesen werden dürfen, daß er zwar Widerstand geleistet habe, aber trotzdem nicht als Widerstandskämpfer angesprochen werden könne, w e i l er m i t dieser Tat nicht seine Kollaboration mit dem System wettgemacht habe und deshalb einer Entschädigung nicht würdig sei. Die Unterscheidung zwischen Einzeltat und Gesamtverhalten ermöglicht die richtige Wertung des systemimmanenten Widerstandes: Auch wer grundsätzlich m i t dem Unrechtsregime einverstanden ist, handelt da rechtmäßig, wo er für das Recht eintritt. Eine Einzeltat macht i h n aber noch nicht zum Widerstandskämpfer. Ebensowenig konnte das „Sachverständigen-Urteil" des B G H zufriedenstellen. Auch diese Entscheidung w i r d dem persönlichen M u t 23 Widerstand, S. 39. 24 Ebenso Arnot, Widerstandsrecht, S. 3. 8

Scheidle

114

3. Kap. Die Formkräfte der Lehre

des Klägers nicht gerecht. Der Widerstand setzt nicht erst da ein, wo gegen positiv-rechtliche Hegelungen des Unrechtsregimes verstoßen wird. Widerstand w i r d vielmehr schon dort geleistet, wo auch gesetzwidrige Befehle der Staatsgewalt unter persönlichem Risiko nicht befolgt werden. Eine andere Betrachtung würde der Unterwertigkeit der Gesetze i m totalitären Staat nicht gerecht. I n diesem Punkt kann daher der Rechtsprechung des BVerwG nur zugestimmt werden, wonach auch — nach heutigen Beurteilungsmaßstäben — pflichtgemäße Handlungen Widerstand darstellen, wenn sie i m Widerspruch zu inhaltlich unrechtmäßigen oder unsittlichen Weisungen vorgenommen wurden 2 5 . §32 Uberpositives Notwehrrecht und politisches Widerstandsrecht Es hat sich gezeigt, daß die Gerichte zwischen dem Widerstand, der für die Allgemeinheit (politischer Widerstand) 26, und dem Widerstand, der aus persönlichen Interessen geleistet w i r d (überpositive Notwehr) 26, deutlich unterscheiden. Beide Zielsetzungen werden unter jeweils verschiedenen Voraussetzungen für zulässig erachtet. Das überpositive Notwehrrecht billigen die Gerichte zum Schutze vorstaatlicher Menschenrechte zu. Wegen der Geschichtlichkeit des Rechts handelt es sich dabei u m durch Rechtsethos und Rechtstradition anerkannte Freiheitsräume i. S. des relativen Naturrechts, die der gesetzgeberischen Disposition entzogen sind. Die doppelte Wurzel des Widerstandsrechts, die sich i n den Gerichtsurteilen finden läßt, w i r d i n der Literatur i m allgemeinen kaum beachtet. Eine rühmliche Ausnahme bildet Adolf A r n d t i n seiner Urteilsrezension zum „ F a l l des Bremer Drehers" 2 7 : Er unterscheidet den Widerstand, u m nicht selbst schuldig zu werden oder u m sich oder einen nächsten vor unmenschlicher Bedrohung zu retten, den er besondere Notwehr nennt, von dem Widerstand, der das Staats- und VolksGanze von seinen Unterdrückern befreien soll; diesen Widerstand nennt er allgemeine Nothilfe. Er baut diesen Unterschied aber nicht konsequent aus, sondern verwischt die Konturen wieder, indem er seine besondere Notwehr m i t dem passiven und seine allgemeine Nothilfe m i t dem aktiven Widerstand (Aufstand, Tyrannenmord) identifiziert. Damit verlagert A r n d t die Unterscheidung i n die M i t t e l und Formen des Widerstandes, während die Unterscheidung von über25 Vgl. oben, 1. Kap., Fußnote 63. 26 V o m Verfasser eingeführte Bezeichnungen. 27 N J W 1962, 430ff.; ungenau P.Schneider, Widerstandsrecht S.20. Beachtlich ist, daß A r n d t u n d Schneider auf diesen Gesichtspunkt bei der Besprechung gerichtlicher Entscheidungen gestoßen sind.

§ 32 Überpositives Notwehrrecht und politisches Widerstandsrecht

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positivem Notwehrrecht und politischem Widerstandsrecht nur durch die Unterscheidung i n der Zielsetzung ihren Sinn gewinnt. Der Widerstand zur Wahrung eigener Rechte läßt sich nicht, wie es manchmal getan wird, als gewöhnlicher Notwehrfall abtun. Denn i n einer Diktatur richtet er sich gegen staatliche Maßnahmen, die sehr wohl positiv-rechtlich gerechtfertigt sein können, aber gegen überpositive Maßstäbe verstoßen. Nur aus überpositiven Grundsätzen kann die Frage beantwortet werden, welche Staatsakte diese Notwehrlage auslösen. Die daraus resultierende Verwandtschaft des überpositiven Notwehrrechts m i t dem politischen Widerstandsrecht läßt die Zusammenfassung dieser Rechte unter dem Oberbegriff des Widerstandsrechts sinnvoll erscheinen. Insbesondere die Fallerfahrungen aus der Zonenpraxis haben die Lösung erzwungen, ein Auflehnungsrecht auch aus rein persönlichen Interessen zu bejahen, wenn der Staat seine Bürger gänzlich rechtlos stellen w i l l . Von diesem Standpunkt aus muß uns auch die Beantwortung der von Wertenbruch 2 8 alternativ verstandenen Frage, ob das Widerstandsrecht Menschenrecht oder Verfassungsschutzrecht sei, i m folgenden Paragraphen leicht fallen.

§ 33 Rechtskonstruktion und Begründung Die Rechtsprechung unternimmt keine oder nur wenig ergiebige Versuche, das Widerstandsrecht zu begründen. Doch läßt sich nicht an der Tatsache vorübergehen, daß die Gerichte unter der Herrschaft von Unrechtsregimen ein Widerstandsrecht eindeutig bejahen. I m rechtsstaatlichen Bereich, meint das BVerfG, bestehe evtl. kein Bedürfnis für ein Widerstandsrecht, da die staatlichen Gewalten gehemmt und kontrolliert seien 29 . Bedenkt man die extensive, widerstandsfreundliche Auslegung, die A r t . 5 GG durch die Obergerichte erfahren hat, so ist diese Äußerung wohl i n der Richtung auszulegen, daß ein Widerstandsrecht auch i m Rechtsstaat zu bejahen ist, aber vielfach durch weniger einschneidende Rechtsbehelfe zurückgedrängt w i r d 3 0 . Die Richtigkeit dieser Auslegung w i r d sich bei der Erörterung des Problems Widerstandsrecht und Staatslage erhärten 3 1 . Obwohl die Rechtsprechung das Widerstandsrecht nicht begründet hat, hat sie das Institut des Widerstandsrechts durch die Differenzierung i n überpositives Notwehrrecht und politisches Widerstands28 2» so 3i



Z u r Rechtfertigung des Widerstandes, S. 333. BVerGE 5, 377 ( „ K P D - U r t e i l " ) . a. A . Peter Schneider, Widerstandsrecht, S. 16. Siehe unten, §36.

3. Kap. Die Formkräfte der Lehre

116

recht judiziell ausgeprägt und der theoretischen Begründung bestimmte Bahnen vorgezeichnet. Wenn die Rechtsprechung das Notwehrrecht zubilligt, u m Menschenrechte zu schützen, kann das gewährte Schutzrecht nicht auf niederer Geltungsstufe stehen als die Rechte, die es schützt; es muß notwendig auch Menschenrecht i m Sinne des relativen Naturrechts sein, das sich der gesetzgeberischen Disposition entzieht. Die Menschenrechte gehören als Abwehrrechte gegen den Staat, als Freiheitssicherungsrechte, dem status negativus an. So w i r d das überpositive Notwehrrecht

zum

Wächter

des status

negativus

u n d g l e i c h z e i t i g dessen v o r -

nehmster Exponent. Das politische Widerstandsrecht beruft den Bürger zum Handeln i n Staatsangelegenheiten. Er t r i t t aus seinem persönlichen Rechtskreis heraus und handelt für die Allgemeinheit. I n unserer gegenwärtigen Situation einer legitimen Staatsordnung ist dabei am ehesten an ein Handeln zum Schutz der verfassungsmäßigen Ordnung zu denken 32 . Der Bürger kämpft für die Verfassung 33 . Das Recht, das i h n dazu ermächtigt, muß notwendig ein verfassungsrechtliches sein. Es legitimiert den Staatsbürger zum aktiven Eingreifen i n den Ablauf des staatlichen Lebens i n so hohem Maße, daß alle anderen staatlichen Mitwirkungsrechte i n den Schatten gestellt werden. Das politische Widerstandsrecht

muß

als herausragendes

Recht

des status

activus

gelten 3 4 . Die Begründung des Widerstandsrechts läßt sich i m Geltungsbereich des GG aus dem ungeschriebenen Verfassungsrecht ableiten. Sie ergibt sich aus dem relativen Naturrecht. soweit die Konzeption einer Verfassung die Existenz des Widerstandsrechts leugnet. Nach A r t . 1 I GG ist die Würde des Menschen unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt. Was hat zu geschehen, wenn die staatlichen Gewalten dieser Verpflichtung nicht mehr nachkommen? Sind sie dann nicht ihres Amtes dahin 3 5 , ist dann nicht der Bürger aufgerufen, seine Rechte selbst zu schützen? A r t . 20 I I 1 GG legt den Grundsatz der Volkssouveränität nieder: Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. I n Satz 2 folgt jedoch als Ein32 Vgl. den „ F a l l Pätsch" (oben, § 27,3). 33 Dabei k a n n es sich auch u m einen K a m p f f ü r die Gewährung oder gegen die Abschaffung v o n Grundrechten handeln. Entscheidend ist, ob man überwiegend i m eigenen oder überwiegend i m öffentlichen Interesse handelt. 34 Auch H. J. Wolff rechnet das (politische) Widerstandsrecht zu den Rechten des status activus, Verwaltungsrecht I, § 32 I V c. 35 Vgl. den Verwirkungsgedanken bei S. Grundmann, Widerstandsrecht, Sp. 2506 f.

§ 33 Rechtskonstruktion und Begründung

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schränkung der Wirkungsmöglichkeit des Volkes das Repräsentationsprinzip, das die Ausübung der Staatsgewalt dem Volke nur noch i n Wahlen und Abstimmungen überläßt, die Ausübung der verbleibenden Staatsgewalt aber auf die Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung überträgt. A u f der anderen Seite w i r d das unmittelbar demokratische Element unserer Verfassung verstärkt durch das „Innehaben subjektiver staatsbürgerlicher Rechte durch die große Masse der Bevölkerung" 3 6 . I m Spannungsfeld zwischen mittelbarer und unmittelbarer Demokratie liegt denn auch das politische Widerstandsrecht. Es ist grundsätzlich durch das Repräsentationsprinzip verdrängt. Jedoch w i r d das Repräsentationsprinzip punktuell beseitigt, soweit Staatsorgane gegen die Verfassung verstoßen. Es ist generell beseitigt, wenn das ganze Regime illegitim ist 3 7 . Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt man, wenn man m i t W. Geiger an A r t . 1 I I GG ansetzt 38 . Das Deutsche Volk bekennt sich darin zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit i n der Welt. Die Grundrechte stehen danach nicht zur souveränen Disposition des Gesetzgebers 39, vielmehr errichten sie für diesen unüberwindbare Bastionen, „Bastionen des Rechts, die dem Staat und der Staatsgewalt u m der Freiheit und Würde des Menschen w i l l e n absolute Grenzen setzen. Diese Bastionen gegenüber dem Staat zu verteidigen, kann nicht dem Staat, der staatlichen Gewalt i n den Händen staatlicher Organe überlassen oder gar vorbehalten bleiben, sondern muß am Ende Recht und Pflicht der Träger dieser elementaren Rechte, Recht und Pflicht der Bürger sein" 4 0 . Es ist deshalb der Ansicht Carl Schmitts zu folgen, daß die Menschenrechte die A n erkennung des Widerstandsrechts zu ihrer Verteidigung zwingend erfordern 4 1 . Ein weiteres Argument für die Systemimmanenz des Widerstandsrechts i m Verfassungssystem läßt sich aus der Überlegung gewinnen, daß eine genaue Grenze zwischen Grundrechtsbetätigung und Ausübung des Widerstandsrechts nicht gezogen werden kann. Dies muß u m so mehr gelten, je weiter der Funktionalisierungsprozeß der Grundrechte auf die Demokratie h i n fortschreitet, d. h. je mehr Bedeutung se Maunz, i n : Maunz/Dürig, GG, A r t . 20, R d . N r . 35. 87 Ä h n l i c h zu Repräsentationsprinzip u n d Widerstand H. Lauf er (Die demokratische Ordnung, S. 90) u n d Wertenbruch (Rechtfertigung, S. 330). 38 Widerstand, S. 99 ff. 30 Ä h n l i c h Maunz, Deutsches Staatsrecht, § 13 I I 1, Dürig, i n : Maunz/ Dürig, GG, A r t . 1, Rd. Nr. 8. 40 W. Geiger, Widerstand, S. 102. Verfassungslehre, S. 164; vgl. oben, S. 36f.

118

3. Kap. Die Formkräfte der Lehre

der aktivrechtlichen Seite der Grundrechte abgewonnen wird. Die Rechtsprechung zu A r t . 5 GG hat davon ein eindrucksvolles B i l d gegeben. Die Zubilligung eines staatsbürgerlichen Aktionsrechtes hat klassische Fälle des Widerstandsrechts unter den Schutz des A r t . 5 GG gestellt. A u f ähnliche Weise verschleifen sich die Grundrechte der Gewissens- und Demonstrationsfreiheit m i t dem Widerstandsrecht. Man denke nur daran, wie sehr die Wehrdienstverweigerung aus Gewissensgründen dem Widerstand gleicht, wenn es sich nicht überhaupt u m einen positiv-rechtlich erlaubten Fall des Widerstandes handelt 4 2 . Die jüngsten Vorfälle an den deutschen Hochschulen haben das Ineinandergreifen von Widerstand und Demonstration vor Augen gestellt. Größere Schwierigkeiten bereitet die Begründung des Widerstandsrechts i n totalitären Staaten, auch wenn man sich allseits darüber einig ist, daß es gerade dort ein Widerstandsrecht geben muß. Aus dem positiv-rechtlichen Bereich lassen sich Argumente für die Existenz eines Widerstandsrechts i n solchen Staaten nicht gewinnen. Es ist dann letztlich die Uberzeugung, daß der Staat u m des Menschen w i l l e n da ist und nicht der Mensch für den Staat und daß Rechtsethos und Rechtstradition konstitutive Bestandteile des Rechts sind, die den Widerstandskämpfer legitimieren, für ein so verstandenes Recht auf die Barrikaden zu steigen.

Zweiter

Abschnitt

Die Einzelprobleme §34 Die Aktivlegitimation I n eindrucksvoller Einhelligkeit gehen alle Entscheidungen zum Widerstandsrecht davon aus, daß grundsätzlich jedermann berechtigt ist, Widerstand zu leisten. Dies entspricht ganz der Auffassung vom Widerstandsrecht als ungeschriebenem Grundrecht. Es entspricht weiter der These von der Mündigkeit des Staatsbürgers, auf der demokratische Staatswesen aufgebaut sind 4 3 . Auffassungen von einem ständischen bzw. bestimmten Eliten vorbehaltenen Widerstandsrecht haben 42 Der Meinung Bertrams (Widerstand u n d Revolution, S. 16), daß die Berufung auf A r t . 4 I I I GG nichts m i t dem Widerstandsrecht zu t u n habe, k a n n nicht gefolgt werden. 43 Das hebt vor allem Thielicke (Ethik I I 2, S. 445 f.) hervor.

