Akten zur Auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland: Akten zur Auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland 1992 9783110985986, 9783110997248

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German Pages 1974 [1972] Year 2023

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Table of contents :
Inhalt
Vorwort
Deutsche Außenpolitik im Jahre 1992: Eine Einführung
Vorbemerkungen zur Edition
Verzeichnisse
Dokumente. 1–74
Dokumente. 75–146
Dokumente. 147-201
Dokumente. 202-273
Dokumente. 274-350
Dokumente. 351-439
Register
Verzeichnis der Personen im Geschäftsbereich des Auswärtigen Amts
Personenregister
Sachregister
Anhang: Organisationsplan des Auswärtigen Amts vom Juli 1992
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Akten zur Auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland: Akten zur Auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland 1992
 9783110985986, 9783110997248

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Akten zur Auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland 1992

Akten zur Auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland

Herausgegeben im Auftrag des Auswärtigen Amts vom Institut für Zeitgeschichte Hauptherausgeber Andreas Wirsching Mitherausgeber Stefan Creuzberger und Hélène Miard-Delacroix

Akten zur Auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland 1992 Band I: 1. Januar bis 30. Juni 1992 Wissenschaftliche Leiterin Ilse Dorothee Pautsch Bearbeiter Daniela Taschler, Tim Geiger und Tim Szatkowski

ISBN 978-3-11-099724-8 e-ISBN (PDF) 978-3-11-098598-6 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-098629-7 ISSN 2192-2454 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. Library of Congress Control Number: 2022951694 © 2023 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: Beltz Grafische Betriebe GmbH, Bad Langensalza www.degruyter.com

Inhalt Vorwort. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Stefan Creuzberger, Hélène Miard-Delacroix, Andreas Wirsching Deutsche Außenpolitik im Jahre 1992: Eine Einführung . . . . . .

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Vorbemerkungen zur Edition. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Verzeichnisse Dokumentenverzeichnis . Literaturverzeichnis . . . . Abkürzungsverzeichnis . Abbildungsverzeichnis . .

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XXXI LXXX LXXXVI XCVII

1–201) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202–439) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

3 815

Verzeichnis der Personen im Geschäftsbereich des Auswärtigen Amts . . . . . Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1749 1773 1803

Dokumente Band Band

I (Dokumente II (Dokumente

Register

Anhang: Organisationsplan des Auswärtigen Amts vom Juli 1992

Vorwort Mit den Jahresbänden 1992 wird zum dreißigsten Mal eine Sammlung von Dokumenten aus dem Politischen Archiv des Auswärtigen Amts unmittelbar nach Ablauf der 30jährigen Aktensperrfrist veröffentlicht. Zugleich ist dies der zweite Jahrgang nach der Überarbeitung des äußeren Erscheinungsbildes und des inhaltlichen Aufbaus der Edition. Die positiven Rückmeldungen zu dieser Neugestaltung bestärken uns, auf dem eingeschlagenen Weg fortzufahren. Das Erscheinen der vorliegenden Bände gibt Anlass, allen an dem Werk Beteiligten zu danken. So gilt mein verbindlichster Dank dem Auswärtigen Amt, vor allem dem Politischen Archiv unter seiner Leiterin Professor Dr. Elke Freifrau von Boeselager. Gleichermaßen zu danken ist dem Bundeskanzleramt für die Erlaubnis, unverzichtbare Gesprächsaufzeichnungen in die Edition aufzunehmen. Erneut konnte auch der Nachlass von Bundesminister a.D. Hans-Dietrich Genscher im Politischen Archiv in die Dokumentenauswahl einbezogen werden. Großer Dank gebührt ferner Professor Dr. Hélène Miard-Delacroix und Professor Dr. Stefan Creuzberger, die sich als Mitherausgeber der anspruchsvollen Aufgabe mit ihrer großen Expertise gewidmet haben. Gedankt sei auch dem präzise arbeitenden Verlag DeGruyter sowie den in der Münchener Zentrale des Instituts Beteiligten, insbesondere der Verwaltungsleiterin Christine Ginzkey. Das Hauptverdienst am Gelingen der beiden Bände haben die Bearbeiter, Dr. Daniela Taschler, Dr. Tim Geiger und Dr. Tim Szatkowski, zusammen mit der Wissenschaftlichen Leiterin, Dr. Ilse Dorothee Pautsch. Ihnen sei für die erbrachte Leistung nachdrücklichst gedankt. Wesentlich zur Fertigstellung der Edition beigetragen haben überdies: Dr. Rainer Ostermann durch die Herstellung des Satzes sowie Jutta Bernlöhr, Annika Finken, B.A., Anne Füllenbach, B.A. und Johanna Losacker. Berlin, den 1. Dezember 2022

Andreas Wirsching

VII

Stefan Creuzberger, Hélène Miard-Delacroix, Andreas Wirsching

Deutsche Außenpolitik im Jahre 1992: Eine Einführung Die Bonner Diplomatie des Jahres 1992 wurde maßgeblich von der Selbstauflösung der UdSSR am 25. Dezember 1991 und dem damit einhergehenden Machtverlust der einstigen Supermacht absorbiert.1 Da die ehemaligen Sowjetrepubliken in der Folgezeit nur noch locker unter dem Dach der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) zusammengehörten und Russland die unmittelbare Rechtsnachfolge der Sowjetunion beanspruchte, waren Konflikte vorprogrammiert, wenn es darum ging, sich untereinander über die ‚Konkursmasse der UdSSR‘ zu verständigen.

Russland an Europa heranführen Im Auswärtigen Amt beobachtete man das Geschehen höchst aufmerksam, zumal das Ende des Sowjetstaates eine internationale Tragweite besaß. Die Ereignisse drohten nicht nur das im November 1990 mit der Charta von Paris für Europa proklamierte neue Zeitalter „der Demokratie, des Friedens und der Einheit“ empfindlich zu gefährden.2 Sie stellten auch die deutsche Diplomatie vor besondere Herausforderungen, da es im Nachgang zur Wiedervereinigung noch mancherlei Regelungsbedarf mit der früheren östlichen Supermacht gab. Und das fiel ausgerechnet in eine Zeit, in der die Russische Föderation, die für Bonn nun zum zentralen Ansprechpartner avancierte, über kein „klar ausgearbeitetes außenpolitisches Konzept“ mehr verfügte, wie Klaus Neubert, der Leiter des Russlandund GUS-Referats, am 29. Mai 1992 konstatierte.3 Mehr noch: Das Land müsse „mit der neugewonnenen Souveränität des größeren Deutschland politisch ins Reine kommen“ und habe „bis heute nicht überwunden ..., dass aus einem Objekt, dem man gelegentlich Daumenschrauben anlegen konnte, ein Subjekt geworden ist, mit dem nicht nach Belieben umgesprungen werden kann“.4 Tatsächlich trat die Bonner Diplomatie fortan deutlich selbstbewusster gegenüber der einstigen Supermacht auf.5 Im Auswärtigen Amt wollte man die künftigen Beziehungen zu Moskau auf der Basis gleichberechtigter Partnerschaft aktiv gestalten.6 In erster Linie hieß das, Präsident Boris Jelzin und seinen weltoffenen Außenminister Andrej Kosyrew 1 Der Beitrag erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit, sondern versucht, anhand verschiedener Ereignisse und Entwicklungen schlaglichthaft Einblicke in die deutsche Außenpolitik des Jahres 1992 zu geben. 2 Der amerikanische Präsident Bush legte am 11. September 1990 in einer Rede vor beiden Häusern des Kongresses Grundzüge einer „neuen Weltordnung“ dar. Vgl. Public Papers of the Presidents of the United States, George H.W. Bush, 1990, S. 1218–1222. 3 Siehe unten, Dok. 157, Vorlage des Vortragenden Legationsrats I. Klasse Neubert für Bundesminister Kinkel, 29. Mai 1992, S. 644. 4 Siehe unten, Dok. 275, Vorlage des Vortragenden Legationsrats I. Klasse Neubert für Bundesminister Kinkel, 9. September 1992, S. 1108, 1110. 5 Ebd., S. 1108. 6 Ebd., S. 1111.

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Stefan Creuzberger, Hélène Miard-Delacroix, Andreas Wirsching

nachhaltig zu unterstützen. Beide hatten dem Land dringend erforderliche innenpolitische und ökonomische Reformen verordnet.7 Die deutsche Außenpolitik mobilisierte dafür immense Finanzmittel, organisierte Lebensmittellieferungen, humanitäre und technische Hilfe. 1992 jedenfalls zeichnete sie sich in dieser Hinsicht durch großes Engagement aus und warb unablässig gegenüber den westlichen Verbündeten sowie im Kreis der G 7Staaten, es ihr gleichzutun.8 Deutschland als „östlichster Staat Westeuropas“ sah sich in der Verantwortung, Russland an Europa heranzuführen und es bei der „Suche nach einer neuen post-kommunistischen Identität im Sinne des Wertekanons der Pariser Charta, der europäischen Traditionen von Liberalismus, Toleranz und Weltoffenheit zu beeinflussen“. Nur beständige Kooperation konnte nach Überzeugung von Frank Elbe, dem Leiter des Planungsstabes im AA, weitere Destabilisierungen und Krisenherde verhindern, die sich unmittelbar aus dem Zerfall der UdSSR ergaben: Dabei dachte er etwa an das Problem Kaliningrad, das mit der Unabhängigkeit des Baltikums nun zu einer russischen Exklave geworden war. Zugleich häuften sich die Streitthemen zwischen Moskau und Kiew. Dabei ging es um die territoriale Zugehörigkeit der Krim, die Aufteilung der Schwarzmeerflotte oder um den nach wie vor ungeregelten Verbleib der einstigen sowjetischen Nukleararsenale, die sich noch auf dem Gebiet der Ukraine befanden. Erhebliche Sorgen bereiteten zudem die 56 Atomkraftwerke auf dem Territorium der GUS, die kaum mehr über adäquates Fachpersonal verfügten und zumeist eklatante strukturelle Sicherheitsmängel aufwiesen. Vor allem durch die oft ungeklärte Lagerung ihrer Atombrennstäbe drohten ähnliche Proliferationsgefahren wie bei den ABC-Waffen aus der Verfügungsmasse der ehemaligen Sowjetarmee.9 Es war daher nur konsequent, dass Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher zu den Initiatoren zählte, in Russland mit westlicher Unterstützung ein Wissenschafts- und Technologiezentrum zu finanzieren, das die „Verbreitung von Kernwaffen durch Wissenstransfer“ unterbinden sollte.10 Ebenso erfolgreich konnte er im Bündnis damit durchdringen, die GUS-Staaten gerade angesichts der schwierigen Übergangsphase in den Nordatlantischen Kooperationsrat (NAKR) einzubeziehen.11 Auf der politischen Agenda der deutschen Diplomatie standen aber noch andere kontroverse Themen, die es vor allem im bilateralen Verhältnis mit dem Kreml zu lösen galt. So war 1992 der im Zwei-plus-Vier-Prozess vertragsgemäß zugesagte Abzug der früheren sowjetischen Besatzungstruppen (WGT) aus den ostdeutschen Bundesländern ins Stocken geraten.12 7 Ebd.; Dok. 370, Vorlage des Ministerialdirektors Chrobog für Bundesminister Kinkel, 11. November 1992. 8 Siehe unten, Dok. 38, Runderlass des Vortragenden Legationsrats I. Klasse Bettzuege, 6. Februar 1992; Dok. 100, Schreiben des Bundeskanzlers Kohl an den russischen Präsidenten Jelzin, 3. April 1992; Dok. 160, Runderlass des Vortragenden Legationsrats Koenig, 1. Juni 1992; Dok. 302, Gespräch der Außenminister der G 7 in New York, 23. September 1992. 9 Siehe unten, Dok. 405, Vorlage des Ministerialdirektors Elbe für Bundesminister Kinkel, 8. Dezember 1992, S. 1614, 1616 f. 10 Siehe unten, Dok. 50, Runderlass des Vortragenden Legationsrats I. Klasse Bettzuege, 19. Februar 1992, S. 197. 11 Siehe unten, Dok. 74, Drahtbericht des Botschafters von Ploetz, Brüssel (NATO), 10. März 1992, S. 294 f. 12 Siehe unten, Dok. 81, Vorlage des Vortragenden Legationsrats I. Klasse Lambach für Staatssekretär Kastrup, 20. März 1992; Dok. 195, Drahtbericht des Botschafters Blech, Moskau, 29. Juni 1992; Dok. 280, Vorlage des Vortragenden Legationsrats I. Klasse Göckel für Bundesminister Kinkel, 11. September 1992.

X

Deutsche Außenpolitik im Jahre 1992: Eine Einführung

Ungeklärte Liegenschaftsprobleme der WGT13, sowjetische Altschulden, die Restitution der im Zweiten Weltkrieg verschleppten Kulturgüter14 sowie die Frage nach deutschen Entschädigungszahlungen für begangenes nationalsozialistisches Unrecht sorgten für reichlich Dissens. Überdies zog sich die Rückführung Erich Honeckers nach Deutschland in die Länge. Der ehemalige SED-Generalsekretär hatte sich im Jahr zuvor durch seine Flucht in die UdSSR der deutschen Strafverfolgung entzogen, wurde dann aber am 29. Juli 1992 von dort abgeschoben.15 Die übrigen Streitpunkte ließen sich zwischen dem 14. und 16. Dezember 1992 während Helmut Kohls erster Kanzlervisite im postsowjetischen Russland weitgehend bereinigen. Jelzin etwa sicherte den vorfristigen Abzug der verbliebenen WGT-Verbände aus Ostdeutschland bis zum 31. August 1994 zu. Und wo keine Einigung erzielt werden konnte, etwa bei der Beutekunst, brachte das Treffen zumindest neue Verhandlungsimpulse.16 Dieser Besuch war von historischer Tragweite, weil er die politischen Weichen für das künftige deutsch-russische Verhältnis stellte. Freilich behielt Kohl dabei die Befindlichkeiten der übrigen GUS-Länder wie auch der ostmittel- und westeuropäischen Nachbarn stets im Blick. Deutsche Außenpolitik, die sich der europäischen Integration verpflichtet sah, war stets darauf bedacht, bei den Anrainerstaaten keinerlei Rapallo-Ängste zu schüren. Schon die gemeinsame historische Verantwortung gebot es, speziell den leidgeprüften Polen und Balten zu versichern, dass es keine deutsch-russische Sonderabsprachen mehr auf deren Kosten geben werde. Und aus der Tatsache, dass „Russlands Beziehungen zu Europa ... primär über Deutschland laufen“, sozusagen als „Hypothek von zwei Weltkriegen“, wie es Planungsstab-Leiter Frank Elbe am 8. Dezember 1992 formulierte, eröffneten sich nunmehr Chancen für die Stabilität, Demokratisierung, Rüstungskontrolle und gedeihliche Entwicklung des Kontinents, der gerade schwerwiegende Transformationsprozesse durchlebte.17

Krisenherd Jugoslawien Doch wurden derartige Hoffnungen überlagert durch die Eskalation und anhaltende Gewalt in den nunmehr offen entbrannten jugoslawischen Nachfolgekriegen. Seit Bonn im Jahr zuvor innerhalb der Europäischen Gemeinschaft vorgeprescht war und Jugoslawiens ehemalige Teilrepubliken Slowenien und Kroatien völkerrechtlich anerkannt hatte, verschärften sich die Probleme dort weiter. Der Konflikt erfasste nunmehr Bosnien-Herzego13 Siehe unten, Dok. 250, Vorlage des Vortragenden Legationsrats I. Klasse Lambach und des Botschafters Heinsberg für Staatssekretär Lautenschlager, 14. August 1992; Dok. 314, Gespräch des Bundesministers Kinkel mit dem russischen Präsidenten Jelzin in Moskau, 7. Oktober 1992. 14 Siehe unten, Dok. 420, Gespräch des Bundeskanzlers Kohl mit dem russischen Präsidenten Jelzin in Sawidowo, 15. Dezember 1992, S. 1670 f.; Dok. 357, Vorlage des Ministerialdirigenten Schirmer für Staatssekretär Lautenschlager, 5. November 1992, S. 1424–1428. 15 Siehe unten, Dok. 184, Gespräch des Staatssekretärs Kastrup mit dem chilenischen Sonderbotschafter Holger, 23. Juni 1992; Dok. 235, Drahtbericht des Botschafters Blech, Moskau, 22. Juli 1992. 16 Siehe unten, Dok. 419, Gespräch des Bundeskanzlers Kohl mit dem russischen Präsidenten Jelzin in Moskau, 15. Dezember; Dok. 420, Gespräch des Bundeskanzlers Kohl mit dem russischen Präsidenten Jelzin in Sawidowo, 15. Dezember 1992. 17 Siehe unten, Dok. 405, Vorlage des Ministerialdirektors Elbe für Bundesminister Kinkel, 8. Dezember 1992, S. 1616–1618.

XI

Stefan Creuzberger, Hélène Miard-Delacroix, Andreas Wirsching

wina, mehr noch: drohte sogar, auf den Kosovo überzugreifen.18 Das wiederum stellte die deutsche Diplomatie nicht nur in der Region selbst, sondern auch gegenüber den Allianzpartnern vor vielfältige politische Herausforderungen. Nachdem die Verantwortlichen in Paris und London im Januar 1992 der deutschen Anerkennungspolitik widerstrebend gefolgt waren, mühte sich vor allem Frankreich, vorangegangene Meinungsverschiedenheiten zu glätten, forderte zugleich aber, künftig von diplomatischen Alleingängen abzusehen und „von jetzt an wieder zu einer gemeinsamen Linie zu finden“.19 Eine solche bestand fortan in einem „doppelgleisigen Lösungsansatz“, für den Bundesaußenminister HansDietrich Genscher nachhaltig eintrat: „Befriedung durch VN-Truppen sowie politische Regelung“, herbeigeführt durch eine Jugoslawien-Konferenz. Genscher, der am 17. Mai 1992 als dienstältester Außenminister der Welt nach 18 Jahren den Chefsessel im AA für den Parteifreund und politischen Ziehsohn Klaus Kinkel räumte20, hatte bis dahin eigens seinen Einfluss auf die Kroaten geltend gemacht, sich diesem Vorgehen nicht zu verweigern. Und Amtsnachfolger Kinkel setzte diesen Kurs konsequent fort.21 Eine rasche Bereinigung des diffizilen, emotional höchst aufgeladenen Gesamtkonflikts ließ sich dadurch jedoch nicht herbeiführen. Vielmehr verdeutlichen die Berichte und Einschätzungen der deutschen Diplomaten während des gesamten Jahres 1992, wie sehr das Bemühen um Frieden auf dem Balkan einer Quadratur des Kreises glich. Erschwerend hinzu kam der Umstand, dass es mit EG, UNO, NATO, KSZE oder WEU sehr viele weitere politische Akteure und Institutionen gab, die in die dafür erforderlichen internationalen Verhandlungs- und Abstimmungsprozesse eingebunden werden mussten.22 Als sich im Verlauf des Jahres 1992 für die vom Bürgerkrieg geschundene Zivilbevölkerung insbesondere im multiethnischen Bosnien-Herzegowina eine humanitäre Katastrophe anbahnte, sah sich die Bonner Außenpolitik gefordert. Für die westlichen Bündnispartner bestand kein Zweifel, dass vor allem das Belgrader Milošević-Regime und dessen bosnische Satrapen mit ihrem großserbischen Nationalismus hauptverantwortlich für die dortigen ‚ethnischen Säuberungen‘, Massenvergewaltigungen und sonstigen Menschenrechtsverletzungen waren. Vor allem unter den bosnischen Muslimen lösten sie eine Flüchtlingswelle aus. Innerhalb der Bundesregierung herrschte Konsens, dieses Treiben durch massiven Druck entschlossen zu sanktionieren.23 „Schon lange sei die deutsche Politik zu dem 18 Siehe unten, Dok. 426, Gespräch des Bundesministers Kinkel mit den Außenministern Dumas (Frankreich), Eagleburger (USA) und Hurd (Großbritannien) in Brüssel, 17. Dezember 1992, S. 1690 f. 19 Siehe unten, Dok. 16, Drahtbericht des Botschafters Sudhoff, Paris, 16. Januar 1992, S. 75; Dok. 312, Deutsch-französische Regierungsbesprechung, 6. Oktober 1992. 20 Siehe unten, Dok. 119, Drahtbericht des Botschafters Weisel, Zagreb, 27. April 1992, S. 500 f., Anmerkung 10; Dok. 132, Drahtbericht des Botschafters Freiherr von Richthofen, London, 5. Mai 1992, S. 547 f.; Dok. 140, Drahtbericht des Botschafters Freiherr von Richthofen, London, 14. Mai 1992, S. 569–573. 21 Siehe unten, Dok. 48, Runderlass des Vortragenden Legationsrats I. Klasse von Jagow, 18. Februar 1992, S. 192; Dok. 142, Gespräch des Bundesministers Kinkel mit dem französischen Außenminister Dumas in La Rochelle, 21. Mai 1992, S. 580. 22 Siehe unten, Dok. 146, Vorlage des Vortragenden Legationsrats I. Klasse Ahrens für Bundesminister Kinkel, 22. Mai 1992, S. 596 f.; Dok. 274, Vorlage des Vortragenden Legationsrats Steiner für Bundesminister Kinkel, 7. September 1992, S. 1101 f.; Dok. 94, Vorlage des Vortragenden Legationsrats I. Klasse Ahrens für Bundesminister Genscher, 2. April 1992, S. 396. 23 Siehe unten, Dok. 198, Gespräch des Bundesministers Kinkel mit dem amerikanischen Verteidigungsminister Cheney in Washington, 30. Juni 1992, S. 801 f.; Dok. 312, Deutsch-französische Regierungsbesprechung, 6. Oktober 1992, S. 1253.

XII

Deutsche Außenpolitik im Jahre 1992: Eine Einführung

Schluss gekommen“, so Bundesaußenminister Kinkel am 28. August 1992 im Vorfeld der Londoner Jugoslawien-Konferenz, „dass die Serben nur eine harte Sprache verstünden“.24 In dieser Haltung sah er sich mit dem Bundeskanzler fest an der Seite der USA.25 Das traf auch auf den Gedanken zu, einen Internationalen Strafgerichtshof einzurichten, der sich der juristischen Aufarbeitung und Ahndung von Kriegsverbrechen fortan annehmen sollte.26 Zunächst galt die Aufmerksamkeit deutscher Politik aber dem drängenderen Problem, die Fluchtbewegung möglichst rasch wirkungsvoll einzudämmen. Lösungen vor Ort mussten her, so etwa durch die Einrichtung von Sicherheitszonen. Nicht zuletzt deshalb plädierte Außenminister Kinkel immer wieder nachdrücklich für militärische Maßnahmen in Form von „Out-of-Area-Einsätzen“, um beispielsweise das von bosnischen Serben, Restverbänden der jugoslawischen Bundesarmee und Paramilitärs belagerte Sarajewo freizukämpfen. Doch derartige Vorschläge wirkten polarisierend und befeuerten eher den Unmut insbesondere der britischen und französischen Entscheidungsträger, zumal ihre deutschen Gesprächspartner immer wieder verfassungsrechtliche Vorbehalte anführten, sich selbst nicht aktiv an derartigen Maßnahmen beteiligen zu können.27 Botschaftsrat Martin Lutz brachte das besondere Dilemma am 10. Juni 1992 in einem Drahtbericht aus Belgrad auf den Punkt: „Für die deutsche Außenpolitik droht sich ... die unglückliche Konstellation des Golfkriegs zu wiederholen: Wir sind – stärker als am Golf – ‚Meinungsführer‘ einer harten Linie gegen Serbien, würden aber die militärische ‚Drecksarbeit‘ wieder anderen überlassen“.28 Und diese Einschätzung deckte sich geradezu bemerkenswert mit einem sarkastischen Kommentar im Quai d’Orsay, von dem der Gesandte Otto-Raban Heinichen aus Paris zu berichten wusste: „Deutschland sei dezidiert für einen Kampfeinsatz – bis zum letzten französischen Soldaten.“29 Gleichwohl waren beide Seiten spätestens im Vorfeld der für Dezember 1992 geplanten deutsch-französischen Regierungskonsultationen ernsthaft darum bemüht, sich über die „Grundsatzfragen der Jugoslawien-Krise“ zu verständigen.30

24 Siehe unten, Dok. 266, Gespräch des Bundesministers Kinkel mit dem Ko-Vorsitzenden der JugoslawienKonferenz, Lord Owen, in London, 28. August 1992, S. 1070. 25 Siehe unten, Dok. 387, Gespräch des Bundeskanzlers Kohl mit dem jugoslawischen Ministerpräsidenten Panić, 26. November 1992; Dok. 171, Drahtbericht des Botschaftsrats I. Klasse Lutz, Belgrad, 10. Juni 1992, S. 701 f., Dok. 266, Gespräch des Bundesministers Kinkel mit dem Ko-Vorsitzenden der Jugoslawien-Konferenz, Lord Owen, in London, 28. August 1992; Dok. 430, Drahtbericht des Botschafters Jelonek, Genf (Internationale Organisationen), 17. Dezember 1992, S. 1713 f.; Dok. 426, Gespräch des Bundesministers Kinkel mit den Außenministern Dumas (Frankreich), Eagleburger (USA) und Hurd (Großbritannien) in Brüssel, 17. Dezember 1992, S. 1690 f. 26 Siehe unten, Dok. 274, Vorlage des Vortragenden Legationsrats Steiner für Bundesminister Kinkel, 7. September 1992, S. 1104; Dok. 430, Drahtbericht des Botschafters Jelonek, Genf (Internationale Organisationen), 17. Dezember 1992, S. 1714. 27 Siehe unten, Dok. 426, Gespräch des Bundesministers Kinkel mit den Außenministern Dumas (Frankreich), Eagleburger (USA) und Hurd (Großbritannien) in Brüssel, 17. Dezember 1992, S. 1691; Dok. 421, Runderlass des Vortragenden Legationsrats I. Klasse Bettzuege, 15. Dezember 1992, S. 1676. 28 Siehe unten, Dok. 171, Drahtbericht des Botschaftsrats I. Klasse Lutz, Belgrad, 10. Juni 1992, S. 702. 29 Siehe unten, Dok. 251, Drahtbericht des Gesandten Heinichen, Paris, 14. August 1992, S. 1008. 30 Siehe unten, Dok. 312, Deutsch-französische Regierungsbesprechung, 6. Oktober 1992, S. 1251–1255.

XIII

Stefan Creuzberger, Hélène Miard-Delacroix, Andreas Wirsching

Transatlantische Beziehungen und europäische Sicherheit Unterdessen beeinflusste das deutsch-französische Verhältnis im weiteren Verlauf des Jahres 1992 verschiedene Bereiche der transatlantischen Beziehungen und der europäischen Sicherheit. Das blieb nicht ohne Folgen für Deutschland, das gut ein Jahr nach der Vereinigung nach wie vor um seine außenpolitisch neue Rolle im europäischen wie globalen Kontext rang, dabei immer wieder unterschiedlichen Erwartungshaltungen der Bündnispartner ausgesetzt war und somit Gefahr lief, zwischen die Stühle zu geraten. Die großen Herausforderungen ergaben sich fast zwangsläufig aus der Tatsache, dass der Kalte Krieg inzwischen beendet und durch die Selbstauflösung der UdSSR ein weiterer gewichtiger militärischer Bedrohungsfaktor entfallen war. Damit drängte sich für die bisherige westliche Sicherheitsarchitektur unweigerlich die Frage auf, inwieweit die tiefgreifenden Veränderungen der Jahre 1989 bis 1991 institutionelle Anpassungen oder gar Veränderungen bei NATO und KSZE erforderlich machten.31 Der Nordatlantikpakt „hat nach militärischen Maßstäben derzeit die geringste Existenzberechtigung seit 1949“, hieß es am 24. Februar in einer Vorlage für Bundesminister Genscher. Die Militärallianz „steht vor grundlegenden Entscheidungen hinsichtlich anzustrebender Ziele: Europäisierung? Erweiterung? Globalisierung der Aufgaben? ... Impulse und Herausforderungen kommen vor allem aus drei Bereichen auf das Bündnis zu, die es beantworten muss: die Beziehung Europa – USA, die Beziehung zu MOE- und GUS-Staaten und die mögliche Bündnisrolle in KSZE und VN“.32 Der Diskussionsbedarf war jedenfalls sehr groß, tangierte zugleich das künftige Verhältnis zu den Vereinigten Staaten als langjähriger westlicher Führungsmacht, zumal in diesem Zusammenhang Frankreich etwa mit der Idee eines Gesamteuropäischen Sicherheitsvertrages zeitweilig eigene Sicherheitskonzepte in die Debatte einstreute und dafür um die Gunst der Bundesrepublik warb. Der Vorstoß aus Paris traf im Auswärtigen Amt auf erhebliche Vorbehalte, die vor allem Vortragender Legationsrat Pauls am 26. März in einem speziellen Vermerk überaus trefflich artikulierte und sich dabei in guter Gesellschaft mit den meisten Allianz-Partnern wusste: Frankreichs Vorschlag habe „insgesamt das Misstrauen seiner Hauptpartner verstärkt. Es müsste vor allem darlegen, welche Existenzberechtigung die NATO neben oder im Rahmen des Gesamteuropäischen Sicherheitsvertrags hätte. Kollektive Sicherheit für Europa ist nicht durch ein institutionell schwächeres kollektives europäisches Sicherheitsbündnis zu erreichen“.33 Für die Bundesrepublik stand das nordatlantische Militärbündnis nicht zu Disposition. Anders verhielt es sich mit der Idee des Eurokorps, einer gemeinsamen Initiative von Bundeskanzler Kohl und Staatspräsident Mitterrand vom Oktober 1991, mit dem beide die bilaterale militärische Kooperation ausweiten wollten. 1992 standen hier weitere richtungsweisende Beschlüsse an.34 Zugleich zeichnete sich immer deutlicher ab, wie sehr diese 31 Siehe unten, Dok. 58, Vorlage des Vortragenden Legationsrats I. Klasse Bertram für Bundesminister Genscher, 24. Februar 1992; Dok. 105, Vermerk des Ministerialdirektors Chrobog, 10. April, S. 441–444 (KSZE). 32 Siehe unten, Dok. 58, Vorlage des Vortragenden Legationsrats I. Klasse Bertram für Bundesminister Genscher, 24. Februar 1992, S. 218. 33 Siehe unten, Dok. 87, Vermerk des Vortragenden Legationsrats Pauls, 26. März 1992, S. 368. 34 Siehe unten, Dok. 91, Vorlage des Vortragenden Legationsrats I. Klasse Bertram für Bundesminister Genscher, 31. März 1992.

XIV

Deutsche Außenpolitik im Jahre 1992: Eine Einführung

Grundsatzentscheidung „als Indiz des anhaltenden Spannungsverhältnisses europäischer und transatlantischer Prioritäten in der deutschen Außenpolitik“ betrachtet werden musste. Einige Verbündete, darunter Großbritannien und die Niederlande, nicht zuletzt die USA selbst, „interpretieren unseren Beschluss für das Korps vorrangig als eine profranzösische, langfristig gegen die USA und die Allianz gerichtete Grundsatzentscheidung, die für sie Zweifel an unserer Verlässlichkeit ... aufkommen lässt“, fasste Ministerialdirektor Frank Elbe in einer Ministervorlage zusammen. Um derartigen Fehlwahrnehmungen, so Elbe, entgegenzuwirken und die zwischenzeitlich provozierte „Vertrauenskrise“ zu überwinden, sei „damage-control“ dringend angeraten, vorzugsweise etwa über einen speziellen Transatlantischen Vertrag für Freundschaft und Zusammenarbeit. Für die deutsche Diplomatie stellte die Eurokorps-Entscheidung also keinerlei einseitige bündnispolitische Festlegung zugunsten Frankreichs dar. Vielmehr besaß sie einen flankierenden Charakter, der ganz im Geiste des gleichzeitig entstehenden Maastrichter Vertragswerks Ausdruck des voranschreitenden europäischen Integrationsprozesses sein sollte, ohne sich gegen die USA zu richten. Das vereinte Deutschland war also weit davon entfernt, in Fragen der Sicherheit künftig zwischen der Partnerschaft zu Frankeich oder zu den Vereinigten Staaten abzuwägen, sondern stand für Kontinuität. Weiterhin galt das bewährte Prinzip des „Sowohl als auch“, wenn es darum ging, Sicherheits- und Außenpolitik im trilateralen Beziehungsgeflecht zwischen Bonn, Paris und Washington zu gestalten.35 Gleichwohl zeichnete sich bereits ab, dass die Deutschen gegenüber den Amerikanern fortan selbstbewusster eigene außenpolitische Interessen artikulieren würden. Und das wiederum bedeutete zwangsläufig, sich von liebgewonnenen Ansprüchen zu verabschieden, stets „everybody’s darling sein zu können“.36

Europapolitische Herausforderungen Nicht weniger fordernd waren die Themen, die auf der europapolitischen Agenda des Auswärtigen Amtes standen. Sie ergaben sich allesamt aus dem Vertragswerk von Maastricht, das die Umwandlung der Europäischen Gemeinschaft zur Europäischen Union beinhaltete. Die Bonner Außenpolitik des Jahres 1992 sah sich hier in besonderer Verantwortung, die bevorstehenden Integrationsprozesse weiterhin konstruktiv zu begleiten, um den übrigen EG-Mitgliedstaaten die Sorge vor dem vereinten Deutschland zu nehmen. Eine zentrale Entscheidung, die für 1992 dringend anstand, war die weitere Reform des Gemeinschaftshaushaltes. Jacques Delors, der Vorsitzende der Europäischen Kommission, hatte eigens dafür ein Papier erarbeiten lassen. Das sogenannte Delors-II-Paket sollte die mittelfristige Finanzplanung der EG/EU bis 1999 sicherstellen. Allerdings war zu erwarten, dass es vor allem bei Briten und Franzosen nicht zuletzt wegen der Erhöhung des Finanzrahmens „mit Sicherheit zu schwierigen Diskussionen führen“ würde, wie eine Ministervorlage an Hans-Dietrich Genscher am 17. Februar 1992 hervorhob. Die Deutschen könnten mit dieser Initiative gut leben, da sie sich nicht zuletzt aufgrund der „Vereinigung ... leicht positiv auf unsere relative Beitragsposition auswirken“, hieß es dort weiter. Vor allem war zu erwarten, dass die neuen ostdeutschen Bundesländer für ihren Transformationsprozess 35 Siehe unten, Dok. 165, Vorlage des Ministerialdirektors Elbe für Bundesminister Kinkel, 4. Juni 1992, S. 678–683. 36 Siehe unten, Dok. 182, Drahtbericht des Botschafters Sudhoff, Paris, 20. Juni 1992, S. 748.

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bis zu zwölf Milliarden DM Regionalförderungen aus dem dafür vorgesehenen europäischen Strukturfonds erhalten würden. Aus deutscher Sicht gab es aber weitere gute Gründe, die Verhandlungen über die mittelfristigen Etatplanungen der Gemeinschaft möglichst zügig und erfolgreich abzuschließen: Solange hier keine finanziellen Gewissheiten existierten, konnte jedenfalls kaum daran gedacht werden, die europäische Integration durch die Aufnahme weiterer Länder zu vertiefen.37 Das galt mit Blick auf die Erweiterungsperspektiven gegenüber den EFTA-Staaten Österreich, Schweden, Finnland, die Schweiz und Norwegen, von denen die Mehrheit 1992 Beitrittsanträge gestellt hatten. Vor allem Deutschland und Großbritannien begrüßten dieses Vorhaben entschieden, zumal es in der EG, wie Frank Elbe am 24. März in einer Vorlage für Bundesminister Genscher formulierte, „zu einer Entlastung der bisherigen großen NettoZahler führen“ würde. Anders stellte sich dagegen die Situation für eine künftig angedachte Aufnahme der drei ostmitteleuropäischen Staaten Polen, Tschechoslowakei und Ungarn dar. Hier würden immense finanzielle, ökonomische und soziale Belastungen auf die bisherigen EG-Mitglieder zukommen, mehr noch: Elbe war sich keineswegs sicher, wie es dabei um die innenpolitische Akzeptanz in Deutschland selbst stand. Und das wiederum schien bei einigen Partnern innerhalb der Gemeinschaft die Hoffnung zu nähren, fortan das „größere deutsche Engagement für die Erweiterung allein angesichts ihrer finanziellen Konsequenzen abkühlen“ zu lassen. Vor diesem Hintergrund war die deutsche Europapolitik des Jahres 1992 vor allem mit dem „Spannungsverhältnis zwischen Vertiefung und Erweiterung“ der EG konfrontiert. Im Auswärtigen Amt wollte man jedoch das eine nicht gegen das andere ausspielen, sondern setzte vielmehr darauf, das bisherige bilaterale deutsche Engagement in Osteuropa im Sinne einer „Stabilisierung ... zu ‚vergemeinschaften‘, um eine gerechtere Lastenverteilung durchzusetzen“.38 All diese Debatten mussten zu einem denkbar ungünstigen Zeitpunkt geführt werden. Denn 1992 war das Jahr, in dem in den Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft der Vertrag von Maastricht zur Ratifizierung anstand. Manche Länder, wie etwa Frankreich oder Dänemark, machten ihre parlamentarische Zustimmung zuvor von nationalen Referenden abhängig. Und hier drohte das ablehnende Votum der Dänen, den europäischen Integrationsprozess zwischenzeitlich ins Stocken zu bringen. Bundesaußenminister Kinkel wollte sich dadurch indes ebenso wenig beirren lassen wie Kanzler Kohl. Beide befürworteten nachdrücklich den Verbleib Dänemarks in der Gemeinschaft, drängten zugleich aber darauf, den Ratifizierungsprozess in den übrigen EG-Staaten fortzusetzen und abzuschließen. Sie zeigten sich allerdings offen dafür, den Dänen einen konstruktiven Ausweg aus der verfahrenen Situation zu weisen. Dabei galt es insbesondere, ihnen die Vorzüge der EU-Mitgliedschaft plastisch vor Augen zu führen – und das insbesondere für den Agrarsektor, wo sie weit bessergestellt seien als etwa Portugal oder Griechenland, wie Helmut Kohl am 16. Juli 1992 in einer Unterredung mit seiner norwegischen Amtskollegin Gro Harlem Brundtland durchblicken ließ. Ähnlich agierte der deutsche Außenminister während zahlreicher Krisengespräche, die nach Kompromisslösungen suchten. Dabei gab er immer wieder deutlich zu erkennen, was im Zusammenhang mit dem Ver37 Siehe unten, Dok. 47, Vorlage des Vortragenden Legationsrats I. Klasse Barth für Bundesminister Genscher, 17. Februar 1992, S. 185–188. 38 Siehe unten, Dok. 86, Vorlage des Ministerialdirektors Elbe für Bundesminister Genscher, 24. März 1992, S. 354 f, 357 f.

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trag von Maastricht unter allen Umständen zu vermeiden war: Es „kann keine Neuverhandlungen, kein Öffnen der ‚Pandora-Büchse‘ geben; das Tor bleibt für DK Dänemark offen, das sich zunächst selbst über den weiteren Weg klar werden muss. Dann werden alle zwölf Mitglied-Staaten sehen, welche politischen bzw. rechtlichen Möglichkeiten geboten sein werden,“ so Klaus Kinkel am 11. Juni 1992 einvernehmlich mit seinem niederländischen Amtskollegen Henri van den Broek in Den Haag.39 Und diese Haltung wurde er nicht müde, auch dem dänischen Außenminister Uffe Ellemann-Jensen bei verschiedener Gelegenheit klar zu vermitteln. Zuletzt appellierte Kinkel am 8. Dezember 1992 im Rahmen eines ‚Konklaves‘ der EG-Außenminister eindringlich dafür, den zwischenzeitlich gefundenen Kompromiss, der den übrigen Mitgliedstaaten erhebliches Entgegenkommen abverlangt habe, nicht noch im allerletzten Moment zur Disposition zu stellen.40 Die Europäische Ratssitzung am 11. und 12. Dezember im schottischen Edinburgh sollte schließlich den Durchbruch bringen, um die bis dahin drängendsten europapolitischen Fragen des Jahres – eine Rahmenlösung für Dänemark und konkrete finanzpolitische Festschreibungen im Rahmen des Delors-II-Pakets – zu bereinigen. Angesichts dieser Umstände überrascht es wenig, wenn es drei Tage später in einem Runderlass des Auswärtigen Amtes euphorisch hieß: „Die Gemeinschaft hat mit dem Ergebnis von Edinburgh in einer Phase wirtschaftlicher Schwierigkeiten und drohenden Vertrauensverlustes Handlungsfähigkeit ... bewiesen und ein klares Signal für die Fortsetzung des Integrationsprozesses gesetzt. Wohl kaum zuvor sind auf einem Gipfel derart viele schwierige und für die Zukunft der Gemeinschaft wichtige Fragen gelöst worden.“41

Nahostkonflikt, Israel und Beziehungen zu jüdischen Organisationen in den USA Während in der Europapolitik von erfolgreichem Krisenmanagement gesprochen werden konnte, lagen die Verhältnisse für den Nahost-Konflikt dagegen vollkommen anders. Wie schon in den vorangegangenen Jahren pflegte die deutsche Diplomatie auch 1992 weiterhin den direkten Dialog mit den darin unmittelbar involvierten politischen Akteuren. Zugleich setzte sie aber verstärkt darauf, sich nunmehr im institutionellen Rahmen der Europäischen Gemeinschaft in die multilateralen Bemühungen einzubringen, um den nur schwer lösbaren Grundkonflikt zumindest zu entschärfen. Das galt vor allem mit Blick auf die am 28./29. Januar 1992 in Moskau unter dem Vorsitz von Amerikanern und Russen veranstaltete Nahostkonferenz. Sie hatte es sich zur Aufgabe gemacht, gemeinsam mit allen Konfliktparteien die brennendsten regionalen Herausforderungen wie die Rüstungskontrolle und Sicherheitsfragen sowie die nicht minder drängenden Probleme Wasser, Umwelt, wirtschaftliche Entwicklung zu diskutieren. Nicht zuletzt darüber sollte auf längere Sicht eine friedensstiftende Zusammenarbeit unter den zerstrittenen Seiten stimuliert werden. 39 Siehe unten, Dok. 229, Gespräch des Bundeskanzlers Kohl mit der norwegischen Ministerpräsidentin Brundtland in Oslo, 16. Juli 1992, S. 930; Dok. 166, Drahtbericht des Ministerialdirigenten von Kyaw, z.Z. BM-Delegation, 4. Juni 1992; Dok. 173, Gespräch des Bundesministers Kinkel mit dem niederländischen Außenminister van den Broek in Den Haag, S. 710. 40 Siehe unten, Dok. 352, Gespräch des Bundesministers Kinkel mit dem dänischen Außenminister Ellemann-Jensen, 4. November 1992, S. 1403 f; Dok. 407, Drahtbericht des Botschafters Trumpf, Brüssel (EG), 8. Dezember 1992, S. 1621. 41 Siehe unten, Dok. 421, Runderlass des Vortragenden Legationsrats I. Klasse Bettzuege, 15. Dezember 1992, S. 1672 f.

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Bonn drängte bei dieser Gelegenheit jedenfalls entschieden darauf, dass „Europa hier mit einer Stimme spricht“.42 Gleichwohl gab es alsbald Rückschläge zu verzeichnen. Israel hatte nämlich die direkte Mitwirkung der Europäer – in Form von Europäischer Gemeinschaft oder aber von einzelnen EG-Mitgliedern – insbesondere in der multilateralen Arbeitsgruppe Rüstungskontrolle kategorisch abgelehnt. Damit war ein zusätzlicher Konflikt heraufbeschworen. Die deutsche Außenpolitik suchte ihn im Kreise der EG-Partner u. a. mit der Formel „Bestehen auf europäischer Teilnahme auch bei der AG ‚Rüstungskontrolle‘, zugleich Kompromissbereitschaft hinsichtlich des Formats der Teilnahme“ zu entschärfen.43 Schwierig gestalteten sich 1992 auch die bilateralen Beziehungen zwischen Bonn und Jerusalem. Hier sorgte insbesondere Israels Wunsch nach deutschen Krediten mitunter für atmosphärische Verstimmungen. Während der gemeinsamen Finanzgespräche war schnell deutlich geworden, wie sehr die israelischen Erwartungen den „Goodwill der deutschen Seite erheblich strapazierten“, so Ministerialdirektor Peter Hartmann am 22. Oktober in einer internen Ressortbesprechung im Bundekanzleramt.44 Kanzler Helmut Kohl hatte bereits am 14. April in einem persönlichen Schreiben an Außenminister David Levy die geringen finanziellen Handlungsspielräume seiner Regierung verdeutlicht und um Verständnis für die zurückhaltende Position geworben. Die im Jahr zuvor angebotene Finanzhilfe war von den Israelis als unzureichend abgelehnt worden. Zu mehr sah sich Bonn aber angesichts der eigenen angespannten Haushaltslage und weitreichenden Verpflichtungen beim Aufbau Ost in den damaligen neuen Bundesländern und der Unterstützung der Transformationsprozesse in Osteuropa einfach nicht in der Lage.45 Selbst Bundesaußenminister Kinkels erster Israelbesuch im November konnte die Wogen nicht glätten. Deshalb wurden die Fortsetzung förmlicher Finanzgespräche, aber auch die ungeklärten Verhandlungsthemen deutsch-israelische Stiftung für wissenschaftliche Forschung und Zusammenarbeit sowie die Förderung deutscher Investitionen in Israel auf das Jahr 1993 vertagt.46 Deutsche Israel-Politik war nicht nur eine rein bilaterale Angelegenheit. Sie musste immer auch unter dem Blickwinkel der einflussreichen jüdischen Interessenverbände in den USA reflektiert werden. Die Beziehungen zu diesen gestalteten sich zusehends schwieriger gerade unter dem Eindruck der ins Stocken geratenen Finanzverhandlungen mit Jerusalem. Und angesichts der „Äußerungen von Vertretern amerikanisch-jüdischer Organisationen über Rechtsradikalismus in Deutschland“, hieß es am 5. Mai 1992 in einer Vorlage für Staatssekretär Kastrup, gab es in dieser Hinsicht wenig Aussicht, auf baldige Entspannung zu hoffen, zumal öfter „als bislang üblich ... Entwicklungen in und außenpolitische Schritte der Bundesrepublik Deutschland mit dem nationalsozialistischen (oder vereinzelt völlig undifferenziert mit einem fast-schon-wieder-nationalsozialistischen) Deutschland in Ver42 Siehe unten, Dok. 15, Vorlage des Vortragenden Legationsrats I. Klasse von Hoessle für Bundesminister Genscher, 16. Januar 1992, S. 71–74. 43 Siehe unten, Dok. 121, Vorlage des Vortragenden Legationsrats Kaul für Bundesminister Genscher, 28. April 1992, S. 503–506. 44 Siehe unten, Dok. 337, Ressortbesprechung im Bundeskanzleramt, 22. Oktober 1992, S. 1343. 45 Siehe unten, Dok. 108, Schreiben des Bundeskanzlers Kohl an den israelischen Außenminister Levy, 14. April 1992, S. 460 f. 46 Siehe unten, Dok. 378, Gespräch des Bundesministers Kinkel mit dem israelischen Außenminister Peres in Jerusalem, 18. November 1992, S. 1517–1519; Dok. 427, Gespräch des Staatssekretärs Kastrup mit dem israelischen Sonderbotschafter Ben-Natan, 17. Dezember 1992, S. 1691–1697.

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bindung gebracht“ wurden.47 Derartige Tendenzen wollte die Bonner Diplomatie nicht tatenlos gewähren lassen. Eine hochrangige Ressortrunde im Auswärtigen Amt unter Leitung von Staatssekretär Dieter Kastrup widmete sich der NS-Vergangenheit und Behandlung des Holocaust-Themas in den USA. Am 22. September verständigte sie sich auf entsprechende Maßnahmen in der politischen Öffentlichkeits- und Kulturarbeit. Sie setzte auf eine langfristig angelegte Informationsarbeit, die vornehmlich auf Jugendliche und spezielle Holocaust-Lehrer zielte, aber auch die meinungsbildenden Eliten in den USA nicht aussparen sollte. In diesem Zusammenhang galt es vor allem, die „verengte Darstellung der deutschen Geschichte zu ergänzen durch ein breites Angebot zur Beschäftigung mit der deutschen Nachkriegsgeschichte“. Deutschlands Verantwortung für den Mord an den europäischen Juden sollte dabei jedoch in keiner Weise relativiert werden. Allerdings war man sich der besonderen Herausforderung bewusst, wenn es zugleich einschränkend hieß: „Solange allerdings unsere innenpolitische Realität den Eindruck vermittelt, dass wir nicht in der Lage sind, Ausländer gegen Angriffe rechtsradikaler Jugendlicher zu schützen, wird es uns nicht leichtfallen, die Darstellung des Holocaust in den USA durch Hinweise auf die Realitäten in Nachkriegsdeutschland positiv zu ergänzen.“48 Die damit im Zusammenhang stehenden rassistisch motivierten Brandanschläge in Mölln und Solingen sowie die pogromartigen Ausschreitungen in Rostock-Lichtenhagen besaßen 1992 also eine erhebliche außenpolitische Relevanz.49 Gleichwohl gab es unter geschichts- und erinnerungspolitischen Gesichtspunkten aber auch Positives zu bilanzieren. So hatte sich im September das Bundesfinanzministerium für das vereinte Deutschland mit der Jewish Claims Conference in New York auf Entschädigungszahlungen für noch lebende jüdische Opfer des Nationalsozialismus in Höhe von 975 Millionen DM verständigt. Gerade dieser Umstand flankierte die vielfältigen Bemühungen der Bonner Diplomaten, um das Image der Deutschen bei US-amerikanischjüdischen Interessenverbänden deutlich zu verbessern.50

Außenpolitik in Zeiten zunehmender Globalisierung Unterdessen zeichnete sich 1992 immer deutlicher ab, wie sehr Deutschlands Außenpolitik von den Problemen und Herausforderungen der Globalisierung beansprucht wurde. Themen wie die Beteiligung an humanitären Hilfseinsätzen und Friedenssicherung etwa in Kambodscha oder Somalia standen nunmehr verstärkt auf der politischen Agenda des Auswärtigen Amts.51 Auf dem Gebiet des Verbots von Chemiewaffen konnte sich die Bon47 Siehe unten, Dok. 131, Vorlage des Vortragenden Legationsrats I. Klasse Wagner für Staatssekretär Kastrup, 5. Mai 1992, S. 544. 48 Siehe unten, Dok. 308, Runderlass des Referats 221, 30. September 1992, S. 1232. 49 Siehe unten, Dok. 303, Gespräch des Bundesministers Kinkel mit dem israelischen Außenminister Peres in New York, 24. September 1992, S. 1215; Dok. 362, Vorlage des Ministerialdirektors Elbe für Bundesminister Kinkel, 9. November 1992; Dok. 386, Drahtbericht des Botschafters Stabreit, Washington, 24. November 1992; Dok, 390, Drahtbericht des Botschafters Sudhoff, Paris, 27. November 1992. 50 Siehe unten, Dok. 287, Vorlage des Vortragenden Legationsrats I. Klasse Lincke für Bundesminister Kinkel, 16. September 1992, S. 1161 f. 51 Siehe unten, Dok. 68, Vorlage des Vortragenden Legationsrats Knieß für Bundesminister Genscher, 28. Februar 1992; Dok. 305, Vorlage des Vortragenden Legationsrats I. Klasse Staks für Staatssekretär Kastrup, 24. September 1992; Dok. 248, Vorlage der Vortragenden Legationsrätin I. Klasse Gräfin Strach-

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ner Diplomatie ganz besonders profilieren. Es war vor allem dem Verhandlungsgeschick der deutschen Vertreter in der schwierigen Abschlussphase der Gespräche in Genf zu verdanken, dass sich unter ihrem Vorsitz die Weltgemeinschaft nach neun Jahren schließlich darauf einigte, eine entsprechende Chemiewaffen-Verbotskonvention zu unterzeichnen – „ein großer Erfolg unserer Politik“, würdigte der AA-Runderlass vom 9. September, und das umso mehr, als es sich um „das erste weltweite Rüstungskontrollabkommen handelt, durch das eine gesamte Waffenkategorie zuverlässig verifizierbar verboten werden soll“.52 Viel Respekt erwarb sich die Bundesregierung auch wegen ihres Engagements für den globalen Klimaschutz. Auf der Konferenz der Vereinten Nationen für Umwelt und Entwicklung vom 3. bis 14. Juni, die in Rio de Janeiro stattfand, gehörte Bundeskanzler Helmut Kohl zum Kreis der ansonsten wenigen Staats- und Regierungschefs, die sogar persönlich für dieses Ereignis eigens nach Brasilien reisten und dort einen vielbeachteten Auftritt hatten. Überhaupt wurde die Rolle der deutschen Delegation als überaus konstruktiv gewürdigt, was maßgeblich dem „unermüdliche[n Verhandlungseinsatz“ von Bundesumweltminister Klaus Töpfer geschuldet war, der „insbesondere in den Bereichen Wald und Finanzen ... wesentlich zur Konsensfindung beitragen“ konnte.53 Auffallend war zudem, wie sehr es sich die deutsche Diplomatie zur Aufgabe machte, den werteorientierten Fragen der Menschenrechte eine deutlichere Beachtung zu verschaffen. Weit mehr noch als sein Vorgänger Genscher tat sich hier vor allem Bundesaußenminister Kinkel hervor. Dafür mag nicht zuletzt der Umstand ausschlaggebend gewesen sein, dass er vor seinem Amtswechsel ins Auswärtige Amt das Bundesressort für Justiz geleitet hatte. Für ihn hatte Ministerialdirektor Frank Elbe am 16. September eine spezielle Vorlage erarbeiten lassen, die Kinkel mit den Worten quittierte: „Gute Ausarbeitung ...] Abl[ichtung zu uns[eren] Akten“.54 Unbestritten war darin das klare Bekenntnis zur Universalität der Menschenrechte. Freilich fehlte es nicht an Realitätssinn, was deren praktische Umsetzbarkeit betraf. „Wir können und dürfen nicht schweigen, wenn diese in massiver und grober Weise ... verletzt und mit dem Hinweis auf kulturelle Traditionen oder andere Sonderverhältnisse gerechtfertigt werden.“55 Der Außenminister sollte bald darauf Gelegenheit bekommen, sich auf diesem Gebiet unter Beweis zu stellen. So nutzte er den ersten offiziellen Besuch in der Volksrepublik China und setzte sich bei seinem Pekinger Amtskollegen allgemein für die dortigen Dissidenten ein. Was in diesem Zusammenhang geradewegs in die Annalen des Auswärtigen Amtes einging, war die Tatsache und das persönliche Anliegen Kinkels, am Rande der Visite mit Hou Xiaotian, der Ehefrau des Regimegegners Wang Juntao, einen intensiven Gedankenaustausch pflegen zu können.56 witz für Bundesminister Kinkel, 6. August 1992; Dok. 409, Ministergespräch im Bundeskanzleramt, 9. Dezember 1992; Dok. 437, Drahtbericht des Botschafters Winkelmann, Addis Abeba, 25. Dezember 1992. 52 Siehe unten, Dok. 277, Runderlass des Vortragenden Legationsrats Koenig, 9. September 1992, S. 1117; Dok. 19, Vorlage des Botschafters Holik für Bundesminister Genscher, 20. Januar 1992; Dok. 237, Vorlage des Vortragenden Legationsrats I. Klasse von Butler für Bundesminister Kinkel, 23. Juli 1992. 53 Siehe unten, Dok. 177, Drahtbericht des Ministerialdirigenten von Websky, BMU, z. Z. Rio de Janeiro, 14. Juni 1992, S. 724–730. 54 Siehe unten, Dok. 286, Vorlage des Ministerialdirektors Elbe für Bundesminister Kinkel, 16. September 1992, S. 1153, Anmerkung 3. 55 Ebd., S. 1159. 56 Siehe unten, Dok. 348, Gespräch des Bundesministers Kinkel mit der Ehefrau des chinesischen Dissidenten Wang Juntao, Hou Xiaotian, in Peking, 1. November 1992, S. 1375–1379.

XX

Deutsche Außenpolitik im Jahre 1992: Eine Einführung

Globalisierungsfragen holten die deutsche Außenpolitik wie schon im Jahr zuvor für die drängenden Probleme der Asylpolitik und Migration ein. Bei dieser Gelegenheit legte abermals Frank Elbe eine ernüchternde Ausarbeitung für Minister Klaus Kinkel vor, die schonungslos darauf vorbereitete, wie sehr in den kommenden Jahren der global wachsende Migrationsdruck das „vorhandene Instrumentarium sowohl der internationalen Politik als auch der Innenpolitik zunehmend überfordern“ würde.57 Das galt umso mehr, als sich zu diesem Zeitpunkt mit dem aufkommenden islamischen Fundamentalismus, etwa in Algerien, im Nahen Osten oder in Afrika, allmählich eine weitere Bedrohung anbahnte, die allgemein für die gesamte westliche Welt zu einer immensen sicherheitspolitischen Herausforderung werden sollte.58

Fazit und Ausblick Die Bonner Diplomatie des Jahre 1992, so bleibt abschließend festzuhalten, hat eines überaus deutlich gemacht: Spätestens mit der staatlichen Einheit wurde Deutschland außenpolitisch ein zunehmend wichtiger global player in einem sich rapide wandelnden Umfeld. Freilich mussten sich die dafür im Lande verantwortlichen politischen Akteurinnen und Akteure in ihrer neuen Rolle erst zurechtfinden. Das war keinesfalls immer einfach angesichts der vielfältigen außenpolitischen Brennpunkte, in denen es galt, fortan Position zu beziehen. Mit Blick auf das Ende der UdSSR und die Entwicklung im postsowjetischen Raum wie auch gegenüber den Transformationsstaaten in Ostmittel- und Südosteuropa nahmen die Deutschen unter der Prämisse, ‚den Osten stabilisieren‘, wichtige Vermittlungsfunktionen wahr. Und auch im Kontext der europäischen Integration wie im Rahmen des westlichen Bündnisses suchten sie, nicht nur weiterhin Verlässlichkeit ihres größer gewordenen Landes zu demonstrieren, sondern dafür im internationalen Mächtesystem insgesamt mehr Verantwortung übernehmen zu wollen. Freilich entsprachen die verfassungspolitischen Realitäten zum damaligen Zeitpunkt nicht immer den dafür erforderlichen Gegebenheiten. Hier gab es also entsprechenden Anpassungsbedarf. Selbst wenn das vereinte Deutschland sich in außenpolitischer Kontinuität zur alten Bundesrepublik sah, offenbarten die internationalen Rahmenbedingungen und Herausforderungen des Jahres 1992 in diesem Zusammenhang ein weiteres: Die Bonner Diplomatie wurde selbstbewusster, wollte aber nicht anmaßend wirken. Gegenüber dem wichtigsten Verbündeten USA etwa artikulierte sie fortan stärker auch eigene außenpolitische Interessen, ohne dies jedoch als bündnispolitische Illoyalität verstehen zu wollen. Deutschland schickte sich also an, nach vier Jahrzehnten der Teilung als ein vollsouveränes Land in das internationale Staatengefüge hineinzuwachsen.

57 Siehe unten, Dok. 324, Vorlage des Ministerialdirektors Elbe für Bundesminister Kinkel, 13. Oktober 1992, S. 1294. 58 Siehe unten, Dok. 93, Vorlage des Ministerialdirektors Elbe für Bundesminister Genscher, 2. April 1992; Dok. 35, Gespräch des Bundesministers Genscher mit dem ägyptischen Außenminister Moussa, 5. Februar 1992; Dok. 59, Gespräch des Bundeskanzler Kohl mit dem nigerianischen Präsidenten Babangida, 25. Februar 1992; Dok. 61, Vermerk des Ministerialdirektors Chrobog, 25. Februar 1992; Dok. 80, Gespräch des Bundeskanzlers Kohl mit dem jordanischen König Hussein, 17. März 1992.

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Vorbemerkungen zur Edition Die „Akten zur Auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland 1992“ (AAPD 1992) umfassen zwei Bände, die durchgehend paginiert sind. Den abgedruckten Dokumenten gehen im Band I neben Vorwort, Einleitung und Vorbemerkungen ein Dokumenten-, Literatur- Abkürzungs- und Abbildungsverzeichnis voran. Am Ende von Band II finden sich ein Verzeichnis der im Geschäftsbereich des Auswärtigen Amts tätigen Personen sowie ein Personen- und ein Sachregister. Dem schließt sich ein Organisationsplan des Auswärtigen Amts vom Juli 1992 an.

Dokumentenauswahl Grundlage für die Fondsedition der AAPD 1992 sind die Bestände des PA/AA. Schriftstücke aus anderen Bundesministerien, die in die Akten des Auswärtigen Amts Eingang gefunden haben, wurden zur Kommentierung herangezogen. Verschlusssachen dieser Ressorts blieben unberücksichtigt. Einbezogen wurden ferner im Auswärtigen Amt vorhandene Vermerke über Gespräche des Bundeskanzlers mit ausländischen Staats- und Regierungschefs, Vertretern internationaler sowie zivilgesellschaftlicher Organisationen und Diplomaten, außerdem im Bundesarchiv in Koblenz überlieferte Gesprächsvermerke. Zudem konnte der Teilnachlass des Bundesministers a. D. Hans-Dietrich Genscher im PA/AA für das Bezugsjahr eingesehen werden. Entsprechend ihrer Herkunft belegen die edierten Dokumente in erster Linie die Aktivitäten des Auswärtigen Amts. Sie veranschaulichen aber auch die Außenpolitik des Bundeskanzlers. Die Rolle anderer Akteure, insbesondere im parlamentarischen und parteipolitischen, aber auch im nichtstaatlichen Bereich, wird beispielhaft dokumentiert, sofern eine Wechselbeziehung zum Auswärtigen Amt gegeben war. Die ausgewählten Dokumente sind nicht zuletzt deshalb für ein historisches Verständnis der Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland von Bedeutung, weil Schriftstücke veröffentlicht werden, die bisher der Forschung unzugänglich waren. Zum Teil unterlagen sie als Verschlusssachen (VS) der Geheimhaltung. Dank einer entsprechenden Ermächtigung wurden dem Editionsteam die VS-Bestände des PA/AA zugänglich gemacht und Anträge auf Herabstufung und Offenlegung von Schriftstücken beim Auswärtigen Amt ermöglicht. Das Bundeskanzleramt war zuständig für die Deklassifizierung von Verschlusssachen aus den eigenen Beständen. Kopien der offengelegten Schriftstücke, deren Zahl diejenige der in den AAPD 1992 edierten Dokumente übersteigt, werden im PA/AA zugänglich gemacht als neuer, durch die Arbeit der Editionsgruppe gebildeter Bestand B 150. Nur eine geringe Zahl der für die Edition vorgesehenen Aktenstücke wurde nicht zur Veröffentlichung freigegeben. Hierbei handelt es sich vor allem um Dokumente, in denen personenbezogene Vorgänge im Vordergrund stehen oder die auch heute noch sicherheitsrelevante Angaben enthalten. Von einer Deklassifizierung ausgenommen war Schriftgut ausländischer Herkunft bzw. aus dem Bereich multilateraler oder internationaler Organisationen wie etwa der NATO. Unberücksichtigt blieb ebenfalls nachrichtendienstliches Material. XXII

Vorbemerkungen

Dokumentenfolge Die 439 edierten Dokumente sind in chronologischer Folge geordnet und mit laufenden Nummern versehen. Bei differierenden Datumsangaben auf einem Schriftstück, z. B. im Falle abweichender maschinenschriftlicher und handschriftlicher Datierung, ist in der Regel das früheste Datum maßgebend. Mehrere Dokumente mit demselben Datum sind, soweit möglich, nach der Uhrzeit eingeordnet. Erfolgt eine Datierung lediglich aufgrund sekundärer Hinweise (z. B. aus Begleitschreiben, beigefügten Vermerken usw.), wird dies in einer Anmerkung ausgewiesen. Bei Vermerken über Gespräche ist das Datum des dokumentierten Vorgangs ausschlaggebend, nicht der meist spätere Zeitpunkt der Niederschrift.

Dokumentenkopf und Dokumententypen Jedes Dokument beginnt mit einem fett gedruckten Dokumentenkopf, in dem wesentliche formale Angaben zusammengefasst werden. Auf Dokumentennummer und Dokumentenüberschrift folgen in kleinerer Drucktype ergänzende Angaben, so rechts außen das Datum. Links außen wird, sofern vorhanden, das Geschäftszeichen des edierten Schriftstücks einschließlich des Geheimhaltungsgrads (zum Zeitpunkt der Entstehung) wiedergegeben. Das Geschäftszeichen, das Rückschlüsse auf den Geschäftsgang zulässt und die Ermittlung zugehörigen Aktenmaterials ermöglicht, besteht in der Regel aus der Kurzbezeichnung der ausfertigenden Arbeitseinheit sowie aus weiteren Elementen wie dem inhaltlich definierten Aktenzeichen, der Tagebuchnummer einschließlich verkürzter Jahresangabe und gegebenenfalls dem Geheimhaltungsgrad. Dokumentennummer, verkürzte Überschrift und Datum finden sich auch im Kolumnentitel über dem Dokument. Den Angaben im Dokumentenkopf lässt sich die Art des jeweiligen Dokuments entnehmen. So werden die besonders wichtigen Vorlagen für die Leitungsebene bereits in der Überschrift kenntlich gemacht. Dabei werden sowohl der die Vorlage verantwortlich Unterzeichnende als auch der Empfänger (in der Regel Bundesminister oder Staatssekretär, im Falle einer Zuschrift auf der Arbeitsebene das empfangende Referat) genannt. Bei Vermerken ohne Geschäftsgang wird der Verfasser jeweils in der Überschrift benannt, auch dann, wenn er sich nur indirekt erschließen lässt. Letzteres wird durch Hinzufügen der Unterschrift in eckigen Klammern deutlich gemacht und in einer Anmerkung erläutert („Verfasser laut Begleitvermerk“ bzw. „Vermuteter Verfasser des nicht unterzeichneten Vermerks“). Lässt sich der Urheber etwa durch den Briefkopf eindeutig feststellen, so entfällt dieser Hinweis. Ist ein Verfasser weder mittelbar noch unmittelbar nachweisbar, wird die ausfertigende Arbeitseinheit (Abteilung, Referat oder Delegation) angegeben. Eine weitere Gruppe von Dokumenten bildet der Schriftverkehr zwischen der Zentrale in Bonn und den Auslandsvertretungen. Diese erhielten ihre Informationen und Weisungen in der Regel mittels Drahterlass, der fernschriftlich oder per Funk übermittelt wurde. Auch bei dieser Dokumentengruppe wird in der Überschrift der Verfasser genannt, ein Empfänger dagegen nur, wenn der Drahterlass an bis zu zwei Auslandsvertretungen bzw. deren Leiterinnen oder Leiter gerichtet war. Anderenfalls werden die Adressaten in einer Anmerkung aufgeführt. Bei Runderlassen an sehr viele oder an alle diplomatischen Vertretungen wird der Empfängerkreis nicht näher spezifiziert, um die Anmerkungen nicht zu überfrachten. Ebenso sind diejenigen Auslandsvertretungen nicht eigens aufgeführt, die nur nachrichtlich von einem Erlass in Kenntnis gesetzt wurden. Ergänzend zum Geschäftszeichen wird im unteren Teil des Dokumentenkopfes links die Nummer des Drahterlasses XXIII

Vorbemerkungen

sowie der Grad der Dringlichkeit („cito“, „citissime“ oder „citissime nachts“) angegeben. Rechts davon befindet sich das Datum und – sofern zu ermitteln – die Uhrzeit der Aufgabe. Ein Ausstellungsdatum wird nur dann angegeben, wenn es vom Datum der Aufgabe abweicht. Der Dokumentenkopf bei einem im Auswärtigen Amt eingehenden Drahtbericht ist in Analogie zum Drahterlass gestaltet. Als Geschäftszeichen der VS-Drahtberichte dient die Angabe des Fernmeldezentrums des Auswärtigen Amts, die eine eindeutige Identifizierung ermöglicht. Ferner wird außer Datum und Uhrzeit der Aufgabe auch der Zeitpunkt der Ankunft festgehalten, jeweils in Ortszeit. In weniger dringenden Fällen verzichteten die Botschaften auf eine fernschriftliche Übermittlung und zogen die Form des mit Kurier übermittelten Schriftberichts vor. Beim Abdruck solcher Stücke werden im Dokumentenkopf neben der Überschrift mit Absender die Nummer des Schriftberichts und das Datum genannt. Gelegentlich bedienten sich Botschaften und Zentrale des sogenannten Privatdienstschreibens, mit dem außerhalb des offiziellen Geschäftsgangs zu einem Sachverhalt Stellung bezogen werden kann; darauf wird in einer Anmerkung aufmerksam gemacht. Neben dem Schriftwechsel zwischen der Zentrale und den Auslandsvertretungen gibt es andere Schreiben, erkennbar jeweils an der Nennung von Absender und Empfänger. Zu dieser Gruppe zählen etwa Schreiben der Bundesregierung, vertreten durch den Bundeskanzler oder den Bundesminister des Auswärtigen, an ausländische Regierungen, desgleichen auch Korrespondenz des Auswärtigen Amts mit anderen Ressorts oder mit Bundestagsabgeordneten. Breiten Raum nehmen die Niederschriften über Gespräche ein. Sie werden als solche in der Überschrift gekennzeichnet und chronologisch nach dem Gesprächsdatum eingeordnet, während Verfasser und Datum der Niederschrift – sofern ermittelbar – in einer Anmerkung ausgewiesen sind. Wird kein Datum genannt, wurde die Niederschrift am Tag des Gesprächs gefertigt. Die wenigen Dokumente, die sich keiner der beschriebenen Gruppen zuordnen lassen, sind aufgrund individueller Überschriften zu identifizieren. Die Überschrift bei allen Dokumenten enthält die notwendigen Angaben zum Ausstellungs-, Absende- oder Empfangsort bzw. zum Ort des Gesprächs. Erfolgt keine besondere Ortsangabe, ist stillschweigend Bonn zu ergänzen. Hält sich der Verfasser oder Absender eines Dokuments nicht an seinem Dienstort auf, wird der Ortsangabe ein „z. Z.“ vorangesetzt. Bei den edierten Schriftstücken handelt es sich in der Regel jeweils um die erste Ausfertigung oder – wie etwa bei den Drahtberichten – um eines von mehreren gleichrangig nebeneinander zirkulierenden Exemplaren. Statt einer Erstausfertigung musste gelegentlich eine Kopie herangezogen werden. Ein entsprechender Hinweis findet sich in einer Anmerkung. In wenigen Fällen sind Entwürfe abgedruckt und entsprechend in den Überschriften kenntlich gemacht.

Dokumententext Unterhalb des Dokumentenkopfes folgt – in normaler Drucktype – der Text des jeweiligen Dokuments, einschließlich des Betreffs, der Anrede und der Unterschrift. Die Dokumente werden in der Regel ungekürzt veröffentlicht. Sofern Auslassungen vorgenommen werden XXIV

Vorbemerkungen

müssen, wird dies durch Auslassungszeichen in eckigen Klammern („[...]“) kenntlich gemacht und in einer Anmerkung erläutert. Bereits in der Vorlage vorgefundene Auslassungen werden durch einfache Auslassungszeichen („ ... “) wiedergegeben. Grammatikalisch oder textlich notwendige Vervollständigungen werden ebenfalls in eckigen Klammern vorgenommen. Die Schreibweise im Dokumententext wurde der heutigen Rechtschreibung angepasst. Offensichtliche Schreib- und Interpunktionsfehler werden stillschweigend korrigiert. Eigentümliche Schreibweisen bleiben nach Möglichkeit erhalten; im Bedarfsfall, insbesondere bei fremdsprachigen Orts- und Personennamen, wird jedoch vereinheitlicht. Selten vorkommende und ungebräuchliche Abkürzungen werden in einer Anmerkung aufgelöst. Typische Abkürzungen von Institutionen, Parteien etc. werden allerdings übernommen. Hervorhebungen in der Textvorlage, also etwa maschinenschriftliche Unterstreichungen oder Sperrungen, werden nur in Ausnahmefällen wiedergegeben. Der Kursivdruck dient dazu, bei Gesprächsvermerken die Sprecher voneinander abzuheben. Im äußeren Aufbau (Absätze, Überschriften usw.) folgt das Druckbild nach Möglichkeit der Textvorlage. Unterschriftsformeln werden vollständig wiedergegeben. Ein handschriftlicher Namenszug ist nicht besonders gekennzeichnet, eine Paraphe mit Unterschriftscharakter wird aufgelöst (mit Nachweis in einer Anmerkung). Findet sich auf einem Schriftstück der Name zusätzlich maschinenschriftlich vermerkt, bleibt dies unerwähnt. Ein maschinenschriftlicher Name, dem ein „gez.“ vorangestellt ist, wird entsprechend übernommen; fehlt in der Textvorlage der Zusatz „gez.“, wird er in eckigen Klammern ergänzt. Weicht das Datum der Paraphe vom Datum des Schriftstückes ab, wird dies in der Anmerkung ausgewiesen. Unter dem Dokumententext wird die jeweilige Fundstelle des Schriftstückes in fetter Schrifttype nachgewiesen. Bei Dokumenten aus dem PA/AA wird auf die Angabe des Archivs verzichtet und nur der jeweilige Bestand sowie die jeweilige Bandnummer des Zwischenarchivs („ZA-Bd.“) genannt. Bei bereits durch das PA/AA verzeichneten Beständen erfolgt die Nennung des Bestandes mitsamt dahinterstehender Referatsbezeichnung sowie der endgültigen Bandnummer. Dokumente aus dem VS-Bestand B 130 sind mit der Angabe „VS-Bd.“ versehen. Bei Dokumenten anderer Herkunft werden Archiv und Bestandsbezeichnung angegeben. Liegt ausnahmsweise ein Schriftstück bereits veröffentlicht vor, so wird dies in der ersten Anmerkung ausgewiesen.

Kommentierung In Ergänzung zum Dokumentenkopf enthalten die Anmerkungen formale Hinweise und geben Auskunft über wesentliche Stationen im Geschäftsgang. Angaben technischer Art, wie Registraturvermerke oder standardisierte Verteiler, bleiben in der Regel unberücksichtigt. Wesentlich ist dagegen die Frage, welche Beachtung das jeweils edierte Dokument gefunden hat. Dies lässt sich an den Paraphen maßgeblicher Akteure sowie an den – überwiegend handschriftlichen – Weisungen, Bemerkungen oder auch Reaktionen in Form von Frage- oder Ausrufungszeichen ablesen, die auf dem Schriftstück selbst oder auf Begleitschreiben und Begleitvermerken zu finden sind. Die diesbezüglichen Merkmale sowie damit in Verbindung stehende Hervorhebungen (Unterstreichungen oder Anstreichungen am Rand) werden in Anmerkungen nachgewiesen. Auf den Nachweis sonstiger An- oder Unterstreichungen wird verzichtet. XXV

Vorbemerkungen

In den im engeren Sinn textkritischen Anmerkungen werden Korrekturen oder textliche Änderungen einzelner Adressaten oder, sofern ein Konzipient das Schriftstück entworfen hat, des Verfassers festgehalten. Unwesentliche Textverbesserungen sind hiervon ausgenommen. Ferner wird auf einen systematischen Vergleich der Dokumente mit Entwürfen ebenso verzichtet wie auf den Nachweis der in der Praxis üblichen Einarbeitung von Textpassagen in einen späteren Vermerk oder einen Drahterlass. Die Kommentierung soll den historischen Zusammenhang der edierten Dokumente in ihrer zeitlichen und inhaltlichen Abfolge sichtbar machen, weiteres Aktenmaterial und anderweitiges Schriftgut nachweisen, das unmittelbar oder mittelbar angesprochen wird, sowie Ereignisse oder Sachverhalte näher erläutern, die dem heutigen Wissens- und Erfahrungshorizont ferner liegen und aus dem Textzusammenhang heraus nicht oder nicht hinlänglich zu verstehen sind. Besonderer Wert wird bei der Kommentierung folglich darauf gelegt, die Dokumente durch Bezugsstücke aus den Akten der verschiedenen Arbeitseinheiten des Auswärtigen Amts bis hin zur Leitungsebene zu erläutern. Zitate oder inhaltliche Wiedergaben sollen die Entscheidungsprozesse erhellen und zum Verständnis der Dokumente beitragen. Dadurch wird zugleich Vorarbeit geleistet für eine vertiefende Erschließung der Bestände des PA/AA. Bei Dokumenten aus dem VS-Bestand B 130 wird sowohl auf die Bandnummer in diesem Bestand als auch auf die offengelegte Kopie im Bestand B 150 verwiesen. Findet in einem Dokument veröffentlichtes Schriftgut Erwähnung, etwa Abkommen, Gesetze, Reden oder Presseberichte, so wird die Fundstelle in der Regel genauer spezifiziert. Häufig vorkommende Verträge und andere Übereinkünfte werden nur bei ihrer ersten Nennung ausgewiesen; die entsprechende Stelle ist über das Sachregister leicht zu ermitteln. Sekundärliteratur wird generell nicht in die Kommentierung aufgenommen. Angaben wie Dienstbezeichnung, Dienststellung, Funktion, Dienstbehörde und Nationalität dienen der eindeutigen Identifizierung der in der Kommentierung vorkommenden Personen. Eine im Dokumententext lediglich mit ihrer Funktion genannte Person wird nach Möglichkeit in einer Anmerkung namentlich nachgewiesen. Davon ausgenommen sind der jeweilige Bundespräsident, der Bundeskanzler und der Bundesminister des Auswärtigen. Zur Straffung des Fußnotenapparats erfolgt die Angabe der Dienst- bzw. Funktionsbezeichnungen des Bundeskanzlers, der Bundesminister, der Personen im Geschäftsbereich des Auswärtigen Amts sowie anderer Bundes- und Landesbediensteter nur in abgekürzter Form („BK“, „BM“, „StS“, „MD“, „VLR“, „MR“, „RD“ usw.). Die zur Kommentierung herangezogenen Editionen und Dokumentationen werden mit Kurztitel angeführt, die sich über ein entsprechendes Verzeichnis auflösen lassen. Die Schreibweise fremdsprachlicher Namen und Begriffe wurde nach Möglichkeit vereinheitlicht. Bei Literaturangaben in russischer Sprache wird die im wissenschaftlichen Bereich übliche Transliterierung durchgeführt. Die Kommentierung enthält schließlich auch Hinweise auf im Internet veröffentlichte Dokumente. Die benutzten Internetadressen waren zum Zeitpunkt der letzten Prüfung (1.12.2022) gültig.

Verzeichnisse Das Dokumentenverzeichnis ist chronologisch angelegt. Es bietet zu jedem Dokument folgende Angaben: Die fett gedruckte Dokumentennummer, Datum und Überschrift, SeitenXXVI

Vorbemerkungen

angabe sowie eine Kurzübersicht, die stichwortartig die behandelten Themen nennt. Als Orientierungshilfe ist, wo möglich, ein übergreifendes Schlagwort vorangestellt. Das Literaturverzeichnis enthält die zur Kommentierung herangezogenen Publikationen, die mit Kurztiteln oder Kurzformen versehen wurden. Diese sind alphabetisch geordnet und werden durch bibliographische Angaben aufgelöst. Das Abkürzungsverzeichnis führt die im Dokumententeil vorkommenden Abkürzungen auf, insbesondere von Organisationen und Parteien, sowie Dienstbezeichnungen und sonstige im diplomatischen Schriftverkehr übliche Abbreviaturen. Abkürzungen von Firmen und Medien werden im Sachregister unter den Schlagwörtern „Wirtschaftsunternehmen“ bzw. „Presse und Nachrichtenagenturen, Rundfunk- und Fernsehanstalten“ aufgelöst. Nicht aufgenommen werden geläufige Abkürzungen wie „z. B.“, „d. h.“, „m. E.“, „u. U.“ und „usw.“, einfache sprachliche Abkürzungen in den Dokumententexten sowie Abkürzungen, die im Dokumententext oder in einer Anmerkung erläutert sind. Ein Abbildungsverzeichnis gibt Auskunft über die in den Band aufgenommenen Faksimiles, Karten und Bilder.

Register und Organisationsplan Vorangestellt ist ein Verzeichnis der im Geschäftsbereich des Auswärtigen Amts tätigen Personen, einschließlich der abgeordneten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter anderer Ressorts. Es enthält Angaben zu dienstlichen Funktionen, die im inhaltlichen Zusammenhang der Dokumente wesentlich sind. Dem schließt sich ein Personenregister an, das alle im Band vorkommenden Akteure unter Angabe der jeweiligen Seitenzahl bzw. Dokumentennummer erfasst. Auf weitere Angaben zu den Personen wird hier verzichtet. Das Sachregister ermöglicht einen thematisch differenzierten Zugriff auf die einzelnen Dokumente. Näheres ist den dem jeweiligen Register vorangestellten Hinweisen zur Benutzung zu entnehmen. Der Organisationsplan vom Juli 1992 zeigt die Struktur des Auswärtigen Amts und informiert über die Namen der Leiterinnen bzw. Leiter der jeweiligen Arbeitseinheiten.

XXVII

Verzeichnisse

Dokumentenverzeichnis 1

07.01.

Gespräch des BM Genscher mit dem russischen Botschafter Terechow

S. 3

GUS: Zukunft der Streitkräfte und Verbleib der Nuklearwaffen der ehemaligen UdSSR, Aufnahme der Staaten in die KSZE und den NAKR, Beziehungen zur EG. 2

07.01.

Drahtbericht des Botschafters Vergau, New York (VN)

S. 7

Jugoslawien-Konflikt: Ergebnisse der letzten Mission des VNBeauftragten Vance, weiteres Vorgehen in den VN. 3

08.01.

Vorlage des MD Seitz für BM Genscher

S. 11

Frankreich: Ergebnisse eines Frankreich-Kolloquiums des Planungsstabs vom Dezember 1991. 4

08.01.

Drahtbericht des Botschafters Knackstedt, Warschau

S. 18

Polen: Erstarken nationalistischer Strömungen, mögliche Folgen für bilaterale Beziehungen. 5

08.01.

Drahtbericht des Botschafters Blech, Moskau

S. 22

GUS: weiteres Vorgehen bei der Aufnahme diplomatischer Beziehungen. 6

09.01.

Telefongespräch des BK Kohl mit dem britischen PM Major

S. 27

GATT-Verhandlungen, Entwicklung der Zinsen und wirtschaftliche Lage, geplante Sitzung des VN-Sicherheitsrats auf der Ebene der Staats- und Regierungschefs. 7

09.01.

Drahtbericht des Botschafters von Ploetz, Brüssel (NATO)

S. 32

SNF-Initiative der Bundesregierung: Reaktionen Frankreichs, Großbritanniens und der USA. 8

13.01.

Vorlage des MDg Roßbach für BM Genscher

S. 36

Irakisches Nuklearprogramm: Besuch des stellvertretenden Vorsitzenden der VN-Sonderkommission Abrüstung Irak, Gallucci, Zulieferungen deutscher Firmen, weiteres Vorgehen. 9

14.01.

Gespräch des BM Genscher mit dem amerikanischen VM Cheney

S. 39

Verhandlungen zur Überprüfung des Zusatzabkommens zum NATO-Truppenstatut, Kürzungen des amerikanischen VerXXXI

Dokumentenverzeichnis für Band I

teidigungshaushalts, Verbleib der Nuklearwaffen der ehemaligen UdSSR, Aufnahme der GUS-Mitgliedstaaten in den NAKR und die KSZE sowie Beziehungen zur EG, Jugoslawien-Konflikt, v. a. Anerkennung der Republiken. 10

14.01.

Gespräch des BK Kohl mit dem griechischen MP Mitsotakis

S. 45

Jugoslawien-Konflikt: Rolle des serbischen Präsidenten Milošević, Anerkennung der Republiken, insbesondere Mazedonien; Zypernkonflikt. 11

14.01.

Gespräch des BM Genscher mit dem bulgarischen AM Ganew

S. 48

Entwicklung in Bulgarien; Jugoslawien-Konflikt, v. a. Anerkennung von Bosnien-Herzegowina und Mazedonien; bilaterale Beziehungen. 12

14.01.

Gespräch des BM Genscher mit dem iranischen Botschafter Mussawian

S. 52

Irakisch-iranischer Krieg, Menschenrechte im Iran und Beobachtung durch die VN, deutsche Geiseln Strübig und Kemptner im Libanon. 13

15.01.

Gespräch des BM Genscher mit dem russischen AM Kosyrew

S. 56

Nahrungsmittelhilfe und weitere internationale Unterstützung für Russland; Sicherheit kerntechnischer Anlagen; bilaterale Beziehungen wie etwa Kulturabkommen, Russlanddeutsche, Entschädigung für Opfer des Nationalsozialismus, Eigentum der Russisch-Orthodoxen Kirche, Zusammenarbeit im Energiesektor; weitere Entwicklung der GUS, v. a. im militärischen Bereich. 14

15.01.

Gespräch des MD Schlagintweit mit dem libyschen Minister für Wirtschaftsplanung, Al-Muntasir

S. 68

Lockerbie-Attentat: libysche Haltung und Befassung des VNSicherheitsrats. 15

16.01.

Vorlage des VLR I von Hoessle für BM Genscher

S. 71

Nahost-Konflikt: Ablauf der multilateralen Konferenz, Beteiligung der EG-Mitgliedstaaten. 16

16.01.

Drahtbericht des Botschafters Sudhoff, Paris Jugoslawien-Konflikt: Auswirkung der unterschiedlichen Haltungen zur Anerkennung Kroatiens und Sloweniens auf die deutsch-französischen Beziehungen.

XXXII

S. 75

Januar

17

17.01.

Drahterlass des VLR I Runge an das Generalkonsulat in Kiew

S. 77

Altschulden der ehemaligen UdSSR: Überblick über bisherige Regelungen und weiteres Vorgehen. Januar 18

20.01.

Gespräch des BM Genscher mit dem französischen AM Dumas

S. 80

Jugoslawien-Konflikt: Anerkennung von Kroatien und Slowenien; Koordinierungskonferenz für GUS-Hilfe, insbesondere Rolle der EG und der WEU; KSZE; Nuklearwaffen der ehemaligen UdSSR und Nichtverbreitungsproblematik; Entwicklung in Algerien; Nahost-Konflikt; GATT-Verhandlungen. 19

20.01.

Vorlage des Botschafters Holik für BM Genscher

S. 90

Genfer CW-Verhandlungen: Stand und Aussichten für Zustandekommen einer Verbotskonvention. 20

22.01.

Vorlage des VLR I Neubert für BM Genscher

S. 93

Russlanddeutsche: Notwendigkeit einer Neukonzeption der Politik der Bundesregierung. 21

22.01.

Drahtbericht des Botschafters von Ploetz, Brüssel (NATO)

S. 98

Nuklearwaffen der ehemaligen UdSSR: amerikanische Informationen über Gespräche in den GUS-Mitgliedstaaten; SNF-Initiative der Bundesregierung. 22

23.01.

Vorlage des VLR I Bertram für BM Genscher

S. 104

Französische Sicherheits- und Verteidigungspolitik: mögliche Europäisierung der französischen Nuklearwaffen. 23

23.01.

Drahterlass des VLR I Libal an die Botschaft in Belgrad

S. 108

Jugoslawien-Konflikt: Weisung für Gespräch mit serbischem Präsidenten Milošević. 24

23.01.

Drahterlass des Referenten Wothe

S. 110

GUS: Beschluss des Kabinetts zur Deckung von Ausfuhrgeschäften. 25

27.01.

Vorlage des VLR I Bertram für BM Genscher

S. 112

NATO: Vorschläge des saarländischen MP Lafontaine zu Sicherheitsgarantien für GUS-Mitgliedstaaten. 26

28.01.

Drahtbericht des Botschafters Eiff, Belgrad

S. 115

Jugoslawien-Konflikt: Gespräch mit serbischem Präsidenten Milošević. XXXIII

Dokumentenverzeichnis für Band I

27

30.01.

Vorlage des VLR I Neubert für BM Genscher

S. 122

Konflikt in Nagorny Karabach. 28

31.01.

Runderlass des VLR I Bettzuege

S. 126

Irak: Zwischenbilanz der Tätigkeit der VN-Sonderkommission Abrüstung. 29

31.01.

Drahtbericht des Botschafters Blech, Moskau

S. 128

Fall Honecker: russische Haltung zu Überstellung in die Bundesrepublik. 30

02.02.

Drahtbericht des Botschafters Hach, Tripolis

S. 130

Lockerbie-Attentat: mögliche Sanktionen gegen Libyen. 31

03.02.

Gespräch des BM Genscher mit dem polnischen Präsidenten Wałȩsa in Warschau

S. 133

Bilaterale Beziehungen, Rolle Polens in Europa, wirtschaftliche Unterstützung und Förderung von Investitionen, Folgen des Zerfalls der UdSSR. Februar 32

04.02.

Gespräch des BK Kohl mit dem ukrainischen Präsidenten Krawtschuk

S. 136

Entwicklung der GUS und Folgen des Zerfalls der UdSSR, insbesondere Kontrolle der Nuklearwaffen und Frage der künftigen Streitkräfte; Status der Krim; deutsche Minderheit in der Ukraine; Bedienung der Altschulden der ehemaligen UdSSR; wirtschaftliche Lage in der Ukraine. 33

04.02.

Vorlage des VLR Freiherr von Stackelberg für BM Genscher

S. 143

VN-Reform: Stand der internationalen Diskussion um Zusammensetzung des VN-Sicherheitsrats, weiteres Vorgehen der Bundesregierung. 34

04.02.

Runderlass des VLR Trautwein

S. 147

KSZE: Verlauf und verabschiedete Dokumente der Sitzung des Außenministerrats in Prag. 35

05.02.

Gespräch des BM Genscher mit dem ägyptischen AM Moussa Zerfall der UdSSR, Jugoslawien-Konflikt, Zusammenarbeit im Mittelmeerraum, Friedensprozess im Nahen Osten, Lage in Algerien und Probleme des islamischen Fundamentalismus, weiteres Vorgehen gegenüber Libyen, Nichtverbreitungsfragen, Reform des VN-Sicherheitsrats.

XXXIV

S. 150

Februar

36

05.02.

Gespräch des BM Genscher mit dem kroatischen AM Separović

S. 156

Jugoslawien-Konflikt: Anerkennung Kroatiens, UNPROFOR, territoriale Integrität Bosnien-Herzegowinas. 37

06.02.

Vermerk des MD Schlagintweit

S. 158

Israel: mögliche Kreditgarantien der Bundesregierung. 38

06.02.

Runderlass des VLR I Bettzuege

S. 160

GUS: Verlauf und Ergebnisse der Koordinierungskonferenz für humanitäre Hilfe an die GUS-Mitgliedstaaten. 39

07.02.

Gespräch des BM Genscher mit dem mazedonischen MP Kljusev

S. 162

Jugoslawien-Konflikt: Frage der Anerkennung Mazedoniens. 40

07.02.

Vorlage des Botschafters Holik für BM Genscher

S. 164

SNF-Initiative der Bundesregierung: weiteres Vorgehen gegenüber Frankreich und den USA. 41

08.02.

Drahtbericht des Botschafters Arnot, Budapest

S. 166

Besuch von BK Kohl und BM Genscher in Ungarn: Unterzeichnung des Freundschafts- und Partnerschaftsvertrags, wirtschaftliche Entwicklung Ungarns und mögliche Mitgliedschaft in der EG, deutsche Minderheit in Ungarn, Unterstützung für MOEStaaten bzw. die GUS-Mitgliedstaaten, Jugoslawien-Konflikt. 42

10.02.

Telefongespräch des BK Kohl mit dem britischen PM Major

S. 171

GATT-Verhandlungen, insbesondere Agrarbereich. 43

10.02.

Gespräch des BM Genscher mit dem amerikanischen AM Baker in Frankfurt am Main

S. 173

Errichtung eines Wissenschaftszentrums in Russland, nächste NAKR-Sitzung, Entwicklung in der GUS, GATT-Verhandlungen, Jugoslawien-Konflikt, Unterstützung für El Salvador. 44

11.02.

Vorlage des VLR I Ahrens für BM Genscher

S. 177

Jugoslawien-Konflikt: Probleme der EG-Friedenskonferenz. 45

12.02.

Vorlage des VLR I Barth für StS Lautenschlager

S. 180

Europäische Wirtschafts- und Währungsunion: Inhalt und Bewertung der Stellungnahme der Bundesbank zu den Maastrichter Beschlüssen.

XXXV

Dokumentenverzeichnis für Band I

46

13.02.

Gespräch des BK Kohl mit dem litauischen Parlamentspräsidenten Landsbergis

S. 182

Litauisch-russische Beziehungen, insbesondere Truppenabzug und Energieversorgung; Bau einer Ölpipeline mit Unterstützung der Bundesrepublik. 47

17.02.

Vorlage des VLR I Barth für BM Genscher

S. 185

Delors-Paket II: Inhalt und Bewertung des europäischen Finanzrahmens 1993 – 1997. 48

18.02.

Runderlass des VLR I von Jagow

S. 189

Konferenz der Außenminister der EG-Mitgliedstaaten im Rahmen der EPZ: Entwicklung in der GUS, insbesondere Projekt eines Wissenschaftszentrums und Konflikt in Nagorny Karabach, Jugoslawien-Konflikt, v. a. Entsendung von VN-Friedenstruppen, Referendum in Bosnien-Herzegowina, Anerkennung von Mazedonien, Friedensprozess im Nahen Osten. 49

19.02.

Gespräch des BM Genscher mit dem bangladeschischen AM Rahman

S. 195

Demokratisierung in Bangladesch, Lage der Rohingyas, Friedensprozess im Nahen Osten, regionale Kooperation. 50

19.02.

Runderlass des VLR I Bettzuege

S. 197

GUS: Gründung eines internationalen Wissenschafts- und Technologiezentrums in Russland zur Verhinderung der Verbreitung von Nuklearwaffen durch Wissenstransfer. 51

20.02.

Vorlage des MD Chrobog für BM Genscher

S. 199

KSZE: Zielvorstellungen für die vierte Folgekonferenz sowie das Gipfeltreffen im Juli in Helsinki. 52

20.02.

Schrifterlass des MDg von Kyaw

S. 203

Europäische Wirtschafts- und Währungsunion: Kandidatur von Frankfurt am Main als Sitz der Europäischen Zentralbank. 53

20.02.

Drahtbericht des Botschafters Schlingensiepen, Damaskus

S. 205

Gespräch mit dem syrischen Vizepräsidenten Khaddam: Friedensprozess im Nahen Osten, Rolle der EG, Fundamentalismus in Algerien, Fall Alois Brunner. 54

21.02.

Runderlass des VLR I Bettzuege Besuch von BM Genscher in Japan: Rolle der Bundesrepublik und Japans nach dem Ende des Ost-West-Konflikts, Kurilen-

XXXVI

S. 207

Februar

Frage, Nichtverbreitung von Nuklearwaffen, Zusammensetzung des VN-Sicherheitsrats, Weltwirtschaftsgipfel in München, bilaterale Wirtschaftsbeziehungen, Volksrepublik China. 55

21.02.

Drahtbericht des Gesandten Junker, Paris

S. 211

GATT-Verhandlungen: französische Haltung und Verhandlungstaktik. 56

22.02.

Gespräch des BM Genscher mit dem kroatischen Präsidenten Tudjman in Zagreb

S. 212

Jugoslawien-Konflikt: Unabhängigkeit Kroatiens und Einbettung in europäische Institutionen, UNPROFOR, Entwicklung in Bosnien-Herzegowina, bilaterale Beziehungen, auch im wirtschaftlichen Bereich. 57

23.02.

Gespräch des BM Genscher mit dem slowenischen Präsidenten Kučan in Laibach

S. 216

Jugoslawien-Konflikt: EG-Friedenskonferenz, UNPROFOR, Frage der Rechtsnachfolge. 58

24.02.

Vorlage des VLR I Bertram für BM Genscher

S. 218

NATO: Rolle nach dem Ende des Ost-West-Konflikts. 59

25.02.

Gespräch des BK Kohl mit dem nigerianischen Präsidenten Babangida

S. 227

Deutsch-nigerianische Beziehungen auf wirtschaftlichem und kulturellem Gebiet, Demokratisierungsbemühungen in Nigeria und wirtschaftliche Entwicklung sowie Beziehungen zur EG, religiöser Fundamentalismus, Situation in Südafrika, VN-Konferenz über Umwelt und Entwicklung in Rio. 60

25.02.

Telefongespräch des BK Kohl mit dem kanadischen MP Mulroney

S. 234

GATT-Verhandlungen, insbesondere im Agrarbereich; Abzug der kanadischen Truppen aus Europa. 61

25.02.

Vermerk des MD Chrobog

S. 235

Vierertreffen der Politischen Direktoren: politische und wirtschaftliche Entwicklung in der GUS, Konflikt in Nagorny Karabach, Haltung Kasachstans zum Nichtverbreitungsvertrag, Rolle der Türkei bzw. Saudi-Arabiens in der Region, Verhältnis WEU – Türkei, Lage in Georgien, Aufbau eines Wissenschaftszentrums, START, Nichtverbreitungsfragen, finanzielle Hilfe an die GUSMitgliedstaaten, Rolle des NAKR, Jugoslawien-Konflikt, Entwicklung in Polen. XXXVII

Dokumentenverzeichnis für Band I

62

25.02.

Vorlage des MD Dieckmann für BM Genscher GATT-Verhandlungen: Vorbereitung der Kabinettssitzung, insbesondere zum Agrarbereich.

S. 246

63

26.02.

Runderlass des VLR I Bettzuege Rüstungsexportpolitik: Übersicht über weitere Maßnahmen zur Reform der Rüstungsexportkontrolle.

S. 249

64

27.02.

Gespräch des BK Kohl mit dem tschechoslowakischen Präsidenten Havel auf Schloss Lány Nachbarschafts- und Freundschaftsvertrag, Entschädigung für Opfer des Nationalsozialismus, Beteiligung von Ausländern an Privatisierungen ehemaligen Vermögens Sudetendeutscher, Unabhängigkeitsbestrebungen der Slowakei.

S. 251

65

27.02.

Vorlage des VLR I Libal für BM Genscher Jugoslawien-Konflikt: Frage der Identität und Kontinuität RestJugoslawiens im Hinblick auf Stellung in internationalen Organisationen.

S. 257

66

28.02.

Gespräch des BM Genscher mit dem indonesischen AM Alatas Entwicklung in der Volksrepublik China, Beschlüsse der letzten ASEAN-Gipfelkonferenz, Situation in der GUS, JugoslawienKonflikt, Lage in Ost-Timor.

S. 261

67

28.02.

Vorlage des MDg Roßbach für BM Genscher SNF-Initiative der Bundesregierung: Einsetzung einer NATOArbeitsgruppe.

S. 266

68

28.02.

Vorlage des VLR Knieß für BM Genscher Übereinkommen zur Regelung des Kambodscha-Konflikts: Inhalt und Frage einer Unterzeichnung durch die Bundesrepublik.

S. 270

69

29.02.

Drahtbericht des Botschafters Bente, Riad Besuch von BM Möllemann in Saudi-Arabien: bilaterale Beziehungen nach dem Golf-Krieg, Zusammenarbeit EG – GCC, Pläne der EG für eine Energiesteuer, Friedensprozess im Nahen Osten, Rolle des Iran, Reformen in Saudi-Arabien.

S. 273

70

03.03.

Vorlage des VLR I Gruber für BM Genscher März KSZE: Überblick über „Wiener Dokument“ (WD 92) der VVSBM.

S. 279

71

06.03.

Drahtbericht des Gesandten Heinichen, Paris Gespräch des CSU-Landesgruppenvorsitzenden Bötsch mit dem französischen AM Dumas: Ratifizierung des Vertragswerks von

S. 282

XXXVIII

März

Maastricht, europäische Sicherheitsarchitektur, insbesondere Beziehungen zu MOE-Staaten. 72

09.03.

Runderlass des VLR I Bettzuege

S. 285

UNCTAD VIII in Cartagena: Verlauf und Ergebnisse der achten VN-Konferenz für Handel und Entwicklung. 73

10.03.

Gespräch des BK Kohl mit dem chinesischen AM Qian Qichen

S. 288

Bilaterale politische, wirtschaftliche und kulturelle Beziehungen, Beziehungen zur GUS, Entwicklung in der Volksrepublik China. 74

10.03.

Drahtbericht des Botschafters von Ploetz, Brüssel (NATO)

S. 294

NAKR-Ministertagung: Aufnahme der GUS-Mitgliedstaaten, Konflikt in Nagorny Karabach, Verhältnis des NAKR zur KSZE, Rüstungskontrollfragen, v. a. VKSE. 75

11.03.

Gespräche des BM Genscher mit dem chinesischen AM Qian Qichen

S. 300

Bilaterale politische und wirtschaftliche Beziehungen; Entwicklung in Jugoslawien und Asien, insbesondere Volksrepublik China, Taiwan, Korea; Nichtverbreitungsfragen. 76

11.03.

Gespräch des BK Kohl mit dem zyprischen Präsidenten Vassiliou

S. 306

Zypernkonflikt: Haltung der Türkei, Rolle der VN und EG. 77

11.03.

Runderlass des VLR I Libal

S. 311

Jugoslawien-Konflikt: Treffen der Außenminister der EG-Mitgliedstaaten mit dem amerikanischen AM Baker. 78

12.03.

Gespräch des BM Genscher mit dem französischen AM Dumas in S. 314 Paris Eurokorps, Ratifizierung des Vertragswerks von Maastricht, GATT-Verhandlungen, Jugoslawien-Konflikt.

79

13.03.

Gespräch des BM Genscher mit dem belarussischen AM Krawtschenko in Minsk

S. 318

Aufnahme diplomatischer Beziehungen, Visafragen, Entschädigung für Opfer des Nationalsozialismus. 80

17.03.

Gespräch des BK Kohl mit dem jordanischen König Hussein

S. 324

Nahost-Konflikt, Entwicklung Israels und des Irak, Außenpolitik Jordaniens und der Regionalmächte Saudi-Arabien, Iran und Türkei, Nahost-Politik Großbritanniens, Lage in Algerien. XXXIX

Dokumentenverzeichnis für Band I

81

20.03.

Vorlage des VLR I Lambach für StS Kastrup

S. 330

Abzug der WGT: fünfte Sitzung der Gemischten Deutsch-Sowjetischen Kommission, u. a. Zeitplan, Unterbringungs-, Transport-, Umweltfragen, Materialzerstörung. 82

21./22.03. Gespräche des BK Kohl mit dem amerikanischen Präsidenten Bush in Camp David

S. 334

Wahlen in EG-Staaten, der Bundesrepublik und den USA, bilaterale Fragen, Verbleib amerikanischer Truppen in Europa, GATTVerhandlungen, internationale Wirtschafts- und Finanzhilfen für Russland, EG-Erweiterung und transatlantische Beziehungen. 83

23.03.

Telefongespräch des BK Kohl mit dem russischen Präsidenten Jelzin

S. 344

Lage in Russland und der GUS, Teilnahme Jelzins am Weltwirtschaftsgipfel in München, Russlanddeutsche, Bernsteinzimmer. 84

23.03.

Gespräch des BM Genscher mit dem finnischen AM Väyrynen in Helsinki

S. 349

EG-Beitritt Finnlands, Lage in den GUS-Mitgliedstaaten. 85

23.03.

Runderlass des VLR I Bettzuege

S. 351

Open-Skies-Vertrag (Abkommen über den Offenen Himmel): Verhandlungsabschluss und Vertragsinhalt. 86

24.03.

Vorlage des MD Elbe für BM Genscher

S. 354

EG-Erweiterung: Probleme für EG-Mitgliedstaaten bzw. Beitrittskandidaten und mögliche Lösungsoptionen. 87

26.03.

Vermerk des VLR Pauls

S. 366

Europäische Sicherheitsarchitektur: Bewertung des französischen Vorschlags eines „gesamteuropäischen Sicherheitsvertrags“ im Rahmen der KSZE. 88

27.03.

Vorlage des MDg von Kyaw für BM Genscher

S. 372

GATT-Verhandlungen: Stand nach Gesprächen des BK Kohl mit dem amerikanischen Präsidenten Bush in Camp David. 89

30.03.

Drahtbericht des Botschafters Weisel, Zagreb Jugoslawien-Konflikt: Gespräch mit kroatischem Präsidenten Tudjman über UNPROFOR, Entwicklung in Bosnien-Herzegowina, bilaterale Finanzhilfe.

XL

S. 374

April

90

31.03.

Gespräch des BM Genscher mit dem polnischen Präsidenten Wałęsa

S. 378

Bilaterale Beziehungen, Wirtschaftsbeziehungen Polens zur EG und den GUS-Mitgliedstaaten. 91

31.03.

Vorlage des VLR I Bertram für BM Genscher

S. 381

Eurokorps: Probleme bei Ausarbeitung eines gemeinsamen deutsch-französischen Berichts der Außen- und Verteidigungsministerien. 92

01.04.

Vorlage des VLR I Ackermann für BM Genscher

S. 386

Rüstungsexportpolitik: Zurückstellung von Ausfuhrgenehmigung für die Türkei nach möglichem Einsatz im Innern gegen Kurden. April 93

02.04.

Vorlage des MD Elbe für BM Genscher

S. 390

Islamischer Fundamentalismus: Definition, historische Genese und Erscheinungsformen. 94

02.04.

Vorlage des VLR I Ahrens für BM Genscher

S. 394

Jugoslawien-Konflikt: Verlauf und Ergebnis des elften Plenums der Jugoslawien-Konferenz in Brüssel. 95

02.04.

Vorlage des VLR I Dassel für BM Genscher

S. 397

Lockerbie-Attentat: Umsetzung des Sanktionsbeschlusses des VN-Sicherheitsrats durch die Bundesrepublik. 96

02.04.

Vermerk des Referats 240

S. 401

Nuklearwaffen in der ehemaligen UdSSR: Überblick über den Bestand und Probleme der Vernichtung. 97

02.04.

Drahtbericht des Botschafters von Ploetz, Brüssel (NATO)

S. 404

NAKR-Treffen auf der Ebene der Verteidigungsminister: europäische Sicherheitsarchitektur, Abrüstungs- und Rüstungskontrollfragen, aktuelle Konflikte in Europa (Jugoslawien, Moldau, Nagorny Karabach). 98

03.04.

Gespräch des BK Kohl mit dem ukrainischen Präsidenten Krawtschuk

S. 409

Politische und wirtschaftliche Entwicklung der Ukraine, Beziehungen des Landes zu Russland, zur GUS sowie zum IWF.

XLI

Dokumentenverzeichnis für Band I

99

03.04.

Gespräch des BM Genscher mit dem estnischen Präsidenten Rüütel

S. 413

Bilaterale Beziehungen, v. a. Finanz- und Verteidigungshilfe; estnisch-russische Beziehungen. 100

03.04.

Schreiben des BK Kohl an den russischen Präsidenten Jelzin

S. 415

G 7: Hilfe für Russland, Teilnahme Jelzins am Weltwirtschaftsgipfel in München. 101

07.04.

Gespräch des BK Kohl mit dem kirgisischen Präsidenten Akajew

S. 417

Politische und kulturelle Entwicklung Kirgisistans, Beziehungen zur Bundesrepublik, zu Russland und der übrigen GUS sowie zur Volksrepublik China, deutsche Minderheit. 102

07.04.

Gespräch des BM Genscher mit dem Vizepräsidenten der EG-Kommission, Andriessen

S. 423

EG-Erweiterung: Verhandlungen mit EFTA-Staaten, Perspektiven für MOE-, GUS- sowie Mittelmeer-Staaten, institutionelle Fragen, GASP. 103

08.04.

Gespräch des BM Genscher mit dem iranischen Botschafter Mussawian

S. 428

Verwüstung der iranischen Botschaft und der Generalkonsulate in Hamburg und München durch oppositionelle Volksmudschahedin. 104

09.04.

Vorlage des MD Dieckmann für BM Genscher

S. 433

Nichtverbreitung: Verschärfung der Sicherungsmaßnahmen und Lieferbedingungen durch IAEO und NSG. 105

10.04.

Vermerk des MD Chrobog

S. 436

Vierertreffen der Politischen Direktoren in London: politische und wirtschaftliche Entwicklung in der GUS, insbesondere Nuklearwaffen und Wirtschaftsfragen, Entwicklung der Ukraine, Konflikte in Nagorny Karabach und Moldau, Georgien, KSZE und gesamteuropäische Sicherheitsarchitektur, JugoslawienKonflikt, Lage in der Türkei, Naher und Mittlerer Osten, Südafrika, Sanktionen gegen Libyen wegen Lockerbie-Attentat. 106

12.04.

Gespräch des BM Genscher mit dem Vorsitzenden des georgischen Staatsrats, Schewardnadse, in Tiflis Aufnahme diplomatischer Beziehungen, künftige wirtschaftliche, finanzielle und kulturelle Zusammenarbeit, Beziehungen Georgiens zu GUS, Europarat und EG.

XLII

S. 449

April

107

13.04.

Vermerk des VLR I Kaufmann-Bühler

S. 457

Gespräch der BM Genscher und Kinkel mit SPD-Fraktionsführung: Ratifizierung des Vertragswerks von Maastricht, EG-Erweiterung. 108

14.04.

Schreiben des BK Kohl an den israelischen AM Levy

S. 460

Mögliche Kreditgarantien der Bundesregierung. 109

14.04.

Vorlage des VLR I Bertram für BM Genscher

S. 462

Eurokorps: deutsch-französischer Bericht als Grundlage weiteren Vorgehens. 110

16.04.

Vorlage des VLR I Spohn für StS Kastrup

S. 466

Peru: Staatsstreich durch Präsident Fujimori, Folgen für bilaterale Beziehungen. 111

23.04.

Gespräch des BM Genscher mit dem russischen Botschafter Terechow

S. 470

Bilaterale Beziehungen, v. a. Entschädigung für Opfer des Nationalsozialismus; Lage in Russland nach Kongress der Volksdeputierten. 112

23.04.

Gespräch des BM Genscher mit dem niederländischen AM van den Broek

S. 473

Jugoslawien-Konflikt, v. a. Bosnien-Herzegowina und Anerkennung Mazedoniens; Verhältnis der KSZE zu NATO und WEU sowie Reform; GATT-Verhandlungen; Ratifizierung des Vertragswerks von Maastricht. 113

23.04.

Gespräch des BM Genscher mit dem Mitglied des algerischen Hohen Staatsrats, Haroun

S. 477

Entwicklung in Algerien nach Aussetzung der Wahlen. 114

24.04.

Gespräch des BM Genscher mit den AM Dumas (Frankreich) und S. 480 Skubiszewski (Polen) in Bergerac „Weimarer Dreieck“: Stärkung der KSZE, Entwicklung in der GUS, Truppen der ehemaligen UdSSR in MOE-Staaten, Beziehungen der EG zu MOE und Türkei.

115

24.04.

Vorlage des VLR I Erck für StS Kastrup

S. 483

NATO-Verteidigungshilfe für Griechenland, Portugal und die Türkei: Handlungsoptionen angesichts des Waffenlieferungsstopps für die Türkei. XLIII

Dokumentenverzeichnis für Band I

116

24.04.

Vorlage des VLR I Derix für BM Genscher

S. 488

Deutsch-tschechoslowakischer Nachbarschafts- und Freundschaftsvertrag: Ratifizierung in ČSFR. 117

24.04.

Vorlage der LRin I Haber für BM Genscher

S. 491

Russlanddeutsche: deutsch-russisches Protokoll zur Wiedererrichtung einer Wolga-Republik. 118

27.04.

Gespräch des BM Genscher mit dem belgischen AM Claes

S. 493

Bilaterale Beziehungen, Ratifizierung des Vertragswerks von Maastricht, Eurokorps, Delors-Paket II, Jugoslawien-Konflikt, Stärkung der KSZE. 119

27.04.

Drahtbericht des Botschafters Weisel, Zagreb

S. 498

Jugoslawien-Konflikt: Gespräch mit dem kroatischen Präsidenten Tudjman über Flüchtlinge aus Bosnien-Herzegowina, Involvierung Kroatiens in Bosnien-Konflikt, Zusammenarbeit mit der EG. 120

28.04.

Telefongespräch des BM Genscher mit VN-GS Boutros-Ghali

S. 502

Deutsche Geiseln Strübig und Kemptner im Libanon: Vermittlung durch VN. 121

28.04.

Vorlage des VLR Kaul für BM Genscher

S. 503

Nahost-Konflikt: Beteiligung der EG am Friedensprozess, EGBeziehungen zu Israel. 122

28.04.

Runderlass des VLR Koenig

S. 506

Rumänien: Besuch des BM Genscher, Abschluss und Inhalt des bilateralen Nachbarschafts- und Freundschaftsvertrags. 123

30.04.

Gespräch des BK Kohl mit dem japanischen MP Miyazawa

S. 509

Bilaterale Beziehungen, Weltwirtschaftsgipfel in München, GATT-Verhandlungen, Entwicklung in der Volksrepublik China. 124

30.04.

Vorlage des VLR I Ackermann für BM Genscher

S. 517

Rüstungsexportpolitik: Vorgehensweise bei Dual-use-Gütern im Fall Irans. 125

04.05.

Vermerk des VLR Wittig Mai Informelles EG-Außenministertreffen: Nahost-Konflikt, GASP, Südafrika, Türkei, Europarat, Mazedonien, Bosnien-Herzegowina, Bundesrepublik Jugoslawien (Serbien/Montenegro).

XLIV

S. 520

Mai

126

04.05.

Runderlass des VLR I Bettzuege

S. 525

Unterzeichnung des EWR-Abkommens: Inhalt und Bedeutung. 127

04.05.

Drahtbericht des Botschafters Siemes, Seoul

S. 528

Besuch von MDg Zeller in Südkorea: bilaterale Beziehungen, Lage auf der koreanischen Halbinsel, insbesondere nordkoreanisches Nuklearprogramm. 128

05.05.

Gespräch des BM Genscher mit dem kasachischen MP Tereschtschenko

S. 534

Bilaterale Beziehungen, Entwicklung in Kasachstan, Lage der deutschen Minderheit. 129

05.05.

Gespräch des BK Kohl mit VN-GS Boutros-Ghali in New York

S. 538

Beteiligung der Bundesrepublik an friedenserhaltenden Maßnahmen, Rolle der VN in Regionalkonflikten, deutsche Geiseln Strübig und Kemptner im Libanon, Angebot eines Nord-SüdZentrums in Bonn. 130

05.05.

Vorlage des MD Elbe für BM Genscher

S. 541

Afghanistan: aktuelle Lage und künftige Politik der Bundesregierung. 131

05.05.

Vorlage des VLR I Wagner für StS Kastrup

S. 544

USA: Beziehungen der Bundesregierung zu jüdischen Organisationen. 132

05.05.

Drahtbericht des Botschafters Freiherr von Richthofen, London

S. 547

Gespräch mit ehemaliger britischer PMin Thatcher: Rücktritt von BM Genscher, Jugoslawien-Konflikt. 133

05.05.

Drahtbericht des Botschafters Graf zu Rantzau, New York (VN)

S. 548

Irak: Zwischenbilanz der Tätigkeit der VN-Sonderkommission Abrüstung. 134

07.05.

Gespräch des BM Genscher mit dem französischen Staatspräsidenten Mitterrand in Paris

S. 551

Abschiedsbesuch: bilaterale Beziehungen, europäische Einigung. 135

08.05.

Vermerk des VLR I von Arnim

S. 554

GATT-Verhandlungen: Agrarbereich.

XLV

Dokumentenverzeichnis für Band I

136

10.05.

Drahterlass des MD Chrobog an Botschafter Blech, Moskau

S. 556

KSZE: Weisung für Demarche im russischen Außenministerium in der Frage der Suspendierung der jugoslawischen Delegation. 137

11.05.

Vorlage des VLR I Bertram für StS Kastrup

S. 559

Eurokorps: Bedenken der USA. 138

13.05.

Vorlage des VLR I von Butler für BM Genscher

S. 562

Genfer CW-Verhandlungen: Stand und weitere Perspektiven. 139

13.05.

Drahtbericht des Botschafters Höynck, Helsinki (KSZE-Delegation)

S. 565

Jugoslawien-Konflikt: Suspendierung der jugoslawischen Delegation in der KSZE. 140

14.05.

Drahtbericht des Botschafters Freiherr von Richthofen, London

S. 569

Abschiedsbesuch von BM Genscher: bilaterale Beziehungen, europäische Einigung, Jugoslawien-Konflikt, Rolle der Bundesrepublik in den VN. 141

20.05.

Vorlage des VLR I Gruber für BM Kinkel

S. 573

KSE-Vertrag: Einigung der Nachfolgestaaten der UdSSR über Aufteilung der Rechte und Pflichten. 142

21.05.

Gespräch des BM Kinkel mit dem französischen AM Dumas in La Rochelle

S. 576

Deutsch-französische Konsultationen: KSZE und Verhältnis zur NATO, Weltwirtschaftsgipfel in München, GATT-Verhandlungen, Jugoslawien-Konflikt, insbesondere Flüchtlingsfragen, Europapolitik, v.a. Erhöhung der Anzahl der Abgeordneten im Europäischen Parlament. 143

21.05.

Vorlage des VLR I Libal für BM Kinkel

S. 582

Jugoslawien-Konflikt: unterschiedliche Auslegungen des VancePlans durch Kroatien und Serbien, Entwicklung in BosnienHerzegowina. 144

22.05.

Sitzung des Deutsch-Französischen Rats für Verteidigung und Sicherheit in La Rochelle Deutsch-französische Konsultationen: Beschluss zum Eurokorps, europäische Sicherheitsarchitektur.

XLVI

S. 585

Mai

145

22.05.

Vorlage des MD Elbe für BM Kinkel

S. 587

Perspektiven der Entwicklungspolitik der Bundesrepublik. 146

22.05.

Vorlage des VLR I Ahrens für BM Kinkel

S. 595

Jugoslawien-Konflikt: Probleme der EG-Friedenskonferenz. 147

22.05.

Vorlage des VLR Stanchina für BM Kinkel

S. 598

Rüstungsexportpolitik: Ergebnisse einer Reise der G 7 und Australiens in Nachfolgestaaten der UdSSR zur Etablierung von Exportkontrollregimen und weiteres Vorgehen. 148

24.05.

Gespräch des BM Kinkel mit dem ägyptischen AM Moussa in Lissabon

S. 603

Zusammenarbeit im Mittelmeerraum, Nahost-Konflikt, Jugoslawien-Konflikt. 149

25.05.

Vermerk des MD Chrobog

S. 606

Gespräche von BM Kinkel in Lissabon mit den AM Baker (USA), Kosyrew (Russland), van den Broek (Niederlande), Claes (Belgien), Ganew (Bulgarien) und Hovannisian (Armenien). 150

25.05.

Drahtbericht des Botschafters Blech, Moskau

S. 613

Russland: mögliches Junktim zwischen Rückführung deutscher Kulturgüter und wirtschaftlicher Unterstützung. 151

26.05.

Vorlage des VLR I Neubert für BM Kinkel

S. 617

Ukraine: Status der Krim. 152

26.05.

Drahtbericht des Botschafters von Ploetz, Brüssel (NATO)

S. 620

Ministersitzung der Eurogroup: Eurokorps, Jugoslawien-Konflikt, europäische Sicherheitsarchitektur. 153

27.05.

Gespräch des StS Kastrup mit dem türkischen AM Çetin in Ankara

S. 624

Verteidigungszusammenarbeit: Aufhebung des Lieferstopps für Rüstungsgüter. 154

27.05.

Schreiben des BK Kohl an den amerikanischen Präsidenten Bush

S. 626

Eurokorps, insbesondere Beziehungen zur NATO. 155

27.05.

Drahtbericht des KptzS Feist, BMVg, z. Z. Brüssel

S. 628

Ministersitzung des DPC: Entwicklung in Russland und den anderen Nachfolgestaaten der UdSSR, europäische SicherheitsXLVII

Dokumentenverzeichnis für Band I

architektur, Jugoslawien-Konflikt, Eurokorps, Verhältnis von NATO und KSZE. 156

29.05.

Gespräch des StS Kastrup mit dem chilenischen Sonderbotschafter Holger

S. 633

Fall Honecker: juristische Überlegungen Chiles. 157

29.05.

Vorlage des VLR I Neubert für BM Kinkel

S. 641

Russland: außenpolitische Konzepte und Akteure, Beziehungen zu verschiedenen Staaten. 158

01.06.

Gespräch des BK Kohl mit dem portugiesischen MP Cavaco Silva S. 645 Europapolitik: künftige EG-Kommission, Kompetenzen des Europäischen Parlaments, Sitzfragen, Delors-Paket II, EG-Erweiterung; GATT-Verhandlungen.

159

01.06.

Gespräch des BM Kinkel mit dem stellvertretenden amerikanischen AM Eagleburger in Köln Juni

S. 653

Eurokorps, Jugoslawien-Konflikt. 160

01.06.

Runderlass des VLR Koenig

S. 656

GUS: Verlauf und Bilanz der Koordinierungskonferenz für humanitäre Hilfe in Lissabon. 161

01.06.

Drahtbericht des Botschafters von Ploetz, Brüssel (NATO)

S. 658

NATO: Themen- und Konfliktfelder der Tagungen des NATOMinisterrats, NAKR-Treffens und der außerordentlichen Konferenz zum KSE-Vertrag. 162

01.06.

Drahtbericht des Gesandten Wegner, London

S. 664

Gespräch des BM Kinkel mit dem britischen AM Hurd: Jugoslawien-Konflikt, insbesondere Sanktionen gegen die Bundesrepublik Jugoslawien (Serbien/Montenegro), Kosovo, Mazedonien-Frage, Auslandseinsätze der Bundeswehr, Eurokorps, Europapolitik. 163

02.06.

Gespräch des StM Schmidbauer, Bundeskanzleramt, mit dem iranischen Präsidenten Rafsandschani in Teheran Deutsche Geiseln Strübig und Kemptner im Libanon; Konfliktfelder der bilateralen Beziehungen, v. a. Beschädigung der iranischen Botschaft, Kernkraftwerk Bushehr, U-Boot-Lieferungen.

XLVIII

S. 672

Juni

164

03.06.

Vorlage des VLR I Neubert für BM Kinkel

S. 676

Deutsche Minderheit in den GUS-Mitgliedstaaten: Überblick und Perspektiven, Zusammenarbeit mit dem BMI bei Aussiedlerfragen. 165

04.06.

Vorlage des MD Elbe für BM Kinkel

S. 678

Transatlantische Beziehungen: Vorschlag für einen Vertrag zwischen EG und USA. 166

04.06.

Drahtbericht des MDg von Kyaw, z. Z. BM-Delegation

S. 684

Europapolitik: außerordentliche EG-Ministerratstagung in Oslo nach dem dänischen Referendum über das Vertragswerk von Maastricht. 167

09.06.

Gespräch des BM Kinkel mit dem iranischen Botschafter Mussawian

S. 686

Deutsche Geiseln Strübig und Kemptner im Libanon: iranische Vermittlungsbemühungen zur Freilassung. 168

09.06.

Gespräch des BM Kinkel mit dem österreichischen AM Mock

S. 688

EG-Beitritt Österreichs, Lage der EG nach dem dänischen Referendum, Krise in Bosnien-Herzegowina und Mazedonien, Flüchtlings- und Asylfragen. 169

09.06.

Gespräch des BM Kinkel mit dem vietnamesischen AM Nguyen Manh Cam

S. 691

Bilaterale Beziehungen, Vietnams Beziehungen zur Volksrepublik China und den USA, Menschenrechtsfragen. 170

10.06.

Runderlass des VLR I Bettzuege

S. 696

NATO- bzw. NAKR-Ministerratstagung sowie außerordentliche Konferenz zum KSE-Vertrag in Oslo: Verhältnis von NATO und KSZE, europäische Sicherheits- und Verteidigungsidentität, insbesondere Rolle der WEU, Einrücken von acht Nachfolgestaaten in die Vertragsposition der ehemaligen UdSSR beim KSEVertrag. 171

10.06.

Drahtbericht des BR I Lutz, Belgrad

S. 700

Jugoslawien-Konflikt: Warnung vor militärischer Intervention, Empfehlung zur Einwirkung durch Aufrechterhaltung eines Kontaktminimums.

XLIX

Dokumentenverzeichnis für Band I

172

11.06.

Gespräch des BK Kohl mit den Präsidenten Gorbunovs (Lettland), Landsbergis (Litauen) und Rüütel (Estland) in Rio de Janeiro

S. 704

Baltische Staaten: Beziehungen Estlands, Lettlands und Litauens zur Bundesrepublik und zu Russland, insbesondere Abzug der GUS-Streitkräfte aus dem Baltikum, finanzielle Hilfe und künftiges Verhältnis zur EG. 173

11.06.

Gespräch des BM Kinkel mit dem niederländischen AM van den Broek in Den Haag

S. 709

Fortsetzung des Ratifizierungsverfahrens für das Vertragswerk von Maastricht nach dänischem Referendum; EG-Erweiterung; Delors-Paket II; Jugoslawien-Konflikt, u.a. Bosnien-Herzegowina, Kosovo und Mazedonien-Frage; Sitz der Organisation zum Verbot von Chemiewaffen; Eurokorps. 174

11.06.

Vorlage des VLR I Haak für BM Kinkel

S. 712

KSZE: Stand der Folgekonferenz und Vorbereitung der Gipfelkonferenz in Helsinki. 175

12.06.

Vorlage des MD Dieckmann für BM Kinkel

S. 717

Russland: Besuch des StS Köhler, BMF, mit Erörterung von Wirtschafts- und Finanzhilfen sowie Einladung zur Teilnahme des russischen Präsidenten Jelzin am Weltwirtschaftsgipfel in München. 176

12.06.

Vorlage des VLR I Schmidt für BM Kinkel

S. 721

Jugoslawien-Konflikt: Beteiligung der Bundeswehr an humanitären Hilfsflügen in das belagerte Sarajevo. 177

14.06.

Drahtbericht des MDg von Websky, BMU, z. Z. Rio de Janeiro

S. 724

Umweltpolitik: Verlauf und Ergebnisse der VN-Konferenz über Umwelt und Entwicklung. 178

17.06.

Gespräch des BM Kinkel mit dem singapurischen AM Wong Kan Seng

S. 731

Bilaterale Beziehungen, v.a. im Wirtschafts- und Ausbildungsbereich; wirtschaftliches Potenzial Asiens; Bedeutung Japans, der USA und der Volksrepublik China für Entwicklung in Asien. 179

17.06.

Vermerk des VLR I Wagner Vierertreffen der Politischen Direktoren in Paris: Entwicklung in der ČSFR, Rumänien und Albanien, Teilnahme des russischen

L

S. 735

Juni

Präsidenten Jelzin an Weltwirtschaftsgipfel in München, Jugoslawien-Konflikt, Eurokorps. 180

17.06.

Drahtbericht des Botschafters Weisel, Zagreb

S. 739

Jugoslawien-Konflikt: Gespräch mit dem kroatischen Präsidenten Tudjman über Bosnien-Herzegowina und UNPROFOR. 181

18.06.

Drahtbericht des Botschafters Kiewitt, Beirut

S. 742

Deutsche Geiseln Strübig und Kemptner im Libanon: Freilassung der beiden Geiseln und Bedeutung für den Libanon. 182

20.06.

Drahtbericht des Botschafters Sudhoff, Paris

S. 745

Französisch–amerikanische Beziehungen: politische und wirtschaftliche Konfliktfelder und Auswirkung auf die Bundesrepublik. 183

22.06.

Drahtbericht des Botschafters Dahlhoff, Tiflis

S. 749

Georgien: Gespräch mit dem Vorsitzenden des Staatsrats, Schewardnadse, über Ossetienkonflikt sowie Georgiens Beziehungen zu Russland und der Bundesrepublik. 184

23.06.

Gespräch des StS Kastrup mit dem chilenischen Sonderbotschafter Holger

S. 754

Fall Honecker: Erörterung des Vorgehens zur Ausweisung Honeckers aus der chilenischen Botschaft in Moskau. 185

23.06.

Vorlage des MD Dieckmann für BM Kinkel

S. 757

GATT-Verhandlungen: Telefongespräche des BK Kohl mit EGKommissionspräsident Delors und dem amerikanischen AM Baker. 186

23.06.

Vorlage des VLR Mülmenstädt für BM Kinkel

S. 759

Amerikanisch–russische Beziehungen: Verlauf und Ergebnisse des USA-Besuchs von Präsident Jelzin, v. a. im Bereich nuklearer Abrüstung und der wirtschaftlichen Zusammenarbeit. 187

24.06.

Vorlage des MDg Schilling für BM Kinkel

S. 763

VN-Reform: mögliche Erweiterung des VN-Sicherheitsrats und Interessen der Bundesrepublik. 188

24.06.

Vermerk des LR I Weil

S. 767

Bundeswehr: Diskussion im Verteidigungsausschuss des Bundestags über „Out-of-area“-Einsätze. LI

Dokumentenverzeichnis für Band I

189

25.06.

Vorlage des VLR I Zimprich für BM Kinkel

S. 770

Entwicklungshilfe: Verfehlen des Ziels, 0,7 % des Bruttosozialprodukts für Entwicklungshilfe aufzuwenden. 190

25.06.

Vorlage des VLR I von Arnim für BM Kinkel

S. 772

Wirtschaftsbeziehungen zu USA, amerikanisches Haushaltsdefizit und wirtschaftliche Schwierigkeiten, Auswirkungen auf Verbündete und GATT-Verhandlungen. 191

25.06.

Vorlage des VLR Wrede für BM Kinkel

S. 775

Jugoslawien-Konflikt: Optionen für eine Luftbrücke nach Sarajevo. 192

26.06.

Vorlage des VLR I Bertram für BM Kinkel

S. 779

NATO: Zukunft des Bündnisses angesichts wachsender amerikanisch-französischer Spannungen und sein Beitrag zur gesamteuropäischen Sicherheitsstruktur. 193

26.06.

Drahtbericht des Botschafters Arnot, Budapest

S. 786

Ungarn: Bitte um Lieferung von NVA-Material. 194

29.06.

Vorlage des VLR I Runge für Referat 011

S. 789

GUS: Ausfuhrgewährleistungen der Bundesregierung. 195

29.06.

Drahtbericht des Botschafters Blech, Moskau

S. 790

Russland: Gespräch mit dem russischen VM Gratschow über Abzug der WGT, russisch-ukrainische Beziehungen und Ratifizierung von Abrüstungs- und Rüstungskontrollabkommen. 196

30.06.

Gespräch des BM Kinkel mit dem amerikanischen AM Baker in Washington

S. 794

GATT-Verhandlungen, insbesondere Vermittlungsbemühungen des BK Kohl; bilaterale Beziehungen; Verhältnis zu Frankreich. 197

30.06.

Gespräch des BM Kinkel mit dem amerikanischen AM Baker in Washington Jugoslawien-Konflikt, insbesondere Sanktionen gegen die Bundesrepublik Jugoslawien (Serbien/Montenegro) und mögliches militärisches Engagement in Bosnien-Herzegowina; Luftverkehrsfragen; Verhandlungen zur Überprüfung des Zusatzabkommens zum NATO-Truppenstatut; Kernkraftwerke im postsowjetischen Raum; Abzug russischer Truppen aus dem Baltikum; Verhältnis von NATO und KSZE.

LII

S. 797

Juli

198

30.06.

Gespräch des BM Kinkel mit dem amerikanischen VM Cheney in S. 801 Washington Jugoslawien-Konflikt, insbesondere militärisches Engagement in Bosnien-Herzegowina; Eurokorps.

199

30.06.

Gespräch des BM Kinkel mit dem amerikanischen Präsidenten Bush in Washington

S. 803

Deutsch-amerikanische Beziehungen, Eurokorps, JugoslawienKonflikt, GATT-Verhandlungen. 200

30.06.

Vorlage des MDg Roßbach für StS Kastrup

S. 805

Russland: Zusammenarbeit bei der Beseitigung ehemals sowjetischer Nuklearwaffen. 201

30.06.

Runderlass des VLR Koenig

S. 808

Europäischer Rat in Lissabon: Ergebnisse und Verlauf, insbesondere Fortgang des Ratifizierungsverfahrens des Vertragswerks von Maastricht, EG-Erweiterung, Delors-Paket II, EPZ-Fragen, u. a. Jugoslawien-Konflikt. 202

01.07.

Vorlage des VLR I Gruber für BM Kinkel

S. 815

Konventionelle Rüstungskontrolle: Abschluss der KSE-Verhandlungen über Personalstärken. 203

01.07.

Vorlage des VLR Petri für StS Lautenschlager

S. 819

COCOM: Sachstand zum Bemühen um Liberalisierung. Juli 204

02.07.

Gespräch des StS Kastrup mit StS Schönbohm, BMVg

S. 822

Eurokorps, NATO und amerikanisch-französische Beziehungen; Verteidigungshilfe, insbesondere für Türkei; Beziehungen zu Nachfolgestaaten der UdSSR; Umsetzung des 2+4-Vertrags; militärische Ausbildungsprogramme; verteidigungspolitische Zusammenarbeit mit Israel; Hilfsflüge der Bundeswehr nach Sarajevo. 205

02.07.

Vorlage des VLR I Neubert für BM Kinkel

S. 830

Georgien: Maßnahmen zur Stabilisierung der Regierung des Vorsitzenden des georgischen Staatsrats, Schewardnadse. 206

03.07.

Vorlage des VLR I Barth für BM Kinkel

S. 833

G 7: Überlegungen des amerikanischen Präsidenten Bush zur Aufnahme Russlands und Bildung einer G 8.

LIII

Dokumentenverzeichnis für Band II

207

05.07.

Gespräch des BK Kohl mit dem italienischen MP Amato in München

S. 835

Ablauf des Weltwirtschaftsgipfels, GATT-Verhandlungen, MOEund GUS-Staaten, Sicherheit von Kernkraftwerken sowjetischer Bauart, Kurilen-Frage, Umweltschutz, italienische Währungsprobleme. 208

06.07.

Gespräch des BK Kohl mit dem amerikanischen Präsidenten Bush in München

S. 840

GATT-Verhandlungen, v. a. im Bereich der Landwirtschaft; Eurokorps und transatlantische Beziehungen. 209

06.07.

Vorlage des MDg Roßbach für BM Kinkel

S. 845

KSZE: Mandat für das Forum für Sicherheitskooperation. 210

07.07.

Gespräch des BK Kohl mit dem französischen Staatspräsidenten Mitterrand in München

S. 848

GATT-Verhandlungen, v. a. im Bereich der Landwirtschaft; Sicherheit von Kernkraftwerken sowjetischer Bauart; Friedensprozess im Nahen Osten; mögliche Erweiterung der G 7. 211

07.07.

Vorlage des VLR I Neubert für BM Kinkel

S. 852

Moldau: russische Haltung zum Transnistrien-Konflikt, weiteres Vorgehen der Bundesregierung. 212

08.07.

Gespräch des BM Kinkel mit dem russischen AM Kosyrew in München

S. 855

Altschulden der ehemaligen UdSSR und Unterstützung für GUSMitgliedstaaten, Jugoslawien-Konflikt, weitere Entwicklung der KSZE, bisheriger Verlauf des Weltwirtschaftsgipfels, bilaterale Beziehungen. 213

08.07.

Vorlage des VLR I Hilger für BM Kinkel

S. 859

Auslandseinsätze der Bundeswehr: Frage der Beteiligung an Maßnahmen zur Embargo-Überwachung in der Adria. 214

08.07.

Runderlass des VLR I Holl

S. 862

Afghanistan: Lage im Land und Möglichkeiten humanitärer Hilfe. 215

09.07.

Drahtbericht des Botschafters Hellbeck, Peking Volksrepublik China: politische und wirtschaftliche Entwicklung und Frage eines Besuchs von BM Kinkel.

LIV

S. 865

Juli

216

10.07.

Gespräch des BK Kohl mit dem tschechoslowakischen Präsidenten Havel in Helsinki

S. 867

ČSFR: Hintergründe des Zerfalls und weitere Entwicklung. 217

10.07.

Vorlage des MDg Graf von Matuschka für BM Kinkel

S. 869

Nichtverbreitung: Weiterentwicklung des Trägertechnologiekontrollregimes (MTCR), Beitritte weiterer Staaten. 218

10.07.

Runderlass des VLR I Bettzuege

S. 873

Nahost-Konflikt: Besuch der palästinensischen Vertreterin Aschrawi. 219

10.07.

Drahtbericht des Botschafters Blech, Moskau

S. 876

Fall Honecker: Gefahr einer möglichen Flucht aus der chilenischen Botschaft. 220

10.07.

Drahtbericht des Botschafters von Ploetz, Brüssel (NATO)

S. 878

Jugoslawien-Konflikt: Beschluss zur maritimen Überwachung des VN-Embargos. 221

10.07.

Drahtbericht des Botschafters Bazing, Helsinki

S. 883

Konventionelle Rüstungskontrolle: Unterzeichnung der Abschließenden Akte (KSE Ia), Inkraftsetzung des KSE-Vertrags. 222

11.07.

Drahtbericht des Botschafters Sudhoff, Paris

S. 884

Französische Sicherheits- und Verteidigungspolitik: mögliche Europäisierung der Nuklearwaffen. 223

13.07.

Gespräch des BM Kinkel mit dem türkischen AM Çetin in Ankara

S. 886

Menschenrechte und Kurdenfrage in der Türkei; bilaterale Beziehungen, insbesondere Rüstungslieferungen und militärische Zusammenarbeit; Beziehungen EG – Türkei sowie WEU – Türkei; Rolle des Iran; Entwicklung im Irak; Jugoslawien-Konflikt; Nagorny Karabach; Zypernkonflikt. 224

13.07.

Vorlage des MD Elbe für BM Kinkel

S. 893

Entwicklungsperspektiven des Königsberger Gebiets. 225

13.07.

Runderlass des VLR Seebode

S. 899

Ergebnisse des Weltwirtschaftsgipfels in München.

LV

Dokumentenverzeichnis für Band II

226

13.07.

Drahtbericht des Botschafters Höynck, Helsinki (KSZE-Delegation)

S. 910

KSZE: Ergebnisse der vierten Folgekonferenz und des Gipfeltreffens. 227

14./15.07. Gespräche des BM Kinkel mit dem iranischen AM Velayati

S. 915

Befreiung der deutschen Geiseln Strübig und Kemptner im Libanon, Angriff auf iranische Botschaft in Bonn, bilateraler Besuchsaustausch, Wirtschaftsbeziehungen, Menschenrechte, Lage im Irak. 228

15.07.

Vorlage des VLR I Brümmer für BM Kinkel

S. 921

Polen: Entwicklung nach Bildung einer neuen Regierung, weiterer Fortgang der bilateralen Beziehungen. 229

16.07.

Gespräch des BK Kohl mit der norwegischen MPin Brundtland in Oslo

S. 927

Beziehungen EG – Norwegen, europäische Sicherheitsarchitektur und Vertiefung bzw. Erweiterung der europäischen Einigung. 230

17.07.

Vorlage des VLR I Daerr für BM Kinkel

S. 934

Südafrika: Krise des Reformprozesses und Unterstützung durch die Bundesrepublik bzw. die EG. 231

20.07.

Vermerk des VLR I Bertram

S. 938

Jugoslawien-Konflikt: Sitzung des Auswärtigen und des Verteidigungsausschusses des Bundestags zur Beteiligung der Bundesrepublik an Überwachungsmaßnahmen in der Adria. 232

21.07.

Runderlass des VLR I Libal

S. 946

Jugoslawien-Konflikt: EG-Ministerratstagung zur aktuellen Entwicklung, v. a. der Flüchtlingsproblematik, Frage der Staatennachfolge. 233

21.07.

Runderlass des VLR Koenig

S. 948

Außenwirtschaftsverkehr: Inhalt und Erläuterung der neuen Verordnung zum Verbot von Boykott-Erklärungen. 234

21.07.

Runderlass des VLR Koenig Vertragswerk von Maastricht: formelle Einleitung des Ratifizierungsverfahrens durch die Bundesregierung, wesentlicher Inhalt, weiteres Vorgehen.

LVI

S. 953

Juli

235

22.07.

Drahtbericht des Botschafters Blech, Moskau, an StS Kastrup

S. 956

Fall Honecker: Übergabe des Ersuchens auf Überstellung, weiterer Ablauf. 236

23.07.

Gespräch des BM Kinkel mit dem Vertreter der Kosovo-Albaner, Rugova

S. 959

Entwicklung im Kosovo. 237

23.07.

Vorlage des VLR I von Butler für BM Kinkel

S. 961

Genfer CW-Verhandlungen: Ergebnisse einer Reise von Botschafter Holik in verschiedene Schlüsselstaaten zur Werbung für vorliegenden Abkommensentwurf. 238

24.07.

Gespräch des BM Kinkel mit dem Vorstandsvorsitzenden der DASA, Schrempp, und Vorstandsmitglied Dersch

S. 964

Einstieg der DASA bei Fokker, Rüstungsexportpolitik. 239

24.07.

Runderlass des MD Chrobog

S. 966

VN-Reform: Haltung und weiteres Vorgehen der Bundesregierung in der Frage einer Erweiterung des VN-Sicherheitsrats. 240

27.07.

Vorlage des VLR I Ahrens für BM Kinkel

S. 968

Jugoslawien-Konflikt: Bilanz der Friedensbemühungen der EG, Einschätzung der Lage in einzelnen Gebieten. 241

27.07.

Drahtbericht des Botschafters von Ploetz, Brüssel (NATO)

S. 972

Russland: Gespräch mit Botschafter Afanassiewskij über Stellung Russlands in der europäischen Sicherheitsarchitektur, bisherige Arbeit des NAKR. 242

29.07.

Gespräch des BM Kinkel mit der polnischen MPin Suchocka in Warschau

S. 975

Bilaterale Beziehungen, auch im wirtschaftlichen Bereich, sowie deutsche Minderheit in Polen; möglicher EG-Beitritt Polens. 243

30.07.

Vorlage des VLR I Brümmer für StS Kastrup

S. 979

ČSFR: weitere Entwicklung hin zur Trennung der Tschechischen Republik und der Slowakischen Republik nach dem Rücktritt von Präsident Havel, künftige Beziehungen zu den neuen Staaten. 244

30.07.

Drahtbericht des Botschafters Ruhfus, Washington

S. 981

Holocaust-Museum in Washington: Ablehnung einer Beteiligung der Bundesrepublik an der Gestaltung der Ausstellung. LVII

Dokumentenverzeichnis für Band II

245

31.07.

Vorlage des MD Elbe für BM Kinkel

S. 983

Auswärtiger Dienst: Überlegungen zur Reform im Zeitalter der Globalisierung und veränderter Aufgaben. 246

04.08.

Vorlage des VLR I Ackermann für BM Kinkel August

S. 990

Rüstungsexportpolitik: Frage der Lieferung von Panzermotoren an Frankreich zwecks Vorführung des Kampfpanzers „Leclerc“ in den Vereinigten Arabischen Emiraten. 247

05.08.

Vorlage des VLR I Hilger für BM Kinkel

S. 993

VN: Bericht der Völkerrechtskommission zur Einrichtung eines Internationalen Strafgerichtshofs. 248

06.08.

Vorlage der VLR I Gräfin Strachwitz für BM Kinkel

S. 997

Somalia: humanitäre Hilfe der Bundesrepublik. 249

06.08.

Drahtbericht des Botschafters von der Gablentz, Tel Aviv

S. 1000

Israel: Frage der Einbeziehung der israelischen Regierung in die Bemühungen um ein besseres Deutschlandbild bei amerikanischen Juden sowie zur Beeinflussung des United States Holocaust Memorial Council in Washington. 250

14.08.

Vorlage des VLR I Lambach und des Botschafters Heinsberg für StS Lautenschlager

S. 1003

Russland: Behandlung sowjetischer Vermögenswerte an den von der WGT genutzten Liegenschaften. 251

14.08.

Drahtbericht des Gesandten Heinichen, Paris

S. 1008

Jugoslawien-Konflikt: französische Kritik an der Haltung Deutschlands zu einem militärischen Einsatz. 252

17.08.

Schriftbericht des BR Schaller, Pjöngjang (Schutzmachtvertretung für deutsche Interessen)

S. 1009

Nordkorea: Entwicklung der bilateralen Beziehungen, Verhältnis zu den EG, den USA, Südkorea und Japan, Kontrolle der nuklearen Anlagen. 253

18.08.

Gespräch des BM Kinkel mit dem italienischen AM Colombo in Stuttgart

S. 1015

Jugoslawien-Konflikt, Europäische Union, EG-Erweiterung. 254

19.08.

Vorlage des VLR I Bertram für BM Kinkel Jugoslawien-Konflikt: Handlungsmöglichkeiten der NATO, der WEU und der KSZE.

LVIII

S. 1018

August

255

20.08.

Gespräch des BM Kinkel mit dem französischen AM Dumas in Hechingen

S. 1021

Jugoslawien-Konflikt, v. a. Konferenz in London sowie Haltung Großbritanniens und Russlands; bilaterale Fragen; Referendum in Frankreich zum Vertragswerk von Maastricht; Somalia. 256

21.08.

Vorlage des VLR I Bertram für BM Kinkel

S. 1024

NATO: Diskussion über eine neue Sicherheitspolitik und Frage von Auslandseinsätzen der Bundeswehr. 257

21.08.

Vorlage des VLR I Neubert für BM Kinkel

S. 1029

Russland: innenpolitische, wirtschaftliche und außenpolitische Entwicklung sowie Zukunftsaussichten. 258

24.08.

Vermerk des BM Kinkel

S. 1037

Ministergespräch bei BK Kohl: aktuelle Fragen der Innen- und Außenpolitik, u. a. Auslandseinsätze der Bundeswehr, Beziehungen zu Russland, Polen und der ČSFR, Unterbringung des Auswärtigen Amts in Berlin. 259

24.08.

Vorlage des Botschafters z. b. V. Höynck für BM Kinkel

S. 1042

Jugoslawien-Konflikt: Eindrücke und Schlussfolgerungen aus einer Reise mit dem tschechoslowakischen AM Moravčík. 260

24.08.

Vorlage des VLR I Bertram für BM Kinkel

S. 1045

USA: Pläne für ein globales Raketenabwehrsystem und Haltung der Bundesrepublik. 261

25.08.

Drahtbericht des Botschafters Hellbeck, Peking

S. 1051

Volksrepublik China: innere Entwicklung in den letzten fünf Jahren und Aussichten für die Zukunft. 262

25.08.

Drahtbericht des Botschafters Huber, Prag

S. 1056

ČSFR: Einschätzung zu der Frage, ob die tschechoslowakische Justiz um Übernahme der Verfolgung von Vertreibungsverbrechen an Deutschen ersucht werden sollte. 263

27.08.

Gespräch des BM Kinkel mit dem Präsidenten von BosnienHerzegowina, Izetbegović, und AM Silajdžič in London

S. 1059

Jugoslawien-Konflikt: internationale Konferenz in London, Lage in Bosnien-Herzegowina.

LIX

Dokumentenverzeichnis für Band II

264

27.08.

Gespräch des BM Kinkel mit dem russischen AM Kosyrew in London

S. 1061

Jugoslawien-Konflikt, v. a. internationale Konferenz in London und Haltung Russlands zu Serbien; CW-Verbotskonvention; Fall Honecker; Entschädigung für Opfer des Nationalsozialismus. 265

27.08.

Drahtbericht des Gesandten Heyken, Moskau, an BM Kinkel

S. 1065

Russland: Gespräch des StM Schmidbauer, Bundeskanzleramt, mit Präsident Jelzin über nachrichtendienstliche Fragen. 266

28.08.

Gespräch des BM Kinkel mit dem Ko-Vorsitzenden der Jugoslawien-Konferenz, Lord Owen, in London

S. 1069

Jugoslawien-Konflikt: Umsetzung des VN-Embargos, russische Haltung, Frage der Beteiligung der Bundesrepublik an militärischen Einsätzen. 267

28.08.

Gespräch des BM Kinkel mit dem dänischen AM Ellemann-Jensen

S. 1071

Europäische Union, v. a. Referenden in Dänemark und Frankreich zum Vertragswerk von Maastricht; Verhältnis Dänemarks zur WEU; Jugoslawien-Konflikt; Hilfe für Somalia; Lage im Baltikum nach dem Abzug ehemals sowjetischer Truppen; VNReform. 268

28.08.

Schreiben des BM Kinkel an BMin Merkel

S. 1075

Gleichstellung: Frauenanteil bei der Besetzung von Gremien im Einflussbereich des Bundes. 269

28.08.

Drahtbericht des VLR I Libal, z. Z. London

S. 1077

Jugoslawien-Konflikt: Ergebnisse der internationalen Konferenz in London und Bewertung. 270

31.08.

Drahtbericht des Gesandten Heyken, Moskau, an StS Kastrup

S. 1082

Russland: Gespräche des StM Schmidbauer, Bundeskanzleramt, über die Tätigkeit russischer Nachrichtendienste in der Bundesrepublik und eine Zusammenarbeit der Nachrichtendienste beider Länder. 271

01.09.

Vorlage des VLR I Brümmer für BM Kinkel September ČSFR: tschechoslowakisches Junktim zwischen der Ratifizierung des Nachbarschaftsvertrags und einer Entschädigungsregelung für Opfer des Nationalsozialismus.

LX

S. 1088

September

272

01.09.

Vorlage des VLR I Barth für BM Kinkel

S. 1091

EWS: Einfluss des Dollarkurses, wirtschaftliche Lage einzelner Mitgliedstaaten, Geldpolitik verschiedener Akteure, Probleme und weitere Entwicklung. 273

03.09.

Vorlage der VLRin I Gräfin Strachwitz für BM Kinkel

S. 1097

Afrikapolitik: Frage eines verstärkten Engagements der Bundesrepublik bei der Lösung von Konflikten. 274

07.09.

Vorlage des VLR Steiner für BM Kinkel

S. 1100

Jugoslawien-Konflikt: Umsetzung der Ergebnisse der Londoner Konferenz. 275

09.09.

Vorlage des VLR I Neubert für BM Kinkel

S. 1107

Russland: Stand der bilateralen Beziehungen, innere Entwicklung, bevorstehender Besuch Kinkels. 276

09.09.

Vorlage des VLR I Lincke für BM Kinkel

S. 1112

NATO-Truppenstatut: Stand der Überprüfungsverhandlungen zum Zusatzabkommen, Bitte um Schreiben an die AM der betreffenden Staaten. 277

09.09.

Runderlass des VLR Koenig

S. 1117

Genfer CW-Verhandlungen: Abschluss der Verhandlungen, weiteres Verfahren, wichtigste Bestimmungen der CW-Verbotskonvention. 278

10.09.

Vorlage des VLR Wokalek für BM Kinkel

S. 1121

Entwicklungspolitik: Demokratisierungshilfe als neues Instrument. 279

11.09.

Vorlage des MD Schlagintweit für BM Kinkel

S. 1124

Somalia: Gespräche von StM Schäfer über Versorgungslage, Entwicklung im Bürgerkrieg, weiteres Vorgehen. 280

11.09.

Vorlage des VLR I Göckel für BM Kinkel

S. 1128

Russland: Abzug der WGT und Stand des Wohnungsbauprogramms. 281

11.09.

Vorlage des VLR Petri für StS Lautenschlager

S. 1131

Nichtverbreitung: Bedenken verschiedener Partner im Trägertechnologiekontrollregime (MTCR) gegen Ausfuhr eines Systems nach Israel. LXI

Dokumentenverzeichnis für Band II

282

14.09.

Gespräch des BK Kohl mit dem israelischen MP Rabin

S. 1133

Amerikanisch-israelische Beziehungen, Nahost-Konflikt, Situation in Bosnien-Herzegowina, Rolle des Iran, Unterstützung für Israel und bilaterale Wirtschaftsbeziehungen, Beziehungen EG – Israel, Fragen des Rüstungsexports, Anti-Boykott-Gesetzgebung. 283

14.09.

Vorlage des VLR I Barth für BM Kinkel

S. 1145

EWS: Wechselkursanpassung und Senkung der Leitzinsen durch die Bundesbank. 284

14.09.

Vorlage des VLR Mülmenstädt für BM Kinkel

S. 1148

Kasachstan und Kirgisistan: Reise von PStS Waffenschmidt, BMI, Situation der deutschen Minderheit. 285

15.09.

Vermerk des VLR von Mettenheim

S. 1151

Spanien: bilaterale Konsultationen auf Sylt zu JugoslawienKonflikt, Somalia, Beziehungen EG – Türkei, Migrationsfragen, möglicher Erweiterung des VN-Sicherheitsrats. 286

16.09.

Vorlage des MD Elbe für BM Kinkel

S. 1153

Menschenrechte: unterschiedliche Konzepte in verschiedenen Regionen und Kulturen und daraus resultierende Konflikte, Vorgehen der Bundesrepublik. 287

16.09.

Vorlage des VLR I Lincke für BM Kinkel

S. 1161

Jewish Claims Conference: wesentlicher Inhalt der Vereinbarung mit dem BMF zur Entschädigungszahlungen für Opfer des Nationalsozialismus. 288

16.09.

Drahtbericht des Botschafters Sudhoff, Paris

S. 1163

Frankreich: Ausschluss der Botschaft von Besprechungen des Bundeskanzleramts mit der französischen Regierung. 289

17.09.

Vorlage des VLR Schumacher für BM Kinkel

S. 1164

Jugoslawien-Konflikt: möglicher Beschluss der NATO zu verschärfter Durchsetzung des VN-Embargos in der Adria und Folgen für die Beteiligung der Bundesrepublik an dem Einsatz. 290

17.09.

Drahtbericht des Botschafters Freiherr von Richthofen, London EWS: Lage nach Suspendierung der Mitgliedschaft des britischen Pfunds, Ursachen der Krise, mögliche Folgen für deutsch-britische Beziehungen.

LXII

S. 1168

September

291

18.09.

Vorlage des VLR I Dassel für StS Kastrup

S. 1172

Terrorismus: bisherige Erkenntnisse zu Attentat auf iranische Oppositionelle im Restaurant „Mykonos“ in Berlin. 292

18.09.

Drahtbericht des Botschafters Weisel, Zagreb

S. 1173

Jugoslawien-Konflikt: Gespräch mit dem kroatischen Präsidenten Tudjman über Bosnien-Herzegowina sowie weitere Tätigkeit von UNPROFOR. 293

18.09.

Drahtbericht des Botschafters Sudhoff, Paris

S. 1177

Frankreich: Prognose zum Ausgang des Maastricht-Referendums. 294

20.09.

Drahtbericht des Gesandten Rosengarten, Genf (Internationale Organisationen)

S. 1179

Jugoslawien-Konflikt: Gespräch mit dem Anführer der Serben in Bosnien-Herzegowina, Karadžić. 295

21.09.

Schreiben des BK Kohl an den russischen Präsidenten Jelzin

S. 1183

Wirtschaftliche Reformen in Russland, bilaterale Wirtschaftsbeziehungen, Altschulden der ehemaligen UdSSR, Transferrubelsaldo. 296

21.09.

Vermerk des VLR I Jess

S. 1186

Italien: Gespräch zwischen BM Kinkel und dem italienischen AM Colombo bei Konsultationen in Florenz über europa- und wirtschaftspolitische Themen. 297

22.09.

Gespräch des BK Kohl mit dem kasachischen Präsidenten Nasarbajew

S. 1188

Entwicklung der GUS, v. a. Frage eines Währungsverbunds; Entwicklung in Russland; Altschulden der ehemaligen UdSSR; bilaterale Beziehungen und Lage der deutschen Minderheit; Rolle des Iran in Zentralasien; Entwicklung in der Volksrepublik China. 298

22.09.

Gespräch des MD Schlagintweit mit dem afghanischen AM Gailani in New York

S. 1195

Entwicklung in Afghanistan und Unterstützung durch die Bundesrepublik. 299

22.09.

Vorlage des VLR I von Arnim für BM Kinkel

S. 1198

MOE-Staaten: protektionistische Tendenzen der Ressorts bei Handelsverhandlungen zwischen der EG und den MOE-Staaten. LXIII

Dokumentenverzeichnis für Band II

300

22.09.

Drahtbericht des MD Dieckmann, z. Z. BM-Delegation

S. 1200

Frankreich: Reaktion der EG-Mitgliedstaaten auf Ausgang des Maastricht-Referendums und Schlussfolgerungen daraus. 301

23.09.

Gespräch des BM Kinkel mit dem ägyptischen AM Moussa in New York

S. 1205

Nahost-Konflikt, CW-Verbotskonvention. 302

23.09.

Gespräch der AM der G 7 in New York

S. 1208

Entwicklung in Russland und weitere Unterstützung, japanischrussische Beziehungen, Aktivitäten im VN-Rahmen zum Jugoslawien-Konflikt, Finanzierung von friedenserhaltenden Maßnahmen, künftige Gestaltung der Weltwirtschaftsgipfel. 303

24.09.

Gespräch des BM Kinkel mit dem israelischen AM Peres in New York

S. 1212

Nahost-Konflikt, bilaterale Beziehungen, fremdenfeindliche Ausschreitungen in der Bundesrepublik. 304

24.09.

Vermerk des MD Chrobog, z. Z. New York

S. 1216

Jugoslawien-Konflikt: Gespräche von BM Kinkel mit dem Präsidenten von Bosnien-Herzegowina, Izetbegović, sowie gemeinsam mit dem kroatischen Präsidenten Tudjman. 305

24.09.

Vorlage des VLR I Staks für StS Kastrup

S. 1218

Kambodscha: Stand des Friedensprozesses und Beteiligung der Bundesrepublik an UNTAC. 306

28.09.

Drahtbericht des MDg Bartels, z. Z. Djidda

S. 1224

Syrien: Gespräch des StM Schäfer mit Präsident Assad über Nahost-Konflikt. 307

30.09.

Gespräch des BM Kinkel mit dem britischen AM Hurd

S. 1227

Bilaterale Beziehungen nach der Suspendierung der Mitgliedschaft des britischen Pfunds im EWS und Vorwürfen an die Bundesbank. 308

30.09.

Runderlass des Referats 221 USA: zunehmende Beschäftigung mit dem Holocaust und Konsequenzen für die Politik der Bundesregierung, insbesondere im Bereich der Politischen Öffentlichkeitsarbeit.

LXIV

S. 1231

Oktober

309

01.10.

Gespräch des BK Kohl mit dem argentinischen Präsidenten Menem

S. 1233

Entwicklung in Argentinien und Brasilien, Beziehungen zwischen den EG- und den Mercosur-Mitgliedstaaten, GATT-Verhandlungen. Oktober 310

01.10.

Vermerk des MD Chrobog und des VLR I Wagner

S. 1237

Vierertreffen der Politischen Direktoren in New York: Jugoslawien-Konflikt, insbesondere Lage in Bosnien-Herzegowina und Frage der Einrichtung einer Flugverbotszone, Verhältnis von NATO und WEU, Russland, Türkei und Zypernkonflikt, Peacekeeping-Einsätze der VN, Streitschlichtungsverfahren im Rahmen der KSZE. 311

06.10.

Gespräch des BM Kinkel mit dem russischen AM Kosyrew in Moskau

S. 1245

Lage der Russlanddeutschen, Rehabilitierung nach dem Zweiten Weltkrieg zu Unrecht verurteilter Deutscher und Frage des Zugangs zu Archiven, bilaterales Kulturabkommen, Behandlung sowjetischer Vermögenswerte an den von der WGT genutzten Liegenschaften, Altschulden der ehemaligen UdSSR. 312

06.10.

Deutsch-französische Regierungsbesprechung

S. 1251

Jugoslawien-Konflikt: unterschiedliche Politik Frankreichs und Deutschlands sowie künftige Abstimmung. 313

06.10.

Drahtbericht des Botschafters Trumpf, Brüssel (EG)

S. 1255

EG-Ministerratstagung: weitere Behandlung des Delors-Pakets II. 314

07.10.

Gespräch des BM Kinkel mit dem russischen Präsidenten Jelzin in Moskau

S. 1258

Russlanddeutsche, Fall Honecker, Abzug der WGT, wirtschaftliche Lage in Russland. 315

07.10.

Gespräch des BM Kinkel mit Vertretern der Russlanddeutschen in Moskau

S. 1262

Lage der Russlanddeutschen und Frage ihres Verbleibens in Russland. 316

07.10.

Vorlage des VLR I Boden für StS Kastrup

S. 1265

START: Ratifizierung des Vertrags durch die USA, Ratifizierungsverfahren in den übrigen Vertragsstaaten und Umsetzung.

LXV

Dokumentenverzeichnis für Band II

317

08.10.

Vorlage des VLR I Libal für BM Kinkel

S. 1267

Mazedonien: Möglichkeiten der politischen und wirtschaftlichen Hilfe. 318

09.10.

Schreiben des BK Kohl an den südafrikanischen Präsidenten de Klerk

S. 1270

Appell zur Fortsetzung des Reform- und Versöhnungsprozesses. 319

09.10.

Vorlage des VLR I Daerr für BM Kinkel

S. 1272

Afrikapolitik: konzeptionelle Überlegungen. 320

10.10.

Gespräch des BK Kohl mit dem italienischen MP Amato in Ludwigshafen

S. 1278

EWS: Frage des Wiedereintritts Italiens. 321

12.10.

Vorlage des VLR I Runge für StS Lautenschlager

S. 1283

Russland: Schwierigkeiten bei der Tilgung der Altschulden der ehemaligen UdSSR. 322

13.10.

Gespräch des BM Kinkel mit dem mosambikanischen AM Mocumbi

S. 1288

Friedensprozess in Mosambik, bilaterale Beziehungen, Lage im südlichen Afrika. 323

13.10.

Vermerk des StS Lautenschlager

S. 1291

Gespräch des BM Kinkel mit dem französischen AM Dumas und dem spanischen AM Solana: Vorbereitung der Tagung des Europäischen Rats in Birmingham zu den Themen Ratifizierung des Vertragswerks von Maastricht und Jugoslawien-Konflikt. 324

13.10.

Vorlage des MD Elbe für BM Kinkel

S. 1294

Migration: Ursachen, Verlauf und Folgen der Flüchtlingsbewegungen, Asylbewerber in der Bundesrepublik und Politikempfehlungen. 325

14.10.

Gespräch des BM Kinkel mit dem slowakischen MP Mečiar

S. 1302

Auseinanderbrechen der ČSFR sowie Beziehungen der Slowakei zur Bundesrepublik, zur EG und zu Ungarn. 326

15.10.

Drahtbericht des Botschafters Arnot, Budapest Besuch des BM Kinkel in Ungarn: Frage der Lieferung von NVAMaterial, Assoziierungsabkommen der EG mit Ungarn, slowakisch-ungarische Beziehungen, Entwicklung in Russland, Jugoslawien-Konflikt.

LXVI

S. 1305

Oktober

327

16.10.

Vorlage des MDg Schilling und des MD Eitel für BM Kinkel

S. 1310

Jugoslawien-Konflikt: Frage der Beteiligung der Bundesrepublik am Einsatz von AWACS-Flugzeugen im Luftraum Österreichs und Ungarns zur Überwachung des Flugverbots über BosnienHerzegowina. 328

16.10.

Drahtbericht des Botschafters Freitag, Peking

S. 1314

Volksrepublik China: Bewertung der Ergebnisse des Parteitags. 329

16.10.

Drahtbericht des Botschafters Blech, Moskau, an StS Kastrup

S. 1316

Russland: Gespräch des StS Köhler, BMF, mit dem russischen Präsidenten Jelzin. 330

16.10.

Drahtbericht des Botschafters Graf zu Rantzau, New York (VN)

S. 1318

VN-Reform: Frage der Erweiterung des VN-Sicherheitsrats. 331

19.10.

Gespräch des BM Kinkel mit dem britischen AM Hurd

S. 1320

Tagung des Europäischen Rats in Birmingham; GATT-Verhandlungen; Jugoslawien-Konflikt, insbesondere Mazedonien und Frage der Beteiligung der Bundeswehr an verschärften Überwachungsmaßnahmen in der Adria; Flüchtlingsbewegungen und Asylproblematik. 332

19.10.

Schreiben des BM Kinkel an den Fernsehmoderator Jauch

S. 1324

Irak: Ursachen für die schwierige Lage in den Kinderkrankenhäusern. 333

20.10.

Vermerk des VLR I Erck

S. 1326

NATO-Verteidigungshilfe für Griechenland, Portugal und die Türkei: Unterrichtung der betroffenen Staaten über Kürzung der Mittel. 334

20.10.

Runderlass des VLR Koenig

S. 1328

Sondertagung des Europäischen Rats in Birmingham: Vertragswerk von Maastricht, wirtschaftliche und monetäre Zusammenarbeit der EG-Mitgliedstaaten, GATT-Verhandlungen, Jugoslawien-Konflikt, Somalia. 335

22.10.

Gespräch des BM Kinkel mit dem amerikanischen VM Cheney

S. 1332

Jugoslawien-Konflikt: Frage der Beteiligung der Bundeswehr an verschärften Überwachungsmaßnahmen in der Adria sowie am Einsatz von AWACS-Flugzeugen im Luftraum Österreichs und Ungarns zur Überwachung des Flugverbots über BosnienLXVII

Dokumentenverzeichnis für Band II

Herzegowina; Verhandlungen zur Überprüfung des Zusatzabkommens zum NATO-Truppenstatut; Eurokorps. 336

22.10.

Gespräch des BM Kinkel mit dem tschechischen Minister für internationale Beziehungen, Zieleniec

S. 1335

Trennung der ČSFR, künftige Beziehungen der Bundesrepublik zur Tschechischen Republik und zur Slowakischen Republik, europäisch-tschechisches Verhältnis, ungarisch-slowakische Beziehungen. 337

22.10.

Ressortbesprechung im Bundeskanzleramt

S. 1339

Israel: weitere Behandlung der beim Besuch von MP Rabin vorgebrachten finanziellen Wünsche. 338

22.10.

Drahtbericht des Botschafters Kunzmann, Tunis

S. 1343

Nahost-Konflikt: Gespräch der PStSin Geiger, BMZ, mit dem Vorsitzenden des Exekutivkomitees der PLO, Arafat, über Lage der Palästinenser und Friedensprozess im Nahen Osten. 339

22.10.

Drahtbericht des MR Witt, Genf (GATT-Delegation)

S. 1346

GATT-Verhandlungen: Reaktionen auf Unterbrechung der Verhandlungen zwischen der EG-Kommission und den USA. 340

24.10.

Drahtbericht des Botschafters z. b. V. Höynck, z. Z. Genf

S. 1348

KSZE: Ergebnisse des Expertentreffens über friedliche Streitbeilegung. 341

28.10.

Vorlage des MD Chrobog für BM Kinkel

S. 1351

Russland: Frage der Teilnahme von BK Kohl an Gedenkveranstaltungen zum 50. Jahrestag der Schlacht von Stalingrad. 342

28.10.

Vorlage des MDg Schirmer für BM Kinkel

S. 1354

Iran: Gespräch mit Salman Rushdie im Auswärtigen Amt. 343

28.10.

Vorlage des VLR I Bertram für BM Kinkel

S. 1356

NATO: Ergebnisse der NPG-Ministersitzung in Gleneagles. 344

29.10.

Vermerk des VLR Ulrich Jugoslawien-Konflikt: Entscheidung der NATO sowie der Bundesregierung zum Einsatz von AWACS-Flugzeugen im Luftraum Österreichs und Ungarns zur Überwachung des Flugverbots über Bosnien-Herzegowina.

LXVIII

S. 1358

November

345

30.10.

Vorlage des VLR I Neubert für BM Kinkel

S. 1361

Ukraine: außenpolitische Lage, wirtschaftliche und innenpolitische Entwicklung. 346

30.10.

Drahtbericht des Botschafters Scholz, Manila

S. 1365

Philippinen: Zusammenfassung des Besuchs von BM Kinkel. 347

31.10.

Gespräch des BM Kinkel mit dem chinesischen AM Qian Qichen S. 1368 in Peking Bilaterale Beziehungen, insbesondere im Wirtschafts- und Kulturbereich; GATT-Verhandlungen; Vertragswerk von Maastricht; Lage in Russland sowie den GUS- und MOE-Staaten; japanisch-chinesische sowie chinesisch-koreanische Beziehungen.

348

01.11.

Gespräch des BM Kinkel mit der Ehefrau des chinesischen Dissidenten Wang Juntao, Hou Xiaotian, in Peking November

S. 1375

Menschenrechte: Hafterleichterung für den inhaftierten chinesischen Dissidenten Wang Juntao, „stille Diplomatie“. 349

02.11.

Gespräche des BM Kinkel mit dem chinesischen Stellvertretenden MP Zhou Jiahua, MP Li Peng und dem GS des ZK der KPCh, Jiang Zemin, in Peking

S. 1380

Bilaterale politische und wirtschaftliche Beziehungen, insbesondere Aufhebung der Sanktionen und Menschenrechte; internationale Lage. 350

02.11.

Vorlage des VLR Preisinger für BM Kinkel

S. 1388

Nuklearpolitik: Sicherheit von Atomkraftwerken in den Nachfolgestaaten der UdSSR, bi- und multilaterale Hilfe. 351

02.11.

Drahtbericht des VLR I Staks, z. Z. Manila

S. 1395

EG-ASEAN-Außenministerkonferenz: Wirtschaftliche Zusammenarbeit, Ost-Timor, Kambodscha, Umweltfragen. 352

04.11.

Gespräch des BM Kinkel mit dem dänischen AM Ellemann-Jensen

S. 1402

Europapolitik: dänische Sonderwünsche beim Vertragswerk von Maastricht. 353

04.11.

Vermerk des MD Dieckmann

S. 1405

Russland: Gespräch des BM Waigel bzw. StS Köhler, BMF, mit dem stellvertretenden russischen Ministerpräsidenten Schochin über bilaterale Finanz- und Wirtschaftsfragen. LXIX

Dokumentenverzeichnis für Band II

354

04.11.

Vorlage des VLR I Ackermann für BM Kinkel

S. 1407

Rüstungsexportpolitik: Grundsätze gegenüber den mittel- und osteuropäischen Staaten. 355

04.11.

Drahtbericht des Botschafters Stabreit, Washington

S. 1413

USA: Wahlsieg des demokratischen Präsidentschaftskandidaten Clinton, Wahlanalyse und Perspektiven für die deutschamerikanischen Beziehungen. 356

05.11.

Gespräch des BK Kohl mit der polnischen MPin Suchocka

S. 1417

EG-Erweiterung; bilaterale Beziehungen, besonders wirtschaftliche und finanzielle Zusammenarbeit, deutsche Minderheit; Polens Beziehungen zur NATO. 357

05.11.

Vorlage des MDg Schirmer für StS Lautenschlager

S. 1424

Russland: Vorbereitung von Verhandlungen über die Rückführung von kriegsbedingt verschleppten Kulturgütern. 358

05.11.

Vermerk des VLR I Gerz

S. 1428

Jugoslawien-Konflikt: Bericht des Sonderberichterstatters der VN-Menschenrechtskommission, Mazowiecki, zu Menschenrechtsverletzungen, Kriegsverbrechen und Lagern. 359

05.11.

Runderlass des VLR I Holl

S. 1431

Besuch des BM Kinkel in Pakistan: indisch-pakistanische Beziehungen, Nichtverbreitungsfragen, Menschenrechte, Wirtschaftsfragen. 360

06.11.

Gespräch des BM Kinkel mit dem mazedonischen AM Maleski

S. 1437

Anerkennung Mazedoniens, bilaterale Zusammenarbeit, auch auf wirtschaftlichem Gebiet, innenpolitische Entwicklung Mazedoniens, Beziehungen zu Griechenland. 361

06.11.

Gespräch des BM Kinkel mit dem Ko-Vorsitzenden der Jugoslawien-Konferenz, Lord Owen

S. 1440

Jugoslawien-Konflikt: Wahlen in Bundesrepublik Jugoslawien (Serbien/Montenegro), Genfer Jugoslawien-Konferenz, Lage in Bosnien-Herzegowina, insbesondere Haltung Kroatiens und der islamischen Länder, Mazedonien-Konflikt. 362

09.11.

Vorlage des MD Elbe für BM Kinkel Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit: Zunahme in der Bundesrepublik und Europa; Empfehlungen für bevorstehende Reise von BM Kinkel nach Israel.

LXX

S. 1444

November

363

09.11.

Vorlage des VLR Freiherr von Kittlitz für BM Kinkel

S. 1447

Holocaust-Museum in Washington: Frage der Vertretung der Bundesrepublik bei der Eröffnung 1993. 364

10.11.

Vorlage des MDg Bartels für BM Kinkel

S. 1450

Israel: Ziele und Intentionen beim Besuch von BM Kinkel, bilaterale Beziehungen, u. a. Finanzhilfen, Friedensprozess im Nahen Osten, auch Gespräch mit Palästinenser-Vertretern. 365

10.11.

Vorlage des VLR I Bertram für BM Kinkel

S. 1456

NAKR: Bilanz der bisherigen Arbeit, Entwicklungsperspektiven und mögliche Erweiterung, Wunsch der mittel- und osteuropäischen Staaten nach NATO-Beitritt. 366

10.11.

Vorlage des VLR Preisinger für StS Lautenschlager

S. 1460

Nichtverbreitung: Schmuggel von Nuklearmaterial aus den Nachfolgestaaten der UdSSR, Überblick und weiteres Vorgehen. 367

10.11.

Vermerk des LR I Freiherr Marschall von Bieberstein

S. 1467

Vertragswerk von Maastricht: Sitzung des Sonderausschusses „Europäische Union“ des Bundestags mit BK Kohl und BM Kinkel. 368

11.11.

Gespräch des BK Kohl mit dem britischen PM Major in Ditchley S. 1475 Park Innen- und wirtschaftspolitische Lage in beiden Ländern; Europapolitik, u. a. Ratifizierung des Vertragswerks von Maastricht in Dänemark und Großbritannien, Erweiterung, Sitzfragen, Delors-Paket II; europäisches Kampfflugzeug („Jäger 90“).

369

11.11.

Gespräch des BM Kinkel mit dem britischen AM Hurd in Ditchley Park

S. 1482

Jugoslawien-Konflikt, insbesondere Verschärfung des Embargos und deutsche Beteiligung; Migrations- und Asylfragen; Fall Rushdie und bilaterale Beziehungen zum Iran; Europapolitik, insbesondere Sitzfragen, Anzahl der Abgeordneten des Europäischen Parlaments, Delors-Paket II; Verhandlungen zur Überprüfung des Zusatzabkommens zum NATO-Truppenstatut; Entwicklung in Russland; bilaterale Erklärung zur Kooperation der Außenministerien. 370

11.11.

Vorlage des MD Chrobog für BM Kinkel

S. 1487

Russland: Stand und Perspektiven der bilateralen Beziehungen im Vorfeld des Besuchs von BK Kohl, Stabilisierungshilfe für Reformkurs des russischen Präsidenten Jelzin. LXXI

Dokumentenverzeichnis für Band II

371

11.11.

Vorlage des MDg Graf von Matuschka für BM Kinkel

S. 1493

Weltraum: Ergebnisse der ESA-Ministerkonferenz in Granada. 372

12.11.

Vorlage des MD Chrobog für BM Kinkel

S. 1495

Jugoslawien-Konflikt: Frage der Beteiligung der Bundeswehr an verschärften Überwachungsmaßnahmen in der Adria. 373

12.11.

Vorlage der VLR I Ackermann und Holl für BM Kinkel

S. 1499

Pakistan: Abberufung des pakistanischen Gesandten Azmat Ullah wegen unerlaubter Beschaffungsaktivitäten für das Nuklearprogramm des Landes. 374

16.11.

Vorlage des VLR I Neubert für StS Kastrup

S. 1502

Nagorny Karabach: mögliche Aktivitäten der Bundesrepublik zur Ingangsetzung der KSZE-Vermittlung in dem Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan. 375

16.11.

Vorlage des VLR I Ackermann für BM Kinkel

S. 1505

Rüstungsexportpolitik: Export von MTU-Motoren für in die Vereinigten Arabischen Emirate zu liefernde französische Kampfpanzer „Leclerc“. 376

17.11.

Vorlage des VLR I Bertram für BM Kinkel

S. 1507

Eurokorps: Ergebnisse der deutsch-französischen Gespräche über Zuordnung zur NATO. 377

17.11.

Vorlage der VLR I Nocker und Ackermann für BM Kinkel

S. 1511

Irak: Erkenntnisse über Beteiligung deutscher Firmen am irakischen Nuklearprogramm. 378

18.11.

Gespräch des BM Kinkel mit dem israelischen AM Peres in Jerusalem

S. 1514

Ratifizierungsprozess für das Vertragswerk von Maastricht, fremdenfeindliche und antisemitische Gewalttaten in der Bundesrepublik, Beziehungen Israels zur Bundesrepublik und zur EG, Friedensprozess im Nahen Osten. 379

19.11.

Gespräche des BM Kinkel in Tunis Rolle der PLO im Friedensprozess im Nahen Osten und ihre Beziehungen zu Tunesien und der Bundesrepublik, Lage der Menschenrechte in Tunesien, Wirtschafts- und Finanzhilfen.

LXXII

S. 1520

November

380

19.11.

Drahtbericht des Botschafters Schlingensiepen, Damaskus

S. 1526

Jugoslawien-Konflikt: Hilfe der libanesischen Hisbollah für die Muslime in Bosnien-Herzegowina. 381

20.11.

Vermerk des MD Chrobog

S. 1528

Vierertreffen der Politischen Direktoren in London: Entwicklung Russlands und mögliche Hilfen, auch für andere NUS; Peacekeeping-Aufgaben für NATO; Jugoslawien-Konflikt, besonders Bosnien-Herzegowina und Mazedonien. 382

20.11.

Vorlage des VLR I Hilger für BM Kinkel

S. 1537

VN: Mandat zur Ausarbeitung eines Statuts für einen Internationalen Strafgerichtshof. 383

24.11.

Vermerk des Referats 411

S. 1539

GATT-Verhandlungen: Einigung der EG-Kommission und der USA im Agrarbereich und bei Ölsaaten. 384

24.11.

Runderlass des VLR I Bettzuege

S. 1542

WEU: Ministerratstagung in Rom über Erweiterung und Assoziierungen sowie verschärfte Embargo-Durchsetzung im Jugoslawien-Konflikt. 385

24.11.

Drahtbericht des Botschafters Oesterhelt, Ankara

S. 1545

Türkei: bilaterale Beziehungen, Rüstungsexportpolitik, Umgang mit kurdischen Gruppierungen. 386

24.11.

Drahtbericht des Botschafters Stabreit, Washington

S. 1547

Fremdenfeindliche und antisemitische Gewalttaten: Auswirkungen auf Deutschlandbild in den USA. 387

26.11.

Gespräch des BK Kohl mit dem jugoslawischen MP Panić

S. 1549

Jugoslawien-Konflikt: Lage in Bosnien-Herzegowina, insbesondere Rolle Serbiens und Einflussmöglichkeiten von MP Panić, Sanktionspolitik; bilaterale Beziehungen. 388

26.11.

Vermerk des VLR I Hauswedell, Bundeskanzleramt

S. 1556

Islam: Gespräch des StM Schmidbauer, Bundeskanzleramt, mit einer islamischen Parlamentarierdelegation über religiöse Dimension des Krieges in Bosnien-Herzegowina und Fragen der Ausländerpolitik in der Bundesrepublik.

LXXIII

Dokumentenverzeichnis für Band II

389

27.11.

Runderlass des VLR I Libal

S. 1559

Jugoslawien-Konflikt: Gespräch des BM Kinkel mit dem jugoslawischen MP Panić über Lage in Bosnien-Herzegowina und der Bundesrepublik Jugoslawien (Serbien/Montenegro) sowie bilaterale Beziehungen. 390

27.11.

Drahtbericht des Botschafters Sudhoff, Paris

S. 1562

Fremdenfeindliche und antisemitische Gewalttaten: Auswirkungen auf Deutschlandbild in Frankreich. 391

30.11.

Vorlage des VLR I Bertram für BM Kinkel

S. 1563

NATO: Zukunft und Aufgabenfelder der nordatlantischen Allianz, insbesondere Position Frankreichs und Verhältnis zur WEU. 392

30.11.

Runderlass des VLR I Bettzuege

S. 1567

Internationales Wissenschafts- und Technologiezentrum: Unterzeichnung des Gründungsabkommens durch die EG, Japan, Russland und die USA. 393

30.11.

Drahtbericht des Botschafters Trumpf, Brüssel (EG)

S. 1569

Delors-Paket II: Konklave der Außen- und Finanzminister zur Vorbereitung des Europäischen Rats in Edinburgh. 394

01.12.

Vorlage des VLR I Ackermann für BM Kinkel Dezember

S. 1578

COCOM: erste Sitzung des COCOM Cooperation Forum und Bemühungen um weitere Liberalisierung. 395

01.12.

Drahterlass des VLR Mülmenstädt

S. 1580

Entschädigung für Opfer des Nationalsozialismus: Gespräch von StS Kastrup mit russischem Botschafter Terechow. 396

01.12.

Drahtbericht des Botschafters Stabreit, Washington

S. 1583

VN-Reform: Frage einer Erweiterung des VN-Sicherheitsrats und weiteres Vorgehen. 397

02.12.

Vorlage des VLR I Bertram für BM Kinkel Auslandseinsätze der Bundeswehr: Ablehnung neuer Verhaltensregeln zur Durchsetzung des verschärften VN-Embargos gegen die Bundesrepublik Jugoslawien (Serbien/Montenegro) in der Adria mit Blick auf das Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht.

LXXIV

S. 1587

Dezember

398

03.12.

Gespräch des BM Kinkel mit den AM Dumas (Frankreich) und Solana (Spanien)

S. 1591

Europapolitik, insbesondere Delors-Paket II; GATT-Verhandlungen; Massenvergewaltigungen in Bosnien-Herzegowina; Mazedonien-Konflikt; Somalia. 399

03.12.

Gespräch des BM Kinkel mit dem französischen AM Dumas

S. 1595

Jugoslawien-Konflikt, Entwicklung der KSZE, Friedensprozess im Nahen Osten, Europapolitik, Somalia, Jubiläum des deutschfranzösischen Vertrags. 400

03.12.

Runderlass des VLR I Bettzuege

S. 1598

Vertragswerk von Maastricht: Ratifizierung durch den Bundestag und Änderungen des Grundgesetzes. 401

04.12.

Sitzung des Ratskomitees des Deutsch-Französischen Rats für Verteidigung und Sicherheit

S. 1600

Eurokorps, Herbsttagungen der NATO, Somalia, Export von MTU-Motoren für in die Vereinigten Arabischen Emirate zu liefernde französische Kampfpanzer „Leclerc“. 402

04.12.

Gespräch des BM Kinkel mit dem slowenischen AM Rupel in Straßburg

S. 1604

Jugoslawien-Konflikt: Embargo gegen die Bundesrepublik Jugoslawien (Serbien/Montenegro), Genfer Jugoslawien-Konferenz, Mazedonien und Kosovo; bilaterale Beziehungen und Konflikt zwischen Ungarn und der Slowakei. 403

07.12.

Vorlage des VLR I Erck für StS Kastrup

S. 1607

IEPG-Ministersitzung in Kopenhagen: Bilanz der Unabhängigen Europäischen Programmgruppe angesichts der beschlossenen Überführung in die WEU, europäische Rüstungskooperation innerhalb der NATO. 404

07.12.

Drahtbericht des Botschafters Graf von der Schulenburg, Bern

S. 1610

EWR: Ablehnung eines Beitritts der Schweiz durch Volksentscheid. 405

08.12.

Vorlage des MD Elbe für BM Kinkel

S. 1613

Russland: Möglichkeiten für Einwirken der Bundesrepublik auf russischen Selbstfindungsprozess und außenpolitischen Orientierungskurs.

LXXV

Dokumentenverzeichnis für Band II

406

08.12.

Vorlage des MDg Bauch für BM Kinkel

S. 1618

KSE-Vertrag: Bewertung der Implementierung in erster Durchführungsphase. 407

08.12.

Drahtbericht des Botschafters Trumpf, Brüssel (EG)

S. 1620

Ratifizierung des Vertragswerks von Maastricht: Konklave der Außenminister der EG-Mitgliedstaaten zu dänischen Sonderwünschen. 408

09.12.

Gespräch des BM Kinkel mit BDI-Präsident Necker und BDI-Hauptgeschäftsführer von Wartenberg

S. 1623

Außenwirtschaftspolitik: Förderung deutscher Wirtschaftsinteressen in der Volksrepublik China, Auswirkungen der fremdenfeindlichen Ausschreitungen auf das Deutschlandbild im Ausland, GATT-Verhandlungen, Rüstungsexportkontrollen, IsraelBoykott. 409

09.12.

Ministergespräch im Bundeskanzleramt

S. 1625

Auslandseinsätze der Bundeswehr: Beteiligung an UNOSOMMission in Somalia, Koalitionsstreit über Verfassungsgrundlage. 410

09.12.

Vorlage des VLR I von Arnim für BM Kinkel

S. 1630

EWR: Folgen des ablehnenden Volksentscheids in der Schweiz für den Ratifizierungsprozess in den Mitgliedstaaten. 411

09.12.

Vorlage des VLR Elfenkämper für BM Kinkel

S. 1633

Polen: Umgang der Bundesregierung mit der deutschen Minderheit und künftige Zusammenarbeit mit der polnischen Regierung. 412

09.12.

Runderlass des VLR I Bettzuege

S. 1638

Mexiko: Ergebnisse des Besuchs von Bundespräsident Freiherr von Weizsäcker. 413

10.12.

Vermerk des Referats 215

S. 1641

Jugoslawien-Konflikt: Stand der Friedensbemühungen. 414

11.12.

Schreiben des BK Kohl, z. Z. Edinburgh, an den russischen Präsidenten Jelzin

S. 1644

Bilaterale Finanz- und Wirtschaftsfragen. 415

11.12.

Drahtbericht des Botschafters von Ploetz, Brüssel (NATO) Ministersitzung des DPC: Jugoslawien-Konflikt, friedenswahrende Maßnahmen, Kompetenzabgrenzung zum Rat.

LXXVI

S. 1646

Dezember

416

12.12.

Gespräch des BK Kohl mit dem französischen Staatspräsidenten S. 1651 Mitterrand in Edinburgh EWS: neuerliche Währungsspekulationen und mögliche Hintergründe.

417

12.12.

Drahtbericht des Botschafters Blech, Moskau

S. 1653

Russland: Probleme bei der Lösung der bilateralen Finanz- und Wirtschaftsfragen. 418

14.12.

Drahtbericht des MD Chrobog, z. Z. Stockholm

S. 1657

KSZE: Reden des russischen AM Kosyrew in der Sitzung des Außenministerrats und Reaktionen. 419

15.12.

Gespräch des BK Kohl mit dem russischen Präsidenten Jelzin in Moskau

S. 1660

Ergebnisse des Kongresses der Volksdeputierten, Lage in verschiedenen russischen Regionen, russisch-ukrainische Beziehungen, Privatisierungspolitik in Russland, bilaterale Beziehungen. 420

15.12.

Gespräch des BK Kohl mit dem russischen Präsidenten Jelzin in Sawidowo

S. 1666

Klärung von Finanz- und Liegenschaftsfragen, Rückführung von Kulturgütern, Russlanddeutsche. 421

15.12.

Runderlass des VLR I Bettzuege

S. 1672

Europäischer Rat in Edinburgh: Rahmenlösung für Dänemark bei einem möglichen Beitritt zur EPU und WWU, Festlegung der Sitze der EG-Organe und Erhöhung der Zahl der deutschen Abgeordneten im Europäischen Parlament, Delors-Paket II, Jugoslawien-Konflikt. 422

15.12.

Drahtbericht des Gesandten Heyken, Moskau

S. 1677

Russland: Gespräch des BM Waigel mit dem russischen MP Tschernomyrdin über Umschuldung und wirtschaftliche Zusammenarbeit. 423

15.12.

Drahtbericht des Botschafters z. b. V. Höynck, z. Z. Stockholm

S. 1680

KSZE: Sitzung des Außenministerrats über Regionalkonflikte im ehemaligen Jugoslawien und im Kaukasus sowie Maßnahmen zur Konfliktprävention bzw. -beilegung. 424

15.12.

Drahtbericht des Botschafters von Bredow, Athen

S. 1683

Griechenland: Einbestellung wegen Differenzen in der Mazedonien-Frage. LXXVII

Dokumentenverzeichnis für Band II

425

16.12.

Vermerk des Referats 515

S. 1687

Rechtsextremismus: Auswirkungen auf das Deutschlandbild im Ausland und Gegenmaßnahmen. 426

17.12.

Gespräch des BM Kinkel mit den AM Dumas (Frankreich), Eagleburger (USA) und Hurd (Großbritannien) in Brüssel

S. 1689

Entwicklung in Russland und Jugoslawien-Konflikt. 427

17.12.

Gespräch des StS Kastrup mit dem israelischen Sonderbotschafter S. 1691 Ben-Natan Wiedergutmachungsleistungen, israelisches Handelsdefizit, weitere finanzielle Hilfen für Israel, Friedensprozess im Nahen Osten, wirtschaftliche und wissenschaftlich-technische Zusammenarbeit, Mittelausstattung der deutsch-israelischen Stiftung für wissenschaftliche Forschung und Entwicklung (GIF).

428

17.12.

Vorlage des MD Schlagintweit für BM Kinkel

S. 1698

Terrorismus: Attentat auf iranische Oppositionelle im Restaurant „Mykonos“ in Berlin und Frage der Beteiligung der iranischen Botschaft. 429

17.12.

Vorlage des MDg Henze für BM Kinkel

S. 1699

Lateinamerika: Interessen der Bundesrepublik und Vorschläge für die künftige Politik. 430

17.12.

Drahtbericht des Botschafters Jelonek, Genf (Internationale Organisationen)

S. 1707

Jugoslawien-Konflikt: Ergebnisse der Ministersitzung des Lenkungsausschusses der Genfer Jugoslawien-Konferenz. 431

17.12.

Drahtbericht des Botschafters von Ploetz, Brüssel (NATO)

S. 1715

NATO-Ministerratstagung: Jugoslawien-Konflikt, Rolle des Bündnisses bei friedenserhaltenden Maßnahmen, Verhältnis zur WEU, Eurokorps, NAKR, Verhältnis zu Russland. 432

18.12.

Gespräch des BM Kinkel mit Botschafter Stabreit, z. Z. Bonn

S. 1721

Aktuelle Problemfelder der deutsch-amerikanischen Beziehungen, v. a. deutsche Zinspolitik, Rechtsextremismus und GATTVerhandlungen; künftige Politik der Clinton-Administration; Somalia; Jugoslawien-Konflikt. 433

18.12.

Vorlage des MD Schlagintweit für BM Kinkel Algerien: politische Gespräche von Schlagintweit über Lage und weitere Entwicklung sowie bilaterale Beziehungen.

LXXVIII

S. 1724

Dezember

434

18.12.

Drahtbericht des Botschafters Joetze, Wien (FSK-Delegation)

S. 1728

KSZE: Bilanz der bisherigen Tätigkeit des Forums für Sicherheitskooperation. 435

18.12.

Drahtbericht des Botschafters von Ploetz, Brüssel (NATO)

S. 1732

NAKR-Ministertagung: Jugoslawien-Konflikt, Regionalkonflikte. 436

21.12.

Drahtbericht des Botschafters Trumpf, Brüssel (EG)

S. 1737

GATT-Verhandlungen: Kritik des französischen AM Dumas bei der EG-Ministerratstagung am Vorgehen der EG-Kommission. 437

25.12.

Drahtbericht des Botschafters Winkelmann, Addis Abeba

S. 1740

Somalia: Wünsche des Generals Aidid nach stärkerem Engagement der Bundesrepublik und gegenwärtige Lage. 438

30.12.

Vorlage des VLR I Boden für StS Kastrup

S. 1743

Rüstungskontrolle: Fertigstellung des START II-Vertrags und Bewertung. 439

30.12.

Drahtbericht des Gesandten Heyken, Moskau

S. 1745

Russland: Gespräch mit AM Kosyrew im EPZ-Rahmen über START II-Vertrag, Jugoslawien-Konflikt, Verhandlungen mit der EG über ein Partnerschafts- und Kooperationsabkommen, Wunsch nach Beitritt zum Europarat, politische Unterstützung Russlands im Rahmen der G 7, russische Innenpolitik.

LXXIX

Literaturverzeichnis AAPD

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Yearbook of the United Nations 1965, hrsg. vom Office of Public Information, New York 1967.

LXXXV

Abkürzungsverzeichnis

A

Atom

AA

Auswärtiges Amt

AAV

Aufenthalts- und Abzugsvertrag

ABC

APEC

Asia-Pacific Economic Cooperation

AR

Amtsrat

ARG

Argentinien

American Broadcasting Company

ARM

Armenien

Art.

Artikel

ABC-Waffen

Atomare, biologische und chemische Waffen

AS

Arbeitsstab

ABM

Anti-Ballistic Missile

Abs.

Absatz

Abt.

Abteilung

Ass.Sec.

Assistant Secretary

ACDA

Arms Control and Disarmament Agency

AStV

Ausschuss der Ständigen Vertreter

ASE

Aserbaidschan

ASEAN

Association of Southeast Asian Nations

a. D.

außer Dienst

AUS

Australien

ADB

Asian Development Bank

AV

Auslandsvertretung

AFG

Afghanistan

AWACS

AFP

Agence France-Presse

Airborne Warning And Control System

AG

Aktiengesellschaft bzw. Arbeitsgruppe

AWG

Außenwirtschaftsgesetz

AWV

Außenwirtschaftsverordnung

AGY/ÄGY

Ägypten

Az./AZ

Aktenzeichen

AHB

Ausschuss Hoher Beamter

B/BEL

Belgien

AI

Amnesty International

B

Biologisch

AIDS

Acquired Immune Deficiency Syndrome

BAFA

Bundesausfuhramt

AKP

Afrika, Karibik, Pazifik

BAH

Bahrain

AL

Abteilungsleiter bzw. Ausfuhrliste

BAN

Bangladesch

BArch

Bundesarchiv

ALB

Albanien

BAW

Bundesamt für Wirtschaft

ALG

Algerien

BDI

AM/in

Außenminister/in

Bundesverband der Deutschen Industrie

AMF (A)

Allied Mobile Force (Air)

BfV

Bundesamt für Verfassungsschutz

ANC

African National Congress

BGBl.

Bundesgesetzblatt

ÄnderungsG

Änderungsgesetz

BGS

Bundesgrenzschutz

Anlg.

Anlage(n)

B-H/B+H

Bosnien-Herzegowina

LXXXVI

Abkürzungsverzeichnis

BID

Banco Interamericano de Desarrollo

BReg

Bundesregierung

BRH

Bundesrechnungshof

BRJ

Bundesrepublik Jugoslawien

BSP

Bruttosozialprodukt

BSR

Bundessicherheitsrat

BT

Bundestag

BuH

Bosnien und Herzegowina

BIP

Bruttoinlandsprodukt

BK

Bundeskanzler(amt)

BKA

Bundeskriminalamt

BM

Bundesminister/ium

BMA

Bundesminister/ium für Arbeit und Sozialordnung

BMF

Bundesminister/ium der Finanzen

BUL

Bulgarien

BuPr(ä)

Bundespräsident

BMFJ

Bundesminister/ium für Frauen und Jugend

BVerfG

Bundesverfassungsgericht

BMFT

Bundesminister/ium für Forschung und Technologie

BW

Biologische Waffen bzw. Bundeswehr

BMI

Bundesminister/ium des Innern

C

Chemie/Chemisch

CAN

Canada

BMJ

Bundesminister/ium der Justiz

CCF

COCOM Cooperation Forum

BML

Bundesminister/ium für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten

CD

Conference on Disarmament

CDN

Canada

BMU

Bundesminister/ium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit

CDU

Christlich Demokratische Union Deutschlands

CH

Confoederatio Helvetica

BMV

Bundesminister/ium für Verkehr

ChBK

Chef des Bundeskanzleramts

CHD

Conference on the Human Dimension

CHN

China (Volksrepublik)

CIA

Central Intelligence Agency

BMVg

Bundesminister/ium der Verteidigung

BMWi

Bundesminister/ium für Wirtschaft

BMZ

Bundesminister/ium für wirtschaftliche Zusammenarbeit

CIS

Commonwealth of Independent States

CND

Canada

BND

Bundesnachrichtendienst

CNN

Cable News Network

Bo.

Botschafter/in

COCOM

BOS

Bosnien-Herzegowina

Coordinating Committee for East-West Trade Policy

BPA

Bundespresseamt/Presse- und Informationsamt der Bundesregierung

CODESA

Convention for a Democratic South Africa

CONF

Conference/Conférence

BPräs

Bundespräsident

BR

Bundesrat bzw. Bundesrepublik

BR/in (I)

Botschaftsrat/rätin (I. Klasse)

BRA

Brasilien

Coreu/COREU Correspondence européenne ČR

Česká Republika

CSCE

Conference on Security and Cooperation in Europe bzw.

LXXXVII

Abkürzungsverzeichnis

Conférence sur la sécurité et la coopération en Europe

E

España

EBRD

European Bank for Reconstruction and Development

EBWE

Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung

EC

European Community

ECE

Economic Commission for Europe

ECOFIN

Economic and Financial Affairs Council

ECOSOC

Economic and Social Council

ECU

European Currency Unit

EEA

Einheitliche Europäische Akte

EFTA

European Free Trade Association

EG

Europäische Gemeinschaft

EGK

EG-Kommission

EH

Entwicklungshilfe

EIB

Europäische Investitionsbank

EK

Eurokorps

Drahterlass

EL

Entwicklungsländer

DED

Deutscher Entwicklungsdienst

ELS

El Salvador

Dg

(Ministerial-)Dirigent/in

EMS

European Monetary System

DIHT

Deutscher Industrie- und Handelstag

EP

Europäisches Parlament

DK

Dänemark

DL

Delegationsleiter

DM

ČSFR

Česká a Slovenská Federativní Republika

ČSR

Československá republika

ČSSR

Československá Socialistická Republika

CSU

Christlich-Soziale Union

CW

Chemiewaffen

CWC

Chemical Weapons Convention

D

Deutschland bzw. (Ministerial-)Direktor/in

DAAD

Deutscher Akademischer Austauschdienst

DAC

Development Assistance Committee

DAN

Dänemark

DB

Drahtbericht

DBT

Deutscher Bundestag

DC

Democrazia Cristiana

DDR

Deutsche Demokratische Republik

DE

EPl

Einzelplan

EPZ

Europäische Politische Zusammenarbeit

Deutsche Mark

ER

Europäischer Rat

DoS

Department of State

ESA

European Space Agency

DPC

Defence Planning Committee

EST

Estland

DRK

Deutsches Rotes Kreuz

ESVI

Drs.

Drucksache

Europäische Sicherheits- und Verteidigungsidentität

DVP

Demokratische Volkspartei

EU

Europäische Union

DVRK

Demokratische Volksrepublik Korea

EuGH

Europäischer Gerichtshof

EURATOM

Europäische Atomgemeinschaft Europäischer Rechnungshof European Police Office

DVU

Deutsche Volksunion

EuRH

DW

Deutsche Welle bzw. Dritte Welt

EUROPOL

LXXXVIII

Abkürzungsverzeichnis

EVG

Europäische Verteidigungsgemeinschaft

EVP

Europäische Volkspartei

EWG

Europäische Wirtschaftsgemeinschaft

GB

Großbritannien

GCC

Gulf Cooperation Council

GD

Generaldirektor/in

GEO

Georgien

GG

Grundgesetz

GK

Gefechtskopf bzw. Generalkonsul/at

GL

Gruppenleiter

GmbH

Gesellschaft mit beschränkter Haftung

GPALS

Global Protection Against Limited Strikes

EWR

Europäischer Wirtschaftsraum

EWS

Europäisches Währungssystem

EWWU

Europäische Wirtschafts- und Währungsunion

EZ

Entwicklungszusammenarbeit

EZB

Europäische Zentralbank

F

Frankreich

Fa.

Firma

GR/GRI

Griechenland

Food and Agriculture Organization of the United Nations

GRO

Großbritannien

GS/in

Generalsekretär/in

FAO

FCO

Foreign and Commonwealth Office

GSG

Grenzschutzgruppe

GTZ

Deutsche Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit

GUS

Gemeinschaft Unabhängiger Staaten

FDP/F.D.P.

Freie Demokratische Partei

FIN

Finnland

FIS

Front Islamique du Salut

GV

Generalversammlung

FK

Fernkopie

H

Hungary

FLN

Front de Libération Nationale

HDZ

FM

Finanzminister

Hrvatska demokratska zajednica

FNS

Friedrich-Naumann-Stiftung

HH

Haushalt

FR(A)

Frankreich

HLTF

High Level Task Force

FS

Fernschreiben

HLWG

High Level Working Group

FSK

Forum für Sicherheitskooperation

HM

Helsinki Meeting

HUN

Hungary

Fü S

Führungsstab der Streitkräfte

I

Italien

FZ

Finanzielle Zusammenarbeit

IAEA

G

Gruppe

International Atomic Energy Agency

GA

Gewährleistungen im Außenhandel

IAEO

Internationale AtomenergieOrganisation

GAP

Gemeinsame Agrarpolitik

GASP GATT

Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik General Agreement on Tariffs and Trade

IBG

Israelisch Besetzte Gebiete

ICBM

Intercontinental Ballistic Missile

ICE

Intercity-Express

ICFY

International Conference on the Former Yugoslavia

LXXXIX

Abkürzungsverzeichnis

J/JAN/JAP

Japan

JEM

Jemen

JNA

Jugoslovenska Narodna Armija

JOR

Jordanien

JUG

Jugoslawien

International Financial Institutions bzw. Internationale Finanzinstitutionen

JVA

Jugoslawische Volksarmee

K

Kasachstan

im Generalstab

KAB

Kambodscha

IGH

Internationaler Gerichtshof

Kal.

Kaliber

IHK

Industrie- und Handelskammer

KAN

Kanada

IKRK

Internationales Komitee vom Roten Kreuz

KAS

Kasachstan bzw. KonradAdenauer-Stiftung

IL

Industrieländer

KAT

Katar

ILC

International Law Commission

KfW

Kreditanstalt für Wiederaufbau

ILO

International Labour Organization

KGB

Komitet gosudarstvennoj bezopasnosti

IMF

International Monetary Fund

KH

Kapitalhilfe

INF

Intermediate-Range Nuclear Forces

KIG/KIR

Kirgisistan

KKW

Kernkraftwerk

INFCIRC

Information Circular

KMK

Kultusministerkonferenz

INI

Indien

KOM

(Europäische) Kommission

INION

Institut Naučnoj Informacii po Obščestvennym Naukam

KOR

(Süd-) Korea

INO

Indonesien

IRK

Irak

IRL

Irland

IRN

Iran

ISL

Island

ISR

Israel

IT/ITA

Italien

ITAR

Informatsionnoje telegrafnoje agentstvo Rossii

i. V.

in Vertretung

IV

Interessenvertretung

KU

Kultur

IWF

Internationaler Währungsfonds

KUW

Kuwait

KVAE

IWTZ

Internationales Wissenschaftsund Technologiezentrum

Konferenz über Sicherheits- und Vertrauensbildende Maßnahmen und Abrüstung in Europa

ICORC

International Committee for the Reconstruction of Cambodia

IDA

International Development Association

IEPG

Independent European Program Group

IFI

i. G.

XC

KP

Kommunistische Partei

KPCh

Kommunistische Partei Chinas

KPdSU

Kommunistische Partei der Sowjetunion

Kpt. z. S.

Kapitän zur See

KR

Kooperationsrat

KRO

Kroatien

KSE

Konventionelle Streitkräfte in Europa

KSZE

Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa

Abkürzungsverzeichnis

MIRV

Multiple Independently Targetable Reentry Vehicle

MITI

Ministry of International Trade and Industry

MM

Mittelmeer

MO

Mittlerer Osten

MOE

Mittel- und Osteuropa

MOL

Moldau

MoU

Memorandum of Understanding

MP/in

Member of Parliament bzw. Ministerpräsident/in

MR/in

Menschenrechte bzw. Ministerialrat/rätin bzw. Ministerrat

MRK

Menschenrechtskommission bzw. Menschenrechtskonferenz

KVZ

Konfliktverhütungszentrum

KWKG

Kriegswaffenkontrollgesetz

KZ

Konzentrationslager

L

(Referats-)Leiter/in bzw. Luxemburg

LA

Lateinamerika

LDC

Least Developed Countries

LDP

Liberaldemokratische Partei

LET

Lettland

LH

Lufthansa

LIA

Libanon

LIT

Litauen

LIY

Libyen

LKW

Lastkraftwagen

LLDC

Least Developed Countries

LMB

Leiter/in des Ministerbüros

MRO

Marokko

LPl

Leiter/in Planungsstab

MS

Mitgliedstaat

LR/in (I)

Legationsrat/rätin (I. Klasse)

MSI

Movimento Sociale Italiano

LS/in

Legationssekretär/in

MT

Minister(rats)tagung

LUX

Luxemburg

MTA

Mauretanien

MTCR

Missile Technology Control Regime

MWG

Münchener Wirtschaftsgipfel

MwSt.

Mehrwertsteuer

MX

Missile experimental

MAK

Makedonien/Mazedonien

MB

Ministerbüro

MBFR

Mutual and Balanced Force Reductions

MC

Military Committee

MD

Ministerialdirektor/in

N

Norwegen

NACC

North Atlantic Cooperation Council

NAFTA

North American Free Trade Agreement

NAKR

Nordatlantischer Kooperationsrat

NASA

National Aeronautics and Space Administration

MdB

Mitglied des Deutschen Bundestags

MdEP

Mitglied des Europäischen Parlaments

MDg

Ministerialdirigent/in

MDF

Magyar Demokrata Fórum

MECU

Million European Currency Unit

MEX

Mexiko

NATO

MfS

Ministerium für Staatssicherheit

North Atlantic Treaty Organization

NBL

Neue Bundesländer

Militärattaché

ND

Nachrichtendienst

Mil.Att(aché)

XCI

Abkürzungsverzeichnis

OAE

Organisation für Afrikanische Einheit

OAR

Oberamtsrat

OAS

Organization of American States

NEU

Neuseeland

NfD

Nur für den Dienstgebrauch

NGO

Non-Governmental Organization

NGT

Nordgruppe der (sowjetischen) Truppen

OAU

Organisation of African Unity

NK

Nordkorea

ODA

NKWD

Narodnyj Kommissariat Wnutrennich Del

Official Development Assistance

OECD

NL

Nachlass bzw. Niederlande

Organization for Economic Cooperation and Development

NLD

Niederlande

OIC

Organisation of the Islamic Conference

NMH

Nahrungsmittelhilfe

OPCW

NMO

Naher und Mittlerer Osten

N+N

Neutrale und Nichtgebundene (Staaten)

Organisation for the Prohibition of Chemical Weapons

OS

Oberster Sowjet

NO

Naher Osten

OSCC

NOR

Norwegen

Open Skies Consultative Commission

NORTHAG

Northern Army Group, Central Europe

OST

Österreich

OTL

Oberstleutnant

NPD

Nationaldemokratische Partei Deutschlands

ÖTV

NPG

Nuclear Planning Group/ Nukleare Planungsgruppe

Gewerkschaft Öffentliche Dienste, Transport und Verkehr

OZ

Ortszeit

NPT

Non-Proliferation Treaty

P

Portugal

NRO

Nichtregierungsorganisation

PAK

Pakistan

NRW

Nordrhein-Westfalen

PAL

Palästina

NS

Nationalsozialismus

PC

NSC

National Security Council

Pariser Club bzw. Political Committee

NSG

Nuclear Suppliersʼ Group

PDS

NuN

Neutrale und Nichtgebundene (Staaten)

Partei des Demokratischen Sozialismus bzw. Partito Democratico della Sinistra

PER

Peru

NUS

Neue Unabhängige Staaten

PFLP

NV

Nichtverbreitung

Popular Front for the Liberation of Palestine

NVA

Nationale Volksarmee

PHARE

NVV

Nichtverbreitungsvertrag

Poland and Hungary Action for Restructuring of the Economy

NW

Nuklearwaffen

PHI

Philippinen

NWG

Norwegen

PK

Politisches Komitee bzw. Pressekonferenz

Ö

Österreich

PKK

Partiya Karkerên Kurdistanê

XCII

Abkürzungsverzeichnis

PL

Polen

PLI

Partito Liberale Italiano

PLO

Palestine Liberation Organization

RUS

Russland

Pl.-Stab

Planungsstab

S

Schweden

PM

Premierminister/in

SA

Südafrika

PMC

Post Ministerial Conference

SACEUR

PÖA

Presse- und Öffentlichkeitsarbeit

Supreme Allied Commander Europe

SALT

Strategic Arms Limitation Talks

POL

Polen

SAR

Saudi-Arabien

Pol

Politik/Politische

SB

Schriftbericht bzw. Sonderband

POR/PORT

Portugal

SBZ

Sowjetische Besatzungszone

PR

Public Relations

Präs.

Präsident/in bzw. -schaft

SCG

Special Consultative Group

PSDI

Partito Socialista Democratico Italiano

SCN

Schweden

SCZ

Schweiz

PS(I)

Partito Socialista Italiano

SDA

Stranka demokratske akcije

PStS/in

Parlamentarische/r Staatssekretär/in

SDI

Strategic Defense Initiative

SDS

Srpska Demokratska Stranka

PTG

Portugal

SED

PU

Politische Union

Sozialistische Einheitspartei Deutschlands

PV

Parlamentarische Versammlung

SER

Serbien

RAF

Rote Armee Fraktion

SF

Suomi-Finland

RAM

Russisches Außenministerium

SFr

Schweizer Franken

RAU

Resussir l’Ambition de l’Union Européenne

SFRJ

Sozialistische Föderative Republik Jugoslawien

RBM

Regierender Bürgermeister

SFRY

Socialist Federal Republic of Yugoslavia

SHAPE

Supreme Headquarters Allied Powers Europe

RSFSR

Russische Sozialistische Föderative Sowjetrepublik

RUM

Rumänien

RD

Regierungsdirektor/in

RE

Runderlass

Ref.

Referat

SIN

Singapur

RENAMO

Resistência Nacional Moçambicana

SK

Sonderkommission bzw. Südkorea

SLO

Slowenien

SNC

Supreme National Council

SNF

Short-Range Nuclear Force

SO

Sonderband

SOE

Südosteuropa

SOM

Somalia

Res.

Resolution

RF

Russische Föderation

RGW

Rat für Gegenseitige Wirtschaftshilfe

RL

Referatsleiter/in

RPR

Rassemblement pour la République

XCIII

Abkürzungsverzeichnis

SOW

Sowjetunion

THW

Technisches Hilfswerk

SP/SPA

Spanien

TLE

Treaty Limited Equipment

SPC

Senior Political Committee

TNC

Trade Negotiations Committee

SPD

Sozialdemokratische Partei Deutschlands

TNS

Teilnehmerstaaten

TO(P)

Tagesordnung(-spunkt)

SR(R)

Sicherheitsrat(sresolution)

TSE

Tschechoslowakei

SS

Schutzstaffel

TUK

Turkmenistan

SSR

Sozialistische Sowjetrepublik

TUN

Tunesien

SSW

Südschleswigscher Wählerverband

TUR

Türkei

StAL

Stabsabteilungsleiter

TV

Television

STANAV-

Standing Naval Force

TZ

Technische Zusammenarbeit

FORMED

Mediterranean

UA

Unterabteilung bzw. Unterausschuss

START

Strategic Arms Reduction Talks/Treaty

UAL

Unterabteilungsleiter

StGB

Strafgesetzbuch

UdSSR

Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken

StM/in

Staatsminister/in

UGS

Untergeneralsekretär

StP

Staatspräsident/in

UK

StS/in

Staatssekretär/in

United Kingdom of Great Britain and Northern Ireland

StV

Ständige/r Vertreter/in bzw. Ständige Vertretung

UKR

Ukraine

ÜLA

Überleitungsabkommen

Stv.

Stellvertretende/r

UN

United Nations

SU

Sowjetunion

UNCED

SUA

Südafrika

United Nations Conference on Environment and Development

SWE

Schweden

UNCTAD

SWZ

Schweiz

United Nations Conference on Trade and Development

SYR

Syrien

UNDP

United Nations Development Programme

SZR

Sonderziehungsrechte

UNEP

TAD

Tadschikistan

United Nations Environment Programme

TASS

Telegrafnoje Agentstwo Sowjetskogo Sojusa bzw. Telegrafnoje Agentstwo Swjasi i Soobschtschenija

UNESCO

United Nations Educational, Scientific and Cultural Organization

UNFICYP

TD

Trade and Development

United Nations Peacekeeping Force in Cyprus

Tgb.

Tagebuch

UNFPA

United Nations Population Fund

TGV

Train à Grande Vitesse

UNG

Ungarn

TH

Technische Hilfe

UNHCR

THAI

Thailand

United Nations High Commissioner for Refugees

XCIV

Abkürzungsverzeichnis

UNICEF UNITA

United Nations International Children’s Emergency Fund

VM

Verteidigungsminister/in

VN

Vereinte Nationen

União Nacional para a Independência Total de Angola

VO

Verordnung

VP

Vizepräsident/in

VPM

Vizepremierminister/in

VR

Volksrepublik Verschlusssache (vertraulich)

UNO

United Nations Organization

UNOCA

United Nations Operations Centre in Afghanistan

UNOMOZ

United Nations Operation in Mozambique

VS (-v) Vtg.

Verteidigung

UNOSOM

United Nations Operation in Somalia

VSBM

Vertrauens- und Sicherheitsbildende Maßnahmen

UNPA

United Nations Protected Area

VVSBM

UNPROFOR

United Nations Protection Force

Verhandlungen über Vertrauens- und Sicherheitsbildende Maßnahmen

UNSCOM

United Nations Special Commission

WB

Weltbank

WD

Wiener Dokument

United Nations Transitional Authority in Cambodia

WG

Working Group

WEI

Weißrussland

UR

Uruguay-Runde

WEOG

US/USA

United States of America

Western European and Others Group

USB

Usbekistan

WEP

Welternährungsprogramm

USD

US-Dollar

WEU

Westeuropäische Union

USG

Under-Secretary General

Wi-Bereich

Wirtschaftsbereich

USSR

Ukrainische Sozialistische Sowjetrepublik

WGM

Wiedergutmachung

WGT

Westgruppe der (sowjetischen) Truppen

UNTAC

UStS

Unterstaatssekretär

V

Vertrag

WMD

Weapons of Mass Destruction

VAE

Vereinigte Arabische Emirate

WP

VAM

Vizeaußenminister/in

Wahlperiode bzw. Warschauer Pakt

VDK

Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge

WTZ

Wissenschaftlich-Technische Zusammenarbeit

VER

Vereinigte Arabische Emirate

WÜK

Wiener Übereinkommen über konsularische Beziehungen

VgAtt

Verteidigungsattaché

WV

Wiener Verhandlungen

VgMin

Verteidigungsminister/ium

WWG

Weltwirtschaftsgipfel

VIET

Vietnam

WWU

VKSE

Verhandlungen über Konventionelle Streitkräfte in Europa

Wirtschafts- und Währungsunion

WZ

Wirtschaftliche Zusammenarbeit

ZA

Zentralamerika bzw. Zwischenarchiv

VLR/in (I)

Vortragende/r Legationsrat/rätin (I. Klasse)

XCV

Abkürzungsverzeichnis

z. b. V. Ziff.

XCVI

zur besonderen Verwendung

ZK ZYP

Zentralkomitee Zypern

Ziffer

z. Z.

zur Zeit

Abbildungsverzeichnis Abb. 1 (S. 25)

PA/AA, B 41, ZA-Bd. 184075

Abb. 2 (S. 175)

Bundesregierung/Christian Stutterheim, BArch, B 145 Bild-00181164

Abb. 3 (S. 325)

Bundesregierung/Christian Stutterheim, BArch, B 145 Bild-00166289

Abb. 4 (S. 511)

Bundesregierung/Julia Fassbender, BArch, B 145 Bild-00181435

Abb. 5 (S. 572)

Bundesregierung, BArch, B 145 Bild-00182628

Abb. 6 (S. 607)

Bundesregierung/Arne Schambeck, BArch, B 145 Bild-00124635

Abb. 7 (S. 727)

Bundesregierung/Julia Fassbender, BArch, B 145 Bild-00016807

Abb. 8 (S. 751)

PA/AA, B 41, ZA-Bd. 171737

Abb. 9 (S. 811)

Bundesregierung/Julia Fassbender, BArch, B 145 Bild-00113134

Abb. 10 (S. 853)

PA/AA, B 41, ZA-Bd. 171737

Abb. 11 (S. 1127)

Bundesregierung/Christian Stutterheim, BArch, B 145 Bild-00002726

Abb. 12 (S. 1135)

Bundesregierung/Christian Stutterheim, BArch, B 145 Bild-00102866

Abb. 13 (S. 1263)

Bundesregierung/Engelbert Reineke, BArch, B 145 Bild-00062024

Abb. 14 (S. 1433)

Bundesregierung/Christian Stutterheim, BArch, B 145 Bild-00137191

Abb. 15 (S. 1521)

Bundesregierung, BArch, B 145 Bild-00183379

Abb. 16 (S. 1667)

Bundesregierung/Eckhard Seeber, BArch, B 145 Bild-00017234

Alle Bilder aus dem Bundesarchiv sind abrufbar unter https://www.bundesbildstelle.de/bpa/de/bestaende/

XCVII

Dokumente

7. Januar 1992: Gespräch zwischen Genscher und Terechow

1

1 Gespräch des Bundesministers Genscher mit dem russischen Botschafter Terechow 213-321.00/RUS

7. Januar 19921

BM empfing am 7.1.92 Botschafter Terechow (T.) auf dessen Wunsch zu knapp 45-minütigem Gespräch. Terechow trug eingangs aus einer umfänglichen schriftlichen Weisung vor, deren wichtigste Punkte waren: AM Kosyrew habe ihn zu vertraulichem Meinungsaustausch mit BM angewiesen, um Genugtuung für Haltung Deutschlands gegenüber Entstehungsprozess der GUS auszudrücken; diese sei Zusammenschluss auf Grundlage freier und demokratischer Willensbildung, der wegen belastender Vergangenheit nicht leicht sei. Es gelte jetzt, Spannungen im vorderasiatischen Raum vorzubeugen. Dafür seien weitere Anstrengungen erforderlich. Moskau sei Besorgnis in der Welt über Probleme der Kernwaffen angesichts des Zerfalls der militärischen Strukturen bekannt. Moskau bereite Neigung der Führung einiger unabhängiger Staaten Sorge, dem militärischen Faktor eine zu große Rolle bei der Behauptung der Unabhängigkeit zuzumessen; dadurch entstünde Gefahr der Nichteinhaltung von Rüstungskontrollverpflichtungen. Russland sei sich hingegen seiner internationalen Verpflichtungen bewusst und wünsche keinen Rückfall ins Wettrüsten. In den nächsten Tagen werde das RAM mit den GUSStaaten Konsultationen aufnehmen mit dem Ziel, die Vereinbarungen von Minsk und Alma Ata2 weiterzuentwickeln und vereinigte Streitkräfte gemäß dem Grundsatz der minimalen Zulänglichkeit aufrechtzuerhalten. Dazu gehöre auch strenge Einhaltung der Pariser Verträge (November 19903). 1 Der Gesprächsvermerk wurde von VLR I Neubert gefertigt und an das Ministerbüro geleitet „mit der Bitte, Zustimmung BM herbeizuführen“. Hat BM Genscher am 9. Januar 1992 vorgelegen. Hat OAR Rehlen am selben Tag vorgelegen, der den Rücklauf an Referat 213 verfügte. Hat Neubert erneut vorgelegen. 2 Die Präsidenten Jelzin (Russland), Krawtschuk (Ukraine) und Schuschkewitsch (Belarus) trafen sich am 7./8. Dezember 1991 im staatlichen Gästehaus Wiskuli im belarussischen Teil der Belowescher Heide. Ihre dort getroffenen Vereinbarungen werden oft der nahegelegenen Stadt Brest oder auch der belarussischen Hauptstadt Minsk zugeordnet. Zum Treffen vgl. AAPD 1991, II, Dok. 420. Am 21. Dezember 1991 einigten sich die Vertreter von elf ehemaligen Teilrepubliken der UdSSR in Alma Ata auf den Beitritt zu der am 8. Dezember 1991 gegründeten Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS). Vgl. die Erklärung; EUROPA-ARCHIV 1992, D 305 f. Vgl. auch AAPD 1991, II, Dok. 441. Die GUS-Mitgliedstaaten schlossen am 30. Dezember 1991 in Minsk ein Abkommen über die Bildung eines Vereinigten Kommandos der strategischen Streitkräfte sowie eine einheitliche Kontrolle der Atomwaffen der ehemaligen UdSSR. Vgl. EUROPA-ARCHIV 1992, D 308 f. 3 Vgl. das „Wiener Dokument 1990“ der VVSBM vom 17. November 1990 sowie die zugehörigen Anlagen; BULLETIN 1990, S. 1493–1504. Vgl. ferner AAPD 1990, II, Dok. 386. Am 19. November 1990 unterzeichneten die Staats- und Regierungschefs der NATO-Mitgliedstaaten und der Warschauer-Pakt-Staaten in Paris den Vertrag über konventionelle Streitkräfte in Europa (KSEVertrag). Für den Vertrag und die zugehörigen Dokumente vgl. BGBl. 1991, II, S. 1155–1298. Außerdem

3

1

7. Januar 1992: Gespräch zwischen Genscher und Terechow

Russland sei in Minsk (30.12.91) allen Partnern weit entgegengekommen mit Zugeständnis des Rechts, eigene Streitkräfte zu unterhalten; dieses dürfe aber nicht extensiv und destabilisierend ausgelegt werden. Das militärische Potenzial der ehemaligen SU dürfe nicht zerteilt und dabei multipliziert werden. Es sei klar, dass man sich in einer Übergangsperiode befinde; dies dürfe aber keine Destabilisierung der Streitkräfte nach sich ziehen. Schaposchnikow werde eine verantwortungsvolle Führung gewährleisten. Moskau sei Interesse internationaler Gemeinschaft an Zukunft der Nuklearstaaten auf Territorium ehemaliger SU bekannt, Moskau wolle nukleare Rüstungskontrolle beschleunigen. Dies sollte angesichts der Haltung von Ukraine und Belarus möglich sein. Problem seien allerdings einige Politiker, die zu viel Wert auf nukleare Attribute legten. Moskau wolle Überzeugungsarbeit leisten in Richtung auf Beitritt zu NV-Vertrag4 und Fortführung strategischer Rüstungskontrolle. Moskau hoffe dabei auf das Verständnis ausländischer Partner, so auch Deutschlands, in der Erwartung, dass die russische Haltung nicht als Einmischung in die Angelegenheiten seiner GUS-Partnerstaaten gedeutet werde. Die Bitte Moskaus sei es, auch die Bundesregierung möge diese Themen in ihre neuen Kontakte zu den GUS-Mitgliedstaaten einbringen. BM dankte für Darlegung russischer Haltung und führte zur deutschen Politik aus: D habe frühzeitig in westlichen Gremien Klarheit gefordert, um ein Zwischenstadium zu vermeiden, und deshalb auch für die Anerkennung der staatlichen Identität von Russland mit der früheren SU plädiert mit drei wesentlichen Zielen: a) Fortsetzung des Kerns der bilateralen Beziehungen, b) Regelung der Sitzfrage im VN-Sicherheitsrat, c) Rolle Russlands als Hauptträger des Nuklearwaffenpotenzials der ehemaligen SU. Diese deutsche Haltung sei von Partnern geteilt worden, deshalb nicht Anerkennung Russlands, sondern Fortführung der direkten Beziehungen und Anerkennung der anderen neuen Staaten mit dem Angebot der Aufnahme diplomatischer Beziehungen. Russland solle überall den Platz der SU einnehmen, dies gelte auch für die KSZE und den NAKR. Bei KSZE-AM-Rat Ende Januar in Prag5 stelle sich Frage der Aufnahme der anderen Republiken in die KSZE. Er habe dies mit AM Dienstbier als Vorsitzendem der Konferenz erörtert.6 Zur Frage, ob alle neuen Republiken in die KSZE aufgenommen werden sollten, sei die deutsche Haltung positiv, d. h. keine Unterscheidung zwischen europäischen und asiatischen Nachfolgestaaten, da die KSZE-Verpflichtungen ja früher auch das gesamte Territorium der SU erfasst hätten. Deshalb sollten alle GUS-Staaten – auch die in Asien − KSZE-TNS werden. Welches sei die Haltung Russlands zu dieser Frage? Fortsetzung Fußnote von Seite 3 wurde am 21. November 1990 die Charta von Paris für ein neues Europa unterzeichnet. Vgl. BULLETIN 1990, S. 1409–1421. Vgl. ferner AAPD 1990, II, Dok. 385 und Dok. 390. 4 Für den Nichtverbreitungsvertrag vom 1. Juli 1968 vgl. BGBl. 1974, II, S. 786–793. Vgl. ferner AAPD 1974, I, Dok. 143. 5 Zur zweiten Sitzung des KSZE-Außenministerrats am 30./31. Januar 1992 vgl. Dok. 34. 6 Im Gespräch mit BM Genscher am 6. Januar 1992 in Fellbach führte der tschechoslowakische AM Dienstbier aus, er sorge sich „um Entscheidungsfähigkeit der KSZE, wenn sie 50 Mitglieder hat“. BM Genscher erklärte, er halte „Aufnahme aller Nachfolgestaaten der SU im Prinzip für unbedingt erforderlich. Es dürfe kein isolierter islamischer Block in Zentralasien entstehen, der von KSZE ausgeschlossen wäre.“ Vgl. den Gesprächsvermerk; B 42, ZA-Bd. 156436.

4

7. Januar 1992: Gespräch zwischen Genscher und Terechow

1

Bezüglich des NAKR solle jetzt rasch weitere Sitzung auf Ministerebene durchgeführt werden, zumal sich sowjet. Vertreter am 20.12.91 ja durch Ausführung der Weisungen Jelzins bereits als Vertreter Russlands verhalten habe.7 Die internationale Stabilität im gesamten europäisch-nordatlantischen Raum erfordere, alle Beziehungen zur früheren SU − über Russland hinaus – auf alle Republiken fortzusetzen. Es stünden eine Menge Themen zur Erörterung an, wichtig sei: – Anwendung der geschlossenen Verträge, insbesondere des KSE-Vertrages; es dürfe kein neues Bedrohungsdenken entstehen. – Nach dem Abschluss der Pariser Verträge müssten auf dem Gipfel in Helsinki (März 19928) weitere Schritte der Rüstungskontrolle erfolgen. – Schließlich müssten die Nuklearwaffen in eine Hand oder mindestens in gemeinsame Hände gelegt werden. Unsere Sorge gelte den hochmobilen Kurzstreckenraketen und der atomaren Artillerie. Deshalb werde D heute in NATO Initiative einbringen, um alle US- und ehemals SU-Kurzstrecken­Nuklearwaffen zu beseitigen und ein Verifikationssystem zur Überwachung der Durchführung zu erörtern.9 Für die Beseitigung bedürfe es eigentlich keiner Vereinbarung, diese sei durch parallele Schritte möglich, aber Verifikation müsste vereinbart werden. Außerdem bestünde natürlich Sorge über die Gefahr der Proliferation, insbesondere, dass derartige Waffen in falsche Hände gerieten oder ein politisches Erpressungspotenzial bilden könnten. BM wäre dankbar für positive Aufnahme der deutschen Initiative durch Moskau. Weiter müsse über Verhältnis zur EG nachgedacht werden. Die EG habe mit den MOEStaaten asymmetrische Assoziierungsverträge geschlossen10; die EG räumt ihnen mehr Vorteile ein als umgekehrt. Dies entspreche gemeinsamer Interessenlage. D halte es für notwendig, dass EG sich ein besonderes Vertragsinstrumentarium für die Beziehungen mit den GUS-Staaten zulege. Er habe dies als die neuen Ostverträge der EG bezeichnet. Dabei werde allerdings die Frage von Russland zu beantworten sein, ob es neben solchen Verträgen der EG mit den GUS-Staaten auch einen Rahmenvertrag zwischen GUS und EG geben könne. D/BM sei dafür offen, aber Frage müsse letztlich von GUS-Staaten beantwortet werden, ob sie sich in einer Form zusammenfinden, die einen Vertrag GUS – EG ermöglicht, oder ob nur parallele Verträge der einzelnen Staaten mit der EG infrage kommen. Wichtig sei für uns Grundsatz, dass Russland (als identisch mit der SU) und die Nachfolgestaaten der SU sowohl in die Verträge der Vergangenheit als auch in neue Formen der Kooperation einbezogen würden. Insofern werde 1992 ein wichtiges Jahr für die Beziehungen. Terechow sagte, Moskau sei dankbar für deutsche Haltung in der Frage der Identität und des VN-SR-Sitzes. Die russische Führung werde in den VN und anderen internationalen Organisationen ein verlässlicher Partner sein, der alle seine Verpflichtungen einhält. 7 Zur konstituierenden Tagung des NAKR in Brüssel vgl. AAPD 1991, II, Dok. 439. Zur NAKR-Ministertagung am 10. März 1992 in Brüssel vgl. Dok. 74. 8 Vom 24. März bis 8. Juli 1992 fand in Helsinki die vierte KSZE-Folgekonferenz statt, an die sich am 9./10. Juli 1992 eine Gipfelkonferenz anschloss. Vgl. Dok. 226. 9 Zur SNF-Initiative der Bundesregierung vgl. Dok. 7. 10 Die EG schloss am 16. Dezember 1991 Europa-Abkommen zur Gründung einer Assoziation mit Polen bzw. Ungarn. Vgl. BGBl. 1993, II, S. 1317–1471 bzw. S. 1473–1714. Vgl. auch AAPD 1991, II, Dok. 407. Ebenso wurde ein entsprechendes Abkommen mit der ČSFR geschlossen. Vgl. BULLETIN DER EG 12/1991, S. 97 f.

5

1

7. Januar 1992: Gespräch zwischen Genscher und Terechow

(Exkurs BM zu gemeinsamen Botschaften der EG-Staaten auf Frage T.s: Dieser Gedanke gelte nicht für Moskau selbst; zum Stand sei anzumerken, dass andere EG-Partner Interesse bekundet hätten, bei bestehenden Vertretungen eines Partners unterzuschlüpfen. Auch wir hätten Interesse, dieses zu tun. Soweit nicht alle zwölf EG­Partner sich an gemeinsamen Vertretungen beteiligten, würden wir dies dort tun, wo es möglich ist, und mit den Partnern, die hieran Interesse zeigen. Dies sei für alle letzten Endes günstig, weil nur so alle EG-Staaten in allen GUS-Staaten vertreten sein könnten. BM fragte Terechow, wie umgekehrt die GUS-Staaten bei uns vertreten sein würden? Terechow sagte, das RAM erörtere dies zurzeit mit Partnern. Denkbar sei, dass diese eigene Vertretungen errichten, wie höchstwahrscheinlich Ukraine und Belarus, oder dass sie den russischen Botschafter zu ihrer Vertretung bevollmächtigen oder dass sie bevollmächtigte Vertreter innerhalb der russischen Botschaft unterhielten. Im Übrigen würden heute formelle Noten in Moskau übermittelt, die den Status der russischen Botschaften klären und andererseits bestätigen, dass für die ausländischen Vertreter in Moskau keine Neuakkreditierung erforderlich ist.11) Terechow kam auf seinen nächsten Punkt – KSZE − zurück und übergab einen Brief Kosyrews.12 (Wesentlicher Inhalt: „Russ. Föderation“ möchte hinter diesem Namensschild bereits an nächstem AHB-Treffen in Prag am 8./9.1.9213 teilnehmen anstelle früherer Bezeichnung UdSSR. Russland unterstützt Wunsch derjenigen GUS-Staaten, die dies wünschen und die die KSZE-Verpflichtungen übernehmen, auf selbstständige Teilnahme an der KSZE.) Zu NAKR bestätigte T. großes Interesse Moskaus an deutscher Initiative für baldige AM-Sitzung und fragte, wie dies praktisch verlaufen solle, ob sofort über Beitritt entschieden oder Kriterien für Teilnahme der neuen GUS-Staaten aufgestellt würden? BM sagte, er sehe keinerlei Probleme, allenfalls bei Nachfolgestaaten der SU, die noch nicht anerkannt seien (z. B. Georgien). Allerdings werde dadurch die Teilnehmerzahl im NAKR vergrößert, und dieser müsse sich Instrumente geben, um zwischen den AM­Sitzungen arbeitsfähig zu sein. Zur Substanz sehe er drei wichtige sicherheitspolitische Themen: a) Implementierung des KSE-Vertrages, b) Vorbereitung des KSZE-Gipfels in Helsinki, c) Kernwaffen, d. h. Beseitigung der Kurzstreckenwaffen. Zur Frage von Ort und Termin denke D mit Rücksicht auf USA daran, das Treffen im Zusammenhang mit der Prager AM-Konferenz zu veranstalten, und zwar aus politischen Gründen danach. Das hieße konkret, entweder am 31.1. nachmittags in Prag oder Brüssel [oder] am Montag, 3.2., in Brüssel. D sei für beide Lösungen offen. Hierüber werde in der NATO am 7.1. beraten, bisher seien alle Signale positiv zu vorgeschlagener Substanz und Termin. Terechow bemerkte zu den Verträgen mit der EG, diese Idee stoße in Moskau auf Interesse, allerdings werde auch Frage aufgeworfen, welche Unterschiede in den Regelungen für die MOE-Staaten bestehen könnten, ob es eine Abstufung oder substanzielle Unterschiede geben würde? 11 Zur Frage der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zu den GUS-Mitgliedstaaten vgl. Dok. 5. 12 Für das undatierte Schreiben an BM Genscher vgl. B 41, ZA-Bd. 221996. 13 Botschafter z. b. V. Höynck, z. Z. Prag, berichtete am 9. Januar 1992, Russland habe in der AHB-Sitzung am Vortag den bisherigen Sitz der UdSSR übernommen. Vgl. DB Nr. 43; B 28, ZA-Bd. 158651.

6

7. Januar 1992: Drahtbericht von Vergau

2

BM erläuterte, dass es bekanntlich in EG Vorbehalte gegen eine Erweiterung derselben und ein stärkeres Engagement nach Osten gebe. Deshalb sei der richtige Weg, ein Vertragsinstrument zu schaffen, das den realen Gegebenheiten, auch der Entwicklung in der GUS, entspricht. Die Überlegungen auch innerhalb der Bundesregierung seien noch an ihrem Anfang, man solle dies nicht überhasten und insbesondere auch die Entwicklung unter den GUS-Staaten selbst abwarten. Prinzip sei allerdings, dass die Beziehungen zwischen EG- und GUS-Staaten nicht die gleichen sein könnten wie zu Staaten anderer Kontinente, sondern eine der Einheit Europas entsprechende Verbindung schaffen müssten. Dem entspreche ein besonderes Vertragsinstrument. Zum Schluss mutmaßte Terechow, dass das für 8.1. vereinbarte Telefongespräch BM mit AM Kosyrew möglicherweise auch den KSZE-Themen gewidmet sein werde, die Kosyrew in dem Brief angesprochen hat; er wolle aber auch auf Reibungen im Offizierskorps, vor allem in der Ukraine, verweisen angesichts der jüngsten Entwicklungen. Aus diesem Grunde werde auch am 13./14.1. eine Offiziersversammlung (Delegierte) der gesamten Streitkräfte veranstaltet. BM beschloss Gespräch mit Wunsch nach engen Kontakten zur russischen Führung, damit neue Entwicklungen ohne Missverständnisse gestaltet werden könnten. D werde in den westlichen Institutionen sein Möglichstes tun, damit keinerlei Vakuum, weder in der Sache noch von der Zeit her, entstünde. B 41, ZA-Bd. 221669

2 Drahtbericht des Botschafters Vergau, New York (VN) Fernschreiben Nr. 30 Citissime Betr.:

Aufgabe: 7. Januar 1992, 18.27 Uhr1 Ankunft: 8. Januar 1992, 01.51 Uhr

Lage in Jugoslawien; hier: Einschätzung durch Cyrus Vance

Bezug: DB 20 vom 6.1.1992 – gleiches Az.2 Ferngespräch RL 2303 – Vergau vom 7.1.92 Zur Unterrichtung 1) Der Beauftragte des VN-GS für Jugoslawien, Cyrus Vance, berichtete den EG-Botschaftern heute (7.1.92) über seine jüngste (fünfte) Reise nach Jugoslawien vom 28.12.91 bis 1 Der Drahtbericht wurde von BR Schütte, New York (VN), konzipiert. 2 Botschafter Vergau, New York (VN), berichtete, VN-GS Boutros-Ghali habe dem VN-Sicherheitsrat den Bericht (S/23363) seines Sonderbeauftragten für Jugoslawien, Vance, übermittelt, und seine Absicht kundgetan, 50 militärische Verbindungsoffiziere nach Jugoslawien zu entsenden. Außerdem habe BoutrosGhali erste Überlegungen zur Rekrutierung dieser Offiziere und zu deren Zusammenarbeit mit der EGBeobachtermission geäußert. Vgl. B 30, ZA-Bd. 158142. 3 Rudolf Schmidt.

7

2

7. Januar 1992: Drahtbericht von Vergau

4.1.92 sowie über seine Einschätzung der Lage und der Perspektiven für die weitere Entwicklung. Aus den Ausführungen von Vance und den Anmerkungen der übrigen Teilnehmer wird festgehalten: 1.1) Jüngste Mission nach Jugoslawien Vance berichtete auf der Linie des mit Bezugs-DB übermittelten Dokuments S/233634 über den Verlauf seiner Gespräche mit der serbischen und der kroatischen Seite und den Abschluss des Sarajevo-Abkommens5. Er unterstrich dabei, beide Seiten hätten sich eindeutig zu den beiden Hauptanliegen seiner Mission bekannt: den Grundlagen für eine friedenserhaltende Maßnahme der VN6 und den Abschluss eines Waffenstillstandes. Präsident Milošević und VM Kadijević hätten geäußert, sie erwarteten auch die Zustimmung der Führer der serbischen Minderheit in Kroatien zu den Abmachungen. General Babić stelle aus seiner Sicht zwar noch ein gewisses, aber kein großes Problem dar. Aus VN-Sicht stelle sich in Bezug auf Babić eine Frage, die von den Serben selbst beantwortet werden müsse. VM Kadijević habe ihm, Vance, versichert, er werde es Babić nicht erlauben, den Prozess zu stören. Babić werde den Abzug der jugoslawischen Truppen aus Kroatien nicht verhindern können. Ohne diese Truppen könne Babić aber nicht überleben. In diesem Zusammenhang hob Vance hervor, es habe bei seinen Gesprächen in Jugoslawien nie ein Zweifel darüber bestanden, dass die jugoslawische Armee nach Eintreffen der VN-Friedenstruppen letztlich ganz Kroatien verlassen würde. Gegenteilige Pressemeldungen seien reine Spekulation gewesen. Einigen serbischen Vertretern sei es lediglich darum gegangen, ggf. eine längere Rückzugsphase zu erreichen. 1.2) Entsendung von 50 Verbindungsoffizieren Aufgrund der Ergebnisse seiner Reise und im Lichte der Tatsache, dass Waffenstillstand bisher im Großen und Ganzen zu halten scheine, habe VN-GS dem SR die Entsendung einer 50-köpfigen Gruppe von VN-Verbindungsoffizieren empfohlen (im Einzelnen hierzu vgl. Bezugs-DB). Dies geschehe auch in Übereinstimmung mit EG und Lord Carrington. Portugiesische Präsidentschaft habe inzwischen Verbindungsmann ernannt, der zwischen EGBeobachtermission und VN-Mission koordinieren solle. (Portugiesischer Koordinator ist inzwischen in New York eingetroffen, hat erste Gespräche mit dem für friedenserhaltende 4 Für das Dokument „Further Report of the Secretary-General pursuant to Security Council Resolution 721 (1991)“ vom 5. Januar 1992 (S/23363) vgl. https://documents-dds-ny.un.org/doc/UNDOC/GEN/N92/004/ 82/pdf/N9200482.pdf. 5 Die Präsidenten Milošević (Serbien) und Tudjman (Kroatien) sowie der jugoslawische VM Kadijević und der Sonderbeauftragte des VN-GS für Jugoslawien, Vance, unterzeichneten am 23. November 1991 in Genf ein Waffenstillstandsabkommen. Vgl. die Anlage zum Schreiben des VN-GS Pérez de Cuéllar vom 24. November 1991 an den Präsidenten des VN-Sicherheitsrats (S/23239); https://documents-dds-ny.un.org/doc/ UNDOC/GEN/N91/454/84/img/N9145484.pdf. Am 2. Januar 1992 unterzeichneten der kroatische VM Šušak und der General der JVA, Rašeta, in Sarajevo ein Abkommen zur Implementierung des Waffenstillstandsabkommens vom 23. November 1991. Vgl. die Anlage III zum Bericht des VN-GS Boutros-Ghali vom 5. Januar 1992 (S/23363); https://documents-ddsny.un.org/doc/UNDOC/GEN/N92/004/82/pdf/N9200482.pdf. 6 Am 11. Dezember 1991 legte VN-GS Pérez de Cuéllar ein Konzept für eine friedenserhaltende Maßnahme der VN vor, wie es zwischen seinem Sonderbeauftragten für Jugoslawien, Vance, und verschiedenen jugoslawischen Vertretern erörtert worden sei („Vance-Plan“). Vgl. die Anlage III zu Dokument S/23280; https://documents-dds-ny.un.org/doc/UNDOC/GEN/N91/487/33/pdf/N9148733.pdf.

8

7. Januar 1992: Drahtbericht von Vergau

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Maßnahmen zuständigen USG Goulding geführt und auch an Teil des Vance-Briefings teilgenommen.) Die Entsendung der 50 Verbindungsoffiziere sei als Vorstufe zur geplanten großen friedenserhaltenden Maßnahme der VN zu verstehen. Nach den Vorstellungen von USG Goulding sollten unter den 50 Offizieren die ständigen Mitglieder des SR und andere Staaten vertreten sein. 1.3) Große VN-Operation Nach seiner und des VN-GS Auffassung sei Start der großen Operation in drei oder vier Wochen zu erwarten. Die VN-Truppen sollten dann in den drei Krisengebieten Ostslawonien, Westslawonien und Krajina stationiert werden und nur leicht bewaffnet sein. Parallel zur Stationierung der VN-Truppen in den vorgesehenen Gebieten sollten hier alle jugoslawischen und kroatischen Streitkräfte entwaffnet werden sowie alle jugoslawischen Streitkräfte Kroatien verlassen. Dies werde einige Wochen dauern. Zum Sonderproblem Bosnien-Herzegowina wies Vance auf den Wunsch von Präsident Izetbegović hin, eine größere VN-Friedenstruppe in seinem Land zu stationieren. Geplant sei einstweilen jedoch nur die Entsendung von 100 Militärbeobachtern, nicht von Infanterie, da diese eher Probleme schaffen als lösen könnte. Auf meine Frage führte Vance aus, dass die unmittelbar Betroffenen ein Mitspracherecht bei der Entscheidung über die nationale Zusammensetzung der Friedenstruppen haben würden. Es sei vorgesehen, dass Nachbarstaaten Jugoslawiens keine Truppen stellen würden. Die Zusammensetzung werde im Übrigen nach der bewährten VN-Praxis erfolgen. Im Übrigen werde man auch die ihm gegenüber bereits geäußerte Haltung Serbiens berücksichtigen müssen, das sich bereits gegen Truppenkontingente aus bestimmten Ländern ausgesprochen habe. Zu den Ausführungen von Vance zu den zeitlichen Perspektiven für die weiteren VNAktivitäten in Jugoslawien betonte ich, die Dringlichkeit des Problems erfordere ein sofortiges Tätigwerden. Die in Jugoslawien getroffenen Abmachungen und die VN-Pläne zur Entsendung von Friedenstruppen müssten nun so schnell wie möglich implementiert werden. 1.4) Waffenembargo Vance unterstrich in eindringlichen Worten die fortbestehende Gültigkeit des VNWaffenembargos7, das sich auf alle Gebiete beziehe, die ehedem zu Jugoslawien gehört hätten. Die Anerkennung bestimmter Teile Jugoslawiens als unabhängige Staaten ändere an der Verbindlichkeit des SR-Beschlusses auch für diese Gebiete nichts. Ich stellte zu diesem Punkt unsere Haltung dar und verwies auf die Entschlossenheit der EG, das Waffenembargo strikt zu beachten. Deutschland sei von jugoslawischer Seite daher völlig zu Unrecht beschuldigt worden, das Waffenembargo zu brechen. Die deutsche Regierung habe die Vorwürfe durch ein Memorandum zurückgewiesen (in Anlage als FK8 noch einmal beigefügt, Text wurde hier u. a. an interessierte SR-Mitglieder und Pressevertreter übergeben). 7 Mit Resolution Nr. 713 vom 25. September 1991 verhängte der VN-Sicherheitsrat ein Waffenembargo gegen Jugoslawien. Vgl. RESOLUTIONS AND DECISIONS 1991, S. 42 f. Für den deutschen Wortlaut vgl. EUROPAARCHIV 1991, D 550–552. 8 Dem Vorgang beigefügt. Für das mit FK Nr. 22 der Ständigen Vertretung bei den VN in New York am 7. Januar 1992 übermittelte Memorandum der Bundesregierung vom Vortag vgl. B 30, ZA-Bd. 158142.

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1.5) Zusammenarbeit VN – EG Unter Bezug auf bereits ernannten EG-Koordinator sprach sich Vance für enge Zusammenarbeit zwischen den Beobachtermissionen der EG und der VN aus. Zugleich unterstrich er, der einzige Ort für politische Gespräche zur Substanz sowie zur Lösung des Konflikts sei die Jugoslawien-Friedenskonferenz. Hier bräuchten die VN nicht einzuspringen. Auf die Frage des niederländischen Botschafters9, ob die europäische Entscheidung zur Frage der Anerkennung Kroatiens10 einen Einfluss auf die jüngste Entwicklung gehabt habe, sagte Vance, er wolle nicht „spekulieren“. 2) Weiteres Procedere im SR Wie in Bezugs-DB dargestellt, wird sich SR heute (7.1.) erneut mit Jugoslawien befassen. GB hat für diese Sitzung inzwischen den in Anlage als FK beigefügten Resolutionsentwurf11 vorbereitet, der den Bericht des VN-GS zu den Ergebnissen der letzten Vance-Reise nach Jugoslawien (S/23363) sowie den in ihm enthaltenen Vorschlag zur Entsendung von bis zu 50 Verbindungsoffizieren indossiert. Britischer Botschafter12 (derzeit SR-Vorsitzender) führte hierzu aus, Resolutionsentwurf werde am heutigen Nachmittag zunächst in informellen SR-Konsultationen behandelt. Nachdem jugoslawischer Botschafter13 bereits Zustimmung zum Entwurf signalisiert habe, sei damit zu rechnen, dass ihm auch ungebundene SR-Mitglieder zustimmen würden. Annahme des Textes sei dann für 8.1. zu erwarten.14 Es sei zu hoffen, dass es dann nicht zu substanzieller Debatte über Inhalt der Resolution komme, die nur zu Meinungsverschiedenheiten führen könnte. Ich unterstrich unsere Erwartung, dass dieses Tempo im SR tatsächlich durchgesetzt werde. [gez.] Vergau B 30, ZA-Bd. 158142

9 Robert van Schaik. 10 Bei einem außerordentlichen Treffen der Außenminister der EG-Mitgliedstaaten im Rahmen der EPZ am 16. Dezember 1991 in Brüssel wurde beschlossen, die Unabhängigkeit jugoslawischer Republiken anzuerkennen. Der Beschluss sollte am 15. Januar 1992 durchgeführt werden. Die betreffenden Republiken sollten als Voraussetzung bis zum 23. Dezember 1991 erklären, ob sie die Unabhängigkeit wünschten und zur Übernahme der von der EG am selben Tag festgelegten Leitlinien zur Anerkennung ehemaliger Republiken der UdSSR und in Osteuropa bereit seien. Weitere Voraussetzungen waren u. a. die Bereitschaft zur Einhaltung der Menschenrechte von Angehörigen ethnischer und nationaler Gruppen sowie der Verzicht auf Gebietsansprüche. Vgl. die am 17. Dezember 1991 veröffentlichte Erklärung sowie die Leitlinien; BULLETIN DER EG 12/1991, S. 121 f. Vgl. ferner AAPD 1991, II, Dok. 430. 11 Dem Vorgang beigefügt. Für den Resolutionsentwurf vom 7. Januar 1992 (S/23382), der mit FK Nr. 35 der Ständigen Vertretung bei den Vereinten Nationen in New York am 8. Januar 1992 übermittelt wurde, vgl. B 30, ZA-Bd. 158142. 12 David Hannay. 13 Darko Šilović. 14 Für die Resolution Nr. 727 vom 8. Januar 1992 vgl. RESOLUTIONS AND DECISIONS 1992, S. 7 f.

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3 Vorlage des Ministerialdirektors Seitz für Bundesminister Genscher 8. Januar 19921 Über Herrn Staatssekretär2 Herrn Bundesminister3 Betr.:

Ergebnis des Frankreich-Colloquiums des Planungsstabs, 12./13. Dezember in Bonn

Zweck der Vorlage: Zur Information 1) Der Planungsstab hat am 12. und 13. Dezember in Bonn mit einem ausgewählten Teilnehmerkreis ein Colloquium zu den deutsch-französischen Beziehungen in europäischer Perspektive abgehalten. Die Teilnehmer stimmten in dem Urteil überein, dass das Verhältnis zu Frankreich von zentraler Bedeutung bleibe, aber schwieriger werde. Durch die Folgen der Einheit und die Neuordnung in Europa kämen erhebliche Belastungen auf die Partnerschaft zu. Der anliegende ausführliche Vermerk gibt den Diskussionsverlauf zu den einzelnen Themen des Colloquiums in geraffter Form wieder. 2) Bei der Diskussion über die wirtschaftlich-technologische Zusammenarbeit mit F vertraten insbesondere die Wirtschaftsvertreter wie Krupp-Vorsitzender Cromme die Ansicht, dass man dringend eine hochrangige Konsultativ-Gruppe für den politischen und wirtschaftsstrategischen Dialog mit F benötige (s. S. 8 des anliegenden Vermerks4). Die bestehenden, eher akademischen deutsch-französischen Institutionen könnten dieser Aufgabe nicht gerecht werden. Im deutsch-französischen Verhältnis fehle ein Forum, wie es die Atlantik-Brücke für die deutsch-amerikanischen Beziehungen darstelle.5 Auch der französische Botschafter6, der am Mittagessen teilnahm, sprach sich für den Versuch aus, ein solches Forum zu gründen. Ich habe den Eindruck, dass die Wirtschaft bereit wäre, die Finanzierung zu tragen. Botschafter Sudhoff, mit dem ich die Angelegenheit am 13. Januar in Paris besprechen werde, schlägt vor, dass er einen ausgewählten deutsch­französischen Teilnehmerkreis zu einem Kamin-Gespräch einlädt, um die ForumsIdee zu besprechen. Seitz 1 Die Vorlage wurde von VLR Hauswedell konzipiert. 2 Hat StS Kastrup am 9. Januar 1992 vorgelegen. 3 Hat BM Genscher am 15. Januar 1992 vorgelegen, der MD Seitz um Rücksprache bat. Hat OAR Rehlen am 15. Januar 1992 vorgelegen, der den Rücklauf an Seitz „für Rückspr[ache] H. Seitz bei BM“ verfügte. Hat Seitz am 26. Februar 1992 erneut vorgelegen, der handschriftlich vermerkte: „Erl[edigt]“. Ferner vermerkte er: „Herrn Elbe nach Eintreffen.“ 4 Vgl. Anm. 15 und 16. 5 Der Passus „Die bestehenden … Beziehungen darstelle“ wurde von BM Genscher hervorgehoben. Dazu vermerkte er handschriftlich: „r[ichtig]“. 6 Serge Boidevaix.

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[Anlage] Betr.:

Ergebnis-Vermerk zum Frankreich-Colloquium des Planungsstabs, 12./13. Dezember in Bonn

Inhalt […]7 Der Planungsstab hat am 12. und 13. Dezember mit einem ausgewählten Teilnehmerkreis aus Politik, Wirtschaft, Medien, Politikwissenschaftlern und den Ressorts der Bundesregierung ein Colloquium zu den deutsch-französischen Beziehungen in europäischer Perspektive abgehalten. Dabei wurden die Themenbereiche bilaterale Beziehungen, Europa-Politik, Verhältnis zu Osteuropa und den USA, Sicherheitspolitik und wirtschaftlich-industrielle Zusammenarbeit mit Frankreich diskutiert. Folgende Aussagen und Diskussionsschwerpunkte werden als Ergebnis festgehalten: 1) Grundsätzliche Aussagen zur französischen Außenpolitik Bei der Diskussion der französischen Außenpolitik konstatierten die meisten Teilnehmer die gegenwärtige Verunsicherung Frankreichs durch die europäischen Umwälzungen, die deutsche Einheit (Fortfall der Rolle als Statusmacht) und den relativen Wertverlust seiner Machtwährungen (Nuklearwaffen, Sitz im Sicherheitsrat, Frankophonie­Verbund), unterstrichen aber gleichzeitig seine zähe Entschlossenheit, seinen „Rang“ zu wahren. Statusund Prestigefragen seien für F immer von besonderer Bedeutung gewesen; im Augenblick hätten die französischen „atouts“ für die Aufrechterhaltung des französischen Selbstbewusstseins eine besondere psychologische Bedeutung, die weit über ihren realen Wert hinausginge. Frankreichs Selbstbehauptungswillen, der Glaube an seine weltpolitische Rolle sei ungebrochen. Die mit Maastricht8 verbundenen Souveränitätszugeständnisse Frankreichs an Europa bedeuteten für F keineswegs das Ende des nationalstaatlichen Denkens, sondern eine erträgliche Konzession. Frankreichs Großmachtanspruch lasse sich heute nur noch durch den europäischen Unterbau aufrechterhalten. Die Politische Union werde nichts daran ändern, dass F beanspruchen werde, seinen Sicherheitsratssitz, ungeteilte Verfügung über Nuklearwaffen und die Verteidigungsautonomie beizubehalten. In der jetzigen internationalen Konstellation wurden vier außenpolitische Problembereiche, die in F Befürchtungen hervorrufen, identifiziert. Es handelt sich um Deutschland, die USA, Japan und Osteuropa. Das Verhältnis zu D berühre auch unmittelbar alle anderen Problem­Zonen. Generell herrschte Skepsis vor, ob Frankreich einen gesamteuropäischen Führungsanspruch durchsetzen könne. Trotz seines Ehrgeizes reiche seine wirtschaftliche und politi7 Inhaltsverzeichnis in der Vorlage. 8 Auf der Tagung des Europäischen Rats am 9./10. Dezember 1991 in Maastricht einigten sich die EGMitgliedstaaten auf den Entwurf eines Vertrags zur Europäischen Union. Dieser legte u. a. die Grundlagen einer europäischen Wirtschafts- und Währungsunion fest, die nach einer am 1. Januar 1994 beginnenden zweiten Stufe spätestens am 1. Januar 1999 zu einer einheitlichen europäischen Währung führen sollte. Ferner wurde die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) in der Nachfolge der EPZ eingeführt. Außerdem wurde eine Zusammenarbeit bei Justiz und Innerem als dritte Säule vereinbart. Vgl. AAPD 1991, II, Dok. 425 und Dok. 431. Das Vertragswerk einschließlich der Schlussakte sowie zahlreicher Protokolle und Erklärungen wurde am 7. Februar 1992 in Maastricht unterzeichnet. Vgl. BGBl. 1992, II, S. 1253–1326.

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sche Machtbasis dazu nicht aus. Frankreichs Positionen seien besonders in Osteuropa sehr schwach entwickelt, daher rühre auch eine der zentralen Beunruhigungen gegenüber D. 2) Grundsätzliche Bemerkungen zum deutsch-französischen Verhältnis Alle Teilnehmer bekräftigten die Bedeutung der D-F-Partnerschaft. Andererseits stimmten sie aber auch überein, dass das Verhältnis auch Probleme aufweise und dauernder Pflege bedürfe. Schwierigkeiten entstünden der Partnerschaft derzeit insbesondere durch: – französische Befürchtungen über deutschen Machtzuwachs und französischen Machtverlust in Europa; – anhaltende − auch kulturell bedingte – Kommunikationsprobleme zweier verschiedener politischer und wirtschaftlicher Kulturen; – unterschiedliche außenpolitische Rollenverständnisse; – Abhängigkeit des Verhältnisses von Personen-Konstellationen. Das Paradox sei, dass die Partnerschaft trotz dieser Probleme so gut funktioniere. Ein Teilnehmer bezeichnete die so oft beschworene Harmonie in den deutsch-französischen Beziehungen gewollt provokativ als „Symbolschwindel“, der durch den „diplomatischen Harmoniediskurs“ der Regierungen gespeist sei. Es sei kein Zufall, dass nur die Deutschen von der deutsch-französischen Freundschaft redeten; die umgekehrte Formulierung einer französisch-deutschen Freundschaft sei in Frankreich nicht gebräuchlich. Für F sei die nationalstaatliche Konkurrenz und das Motiv der europäischen Einhegung Ds maßgebend, während wir wegen unseres Harmoniebedürfnisses darüber hinwegsähen. Es bestand Übereinstimmung darin, dass die Deutschen gegenüber F zu nachgiebig seien und ihre außenpolitischen Interessen in dieser Partnerschaft nicht genügend formulierten und durchsetzten. Die Formel eines Teilnehmers, dass wir „französischer in unserem Denken“ werden müssten, fand Anklang. Es sei eine offene Aussprache mit Frankreich zur Abklärung der Interessen notwendig. Ein größeres Selbstbewusstsein bei der Vertretung unserer Interessen wurde auch für notwendig befunden, um im Verhältnis zu größerer Ehrlichkeit miteinander zu kommen. Die bei uns beobachtete Tendenz, aus Vorsicht nicht über deutsche Interessen zu sprechen, sondern deutsche Politik quasi als selbstlos europäisch zu präsentieren, werde in F vielfach als unglaubwürdig oder als besonders raffiniert empfunden. Die mangelnde Abklärung der Interessen könne zu Belastungen und Gefährdungen des D-F­Verhältnisses führen. Die bereits konstatierte deutsche Nachgiebigkeit oder das Verschweigen der eigenen Interessen bringe auf französischer Seite ein Misstrauen in die Beziehungen. Darüber hinaus könnte eine Zunahme europafeindlicher Stimmungen in beiden Staaten (z. B. wegen des Verlusts der DM bzw. des Verlusts der nationalen Souveränität) zu einer Belastung der Partnerschaft führen. Die endgültige Beurteilung des Ergebnisses von Maastricht sei in der französischen Öffentlichkeit noch schwankend: Während ein Teil die WWU als Durchsetzung der französischen Interessen begrüßte, gebe es auch Stimmen, die darin ein „Kuckucksei“ für die deutsche wirtschaftliche Dominanz in der EG sehen. Es wurde immer wieder herausgestellt, dass Frankreichs Aufmerksamkeit bei Statusund Prestigefragen sowie seine Besorgnisse um das europäische Gleichgewicht von uns aus psychotherapeutischen Gründen sehr ernst genommen werden müssen. Aber Probleme könnten sich selbst bei gewissenhafter Beachtung dieser französischen Empfindlichkeiten ergeben, da Frankreich die sich anbahnende gesamteuropäische Konstellation als Nullsummenspiel zu seinen Lasten interpretiere. 13

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Der Vertreter der Botschaft Paris gab zu bedenken, dass für die D-F-Beziehungen derzeit durch die Person Präsident Mitterrands ein „window of opportunity“ zur weiteren Festigung der Beziehungen bestehe, da alle späteren Konstellationen nach den nächsten Präsidentschaftswahlen9 wahrscheinlich nicht so Deutschland-freundlich aussehen würden. 3) EG-Erweiterung und Osteuropa als die zentrale Herausforderung im deutsch-französischen Verhältnis Die Diskussion machte sehr deutlich, dass F wegen der eigenen wirtschaftlichen und politischen Schwäche in Osteuropa große Besorgnisse gegenüber der EG-Erweiterung und der deutschen Rolle in dieser Region hegt und dass dies die Chancen für eine rasche EGErweiterung um die MOE und für eine konstruktive gemeinsame Ostpolitik mit F erheblich beeinträchtigen dürfte. Frankreichs Politik hinsichtlich der EG-Erweiterung sei dadurch bestimmt, dass die Vertiefung der EG nicht Opfer der Erweiterung werden dürfe. Die Befürchtung, dass D in Osteuropa seine natürlichen Vorteile ausspielen und durch seinen Einfluss bei den MOEStaaten in der zukünftigen EG auch anti-französische Mehrheiten herbeiführen könnte, sei für das französische Kalkül nicht unbedeutend. Es wurde Skepsis geäußert, ob eine konstruktive gemeinsame D-F-Ostpolitik angesichts der ungenügenden Vertrauensgrundlage möglich sei. Eher werde es so sein, dass F „uns in Osteuropa im Stich lassen“ werde. Für uns gebe es aber nicht nur politische, sondern auch wirtschaftliche Notwendigkeiten einer gemeinsamen Ostpolitik: Die Lastenteilung mit F und der EG insgesamt sei notwendig, allein würden wir uns übernehmen. Es sei auch deutlich, in welchem Maße F in Osteuropa eine widersprüchliche Politik treibe: Während es einerseits den Staaten Osteuropas (PL, ČSFR, UNG, RUM) in bilateralen Verträgen Unterstützung für den EG-Beitritt zusichere, verkünde es in seinen Verlautbarungen zur Europäischen Konföderation10, dass ein Beitritt erst in Dutzenden von Jahren denkbar sei. Dadurch triebe es die Staaten Osteuropas in die Arme Deutschlands, was es gerade vermeiden möchte. Frankreich habe auch den schweren Fehler begangen, durch das Projekt der Europäischen Konföderation eine Ausgrenzung der USA zu versuchen. Für die Staaten Osteuropas sei die Verbindung mit den USA jedoch die Chance ihrer Geschichte und deshalb von hoher Priorität. Wer das nicht begreife, stoße die MOE vor den Kopf. Trotzdem sei es für uns wichtig, F bei der Europäischen Konföderation gewähren zu lassen, solange hier kein Schaden eintrete. Als „Spielwiese“ sei dieses Projekt für Mitterrand wichtig. Die Skepsis gegenüber der Erweiterung gelte nicht für die gesamte innenpolitische Landschaft in F. Im Lager der französischen Konservativen gebe es deutliche Befürwortung einer raschen Erweiterung. 4) Die Zukunft der EG als Stabilitätsfaktor in Europa Zwei Tage nach dem EG-Gipfel von Maastricht hatte die Diskussion sehr aktuelle Bezüge. Das Ergebnis von Maastricht war in der Debatte umstritten. Euro-Optimismus und Euro­Pessimismus standen sich gegenüber. Die Euro-Optimisten argumentierten, dass die EG mit Maastricht als Stabilitätsfaktor Nr. 1 in Europa bestätigt wurde und ihre Anziehungskraft auf das restliche Europa dadurch 9 In Frankreich standen turnusgemäß 1995 Wahlen zur Präsidentschaft an. 10 Zu den französischen Überlegungen für eine Europäische Konföderation vgl. AAPD 1991, I, Dok. 82.

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noch zunehme. Binnenmarkt und Währungsunion würden das europäische weltwirtschaftliche Gewicht vergrößern. Angesichts der Schwäche des Dollars würde der ECU sich gut behaupten und stärker werden. Die Fortschritte zum handlungsfähigen Europa seien gerade wegen der Ungewissheiten im Osten und möglicher isolationistischer Tendenzen in den USA ein positiver Impuls für den europäischen Selbstbehauptungswillen. Die Euro-Pessimisten führten demgegenüber an, dass die Fahrpläne der EG für PU und WWU angesichts der Unwägbarkeiten im Osten zu mechanistisch aufgestellt worden seien und von der Entwicklung überholt werden könnten. Einige der Teilnehmer bezeichneten die WWU als unnötig und konstatierten eine ungenügende Durchsetzung deutscher Interessen (z. B. Sitz Europäischer Zentralbank). Sie waren generell der Auffassung, dass − gerade angesichts der unübersehbaren Entwicklungen in Osteuropa − das EWS und der Binnenmarkt zunächst ausgereicht hätten, um Europa auf den Weg zu bringen. Ein Teilnehmer argumentierte, dass die deutsche Öffentlichkeit auf die währungspolitischen Entscheidungen von Maastricht nicht vorbereitet worden und dass infolgedessen ihre endgültige Akzeptanz noch keineswegs gesichert sei. Er zog eine Parallele zur gescheiterten Europäischen Verteidigungsgemeinschaft von 1954.11 Präsident Mitterrand habe mit seiner Ankündigung, dass 1992 möglicherweise ein Referendum über die Ergebnisse von Maastricht im Verbund mit Vorschlägen zur französischen Verfassungsreform erfolgen könne, sehr unsicheren Boden betreten. Dieses „russische Roulette“ könne auch „nach hinten“ losgehen.12 Die Mehrzahl der Teilnehmer wollte diese Parallele nicht gelten lassen. Sie wies darauf hin, dass die Ergebnisse von Maastricht die Zustimmung aller im Parlament vertretenen Parteien hätten. Besorgnis gab es allerdings über die Möglichkeit, dass rechte Parteien außerhalb des derzeit vertretenen Spektrums nationale Emotionen gegen die WWU schüren und durch ihre Argumentation die etablierten Parteien zu defensiven Anpassungen nötigen könnten. Es gebe zusätzlich in Westeuropa Grundströmungen und Bewegungen, die den Zusammenhalt der EG infrage stellen könnten. Dazu gehörten etwa die Krise der nationalen Institutionen, die immer deutlicher werdende Unfinanzierbarkeit des Sozialstaats, die Krise des Föderalismus, die Politik im Schatten der Schuldenberge. Auch eine generelle Zunahme der EG-Feindlichkeit sei nicht auszuschließen. Die Gründe könnten möglicherweise im Demokratie-Defizit der EG, in einem Erscheinungsbild der Brüsseler Kommission als zentralistische Bürokratie, in den Verwerfungen der EG­Agrarpolitik und ihrer Reform-Unfähigkeit gesucht werden. Man müsse auch abwarten, ob die kurzfristigen Schwierigkeiten und Nachteile bei der vollen Einführung des Binnenmarkts recht bald durch die beweisbaren Vorteile und Wachstumsimpulse abgelöst würden. 5) Sicherheitspolitik Bei der Diskussion der Sicherheitspolitik wurden die Beschlüsse von Maastricht überwiegend als konstruktiv und in die richtige Richtung weisend gewürdigt. Die D-F militä11 Die französische Nationalversammlung beschloss am 30. August 1954 nach zweitägiger Debatte die Absetzung des am 27. Mai 1952 unterzeichneten EVG-Vertrags von der Tagesordnung, was der Ablehnung der Ratifizierung gleichkam und das Scheitern der EVG bedeutete. Vgl. JOURNAL OFFICIEL, ASSEMBLÉE NATIONALE 1954, S. 4379–4474. Vgl. auch DzD II/4, S. 56–63. 12 In Frankreich fand am 20. September 1992 ein Referendum über das Vertragswerk von Maastricht statt. Vgl. Dok. 293 und Dok. 300.

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rische Zusammenarbeit habe wegen der französischen Empfindlichkeiten bescheiden angefangen, aber der Anfang sei vielversprechend. F bewege sich in die richtige Richtung. Es gab jedoch Stimmen, die auf Zielkonflikte zwischen WEU und NATO einerseits und zwischen europäischer Verteidigungsidentität und guten Beziehungen zu den USA anderseits hinwiesen. Die Vertreter dieser Meinung neigten zu der Auffassung, dass die sicherheitspolitische Konstruktion von Maastricht die Neigung zum Disengagement der USA in Europa begünstigen würde. Es wurden auch Zweifel angebracht, ob die WEU/GASP je die NATO ersetzen könne. Generell wurden an der französischen Sicherheitspolitik die Ambivalenz gegenüber der NATO, das Festhalten an der nuklearen Verteidigungsautonomie und das Verhältnis gegenüber den USA kritisiert. Über die Beweggründe der jüngsten französischen Annäherungen gegenüber der NATO13 war man sich letztlich nicht klar. Es herrschte jedoch der Eindruck vor, dass sich keine Kehrtwende der französischen Politik gegenüber der Allianz andeute, sondern eher taktische Überlegungen maßgebend sind. Übereinstimmung bestand darüber, dass das französische Militär deutlich NATO-freundlicher als die politische Führung ist. Hinsichtlich der französischen Nuklearbewaffnung bestand Übereinstimmung, dass der Wert dieser Waffen schwinde und ihre Bedeutung immer primär politischer Natur gewesen sei, um den französischen Unabhängigkeitsanspruch zu untermauern. Heute seien sie in erster Linie da, um Frankreichs „Rang“ zu wahren. Man könne deshalb eine gelassene Haltung einnehmen. Letztlich könnten nur die amerikanischen Atomwaffen die Sicherheit Europas garantieren; die britisch-französischen Arsenale allein seien dazu auch in Zukunft nicht in der Lage. F habe dies im Grunde begriffen, jedoch erlaube es ihm sein Statusdenken nicht, dies einzugestehen. Stattdessen predige F die Emanzipation der Europäer von den USA und wolle den USA nur noch eine Rolle als „Nachtportier“ für die europäische Sicherheit zugestehen. 6) Verhältnis zu den USA Das ambivalente Verhältnis Frankreichs zu den USA wurde allgemein als Problem bezeichnet. Wenn wir schon von einer gemeinsamen Ostpolitik mit Frankreich sprächen, müssten wir ebenso notwendig mit F eine gemeinsame Westpolitik gegenüber den USA betreiben. Diese sei dringend notwendig. D betätige sich immer wieder zwischen der französischen und amerikanischen Position als Vermittler, werde aber in der Spagat-Stellung überfordert. Es bestanden unterschiedliche Auffassungen darüber, ob die USA und Frankreich sich gegenwärtig annäherten. F wolle die USA nach wie vor nur à la carte in Europa haben, seine Bestrebungen zur politischen und kulturellen Emanzipation Europas von den USA seien unverändert gültig. Es wurde ausgeführt, dass F eigentlich ein natürliches Interesse an 13 VLR I Bertram wies am 11. Dezember 1991 auf Äußerungen des französischen VM Joxe und führender Militärs hin, die zu Spekulationen über eine veränderte französische Haltung zur NATO geführt hätten. Entscheidend sei jedoch die Haltung von Staatspräsident Mitterrand, der sich gegen solche Spekulationen gewandt habe. Dennoch bleibe festzustellen, „dass die französische Diskussion über die Haltung zum Atlantischen Bündnis lebhafter geworden ist und dass mit der weitgehenden Zustimmung Frankreichs zur neuen NATO-Strategie ein beachtenswerter Schritt gemacht worden ist“. Vgl. B 14, ZABd. 161175.

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einer starken Präsenz der USA in Europa haben müsse, da nur die USA Deutschland ausbalancieren könnten. Die in jüngster Zeit in der Vorbereitungsphase des US-Wahlkampfes14 sichtbar werdenden Tendenzen des Primats der Innenpolitik in den USA müssten vorsichtig beobachtet werden. Dadurch könne die Zukunft der US-Truppen in Europa schon zum Wahlkampfthema 1992 werden. In der europäischen Sicherheitspolitik müsse sehr darauf geachtet werden, dass durch die Bekräftigung der europäischen Verteidigungsidentität keine falschen Signale an die USA ausgesandt werden. 7) Die unterschätzte Südflanke: Mittelmeer und islamischer Krisenbogen In der deutschen Öffentlichkeit würden die spezifischen Besorgnisse Frankreichs gegenüber dieser Region unterschätzt. Mittelmeer und Naher Osten hätten für F die gleiche Bedeutung wie für uns Osteuropa. Diese Region sei für F sowohl ein sicherheitspolitisches (ABC-Waffen, 15Raketen), demographisches (Einwanderung), ideologisches (Islam) und wirtschaftliches (Abhängigkeit der Erdölversorgung) Problem. Größeres deutsches Interesse für diese Region wurde für notwendig erachtet. 8) Wirtschaftliche und industrielle Zusammenarbeit mit Frankreich In der stark durch die praktischen Erfahrungen der anwesenden Vertreter der Wirtschaft beeinflussten Diskussion wurden durch den Krupp-Vorstandsvorsitzenden Cromme die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit Frankreichs als viertgrößter Industriestaat und der Rang seiner Hochtechnologie-Bereiche herausgestellt. Frankreich habe mit „deutschen“ Maßstäben der Haushalts- und Finanzpolitik gleichgezogen. Von allen Teilnehmern wurden die zunehmende wirtschaftliche Interdependenz beider Partner und ihr gemeinsames Gewicht in der EG (zusammen erwirtschaften beide 47 % des BIP der Gemeinschaft) betont. Die Vertreter der Wirtschaft konstatierten jedoch auch, dass es Grenzen in der wirtschaftlichen Zusammenarbeit mit F durch Kommunikationsprobleme (Sprache, unterschiedliche politische Kultur, unterschiedliche Wirtschaftssysteme, größere Austauschbarkeit der Eliten in F) und durch den Staatseinfluss in der Wirtschaft gebe. Fusionen und Kooperationen mit größeren französischen Firmen im staatlichen Eigentum seien problematisch und daher relativ selten, da sich durch den Staatseinfluss dirigistische Komponenten bemerkbar machten und jede Kooperation dieser Firmen mit einem ausländischen Partner aus Gründen einer Souveränitätsstrategie der Regierung nur in eingeschränktem Maße möglich sei. Der Handel und die Vertriebskooperationen mit F funktionierten sehr gut; die gegenseitigen Investitionen von D und F seien − gemessen an dem Gewicht ihrer Wirtschaftsbeziehungen − aber eher bescheiden. Bei der Diskussion der Möglichkeiten einer gemeinsamen Industriepolitik mit F bestand Übereinstimmung, dass wir dringend den politischen und wirtschaftsstrategischen Dialog mit F suchen müssen und dazu eines Forums bedürfen (siehe dazu Konkretisierung in der Deckvorlage). Es wurde von vornherein klargestellt, dass es nicht um eine klassische Industriepolitik mit den altbekannten Sündenfällen (Protektionismus, Subventionen) gehen könne, sondern um selektives Vorgehen in Hochtechnologiebereichen (z. B. Halbleiter, Unterhaltungs14 In den USA fanden am 3. November 1992 Präsidentschaftswahlen, Wahlen zum Repräsentantenhaus sowie Teilwahlen zum Senat und für die Gouverneursämter statt. 15 Beginn der Seite 8 der Vorlage. Vgl. Anm. 4.

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elektronik, Luft-und Raumfahrt, Telekommunikation) und pragmatische Einzelfall-Entscheidungen zur Sicherung der europäischen Wettbewerbsfähigkeit. Es bestand die Auffassung, dass eine derartige Kooperation effizienter bilateral mit F als im Rahmen der EG-Zwölf verwirklicht werden könne.16 In Anbetracht der japanischen Herausforderung sei neues wirtschaftsstrategisches Denken gefordert. Angesichts der drohenden japanischen Weltmarktmonopole für bestimmte Technologien fehle eine überzeugende europäische Gegen-Strategie. Eine Überprüfung des europäischen Kartellrechts müsse es ermöglichen, dass Europa auch strategische Allianzen aufbauen könne. Auf nationaler Ebene ließen sich die technologischen Großprojekte schon nicht mehr realisieren17. Wenn wir jetzt nicht gemeinsame Lösungen fänden, würden wir sie zum Schaden der Europäer nur gegeneinander finden können. B 9, ZA-Bd. 178533

4 Drahtbericht des Botschafters Knackstedt, Warschau VS-NfD Fernschreiben Nr. 25 Cito Betr.:

Aufgabe: 8. Januar 1992, 12.07 Uhr1 Ankunft: 8. Januar 1992, 13.43 Uhr

Erstarken des Nationalismus in Polen – zu erwartende Schwierigkeiten im bilateralen Verhältnis

Zur Unterrichtung 1) Auf der politischen Bühne, im Sejm und in der Regierung führen seit den Parlamentswahlen von Oktober 19912 Vertreter der populistisch-nationalistischen Parteien das große Wort. Ihre Wähler – v. a. ländlich-traditionalistische Schichten und ungelernte Arbeiter – hatten diese Gruppen hauptsächlich mit destruktiver Kritik an der Wirtschafts- und der Innenpolitik der Regierungen Mazowiecki und Bielecki gewonnen. Wirtschafts- und auch Innenpolitik sind aber – gerade jetzt in Polen – äußerst schwierige Problemfelder, in denen mit Radikalität nichts gewonnen ist. Politisches Verantwortungsbewusstsein würden die in den Wahlen erstarkten Rechtsparteien zeigen, wenn sie sich der Einsicht beugten, dass auch Olszewski in vielem keine grundsätzlich andere Linie wird 16 Ende der Seite 8 der Vorlage. Vgl. Anm. 4. 17 Korrigiert aus: „realisieren lassen“. 1 Der Drahtbericht wurde von Gesandtem Vogel und LR Knirsch, beide Warschau, konzipiert. Hat VLR I von Arnim vorgelegen, der handschriftlich vermerkte: „Interessantes, wichtiges Telegramm.“ 2 Die Wahlen zum polnischen Parlament fanden am 27. Oktober 1991 statt. Im Parlament waren künftig 16 Parteien und Wahlbündnisse vertreten. Der für die Zentrumsallianz (Porozumienie Centrum), die mit 8,7 % der Stimmen viertstärkste Partei geworden war, angetretene Jan Olszewski bildete am 23. Dezember 1991 eine von fünf Parteien getragene Regierung.

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verfolgen können als seine Vorgänger, dass weder in der Wirtschaftspolitik noch bei der Reinigung des Staatsapparates von alten Kommunisten deutliche Erfolge zu erwarten sind, die die Bevölkerung von ihren drückenden Alltagsproblemen ablenken könnten. Von alledem ist bisher wenig oder nichts zu spüren. 2) Die neuen Kräfte wenden sich anstatt dessen – gleichsam als Ersatz – schwungvoll „nationalen“ Themen zu, allen voran die Konföderation Unabhängiges Polen (KPN3), die Christlich-Nationale Vereinigung (ZChN4) und in geringerem Maße das Centrum (PC5). Sie scheuen dabei keinen außenpolitischen Flurschaden: – Ende Dezember legten die Sejm-Abgeordneten der ZChN – unter ihnen die Minister für Justiz6, Inneres7 und Arbeit8 – einen Sprengsatz an die polnisch-litauischen Beziehungen. In einem Entschließungsantrag kritisierten sie die „Verfolgung“ der polnischen Minderheit in LIT und die „Kolonisationspolitik“ der Regierung in deren Wohngebieten. Sie forderten u. a. „national-territoriale Autonomie“ für die Polen „in den Gebieten, in denen sie die Mehrheit stellen,“ sowie die Rückgabe allen polnischen Vorkriegseigentums. Die ZChN könnte in dieser Angelegenheit wohl u. a. auf die Stimmen des Centrums und der Bauernparteien rechnen. Die Abstimmung wurde nach großen Anstrengungen AM Skubiszewskis zunächst auf den 15.1. verschoben. – Die KPN brachte am 5.12. einen Gesetzesantrag ein, der eine Überprüfung und mögliche Aufhebung aller völkerrechtlichen Verpflichtungen Polens seit 1944 vorsieht. Ein solches Verfahren würde z. B. die Ostgrenzen Polens wieder infrage stellen. Die KPN wird allerdings mit ihrem Antrag nicht durchkommen. Gleichwohl bringt er Unruhe in die polnische Außenpolitik. – Abgeordnete der KPN fordern die Nichtratifizierung des polnisch-tschechoslowakischen Nachbarschaftsvertrags9. Sie begründeten dies mit dem bemerkenswerten Argument, die Anerkennung der Grenze verletze die Rechte der Polen im (tschechischen) Teschener Schlesien. – Eine andere KPN-Vertreterin kritisierte die Aussage ihres Abgeordnetenkollegen Król (dt. Minderheit), die Integration Polens in Europa erfordere einen Verzicht auf die überkommene Vorstellung von nationaler Souveränität, als eine „Einmischung in die inneren Angelegenheiten Polens“. 3) Die Verfechter solcher Ideen sind leider keine politischen Einzelgänger. Sie repräsentieren die in der „Pologne profonde“ vorherrschende Denkweise und können sich auf ein ungebrochenes kollektives Geschichtsbewusstsein stützen, das auch von der katholischen Kirche getragen wird. MP Olszewski und Präsident Wałęsa wurden bisher von der Strömung nicht mitgerissen, müssen aber mit ihr rechnen. Beide betonen dementsprechend in letzter Zeit emphatisch 3 4 5 6 7 8 9

Konfederacja Polski Niepodległej. Zjednoczenie Chrześcijańsko-Narodowe. Porozumienie Centrum. Zbigniew Dyka. Antoni Macierewicz. Jerzy Kropiwnicki. Für den Vertrag vom 6. Oktober 1991 zwischen Polen und der ČSFR über gute nachbarliche Beziehungen, Solidarität und freundschaftliche Zusammenarbeit vgl. UNTS, Bd. 2161, S. 213–252.

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die Verpflichtung Polens zur Verteidigung aller seiner im Ausland lebenden Landeskinder. Die bisherige politische Elite (Mazowiecki, Geremek, Michnik etc.) befindet sich demgegenüber in der Defensive und zeigt vielfach Resignation. Viele ehemalige Solidarność-Intellektuelle ziehen sich ins Privat- oder Wirtschaftsleben zurück, viele andere werden aus ihren Ämtern entfernt. Die nationale Welle richtet sich mit Ausnahme Litauens bisher noch nicht gegen einzelne andere Länder. Je nach aktueller Themenlage können aber alle ins Schussfeld geraten, denn ein ungestörtes Verhältnis wird in Polen gegenüber keinem Volk empfunden, dem es benachbart ist oder mit dem man in der Vergangenheit zusammengelebt hat. Als die Schlimmsten gelten, wenig beeinflusst durch die jüngere und jüngste Geschichte, weiterhin Deutsche, Russen und Juden. 4) Was Deutschland betrifft, gab davon in der Sejm-Debatte zur Ratifizierung des deutschpolnischen Vertragswerkes10 die ZChN-Fraktion einen Vorgeschmack, die seinerzeit nur drei umfasste, inzwischen aber 49 Abgeordnete stellt. Die Tatsache, dass dabei z. B. vor einer „massenhaften deutschen Ansiedlungsbewegung“ in den Oder-Neiße-Gebieten gewarnt wurde, zeigt, dass es nicht leicht sein wird, mit diesen Kräften eine sachliche Auseinandersetzung zu führen. 5) Drei Themen sind bereits sichtbar, deren sich im Vorfeld des geplanten Staatsbesuchs von Präsident Wałęsa11 nationalistische Kräfte bemächtigen könnten: – die Frage der Entschädigung von Nazi-Opfern, die trotz der Stiftungslösung12 in weiten Kreisen Polens unverändert als unbefriedigend betrachtet wird; – das Thema der Polen in Deutschland, das in der polnischen Öffentlichkeit von schlimmen Visionen neonazistischer Ausschreitungen bestimmt ist; – das Thema der deutschen Minderheit in Polen. Jederzeit neu aufgewärmt werden können z. B. die Themen eines (fiktiven) Ausverkaufs der heimischen Industrie an ausländische Konkurrenten oder der Entstehung einer deutschen Einflusszone um Königsberg. 6) Bewertung Unsere Hoffnung, nach dem Ende der kommunistischen Propaganda und nach der Unterzeichnung des Grenz- und des Nachbarschaftsvertrags würde die latent antideutsche Stim10 Die Bundesrepublik und Polen schlossen am 14. November 1990 einen Vertrag über die Bestätigung der zwischen ihnen bestehenden Grenze. Vgl. BGBl. 1991, II, S. 1329 f. Vgl. auch AAPD 1990, II, Dok. 384, sowie DIE EINHEIT, Dok. 169. Ferner wurde am 17. Juni 1991 ein Vertrag über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit unterzeichnet. Vgl. BGBl. 1991, II, S. 1315–1327. Zur Ratifizierungsdebatte in Polen vgl. AAPD 1991, II, Dok. 348. 11 Der polnische Präsident Wałȩsa hielt sich vom 29. März bis 3. April 1992 in der Bundesrepublik auf. Vgl. Dok. 90. 12 Die Bundesrepublik und Polen führten seit April 1991 Gespräche über die Errichtung einer „Stiftung Deutsch-Polnische Aussöhnung“ zur Regelung von Entschädigungszahlungen an polnische Opfer des Nationalsozialismus. Vgl. AAPD 1991, I, Dok. 132, und AAPD 1991, II, Dok. 291 und Dok. 292. Zum Sachstand erläuterte Referat 503 am 28. Januar 1992, Grundlage der Stiftung sei ein Notenwechsel vom 16. Oktober 1991, in dem die Bundesregierung die Zahlung eines einmaligen Beitrags von 500 Mio. DM zugesagt habe. Nach Gründung der Stiftung in Polen Ende November 1991 sei eine erste Rate von 250 Mio. DM überwiesen worden. Vgl. B 86, Bd. 2051.

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mung in Polen allmählich schwinden, erfüllt sich leider nicht im erwarteten Maße. Wohl zeigt sich der größte Teil der Intelligenz weiterhin europafreundlich und damit auch Deutschland gegenüber aufgeschlossen. Natürlich ist die Jugend weitaus offener als die Kriegsgeneration, und sicherlich haben viele persönliche Begegnungen auch dieser Generation ein neues Bild von Deutschland vermittelt. Aber die z. Zt. herrschenden Kräfte verhalten sich noch nicht viel anders als ihre Vorgänger zu Zeiten der Volksrepublik – im Zeigen auf ausländische „Gegner“ suchen sie eine nationale Solidarisierung zu finden. Vor diesem Hintergrund sollte unser Vorgehen gerade jetzt behutsamer und vorsichtiger sein. Auch mit den wohlmeinendsten Initiativen zur Zusammenarbeit sollten wir uns nicht aufdrängen. Unsere Initiativen sind in polnischer Perzeption rasch gleichbedeutend mit „deutschem Drang nach Osten“. Das Beispiel des „Stolpe-Plans“ für die Oder-Region13 und seiner Ablehnung durch die polnische Öffentlichkeit zeigt, dass man uns leicht die schwärzesten Hintergedanken zumutet. Hinter einem Hilfsangebot wird oft schlichtes Einflussstreben vermutet. Wir sollten demgemäß unsere Anstrengungen zu besseren deutsch-polnischen Beziehungen vor allem auf die Vermittlung von mehr Kenntnis über Deutschland konzentrieren. Wichtiger denn je sind Jugendaustausch, alle Arten von Gesprächskontakten und Deutschland-Einladungen. Viele der neu in den Sejm und die Regierung gekommenen Politiker waren noch nie in Deutschland. Ihnen gegenüber muss mit Geduld und Vorsicht Vertrauen erworben werden. Die in bilateralen vertraglichen Verhältnissen noch offenen Punkte sollten bald, in jedem Fall aber rechtzeitig vor dem für Ende März geplanten Staatsbesuch, gelöst werden. Präsident Wałęsa ist den populistischen Parteien nicht wohlgesonnen und sieht die Gefahren, die aus nationalistischer Überspitzung für sein Land erwachsen. Außenminister Skubiszewski, der nur auf Druck Wałęsas sein Amt halten konnte, hat alle Hände voll mit Schadensbegrenzung zu tun. Sein Einfluss auf die Wahrnehmung der außenpolitischen Angelegenheiten im Lande hat leider abgenommen. [gez.] Knackstedt B 221, ZA-Bd. 166645

13 VLR I Dahlhoff erläuterte am 5. November 1991, eine von den Ländern Berlin und Brandenburg finanzierte Studie über ein Förderkonzept für den Oderraum sei vom brandenburgischen MP Stolpe im Sommer 1991 an den polnischen MP Bielecki übergeben worden, in der dortigen Presse jedoch auf Kritik gestoßen wegen „aus polnischer Sicht bestehender Asymmetrien – Kapital vor allem aus Deutschland, Anwendungsbereich vor allem Westpolen, Verwaltungssitz in Berlin“. Vgl. B 63, ZA-Bd. 157182.

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5 Drahtbericht des Botschafters Blech, Moskau Fernschreiben Nr. 66 Citissime Betr.:

Aufgabe: 8. Januar 1992, 13.43 Uhr1 Ankunft: 8. Januar 1992, 13.45 Uhr

Unsere diplomatischen Beziehungen zu den Staaten der GUS2

Bezug: Mein Telefonat mit D 23 am 6.1.1992 Zur Unterrichtung 1) Die Erfahrungen der Botschaft im Umgang mit den Republiken, die die GUS bilden, zeigen, dass die Vorbereitungen der Aufnahme diplomatischer Beziehungen auf dem Verhandlungswege langwierig und umständlich verlaufen werden. Die betreffenden Außenministerien verfügen über nur schwach ausgebildete Infrastrukturen, sind personell völlig unterbesetzt und verfügen über nur geringe professionelle Kapazitäten. Außerdem sind sie stark durch die interrepublikanischen Beziehungen beansprucht. Wo wir eigene Interessen haben, kommen wir nicht umhin, den Betreffenden mit gehörigem Takt etwas die Hand zu führen. Bei einer Präferenz für gemeinsame Vertretungen aller oder mit einigen EG-Partnern wird weiterer Zeitverlust eintreten, wenn die Herstellung der Beziehungen vom Vorliegen der notwendigen Abstimmung mit den möglichen Partnern abhängig gemacht wird. Ich gehe im Folgenden davon aus, dass nicht daran gedacht ist, einen und denselben Botschafter durch mehrere EG-Staaten akkreditieren zu lassen, sondern für die nationalen Botschaften gemeinsam zu nutzende Infrastrukturen zu schaffen – sei es für mehrere residierende Missionschefs, sei es für eine Mischung von solchen und nicht residierenden, denen bei ihren Besuchen dann diese Infrastruktur zur Verfügung steht (evtl. mit ein oder zwei Beamten als „Ständigen Vertretern“). 2) Um eine möglichst nahtlose und effiziente Verbindung zu den Republiken sicherzustellen, rate ich deshalb, in die dort angestellten Überlegungen Folgendes miteinzubeziehen: 1 Hat BM Genscher am 9. Januar 1992 vorgelegen, der StS Kastrup, MD Paschke und MD Chrobog um Rücksprache bat. Hat OAR Rehlen vorgelegen, der den Rücklauf an das Büro Staatssekretäre verfügte „für Rückspr[ache] StS K[astrup], D 1 und D 2 bei BM“. Hat Kastrup am 9. Januar 1992 vorgelegen, der handschriftlich vermerkte: „Erledigt.“ 2 VLR Trautwein teilte am 14. Januar 1992 mit, die Bundesrepublik habe durch Schreiben des Bundespräsidenten Freiherr von Weizsäcker vom 26. Dezember 1991 an den russischen Präsidenten Jelzin „zur Kenntnis genommen, dass die RF die ehemalige SU fortsetzt. Die RF tritt damit in alle Rechte und Pflichten der ehemaligen SU ein.“ Außerdem habe die Bundesrepublik durch Schreiben von Weizsäcker ebenfalls am 26. Dezember 1991 die Ukraine völkerrechtlich anerkannt. Am 31. Dezember 1991 seien Armenien, Aserbaidschan, Belarus, Kasachstan, Moldau, Turkmenistan sowie Usbekistan anerkannt worden. Die Anerkennung Kirgisistans sei zum 13. Januar 1992 erfolgt, diejenige Tadschikistans zum 16. Januar 1992: „Eine förmliche Anerkennung der Republik Georgien ist wegen der politischen Lage im Lande noch nicht vorgesehen; die Staatlichkeit Georgiens wird jedoch nicht geleugnet.“ Mit den anerkannten Staaten würden Verhandlungen zur Vereinbarung der Aufnahme diplomatischer Beziehungen vorbereitet. Vgl. RE Nr. 5; B 5, ZA-Bd. 161325. 3 Jürgen Chrobog.

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– grundsätzlich nicht zu warten, bis sie auf das in den Anerkennungsschreiben enthaltene Angebot von Verhandlungen über die Aufnahme diplomatischer Beziehungen von sich aus eingehen, sondern aus unserer Initiative nachzufassen, – dabei die möglichst baldige praktische Aufnahme der Beziehungen im Wege der Doppelakkreditierung vorzuschlagen (wobei im einen oder anderen Fall ausdrücklich gesagt werden könnte, dass dies die Entsendung eines residierenden Botschafters nach Klärung der praktischen, nicht zuletzt haushaltsmäßigen Voraussetzungen nicht negativ präjudizieren soll), – hiervon die Republiken auszunehmen, mit welchen Direktbeziehungen sehr schnell hergestellt werden sollen bzw. können. Dieses pragmatische Vorgehen würde uns die Grundlage für den erforderlichen Direktkontakt in gehöriger Form geben und gleichzeitig den notwendigen Spielraum für eine Abstimmung über die endgültige Gestaltung unserer diplomatischen Beziehungen zu den Republiken, intern wie auch im Verhältnis zu den Republiken bzw. zu unseren europäischen Partnern, offenhalten. 3) Im Einzelnen 3.1) Selbstverständlich ist hier die Ukraine von vornherein ausgenommen, weil hier die Dinge bereits weiter gediehen zu sein scheinen. Zweckmäßig wird es auch sein, Moldova per Doppelakkreditierung von Kiew aus wahrzunehmen. 3.2) Fraglich ist, ob der Gedanke der Doppelakkreditierung gegenüber Belarus ad interim eingeführt werden sollte. Dies hängt zunächst davon ab, wann wir willens und in der Lage sind, dem Generalkonsulat Minsk den Status einer Botschaft zu geben. Aber auch die andere Seite dürfte eher zögern. Minsk – als Mitgründer des Ur­Commonwealth4 – wird auf eine prinzipielle Gleichbehandlung mit der Ukraine, also auf die etwa gleichzeitige Errichtung einer deutschen Botschaft, Wert legen. Es ist auch nicht auszuschließen, dass Weißrussland, wenn die Ukraine ihre Botschaft in Kiew bekommen hat, recht deutlich machen wird, dass es das Generalkonsulat in Minsk nicht als vollen und länger dauernden Ersatz betrachten, ihm also nicht die vollen politischen Kontaktmöglichkeiten geben wird. 3.3) Ob für Alma Ata die Doppelakkreditierung als Interimslösung in Betracht kommt, hängt ebenfalls davon ab, wie schnell wir einen Botschafter dorthin entsenden wollen und können. Sollte es eine zeitweilige Doppelakkreditierung geben, wäre Kasachstan von Moskau aus wahrzunehmen. 3.4) Für die anderen vier zentralasiatischen Republiken – Kirgistan, Tadschikistan, Turkmenistan und Usbekistan – oder auch nur eine von ihnen dürfte die Errichtung von Botschaften sobald nicht infrage kommen. Hier wären also Doppelakkreditierungen am Platz, und zwar von Moskau aus. Käme es bald zu einer Botschaft in Alma Ata, stellte sich natürlich die Frage, ob dies die mittelasiatische Regionalbotschaft sein sollte. Nach unseren Erfahrungen bei der Vorbereitung des Generalkonsulats Alma Ata (Thema Konsularbezirk) war die politisch und historisch begründete Abneigung der Vier, von Alma Ata aus betreut zu werden, offenkundig (übrigens gibt es auch einige ganz praktische Gründe dagegen). Ich empfehle nicht, dass wir – immer unter der Voraussetzung, dass es sehr bald eine Botschaft in Alma Ata gibt – 4 Zur Gründung der GUS vgl. Dok. 1, Anm. 2.

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den Vier eine solche Lösung nochmals anzudienen versuchen. Wenn dennoch, sollte dies nur in vorsichtigster Sondierung und mit der Bereitschaft des Rückzugs ohne weiteres Insistieren geschehen. Indessen empfehle ich nachdrücklich, auf mittlere Sicht eine eigene Botschaft in Usbekistan, dem an Bevölkerung drittgrößten Land der ehemaligen Union (größer als Kasachstan), ins Auge zu fassen, dann auch als Regionalbotschaft für Kirgistan, Tadschikistan und Turkmenien. Taschkent ist die größte Stadt Mittelasiens (mit 2,1 Millionen doppelt so groß wie Alma Ata), ein natürliches Zentrum und verfügt wohl auch über die beste Infrastruktur in der Region. Der historische und kulturelle Schwerpunkt Turkestans liegt in Usbekistan, was ihm eine besondere Bedeutung gibt, auch wenn es zu einem engeren politischen Zusammenschluss der Republiken zu einem Neu-Turkestan – wie trotz mancher Träume – eher wahrscheinlich nicht kommen wird. Bekanntlich ziehen die Franzosen in Erwägung, mit einer Botschaft nach Taschkent zu gehen. 3.5) Auch für die drei transkaukasischen Republiken Armenien, Georgien und Aserbaidschan bietet sich zunächst die Doppelakkreditierung an, ebenfalls von Moskau aus. Auch hier sollten wir jedoch auf nicht allzu weite Sicht eine eigene, die Region abdeckende Botschaft anstreben, und zwar in Georgien. Wir könnten in Tbilisi auf bedeutenden deutsch-georgischen Traditionen aufbauen, außerdem vermieden wir es, uns im besonders konfliktträchtigen Verhältnis Baku – Jerewan zu exponieren. Wenn sich die Engländer plötzlich für Tbilisi interessieren und uns Baku – ihr altes Interessen- und Interventionsgebiet – schmackhaft machen wollen, sollten wir dem nicht folgen. Sie wissen wohl, dass unsere Position für die ganze Region von Tbilisi aus am stärksten wäre. Sie waren dort 1919/20 unsere Nachfolger als Protektoren. Armenien sollte zunächst durchaus Domäne Frankreichs mit seiner 300 – 400 000 Menschen starken auslandsarmenischen Gemeinde sein (auch als Gegengewicht zu den mit ihren noch zahlreicheren Auslandsarmeniern sicher dominanten Amerikanern). Wir sollten aber gerade in Armenien auf eine vor allem kulturelle Teilpräsenz, evtl. unter französischem Dach, von vornherein Wert legen (s. DB Nrn. 17, 18 und 19 vom 3.1.92 – KU-600.50/01 – VS-NfD5). 4) Wir werden, wenn wir nicht in allen Republiken von vornherein mit eigenen Missionen vertreten sein wollen bzw. können, nicht nur auf das Instrument der Doppelakkreditierung formal angewiesen sein, sondern es dann auch aktiv nützen müssen. 5) Es gibt keine Garantie dafür, dass es auf dem Gebiet der alten Sowjetunion zwischen Republiken, in denen wir auf diese Weise vertreten sind, nicht zu Konflikten kommt. Wir müssen das in Kauf nehmen. Wie sich die Staatenwelt dort gestaltet, ist nicht präzise vorauszusagen. Wie immer sind Voraussagen besonders schwierig, wenn es um die Zukunft von Staaten geht. Wir werden auch nicht a limine ausschließen können, dass sich auf weitere Sicht die Errichtung von Missionen an Orten, an die wir im Augenblick nicht denken, als zweckmäßig erweisen könnte. 5 Botschafter Blech, Moskau, übermittelte Überlegungen zur auswärtigen Kulturpolitik in den einzelnen GUS-Mitgliedstaaten. Vgl. B 41, ZA-Bd. 158783.

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Abb. 1: Bericht zur Übergabe des Beglaubigungsschreibens durch Botschafter Graf von Bassewitz in Kiew

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6) Bei den vorstehenden Ausführungen, insbesondere den konkreten Vorschlägen, ist der Gesichtspunkt der Reziprozität außer Acht gelassen. Üblicherweise spielt er eine Rolle, auch in zeitlicher Hinsicht. Im Augenblick – in einer gänzlich unüblichen Lage – fehlen dafür einige Voraussetzungen. Die Republiken (außer Russland) haben bisher überhaupt keine eigenen Auslandsvertretungen, von welchen aus Doppelakkreditierungen – zeitgleich! – vorgenommen werden könnten. Allerdings: Streng genommen könnten die Moskauer „Landesvertretungen“ der Republiken als solche infrage kommen. Wie auch immer: Sollte die (vor allem zeitliche) Reziprozität eine Rolle spielen, gibt es drei Möglichkeiten: – Die Republiken behelfen sich zunächst mittels ihrer (dann noch mehr überforderten) Vertretungen in Russland, deren Leiter bei uns akkreditiert würden (ein unter anderen als formalen Aspekten recht sinnloses Modell). – Die Republiken sind mit Doppelakkreditierungen unsererseits einverstanden, mit der Zusicherung als contrepartie, dass sie zu jedem beliebigen späteren Zeitpunkt bei uns mit direkten oder indirekten diplomatischen Vertretungen präsent sein können. – Ganz auszuschließen ist nicht (obwohl ich dergleichen nicht für wahrscheinlich halte), dass eine Republik volle Reziprozität will, also die (Doppel-) Akkreditierung eines deutschen Botschafters erst akzeptiert, wenn sie die Form ihrer diplomatischen Repräsentanz in Deutschland hat klären können. In diesem Fall hätte unsere Initiative wenigstens den Sinn, dass man sich über eine bis dahin geltende informelle pragmatische Weise der politischen Kontakte einigen könnte (ein ausdrückliches Einverständnis darüber haben wir bisher nicht). Was letztlich geht, wäre eben durch von uns ausgehende Sondierungen, dann durch Verhandlungen herauszufinden. Eines wäre wahrscheinlich selbst im Zwischenstadium unzweckmäßig: die Pflege der laufenden Beziehungen durch Sonderemissäre aus Bonn. Ein anderes wäre, jedenfalls technisch, unrealistisch: solche Beziehungen zwischen Bonn und Alma Ata, Aschkabad, Taschkent, Duschanbe, Bischkek, Jerewan, Tbilisi und Baku den sonst so außerordentlich bewährten Telefonkontakten zwischen den Außenministerien zu überantworten. [gez.] Blech B 41, ZA-Bd. 158735

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6 Telefongespräch des Bundeskanzlers Kohl mit dem britischen Premierminister Major 9. Januar 19921 Telefongespräch des Herrn Bundeskanzlers mit dem britischen Premierminister John Major, Donnerstag, 9. Januar 1992, 10.00 – 10.35 Uhr Nach dem Austausch von Wünschen zum Neuen Jahr betont der Bundeskanzler, er hoffe, Botschafter Mallaby habe ihm ausgerichtet, was er – der Bundeskanzler – ihm gesagt habe.2 Er hoffe auf den Erfolg des Premierministers in diesem Jahr. Er habe sich inzwischen den Brief des Premierministers im Einzelnen angesehen und sei gerne bereit, ihm seine Haltung zu diesem Fragenkomplex zu erläutern. Der Premierminister ergänzt, er wollte auch gerne heute mit dem Bundeskanzler über die GATT-Verhandlungen3 sprechen. Der Bundeskanzler erläutert hierzu, er habe in aller Diskretion vorgestern einen seiner engsten Mitarbeiter nach Washington entsandt. Dieser habe den Mitarbeitern von Präsident Bush seine Botschaft auf folgender Linie erläutert: Wir müssen GATT zum Erfolg führen. Er, der Bundeskanzler, werde alles tun, um dabei zu helfen. Er wolle auf keinen Fall 1 Kopie. Der Gesprächsvermerk wurde von VLR I Bitterlich, Bundeskanzleramt, am 10. Januar 1992 gefertigt und am selben Tag über BM Bohl an BK Kohl „mit der Bitte um Billigung“ geleitet. Ferner vermerkte Bitterlich: „Ich gehe davon aus, dass dieser Vermerk nicht weitergegeben werden soll. AL 3 und AL 4 erhalten Durchdruck.“ Hat Bohl am 10. Januar 1992 vorgelegen. Hat Kohl vorgelegen, der den Rücklauf an MD Hartmann, Bundeskanzleramt, verfügte. Ferner hob er das Wort „nicht“ hervor und vermerkte handschriftlich: „Ja.“ Vgl. den Begleitvermerk; BArch, B 136, Bd. 59747. 2 BK Kohl traf am 7. Januar 1992 mit dem britischen Botschafter Mallaby zusammen, der ein Schreiben von PM Major übergab. Nach einer Erörterung der GATT-Verhandlungen führte Kohl zu „den Sorgen PM Majors hinsichtlich der deutschen Zinserhöhung“ aus, „dass das Vorgehen der Bundesbank nicht den Intentionen der Bundesregierung entspreche – aber die Bundesbank sei souverän“. Mallaby erläuterte „die Wirkungen steigender Zinsen für die britische Wirtschaft – Konjunktur – Wahlkampf. Insbesondere spiele der Schritt der Bundesbank den Gegnern des EWS Argumente zu.“ Vgl. den Gesprächsvermerk; BArch, B 136, Bd. 59747. 3 Zum Stand der 1986 begonnenen Uruguay-Runde des GATT vgl. AAPD 1991, II, Dok. 416. MR Witt, Genf (GATT-Delegation), teilte am 20. Dezember 1991 mit, GATT-GD Dunkel habe am selben Tag den Entwurf einer Schlussakte der Uruguay-Runde vorgelegt („Dunkel-Papier“, MTN.TNC/W/FA) und ausgeführt, dieser umfasse die Ergebnisse der Verhandlungen der letzten fünf Jahre. Er sei „ein Paket und als solches zu beurteilen“. Vgl. DB Nr. 395; B 221, ZA-Bd. 166598. Für das „Dunkel-Papier“ vom 20. Dezember 1991 vgl. https://exhibits.stanford.edu/gatt/catalog/pk704rb2913. MDg von Kyaw vermerkte am 27. Dezember 1991, in einer ersten Stellungnahme habe der EG-Rat auf der Ebene der Handels- bzw. Landwirtschaftsminister am 23. Dezember 1991 in Brüssel den Agrarteil des Papiers als „nicht annehmbar“ bezeichnet. Die EG-Kommission sei aufgefordert worden, weitere Verbesserungen auszuhandeln. Die „überwiegend positiv bewerteten und volkswirtschaftlich wichtigeren Verhandlungsbereiche“ seien dagegen in den Hintergrund getreten: „Dies war verhandlungstaktisch gerade im Hinblick auf Frankreich wie auch innenpolitisch mit Rücksicht auf unsere Agrarinteressen nicht zu vermeiden, erhöht aber die Gefahr eines Scheiterns der Verhandlungen.“ Vgl. B 221, ZA-Bd. 166598.

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eine Verzögerung der Verhandlungen. Gedanken, wie die GATT-Fragen im Rahmen des Weltwirtschaftsgipfels in München im Sommer4 zu diskutieren, lehne er strikt ab. Die GATT-Verhandlungen müssten längst vor München abgeschlossen sein. Er werde sich heute in weiteren Gesprächen darum bemühen, zu einem Erfolg der Sitzung am kommenden Samstag in Brüssel5 beizutragen. Wichtig sei es, in der Abschlussformulierung am Samstag zum Ausdruck zu bringen, dass wir das Dunkel-Papier als Diskussionsgrundlage akzeptieren. Dabei müsse klar sein, dass das Dunkel-Papier nicht ausreiche und verschiedene Themen weiter vertieft werden müssten. Er hoffe auch, dass die Amerikaner bis Samstag eine entsprechende Botschaft überbringen würden, dass sie das Ganze ähnlich sähen; die Amerikaner hätten ja auch noch Wünsche. Es dürfe aber nicht sein, dass das Dunkel-Papier das Ergebnis der Verhandlungen sei. Dies sei für ihn unakzeptabel. Es sei besonders wichtig, jetzt den Élysée dazu zu bringen, der von ihm vorgeschlagenen Formel zuzustimmen. Dies sei auch wichtig für die Amerikaner. Diese hätten zu Hause enorme Schwierigkeiten. Offen gesagt, sei er auch nicht sicher, ob die Asienreise des Präsidenten6 wirklich einen Erfolg darstelle. Die Spekulationen über die Gesundheit von George Bush7 wären zudem nicht hilfreich. Er hoffe jedenfalls, dass der Élysée mit dieser Formel einverstanden sein könne. Im Übrigen stünden er und seine Mitarbeiter auch in Kontakt mit Jacques Delors und Ruud Lubbers und seinen Mitarbeitern. Es sei wichtig, bei dem Treffen am Samstag zu einem positiven Ergebnis zu kommen, gerade auch im Hinblick auf das Treffen des TNC am kommenden Montag in Genf8. Dies sei seine Position ungeachtet der Schwierigkeiten, die die GATT-Verhandlungen ihm in Bezug auf die deutschen Bauern bereiteten. Der Premierminister dankt dem Bundeskanzler für seine Haltung und für seine Bemühungen. Er stimme dem Bundeskanzler voll darin zu, dass das Treffen am Samstag ein Erfolg sein müsse. Seine Besorgnisse konzentrierten sich im Wesentlichen auf drei Punkte: 1) Außenminister Hurd sei alarmiert gewesen, als er mit der portugiesischen Seite darüber gesprochen habe. Die Portugiesen gingen sehr defensiv und sehr skeptisch an das Treffen 4 Zum Weltwirtschaftsgipfel vom 6. bis 8. Juli 1992 vgl. Dok. 225. 5 11. Januar 1992. Botschafter Trumpf, Brüssel (EG), berichtete am 11. Januar 1992, der EG-Rat auf der Ebene der Handelsbzw. Landwirtschaftsminister habe am Vortag beschlossen, die EG-Kommission zu ermächtigen, auf der Grundlage des „Dunkel-Papiers“ vom 20. Dezember 1991 in die entscheidende Verhandlungsphase einzutreten: „Genauso klar wurde jedoch Verhandlungs- und Verbesserungsbedarf insbesondere für die Bereiche Marktzugang, Dienstleistungen und Agrarpolitik herausgestellt. Für den Bereich Agrarpolitik wird es sich um wesentliche Verbesserungen handeln müssen.“ Vgl. DB Nr. 43; B 221, ZA-Bd. 166726. 6 Der amerikanische Präsident Bush hielt sich vom 31. Dezember 1991 bis 3. Januar 1992 in Australien auf, vom 3. bis 5. Januar in Singapur, vom 5. bis 7. Januar in Südkorea sowie vom 7. bis 10. Januar 1992 in Japan. 7 Der amerikanische Präsident Bush erlitt am 8. Januar 1992 während eines Staatsbanketts in Tokio einen Schwächeanfall. Vgl. PUBLIC PAPERS, BUSH 1992-93, S. 52. 8 MR Witt, Genf (GATT-Delegation), berichtete am 15. Januar 1992 über die Sitzung des TNC am 13. Januar 1992, es sei beschlossen worden, auf der Grundlage des „Dunkel-Papiers“ vom 20. Dezember 1991 in die Schlussphase der Verhandlungen einzutreten mit dem Ziel, die Uruguay-Runde in den kommenden Wochen abzuschließen. Dazu habe GATT-GD Dunkel ein vierspuriges Arbeitsprogramm vorgelegt. Vgl. DB Nr. 7; B 221, ZA-Bd. 166726.

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heran, ob überhaupt ein Erfolg möglich sein könne. Man müsse gemeinsam die Portugiesen überzeugen, alles daran zu setzen, zu einer positiven Haltung zu kommen. Der Bundeskanzler wirft ein, er sei damit völlig einverstanden. Er werde veranlassen, dass die portugiesische Seite heute eine Botschaft in diesem Sinne auch von ihm erhalten werde. Der Premierminister dankt dem Bundeskanzler; er werde das Gleiche heute tun. Er fährt fort: 2) Das letzte Treffen der EG am 23.12. zur GATT-Frage habe letztlich eine nicht positive Botschaft enthalten. Dies dürfe sich nicht wiederholen. 3) In der jetzigen Wirtschaftslage in der Welt, die in einigen Ländern relativ düster aussehe, sei ein Erfolg umso mehr notwendig, sonst würden Rezessionstendenzen verstärkt. Der Bundeskanzler stimmt diesen Besorgnissen des Premierministers zu. Der Premierminister fährt fort, auch aus seiner Sicht sei das Dunkel­Papier noch nicht das richtige Ergebnis. Man müsse aber sehen, dass man nicht weit davon entfernt abbleiben dürfe. Auch in der Landwirtschaft gebe es Vorschläge, mit denen die britische Regierung nicht einverstanden sei. Er würde es begrüßen, wenn der britische9 und der deutsche Landwirtschaftsminister10 so eng wie möglich zusammenarbeiten würden und wenn möglich auch eine gemeinsame Position vertreten könnten. Es sei wichtig, dass er, der Bundeskanzler, mit dem Élysée spreche; niemand habe annähernd so viel Einfluss in Paris wie der Bundeskanzler. Der Bundeskanzler stimmt der Notwendigkeit eines engen Kontakts der beiden Landwirtschaftsminister zu und fragt den Premierminister nach einem Ansprechpartner in seinem persönlichen Stab. Der Premierminister benennt Christopher Roberts vom Trade and Industry Department. Der Bundeskanzler bittet den Premierminister, Herrn Roberts auszurichten, dass Dr. Feiter ihn gegen Abend anrufen werde, um ihm die Ergebnisse der heutigen Gespräche zu übermitteln. Der Premierminister sagt dies zu und spricht sodann die Frage der Entwicklung der Wirtschaft und der Zinsen an. Er dankt dem Bundeskanzler für seinen Kommentar, über den der Botschafter ihm ausführlich berichtet habe. Der Bundeskanzler wisse, dass die britische Regierung Probleme mit der Wirtschaftslage und mit dem Pfund Sterling habe, das in einer solchen Situation ähnlich wie der Dollar reagiere. Er sei nicht sicher, hoffe aber, dass Großbritannien auch in der kommenden Zeit ohne Zinserhöhungen auskommen werde, obwohl der Druck in diese Richtung stark sei. Der Bundeskanzler entgegnet, er sehe und verstehe die Probleme des Premierministers. Die Entscheidung der Bundesbank von vor Weihnachten11 sei nicht seine Entscheidung 9 John Gummer. 10 Ignaz Kiechle. 11 Der Zentralbankrat der Bundesbank beschloss auf seiner Sitzung am 19. Dezember 1991 mit Wirkung vom Folgetag eine Anhebung des Diskontsatzes von 7,5 % auf 8 % sowie des Lombardsatzes von 9,25 % auf 9,75 %. Vgl. MONATSBERICHTE DER DEUTSCHEN BUNDESBANK JANUAR 1992; https://www.bundesbank.de/de/ publikationen/berichte/monatsberichte/monatsbericht-januar-1992-691236, S. 15. BR I Huber, London, berichtete am 20. Dezember 1991, diese Zinserhöhung schränke den „geldpolitischen Handlungsspielraum der britischen Regierung noch weiter ein, und das zu einem Zeitpunkt, wo die Wirtschaft sich immer noch auf der Talsohle einer tiefen Rezession bewegt“. Vgl. DB Nr. 2566; B 224, ZA-Bd. 168550.

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gewesen. Sein innenpolitisches Problem Nummer Eins in den kommenden Monaten seien die Tarifverhandlungen im Öffentlichen Dienst und in der Industrie. Die Gewerkschaften machten mobil, zum Teil sei dies auch mit einem politischen Hintergrund – nämlich gegen ihn gerichtet – zu sehen. Er glaube, dass man in Deutschland die schärfste Auseinandersetzung seit zehn Jahren haben werde. Die Forderungen der Gewerkschaften des Öffentlichen Dienstes mit Lohnerhöhungen von über 10 % seien völlig indiskutabel. Er werde dies nicht akzeptieren. Für ihn komme ein Abschluss nur weit unter diesen Forderungen infrage. Er denke, es werde wahrscheinlich auch zu Streiks kommen.12 Im Übrigen hätten diese Forderungen auch katastrophale Auswirkungen auf die neuen Bundesländer. Er jedenfalls sei entschlossen, hiergegen sich mit aller Macht zu wenden. Diese Tarifforderungen seien auch der wahre Grund für die Entscheidung der Mehrheit in der Bundesbank. Die Wirtschaftslage in Deutschland sei anders als die der meisten Partnerländer. Bei uns nehme der Kostendruck weiter zu. Er müsse dafür sorgen, dass die Inflationsrate nach unten komme. Für alle, auch für Großbritannien, sei es entscheidend, dass die Stabilität der D-Mark als Ankerwährung erhalten bleibe. Es sei vielleicht auch für den Premierminister von Interesse, dass sich die längerfristigen Zinsen, die für Investitionen wichtig seien, auch nach der Entscheidung der Bundesbank nach unten bewegten. Sie lägen z. Zt. um 1 % niedriger als noch vor einem Jahr und seien weiter am Sinken. Im Übrigen habe er dem Finanzminister13 und dem Bundesbankpräsidenten14 klar gesagt, dass er erwarte, dass sie in den nächsten Monaten auch mit Großbritannien eng zusammenarbeiteten. Er sei sich bewusst, dass die Tarifauseinandersetzung in Deutschland Auswirkungen für ganz Europa haben werde. Man müsse dies auch vor dem Hintergrund sehen, dass die Exporte der EG nach Deutschland, die ja angesichts der Entwicklung in den neuen Bundesländern im letzten Jahr erheblich angestiegen seien, im Grunde ein Investitionsprogramm für ganz Europa darstellten. Der Bundeskanzler betont, es wäre gut, wenn der Premierminister und er in der kommenden Zeit jede Woche einmal kurz telefonischen Kontakt hätten.15 Der Premierminister stimmt dem zu und dankt dem Bundeskanzler für seine Erläuterungen. Im Übrigen wolle er dem Bundeskanzler viel Glück für den Vorsitz in der G 7 wünschen. Er, der Premierminister, wolle ihm dabei gerne helfen, soweit er könne. Der Bundeskanzler dankt dem Premierminister und fragt ihn, er würde gern einmal hören, welche Ziele er mit der Sondersitzung des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen Ende Januar verfolge.16 Er wolle seine Antwort mit ihm besprechen, zumal die Presse ihn hier nach dieser Angelegenheit frage. 12 Zur Tarifauseinandersetzung im Öffentlichen Dienst vgl. Dok. 140, Anm. 3. 13 Theodor Waigel. 14 Helmut Schlesinger. 15 BK Kohl und der britische PM Major führten am 29. Januar 1992 erneut ein Telefongespräch. Themen waren die britisch-russischen Beziehungen sowie die Sitzung des VN-Sicherheitsrats auf Ebene der Staatsund Regierungschefs am 31. Januar 1992 in New York, insbesondere zu Fragen der Abrüstung. Vgl. den Gesprächsvermerk; BArch, B 136, Bd. 59747. Ein weiteres Telefongespräch fand am 10. Februar 1992 statt. Vgl. Dok. 42. 16 VLR I Schmidt legte am 7. Januar 1992 dar, Pressemeldungen zufolge habe die britische Regierung „gegenüber den übrigen ständigen Mitgliedern des SR den Gedanken angesprochen, noch im Januar einen ,UN

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9. Januar 1992: Telefongespräch zwischen Kohl und Major

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Der Premierminister verweist darauf, dass es eine Reihe von Gründen für diese Sondersitzung gebe. Erstens sei dies eine gute Gelegenheit, Jelzin in den Vereinten Nationen und im Sicherheitsrat einzuführen, da Russland ja den Sitz der Sowjetunion übernommen hätte, und mit ihm über internationale Sicherheitsfragen zu sprechen. Der Bundeskanzler bezeichnet dies als eine gute Idee, gibt jedoch zu bedenken, die Teilnehmer müssten damit rechnen, dass Jelzin über Hilfe und Geld zugunsten Russlands reden wolle. Der Premierminister stimmt dem zu, er rechne auch damit, denke aber nicht, dass man dabei in größere Details einsteigen werde. Ihm sei bewusst, dass die Nachfolgestaaten der Sowjetunion in Zukunft mehr Hilfe bräuchten. Er habe Jelzin ja vor 14 Tagen eine Botschaft übermittelt und ihm dringend angeraten, die Mitgliedschaft im Internationalen Währungsfonds und der Weltbank zu beantragen. Jelzin habe dies inzwischen positiv aufgenommen.17 Die zweite Priorität dieses Treffens sei ein Meinungsaustausch über die Lage und Perspektiven friedenssichernder Operationen in der Welt und damit eine gute Gelegenheit, den neuen Generalsekretär der Vereinten Nationen Boutros-Ghali zu Beginn seiner Amtsperiode einzuführen. Wenn es für den Bundeskanzler hilfreich sei, werde er ihm gerne heute eine interne Notiz zu diesem Treffen übermitteln, in dem die Punkte, die Großbritannien für wichtig halte, im Einzelnen erläutert seien. Auf diese Weise könne der Bundeskanzler einen persönlichen Eindruck über die britischen Absichten gewinnen. Er sei dann auch gerne bereit, die Kommentare des Bundeskanzlers dazu zu hören. Der Bundeskanzler dankte dem Premierminister für seine Bereitschaft und für das heutige Gespräch. Er wolle abschließend eine indiskrete Frage stellen, ob er richtigliege, dass der Premierminister in Großbritannien vor Mai nicht in den Wahlkampf einsteigen werde. Der Premierminister erwidert, der Termin sei noch nicht festgelegt, es könnte aber gut sein, dass der Termin früher liegen werde.18 Der Bundeskanzler verweist darauf, dass es einen positiven Einfluss auf die Wirtschaft insgesamt haben werde, wenn er die Tarifauseinandersetzung mit dem Öffentlichen Dienst positiv zu Ende führe. Der Premierminister stimmt dem zu. Interessant wären für ihn die Aussagen des Bundeskanzlers zu den langfristigen Zinssätzen gewesen. Es wäre natürlich auch gut, wenn in einigen Monaten die kurzfristigen Zinsen sich nach unten bewegen würden. Der Bundeskanzler entgegnet, in Bezug auf die langfristigen Zinsen habe er eine Momentaufnahme wiedergegeben. Seine Rechnung gehe dahin: Wenn der Tarifabschluss im Fortsetzung Fußnote von Seite 30 Summit of World Leaders‘ einzuberufen, der sich mit der Auflösung der Sowjetunion und der unsicheren Situation in den Nachfolgestaaten beschäftigen solle“. Über den Teilnehmerkreis bestehe noch Unklarheit: „Die Überlegungen, die vermutlich sehr kurzfristig entwickelt wurden, zielen wohl vor allem darauf ab, dem Premierminister im Vorwahlkampf zusätzliche Profilierungsmöglichkeiten auf internationaler Bühne zu bieten. […] GB dürfte an den Plänen nur so lange festhalten, wie eine Chance zu einer Sitzung noch während der britischen Präsidentschaft im SR in diesem Monat besteht.“ Vgl. B 30, ZA-Bd. 167349. 17 In der Presse wurde berichtet, der russische Präsident Jelzin habe in einem am 7. Januar 1992 in Washington bekannt gewordenen Brief an den IWF und die Weltbank die Mitgliedschaft Russlands in beiden Organisationen beantragt. Vgl. den Artikel „Russland strebt in IWF und Weltbank“; BERLINER ZEITUNG vom 9. Januar 1992, S. 31. 18 Der britische PM Major kündigte am 11. März 1992 Wahlen zum Unterhaus für den 9. April 1992 an.

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Öffentlichen Dienst vernünftig sei, werde dies sehr positive Wirkungen auf die Wirtschaft insgesamt haben. Hinzu komme, dass man in den neuen Bundesländern mit einem Wachstum von 10 % rechnen könne. Ganz Deutschland bleibe dann insgesamt etwas über 2 %. Der Premierminister dankt für diese zusätzliche Information und sagt zu, Bundeskanzler vielleicht schon beim nächsten Gespräch „genauere Daten“ mitteilen zu können. BArch, B 136, Bd. 59747

7 Drahtbericht des Botschafters von Ploetz, Brüssel (NATO) 10105/92 VS-vertraulich Fernschreiben Nr. 28 Citissime nachts Betr.:

Aufgabe: 9. Januar 1992, 13.11 Uhr1 Ankunft: 9. Januar 1992, 14.04 Uhr

Initiative zur weltweiten Beseitigung nuklearer landgestützter Kurzstreckenwaffen der GUS und der USA

Bezug: 1) DE 120 vom 7.1.1992, Az: 240-370.70 SOW SB2 und BM-Hintergrundgespräch vom 7.1.19923 (Plurez 7 – 9 vom 8.1.1992, Az: 012-9-312.75) 2) Telefonische Weisung Leiter Leitungsstab4 vom 7.1.1992 3) Mündliche Weisung Dg 245 am 9.1.1992 Zur Unterrichtung Zusammenfassung: Weisungsgemäß habe ich am Morgen des 9.1. die Kollegen aus F6, GB7 und USA8 über den Inhalt des deutschen Vorschlags unterrichtet, den wir am 9.1. nachmittags im Bündnis zirkulieren werden. 1 Hat VLR Drautz am 9. Januar 1992 vorgelegen, der die Weiterleitung an Botschafter Holik und MDg Roßbach „n[ach] R[ückkehr]“ sowie an VLR I Boden „n[ach] E[intreffen]“ verfügte. Hat Holik am 27. Januar 1992 vorgelegen. Hat Roßbach vorgelegen. Hat Boden am 28. Januar 1992 vorgelegen. 2 MDg Roßbach bat Botschafter von Ploetz, Brüssel (NATO), „bei erster sich bietender Gelegenheit“ folgende Initiative einzuführen: „Unter den Allianzpartnern soll Einvernehmen darüber herbeigeführt werden, sich mit den GUS-Republiken auf die weltweite Beseitigung der landgestützten nuklearen Kurzstreckenraketen und Artilleriegeschosse der Nachfolgestaaten der ehemaligen SU und der USA im Sinne der Initiativen von Präsident Bush vom 27.9.1991 und von Präsident Gorbatschow vom 5.10.1991 zu einigen. In diesem Rahmen soll auch ein System der Überwachung der Durchführung dieser Verpflichtungen vorrangig erarbeitet und vereinbart werden. Hierbei sollten mit den GUS-Republiken auch Möglichkeiten westlicher Technischer Hilfe erörtert werden.“ Vgl. B 43, ZA-Bd. 228361. 3 Zu den Äußerungen von BM Genscher gegenüber Journalisten vgl. B 7, ZA-Bd. 179119. 4 Frank Elbe. 5 Anton Roßbach. 6 Gabriel Robin. 7 Michael Alexander.

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9. Januar 1992: Drahtbericht von Ploetz

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Die Partner schienen durch die Berichterstattung ihrer Bonner Botschaften bereits in groben Zügen unterrichtet. Sie teilten unsere Einschätzung, dass das Thema dringlich ist, und erhoben keine Einwände gegen die Zirkulierung unseres Vorschlags im Bündnis. Im Gegenteil sahen sie mit uns die Notwendigkeit, das Problem zum frühestmöglichen Zeitpunkt im NATO-Rat zu erörtern. Gemäß Weisung (Bezug 3) streben wir eine solche Sitzung für Montag, 13.1., an, eine Reaktion von GS9 steht jedoch noch aus.10 Durch diese Terminierung soll sichergestellt werden, dass die Bündnispartner Weisungen einholen können. (Am 13.1. wird ohnehin außerordentliche Ratssitzung angestrebt, weil F, E und USA das Verfahren durch Verschweigen zu einem NACC-Sondertreffen auf AM-Ebene am 31.1. in Prag unterbrochen haben  vgl. gesonderten Bericht.11) Die Reaktionen der Partner für unsere Initiative lassen sich wie folgt zusammenfassen: 8

1) USA Soweit US-Systeme betroffen seien, bestehe kein Verhandlungsbedarf. Die einseitige US-Vernichtungsverpflichtung12 sei unkonditioniert  worauf die Bündnispartner auch großen Wert gelegt hätten. Die Vernichtung der US-Systeme werde termingerecht erfolgen, es bestehe insoweit keine Absicht zu einer Überprüfung. Die Berechtigung unserer Sorgen werde voll akzeptiert. Man könne sich „kaum etwas Gefährlicheres“ vorstellen, als dass die von uns angesprochenen Waffensysteme außer Kontrolle gerieten und proliferiert würden. Es sei klar, dass Bartholomew in seinen Gesprächen13 keine Lösung entwickeln werde. Ein anderes Verfahren zur Lösung sei nicht in Sicht. Man habe zwar das klare Versprechen von Gorbatschow und  vielleicht nicht ganz so klare  Zusagen der CIS-Republiken. Es werde schwer sein, eine Lösung zu finden. Vielleicht sei der deutsche Vorschlag gut. Daher Einverständnis, ihn am 13.1. im NATO-Rat aufzunehmen mit dem Ziel, die beste Lösung zu identifizieren. Vielleicht könne man den deutschen Vorschlag akzeptieren, vielleicht auch weiterentwickeln. Jedenfalls komme es darauf an, das gemeinsam angestrebte Ziel zu erreichen. Insgesamt machten US-Ausführungen deutlich, dass man sich des Defizits im SNFBereich bewusst ist. Mein Hinweis, dass eine Lösung im strategischen Bereich ohne Lösung Fortsetzung Fußnote von Seite 32 8 William Howard Taft IV. 9 Manfred Wörner. 10 Die erste Erörterung der SNF-Initiative der Bundesregierung im Ständigen NATO-Rat fand am 17. Januar 1992 statt. Vgl. Dok. 21, Anm. 3. 11 Botschafter von Ploetz, Brüssel (NATO), berichtete am 9. Januar 1992, Frankreich wünsche die Sondersitzung des NAKR auf Außenministerebene in Brüssel statt in Prag, während die USA auch die Grundsatzfrage der Einbeziehung aller GUS-Mitgliedstaaten in den NAKR erörtern wollten. Auch Spanien präferiere Brüssel als Sitzungsort. Vgl. DB Nr. 30; B 14, ZA-Bd. 161241. 12 Der amerikanische Präsident Bush kündigte am 27. September 1991 in einer Fernsehansprache umfangreiche amerikanische Abrüstungsmaßnahmen auf dem Gebiet der Nuklearwaffen an, so z. B. die Zerstörung des gesamten weltweiten Arsenals an landgestützten Kurzstreckenwaffen sowie der nuklearen Artilleriemunition. Der sowjetische Präsident Gorbatschow reagiert darauf am 5. Oktober 1991 mit der Ankündigung eigener sowjetischer Maßnahmen. Vgl. dazu sowie zum Stand der Implementierung AAPD 1991, II, Dok. 339 bzw. Dok. 408. 13 Zur Reise des StS im amerikanischen Außenministerium, Bartholomew, vom 15. bis 22. Januar 1992 in die GUS-Mitgliedstaaten vgl. Dok. 21.

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9. Januar 1992: Drahtbericht von Ploetz

bei den Kurzstreckenwaffen auch aus Bündnissicht verhängnisvoll wäre  diesen Punkt habe ich im Hinblick auf Tafts Äußerungen zu Bartholomews Agenda in Moskau besonders nachdrücklich gemacht , wurde mit erkennbarem Verständnis aufgenommen. USVertreter trug aktiv dazu bei, bei F auf Mitwirkung an Beratung des deutschen Vorschlags im Bündnis hinzuwirken14. Aus der gesamten Einlassung schließe ich, dass US-Seite in unserem Ansatz eine willkommene Möglichkeit sehen könnte, aus dem komplexen Dilemma zwischen eigener Präferenz für bilateralen Weg und den Mitterrand15- und MajorVorschlägen sowie der Forderung von Bündnispartnern wie D und I herauszukommen, volle Bündnisbeteiligung zu gewährleisten. Dem  mit fragendem Ton vorgetragenen  US-Gedanken, die von uns vorgeschlagene hochrangige Arbeitsgruppe von Hauptstadtvertretern als eine „SCG-plus“ zu verstehen, widersprach ich mit GB-Unterstützung: Mit einem solchen Etikett programmiere man die Nichtteilnahme Frankreichs. Taft akzeptierte dies. Seine weiteren Ausführungen hierzu ließen erkennen, dass es ihm vorrangig darauf ankam zu unterstreichen, dass das Mandat einer solchen Gruppe den unilateralen Charakter der US-Verpflichtung respektieren und daher nicht in formellen Verhandlungen bestehen würde. Der von uns verwandte Begriff „Arbeitsgruppe“ stieß deshalb ebenso auf positives US-Interesse wie die Verwendung des Begriffs „Nachprüfung“ (Monitoring) und nicht des in der Rüstungskontrollterminologie besetzten Begriffs „Verifizierung“. Wir erläuterten auch eingehend den Parallelansatz: In diesem Zusammenhang fragte F, ob USA Gegenseitigkeit bei der Überwachung akzeptieren würden, also „Inspekteure aus Kasachstan“ in den USA. Taft schloss US-Bereitschaft hierzu nicht aus angesichts der überragenden Bedeutung der Vernichtung der GUS-SNF. 2) F Auch nach Klarstellung, dass F-Kurzstreckensysteme nicht vom deutschen Vorschlag berührt sind, deutliche Reserve wegen der Gefahr, dass F sich bei Teilnahme an dem von uns vorgeschlagenen Prozess fast unvermeidlich mit der „logischen Frage“ nach den F-Systemen konfrontiert sehen könnte. Dennoch Erwartung, dass F sich an einer Ratserörterung über deutschen Vorschlag aktiv beteiligen, aber seinerseits wieder den Mitterrand-Vorschlag ins Spiel bringen würde. Hinsichtlich der konkreten F-Position wagte Robin keine Prognose. Er sah theoretisch drei mögliche Ansätze, um das Problem der Sicherheit von Nuklearwaffen anzugehen: – Der bilaterale Weg werde bereits beschritten. In Bezug auf SNF könne man aber nicht viel mehr als „gute Worte“ erreichen. 14 Korrigiert aus: „mitzuwirken“. 15 Botschafter Holik erläuterte am 11. Oktober 1991, der französische Staatspräsident Mitterrand habe in einer Pressekonferenz am 11. September 1991 ein Treffen der vier in Europa präsenten Nuklearmächte vorgeschlagen, das sich angesichts der ungewissen Entwicklung in der UdSSR mit dem Problem der Sicherheit sowjetischer Nuklearwaffen befassen solle, nicht jedoch mit Abrüstungsfragen. Die USA hätten zurückhaltend reagiert, da bereits entsprechende amerikanisch-sowjetische Gespräche stattfänden und zudem auch NATO-Mitgliedstaaten wie die Bundesrepublik ein „legitimes Sicherheitsinteresse“ hätten. In einer ersten Beratung im Rahmen der NATO habe lediglich Großbritannien den Vorschlag „halbherzig“ unterstützt. Vgl. B 41, ZA-Bd. 151719. Botschafter Sudhoff, Paris, berichtete am 13. Dezember 1991, Mitterrand habe in einem Fernsehinterview am 11. Dezember 1991 erklärt, er habe in Maastricht mit dem britischen PM Major über den Vorschlag gesprochen. Dieser habe ihm „voll beigepflichtet“. Vgl. DB Nr. 3612; B 14, ZA-Bd. 161269.

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9. Januar 1992: Drahtbericht von Ploetz

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– Der VN-Rahmen sei zu groß, um zu praktikablen Ergebnissen zu kommen. – Daher müsse ein internationales Forum gefunden werden, in dem die GUS-Republiken zur Verantwortung gezogen werden könnten, das gleichzeitig aber klein genug sei, um zu Lösungen zu kommen. Es müsse darum gehen, zuverlässige Zusicherungen zu erhalten, – im ersten Schritt zur nuklearen Sicherheit der fraglichen Nuklearwaffen der GUSRepubliken – und sodann zur Umsetzung der Bush/Gorbatschow-Vorschläge. Der deutsche Ansatz für ein internationales Forum berge die Gefahr in sich, dass dieses zu groß werde. Entweder laufe er auf Teilnahme aller NACC-Staaten oder sogar aller KSZEStaaten hinaus. Man könne sich daher fragen, ob eine Konzentration des ersten Schrittes auf Umsetzung der Festlegungen zur SNF-Eliminierung durch Ukraine und Russland bis Ende 1992 anzustreben sei. Mit den übrigen GUS-Republiken müsse sich dann Russland befassen. Diese Argumentation stieß auf einhelligen Widerspruch von D, GB und USA mit dem Kernargument, dass ein solcher Ansatz weder unseren vitalen Interessen Rechnung trage noch den vermuteten der GUS-Staaten, die ihren eigenen SNF-Verzicht vermutlich vorrangig von entsprechendem Verzicht der übrigen GUS-Staaten abhängig machen würden. Allgemeine Zustimmung zu meiner Feststellung, dass unter diesem Aspekt eine Möglichkeit zur Nachprüfung der zügigen Umsetzung der Eliminierungsverpflichtung durch alle betroffenen GUS-Staaten überragende Bedeutung für deren Verhalten habe. Auf direkte GB- und US-Fragen nach der F-Einschätzung zum Verhältnis zwischen neuem deutschen Vorschlag und Mitterrand-Initiative wurde deutlich, dass dies eine unbequeme Frage ist. F identifizierte eine teilweise Überlappung insofern, als beide Vorschläge auch die Sicherheit der SNF-Systeme der GUS-Staaten ansprächen und auf Transparenz in diesem Bereich abzielten. Im Übrigen gehe Mitterrand-Vorschlag aber einerseits weiter, weil er alle nuklearen Systeme betreffe, andererseits aber nicht so weit wie der deutsche Vorschlag, der eine Lösung auch des rüstungskontrollpolitischen Aspekts zum Ziel habe. Robin ging aber nicht so weit festzustellen, dass F vor diesem Hintergrund mit dem deutschen Vorschlag würde leben können. 3) GB Zustimmung zu unserer Einschätzung der veränderten Lage in der früheren SU und Verstärkung dieses Arguments unter Verwendung von Botschafterbericht aus Moskau: Die militärischen Probleme zwischen Russland und Ukraine würden immer ernster. Deshalb seien Zweifel an der Einhaltung von Zusagen Moskaus oder Kiews nicht nur begründet. Man müsse sogar befürchten, dass eine Zuspitzung bis hin zum Einsatz militärischer Mittel möglich sei. Auch F stimmte ausdrücklich zu: Man könne nichts ausschließen. Im Übrigen anscheinend Erleichterung bei GB über unseren Vorschlag. Auch wenn dies nicht ausgesprochen wurde, blieb der Eindruck, dass man in ihm eine elegante Möglichkeit sieht, sich von der Zusage Majors in Maastricht zu lösen, den Mitterrand-Vorschlag zu unterstützen. Wie nicht anders zu erwarten: Skepsis, ob  gerade angesichts der drohenden Verschlechterung der Beziehungen zwischen Russland und Ukraine  die Chancen für eine erfolgreiche Umsetzung unseres Vorschlags sehr groß seien. Dies wurde aber nicht als Argument gegen unseren Vorschlag vorgebracht, sondern vielmehr zur Verstärkung des 35

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13. Januar 1992: Vorlage von Roßbach

bereits von uns hergestellten Junktims genutzt zwischen der westlichen Bereitschaft zur Sicherheitskooperation mit den GUS-Staaten und deren verantwortlichem Handeln im Bereich der Beseitigung der nuklearen Kurzstreckenwaffen. [gez.] Ploetz B 130, VS-Bd. 12293 (240)

8 Vorlage des Ministerialdirigenten Roßbach für Bundesminister Genscher 250-370.78 IRK VS-NfD

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Über Herrn Staatssekretär2 Herrn Bundesminister3 Betr.:

Besuch des stv. Vorsitzenden der VN-Sonderkommission (SK) Abrüstung Irak4, Prof. Gallucci, in Bonn; hier: Unterrichtung über deutsche Zulieferungen zum irakischen Nuklearprogramm

Zweck der Vorlage: Zur Unterrichtung und Billigung unserer Bemühungen, einer Singularisierung Deutschlands entgegenzuwirken. 1) Gallucci hielt sich am 9.1.1992 auf Durchreise zu einer gemeinsamen nuklearen Sondermission SK/IAEO im Irak in Bonn auf. Er hatte Gespräche im AA mit Dg 255 (sowie RL 2426, deutsches Mitglied der SK, und RL 2507) und im BMF mit einer Gruppe von Ressortvertretern (AA – 242, 250, 424-9, BMF/Zollkriminalamt, ChBK/BND, BMFT, BMWi, BMVg) einschließlich Staatsanwaltschaft Bonn. Zentrales Thema des Besuchs war seine Unterrichtung über Erkenntnisse der Bundesregierung zu spezifischen Zulieferungen deutscher Firmen zum irakischen Nuklearprogramm, die von Bagdad nicht gemäß SRResolutionen 6878/7159 gegenüber den VN deklariert worden waren. Im Rahmen der 1 Die Vorlage wurde von VLR I Frick konzipiert. 2 Hat StS Kastrup am 14. Januar 1992 vorgelegen. 3 Hat BM Genscher am 15. Januar 1992 vorgelegen. Hat OAR Rehlen am 15. Januar 1992 vorgelegen, der den Rücklauf über das Büro Staatssekretäre, Botschafter Holik und MDg Bauch an Referat 250 verfügte. Hat VLR I Reiche am 15. Januar 1992 vorgelegen. Hat Holik am 16. Januar 1992 vorgelegen. Hat Bauch am 18. Januar 1992 vorgelegen. 4 Zur bisherigen Tätigkeit der VN-Sonderkommission Abrüstung Irak und zur Zusammenarbeit mit der Bundesregierung vgl. AAPD 1991, II, Dok. 257. 5 Johannes Bauch. 6 Peter von Butler. 7 Helmut Frick. 8 Für die Resolution Nr. 687 des VN-Sicherheitsrats vom 3. April 1991 vgl. RESOLUTIONS AND DECISIONS 1991, S. 11–15. Für den deutschen Wortlaut vgl. EUROPA-ARCHIV 1991, D 227–233. 9 Für die Resolution Nr. 715 des VN-Sicherheitsrats vom 11. Oktober 1991 vgl. RESOLUTIONS AND DECISIONS 1991, S. 26 f.