§ 3 Die

ivlegitimation

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i m heutigen Staatsrecht keinen Platz. Auch das Widerstandsrecht darf sich dem Funktionierungsprozeß auf die Demokratie h i n nicht entziehen. Wer das demokratische Bewußtsein aktivieren w i l l , muß auch jedermann das Widerstandsrecht zubilligen. Zum Aufstieg des NS hat wesentlich beigetragen, daß der „Mann auf der Straße" sich nicht verantwortlich gefühlt hat. Dem „Normalbürger" das Widerstandsrecht abzusprechen, hieße, ihn i n seinen demokratischen Rechten zu beschneiden, ihn demokratisch zu desintegrieren. Die von Volksgruppen getragenen Aufstände vom 17. Juni 1953 i n der SBZ und von 1956 i n Ungarn lassen sich nur legitimieren, wenn man dem einzelnen das Widerstandsrecht zuerkennt. Der „ F a l l Pätsch" belegt, daß der einzelne durch seinen Widerstand Gefahren für die Grundrechte abwehren kann. Wenn jedem das Widerstandsrecht zugebilligt wird, dürfen die Augen vor der sich daraus ergebenden Konsequenz nicht verschlossen werden: M i t dem Widerstandsrecht w i r d jedem das Recht gegeben, sein Verhältnis zur Staatsgewalt i n eigener Vollmacht zu überprüfen und unter gewissen Voraussetzungen nicht nur den Gehorsam zu verweigern, sondern m i t Gewalt gegen die Staatsorgane vorzugehen. Der Staat ist mit seinem Gehorsamsanspruch auf die positive Zustimmung der Bürger angewiesen. A u f diese Folgen weist Herbert Krüger h i n 4 4 ; sie sind indes nicht so schwerwiegend, wenn man bedenkt, daß die Bürger ihren Gehorsam nur i n den engen Grenzen des Wider st andsrechts versagen dürfen. Die Verfechter eines elitären Widerstandsrechts führen für ihre Meinung insbesondere das Argument ins Feld, daß der Normalbürger die Widerstandslage nicht erkennen könne, da er die ganze Komplexität einer politischen Situation nicht zu durchschauen vermöge 45 . Dieses Argument erscheint zunächst gewichtig. Der Grund für die verminderte Einsichtsmöglichkeit des Bürgers i n die politische Situation liegt aber weniger i n den komplizierten Gegebenheiten des modernen Industriestaates als i n einer Schwäche des gegenwärtigen parlamentarischen Systems, der man nicht durch die Einengung des Widerstandsrechts auf Eliten entgegenkommen soll, sondern die es zu bekämpfen gilt. Die geringe Transparenz der politischen Verhältnisse beruht, wie Max Imboden hervorgehoben hat 4 6 , zu einem sehr wesentlichen Teil auf der verminderten „Bewußtseins-Chance" des Staatsbürgers, die i n der Krise der Gewaltenteilung ihre Ursache hat. Dadurch, daß die Regierung aus der Parlamentsmehrheit gebildet wird, ist die erste 44 Staatslehre, S. 945. 45 Vgl. oben, S. 19 f. 46 Gewaltentrennung, S. 41 ff.

120

3. Kap. Die Formkräfte der Lehre

Gewalt i n vielem zur „Sanktionspassage" geworden. Die Gesetzgebung gerät i n zunehmende Abhängigkeit von der Exekutive. Wesentlicher Grund hierfür ist, daß die Regierung m i t ihrem ministeriellen Unterbau über den weitaus besten „Sachverstand" verfügt. Dieser Umstand ermöglicht es der Exekutive das Politische durch die Technokratie zu verdrängen, das heißt: Das politische Gebotene w i r d dem Bürger als das technisch Notwendige nahegebracht. Die politische Dezision der Regierung w i r d als technische Zwangsläufigkeit kaschiert, politische Entscheidungen werden als technisch bedingt ausgegeben. So w i r d die politische Beurteilungsmöglichkeit des Bürgers eingeengt. Wer aus diesem Grund dem Normalbürger das Widerstandsrecht nehmen wollte, gäbe kampflos diesem traurigen staatsrechtlichen Befund nach. Damit würde man jedoch nicht den besten Weg zur Sicherung der Freiheit einschlagen. Vielmehr muß der Weg beschritten werden, auf dem die Ursache dieser Bewußtseinseinengung ausgeräumt werden kann: Die Verwaltung ist, wie es Max Imboden gefordert hat, von der Regierung abzurücken, u m die grundverschiedenen Prozesse von technischer Vorbereitung (Verwaltung) und politischer Entscheidung (Regierung) freizulegen. Das Widerstandsrecht fordert, soll es ein sinnvolles staatsrechtliches Leben führen, das Recht der Bürger auf Information, auf Transparentmachung der politischen Situation 4 7 . Es fordert eine Erweiterung der allgemein zugänglichen Quellen i. S. des A r t . 5 1 1 GG. Dieses aus dem Widerstandsrecht erwachsene Informationsrecht läßt sich dem status positivus zuordnen, womit das Widerstandsrecht zwangsläufig, aber nicht unerwünscht seiner Institutionalisierung entgegengeht. Uber diesen grundsätzlichen Fragen sollen jedoch zwei Detailprobleme, die durch die Rechtsprechung aufgeworfen wurden, nicht vergessen werden. Das sind die Widerstandsfähigkeit und die Frage, ob jedermann oder nur die Staatsangehörigen Widerstand leisten dürfen. Für die Lösung des letzteren Problems w i r d entscheidend sein, ob politischer Widerstand geleistet oder überpositives Notwehrrecht ausgeübt wird. Das politische Widerstandsrecht ist das wesentlichste Recht des status activus, d. h. der demokratisch-politischen Rechte des Staatsbürgers. Diese Rechte stehen aber, wie sich aus A r t . 8, 33, 38 GG, die die wichtigsten Positionen des status activus bestimmen 48 , ausschließlich den Staatsangehörigen zu. Das Argument, daß alle Staatsgewalt vom Volke ausgeht, auf das w i r u. a. den Versuch, das Widerstandsrecht zu begründen, gestützt haben, fordert ebenfalls eine solche Lösung: Denn 47 Z u m bis jetzt schwach ausgeprägten Informationsrecht des Bürgers vgl. W. Leisner, Öffentlichkeitsarbeit, S. 121 f. 48 Z u m Streit, welchem Status das Petitionsrecht zuzurechnen ist, vgl. Dürig, i n Maunz/Dürig, GG, A r t . 17, Rd. Nr. 3 f.

§ 3 Die

ivlegitimation

121

nur wer selbst zum Volke gehört, kann das Widerstandsrecht als Repräsentant des Volkes ausüben. Soweit jedoch vom überpositiven Notwehrrecht Gebrauch gemacht wird, ist jedermann aktivlegitimiert. Seine unantastbaren Menschenrechte muß jeder gegen die Staatsgewalt verteidigen dürfen. Sie sind vom Grundgesetz auch jedermann garantiert 4 9 . I m „Geisteskranken-Fall" hat der B G H entschieden, daß ein Geisteskranker kein politischer Gegner sein könne, da i h m die Fähigkeit fehle, die charakteristischen Züge des Regimes zu beurteilen. Erst recht dürfte der B G H damit die Widerstandsberechtigung eines Geisteskranken verneint haben. Die erhebliche staatspolitische Bedeutung einer Widerstandshandlung verlangt es i n der Tat, nur solchen die Widerstandsfähigkeit zuzuerkennen, die i m Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte sind. Ebenso w i r d man Jugendlichen erst dann das Widerstandsrecht zusprechen können, wenn sie die erforderliche Einsicht i n staatliche Dinge besitzen. Das kann wohl schon m i t 18 Jahren der Fall sein 50 . Diese Einschränkung gilt aber nicht für das überpositive Notwehrrecht, da es auch keine Notwehrfähigkeit gibt. Wenn auch hier auf dem Widerstandsrecht des einzelnen beharrt wird, so w i r d doch nicht verkannt, welche Bedeutung heute größeren Einheiten und Gruppierungen für die Ausübung der Grundrechte i m allgemeinen 51 und des Widerstandsrechts i m besonderen zukommt. Die Rechtsprechungsfälle aus der Zeit des Nationalsozialismus haben demonstriert, wie viele Kampfaktionen von den Mitgliedern rechter und linker Gruppen und Parteien durchgeführt worden sind, von der 4» Die Landesverfassungen von Hessen, Bremen u n d B e r l i n billigen das Widerstandsrecht dagegen jedermann zu. Heyland legt A r t . 147 H V dahingehend aus, daß unter „jedermann" jede Person u n d Personengruppe zu verstehen ist, die unter der Herrschaft der Hessischen V e r w a l t u n g lebt u n d daher an deren Bestand u n d Schutz ein Interesse hat oder v o n Redits wegen haben soll (Widerstandsrecht, S. 87). 50

Ebenso Heyland, Widerstandsrecht, S. 88. si Vgl. H. Scholler (Person u n d Öffentlichkeit, S. 322), der i n der p l u r a l i stischen Gesellschaft eine Subjektverschiebung zugunsten sozialer K o l l e k tivitäten oder Institutionen konstatiert. Ä h n l i c h H. Copié (Politisches Strafrecht, S. 58): Z w a r sind allé demokratischen Teilhaberrechte i h r e m historischen Ursprung nach Grundrechte v o n einzelnen, „aber nichts hindert moderne Verfassungsinterpretation daran, dem Umstand Rechnung zu tragen, daß unter den komplizierten Bedingungen einer i m Gefüge einer bürokratischen Industriegesellschaft installierten Demokratie m i t egalitären Teilhaberrechten politische Grundrechtsausübung, w i l l sie effektiv sein, n u r k o l l e k t i v u n d organisiert vonstatten gehen kann". Z u r Bedeutung der Gruppen f ü r die Grundrechtausübung u n d zum Widerstandsrecht von Gruppen vgl. insbesondere a u d i C. Gastroph, Vereinigungen, S. 95 ff. u n d 150 ff.

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3. Kap. Die Formkräfte der Lehre

Schwarzen Front Otto Strassers und vom Tannenbergbund 5 *, von den Mitgliedern der früheren K P D 5 3 und der Gewerkschaft 54 . Der Widerstand vieler anderer Gruppen hat schon bei den Verwaltungsbehörden Anerkennung gefunden, so daß nicht erst vor den Gerichten auf Entschädigung geklagt werden mußte. Da i m modernen Großstaat nur eine Gruppe oder eine Partei die verfassungsmäßige Ordnung gefährden kann, ist i n der Regel auch nur eine größere Einheit fähig, dagegen adäquaten Widerstand zu leisten. Wenn der Widerstand größere Ausmaße annehmen soll und vielfach muß er solche annehmen, um wirksam zu sein, dann sind hierfür finanzielle Unabhängigkeit, gute Organisation, Zugang zu den Massenmedien und starke Anhängerschaft erforderlich, die sich derzeit i m außerstaatlichen Bereich nur bei Parteien und Verbänden finden. Während i n der aristokratischen Gesellschaft immer eine kleine Zahl von sehr mächtigen und sehr reichen Bürgern vorhanden war. die für sich allein größere Unternehmungen durchführen konnten, sind i n einer egalitären Demokratie alle Bürger abhängig und schwach. Größere politische Aktionen können sie nur durchführen, wenn sie sich zusammenschließen. Ob man Parteien und Verbänden wegen ihrer großen Bedeutung selbst das Widerstandsrecht zusprechen w i l l oder nur den i n ihnen zusammengeschlossenen Mitgliedern, ist eine dogmatische Erwägung, der hier nicht weiter nachgegangen werden soll. Doch darf nicht unerwähnt bleiben, daß das BVerfG i m KPD-Urteil vom Widerstandsrecht der K P D spricht 55 . Die besondere Rolle, die die Gewerkschaften spielen, hat der KappPutsch gezeigt; das OLG Stuttgart hat ihr i n seinem U r t e i l vom 25.11. 195556 v o l l Rechnung getragen: „Der Generalstreik, zu dessen Durchführung der Kläger straffällig wurde, wäre ein geeignetes und dem Ernst der politischen Lage am 31.1.1933 angepaßtes M i t t e l gewesen, um die eben erst an die Macht gelangte Hitlerregierung zum Rücktritt zu zwingen." Damit wachsen die Interessengruppen i n die historische Widerstandsposition der Stände, wiewohl beide nur cum grano salis mit einander verglichen werden können 5 7 . Das Widerstandsrecht des einzelnen bleibt aber von diesem Prozeß unberührt. m Vgl. oben, S. 4 2 1 ; v o m Problem des systemimmanenten Widerstandes sei hier abgesehen. 53 Vgl. oben, S. 47 f., 49, 51. 54 Vgl. oben, S. 47 f. 55 BVerfGE 5, 376. 5β Vgl. oben, S. 47 ff. 57 Vgl. dazu J. Kaiser, Repräsentation, S. 3211; G. Wittkämper, Interessenverbände, S. 13ff.; W.Weber (Spannungen, S.39ff.) spricht v o m „Einbruch politischer Stände i n die Demokratie".

§ 35 Die Passivlegitimation

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§35 Die Passivlegitimation Unter drei Gesichtspunkten beantwortet die Rechtsprechung die Frage nach dem Widerstandsgegiier: „Im-Überfall-auf-die-SA-Urteil" w i r d die Kampfgruppe eines Regimes als möglicher Widerstandsadressat behandelt 5 8 ; das „Partisanen-Urteil" schließt den Staat als Widerstandsobjekt nicht aus 59 ; die D r i t t w i r k u n g des Widerstandsrechts berührt der „Fall Blinkfüer" 6 0 . M i t der Anerkennung des Widerstandes gegen die SA hat sich der B G H gegen Weinkauff entschieden, der die Widerstandsgegner auf die „obersten Träger der Staatsgewalt" beschränkt 61 . Der Entscheidung des B G H ist zuzustimmen, da die Widerstandsaktionen sich unter Umständen gegen die ganze Herrschaftsorganisation richten müssen. Nur so läßt sich ein Aufstand des Volkes wie der vom 17. J u n i 1953 rechtfertigen. Insbesondere für Einzelaktionen w i r d aber ein Angriff auf Personen i m Unter- und Mittelbau eines Regimes nur zu bejahen sein, wenn es sich um treibende Kräfte wie SA und SS i m Dritten Reich handelt. Das Widerstandsrecht hier auf alle i n die Organisation Verflochtenen zu erstrecken, wäre eine Verkennung der eigenen Notsituation dieser Leute. Daß die Drittwirkung des Widerstandsrechts keine akademische Spielerei ist, wie es vielleicht auf den ersten Blick scheinen möchte, w i r d neben dem „ F a l l Blinkfüer" durch den Boykottaufruf der Gruppe 47 62 , aber ganz besonders durch die Anstrengungen der Veteranen des Reichsbanners i n jüngster Zeit, diese Kampf organisation wieder ins Leben zu rufen, illustriert. Die SPD, die diesem Projekt wenig geneigt ist, stützt ihre ablehnende Haltung auf die Erwägung, daß mit dem Aufbau dieser Kampftruppe auch die radikalen Gruppen die Unterhaltung ähnlicher Organisationen rechtfertigen könnten 6 3 . I n der Tat birgt die Gestattung derartiger Selbsthilfemöglichkeiten durch das Widerstandsrecht die „Gefahr der Instituierung des Krieges aller gegen alle" 6 4 i n sich. Die bürgerkriegsähnlichen Situationen der Weimarer Zeit werfen nachdrückliche Warnzeichen auf die historische Leinwand. m Vgl. oben, S. 51 f. 5» Vgl. oben, S. 54 ff. Diese Problematik soll jedoch weiter unten behandelt werden, da sie mehr eine Frage des zulässigen Widerstandsmittels ist. eo Vgl. oben, § 27,2. ei Widerstandsrecht, S. 19. 62 Vgl. oben, S. 97 f. 63 Vgl. dazu Bartels, Neuauflage des Rechtsbanners. 64 So Krüger (Staatslehre, S. 947) ganz allgemein zum Widerstandsrecht.