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13. Januar 1992: Vorlage von Roßbach

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Gespräche wurden Gallucci vom BMF und AA (424-9) zusammengestellte Materialien zu konkreten Liefervorgängen (u. a. Magnete und Gehäusematerial für ca. 10 000 Gaszentrifugen) sowie weitere Unterlagen übergeben. 2) Die Unterrichtung von Gallucci und seiner drei Begleiter (ein weiterer SK-Mitarbeiter sowie je ein GB- und US-Nuklearexperte) ging auf einen besonderen Wunsch des SKVorsitzenden Ekéus zurück, den er kurz vor Weihnachten an die Bundesregierung herangetragen hatte. Ekéus begründete sein Anliegen mit dem Interesse der SK, durch unsere Erkenntnisse über konkrete Lieferungen, Transportwege und Abnehmer im Irak Hinweise auf bisher nicht bekannte Orte als Ziele weiterer Inspektionen zu erhalten. Die nachrichtendienstlichen Anhaltspunkte seien inzwischen weitgehend ausgereizt und würden kaum mehr weiterführen. Es bestand Einvernehmen unter den Ressorts, dem SK-Wunsch nach Informationsaustausch zuzustimmen. Zum einen erhofften wir uns durch diese und weitere Gespräche Fortschritte auch bei unseren eigenen Ermittlungen, zumal die SK uns bereits zu einem früheren Zeitpunkt eine Firmenliste zu diesem Zweck auf unsere Anforderung hin zugänglich gemacht hatte.10 Zum anderen sehen wir darin die Gelegenheit, einen weiteren deutschen Beitrag zur Erfüllung der abrüstungspolitischen Aufgabe der SK zu leisten und das irakische Nuklearwaffenprogramm noch umfassender enttarnen zu helfen. 3) Während des Besuchs haben Gallucci und seine Begleiter das Szenario für die Verwendung unserer Informationen wie folgt darlegt: – Konfrontation der irakischen Regierung mit den nicht deklarierten Lieferungen zum Nuklearprogramm auf der Basis dieses Materials im Rahmen eines Termins von Gallucci mit dem irakischen Außenminister11, der für den 12.1.1992 in Bagdad vorgesehen war. Es handelt sich um die o. a. erwähnten Fälle, in denen bereits ein Strafverfahren läuft (Firma Rhein-Bayern, Augsburg; INWACO, Bonn; Plath, Hamburg; TPS, Daun/Eifel; VAW, St. Augustin). – Aufforderung an den Irak, Verbleib und Standorte dieser Zulieferungen für Inspektionen offenzulegen und damit den Verpflichtungen aus den SR-Resolutionen nachzukommen. – Bei einer irakischen Weigerung (von der wohl auszugehen ist) noch in diesem Monat Vorlage eines Berichts der SK über den VN-Generalsekretär an den Sicherheitsrat (SR) mit dem Votum, die Irak-Sanktionen unbefristet aufrechtzuerhalten.12 Dabei bestehe die Absicht, sich bei der Begründung der mangelnden irakischen Kooperation ausdrücklich auf die deutschen Zulieferungen als Beweismittel abzustützen. Auf seine Bitte wurde Gallucci vom BMF zugesagt, sich bei den Staatsanwaltschaften um Freigabe von beschlagnahmten Dokumenten (Frachtpapiere u. ä.) zur Untermauerung der Vorwürfe gegenüber dem Irak einzusetzen. 10 Arbeitseinheit 424-9 fasste am 9. Dezember 1991 zusammen: „Seit Juli wurden der Bundesregierung inoffiziell einige Firmenlisten aus den VN-Inspektionen zugänglich. Diese sind unverzüglich den zuständigen Ermittlungsbehörden zur weiteren Verfolgung weitergegeben worden.“ Vgl. B 70, ZA-Bd. 220989. 11 Ahmed Hussein. 12 IAEO-GD Blix richtete am 28. Januar 1992 ein Schreiben an VN-GS Boutros-Ghali zur Weitergabe an den VN-Sicherheitsrat über die gemeinsame Inspektionsreise mit der VN-Sonderkommission Abrüstung Irak vom 11. bis 14. Januar 1992. Diese habe der Überprüfung von Beweisen gedient, die von der Bundesregierung übergeben worden seien. Vgl. das Schreiben von Boutros-Ghali an den VN-Sicherheitsrat vom 30. Januar 1992 (S/23505); https://documents-dds-ny.un.org/doc/UNDOC/GEN/N92/043/41/pdf/ N9204341.pdf.

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13. Januar 1992: Vorlage von Roßbach

4) Wir insistierten sowohl bei Galluccis Gespräch mit Dg 25 als auch bei einem Treffen im engeren Kreis bei dem zuständigen AL im BMF, MD Schmutzer, sowie später auf Arbeitsebene, dass die SK alles unternehmen müsse, um unsere Kooperation und Offenheit nicht mit einer unangemessenen Singularisierung im SR (und bei eventuellen Indiskretionen dann auch vor der internationalen Öffentlichkeit) zu „belohnen“. Wir erwarteten, dass die SK auch Erkenntnisse über die zahlreichen involvierten Unternehmen anderer westlicher Länder in ihrem Bericht an den SR einbeziehe. Gallucci erkannte unseren Punkt als ein Gebot der Fairness ausdrücklich an, verwies allerdings darauf, dass in der gegenwärtigen Phase allein in den Fällen der behandelten deutschen Firmen (evtl. noch bei einem Schweizer und einem britischen Unternehmen) beweiskräftige Unterlagen zur Verfügung stünden, die dem Irak entgegengehalten werden könnten. Er sicherte zu, dass man in dem Bericht an den SR ausdrücklich auf die vorbildliche Kooperation der Bundesregierung hinweisen werde, die auch als Beispiel für das erwünschte Verhalten anderer Staaten dienen solle. Im Übrigen beurteilte er den bisherigen deutschen Beitrag zur Tätigkeit der SK (Lufttransportunterstützung, wesentliche Mitarbeit in New York, Stellung von zahlreichen Experten für Irak-Inspektionen) als außerordentlich positiv. Für den Fall, dass Gallucci nach seinem Termin mit dem irakischen AM sich Presseanfragen nicht würde entziehen können, wurde mit ihm folgende Sprachregelung vereinbart: Der SK lägen Informationen über nuklearrelevante Lieferungen in den Irak vor, die ihm von der deutschen Regierung zugänglich gemacht worden seien. Die SK sei von der Richtigkeit dieser Informationen überzeugt. Weitere Einzelheiten hierzu könne er nicht nennen. 5) Wertung und weiteres Vorgehen Die eindeutige und den SK-Vertretern wiederholt dargelegte Haltung umfassender deutscher Kooperation wird von den Ressorts voll mitgetragen. Sowohl unser abrüstungspolitisches Interesse an einer maximalen Aufspürung und Eliminierung des irakischen Waffenpotenzials als auch unser exportpolitisches Interesse an Aufdeckung und umfassender Verfolgung illegaler deutscher Zulieferungen bestehen unverändert fort. Wir haben deshalb die Gelegenheit genutzt, Gallucci erneut um Hilfe und Auskunft über Erkenntnisse der SK zu bitten, die für hier laufende Strafverfahren wegen illegaler Zulieferungen zum irakischen Rüstungsprogramm von Bedeutung sein können. Er sagte Unterstützung zu. Insgesamt zeichnet sich allerdings aus den bisherigen Erkenntnissen ab, dass der Lieferanteil der deutschen Industrie zum irakischen A- und C-Waffen- wie auch zum Raketenprogramm den der anderen westlichen Staaten erheblich zu übertreffen scheint, auch wenn wir noch keine volle Übersicht haben. In jedem Fall müssen wir aber alles unternehmen, einer unangemessenen Singularisierung Deutschlands in diesem Zusammenhang im Rahmen unserer Möglichkeiten entgegenzuwirken. Die Zusage Galluccis einer fairen Behandlung in dieser Frage durch die SK hat Gewicht. Um sie zusätzlich festzuschreiben, ist vorgesehen, uns diese Zusicherung in einem baldigen Gespräch des VN-Botschafters mit dem SK-Vorsitzenden Ekéus auch im Hinblick auf unseren erheblichen logistischen sowie personellen Beitrag und unsere offensichtlich vorbildliche Kooperation in Sachen Zulieferungen noch einmal ausdrücklich bestätigen zu lassen.13 13 Am 21. Januar 1992 fand ein Gespräch zwischen Botschafter Graf zu Rantzau, New York (VN), und dem Vorsitzenden der VN-Sonderkommission Abrüstung Irak, Ekéus, statt. Vgl. DB Nr. 121 von Rantzau vom selben Tag; B 43, ZA-Bd. 160772.

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14. Januar 1992: Gespräch zwischen Genscher und Cheney

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Ein deutscher Versuch der Einflussnahme auf die Formulierung des Berichts der SK an den SR erscheint dagegen weder aussichtsreich noch ratsam. Stattdessen wollen wir durch das deutsche SK-Mitglied, VLR I von Butler, mit Nachdruck erbitten, dass die SK sich möglichst bald hochrangig und gezielt an die Regierungen anderer betroffener Länder wendet. Diese sollten zur Offenlegung auch ihrer Erkenntnisse über eigene kommerzielle Zulieferungen zum irakischen Waffenprogramm unter Hinweis auf das deutsche Beispiel veranlasst werden und damit die Identifizierung weiterer Inspektionsstätten ermöglichen. Durch ein solches Vorgehen könnte für die Zukunft zumindest die nicht zu bezweifelnde Verantwortlichkeit aller westlicher Staaten – und nicht nur Deutschlands – gegenüber dem Sicherheitsrat fair verteilt und zugleich eine Berufungsgrundlage gegenüber einseitigen Angriffen der nationalen und internationalen Öffentlichkeit auf uns geschaffen werden. Abteilung 4 (424/424-9) und RL 242 haben mitgezeichnet. Roßbach B 43, ZA-Bd. 160772

9 Gespräch des Bundesministers Genscher mit dem amerikanischen Verteidigungsminister Cheney 201-363.14 USA

14. Januar 19921

BM empfing am 14.1.1992 US-Verteidigungsminister Cheney (C.) auf dessen Wunsch zu knapp einstündigem Gespräch.2 C. wurde begleitet von Botschafter Kimmitt und Assistant Secretary of Defense Steve Hadley. Cheney dankte BM für die Gesprächsmöglichkeit. Er wolle zunächst die Neuverhandlungen über das Truppenstationierungsabkommen3 ansprechen. Er verstehe die Bedeutung 1 Der Gesprächsvermerk wurde von VLR I Bertram am 15. Januar 1992 gefertigt und an das Ministerbüro geleitet „mit der Bitte, Zustimmung BM herbeizuführen“. Hat BM Genscher am 16. Januar 1992 vorgelegen. Hat VLR I Matussek am 16. Januar 1992 vorgelegen, der den Rücklauf an Referat 201 verfügte. Hat VLR Schumacher am 17. Januar 1992 vorgelegen, der handschriftlich vermerkte: „Wurde am 17.1.92 verteilt.“ 2 Der amerikanische VM Cheney hielt sich am 13./14. Januar 1992 in der Bundesrepublik auf. 3 Für das Abkommen vom 19. Juni 1951 zwischen den Parteien des Nordatlantikvertrags über die Rechtsstellung ihrer Truppen (NATO-Truppenstatut) und das Zusatzabkommen vom 3. August 1959 hinsichtlich der in der Bundesrepublik stationierten ausländischen Truppen einschließlich der zugehörigen Dokumente vgl. BGBl. 1961, II, S. 1190–1385. Vgl. ferner das Abkommen vom 21. Oktober 1971 zur Änderung des Zusatzabkommens sowie die Vereinbarung vom 18. Mai 1981 zur Änderung des Unterzeichnungsprotokolls zum Zusatzabkommen; BGBl. 1973, II, S. 1022–1027, und BGBl. 1982, II, S. 531–533. Zu den seit dem 5. September 1991 stattfindenden Neuverhandlungen mit den Stationierungsstaaten vgl. AAPD 1991, II, Dok. 386. Referat 503 notierte am 7. Januar 1992, die erste Verhandlungsrunde sei durch eine Plenarsitzung vom 16. bis 18. Dezember 1991 abgeschlossen worden: „Das Verhandlungsziel der deutschen Delegation ist

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der Thematik, hoffe aber, dass die Verhandlungen auf verhältnismäßig niedrigem Niveau gehalten und dass die offenen Fragen gelöst werden könnten. Vermieden werden müsse, dass dieses Thema in den amerikanischen Wahlkampf4 komme, eine große Debatte auslöse und damit den Kritikern an der Stationierung amerikanischer Truppen in Deutschland in die Hände spiele. Er habe gestern über dieses Thema auch mit Verteidigungsminister Stoltenberg gesprochen, der seine Einschätzung teile. Man hoffe auf eine schnelle Regelung. BM wies darauf hin, dass es zu dieser Frage bislang keine öffentliche Debatte gebe, und äußerte die Hoffnung, dass dieses so bleiben werde. Die amerikanische Position sei, soweit zu sehen, flexibel. Er hoffe, dass dies für den Gang der Verhandlungen beispielhaft sein möge. Cheney ergänzte, dass der Fortbestand guter Trainingsmöglichkeiten für die amerikanischen Truppen von essentieller Bedeutung sei, um Ausbildungsstand, Einsatzbereitschaft und Moral der amerikanischen Truppen zu halten. BM wies darauf hin, dass die Verhandlungen Rechtsfragen zum Gegenstand hätten. Es gehe um die Frage der Gleichbehandlung. Nicht die Substanz und Qualität der Ausbildung, noch die Frage der Anwesenheit amerikanischer Truppen in Deutschland stünden zur Debatte. Die Reaktionen in der deutschen Öffentlichkeit zeigten, dass man die amerikanischen Truppen hierbehalten möchte. Anpassungsfähigkeit sei erforderlich und nicht das Festhalten an Privilegien. Probleme gebe es allenfalls für diejenigen, die persönlich von Änderungen betroffen seien und deren Status sich damit ändere. Dies sei aber eine andere Sache und leider nicht zu ändern. Cheney bestätigte, dass auch er kein Problem sehe, hier zu einer Lösung zu kommen. Er wolle ein weiteres Problem ansprechen, über das er bereits mit Bundeskanzler Kohl5 und Verteidigungsminister Stoltenberg gesprochen habe. Der Präsident werde Ende des Monats weitere Kürzungen im Verteidigungshaushalt ankündigen.6 Über dieses Thema gebe es vielfache Spekulationen. Einzelheiten werde erst der Präsident mitteilen. Er wolle jedoch schon heute sagen, dass es bei der 25 %igen Kürzung der Streitkräfte bleiben werde. Fortsetzung Fußnote von Seite 39 im Wesentlichen die Gleichstellung der in Deutschland stationierten ausländischen Truppen mit der Bundeswehr in Deutschland (,innere Gleichheitʻ), mit der Bundeswehr im Ausland (,Reziprozitätʻ) und mit den Truppen der hier stationierten Staaten in anderen NATO-Mitgliedstaaten (,äußere Gleichheitʻ).“ Gerade die amerikanische Delegation setze sich inzwischen für eine Beschleunigung der Gespräche ein. Dies könne aber nicht darüber hinwegtäuschen, „dass sachliche Zugeständnisse in den wichtigeren Fragen auch von den Amerikanern erst nach Überwindung großer Widerstände erreicht werden können“. Vgl. B 86, Bd. 2117. 4 In den USA fanden am 3. November 1992 Präsidentschaftswahlen, Wahlen zum Repräsentantenhaus sowie Teilwahlen zum Senat und für die Gouverneursämter statt. 5 Im Gespräch mit BK Kohl am 13. Januar 1992 erläuterte der amerikanische VM Cheney Einzelheiten der geplanten Kürzungen des amerikanischen Verteidigungshaushalts und führte aus, „dass sicher die Mehrheit der US-Bürger die Anwesenheit der US-Truppen in Deutschland ebenfalls unterstütze. Die Diskussion über eine europäische Sicherheitsidentität und auch über das Zusatzabkommen zum NATO-Truppenstatut gebe allerdings immer wieder Anlass zu kritischen Stimmen in den USA.“ Vgl. den Gesprächsvermerk; BArch, B 136, Bd. 59747. 6 In seiner Rede zur Lage der Nation vor beiden Häusern des amerikanischen Kongresses am 28. Januar 1992 in Washington kündigte der amerikanische Präsident Bush die Einstellung verschiedener Programme im Bereich der nuklearen Raketen an. Bis 1997 würden die Verteidigungsausgaben um weitere 50 Mrd. US-Dollar gekürzt. Vgl. PUBLIC PAPERS, BUSH 1992-93, S. 158. Für den deutschen Wortlaut vgl. EUROPA-ARCHIV 1992, D 160 f.

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Weitergehende Streitkräftekürzungen seien nicht vorgesehen. Es bleibe bei der schon bekannten Zahl von 1,6 Mio. aktiver Soldaten. Insbesondere werde es keine weiteren Truppenreduzierungen in Deutschland geben. Einsparungen jedoch würden bei den Modernisierungen vorgenommen, und dies im Lichte der Entwicklungen in der ehemaligen Sowjetunion, die hier ein langsameres Tempo erlaubten. C. wies allerdings darauf hin, dass dies nicht bedeute, dass es keine weitere Debatte über Truppenreduzierungen geben werde. BM fragte danach, ob Thema Sicherheit und Verteidigung im bevorstehenden Präsidentschaftswahlkampf eine größere Rolle spielen werde. Cheney machte dies davon abhängig, wer der Herausforderer sein werde. Isolationismus werde sicherlich ein Thema werden, aber kein alles beherrschendes. Für den demokratischen Herausforderer Clinton gelte, dass Unterschiede in der Außenpolitik zu Präsident Bush kaum gegeben seien. Die amerikanische Innenpolitik werde dann zu dem weitaus wichtigeren Thema werden. BM leitete dann über auf die Entwicklung in der früheren Sowjetunion und zu den sich daraus ergebenden Sicherheitsfragen. Deutschland sei sehr besorgt über die Nuklearwaffen.7 BM wies hin auf seine Initiative zur Beseitigung atomarer Kurzstreckenraketen und Artilleriemunition.8 Er glaube nicht an eine wirksame Kontrolle dieser Waffen in den neu entstandenen Republiken. Es sei kaum vorherzusehen, wie sich die Beziehungen zwischen den verschiedenen Republiken und auch in den Republiken selbst entwickeln würden. Man solle deshalb diese nuklearen Waffen so schnell wie möglich vernichten. Hierzu würden die Republiken aber selber nicht imstande sein. BM wies darauf hin, dass er mit Außenminister Baker bereits hierüber gesprochen habe und insbesondere darüber, wie man eine Proliferation dieser Massenvernichtungswaffen verhindern könne. Zum ersten Mal verfüge die islamische Welt in Gestalt der früheren sowjetischen Republiken heute über nukleare Waffen. Wir wären deshalb gut beraten, alle diese Staaten in den KSZE-Prozess und den Nordatlantischen Kooperationsrat aufzunehmen, unbeschadet der Tatsache, dass einige Staaten im Westen hierzu Vorbehalte hätten. Andernfalls würden die islamischen Republiken der früheren SU nach anderen Partnern suchen. BM wies auf das große Interesse des Iran an diesen Republiken hin, wie unlängst ein zweiwöchiger Besuch des Außenministers Velayati9 gezeigt habe. Der Westen müsse deshalb aufpassen, hier nicht eine Chance zu verpassen. Er müsse diese neuen Staaten in jede mögliche Kooperation einbeziehen mit dem klaren Ziel, sie dazu zu bringen, alle Verträge zu erfüllen, die die Sowjetunion unterschrieben habe, und ihre Massenvernichtungswaffen zu vernichten. BM wies nachdrücklich darauf hin, dass zur Erreichung dieses Zieles eine gemeinsame Initiative notwendig sei. Sie könne nicht nur von einer Nuklearmacht wie den USA getragen werden. Sie müsse auch Nicht-Nuklearstaaten wie Deutschland einschließen, da anderenfalls der Vorwurf erhoben werde, hier handle es sich um eine Initiative zum Erhalt eigener Privilegien. Er schlage einen Meinungsaustausch zwischen unseren beiden Ländern vor. Es sei höchste Zeit, der Proliferationsgefahr zu begegnen. 7 Zur Frage der Sicherheit der Nuklearwaffen der ehemaligen UdSSR vgl. AAPD 1991, II, Dok. 445. 8 Zur SNF-Initiative der Bundesregierung vgl. Dok. 7. 9 Im Rahmen einer Reise vom 24. November bis 3. Dezember 1991 in der UdSSR hielt sich der iranische AM Velayati am 27. November 1991 in Kasachstan, anschließend in Kirgisistan, am 29. November in Usbekistan, am 2. Dezember in Tadschikistan sowie am 3. Dezember 1991 in Aserbaidschan auf.

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BM erläuterte dann die Gesetzgebung in Deutschland zur Proliferationsverhinderung.10 Er betonte, dass alle Anstrengungen unternommen werden müssten, um zu verhindern, dass sowjetische Nuklearexperten ins Ausland abgeworben würden. BM wies darauf hin, besondere Besorgnis bereiteten ihm die nuklearen Kurzstreckenwaffen und die nukleare Munition, nicht so sehr die Sicherheit der strategischen Nuklearwaffen. Hier sei die Kontrolle leichter. Cheney bestätigte, dass die USA diese Besorgnisse in vollem Umfange teilten. Er erläuterte die bislang vergeblichen amerikanischen Bemühungen, der Sowjetunion bzw. Russland bei der Vernichtung der Nuklearwaffen zu helfen. Diese Bemühungen würden weiter fortgeführt. Nach gegenwärtigen amerikanischen Erkenntnissen gehe man davon aus, dass die nuklearen Kurzstreckenraketen in die vier „nuklearen Republiken“ zusammengezogen worden seien. Es bestehe allerdings die Besorgnis, dass die jeweiligen Republikführungen selber nicht genau wüssten, was mit den auf ihrem Gebiet vorhandenen Nuklearwaffen geschehe. Angesprochen sei hier die Kontrolle des Militärs. Hadley erläuterte auf Bitte von C. die Einzelheiten. Es sehe so aus, dass die übrigen ehemaligen sowjetischen Republiken einverstanden seien, die taktischen Waffen abzugeben. Man gehe davon aus, dass Ende Dezember 1991 alle taktischen Nuklearwaffen auf dem Gebiet der vier „nuklearen Republiken“ zusammengezogen worden seien, Nuklearwaffen damit nur noch in diesen vier Republiken vorhanden seien. Mitte 1992 (Juni/Juli) würden alle taktischen Nuklearwaffen auf dem Gebiet der Russischen Föderation zusammengezogen. Die amerikanischen Bemühungen, der SU bei der Vernichtung der Nuklearwaffen zu helfen, seien im Oktober/November 1991 ergebnislos gewesen. Sie würden fortgesetzt. Im Dezember habe Außenminister Baker das Angebot wiederholt. Man hoffe auf einen positiven Sinneswandel. Cheney erklärte, dass man in der Öffentlichkeit vermeide, Pessimismus zu zeigen. Persönlich sei er jedoch nicht so optimistisch. Bislang gebe es wenig Anzeichen für Fortschritte bezüglich der Vernichtung von Nuklearwaffen durch Russland. Auch sei eine Konzentration aller Nuklearwaffen in Russland kein beruhigender Gedanke, wenn es nicht dort zur Vernichtung dieser Waffen komme. Seiner Einschätzung nach würde eine Vernichtung der Nuklearwaffen wegen der unzureichenden vorhandenen Vernichtungskapazität in jedem Fall bis zum Ende des Jahrzehnts dauern. Die USA seien deshalb bereit, bei dem Aufbau entsprechender Kapazitäten zu helfen. Ähnlich schwierig sei die Lage bei der Vernichtung chemischer Waffen. BM wies darauf hin, dass diese Ausführungen die Richtigkeit der von uns in der NATO verfolgten Initiative zeigten. Gleichzeitig sollten wir versuchen, die Verhandlung über ein Verbot von chemischen Waffen in Genf11 zum Abschluss zu bringen. BM äußerte im Übrigen Interesse an den Erkenntnissen, die Bartholomew auf seiner bevorstehenden Reise in die ehemalige Sowjetunion gewinne.12 Cheney verwies auf allerdings nicht bestätigte amerikanische Erkenntnisse, wonach der Bestand der sowjetischen taktischen Nuklearwaffen geringer sein könnte als bislang angenommen. Aber wie die Zahlen im Einzelnen auch sein sollten, sie seien jedenfalls zu hoch. 10 Zur Reform der Rüstungsexportkontrolle vgl. Dok. 63. 11 Zum Stand der Genfer CW-Verhandlungen vgl. AAPD 1991, II, Dok. 432. Vgl. ferner Dok. 19. 12 Zur Reise des StS im amerikanischen Außenministerium, Bartholomew, vom 15. bis 22. Januar 1992 in die GUS-Mitgliedstaaten vgl. Dok. 21.

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Dg 2013 wies auf die erfolgreiche Arbeitsaufnahme der erweiterten HLTF-Gruppe im Rahmen des Kooperationsrates am 10.1.1992 zur KSE-Problematik14 hin und erläuterte im Einzelnen unsere Absicht, eine vergleichbare Gruppe im Rahmen des Nordatlantischen Kooperationsrates zu schaffen, in der über die Vernichtung der nuklearen Kurzstreckenwaffen und der nuklearen Artilleriemunition gesprochen werden soll. Leiter Ministerbüro15 unterstützte, dass es sich hier um eine hochrangige Arbeitsgruppe mit Experten handeln solle. In der Sache gehe es um den Beginn einer kooperativen Politik. BM erläuterte dann seine Initiative zur Einbeziehung der neuen Republiken in den Nordatlantischen Kooperationsrat.16 Hinter dem Vorschlag stehe die Philosophie, diese Staaten so weit wie möglich in die Zusammenarbeit mit einzubeziehen. Denn so könne auf sie Einfluss ausgeübt werden. Er verweist auf den Erfolg dieses Konzeptes in der Vergangenheit mit seiner Anwendung auf die Sowjetunion. Ein so erfolgreiches Konzept solle nicht geändert werden. Die neuen Staaten sollten deshalb in alle Strukturen einbezogen werden, die es hierfür gebe, wie KSZE, Nordatlantischer Kooperationsrat sowie in eine spezielle Vertragspolitik der EG. Dies sei im Kreise der EG-Außenminister besprochen worden.17 Es gebe als besonderes Instrument den Assoziierungsvertrag, wie er bereits mit Polen, Ungarn und der Tschechoslowakei bestehe.18 Dies müsse auch gelten für weitere Staaten wie Bulgarien, Rumänien und die jugoslawischen Nachfolgestaaten. Für die neuen Republiken der ehemaligen Sowjetunion müsste ein neues Instrument entwickelt werden, wie beispielsweise ein Kooperationsvertrag. Auf diese Weise könne versucht werden, sie in den europäischen Prozess mit einzubeziehen. Wichtig sei jedoch nicht nur materielle Hilfe, 13 Rolf Hofstetter. 14 MDg Roßbach, z. Z. Brüssel, berichtete am 10. Januar 1992 zur konstituierenden Sitzung der hochrangigen Arbeitsgruppe des NAKR zum KSE-Vertrag vom 19. November 1990, das Ausmaß des Konsenses zu inhaltlichen und prozeduralen Eckpunkten für die intensivierte Inkraftsetzung des KSE-Vertrags habe den Willen aller gezeigt, „dieses Ziel zeitgerecht bis zum Abschluss des Helsinki-KSZE-Folgetreffens zu erreichen. Damit ist eine wichtige Weichenstellung getroffen, um im Einklang mit der Charta von Paris den Übergang der konventionellen Rüstungskontrolle in den Kreis aller KSZE-Staaten nach Helsinki sicherzustellen“. Allerdings sei auch deutlich geworden, „dass auf dem Wege dorthin noch etliche politische und technische Stolpersteine aus dem Weg zu räumen sind“. Vgl. DB Nr. 42/43; B 43, ZA-Bd. 177850. 15 Frank Elbe. 16 VLR I Bertram bat die Ständige Vertretung bei der NATO in Brüssel am 2. Januar 1992, sich „umgehend“ für die Einberufung einer Sondersitzung des NAKR auf Außenministerebene in Prag im Anschluss an den KSZE-Außenministerrat am 30./31. Januar 1992 einzusetzen. Diese solle die Einbeziehung der GUSMitgliedstaaten als reguläre Mitglieder zum Ziel haben. Vgl. DE Nr. 14; B 14, ZA-Bd. 161241. 17 Die Beziehungen der EG zu den GUS-Mitgliedstaaten waren Thema der EG-Ministerratstagung am 10. Januar 1992 in Brüssel. Botschafter Trumpf, Brüssel (EG), teilte am 11. Januar 1992 mit: „Die Vorstellungen der KOM über neuartige Vertragsbeziehungen, die zwischen traditionellen Kooperationsverträgen und den Assoz[iations]-Abkommen liegen, erhielten insbesondere die rückhaltlose Unterstützung von BM Genscher. KOM wird als Ergebnis der Ratsdiskussion exploratorische Gespräche mit den betr. Republiken aufnehmen. Ein LUX-Vorschlag zu einem hochrangigen Treffen der Gem[einschaft] mit den Regierungschefs der neuen Republiken fand allgemeine Unterstützung.“ Vgl. DB Nr. 42; B 221, ZA-Bd. 166577. 18 Die EG schloss am 16. Dezember 1991 Europa-Abkommen zur Gründung einer Assoziation mit Polen bzw. Ungarn. Vgl. BGBl. 1993, II, S. 1317–1471 bzw. S. 1473–1714. Vgl. auch AAPD 1991, II, Dok. 407. Ebenso wurde ein entsprechendes Abkommen mit der ČSFR geschlossen. Vgl. BULLETIN DER EG 12/1991, S. 97 f.

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sondern auch Technische Hilfe und Information. Benötigt würden insbesondere eingehende Kenntnisse als Voraussetzung für den Aufbau einer Marktwirtschaft. BM erläuterte dies im Einzelnen an unseren Erfahrungen mit dem Aufbau der neuen Bundesländer. Er hoffe, dass auch über diese Fragen auf der bevorstehenden Konferenz in Washington19 gesprochen werde. Cheney kam dann auf den START-Vertrag20 zu sprechen. Hier gebe es große Schwierigkeiten für die neu entstandenen Republiken. Es sei denkbar, dass die Republikführungen von den der GUS zentral unterstellten strategischen Streitkräften nicht genau unterrichtet würden über das, was diese mit den strategischen Waffen machten. Er betonte, dass es sich hier um eine sehr delikate Angelegenheit handele. Auf Frage von Dg 20, ob es zutreffe, dass in der ehemaligen SU noch weiter Nuklearwaffen gebaut würden, erläuterte Cheney, dass insbesondere in der Ukraine noch SS-25 hergestellt und neue Systeme in Stellung gebracht würden. Hier handele es sich jedoch um die Folgen eines „Trägheitsprozesses“. Er gehe davon aus, dass die Produktion aus Gewohnheit noch weiterlaufe, da Rohmaterial und Bauteile noch vorhanden seien. Auf Frage von BM führte er aus, dass die Herstellung funktionsfähiger Nuklearsysteme aller Wahrscheinlichkeit nach das Zusammenwirken mehr als einer Republik nötig mache. Auf weitere Frage von BM: Seit November gebe es in der ehemaligen Sowjetunion keine Nukleartests mehr, wohl aber Flugtests von Raketen. BM sprach C. dann auf Schwierigkeiten an, die die Vereinigten Staaten mit der Anerkennung von Kroatien und Slowenien21 hätten. Er glaube aber noch stärker als früher, dass die deutsche Anerkennung der richtige Weg gewesen sei, der einen wirklichen Friedensprozess eingeleitet habe. Cheney wies darauf hin, dass die amerikanischen Ziele in Jugoslawien die gleichen seien. Deutschland sei jedoch in der Anerkennungsfrage weiter als die USA. BM stellte einen Rückgang der Gewalt in Jugoslawien nach dem 16.12.1991 fest. Jetzt müsse die Weltgemeinschaft deutlich zeigen, dass sie eine Okkupation nicht akzeptieren werde. Grenzen müssten respektiert werden. BM erläuterte diese Notwendigkeit u. a. mit Beispielen aus der Geschichte und dem Hinweis auf den 2+4-Vertrag22, mit dem Deutschland für die eigenen Ostgrenzen Konsequenzen gezogen habe, die nicht leicht gewesen 19 Zur Koordinierungskonferenz für humanitäre Hilfe an die GUS-Mitgliedstaaten am 22./23. Januar 1992 vgl. Dok. 38. 20 Für den START-Vertrag vom 31. Juli 1991 vgl. DEPARTMENT OF STATE DISPATCH, Supplement Nr. 5 vom Oktober 1991. Vgl. auch AAPD 1991, II, Dok. 256. 21 Zur Frage der Anerkennung von Kroatien und Slowenien durch die EG am 16. Dezember 1991 vgl. Dok. 2, Anm. 10. VLR I von Jagow teilte am 11. Januar 1992 mit, im EPZ-Teil der EG-Ministerratstagung am Vortag in Brüssel sei das Thema Jugoslawien erörtert worden: „Nicht Gegenstand neuer Beschlussfassung war die Frage der Anerkennung von Republiken, die dieses wünschen. BM unterstrich, dass diese Frage am 16.12.91 bereits abschließend entschieden worden sei. D werde, wie am 16.12.91 angekündigt, die vor Weihnachten beschlossene Anerkennung Sloweniens und Kroatiens am 15.1.92 durch Aufnahme der diplomatischen Beziehungen implementieren. […] BM stellte klar, dass ein neues AM-Treffen zur Anerkennungsfrage am oder nach dem 15.1.92 nicht in Betracht kommt.“ Vgl. RE Nr. 1; B 28, ZABd. 158722. 22 Für den 2+4-Vertrag vom 12. September 1990 vgl. BGBl. 1990, II, S. 1318–1329. Vgl. auch AAPD 1990, II, Dok. 306, sowie AAPD 1991, I, Dok. 96.

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seien. Würden bestehende Grenzen infrage gestellt, führe dies zu einem Teufelskreis der Gewalt. Dies müsse auch für Jugoslawien gelten. Gesprächsende 9.00 Uhr. B 14, ZA-Bd. 161264

10 Gespräch des Bundeskanzlers Kohl mit dem griechischen Ministerpräsidenten Mitsotakis 14. Januar 19921 Der Bundeskanzler heißt MP Mitsotakis herzlich willkommen und erläutert kurz die innenpolitische Lage in der Bundesrepublik Deutschland. MP Mitsotakis macht seinerseits einige Bemerkungen zur innenpolitischen Lage in Griechenland und kommt sodann auf die Lage in Jugoslawien zu sprechen. Er sei sehr besorgt über die Entwicklung. Noch heute Morgen sei er in Belgrad gewesen und mit MP Milošević zusammengetroffen. Der Bundeskanzler wirft die Frage ein, wie groß die Macht von Milošević heute sei. MP Mitsotakis erwidert, Milošević sei nach wie vor der mächtigste Mann und kontrolliere auch die Armee. Der Bundeskanzler erkundigt sich nach dem Verhältnis des Ministerpräsidenten zu Milošević. MP Mitsotakis erwidert, Griechenland habe ein gutes Verhältnis zu Serbien und er persönlich auch zu Milošević. Der Bundeskanzler erklärt, der Ministerpräsident solle Milošević wissen lassen, dass er eine falsche Politik gegenüber Deutschland betreibe. Er, der Bundeskanzler, sei keineswegs ein Feind der Serben, wie dort immer wieder behauptet werde. MP Mitsotakis erwidert, er habe dies Milošević schon klargemacht. Nach seinem Eindruck habe Milošević seine Politik jetzt geändert. Das betreffe nicht nur das Verhältnis gegenüber Europa, sondern auch gegenüber Deutschland. Milošević sehe, dass er keinen Ausweg mehr habe. Er sei daher auch bereit, sich mit Kroatien zu verständigen. Der Ministerpräsident von Kroatien2 sei vor wenigen Tagen bei ihm in Athen gewesen und habe dies bestätigt. Er habe ihn ausdrücklich gebeten, dies auch dem Bundeskanzler zu sagen. Milošević habe verstanden, dass er die Unabhängigkeit Kroatiens akzeptieren müsse. Der Bundeskanzler fragt, wie die Haltung Miloševićs zur Grenzfrage sei. 1 Der Gesprächsvermerk wurde von MD Hartmann, Bundeskanzleramt, gefertigt und am 14. Januar 1992 über BM Bohl an BK Kohl „mit der Bitte um Billigung“ geleitet. Ferner vermerkte Hartmann: „Ich schlage vor, dass BM Genscher, der zuvor ebenfalls mit MP Mitsotakis ein Gespräch geführt hatte, Durchdruck dieses Vermerks erhält.“ Hat Bohl vorgelegen. Hat Kohl vorgelegen, der handschriftlich vermerkte: „Ja.“ Vgl. den Begleitvermerk; BArch, B 136, Bd. 42307. 2 Franjo Gregurić.

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MP Mitsotakis erwidert, Milošević sei bereit, die bisherige administrative Grenze zu akzeptieren. Er verlange allerdings einen Autonomiestatus für die serbische Minderheit und dass es – in vielleicht 20 Jahren – eine Abstimmung gebe, ob die in Kroatien lebenden Serben dort bleiben oder die Seite wechseln wollten. Ferner akzeptiere Milošević die Beobachter der Vereinten Nationen. Der Bundeskanzler stellt die Frage, ob dies auch bedeute, dass Milošević akzeptiere, dass Kroatien in seinen Grenzen voll wiederhergestellt werde. MP Mitsotakis bejaht dies. Er erläutert sodann die griechische Haltung zu Mazedonien. (Einzelheiten konnten nicht mitgeschrieben werden, da der Unterzeichner ans Telefon gerufen wurde.) Der Bundeskanzler erklärt, er verstehe die griechische Position in dieser Frage. MP Mitsotakis fährt fort, aus seiner Sicht dürfe man jetzt nicht zu einer Anerkennung der Unabhängigkeit von Bosnien-Herzegowina und Mazedonien fortschreiten, sondern man müsse das restliche Klein-Jugoslawien so akzeptieren, wie es sei – unter Einschluss einer Autonomieregelung für die darin verbleibenden Völker. Der Bundeskanzler erklärt, wir wollten uns in dieser Frage zurückhalten und nicht die Speerspitze für eine weitere Entwicklung bilden. Wir würden auf keinen Fall den Vorreiter spielen, und im Übrigen schlage er vor, dass man in dieser Frage in engem Kontakt bleibe. Er werde nichts ohne Rücksprache mit dem Ministerpräsidenten tun. Dies alles setze natürlich voraus, dass auch Serbien den in Rest-Jugoslawien verbleibenden Völkern klare Garantien gebe. MP Mitsotakis erwidert, er glaube, dass Milošević dies akzeptieren werde, und er gehe auch davon aus, dass Mazedonien und Bosnien-Herzegowina auf eine entsprechende Haltung der EG vernünftig reagieren würden. Der Bundeskanzler erklärt, der Präsident von Bosnien-Herzegowina, Izetbegović, sei hier gewesen und habe einen guten Eindruck hinterlassen.3 MP Mitsotakis erklärt, nach seinem Eindruck sei Izetbegović ein fanatischer Moslem. Im Übrigen habe ihm Milošević gesagt, dass Bosnien-Herzegowina und Mazedonien eigene Konsulate im Ausland unterhalten könnten. Milošević sei offen auch für ein Gespräch mit uns. Wenn man ihm klarmache, dass wir die Dinge nicht beschleunigen würden und bereit seien, das kleinere Jugoslawien zu respektieren, wäre dies sehr hilfreich. Alles andere würde eine schlimme Entwicklung bedeuten. Der Bundeskanzler stellt die Frage, wie MP Mitsotakis die Entwicklung im Kosovo sieht. MP Mitsotakis erklärt, auch hier könnte die Autonomie eine gute Lösung sein. Falsch sei es, wenn man wie Mazedonien jetzt die Unabhängigkeit fordere und erst später wieder auf eine Konföderation zusteuere. Der Bundeskanzler erklärt, dann müsse aber Serbien auch entsprechende Vorschläge machen. MP Mitsotakis erwidert, er habe Milošević deutlich gesagt, er müsse jetzt die Initiative ergreifen. Nach seinem Eindruck sei Milošević bereit, Vorschläge zu machen. Der Bundeskanzler stellt die Frage, ob die Militärs diese Politik mitmachten. MP Mitsotakis bejaht dies. 3 BK Kohl traf am 22. November 1991 mit dem Präsidenten von Bosnien-Herzegowina, Izetbegović, zusammen. Vgl. AAPD 1991, II, Dok. 397.

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Der Bundeskanzler erklärt, er wolle noch einmal deutlich sagen, dass er nicht antiserbisch sei. Seine Politik sei nicht auf die Zerschlagung Jugoslawiens ausgerichtet. Er habe sich aber nach der deutschen Einheit selbstverständlich für das Selbstbestimmungsrecht der Kroaten und Slowenen eingesetzt. Abgesehen davon gebe es in Deutschland eine starke kroatische Minderheit. Möglicherweise habe er sich hinsichtlich der Durchführung der Carrington-Mission4 getäuscht. Er habe immer angenommen, dass Carrington ernsthaft verhandeln würde. In Wirklichkeit habe Carrington eine britische und nicht eine europäische Lösung angestrebt. Ferner seien die Dinge dadurch kompliziert worden, dass Frankreich, insbesondere Präsident Mitterrand, sich nicht bewegt habe. MP Mitsotakis erklärt, der Bundeskanzler habe jetzt die Chance, seinen Erfolg in der Frage der Anerkennung von Slowenien und Kroatien5 mit einem zweiten Erfolg bezüglich Rest-Jugoslawiens zu krönen. Der Bundeskanzler erwidert, MP Mitsotakis könne der serbischen Seite in seinem Auftrag sagen, dass er es begrüße, wenn ein neuer Anfang mit Kroatien und Slowenien gemacht werde, wobei man auch über die Frage einer Abstimmung nach 20 Jahren in den betroffenen Gebieten nachdenken könne. Ferner solle Milošević jetzt weitgehende Vorschläge für die Minderheiten in Rest-Jugoslawien machen und deren Autonomie sichern. Sein Interesse sei es, dass es nicht zu einem feindseligen Dauerzustand zwischen Deutschland und Serbien komme. MP Mitsotakis wirft ein, Milošević habe in dem heutigen Gespräch nicht über Deutschland gesprochen. Der Bundeskanzler fährt fort, ihm gehe es um eine friedliche Entwicklung in dieser Region, und man müsse jetzt alles tun, um zu friedlichen Regelungen zu kommen. MP Mitsotakis erklärt, was Mazedonien betreffe, so wolle er noch hinzufügen, dass es zwar Bulgaren, Serben und Albaner gebe, nicht aber Mazedonier. Er wisse, dass in Bulgarien so gut wie alle Parteien sich Mazedonien einverleiben wollten. Er habe BM Genscher gebeten, die Bulgaren daran zu hindern, Mazedonien sofort anzuerkennen.6 Der Bundeskanzler erwidert, es sei entscheidend, dass MP Mitsotakis gegenüber Milošević mit aller Klarheit deutlich mache, dass er jetzt am Zuge sei. MP Mitsotakis erklärt, er werde diese Botschaft auf geeignetem Wege an MP Milošević weiterleiten. 4 In einer am 28. August 1991 veröffentlichten Erklärung beschlossen die EG-Mitgliedstaaten die Einsetzung einer Friedenskonferenz für Jugoslawien sowie einer Schlichtungskommission unter Vorsitz des Präsidenten des französischen Verfassungsgerichtshofs, Badinter. Bei ihrem außerordentlichen Treffen im Rahmen der EPZ am 3. September 1991 in Den Haag beriefen die Außenminister der EG-Mitgliedstaaten für den 7. September 1991 die Friedenskonferenz ein. Den Vorsitz sollte der ehemalige britische AM und NATO-GS Lord Carrington übernehmen. Vgl. BULLETIN DER EG 7-8/1991, S. 119 f., bzw. BULLETIN DER EG 9/1991, S. 65. Zu den Verhandlungen der Konferenz vgl. AAPD 1991, II, Dok. 374. 5 Zur Frage der Anerkennung von Kroatien und Slowenien vgl. Dok. 9, Anm. 21. 6 Im Gespräch mit dem griechischen MP Mitsotakis am 14. Januar 1992 erklärte BM Genscher: „Makedonien sei ein Sonderfall. In der Frage der Anerkennung werde sich D nach gri[echischer] Interessenlage richten. […] Für uns seien die vitalen Interessen Griechenlands ein wichtiger Gesichtspunkt.“ Mitsotakis unterstrich, „nach gri. Auffassung dürfe die EG nicht dazu beitragen, die Unabhängigkeitsbestrebungen weiterer jugoslawischer Teilstaaten zu ermutigen. […] Wenn die EG sich jetzt zurückhalte, werde das zur Beendigung des Bürgerkrieges in Kroatien beitragen. In diese Sinne solle man auch auf BUL und TUR einwirken.“ Vgl. den Gesprächsvermerk; B 26, ZA-Bd. 173536.

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14. Januar 1992: Gespräch zwischen Genscher und Ganew

Der Bundeskanzler erkundigt sich nach der Haltung von MP Mitsotakis gegenüber der türkischen Regierung. MP Mitsotakis erklärt, er sei mit dem neuen Ministerpräsidenten Demirel sehr zufrieden. Er kenne Demirel seit vielen Jahren und hoffe, dass seine Reaktion auf die Fragen, die Griechenland interessierten, positiv sein würde. Er werde im Übrigen mit Demirel Ende des Monats in Davos zusammentreffen.7 UN-Generalsekretär Boutros-Ghali, mit dem er eng befreundet sei, werde einen neuen Versuch unternehmen, eine Lösung für Zypern zu finden.8 Hierbei wolle auch Präsident Bush behilflich sein. Er rechne auch auf die Unterstützung des Bundeskanzlers. Der Bundeskanzler erklärt, selbstverständlich könne der Ministerpräsident in dieser Frage mit seiner Unterstützung rechnen. BArch, B 136, Bd. 42307

11 Gespräch des Bundesministers Genscher mit dem bulgarischen Außenminister Ganew 14. Januar 19921 Von BM noch nicht genehmigt Gespräch BM mit bulgarischem AM Ganew am 14.1.1992 in Bonn Teilnehmer deutsche: Botschafterin Steffler, Dg 212, VLR I Matussek, LR Hille als Dolmetscher; bulgarische: Botschafter Stalew, Frau Momtschewa, Sprecherin des Außenministeriums. BM fragte nach sehr herzlichen Worten der Begrüßung nach Analyse des ersten Wahlgangs der Präsidentenwahlen in Bulgarien.3 7 Beim Weltwirtschaftsforum in Davos vom 29. Januar bis 2. Februar 1992 führten die MP Demirel (Türkei) und Mitsotakis (Griechenland) am 31. Januar 1992 ein Gespräch. 8 Botschafter Vergau, New York (VN), erläuterte am 10. Januar 1992: „Im Sommer vergangenen Jahres gab es nach Gesprächen des Sonderbeauftragten des VN-GS im Zypern-Konflikt, Camilión, und seiner Mitarbeiter mit GRI, TUR und ZYP Anzeichen, dass auf dem Wege zu einer Lösung des Zypern-Konflikts Fortschritte erzielt worden waren. Ein internationales Treffen auf hoher Ebene, um die verbleibenden offenen Fragen zu klären, schien in greifbare Nähe gerückt. Der Sinneswandel der TUR setzte der Dynamik dann aber ein Ende.“ Vgl. DB Nr. 66; B 30, ZA-Bd. 167259. 1 Der Gesprächsvermerk wurde von MDg von Studnitz am 15. Januar 1992 gefertigt und an das Ministerbüro geleitet „mit der Bitte, Zustimmung des Bundesministers herbeizuführen“. Hat VLR I Matussek am 15. Januar 1992 vorgelegen, der den Rücklauf an Studnitz verfügte und handschriftlich vermerkte: „Kann mit Vermerk ,Von BM noch nicht genehmigtʻ verteilt werden.“ Hat Studnitz am 16. Januar 1992 erneut vorgelegen. 2 Ernst-Jörg von Studnitz. 3 Im ersten Wahlgang der bulgarischen Präsidentschaftswahlen am 12. Januar 1992 erreichte der amtierende Präsident Schelew von der Union der Demokratischen Kräfte 44,6 % der Stimmen. Der für die Bulgarische Sozialistische Partei antretende Kandidat Walkanow kam auf 30,4 %, der Kandidat Gantschew vom Bul-

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AM begründet relative Stärke der postkommunistischen Kräfte mit dem Hochspielen nationalistischer Fragen. BM verweist auf parallele Erscheinung in ČSFR. AM betont, bulgarische Regierung bleibe fest in ihrem Kurs, sie stehe zu ihrem Bekenntnis zur Demokratie und Marktwirtschaft gegen diese nationalistischen Ausbrüche. Herstellung innerer Stabilität sei oberstes Ziel. Das gelte auch für Stabilität der ethnischen Beziehungen. Einbeziehung der türkischen Partei in das Parlament sei bulgarischer Beitrag zur Entspannung und letztlich Lösung dieser Frage. Fortschreitende Integration der Türken und Moslems in die Parlamentsarbeit in Bulgarien werde ein bulgarischer Beitrag zur Lösung dieser Frage als Beispiel für andere Länder in Europa sein. Propagandistisches Ziel der postkommunistischen Kräfte sei gegenwärtig mehr noch als die Frage der Türken in Bulgarien die Frage Mazedonien. In dieser Frage könne bulgarische Regierung leicht unter Druck der eigenen Öffentlichkeit geraten. Bulgarische Regierung verfolge das Ziel, gleich gute Beziehungen zu Türkei und Griechenland aufzubauen. Sie wolle nicht den einen gegen den anderen ausspielen. Die schlimme Politik politischer Achsen, die gegen andere gerichtet seien, dürfe keine Fortsetzung finden. BM stimmt zu. AM betont, Bulgarien suche Symmetrie in den Außenbeziehungen, d. h. gleichartige Freundschaftsverträge mit Griechenland und der Türkei. AM fragt sodann nach Jugoslawien und erläutert, wichtigste Prärogative bulgarischer Politik sei auch hier, Stabilität auf dem Balkan zu erhalten. Ohne Anerkennung der bestehenden Grenzen gebe es keine Stabilität. BM stimmt nachdrücklich zu. AM wiederholt, dass nationalistische Kräfte in Bulgarien bei den Präsidentenwahlen gerade mit ihrer Kritik an dieser bulgarischen Stabilitätspolitik versucht hätten, Stimmen zu gewinnen. Ähnliches Denken stelle er bei Mitsotakis, aber natürlich auch bei Milošević fest. Unverständlich sei die griechische Aufregung über den Staatsnamen Makedonien. Auch Bulgarien könne sich mit gleicher Berechtigung darüber ereifern. In Griechenland sei das frühere Ministerium für Nordgriechenland in Ministerium für Mazedonien und Thrazien umbenannt worden. Damit würden nach griechischem Verständnis ja auch Ansprüche auf bulgarisches Territorium geltend gemacht. Eine solche Denkweise führe nicht weiter. Es sei zu fragen, wo Makedonien hingehöre. Notwendig sei, den Staat und damit auch seine bestehenden Grenzen anzuerkennen. Dies müsse durch internationale Beobachter abgesichert werden, damit nicht Funken überspringen könnten. BM stimmt zu, der Friede in Europa beruhe auf der Unveränderlichkeit der Grenzen. Das gelte insbesondere auch für Jugoslawien. Den europäischen Partnern sei dies nur schwer zu vermitteln gewesen. Am Ende hätten sie es aber verstanden. Dieser Grundsatz gelte sowohl für äußere wie für innere Grenzen. Er führt aus, Slowenien und Kroatien seien von uns anerkannt.4 Am 15.1. würden diplomatische Beziehungen mit beiden Staaten aufgenommen. Was die Anerkennung MakeFortsetzung Fußnote von Seite 48 garischen Business Block erhielt 16,7 %. Im zweiten Wahlgang am 19. Januar 1992 gewann Schelew mit 52,8 % gegen Walkanow, der auf 47,1 % kam. 4 Zur Frage der Anerkennung von Kroatien und Slowenien vgl. Dok. 9, Anm. 21. VLR I von Jagow teilte am 16. Januar 1992 mit, in der Sitzung des Politischen Komitees im Rahmen der EPZ am 14./15. Januar 1992 in Lissabon habe sich eine „deutliche Tendenz“ der EG-Mitgliedstaaten

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doniens anbetreffe, so bedürfte es noch der Klärung einiger Fragen. Diese müssten vor allem mit Griechenland besprochen werden. Die Entscheidung des Außenministerrats der KSZE vom 19.6. behalte ihre Gültigkeit, dass alle Nationen Jugoslawiens über ihre Zukunft selbst entscheiden könnten.5 Das gelte auch für Serbien, das verstehen müsse, dass es für sich keine Sonderrechte und Privilegien beanspruchen dürfe. AM unterstreicht, dass auch Makedonien alle von der EG gesetzten Kriterien6 für seine Anerkennung erfülle. BM unterstreicht, die Frage sei noch nicht entschieden, das heiße weder positiv noch negativ. Weitere Abstimmung mit anderen Partnern sei nötig.7 AM sieht große Gefahr, wenn nur Slowenien und Kroatien anerkannt würden, dies aber für Makedonien offenbleibe. Dann bleibe auch die Grenzfrage offen. Bulgarien habe große Angst vor möglicherweise daraus entstehenden Verwicklungen. Es traue den serbischen Generälen nicht. Wenn die Serben in Makedonien einmarschierten, befürchte Bulgarien Flüchtlingsströme von dort in das eigene Land. BM äußerte Verständnis. Problematisch seien Mazedonien und Bosnien-Herzegowina. BuH dürfe nicht auseinanderfallen. Es repräsentiere zusammengefasst alle Probleme Jugoslawiens. Daher gebe es auch jetzt noch keine Entscheidung über die Anerkennung. AM fragte nach EG-Plänen für Anerkennung von BuH und Makedonien, weil sich Bulgarien an der EG orientieren wolle. BM erwiderte, für beide Staaten gebe es bisher nicht die Absicht der Anerkennung durch irgendein EG-Land. Der Entscheidungsprozess sei noch nicht abgeschlossen. Man müsse die Entwicklung abwarten. AM wiederholte, dass bei alleiniger Anerkennung von Slowenien und Kroatien bulgarische Regierung unter erheblichen inneren Druck gerate. Dennoch sei Bulgarien bestrebt, im Einklang mit den wichtigsten EG-Ländern zu handeln. BM betonte, wir würden sehr behutsam vorgehen, um den Prozess in Jugoslawien nicht zu stören und um die Staatengemeinschaft zusammenzuhalten. AM deutete an, bulgarische Regierung könne versuchen, der öffentlichen Meinung zu erklären, dass Anerkennung Makedoniens so lange zurückzustellen sei, bis andere dies auch täten. Fortsetzung Fußnote von Seite 49 gezeigt, „die Anerkennung von Slowenien und Kroatien nunmehr zu vollziehen, sie hinsichtlich BosnienH[erzegowinas] und Mazedoniens jedoch von weiteren Prüfungen abhängig zu machen. Durchgehend war der Vorbehalt, das Ergebnis der Schiedskommission (Badinter) müsse zunächst bekannt sein. […] Alle Partner sprachen sich nachdrücklich dafür aus, die Geschlossenheit der Gemeinschaft in dieser Frage zu wahren.“ Vgl. den RE; B 42, ZA-Bd. 156539. 5 Für die Erklärung des KSZE-Außenministerrats zu Jugoslawien vom 19. Juni 1991 vgl. EUROPA-ARCHIV 1991, D 355. Vgl. auch AAPD 1991, I, Dok. 212. 6 Zu den Leitlinien der EG-Mitgliedstaaten vom 16. Dezember 1991 vgl. Dok. 2, Anm. 10. 7 VLR I von Jagow teilte am 11. Januar 1992 mit, im EPZ-Teil der EG-Ministerratstagung am Vortag in Brüssel sei das Thema Jugoslawien erörtert worden: „Was die Anerkennung von Mazedonien betrifft, waren sich die AM einig, dass vor einer etwaigen Anerkennung der griechischen Seite Gelegenheit gegeben werden sollte, ihre Einschätzung zur Lage in Mazedonien entsprechend der Erklärung vom 16.12.91 darzulegen. Eine Beratung hierüber soll im Rahmen des nächsten regulären AM-Treffens erfolgen.“ Vgl. RE Nr. 1; B 28, ZA-Bd. 158722.

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BM pflichtete bei. Bulgarische Regierung könne etwa sagen, dass Vorgang innerhalb der EG noch geprüft würde. Gewisse Tendenz werde jedoch sichtbar. Man könne überdies unterstreichen, dass keiner gesagt habe, Makedonien werde nicht anerkannt. Wir fühlten uns zu Rücksichtnahme auf Griechenland verpflichtet. Es sei sichtbar, dass sich griechische Position fortentwickle. AM bemerkte zu bilateralen Fragen, es bestünden gute Voraussetzungen für deren Ausweitung. Bulgarien sei entschlossen, zunächst sich selbst zu helfen, damit die Hilfe anderer wirksam werden könne. Das erfordere vor allem neue Gesetze für die Marktwirtschaft und für ausländische Investitionen. BM zeigt sich überzeugt, dass Bulgarien, wenn es auf dem jetzigen Wege fortschreite, u. U. manche Probleme des Postkommunismus besser löse als andere Staaten mit gleicher Vergangenheit. AM bat zu prüfen, ob die bisher nur für kurzfristige Kredite gewährten HermesBürgschaften auch für langfristige Kredite Anwendung finden könnten. Er deutete an, Bulgarien werde an der Geberkonferenz am 22. und 23. Januar in Washington8 vertreten sein und wolle sich vor allem im Bereich des Wohnungsbaus, wo Deutschland Koordinationsfragen übernehmen werde, beteiligen. BM registrierte vorhandenes bulgarisches Interesse in diesem Bereich. AM schnitt sodann Frage der deutschen Universität in Bulgarien an. Auf den bestehenden Grundlagen solle weiter gebaut werden. Als nächstes bat er erneut um Befreiung der Diplomaten vom Visumserfordernis. Dg 21 erläuterte gegenwärtigen Entwicklungsstand. BM führte zur Assoziation an die EG aus, dass Deutschland sich nachhaltig bei der Kommission dafür einsetzen werde, dass Bulgarien sehr bald von der EG-Kommission ein Vertragsangebot ähnlich dem für Polen, Ungarn und die Tschechoslowakei9 vorgelegt werde.10 Deutschland werde sich dafür einsetzen, dass die Verhandlungen zügig voranschritten. Die Beitrittsperspektive müsse für die Öffentlichkeit sichtbar werden. Dann ließen sich unpopuläre Maßnahmen besser ertragen. AM unterstrich, wie sehr sich Bulgarien als Bestandteil der politischen Einigungsbewegung in Europa sehe. In Zukunft stelle sich Bulgarien auch vor, Mitglied der NATO zu werden. Man wisse, dass dieses noch Zeit brauche. Ausdruck der bulgarischen EuropaPolitik sei auch die konstruktive Balkanpolitik, die man verfolgen wolle. Sie solle der Stabilität Europas genauso wie der des Balkan dienen. Aus diesem Grunde werde auch die deutsche Haltung von Bulgarien so nachhaltig gewürdigt, da sie ein wesentlicher Beitrag zur Stabilisierung der Lage auf dem Balkan sei. Aus diesen Gründen sei auch die Entwicklung der Beziehungen zu Deutschland für Bulgarien vorrangig. 8 Zur Koordinierungskonferenz für humanitäre Hilfe an die GUS-Mitgliedstaaten vgl. Dok. 38. 9 Die EG schloss am 16. Dezember 1991 Europa-Abkommen zur Gründung einer Assoziation mit Polen bzw. Ungarn. Vgl. BGBl. 1993, II, S. 1317–1471 bzw. S. 1473–1714. Vgl. auch AAPD 1991, II, Dok. 407. Ebenso wurde ein entsprechendes Abkommen mit der ČSFR geschlossen. Vgl. BULLETIN DER EG 12/1991, S. 97 f. 10 Referat 411 erläuterte am 6. Januar 1992, Bulgarien habe in einem Memorandum vom 29. April 1991 den Wunsch nach Assoziierung mit der EG geäußert. Nach grundsätzlicher Zustimmung des EG-Ministerrats am 30. September 1991 habe die EG-Kommission Sondierungsgespräche aufgenommen, die gut vorankämen. Die EG-Kommission beabsichtige, dem EG-Ministerrat in wenigen Wochen ein Verhandlungsmandat für ein Assoziierungsabkommen vorzulegen. Vgl. B 221, ZA-Bd. 166628.

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Zur weiteren Gestaltung der Beziehungen wünscht sich Bulgarien ein Generalkonsulat in München und möchte evtl. anderenorts auch noch Honorarkonsuln bestellen. Im Übrigen lud er den BM zu einem Besuch nach Bulgarien ein. BM antwortete, hierfür werde sich ein geeigneter Zeitpunkt finden lassen. Auch der Wunsch nach einem Generalkonsulat in München sollte realisierbar sein, selbst wenn es für uns nicht möglich sein werde, volle Parität herzustellen. Wir hätten erhebliche Personalprobleme, die vielen neuen Vertretungen zu besetzen, die mit den Veränderungen in der früheren Sowjetunion auf uns zukämen.11 AM erläuterte im Hinblick auf die GUS, dass alle Nachfolgestaaten von Bulgarien anerkannt worden seien. An diplomatische Beziehungen denke man aber nur zu Russland und der Ukraine sowie Armenien und Kasachstan. Zur Sicherheit bulgarischer Kernkraftwerke12 berichtete er, bulgarische Regierung habe entschieden, gefährliche Reaktoren abzustellen. Dies sei eine schwierige Entscheidung im Hinblick auf den Ausfall bei der Energieversorgung. Insgesamt 40 % bulgarischen Stroms komme aus den Kernkraftwerken. Aber mit Rücksicht auf die Sicherheit habe man sich hierzu entschlossen. Abschließend bat AM, Deutschland möge Bulgarien nicht als Problem auf dem Balkan verstehen, sondern als einen Partner bei der Lösung von Problemen auf dem Balkan. BM dankte für das Gespräch und zeigte Interesse an dessen Fortsetzung. Hierzu werde man Möglichkeit seines Besuches in Bulgarien prüfen. Er unterstrich die traditionelle Freundschaft, von der unsere Beziehungen geprägt seien und die auch künftig für das Verhalten gegenüber Bulgarien charakteristisch sein werde. B 42, ZA-Bd. 175560

12 Gespräch des Bundesministers Genscher mit dem iranischen Botschafter Mussawian 311-321.00 IRN

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Vom BM noch nicht gebilligt Der BM führte am 14.1.1992 ein 30-minütiges Gespräch mit dem iranischen Botschafter2, das auf dessen Wunsch zustande kam. 11 Zur Frage der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zu den GUS-Mitgliedstaaten vgl. Dok. 5. 12 Referat 431 führte am 13. Januar 1992 aus, am bulgarischen Standort Kosloduj gebe es vier Blöcke eines als besonders unsicher geltenden Typs Druckwasserreaktoren, die in den 1960er Jahren konzipiert worden seien. Die Blöcke 1 und 2 seien seit September bzw. November 1991 abgeschaltet. Die Blöcke 3 und 4 seien bereits weiterentwickelt. Ferner gebe es modernere Blöcke 5 und 6, wobei letzterer noch im Probebetrieb sei. Bei voller Verfügbarkeit der beiden letztgenannten könnten mittelfristig auch die Blöcke 3 und 4 vom Netz genommen werden. Vgl. B 72, ZA-Bd. 164327. 1 Der Gesprächsvermerk wurde von MD Schlagintweit mit DE Nr. 22 vom 16. Januar 1992 an die Botschaft in Teheran übermittelt. 2 Seyed Hossein Mussawian.

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1) Der Botschafter überbrachte eine Botschaft seines Außenministers zur Erklärung des Generalsekretärs der Vereinten Nationen3 zu Art. 6 (Verantwortung für den Ausbruch des irakisch-iranischen Krieges) der SR-Resolution 5984. In der Botschaft unterstreicht der Außenminister die Feststellung der irakischen Verantwortung; der Angriff sei ungerechtfertigt gewesen. Wenn die VN ihren Pflichten nachgekommen wären, hätte man nicht nur großen menschlichen und materiellen Schaden verhüten, sondern auch einen zweiten Angriff verhindern können. Das Ausmaß der Schäden im irakisch-iranischen Krieg sei sehr viel größer gewesen als im Kuwait-Krieg. Iran lege Wert darauf, dass beide Fälle gleichbehandelt würden. Iran wäre dankbar, wenn Deutschland sich in diesem Sinne einsetzen würde. Der BM sei der erste gewesen, der den Angreifer beim Namen genannt habe. Deswegen und wegen der guten Beziehungen Deutschlands zu Iran würde die iranische Regierung es begrüßen, wenn Deutschland auch jetzt eine Initiative unternähme, um den Bericht gutzuheißen, ihn zu unterstützen und beim gemeinsamen Wiederaufbau mitzuwirken. Der BM erwiderte, D unterstütze den Bericht des GS. Wir würden dies in den VN tun und wir würden Gelegenheit finden, das auch öffentlich zu sagen. Es entspräche auch unserer Haltung, wenn wir uns innerhalb der Europäischen Gemeinschaft dafür einsetzen, dass diese die gleiche Haltung einnimmt. Der Botschafter bedankte sich. 2) Eine weitere Botschaft des iranischen Außenministers betraf Menschenrechtsfragen. Der Botschafter sagte, der BM habe sich bei seinem vorletzten Besuch in Teheran5 dafür eingesetzt, dass Iran mit der Menschenrechtskommission der VN zusammenarbeite. Iran sei diesem Wunsch gefolgt. Galindo Pohl sei inzwischen dreimal in Iran gewesen. Iran habe inzwischen auch dem Besuch des Roten Kreuzes zugestimmt. Anregungen von Galindo Pohl folgend, dürften jetzt auch nichtstaatliche Menschenrechtsorganisationen in Iran arbeiten; im vergangenen Jahr sei eine internationale Menschenrechtskonferenz abgehalten worden6, dieses Jahr werde eine weitere folgen7; man werde aktiv mit den Organisationen der Berliner Menschenrechtskonferenz8 zusammenarbeiten. Künftig werde bei jedem 3 Für den Bericht des VN-GS Pérez de Cuéllar vom 9. Dezember 1991 über die Implementierung der Resolution Nr. 598 des VN-Sicherheitsrats vom 20. Juli 1987 (S/23273) vgl. https://documents-ddsny.un.org/doc/UNDOC/GEN/N91/482/93/pdf/N9148293.pdf. 4 Für die Resolution Nr. 598 des VN-Sicherheitsrats vom 20. Juli 1987 vgl. RESOLUTIONS AND DECISIONS 1987, S. 5 f. Für den deutschen Wortlaut vgl. EUROPA-ARCHIV 1988, D 558 f. 5 BM Genscher hielt sich vom 27. bis 29. November 1988 im Iran auf. Vgl. AAPD 1988, II, Dok. 341 und Dok. 344. 6 Im September 1991 fand in Teheran ein internationales Seminar „Menschenrechte und ihre Grundsätze“ statt. Vgl. den Bericht des Professors für Wissenschaftliche Politik an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, Kühnhardt, vom 5. Oktober 1991; B 36, ZA-Bd. 166849. 7 Vom 21. bis 24. September 1992 fand in Hamburg ein deutsch-iranischer Gesprächskreis zum Thema „Die Menschenrechte zwischen Universalitätsanspruch und kultureller Bedingtheit“ des Deutschen Orient-Instituts statt. Vgl. Dok. 227, Anm. 13. 8 Botschafter Jelonek, Genf (Internationale Organisationen), berichtete am 12. Februar 1992, Botschafter Dannenbring habe auf der 48. VN-MRK über die Entscheidung der Bundesregierung informiert, die Einladung zu der im Sommer 1993 in Berlin geplanten Weltkonferenz über Menschenrechte zurückzuziehen. Hintergrund seien die Ende 1991 von den VN übermittelten detaillierten technischen Anforderungen

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Gerichtsverfahren ein Verteidiger mitwirken müssen. Verhaftete müssten nach 24 Stunden dem Richter vorgeführt werden. Auch die von Pohl beanstandete Genehmigung von Büchern sei abgeschafft worden. Man werde auch den GS von Amnesty International9 einladen. Alle diese massiven Bemühungen hätten noch nicht zu positiven Folgerungen in der Menschenrechtskommission geführt. Iran stehe nach wie vor unter ihrer Beobachtung. AM Velayati bitte den Bundesminister, sich darum zu bemühen, dass Iran dieses Jahr von der Beobachtung abgesetzt werde. Galindo Pohl habe zugegeben, dass sich die Menschenrechtssituation in Iran wesentlich gebessert habe. Man wolle nicht mit Irak auf dem gleichen Stuhl sitzen. Der BM erklärte, er wolle die Anregung AM Velayatis gern aufnehmen und sich mit dieser Frage befassen. Iran könne sicher sein, dass wir dies in einem konstruktiven Geist tun würden.10 3) Der Botschafter kam dann auf die Geiselfrage11 zu sprechen. Es gebe viele, auch vertrauliche Bemühungen Irans, die nicht einmal Picco kenne. Er habe in Wien mit seinem Minister und Vizeaußenminister Vaezi gesprochen. Iran wolle neue Bemühungen unternehmen mit dem Ziel, die Geiseln in vier Wochen freizubekommen. Er werde Ende dieser Woche nach Teheran fahren, um zu sehen, wie er dazu beitragen könne. Der iranische Botschafter bei den VN12 sei persönlich bedroht worden, als er mit Picco im Libanon war. Er, der Botschafter, habe selbst Probleme, weil er öffentlich gesagt habe, es dürfe keine Bedingungen für die Freilassung der beiden Deutschen geben. Dennoch werde er, wenn er die Möglichkeit habe, direkt von Teheran nach Damaskus reisen, um mit der Familie Hamadi zu reden. Er habe neue Vorschläge mit Herrn Schlagintweit besprochen.13 Fortsetzung Fußnote von Seite 53 an den Tagungsort, die nunmehr mit der am 20. Juni 1991 getroffenen Entscheidung kollidierten, Berlin als Regierungssitz zu wählen. Vgl. DB Nr. 280; B 45, ZA-Bd. 168134. Die Weltkonferenz über Menschenrechte fand schließlich vom 14. bis 25. Juni 1993 in Wien statt. Vgl. AAPD 1993. 9 Ian Martin. 10 Am 4. März 1992 verabschiedete die VN-MRK die Resolution Nr. 1992/67. Darin stellte sie Defizite im Menschenrechtsbereich im Iran fest und beschloss, die dortige Lage weiterhin zu beobachten. Das Mandat des Sonderberichterstatters Galindo Pohl wurde um ein weiteres Jahr verlängert. Vgl. den Bericht über die 48. Sitzung der VN-MRK vom 27. Januar bis 6. März 1992 in Genf (E/1992/22 (SUPP)- E/CN.4/1992/84); https://documents-dds-ny.un.org/doc/UNDOC/GEN/N92/196/06/pdf/N9219606.pdf, S. 156–158. 11 Am 16. Mai 1989 wurden die beiden Mitarbeiter der Hilfsorganisation „ASME Humanitas“ Heinrich Strübig und Thomas Kemptner im Libanon entführt. Ziel der Entführer war die Freipressung der beiden in der Bundesrepublik inhaftierten Brüder Mohammed Ali Hamadi (Beteiligung an der Entführung einer TWA-Maschine 1985) sowie Abbas Ali Hamadi (Entführung der beiden deutschen Staatsangehörigen Cordes und Schmidt im Libanon 1987). Zum Stand der Bemühungen um eine Freilassung von Strübig und Kemptner vgl. AAPD 1991, II, Dok. 362, Dok. 389 und Dok. 442. 12 Kamal Charrasi. 13 In einem Gespräch mit MD Schlagintweit am 14. Januar 1992 schlug der iranische Botschafter Mussawian vor, der Sonderbeauftragte des VN-GS, Picco, solle in der kommenden Woche in Damaskus mit der Familie Hamadi sprechen und dabei erklären, in der Frage der inhaftierten Brüder Hamadi sei kein Raum für einen „Handel“. Im Falle einer sofortigen Freilassung der Geiseln Strübig und Kemptner seien jedoch sicher Hafterleichterungen möglich: „Sein Gefühl sei, dass nach Ablauf einiger Zeit die deutschen Behörden dann auch noch andere Möglichkeiten zugunsten der Hamadis prüfen könnten.“ Schlagintweit entgegnete, es gebe keine Möglichkeit, „eventuelle Andeutungen hinsichtlich vorzeitiger Freilassung jetzt zu machen.

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Dieser sei jedoch mit einzelnen Formulierungen nicht einverstanden gewesen. Iran als Vermittler könne nur etwas erreichen, wenn man „10 % Flexibilität“ zeige. Die andere Seite müsse dann 90 % entgegenkommen. Er denke an folgende Formulierungen, die Picco bei seinem nächsten Besuch vortragen solle: a) Alle Seiten sollten erklären, dass kein Handel erfolgen könne. b) Nach einer Freilassung der beiden Deutschen seien „Hafterleichterungen“ möglich. Über diesen Begriff solle man in dieser Frage nicht hinausgehen. c) Außerdem solle Picco sagen, z. Z. gebe es keine Möglichkeit für die deutsche Regierung, in irgendeinen Handel einzutreten. Aber von seiner Seite sage er, er habe den Eindruck, wenn die beiden Deutschen bedingungslos freigelassen würden, werde die deutsche Regierung weitere Möglichkeiten in Betracht ziehen. Diese Vorschläge enthielten keine Verpflichtungen, keine Versprechen für eine Freilassung. Picco solle nur sagen, er glaube von seiner Seite, dass es nach einer bedingungslosen Freilassung gesetzliche Möglichkeiten gebe, die ausgeschöpft werden könnten. Der BM antwortete, wir bräuchten nicht 10 % entgegenzukommen, wir hätten bereits 50 % erfüllt: Die USA hätten seinerzeit die Auslieferung Mohammed Alis verlangt.14 Trotz Bestehens eines deutsch-amerikanischen Auslieferungsvertrages15 hätten wir dem nicht entsprochen. Offenbar würden wir jetzt hierfür bestraft. Hamadi nicht auszuliefern, sei damals sowohl innenpolitisch wie gegenüber den USA sehr schwierig gewesen. Er frage sich, ob das nicht ein Fehler gewesen sei. Die Familie Hamadi habe dies überhaupt nicht gewürdigt. Wenn wir jetzt sagten, es gebe keinen Handel, dann dürfe es auch wirklich keinen geben. Die Haftbedingungen der beiden Brüder seien nicht zu kritisieren. Wenn die Familie etwas anderes erzähle, so sei dies nicht wahr. Formulierungen in dieser Frage könnten wir nicht allein vertreten. Zu der Frage der Haftbedingungen sollten auch die Justizbehörden mitreden. Darum werde sich Herr Schlagintweit kümmern. Er selbst könne nicht mehr sagen. 4) Der BM sagte abschließend, er bäte, AM Velayati zu grüßen und ihm für die Bemühungen der iranischen Regierung zu danken. Es sei wichtig, dass alle im Libanon wissen, dass die Geiselfrage nicht abgeschlossen sei, solange die Deutschen noch festgehalten würden. 5) Der BM genehmigte nach dem Ende des Gesprächs die in der Anlage beigefügte Presseerklärung. Um Bericht zu Ziff. 2 wird gebeten.16 Fortsetzung Fußnote von Seite 54 […] Auch bei nur vagen Zusagen werde die Familie Hamadi erwarten, dass über die vorzeitige Freilassung der Hamadis gesprochen werde. Daher kämen Erklärungen, die auch nur im Entferntesten geeignet sein könnten, Hoffnungen zu wecken, für uns nicht infrage.“ Vgl. den Gesprächsvermerk; B 36, ZA-Bd. 196641. 14 Zum Wunsch der USA nach Auslieferung des am 13. Januar 1987 in Frankfurt am Main festgenommenen Mohammed Ali Hamadi wegen dessen Beteiligung an der Entführung einer TWA-Maschine im Juni 1985 und der Ermordung einer amerikanischen Geisel vgl. AAPD 1987, I, Dok. 9 und Dok. 138. Am 24. Juni 1987 beschloss die Bundesregierung, Hamadi nicht an die USA auszuliefern, sondern ihn in der Bundesrepublik anzuklagen. Vgl. RE Nr. 5000 des MDg Fiedler vom selben Tag; B 36, ZA-Bd. 149655. 15 Für den Auslieferungsvertrag vom 20. Juni 1978 zwischen der Bundesrepublik und den USA und die zugehörigen Dokumente vgl. BGBl. 1980, II, S. 647–660. 16 Botschafter Freitag, Teheran, berichtete am 23. Januar 1992, die Menschenrechtslage im Iran habe sich seit dem Amtsantritt von Präsident Rafsandschani verbessert. Es gebe in der Verfassung einen Katalog

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[Anlage] Presseerklärung BM Genscher empfing am 14.1. den Botschafter der Islamischen Republik Iran zu einem Gespräch. Inhalt des Gesprächs war der Bericht des Generalsekretärs der Vereinten Nationen vom 9.12.1991 zur Resolution des VN-Sicherheitsrates 598. Der BM erklärte, die Bundesregierung unterstütze den Bericht, der eindeutig zur Frage der Kriegsschuld im irakisch-iranischen Krieg Stellung nimmt, da sie von Anfang an die Auffassung vertreten habe, dass nicht Iran, sondern Irak der Aggressor in diesem Krieg gewesen sei. In dem Gespräch wurde auch die Frage der Menschenrechte im Iran erörtert, insbesondere die Besuche des Sonderberichterstatters der UN-Menschenrechtskommission, Galindo Pohl, der auf deutschen Vorschlag von Iran eingeladen worden war. Ein weiteres Thema bildete das Schicksal der deutschen Geiseln im Libanon. Der Botschafter unterstrich die Bemühungen seiner Regierung, eine möglichst baldige, bedingungslose Freilassung der beiden Deutschen zu erreichen. B 36, ZA-Bd. 170181

13 Gespräch des Bundesministers Genscher mit dem russischen Außenminister Kosyrew 213-321.11 RUS

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Von BM noch nicht gebilligt Besuch AM Kosyrew am 14./15.1.1992 in Bonn; hier: Delegationsgespräch am 15.1. vormittags Delegationsgespräch dauerte von kurz nach 9.30 Uhr bis kurz vor 12.00 Uhr (danach Termin bei Bundespräsident), auf deutscher Seite nahmen außer BM teil: D 42, Leiter Ministerbüro3, Dg 244, Dg 215, RL 2136, Dolmetscher (russische Delegationsliste s. Anlage7). Fortsetzung Fußnote von Seite 55 von Grundrechten sowie ein „relativ hohes Maß“ an Pressefreiheit. Die Menschenrechtspolitik, das Rechtssystem, die Pressevielfalt sowie die praktizierte Toleranz gegenüber anerkannten religiösen Minderheiten im Land legten es nahe, den iranischen Wunsch zu prüfen, von der Beobachtungsliste der VN-MRK gestrichen zu werden. Vgl. DB Nr. 66; B 36, ZA-Bd. 170189. 1 Der Gesprächsvermerk wurde von VLR I Neubert am 16. Januar 1992 gefertigt und an das Ministerbüro geleitet „mit der Bitte, Zustimmung BM einzuholen“. Hat Botschafter Elbe am 28. Januar 1992 vorgelegen. Hat VLR I Matussek am 13. Februar 1992 vorgelegen, der den Rücklauf an Referat 213 verfügte und handschriftlich vermerkte: „Kann mit übl. Vorbehalt verteilt werden.“ Hat Neubert erneut vorgelegen.

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BM begann Erörterung mit kurzer Zusammenfassung der Themen, die im kleinen Kreis beim Frühstück erörtert worden waren: – Verhältnis der EG zu den Mitgliedstaaten (MS) der GUS, – Aufnahme in KSZE, – Aufnahme in NAKR, – Fortsetzung konventioneller Rüstungskontrolle sowohl durch Umsetzung des KSE-Vertrages als auch durch Abschluss der Verhandlungen über Personalreduzierungen (KSE I a8), – Beseitigung der nuklearen Kurzstreckenwaffen, Raketen und Artillerie, – Abschluss der CW-Konvention, Impulse für die Verhandlungen in Genf, – Notwendigkeit einer Initiative gegen die intellektuelle Proliferation im nuklearen Bereich9, wozu BM anmerkte, dass die beiden Minister sich einig über den Inhalt seien und darüber, dass es vernünftig wäre, die Initiative von mehreren Staaten, sowohl nuklearen wie nicht-nuklearen, tragen zu lassen. BM teilte mit, die beiden AM hätten sich darauf geeinigt, um 17.00 Uhr eine gemeinsame Pressekonferenz zu geben.10 BM schlug dann vor, zunächst den11 Stand der Bemühungen bei a) der humanitären Hilfe der EG, b) der wirtschaftlichen Zusammenarbeit und c) der Washingtoner Konferenz12 zu erörtern, und bat D 4 um kurzen Bericht. D 4 erläuterte, dass bisher Folgendes vorgesehen sei: a) Nahrungsmittelhilfe (NMH) aus 1991 sei im Wert von 8,5 Mio. ECU geliefert worden, d. h. 88 t Nahrungsmittel. b) In Maastricht13 seien 200 Mio. ECU für humanitäre Hilfe beschlossen worden, davon seien 5 Mio. noch vor dem orthodoxen Weihnachtsfest14 ausgeliefert worden, jetzt würden 10 weitere Mio. in einer Pilotphase mit Schwerpunkt Moskau und St. Petersburg ausgegeben. Zusätzlich sei eine Expertengruppe von 30 deutschen Verteilungsfachleuten in Russland, als Teil einer Expertengruppe der EG. Hier sei unser dringendes Anliegen, dass Russland möglichst bald entsprechende Strukturen auf seiner Seite schaffe. Fortsetzung Fußnote von Seite 56 2 Heinrich-Dietrich Dieckmann. 3 Frank Elbe. 4 Anton Roßbach. 5 Ernst-Jörg von Studnitz. 6 Klaus Neubert. 7 Dem Vorgang beigefügt. Für die Liste der russischen Gesprächsteilnehmer vgl. B 41, ZA-Bd. 221692. 8 Zum Stand der KSE I a-Verhandlungen vgl. AAPD 1991, II, Dok. 438. 9 Zur Gründung eines internationalen Wissenschafts- und Technologiezentrums in Russland zur Verhinderung der Verbreitung von Nuklearwaffen durch Wissenstransfer vgl. Dok. 50. 10 Für die Eingangserklärung von BM Genscher vgl. B 7, ZA-Bd. 179119. 11 Korrigiert aus: „zunächst über den“. 12 Zur Koordinierungskonferenz für humanitäre Hilfe an die GUS-Mitgliedstaaten am 22./23. Januar 1992 vgl. Dok. 38. 13 Zur Tagung des Europäischen Rats am 9./10. Dezember 1991 vgl. AAPD 1991, II, Dok. 425 und Dok. 431. 14 7. Januar 1992.

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c) Z. Zt. liefen die Ausschreibungen für zwei weitere Tranchen NMH, für 85 Mio. ECU und für 100 Mio. ECU, dies sei mit VPM Schochin besprochen worden, die Ausschreibungen sollten vor Ende Januar noch zum Abschluss kommen. Hier sei unsere Bitte, für entsprechende Aufnahmekapazitäten in Russland zu sorgen, und zwar sowohl Lager wie auch Handling. d) 500 Mio. ECU Kreditgarantien der EG für Nahrungsmittelimporte. e) Ein Kredit der EG von 1,25 Mrd. ECU, sodass EG-Hilfe insgesamt 2,5 Mrd. ECU ausmacht. Zur ordnungsgemäßen Verteilung, die in unserer Presse bezweifelt werde, hätten wir hingegen die Erfahrung gemacht, dass fast alles zielgerecht ankommt und der Schwund übertrieben wird. Im Übrigen wolle man das MoU15, das mit VPM Schochin erörtert wurde, finalisieren und bis zum Wochenende16 Einigkeit darüber herstellen, damit die humanitären Organisationen auf unserer Seite so viel Freiheit wie möglich hätten und ihre Flexibilität, die ihre große Stärke ausmache, ausnutzen. Hinsichtlich des Transports wolle man von dem teuren Lufttransport auf Landtransport umstellen. Auch hier sei unsere Bitte an die russische Seite, für die EG-Verteilungsexperten entsprechende Partner auf der eigenen Seite bereitzustellen. D 4 verwies dann darauf, dass die Vereinbarung in dem Pariser Club vom 3.1.9217 eine Zahlungsbilanzhilfe von rund 2 Mrd. Dollar darstelle, von denen Deutschland allein 1 Mrd. DM trage. In diesem Zusammenhang sei für Deutschland und die deutschen Banken wichtig, dass Russland das Bild eines verlässlichen Finanzpartners biete und trotz der uns bekannten Schwierigkeiten die Zinsleistungen pünktlich vornehme. Dies war auch Thema auf dem Bankenausschuss am 14.1.92. Es sei auch wichtig für die Hermes-Garantien, dass die vorgesehenen Rückzahlungen stattfinden. Bezüglich der bilateralen Beziehungen verwies D 4 auf die bevorstehende Reise von BM Möllemann Anfang Februar18 noch vor dem Kooperationsrat am 18.2.92, der den bilateralen Wirtschaftsbeziehungen, aber auch der wirtschaftspolitischen Beratung gewidmet sein sollte, inklusive dem Aufbau wirtschaftlicher Institutionen (und Wirtschaftsrecht). Auf der Konferenz in Washington sei das Ziel aus deutscher Sicht, da Deutschland bisher die Hauptlast der Hilfe getragen habe, diese auf mehrere Schultern zu verteilen. BM werde die deutsche Delegation leiten, Deutschland werde in zwei Ausschüssen, dem für Nahrungsmittelhilfe und dem für Wohnungsbau, den Ko-Vorsitz übernehmen, sich aber 15 Korrigiert aus: „MOK“. VLR I Göckel vermerkte am 14. Januar 1992, das russische Außenministerium habe der Botschaft in Moskau am 30. Dezember 1991 den Entwurf eines „Memorandum of Understanding“ zur humanitären Hilfe übergeben. Der stellvertretende russische MP Schochin habe im Gespräch mit StS Lautenschlager am 7. Januar 1992 auf Abschluss des MoU gedrängt. Vgl. B 63, ZA-Bd. 163531. 16 18./19. Januar 1992. 17 Zur Frage der Altschulden der ehemaligen UdSSR vgl. Dok. 17. 18 BM Möllemann hielt sich vom 3. bis 6. Februar 1992 in Russland, Kasachstan und der Ukraine auf. Botschafter Blech, Moskau, berichtete am 10. Februar 1992 über die Gespräche am 3. Februar 1992 in Moskau, erörtert worden seien russische Gaslieferungen nach Ostdeutschland, die Abnahme von durch die UdSSR bei der Rostocker Deutsche Maschinen- und Schiffbau AG bestellten 15 Schiffen, die Gewährung von Hermes-Bürgschaften, die mögliche Erschließung westeuropäischer Märkte für russische Rüstungsgüter sowie Beratungsangebote der Bundesregierung bei russischen Reformvorhaben. Vgl. DB Nr. 616; B 41, ZA-Bd. 221753.

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auch in allen anderen Arbeitsgruppen engagieren, insbesondere der für Energie. Dies sei aus unserer Sicht nach wie vor ein Schlüsselbereich für Russland, um Valuta für Importe zu mobilisieren und um ein europäisches Energieverbundsystem voranzutreiben. Wir bedauerten sehr, dass die GUS-MS nicht eingeladen seien. Aus unserer Sicht sollte nicht „über“, sondern „mit“ ihnen gesprochen werden. Auf der Folgekonferenz im Frühjahr19, die von der EG ausgerichtet werde, würden die GUS-MS eingeladen, dies sei im EG-Rat bereits beschlossen worden20. Deutschland als Vorsitzender der G 7 werde die Unterstützung der Wirtschaftsreform zum Hauptthema auf dem Münchner Wirtschaftsgipfel21 machen, die volle Unterstützung der anderen Sechs sei gesichert. Kurzfristig gehe es um NMH, dann aber um den Übergang zur Technischen Hilfe, insbesondere zur Beratung bei den strukturellen Veränderungen. Was die Finanzen angeht, seien die G 7 interessiert, Russland so schnell wie möglich in den IWF aufzunehmen22, damit auch die finanziellen Möglichkeiten des IWF mit Blick auf die Notwendigkeit eines Stabilisierungsfonds offen seien und nicht nur die Technische Hilfe. Die Diskussion könne dann auch auf einer ganz anderen Basis geführt werden, Deutschland werde sich bemühen, die Entscheidungen des MWG23 in diesem Sinne zu prägen. Im Vorfeld des MWG müssten folgende Fragen angesprochen werden: 1) die Proliferationsprobleme, bei Hardware und Software. 2) die Sicherheit der Kernkraftwerke, dies werde auch Thema des nächsten Sherpa-Treffens24 sein. 3) die Proliferation nicht nur von Waffen, sondern auch von Dual-use-Industriegütern. Hierfür seien Exportkontrollen für sensible Technologien erforderlich. Deutschland sei bereit zum Meinungsaustausch und sei auch an Erfahrungen der ehemaligen SU interessiert, denn diese habe ja auch Kontrolle über sensible Technologien ausgeübt. Deutschland sei zu jeder Hilfe bereit. Der BMWi werde Anfang Mai in Münster eine Konferenz mit Weißrussland, Ukraine und Kasachstan (Wirtschafts- und Handelsminister) sowie den MOE-Staaten veranstalten.25 BM unterstrich noch einmal unser Bedauern, dass die GUS-MS nicht nach Washington eingeladen würden, verwies auf nächste Konferenz in Brüssel und fragte dann, wer der russische Counterpart von D 4 als Koordinator für die humanitäre Hilfe sei. AM Kosyrew dankte noch einmal für die Einladung nach Bonn, es sei normal, darauf schnell zu reagieren. Ton und Tempo entsprächen den Vorgaben, die der Besuch Jel19 Eine weitere Koordinierungskonferenz für humanitäre Hilfe an die GUS-Mitgliedstaaten sowie an Georgien fand am 23./24. Mai 1992 in Lissabon statt. Vgl. Dok. 160. 20 Zum entsprechenden Beschluss auf der EG-Ministerratstagung am 10. Januar 1992 in Brüssel vgl. DB Nr. 42 des Botschafters Trumpf, Brüssel (EG), vom 11. Januar 1992; B 221, ZA-Bd. 166577. 21 Zum Weltwirtschaftsgipfel vom 6. bis 8. Juli 1992 vgl. Dok. 225. 22 Zum russischen Beitrittsantrag zu IWF und Weltbank vgl. Dok. 6, Anm. 17. 23 Münchener Wirtschaftsgipfel. 24 MD Dieckmann vermerkte am 3. März 1992 zum Treffen der Persönlichen Beauftragten für den Weltwirtschaftsgipfel („Sherpas“) vom 28. Februar bis 1. März 1992 in Kronberg im Taunus: „Besonders angesprochen wurde auch die Frage der Sicherheit der Kernkraftwerke. Die von uns vorgeschlagene Einsetzung einer Arbeitsgruppe wurde zurückgestellt, um sich zunächst ein Bild von den bilateralen und multilateralen Aktivitäten in diesem Bereich zu machen.“ Vgl. B 52, ZA-Bd. 174520. 25 Zur Wirtschaftskonferenz vom 7. bis 9. Mai 1992 vgl. Dok. 128, Anm. 6.

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zins26 geschaffen habe, und der Rolle Deutschlands, das an erster Stelle mit seiner Hilfe stünde. Lage in Russland sei sehr schwierig, Russland wüsste die neuen Beziehungen in Europa zu schätzen, wo Deutschland eine tragende Säule sei. Zu internationaler Zusammenarbeit und humanitärer Hilfe sagte AM, Hilfe erreiche die Adressaten, Verteilungsprobleme existieren, deshalb sei konkrete Mitwirkung (von D/EG) erforderlich. Russland sei bereit, jede Form der Hilfe und Kontrolle über die Verteilung zu unterstützen. In der Regierung sei VPM Schochin verantwortlich, zusammen mit Ministerin Pamfilowa (Sozialschutz der Bevölkerung), im Übrigen stünden als Ansprechpartner sowohl das RAM als auch die russische Botschaft zur Verfügung. Russland wünsche dringend eine Verbesserung der Verteilungsstrukturen und wolle die Erfahrungen bei der NMH auch für die allgemeine Verbesserung des Vertriebssystems in Russland nutzen und erwarte den baldigen Übergang zur Technischen Hilfe in diesem Bereich, um die Effizienz zu erhöhen. Russisches Interesse sei, neues System aufzubauen, das effektiver arbeite als das alte. Wir sollten keine diplomatischen Rücksichten nehmen, um Fragen und Probleme direkt anzusprechen, wo nötig auch telefonisch. Ansprechpartner seien auch VPM Gajdar und Staatssekretär Burbulis, die bereit seien, notfalls sofort Präsident Jelzin einzuschalten, ohne bürokratische Wege zu gehen. Man dürfe nicht in Ebenen denken, sondern müsse direkt „melden“. Bezüglich IWF27 und Weltbank sei Mitgliedschaft erörtert worden. Jetzt gehe es darum, Aufnahmeprozeduren zu beschleunigen, er bitte hier um Rat. Errichtung eines Stabilisierungsfonds hänge auch von IWF-Mitgliedschaft ab. Die verschiedenen Varianten dafür, die mit der EG erörtert worden seien, seien akzeptabel. Zur Washingtoner Konferenz sagte AM, Russland werde für die Zeit der Konferenz Experten an [die] Botschaft in Washington entsenden, um für die Konferenzteilnehmer kompetente Gesprächspartner vor Ort zu haben. BM befürwortete diese Idee. Zur Koordinierung der humanitären Hilfe wolle er einen technischen Vorschlag politischer Bedeutung machen, nämlich eine Direktleitung zwischen AA und RAM zu schalten, um die humanitäre Hilfe zu koordinieren, aber auch die Minister könnten sie für unmittelbare Kontakte nutzen. Wenn AM Kosyrew einverstanden sei, könnten die technischen Dienste beider Ministerien beauftragt werden, die Leitung herzustellen. D 4 machte noch zwei Anmerkungen: 1) Die EG-NMH werde über russisches Verteilungssystem abgewickelt, dabei dürften aber soziale Randgruppen nicht vernachlässigt werden. Deshalb sei es erforderlich, schnell den sozialen Gegenwertsfonds aufzubauen, auf EG-Seite sei die GTZ als Consultingfirma der Ansprechpartner. 2) Hinsichtlich der Kontakte seien diese auch in Washington willkommen, aber die Umsetzung der Washingtoner Konferenz werde in Brüssel stattfinden. Deshalb seien Direktkontakte mit russischen Experten dort erwünscht, vor der Folgekonferenz. AM erläuterte, auch RAM sei aktiv bei Verteilung humanitärer Hilfe. Im RAM sei eine Arbeitsgruppe gegründet worden, zusammen mit dem Komitee für Außenwirtschaftsbeziehungen, in dem die wichtigsten Experten vertreten seien. Die Arbeitsgruppe habe einen 26 Der russische Präsident Jelzin hielt sich vom 21. bis 23. November 1991 in der Bundesrepublik auf. Vgl. AAPD 1991, II, Dok. 392, Dok. 393 und Dok. 398. 27 Korrigiert aus: „IWS“.

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Hauptverantwortlichen für jedes einzelne Geberland benannt, Vorsitzender der AG sei Rabotjaschew, sein Stellvertreter Sorokin, die AG verfüge über ein Sekretariat für die operative Arbeit, sie könne jederzeit bei Schwierigkeiten eingeschaltet werden. Zur Hilfe führte AM aus, die Versorgungslage sei sehr schwer, aber letztlich eine zeitweilige Erscheinung, Russland müsse sich selbst versorgen können, die humanitäre Hilfe sei als Überbrückung wertvoll, um den Blick in die Zukunft richten zu können. Es gehe darum, a) das Verteilungssystem zu verbessern und b) die eigenen Bauern zu erhöhter Leistungsbereitschaft zu motivieren. Russland sei reich an Öl, Gas, Holz und Bodenschätzen, derzeit nehme die Förderung ab, deshalb weniger Nahrungsmittelimporte. Eine Erhöhung der Exporte von Gas und Öl sei erforderlich. Zunächst müsse der Niedergang der Förderung gestoppt, dann der Export gesteigert werden, um von Hilfsbitten an das Ausland loszukommen. Das Problem sei jetzt Umsetzung dieser Absichten, die Regierung bereite Rechtsvorschriften für neue Strukturen der Öl- und Gaswirtschaft vor. D 4 verwies auf die Bedeutung von Energiekonsortien, wo auch die kommerziellen Interessen eine gute Basis der Zusammenarbeit abgäben, aber Russland selbst müsste die Rahmenbedingungen setzen. BM leitete dann über zu bilateralen Fragen: Russische Seite habe Wunsch nach einem Kulturabkommen geäußert, Deutschland begrüße das. Er schlage vor, bald die Verhandlungen aufzunehmen.28 Unser dringendes Interesse gelte allerdings einer dauerhaften Unterbringung des Goethe-Instituts29 und der DAAD-Außenstelle Moskau30. Diese Frage müsse rasch gelöst werden. Botschafter Terechow bestätigte russisches Interesse an Abkommen und ergänzte, dass im Februar eine Delegation der Kulturminister Russlands und der autonomen Republiken Russlands Bonn und die Bundesländer besuchen werde.31 Dabei werde Gelegenheit zur Erörterung der Kulturbeziehungen sein. BM wandte sich dem Thema kerntechnischer Sicherheit zu und erkundigte sich, wie jetzt Aufsicht über zivile Nuklearanlagen gehandhabt werde. Bisher sei dies Unionssache ge28 Mit Schrifterlass des VLR I Heide vom 13. März 1992 wurde die Botschaft in Moskau gebeten, den Entwurf eines Kulturabkommens im russischen Außenministerium zu übergeben und in Gesprächen dort Einigung über einen Text zu erzielen, der in einer abschließenden Verhandlungsrunde im Herbst paraphiert werden sollte. Vgl. B 97, Bd. 1155. 29 Referat 616 erläuterte am 1. März 1992, das Goethe-Institut in Moskau habe seine Arbeit 1990 aufgenommen. Die provisorische Unterbringung in den Räumen der früheren DDR-Botschaftskanzlei außerhalb des Stadtzentrums sei jedoch nicht zufriedenstellend. Die damalige UdSSR habe sich vertraglich verpflichtet, ein Gebäude in zentraler Lage zur Verfügung zu stellen. Vgl. B 97, Bd. 1170. 30 Referat 616 vermerkte am 1. März 1992, der DAAD wolle so schnell wie möglich ein Büro in Moskau einrichten, für das bereits Räumlichkeiten, Stellen und Mittel bereitstünden, das jedoch eine „Akkreditierung“ durch Russland benötige. Die Antwort auf einen entsprechenden Vertragsentwurf vom Dezember 1991 stehe noch aus. Vgl. B 97, Bd. 1170. 31 Vom 15. bis 24. Januar 1992 hielt sich eine Delegation des Föderationsrats des russischen Kulturministeriums in der Bundesrepublik auf, der u. a. Kulturminister und Leiter der Kulturverwaltungen verschiedener autonomer Republiken und Gebiete angehörten. Diese führte in Bonn und Berlin sowie in verschiedenen Bundesländern Gespräche. Im Auswärtigen Amt wurden ein bilaterales Kulturabkommen sowie die Rückführung von Kulturgütern erörtert, ferner mit PStS Waffenschmidt, BMI, als Beauftragtem der Bundesregierung für Aussiedlerfragen die Frage der Russlanddeutschen. Vgl. den Vermerk des Attachés Traumann vom 3. Februar 1992; B 97, Bd. 1155.

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wesen. Werde dies künftig Sache der GUS oder Einzelstaaten sein? Unser Interesse sei, dass hier kein Vakuum und keine Gefährdung entstehe. Kosyrew bestätigte, dies sei wichtige Frage, z. Zt. bestünde noch das Staatskomitee für Atomaufsicht der ehemaligen SU, in Russland werde ein Staatskomitee für Atomaufsicht gebildet, das die Unionsstrukturen unterstützen solle. Ähnlich verlaufe es in den anderen Republiken. Er schlug vor, dass eine deutsche Expertengruppe bald nach Moskau komme, um eine gründliche Erörterung mit dem russischen Außenministerium zu beginnen über Zusammenarbeit mit IAEO, aber auch bilateral, da dieses schneller ginge. Russland wolle eine entsprechende Arbeitsgruppe organisieren, um dann deutsche Experten einzuladen, dazu könnten auch Experten aus den anderen GUS-MS eingeladen werden. In Zusammenarbeit mit der IAEO wäre es zweckmäßig, auch die anderen GUS-MS anzuhalten, sich den NVV und IAEO-Regelungen anzuschließen. Kasachstan habe zunächst gewisse Vorbehalte gegen den NVV geäußert, aber seine Position jetzt modifiziert. Nasarbajew habe jüngst gesagt, er wolle dem NVV beitreten.32 Wichtig sei enger Meinungsaustausch zwischen den westlichen Staaten und allen GUS-MS, auch auf politischer Ebene, um sie in NVV und IAEO-Arbeit einzubeziehen. Entsprechende Konsultationen zu den technischen Fragen sollten mit Russland und den anderen Staaten geführt werden. BM äußerte deutsches Interesse; die Frage der Aufsicht durch eigene Institutionen oder über die GUS sei jedoch Entscheidung der einzelnen Staaten. Zusammenarbeit mit der IAEO bleibe unerlässlich. Deutschland sei bereit zur Teilnahme an Expertengesprächen in Moskau, aber nicht allein, sondern dies sollte in einen internationalen Zusammenhang gestellt werden. AA würde sich politisch dafür engagieren, allerdings läge auch in Deutschland die Sachkompetenz bei anderen Ministerien. Zu den bilateralen Fragen verwies BM darauf, dass er mit Jelzin sowohl im September in Moskau33 als auch bei dessen Besuch im November die Frage einer autonomen Republik der Russlanddeutschen erörtert habe. Die jüngsten öffentlichen Äußerungen34 bereiteten Sorge, er sähe aus dem Interview Kosyrews, dass dieser unsere Sorge teile. Die Äußerungen Jelzins können ein Startsignal für die Ausreise der Russlanddeutschen sein, dies läge weder im Interesse Russlands noch Deutschlands noch der Russlanddeutschen. Er hielte deshalb eine positive Entscheidung für wichtig, Kosyrew werde ja auch mit PStS Waffenschmidt sprechen35, er (BM) wolle ihn aber auch darauf hinweisen, dass diese Frage mit Gewissheit in der Pressekonferenz aufkäme. 32 Referat 240 vermerkte am 13. Januar 1992, der kasachische Präsident Nasarbajew habe auf einer Pressekonferenz am 30. Dezember 1991 in Minsk erklärt, Kasachstan wolle „eine kernwaffenfreie Zone werden“ und sich „an allen Prozessen zur Reduzierung der strategischen atomaren Angriffswaffen beteiligen“. Presseberichten zufolge habe er zudem gegenüber dem amerikanischen AM Baker die Bereitschaft angedeutet, dem Nichtverbreitungsvertrag vom 1. Juli 1968 beizutreten. Vgl. B 43, ZA-Bd. 228355. 33 Für das Gespräch des BM Genscher mit dem russischen Präsidenten Jelzin am 10. September 1991 vgl. AAPD 1991, II, Dok. 300. 34 Zu den Äußerungen des russischen Präsidenten Jelzin am 8. Januar 1992 in Saratow sowie zur weiteren Politik in der Frage der Russlanddeutschen vgl. Dok. 20. 35 Zu seinem Gespräch mit dem russischen AM Kosyrew am 16. Januar 1992 teilte der Beauftragte der Bundesregierung für Aussiedlerfragen, PStS Waffenschmidt, BMI, in einem Schreiben vom selben Tag an Botschafter Blech, Moskau, mit, es sei vereinbart worden, das vom russischen Präsidenten Jelzin

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Kosyrew antwortete zunächst zu NVV-IAEO, die Sicherheitsfragen der KKW lägen auch in Russland bei den Fachministerien und nicht beim RAM, aber jemand müsse den ersten Schritt tun, um Verantwortung zu übernehmen und die Sicherheit zu gewährleisten. Das RAM werde entsprechende Gesprächspartner aufmerksam machen, damit nicht noch mehr Zeit verloren werde. Zu den Russlanddeutschen sagte er, es gäbe keine Positionsänderung der russischen Regierung, dies habe ihm Jelzin selbst vor seiner Abreise gesagt, Jelzins Zitate seien aus dem Zusammenhang gerissen worden und auch unter ganz bestimmten Bedingungen zustande gekommen. Russland werde sich weiter an Artikel 12 der Gemeinsamen Erklärung36 halten und nicht von ihr abweichen, man müsse aber bei genauer Lektüre feststellen, dass dort von einem etappenweisen Prozess unter Rücksicht auf die örtliche Bevölkerung die Rede sei. Der Kurs der russischen Regierung sei jetzt, Bemühungen auf Umsetzung der Erklärung zu unternehmen. Dabei müsse man den emotionalisierten Hintergrund berücksichtigen, wo auch die örtlichen Behörden die russische Regierung kritisierten. Er werde auf der Pressekonferenz klar sagen als Maßnahme, um die Wogen zu glätten, dass er die Russlanddeutschen aufrufe, im Land zu bleiben, an den Reformen mitzuwirken und auch am Aufbau einer Wolga-Republik. Auch das russische Gesetz über die Rehabilitierung der unterdrückten Völker müsse noch umgesetzt werden. Nur so könne man Fortschritte machen. BM begrüßte dieses Vorgehen, besonders auch vor der Presse, damit Panikreaktionen der Deutschen in Russland und in den anderen GUS-Staaten nicht aufkämen. BM fragte dann AM Kosyrew nach seiner Bewertung der Verhandlungen zwischen Russland und den anderen Staaten, auch zwischen Russland und Ukraine über die Schwarzmeerflotte37, schließlich über die Koordinierung der Wirtschaftspolitik und ob es noch eine gemeinsame Währung geben werde. Kosyrew erklärte sich interessiert, diese Fragen zu erörtern, da dies jetzt internationale Probleme und keine inneren Angelegenheiten seien, es sei auch wichtig, die Rolle Russlands in diesem Prozess zu erläutern. Er wolle aber kurz zur bilateralen Tagesordnung zurückkommen, da ginge es einmal um die Immobilien der WGT und ihre Rückgabe. Es sollte keine Zeit wie beim Jelzin-Besuch mit Verhandlungen über Details verlorengehen, sondern eine politische Lösung in den damals genannten Parametern gefunden werden. Ende Januar stehe Besuch Gratschow bevor, er (AM) werde ihn auf politische Lösung (einmalige Gesamtlösung) einstimmen. BM weist hierzu auf Gesamtzusammenhang mit wirtschaftlicher Kooperation mit allen GUS-MS hin, welche auch Thema der Washingtoner Konferenz sein werde. Das Gebiet der Energiepolitik sei daher besonders wichtig. RF, wie auch die anderen GUS-MS, sollte natürliche Ressourcen nutzen, sie erhielte Valuta für Importe. D hat die Möglichkeit, zuFortsetzung Fußnote von Seite 62 versprochene Grundsatzdekret zur Wiedererrichtung einer Wolga-Republik solle „nun möglichst bald ergehen“. Ferner sollten weitere deutsche Rayons wie im Altai-Gebiet und im Omsk-Gebiet gefördert werden. Hierzu solle eine deutsch-russische Kommission eingesetzt werden. Vgl. B 41, ZA-Bd. 158740. 36 Für Ziffer 12 der Gemeinsamen Erklärung von BK Kohl und dem russischen Präsidenten Jelzin vom 21. November 1991 vgl. BULLETIN 1991, S. 1083. 37 VLR Drautz vermerkte am 13. Januar 1992: „Vertreter Russlands und der Ukraine haben sich am Wochenende bei Verhandlungen in Kiew auf ein Kommuniqué geeinigt, in dem festgestellt wird, dass Teile der Schwarzmeerflotte nicht zu den strategischen Streitkräften der GUS, sondern zu den Streitkräften der Ukraine gehören. Die künftige, noch nicht näher bestimmte Aufteilung der Flotte wird in späteren Verhandlungen von Experten festgelegt werden.“ Vgl. B 43, ZA-Bd. 228355.

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sätzliche Energie aus RF zu importieren. Damit trage man auch zur Energie-Sicherheit bei im Hinblick auf NO und MO und die dortige dramatische Entwicklung. D und RF sollten gemeinsames Konsortium bilden. RF hat die Energiemenge, um nach Westeuropa zu liefern. Es sei ein Fehler, dieses Gebiet zu vernachlässigen. Deutschland werde dies in Washington zu einem zentralen Thema machen. Das Konsortium sollte mit den Ländern gebildet werden, die wegen der Technik liefern können, nicht mit Deutschland allein, im Osten sollten außer Russland auch andere Staaten beteiligt werden, sowohl was die Förderung als auch was den Transport der Energie angehe. Kosyrew erklärte sich damit einverstanden. Er erinnerte dann noch einmal an den Schewardnadse-Brief vom 4.12.91 bezüglich der Entschädigung von NS-Opfern38 sowie an ein Schreiben vom 13.6.90 des damaligen sowjetischen Außenministers hinsichtlich der ROK39. Er wolle diese beiden Fragen nicht in Vergessenheit geraten lassen, man müsste weiter daran arbeiten. BM sagte zu: 1) Entschädigungsleistungen: Die SU habe gegenüber der DDR 1953 mit Wirkung für ganz Deutschland auf Reparationen verzichtet40, weil sie die Leistungen der DDR als Erfüllung der deutschen Reparationspflicht betrachtete. Dieser Verzicht binde auch die Nachfolgestaaten. Gleichwohl sei die Bundesregierung bereit zu einer humanitären Stiftung und bereit, die Gespräche mit der Regierung der SU, an denen Russland, Weißrussland und Ukraine als die hauptbetroffenen Republiken bzw. Staaten beteiligt gewesen wären, mit ihnen fortzusetzen.41 Diese Frage könne nur in diesem Rahmen weiterverfolgt werden. Er bitte darum, die Prioritäten der russischen Politik richtig zu setzen. Bei der Wirtschaftshilfe für die ehemalige SU habe Deutschland mit Abstand das meiste erbracht, von den anderen Staaten sei auch für die Zukunft wenig Änderung zu erwarten. Ohne deutschen Druck käme keine Hilfe von anderen, dies zeige sich auch jetzt beim Transport der NMH. Er riete zur Vorsicht, die Themen nicht zu vermengen, die Bundesregierung und die russische Regierung brauchten beide Unterstützung für ihre jeweilige Politik. Die Bundesregierung sei bereit, weiter darüber zu sprechen, aber nicht als vorrangiges Thema. 2) Zur Frage des Eigentums der orthodoxen Kirchen42 habe BM seinerzeit eine Besprechung im AA veranlasst, AA habe dieses Thema bei den zuständigen deutschen Behörden angesprochen. 38 In dem Schreiben an BM Genscher wies der sowjetische AM Schewardnadse die von der Bundesregierung angebotene Summe von 1 Mrd. DM zur Pauschalentschädigung für sowjetische Opfer des Nationalsozialismus als „äußerst entfernt von der Realität“ zurück und bat mit Blick auf die Höhe der Entschädigungszahlungen an andere Staaten und die Zahl sowjetischer Opfer darum, „eine realistischere Höhe der Pauschalsumme vorzuschlagen“. Vgl. B 86, Bd. 2058. 39 Russisch-Orthodoxe Kirche. 40 Zum Verzicht der UdSSR auf Reparationszahlungen vgl. das vom sowjetischen AM Molotow und dem Vorsitzenden des Ministerrats der DDR, Grotewohl, am 22. August 1953 in Moskau unterzeichnete Protokoll über die Reparationszahlungen der DDR an die UdSSR; EUROPA-ARCHIV 1953, Bd. 2, S. 5974 f. Vgl. ferner AAPD 1990, I, Dok. 76. 41 Zu den Gesprächen zwischen der Bundesrepublik und der UdSSR über einen Ausgleich für nationalsozialistische Verfolgungsmaßnahmen vgl. AAPD 1991, II, Dok. 373. 42 VLR I Weisel vermerkte am 6. November 1991: „Die Frage von Eigentums- und Besitzrechten der Russisch-Orthodoxen Kirche – Moskauer Patriarchat (ROK) – hat zwei Aspekte: Einmal sind die Eigen-

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Kosyrew unterbrach BM und sagte, er habe nur an frühere Ideen erinnern wollen. Man brauche dies jetzt nicht zu vertiefen, man solle die begonnene Arbeit fortsetzen. Botschafter Terechow wiederholte alte sowjetische Position, wonach Entschädigung von NS-Opfern nicht unter die Kategorie der Reparationen falle, sagte dann allerdings, es gäbe einen wichtigen psychologischen Aspekt, und außerdem müsse Kritik an der russischen Regierung, dass sie in dieser Frage untätig bleibe, vermieden werden. Kosyrew sagte dazu, die Arbeit solle auf Expertenebene fortgeführt werden. RL 213 referierte kurz zu den Problemen der ROK. BM fragte dann, wie sich Position zur Kurilen-Frage43 entwickle, er werde im Februar nach Japan reisen44 und dort sicher gefragt werden. Deutsches Interesse sei, dass zwei eng befreundete Staaten wie Russland und Japan ihre Probleme lösen. Kosyrew antwortete, man habe sich mit Japan geeinigt, die diplomatischen Beziehungen fortzusetzen und die beiden Botschafter in Tokio und in Moskau zu belassen. In diesem Zusammenhang habe man festgestellt, dass die Rechtsbasis für die diplomatischen Beziehungen die Erklärung von 195645 sei (in der auch die Kurilen-Frage angesprochen wird), und vereinbart, die Kurilen weiter in der einen Arbeitsgruppe zu erörtern. Man habe sich gerade geeinigt, das nächste Treffen dieser AG zu verschieben, um beiderseits die Positionen zu überprüfen. Hinsichtlich der ehemaligen sowjetischen Position habe sich sowohl die politische Landschaft wie die Führung verändert. Er sei sicher, dass Russland mit Japan eine gemeinsame Sprache finden werde, BM solle dies den Japanern sagen und dass Russland in diesem Sinne arbeite. Er sprach den Vorschlag BM von Energiekonsortien an, dies sei eine gute Idee, sie sollte auf Fachebene erörtert werden (Botschafter Terechow sprach Absatzprobleme bei Erdgas an). BM sagte, Frage der Konsortien sollte bei Besuch BM Möllemann in Moskau erörtert werden, er (BM) werde ihn bei für morgen (16.1.92) ohnehin geplantem Gespräch darauf ansprechen. Zur Lage der GUS-MS sagte Kosyrew, dass mehrere wichtige Ereignisse bevorstünden. Einerseits werde die russische Regierung wichtige Debatten im Parlament haben, dann Fortsetzung Fußnote von Seite 64 tums- und Besitzverhältnisse an kirchlichen Grundstücken in den alten Bundesländern zwischen der ROK und der Russisch-Orthodoxen Exilkirche streitig. Aufgrund eines Gesetzes aus dem Jahre 1938 erhielt die Exilkirche das Eigentum an den heute im Streit befangenen Grundstücken. Die ROK verlangt die Herausgabe. Sie führt deswegen seit 15 Jahren Prozesse vor deutschen Gerichten. Inzwischen liegt die Sache beim Bundesverfassungsgericht. […] Zum anderen geht es um Rechtspositionen der ROK in den neuen Bundesländern. Es handelt sich dabei um Besitzrechte an Kirchen in Berlin, Dresden und Leipzig, um das Nutzungsrecht von den in kommunalem Eigentum stehenden Kirchen in Berlin, Potsdam, Leipzig und Weimar, um die Zahlung von Unterhaltskosten für die Kirchengebäude und um die Zahlung von Priestergehältern. Gleichzeitig wünscht die ROK ihre Anerkennung als Körperschaft des öffentlichen Rechts in Gesamtdeutschland.“ Vgl. B 92, Bd. 699. 43 Im Friedensvertrag von San Francisco vom 8. September 1951, an dem die UdSSR nicht beteiligt war, verzichtete Japan auf alle Rechte und Ansprüche an den Kurilen und Südsachalin. Allerdings wurde die Bezeichnung „Kurilen“ nicht genauer definiert. Nach japanischer Auffassung gehörten dazu nur die nördlich von Etorofu gelegenen Inseln, nicht jedoch die ebenfalls von der UdSSR 1945 besetzten, nordöstlich von Hokkaido gelegenen Inseln Kunashiri, Etorofu sowie die Gruppe der Habomai-Inseln. 44 Zum Besuch des BM Genscher vom 11. bis 13. Februar 1992 in Japan vgl. Dok 54. 45 Für die gemeinsame japanisch-sowjetische Erklärung vom 19. Oktober 1956 vgl. UNTS, Bd. 263, S. 100–117.

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sei am 16.1. ein Treffen der Staatschefs der GUS in Moskau geplant, das sich mit Militärfragen befassen solle.46 Am 17.1. werde eine Versammlung der Offiziere der Streitkräfte (5000!) stattfinden, Präsident Jelzin werde eine Rede halten47, möglicherweise auch andere Präsidenten, die Diskussion werde wohl sehr energisch geführt werden. Am 25.1. sei ein Präsidententreffen der GUS in Moskau geplant, das sich mit den Wirtschaftsfragen befassen solle.48 Bereits am 10.1. hätten die Außenminister der GUS miteinander gesprochen. So sei die gesamte „Tagungsordnung“ der internen GUS-Beziehungen auf dem Verhandlungstisch, in allen Bereichen, es sei sehr schwierig. Aber die Probleme würden nicht durch fundamentale Interessengegensätze verursacht, sondern durch ungelöste Übergangsschwierigkeiten von der SU zur GUS. Es fehle den meisten Politikern schlicht an Erfahrung, wie man Probleme in einem Verhandlungsprozess lösen könne. Er erwarte eine Konsolidierung der Zusammenarbeit im Rahmen der GUS, nicht sofort, aber auf mittlere Sicht. Dies werde sicher zwischen den wichtigsten Staaten der Fall sein, wie etwa Russland und Ukraine. Er sei am 14.1. in Tallinn gewesen und habe dort ein Kommuniqué mit AM Meri ausgearbeitet, es zeige einen positiven Grundton, obwohl die Probleme damit noch nicht gelöst seien. Russland habe ein staatliches Komitee gebildet, um die militärischen Fragen mit den anderen Staaten zu verhandeln, unter Vorsitz von Schachrai. Darin seien alle Ressorts vertreten, die mit Verteidigung, Außenpolitik und Sicherheit zu tun haben. Auch aus dem ehemaligen Verteidigungsministerium der SU nehme der Stellvertretende Kommandeur der strategischen Streitkräfte der GUS teil. In den Verhandlungen, wie jüngst in Kiew (am 11.1.), nähmen sie als Experten der russischen Delegation und als „Dritte“, nämlich als Vertreter der Streitkräfte der GUS (und nicht Russlands) mit teil. Meinungsverschiedenheiten bestünden fort, wie etwa die Aufteilung der Schwarzmeerflotte und die Frage der Streitkräfte in der Ukraine, gleiche Probleme habe Russland mit anderen Staaten, so Weißrussland, auch wenn weniger angespannt, da dort für eine Lösung mehr Zeit gegeben sei. Unstreitig sei das Recht der GUS-MS auf eigene Streitkräfte, als Teil ihrer Souveränität. Es sei jedoch ein Höchstmaß an Verantwortung und Vernunft in dieser Übergangsperiode erforderlich. Streitkräfte seien einheitliche Organismen, ihre Aufteilung rufe politische und psychologische Reaktionen sowohl in den Streitkräften wie in der Innenpolitik hervor. Es gehe darum, ein politisches Spiel reaktionärer Kräfte und eine Wiederholung des 20.8.9149 zu vermeiden. 46 BR I Stüdemann, Moskau, berichtete am 18. Januar 1992, die Gipfelkonferenz der GUS-Mitgliedstaaten habe nur mit einem „Minimalergebnis“ geendet und keine wirksamen „Gegenkräfte gegen das Auseinanderstreben der konventionellen Streitkräfte und die Versorgungskrise“ sichtbar werden lassen. Vgl. DB Nr. 221; B 41, ZA-Bd. 158732. 47 Brigadegeneral Scheffer, Moskau, informierte am 19. Januar 1992, der russische Präsident Jelzin habe auf der Versammlung von 5000 Offizieren Wohnungszuteilungen und Geldzahlungen versprochen. Allerdings müsse er „achtgeben, dass er mit seinen vollmundigen Ankündigungen nicht beim Militär seine letzte Glaubwürdigkeit verliert. Militärpolitische Kompetenz hat er mit seiner Rede vor der Offiziersversammlung wahrlich nicht gezeigt.“ Vgl. DB Nr. 227/228; B 41, ZA-Bd. 158759. 48 Die nächste Gipfelkonferenz der GUS-Mitgliedstaaten fand am 14. Februar 1992 in Minsk statt. Vgl. die verabschiedeten Erklärungen und Dokumente; EUROPA-ARCHIV 1992, D 319–326. 49 Vom 19. bis 21. August 1991 kam es in der UdSSR zum Putschversuch durch ein „Staatskomitee für den Ausnahmezustand“. Vgl. AAPD 1991, II, Dok. 266–269, Dok. 271, Dok. 272, Dok. 274–276 und Dok. 284.

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15. Januar 1992: Gespräch zwischen Genscher und Kosyrew

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In diesem Geiste werde unter den GUS-MS verhandelt, bezüglich der Ukraine könne man die Streitkräfte in drei Teile unterscheiden: a) die strategischen Streitkräfte, atomare und nicht-atomare, die unter ein GUS-Oberkommando gehörten, b) Streitkräfte, die in ukrainisches Oberkommando überführt würden, c) Streitkräfte, die im Rahmen gemeinsamer internationaler Rüstungskontrollprozesse aufzulösen wären, sowohl unter START wie unter KSE-Vertrag. Für die äußere Sicherheit der GUS seien die bisherigen Streitkräfte zu groß und nicht mehr erforderlich, auch hier könne man sich drei Körbe vorstellen, wobei Teile der Streitkräfte aufgelöst oder umgruppiert werden könnten. Russland möchte die Verpflichtung der SU zur Reduzierung konventioneller Streitkräfte und Truppenstärken so verteilen, dass besonders die Teilstreitkräfte erfasst werden, die bereits jetzt unter dem Kommando anderer Republiken außerhalb Russlands stünden, nicht weil Russland mehr Waffen als die anderen GUS-MS wolle, es habe da bereits genügend davon übernommen, sondern weil die Umverteilung der Streitkräfte zu Reaktionen und Empfindlichkeiten in den Streitkräften selbst führt. Er bitte auch D um Hilfe, um diese Erörterung in den größeren Zusammenhang der Verträge und der bestehenden internationalen sicherheitspolitischen Konzepte zu stellen. Er erwarte hier westliche Hilfe, um den Umstrukturierungsprozess schmerzlos verlaufen zu lassen und ihn auch zu nutzen, um die Gesamtstreitkräfte zu reduzieren. Auch bei der Schwarzmeerflotte könne man nach dem gleichen Schema der drei Kategorien vorgehen, einerseits den ukrainischen Wünschen nach Küstenschutz entgegenkommen, andererseits die Einheit der Schwarzmeerflotte zu erhalten, da dies ein sehr emotionaler und politisch schwieriger Komplex sei. Es wäre wünschenswert, wenn die Ukraine dies mehr berücksichtigen und eine Übergangszeit akzeptieren könnte. BM dankte für offene Darlegung und würdigte verantwortungsvolles Herangehen Russlands an die Streitkräftefragen, D werde dies unterstützen, sowohl in der KSZE, im NAKR wie auch in den Rüstungskontrollverhandlungen. Er hoffe, dass auch andere GUS-MS sich so verhalten würden, D werde seine Beziehungen zu diesen Staaten in diesem Sinne nutzen, dies läge sowohl im deutschen Eigeninteresse wie auch im Interesse der Beziehungen zu Russland. Er bitte darum, auf dem Laufenden gehalten zu werden, um gegebenenfalls bei anderen Regierungen vorsprechen zu können. D wolle sich nicht einmischen, aber das Sicherheitsthema betreffe alle, und wir wollten verantwortungsvolle Politik fördern. (Ende des Gesprächs, BM und AM zogen sich zu Abschlussgespräch im kleinen Kreis zurück.) B 41, ZA-Bd. 221692

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15. Januar 1992: Gespräch zwischen Schlagintweit und al-Muntasir

14 Gespräch des Ministerialdirektors Schlagintweit mit dem libyschen Minister für Wirtschaftsplanung, al-Muntasir 311-555.30 LIY/SB VS-NfD

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Lockerbie-Affäre2; hier: Libysche Besuchsdiplomatie D 3 empfing auf dessen Wunsch den libyschen Minister für Wirtschaftsplanung, Herrn Omar Mustafa al-Muntasir, am 15.1.1992 zu einem Gespräch. An dem Gespräch, das in offener Atmosphäre geführt wurde, nahmen ferner der Geschäftsträger des libyschen Volksbüros, RL 3113 sowie VLR Schlüter teil. M. ist BM und anderen Regierungsmitgliedern vor allem aus seiner Zeit als Minister für Schwerindustrie (1979 – 1985) bekannt. Anschließend war er Regierungschef. M. befand sich zu Gesprächen mit deutschen Wirtschaftsunternehmen in Deutschland und hatte kurzfristig um Gesprächstermin mit BM gebeten. Unter Hinweis auf die Kurzfristigkeit der Anfrage und Terminschwierigkeiten wurde ihm ein Gespräch mit D 3 angeboten unter der Voraussetzung, dass auch von libyscher Seite keine Publizität erfolgen würde. Wahrscheinlich war der wahre Hintergrund seiner Reise, die ihn auch in andere europäische Hauptstädte führte, der Versuch, bei uns für Wohlwollen in der LockerbieAffäre zu werben. Aus dem Gespräch wird Folgendes festgehalten: Al-Muntasir übergab eine Reihe von Unterlagen, die die Position Libyens zu den Abstürzen der PanAm- sowie der UTA-Maschine4 erläutern sollten.5 Er betonte, dass Libyen 1 Der Gesprächsvermerk wurde von VLR Schlüter am 17. Januar 1992 gefertigt. Ferner maschinenschriftlicher Vermerk: „Von Herrn D 3 genehmigt.“ 2 Am 21. Dezember 1988 stürzte ein Flugzeug der amerikanischen Fluggesellschaft PanAm, das sich auf dem Weg nach New York befand, über dem schottischen Ort Lockerbie ab. Alle 259 Personen an Bord sowie elf Einwohner von Lockerbie starben. Am 28. Dezember 1988 gaben die britischen Behörden bekannt, dass eine Bombe an Bord explodiert sei. Vgl. den Artikel „Powerful Bomb Destroyed Pan Am Jet Over Scotland, British Investigation Finds“; THE NEW YORK TIMES vom 29. Dezember 1988, S. A 1 bzw. A 10. Weitere amerikanische und britische Ermittlungen ergaben Hinweise auf eine Beteiligung Libyens an dem Attentat. Vgl. AAPD 1991, II, Dok. 410. 3 Peter Dassel. 4 Am 19. September 1989 stürzte eine Maschine der französischen Fluggesellschaft „Union de Transports Aériens“ (UTA), die sich auf dem Flug von N’Djamena nach Paris befand, über der nigrischen Wüste ab. Dabei kamen alle 171 Insassen ums Leben. Botschafter Weishaupt, N’Djamena, berichtete am 28. September 1989, nach Auskunft des tschadischen Außenministeriums sei der Absturz durch eine Bombenexplosion verursacht worden. Vgl. DB Nr. 183; B 46, ZA-Bd. 303676. Botschafter Sudhoff, Paris, berichtete am 24. November 1991, am 30. Oktober 1991 habe ein französischer Untersuchungsrichter vier libysche Staatsangehörige, darunter einen Schwager von Oberst Gaddafi, der Drahtzieherschaft und Ausführung des Anschlags beschuldigt und internationale Haftbefehle ausgestellt. Vgl. DB Nr. 435; B 46, ZA-Bd. 303676. 5 Für das am 15. Januar 1992 übergebene Dokument „The juridical aspects of the Great Jamahiriya’s position on the accusations resulting from the destruction of the American and French aeroplanes“ vgl. B 36, ZA-Bd. 170202.

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15. Januar 1992: Gespräch zwischen Schlagintweit und al-Muntasir

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bisher weder von den USA noch von GB oder F die vollständigen Untersuchungsunterlagen erhalten hätte. Trotzdem habe man auf der Basis der bisher vorliegenden Informationen einen Untersuchungsrichter eingesetzt und die Untersuchung begonnen. Zwei Tatverdächtige, die im Zusammenhang mit den Untersuchungen des Absturzes über Lockerbie genannt worden seien, wären in Untersuchungshaft genommen worden. Über diplomatische Kanäle sei man bemüht, weitere Unterlagen für die Beweiserhebung zu erhalten, bisher jedoch leider ohne Ergebnis. Man habe darüber hinaus auch angeboten, eng mit den Untersuchungsbehörden der anderen Länder zusammenzuarbeiten und Richter, Beamte oder andere Interessierte zu empfangen. Auch auf diesen Vorschlag habe man bisher leider keine Reaktion erhalten, lediglich die britische Gruppe von Opfern des Lockerbie-Absturzes hätte einen Repräsentanten nach Libyen geschickt. Libyen sei sehr an der vollständigen Aufdeckung der Vorgänge interessiert, die zu den Abstürzen geführt hätten. Man habe daher auch vorgeschlagen, eine unabhängige internationale6 Kommission mit der Untersuchung zu betrauen oder die Angelegenheit vor den Internationalen Gerichtshof zu bringen. Wenn aufgrund dieser Untersuchungen die Beweislage dies notwendig mache, würden die Beschuldigten in Libyen verurteilt werden. Die libyschen Gesetze sähen harte Strafen vor, auch die Todesstrafe sei möglich. Eine Auslieferung von Libyern an ein anderes Land erlaube die libysche Rechtsordnung jedoch nicht. Nicht auszuschließen sei auch, dass Beamte der libyschen Regierung insgeheim für andere Interessen arbeiteten und dazu angestiftet worden seien, Zwischenfälle zu provozieren, die die internationalen Beziehungen stören würden. Hinzuweisen sei auch auf ein Untersuchungsergebnis aus Malta, wo man festgestellt habe, dass ein unbegleiteter Koffer an dem fraglichen Tag nicht nach Frankfurt geschickt worden sei. Eingehend auf die Befassung des Sicherheitsrates mit der Angelegenheit7, äußerte M. die Befürchtung, dass die USA den Sicherheitsrat unter Druck setzen und sich damit eine Mehrheit für ihre Interessen sichern würden. Libyen könne diesem nur wenig entgegensetzen („We cannot twist arms like the United States.“). Libyen sei ein kleines Land, das selber Opfer von „Staatsterrorismus“ (US-Bombenangriffe auf Tripolis und Bengasi 19868) geworden sei. Man sei besorgt, dass sich solche Angriffe wiederholen würden, da die militärische Option von den USA nicht ausgeschlossen worden sei. Libyen könne nicht nachvollziehen, warum die USA sich weigerten, die Streitigkeiten friedlich beizulegen. Man müsse sich Gedanken machen über die Motivation, die hinter dem Vorgehen der USA stünde. Er wolle hier nur Berichte und Kommentare der westlichen 6 Korrigiert aus: „nationale“. 7 Referat 311 erläuterte am 10. Januar 1992, Frankreich, Großbritannien und die USA planten für Ende Januar 1992 eine Befassung des VN-Sicherheitsrats mit der Rolle Libyens bei den Anschlägen auf die Flugzeuge der PanAm im Dezember 1988 bzw. UTA im September 1989: „Ziel ist die Verabschiedung einer Resolution, in der die bisherige mangelhafte Kooperation Libyens bedauert, die Erfüllung der an Libyen gestellten Forderungen angemahnt sowie die UN-Mitgliedstaaten aufgefordert werden sollen, entsprechend auf Libyen einzuwirken. Für den Fall einer unbefriedigenden Reaktion sollen in einem zweiten Schritt Sanktionen gegen Libyen nach Kapitel VII der VN-Charta verhängt werden.“ Vgl. B 36, ZA-Bd. 170202. 8 Die amerikanischen Luftangriffe auf Ziele in Libyen am 15. April 1986 waren eine Reaktion auf den Bombenanschlag auf die überwiegend von amerikanischen Soldaten besuchte Diskothek „La Belle“ in Berlin (West) am 5. April 1986, bei dem drei Menschen getötet und etwa 250 verletzt worden waren. Vgl. AAPD 1986, I, Dok. 92, Dok. 94, Dok. 97, Dok. 102–104 und Dok. 106.

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15. Januar 1992: Gespräch zwischen Schlagintweit und al-Muntasir

Presse zitieren, die andeuten, dass die Anschuldigungen gegenüber Libyen eventuell auch der Preis für die Befreiung der Geiseln im Libanon9 und das Zusammentreten der NahostKonferenz10 seien. Alles deute zudem darauf hin, dass die USA einen Wechsel des Systems in Libyen bewirken wollten. Dies würde allerdings angesichts der gespannten Lage in Algerien11 sowie der nach außen hin ruhigen, aber innenpolitisch explosiven Lage in Tunesien die gesamte Region vor eine Zerreißprobe stellen. Auch Ägypten habe große innenpolitische Probleme, u. a. mit dem Fundamentalismus. Im Sudan versuche Iran, seinen Einfluss zu verstärken. Libyen sei das einzige stabile Land in dieser Region. Wenn Libyen jetzt unter Druck geriete, würde die Stabilität im gesamten Mittelmeerraum gefährdet werden, mit negativen Folgen auch für Europa (Massenemigration). Deutschland sähe man als einen Freund Libyens. Libyen hoffe nunmehr, dass Deutschland vermitteln und auf die USA einwirken könne, die Streitigkeiten auf friedlichem Wege zu lösen. Libyen habe unter Beweis gestellt, dass es das Völkerrecht respektiere. Als einziges Drittweltland sei man dreimal vor den IGH gegangen.12 Auch die Anschuldigung, weltweit Terrorismus zu unterstützen, sei haltlos. Man habe lediglich die Palästinenser unterstützt. Seit geraumer Zeit habe man jedoch mit den extremen Flügeln der palästinensischen Bewegung gebrochen. Libyer seien in den letzten Jahren „very good citizens of the world“ gewesen. Man erwarte von Deutschland nicht, dass es sich blind auf die Seite von Libyen schlagen werde, hoffe jedoch, dass wir uns nicht den Fakten verschließen würden. Man hoffe darüber hinaus, dass Deutschland sich keinen Sanktionen anschließen würde, die im Übrigen vonseiten der USA bereits seit Jahren gegen das Land verhängt seien. D 3 dankte für den Besuch und die Gelegenheit, ein offenes Gespräch zu führen. BM, der ein Interesse an unbelasteten Beziehungen zwischen Deutschland und Libyen habe, werde in allen Einzelheiten über das Gespräch unterrichtet werden. Die bilateralen Beziehungen seien bisweilen starken Belastungen ausgesetzt. Man müsse daran arbeiten, solche Schwierigkeiten auszuräumen. Ein Tiefpunkt in den bilateralen Beziehungen sei die Affäre um Rabta13 gewesen. Wir seien sehr an Frieden und Stabilität in der ganzen Region interessiert. Umso bedauerlicher sei nun der weitere Schlag durch die Anschuldigung, Libyen sei für den Absturz von zwei Passagiermaschinen verantwortlich. Die uns vorgelegten Beweise zur Untermauerung 9 Im Laufe des Jahres 1991 wurden mehrere westliche Geiseln im Libanon freigelassen, zuletzt am 4. Dezember 1991 der Journalist Terry Anderson nach fast sieben Jahren Gefangenschaft. Vgl. den Artikel „The Last U. S. Hostage; Anderson, Last U. S. Hostage, Is Freed By Captors In Beirut“; THE NEW YORK TIMES vom 5. Dezember 1991, S. A 1. 10 Zur Friedenskonferenz über den Nahen Osten vom 30. Oktober bis 1. November 1991 in Madrid vgl. Dok. 15, Anm. 6. 11 Zur Entwicklung in Algerien vgl. Dok. 18, Anm. 31. 12 Libyen und Tunesien setzten sich zweimal wegen des Festlandsockels vor dem IGH auseinander. Ferner führte Libyen ein Verfahren gegen Malta ebenfalls wegen des Festlandsockels sowie gegen den Tschad wegen Territorialstreitigkeiten. Vgl. https://www.icj-cij.org/en/list-of-all-cases. 13 Im November 1988 wurde die Bundesregierung durch die amerikanische Regierung darüber informiert, dass nach Geheimdiensterkenntnissen in der Nähe der libyschen Stadt Rabta mit Hilfe von Firmen aus der Bundesrepublik eine Fabrik zur Herstellung chemischer Waffen errichtet werde. Vgl. AAPD 1988, II, Dok. 373. Vgl. ferner AAPD 1989, I, Dok. 2, Dok. 9, Dok. 11, Dok. 37, und AAPD 1989, II, Dok. 412, sowie AAPD 1990, I, Dok. 38 und Dok. 106.

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16. Januar 1992: Vorlage von Hoessle

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einer Verantwortlichkeit Libyens für die Abstürze seien beeindruckend. Eine Vor-Verurteilung würden wir jedoch nicht vornehmen. D habe sich der internationalen Forderung nach vollständiger Aufklärung angeschlossen. Obwohl nicht Mitglied des SR, würden wir die jetzt eingebrachte Resolution14 unterstützen. Wir rechneten mit einer Mehrheit.15 Wir hofften, dass die Frage der Verantwortlichkeit für die Abstürze zweifelsfrei geklärt werden könne und den Opfern der Abstürze der beiden Flugzeuge Gerechtigkeit widerfahren werde. B 36, ZA-Bd. 170202

15 Vorlage des Vortragenden Legationsrats I. Klasse von Hoessle für Bundesminister Genscher 310-310.10 NO

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Über Dg 312 D 33 Herrn Staatssekretär4 Herrn Bundesminister5 Betr.: Nahost-Prozess – multilaterale Nahost-Konferenz über Fragen der regionalen Zusammenarbeit, Moskau, 28./29.1.1992; hier: Voraussichtlicher Ablauf, europäische und deutsche Beteiligung Zweck der Vorlage: Zur Unterrichtung, mit der Bitte um Zustimmung zu der unter Ziffer 4 vorgeschlagenen Linie 1) Unter dem gemeinsamen Vorsitz von AM Kosyrew und AM Baker wird am 28./29. Januar in Moskau die Eröffnungskonferenz der multilateralen Verhandlungen über regionale Fragen des Nahen Ostens stattfinden. Damit wird das bei der Nahost-Friedenskonferenz in Madrid6 von allen beteiligten Parteien grundsätzlich akzeptierte, dreistufige Verhandlungskonzept der USA (1: Madrid­ 14 Botschafter Vergau, New York (VN), berichtete am 10. Januar 1992, im VN-Sicherheitsrat zirkuliere ein gemeinsamer Resolutionsentwurf Frankreichs, Großbritanniens und der USA, der nach Angaben von SR-Mitgliedern „bereits jetzt mehrheitsfähig sei“. Vgl. DB Nr. 69; B 36, ZA-Bd. 170202. 15 Zur Verabschiedung der Resolution Nr. 731 des VN-Sicherheitsrats am 21. Januar 1992 vgl. Dok. 30, besonders Anm. 3. 1 2 3 4 5

Die Vorlage wurde von VLR Kaul konzipiert. Hat MDg Bartels am 16. Januar 1992 vorgelegen. Hat MD Schlagintweit am 16. Januar 1992 vorgelegen. Hat StS Kastrup am 17. Januar 1992 vorgelegen, der handschriftlich vermerkte: „Eine vernünftige Linie.“ Hat BM Genscher laut Vermerk des Ministerbüros vorgelegen. Hat VLR Gerdts am 27. Januar 1992 vorgelegen, der den Rücklauf über das Büro Staatssekretäre an Referat 310 verfügte. Hat VLR I Reiche am 27. Januar 1992 vorgelegen. Hat VLR I von Hoessle am 17. Februar 1992 erneut vorgelegen. 6 Referat 310 legte am 18. November 1991 dar: „Die Nahost-Friedenskonferenz in Madrid (30.10. bis 1.11.), bei der erstmals alle Konfliktparteien (ISR, PAL, JOR, SYR, LIA, ÄGY) an einem Tisch saßen, ist am 1.11.

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Konferenz; 2: bilaterale direkte Verhandlungen Israels mit den arabischen Nachbarn und den Palästinensern; 3: multilaterale Verhandlungen) auch in seinem dritten Bestandteil angegangen. Die multilateralen Verhandlungen sollen die bilateralen Verhandlungen in sich gegenseitig verstärkender Weise ergänzen. Das Ziel ist, hierdurch insgesamt einen stabilen, tragfähigen und allmählich fortschreitenden Verhandlungsprozess über die ungelösten Fragen der Region zu schaffen. Die Konferenz ist nach ihrem Mandat der Beginn von „Gesprächen interessierter Parteien der multilateralen Verhandlungen über die Organisation dieser Verhandlungen“. Die Konferenz verfolgt damit vor allem zwei Ziele: – Darstellung der wichtigen Vorteile, welche die Konfliktparteien des Nahen Ostens aus – verstärkter – multilateraler Zusammenarbeit ziehen können. – Ingangsetzung eines multilateralen Verhandlungsprozesses über in Madrid einvernehmlich ins Auge gefasste Regionalthemen: Rüstungskontrolle und regionale Sicherheit, Wasser, Umweltfragen, wirtschaftliche Entwicklung. 2) Wichtige Einzelheiten der Veranstaltung sind noch im Fluss. Die in der jetzigen Phase intensiver Vorbereitung hinter den Kulissen fast allein Regie führenden USA vertrauen auch auf die in Madrid bewährte Improvisationskunst sowie den Termin- und Erfolgsdruck, der von der Veranstaltung selbst ausgeht. Kreis der Teilnehmer Nach amerikanischen Vorstellungen sind folgende Teilnehmer vorgesehen: USA, RUS (anstelle SU) als Ko-Sponsoren, an ihrer Seite die EG-Präsidentschaft7 als Vertreter der zwölf Mitgliedstaaten (dazu die KOM, als Teil der europäischen Delegation); daneben JAP, CAN, TUR, evtl. auch CHN und EFTA8 (Form der Beteiligung noch unklar). Aus der Nah- und Mittelost-Region sind eingeladen: ISR, JOR/PAL (wie in Madrid), SYR, LIA, ÄGY, GCC-Staaten national (SAR, KUW, VAE, BAH, KAT, Oman), JEM, MTA, ALG, TUN, MRO. SYR und LIA wollen aber anscheinend zunächst nicht teilnehmen. Sie machen ihre Beteiligung bei den multilateralen Gesprächen von „vernünftigen Fortschritten“ bei den bilateralen Gesprächen abhängig. Die Teilnahme der Palästinenser ist unsicher (streben PLO-Beteiligung an, was – auch unter Hinweis auf die Absprachen für Madrid – von Israel und den USA abgelehnt wird). Wer von den regionalen Staaten wirklich teilnimmt, ist derzeit noch nicht zu übersehen. VN sind als Beobachter eingeladen (wie in Madrid).

Fortsetzung Fußnote von Seite 71 ohne wesentliche Zwischenfälle und Überraschungen wie geplant zu Ende gegangen.“ Zu den Ergebnissen hieß es: „Die Konferenz war ein unverzichtbarer erster Schritt für einen wirklichen Verhandlungsprozess. Sie war auch eine bedeutsame vertrauensbildende Maßnahme. Verstärkte Festlegung aller Konfliktparteien auf Verhandlungen gemäß dem dreistufigen Verhandlungskonzept von AM Baker (Konferenz, direkte bilaterale Verhandlungen, multilaterale Verhandlungen über regionale Fragen). Besonders wichtig: ausdrückliche Bereitschaft der Palästinenser zu Verhandlungen über eine Interimsregelung.“ Vgl. B 36, ZA-Bd. 196079. 7 Vom 1. Januar bis 30. Juni 1992 hatte Portugal die EG-Ratspräsidentschaft inne. 8 Dieses Wort wurde von StS Kastrup unterschlängelt.

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Voraussichtlicher Ablauf: 28. Januar: Plenarsitzung auf AM-Ebene, Ko-Vorsitz RUS und USA: EG vertreten durch Präsidentschaft (AM Pinheiro) und EG-KOM (Matutes); dahinter „Europäische Delegation“ mit 16 Sitzen, für je einen Teilnehmer aus den EG-MS (für uns Dg 319) sowie Vertreter von EGK und Rat. 29. Januar: Fortführung der Konferenz mit denselben Teilnehmern, aber auf „höherer Beamtenebene“ („senior official level“, keine AM), dabei Konstituierung von „Steering Committee“ (auch hier werden EG-Staaten vertreten durch Präsidentschaft und KOM) und der vier Arbeitsgruppen 1) „Wirtschaftliche Entwicklung“; Vorsitz EG, Ko-Vorsitz JAP. 2) „Sicherheit und Abrüstung“; Vorsitz USA, Ko-Vorsitz RUS. (Versuche der EG-Troika, bei dieser AG für EG den Ko-Vorsitz zu erreichen, waren erfolglos.) 3) „Wasserfragen“; Vorsitz USA, Ko-Vorsitz TUR. 4) „Umweltfragen“; Vorsitz JAP, Ko-Vorsitz ÄGY. Am zweiten Tag angestrebt: Festlegung der Teilnehmer, von Ort und Zeit (Kalender) der Folgetagungen der einzelnen Arbeitsgruppen (Experten). Erste Sitzung der Arbeitsgruppen voraussichtlich im Februar oder Anfang März 1992 (vor Ramadan). Das Koordinierungsorgan „Steering Committee“ soll vier- bis sechsmal pro Jahr tagen (erstmals etwa im April/Mai). Die regionalen Teilnehmer sollen ermutigt werden, an so vielen Arbeitsgruppen wie möglich teilzunehmen. Die außerregionalen Teilnehmer, darunter die EG und die einzelnen EG-MS, sollen die Möglichkeit haben, an den Arbeitsgruppen mit Themen nach ihrer Wahl teilzunehmen. 3) Europäische und deutsche Beteiligung Zur Vorbereitung auf Moskau findet derzeit im EG-Kreis eine intensive Abstimmung statt. Vor allem I (AM De Michelis), auch F, haben mehrfach den Wunsch geäußert, in Moskau neben der EG (vertreten durch die Präsidentschaft und evtl. KOM) auch national (eigene AM-Rede) teilnehmen zu können. Die Mehrheit der EG-Partner steht dem kritisch gegenüber. Nach dem Beschluss des PK (14./15.1. = Vertretung der EG durch Präsidentschaft und KOM) scheinen sich I und F damit abgefunden zu haben, dass eine nationale Teilnahme auf AM-Ebene nicht möglich ist. Auch die USA als eigentliche Organisatoren haben sich bei den Gesprächen der Troika in Washington deutlich dafür ausgesprochen, dass Europäer am 28.1. bei Eröffnungsveranstaltung10 durch Präsidentschaft vertreten werden. Ein Insistieren auf Teilnahme auf nationaler AM-Ebene würde die mühsam vorbereitete Konferenz-Struktur erheblich stören (entspr. Vorwürfe gegen Europäer bereits in Madrid). Auch nach den bisherigen Ablauf-Vorgaben ist der italienisch-französische Wunsch an sich nicht realisierbar. Denn am 28. Januar (AM-Ebene) werden für die EG nur die Präsidentschaft und die KOM am Konferenztisch sitzen. Am 29. Januar sollen die (Prozedural-) Beratungen auf „höherer Beamtenebene“ (nicht: AM) stattfinden. 9 Herwig Bartels. 10 An dieser Stelle wurde von MD Schlagintweit handschriftlich eingefügt: „nur“.

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Es ist vorgesehen, dass für uns Dg 31 und RL 31011 an der Moskauer Konferenz teilnehmen. 4) Unsere Haltung zu offenen Fragen Die nächste Sitzung der „Besonderen Koordinierungsgruppe“ der EPZ zum NO-Prozess findet am 22.1. in Brüssel12 statt. Auch im Hinblick darauf stellen sich für uns folgende Fragen: a) Falls I und F erneut den Wunsch vorbringen sollten, bei Eröffnung am 28.1. auf AM­ Ebene national teilzunehmen: Vorschlag für unsere Position: In Übereinstimmung mit PK-Beschluss vom 14./15.1. sind wir dafür, dass „Europa mit einer Stimme spricht“, d. h. Vertretung durch Präsidentschaft und KOM (keine nationale Teilnahme an Eröffnungskonferenz vom 28.1.1992); dagegen Teilnahme von EG-Staaten in nationaler Eigenschaft auf „senior official level“ möglich am 29.1. (Konstituierung der Körbe) und bei den späteren themenbezogenen multilateralen Arbeitskonferenzen auf Expertenebene. b) Soll nur die Präsidentschaft für die EG sprechen oder auch die Kommission (Rederecht)? Vorschlag für unsere Position: KOM sollte ggf. neben der Präsidentschaft für die Europäer im Rahmen ihrer Zuständigkeit sprechen dürfen (am 28.1.). c) Bei themenbezogenen multilateralen Arbeitsgruppen (wirtschaftliche Entwicklung, Wasser, Umwelt, Rüstungskontrolle und regionale Sicherheit) sollten wir ggf. in Moskau unser Interesse anmelden, neben der EG (vertreten durch Präsidentschaft) auch national teilzunehmen? Vorschlag für unsere Position: Wir sollten in Moskau den Wunsch anmelden, dass D an allen von der Konferenz gebildeten Arbeitsgruppen auch national teilnimmt13 (so anscheinend Absicht auch von F, UK, I usw.).14 Hoessle B 36, ZA-Bd. 196091

11 Andreas von Hoessle. 12 MDg Bartels notierte am 23. Januar 1992 zur Sitzung der „Besonderen Koordinierungsgruppe“ der EPZ, es sei beschlossen worden, dass die EG bei der Eröffnungssitzung durch die Ratspräsidentschaft und EG-Kommissionsmitglied Matutes vertreten sein sollte. Die EG-Mitgliedstaaten sollten einen Sitz für die jeweiligen Delegationsleiter auf „senior official level“ erhalten. Vgl. B 36, ZA-Bd. 196091 13 Der Passus „Wir sollten in … auch national teilnimmt“ wurde von StS Kastrup hervorgehoben. 14 MDg Bartels, z. Z. Moskau, berichtete am 29. Januar 1992 zur multilateralen Nahost-Friedenskonferenz am 28./29. Januar 1992, trotz der Abwesenheit der Palästinenser habe die arabische Seite „konstruktiv“ mitgearbeitet. Vor allem Israel und Jordanien seien mit großen Expertendelegationen gekommen, „was die Ernsthaftigkeit ihrer Bereitschaft unter Beweis stellte, konstruktiv mitzuarbeiten“. Trotz der Rolle Russlands als Ko-Vorsitzender sei es offenkundig gewesen, „dass AM Baker und seine Mannschaft letztlich die alleinigen Herren des Verfahrens sind“. Auch sei absehbar, dass der weitere multilaterale Friedensprozess „ganz erhebliche Aktivitäten seitens der EG und von nationaler Seite, somit auch von uns, erforderlich machen wird“. Vgl. DB Nr. 417; B 36, ZA-Bd. 196091.

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16. Januar 1992: Drahtbericht von Sudhoff

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16 Drahtbericht des Botschafters Sudhoff, Paris VS-NfD Fernschreiben Nr. 147 Citissime Betr.:

Aufgabe: 16. Januar 1992, 20.08 Uhr1 Ankunft: 16. Januar 1992, 20.35 Uhr

Jugoslawien; hier: Auswirkungen der Jugoslawien-Krise auf die deutsch-französischen Beziehungen

Bezug: DB Nr. 121 vom 15.1.1992 – Pol 322.00 JUG2 1) Die Jugoslawien-Krise hat im deutsch-französischen Verhältnis wegen des seit dem Frühsommer 1991 zwischen Bonn und Paris unterschiedlichen Kurses in der Frage des Selbstbestimmungsrechts Wunden geschlagen, die auch jetzt – nach dem partiellen Abschluss des Anerkennungsprozesses3 – keineswegs verheilt sind. Für F kommt jetzt noch ein innenpolitisches Problem hinzu, und das verbessert die Stimmung keinesfalls. Mitterrand und seine Regierung sehen sich jetzt, nach der Entscheidung des 15.1., auch innenpolitisch dem Vorwurf ausgesetzt, – wieder einmal – zu spät reagiert zu haben. Noch bis zum frühen Morgen des 15.1. hatte man sich im Élysée und auch im Quai der Hoffnung hingegeben, mit GB gemeinsam eine Verweigerungsfront gegen die Anerkennung noch weiter aufrechterhalten zu können. Erst nach einem Anruf von AM Dumas bei AM Hurd am Morgen des 15.1. wurde in Paris endgültig klar, dass man sich isolieren würde, zöge F nicht mit (vgl. Bezugs-DB). 2) Wie bloß die hiesigen Nerven liegen, wurde in einem ausführlichen Gespräch im Élysée (Morel) deutlich, das von frz. Seite dazu genutzt wurde, an uns mit großer Eindringlichkeit und mit zum Teil auch scharfen Worten zu appellieren, jedenfalls von jetzt an wieder zu einer gemeinsamen Linie zu finden. Frankreich sei bereit, seinen Teil dazu beizutragen (es habe sich im Übrigen auch in der Vergangenheit mehr darum bemüht, als offenbar von uns wahrgenommen worden sei). Europapolitisch stehe zu viel auf dem Spiel. Morel bat L Pol4, die nachfolgenden Punkte nach Bonn zu geben. Das Élysée werde sie dem Bundeskanzleramt auch noch direkt nahebringen: 1 Der Drahtbericht wurde von Gesandtem Ischinger, Paris, konzipiert. Hat VLRin Loria am 17. Januar 1992 vorgelegen. 2 Botschafter Sudhoff, Paris, berichtete, nach einer Sitzung des französischen Ministerrats am 15. Januar 1992 sei die Anerkennung Kroatiens und Sloweniens bekannt gegeben worden: „Paris hat in der Anerkennungsfrage einen langen und schmerzhaften Entscheidungsprozess zum Abschluss gebracht. […] Auch die letzten retardierenden Kräfte – es gab sie nach unseren Beobachtungen sowohl im Élysée als auch im Quai – haben schließlich gestern erkennen müssen, dass F letztlich nur noch die Wahl gehabt hätte, den Anschluss an D und weitere Staaten zu suchen, sich also einem erkennbar stärker werdenden internationalen Anerkennungstrend nicht mehr entgegenzustemmen, oder sich dem Schrittmaß Griechenlands anzupassen.“ Vgl. B 30, ZA-Bd. 158143. 3 Zur Frage der Anerkennung von Kroatien und Slowenien vgl. Dok. 11, Anm. 4. 4 Leiter der Politischen Abteilung der Botschaft in Paris war Wolfgang Ischinger.

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16. Januar 1992: Drahtbericht von Sudhoff

– Die Nutzung und die Erhaltung der Glaubwürdigkeit der europäischen Institutionen (insb. Friedenskonferenz5, Schlichtungskommission6) sei von zentraler Bedeutung für die Bewältigung der weiteren Probleme im Zusammenhang mit der Auflösung Jugoslawiens (die Schlichtungskommission habe durch das deutsche Vorgehen ohnehin bereits Schaden genommen). – Jedes Vorpreschen einzelner EG-Mitglieder bei den sich jetzt stellenden Fragen, einschließlich der Anerkennung der übrigen Republiken, würde weiteren Schaden anrichten. – Die Entsendung der VN-Friedenstruppe sei ohne einen ihr diesbezüglichen7 umfassenden Konsens der Zwölf im Rahmen der bestehenden Strukturen (s. o.) politisch nicht zu verantworten. F, das an der Truppe bekanntlich einen erheblichen Anteil stellen werde, könne nur dann zugemutet werden, das Leben seiner Soldaten zu riskieren, wenn man sich auf einen unzweideutigen Rückhalt seitens der EG-Partner stützen könne. – Schließlich gelte es auch, die Chance wahrzunehmen, dass die Gemeinschaft im Rahmen dieser VN-Aktion eine besondere politische (und militärische) Rolle übernehme. Dass der VN-GS bereit sei, der Gemeinschaft diese Rolle zuzubilligen und engstens mit ihr zu kooperieren, sei keine Selbstverständlichkeit. Man betrachte diesbezügliche Zusicherungen als ein wichtiges Ergebnis der Pariser Gespräche des VN-GS.8 3) Morel unterrichtete uns im Übrigen darüber, dass gestern Abend (15.1.) ein Telefongespräch zwischen Mitterrand und BK stattgefunden habe.9 Dabei habe man ein baldiges bilaterales Treffen in Aussicht genommen. [gez.] Sudhoff B 42, ZA-Bd. 175651

5 Zur Friedenskonferenz für Jugoslawien sowie zur Einsetzung einer Schlichtungskommission vgl. Dok. 10, Anm. 4. 6 Die Schlichtungskommission der EG für Jugoslawien unter Vorsitz des Präsidenten des französischen Verfassungsgerichtshofs, Badinter, legte am 29. November 1991 das Gutachten Nr. 1 zur Frage vor, ob trotz der Abspaltung einzelner Republiken die Sozialistische Föderative Republik Jugoslawien weiter existiere oder zerbreche, wobei alle Republiken die Staatennachfolge antreten würden. Sie kam zu dem Schluss: „that the Socialist Federal Republic of Yugoslavia is in the process of dissolution; that it is incumbent upon the Republics to settle such problems of State succession as may arise from this process in keeping with the principles and rules of international law, with particular regard for human rights and the rights of peoples and minorities; that it is up to those Republics that so wish, to work together to form a new association endowed with the democratic institutions of their choice.“ Vgl. ILM, Vol. 31 (1992), S. 1497. 7 So in der Vorlage. 8 VN-GS Boutros-Ghali hielt sich am 10. Januar 1992 in Frankreich auf. 9 In dem Telefongespräch erklärte der französische Staatspräsident Mitterrand, es müsse alles getan werden, „damit Deutschland und Frankreich in der Frage Jugoslawien nicht eine unterschiedliche Linie verfolgten“. BK Kohl stimmte zu und sagte, „er habe heute noch öffentlich gesagt, dass er keine antiserbische Politik betreibe. Im Übrigen würden ohne das gemeinsame Vorgehen des Präsidenten und des Bundeskanzlers die Dinge in Europa nicht vorankommen.“ Vgl. den Gesprächsvermerk; BArch, B 136, Bd. 59747.

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17. Januar 1992: Drahterlass von Runge

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17 Drahterlass des Vortragenden Legationsrats I. Klasse Runge an das Generalkonsulat in Kiew 422-413.07 SOW Fernschreiben Nr. 18 Betr.:

Aufgabe: 17. Januar 19921

Sowj. Auslandsverschuldung; G 7-Absprachen; hier: Sachstand

Bezug: DE vom 16.1.92 – 422-413.07 SOW2 Wie im Bez.-Erlass angekündigt, folgt o. g. Sachstand: 1) Finanzstaatssekretäre der G 7-Länder haben im Oktober/November 1991 in zwei Gesprächsrunden in Moskau versucht, Basis für zukünftige Finanzbeziehungen zu schaffen. 2) Ergebnis der Verhandlungen waren Memorandum of Understanding – MoU – vom 28.10. 913 und ergänzendes Communiqué – Com – vom 21.11.91. 3) Im MoU wurde – gesamtschuldnerische Verpflichtung zur Bedienung der sowj. Auslandsschuld gegenüber öffentlichen und privaten Gläubigern festgelegt, – vereinbart, dass Außenwirtschaftsbank (VneshEconomBank – VEB –) einziger Ansprechpartner (debt manager) der Gläubiger für Regelung der Altschulden sein werde, – und Verpflichtung zur Bedienung der Altschulden übernommen. 4) Im Com vom 21.11.91 wurden diese Verpflichtungen uneingeschränkt wiederholt und vertieft. Im Einzelnen wurde im Com vereinbart: – dass Republiken und Union VEB mit zusätzlichen Devisen ausstatten werden; VEB alle verfügbaren Devisen zur Aufrechterhaltung der eigenen Zahlungsfähigkeit konzentrieren wird; sowj. Auslandsbanken nicht mehr wie bisher mit voller Absicherung rechnen können; falls es bei diesen zu Liquiditätsproblemen kommt, müssen die nationalen Bankenaufsichtsbehörden tätig werden; – dass Republiken und Union Vereinbarung über Aufteilung des Schuldendienstes und der Vermögenswerte der UdSSR schließen; – dass Republiken und Union in enger Zusammenarbeit mit IWF Anpassungsprogramme ausarbeiten und im ersten Quartal 1992 in Gang setzen (Ziel: Reduzierung der Haushaltsdefizite, des Geldmengenwachstums, Liberalisierung von Preisen/Wechselkursen, Aufrechterhaltung des internen freien Warenverkehrs). 1 Der Drahterlass wurde von LR Ott konzipiert. Hat laut Vermerk VLR I Göckel sowie im BMF und im BMWi zur Mitzeichnung vorgelegen. 2 VLR I Runge bat die Botschaft in Moskau und das Generalkonsulat in Kiew, gegenüber den Vertretern Aserbaidschans, Georgiens, der Ukraine und Usbekistans in der Frage der Unterzeichnung des Memorandum of Understanding vom 28. Oktober 1991 und der Anwendung des Kommuniqués vom 21. November 1991 zu demarchieren. Nur dadurch könne eine „dauerhafte Basis für die weitere Gestaltung der Finanzbeziehungen“ geschaffen werden: „Im eigenen Interesse sollten die genannten Republiken darauf bedacht sein, sich nicht von internationalen Kreditzuflüssen abzuschneiden.“ Vgl. B 52, ZA-Bd. 173905. 3 Für das „Memorandum of Understanding“ vom 28. Oktober 1991 vgl. B 52, ZA-Bd. 173905.

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17. Januar 1992: Drahterlass von Runge

5) Unter diesen Voraussetzungen verpflichteten sich G 7 zu folgenden Liquiditätshilfen (zusätzlich zu bereits zugesagten oder angelaufenen Hilfsprogrammen): – Zahlungsaufschub bis Ende 1992 für Tilgungsfälligkeiten aus mittel- und langfristigen Kreditverträgen, die vor dem 1.1.1991 abgeschlossen wurden. Alle übrigen Zahlungen, insbesondere Zinsen und kurzfristige Fälligkeiten, sind pünktlich zu erbringen; dabei ist Gleichbehandlung aller Gläubiger, einschließlich der Banken, herbeizuführen. Der Zahlungsaufschub betrifft öffentliche Forderungen in Höhe von ca. 3,2 Mrd. $. Hinzu kommen Forderungen der übrigen Gläubiger (insbesondere nicht öffentlich verbürgte Bankforderungen) in etwa gleicher Höhe. Geschätzte Zahlungsbilanzerleichterung beläuft sich auf ca. 7,2 Mrd. $. Auf deutscher Seite sind bundesverbürgte Tilgungsfälligkeiten von ca. 660 Mio. US-Dollar involviert. Entsprechende Entschädigungen zu Lasten des Bundeshaushaltes werden sich auf 1,1 Mrd. DM belaufen; der deutsche Anteil an diesem Zahlungsaufschub beträgt somit ca. 20 %; – Bereitschaft zur Aufrechterhaltung kurzfristiger Kredite bzw. entsprechender Exportbürgschaften. Banken und Unternehmen werden aufgefordert, zugunsten der Republiken und der Union ihre jeweiligen kurzfristigen Kreditfazilitäten zu halten bzw. wiederzueröffnen. Die Möglichkeit der Gewährung von Exportbürgschaften im mittel- und langfristigen Bereich ist damit nicht ausgeschlossen, von der BReg. aber bislang nicht beschlossen worden4; – Option für eine Gold-Swap-Fazilität von bis zu 1 Mrd. US­$, falls die Mobilisierung sonstiger Deviseneinkünfte für die Bedienung der Auslandsschuld nicht ausreicht; – Beratung bei Mobilisierung sonstiger sowj. Vermögenswerte (Bodenschätze, Auslandsforderungen) als Unterlage für neue Finanzierungen. 6) Die Fortsetzung bzw. Beendigung der Liquiditätshilfen über den 31.3.1992 („Check point“) hinaus hängt von der Erfüllung der dargestellten Verpflichtungen von Republiken und Union ab. 7) Die G 7-Vertreter haben seinerzeit klargestellt, dass der Beitritt zum „Memorandum of Understanding“ vom 28.10.1991 Voraussetzung ist für die Gewährung neuer Kredite bzw. Kreditgarantien. Dies gilt auch bei bereits gegebenen grundsätzlichen Zusagen (z. B. Kanadas für die Ukraine; kan. Vertreter Dodge hatte auf diese Position gedrungen). 8) Ukraine hatte MoU ursprünglich unterzeichnet (mit Vorbehalten). Aus zweiter Verhandlungsrunde am 21.11.91 zog Ukraine (wie Aserbaidschan, Georgien und Usbekistan) aus; Unterschrift wurde somit nicht mehr wiederholt. 9) Die Verhandlungen der G 7 sind mittlerweile ergänzt und umgesetzt worden, nachdem der Pariser Club (als „Gruppe der Gläubigerländer der ehemaligen Sowjetunion und ihrer Nachfolger“) mit der VEB als „debt manager“ am 4.1.19925 eine Vereinbarung geschlossen hat. 10) Vereinbarung entspricht MoU und Com im oben dargestellten Inhalt mit geringen Änderungen. Diese lauten6: 4 Zum Kabinettsbeschluss vom 22. Januar 1992 zur Deckung für Ausfuhrgeschäfte mit GUS-Mitgliedstaaten vgl. Dok. 24. 5 Korrigiert aus: „4.1.1991“. Für die Vereinbarung vgl. B 52, ZA-Bd. 173905. 6 Korrigiert aus: „Diese lauten, dass“.

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– Trotz Festhalten daran, dass eine Einbeziehung der Zinsen und der Tilgung von kurzfristigen Fälligkeiten in den Zahlungsaufschub nicht erfolgt, wurde für rückständige Beträge Sonderregelung getroffen. Sie sollen in zwei Raten am 30.6. und 30.11.92 beglichen werden (Umfang ca. 600 Mio. US-Dollar; davon deutscher Anteil ca. 320 Mio. US-Dollar; damit insg. deutscher Anteil an Liquiditätshilfe: 27 Prozent). – Ein Hinweis auf „inadäquate Devisenlage“ der Nachfolgestaaten der SOW wurde in Vereinbarung aufgenommen, und schließlich, dass7 – eine Konsultationspflicht für Devisentransfers an Auslandstöchter der VEB vereinbart wurde. 11) Die Staaten, die das MoU bisher nicht unterzeichnet haben, werden weiter eindringlich zur Unterzeichnung aufgefordert. Dies ist Voraussetzung für Gewährung neuer Exportkredite bzw. Garantien. Allerdings kündigte Leiter der amerik. Delegation an, dass sich USA Prüfung dieses Junktims vorbehielten. Vorsitzender des PCs8 warnte amerik. Delegation vor Abweichen von der9 von den G 7 vereinbarten Haltung. Dies berge Gefahr, dass sich Unterzeichner des MoU von ihren eingegangenen Verpflichtungen lossagen. 12) Vereinbarung vom 4.1. mit den staatl. Gläubigern wird – wie im MoU vorgesehen – ergänzt durch Zahlungsaufschub, der mit privaten Gläubigern am 16.12.1991 erreicht wurde. 13) Hinsichtlich neuer Kredite bzw. Deckungen an die Unterzeichner des MoU wurde im gemeinsamen Press Release zur Vereinbarung vom 4.1. Folgendes vereinbart: „The participating countries stressed the utmost importance they attach to the commitments undertaken by the signatories in this memorandum. These commitments will encourage the maintenance of export credit cover. The participating countries stated that, when considering whether to provide additional export credits to the Republics, they would take into account whether the Republics had become signatories of the Memorandum. Moreover they recalled the comprehensive support already granted by their governments, especially through humanitarian and financial assistance programs.“10 14) Inzwischen hat am 8.1.9211 Gespräch der G 7-Vertreter mit russ. Finanzminister Gajdar stattgefunden. G. bat eindringlich darum, im Falle von Zahlungsverzögerungen nicht den in der Vereinbarung vom 4.1.92 vereinbarten Sanktionsmechanismus – die Aussetzung des Zahlungsaufschubs – in Gang zu setzen.12 Hier wird Einschätzung der Botschaft Moskau geteilt, dass Russland mit dem Gespräch am 8.1. vor möglichen Zahlungsverzögerungen in naher Zukunft warnen wollte. 7 Korrigiert aus: „und schließlich“. 8 Jean-Claude Trichet. 9 Korrigiert aus: „Abweichen der“. 10 Für die Presseerklärung vgl. B 52, ZA-Bd. 173905. 11 Korrigiert aus: „8.1.91“. 12 BR I Stüdemann, Moskau, teilte zu dem Gespräch des russischen FM Gajdar mit den Botschaftern der G 7-Staaten mit: „Die durch die Unterrichtung unterstrichene Tatsache, dass die russische Regierung ein vertrauensvolles Verhältnis zu den westlichen Gläubigern sucht, kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass nur Tage nach dem vereinbarten Zahlungsaufschub dessen Bedingungen bereits wieder infrage gestellt sind.“ Vgl. DB Nr. 71; B 52, ZA-Bd. 173905.