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3. Kap. Die Formkräfte der Lehre

Die andere Gefahr, die i n einer D r i t t w i r k u n g des Widerstandsrechts liegt, erhellt der , : Fall Blinkfüer". Der B G H billigte den Boykott des mächtigen Springerkonzerns gegen das Kleinblatt Blinkfüer, das durch den Weiterdruck der Ostzonenprogramme nach dem Mauerbau eine unpopuläre Außenseiterposition eingenommen hatte. Der B G H w i r d sich verständlicherweise der politischen Stimmung nach dem Mauerbau nicht vollkommen entziehen haben können. Doch darin zeigen sich unverkennbar Gefahren einer totalen Demokratie. A u f der Woge der Volksstimmung reitende Gruppen könnten so unliebsame Außenseiter ausschalten. Gleichschaltung und Intoleranz wären die Folgen. Es scheint daher am besten, i n diesem Bereich eines undemokratischen Verhaltens einer Gruppe den Staat als Hüter der Ordnung zu rufen. Indes hebt Kaiser zu Recht hervor, daß sich die „Transformations de la Puissance publique" heute i n einem Maße realisiert haben, daß die Effektivität des staatlichen Schutzes gegen die von W. Weber treffend sogenannten „oligarchischen" Mächte des intermediären Bereichs fragwürdig geworden ist; diese Gewalten haben „zumindest Teile des Staatsapparates okkupiert und sich, i n den Parteien oder durch die Parteien, selbst als Staat instituiert, so daß insoweit der Schutzherr und der, gegen den beschützt werden soll, identisch sind" 6 5 . A n dieser Strukturänderung des modernen Staates kann das Widerstandsrecht nicht vorbeigehen. Eine Änderung der Verfassungsrealien muß einen Wandel der Verfassungsinstitutionen und des Verfassungsrechts nach sich ziehen, wenn dieses von aktueller Wirksamkeit bleiben und nicht zu weltfremder Deklamation werden soll. Das Widerstandsrecht muß, wenn es bestimmte Gefahren bannen w i l l , sich auf die wirklichen Ursachen einstellen, sich an die „richtige Adresse" wenden. Es kann seinen Zweck nicht erreichen, wenn es i n dieser Hinsicht faktisch nicht richtig orientiert ist e e . Nur eine Ausweitung des Adressatenkreises auf intermediäre Gruppen kann die rechtssichernden Funktionen des Widerstandsrechts sicherstellen. Das Bedürfnis für Selbsthilferechte gegen zwischenstaatliche und außerstaatliche Mächte ist auffällig groß. Auch i n der juristischen Literatur zeigt man sich aufgeschlossen: So halten Helle und Larenz einen Boykott à la Blinkfüer dann für gerechtfertigt, wenn er notwendig ist, die freiheitlich-demokratische Grundordnung zu schützen, womit sie ein Nothilferecht zugunsten der Verfassung anerkennen 67 . 65

Kaiser, Repräsentation, S. 319. So allgemein f ü r die Grundrechte Zippelius, Wesen, S. 56. «7 v g l . oben, S. 96f.; beachte auch die Entscheidung des R G v o m 8.5.1929 (RGSt 63, 215, 220), die dem Staatsbürger ein Nothilferecht gegenüber rechtswidrigen Angriffen auf die Lebensinteressen des Staates gibt, sei es daß sich dieser A n g r i f f gegen die Verfassimg oder Gebietsteile des Staates oder gegen die Landesverteidigung richtet. 6e

§36 Die Staatslage

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Jüngstens hat Erich Fechner dem Bürger aus A r t . 5 GG ein notwehrähnliches Hecht zugesprochen, beim Versagen des Staates i n die Bresche zu springen und die Aufgaben, die vom Staat nicht wahrgenommen werden könnten, selbst wahrzunehmen 68 . Sucht man nach den Gründen für die Forderung nach einem Abwehrrecht gegen Dritte, so liegt die Hauptursache i n den vom Pluralismus bewirkten Strukturwandlungen, denen die Ausgestaltung des Rechtsschutzes noch nicht nachgekommen ist. Während das Widerstandsrecht gegen den Staat für den Normalfall i n verwaltungs- und verfassungsrechtliche Klagen umgeleitet worden ist, was später eingehender behandelt werden soll, bestehen vergleichbare Klagemöglichkeiten gegen Dritte nicht. Während verfassungswidriges Verhalten oberster Bundesorgane nach Art. 93 1 1 GG zum Gegenstand eines Organstreites gemacht werden kann, besteht der einzige verfassungsrechtliche Rechtsbehelf gegen Dritte i n der Einleitung eines Grundrechtsverwirkungsverfahrens nach A r t . 18 GG unter der engen Voraussetzung, daß Grundrechte zum Kampfe gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung mißbraucht werden. Wenn man sich dann noch vor Augen hält, daß nur der Bundestag, die Bundesregierung oder eine Landesregierung den Verwirkungsantrag stellen können (§ 36 BVerfGG), w i r d die rechtsschutzmäßige Hilflosigkeit des Bürgers gegenüber sich verfassungsw i d r i g verhaltenden Dritten evident. Bei der Verflochtenheit der intermediären Gewalten mit dem Staat lassen sich gerade i n bedenklichen Fällen i n den obersten Staatsorganen kaum Mehrheiten zur Antragstellung finden. U m Selbsthilfeaktionen des Bürgers zurückzudrängen, sollte der Bürger seinem verstärkten status activus i n der Demokratie entsprechend als verfassungsgerichtlicher Antragsteller legitimiert werden.

§ 3 6 D i e Staatslage

Die hier interessierende Frage ist, wie es mit dem Widerstandsrecht i m Rechtsstaat „aussieht". Die Entscheidungen über Widerstandshandlungen während der Zeit des Nationalsozialismus und i n der SBZ tragen zur Beantwortung dieser Frage nichts bei, da sie sowohl das ns.e wie das sowjetzonale Regime als Unrechtsherrschaft qualifiziert haben. Das BVerfG hat es i m „ K P D - U r t e i l " dahingestellt sein lassen, ob i m rechtsstaatlichen System der Bundesrepublik überhaupt noch ein Bedürfnis für ein Widerstandsrecht anzuerkennen sei 69 . Berücksichtigt man indes auch die Rechtsprechung zu Art. 5 GG, vor allem die des es JZ 1967, 457 ff., 458. β» Vgl. oben, S. 89.

126

3. Kap. Die Formkräfte der Lehre

BGH, so w i r d man sagen müssen, daß die Gerichte dazu neigen, ein Widerstandsrecht auch i m Rechtsstaat anzuerkennen. Das hat insbesondere der „ F a l l Pätsch" gezeigt, der gleichzeitig die Notwendigkeit des Widerstandsrechts auch i m Rechtsstaat deutlich gemacht hat. A l l e i n die Auffassung, daß das Widerstandsrecht unabhängig von der Staatslage prinzipiell gegeben ist, w i r d den praktischen Bedürfnissen und Gegebenheiten gerecht. Gerade i m Fall einer „gleitenden Revolution" läßt sich gar nicht feststellen, wann der Rechtsstaat endet und der Unrechtsstaat beginnt. Wenn der Unrechtsstaat eindeutig etabliert ist, ist er nach innen so abgesichert, daß es für die Ausübung des Widerstandsrechts zu spät ist 7 0 . Ebensowenig kann man m i t der groben Unterscheidung hier Unrechtsstaat und Widerstandsrecht, da Rechtsstaat und Rechtsschutz dem Problem der Lücken i m Rechtsschutz zu Leibe gehen. Wieviele Rechtsbehelfe muß ein Staat gegen seine Maßnahmen einräumen, um ein Rechtsstaat zu sein? Wäre die Bundesrepublik ein Unrechtsstaat, wenn es das BVerfG nicht gäbe? Es erscheint auch pharisäerhaft, den eigenen Staat für so perfekt zu halten, daß man ein Widerstandsrecht getrost ausschließen zu können glaubt. § 37 Die Widerstandslage Bei der Bestimmung der Widerstandslage waren für die Fall-Praxis die Festlegung des richtigen Zeitpunktes und die Konstatierung staatlichen Unrechts die Hauptprobleme. Vor allem i m „ K P D - U r t e i l " 7 1 ist die Wichtigkeit des Begriffspaares Legalität und Legitimität für den sachlich-rechtlichen E i n t r i t t des Widerstandsfalles deutlich geworden. Wenn das BVerwG i m „Demontage-Urteil" 7 2 den Widerstandsfall deshalb für gegeben hält, w e i l die Bevölkerung wegen der Verstöße der Machthaber der sowjetischen Besatzimgszone gegen die Grundsätze der Menschlichkeit und Rechtsstaatlichkeit den Wunsch nach einer Änderung der politischen Verhältnisse gehabt habe, so wollte es damit offenbar das SBZ-Regime als illegitim qualifizieren. Arbeitet man m i t dem Begriffsgespann Legalität und Legitimität, so sind vier Rechtssituationen denkbar: Eine Staatshandlung oder das ganze Regime kann erstens legal und legitim, zweitens legal und 70 Vgl. dazu unten, S. 129. 71 Vgl. oben, §26. 7a Vgl. oben, § 19.

§ 37 Die Widerstandslage

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illegitim, drittens illegal und legitim, viertens illegal und illegitim sein. Die Fälle 1 und 4 bereiten keine Schwierigkeiten. Kann die rechtliche Situation als legal und legitim bezeichnet werden, besteht kein Anlaß zu Widerstand. I m Falle der Illegalität und Illegitimität ist der Widerstandsfall problemlos eröffnet. Illegalität bei gleichzeitiger Legitimität kann nur bei vereinzelten Verfehlungen des Staates auftreten. Eine Massierung staatlicher Illegalitäten würde einen Umschlag der Quantität i n die Qualität zur Folge haben und das ganze Regime illegitim machen. Einzelne Illegalitäten werfen ein doppeltes Problem auf: Ist die Widerstandslage bei einzelnen rechtswidrigen Handlungen eines legitimen Staates überhaupt gegeben? U n d müssen, bejahendenfalls, die Rechtswidrigkeiten einen gewissen Intensitätsgrad erreichen, u m den Widerstandsfall auszulösen? Wenn ζ. B. Pribilla die Widerstandslage nur bei einem außerordentlichen Mißbrauch der Staatsgewalt, der sich vor allem darin verrate, daß alle Freiheit unterdrückt und das Recht durch die Gewalt verdrängt werde, für gegeben hält, so hält er offenbar Widerstand nur gegenüber einem illegitimen Regime für erlaubt 7 3 . Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt auch P. Schneider, der nur i m Unrechtsstaat Platz für das Widerstandsrecht sieht 74 . Hier beginnen sich die Probleme der Staatslage und der Widerstandslage zu überschneiden, da ein Rechtsstaat nur selten illegitim sein w i r d 7 5 . Das bedeutet, daß w i r mit der Bejahung des Widerstandsrechts i m Rechtsstaat schon i n gewissem Umfang eine Vorentscheidung zugunsten des Widerstandsrechts gegen einzelne Rechtswidrigkeiten getroffen haben. Diese soll noch mit einigen Überlegungen untermauert werden. Unter den Bedingungen des gewaltenteiligen Staates und der pluralistischen Gesellschaft w i r d sich der Wandel eines Regimes von der Legitimität zur Illegitimität meist über eine Häufung von Illegalitäten vollziehen. Die plötzliche Machtübernahme verbunden m i t unmittelbarer Illegitimität läßt sich wegen der Aufspaltung der Staatsgewalt auf viele Träger kaum mehr durchführen. Es ist eine Kernfunktion des Widerstandsrechts, die Herrschaft eines illegitimen Regimes zu verhüten. Deshalb muß der systematischen Korrumpierimg der Rechtsordnung, aber auch einem allgemeinen rechtlichen „Schlendrian" nach 7» Schicksalsfragen, S. 302. 74 Vgl. oben, § 5. 75 Trotz dieser engen Berührung von Staats- u n d Widerstandslage erschien die getrennte Behandlung notwendig, da unter Staatslage n u r das Problem der grundsätzlichen Existenz des Widerstandes i m gewaltenteiligen Staat m i t Hechtsschutzorganisation ohne Rücksicht auf die tatsächliche Beachtung des Rechts seitens der Staatsorgane untersucht werden sollte.

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3. Kap. Die Formkräfte der Lehre

dem Principiis-obsta-Grundsatz mit dem Widerstandsrecht entgegengetreten werden. Die Bejahung des Widerstandsrechts gegen einzelne illegale A k t e zieht die Frage nach sich, ob diese eine bestimmte Intensität der Hechtsverletzung auf weisen müssen. Das BVerfG meint i m „ K P D - U r t e i l " , das m i t dem Widerstand bekämpfte Unrecht müsse offenkundig sein. Es spricht i n diesem Zusammenhang von Verfassungsverstößen, Verfassungsverletzungen und VerfassungsVerfälschungen 76 ; es geht also ersichtlich davon aus, daß nur Verfassungsverletzungen den Widerstandsfall auslösen. Diese Funktionsbeschränkung des Widerstandsrechts auf den verfassungsrechtlich geschützten Bereich entspricht der Charakterisierung des überpositiven Notwehrrechts als Wächter des status negativus und des politischen Widerstandsrechts als herausragendem Recht des status activus. Dagegen gibt die Beschränkung des Widerstandsrechts auf offenkundiges Unrecht zu Bedenken Anlaß. Ohne sachlich i n irgendeiner Weise zu den Notstandsgesetzen Stellung zu nehmen, läßt sich an dieser komplizierten Materie zeigen, wie sehr Verfassungsgefährdungen auch ohne offenkundiges Unrecht möglich sind. Ebenso ist ζ. B. der Fall Pätsch 77 rechtlich so kompliziert, daß selbst dann nicht ohne weiteres von einem offenkundigen Unrecht gesprochen werden könnte, wenn sich die Behauptungen von Pätsch als richtig herausgestellt hätten. Soweit allerdings das BVerfG m i t dem Begriff der Offenkundigkeit weniger die Evidenz als die Schwere des Unrechts ansprechen w i l l , so ist dem unter gewissen Einschränkungen zuzustimmen. Die Intensität des Unrechts nimmt über das Übermaßverbot Einfluß auf den Widerstand. Das soll unten näher ausgeführt werden; doch sei hier folgendes vorweg genommen: Gewisse Grundrechte, wie A r t . 5 und 8GG, garantieren eine bürgerliche Opposition, der Formen zur Verfügung stehen, die unter totalitären Regimen bereits als Widerstand verfolgt werden, wie die Rechtsprechung zur SBZ und zum NS belegt. Diesen normalen Oppositionsbereich zu verlassen, ist, da meist auch Rechtsgüter Dritter oder der Allgemeinheit i n Mitleidenschaft gezogen werden, nur dann verhältnismäßig, wenn bedeutende Verfassungsverstöße vorliegen. Insoweit ist auch dem B G H Recht zu geben, wenn er sagt, daß nur schwere Verstöße gegen die verfassungsmäßige Ordnung die unmittelbare Preisgabe von Staatsgeheimnissen an die Öffentlichkeit rechtfertigen 78 . Jedoch eröffnet „an sich" jede Verfassungsverletzung den Widerstandsfall 79 . 7« BVerfGE 5, 377. 77 Vgl. oben, § 27,3. 78 BGHSt 20, 366 f. 7® I m Ergebnis ebenso v. Gierke,

Widerstandsrecht, S. 19 f.

§ 37 Die Widerstandslage

129

Es verbleibt nunmehr die vierte und letzte, i m Spannungsverhältnis von Legalität und Legitimität mögliche Rechtssituation zu untersuchen: Die Illegitimität bei gleichzeitiger Legalität. Die Maßstäbe der Legitimität ergeben sich aus der generellen Anerkennungstheorie i n Verbindung m i t dem relativen Naturrecht. I m Gegensatz zur positiven Rechtsordnung gibt die Legitimität wegen des nicht leicht faßbaren Gehaltes der Werterfahrung und der Wertüberzeugung des Volkes nur ein grobes Maß, u m legale Staatsakte wegen ihrer Illegitimität für unverbindlich zu erachten. Erst bei schweren Verstößen läßt sich sagen, daß eine legale Staatshandlung bzw. das ganze Regime illegitim sei. Die Wertungsschwierigkeiten nach den Maßstäben der Legitimität errichten vor der Eröffnung der Widerstandslage eine Intensitätsbarrikade. Neben der sachlichen gilt es, die zeitliche Auslösung des Widerstandsfalls zu behandeln. Ist auf der Rechtsstufe der Widerstandsfall eingetreten, dann ist auch die Zeitstufe übersprungen. I n den Urteilen des OLG Stuttgart vom 25.11.1955®° und des OLG Freiburg vom 12. 7. 195281 wurde die Zeitschwelle i n den präventiven Bereich vorverlagert. Das OLG Freiburg hat die Vorverlagerung der Zeitstufe aus der Fallsituation heraus schon 1952 für notwendig erachtet, also schon zwei Jahre, bevor diese Forderung von soziologischer Seite durch Herbert von Borch erhoben wurde 8 2 . Die beiden erwähnten Urteile zeigen sowohl die Notwendigkeit wie auch die Problematik der möglichst frühzeitigen Ausübimg bzw. Vorbereitung des Widerstandes. Schon am 2. Mai 1933 hat Hitler die Gewerkschaftsorganisationen zerschlagen; nur ein frühzeitig ausgeübter Widerstand hätte sich also noch des Generalstreiks als eines der wichtigsten Kampfmittel bedienen können. Ebenso dürfte es nach der Machtergreifung wesentlich schwieriger und gefährlicher geworden sein, Sprengstoff für den Abwehrkampf gegen den NS zu sammeln. Doch stößt es gleichzeitig auf Bedenken, Bürgern entgegen den Vorschriften des Sprengstoffgesetzes vor dem sachlichen E i n t r i t t des Widerstandsfalls das Horten hochexplosiver Stoffe zu gestatten. Man w i r d diese Bedenken aber überwinden können, wenn man i n Analogie zum Notwehrrecht verlangt, daß ein Angriff auf durch das Widerstandsrecht gesicherte Bereiche drohend bevorsteht 83 , und wenn man verlangt, daß die Täter glaubhaft machen, daß sie nur zu diesem legitimen Zweck die strafrechtlichen Tatbestände erfüllt haben.

80 ei 82 83 9

Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.

Scheidle

oben, S. 47 ff. oben, S. 50. oben, § 6. statt vieler Schwarz/Dreher,

StGB, § 53, A n m . 1 B.

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3. Kap. Die Formkräfte der Lehre § 38 Mittel und Formen des Widerstandes

Oppositionelle Meinungsäußerung, politischer Witz, illegale Druckschriften, unerlaubtes Senderhören, Grenzvergehen, Wehrdienstverweigerung, Sabotage, Streik, Boykott, Emigration, Dienst i n fremden Armeen, Verrat von Staatsgeheimnissen, Landesverrat, Kriegsverrat, innerparteiliche Opposition, Kollaboration, Überfälle und Sprengstoffanschläge ist die breite Skala von Widerstandsmitteln, die uns die Judikatur gezeigt hat. Keines dieser Kampfmittel wurde von der Rechtsprechung von vornherein als unzulässig abgelehnt. Dabei dürften die Gerichte von der Erkenntnis ausgegangen sein, daß gegenüber totalitären Regimen nur ein totaler Widerstand Erfolg versprechen kann. Dennoch kann nicht immer jedes Widerstandsmittel erlaubt sein; Maßstäbe zur Feststellung des adäquaten Mittels müssen die unten zu besprechenden Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und Erforderlichkeit liefern. Besonders schwer zu beurteilen werden die Aktionen sein, die sich nicht unmittelbar an den Widerstandsgegner wenden, wie Sabotage und Kriegsverrat, sondern über eine langsame Schwächimg des gesamten Regimes unter Aufopferung unschuldiger Dritter einen Umschwung vorbereiten wollen. Diese Methode läßt sich als indirekte bezeichnen, i m Gegensatz zur direkten, die den Angriff unmittelbar an die Widerstandsadressaten heranträgt 8 4 . Der unerfreulichen Bewertung des Widerstandes auf der niedersten Stufe (oppositionelle Äußerungen und politischer Witz) durch die Verwaltungs- und Zivilgerichte steht die hohe Wertstellung gegenüber, die das BVerfG dem Recht auf freie Meinungsäußerung für die Staatsordnung der Bundesrepublik einräumt: „Das Grundrecht auf freie Meinungsäußerung ist als unmittelbarster Ausdruck der menschlichen Persönlichkeit i n der Gesellschaft eines der vornehmsten Menschenrechte überhaupt; schon das verleiht i h m besonderes Gewicht. Darüber hinaus ist es für eine freiheitlich-demokratische Staatsordnung schlechthin konstituierend, denn es ermöglicht erst die ständige geistige Auseinandersetzung, den Kampf der Meinungen, der i h r Lebenselement ist. Es ist i n gewissem Sinn die Grundlage jeder Freiheit überhaupt 8 5 ." Wie die Meinungsäußerung Grundlage des freiheitlichen Staates ist, ist sie auch von grundlegender Bedeutung, wenn es gilt, die Freiheit wiederherzustellen. Die kritische Meinungsäußerung an den bedenklichen Zuständen i m Staat kann die Gleichgesinnten zusammenführen. m Dieses Begriffspaar verwendet, soweit ersichtlich, als erster Verschwörung, S. 39. BVerfGE 7, 208; 12, 125.

Ehlers,

§ 38 Mittel und Formen des Widerstandes

131

Sie ist der Kristallisationspunkt konspirativer Gruppenbildung. Modellhaft zeigt das Ehlers an der Verschwörung des 20. Juli: „Die Verschwörung des 20. J u l i wurde niemals durch Initiative einzelner »gegründet 4 und als Geheimorganisation etwa systematisch aufgebaut. Sie ist entstanden. A m Anfang ihrer Geschichte stand das lose Gespräch." Für die Werbung neuer Mitglieder während des Krieges war A n knüpfungspunkt „das Gespräch über die Frontlage und die K r i t i k an militärstrategischen Fehlleistungen Hitlers. Dies ließ sich noch m i t loyaler Sorge motivieren. Verfänglich wurde das Kontaktgespräch bei der Folgerung, bei der doppelbödigen Frage, wie es weitergehen, wie es enden solle und daß doch irgend etwas geschehen müsse. Erst i n dieser Enge auswegloser Perspektiven eröffneten die Verschwörer ihren eigenen hochverräterischen Lösungsvorschlag® 6." Die Unterscheidung von aktivem und passivem Widerstand w i r d von den Gerichten nicht gemacht, auch nicht i m „ F a l l des Bremer Drehers" (Wehrdienstverweigerung), wo sie am nächsten gelegen hätte. Den Gerichten kann daraus jedoch kein Vorwurf gemacht werden, da die Differenzierung nur i n sehr wenigen Fällen ergiebig ist. Es empfiehlt sich, wie Wertenbruch es ausgedrückt hat, ein Blick auf die althergebrachten Attribute: passiver und aktiver, gewaltloser und gewaltsamer Widerstand, „ u m ein Maßgefühl zu gewinnen" 8 7 . Damit ist der Gedanke angesprochen, daß man vor allem auf die W i r k u n g der Handlung sehen muß, auf die i n Mitleidenschaft gezogenen Rechtsgüter, die den Maßstab zur Bestimmung eines Übermaßes geben. I n diese Richtung geht auch die Meinung Arndts, der das Beispiel bringt, daß es keinen Unterschied mache, ob während des NS der Widerstand durch Unterlassen des Armhebens oder durch Ziehen des Hutes geleistet worden sei. Dagegen w i r d die Unterscheidung zwischen gewaltlosem und gewaltsamem Widerstand für die Staatsformen relevant, die verfassungsmäßig den politischen Prozeß kanalisiert haben. Wo die Beteiligung des Volkes an der Staatswillensbildung durch freie Wahlen gesichert, wo als permanenter Widerstand eine Opposition konstitutionalisiert ist 8 8 , dort ist zu Recht grundsätzlich die gewaltsame Selbsthilfe der Staatsbürger ausgeschlossen und der Staat der einzige legitime Träger von Gewalt 8 9 . Die Durchbrechung dieses Gewaltmonopols kann nur 86 Ehlers, Verschwörung, S. 90 f. Dies ist natürlich nicht das einzige Modell der Entstehung v o n Widerstandsgruppen. z.B. ergaben sich während des NS i m m e r noch Möglichkeiten, aus den schon zerschlagenen politischen Organisationen Widerstandszellen zu bilden. 87 Rechtfertigung, S.330. 88 Vgl. dazu K. Kluxen, Das Problem der politischen Opposition, S. 1 ff. 8» Vgl. H . Krüger, Staatslehre, S. 513.



132

3. Kap. Die Formkräfte der Lehre

zulässig sein, wenn immittelbar ein Angriff auf die gesamte Verfassung droht, der den verfaßten politischen Willensbildungsprozeß i n Gefahr bringt. Das Gewaltmonopol des Staates setzt eine deutliche Zäsur für den Ubergang vom gewaltlosen zum gewaltsamen Widerstand. § 39 Zulässiges Ziel des Widerstandes Als wesentlichstes Ergebnis unserer Untersuchung der Rechtsprechung zu diesem Punkt muß gelten, daß auch egoistische Zielvorstellungen durch das Widerstandsrecht gerechtfertigt sein können. Wegen der engen Verwandtschaft von Wesen und Ziel des Widerstandsrechtes wurde das überpositive Notwehrrecht ζ. T. schon oben abgehandelt 90 . Der Unterschied zwischen überpositivem Notwehrrecht und politischem Widerstandsrecht soll hier noch verdeutlicht werden. Die Zielsetzung des politischen Widerstandes geht dahin, sei es direkt oder indirekt, durch Staatsstreich oder langsame Zersetzung des Regimes, den Unrechtszustand i m gesamten zu beseitigen, das Übel an der Wurzel zu packen. Der Widerstandleistende w i l l durch seinen, wenn auch unter Umständen sehr bescheidenen Beitrag das Seinige tun, u m die Verhältnisse zu ändern. Wer dagegen überpositive Notwehr leistet, w i l l weniger das Staatsganze, das Gemeinwohl steuern, als konkreten Mißständen entgegentreten. Er mag dabei seinen eigenen, letzten personalen Bereich retten oder anderen Nothilfe leisten, sein Widerstand w i r d nie das ganze System zu Fall bringen, sondern immer nur momentan Not lindern. I m Gegensatz zum politischen Widerstand ist die überpositive Notwehr die Soforthilfe für die konkrete Notsituation. Obwohl der überpositiven Notwehr der Blick für das Ganze vielfach fehlt, w i r d man ihre Berechtigung nicht bestreiten können. Gerade der NS hat gezeigt, wie wichtig momentane Hilfe für die Verfolgten des Regimes sein kann. Ebenso müssen die Zonenbewohner das Recht haben, sich gegen totale Entrechtung zu wehren. Es waren die Fallerfahrungen der Praxis, die zu dieser Differenzierung zwischen politischem Widerstand und überpositiver Notwehr veranlaßt haben. Und die Autoren, A r n d t und Ehlers, die eine ähnliche Unterscheidung vornehmen, sind ebenfalls von konkreten Fallsituationen ausgegangen: A r n d t i n seiner Urteilsrezension zum „ F a l l des Bremer Drehers" 9 1 . Ehlers i n seiner Untersuchung über die Verschwörung »o Vgl. oben, § 32. N J W 1962, 430 ff. Auch P. Schneider, Widerstandsrecht, S.20, sucht i n Auseinandersetzung m i t der Rechtsprechung nach Wegen, Einzelaktionen i m Eigeninteresse durch das Widerstandsrecht zu rechtfertigen. Da er nicht w i e A r n d t den Weg einer differenzierenden Betrachtung geht, gelangt er zu 91

§ 39 Zulässiges Ziel des Widerstandes

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des 20. J u l i 9 2 . Ehlers brachte allerdings nicht die juristische Problematik, sondern die Untersuchung der tatsächlich angewandten Methoden der Verschwörer auf diese Unterscheidung. Über die Problematik der überpositiven Nothilfe zieht er eine zutreffende, historische Bilanz: Der humanitäre Widerstand war „kein bewußter Leidensweg des einmaligen Bekennens oder Untergehens, sondern ein wiederholbarer Weg des Möglichem der mit Maß und Vorsicht und auch List Erreichbares zu erreichen suchte. Es war nicht heroisch und es war auch nicht viel, was die Verschwörer auf diese Weise erreichten. N u r allzubald waren sie an der Grenze des möglichen, wo i h r . . . Widerstand ohnmächtig bleiben oder umschlagen mußte i n aktiven, aggressiven Widerstand" 9 3 . Dieser dann tatsächlich am 20. J u l i 1944 geleistete Widerstand diente revolutionären Zielsetzungen: Zum einen mußten die Strukturen des „völkischen Führerstaates" aufgelöst werden, zum anderen war auch an die Wiederherstellung der Weimarer Verfassung nicht mehr zu denken. Diese historische Situation hat Weinkauff offenbar veranlaßt, trotz grundsätzlicher Unterscheidung von Widerstand und Revolution davon zu sprechen, daß i n gewissen geschichtlichen Lagen das Widerstandsrecht und ein etwaiges Recht zur Revolution ineinander übergehen könnten 9 4 . Die Widerstandsfälle i n der SBZ haben eine vergleichbare Situation aufgezeigt: Auch dort kann politischer Widerstand nur das Ziel haben, erhebliche Verfassungsumwälzungen i. S. der Rechtsstaatlichkeit vorzunehmen, u m damit die Legitimitätsvoraussetzungen für eine neue staatliche Ordnung zu schaffen. Deshalb dürfte A r n o t 9 5 Recht zu geben sein, daß i n den totalitären Systemen der Gegenwart m i t der Bekämpfung des Systems auch andere gesellschaftliche Konzeptionen durchgesetzt werden müssen 96 , so daß die Unterscheidung zwischen Revolution und Widerstand nicht mehr sinnvoll ist. einer Verwässerung der für die Ausübung des politischen Widerstandsrechts erforderlichen Zielsetzung: „Es ist keineswegs erforderlich, daß der Einzelne das rechtsstaatliche System als Ganzes zu verwirklichen trachtet. Es genügt vollauf, w e n n er sich f ü r ein Recht, sein Recht, i m gegebenen Falle f ü r das Eigentumsrecht, welches i m rechtsstaatlichen System gesichert ist, engagiert." „ M e h r als eine i n t u i t i v e Neigung zu einer freiheitlichen Ordnung darf nicht verlangt werden, die schon da indiziert ist, w o bewußte Tendenzen zu einem totalitären Regime nicht nachgewiesen sind." 92 Verschwörung, S. 45 ff. »3 Verschwörung, S. 48. Ehlers bezieht diese Äußerung allerdings ganz allgemein auf den i. S. seines Begriffsverständnisses passiven Widerstand. Widerstandsrecht, S. 4. 99 Widerstandsrecht, S. 3. 96 Dafür genügt es, w e n n n u r eine Komponente der gesellschaftlichen Formel geändert w i r d , w i e jüngst i n der Tschechoslowakei, w o f ü r Sozialismus u n d D i k t a t u r des Proletariats die Formel Sozialismus u n d Freiheit zu setzen versucht wurde.