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15) Wertung (nur zur internen Information) Bedeutung der Vereinbarungen liegt vor allem im Zeitgewinn: Gefahr eines sofortigen und umfassenden Zahlungsstopps der russ. Seite – der bei Scheitern der Verhandlungen drohte – ist ausgeräumt. Damit kann im Bundeskabinett über künftige Deckungspolitik bei Exportkrediten (Hermes) entschieden werden. Dass Vereinbarung geschlossen werden konnte, ändert nichts an desolater Lage der Finanzen der Nachfolgestaaten der SOW. Der Leiter der russ. Delegation beleuchtete dies in Paris mit der Bemerkung, dass z. Zt. einzig Russland Devisen an die VEB überweise. Die Republiken, die sich ebenfalls zu Devisenzahlungen an die VEB verpflichtet hätten, seien dieser Verpflichtung bislang nicht nachgekommen. Materiell bringt Vereinbarung allenfalls eine Atempause. Längerfristig wird umfassende Regelung über Behandlung der sowj. Altschulden unvermeidlich sein, mit entsprechenden Belastungen für den Bundeshaushalt. Dies bleibt Thema der G 7-Verhandlungen. Runge13 B 52, ZA-Bd. 173905

18 Gespräch des Bundesministers Genscher mit dem französischen Außenminister Dumas 20. Januar 19921 Gespräch BM/AM Dumas am 20.1.1992, 18.00 – 21.00 h Weitere Teilnehmer: Jean-Michel Casa, Kabinett AM Dumas; VLRin I Siebourg, Dolmetscher; stv. RL 0102, Note-taker; Botschafter Boidevaix (gegen Ende). Jugoslawien Zur aktuellen Lage meint BM, man müsse jetzt, was Bosnien und Herzegowina angehe, sehr behutsam vorgehen. In Slowenien und Kroatien sei eine Stabilisierung eingetreten. Zu Mazedonien sei jetzt Zurückhaltung geboten. Griechenland sei zwar übervorsichtig, aber schließlich ein Partnerstaat, auf den man Rücksicht zu nehmen habe. Daher im Augenblick noch keine Anerkennung. Er habe auch dem kroatischen Präsidenten3 gesagt, man solle zunächst von der Anerkennung Abstand nehmen, um sich eine einhellige Meinung in der Gemeinschaft bilden zu können. Jetzt seien die UNO am Zuge und die Friedenskonferenz, auch die Gemeinschaft sei weiter gefordert. Wir müssten alles tun, um eine Renationalisierung zu verhindern. Auf Einwurf von AM Dumas (AM), ob damit auch eine 13 Paraphe. 1 Der Gesprächsvermerk wurde von VLR I Matussek am 21. Januar 1992 gefertigt. Hat BM Genscher am selben Tag vorgelegen, der handschriftlich vermerkte: „Nur für Ministerbüro!“ 2 Thomas Matussek. 3 Franjo Tudjman.

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Renationalisierung innerhalb der EG gemeint sei, antwortet BM, diese könne man vermeiden, wenn sich alle EG-MS an die abgesprochene Linie hielten und einheitlich handelten. Eine Renationalisierung der jugoslawischen Republiken lasse sich durch das Angebot der Gemeinschaft vermeiden, Assoziierungsverträge abzuschließen. Dies gelte sowohl für die anerkannten Einzelrepubliken wie auch für Rest-Jugoslawien. Wir respektierten den Willen der Republiken, einen Sonderweg zu gehen oder zusammenzubleiben. Assoziierung an die Gemeinschaft böten wir jedoch allen an. Die Republiken könnten sich untereinander dann über die Gemeinschaft finden. Dadurch könnten wir auch vermeiden, dass es lediglich zu mehr oder weniger engen bilateralen Beziehungen zwischen den Republiken und einzelnen Mitgliedern der Gemeinschaft komme. AM hält diese Linie für sehr vernünftig. Er habe persönlich sehr zum Konsens beigetragen. Es sei für ihn nicht immer einfach gewesen. Wir müssten künftig aber noch mehr auf die Kohäsion der Gemeinschaft achten. In der komplizierten Situation Jugoslawiens gebe es zwei Fälle, die relativ einfach seien: Slowenien (Unabhängigkeit, Botschafteraustausch etc.) und Mazedonien (hier könne man im Augenblick nichts tun mit Rücksicht auf Griechenland). Dazwischen gäbe es eine Gemengelage: Für Kroatien gelte es jetzt, zunächst die im Badinter-Bericht4 aufgestellten Auflagen zu erfüllen. BM solle die Kroaten hierzu ermutigen. Dann könne man bald diplomatische Beziehungen aufnehmen wie mit Slowenien. Schwierig sei die Lage in Bosnien-Herzegowina: Der Präsident, der ja auch kürzlich bei uns gewesen sei5, sei ein beachtlicher Mann. Er wolle ein Referendum, um die Einheit des Landes zu erhalten.6 Obwohl es eine serbische Minderheit von 32 % gebe, glaube er, die Republik zusammenhalten zu können. Dies wäre die beste Lösung für das bosnische Volk. Der weitaus schwierigste Fall jedoch sei Serbien mit seinen Minderheiten in den anderen Republiken. Er frage sich, ob nicht die Gemeinschaft Belgrad ansprechen könne, um zu fragen, wie man Rest-Jugoslawien gegenüber vorgehen wolle: Denke man z. B. an eine Konföderation oder an eine serbische Republik? Die Gemeinschaft könnte z. B. konkrete Vorschläge zu den serbischen Minderheiten in Bosnien-Herzegowina machen. Man solle jetzt Serbien gegenüber eine positivere Sprache führen. Auch Serbien könne man ein Assoziierungsabkommen mit der EG vorschlagen. Zur gleichen Zeit müsse man aber Blauhelme ins Land holen zu einer Bereinigung der gesamten jugoslawischen Situation. BM bezeichnet dies auch als sein Konzept. Wir wollten den unabhängigen Republiken die Assoziierung anbieten und auch denen, die dann übrigbleiben, sofern sie die Konditionen der Gemeinschaft erfüllen. Serbien müsse im Kosovo den vollen Standard erfüllen7. Dort sei es zurzeit noch ruhig, da in Albanien die Situation noch verzweifelter sei. Zweitens 4 Die Schlichtungskommission der EG für Jugoslawien legte am 11. Januar 1992 ihr Gutachten Nr. 5 zur Frage der Anerkennung Kroatiens durch die EG vor. Darin wurde festgestellt, dass bis auf bestimmte Elemente in einem Verfassungsgesetz zu Menschen- und Minderheitenrechten, die ergänzt werden müssten, Kroatien die am 16. Dezember 1991 von der EG formulierten Kriterien für eine Anerkennung erfülle. Vgl. ILM, Vol. 31 (1992), S. 1503–1505. 5 BK Kohl traf am 22. November 1991 mit dem Präsidenten von Bosnien-Herzegowina, Izetbegović, zusammen. Vgl. AAPD 1991, II, Dok. 397. Izetbegović hielt sich am 15. Januar 1992 in Frankreich auf. 6 Zur Frage eines Referendums über die Unabhängigkeit Bosnien-Herzegowinas vgl. Dok. 26, Anm. 11. 7 Dieser Satz ging auf Streichungen und handschriftliche Einfügungen des BM Genscher zurück. Vorher lautete er: „Serbien müsse etwas in Kosovo tun.“

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müsse Serbien8 sich in vernünftiger Form zu den Grenzen äußern im Sinne des BadinterBerichts. Sein Wunsch sei es, Assoziierungsverträge mit allen Kandidaten, die die EGBedingungen erfüllen9, am gleichen Tage abzuschließen. Die symbolische Wirkung sei nicht zu unterschätzen. So zeige man, dass man nicht parteiisch sei und gleich gute Beziehungen mit allen wolle. Auch er sei sich im Klaren, dass man Blauhelme weiterhin brauche, da die Wunden, die geschlagen wurden, zu tief seien, um von alleine zu heilen. AM: Versuchen wir also, gemeinsam etwas auf die Beine zu stellen. Washington-Konferenz10 BM bezeichnet die Lage als sehr kompliziert. AM kenne seinen Vorschlag zur Haltung der Gemeinschaft, wie er ihn beim letzten AM­Treffen11 vorgetragen habe. Nicht alle Freunde verhielten sich gemeinschaftsfreundlich. Er hoffe zumindest, dass man auf der EG­Sitzung am 21.1. in Washington zu einer gemeinsamen Position finde. Die künftige Steuerung müsse von der Gemeinschaft übernommen werden. Das Follow-up zu Washington sei jetzt der wichtigste, aber auch der schwierigste Teil des Problems. Die zweite Konferenz müsse in Europa stattfinden.12 Die USA hätten mit viel Ellenbogeneinsatz Struktur und Ablauf der Konferenz dominiert. Wir dürften nicht zulassen, dass in gleicher Weise die Marschroute für die zweite Konferenz festgelegt werde. Vorstellungen der USA für das Gespräch mit den SU-Nachfolgestaaten seien Gespräche auf Ministerebene, auch der G 7-Länder, mit den GUS-Staaten. Sie wollten sogar ein Flugzeug zur Verfügung stellen, mit dem die Ministergruppe von einer Hauptstadt zur nächsten fliegen könne. Diesen Gedanken halte er für nicht sehr attraktiv. Wir wollten, dass die GUS-Staaten in Washington vertreten seien. Wenn die EG das nächste Treffen ausrichte, sollten die GUS-Minister zur Gemeinschaft eingeladen werden, etwa nach Brüssel. Die Hauptsache sei, dass die EG künftig die entscheidende Rolle spiele. Dies werde schwer, da es sich hier bereits um einen Teil des amerikanischen Wahlkampfes13 handele. Die bisherigen Leistungen der EG könnten sich sehen lassen. Das Selbstbewusstsein unserer Kollegen und ihre Gemeinschaftsfreundlichkeit seien jedoch nicht gleich hoch entwickelt. AM stimmt zu: Die Konferenz sei von Anfang an schlecht vorbereitet worden. Er werde die französische Vertreterin, Mme Guigou, mit Weisungen ausstatten, sich nahe an der deutschen Position zu halten. Wir könnten dann in der zweiten Konferenz das aufholen, was wir in der ersten Konferenz verloren haben. (Einwurf BM: Wir müssen das nur wollen.) 8 Dieses Wort wurde von BM Genscher handschriftlich eingefügt. Dafür wurde gestrichen: „man“. 9 Die Wörter „die die EG-Bedingungen erfüllen“ wurden von BM Genscher handschriftlich eingefügt. 10 Zur Koordinierungskonferenz für humanitäre Hilfe an die GUS-Mitgliedstaaten am 22./23. Januar 1992 vgl. Dok. 38. 11 Botschafter Trumpf, Brüssel (EG), berichtete am 11. Januar 1992, in der EG-Ministerratstagung am Vortag sei ein Vorschlag von BM Genscher, dass einzelne EG-Mitgliedstaaten auf der bevorstehenden Washingtoner Koordinierungskonferenz auf den ihnen angebotenen Ko-Vorsitz zugunsten der EG-Kommission verzichten sollten, von diesen abgelehnt worden. Vgl. DB Nr. 42; B 221, ZA-Bd. 166577. 12 Eine weitere Koordinierungskonferenz für humanitäre Hilfe an die GUS-Mitgliedstaaten sowie an Georgien fand am 23./24. Mai 1992 in Lissabon statt. Vgl. Dok. 160. 13 In den USA fanden am 3. November 1992 Präsidentschaftswahlen, Wahlen zum Repräsentantenhaus sowie Teilwahlen zum Senat und für die Gouverneursämter statt.

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AM berichtet, er habe AM Pinheiro14, den derzeitigen Ratspräsidenten, gestern in Lissabon sehr engagiert angetroffen. Er wolle die GUS-Staaten einladen zu einem Treffen in Brüssel. Man sei sich einig gewesen, dass die Gemeinschaft aktiver werden müsse. Vielleicht könne man auch Anstrengungen im Rahmen der WEU unternehmen. AM Pinheiro habe ein zusätzliches Argument dafür gefunden, die Angelegenheit nicht im NATO-Rahmen weiterzuverfolgen: Irland. Im Rahmen der WEU sei es einfacher, wie man bei der Jugoslawien­Krise gesehen habe. BM könne als Vorsitzender der WEU15 – wie er selbst während des Golfkrieges16 – sehr viel bewegen (hier Hinweis auf damalige Obstruktion von GB). Am Ende seien alle zufrieden gewesen, dass die WEU diese schwierige Aufgabe übernommen habe. Das könne man heute wiederholen, ohne die USA zu verärgern und die NATO zu stören. BM kündigt an, in seiner Washingtoner Rede zu sagen: „Die WEU hat in der Vergangenheit mehrfach erfolgreich eine koordinierende Rolle der Europäer bei militärischen und humanitären Einsätzen übernommen, zuletzt auch im Golfkonflikt. Selbstverständlich steht diese Organisation zur Verfügung, wenn die Europäische Gemeinschaft bei der Bewältigung der GUS-Hilfe zusätzliche Unterstützung benötigt.“ Als der Gedanke auftauchte, die NATO zum Koordinierungsgremium zu machen, habe er sich an das Stalin-Wort erinnert: „Wie viele Divisionen hat der Papst?“ Die NATO verfüge einfach nicht über eine genügende Infrastruktur, wohl aber die einzelnen Mitgliedsländer. Wenn also die EG die WEU um Koordinierung der Transportmittel bitte, würden wir dies unverzüglich umsetzen. Sollte also die portugiesische Präsidentschaft oder Frankreich einen entsprechenden Vorschlag machen, würden wir diesen gerne aufgreifen. Bisher seien viele Einsätze geflogen worden, jetzt liefen die Transporte im Wesentlichen über See, Straße und Schiene. Wir hätten bereits ein Expertenteam der Bundeswehr in Moskau, allerdings in Zivil. AM ergänzt, dass französische Seite auch etwa zehn Experten entsenden werde. Italien, Frankreich und andere könnten ja ihr praktisches Vorgehen im WEU-Rahmen abstimmen. BM unterstreicht, dass er auch hier strikt gegen jede Renationalisierung sei. Aktionen sollten immer im Gemeinschaftsrahmen stattfinden. Mit diesem Ansatz sei er allerdings nicht immer sehr erfolgreich gewesen. Auf Frage von AM, ob er einen entsprechenden Brief schreiben solle, schlägt BM vor, Mme Guigou solle eine entsprechende Anregung machen, die AM Pinheiro unterstützen könne. AM ruft zu praktischer Phantasie auf. Es gebe noch eine Reihe zusätzlicher Ideen zu den amerikanischen Vorstellungen. Man könne sich z. B. von Russland Transportflugzeuge ausleihen. Hinweis auf das Beispiel des französischen Kosmonauten Chrétien, der in Privatinitiative Nahrungsmittel gesammelt und diese mit russischer Maschine selbst nach Moskau geflogen habe. BM fasst noch einmal zusammen: Die WEU könne nur tätig werden im Auftrag der EG, daher komme alles auf die morgige Sitzung der EG­AM an. 14 Durchgehend korrigiert aus: „Deus Pinheiro“. 15 Die Bundesrepublik hatte vom 1. Juli 1991 bis 30. Juni 1992 die WEU-Präsidentschaft inne. 16 Zur Koordinierung der WEU-Mitgliedstaaten vgl. AAPD 1990, II, Dok. 267.

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KSZE Nach Auffassung von BM kommt es in Prag17 darauf an, möglichst viele GUS-Staaten aufzunehmen. Weiteres wichtiges Anliegen sei die Weiterentwicklung des KSZE-Prozesses. Hier gäbe es immer noch das ungelöste Problem des Konsenses minus eins. Dahinter verberge sich die praktische Frage (wie man am Beispiel des Putsches in der SU18 gesehen habe): Was kann Staatengemeinschaft tun, um das betreffende Land zur Einhaltung der KSZE-Prinzipien (Menschenrechte etc.) anzuhalten? Wir seien für Reaktionen außerhalb des Territoriums des betroffenen Staates. Es gäbe einen britischen Formulierungsvorschlag, den wir für brauchbar hielten. AM bekräftigt, wie schon in Telefonat mit BM vom 16.1.19, dass F uns hier unterstützen werde. Nichtverbreitungsfragen BM analysiert die Lage als sehr ernst. Er wisse nicht, ob es eine Minute vor oder nach zwölf sei. Jetzt jedenfalls sei die allerletzte Chance, die Proliferation der Atomwaffen zu verhindern. Er wolle sich jetzt nicht äußern zur Frage der vorhandenen Waffen. Hier lägen Frankreich und Deutschland auf einer Linie. Atomare Kurzstreckenwaffen und nukleare Artilleriemunition müssten beseitigt werden.20 Er habe in seinen öffentlichen Stellungnahmen ausdrücklich nur von amerikanischen Waffen und denen der ehemaligen Sowjetunion gesprochen. Frankreich sei nicht tangiert worden. Nun bestehe aber eine besondere Gefahr: Das Heer der arbeitslosen Technologieexperten in der GUS sei wie hungrige Wölfe. Man müsse diesen Menschen eine Perspektive bieten. Dies könne man z. B. über eine internationale Stiftung.21 In Deutschland werde diese Woche noch eine Gesetzgebung verabschiedet, die hohe Strafen für deutsche Staatsbürger vorsehe, die sich an der Produktion von Massenvernichtungswaffen beteiligten.22 Solche Technologiesöldner würden also in ihrem Heimatland bestraft, in das sie ja irgendwann einmal zurückkehren wollten, selbst wenn man ihrer zurzeit nicht habhaft werden könne. Die Frage sei aber, was mit Ländern zu geschehen habe, die versuchten, sich Atomwaffen zu beschaffen. Bisher sei die Staatengemeinschaft zu lax gewesen. Jetzt müssten schärfste Sanktionen angewandt werden, die zur totalen Isolierung des betreffenden Staates führen müssten. Deutschland sei ein hochindustrialisiertes Land, jedoch keine Nuklearmacht. Wir wollten die Initiative bewusst als nicht-nukleares Land einführen, da die Nuklearmächte den Staaten der Dritten 17 Zur zweiten Sitzung des KSZE-Außenministerrats am 30./31. Januar 1992 vgl. Dok. 34. 18 Vom 19. bis 21. August 1991 kam es in der UdSSR zum Putschversuch durch ein „Staatskomitee für den Ausnahmezustand“. Vgl. AAPD 1991, II, Dok. 266–269, Dok. 271, Dok. 272, Dok. 274–276 und Dok. 284. 19 Korrigiert aus: „17.1.“ In dem Telefongespräch mit dem französischen AM Dumas berichtete BM Genscher „über den Verhandlungsstand in Sachen Konsensprinzip minus eins. Die USA unterstützten unsere Haltung, wollten jedoch nur Maßnahmen gegen das betroffene Land außerhalb dessen Territoriums zulassen. Dies sei vernünftig. Französische Delegation sei für Vertagung bis zum Treffen in Helsinki. Er habe die Bitte, dass man schon in Prag hierüber positiv entschiede. Er habe Botschafter Höynck gebeten, noch vor dem Prager Treffen nach Paris zu fahren, um mit der französischen Seite hierüber zu beraten. Dem Wunsch des BM, ein Auge hierauf zu haben, stimmt AM zu.“ Vgl. den Gesprächsvermerk; B 1, ZA-Bd. 178913. 20 Vgl. die SNF-Initiative der Bundesregierung; Dok. 7. 21 Zur Gründung eines internationalen Wissenschafts- und Technologiezentrums in Russland zur Verhinderung der Verbreitung von Nuklearwaffen durch Wissenstransfer vgl. Dok. 50. 22 Zur Reform der Rüstungsexportkontrolle vgl. Dok. 63.

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Welt aus den bekannten Gründen suspekt seien (Sicherung des Atomprivilegs). Wenn Deutschland und andere nicht-nukleare Länder an einer solchen Initiative teilnehmen, werde diesem Vorwurf die Spitze genommen. Der Sicherheitsrat müsse sich dieses Themas energisch annehmen. AM Kosyrew habe bei seinem kürzlichen Besuch in Bonn23 positiv reagiert. Auch Verteidigungsminister Cheney sei offen gewesen.24 Was halte AM von einer gemeinsamen deutsch-französischen Initiative? Wenn Präsident Mitterrand diese Idee z. B. beim Sicherheitsrat­Sondergipfel25 vortrage als gemeinsame Initiative, fühlten wir uns gut vertreten. AM teilt unsere große Sorge, insbesondere seit dem Putsch in der Sowjetunion. Präsident Mitterrand habe damals eine Konferenz vorgeschlagen26, bei der er auf mehrere Aspekte abgehoben habe, internationale wie nationale. Das strategische Problem sei, dass es eine Reihe zusätzlicher Länder gebe, die Atomwaffen haben wollten. Manche seien auch unmittelbar Atommächte geworden. Es gebe das Problem der Waffen, aber auch das der Gehirne. Etwa 1000 Ingenieure in den GUS-Staaten hätten das Know-how, die Bombe zu bauen. Präsident Mitterrand habe die etwas erstarrte Diskussion wieder in Gang bringen wollen. Er selber habe in einem Interview gesagt, man wolle die französischen Nuklearwaffen „europäisieren“.27 Damit habe er eine neue Debatte eröffnen wollen, um nicht in dem klassischen Denkmuster der letzten 30 Jahre stecken zu bleiben. Im Übrigen habe man ja diese Frage auch kurz beim deutsch-französischen Gipfel im Élysée im Februar 198628 angesprochen. Er sei sehr offen für deutsch-französische Überlegungen. Präsident Mitterrand und der Bundeskanzler träfen ja bald zusammen.29 Auch dort könne über diese Frage gesprochen werden. Er selbst reise in Kürze nach Russland, Kasachstan und die Ukraine, evtl. auch nach Armenien.30 Er werde von einem Expertenteam, darunter auch Nuklearexperten, begleitet. Auf dieser Reise wolle er sich des Themas intensiv annehmen. Man müsse bedenken, dass z. B. die Ukraine heute die drittgrößte Nuklearmacht der Welt sei, größer als Frankreich. Ein anderer Aspekt sei das bisherige Gleichgewicht des Schreckens der Supermächte. Die Abrüstungsverhandlungen zwischen den beiden seien stecken geblieben, da eine der Supermächte verschwunden sei. Deren gesamtes Potenzial habe sich nun verstreut. Im Osten gebe es keine Zentrale mehr. Die GUS­Mächte wollten jedoch ihr Potenzial reduzieren. 23 Zum Besuch des russischen AM Kosyrew am 14./15. Januar 1992 vgl. Dok. 13. 24 Für das Gespräch zwischen BM Genscher und dem amerikanischen VM Cheney am 14. Januar 1992 vgl. Dok. 9. 25 Zum britischen Vorschlag einer Sitzung des VN-Sicherheitsrats auf der Ebene der Staats- und Regierungschefs vgl. Dok. 6, Anm. 16. 26 Zum Vorschlag des französischen Staatspräsidenten Mitterrand vom 11. September 1991 für ein Treffen der vier in Europa präsenten Nuklearmächte vgl. Dok. 7, Anm. 15. 27 Zu den Äußerungen französischer Politiker über eine Europäisierung der französischen Nuklearwaffen vgl. Dok. 22. 28 Zu den deutsch-französischen Konsultationen am 27./28. Februar 1986 vgl. AAPD 1986, I, Dok. 61. 29 BK Kohl und der französische Staatspräsident Mitterrand trafen am 13. Februar 1992 in Paris zu einem Abendessen zusammen. In der Presse wurde berichtet, erörtert worden seien der europäische Einigungsprozess, Probleme nach der Auflösung der UdSSR sowie das Delors-Paket II. Vgl. den Artikel „Die GUS und die Zukunft Europas“; FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG vom 15. Februar 1992, S. 5. 30 Der französische AM Dumas hielt sich am 22./23. Januar in Russland, am 24. Januar in der Ukraine, am 25. Januar in Kasachstan sowie am 26. Januar 1992 in Belarus auf.

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Jelzin habe ihm, ohne dass er gefragt habe, gesagt: Wir müssen auf ein Minimum reduzieren, z. B. ein Sprengkopf statt drei genügt. Krawtschuk habe in Paris und Kiew verkündet, die Ukraine wollten ihre Atomwaffen auf null reduzieren, man wolle neutral sein. Aber natürlich wollten die GUS-Staaten hierfür im Gegenzug auch etwas erhalten. Er sei sehr für eine deutsch-französische Abrüstungsinitiative, die sich aber auch mit anderen Fragen beschäftigen könne. Den Vorschlag des BM, vielleicht gemeinsam auf der Abrüstungskonferenz in Genf hierzu vorzutragen, nachdem vorher eine gemeinsame Kommission eine entsprechende Initiative ausgearbeitet habe, nimmt AM gerne auf. Er weist darauf hin, dass BM der erste Politiker ist, mit dem er darüber spreche. Man vereinbart, auf jeder Seite zwei Beamte zu benennen (ein Abrüstungsexperte, ein Nichtverbreitungsexperte), die möglichst umgehend eine gemeinsame Initiative ausarbeiten sollen. BM weist erneut auf die Bedeutung des UNO-Sicherheitsrates hin wegen der Sanktionen gegen die Staaten, die sich Nukleartechnologie beschaffen wollten. Auf seine Bitte sagt AM zu, diesen Gedanken Präsident Mitterrand für den Sicherheitsratsgipfel aufzuschreiben. Beide Seiten sind sich einig, dass man bis dahin noch keine fertige Doktrin haben werde, dass die Zeit jedoch so knapp sei, dass man intensiv an einer gemeinsamen Initiative arbeiten müsse. Algerien/Nahost Einen Hinweis von AM über die Gefahr nuklearer Proliferation an die arabischen Staaten, wo die Fundamentalisten großen Zulauf haben, nimmt BM auf und bittet AM um eine Analyse zu den Entwicklungen in Algerien31, wo F über große Erfahrung verfüge und uns manch guten Rat geben könne. AM zeigt sich sehr besorgt aus mehreren Gründen: die demographische Entwicklung (Bevölkerungsexplosion, großer Anteil der Jugend); Massenarbeitslosigkeit, besonders unter der Jugend; eine Einparteiendiktatur, die insbesondere mit ihrer Wirtschaftspolitik gescheitert sei. Dies alles führe für die Menschen zu einer Flucht nach vorne in den Islam. Es gebe eine diffuse Verkrampfung gegenüber dem Westen. Dieser habe den Fehler gemacht, nicht genügend auf die Reaktionen der arabischen Welt zu achten, insbesondere während des Golfkrieges. Unsere juristische Argumentation habe zwar den arabischen Führern eingeleuchtet, sie sei jedoch als formalistisch betrachtet worden. In arabischen Augen stehe der Westen aufseiten Israels. Chadli sei damals oft nach Frankreich gekommen. Er und der tunesische Präsident32 hätten immer wieder vor der öffentlichen Meinung gewarnt. Saddam Hussein sei zwar geschlagen worden, aber die arabische Welt fühle sich mit ihm solidarisch. Vor drei Wochen sei er in Tunesien gewesen. Im Basar habe er in 31 Referat 311 erläuterte am 15. Januar 1992, im ersten Wahlgang der ersten freien Parlamentswahlen am 26. Dezember 1991 in Algerien habe die fundamentalistische „Front Islamique du Salut“ (FIS) einen „überraschend klaren“ Erfolg erzielt und die absolute Mehrheit der Mandate nur knapp verfehlt. Vor dem am 16. Januar 1992 angesetzten zweiten Wahlgang sei Präsident Chadli Bendjedid vermutlich auf Druck des Militärs überraschend zurückgetreten. Am 12. Januar 1992 habe zunächst ein Sicherheitsrat die Macht übernommen, die Aussetzung des zweiten Wahlgangs bekannt gegeben und am 14. Januar 1992 die Macht an einen neu geschaffenen Staatsrat unter Vorsitz von Mohammed Boudiaf übertragen, der bis zum Ende der ursprünglichen Amtszeit von Chadli Bendjedid bis Dezember 1993 im Amt bleiben solle. Die Ereignisse könnten als „legalistisch verpackter Staatsstreich“ der Armee angesehen werden. Vgl. B 36, ZA-Bd. 170165. 32 Zine el-Abidine Ben Ali.

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vielen Läden Saddam-Hussein-Fotos gesehen. Er werde für größeres Verständnis innerhalb der Gemeinschaft für die arabische Welt werben und um mehr Unterstützung. Wenn Algerien aus seinen derzeitigen Problemen herauskommen solle, müsse sich die EG stärker engagieren. Er werde der Gemeinschaft einen Entwicklungsplan für Nordafrika vorschlagen. Nur damit werde man die Bevölkerung im Lande halten und einen Massenexodus, vor allem in die Europäische Gemeinschaft, verhindern können. Das Problem habe also eine politische und eine soziologische Seite. Auf Frage BMs nach dem derzeitigen algerischen Staatsrat bezeichnet AM diesen als ein ziviles Kleid für das Militär. Der starke Mann sei der Generalstabschef33. BM: War Schritt der Militärs die richtige Antwort auf das Wahlergebnis? AM: Wenn sie Erfolg haben, ja. Wenn sie keinen Erfolg haben, werde die Situation sich dramatisch zuspitzen. In jedem Falle habe der Westen hierdurch eine Atempause erhalten. Wenn wir jedoch keine bessere Politik gegenüber dem Islam anzubieten hätten, dann werde man in zwei Jahren die Ausdehnung algerischer Verhältnisse auf Ägypten und Saudi-Arabien erleben. In Syrien werde sich die Lage in spätestens fünf Jahren zuspitzen. BM erinnert daran, dass er mit AM während des Golfkrieges häufig hierüber gesprochen habe. Frankreich und Deutschland hätten bis zuletzt versucht, S[addam] H[ussein] zum Einlenken zu bewegen34. Dafür seien sie von Washington heftig kritisiert worden. Jedoch sei man sich klar über die Konsequenzen. Der Islam sei eben anders als das Christentum. In den Augen der Mohammedaner seien eben wir Christen häufig fremdartig. Wir brauchten ein gelasseneres Verhältnis zum Islam. Eine ganze Reihe von Ländern suche und finde ihre Identität im Islam. AM wirft ein: und die Lösung ihrer Probleme. Not mache religiös. BM macht sich große Sorge über die Stabilität in Saudi-Arabien. Der König35 wollte Reformen einführen. Er sei dann jedoch in letzter Minute zurückgeschreckt, weil er Angst davor gehabt habe, dass die Lage außer Kontrolle gerate. In Marokko und in Tunesien sei die Situation ähnlich. AM berichtet, dass der König von Marokko36 sehr besorgt sei. Er selbst fürchte eine Unterbrechung des Friedensprozesses. Bei seinem Besuch in Israel37 habe er eine unverändert harte Haltung der religiösen Parteien vorgefunden. Die Spannung bei den Palästinensern halte an. Die palästinensische Seite sei bereit, ein Minimum israelischer Zugeständnisse zu akzeptieren. Israel wolle aber nicht einmal dieses. Die Lage werde sich weiter zuspitzen. Schamir wolle selbst ohne Mehrheit38 weiter verhandeln. Für ihn käme es darauf an, die USA nicht zu verärgern und die 10 Mrd.-Dollar-Kreditlinie39 zu deblockieren. Er habe 33 Abdelmalek Guenaizzia. 34 Dieser Satz ging auf Streichungen und handschriftliche Einfügungen des BM Genscher zurück. Vorher lautete er: „Frankreich und Deutschland seien bis zuletzt gegen den Krieg gewesen.“ 35 Fahd ibn Abdul Aziz al-Saud. 36 Hassan II. 37 Der französische AM Dumas hielt sich vom 8. bis 10. Januar 1992 in Israel auf. 38 Am 23. Juni 1992 fanden in Israel Parlamentswahlen statt. 39 Israel bemühte sich im Herbst 1991 um amerikanische Kreditgarantien in Höhe von 10 Mrd. US-Dollar, um die bis 1994 erwartete Einwanderung von 1 Mio. sowjetischer Juden bewältigen zu können. Die amerikanische Regierung verlangte im Gegenzug jedoch den Verzicht auf weitere Siedlungen in den von Israel besetzten Gebieten, was die israelische Regierung ablehnte. Vgl. den Artikel „Israel Rebuffs Bush“; THE NEW YORK TIMES vom 6. September 1991, S. 14.

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Angst vor einem Stimmungswandel in den besetzten Gebieten. Bei einer Unterbrechung der Verhandlungen werde die Lage sehr ernst. AM geht sodann auf die Frankreich-feindliche Presse in Algerien und anderen islamischen Ländern ein. So habe der algerische Präsident eine relativ gemäßigte Erklärung zur französischen Politik abgegeben. Die Presse sei dann jedoch über ihn hergefallen (Kolonialismus, Verbrechen gegenüber algerischem Volk etc.). Dies zeige die Empfindlichkeiten. In Algerien lägen die Nerven offen. BM hält es nicht gleich immer für eine Katastrophe, wenn in einem arabischen Land eine islamische Gruppierung an die Macht komme. Die meisten westlichen Staaten hätten zu den Entwicklungen im Islam kein unbefangenes Verhältnis. AM sieht auch im Iran eine Rückkehr zur Normalität. Die starke französische Pressetendenz gegen den Islam führt er nicht nur auf den Algerien-Krieg zurück. Sie sei auch bei den nicht unmittelbar betroffenen Kreisen aggressiv. Es gebe eine starke jüdische Lobby. Selbst linke Zeitungen wie „Libération“ schlügen gleiche Töne an. Im Fernsehen gebe es unangenehme Bilder. In der israelischen Presse werde er als pro-arabischster westlicher Außenminister bezeichnet. Diese Presseausschnitte habe er natürlich seinen arabischen Gesprächspartnern gezeigt. Man ist sich einig, dass die Israelis es ihren Freunden nicht leicht machen, selbst wenn sie mit den besten Absichten kommen, wobei BM andeutet, dass er im Falle Deutschlands hierfür ein gewisses Verständnis habe. Beide sind sich einig, dass es bedauerlich ist, dass Schimon Peres nicht Regierungschef wird. Während BM glaubt, dass vor allem die Neueinwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion Likud wählen werden, ist AM vom Gegenteil überzeugt. BM betont, dass er nichts gegen Schamir habe, seine Partei jedoch schwierig sei. Die Politik des Likud schade den Interessen Israels. AM glaubt, dass Schamir vor allem auf die USA und eine starke jüdische Lobby in der amerikanischen Innenpolitik setzt. Beide sind sich einig, dass Schamir selbst flexibler ist, als er scheint. GATT Auf Frage von BM bestätigt AM, dass er keine gute Grundlage für Verhandlungen mit den Amerikanern sehe. Landwirtschafts-40 und Außenhandelsminister41 sähen dies ebenso, auch der Präsident. Bei Bush sehe er keinerlei Flexibilität, im Gegenteil eine immer stärkere Verhärtung. Es sei schließlich Wahlkampf in USA. Innerhalb der EG halte bisher der Konsens, insbesondere zwischen Deutschland und Frankreich. Er werde aber jeden Mittwoch im Ministerrat gefragt, ob Deutschland Frankreich weiter unterstützen werde. BM findet interessant, was zwischen USA und Japanern besprochen wurde.42 Hier zeige sich ein erstes Beispiel eines wirklichen Bilateralismus. Es werde sehr kompliziert für die GATT-Verhandlungen. Hauptproblem für uns seien wohl die Exportsubventionen in der Landwirtschaft. AM stimmt dem zu. Einer Exportreduzierung bis 30 % könne man nicht zustimmen. Auch in Europa gebe es schließlich Bauern und Wahlen, nicht nur in den USA. Auf Frage von BM, ob Frankreich sich noch auf der Basis der EG-Beschlüsse bewege 40 Louis Mermaz. 41 Dominique Strauss-Kahn. 42 Der amerikanische Präsident Bush hielt sich vom 7. bis 10. Januar 1992 in Japan auf.

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und die Dunkel-Vorschläge43 nach wie vor als Diskussionsgrundlage akzeptiere, gab AM zu, dass diese zwar keine gute Grundlage seien, man sich aber daran gebunden fühle. BM riet als Rezept zur „Ja-Aber“-Formel. Zum Beispiel fehlte in den Dunkel-Vorschlägen etwas zur Frage der Substitute. Dies sei ein großes Problem für die Europäer. Wir drosselten bereits die Produktion durch Flächenstilllegung. Er zitiert ein altes Andreotti-Bonmot: Die USA wollten möglichst viele Kuhhotels in Europa, wobei sie die Verpflegung übernehmen wollten. Deutschland und Frankreich verträten unterschiedliche Positionen zu Exportsubventionen. Trotz allem seien aber die Dunkel-Vorschläge eine vernünftige Grundlage, obwohl die Substitutenfrage nicht angesprochen sei. Auf Frage von AM bestätigt BM, dass auch unser Landwirtschaftsminister44 dafür sei. Ihm sei gesagt worden, es bestünden zwischen BK-Amt und Élysée enge Kontakte. Man stimme vollständig überein. An diese Linie würden wir uns halten. Ein Scheitern der GATT-Runde müsse unter allen Umständen vermieden werden. Auf Frage von BM erläutert AM, AM Pinheiro sei in dieser Frage sehr aufgeschlossen gewesen. Auch er halte die Dunkel-Vorschläge für akzeptabel. BM meint, dann müsse er dies auch nach außen artikulieren. Das Grundübel sei, dass mit amerikanischen Substituten in Europa viel Fleisch und Käse produziert werde. Wenn dies jedoch exportiert werden solle, erlaubten die USA die Einfuhr nicht. Die GATT-Verhandlungen würden in den nächsten drei Wochen das schwierigste Problem im Verhältnis zu den USA. Bei der Vorbereitung der Washington-Konferenz habe sich gezeigt, dass sich die Administration bereits voll im Wahlkampf befinde. Auch bei GATT werde das noch deutlicher werden. Die State of the Union Message des Präsidenten Ende Januar45 werde vermutlich eine der wichtigsten der letzten zehn Jahre werden. Dort würden die Zeichen gesetzt für die weitere Wirtschaftsentwicklung in den USA und damit auch für Deutschland und Frankreich. AM meint, dass Präsident Bush keine große Handlungsmarge habe. Politisch sei er ebenso blockiert wie im Wirtschaftsbereich. Der Golfkriegs-Effekt sei verflogen. Er könne lediglich Absichten verkünden. Einig sei er sich mit BM darin, dass die Japan-Reise nichts gebracht habe, nur sehr allgemeine Zusagen der Japaner. Einig sei man sich wohl auch darüber, dass Bush mangels eines guten Gegenkandidaten wiedergewählt werde. BM äußert, hierüber könne man sich nicht beklagen. Bush sei Realist und im Übrigen ein sehr europäischer Präsident. Die große Frage sei nur, was die USA mit ihrer Wirtschaft tun werden. AM wiederholt, dass USA zur Wiederankurbelung der Weltwirtschaft nicht allzu viel machen könnten (Haushaltsdefizit, Steuergesetzgebung). Die einzige Chance, die sie hätten, sei den Europäern Teile des Weltmarktes zu entreißen. BM befürchtet, dass dann keiner diese Teile bekommt, sondern Japan der lachende Dritte ist. Er fahre demnächst nach Tokio46, und er nehme bewusst keine Geschäftsleute mit, sondern lediglich Wissenschaftler und Vertreter des Kulturlebens. 43 Zum „Dunkel-Papier“ vom 20. Dezember 1991 sowie zur EG-Ratstagung auf der Ebene der Handelsbzw. Landwirtschaftsminister am 10. Januar 1992 in Brüssel vgl. Dok. 6, Anm. 3 und 5. 44 Ignaz Kiechle. 45 Für die Rede des amerikanischen Präsidenten Bush zur Lage der Nation vor beiden Häusern des amerikanischen Kongresses am 28. Januar 1992 in Washington vgl. PUBLIC PAPERS, BUSH 1992-93, S. 156–163. Für den deutschen Wortlaut vgl. EUROPA-ARCHIV 1992, D 159–166. 46 Zum Besuch des BM Genscher vom 11. bis 13. Februar 1992 in Japan vgl. Dok 54.

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AM wird im April reisen. Bérégovoy sei letzte Woche in Japan gewesen47, um Öl auf die Wunden zu gießen, die Mme Cresson48 geschlagen habe. Botschafterkonferenz Beide Außenminister einigen sich darauf, die Folgekonferenz zu Weimar49 im Frühjahr in Blois abzuhalten. Dort ist Jack Lang Bürgermeister. Anmerkung: In einem Vier-Augen-Teil des Gesprächs wurde die Einsetzung einer deutsch-französischen Arbeitsgruppe vereinbart, die Vorschläge erarbeiten soll zu einer Konkretisierung der Vereinbarungen von Maastricht und zu den Möglichkeiten für gemeinsame Auslandsvertretungen. B 1, ZA-Bd. 178913

19 Vorlage des Botschafters Holik für Bundesminister Genscher 242-370.45 VS-NfD

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Über Herrn Staatssekretär2 Herrn Bundesminister3 Betr.: Genfer CW-Verhandlungen 1992; hier: Stand der Verhandlungen4 zum Zeitpunkt der deutschen Übernahme des Vorsitzes im CW-Ad-hoc-Ausschuss Bezug: 1) BM-Vorlage vom 13.9.1991 (dem Orig. beigefügt)5 2) BM-Vorlage vom 17.1.19926 Zweck der Vorlage: Zur Unterrichtung 47 Der französische Wirtschafts- und Finanzminister Bérégovoy hielt sich vom 16. bis 21. Januar 1992 in Japan auf. 48 Die französische PMin Cresson verglich in einem Interview mit dem amerikanischen Fernsehsender ABC im Juli 1991 Japaner mit Ameisen. Vgl. den Artikel „L’affaire Cresson“; LES ECHOS vom 18. Juli 1991 (https://www.lesechos.fr/1991/07/laffaire-cresson-950394). 49 Zur deutsch-französischen Botschafterkonferenz am 16./17. Mai 1991 vgl. AAPD 1991, I, Dok. 165–167. 1 Die Vorlage wurde von VLR I von Butler und VLR Gottwald konzipiert. 2 Hat StS Kastrup am 23. Januar 1992 vorgelegen. 3 Hat BM Genscher am 28. Januar 1992 vorgelegen. Hat OAR Rehlen am 28. Januar 1992 vorgelegen, der den Rücklauf über das Büro Staatssekretäre, Botschafter Holik und MDg Roßbach an Referat 242 verfügte. Hat VLR I Reiche am 28. Januar 1992 vorgelegen. Hat Holik am 29. Januar 1992 erneut vorgelegen. Hat Roßbach am 29. Januar 1992 vorgelegen. Hat VLR Gottwald am 30. Januar 1992 erneut vorgelegen. 4 Zum Stand der Genfer CW-Verhandlungen vgl. AAPD 1991, II, Dok. 432. 5 Dem Vorgang nicht beigefügt. Für die Vorlage des MDg Roßbach vgl. AAPD 1991, I, Dok. 308. 6 Botschafter Holik schlug einen Besuch von BM Genscher bei der Genfer Abrüstungskonferenz am 20. Februar 1992 vor, möglicherweise gemeinsam mit den AM Dumas (Frankreich) und Evans (Australien). Vgl. B 43, ZA-Bd. 166088.

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Zusammenfassung 1) Am 21. Januar 1992 beginnt die Jahressitzung der Genfer Abrüstungskonferenz. In ihr wird unser CD-Botschafter von Wagner als erster deutscher Vertreter den Vorsitz des CWAd-hoc-Verhandlungsausschusses übernehmen. Das Verhandlungsmandat dieses Ausschusses enthält seit der CW-Initiative Präsident Bushs vom 13. Mai 19917 das selbstgesteckte Ziel, die Verhandlungen 1992 zu beenden. Soll dies gelingen, müsste sich zunächst die westliche Gruppe wieder auf gemeinsames Vorgehen einigen, was ihr seit der Vorlage kontroverser amerikanischer Vorstellungen zur Verdachtskontrolle Mitte 1991 nicht mehr möglich war. Alle westlichen Partner sind sich darüber im Klaren, dass sie nur geschlossen den Einfluss aufbringen können, der die Durchsetzung eines Verhandlungsabschlusses bei den bisher vielfach eher indifferenten Vertretern der Dritten Welt (in Genf: G 21) ermöglichen würde. Wenn die CD am letzten Tag ihrer Jahressitzung, dem 3. September, der VN-Generalversammlung einen Konsenstext übermitteln soll, müssen die Verhandlungen effektiv Anfang August abgeschlossen sein.8 Der Zeitraum, in dem über Erfolg oder Misserfolg entschieden wird, ist daher sehr kurz. Im Einzelnen: 2) Seit dem Übereinkommen über biologische Waffen von 19729 ist es der CD nicht mehr gelungen, eine Rüstungskontrollvereinbarung zu beschließen. Nach dem Nichtverbreitungsvertrag von 196810 wäre die geplante CW-Konvention (CWC) das zweite globale Rüstungskontrollabkommen mit effektiver Verifikation. Sowohl von ihrer Anwendungsbreite als auch von ihren Überprüfungsmechanismen würde sie jedoch weit über den NVV hinausgehen. Als Instrument einer kooperativen Lösung des Menschheitsproblems der Proliferation von Massenvernichtungswaffen hätte die CWC Modellcharakter für eine kooperative Sicherheitsordnung auf globaler Ebene. Der vertrauensbildende Effekt der Überprüfungsmaßnahmen könnte über das direkte Anliegen der Ächtung von Chemiewaffen hinaus Wirkung entfalten, da bisher außerhalb Europas und Nordamerikas eine praktizierte Verifikation praktisch unbekannt ist. 3) Die langjährigen CW-Verhandlungen, die in ihren Anfängen bis in die 60er-Jahre zurückreichen, haben 1992 eine reale Chance, zum Abschluss zu gelangen. Der Ost-WestGegensatz hat seine blockierende Wirkung verloren, allerdings ist er auch als sicherheitspolitischer Anreiz weggefallen. Das aktive Interesse an einer CW-Konvention ist überwiegend auf die westlichen Staaten beschränkt. Die Entwicklungsländer haben – von Ausnahmen abgesehen – wenig Neigung gezeigt, den Zugewinn an Sicherheit, den aller Wahrscheinlichkeit nach gerade ihnen eine CWC bieten würde, als Anreiz zu akzeptieren. Sie sehen mit Misstrauen die sich für sie ergebenden Verpflichtungen, Kosten, Meldeaufwand und Öffnung für Inspektionen. Als „Preis“ ihrer Zustimmung fordern sie den Abbau von Exportkontrollen (Australische Gruppe11), der vom Westen allenfalls am End7 Für die Erklärung des amerikanischen Präsidenten Bush vom 13. Mai 1991 vgl. PUBLIC PAPERS, BUSH 1991, S. 503. 8 Zum Abschluss der Genfer CW-Verhandlungen vgl. Dok. 277. 9 Für das B-Waffen-Übereinkommen vom 10. April 1972 vgl. BGBl. 1983, II, S. 133–138. 10 Korrigiert aus: „1967“. 11 Seit 1984 bemühten sich die Teilnehmerstaaten der „Australischen Gruppe“ bei informellen Treffen um Exportkontrollen für Substanzen, die zur Herstellung von Chemiewaffen geeignet sind. Vgl. AAPD 1987, I, Dok. 45, und AAPD 1987, II, Dok. 272.

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punkt der Einführung eines CWC-Verifikationssystems erwogen wird. Wortführer sind insbesondere China, Pakistan, Iran, Algerien und Kuba. 4) Hauptgrund der eingeschränkten Handlungsfähigkeit der westlichen Gruppe seit etwa Mitte 1990 war die Uneinigkeit über die Ausgestaltung des Verifikationssystems der Konvention. Den USA gelang es im Juli 1991, GB, AUS und Japan als Ko-Sponsoren für einen Vorschlag zur Regelung der Verdachtskontrollen zu gewinnen, durch den die Zugangsrechte des internationalen Inspektionsteams erheblich zeitlich verzögert und räumlich eingeschränkt würden. Die anderen westlichen Staaten in Genf, allen voran Frankreich, betrachteten die geänderte US-Position kritisch, zumal sie in starkem Widerspruch zu den ursprünglichen US-Vorstellungen steht, die der damalige Vizepräsident Bush 1984 im Vertragsentwurf CD/500 selbst in Genf vorgestellt hatte12 (Recht auf Inspektionen „anytime, anywhere“). Wir haben uns als Koordinator der westlichen Gruppe 1991 um Wiederherstellung der Gruppeneinheit bemüht. Ein Vorschlag unserer Genfer CD-Delegation, der mit US und F erörtert wird, erscheint geeignet, dies zu ermöglichen. 5) Die Verdachtskontrollen sind als schärfstes Instrument im Verifikationskonzept der CWC konzipiert, während Routinekontrollen der chemischen Industrie zu den täglichen Aufgaben des Technischen Sekretariats gehören sollen. Es besteht Konsens darüber, dass nach Verbot und schließlicher Vernichtung aller chemischen Waffen die einschlägigen Chemikalien und CW-Vorprodukte Melde- und Inspektionspflichten unterworfen bleiben. Darüber hinaus muss aber auch die übrige chemische Industrie kontrolliert werden können, da deren Produktionsanlagen für illegale Produktion von CW-Vorprodukten oder gar Chemiewaffen missbraucht werden könnten. Da auf diese Weise ein gesamter wichtiger Industriezweig internationalen Kontrollen unterworfen werden würde, was entsprechenden Aufwand erfordert, handelt es sich hier um einen Kernbereich der Konvention. 6) Andere, noch ungelöste Einzelfragen zum Inhalt der CWC betreffen die Behandlung von Tränen- und Reizgasen, die einige Staaten für militärische Nutzung weiter zulassen möchten, was bedenkliche Grauzonen eröffnen würde, und das Schicksal alter Kriegs-CWMunition. Eine Verpflichtung zu ihrer Beseitigung durch den ursprünglichen Eigentümerstaat könnte große Kosten verursachen (in erste Linie Problem zwischen China und Japan, durch Ausklammerung von Weltkrieg-I-Beständen würden wir unberührt bleiben). Weitere offene Fragen von teilweise beträchtlichem politischem Gewicht sind organisatorischer Natur: Vertretung und Wahlmodus der Mitgliedstaaten zum Exekutivrat, Finanzierung, Sitz der CW-Organisation – aussichtsreiche Kandidaten Wien und Den Haag. 7) Gelingt es, wie nunmehr erwartet, die Einigkeit der westlichen Gruppe bald wiederherzustellen, dann hängt das Schicksal der Verhandlungen in erster Linie von der Zustimmung der Staaten der Dritten Welt ab. Westliche Uneinigkeit hat diesen Staaten bisher willkommenen Vorwand zu eigenem Stillhalten geboten. Nach Wiederherstellung westlichen Konsenses bleibt viel Überzeugungsarbeit zu leisten. Ihr geplanter Auftritt vor dem Plenum der Genfer Abrüstungskonferenz (vgl. Bezugs-Vorlage v. 17.1.92) dürfte hierzu einen wichtigen Impuls geben. Als weitere Initiative wird Ihnen mit gesonderter Vorlage ein Briefentwurf an die Außen12 Für den amerikanischen Vertragsentwurf vom 18. April 1984 (CD/500) sowie für die Rede von Vizepräsident Bush am selben Tag in Genf vgl. DOCUMENTS ON DISARMAMENT 1984, S. 269–299 bzw. S. 299–307. Für den deutschen Wortlaut der Rede vgl. EUROPA-ARCHIV 1984, D 323–329. Vgl. auch AAPD 1984, I, Dok. 106.

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minister der anderen 38 Mitgliedstaaten der Genfer Abrüstungskonferenz vorgeschlagen13, um diese auf die hohe Priorität der Verhandlungen und die Notwendigkeit der Zusammenarbeit zur Erreichung eines Ergebnisses hinzuweisen. 8) Wenn der Ad-hoc-Ausschuss sich auf einen Konventionsentwurf einigen kann, dann könnte die CD der diesjährigen VN-Generalversammlung den Text zur Annahme durch alle Mitgliedstaaten empfehlen. Eine gesonderte Zeichnungskonferenz zur möglichst raschen Erreichung einer hohen Zahl von Erstsignatoren dürfte sich anbieten. Ein erfolgreicher Abschluss der langwierigen CW-Verhandlungen während der Zeit unseres Vorsitzes wäre ein eindrucksvoller Beleg für die Verantwortung, die das vereinte Deutschland in der internationalen Staatengemeinschaft zu übernehmen bereit ist. Holik B 43, ZA-Bd. 166114

20 Vorlage des Vortragenden Legationsrats I. Klasse Neubert für Bundesminister Genscher 213-321.39 GUS

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Über Dg 212, D 23 Herrn Staatssekretär4 Herrn Bundesminister5 Betr.: Sowjetdeutsche; hier: Neukonzeption unserer Hilfe nach den Jelzin-Äußerungen6 Bezug: Weisung von StS Kastrup vom 14.1.92 13 Botschafter Holik legte am 3. Februar 1992 den Entwurf eines Schreibens von BM Genscher an die Außenminister der CD-Mitgliedstaaten vor. Vgl. B 43, ZA-Bd. 166089. Das Schreiben vom 8. Februar 1992 wurde mit RE Nr. 1818 des VLR I von Butler vom 12. Februar 1992 übermittelt. Vgl. B 43, ZA-Bd. 166089. 1 2 3 4 5

Die Vorlage wurde von LR I Foth konzipiert. Hat MDg von Studnitz am 24. Januar 1992 vorgelegen. Hat MD Chrobog am 24. Januar 1992 vorgelegen. Hat StS Kastrup am 27. Februar 1992 vorgelegen. Die Weiterleitung an BM Genscher wurde von StS Kastrup gestrichen. Hat VLR Ney am 27. Februar 1992 vorgelegen, der den Rücklauf an MD Chrobog verfügte. Hat in Vertretung von Chrobog MDg Hofstetter am 28. Februar 1992 vorgelegen, der den Rücklauf an MDg von Studnitz verfügte. Hat Studnitz am 28. Februar 1992 erneut vorgelegen, der den Rücklauf an Referat 213 verfügte. Hat VLR I Neubert erneut vorgelegen, der die Weiterleitung an LR I Foth verfügte. Hat Foth erneut vorgelegen, der handschriftlich vermerkte: „Grünes Licht fürs BMI“. 6 VLR I Neubert vermerkte am 13. Januar 1992, der russische Präsident Jelzin habe am 8. Januar 1992 in Saratow/Wolga gegenüber Demonstranten versichert, dass „er garantiere, ohne überwältigende Mehrheit der Deutschen (90 %) im Siedlungsgebiet werde es keine Autonomie geben, maximal einen autonomen Rayon; die Deutschen auf einem unwirtlichen, 300 000 ha großen Militärgelände siedeln können, das ,von Geschossen vollgespickt ist‘ “. Vgl. B 41, ZA-Bd. 158740.

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Zweck der Vorlage: Zur Unterrichtung und zur Billigung des Vorschlages unter Ziffer 77 1) Jelzin hat mit seinen Äußerungen am 8.1.92 in Saratow/Wolga einmal mehr deutlich gemacht, dass er trotz anderslautender Bekundungen anlässlich seines Bonn-Besuches8 (und zuvor) nicht bereit ist, sich auf das Konzept eines baldigen politischen Gründungsbeschlusses für eine Republik der Deutschen an der Wolga als Auftakt zur Wiederansiedlung Deutscher einzulassen. Die Erklärungen seines Pressesprechers Woschtschanow in Moskau und AM Kosyrews in Bonn, beides am 15.1.92, bestätigen im Grunde genommen nur diese Erkenntnis, dass hier ein Dissens mit uns bestand und bestehen bleibt. 2) Die Sowjetdeutschen, die spätestens9 seit dem Nicht-Auftritt Jelzins auf ihrem AllunionsKongress vom 18. – 20.10.91 (im Gegensatz zu dem kirgisischen Präsidenten Akajew, der auf dem ersten Forum der Deutschen seiner Republik zu Beginn diesen Jahres anwesend war!) kaum noch Hoffnung in Jelzin setzten, sehen sich von dessen zynisch-populistischem Auftritt und seinen bösen Worten von dem „von Geschossen vollgespickten“ Boden, den er den Deutschen zum Beackern überlassen will, nach mehr als 50 Jahren Diskriminierung nun noch zusätzlich verhöhnt. Die deprimierten Reaktionen selbst gemäßigter Integrationsfiguren wie Wormsbecher und Rauschenbach lassen vermuten, dass das radikale Lager Groths starken Zulauf bekommt. Groth hat seine Landsleute bereits zur massenhaften Ausreise aufgerufen. 3) Wir müssen uns jetzt darauf einstellen, dass die Aussiedlerzahlen schon für 1992 emporschnellen. Zwar entspricht die Aussiedlerzahl 1991 nur der des Vorjahres (ca. 147 000 – während sich die Zuwanderung aus den anderen MOE-Aussiedlungsgebieten drastisch verringerte), jedoch verfügen (nach Angaben von BMI/BVA10) ca. 150 000 Sowjetdeutsche bereits über einen Aufnahmebescheid – von dem sie unter den neuen materiellen und psychologischen Umständen Gebrauch machen dürften –, und ca. 550 000 weitere Anträge auf Ausreise liegen vor. Diese Entwicklung (unterschiedliche Schätzungen der Anzahl nach Art. 116 GG11 Zuzugsberechtigter inkl. Angehörigen aus Mischehen mit anderen Nationalitäten gehen von 3 bis max. 6 Mio. aus; allein wegen der perspektivlosen Wirtschaftslage ist damit zu rechnen, dass umfangreich von dem Recht Gebrauch gemacht wird) wird nicht ohne Auswirkung auf das deutsche innenpolitische Klima bleiben und könnte zudem selbst bei Kontingentierung des Zuzugs die deutsch-russischen und deutsch-kasachischen Beziehungen über Jahre belasten. 4) Die Außenpolitik des BMI, die die Wolga-Republik als Brandmauer gegen die Aussiedler errichtet wissen wollte, ist gescheitert, die 50 Mio. DM überplanmäßiger Mittel, die in den letzten Tagen des alten Haushaltsjahres 1991 – wie üblich planlos und ohne Beteiligung des Auswärtigen Amts – zur Hebung der Stimmung der russischen Bevölkerung an der Wolga aufgewandt wurden, haben sich als Fehlinvestition erwiesen. Das 34 Mio.-Abenteuer des BMI der letzten Stunden des Jahres 1990 (Bäckereien, Käsereien, Schlachtereien – uns 7 Die Wörter „Zur Unterrichtung“ wurden von StS Kastrup hervorgehoben. Die Wörter „und zur Billigung des Vorschlages unter Ziffer 7“ wurden von Kastrup gestrichen. 8 Der russische Präsident Jelzin hielt sich vom 21. bis 23. November 1991 in der Bundesrepublik auf. Vgl. AAPD 1991, II, Dok. 392, Dok. 393 und Dok. 398. 9 Korrigiert aus: „die sich spätestens“. 10 Bundesverwaltungsamt. 11 Für Artikel 116 GG vom 23. Mai 1949 vgl. BGBl. 1949, S. 15 f.

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liegt kein Nachweis vor, dass sie funktionieren) wird bereits vom Rechnungshof durchleuchtet. Die für 1992 zur Entwicklung der Wolga-Republik zusätzlich bewilligten 100 Mio. DM für den Haushalt des BMI (davon waren 50 Mio. DM mit einer Sperre belegt, um zunächst konkrete Schritte abzuwarten) sind auf Beschluss des Haushaltsausschusses nun vorerst vollkommen blockiert. 5) Im Sinne der modernen westeuropäischen, KSZE-geprägten Minderheitenpolitik ist das Konzept der Wiederumsiedlung einer Minderheit und die Bildung eines nationalautonomen Territoriums archaisch und passt auch nicht in die von Jelzin angestrebte verfassungsmäßige Neugestaltung der Russischen Föderation, die die Abschaffung autonomer Gebiete bzw. Abschwächung der Autonomierechte bezweckt. Es ist auch keineswegs sicher, dass die in vielen Republiken auf gepackten Koffern sitzenden Deutschen die Wolga als Alternative zur Bundesrepublik akzeptiert hätten. Diese Skepsis des Auswärtigen Amts (belegt u. a. durch eine Repräsentativumfrage des Osteuropa-Instituts München) hat zuletzt StM Schäfer gegenüber dem Auswärtigen Ausschuss zum Ausdruck gebracht (Dez. 1991).12 Nachdem die ohne gesicherte Grundlagen vertretene, optimistische Haltung des Aussiedlerbeauftragten13 sich als so nicht durchsetzbar erweist, bedarf es dringend einer vom Auswärtigen Amt geprägten Neukonzipierung der Aussiedlerpolitik in den Nachfolge-Staaten der ehemaligen UdSSR. 6) Eine neue Politik muss von folgenden Voraussetzungen ausgehen: – Trotz aller Anstrengungen der Bundesregierung wird ein bedeutender Teil der Deutschen nicht von der Ausreise abzuhalten sein. – Angesichts der deutschen Haushaltslage werden unsere Mittel auf Jahre hinaus für flächendeckende Maßnahmen zugunsten der Deutschen nicht ausreichen. – Verhandlungspartner sind nach Untergang der Union nun primär Russland, Kasachstan und Kirgisien. Die Anzahl der Deutschen in anderen Republiken ist zahlenmäßig so gering, dass sie politisch keine wesentliche Veränderung dieses Bildes bewirkt. – Nationalismus, Sprachenpolitik und Islamisierung sowie die desolate wirtschaftliche Lage haben schon in den vergangenen Jahren dazu geführt, dass (nicht nur) die Deutschen die vier mittelasiatischen Entwicklungsländer überproportional stark verlassen. Vermutlich wird sich selbst die deutsche Minderheit in Kirgisien (ca. 75 000 Deutsche) nicht auf Dauer halten können. Das Gegensteuern Akajews (seit Jahresbeginn 1992) kommt sehr spät. Auch in Kasachstan steht der „europäische“ Bevölkerungsanteil unter Druck. Die deutsche Bevölkerungsgruppe (ca. 900 000, 6 % der Bevölkerung) ist aber groß genug, um fortbestehen zu können. Zusätzliche Hoffnung, die Deutschen in Kasachstan zu halten, ist gerechtfertigt, weil die Heimat-Republiken der anderen großen Minderheiten (Russen 40 %, Ukrainer 6 %) aus Furcht vor einem millionenfachen Zuzug ebenfalls 12 Gemäß einem undatierten Gesprächsführungsvorschlag führte StM Schäfer in der Sitzung des Auswärtigen Ausschusses am 11. Dezember 1991 aus, angesichts der innenpolitischen Probleme Russlands und der vermutlich nur halbherzigen Unterstützung Präsident Jelzins für eine Wolga-Republik müsse bezweifelt werden, ob sich überhaupt eine ausreichende Anzahl von Deutschen zu einer Ansiedlung in einem weitgehend menschenleeren Gebiet an der Wolga ohne Infrastruktur entschließen könne, sodass ein lebensfähiges Gebilde entstehe: „Um nicht eine deutsche Investitionsruine zu schaffen, sollte zunächst eine Erhebung unter den Deutschen die nötigen Planungsdaten sichern.“ Vgl. B 41, ZA-Bd. 151591. 13 Horst Waffenschmidt.

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auf Kasachstan einwirken werden, den Vertreibungsdruck so gering wie möglich zu halten. Russland, das Anspruch auf Nordkasachstan erheben könnte, wo fast alle Russen und Deutschen und Ukrainer leben, ist auch aus historischen und politischen Gründen an einer fortdauernden russischen Besiedlung stark interessiert. In Russland (ca. 800 000 Deutsche) bestehen bereits zwei autonome Gebiete (Altai und Omsk), es gibt noch eine Reihe von Regionen kompakter Besiedlung. Bei entsprechenden Maßnahmen könnten dort viele Deutsche gehalten werden. – Alle Republiken – und viele lokale Verwaltungsgebiete – versuchen, die Deutschen für Wirtschaftshilfe aus der Bundesrepublik zu instrumentalisieren. Darüber hinaus haben sie aus rein utilitaristisch-wirtschaftlichen Gründen Interesse daran, die Deutschen als gute Fachkräfte im Land zu halten. In den Verhandlungen mit Russland über die WolgaRepublik14 war bereits deutlich geworden, dass dritte Republiken an eine Art Freikauf der an die Wolga umzusiedelnden Deutschen dachten. – Ein fortgesetzter Streit mit dem BMI über die Federführung in der Aussiedler-Außenpolitik würde unsere Aussiedlerpolitik gefährden sowie zur Belastung unseres Verhältnisses zu den neuen Staaten führen. Das BMI versucht schon jetzt, dem Auswärtigen Amt die Verantwortung für den drohenden Aussiedlerzustrom zuzuschieben (Brief Waffenschmidt an BM vom 13.1.9215). 7) Unsere Politik sollte sich deshalb an folgenden Prinzipien orientieren: – Um im Ausland – anders als in der Vergangenheit – mit einer Stimme auftreten zu können, muss in Bonn eine einheitliche Linie festgelegt werden: Ein Chefgespräch muss sicherstellen, dass ohne politische Zustimmung des AA zu jedem einzelnen Projekt keine BMI-Maßnahmen im Ausland erfolgen. – Wir können das Wolga-Projekt zwar weiterverfolgen, aber wir können es nicht forcieren. Wir sollten stattdessen eine KSZE-gemäße Minderheitenregelung für die Deutschen in allen neuen Staaten anstreben. Die klassischen Instrumente der Minderheiten-Politik, entweder Umsiedlung – freiwillig oder erzwungen – oder Grenzveränderungen sind weder zeitgemäß noch erfolgversprechend. Unser Problem war und bleibt, dass die SU sowie Russland und die Nachfolgestaaten der SU kein fruchtbarer Boden für moderne Konzepte der Autonomie und des Minderheitenschutzes sind: Demokratie und Rechtsstaatlichkeit fehlen, und dieser Zustand wird in den wenigen Jahren, in denen die Aussiedler ihre Entscheidungen treffen, nicht zu beseitigen sein. Wir werden gleichwohl stärker auf das zukunftsträchtigere, modernere KSZE-Konzept setzen müssen. Eine frühere Konzeption der UdSSR für die Deutschen, die „Assoziation“, d. h. kulturelle und politische Autonomie ohne ein geschlossenes Territorium, ging bereits in diese Richtung. Es wurde von den SU-Deutschen verworfen, weil es von Regierungsseite unterstützt wurde. – Mit Russland sollten wir die Gespräche auf pragmatischer Basis fortsetzen und unsere Maßnahmen auf Gebiete kompakter Besiedlung konzentrieren. Wir sollten auf mehrere kleinere autonome Gebiete in traditionellen Siedlungsgebieten drängen. (An fünf Orten der ehemaligen Wolga-Republik gibt es Ansatzpunkte für autonome Dorfsowjets.) 14 Zu den Verhandlungen zwischen der Bundesrepublik und Russland über ein Protokoll zur Wiedererrichtung einer Wolga-Republik vgl. AAPD 1991, II, Dok. 436. 15 Für das Schreiben vgl. B 41, ZA-Bd. 158740.

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– In Kasachstan sollte der anlässlich der BM-Reise vom 16./17.10.9116 aufgenommene politische Kontakt ein konkretes Follow-up bekommen, sobald die Botschaft Alma Ata funktionsfähig ist. – Mit Kirgisien und seinem – wie kein anderer Führer der Nachfolgestaaten – demokratisch gesonnenen Präsidenten Akajew sollte Kontakt auf politischer Ebene hergestellt werden (z. B. durch Einladung Akajews, der in Kürze ohnehin Brüssel aufsuchen will).17 – Zum Erhalt der deutschen Kultur bedarf es umgehend eines Zentrums, wo muttersprachliche Lehrer ausgebildet, deutsche Zeitungen und Bücher gedruckt, Radiosendungen produziert werden können. Dies ist eine organisatorische Notwendigkeit, keine territorial-politische Forderung. Die Entwicklung der neuen „Nationalstaaten“ erfordert es, dass ein solches Zentrum sowohl für Russland als auch für Kasachstan erstellt wird. Die Institutionen sollten bis auf weiteres zentral in Moskau und Alma Ata angesiedelt werden. Dg 21 hat diese Konzeption bereits dem Vorsitzenden der Wiedergeburt, Groth, vorgetragen. Die Reaktion war im Grundsatz positiv, das Gespräch soll in Kürze fortgesetzt werden. Für Kirgisien ist der Aufwand, ein gesondertes Zentrum zu schaffen, nicht gerechtfertigt, die dortigen Deutschen könnten von Kasachstan aus mitbetreut werden. Das scheint auch politisch durchsetzbar. – Unsere knappen Mittel erfordern intensive Koordination der Maßnahmen von Bund und Ländern (sollte vom BMI übernommen werden). Die Deutschen sollten ferner im Rahmen des Möglichen an den aus deutschen öffentlichen Geldern geförderten Projekten angemessen und wirksam beteiligt werden (z. B. bei der Aus- und Fortbildung, Stipendien). – Alle Maßnahmen bedürfen der ständigen Kontrolle im haushaltsrechtlichen Rahmen, um nicht zu versanden und um das Ziel unserer Politik, den Aussiedlerstrom zu stabilisieren, zu erreichen. (Offenbar funktionieren eine Reihe von Begegnungsstätten nicht, ebenso wirtschaftliche Projekte; die von BM Genscher im Frühjahr 1990 übergebenen Bücher sind bis heute nicht aufgestellt.) 421 und 605 haben telefonisch mitgezeichnet. Neubert B 41, ZA-Bd. 158740

16 BM Genscher führte am 17. Oktober 1991 in Alma Ata ein Gespräch mit dem kasachischen Präsidenten Nasarbajew. Vgl. AAPD 1991, II, Dok. 346. 17 Der kirgisische Präsident Akajew hielt sich vom 5. bis 9. April 1992 in der Bundesrepublik auf. Für das Gespräch mit BK Kohl am 7. April 1992 vgl. Dok. 101.

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21 Drahtbericht des Botschafters von Ploetz, Brüssel (NATO) 10338/92 VS-vertraulich Fernschreiben Nr. 104 Citissime nachts Betr.:

Aufgabe: 22. Januar 1992, 22.10 Uhr1 Ankunft: 22. Januar 1992, 22.47 Uhr

NATO-Rat am 22.1.1992 zu Fragen der nuklearen Streitkräfte in den vier Nuklearrepubliken der GUS im Lichte der Unterrichtung Bartholomews (US) und Broomfields (GB), insbesondere: unsere SNF-Initiative2

Bezug: 1) DB 73 vom 17.1.1992 – Az.: B-371.80 VS-NfD3 2) telefonische Weisung D 2 A4 – B[otschafter] vom 21.1.1992 Zur Unterrichtung Bartholomew präsentierte sowohl zum SNF- wie zum strategischen Bereich ein eindrucksvolles Gesprächsergebnis, das ihn zu der Schlussfolgerung führte, Gorbatschow-Zusagen vom 5. Oktober 19915 würden zielstrebig implementiert, teilweise sogar in kürzeren Fristen. In Bezug auf den Prozess der Konzentration auf russischem Gebiet und Unbrauchbarmachung von SNF-Nuklearsystemen, aber auch bei den taktischen luft- und seegestützten und Luftverteidigungssystemen ging er davon aus, dass Konzentration und Unbrauchbarmachung spätestens bis 1.7.1992 abgeschlossen sein werden. Nach Einschätzung von USExperten sei eine schnellere Vorgehensweise praktisch kaum vorstellbar. Jedenfalls könne westliche Seite kaum etwas zur Beschleunigung tun. Zu unserem Vorschlag äußerte sich B. nicht abschließend. Eine US-Stellungnahme setze zunächst seinen eigenen Bericht in Washington und dessen Prüfung sowie die Rückkehr der noch in den Republiken verbliebenen US-Experten voraus. Argumentation von B. ließ aber deutlich erkennen, dass er – bei uneingeschränkter Bejahung des gemeinsamen Allianzinteresses und Bereitschaft zu umfassender Konsultation im Bündnis – unserem Gedanken, gemeinsam mit den Nuklearrepubliken der GUS einen kooperativen, die unilaterale Implementierung der Gorbatschow-Verpflichtungen begleitenden Ansatz zu entwickeln, mit erheblicher Reserve gegenübersteht. Gegenüber dem von Belgien ins Gespräch gebrachten Gedanken, diesen Ansatz in einen größeren internationalen Zusammenhang zu stellen und – nach HLWG-Muster – auch die übrigen GUS-Republiken und die NACC-Partner einzubeziehen, war er klar ablehnend. Eine derartig weitgehende „Internationalisierung“ würde auch in den Augen der Nuklearrepubliken einen den bisher planmäßigen Ablauf 1 Das Fernschreiben wurde in zwei Teilen übermittelt. Vgl. Anm. 10. Hat VLR I Bertram am 24. Januar 1992 vorgelegen. 2 Zur SNF-Initiative der Bundesregierung vgl. Dok. 7. 3 Mit DB Nr. 73/74 berichtete Botschafter von Ploetz, Brüssel (NATO), über eine erste Erörterung der SNF-Initiative der Bundesregierung im Ständigen NATO-Rat am selben Tag. Die überwiegende Zahl der Bündnispartner habe diese unterstützt; Großbritannien und die USA hätten Zurückhaltung gezeigt. Ferner sei die Frage der Einsetzung einer Arbeitsgruppe erörtert worden. Vgl. B 43, ZA-Bd. 228392. 4 Josef Holik. 5 Zur Initiative des sowjetischen Präsidenten Gorbatschow zum SNF-Abbau vgl. AAPD 1991, II, Dok. 339 und Dok. 408.

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störenden, wenn nicht gefährdenden Einfluss haben. Insbesondere würden die bereits laufenden Verhandlungen der vier Republiken untereinander über die Vereinbarung eines Überprüfungsmechanismus („oversight“) über die auf russischem Boden vorgesehene Zerstörung der Gefechtsköpfe gefährdet. B. äußerte sich nicht zu dem vom GB-Vertreter ins Gespräch gebrachten Gedanken, in einer internen Allianzarbeitsgruppe aus Hauptstadtexperten die Möglichkeiten westlicher Hilfe, insbesondere bei der Zerstörung von Gefechtsköpfen und daran anschließenden Entsorgungsmaßnahmen, zu beraten. Nach GB-Auffassung sind hier sowohl vonseiten der Nuklearpartner der Allianz wie auch anderen Staaten wirkungsvolle und den Zerstörungsprozess beschleunigende Hilfeleistungen denkbar. Bilateral zeigte sich B. anschließend interessiert an dem britischen Gedanken. Ich habe ihn nicht aufgegriffen und daran erinnert, dass unser Vorschlag zwar diesen Aspekt einbeziehe, aber nur im Rahmen der Entwicklung der von uns vorgeschlagenen Allianzinitiative. Uns komme es darauf an, ausgehend von dem gemeinsamen Sicherheitsinteresse der 16 Allianzpartner und der GUS-Nuklearrepubliken, einen kooperativen Ansatz zu entwickeln, der die Implementierung der erklärten Absichten der Republiken wirksam unterstütze. Im Übrigen habe ich darauf hingewiesen, dass möglicherweise zeitgleich in Washington6 auf Außenminister-Ebene Gespräche zum selben Thema stattfänden. Der im NATO-Rat erreichte Stand sei daher befriedigend. Unser Vorschlag bleibt auf der Tagesordnung des Rates. Anders als am 17.1. beteiligten sich diesmal nur wenige Bündnispartner an der Diskussion. NL bekundete indirekt, SPA und B direkt Festhalten an unserer Initiative, das ich in der Plenarsitzung sehr deutlich gemacht hatte (im Übrigen äußerten sich nur noch NWG, TUR und PTG). Zusammenfassung des stellvertretenden GS7 reflektiert zutreffend den erreichten Stand: – Beratung habe das Interesse der Bündnispartner deutlich gemacht, eine US-Stellungnahme zu Möglichkeiten einer Allianzrolle und einer Zusammenarbeit zu hören. – Diese Stellungnahme werde für die weitere Erörterung der deutschen Initiative wichtig sein, die der Rat in kurzer Frist wiederaufnehmen werde. Ergänzend und im Einzelnen 1) Bartholomew a) Nach Erläuterung des durch Baker-Reise8 und Bush-Brief an die vier Präsidenten9 gesetzten Rahmens für seine Mission kündigte er bereits in seinen einleitenden Bemerkungen an, er wolle seine Erkenntnisse darüber mit den Bündnispartnern teilen, was er gemeinsam mit ihnen für „machbar“ hielte. Trotz späterer Rückfragen blieb er hierzu unspezifisch bis skeptisch (vgl. Zusammenfassung). 6 In Washington fand am 22./23. Januar 1992 die Koordinierungskonferenz für humanitäre Hilfe an die GUS-Mitgliedstaaten statt. Vgl. Dok. 38. 7 Amedeo De Franchis. 8 Der amerikanische AM Baker hielt sich vom 15. bis 17. Dezember 1991 in Russland, am 17. Dezember in Kirgisistan und Kasachstan, am 18. Dezember in Belarus sowie am 18./19. Dezember 1991 in der Ukraine auf. 9 Boris Nikolajewitsch Jelzin (Russland), Leonid Makarowitsch Krawtschuk (Ukraine), Nursultan Abischewitsch Nasarbajew (Kasachstan) und Stanislau Stanislawawitsch Schuschkewitsch (Belarus).

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b) Nach Darstellung der umfassenden Agenda seiner Gespräche in den vier Republiken, die alle Nuklearbereiche, einschließlich Nicht-Proliferationsregime und Exportkontrollen, aber auch konventionelle Streitkräfte umfasste und – in beiden Bereichen – den Stand der Implementierung von unterzeichneten Abkommen berücksichtigte, erläuterte B., dass er zu den einzelnen Spezialbereichen Experten aus verschiedenen Ressorts mitgebracht und teilweise auch noch für einige Tage in den Hauptstädten belassen habe. Unter ihnen nannte er besonders die für physische Sicherheit von Nuklearwaffen zuständigen Dr. Barker aus dem Pentagon und Dr. Turner aus dem Energieministerium. c) Ziel der Beratungen sei es gewesen – nach zufriedenstellenden Absichtserklärungen im Vorjahr –, nunmehr autorisierte politische Erklärungen mit Darstellung eines überzeugenden Follow-up zu besprechen. Dieser Zweck sei erreicht worden. Besonders befriedigt habe die weitgehende Übereinstimmung der Aussagen in Moskau und den anderen Hauptstädten, zumal sie den in den USA verfügbaren, mit eigenen Mitteln gewonnenen Erkenntnissen entsprächen. In Bezug auf SNF räumte B. ein, dass es hier die generell bekannten Verifikationsprobleme gebe, sodass absolute Sicherheit nicht bestehe. Ermutigend wirke insofern aber die Übereinstimmung des allgemeinen Bildes und der den USA bekannten Einzelheiten wie Transporte von Nuklearmitteln und Räumung von Depots. Desgleichen wirke bestätigend, dass alle Republiken in der Einschätzung einig waren. d) Nukleare Kontrolle Allein in der Hand des russischen Präsidenten. Aber technische Voraussetzungen geschaffen für politische Verpflichtung, vor einem Einsatz, aber auch vor jedem Transport, der Republikgrenzen überschreitet, die übrigen drei Präsidenten zu konsultieren (rotes Telefon). Insofern hätten klare westliche Erwartungen positiv gewirkt. e) SNF Amerikanische Übereinstimmung mit der Einschätzung der Bündnispartner, dass Auflösung der früheren SU, soweit es um Nuklearwaffen gehe (Proliferation etc.), im SNFBereich die größten Risiken aufwerfe. Daher doppelte Stoßrichtung der US-Bemühungen: – Konzentration der SNF auf russischem Territorium und ihre Unbrauchbarmachung. Hierfür sei Generalstab zuständig. Der Konzentrationsprozess werde – so feste Zusagen und feste US-Erwartung – spätestens am 1.7., möglicherweise bereits früher abgeschlossen sein. – Zum Status am 22.1.: – Taktische Nuklearwaffen gebe es nur noch auf dem Territorium von Russland, Ukraine und Weißrussland, nicht jedoch auf dem Territorium anderer Republiken. – In der Ukraine und Weißrussland befänden sich diese Systeme nicht mehr bei operativen Einsatzverbänden. (Die Frage, wo sie sich in Russland befinden, wurde im Rat nicht gestellt. Sie könnte in Washington aufgegriffen werden.) Jedenfalls bestätigte B. auf Frage, dass Selbstverpflichtung zu SNF aus Gorbatschow-Erklärungen vom 5.10.1991 voll implementiert würde. – Die SNF-Systeme in Ukraine und Weißrussland seien nicht mehr einsatzbereit (disabled) und könnten keine Nuklearladung mehr zum Einsatz bringen. Zum Teil seien sie bereits zerlegt. Die Gefechtsköpfe befänden sich unter Kontrolle und Bewachung der hierfür generell zuständigen Spezialeinheiten (gemeint wohl KGB). 100

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– Alle Nukleargefechtsköpfe für Kurzstreckenraketen, Artillerie sowie nukleare Minen würden bis Ende Januar auf russisches Territorium transportiert sein. Die Nukleargefechtsköpfe der Luftverteidigung, für Einsatzmittel der Luftwaffe und der Marine würden spätestens bis 1.7., möglicherweise aber vorher, auf russischem Territorium konzentriert. – Dieser Prozess laufe auf Grundlage von Vereinbarungen der vier Republiken, die auch Zeitpläne beinhalteten. Allerdings sei registriert worden, dass sich Kenntnis und Zustimmung in Ukraine und Weißrussland auf die oberste politische und militärische Führung beschränken, während die Ebene darunter über unzureichende Einbeziehung Klage geführt habe. – Alle Beteiligten seien entschlossen, alle für die Sicherheit – auch beim Transport – anzuwendenden Standards und Normen zu beachten. – Zerlegung nuklearer Gefechtsköpfe (SNF wie alle übrigen) soll unter Überwachung (oversight) der drei Republiken in Russland erfolgen. Verhandlungen über entsprechenden Vertrag seien im Gange. Die Zuständigkeit liege beim russischen Ministerium für Atomenergie. Russischer Generalstab sei sich des Mitwirkungswunsches der drei Republiken voll bewusst. Für die Allianzpartner sei es wichtig, gerade angesichts derartig delikater Verhandlungen von sich gegenseitig nicht voll vertrauenden Partnern nicht zwischen die Fronten zu geraten. Es könne durchaus sein, dass ein bilaterales Vorgehen auf der Grundlage abgestimmter Allianzpositionen wirksamere Einwirkungsmöglichkeiten zur Beschleunigung und Förderung des Prozesses biete. 10f) Zeitplan für GK-Zerlegung und -Vernichtung

Das von Gorbatschow genannte Datum 2000 gelte, sei aber ohne auswärtige Hilfe nicht zu erreichen. Hauptproblem sei Mangel an geeigneten Lagerstätten für Nuklearmaterial. Auf drängende US-Fragen, wie diese Hilfe aussehen könne, gebe es keine abschließende Antwort. US-Experten erörterten weiter. Bisher seien zwei Ideen im Spiel: – Konstruktion von Lagerstätten für Plutonium und angereichertes Uran. Kostenfaktor sei beachtlich, zumal Errichtung solcher Lagerstätten in Russland wesentlich teurer als in den USA sei. US-Gedanke sei daher, militärische Lagerstätten als Zwischenlösung zu erwägen. Im Übrigen scheine russische Seite nicht vom Zeitdruck überzeugt, nachdem Waffensysteme nicht mehr einsatzfähig seien. – Weniger problematisch erscheine die Frage der Transportmittel für angereichertes Uran und Plutonium. Hier könne wahrscheinlich im Rahmen der vom Kongress bewilligten 400 Mio. Dollar11 wirksam geholfen werden, z. B. durch Ausstattung von russischen Transportmitteln mit US-Sicherheitsausrüstungen. Insgesamt sei aber noch sehr präzise Prüfung notwendig. Hier könne durchaus einbezogen werden, welche Beiträge andere Bündnispartner leisten könnten. Sie könnten, je nach Fähigkeit und Status, durchaus unterschiedliche Gestalt haben. 10 Beginn des mit DB Nr. 105 übermittelten zweiten Teils des Fernschreibens. Vgl. Anm. 1. 11 In der Presse wurde berichtet, der amerikanische Kongress habe auf Initiative der Senatoren Lugar und Nunn 400 Mio. US-Dollar für die sichere Lagerung, den Abbau und die Zerstörung sowjetischer Nuklearwaffen bewilligt. Vgl. den Artikel „First Aid for Moscow: The Senate’s Foreign Policy Rescue“; THE WASHINGTON POST vom 1. Dezember 1991, S. C 2.

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g) Strategische Nuklearkräfte Auch hier kohärentes Bild aus allen vier Hauptstädten, was mit eigenen Beobachtungen korrespondiere. Handlungsgrundlage sei START-Vertrag. 130 ICMBs seien bereits deaktiviert (gemäß US-Definition dieses Begriffs), ferner 92 Abschussvorrichtungen auf U-Booten. Gemäß Minsker Vereinbarung12 sollten aus der Ukraine bis Ende 1994 alle 176 ICBMs abgezogen sein, die 104 aus Kasachstan in der Siebenjahresfrist gemäß START-Vertrag. Besonders positiv bewertete B., dass nicht nur der Abzug, sondern auch die Eliminierung aller Systeme, d. h. auch der modernen SS-18 und SS-24, vorgesehen ist, naturgemäß unter Anrechnung auf den START-Vertrag. Für den von Weißrussland gewünschten Abzug der mobilen SS-25 gebe es bisher noch keinen Zeitplan. Soweit die Ukraine betroffen sei, beginne sie, die Probleme zu verstehen, die mit einer Zerstörung von strategischen Systemen auf ihrem Boden verbunden wären. Angesichts dieser über START hinausgehenden Leistungen war B. nicht von Überlegungen des Generalstabs überrascht, amerikanische Gegenleistungen einzufordern. Dies sei noch nicht konkret geschehen, aber ins Gespräch eingeführt worden (claim for consideration). B. rechnete mit Konkretisierung der Vorstellungen. B. unterstrich im Übrigen, dass er auf unverzügliche Deaktivierung der unter dem START-Vertrag abzubauenden Systeme gedrängt habe. Dies wäre ein wichtiges politisches Signal. h) Sonstiges Auf Fragen stellte B. fest, dass – IAEA als mögliche Instanz für Hilfestellung von keiner Seite erwähnt worden sei und US selbst darüber noch nicht nachgedacht hätten; – zur Frage von Exportkontrollen in Moskau viel gesprochen, in den anderen drei Hauptstädten jedoch nur eine gewisse Aufmerksamkeit dafür festgestellt worden sei; – das Problem der Abwanderung von Nuklearexperten nicht einfach zu behandeln sei, zumal der Westen in der Vergangenheit gegenüber der Sowjetunion fortgesetzt Reisefreiheit für deren Bürger gefordert habe; – im Generalstab Interesse an „nuklearen Konsultationen“ vorhanden sei; jetzt vereinbartes Kontrollsystem für Einsatz nuklearer Waffen sei zum Teil beeinflusst von dortigem Verständnis der NATO-Mechanismen in diesem Bereich; – in Frage nicht-nuklearer strategischer Verteidigungssysteme (SDI/GPALS) keine Reaktion erfolgt sei; – US bei taktischen luft- und seegestützten nuklearen Systemen jetzt nicht an weitere Reduzierungen dächten, die in anderen Bereichen dringender seien. 2) Auf meine Einlassung hin, in der ich noch einmal unseren SNF-Vorschlag erläutert hatte unter präemptiver Hervorhebung derjenigen Punkte, die nicht beabsichtigt seien, gab B. eine offensichtlich vorbereitete Erklärung ab, in der er – die Relevanz der SNF-Frage wie der gesamten Nuklearfrage für alle Bündnispartner unterstrich, 12 Die GUS-Mitgliedstaaten schlossen am 30. Dezember 1991 in Minsk ein Abkommen über die Bildung eines Vereinigten Kommandos der strategischen Streitkräfte sowie eine einheitliche Kontrolle der Atomwaffen der ehemaligen UdSSR. Vgl. EUROPA-ARCHIV 1992, D 308 f.

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– herausarbeitete, dass der Bush-Ansatz mit der Gorbatschow-Reaktion durch die Allianzpartner in Rom13 gebilligt worden sei (ohne dass dies ausdrücklich gesagt wurde, machte B. deutlich, dass durch den am 1.7. erwarteten Abschluss der Rückführung aller SNF auf russisches Gebiet der Status quo ante erreicht sei, nämlich Kontrolle und Verantwortung eines einzigen Partners auf östlicher Seite), – sich zu voller „interaction“ im NATO-Rat zu diesem Problem bekannte einschließlich der Frage, was sinnvollerweise von einzelnen Bündnispartnern getan werden und wie man dabei zusammenarbeiten könne. Schlussfolgerung hieraus: Weitere Allianzberatung sei erforderlich, ob man darüber hinausgehen, z. B. den Prozess internationalisieren wolle. Wenn man diesen Weg gehen wolle, müsse besonders sorgfältig geprüft werden, ob man außer den vier Republiken auch noch andere GUS-Republiken einbeziehe. Von deren Vertretern hätte US-Seite bisher keinerlei diesbezügliches Interesse gehört. Tatsache, dass NATO-Rat noch vor US-Regierung über Besprechungsergebnisse durch B. unterrichtet werde, beweise die Ernsthaftigkeit und Aufrichtigkeit des US-Bekenntnisses zu umfassender Allianzkonsultation und -Zusammenarbeit in einem höchst sensitiven Bereich. Gegenstand der weiteren Beratungen müsse auch die Frage sein, welche Art von Kontakten zu welchem Zweck entwickelt werden sollte. Hier sei eine konkrete und sorgfältige Beratung notwendig. Diese Äußerungen stellten keine definitive Antwort auf die deutsche Initiative dar. Sie werde erst nach Rückkehr aller Beteiligten in Washington zu formulieren sein.14 Persönlich habe er, B., aber Zweifel, dass eine Erhöhung des internationalen und vor allen Dingen öffentlichen Interesses den gemeinsamen Anliegen der Verbündeten förderlich wäre. Dabei müsse auch in Rechnung gestellt werden, dass aufseiten der Republiken nur Ansätze von Außen- und Verteidigungsministerien zur Zusammenarbeit zur Verfügung stünden. Die beteiligten Persönlichkeiten überzeugten durchaus, die Personaldecke sei aber mehr als dünn und die Sachkenntnis nur sehr punktuell. 3) Broomfield (GB, Deputy Undersecretary for Defence Affairs, Foreign Office) beschränkte sich auf Nuklearaspekte der Hurd-Gespräche15: – In der Position von Kasachstan habe man taktische Elemente zu erkennen geglaubt, d. h. den Wunsch, sich den Nuklearverzicht durch Hilfe im Wirtschafts- und Sicherheitsbereich honorieren zu lassen. Hurd seinerseits habe das Junktim umgekehrt formuliert: Hilfe komme nur bei Beitritt zum NPT-Vertrag als Nicht-Nuklearstaat in Betracht. Im Ergebnis werde eine gewisse Balance hergestellt werden müssen. – Die Ukraine habe eine sehr klare Position eingenommen. Bemerkenswert sei jedoch ihre Forderung gewesen nach einem Inventar der nuklearen Waffen auf eigenem Territorium. – Im Übrigen Zustimmung zu US-Feststellungen, dass Aussagen in den drei von Hurd besuchten Hauptstädten inhaltlich bemerkenswerte Übereinstimmung zeigten. 13 In Rom fand am 7./8. November 1991 eine NATO-Gipfelkonferenz statt. Vgl. AAPD 1991, II, Dok. 375 und Dok. 376. 14 Zur amerikanischen Haltung sowie zum weiteren Vorgehen vgl. Dok. 40. 15 Der britische AM Hurd besuchte am 18. Januar Kasachstan, am 19. Januar die Ukraine und Belarus sowie am 20. Januar 1992 Russland.

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4) Schlussbemerkung von Bartholomew Obwohl das gewonnene Bild zuversichtlich stimme und insgesamt positiv sei, würden USA nichts als abgesichert hinnehmen und daher alles ihnen Mögliche tun, den Prozess auf dem Gleis zu halten. Sie würden auch in Zukunft die Allianzpartner voll einbeziehen, um sicherzustellen, dass dabei umfassend zusammengearbeitet werde. Konsultation werde fortgesetzt, wenn US-Seite weitere Erkenntnisse habe. [gez.] Ploetz B 130, VS-Bd. 12233 (201)

22 Vorlage des Vortragenden Legationsrats I. Klasse Bertram für Bundesminister Genscher 201-360.92 FRA VS-NfD

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Über Dg 202, D 23, Herrn Staatssekretär4 Herrn Bundesminister5 Betr.:

Französische Sicherheits- und Verteidigungspolitik; hier: jüngste Äußerungen französischer Politiker zu einer Europäisierung der französischen Atomstreitmacht

Zweck der Vorlage: Zur Unterrichtung I. In den ersten Tagen des Jahres 1992 haben sich einige französische Spitzenpolitiker einschließlich Staatspräsident Mitterrand in aufsehenerregender Weise zur Zukunft der französischen Atomstreitmacht geäußert. Den Anfang machte Kommissionspräsident Delors. Er sagte in einem Fernsehinterview am 5. Januar 1992, das der Zukunft Europas nach Maastricht6 gewidmet war, auf mehrmalige, drängende Fragen nach dem möglichen Verhältnis der „force de frappe“ zur künftigen europäischen Verteidigung: „Wenn wir wirklich den Weg bis zu einem politischen Gemeinwesen gehen, bestehend aus einer Anzahl Nationen, die in den wesentlichen Bereichen eine gemeinsame Außenpolitik beschlossen haben, dann sollte die französische Nuklearstreitmacht nach meiner Vorstellung dieser gemeinsamen Politik dienen.“ Am Tag darauf, dem 6. Januar 92, forderte VM Joxe vor der Presse die Eröffnung einer breiten Strategie-Diskussion. Er beklagte, diese Diskussion sei in Frankreich nicht genug 1 2 3 4 5

Die Vorlage wurde von LR I Wenzel konzipiert. Hat MDg Hofstetter am 23. Januar 1992 vorgelegen. Hat MD Chrobog am 23. Januar 1992 vorgelegen. Hat StS Kastrup am 24. Januar 1992 vorgelegen. Hat im Ministerbüro Botschafter Elbe am 27. Januar 1992 vorgelegen. Hat VLR I Matussek am 7. Februar 1992 vorgelegen, der den Rücklauf an Referat 201 verfügte. Hat VLR I Bertram am 10. Februar 1992 erneut vorgelegen. 6 Zum Vertragswerk von Maastricht vgl. Dok. 3, Anm. 8.

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entwickelt. Über die Entwicklung in der früheren Sowjetunion und im Orient und die daraus resultierenden neuen Formen der Bedrohung müsse intensiv nachgedacht werden. Dies seien Fragen, die nicht nur Spezialisten vorbehalten bleiben dürften, sondern in der allgemeinen Öffentlichkeit wahrgenommen werden müssten. Am 10. Januar 92 verstärkte Delors während eines von Ministerin Guigou veranstalteten Europa-Seminars seine Aussage mit der Formulierung: „Niemand verwehrt mir zu denken, dass, wenn eines Tages die Europäische Gemeinschaft eine sehr starke Politische Union hat, warum werden dann nicht die Atomwaffen dieser politischen Autorität übertragen (,transfert‘)?“ Der ehemalige AM François-Poncet erklärte bei gleicher Gelegenheit: „Es ist klar, dass es am Ende der Straße der europäischen Solidarität auch eine nukleare Solidarität geben wird.“ Etwas später flocht Staatspräsident Mitterrand vor dem gleichen Forum in seine europapolitische Rede im Zusammenhang einer Schilderung der Schwierigkeiten, sich in Maastricht über die europäische Verteidigungsperspektive zu einigen, Folgendes ein: „Dieser Anfang einer (europäischen) Verteidigung wirft ungelöste Probleme auf, die gelöst werden müssen. Ich denke insbesondere an die Atomwaffen. Nur zwei unter den Zwölf besitzen eine Atomstreitmacht. Für ihre nationale Politik haben sie eine klare Doktrin. Ist es möglich, eine europäische Doktrin zu entwickeln? Diese Frage wird sehr schnell zu einer der Hauptfragen beim Aufbau einer gemeinsamen europäischen Verteidigung werden. Ich werde Ihnen keine Lösungselemente darlegen, das würde mich dazu veranlassen, für den Rest des Nachmittags zu Ihnen zu sprechen ...“7 II. Diese Äußerung Mitterrands wurde von den französischen Medien als sensationell gewertet. Mitterrand habe mit dieser ersten öffentlichen Erwähnung einer möglichen europäischen Zukunft der französischen Nuklearstreitmacht ein jahrzehntealtes innenpolitisches Tabu gebrochen. Er habe in geschickter Weise die indirekte Aufforderung zur Diskussion über die Zukunft der „force de frappe“ und damit über den Mythos nationaler französischer Unabhängigkeit mit dem Thema „Europa“ verbunden, seinem wichtigsten Zugpferd zur Wiedergewinnung der innenpolitischen Initiative. Außer dem unmittelbaren innenpolitischen Gewinn, Bruchlinien zur und innerhalb der linken (Kommunisten) und rechten Opposition (Gaullisten) aufzuzeigen, ziele diese Äußerung mittelfristig auf die Gewinnung von Handlungsfreiheit für unumgängliche Anpassungen der französischen Sicherheitspolitik, die notwendigerweise vom gaullistischen Dogma und vom bestehenden nationalen Konsens über Verteidigungsfragen wegführten. Als Beweggrund für Mitterrands Äußerung wird überwiegend darauf verwiesen, dass die französische Nukleardoktrin der Konfrontation mit den neuen strategischen Gegebenheiten ebenso wenig standhalte wie die frühere NATO-Strategie der „flexible response“8. Der Wegfall des Risikos einer strategischen Offensive der SU mache die französische Strategie der Abschreckung „des Starken durch den Schwachen“ mit den Elementen „prästrate7 Für die Ausführungen des französischen Staatspräsidenten Mitterrand am 10. Januar 1992 in Paris vgl. LA POLITIQUE ÉTRANGÈRE 1992 (Januar/Februar), S. 35. Für den deutschen Wortlaut vgl. FRANKREICH-INFO, Nr. 1 vom 17. Januar 1992, S. 1. 8 Das DPC der NATO stimmte am 12. Dezember 1967 in Brüssel dem Konzept der „flexible response“ zu. Demnach sollten begrenzte Angriffe zunächst konventionell und, falls notwendig, mit taktischen Nuklearwaffen abgewehrt werden. Lediglich bei einem Großangriff sollte das strategische nukleare Potenzial zum Einsatz kommen. Vgl. NATO STRATEGY DOCUMENTS, S. 345–370. Vgl. ferner AAPD 1967, III, Dok. 386.

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gische“ Warnung und anschließende Drohung mit massiver Zerstörung lebenswichtiger Räume sinnlos. Die französische Doktrin habe dem erhöhten Risiko konventioneller Auseinandersetzungen in Europa und der drohenden nuklearen Proliferation mit der Folge einer Ungewissheit über die strikte Beachtung herkömmlicher Abschreckungslogik durch neue Atommächte nichts entgegenzusetzen. Die Entwicklung von Systemen zur Abwehr von begrenzten Raketenangriffen (GPALS) entwerte weiter die von der französischen Doktrin vorausgesetzte Logik der reinen Abschreckung. III. Die Äußerungen Mitterrands sind in der für ihn charakteristischen Form bewusst aphoristisch und lassen damit ein ganzes Spektrum von Deutungsversuchen zu. Dieses zeigt bereits die Reaktion der französischen Presse. Wenn auch sicher eine monokausale Erklärung ausscheidet, lassen sich jedoch verschiedene Motive als Rationale seiner Äußerungen vermuten: 1) Innenpolitische Motive Dieser Gesichtspunkt fand in der französischen Presse ausreichende Beachtung (siehe hierzu oben). Eine gewisse Berechtigung wird derartigen Vermutungen nicht abzusprechen sein. Mitterrand verknüpft die Frage nach der Zukunft der französischen Nuklearstreitkräfte mit der von ihm angestoßenen Europadebatte im Vorfeld der Ratifizierung der Maastrichter Beschlüsse. Mit der Europadebatte versucht er, den sich herausbildenden Konsens über die europäische Zukunft Frankreichs endgültig zu befestigen. Die neu eingeführte nukleare Thematik soll dabei den Druck auf Teile der Opposition verstärken, sich mit einer erwarteten Absage gegen die europäische Strömung in Frankreich stellen zu müssen. Wenn dieses Kalkül aufginge, könnte es Präsident Mitterrand dabei helfen, sein innenpolitisches Tief zu überwinden. 2) Sicherheitspolitische Motive Versuch, die französischen Nuklearwaffen durch eine „europäische Lösung“ langfristig zu „retten“. a) Frankreich kann sich die Weiterverfolgung aller seiner bislang betriebenen nuklearen Rüstungsoptionen finanziell kaum und vielfach überhaupt nicht mehr leisten. Die finanziellen Mittel Frankreichs und in wichtigen Einzelbereichen auch seine technologischen Fähigkeiten sind überfordert. Diese Grenzen, an die das französische Nuklearprogramm gelangt ist, werden zunehmend kritischer auch in der französischen Öffentlichkeit nicht nur erkannt, sondern zur Begründung für die Forderung genommen, hier zu einer Neukonzeption zu gelangen. Neben einer Beschneidung und Konzentration der Programme bietet sich als Hilfe insbesondere an, die französische Nuklearstreitmacht auf die Optionen Rüstungskooperation, Arbeitsteilung und finanzielle Europäisierung abzustützen. b) Diskutiert und als Belastung empfunden werden in Frankreich jedoch nicht nur die genannten finanziellen und technologischen Schwierigkeiten. Festzustellen ist auch ein Akzeptanzschwund hinsichtlich Existenz und Rolle der französischen Atomstreitmacht. Der Wegfall der Sowjetunion und damit eine drastisch zugunsten des Westens geänderte Sicherheitslage stellen die Frage nach dem Sinn französischer Nuklearwaffen immer deutlicher. Auch zeigen die großen Erfolge der Rüstungskontrolle im nuklearen Bereich ihre Wirkung in der französischen Öffentlichkeit. Die französische Führung kann deshalb nicht länger als sicher davon ausgehen, dass sie den Konsens für den Erhalt einer eigenen französischen Atomstreitmacht bewahren kann. Mit dem Europäisierungsgedanken hat Mitterrand deshalb wohl bewusst initiativ den bislang unantastbaren nationalen Konsens zur 106

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Nuklearstrategie am rechten und linken Parteienspektrum herausgefordert. Mit der Einbringung der französischen Nuklearstreitmacht in eine europäische Verteidigung könnte deshalb auch die Absicht und Erwartung verbunden sein, einen politischen Konsens unter den westeuropäischen Partnern zum Erhalt der französischen Nuklearwaffen in einer europäischen Rolle herzustellen. 3) Europapolitische Motive Präsident Mitterrand könnte mit seinen Äußerungen aber auch darauf abzielen, bewusst einen weiteren Schritt hin zu einer gemeinsamen europäischen Verteidigung zu tun, und dies nicht nur aus den zuvor genannten Gesichtspunkten, sondern auch aus der Überzeugung heraus, dass eine zukünftige europäische Verteidigung eigene Nuklearstreitkräfte brauche. Frankreich weiß um seine Inkonsequenz, eine gemeinsame europäische Verteidigung anzustreben, ohne das französische Nuklearpotenzial einbeziehen zu wollen. Als Antwort darauf könnte Mitterrand mit seinen Äußerungen vom 10. Januar die Frage aufgeworfen haben, ob eine von nationalen Doktrinen unterschiedene europäische Doktrin entwickelt werden könne. Gleichzeitig stellte er die Behauptung auf, diese Frage würde rasch zu einem der wichtigsten Themen beim Aufbau einer gemeinsamen europäischen Verteidigung. Es gibt jedoch weder von Präsident Mitterrand noch aus seiner Umgebung deutliche Zeichen, wie diese Äußerungen genau zu interpretieren sind. Konzeptionell müsste im Falle der eher unwahrscheinlichen französischen Bereitschaft, auf diesem Wege voranzuschreiten, mit der Perspektive einer weitergehenden Vergemeinschaftung hin zu einer europäischen nuklearen Verteidigungskomponente schwieriges Neuland betreten werden. Eher ist anzunehmen, dass Frankreich entsprechend dem NPGModell in der NATO nur eine begrenzte Mitwirkung europäischer Partner („Konsultationsverfahren“) ins Auge fassen würde unter Wahrung seiner uneingeschränkten Verfügungsgewalt. Zur Diskussion stehen werden dann in einer späteren Entwicklung nicht nur bilaterale Gesichtspunkte aus dem deutsch-französischen Verhältnis. Europa muss sich für seine gemeinsame Verteidigung darüber klar werden, ob tatsächlich eigene Nuklearwaffen unerlässlich sind. Dies entspräche, wie dargelegt, dem Interesse Frankreichs, das dadurch hoffen kann, seine Nuklearwaffen und damit auch seinen Status als Nuklearmacht in einer wenn auch veränderten Weise zu erhalten. Die Konsequenz für Europa wäre jedoch, dass es damit langfristig zu einer Nuklearmacht werden kann. Es muss deshalb die Vorfrage beantworten, ob diese Aussicht für die Mitglieder der Europäischen Gemeinschaft konsensfähig ist, eine Frage, die bereits heute schon nicht mehr mit einem uneingeschränkten Ja zu beantworten sein dürfte. 4) In jedem Fall deutet Mitterrands Erklärung Möglichkeiten an, auf dem Weg zu einer gemeinsamen europäischen Verteidigung Fortschritte zu machen und damit Schritte zu gehen auf einem Weg, den wir in unserem bilateralen Gespräch mit Frankreich seit langem zu öffnen versuchen. Wir werden deshalb im Rahmen der bilateralen deutsch-französischen sicherheitspolitischen Zusammenarbeit anlässlich des nächsten Treffens der Arbeitsgemeinschaft für Strategie und Abrüstung dieses Thema aufgreifen und versuchen, die französischen Beweggründe auszuloten.9 Wir werden darauf zu achten haben, dass unser Infor9 Die nächste Sitzung der deutsch-französischen AG „Strategie und Abrüstung“ fand am 19. März 1992 statt. Vgl. B 14, ZA-Bd. 161200.

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mationsbedürfnis nicht als Interesse an einer bestimmten Option (z. B. nukleare Teilhabe) missverstanden wird. Bei den zukünftigen Gesprächen mit Frankreich kommt es dann darauf an, ohne Zeitdruck die Voraussetzungen zu klären, unter denen die französische Nuklearstreitmacht in den Dienst einer europäischen Verteidigung gestellt werden könnte. Dabei wird darauf zu achten sein, wie wir selbst die zukünftige Rolle von nuklearen Waffen in Europa sehen und wie wir eine solche europäische nukleare Verteidigung im Gleichklang mit dem Atlantischen Bündnis entwickeln könnten, ohne die französische Erwartung als „self­fulfilling prophecy“ zu unterstützen, dass sich die USA auch im nuklearen Bereich aus Europa zurückziehen werden. Bertram B 14, ZA-Bd. 161176

23 Drahterlass des Vortragenden Legationsrats I. Klasse Libal an die Botschaft in Belgrad 215-321.00 SER VS-NfD Fernschreiben Nr. 822 Plurez Citissime Betr.:

Aufgabe: 23. Januar 1992

Deutsch-serbische Beziehungen

Bezug: Gespräch BM mit Bo[tschafter] Eiff am 17.1.1992; hier: Gespräch Botschafter mit Präsident Milošević1 Enthält Weisung 1) Botschafter wird gebeten, dem serbischen Präs. die dt. Politik gegenüber den Völkern und Republiken des bisherigen Jugoslawien im persönlichen Auftrag von BM Genscher wie folgt zu erläutern: Die Politik der deutschen Bundesregierung ist von dem Bestreben bestimmt, zur Wahrung des Friedens zwischen den Völkern und Republiken des bisherigen Jugoslawien beizutragen, ihre Selbstbestimmung zu unterstützen und ihre Einbeziehung in die Prozesse der Integration Europas zu fördern. Die Bundesregierung sieht sich dabei aus einer Reihe von bekannten historischen und aktuellen politischen Gründen in einer besonderen Verantwortung. Sie misst gemeinsamem Handeln im Rahmen der Europäischen Gemeinschaft und anderer mit Jugoslawien befasster multilateraler Institutionen vorrangige Bedeutung bei. In Jugoslawien sind in jüngster Zeit tiefgehende politische Veränderungen eingetreten, deren Ursachen in den innerjugoslawischen Verhältnissen liegen. Einige Völker haben sich 1 Zum Gespräch des Botschafters Eiff, Belgrad, mit dem serbischen Präsidenten Milošević am 27. Januar 1992 vgl. Dok. 26.

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für die staatliche Unabhängigkeit in den bestehenden Grenzen entschieden. Diese Entscheidungen hat die Bundesregierung nach Maßgabe der im Rahmen der KSZE eingegangenen Verpflichtungen (Schlussakte von Helsinki2, Charta von Paris) zu respektieren. Ihre friedliche Verwirklichung muss sichergestellt sein. Ebenso muss der Schutz der Rechte von Angehörigen anderer jugoslawischer Völker in den bisherigen jugoslawischen Teilrepubliken sichergestellt sein, die sich für die staatliche Unabhängigkeit entschieden haben oder noch entscheiden werden. Die Bundesrepublik Deutschland hat sich deshalb sowohl für die internationale Anerkennung der infrage kommenden Republiken als auch für die Gewährleistung weitestgehender Rechte für die in diesen Republiken lebenden Angehörigen anderer jugoslawischer Völker aktiv eingesetzt und wird dies auch in Zukunft tun. Darüber hinaus misst die Bundesregierung dem Zustandekommen einer Gesamtregelung für die künftigen Beziehungen zwischen den bisherigen jugoslawischen Teilrepubliken auf der Grundlage des von der Konferenz über Jugoslawien erarbeiteten Vorschlages3 große Bedeutung bei. Zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Jugoslawien – sowohl als Ganzem als auch allen Völkern und Republiken – haben sich in den vergangenen Jahrzehnten auf allen Gebieten fruchtbare, für beide Seiten bedeutsame Beziehungen entwickelt. Bis in die jüngste Zeit war ein stetiger Aufschwung zu verzeichnen. Deutschland hat sich dabei stets für den Ausbau der Verbindungen Jugoslawiens zur Europäischen Gemeinschaft eingesetzt und hat die Einführung einer marktwirtschaftlichen Ordnung und pluralistischen Demokratie in Jugoslawien unterstützt. Unter den sich verändernden Verhältnissen in Jugoslawien wünscht die Bundesregierung, die Beziehungen Deutschlands zu allen jugoslawischen Völkern und Republiken nach gleichen Grundsätzen und Maßstäben fortzusetzen und weiterzuentwickeln und zu ihrer Einbeziehung in die europäischen Integrationsprozesse weiter beizutragen. Wie in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg will die Bundesregierung auch heute freundschaftliche Beziehungen mit allen Völkern des früheren Jugoslawien. In Fortsetzung ihrer bisherigen Politik ist die Bundesregierung insbesondere bereit, die Assoziation aller bisherigen jugoslawischen Teilrepubliken mit der Europäischen Gemeinschaft zu unterstützen. Dies gilt auch für die deutsche Politik gegenüber Serbien. Die Bundesregierung ist bereit, die Beziehungen zu Serbien zu entwickeln, soweit dafür auf serbischer Seite die Voraussetzungen bestehen. 2) Falls das Gespräch dazu Anlass bietet, sollte zu Einzelfragen wie folgt Stellung genommen werden: 2.1) Die deutsche Seite ist bereit, die Suspendierung der Verkehrsabkommen4 zum frühestmöglichen Zeitpunkt rückgängig zu machen. Voraussetzungen dafür sind die Einhaltung 2 Für die KSZE-Schlussakte vom 1. August 1975 vgl. SICHERHEIT UND ZUSAMMENARBEIT, Bd. 2, S. 913–966. Vgl. auch AAPD 1975, II, Dok. 191. 3 Für das Dokument „Treaty Provisions for the Convention“ vom 4. November 1991 („Carrington-Plan“) vgl. B 42, ZA-Bd. 175713. 4 In einem gemeinsamen Vermerk des Auswärtigen Amts sowie des BMWi und des BML vom 9. Januar 1992 wurde erläutert: „Das Bundeskabinett beschloss am 4.12.1991 die Suspendierung der bilateralen Verkehrsabkommen mit Jugoslawien (Straße, Wasser, Luft), die am 9.12.1991, 24.00 Uhr, nach Notifizierung gegenüber der jugoslawischen Seite in Kraft trat.“ Vgl. B 220, ZA-Bd. 158888.

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des mit dem Sonderbeauftragten des VN-GS vereinbarten Waffenstillstandsabkommens5 und die konstruktive Mitarbeit Serbiens in der Konferenz über Jugoslawien. 2.2) Für die positive weitere Entwicklung der deutsch­serbischen Beziehungen wird von Bedeutung sein, dass Serbien, in Übereinstimmung mit den Passagen der EG-Richtlinien6, von eventuellen Plänen Abstand nimmt, Gebietsteile bisheriger jugoslawischer Teilrepubliken im Wege einseitiger Akte in einem künftigen Teil-Bundesstaat einzugliedern. 2.3) Bei der weiteren Entwicklung der deutsch-serbischen Beziehungen wird die Bundesregierung u. a. die reale Gewährung von Autonomie- und Minderheitenrechten an die in Serbien lebenden ethnischen Minderheiten berücksichtigen. 2.4) BM Genscher steht AM Jovanović zur Erörterung beiderseits interessierender Fragen zur Verfügung. Libal7 B 42, ZA-Bd. 183600

24 Drahterlass des Referenten Wothe 422-413 GA (A) GUS Fernschreiben Nr. 853 Plurez Betr.:

23. Januar 19921 Aufgabe: 24. Januar 1992

Bundesdeckungen für Ausfuhrgeschäfte mit den Staaten der Gemeinschaft unabhängiger Staaten (GUS); hier: Kabinettsbeschluss vom 22.1.92

Das Bundeskabinett behandelte am 22.1.92 die Frage künftiger Deckungen für Ausfuhrgeschäfte mit den Staaten der GUS. Nach Diskussion fasste das Kabinett folgenden Beschluss: 1) Für Ausfuhrgeschäfte mit den Staaten der GUS für das Jahr 1992 wurde zunächst ein Rahmen von 5 Mrd. DM festgesetzt. Innerhalb dieses Rahmens gilt eine Orientierungsgröße pro Einzelgeschäft von 100 Mio. DM. Bei den zu deckenden Geschäften muss es sich entweder um Vorhaben handeln, die der Stärkung der wirtschaftlichen Leistungskraft des jeweiligen Bestellerstaates, insbesondere einer Verbesserung seiner Devisenlage, dienen, oder um Lieferungen ostdeutscher Unternehmen, die eine ausreichende Perspektive für die Erlangung der Wettbewerbsfähigkeit unter Marktbedingungen erkennen lassen. 5 Zu dem vom Sonderbeauftragten des VN-GS für Jugoslawien, Vance, ausgehandelten Waffenstillstandsabkommen vgl. Dok. 2, besonders Anm. 5. 6 Zu den Leitlinien der EG-Mitgliedstaaten vom 16. Dezember 1991 vgl. Dok. 2, Anm. 10. 7 Paraphe. 1 Drahterlass an die Botschaften in Minsk und Moskau sowie an das Generalkonsulat in Kiew.

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Deckungen werden nur für solche Staaten der GUS gewährt, die dem mit der G 7 vereinbarten Memorandum of Understanding vom 28.10.912 über die gesamtschuldnerische Haftung für die sowjetischen Altschulden beigetreten sind und es einhalten. Das bedeutet, dass die Ukraine, Usbekistan, Georgien und Aserbaidschan, die das MoU bisher nicht unterzeichnet haben, keine Deckung erhalten. 2) Die Einführung eines Deckungsrahmens von zunächst 5 Mrd. DM war notwendig geworden, da das Obligo des Bundes allein aus Deckungen von Geschäften mit der Sowjetunion bzw. den Nachfolgestaaten auf 29 Mrd. DM angeschwollen war. Zieht man die ebenfalls bundesbesicherten ungebundenen Finanzkredite in diese Berechnung mit ein, so erhöht sich das Obligo auf über 41 Mrd. DM. Darüber hinaus waren vom IMA3 Grundsatzzusagen für im Verhandlungsstadium befindliche Geschäfte mit einem Gesamtauftragswert von 22 Mrd. gegeben worden. Diese Grundsatzzusagen müssten im Falle der Realisierung des Geschäftes vom Bund honoriert werden. Weitere Anträge deutscher Firmen mit Abnehmern aus den GUS-Staaten mit einem Gesamtauftragswert von 70 Mrd. DM harren der Entscheidung. Es wird jedoch davon ausgegangen, dass die GUS-Staaten angesichts ihrer sehr angespannten Devisenlage nur noch wenige Geschäfte abschließen bzw. mit einer staatlichen Zahlungsgarantie versehen, die auch weiterhin Voraussetzung für eine Indeckungnahme bleibt. Der 5 Mrd. DM-Rahmen wird nach etwa drei Monaten nochmals überprüft werden, um dann eventuell nach den gemachten Erfahrungen korrigiert zu werden. 3) Die Prüfung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der einzelnen Staaten der GUS wird für die künftige Deckungspolitik gegenüber den einzelnen Staaten von besonderer Bedeutung sein. Alle Berichte und Angaben, die hierüber Aufschluss geben, sind daher von besonderem Wert. Die Prüfung, ob ein ostdeutscher Antragsteller auf Bundesdeckung ausreichende Zukunftsperspektiven unter Wettbewerbsbedingungen hat, wird vom BMWi in Zusammenarbeit mit der Treuhand in Berlin vorgenommen. Auch hier wird ein strenger Maßstab angelegt werden müssen. Der IMA wird in seiner nächsten Sitzung den Kabinettsbeschluss für den praktischen Gebrauch umsetzen. Hierzu erfolgt ein weiterer Erlass.4 Wothe5 B 55, ZA-Bd. 169855

2 Zum Memorandum of Understanding vom 28. Oktober 1991 vgl. Dok. 17. 3 Interministerieller Ausfuhrgarantieausschuss. 4 Zur Sitzung des IMA vom 13. Februar 1992 vgl. den DE Nr. 1843 des VLR I Runge vom 14. Februar 1992; B 52, ZA-Bd. 173905. 5 Paraphe.

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27. Januar 1992: Vorlage von Bertram

25 Vorlage des Vortragenden Legationsrats I. Klasse Bertram für Bundesminister Genscher 201-363.07

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Über Dg 202, D 23, Herrn Staatssekretär4 Herrn Bundesminister5 Betr.:

Äußerungen des saarländischen MP Lafontaine zu NATO­Sicherheitsgarantien für GUS-Mitglieder6

Bezug: Weisung 010 vom 27.1.1992 Zweck der Vorlage: Zur Unterrichtung 1) Am 13./14.1.1992 regte der saarländische MP und stellvertretende SPD-Vorsitzende Lafontaine an, die NATO solle unter bestimmten Voraussetzungen Sicherheitsgarantien für die Nachfolgestaaten der Sowjetunion übernehmen. Die Beistandsgarantie gegen Angriffe aus Drittstaaten solle seitens der NATO mit Zusagen der GUS-Staaten zugunsten atomarer Abrüstung und gemeinsamer politischer Kontrolle der Nuklearwaffen auf ihrem Gebiet verknüpft werden (gemeinsames Gremium von GUS und NATO zur Kontrolle „sowjetischer“ Atomraketen). Der Vorschlag stelle eine Zwischenlösung vor Aufnahme dieser Staaten in die NATO und ihrer Integration in die KSZE dar. Man müsse aufgrund des neuen sicherheitspolitischen Umfeldes anfangen, die NATO für die Staaten Osteuropas zu öffnen; dies sehe der NATO­Vertrag7 ausdrücklich vor (Anspielung auf Artikel 10, der Möglichkeit der Einladung an andere europäische Staaten vorsieht). 2) Der Vorschlag Lafontaines leitet seine auf ersten Blick gegebene Attraktivität aus der Zielsetzung her, v. a. die Nachfolgestaaten der ehemaligen SU in ein glaubwürdiges, bestehendes Sicherheitssystem einzubinden. Gerade die neuen Republiken sind auf der Suche nach sicherheitspolitischer Orientierung. Ihre sicherheitspolitischen Vorstellungen gründen sich häufig/weitgehend auf Misstrauen gegenüber den Nachbarn, das durch ethnische Spannungen zusätzlichen Auftrieb erhält. Wenn die NATO durch Ausweitung ihrer Sicherheitsgarantie ein Gefühl der äußeren Sicherheit vermittelt, könnte sie damit möglicherweise übertriebenes Abgrenzungsbestreben sowie politische Pressionen und Ambitionen zum Aufbau überdimensionierter Streitkräfte in den GUS-Staaten einfangen. 1 2 3 4

Die Vorlage wurde von VLR Ulrich konzipiert. Hat MDg Hofstetter am 27. Januar 1992 vorgelegen. Hat MD Chrobog am 27. Januar 1992 vorgelegen. Hat StS Kastrup am 27. Januar 1992 vorgelegen, der handschriftlich vermerkte: „Eine sehr gute und zutreffende Analyse.“ 5 Hat BM Genscher laut handschriftlichem Vermerk des VLR I Matussek vom 3. Februar 1992 vorgelegen. Ferner verfügte Matussek den Rücklauf an Referat 201. Hat VLR Schumacher am 3. Februar 1992 vorgelegen, der die Weiterleitung an VLR I Bertram und VLR Ulrich „n[ach] R[ückkehr]“ verfügte. Hat Bertram und Ulrich am 6. Februar 1992 erneut vorgelegen. 6 Zu den Äußerungen des saarländischen MP Lafontaine vgl. den Artikel „ ,Wir dürfen nicht zu spät kommen‘ “; DER SPIEGEL, Nr. 4 vom 21. Januar 1992, S. 34. 7 Für den NATO-Vertrag vom 4. April 1949 vgl. BGBl. 1955, II, S. 289–292.

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27. Januar 1992: Vorlage von Bertram

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Erste politische Reaktionen waren ablehnend. NATO-GS Wörner und BM Stoltenberg wiesen darauf hin, dass Zeit für solch weitgehende Initiative nicht reif sei. NATO würde mit derartigen Sicherheitsgarantien überfordert; Zusammenhalt innerhalb der Allianz werde ausgehöhlt. SPD-Vorsitzender Engholm plädierte für Zurückhaltung bei Ausweitung der NATO. Sicherheitsgarantien kämen ohnehin nur befristet in Betracht bis zum Aufbau eines neuen Systems kollektiver Sicherheit. 3) Die von Lafontaine präsentierten Überlegungen sind als politisch operatives Ziel ungeeignet. Die Ausweitung von Sicherheitsgarantien der NATO auf Nichtmitglieder ist auf absehbare Zeit im Bündnis keinesfalls konsensfähig. Sie wäre in vielen Fällen – den politischen Willen vorausgesetzt – kaum operativ umsetzbar (z. B. Verteidigung Kasachstans gegen Übergriffe aus Russland oder China?). Im Übrigen wäre es unrealistisch, zu erwarten, dass die GUS­Mitglieder ihre Nuklearwaffen gemeinsamer Kontrolle mit der NATO unterwerfen würden, wenn dies nicht entsprechend auch für Nuklearwaffen der Allianz vorgesehen würde. Lafontaines Vorstoß wirft mehrere grundlegende Fragen auf. Die beabsichtigte Befriedungswirkung beim Aufbau defensiv strukturierter Streitkräfte könnte sicherlich nur erzielt werden, wenn die zur Überlegung gestellten Sicherheitsgarantien der Allianz nicht nur im Falle eines Angriffs oder einer Bedrohung von außen wirken würden, sondern auch gerade im Verhältnis zu den übrigen GUS-Mitgliedern. Hier liegen die eigentlichen Befürchtungen und Ursachen der Instabilität. Berücksichtigt man das innerhalb der Allianz gegebene Verständnis, wonach der Bündnisfall gemäß Artikel 5 des NATO­Vertrages grundsätzlich nur im Falle eines Angriffs von außen (durch ein Nichtmitglied) gegeben ist, so wäre es sicherlich äußerst schwierig, im Falle von viel lockerer angebundenen Staaten eine weiterreichende Garantie zu geben. Es wäre darüber hinaus für die Allianz politisch gefährlich, sich in eventuelle Auseinandersetzungen der GUS-Mitglieder untereinander militärisch hineinziehen zu lassen, zumal unter dem Aspekt der vorhandenen Nuklearwaffen. Garantien zugunsten der GUS-Mitglieder würden im Übrigen die Frage nach dem Verhältnis der Allianz zu den MOE-Staaten aufwerfen (bei denen es keinen „Handel“ zwischen Garantie einerseits und politischer Kontrolle von Nuklearwaffen andererseits geben kann). Eine Ausweitung des Atlantischen Bündnisses nach Osten steht aus gutem Grund derzeit nicht auf der Tagesordnung, obwohl nicht für alle Zeiten ausgeschlossen werden kann und sollte, dass MOE-Staaten und GUS-Mitglieder einmal Zugang zum Bündnis finden. In diese Richtung gehen inzwischen auch Äußerungen von NATO-GS und in den USA, auch in Reaktion auf die Botschaft Jelzins an den Nordatlantischen Kooperationsrat am 20.12. 19918 (NATO-Beitritt als langfristiges politisches Ziel Russlands). Derzeit kommt dies allerdings auch insofern schon nicht in Betracht, als die GUS-Staaten noch keine konsolidierte Sicherheitspolitik haben und noch keinen grundlegenden Konsens dazu im eigenen Lande herstellen können. Dies wäre eine der unerlässlichen Voraussetzungen für jegliche Überlegung zur Aufnahme dieser Staaten in die NATO. 4) Die Alternative zu den Ideen Lafontaines besteht in dem von uns bereits seit längerem aktiv verfolgten kooperativen Ansatz. Innerhalb des Westens besteht grundsätzliches Ein8 Zur konstituierenden Tagung des NAKR in Brüssel und dem Schreiben des russischen Präsidenten Jelzin vgl. AAPD 1991, II, Dok. 439.

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27. Januar 1992: Vorlage von Bertram

vernehmen über die Notwendigkeit, sowohl die MOE-Staaten als auch die SU-Nachfolgestaaten in bestehende Strukturen einzubinden und sie an die hierfür maßgeblichen Institutionen wie insbesondere KSZE, EG, NATO/Nordatlantischer Kooperationsrat heranzuführen. Eine darauf gerichtete konsequente Politik liegt sowohl unter rüstungskontrollpolitischen Gesichtspunkten (KSE, Nuklearwaffen) als auch unter dem Aspekt der vorbeugenden Konfliktverhütung unter den MOE-Staaten und den GUS-Mitgliedern im eindeutigen westlichen Interesse. Die Aufnahme der SU-Nachfolgestaaten in die KSZE9 und in den Nordatlantischen Kooperationsrat10 steht in beiden Institutionen bereits konkret auf der Tagesordnung. Der Nordatlantische Kooperationsrat bietet einen geeigneten Rahmen, unterhalb der Schwelle der Mitgliedschaft (und unter Vermeidung der damit verbundenen Probleme) die MOE-Staaten und die GUS-Mitglieder in einem Forum für strukturierten Dialog und neuartige Formen der Zusammenarbeit im sicherheitspolitischen Bereich mit dem Nordatlantischen Bündnis und seinen Mitgliedstaaten zusammenzuführen. Ständiger Dialog und geregelter Meinungsaustausch sowie projektbezogene Zusammenarbeit bieten die Chance stabilitätsfördernder sicherheitspolitischer Reflexwirkung auch ohne Garantieversprechen. Die erfolgreiche Sitzung der erweiterten HLTF (16+) am 10.1.92 in Brüssel11 zu Fragen von Ratifikation und Umsetzung des KSE-Vertrages kann als ermutigendes Beispiel gewertet werden. NATO bzw. Nordatlantischer Kooperationsrat handeln dabei keineswegs in Konkurrenz zur KSZE. In Anbetracht der militärischen Strukturen und der eindeutigen Kompetenz in der verteidigungspolitischen Dimension ist die Allianz für diesen Teilbereich für die MOEStaaten und die GUS-Mitglieder der gesuchte und geeignete Gesprächspartner. Dieses Potenzial soll auf jeden Fall genutzt werden im Prozess des Aufbaus neuer kooperativer Sicherheitsstrukturen in Europa. Speziell für die Tätigkeit des Kooperationsrates gilt, dass hier ein unverwechselbares Betätigungsfeld ansteht, das gegenwärtig keine der anderen Institutionen (auch nicht die KSZE, wie von F ins Gespräch gebracht) leisten kann. Die Staaten der GUS ebenso wie in MOE eröffnen uns für die Betätigung im Kooperationsrat ein Feld, das bislang gegenüber westlicher Sicherheitsphilosophie hermetisch abgeschlossen war, nämlich den Bereich ihrer Sicherheit und Verteidigung. Sie stehen hier vor Fragen, zu deren Lösung sie nach eigener Erkenntnis selbstständig nicht in der Lage sind. Deshalb suchen sie verzweifelt nach Anleitung, nach unverdächtigen Informationen. 5) Sorgen bereitet in diesem Zusammenhang die sich abzeichnende französische Verweigerungshaltung gegenüber der Arbeit des Nordatlantischen Kooperationsrates. Dies kommt bei der Vorbereitung des auf der NAKR-Sitzung am 20. Dezember in Auftrag gegebenen Arbeitsplans deutlich zum Ausdruck. In anderem Zusammenhang haben französische Gesprächspartner Initiativen zur institutionellen Stärkung der KSZE zur Diskussion gestellt. Man denke an klaren völkerrechtlichen Unterbau der KSZE, auf dessen Grundlage auch die Frage einer Sicherheitsgarantie für alle KSZE-TNS geregelt werden könne. Derartige Vor9 Die GUS-Mitgliedstaaten wurden in der Sitzung des KSZE-Außenministerrats am 30./31. Januar 1992 in Prag aufgenommen. Vgl. Dok. 34. 10 Die Aufnahme der GUS-Mitgliedstaaten in den NAKR erfolgte in der Tagung am 10. März 1992 in Brüssel. Vgl. Dok. 74. 11 Zur konstituierenden Sitzung der hochrangigen Arbeitsgruppe des NAKR zum KSE-Vertrag vgl. Dok. 9, Anm. 14.

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28. Januar 1992: Drahtbericht von Eiff

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stellungen sollen erkennbar die Aufmerksamkeit vom Nordatlantischen Kooperationsrat ablenken, geleitet vom französischen Misstrauen gegenüber einer Ausweitung des US­Einflusses in Europa. Ohne einem zu großen Gewicht der USA in europäischen Angelegenheiten das Wort zu reden, sollte berücksichtigt werden, dass der im NAKR liegende kooperative Ansatz ohne aktiv gestaltende Mitwirkung der USA nicht erfolgversprechend ist. Problematisch ist hierbei namentlich der Zeitfaktor. Eine Lösung sicherheitspolitischer Fragen über KSZE-Strukturen ist sicherlich nur langfristig denkbar. Die Einbindung der MOE­Staaten und der GUS-Mitglieder in wirksame Strukturen zur Konfliktverhütung bzw. -lösung sowie die Umsetzung des KSE­Vertrages und die Regelung des Problems der vielen Nuklearwaffen auf GUS-Gebiet sind kurzfristig handlungsbedürftige politische Anliegen. Bei Stabilisierung und Gestaltung der Sicherheit im Osten Europas hat der Westen keine Zeit zu verschenken. Wir sollten daher mit allem Nachdruck auch gegenüber Frankreich für eine erfolgreiche Arbeit des Nordatlantischen Kooperationsrates unter Einbeziehung der SU-Nachfolgestaaten eintreten. Wichtig ist auf jeden Fall eine gemeinsame Zielrichtung der westlichen Politik gegenüber den neuen Entwicklungen im Osten Europas. Eine Entfernung Frankreichs von dem Bestreben einer gemeinsamen Ostpolitik des Westens und insbesondere der Zwölf im Rahmen der zukünftigen GASP wäre äußerst bedauerlich. Bertram B 14, ZA-Bd. 161239

26 Drahtbericht des Botschafters Eiff, Belgrad VS-NfD Fernschreiben Nr. 107 Citissime Betr.:

Aufgabe: 28. Januar 1992, 18.31 Uhr1 Ankunft: 28. Januar 1992, 20.08 Uhr

Deutsch-serbische Beziehungen

Bezug: Plurez Nr. 822 vom 23.1.19922 – 215-321.00 SER VS-NfD3 Zur Unterrichtung 1) Das Gespräch mit Präsident Milošević fand am 27.1. unter vier Augen statt und dauerte 1 1/2 Stunden. M. gab sich, wie gewohnt, kühl-sachlich und wurde zu keinem Zeitpunkt unfreundlich oder gar aggressiv. Ich erklärte meinen Gesprächswunsch mit einem persönlichen Auftrag des Bundesministers, ihm unsere JUG-Politik und insbesondere die deutsche Haltung zu den deutschserbischen Beziehungen zu erläutern, verlas Teil 1 der Bezugsweisung und übergab anschließend den Text als Gedächtnisstütze. 1 Das Fernschreiben wurde in zwei Teilen übermittelt. Vgl. Anm. 15. Hat VLR I Libal am 29. Januar 1992 vorgelegen. 2 Korrigiert aus: „23.1.1991“. 3 Für den Drahterlass des VLR I Libal vgl. Dok. 23.

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M. äußerte sich mit keinem Wort zu der auch für Serbien geltenden Assoziationsofferte und stellte auf die Verbesserung der Beziehungen Serbiens zu Deutschland, „dem wichtigsten EG-Mitglied“, ab. Kritik brachte er in Form von Fragen nach Grund und Sinn der „Eile“ bei den Anerkennungen4, nach dem Grund für die Verhängung von Sanktionen5 „nur gegen Serbien“ und in der Behauptung zum Ausdruck, deutsche Firmen würden Waffen an KRO liefern. Die Bundesregierung nahm er von dem Vorwurf der Mitwirkung bei Waffenlieferungen ausdrücklich aus. Mit Ausnahme von Izetbegović verschonte M. jug. Kontrahenten von Kritik, Tudjman geradezu betont. Erfreut reagierte er auf die „Liebenswürdigkeit von Minister Genscher“, dem serb. Außenminister zu einem erneuten Gespräch6 über beiderseits interessierende Fragen zur Verfügung zu stehen. 2) Im Einzelnen Milošević begann seine Erwiderung mit einigen plakativen Beteuerungen, dass nichts wichtiger sei als der Friede, dass Serbien die friedliche Verwirklichung des Selbstbestimmungsrechts aller jug. Völker bejahe und keine Territorialgewinne anstrebe, wobei er sich auf seine Ausführungen gegenüber dem Bundesminister am 1.7.19917 bezog. „Alle“ seien inzwischen wohl zu dem Schluss gekommen, dass der Einhaltung des Friedens absolute Priorität zukomme. Was die Selbstbestimmung angehe, so hätte sich diese bereits auf legale Weise vollziehen lassen, wenn der serb. Vorschlag zur entsprechenden Änderung der Bundesverfassung angenommen worden wäre. Er begrüße die deutsche Bereitschaft, die Beziehungen zu allen jug. Völkern und Republiken nach gleichen Grundsätzen und Maßstäben zu gestalten, könne jedoch nicht zustimmen, wenn wir davon ausgingen, dass JUG nicht mehr bestehe. Ein deutsches Interesse an der Teilung JUGs in sechs Republiken vermöge er nicht zu erkennen. Ich stellte klar, dass JUG, wie auch die Schiedskommission festgestellt habe, nach unserer Auffassung in der Auflösung begriffen sei8, wir aber bisher vom Fortbestand JUGs als 4 Zur Frage der Anerkennung von Kroatien und Slowenien vgl. Dok. 11, Anm. 4. 5 Auf einem außerordentlichen Treffen der Außenminister der EG-Mitgliedstaaten zu Jugoslawien am 8. November 1991 in Rom wurden folgende Maßnahmen beschlossen: „unverzügliche Aussetzung des Kooperations- und Handelsabkommens mit Jugoslawien und Aufkündigung dieses Abkommens; Wiedereinführung der mengenmäßigen Beschränkungen für Textilwaren; Streichung Jugoslawiens aus der Liste der Begünstigten des Allgemeinen Präferenzsystems; einstweiliger Ausschluss Jugoslawiens aus dem Programm PHARE; zur nächsten Ministertagung der Gruppe der 24 am 11. November 1991 wurde Jugoslawien nicht eingeladen. Darüber hinaus haben die Gemeinschaft und ihre Mitgliedstaaten diejenigen Mitgliedstaaten, die dem UN-Sicherheitsrat angehören, aufgefordert, diesen zu ersuchen, zusätzliche Maßnahmen zu ergreifen, um die Wirksamkeit des Waffenembargos zu erhöhen. Zudem haben sie beschlossen, den Sicherheitsrat aufzufordern, die notwendigen Maßnahmen im Hinblick auf die Verhängung eines Erdölembargos zu treffen. […] Die Gemeinschaft und ihre Mitgliedstaaten haben beschlossen, positive Ausgleichsmaßnahmen zugunsten der Parteien zu treffen, die friedlich zusammenarbeiten, um auf der Grundlage der EG-Vorschläge eine umfassende politische Lösung herbeizuführen.“ Vgl. BULLETIN DER EG 11/1991, S. 95 f. Vgl. ferner die Suspendierung der Verkehrsabkommen zwischen der Bundesrepublik und Jugoslawien mit Wirkung vom 9. Dezember 1991; Dok. 23, Anm. 4. 6 BM Genscher und der serbische AM Jovanović trafen am 27. August 1991 zusammen. Vgl. AAPD 1991, II, Dok. 288. 7 Für das Gespräch des BM Genscher mit dem serbischen Präsidenten Milošević in Belgrad vgl. AAPD 1991, II, Dok. 217. 8 Vgl. das Gutachten Nr. 1 der Schlichtungskommission der EG für Jugoslawien vom 29. November 1991; Dok. 16, Anm. 6.

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Völkerrechtssubjekt ausgingen. Deutschland habe kein Interesse an der Teilung des bisherigen JUGs, sondern reagiere auf die innerjug. Entwicklung. M. wandte sich – eher in generellen Andeutungen als konkret – gegen Fremdbestimmung bei der Lösung der Krise. Die jug. Partner müssten die politische Lösung in friedlicher Auseinandersetzung selbst finden, um danach die Lösung der drängenden wirtschaftlichen Krise endlich in Angriff nehmen zu können. Kein Weg führe daran vorbei, dass Serben, Kroaten und alle anderen Völker in Zukunft wieder friedlich zusammenleben müssten, und sie müssten den Modus vivendi selbst finden. Als Beispiel für aus seiner Sicht unnütze ausländische Einflussnahme erwähnte M. das in Montenegro vorgesehene Referendum9, das „unter dem Druck Italiens – und möglicherweise auch anderer –“ stattfinde, um Serbien und Montenegro zu entzweien. Serbien habe nichts dagegen, dass ein solches Referendum stattfinde. Serbien habe von diesem Referendum nichts zu fürchten. Es könnten hunderte Referenden stattfinden, ihren Ausgang kenne man jeweils im Voraus. Sehr gefährlich sei die Lage in Bosnien-Herzegowina (B+H). Izetbegović verschärfe dort mit seinem Drängen auf beschleunigte Lösung die Probleme, die er in der Welle der Anerkennung von Slowenien und Kroatien zu lösen hoffe. Auf M.s Frage, warum Deutschland den Prozess der Anerkennungen beschleunige, antwortete ich, es gebe kein generelles deutsches Drängen auf Anerkennungen. In den Fällen Slowenien und Kroatien sei für die deutsche Haltung der Versuch ausschlaggebend gewesen, durch Einsatz der JVA den in Volksentscheiden und Parlamentsbeschlüssen10 eindeutig zum Ausdruck gekommenen Volkswillen mit Waffengewalt zu unterdrücken. M. reagierte hierauf nicht. Zu B+H führte M. weiter aus, es werde dort keine Intervention von serb. Seite geben. Dort komme es darauf an, dass die drei Volksgruppen (Mohammedaner, Serben, Kroaten) zu einem Übereinkommen fänden, das jeder der drei Gruppen eine gleichberechtigte Stellung gewährleiste und Serben sowie Kroaten die notwendige enge Verbindung zu Serbien bzw. Kroatien sichere. Gegen eine friedliche Lösung spreche in B+H nichts. Weder Serben noch Kroaten seien dort als Volksgruppen bedroht. Unannehmbar sei dagegen eine Regelung, in der die Serben von Mohammedanern und Kroaten gemeinsam überstimmt und mit der Schaffung eines unabhängigen, von JUG getrennten Staates vor vollendete Tatsachen gestellt würden. Die internationale Anerkennung dieses Staates würde die Anerkennung von weniger als der Hälfte von dessen Territorium bedeuten, da über die Hälfte des Grundbesitzes Serben gehöre (!?). Auf meine Frage, ob er für die Erhaltung von B+H, und sei es als unabhängiger Staat, oder für den Anschluss der serbischen Gebiete von B+H an einen Reststaat JUGs sei, antwortete M., er halte eine „Mittellösung“ für erforderlich. Eine solche „Mittellösung“ zu konkretisieren, vermied M. trotz Nachfrage. Auf meinen Hinweis, Izetbegović habe erklärt, 9 BR I. Klasse Lutz, Belgrad, berichtete am 22. Januar 1992, das montenegrinische Parlament habe am Vortag ein Referendum über den künftigen Status Montenegros beschlossen, das „im Verlauf des Frühjahrs 1992“ stattfinden sollte. Strittig sei aber noch die genaue Fragestellung. Vgl. DB Nr. 86; B 30, ZABd. 158143. 10 Bei einem Referendum in der jugoslawischen Teilrepublik Slowenien sprachen sich am 23. Dezember 1990 88,2 Prozent der Wähler für die Unabhängigkeit Sloweniens aus. In Kroatien fand am 19. Mai 1991 ein Referendum statt, bei dem sich 94,7 % für die Unabhängigkeit aussprachen. Am 25. Juni 1991 erklärten sich Kroatien und Slowenien durch Beschlüsse ihrer jeweiligen Parlamente für unabhängig. Vgl. AAPD 1991, I, Dok. 211.

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an den Grenzen der unabhängigen Republik B+H werde es weder Kontrollen noch die Erhebung von Zöllen geben, entgegnete M., Izetbegović sei nicht vertrauenswürdig. Er habe die Entscheidung über die Durchführung des Referendums in B+H11 in separater Sitzung der muslimischen und kroat. Abgeordneten durchgedrückt, nachdem der Parlamentspräsident (Krajišnik, Serbe) mit allgemeiner Zustimmung das Ende der Debatte verkündet habe. Auf meine Empfehlung, die Frage der Grenzen nicht zu dramatisieren und zu berücksichtigen, dass, wie die europäische Erfahrung der letzten Jahrzehnte lehre, Grenzen hingenommen werden müssten, um gegenstandslos werden zu können, entgegnete M., er verstehe dies, doch gehe es nicht an, dass die Serben in B+H in Grundfragen ihrer ethnischen Existenz überstimmt würden. Er wiederholte, dass in B+H die notwendige Vertrauensbasis inzwischen fehle. Ich sagte, für die Lage in B+H wie überhaupt in JUG scheine mir bestimmend zu sein, dass allseits kein Vertrauen bestehe. M., der richtig verstanden hatte, erwiderte knapp, der einzige Vorwand für Misstrauen gegenüber Serbien bestehe darin, dass Serben zusammenbleiben wollten. Auf Frage nach seiner Meinung zu einer Teilung von B+H antwortete M., eine solche würde Krieg bedeuten. Tudjman habe ihm zwar verschiedentlich Avancen in Richtung auf Teilung von B+H gemacht, doch sei er entschieden dagegen. Auf Nachfrage, ob er auch in jüngster Zeit mit Tudjman darüber gesprochen habe: Er wolle Tudjman „nicht denunzieren“. Auf M.s Frage, warum Sanktionen nur gegen Serbien verhängt würden, entgegnete ich Folgendes: Den Krieg in Kroatien habe nach aus den serb. Medien zu schöpfenden Erkenntnissen eine Koalition zwischen JVA, Serbien und Serben in Kroatien geführt. Dabei sei es, allein nach serb. Quellen, nicht nur um den Schutz der Serben in Kroatien oder um das Auseinanderhalten der Streitparteien gegangen. Die Ereignisse um Vukovar und Dubrovnik belegten, dass es vielmehr um die Gewinnung von Territorium zumindest als Faustpfand gehe; die Erklärung des Bundesverteidigungsministers Kadijević vom 3.10.199112 habe spätestens klargemacht, dass, unter dem Vorwand der Bekämpfung eines Ustascha-Regimes, Krieg gegen Kroatien geführt werde; in der sogen. SAO13 Slawonien, Baranja und WestSyrmien würden Kroaten vertrieben oder ihre Rückkehr nicht zugelassen. Diese Vorkommnisse widersprächen dem europäischen Kodex und den Grundsatzerklärungen der serb. Führung. Die serb. Führung habe sich von diesen Vorkommnissen und Erklärungen – außer in beschränktem Maße im Falle Dubrovnik – nicht distanziert. Deshalb sei es nur logisch, 11 Botschafter Eiff, Belgrad, berichtete am 28. Januar 1992, das Parlament Bosnien-Herzegowinas habe am 25. Januar 1992 mit den Stimmen der Abgeordneten der muslimischen Partei SDA und der kroatischen Partei HDZ „nach zähem Ringen“ den Beschluss gefasst, ab 29. Februar/1. März 1992 ein Referendum über die Unabhängigkeit durchzuführen. Die Abgeordneten der serbischen Partei SDS hätten unter Protest den Sitzungssaal vor der Abstimmung verlassen. Vgl. DB Nr. 103; B 30, ZA-Bd. 158143. 12 In der Presse wurde zu den Äußerungen des jugoslawischen VM Kadijević berichtet: „Accusing the leaders of Croatia of neo-nazism, Gen[eral] Kadijevic appealed to all ,patriots‘ to defend the country from fascism and genocide, but he stopped short of ordering a mobilisation and denied that the army planned to stage a coup.“ Vgl. den Artikel „Full-scale army invasion of Croatia ,within days‘ “; THE GUARDIAN vom 4. Oktober 1991, S. 1. 13 Srpska Autonomna Oblast (Serbischer Autonomer Bezirk).

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dass sie dafür mitverantwortlich gemacht werde. Er, M., habe den Krajina-Chef Babić mit öffentlichem Brief am 8.1. wegen seines unkonstruktiven Verhaltens zum Einsatz der VNFriedenstruppen scharf gerügt. Entsprechende Distanzierungen wären wünschenswert gewesen und noch immer wünschenswert, wann immer die gesetzten Fakten in Widerspruch stünden zu den prinzipiellen Erklärungen der serb. Führung. So im Falle Vukovar, im Falle der Infaustpfandnahme von kroat. Territorium in Slawonien etc. und der von der slawonischen SAO-Führung durchgeführten Vertreibungsmaßnahmen an Kroaten. Er, M., verfüge über die stärkste politische Autorität. Er werde gehört, von ihm seien die entsprechenden Klarstellungen und Distanzierungen zu erwarten. M. erwiderte, er könne Serben außerhalb Serbiens keine Direktiven geben, doch tue er das ihm Mögliche. Die Intervention im Raume Dubrovnik sei ein schwerer Fehler gewesen. Dubrovnik sei eine kroat. Stadt. Serbien habe dort keine Interessen. In Vukovar sei es um die Entsetzung der dortigen JVA-Garnison gegangen. Auf meinen Hinweis, die Zerstörung von Vukovar sei nach der Entsetzung wochenlang weitergegangen: Wenn solche Kämpfe einmal begonnen hätten, folgten sie ihren eigenen Regeln. Zu den Umsiedlungsmaßnahmen in Slawonien, Baranja und Srem: Alle Flüchtlinge müssten zurückkehren können, wie dies in dem Vance-Abkommen14 vorgesehen sei, auch kroatische. Zu Kadijevićs „Kriegsziel“-Erklärung: keine Äußerung. M. beteuerte seine Bemühungen, auf andere mäßigend einzuwirken. In Serbien seien die Scharfmacher inzwischen die „Deutschland-Fans“ (gemeint = die Führer der Demokraten Mićunović und Djindjić, die sich neuerdings für die Krajina-Serben einsetzen). Auf meine Bemerkung, ich sähe unter serbischen Politikern zurzeit wenige „Deutschland-Fans“: „Wir“ sind ihre größten Fans. „Wir“ wissen, wie wichtig unsere Beziehungen zu Deutschland auf allen Gebieten sind. Nichts stehe auf serbischer Seite deren Entwicklung im Wege. 15Was die Regelung der Probleme in Kroatien angehe, so sei es unumgänglich, dass die kroat. Führung die Führer der dortigen Serben endlich als Partner akzeptiere und mit ihnen über die Statusfragen rede. Da es „nicht um Grenzfragen“ gehe (!), seien die Führer der Serben in Kroatien dafür die einzig in Betracht kommenden Partner der kroat. Führung. Das vom Sabor verabschiedete Minderheitengesetz sei leider ein schwaches, unzulängliches Gesetz. Um keine Fragen offenzulassen, verlas ich abschließend Nr. 2 der Bezugsweisung über die Voraussetzungen für die Aufhebung der Verkehrs-Sanktionen und für eine Verbesserung der deutsch-serb. Beziehungen. Zusätzlich warnte ich besonders, deutsche Zurückhaltung gegenüber der Entwicklung in B+H für Desinteresse zu nehmen. M. forderte schlicht, „die Sanktionen“ aufzuheben. Auf meinen Hinweis, dass die EG als Ganzes Sanktionen verhängt habe und die Suspendierung der Verkehrsabkommen durch Deutschland lediglich eine nationale Zusatzmaßnahme darstelle: Wenn Deutschland seine Sanktionen aufhebe, werde auch die EG ihre Sanktionen aufheben. Serbien wende seinerseits die von der jug. Bundesregierung verhängten Gegensanktionen nicht an (wie eine Selbstverständlichkeit gesagt). Der deutsche Verkehr in und durch Serbien sei frei. Auf Frage, wie die serb. Regierung diese Freiheit angesichts der gegebenen Bundeszustän14 Zu dem vom Sonderbeauftragten des VN-GS für Jugoslawien, Vance, ausgehandelten Waffenstillstandsabkommen vgl. Dok. 2, besonders Anm. 5. 15 Beginn des mit DB Nr. 108 übermittelten zweiten Teils des Fernschreibens. Vgl. Anm. 1.

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digkeiten gewährleisten könne: In der Praxis sehe er da keine Probleme (? – hierzu wurde am 27.1. besonders berichtet16). Zur Frage der realen Gewährleistung von Autonomie und Minderheitenrechten in Serbien (Kosovo-Problem) verzichtete M. auf die gewohnte Litanei (dass die Albaner mehr Rechte hätten als irgendeine andere Minderheit in Europa) und entschuldigte das Ausbleiben von Wahlen zu den Provinzparlamenten mit entsprechenden Forderungen der Opposition. Nunmehr seien Wahlen zu den Provinzparlamenten noch für dieses Frühjahr vorgesehen. Voraussetzung sei allerdings die Beruhigung der Lage in JUG. M. bejahte, dass die Gewährleistung von Menschen- und Minderheitsrechten keine innere Angelegenheit und die Anteilnahme Europas unter KSZE-Gesichtspunkten keine Einmischung darstelle, betonte jedoch, dass die autonomen Provinzen integrale Bestandteile Serbiens seien, dessen Grenzen ebenso wie diejenigen der anderen bisherigen Teilrepubliken unantastbar seien. Ich erklärte, was für die anderen Republiken gelte, gelte auch für Serbien. Am Ende des Gesprächs äußerte M. die Behauptung, deutsche Firmen würden Waffen an Kroatien liefern, u[nd] z[war] insbesondere Waffen aus früheren DDR-Beständen. Dabei sei er überzeugt, dass die deutsche Regierung damit nichts zu tun habe. Ich erwiderte, in den serb. Medien würden ständig derartige Behauptungen erhoben, die von deutscher Seite jeweils nachgeprüft würden. In jedem Falle habe sich bisher ergeben, dass die Behauptung gegenstandslos sei. Leider sei der Eindruck entstanden, dass in den serb. Medien, insbes. denen, die ihn, M., unterstützten, nach dem Motto vorgegangen werde, man muss nur Dreck werfen, es bleibt immer etwas hängen. Solches Vorgehen müsse leider als Teil einer Verleumdungskampagne gesehen werden, die in den serb. Medien, die die serb. Führung unterstützten, seit Monaten gegen Deutschland geführt werde. Diese Kampagne habe sich für die deutsch-serb. Beziehungen sehr ungünstig ausgewirkt. M. erwiderte, an dieser Kampagne nähmen keinesfalls offizielle serb. Vertreter teil. Ich verneinte dies unter Hinweis auf unannehmbare Äußerungen u. a. des früheren serb. stellvertr. Ministerpräsidenten, Prof. Košutić, was M. mit der Bemerkung quittierte, dieser sei nicht mehr im Amt (wie wenn Košutić deswegen nicht mehr im Amt wäre!). Zur Frage angeblicher deutscher Waffenlieferungen an Kroatien bat ich abschließend um unverzügliche Mitteilung jedweder Hinweise, denen sofort mit der gebotenen Sorgfalt nachgegangen werde, und stellte die Haltung der Bundesregierung zum Waffenembargo gegenüber JUG17 erneut klar. 3) Mit Außenminister Jovanović habe ich für den 29.1. ein Gespräch vereinbart, um das mit M. geführte Gespräch zu vertiefen. 4) Bewertung Aus dem Gespräch halte ich zwei Beobachtungen fest: 16 Botschafter Eiff, Belgrad, teilte mit, am 24. Januar 1992 sei einem aus der Bundesrepublik kommenden LKW der Transit in Richtung Türkei gestattet worden. Allerdings sei auch auf Nachfrage offengeblieben, ob diese Regelung auf einer Entscheidung des jugoslawischen Verkehrsministeriums beruhe oder auf einer allgemeinen Weisung der serbischen Regierung und wessen Weisungen die Grenzorgane künftig Folge leisteten. Vgl. DB Nr. 99; B 57, ZA-Bd. 176609. 17 Mit Resolution Nr. 713 vom 25. September 1991 verhängte der VN-Sicherheitsrat ein Waffenembargo gegen Jugoslawien. Vgl. RESOLUTIONS AND DECISIONS 1991, S. 42 f. Für den deutschen Wortlaut vgl. EUROPA-ARCHIV 1991, D 550–552.

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4.1) M. ging auf den Inhalt der ihm übermittelten Botschaft des Bundesministers kaum ein und fragte auch nicht nach den Voraussetzungen, von denen wir die Verbesserung der Beziehungen zu Serbien abhängig machen. Dies entspricht M.s Art, sich nichts zu vergeben und den Gesprächspartner kommen zu lassen. Außer Zweifel scheint mir dabei zu stehen, dass M. eine Verbesserung der Beziehungen zu Deutschland dringend wünscht. Als Wirtschaftsfachmann ist ihm die Bedeutung der wirtschaftlichen Verbindungen Serbiens zu Deutschland hinreichend bewusst. Ebenso wenig habe ich Zweifel, dass M. Deutschland nüchtern und ohne ideologische Verklemmungen sieht und die – inzwischen zur Ruhe gekommene – Propaganda gegen das Vierte Reich18 in den ihn unterstützenden Medien im Grunde für dummes Zeug hält. Die Beziehungen zu Deutschland – wie zu einigen anderen der europäischen Hauptpartner – sind für M. dabei wichtiger als Beziehungen zur Europäischen Gemeinschaft als Gesamtheit. Von diesen geht er wohl aus, dass sie von selbst laufen werden, wenn die Beziehungen zu den Hauptpartnern in Ordnung sind. 4.2) Hinsichtlich der innerjug. Beziehungen fällt M.s Konzentration auf B+H auf, das im Vordergrund seines Interesses zu stehen scheint. Slowenien und Mazedonien kamen in M.s Äußerungen nicht mit einem Wort vor, und auch der Kroatien-Konflikt erschien beinahe schon abgehakt. M. tat so, wie wenn es für ihn dort ein Grenzproblem überhaupt nicht gäbe, vermied aber auch selbstverständlich die Festlegung, dass es keines gäbe. Ich habe den Eindruck, dass M. davon ausgeht, dass in B+H allmählich das Endspiel in Gang kommt und er seine Karten noch nicht bereit ist aufzudecken. Für M. dürfte es zwei akzeptable Varianten der Lösung der B+H-Krise geben: entweder Überführung von ganz B+H in „Jugoslawien“ oder die Teilung mit Kroatien. Da die erste Variante heute objektiv kaum mehr realisierbar erscheint, möchte ich annehmen, dass M. die Idee der Teilung mit Kroatien, trotz gegenteiliger Beteuerung, ebenso fasziniert, wie dies ganz eindeutig bei Tudjman der Fall ist, und dass er meint, gemeinsam mit Tudjman mit den „Mohammedanern fertigwerden“ zu können. Diese würden sowohl in Groß-Serbien als auch in GroßKroatien mit „großzügigster Autonomie“ abgefunden werden. Auf keinen Fall würde M. der Schaffung eines mohammedanischen Staates zustimmen, von dem aus die Destabilisierung des mehrheitlich von Mohammedanern bewohnten serbischen Sandžak befürchtet werden müsste. Die angebliche Gefahr des islamischen Fundamentalismus, die jetzt auch Tudjman als Vogelscheuche zu schwenken scheint, um womöglich als Verteidiger des Abendlandes zu posieren, ist nicht so sehr M.s Sache, wird jedoch von vielen Serben todernst genommen und lässt sich hier politisch nach Belieben instrumentalisieren. Die Gefahr liegt auf der Hand, dass den beiden Hauptführern die Entwicklung von Ereignissen über den Kopf wachsen könnte, für deren Ingangsetzung oder Nichtverhinderung sie wieder einmal hauptverantwortlich wären. Nach meinen Gesprächen in Sarajevo in der zweiten Wochenhälfte19 hoffe ich, einige Anregungen zu unserer Stellungnahme übermitteln zu können. [gez.] Eiff B 42, ZA-Bd. 183600 18 Zur Berichterstattung serbischer Medien über ein „Viertes Reich“ vgl. AAPD 1991, II, Dok. 369. 19 Botschafter Eiff, Belgrad, berichtete am 3. Februar 1992 über Gespräche mit führenden Vertretern der Teilrepubliken und der drei Volksgruppen am 30./31. Januar 1992 in Sarajevo. Aus den Gesprächen seien folgende Schlussfolgerungen zu ziehen: Wenn das Referendum nicht stattfinde oder scheitere, drohe die

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27 Vorlage des Vortragenden Legationsrats I. Klasse Neubert für Bundesminister Genscher 213-320.10/1 ARM

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Über Dg 212, D 23, Herrn Staatssekretär4 Herrn Bundesminister5 Betr.: Krisenpotenzial in Nagorny Karabach Zweck der Vorlage: Zur Unterrichtung 1) Nagorny Karabach ist eine armenische Bevölkerungsenklave auf dem Boden Aserbaidschans; von der armenischen Grenze trennt sie ein an der schmalsten Stelle etwa 8 km breiter Streifen. Die Bevölkerungsmehrheit (77 %; 180 000) ist armenisch; der armenische Anteil ist aber wegen der antiarmenischen Ausschreitungen rückläufig. 2) Der Sonderstatus – „autonomes Gebiet“ – aus sowjetischer Zeit ist de facto mit der Unabhängigkeit Aserbaidschans beendet worden. Das hierarchische System von souveränen Sowjetrepubliken bis zu autonomen Kreisen kommt aus der sowjetischen Verfassungstradition und die neu entstandenen Staaten fühlen sich nicht (zwingend) daran gebunden. Dies gilt namentlich für Russland und Georgien. Russland hat die Aufhebung des Autonomiesystems zugunsten einer Föderalisierung mit neuen Ländern nur wegen des parlamentarischen Widerstandes gegen das neue Verfassungsprojekt noch nicht durchsetzen können (die Vertreter der nationalen Autonomien fürchteten zu Recht deren Entmachtung). Georgien betrachtet die Autonomien im eigenen Lande ebenfalls als abgeschafft, während diese sich weiterhin6 als autonom oder gar bereits als souverän verstehen wollen. Ausnahmen sind Usbekistan und Armenien: Die karalkapakische Autonomie besteht fort, aber es gibt auch keine örtlichen Loslösungsbestrebungen; der Autonomiestatus Nachitschewans in Armenien ist durch einen internationalen Vertrag7 garantiert. Fortsetzung Fußnote von Seite 121 Teilung von Bosnien-Herzegowina. Die Bundesregierung solle sich für den Erhalt Bosnien-Herzegowinas in seinen gegenwärtigen Grenzen öffentlich und auf diplomatischem Wege einsetzen. Eiff befürwortete ferner den Empfang einer aus allen drei Volkgruppen bestehenden Wirtschaftsdelegation und empfahl, das Angebot einer EG-Assoziierung öffentlich noch stärker zum Ausdruck zu bringen sowie eine jugoslawische Wirtschaftsgemeinschaft zu unterstützen. Vgl. DB Nr. 133/134; B 42, ZA-Bd. 183107. 1 2 3 4 5

Die Vorlage wurde von LRin I Haber konzipiert. Hat MDg von Studnitz am 31. Januar 1992 vorgelegen. Hat MD Chrobog am 31. Januar 1992 vorgelegen. Hat StS Kastrup am 1. Februar 1992 vorgelegen. Hat BM Genscher am 9. Februar 1992 vorgelegen. Hat OAR Rehlen am 10. Februar 1992 vorgelegen, der den Rücklauf über das Büro Staatssekretäre, MD Chrobog und MDg von Studnitz an Referat 213 verfügte. Hat VLR I Reiche am 10. Februar 1992 vorgelegen. Hat Chrobog am 11. und Studnitz am 12. Februar 1992 erneut vorgelegen. Hat LRin I Haber erneut vorgelegen. 6 Korrigiert aus: „sich als weiterhin“. 7 Vgl. den Freundschaftsvertrag vom 13. Oktober 1921 zwischen der Türkei, Armenien, Aserbaidschan und Georgien sowie Russland (Vertrag von Kars); BRITISH AND FOREIGN STATE PAPERS, Vol. CXX, S. 906–913.

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Aserbaidschan hatte – seit die armenische Irredenta ihrerseits den Anschluss N[agorny] K[arabach]s an Armenien forderte – bereits mehrere Vorstöße zur Abschaffung des Autonomiestatus unternommen; es ließ sich aber immer wieder Kompromisse abnötigen (im Staatsrat, mit den Armeniern, durch die Jelzin/Nasarbajew-Vermittlung). Die Auflösung des sowjetischen Reiches entbindet – aus aserbaidschanischer Sicht – Baku von jeder Rücksichtnahme auf die (überlebte sowjetische) Verfassungsordnung und auf Kompromisse, die dieser Ordnung Geltung verschaffen wollten. Der aserbaidschanische Präsident Mutalibow hat deswegen Nagorny Karabach seinem Präsidialregime unterstellt und Sonderbevollmächtigte für die Region angekündigt. Die sowjetischen Truppen (Teile der vierten Armee) sind aus Nagorny Karabach zurückgezogen worden. Für Aserbaidschan ist Nagorny Karabach heute integraler Bestandteil aserbaidschanischen Territoriums, von diesem durch keinerlei Sonderstatus unterschieden. 3) Armenien akzeptiert den aserbaidschanischen Anspruch auf Nagorny Karabach nicht. Aus armenischer Sicht dreht sich der Streit nicht um Minderheitenregelungen oder um Gewährung gewisser Autonomierechte: In Nagorny Karabach geht es um einen Territorialkonflikt. Für Armenien ist Nagorny Karabach ein Kernland des alten armenischen Königreiches; dort konnten sich, noch lange nach dem Zusammenbruch des Königreiches im 11. Jhd., autonome armenische Fürsten halten. Nach der Besetzung des unabhängigen Armenien durch die Rote Armee 1920 wurde den Armeniern – u. a. – der Verzicht Aserbaidschans auf Nagorny Karabach zugesichert. Die Zusicherung wurde nicht erfüllt. 1923 wurde N.K. auf aserbaidschanischen Druck ein autonomes Gebiet innerhalb Aserbaidschans. Aserbaidschan dagegen stellt sich auf den Standpunkt, dass die Region N.K. und Transkaukasien erst in zaristischer Zeit gezielt mit Armeniern besiedelt worden sei (u. a. eine Folge des Völkermordes an Armeniern und des armenischen Exodus aus der Türkei). Aserbaidschan sei 1923 von der Sowjetmacht gezwungen worden, Sangesur und den See Gueuttschka8 an Armenien abzutreten sowie eine Autonomie in N.K. zu schaffen. Nagorny Karabach war seit 1986 der Kristallisationspunkt für die armenische Nationalbewegung. Die armenische Irredenta – es gab sie auch in sowjetischer Zeit – forderte den Anschluss an Armenien oder zumindest die administrative Unterstellung Nagorny Karabachs unter Armenien. Damit war der Status quo offen infrage gestellt; dies zog die offizielle armenische Politik in den Sog und radikalisierte in der Rückwirkung die Haltung Aserbaidschans. In der Souveränitätserklärung und anderen Einlassungen des armenischen Parlamentes wird das Gebiet als integraler Bestandteil armenischen Territoriums reklamiert. Die wachsende Konfrontation mit Aserbaidschan hat aber einen taktischen Kurswechsel bewirkt. Der Anschluss ist heute weiterhin das selbstverständliche Fernziel; Selbstbestimmung und Unabhängigkeit der Enklave das Vehikel. Nagorny Karabach hat sich nach der ersten aserbaidschanischen Unabhängigkeitserklärung im August am 29.8.1991 für unabhängig (einschließlich der wirklich eindeutig zu Aserbaidschan gehörenden Bezirke Ghanlar und Shahumyan) erklärt und dies in einem Referendum [am] 11.12.1991 für Unabhängigkeit und Gestaltungsfreiheit im Hinblick auf die Beziehungen zu anderen Staaten (eine Art Anschlussoption) bestätigen lassen. 99 % aller armenischen Einwohner votierten dafür, aber 8 Vermutlich Göktscha, der aserbaidschanische Name des Sewan-Sees.

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die Aserbaidschaner blieben der Wahl fern. Baku erklärte die Wahl für illegal und veranstaltete seinerseits ein Referendum in ganz Aserbaidschan über Unabhängigkeit und territoriale Integrität: Die über 90 % Zustimmung betrachtet Baku nunmehr als Legitimitätsgrundlage für seine N.K.-Politik. 4) Damit stehen sich zwei konfligierende Rechtsauffassungen gegenüber. Die Folgen: In der Nagorny Karabach herrschen bürgerkriegsähnliche Zustände. Den aserbaidschanischen Truppen (OMON9 – in die die früheren paramilitärischen Formationen integriert worden sind –, ehemalige sowjetische Innenministeriumstruppen und sowjetische Kräfte, die dem aserbaidschanischen Oberbefehl unterstellt worden sind) stehen armenische paramilitärische Verbände gegenüber, zum Teil bis an die Zähne bewaffnet aus dem illegalen Handel der früheren sowjetischen Soldaten mit ihrem Kriegsgerät. Die Kämpfe haben zahlreiche Menschenleben gekostet. Internationale Beobachter (etwa: Lady Cox, Deputy Speaker des Oberhauses, die mit einer Delegation der Christian Solidarity International nach N.K. gereist ist) und armenische Berichte schreiben sie – wahrscheinlich mit einigem Recht – aserbaidschanischen Angriffen zu. Dies fügt sich auch in das Gesamtbild aserbaidschanischer Politik, die von ihren Machtmitteln gegenüber Armeniern sichtbar Gebrauch macht. Die Armenier verfügen aber – namentlich in Frankreich, Großbritannien und den USA – über eine starke Lobby, die der armenischen Sicht besondere Öffentlichkeitswirkung verschafft. Dass auch Aserbaidschaner Opfer sind, gerät deswegen leicht in den Hintergrund. Über 200 000 Aserbaidschaner wurden (vor allem 1988: Opfer von Gewalt und psychologischem Terror in Armenien) aus Armenien vertrieben; und die Morde an Aserbaidschanern fanden weniger Publizität (ein typisches Beispiel: der Hubschrauberabsturz im Nov. 1991, bei dem eine Reihe aserbaidschanischer Regierungsmitglieder zu Tode kamen; der erneute Abschuss eines Hubschraubers am 28.1.; Kämpfe bei Karin Tak, 26.1.). Nagorny Karabach befindet sich im Belagerungszustand. Aserbaidschan blockiert die Verkehrswege. Die Versorgung soll vor schweren Engpässen – Lebensmittel, Medizin – stehen. Lediglich die Energieversorgung ist angeblich wiederaufgenommen worden. 5) Der Konflikt hat auch eine internationale Dimension. Aserbaidschan ist zwar Mitglied der GUS; es gibt aber deutliche Hinweise, dass es die völlige Loslösung anstrebt. MP Hassanow ist der Exponent dieses Kurses. In der Verteidigungsgemeinschaft vertritt Aserbaidschan heute bereits eine Haltung wie die Ukraine. Präsident Mutalibow hat die konventionellen Streitkräfte seinem Kommando unterstellt. Eine Auseinandersetzung um die Aufteilung der kaspischen Flottille zeichnet den Konflikt um die Schwarzmeerflotte10 nach. Anstatt in Moskau sollen aserbaidschanische Offiziere künftig an der türkischen Kriegsakademie ausgebildet werden. Aserbaidschan richtet seine Politik an der Türkei aus – die gleichzeitig Garantiemacht für das autonome Nachitschewan ist und die aserbaidschanische Position in Nagorny Karabach unterstützt. Armenien dagegen war einer der ersten Staaten, der Bereitschaft zur Teilnahme an der Brester Union11 erklärte; es ist heute Mitglied der GUS, und es ist einer der Staaten, die in ihrem Integrationswillen am weitesten gehen. Armenien hat seine konventionellen Streit9 Otrjad Mobilny Ossobowo Nasnatschenija (Mobile Einheit besonderer Bestimmung). 10 Zur Frage der Aufteilung der Schwarzmeerflotte vgl. Dok. 13, Anm. 37. 11 Zum Treffen bei Brest vgl. Dok. 1, Anm. 2.