3. Kap. Die Formkräfte der Lehre

134

Den gleichen Standpunkt nimmt das BVerfG i m K P D - U r t e i l " ein 9 7 . N u r beim Kampf gegen Einzelungerechtigkeiten eines legitimen Regimes deckt das Widerstandsrecht ausschließlich konservierende Zielsetzungen, d. h. ausschließlich Zielsetzungen, die der Bewahrung oder Wiederherstellung der Rechtsordnung dienen. Solange ein Regime legitim ist, müssen zur Erreichimg neuer gesellschaftlicher Ziele die verfassungsmäßigen Wege eingehalten werden. Gegen ein legitimes Regime gibt es keine rechtmäßige Revolution. Dagegen sind bei illegitimen Regimen regelmäßig gesellschaftliche Umstruktierungen vorzunehmen, so daß eine Trennung von Widerstand und Revolution nicht möglich ist. Bedenklich müssen revolutionäre Strömungen gegen ein illegitimes Regime erscheinen, die ihrerseits darauf ausgehen, ein totalitäres, d. h. illegitimes Regime zu errichten. Dieses Problem hat sich für alle Widerstandsaktionen kommunistischer Gruppen i m Dritten Reich ergeben, soweit diese bestrebt waren, auf den NS ein kommunistisches Gewaltsystem folgen zu lassen. Die Rechtsprechung brauchte hier keine Entscheidung zu treffen, da nach der Fassung des BEG auch Widerstand i m Interesse kommunistischer Zielsetzungen nicht ausgeschlossen war 9 8 . Zusammenfassend läßt sich sagen, daß das Wesen des Widerstandes auch dessen zulässiges Ziel definiert. Rechtmäßige Zielsetzungen hat nur der Widerstandskämpfer, der dem Recht zur Geltung verhelfen w i l l . Das geschieht bei einem legitimen Regime durch den Kampf gegen einzelne Illegalitäten, der aber nur i m konservierenden Sinn geführt werden darf, bei einem illegitimen Regime durch den Kampf gegen das Regime zur Herstellung einer legitimen Staatsordnung. Den Kampf u m individuelle Rechtspositionen gestattet das überpositive Notwehrrecht, den Kampf um Rechtspositionen der Allgemeinheit das politische Widerstandsrecht.

§40 Widerstandsrecht und

Ubermaß

I m wesentlichen geht die Rechtsprechung durchgängig davon aus, daß der Widerstandskämpfer die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und Erforderlichkeit zu beachten habe. Sie bewegt sich damit auf dem Boden der i n der Literatur herrschenden Meinung; nur i n den Einzelausprägungen verbleiben zu klärende Divergenzen. Da der Übermaßgedanke alten Gerechtigkeitserfahrungen ("neminem laedere", „ne 97 Vgl. oben, § 26. 98 Vgl. oben, S. 65.

§ 40 Widerstandsrecht und Übermaß

135

quid nimis") Rechnung trägt, kann i n toto gegen seine Anwendung wohl nichts Ernsthaftes vorgebracht werden, zumal das Notrecht, zu dem auch das Widerstandsrecht zu zählen ist, seit je der besondere Standort für die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und Erforderlichkeit i s t " .

1. Der Grundsatz

der

Erforderlichkeit

Der Grundsatz der Subsidiarität als der eine Aspekt des Grundsatzes der Erforderlichkeit wurde vor allem i m „ K P D - U r t e i l " berücksichtigt. Die befremdliche Ansicht des BVerfG, nach der nur abstrakt gegebene Rechtswege das Widerstandsrecht des Bürgers subsidiär machen sollen, wurde schon oben festgehalten 100 . Sie widerspricht dem Wesen des politischen Widerstandsrechts, als dem Kampf ums Recht, aber nicht ums eigene Recht aus egoistischen Motiven, sondern ums Recht i n der Gemeinschaft. Das politische Widerstandsrecht ist Ausdruck des Gedankens, daß jedermann befugt und verpflichtet ist, die gesamte Ordnung zu überblicken und deren Wirken auf die Rechtmäßigkeit hin zu kontrollieren. Ein Rechtsweg, der nur Staatsorganen zusteht, kann das Widerstandsrecht nicht ausschalten, da damit gerade die dem Widerstandsrecht eigentümliche Wächterfunktion verdrängt würde. Dem kann nicht entgegengehalten werden, daß eine Rechtsschutzmöglichkeit oberster Staatsorgane über das Repräsentationsprinzip Eigenkompetenzen des Bürgers ausschalte. Es ist ja gerade charakteristisch für das Widerstandsrecht, daß es bei den Widerstandsfall eröffnenden Verfassungsverletzungen den Bürger punktuell zuständig macht und i h n neben die Repräsentationsorgane stellt. René Marcie, eine der wenigen Verfechter der Popularklage 1 0 1 , weist zu Recht darauf hin, daß der ausgesucht subjektive Rechtsschutz, wie der liberaldemokratische Rechtsstaat i h n geprägt hat, den einzelnen Bürger dazu erzieht, ja dazu zwingt, einzig und allein auf sich selbst zu achten. „Die bürgerliche Demokratie kennt jeweils nur ein einziges ·» Vgl. Lerche, Übermaß, S. 96 f. io» Vgl. oben, S. 90 f. 101 Er sagt selbst, daß es heute i m allgemeinen nicht mehr zum guten Ton gehöre, der Popularklage das W o r t zu reden; der Verfechter laufe Gefahr, f ü r einen W i r r - oder Querkopf erklärt zu werden (Richterstaat, S. 331). Jedoch w i r d man einem aus Bayern — dem L a n d der Popularklage — stammenden Verfechter solche Gedankengänge weniger übelnehmen können. Es dürfte von Interesse sein, daß bereits Solon durch die Einführung der Popularklage den Bürger zum bewußten verantwortlichen Träger des Gemeinwesens machen w o l l t e (vgl. Marcic, Richterstaat, S. 328 ff.; Roth, W i d e r stand gegen staatliche Unterdrückung u n d K a m p f ums Recht bei den alten Griechen, S. 69 f.).

136

3. Kap. Die Formkräfte der Lehre

schutzwürdiges Subjekt: das eigene Ich; sie ist die freiheitlich politische Form des philosophischen Subjektivismus 1 0 2 ." Dieser philosophische Subjektivismus kann aber nicht die tragende Basis einer demokratischen Staatsform sein, die aus der Erfahrung mit dem Kampf gegen das totalitäre Regime des Nationalsozialismus den Einbau wirksamer rechtlicher Sicherungen dagegen, daß solche politischen Richtungen jemals wieder Einfluß auf den Staat gewinnen könnten, gewollt hat 1 0 3 . Dem Bekenntnis zur „streitbaren Demokratie" entspricht die Wächterstellung des einzelnen Bürgers, eine Betonung des objektiven Rechtsschutzes neben dem subjektiven, nicht aber die Begrenzung des Bürgers auf den Horizont seiner persönlichen Interessen. Das hauptsächliche Bedenken gegen die Einrichtung einer Popularklage entspringt wohl der Sorge, daß m i t der Zulassung des „quivis ex populo" als Kläger die Gerichte arbeitsmäßig überlastet würden und daß eine solche Institution ein Eldorado für Querulanten abgäbe. Diese Befürchtungen haben sich i n Bayern, das i n A r t . 98 Satz 4 B V i. V. m i t A r t . 53 VerfGHG die Popularklage zur Normüberprüfung zuläßt, als unbegründet herausgestellt 104 . I n diesem Zusammenhang ist noch einmal auf A r t . 147 Hessische Verfassung hinzuweisen, der es i n seinem Absatz 2 jedermann, der von einem Verfassungsbruch oder einem auf Verfassungsbruch gerichteten Unternehmen Kenntnis erhält, zur Pflicht macht, die Strafverfolgung des Schuldigen durch Anrufung des Staatsgerichtshofs zu erzwingen. Mag man auch über den Sinn einer solchen Rechtspflicht geteilter Meinung sein, so w i r d man doch nicht leugnen können, daß eine solche Konzeption des Rechtsschutzes einer „streitbaren Demokratie" weit eher entspricht als eine auf den Säulen subjektiver Interessen aufgebaute Rechtsschutzorganisation, die die Wahrung der objektiven Rechtsordnung nur als „Dreingabe" bei der Aufrechterhaltung subjektiver Positionen mitliefert. Es läßt sich zusammenfassend sagen, daß nur Rechtswege, die den Inhabern des Widerstandsrechts konkret zustehen, das Widerstandsrecht verdrängen können. Der Ansicht des BVerfG, wonach schon die abstrakte Rechtswegeröffnung genügen soll, kann nicht gefolgt werden. Deshalb würde sich zum einen vom Standpunkt des Widerstandsrechts, das als meist unerwünschtes Selbsthilferecht das Gesetz seines Abbaus i n sich trägt, der Ausbau objektiver Rechtsschutzmöglichkeiten empfehlen. Zum anderen würde eine stärkere Akzentuierung der objektiven Seite des Rechtsschutzes dem Wesen einer „streitbaren loa Richterstaat, S. 333. los BVerfG i m „ K P D - U r t e i l " , BVerfGE 5, 134 ff. 104 v g l . dazu Wintrich, Schutz der Grundrechte, S. 16 ff.

§ 40 Widerstandsrecht und Übermaß

137

Demokratie" eher gerecht. Den näheren Umfang dieses objektiven Rechtsschutzes zu bestimmen zu versuchen, kann nicht mehr Aufgabe dieser Arbeit sein. Aber es ist darauf hinzuweisen, daß der Schutz i m Bereich unmittelbarer Staatlichkeit noch nicht genügt, da, wie oben festgestellt 105 , das Bedürfnis für Selbsthilferechte gegen zwischenstaatliche und außerstaatliche Mächte groß ist. Der andere Aspekt des Prinzips der Erforderlichkeit betrifft den Grundsatz, daß, wenn Widerstand geleistet wird, dieser sich auf die notwendigen M i t t e l beschränken muß. Außer i m „Überfall-auf-die-SAU r t e i l " 1 0 6 trägt dem der B G H vor allem i m „Pätsch-Urteil" Rechnung: Das Rügerecht hebt nur dann die Rechtswidrigkeit der Bekanntgabe von Staatsgeheimnissen auf, „falls nur das unbedingt Notwendige preisgegeben wird, nur die erforderlichen M i t t e l und Wege benutzt werden, und m i t der Rüge auf Abstellung des Mangels gedrungen wird"107. Die Bestimmung des erforderlichen Mittels ist schon i m Notwehrrecht nicht unproblematisch. Die Schwierigkeiten erhöhen sich beim Widerstandsrecht, da sich die Widerstandshandlung wegen der Vielzahl der unbestimmten Faktoren ungleich mehr dem K a l k ü l entzieht als die Tat aus Notwehr. Das von Weinkauff zur Illustrierung des Grundsatzes der Erforderlichkeit angeführte Beispiel erscheint daher etwas naiv: Man dürfe den m i t dem Gedanken an einen Staatsstreich spielenden Regierungschef noch nicht gewaltsam seines Amtes entsetzen oder ihn verhaften oder ihn töten, wenn man i h n m i t dem drohenden Hinweis darauf, daß die bewaffnete Macht zum Schutze der Verfassung verpflichtet sei, nachhaltig von seinem Vorhaben abzuhalten vermöge 1 0 8 . Die Beachtimg des Erforderlichkeitsgrundsatzes darf das Risiko des Widerstandskämpfers nicht unzumutbar erhöhen. 2. Der

Grundsatz

der

Verhältnismäßigkeit

Nach der Rechtsprechung des B G H zu „reinen" Widerstandsfällen 109 ist das Widerstandsrecht nur insoweit vom Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beherrscht, soweit durch die Widerstandstat Rechtsgüter ioe Vgl. oben, § 35. ιοβ Vgl. oben, S. 51 f. 107 B G H S t 20, 368. ιοβ Widerstandsrecht, S. 19. ιοβ w a s die Rechtsprechung zu A r t . 5 GG betrifft, so w a r i m „ F a l l L ü t h " u n d „ B l i n k f ü e r " eine Wertabwägung vorzunehmen, da der Widerstandsfall nicht eröffnet w a r u n d deshalb nicht Recht gegen Unrecht stand, sondern zu bewerten war, welche Rechtsposition der anderen zu weichen hatte. I m „ F a l l Pätsch" w a r eine Wertabwägung vorzunehmen, da Rechtsgüter der Allgemeinheit betroffen waren.

138

3. Kap. Die Formkräfte der Lehre

unbeteiligter Dritter und der Allgemeinheit i n Mitleidenschaft gezogen werden. Richtet sich der Angriff ausschließlich auf den Widerstandsadressaten, ohne auch nur indirekt den Rechtskreis Dritter zu berühren, so ist er unter dem Gedanken des Übermaßes nur nach dem Grundsatz der Erforderlichkeit zu bewerten. Wo Recht gegen Unrecht steht, spricht das Wertverhältnis so deutlich für die Berechtigung des Widerstandes, daß es einer Abwägung der widerstreitenden Interessen grundsätzlich nicht mehr bedarf 1 1 0 . Diese Lösung, die den Prinzipien des Notwehrrechts entspricht, ist i n der Literatur bisher noch nicht herausgearbeitet worden 1 1 1 . Sie ist als echtes Ergebnis richterlicher Fallerfahrungen zu betrachten. Die Zulässigkeit des Tyrannenmordes muß von diesem rechtlichen Standpunkt grundsätzlich bejaht werden. Das Leben des Tyrannen kann keine unüberschreitbare Grenze bilden, wo es gilt, die Herrschaft des Rechts wieder aufzurichten. Dem Rechtsmißbrauch w i r d damit noch nicht Tür und Tor geöffnet. Der Subsidiaritätsgrundsatz verbietet den Widerstand dort, wo weniger einschneidende M i t t e l zur Verfügung stehen. Auf Grund des staatlichen Gewaltmonopols ist gewaltsamer Widerstand nur bei drohender Gefahr für die Verfassungsordnung erlaubt. Wo der Widerstand dagegen die Rechtsgüter Dritter oder der A l l gemeinheit verletzt, hat eine Wertabwägung stattzufinden. Sie war i n den Fällen der Rechtsprechung am diffizilsten, wo es die Landesverratsfälle zu beurteilen galt („Partisanenfall" 1 1 2 , „Dienst-in-der-französischen-Armee-Fall 118 , „ F a l l Pätsch" 114 ). Bei den ersten beiden Fällen ist die Güterabwägung nahezu unlösbar: A u f der einen Seite steht die Gefahr der Vernichtung der staatlichen Existenz und die Gefährdung vieler Unschuldiger und Unbeteiligter, auf der anderen Seite ein Beitrag zur Befreiung des deutschen Volkes von der Ideologie und der Gewaltherrschaft des NS und evtl. auch ein Beitrag zur Verkürzung des zweiten Weltkrieges. Wenn man auch der Meinung Georg Jellineks, daß an dem Faktum staatlicher Existenz alles Recht seine unübersteigbare Schranke habe 1 1 5 , nicht folgt, so stehen sich gleichwohl so ähnlichwertige Rechtsgüter gegenüber, daß es anmaßend wäre, die Aufopferung der einen Güter zugunsten der anderen als rechtmäßig zu betrachten. I n diesem extremen Bereich steht das Widerstandsrecht an den Grenzen seiner rechtlichen Erfaßbarkeit. Für diesen Fall muß das uo m ι« us 114 il®

Vgl. Maurach, Allgemeiner Teil, § 261. Vgl. oben, § 9. Vgl. oben, S.54f. Vgl. oben, S. 55 f. Vgl. oben, § 27,3. Staatslehre, S.358.

§ 40 Widerstandsrecht und Übermaß gelten, was manche für das gesamte Widerstandsrecht vertreten 1 1 ·, daß sich die Widerstandstat der juristischen Fixierung entzieht. Daß sich aber nicht alle Landesverratsfälle der juristischen Beurteilung entziehen, erweist der Fall Pätsch. Hier hat der B G H meisterhaft zwischen Staatsräson und Verfassungsräson abgewogen. Ganz zu Recht führt er aus, daß i n einem Rechtsstaat alles politische Wirken der höheren Idee des Rechts unterworfen ist und daß die Wahrung der obersten Rechts- und Verfassungswerte allen politischen Zweckmäßigkeitserwägungen vorgeht 1 1 7 . I m Fall Pätsch konnte zwischen Staats- und Verfassungsinteressen eine Wertung getroffen werden, da nicht wie i n den zuvor erörterten Fällen das Leben unbeteiligter D r i t ter i n höchste Gefahr gebracht wurde. Allgemein kann gesagt werden, daß diejenigen Widerstandshandlungen, die sich nicht direkt gegen die Störer der rechtlichen Ordnung richten, sondern das Leben Unbeteiligter in Gefahr bringen, rechtlich kaum zu bewerten sind. Der von der Rechtsprechung entwickelte Gedanke der Eskalation 118, wonach die Widerstandsmittel immer einschneidender werden dürfen, je mehr sich das Regime ins Unrecht setzt, ist ebenfalls dem Prinzip der Verhältnismäßigkeit zuzuordnen. Er bringt jedoch insofern einen neuen Aspekt i n die vorzunehmende Güterabwägung, als er den Einfluß der Staatssituation auf den Wert des Widerstandszieles zur Kenntnis nimmt. Die Wiederherstellung der Rechtsordnung ist u m so dringlicher, je einschneidender die Rechtsverletzungen sind. Damit werden immer stärkere Widerstandsmittel verhältnismäßig. Dieser Anerkennung des Eskalationsgedankens läßt sich entgegenhalten, daß damit einer Teufelsschraube der Steigerung von Staatsaktion und Gegenaktion des Widerstandes das Wort geredet wird. Trotzdem w i r d man es den Widerstandskämpfern nicht verwehren dürfen, ihre Gegenaktionen dem Maß des staatlichen Unrechts anzupassen. M i t dem so verstandenen Übermaßgedanken ist auch der Standort gefunden, das i n Schrifttum und Rechtsprechung höchst umstrittene Problem zu lösen, ob der Widerstand Aussicht auf Erfolg haben muß. Wie oben aufgezeigt 119 , n i m m t die Erfolgstheorie ihren Ausgang von der Lehre des Thomas von Aquin, daß Unordnung nicht noch durch 116 Vgl. C. Schmitt, Verfassungslehre, S. 164: „Das Widerstandsrecht des Einzelnen ist das äußerste Schutzmittel u n d ein unveräußerliches aber auch unorganisierbares Recht." Weniger, Gehorsamspflicht, S. 421; Arnot, Widerstandsrecht, S. 99. i n ß G H S t 20, 365.

ne Vgl. oben das „Sprengstoff-Urteil", S. 50, das U r t e i l " , S. 51 f. u n d das „Pätsch-Urteil", § 27,3. Ii» Vgl. oben, § 9,2.

„Überfall-auf-die-SA-

140

3. Kap. Die Formkräfte der Lehre

mehr Unordnung verschlimmert werden dürfe. Der zu erwartende Gewinn der Widerstandshandlung muß deshalb i n einem angemessenen Verhältnis zu dem zu erwartenden Schaden stehen. Soweit Handlungen — wie viele Formen des aktiven gewaltlosen und passiven Widerstandes — keinen Schaden an Rechtsgütern Dritter anrichten, brauchen sie auch keinerlei Aussicht auf Erfolg zu haben. Nur die Widerstandshandlung, die Rechtsgüter verletzt, muß Erfolge entsprechend den A b wägungen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes erwarten lassen. Dabei darf die Rückwirkung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit auf das Erfordernis der Erfolgsaussicht nicht übersehen werden. Drohende Repressalien können eine Widerstandshandlung m i t geringer Erfolgsaussicht unverhältnismäßig werden lassen. Unter diesem Aspekt erscheint das Attentat auf Reinhard Heydrich, das praktisch keine Aussicht auf Veränderung der Verhältnisse hatte, i n rechtlichem Zwielicht. Die Konsequenz ist, daß ein Regime den Widerstand unrechtmäßig machen kann, wenn es auf jede Wider st andshandlung blutige Repressalien folgen läßt. Aber damit setzt es sich immer mehr ins Unrecht und macht immer einschneidendere Widerstandshandlungen verhältnismäßig.

Viertes

Kapitel

Auseinandersetzung mit der Kodifikation des Widerstandsrechts in Art. 20 IV GG §41 Die Problematik einer Kodifikation des Widerstandsrechts 1. Staatstheoretische

Bedenken

I n Ubereinstimmung m i t der Staatsrechtslehre seiner Zeit hält Wolzendorff ein Widerstandsrecht des Volkes m i t dem Wesen des modernen Verfassungsstaates für unvereinbar. Der Staat sei die höchste Macht i m menschlichen Gemeinschaftsleben, eine auf sich selbst gestellte Kerrschergewalt, die von keiner anderen Macht abhängig sei. I m modernen Staat sei diese Herrschermacht „ i n das Recht gestellt", ihre Wirkungen entfalteten sich i m Rahmen der Rechtsordnung, der Staat sei Rechtsstaat. Eine rechtliche Bindung des Staates gebe es aber nur als freiwillige, als Selbstbindung. Die Anerkennung eines Widerstandsrechts des Volkes würde für den modernen Staat den rechtlichen Verzicht auf die Wahrung seiner Herrschermacht bedeuten, also eine Selbstentäußerung seines Wesens, was i n sich unmöglich sei 1 . Die Gedankenführung Wolzendorff s erinnert stark an die Ablehnung des Widerstandsrechts bei Immanuel Kant 2 . M i t dem gegenwärtigen Rechts- und Verfassungsverständnis ist sie ebensowenig vereinbar wie diese. Die Rechtsbindung des Staates ist keine freiwillige mehr, sie ist verbindlich und unveränderlich i n der Verfassung festgelegt (Art. 11, I I I , 20 I I I , 79 I I I GG). Die gesetzgebende Gewalt ist nicht mehr selbst1 Vgl. Wolzendorff, Staatsrecht u n d N a t u r r e d i t , S. 461 f. Unter den heutigen Staatsrechtslehrern steht Herbert K r ü g e r zumindest i n dieser Beziehung ganz i n der Tradition der klassischen Staatsrechtslehre. Unter Berufung auf K . S. Zachariae bezeichnet er den Widerstand als die Fortsetzung des Naturzustandes, d. h. des staatslosen Zustandes i n den Staat hinein. Da der moderne Staat Ü b e r w i n d u n g des Naturzustandes durch Bändigung der Urkräfte u n d deren Verweisung i n ein geordnetes Verfahren sei, könne der Widerstand i n seinem Bereich eine legale Stätte nicht haben (Staatslehre, S. 201). 2 Vgl. oben, S. 109 f.

142

4. Kap. Auseinandersetzung mit Art. 20IV GG

herrlich, sondern an die Grundrechte und die verfassungsmäßige Ordnung gebunden. Dieser Staatsauffassung hat der B G H i m „Pätsch-Urteil" beredten Ausdruck verliehen: „Alles politische Wirken ist der höheren Idee des Rechts unterworfen und durch sie begrenzt; denn das Recht ist kein Werkzeug der Macht 3 ." Dem Recht sind Staat und Bürger i n gleicher Weise verpflichtet. Nach den Irrwegen des Absolutismus und Positivismus nähert sich das moderne Verständnis von Staat und Recht wieder dem germanischen, wonach der Staat zur Verwirklichung des Rechts da ist und die Staatsgewalt nur Mittel, das Recht dagegen Selbstzweck ist 4 . Die rechtsstaatliche Theorie denkt den Staat nicht absolut und hat deshalb gegen die Kodifizierung des Widerstandsrechts auch keine staatstheoretischen Bedenken. Vielmehr ist es für ein solches Staatsverständnis nur konsequent, den Bürger aufzurufen, dort Widerstand zu leisten, wo das Recht verletzt wird. So betrachtet läßt sich sagen, daß das Widerstandsrecht gerade i m Rechtsstaat seinen Platz hat 5 . Die Auffassung, daß das Widerstandsrecht, staatstheoretisch unanfechtbar, kodifiziert werden kann, erhält i m demokratisch-rechtsstaatlichen Staat durch den Grundsatz der Volkssouveränität eine zusätzliche Stütze. Wo das Volk oberster Träger der Staatsgewalt ist, muß es beim Mißbrauch der Staatsgewalt durch die Repräsentanten zur Wiederherstellung der Rechtsordung berufen sein. 2. Die Vorgegebenheit

des

Widerstandsrechts

Als weiteres Argument gegen eine Kodifizierung des Widerstandsrechts w i r d vorgetragen, daß es der Verfassung vorgegeben sei und von dieser weder gewährt noch entzogen werden könne 6 . Dieser grund3 BGHSt 20, 365. * Kern, Gottesgnadentum, S. 122. s Die Meinung Peter Schneiders (Widerstandsrecht, S. 16), daß das Widerstandsrecht „seinen Ort nicht i m modernen Rechtsstaat, sondern i m Unrechtsstaat" habe, ist deshalb abzulehnen. Die Gewaltenteilung als objektives Strukturprinzip des Widerstandes, die Idee der Repräsentation als K o o r d i nationsprinzip u n d der Rechtsschutz als subjektive Kontrollmöglichkeit können das Widerstandsrecht zwar praktisch zurückdrängen, aber nicht seine Existenz dogmatisch i n Zweifel ziehen. I n diese Richtung geht auch die Auffassimg von Maunz (Deutsches Staatsrecht, § 13 I I 1 b), daß angesichts des dem GG zugrundeliegenden Systems der gegenseitigen Hemmung u n d des Gleichgewichts staatlicher Gewalten u n d des wirksamen Rechtsschutzes gegen Verfassungsverstöße u n d Verfassungsverfälschungen durch Staatsorgane das Widerstandsrecht als ein auch der grundgesetzlichen Ordnung immanentes überstaatliches Grundrecht anzuerkennen sei. β Vgl. ζ. B. die Bedenken des Abgeordneten Dr. Bucher (FDP), Sitzungsbericht des Dt. Bundestages, 5. Wahlperiode, 174. Sitzung, S. 9364 f.

§ 41 Die Problematik einer Kodifikation des Widerstandsrechts

143

sätzliche Einwand müßte dann auch die verfassungsrechtliche Positivierung all der Grundrechte treffen, die als vorstaatliche und vorgegebene Menschenrechte betrachtet werden. Der Streit u m Existenz und Inhalt überpositiver Sätze erweist den Wert eines verfassungsmäßigen Bekenntnisses zu vorgegebenen Rechten. Auch wenn eine verfassungsmäßige Niederlegung überpositiver Normen nur deklaratorischen Charakter haben kann, kommt ihr i m Interesse der Rechtssicherheit und der Ausprägung des Rechtsbewußtseins wesentliche Bedeutung zu. Das muß besonders für das seit jeher umstrittene Widerstandsrecht gelten 7 . A u f rechtstheoretische Bedenken stößt eine Normierung deklaratorischen Charakters nicht 8 . 3. Die

Lückenhaftigkeit

einer

Kodifikation

Wertenbruch ist der Ansicht, daß man das Widerstandsrecht unausgeformt i m Bereich des Naturrechts belassen solle. Es sei zwar ein „universell verknüpftes unbezweifelbar existentes und abstrakt umschreibbares Recht, aber gerade seine Universalität und Abstraktheit" könne „der Singularität (Relativität) des Augenblicks gefährlich" werden 9 . Ähnlich sagt Arnot, daß die „Widerstandsnorm" wegen der „unüberwindlichen Schwierigkeiten, die Gesamtsituation präzise und zugleich beschränkt zu formulieren, ohne Tatbestand, also ohne die Konkretisierung i n einer handwerklich-technischen Figur" bleiben müsse 10 . Die vielen widerstandsrechtlichen Urteile geben dieser Meinung Unrecht. Es hat sich gezeigt, daß kaum Widerstandsfälle auftreten, die sich der rechtlichen Bewertung entziehen. Da sich i m Bereich des Widerstandsrechts feste judizielle Maßstäbe entwickeln lassen, muß eine abstrakte Zusammenfassung und damit eine Kodifizierung möglich sein. Dieser Gedanke soll hier nicht weiter verfolgt werden, da es sich bei A r t . 20 I V GG nur u m eine Positivierung des Widerstandsrechts „ i n groben Zügen" handeln kann. Aber auch eine umrißhafte verfassungsrechtliche Verankerung kann Inhalt und wesentliche Grundsätze des Widerstandsrechts aufhellen und griffiger machen 11 . Sie dient 7 Der Meinung Rühes (Widerstandsrecht, S. 95), daß eine Kodifizierung deklaratorischer N a t u r überflüssig sei, k a n n daher nicht zugestimmt werden. 8 Die Positivierung darf jedoch nicht den I r r t u m entstehen lassen, als unterliege das vorgegebene Recht n u n den Schicksalen des Gesetzes, i n dem es geregelt ist. Der Bestand eines überstaatlichen Rechtes ist von seiner Formulierung i n einem Gesetz v ö l l i g unabhängig (vgl. Maunz, Deutsches Staatsrecht, § 13 I I 1 b). « Rechtfertigung, S. 336. 10 Widerstandsrecht, S. 90. I n diese Richtung gehen auch die Ausführungen Rühes, Widerstandsrecht, S. 95 ff. 11 Ebenso Geiger, Widerstand, S. 114.

144

4. Kap. Auseinandersetzung mit Art. 20IV GG

dem eben schon angesprochenen Bedürfnis nach Rechtsklarheit und Rechtssicherheit, auch wenn sich in der konkreten Widerstandssituation das „sichere Recht" des Widerstandskämpfers oft nicht gegenüber dem Unrecht einer rechtsbrechenden Gruppe durchsetzen kann.