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kräfte dem GUS-Oberbefehl unterstellt. Es ist, seit es keine Mittel verfassungsrechtlicher und direkter politischer Einwirkung auf Aserbaidschan mehr hat, abhängig von auswärtiger Unterstützung. Dieser Faktor spiegelt sich in einer „Anlehnungspolitik“ an Russland und die GUS. Deswegen widersetzt sich Armenien dem Abzug der ehemals sowjetischen Streitkräfte, in denen es peacekeeping forces sieht. Freischärler versuchten sogar, den Abzug durch die Entführung von zwei ehemals sowjetischen Militärs in Armenien zu verhindern. Der Trend zur Russifizierung der GUS-Verteidigungspolitik (Jelzin hat die Unterzeichnung eines Dekrets über die Unterstellung der konventionellen GUS­Truppen auch außerhalb Russlands unter russischen Schutz und russische Jurisdiktion verkündet; die Existenz des Dekrets wird aber seither von seinem Beraterstab im Hinblick auf die Verhandlungen mit der Ukraine vertuscht) bedeutet für Armenien, dass der große Nachbar Russland in Armenien involviert sein wird – als Gegengewicht zur Türkei und als Anwalt armenischer Interessen in Aserbaidschan. Russland will dies aber derzeit gar nicht. Der Abzug aus Armenien geht deswegen voran. Es spricht ebenfalls für sich, dass Russland ausländischer Vermittlung jetzt den Vortritt lassen will. 6)12 Beide Seiten vertreten unterschiedliche Positionen in punkto Verhandlungen: – Armenien will Verhandlungen unter Vermittlung von außen. Der Verhandlungsgegenstand ist für Armenien die Herauslösung der Enklave aus aserbaidschanischer Hoheit – in welcher Form auch immer. Es setzt auf KSZE-Involvierung. AM Hovannisian hat anlässlich des KSZE-AM-Rats13 in Prag auf Entsendung einer Beobachtermission in das Friedensgebiet gedrängt. Auch Appelle an die VN liegen vor. – Aserbaidschan lädt zwar zu Beobachtermissionen ein. Ansonsten akzeptiert es aber lediglich Verhandlungen mit der armenischen Seite. Verhandlungsgegenstand ist für Aserbaidschan nur die „Frage des Lebensstandards“ – also Aufhebung der Blockade usw. Internationale Vermittlung lehnt Aserbaidschan heute im Gegensatz zu früheren Einlassungen ab. Es steht aber in gewisser Weise unter dem Druck der Türkei, die Vermittlung befürwortet und sich angeboten hat. 7) Die KSZE ist seit der Aufnahme beider Staaten durch das Nagorny-Karabach-Problem unmittelbar betroffen. Die Entsendung einer KSZE-Mission steht u. U. bevor. Damit wird die KSZE zum ersten Mal in der Region tätig. Es wird im Hinblick auf die Optionen unseres weiteren Vorgehens wichtig sein, weder bei den Partnern noch bei den Betroffenen und in der Öffentlichkeit Erwartungen zu wecken, die sich im unruhigen Kaukasus nicht oder nicht annähernd erfüllen lassen. Lösungen für die Krise wird man durch die Sicherstellung von Minoritäten­ und Autonomierechten der Armenier (und der anderen Minderheiten) in Aserbaidschan suchen müssen. Wir sollten armenischen Forderungen nach voller Verwirklichung des Selbstbestimmungsrechtes der „Karabacher“ entgegenhalten, dass es um die Umsetzung der aserbaidschanischen Bekenntnisse zu den Prinzipien zu Demokratie und Menschenrechten auf der Grundlage der KSZE-Dokumente gehen muss: Dies muss der Weg sein, den latenten Bürgerkrieg in N.K. und die Ausschreitungen gegen Armenier zu beenden.14 Eine territoriale 12 Korrigiert aus: „5)“. Die nachfolgende Nummerierung wurde durchgehend korrigiert. 13 Zur zweiten Sitzung des KSZE-Außenministerrats am 30./31. Januar 1992 vgl. Dok. 34. 14 Der Passus „Wir sollten armenischen … Armenier zu beenden“ wurde von BM Genscher hervorgehoben. Dazu vermerkte er handschriftlich: „r[ichtig]“.

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Lösung im Sinne Armeniens dürfte von außen nicht durchsetzbar sein; entsprechende Illusionen können nur Enttäuschungen bescheren und bescheidenere, aber realistischere Lösungswege blockieren. Neubert B 41, ZA-Bd. 171718

28 Runderlass des Vortragenden Legationsrats I. Klasse Bettzuege 012-9-312.74 VS-NfD Fernschreiben Nr. 6 Ortez Betr.:

31. Januar 19921 Aufgabe: 3. Februar 1992

VN-Sonderkommission Abrüstung Irak gem. SR-Res. 6872

Bezug: Ortez Nr. 55 vom 6.8.19913 1) Nach nunmehr neunmonatiger Tätigkeit kann die SK vor allem auch dank des erheblichen deutschen Beitrags (RL 2424 als Kommissionsmitglied; zwei Transall und drei Hubschrauber mit 50 Soldaten Personal in der Region; 13 Inspektoren, davon drei als Teamchefs) eine beachtliche Bilanz ziehen. a) In insgesamt 26 multinational zusammengesetzten Vor-Ort-Inspektionen mit knapp 300 Experten aus 34 Ländern ist ein Großteil der CW-/BW- und der ballistischen Raketenbestände einschließlich der Forschungs- und Produktionsanlagen erfasst und, soweit bislang möglich, vernichtet worden. Insbesondere konnte inzwischen die Zerstörung von 62 SCUD- und Al-Hussein-Flugkörpern, von über 460 Raketenkomponenten und der Hauptbestandteile von insgesamt fünf Superkanonen abgeschlossen werden. Die komplizierte und kostspielige Verbrennung von C-Kampfstoffen läuft gegenwärtig an. b) Auf nuklearem Feld führten insgesamt neun Inspektionen unter Federführung der IAEO trotz irakischer Obstruktion und Täuschungsmanöver zu einem alle Befürchtungen übertreffenden Bild. Nach dem Urteil von Experten war die Realisierung des irakischen Entwicklungsprogramms offensichtlich schon so weit fortgeschritten, dass die Herstellung eines ersten Kernsprengkörpers nicht von der Waffentechnik, sondern nur noch von der Produktion einer ausreichenden Menge hochangereicherten Urans abhing. Hierbei hat Bagdad mehrere Entwicklungswege parallel verfolgt und sich insbesondere auf das von den 1 Der Runderlass wurde von VLR I Frick konzipiert. 2 Für die Resolution Nr. 687 des VN-Sicherheitsrats vom 3. April 1991 vgl. RESOLUTIONS AND DECISIONS 1991, S. 11–15. Für den deutschen Wortlaut vgl. EUROPA-ARCHIV 1991, D 227–233. Zur bisherigen Tätigkeit der VN-Sonderkommission Abrüstung Irak und zur Zusammenarbeit mit der Bundesregierung vgl. AAPD 1991, II, Dok. 257. 3 In dem am 5. August konzipierten und am 6. August 1991 übermittelten Runderlass informierte VLR Trautwein über die Tätigkeit der VN-Sonderkommission Abrüstung Irak. Vgl. B 5, ZA-Bd. 161321. 4 Peter von Butler.

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USA entwickelte elektromagnetische Verfahren sowie auf die von D, GB und NL auf der Basis des Vertrages von Almelo5 gemeinsam industriell genutzte Technik der Gasultrazentrifuge (GUZ) abgestützt. c) Es ist unverändert zu vermuten, dass der Irak Teile seiner Bestände und Kapazitäten, insbesondere im Nuklearbereich, bislang noch verbergen konnte. Um zu einer völligen Enttarnung der Programme oder aber doch noch zu einer freiwilligen Offenlegung durch Bagdad zu kommen, hat der Sicherheitsrat mit Resolution 715 vom 11.10.19916 ein vorerst unbefristetes Langzeitverifikationsregime mit fortgesetzter intensiver Inspektionstätigkeit (any time, any place, no right of refusal) unter gleichzeitiger Aufrechterhaltung der Sanktionen aus Resolution 687 beschlossen. Dieses Regime stellt das wohl weitgehendste rüstungskontrollpolitische Überwachungssystem dar, das in der neueren Völkerrechtsgeschichte einem nicht besetzten Land auferlegt wurde. Die Schärfe des Regimes hat der Irak selbst verursacht. Ursprüngliche Überlegungen, die Verifizierung von Resolution 687 in erster Linie auf kooperativen Elementen aufzubauen, wurden durch das Verhalten Bagdads in den Hintergrund gedrängt. Der Sicherheitsrat sieht sich nach wie vor veranlasst, den im Text bewusst gewählten Ansatz der Waffenstillstandsresolution, in mittelfristiger Perspektive eine massenvernichtungsfreie Zone Nahost/Mittelost und eine allgemeine regionale Abrüstung unter Einbeziehung aller Staaten anzustreben, bis zum Eintreten grundlegend veränderter Umstände einstweilen zurückzustellen. 2) In dem Bemühen, weitere Inspektionsorte mit dem Ziel der völligen Aufdeckung des irakischen Rüstungsprogramms zu identifizieren, hat die SK Ende vergangenen Jahres einen zusätzlichen Weg eingeschlagen. Da die nachrichtendienstlichen Anhaltspunkte weitgehend ausgereizt sind, wird nun durch Kontaktaufnahme mit Regierungen einzelner VN-Mitgliedstaaten versucht, deren Erkenntnisse über konkrete Zulieferungen aus ihrem Hoheitsbereich, über Transportwege und über Abnehmer im Irak zu erbitten und damit Hinweise auf bisher nicht-deklarierte Lager-, Forschungs- und Produktionsstätten zu erhalten. Die Bundesregierung hat als erste Anfang Januar 1992 auf Ersuchen der SK dem stv. Vorsitzenden Gallucci (USA) Unterlagen über spezifische deutsche Zulieferungen zum irakischen GUZ-Programm im Rahmen einer eingehenden Unterrichtung in Bonn zur Verfügung gestellt7 und damit vorbildliche Kooperation gezeigt. Mit unserem Material und dem der SK konfrontiert, sah sich die irakische Regierung veranlasst, ihr bisher geleugnetes GUZEntwicklungsprogramm einzuräumen. 3) Die Bundesregierung hat mit der Offenlegung ihrer Erkenntnisse einen weiteren wesentlichen Beitrag zur Erfüllung der SK-Aufgabenstellung geleistet. Ihre Haltung hat den VN zu einem entscheidenden neuen Erfolg bei der Enttarnung des irakischen Massenvernichtungsprogramms verholfen. Unsere Politik umfassender Zusammenarbeit hat sowohl vonseiten 5 Für das Übereinkommen vom 4. März 1970 zwischen der Bundesrepublik, Großbritannien und den Niederlanden über die Zusammenarbeit bei der Entwicklung und Nutzung des Gaszentrifugenverfahrens zur Herstellung angereicherten Urans und die zugehörigen Dokumente vgl. BGBl. 1971, II, S. 930–949. 6 Für die Resolution Nr. 715 des VN-Sicherheitsrats vom 11. Oktober 1991 vgl. RESOLUTIONS AND DECISIONS 1991, S. 26 f. 7 Zum Besuch des stellvertretenden Vorsitzenden der VN-Sonderkommission Abrüstung Irak, Gallucci, am 9. Januar 1992 vgl. Dok. 8.

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des VN-GS im Gespräch mit dem Bundesminister am 23.1.1992 in New York8 als auch durch die Spitzen von SK und IAEO hohe Anerkennung erfahren. In einem nächsten Schritt ist die SK gegenwärtig dabei, bei Inspektionen erhaltenen Hinweisen auf kommerzielle Zulieferungen aus weiteren Staaten nachzugehen und vergleichbare Unterrichtungen, wie sie sie von uns erhalten hat, nunmehr von Frankreich, Italien, Schweiz, Spanien und auch von Brasilien anzufordern. Andere Länder werden folgen. 4) Im Einvernehmen mit der SK haben wir diesen Schritt mit einem entsprechenden Appell an alle VN-Mitgliedstaaten unterstützt, der als Dokument des Sicherheitsrates zirkuliert wurde.9 Insgesamt erwarten wir dadurch eine Klarstellung, dass auch eine Vielzahl von Unternehmen anderer Industriestaaten am Aufbau des irakischen Potenzials beteiligt war. Wir hoffen zugleich, damit dem unzutreffenden, vor allem in der englischsprachigen Presse verbreiteten Eindruck entgegenzuwirken, dass allein deutsche Firmen für die Existenz der irakischen Massenvernichtungsprojekte verantwortlich seien. Bettzuege10 B 5, ZA-Bd. 161325

29 Drahtbericht des Botschafters Blech, Moskau Fernschreiben Nr. 472 Citissime Betr.:

Aufgabe: 31. Januar 1992, 19.56 Uhr1 Ankunft: 31. Januar 1992, 18.14 Uhr

Fall Honecker2; hier: russische Haltung

Bezug: Telefonat RL 2133 – Botschafter vom 31.1. sowie Telefonat Dg 514 – Stüdemann vom 29.1. 8 Im Gespräch mit VN-GS Boutros-Ghali wies BM Genscher darauf hin, „dass die Angaben der Bundesregierung über deutsche Zulieferungen zum irakischen Atomwaffenprogramm den VN-GS in die Lage versetzt hätten, vom Irak das Eingeständnis seines umfangreichen Urananreicherungsprogramms zum Zwecke des Atombombenbaus zu erzwingen. Es sei für uns nicht akzeptabel, dass wir dadurch gegenüber anderen Zulieferländern singularisiert erschienen. Wir erwarteten, dass auch andere betroffene Regierungen die gleiche Kooperationsbereitschaft wie wir zeigten. VN-GS antwortete, dass ihm dies ebenfalls am Herzen liege.“ Vgl. den mit DB Nr. 147 des Botschafters Graf zu Rantzau, New York (VN), übermittelten Gesprächsvermerk; B 43, ZA-Bd. 160772. 9 Vgl. das Schreiben des Botschafters Graf zu Rantzau, New York (VN), vom 21. Januar 1992 an VN-GS BoutrosGhali (S/23449); https://documents-dds-ny.un.org/doc/UNDOC/GEN/N92/025/38/pdf/N9202538.pdf. 10 Paraphe vom 3. Februar 1992. 1 Der Drahtbericht wurde von BR I Stüdemann, Moskau, konzipiert. 2 Der ehemalige GS des ZK der SED, Honecker, hielt sich seit 1990 in einem sowjetischen Militärkrankenhaus in Beelitz auf. Nachdem eine Beschwerde Honeckers gegen einen Haftbefehl wegen Totschlags im Zusammenhang mit Fluchtversuchen an der innerdeutschen Grenze abgewiesen wurde, verbrachte ihn ein

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Zur Unterrichtung

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1) An der eindeutigen russischen Haltung, Honecker beim Verlassen der chilenischen Botschaft sofort nach Deutschland zu expedieren, hat sich nichts geändert. Alle anderslautenden Medienberichte und Spekulationen entbehren der Grundlage. Ich stieß auf dem Wege zu Gajdar am 28.1. zufälligerweise auf Justizminister Fjodorow und kam bei dieser Gelegenheit auf den Fall Honecker, dessentwegen wir uns in der Vergangenheit ja häufig gesehen hatten, zu sprechen. Fjodorow (F.) unterstrich noch einmal die uns bekannte russische Position und teilte mir darüber hinaus mit, dass er in den letzten Tagen die Bewachung um die chilenische Botschaft verschärft habe, denn es habe „Geräusche“ gegeben. Ein russisches Flugzeug warte nach wie vor für den Fall, dass Honecker nach Deutschland ausgeflogen werden müsse. Nachfrage im Justizministerium nach den „Geräuschen“ ergab, dass russische Seite sehr genau registriert hat, dass Botschafter Almeyda aus Chile zurückgekehrt ist und sich Honeckers Tochter hier aufgehalten hat. Ich habe nach der Meldung im Berliner Kurier noch einmal im Justizministerium nachfragen lassen. Auch diesmal wurde uns bestätigt, dass die russische Haltung unverändert sei. 2) Wir müssen uns im Klaren sein, dass, wenn wir als Reaktion auf – gelinde gesagt – nicht immer seriöse, gelegentlich vielleicht auch bestimmte „Parteilichkeiten“ reflektierende Medienberichte das russische Justizministerium involvieren, damit zumindest konkludent dessen Glaubwürdigkeit strapazieren. Daran kann uns nicht gelegen sein. Eine andere Sache ist es, wie lange die russische Seite es noch hinnehmen will, dass der chilenische Botschafter unter Verletzung völkerrechtlicher Normen einen Mann beherbergt, den Russland juristisch belangt. Wir sollten allerdings sehr vorsichtig sein, Moskau in diese Richtung zu drängen. Unter keinen Umständen können wir dies in schärferem Maße als dem, womit wir gegenüber den Chilenen auf eine Änderung des rechtlich nicht begründeten Zustandes drängen. Sie beherbergen H. als „Gast“, um ihn unserer und der russischen Jurisdiktion zu entziehen. Völkerrechtsgemäß wird dies nicht dadurch, dass die Russen, entsprechend Völkerrecht, auf Honecker in der chilenischen Botschaft nicht ihre Hand legen können. Sie werden dieses Argument aber nicht stärker gegenüber Chile zur Geltung bringen, als wir es tun, weil Chile auf diese Weise H. unserer Justiz entzieht. Der rechtliche Schwerpunkt liegt im deutsch-chilenischen Verhältnis. Im Grunde geht es nicht nur darum, dass Santiago uns dauernd versichert, es werde H. nicht hereinlassen. Notwendig ist auch eine Versicherung, dass seine Botschaft in Moskau sich an keiner krummen Tour zur Umgehung der klaren russischen Beschlusslage, die entschlossen vom russischen Justizminister gehalten wird, beteiligt. Die russische Regierung befindet sich in einer außerordentlich kritischen Lage. Jede negative Publizität hier in Sachen Honecker könnte, selbst wenn sie an sich nicht dieses Gewicht hat, das Fass zum Überlaufen bringen. Ich erinnere daran, dass Fjodorow bereits vor Weihnachten sehr deutlich darauf hingewiesen hat, dass die Sache Honecker Fortsetzung Fußnote von Seite 128 sowjetisches Militärflugzeug am 13. März 1991 nach Moskau. Die russische Regierung forderte Honecker am 10. Dezember 1991 auf, bis zum 13. Dezember 1991 in die Bundesrepublik auszureisen. Daraufhin begab sich Honecker zusammen mit seiner Frau am Folgetag in die chilenische Botschaft in Moskau. Vgl. zuletzt AAPD 1991, II, Dok. 423 und Dok. 424. 3 Klaus Neubert. 4 Hartmut Hillgenberg.

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für die russische Regierung durchaus auch brisant ist. Aus hiesiger Sicht gilt es deshalb umso mehr, auf die chilenische Seite einzuwirken, dass sie diesem Zustand ein Ende setzt. [gez.] Blech B 38, ZA-Bd. 184704

30 Drahtbericht des Botschafters Hach, Tripolis Fernschreiben Nr. 93 Betr.:

Aufgabe: 2. Februar 1992, 12.00 Uhr1 Ankunft: 2. Februar 1992, 12.37 Uhr

Lockerbie2; hier: VN-Resolution 7313

Die libysche Haltung Die Abstimmung über Res. 731 im SR der VN hat Libyens Führung drastisch vor Augen geführt, dass sie in der Welt keine Freunde hat. Dennoch war Gaddafis Antwort an den Abgesandten des VN-GS am 26.1.924 ein leicht verbrämtes Nein. Er deutete lediglich die Möglichkeit eines dritten, also nicht libyschen oder alliierten Gerichtsstandes an, dem man die Angeschuldigten überstellen könnte. Dies war nicht genug, um den GS der VN5 zu einer Reise nach Tripolis zu motivieren, die offenbar zunächst erwogen worden war. Deshalb fällt es schwer, den Optimismus des GS des Allg. Volkskongresses, el-Gheriani, zu teilen, der in einem privaten Gespräch am 30.1.92 versicherte, Libyen werde nicht die Dummheit des Irak wiederholen, sondern noch rechtzeitig einen Ausweg finden. Wenn kein Wunder geschieht, werden also Sanktionen gegen Libyen beschlossen werden. 1 Hat VLR Freiherr von Stackelberg am 4. Februar 1992 vorgelegen. 2 Zu den Anschlägen auf Flugzeuge der PanAm im Dezember 1988 bzw. UTA im September 1989 vgl. Dok. 14, Anm. 2 und 4. 3 Der VN-Sicherheitsrat verabschiedete am 21. Januar 1992 einstimmig die Resolution Nr. 731. Darin wurden die Anschläge auf Flugzeuge der PanAm im Dezember 1988 bzw. UTA im September 1989 verurteilt, Libyen für seine ungenügende Unterstützung amerikanischer, britischer und französischer Bemühungen, die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen, kritisiert und zur Zusammenarbeit aufgefordert. Ferner sollten VN-GS Boutros-Ghali und alle VN-Mitgliedstaaten Libyen zur Zusammenarbeit auffordern. Vgl. RESOLUTIONS AND DECISIONS 1992, S. 51 f. 4 Botschafter Vergau, New York (VN), berichtete am 31. Januar 1992: „Die Entsendung von USG Safronschuk nach Libyen hat keine Möglichkeiten für einen Kompromiss zwischen den Positionen der USA, GBs und Frankreichs auf der einen, Libyens auf der anderen Seite erbracht. Safronschuk hatte nur den Auftrag, den Text und die Implikation von SR-Res. 731 zu erläutern. Bei seiner Rückkehr nach New York konnte er über keine positiven Ergebnisse berichten.“ VN-GS Boutros-Ghali werde sich noch für kurze Zeit bemühen, Libyen zur Auslieferung der Beschuldigten der Anschläge auf Flugzeuge der PanAm im Dezember 1988 bzw. UTA im September 1989 zu bewegen. Vgl. DB Nr. 223; B 30, ZA-Bd. 158137. 5 Boutros Boutros-Ghali.

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Die Wirksamkeit von Sanktionen Nach Mitteilungen der hier vertretenen nichtständigen SR-Mitgliedstaaten sei mit der Unterbindung des Flugverkehrs, aller kommerziellen Transaktionen und Einfrieren allen libyschen Eigentums im Ausland zu rechnen. – Die Einstellung des Flugverkehrs nach Libyen hätte ohne Zweifel im Lande eine große psychologische Wirkung. Eine wirkliche Isolierung träte nur ein, wenn Malta, Tunesien und Ägypten zur Teilnahme veranlasst werden könnten. Aber auch dann könnten Tripolitaner den Flughafen Djerba auf dem Landweg in fünf Stunden erreichen. Da seit Jahresbeginn die Landgrenzen Libyens für Nichtaraber gesperrt sind, würde die Verhängung des Luftembargos automatisch Zehntausende westlicher Experten und Firmenvertreter zu Geiseln des libyschen Regimes machen. – Dem Einfrieren des Eigentums ist Libyen partiell bereits durch die Verlegung von Vermögen in arabische Staaten zuvorgekommen. Wegen des üblichen Mangels an Publizität schwanken die Schätzungen zwischen 15 und 30 Mrd. US-Dollar. Die Botschaft hält die niedrigeren Schätzungen für eher zutreffend. – Um die Warenströme nach und aus Libyen wirksam zu unterbinden, müsste neben die relativ einfache Blockade der Häfen eine Sperrung des Straßenverkehrs mit Ägypten und Tunesien treten. Andernfalls könnte durch die Verstärkung der Straßengütertransporte aus den Nachbarländern eine Versorgung mit allen lebenswichtigen Gütern gesichert werden. Problematisch würde die Energieversorgungslage Spaniens, das vom libyschen Erdgas abhängt. Italien würde wahrscheinlich nur unter der allgemeinen Energieverteuerung leiden, die bei Ausfall der libyschen Erdölqualität nach Auffassung deutscher Erdölexperten unvermeidlich sein wird. – Der Ausfall der Erdölerlöse, Libyens einziger Einnahmequelle, könnte wahrscheinlich weit über ein Jahr lang aus dem in die arabischen Länder evakuierten Kapital kompensiert werden. Durch die Einstellung ohnehin sinnloser Großprojekte müsste lediglich die Grundversorgung der Bevölkerung finanziert werden. Die innenpolitische Wirkung von Sanktionen in Libyen Im Innern würden die Folgen der Sanktionen von der Unfähigkeit des Regimes ablenken, die anstehenden wirtschaftlichen Probleme zu lösen. Die Beschränkung der neugewonnenen Freiheit, zu kaufen und zu reisen, käme die leidgeprüften Libyer sicher schwer an. Aber alle erfahrenen Beobachter stimmen darin überein, dass es wegen der weit auseinandergezogenen Besiedlung, der geringen Bevölkerungsdichte und dem Nichtvorhandensein anderer als der vom Regime eingesetzten und kontrollierten Strukturen trotz allem aufgestauten Unmut einen Aufstand nicht geben kann. Es gibt keine Opposition, sondern nur Oppositionelle. Gerade die Moscheen sollen dem Vernehmen nach fest im Griff des Regimes sein. Für einen Putsch innerhalb der kleinen Führungsriege, Revolutionsrat genannt, gibt es keine Anhaltspunkte. In ihm herrscht ein schwieriges, gut austariertes Gleichgewicht. Seine Mitglieder sind überwiegend radikal, die Folgen eines evtl. Wechsels deshalb ungewiss. Die regionale Wirkung von Sanktionen Der latente Antiamerikanismus der nordafrikanischen Bevölkerungen, der wohl seine Hauptursache in der Allianz der USA mit Israel hat und sich zuletzt beim Golfkrieg sehr deutlich zeigte, ist auch in dieser Krise wieder virulent. Spektakuläre Maßnahmen gegen das „Brudervolk“ würden eher das Wasser auf die Mühlen der Islamisten leiten. Die Re131

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gierungen kämen in die Zwickmühle zwischen amerikanischem Druck von außen und oppositionellem Gegendruck von unten. Die Wirkung evtl. militärischer Sanktionen Die militärischen Sanktionen sind bisher außer Betracht geblieben. Die USA haben sie aber nicht ausgeschlossen; ob sie im SR durchgesetzt werden könnten, entzieht sich hiesiger Beurteilung. Sie wären reine Kollektivstrafe, ohne dass die schuldigen Individuen vor Gericht gestellt und der Fall der erwünschten justizförmigen Lösung zugeführt werden könnte. Sie hätten weiter den entscheidenden Nachteil, mit Sicherheit nur Unschuldige zu treffen, und gäben damit dem Regime die Gelegenheit, sich national und international als unschuldiges Opfer imperialistischer Brutalität zu stilisieren. Sehr negative Wirkungen im größten Teil der arabischen öffentlichen Meinung wären zu erwarten. Schlussüberlegung Gaddafi hängt immer noch einer eigentlich unmodernen radikalen, nasseristisch-panarabischen Ideologie an. Durch seine internationale Isolierung und die wirtschaftlich-finanziellen Schwierigkeiten hat er aber viel von seiner Gefährlichkeit eingebüßt. Seine grausam konsequente Verfolgung der Islamisten trägt zur Eindämmung der fundamentalistischen Internationale und damit zur Stabilisierung der Region bei. Schon sein Stellvertreter Dschallud könnte diese Funktion nicht ausfüllen. Sobald ein Machtvakuum in Libyen entstünde, würden fundamentalistische Kreise mit äußerer Hilfe die Macht anstreben, um den Reichtum des Landes ihren Zielen nutzbar zu machen. Der hiesige ägyptische Botschafter fasste solche Überlegungen in die Formel: Unter den gegebenen Umständen ist Gaddafi das Beste für Libyen und die Region. Die westliche Anti-Gaddafi-Allianz muss achtgeben, den Teufel nicht mit Beelzebub auszutreiben. [gez.] Hach B 30, ZA-Bd. 158137

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31 Gespräch des Bundesministers Genscher mit dem polnischen Präsidenten Wałęsa in Warschau 3. Februar 19921 Vermerk über das Gespräch BM mit dem polnischen Staatspräsidenten Lech Wałęsa am 3. Februar 1992 in Warschau2 Wałęsa wies auf die Schwierigkeiten Polens beim3 Umbau der post-kommunistischen Gesellschaft hin und stellte fest, dass der Weg seines Landes nach Europa durch Deutschland führe. BM verwies auf die zahlreichen Begegnungen mit Wałęsa unter den verschiedensten Umständen. Heute sei die Gelegenheit da, mit Polen das weiterzuführen, was wir in Gedanken bereits in der Vergangenheit hätten tun wollen, woran wir aber gehindert gewesen seien. Polen und Deutschland trügen eine große Verantwortung für die Entwicklung in Europa, besonders in diesen Zeiten der Unsicherheit. Er könne nur wünschen, dass auch in anderen Teilen Osteuropas mit gleicher Verantwortung an die Lösung bestehender offener Fragen gegangen werde wie zwischen Deutschen und Polen. BM wies auf die zusätzlichen Verbindungen zwischen Deutschland und Polen hin, die in der letzten Zeit entstanden seien: – Assoziierungsvertrag Polen/EG4, der einen Schritt auf dem Wege zur vollen Mitgliedschaft Polens in der EG darstelle, – Zusammenarbeit im Nordatlantischen Kooperationsrat, – Zusammenarbeit im sich abzeichnenden Kooperationsrat der WEU5. Deutsche und Polen lebten heute viel mehr in einem europäischen Rahmen zusammen als jemals zuvor in der Geschichte. In dieser Perspektive sei der Wałęsa-Besuch in Deutschland zu sehen, auf den wir uns freuten.6 Es werde ein Besuch nicht nur bei der deutschen 1 Kopie. Der Gesprächsvermerk wurde von MD Chrobog am 5. Februar 1992 gefertigt. Hat BM Genscher vorgelegen. Hat OAR Rehlen am 10. Februar 1992 vorgelegen, der den Rücklauf an Chrobog verfügte. 2 BM Genscher hielt sich am 3./4. Februar 1992 in Polen auf. 3 Korrigiert aus: „am“. 4 Für das Europa-Abkommen vom 16. Dezember 1991 zwischen der EG und Polen zur Gründung einer Assoziation vgl. BGBl. 1993, II, S. 1317–1471. Vgl. auch AAPD 1991, II, Dok. 407. 5 Die WEU-Ministerratstagung am 18. November 1991 beschloss eine Ausweitung der Kontakte zu den MOE-Staaten. Vgl. AAPD 1991, II, Dok. 400. VLR I Erck vermerkte am 13. Dezember 1991, bereits im Vorfeld der Tagung habe die Bundesregierung u. a. die Schaffung eines Konsultativrats vorgeschlagen, der auf hoher Beamtenebene regelmäßig zusammentreffen sollte, bei Bedarf auch auf Ministerebene. Dies sei jedoch von Großbritannien abgelehnt worden. Vgl. B 29, ZA-Bd. 213178. Am 14. Januar 1992 teilte Botschafter Freiherr von Richthofen, London, mit, der Vorschlag sei „aufgrund der zögerlichen Haltung einiger Partner“ bis zum Abschluss eines ins Auge gefassten Sondertreffens auf Ministerebene zurückgestellt worden. Vgl. DB Nr. 78; B 29, ZA-Bd. 213178. 6 Der polnische Präsident Wałȩsa besuchte die Bundesrepublik vom 29. März bis 3. April 1992. Für sein Gespräch mit BM Genscher am 31. März 1992 vgl. Dok. 90.

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Regierung, sondern auch beim deutschen Volk. Die gemeinsame Sorge über die Entwicklung in Osteuropa sei etwas, was uns ebenfalls zusätzlich verbinde. Wałęsa: Er fürchte, dass die zukünftige Entwicklung in Europa schlimm verlaufen werde. Polen habe erhebliche Probleme mit dem Osten. Deutschland sei mit seinen Vereinigungsproblemen beschäftigt, was er auch verstehe, dennoch käme es darauf an, die Probleme in einem größeren Rahmen zu sehen. Polen sei in der Vergangenheit vorbereitet gewesen auf den Kampf gegen den Kommunismus. Es habe aber keine Lösung gehabt für die ökonomischen Fragen der post-kommunistischen Zeit. Mit diesem Thema werde er sich morgen in Straßburg vor dem Europarat befassen.7 Er habe für Polen Vorwürfe gegen Europa und die westliche Welt vorzutragen. Der Westen müsse Polen mehr entgegenkommen. Die neue politische Freiheit erfordere eine ökonomische Absicherung. In Warschau gebe es heute mehr Mercedes als in Deutschland. Dies zeige, dass Polen als Markt angesehen werde. Um ein Markt zu sein, benötige man aber Geld, was nicht vorhanden sei. Wałęsa zeigte sich besorgt über den Zufluss westlicher Waren seit Grenzöffnung mit der Folge, dass die polnischen Betriebe nicht mehr mithalten könnten. Diese Art von schnellen Geschäften sei schlecht für die Zukunft. Der Mercedes dürfe nicht nur in Polen verkauft, er müsse dort auch mindestens zur Hälfte produziert werden. Er sei damit einverstanden, dass Deutschland in Polen seine Güter absetze. Polen müsse sich dabei aber technisch entwickeln können. Viele Betriebe befänden sich heute ohne Existenzgrundlage. Dieses sei gefährlich für die Demokratie. An der Revolution habe der Westen verdient, Polen jedoch verloren. Es komme darauf an, nunmehr die Konzeption zu ändern. Er wisse selbst, dass die Kapitalbedingungen in Polen nicht optimal seien. Dies müsse geändert werden. Polen als Land, das die Revolution eingeleitet habe, müsse diese Änderung des Konzeptes und der Philosophie als erstes zugutekommen. In Straßburg werde er um verstärktes westliches Engagement bitten. BM verwies auf zwei Fragenkomplexe: 1) Der Bau der Mauer habe eine getrennte ökonomische Entwicklung möglich und notwendig gemacht. Der Wegfall der Mauer bedeute, dass Europa nunmehr eins geworden sei, und zwar politisch, ökonomisch und ökologisch. Diese Erkenntnis sei noch nicht überall in Westeuropa akzeptiert. Dem Westen könne es auf Dauer nicht gut gehen, wenn es dem Osten auf Dauer schlecht gehe. Die Assoziationsverträge mit der EG seien ein wichtiges Signal, dass dem Westen die hier verlaufende Entwicklung nicht gleichgültig sei. 2) Eine Frage, die gemeinsam zu beantworten sei, sei die, wie das Investitionsklima in Polen verbessert werden könne. Wie in den neuen Bundesländern erdrücke zunächst das westliche Warenangebot alles. Auf Dauer könnten Produktionsstätten nicht nur im Westen stehen, während der Osten nur Absatzmarkt sei. Polen müsse die rechtlichen und wirtschaftlichen Voraussetzungen für Investitionen schaffen, und es müsse hier das Investitionsklima entstehen, das diese Investition ermögliche. Das deutsch-polnische Verhältnis sei zurzeit noch eine zarte Pflanze, deswegen sei es wichtig, dass die politische Führung in Polen klarmache, dass Investitionen aus Deutschland gewünscht seien und nicht als Ausdruck eines Bestrebens nach wirtschaftlicher Vormacht in Polen angesehen würden. Er 7 Für die Rede des polnischen Präsidenten Wałȩsa vor der Parlamentarischen Versammlung des Europarats am 4. Februar 1992 vgl. http://www.assembly.coe.int/nw/xml/Speeches/Speech-XML2HTML-EN.asp? SpeechID=249&a1=7&p2=2&lang=EN.

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bemühe sich bereits, so weit wie möglich Frankreich in diese Zusammenarbeit einzubeziehen, damit die Dinge sich psychologisch einfacher entwickeln könnten. Wałęsa: Man müsse nach einer konfliktlosen Kooperation suchen. Er wisse, dass Polen die rechtlichen und politischen Bedingungen schaffen müsse mit dem Ziel, Marktwirtschaft, Demokratie und Freiheit zu sichern. Dass sich gewisse Stimmen in Polen mit deutschen Investitionen kritisch auseinandersetzen, wisse er. Dieses sei in einer derartigen unnormalen Situation verständlich. Nach der Zeit des Kommunismus gebe es Dummheit und Neid. BM betonte, er wolle hier keine Kritik äußern, aber es sei wichtig, dass die politische Führung Polens ihr Interesse an Investitionen aus Deutschland auch öffentlich mache. Wałęsa: Dass man nicht in den Kategorien der Vergangenheit denke, zeige das Beispiel, wie man neue Bedingungen für die Minderheiten geschaffen habe.8 Wałȩsa befasste sich dann ausführlich mit den Problemen aus dem Zerfall der Sowjetunion. Er drückte seine Sorge vor großen Volksbewegungen, veranlasst durch Armut, aus. BM teilte diese Sorge. Man müsse in Europa erkennen, dass man hier in einem Boot säße; je weiter westlich man lebe, desto geringer sei das Problembewusstsein. In der EG und im Rahmen der G 7 trete Deutschland am stärksten für eine Hilfe in MOE ein. Alle müssten wissen, dass uns nicht mehr viel Zeit bleibe. Wałęsa betonte, dass es heute nicht mehr auf die militärische Stärke ankomme, denn nicht diese habe zum Fall der Mauer geführt. Er stimmte BM zu, dass man die Stabilität nicht allein militärisch definieren könne, sondern sie auch politisch, wirtschaftlich und ökologisch sehen müsse. Er drückte seine Sorge aus über die Gefahr nuklearer Proliferation. Kernwaffen und atomares Know-how könnten leicht gegen Geld verkauft werden. Er habe die große Sorge, dass die Armutsentwicklung diesen Dingen Vorschub leisten könne. Es müssten Friedenskräfte in Europa geschaffen werden, um uns dagegen abzusichern. In den sowjetischen Betrieben ständen die Betriebe still. Es sei dringend notwendig, ihnen eine Grundlage zu verschaffen, damit sie ihre Arbeit wiederaufnehmen könnten. BM verwies darauf, dass unsere Hilfe für die neuen Staaten der GUS auch im Interesse Polens liege, da nur auf diese Weise eine stabile Entwicklung im Osten Polens eingeleitet werden könne. Er verwies noch einmal auf die Möglichkeiten einer bilateralen Zusammenarbeit, wie sie zwischen Deutschland, Polen und Frankreich in Weimar9 bereits erkennbar geworden sei. In diesem Zusammenhang stimmte er mit Wałęsa darin überein10, dass die grenznahe Zusammenarbeit zwischen Deutschland und Polen weiterentwickelt werden 8 Referat 214 erläuterte am 10. Februar 1992, in Polen umfasse die organisierte deutsche Minderheit ca. 300 000 Personen. Diese seien seit den Wahlen vom 27. Oktober 1991 mit sieben Mitgliedern im polnischen Parlament vertreten sowie mit einem Senatsmitglied, seit den Kommunalwahlen im Mai 1990 auch in zahlreichen Kommunalparlamenten. Zudem gebe es gegenwärtig Überlegungen für eine Fortentwicklung des Minderheitenrechts. Diese konzentrierten sich „vorläufig auf ergänzenden Artikel in der (noch zu schaffenden) neuen Verfassung, daneben (im Minderheitenausschuss im Sejm) auf ein eigenes Minderheitengesetz“. Vgl. B 42, ZA-Bd. 176788. 9 Die AM Dumas (Frankreich), Genscher (Bundesrepublik) und Skubiszewski (Polen) trafen am 28. August 1991 in Weimar zu einem Gespräch zusammen. Vgl. die Gemeinsame Erklärung vom 29. August 1991; BULLETIN 1991, S. 734 f. 10 Korrigiert aus: „darüber ein“.

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und auch nach neuen Formen der regionalen Kooperation gesucht werden müsse (Stichwort: Ostseeraum). B 1, ZA-Bd. 178913

32 Gespräch des Bundeskanzlers Kohl mit dem ukrainischen Präsidenten Krawtschuk 4. Februar 19921 Der Bundeskanzler heißt Präsident Krawtschuk herzlich willkommen.2 Er sei zu einem sehr offenen Gespräch über alle Themen bereit, die Präsident Krawtschuk anschneiden wolle. Präsident Krawtschuk erwidert, er sei gestern mit dem Bundespräsidenten und mit den Vertretern der großen Parteien zusammengetroffen und habe in diesen Gesprächen festgestellt, dass es eine Reihe Probleme gebe, die Deutschland besonders interessiere. Er betrachte es als eine wichtige Aufgabe, seine Position zu diesen Problemen zu erläutern. Der Bundeskanzler erklärt, er hoffe, dass das heutige Gespräch der Beginn weiterer Begegnungen sei und dass damit ein intensiver, ja freundschaftlicher Kontakt begründet werde. Die Ukraine gehe einen schwierigen Weg, und unser deutsches sowie sein persönliches Interesse sei, dass Präsident Krawtschuk Erfolg habe. Jede Destabilisierung auf dem Gebiet der früheren Sowjetunion bringe schwerwiegende Probleme für alle mit sich. Europa, ja die Welt, rücke heute immer näher zusammen. Was in Kiew geschehe, berühre uns alle. Er brauche in diesem Zusammenhang nur den Namen Tschernobyl3 zu erwähnen. Wir müssten aus der Geschichte lernen, und er wolle in unserer Generation versuchen, vieles von dem in Ordnung zu bringen, was in diesem Jahrhundert an Schlimmem passiert sei. Er biete dem Präsidenten ausdrücklich an, dass man bei wichtigen Fragen auch zum Telefon greife. P. Krawtschuk erwidert, er nehme dieses Angebot gerne an. 1 Der Gesprächsvermerk wurde von MD Hartmann, Bundeskanzleramt, gefertigt und am 6. Februar 1992 über BM Bohl an BK Kohl „mit der Bitte um Billigung“ geleitet. Dazu vermerkte Hartmann: „Ich gehe davon [aus], dass Vermerk grundsätzlich nicht weitergegeben wird, erbitte aber Zustimmung, dass die Passage, die die Reise von StS Köhler nach Kiew betrifft, diesem zur Kenntnis übersandt wird.“ Hat Bohl vorgelegen. Hat Kohl vorgelegen, der handschriftlich für Hartmann vermerkte: „Erl[edigen]“. Hat Hartmann am 16. Februar 1992 erneut vorgelegen, der handschriftlich vermerkte: „Köhler?“ Vgl. den Begleitvermerk; BArch, B 136, Bd. 42652. 2 Der ukrainische Präsident Krawtschuk hielt sich am 3./4. Februar 1992 in der Bundesrepublik auf. 3 Am 26. April 1986 explodierte aufgrund von Bedienungsfehlern und Konstruktionsmängeln der Reaktor in Block 4 des sowjetischen Kernkraftwerks Tschernobyl. In der Folge wurden große Mengen radioaktiver Strahlung freigesetzt, die in der Umgebung zum Tod zahlreicher Menschen führte. Der radioaktive Niederschlag traf viele europäische Staaten. Vgl. AAPD 1986, I, Dok. 127, Dok. 128, Dok. 136, Dok. 138 und Dok. 144.

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Zunächst wolle er einige Fakten erläutern: Es hätten inzwischen vier Treffen der politisch Verantwortlichen der GUS-Staaten stattgefunden. Bei diesen Treffen seien 20 wichtige Dokumente angenommen worden. Diese bildeten heute das Regelwerk für die Zusammenarbeit zwischen den unabhängigen Staaten der GUS. Leider sprächen die Massenmedien vor allem über das, was nicht erreicht worden sei, und nicht über das, was man bereits erreicht habe. Der Bundeskanzler wirft ein, hieran müsse sich der Präsident gewöhnen. P. Krawtschuk fährt fort, man dürfe nicht vergessen, dass die GUS erst zwei Monate alt sei, und infolgedessen sei es falsch, schon jetzt die Schlussfolgerung zu ziehen, dass sie wieder auseinanderfalle. Allerdings müssten sich auch alle Mitgliedstaaten an die geschlossenen Vereinbarungen halten. Leider gebe es eine Reihe neuer Politiker auf der Bühne, die sich profilieren wollten, und deshalb käme es immer wieder zu Unstimmigkeiten. Der Bundeskanzler wirft ein, auch könne man nicht vergessen, dass es sich um Staaten sehr unterschiedlicher Größe handele. P. Krawtschuk stimmt zu und erklärt, man müsse vor allem vier Problemkreise lösen: – die Frage der künftigen Streitkräfte, – die Frage der Minderheiten, – das Problem der Auslandsschulden, – das Problem der Wirtschaftsbeziehungen untereinander. Diese Probleme versuche man auf der Grundlage der verabschiedeten Dokumente zu lösen, wobei er ausdrücklich feststellen wolle, dass die Ukraine keines dieser Dokumente verletzt habe. Was die Frage der atomaren Waffen angehe, so stelle die Ukraine keinerlei Bedingungen, sondern trete für eine vollständige Vernichtung ein. Es werde bis 1994 keine atomaren Waffen mehr auf ukrainischem Territorium geben. Dem hätten auch die anderen Staaten der GUS zugestimmt. Er sei im Übrigen dankbar dafür, dass Russland bei der Verwirklichung der Lösung dieser Probleme behilflich sei. Die Ukraine beabsichtige ihrerseits, Streitkräfte von höchstens 220 000 Mann aufzustellen. Die ukrainische Militärdoktrin sei friedlich, niemand habe die Absicht, die Streitkräfte einzusetzen, um Probleme jenseits der eigenen Grenzen zu lösen. Dies gelte auch für die Schwarzmeerflotte.4 Der Ukraine gehe es darum, dass im Schwarzen Meer keine große Flotte präsent sei, die zudem noch nuklear ausgerüstet sei. Bis zum 1.7.1992 müssten alle nuklear ausgerüsteten Schiffe das Schwarze Meer verlassen. Dem hätten auch die anderen GUS-Staaten zugestimmt. Der Bundeskanzler erklärt, in Deutschland mache man sich große Sorgen, was mit den ungeheuren Waffenarsenalen, insbesondere den atomaren und chemischen Waffen, geschehe und wie sich die Experten auf diesem Gebiet orientieren würden. P. Krawtschuk erklärt, in der Ukraine gebe es weder B- noch C-Waffen. Ferner sei die Ukraine aufgrund internationaler Abmachungen verpflichtet, 130 strategische Nuklearsysteme abzubauen.5 Man habe inzwischen begonnen, mehr als diese – nämlich 4 Zur Frage der Aufteilung der Schwarzmeerflotte vgl. Dok. 13, Anm. 37. 5 Referat 240 erläuterte am 29. Januar 1992, auf dem Gebiet der Ukraine seien 130 nach dem STARTVertrag vom 31. Juli 1991 zu beseitigende landgestützte Interkontinentalraketen vom Typ SS-19 stationiert sowie außerdem 46 Raketen vom Typ SS-24: „Expressis verbis sind im Minsker Abkommen vom 30.12. nur die NW, die auf dem Gebiet der Ukraine stationiert sind, der Kontrolle des Vereinigten Kommandos

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176 Systeme – abzubauen. Die Ukraine sei derzeit dabei, 40 % der taktischen Nuklearwaffen von ihrem Territorium zu entfernen. Sowohl die Russische Föderative Republik als auch die Ukraine seien für eine internationale Kontrolle. Er pflichte dem Bundeskanzler darin bei, dass es schwierig sei, alle diese Waffensysteme zu vernichten. Man habe sich auch deshalb an die USA, Frankreich und Großbritannien gewandt und diese gebeten, bei der Vernichtung behilflich zu sein. Im Übrigen übernehme die Ukraine im Bereich der konventionellen Waffen alle Verpflichtungen aus den Abmachungen der früheren Sowjetunion. Der Bundeskanzler erklärt, er könne Präsident Krawtschuk zu dieser Grundeinstellung nur gratulieren. Dies sei auch für das internationale Ansehen der Ukraine von großer Bedeutung. Der Bundeskanzler stellt sodann die Frage, ob es eine Übersicht über die Zahl der Ukrainer in der bisherigen Sowjetarmee gebe. P. Krawtschuk erwidert, die Zahl sei in der Tat bekannt. Was die Wehrpflichtigen angehe, gebe es keine Probleme, denn diese kehrten in die Ukraine zurück. Es befänden sich aber in der Ukraine noch 60 000 Soldaten aus anderen Republiken. Auch diese kehrten jetzt in ihre Heimatstaaten zurück. Ein Problem gebe es mit den Berufsoffizieren. Es gebe rund 300 000 Offiziere, die aus der Ukraine stammten, aber jetzt außerhalb der Ukraine dienten. Gleichzeitig gebe es in der Ukraine viele Offiziere, die dort geboren seien. Die ganze Frage sei sehr kompliziert. Die Ukraine wolle ihre nationalen Streitkräfte auf dem Prinzip der Staatsangehörigkeit aufbauen und nicht auf dem Prinzip der Nationalität. Was die Verträge mit Deutschland6 angehe, so fühle sich die Ukraine an diese gebunden. Angehörige der WGT, die nach Kiew kämen, würden dort untergebracht, unabhängig von ihrer Nationalität. Der Bundeskanzler stellt die Frage, wie das Problem der Krim7 sich darstelle. P. Krawtschuk erwidert, dieses Problem werde von der RF zugespitzt. Es gebe eindeutige Dokumente, wonach die Krim 19548 in Übereinstimmung mit der damaligen Verfassung Fortsetzung Fußnote von Seite 137 unterstellt, und zwar ,mit dem Ziel, sie bis zum Jahr 1994 ungenutzt zu lassen und vollständig zu vernichten, darunter auch die taktischen Atomwaffen, und zwar bis zum 1. Juli 1992‘.“ Die Ukraine habe zudem wiederholt erklärt, einen nuklearwaffenfreien Status erlangen zu wollen. Vgl. B 43, ZA-Bd. 228352. 6 Für den 2+4-Vertrag vom 12. September 1990 vgl. BGBl. 1990, II, S. 1318–1329. Vgl. auch AAPD 1990, II, Dok. 306, sowie AAPD 1991, I, Dok. 96. Für das Abkommen vom 9. Oktober 1990 zwischen der Bundesrepublik und der UdSSR über einige überleitende Maßnahmen (Überleitungsabkommen) vgl. BGBl. 1990, II, S. 1655–1659. Vgl. ferner AAPD 1990, II, Dok. 334, und DIE EINHEIT, Dok. 156. Für den Vertrag vom 12. Oktober 1990 zwischen der Bundesrepublik und der UdSSR über die Bedingungen des befristeten Aufenthalts und die Modalitäten des planmäßigen Abzugs der sowjetischen Truppen aus dem Gebiet der Bundesrepublik (Aufenthalts- und Abzugsvertrag) und die zugehörigen Dokumente vgl. BGBl. 1991, II, S. 258–290. Vgl. ferner AAPD 1990, II, Dok. 378, und DIE EINHEIT, Dok. 168. Für den Vertrag vom 9. November 1990 zwischen der Bundesrepublik und der UdSSR über gute Nachbarschaft, Partnerschaft und Zusammenarbeit vgl. BGBl. 1991, II, S. 703–709. Vgl. auch DIE EINHEIT, Dok. 159. Für den Vertrag vom 9. November 1990 zwischen der Bundesrepublik und der UdSSR über eine umfassende Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Wirtschaft, Industrie, Wissenschaft und Technik mit Anhang vgl. BGBl. 1991, II, S. 799–809. 7 Zum Status der Krim vgl. Dok. 151. 8 Korrigiert aus: „1945“.

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an die Ukraine gegangen sei. Darüber hinaus habe es 19919 ein Referendum gegeben. 93 % der Bewohner der Krim hätten die Frage, ob sie eine autonome Republik in der Ukraine wünschten, bejaht. Demnach gebe es keine Rechtsgrundlage für eine Revision dieses Zustandes. Wenn jetzt das russische Parlament dafür plädiere, die Akte von 195410 zu revidieren, so würden damit die Regelungen von Helsinki11 infrage gestellt. Dies bedeute eine große Gefahr. Aus seiner Sicht sei die Haltung des Parlaments der RF von wenig Weitsicht geprägt. Dennoch glaube er, dass man diese Frage friedlich lösen könne, zumal Jelzin eine nüchterne Haltung hierzu einnehme. Jelzin habe ausdrücklich erklärt, dass die RF keine territorialen Forderungen habe und dass die Krim Teil der Ukraine sei. Der Bundeskanzler erklärt, es gebe immer wieder Berichte über Probleme in der Schwerindustrie, vor allem in der Region von Dnjepropetrowsk. P. Krawtschuk erwidert, die Probleme würden übertrieben. In der Region lebten mehrheitlich Russen, die dort aber schon seit 300 Jahren angesiedelt seien. Auf die Frage des Bundeskanzlers nach der Zahl der Deutschen in der Ukraine erläutert Präsident Krawtschuk, dass es sich um ca. 40 000 handele, die in verstreuten Siedlungen lebten. Er habe auf Wunsch der deutschen Gesellschaft „Wiedergeburt“ durch Erlass einen Fonds gegründet und damit das Angebot verbunden, die Deutschen wieder in den Gebieten anzusiedeln, in denen sie früher gelebt hätten. Er wolle ausdrücklich hinzufügen, dass die Bevölkerung, die jetzt dort lebe, dies begrüße. Es handele sich um eine der landwirtschaftlich fruchtbarsten Gegenden der Ukraine. Er würde es begrüßen, wenn auch ein Vertreter der Bundesrepublik Deutschland bei diesem Vorhaben helfe. Der Bundeskanzler erwidert, dies sei in der Tat eine wichtige Sache. Es liege nicht in unserem Interesse, dass die Deutschstämmigen in der früheren Sowjetunion alle zu uns kämen. Gleichzeitig sei es von großem Nutzen auch für die Ukraine und Russland, wenn diese Menschen dortblieben. Zudem könnten sie eine wichtige Brücke zwischen unseren Völkern bilden. Wenn Präsident Krawtschuk einverstanden sei, werde er als seinen Beauftragten PStS Waffenschmidt nach Kiew schicken.12 Er wäre dankbar, wenn Präsident Krawtschuk ihn bei dieser Gelegenheit zu einem Gespräch empfangen könnte. 9 Korrigiert aus: „1990“. Zu dem Referendum am 20. Januar 1991 teilte GK Graf von Bassewitz, Kiew, am 22. Januar 1991 mit, 93,26 % hätten für eine autonome Krim-Republik gestimmt: „Da autonome Republiken nach der Verfassung der UdSSR Bestandteil einer Unionsrepublik sein müssen, wird jetzt die staatsrechtliche Eingliederung in die Ukraine zu klären sein. Darauf läuft offenbar alles hinaus, obwohl diese Frage vor dem Referendum nicht verbindlich festgelegt worden war und, wie zu hören ist, viele Wähler ihr ,Ja‘ im Glauben abgaben, dass sie wie zwischen 1945 und 1954 wieder zur RSFSR zurückkehren würden.“ Vgl. DB Nr. 28; B 41, ZA-Bd. 151622. 10 Korrigiert aus: „1945“. 11 Vgl. die KSZE-Schlussakte vom 1. August 1975; SICHERHEIT UND ZUSAMMENARBEIT, Bd. 2, S. 913–966. Vgl. auch AAPD 1975, II, Dok. 191. 12 Der Beauftragte der Bundesregierung für Aussiedlerfragen, PStS Waffenschmidt, BMI, hielt sich am 27./28. Februar 1992 in der Ukraine auf. In einem am 5. März 1992 übermittelten Kurzbericht des BMI wurde mitgeteilt, die notwendigen gesetzgeberischen und administrativen Maßnahmen zur Ansiedlung von bis zu 400 000 Deutschen seien eingeleitet. Von der Bundesregierung erhoffe die ukrainische Seite

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P. Krawtschuk erklärt sich hiermit einverstanden. Der Bundeskanzler stellt die Frage, ob es in den Beziehungen zwischen den einzelnen Republiken Unterschiede gebe. P. Krawtschuk erwidert, die Ukraine habe sehr gute Beziehungen zu Weißrussland. Gewisse Spannungen gebe es hingegen mit Moldawien, wo es wegen territorialer Fragen in der Dnjestr-Region eine schwierige Diskussion gebe. Leider gebe es, wie gesagt, immer wieder politische Kräfte, die versuchten, die alten Probleme hochzuspielen. Er sei demgegenüber der Überzeugung, dass man diese Fragen friedlich lösen könne. Auf die Frage des Bundeskanzlers nach dem Verhältnis zu Polen erklärt P. Krawtschuk, die Ukraine unterhalte sehr gute Beziehungen mit Polen und mit Ungarn. Kontroverse Fragen, die sich aus der Geschichte ergäben, löse man im vertraulichen Rahmen. In Davos13 habe er übrigens auch mit dem rumänischen Präsidenten14 gesprochen. Die Ukraine habe den Willen, zu allen Nachbarn freundschaftliche Beziehungen zu entwickeln, so natürlich auch zu Deutschland. Der Bundeskanzler wirft ein, zwischen unseren beiden Ländern gebe es keine Grenzprobleme. Auch wir wollten gute Beziehungen. Wenn man die Geschichte der Ukraine kenne, könne man deren Interesse an engen Beziehungen zu Westeuropa verstehen, und der Weg nach Europa führe nun einmal über Deutschland. In dieser Frage könne sich der Präsident auf uns verlassen. P. Krawtschuk erklärt, er hoffe, dass Deutschland der Ukraine helfe, sich in europäische Strukturen zu integrieren. Der Bundeskanzler erklärt, Präsident Krawtschuk habe ihm im Januar einen Brief geschrieben.15 Wir seien bereit, gegenüber der EG behilflich zu sein. In diesem Zusammenhang sei es besonders wichtig, dass die Ukraine das Memorandum of Understanding16 unterzeichne. P. Krawtschuk erklärt, zu dem Zeitpunkt, als das MoU angenommen wurde, habe es noch die Sowjetunion gegeben sowie ein zentrales Zahlungssystem für den Schuldendienst. Beides gebe es heute nicht mehr. Aus seiner Sicht wäre es wünschenswert, wenn der SchulFortsetzung Fußnote von Seite 139 „materielle Unterstützung der Ansiedlungspolitik und die Vermittlung wirtschaftlicher Verbindungen“. Der ukrainische Präsident Krawtschuk habe gegenüber Waffenschmidt erklärt, „dass er mit seiner Minderheitenpolitik und seinem Ansiedlungsprogramm für die Deutschen keine vordergründigen politischen Ziele verfolge“. Die Gespräche hätten, so das BMI, den Eindruck vermittelt, „dass in der Ukraine sowohl die offiziellen Stellen als auch die Bevölkerung weit aufgeschlossener für die Rehabilitierung der Russlanddeutschen sind, als es in der Russischen Föderation bei dem Problem Wolga-Republik feststellbar war“. Allerdings seien die Behörden gegenwärtig organisatorisch auf hohe Zusiedlerzahlen noch nicht vorbereitet. Vgl. B 41, ZA-Bd. 184093. 13 In Davos fand vom 29. Januar bis 2. Februar 1992 das Weltwirtschaftsforum statt. 14 Ion Iliescu. 15 In dem Schreiben vom 15. Januar 1992 wies der ukrainische Präsident Krawtschuk auf Probleme in der Lebensmittelversorgung hin und bat um die Gewährung von Krediten zum Erwerb von Lebensmitteln sowie um humanitäre Hilfe in Form von Getreidelieferungen von 1 Mio. t. Ferner bat er BK Kohl um Unterstützung dieser Anliegen innerhalb der EG. Vgl. die Anlage zu DB Nr. 64 des GK Graf von Bassewitz, Kiew, vom 24. Januar 1992; B 63, ZA-Bd. 170703. 16 Zum „Memorandum of Understanding“ vom 28. Oktober 1991 zur Regelung der Altschulden der ehemaligen UdSSR vgl. Dok. 17.

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dendienst der ehemaligen Mitglieder der Sowjetunion über eine westliche Bank abgewickelt würde. In diesem Bereich gebe es ein großes Durcheinander, von dem jeder zu profitieren versuche. Es bestehe die Gefahr, dass man sich in eine Pfütze setze. Die frühere Außenhandelsbank habe inzwischen Konkurs angemeldet. Die Ukraine habe auf dieser Bank seinerzeit 500 Mio. Dollar deponiert, die verschwunden seien. Sein Vorschlag sei daher, eine Konferenz in Kiew einzuberufen, um diese Frage im Lichte der neuen Entwicklung zu lösen. Dabei wolle er noch einmal klarstellen, dass die Ukraine nicht die Absicht habe, sich ihres Anteils (an den Schulden) zu entledigen. Auf die Frage des Bundeskanzlers, wer für diese Probleme innerhalb seiner Regierung zuständig sei, nennt P. Krawtschuk Ministerpräsident Fokin. Den Vorschlag des Bundeskanzlers, dass StS Köhler vom BMF nach Kiew reist und die Angelegenheit mit MP Fokin bespricht, greift P. Krawtschuk auf.17 Auf die Frage nach der Haltung Präsident Jelzins erklärt Präsident Krawtschuk, nicht alle Republiken seien gleichermaßen an einer Lösung, wie er sie anstrebe, interessiert. Das Statut sei seinerzeit ohne die Ukraine angenommen worden, was auch deswegen möglich gewesen sei, weil die RF allein über 60 % der Stimmen verfügt habe. P. Krawtschuk weist abschließend darauf hin, dass er BM Waigel bei dem heutigen Gespräch ein Memorandum überreicht habe.18 Der Bundeskanzler erklärt, er werde die Angelegenheit mit BM Waigel aufnehmen. Das Gespräch wird bei dem anschließenden Mittagessen fortgesetzt. Der Bundeskanzler stellt die Frage, wie P. Krawtschuk die wirtschaftliche Entwicklung in seinem Lande sehe und welche Politik er ins Auge gefasst habe. P. Krawtschuk erwidert, er habe drei wichtige Ziele: – Privatisierung, – Entstaatlichung, – Entmonopolisierung. Man habe bereits mit der Privatisierung des Handels begonnen. Ferner sei man dabei, eine Währungsreform vorzubereiten und die Rechtsgrundlagen für eine Marktwirtschaft zu schaffen. Unter anderem sei auch sein Ziel, Privateigentum an Grund und Boden wiederherzustellen. 17 Botschafter Graf von Bassewitz, Kiew, berichtete am 25. Februar 1992, der Besuch von StS Köhler, BMF, am Vortag „dürfte erreicht haben, dass die Ukrainer verstanden haben, dass sie die Haltung in der Altschuldenfrage nicht weiter verhärten können, sondern dass sie und die anderen drei Nichtunterzeichner des MoU ebenso wie die G 7 ein Interesse daran haben müssen, die Frage in Bewegung zu halten“. Köhler habe die Prüfung von Vorschlägen zugesagt, die der ukrainische MP Fokin übergeben habe, und erklärt, „dass man dann in vertraulichen Konsultationen eine Lösung finden müsse, die ,auf dem MoU aufbaue‘ “. Vgl. DB Nr. 176; B 52, ZA-Bd. 173905. 18 VLR I Runge vermerkte am 5. Februar 1992, nach Auskunft des BMF habe BM Waigel in dem Gespräch am Vortag die bisherige Linie „hart vertreten. Ukraine müsse Memorandum of Understanding (MoU) unterzeichnen. Nur unter dieser Voraussetzung werde die Ukraine Zugang zu staatlich oder staatlich verbürgten Neukrediten erhalten. […] Präsident Krawtschuk habe dem mit Nachdruck widersprochen. Er bezeichnete die bisherige Außenwirtschaftsbank der SU als ,Trümmerhaufenʻ, in dem bereits im vergangenen Jahr Überweisungen aus der Ukraine spurlos versickert seien. Ukraine werde keinen einzigen Dollar nach Moskau überweisen, denkbar sei allenfalls, dass die Ukraine Zahlungen auf ein Konto außerhalb der Grenzen der bisherigen Sowjetunion leiste. Die Anerkennung einer gesamtschuldnerischen Haftung komme nicht infrage.“ Vgl. B 52, ZA-Bd. 173905.

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Allerdings hätten die Menschen verlernt, Verantwortung für Eigentum zu übernehmen. Auf die Frage nach der Lage in der Landwirtschaft erklärt P. Krawtschuk, es gebe Kolchosen, die rentabel seien. Diese wolle man nicht auflösen, um nicht die ganze Wirtschaftsstruktur umzukrempeln. Unrentable Kolchosen werde man auflösen und den Grund und Boden langfristig verpachten. Rund 10 % von Grund und Boden würden auf alle Fälle veräußert. Auf die entsprechende Frage des Bundeskanzlers erläutert P. Krawtschuk, dass die Kolchosen schon jetzt unabhängig wirtschafteten. Allerdings hätten sie mit der Preispolitik große Probleme. Im Unterschied dazu seien die Sowchosen echte Staatsbetriebe, die sich auf bestimmte Sektoren, beispielsweise Viehzucht, spezialisiert hätten. Auf die entsprechende Frage des Bundeskanzlers erklärt P. Krawtschuk, zahlenmäßig, aber auch flächenmäßig seien 90 % der landwirtschaftlichen Betriebe Kolchosen und 10 % Sowchosen. Auf die Frage des Bundeskanzlers nach den Verhältnissen in der Industrie erklärt P. Krawtschuk, mit der Lage in der Metallindustrie könne er zufrieden sein. Bei der Kohle hingegen gebe es Schwierigkeiten. Die Bergleute forderten, dass der Staat weiterhin auch die unrentablen Gruben unterstütze. Auf entsprechende Frage von MD Ludewig erläutert P. Krawtschuk kurz die Preisgestaltung sowie die Bemühungen, die landwirtschaftliche Produktion stärker in Gang zu bringen. Auf die entsprechende Frage des Bundeskanzlers über den Warenaustausch zwischen der Ukraine und der RF erklärt P. Krawtschuk, dieser sei stark zurückgegangen, da die Ukraine nur liefern könne, wenn sie auch etwas hierfür erhalte. Allerdings beliefere die Ukraine nach wie vor die Armee mit Lebensmitteln. Auf die Frage des Bundeskanzlers nach der psychologischen Lage erklärt Präsident Krawtschuk, diese sei sehr kompliziert. Die Menschen seien auf die Veränderungen nicht ausreichend vorbereitet und auch nicht auf das, was in der Zukunft noch auf sie zukomme. Sie seien gewohnt, dass der Staat sich um alles kümmere, und hätten verlernt, sich selber zu kümmern. Viele seien – so wörtlich: „lebensunfähig“. Obwohl die Produktion zurückgehe, verlangten die Arbeiter höhere Löhne. Andererseits habe er die Hoffnung, dass die Menschen allmählich lernten, sich mit der neuen Lage auseinanderzusetzen. Noch gebe es allerdings viele paradoxe Dinge. So verdiene beispielsweise ein Busfahrer mehr als ein Universitätsprofessor. Auf die Frage des Bundeskanzlers, wie die junge Generation, insbesondere die Studenten, reagierten, erklärt P. Krawtschuk, die Studenten träten nachdrücklich für Reformen ein, wollten allerdings gleichzeitig höhere Stipendien. Ein großes soziales Problem stellten die rund 13 Millionen alten Menschen dar, von denen noch viele Veteranen aus dem Zweiten Weltkrieg seien. Auf die Frage des Bundeskanzlers nach den Chancen für frühere Berufsoffiziere erklärt P. Krawtschuk, viele dieser Offiziere seien in technischen Berufen gut qualifiziert und fänden leicht Arbeit. Der Bundeskanzler erklärt, die Ukraine habe ja gegenüber Russland den Vorteil, in einem geschlossenen Raum zu leben. P. Krawtschuk stimmt zu und fügt hinzu, in der Tat sei die Ukraine ein eher kompaktes und stark auf Europa ausgerichtetes Land, das über eine gute Infrastruktur verfüge. Es 142

4. Februar 1992: Vorlage von Stackelberg

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gebe eine Studie der Deutschen Bank, wonach 87 % der Infrastruktur europäischem Standard entspreche. P. Krawtschuk schließt das Gespräch mit dem Wunsch, den Bundeskanzler in nächster Zeit in Kiew begrüßen zu können.19 BArch, B 136, Bd. 42652

33 Vorlage des Vortragenden Legationsrats Freiherr von Stackelberg für Bundesminister Genscher 230-381.42/1

4. Februar 19921

Über Dg 232, D 23, Herrn Staatssekretär4 Herrn Bundesminister5 Betr.:

Neue Aspekte in der Diskussion über die Zusammensetzung des VN-SR

Zweck der Vorlage: Zur Unterrichtung 1) Die Sondersitzung des VN-SR auf der Ebene der Staats- und Regierungschefs am 31. Januar in New York6 hat die gewachsene Bedeutung dieses VN-Organs hervorgehoben und gleichzeitig der Diskussion über seine Zusammensetzung neue Nahrung gegeben. Die Briten hatten zunächst an ein Treffen der ständigen Mitglieder gedacht, hatten dann aber offenbar erkannt, dass dies im SR selbst und außerhalb die Vorbehalte gegen ein Direktorium der Fünf noch gestärkt hätte. GB hatte die Zwölf zunächst nicht konsultiert, stimmte 19 BK Kohl besuchte die Ukraine am 9./10. Juni 1993. Vgl. AAPD 1993. 1 2 3 4 5

Die Vorlage wurde von VLR I Schmidt konzipiert. Hat MDg Schilling am 5. Februar 1992 vorgelegen. Hat MD Chrobog am 5. Februar 1992 vorgelegen. Hat StS Kastrup am 6. Februar 1992 vorgelegen. Hat BM Genscher am 7. Februar 1992 vorgelegen. Hat OAR Rehlen am 10. Februar 1992 vorgelegen, der den Rücklauf über das Büro Staatssekretäre, MD Chrobog und MDg Schilling an Referat 230 verfügte. Hat VLR I Reiche am 10. Februar 1992 vorgelegen. Hat Chrobog am 11. Februar 1992 erneut vorgelegen. Hat Schilling erneut vorgelegen. Hat VLR Freiherr von Stackelberg erneut vorgelegen. 6 Botschafter Vergau, New York (VN), berichtete am 31. Januar 1992 zur Sitzung des VN-Sicherheitsrats auf der Ebene der Staats- und Regierungschefs am selben Tag, zwar seien keine konkreten Entscheidungen getroffen worden: „Jedoch sind wichtige und teilweise bahnbrechende programmatische Aussagen einmütig erfolgt. […] Zusammen mit dem GS hat sich die SR-Mehrheit klar auf den Weg begeben, den Begriff des ,internationalen Friedens und der Sicherheitʻ und damit den Kompetenzbereich des SR auszuweiten. […] Unsere Berufung zu einer starken Stellung in den VN stand zwangsläufig unverkennbar im Raum, wenn die Privilegien der jetzigen ständigen SR-Mitglieder infrage gestellt wurden. Allseits wandten sich dann Blicke dem deutschen Beobachtersitz zu.“ Vgl. DB Nr. 230; B 30, ZA-Bd. 167349. Für das Sitzungsprotokoll vgl. https://undocs.org/en/S/PV.3046.

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dann jedoch der Vorbereitung des Treffens im Rahmen der Zwölf zu. GB, F und B nahmen unsere Vorstellungen zur Nichtverbreitung von Massenvernichtungswaffen7 auf, die dann auch in der Schlusserklärung8 berücksichtigt wurden. Im Verlauf des Treffens wurde von mehreren nichtständigen Mitgliedern die jetzige Zusammensetzung des SR infrage gestellt. Indien beschrieb das zunehmende Missverhältnis zwischen der Zahl der VN-Mitglieder (jetzt 166 noch ohne GUS-Staaten) und der Sitze im SR und forderte Erweiterung des SR. Japan bezeichnete die Struktur von 1945 als überholt. Heute müssten die Möglichkeiten gründlich geprüft werden, um seine Arbeitsweise, seine Zusammensetzung und andere Aspekte den heutigen Realitäten anzupassen. 2) Schon in der 46. GV waren diese Fragen wiederaufgetaucht. In der Generaldebatte sprachen Vertreter von Dritte-Welt-Staaten wie die Präsidenten Nigerias9 – gleichzeitig als Vorsitzender der OAU –, Brasiliens10 und Venezuelas11 sowie der AM Indiens12 dieses Thema an. Aber auch der italienische AM De Michelis sprach sich für eine Erhöhung der Zahl der ständigen wie der nichtständigen Mitglieder aus, wobei die neuen ständigen Mitglieder nicht notwendigerweise das Vetorecht erhalten sollten.13 Sie sollten auf der Grundlage „objektiver Kriterien“ wie der Bevölkerungszahl und des Bruttosozialprodukts ausgewählt werden. De Michelis nahm damit Gedanken auf, die vorher schon von Brasilien lanciert worden waren. Nach den brasilianischen Vorstellungen sollen die neuen ständigen Sitze im SR je einem Staat Europas, Asiens, Afrikas und Lateinamerikas zufallen. Diese Staaten würden dann – wie die bisherigen ständigen SR-Mitglieder – überproportional zur Finanzierung von friedenserhaltenden Operationen herangezogen. Auch unter dem TOP „Question of the equitable Representation on and increase in the Membership of the Security Council”, der 1979 auf Initiative von Dritte-Welt-Staaten wie Algerien, Argentinien, Indien und Nigeria geschaffen worden war, fand in der 46. GV eine Diskussion statt, an der sich allerdings nur Dritte-Welt-Länder beteiligten. In den Vorjahren war der TOP jeweils ohne Aussprache auf die nächste GV verschoben worden. Insbesondere Indien und Nigeria wiesen darauf hin, dass sich die Zahl der VN-Mitglieder seit der letzten Erweiterung des SR (1965)14 um etwa die Hälfte erhöht hat. Keine dieser Erklärungen führte bisher zu formellen Initiativen. 7 Zu den Vorschlägen vgl. Dok. 35, Anm. 13. 8 Für die vom britischen PM Major abgegebene Schlusserklärung vom 31. Januar 1992 (S/23500) vgl. https://documents-dds-ny.un.org/doc/UNDOC/GEN/N92/043/34/pdf/N9204334.pdf. Für den deutschen Wortlaut vgl. EUROPA-ARCHIV 1992, D 365–368. 9 Für die Rede des nigerianischen Präsidenten Babangida am 4. Oktober 1991 in New York vgl. https:// digitallibrary.un.org/record/130566?ln=en, S. 41–57 (A/46/PV.22). 10 Für die Rede des brasilianischen Präsidenten Collor de Mello am 23. September 1991 in New York vgl. https://digitallibrary.un.org/record/130361?ln=en, S. 2–20 (A/46/PV.4). 11 Für die Rede des venezolanischen Präsidenten Pérez am 25. September 1991 in New York vgl. https:// digitallibrary.un.org/record/130555?ln=en, S. 2–16 (A/46/PV.8). 12 Für die Rede des indischen AM Solanki am 26. September 1991 in New York vgl. https://digitallibrary. un.org/record/128567?ln=en, S. 16–33 (A/46/PV.11). 13 Für die Rede des italienischen AM De Michelis am 27. September 1991 in New York vgl. https://digital library.un.org/record/130363?ln=en, S. 21–36 (A/46/PV.12). 14 Mit Resolution Nr. 1991 (XVIII) vom 17. Dezember 1963 beschloss die VN-Generalversammlung eine Änderung von Artikel 23 der VN-Charta vom 26. Juni 1945, wonach die Zahl der nichtständigen SRMitglieder von sechs auf zehn erhöht werden sollte. Vgl. https://undocs.org/en/A/RES/1991(XVIII). Nach Inkrafttreten dieser Änderung der Charta zum 31. August 1965 wurden die neuen nichtständigen

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3) USA, GB und F haben immer davor gewarnt, die Zusammensetzung des SR anzutasten. Die Diskussion über die dafür notwendige Änderung der VN-Charta15 würde eine Büchse der Pandora öffnen. Die Staaten Afrikas, Asiens und Lateinamerikas würden eine stärkere Präsenz fordern. Dadurch würde nicht nur das Gewicht des Westens im SR abnehmen, der SR könnte auch so sehr anschwellen, dass er schwerfällig und weniger handlungsfähig würde. Eine Änderung der VN-Charta müsste von zwei Dritteln der VN-Mitglieder beschlossen und ebenfalls von einer Zweidrittelmehrheit, darunter alle ständigen Mitglieder des SR, ratifiziert werden. In der internationalen Presse, gerade der amerikanischen, britischen und französischen, mehren sich die Stimmen, die eine ständige Mitgliedschaft Japans und Deutschlands im SR für gerechtfertigt oder auf längere Sicht unausweichlich halten. Auch bei uns wurde das Thema in der Öffentlichkeit angesprochen. 4) Tatsächlich hat sich die Zusammensetzung des SR insofern geändert, als die Russische Föderation an die Stelle der Sowjetunion getreten ist. Dies wurde von den anderen SRMitgliedern stillschweigend akzeptiert, obwohl in der Charta ausdrücklich die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken als ständiges Mitglied des SR aufgeführt ist. Die anderen ständigen Mitglieder förderten diesen bruchlosen Übergang nicht zuletzt deshalb, um einer weiteren Diskussion über die Zusammensetzung des SR nicht einen konkreten Ansatzpunkt zu geben. Blockfreie Mitglieder, insbesondere Indien, äußerten ihre Bedenken gegen dieses Vorgehen nicht, um die Beziehungen zur Russischen Föderation nicht zu belasten. Der Zerfall der SU wird aber auf die Arbeit des SR und insbesondere auf das Funktionieren der Kerngruppe ständiger Mitglieder nicht ohne Einfluss bleiben. Die Sowjetunion konnte, als sie in der zweiten Hälfte der 80er Jahre von der Konfrontation zur Kooperation mit den USA überging, Positionen in die Zusammenarbeit einbringen, die sie – wenn auch unter Überspannung der eigenen Kräfte – aufgebaut hatte. Dagegen besitzt die Russische Föderation nicht die Supermachtstellung der früheren Sowjetunion, auch wenn sie die Verfügungsgewalt über strategische Nuklearwaffen und die ständige Mitgliedschaft im SR geerbt hat. Die Befürchtungen, dass die USA den SR durch ihre beherrschende Stellung zu einem Instrument ihrer eigenen Diplomatie machen, entstanden vor allem durch die Handhabung der Golfkrise. Sie können noch wachsen, wenn sich bestätigt, dass nunmehr keines der anderen ständigen Mitglieder ein Gegengewicht bilden kann. Die schwache Stellung der Russischen Föderation in den VN wird auch dadurch sichtbar werden, dass ihr Anteil am VN-Haushalt wesentlich unter den Anteil der SU absinken und dann nach aller Voraussicht auf mittlere Sicht unter unserem eigenen Beitrag (8,93 %) liegen wird. Wir selbst würden dann nach den USA und Japan auf den dritten Platz der Beitragszahler aufrücken. 5) Gleichzeitig erwachsen dem SR neue Aufgaben. Da Europa nicht mehr durch das WestOst-Kraftfeld beherrscht wird, das alle Probleme und Konflikte überlagerte, kann ein Engagement des SR erforderlich werden. Jugoslawien ist vielleicht nur das erste Beispiel. Der Fortsetzung Fußnote von Seite 144 SR-Mitglieder im Dezember 1965 gewählt und nahmen ihren Platz im VN-Sicherheitsrat zum 1. Januar 1966 ein. Vgl. YEARBOOK OF THE UNITED NATIONS 1965, S. 839. 15 Für die VN-Charta vom 26. Juni 1945 vgl. BGBl. 1973, II, S. 432–503.

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Zerfall der SU kann zu Konflikten führen, die ein Eingreifen des SR notwendig machen könnten. Kein europäisches Gremium – auch nicht die KSZE – kann wie der SR auch Zwangsmaßnahmen beschließen und Friedenstruppen entsenden. In Afrika (Liberia, Somalia, Äthiopien) ist die Frage, was an die Stelle zerfallender staatlicher Strukturen treten soll, bereits jetzt aktuell. 6) Die EG war bisher ständig durch GB und F und in der Regel durch mindestens ein nichtständiges Mitglied im SR vertreten. GB und F lehnten bis zur Golfkrise Zwölfer-Konsultationen über Themen ab, die im SR behandelt wurden. Seit der Golfkrise sind sie zur Erörterung von Themen, die im SR behandelt werden, im Zwölferkreis bereit. In der Diskussion zur Vorbereitung auf Maastricht16 waren GB und F nicht bereit, wesentlich darüber hinauszugehen. Zwar gilt nach Art. J. 2 Abs. 3 der Bestimmungen über die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik17, dass in internationalen Organisationen und bei Konferenzen, zu denen nicht alle Mitgliedstaaten gehören, die gemeinsamen Positionen von den Mitgliedstaaten vertreten werden, die Teilnehmer sind. Art. J. 5 trifft aber für den VN-SR eine besondere Regelung. Die Mitgliedstaaten, die dem SR angehören, stimmen sich untereinander ab und unterrichten die übrigen Mitgliedstaaten. Die Mitgliedstaaten, die ständige Mitglieder des SR sind, werden sich bei der Ausübung ihrer Funktionen für die Vertretung der Positionen und Interessen der Union einsetzen, unbeschadet der Verantwortung, die ihnen durch die Bestimmungen der VN-Charta zukommt. Von den nichtständigen Mitgliedern des SR ist bei der Vertretung der Positionen und Interessen der Union nicht die Rede. Umso wichtiger ist es für uns, im Innenverhältnis der EG-Partner auf allgemeiner Unterrichtung und Abstimmung zu bestehen (Art. J. 2 Abs. 1). Wo es gelingt, eine Gemeinsame Aktion einzuleiten (Art. J. 3), sind die Beschlüsse der Union und ihrer Mitgliedstaaten für jede einzelstaatliche Stellungnahme oder Handlung bindend (Art. J. 3 Abs. 4). Auch die ständigen SR-Mitglieder sind bei ihrem Vorgehen im SR daran gebunden. Solange die Gemeinsame Außenpolitik durch die Mitgliedstaaten vertreten und durchgeführt wird, ist gerade im VN-SR eine ganz befriedigende Lösung nicht möglich. Dem SR können allenfalls drei, in Ausnahmefällen vier EG-Mitgliedstaaten angehören. Dazu kommt der Statusunterschied zwischen ständigen und nichtständigen Mitgliedern, der in dem Text von Maastricht besonders erwähnt ist. Der jeweiligen Präsidentschaft könnte zwar in öffentlichen Sitzungen, wie jedem anderen VN-Mitglied, das Wort für eine Erklärung erteilt werden. Im Vertrag über die Politische Union ist allerdings nicht vorgesehen, dass die Präsidentschaft im SR auftritt. Aber selbst wenn dies der Fall wäre, könnte sie nicht mitverhandeln und mitentscheiden. Einen zusätzlichen rotierenden Sitz für die EG, für den sich der CSU-Vorsitzende BM Waigel nach Agentur-Meldungen ausgesprochen hat, müsste wohl die jeweilige Präsidentschaft einnehmen. Dies wäre aber mit der in der Charta festgelegten Struktur des SR nicht vereinbar. Eine Charta-Änderung, die eine solche Rotation erlauben würde, wäre schwer durchsetzbar und auch nicht ungefährlich, weil ein allgemeiner rascherer Wechsel der SR-Mitglieder die Effizienz des SR vermindern müsste. 7) Wir sollten in der jetzigen Lage an der Linie festhalten, die Sie am 3.1.1992 definiert haben: Wir entwickeln eine Gemeinsame Außenpolitik in der EG. Wenn die Sicherheits16 Zur Tagung des Europäischen Rats am 9./10. Dezember 1991 vgl. Dok. 3, Anm. 8. 17 Für Artikel J des Vertrags über die Politische Union vom 7. Februar 1992 („Bestimmungen über die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik“) vgl. BGBl. 1992, II, S. 1291–1293.

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ratsmitglieder der EG diese Außenpolitik dort verwirklichen, fühlen wir uns auch mit unseren Interessen im SR vertreten. Die Tatsache, dass die drei europäischen SR-Mitglieder auf der Sitzung am 31.1.1992 die deutschen Vorschläge zur Nichtverbreitung von Massenvernichtungswaffen unter ausdrücklicher Erwähnung Deutschlands unterstützt und sich für ihre Aufnahme in die SRErklärung eingesetzt haben, zeigt, dass dieser Ansatz richtig ist. Wie sich die Diskussion weiterentwickelt, wird in hohem Maße auch von Japan abhängen. Es ist bemerkenswert, dass der japanische PM Miyazawa auf der erwähnten SRSitzung das Thema sehr behutsam angesprochen hat (Vorschlag, die Möglichkeiten zur Anpassung von Funktionen und Zusammensetzung des SR an die heutigen Realitäten zu prüfen). Entgegen vielfach geäußerten Erwartungen hat er einen Anspruch Japans auf einen ständigen SR-Sitz nicht vorgetragen. Neben der Entwicklung der Gemeinsamen Außenpolitik in der EG ist die japanische Haltung für uns von besonderer Bedeutung. Ihr bevorstehender Besuch in Tokio18 wird die Gelegenheit bieten, darüber zu sprechen. Ein Gesprächsvorschlag wird Ihnen getrennt vorgelegt werden. Ref. 200 hat mitgezeichnet. i. V. Stackelberg B 30, ZA-Bd. 167349

34 Runderlass des Vortragenden Legationsrats Trautwein 012-9-312.74 VS-NfD Fernschreiben Nr. 8 Ortez

Aufgabe: 4. Februar 19921

Ortez zum II. Treffen des Rates der KSZE in Prag am 30./31.1.1992 I. Zusammenfassung und Bewertung Prager Treffen des KSZE-Rates hatte drei Schwerpunkte: – Ausbau der KSZE-Institutionen und -Strukturen, – Richtungsweisung für das am 24.3.1992 beginnende vierte Helsinki-Folgetreffen2, das insbesondere der Vorbereitung des nächsten KSZE-Gipfeltreffens (9./10. Juli 1992) in Helsinki3 dienen wird, – Entscheidungen über Beitrittsanträge der GUS-Staaten und früherer jugoslawischer Republiken. 18 Zum Besuch des BM Genscher vom 11. bis 13. Februar 1992 in Japan vgl. Dok 54. 1 Kopie. 2 Korrigiert aus: „2. Helsinki-Folgetreffen“. 3 Zur vierten KSZE-Folgekonferenz vom 24. März bis 8. Juli 1992 sowie zur Gipfelkonferenz am 9./10. Juli 1992 vgl. Dok. 226.

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Zweites Treffen des KSZE-Rates sah sich aktueller Aufgabe gegenüber, durch Zerfall der SU entstandene GUS-Staaten durch schnelle Zulassung als KSZE-Teilnehmerstaaten einzubinden. Darüber hinaus Fortführung der mit der Charta von Paris begonnenen neuen KSZE-Phase. Präsident Havel in Eröffnungsansprache: KSZE sei richtiger Rahmen, um nach Zusammenbruch des Kommunismus und des sowjetischen Imperiums Bedingungen für dritte Nachkriegszeit in diesem Jh. zu bestimmen.4 Nach schwierigen Abstimmungen vor und während der Ratstagung konnten richtungweisende Entscheidungen getroffen werden: – Aufnahme aller GUS-Staaten (abgesehen von Georgien) hält territorialen Gebietsstand der KSZE und ermöglicht stabilisierende Rolle der KSZE nach Wegfall der SU in diesem Raum. – Unmittelbar anwendbare Entscheidungen zur Fortentwicklung der KSZE-Institutionen werden Handlungsfähigkeit der KSZE verstärken; weitere Vorgaben in diese Richtung für „Helsinki II“. – Aufnahme von Slowenien und Kroatien als „Beobachter“ sowie substanzielle Erklärung zum Jugoslawien-Konflikt (Teil IV der „Zusammenfassung der Schlussfolgerungen“). – Ratssitzung hat die GUS-Staaten zur Ratifizierung und Mitwirkung bei der Implementierung des KSE-Vertrags aufgefordert und durch Einbeziehung der neuen zentralasiatischen KSZE-Mitglieder in das VSBM-Regime die stabilisierende Wirkung dieser bisher auf Europa beschränkten Rüstungskontroll-Vereinbarungen nach östlich des Urals ausgedehnt. Die Entscheidungen (Bulletin 12/92 v. 4.2.1992)5 sind niedergelegt in: – „Prager Dokument über die weitere Entwicklung der KSZE-Institutionen und -Strukturen“ (PD), – „Zusammenfassung der Schlussfolgerungen“, – „Erklärung des KSZE-Rates über die Nichtverbreitung und Waffentransfer“. II. Im Einzelnen und ergänzend (für den Fall der Vertiefung des Gesprächs): 1) Die Erweiterung des Kreises der KSZE-Teilnehmerstaaten (TNS) bedeutet auch tiefgreifende Veränderung und neue Herausforderung. Wichtig war deshalb Bereitschaft der neuen Partner, sich auf die KSZE auszurichten, und der alten TNS, bei der Verwirklichung der KSZE-Grundwerte zu helfen. Alle neuen Staaten haben zu Berichterstattermissionen eingeladen. Mission nach Armenien und Aserbaidschan soll sofort durchgeführt werden, mit Zwischenbericht über Lage in Berg-Karabach innerhalb drei Wochen zwecks Erörterung in Sondersitzung des Ausschusses Hoher Beamter (AHB)6. 2) In dem für die Erreichung neuer, dauerhafter Stabilität grundlegenden Bereich der „menschlichen Dimension“ (einschl. Demokratie und Rechtsstaat) ist durch vertieftes 4 Für die Rede des tschechoslowakischen Präsidenten Havel am 30. Januar 1992 in Prag vgl. http://old. hrad.cz/president/Havel/speeches/1992/3001_uk.html. 5 Für die auf der zweiten Sitzung des KSZE-Außenministerrats am 30./31. Januar 1992 in Prag verabschiedeten Dokumente vgl. BULLETIN 1992, S. 83–88. 6 Der AHB der KSZE beschloss auf seiner Sitzung am 27./28. Februar 1992 in Prag auf Basis eines von der KSZE-Beobachtermission erstellten Zwischenberichts zur Lage in Nagorny Karabach, den Konfliktparteien einen sofortigen Waffenstillstand vorzuschlagen sowie die Entsendung von Persönlichkeiten aus den Mitgliedstaaten als Beobachter, ferner die Ermöglichung der Entsendung humanitärer Hilfe und ein umfassendes Waffenembargo. Vgl. die Entschließung; B 28, ZA-Bd. 158672.

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Verständnis der Menschenrechte und Ausbau ihres Schutzes eine besonders dynamische Entwicklung zu verzeichnen: – Grundsatzentscheidung zum „vorweggenommenen Konsens“ (Entscheidung bei groben KSZE-Verstößen auch ohne Zustimmung des Verletzerstaates). Sie ist unmittelbar anwendbar. Weitere Einzelheiten sollen in Helsinki vereinbart werden (PD Ziffer 16). – Ersetzung der in Wien7 vereinbarten jährlichen Menschenrechtskonferenzen durch flexiblere und auf konkrete Probleme thematisch eingegrenzte kürzere Veranstaltungen, die kritische Situationen beleuchten, insbesondere aber Zusammenarbeit fördern. Enge Zusammenarbeit mit dem Europarat (PD Abschnitt III). 3) Harmonisierung der KSZE-Strukturen und Erhöhung der operationellen Fähigkeit der KSZE bei Konfliktverhütung und Krisenmanagement: – Stärkung der Rolle des AHB als Vertreter des Rates (PD Ziff. 2), – Ausbau der Funktionen des Konsultativ-Ausschusses des Konfliktverhütungszentrums (PD Ziff. 26 ff.), – deutsch-französische Initiative für neues Schlichtungs- und Schiedsgremium im Rahmen der KSZE (Schlussfolgerungen Ziff. 21), – Prüfungsauftrag an Helsinki hinsichtlich des gesamten Instrumentariums einschließlich „peace keeping“ (PD Abschn. VI). 4) Impuls für Wiener Rüstungskontroll-Verhandlungen: – Bestimmung eines Zeitrahmens (Schlussfolgerungen: zu Beginn des Folgetreffens) für Abschluss der Konsultationen über neue Verhandlungen über Abrüstung und Vertrauensund Sicherheitsbildung. – Vorgabe an VVSBM, vor Beginn des Folgetreffens in Helsinki einen neuen Satz gehaltvoller VSBM zu vereinbaren8, und Ausdruck der Hoffnung, dass auch bei Open-SkiesVerhandlungen9 vor Helsinki ein abschlussreifes Abkommen vorliegt. – Aufruf an Teilnehmer an KSE I a-Verhandlungen, bis zum Abschluss des Helsinki-Folgetreffens ein Abkommen über die Begrenzung der Personalstärken – unter Einschluss der einschlägigen GUS-Staaten – abzuschließen.10 5) Mit [der] „Erklärung zur Nichtverbreitung und zum Transfer konventioneller Waffen“ hat die KSZE zu diesen Fragen erstmals ein substanzielles Dokument verabschiedet, das auf einen deutsch-kanadischen Entwurf zurückgeht. Operativ von Bedeutung daran ist, dass sich alle KSZE-Staaten verpflichten, im Rahmen des neu eingerichteten VN-Registers für konventionelle Waffen11 volle Auskünfte über ihre Waffenaus- und -einfuhren zu liefern. Nichtverbreitungsfragen, inkl. Transfer sensitiven Know-hows, und Zurückhaltung beim Waffentransfer sollen als prioritäre Punkte auf die Tagesordnung des Rüstungskontrollprozesses nach Helsinki gesetzt werden. 6) Allgemeine Einsicht, dass Verzahnung und komplementäre Zusammenarbeit aller relevanten Institutionen „Europäischer Architektur“ (PD, Ziffer 43) nötig, um alle Möglich7 In Wien fand vom 4. November 1986 bis 19. Januar 1989 die dritte KSZE-Folgekonferenz statt. Vgl. AAPD 1989, I, Dok. 7 und Dok. 21. 8 Zum Abschluss der VVSBM vgl. Dok. 70. 9 Zur Unterzeichnung des Open-Skies-Vertrags am 24. März 1992 vgl. Dok. 85. 10 Zum Abschluss der KSE Ia-Verhandlungen vgl. Dok. 202. 11 Zur Einrichtung des VN-Registers für konventionelle Waffen vgl. Resolution Nr. 46/36L der VN-Generalversammlung vom 9. Dezember 1991; RESOLUTIONS AND DECISIONS, GENERAL ASSEMBLY, 46th session, S. 73–76.

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keiten zur Abstützung der Stabilität zu nutzen. In Helsinki zu erörtern bleibt Frage, ob die KSZE sich auch ausdrücklich als „regional arrangement“ nach Kapitel VIII der VN-Satzung12 verstehen soll. (De-facto-Entwicklung geht in diese Richtung!) 7) Ein weiteres Anliegen war Verbesserung der Behandlung wirtschaftlicher Zusammenarbeit im KSZE-Rahmen unter Vermeidung von Doppelarbeit mit besser geeigneten Institutionen. Rat hat entschieden, dass der AHB jährlich einmal als „Wirtschaftsforum“ zusammentritt. III. Ausblick KSZE als Rahmen für eine in und um Europa entstehende Gemeinschaft auf der Grundlage gemeinsamer Prinzipien und Werte kann bei entsprechend erweitertem Handlungsinstrumentarium einen wesentlichen Stabilitätsbeitrag leisten. Das Folgetreffen in Helsinki (ab 24.3.) – im Grunde Vorbereitungsausschuss für das Gipfeltreffen „Helsinki II“ – hat eine Fülle weiterführender Aufgaben erhalten, bei deren Bewältigung freilich eine Konzentrierung auf die wesentlichen Bereiche nicht einfach sein wird. Zu den wichtigen Themen von Helsinki wird auch die Ausarbeitung eines Mandats für das vom Gipfeltreffen einzurichtende Forum für neue Verhandlungen über Rüstungskontrolle13, einen breiten Sicherheitsdialog und Konfliktverhütung, gehören. Nächstes Treffen des Rates der KSZE in Stockholm (voraussichtlich 3./4.12.199214). Trautwein B 28, ZA-Bd. 173643

35 Gespräch des Bundesministers Genscher mit dem ägyptischen Außenminister Moussa 310-321.11 AGY

5. Februar 19921

Gespräch BM mit dem ägyptischen Außenminister Amre Moussa am 5.2.1992 in Bonn2; hier: Gesprächsvermerk 12 Für Kapitel VIII der VN-Charta vom 26. Juni 1945 vgl. BGBl. 1973, II, S. 466–469. 13 Zum Mandat für das KSZE-Forum für Sicherheitskooperation vgl. Dok. 209. 14 Die dritte Sitzung des KSZE-Außenministerrats fand am 14./15. Dezember 1992 statt. Vgl. Dok. 418 und Dok. 423. 1 Durchschlag als Konzept. Der Gesprächsvermerk wurde von VLR I von Hoessle am 7. Februar 1992 gefertigt und über MD Schlagintweit an BM Genscher „mit der Bitte um Genehmigung“ geleitet. Hat Schlagintweit am 7. Februar 1992 vorgelegen. Hat VLR Gerdts am 7. Februar 1992 vorgelegen, der handschriftlich vermerkte: „Kann mit Vermerk ,Von BM noch nicht genehmigt‘ verteilt werden.“ 2 Der ägyptische AM Moussa hielt sich vom 4. bis 6. Februar 1992 in der Bundesrepublik auf.

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1) An dem etwa eineinhalbstündigen Gespräch nahmen teil: – Auf ägyptischer Seite: AM Amr Moussa, Botschafter Raouf Ghoneim, Gesandter Salem, ein persönlicher Referent des AM. – Auf deutscher Seite: BM, D 33, RL 3104, ein Dolmetscher. 2) Wesentliche Themen des Gesprächs waren: – Situation in Osteuropa, insbesondere GUS; – Situation am Balkan, Jugoslawien; – regionale Zusammenarbeit der Mittelmeerstaaten; – Nahost-Friedensprozess; – Lage im Maghreb, Algerien und Libyen; – Nichtverbreitungs-Initiative des BM; – Zusammensetzung des VN-Sicherheitsrats (stärkere Beteiligung der Dritte-Welt-Staaten). 3) Der Bundesminister eröffnete das Gespräch mit der Bemerkung, dass es jetzt die wichtigste Aufgabe der Europäer sei, ein neues Europa unter Einbeziehung der neuen osteuropäischen Staaten aufzubauen. Es sei eine wichtige Periode der Veränderungen hin zum Besseren, aber mit Risiken und Komplikationen. Die Entwicklungen in Europa stellten eine echte Revolution dar, die bedeutender sei als die Ereignisse von 1917. AM Moussa erwiderte, dass der Zusammenbruch der Sowjetunion als Weltmacht ein einmaliges Vorkommnis sei. Er berichtete über sein jüngstes Gespräch mit Gorbatschow in dessen neuem Institut in Moskau.5 Gorbatschow stehe der neuen Entwicklung und dem russischen Präsidenten Jelzin sehr kritisch gegenüber. Die derzeitige Entwicklung in der GUS sei nach seiner Ansicht nicht das letzte Wort in der Geschichte der ehemaligen Sowjetunion. Gorbatschow sei überzeugt, dass man ihn auf die aktive politische Bühne zurückrufen werde. Er plane eine Reise rund um die Welt; vermutlich werde er zuerst den Nahen und Mittleren Osten besuchen. Ägypten habe Gorbatschow bereits eingeladen. AM Moussa berichtete sodann über das jüngste Treffen der Außenminister der Blockfreien in Zypern (3.2.1992). Bei diesem Treffen habe der serbische AM6 ihn gebeten, eine Erklärung für die Einheit Jugoslawiens abzugeben. Dies habe er jedoch abgelehnt. Ägypten werde vielmehr Slowenien und Kroatien als unabhängige Staaten anerkennen. Er gehe zwar davon aus, dass auch die anderen Teile Jugoslawiens bald unabhängig werden. Deren Anerkennung durch Ägypten sei jedoch vorerst nicht zu erwarten, da die Lage diesbezüglich viel komplizierter sei. Es sei bei der Konferenz in Zypern gelungen, die Jugoslawen zu überzeugen, auf den Vorsitz der Blockfreien zu verzichten und stattdessen Indonesien mit unmittelbarer Wirkung das Amt des Vorsitzenden praktisch zu übertragen. Ägypten habe hierbei eine besondere Rolle gespielt; es habe aber auch keinen ernsthaften Widerstand anderer blockfreier Staaten oder von Jugoslawien selbst gegeben. Ägypten beobachte mit Sorge, ob die Entwicklung in Jugoslawien negative Einflüsse auf den gesamten Balkan habe. Der BM antwortete, dass nach seiner Überzeugung eine weitere Zusammenarbeit zwischen den Teilstaaten Jugoslawiens in Anbetracht der schrecklichen Ereignisse der letzten 3 Reinhard Schlagintweit. 4 Andreas von Hoessle. 5 Der ägyptische AM Moussa nahm am 28./29. Januar 1992 an der multilateralen Nahost-Friedenskonferenz teil. 6 Vladislav Jovanović.

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Zeit nicht mehr möglich sei. Es sei jedoch eine Herausforderung für Europa, sie in einem einigermaßen vernünftigen Rahmen zusammenzuhalten. Deshalb hätten die Europäer den einzelnen Teilstaaten auch Assoziierungs-Vereinbarungen auf gleicher Ebene angeboten. Die Entwicklung im gesamten Balkan sei unter Kontrolle zu halten, wenn es gelinge, die einzelnen Staaten in die europäische Struktur einzubinden. AM Moussa wies darauf hin, dass für Ägypten diese Frage wegen der angestrebten Zusammenarbeit im Mittelmeerraum besonders wichtig sei. Nach Auffassung Ägyptens seien hierfür auch die Länder, die hinter den unmittelbaren Anliegern lägen, von Bedeutung. In die von Ägypten angestrebte Struktur der Zusammenarbeit am Mittelmeer müsse auch Deutschland als mittelbar zu dieser Region gehörendes Land einbezogen werden. Es habe bereits konkretere Vorstellungen über eine Zusammenarbeit im westlichen Mittelmeer zwischen E, I, F, P und Malta mit den fünf Maghreb-Staaten gegeben.7 Wegen der Ereignisse in Algerien8 und der Lage in Libyen müsse dieser Plan jedoch zunächst zurückgestellt werden. Ägypten arbeite auf eine engere Zusammenbindung im östlichen Mittelmeer hin. Hierfür brauche man dringend die Mitarbeit der Türkei. Griechenland sei bereits einbezogen. Einzelne Staaten der 5+5-Gruppe könnten sich dem Verbund im östlichen Mittelmeer dann anschließen. AM Moussa leitete sodann zum Nahost-Friedensprozess mit der Bemerkung über, dass eine wirklich erfolgreiche Zusammenarbeit im östlichen Mittelmeer nur dann möglich sei, wenn der in Madrid9 eingeleitete Friedensprozess Fortschritte mache. Israel sei jedoch das große Hindernis in der Region. Es lehne jeden Kompromiss auf der Basis „Land für Frieden“ ab. Schamir habe erst vor zwei Tagen wieder von einem Groß-Israel gesprochen. Es sei müßig, darüber nachzudenken, ob AM Levy flexibler sei, denn er habe in der Regierung keinen Einfluss („cannot deliver“). Es sei auch nicht zu erwarten, dass die für den 23. Juni in Israel geplanten Wahlen Veränderungen bringen würden. Die Labour-Partei habe keine Chance. Alle, die an einem Frieden in Nahost interessiert seien, müssten sich jetzt fragen, wie man Israel dazu bringen könne, sich zu bewegen. Es sei verhängnisvoll, wenn die Israelis jetzt das Geld erhielten, das sie von Amerikanern und Europäern verlangten. Dann gebe es bestimmt keinen Friedensprozess. Man müsse verstehen, dass Syrien wegen der israelischen Haltung sehr besorgt sei, denn es gebe nicht die geringsten Anzeichen, dass Israel bereit sei, den Golan zu verlassen. Auf Bitten des BM erläuterte AM Moussa seine Einschätzung der Lage in den besetzten Gebieten und der Gefahr einer Ausbreitung des Fundamentalismus unter den Palästinensern. Die gemäßigten palästinensischen Führer in den besetzten Gebieten stünden unter persönlichen Bedrohungen vonseiten radikaler Kreise auf der Westbank und in Gaza. Aus diesem Grunde hätten Feisal Husseini und Hanan Aschrawi in Moskau10 auch schließlich eine sehr harte Haltung bei der Verweigerung ihrer Teilnahme eingenommen. Nach seinen 7 Referat 206 erläuterte am 26. Februar 1992, der im Oktober 1990 begonnene „4+5-Prozess“ zwischen Frankreich, Italien, Portugal und Spanien sowie Algerien, Libyen, Marokko, Mauretanien und Tunesien sei im Oktober 1991 um Malta erweitert worden. Ziel sei die „Schaffung eines Dialogmechanismus für politische, wirtschaftliche und Sicherheitsfragen“. Eine Erweiterung des Teilnehmerkreises um Ägypten und Griechenland sei abgelehnt worden. Vgl. B 26, ZA-Bd. 173623. 8 Zur Entwicklung in Algerien vgl. Dok. 18, Anm. 31. 9 Zur Friedenskonferenz über den Nahen Osten vom 30. Oktober bis 1. November 1991 vgl. Dok. 15, Anm. 6. 10 Zur multilateralen Nahost-Friedenskonferenz am 28./29. Januar 1992 vgl. Dok. 15, Anm. 14.

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Informationen seien sie zunächst durchaus bereit gewesen, auf den Kompromissvorschlag der Amerikaner (Teilnahme nach Madrider Formel am ersten Tag, bei Erweiterung auf Diaspora-Vertreter am zweiten Tag) einzugehen. Sie hätten diese Haltung erst unter Druck aus eigenen Kreisen aufgegeben. Dennoch halte er, Moussa, eine Lösung auf der Basis einer Interims-Autonomie für möglich, wenn Israel die Besiedlungstätigkeit in den besetzten Gebieten einstelle. Insgesamt sei er jedoch für die Zukunft skeptisch. Seit Beginn des Friedensprozesses vor sechs Monaten sei nichts erreicht worden. Es sei nicht zu erwarten, dass sich in Anbetracht der Wahlen in Israel und danach in USA11 daran etwas ändern werde. Dieser Stillstand fördere fundamentalistische und extremistische Entwicklungen in den besetzten Gebieten. Hinzu komme die sich ständig verschlechternde Lage der Palästinenser, die zu erheblicher Enttäuschung führe. Der BM hob hervor, dass Europa eine aktive Rolle im Friedensprozess anstrebe. Es wolle operativ an den Arbeitsgruppen, darunter insbesondere auch der AG Rüstungskontrolle und regionale Sicherheit, teilnehmen. Unter den gegebenen Umständen sei eine Verstärkung der europäischen Rolle jedoch nicht ganz einfach. Einige unmittelbar Beteiligte hätten Vorbehalte gegen eine allzu intensive Beteiligung der Europäer in den Sicherheitsfragen. Die Troika bemühe sich hier in Gesprächen mit den Beteiligten um eine stärkere Einbeziehung. Der BM machte deutlich, dass auch er bei einem Fehlschlagen des Friedensprozesses erheblichen Schaden für die gesamte Entwicklung im Mittelmeerraum befürchte. Auf Frage des BM nach der ägyptischen Einschätzung der Ereignisse in Algerien erwiderte AM Moussa, dass es höchste Zeit gewesen sei, die verhängnisvolle Entwicklung in Algerien zu unterbrechen. Wäre Algerien den Fundamentalisten in die Hand gefallen, dann wäre auch Gleiches in Tunesien und Marokko passiert. Es müsse eine Lehre für alle anderen sein (this is the way to break the bone of the fundamentalists). Ägypten habe frühzeitig begonnen, der Gefahr zu begegnen. Es habe eine bessere Fähigkeit bewiesen, diese Probleme zu beseitigen. Es habe den Fundamentalisten von Anfang an schrittweise ein Forum unter strikter staatlicher Kontrolle zur Verfügung gestellt. So seien die Fundamentalisten jetzt nur eine Partei unter anderen. Dies sei gelungen, obwohl die Wirtschaftslage in Ägypten viel schwieriger sei als in Algerien. Nach seiner Einschätzung sei die algerische Armee noch intakt. Selbst die niederen Ränge seien weniger anfällig für den Fundamentalismus als die übrige, wirtschaftlich völlig frustrierte Bevölkerung. Die derzeitige Führung versuche, mit Zuckerbrot und Peitsche der Gefahr Herr zu werden. Im Übrigen sei auch das algerische Volk keinesfalls mehrheitlich extremistisch. Die Wahl habe vielmehr dem Protest gegen die bisherige Herrschaft der FLN Ausdruck gegeben. Zu Libyen sagte AM Moussa, dass es Ägypten gelungen sei, Gaddafi einigermaßen wieder auf den richtigen Weg zu bringen. Es bestehe die Hoffnung, ihm einen Kompromiss abzuringen, die beiden verdächtigen Terroristen im Lockerbie-Fall12 auszuhändigen, wenn sie vor ein Gericht einer dritten Partei, nicht der Briten oder der Amerikaner, gestellt würden. Gaddafi habe Angst, seine eigene Rolle in der Vergangenheit bloßzustellen. Ägypten sei gegen kriegerische Strafmaßnahmen. Er sei deswegen auch mit den Amerikanern in Kontakt, um sie vor den Gefahren der Gewaltanwendung zu warnen. 11 In den USA fanden am 3. November 1992 Präsidentschaftswahlen, Wahlen zum Repräsentantenhaus sowie Teilwahlen zum Senat und für die Gouverneursämter statt. 12 Zu den Maßnahmen gegen Libyen wegen der Anschläge auf Flugzeuge der PanAm im Dezember 1988 bzw. UTA im September 1989 vgl. Dok. 30.

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Der BM erläuterte sodann auf Bitte von AM Moussa seine jüngste NichtverbreitungsInitiative.13 Es komme jetzt darauf an, sofortige Maßnahmen zu ergreifen, um eine weitere Ausbreitung der Aufrüstung weltweit zu verhindern. Besonders müsse man dem Transfer von Know-how zur Herstellung von Massenvernichtungswaffen durch ehemals sowjetische Wissenschaftler begegnen. AM Moussa unterstrich nachdrücklich, dass er die Initiative des BM für die beste aller bisherigen Initiativen in diesem Bereich halte. Ägypten werde öffentlich erklären, dass es diese Initiative nachdrücklich unterstütze. Es sei vor allen Dingen gegen die Verbreitung von Nuklearwaffen, da diese gerade im Fall der Nahost-Region katastrophale Auswirkungen hätte. Bedauerlicherweise sei auch hier Israel wieder nicht bereit zur Mitarbeit. AM Moussa forderte den BM auf, noch mehr zu tun, um seine Initiative der öffentlichen Weltmeinung bekannt zu machen und sie mit noch stärkerem politischem Nachdruck durchzusetzen. Der BM dankte AM Moussa für die eindeutige Unterstützung. Je größer die öffentliche Unterstützung sei, umso größere Chancen habe seine Initiative. AM Moussa brachte sodann die Frage der derzeitigen Zusammensetzung des VN-Sicherheitsrats zur Sprache und fragte nach den deutschen Absichten, eine Initiative zur Veränderung zu ergreifen.14 Die Dritte Welt sei in den VN politisch unterprivilegiert. Daran müsse sich etwas ändern. Ägypten hoffe auf Deutschlands Unterstützung. Der BM verwies auf die Schwierigkeiten, die wir selbst unter Freunden hätten, wenn wir auf eine stärkere Rolle Deutschlands im Sicherheitsrat drängen würden. Wir unternähmen daher mit Sicherheit keine Initiative in dieser Richtung, auch wenn Japan oder Staaten der Dritten Welt uns dazu drängten. Wenn die Frage der Reform des Sicherheitsrats diskutiert werden sollte, würden wir uns zurückhalten. Im Übrigen sähen wir die ganze Sache mehr im europäischen Licht. Die EG habe bereits zwei ständige Sitze durch ihre Mitglieder F und GB. Unser Bestreben gehe dahin, die gemeinsame europäische Struktur auch in den VN hervorzuheben. Dazu sei es aber nötig, dass die Europäer die eigenen europäischen Institutionen stärken. Der BM verwies darauf, dass alles seine Zeit brauche. Die Staaten, die Änderungen wollten, sollten nichts überstürzen. Die Wiederherstellung der deutschen Einheit sei ein gutes Beispiel hierfür. Schließlich erläuterte der BM auf Frage von AM Moussa den von ihm neu geprägten Begriff (consensus minus one). Eine derartige Regelung könne verhindern, dass in kriti13 Nach einem Gespräch zwischen BM Genscher und VN-GS Boutros-Ghali am 23. Januar 1992 übermittelte Botschafter Graf zu Rantzau, New York (VN), Boutros-Ghali am folgenden Tag nochmals Genschers Vorschläge zur Nichtverbreitung von Massenvernichtungswaffen: 1) Schaffung einer internationalen Stiftung, die es Wissenschaftlern ermöglichen sollte, ihre Kenntnisse für friedliche Zwecke zu nutzen; 2) strengere Gesetzgebung in den VN-Mitgliedstaaten bezüglich der Beteiligung ihrer Staatsbürger an der Entwicklung oder Herstellung von Massenvernichtungswaffen; 3) Sanktionen gegen Staaten, die versuchten, Material oder Technologie zur Herstellung von Massenvernichtungswaffen zu besorgen. Vgl. das Dokument S/23474; https://documents-dds-ny.un.org/doc/UNDOC/GEN/N92/032/28/pdf/N9203228. pdf. Mit Blick auf die Sitzung des VN-Sicherheitsrats auf der Ebene der Staats- und Regierungschefs am 31. Januar 1992 leitete Botschafter Vergau, New York (VN), dieses Schreiben an die Botschafter der teilnehmenden Staaten mit der Bitte, die Vorschläge zu unterstützen. Vgl. die Anlage zu DB Nr. 188 vom 28. Januar 1992; B 30, ZA-Bd. 167349. 14 Zur Diskussion um die Zusammensetzung des VN-Sicherheitsrats vgl. Dok. 33.

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schen Fällen von Völkerrechtsverletzungen der beschuldigte Staat durch sein Vetorecht einen gemeinsamen Beschluss aller übrigen Beteiligten unmöglich mache. AM Moussa sagte, er werde sich dafür einsetzen, dass dieses Verfahren auch in der Arabischen Liga eingeführt werde. Offensichtlich auf ausdrückliche Bitte der Syrer sprach AM Moussa – eher pflichtgemäß – den Fall des deutschen Schiffes Godewind15 an. Der BM erläuterte, dass die Maßnahmen gegen die Godewind auf die äußerst strenge innerdeutsche Gesetzgebung zur Kontrolle von Kriegswaffenexporten zurückzuführen seien. Es habe keine andere Wahl gegeben, als das Schiff anzuhalten. […]16 Die Maßnahmen seien in keiner Weise gegen Syrien oder die ČSFR gerichtet. Zum Abschluss betonte AM Moussa nochmals, dass die bilateralen Beziehungen zwischen Deutschland und Ägypten ausgezeichnet und ohne Störung seien. 4) Zu einigen von den Ministern kurz erörterten Einzelfällen im bilateralen Bereich sind gesonderte Vermerke angefertigt worden, die in Ablichtung beiliegen.17 B 36, ZA-Bd. 196705

15 VLR Meyke informierte die Botschaft in Rom am 28. Januar 1992, das deutsche Schiff „MS Godewind“ habe am 13. Januar 1992 sechzehn Kampfpanzer tschechoslowakischer Provenienz vom Typ T-72 in Stettin geladen, um sie nach Syrien zu liefern. Eine von der Reederei nachträglich beantragte Genehmigung zum Transport nach dem KWKG sei abgelehnt worden. Vgl. DE Nr. 1029; B 70, ZA-Bd. 221012. Zum weiteren Hergang legte das BMVg am 10. Februar 1992 dar, am 29. Januar 1992 sei die Marine beauftragt worden, das Schiff im Mittelmeer aufzuspüren, da widersprüchliche Kursangaben seitens der Reederei eingegangen seien. Nach Sichtung des Schiffes sei der Auftrag eingegangen, die „Godewind“ bis zum Erreichen der deutschen Hoheitsgewässer zu begleiten. Die Fregatte „Bremen“ habe das Schiff bis zum Hafen in Cartagena begleitet, wo am 3. Februar 1992 Teile der Ladung, die nicht unter das KWKG fielen, umgeladen worden seien. Nach Beendigung des Umladens hätten die „Godewind“ und die „Bremen“ am 6. Februar 1992 Kurs auf die Deutsche Bucht genommen, wo die „Godewind“ am 13. Februar 1992 erwartet werde. Vgl. B 36, ZA-Bd. 196511. 16 An dieser Stelle durch Textverarbeitungsfehler doppelt geschriebenen Text gestrichen. 17 Dem Vorgang nicht beigefügt. BM Genscher und der ägyptische AM Moussa besprachen am 5. Februar 1992 außerdem den Fall einer Kindesentziehung. Vgl. den Gesprächsvermerk; B 36, ZA-Bd. 196818. Ferner wurde die Rüstungsexportpolitik gegenüber Ägypten erörtert. Vgl. den Gesprächsvermerk; B 36, ZA-Bd. 196750. Ein weiteres Thema war die Gewährung von Hermes-Bürgschaften für Ägypten-Geschäfte. Vgl. den Gesprächsvermerk; B 36, ZA-Bd. 196745. Außerdem wurde die Frage eines Grundstücks für die ägyptische Botschaft in Berlin besprochen. Vgl. den Gesprächsvermerk; B 36, ZA-Bd. 196710.

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36 Gespräch des Bundesministers Genscher mit dem kroatischen Außenminister Šeparović 215-321.11 KRO VS-NfD

5. Februar 19921

BM berichtete einleitend vom AM-Treffen der EG am 3.2. in Brüssel. Dort hätte es einen Versuch gegeben, den Beschluss über positive Maßnahmen2 zu blockieren, und zwar mit folgenden Argumenten: 1) Kroatien habe noch immer nicht die vorgesehene Regelung für Minderheiten3 verwirklicht. 2) Kroatien verweigere sich dem Friedensplan der VN4. Daraufhin habe er, BM, Präs. Tudjman geraten5, die Vorschläge bezüglich der VN-Friedensoperation ausdrücklich nochmals so zu akzeptieren, wie sie seien. Zur Frage der Minderheitenrechte habe er, BM, in Brüssel gesagt, nach unserer Auffassung erfülle Kroatien die Bedingungen. Wenn andere nicht dieser Auffassung seien, sollten sie konkret vorschlagen, was geändert werden müsse. Damit solle sich jetzt die AG für Menschen- und Minderheitenrechte der Konferenz6 befassen. Im Hinblick auf Bosnien-Herzegowina rate er dringend, dass sich Kroatien eindeutig zur Identität dieser Republik bekenne. Es gebe viele Versuche, Kroatien auf den Weg einer Teilung zu locken. Dann werde Kroatien im Zentrum der Kritik stehen. Wir hätten vorgeschlagen, die EG solle anbieten, die internationale Beobachtung des Referendums7 ent1 Der Gesprächsvermerk wurde von VLR I Libal mit dem am 6. Februar 1992 konzipierten RE Nr. 1675 am 12. Februar 1992 übermittelt. Dazu vermerkte er: „Zur dortigen Unterrichtung wird folgender – von BM noch nicht genehmigter – Vermerk über das o. g. Gespräch übermittelt: Gespräch war auf Bitte von AM Šeparović (AM) zustande gekommen, der in Bonn außerdem mit dem ägyptischen Außenminister zusammentraf.“ 2 Der EG-Ministerrat beschloss auf seiner Tagung am 3. Februar 1992 in Brüssel, Kroatien, Slowenien sowie Bosnien-Herzegowina, Mazedonien und Montenegro im Gegenzug für ihre Mitwirkung am Friedensprozess bestimmte Handelsvergünstigungen, die zuvor für Jugoslawien gültig waren, zu gewähren. Vgl. BULLETIN DER EG 1-2/1992, S. 87 f. 3 Vgl. das Gutachten Nr. 5 der Schlichtungskommission der EG für Jugoslawien vom 11. Januar 1992; Dok. 18, Anm. 4. 4 Zum Plan des Sonderbeauftragten des VN-GS für Jugoslawien, Vance, vgl. Dok. 2, Anm. 6. 5 In einem Schreiben vom 4. Februar 1992 an den kroatischen Präsidenten Tudjman erklärte BM Genscher unter Bezugnahme auf ein Telefongespräch am Vortag: „Sie haben mir dabei noch einmal versichert, dass Kroatien ohne jede Einschränkung zu dem Plan des VN-Bevollmächtigten Vance für die Stationierung von Friedenstruppen steht. […] Hier in Warschau habe ich in den Nachrichten gehört, dass Cyrus Vance gegenüber dem GS der VN bedauert hat, dass Kroatien an seiner Akzeptanz des Vance-Plans Zweifel aufkommen lasse. Ich rate dringend, dass Sie heute noch Herrn Vance eine schriftliche Erklärung zuleiten, in der Sie die vorbehaltlose Annahme seines Plans bekräftigen.“ Vgl. die Anlage zu DE Nr. 65 des VLR Freiherr von Stackelberg vom 4. Februar 1992 an die Ständige Vertretung bei den VN in New York; B 30, ZA-Bd. 158143. 6 Zur Friedenskonferenz für Jugoslawien vgl. Dok. 10, Anm. 4. 7 Zum geplanten Referendum über die Unabhängigkeit Bosnien-Herzegowinas vgl. Dok. 26, Anm. 11.

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sprechend dem Spruch der Schlichtungskommission8 zu übernehmen. Dann werde klar, wer das Referendum blockiere. AM stellte fest, trotz einiger Zwischenfälle bleibe der Waffenstillstand gesichert. Kroatien sei für die Entsendung von VN-Friedenstruppen. VN-UGS Goulding9 verstehe die kroatische Position nicht. Er versuche, Babić an den Tisch zu bekommen. Kroatien sei nicht einverstanden damit, dass die lokale Verwaltung vorläufig von jenen Leuten betrieben werden solle, die jetzt dort seien. Daraufhin empfahl BM der kroatischen Seite mehrmals und nachdrücklich, den Plan der VN-Friedensoperation vollständig und vorbehaltlos zu akzeptieren. Die kroatische Seite habe ihn ja bereits schon einmal akzeptiert und solle nicht mehr dahinter zurückgehen. Dies gelte auch für den von kroatischer Seite infrage gestellten Punkt 19 des Planes. Der Text sei hier ganz eindeutig: Die Polizeikräfte in den „VN-Schutzgebieten“ müssten entsprechend der ethnischen Zusammensetzung der Bevölkerung vor den Feindseligkeiten aufgebaut werden. Sie würden aber den vorhandenen Bezirksverwaltungen („opstine councils“) unterstellt, und dies bedeute, den Bezirksverwaltungen, wie sie gegenwärtig zusammengesetzt seien. BM warnte kroatische Seite davor, durch ihren Vorbehalt jenen Kräften in die Hände zu spielen, die kein Interesse an der Entsendung der Friedenstruppen hätten, und sich selbst zu isolieren. Die VN-Friedensoperation liege im Interesse Kroatiens. Die Entwicklung laufe in eine für Kroatien günstige Richtung, auch auf der Jugoslawien-Konferenz. Auf einen entsprechenden Einwurf des AM erwiderte BM, die VN-Truppen würden niemals 15 – 20 Jahre bleiben wie auf Zypern, und wies in diesem Zusammenhang auf die Abhängigkeit auch Serbiens von der Zusammenarbeit mit der EG hin. RL 21510 wies ergänzend auf die für Kroatien wichtige Bestimmung über die Rückkehr der Flüchtlinge und Vertriebenen hin. AM sagte zu, die Gesichtspunkte des BM Präsident Tudjman vorzutragen. Man werde die Frage überdenken.11 Zu Bosnien-Herzegowina sagte er, Kroatien ergreife keine Initiative zu einer Teilung dieser Republik. BM antwortete, Kroatien solle sich für die Integrität von B.-H. aussprechen. Mehr brauche es nicht zu tun. Das Übrige werde sich aus der Entwicklung ergeben. B 42, ZA-Bd. 175607 8 In ihrem Gutachten Nr. 4 vom 11. Januar 1992 führte die Schlichtungskommission der EG für Jugoslawien mit Blick auf den serbischen Bevölkerungsteil Bosnien-Herzegowinas aus, dass der Wille zur Unabhängigkeit noch nicht vollständig zum Ausdruck gekommen sei: „This assessment could be reviewed if appropriate guarantees were provided by the Republic applying for recognition, possibly by means of a referendum of all the citizens of the S[ocialist] R[epublic of] B[osnia-]H[erzegowina] without distinction, carried out under international supervision.“ Vgl. ILM, Vol. 31 (1992), S. 1503. 9 Zum Bericht des VN-UGS Goulding vgl. Dok. 41, Anm. 10. 10 Michael Libal. 11 Mit Schreiben vom 6. Februar 1992 an den Sonderbeauftragten des VN-GS für Jugoslawien, Vance, teilte der kroatische Präsident Tudjman mit, „that I accept, fully and unconditionally, the United Nations SecretaryGeneral’s concept and plan which defines the conditions and areas where the United Nations force would be deployed“. Vgl. die Anlage I zum Bericht des VN-GS Boutros-Ghali vom 15. Februar 1992 an den VN-Sicherheitsrat (S/23592); https://documents-dds-ny.un.org/doc/UNDOC/GEN/N92/069/42/pdf/ N9206942.pdf.

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37 Vermerk des Ministerialdirektors Schlagintweit 310-321.00 ISR VS-NfD Betr.:

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Israelischer Wunsch, deutsche Kreditgarantien zu erhalten

Am 29.1. fand im Bundesministerium der Finanzen eine Besprechung unter Leitung von StS Köhler über das weitere Vorgehen gegenüber Israel in der Frage der israelischen Finanzwünsche statt. An dem Gespräch nahmen teil: StS Kastrup und D 31, Auswärtiges Amt; MD Hartmann, ChBK; MD Haller und MR Schlitzberger, BMF. 1) Das Treffen diente der Vorbereitung eines Gesprächs zwischen BK, BM des Auswärtigen und BM der Finanzen2 zur weiteren Behandlung dieser Frage. Dies ist u. a. deswegen dringlich geworden, weil der Bundespräsident bei seinem Israel-Besuch (10./11. Dezember 19913) persönlich von Präsident Herzog und Ministerpräsident Schamir angesprochen worden ist, Präsident Herzog außerdem einen Brief an den Bundespräsidenten gerichtet hat und der israelische Botschafter4 in den drei Häusern laufend demarchiert. 2) Die Ausgangslage ist folgende: Wir hatten am 2.10. angeboten – Bundesbürgschaft für Privatkredite in Höhe von 500 Mio. DM, – Gewährung von Beihilfen zur Verbilligung von privaten Krediten in Höhe von 2 x 50 Mio. DM, – Weitergewährung von Entwicklungshilfe (jährlich z. Z. 140 Mio. DM), obwohl Rechtsgrundlage und Entwicklungsland-Charakter des Empfängers nicht mehr gegeben seien, – Hermesbürgschaften bis zu einem Plafond von je DM 500 Mio. für 1991 und 1992.5 Diese Vorschläge waren von StS Singer abgelehnt worden. Während der Weltbanktagung in Bangkok im Oktober 19916 hat StS Köhler, wie er in der Sitzung mitteilt, gegenüber seinem israelischen Kollegen einen neuen Vorschlag gemacht, dem allerdings der BMF noch nicht zugestimmt hatte. 1 Reinhard Schlagintweit. 2 Theodor Waigel. 3 Bundespräsident Freiherr von Weizsäcker hielt sich am 10./11. Dezember 1991 in Israel auf. Botschafter von der Gablentz, Tel Aviv, teilte am 12. Dezember 1991 zum Gespräch mit dem israelischen MP am Vortag in Jerusalem mit, Schamir habe mit Blick auf die Integration sowjetischer Einwanderer dargelegt, diese könne nur mit ausländischer Hilfe gelingen: „Angesichts der deutschen finanziellen Belastungen betonte er, dass es um Garantien für Kredite gehe, die Israel – stets ein guter Schuldner – zurückzahlen werde. Dabei gehe es um eine Kredithöhe von 5 Mrd. DM. Die bisher angebotene Höhe von 1 Mrd. DM entspräche nicht den israelischen Bedürfnissen.“ Vgl. DB Nr. 1375; B 36, ZA-Bd. 185326. 4 Benjamin Navon. 5 Zu den deutsch-israelischen Gesprächen über Finanzhilfe vgl. AAPD 1991, II, Dok. 331. 6 Die Konferenz der Finanzminister und Notenbankgouverneure der G 7 fand vom 11. bis 13. Oktober 1991 in Bangkok statt. Am 11./12. Oktober 1991 trafen sich an gleichem Ort die Finanzminister der G 24.

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Dieser Vorschlag belief sich auf eine Verdoppelung des Volumens der Bundesbürgschaft auf je 500 Mio. DM in zwei Jahren. Israel habe auch diesen Vorschlag als nicht akzeptabel bezeichnet und dagegen folgende Wünsche geäußert: – Kreditverbürgung in Milliardenhöhe. Im Oktober hatte StS Singer von 10 Mrd. DM (in fünf Jahren), der israelische MP gegenüber dem Bundespräsidenten im Dezember 1991 von 5 Mrd. DM gesprochen; – einen weiteren Unterstützungsfonds für Härtefälle in Israel; – Aufstockung der Entwicklungshilfe. Wie StS Köhler mitteilte, seien die beiden letzten Wünsche bereits vom BK abgelehnt worden. 3) Die Gesprächsrunde entwickelte drei Modelle für die zentrale Frage, Bundesbürgschaften für Bankkredite zu gewähren. Diese Modelle wurden vorbehaltlich einer Zustimmung des BMF entwickelt, der aus finanziellen und innenpolitischen Gründen erhebliche Widerstände erwartet. StS Köhler geht davon aus, dass die entsprechenden Beträge ganz oder doch zum größten Teil dem Bundeshaushalt zur Last fallen, da er nicht glaubt, dass Israel in der Lage sein wird, sie zurückzuzahlen. a) 2 x jährlich 500 Mio. DM. b) 2 x 500 Mio. DM; plus Ankündigung, dass zu gegebener Zeit weitere Überlegungen (in der Richtung: weitere Verbürgung von 2 x 500 Mio. DM) nicht ausgeschlossen seien. Dies gäbe uns die Möglichkeit, dann sowohl die finanzielle wie auch die politische Situation bei unserer Hilfe neu zu bewerten. c) Schon jetzt Zusage von 4 x 500 Mio. DM. 4) In der Frage, ob unsere Hilfe an politische Bedingungen geknüpft werden soll, sprach die Gesprächsrunde keine endgültig eindeutige Empfehlung aus. Einigkeit bestand, dass Deutschland weniger Aussicht hat, sich mit politischen Konditionen durchzusetzen, als die USA7 – nicht nur, weil unsere Ausgangslage anders ist, sondern auch wegen des sehr viel niedrigeren Volumens, das bei uns zur Diskussion steht. Sicher wird man bei einer Wiederaufbauhilfe Israels die Auflage machen, dass die entsprechenden Beträge nicht in den besetzten Gebieten ausgegeben werden dürfen. Ob und wie auch die von den Zwölf immer wieder erhobene Forderung, die Siedlungstätigkeit als Voraussetzung für Fortschritte im Friedensprozess überhaupt einzustellen, in die Voraussetzungen für deutsche Hilfe eingebaut werden kann, bedarf noch einer sorgfältigen Prüfung. Die Gesprächsteilnehmer vertraten die Ansicht, dass es auf jeden Fall ratsam sei, dass wir uns mit den Vereinigten Staaten abstimmen, sobald sich eine Einigung über den Inhalt einer deutschen Wiederaufbauhilfe abzeichnet. Schlagintweit B 36, ZA-Bd. 185342

7 Zur Frage amerikanischer Kreditbürgschaften für Israel vgl. Dok. 18, Anm. 39.

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6. Februar 1992: Runderlass von Bettzuege

38 Runderlass des Vortragenden Legationsrats I. Klasse Bettzuege 012-9-312.74 VS-NfD Fernschreiben Nr. 9 Ortez Betr.:

6. Februar 1992 Aufgabe: 7. Februar 1992

Koordinierungskonferenz für humanitäre Hilfe an die GUS-Staaten in Washington am 22./23.1.1992

1) Die Washingtoner Konferenz hat einen Prozess einer breiten internationalen Zusammenarbeit eingeleitet, die dem Ziel dient, den Staaten der GUS den Übergang zu einer demokratischen Gesellschaft mit marktwirtschaftlichen Strukturen zu erleichtern. Sie hat dazu beigetragen, das Bewusstsein für die Bedeutung dieser Aufgabe für die Zukunft der Staatengemeinschaft zu schärfen. Die Bereitschaft, sich an der bereits angelaufenen, bisher jedoch auf relativ wenige Staaten beschränkten internationalen Hilfsaktion zu beteiligen, wurde gestärkt. An der Konferenz nahmen 47 Staaten (neben OECD-Staaten auch ASEAN-MS, Staaten der Golfregion, lateinamerikanische Staaten und MOEs) sowie sechs internationale Organisationen (u. a. EG, VN, NATO) teil. Die GUS-Staaten waren von den USA nicht eingeladen worden. In ihren Eröffnungsreden würdigten Präsident Bush1 und AM Baker2 in prominenter Weise die Hilfe der Gemeinschaft und vor allem Deutschlands (USA: 5,7 %; EG: 76 %, D allein 57 % aller Leistungen). Dies trug von Anfang an zu einer guten Atmosphäre bei. Die deutsche Delegation unter Leitung des BM konnte die Ergebnisse der Konferenz wesentlich mitgestalten. 2) BM unterstrich das Interesse aller Konferenzteilnehmer an einer stabilen Entwicklung zu Demokratie und Marktwirtschaft in den GUS-Staaten. Er appellierte an die Bereitschaft, dazu beizutragen, dass die sozialen Folgen des Übergangs zur Marktwirtschaft für die Betroffenen in der GUS nicht zu menschenunwürdigen Verhältnissen und zu einer politischen Katastrophe führen. Er rief zu einer fairen Verteilung der Lasten der Hilfe auf. BM betonte, dass neben den humanitären Leistungen zur Linderung der unmittelbaren Not eine mittelund langfristig orientierte Hilfe zur Erleichterung der unabdingbaren Strukturreformen in den Staaten der GUS treten müsse. Besondere Aufmerksamkeit widmete BM der fragwürdigen Sicherheit der KKW in den Staaten der GUS und einer befürchteten Abwanderung von Wissenschaftlern aus dem militärischen Nuklearprogramm der ehemaligen SU. 3) In fünf Arbeitsgruppen erarbeitete die Konferenz Aktionspläne zu den Bereichen Nahrung, Medizin, Wohnungsbau, Energie und Technische Hilfe (D hatte Ko-Vorsitz in den Gruppen Nahrung und Wohnungsbau).3 Neben einer Beschreibung der aktuellen Lage in den GUS-Staaten werden in diesen Aktionsplänen prioritäre Bereiche für die Hilfe identifi1 Für die Rede des amerikanischen Präsidenten Bush am 22. Januar 1992 vgl. PUBLIC PAPERS, BUSH 1992-93, S. 127–129. Für den deutschen Wortlaut vgl. EUROPA-ARCHIV 1992, D 312–315 (Auszug). 2 Für die Rede des amerikanischen AM Baker am 22. Januar 1992 vgl. DEPARTMENT OF STATE DISPATCH 1992, S. 59 f. Für den deutschen Wortlaut vgl. EUROPA-ARCHIV 1992, D 309–312 (Auszug). 3 Für die Aktionspläne vgl. DEPARTMENT OF STATE DISPATCH 1992, S. 66–69.

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ziert und der daraus folgende Handlungsbedarf skizziert. Diese Texte bilden die Grundlage für die weitere Arbeit in den Arbeitsgruppen, die gemeinsam mit der GUS erfolgen soll. 4) Die nächste große Konferenz über die Hilfe an die GUS wird von der EG in Lissabon voraussichtlich Anfang Mai ausgerichtet. Die GUS-Staaten werden an dieser Konferenz teilnehmen.4 5) Am 30./31.1.1992 fand in Minsk ein Treffen zwischen einer Auswahl von Teilnehmerstaaten der Washingtoner Konferenz (D, USA, POR, KAN, FRA, ITA, NL, GB, EG-KOM, JAP, Saudi-Arabien, Thailand und Venezuela) und den GUS-Staaten statt, bei dem diesen das Ergebnis der Washingtoner Konferenz erläutert und ein erster Meinungsaustausch darüber geführt wurde.5 Es wurde vereinbart, dass alle fünf in Washington gebildeten Arbeitsgruppen mit Vertretern der GUS-Staaten noch vor der Nachfolgekonferenz in Lissabon zusammenkommen. Die Treffen der AG Wohnungsbau6 und wahrscheinlich der AG Nahrungsmittelhilfe7 werden in Deutschland stattfinden. Bettzuege8 B 5, ZA-Bd. 161325

4 Zur Koordinierungskonferenz für humanitäre Hilfe an die GUS-Mitgliedstaaten sowie an Georgien am 23./24. Mai 1992 vgl. Dok. 160. 5 MD Dieckmann notierte am 31. Januar 1992: „Das Hauptziel des Treffens, den Dialog mit den GUSStaaten zu Hilfsmaßnahmen aufzunehmen, wurde erreicht. Die GUS-Staaten setzten deutliche Prioritäten zu den Bereichen Nahrungsmittelhilfe und Medikamente. Langfristige Aspekte wurden eher zurückgestellt. […] Zweifel an einer sinnvollen Koordinierung im Rahmen der GUS wurden voll bestätigt. Wir werden uns einstweilen darauf einstellen müssen, Gespräche mit den einzelnen Republiken zu führen“. Vgl. B 63, ZA-Bd. 163537. 6 VLR Schlote legte am 28. Februar 1992 zur Sitzung der AG Wohnungsbau am 24./25. Februar 1992 dar, es sei zwar Einvernehmen über die Arbeitsschwerpunkte erzielt worden. Die Sitzung habe aber auch die „enorme Wohnungsnot und damit verbundene kaum lösbare Probleme der Bauwirtschaft in den GUSStaaten“ verdeutlicht: „Eine Bereitschaft westlicher Geber, im Rahmen der AG neue Vorhaben zu finanzieren, war nicht zu erkennen“. Vgl. B 63, ZA-Bd. 163536. 7 Die Sitzung der AG Nahrungsmittelhilfe fand am 22. April 1992 statt. LR I Kemmerling vermerkte am 28. April 1992: „Die Konferenz war insoweit nützlich, als sie es den Teilnehmern ermöglichte, ein zusammenhängendes Bild der Lage der Agrarwirtschaft in den GUS-Staaten und Georgiens zu gewinnen. Schon vor der Arbeitsgruppen-Sitzung war zu erkennen, dass konkrete Resultate im Sinne neuer Zusagen einzelner Geber oder im Sinne von Beschlüssen zu einer verbesserten Koordinierung der Hilfe aufseiten der Geber wie aufseiten der Empfänger nicht zu erwarten waren. […] Der Verlauf dieser Tagung ist nicht geeignet, die Hoffnung darauf zu stärken, dass die Lissaboner Konferenz konkrete Ergebnisse im Bereich der Hilfe im Agrarsektor erzielen wird.“ Vgl. B 63, ZA-Bd. 163535. 8 Paraphe vom 7. Februar 1992.

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7. Februar 1992: Gespräch zwischen Genscher und Kljusev

39 Gespräch des Bundesministers Genscher mit dem mazedonischen Ministerpräsidenten Kljusev 215-321.11 JUG VS-NfD

7. Februar 19921

Gespräch BM mit makedonischem MP Kljusev am 7.2.2 in Bonn3 Kljusev (K.) unterstrich, Makedonien erfülle alle Bedingungen der EG für die Anerkennung und erwarte positive Entscheidung durch die EG-AM am 17.2.4 MAK wolle friedliche Beziehungen, politischen Dialog und Zusammenarbeit mit allen Nachbarn, auch mit Griechenland. Doch zur Frage des Namens der Republik Makedonien sei kein Platz für Dialog. K. fuhr fort, MAK distanziere sich vom sog. jug. Staatspräsidium, das es nicht anerkenne, und auch von der jug. Bundesregierung. Derzeit sei Abzug der JVA aus MAK mit Plünderungen und Provokationen verbunden. K. drückte Hoffnung aus, dass sich nach EG-AM-Treffen am 17.2. wenn nicht alle, so zumindest einige EG-Partner zur Anerkennung entschließen würden, und bat BM darum, dass D zu den ersten der anerkennenden EG-MS gehöre. BM erwiderte: Die Entwicklung in EG sei kompliziert, verschiedene Interessen seien zu berücksichtigen. Am 17.2. solle jedoch versucht werden, Entscheidung über Anerkennung herbeizuführen. BM erinnerte an den Makedonien betreffenden Passus in der EG-AMErklärung vom 16.12.5 BM regte an, Präsident Gligorov solle noch vor dem 17.2. in feierlicher Botschaft an die EG erneut klarstellen, dass MAK weder jetzt noch in Zukunft Gebietsansprüche gegen seine Nachbarn erhebe. MAK müsse die Sorgen von Griechenland, ob sie nun begründet seien oder nicht, beseitigen. BM erklärte, er werde vor dem 17.2. noch einmal mit GRI über die Namensfrage sprechen6 und auch mit mak. Seite in Kontakt bleiben. Am 17.2. werde ein abgestimmtes Verhalten der EG-Partner angestrebt. Kljusev erklärte: Wenn Anerkennung verschoben würde, würde das den Appetit der Nachbarn (GRI, Serbien, BUL) auf MAK wecken. Auf Frage von BM bestätigte K., dass 1 Der Gesprächsvermerk wurde von VLR Wrede mit dem am 7. Februar 1992 konzipierten RE Nr. 1593 am 10. Februar 1992 übermittelt. Dazu vermerkte er: „Zur dortigen Unterrichtung folgt von BM noch nicht genehmigter Vermerk über Gespräch mit makedonischem MP Kljusev.“ Hat MD Chrobog am 7. Februar 1992 zur Mitzeichnung vorgelegen. 2 Korrigiert aus: „6.2.“ 3 Der mazedonische MP Kljusev hielt sich am 6./7. Februar 1992 in der Bundesrepublik auf. 4 Zur Konferenz der Außenminister der EG-Mitgliedstaaten im Rahmen der EPZ in Lissabon vgl. Dok. 48. 5 Zur Erklärung der Außenminister der EG-Mitgliedstaaten vgl. Dok. 2, Anm. 10. 6 Referat 215 vermerkte am 28. Februar 1992 für BM Genscher: „Damit der Verzicht von MAK auf territoriale Ansprüche noch eindeutiger und verbindlicher ausfällt als in der mak[edonischen] Verfassungsänderung, könnte an einen griechisch-mak. Grenzvertrag nach dem dt.-pol[nischen] Modell […] gedacht werden. Namensänderung von MAK wohl kaum zumutbar, vielleicht ist eine gewisse Modifizierung akzeptabel, z. B. ,Neue Makedonische Republik‘ oder ,Unabhängige Makedonische Republik‘. Auf die Weise wäre klargestellt, dass diese Republik nicht das gesamte historische Makedonien umfasst. Sie haben am 17.2. in Lissabon mit GRI-AM Samaras sowie AM Hurd diese Ideen bisher vertraulich erörtert.“ Vgl. B 220, ZA-Bd. 158891.

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7. Februar 1992: Gespräch zwischen Genscher und Kljusev

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MAK alle Bedingungen der Badinter-Kommission7 erfüllt und in der Verfassung alle KSZEStandards, vor allem im Bereich der Menschenrechte, verankert habe. K. bat sodann um deutsche Wirtschaftshilfe bei dem Aufbau des makedonischen Währungssystems, im technologischen Sektor, bei der Vergrößerung des Textilaustausches mit Deutschland und im Bereich der Lohnarbeit. BM erklärte, wir seien an wirtschaftlicher Stabilität in MAK interessiert. BM werde sich im Sinne der mak. Erwartungen bei dem BMF einsetzen. Auf erneute Bitten von Kljusev um Unterstützung in der Anerkennungsfrage erklärte BM, dass wir die Anliegen Griechenlands ebenso wie die von MAK verstünden und uns für eine Lösung, die die Interessen beider Seiten berücksichtige, bemühen würden. BM schlug sodann die in der Anlage folgende, inzwischen veröffentlichte Presseerklärung vor mit dem Hinweis, im Interesse der Sache sollte Zurückhaltung geübt werden, auch um bei Griechenland keine falschen Eindrücke zu erwecken. Folgt Anlage Information des Pressereferats AA 47/92 vom 7.2.1992: Bundesaußenminister HansDietrich Genscher ist heute (7.2.91) in Bonn mit dem makedonischen Ministerpräsidenten Nikola Kljusev zu einem Gespräch zusammengetroffen. Dabei wurden Fragen der weiteren Entwicklung in den ehemaligen jugoslawischen Republiken besprochen, vor allem die Entwicklung in Makedonien. Der Bundesaußenminister und der makedonische Ministerpräsident besprachen auch die wirtschaftliche Zusammenarbeit zwischen Deutschland und Makedonien. B 42, ZA-Bd. 175592

7 Vgl. das Gutachten Nr. 6 der Schlichtungskommission der EG für Jugoslawien zur Frage der Anerkennung von Mazedonien vom 11. Januar 1992; ILM, Vol. 31 (1992), S. 1507–1512.

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7. Februar 1992: Vorlage von Holik

40 Vorlage des Botschafters Holik für Bundesminister Genscher 240-370.70 SOW SB

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Über Herrn Staatssekretär2 Herrn Bundesminister3 Betr.:

Deutsche Initiative zur weltweiten Beseitigung landgestützter nuklearer Kurzstreckenwaffen4; hier: Weiteres Vorgehen gegenüber US und F

Bezug: Vorlage vom 30.1.1992 – 240-370.70 SOW SB5 Anlg.:6 Zweck der Vorlage: Mit der Bitte um Billigung des weiteren Vorgehens gemäß Ziffern 4) und 5) 1) Die von Ihnen ergriffene Initiative zur weltweiten Beseitigung landgestützter nuklearer Kurzstreckenwaffen der GUS und der USA ist am 9.1.92 in die NATO eingeführt und am 17.1.927 dort beraten worden. Trotz einer insgesamt günstigen Aufnahme blieben unter wichtigen Partnern Reserven erkennbar: – US, die die Diskussion von vornherein auf das Problem der ehemals sowjetischen Kernwaffen verengten, bevorzugen für Erörterung des Sachzusammenhanges offensichtlich ihre bilateralen Kanäle. Sie befürchten, dass eine Multilateralisierung der Bemühungen, wie in Ihrer Initiative vorgeschlagen, den Prozess der Beseitigung verzögern könnte. – F, das sich zur Initiative zunächst positiv äußerte, sieht das eigene Projekt eines von Mitterrand am 11.9.91 vorgeschlagenen Vierertreffens der Nuklearwaffenmächte8 in den Hintergrund gerückt. 1 Die Vorlage wurde von VLR I Boden konzipiert. 2 Hat StS Kastrup am 7. Februar 1992 vorgelegen. 3 Hat BM Genscher am 15. Februar 1992 vorgelegen, der StS Kastrup um Rücksprache bat. Hat OAR Rehlen am 17. Februar 1992 vorgelegen, der den Rücklauf an das Büro Staatssekretäre „für Rückspr[ache] StS K[astrup] bei BM“ verfügte. Hat Kastrup am 12. Mai 1992 erneut vorgelegen, der den Rücklauf an Botschafter Holik verfügte. Dazu vermerkte er handschriftlich: „Überholt“. Hat Holik am 13. Mai 1992 erneut vorgelegen, der den Rücklauf an Referat 240 verfügte. Hat VLR I Boden am 13. Mai 1992 erneut vorgelegen. 4 Zur SNF-Initiative der Bundesregierung vgl. Dok. 7. 5 Botschafter Holik skizzierte die zu erwartende amerikanische Haltung bezüglich der Einrichtung einer NATO-Arbeitsgruppe zur weiteren Behandlung der SNF-Initiative der Bundesregierung. Vgl. B 43, ZA-Bd. 228389. 6 Dem Vorgang beigefügt war die Vorlage des Botschafters Holik vom 30. Januar 1992; B 43, ZA-Bd. 228389. 7 Zur Erörterung der SNF-Initiative der Bundesregierung im Ständigen NATO-Rat vgl. Dok. 21, Anm. 3. 8 Zum Vorschlag des französischen Staatspräsidenten Mitterrand vgl. Dok. 7, Anm. 15. Gesandter von Nordenskjöld, Washington, berichtete am 4. Februar 1992, nach Auskunft der französischen Botschaft habe der amerikanische Präsident Bush im Gespräch mit Mitterrand am 31. Januar 1992 in New York positiv auf dessen Vorschlag reagiert. Die AM Baker und Dumas seien gebeten worden, „eine konkrete Formel für das Treffen auszuarbeiten“. Ein amerikanischer Vorschlag für ein Treffen auf der

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2) Als Geste des Entgegenkommens machten US uns gegenüber am 31.1.92 den Vorschlag, eine besondere NATO-Arbeitsgruppe zur Erörterung der mit den ehemals sowjetischen Nuklearwaffen zusammenhängenden Sicherheitsfragen zu schaffen.9 Auf unser Insistieren stimmten US zu, dass die AG zu einem baldmöglichen geeigneten Zeitpunkt auch betroffenen GUS-Republiken offenstehen sollte. Der Vorschlag wurde am 5.2.92 mit unserer Unterstützung in den NATO-Rat eingeführt, scheiterte dort jedoch an der Ablehnung durch Frankreich, das ein Junktim zu seinem Vorhaben einer Viererkonferenz auf hoher politischer Ebene (mindestens AM) herstellte. Die von US angebotene Kompromissformel eines einmaligen Vierertreffens auf StS-Ebene wies F als nicht ausreichend zurück. 3) In der nun entstandenen Pattsituation sind vor allem US gefordert. Nach Einschätzung hiesiger US-Botschaft ist eine baldige Demarche in Paris wahrscheinlich. Ob sich US für F-Zustimmung zur AG zum Anheben des Vierertreffens auf AM-Ebene bereitfinden, erscheint unsicher, nachdem im NATO-Rat energischer Widerspruch gegen den Gedanken des Vierertreffens, u. a. durch Italien, Spanien, Belgien, lautgeworden war. 4) In dieser Situation sollten wir wie folgt weiter vorgehen: – Zunächst Abwarten des Ergebnisses der Verständigungsbemühungen zwischen US und F. – Gegenüber F (deutsch-französische Direktoren-Konsultationen am 10.2.10) sollten wir verdeutlichen, dass in der Angelegenheit wesentliche Sicherheitsbelange vieler Verbündeter, darunter unsere, betroffen sind und dass die dringend erforderliche multilaterale Erörterung der Problematik nicht durch US-Eingehen auf ein Vierertreffen konditioniert werden sollte. – Zum Projekt des Vierertreffens sollten wir den Franzosen sagen, dass wir eine zwischen ihnen und den Amerikanern erarbeitete Lösung nicht blockieren würden, auch wenn uns das Projekt nicht überzeugt. Die uns genannten Gesprächsziele (US: politische Zusicherungen zur Sicherheit ehemals sowjetischer Nuklearwaffen; F: Aufrechterhaltung von Stabilität der Abschreckung (!), Sicherheit hinsichtlich Standort, physischem Zustand Fortsetzung Fußnote von Seite 164 Ebene der stellvertretenden Außenminister sei vom Abteilungsleiter im französischen Außenministerium, Dejammet, als „unakzeptabel“ bezeichnet worden. Das Treffen solle auf Staatschefebene, mindestens aber auf Ebene der Außenminister abgehalten werden. Vgl. DB Nr. 388; B 43, ZA-Bd. 228355. 9 VLR I Boden vermerkte am 3. Februar 1992, der amerikanische Botschafter Kimmitt habe im Gespräch mit StS Kastrup auf Weisung von AM Baker zu der Arbeitsgruppe ausgeführt, diese solle unter Vorsitz des Internationalen Stabes der NATO „Fragen bezüglich Stationierung, Bewegung, Abbau und künftigem Status ehemalig sowjetischer Waffen beraten sowie Informationen über entsprechende bilaterale Beiträge der Alliierten“ austauschen. Vgl. B 43, ZA-Bd. 228361. 10 VLR Lüdeking vermerkte am 11. Februar 1992, in den deutsch-französischen Direktorenkonsultationen am Vortag habe Botschafter Holik ausgeführt, die Bundesregierung wolle beim weiteren Vorgehen in der Frage der Nuklearwaffen der ehemaligen UdSSR „keine Zweigleisigkeit in dem Sinne, dass die westlichen Nuklearmächte sich allein des Themas gegenüber den GUS-Staaten annähmen und den anderen Bündnispartnern nur eine begleitende und beratende Rolle zukäme“. Zuvor habe bereits MD Chrobog darauf hingewiesen, „dass AM Baker und BM sich am 10.2. darauf verständigt hätten, dass die von Frankreich initiierte Konferenz der Nuklearwaffenstaaten transparent sein müsse und hierüber auch Konsultationen im Bündnis geführt werden sollen“. Der Abteilungsleiter im französischen Außenministerium, Dejammet, habe versichert, dass es nicht um eine ständige Konferenz gehe, sondern um „eine einmalige Sache“. Abrüstungsfragen „seien kein Thema des vorgeschlagenen Vierertreffens. Man wolle dieses auf politischer Ebene abhalten, da es das Ziel sei, politische Zusicherungen zu erhalten.“ Frankreich sei zu Beratungen im Ständigen NATO-Rat bereit, lehne eine Ad-hoc-Expertengruppe jedoch ab. Vgl. B 14, ZA-Bd. 161196.

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und Kontrolle von Nuklearwaffen) rechtfertigen weder unter sachlichen noch unter politischen Gesichtspunkten (Prinzip unteilbarer Sicherheit) die vorgesehene Beschränkung des Teilnehmerkreises. Vor allem für unsere Öffentlichkeit wäre ein Treffen nur dann sinnvoll, wenn sich die Nuklearwaffenmächte über die Verpflichtungen zur Abrüstung verständigten. Dies wäre auch ein wichtiger Beitrag zur Sache der Nichtverbreitung. 5) Sollte die nun entstandene Pattsituation andauern, so sind wir im Interesse der Sache gehalten, nach Lösungen zu suchen, die ein Weiterverfolgen Ihrer in der Initiative von Anfang Januar umrissenen Vorschläge ermöglichen. Es kommen folgende Modelle infrage: – Einführen der Initiative in den Nordatlantischen Kooperationsrat (NAKR) und entsprechende Berücksichtigung in seinem Arbeitsprogramm, das gerade erstellt wird; – Behandlung der Materie im Rahmen der Besonderen NATO-Beratungsgruppe zu Fragen nuklearer Rüstungskontrolle (SCG), die zur Beratung der INF- und danach der SNFProblematik ins Leben gerufen wurde. Nachteile: Hinzuziehen der GUS-Staaten zu dieser originären NATO-Einrichtung würde wegen des politischen Präzedenzcharakters problematisch sein11; außerdem ist F in SCG nicht vertreten (was allerdings auch als Druckmittel genutzt werden könnte).12 Holik B 43, ZA-Bd. 228389

41 Drahtbericht des Botschafters Arnot, Budapest Fernschreiben Nr. 113 Cito Betr.:

Aufgabe: 8. Februar 1992, 11.30 Uhr1 Ankunft: 8. Februar 1992, 13.41 Uhr

Besuch des Bundeskanzlers am 6./7.2.1992 in Ungarn sowie von Bundesminister Genscher (6.2.1992)

Zur Unterrichtung I. 1) BK Kohl und BM Genscher unterzeichneten am 6.2.1992 in Budapest den „deutschungarischen Vertrag über freundschaftliche Zusammenarbeit und Partnerschaft in Europa“2. Auf ungar. Seite zeichneten MP Antall und, stellvertretend für den abwesenden AM3, Minister ohne Geschäftsbereich Mádl. 11 Der Passus: „Nachteile: … problematisch sein“ sowie das Wort „Präzedenzcharakters“ wurden von BM Genscher hervorgehoben. Dazu vermerkte er handschriftlich: „r[ichtig]“. 12 Zur Einsetzung einer NATO-Arbeitsgruppe vgl. Dok. 67. 1 Das Fernschreiben wurde in zwei Teilen übermittelt. Vgl. Anm. 16. Hat VLR I Derix am 10. Februar 1992 vorgelegen. 2 Für den deutsch-ungarischen Vertrag vom 6. Februar 1992 über freundschaftliche Zusammenarbeit und Partnerschaft in Europa vgl. BGBl. 1992, II, S. 475–483. Zu den Vertragsverhandlungen vgl. AAPD 1991, II, Dok. 394. 3 Géza Jeszenszky.

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Vorangegangen waren ein ausführliches Vier-Augen-Gespräch des Bundeskanzlers mit MP Antall4, Gespräche des Bundesministers mit den Führern der beiden liberalen Oppositionsparteien SZDSZ5 und FIDESZ6 sowie eine Sitzung der beiden Regierungsdelegationen. Der Bundeskanzler empfing am Abend des 6.2.1992 die Vorsitzenden der Fraktionen der drei ungar. Regierungsparteien. Der Tag schloss mit einem Gala-Essen ab, das MP Antall zu Ehren des Bundeskanzlers gab. Nach der Unterzeichnung des Partnerschaftsvertrages war der zweite Höhepunkt des Besuchs die Überreichung durch Staatspräsident Göncz in Anwesenheit des Ministerpräsidenten sowie der Führer der sechs im Parlament vertretenen Parteien des höchsten ungar. Ordens (Großkreuz der Ungar. Republik) an den Bundeskanzler am 7.2.1992. An die Zeremonie schloss sich ein Gespräch des Präsidenten mit dem Bundeskanzler an. Eine gemeinsame internationale Pressekonferenz von Bundeskanzler und Ministerpräsident schloss den offiziellen Teil des Programms ab. Beim anschließenden privaten Programm führte MP Antall den Bundeskanzler durch die Budapester Innenstadt. 2) Der ungar. Ministerpräsident und der Staatspräsident würdigten den Bundeskanzler als den Architekten der deutschen Einheit und als die große Figur des europäischen Einigungsprozesses. Sie traten dafür ein, dass Deutschland sowohl in Europa als auch in der Welt die ihm zukommende Rolle spielt. Sie unterstrichen die historischen Bande zwischen Ungarn und Deutschland und sprachen sich für den Fortgang des freundschaftlichen Verhältnisses beider Länder aus. Der Bundeskanzler seinerseits stellte fest, dass Ungarn entscheidend dazu beigetragen habe, das Ende des Kommunismus in Europa herbeizuführen. Er bezeichnete den September 19897 und die Entscheidung des ungar. Volkes zur Öffnung seiner Grenzen für die Deutschen aus der DDR als ein unvergessliches, prägendes Element des beiderseitigen Verhältnisses. Er sprach seine Anerkennung dafür aus, dass die pluralistische Demokratie in Ungarn Wurzeln geschlagen habe, lobte die ungar. Wirtschaftspolitik und zollte der persönlichen Leistung MP Antalls seinen Respekt. Der dritte Besuch des Bundeskanzlers in Ungarn (zuletzt Dezember 19898) war von der persönlichen Freundschaft der beiden Regierungschefs sowie der Herzlichkeit der Beziehungen zwischen beiden Ländern geprägt und unterstrich den singulär ungetrübten Charakter des deutsch-ungarischen Verhältnisses. II. Aus dem Delegationsgespräch sowie dem Gespräch des Präsidenten mit dem Bundeskanzler (zu dessen Treffen mit dem Verband der Ungarndeutschen folgt gesonderter Bericht9) halte ich Folgendes fest: 4 BK Kohl und der ungarische MP Antall erörterten am 6. Februar 1992 in Budapest die Frage der Lieferung von NVA-Material an Ungarn, die Rolle der Bundesrepublik in Europa sowie die Entwicklung in Jugoslawien. Vgl. den Gesprächsvermerk; BArch, B 136, Bd. 59747. 5 Szabad Demokraták Szövetsége (Bund Freier Demokraten). 6 Fiatal Demokraták Szövetsége (Bund Junger Demokraten). 7 Korrigiert aus: „Dezember 1989“. Die ungarische Regierung teilte der Bundesregierung am 7. September 1989 mit, ab dem 11. September 1989 dürften alle Ausreisewilligen aus der DDR Ungarn verlassen. Vgl. DIE EINHEIT, Dok. 4, DEUTSCHE EINHEIT, Dok. 40 und 41, sowie ÖSTERREICH UND DIE DEUTSCHE FRAGE, Dok. 54 und Dok. 56. 8 BK Kohl hielt sich vom 16. bis 18. Dezember 1989 in Ungarn auf. Vgl. DEUTSCHE EINHEIT, Dok. 124, sowie WENDEZEIT 1987–1990, Dok. 60. 9 Botschafter Arnot, Budapest, berichtete am 10. Februar 1992 zum Gespräch zwischen BK Kohl und dem Vorstand des Verbands der Ungarndeutschen am 7. Februar 1992, dieser habe auf fehlende deutschsprachige Kindergärten, Schulen, Medien und Gottesdienste verwiesen und weitere Hilfe zur Selbsthilfe er-

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1) Delegationsgespräch Der Bundeskanzler eröffnete das Gespräch mit der Feststellung, Einzelmenschen wie auch Staaten brauchten feste Punkte in ihrer Existenz. Eine solch feste Position sei für uns Deutsche die Freundschaft mit Ungarn. Wir hätten es mit gewachsenen Beziehungen zu tun, mit in der Geschichte überwiegend gemeinsamen und ganz selten gegenläufigen Interessen, mit den gemeinsamen Erlebnissen der schlimmen Folgen des Zweiten Weltkrieges, dem Erlebnis des ungar. Aufstandes von 1956 und vor allem mit dem unvergessenen September 1989. Daher sei es selbstverständlich gewesen, dass wir geholfen hätten, gerade bei dem Beginn der neuen Regierung. Das werde so bleiben. Er finde großartig, welchen Weg Ungarn in den letzten zwei Jahren gegangen sei. Die politische und ökonomische Union Europas werde kommen. Unsere Maxime sei: deutsche Einheit und europäische Einigung. Ungarn brauche Europa, Europa brauche Ungarn. Der Ministerpräsident antwortete, alles dies sei ihm aus dem Herzen gesprochen. Die deutsche Vereinigung sei für Ungarn zugleich Teil der europäischen Einigung. Deutschland müsse seine Berufung in einem einheitlichen Europa finden. Dies sei auch für Nichtdeutsche wichtig. Deutschland müsse seinem Gewicht nach die Rolle spielen, die ihm in Europa und im internationalen Verband zukomme. Das gelte auch für die Vereinten Nationen. Dort müsse die Form gefunden werden, die erforderlich sei, um Deutschland seine Rolle einnehmen zu lassen. Ungarn werde als nichtständiges Mitglied des Sicherheitsrates der VN in den nächsten beiden Jahren seinen Beitrag dazu leisten, die Weltorganisation zu reformieren. Zu Jugoslawien seien beide Seiten in vollständiger Weise einer Meinung. Eine halbe Million Ungarn leben hauptsächlich in der Wojwodina. Eine befriedigende Lösung sei sowohl für die Serben in Kroatien als auch für die anderen Minderheiten in Serbien selbst notwendig. Es sei entscheidend, dass Europa, die NATO und die Länder, die Autorität genössen, in einheitlicher Weise aufträten. BM Genscher unterrichtet den MP an dieser Stelle darüber, dass der Generalsekretär der VN in dem Entwurf seines Berichts an den Sicherheitsrat10 Zweifel an der Bereitschaft der kroatischen Führung äußerte, den Plan zur Stationierung von VN-Truppen11 zu akzeptieren. Nach seinem, BMs, Telefonat mit Präsident Tudjman habe dieser dem Generalsekretär feierlich versichert, dass Kroatien die Vorschläge ohne jeden Vorbehalt annehme.12 Er, BM, habe daraufhin den GS gebeten, Fortsetzung Fußnote von Seite 167 beten. Kohl habe Hilfe sowie Unterstützung beim geplanten ungarischen Minderheitengesetz zugesagt. Vgl. DB Nr. 118; B 42, ZA-Bd. 171201. 10 Botschafter Vergau, New York (VN), teilte am 5. Februar 1992 mit, am selben Tag sei ein Bericht von VN-UGS Goulding, der sich Ende Januar 1992 im Auftrag von VS-GS Boutros-Ghali in Serbien und Kroatien aufgehalten habe, verteilt worden (S/23513): „Die Schlussfassung des Goulding-Berichts wurde auf Weisung des VN-GS gegenüber dem ersten Entwurf […] verändert. Die ursprünglich vorgesehenen Maßnahmen wurden noch weiter beschränkt, was die zögerliche und bremsende Haltung des VN-GS hinsichtlich einer Entsendung von VN-Friedenstruppen nach Jugoslawien bestätigt.“ Der Bericht komme zu der Schlussfolgerung, „dass die derzeit herrschenden Verhältnisse (nicht vollständig gesicherter Waffenstillstand, fehlende Zustimmung wichtiger am Konflikt beteiligter Parteien) es nicht erlauben, die Entsendung von VN-Friedenstruppen zu empfehlen“. Als Haupthindernis bezeichne der Bericht in Punkt 19 die gegenwärtige Haltung der kroatischen Regierung sowie der örtlichen Führer in der als VNSchutzzone (UNPA) vorgesehenen Krajina. Vgl. DB Nr. 264; B 30, ZA-Bd. 158143. 11 Zum Plan des Sonderbeauftragten des VN-GS für Jugoslawien, Vance, vgl. Dok. 2, Anm. 6. 12 Zum Schreiben des BM Genscher vom 4. Februar 1992 an den kroatischen Präsidenten Tudjman bzw. zu Tudjmans Schreiben vom 6. Februar 1992 an den Sonderbeauftragten des VN-GS für Jugoslawien, Vance, vgl. Dok. 36, Anm. 5 bzw. 11.

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seinen Bericht zu ergänzen. BM bat MP Antall, diese Position zu unterstützen. MP sagte dies zu. Der Ministerpräsident schlug anschließend dem Bundeskanzler vor, baldmöglichst eine Konferenz der Außenminister zur Donauzusammenarbeit einzuberufen. Es sei nicht unbedingt erforderlich, eine neue Vereinbarung (gemeint war offensichtlich eine neue Konvention) abzuschließen, aber Ungarn schlage in der Donaukommission angesichts der eingetretenen Veränderung (Entstehung neuer Mitgliedstaaten nach Auflösung der SU) ein Gespräch über die Zusammenarbeit vor. Eine solche Abstimmung sei auch wichtig aus der Sicht des Rhein-Main-Donau-Kanals. Bezüglich der Donau gäbe es Meinungsverschiedenheiten mit der Slowakei. Die von dieser vorgesehene Staustufe13 könnte völkerrechtliche und ökologische Probleme schaffen sowie die Schiffbarkeit der Donau berühren. MP sagte weiter, Ungarn messe dem kürzlichen KSZE-Treffen in Prag14 besondere Bedeutung bei. Derartige Konferenzen sollten institutionalisiert werden. Was die Politische Union angehe, schätze er die Bemühungen des Bundeskanzlers. Ungarn danke für die deutsche Unterstützung bei dessen Assoziierung an die EG.15 Für die Vollmitgliedschaft bitte Ungarn nicht um ein konkretes Datum. Der Zeitpunkt hänge von der inneren Entwicklung der EG sowie von Ungarns eigener Vorbereitung auf den Beitritt ab. Allerdings möchte das Land noch in diesem Jahrtausend Vollmitglied werden. 16Der Bundeskanzler erklärte, dass sich die EG in den nächsten Jahren wesentlich verändern werde. Im Jahre 1995 dürften Schweden, Finnland, Norwegen und Österreich Vollmitglieder werden. Wichtig sei, dass Ungarn, Polen und die ČSFR der Gemeinschaft gemeinsam zustrebten. Wichtig sei nicht nur die wirtschaftliche, sondern auch die psychologische Statur der Beitrittskandidaten. Je stärker ein Land sei, das der Gemeinschaft beitrete, desto stärker werde die EG selbst. Dass Ungarn heute (unter den mittel-osteuropäischen Staaten) auf Platz 1 stehe, sei das Verdienst des Ministerpräsidenten. Diese Auffassung werde unter den Kollegen des Bundeskanzlers innerhalb der EG geteilt. MP Antall antwortete, für Ungarn sei jetzt die politische Zusammenarbeit mit der EG wichtig. Alle außenpolitischen Schritte Ungarns würden in enger Zusammenarbeit mit der EG erfolgen. Abschließend sprach MP Antall die ungelöste Frage des Transferrubelsaldos17 an (aus Lieferungen der früheren DDR an Ungarn). Er bat, eine entsprechende Lösung zu finden, 13 In einem am 20. Februar 1992 übermittelten Sachstand legte Referat 214 dar, das Donau-Staustufenprojekt Bös-Nagymáros (auf slowakischer Seite: Gabčíkovo) sei zu kommunistischer Zeit von beiden Staaten gemeinsam als großes, mehrstufiges Staudammsystem geplant gewesen. Inzwischen habe Ungarn jedoch aufgrund der zu befürchtenden ökologischen Folgen sämtliche Arbeiten eingestellt. Die slowakische Seite habe allerdings bereits beträchtliche Mittel aufgewendet und Bauten errichtet, die ohne die Beteiligung Ungarns nicht genutzt werden könnten. Sie dränge daher auf die Realisierung des ursprünglichen Konzepts und beharre auf ungarischer Vertragserfüllung. Ferner habe sie mit hohen Schadensersatzansprüchen und einer Umleitung von Strom auf slowakisches Gebiet gedroht. Die Verhandlungen seien nunmehr festgefahren. Vgl. B 42, ZA-Bd. 156533. 14 Zur zweiten Sitzung des KSZE-Außenministerrats am 30./31. Januar 1992 vgl. Dok. 34. 15 Die EG schloss am 16. Dezember 1991 ein Europa-Abkommen zur Gründung einer Assoziation mit Ungarn. Vgl. BGBl. 1993, II, S. 1473–1714. Vgl. auch AAPD 1991, II, Dok. 407. 16 Beginn des mit DB Nr. 114 übermittelten zweiten Teils des Fernschreibens. Vgl. Anm. 1. 17 Botschafter Arnot, Budapest, berichtete am 18. Februar 1992, der GS im ungarischen Ministerium für internationale Wirtschaftsbeziehungen, Juhász, der die Verhandlungen auf ungarischer Seite leite, habe eine ungarische Schuld in Höhe von 16 Mrd. Forint anerkannt. Ungarn wolle dieses Geld jedoch im Land behalten und schlage vor, „die Hälfte für deutsche Investitionen in Ungarn einzusetzen, die andere Hälfte

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und zeigte sich davon überzeugt, dass er mit der Unterstützung des Bundeskanzlers rechnen könne. Der Bundeskanzler erwiderte, wir würden darum bemüht sein, dass die Expertengespräche bald abgeschlossen würden. 2) Gespräch mit Präsident Göncz Der Präsident bat den Bundeskanzler, ihm zunächst seine Eindrücke von den bisherigen Gesprächen mitzuteilen. Der Bundeskanzler sagte, Ungarn gehöre zu den wenigen Ländern, zu denen Deutschland kontinuierlich gute Beziehungen unterhalte. Sein Interesse als deutscher Bundeskanzler bestehe darin, dass Ungarn seine ökonomischen und sozialen Probleme so schnell wie möglich löse und so in den Stand gesetzt werde, der EG beizutreten. Gemeinsam mit François Mitterrand sei sein Ziel für Maastricht18 gewesen, einen Durchbruch hin zu einer irreversiblen Entwicklung in Europa zu erzielen. Die Entscheidungen von Maastricht seien irreversibel. Es werde eine einheitliche europäische Währung geben. 1995 würden mehrere Staaten der EG beitreten. Es sei unser Interesse, dass zu einem dann folgenden Zeitpunkt auch Ungarn, Polen und die ČSFR der Gemeinschaft beitreten. Der Zeitpunkt müsse von der ungar. Führung aufgrund der Entwicklung im Lande selbst bestimmt werden. Ungarn müsse den Beitritt wollen. Deutschland wolle Ungarn helfen. Auf ihn könne der Präsident rechnen. Präsident Göncz meinte, der am Vortag geschlossene bilaterale Vertrag sei ein Schritt Ungarns zur Annäherung an Europa. Die deutsch-ungar. Zusammenarbeit sei jetzt auf alle wesentlichen Gebiete erweitert. Er freue sich insbesondere, dass Ungarn die Verpflichtung eingegangen sei, die deutsche Minderheit zu schützen. Diese Verpflichtung habe Bedeutung auch für andere Minderheiten. Der Bundeskanzler warf ein, die Zusammenarbeit bezüglich der deutschen Minderheit könne zu einem Modell für Europa gemacht werden. Der Präsident bestätigte, dies sei auch die ungar. Absicht. Er lobte sodann den hohen Anteil Deutschlands am ungar. Export und gab der Hoffnung Ausdruck, dass deutsches Kapital weiter nach Ungarn fließe. Bei den Investitionen stehe Deutschland an zweiter Stelle. Maßgeblich sei der Zufluss amerikanischen und japanischen Kapitals. Er war dann der Meinung, dass die strategische Bedeutung der deutsch-mittelosteuropäischen Beziehung noch nicht ausreichend durchdacht sei. Nach seinen Informationen seien in den letzten 18 Monaten etwa 260 Mrd. DM in die ehemalige DDR geflossen. Ein Bruchteil dessen hätte schon ausgereicht, um Mittelosteuropa zu modernisieren. Mit dem Zusammenbruch der SU stehe Deutschland vor der Alternative, ob es die verfügbaren Ressourcen auf die Länder der GUS konzentrieren wolle oder ob kurzfristig, für die nächsten zwei bis drei Jahre, die Hilfe für Mittelosteuropa im Vordergrund stehen solle und die GUS erst danach zu berücksichtigen wären. Der Bundeskanzler erwiderte, [dass] die letztere Frage keinesfalls seine Strategie sei. Deutschland habe hohe Milliardenbeträge sowohl für die SU als auch für die mittelosteuropäischen Staaten aufgewandt. Die anderen westlichen Nationen müssten nun ihrerseits mehr tun. Er habe Präsident Bush wiederholt gesagt, dass er es für eine falsche Politik halte, wenn sich Amerika nicht engagiere, und er halte auch die japanische Politik für nicht akzeptabel, zumal dieses Land in den letzten 40 Jahren mit Abstand die geringsten Opfer gebracht habe. Bisher seien riesige Summen für die Fortsetzung Fußnote von Seite 169 für einen Fonds zur Befriedigung von Ansprüchen und Schäden zu verwenden“. Vgl. DB Nr. 135; B 63, ZA-Bd. 157177. 18 Zum Vertragswerk von Maastricht vgl. Dok. 3, Anm. 8.