4. Die Praktikabilität

einer

Kodifikation

Damit, daß die Frage der Kodifizierbarkeit des Widerstandsrechts theoretisch bejaht wird, ist noch nicht das Problem gelöst, ob die Positivierung des ius resistendi zweckmäßig ist. Gegen die Praktikabilität einer Kodifikation w i r d ein doppeltes Bedenken formuliert: Einmal das Bedenken, die Positivierung des Widerstandsrechts führe zu einer „Verharmlosung der Ausnahmelage"; zum anderen, sie bewirke eine „Dramatisierimg der Normallage" 1 2 . M i t dem Begriff „Verharmlosung der Ausnahmelage" ist gemeint, daß ein kodifiziertes Widerstandsrecht den Anschein eines Rechtsbehelfs gewinne; Rechtsbehelfe aber seien m i t dem Begriff der Risikolosigkeit verbunden. Die Gewöhnung an ein Zusammendenken von Widerstandsrecht und Risikolosigkeit bereite den Ernstfall ungenügend vor. Der Ausdruck „Dramatisierung der Normallage" soll bedeuten, daß die Betonung der Existenz des Widerstandsrechts durch die Kodifikation den Bürger allzu schnell zu den M i t t e l n des Widerstandes greifen lasse, daß sie i h n glauben lasse, er müsse bei jeder Diskrepanz zwischen der Autorität und seiner Meinung auf das Widerstandsrecht pochen. Diese Bedenken lassen sich nicht ganz von der Hand weisen. I n Frage stellen könnten sie die Praktikabilität einer Kodifikation indes nur, wenn sie deren Vorteile überwiegen würden. Wo das Widerstandsrecht nicht kodifiziert ist, w i r d schon seine Existenz immer in Zweifel gezogen werden. Die Unsicherheit der Bürger darüber, ob überhaupt Widerstand geleistet werden darf, erscheint wesentlich bedenklicher als die Gefahr, der Widerstand könne zu Unrecht als risikoloser Rechtsbehelf betrachtet werden 1 5 . Zum anderen sind ursprüngliche Widerstandsformen, wie Demonstration und kritische Meinungsäußerung, heute i n risikolose Grundrechtsausübung umgeleitet worden. Die grundsätzliche Zulässigkeit von Demonstrationen hat es erreicht, daß sich der Staat m i t Verbots** So Peter Schneider, Die heutige Position — staatsrechtlich, S. 149 f. 13 Ebenso w i e der F a l l einer staatlichen Notlage normativ durch eine N o t standsverfassung zu regeln ist, ist a u d i i m Bereich des Widerstandsrechts durch eine Kodifikation einem situationsgebundenen Dezisionismus entgegenzutreten.

§ 42 Die Gesetzgebungstechnik bei Art. 20IV GG

145

normen aus diesem Bereich zurückgezogen hat, so daß es zu einer Konfrontation zwischen staatlicher Autorität und bürgerlicher „ A u f lehnung" nicht kommen kann, wenn die Grenzen des Demonstrationsrechts nicht überschritten werden. I n gleicher Weise könnte, soweit kein Rechtsschutz besteht oder der Rechtsschutz nicht verfassungsmäßig funktioniert, gegen einzelne Verfassungsverletzungen gewaltloser Widerstand erlaubt werden. Der Bürger würde auf andere Widerstandsformen aufmerksam gemacht und damit auf die Tatsache, daß Widerstand nicht immer ein „TeilSchuß" oder ein Bombenattentat zu sein braucht. Das könnte zu einer Entdramatisierung des Widerstandsrechts führen, ohne daß dadurch die Notlage verharmlost werden müßte.

§ 42 Die Gesetzgebungstechnik bei Art. 2 0 I V GG Zwei Gründe haben den Bundestag dazu bewogen, das Widerstandsrecht als Abs. 4 dem Art. 20 GG hinzuzufügen: Zum einen, weil i n den Absätzen 1 bis 3 des A r t . 20 GG das geschützte Rechtsgut definiert ist 1 4 ; zum anderen, weil man der Ansicht war, i n A r t . 20 GG könne das Widerstandsrecht nicht mehr aufgehoben werden, da es über Art. 79 I I I GG erhöhte Bestandskraft gewinne 1 5 . Diese Auffassung gibt Anlaß zu erheblicher K r i t i k . Es ist bedenklich, wenn an der Fundamentalnorm des A r t . 20 GG überhaupt etwas geändert wird. Solche unveränderlichen Normen sollte man überhaupt nicht berühren; ihnen sollte man auch nichts hinzufügen. Der Einbau i n A r t . 20 GG macht das Widerstandsrecht nicht unaufhebbar. Vielmehr unterläuft der Gesetzgeber durch Manipulationen an A r t . 20 GG dessen erhöhte Geltungsqualität. Staatstheoretisch läßt sich die Unantastbarkeit bestimmter Normen nur durch die Unterscheidung des „Verfassunggebers" (des Schöpfers der Verfassimg als Ganzem) und des „Verfassungsgesetzgebers" (Gesetzgeber über Verfassungsveränderungen) rechtfertigen 16 . A r t . 79 I I I GG versucht diesen Gedanken staatsrechtlich zu verwirklichen. Gewisse Fundamentalsätze der VerVgl. den Bericht des Rechtsausschusses des Dt. Bundestages v o m 9. 5. 1968, Bundestagsdrucksache V/2873, zu § 1 Nr. 2 bb über den von der Bundesregierung eingebrachten E n t w u r f eines Gesetzes zur Änderung des G r u n d gesetzes. 15 So der Abgeordnete Stammberger (SPD) m i t dem Hinweis, daß sich diesbezüglich alle Parteien einig gewesen seien (Sitzungsbericht des Dt. BT, 5. Wahlperiode, 174. Sitzung, S. 9364). Vgl. Maunz/Dürig, Grundgesetz, A r t . 79, Rd. Nr. 22; C. Schmitt, V e r fassungslehre, S. 98, 101 ff. 10

Scheidle

146

4. Kap. Auseinandersetzung mit Art. 20IV GG

fassung macht er unabänderlich, d.h. durch den Verfassungsgesetzgeber nicht abänderbar. Damit w i r d eine absolute Verfassungsbestandsgarantie i n bezug auf einen K e r n der geltenden Verfassung geschaffen 17 . Wenn nun der Verfassungsgesetzgeber versucht, von i h m formulierte Normen i n den Unabänderlichkeitsbereich einzubringen, so verwischt er die klare Grenze zwischen sich und dem Verfassunggeber. Die ohneh i n problematische Norm des Art. 79 I I I GG w i r d damit auf eine zusätzliche Belastungsprobe gestellt. Es folgt notwendig aus der Unterscheidung von Verfassimggeber und Verfassungsgesetzgeber, daß die Unveränderlichkeitsklausel des A r t . 79 I I I GG sich nur auf die vom Verfassunggeber selbst bestimmten Grundsätze beziehen kann. Eine andere Auffassung würde außerdem dazu führen, daß der Verfassungsgesetzgeber die Grundnormen der A r t . 1 und 20 GG m i t beliebigen „Einbauten" versehen könnte, die dann allen Änderungsversuchen entzogen wären. Als besonders heikles Unterfangen muß es angesehen werden, gerade das Widerstandsrecht zum unabänderlichen K e r n der Verfassung ziehen zu wollen. Die Sperrnorm des A r t . 79 I I I GG verschließt den Weg legaler Verfassungsänderung und begünstigt damit revolutionäre Tendenzen 18 . Die Aufnahme des Widerstandsrechts i n den Kernbereich der Verfassung würde die unabänderliche Absicherung des Verfassungskerns durch das Widerstandsrecht bedeuten. Das Ausspielen von Revolutionsrecht und Widerstandsrecht würde A r t . 79 I I I GG m i t weiterem Explosionsstoff füllen, zudem auch das Wesen gerechtfertigten Widerstandes und gerechtfertigter Revolution verkennen, die ihre grundsätzliche begriffliche Unterscheidung nicht zulassen 19 . Die Folge des untauglichen Versuchs, das Widerstandsrecht unabänderlich zu machen, ist ein A r t . 20 GG, der nur ζ. T. der Sperrwirkung des A r t . 79 I I I GG unterliegt. E i n A r t . 20 GG, der ζ. T. abänderlich, ζ. T. unabänderlich ist, stellt keine befriedigende gesetzgeberische Lösung dar. Die Verankerung i n A r t . 20 GG w i r d auch nicht dadurch gerechtfertigt, daß dort das geschützte Rechtsgut definiert ist. Dieses hätte mühelos i n dem Widerstandsartikel wiederholt werden können. Da das Widerstandsrecht Grundrecht ist, wäre i n den A r t . 1 bis 19 GG ohnehin der geeignetere systematische Ort gewesen. " Vgl. Maunz/Dürig, Grundgesetz, A r t . 79, Rd. Nr. 24. Vgl. Maunz/Dürig, Grundgesetz, A r t . 79, Rd. Nr. 27. i» Vgl. oben, S. 112 f.

§ 43 Der materiell-rechtliche Gehalt des Art. 20IV GG

147

§ 43 Der materiell-rechtliche Gehalt des Art. 2 0 I V GG Die Positivierung des Widerstandsrechts i n A r t . 20 I V GG hat folgenden Wortlaut: „Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist." Die Formulierung, „diese Ordnung" soll einen Bezug zum Abs. 3 des A r t . 20 GG herstellen, i n dem von der „verfassungsmäßigen Ordnung" gesprochen wird. Die verfassungsmäßige Ordnung umfaßt i n ihren Fundamentalbereichen, die durch A r t . 20 I — I I I GG bestimmt werden, die Verfassungsgrundsätze der Demokratie, des Sozialstaates, einer bundesstaatlichen Gliederung, der Volkssouveränität, der M i t w i r k u n g des Volkes an der politischen Willensbildung i n Wahlen und Abstimmungen, der Gewaltenteilung und des Rechtsstaates. Das geschützte Rechtsgut des Widerstandsartikels sind die wesentlichen Elemente der freiheitlich-demokratischen Grundordnimg 2 0 . Das Rechtsgut grenzt den inhaltlichen Bereich der Bestimmung ab. Der Widerstandsartikel erweist sich als reines Verfassungsschutzrecht 21. Er erlaubt Widerstand nur zur Wahrung oder Wiederherstellung der verfassungsmäßigen Ordnung 2 2 , also nur i m konservierenden Sinne. Der Bezug auf das „ K P D - U r t e i l " 2 3 läßt sich nicht übersehen. Der Abgeordnete Dr. Even (CDU/CSU) hat auch bei der zweiten Lesung der Notstandsverfassung darauf hingewiesen, daß sich seine Partei i n Übereinstimmung m i t der Rechtsprechung des BVerfG befinde 24. Ebenso betont der Rechtsausschuß i n seinem Bericht vom 9. 5. 1968, daß die Grundsätze des Widerstandsrechts bereits i n der Rechtsprechung des BVerfG entwickelt worden seien 25 . Eine vom „ K P D - U r t e i l " ausgehende Interpretation des Widerstandsartikels dürfte daher nicht fehlgehen. Das BVerfG beschränkt die Ausübung des Widerstandsrechts nur dann auf eine konservierende Zielsetzung, wenn es gilt, einzelne Rechtswidrigkeiten zu bekämpfen. Das setzt voraus, daß i m übrigen eine legitime rechtsstaatliche Ordnung 20 So auch der Bericht des Rechtsausschusses des Dt. Bundestages v o m 9. 5.1968, a.a.O. 21 Anders A r t . 19 der Bremer Verfassung u n d A r t . 23 I I I der Berliner Verfassung, die durch die Kodifizierung des Widerstandsrechts n u r den Grundrechtsbereich weiter absichern wollen. 22 Es ist deshalb nicht ganz richtig, w e n n v. Peter (DÖV 1968,719) das Widerstandsrecht des A r t . 20 G G als „verfassungsrechtlich geregelten F a l l der Staatsnotwehr oder Staatsnothilfe" anspricht. 23 Vgl. oben, § 26. 24 Sitzungsbericht des Dt. BT, 5. Wahlperiode, 174. Sitzung, S. 9366. 2fi a.a.O.

10*

148

4. Kap. Auseinandersetzung mit Art. 20IV GG

besteht. Nur auf eine solche Ordnung ist der A r t . 20 I V GG bezogen. I m Falle einer Unrechtsherrschaft könnte das Widerstandsrecht dagegen sehr wohl auch m i t revolutionärer Zielsetzung ausgeübt werden. Da die Nominierung auf den Fall einer legitimen Staatsordnung beschränkt ist, kann es i h r nicht verargt werden, daß sie die menschenrechtliche

Wurzel

des

Widerstandsrechts

unberücksichtigt

läßt.

Im

intakten rechtsstaatlichen Verfassungsgefüge des GG besteht für eine Kodifizierimg des überpositiven Notwehrrechts kein Bedürfnis: A r t . 19 I V GG garantiert den Rechtsweg bei jeder Verletzung durch die öffentliche Gewalt i n eigenen Rechten. Unmittelbare Übergriffe werden durch die positivrechtlichen Bestimmungen der §§ 53 StGB, 56 I I BBG, 11 I I 1 SoldG abgewehrt 26 . U m es zusammenzufassen: Der Regelungsbereich des Widerstandsartikels ist doppelt verengt. Einmal w i r d das überpositive Notwehrrecht vollständig ausgeklammert. Zum anderen bezieht sich die Niederlegung des politischen Widerstandsrechts nur auf die Abwehr von Gefahren für eine legitime rechtsstaatliche Verfassung. Da A r t . 20 I V GG nur das politische Widerstandsrecht normiert, gewährt er es folgerichtig nur den Deutschen. Als Recht des status activus ist es auf die Staatsangehörigen beschränkt 27 . Widerstandsgegner ist jeder, der es unternimmt, „diese Ordnung" zu beseitigen. Der Gesetzgeber w i l l durch diese Formulierung das Widerstandsrecht zum Schutzmittel sowohl gegen den Staatsstreich von unten als gegen den Staatsstreich von oben machen 28 . Das birgt die Gefahr i n sich, daß das Widerstandsrecht zum Notstandsrecht umfunktioniert wird. I m Zustand der inneren Gefahr könnte es einfacher erscheinen, die sozialen Unruhen durch organisierte Gegenaktionen der Bevölkerung zu bekämpfen, als den organisatorischen Apparat der Notstandsverfassung i n Gang zu setzen 29 . Die Exekutive sähe sich nicht 26 Ob sich auf dem Hintergrund des Widerstandsrechts die heute herrschende Meinung zu §113 StGB, daß die Rechtmäßigkeit der Vollstrekkungshandlung k e i n Tatbestandsmerkmal des §113 StGB sei, sondern eine Bedingung der Strafbarkeit, auf die sich der Tätervorsatz nicht zu erstrecken braucht u n d ein rechtserheblicher I r r t u m (Tatbestands- w i e V e r botsirrtum) des Täters nicht erstrecken k a n n (vgl. insbesondere U r t e i l des B G H v o m 10.11.1967 — 4 StR 512/66 —, N J W 1968, 710 — „Weigand-Fall"), i n vollem Umfang aufrechterhalten läßt, erscheint zweifelhaft. 27 Vgl. oben, S. 120 f. Z u m Problem, i n w i e w e i t Bewohnern der Sowjetzone das Widerstandsrecht des A r t . 20 I V GG zusteht, vgl. v. Peter, D Ö V 1968, 721. 28 Vgl. den Bericht des Rechtsausschusses v o m 9.5.1968 (a.a.O.) u n d die dahingehende Äußerung des SPD-Abgeordneten Stammberger (Sitzungsbericht des Dt. B T , 5. Wahlperiode, 174. Sitzung, S. 9364). 29 Ebenso H. Scholler, Widerstand u n d Verfassung, i n : Der Staat, Zeitschrift f ü r Staatslehre, öffentliches Recht u n d Verfassungsgeschichte, Jahrgang 1969, S. 35.