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10. Februar 1992: Telefongespräch zwischen Kohl und Major

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Rüstung ausgegeben worden, in der Hoffnung, dass die Waffen nicht eingesetzt werden müssten. Jetzt seien entsprechende Beträge für den Frieden nötig. Dies werde gut angelegtes Geld sein, genauso wie der Marshall-Plan zur Stärkung des Friedens nach dem Zweiten Weltkrieg beigetragen habe. Deswegen hätte Deutschland mehr Verantwortung übernommen, als ihm an sich zukomme. Aber die anderen müssten mehr tun. Als Vorsitzender der Gruppe der Sieben werde er darüber in München19 sprechen. Präsident Göncz teilte diese Auffassung. Er legte dar, dass Mittelosteuropa jetzt eine Region mit großen Entwicklungschancen sei. Es lohne sich, sich dort zu engagieren. Der Bundeskanzler sagte abschließend, er unterstreiche diese Darstellung Wort für Wort. [gez.] Arnot B 42, ZA-Bd. 171197

42 Telefongespräch des Bundeskanzlers Kohl mit dem britischen Premierminister Major 10. Februar 19921 PM Major erklärt auf die entsprechende Frage des Bundeskanzlers, der Wahlkampf sei jetzt nicht mehr weit entfernt.2 Im Augenblick mache er eine sehr turbulente Periode durch. Der Bundeskanzler erklärt, er wolle den Premierminister wissen lassen, dass wir Ende des Monats in die Streitzone wegen der Tarife im Öffentlichen Dienst kommen würden. Er habe nicht die Absicht nachzugeben. Dies sei wichtig im Hinblick auf die Bekämpfung von Inflation sowie die Stabilisierung der Wirtschaft und auch für die anderen Partner Deutschlands von Bedeutung. Es werde eine harte Schlacht geben, aber er sei zuversichtlich, dass er sie bestehen werde.3 PM Major erwidert, er sehe dies auch als eine sehr wichtige Auseinandersetzung an, und es sei – für alle in Europa – absolut entscheidend, dass der Bundeskanzler hierbei Erfolg habe. Der Bundeskanzler erklärt, es gebe noch einen weiteren Punkt, der ihn derzeit beschäftige, nämlich die GATT-Verhandlungen. Gestern sei Vizepräsident Quayle bei ihm gewesen4, und er habe die Gelegenheit benutzt, um Quayle gegenüber deutlich zu machen, dass auch die Vereinigten Staaten sich bei GATT 19 Zum Weltwirtschaftsgipfel vom 6. bis 8. Juli 1992 vgl. Dok. 225. 1 Kopie. Der Gesprächsvermerk wurde von MD Hartmann, Bundeskanzleramt, gefertigt und über BM Bohl an BK Kohl „mit der Bitte um Billigung“ geleitet. Dazu vermerkte er: „Ich gehe davon aus, dass der Vermerk nicht weitergeleitet wird.“ Vgl. den Begleitvermerk; BArch, B 136, Bd. 59747. 2 Der britische PM Major kündigte am 11. März 1992 Wahlen zum Unterhaus für den 9. April 1992 an. 3 Zur Tarifauseinandersetzung im Öffentlichen Dienst vgl. Dok. 140, Anm. 3. 4 In dem Gespräch mit dem amerikanischen Vizepräsidenten Quayle am 9. Februar 1992 in Deidesheim führte BK Kohl zu den GATT-Verhandlungen aus: „Er wolle auf keinen Fall, dass der G 7-Gipfel sich

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bewegen müssten. Zwar müsse die Europäische Gemeinschaft den Vereinigten Staaten bei Getreide entgegenkommen. Gleichzeitig aber müssten die USA in der Frage der Futtermittel Entgegenkommen zeigen. Geschehe dies nicht, würde der Markt mit Substituten überschwemmt, und alle Bemühungen um Rückführung der Produktion seien dann vergeblich. PM Major stellt die Frage, ob sich Quayle positiv zu GATT geäußert habe. Der Bundeskanzler erwidert, Quayle verstehe offen gestanden nicht viel von der Materie. PM Major fährt fort, er habe vor einer Woche kurz mit Bush und Baker gesprochen.5 Bush sei, trotz Wahlkampfs6, weiter gewillt, bald zu einem Abschluss zu kommen. Aber er sei frustriert, weil Frankreich den Eindruck vermittele, dass die USA keinen Abschluss wollten. Der Bundeskanzler erklärt, er werde mit Präsident Mitterrand am Donnerstag7 zusammentreffen und versuchen, in diesem Sinn auf ihn einzuwirken. PM Major erwidert, dies wäre in der Tat sehr hilfreich. Er habe Bush gesagt, dass die Europäische Kommission bereit sei, konstruktiv zu verhandeln, aber dass auch die USA sich bewegen müssten. Er verstehe die französischen Schwierigkeiten, aber man solle weiterhin versuchen, Präsident Mitterrand davon zu überzeugen, dass er einen Kompromiss mittragen solle. Der Bundeskanzler erwidert, er stimme in dieser Frage völlig mit PM Major überein. PM Major fährt fort, er wolle nicht, dass Frankreich in eine Ecke gedrängt werde. Man müsse alles tun, damit Frankreich den Kompromiss akzeptieren könne. Seines Wissens habe sich die Europäische Kommission inzwischen auf Änderungsvorschläge zum DunkelPapier8 geeinigt, und es sei zu hoffen, dass dies jetzt die Grundlage für eine Einigung darstelle. Er werde über diese Frage in jedem Fall mit Quayle morgen sprechen.9 Der Bundeskanzler erklärt, man sei sich in der Sache völlig einig. Es dürfe keine Schlacht gegen Frankreich geben. Er habe Quayle im Übrigen die Lage in Europa auch unter Hinweis auf die unterschiedlichen Betriebsgrößen in den USA und den einzelnen EG-Ländern geschildert. Er werde in etwa vier Wochen mit Präsident Bush in Camp David zusammentreffen10 und auch bei dieser Gelegenheit das Thema GATT intensiv erörtern. PM Major erklärt, dies sei in der Tat äußerst wichtig und könne ausschlaggebend für den Abschluss der GATT-Runde sein. Fortsetzung Fußnote von Seite 171 mit dieser Frage befasse. Man müsse gleichzeitig sehen, dass die GATT-Problematik auch für uns erhebliche innenpolitische Auswirkungen habe. Das Gleiche gelte für Präsident Mitterrand in Frankreich.“ Quayle erklärte, „wenn diese Frage nicht gelöst werde, werde dies Präsident Bush in seinem Wahlkampf erhebliche Probleme bereiten“. Vgl. den Gesprächsvermerk; BArch, B 136, Bd. 59747. 5 Der britische PM Major und der amerikanische Präsident Bush trafen am 30. Januar 1992 in New York zusammen. 6 In den USA fanden am 3. November 1992 Präsidentschaftswahlen, Wahlen zum Repräsentantenhaus sowie Teilwahlen zum Senat und für die Gouverneursämter statt. 7 Zum Gespräch zwischen BK Kohl und dem französischen Staatspräsidenten Mitterrand am 13. Februar 1992 in Paris vgl. Dok. 18, Anm. 29. 8 Zum „Dunkel-Papier“ vom 20. Dezember 1991 vgl. Dok. 6, Anm. 3. 9 Der amerikanische Vizepräsident Quayle hielt sich am 10./11. Februar 1992 in Großbritannien auf. 10 Für die Gespräche zwischen BK Kohl und dem amerikanischen Präsidenten Bush am 21./22. März 1992 vgl. Dok. 82.

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Der Bundeskanzler erklärt, man werde in dieser Frage in Kontakt bleiben. PM Major empfiehlt auf entsprechende Frage des Bundeskanzlers, in dem für morgen angesetzten Gespräch mit dem Auswärtigen Ausschuss des britischen Unterhauses darauf hinzuweisen, dass sich die Weltwirtschaft weiterhin abschwäche, und zum anderen nachdrücklich zu unterstreichen, dass Großbritannien in die Entwicklung des neuen Europa voll einbezogen werden müsse. Der Bundeskanzler sagt dies zu. BArch, B 136, Bd. 59747

43 Gespräch des Bundesministers Genscher mit dem amerikanischen Außenminister Baker in Frankfurt am Main 10. Februar 19921 Vermerk über das Gespräch BM mit AM Baker am 10. Februar 1992 in Frankfurt2 Baker dankt zunächst BM für dessen Unterstützung bei der Washingtoner Hilfskonferenz.3 I. Gespräche der vier Nuklearstaaten Baker erläuterte seine Zustimmung zu dem französischen Vorschlag4 und betonte, dass diese Gespräche für alle transparent gestaltet und durch ständige Konsultationen in der NATO begleitet werden müssten. II. Initiative zur Errichtung eines Wissenschaftszentrums in Russland:5 Baker wiederholte die Bereitschaft, 25 Mio. Dollar als Startkapital zur Verfügung zu stellen. BM betonte die deutsche Bereitschaft, sich an diesem Projekt zu beteiligen, ohne bereits heute eine finanzielle Verpflichtungserklärung abgeben zu können. Beide Gesprächspartner waren sich darüber einig, dass außer Russland auch die übrigen GUS-Staaten zur Teilnahme eingeladen werden sollten. Das Zentrum selbst solle allerdings in Russland aufgebaut werden. Es müsse dann aber offen sein für alle GUS-Wissenschaftler. Man war sich darüber einig, dass die G 7-Staaten wie auch die EG-Staaten sich an dem Vorhaben beteiligen sollten. Deutschland wird dieses Vorhaben in den entsprechenden 1 Kopie. Der Gesprächsvermerk wurde von MD Chrobog gefertigt. Hat VLR I Matussek am 14. Februar 1992 vorgelegen, der den Rücklauf an Chrobog verfügte und handschriftlich vermerkte: „Kann mit Vermerk ,Von BM noch nicht gebilligt‘ verteilt werden.“ 2 Der amerikanische AM Baker hielt sich am 9./10. Februar 1992 in der Bundesrepublik auf. 3 Zur Koordinierungskonferenz für humanitäre Hilfe an die GUS-Mitgliedstaaten am 22./23. Januar 1992 vgl. Dok. 38. 4 Zur amerikanischen Zustimmung zu einer Konferenz der Nuklearstaaten vgl. Dok. 40, Anm. 8. 5 Zur Gründung eines internationalen Wissenschafts- und Technologiezentrums in Russland zur Verhinderung der Verbreitung von Nuklearwaffen durch Wissenstransfer vgl. Dok. 50.

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10. Februar 1992: Gespräch zwischen Genscher und Baker

Gremien einführen (was EG angeht, BM am 17.2.6, D 27 beim PK am 12./13.2.). Einigkeit bestand auch darüber, dass nicht nur die Frage der A-Waffen, sondern auch der B- und C-Waffen einbezogen werden solle. Beide Minister einigten sich darauf, ein Treffen unter ihrer Leitung am Morgen des 11.3. in Bonn durchzuführen. III. NACC BM wies auf die Notwendigkeit hin, ein Außenminister-Treffen des NACC noch vor dem Treffen der Verteidigungsminister8 durchzuführen. Aufgrund anderer Terminverpflichtungen ist AM Baker nur am Vortage des Bonner Treffens, nämlich am 10. März, verfügbar. Es ist beabsichtigt, im NATO-Rat eine Einigung dahingehend durchzuführen, dass dieses Treffen aller Außenminister am 10. März ab morgens 9.00 Uhr ganztägig stattfinden solle.9 Vorbereitende Gespräche sollen bereits heute zwischen Auswärtigem Amt und Gallucci in Bonn beginnen. IV. Enteignungen in der ehemaligen DDR10 BM erläuterte noch einmal das letzte deutsche Angebot und stimmte mit AM Baker überein, dass die Angelegenheit auf dieser Basis abgeschlossen werden sollte.11 V. GUS Baker unterrichtete über seine Reisepläne in die GUS-Staaten beginnend mit dem heutigen Tage.12 Beide Minister äußerten sich besorgt über die Zukunftsaussichten Jelzins. BM wies darauf hin, dass es in Russland an einer politischen Kultur fehle. Die Tatsache, dass Parteien nicht existierten, führe dazu, dass derjenige, der an der Führungsspitze stehe, sich ungeschützt allen Angriffen seiner Gegner ausgesetzt sehe. Beide Minister waren sich darin einig, dass Russland und die anderen GUS-Staaten so schnell wie möglich in den IWF aufgenommen werden sollten.13 6 Zur Konferenz der Außenminister der EG-Mitgliedstaaten im Rahmen der EPZ in Lissabon vgl. Dok. 48. 7 Jürgen Chrobog. 8 Am 1. April 1992 trafen in Brüssel die Verteidigungsminister der NATO-Mitgliedstaaten mit den Verteidigungsministern der Kooperationsstaaten im Rahmen des NAKR zusammen. Vgl. Dok. 97. 9 Zur NAKR-Ministertagung in Brüssel vgl. Dok. 74. Ferner fand am selben Tag ein Treffen des amerikanischen AM Baker mit den Außenministern der EGMitgliedstaaten in Brüssel statt. Vgl. Dok. 77. 10 Zu den Entschädigungsansprüchen der USA gegenüber der ehemaligen DDR wegen Enteignungen und anderen Vermögensschäden und den bisher geführten Verhandlungen vgl. AAPD 1990, II, Dok. 430, und AAPD 1991, II, Dok. 328. Vgl. ferner DIE EINHEIT, Dok. 142. Referat 505 erläuterte am 7. Februar 1992, in einem Gespräch mit dem amerikanischen Botschafter Kimmitt am 3. Februar 1992 hätten MD Oesterhelt und MD Hubrich, BMF, folgendes Angebot unterbreitet: „Erhöhung unseres Angebots von 150 Mio. US-$ auf 190 Mio. US-$ als Pauschalsumme (,settlement amount‘), davon 30 Mio. US-$ als Reserve für den Verrechnungsbetrag (,offset amount‘).“ Die amerikanische Regierung habe inzwischen mitgeteilt, dass sie „im Prinzip“ mit diesem Angebot einverstanden sei. Vgl. B 86, ZA-Bd. 342630. 11 Das Abkommen zwischen der Bundesrepublik und den USA über die Regelung bestimmter Vermögensansprüche wurde am 13. Mai 1992 unterzeichnet. Vgl. BGBl. 1992, II, S. 1223–1227. 12 Der amerikanische AM Baker besuchte am 11. Februar 1992 Moldau, am 11./12. Februar Armenien, am 12. Februar Aserbaidschan und Tadschikistan, am 12./13. Februar Turkmenistan, am 14./15. Februar Russland, am 15./16. Februar Usbekistan und vom 16. bis 18. Februar 1992 erneut Russland. 13 Zum russischen Beitrittsantrag zu IWF und Weltbank vgl. Dok. 6, Anm. 17.

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Abb. 2: BM Genscher und der amerikanische AM Baker bei der Verabschiedung eines Hilfsfluges nach Russland am Frankfurter Flughafen

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10. Februar 1992: Gespräch zwischen Genscher und Baker

Baker: Spätestens bei dem Treffen im April.14 Die bestehende Ausnahmesituation mache auch ein flexibles unbürokratisches Vorgehen notwendig. VI. Uruguay-Runde15 Baker wies wiederum auf die hohe politische Bedeutung dieser Frage hin und meinte, dass Deutschland in der Diskussion eine Schlüsselrolle zufalle. BM verwies auf unseren Willen, auf eine Lösung hinzuwirken trotz der bevorstehenden zwei Wahlen in Bundesländern16. VII. Jugoslawien Baker dankte BM ausdrücklich für die Überzeugungsarbeit, die er gegenüber Tudjman geleistet habe.17 BM wies darauf hin, dass Tudjman am 5.2. den Vance-Plan18 bedingungslos akzeptiert habe.19 Er äußerte aber im Gegenzug seine Befürchtung, dass Tudjman nunmehr große Probleme in seinem Land bekommen werde, da der Art. 19 des Vance-Planes inzwischen durch Goulding geändert worden sei.20 Art. 19 spricht von „existing opstine councils“, denen die Polizeikräfte untergeordnet sind. Dieses habe für Tudjman damals das große Problem dargestellt. Inzwischen sei die Situation für ihn aber durch die Goulding-Änderung verschärft worden, nach der das kroatische Recht in den serbischen Gebieten Kroatiens ausgeschlossen werde. Damit würde genau das angestrebt, was aufgrund des Vance-Planes vermieden werden sollte, nämlich eine Präjudizierung späterer Verhandlungsergebnisse. Er sei beunruhigt, dass Tudjman jetzt unter schweren innenpolitischen Druck gerate. Er habe ihm geraten, zunächst keine Äußerungen zu diesem Vorgang zu machen, da er – BM – sich für eine Lösung dieser Frage einsetzen werde. Baker bedankte sich für die Darlegung dieses Problems, was ihm bisher nicht bekannt gewesen sei, und stimmte BM zu, dass der Vance-Plan in seiner ursprünglichen Form Gültigkeit besitzen müsse. Baker fragte nach der EG-Haltung zu Bosnien-Herzegowina. BM setzte sich dafür ein, dass Beobachter entsandt werden sollten, die den Ablauf des Referendums21 zu überwachen hätten. Dieses entspräche einer Empfehlung der ArbitrageKommission22. Er selbst habe Tudjman gegenüber sehr klargemacht, dass an bestehenden Grenzen nichts geändert werden dürfte, sodass auch eine Teilung Bosnien-Herzegowinas völlig ausgeschlossen sei. Tudjman habe zugesichert, hier keinerlei Aktionen zu planen. 14 Vom 25. bis 28. April 1992 fand in Washington die Frühjahrstagung von IWF und Weltbank statt. Vgl. Dok. 105, Anm. 18. 15 Zu den GATT-Verhandlungen vgl. Dok. 55 und Dok. 62. 16 Am 5. April 1992 fanden Landtagswahlen in Baden-Württemberg und Schleswig-Holstein statt. 17 Zum Schreiben des BM Genscher vom 4. Februar 1992 an den kroatischen Präsidenten Tudjman vgl. Dok. 36, Anm. 5. 18 Zum Plan des Sonderbeauftragten des VN-GS für Jugoslawien, Vance, vgl. Dok. 2, Anm. 6. 19 Zum Schreiben des kroatischen Präsidenten Tudjman vom 6. Februar 1992 an den Sonderbeauftragten des VN-GS für Jugoslawien, Vance, vgl. Dok. 36, Anm. 11. 20 Vgl. Ziffer 9 des Berichts von VN-GS Boutros-Ghali an den VN-SR vom 4. Februar 1992, dem der Bericht des VN-UGS Goulding beigefügt war (S/23513); https://documents-dds-ny.un.org/doc/UNDOC/GEN/ N92/049/18/pdf/N9204918.pdf?OpenElement, S. 3 f. 21 Zum geplanten Referendum über die Unabhängigkeit Bosnien-Herzegowinas vgl. Dok. 26, Anm. 11. 22 Vgl. das Gutachten Nr. 4 der Schlichtungskommission der EG für Jugoslawien vom 11. Januar 1992; Dok. 36, Anm. 8.

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11. Februar 1992: Vorlage von Ahrens

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Was Mazedonien angeht, so waren sich beide Gesprächspartner des griechischen Problems bewusst. Beide stimmten darin überein23, dass eine Forderung nach Namensänderung wohl zu weit gehen werde. BM wies aber auf die prekäre innenpolitische Lage in Griechenland hin, wo das Thema Mazedonien historisch zu einem Sprengsatz für die Regierung werden könne. Am 17.2. werde man sich im Rahmen der EPZ mit dieser Frage befassen. Man müsse versuchen, eine für Griechenland akzeptable Lösung zu erreichen. VIII. EI Salvador24 Auf Bitte von AM Baker sagte BM zu, sich im Rahmen der Gemeinschaft an Unterstützungsaktionen zu beteiligen. Auch eine deutsche Hilfe für die Entwicklung El Salvadors sei geplant.25 B 1, ZA-Bd. 178913

44 Vorlage des Vortragenden Legationsrats I. Klasse Ahrens für Bundesminister Genscher VS-NfD

11. Februar 19921

Über Dg 212, D 23, Herrn Staatssekretär4 Herrn Bundesminister5 Zur Information Betr.:

Probleme der Jugoslawien-Konferenz

1) Die von den Zwölf einberufene und finanzierte Jugoslawien-Konferenz macht derzeit keine gute Figur. Es besteht die Gefahr, dass das Prestige der Zwölf im jugoslawischen 23 Korrigiert aus: „darüber ein“. 24 Am 16. Januar 1992 wurde in Mexiko ein Friedensabkommen zwischen der Regierung von El Salvador und der „Frente Farabundo Martí para la Liberación Nacional“ (FMLN) geschlossen. Vgl. https://peace maker.un.org/elsalvador-chapultepec92. 25 VLR I Heymer notierte am 28. Januar 1992: „Die Bundesregierung hat wiederholt ihre Bereitschaft erklärt, nach einem Waffenstillstand zum Wiederaufbau El Salvadors und zur Festigung demokratischer Strukturen beizutragen. […] Gegenüber der salv[adorianischen] Regierung sollten wir weiterhin betonen, dass als Voraussetzung für eine Normalisierung der EZ mit ELS dort alles getan werden muss, um den Friedensprozess zu stützen und die Wahrung der Menschenrechte sicherzustellen. Gegenüber dem BMZ haben wir uns insbesondere für einen Beitrag zum Wiederaufbau der Konfliktzonen und zur beruflichen Umschulung demobilisierter Angehöriger der Guerilla bzw. der Sicherheitskräfte ausgesprochen.“ Vgl. B 33, ZA-Bd. 161346. 1 2 3 4 5

Hat VLR I Libal am 11. Februar 1992 zur Mitzeichnung vorgelegen. Hat MDg von Studnitz am 11. Februar 1992 vorgelegen. Hat MD Chrobog am 11. Februar 1992 vorgelegen. Hat StS Kastrup am 11. Februar 1992 vorgelegen. Hat VLR I Matussek am 12. Februar sowie am 18. Februar 1992 erneut vorgelegen, der den Rücklauf an Referat 215 verfügte.

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11. Februar 1992: Vorlage von Ahrens

Raum und darüber hinaus Schaden nimmt. Hauptursache ist ohne Zweifel das Verhalten jugoslawischer Handelnder. Andere Ursachen gehen jedoch auf die Konferenz selbst zurück. 2) Sie versäumt es, die Jugoslawien-Politik der Zwölf kraftvoll nach außen zu vertreten oder zu Zeiten, in denen Differenzen unter den Zwölf zutage treten, sich um eine mittlere, für die Gesamt-EG repräsentative Linie zu bemühen. Die Konferenzleitung fährt bis heute fort, die Anerkennung vom 15.1.19926 als Hindernis für erfolgreiche Konferenztätigkeit darzustellen. Sie baut hierdurch nicht nur eine Dolchstoßlegende für den Fall ihres Scheiterns auf, sondern sie vermittelt zugleich der politischen Öffentlichkeit den falschen und schädlichen Eindruck tiefgespaltener europäischer Politik. 3) Die Konferenz beginnt, ihre eigenen grundlegenden Prinzipien infrage zu stellen. In Coreu LIS Nr. 263 vom 8.2.19927 heißt es in einem Brief Lord Carringtons an Außenminister Pinheiro: „The draft convention8 clearly envisages Krajina remaining within the Republic of Croatia, whereas the Serbs can be expected to press for a looser arrangement. We will have to cross this bridge as and when we come to it, but I am much more concerned by the approach which President Tudjman is now taking.“ Dies ist der erste Schritt zur Anerkennung gewaltsam herbeigeführter Gebietsveränderungen. Erfahrungsgemäß wird der Inhalt breit gestreuter Coreus zumindest in den großen Linien auch außerhalb des Zwölferkreises bekannt, und zwar auch jugoslawischen Parteien. Es ist immerhin verständlich, wenn der nicht immer diplomatische kroatische Präsident gegenüber solchen Aussagen der bestellten Vermittler auf alsbaldiger Wiederherstellung der kroatischen Souveränität in den UNPAs besteht. 4) Die Konferenz ist auf die Krajina fixiert und wendet sich erst jetzt halbherzig Bosnien zu. Bei aller Notwendigkeit, Prioritäten zu setzen, ist es fragwürdig, die Behandlung unhaltbarer Zustände in Serbien sine die zu vertagen. Albaner aus dem Kosovo, Ungarn und Kroaten aus der Wojwodina, Muslime aus dem Sandžak scheuen weder Aufwand noch Kosten, an den Konferenzort zu kommen. Sie haben Gelegenheit, in Nebenzimmern ihre oftmals dringenden Anliegen und Beschwerden vorzutragen, ohne dass die Konferenz dann irgendetwas unternähme. 5) Die Konferenz hat die Tendenz, unter Hintenanstellung der Realitäten immer wieder gesamtjugoslawische Strukturen vorzuschlagen, die keine Chance der Verwirklichung mehr haben, und widersprechende Republiken wie Slowenien dann als wenig konferenzfreundlich einzustufen. 6) Die Konferenzleitung erweckt oft den Eindruck, zugunsten der gegenwärtigen serbischen Führung parteiisch zu sein. Der Form nach wird das schon bei der Begrüßung sichtbar, die für die gewandten und sprachkundigen Präsidenten9 und Außenminister Serbiens10 sichtbar herzlicher ausfällt als für deren kroatische Amtskollegen11. In der Sache sind 6 Zur Frage der Anerkennung von Kroatien und Slowenien vgl. Dok. 11, Anm. 4. 7 Korrigiert aus: „2635 vom 8.2.1992“. Für das Fernschreiben Nr. 263 aus Lissabon (Coreu) vom 8. Februar 1992 vgl. B 42, ZA-Bd. 175712. 8 Für das Dokument „Treaty Provisions for the Convention“ vom 4. November 1991 („Carrington-Plan“) vgl. B 42, ZA-Bd. 175713. 9 Slobodan Milošević. 10 Vladislav Jovanović. 11 Franjo Tudjman bzw. Zvonimir Šeparović.

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Ziffer 2 – 5 Beispiele für die Übernahme serbischer Positionen. Dem Umstand, dass in Jugoslawien alle anderen gegen die serbische Führung stehen, wird nicht Rechnung getragen. 7) Die Konferenz ist nicht aktiv genug. Die erratisch einberufenen Plena sind, von den wichtigen Einzelgesprächen abgesehen, kurz und bestehen aus wenig mehr denn zwei oder drei round tables, bei denen bekannte Positionen aufgesagt werden. Die Arbeitsgruppen kommen zu sinnvoller Arbeit, werden jedoch, obwohl als ständig tagend gegründet, nur so unregelmäßig einberufen, dass immer wieder von Neuem begonnen werden muss. Die Jugoslawen haben nunmehr vorgeschlagen, die AG jede zweite Woche drei Tage lang zusammentreten zu lassen. Bisher liegt keine Reaktion der Konferenzleitung vor. 8) Einzelne Aktionen der Konferenz wirken wenig überlegt. So werden übermorgen der portugiesische Koordinator, Botschafter Cutileiro, und der britische Vorsitzende der AG Institutionen, Darwin, mit einem Note-taker zu der von der Presse gemeldeten „BosnienKonferenz“12 nach Sarajevo reisen. Beide haben keine Erfahrung mit Jugoslawien und sind erst seit Januar 1992 in ihren Funktionen. Cutileiro fiel mir mit der Bemerkung auf, eigentlich gehe es nicht an, ein Gründungsmitglied der VN zu zerstückeln. Darwin, Legal Adviser des FCO im Ruhestand, ein hervorragender Jurist, setzt seinen Ehrgeiz aber vor allem darein, immer neue Institutionen auf dem Papier zu entwerfen. 9) Seit Anfang d. J. fehlen klare Zuständigkeiten innerhalb der Konferenz. Dem bisher einzigen Koordinator, Wijnaendts, bei allen Fehlern immerhin die kraftvollste Persönlichkeit, ist Botschafter Cutileiro gleichgestellt. Wijnaendts wird nunmehr Amtsmüdigkeit nachgesagt. Immer wieder kommt es zu Überschneidungen und Doppelarbeit in den Arbeitsgruppen. 10) Nach dem Gesagten ist klar, was geschehen müsste: kraftvolle Vertretung europäischer Politik, größere Neutralität und, bei aller Prioritätensetzung, Behandlung der Probleme nichtserbischer Völkerschaften, erheblich gesteigerte und besser koordinierte Aktivität von Plenum und Arbeitsgruppen, eventuell unter Vergrößerung des kleinen Konferenzstabes. Es ist jedoch nicht klar, wie dies erreicht werden kann. Lord Carrington wird von seinen Grundüberzeugungen und seinem Arbeitsstil nicht abgehen. Ich habe meine Einflussmöglichkeiten innerhalb der Konferenz so weit möglich genutzt. Ein deutsches Coreu könnte allenfalls Einzelprobleme wie Ziffer 3, 4, mit Vorsicht auch 7 aufgreifen. Möglicherweise wäre ein Gespräch mit dem portugiesischen Außenminister hilfreich, das die Missstände in Ziffern 1 und 2 abzuhelfen versuchte. Ahrens B 42, ZA-Bd. 175712

12 Am 13./14. Februar 1992 fand in Sarajevo eine Konferenz der verschiedenen Volksgruppen zur Frage einer möglichen Verfassungsordnung in Bosnien-Herzegowina statt. Der portugiesische Koordinator Cutileiro berichtete am 15. Februar 1992, zwar seien nur geringe Fortschritte erzielt worden. Jedoch habe man eine Fortsetzung der Gespräche in der kommenden Woche in Lissabon vereinbart. Vgl. das Fernschreiben Nr. 302 aus Lissabon (Coreu); B 42, ZA-Bd. 175712.

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12. Februar 1992: Vorlage von Barth

45 Vorlage des Vortragenden Legationsrats I. Klasse Barth für Staatssekretär Lautenschlager 412-424.01/10-4

12. Februar 19921

Über Dg 412, D 43, Herrn Staatssekretär4 Betr.: Europäische Wirtschafts- und Währungsunion; hier: Stellungnahme der Bundesbank vom 7.2.1992 Zweck der Vorlage: Zur Unterrichtung 1) Bundesbankpräsident Schlesinger und Vizepräsident Tietmeyer gaben überraschend am 7.2.1992, wenige Stunden vor der Unterzeichnung des Vertrags über die Europäische Union, eine Pressekonferenz, um die Stellungnahme des Zentralbankrats vom 23.1.1992 zu den Beschlüssen von Maastricht der Öffentlichkeit vorab bekanntzugeben und zu kommentieren. Ursprünglich sollte diese Stellungnahme erst am 18.2.1992 im Monatsbericht Februar als Teil eines Aufsatzes über die WWU abgedruckt werden.5 Nachdem jedoch Indiskretionen in die Medien gelangt waren und diese daran Spekulationen über schwere Meinungsverschiedenheiten im Zentralbankrat anknüpften, entschloss sich die Bundesbank zu der Vorabveröffentlichung. Schlesinger und Tietmeyer nahmen zu den Presseberichten, nach denen ihnen von WWU-Kritikern im Zentralbankrat eine zu regierungsfreundliche Haltung vorgeworfen worden sei, nicht Stellung. Sie hoben vielmehr hervor, dass die Stellungnahme nach Diskussion und einigen Änderungen einstimmig gebilligt worden sei und der Öffentlichkeit als gemeinsame Meinung des Zentralbankrats vorgelegt werde. 2) Die Stellungnahme und die mündlichen Erläuterungen enthalten folgende wesentliche Aussagen: – Die Grundsatzentscheidung über die Schaffung der WWU sei eine politische und liege damit in Zuständigkeit und Verantwortung der Bundesregierung und nicht der Bundesbank. – Die Bundesbank habe vor und während der Konferenz ihre gesetzliche Beratungsaufgabe6 wahrgenommen. 1 2 3 4

Die Vorlage wurde von VLR Döring konzipiert. Hat in Vertretung des MDg von Kyaw VLR I Kaufmann-Bühler am 12. Februar 1992 vorgelegen. Hat MD Dieckmann am 12. Februar 1992 vorgelegen. Hat StS Lautenschlager am 13. Februar 1992 vorgelegen, der handschriftlich vermerkte: „Siehe Seite 2+3“. Vgl. Anm. 6 und 7. Hat VLR Kraemer vorgelegen, der den Rücklauf über MD Dieckmann und MDg von Kyaw an Referat 412 „z[ur] g[efälligen] K[enntnisnahme]“ verfügte. Hat Dieckmann am 14. Februar 1992 erneut vorgelegen. Hat Kyaw am 17. Februar 1992 vorgelegen. Hat Döring am 18. Februar 1992 erneut vorgelegen. 5 Für die Stellungnahme des Zentralbankrats vgl. MONATSBERICHTE DER DEUTSCHEN BUNDESBANK FEBRUAR 1992; https://www.bundesbank.de/resource/blob/691242/807466184219cec3a1b82204171b0b05/mL/199202-monatsbericht-data.pdf, S. 53 f. 6 Dieses Wort wurde von StS Lautenschlager hervorgehoben. Dazu vermerkte er handschriftlich: „Sie hat teilweise auch selbst verhandelt!“ Vgl. Anm. 4.

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12. Februar 1992: Vorlage von Barth

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– Sie erkenne an, dass die Bundesregierung ihren Empfehlungen weitgehend Rechnung getragen und sie in der Konferenz auch weitgehend durchgesetzt habe. Der Vertrag trage die Handschrift der Bundesbank; es habe keine Differenzen mit der Bundesregierung gegeben. – Gewisse Sorgen habe die Bundesbank mit Blick auf den erst in Maastricht beschlossenen endgültigen Termin für den Beginn der Endstufe am 1.1.1999. Auch in diesem Zusammenhang hätten die Eintrittskriterien im Vordergrund stehen müssen. – Eine strengere Formulierung hätte man sich auch beim Kriterium Preisstabilität gewünscht. – In anderen Punkten hätten zwar wichtige deutsche Positionen ihren Niederschlag gefunden, es komme jetzt aber darauf an, die Regelungen in der Praxis richtig anzuwenden. – Entscheidend für den dauerhaften Erfolg der WWU sei die Verwirklichung der Politischen Union. Der Vertrag lasse hier noch nicht die erforderliche Parallelität erkennen. 3) Wertung Die Vorabveröffentlichung der Bundesbank ist nicht gegen die Bundesregierung gerichtet7 und auch nicht als Versuch einer Distanzierung vom Vertrag über die Europäische Union zu werten. Vielmehr ging es Schlesinger und Tietmeyer offenbar in der Tat um die Begrenzung interner Diskussionen und die Verpflichtung aller Mitglieder des Zentralbankrats auf eine gemeinsame Sprachregelung. Soweit die Bundesbank Kritik äußert, ist sie nicht neu. Sie weist im Übrigen selbst einschränkend darauf hin, dass in einer solchen Konferenz nicht alle Vertragsziele durchgesetzt und die Verhandlungen teilweise nur durch mühsame Kompromisse zum Erfolg geführt werden können. Zu den einzelnen Kritikpunkten ist Folgendes zu sagen: Der Termin 1.1.1999 ist in der Tat erst in Maastricht festgelegt worden. Aber auch die Bundesbank ist stets für eine zeitliche Begrenzung der zweiten Stufe eingetreten, um ein „Hängenbleiben“ in dieser Phase in jedem Fall zu vermeiden. Außerdem werden auch 1999 die Eintrittskriterien entscheidend bleiben. Nur die MS, die sie erfüllen, beginnen die Endstufe. Bei dem Kriterium Preisstabilität dürfte die ursprüngliche Bundesbank-Position (max. 2 % über der niedrigsten Rate) nur geringfügig von der jetzt im Vertrag enthaltenen Formel (max. 1,5 % über den drei niedrigsten Raten) abweichen. Schwerer wiegt der Hinweis auf die fehlende Parallelität WWU – PU. Insoweit ist die Kritik jedenfalls überzogen. Auch im PU-Bereich sind beträchtliche Fortschritte erreicht worden. Außerdem besteht die Möglichkeit, auf der Basis der vereinbarten Evolutiv- und Revisionsklauseln über das in Maastricht Erreichte hinaus noch weitere Fortschritte vor Eintritt in die Endstufe der WWU zu erzielen. Barth B 224, ZA-Bd. 168494

7 Die Wörter „nicht gegen“ und „gerichtet“ wurden von StS Lautenschlager hervorgehoben. Dazu vermerkte er handschriftlich: „Das mag zwar so sein – in der Öffentlichkeit ist dies aber teilweise anders interpretiert worden (insbesondere auch bei ausländischen Beobachtern).“ Vgl. Anm. 4.

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13. Februar 1992: Gespräch zwischen Kohl und Landsbergis

46 Gespräch des Bundeskanzlers Kohl mit dem litauischen Parlamentspräsidenten Landsbergis 13. Februar 19921 Der Bundeskanzler erklärt, er freue sich, dass es möglich sei, kurzfristig mit Parlamentspräsident Landsbergis zusammenzutreffen.2 Der Bundeskanzler fragt sodann nach der Entwicklung in Litauen. P[arlamentspräsident] Landsbergis erwidert, die Lage sei einerseits nicht schlecht, andererseits gebe es aber auch genug Sorgen. Nach der Unabhängigkeit könne Litauen jetzt die Reformen energisch vorantreiben. Das gelte insbesondere für die Wirtschaftsreform, die zugleich eine Sozialreform sei. Im Einzelnen handele es sich um die Privatisierung, die Liberalisierung der Preise, die seit Anfang 1992 stufenweise in Gang gekommen sei, sowie die Landreform. Bei der Preisstabilisierung bemühe man sich auch um kompensatorische Maßnahmen für die Bevölkerung. Dadurch sei es bis jetzt gelungen, soziale Erschütterungen zu vermeiden. Gleichzeitig sei in den Beziehungen zu Russland eine neue Lage eingetreten. Insbesondere habe man das Problem der früheren Besatzungsarmee geerbt. Russland sei zwar bereit, die Armee zurückzunehmen. Man sei in Verhandlungen übereingekommen, dass mit dem Rückzug im Februar begonnen werde. Er sei aber nicht sicher, dass dies tatsächlich geschehe. Auf die Frage des Bundeskanzlers, ob es sich um eine förmliche Zusage handele, erklärt P. Landsbergis, die Zusage sei in einem gemeinsamen Kommuniqué3 enthalten. Der Bundeskanzler erklärt, bei uns seien die Sowjets bzw. Russen ihren bisherigen Verpflichtungen nachgekommen, wobei er hoffe, dass jetzt kein neues Problem mit der Rückführung über Litauen eintrete.4 1 Kopie. Der Gesprächsvermerk wurde von MD Hartmann, Bundeskanzleramt, gefertigt und mit Begleitvermerk vom 13. Februar 1992 über BM Bohl an BK Kohl „mit der Bitte um Billigung“ geleitet. Dazu vermerkte er: „Ich gehe davon aus, dass der Vermerk nicht weitergeleitet wird; allerdings schlage ich vor, dass die Frage einer deutschen Beteiligung am Bau einer Pipeline durch Abteilung 4 – unter Einschaltung der zuständigen Ressorts – geprüft wird.“ Hat Bohl am 14. Februar 1992 vorgelegen. Hat Kohl vorgelegen, der handschriftlich für Hartmann vermerkte: „Erl[edigen]“. Vgl. den Begleitvermerk; BArch, B 136, Bd. 59747. 2 Der litauische Parlamentspräsident Landsbergis hielt sich vom 10. bis 13. Februar 1992 in der Bundesrepublik auf. 3 Für das am 1. Februar 1992 veröffentlichte litauisch-russische Kommuniqué vgl. „DW Monitor-Dienst Osteuropa“ vom 3. Februar 1992; B 38, ZA-Bd. 184726. 4 Referat 216 erläuterte am 4. Februar 1992, der Abtransport des Materials der WGT aus der Bundesrepublik verlaufe zum größten Teil auf dem Seeweg, hauptsächlich über die Fährverbindung Mukran – Klaipėda. Dies habe auch für die Ostseehäfen der neuen Bundesländer große wirtschaftliche Bedeutung. Allerdings stellten die wirtschaftlich-finanziellen Probleme zwischen Litauen und Russland eine mögliche Gefährdung dar. Litauen bekomme nötige Material- und Treibstofflieferungen nur gegen Devisen, werde aber für Transportleistungen in Rubel bezahlt. Es habe daher ein bestehendes Transitabkommen gekün-

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P. Landsbergis erwidert, Litauen wolle keine Probleme schaffen. Diese entstünden gegen den Willen Litauens. Hierbei gehe es vor allem um den schlechten Zustand der Eisenbahnen. Auf die entsprechende Frage des Bundeskanzlers erklärt P. Landsbergis, es stünden noch ca. 40 000 Mann in Litauen, darunter befänden sich nicht zuletzt Fallschirmjäger, die bspw. in Wilna in unmittelbarer Nähe des Parlaments postiert seien. Die Verabredung sei, dass diese Truppen zuerst abgezogen würden. Ein großes Problem für Litauen sei auch die Frage der Energiesicherheit. Litauen beziehe die Hälfte seines Erdöls aus Russland, das in einer Raffinerie vor Ort bearbeitet werde. In der Vergangenheit habe es aber wiederholt Lieferstopps oder zumindest einen Rückgang der Lieferungen gegeben. In einem Gespräch mit Jelzin sei verabredet worden, dass Russland die Quoten des vergangenen Jahres weiter einhalte. Leider gebe es aber in Russland viel Unordnung. An den Bundeskanzler habe er die Bitte, dass er in möglichen Gesprächen mit Jelzin oder anderen russischen Persönlichkeiten Litauen in dieser Frage unterstütze. Der Bundeskanzler sagt dies zu. P. Landsbergis weist darauf hin, dass von den Erdöllieferungen auch die Versorgung der anderen baltischen Nachbarn sowie des Gebiets Königsberg abhänge. Um sich aus der einseitigen Abhängigkeit von russischen Öllieferungen zu lösen, plane Litauen den Bau einer ca. 100 km langen Pipeline von Klaipėda (Memel) aus. Mit einer solchen Pipeline wäre man in der Lage, im Krisenfall Erdöl aus anderen Quellen zu beziehen, mit dem dann auch die anderen baltischen Staaten versorgt werden könnten. Auf eine entsprechende Frage des Bundeskanzlers erklärt P. Landsbergis, früher sei ein Teil des in Litauen verarbeiteten Erdöls exportiert worden, um Devisenerlöse zu erzielen. Auf eine weitere Frage des Bundeskanzlers erklärt Landsbergis, die Raffinerie gehöre jetzt dem Staat Litauen. Auf die Frage des Bundeskanzlers nach der Ernährungslage erklärt P. Landsbergis, die Lage sei in Litauen selbst nicht schlecht, allerdings würden viele Nahrungsmittel nach wie vor nach Osten exportiert, teilweise auch auf illegalem Wege. Man befinde sich in der paradoxen Lage, dass Russland, das man nach wie vor beliefere, die Einfuhr von Nahrungsmitteln reduziere, um bei der Erdölrechnung Überschüsse zu erzielen. Dahinter stehe auf russischer Seite offenbar die Überlegung, dass man die Lebensmittel kostenlos aus dem Westen erhalte. Aus seiner Sicht wäre es gut, wenn die Frage westlicher Nahrungsmittelhilfe mit den Lieferungen aus Litauen verknüpft werden könne. Der Bundeskanzler erteilt Auftrag, diese Frage zu prüfen. P. Landsbergis fährt fort, es wäre vor allem wichtig, wenn Deutschland beim Bau der Pipeline helfen könne. Dies würde Litauen auch zusätzlichen politischen Spielraum schaffen. Über die Einzelheiten habe er bereits ausführlich mit Bundesminister Spranger gesprochen. Der Bundeskanzler stellt die Frage, ob mit dem Bau der Pipeline auch die Energieversorgung der beiden baltischen Nachbarn gesichert werde. Fortsetzung Fußnote von Seite 182 digt. Verhandlungen über ein neues Abkommen hätten jedoch noch nicht begonnen. Umstritten sei außerdem die Frage des Eigentums an den Fähreinrichtungen. Vgl. B 38, ZA-Bd. 184726.

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P. Landsbergis bejaht diese Frage. Der Bundeskanzler gibt dem Unterzeichner den Auftrag, die Frage einer deutschen Beteiligung am Bau der Pipeline prüfen zu lassen. P. Landsbergis weist darauf hin, dass auch Königsberg interessiert sei, eine von dem dortigen Hafen ausgehende Pipeline zu bauen. Im Übrigen habe er den Eindruck, dass man in dem dortigen Gebiet eine größere Selbstständigkeit anstrebe. Dies habe er auch heute Morgen gegenüber MdB Stercken erläutert. Der Bundeskanzler bittet P. Landsbergis, ihm zur Frage der Pipeline ein Memorandum zu schicken5, und fügt hinzu, Litauen habe insofern ein starkes Argument, als es die Energieversorgung für alle drei baltischen Staaten stabilisieren könne. Wie sich die Lage in Ostpreußen entwickele, wisse er nicht, aber in dieser Frage halte er sich sehr zurück. P. Landsbergis stellt die Frage, ob es nach Auffassung des Bundeskanzlers nicht an der Zeit sei, einen deutsch-litauischen Gesamtvertrag zu erarbeiten. Der Bundeskanzler erwidert, wir hätten hierüber gesprochen. Wenn man dies machen wolle, müsse man aber mit allen drei Staaten solche Verträge schließen. Er wolle in diesem Zusammenhang Folgendes anmerken: Wenn der Eindruck entstanden sein sollte, wir würden hinsichtlich der Behandlung der drei baltischen Staaten Unterschiede machen, so sei dieser Eindruck falsch. P. Landsbergis erwidert, er habe diesen Eindruck nicht, aber wenn einer mehr Initiative zeige, so solle man dies auch unterstützen. Der Bundeskanzler weist darauf hin, dass er sich stets mit großem Nachdruck für die Entwicklung der baltischen Staaten eingesetzt habe und dies auch weiterhin tun werde. P. Landsbergis erklärt abschließend, er wolle noch einmal auf die Frage der Eisenbahn zurückkommen und klarstellen, dass die russische Armee nicht nur aus Litauen, sondern auch aus Deutschland abziehen müsse. 1

BArch, B 136, Bd. 59747

5 Für das Memorandum, das der litauische Parlamentspräsident Landsbergis BK Kohl am 20. Februar 1992 übersandte, vgl. B 74, ZA-Bd. 198954.

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47 Vorlage des Vortragenden Legationsrats I. Klasse Barth für Bundesminister Genscher 412-422.82/2

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Über Dg 412, D 43, Herrn Staatssekretär4 Herrn Bundesminister5 Betr.:

Delors-Paket II; hier: Erste Analyse und Bewertung

Anlg.: 16 Zweck der Vorlage: Zur Unterrichtung 1) Die von der KOM am 11.2.1992 vorgelegten Vorschläge zum Finanzrahmen 1993 – 19977 enthalten folgende wesentliche Eckdaten: – Schrittweise Erhöhung der Verpflichtungsermächtigungen um ca. 21 Mrd. ECU bis 1997 (von 66,5 auf 87,5 Mrd. ECU = Steigerung um ca. 30 %).8 – Dies erfordert eine Anhebung der geltenden Obergrenze von 1,20 % auf 1,37 % des BSP, wobei eine jährliche BSP-Wachstumsrate von 2,5 % angenommen wird. – Das 1997 zusätzlich vorgesehene Einnahmevolumen ermöglicht ein Wachstum der jährlichen Haushalte um real über 5 % (nominal über 10 %). – Die zusätzlichen Einnahmen sollen zur Finanzierung folgender vorrangiger Sektoren dienen: – Kohäsion (Strukturfonds, neuer Kohäsionsfonds): 11 Mrd. ECU (1997) – Wettbewerbsfähigkeit (Forschung, Ausbildung, Industrie): 3,5 Mrd. ECU (1997) – Internationale Verpflichtungen der Gemeinschaft (GUS, MOE, Mittelmeer-Partner): 3,5 Mrd. ECU (1997) – Das System der eigenen Einnahmen soll wie folgt umgestellt werden: – Die MwSt.-Einnahmen werden zugunsten der BSP-Einnahmen reduziert (Kappung auf 50 % des BSP, Absenkung des Hebesatzes von 1,4 auf 1 %). Dadurch würde der An1 2 3 4 5

Die Vorlage wurde von VLR Döring konzipiert. Hat MDg von Kyaw am 17. Februar 1992 vorgelegen. Hat MD Dieckmann am 17. Februar 1992 vorgelegen. Hat StS Lautenschlager am 17. Februar 1992 vorgelegen. Hat BM Genscher am 18. Februar 1992 vorgelegen, der StS Lautenschlager um Rücksprache am 19. Februar 1992 bat. Hat OAR Rehlen am 19. Februar 1992 vorgelegen, der den Rücklauf an das Büro Staatssekretäre „für Rückspr[ache] StS L[autenschlager] bei BM am 19.2.“ verfügte. Hat Lautenschlager am 19. Februar 1992 erneut vorgelegen, der handschriftlich vermerkte: „R[ück]spr[ache] erledigt.“ 6 Dem Vorgang beigefügt war eine tabellarische Übersicht des von der EG-Kommission vorgelegten Finanzrahmens für die Jahre 1993–1997. Vgl. B 224, ZA-Bd. 187270. 7 Für das Dokument „Von der Einheitlichen Akte zu der Zeit nach Maastricht: Ausreichende Mittel für unsere ehrgeizigen Ziele“ (KOM (92) 2000) vgl. BULLETIN DER EG, Beilage 1/92, S. 16–41. 8 An dieser Stelle wurde von StS Lautenschlager handschriftlich eingefügt: „in 5 Jahren“.

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teil der MwSt.-Einnahmen an den Gesamteinnahmen von z. Zt. 55 % auf 35 % sinken und der BSP-Einnahmen von 20 % auf 40 % steigen. – Keine Änderung bei den traditionellen Einnahmen (ca. 25 % Anteil, sinkend) – Der Bericht zur britischen Ausgleichsregelung wird erst später vorgelegt. – Die Gemeinschaft soll durch weitere finanzielle Reserven (und Verbesserungen des Verfahrens der Anpassung der Finanziellen Vorausschau) auf unvorhersehbare Entwicklungen künftig flexibler reagieren können (u. a. in den Bereichen: humanitäre Soforthilfen, Darlehensgarantien). 2) Die KOM stellt ihre Vorschläge in unmittelbaren Zusammenhang mit dem ER Maastricht9 und dem Vertrag über die Europäische Union. So wie das Delors-Paket I10 Konsequenz der EEA11 und angemessener finanzieller Rahmen für den Prozess der Verwirklichung des Binnenmarkts gewesen sei, würden mit dem jetzigen Paket die Beschlüsse von Maastricht umgesetzt und die notwendigen Voraussetzungen für die Verwirklichung der WWU geschaffen. Dementsprechend will die KOM mehr als 50 % des geplanten Einnahmezuwachses für den wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt verwenden. Dadurch soll für die vier ärmeren MS im Zeitraum 1993 – 1997 eine Verdoppelung der Mittelvergabe bewirkt werden (für die anderen MS Erhöhung der Strukturfondsausgaben um 50 – 67 %). Die fünf neuen Bundesländer sollen Ziel-1-Gebiete (Regionen mit Entwicklungsrückstand) im Rahmen der Regionalförderung werden. Sie würden damit nach den Kriterien für die am wenigsten entwickelten Gebiete in der Gemeinschaft gefördert. Nach Angaben von MP Biedenkopf nach einem Gespräch mit Delors können die NBL im Zeitraum 93 – 97 mit mehr als 12 Mrd. DM aus den Strukturfonds rechnen (zum Vergleich: Sonderstrukturprogramm 91 – 93: 6 Mrd. DM). Ost-Berlin soll als Ziel-2-Region (Industriegebiet im Niedergang) eingestuft werden. Die Begründung für den Ansatz von 3,5 Mrd. ECU für die Steigerung der „Wettbewerbsfähigkeit“ ergibt sich nach Auffassung der KOM ebenfalls aus den Maastrichter Beschlüssen. Im Außenbereich sei die Verantwortung der Gemeinschaft im Hinblick auf die Ereignisse in Osteuropa, aber auch an ihrer Südflanke, deutlich gewachsen. Es liege im Interesse der MS und in der Logik von Maastricht, dass verstärkt Lasten vom Gemeinschaftshaushalt übernommen würden. Während es sich bei dem Kohäsionsansatz um zusätzliche Ausgaben handelt, interpretiert die KOM die beiden anderen Ausgabenblöcke als Verlagerung von nationalen Lasten auf die Gemeinschaft. Die Agrarausgaben sollen auf der Linie der Vorschläge der KOM zur Reform der GAP12 9 Zur Tagung des Europäischen Rats am 9./10. Dezember 1991 vgl. Dok. 3, Anm. 8. 10 Am 15. Februar 1987 legte die EG-Kommission unter Präsident Delors eine Reihe von Reformvorschlägen zur künftigen Finanzierung der EG, zur Gemeinsamen Agrarpolitik, zur Stärkung des EG-Strukturfonds und zur strengeren Haushaltsdisziplin der Gemeinschaftsorgane vor („Delors-Paket“). Eine Einigung auf das „Delors-Paket“ erfolgte auf der Tagung des Europäischen Rats vom 11. bis 13. Februar 1988 in Brüssel. Vgl. AAPD 1987, I, Dok. 51 und Dok. 69, sowie AAPD 1988, I, Dok. 59. 11 Für die Einheitliche Europäische Akte und die Schlussakte vom 17. bzw. 28. Februar 1986 vgl. BGBl. 1986, II, S. 1104–1115. Vgl. ferner AAPD 1986, II, Dok. 189 und Dok. 278. 12 VLR I Schürmann erläuterte am 11. Juli 1991, die EG-Kommission habe am 9. Juli 1991 Reformvorschläge für die Gemeinsame Agrarpolitik (GAP) beschlossen, die 1993 eingeführt und 1996 voll in Kraft sein sollten: „Die Reformvorschläge bestehen aus einer Mischung von drastischen Preissenkungen sowie Pro-

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und bedingt durch die deutsche Vereinigung zwar auch noch um 3 – 4 Mrd. ECU steigen, jedoch bis 1997 auf ca. 45 % der Gesamtausgaben (z. Zt. 53 %) absinken. 3) Für das System der eigenen Einnahmen und die Lastenverteilung schlägt die KOM aufgrund des in Maastricht verabschiedeten Kohäsionsprotokolls13 folgende Änderungen vor: Die für die ärmeren MS ungerechten, regressiven Elemente der MwSt.-Einnahmequelle sollen beseitigt werden. Die Bedeutung der BSP-Einnahmen wird dadurch relativ größer. Sie werden jedoch nicht progressiv gestaltet, wie von einigen MS vor Maastricht gefordert und von der KOM erwogen. Zahlenmäßige Auswirkungen dieser Verschiebungen für die einzelnen MS hat die KOM noch nicht vorgelegt. (Nach Angaben des Kabinettchefs von Kommissar Schmidhuber, v. Donat, am 12.2. vor dem EG-Ausschuss werden neben D, GB und F künftig auch I und NL – nicht dagegen DK und LUX – zu Nettozahlern. Für D würden sich die Abführungen von jetzt 18 Mrd.14 auf 22 Mrd. ECU 1997 erhöhen.)15 Erste Wertung Die Vorschläge der KOM sind trotz einiger Veränderungen im Eigenmittelsystem eher eine Fortschreibung des – besonders hinsichtlich der Haushaltsplanung – bewährten DelorsPakets I als eine durchgreifende Finanzreform (die die KOM erst für 1996/97 plant). Die Vorschläge halten sich eng an die Vorgaben des ER Maastricht, was die Bedeutung der Kohäsion und die Begrenzung der regressiven Wirkungen der MwSt.-Einnahmen betrifft. Der vorgeschlagene Umfang der Erhöhung des Finanzrahmens wird allerdings mit Sicherheit zu schwierigen Diskussionen führen. Darauf lassen erste Äußerungen aus dem BMF (aber auch brit. PM16, frz. Finanzministerium) schließen. Der Konflikt zwischen Haushaltserfordernissen und -disziplin in den MS (auch im Hinblick auf die WWUBestimmungen) und den neuen Gemeinschaftszuständigkeiten ist offensichtlich. Besonderer Kritik werden die Ressorts mit Sicherheit auch den vor allem von F begrüßten Ausgabenblock „Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit“ unterziehen. Sie werden hier Ansätze für industriepolitische Maßnahmen jenseits des in Maastricht Vereinbarten vermuten. Infrage gestellt werden dürfte auch die von der KOM bereits für 1993 vorgesehene Schaffung und Dotierung des Kohäsionsfonds (Maastricht: bis Ende 1993) und die ZweiDrittel-Aufstockung der Mittel für die Ziel-1-Gebiete. Fortsetzung Fußnote von Seite 186 duktionsrückführungen und produktionsneutralen Sozialleistungen. Sie enthalten zudem flankierende Maßnahmen zur Verbesserung des Umweltschutzes.“ Vgl. B 223, ZA-Bd. 172085. Vgl. auch BULLETIN DER EG 7-8/1991, S. 54 f. Am 24. Februar 1992 vermerkte Schürmann, die EG-Kommission habe „für das Wirtschaftsjahr 1992/93 ,restriktive Preisvorschläge‘ mit Preissenkungen und Mengenbeschränkungen ohne Ausgleich für Einkommenseinbußen angedroht, falls die Agrarminister sich nicht bald auf eine EG-Agrarreform einigen“. Problematisch sei u. a., dass sich verschiedene Mitgliedstaaten dafür ausgesprochen hätten, „zunächst die Vorgaben des Agrarkapitels der Uruguay-Runde des GATT für eine EG-Agrarreform abzuwarten, sodass Reformbeschlüsse des Agrarrates bei optimistischer Einschätzung frühestens im Juni 1992 zu erwarten sind“. Vgl. B 223, ZA-Bd. 172086. 13 Für das „Protokoll über den wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt“ vgl. BGBl. 1992, II, S. 1316. 14 An dieser Stelle wurde von StS Lautenschlager handschriftlich eingefügt: „um 4 Mrd. ECU“. 15 An dieser Stelle vermerkte MDg von Kyaw handschriftlich: „Auch die Rückflüsse an D würden höher!“ Die Wörter „würden höher“ des Vermerks von Kyaw wurden von StS Lautenschlager hervorgehoben. Ferner wurde von Lautenschlager handschriftlich eingefügt: „(also im Zeitraum von 5 Jahren 4 Mrd. ECU mehr – bei höheren Rückflüssen als bisher wegen der Begünstigung der neuen Bundesländer.)“ 16 John Major.

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Das Fehlen des Berichts der KOM über die britische Ausgleichsregelung, zu dem die KOM nach Art. 10 des Eigenmittelbeschlusses von 198817 bis Ende 1991 verpflichtet war, ist ein weiterer schwieriger und sensibler Punkt. Es gibt gute Gründe für eine Überprüfung, aber mehr noch für eine Verschiebung dieser Diskussion bis nach den britischen Wahlen18. Ob eine wesentliche Änderung der Regelung im Hinblick auf die britische Interessenlage und die Zurückhaltung der KOM realisierbar ist, kann schon jetzt bezweifelt werden. Kein Problem für uns dürften, vorbehaltlich detaillierter Berechnungen der Auswirkungen, die vorgeschlagenen Änderungen des Eigenmittelsystems sein. Die deutsche Vereinigung dürfte sich leicht positiv auf unsere relative Beitragsposition auswirken (relative Verringerung des BSP, hohe MwSt.-Einnahmen in den NBL). Aus AA-Sicht sind die Vorschläge zu den auswärtigen Maßnahmen19 zu begrüßen. Dadurch eröffnen sich Möglichkeiten zur Entlastung des nationalen Haushalts.20 Die Verhandlungen über das Paket werden nun unter Federführung des Allgemeinen Rates beginnen (erste Diskussion am 2./3. März21). Die Vorstellungen, dass sie bereits auf einem Sondergipfel im April oder auch auf dem ER Lissabon22 abgeschlossen werden können, dürften nicht realistisch sein. Es ist allerdings zu hoffen, dass die nach Art. 201 EWG-Vertrag23 ratifizierungsbedürftigen Beschlüsse noch in diesem Jahr verabschiedet werden. Insbesondere in den ärmeren MS wird ein Zusammenhang mit der Ratifizierung des Vertrages über die Europäische Union gesehen. Gemäß den Schlussfolgerungen des ER Maastricht ist auch der Beginn der nächsten Beitrittsrunde vom erfolgreichen Abschluss der Verhandlungen zum Delors-Paket II abhängig. Ref. 410 und 416 haben mitgezeichnet. Barth B 224, ZA-Bd. 187270

17 Der EG-Ministerrat beschloss am 24. Juni 1988 ein neues System der Eigenmittel der Gemeinschaften. Vgl. AAPD 1989, I, Dok. 64. 18 Der britische PM Major kündigte am 11. März 1992 Wahlen zum Unterhaus für den 9. April 1992 an. 19 An dieser Stelle wurde von StS Lautenschlager handschriftlich eingefügt: „im Prinzip“. 20 An dieser Stelle vermerkte StS Lautenschlager handschriftlich: „Über die Höhe muss natürlich diskutiert werden.“ 21 Botschafter Trumpf, Brüssel (EG), berichtete am 3. März 1992, in der EG-Ministerratstagung am Vortag sei beschlossen worden: „Verantwortlich ist der Allg. Rat, andere Räte wie der ECOFIN-Rat und z. B. der Industrie-Rat werden beteiligt. Ein erster Bericht soll dem Allg. Rat im April vorgelegt werden.“ Vgl. DB Nr. 588; B 221, ZA-Bd. 166577. 22 Zur Tagung des Europäischen Rats am 26./27. Juni 1992 vgl. Dok. 201. 23 Für Artikel 201 des EWG-Vertrags vom 25. März 1957 vgl. BGBl. 1957, II, S. 882.

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48 Runderlass des Vortragenden Legationsrats I. Klasse von Jagow 200-350.31 VS-NfD Fernschreiben Plurez

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Betr.: 84. EPZ-Ministertreffen am 17. Februar 1992 in Lissabon Bezug: Coreu LIS 310 vom 18.2.1992 (Relevé de conclusions)2 Im Rahmen einer ausführlichen Debatte über die GUS unterrichtete BM die Partner über die trilaterale Initiative zur Einrichtung eines Wissenschaftszentrums in Russland3, mit dem der Abwerbung und Abwanderung von Wissenschaftlern und Ingenieuren mit Spezialkenntnissen der Herstellung von Nuklearwaffen entgegengewirkt werden soll. BM erhielt von den Partnern positives Echo auf den Appell, die Gemeinschaft möge diese Initiative unterstützen. Zu Jugoslawien setzte sich BM erneut für die Entsendung von Beobachtern zum Referendum in Bosnien-Herzegowina4 ein, möglichst auch aus anderen KSZE-Staaten. Zeichen für gewisse serbische Bewegung wurden positiv gewürdigt, ohne deshalb bereits die Frage der Aufhebung der restriktiven Maßnahmen5 aufzunehmen. Unentschieden blieb auf erneuten griechischen Einspruch die Frage der Anerkennung Mazedoniens. Zu Nahost bekräftigten die AM die Entschlossenheit, weiterhin eine aktive Rolle in den Verhandlungen zu spielen. AM verabschiedeten Erklärungen zu Jugoslawien, Nahost, Zaire, Algerien, Albanien und Luftsicherheit (Lockerbie)6, legten die vom 228. PK erarbeitete Linie zu China7 fest und beauftragten das PK, Vorschläge für die Anwendung der in Maastricht8 beschlossenen neuen Verfahrensform der „Gemeinsamen Aktion“ in der GASP zu entwickeln. Die Schlussfolgerungen der Präsidentschaft9 werden zur eigenen Unterrichtung wie folgt ergänzt: 1 Kopie. Der Runderlass wurde von VLR Schulze und VLR Wrede konzipiert. Ferner maschinenschriftlicher Vermerk: „Hat vor Abgang H[err]n D 2 vorgelegen.“ 2 Für das Fernschreiben Nr. 310 aus Lissabon (Coreu) vgl. B 28, ZA-Bd. 158722. 3 Zur Gründung eines internationalen Wissenschafts- und Technologiezentrums in Russland zur Verhinderung der Verbreitung von Nuklearwaffen durch Wissenstransfer vgl. Dok. 50. 4 Zum geplanten Referendum über die Unabhängigkeit Bosnien-Herzegowinas vgl. Dok. 26, Anm. 11. 5 Zu den Maßnahmen der EG-Mitgliedstaaten gegen Jugoslawien vgl. Dok. 26, Anm. 5. 6 Für die Erklärungen vom 17. Februar 1992 vgl. BULLETIN DER EG 1-2/1992, S. 115–117. 7 VLR I von Jagow teilte zur Sitzung des Politischen Komitees im Rahmen der EPZ am 12./13. Februar 1992 in Lissabon mit: „PK empfiehlt, an dem AM-Beschluss vom 22.10.1990 (allmähliche Wiederaufnahme von EH-Vorhaben) als Grundlage für die künftigen Beziehungen festzuhalten und Gemeinschaftshilfe qualifiziert fortzusetzen. […] PK stellt fest, dass die Menschenrechtslage in China unverändert unbefriedigend ist. EG-MS sollten daher im MR-Bereich Druck aufrechterhalten (Möglichkeit der Bekanntgabe von MR-Demarchen). Dies dürfe allerdings nicht zu abrupten Änderungen in der China-Politik von EGMS führen.“ Vgl. den RE; B 42, ZA-Bd. 156539. 8 Zur Tagung des Europäischen Rats am 9./10. Dezember 1991 vgl. Dok. 3, Anm. 8. 9 Portugal hatte vom 1. Januar bis 30. Juni 1992 die EG-Ratspräsidentschaft inne. Amtierender Ratspräsident war AM João de Deus Pinheiro.

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1) GUS BM erläuterte ausführlich die trilaterale (D, RUS, USA) Initiative zur Errichtung eines internationalen Wissenschaftszentrums in Russland (Sitz: Moskau), das als „clearing house“ für die Beschäftigung von GUS-Wissenschaftlern aus dem militärischen, insbesondere nuklearen Bereich dienen soll. BM betonte erneut (unter Hinweis auf sein Ende Januar 92 an die Teilnehmer des SR-Gipfels gerichtetes Schreiben10) die große Gefahr, die durch Abwerbung und Abwanderung ehemaliger sowjetischer Wissenschaftler im Bereich der Herstellung von Kernwaffen und anderer Massenvernichtungswaffen entstanden sei. Konkrete Gegenmaßnahmen müssten umgehend ergriffen werden. Hierzu solle die von D und USA ausgearbeitete Initiative beitragen. RUS sei wegen seiner wichtigen Stellung innerhalb der GUS, aber auch wegen Moskauer Prestige-Bedürfnissen, einbezogen worden (Bekanntgabe der Initiative durch AM Baker und Präs. Jelzin am 17.2. in Moskau). AM Baker und er, BM, seien sich einig gewesen11, dass Hilfsmaßnahmen nicht über, sondern mit den GUSStaaten gemeinsam durchgeführt werden müssten, deshalb sollten auch andere Republiken beteiligt werden. AM der Partnerstaaten und Kommission (VP Andriessen) sprachen sich mit großem Nachdruck für Unterstützung der Initiative durch EG-MS aus. KOM wurde bis zum nächsten Allg. Rat am 2.3. um Vorlage konkreter Finanzierungsvorschläge noch für das Haushaltsjahr 1992 gebeten.12 VP Andriessen verwies auf die vom ECOFIN-Rat am 10.2. gebilligte Erhöhung der Technischen Hilfe für die GUS-Staaten von 400 MECU auf 450 MECU und die Zweckbindung der zusätzlichen 50 MECU für „die Regelung von Problemen, die sich im Zusammenhang mit der neuen Situation der Kernenergiespezialisten stellen“. Es gelte nunmehr, die Ankoppelung der trilateralen Initiative an diesen Haushaltsansatz vorzunehmen. Angesichts des Finanzierungsbedarfes müsse (im Rahmen des ordentlichen Haushaltsverfahrens) die Bereitstellung zusätzlicher TH-Mittel geprüft werden. AM Dumas erinnerte an die F-Vorschläge zur Schaffung regionaler Umschulungszentren für ehemalige sowjetische Nuklearwissenschaftler und sprach sich unter Hinweis auf den großen europäischen Finanzierungsbeitrag für volle Beteiligung aller zwölf MS sowie der Kommission an der Initiative aus. AM betonten in diesem Zusammenhang die große Bedeutung der Lissabon-Konferenz (Präs.-Terminvorschlag: 16./17.5. oder 22./23.5.13) für die weitere Koordinierung der von der internationalen Staatengemeinschaft für die GUS zur Verfügung gestellten Mittel. KOM wird auf Grundlage eines Präs.-Arbeitspapieres bis zum Allg. Rat am 2.3. Vorschläge erarbeiten.14 I15 forderte für Lissabon stärkere Rolle für EG-MS und umfassenderes Konfe10 Zur Sitzung des VN-Sicherheitsrats auf der Ebene der Staats- und Regierungschefs am 31. Januar 1992 in New York vgl. Dok. 33, Anm. 6. Zur Initiative von BM Genscher vgl. Dok. 35, Anm. 13. 11 Vgl. das Gespräch des BM Genscher mit dem amerikanischen AM Baker am 10. Februar 1992 in Frankfurt am Main; Dok. 43. 12 Botschafter Trumpf, Brüssel (EG), teilte am 3. März 1992 mit, der EG-Ministerrat habe eine „aktive inhaltliche und finanzielle (in Höhe des amerik[anischen] Beitrags von 25 Mio. US-Dollar)“ Beteiligung an dem Vorhaben eines Wissenschaftszentrums beschlossen. Vgl. DB Nr. 588; B 221, ZA-Bd. 166577. 13 Zur Koordinierungskonferenz für humanitäre Hilfe an die GUS-Mitgliedstaaten sowie an Georgien am 23./24. Mai 1992 vgl. Dok. 160. 14 Botschafter Trumpf, Brüssel (EG), berichtete am 3. März 1992: „Der Rat unterstützte die Vorstellungen der KOM, durch Zusammenarbeit mit den GUS-Republiken zur Stabilität in der Region beizutragen und

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renz-Mandat. Anders als in Washington16 sollten GUS-Staaten eingeladen werden. Operatives Ziel müsse Hilfsplanung für die besonders ernste Lage im bevorstehenden 12- bis 18-Monatszeitraum sein. Bei der Lissabon-Konferenz solle zusätzliche AG zur KonversionsProblematik eingesetzt werden. AM waren sich einig, dass EG-MS neben konkreten Hilfsmaßnahmen Beitrag zu den makroökonomischen Veränderungen in den GUS-Staaten und zur Errichtung marktwirtschaftlicher Strukturen leisten müssten. DK17 forderte größere Anstrengungen der EGMS bei der Öffnung der eigenen Märkte für GUS-Importe. EG-MS dürften sich im Bereich Marktzugang gegenüber den GUS-Staaten nicht so zögerlich wie gegenüber den MOEAssoziierungspartnern verhalten. Die politischen Entwicklungen in den GUS-Staaten wurden von den AM mit großer Skepsis beurteilt (LUX-AM Poos: Perspektive zwischen Apathie und Revolte). Die alte Nomenklatur sei vielfach noch an der Macht, die Beziehungen zwischen den aus der SU hervorgegangenen Republiken verschlechterten sich zunehmend (Russland/Baltikum, Ukraine/Russland), die zentrifugalen Kräfte verstärkten sich unaufhaltsam, die Ressentiments gegenüber Moskau nähmen weiter zu. NL18 warb vor dem Hintergrund dieser besorgten Analyse erneut für seinen Vorschlag zur Einsetzung eines Hohen Kommissars für ethnische Minderheiten19, bisher aus Russland und Ukraine erhaltene Reaktionen seien positiv, die Erteilung eines entsprechenden UNO-Mandates sei in Vorbereitung. Die AM erörterten in diesem Zusammenhang erneut die Lage in Nagorny Karabach und baten auf GB-Vorschlag Präs. um Aktivierung des Wiener Mechanismus für ungewöhnliche militärische Aktivitäten20 sowie des La Valletta-Mechanismus zur friedlichen Streitbeilegung21. Der Bericht der KSZE-Berichterstatterdelegation22 soll Grundlage für das wei15

Fortsetzung Fußnote von Seite 190 die regionale Zusammenarbeit der Republiken untereinander zu fördern. Die vertraglichen Beziehungen sollen durch den Abschluss von Koop[erations]-Abkommen einschl. eines polit[ischen] Dialogs mit zunächst vier Republiken (Russland, Weißrussland, Ukraine und Kasachstan) ausgebaut werden. Zur Erleichterung der Auszahlung des 1,25 Mrd. ECU-Kredits der Gem[einschaft] soll beim ECOFIN-Rat am 16.3. über eine flexiblere Gestaltung der Kreditvoraussetzungen diskutiert werden. Bei der Lösung der makroökonomischen Probleme wird die Gem. den IWF und andere internationale Finanzinstitutionen zur Eile drängen. Bei der Konferenz in Lissabon soll neben kurzfristigen Hilfen auch über mittelfristige Strukturmaßnahmen nachgedacht werden.“ Vgl. DB Nr. 588; B 221, ZA-Bd. 166577. 15 Gianni De Michelis. 16 Zur Koordinierungskonferenz für humanitäre Hilfe an die GUS-Mitgliedstaaten am 22./23. Januar 1992 vgl. Dok. 38. 17 Uffe Ellemann-Jensen. 18 Hans van den Broek. 19 Botschafter z. b. V. Höynck, z. Z. Prag, berichtete am 30. Januar 1992, der niederländische AM van den Broek habe in der Sitzung des KSZE-Außenministerrats die „Gefahr aus ethnischen Spannungen und Minderheitenkonflikten“ betont und die Einsetzung eines KSZE-Hochkommissars für Minderheiten gefordert: „In diesem Zusammenhang sollen ein KSZE-Frühwarnsystem und Mechanismen für gute Dienste und friedliche Streitbeilegung, anknüpfend an die Ergebnisse von Valletta, in Helsinki erarbeitet werden.“ Vgl. DB Nr. 1/2; B 28, ZA-Bd. 173643. 20 Vgl. Maßnahme 17 des „Wiener Dokuments für VVSBM“, das am 17. November 1990 verabschiedet wurde; BULLETIN 1990, S. 1494 f. Vgl. ferner AAPD 1990, II, Dok. 386. 21 Zu dem auf dem KSZE-Expertentreffen über friedliche Streitbeilegung vom 15. Januar bis 8. Februar 1991 in Valletta erarbeiteten Mechanismus vgl. AAPD 1991, I, Dok. 54.

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tere Vorgehen der Zwölf sein. Präs. und GB23 sahen in der Beilegung ethnischer Konflikte in der ehemaligen Sowjetunion eine entscheidende Bewährungsprobe für die künftige Rolle der KSZE. Präs. zirkulierte Non-paper zur Frage der künftigen diplomatischen Vertretung von EG-MS in den GUS-Staaten. Spektrum der Möglichkeiten reicht von technisch-administrativer Abstimmung (Kanzleien auf einheitlichem Grundstück, gemeinsame Fazilitäten) bis zu integrierter Gemeinschaftsvertretung (ein Botschafter als Vertreter aller MS mit aus den verschiedenen MS rekrutierten Beamten). B24, DK und NL drängten auf baldige Abstimmung zwischen den unterschiedlichen Planungen der Partner, gaben hierbei jedoch Präferenz zu Beschränkung auf administrativ-technische Zusammenarbeit zu erkennen. 22

2) Jugoslawien Lagebeurteilung war, trotz fortbestehender Sorgen, von vorsichtigem Optimismus bestimmt. Einigkeit bestand über doppelgleisigen Lösungsansatz (so BM) für die jugoslawische Krise: Befriedung durch VN-Truppen sowie politische Regelung durch die Jugoslawien-Konferenz. Die Zwölf begrüßten Fortschritte hinsichtlich bevorstehender Entsendung von VN-Friedenstruppen. Einige Partner (F, GB) dankten BM ausdrücklich für seine Einflussnahme auf kroat. Präs. Tudjman im Hinblick auf Annahme des VN-Friedensplans.25 Eine Reihe von Partnern (F, LUX, DK, IRL26) kündigte bereits ihre Absicht an, an VN-PeacekeepingOperation teilzunehmen. Die Zwölf sprachen sich für Intensivierung der Arbeiten der Jugoslawien-Konferenz (Vorsitz Lord Carrington) aus, vor allem in Bezug auf die noch ausstehende Ausarbeitung von Autonomieregelungen für Minderheiten. Hierbei wies eine Reihe von Partnern, im Anschluss an BM, auch auf die kritische Lage der Minderheiten im Kosovo und in der Wojwodina hin. BM hatte hervorgehoben, dass für Minderheitenrechte kein Doppelstandard gelten könne. Präs. betonte, dass Konferenz nicht autonom sei, sondern die Zwölf ihr Richtlinien zu geben hätten.27 Zu einem von der Präs. vorgelegten Konferenz-Papier zur eventuellen Ergänzungsbedürftigkeit des kroatischen Verfassungsgesetzes stellte BM fest, es enthalte noch nicht die von BM erbetenen konkreten Änderungsvorschläge. Konferenzkoordinator Bo[tschafter] Cutileiro sagte weitere Arbeit in diesem Sinne durch Konferenz-AG zu. Fortsetzung Fußnote von Seite 191 22 Zur KSZE-Beobachtermission in Nagorny Karabach vgl. Dok. 34, Anm. 6. 23 Douglas Hurd. 24 Mark Eyskens. 25 Zum Schreiben des BM Genscher vom 4. Februar 1992 an den kroatischen Präsidenten Tudjman vgl. Dok. 36, Anm. 5. Referat 215 vermerkte am 11. Februar 1992, nach verschiedenen Zeitungsinterviews Tudjmans, die die kroatische Zustimmung zum Plan des Sonderbeauftragten des VN-GS für Jugoslawien, Vance, infrage gestellt hätten, habe Vance Genscher erneut um eine Intervention gebeten, woraufhin Genscher mit Tudjman telefoniert habe. Vgl. B 42, ZA-Bd. 175606. Tudjman richtete daraufhin am 11. Februar 1992 erneut ein Schreiben an Vance, in dem er seine Zustimmung zum Vance-Plan bekräftigte. Für das Schreiben vgl. die Anlage III zum Bericht des VN-GS BoutrosGhali vom 15. Februar 1992 an den VN-Sicherheitsrat (S/23592); https://documents-dds-ny.un.org/ doc/UNDOC/GEN/N92/069/42/pdf/N9206942.pdf?OpenElement, S. 10. 26 David Andrews. 27 Zur Einsetzung der Friedenskonferenz für Jugoslawien vgl. Dok. 10, Anm. 4.

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Die AM beschlossen den von uns vorgeschlagenen Beitrag der EG zur internationalen Überwachung des Referendums in Bosnien-Herzegowina in Verbindung mit einem Aufruf an das EP und die nationalen Parlamente der Zwölf ebenso wie an andere KSZEStaaten, Beobachter zu entsenden (BM-Vorschlag, dem u. a. NL beistimmte), ggf. unter Einschaltung des KSZE-Büros für freie Wahlen. Sie hörten zunächst Bericht von Bo. Cutileiro zur „Friedenskonferenz“ in B.-H. über künftige Verfassungsstruktur der Republik.28 Die AM schlossen sich der Einschätzung von BM an, Situation in B.-H. sei außerordentlich besorgniserregend, und stimmten dem Vorschlag eines klaren Bekenntnisses der Zwölf zur territorialen Integrität und zur Unverletzlichkeit der Grenzen dieser Republik zu. Angesichts unveränderter Haltung von GRI29 zur Anerkennung von Makedonien (insbes. Forderung nach Änderung des Namens) wurde Präs. um Vermittlung zwischen GRI und MAK gebeten; einige Partner (GB, DK, L) drängten gleichwohl zur baldigen Anerkennung von MAK. Zur Frage positiver Maßnahmen gegenüber Serbien wurden unterschiedliche Positionen vertreten: Einige Partner (insbes. F, GB, I, GRI) plädierten für Positivmaßnahmen zugunsten Serbiens (entsprechend Empfehlung Lord Carrington), andere (B, NL, LUX) schlossen sich unserer Haltung an, dass dies zu früh sei, Serbien zunächst ausdrücklich Kooperationswillen auf der Jugoslawien-Konferenz durch Zustimmung zu Art. 1 (u. a. keine Grenzänderungen mit Gewalt, Minderheitenschutz30) beweisen müsse, aber positives Signal bereits gegeben werden könne. Dies fand in Erklärung der Zwölf zu JUG entsprechenden Niederschlag. Präs. stellte zudem – auf Anregung BM – in PK ausdrücklich klar, EG sei dann in der Lage, Sanktionen aufzuheben, wenn sich Serbien eindeutig zu den Bedingungen des EG-Friedensplans (Vertragsentwurf von Lord Carrington) bekenne. 3) Naher Osten AM erörterten erneut die Lage im Nahen Osten sowie Perspektiven für den derzeitigen Konferenzprozess. Sie verabschiedeten hierzu eine Erklärung. AM stimmten den Präs.Überlegungen zur künftigen Linie von EG-MS zu: Forderung nach Ko-Vorsitz auch in AG-Rüstungskontrolle und regionale Sicherheit, VN-Beteiligung bei den multilateralen Verhandlungen, Einbeziehung der Palästinenser in die multilateralen Verhandlungen, Einladung an Maghreb-Staaten (UMA31). AM stimmten überein, dass bei diesen Fragen insbesondere ggü. Israel Überzeugungsarbeit geleistet werden müsse. AM schlossen sich Präs. und GB in der Forderung an, Tel Aviv bei dem im Mai geplanten Kooperationsrat32 klarzumachen, dass eine substanzielle Verbesserung der Beziehungen zu EG-MS im Handels- und Wirtschaftsbereich (Annäherung Israels an EWR) bei fortgesetzter israelischer Intransigenz in politischen Fragen nicht zustande kommen kann. AM waren sich einig, dass der Ausgang der isr. Wahlen33 für den Fortgang der Friedenskonferenz von entscheidender Bedeutung sein werde. AM sahen 28 Zur Konferenz der verschiedenen Volksgruppen am 13./14. Februar 1992 in Sarajevo vgl. Dok. 44, Anm. 12. 29 Antonis Samaras. 30 Für das Dokument „Treaty Provisions for the Convention“ vom 4. November 1991 („Carrington-Plan“) vgl. B 42, ZA-Bd. 175713. 31 Union du Maghreb arabe. 32 Zur Sitzung des Kooperationsrats EWG – Israel am 12. Mai 1992 in Brüssel vgl. Dok. 125, Anm. 8. 33 Am 23. Juni 1992 fanden in Israel Parlamentswahlen statt.

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die Gefahr einer weiteren Stärkung konservativer Kräfte. Israel müsse gleichwohl im Friedensprozess die größte Zahl an Konzessionen machen, „ob es will oder nicht“ (Präs.). AM stellten fest, dass auch Entwicklungen außerhalb der Region den Friedensprozess beeinflussen können. Hierzu zählten neben den US-Präsidentschaftswahlen34 die weitere Entwicklung in den moslemischen GUS-Republiken, die Lage in Algerien und die KurdenProblematik. AM Dumas berichtete von seinen jüngsten Gesprächen in Damaskus35 und betonte, dass die syrische Haltung für die übrigen an der Friedenskonferenz nicht teilnehmenden arabischen Staaten (Libanon, Algerien, Jemen) sowie für die Palästinenser von ausschlaggebender Bedeutung sei. EG-MS sollten daher versuchen, Damaskus zu konstruktiverer Haltung als bisher zu bewegen. EG-MS sollten sich für baldige Verabschiedung des (vom EP aufgehaltenen Vierten Finanzprotokolls36 einsetzen. Die von Straßburg verweigerte Billigung habe zu erheblicher Verstimmung Syriens geführt. I trug erneut seine Forderung nach stärkerer europäischer Rolle bei dem Konferenzprozess vor, EG-MS dürften sich nicht marginalisieren lassen, sie sollten in dieser für Europa zentralen Frage im Vorgriff auf die Anfang 93 in Kraft tretende GASP bereits heute eine kohärente politische Linie verfolgen. AM stellten die Erörterung einer von Präs. für ER Lissabon (Juni 9237) vorerst zurück.38 GB hatte unter Hinweis auf den noch offenen weiteren Verlauf der Friedenskonferenz sowie auf möglicherweise missverständliche Signale zu Zurückhaltung gemahnt. Ziff. 4 (China), Ziff. 5 (Angola), Ziff. 6 (Zaire), Ziff. 7 (Haiti), Ziff. 8 (GASP), Ziff. 9 (Algerien, Marokko, Albanien, Sub-Sahara, Lettland, VN, PanAm/UTA39) s. relevé de conclusions. [gez.] von Jagow B 28, ZA-Bd. 158722

34 In den USA fanden am 3. November 1992 Präsidentschaftswahlen, Wahlen zum Repräsentantenhaus sowie Teilwahlen zum Senat und für die Gouverneursämter statt. 35 Der französische AM Dumas hielt sich vom 12. bis 14. Februar 1992 in Syrien auf. 36 In einem gemeinsamen Vermerk des Auswärtigen Amts sowie des BMWi, BMF und BMZ vom 31. Januar 1992 wurde dargelegt, das Vierte EG-Finanzprotokoll mit Syrien, das einen Umfang von 158 Mio. ECU habe, sei am 15. Januar 1992 vom Europäischen Parlament abgelehnt worden, wobei v. a. die Menschenrechtslage in Syrien kritisiert worden sei. Vgl. B 220, ZA-Bd. 158888. 37 Zur Tagung des Europäischen Rats am 26./27. Juni 1992 vgl. Dok. 201. 38 Unvollständiger Satz in der Vorlage. 39 Zu den Anschlägen auf Flugzeuge der PanAm im Dezember 1988 bzw. UTA im September 1989 vgl. Dok. 14, Anm. 2 und 4.

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49 Gespräch des Bundesministers Genscher mit dem bangladeschischen Außenminister Rahman 340-312.11 BAN

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Deutsch-bangladeschische Beziehungen; hier: Gespräch BM mit AM Mustafizur Rahman (Vermerk von BM noch nicht gebilligt)2 Zur Unterrichtung BM empfing am 19.2.1992 bangladeschischen AM Mustafizur Rahman zu einstündigem Meinungsaustausch über aktuelle bilaterale, regionale und multilaterale Fragen. Vorausgegangen waren Besuche des AM in London, Paris und Brüssel (bilateral sowie EG-Kommission). Nach einem Anschlussbesuch in Rom reist er in den Golf. 1.1) AM Rahman verwies eingangs auf erfolgreichen Demokratisierungsprozess seines Landes nach neuneinhalb Jahren autokratischen Regimes, informierte über die mit Hilfe der Opposition verabschiedete Verfassungsänderung (Ablösung des Präsidialsystems durch parlamentarisches) und erläuterte auf Frage BM die ideologischen Unterschiede zwischen beiden parlamentarischen Lagern. (Awami League linksgerichtet, sozialistisch, nicht marktwirtschaftlich, sondern verstaatlichungsorientiert.) Demokratisierung habe in der Bevölkerung hohe Erwartungen geweckt, die PM Khaleda Zia nicht enttäuschen dürfe. Anfängliche Unruhen in den Straßen und Universitäten seien beigelegt. Eine demokratische Regierung müsse solche Auseinandersetzungen ebenso tolerieren wie eine „gut funktionierende“ Pressefreiheit. – Als politische Schwerpunktbereiche, wo jetzt rasche Erfolge nötig seien, nannte R. Grundschulausbildung, Besserung der Stellung der Frau, Aufbau arbeitsintensiver Industrien. R. stellte die Vorzüge des niedrigen Lohnniveaus in Bangladesch heraus und verwies auf das Beispiel der Japaner, die in bangladeschischen Montagewerken Wertschöpfung mit dem Ziel des Re-Exports vornähmen. 1.2) Zum Problem der birmanischen Flüchtlinge (Rohingyas): Schon 1978 habe es ähnliches Problem gegeben (200 000 Flüchtlinge), das Präs. Zia und Ne Win in zweijährigen Verhandlungen gelöst hatten.3 Derzeit ergieße sich ein neuer Strom von inzwischen 70 000 Menschen nach Bangladesch, das nicht wisse, wie es „diese Münder stopfen könne“. Bangladesch wolle einerseits die Flüchtlinge nicht nach Myanmar zurückschicken, könne sie aber auch nicht im eigenen Land integrieren. Sie seien unter schwierigen Verhältnissen im Grenzgebiet untergebracht, das der letzte Wirbelsturm verwüstet habe. 1 Der Gesprächsvermerk wurde von VLR I Holl mit DE Nr. 37 vom 24. Februar 1992 an die Botschaft in Dhaka übermittelt. Ferner maschinenschriftlicher Vermerk: „Mitzeichnung vor Abgang Dg 34, MB, NO-Passage ist mit 310, Jugosl[awien]-Passage mit 230 abgestimmt.“ 2 Der bangladeschische AM Rahman hielt sich vom 19. bis 21. Februar 1992 in der Bundesrepublik auf. 3 LR I Döring, Dhaka, informierte am 10. Juli 1978 über das „Agreement on Repatriation of Burmese Refugees Now Sheltered in Bangladesh“ vom Vortag, das die Rückführung der birmanischen Flüchtlinge ab August 1978 und den Beginn von Verhandlungen über die gemeinsame Landesgrenze vorsah. Vgl. DB Nr. 180; B 37, ZA-Bd. 107469.

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19. Februar 1992: Gespräch zwischen Genscher und Rahman

Er habe mit birmanischem AM4 verhandelt, doch seien die Gespräche durch Grenzzwischenfall am 21.12.1991 unterbrochen worden. Er hoffe jetzt, dass birmanischer AM zu neuen Verhandlungen nach Dhaka komme.5 Die birmanischen Machthaber bezeichnete er (im Vergleich zu Ne Win) als „junge Generation“, schwierig, verschlossen, dialogunwillig. Das potenziell reiche Land sei durch ein politisch verfehltes Regime zugrunde gerichtet worden. Auf Frage erklärte AM, auch er habe versucht, die unter Hausarrest stehende Nobelpreisträgerin Aung San Suu Kyi zu besuchen. Doch habe sich das Regime in Rangun taub gestellt. 2.1) BM begrüßte erfolgreiche Demokratisierung Bangladeschs, die in Deutschland mit Sympathie verfolgt worden sei, und das konstruktive Zusammenspiel von Regierung und Opposition, zum Beispiel bei Änderung der Verfassung. Es sei verständlich, dass hohe Erwartungen geweckt seien. Dies sei in Osteuropa nicht anders. Anfangs herrsche Euphorie über die Befreiung von einem autoritären Regime. Dann vergesse man die Verantwortlichkeit der früheren Machthaber und kritisiere die neuen Regierungen, weil schnelle Erfolge ausblieben. Wirtschaftliche und soziale Stabilität seien Voraussetzungen der Demokratie. Er verstehe daher, dass die bangladeschische Regierung in Schlüsselbereichen schnelle Erfolge erzielen wolle. Bangladesch bleibe ein Schwerpunktland deutscher EH. Die von AM genannten Einzelprojekte würden von den zuständigen Ressorts sorgfältig geprüft. 2.2) Zur Problematik der Rohingyas bemerkte BM, Flüchtlingselend sei uns aus Osteuropa wohl bekannt. Beispiel Jugoslawiens lehre, dass niemand von einem Kriege gewinne. 2.3) Auf Frage AM Rahman nach lfd. Friedensbemühungen im Nahen Osten erläuterte BM derzeitigen Konferenzstand. Deutschland und EG hätten schon in den 70er und 80er Jahren Initiativen zur Lösung des NO-Konflikts ergriffen. Gemeinsam mit Frankreich habe Deutschland am Entstehen der Erklärung von Venedig6 mitgewirkt und als erstes Land das Selbstbestimmungsrecht der Palästinenser7 anerkannt. Die NO-Konferenz sei bei Amerikanern und Russen „in guten Händen“. Die EG wolle den Konferenzverlauf mit guten Ratschlägen unterstützen. 3) Ein abschließender Exkurs berührte Fragen der regionalen Integration und Kooperation als Instrument politischer Stabilisierung. BM verwies auf das Beispiel Deutschlands und Frankreichs, die in hundert Jahren mehrere Kriege gegeneinander geführt hätten, jetzt aber zum Motor der europäischen Integration geworden seien. Die Auflösung der SU stelle für die „politische Architektur Europas“ neue Aufgaben. Deutschland trete für die Teil4 Ohn Gyaw. 5 Botschafter Scholtyssek, Dhaka, berichtete am 29. April 1992, nach Verhandlungen vom 23. bis 28. April 1992 seien folgende Abkommen geschlossen worden: „Von Außenminister Mustafizur Rahman und seinem Myanmar-Kollegen Ohn Gyaw eine allgemeine Vereinbarung (joint statement) über die freiwillige und sichere Rückkehr der Flüchtlinge in ihre Heimstätten; von den jeweiligen Botschaftern der beiden Länder zwei technische Abkommen (agreed minutes), die die Modalitäten der Repatriierung regeln.“ Vgl. DB Nr. 146; B 37, ZA-Bd. 166191. 6 Für die Erklärung des Europäischen Rats zum Nahen Osten nach seiner Tagung am 12./13. Juni 1980 vgl. BULLETIN DER EG 6/1980, S. 10 f. Vgl. ferner AAPD 1980, I, Dok. 177. 7 Vgl. die Erklärung des Botschafters Freiherr von Wechmar, New York (VN), vor der VN-Generalversammlung am 19. November 1974; UN GENERAL ASSEMBLY, 29th Session, Plenary Meetings, S. 969 f. Vgl. ferner AAPD 1974, II, Dok. 339.

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19. Februar 1992: Runderlass von Bettzuege

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nahme der SU-Nachfolgestaaten an der KSZE ein und wünsche enge Zusammenarbeit zwischen EG und den osteuropäischen Staaten. Nach mehreren blutigen Kriegen biete sich Europa jetzt erstmals die Chance, eine Friedensordnung für ein einiges Europa zu errichten. BM warnte vor der Gefahr eines neuen Nationalismus, der in den vom Kommunismus befreiten osteuropäischen Staaten entstehen könne, nachdem deren nationale Identität jahrzehntelang von der kommunistischen Ideologie unterdrückt worden sei. AM Rahman verwies seinerseits auf Bemühungen der SAARC8-Staaten um intensivere Zusammenarbeit. Es gebe erfolgversprechende Ansätze, den Visumszwang innerhalb der Mitgliedstaaten abzuschaffen. B 37, ZA-Bd. 166190

50 Runderlass des Vortragenden Legationsrats I. Klasse Bettzuege 012-9-312.74 VS-NfD Fernschreiben Nr. 11 Ortez Betr.:

Aufgabe: 19. Februar 19921

Ortez zur Gründung eines internationalen Wissenschafts- und Technologiezentrums mit Sitz in Russland zur Verhinderung der Verbreitung von Kernwaffen durch Wissenstransfer

Anlg.: 1 1) Von der Auflösung der früheren Sowjetunion geht eine große Gefahr aus, die alle internationalen Bemühungen um Abrüstung, Rüstungskontrolle und insbesondere die Nichtverbreitung von Massenvernichtungswaffen zunichtemachen kann. Sie liegt in der Abwerbung und in der Abwanderung ehemaliger sowjetischer Wissenschaftler und Ingenieure in Problemländer. Bundesminister Genscher hat diese Gefahr mehrmals in der Öffentlichkeit angesprochen. In Gesprächen sowohl mit dem russischen Außenminister2 wie mit Kollegen aus dem Kreis der EG und der Gruppe der Sieben als auch mit dem Generalsekretär der Vereinten Nationen Boutros-Ghali3 hat er eine weltweite Initiative gefordert. Das Thema wurde in diesem Sinne auch beim Gipfeltreffen des Weltsicherheitsrats am 31. Januar 1992 in New York4 behandelt. 8 South Asian Association for Regional Cooperation. 1 Der Runderlass wurde von VLR I Nocker konzipiert. Hat MDg Graf von Matuschka am 19. Februar 1992 zur Mitzeichnung vorgelegen. 2 Vgl. das Gespräch zwischen BM Genscher und dem russischen AM Kosyrew am 15. Januar 1992; Dok. 13. 3 Zum Gespräch zwischen BM Genscher und VN-GS Boutros-Ghali am 23. Januar 1992 vgl. den mit DB Nr. 147 des Botschafters Graf zu Rantzau, New York (VN), übermittelten Gesprächsvermerk; B 43, ZA-Bd. 160772. 4 Zur Sitzung des VN-Sicherheitsrats auf der Ebene der Staats- und Regierungschefs vgl. Dok. 33, Anm. 6.

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19. Februar 1992: Runderlass von Bettzuege

2) Die BM-Initiative geht in fünf Richtungen: (1) Einführung von Strafbestimmungen bei Mitwirkung eigener Staatsangehöriger bei der Herstellung von Massenvernichtungswaffen im Ausland entsprechend den deutschen Strafbestimmungen; (2) Sanktionen gegen Nichtkernwaffenstaaten, die sich völkerrechtswidrig Kenntnisse und Potenziale für die Herstellung von nuklearen und anderen Massenvernichtungswaffen verschaffen; der Weltsicherheitsrat soll hier einen Schwerpunkt seiner künftigen Arbeit sehen; (3) Anreize für Wissenschaftler und Experten, die über Kenntnisse zur Herstellung der ABombe oder anderer Massenvernichtungswaffen verfügen, ihre Fähigkeiten im eigenen Lande für friedliche Zwecke einzusetzen. Hierfür Gründung eines internationalen Fonds oder einer internationalen Stiftung; (4) konsequente Fortsetzung der nuklearen Abrüstung durch die Kernwaffenstaaten. Ein nächster Schritt soll die weltweite Beseitigung der landgestützten nuklearen Kurzstreckenwaffen in der GUS und den USA5 sein; (5) Verstärkung der IAEO-Kontrollmaßnahmen, insbesondere durch Sonderinspektionen. 3) Zur Konkretisierung der Ziffer (3) der BM-Initiative haben BM und sein amerikanischer6 und russischer Kollege am 17.2.92 gemeinsam zur Gründung eines internationalen Wissenschafts- und Technologiezentrums mit Sitz in Russland aufgerufen. Nach Bedarf werden Zweigstellen in anderen Staaten der GUS errichtet. Das Zentrum soll dazu dienen, beschäftigungslos werdenden Wissenschaftlern und Ingenieuren aus Russland und anderen GUS-Staaten, die bisher bei der Herstellung und Entwicklung von nuklearen und anderen Massenvernichtungswaffen tätig waren, anspruchsvolle und aussichtsreiche berufliche Perspektiven im zivilen Bereich zu vermitteln. Das Zentrum soll als Clearing-Stelle wissenschaftliche und technologische Vorhaben vor allem in Institutionen und Anlagen der früheren Sowjetunion entwickeln, auswählen, finanzieren und überwachen. Das Zentrum wird sich dabei auf Vorhaben konzentrieren, die den Experten Chancen bieten, ihre beruflichen Fähigkeiten auf nicht-militärische Vorhaben umzustellen. Das Zentrum wird die Verbreitung von nuklearen, chemischen und biologischen Waffen durch Transfer „über die Köpfe“ umso erfolgreicher verhindern können, je stärker es internationale Unterstützung erfährt. Es bestehen gute Aussichten, dass das notwendige Startkapital für das Zentrum durch Beiträge großer Geberländer und der Europäischen Gemeinschaft bald aufgebracht wird und auch die Projektfinanzierung anlaufen kann. Die drei Außenminister wünschen ein baldiges Treffen an einem noch zu bestimmenden Ort, bei dem Organisation, Aufgabenbereich und Finanzierung des geplanten internationalen Zentrums festgelegt werden sollen. An diesem Treffen sollen alle an der Gründung eines solchen Zentrums interessierten Staaten teilnehmen, darunter die Russische Föderation und andere Staaten der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten ebenso wie die Staaten, die unter deutschem Vorsitz am Münchener Wirtschaftsgipfel7 teilnehmen, sowie sonstige Mitglieder der OECD und der EG. 5 Vgl. die SNF-Initiative der Bundesregierung; Dok. 40. 6 James A. Baker. 7 Zum Weltwirtschaftsgipfel vom 6. bis 8. Juli 1992 vgl. Dok. 225.

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20. Februar 1992: Vorlage von Chrobog

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4) Die Initiative der drei Außenminister wurde am 17.2.1992 in Lissabon von den Außenministern der EG und der EGK einstimmig unterstützt.8 EGK wird die Möglichkeit eines finanziellen Beitrags im Rahmen des Programms für Technische Hilfe für die GUS 1992 prüfen und eine Ratsentscheidung, voraussichtlich Anfang März, herbeiführen.9 5) Für Öffentlichkeitsarbeit folgt als Anlage englischer Text der trilateralen Erklärung vom 17.2.1992. Bettzuege10 Folgt Anlage: […]11 B 5, ZA-Bd. 161325

51 Vorlage des Ministerialdirektors Chrobog für Bundesminister Genscher 212-341.93/1

20. Februar 19921

Über Herrn Staatssekretär2 Herrn Bundesminister3 Betr.:

Unsere Zielvorstellungen für das KSZE-Folgetreffen (ab 24.3.1992) und den Gipfel (9./10.7.1992) in Helsinki4

Zweck der Vorlage: Unterrichtung In einer neuen, mit der Charta von Paris eingeleiteten Phase der KSZE muss das Folgetreffen der Vorbereitung des Gipfels dienen: mit einem Ergebnis, das nach seinem politischen Gewicht in der Folge der Charta und der Schlussakte bestehen kann – ohne anderer8 Zur Konferenz der Außenminister der EG-Mitgliedstaaten im Rahmen der EPZ vgl. Dok. 48. 9 Zur EG-Ministerratstagung am 2./3. März 1992 in Brüssel vgl. Dok. 48, Anm. 12. 10 Paraphe. 11 Für die trilaterale Erklärung vgl. B 5, ZA-Bd. 161325. Vgl. auch DEPARTMENT OF STATE DISPATCH 1992, S. 126. 1 Die Vorlage wurde von VLR I Haak konzipiert. 2 Hat StS Kastrup am 6. März 1992 vorgelegen. 3 Hat BM Genscher am 9. März 1992 vorgelegen. Hat OAR Rehlen am 9. März 1992 vorgelegen, der den Rücklauf über das Büro Staatssekretäre, MD Chrobog und MDg von Studnitz an Referat 212 verfügte. Dazu vermerkte er handschriftlich: „S[iehe] Seite 3.“ Vgl. Anm. 11 und 13. Hat StS Kastrup am 9. März 1992 erneut vorgelegen. Hat in Vertretung von Chrobog MDg Hofstetter am 10. März 1992 vorgelegen. Hat Studnitz am 10. März 1992 vorgelegen. 4 Zur vierten KSZE-Folgekonferenz vom 24. März bis 8. Juli 1992 sowie zur Gipfelkonferenz am 9./10. Juli 1992 vgl. Dok. 226.

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20. Februar 1992: Vorlage von Chrobog

seits einen Schlusspunkt zu setzen, wie dies seinerzeit Gorbatschow mit der Begriffsprägung „Helsinki II“5 ins Auge gefasst hatte. Helsinki ist zugleich das erste der nach der Charta von Paris künftig alle zwei Jahre stattfindenden Gipfeltreffen. Folgendes Format bietet sich an: – Erklärung von Helsinki als politisches Dokument (mit ähnlicher Struktur wie Charta von Paris, also nicht nach Körben gegliedert, kein flächendeckendes „Abschlussdokument“ alten Stils), – ein zusammenfassendes Papier, in dem die Instrumente und Verfahrensweisen von Konfliktverhütung und Krisenmanagement katalogartig zusammengefasst werden (Instrumentarium der Stabilität), – Mandat für Post-Helsinki-Sicherheitsforum, – Zusammenfassung der Schlussfolgerungen zu den übrigen Ergebnissen. Unsere Zielvorstellungen sind: 1) In einem Europa des Umbruchs muss das Kernstück von Helsinki der weitere Ausbau der KSZE als Institution und insbesondere die Stärkung der Handlungsfähigkeit der KSZE für Konfliktverhütung und Krisenbewältigung sein. In diese Richtung weist auch das „Prager Dokument über die weitere Entwicklung der KSZE-Institutionen und Strukturen“6 (in Abschnitt VI, Nr. 21 – 25). Es geht hierbei um den praktischen Ansatz, die zur Verfügung stehenden Mittel und Wege der friedlichen Streitbeilegung als praktikable und deshalb effektive und tatsächlich anwendbare Instrumente weiterzuentwickeln und in einem zusammenfassenden Dokument niederzulegen. Wir bereiten hierzu einen Beitrag vor. Die Amerikaner denken in die gleiche Richtung wie wir. Der französische Ansatz eines „traité de sécurité“7 dürfte zurzeit noch nicht konsensfähig sein: mit dem Ziel eines kollektiven Sicherheitssystems außerhalb der NATO, mit der Verrechtlichung der KSZE-Prinzipien und -Institutionen bereits in der gegenwärtigen, noch sehr im Fluss befindlichen und deshalb für Kodifizierung noch nicht reifen Entwicklung. Hierzu gesonderte Vorlage. 2) Zu den Instrumenten der Krisenbewältigung gehören insbesondere die friedenserhaltenden Maßnahmen („peace-keeping“). Es geht um friedenserhaltende Maßnahmen der KSZE selbst – KSZE­Blauhelme –, und zwar sowohl mit Kräften der Teilnehmerstaaten (TNS) als auch z. B. unter Einbeziehung hierfür geeigneter internationaler Organisationen, d. h. insbesondere WEU und NATO, aber auch z. B. EG, Europarat: „peace-keeping“ in einem weiteren Sinn, Typ Kambodscha8 (zu denken ist an den Einsatz von Militärpersonen, Polizei, Verwaltungspersonal). GB, F, in geringerem Maße USA sind im Gegensatz zu breiter Tendenz in der KSZE noch zurückhaltend. Prager Dokument enthält aber ausdrücklichen Prüfungsauftrag für Helsinki. 5 Bei einer Pressekonferenz in Rom schlug der GS des ZK der KPdSU, Gorbatschow, am 30. November 1989 vor, „das gesamteuropäische Gipfeltreffen, d. h. Helsinki II, von 1992 auf 1990 vorzuverlegen“. Zuvor hatte er am 26. Oktober 1989 bei einem Besuch in Finnland angeregt, die für den 24. März 1992 anberaumte vierte KSZE-Folgekonferenz von der Ebene der Außenminister auf die der Staats- und Regierungschefs anzuheben. Vgl. den Vermerk des Referats 212 vom 1. Dezember 1989; B 28, ZA-Bd. 158559. 6 Vgl. BULLETIN 1992, S. 83–86. Zur zweiten Sitzung des KSZE-Außenministerrats am 30./31. Januar 1992 vgl. Dok. 34. 7 Zum französischen Vorschlag eines gesamteuropäischen Sicherheitsvertrags vgl. Dok. 87. 8 Zum Verlauf des Friedensprozesses in Kambodscha und zur Beteiligung der Bundesrepublik an UNTAC vgl. Dok. 305.

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Kapitel VIII der Charta weist regionalen Einrichtungen oder Abmachungen ausdrücklich eine Rolle bei der Wahrung von Sicherheit und Frieden zu.9 Mitterrand im Sicherheitsrat am 31.1.1992: „Kapitel VIII der Charta über regionale Abmachungen … darf nicht mehr beiseitegelassen werden.“10 Wir streben für Helsinki einen Grundsatzbeschluss an, dass die KSZE in bestimmten Situationen friedenserhaltende Maßnahmen beschließen kann. Einzelausführung kann evtl. dem AHB bzw. dem KVZ (ggfs. Ad-hoc-Arbeitsgremium) überlassen bleiben. Position wird noch im Hause und dann mit dem BMVg abgestimmt. Für unsere Beteiligung an friedenserhaltenden Maßnahmen müssen noch die verfassungsrechtlichen Voraussetzungen geschaffen werden. Diese sollten auch unseren Beitrag im Rahmen der KSZE erfassen. Über die Frage, inwieweit KSZE-Maßnahmen auch einen Auftrag der VN11 zur Grundlage haben müssen, muss nachgedacht werden.12 3) Aus Gründen des Selbstverständnisses der KSZE und der Absicherung ihres komplementären Verhältnisses zu den VN ist erforderlich, dass sich die KSZE in Helsinki zur „regionalen Abmachung“ im Sinne von Kapitel VIII der VN-Charta erklärt. Die KSZE ist zwar keine internationale Organisation mit eigener Rechtspersönlichkeit auf förmlicher vertraglicher Grundlage wie OAS, OAU, Arabische Liga, also keine „regionale Einrichtung“ im Sinne von Art. 52 VN-Charta.13 Aufgrund des starken institutionellen Ausbaus der KSZE sehen wir aber die Möglichkeit, dass sich die KSZE als „regionale Abmachung“ (ebenfalls Art. 52) betrachtet, auch wenn es hierfür keinen Präzedenzfall gibt. Ein formelles Verfahren zur Anerkennung ist jedenfalls nicht erforderlich. Es würde genügen, wenn der entsprechende politische Wille der Teilnehmerstaaten in Helsinki zum Ausdruck gebracht wird. Bei der Beurteilung der politischen Opportunität eines solchen Schrittes sind unsere Partner allerdings noch zurückhaltend, insbesondere GB, F und auch USA. F ist grundsätzlich offen, sieht aber mehr Nachteile als Vorteile. Wir haben Fortführung der diesbezüglichen bilateralen Konsultationen vereinbart. 4) Wenn die KSZE eine Fähigkeit zu friedenserhaltenden Maßnahmen bekommen soll, muss von der Möglichkeit der Erteilung von Mandaten an „Ad-hoc-Gruppen der Teilnehmerstaaten ohne Teilnahmebeschränkung“ (Prager Dokument Ziffer 3, 25) in der von Ihnen in Prag14 angegebenen Richtung (Lenkungsausschuss) Gebrauch gemacht werden, wobei Empfindlichkeiten kleinerer Partner gegenüber dem Ausdruck Sicherheitsrat/Lenkungsausschuss bestehen (belgischer AM in Interview mit „Belga“ vom 17.2.9215). 9 Für Kapitel VIII der VN-Charta vom 26. Juni 1945 vgl. BGBl. 1973, II, S. 466–469. 10 Für die Rede des französischen Staatspräsidenten Mitterrand in New York vgl. LA POLITIQUE ÉTRANGÈRE 1992 (Januar/Februar), S. 94–96. Für den deutschen Wortlaut vgl. FRANKREICH-INFO, Nr. 4 vom 4. Februar 1992 (Auszug). Zur Sitzung des VN-Sicherheitsrats auf der Ebene der Staats- und Regierungschefs vgl. Dok. 33, Anm. 6. 11 Die Wörter „Auftrag der VN“ wurden von BM Genscher hervorgehoben. Dazu vermerkte er handschriftlich: „M. E. ja, ev[entuell] generell“. Vgl. Anm. 3. 12 Dieser Satz wurde von MD Chrobog handschriftlich eingefügt. Dieser Satz wurde ferner von StS Kastrup hervorgehoben. Dazu vermerkte er handschriftlich: „Art. 53 VN-Charta“. 13 Dieser Satz wurde von BM Genscher durch Fragezeichen hervorgehoben. Vgl. Anm. 3. 14 Für die Rede von BM Genscher am 30. Januar 1992 vgl. BULLETIN 1992, S. 81–83. 15 In der Presse wurde zu den Äußerungen des belgischen AM Eyskens berichtet, der von der Bundesrepublik vorgeschlagene KSZE-Lenkungsausschuss sei „eine Art Exklusivverein, mit dem die Deutschen

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5) Ein Schwerpunktthema für Helsinki, an dem z. Zt. im Hause und mit den Ressorts gearbeitet wird, sehen wir auch bei Mechanismen zum verstärkten Schutz der Umwelt und der Schaffung von Möglichkeiten für „KSZE-Grünhelmmissionen“. 6) Die Aktionsmöglichkeiten der KSZE bei groben Verletzungen im Bereich der Menschlichen Dimension auch ohne Zustimmung des betroffenen Staates („Konsens minus eins“) müssen noch weiter ausformuliert werden. Fragen der Handlungsfähigkeit „zu 48“, die noch weiter reifen müssen, sind die Bildung neuer Gruppierungen (um Russland? um die Türkei?) und die Frage des Übergangs zu Mehrheitsentscheidungen (mit Stimmwägung). Letzteres könnte aber eine grundsätzliche Wandlung der KSZE bedeuten, deren Nachteile sehr bedacht werden müssten. 7) Zum Instrumentarium der friedlichen Streitbeilegung gehört insbesondere die deutschfranzösische Initiative zur Schaffung einer Gesamteuropäischen Schiedsinstanz (Badinter).16 Hierzu beginnen am 22.2. Expertenberatungen in Paris (dt. Teilnehmer: Prof. Bernhardt, Heidelberg).17 8) Ein weiteres Kernstück des Ergebnisses von Helsinki ist das Mandat für Post-Helsinki. Hierzu gesonderte Aufzeichnung Abt. 2 A. 9) Wir meinen, dass das gegebene Instrumentarium für den Minderheitenschutz noch nicht ausreichend ist und daher in Helsinki verstärkt werden sollte. Es geht uns dabei um eine konstantere Überwachung der Minderheitensituation in KSZE-TNS, insbesondere, um kritische Entwicklungen bereits im Entstehen wahrnehmen und ihnen begegnen zu können. Diese Aufgabe könnte durch einen Hohen Kommissar oder Ombudsmann der KSZE für Minderheitsfragen, so wie von NL beim Prager Treffen des Rats vorgeschlagen18, wahrgenommen werden. Eine solche Institution, sekretariell gestützt durch das Büro für demokratische Institutionen und Menschenrechte in Warschau, könnte z. B. mit folgenden Befugnissen ausgestattet werden: ständiger Gesprächspartner der KSZE-TNS zu Minderheitenfragen; Besuchs- und Erkundungsrecht in TNS; Aufklärungsanspruch gegenüber Fortsetzung Fußnote von Seite 201 eine Kontrolle durch die großen Staaten sicherstellen wollten“. Dies erscheine ihm „für die kleinen Länder nicht akzeptabel“. Vgl. den Artikel „Belgien kritisiert KSZE-Initiative Bonns“; SÜDDEUTSCHE ZEITUNG vom 18. Februar 1992, S. 7. 16 VLR Beuth vermerkte am 29. Januar 1992 für BM Genscher, der Präsident des französischen Verfassungsgerichtshofs, Badinter, habe die Schaffung einer Gesamteuropäischen Schiedsinstanz vorgeschlagen, die von einem streitbeteiligten Staat oder dem KSZE-Außenministerrat angerufen werden könne: „Bei dem Vorschlag handelt es sich um eine Weiterentwicklung des KSZE-Mechanismus von La Valletta zur friedlichen Streitbeilegung, der um wichtige obligatorische Elemente erweitert ist. […] Gemäß Ihrer Weisung werden wir den französischen Vorschlag in Prag nachdrücklich unterstützen und darauf hinwirken, dass er im Rahmen der KSZE in geeigneter Weise weiterverfolgt wird.“ Vgl. B 28, ZA-Bd. 158685. 17 VLR I Hilger legte am 20. März 1992 dar, nach zwei Tagungen der Expertengruppe sei am Vortag der Entwurf eines völkerrechtlichen Vertrags vorgelegt worden. Dieser sehe die Schaffung einer Schlichtungskommission und eines Schiedsgerichts vor: „Die beiden Säulen der geplanten Schiedsinstanz bieten einerseits ein flexibles, für politische Erwägungen offenes Verfahren; andererseits wird für bestimmte Fragen ein gerichtsförmliches Verfahren bereitgestellt, das unter Beachtung allein des Völkerrechts eine bindende Entscheidung durch ein unabhängiges europäisches Gericht herbeiführt. Mit der vorgesehenen vertraglichen Verankerung eines zumindest im Schlichtungsteil obligatorischen Streitbeilegungsverfahrens könnten wir das derzeit günstige Klima nutzen, um über die Beschlüsse des Berliner Außenministerrates zum Valletta-Mechanismus hinaus ein verbindliches Verfahren zu etablieren.“ Vgl. B 80, Bd. 1397. 18 Zum Vorschlag des niederländischen AM van den Broek vom 30. Januar 1992 vgl. Dok. 48, Anm. 19.

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TNS; Berichts- und Vortragsrecht beim AHB, ggfs. bei einer durch den AHB zu berufenden Ad-hoc-Gruppe zu Minderheitenfragen, die bei Bedarf aktiviert wird. Neben den Berichten von KSZE­Berichterstatter-Missionen könnte Ausgangsgrundlage für die Arbeit ein Minderheitenbericht sein, den jeder KSZE-TNS erstmals vorzulegen hätte. Chrobog B 28, ZA-Bd. 158695

52 Schrifterlass des Ministerialdirigenten von Kyaw 412-424.01/10-4 Betr.:

20. Februar 19921

Europäische Wirtschafts- und Währungsunion; hier: Deutsche Kandidatur für den Sitz der Europäischen Zentralbank

Bezug: Ortez Nr. 91 vom 12.12.19912 Enthält Weisung Mit der Einigung auf dem Europäischen Rat in Maastricht3 sind die Weichen für die Vollendung der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion endgültig gestellt worden. Vorbehaltlich der Ratifizierung des am 7.2.1992 unterzeichneten Vertrags über die Europäische Union steht damit fest, dass spätestens Mitte 1998 die Europäische Zentralbank und bereits am 1.1.1994 das Europäische Währungsinstitut als deren Vorläufer gegründet werden. Der Sitz dieser Institutionen konnte in Maastricht noch nicht festgelegt werden, da diese Frage von anderen Mitgliedstaaten mit dem Sitz anderer EG-Organe verknüpft wird. Bundeskanzler Kohl hat jedoch in Maastricht den Anspruch der Bundesrepublik Deutschland auf den Sitz der Europäischen Zentralbank nachdrücklich angemeldet. In einer Rede in der Frankfurter Börse am 20.1.1992 sagte er: „Frankfurt bietet sich hier mit seiner zentralen Lage in Europa wie kein zweiter Ort an. Bisher war die Bundesrepublik Deutschland, was ihre Bewerbung um europäische Institutionen betrifft, sehr zurückhaltend. Nicht zuletzt dies sollte dem Vorschlag für Frankfurt als Sitz der Europäischen Notenbank zugutekommen“.4 Eine Entscheidung muss nun von den Staats- und Regierungschefs einvernehmlich bis Ende 1992 herbeigeführt werden. In Abstimmung mit ChBK und BMF werden die Auslandsvertretungen gebeten, die deutsche Kandidatur in geeigneter Weise nachdrücklich zu vertreten und zu fördern. Dabei sollte hervorgehoben werden, dass auch nach Auffassung der Bundesregierung Frankfurt der beste Standort für die künftigen Währungsinstitutionen der Gemeinschaft ist. 1 2 3 4

Der Schrifterlass wurde von VLR I Barth und VLR Döring konzipiert. Für den Runderlass des VLR I Bettzuege vgl. AAPD 1991, II, Dok. 425. Zur Tagung des Europäischen Rats am 9./10. Dezember 1991 vgl. Dok. 3, Anm. 8. Vgl. BULLETIN 1992, S. 63.

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Unterstützt werden sollten auch etwaige Aktivitäten der Stadt Frankfurt. Es sollte allerdings vermieden werden, die Bundesregierung in kommerzielle Werbekonzepte einbinden zu lassen. Folgende Argumente stützen die deutsche Kandidatur: – Für Deutschland als größte und wichtigste Volkswirtschaft in der EG steht mit der Zustimmung zur Wirtschafts- und Währungsunion sehr viel auf dem Spiel. Sie muss zum Erfolg geführt werden. Die D-Mark ist seit Jahren zu einem Anker der Währungsstabilität in ganz Europa und zu einer der wichtigsten Reservewährungen der Welt geworden. Dies ist vor allem der bewährten Stabilitätspolitik der Bundesbank zu verdanken. Die Wirtschafts- und Währungsunion kann nur funktionieren, wenn die künftige Europäische Zentralbank eine ebenso konsequente und unabhängige, der Geldwertstabilität verpflichtete Geldpolitik betreibt. Die lange Tradition solider und unabhängiger Geldpolitik der Bundesbank spricht für den Sitz der Europäischen Zentralbank in Deutschland. – Der Sitz der Europäischen Zentralbank in Deutschland wäre ein wichtiges Argument, um das Vertrauen der deutschen Bevölkerung und Wirtschaft in die Wirtschafts- und Währungsunion und in eine künftige, stabile einheitliche Währung zu stärken und damit wichtige psychologische Voraussetzungen für die Akzeptanz der Währungsunion zu schaffen. – In Deutschland befinden sich bisher keine wichtigen europäischen Einrichtungen. – Ein von anderen Mitgliedstaaten angemeldeter Rechtsanspruch auf den Sitz der neuen Währungsinstitutionen besteht nicht. Für den Standort Frankfurt spricht u. a.: – seine Tradition als Sitz der Bundesbank, – seine zentrale Lage in Europa, – seine sehr gute Infrastruktur, – seine Bedeutung als Finanzplatz, – seine räumliche Entfernung vom Regierungssitz. Die Auslandsvertretungen werden um laufende Berichterstattung (auch für ChBK, BMF) zum Thema Sitz der Europäischen Zentralbank gebeten. von Kyaw5 B 224, ZA-Bd. 187352

5 Paraphe.

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20. Februar 1992: Drahtbericht von Schlingensiepen

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53 Drahtbericht des Botschafters Schlingensiepen, Damaskus Fernschreiben Nr. 264 Betr.:

Aufgabe: 20. Februar 1992, 15.00 Uhr1 Ankunft: 21. Februar 1992, 08.28 Uhr

Nahost-Friedensprozess/Europas Beziehungen zum Nahen Osten

Zur Unterrichtung 1) Am 19.2.1992 führte ich mit dem syrischen Vizepräsidenten Khaddam ein von mir erbetenes Gespräch, in dem hauptsächlich der Nahost-Friedensprozess, die Beziehungen Europas zum Nahen Osten, die Ausbreitung fundamentalistischer Tendenzen im arabischen Raum und die bilateralen Beziehungen erörtert wurden. 2) Einleitend brachte ich meine Genugtuung zum Ausdruck, dass alle Teilnehmer der Nahost-Friedenskonferenz an der nächsten Verhandlungsrunde in Washington2 teilnehmen würden. Aus unserer Sicht gäbe es keine Alternative zum Friedensprozess. VP entgegnete, dass Syrien hinsichtlich des Friedensprozesses keinen Grund zum Optimismus habe. Die bisherigen Gesprächsrunden hätten keine Fortschritte erbracht, da sich Israel der Diskussion über die entscheidenden Themen verweigere und die beiden Ko-Sponsoren ihre Rolle nicht effektiv genug wahrgenommen hätten. Syrien könne im Gegensatz zu den USA keine Fortschritte sehen, da seine Anliegen nicht besprochen worden seien. Israel habe die Implementierung der SRR 2423 nicht erwähnt. Schamir habe seine Verhandlungsdelegation angewiesen, die Themen Land, Rückzug und Siedlungen nicht zu diskutieren. Schamir sehe den Golan als Bestandteil eines Greater Israel an. Wer mit einem solchen Programm Wahlkampf4 mache, könne nicht wieder so leicht davon abrücken. Trotzdem habe Syrien die Einladung zur Teilnahme an der nächsten Verhandlungsrunde angenommen. Im Anschluss an eine Evaluierung der Ergebnisse der kommenden Gespräche werde Syrien eine endgültige Entscheidung über sein weiteres Vorgehen treffen. Ich entgegnete, dass die Dinge nicht so negativ seien, wie Syrien sie derzeit sähe, und führte den Wandel der öffentlichen Meinung in den USA und Europa bezüglich der Palästinenser an. So habe in Madrid5 und in der Weltpresse die palästinensische Delegation erhebliche Popularität genossen. Solche atmosphärischen Dinge seien eben auch Politica. 1 Der Drahtbericht wurde von LR Bock, Damaskus, konzipiert. 2 Botschafter Ruhfus, Washington, berichtete am 5. März 1992, die vierte Runde der bilateralen NahostVerhandlungen sei nach zehn Tagen am Vortag abgeschlossen worden. Dabei seien die Verhandlungen zwischen Israel und Syrien „weiterhin frostig-feindselig“ gewesen und hätten nicht zu konstruktiven Sachgesprächen geführt. Auch sei über Zeit und Ort der nächsten Runde keine Einigung erzielt worden. Insgesamt bewege sich der Friedensprozess „nur ganz allmählich vorwärts“. Dennoch bleibe ein „bemerkenswerter Erfolg: Der Friedensprozess geht weiter. Er stagniert nicht, sondern hat Eigendynamik entfaltet. Sein Ende ist freilich noch lange nicht abzusehen.“ Vgl. DB Nr. 772/773; B 36, ZA-Bd. 196081. 3 Für die Resolution Nr. 242 des VN-Sicherheitsrats vom 22. November 1967 vgl. UNITED NATIONS RESOLUTIONS, Serie II, Bd. VI, S. 42 f. Für den deutschen Wortlaut vgl. EUROPA-ARCHIV 1969, D 578 f. 4 Am 23. Juni 1992 fanden in Israel Parlamentswahlen statt. 5 Zur Friedenskonferenz über den Nahen Osten vom 30. Oktober bis 1. November 1991 vgl. Dok. 15, Anm. 6.

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Ich erwähnte das Ergebnis einer in jüngster Zeit in Israel durchgeführten Umfrage, der zufolge 54 Prozent der Befragten das Prinzip „land for peace“ bejaht hätten. Israel wisse, dass es von einer großen arabischen Mehrheit umgeben sei. Ich glaube, dass es auf lange Sicht zu einem Arrangement mit den Arabern bereit sein werde. VP warf ein, dass in drei bis fünf Jahren alle von Israel besetzten Gebiete mit Siedlungen überzogen sein würden. US­Präsident Bush kämpfe jetzt zweifellos mittels der Loan-Frage6 gegen die Siedlungen, wobei es fraglich sei, wie diese Schlacht angesichts der bevorstehenden Wahlen7 weiterginge. Eine effektive Ausübung von Druck seitens der USA auf Israel könne durchaus mit Hilfsmaßnahmen zu dessen Gunsten verknüpft sein. Aber es müsse Klarheit herrschen. Der Irak sei bestraft worden, weil er VN-Resolutionen nicht befolgt habe. Israel hingegen würde verwöhnt, obwohl es ebenfalls VN-Resolutionen nicht beachte. 3) Die generelle politische Haltung Europas im Nahost-Friedensprozess wurde von VP als gut bezeichnet. Allerdings fließe die finanzielle Hilfe an Israel weiter, während alle ständig von der notwendigen Implementierung der entsprechenden SR-Resolutionen sprächen. Er werte es als gut, dass sich die öffentliche Meinung in den Geberländern geändert habe. Dies werde zukünftig zu anderen Ergebnissen führen. Hinsichtlich der Ermordung des libanesischen Hisbollah­Führers Musawi am 16.2.19928, die eine terroristische Gewalttat darstelle, mahnte er eine deutlichere europäische Sprache an. Alle bisherigen Stellungnahmen würden die von beiden Seiten ausgeübte Gewalt verdammen. Eine solche deutlichere Sprache sei auch hinsichtlich der täglichen israelischen Bombenangriffe auf den Süd-Libanon angezeigt. Lediglich die französische Haltung in dieser schmerzlichen Angelegenheit könne als zufriedenstellend bezeichnet werden. Hinsichtlich der euro-arabischen Beziehungen verwies ich auf die Erklärung der EGAußenminister vom 17.2.1992 zum Nahost-Friedensprozess.9 4) Darüber hinaus brachte ich meine Sorge über die fundamentalistischen Entwicklungen in Algerien und anderswo zum Ausdruck. VP stimmte zu, dass die fundamentalistischen Tendenzen zum Faktum geworden seien, in den Golfstaaten genauso stark wie im Maghreb. In Ägypten seien sie noch ausgeprägter als in Algerien. Der normale Bürger arabischer Länder fühle sich zunehmend frustriert, was einen Nährboden für die Bildung von Extremismus ergäbe. Angesichts dieser Gefahr komme der Zusammenarbeit zwischen Europa und Arabien eine grundlegende Bedeutung zu. Syrien unterstütze eine auf Entwicklung und Fortschritt 6 Zur Frage amerikanischer Kreditbürgschaften für Israel vgl. Dok. 18, Anm. 39. VLR Linden legte am 4. März 1992 dar, der amerikanische AM Baker habe am 25. Februar 1992 vor dem Senatsausschuss für Auslandshilfe bekräftigt, „dass die USA keine Kreditgarantien gewähren werden, wenn Israel seine Siedlungspolitik in den besetzten Gebieten nicht einstellt. ISR dürfe die begonnenen Siedlungen beenden. Die dafür ausgegebenen Mittel würden allerdings von den Kreditgarantien abgezogen werden.“ Vgl. B 36, ZA-Bd. 185342. 7 In den USA fanden am 3. November 1992 Präsidentschaftswahlen, Wahlen zum Repräsentantenhaus sowie Teilwahlen zum Senat und für die Gouverneursämter statt. 8 Am 16. Februar 1992 griffen Hubschrauber der israelischen Streitkräfte im südlichen Libanon den Fahrzeugkonvoi des GS der Hisbollah, Musawi, an. Dabei kamen er, seine Frau, sein Sohn und mehrere Leibwächter ums Leben. Vgl. den Artikel „Israelis Kill Chief Of Pro-Iran Shiites In South Lebanon“; THE NEW YORK TIMES vom 17. Februar 1992, S. A 1 bzw. A 9. 9 Für die Erklärung der Außenminister der EG-Mitgliedstaaten vgl. BULLETIN DER EG 1-2/1992, S. 115 f. Vgl. auch Dok. 48.

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gerichtete Politik. Die Kooperation sei viel besser als in der Vergangenheit, dennoch sei sie aber noch steigerungsfähig. Auf meine Bemerkung hin, dass diese Region immer größere Bedeutung für Europa habe, entgegnete VP, dass Deutschland hierbei eine große Rolle spielen könne. Syrien hoffe, dass Deutschland diese Rolle spielen werde. Die syrische Absicht, die Beziehungen zu Deutschland und zu Europa zu festigen, sei sehr stark. Dieses Europa solle auch im Friedensprozess eine stärkere, effektivere Rolle spielen. 5) Im Anschluss kam das Gespräch auf die kürzlichen Irritationen hinsichtlich des Panzertransports auf dem deutschen Frachter „Godewind“10 an. Der VP versicherte, dass die syrische Seite unser Vorgehen verstanden habe, und erwähnte die ruhige und sachliche Behandlung der Angelegenheit in der Zusammenarbeit mit den deutschen Behörden. Er steht mit dieser Auffassung allerdings wohl allein da. Was aus dem SAM11, aus der Präsidentschaft und aus der Gesellschaft verlautet, klingt wesentlich unfreundlicher. 6) Meine Nachfrage zum Fall des NS-Verbrechers Alois Brunner12, an dessen Auslieferung und Aburteilung Frankreich, Österreich und wir gleichermaßen interessiert seien, quittierte VP mit der Bemerkung, dass den Syrern von den Europäern von Zeit zu Zeit der Name einer Person präsentiert werde, die es nicht gebe. Damit wollten die Europäer Probleme schaffen, bzw. dunkle Kräfte, die hinter ihnen stünden. [gez.] Schlingensiepen B 36, ZA-Bd. 196080

54 Runderlass des Vortragenden Legationsrats I. Klasse Bettzuege 012-9-312.74 VS-NfD Fernschreiben Nr. 12 Ortez

21. Februar 19921 Aufgabe: 24. Februar 1992

Ortez zu den 14. deutsch-japanischen AM-Konsultationen, Tokio 11. – 13.2.1992 I. 1) BM Genscher hielt sich vom 11. bis zum 13.2.1992 zu AM-Konsultationen in Tokio auf. Er wurde in Audienz von Kaiser Akihito empfangen und führte Gespräche mit MP 10 Zum Fall „Godewind“ vgl. Dok. 35, Anm. 15. GK Roesch, Stettin, teilte am 27. Februar 1992 mit, die „Godewind“ habe entladen und den Hafen von Stettin wieder verlassen. Vgl. DB Nr. 17; B 36, ZA-Bd. 196511. 11 Syrisches Außenministerium. 12 Zum Fall des in Syrien vermuteten ehemaligen SS-Hauptsturmführers Alois Brunner und den Bemühungen um eine Auslieferung vgl. AAPD 1988, I, Dok. 3. Referat 511 erläuterte am 31. Januar 1992, am 14. Oktober 1991 sei Weisung an die Botschaft in Damaskus ergangen, gemeinsam mit der französischen Botschaft in der Frage zu demarchieren. Nachdem mehrere Terminbitten unbeantwortet geblieben seien, hätten die beiden Botschaften am 19. Dezember 1991 eine Verbalnote übermittelt, auf die eine syrische Reaktion noch ausstehe. Vgl. B 83, Bd. 2440. 1 Der Runderlass wurde von VLR I Sommer konzipiert.

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Miyazawa, AM Michio Watanabe, MITI-Minister Kōzō Watanabe, Finanzminister Hata, dem Vizepräsidenten der LDP, Kanemaru, dem Vorsitzenden des Industrieverbandes Keidanren, Hiraiwa, und zahlreichen prominenten Vertretern der japanischen Politik, Wirtschaft und Kultur. Von den in Tokio tätigen Vertretern deutscher Wirtschaftsunternehmen ließ er sich über Erfolge und Probleme bei ihrem Engagement in Japan unterrichten. Am Abschlusstag seines Besuchs gab BM eine internationale Pressekonferenz. 2) BM dankte seinen Gesprächspartnern dafür, dass Japan den Prozess der deutschen Einigung mit Sympathie und Unterstützung begleitet habe. Die japanische Seite äußerte sich anerkennend, dass es der deutschen Außenpolitik gelungen sei, diese historische Chance zu ergreifen und zu einem guten Ende zu führen. 3) BM erläuterte auf japanische Bitte den Stand des europäischen Einigungswerks und unsere Vorstellungen über eine gesamteuropäische Struktur. 4) BM fand die Zustimmung aller Gesprächspartner zu seiner Feststellung, dass die durch den Zerfall der SU und die Auflösung des Ost-West-Gegensatzes tiefgreifend und weiträumig veränderte Weltlage regelmäßige und offene politische Konsultationen zwischen Deutschland und Japan künftig noch notwendiger mache. Beiden Staaten seien mit diesen Veränderungen neue Aufgaben und größere politische Verantwortung zugewachsen. (Das Etikett „wirtschaftlicher Riese, politischer Zwerg“ sei für Deutschland und Japan noch falscher als zuvor.) 5) Dies ergebe sich schon daraus, dass beide, Deutschland und Japan, als Nachbarn die Staaten der ehemaligen Sowjetunion haben. Die Veränderungen in diesem Raum stellten die von 1917 und 1945 in den Schatten. Die Bemühungen der neuen Staaten, sich demokratisch und marktwirtschaftlich zu verfassen, bedürften unserer Unterstützung. Die Gefahr eines neuen Nationalismus sei noch nicht gebannt. Krisen und Chaos, die aus Not und enttäuschter Hoffnung entstehen könnten, müssten vermieden werden. Er stellte die Sicherheitsstrukturen dar, mit denen wir helfen wollen, die Entwicklungen dieser Staaten in konstruktive Bahn zu lenken, d. h. in erster Linie die KSZE, den Nordatlantischen Kooperationsrat und eine engere Kooperation noch festzulegender Art mit der EG. Auf diese Weise werden die neuen Staaten in einen Sicherheitsraum eingebunden, der von Vancouver bis Wladiwostok reicht. Außenminister Watanabe erklärte, Japan sei aufgrund der Darstellung des BM interessiert, am KSZE-Prozess als Beobachter teilzunehmen. Der BM sagte zu, einen diesbezüglichen japanischen Antrag zu unterstützen.2 Es gelte, den neuen Staaten zu helfen, die riesigen natürlichen Reichtümer ihrer Länder zu erschließen. Dies erfordere mehr als humanitäre Hilfe, an der sich Japan bereits beteilige. Es gehe nicht nur um finanzielle Beiträge, sondern auch um Hilfe bei der Entwicklung der Energiewirtschaft dieser Staaten und um den Austausch von Fachleuten, z. B. auf den Gebieten der Infrastruktur, des Verteilungssystems, der Verwaltung, des Rechts und des wirtschaftlichen Managements. 6) Ministerpräsident und Außenminister erläuterten dem BM ihren Standpunkt in der Frage der „nördlichen Territorien“ (der südlichen Kurilen). BM wies darauf hin, dass er in seinen 2 In Abschnitt IV, Ziffer 9–11 der „Beschlüsse von Helsinki“ vom 10. Juli 1992 wurden Japan eine engere Zusammenarbeit mit der KSZE sowie ein Beobachterstatus angeboten. Vgl. BULLETIN 1992, S. 789.

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jüngsten Gesprächen mit der russischen Führung bereits dafür eingetreten sei, dass es zu einer für beide Seiten akzeptablen Lösung auf der Grundlage des Rechts komme.3 Er werde dies auch in künftigen Gesprächen tun. 7) Der Bundesminister berichtete der japanischen Seite von seiner am 31.1. dem Sicherheitsrat zugeleiteten und von den USA begrüßten dreiteiligen Initiative zur Bannung der Gefahren, die von den Massenvernichtungswaffen sowie den Waffen-Experten der früheren Sowjetunion ausgehen.4 Er habe die russische Seite bereits von der Initiative unterrichtet. AM Baker werde bald erneut mit Moskau darüber sprechen.5 Er lud die japanische Seite ein, an diesem Vorhaben teilzunehmen. Deutschland6 und Japan hätten auf den Besitz von ABC-Waffen verzichtet und daher das Recht, die wirksame Durchsetzung der Nichtverbreitung zu verlangen. Die japanischen Gesprächspartner zeigten positives Interesse und versprachen zu prüfen, welche Möglichkeiten Japan zur Mitarbeit bei der Verwirklichung der Initiative habe. 8) BM entwickelte der japanischen Seite gegenüber seine Vorstellungen davon, wie der VN-Sicherheitsrat nach dem Wegfall der Ost-West-Konfrontation seinen Aktionsradius ausweiten und sein Vorgehen wirksamer gestalten könne, z. B. und besonders durch verbindliche und scharfe Sanktionen gegen solche Länder, die die Nichtverbreitungsverpflichtungen nicht einhalten. Diese Vorstellungen wurden von der japanischen Seite mit Verständnis und Zustimmung aufgenommen. 9) BM betonte, für die Bundesregierung stünden sachliche Fragen im Vordergrund der Diskussion um den VN-Sicherheitsrat, nicht Fragen der Zusammensetzung der Gruppe ständiger Mitglieder.7 10) Einigkeit bestand darüber, dass der Münchner Weltwirtschaftsgipfel8 auch eine substanzielle politische Dimension haben müsse. Die Stabilität der Weltwirtschaft, so betonte der BM, hänge auch von der Lösung politischer Fragen ab – BM sei für eine Einladung Jelzins nach München. Es müsse jedoch vorab sichergestellt werden, dass seine Anwesenheit zu sachlichen Erfolgen führen werde. 3 BM Genscher erörterte die Kurilen-Frage im Gespräch mit dem russischen AM Kosyrew am 15. Januar 1992. Vgl. Dok. 13, besonders Anm. 43. 4 Zur Initiative von BM Genscher vgl. Dok. 35, Anm. 13. 5 Zur Gründung eines internationalen Wissenschafts- und Technologiezentrums in Russland zur Verhinderung der Verbreitung von Nuklearwaffen durch Wissenstransfer vgl. Dok. 50. 6 Die Bundesrepublik verzichtete in einer auf der Londoner Neun-Mächte-Konferenz vom 28. September bis 3. Oktober 1954 von BK Adenauer abgegebenen Erklärung auf die Herstellung von atomaren, biologischen und chemischen Waffen auf eigenem Territorium. Diese Erklärung wurde Bestandteil der Anlage I zum Protokoll Nr. III über die Rüstungskontrolle des WEU-Vertrags vom 23. Oktober 1954. Vgl. BGBl. 1955, II, S. 269 f. Zur Konferenz vgl. AAPD 1954, II, Dok. 343. Die Bundesrepublik bestätigte ihren Verzicht durch die Unterzeichnung des Nichtverbreitungsvertrags vom 1. Juli 1968 und anlässlich der Unterzeichnung des B-Waffen-Übereinkommens vom 10. April 1972. Vgl. BGBl. 1974, II, S. 786–793, bzw. BULLETIN 1972, S. 728. Im 2+4-Vertrag vom 12. September 1990 bekräftigten die Bundesrepublik und die DDR den „Verzicht auf Herstellung und Besitz von und auf Verfügungsgewalt über atomare, biologische und chemische Waffen“ und erklärten, dass auch das vereinte Deutschland sich an diese Verpflichtung halten werde. Vgl. BGBl. 1990, II, S. 1322 f. 7 Zur Diskussion um die Zusammensetzung des VN-Sicherheitsrats vgl. Dok. 33. 8 Zum Weltwirtschaftsgipfel vom 6. bis 8. Juli 1992 vgl. Dok. 225.

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11) Im wirtschaftlichen Teil der Konsultationen standen drei Themen im Vordergrund: – AM Watanabe drückte seine Zuversicht aus, dass es in den neuen Bundesländern bald zu einem erkennbaren wirtschaftlichen Aufschwung kommen werde. BM betonte, der östliche Teil Deutschlands werde sich mittelfristig zur modernsten Industrieregion der EG entwickeln. Er werde der günstigste Standort in Europa zur Bedienung der entstehenden Märkte in Mittel- und Osteuropa und in den Republiken der ehemaligen SU sein. Die japanischen Unternehmer würden, so der BM, selbst erkennen, wo sich ihr Engagement rechnet. – BM zeigte sich sicher, dass es für die wirtschaftliche Zusammenarbeit zwischen Deutschland und Japan noch große Perspektiven gebe, sowohl für die Volkswirtschaften im Ganzen als auch für die einzelnen Unternehmen. Solche Zusammenarbeit müsse sich in einem starken japanischen Engagement in Deutschland wie auch in deutschen Investitionen und Firmenaktivitäten in Japan verwirklichen. Er könne sich für beide Seiten langfristig nutzbringende strategische Allianzen vorstellen. – Unabdingbare Rahmen-Voraussetzung für die deutsch-japanische, aber auch für die weltweit gedeihliche wirtschaftliche Zusammenarbeit seien Verteidigung und Ausbau der Freiheit des Welthandels. Das GATT müsse gestärkt werden, zu Rückfällen in Protektionismus oder Bilateralismus dürfe es nicht kommen. Die japanischen Gesprächspartner stimmten diesem ohne Einschränkungen zu. Beide Seiten drückten ihre Hoffnungen auf einen baldigen erfolgreichen Abschluss der Uruguay-Runde aus. BM betonte, die Zeit sei reif für Entscheidungen. Alle Seiten müssten einen Beitrag leisten. 12) Beim Informations- und Gedankenaustausch über regionale Entwicklungen standen im Vordergrund: – die Erläuterungen des BM über die Lage in Jugoslawien und eine gemeinsame Erörterung diesbezüglicher EG­ und VN-Initiativen sowie – die Einschätzung der weiteren Entwicklung innerhalb der VR China. AM Watanabe berichtete von seinen jüngsten Besuchen dort.9 Die wirtschaftlichen Reformen seien auf einem guten Wege. Japan sei bemüht, einen Beitrag zur Verbesserung der durch die MR-Politik Pekings und die Handelsprobleme belasteten amerikanisch-chinesischen Beziehungen zu leisten. BM betonte, in der MR-Frage müsse der Druck auf China aufrechterhalten werden. Der Ausbau der wirtschaftlichen Beziehungen, auch Ds, zu China könne die Reformen unterstützen. II. Die Gespräche verliefen ausnahmslos in einer freundschaftlichen und offenen Atmosphäre. Sie zeichneten sich durch ein hohes Maß von Substanzorientierung aus. MP Miyazawa und AM Watanabe zeigten sich beeindruckt von dem Angebot des BM, die politische Zusammenarbeit zwischen Japan und Deutschland künftig zu intensivieren und unsere Politik, auch dritten Ländern gegenüber, abzustimmen, wo dies im Interesse aller geboten erscheint. Es wurde erkennbar, dass die diesjährigen Konsultationen in eine Phase japanischen Nachdenkens über die künftige Rolle des Landes in der regionalen und globalen Politik fielen und dass man daher die Möglichkeit zum Gedankenaustausch mit uns besonders begrüßte. Die Ausführungen des BM über die Breite, Dringlichkeit und Schwierigkeit der 9 Der japanische AM Watanabe hielt sich vom 3. bis 5. Januar 1992 in der Volksrepublik China auf.

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21. Februar 1992: Drahtbericht von Junker

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Aufgaben, denen sich Deutschland und Japan künftig, bilateral-gemeinsam oder im Rahmen der großen internationalen Organisationen, stellen müssen, überzeugten die japanische Seite. Entsprechend stimmte sie seinem Vorschlag zu, künftig zweimal pro Jahr politische Konsultationen auf Ministerebene abzuhalten. Bettzuege10 B 5, ZA-Bd. 161325

55 Drahtbericht des Gesandten Junker, Paris Fernschreiben Nr. 505 Betr.:

Aufgabe: 21. Februar 1992, 14.26 Uhr1 Ankunft: 21. Februar 1992, 14.45 Uhr

Uruguay-Runde2; hier: die frz. Sprachregelung

Wie Talleyrand auf dem Wiener Kongress, so tritt F heute als Inhaber der Legitimität in der UR auf. Weil es ihm damit virtuos gelingt, das eigentliche Ziel der UR aus dem Blickfeld zu rücken, so sei die frz. Sprachregelung hier noch einmal nachgezeichnet. Der Cantus firmus, den alle frz. Sprecher uns und auch der Presse vortragen, hat folgenden Ablauf: 1) Appell an die deutsch-französische Solidarität. Beschwörend wird uns bedeutet, dass wir die deutsch­französischen Beziehungen ins Mark treffen würden („wozu dann Maastricht?“3), wenn wir in dieser Sache nicht an der Seite Frankreichs blieben. 2) Es folgt eine obligate Disqualifizierung der EG­Kommission. Andriessen sei ein schlechter Unterhändler, nur Aktenmensch und ohne Sinn für PR-Arbeit, dem man die EG­ Interessen nicht anvertrauen könne. Schon wird angedeutet, dass er nach den US-Wahlen4 dieses Portefeuille wohl nicht behalten werde. 3) Der nächste Schritt ist eine Fundamentalkritik an GD Dunkel. Sein Kompromisspaket5 sei derart parteilich, als habe es Carla Hills selbst geschrieben. Von ihm sei nichts Konstruktives mehr zu erwarten, am besten warte man seinen Rücktritt ab. 4) Vollends in die Offensive geht F dann, wenn es die Entrüstung als Stilmittel gegenüber den USA einsetzt. Hier werden alle Register der Polemik gezogen: Die USA als neue Kolo10 Paraphe vom 24. Februar 1992. 1 2 3 4

Hat VLR Sander am 24. Februar 1992 vorgelegen. Zu den GATT-Verhandlungen vgl. Dok. 62. Zum Vertragswerk von Maastricht vgl. Dok. 3, Anm. 8. In den USA fanden am 3. November 1992 Präsidentschaftswahlen, Wahlen zum Repräsentantenhaus sowie Teilwahlen zum Senat und für die Gouverneursämter statt. 5 Zum „Dunkel-Papier“ vom 20. Dezember 1991 vgl. Dok. 6, Anm. 3.

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22. Februar 1992: Gespräch zwischen Genscher und Tudjman

nialmacht, die gewaltsam in unseren Markt eindringen will, nach Art amerikanischer Anwälte verhandelt und suggestiv mit „Dracula“ im selben Satz genannt wird. 5) Ist die Frontlinie von Recht und Unrecht derart klar gezogen, so folgen auch Seitenhiebe auf deutsche „Minderheitsmeinungen“, die etwa behaupten, die frz. Verhandlungsführung schade den Entwicklungsländern (dies zielt auf BK), und unter einem Scheitern der UR müsse der Welthandel leiden (dies zielt auf BMWi). So etwas sei deutsche Romantik, die aber kartesianischer Klarheit nicht standhalte. Erschwerend wird hinzugefügt, hieran habe der Staatspräsident6 Anstoß genommen. Wir haben hier eine Fallstudie von Konferenzdiplomatie vor uns, die ein an sich defensives Ziel, nämlich den Abbau der Agrarsubventionen aus dem EG-Haushalt zu minimieren, dadurch verfolgt, dass entschlossen in die Offensive gegangen wird und alle anderen Mitspieler ins Unrecht gesetzt werden. Im Auftrag [gez.] Dr. Junker B 221, ZA-Bd. 166726

56 Gespräch des Bundesministers Genscher mit dem kroatischen Präsidenten Tudjman in Zagreb 22. Februar 19921 Tudjman: Dank an BM für sein Engagement und das der Bundesregierung bei der Anerkennung Kroatiens2. BM übermittelt Grüße von Bundespräsident und Bundeskanzler sowie Wünsche des deutschen Volkes für das unabhängige, souveräne und freie Kroatien. Es sei unser Ziel, zur friedlichen Ordnung in diesem Teil Europas beizutragen. Er drückte die Hoffnung aus, dass alle Fragen politisch gelöst werden und dass verwirklicht werden könne, was die Außenminister der KSZE am 20.6.19913 in Berlin unter seinem Vorsitz beschlossen hätten, nämlich dass es allein Sache der Völker Jugoslawiens sei, über ihre Zukunft zu entscheiden.4 Wir wollten gute und freundschaftliche Beziehungen mit allen Völkern Jugoslawiens. Die Anerkennung durch immer mehr Staaten sei eine wichtige Voraussetzung auch für die 6 François Mitterrand. 1 Kopie. Der Gesprächsvermerk wurde von MD Chrobog am 24. Februar 1992 gefertigt. Hat BM Genscher vorgelegen. 2 Zur Frage der Anerkennung von Kroatien und Slowenien vgl. Dok. 11, Anm. 4. 3 Korrigiert aus: „20.6.1990“. 4 Für die Erklärung des KSZE-Außenministerrats über Jugoslawien vom 19. Juni 1991 vgl. EUROPA-ARCHIV 1991, D 355. Vgl. ferner AAPD 1991, I, Dok. 212.

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Entscheidung der VN über die Entsendung von Friedenstruppen5 sowie für die realistische Weiterführung der Friedenskonferenz in Den Haag6. Tudjman verweist auf die engen wirtschaftlichen und politischen Beziehungen zu Deutschland und empfiehlt, dass der kroatische Wirtschaftsminister7 Gespräche über die wirtschaftliche Zusammenarbeit in Bonn aufnehmen solle. BM verweist auf die Bedeutung der Beziehungen Kroatiens auch zur Europäischen Gemeinschaft. Der Beschluss über positive Maßnahmen der EG8 sei in unseren Augen ein erster wichtiger Schritt. Er verwies auf seinen Vorschlag zum Abschluss von Assoziierungsverträgen mit all den Staaten, die aus Jugoslawien hervorgehen. Diese Verträge sollten auch eine Beitrittsperspektive enthalten. Eine Einbeziehung Kroatiens in die gesamteuropäische Zusammenarbeit sei wichtig, und er werde sich dafür einsetzen, dass der Beobachterstatus Kroatiens und Sloweniens in der KSZE bereits in Helsinki9 in eine volle Mitgliedschaft umgewandelt werde. Es gelte jetzt, die Chancen zu nutzen, die in der Stationierung der Friedensstreitkräfte der VN liegen, sowie die Möglichkeiten der Friedenskonferenz zu nutzen. Es liege im elementaren Interesse Kroatiens, die Voraussetzung des Sicherheitsrates und des Generalsekretärs der VN10 korrekt zu erfüllen und einzuhalten. Er wolle heute den Rat, den er bereits in seinen Telefongesprächen ausgedrückt habe, noch einmal nachdrücklich wiederholen. Die letzten Briefe von Präsident Tudjman an die Vereinten Nationen11 hätten ihre positive Wirkung gehabt. Wichtig sei die Feststellung, dass die Bedingung der Stationierung der VN-Friedenstruppen nicht die politische Lösung präjudiziere. Am letzten Montag habe man sich in Lissabon mit der Lage befasst.12 Dort sei noch einmal bekräftigt worden, dass ein gewaltsamer Gebietserwerb nicht anerkannt werde. Was die Zusicherung der Minderheitsrechte in Kroatien angehe, so habe er auf die Diskussion der Partner in Lissabon erwidert, dass es wichtig sei, Kroatien konkret mitzuteilen, welche Gesetzesänderungen vorgenommen werden müssten. Das dem Minister vorliegende Papier habe als wichtigste Aussage die Kritik an der Festlegung der neuen Distriktgrenzen. Es komme entscheidend darauf an, wie diese Grenzen gezogen würden. Tudjman würdigte die Haltung der Bundesregierung. Er bat den Minister, sich dafür einzusetzen, dass die Friedenskonferenz beschleunigt weitergeführt werde. Sie müsse sich nunmehr intensiv mit der Regelung der Staatennachfolge befassen. 5 Mit Resolution Nr. 743 vom 21. Februar 1992 beschloss der VN-Sicherheitsrat die Aufstellung einer „United Nations Protection Force“ (UNPROFOR) für zunächst zwölf Monate. Deren Aufgabe solle es sein, „to create the conditions of peace and security required for the negotiation of an overall settlement of the Yugoslav crisis“. Vgl. RESOLUTIONS AND DECISIONS 1992, S. 8 f. Für den deutschen Wortlaut vgl. EUROPA-ARCHIV 1992, D 578–580. 6 Zur Friedenskonferenz für Jugoslawien vgl. Dok. 44. 7 Stjepan Zdunić. 8 Zum Beschluss der EG-Ministerratstagung am 3. Februar 1992 in Brüssel vgl. Dok. 36, Anm. 2. 9 Vom 24. März bis 8. Juli 1992 fand in Helsinki die vierte KSZE-Folgekonferenz statt, an die sich am 9./10. Juli 1992 eine Gipfelkonferenz anschloss. Vgl. Dok. 226. 10 Boutros Boutros-Ghali. 11 Zu den Schreiben des kroatischen Präsidenten Tudjman vom 6. bzw. 11. Februar 1992 an den Sonderbeauftragten des VN-GS für Jugoslawien, Vance, vgl. Dok. 36, Anm. 11, bzw. Dok. 48, Anm. 25. 12 Zur Konferenz der Außenminister der EG-Mitgliedstaaten im Rahmen der EPZ am 17. Februar 1992 vgl. Dok. 48.

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Er ging dann kurz auf die Lage in Bosnien-Herzegowina ein. Er habe heute einen Bericht aus Lissabon über die Verhandlungen der Präsidentschaft mit den Vertretern BosnienHerzegowinas13 erhalten und sei zufrieden mit den dort entwickelten Lösungsansätzen. Bosnien werde danach ein föderaler Staat, bestehend aus Kantonen. Nach dem Versuch der Ablösung der serbischen Teile aus Bosnien sei das kroatische Volk irritiert gewesen und habe von seiner Regierung die Teilung Bosniens verlangt. Die Regierung habe sich aber gegen einen derartigen Plan ausgesprochen, da er nur die eigene Lage erschwert hätte. BM spricht sich noch einmal nachdrücklich für die territoriale Integrität BosnienHerzegowinas aus und dafür, dass das Referendum14 unter internationaler Kontrolle stattfinde. Zu Kroatien betont er noch einmal die Wichtigkeit, dass dieses aus der internationalen Diskussion herauskomme. Kroatien brauche eine Beruhigung der Lage, damit die Touristen im Sommer zurückkämen und damit zum wirtschaftlichen Erfolg beitrügen. Daher sei es unbedingt notwendig, dass klar bleibe, dass Kroatien zur Entscheidung der VN stehe, auch was die rechtliche Regelung in den Schutzzonen der VN angehe. Tudjman müsse bei seinem Kurs bleiben, wie er ihn in seinen Briefen dargelegt habe, d. h. Annahme des Friedensplanes15 ohne jede Vorbedingung in der Gewissheit, dass dies kein Präjudiz für spätere politische Lösungen sei. Die andere Frage sei die, wie die Provinzialgrenzen gezogen werden müssten. Die Minderheitenrechte der Serben dürften nicht durch eine Verteilung auf mehrere Provinzen reduziert werden. Nach seiner Meinung laufe die Lage in Kroatien ganz in die gewünschte Richtung. Die Zahl derjenigen, die Verständnis für Kroatien hätten, werde größer. Tudjman schloss sich der Auffassung des Ministers an. Es komme nunmehr auf eine rasche Stationierung der Friedenstruppen an. Er forderte den Rückzug der JVA aus dem gesamten kroatischen Gebiet und die Entwaffnung der Irregulären. Die Serben erhielten die Garantie sämtlicher Bürgerrechte. Er sehe allerdings das Problem, dass sich die Aufrührer der Rebellion wieder zu Wort melden könnten. Er unterstrich, dass die kroatische Rechtsordnung in den Schutzzonen gelten müsse. Es müsse dort kroatisches Geld verwendet werden. Auch kroatische Post und Eisenbahn sollten dort arbeiten können. Die Konzes sche Post und Eisenbahn16 diesem Zusammenhang gemacht habe, ließe die Frage offen, welche Rechtsordnung eigentlich in diesen Gebieten gelten solle. Dies seien alles wichtige technische Fragen, die gelöst werden müssten. BM verwies darauf, dass die Entscheidung des Sicherheitsrates einstimmig gefasst worden sei. Deutschland sei nicht im Sicherheitsrat. Es gebe dort aber Staaten, die Verständnis für die kroatische Haltung hätten, wie z. B. Österreich und Belgien. Es habe jetzt 13 Zur Konferenz der verschiedenen Volksgruppen am 13./14. Februar 1992 in Sarajevo vgl. Dok. 44, Anm. 12. Referat 215 vermerkte am 27. Februar 1992: „Die Führer der drei ethnischen Parteien von BosnienHerzegowina haben sich bei Gesprächen unter Ägide der EG in Lissabon am 22./23.2.1992 auf zwei Prinzipien der Neuordnung geeinigt: Erhalt von B.-H. in den jetzigen Grenzen und gleichzeitig eine Regionalisierung nach ethnischen Kriterien, wobei ein konkretes Konzept noch ausgearbeitet werden muss.“ Vgl. B 220, ZA-Bd. 158891. 14 Zum geplanten Referendum über die Unabhängigkeit Bosnien-Herzegowinas vgl. Dok. 26, Anm. 11. 15 Zum Plan des Sonderbeauftragten des VN-GS für Jugoslawien, Vance, vgl. Dok. 2, Anm. 6. 16 So in der Vorlage.

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keinen Zweck, über das Goulding-Papier17 zu klagen18. Kroatien habe nunmehr endlich seine Unabhängigkeit und Souveränität erhalten. Wenn in den Schutzzonen für ein paar Monate noch jugoslawisches Recht gelte, so müsse dieses hingenommen werden. Tudjman mache einen schweren Fehler, wenn er jetzt versuche, zu viel zu fordern und Tatsachen zu verändern. Es gebe genug Vertreter bei der JVA und in Serbien, die nur darauf warteten, Kroatien den Vorwurf zu machen, sich einer Friedensordnung zu verweigern. BM gab Tudjman den Rat, sich ganz darauf zu konzentrieren, dass die Friedenskonferenz weitergehe. Hierbei könne Deutschland behilflich sein. Die Frage der Schutzzonen erledige sich dann von selbst. Tudjman erläuterte die Absicht, die hinter den neuen Territorialgrenzen stehe. Hier gehe es allein um eine wirtschaftliche Organisationsstruktur. Es gehe nicht, Provinzen zu schaffen, die wirtschaftlich nicht lebensfähig seien. Zum Beispiel müsste Knin später dann eine enge Anlehnung an andere Provinzen suchen, um wirtschaftlich überleben zu können. Tudjman ging anschließend auf bilaterale Fragen ein und zeigte sich an einer engen Zusammenarbeit mit Deutschland interessiert. Er schlug vor, einen Freundschaftsvertrag zu schließen und einen Vertrag über die wirtschaftliche Zusammenarbeit, und bat darum, dass der Ministerpräsident möglichst bald die Bundesrepublik Deutschland besuchen könne, um Gespräche zu führen. (Diese Bitte wurde von Ministerpräsident Gregurić anschließend noch einmal nachdrücklich vorgetragen.) BM verwies auf den erfolgreichen Verlauf der Expertengespräche19 und riet zu einer schnellen Fortsetzung auf dieser Fachebene. Möglichst bald sollte dann ein Besuch des Ministerpräsidenten stattfinden, der dann konkret vorbereitet sei. Was die Vertragsbeziehungen angehe, so empfahl er, sich zunächst einmal auf einen Vertrag über die wirtschaftliche Zusammenarbeit zu konzentrieren. Man könne sich danach Gedanken darüber machen, was in einem weiterführenden Vertrag stehen könne. Zusätzlicher Vermerk: Aus einem anschließenden Vier-Augen-Gespräch berichtete BM, dass er Tudjman noch einmal sehr deutlich die Notwendigkeit eines kroatischen Festhaltens an dem VN-Friedensplan klargemacht habe. Tudjman habe ihm ausdrücklich zugesagt, diesen Plan bedingungslos einzuhalten und auch in der Frage der Rechtsanwendung in den Schutzzonen keine Probleme zu schaffen. B 1, ZA-Bd. 178913

17 Zum Bericht des VN-UGS Goulding vgl. Dok. 41, Anm. 10. 18 Dieses Wort wurde von BM Genscher handschriftlich eingefügt. Dafür wurde gestrichen: „sprechen“. 19 Am 17./18. Dezember 1991 fanden Expertengespräche mit Kroatien über die künftigen wirtschaftlichen und kulturellen Beziehungen statt. VLR I Dahlhoff vermerkte am 23. Dezember 1991, Kroatien habe einen Überbrückungskredit von 250 Mio. DM für das erste Halbjahr 1992 erbeten. Die deutsche Seite habe ihre Bereitschaft erklärt, Kroatien „beim Wiederaufbau, der wirtschaftlichen Sicherung der Demokratie und der Einführung der Marktwirtschaft im Rahmen des Möglichen zu unterstützen“ sowie bei der Aufnahme in die internationalen Wirtschafts- und Finanzorganisationen zu helfen. Vgl. B 63, ZA-Bd. 170786.

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23. Februar 1992: Gespräch zwischen Genscher und Kučan

57 Gespräch des Bundesministers Genscher mit dem slowenischen Präsidenten Kučan in Laibach 23. Februar 19921 Von BM noch nicht gebilligt Gespräch des Bundesministers mit Präsident Kučan in Laibach am 23.2.19922 Kučan berichtete über die Wirtschaftslage in Slowenien und verwies auf die Notwendigkeit, dass die Slowenen verstehen müssten, dass sie ihre Probleme selbst zu lösen hätten und nicht allein auf die Hilfe aus dem Ausland warten dürften. Er ging dann auf die Friedenskonferenz in Den Haag3 ein und betonte deren Bedeutung nach der Truppenstationierung der VN4. BM verwies auf die Rolle, die Slowenien zu dem erfolgreichen Verlauf dieser Konferenz spielen könne. Slowenien habe als erster Staat in Jugoslawien auf seine Unabhängigkeit gedrängt, sei aber andererseits nicht in die Auseinandersetzung direkt verwickelt. Insofern könne es einen Beitrag zu einer gerechten Lösung anbieten. Die Schlussakte von Helsinki und die Charta von Paris geben eine Antwort auf alle anstehenden Fragen. In der Friedenskonferenz käme es darauf an, dass man für alle Staaten des früheren Jugoslawiens dieselben Rechte verankere. Die Forderungen in Sachen Minderheiten könnten an Kroatien nicht anders ausfallen als z. B. an Serbien. Essentiell für den Frieden sei die Frage der Grenzen. Man dürfe nicht die Fehler der Geschichte wiederholen. Es gelte der Grundsatz der Unveränderbarkeit der Grenzen bei gleichzeitiger Einräumung von Minderheitsrechten. BM stellt die Verbindung zwischen Jugoslawien und den Problemen in der GUS dar. Kučan stimmte dieser Ansicht voll zu. Die Grenzen müssten in einem europäischen Sinne aufgefasst werden. Auch Serbien werde sich eines Tages dieser Forderung nach Unverletzlichkeit der Grenzen anschließen, schon im Hinblick auf seine eigenen Probleme mit den Albanern im Kosovo. Anderenfalls würde sich hier ein neuer potenzieller Krisenherd entwickeln. Er habe vor zwei Wochen in Zagreb mit Tudjman gesprochen und ihm geraten, sich nicht in Bosnien-Herzegowina einzumischen und damit die Verantwortung für eine dort eintretende Entwicklung zu übernehmen. Es sei wichtig, die territoriale Integrität Bosniens zu bewahren, die Grenzen zu akzeptieren und die Selbstständigkeit zu gewährleisten. Man dürfe bei der Lösung von Problemen der nationalen Minderheiten nicht nach Lösungen aus der Vergangenheit suchen, sondern müsse das Problem in einem europäischen Sinne angehen. Auch er sei der Auffassung, dass die Ankunft der Blauhelme nicht zu kroatischem Anspruchsverlust führen dürfte. Die Bedingungen für einen Erfolg der Haager Friedenskonferenz schätzte Kučan nunmehr besser ein wegen einer aus seiner Sicht größeren Bereitschaft auf der serbischen und kroatischen Seite zur Kooperation. 1 Kopie. Der Gesprächsvermerk wurde von MD Chrobog am 24. Februar 1992 gefertigt. 2 BM Genscher hielt sich am 22./23. Februar 1992 in Slowenien auf. 3 Zur Friedenskonferenz für Jugoslawien vgl. Dok. 44. 4 Zur Aufstellung von UNPROFOR vgl. Dok. 56, Anm. 5.

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Kučan ging auf die Frage der Rechtsnachfolge Jugoslawiens5 ein und stellte die Frage, ob man Serbien als Rechtsnachfolger Jugoslawiens wie Russland als Rechtsnachfolger der Sowjetunion ansehen dürfe. Er verwies auf die geschichtlichen Hegemonie-Bestrebungen Serbiens aufgrund eines übersteigerten Sicherheitsbedürfnisses. BM stimmte den Ausführungen zu Bosnien-Herzegowina zu. Was die Position der VN zur Stationierung der Blauhelme angehe, so könne man über einzelne Regeln streiten, aber der Plan müsse so akzeptiert werden, wie er beschlossen sei, damit es zu einer umgehenden Stationierung komme. BM berichtete in diesem Zusammenhang über seine Gespräche mit Tudjman.6 Zur Frage der Rechtsnachfolge legte BM Kučan dar, warum Russland in der Identität der Sowjetunion gesehen werde. Was Jugoslawien angehe, müsse man zwischen der Frage des Namens und der Rechtsnachfolge unterscheiden. Jeder Staat könne sich nennen, wie er wolle. Wichtiger sei es, dass er nicht unter Berufung auf seinen Namen Rechtspositionen schaffe, die z. B. ein Vetorecht begründeten im Hinblick auf die anderen Nachfolgestaaten, z. B. Blockierung der Aufnahme Kroatiens und Sloweniens in die KSZE und andere internationale Organisationen. Bereits am 2. März werde diese Frage in Brüssel im Rahmen der Zwölf behandelt werden im Zusammenhang mit der Diskussion über die Aufhebung der Sanktionen gegenüber Serbien7. Wir seien durchaus dazu bereit, über Sanktionsthema zu sprechen, denn wir führten keine Politik gegen Serbien, aber wer mit der Gemeinschaft zusammenarbeiten wolle, müsse sich auch kooperativ verhalten. Kučan verwies darauf, dass er den Sitz Jugoslawiens in der KSZE nicht infrage stelle, bis die Rechtsnachfolge geklärt sei. Er wolle aber unterstreichen, dass Serbien den Namen Jugoslawien behalten wolle, weil es fürchte, dass es sonst selbst neu anerkannt werden müsse, und zwar zu denselben Bedingungen wie auch die anderen jugoslawischen Nachfolgestaaten. Das heißt, es müsse sich dann zur Einhaltung von Minderheitsrechten verpflichten, wozu es nicht bereit sei. Für Slowenien käme es darauf an, nicht behindert zu werden beim Zutritt zu internationalen Organisationen. BM verwies darauf, dass die Heranführung an die Europäische Gemeinschaft auch hier zu einer Befriedung beitragen könne. Vier Republiken werden in Zukunft bemüht sein, Assoziierungsverträge mit der Gemeinschaft zu schließen. Derartige Verträge seien nur möglich, wenn sich jeder Bewerber den gleichen Regeln unterwerfe, d. h. Schutz von Minderheiten und Verzicht auf Gebietsansprüche. Klar sei aber, dass, solange noch in internationalen Organisationen ein jugoslawischer Vertreter sitze, dieser nicht die Aufnahme anderer Staaten blockieren dürfe. Dies sei auch ein wichtiges Thema bei den kommenden Beratungen in Brüssel, wenn es um die Aufhebung von Sanktionsmaßnahmen gegenüber Serbien gehe. B 1, ZA-Bd. 178913

5 Zur Frage der Rechtsnachfolge Jugoslawiens vgl. Dok. 65. 6 Zu den Kontakten zwischen BM Genscher und dem kroatischen Präsidenten Tudjman vgl. Dok. 48, Anm. 25. Vgl. auch das Gespräch am 22. Februar 1992 in Zagreb; Dok. 56. 7 Zu den Maßnahmen der EG-Mitgliedstaaten gegen Jugoslawien vgl. Dok. 26, Anm. 5.

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24. Februar 1992: Vorlage von Bertram

58 Vorlage des Vortragenden Legationsrats I. Klasse Bertram für Bundesminister Genscher 201-363.03 VS-NfD

24. Februar 19921

Über Dg 202, D 23, Herrn Staatssekretär4 Herrn Bundesminister5 Betr.:

Nordatlantisches Bündnis – die Suche nach einem Platz in der neuen Ordnung

Zweck der Vorlage: Zur Unterrichtung Kurzfassung Nach den radikalen Veränderungen der Jahre 1989 bis 1991 werden in Europa die Karten neu gemischt. Die NATO hat nach militärischen Maßstäben derzeit die geringste Existenzberechtigung seit 1949. Sie steht vor grundlegenden Entscheidungen hinsichtlich anzustrebender Ziele: Europäisierung? Erweiterung? Globalisierung der Aufgaben? Aufgehen in einer überwölbenden Struktur? In der entstehenden neuen Ordnung muss sie ihren Platz finden, ohne jedoch mit ihrer Anpassung an das neue Umfeld den eigenen Untergang vorzubereiten. Impulse und Herausforderungen kommen vor allem aus drei Bereichen auf das Bündnis zu, die es beantworten muss: die Beziehung Europa – USA, die Beziehung zu MOE- und GUS­Staaten und die mögliche Bündnisrolle in KSZE und VN. Im Bündnis besteht Einvernehmen, dass die NATO funktional weitgehend unverändert Bestand haben muss, d. h. als transatlantische Klammer, als Organisation für kollektive Verteidigung/integrierte Militärstruktur und als Konsultations- und Koordinationsforum. Funktional unverändert heißt jedoch nicht, dass die relativen Gewichte Europa – Nordamerika im Bündnis und die Zahl der Bündnisstaaten ebenfalls auf Dauer unverändert bleiben sollen. Die europäisch-amerikanische Beziehung im Bündnis ist in einer Phase der Neudefinition. Die politische Präsenz der USA in Europa ist dabei eine Schlüsselfrage. Die USA wünschen, trotz verminderter militärischer Präsenz ihre politische Rolle in Europa unvermindert zu spielen. F will diese Rolle einschränken.6 1 2 3 4 5

Die Vorlage wurde von VLR Schumacher konzipiert. Hat MDg Hofstetter am 24. Februar 1992 vorgelegen. Hat MD Chrobog am 25. Februar 1992 vorgelegen. Hat StS Kastrup am 26. Februar 1992 vorgelegen. Hat BM Genscher am 1. März 1992 vorgelegen. Hat OAR Rehlen am 6. März 1992 vorgelegen, der den Rücklauf über das Büro Staatssekretäre, MD Chrobog und MDg Hofstetter an Referat 201 verfügte. Hat VLR Ney am 6. März 1992 vorgelegen, der die Weiterleitung an StS Kastrup verfügte. Dazu vermerkte er handschriftlich: „(BM Rücklauf) vgl. S. 9 f.“ Vgl. Anm. 15–17. Hat Kastrup am 6. März 1992 erneut vorgelegen. Hat Chrobog am 9. März 1992 erneut vorgelegen. Hat Hofstetter am 9. März 1992 erneut vorgelegen, der handschriftlich vermerkte: „Siehe S. 9, 10“. Hat VLR I Bertram erneut vorgelegen. 6 Dieser Satz wurde von MD Chrobog wie folgt geändert: „F stellt diese Rolle infrage.“

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Diese für die Bündniskohäsion und für die politische Rolle der NATO zentrale Frage hat unmittelbare Folgen für die Ausgestaltung von zwei stabilitätsfördernden Institutionen: des Nordatlantischen Kooperationsrats (NAKR), mit dessen Hilfe die USA u. a. ihre Stellung halten und ausbauen wollen, und der KSZE, der die französische Präferenz gilt. Nach französischer Auffassung soll die NATO als Instrument amerikanischen Einflusses in Europa auf das militärisch unbedingt Notwendige beschränkt bleiben. Ihre wachsende politische Rolle (NAKR) für die Stabilitätszone Vancouver – Wladiwostok soll durch die Aktivierung der KSZE (französischer Vorschlag für einen Sicherheitsvertrag7) begrenzt werden. Auch wenn die europäischen Partner nicht immer klar umrissene Vorstellungen von einem sicherheits- und verteidigungspolitisch stärkeren europäischen Pfeiler im Bündnis und einer Europäischen Sicherheits- und Verteidigungsidentität haben, ist keiner außer F willens, den amerikanischen Einfluss mittels einer Entpolitisierung des Bündnisses zu reduzieren. Die politische (und nicht nur militärische) Beteiligung der USA in europäischen Sicherheitsfragen und dementsprechend eine politische NATO-Rolle, die sich u. a. ausdrückt im NAKR, liegt im europäischen Interesse. Für die Schaffung einer gerechten und dauerhaften Friedensordnung in Europa wie auch für Stabilität in den MOE- und GUS-Staaten wird die Mitwirkung der USA auf absehbare Zeit unerlässlich bleiben. Eine Konkurrenz zwischen einerseits der NATO als politisch-militärischem Bündnis und dem NAKR als Kooperationsforum und andererseits der KSZE besteht nicht. Die NATOZusammenarbeit insbesondere mit EG/WEU und KSZE ist ausbaufähig, mit der KSZE z. B. durch Informationsaustausch und Unterstützung/Ausführung von Aufträgen. Sollte es zu identischen Mitgliedschaften von NAKR und KSZE kommen, ist auf lange Sicht eine Zusammenlegung NAKR – KSZE nicht auszuschließen. Dies setzt jedoch ein Einvernehmen im Bündnis über die amerikanische Rolle in Europa voraus, d. h. eine klare Vorstellung von der europäisch-amerikanischen Beziehung. Jenseits der Region Vancouver – Wladiwostok könnte die NATO als Block8 zwar eine politische, jedoch sollte sie auch in Zukunft keine militärische Rolle spielen. Allenfalls könnte sie in Regionalkonflikten einzelnen NATO-MS unter VN-Ägide organisatorisch beistehen. Sie liefe sonst Gefahr, in den Bündnis-MS ihre Akzeptanz zu verlieren und in der Dritten Welt als Hegemonie-Instrument perzipiert zu werden. Die NATO wird auf Dauer eine Rolle spielen können, wenn sie unter Wahrung ihrer Kohäsion in einer nicht-militärisch geprägten neuen Ordnung auf Stabilität, Kooperation und Transparenz hinwirkt, indem sie ihre politischen Möglichkeiten nutzt bzw. weiterentwickelt. Langfassung 1) Es gibt Institutionen, die das Opfer ihres eigenen Erfolges werden. Sie erreichen ihr Ziel und machen sich damit entbehrlich. In den letzten fünfzehn Monaten sind Schlag auf Schlag sicherheitspolitisch relevante Entscheidungen gefallen oder Entwicklungen eingetreten, die jede für sich die Basis für die militärische Existenzberechtigung des Nordatlantischen Bündnisses kontinuierlich geschmälert haben: 7 Zum französischen Vorschlag eines gesamteuropäischen Sicherheitsvertrags vgl. Dok. 87. 8 Die Wörter „als Block“ wurden von MD Chrobog gestrichen.

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völliger Abzug der sowjetischen Truppen aus der ČSFR und Ungarn; Ende des Warschauer Pakts; begonnener Abzug der WGT/NGT aus Deutschland und Polen; einseitiger Transfer schweren sowjetischen/russischen Geräts von Osteuropa hinter den Ural; – Ende des Kommunismus und der Sowjetunion. Jede dieser Änderungen war ein Beitrag zur Erhöhung westlicher und europäischer Sicherheit. Jede Veränderung war ein Stück Abkehr von einer Jahrzehnte bestehenden konfrontativen sicherheitspolitischen Struktur in Eurasien. Dies muss zu neuen sicherheitspolitischen Überlegungen und neuen Interessendefinitionen führen. Die Handlungsfelder werden neu abgesteckt. 2) Die NATO hat jetzt die Probleme, die sie schon immer haben wollte. Es gibt jedoch keine fertigen Antworten in NATO-Schubladen. Das Bündnis ist zwar nicht ratlos, aber es ist unschlüssig, welche konkreten langfristigen Ziele es anstreben soll. Europäisierung? Erweiterung? Globalisierung der Aufgaben? Aufgehen in einer neuen Struktur? Auflösung? Vor allem aus drei Bereichen kommen Impulse und Herausforderungen auf die NATO zu: – die Neudefinition der europäisch-amerikanischen Beziehung; – die Erwartungen der Staaten in MOE und GUS; – die Instrumentalisierung der NATO für die Vereinten Nationen, KSZE etc. Bei seinen Antworten muss das Bündnis sorgfältig abwägen, inwieweit der eigene Wandel seiner fortgesetzten Existenz dient oder aber diese irrelevant macht. Der Grat zwischen „sich anpassen oder sterben“ und „sich anpassen und sterben“ ist schmal. Bündnisinternes/europäisch-amerikanische Beziehung 3) Die USA haben in den letzten vierzig Jahren insbesondere zwei Ziele nachdrücklich unterstützt: die europäische Integration und die Neutralisierung der massiven sowjetischen Bedrohung. Sie sehen sich jetzt in der paradoxen Situation, dass deren Realisierung ihre militärische und politische Stellung in Europa infrage stellt und sie zwingt, ihr transatlantisches Engagement insbesondere öffentlich überzeugend zu begründen und neu zu definieren. Die sicherheits- und verteidigungspolitische Abhängigkeit der europäischen Bündnisstaaten von Nordamerika nimmt ab. Es ist unübersehbar, dass der militärische Faktor im Bündnis verringert wird. Dies drückt sich aus in – einseitig reduzierten Streitkräften, auch der USA in Europa; – verringerter militärischer Präsenz der Verbündeten in D; – Personalabbau in den Führungsstäben des Bündnisses. Die Bedeutung der militärischen Dimension für die Erhaltung von Stabilität geht zurück. Die auf die NATO zukommenden Impulse und Herausforderungen verändern die Basis der transatlantischen Verbindung politisch, militärisch und wirtschaftlich. Sie könnten je nach Umfeld u. U. zu einer Schwächung des Engagements für die NATO, im schlimmsten Falle zu ihrer Auflösung führen. 4) Folgende militärische Rahmenbedingungen sind in den kommenden Jahren nicht unrealistisch: – drastische Reduzierung von US-Bodentruppen, u. U. bis hin zu einer symbolischen Präsenz bis Ende des Jahrzehnts. Auch die bisher in den USA genannte Mindestzahl 220

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(70 000 – 100 000) dürfte je nach wirtschaftlicher Entwicklung in den USA nicht die Untergrenze sein; – Konzentration auf Luftverteidigung in und Seeunterstützung für Europa; – weitere drastische Reduzierung der Nuklearwaffen in Europa, auch der luftgestützten Systeme; – verringerte Bedeutung der verbleibenden DCA-Systeme9 aufgrund stark reduzierter Risiken. Die NATO war bislang der institutionelle Rahmen der politischen und militärischen Rolle der USA in Europa. Zur Aufrechterhaltung dieser Rolle muss daher jede US-Administration bestrebt sein, trotz der bejahten, aber die US-Präsenz innenpolitisch unterminierenden Prozesse in Europa ihren Einfluss auf politische Entwicklungen mit einem möglichst geringen, in den USA vertretbaren Kostenaufwand zu sichern. 5) Die innenpolitische Entwicklung in USA richtet sich nicht bewusst gegen die NATO. In einer Phase, die durch die Demilitarisierung von Außen- und Sicherheitspolitik gekennzeichnet ist, wird aber die US-Öffentlichkeit von der Notwendigkeit einer nennenswerten militärischen Präsenz in Europa – wenn mit großen Kosten verbunden – immer schwerer zu überzeugen sein. Es wird auch schwer sein, die bisher bestehenden sicherheitspolitischen Arrangements zwischen den USA und europäischen Verbündeten unverändert in die neue Ordnung zu retten, spätestens dann, wenn es um Geld geht. Die Verknüpfung von Truppenpräsenz mit handelspolitischen Fragen (GATT), wie sie von Vizepräsident Quayle – später teilweise dementiert – und anderen Mitgliedern der amerikanischen Delegation bei der Wehrkundetagung im Februar hergestellt wurde10, ist insofern doppelt kontraproduzent: Sie verstärkt europäisches Unbehagen und sie macht es der Administration auf Dauer schwerer, vor der eigenen Öffentlichkeit die strategische Notwendigkeit der militärischen Präsenz in Europa zu vertreten, ohne deren Bejahung die NATO in ihrer gegenwärtigen Gestalt und Aufgabe nicht weiterbestehen kann. Hinzu kommen schließlich latente Friktionen, da die Ziele der USA und der EG-Mitglieder nur teilidentisch sind. Für die USA heißt das Ziel „Wahrung unserer politischen Einflussmöglichkeiten in Europa trotz reduzierter militärischer Präsenz“; für uns und einige andere EG-Staaten „Entwicklung gemeinsamer Sicherheits- und Verteidigungspolitik unter Anpassung bestehender Beziehungen/Institutionen“. 6) Diese potenziell das Bündnis schwächenden Entwicklungen sind nicht unumkehrbar. Europäisches Ziel muss es bleiben, unter US-Mitwirkung eine stabile Friedensordnung zu schaffen und den Aufbau demokratischer, marktwirtschaftlich orientierter Staaten in Mittel- und Osteuropa sowie im Bereich der GUS zwecks Bewahrung der Stabilität zu fördern. Dies sind wichtige Rahmenbedingungen für einen sicherheitspolitisch ungestörten euro9 Dual-capable aircraft-Systeme. 10 Botschafter Holik legte am 12. Februar 1992 zur XXIV. Münchner Konferenz für Sicherheitspolitik („Wehrkundetagung“) vom 7. bis 9. Februar 1992 dar: „Im Gegensatz zu einigen Presseberichten und -Kommentaren waren die GATT-Verhandlungen kein kontroverses Thema. Vizepräsident Quayle, der in der Konferenz einen für viele überraschend guten Eindruck machte, stellte keinerlei Junktim zwischen einem befriedigenden Abschluss der GATT-Runde und dem US-Engagement in Europa her.“ Abweichend vom vorbereiteten Redetext habe er jedoch ausgeführt: „Wenn die amerikanischen Farmer sich durch einen GATT-Misserfolg enttäuscht fühlten, werde man u. U. einen Präsidenten bekommen, der eine andere Sicherheitspolitik vertrete.“ Vgl. B 221, ZA-Bd. 166726.

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päischen Integrationsprozess. Dabei wird das zügige Voranschreiten dieses Prozesses langfristig zu einer profilierteren Rolle der Europäer bei der Gewährleistung ihrer Sicherheit führen, mit relativ zunehmenden Kosten. Die Möglichkeiten und Grenzen dieser größeren Verantwortung bleiben bis auf weiteres unklar, was u. a. Anlass für amerikanische Fragen und gelegentliches Drängen ist. Die auf dem Frühjahrstreffen der NATO-AM im Juni 1991 in Kopenhagen definierten „Kernfunktionen der Allianz“11 sind ein amerikanischbritischer Versuch gewesen, das Handlungsfeld des Bündnisses gegen Eingriffe der EG bzw. der künftigen Politischen Union abzugrenzen. Jedoch dürfte auch diese Definition die Dynamik des Integrationsprozesses nicht beeinträchtigen. 7) Die unausweichlich zurückgehende amerikanische Präsenz in Europa muss jedoch nicht automatisch mit einer Schwächung der NATO gleichgesetzt werden. Dies hieße die Bedeutung der europäischen Mitglieder für das Funktionieren der Allianz unterschätzen. Eine Verschiebung der relativen Gewichte im Bündnis zugunsten der Europäer, u. a. mittels EG/WEU, schafft einen verstärkten europäischen Pfeiler. Die NATO lässt damit die Dynamik des europäischen Prozesses für ihre eigenen Ziele (Dialog, Kooperation, Verteidigungsfähigkeit) wirken. Was die Substanz des Bündnisses ausmacht, sind nicht absolute amerikanische Truppenstärken in Europa, sondern das enge politisch-militärische Zusammenwirken nordamerikanischer und europäischer Partner sowie die integrierte Militärstruktur. Beides wird durch verringerte US-Truppen nicht berührt. Entscheidend für das Bündnis ist das nordamerikanische Engagement für Europa, das sich u. a. auch in präsenten Streitkräften manifestieren sollte. 8) Unser unverändertes Interesse besteht darin, den europäischen Prozess in einer Weise zu steuern, dass dies weder von der US-Öffentlichkeit noch bei Entscheidungsträgern in Washington als Wunsch nach der Beendigung der amerikanischen Rolle in Europa missverstanden werden kann. Jedoch werden Enttäuschungen der USA unvermeidlich sein, wenn sie trotz verminderter Präsenz danach streben, ihre Stellung unvermindert zu erhalten. Die veränderte Lage verlangt auch von den USA die Bereitschaft, sich den europäischen Realitäten anzupassen. Wir müssen vermeiden, dass die Enttäuschungen, die aus dem schmerzhaften Anpassungsprozess erwachsen können, sich insbesondere auf uns richten, da von uns nach der Vereinigung Dankbarkeit und – als strategischer Partner in Europa – mehr Unterstützung für amerikanische Positionen erwartet wird als von anderen. MOE, GUS und NuN, NATO – NAKR – KSZE 9) Die stärksten, auf Änderung des Bündnisses gerichteten Impulse kommen z. Zt. von außerhalb, und zwar von den Staaten MOEs und der GUS. Mitte 1990 wurde eine Sicherheitspartnerschaft der NATO mit dieser Region begonnen.12 Ihr wichtigstes Element ist der Ende 1991 gegründete Nordatlantische Kooperationsrat (NAKR).13 11 Vgl. die Erklärung „Die sicherheitspolitischen Kernfunktionen der NATO im neuen Europa“; NATO FINAL COMMUNIQUÉS 1991–1995, S. 26 f. Für den deutschen Wortlaut vgl. BULLETIN 1991, S. 527 f. Zur NATO-Ministerratstagung am 6./7. Juni 1991 vgl. AAPD 1991, I, Dok. 190. 12 Vgl. die „Botschaft von Turnberry“ der NATO-Ministerratstagung am 7./8. Juni 1990; NATO FINAL COMMUNIQUÉS 1986–1990, S. 40. Für den deutschen Wortlaut vgl. EUROPA-ARCHIV 1990, D 447 f. Zur NATO-Ministerratstagung vgl. AAPD 1990, I, Dok. 171 und Dok. 173. Vgl. auch die Erklärung der NATO-Gipfelkonferenz am 5./6. Juli 1990 in London; NATO FINAL COMMUNIQUÉS 1986–1990, S. 41–44. Für den deutschen Wortlaut vgl. EUROPA-ARCHIV 1990, D 456–460. Zur NATO-Gipfelkonferenz vgl. AAPD 1990, II, Dok. 210.

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Mit dem NAKR betritt das Bündnis Neuland mit möglicherweise ungewissen und unerwünschten Konsequenzen. – Im Bündnis bestehen durchaus unterschiedliche Meinungen, ob der NAKR eine notwendige und sinnvolle Ergänzung der bisherigen, bewährten Verteidigungsgemeinschaft ist oder aber der Anfang vom Ende. – Er könnte auch zur Verschärfung der politischen Grundsatzdiskussion zwischen F und US über Bündnispositionen führen, die langfristig das Potenzial für eine Schwächung des Bündnisses mit sich bringt. Die als Antwort auf deutsch-amerikanische NAKRInitiativen (Mai und Oktober 199114) von F angeregte Schaffung eines „Sicherheitsvertrags“ der KSZE kann zu einer derartigen Kontroverse führen. – Eine Schwächung der NATO auch durch kompetenzübergreifende Ambitionen/Streit mit anderen Organisationen (KSZE) ist dagegen eher unwahrscheinlich, da solche Kompetenzausweitungen eine Funktion des F/US-Gegensatzes wären. 13

Gemeinsames Anliegen aller Bündnispartner ist allerdings, dass der Fortbestand einer trotz aller NAKR-Aktivitäten funktional kaum veränderten Allianz (einschließlich integrierter Militärstruktur) gewährleistet ist. Dies bleibt ein essentielles amerikanisches Interesse. Ein mindestens gleich großes Interesse an der NATO und der militärischen Integration (letzteres ausschließlich für seine Partner) hat F. De facto ist der NAKR eine Form der Assoziierung, die den gegenwärtigen, nichtkongruenten Interessen der Sechzehn und der MOE- sowie GUS-Staaten entspricht. Der Rat kann die Vorstufe für eine NATO-Mitgliedschaft sein, wie dies einerseits einige MOEStaaten erhoffen; er erlaubt einen Beitrag zur Erhöhung der Stabilität ohne zwangsläufig folgende Mitgliedschaft, was andererseits mindestens für einige unserer NATO-Partner wichtig ist. 10) Die Tatsache, dass dieser NAKR-Kompromiss für die MOE-Staaten keine Option ausschließt, dürfte ein Grund sein, warum kritische Fragen nach der NAKR-Finalität bisher nicht gestellt wurden. Auch der qualitative NAKR-Ausbau (etwa – wie der Institutionelle Ausschuss des Europäischen Parlaments vorschlagen will – in einen Nichtangriffs­ und Beistandspakt (jedoch ohne das Element der integrierten Militärstruktur) ) wird einige MOEStaaten wie Polen, ČSFR, Ungarn kaum davon abbringen, die Vollmitgliedschaft anzustreben. Gleichgültig, ob der NAKR erfolgreich arbeitet oder nicht – das eine wie das andere wird Anlass für einzelne Staaten sein, auf Mitgliedschaft im Bündnis zu drängen. Entscheidungen zu Beitrittskandidaten scheinen daher auf längere Sicht unvermeidbar. 11) Das große Interesse der MOE- und GUS-Staaten an sicherheitspolitischer Zusammenarbeit mit dem Bündnis hat de facto dazu geführt, dass ihre institutionalisierte Beziehung zum Bündnis heute enger ist als die von einigen NuN-Staaten wie etwa Österreich, Schweiz oder Schweden. Informell wird dies bereits moniert. Albanien, Kroatien und Slowenien haben Interesse geäußert, ebenfalls in den NAKR einbezogen zu werden. Auch wenn diese Wünsche eine Zeitlang dilatorisch behandelt werden können (Begründung: Kontaktdefizite Fortsetzung Fußnote von Seite 222 13 Zur konstituierenden Tagung des NAKR in Brüssel vgl. AAPD 1991, II, Dok. 439. 14 Vgl. die gemeinsamen Erklärungen des BM Genscher und des amerikanischen AM Baker vom 10. Mai bzw. 2. Oktober 1991; DEPARTMENT OF STATE DISPATCH 1991, S. 345–347 bzw. S. 736 f. Für den deutschen Wortlaut der Erklärung vom 2. Oktober 1991 vgl. BULLETIN 1991, S. 863 f. Vgl. auch AAPD 1991, I, Dok. 159.

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bei allen Staaten im Bereich des früheren WP), wird der NAKR mit der Aufnahme von elf GUS-Staaten nicht seine Höchstzahl an Mitgliedern (35) erreicht haben. Selbst die Schaffung eines Beobachterstatus, etwa für jugoslawische Staaten und Albanien, wird auf Dauer keine Lösung sein. Der NAKR ist einfach zu attraktiv, um nicht weitere Aufnahmeanträge gewärtigen zu müssen. Sein geographischer Bereich wird daher mittelfristig mit dem der KSZE weitgehend identisch sein. 12) Obwohl die USA sich bisher mit Äußerungen über die weitere Zukunft von NAKR und KSZE zurückhalten, deutet das nachdrückliche amerikanische Engagement für NAKR darauf hin, dass die amerikanische Stellung in Europa mit diesem als ausbaufähiger angesehen wird. Außerdem dürfte aus US-Sicht für den NAKR sprechen, dass mit seiner Hilfe die entstehenden Strukturen in den neuen Demokratien und die Sicherheitsphilosophie ihrer Funktionseliten nachhaltiger und umfassender geprägt werden können als mit der weniger operativ angelegten KSZE. Beides könnte für künftige Präferenzen NAKR – KSZE hinsichtlich Arbeitsteilung oder einem eventuellen Verschmelzen beider Institutionen von Bedeutung sein. 13) Es ist kein Zufall, dass F jetzt mehr denn je eine Stärkung, ja sogar eine Kodifizierung der KSZE zu einem „Sicherheitsvertrag“ wünscht. Ziel ist die Umwandlung der KSZE in eine vollwertige internationale Organisation, die über juristische, finanzielle und personelle Mittel verfügt. Die Rivalität zwischen US und F um den Ausbau bzw. die Begrenzung des institutionellen amerikanischen Einflusses in europäischen Sicherheitsfragen setzt sich damit in der Aufgabenfindung für eine sich wandelnde, politischer werdende NATO fort. Je dominierender die KSZE in der künftigen Sicherheitsarchitektur Europas ist, desto begrenzbarer ist nach französischer Auffassung der amerikanische Einfluss. Die von Anfang an geäußerte französische Skepsis gegenüber dem Liaison-Konzept und später dem NAKR – vor allem gegen die Ausdehnung des NAKR auf die Verteidigungsminister – hat ihre Wurzeln in der Befürchtung einer noch stärker verankerten politischen Stellung der USA in Europa. Aus französischer Sicht ist der NAKR – abgesehen vom genuinen Interesse der MOE- und GUS-Staaten an westlichen Strukturen – nichts als ein Trojanisches Pferd. Insofern sind NAKR-Fragen auch ein Feld intensiver französisch-amerikanischer, weniger jedoch europäisch-amerikanischer Auseinandersetzungen. F bemüht als weiteren Grund für sein verstärktes Engagement die Hoffnung, mittels KSZE-Aktivierung die in die NATO drängenden MOE-Staaten ruhigstellen zu können. Die Erweiterung der NATO sei im Interesse des Erhalts ihrer Funktionsfähigkeit als Verteidigungsbündnis nicht erwünscht. Auch hier gilt: Verglichen mit realistischen Alternativen ist der Status quo für F optimal, weil er eine französische Sonderstellung im Bündnis ermöglicht und damit außerhalb der NATO größeren Handlungsspielraum verschafft. Die französische These, die Schaffung einer euro-atlantischen Gemeinschaft von Vancouver bis Wladiwostok ziele auf die Überlagerung der Allianz ab und führe letztlich zu ihrer Auflösung, unterstellt den USA, dass sie ihren eigenen Interessen zuwiderhandeln oder dass sie letztendlich unberechenbar sind. Es ist unklar, ob F dies wirklich annimmt. 14) Die u. U. mittelfristig identische Mitgliederzahl von NAKR und KSZE könnte helfen, die Zusammenarbeit zwischen NATO und KSZE zu erweitern i. S. einer selektiven Instrumentalisierung der NATO für KSZE-Zwecke. Darüber hinaus scheinen einvernehmliche Arbeitsteilungen NAKR – KSZE ebenso möglich, wie – langfristig – eine Zusammenlegung 224

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NAKR – KSZE als „Atlantisch-Eurasische Sicherheitsorganisation“ (neben einer selbstverständlich fortbestehenden, nur begrenzt ausgeweiteten NATO) nicht auszuschließen ist. Für die USA dürfte die Zusammenlegung allerdings erst dann eine ernsthafte Option sein, wenn das Gewicht des NAKR relativ zur KSZE weiter gestiegen ist. West-Süd-Gesichtspunkte 15) Gefahren für Akzeptanz und Bestand des Bündnisses entstehen bei einer eventuellen Bereitschaft, sich in die Rolle eines Weltpolizisten drängen zu lassen. Für diese Rolle ist die NATO weder geschaffen noch geeignet. Mit dem Ende des Ost-West-Gegensatzes sieht die nördliche Halbkugel einschließlich mit dem Westen verbundener Staaten wie Japan, Australien etc. wie ein gut kooperierender, seinen Wohlstand mehrender Block aus, der die Dritte Welt allenfalls als Zuschauer, weniger als Mitgestalter internationaler Beziehungen braucht. Das gute Zusammenwirken im VN-Rahmen von früher antagonistischen Staatengruppen der nördlichen Hemisphäre tut ein Übriges, um die Perzeption eines Kondominiums zu unterstützen. Wenn die NATO als Bündnis – wie von GS Wörner wiederholt als persönliche Auffassung vorgeschlagen – im Auftrag der VN oder anderer Organisationen tätig würde, unterstützte sie damit genau diejenigen, die das Bündnis im Falle einer regionalen Auseinandersetzung als globale Polizeitruppe der Ersten (und früheren Zweiten) Welt darstellen wollen.15 Gerade weil viele Staaten der Dritten Welt wirtschaftlich und wissenschaftlichtechnisch unterentwickelt sind, haben Fragen der Kultur, Religion, Rasse, Zivilisation und Würde einen nicht nur latent hohen Stellenwert. Sie können im Bedarfsfall ohne Schwierigkeit gegen die Erste Welt instrumentalisiert werden. Es wäre unklug, wenn das Bündnis in einem Konfliktfall durch seine Beteiligung als militärischer Block propagandistische Argumente liefern würde. Vielmehr sollte es – wenn darum gebeten – Rat in Sicherheitsfragen geben, ohne Einbeziehung militärischer Mittel. 16) Der Vorschlag, NATO-Streitkräfte im Auftrag internationaler Organisationen für Regionalkrisen außerhalb Europas verfügbar zu machen, könnte darüber hinaus der Einstieg in eine Politik militärischer Sicherung von Rohstoffen und Versorgungswegen sein, die u. U. zur Verschärfung der Gegensätze zwischen Industriestaaten und Entwicklungsländern führt.16 17) Regionalkrisen müssen, wenn eine militärische Lösung unvermeidlich erscheint, durch Regionalkoalitionen und die Vereinten Nationen, evtl. unter Beteiligung einzelner Staaten des Nordens, jedoch nicht unter Einbeziehung eines politisch, militärisch und organisatorisch dominierenden NATO-Blocks gelöst werden. Der militärische Sieg würde sonst bereits den Keim der politischen Niederlage in sich tragen. Die Vergangenheit hat gezeigt, dass wichtige Bündnisstaaten nicht dagegen gefeit sind, nationale Interessen gelegentlich mit Bündnisinteressen zu verwechseln. Der Platz des Bündnisses 18) Regional verringerte Stabilität bei gewachsener Sicherheit insgesamt lässt die Attraktivität bewährter und berechenbarer Institutionen wie EG und NATO zunehmen, weil beide imstande sind, Entwürfe für die Gestaltung der Zukunft zu liefern: die EG kraft ihrer poli15 Der Passus „Wenn die NATO … Welt darstellen wollen“ wurde von BM Genscher hervorgehoben. Dazu vermerkte er handschriftlich: „r[ichtig]“. Vgl. Anm. 5. 16 Dieser Absatz wurde von BM Genscher hervorgehoben. Dazu vermerkte er handschriftlich: „r[ichtig]“. Vgl. Anm. 5.

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tischen Finalität; die NATO, weil ihr die Beantwortung offener Sicherheitsfragen nach dem Ende des Ost-West-Antagonismus zugetraut wird. Im Westen gibt es keine nennenswerte politische Kraft gegen die Existenz der NATO. In Mittel- und Osteuropa und in den GUS-Mitgliedstaaten gibt es keine führende politische Gruppierung, die gegen die Existenz der NATO wäre. Und das schon immer vorhandene, aber öffentlich selten artikulierte sicherheitspolitische Interesse wichtiger NuN-Staaten wie Schweiz, Österreich und Schweden an der NATO wird nun deutlicher geäußert. 19) Die NATO hat zu einem Zeitpunkt, da ihre Existenzberechtigung nach militärischen Maßstäben die schmalste Basis seit 1949 hat, den größten Zuspruch, wenn nicht sogar Zulauf. Es spricht für die Qualität der politischen Zusammenarbeit im Bündnis, wenn die Allianz durch stabilitätspolitische Ausstrahlung gerade in Zeiten einer verringerten Bedeutung des militärischen Faktors wirkt. Die militärische Rolle der NATO ist nicht beendet. Aber in einem kooperativen Sicherheitsverbund von 40 bis 50 relativ heterogenen Staaten des Nordens mit institutionell loser Anbindung Japans werden Konsultation, Informationsaustausch, politische Vertrauensbildung mit dem Ziel einer Stabilitätszone aktuellere und deshalb vorrangige Aufgaben sein. Zu ihrer Verwirklichung können die NATO, der NAKR, die KSZE und – regional begrenzter – die EG/WEU beitragen. Für Konfliktverhütung und Krisenbewältigung bietet das Bündnis operativ ein Instrumentarium wie derzeit keine andere Institution. Der zentrale Begriff in der neuen Ordnung ist Kooperation. Dem entspricht die Allianz durch ihre Bereitschaft, gemeinsam mit anderen Mitspielern zu agieren17 (EG/WEU/ Politische Union; bi- und multilateral mit MOE- und GUS-Staaten, im NAKR; KSZE, Vereinte Nationen). 20) Der Wert der NATO für ihre Mitglieder und als Partner anderer steht und fällt mit ihrer Kohäsion. Je mehr es ihr gelingt, Nordamerika und Europa zusammenzuhalten, desto attraktiver ist sie aufgrund Erfahrung, Expertise und militärischer Fähigkeiten. Wenn diese Kohäsion schwinden sollte, könnte auch ihre Bedeutung als wichtiger Faktor für Sicherheit und Stabilität relativ schnell abnehmen. Es ist deshalb von grundlegender Bedeutung, dass sie hinsichtlich dreier interner Funktionen das bleibt, was sie zu einem Erfolg werden ließ: – institutioneller Rahmen für die transatlantische Verbindung; – Organisation für kollektive Sicherheits- und Verteidigungspolitik mittels integrierter Militärstruktur, mit der ein hohes Maß militärischer Transparenz geschaffen wird; – Konsultations- und – wo möglich – Koordinationsforum für außen- und sicherheitspolitische Fragen. Darüber hinaus muss das Bündnis bestrebt sein, mittels NAKR als wichtigster sicherheitspolitischer Partner der MOE- und GUS-Staaten im Spiel zu bleiben, gerade weil damit ein zusätzlicher Grund für die US-Präsenz in Europa gegeben ist. Die künftigen Schwerpunkte der Allianzarbeit sollten sein: – militärische Auseinandersetzungen zwischen den Staaten der neuen Stabilitätszone von Vancouver bis Wladiwostok unmöglich zu machen, d. h. Fortsetzung des Rüstungskontrollprozesses, zusätzliche VSBM, Verifikationsregime und kontinuierlicher Sicherheitsdialog; 17 Der Passus „Der zentrale Begriff … zu agieren“ wurde von BM Genscher hervorgehoben. Dazu vermerkte er handschriftlich: „r[ichtig]“. Vgl. Anm. 5.

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– damit den Rahmen zu erhalten, in dem sich der europäische Integrationsprozess ungestört fortsetzen kann; – den Aufbau von demokratischen Strukturen in den MOE- und GUS-Staaten zu unterstützen, durch die sie berechenbarer werden, und diese Länder in ein Netz kooperativer Sicherheit einzubinden; – die Chance zu nutzen, dass erstmals nach 45 Jahren sicherheitspolitische Probleme der Dritten Welt frei von Ost-West-Antagonismen ihren Lösungen nähergebracht werden können mittels weiterer Revitalisierung der VN, ohne diese damit zu einem Instrument hegemonialer Interessen zu machen. 21) In allen Aktionsbereichen wird die Allianz dann am erfolgreichsten handeln können, wenn sie unter grundsätzlicher Wahrung ihrer künftig noch stärker reduzierten militärischen Option ihre politischen Kompetenzen weiterentwickelt. Inwieweit das Bündnis selbst oder der NAKR in einer übergreifenden Sicherheitsstruktur aufgehen könnten, lässt sich derzeit nicht sagen. Das unvermindert starke Interesse aller Mitgliedstaaten an einer funktional weitgehend unveränderten NATO spricht jedoch dafür, dass allenfalls der NAKR zur Disposition gestellt wird, nicht jedoch das Bündnis selbst. Es gibt Institutionen, die es verhindern, das Opfer ihres eigenen Erfolgs zu werden, indem sie – neben der Verwirklichung ihres Ziels – den Status quo post vorbereiten und dabei eine so konstruktive Rolle spielen, dass ein etwa vorhandenes Interesse an ihrem Ende umschlägt in ein Interesse an ihrer fortgesetzten Existenz. Bertram B 14, ZA-Bd. 161227

59 Gespräch des Bundeskanzlers Kohl mit dem nigerianischen Präsidenten Babangida 25. Februar 19921 Vermerk über das Gespräch des Bundeskanzlers mit dem nigerianischen Staatspräsidenten Babangida am Dienstag, den 25. Februar 1992, 12.00 bis 14.00 Uhr2 1 Kopie. Der Gesprächsvermerk wurde von VLR I Ueberschaer, Bundeskanzleramt, am 26. Februar 1992 gefertigt und am 28. Februar 1992 von MD Hartmann, Bundeskanzleramt, über BM Bohl an BK Kohl mit der Bitte um Billigung geleitet. Ferner erbat Hartmann „Zustimmung zur Unterrichtung des Auswärtigen Amtes nach Umsetzung Ihrer Südafrika-Initiative“ und vermerkte außerdem: „Ihre Weisung, den baldigen Abschluss eines Kulturabkommens mit Nigeria vorzusehen, wird dem Auswärtigen Amt vorab übermittelt.“ Hat Bohl vorgelegen. Hat Kohl vorgelegen, der handschriftlich für Hartmann vermerkte: „Erl[edigen].“ Vgl. den Begleitvermerk; BArch, B 136, Bd. 59747. 2 Der nigerianische Präsident Babangida hielt sich vom 24. bis 28. Februar 1992 in der Bundesrepublik auf.

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I) Vier-Augen-Gespräch Teilnehmer auf deutscher Seite: der Bundeskanzler, VLR I Dr. Ueberschaer als Notetaker, Frau LR Kaltenbach als Dolmetscherin. Teilnehmer auf nigerianischer Seite: Präsident Babangida, Außenminister Nwachukwu als Note-taker. Der Bundeskanzler spricht Präsident Babangida seinen Respekt für die Vorbereitung Nigerias zum Übergang zur Demokratie aus. Nigeria als bevölkerungsreichstes Land Schwarzafrikas setze damit ein Signal mit hohem Symbolwert. Auch der wirtschaftspolitische Kurs enger Zusammenarbeit mit IWF und Weltbank, den Nigeria verfolge, sei beispielhaft. Für uns sei Nigeria seit langem wichtigster Handelspartner in Schwarzafrika. Ein Erfolg der Politik Präsident Babangidas liege auch in unserem Interesse. Wir seien bereit, jeden sinnvollen Vorschlag zur Vertiefung der Zusammenarbeit aufzunehmen und zu unterstützen. Präsident Babangida dankt dem Bundeskanzler für diese Begegnung, auf die er sich seit langem freue. Er verfolge das Engagement des Kanzlers für den Weltfrieden, für die deutsche Einheit und für die Stabilität der Staaten Mittel-, Ost- und Südosteuropas mit Aufmerksamkeit und Bewunderung. Ein baldiger Gegenbesuch des Bundeskanzlers würde in Nigeria auf großes Interesse stoßen. Der Bundeskanzler bemerkt, dass er zu seinem Bedauern nicht so viel reisen könne, wie er wünsche. Die Fragen der Vollendung der deutschen Einheit und der Integration Europas hielten ihn in Deutschland fest. Präsident Babangida dankt dem Bundeskanzler im Namen Afrikas für das große Verständnis, das er den Problemen des Nachbarkontinents stets entgegenbringe. Nigeria verbinde mit Deutschland eine enge wirtschaftliche und entwicklungspolitische Zusammenarbeit. Im Bereich der Wirtschaftskooperation seien wir in der Tat Nigerias wichtigster Partner. Viele deutsche Firmen hätten in Nigeria investiert und seien dort aktiv. Sie alle hätten sich als „gute Botschafter Deutschlands“ erwiesen. Nigeria konzentriere seine wirtschaftlichen Anstrengungen seit sechs Jahren auf die Umsetzung eines Strukturanpassungsprogramms, um die bisherige wirtschaftliche Monokultur zu überwinden. Seit Übernahme der Präsidentschaft im Jahr 1985 betreibe er die Diversifizierung der Produktionsbasis seines Landes, wobei das Schwergewicht auf der Erschließung der Bodenschätze und der Qualifizierung der arbeitenden Bevölkerung liege. Um hierfür das erforderliche Know-how zu gewinnen, bevorzuge man Deutschland und die Deutschen als Partner. Wirtschaftspolitische Hauptaufgabe sei es gegenwärtig, die Volkswirtschaft weiter zu liberalisieren, um ausländische Unternehmen in noch stärkerem Maße zur Mitarbeit und zu Investitionen in Nigeria zu gewinnen. Man sei zum bestmöglichen Schutz ausländischer Investoren bereit. All dies sei eine gute Voraussetzung für ein dauerhaftes Wirtschaftswachstum. Im Bereich der Innenpolitik habe er bereits 1986 festgestellt, dass das bisherige Regierungssystem nicht in der Lage sei, dem Land inneren Frieden und Stabilität zu sichern. Er habe seither die Bevölkerung dazu bewogen, bei der Entwicklung eines optimalen Regierungssystems mitzuwirken und der fertigen Planung zuzustimmen. Im Gegensatz zur früheren Parteienzersplitterung gebe es jetzt nur mehr zwei große Parteien, die um die politische Macht konkurrierten. 228

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Im Übrigen werde durch die Verfassung die Macht auf Bundes-, Landes- und Gemeindeebene verteilt, um die politische Stabilität Nigerias zu sichern. Auf Frage berichtet Präsident Babangida, dass Nigeria in dreißig Bundesstaaten verschiedener Größe aufgeteilt sei. In einigen dieser Staaten gebe es Mehrheitsstämme, andere seien „kosmopolitischer“. Jeder Staat verfüge auch über eine eigene Legislative. In die Zuständigkeit der Einzelstaaten falle vor allem Erziehung und Bildung, aber auch die jeweilige regionale Wirtschaftspolitik. Sache des Bundes seien vor allem die auswärtigen Beziehungen und die Verteidigung. Die Armee habe 1970 nach dem Bürgerkrieg 350 000 Mann umfasst; dies sei jedoch wirtschaftlich nicht mehr tragbar, sodass sie jetzt auf 70 000 bis 80 000 Mann reduziert sei. Die wirtschaftlichen Folgen des Bürgerkriegs seien mittlerweile überwunden. Auch die seelischen Wunden in der Bevölkerung seien verheilt. Auf Wunsch des Bundeskanzlers berichtet Präsident Babangida über das Zusammenleben der Konfessionen in Nigeria. Die größten religiösen Gruppen stellten die Muslime und die Christen. Manchmal komme es zwischen den Konfessionen, aber auch innerhalb einzelner Glaubensgemeinschaften, zu Streitigkeiten, jedoch ohne ernstere Auswirkungen. Es gebe eine klare Verfassungsaussage, wonach religiöse Meinungsverschiedenheiten nicht zu Spannungen innerhalb des Landes führen dürften. Der muslimische Fundamentalismus finde in Nigeria keinen Boden. Es sei alles getan, um den religiösen Frieden im Lande zu sichern. Jeder Nigerianer dürfe ungestört seinen Glauben ausüben, seine Vorstellungen jedoch nicht anderen aufzwingen. Der Bundeskanzler weist auf die neue Dimension hin, die der islamische Fundamentalismus in die Weltpolitik gebracht habe. Dies gelte insbesondere für die Golfregion als Ursprung und Kerngebiet, aber auch für die südlichen Republiken der ehemaligen Sowjetunion, wo er virulent zu werden beginne. Auf Frage des Bundeskanzlers erklärt Präsident Babangida, dass der Fundamentalismus in Afrika aufgrund der Mentalität der Afrikaner, ihrer liberalen Einstellung gegenüber jedem religiösen Empfinden, keine Chance habe. Der Bundeskanzler erwähnt, dass ihm Präsident Suharto von Indonesien – dem größten muslimischen Land der Welt – von seiner Bevölkerung Ähnliches berichtet habe: Die Indonesier neigten nicht zum Fanatismus. Dafür sei der religiöse Fanatismus in anderen Regionen der Welt umso bedrohlicher. Auf Bitte des Bundeskanzlers erläutert Präsident Babangida die wirtschaftspolitischen Programme seiner Regierung. Mit der klaren Entscheidung für eine liberale Marktwirtschaft wolle seine Regierung vor allem ausländischen Investoren Anreize geben, die Schwerpunktbereiche der Wirtschaft Nigerias zu entwickeln: den Erdöl- und Erdgassektor, den Agrarsektor sowie Aus- und Fortbildung der Bevölkerung. Auf Frage des Bundeskanzlers nach den agrarpolitischen Prioritäten berichtet Präsident Babangida, dass die nigerianische Landwirtschaft noch weitgehend auf kleinbäuerlichen Betrieben aufbaue. Zur Entwicklung von Großbetrieben fehle es an den erforderlichen landwirtschaftlichen Maschinen. Anbauprodukte seien alle Arten von Getreiden und Knollenfrüchten, Ölfrüchte sowie Kakao. Die Landwirtschaft sei bisher hauptsächlich auf Nigerias Eigenversorgung bzw. auf die Versorgung der unmittelbaren Nachbarländer ausgerichtet. Man versuche jedoch, zur Erwirtschaftung von Devisen die Erzeugung von Exporterzeugnissen zu steigern, vor allem von Cashewnüssen, Ölfrüchten und Kakao. Der Bundeskanzler bemerkt, dass er auch und gerade wegen des beachtlichen bilateralen Warenaustausches Nigeria für dessen Wirtschaftspolitik Erfolg wünsche. Große Bedeutung 229

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komme der Verknüpfung zwischen dem Ausbau von Marktwirtschaft und Demokratie zu. Eine zentral gelenkte Planwirtschaft, die ja meist Hand in Hand mit einem politischen Zwangssystem gehe, werde nie zufriedenstellend funktionieren. Präsident Babangida berichtet sodann über die Schuldensituation Nigerias. Seine Regierung tue alles, um die restlichen Schulden abzutragen, und stehe dabei in engem Kontakt mit dem Pariser Club, dessen Votum ja auch erhebliche Bedeutung für den Zufluss von Neukapital aus dem Ausland habe. Der Bundeskanzler erkundigt sich nach den Ergebnissen der Verhandlungen über ein neues Umschuldungsabkommen, nachdem das gegenwärtige Abkommen mit dem Pariser Club Ende März d. J. auslaufe. Wie stehe es mit den Verhandlungen Nigerias mit dem IWF über die Eckdaten seiner Strukturreform? Präsident Babangida bemerkt, dass Vertreter des IWF noch diese Woche in Nigeria erwartet würden. Die Verhandlungen könnten bereits Anfang kommenden Monats beginnen. Der Bundeskanzler unterstreicht die Bedeutung einer Einigung Nigerias mit dem IWF auch für private Investitionen. Wie stehe es mit einem bilateralen Investitionsförderungsvertrag? Außenminister Nwachukwu berichtet, dass dieser vor der Unterzeichnung stehe.3 Der Bundeskanzler begrüßt dies: Der Abschluss eines solchen Vertrages könne – ebenso wie der kürzliche, erfolgreiche Besuch einer BDI-Delegation in Nigeria4 – zu einer baldigen Erhöhung deutscher Investitionen in Nigeria führen. Auf Anregung des Bundeskanzlers stimmt Präsident Babangida auch dem baldigen Abschluss eines bilateralen Kulturrahmenabkommens zu. Bundeskanzler und Präsident Babangida beschließen, beiderseits das Erforderliche zu veranlassen, um den Abschluss eines solchen Abkommens voranzutreiben.5 Der Bundeskanzler geht sodann zu afrikapolitischen Themen über. Er äußert große Sorge über den Ausgang des bevorstehenden Referendums über die Verständigungspolitik des südafrikanischen Präsidenten de Klerk.6 Dessen Politik zeuge – auch im Vergleich mit der anachronistischen Haltung des rechten Flügels der Weißen – von großem Mut. 3 AR Holzheuer teilte der Botschaft in Lagos am 8. Mai 1992 mit, Verhandlungen mit Nigeria über einen Investitionsförderungs- und -schutzvertrag am 17./18. Februar 1992 hätten zwar zu einem gemeinsamen Vertragstext geführt, allerdings müsse sich die nigerianische Seite noch über die Frage des Kapitaltransfers intern abstimmen und werde sich wieder melden. Vgl. den Schrifterlass; B 55, ZA-Bd. 188274. Am 28. Oktober 1992 berichtete BR I Evertz, Lagos, trotz mehrfacher Erinnerung habe sich die nigerianische Regierung bislang nicht geäußert. Mit einer Stellungnahme vor Ende des Jahres sei nicht zu rechnen. Vgl. DB Nr. 984; B 55, ZA-Bd. 188274. 4 BR I Evertz, Lagos, teilte zum Besuch einer BDI-Delegation vom 26. Januar bis 1. Februar 1992 in Nigeria mit: „Im Mittelpunkt der Gespräche stand die Position Nigerias als verlässlicher Schuldner und Handelspartner Deutschlands im Hinblick auf mögliche neue Investitionen deutscher Firmen.“ Vgl. DB Nr. 119; B 34, ZA-Bd. 159349. 5 LR Hildner erläuterte am 5. Februar 1992, ein Kulturabkommen mit Nigeria könne erst bei einer gleichzeitigen befriedigenden Regelung des Status des Kulturpersonals geschlossen werden. Die bislang vorgeschlagenen Formulierungen seien unter dem Standard vergleichbarer Kulturabkommen und nicht ausreichend. Vgl. B 90, ZA-Bd. 294057. 6 Referat 320 erläuterte am 6. Februar 1992, mit dem Zusammentreten der „Convention for a democratic South Africa“ (CODESA) am 20. Dezember 1991 hätten „die eigentlichen Verhandlungen zwischen der

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Präsident Babangida stimmt dem zu: De Klerk habe durch eine Reihe mutiger Schritte die Reformen unumkehrbar gemacht. Er sei ihm persönlich begegnet und von seiner Aufrichtigkeit sehr beeindruckt. Die jüngste Commonwealth-Konferenz habe diese Politik mit einer Resolution honoriert, in der die Wiederaufnahme der Sport-, Kultur- und, teilweise, der Wirtschaftsbeziehungen empfohlen werde, um damit zur Bildung einer nichtrassischen Gesellschaft in Südafrika beizutragen. Mit seiner Entscheidung für ein Referendum sei de Klerk ein hohes – hoffentlich gut kalkuliertes – Risiko eingegangen. Wenn er das Referendum verliere und dadurch gestürzt werde, seien in Südafrika große Probleme zu befürchten. Ein neuer Botha werde an die Macht kommen. Der Bundeskanzler bemerkt, dass ein solcher nicht in der Lage sein werde, die Probleme Südafrikas zu lösen. Jetzt sei der richtige Augenblick, um Partei für die ausgewogene Politik de Klerks zu ergreifen. Er wolle de Klerk bei seinem Referendum helfen und überlege, was wir als Deutsche dafür tun könnten. Er denke an eine gemeinsame Botschaft mit PM Major. Könne Präsident Babangida namens der OAE etwas Vergleichbares für ihn tun? Präsident Babangida bejaht. Die Afrikaner brauchten de Klerk, und die OAE sei dazu in der Lage. Der Bundeskanzler fügt hinzu, dass viele Weiße – insbesondere viele Buren – in ihrer Lagermentalität offenbar die Zeichen der Zeit nicht erkennen könnten. Da PM Major und er selbst über das beste Ansehen bei den Weißen Südafrikas verfügten, denke er daran, mit ihm zusammen in der kommenden Woche eine Botschaft zu versenden, die auf diese Bevölkerungsgruppe abziele. Es wäre gut, wenn Präsident Babangida seinerseits eine ähnliche Botschaft aussenden könnte. Präsident Babangida äußert, dass er bereits Ähnliches vorbereitet habe. Sein Außenminister werde vor der Abstimmung das südliche Afrika besuchen. Der Bundeskanzler sieht für den Fall eines negativen Ausgangs des Referendums eine Katastrophe voraus. Eine friedliche Lösung sei dann kaum mehr denkbar, viel Blut werde vergossen werden. Die militanten Schwarzen würden sich auf die Dauer durchsetzen und die Weißen das Land verlassen. Ein Niedergang der südafrikanischen Wirtschaft sei dann gewiss. Er sei sehr skeptisch in seiner Beurteilung des rechten Flügels der Weißen, aber ebenso auch der radikalen Gruppe innerhalb des ANC. Präsident Babangida stimmt dem ausdrücklich zu. II. Beim anschließenden Mittagessen wird das Gespräch im erweiterten Rahmen fortgesetzt. Präsident Babangida äußert, dass eine gemeinsame Botschaft von PM Major und dem Bundeskanzler zugunsten de Klerks Signalwirkung in der südafrikanischen Öffentlichkeit haben würde und für ihn bei seinem Referendum sehr hilfreich wäre. Fortsetzung Fußnote von Seite 230 Regierung und Vertretern der schwarzen Bevölkerungsmehrheit begonnen“. Ziel sei der „Aufbau eines ungeteilten Südafrika mit einer demokratischen Verfassung“. Vgl. B 34, ZA-Bd. 155790. Am 20. Februar 1992 berichtete Botschafter Stabreit, z. Z. Kapstadt, der südafrikanische Präsident de Klerk habe die Durchführung eines Referendums der weißen Bevölkerung zur Frage angekündigt, ob diese den CODESA-Prozess noch mittrage. Stabreit legte dar: „Durch den Referendumsbeschluss der Regierung hat der Verhandlungsprozess über Nacht einen dramatischen Akzent erhalten und die ,SA-Frage‘ mit großen Fragezeichen überschattet. Die westlichen Außenpolitiker müssen jetzt wieder auf alles gefasst sein.“ Vgl. DB Nr. 25/26; B 34, ZA-Bd. 155790. Am 25. Februar 1992 berichtete Stabreit, de Klerk habe am Vorabend bekannt gegeben, das Referendum werde am 17. März 1992 stattfinden. Vgl. DB Nr. 28; B 34, ZA-Bd. 155790.

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Der Bundeskanzler fragt, ob er PM Major sagen könne, dass auch der nigerianische Außenminister im gleichen Sinne aktiv werde. Präsident Babangida bejaht dies. Der Bundeskanzler fragt, mit wem Nigeria die engsten Kontakte der Südafrikafrage unterhalte. Präsident Babangida nennt die Regierungen Simbabwes, Sambias, Tansanias und Kenias. Auf den Einwurf des Bundeskanzlers, dass Kenia erhebliche innenpolitische Probleme habe, äußert Präsident Babangida, dass es hierfür nur eine – nämlich eine demokratische – Lösung gebe. Der Bundeskanzler bemerkt, dass Präsident Moi dies anders sehe; schon bei seinem Besuch in Kenia vor drei Jahren7 sei die Krise fühlbar gewesen. Auf Bitte von Präsident Babangida erläutert der Bundeskanzler seinem Gast sodann die Lage in den Staaten Mittel-, Ost- und Südosteuropas sowie Stand und Perspektiven der europäischen Einigung. Der Bundeskanzler erkundigt sich anschließend nach den Beziehungen Nigerias zur Europäischen Gemeinschaft. Finanzminister Abubakar äußert, dass diese Beziehungen ausschließlich durch das Abkommen von Lomé IV8 definiert seien. Darüber hinausgehende Sonderbeziehungen gebe es nicht. Insbesondere verfüge Nigeria nicht – wie die frankophonen Länder – über einen Sonderzugang nigerianischer Waren zum Markt der Europäischen Gemeinschaft. Dadurch sei Nigeria sehr benachteiligt. Man habe diese Frage gegenüber AM Dumas in Lagos9 angesprochen, aber nur eine lauwarme Antwort erhalten. Eine solche Diskriminierung sei unfair und erwecke Erinnerungen an die Kolonialzeit. MD Ludewig wirft ein, dass dies auch gegen den Geist der AKP-Abkommen verstoße, die ja gerade darauf abzielten, die betroffenen Länder von Benachteiligungen zu befreien, die aus ihrer kolonialen Vergangenheit herrührten. Der Bundeskanzler bemerkt, es wäre Sache Großbritanniens als Nigerias ehemaliger Kolonialmacht, sich hier dessen Interessen anzunehmen, wie wir es auch mit unseren früheren Kolonien täten. Auf erneute Frage des Bundeskanzlers nach den Aussichten für ein Kulturabkommen äußert der zuständige nigerianische Fachminister10, dass Nigeria sehr daran interessiert sei, die kulturpolitische Zusammenarbeit durch ein solches Rahmenabkommen zu formalisieren. Der Bundeskanzler erläutert, dass der Abschluss eines solchen Abkommens zwischen Deutschland und Nigeria, einem der wichtigsten Länder Europas und dem größten Land Schwarzafrikas, einen hohen Symbolwert hätte. Eine Stärkung der Kulturbeziehungen werde sich langfristig auch günstig auf die Wirtschaftsbeziehungen auswirken. Er beabsichtige, zu gegebener Zeit einen persönlichen Beauftragten nach Nigeria zu entsenden, um die praktischen Möglichkeiten für den weiteren Ausbau der Kulturbeziehungen zu prüfen. Er 7 BK Kohl besuchte Kenia vom 18. bis 21. November 1987. Für sein Gespräch mit dem kenianischen Präsidenten Moi am 19. November 1987 in Nairobi vgl. AAPD 1987, II, Dok. 323. Moi hielt sich vom 7. bis 11. Februar 1989 in der Bundesrepublik auf. Für sein Gespräch mit Kohl am 9. Februar 1989 vgl. AAPD 1989, I, Dok. 36. 8 Für das Vierte AKP-EWG-Abkommen vom 15. Dezember 1989 und die zugehörigen Dokumente vgl. BGBl. 1991, II, S. 3–173. Vgl. auch AAPD 1989, II, Dok. 397. 9 Der französische AM Dumas hielt sich am 5. Januar 1992 in Nigeria auf. 10 Sam Oyovbaire.

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habe ein Interesse daran, die deutsch-nigerianischen Beziehungen zu fördern, und dazu gehöre nicht zuletzt eine Stärkung der Kulturbeziehungen im Bereich des Schul- und Hochschulwesens sowie der Sprachvermittlung. Im Übrigen sei Nigeria – ebenso wie die übrigen Staaten Afrikas – mit seinem Interesse an enger Zusammenarbeit mit EG-Europa gut beraten. Die europäische Entwicklung in den kommenden Jahren werde zeigen, welch bedeutende Chancen sich für Afrika dadurch eröffneten. Auf Frage des Bundeskanzlers berichtet Präsident Babangida über den Stand des Umzugs seiner Regierung in die neue Hauptstadt Abuja. Die Präsidentschaft und einige der Schlüsselministerien seien bereits umgesiedelt; die übrigen Ministerien und Behörden würden schrittweise folgen. Die neue Hauptstadt biete im Vergleich zur 6-Mio.-Stadt Lagos mehr Raum und ein besseres Klima für die Arbeit der Regierung. Die Frage von Präsident Babangida, ob der Bundeskanzler die VN-Konferenz zur Umwelt und Entwicklung in Rio im Juni d. J.11 besuchen werde, bejaht der Bundeskanzler. Er sei entschlossen, dort etwas zu bewegen. Die Industrie- und Entwicklungsländer müssten gemeinsam für eine umweltbewusste Wirtschaftsentwicklung arbeiten. Allein könne weder die eine noch die andere Seite etwas bewirken. Diese Haltung vertrete er nachdrücklich seit drei Jahren auf den Weltwirtschaftsgipfeln. Präsident Bush gegenüber habe er immer wieder die Meinung vertreten, dass das amerikanische Engagement in Umweltfragen unzureichend sei. Jetzt gebe es eine sehr positive Veränderung in der amerikanischen Haltung, die auf den jüngsten Bericht der NASA über die Ausweitung des Ozon-Lochs zurückgehe. Diese Frage sei nun durch den US-Wahlkampf12 in der amerikanischen Öffentlichkeit thematisiert. Es sei zu hoffen, dass die US-Regierung mit ihrer Meinungsänderung auch Japan nachziehe. Japan verbrauche jährlich rd. zweieinhalbmal so viel tropisches Hartholz wie die EG, was ganz wesentlich zum Kahlschlag der tropischen Wälder beitrage (folgt Exkurs über traditionelle deutsche Waldnutzung). Präsident Babangida wiederholt bei der Verabschiedung seine Einladung an den Bundeskanzler zu einem baldigen Besuch in Nigeria. Der Bundeskanzler sagt zu, dass er versuchen wolle, in den nächsten zwei Jahren eine Afrika-Reise zu unternehmen. Für diesen Fall verspricht er, Nigeria zu besuchen. BArch, B 136, Bd. 59747

11 Zur VN-Konferenz über Umwelt und Entwicklung (UNCED) vom 3. bis 14. Juni 1992 vgl. Dok. 177. 12 In den USA fanden am 3. November 1992 Präsidentschaftswahlen, Wahlen zum Repräsentantenhaus sowie Teilwahlen zum Senat und für die Gouverneursämter statt.

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60 Telefongespräch des Bundeskanzlers Kohl mit dem kanadischen Ministerpräsidenten Mulroney 25. Februar 19921 Niederschrift über das Telefongespräch des Bundeskanzlers mit MP Mulroney am 25. Februar 1992, 18.00 Uhr Der Bundeskanzler dankt MP Mulroney für sein Schreiben vom 21. Februar 1992 zum Thema Artikel XI GATT, der die Problematik des kanadischen Milchmarktes und der Geflügel- und Eiermärkte berührt. Der Bundeskanzler berichtet über sein diesbezügliches Gespräch mit Präsident Delors2 und teilt mit, dass Präs. Delors das kanadische Anliegen unterstütze. MP Mulroney bedankt sich für diese gute Nachricht und teilt mit, dass er Präsident Bush im Laufe der nächsten zehn Tage besuche. Der Bundeskanzler berichtet dann über sein Gespräch mit Präsident Delors bezüglich des weiteren Fortgangs der GATT-Verhandlungen und teilt ihm mit, dass nach der gemeinsamen Einschätzung von Präsident Delors und ihm die amerikanische Administration eine größere Flexibilität bei den Verhandlungen und hier insbesondere bezüglich der Problematik der Getreideexporte der Gemeinschaft und der Getreidesubstituteexporte der USA zeigen und Präsident Bush sich persönlich um die Angelegenheit kümmern müsse. Er sei sicher, dass die EG eine mengenmäßige Begrenzung ihrer Exporte auf einem vernünftigen Niveau akzeptieren werde. MP Mulroney teilte die Auffassung des Bundeskanzlers, dass der amerikanische Präsident sich um den Fortgang der Verhandlungen kümmern müsse, bisher sei er durch die Primaries3 daran gehindert worden. Er verweist auf die großen innenpolitischen Probleme in Amerika mit einer mengenmäßigen Begrenzung der Substituteexporte sagt, dass eine Abgabenbelastung eventuell eher möglich sei.4 Das besondere Problem liege darin, dass das GATT-Verhandlungsergebnis vom Kongress gebilligt werden müsse und hier die Lobby stark sei. 1 Kopie. Der Gesprächsvermerk wurde von MD Feiter, Bundeskanzleramt, gefertigt und mit Begleitvermerk vom 3. März 1992 über BM Bohl an BK Kohl „mit der Bitte um Billigung“ geleitet. Ferner vermerkte Feiter, MD Hartmann und MD Ludewig, beide Bundeskanzleramt, hätten Kopien erhalten. Vgl. den Begleitvermerk; BArch, B 136, Bd. 59747. 2 BK Kohl und EG-Kommissionspräsident Delors trafen am 24. Februar 1992 zusammen. VLR I Bitterlich, Bundeskanzleramt, notierte am 28. Februar 1992: „Kanadisches Anliegen (Art. 11): MD Dr. Feiter: Kanadischer Finanzminister habe im Gespräch mit ihm betont, dass Kanada EG-Position in Sachen Substitute unterstützen werde, wenn EG in Bezug auf kanadisches Anliegen bei Art. 11 (Milch) hilfreich sei. Delors/ Lamy: Hilfe möglich, allerdings ohne in der Sache nachzugeben, z. B. durch Einräumung Übergangszeit (so auch Andriessen gegenüber kanadischer Seite); Abstimmung der Haltung für die Telefonate mit PM Mulroney durch MD Dr. Feiter/Zepter.“ Vgl. BArch, B 136, Bd. 59747. 3 Seit dem 18. Februar 1992 hielt die Republikanische Partei Vorwahlen („Primaries“) für die Präsidentschaftswahlen am 3. November 1992 in den USA ab. 4 So in der Vorlage.

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Er werde aber mit Präsident Bush sprechen und auf die herausragende Bedeutung dieses Problems für die deutsche, französische und europäische Position hinweisen. Der Bundeskanzler bestätigt, dass es sich hier nicht nur um eine deutsche, sondern um eine europäische Position handelt. Er bittet MP Mulroney, Präsident Bush zu versichern, dass der Bundeskanzler sich mit Nachdruck um einen erfolgreichen Abschluss der Verhandlungen kümmern werde und er dies auch wegen der besonderen deutsch-amerikanischen Beziehungen tue. MP Mulroney sichert dem Bundeskanzler zu, dass er ihn sowohl vor seinem Besuch in Washington als auch nachher noch einmal telefonisch kontaktieren werde. Dann teilt MP Mulroney dem Bundeskanzler mit, dass die kanadische Regierung – wie bereits früher angekündigt – bis 1995 die Truppen aus Europa abziehen werde.5 Kanada werde für Jugoslawien 1300 Mann für die UN-Peace-Truppen zur Verfügung stellen. Damit werde die größte Einheit in Jugoslawien von Kanada gestellt. In Zukunft wolle Kanada sich auch stärker beim Aufbau der Wirtschaft in Russland und in den übrigen GUS engagieren. Der Bundeskanzler würdigt den großen Beitrag der kanadischen Truppen zur Verteidigung der Freiheit in Europa und teilt ihm mit, dass er die Entscheidung Kanadas selbstverständlich respektiere. Abschließend teilt MP Mulroney mit, dass er die Unterstützung des kanadischen Anliegens zum Artikel XI GATT durch die EG-Kommission und durch Deutschland intern dem Kabinett zur Kenntnis geben möchte. Der Bundeskanzler stimmt dem zu, bittet jedoch um eine kabinettinterne Behandlung. BArch, B 136, Bd. 59747

61 Vermerk des Ministerialdirektors Chrobog 204-321.15-34/92 VS-vertraulich Betr.:

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Treffen der Politischen Direktoren im kleinen Kreis am 19. Februar 1992 in Bonn

Die Politischen Direktoren (D 2, Dejammet (F), Appleyard (GB), Niles (USA) ) trafen sich am 19. Februar 1992 in Bonn zu Konsultationen. Hauptthema der Gespräche war die GUS, insbesondere mit folgenden Aspekten: – Lage in den Republiken, insbesondere im asiatischen Teil der GUS, – Rolle der Türkei (und Saudi-Arabiens), 5 Botschafter von Ploetz, Brüssel (NATO), berichtete am 26. Februar 1992, der kanadische NATO-Botschafter Bartleman habe über die Entscheidung der kanadischen Regierung informiert, „bereits beschlossene Abzüge um ein Jahr vorzuziehen auf 1993/94, darüber hinaus aber auch die bisher vorgesehene ,task force‘ zurückzuziehen. Danach endet die ständige Stationierung KAN-Streitkräfte in Europa 1994. KAN begründete dies ausschließlich mit budgetären Gründen. KAN stehe zu seinen Beistandsverpflichtungen und werde notwendige Kräfte für Verstärkung im Bedarfsfall bereitstellen.“ Vgl. DB Nr. 327; B 14, ZA-Bd. 161263. 1 Der Vermerk wurde von VLR I Wagner konzipiert.

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– Nuklearforschungszentrum Tscheljabinsk und das deutsch-amerikanisch-russische Projekt eines Wissenschaftszentrums, – nukleare Abrüstung und Gefahr der Proliferation, – wirtschaftliche, insbesondere finanzielle Zusammenarbeit. Im zweiten Teil der Gespräche wurden folgende Themen behandelt: – NATO-Kooperationsrat, mit einer Aussprache über die sicherheitspolitische Rolle von NATO und KSZE, – Open Skies, – Jugoslawien. Kurz angesprochen wurden die Lage in Polen und eine mögliche libysche Grenzsperrung. Chrobog I. GUS 1) Lage in den Republiken, insbesondere im asiatischen Teil der GUS a) Diplomatische Beziehungen Niles (US) berichtete über die soeben beendete Reise von AM Baker nach Moldau, Aserbaidschan, Turkmenistan, Tadschikistan, Usbekistan, Russland, an der er teilgenommen hatte.2 Er erklärte, die US-Regierung werde in den nächsten Tagen diplomatische Beziehungen mit allen Republiken mit Ausnahme von Georgien aufnehmen. US-Botschaften seien bereits in Eriwan, Bischkek, Alma Ata und Minsk eingerichtet (zusätzlich zu Moskau und Kiew); bis Mitte März sollten Botschaften in Baku, Kischinjow, Aschkabad, Duschanbe und Taschkent folgen. USA würden es sehr begrüßen, wenn die US-Botschaften in diesen Hauptstädten möglichst intensiv mit anderen westlichen Botschaften zusammenarbeiten könnten. Denkbar sei eine Vielzahl von Bereichen praktischer Zusammenarbeit (Büros, logistische Einrichtungen, Mitbenutzung von Kurier- bzw. Versorgungsflugzeugen). Appleyard (GB) wies auf deutsch-britische Zusammenarbeit in Alma Ata und Minsk hin. D 2 begrüßte das amerikanische Angebot und meinte, man könne sich gegenseitig etwa auch helfen, indem man für Besucher (im Rahmen von Doppelakkreditierungen oder aus den eigenen Hauptstädten) Büroraum zur Verfügung stelle. b) Wirtschaftliche und politische Lage US wies darauf hin, dass die wirtschaftlichen Zukunftsaussichten besser für diejenigen Republiken seien, die Rohstoffe liefern könnten. Usbekistan sei dabei, seine Goldproduktion (bisher um 75 – 80 t pro Jahr) in Verbindung mit einem britischen und einem amerikanischen Konsortium zu aktivieren. Turkmenistan könne auf Öl- und Gasvorkommen zurückgreifen. Beide Republiken beabsichtigten, den bisher forcierten Baumwollanbau zu reduzieren, da Bewässerungsmaßnahmen erhebliche Umweltschäden verursacht hätten. Die politische Landschaft werde durchweg noch von alten Strukturen und der bisherigen kommunistischen Führung geprägt; die einzige Ausnahme sei Ter-Petrosjan in Armenien, der aus der Opposition gegen den Kommunismus komme. Für den Westen empfehle es sich, die derzeitigen Herrschaftsverhältnisse in den neuen Republiken zu akzeptieren und mit den jetzigen Republikführern zusammenzuarbeiten, dabei aber deutlich zu machen, dass 2 Der amerikanische AM Baker besuchte am 11. Februar 1992 Moldau, am 11./12. Februar Armenien, am 12. Februar Aserbaidschan und Tadschikistan, am 12./13. Februar Turkmenistan, am 14./15. Februar Russland, am 15./16. Februar Usbekistan und vom 16. bis 18. Februar 1992 erneut Russland.

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der weitere Ausbau der Beziehungen wesentlich auch von der demokratischen Entwicklung abhänge. Bezeichnend sei die Haltung der Oppositionsführer in Usbekistan, die von Baker gefragt worden seien, ob die USA diplomatische Beziehungen mit Usbekistan herstellen sollten. Die Oppositionellen hätten dies befürwortet, aber darum gebeten, gegenüber Karimow für eine demokratische Entwicklung einzutreten. Ausgeprägt sei in den Republiken ein tiefsitzendes Misstrauen gegenüber Russland gewesen. Karimow habe auf die Tradition der Ausbeutung Usbekistans durch Zaren und Kommunisten hingewiesen und die Frage gestellt, wo das von Usbekistan bisher regelmäßig an Moskau gelieferte Gold geblieben sei. Auch Jelzin neige dazu, die russische Dominanz fortzusetzen: So sei Usbekistan bei seiner Zustimmung zur Übernahme des sowjetischen Sitzes im VN-Sicherheitsrat durch Russland davon ausgegangen, dass die anderen Republiken bei der Festlegung russischer Positionen konsultiert würden; dies sei aber keineswegs der Fall. c) Nagorny Karabach Die Entwicklung in Nagorny Karabach gibt nach Auffassung aller Politischen Direktoren zur Besorgnis Anlass. US befürwortete weiteres Engagement der KSZE mit allen infrage kommenden Institutionen (Ausschuss Hoher Beamter, Konfliktverhütungszentrum, Mechanismus in Bezug auf ungewöhnliche militärische Aktivitäten3). Auch größeres russisches Engagement sei wünschenswert. Baker seien in Baku wie in Eriwan historisch begründete und verfestigte Positionen vorgetragen worden. Von aserischer Seite sei dem Westen Parteinahme für Armenien vorgeworfen worden. Baker habe sich bemüht, diesen Eindruck zu zerstreuen, und Mutalibow empfohlen, eng mit den KSZE-Institutionen zusammenzuarbeiten und insbesondere den autonomen Status von Nagorny Karabach wiederherzustellen. In Armenien seien die Folgen der Wirtschaftsblockade deutlich zu erkennen gewesen. Positiv sei die Aussage Ter-Petrosjans zu werten, dass Nagorny Karabach ein innenpolitisches Problem Aserbaidschans sei und er der Unabhängigkeit für Nagorny Karabach nicht das Wort rede. Ein Problem sei allerdings, dass es nach dem Wegfall der sowjetischen Verfassung keine rechtliche Grundlage für den autonomen Status eines Gebiets wie Nagorny Karabach gebe. Dejammet (F) erklärte, dass Frankreich wegen seiner starken armenischen Bevölkerungsgruppe besonderen Anteil an dem armenisch-aserbaidschanischen Konflikt nehme. Derzeit sei Bernard Kouchner als Beauftragter Mitterrands in Armenien; er werde sich im Anschluss daran nach Aserbaidschan begeben. F beabsichtige, eine Botschaft in Eriwan zu errichten, zu Baku sei noch keine Entscheidung gefallen. d) Kasachstan F sprach die zweideutige Position Kasachstans zu einem Beitritt zum Nichtverbreitungsvertrag an. US betonte, dass dies für die USA eine Schlüsselfrage ihrer Beziehungen zu Kasachstan sei. Nasarbajew müsse nachdrücklich an seine Erklärung von Dezember 1991 erinnert werden, dass Kasachstan ein nuklearfreier Staat sein wolle und dem Nichtverbreitungsvertrag beizutreten beabsichtige.4 Der Westen müsse auf N. in dieser Frage geschlossen Druck ausüben. F erklärte, dass N. sein nunmehriges Zögern mit dem Hinweis auf die 3 Vgl. Maßnahme 17 des Wiener Dokuments für VVSBM, das am 17. November 1990 verabschiedet wurde; BULLETIN 1990, S. 1494 f. Vgl. ferner AAPD 1990, II, Dok. 386. 4 Zu den Äußerungen des kasachischen Präsidenten Nasarbajew vgl. Dok. 13, Anm. 32.

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noch nicht beendete nukleare Rolle Kasachstans (Stationierung von Atomwaffen, Versuchsgelände für Nukleartests) gerechtfertigt habe. Die französische Regierung habe ihn auf die gegenteiligen Beispiele Deutschland und Australien verwiesen und an die kasachische Note an van den Broek vom 6. Januar 1992 erinnert, in der der Beitritt Kasachstans zum Nichtverbreitungsvertrag angekündigt worden sei.5 GB meinte, N. verstehe die Sachlage sehr wohl. Er wolle sich aber die Optionen offenhalten und nehme dafür auch westlichen Protest in Kauf. 2) Türkei/Saudi-Arabien a) Unter Hinweis auf die zunehmende Präsenz Irans in den islamischen GUS-Republiken betonte US, dass die Möglichkeiten der Türkei, dort eine positive Rolle zu spielen, voll ausgeschöpft werden sollten. Auch der Westen müsse hierzu seinen Beitrag leisten. Er verwies auch darauf, dass die Türkei in Aserbaidschan über großen Einfluss verfüge. Die USA hätten den Türken empfohlen, im Hinblick auf Nagorny Karabach auf Aserbaidschan Druck auszuüben, aber auch selbst bessere Beziehungen mit Armenien zu entwickeln. US wies weiter darauf hin, dass das neue Betätigungsfeld, das sich hier für die Türkei eröffne, die Bedeutung anderer Fragen, insbesondere Zyperns, für die türkische Außenpolitik relativiere. Es seien Anzeichen zu erkennen, dass nunmehr die Zeit für Bewegung in der Zypernfrage gekommen sei, zumal man auch von großem Interesse Boutros-Ghalis an Zypern ausgehen könne. Die Türken wüssten im Übrigen auch, dass ein Entgegenkommen in der Zypernfrage ihre Beziehungen zur EG positiv beeinflussen würde. Auch D 2 unterstrich die gestiegene Bedeutung der Türkei. Er werde in Kürze in der Türkei Konsultationen mit seinem türkischen Kollegen durchführen6; ein Türkeibesuch von BM Genscher sei vorgesehen7. Eine Deblockierung des EG-Finanzprotokolls mit der Türkei8 sei nun fällig. Über sein kürzliches Treffen mit Denktasch berichtete D 2, dass dieser sich in der Sache unverändert starr gezeigt habe, der Rolle der VN gegenüber aber etwas aufgeschlossener als früher gewesen sei.9 5 In der Note wurde erklärt, „that Kazakhstan accepts all corresponding obligations with regard to disarmament and the non-proliferation of nuclear arms, and intends to adhere to the 1968 treaty on the nonproliferation of nuclear arms in the quality of a state possessing nuclear arms. At the same time, the government of the Republic of Kazakhstan intends in due course to declare the territory of the republic a nuclear-free zone.“ Vgl. den DE des VLR I von Butler vom 16. Januar 1992 an die Botschaft in Moskau; B 41, ZA-Bd. 171759. 6 MD Chrobog führte am 26. März 1992 in Ankara Gespräche mit dem Unterstaatssekretär im türkischen Außenministerium, Unan. Chrobog berichtete am folgenden Tag, besprochen worden seien die Lage in Nagorny Karabach sowie die Kurdenfrage. Vgl. DB Nr. 392; B 26, ZA-Bd. 181314. Weitere Gesprächsthemen waren die Lage in den GUS-Mitgliedstaaten sowie in Jugoslawien, die Beziehungen EG – Türkei, die bilateralen Beziehungen, die Zypernfrage sowie die Beziehungen WEU-Türkei. Vgl. den Gesprächsvermerk; B 26, ZA-Bd. 181314. 7 BM Kinkel besuchte die Türkei am 12./13. Juli 1992. Vgl. Dok. 223. 8 Referat 413 erläuterte am 12. Dezember 1991, das 1981 erstmals sowie 1989 erneut paraphierte Vierte Finanzprotokoll EG – Türkei umfasse insgesamt 600 MECU und bedürfe der Zustimmung des Europäischen Parlaments, „das die Entwicklung in der Türkei stets kritisch verfolgt hat“. Zudem habe Griechenland mit Blick auf die Zypernfrage mehrfach bekräftigt, dass es die Freigabe des Finanzprotokolls blockieren werde. Vgl. B 222, ZA-Bd. 175852. 9 Der Sprecher der türkischen Volksgruppe auf Zypern, Denktasch, hielt sich am 13./14. Februar 1992 in der Bundesrepublik auf. Zu seinen Gesprächen mit StM Schäfer und MD Chrobog teilte VLR von Metten-

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Besonderes Gewicht legte GB auf die gestiegene Bedeutung der Türkei, die eine entsprechende Neubestimmung der westlichen Türkeipolitik erfordere. Für die Beziehungen EG – Türkei sei es wichtig, dass die Blockierung des Finanzprotokolls endlich aufgehoben werde; auch die Einbeziehung der Türkei in die „horizontale Kooperation“ müsse sichergestellt werden. Bei dem bevorstehenden Treffen der Politischen Direktoren der G 7 solle auch über die Türkei gesprochen werden10; das Thema solle auch bei dem nächsten Vierertreffen erneut aufgegriffen werden. Dabei seien alle Aspekte der westlichen Beziehungen mit der Türkei im Zusammenhang zu behandeln, mit dem Ziel, den Türken ein umfassendes, faires Kooperationsangebot zu machen. D 2 wies darauf hin, dass dabei der Menschenrechtsaspekt zu beachten sei, der für Deutschland sehr wichtig sei. US berichtete, dass der neue türkische Außenminister Çetin gegenüber Baker11 erklärt habe, die türkische Regierung sei fest entschlossen, gegen Menschenrechtsverletzungen von Grund auf und radikal vorzugehen. Die USA hätten auch den Eindruck, dass es im Justiz- und Polizeiwesen bereits positive Veränderungen gebe. F erklärte, dass die französisch-türkischen Beziehungen sich sehr positiv entwickelten. Ein Besuch Mitterrands in der Türkei sei geplant.12 Allerdings spiele die Kurdenfrage in der öffentlichen Meinung Frankreichs nach wie vor eine große Rolle. Zu dem Verhältnis WEU – Türkei meinte D 2, Gespräche mit der Türkei über die Assoziierung13 seien auf gutem Weg. Man sei zuversichtlich, Formulierungen zu finden, die von allen betroffenen Staaten akzeptiert werden könnten. F verwies darauf, dass die Beziehungen der Türkei zur WEU auch unter dem grundsätzlichen Aspekt der europäischen verteidigungspolitischen Dimension der WEU gesehen werden müssten. Aus französischer Sicht sei die Mitgliedschaft in der WEU gleichbedeutend mit voller Mitwirkung an der Schaffung der Europäischen Politischen Union. Fortsetzung Fußnote von Seite 238 heim am 14. Februar 1992 mit, erörtert worden sei die Zypernfrage, insbesondere die Vermittlungsbemühungen von VN-GS Boutros-Ghali. Vgl. RE Nr. 1861; B 26, ZA-Bd. 183976. 10 Das Treffen der Politischen Direktoren der G 7-Staaten fand am 27./28. Februar 1992 in Bad Homburg v. d. Höhe statt. VLR I Wagner vermerkte am 6. März 1992, es habe Einigkeit bestanden, „dass die islamischen GUS-Republiken in der Türkei ein Modell für ihre weitere Entwicklung sehen und die Bedeutung der Türkei in dieser Region deshalb zunehmen werde“. Dies liege nach amerikanischer Ansicht im Interesse des Westens, der die Türkei dabei mit Blick auf die iranische Rolle in der Region unterstützen müsse: „Die Türkei fühle sich, so US, von Europa marginalisiert. Die neue strategische Rolle der Türkei sei eine zweischneidige Angelegenheit. Es müsse gewährleistet sein, dass die Türkei auch weiterhin sich im Westen verankert fühle, wenn sie ihren Aktionsradius in Richtung Norden, Süden und Osten ausdehne. GB betonte, dass es Aufgabe des Westens sei, die Türkei in Europa einzubinden.“ Vgl. B 32, ZA-Bd. 179575. 11 Der türkische AM Çetin begleitete MP Demirel bei dessen Besuch vom 10. bis 12. Februar 1992 in den USA. 12 Der französische Staatspräsident Mitterrand hielt sich am 13./14. April 1992 in der Türkei auf. 13 Bei der Tagung des Europäischen Rats am 9./10. Dezember 1991 in Maastricht wurden alle EG-Mitgliedstaaten eingeladen, Mitglied der WEU zu werden bzw. einen Beobachterstatus zu erhalten. Europäischen NATO-Mitgliedern, die nicht der WEU angehörten, wurde die Assoziierung angeboten. Vgl. AAPD 1991, II, Dok. 431. Referat 202 vermerkte am 23. März 1992, der türkische AM Çetin habe mit Schreiben vom 15. Januar 1992 an BM Genscher in dessen Eigenschaft als WEU-Ratspräsident das Interesse der Türkei bekundet, assoziiertes Mitglied zu werden. Inzwischen hätten, so Referat 202, die WEU-Mitgliedstaaten intern weitgehend Einigkeit über die Bedingungen für den Beitritt bzw. den Beobachterstatus und die Assoziierung erzielt. Vgl. B 29, ZA-Bd. 213093.

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b) Saudi-Arabien Der Hinweis von US, dass als Gegengewicht zum Iran auch ein größeres saudisches Engagement in den islamischen GUS-Republiken wünschenswert sei, führte zu einer Intervention Fs: Es sei fraglich, ob eine Aktivierung Saudi-Arabiens das von uns gewünschte Ergebnis haben würde. Die derzeitige Entwicklung in Algerien habe ihren Ursprung nicht zuletzt in der massiven Unterstützung algerischer Fundamentalisten durch Saudi-Arabien. Algerier, die bisher in saudischem Sold für die entsprechenden Gruppen in Afghanistan gekämpft hätten, stünden hinter dem Aufruhr in Algerien. Der Westen dürfe nicht vergessen, dass Saudi-Arabien ein doppeltes Gesicht habe: Dollar und Koran. c) US berichtete ebenfalls über Gespräch Baker/Schewardnadse. Schewardnadse strebe offenbar eine politische Rolle in Georgien an; aus amerikanischer Sicht sei jedoch fraglich, ob er angesichts seiner Vergangenheit (georgischer Parteisekretär 1972–1985) dort den nötigen Rückhalt finden werde. Die anderen Direktoren stimmten der Feststellung D 2 zu, dass Schewardnadse die besten Voraussetzungen mitbringe, um die gestörten Außenbeziehungen Georgiens zu verbessern. US und GB wiesen jedoch darauf hin, dass auch Schewardnadse – vorausgesetzt, die georgische Führung hole ihn zurück – an seinen Taten gemessen werden müsse. Er werde insoweit Unterstützung im Westen finden, wie er Georgien zu den KSZE-Prinzipien, insbesondere hinsichtlich der Menschenrechte, zurückführe. 3) Nuklearforschungszentrum Tscheljabinsk und das deutsch-amerikanisch-russische Projekt eines Wissenschaftszentrums14 a) US berichtete über Besuch Bakers in Tscheljabinsk 70, dem früheren sowjetischen Zentrum für Nuklearwaffenplanung und -konstruktion: Tscheljabinsk 70 habe eine Belegschaft von rund 16 000, davon rund 8000 Techniker und Wissenschaftler, davon wiederum 2000 – 3000 Planungs- und Konstruktionsingenieure. Es habe in den letzten Jahren Bemühungen gegeben, die Anlage auf zivile Zwecke umzustellen (Computerforschung und -anwendung), dies sei jedoch zum Stillstand gekommen. Tscheljabinsk 70 habe derzeit keine Zukunftsperspektive, mit Ausnahme der fachlichen Kompetenz für die Zerstörung von Nuklearwaffen. Die Tscheljabinsk-Experten hätten ausdrücklich betont, dass sie, und nur sie allein, in der Lage seien, die dort konstruierten Nuklearwaffen fachgerecht zu beseitigen. Dazu benötigten sie weder westliches Know-how noch westliche Präsenz. Allerdings seien sie nicht in der Lage, die Beseitigung anderer, nicht in Tscheljabinsk konstruierter Nuklearwaffen zu übernehmen. F ergänzte, dass nach den Angaben französischer Experten die Zahl existierender Nuklearwaffen in der Sowjetunion erheblich größer sei, als bisher angenommen, da die Sowjets nie auch nur eine einzige Nuklearwaffe wirklich zerstört, sondern sie immer nur gelagert hätten. b) Es bestand Einvernehmen, dass das Projekt „Wissenschaftszentrum“ bald verwirklicht werden sollte. D erklärte auf Frage von GB nach einem multilateralen Vorbereitungstreffen in Bonn, dass es noch keine konkreten Festlegungen gebe. Wichtig sei es jetzt, die Deckung der auf 100 Mio. $ geschätzten Kosten zu sichern. Bisher hätten die USA einen Betrag von 25 Mio. $ (aus den durch die Nunn-Lugar-Initiative15 im Haushaltsplan 1992 bereitgestellten 14 Zur Gründung eines internationalen Wissenschafts- und Technologiezentrums in Russland zur Verhinderung der Verbreitung von Nuklearwaffen durch Wissenstransfer vgl. Dok. 50. 15 Zur Nunn-Lugar-Initiative vgl. Dok. 21, Anm. 11.

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400 Mio. $) in Aussicht gestellt; die EG wolle einen Betrag in dieser Höhe aus dem EGProgramm für Technische Hilfe bereitstellen. US sprach sich für schnelle Fortschritte und ein baldiges Treffen aus, das in Deutschland, aber auch in einem anderen Land stattfinden könne. Er berichtete, dass Baker in den asiatischen Republiken erklärt habe, dass das Zentrum in Russland angesiedelt sein, den anderen Republiken aber offenstehen solle. Das Zentrum werde Aufträge an bereits bestehende Einrichtungen verteilen, ohne selbst zu einer Forschungseinrichtung zu werden. Die Experten in Tscheljabinsk hätten erklärt, dass sie ein solches Verfahren für machbar hielten. Es bestand Einvernehmen, dass das Projekt im Rahmen der G 7 und der EG besprochen werden solle, mit dem Ziel der baldigen Abhaltung einer Konferenz.16 4) Nukleare Abrüstung und Gefahr der Proliferation a) US berichtete, dass die Abrüstung der strategischen Nuklearwaffen bei den Gesprächen Bakers in Moskau sehr eingehend behandelt worden sei. Aus amerikanischer Sicht solle nun in drei Stufen vorangegangen werden: – Erster Schritt sei die Ratifizierung des START-Abkommens. Dabei gingen die USA davon aus, dass eine Ratifizierung nur durch das russische Parlament erforderlich sei, während von den Parlamenten der anderen betroffenen Republiken die Verpflichtung erwartet werde, den Vertrag zu implementieren. – Als nächster Schritt müssten Zusatzvereinbarungen zu START getroffen werden, um den geänderten Verhältnissen Rechnung zu tragen. Diese Zusatzabkommen sollten eine Reduzierung des Bestands an nuklearen Gefechtsköpfen im strategischen Bereich auf beiderseits rund 4700 zur Folge haben. Hierzu sollten u. a. die beabsichtigte Reduzierung der Zahl von Trident-Gefechtsköpfen sowie die Beseitigung der von START bisher nicht erfassten strategischen Waffen in der Ukraine, Weißrussland und Kasachstan beitragen. – Als dritter Schritt sei ein amerikanisch-russisches Übereinkommen über die weitere Fortsetzung der strategischen Abrüstung erforderlich. Die USA gingen davon aus, dass bis zu dem für Juni/Juli 1992 vorgesehenen Besuch Jelzins in den USA17 alle drei Schritte vollzogen werden könnten. US berichtete, dass die russischen Gesprächspartner sich grundsätzlich konstruktiv verhalten hätten, aber durchaus auch noch traditionelle sowjetische Positionen vertreten worden seien. So habe Jelzin vorgeschlagen, die Bewegungsmöglichkeiten der mit strategischen Nuklearwaffen bestückten U-Boote zu beschränken und anstatt geMIRVter seegestützter Raketen nur Raketen mit einem einzigen Gefechtskopf zuzulassen. Die USA hätten dies abgelehnt, da aus ihrer Sicht die seegestützten Nuklearwaffen nicht destabilisierend seien und den USA außerdem keine Ersatzrakete mit nur einem Sprengkopf zur Verfügung stünde. 16 Vom 9. bis 12. März 1992 fand in Brüssel zunächst auf Beamten-, später auf Außenministerebene eine Konferenz zur Frage eines Internationalen Wissenschafts- und Technologiezentrums (IWTZ) statt. In einer gemeinsamen Erklärung der EG sowie Japans, der USA und Russlands vom 11. März 1992 gaben die EG und die USA bekannt, das Zentrum mit jeweils 25 Mio. US-Dollar unterstützen zu wollen. Auch Japan kündigte einen substanziellen Beitrag an. Russland erklärte seine Bereitschaft, einen Standort zur Verfügung zu stellen. Ein Abkommen zur Gründung des IWTZ solle noch im März 1992 geschlossen werden, sodass dieses seine Arbeit im Frühsommer 1992 aufnehmen könne. Vgl. DEPARTMENT OF STATE DISPATCH 1992, S. 204. 17 Zum Besuch des russischen Präsidenten Jelzin vom 15. bis 18. Juni 1992 in den USA vgl. Dok. 186.

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GB wies darauf hin, dass Jelzin nach wie vor auf die Streitkräfte Rücksicht nehmen müsse. Zwar sei Schaposchnikow kein Verschwörer, Jelzin müsse aber der in den Streitkräften weitverbreiteten Unzufriedenheit Rechnung tragen, die zu Unruhe und Aufruhr führen könnte. b) F gab französischer Besorgnis wegen der noch immer nicht ganz klaren russischen Position hinsichtlich der Proliferation im Nuklearwaffen- und Raketenbereich Ausdruck. So gebe es zur russisch-indischen Zusammenarbeit einige noch unbeantwortete Fragen. US stimmte zu: Der Westen müsse Russland deutlich machen, dass wir die formelle russische Anerkennung der Richtlinien des Clubs von London18 wie auch der Missile Technology Control Regime-Richtlinien19 erwarteten. US berichtete hierzu, dass die Russen gegenüber Baker auch den Wunsch geäußert hätten, ihre Satellitenkapazitäten kommerziell zu nutzen. Die USA hätten geantwortet, dass sie solche Möglichkeiten nur prüfen könnten, wenn Russland klare Verpflichtungen zur Nichtverbreitung von Raketen eingegangen sei. 5) Wirtschaftliche, insbesondere finanzielle Zusammenarbeit US berichtete kurz über Jelzins Bitte um zusätzliche Kreditgarantien für Getreidelieferungen: US-Regierung leiste bereits Kreditgarantie in Höhe von 625 Mio. $ für Februar bis April 1992; Jelzin habe nunmehr weitere Kreditgarantien in Höhe von 600 Mio. $ für Mai und Juni 1992 erbeten. Es bestand Einvernehmen unter den Politischen Direktoren, dass der IWF der besonderen Situation Russlands Rechnung tragen müsse: Wir würden einen schweren Fehler machen, wenn wir es zuließen, dass der IWF Russland wie irgendeinen anderen Beitrittskandidaten20 behandele (US). D 2 warf die Frage finanzieller Unterstützung der Ukraine in Anbetracht der ukrainischen Position zu der Übernahme der sowjetischen Schuldenlast21 auf. US erklärte, dass man Verständnis für die ukrainische Position habe, aber die Konsequenzen über die Ukraine hinaus bedenken müsse. Russland habe erklärt, dass bisher noch keine andere Republik die vereinbarten Einzahlungen geleistet habe. Eingehen auf die ukrainischen Vorstellungen würde das MoU vom 28.10.22 wertlos machen. GB meinte, 18 Zur Gründung der „Nuclear Suppliers’ Group“ (NSG) und zur Formulierung von Richtlinien für das Exportverhalten im Bereich der friedlichen Nutzung der Kernenergie vgl. AAPD 1975, I, Dok. 104, bzw. AAPD 1975, II, Dok. 354. Nach dem Beitritt weiterer Staaten und verschiedenen Textänderungen und -ergänzungen wurden die Richtlinien 1978 der IAEO übergeben und seither mehrfach angepasst. Vgl. das „Information Circular 254“ (INFCIRC/254) und die darauf basierenden Folgedokumente; https://www.iaea.org/publications/ documents/infcircs/communications-received-certain-member-states-regarding-guidelines-export-nuclearmaterial-equipment-or-technology. Zu weiteren Anpassungen vgl. Dok. 104. 19 Die Bundesrepublik, Frankreich, Großbritannien, Italien, Japan, Kanada und die USA wandten seit April 1987 ein einheitliches Exportkontrollregime auf dem Gebiet der Trägertechnologie an. Dem „Missile Technology Control Regime“ traten weitere Staaten bei. Vgl. zuletzt AAPD 1991, II, Dok. 390. Zur Weiterentwicklung des MTCR vgl. Dok. 217. 20 Zum russischen Beitrittsantrag zu IWF und Weltbank vgl. Dok. 6, Anm. 17. 21 Zur Haltung der Ukraine in der Frage der Altschulden der ehemaligen UdSSR vgl. Dok. 32, besonders Anm. 17 und 18. 22 Zum „Memorandum of Understanding“ vom 28. Oktober 1991 zur Regelung der Altschulden der ehemaligen UdSSR vgl. Dok. 17.

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dass der Westen hart bleiben müsse: Wenn die Ukraine das MoU nicht akzeptiere, werde sie auch kein Geld erhalten. (Der Vollständigkeit halber sei noch erwähnt, dass US über zwei bilaterale Themen der Moskauer Gespräche berichtete: – Die USA hätten die Frage nach einem möglichen Aufenthalt amerikanischer Kriegsgefangener aufgeworfen. Es sei vereinbart worden, eine gemeinsame Kommission zu bilden, der Vertreter von Regierung und Parlament aus den USA und Russland angehören sollten. Als persönliche Meinung fügte US hinzu, dass er einen früheren Aufenthalt von US-Kriegsgefangenen – aus dem Zweiten Weltkrieg, dem Korea-Krieg oder VietnamKrieg – in der Sowjetunion für möglich halte, es aber unwahrscheinlich sei, dass sich US-Kriegsgefangene jetzt noch dort aufhielten. – Zum Verbleib der Bücher und Dokumente der Lubawitscher Juden habe Jelzin erklärt, dass die Originale in die staatliche jüdische Bibliothek („State Jewish Library“) kommen, Kopien aber Lubawitscher Gruppen in den USA überlassen werden sollten. Jelzin habe sich auch dem Vorschlag Bakers gegenüber aufgeschlossen gezeigt, Originale den amerikanischen Gruppen leihweise zu überlassen.) II. Andere Themen 1) NATO-Kooperationsrat US begrüßte, dass das NACC-Treffen mit den GUS-Republiken am 10.3. stattfinde23, zeigte sich aber enttäuscht darüber, dass die Abstimmung unter den NATO-Partnern nur Einvernehmen über einen beschränkten Aufgabenbereich für den NACC ergeben habe. Zu lösen sei auch noch die Frage der Finanzierung des NACC, wofür die USA einen Vorschlag vorgelegt hätten.24 Erfreulich sei, dass die Mitglieder des früheren Warschauer Pakts dem NACC weiter positiv gegenüberstünden. Aus amerikanischer Sicht sei im Übrigen keine Überschneidung von NACC und KSZE zu befürchten, die sich gut ergänzen könnten. F erklärte, dass auch Frankreich keine Probleme mit dem Verhältnis NACC/KSZE habe, wohl aber Bedenken über den Weg habe, den die NATO mit dem Aufbau des NACC einschlage. Die NACC-Partner aus dem Bereich des früheren Warschauer Pakts seien letztlich an der Aufnahme in die Beistandsgarantie der Allianz interessiert. Damit bestehe aber die Gefahr, dass die NATO ihren Charakter substanziell verändere. Dem Dialog mit den östlichen Partnern stehe Frankreich durchaus aufgeschlossen gegenüber, es könne aber keinen Prozess akzeptieren, der auf einen grundlegenden Wandel der NATO hinauslaufe. Auch Frankreich erkenne im Übrigen die Notwendigkeit, dem Sicherheitsbedürfnis der früheren WP-Staaten durch neue übergreifende Strukturen zu begegnen. Geeignetes Forum hierfür sei aber die KSZE, deren politisch-deklaratorische Zusagen zu diesem Zweck zu einem rechtlich verbindlichen Sicherheitsrahmen ausgebaut werden sollten. GB entgegnete, dass der NACC keineswegs automatisch zur Ausweitung der NATO führe, sondern im Gegenteil die NATO von entsprechendem Druck entlaste. Die NATO müsse sich, um nicht abzusterben, den neuen Umständen anpassen. Dabei spiele der NACC 23 Zur NAKR-Ministertagung in Brüssel vgl. Dok. 74. 24 VLR I Bertram notierte am 11. Dezember 1991, der amerikanische AM Baker habe in einem Schreiben vom 9. Dezember 1991 an die Außenminister der NATO-Mitgliedstaaten zur Finanzierung der Beziehungen zu den MOE-Staaten den Vorschlag einer einmaligen dreiprozentigen realen Erhöhung des NATO-Zivilhaushalts 1992 unterbreitet: „In den Folgejahren könnten regelmäßig 3 % dieses Haushalts (aufgrund von Einsparungen in gleicher Höhe) für Liaison-Zwecke vorgesehen werden.“ Vgl. B 14, ZA-Bd. 161241.

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eine zentrale Rolle. Indem der NACC zur Revitalisierung der NATO beitrage, festige er auch das Band zwischen den USA und den europäischen NATO-Partnern. An dem französischen Gedanken einer rechtlichen Formalisierung der von den KSZE-Mitgliedstaaten im Rahmen der KSZE eingegangenen politischen Verpflichtungen25 könne Großbritannien keinen Geschmack finden. US pflichtete dieser KSZE-Position bei: Die Stärkung bestimmter KSZE-Institutionen wie des Konfliktverhütungszentrums, die die USA befürworteten, sei zu trennen von dem Gedanken, die KSZE aus einem Prozess in eine rechtlich verbindliche Organisation umzuwandeln. Die USA hätten insbesondere nach wie vor große Bedenken gegen das Konzept eines europäischen Sicherheitssystems auf KSZE-Basis. 2) Open Skies D 2 wies darauf hin, dass es wünschenswert sei, wenn bei dem Treffen der KSZEAußenminister im März in Helsinki das „Open-Skies“-Abkommen unterzeichnet werden könnte.26 Er stellte die Frage zur Diskussion, wie der türkisch-zypriotische Konflikt in dieser Frage überwunden werden könnte. F meinte, man müsse in erster Linie auf die Türkei einwirken, ihren Widerstand gegen die Mitunterzeichnung durch Zypern aufzugeben. US und GB pflichteten dieser Auffassung [bei] und meinten, sie würden sich bei dem Gedanken, Zypern den Nichtbeitritt zu dem Abkommen nahezulegen, nicht wohlfühlen. GB gab allerdings zu bedenken, dass auf alle Fälle auch die Unterzeichnung des Vertrags durch die Türkei erreicht werden sollte. 3) Jugoslawien US hob das bisherige verdienstvolle Engagement der EG in der Jugoslawien-Krise hervor. Auch künftig gelte es, doppelgleisig zu fahren (VN/EG) und die Haager Konferenz27 als Forum für eine politische Regelung der zwischen den Völkern und Republiken Jugoslawiens umstrittenen Fragen weiterzuführen. Für die nahe Zukunft nannte US drei Etappen: – Einen baldigen Beschluss des VN-Sicherheitsrats und die Entsendung substanzieller und effizienter Friedenstruppen.28 – Das Referendum in Bosnien-Herzegowina am 29.2./1.3. unter Teilnahme von KSZEWahlbeobachtern.29 (D 2 ergänzte, dass Portugal bereits einen entsprechenden Bericht an das KSZE-Büro für freie Wahlen gerichtet habe.) – Vorausgesetzt, dass das Referendum zu einem Votum für die Unabhängigkeit von Bosnien-Herzegowina führe, schlage er vor, dass die USA gemeinsam mit den EG-Staaten die vier Republiken Slowenien, Kroatien, Bosnien-Herzegowina und Mazedonien als unabhängig anerkennen sollten; falls Montenegro an der Gemeinschaft mit Serbien festhalte, wäre daran zu denken, diese Gemeinschaft als Jugoslawien anzuerkennen. Es gebe Hinweise darauf, dass eine solche Geste in Belgrad begrüßt würde. Auf die Frage von US, welche EG-Staaten sich an der Friedenstruppe beteiligen würden, nannte F die folgenden Länder: GB (Logistik), Dänemark, Irland, Niederlande, Belgien und Luxemburg, Frankreich. Frankreich habe bereits zugesagt. GB fügte hinzu, dass eine britische Entscheidung bald zu erwarten sei. US wies darauf hin, dass eine Bitte an die 25 Vgl. den französischen Vorschlag eines gesamteuropäischen Sicherheitsvertrags; Dok. 87. 26 Zur Unterzeichnung am 24. März 1992 vgl. Dok. 85. 27 Zur Friedenskonferenz für Jugoslawien vgl. Dok. 44. 28 Zur Aufstellung von UNPROFOR vgl. Dok. 56, Anm. 5. 29 Zum Referendum über die Unabhängigkeit Bosnien-Herzegowinas vgl. Dok. 77, Anm. 5.

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NATO um logistische Hilfe vorstellbar sei. Es empfehle sich daher, diese Frage jetzt schon in der NATO zu diskutieren. D 2 wies darauf hin, dass die deutsch-serbischen Beziehungen keineswegs schlecht seien. Wir stünden mit der serbischen Regierung in ständigem Kontakt. Über die Frage einer Anerkennung Mazedoniens werde die EG am 2. März erneut beraten. Die EG-Partner müssten die Bedenken Griechenlands, die neben vielen emotionalen Aspekten auch eine rationale Grundlage hätten (Hinweis auf die mazedonische Verfassung), ernst nehmen. F stellte die Frage, ob Lord Carrington an seinen Bemühungen, die jugoslawischen Republiken auf gewisse Formen der Zusammenarbeit festzulegen, festhalten werde. Es sei zu erwägen, ob die Zustimmung der einzelnen Republiken zu solchen Strukturen nicht zur Voraussetzung für ihre Aufnahme in die VN gemacht werden könnte. US griff diesen Gedanken auf und meinte, man könne eine Vereinbarung der Republiken über ihre künftige Zusammenarbeit nicht nur zur Bedingung ihrer Aufnahme in die VN, sondern auch in die KSZE machen. D 2 gab dagegen zu bedenken, dass es problematisch sei, für einzelne Beitrittskandidaten neue Regeln zu erfinden. Außerdem dürfe man die kooperationswilligen Nachfolgestaaten nicht zu Geiseln eventueller Nicht-Kooperationswilliger machen. Wir seien für eine baldige Mitgliedschaft insbes. in der KSZE. 4) Die Entwicklung in Polen wurde von den Politischen Direktoren übereinstimmend als besorgniserregend eingeschätzt. US sah eine Tendenz in Polen, das wirtschaftliche Reformprogramm zu bremsen. Der Westen solle Polen deutlich machen, dass es nicht zu einer polnischen Abkehr von der IWF-Linie kommen sollte. GB unterstützte dies und schlug vor, auch bei dem kommenden G 7-Treffen über dieses Thema zu sprechen. Zum Thema Libyen berichtete F über Anzeichen, dass Libyen als Reaktion auf einen Beschluss des VN-Sicherheitsrats zu Lockerbie30 seine Landgrenzen für Nichtaraber sperren könnte. Er regte an, entsprechende Hinweise untereinander auszutauschen. Es bestand Einvernehmen, dass die Tradition eines Zusammentreffens der vier Außenminister aufrechterhalten werden sollte. GB wird prüfen, ob dies anlässlich des KSZEAußenministertreffens in Helsinki verwirklicht werden kann. Als Termin für das nächste Direktorentreffen wurde der 8. April (London) in Aussicht genommen.31 B 130, VS-Bd. 13046 (221)

30 Zu den Anschlägen auf Flugzeuge der PanAm im Dezember 1988 bzw. UTA im September 1989 vgl. Dok. 14, Anm. 2 und 4. 31 Zum Vierertreffen der Politischen Direktoren vgl. Dok. 105.

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62 Vorlage des Ministerialdirektors Dieckmann für Bundesminister Genscher 411-433.90

25. Februar 19921

Über Referat 0112, Herrn Staatssekretär3 Herrn Bundesminister4 Betr.:

Kabinettssitzung am 26.2.1992; hier: GATT-Verhandlungen

Anlg.: 25 Ziel:

Bundesregierung tritt im Allg. Rat am 2./3. März 1992 für die sofortige Einbringung der EG-Forderungslisten in die Genfer Verhandlungen ein.

1) Von EGK am 21.2.92 den EG-MS vorgelegte Forderungslisten für die GATT-Agrarverhandlungen gewährleisten eine maximale Ausgangsposition für die Durchsetzung der essentiellen deutschen Interessen, wie sie in der Koalitionsvereinbarung6 und im Kabinettsbeschluss vom 9.10.917 beschlossen wurden: – ausreichender Außenschutz sowie – dauerhafter und verlässlicher Einkommensausgleich (vgl. Aufzeichnung des BML vom 25.2.92 – Anlage 18 sowie BMWi­Sprechzettel für morgige Kabinettsitzung – Anlage 29). 2) Es kommt jetzt darauf an, dass die EG ihre Forderungslisten schnellstmöglich in die Genfer Verhandlungen einbringt. Frist ist der 1.3., eine Verzögerung um einen Tag wegen 1 Die Vorlage wurde von VLR Schlageter und VLR Sander konzipiert. 2 Hat VLR I Schlegel am 25. Februar 1992 vorgelegen. 3 Hat StS Lautenschlager am 25. Februar 1992 vorgelegen, der handschriftlich vermerkte: „Die Verhandlungen müsste auf jeden Fall der BMWi führen.“ 4 Hat BM Genscher am 26. Februar 1992 vorgelegen. Hat VLR Brose am 9. März 1992 vorgelegen, der den Rücklauf an Referat 411 verfügte. Hat VLR I von Arnim am 9. März 1992 vorgelegen. 5 Vgl. Anm. 8 und 9. 6 Vgl. die „Koalitionsvereinbarung für die 12. Legislaturperiode des Deutschen Bundestages“ vom 16. Januar 1991, S. 52–55; https://www.kas.de/de/web/geschichte-der-cdu/koalitionsvertraege. 7 Korrigiert aus: „9.10.92“. Das Kabinett beschloss am 9. Oktober 1991: „Die Bundesregierung wird die EG-Kommission mit Blick auf das beginnende entscheidende Schlussstadium der Uruguay-Runde zu nachdrücklichen, den erfolgreichen Abschluss der Runde bis Ende dieses Jahres sichernden Verhandlungen ermutigen. Sie geht davon aus, dass die EG auf der Basis des neuen Ansatzes zur Reform der EG-Agrarpolitik spezifische bindende Verpflichtungen bei interner Stützung, Außenschutz und Exportsubventionen, verbunden mit einer Verbesserung des effektiven Marktzugangs, eingehen wird. Die Bundesregierung ist weiter bereit, nach einem Zeitraum von fünf Jahren eine Überprüfung der Auswirkungen dieses GATT-Beschlusses vorzunehmen.“ Vgl. die Anlage zum Vermerk des Referats 411 vom 9. Oktober 1991; B 221, ZA-Bd. 166597. 8 Dem Vorgang beigefügt. Für die Vorlage des BML, die die EG-Angebotslisten zusammenfasste und bewertete, vgl. B 221, ZA-Bd. 166726. 9 Dem Vorgang beigefügt. Für den Sprechzettel des BMWi, der über den Stand der Uruguay-Runde des GATT und krisenhafte Entwicklungen innerhalb der EG informierte, vgl. B 221, ZA-Bd. 166726.

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der Erörterung im Rat ist unproblematisch. Da die EG als einziger Verhandlungsteilnehmer im GATT noch substanzielle Veränderungswünsche hat, würde eine langwierige Ratsdebatte um die Forderungslisten die EG handlungsunfähig machen und damit die GATT-Verhandlungen zum Stillstand bringen. Ziel des Rates muss eine allgemeine Bekräftigung der EGVerhandlungsziele sein, taktische Fragen der Verhandlungsführung sind Sache der EGK, der Allg. und Agrar-Rat wiederholt das Vertrauen ausgesprochen haben. 3) Frankreich verlangt vor Einbringung der EG-Forderungslisten in die Genfer Verhandlungen eine neue Mandatsdebatte mit dem am vergangenen Freitag10 offen ausgesprochenen Ziel, den Abschluss der GATT-Verhandlungen im Jahre 1992 zu verhindern. F meint, – EGK habe das Mandat vom 6.11.9011 überschritten und – USA seien wegen des Wahlkampfs12 nicht mehr kompromissfähig. Hinzu kommt offensichtlich die Sorge, die (deutschen Interessen entsprechende) EG-Forderung nach einer „weiten Green Box“ (d. h. GATT-rechtliche Absicherung von direkten Ausgleichszahlungen) werde zu einer Verhärtung der USA in der Frage der Getreideexporte führen. Da die USA befürchten, die EG werde neue Wege zur indirekten Subventionierung der Exporte finden, bestehen sie auf einer mengenmäßigen Begrenzung der subventionierten Agrarexporte. Dies ist nach Bewertung durch Komm[issar] MacSharry unabdingbare USForderung. Zugleich will F die USA durch enge Ausnahmekriterien zum weiteren Abbau ihrer indirekten Exportsubventionen („deficiency payments“) zwingen, um die Wettbewerbsfähigkeit der französischen Exporte zu steigern. Soweit EGK in ihren Forderungslisten über das Mandat vom 6.11.90 hinausgeht, handelt sie aufgrund stillschweigender Billigung durch mehrere Räte, denen die Haltung der EGK zum Mindestmarktzugang, Mengenbegrenzung der subventionierten Agrarexporte und Verzicht auf Rebalancing für Ölsaaten bekannt war. Diese „Flexibilität“ der EGK war Voraussetzung für die Wiederaufnahme der Verhandlungen im Februar 199113, sie wurde seinerzeit auch von F mitgetragen. 4) Präsident Bush ist – im Gegensatz zur F-Auffassung – am schnellen und erfolgreichen Abschluss der GATT-Verhandlungen interessiert. Bush hat die Aushandlung besserer Voraussetzungen für den amerikanischen Außenhandel in seiner Rede zur Lage der Nation14 an die erste Stelle seiner längerfristigen Ziele gesetzt. Bush tritt – wie auch die derzeit aussichtsreichsten Oppositionskandidaten Tsongas und Clinton – grundsätzlich für einen offenen Welthandel und die Stärkung des multilateralen Handelssystems ein. Ein Scheitern 10 21. Februar 1992. 11 Zum EG-Agrarangebot, das in einer Sondertagung des EG-Rats auf der Ebene der Landwirtschaftsminister am 5./6. November 1990 in Brüssel verabschiedet wurde, vgl. BULLETIN DER EG 11/1990, S. 88. 12 In den USA fanden am 3. November 1992 Präsidentschaftswahlen, Wahlen zum Repräsentantenhaus sowie Teilwahlen zum Senat und für die Gouverneursämter statt. 13 Vom 3. bis 7. Dezember 1990 tagte in Brüssel die Ministerkonferenz der Uruguay-Runde des GATT und wurde ohne Ergebnis vertagt. Vgl. AAPD 1990, II, Dok. 413. Am 26. Februar 1991 beschlossen die an den Verhandlungen beteiligten Staaten die Wiederaufnahme der Gespräche. Vgl. den Vermerk des Referats 411 vom 12. März 1991; B 221, ZA-Bd. 160570. 14 Für die Rede des amerikanischen Präsidenten Bush zur Lage der Nation vor beiden Häusern des amerikanischen Kongresses am 28. Januar 1992 in Washington vgl. PUBLIC PAPERS, BUSH 1992-93, S. 156–163. Für den deutschen Wortlaut vgl. EUROPA-ARCHIV 1992, D 159–166.

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der GATT-Verhandlungen oder deren weitere Verzögerung würde angesichts des zunehmenden amerikanischen Wahlkampfes und der für die Behandlung durch den US­Kongress immer kürzer werdenden Fristen den protektionistischen Kräften in den USA Auftrieb geben und der exportabhängigen deutschen Wirtschaft schweren Schaden zufügen. 5) Die EGK hat am 23.12.91 und 10.1.9215 den Auftrag erhalten, Verbesserungen im Agrarkapitel des „Dunkel-Papieres“ durchzusetzen.16 Eine Bewertung des Erreichten erfolgt am Schluss der Verhandlungen im Lichte des Gesamtergebnisses. Die Einbringung der Forderungslisten in die Genfer Verhandlungen ist Teil der Verantwortung der EGK als Verhandlungsführer; die Vorlage an die EG-MS dient der Transparenz im Verhandlungsprozess. Deutschland hält den Schlüssel für den Verlauf der Ratsdebatte in der Hand. Wenn D versuchte, die EGK zur grundsätzlichen „Nachbesserung“ der Forderungslisten zu zwingen, würden auch alle anderen MS folgen. Daher darf kein Versuch unternommen werden, etwa zur Frage der Getreidesubstitute („Rebalancing“) über den allgemeinen Verhandlungsvorbehalt der EGK quantifizierte Forderungen aufzunehmen. Rebalancing ist Teil des politischen Verhandlungsprozesses außerhalb der Marktzugangsgruppe, für die die EG-Forderungslisten gedacht sind. EGK hält jedoch Rebalancing nach ihren bisherigen Gesprächen in Washington für nicht durchsetzbar. Dieser Bewertung ist zuzustimmen. Präs. Bush kann nicht auf GATT­rechtlich verbriefte Exportchancen verzichten. Die Aufrechterhaltung der Forderung nach echter Begrenzung der Substitute gefährdet daher die GATT-Verhandlungen. Wirtschaftlich verliert Rebalancing an Bedeutung, da bei der im Zuge der Agrarreform geplanten Produktionsbegrenzung von Milch und Fleisch die Nachfrage nach Futtermitteln zurückgehen wird. Die Aufgabe der RebalancingForderung würde es der EGK erleichtern, sich auf die besonders für Frankreich entscheidende Frage der Exportmengen zu konzentrieren.17 Dieckmann B 221, ZA-Bd. 166726

15 Korrigiert aus: „13.1.92. 16 Zum „Dunkel-Papier“ vom 20. Dezember 1991, zur EG-Ministerratstagung vom 23. Dezember 1991 sowie zur EG-Ratstagung am 10. Januar 1992 in Brüssel vgl. Dok. 6, Anm. 3 und 5. 17 Botschafter Trumpf, Brüssel (EG), berichtete am 2. März 1992 zur EG-Ministerratstagung: „Handels- und Agrarminister gelangten im engeren Rahmen nach mehrstündigen, schwierigen Beratungen zu Schlussfolgerungen, die nach einer weiteren Prüfung der Agrarlisten im 113-Ausschuss (Stellvertreter) am 3.3. der KOM die Möglichkeit bieten, die Listen in die GATT-Verhandlungen in Genf einzubringen.“ EGKommissionsmitglied MacSharry habe erklärt, die EG-Kommission werde dann prüfen „ob sie Veränderungen vornehmen wolle oder nicht. Anschließend werde sie auf eigene Verantwortung tätig werden.“ Vgl. DB Nr. 583; B 221, ZA-Bd. 166729.

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26. Februar 1992: Runderlass von Bettzuege

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63 Runderlass des Vortragenden Legationsrats I. Klasse Bettzuege 012-9-312.74 VS-NfD Fernschreiben Nr. 14 Ortez Betr.:

26. Februar 19921 Aufgabe: 6. März 1992

Reform der deutschen Exportkontrolle; hier: Zustimmung des Parlaments zum ÄnderungsG zum Außenwirtschaftsgesetz (AWG), StGB und anderen Gesetzen

Bezug: Orteze Nr. 71 vom 24.9.19902, Nr. 4 und 5 vom 4.3 und 8.2.19914, Nr. 10 vom 14.2.19925 Das mit Bezugsortez Nr. 5 bereits angekündigte Änderungsgesetz zum Außenwirtschaftsgesetz (AWG), StGB und anderen Gesetzen ist am 14.2.1992 auch vom Bundesrat ohne erneute Anrufung des Vermittlungsausschusses beschlossen worden. Es kann nach Vollzug der Unterschriften und Verkündung im BGBl. demnächst in Kraft treten.6 Mit dem ÄnderungsG ist die Reform der Exportkontrolle, die seit 19897 in mehreren Schritten durchgeführt wurde, in ihren Grundzügen zunächst einmal abgeschlossen. I. Das ÄnderungsG war Teil eines Maßnahmenpakets, das die Bundesregierung als Reaktion auf die illegale Beteiligung deutscher Unternehmen am Aufbau der irakischen Rüstung im Februar 1991 vorgelegt hat, mit dem Ziel, die Exportkontrollen weiter zu verbessern. Zu diesen Maßnahmen gehören u. a. – eine allgemeine Genehmigungspflicht für die Ausfuhr aller Güter in besonders sensitive Länder, sofern der Ausführer weiß, dass seine Waren militärische Verwendung finden sollen; – die „Grundsätze zur Prüfung der Zuverlässigkeit von Exporteuren von Kriegswaffen und rüstungsrelevanten Gütern“, die die zuverlässige Beachtung der Exportkontrollen zur Chefsache in den Unternehmen machen. Bei Verstößen drohen einschneidende Konsequenzen, die bis zum Ausschluss unzuverlässiger Personen von Exporten im Außenwirtschafts- und Kriegswaffenkontrollbereich gehen können; – mehrfache Erweiterungen der Ausfuhrliste sowie mehr Personal für Kontrollbehörden wie das Bundesamt für Wirtschaft (BAW) und die Zollämter. 1 Der Runderlass wurde von VLR Stanchina konzipiert. 2 Für den Runderlass des VLR Trautwein vgl. AAPD 1990, II, Dok. 312. 3 In dem am 4. Februar konzipierten und am 5. Februar 1991 übermittelten Runderlass gab VLR I Bettzuege eine Sprachregelung zu Vorwürfen gegen die Bundesregierung im Zusammenhang mit illegalen Exporten in den Irak. Vgl. B 5, ZA-Bd. 161320. 4 Für den Runderlass des VLR I Bettzuege vgl. AAPD 1991, I, Dok. 47. 5 Mit dem am 10. Februar konzipierten und am 14. Februar 1992 übermittelten Runderlass informierte VLR I Bettzuege über die Neufassung der Länderliste H der AWV bzw. über die neu geschaffene Länderliste I. Vgl. B 5, ZA-Bd. 161325. 6 Für das Gesetz vom 28. Februar 1992 zur Änderung des AWG, des StGB und anderer Gesetze sowie für das Gesetz vom selben Tag zur Errichtung eines Bundesausfuhramtes vgl. BGBl. 1992, I, S. 372–378. 7 Zur Novellierung des KWKG und des AWG vgl. AAPD 1989, II, Dok. 296 und Dok. 358, sowie AAPD 1990, II, Dok. 312.

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II. 1) Die folgenden Maßnahmen bedurften der Gesetzesform. Sie sind der Inhalt des jetzt verabschiedeten Gesetzes: – weitere Strafverschärfungen im Bereich des AWG, insbesondere: höhere Strafen für besonders schwere Fälle; Ausdehnung der Fahrlässigkeitsstrafbarkeit. Erstreckung auch auf Auslandstaten, – Verankerung der Zuverlässigkeitsprüfungen im Gesetzestext, – Einzeleingriffsermächtigung für den BMWi, – Ermächtigung des Zollkriminalinstituts – unter dem Vorbehalt einer Entscheidung eines Richters –, in das Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis einzugreifen, um illegale Lieferungen schon im Vorfeld zu erkennen und zu verhindern, – Verwertung von Erkenntnissen aus „strategischen Kontrollen“ des BND bei Straftaten gegen AWG und KWKG, – mit dem erweiterten Verfall (§ 73 StGB) kann nicht nur der Netto-, sondern der Bruttogewinn aus der Straftat abgeschöpft werden, – begründeter Verdacht auf Taten nach § 34 AWG erlaubt Post- und Telefonüberwachung. Zu einzelnen dieser Maßnahmen: – Einzeleingriffsermächtigung: § 1 AWG erklärt den Außenwirtschaftsverkehr für grundsätzlich frei. Einschränkungen sind nur durch Gesetz- oder Rechtsverordnung möglich. Eine Rechtsverordnung dient der Regelung einer abstrakten Vielzahl einschlägiger Fälle. Sie ist wegen des formalisierten und zeitraubenden Verfahrens nicht geeignet, Einzelfälle zu regeln. Die Fälle „Drachenflieger für die PLO“8 oder „Big Gun“9 haben gezeigt, dass es dringend notwendig ist, dem BMWi eine Einzeleingriffsermächtigung zu erteilen, um nicht Einzelfälle durch Rechtsverordnung regeln zu müssen. – Weitere Verschärfung der Strafvorschriften: Wegen einer Reihe aufgedeckter Fälle illegaler Ausfuhren ist eine erneute Verschärfung des § 34 AWG erfolgt. In jedem Falle Straftaten – und nicht mehr bloße Ordnungswidrigkeiten – werden sensitive Ausfuhren ohne oder aufgrund erschlichener Genehmigungen oder Ausfuhren trotz bestehender Ausfuhrverbote sein. Ein Nachweis, dass solche Ausfuhren die Rechtsgüter des § 34 Abs. 1 AWG (z. B. erhebliche Gefährdung der auswärtigen Beziehungen etc.) gefährden können, wird nicht mehr gefordert. Als neuer besonders schwerer Fall gelten Verstöße gegen VN-Sanktionen des Sicherheitsrates. Strafbar werden künftig auch Ausfuhren über Strohmänner oder ähnliche Konstruktionen trotz bestehender Ausfuhrverbote sein. Damit ist nach § 19 und 20 KWKG10 auch im AWG der Begriff des Förderns eingefügt worden, mit dem eine verselbstständigte Beihilfehand8 Durch die Sechste Verordnung vom 20. März 1990 zur Änderung der AWV wurde die Durchfuhr von Hängegleitern genehmigungspflichtig, falls diese in den Libanon, nach Libyen oder Syrien geliefert werden sollten. Vgl. BGBl. 1990, I, S. 554. 9 In einem Vermerk des BMWi vom 20. August 1990 wurde zum irakischen Projekt eines Ferngeschützes („Big Gun“) festgehalten: „Im Vordergrund stand hier zunächst die Verhinderung der Durchfuhr von Zulieferungen aus anderen europäischen Ländern, insbesondere Großbritannien, über den Flughafen Frankfurt.“ Die Bundesregierung habe am 21. Juni 1990 „ein entsprechendes Durchfuhrverbot für Zulieferungen zu diesem Projekt beschlossen“. Vgl. B 70, ZA-Bd. 162376. 10 Für § 19 und § 20 des KWKG in der Fassung der Bekanntmachung vom 22. November 1990 vgl. BGBl. 1990, I, S. 2512.

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lung unter Strafe gestellt wird. Schließlich wird der Strafrahmen für besonders schwere Fälle über § 38 StGB11 auf bis zu 15 Jahre erhöht. 2) Ein am gleichen Tag vom Bundesrat verabschiedeter Gesetzentwurf sieht vor, die bisherige Ausfuhrabteilung des BAW auszugliedern und sie als Bundesausfuhramt (BAA) zu einer Bundesoberbehörde aufzuwerten. 3) Die im Laufe der Reform in den letzten Jahren geschaffenen oder verschärften Strafvorschriften im AWG und KWKG sollen in einem späteren Schritt aus diesen Nebengesetzen in das StGB übernommen werden. Mit diesem ÄnderungsG ist das AWG seit 1989 zum dritten Mal geändert worden. Die Vertretungen werden zu gegebener Zeit ein Exemplar der Neufassung des AWG erhalten. Bettzuege12 B 5, ZA-Bd. 161325

64 Gespräch des Bundeskanzlers Kohl mit dem tschechoslowakischen Präsidenten Havel auf Schloss Lány 27. Februar 19921 Präsident Havel heißt den Bundeskanzler herzlich willkommen.2 Es handele sich um einen historischen Besuch. Der Bundeskanzler bedankt sich und erklärt, er wisse es sehr wohl zu schätzen, dass der Besuch in dieser mehr privaten Atmosphäre beginne. Sein Wunsch sei, dass sich aus diesem Besuch auch eine persönliche freundschaftliche Beziehung entwickele. Persönliche Beziehungen brächten die Probleme nicht weg, machten aber die Lösung leichter. Der Bundeskanzler verweist in diesem Zusammenhang auf die persönliche Freundschaft zwischen Adenauer und de Gaulle und seine Freundschaft mit Präsident Mitterrand. Er würde es begrüßen, wenn man sich regelmäßig sehe und miteinander telefoniere. 11 Für § 38 StGB in der Fassung der Bekanntmachung vom 10. März 1987 vgl. BGBl. 1987, I, S. 959. 12 Paraphe vom 6. März 1992. 1 Kopie. Der Gesprächsvermerk wurde von MD Hartmann, Bundeskanzleramt, am 4. März 1992 gefertigt und am selben Tag über BM Bohl an BK Kohl geleitet. Dazu vermerkte Hartmann: „Ich gehe davon aus, dass der Vermerk grundsätzlich nicht weitergeleitet wird. Ich schlage daher vor, dass ich BM Seiters persönlich die Passagen übermittle, die die Asylfrage betreffen. Hierzu bitte ich um Zustimmung.“ Vgl. den Begleitvermerk; B 42, ZA-Bd. 156434. VLR I Schäfers, Bundeskanzleramt, leitete den Vermerk an VLR I Derix „zu Ihrer u. H. Meier-Klodts persönl[icher] Kenntnis.“ Hat Derix am 5. März 1992 vorgelegen, der das Wort „persönl.“ hervorhob. Hat LR I Meier-Klodt am 6. März 1992 vorgelegen. Vgl. den undatierten Begleitvermerk; B 42, ZA-Bd. 156434. 2 BK Kohl und BM Genscher hielten sich am 27./28. Februar 1992 in der ČSFR auf.

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Er hoffe, dass der heutige Besuch in der historischen Dimension zu einem großen Erfolg werde. Wir erlebten eine der dramatischsten Veränderungen der Welt und vor allem Europas seit langer Zeit. Er habe Verständnis für Menschen, die so schnell mit der Entwicklung nicht mitkämen, aber Politiker könnten sich diesen Luxus nicht erlauben. In dieser geschichtlichen Stunde müsse es ein paar Leute geben, die den Kompass richtig läsen. Präsident Havel sei für ihn eine solche Persönlichkeit. Er, der Bundeskanzler, habe die deutsche Einheit nie isoliert gesehen, sondern die deutsche Einheit und die europäische Einigung seien zwei Seiten einer Medaille. Deutschland sei ein Land mitten in Europa, mit den längsten Grenzen, und wir seien zugleich das wirtschaftlich stärkste Land mit einer ungewöhnlich komplizierten Geschichte. In dieser Geschichte habe es großartige und schreckliche Kapitel gegeben. Er, der Bundeskanzler, stehe in der Kontinuität dieser Geschichte. Wenn beispielsweise der Rauch der Schlacht um den Vertrag3 abgezogen sei, müsse man eine Lösung für eine Stiftung für die KZOpfer4 finden. Dies habe auch mit dem inneren Frieden zu tun. Wir dürften die Geschichte nicht vergessen, sondern müssten Konsequenzen aus der Geschichte ziehen. Seine Konsequenz heiße: Vereinigte Staaten von Europa. Hierzu gehöre auch die Tschechoslowakei, wenn nicht jetzt, dann in zehn Jahren. Dies sei ein deutscher Wunsch und auch sein persönlicher Wunsch. Dabei wolle er nicht nur ein wirtschaftliches Europa. Man dürfe vielmehr die kulturelle Dimension nicht vergessen. Jetzt stoße Nordeuropa zur EG. Später würden die ČSFR, Polen und Ungarn dazukommen. Natürlich gebe es zwischen Deutschland und der Tschechoslowakei noch Probleme, aber darüber müsse man offen miteinander reden. Präsident Havel erklärt, er bedanke sich sehr herzlich für die Worte des Bundeskanzlers. Er teile seine Meinung, was die historische Zukunft betreffe. Im Unterschied zu Deutschland sei die ČSFR eine junge Demokratie mit allen zugehörigen Kinderkrankheiten. Die ČSFR habe 50 Jahre Totalitarismus hinter sich. Dies zeige sich auch in der Atmosphäre, die in der ČSFR im Zusammenhang mit dem Vertrag entstanden sei. Seine Position sei in diesem Augenblick nicht einfach. Viele problematisierten den Vertrag aus verschiedenen Gründen. Dies hänge in erster Linie mit den Wahlen5 zusammen. Die Kritik gehe haupt3 Die Bundesrepublik und die ČSFR verhandelten seit Februar 1991 über einen Vertrag über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit. Vgl. AAPD 1991, I, Dok. 79, Dok. 139 und Dok. 186, AAPD 1991, II, Dok. 239, Dok. 264 und Dok. 318. Der Vertrag wurde am 27. Februar 1992 mit einem zugehörigen Briefwechsel in Prag unterzeichnet. Vgl. BGBl. 1992, II, S. 463–473. 4 VLR I Lincke vermerkte am 21. Februar 1992, bei einem Treffen mit BM Genscher am 6. Januar 1992 in Fellbach habe der tschechoslowakische AM Dienstbier erstmals eindeutig seine Position in der Frage der Entschädigung für tschechoslowakische Opfer des Nationalsozialismus formuliert: „Die tsl. Seite fordert eine Regelung nach dem polnischen Modell (Stiftungslösung). Hinsichtlich der Größenordnung eines deutschen Beitrags sprach AM Dienstbier von einem im Vergleich zu Polen ,angemessenen‘ deutschen Betrag i. H. v. DM 100 bis 150 Mio.“ BK Kohl habe bereits erklärt, „dass nach den Regelungen mit der SU und POL eine weitere Stiftungslösung nicht in Betracht kommt“. Schätzungen des BMF ergäben einen Betrag von ca. 70 Mio. DM. Infrage kämen ein teilweiser Schuldenerlass, mit dem die ČSFR den betroffenen Personenkreis selbst unterstützen könne, oder eine „zukunftsgerichtete Zusammenarbeit“ auf kulturellem oder wirtschaftlichem Gebiet im Gegenzug für einen Verzicht auf Entschädigungsforderungen. Vgl. B 86, Bd. 2062. 5 Am 5./6. Juni 1992 fanden in der ČSFR Wahlen zur Föderalversammlung sowie zu den tschechischen und slowakischen Nationalräten statt.

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sächlich von Kommunisten aus, die mit Dogmen und Vorurteilen behaftet seien. Es gebe derzeit in Prag Demonstrationen, bei denen sein Rücktritt verlangt werde. Er befinde sich in einer komplizierten Lage und habe nicht genug Unterstützung seitens der Parteien. Sogar die rechtsorientierte ODS6 habe sich vor einigen Tagen kritisch zur Außenpolitik gegenüber Deutschland geäußert. Der Bundeskanzler wirft die Frage ein, ob es sich um ein Interview von Finanzminister Klaus handele. Präsident Havel bejaht dies und erklärt, er stehe jetzt vor dem Problem der Ratifikation.7 Er sei überzeugt, dass das Parlament den Vertrag ratifizieren werde. Dies bedürfe allerdings noch vieler Erläuterungen. Es gebe im Volk Tabus. Als er sich seinerzeit in seinem neuen Amt zur Vertreibung der Sudetendeutschen geäußert habe8, sei dies ein riesiger Schock für das Land gewesen. Er erwähne dies nur zur Erklärung dafür, dass man den Vertrag so rasch unterzeichnen wollte. Er sei froh, dass es jetzt zur Unterzeichnung komme, und sehe den Vertrag als ungeheuer wichtig für die ČSFR an. Er wisse insbesondere zu schätzen, dass Deutschland sich in dem Vertrag bereit erkläre, die ČSFR bei ihrem Beitritt zur EG zu unterstützen. Dies solle man auch öffentlich in der Pressekonferenz sagen. Der Bundeskanzler erklärt, er werde dies offensiv vertreten und vor allem die europäische Perspektive darlegen. Er könne die Lage in der ČSFR sehr gut verstehen, denn er habe ähnliche Probleme in den neuen Bundesländern. Präsident Havel erklärt, er wolle noch eine wichtige Frage aufgreifen. Es würde ihm gegenüber dem Parlament ungeheuer helfen, wenn in der Zwischenzeit die Stiftung für die KZ-Opfer gegründet werde. Diese Menschen hätten im Unterschied zu Polen und Ungarn keinen Pfennig bekommen. Er wisse, dass diese Frage nicht unmittelbar mit dem Vertrag zusammenhänge, sodass man dies nicht öffentlich präsentieren könne. Dennoch wäre er froh, wenn man die internen Gespräche hierüber weiterführen könne. Dies wäre angesichts der Tatsache, dass auch viele anständige Mitglieder des Parlamentes den Vertrag problematisierten, sehr hilfreich. Man müsse wissen, dass die KZ-Opfer eine eigene Organisation mit Einfluss auf das Parlament gegründet hätten. Im Übrigen wäre es auch eine prinzipiell gerechte Sache. Was die Lösung der sudetendeutschen Frage betreffe, so wisse der Bundeskanzler, dass er, der Präsident, bereit sei, ein paar Schritte zu tun. Dies habe er schon früher angedeutet, aber die derzeitige Lage erlaube nicht zu viele Schritte. Es sei nun einmal so, dass die Äußerungen von Herrn Neubauer sich sofort in Schlagzeilen der tschechoslowakischen Medien niederschlügen und die entsprechende politische Reaktion hervorriefen. Er sei fest davon überzeugt, dass die Menschen in ein paar Jahren begriffen, wie wichtig der Vertrag sei. Im Übrigen sei er hinsichtlich der Ratifizierung optimistisch. Er sei froh, dass es am Montag9 zu ersten Gesprächen zwischen Abgeordneten der beiden Parlamente über die Frage einer Resolution komme. Es wäre gut, wenn man die proble6 Korrigiert aus: „UDS“. Občanská demokratická strana (Demokratische Bürgerpartei). 7 Zur Ratifizierung des deutsch-tschechoslowakischen Vertrags vom 27. Februar 1992 über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit vgl. Dok. 116. 8 Für die Äußerungen des tschechoslowakischen Präsidenten Havel vgl. den Artikel „ ‚Ich bin zu keiner Rache fähig‘ “; STERN, Nr. 3 vom 11. Januar 1990, S. 20. 9 2. März 1992.

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matischen Stellen in den bisherigen Entwürfen verändern würde. Er habe Sorge davor, dass das tschechoslowakische Parlament den Vertrag bereits im März, der Bundestag aber erst im Juni, d. h. im Zusammenhang mit den Wahlen der ČSFR, ratifiziere. Besser wäre es, wenn es ein synchrones Vorgehen gebe. Dies seien seine Hauptsorgen, die er offen dem Bundeskanzler mitteilen wolle. Der Bundeskanzler erklärt, man solle auch über die Schwierigkeiten offen miteinander reden. Für ihn sei es absolut notwendig, die Frage der Stiftung für KZ-Opfer von dem Vertrag zu trennen. Er habe nicht die Befürchtung, dass sich seine Erfahrung vom November 1989 in Warschau wiederhole, wo er seinerzeit Mazowiecki gegenüber seine Bereitschaft erklärt habe, etwas zu tun10, aber ausdrücklich nicht im Zusammenhang mit dem Vertrag. Leider habe man das in der polnischen Regierung beiseitegeschoben. Man habe deswegen sehr viel Zeit verloren. Wir hätten natürlich auch eine Innenpolitik, auf die wir Rücksicht nehmen müssten. Man müsse eine Lösung finden, die kein Präjudiz nach sich ziehe. Die Frage hier in Prag sei eine andere als in einer Reihe anderer Länder. Es gebe beispielsweise gigantische Forderungen aus den neuen Republiken der früheren Sowjetunion.11 Er werde daher in der heutigen Pressekonferenz sagen, dass er das Problem sehe und dass wir hierüber Gespräche führten. Er sage dies nicht, um nichts zu tun. Aber es sei eine auch innenpolitisch sehr komplizierte Frage. Was die sudetendeutsche Vermögensfrage angehe, so hätten wir in Deutschland eine heftige Diskussion über den Fortgang der Versteigerungen. 1950 wäre dies möglicherweise eine andere Sache gewesen als jetzt. Jetzt können die Leute vor Ort erleben, wie ihr Eigentum versteigert werde und wie man Geschäfte über Strohmänner mache. Dies sei im Augenblick der eigentliche Punkt. Die Führung der sudetendeutschen Landsmannschaft bestehe nicht überwiegend12 aus Radikalen. Der Bundeskanzler verweist in diesem Zusammenhang auf die Erklärung der Vertriebenen von 195013, bei deren Zustandekommen die Sudetendeutschen eine wichtige Rolle gespielt hätten. Er wolle noch in aller Offenheit etwas zum Termin der Unterzeichnung sagen. In der zweiten Jahreshälfte 1991 hätten für uns die Verhandlungen über den Vertrag von Maastricht absoluten Vorrang gehabt. Natürlich müsse man jetzt sehen, wie man in der Frage der Ratifizierung weiterkomme. Der Vertrag werde bei uns selbstverständlich verabschiedet werden. Dies sei nicht das Problem. Es werde auch keine Resolution verabschiedet, die dem Präsidenten das Leben erschwere. Er werde sich das selbst ganz genau ansehen. Wichtig sei natürlich auch der Termin der Ratifizierung. Dies sei in erster Linie eine Entscheidung des Bundestages. Es werde eine riesige Mehrheit für den Vertrag geben, aber es werde natürlich auch zu einzelnen Erklärungen kommen. Dies sei aber kein großes Problem. Er werde sich selber um die Ratifizierung kümmern. Da könne man noch das ein oder andere überlegen. Ein wichtiger Punkt sei beispielsweise, dass es zu einem Übereinkommen zwi10 Vgl. das Gespräch zwischen BK Kohl und dem polnischen MP Mazowiecki am 14. November 1989 in Warschau; DEUTSCHE EINHEIT, Dok. 92. 11 Zu den Entschädigungsforderungen Russlands, der Ukraine und von Belarus vgl. Dok. 111. 12 Die Wörter „nicht überwiegend“ wurden von VLR I Derix unterschlängelt. 13 Vgl. die Charta der deutschen Heimatvertriebenen vom 5. August 1950; https://www.bund-dervertriebenen.de/charta-auf-deutsch.

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schen Deutschland und der Tschechoslowakei in der Asylfrage komme. Wir hätten 30 000 Asylbewerber pro Monat. Das Schengener Abkommen14 könne nicht funktionieren, wenn es in dieser Frage keine Lösung gebe. Innenminister Seiters sei mit seinem tschechoslowakischen Kollegen vor wenigen Tagen zusammengetroffen. Ihm sei es nicht gelungen, eine befriedigende Lösung zu finden.15 Wenn man in dieser Frage Fortschritte mache, sei das innenpolitisch von größter Wichtigkeit. Wenn er den Präsidenten richtig verstanden habe, so sei es für die ČSFR wichtig, dass die Ratifizierung vor der Wahl in der ČSFR am 5./6. Juni 1992 über die Bühne gehe. Präsident Havel bejaht dies und erklärt, er sei sich sehr wohl der Problematik bewusst, denn die ČSFR habe die Ukraine als Nachbarn. Er verspreche dem Bundeskanzler, dass er Minister Langoš zu sich rufen werde, da sich die Lage dann erklären lasse, und weitersehen werde, dass diese Sache gelöst werde. Die ČSFR sei dabei, derzeit ihre Rechtsordnung zu überarbeiten und der EG anzupassen. Hierbei unterliefen auch Fehler. Er werde sich aber selber darum kümmern, dass dieses Gesetz kompatibel sei. Der Bundeskanzler erklärt, man solle in dieser Frage auch engen Kontakt zwischen den persönlichen Mitarbeitern halten. Präsident Havel erklärt, er schulde dem Bundeskanzler noch eine Antwort zur Frage der Versteigerung sudetendeutschen Eigentums. Eine der wichtigsten Sachen sei die schnelle Privatisierung. Man befindet sich derzeit in der ersten Phase der kleinen Privatisierung. Das Parlament habe ein Gesetz erlassen, wonach sich nur tschechoslowakische Staatsangehörige an der Versteigerung beteiligen könnten. Fürst Schwarzenberg wirft ein, dies gelte allerdings nur für die erste Runde. Präsident Havel fährt fort, dies sei aus dem Gesichtspunkt einer liberalen Ökonomie ein unsauberes Prinzip – dessen sei man sich bewusst. Es handele sich aber um eine politische und soziale Notwendigkeit im Hinblick auf das Bewusstsein der Bevölkerung. Der Bundeskanzler kenne das Problem aus den neuen Bundesländern. In der ČSFR habe es große Ängste gegeben, dass Tschechen bei der Privatisierung leer ausgingen, wenn man Ausländer beteilige, weil diese einfach mehr Geld hätten. In der zweiten Runde seien aber, wie gesagt, ausländische Staatsangehörige zugelassen. Man hätte dies sicher auch anders machen können, aber dafür habe man keine Zeit gehabt. Bei den Überlegungen, die er sei14 Für das Übereinkommen vom 14. Juni 1985 zwischen Belgien, der Bundesrepublik, Frankreich, Luxemburg und den Niederlanden betreffend den schrittweisen Abbau von Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen (Abkommen von Schengen) vgl. EUROPA-ARCHIV 1991, D 3–9. Für das Durchführungsübereinkommen vom 19. Juni 1990 nebst Anlagen vgl. BGBl. 1993, II, S. 1013– 1093. Vgl. auch AAPD 1990, I, Dok. 168. 15 BM Seiters hielt sich am 25./26. Februar 1992 in der ČSFR auf. Botschafter Huber, Prag, teilte am 26. Februar 1992 mit, im Gespräch mit dem tschechoslowakischen Innenminister Langoš sei über die Frage des Abschlusses eines Rückübernahme-Abkommens gesprochen worden: „BM unterstrich nachdrücklich das deutsche Interesse auf Abschluss einer entsprechenden Vereinbarung und übergab Text eines Entwurfs für ein bilaterales Abkommen. Tsl. Seite zeigte sich hierzu grundsätzlich bereit, sobald sie ein entsprechendes Abkommen mit POL und insbesondere UNG abgeschlossen habe.“ Langoš habe erläutert, dass Ungarn derzeit den Rücktransfer illegaler Einwanderer, v. a. aus Rumänien, auf dem Landweg durch Ungarn verweigere, was für die ČSFR hohe Kosten für den Transport auf dem Luftweg bedeute. Sie könne sich daher ohne eine entsprechende Regelung mit Ungarn den Abschluss eines RückübernahmeAbkommens mit der Bundesrepublik „nicht leisten“. Huber teilte mit, es seien weitere Expertengespräche mit der ČSFR im März verabredet worden. Vgl. DB Nr. 305; B 42, ZA-Bd. 156440.

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nerzeit in Bonn dargelegt habe16, habe er in erster Linie an die große Privatisierung gedacht, die viel perspektivenreicher sei. Die kleine Privatisierung könne man jetzt – im Hinblick auf den Vertrag – nicht mehr aufhalten. Er habe das Gefühl, dass in den deutschen Medien hierüber nicht genau informiert werde. Es wäre sicher besser gewesen, wenn die Versteigerungen auch in der ersten Runde für Ausländer offen gestanden hätten, aber dies sei politisch nicht möglich gewesen. Der Bundeskanzler erklärt, er wisse, dass man in der Politik nicht immer tun könne, was auch gut sei, und stellt die Frage, wann die große Privatisierung beginne. Präsident Havel erklärt, diese habe schon angefangen. Hierbei sei auch ausländisches Kapital zugelassen, und es würden im Rahmen der großen Privatisierung komplette Betriebe verkauft. Es sei in diesem Augenblick zwar nicht so, dass ausländische Staatsbürger den gleichen Zugang zu den Aktien hätten wie Tschechoslowaken. Aber es gebe einen großen Spielraum für ausländische Kapitalgeber. Er könne sich sehr gut vorstellen, dass insbesondere an grenznahen Unternehmen ausländisches Kapital partizipiere. Dies müsse allerdings sehr schnell geschehen. Er gebe auch schon ein positives Beispiel, nämlich der Einstieg von VW bei Škoda17. Dies sei auch ein Beweis dafür, dass, wenn ein ausländischer Partner sich entschließe, die Dinge gut liefen. Der Bundeskanzler erklärt, dies sei natürlich psychologisch ein etwas anderer Fall. Für den Gesamtzusammenhang wäre es gut, wenn im Hinblick auf die künftige EG-Mitgliedschaft der ČSFR eine Regelung gefunden werden könnte, die auf die EG-Bürger – nicht nur auf Deutsche – bezogen sei. Wenn die ČSFR der EG beitrete, werde dies sowieso der Fall sein. Präsident Havel erklärt, gerade deswegen sei er interessiert, dass der Prozess sehr schnell vorankomme. Auch er habe ein Interesse daran, dass man immer einen Schritt vor diesem Prozess sei. Auch wenn die ČSFR nicht volles Mitglied sei, wolle man sich auf diesen Zustand schon vorbereiten. Der Bundeskanzler erklärt, es sei in der Tat ein Weg, mit dem man sehr viel psychologische Beruhigung erreichen könne. Andererseits klafften das Getöse in der Öffentlichkeit und die tatsächliche Realisierung weit auseinander. So sei beispielsweise von Germanisierung die Rede. Das Gespräch wird bei dem anschließenden Mittagessen fortgesetzt. Präsident Havel erklärt auf eine entsprechende Frage des Bundeskanzlers, die Präsidentenwahlen würden zwei Monate nach den Parlamentswahlen stattfinden. Er geht sodann auf einige Aspekte der tschechoslowakischen Verfassung ein. Der Bundeskanzler erklärt, er würde es sehr begrüßen, wenn er den Präsidenten an einem Wochenende im Oktober in seiner Heimat willkommen heißen könne. Präsident Havel nimmt die Einladung gerne an. Der Bundeskanzler stellt die Frage nach den Unabhängigkeitsbestrebungen in der Slowakei. 16 Vgl. das Gespräch zwischen BK Kohl und dem tschechoslowakischen Präsidenten Havel am 8. Mai 1991; AAPD 1991, I, Dok. 157. 17 Botschafter Huber, Prag, informierte am 10. Dezember 1990, am Vortag habe die tschechoslowakische Regierung bekannt gegeben, dass sie sich gemeinsam mit dem Autokonzern Škoda für das Beteiligungsangebot der Volkswagen AG und gegen das Angebot von Renault/Volvo entschieden habe. Vgl. DE Nr. 1967; B 42, ZA-Bd. 156460.

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Präsident Havel erwidert, die Umfragen zeigten, dass über 80 % der Slowaken einen gemeinsamen Staat wollten. Der Bundeskanzler fragt, ob dies auch von Ministerpräsident Čarnogurský gewollt werde. Präsident Havel erwidert, es sei die linke Opposition, die diese Frage in den Wahlkampf trage. Vor allem die Nationalpartei wolle einen eigenen Staat. Das Problem sei, dass jeder sich den gemeinsamen Staat anders vorstelle. Zum Teil gebe es phantastische Vorstellungen. Ein wirkliches Problem werde dann entstehen, wenn in der Slowakei die Linke und in der Tschechischen Republik die Rechte gewinne. Dann werde es sehr schwierig sein, eine Koalition zu bilden. Insgesamt habe man ein sehr schwieriges Jahr vor sich. B 42, ZA-Bd. 156434

65 Vorlage des Vortragenden Legationsrats I. Klasse Libal für Bundesminister Genscher 215-320.10 JUG

27. Februar 1992

Über Herrn Dg 211, Herrn D 2 i. V.2, Herrn Staatssekretär3 Herrn Bundesminister4 Betr.:

Rest-Jugoslawien; hier: Identität und Kontinuität mit dem bisherigen Jugoslawien, vor allem in Hinblick auf die Stellung in internationalen Organisationen

Zweck der Vorlage: Zur Billigung der Überlegungen unter Ziffer III und IV I. Nach der Anerkennung Sloweniens und Kroatiens5 ist die Politik der serbischen Führung darauf gerichtet, einem Rest-Jugoslawien, das zumindest aus Serbien und Montenegro bestehen soll, die Kontinuität mit dem bisherigen jugoslawischen Staat zu sichern. Serbien hofft damit, das Modell der Fortsetzung der Sowjetunion durch die Russische Föderation für sich zu nutzen. Die von der serbischen Opposition vorgeschlagene Linie, auch Serbien zu einem eigenen unabhängigen Staat zu proklamieren, konnte sich demgegenüber bislang nicht durchsetzen. Hinter der „jugoslawischen“ Linie von Milošević dürften folgende Motive stehen: 1 2 3 4

Hat MDg von Studnitz am 27. Februar 1992 vorgelegen. Hat in Vertretung des MD Chrobog MDg Hofstetter am 27. Februar 1992 vorgelegen. Hat StS Kastrup am 28. Februar 1992 vorgelegen. Hat BM Genscher am 28. Februar 1992 vorgelegen. Hat OAR Rehlen am 3. März 1992 vorgelegen, der den Rücklauf über das Büro Staatssekretäre, MD Chrobog und MDg von Studnitz an Referat 215 verfügte. Hat StS Kastrup am 3. März 1992 erneut vorgelegen. Hat Chrobog am 4. März 1992 vorgelegen. Hat Studnitz am 4. März 1992 erneut vorgelegen. Hat VLR I Libal am 4. März 1992 erneut vorgelegen. 5 Zur Frage der Anerkennung von Kroatien und Slowenien vgl. Dok. 11, Anm. 4.

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– die Chance für eine Einbeziehung von Bosnien-Herzegowina, oder zumindest der serbisch kontrollierten Teile dieser Republik, in einen staatlichen Verband mit Serbien offenzuhalten; – dabei nach außen hin den Eindruck zu vermeiden, es ginge Belgrad um ein „GroßSerbien“; – den von Serbien gesteuerten Organen in Belgrad weiterhin den Zugriff auf das Eigentum Jugoslawiens im Ausland zu sichern; – der JVA ihren zunehmend fiktiven gesamtjugoslawischen Charakter zu erhalten und hieraus die Legitimation für ihre weitere Finanzierung zulasten auch des übrigen Jugoslawien abzuleiten. II. In Anbetracht der bis zu einer umfassenden politischen Lösung nicht voll geklärten völkerrechtlichen Situation haben wir bislang in dieser Frage einen pragmatischen Kurs verfolgt. Maßgebend hierfür ist die ganz überwiegende Meinung der Staatengemeinschaft, dass das Völkerrechtssubjekt Jugoslawien einstweilen noch existiert. Dementsprechend bestehen die diplomatischen Beziehungen zu Jugoslawien fort; unsere Botschaft in Belgrad und die jugoslawische Botschaft in Bonn arbeiten weiter. Eine weitere Konsequenz dieser Rechtslage ist, dass sich die Frage einer (von Serbien und Montenegro ja gerade nicht gewünschten) Anerkennung dieser beiden Republiken als neue Völkerrechtssubjekte nicht stellt. Im Übrigen glauben wir, dass es Sache der Völker und Republiken des bisherigen Jugoslawien ist, zu entscheiden, ob es in Zukunft weiterhin ein „Jugoslawien“ geben soll. Außerdem haben Serbien und Montenegro die Freiheit, den Staatsnamen zu wählen, den sie wünschen. Diese pragmatische Linie ist auch insofern zweckmäßig, als die überwiegende Mehrheit der Staatengemeinschaft die Anerkennung Sloweniens und Kroatiens weniger als Folge einer Auflösung des bisherigen Jugoslawien, sondern vielmehr als widerwillig akzeptiertes Ergebnis einer Sezession betrachtet. Ein Versuch, wie von kroatischer Seite gewünscht, bereits jetzt die „jugoslawische“ Legitimation der Organe in Belgrad und ihrer Vertreter im Ausland infrage zu stellen, würde wohl eher die Aufnahme der unabhängigen Republiken in internationale Gremien behindern, als „Jugoslawien“ aus diesen Gremien entfernen. Unsere pragmatische Haltung beruht allerdings auf der Erwartung, dass die Organe in Belgrad (Bundesregierung, Armeeführung, serbische Führung) sich im Hinblick auf eine friedliche und einvernehmliche Regelung der mit der Auflösung des bisherigen jugoslawischen Staates verbundenen Frage kooperativ verhalten. Dazu gehört insbesondere, dass sie – die durch die Anerkennung der Unabhängigkeit Sloweniens und Kroatiens geschaffenen Realitäten anerkennen und jeglichen Anspruch auf Ausübung staatlicher Gewalt in deren Gebieten fallen lassen; – Slowenien und Kroatien keine Hindernisse bei ihrer Aufnahme in internationale Gremien und Organisationen in den Weg legen, etwa durch einen Missbrauch des KonsensPrinzips (das von Belgrad gelegentlich vorgebrachte Argument, erst müsse man in Verhandlungen die Probleme der Staatennachfolge regeln, ist fragwürdig, weil bislang nicht Slowenien und Kroatien, sondern die Organe in Belgrad jeden Fortschritt auf der Jugoslawien­Konferenz6 blockiert haben); 6 Zur Friedenskonferenz für Jugoslawien vgl. Dok. 44.

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– vor allem darauf verzichten, den Krieg gegen Kroatien unter der Fahne „Jugoslawiens“ wiederaufzunehmen, oder, ebenfalls im Namen dieses „Jugoslawien“, eine Unabhängigkeit von Bosnien-Herzegowina mit Gewalt zu verhindern. III. Aus dem bisher Gesagten folgt andererseits aber auch, dass wir uns unter bestimmten Voraussetzungen zur Überprüfung unserer bisherigen Haltung gezwungen sehen würden. Dies gilt vor allem für den Fall, dass Belgrad erneut versuchen würde, mit Gewalt ein als „Jugoslawien“ getarntes großes Serbien zu schaffen. Es gilt weiterhin für den Fall, dass die Vertreter Jugoslawiens in internationalen Gremien und Organisationen den Zutritt der neuen unabhängigen Republiken zu verhindern suchen. Unannehmbar wäre auch eine Weigerung Belgrads, auf der Jugoslawien-Konferenz in gutem Glauben über die Probleme der Staatennachfolge zu verhandeln. Derartige Entwicklungen würden die Frage aufwerfen, ob die Organe in Belgrad automatisch das Recht beanspruchen können, allein für das bisherige Jugoslawien zu sprechen. Gegen einen derartigen Anspruch ließen sich die folgenden Argumente ins Feld führen: 1) Die Aussage der Schlichtungskommission von Anfang Dezember, dass Jugoslawien sich im Zerfall befinde7, impliziert, dass es eine Identität und Kontinuität zwischen dem bisherigen Jugoslawien und einem künftigen „Jugoslawien“ nicht automatisch geben kann. Dies ergibt sich nicht zuletzt aus der Feststellung, dass es Sache der Republiken, die dies wünschten, sei, eine neue Assoziation zu bilden (Unterstreichung durch Referat 215). Das Ergebnis des Auflösungsprozesses ist derzeit nicht absehbar. An seinem Ende kann der völlige Zerfall Jugoslawiens, aber auch der Fortbestand eines – territorial verkleinerten – (Rest-) Jugoslawiens stehen. 2) Die Organe in Belgrad und ihre Vertreter im Ausland sprechen nicht mehr für eine Mehrheit der Völker und der Republiken, die früher zu Jugoslawien gehörten. Abgesehen von Slowenien und Kroatien gilt dies – angesichts ihrer Unabhängigkeitsbestrebungen – auch für Bosnien-Herzegowina und für Makedonien. Selbst innerhalb von Serbien fühlen sich einige der nationalen Gemeinschaften, nämlich die Ungarn in der Wojwodina und die Albaner im Kosovo, nach der verfassungsrechtlich fragwürdigen Beseitigung der Autonomie dieser Provinzen nicht mehr durch Belgrad repräsentiert. 3) Das Rumpf-Staatspräsidium in Belgrad wird in seiner derzeitigen Zusammensetzung seit seiner Machtübernahme am 3.10.1991 von den Staaten der EG und fast allen TNS der KSZE nicht als rechtmäßige Staatsspitze betrachtet. Die jugoslawische Bundesregierung hat ihren Ministerpräsidenten und Außenminister verloren und existiert nur deshalb noch fort, weil es kein im Ausland als legitim betrachtetes Organ mehr gibt, das eine neue jugoslawische Regierung bestellen kann. Die Gefahr, dass die Legalität einer neuen Bundesregierung im Ausland bestritten werden würde, hat die Machthaber in Belgrad dazu bewogen, ihre im Herbst 1991 schon sehr weit gediehenen Pläne einer Ablösung dieser Regierung vorerst aufzugeben. 4) Ein auf Serbien und Montenegro reduziertes „Jugoslawien“ wäre kaum noch als mit dem alten Vielvölker-Jugoslawien „identisch“ anzusehen. Anders als in der Russischen Föderation bliebe hier nur noch ein Bruchteil des einstigen Gebiets und der alten Gesamt7 Vgl. das Gutachten Nr. 1 der Schlichtungskommission der EG für Jugoslawien vom 29. November 1991; Dok. 16, Anm. 6.

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bevölkerung erhalten, sodass das verbleibende staatliche Gebilde auch den vormals ausgeprägt föderalen Charakter verlöre. In geographischer und historischer Hinsicht wäre die Bezeichnung dieses Gebildes als „Jugoslawien“ eine Absurdität, denn der Begriff Jugoslawien wäre dann nur noch mit der serbischen Nation identisch. Die Bezeichnung „Jugoslawien“ wurde aber einst absichtlich gewählt, um zu dokumentieren, dass es sich bei diesem Staat um mehr als nur ein vergrößertes Serbien handelte. Die jugoslawische Idee als Vorstellung vom gleichberechtigten Zusammenleben mehrerer südslawischer Völker ist die Schöpfung südslawischer Intellektueller vorwiegend aus dem Bereich der ehemaligen österreichisch-ungarischen Monarchie. Serbien und die Serben haben sich mit dieser Idee nie wirklich identifiziert: Sie haben Jugoslawien stets als Erweiterung des im frühen 19. Jahrhundert gegründeten serbischen Nationalstaats gesehen. Dieser Umstand hat zweimal in diesem Jahrhundert zur Krise Jugoslawiens geführt. So war es gerade die Führung Serbiens, die ab 1987 durch die Verletzung von Menschen- und Minderheitenrechten, durch die Ermutigung eines extremen serbischen Nationalismus und durch den Widerstand gegen eine Demokratisierung und Dezentralisierung des jugoslawischen Staates dessen Auflösung in Gang gesetzt hat. Soll man ausgerechnet ihm automatisch das Recht zubilligen, für „Jugoslawien“ zu sprechen? IV. All dies spräche dagegen, dass wir die Identität und Kontinuität eines künftigen „Jugoslawien“ mit dem bisherigen Staat dieses Namens ohne Weiteres akzeptieren. Auch deshalb, weil Serbien auf diese Weise der Notwendigkeit ausweichen kann, die von den EG-AM am 16. Dezember 1991 festgelegten Bedingungen8 für eine Anerkennung erfüllen zu müssen. In diesem Falle bleiben der Europäischen Gemeinschaft nur zwei Instrumente, in Zukunft ein kooperatives Verhalten Serbiens zu erzwingen: zum einen die Aufrechterhaltung der Sanktionen9, zum anderen die Vorenthaltung der „europäischen Perspektive“ einer allmählichen Annäherung dieser Republik an die EG. Deshalb sollten die Zwölf schon jetzt zu verstehen geben, dass sie in jedem Falle die Erfüllung der Verpflichtungen gemäß den Beschlüssen der EG vom 16.12.1991 zur Vorbedingung für den Ausbau der Beziehungen eines neuen „Jugoslawien“ zur EG machen wollen. Dabei sollte nicht nur das deklaratorische Eingehen auf die Bedingungen der EG, sondern auch bereits ihre faktische Erfüllung, z. B. in der Frage der Rechte für die Albaner im Kosovo, gefordert werden. Schon jetzt sollte auch von Serbien und Montenegro verlangt werden, dass sie im Rahmen der Jugoslawien-Konferenz in gutem Glauben über die Fragen der Rechtsnachfolge Jugoslawiens, insbesondere über die Aufteilung des Vermögens und der Verbindlichkeiten des alten Staates, verhandeln. Referat 500 hat mitgezeichnet. M. Libal B 42, ZA-Bd. 175626

8 Zu den Leitlinien der EG-Mitgliedstaaten vom 16. Dezember 1991 vgl. Dok. 2, Anm. 10. 9 Zu den Maßnahmen der EG-Mitgliedstaaten gegen Jugoslawien vgl. Dok. 26, Anm. 5.

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28. Februar 1992: Gespräch zwischen Genscher und Alatas

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66 Gespräch des Bundesministers Genscher mit dem indonesischen Außenminister Alatas 342-321.11 INO

28. Februar 19921

Gespräch BM – indonesischer Außenminister Alatas am 28.2.1992, von 13.00 – 14.45 Uhr, im Auswärtigen Amt2 Anwesend auf indonesischer Seite: AM Alatas, Irawan Abidin (AL Amerika), Botschafter Hasjim Djalal; auf deutscher Seite: BM, D 33, RL 342 i. V.4, VLR Brose, Dolmetscher. AM Alatas fragte eingangs nach unseren Beziehungen mit China. BM bezeichnete diese als in der Substanz gut, aber durch die Menschenrechtsprobleme belastet. Er, BM, frage sich, wie wirtschaftliche Reformen mit dem politischen Ancien Régime zusammenpassten. Die alten Männer hätten allerdings wohl verstanden, dass nur Wirtschaftsreformen ihnen ihr Überleben sicherten. AM Alatas verwies auf die chinesische Kritik an Gorbatschow, da dieser zuerst politische Liberalisierung und dann erst Wirtschaftsreformen angestrebt habe. Im asiatischen Kontext sei der umgekehrte Ansatz der naheliegende. BM fragte nach der unterschiedlichen Entwicklung zwischen dem Norden und dem Süden in China. AM Alatas sagte, dass es auch große Unterschiede zwischen Osten und Westen gebe. Die Ostküste entwickle sich wie Hongkong. Es gebe Privatunternehmen und individuelle Freiheiten, was man im Inneren Chinas nicht finde. In der Gegend von Kanton und weiter im Süden gebe es eine Reihe von Städten wie Shenzhen, die sich in zehn Jahren von einem Dorf zur Großstadt mit Wolkenkratzern und Industrieparks entwickelt hätten. Auf Bemerkung BM, dass es für ihn nicht leicht sei, China zu verstehen, erwiderte AM Alatas, dass Indonesien immer viel mit China zu tun gehabt habe. Die Beziehungen seien nie einfach gewesen, China als das Reich der Mitte habe stets versucht, die Außenbereiche – vor allem im Süden und besonders Vietnam – in Abhängigkeit zu halten. Chinas Beziehung zu Japan sei durch Konkurrenz gekennzeichnet gewesen. Auf Frage von BM nach China im Jahre 2000 sagte AM Alatas: Es hänge davon ab, ob Deng Xiaoping seine Politik der neuen beschleunigten Reformen nach der Ruheperiode nach Tiananmen5 durchsetzen könne. Deng glaube, er könne dies ohne politische Entwicklung tun. 1 Der Gesprächsvermerk wurde von VLR Knieß am 5. März 1992 gefertigt und über MD Schlagintweit an das Ministerbüro geleitet mit der Bitte, „Genehmigung BM, auch zur Verteilung, herbeizuführen“. Hat VLR Brose am 5. März 1992 vorgelegen, der den Rücklauf an Referat 342 verfügte und handschriftlich vermerkte: „Kann mit Vermerk ,Von BM noch nicht genehmigt‘ verteilt werden.“ Hat Knieß am 9. März 1992 erneut vorgelegen. 2 Der indonesische AM Alatas hielt sich am 28./29. Februar 1992 in der Bundesrepublik auf. 3 Reinhard Schlagintweit. 4 Günter Knieß. 5 Am 3./4. Juni 1989 gingen chinesische Streitkräfte gewaltsam gegen Demonstranten vor, die seit mehreren Wochen u. a. auf dem Tiananmen-Platz (Platz des Himmlischen Friedens) und in anderen Bezirken Pekings

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BM bezeichnete es als erstaunlich, dass Deng über so eine lange Zeit seinen Einfluss aufrechterhalten könne. AM Alatas sagte, dass er seine Leute habe, denen er traue. Diese gingen manchmal etwas schnell voran und hätten dann Schwierigkeiten. Auf der anderen Seite sei die Machtstruktur in China recht klar: Die Armee sei der Partei untergeordnet. BM: Dies halte das Land wie die frühere Sowjetunion zusammen. AM Alatas bemerkte, dass es interessant sei zu sehen, wie Asien auf den Zusammenbruch der Sowjetunion reagiere. Auf der einen Seite würde Vietnam sich am chinesischen Modell orientieren, und andererseits sei z. B. die Mongolei voll den Weg in Richtung Marktwirtschaft und Freiheit gegangen. AM Alatas bestätigte diese erstaunliche Entwicklung. Die Mongolei sei jetzt Vollmitglied der Blockfreien und wolle auch am Dialog im asiatisch-pazifischen Raum teilnehmen. Japan und die USA seien in der Mongolei aktiv. Auf Frage BM nach jüngster Entwicklung in ASEAN erläuterte AM Alatas die Beschlüsse des ASEAN-Gipfels von Singapur Ende Januar 19926: ASEAN habe grundlegende Entscheidungen in Wirtschaft und Politik sowie hinsichtlich der Beziehungen mit den Dialogpartnern, der Stärkung der Organisation und des Sekretariats getroffen. Der Entschluss zur Freihandelszone (AFTA)7 sei ernst gemeint, während man in der Vergangenheit dabei nur sehr vorsichtig vorgegangen sei. In 10 bis 15 Jahren wolle man AFTA verwirklichen. Kernelement sei das Zollpräferenzabkommen CEPT8, wonach die Binnenzölle bis auf 0 – 5 % gesenkt werden. Indonesien habe sich früher als Verlierer dieser Entwicklung hin zur Integration begriffen, inzwischen habe man jedoch an wirtschaftlicher Kapazität und Kompetenz gewonnen. Auf Frage BM sagte AM Alatas, dass Brunei im ASEAN­Entscheidungsprozess mitarbeite, jedoch nicht die Rolle eines Financiers von ASEAN übernommen habe. AM Alatas bemerkte, dass es für BM Zeit sei, die ASEAN-Region wieder zu besuchen. Diese Aufforderung wiederholte er nach dem Mittagessen. BM verwies auf die Entwicklungen und Probleme in Europa. Auf die Entwicklung in GUS eingehend, sagte er, dass die Nachfolgestaaten der Sowjetunion hoffentlich einen Weg finden, zusammenzubleiben. Sie würden noch nicht recht die Bedeutung einer unabhängigen Wirtschaft verstehen. Sie hätten in der Vergangenheit einen gemeinsamen Markt mit sozialistischer Arbeitsteilung gebildet, der mit wirtschaftlichen Strukturen wie etwa in Westeuropa nicht vergleichbar sei. Eine unabhängige Wirtschaft in jedem Einzelstaat sei nicht möglich. Was bedeute schon eine eigene Währung beispielsweise für die Ukraine, die jetzt feststellen werde, dass sie für Öl, Rohstoffe etc. in harter Währung bezahlen müsse. Es sei zu hoffen, dass es eine Art von Zusammenarbeit in Zukunft geben werde. Fortsetzung Fußnote von Seite 261 für Reformen und Demokratie protestiert hatten. Dabei wurden zahlreiche Menschen getötet. Vgl. AAPD 1989, I, Dok. 161, Dok. 162 und Dok. 166. 6 Die Gipfelkonferenz der ASEAN-Mitgliedstaaten fand vom 27. bis 29. Januar 1992 statt. Vgl. die „Singapore Declaration of 1992“ vom 28. Januar 1992; https://asean.org/singapore-declaration-of-1992-singapore28-january-1992/. 7 Die ASEAN-Mitgliedstaaten schlossen am 28. Januar 1992 in Singapur ein Rahmenabkommen zur Förderung der wirtschaftlichen Zusammenarbeit, mit dem innerhalb von 15 Jahren die „ASEAN Free Trade Area“ (AFTA) geschaffen werden sollte. Vgl. https://asean.org/framework-agreement-on-enhancingasean-economic-cooperation-singapore-28-january-1992/. 8 Für das „Agreement On The Common Effective Preferential Tariff (CEPT) Scheme For The ASEAN Free Trade Area“ vom 28. Januar 1992 vgl. https://asean.org/agreement-on-the-common-effective-preferentialtariff-cept-scheme-for-the-asean-free-trade-area-singapore-28-january-1992/.