§ 43 Der materiell-rechtliche Gehalt des Art. 20IV GG

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gezwungen, die parlamentarischen Organe einzuschalten. Die Subsidiaritätsklausel schneidet diese Umfunktionierung jedoch praktisch ab. Die Staatsorgane dürften nur dann zu einem organisierten Widerstand der Bevölkerung aufrufen, wenn sie nicht durch Notstandsmaßnahmen, also auf dem von der Verfassung vorgeschriebenen Weg, die inneren Unruhen beseitigen könnten. Daß sich das Widerstandsrecht potentiell gegen jedermann richten kann, ist grundsätzlich zu begrüßen, da es sich m i t den aus der Rechtsprechung gewonnenen Ergebnissen deckt. Wenn man jedoch gleichzeitig die Gefahren eines drittgerichteten Widerstandsrechts 30 bedenkt, vermißt man i n A r t . 20 I V GG den Hinweis, daß gewaltsamer Widerstand, insbesondere gegen Dritte, nur zulässig ist, wenn unmittelbar ein Angriff auf die gesamte Verfassimg droht, der den verfaßten politischen Willensbildungsprozeß i n Gefahr bringt. Die undifferenzierte Formulierung des A r t . 20 I V GG überspannt den Bogen einer zulässigen Drittwirkung, besonders wenn man sie auf dem entstehungsgeschichtlichen Hintergrund des Even-Entwurfs 3 1 : „ W i r d versucht, Verfassungsorgane des Bundes oder eines Landes an der Erfüllung ihrer gesetzlichen Aufgaben zu hindern, oder ist die freiheitliche demokratische Grundordnung beseitigt, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand gegen die Rechtsbrecher", betrachtet. Auch an anderen Punkten zeigen sich bedenkliche Folgen der überstürzten Aufnahme des Widerstandsrechts ins Grundgesetz 32 . Über die zulässigen Widerstandsmittel w i r d kein Wort verloren. Die Bestimmung der Widerstandslage kann nicht zufriedenstellen. Widerstand ist erlaubt, wenn es jemand unternimmt, „diese Ordnung", d. h. die Verfassungsordnung zu beseitigen 33 . Deshalb kann nur ein Frontalangriff auf das Verfassungsgefüge den Widerstandsfall nach A r t . 20 I V GG so Vgl. oben, § 35. 31 Vgl. Ο. E. Kempen, Notstandsverfassung u n d Widerstandsrecht, i n : Blätter f ü r deutsche u n d internationale Politik, 1968, S. 579. 32 Die Idee, i m Rahmen der Notstandsverfassung auch das Widerstandsrecht i m G G zu verankern, tauchte i n der parlamentarischen Diskussion erstmals zu Beginn des Jahres 1968 auf. Nachdem verschiedene Entwürfe eines Widerstandsartikels abgelehnt worden waren, passierte der jetzige A r t . 20 I V G G bereits am 30. M a i 1968 die dritte Lesung. Z u r Entstehungsgeschichte des A r t . 20 I V G G vgl. Kempen, Notstandsverfassung u n d W i d e r standsrecht, a.a.O., S. 579 ff., u n d H. ff. Klein, D Ö V 1968, 865 ff. I m Bundestag wurde die übereilte Aufnahme des Widerstandsrechts ins Grundgesetz durch den Abgeordneten Dr. Bucher (FDP) kritisiert (Sitzungsbericht des Dt. B T , 5. Wahlperiode, 174. Sitzung, S. 9364 ff.). 33 Wenn auch das Widerstandsrecht i m Zusammenhang m i t der Notstandsverfassung kodifiziert wurde, so ist es doch k e i n T e i l der Notstandsverfassung i n dem Sinne, daß die Widerstandslage n u r i m festgestellten Notstandsoder Spannungsfall eröffnet wäre (ebenso H. Scholler, Widerstand u n d Verfassung, a.a.O., S. 19).

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4. Kap. Auseinandersetzung mit Art. 20IV GG

auslösen, nicht aber eine einzelne Verfassungsverletzung. Ein Fall Pätsch könnte nicht über A r t . 20 I V GG abgewickelt werden 3 4 . Gerade solche Fälle würden sich aber für eine Kodifikation anbieten, da insoweit das gegenwärtige Verfassungsgefüge das Recht garantieren kann. Wo dagegen das gesamte Verfassungssystem i n Frage gestellt ist, hat eine Kodifikation vielfach nur moralisch-rechtliche, deklaratorische Bedeutung, da Erfolg oder Mißerfolg über das Schicksal des Widerstandskämpfers entscheidet. Dieser Umstand kann nicht davon entbinden, zu untersuchen, wer auf der Seite des Rechts streitet, aber es ist kurios, wenn eine Kodifikation nur den Widerstandsfall regelt, wo für das Recht nicht mehr garantiert werden kann. Zur Vermeidimg von Mißverständnissen sei klargestellt, daß die Regelung des A r t . 20 I V GG, die nur einen Teilbereich des Widerstandsrechts erfaßt, d i e Berufung

auf

das unkodifizierte

Widerstands-

recht nicht ausschließt. Soweit das Widerstandsrecht als überstaatliches Recht angesehen wird, kann es ohnehin nicht durch eine Positivierung relativiert werden 3 5 . Auch soweit es nur als ungeschriebenes, systemimmanentes Grundrecht betrachtet wird, ist es durch A r t . 20 I V GG nicht eingeschränkt worden, da die Positivierung des Widerstandsrechts die bisher bestehenden rechtlichen Befugnisse des Bürgers nicht einschränken, sondern erweitern wollte 3 6 . Die Widerstandslage w i r d weiter durch den Begriff „unternehmen" bestimmt, der entsprechend § 87 StGB die Vollendung und den Versuch umfaßt 3 7 . Zu definieren, wann es jemand unternimmt, „diese Ordnung" zu beseitigen, ist deshalb besonders schwer, weil nicht wie beim Verfassungshochverrat des § 80 StGB der Einsatz von Gewalt oder die Drohung m i t Gewalt verlangt wird. Der Rechtsausschuß betont ausdrücklich, daß es keinen Unterschied mache, ob die verfassungsgefährdenden Bestrebungen sich der Anwendung oder Androhung von Ge34 Bessere Bestimmungen des Widerstandsfalls enthalten der A r t . 147 I H V („Widerstand gegen verfassungswidrig ausgeübte öffentliche Gewalt ist jedermanns Recht u n d Pflicht") u n d der E n t w u r f eines Widerstandsartikels durch die SPD-Abgeordneten Gscheidle, Kafka, Leuders, Matthöfer u n d Perzner („Bei einer drohenden Gefahr f ü r die freiheitlich-demokratische Grundordnung des Bundes oder eines Landes, insbesondere bei verfassungsw i d r i g ausgeübter öffentlicher Gewalt, ist es das Recht u n d die Pflicht jedermanns, einzeln oder i n Gemeinschaft m i t anderen Widerstand gegen diese Gefahren zu leisten", vgl. Kempen, a.a.O., S. 579). I n diesen Bestimmungen w i r d f ü r die Auslösung des Widerstandsfalles zu Recht auf die Verletzung der Verfassung abgestellt. 35 Vgl. oben, Fußnote 8 dieses Kapitels. 36 Vgl. die Äußerungen der Abgeordneten Dr. Stammberger (FDP), Dr. Even (CDU/CSU) u n d Schmidt (SPD) (Sitzungsbericht des Dt. BT, 5. W a h l periode, 174. bzw. 175. Sitzung, S. 9363, 9366 f., 9643 f.). 37 So auch der Bericht des Rechtsauschusses v o m 9.5.1968, a.a.O.

§ 43 Der materiell-rechtliche Gehalt des Art. 20IV GG

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wait, des Machtmißbrauchs oder anderer M i t t e l bedienten 38 . Auch der nur geistig Agitierende kann damit zum Widerstandsgegner werden. I n einem solchen Fall die Abgrenzung von Vorbereitungshandlung und Versuch zu treffen, stößt auf beachtliche Schwierigkeiten. Die Franksche Formel, wonach alle Handlungen als Beginn der Ausführung (Versuch) anzusehen sind, die vermöge ihrer notwendigen Zusammengehörigkeit mit der Tatbestandshandlung als deren Bestandteil erscheinen 39 , und die Formel des BGH, daß Versuch gegeben ist, wenn die Einzelhandlungen i n ihrer Gesamtheit einen derartigen unmittelbaren Angriff auf das geschützte Rechtsgut bilden, daß es dadurch schon gefährdet ist 4 0 , dürften schwerlich eine exakte Bestimmung des Widerstandsfalls ermöglichen. So gesehen können Befürchtungen, die diese Formulierung des Widerstandsrechts als nachträgliche Legitimierung des Attentats auf Dutschke ansehen, nicht ohne weiteres von der Hand gewiesen werden. Daß getreu den — allerdings deutlicheren — Ausführungen des BVerfG 4 1 der Subsidiaritätsgrundsatz („wenn andere Abhilfe nicht möglich ist") berücksichtigt wird, ändert hieran nur wenig. Der Bürger w i r d sich fragen, für wen andere Abhilfe möglich sein muß. Kann er, der zum Widerstand Berufene, immer dann Widerstand leisten, wenn er nicht durch Petitionen und Gerichtsschutz Abhilfe schaffen kann? Hatte der Attentäter Bachmann die Möglichkeit anderer Abhilfe gegen die evtl. umstürzlerischen Absichten Dutschkes? Hier ist der Text mißverständlich. Man w i r d die Subsidiaritätsklausel nicht abstrakt verstehen dürfen. Der Wächterfunktion des Widerstandsrechts 42 entspricht allein die konkrete Betrachtungsweise 43 . Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, daß auf Grund des staatlichen Gewaltmonopols gewaltsamer Widerstand, insbesondere gegen Dritte, erst zulässig ist, wenn die verfassungsmäßige staatliche Gewaltausübung durch verfassungswidrige Kräfte unmittelbar bedroht ist 4 4 . Obwohl A r t . 20 I V GG nur das Subsidiaritätsprinzip erwähnt, w i r d man auch i n seinem Regelungsbereich jede Ausübung des Widerstands38 Bericht v o m 9. 5.1968, a.a.O. 39 Vgl. Schwarz/Dreher, 40 B G H S t 2, 380.

Strafgesetzbuch, § 43, A n m . 1 B.

41 Vgl. oben, S. 89. 42 Vgl. oben, S. 135. 43 E i n ähnliches Problem besteht bei § 47 V w G O . Auch dort ist nach h. M . die konkrete Betrachtungsweise maßgebend (vgl. z.B. Eyermann/Fröhler, Verwaltungsgerichtsordnung, §47, Rd. Nr. 8; Herzog, Verfassungsgerichtliche u n d verwaltungsgerichtliche Normenkontrolle, BayVBl. 1961, 368 ff.). 44 Vgl. oben, S. 131 f.

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4. Kap. Auseinandersetzung mit Art. 20IV GG

rechts nach den Grundsätzen des Übermaßverbotes 45 zu beurteilen haben. Das ergibt sich schon aus der engen Verwandtschaft von Widerstandsrecht und Notrecht. Die Grundsätze der Erforderlichkeit und der Verhältnismäßigkeit bestimmen deshalb auch für den Bereich des kodifizierten Widerstandsrechts die Mittelwahl. Über den Gedanken der Eskalation w i r d auch das Widerstandsrecht des A r t . 20 I V GG zu einem fein gestimmten Instrument, das jeder Herausforderung die adäquate A n t w o r t zuteil werden läßt.

43 Vgl. oben, § 40.

Thesen 1. Das Widerstandsrecht dient dem Kampf ums Recht. N u r wer gegen das Unrecht kämpft, kann das Widerstandsrecht i n Anspruch nehmen. Soweit revolutionäre Bestrebungen dem Recht zur Geltung verhelfen wollen, sind sie vom Widerstandsrecht gedeckt. 2. Als Recht können nur Normen angesehen werden, die sich mit der Rechtsüberzeugung des Volkes und dem relativen Naturrecht i n Einklang befinden. 3. Der Kampf ums Recht kann für die Allgemeinheit (politischer Widerstand), aber auch i m persönlichen Interesse (überpositive Notwehr) geführt werden. 4. Das politische Widerstandsrecht ist herausragendes Recht des status activus. Es steht nur den Deutschen zu, entsprechend dem demokratischen Prinzip jedem Deutschen. 5. Das überpositive Notwehrrecht dient dem Schutz vorstaatlicher Menschenrechte. Es ist der Wächter der Rechte des status negativus. I m Gegensatz zum politischen Widerstandsrecht zielt es nicht auf Umgestaltung der politischen Gesamtsituation ab, sondern gewährt Soforthilfe für die konkrete Notsituation. 6. I m Geltungsbereich des Grundgesetzes ist das Widerstandsrecht ungeschriebenes Grundrecht. Soweit die Konzeption einer Verfassung das Widerstandsrecht leugnet, ergibt es sich aus dem relativen Naturrecht. 7. I m modernen Großstaat kommt für die Ausübung des Widerstandsrechts größeren sozialen Einheiten und Gruppierungen besondere Bedeutung zu. 8. Widerstandsgegner sind nicht nur die obersten Träger der Staatsgewalt, sondern auch der Mittel- und Unterbau eines Regimes, soweit es sich u m treibende Kräfte handelt. 9. Die „Transformations de la Puissance publique" haben sich heute i n einem Maße realisiert, daß die Frage nach der D r i t t w i r k u n g des Widerstandsrechts zu einem brennenden Problem geworden ist. Die Ausübung des Widerstandsrechts gegen Dritte trägt die „Gefahr der Instituierung des Krieges aller gegen alle" i n sich. Objektive Rechts-

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Thesen

Schutzmöglichkeiten können diese Gefahr bannen, ohne den Bürger gegen die „oligarchischen" Mächte des intermediären Bereiches rechtlos zu stellen. 10. Das Widerstandsrecht existiert unabhängig von der Staatslage. Rechtsbehelfe können es nur subsidiär machen. 11. Die Widerstandslage w i r d material durch das Begriffsgespann Legalität und Legitimität beistimmt. Temporal w i r d der Widerstandsfall ausgelöst, wenn ein Angriff auf durch das Widerstandsrecht geschützte Bereiche drohend bevorsteht. 12. Von vorneherein unzulässige Widerstandsmittel gibt es nicht. Welches Widerstandsmittel i n der konkreten Situation rechlich erlaubt ist, läßt sich aus den Grundsätzen des Übermaßverbotes entnehmen. Jedoch setzt das staatliche Gewaltmonopol eine deutliche Zäsur für den Ubergang vom gewaltlosen zum gewaltsamen Widerstand. 13. Soweit sich der Widerstand ausschließlich gegen die Widerstandsadressaten selbst richtet, w i r d er nur vom Grundsatz der Erforderlichkeit reguliert. Werden jedoch Rechtsgüter Dritter oder der Allgemeinheit i n Mitleidenschaft gezogen, so ist eine Güterabwägung zwischen den gefährdeten Gütern und dem angestrebten Ziel vorzunehmen. Nach dem Gedanken der Eskalation dürfen die Widerstandsmittel desto einschneidender werden, je mehr sich das Regime ins Unrecht setzt. 14. Der Grundsatz, daß der Widerstand Aussicht auf Erfolg haben muß, ist Ausfluß des Übermaßgedankens. Erfolgsaussicht ist daher nur nötig, soweit Rechtsgüter unbeteiligter Dritter oder der Allgemeinheit gefährdet werden. 15. Gegen eine Kodifikation des Widerstandsrechts bestehen keine grundsätzlichen Bedenken. 16. Der „Einbau" des Widerstandsartikels i n A r t . 20 I V GG unterstellt das Widerstandsrecht nicht dem Schutz des A r t . 79 I I I GG. 17. Der Widerstandsartikel ist reines Verfassungsschutzrecht. Er umfaßt nur das politische Widerstandsrecht i m Rechtsstaat. Seine überstürzte Aufnahme ins Grundgesetz hat zu Formulierungsmängeln geführt, die ihn als das „Sechs-Monats-Kind" der Notstandsverfassung erweisen. Die kodifikatorischen Mängel lassen sich jedoch an Hand der entwickelten Grundsätze der Rechtsprechung interpret ativ beseitigen.

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