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Auf Frage von AM, ob die GUS zusammenbleibe, sagte BM, dass niemand die endgültigen Strukturen kenne. Strukturen wie in der Europäischen Gemeinschaft wären sicherlich das Beste. AM verwies auf die südlichen islamischen Republiken. BM: Die Iraner seien sehr interessiert. AM: Bei der Islamischen Konferenz in Dakar/Senegal9 habe Velayati eine tadschikische Regierungsdelegation mitgebracht. Die südlichen Republiken hätten zwei Optionen, den Iran und die Türkei. BM: Dies zeige, dass die Türkei eine strategische Bedeutung habe, die er stets im NATORahmen unterstrichen habe. AM: Die meisten islamischen Republiken im Süden der früheren Sowjetunion hätten eine sunnitische Bevölkerung, nur Tadschikistan weise überwiegend Schiiten auf. BM bezeichnete es als bemerkenswert, dass in diesen Republiken nach dem Ende des Kommunismus sofort der religiöse Faktor hochkomme. Auf Frage nach deutscher Vertretung in den GUS-Republiken10 sagte BM, dass wir in allen Republiken vertreten sein werden. Es sei noch nicht entschieden, ob durch Botschafter oder durch Doppelakkreditierung oder eventuell in gemeinsamen EG-Botschaften. Bei letzterem seien die Partner allerdings noch nicht so weit. Jedenfalls wollten wir überall mit Außenstellen vertreten sein. AM: Indonesien habe zwar alle Republiken anerkannt, aber diplomatische Beziehungen oder gar Botschaften zu errichten, würde zu teuer kommen. BM wies darauf hin, dass wir vielleicht Botschaften in anderen Teilen der Welt schließen müssten. Zu Jugoslawien erläuterte BM, dass der Staat nach dem Ersten Weltkrieg gebildet und nach dem Zweiten Weltkrieg restrukturiert wurde. Wenn Nationen einen eigenen Staat wollten, könne man dies nicht verweigern, besonders nach den Referenden in Slowenien und Kroatien11. Das Entscheidende sei, dass man sich an die bestehenden Grenzen hielte. Dies seien die Prinzipien der KSZE. Wenn man die Grenzen ändere, dann sei alles zu Ende. Vernünftige Leute in den Nachfolgestaaten der SU seien besorgt, dass die Änderung von Grenzen in Jugoslawien auch Auswirkungen auf die frühere Sowjetunion haben könne. Als in Helsinki das Prinzip der Unverletzlichkeit der Grenzen unterzeichnet wurde12, habe Deutschland einen wichtigen Beitrag durch Unterzeichnung des Grenzvertrags mit Polen13 9 Die Gipfelkonferenz der Organisation der Islamischen Konferenz (OIC) fand vom 9. bis 11. Dezember 1991 statt. 10 Zur Frage der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zu den GUS-Mitgliedstaaten vgl. Dok. 5. 11 Zu den Referenden in Slowenien am 23. Dezember 1990 bzw. Kroatien am 19. Mai 1991 vgl. Dok. 26, Anm. 10. 12 Vgl. Punkt III der Prinzipienerklärung der KSZE-Schlussakte vom 1. August 1975; SICHERHEIT UND ZUSAMMENARBEIT, Bd. 2, S. 916. 13 In Artikel 1 des Vertrags vom 7. Dezember 1970 zwischen der Bundesrepublik und Polen über die Grundlagen der Normalisierung ihrer gegenseitigen Beziehungen wurde die polnische Westgrenze entlang der Oder-Neiße-Linie, die auf der Potsdamer Konferenz 1945 festgelegt worden war, bekräftigt, ferner die Unverletzlichkeit der Grenzen sowie der Verzicht auf gegenseitige Gebietsansprüche. Vgl. BGBl. 1972, II, S. 362. Nach der deutschen Einheit wurde dies im Vertrag vom 14. November 1990 zwischen der Bundesrepublik und Polen über die Bestätigung der zwischen ihnen bestehenden Grenze bekräftigt. Vgl. BGBl. 1991, II, S. 1329 f.

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geleistet. Deutschland habe damals ein Drittel seines Territoriums aufgegeben, aber wir hätten den Teufelskreis durchbrechen wollen. Dieses Buch sei jetzt geschlossen. Die Unverletzlichkeit der Grenzen und der Minderheitenschutz müssten jetzt in der Friedenskonferenz14 klar bestätigt werden. Die gewaltsame Änderung von Grenzen dürfe nicht stattfinden. AM fragte, was von Jugoslawien jetzt übrigbleibe. Gebe es keine Hoffnung auf eine Art Commonwealth? BM sagte, diese Hoffnung sei vor einem Jahr erloschen. Sie sei durch die Jugoslawische Volksarmee zerstört worden. Dies habe er im Juni 1991 öffentlich erklärt. Man müsse verstehen, dass in Jugoslawien nach dem Zweiten Weltkrieg die Widerstandsgeneräle authentische Führer waren. Sie hatten eine privilegierte Stellung auch im materiellen Sinne. Die Auflösung des Staates bedeutete für sie natürlich auch den Verlust der Privilegien. Wenn jetzt Serbien und Montenegro übrigblieben, hätten sie für so ein kleines Gebiet zu viele Generäle und Obristen. Deutschland schlage vor, dass den Staaten des früheren Jugoslawien Assoziierungsverträge mit der EG angeboten werden sollten. Wir glaubten, dies sei der einzige Weg, sie in die europäischen Strukturen zu inkorporieren; aber dies sei ein langer Prozess. Auf dem Weg dahin seien die VN-Friedensstreitkräfte erforderlich. Auf die Frage, ob Deutschland Jugoslawien die Anerkennung als Staat entziehen (derecognize) würde, sagte BM, dass dies von der Friedenskonferenz entschieden werden müsse. Es hängt letztlich von der jugoslawischen Bevölkerung ab, wie sie über ihre eigene Zukunft entscheide. Die Menschen dort seien das Kämpfen gewohnt, sie hätten immer seit der Türkenzeit unter Besatzung gelitten. Wir Deutschen, die die engsten Beziehungen zu Jugoslawien hatten, bedauerten die Entwicklung zutiefst. Wir hätten stets ihre Rolle in den Blockfreien unterstützt, was nicht immer von unseren Freunden verstanden worden sei. Aber die Art und Weise, wie sich die Armee aufgeführt habe, sei für uns inakzeptabel. AM sagte, dass dies auch für Indonesien eine sehr traurige Entwicklung sei. Man habe mit Jugoslawien emotionale Verbindungen. Auf dem Blockfreiengipfel im September 1992 in Jakarta15 werde man sich überlegen müssen, wie man Jugoslawien behandele. Zu Ost-Timor16 führte AM aus: Suharto habe ihn gebeten, den Freunden Indonesiens die Lage in Ost-Timor und die Vorfälle vom 12.11.199117 zu erklären. Er hoffe, dass jetzt 14 Zur Friedenskonferenz für Jugoslawien vgl. Dok. 44. 15 Die Gipfelkonferenz der Bewegung blockfreier Staaten fand vom 1. bis 6. September 1992 statt. 16 VLR Knieß erläuterte am 27. Januar 1992: „Ost-Timor war eine besonders rückständige Kolonie des portugiesischen Kolonialreiches. Die Insel wurde 1975 überstürzt von den Kolonialbehörden aufgegeben, worauf blutige Unruhen ausbrachen. Im Dezember 1975 ist Indonesien einmarschiert und hat 1976 die Insel in das indonesische Staatsgebiet integriert.“ Seither seien schätzungsweise 100 000 Menschen durch Hunger und Kämpfe ums Leben gekommen: „Der VN-Sicherheitsrat hat 1975 und 1976 den sofortigen Rückzug der indonesischen Truppen und Verwirklichung des Selbstbestimmungsrechts für Ost-Timor gefordert, die GV hat die gleichen Forderungen bis 1982 erhoben. […] Seit 1983 verhandeln Portugal und Indonesien unter der Ägide des VN-GS über eine friedliche Lösung des Problems.“ Vgl. B 37, ZABd. 164213. 17 VLR Knieß vermerkte am 27. Januar 1992: „Am 12. November 1991 feuerten indonesische Soldaten in Dili, Ost-Timor, auf mehrere tausend unbewaffnete Trauergäste. Nach Regierungsangaben wurden dabei 19 Personen getötet und 91 verletzt. Unabhängige Schätzungen gehen von mehr als hundert Getöteten aus. Es gab anschließend Festnahmen in hoher Zahl. […] Die indonesische Regierung hat die Todesfälle bedauert und eine Untersuchungskommission eingesetzt, deren vorläufiger Bericht Ende Dezember

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das Problem im Zusammenhang und in der Perspektive gesehen werden könne. Portugal habe natürlich die ihm zur Verfügung stehenden Foren genutzt, um Indonesien anzuklagen. Indonesien sei für unsere Haltung dankbar. Man teile mit D den Schock über die Ereignisse. Im Gegensatz zu anderen Regierungen (Einfrieren der EZ durch NL) sei Deutschland nicht weitergegangen, und Indonesien hoffe, dass es dabei bleibe. BM verwies auf die engen und freundschaftlichen Beziehungen zwischen beiden Ländern. Dies sei auch ein Grund für unser Interesse an den Vorgängen. Wir hofften, dass sich diese Vorfälle nicht wiederholten und dass die Verantwortlichen bestraft würden. Portugal habe eine Art von internationaler Vermittlung vorgeschlagen. AM Alatas sagte, dass er von diesem Vorschlag nur in der Presse gelesen habe. Er habe ihn mit dem VN-GS18 diskutiert, es handele sich offensichtlich nicht um einen formellen Vorschlag der Portugiesen. VN-GS werde mit PTG-AM Pinheiro und danach mit Alatas sprechen. AM Alatas sehe folgende neue Elemente in dem portugiesischen Vorschlag: 1) Der VN-GS oder eine von beiden Seiten akzeptierte Persönlichkeit übernehme die Schirmherrschaft. 2) Die Verhandlungen könnten auf höherer als der Botschafterebene in New York stattfinden. 1) und 2) seien kein Problem für Indonesien. Aber das dritte Element, das schon 1983 vorgebracht worden war, nämlich die Beteiligung von Vertretern der ost-timoresischen Bevölkerung, bereite Indonesien Schwierigkeiten. BM fragte, ob nicht alle am 12.11. Verhafteten freigelassen werden könnten. AM erwiderte, dass einige vor Gericht gestellt, andere freigelassen würden. AM sprach anschließend die geplante Reise eines portugiesischen Schiffes (Lusitânia Expresso) nach Ost-Timor an. Für Indonesien sei dies eine Provokation. Auf dem Schiff befänden sich Hunderte von Jugendlichen, die beabsichtigten, am 6.3. in Ost-Timor einen Kranz auf dem Friedhof niederzulegen. Dies werde die bestehenden Spannungen erhöhen. BM riet, die internationalen Reaktionen zu bedenken. Indonesien solle vorsichtig sein. Die öffentliche Aufmerksamkeit werde möglicherweise höher sein, wenn das Schiff zurückgewiesen werde, als wenn man es nach Ost-Timor hereinlasse. Es sei manchmal besser, die Sachen herunterzuspielen, als sie zu vermeiden versuchen und damit in den Medien Aufmerksamkeit zu erregen. AM verwies darauf, dass bisher kein Antrag auf Einfahrt in indonesische Gewässer gestellt worden sei. BM betonte, dass keine Gewalt angewandt werden sollte. Wenn man das Schiff durchlasse, werde die Angelegenheit zu Ende sein. AM Pinheiro habe nach seinem (BM) Eindruck keinen Einfluss auf das Schiff. Er sei im Gegenteil sehr besorgt. Fortsetzung Fußnote von Seite 264 vorgelegt wurde. Der Bericht und die bisherige Reaktion der indonesischen Führung lassen den Versuch erkennen, die Vorfälle so aufzuarbeiten, dass eine Wiederholung vermieden und eine konstruktive Politik der Integration Ost-Timors gefördert wird.“ Offen bleibe, „ob die verantwortlichen Militärs bestraft werden und ob Indonesien seiner Verantwortung für eine konstruktive Entwicklung in Ost-Timor auch durch eine Abkehr von starren Sicherheitsdogmen und quasi-kolonialen Verhaltensweisen besser gerecht wird“. Vgl. B 37, ZA-Bd. 164213. 18 Boutros Boutros-Ghali.

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28. Februar 1992: Vorlage von Roßbach

AM: Die Töchter von Mario Soáres sowie der Expräsident Eanes befänden sich auf dem Schiff.19 AM sagte, dass die Beziehungen zwischen EG und ASEAN durch Ost-Timor nicht belastet werden sollten. BM: Pinheiro ist ein verantwortlicher, ernsthafter Politiker. Portugal werde seine Präsidentschaft in der EG20 nicht missbrauchen. Portugal sei an Harmonie in der Gemeinschaft interessiert. AM teilte die Auffassung zu Pinheiro, den er selbst kennt, auch PM Cavaco Silva denke ähnlich. Aber das Problem sei Präsident Soares, der eine harte Haltung vertrete. Indonesien habe von verschiedenen Quellen gehört, dass Cavaco Silva und Pinheiro eine Lösung des Ost-Timor-Problems wollten, aber Soares beharre hartnäckig auf seiner starren Position. B 37, ZA-Bd. 175189

67 Vorlage des Ministerialdirigenten Roßbach für Bundesminister Genscher 240-370.70 GUS

28. Februar 19921

Über Herrn Staatssekretär2 Herrn Bundesminister3 Betr.:

Einsetzung einer NATO-Arbeitsgruppe im Rahmen der deutschen Initiative zur weltweiten Beseitigung landgestützter nuklearer Kurzstreckenwaffen4

Zweck der Vorlage: Zur Unterrichtung und mit der Bitte um Billigung5 des weiteren Vorgehens gemäß Ziffern II. 2), 3) und 4) I.1) Sachstand Der NATO-Rat in Brüssel hat am 26. Februar die Einsetzung einer Ad-hoc-Arbeitsgruppe beschlossen, die sich mit „Status und künftiger Verwendung von Nuklearwaffen in der 19 BR I von der Heyden, Jakarta, berichtete am 11. März 1992, die „Lusitânia Expresso“ habe die indonesischen Hoheitsgewässer verlassen, nachdem sie von zwei Fregatten abgedrängt worden sei, und nehme nach Behebung eines Maschinenschadens Kurs auf Australien. Vgl. DB Nr. 215; B 37, ZA-Bd. 164203. 20 Portugal hatte vom 1. Januar bis 30. Juni 1992 die EG-Ratspräsidentschaft inne. 1 Die Vorlage wurde von VLR I Boden konzipiert. 2 Hat StS Kastrup am 4. März 1992 vorgelegen. 3 Hat BM Genscher am 9. März 1992 vorgelegen. Hat OAR Rehlen am 9. März 1992 vorgelegen, der den Rücklauf über das Büro Staatssekretäre und MDg Roßbach an Referat 240 verfügte. Hat StS Kastrup am 9. März 1992 erneut vorgelegen. Hat Roßbach am 11. März 1992 erneut vorgelegen. Hat VLR I Boden am 12. März 1992 erneut vorgelegen. 4 Zur SNF-Initiative der Bundesregierung vgl. Dok. 40. 5 Korrigiert aus: „mit der Billigung“.

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früheren Sowjetunion, insbesondere ihrer Stationierung, Bewegung und ihres Abbaus“ befassen soll. Zu diesem Zweck wird auf regelmäßiger Basis ein Informationsaustausch über mögliche bilaterale Beiträge angeregt. Die AG soll sich aus Hauptstadtexperten zusammensetzen und dem Rat berichtspflichtig sein. Zu anderen mit ihrer Tätigkeit zusammenhängenden Fragen, betreffend vor allem Hinzuziehung von relevanten GUS-Republiken, behält sich der Rat weitere Beschlüsse vor. 2) Die nun beschlossene AG steht in direktem Zusammenhang mit der von Ihnen Anfang Januar ergriffenen und am 9. Januar 1992 in die NATO eingeführten Initiative zur weltweiten Beseitigung landgestützter nuklearer Kurzstreckenwaffen und Artilleriemunition der USA und der GUS-Staaten. In ihrem Rahmen ist ebenfalls die Schaffung einer mit hochrangigen Hauptstadtexperten besetzten NATO-AG unter Beteiligung von GUS-Republiken vorgesehen. Gegen diesen weitgefassten Rahmen der Initiative hatten sich insbesondere US und GB, später F gewandt. Wir haben in der Zwischenzeit zusammen mit den USA einen Vorschlag für eine zunächst auf die Allianzmitglieder begrenzte Ad-hoc-Gruppe zum Zwecke der Koordinierung von Hilfsmaßnahmen eingebracht. Dieser stieß auf Einwände von F mit dem Hinweis auf die politische Priorität des von Präsident Mitterrand verfochtenen Projekts einer Viererkonferenz der Nuklearwaffenmächte6. Mit der jetzt beschlossenen AG konnte ein für alle Beteiligten akzeptabler Kompromiss gefunden werden. Er ist auch von den USA nachdrücklich unterstützt worden. 3) Das Mandat für die AG weist gegenüber dem ursprünglichen Ansatz folgende Änderungen auf: – Bezug auf „Nuklearwaffen“ allgemein ohne besondere Nennung der SNF, – regionale Beschränkung auf die Potenziale der GUS, – Anbindung der AG an den Rat, – Verzicht auf Zuweisung einer Koordinierungskompetenz für die AG (französische Bedingung für Zustimmung). Die weitergehenden Perspektiven unserer Initiative (Ausdehnung der Ad-hoc-Gruppe auf die GUS-Staaten) sowie des deutsch-amerikanischen Vorschlages (Koordinierungsfunktion) sind dadurch gewahrt, dass diese Themen laut Ratsbeschluss auf der Tagesordnung des Rates verbleiben. II.1) Bewertung und weiteres Vorgehen Trotz der erwähnten Verengung des Mandats ist die Einrichtung der AG als erster Erfolg unserer Bemühungen zu sehen, das Thema der nuklearen Kurzstreckenwaffen im Sinne Ihrer Initiative als eine die Sicherheitsinteressen aller Bündnispartner berührende Materie in die Allianz einzuführen und dort mit kooperativer Zielrichtung, d. h. baldiger Einbindung relevanter GUS-Republiken, zu erörtern. Die jetzt gebildete Ad-hoc-Gruppe bietet uns einen Einstieg dazu, wobei eine Konzentration auf die SNF-Problematik einschließlich nuklearer Artillerie schon aus sachlichen Gründen naheliegt: Von den geschätzten 30 000 nuklearen Gefechtsköpfen in der ehemaligen Sowjetunion gehören etwa zwei Drittel zu SNF­Systemen und stellen damit das akuteste Sicherheitsproblem dar. Wir können uns bei der Weiterbehandlung der Materie und bei der späteren Erweiterung der Gruppe einer Unterstützung der Mehrzahl der Bündnispartner – bei gewisser Zurückhaltung der Nuklearwaffenmächte – sicher sein. 6 Zum Vorschlag des französischen Staatspräsidenten Mitterrand vgl. Dok. 7, Anm. 15.

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Es ist vorgesehen, für die neue AG einen Vorsitzenden auf der Ebene des stellvertretenden NATO-Generalsekretärs oder seiner Beigeordneten zu bestimmen, die auch Zugriff auf die mit Nuklearfragen befasste Abteilung des Internationalen Sekretariats haben. Die Gruppe sollte, so bald technisch möglich, zur ersten Sitzung einberufen werden.7 2) Es wird vorgeschlagen, unsere Mitarbeit in der AG in folgende Richtung aktiv voranzutreiben: – eingehender Informationsaustausch zu den in GUS-Republiken befindlichen Nuklearwaffen, einschließlich Datenaustausch, mit dem Ziel der Ausarbeitung eines Registers; Stand der in Gang befindlichen Konzentration dieser Waffen auf das Territorium der Russischen Föderation; – Meinungsaustausch zu Hilfsmaßnahmen; bilaterale Möglichkeiten hierzu sowie bilateral etwa schon gemachte Angebote; – hochrangige Besetzung der Ad-hoc-Gruppe in Abstimmung mit anderen interessierten Bündnispartnern (als Regel Dg­Ebene); – in Weiterentwicklung des Mandats Anstreben einer Koordinierungsfunktion der Ad-hocGruppe für die Hilfsleistungen der Bündnispartner; Prüfung eines gemeinsamen Vorgehens; – pragmatische Hinzuziehung von relevanten GUS-Republiken im Einzelfall mit dem Ziel der baldigen Erweiterung der Ad-hoc-Gruppe durch Ratsbeschluss. 3) Was Art und Umfang eines deutschen Beitrages anbetrifft, so findet hierzu unter Federführung von Abteilung 2 A gegenwärtig eine enge Abstimmung mit zuständigen Ressorts, vor allem BMWi, BMFT und BMU, statt. Dabei ist deutlich geworden, dass wir uns bei eventuellen deutschen Hilfsmaßnahmen unter Beachtung der durch den NV-Vertrag gezogenen Grenzen hauptsächlich auf die Bereiche Weiterverarbeitung waffenfähigen Spaltmaterials, Lagerung, Transport und Strahlenschutz beschränken werden. 4) Wie dies auch von anderen Bündnispartnern, insbesondere US, UK, F, praktiziert wird (besonders die USA sind im Zuge eines sehr aktiven amerikanisch-russischen Bilateralismus mit zahlreichen Delegationen und Experten in den GUS-Staaten unterwegs), sollten auch wir gleichzeitig die praktische bilaterale Zusammenarbeit mit Russland zu den mit der SNF-Beseitigung zusammenhängenden Fragen intensivieren. Dies könnte uns ein zusätzliches Argument an die Hand geben, um erforderlichenfalls die Tätigkeit der Ad-hoc-Gruppe im Sinne der Koordinierung von Hilfszusagen auszubauen und zu beschleunigen. Der Dialog ist auf Initiative von Botschafter Afanassjewskij am 17.2. in Brüssel aufgenommen8 und durch ein erstes substanzielles Gespräch zwischen Dg 24 und Botschafter 7 Die erste Sitzung der Ad-hoc-Gruppe der NATO über die Nuklearwaffen der ehemaligen UdSSR fand am 18. März 1992 statt. MDg Roßbach, z. Z. Brüssel, berichtete am selben Tag: „Im Mittelpunkt stand ein Informationsaustausch zu folgenden Schwerpunkten: Ergebnisse bilateraler Missionen, die von US, UK und F in den letzten Wochen in Russland und anderen GUS-Republiken über mögliche Gebiete einer Zusammenarbeit bei der Beseitigung von Nuklearwaffen unternommen worden sind; Ankündigung des ukrainischen Präsidenten Krawtschuk über Unterbrechung des Abzugs taktischer Nuklearwaffen und mögliche westliche Reaktion darauf; weitere Tätigkeit der Ad-hoc-Gruppe.“ Vgl. DB Nr. 466; B 43, ZABd. 228392. 8 Botschafter von Ploetz, Brüssel (NATO), berichtete am 17. Februar 1992, der russische Botschafter Afanassjewskij habe angeregt: „1) Aufnahme der deutsch-amerikanisch-russischen Dreier-Initiative in den

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Michailow am 21.2.9 am Rande der um die GUS-Staaten erweiterten High Level Working Group (HLWG)10 ebenfalls in Brüssel fortgesetzt worden. Dabei hat uns die russische Seite signalisiert, dass sie mit uns in ähnlicher Weise das Gespräch führen möchte, wie dies bereits mit US geschehe. Vorschläge für einen Fahrplan zur Aufnahme der Substanzdiskussion und Einleitung praktischer Schritte sollen uns über die Botschaft Moskau in Kürze zugehen.11 Roßbach B 43, ZA-Bd. 228392

Fortsetzung Fußnote von Seite 268 NAKR-Arbeitsplan. 2) Aufnahme bilateralen deutsch-russischen Gesprächs zur Konkretisierung der Zusammenarbeitsmöglichkeiten im Zusammenhang mit Vernichtung von Nuklearwaffen.“ Eine erste Gesprächsgelegenheit ergebe sich mit dem Abteilungsleiter im russischen Außenministerium, Michailow, am Rande der Sitzung der HLWG am 21. Februar 1992 in Brüssel. Vgl. DB Nr. 269; B 14, ZA-Bd. 161270. 9 MDg Roßbach, z. Z. Brüssel, berichtete am 21. Februar 1992, das erste Gespräch mit dem Abteilungsleiter im russischen Außenministerium, Michailow, habe sich „weitgehend auf prozedurale Gesichtspunkte konzentriert. Ich habe jedoch hervorgehoben, dass wir darauf achten würden, dass sich deutschrussische Zusammenarbeit in diesem Bereich strikt im Rahmen des NV-Vertrages vollziehen müsse. Dem stimmte Michailow zu. Unsere ersten Vorstellungen über die damit vorgezeichnete Bandbreite der Zusammenarbeit stellten sich als übereinstimmend heraus: Zurverfügungstellung ziviler Expertise und Unterstützung von Maßnahmen erst nach Deaktivierung der Nuklearwaffen.“ Vgl. DB Nr. 311; B 43, ZA-Bd. 228392. 10 MDg Roßbach, z. Z. Brüssel, teilte am 21. Februar 1992 mit, die Sitzung der erweiterten HLTF für die Inkraftsetzung des KSE-Vertrags (HLWG) am selben Tag sei mit der Einigung über den Fahrplan zu dessen Inkraftsetzung („road map“) abgeschlossen worden: „Danach soll der KSE-Vertrag gemäß festgelegtem Zeitplan bis zum Helsinki-Gipfel der KSZE im Juli in Kraft treten.“ Vgl. DB Nr. 309; B 14, ZABd. 161242. 11 Zu den deutsch-russischen Gesprächen über eine Zusammenarbeit bei der Beseitigung von Nuklearwaffen der ehemaligen UdSSR vgl. Dok. 200.

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68 Vorlage des Vortragenden Legationsrats Knieß für Bundesminister Genscher 342-322.00 KAB

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Über Dg 342, D 33, Herrn Staatssekretär4 Herrn Bundesminister5 Betr.:

Kambodscha; hier: Zeichnung der Kambodscha-Friedensverträge6

Anlg.: 37 Vorschlag: Zustimmung zum Vorschlag unter Ziffer 5 1) Am 23.10.1991 wurde die Pariser Kambodscha-Konferenz8 mit der Unterzeichnung eines vierteiligen Vertragswerkes durch die Teilnehmer (u. a. die P 59, die ASEAN-Staaten und die kambodschanischen Konfliktparteien) abgeschlossen. Kernelemente des Friedensvertragswerks sind ein Oberster Nationalrat Kambodschas (SNC10), der in einer Übergangszeit als höchste Autorität fungieren und Kambodscha nach außen vertreten soll, sowie die VN­Übergangsautorität UNTAC, die vom Obersten Nationalrat weitgehende Vollmachten erhält. UNTAC soll in der Übergangsperiode, die bis zur Bildung einer neuen Regierung in Kambodscha reicht (vorgesehen für Herbst 1993), umfangreiche Kontroll- und Eingriffsbefugnisse in allen Bereichen der zivilen und militärischen Administration erhalten. Ferner wird UNTAC für die Organisation und Durchführung von freien Wahlen in Kambodscha 1 Die Vorlage wurde von Attachée Taufmann konzipiert. 2 Hat in Vertretung des MDg Zeller VLR I Holl am 28. Februar 1992 vorgelegen, der handschriftlich vermerkte: „Im Konzept gebilligt.“ 3 Hat MD Schlagintweit am 3. März 1992 vorgelegen. 4 Hat StS Kastrup am 4. März 1992 vorgelegen. 5 Hat BM Genscher am 16. März 1992 vorgelegen. Hat OAR Rehlen am 16. März 1992 vorgelegen, der den Rücklauf über das Büro Staatssekretäre, MD Schlagintweit und MDg Zeller am Referat 342 verfügte. Hat StS Kastrup am 16. März 1992 erneut vorgelegen. Hat Schlagintweit am 17. März 1992 erneut vorgelegen. Hat Zeller am 17. März 1992 vorgelegen, der handschriftlich für Referat 342 vermerkte: „Z[ur] w[eiteren] V[eranlassung].“ Hat Attachée Taufmann am 17. März 1992 erneut vorgelegen. 6 Für die Übereinkommen vom 23. Oktober 1991 über Kambodscha vgl. UNTS, Bd. 1663, S. 28–306. 7 Zu Anlage 1 und 2 vgl. Anm. 14 und 18. Anlage 3 war ein Schreiben des französischen VN-Botschafters Mérimée und des stellvertretenden indonesischen VN-Botschafters Wisnumurti vom 30. Oktober 1991 an VN-GS Pérez de Cuéllar, mit dem die Übereinkommen vom 23. Oktober 1991 zur Regelung des Kambodscha-Konflikts übermittelt wurden (S/23177). Vgl. B 37, ZA-Bd. 175202. 8 Zur ersten Phase der Internationalen Kambodscha-Konferenz sowie zur Rolle der VN vgl. AAPD 1989, II, Dok. 258, bzw. AAPD 1990, I, Dok. 49. 9 Permanent 5 (Frankreich, Großbritannien, UdSSR, USA, Volksrepublik China). 10 Supreme National Council.

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verantwortlich sein. Der Oberste Nationalrat SNC hat sich unter dem Vorsitz von Prinz Sihanouk zum 14.11.1991 in Phnom Penh niedergelassen.11 Die Konstituierung von UNTAC ist für Mai 1992 geplant. Mit der Unterzeichnung der Friedensverträge wurde ein langjähriger Konfliktlösungsprozess, in dem sich u. a. Frankreich und Indonesien stark engagiert hatten, in einer entscheidenden ersten Phase abgeschlossen. Die VN-Sicherheitsratsmitglieder haben ihr politisches Gewicht und Prestige jetzt dafür eingesetzt, dass der Friedensprozess zu einem erfolgreichen Abschluss kommt. Ziel ist die Befriedung Kambodschas und ganz Indochinas und damit ein Schlussstrich unter drei Indochina-Kriege in den letzten fünfzig Jahren. Die jetzt möglich erscheinende Einbindung Kambodschas sowie von Laos und Vietnam in die wirtschaftlich dynamische südostasiatische Region würde die Umkehrung der DominoTheorie bedeuten. 2) Folgende vier Verträge wurden am 23.10.1991 in Paris unterzeichnet: – Schlussakte der Pariser Kambodscha-Konferenz, – Übereinkommen über eine umfassende Lösung des Kambodscha­Konflikts mit fünf Annexen, in denen das Mandat für UNTAC, militärische Regelungen, der Modus für freie Wahlen, die Rückführung von Flüchtlingen usw. definiert werden, – Übereinkommen über die Souveränität, Unabhängigkeit, territoriale Integrität und Unverletzlichkeit, Neutralität und nationale Einheit Kambodschas (Garantieübereinkommen), – Erklärung zum Wiederaufbau Kambodschas. Der eigentliche Friedensvertrag ist das Übereinkommen über eine umfassende politische Lösung. In den 32 Artikeln dieses Übereinkommens werden unter Verweis auf die Annexe alle Aspekte der Übergangsperiode einschließlich UNTAC und Oberstem Nationalrat, militärische Fragen, Wahlen, Menschenrechte, internationale Garantien sowie Wiederaufbau definiert. Gemäß Art. 31 steht das Übereinkommen für alle Staaten zum Beitritt offen. Im Art. 18 verweist das Übereinkommen auf das Übereinkommen über die Souveränität, Unabhängigkeit, territoriale Integrität und Unverletzlichkeit, Neutralität und nationale Einheit Kambodschas (Garantieübereinkommen). Dieses Garantieübereinkommen verpflichtet die nicht-kambodschanischen Vertragspartner auf die Ziele des Übereinkommens und die Unterlassung von Handlungen, die diese Ziele gefährden könnten, sowie auf friedliche Konfliktbeilegung. Nach Art. 5 des Garantieübereinkommens werden die Übereinkommenspartner für den Fall einer Übereinkommensverletzung zu unmittelbaren Konsultationen verpflichtet. Der Art. 7 des Garantieübereinkommens enthält ebenfalls eine Beitrittsklausel für weitere Staaten. 3) Die Bundesrepublik Deutschland hat nicht an der Kambodscha-Konferenz in Paris teilgenommen. Dennoch sprechen die folgenden Überlegungen für einen Beitritt zu den beiden o. a. Friedensverträgen: – Der Erfolg der VN-Friedensmission ist Voraussetzung für Wiederaufbau in einem der ärmsten Länder der Erde sowie für Stabilität in der gesamten Region. In der Vergangenheit haben wir durch humanitäre und Flüchtlingshilfe zur Linderung der Not für die Kambodschaner beigetragen. Kambodscha war Schwerpunktland der DDR-Entwicklungshilfe. Es besteht ein politisches Interesse, das vorhandene Potenzial der Beziehungen (wirtschaftlich, kulturell, große Anzahl deutschsprechender Kambodschaner) zu 11 Zur Rückkehr von Prinz Sihanouk nach Kambodscha vgl. AAPD 1991, II, Dok. 399.

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bewahren. Seit November 1990 waren wir mit einer Schutzmachtvertretung in Phnom Penh vertreten. Mit der Akkreditierung eines Ständigen Vertreters12 am 14.2.1992 wurden offizielle Beziehungen zum Obersten Nationalrat aufgenommen. Unser Beitritt zu den beiden Übereinkommen würde ein deutliches Zeichen unseres andauernden Engagements für Kambodscha setzen. StM Schäfer besucht Ende Februar 1992 im Rahmen einer Südostasienreise Kambodscha13 (zum Stand der Beziehungen siehe Anlage 1 zur Ressortbesprechung am 6.2.199214). – Auch aus VN-politischen Gründen sollten wir einen Beitritt erwägen. Die Operation in Kambodscha hat für die VN überragende Bedeutung. Wir werden einen Pflichtbeitrag von 8,93 % leisten müssen, geschätzte Gesamtkosten: mindestens 1 Mrd. US-$. Wir haben immer wieder, zuletzt in Ihrer Rede vor der 46. VN-GV15, unsere Bereitschaft zur Unterstützung der friedenserhaltenden Operationen der Vereinten Nationen betont. Wir haben uns entschlossen, personelle Beiträge zu UNAMIC16, der Vorausmission von UNTAC (medizinisches Team, Wahlrechts­, Sicherheitsexperten), zu leisten und wollen dies auch bei UNTAC tun. Unser Engagement in Kambodscha ist von amerikanischer Seite ausdrücklich ermutigt worden.17 – Bei unseren EG-Partnern besteht die Tendenz – vorbehaltlich rechtlicher Prüfung bei einigen Partnern –, den Verträgen geschlossen beizutreten. Dies wurde in einer EGErklärung vom 8.11.1991 zum Ausdruck gebracht (siehe Anlage 2)18. 4) Was die praktischen und finanziellen Konsequenzen eines Beitritts zu den KambodschaFriedensverträgen anbelangt, so handelt es sich sowohl beim Übereinkommen über eine umfassende Lösung des Kambodscha-Konflikts als auch beim Garantieübereinkommen um mehrseitige politische Staatsverträge, aus denen sich weder eine völkerrechtliche Verpflichtung der Bundesrepublik zur Beteiligung an UNTAC noch eine „politisch-moralische“ Pflicht zur Teilnahme an den friedenserhaltenden Maßnahmen der VN herleiten lässt. Dies ergibt sich aus Artikel 2 i. V. m. Artikel 28 Absatz 1 des Übereinkommens, in denen die Überein12 Wolfgang Lerke. 13 StM Schäfer hielt sich vom 24. bis 27. Februar 1992 in Kambodscha auf, vom 27. Februar bis 1. März in Malaysia, am 2./3. März in Brunei sowie am 4./5. März 1992 in Singapur. Zum Besuch in Kambodscha vermerkte MDg Zeller am 10. März 1992, Schäfer habe mit Vertretern aller Gruppierungen gesprochen mit Ausnahme der Roten Khmer: „Übereinstimmend waren alle Gesprächspartner der Meinung, dass der Frieden in Kambodscha zum ersten Mal eine Chance habe. Alle kambodschanischen Konfliktparteien sehen bis auf weiteres keine Alternative zu einer politischen Lösung. […] Die Lage bleibt aber überaus prekär. Ohne ein rasches Eingreifen der VN (UNTAC), wobei die Präsenz militärischer Einheiten besonders vordringlich ist, sind die kambodschanischen Parteien nicht auf Friedenskurs zu halten. Ungeduldiges Warten auf UNTAC ist daher das Merkmal der aktuellen Lage.“ Die Durchführung des Pariser Vertragswerks werde „in jedem Fall großen Schwierigkeiten begegnen“. Vgl. B 37, ZA-Bd. 164185. 14 Dem Vorgang beigefügt. Für den Vermerk von Attachée Taufmann vom 12. Februar 1992 vgl. B 37, ZABd. 175202. 15 Für die Rede von BM Genscher vor der VN-Generalversammlung am 25. September 1991 in New York vgl. BULLETIN 1991, S. 825–830. 16 United Nations Advance Mission in Cambodia. 17 Zum Verlauf des Friedensprozesses in Kambodscha und zur Beteiligung der Bundesrepublik an UNTAC vgl. Dok. 305. 18 Dem Vorgang beigefügt. Für die Erklärung vgl. B 37, ZA-Bd. 175202. Für die Erklärung der EG-Mitgliedstaaten zu Kambodscha vom 8. November 1991 vgl. BULLETIN DER EG 11/1991, S. 96 f.

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kommensparteien die VN zur Einsetzung von UNTAC auffordern und sich verpflichten, UNTAC die für die Erfüllung ihres Mandats notwendigen Informationen zur Verfügung zu stellen, sowie aus Artikel 5 des Garantieübereinkommens, aus dem sich lediglich eine Konsultationspflicht für die Übereinkommensparteien herleiten lässt. Weitergehende konkrete operative oder finanzielle Verpflichtungen zur Beteiligung an friedenserhaltenden Maßnahmen der VN in Kambodscha bestehen folglich nicht. Aus der in Artikel 28 Absatz 1 festgeschriebenen Verpflichtung zur Zusammenarbeit mit den VN lässt sich lediglich die Rechtspflicht ableiten, die Tätigkeit von UNTAC zu fördern, was letztendlich wiederum in der Selbstbeurteilung der Parteien des Übereinkommens liegt und wir ohnehin praktisch tun wollen. Die nicht-kambodschanischen Vertragsparteien sind außerdem verpflichtet, sich jeder Einmischung in die inneren Angelegenheiten Kambodschas zu enthalten. 5) Es wird daher Ihre Zustimmung zur Vorbereitung des Beitritts der Bundesrepublik Deutschland zu den beiden o. a. Übereinkommen erbeten. Die Übereinkommen sind politische Verträge im Sinne von Artikel 59 II 1 Grundgesetz19. Daher ist ein Vertragsgesetz20 erforderlich.21 Die Referate 011, 230, 500 und 501 haben mitgezeichnet. Knieß B 37, ZA-Bd. 175202

69 Drahtbericht des Botschafters Bente, Riad Fernschreiben Nr. 122 Citissime Betr.:

Aufgabe: 29. Februar 1992, 15.00 Uhr1 Ankunft: 1. März 1992, 12.02 Uhr

Besuch des BMWi Möllemann in SAR vom 24. – 27.2.1992; hier: Gespräche mit dem GS des GCC, dem Industrie- und Energieminister, dem Planungsminister und dem König2

1) BM Möllemann führte Gespräche mit dem König, dem Gouverneur von Riad, Prinz Salman, dem GS-GCC, Bishara, dem Finanz- und Wirtschaftsminister Aba al-Khail, dem Vor19 Für Artikel 59 GG vom 23. Mai 1949 vgl. BGBl. 1949, S. 7. 20 Vgl. das Gesetz vom 28. April 1994 über den Beitritt der Bundesrepublik zu den Übereinkommen vom 23. Oktober 1991 über Kambodscha; BGBl. 1994, II, S. 542. 21 Dieser Absatz wurde von BM Genscher hervorgehoben. Dazu vermerkte er handschriftlich: „r[ichtig]“. 1 Das Fernschreiben wurde in zwei Teilen übermittelt. Vgl. Anm. 7. Hat VLR Schlüter am 3. März 1992 vorgelegen, der die Weiterleitung an VLR Blaas verfügte. Hat Blaas am 4. März 1992 vorgelegen. 2 Fahd ibn Abdul Aziz al-Saud.

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sitzenden der königlichen Kommission für Yanbu und Dschubail, Prinz Abdullah bin Faisal bin Turki, dem Fachminister für Industrie und Elektrizität, Abdulaziz al-Zamil, und dem Minister für Planung, Dr. Attar. 2) Alle Begegnungen mit der saudischen Führungsspitze verliefen in sehr freundschaftlicher Atmosphäre. Sie bestätigten die Einschätzung der Botschaft, dass die Beziehungen zwischen beiden Ländern durch die deutsche Politik im zweiten Golfkrieg keinen Schaden genommen haben. Zeitweilige Irritationen spielen heute keine Rolle mehr. Überall ist der Wunsch laut geworden, die bisherige Zusammenarbeit nicht nur fortzusetzen, sondern zu vertiefen. Besonders gelobt wurde der Technologietransfer über die im Lande tätigen deutschen Experten, der ganz wesentlich zur Entwicklung eines technologisch fortschrittlichen Staatswesens beigetragen habe. Die Zusammenarbeit mit der deutschen Wirtschaft fand überall Beifall. D soll mit seiner gewachsenen politischen Verantwortung in Europa zukünftig einer der privilegierten Partner SARs werden. Das rüstungspolitische Thema spielte keine Rolle, war aber durch die Ausführungen des Königs immer gegenwärtig. In den Beziehungen ist eine neue Seite aufgeschlagen worden. Wir sollten diese Chance nutzen, ohne dabei jedoch die Schwierigkeiten, die ständige Verletzung der allgemeinen Menschenrechte, zu übersehen. Die vom König an der iranischen Politik kritisierte Verbindung von Religion und Staatsgeschäften wird in der saudischen Innenpolitik täglich praktiziert. Die persönliche Freiheit ist für viele Menschen dieses Landes eingeschränkt. In der Anlage werden Inhaltsangaben der wichtigsten Gespräche, die in folgenden Thesen zusammengefasst werden können, vorgelegt: – Die deutsche Politik während des zweiten Golfkrieges hat die guten Beziehungen Deutschlands zu SAR und den Mitgliedern des Golf-Kooperationsrats nicht beeinträchtigt. – SAR und GCC vertrauen auf die deutsche Politik. SAR beabsichtigt, die Zusammenarbeit im politischen und wirtschaftlichen Bereich weiter zu vertiefen. Es erhofft wie der GCCGS einen baldigen Abschluss des EG-GCC­Freihandelsabkommens, die geplante EGEnergiesteuer wird von SAR und GCC nachdrücklich abgelehnt. – SAR steht fest an der Seite des Westens. Seine Gegner sind Israel, Irak und der Iran. Der Nahost-Friedensprozess darf nicht zum Stillstand kommen. Mit Saddam Hussein können die Beziehungen nicht normalisiert werden, er ist zu beseitigen. SAR und GCC wissen um die guten Beziehungen Deutschlands zu Teheran. Sie werden begrüßt, die Bundesregierung wird aber gebeten, diese zu nutzen, um Teheran auf den Pfad der politischen Tugend zurückzuführen. – Das Interesse an einer rüstungspolitischen Zusammenarbeit wurde nicht angesprochen, aber indirekt signalisiert. Es erfordert keine deutsche Stellungnahme. – Die seit langem erwarteten innenpolitischen Reformen werden in den nächsten Tagen verkündet werden. Sie bleiben im Rahmen des Korans und der Scharia. Die Rechtsstellung der Frau wird sich nicht ändern. [gez.] Bente Folgt Anlage Gespräch mit GCC-GS Bishara Er eröffnete es mit dem GCC-EG-Freihandelsabkommen, das noch in diesem Jahr unterzeichnet werden müsse. Eine Teilnahme von BM Genscher an den Verhandlungen Mitte 274

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Mai3 wäre hierfür wichtig. Die EG-Überlegungen zur Einführung einer Energiesteuer4 werden abgelehnt. Sie würde nicht zu den „bona-fide“-Beziehungen zwischen beiden Regionalzusammenschlüssen beitragen. Das Erdöl sei bereits hinreichend hoch in Europa besteuert. BM erwiderte, dass über die Struktur der Steuer noch keine endgültigen Beschlüsse gefasst worden seien. Es werde im Übrigen daran gedacht, alle Energiequellen wie Erdgas, Erdöl, Steinkohle, Braunkohle und Nuklearenergie zu belasten. BM kündigte die Unterstützung des GCC-Wunsches auf Teilnahme von BM Genscher an der Konferenz in Kuwait an. Zum nahöstlichen Friedensprozess vertrat Bishara die Auffassung, dass es keinen „Stopp“ der Diskussionen geben dürfe. Es sei Rolle Deutschlands und der EG, dies den Israelis klarzumachen. Sollten die Verhandlungen scheitern, werde es auf absehbare Zeit keine neue Friedenschance geben. Die deutsche Politik im Nahen Osten müsse den großen Herausforderungen entsprechen. BM bemerkte hierzu, er habe sich in den vergangenen 20 Jahren mit den nahöstlichen Problemen beschäftigt. Dabei habe es immer wieder günstige und ungünstige Perioden für den Frieden gegeben. Er hoffe, dass es ähnlich wie bei der deutschen Einigung schließlich doch zu einer überraschenden Lösung komme. Die Haltung des amerikanischen Präsidenten5 im Wahlkampf6 sei aufschlussreich. Während man in früheren Wahlkämpfen das Thema Nahost vermieden habe, sei es jetzt als ein positives Argument eingeführt worden. Dies zeige den Wandel der öffentlichen Meinung in den USA. Zum Golfkonflikt stellte Bishara fest, es komme darauf an, dafür Sorge zu tragen, dass die einschlägigen SR-Resolutionen unverändert durchgesetzt würden, die unbeschränkte Bewegungsfreiheit der UNO-Beobachter im Irak erhalten bleibe und die irakischen Massenvernichtungswaffen vollständig zerstört werden. Die GCC bemühten sich um starke Streitkräfte. Die Bundesregierung sollte in Teheran ihren Einfluss geltend machen, damit Iran sich wieder wie ein zivilisiertes Mitglied der Völkerrechtsgemeinschaft verhalte und niemanden mehr bedrohe. Im Übrigen käme es darauf an, im gesamten Nah- und Mittelosten das Gewicht der US, der EG und Japans zu bündeln, um eine Wende der Lage herbeizuführen. Gespräch mit Industrie- und Elektrizitätsminister al­Zamil Er stellte die geplante Energiesteuer in den Mittelpunkt seiner Ausführungen. BM wies dessen Steuerinterpretation zurück. Ihr Ziel sei nicht, die EG zu bereichern, sondern den 3 Am 16. Mai 1992 fand in Kuwait die dritte Tagung des Kooperationsrats EWG – GCC statt. Botschafter Mulack, Kuwait-Stadt, teilte am 17. Mai 1992 mit, im Mittelpunkt habe die von der EG geplante Einführung einer CO2-Steuer gestanden, ferner der geplante Abschuss eines Freihandelsabkommens sowie die Situation in der Golfregion und die Lage im Nahen Osten. Vgl. DB Nr. 206; B 222, ZA-Bd. 175881. 4 Das BMWi erläuterte am 2. Oktober 1991, die EG-Kommission habe dem EG-Ministerrat eine Mitteilung zu einer Gemeinschaftsstrategie zur Begrenzung der CO2-Emissionen und zur Verbesserung der Energieeffizienz vorgelegt. Darin werde u. a. vorgeschlagen, „dass die Mitgliedstaaten eine kombinierte CO2-/Energieabgabe einführen; jeweils die Hälfte des Aufkommens sollte aus einer Belastung des Kohlenstoffgehalts fossiler Brennstoffe und aus einer Belastung des allgemeinen Energieverbrauchs stammen“. 1993 solle die Belastung mit 3 US-Dollar pro Fass Erdöl beginnen und bis 2000 auf 10 US-Dollar steigen. Vgl. B 224, ZA-Bd. 168797. 5 George H. W. Bush. 6 In den USA fanden am 3. November 1992 Präsidentschaftswahlen, Wahlen zum Repräsentantenhaus sowie Teilwahlen zum Senat und für die Gouverneursämter statt.

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Energieverbrauch und die Umweltverschmutzung zu vermindern. Bundesregierung habe aus diesem Grunde auch die Subventionen des deutschen Steinkohlenbergbaus erheblich reduziert. Dieses Thema wurde in einem Abschlussgespräch von Minister Aba al-Khail noch einmal aufgenommen. Er bat den Bundesminister, zur Kenntnis zu nehmen, „wie kritisch diese Angelegenheit von SAR gesehen werde“. Während sich die saudische Regierung bemühe, den Ölpreis zu stabilisieren, werde nun von EG-Seite daran gedacht, ihn durch eine solche „penalty“ zu erhöhen. Dies könne nicht hingenommen werden: „please see this situation“. Al-Zamil lobte die Arbeit der deutschen Wirtschaft und die Zusammenarbeit deutscher und saudischer Betriebe insbesondere im Bereich der Stahlproduktion. Er meinte mit Zustimmung des BM, dass für eine Zusammenarbeit noch erhebliche Ausweitungsmöglichkeiten bestünden. BM erkundigte sich danach, ob potenzielle deutsche Investoren, etwa durch ideologische Einflüsse (Fundamentalismus), daran gehindert werden könnten, sich stärker zu engagieren. Der Minister meinte, die 20 Mrd. US-Dollar ausländischer Gesamtinvestitionen sprächen dagegen. SAR könne im Übrigen keine Entwicklung akzeptieren, die die Stellung des Islam als Staatsreligion beeinträchtige. Die Frage, warum D nur einen relativ geringen Anteil seines Erdöles aus SAR importiere, parierte BM mit dem Argument, dass nicht Regierungen, sondern private Gesellschaften die Ölimporte steuerten. SAR stünde an fünfter Stelle der deutschen Importe. Minister al-Zamil warnte vor einer weiteren Erhöhung der deutschen Exportpreise, die zum Verlust deutscher Marktanteile führen müsse. Dies sei auf dem Automobilsektor gegenüber Japan bereits der Fall. 7Gespräch mit dem König Es war nicht vorprogrammiert, aber erwartet, und dauerte mit Konsekutivübersetzung zweieinhalb Stunden. Allein schon die Dauer war ungewöhnlich. Sie unterstrich ebenso wie die Ausführungen des Königs, dass dieser erste Empfang eines deutschen Kabinettsmitgliedes durch das saudische Staatsoberhaupt nach deutscher Einigung und zweitem Golfkrieg von der saudischen Regierung als der Höhepunkt des Besuches geplant war. Der König eröffnete seine Ausführungen mit einem historischen Exkurs über die dt.-saudischen Beziehungen. Er begann mit Hitlers Waffenlieferungen von 1934, führte über Rudolf Heß’ Reise nach GB bis zur deutschen Niederlage. Die Verantwortung für den Krieg sei dem deutschen Volke „auferlegt“ worden. Die Welt habe danach beschlossen, dass D zu zahlen habe. Seine historisch nicht immer korrekten Darlegungen zielten darauf ab, darzustellen, dass die dt.-saudischen Beziehungen von SARs Eintritt in die Geschichte bis in die Gegenwart gut und vertrauensvoll gewesen sind und es darauf ankomme, sie in dieser Weise fortzuführen. Des Königs Ausführungen näherten sich an manchen Stellen einem Hymnus auf Deutschland. Er gab seiner tiefen Bewunderung für Deutschlands Politik und seine Kultur Ausdruck. Er stellte es allen anderen Staaten voran, auch dem hier mehr und mehr vordringenden Japan, das er als „eigensüchtig“ bezeichnete. „Alle Kontakte zur deutschen Regierung und zum deutschen Volke machen uns Freude!“ Wiederholt erinnerte der König an seine Begegnungen mit F. J. Strauß, erhob aber expressis verbis keine rüstungspolitischen Forderungen. Er stellte seine Politik gegenüber Irak, Iran und ISR dar und äußerte sich zur weiteren Entwicklung der saudischen Innenpolitik. Irak: Der zweite Golfkrieg sei eine „Belastung“ für SAR gewesen, habe aber keine „Erschütterung“ des Landes gebracht. Irak sei vor dem zweiten Golfkrieg auch von SAR unter7 Beginn des mit DB Nr. 126 übermittelten zweiten Teils des Fernschreibens. Vgl. Anm. 1.

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stützt worden. Der König rechtfertigte diese Politik mit der damaligen Sorge vor einem Sieg Irans, der dazu geführt hätte, dass SAR an seiner Nordgrenze ein feindliches Staatswesen mit 78 Mio. Menschen zum Nachbarn gehabt hätte. In ein oder spätestens zwei Jahren hätte Irak über Atomwaffen verfügt. Seit der Niederlage in Kuwait denke Saddam Hussein, der sich selbst als „kleiner“ Hitler begreife, nur daran, wieder aufzurüsten. Er, der König, glaube aber nicht, dass ihm dies in hinreichendem Maße gelingen werde und Saddam damit erneut zu einer ernsten Gefahr am Golf werden könnte. Immerhin müsse sich SAR in dieser Lage eine starke Armee schaffen, um sich vor Überraschungen zu schützen. Iran: Die iranische Staatsführung kenne die Welt nicht. Religion habe nichts mit Staatsgeschäften zu tun! Der iranische Islam sei außerordentlich problematisch. Eigentlich bedeute Islam Frieden, von Iran gehe aber eine Bedrohung aus. Dies zeige sich sehr deutlich in Algerien und Sudan. Die iranische Regierung denke nur darüber nach, wie sie andere Länder beherrschen könne, dabei sei es doch mit fruchtbarem Boden, Wasser, Erdöl und einem tüchtigen Volk gesegnet. Es sollte Koexistenz-Beziehungen in der Golfregion, in der Türkei und Pakistan anstreben. Stattdessen greife es jetzt auch zu den islamischen Republiken der früheren SU. Er wünsche sich freundliche Beziehungen zum Iran, bezweifle aber, dass diese möglich sein werden. Überall in der Welt herrsche große Unruhe, insbesondere in Afrika (er nannte Somalia, Äthiopien und Südafrika). SAR habe auf der Konferenz Islamischer Länder in Dakar8 viele Schulden erlassen. Leider müsse festgestellt werden, dass viele Regierungen die ihnen zur Verfügung gestellten Mittel nicht bestimmungsgemäß verwendet hätten. Zukünftig sollte daher nur noch Projekt- und keine Budgethilfe geleistet werden. Der BM warf hier ein, dass dies auch deutsche Politik sei, was der König ausdrücklich begrüßte. Alle Geberstaaten sollten eine solche Politik verfolgen. Israel: Das eigentliche Problem SARs und der Araber sei das Verhältnis zu ISR und das Palästinenserproblem. SAR habe immer eine Politik des Friedens im Nahen Osten verfolgt. Der nach ihm, dem König, benannte Fahd-Plan9 sei noch immer Grundlage der Friedensbemühungen. ISR suche aber keinen Frieden. Früher habe es seine Politik im Nahen Osten mit der Nichtanerkennung seiner Nachbarn gerechtfertigt. Heute sei ISR anerkannt, dennoch setze es seine bisherige Politik fort. ISR sei von arabischen und islamischen Ländern umgeben. Es könne nicht ernsthaft daran denken, alle von ihm besetzten Gebiete zu behalten. Eine solche Politik sei unvernünftig. Auch die Araber könnten sich mit Atomwaffen ausrüsten. SAR wolle dies zwar nicht, aber es gebe durchaus arabische Politiker, die eine Gewaltlösung nicht ausschlössen. Er, König Fahd, glaube nicht, dass die Konferenz in Washington10 erfolgreich sein werde, solange ISR seine von der ganzen Welt verurteilte Siedlungspolitik fortführe. Gewalt könne auf die Dauer nicht erfolgreich sein. D und Europa sollten ihren Einfluss in Tel Aviv nutzen, um ISR zum Frieden zu bewegen. Es sei Aufgabe der Groß8 Die Gipfelkonferenz der Organisation der Islamischen Konferenz (OIC) fand vom 9. bis 11. Dezember 1991 statt. 9 Der saudi-arabische Kronprinz Fahd legte am 8. August 1981 einen Acht-Punkte-Plan zur Lösung des Nahost-Konflikts vor. Vgl. AAPD 1981, II, Dok. 233. 10 Zur vierten Runde der bilateralen Nahost-Verhandlungen vom 24. Februar bis 4. März 1992 vgl. Dok. 53, Anm. 2.

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mächte, die internationale Legalität durchzusetzen und zu schützen. BM beschränkte sich hier auf die Bemerkung, dass ISR nicht auf D höre. Es entwickelte sich ein Dialog über die Ex-UdSSR und Jugoslawien. Der König bemerkte hierzu, dass auch SAR von den Entwicklungen in beiden Regionen berührt werde. BM übermittelte den Wunsch BM Genschers, Bosnien-Herzegowina als überwiegend islamischem Staat Jugoslawiens wirtschaftlich zu helfen. Es folgten Exkurse über die wirtschaftliche Lage der USA und Großbritanniens. BM wies darauf hin, dass eine wirtschaftliche Erholung dort erst einsetzen werde, wenn eine politische Klärung der Lage durch Wahlen11 herbeigeführt sein werde. Er gab der Hoffnung Ausdruck, dass auch JAP sich an der Hilfe für die Länder der Ex-UdSSR beteiligen möge. Der König zeigte sich skeptisch. Japan verfolge eine sehr begrenzte Politik. Es habe keinen universellen Politikansatz. Der BM erkundigte sich nach den geplanten inneren Reformen des Landes.12 Der König stellte ihre baldige Durchführung in Aussicht: „Sehr bald, in Kürze, spätestens innerhalb von zehn Tagen.“ Es werde eine Majlis-el­Schura nach islamischem Recht errichtet. Einen Wahlkampf werde es nicht geben, denn SAR könne sich als Hüter der beiden heiligen Moscheen nicht außerhalb des Koran und der Scharia stellen. Letztere seien ausschließlich Richtschnur staatlichen Handelns in SAR. Es wäre wünschenswert, wenn sich auch andere Länder nach diesen Vorschriften richten würden. „Dann wäre es besser um die Welt bestellt.“ BM erkundigte sich nach der langfristigen Tragfähigkeit der geplanten Reformen. Ob nicht zu befürchten sei, dass sie zu weiteren Forderungen führten und damit schließlich zu einer Veränderung des Staatswesens? Der König dankte „dem Freunde“ für diese Frage. Natürlich gebe es „ein bis zwei Prozent“ der Bevölkerung, die mit den nun geplanten Reformen nicht zufrieden seien (Fundamentalisten), aber sie würden sich nicht durchsetzen können, weil die überwiegende Mehrheit des Volkes dies nicht wünsche. Im Übrigen sei das Majlis-Prinzip in SAR nicht neu, sondern seit langem fest verankert. Wichtige Beschlüsse seien auch in SAR nie ohne die Erforschung des Willens der Mehrheit getroffen worden. Die zukünftigen Ratsmitglieder würden auf Vorschlag der Kabinettsmitglieder durch ihn ernannt und für eine begrenzte Zeit bestellt. Die Beschlüsse richteten sich nach dem Mehrheitsprinzip. Die Frage nach der Rechtsstellung der Frau beantwortete der König mit dem Hinweis auf das geltende islamische Recht. SAR sei wie der Vatikan-Staat heiliges Land. Hier könne es für die Frau nur islamisches Recht geben. Diese Haltung wurde in Gesprächen mit Prinz Salman und Prinz Abdullah bin Faisal bin Turki ausdrücklich bestätigt, beide schlossen aber eine positive Entwicklung auch auf diesem Gebiet langfristig nicht aus. Ende der Anlage B 36, ZA-Bd. 170212 11 Die Wahlen zum britischen Unterhaus fanden am 9. April 1992 statt. 12 Botschafter Bente, Riad, berichtete am 4. März 1992, der saudi-arabische König Fahd habe die inneren Reformen in einer Rundfunk- und Fernsehansprache am 1. März 1992 bekannt gegeben. Es handele sich um ein Grundgesetz über die Regierungstätigkeit, ein Gesetz über die beratende Versammlung sowie ein Gesetz über die Verwaltung der Provinzen. Dieses Reformwerk bringe Saudi-Arabien nicht die Demokratie, jedoch bestehe die Möglichkeit, dass der Einfluss der „religiösen Eiferer“ auf die Staatsgeschäfte zurückgeschraubt werde. Allerdings werde die Menschenrechtslage durch die Reformen nur „marginal“ verbessert: „Insbesondere bleibt die beschränkte Stellung der Frau in Staat und Gesellschaft weiterhin zementiert.“ Vgl. DB Nr. 136/137; B 37, ZA-Bd. 170212.

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70 Vorlage des Vortragenden Legationsrats I. Klasse Gruber für Bundesminister Genscher 241-373.00

3. März 19921

Über D 2 A i. V.2, Herrn Staatssekretär3 Herrn Bundesminister4 Betr.:

Abschluss der Wiener Verhandlungen über Vertrauens- und Sicherheitsbildende Maßnahmen (VVSBM)

Anlg.: 3 1) Text des WD 925 (nur bei Original) 2) Entwurf einer Presseerklärung6 3) Entwurf eines FS an Botschafter Joetze7 (nur bei Original) Zweck der Vorlage: Zur Unterrichtung und zur Billigung der Entwürfe für eine Presseerklärung und ein Fernschreiben an die VVSBM-Delegation 1) Annahme des „Wiener Dokuments 1992“ Am 28.2.1992 wurde in den Wiener VVSBM grundsätzlich Einvernehmen über ein neues Paket Vertrauens- und Sicherheitsbildender Maßnahmen erzielt. Es wird in das „Wiener Dokument 1992“ (WD 92) aufgenommen. Wie schon im Fall des „Wiener Dokuments 1990“8, das die damals neu vereinbarten Maßnahmen in das „Stockholmer Dokument“ der KVAE von 19869 inkorporierte, werden auch jetzt die neuen Vereinbarungen in das WD 90 eingebaut. Das WD 92 ist somit ein in dritter Generation angereichertes Dokument über militärische Vertrauensbildung. Die Form des Dokuments unterstreicht die organische Fortentwicklung des VSBM-Regimes. Die offizielle Annahme im Konsens ist für die Plenarsitzung am 4.3.1992 vorgesehen, nachdem Russland am 28.2. zwar keine Einwände 1 Die Vorlage wurde von OTL i. G. Stier konzipiert. 2 Hat in Vertretung des Botschafters Holik MDg Roßbach am 3. März 1992 vorgelegen. 3 Hat StS Kastrup am 4. März 1992 vorgelegen, der handschriftlich vermerkte: „Presseerklärung ist o. k. und kann herausgegeben werden.“ 4 Hat im Ministerbüro VLR Brose am 11. März 1992 vorgelegen, der den „Rücklauf von BM“ an Referat 241 verfügte und handschriftlich vermerkte: „FS an Bo[tschafter] Joetze kann ab.“ Hat VLR I Gruber am 12. März 1992 erneut vorgelegen, der handschriftlich vermerkte: „FS an Joetze ging ab.“ 5 Dem Vorgang beigefügt. Für das „Wiener Dokument 1992“ vom 4. März 1992 (CSCE/WV.31) nebst Anlagen vgl. B 43, ZA-Bd. 177818. Vgl. auch BULLETIN 1992, S. 293–308. 6 Dem Vorgang beigefügt. Für den Entwurf der Presseerklärung vgl. B 43, ZA-Bd. 177818. 7 Dem Vorgang beigefügt. In dem Entwurf des Fernschreibens von BM Genscher hieß es, das Wiener Dokument 1992 sei „ein weiterer wichtiger Schritt beim Ausbau des Instrumentariums der KSZE zur militärischen Vertrauensbildung“. Botschafter Joetze und den Mitarbeitern der VVSBM-Delegation in Wien wurde „für die erfolgreiche Arbeit“ gedankt. Vgl. B 43, ZA-Bd. 177818. 8 Für das Wiener Dokument der VVSBM vom 17. November 1990 sowie die zugehörigen Anlagen vgl. BULLETIN 1990, S. 1493–1504. Vgl. ferner AAPD 1990, II, Dok. 386. 9 Für das „Dokument der Stockholmer Konferenz“ der KVAE vom 19. bzw. 22. September 1986 vgl. EUROPAARCHIV 1986, D 625–638. Vgl. auch AAPD 1986, II, Dok. 253 und Dok. 267.

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erhoben, aber sich unter Berufung auf Weisungsbedarf zu abschließender Zustimmung erst für die Plenarsitzung am 4.3. imstande erklärt hatte. Das Dokument tritt zum 1.5.1992 in Kraft. Das WD 92 wird dem KSZE-Folgetreffen in Helsinki10 vorgelegt werden. Unser Vorschlag, das Dokument solle von den Außenministern bei ihrem Treffen zu Beginn des Folgetreffens unterzeichnet oder ihnen zumindest förmlich unterbreitet werden, fand keine Unterstützung und scheiterte vor allem am britischen Einspruch. 2) Inhalt der neuen Maßnahmen Als wesentliche neue VSBM werden in das WD 92 aufgenommen: – Erweiterung des jährlichen Informationsaustausches um technische Leistungsdaten der wichtigsten Waffensysteme in den Streitkräften sowie Demonstration neuer Waffensysteme vor ihrer Einführung in die Streitkräfte; – Notifikation des Aufwuchses gekaderter und teilgekaderter Truppenteile; – Beschränkungen für militärische Aktivitäten der Teilnehmerstaaten: – Zulässigkeit von Aktivitäten mit mehr als 40 000 Soldaten/900 Kampfpanzern nur einmal innerhalb von zwei Jahren und nach mindestens einjähriger Vorankündigung; – pro Jahr nicht mehr als sechs militärische Aktivitäten mit einer Beteiligung zwischen 13 000 und 40 000 Soldaten (300 – 900 Kampfpanzer), davon höchstens drei mit mehr als 25 000 Mann; – von diesen Übungen dürfen nicht mehr als drei zur gleichen Zeit durchgeführt werden. – Verbesserung der Inspektionsbedingungen durch die Möglichkeit zur Bildung multinationaler Inspektionsteams. – Senkung der Schwellen für die Notifizierung und Beobachtung militärischer Aktivitäten: – Notifizierung ab: 9000 Soldaten/250 Kampfpanzer (bisher: 13 000/300) – Beobachtung ab: 13 000 Soldaten/300 Kampfpanzer (bisher: 17 000 Mann) – Freiwillige Einladung zu Informationsbesuchen, um Befürchtungen über militärische Aktivitäten zu zerstreuen. Diese Maßnahme soll den „Mechanismus für Konsultationen und Zusammenarbeit in Bezug auf ungewöhnliche militärische Aktivitäten“ ergänzen. 3) Anwendungsgebiet Die Anwendungszone für VSBM wird auf das Territorium der außereuropäischen neuen KSZE-Teilnehmerstaaten ausgedehnt. Nachdem die fünf zentralasiatischen GUS-Staaten, Aserbaidschan und Armenien dieser Ausdehnung in ihren Beitrittsgesuchen zur KSZE11 im Grundsatz zugestimmt hatten, konnten Russland und Türkei, die aus ihrer Interessenlage heraus unterschiedliche Bedenken gegen diese Ausweitung hatten und sie am liebsten verzögert hätten, ihr Einverständnis schließlich nicht verweigern. Als Entgegenkommen gegenüber den sieben betroffenen neuen KSZE-TNS (wie auch gegenüber der Türkei, die den Sonderstatus von Südostanatolien im Rahmen der VSBM wahren will) ist in einem „Chairman’s Statement“ die Vereinbarung festgehalten, dass die Praxis der Anwendung der VSBM in Grenzgebieten zu nichteuropäischen Nicht-KSZEStaaten im Rahmen künftiger jährlicher Implementierungstreffen erörtert werden kann. 10 Zur vierten KSZE-Folgekonferenz vom 24. März bis 8. Juli 1992 sowie zur Gipfelkonferenz am 9./10. Juli 1992 vgl. Dok. 226. 11 Bei der Sitzung des KSZE-Außenministerrats am 30./31. Januar 1992 in Prag wurden bis auf Georgien alle nun unabhängigen ehemaligen Sowjetrepubliken in die KSZE aufgenommen. Vgl. Dok. 34.

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Daneben wird den neuen Teilnehmerstaaten ausdrücklich Rücksichtnahme auf möglicherweise zunächst auftretende praktische Implementierungsprobleme zugesichert. Die betroffenen sieben KSZE-Staaten haben nicht mit eigenen Delegationen an der Schlussphase der VSBM-Verhandlungen in Wien teilgenommen. Durch ein Schreiben des Tagesvorsitzenden war ihnen jedoch die sich abzeichnende Vereinbarung mitgeteilt und zugleich eine Einladung zu einer Beteiligung an der Endphase übermittelt worden. Das WD 92 ist das erste KSZE-Dokument, das nach der Ausweitung des Kreises der KSZETNS zustande kam. 4) Bewertung – Das Wiener Dokument 1992 ist ein weiteres Glied in der Kette von Vereinbarungen über militärische Vertrauensbildung im Rahmen des KSZE. Sie reicht von Helsinki (1975) über Stockholm (1986), das Wiener Dokument 1990 bis zum jetzt gebilligten Übereinkommen. Diese Serie von Vereinbarungen hat ein sukzessive angereichertes Regelwerk geschaffen, durch das in wachsendem Maß die Transparenz in Bezug auf die Streitkräfte in Europa und die Vorhersehbarkeit ihrer Aktivitäten ausgebaut wurden. – Auch wenn durch die zögernde Haltung einiger wichtiger Teilnehmerstaaten (vor allem USA und Russland, die in der Endphase an einem Strang zogen, um ihnen zu ehrgeizige Vorschläge zu Fall zu bringen) weitergehende Ergebnisse nicht zu erzielen waren, wird mit dem WD 92 in einigen wichtigen Bereichen ein Einstieg in neue Felder der Vertrauensbildung vereinbart. So wurde mit der Erweiterung des Informationsaustauschs und der Demonstration neuer Waffensysteme ein Schritt in Richtung auf eine Pflicht zur Offenlegung qualitativer Aspekte der Rüstungen getan. Die Notifikation des Aufwuchses aktiver und nichtaktiver Truppenteile erfasst erstmalig die zunehmend wichtiger werdende Aufwuchsfähigkeit von Streitkräften, auch wenn die vereinbarten Maßnahmen wegen der kompromissweise gewählten Parameter zunächst nur geringe praktische Auswirkungen haben werden. Die freiwillige Maßnahme zur Zerstreuung von Befürchtungen über militärische Aktivitäten ist ein Ansatz zur Entwicklung operativer Maßnahmen der Krisenbewältigung. Die Beschränkenden Maßnahmen schreiben die in jüngster Zeit erfolgten Veränderungen in der Übungspraxis aller Staaten fest; eine Rückkehr zur Anzahl oder zum Umfang von Großübungen, wie sie früher von der SU und von der NATO praktiziert wurden, wird nicht mehr möglich sein. – Der Konsens zur Vereinbarung gehaltvoller neuer VSBM entwickelte sich erst in der Schlussphase der VVSBM, nachdem bis zum Herbst 1991 viele TNS hierfür nur geringes Interesse zeigten. Da sich mehrere NATO-Partner (vor allem die USA) lange zurückhielten, konnten die NATO-Staaten nicht wie früher eine Führungsrolle in den Verhandlungen spielen. Erst im November 1991 haben die 16 NATO-Staaten mit einem Vorschlagspaket die Initiative wiedergewonnen. Diese Vorschläge gaben den Verhandlungen deutlichen Auftrieb und wurden zur Grundlage des jetzt im WD 92 niedergelegten Ergebnisses. Neben westlichen TNS trugen einzelne MOE- und NuN-Staaten (insbesondere Polen, Bulgarien und Österreich) zur substanziellen Anreicherung der Verhandlungen bei, während die Sowjetunion und seit Dezember 91 auch Russland eher retardierend wirkten. Durch die Ausdehnung der Anwendungszone für VSBM auf das Gebiet der zentralasiatischen GUS-Staaten sowie Aserbaidschans und Armeniens werden die Maßnahmen der Vertrauensbildung, Transparenz und Konfliktverhütung auch in diesem Raum Anwendung finden. Die Einbindung dieser Nachfolgestaaten der SU in den rüstungskontroll281

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politischen Acquis der KSZE kann zur Stabilisierung der Beziehungen zwischen ihnen beitragen. Andererseits werden durch die Dynamik lokaler Konflikte wie jetzt um Nagorny Karabach oder schon früher in Jugoslawien auch die Grenzen des VSBM-Regimes im Fall akuter Feindseligkeiten deutlich, woran sich auch durch das WD 92 nichts ändern wird. – Es bleibt jedoch festzuhalten, dass die Fortschritte in der militärischen Offenheit in Europa – nicht zuletzt dank des zunehmend engmaschigen Regimes von VSBM – zu mehr Vorhersehbarkeit und damit zu mehr Stabilität und Vertrauen beigetragen haben und dazu weiter beitragen können. Gruber B 43, ZA-Bd. 177818

71 Drahtbericht des Gesandten Heinichen, Paris Fernschreiben Nr. 629 Betr.:

Aufgabe: 6. März 1992, 12.18 Uhr1 Ankunft: 6. März 1992, 12.58 Uhr

Deutsch-französische Beziehungen; hier: Gespräch MdB Dr. Bötsch mit AM Dumas am 5.3.92

Zur Information I. Der Vorsitzende der CSU-Landesgruppe im Bundestag, MdB Dr. Bötsch, führte am 5.3.92 – während seines Aufenthaltes in Paris aus Anlass einer deutsch-französischen Konferenz der Hanns-Seidel-Stiftung2 – ein etwa dreiviertelstündiges Gespräch mit dem französischen Außenminister Dumas. Dabei kamen europa- und sicherheitspolitische Fragen zur Sprache: 1) AM Dumas erkundigte sich, das Gespräch eröffnend, mit dem Hinweis darauf, dass die französische Regierung sich bemühen werde, die Ratifizierung der Beschlüsse von Maastricht3 so schnell wie möglich zu vollziehen, nach der Haltung der CSU in dieser Frage. MdB Bötsch machte deutlich, dass die CSU – ungeachtet der in seiner Partei wie auch sonst in der öffentlichen deutschen Diskussion laut gewordenen Einwände gegen die Beschlüsse von Maastricht – hinter der Bundesregierung stehe und die Ratifizierung nicht infrage stellen werde. Das Präsidium der CSU habe mit nur einer Gegenstimme (Gauweiler) die in Maastricht gefassten Beschlüsse gebilligt. Gewiss gebe es in der deutschen Bevöl1 Hat VLR Geier am 6. und erneut am 10. März 1992 vorgelegen. 2 Der CSU-Abgeordnete Bötsch nahm am 5./6. März 1992 an einem von der Hanns-Seidel-Stiftung und dem Forum de future organisierten Kolloquium in der französischen Nationalversammlung „über Fragen der Europapolitik (Sicherheit, EG-Erweiterung, Politik gegenüber Osteuropa sowie der Dritten Welt“ teil, wo er „zum Thema ‚Das wiedervereinigte Deutschland – Freundschaft im Westen, Partnerschaft im Osten‘ referierte.“ Vgl. DB Nr. 650 des Gesandten Heinichen vom 8. März 1992; B 5, ZA-Bd. 164097. 3 Zum Vertragswerk von Maastricht vgl. Dok. 3, Anm. 8.

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kerung insbesondere wegen der Auswirkungen dieser Beschlüsse auf die Stabilität der deutschen Währung „unterschwellige“ Ängste, die sich naturgemäß in den parteiinternen Diskussionen reflektierten; und dies nicht allein in der CSU, sondern z. B. auch in der – traditionell so europäischen – SPD. Diese Bedenken seien letztlich aber nicht so gravierend, dass sie die Ratifizierung der Maastrichter Beschlüsse oder deren praktischen Vollzug im Laufe dieses Jahrzehnts infrage stellen könnten. Ebenso zuversichtlich sei er, dass es über die – sich in diesem Zusammenhang erneut stellende – Frage der künftigen Beteiligung der Bundesländer an der europapolitischen Willensbildung der Bundesregierung zu einer einvernehmlichen Lösung kommen werde; der Bundeskanzler werde darüber in der kommenden Woche das Gespräch mit den Ministerpräsidenten der Bundesländer aufnehmen. AM Dumas nahm diese Ausführungen mit erkennbarem Interesse zur Kenntnis. Er verstehe die Probleme und die durch die Beschlüsse von Maastricht auch in Deutschland ausgelöste Diskussion. Sie sei auch in Frankreich in Bewegung gekommen. Auch stelle sich hier ein Verfahrensproblem (Referendum oder Parlamentsentscheidung), das noch nicht entschieden sei. Indessen zähle er darauf, dass beide Seiten die Ratifizierung vollziehen würden. Es gehe um einen Vorgang von großer Tragweite, nicht nur für das deutschfranzösische Verhältnis, sondern für ganz Europa. MdB Bötsch stimmte dem lebhaft mit dem Hinweis darauf zu, dass sich auch die CSU – ungeachtet ihrer im Einzelnen differenzierteren Haltung, die sie im Zusammenhang mit dem Abschluss der Verträge Deutschlands mit Polen4 und der ČSFR5 eingenommen habe – nachdrücklich dafür einsetze, mit diesen Ländern ein gleiches Verhältnis zu finden, wie wir es in den vergangenen Jahrzehnten mit Frankreich haben entwickeln können. 2) MdB Bötsch sprach daraufhin die Frage der sicherheitspolitischen Situation in Europa an. Die CSU sei der Auffassung, dass nach wie vor großer Wert auf die Präsenz der USA in Europa gelegt werden müsse. Sie sei als Garantie des Vertrauens in die Aufrechterhaltung des Friedens und der Freiheit auf unserem Kontinent unverzichtbar, selbst wenn der „europäische Pfeiler“ im Bündnis gestärkt werden müsse. In keinem Falle werde die KSZE einen Ersatz darstellen können. Aus diesem Grunde müsse auch alles vermieden werden, was die USA dazu verleiten könnte, isolationistischen Tendenzen – sie seien nicht zu übersehen – nachzugeben. AM Dumas unterstrich seinerseits die Notwendigkeit der Präsenz der USA in Europa. Wohl hätten sich die „Aspekte“ des europäischen Sicherheitsproblems im Zuge der Auflösung des Warschauer Paktes6 und des Zusammenbruchs der Sowjetunion geändert; das Sicherheitsproblem als solches stelle sich jedoch nach wie vor, gerade angesichts der Entwicklung in Osteuropa mit ihren destabilisierenden Wirkungen. Außerdem sei keines4 Die Bundesrepublik und Polen schlossen am 14. November 1990 einen Vertrag über die Bestätigung der zwischen ihnen bestehenden Grenze. Vgl. BGBl. 1991, II, S. 1329 f. Vgl. auch AAPD 1990, II, Dok. 384, und DIE EINHEIT, Dok. 169. Ferner wurde am 17. Juni 1991 ein Vertrag über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit unterzeichnet. Vgl. BGBl. 1991, II, S. 1315–1327. Zur Ratifizierungsdebatte in Polen vgl. AAPD 1991, II, Dok. 348. 5 Die Bundesrepublik und die ČSFR schlossen am 27. Februar 1992 einen Vertrag über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit. Vgl. BGBl. 1992, II, S. 463–473. Vgl. auch Dok. 64. 6 Zur Auflösung der Militärstruktur des Warschauer Pakts vgl. AAPD 1991, I, Dok. 74. Am 1. Juli 1991 beschloss der Politische Beratende Ausschuss bei seiner Tagung in Prag die Auflösung des Warschauer Pakts. Vgl. EUROPA-ARCHIV 1991, D 576 f.

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6. März 1992: Drahtbericht von Heinichen

wegs gewiss, in welchem Umfange und wie lange die USA ihr Engagement in Europa aufrechterhalten werden.7 Die Entwicklung in der Zukunft sei augenblicklich außerordentlich schwer zu übersehen. In dieser Situation müssten sich die Europäer darauf vorbereiten – ohne die Präsenz der USA in Europa infrage zu stellen oder gar deren Aufgabe zu provozieren –, die Verantwortung für ihre Sicherheit selbst zu übernehmen. Entscheidend komme es hierbei auf die deutsch-französische Zusammenarbeit an („le coeur du dispositif“). MdB Bötsch stimmte [mit] dem Hinweis insbesondere auch auf die jüngsten Erfahrungen im Zusammenhang mit der Jugoslawien-Krise zu. Die USA hätten ein relativ geringes Interesse an eigenem Engagement bei der Lösung dieses Konfliktes gezeigt. Europa auf der anderen Seite habe nicht über die notwendigen Instrumente verfügt, um schnell und wirkungsvoll einzugreifen. Für die Zukunft werde es notwendig sein, in vergleichbaren Situationen, in denen die europäischen Interessen unmittelbar, die amerikanischen dagegen nur entfernter berührt seien, Handlungsfähigkeit zu beweisen. Er schloss hieran die Frage der künftigen „Einbindung“ der osteuropäischen Staaten in das Konzept einer europäischen Sicherheitspolitik an. Diese Staaten sähen sich nach der – befreienden – Auflösung des Warschauer Paktes in einer Art „Sicherheitsvakuum“ und suchten aus diesem Grunde möglichst schnellen Anschluss an das Atlantische Bündnis. Die Schaffung des NATO-Kooperationsrates8 sei ein erster Schritt. Erkennbar suchten diese Länder jedoch die Integration in das Bündnis durch Erlangung der Mitgliedschaft, wenn nicht heute, so doch morgen oder übermorgen. Wie stelle man sich hierzu in Frankreich? AM Dumas antwortete mit der Gegenfrage, ob diese Länder wirklich Grund zur Beunruhigung hätten? Weder im Osten und noch weniger im Westen seien sie einer wirklichen Gefährdung ausgesetzt. Wenngleich er die Besorgnisse in jenen Ländern verstehe, sehe er in ihnen doch mehr den Ausdruck eines „diffusen Gefühls“ („sentiment diffus“), das sich mehr aus dem Denken in Begriffen der Vergangenheit erkläre und kaum der Realität der Gegenwart entspreche. Dabei sehe man alles Heil hinsichtlich der wirtschaftlichen Wohlfahrt in der Europäischen Gemeinschaft, hinsichtlich der Sicherheit in der NATO. Die osteuropäischen Länder würden lernen müssen, wir dagegen sollten einen klaren Blick für die Realitäten behalten und ihren „diffusen“ Gefühlen nicht nachgeben („ne pas paniquer“). Auch sie würden nach und nach begreifen, dass die Stabilität in Europa umso stärker sei, je stärker die Europäische Gemeinschaft werde. MdB Bötsch verwies abschließend auf die abgeschlossenen bzw. in der Verhandlung begriffenen Assoziierungsverträge der Gemeinschaft mit osteuropäischen Ländern9. Dies seien richtige Schritte in die richtige Richtung. Gewiss müssten diese Länder – wie auch 7 Dieser Satz wurde von VLR Geier hervorgehoben. Dazu Ausrufezeichen. 8 Zur konstituierenden Sitzung des NAKR am 20. Dezember 1991 in Brüssel vgl. AAPD 1991, II, Dok. 439. 9 Die EG schloss am 16. Dezember 1991 Europa-Abkommen zur Gründung einer Assoziation mit Polen bzw. Ungarn. Vgl. BGBl. 1993, II, S. 1317–1471 bzw. S. 1473–1714. Vgl. auch AAPD 1991, II, Dok. 407. Ebenso wurde ein entsprechendes Abkommen mit der ČSFR geschlossen. Vgl. BULLETIN DER EG 12/1991, S. 97 f. Zur Sondierung einer EG-Assoziierung Bulgariens vgl. Dok. 11, Anm. 10. Referat 411 legte am 5. März 1992 dar, nach Verabschiedung einer neuen Verfassung in Rumänien habe der EG-Ministerrat am 16. Dezember 1991 der Aufnahme exploratorischer Gespräche über eine EGAssoziierung Rumäniens zugestimmt. Die EG-Kommission habe inzwischen einen Vorentwurf für Mandate zu Assoziierungsverhandlungen mit Rumänien und Bulgarien vorgelegt. Vgl. B 221, ZA-Bd. 166661.

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der Bundeskanzler bei seinem kürzlichen Besuch in Ungarn10 zum Ausdruck gebracht habe – die Voraussetzungen für eine Mitgliedschaft in der Europäischen Gemeinschaft zunächst selbst schaffen. Dennoch komme es gerade auch jetzt ganz darauf an, ihnen das Vertrauen zu geben, nicht alleingelassen zu werden. II. Das Gespräch war aus der Sicht der Botschaft vor dem Hintergrund der aktuellen europapolitischen Diskussion in Deutschland und der hieraus naturgemäß gerade auch in Frankreich ausgelösten Zweifel, inwieweit die Politik der Bundesregierung von der öffentlichen Meinung in Deutschland auch künftig getragen wird, besonders willkommen und hilfreich. Die Auffassung eines prominenten Vertreters der CSU in diesem Zusammenhang kennenzulernen, war für AM Dumas erkennbar von besonderem Interesse. MdB Bötsch bekräftigte die Politik der Bundesregierung in einer Weise, die auf französischer Seite eine beruhigende Wirkung kaum verfehlt haben dürfte. MdB Bötsch hat diesen DB gebilligt. [gez.] Heinichen B 24, ZA-Bd. 265982

72 Runderlass des Vortragenden Legationsrats I. Klasse Bettzuege 012-9-312.74 VS-NfD Fernschreiben Nr. 17 Ortez Betr.:

9. März 19921 Aufgabe: 10. März 1992

Ergebnis der achten VN-Konferenz über Handel und Entwicklung (UNCTAD VIII)

1) Vom 6. bis 25. Februar 1992 tagte in Cartagena, Kolumbien, die achte Welthandels- und Entwicklungskonferenz (UNCTAD VIII). Über 120 Delegationen – meist auf Ministerebene – nahmen teil. Die deutsche Delegation wurde in der Eröffnungsphase durch Minister Spranger und danach von Botschafter Dr. Reichenbaum geleitet. Ihr gehörten Beamte von AA, BMF, BMWi, BML und BMZ an. Straffer organisiert als je zuvor, verabschiedete UNCTAD VIII im Konsens: – ein 91-seitiges Schlußdokument: „Stärkung nationaler wie internationaler Maßnahmen sowie multilateraler Zusammenarbeit für eine gesunde, stabile und gerechte Weltwirtschaft“2, – eine Politische Erklärung „Der Geist von Cartagena“3, die auf eineinhalb Seiten den Willen zu einer neuen Entwicklungspartnerschaft und zur Revitalisierung von UNCTAD festschreibt, 10 Zum Besuch des BK Kohl und des BM Genscher am 6./7. Februar 1992 in Ungarn vgl. Dok. 41. 1 Der Runderlass von VLR Jessen konzipiert. 2 Für das Schlussdokument (TD/L.339) vgl. https://unctad.org/system/files/official-document/tdl339_en.pdf. 3 Für die Erklärung vgl. https://unctad.org/system/files/official-document/tdviiimisc4_en.pdf, S. 3 f. Für den deutschen Wortlaut vgl. BULLETIN 1992, S. 267 f.

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– eine Resolution über eine Weltrohstoffkonferenz4 (Thema: Suche nach neuen Wegen zur Lösung der Rohstoffproblematik, Entscheidung über Konferenz aber erst nach Prüfung der Ziele und Kriterien), – eine Botschaft an UNCED5, mit der UNCTAD sich eine wichtige Rolle bei der Implementierung der Rio-Konferenz zuschreibt. 2) Besonders das Schlussdokument bringt große Fortschritte: – eine weitgehende UNCTAD-Reform mit erheblicher Straffung und Neuordnung der Ausschussstruktur sowie Neuausrichtung von Arbeitsprogramm und Arbeitsmethoden (Schwerpunktverlagerung zu Analyse/Dialog mit Konsensbildung à la OECD; eventuelle Verhandlungen erst als Schlussstein konvergenzbildenden Dialogprozesses), – Fortentwicklung der neuen Entwicklungsdiskussion nach Wegfall des Ost-West-Gegensatzes mit – in UNCTAD erstmals – gleichgewichtiger Behandlung von nationaler Eigenverantwortung und entwicklungsfördernden internationalen Rahmenbedingungen („good governance“ einschließlich Bekämpfung der Korruption, Marktorientierung, partizipatorische Entwicklung, Abbau der Militärausgaben, Zusammenhang zwischen Demokratie, Menschenrechten und tragfähiger Entwicklung), – Öffnung von neuen Perspektiven zu sektoralen Substanz-Problemen, z. B. o. a. von Kolumbien initiierte Resolution zur Weltrohstoffkonferenz oder Einsetzung von zunächst fünf Ad-hoc-Arbeitsgruppen zu folgenden prioritären Themen: Investitionen und Finanzen sowie Technologie, Handelseffizienz, Privatisierungserfahrungen und Verbesserung der Handelschancen für EL. Die wachsende Konvergenz in Richtung auf mehr Markt, Direktinvestitionen etc. sowie die Aussicht auf ein für EL durchaus interessantes Arbeitsprogramm erlaubten es den EL, auf Durchsetzung zahlreicher „klassischer“ und für die IL inakzeptabler Forderungen in den traditionellen UNCTAD-Sachbereichen Ressourcen, Handel, Dienstleistungen, Technologie und Rohstoffe zu verzichten. 3) Wesentliche Faktoren für den Erfolg waren: – Die Entschlossenheit aller Beteiligten, angesichts wachsender Interdependenz die weltpolitischen Veränderungen zu Kooperation und neuer Partnerschaft zu nutzen: Der Abbau der Blockbildung schlug auf das Nord-Süd-Verhältnis durch. – Die von den IL gemeinsam mit Lateinamerika vorangetriebene Reforminitiative, der sich schließlich nach Einschwenken des von dem Ghanesen Dadzie geleiteten UNCTAD-Sekretariates auch Afrikaner und Asiaten nicht mehr verschließen konnten, – die in Cartagena bereits praktizierte Flexibilisierung des bislang starren Gruppensystems (nur Afrikaner und Asiaten sprachen noch durch regionale Gruppenkoordinatoren), Ausdruck auch wachsender Differenzierung unter den EL, – und die bei EL sich durchsetzende Überzeugung, dass nur durchgreifender Neuansatz UNCTAD „wiederbeleben“ und den historischen Veränderungen anpassen könne. 4) In Cartagena ist damit möglicherweise der Grundstein für den Ausbau von UNCTAD zum wichtigsten universalen Forum für den entwicklungsorientierten Nord-Süd-Dialog gelegt worden – mit positiver Wirkung hoffentlich auch auf die Reform des gesamten Wirt4 Für die Resolution vgl. https://unctad.org/node/11120, S. 75. 5 Für die Botschaft vgl. https://unctad.org/node/11120, S. 79. Zur VN-Konferenz über Umwelt und Entwicklung vom 3. bis 14. Juni 1992 vgl. Dok. 177.

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schafts- und Sozialbereichs der VN. Voraussetzung bleibt allerdings, dass alle MS in der nun anstehenden Bewährungsphase die neue Basis in demselben Geiste zu nutzen verstehen. Mit dem Reformerfolg sind die IL jedenfalls stärker als je zuvor in die Pflicht genommen. Nur eine aktive Mitarbeit aus EL und IL – vor allem auf Expertenebene – kann dem neuen Ansatz zum Erfolg verhelfen. 5) Die USA distanzierten sich zwar mit einer umfangreichen interpretativen Schlusserklärung von zahlreichen „Verbalkompromissen“, die sie des kolumbianischen Konferenzerfolges wegen mitgetragen hatten. Auch die EG bedauerte in einer Plenarerklärung, dass in der kurzen „Politischen Erklärung“ (in dem Schlussdokument enthaltene) Aussagen zu Demokratie und Menschenrechten fehlten.6 Damit wurde der Erfolg insgesamt selbst jedoch nicht geschmälert angesichts der erheblichen inhaltlichen und organisatorischen Fortschritte im Schlussdokument. 6) Die deutsche Delegation hat unser auch angesichts der Herausforderungen im Osten fortbestehendes Nord-Süd-Engagement dokumentiert und nicht zuletzt aus diesem Grunde auch Konferenzämter übernommen (Vorsitz des Hauptausschusses durch Botschafter Reichenbaum, Vorsitz der „drafting group“ Handel durch MR Hörig/BMWi). BM Spranger gab am ersten Tag der Generaldebatte eine sehr positiv aufgenommene, ausgewogene Erklärung ganz im Sinne des „Geistes von Cartagena“ ab.7 7) Sprachregelung Mit dem erfolgreichen Abschluss ihrer achten Welthandels- und Entwicklungskonferenz hat UNCTAD bewiesen, dass sie bereit ist, ihre Funktion als wichtiges weltweites Dialogforum wieder aufzunehmen und an der Ausformulierung einer neuen internationalen Partnerschaft mitzuwirken, die Pflichten für alle Beteiligten enthält. Angesichts der wachsenden globalen Probleme und Interdependenzen müssen auch die Entwicklungsländer entsprechend ihrer Leistungsfähigkeit in die Verantwortung eingebunden werden. Sie sind sich ihrer Verantwortung für ihre eigene Entwicklung bewusst, während die IL sich zu ihrer Verantwortung für solidarische Hilfe und für entwicklungsfördernde weltwirtschaftliche Rahmenbedingungen bekennen. Nur EL und IL gemeinsam kann Bewältigung der globalen Probleme gelingen. Bettzuege8 B 5, ZA-Bd. 161325

6 Für die Erklärung der portugiesischen EG-Ratspräsidentschaft vgl. Proceedings of the United Nations Conference on Trade and Development, Eighth session, Report and Annexes (TD/364/Rev. 1); https://unctad. org/system/files/official-document/td364rev1_en.pdf, S. 109 f. 7 Für die Rede des BM Spranger am 10. Februar 1992 in Cartagena vgl. BULLETIN 1992, S. 185–187. 8 Paraphe vom 10. März 1992.

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73 Gespräch des Bundeskanzlers Kohl mit dem chinesischen Außenminister Qian Qichen 10. März 19921 Vermerk über das Gespräch des Bundeskanzlers mit dem chinesischen Außenminister Qian Qichen, am Dienstag, den 10. März 1992, 17.00 bis 18.00 Uhr2 Teilnehmer Auf deutscher Seite: der Bundeskanzler, MD Dr. Hartmann, VLR I Dr. Ueberschaer als Note-taker, Frau Dr. Grüber als Dolmetscherin. Auf chinesischer Seite: AM Qian Qichen, Botschafter Mei Zhaorong, ein Mitarbeiter von AM Qian als Note-taker. Der Bundeskanzler eröffnet das Gespräch mit dem Hinweis, dass er es für sinnvoll halte, den politischen Dialog mit der VR China – ungeachtet der noch bestehenden Belastungen in den Beziehungen – wieder aufzunehmen. Er sei ein Freund Chinas und habe stets Wert auf gute Beziehungen zwischen dem deutschen und dem chinesischen Volk gelegt. In der Geschichte habe es zwischen unseren beiden Ländern nie Probleme gegeben. Deng Xiaoping (den er zu grüßen bitte) habe ihm bei einem seiner Besuche in Peking3 gesagt, dass Deutschland und China schon wegen des „gemeinsamen Nachbarn“ gute Beziehungen pflegen müssten. (Seither habe sich die Lage bei diesem Nachbarn allerdings sehr verändert.) Den Beziehungen zwischen China und dem wiedervereinten Deutschland komme jetzt und in Zukunft große Bedeutung zu. Europa und die ganze Welt befänden sich in einem dramatischen Wandel. In zehn Monaten werde der Europäische Binnenmarkt – ein Markt für 380 Mio. Menschen – vollendet. Ende des Jahrzehnts würden die Wirtschafts- und Währungsunion sowie die Politische Union Europas Wirklichkeit. Als ein wichtiges Land im Zentrum Europas hätten wir uns stets besonders für die Beziehungen zu China engagiert. Umso bedauerlicher sei es, dass die „Blüten dieser Beziehungen einem Nachtfrost zum Opfer gefallen seien“. 1 Kopie. Der Gesprächsvermerk wurde von VLR I Ueberschaer, Bundeskanzleramt, am 16. März 1992 gefertigt und am folgenden Tag von MD Hartmann, Bundeskanzleramt, über BM Bohl an BK Kohl „mit der Bitte um Billigung“ geleitet. Dazu vermerkte Hartmann: „Ich gehe davon aus, dass der Vermerk nicht weitergegeben werden soll.“ Hat Kohl vorgelegen, der handschriftlich vermerkte: „Ja“ und für Hartmann notierte: „Erl[edigen].“ Hat Ueberschaer am 20. März 1992 erneut vorgelegen, der die Weiterleitung an StM Schmidbauer, Bundeskanzleramt, „z[ur] g[efälligen] K[enntnisnahme]“ verfügte. Hat Schmidbauer am 20. März 1992 vorgelegen. Vgl. den Begleitvermerk; BArch, B 136, Bd. 59730. 2 Der chinesische AM Qian Qichen hielt sich vom 10. bis 12. März 1992 in der Bundesrepublik auf. Vgl. auch Dok. 75. 3 BK Kohl besuchte die Volksrepublik China vom 7. bis 13. Oktober 1984. Vgl. AAPD 1984, II, Dok. 269, Dok. 273 und Dok. 274. Kohl hielt sich vom 12. bis 19. Juli 1987 erneut in der Volksrepublik China auf. Vgl. AAPD 1987, II, Dok. 209, Dok. 213 und Dok. 222.

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Nunmehr habe der Bundeskanzler jedoch mit Interesse von den Äußerungen Deng Xiaopings auf dessen kürzlicher Reise in den Süden Chinas Kenntnis genommen.4 Er hoffe sehr, dass die Entwicklung in diese Richtung weitergehe. Wäre er selbst Abgeordneter auf dem bevorstehenden chinesischen Volkskongress5, wüsste er, für welche Politik er zu stimmen hätte. Er hoffe nur, dass das chinesische Parlament in diesem Sinne entscheiden werde. Eine moderne Volkswirtschaft benötige, um funktionieren zu können, auch moderne demokratische Strukturen. Als Freund Chinas – und dies möge AM Qian auch in Peking berichten– halte er einen substanziellen Wandel in der Menschenrechtspolitik für unerlässlich. Dies sei nicht als Einmischung gemeint; es sei jedoch für Chinas Ansehen in der Welt von größter Bedeutung. China habe viele Freunde in Deutschland, auch und gerade in der CDU/CSU. Auch wenn wir uns die engen Beziehungen zu China aus der Zeit vor 19896 wieder zurückwünschten, könnten wir gleichwohl über die unbefriedigende Menschenrechtslage nicht hinwegsehen. Auf die Frage des Bundeskanzlers, für wann die nächsten Sitzungen des Volkskongresses bzw. des 14. Parteikongresses7 anberaumt seien, berichtet AM Qian, dass der Volkskongress am 20. März eröffnet werde; der Parteikongress sei für Ende des Jahres vorgesehen. Auf weitere Frage, welches dieser beiden Gremien in der gegenwärtigen Situation mehr politischen Einfluss habe, äußert AM Qian, dass der Parteikongress die Grundlinien für die weitere Entwicklung Chinas festlege, während der Volkskongress den Haushalt zu genehmigen und Gesetze zu verabschieden habe. Über die Richtlinien der Politik befinde also der Parteikongress. AM Qian dankt dem Bundeskanzler, dass er ihn gleich zu Beginn seines Besuches als erster empfange. Der Bundeskanzler bemerkt, dass dies von ihm auch als Geste gedacht gewesen sei. AM Qian übermittelt dem Bundeskanzler die Grüße des Generalsekretärs der KPCh, Jiang Zemin, den er noch in seinem früheren Amt als Oberbürgermeister von Schanghai kennengelernt habe. Auch MP Li Peng sende beste Grüße. Dieser habe ihm eine persönliche Botschaft an den Bundeskanzler mitgegeben, die er jetzt vortragen wolle. AM Qian verliest sodann die beigefügte Grußbotschaft von MP Li Peng, in der dieser u. a. den Bundeskanzler zu einem Besuch Chinas einlädt.8 Der Bundeskanzler übermittelt seinerseits Grüße. Er hoffe, dass sich einmal Gelegenheit ergeben werde, auf die Einladung zurückzukommen.9 4 Das ehemalige Mitglied des Politbüros des ZK der KPCh, Deng Xiaoping, hielt sich vom 18. Januar bis 21. Februar 1992 in den südlichen Provinzen der Volksrepublik China auf. Im Politischen Halbjahresbericht der Botschaft Peking vom 1. März 1992 hieß es, nachdem 1991 konservative Hardliner die chinesische Öffentlichkeit dominiert hätten, „begann [das Jahr] 1992 mit politisch bedeutsamen Besuchen und Äußerungen Deng Xiaopings, Staatspräsident Yang Shangkuns und des Politbüro-Mitgliedes Qiao Shi in den blühenden ‚semi-kapitalistischen‘ Sonderwirtschaftszonen Shenzhen und Zhuhai sowie in Schanghai, womit kein Zweifel daran gelassen werden sollte, dass an der Wirtschaftsreform- und Öffnungspolitik festgehalten und ihr Tempo sogar beschleunigt werden soll.“ Vgl. die Anlage zum SB Nr. 311 des Botschafters Hellbeck, Peking, vom 27. Februar 1992; B 37, ZA-Bd. 161888. 5 Die fünfte Tagung des VII. Nationalen Volkskongresses fand vom 20. März bis 3. April 1992 in Peking statt. 6 Zur Niederschlagung der Demokratiebewegung in der Volksrepublik China am 3./4. Juni 1989 vgl. Dok. 66, Anm. 5. 7 Zum 14. Parteitag der KPCh vom 12. bis 18. Oktober 1992 in Peking vgl. Dok. 328. 8 Dem Vorgang beigefügt. Für die Grußbotschaft des chinesischen MP Li Peng vgl. BArch, B 136, Bd. 59730. 9 BK Kohl hielt sich vom 15. bis 20. November 1993 in der Volksrepublik China auf. Vgl. AAPD 1993.

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AM Qian bemerkt, dass Deutschland und China in diesem Jahr auf das 20-jährige Bestehen ihrer diplomatischen Beziehungen zurückblicken könnten.10 Diese Beziehungen hätten sich von Anfang an sehr gut entwickelt. China habe das Recht der Deutschen auf ihre staatliche Einheit stets unterstützt und erhoffe sich von diesen eine ebenso solidarische Haltung in der Frage seiner Einheitsbestrebungen (Taiwan11). Mit Freude habe man in Peking vermerkt, dass die Bundesrepublik Deutschland Taiwan keine Kriegsschiffe verkaufen wolle.12 Die Bundesregierung habe damit einen wesentlichen Beitrag zur Festigung der Beziehungen geleistet. In Peking sei man der Auffassung, dass Deutschland und China als zwei bedeutende Staaten ihre Beziehungen auch zur Sicherung von Stabilität und Frieden in der Welt nützen sollten. In China lege man ferner großen Wert darauf, die Wirtschaftsbeziehungen mit Deutschland zu gemeinsamem Nutzen auszubauen. Man wünsche sich einen größeren Anteil Deutschlands beim Handelsaustausch und bei den ausländischen Investitionen. China sei bereit, mehr deutsche Technologie und deutsches Know-how zur Modernisierung seiner Wirtschaft zu importieren. Ende März und im Juni d. J. unternähmen chinesische Einkaufsdelegationen eine Westeuropareise, Deutschland stelle für sie die wichtigste Station dar. Mit Recht habe der Bundeskanzler Deng Xiaopings Reise nach Südchina erwähnt. Deng habe die dortigen Wirtschaftssonderzonen erstmals 1985 besucht und sei von dem dort inzwischen erfolgten dynamischen Wirtschaftsaufschwung sehr beeindruckt. Diese Dynamik sei allein Ergebnis der stetig vorangetriebenen Wirtschaftsreformen. Mit dem Aufruf, mit noch größerem Mut auf eine Beschleunigung dieser Reformen hinzuwirken, habe Deng für die künftige chinesische Wirtschaftspolitik das entscheidende Signal gesetzt. Deng habe auch geäußert, dass nicht Planwirtschaft und Marktwirtschaft die wesentlichen Kriterien zur Unterscheidung zwischen Sozialismus und Kapitalismus darstellten: Vielmehr seien im sozialistischen System marktwirtschaftliche Elemente ebenso denkbar wie im kapitalistischen System Elemente der Planwirtschaft. Mit der Empfehlung, nicht nur Kapital und Technologie, sondern auch Managementkenntnisse und -erfahrungen zu importieren, habe Deng ausländischen Investoren große Möglichkeiten eröffnet. Die Zwischenfrage des Bundeskanzlers, ob zu erwarten sei, dass Volkskongress und Parteitag im gleichen Sinne stimmen würden, bejaht AM Qian. Er wolle sich dem Bundeskanzler gegenüber offen äußern: Es gebe in China, das an einem breiten Aufbau kleinerer und mittlerer Betriebe interessiert sei, viele Kooperationsmöglichkeiten für die deutsche Wirtschaft. In Peking hoffe man auf baldige Aufhebung 10 Die Bundesrepublik und die Volksrepublik China nahmen am 11. Oktober 1972 diplomatische Beziehungen auf. Vgl. AAPD 1972, III, Dok. 328. 11 Zur Haltung der Bundesrepublik gegenüber der Republik China (Taiwan) vgl. AAPD 1991, I, Dok. 194. 12 BM Genscher übermittelte am 21. Januar 1992 den anderen im BSR vertretenen Ressorts eine Entscheidungsvorlage des Auswärtigen Amts, in der es hieß: „Dem Auswärtigen Amt liegt eine Voranfrage eines deutschen Marineschiffbaukonsortiums (Ferrostaal, Thyssen, Blohm & Voss, HDW, Thyssen Nordseewerke) nach den Genehmigungsaussichten des Baus und der Lieferung von zunächst zwei Korvetten des Typs MEKO 100 und zwei U-Booten der Klasse 209 an Taiwan vor. Insgesamt wird der Bedarf der Marine Taiwans auf zehn U-Boote und zehn Korvetten geschätzt. Der Liefervertrag soll von Taiwan mit dem USKonzern Rockwell abgeschlossen werden, der die Elektronik und die Bewaffnung der Schiffe liefern würde. Die Firma Rockwell würde einen Unterauftrag an das deutsche Marineschiffbaukonsortium erteilen.“ Das Auswärtige Amt empfahl, die Voranfrage negativ zu bescheiden. Vgl. B 70, ZA-Bd. 220662.

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der noch bestehenden deutschen Restriktionen bei der Zusammenarbeit mit China.13 Auch andere Länder seien an der Wirtschaftskooperation mit China interessiert. Mit Vorzugsbedingungen bei Krediten könne sich Deutschland eine bessere Position im Wettbewerb sichern. Im vergangenen Jahr habe die chinesische Regierung mit ausländischen Firmen Investitionen in Höhe von 11,1 Mrd. $ vereinbart. Eine weitere Ausschreibung zahlreicher Großprojekte stehe bevor. Deutsche Produkte seien technisch gut, aber wenn die Restriktionen nicht fielen, stände es nicht gut für die Konkurrenzfähigkeit der deutschen Wirtschaft auf dem chinesischen Markt. Er, AM Qian, habe Verständnis für das westliche Interesse an der Menschenrechtspolitik in China. Es sei jedoch schwierig, eine reibungslos funktionierende Wirtschaft in China zu garantieren, wenn das politische Klima nicht stabil sei. Priorität habe für Peking die Ernährung und Bekleidung der chinesischen Bevölkerung. Um diese sicherzustellen, könne man keine Instabilität in der sozialen Ordnung zulassen. Die Teilstaaten der ehemaligen Sowjetunion mit einer Bevölkerung von insgesamt „nur“ 200 bis 300 Mio. Einwohnern befänden sich heute in einem äußerst labilen Zustand. Wenn China seine Bevölkerung von über 1 Mrd. Menschen eines Tages nicht mehr ernähren könnte, wäre dies eine Katastrophe für die Welt. Wenn die Stabilität Chinas gesichert sei, werde Peking schrittweise auch politische Reformen einführen. Der Bundeskanzler bemerkt, dass dies außerordentlich wichtig sei. Dies könne zu einer Wiedererwärmung der deutsch-chinesischen Beziehungen führen. Er bitte AM Qian, Peking von dieser Aussage zu unterrichten. AM Qian sagt dies zu. Man wisse dort, dass der Bundeskanzler dieser Frage große Aufmerksamkeit widme. China verfüge über ein großes wirtschaftliches Potenzial. Der Bundeskanzler bemerkt, dass aus deutscher Sicht den Beziehungen zu China nicht nur eine wirtschaftliche, sondern vor allem auch eine bedeutende kulturelle Dimension beigemessen werde. Chinas Kultur habe Bedeutendes zur Kultur der Menschheit beigetragen. Politische Kultur sei aber ein wesentlicher Teil jeder Kultur. AM Qian weist auf die Unterschiede zwischen der europäischen und der chinesischen Denkweise hin. Die wirtschaftlichen wie die politischen Reformen in der VR China hätten ihren eigenen Charakter. Der Bundeskanzler wisse ja auch, wie sehr sich der Sozialismus in China von dem in der ehemaligen Sowjetunion unterscheide. Der Bundeskanzler erwidert, dass er die chinesische Wirtschaftsreform besser verstehen könne als die chinesische Innenpolitik. Er hoffe sehr, dass der Tag bald kommen werde, der ihm die Möglichkeit gebe, dem Bundestag eine Wiedererwärmung der deutsch-chinesischen Beziehungen zu empfehlen. Gegenwärtig falle ihm dies noch schwer. AM Qian erklärt, dass China seine Reformen nicht nur 1992, sondern auch in Zukunft weiter vorantreiben werde. Der Bundeskanzler wirft ein, dass die Entwicklung in diesem Jahr ganz besonders wichtig sei. Er erkundigte sich sodann nach den Beziehungen Chinas zu den Staaten der GUS. AM Qian erwidert, dass China alle GUS-Staaten anerkannt und zu ihnen diplomatische Beziehungen aufgenommen habe. Peking habe auch eine Delegation des Außenhandelsministeriums in acht dieser Staaten entsandt. 13 Zu den Sanktionen der EG bzw. der Bundesrepublik nach der Niederschlagung der Demokratiebewegung in der Volksrepublik China am 3./4. Juni 1989 vgl. Dok. 75, Anm. 6 und 7.

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China habe der ehemaligen Sowjetunion vor ihrem Auseinanderfallen einen Kredit in Höhe von 1,5 Mrd. SFr zum Ankauf chinesischer Waren zur Verfügung gestellt, der sich jedoch als volkswirtschaftlich unwirksam erwiesen habe. Die mit dem Kredit gekauften Waren seien gar nicht erst auf den Markt gekommen, sondern bereits vorher versickert. Von den Gliedstaaten der ehemaligen SU kämen insbesondere die westasiatischen Staaten aufgrund der bestehenden Eisenbahn- und Luftverkehrsverbindungen als Wirtschaftspartner für China in Betracht. Der Bundeskanzler erkundigt sich, ob der Streit zwischen China und Russland über die Ussuri-Grenze14 gelöst sei. AM Qian bejaht dies. Über den insgesamt 4000 km langen Grenzverlauf bestehe – mit Ausnahme von zwei Flussinseln – Einverständnis. China empfinde keine Bedrohung mehr an seiner Westgrenze, aber es gebe neue Probleme: Wenn die Unruhen anhielten, seien große Flüchtlingsströme zu erwarten. Präsident Jelzin wünsche, China zu besuchen.15 Er, AM Qian, sei daran interessiert, ob der Bundeskanzler zuraten könne. Der Bundeskanzler äußert, dass die Lage auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion unverändert schwierig sei. Bei allem Respekt vor der Selbstständigkeit der neuen Republiken könne man nicht wissen, ob sie wirtschaftlich lebensfähig seien. In der ehemaligen Sowjetunion sei die regionale Verteilung der Warenproduktion nach den Kriterien der zentralen Planung erfolgt. Mit dem Zerfall der SU seien viele der bisherigen wirtschaftlichen Verbindungen zerstört. Problematisch sei auch, was mit der ehemaligen Sowjetarmee und insbesondere was mit ihren Nuklear- und C-Waffen geschehe. Er habe vor wenigen Tagen mit dem ehemaligen Präsidenten Gorbatschow viele Stunden über diese Themen diskutiert.16 Die Regierungen in Moskau, Kiew und den übrigen Hauptstädten der GUS müssten so bald als möglich zu einer engen Zusammenarbeit gelangen. Präsident Jelzin habe große Erwartungen erweckt, die er jetzt erfüllen müsse. Man müsse skeptisch sein, ob dies gelingen könne. Der gute Wille sei ohne Zweifel vorhanden, aber die bestehenden Wirtschaftsstrukturen seien zerstört. Fraglich sei, wie lange es dauern werde, bis neue Strukturen geschaffen seien. Wer werde in der Lage sein, die erforderlichen wirtschaftlichen Kooperationsvereinbarungen abzuschließen? Die kommenden Monate dürften sehr schwierig werden. Die Gefahr einer Hungersnot sei zurzeit zwar gebannt, aber der nächste Winter stehe bald vor der Tür. Die EG sei weiter14 Mit den Verträgen von Aigun und Tientsin (1858) sowie dem Handelsvertrag von Peking (1860) kam es zu einer Regelung der Grenzen zwischen Russland und China, bei der die Gebiete nördlich des Amur und östlich des Ussuri an Russland fielen. Umstritten blieb insbesondere der im Vertrag von Ili bzw. St. Petersburg (1881) nur teilweise geregelte Grenzverlauf in der Region Sinkiang/Turkestan. 1969 kam es deshalb zu bewaffneten Auseinandersetzungen am Ussuri. Vgl. AAPD 1969, I, Dok. 96. Seit Februar 1987 führten beide Seiten Grenzverhandlungen. Gesandter Wiesner, Peking, berichtete am 13. März 1992: „Im Mai 1991 während Besuchs KPCh-GS Jiang Zemins von chinesischem und sowjetischen AM in Moskau unterzeichneter und inzwischen von Russland ratifizierter Vertrag über östlichen Abschnitt chinesisch-(sowjetischer-) russischer Grenze wurde Ende Februar 1992 im ständigen Ausschuss des Nationalen Volkskongresses (NVK) in Peking beraten.“ Vgl. DB Nr. 352; B 37, ZA-Bd. 161899. 15 Der russische Präsident Jelzin besuchte die Volksrepublik China vom 17. bis 19. Dezember 1992. 16 Der ehemalige sowjetische Präsident Gorbatschow hielt sich vom 4. bis 12. März 1992 in der Bundesrepublik auf und führte am 4. März 1992 ein Gespräch mit BK Kohl.

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hin zur Hilfe bereit, aber die neuen Staaten müssten vor allem versuchen, sich selbst [zu] helfen. Er hätte es sehr begrüßt, wenn Gorbatschow mit seinen Konföderationsplänen Erfolg gehabt hätte. Auch wenn es nun zu anderen Entwicklungen gekommen sei, sollte man auf der Grundlage dieser Pläne weiterarbeiten. Es gelte insbesondere, alles zu tun, um zu verhindern, dass ein Raum der Instabilität entstehe. AM Qian bemerkt, dass es zehn Jahre dauern könne, bis dieser Raum seine Stabilität wiedergewonnen habe. Der Bundeskanzler bestätigt dies. Für Deutschland wie für China gelte auch unter den veränderten Umständen das Wort Deng Xiaopings fort, dass beide Länder „einen gemeinsamen Nachbarn“ hätten. AM Qian bestätigt, dass aus Unruhe und Instabilität neue Bedrohungen erwachsen könnten. Der Bundeskanzler weist darauf hin, dass jede Instabilität dieses Raumes mit seiner Bevölkerung von mehreren 100 Mio. Menschen erhebliche Gefahren beinhalte. Er weise die US-Regierung hierauf immer wieder hin. Man brauche nur an die großen Mengen von Waffen denken, die dort verbreitet seien. China sei soeben dem NV-Vertrag beigetreten, was wir sehr begrüßten.17 Das Beispiel der ehemaligen Sowjetunion zeige, dass die Einhaltung des NV-Vertrages dann fraglich werden könne, wenn die Region, die diesem Vertrag beigetreten sei, nicht mehr stabil sei. Der Bundeskanzler bemerkt abschließend, dass der Besuch von AM Qian nach fast drei Jahren des Frostes in den Beziehungen Hoffnung auf einen neuen Frühling erwecke. Dieser habe bisher noch nicht eingesetzt; wir erhofften jedoch uns Frühlingsboten vom Parteitag der KPCh gegen Jahresende. AM Qian bemerkt, dass die Weichen hierfür gestellt seien. BArch, B 136, Bd. 59730

17 Die Volksrepublik China trat am 9. März 1992 dem Nichtverbreitungsvertrag vom 1. Juli 1968 bei. VLR I von Butler vermerkte am 26. März 1992: „Von den fünf Nuklearwaffenstaaten fehlt jetzt nur noch Frankreich im Kreise der NVV-Staaten. […] Als Kernwaffenstaat braucht sich China auch als NVVMitglied nicht den umfassenden Sicherungsmaßnahmen der IAEO zu unterwerfen. […] Am bedeutsamsten sind im Zusammenhang mit dem NVV-Beitritt die Verpflichtungen, die China bezüglich der Nichtweitergabe von Nuklearwaffentechnologie bzw. der Anwendung von IAEO-Sicherungsmaßnahmen beim Empfänger von friedlichen Nuklearexporten eingegangen ist.“ Vgl. B 43, ZA-Bd. 166039.

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74 Drahtbericht des Botschafters von Ploetz, Brüssel (NATO) Fernschreiben Nr. 408 Citissime Betr.:

Aufgabe: 10. März 1992, 20.21 Uhr1 Ankunft: 10. März 1992, 20.56 Uhr

Zweite Sitzung des Nordatlantischen Kooperationsrats auf AM-Ebene in Brüssel am 10.3.92

Bezug: 1) DB 1892/93 vom 20.12.91 – I-340.15 KR/12 2) DB 376 vom 4.3.92 – I-340.15 KR/13 Zur Unterrichtung I. Zusammenfassung 1) Gesamteindrücke Nach dem Gründungstreffen des Nordatlantischen Kooperationsrates (NAKR) am 20. Dezember 1991 wurden mit dem zweiten Treffen am 10. März die auf dem Territorium der früheren Sowjetunion neuentstandenen Staaten in den NAKR aufgenommen. Damit ist die Konstituierung des NAKR abgeschlossen. Dies gab der Sitzung eine herausgehobene Bedeutung. Von D-Seite kann mit Befriedigung verbucht werden, dass der Vorschlag zur Einbeziehung der GUS-Staaten von uns ausging und dass inzwischen alle Partner unseren Grundansatz teilen, dass diese Staaten in der schwierigen Phase des Übergangs nicht mit ihren Problemen alleingelassen werden dürfen. Tadschikistan ließ sich durch die Russische Föderation vertreten, Kasachstan entsandte „aus technischen Gründen“ keinen Vertreter, teilte jedoch über Russische Föderation seinen Wunsch mit, sich am NAKR zu beteiligen; dem wurde durch eine entsprechende Passage in der Erklärung4 (Ziff. 6) Rechnung getragen, Kasachstan ist somit Mitglied des NAKR. GS5 erklärte mit Blick auf Georgien, dass der NAKR grundsätzlich allen Staaten auf dem früheren Territorium der SU offensteht, was auch für Georgien gilt, sobald dieser Staat anerkannt ist und die NAKR-Erklärungen vom 20.12.916 sowie vom 10.3.92 akzeptiert. Diese Erweiterung des NAKR wurde allgemein begrüßt, von vielen Ministern als historischer Schritt auf dem Weg zur Überwindung der Teilung Europas durch Errichtung einer Friedensordnung „von Vancouver bis Wladiwostok“ bezeichnet. Kirgistan legte Wert auf eine entsprechende Nord-Süd-Charakterisierung („von Helsinki bis Bischkek“), um dem 1 Das von Gesandtem Pöhlmann und BR Burkart, beide Brüssel (NATO), konzipierte Fernschreiben wurde in zwei Teilen übermittelt. Vgl. Anm. 17. Hat dem Bereitschaftsdienst am 10. März 1992 vorgelegen. 2 Für den Drahtbericht des Botschafters von Ploetz, Brüssel (NATO), über die konstituierende Sitzung des NAKR am 20. Dezember 1991 in Brüssel vgl. AAPD 1991, II, Dok. 439. 3 Botschafter von Ploetz, Brüssel (NATO), informierte über Teilnehmer und Tagesordnung der zweiten NAKR-Ministertagung am 10. März 1990. Vgl. B 14, ZA-Bd. 161242. 4 Für die Erklärung vgl. NATO FINAL COMMUNIQUÉS 1991–1995, S. 57 f. Für den deutschen Wortlaut vgl. BULLETIN 1992, S. 263 f. 5 Manfred Wörner. 6 Für die Erklärung vgl. NATO FINAL COMMUNIQUÉS 1991–1995, S. 54–56. Für den deutschen Wortlaut vgl. BULLETIN 1992, S. 8 f.

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Eindruck einer sich gegen den Süden abgrenzenden nördlichen Staatenwelt entgegenzutreten. Der embryonale Zustand der Staatlichkeit der neuen GUS-Republiken wurde auch dadurch augenfällig unterstrichen, dass ihre Außenminister ganz allein waren ohne den bei solchen Konferenzen üblichen Tross. Demgegenüber wirkten die Mitbegründer des NAKR aus den MOE-Staaten schon etabliert. Einziger sichtbarer Regiefehler – den AM Kosyrew anmerkte – war das Fehlen der Flaggen der neuen Partner, die bereitzustellen nicht rechtzeitig gelungen war. Durch den größeren Kreis erfuhr die Sitzordnung (alphabetisch) naturgemäß Änderungen, dennoch blieb es bei bisherigen Paarungen D und F sowie USA und UK. Besondere Aufmerksamkeit richtete sich aber auf die Tischnachbarn Aserbaidschan und Armenien. Der Händedruck der beiden Außenminister7 wurde aufmerksam registriert. Fast alle Sprecher brachten wie BM8 zum Ausdruck, dass sich durch ihre Einbeziehung in den NAKR auch die Staaten der GUS der vollständigen Überwindung der Teilung Europas durch eine dauerhafte und gerechte europäische Friedensordnung auf der Grundlage des KSZE-Acquis verschrieben haben. Ebenso würdigten alle Sprecher die Chancen und Möglichkeiten des NAKR als Teil der umfassenden gesamteuropäischen Architektur. In diesem Zusammenhang konnte den Formulierungen der AM Baker und Dumas entnommen werden, dass sich ihre Positionen zum Verhältnis NATO/NAKR zur KSZE vom bisherigen, deutlich von Wettbewerbskategorien geprägtem Denken der vor allem von uns vertretenen Mittellinie (sowohl als auch) annähern.9 Aktuelles Hauptthema aller Interventionen war der Konflikt in Berg-Karabach10, zu dem unverzügliche Beendigung der Gewaltanwendung und entschlossene Bemühungen um eine friedliche Lösung gefordert wurden. In diesen Forderungen waren sich auch Armenien und Aserbaidschan einig, wenn sie sich auch im Übrigen gegenseitig die Verantwortung für den Konflikt zuschoben. Fast alle Minister indossierten die KSZE-Forderungen vom 28.2.11 und die Bemühungen von Russland, Armenien und Aserbaidschan gem. Erklärung vom 20.2.12 Der Vorschlag von BM, dass ČSFR als Vorsitz der KSZE möglichst bereits am 11. März eine Sitzung des Ausschusses Hoher Beamter einberuft und AM Dienstbier sich persönlich um die Überwindung des Konflikts bemüht, fand allgemeine Unterstützung und in Bezug auf AHB konkrete Zustimmung von AM Dienstbier. Zum zweiten Teil des Vorschlages kündigte er Gespräche mit den AM von Armenien und Aserbaidschan noch in Brüssel als ersten Schritt seiner persönlichen Involvierung an. In fast allen Beiträgen wurde auch der KSE-Vertrag angesprochen, mit der übereinstimmenden Zielsetzung, diesen Vertrag ohne Neuverhandlung möglichst bald in Kraft zu 7 Raffi Hovannisian (Armenien) und Hussein-Aga Sadykow (Aserbaidschan). 8 Für die Ansprache des BM Genscher vgl. BULLETIN 1992, S. 264 f. 9 Für die Ausführungen des amerikanischen AM Baker vgl. DEPARTMENT OF STATE DISPATCH 1992, S. 201 f. Für die Ausführungen des französischen AM Dumas vgl. LA POLITIQUE ÉTRANGÈRE 1992 (März/April), S. 3 f. 10 Zum Konflikt um Nagorny Karabach vgl. Dok. 27. 11 Zu den Beschlüssen des AHB der KSZE vom 28. Februar 1992 zu Nagorny Karabach vgl. Dok. 34, Anm. 6. 12 Gesandter Heyken, Moskau, berichtete am 24. Februar 1992, die AM Hovannisian (Armenien) und Sadykow (Aserbaidschan) hätten sich am 20. Februar 1992 in Moskau „auf ein Kommuniqué zum Konfliktherd Berg-Karabach“ geeinigt, in dem beide Konfliktparteien sich dazu bekennten, „die in der KSZEErklärung niedergelegten Prinzipien voll erfüllen zu wollen“. Zudem sollten trilaterale armenisch-aserbaidschanisch-russische Arbeitsgruppen eingerichtet werden. Vgl. DB Nr. 879; B 41, ZA-Bd. 171718.

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setzen und zu implementieren. Auf NL-Vorschlag wurde beschlossen, die hierzu notwendigen Maßnahmen so rechtzeitig zu vereinbaren, dass der Abschluss bei einer außerordentlichen Konferenz auf AM-Ebene in Verbindung mit der nächsten NAKR-Sitzung am 5.6.1992 in Oslo erfolgen kann.13 Damit ist die Diskussion über Ort und Ebene dieses Treffens abgeschlossen. Zur Aussage zu KSE I a in Ziffer 5 der NAKR-Erklärung setzte Estland einen besonderen Akzent, indem es kritisierte, dass der „illegale“ Aufenthalt von russischen Truppen außer Betracht bleibe. Das Thema Open Skies konnte in NATO-Erklärungsentwurf nicht aufgenommen werden wegen Problemen aus dem Dreieck GRI – TUR – F. AM Hurd sprach es als einziger an mit dem Appell, das Abkommen bis zum Beginn des KSZE-Treffens in Helsinki14 fertigzustellen. Sicherheit und baldige Vernichtung der taktischen Nuklearwaffen auf dem Gebiet der früheren Sowjetunion wurden außer von BM auch von I und GB angesprochen. Ebenso wiesen BM und GB mit allem Nachdruck auf das Problem der nuklearen Nichtverbreitung und [in] diesem Zusammenhang auf die zentrale Rolle des Vertrages über die Nichtverbreitung von Kernwaffen hin. Die dreiseitige Initiative von D, US und RSFSR zum Wissenschafts- und Technologiezentrum15 wurde von einer Reihe von Sprechern gewürdigt und unterstützt. 2) Ergebnisse – Der NAKR ist mit dem 10.3.1992 um alle Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion – zunächst außer Georgien – erweitert; – der auf Botschafterebene vereinbarte Arbeitsplan für Dialog, Partnerschaft und Zusammenarbeit16 wurde zustimmend gewürdigt als Ausgangspunkt für das angestrebte Verhältnis der Partnerschaft und Zusammenarbeit; – einstimmiger Appell an die an dem Konflikt in Berg-Karabach beteiligten Parteien zur sofortigen Einstellung der Feindseligkeiten, zu humanitärer Hilfe und zu Bemühungen um friedliche Lösung auf der Grundlage der KSZE-Prinzipien (insoweit Bezug auf AHBErklärung vom 28.2.1992). Einstimmigkeit auch zur umfassenden Nutzung der KSZE und ihrer Institutionen, d. h. als nächste Schritte – Ausschuss Hoher Beamter, möglichst am 11.3. und – persönliche Intervention des KSZE-Vorsitzenden, AM Dienstbier, beginnend mit bilateralen Gesprächen mit aserischem und armenischem AM noch am 10.3.; – generelle Unterstützung aller Allianz- und NAKR-Partner für diese KSZE-Bemühungen zur friedlichen Beilegung des Konflikts um Berg-Karabach. 17II. Ergänzend im Einzelnen

Zu den wichtigsten Sachthemen wird aus der Diskussion festgehalten: 13 Zur NAKR-Ministertagung am 5. Juni 1992 vgl. Dok. 170. 14 Vom 24. März bis 8. Juli 1992 fand in Helsinki die vierte KSZE-Folgekonferenz statt, an die sich am 9./10. Juli 1992 eine Gipfelkonferenz anschloss. Vgl. Dok. 226. 15 Zur Gründung eines internationalen Wissenschafts- und Technologiezentrums in Russland zur Verhinderung der Verbreitung von Nuklearwaffen durch Wissenstransfer vgl. Dok. 50. 16 Für den Arbeitsplan vgl. NATO FINAL COMMUNIQUÉS 1991–1995, S. 59–62. 17 Beginn des mit DB Nr. 409 übermittelten zweiten Teils des Fernschreibens. Vgl. Anm. 1.

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1) Berg-Karabach RUS-AM bat um Unterstützung der Bemühungen von Russland und Kasachstan, das Blutvergießen zu beenden und Parteien an den Verhandlungstisch zu bringen. Armenischer AM insistierte auf voller Beteiligung der „neugewählten Autoritäten von Berg-Karabach“ am Verhandlungsprozess. Wie nicht anders zu erwarten, schoben sich Armenien und Aserbaidschan gegenseitig die Schuld am Konflikt zu. Der armenische AM hob unter Bezugnahme auf das Referendum in Berg-Karabach das Selbstbestimmungsrecht der dortigen Bevölkerung hervor und stellte die aserischen Angriffe als gegen den Geist der NAKR-Erklärung vom 20.12.91 verstoßend dar. Situation rufe nach – nicht näher charakterisierter – Einbeziehung („involvement“) der NATO und des NAKR, die hier ihrer Rolle als „Garanten des Friedens“ und ihren „Aufgaben bei Konfliktverhütung und -management“ nachkommen müssten. Gleichzeitig unterstützte armenischer AM die russisch/kasachischen Vermittlungsbemühungen und erbat EG-Unterstützung für diese Initiative. AM Aserbaidschan wies besonders darauf hin, dass der Konflikt sich zu einem Regionalkonflikt unter Einbeziehung aller Nachbarn ausweiten könne. Feuereinstellung, Rückzug der illegalen Streitkräfte sowie Verhandlungen seien notwendig; bisher sei Armenien offenbar zu solchen Schritten auf der Basis der Gegenseitigkeit nicht bereit. Ein friedliches Miteinander und Stabilität seien nur möglich, wenn Armenien seine Annexionsabsichten aufgebe. AM von Armenien beeindruckte durch perfekten amerikanischen Akzent und Diktion in bester angelsächsischer Tradition, was bei seinem persönlichen Hintergrund nicht überrascht (stammt in dritter Generation von US-Einwanderern ab), der aserbaidschanischen Propagandalinie aber sicher viel Futter gibt, wonach armenische Auslandsgemeinde mit ihren materiellen und menschlichen Ressourcen hinter dem Konflikt steht. AM von Aserbaidschan schlug sich ungeachtet des sprachlichen Nachteils (er sprach russisch) gut. Dabei konnte sich der ständige Teilnehmer an Sitzungen des NATO-Rats nicht des Eindrucks erwehren, dass die türkischen Nachbarn bei der Formulierung des Sprechzettels wirksame Hilfe geleistet hatten. Der KAN-Vorschlag zu einem AM-Sondertreffen im KSZE-Rahmen anlässlich der Konferenz am 24.3. in Helsinki wurde von keinem Partner aufgegriffen. 2) Funktion des NAKR/Arbeitsplan Wie BM würdigten zahlreiche AM den NAKR als neuen Pfeiler im Gefüge der neuen umfassenden gesamteuropäischen Architektur. NAKR werde zur Erhöhung von Stabilität und Sicherheit in Europa und zur Schaffung einer euro-atlantischen Gemeinschaft von Vancouver bis Wladiwostok beitragen. Er sei – so RUS-AM Kosyrew – Forum, in dem sich nicht alte Feinde, sondern neue Freunde zu Dialog, Partnerschaft und Zusammenarbeit verpflichtet hätten. Mögliche Hilfen, die NATO-MS im Rahmen des NAKR beim Übergang zu Demokratie und Marktwirtschaft in den MOE-Staaten und in der GUS leisten könnten, wurden begrüßt. Mehrfach unterstrichen wurde auch die Komplementarität von NAKR und anderen Organisationen, insbesondere KSZE, im Geflecht ineinandergreifender Institutionen. US-AM Baker, der von gegenseitig verstärkenden Beziehungen mit der KSZE sprach, forderte einen pragmatischen Ansatz zur Lösung der aktuellen Probleme anstelle theologischer Debatten und sah Unterstützung der KSZE durch Sicherheitsdialog im NAKR und bei Konfliktverhütung und -lösung. F-AM Dumas verringerte die bekannte distanziertere Haltung Fs zum NAKR etwas in Richtung auf Komplementarität: In der KSZE solle man das im NAKR durch Dialog über Sicherheitsprobleme und Zusammenarbeit gewonnene bessere Verständnis umsetzen. Dort müssten KSZE-Verpflichtungen verbindlich ausgestaltet und effek297

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tive Mechanismen etabliert werden. Folgerichtig konzentrierte Dumas seine Intervention auf KSZE. Ohne den „KSZE-Sicherheitspakt“ beim Namen zu nennen, trug er doch dessen wesentliche anvisierte Elemente vor.18 NL nutzte Gelegenheit, seinen Gedanken der Schaffung eines „Hochkommissars für Minderheiten“19 erneut einzubringen, und forderte die Erarbeitung eines entsprechenden Mandats auf dem KSZE-Folgetreffen. Er wiederholte auch die Vorstellung, die NATO auf entsprechende Anforderung der KSZE und [unter] deren Ägide zur Verfügung zu stellen, nicht zuletzt mit Beobachtergestellung und bei friedenserhaltenden Maßnahmen. BM identifizierte sich in anschließendem Pressegespräch20 mit NL-Vorstellungen und verwies auf seine eigenen Äußerungen, zuletzt in Rede vom 9.3. in Berlin.21 KSZE müsse über Blauoder Grünhelme verfügen können und solle zu diesem Zweck auf Organisationen wie WEU und NATO zurückgreifen können. Auch AM Baker unterstützte NL-Vorschlag und schlug vor, das Verteidigungsministertreffen mit den Kooperationspartnern am 1.4.22 zu nutzen, um über ihre Einbeziehung in Überlegungen zur Nutzung der NATO-Kapazitäten für VN oder KSZE zu sprechen. NL-AM23 sah NAKR als eine Art Transmissionsriemen für diese NATO-Rolle im KSZE-Rahmen, u. a. auch durch Möglichkeit der Einbeziehung von NAKRPartnern in NATO-Beiträge24; er gab der Erwartung Ausdruck, dass dieses Thema auf die Agenda des Treffens in Oslo gesetzt werde. Alle neuen Mitgliedstaaten verpflichteten sich zur vollen und umfassenden Mitarbeit bei Umsetzung des neuen Arbeitsplanes, den die Botschafter am 26.2. gebilligt hatten. Einige Partner würdigten ihn als ehrgeizig, andere sahen darin nur den Ausgangspunkt der Zusammenarbeit. US-AM Baker forderte Partner auf, Vorschläge für zusätzliche Projekte zu entwickeln. Auch RUS-AM Kosyrew sprach sich dafür aus, Zusammenarbeit über den Arbeitsplan hinaus zu intensivieren. 3) Rüstungskontrolle a) VKSE Notwendigkeit der Inkraftsetzung und Implementierung des KSE-Vertrages, den BM als wesentliche Grundlage für ein neues kooperatives Sicherheitssystem in Europa, für einen weiteren tiefgreifenden Abbau der Überrüstung und für die Überwindung des Denkens in Kategorien des Machtkampfs bezeichnete, wurde von zahlreichen AM angesprochen. Dabei wurde einhellig betont, dass dies ohne Neuverhandlung des Vertrages geschehen müsse. So unterstrich z. B. RUS-AM Kosyrew25, dass die außerordentliche Kon18 Zum französischen Vorschlag eines gesamteuropäischen Sicherheitsvertrags vgl. Dok. 87. 19 Zum niederländischen Vorschlag eines KSZE-Hochkommissars für Minderheiten vgl. Dok. 48, Anm. 19. 20 Zum Pressegespräch des BM Genscher in Brüssel am 10. März 1992 vgl. die undatierte Aufzeichnung; B 14, ZA-Bd. 161242. 21 In seiner Rede anlässlich der Entgegennahme des Immanuel-Kant-Preises erklärte BM Genscher: „Angesichts der Minderheitenprobleme, die vor allem in Südosteuropa und den GUS-Staaten eine zentrale Rolle spielen, erscheint die Einsetzung eines Hohen Kommissars der KSZE für die Rechte der Minderheiten unumgänglich. Wir müssen einen hohen Standard an Minderheitenrechten schaffen. Die Garantie der Minderheitenrechte und nicht Grenzveränderungen sind die Grundlage für das friedliche Zusammenleben der Völker.“ Vgl. Mitteilung für die Presse Nr. 1045 vom 9. März 1992; B 7, ZA-Bd. 179087. 22 Zum NAKR-Treffen auf der Ebene der Verteidigungsminister in Brüssel vgl. Dok. 97. 23 Hans van den Broek. 24 Korrigiert aus: „NATO-Beträge“. 25 Korrigiert aus: „z. B. von RUS-AM Kosyrew“.

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ferenz zur minimalen Anpassung des Vertrages an die geänderten Umstände nicht als Vorwand für eine „Neuschreibung“ des Vertrages genutzt werden dürfe. Kosyrew ging dabei davon aus, dass das Problem der Aufteilung des vertragserfassten Geräts im Rahmen der Obergrenzen für die ehemalige SU26 bis zum Gipfel in Helsinki gelöst sein werde. Von den neu in den NAKR aufgenommenen Staaten äußerten sich auch Moldau (Herausstellung aktiver Mitarbeit an Verhandlungen zur Aufteilung der Höchststärken der ehemaligen SU unter Berücksichtigung einer vernünftigen Minimalsuffizienz für Moldau) und Weißrussland (ebenfalls Hinweis auf laufende Verhandlungen und Bezeichnung der eigenen Verteidigungsbedürfnisse als „bescheiden“) zum KSE-Vertrag. Arbeit der HLWG wurde allseits gewürdigt und (so US-AM Baker) als Beispiel für die Schaffung von Vertrauen und Sicherheit in ganz Europa herausgestellt. BM forderte auch die neu in den NAKR aufgenommenen GUS-Staaten zu weiteren Schritten für eine Lösung der anstehenden Probleme auf. b) Open Skies Siehe Zusammenfassung. c) Nuklearfragen/Nichtverbreitung Wie BM, der auch Problem der Sicherheit und baldigen Vernichtung der taktischen Nuklearwaffen auf dem Gebiet der früheren SU ansprach, forderte US-AM Baker Stärkung des Regimes der nuklearen Nichtverbreitung und schnellen Beitritt der neuen Mitglieder des NAKR zum Nichtverbreitungsvertrag als nicht-nukleare Staaten. I ließ keinen Zweifel daran, dass das Schicksal der Nukleararsenale der ehemaligen SU die Sicherheit aller angehe und daher nicht nur von einem kleinen starken Kreis behandelt werden könne. Ukrainischer AM Slenko wies auf sicherheitspolitische Orientierung der Ukraine als „NichtNuklearstaat“ hin und bezeichnete den NVV als Thema für NAKR-Erörterungen. Stellv. AM Weißrussland, Senko, bekräftigte Verpflichtung, dem NVV als Nicht-Nuklearstaat beizutreten, und verwies im Übrigen auf Gespräche mit RUS, UKR und KAS zur Implementierung des START-Vertrages. Grundlage ukrainischer27 Politik sei, dass nur Russland auf dem Gebiet der ehemaligen SU Nuklearstaat bleibe. RUS-AM Kosyrew äusserte sich zu Nuklearfragen nicht. Sowohl BM wie auch US-AM Baker hoben die besondere Bedeutung des Wissenschafts- und Technologiezentrums hervor. Das Zentrum gebe bisher mit der Entwicklung von Massenvernichtungswaffen beschäftigten Wissenschaftlern Gelegenheit, ihr Wissen für den zivilen Bereich zu nutzen, und trage damit zur Verminderung der Gefahr der Proliferation von Massenvernichtungswaffen bei. BM ergänzte, dass diese Wissenschaftler durch Projekte im eigenen Lande an der Reduzierung und Beseitigung von Massenvernichtungswaffen teilnehmen und zu größerer Sicherheit bei der friedlichen Nutzung der Kernkraft beitragen könnten. Dies sei ein wichtiger Beitrag zur Konversion. Diese Initiative wurde von einer Reihe von Sprechern gewürdigt. [gez.] Ploetz B 14, ZA-Bd. 161242

26 Zur Einigung auf die Aufteilung der Rechte und Pflichten der ehemaligen UdSSR aus dem KSE-Vertrag vgl. Dok. 141. 27 So in der Vorlage.

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75 Gespräche des Bundesministers Genscher mit dem chinesischen Außenminister Qian Qichen 341-321.11 CHN/SB 2

11. März 19921

Gespräche BM Genscher, AM Qian Qichen, 11.3.1992 (Mittag- und Abendessen)2 Bilaterale Themen BM: Hinweis auf beunruhigendes Ungleichgewicht im deutsch-chinesischen Handel, chinesische Abkehr von den Plänen, mehrere Airbusse zu kaufen, unfaire Artikel in chinesischer Presse: „Deutschlands Großmachtstreben“. Dies alles sei schwer verständlich. Deutschland habe eine stetige, konstruktive Chinapolitik betrieben und auch in der Taiwan-Frage, unter Hintanstellung erheblicher wirtschaftlicher Interessen, auf Peking Rücksicht genommen.3 Die innere Entwicklung in China habe die deutsch-chinesischen Beziehungen erheblich belastet. Er sei persönlich sehr enttäuscht: Wir hätten immer gehofft, dass sich China in jeder Hinsicht öffnen werde, auch politisch. Die Ereignisse am Platz des Himmlischen Friedens4 und danach hätten das Gegenteil gezeigt. Wir sähen keine konkreten Anzeichen eines Einlenkens, etwa in der Form einer politischen Amnestie. Wirkliche Stabilität könne es nur bei Beachtung der elementaren Menschenrechte geben (s. auch S. 65). AM: D habe bis 1989 stets Überschüsse im Chinahandel erwirtschaftet. Die vorübergehende Umkehr der Verhältnisse habe gute Gründe gehabt, u. a. habe nur D die Wirtschaftssanktionen der EG6 national (BT-Beschluss7) umgesetzt. Beschränkungen auch im 1 Der Gesprächsvermerk wurde von VLR I Sommer gefertigt und am 20. März 1992 über MDg Zeller und MD Schlagintweit an das Ministerbüro geleitet mit der Bitte, „die Billigung des BM herbeizuführen“. Hat Zeller am 20. März 1992 vorgelegen. Hat Schlagintweit am 23. März 1992 vorgelegen. Hat BM Genscher vorgelegen. Hat OAR Rehlen am 30. März 1992 vorgelegen, der den Rücklauf über Schlagintweit und Zeller an Referat 341 verfügte. Hat Schlagintweit und Zeller am 30. März 1992 erneut vorgelegen. Hat VLR Zimmermann am 31. März 1992 vorgelegen. Vgl. den Begleitvermerk; B 37, ZA-Bd. 161893. 2 Der chinesische AM Qian Qichen hielt sich vom 10. bis 12. März 1992 in der Bundesrepublik auf. Vgl. auch Dok. 73. 3 Zur Haltung der Bundesrepublik gegenüber der Republik China (Taiwan) vgl. AAPD 1991, I, Dok. 194. 4 Zur Niederschlagung der Demokratiebewegung in der Volksrepublik China am 3./4. Juni 1992 vgl. Dok. 66, Anm. 5. 5 Vgl. Anm. 16 und 19. 6 In einer „Erklärung zu China“ gab der Europäische Rat am 26./27. Juni 1989 in Madrid eine Reihe von Sanktionen gegen die Volksrepublik China bekannt. Vgl. EUROPA-ARCHIV 1989, D 413 f. 7 Vgl. den Entschließungsantrag der Fraktionen von CDU/CSU, SPD, FDP und der Grünen vom 15. Juni 1989 zu den Ereignissen in der Volksrepublik China, der am selben Tag einstimmig im Bundestag angenommen wurde; BT DRUCKSACHEN, Nr. 11/4790, bzw. BT STENOGRAPHISCHE BERICHTE, 11. WP, 149. Sitzung, S. 11104. Vgl. ferner den Antrag der Fraktionen von CDU/CSU, SPD, FDP und der Grünen vom 23. Juni 1989 zu den Todesurteilen in der Volksrepublik China, der am selben Tag einstimmig im Bundestag angenommen wurde; BT DRUCKSACHEN, Nr. 11/4873, bzw. BT STENOGRAPHISCHE BERICHTE, 11. WP, 153. Sitzung, S. 11576.

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Bereich der High-Tech-Exporte. Dennoch: Peking werde noch in diesem Jahr erneut Einkaufs-Delegationen nach Europa und Deutschland schicken. D möge wieder wie früher Kredite der Weltbank an China unterstützen. Deutschlands Entscheidungen betr. Taiwan (Fregatten, U-Boote) habe man in China durchaus positiv vermerkt.8 Airbus sei jedoch kein rein deutsches, sondern auch ein Unternehmen solcher Länder, die Waffen an Taiwan lieferten. BM: Wenn dies das Kriterium für den Einkauf von Flugzeugen sei, könne Peking sie in keinem Land kaufen. AM: Die Situation sei in Bezug auf die USA anders: Diese hätten sich zwar 1972 verpflichtet, ihre Truppen in Taiwan zu reduzieren und die diplomatischen Beziehungen abzubrechen.9 US-Waffenlieferungen seien damals jedoch nicht ausgeschlossen, nur eingeschränkt worden. AM betont, dass der deutsche Einfluss international zunimmt. BM: Dies sehen wir nicht so. Durch Wiedervereinigung gewachsenes Gewicht Deutschlands sei im Zusammenhang mit dem gesamteuropäischen Prozess zu sehen. Nach der europäischen Integration werde die Frage der Größe eines Landes keine Rolle spielen. Deutschland habe viele Nachbarn, denen es häufig Probleme bereitet habe. Daraus folgere für uns, dass es wichtig sei, dass die Nachbarn sich überzeugen, dass Deutschland keine machtpolitischen Ziele habe. Auch von daher das deutsche Eintreten für eine europäische Einigung. AM interessiert sich für Umzugspläne der Bundesregierung10 und erwähnt, dass China in der früheren DDR Grundstück habe und Vereinbarung zum Botschaftsbau ausgehandelt habe. Er wünsche unsere Hilfe, um dies zum Abschluss zu bringen. (Erklärung Botschafter Hellbeck: Formalisierung der Verträge ist noch nicht abgeschlossen.) AM: Bei New Yorker Treffen11 sei noch nicht erkennbar gewesen, wie schnell SU sich auflösen werde. Von dieser Entwicklung ausgehende Probleme machten deutsch-chinesischen Dialog vordringlich. Er lade BM ein, China in der zweiten Jahreshälfte 1992 zu besuchen.12 EG Vorschau auf den Brüssel-Besuch des AM: Er werde dort Delors und Andriessen treffen und über die Handelsbeziehungen EG – China sprechen.13 BM wertet die Chancen für eine Ausweitung des Handels günstig. AM drückt seine Sorge vor einer Festung Europa aus. BM riet ihm, sich von dieser Sorge zu lösen. Es habe sich immer wieder gezeigt, dass ein offener Markt von Vorteil für alle sei. China habe stets die europäische Einheit unterstützt. Es solle sich nicht jetzt von dieser richtigen Linie lösen. 8 Zur Voranfrage für einen Export von Marineschiffen in die Republik China (Taiwan) vgl. Dok. 73, Anm. 12. 9 Vgl. die amerikanisch-chinesische Erklärung („Shanghai Communiqué“) vom 27. Februar 1972; FRUS 1969–1976, XVII, Dok. 203. Für den deutschen Wortlaut vgl. EUROPA-ARCHIV 1972, D 136–139. 10 Am 20. Juni 1991 beschloss der Bundestag mit 338 zu 320 Stimmen, den Parlamentssitz und den Kernbereich der Regierungsfunktionen nach Berlin zu verlegen. Vgl. BT STENOGRAPHISCHE BERICHTE, 12. WP, 34. Sitzung, S. 2735–2848. Vgl. ferner BT DRUCKSACHEN, Nr. 814 und Nr. 815 vom 19. Juni 1991. 11 BM Genscher und der chinesische AM Qian Qichen trafen am 24. September 1991 in New York zusammen. Das Pressereferat des Auswärtigen Amts informierte am selben Tag, im Zentrum des Gesprächs habe die Lage in Jugoslawien gestanden. Vgl. die Information Nr. 382; B 7, ZA-Bd. 178987. 12 Vom 31. Oktober bis 2. November 1992 fand ein Besuch von BM Kinkel in der Volksrepublik China statt. Vgl. Dok. 347–349. 13 Der chinesische AM Qian Qichen führte am 12./13. März 1992 Gespräche mit der EG-Kommission. Vgl. BULLETIN DER EG 3/1992, S. 90 f.

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GUS AM: China habe durch Auflösung der SU vier neue Nachbarn bekommen. Nicht nur die wirtschaftliche, auch die politische Zusammenarbeit in der GUS werde schwierig werden. Unruhen und Unsicherheit werden sich lange halten. BM: Probleme seien nicht nur durch Umstellung von Staats- auf Marktwirtschaft bedingt, sondern auch durch Auflösung sowjetischen Wirtschaftsraums. Zwei gegenläufige Entwicklungen: im westlichen Europa Schaffung großen gemeinsamen Wirtschaftsraums, auf Gebiet ehemaliger SU Zersplitterung eines großen einheitlichen Wirtschaftsraumes. Aus wirtschaftlich einseitig strukturierten ehemaligen SU-Republiken seien nur schwer und unter hohen Kosten lebensfähige Wirtschaftsräume zu schaffen. SU habe schon unter Stalin begonnen, die Nationalitätenfrage zu vernachlässigen. Wichtig sei in der nun entstandenen Situation, die Unverletzlichkeit der Grenzen zu beachten und Bürgerkriege zu vermeiden. Europa habe viele ungerechte Grenzen. Noch ungerechter wäre es, Kriege zu deren Korrektur zu führen. Wichtiges Mittel, dies zu vermeiden, sei die Stärkung von Minderheitenrechten. D bemühe sich überall, den Prinzipien der Unverletzlichkeit der Grenzen und des Minderheitenschutzes Geltung zu verschaffen. D habe sich für die Aufnahme der Nachfolgestaaten der SU in die KSZE und in den NAKR14 eingesetzt, damit bei der Bewältigung von Problemen bzw. Vermeidung von Krieg auf der Basis großräumiger Strukturen geholfen werden könne. AM fragt nach der Einschätzung der Stabilität in der ehemaligen Sowjetunion. BM: Dies wird von der Reformpolitik abhängen. Russland sei ein reiches Land, es könne durch Energie- und Rohstoffexport Devisen einnehmen, mit denen Investitionen zu finanzieren seien. Dies setze allerdings einen Schwerpunkt Rohstoff – Energie – landwirtschaftliche Versorgung voraus. Wichtig sei für ihn das chinesische Interesse an einer stabilen Entwicklung in der GUS. Historisch sei es immer ein Fehler, wenn man aus einer momentanen Schwäche des Partners heraus einen Vorteil zu ziehen sucht. BM: Wie wirkt sich Übergang von SU auf GUS für China und Asien aus? AM: Man rechne nicht mit negativen Auswirkungen. Die militärische Bedrohung sei weggefallen, 30 Jahre Konfrontation seien beendet. China habe früh verstanden, dass die inneren Strukturen der SU verkrustet und ineffizient geworden seien, der Staat nach außen hin jedoch expansive Absichten habe. Man habe beobachtet, wie Moskau seine Bündnispartner in MOE unter Kontrolle zu halten versuchte. Dem habe sich China stets entzogen. Jugoslawien BM: Wir stehen vor der Unabhängigkeit von sechs Republiken, von denen sich zwei zu einem neuen Staat zusammenschließen werden. Noch vor einem Jahr habe die Möglichkeit bestanden, Jugoslawien als losen Verbund der Einzelrepubliken zu erhalten. Mit dem Einsatz serbischer Truppen in Slowenien und Kroatien sei die Grundlage für ein weiteres Zusammenbleiben der Republiken entfallen. Er sehe die Gefahr eines neuen Nationalismus. Von daher das deutsche Bemühen, die Staaten in die KSZE und in die europäische Einigung einzubinden. Dieses Angebot gelte für alle Republiken. In Serbien richte sich die Erbitterung in der Bevölkerung gegen die Führung wegen eines sinnlosen Krieges und der daraus entstandenen wirtschaftlichen Schäden. Auf Hinweis des chinesischen AM, dass die Slowenen vor der Entstehung eines neuen Jugoslawiens Sorge hätten, bestätigt BM, dass 14 Zur Aufnahme der GUS-Mitgliedstaaten in die KSZE bzw. in den NAKR vgl. Dok. 34 bzw. Dok. 74.

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auch wir Sorge hätten, dass neue Gebietsforderungen entstünden. Hinweis auf die Schlussakte von Helsinki, in der die Unverletzlichkeit der Grenzen festgeschrieben sei. Wir hätten im Rahmen der Wiedervereinigung in einem Grenzvertrag mit Polen große Verzichte geleistet.15 Dies sei uns schwergefallen, aber es sei notwendig gewesen. Die Grenzproblematik sei ein Teufelskreis. Asien AM: Die Situation in Asien ist derzeit besser als in Europa: Alte Konflikte würden Schritt für Schritt gelöst. Die asiatischen Völker konzentrierten sich auf das wirtschaftliche Wachstum, Militärblöcke habe es ohnehin nie gegeben. Das durchschnittliche wirtschaftliche Wachstum in Ostasien habe 1991 6 %, in China, trotz der Flutschäden, 7 % betragen. Die Perspektiven Ostasiens bis zum Ende des Jahrhunderts seien gut. China AM: China wird seine Reform- und Öffnungspolitik im eigenen Interesse, nicht als Konzession an andere fortsetzen. Die Politik der wirtschaftlichen Öffnung habe dazu geführt, dass es derzeit 17 000 Unternehmen mit ausländischer Beteiligung, auch mittlere und kleine, in China gebe. Von den bis 1991 in China getätigten ausländischen Investitionen in Höhe von 27,1 Mrd. $ stammten 11,1 Mrd. Dollar allein aus dem Jahr 1991. Dies zeige, wie erfolgreich die Öffnungspolitik sei. Auch deutsche Investitionen in China hätten gute Chancen. Die wirtschaftlichen Reformen werden von politischen Reformen begleitet sein. China sei ein großes Land und müsse behutsam nach seinen eigenen Vorstellungen voranschreiten und die Stabilität sichern. BM fragt nach den unterschiedlichen wirtschaftlichen Entwicklungen verschiedener chinesischer Regionen: Wie reagieren die schwächeren Regionen? AM bestätigt, dass es Abwanderungstendenzen gebe. Die Zahl sei jedoch nicht sehr groß, da auch in den nicht bevorzugten Gebieten Entwicklungsmöglichkeiten gegeben seien. Man habe zur Schaffung von Arbeitsplätzen die Einrichtung von Dorf- und Gemeindebetrieben („Mittelstand“) gefördert. Bereits ein Drittel des heutigen Bruttoproduktionswertes in China werde in solchen Betrieben gefertigt. Die Bauern hätten nach dem neuen System der Selbstverantwortung ihr Land vom Staat gepachtet und seien in der Bewirtschaftung frei. In den Städten gebe es zahlreiche private Händler. Der private Grenzhandel mache heute ebenso viel aus wie der entsprechende Anteil des früheren Handels mit der Sowjetunion. 16Menschenrechte17

AM: China verstehe die MR-Anliegen anderer Länder, behalte sich jedoch das Recht vor, seine eigenen Vorstellungen zu verwirklichen: Das Recht auf eine gesicherte Existenz, auch die Entwicklung der Massen seien ebenso wichtig wie die Einhaltung von Indivi15 Die Bundesrepublik und Polen schlossen am 14. November 1990 einen Vertrag über die Bestätigung der zwischen ihnen bestehenden Grenze. Vgl. BGBl. 1991, II, S. 1329 f. Vgl. auch AAPD 1990, II, Dok. 384, und DIE EINHEIT, Dok. 169. 16 Beginn der Seite 6 der Vorlage. Vgl. Anm. 5. 17 VLR Zimmermann teilte der Botschaft in Peking am 13. März 1992 mit, der Besuch des chinesischen AM Qian Qichen habe „schon während der Vorbereitung und zum Teil auch in den Gesprächen unter dem Vorzeichen der ungelösten Menschenrechtsprobleme“ gestanden: „Amnesty International hatte vor dem Besuch in einer publizistisch stark beachteten Initiative jedem Gesprächspartner einen Einzelfall zur ‚Adoption‘ übergeben mit dem Hinweis, dass man die chinesische Reaktion zum Prüfstein chinesischer Dialogbereitschaft machen werde.“ Vgl. DE Nr. 115; B 37, ZA-Bd. 161893.

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dualrechten. Man werde schrittweise demokratische Kontrollen der Regierung einführen. Es sei nicht überall bekannt, dass es in China neun Parteien gebe. Sie könnten bei solchen demokratischen Kontrollen mitarbeiten. China sei bereit zum gleichberechtigten Gespräch mit anderen Staaten über die Menschenrechte. Doch dieses Thema dürfe nicht zu einem neuen Kalten Krieg, zur Einmischung in die inneren Angelegenheiten Chinas oder zu Unruhe unter der Bevölkerung führen. Minister befreundeter Staaten sollten nach China kommen und sich selbst über die Situation informieren. BM: Zunächst einmal: Die weltweit anerkannten Garantien der VN-MR-Charta18 schützten bürgerliche und soziale wie wirtschaftliche Rechte. Diese seien zwei Seiten derselben Sache. Ihn bedrücke zu sehen, dass die Menschenrechtssituation in China weiterhin unannehmbar sei und wie sehr dies die Beziehungen D – China belaste. Es wäre gut, wenn Peking international sichtbares Zeichen gäbe, z. B. durch eine Amnestie. Bundesregierung sei jedoch auch an Einzelschicksalen interessiert: Er werde AM Papiere zu zwei Personen, deren Menschenrechte aus unserer Sicht in China verletzt würden, übergeben. Er nehme die Anregung auf, dass Deutsche zur Unterrichtung über die Menschenrechtslage nach China kommen sollen. Er werde Vorschläge unterbreiten. Er werde ferner darauf sehen, dass die in New York vereinbarten Expertengespräche fortgesetzt werden. Taiwan AM: Sowohl China als auch die taiwanische Regierung hätten immer eine Ein-ChinaPolitik vertreten. Seit 1992 gebe es mit der Demokratisch-Progressiven Partei eine politische Strömung, die sich19 die Sezession zum Programm gemacht habe. Die taiwanesischen Behörden hätten das Programm dieser Partei verboten. BM erkundigt sich, ob Chinesen glauben, dass die Entwicklung in Hongkong20 auch Taiwan zur Rückkehr zum Mutterland ermutigen könne. AM glaubt dies tatsächlich. Die Taiwanesen würden sehen, was nach 1997 mit Hongkong geschehe. Dies werde Tendenzen zur Wiedervereinigung fördern. Es gebe drei Vereinigungsmodelle: das deutsche, das vietnamesische und das chinesische. Dieses bestehe in dem Grundsatz: eine Nation, zwei Systeme. Korea BM: Er habe den Eindruck, beide koreanischen Staaten hätten etwas Angst vor einer plötzlichen Vereinigung. AM erklärt dies daraus, dass beide Seiten wüssten, dass ein Modell, nach dem eine Seite die andere verschlinge, in Korea nicht gangbar wäre. Beide Seiten seien jedoch für die Wiedervereinigung. Sie würde für beide zunächst Schwierigkeiten bringen. Wichtig sei aber die Entspannung der Situation auf der Halbinsel. Man habe positiv vermerkt, dass Kontakte zwischen Pjöngjang und Washington allmählich angehoben würden und dass Japan mit Nordkorea über diplomatische Beziehungen spreche. China wolle alle Bemühungen dieser Art fördern. 18 Für die „Allgemeine Erklärung der Menschenrechte“ vom 10. Dezember 1948, die mit Resolution Nr. 217 (III) A der VN-Generalversammlung angenommen wurde, vgl. UNITED NATIONS RESOLUTIONS, Serie I, Bd. II, S. 135–141. Für den deutschen Wortlaut vgl. MENSCHENRECHTE, S. 54–59. 19 Ende der Seite 6 der Vorlage. Vgl. Anm. 5. 20 Großbritannien und die Volksrepublik China vereinbarten am 19. Dezember 1984 die Rückgabe von Hongkong, das ab 1. Juli 1997 eine Sonderverwaltungszone innerhalb der Volksrepublik China werden sollte mit einem auf 50 Jahre garantierten Status. Für die gemeinsame Erklärung vgl. UNTS, Bd. 1399, S. 61–73. Für den deutschen Wortlaut vgl. EUROPA-ARCHIV 1984, D 630–643.

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Zur koreanischen NVV-Problematik21: Beide Koreas seien Chinas Nachbarn, und Peking sähe sich durch den Besitz von Nuklearwaffen durch einen oder beide koreanische Staaten unmittelbar bedroht. Es gelte, zur Entspannung auf der Halbinsel beizutragen. Er habe in diesem Sinne kürzlich mit AM Baker gesprochen. Japan BM: Er sei beeindruckt gewesen, wie stark und aktiv japanisches Interesse an den weltweiten Entwicklungen geworden sei.22 Offenbar habe man in Tokio erkannt, dass wirtschaftliche Interessen von politischen nicht zu trennen seien. AM: Chinesisch-japanische Beziehungen sind in gutem Zustand. Parteichef Jiang Zemin werde im April Tokio besuchen.23 Demnächst werde man den 20. Jahrestag der Wiederaufnahme der japanisch-chinesischen diplomatischen Beziehungen feiern24, und der japanische Kaiser werde China besuchen.25 Nichtverbreitung BM: Eine Sorge, die ihn derzeit stark beschäftige, sei die Gefahr der Proliferation von Nuklearwaffen. Manche der bisherigen Hemmschwellen seien nun international in Gefahr geraten. Genugtuung über Chinas Beitritt zum NVV: die richtige Entscheidung zur richtigen Zeit.26 Die internationale Staatengemeinschaft müsse nun entschlossen Maßnahmen ergreifen, um die Verbreitung nuklearer Materialien und nuklearen Wissens zu verhindern. Hinweis auf die amerikanisch-deutsch-russische Initiative.27 Besondere Sorge bereite schwierige Kontrolle über die nukleare Artillerie-Munition und die Kurzstreckenwaffen der ehemaligen SU. AM: Als Nachbar der GUS sei auch China in hohem Maße besorgt: Die wirtschaftliche Not mache die Gefahr missbräuchlicher Veräußerung von Atommaterial noch größer. Die Nichtverbreitung sei nur ein Schritt: Wichtig sei die vollständige Vernichtung all dieser Waffen. China unterstütze alle Rüstungskontrollbemühungen. Beim Verkauf von Waffen lasse es sich von drei Kriterien leiten: Selbstverteidigung, Erhaltung von Stabilität, Nichteinmischung in innere Angelegenheiten. China hoffe auf den baldigen Abschluss der Genfer Verhandlungen über das vollständige Verbot von C-Waffen. BM macht auf das spezifisch osteuropäische Problem der Rüstungskonversion aufmerksam. AM weist darauf hin, dass China auf diesem Gebiet große Erfahrung habe.28 B 37, ZA-Bd. 161893 21 Zur Nichtverbreitungsproblematik auf der koranischen Halbinsel vgl. Dok. 127. 22 Zum Besuch des BM Genscher in Japan vom 11. bis 13. Februar 1992 vgl. Dok. 54. 23 Der GS des ZK der KPCh, Jiang Zemin, besuchte Japan vom 6. bis 10. April 1992. 24 Japan und die Volksrepublik China nahmen am 29. Dezember 1972 diplomatische Beziehungen auf. 25 Der japanische Kaiser Akihito besuchte die Volksrepublik China vom 23. bis 28. Oktober 1992. 26 Zum chinesischen Beitritt zum Nichtverbreitungsvertrag vom 1. Juli 1968 vgl. Dok. 73, Anm. 17. 27 Zur Gründung eines internationalen Wissenschafts- und Technologiezentrums in Russland zur Verhinderung der Verbreitung von Nuklearwaffen durch Wissenstransfer vgl. Dok. 50. 28 BM Genscher und der chinesische Botschafter Mei Zhaorong erörterten am 16. März 1992 Folgerungen aus dem Besuch des chinesischen AM Qian Qichen vom 10. bis 12. März 1992. Mei warnte vor Problemen, falls „die weitere Entwicklung ausschließlich von der Verbesserung der Menschenrechte abhängig gemacht“ würde. Genscher unterstrich, die Bundesregierung halte sich lediglich an die Verpflichtungen aller Staaten, „nämlich die bürgerlichen und sozialen Rechte, so wie sie in den Menschenrechtspakten der Vereinten Nationen festgehalten worden seien“. Er wiederholte seinen Vorschlag, „einen Abgesandten nach Peking zu schicken, der dort Gespräche über Menschenrechtsfragen führen würde“. Vgl. den Gesprächsvermerk; B 37, ZA-Bd. 161893.

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76 Gespräch des Bundeskanzlers Kohl mit dem zyprischen Präsidenten Vassiliou 11. März 19921 Gespräch des Herrn Bundeskanzler mit dem zyprischen Staatspräsidenten Dr. George Vassiliou2; Mittwoch, 11. März 1992, 15.00 – 16.15 Uhr Der Bundeskanzler begrüßt Staatspräsident Vassiliou (V.) und erkundigt sich nach dem Stand der Dinge in Zypern. Vassiliou berichtet, Wetter und Wirtschaft seien gut. Die Wirtschaftslage rechtfertige es, dass Zypern sich in den nächsten Monaten einseitig dem ECU anschließe. Der Bundeskanzler fragt, wie sich die Bemühungen zur Lösung des Zypernkonflikts mit der neuen türkischen Regierung3 gestalteten. Vassiliou bedauert, mit der neuen Regierung in Ankara laufe alles schlechter. Die Türkei habe insbesondere die letzte SR-Resolution4 abgelehnt. Sie sei ohne vorherige Anerkennung der Souveränität des besetzten Gebietes nicht bereit, sich an den Verhandlungstisch zu setzen. Der Bundeskanzler fragt nach der voraussichtlichen Reaktion der Türkei, falls Zypern dem Wunsch nach Anerkennung entsprechen werde. Vassiliou betont, dies könne man nicht machen. Es gehe nicht – wie etwa bei Kroatien – um Anerkennung der Souveränität eines neuen Staates, vielmehr treffe der Vergleich mit Krajina, Slawonien und anderen Teilen Kroatiens zu. So wie dort Serbien, so fordere die Türkei im Fall Zyperns die Anerkennung eines Landesteils, um ihn herauszuschneiden. Aber Zypern sei schlicht und einfach zu klein, um einem derartigen Wunsch folgen zu können. Für die Völkergemeinschaft – und insbesondere auch für Deutschland als ein1 Kopie. Der Gesprächsvermerk wurde von MDg Kaestner, Bundeskanzleramt, am 12. März 1992 gefertigt und am 17. März 1992 an VLR I Reiche übersandt „zur Unterrichtung des Herrn Staatssekretärs“. Hat Reiche am 20. März 1992 vorgelegen, der handschriftlich vermerkte: „1) Herrn StS L[autenschlager] vorzulegen (insbes. zu S. 5 des Vermerks), 2) Herrn StS K[astrup] „n[ach] R[ückkehr]“ vorzulegen. 3) Über D 2, Dg 20 RL 206 zur Kenntnis u. zum Verbleib, 4) Auszug (S. 5) Dg 41/RL 410 zur Kenntnis.“ Vgl. Anm. 10 und 13. Hat StS Lautenschlager laut Vermerk vorgelegen. Hat StS Kastrup am 22. März 1992 vorgelegen. Hat in Vertretung des MD Chrobog MDg Schilling am 23. März 1992 vorgelegen. Hat in Vertretung des MDg Hofstetter VLR I von Jagow am 24. März 1992 vorgelegen. Hat VLR von Mettenheim vorgelegen, der handschriftlich verfügte: „W[ieder]v[orlage] 30.3.“ Vgl. das Begleitschreiben; B 26, ZA-Bd. 181333. 2 Der zyprische Präsident Vassiliou besuchte die Bundesrepublik vom 10. bis 12. März 1992. 3 Seit 20. November 1991 amtierte in der Türkei eine Koalitionsregierung unter MP Demirel. 4 Korrigiert aus: „Revolution“. Für die Resolution Nr. 716 des VN-Sicherheitsrats vom 11. Oktober 1991 vgl. RESOLUTIONS AND DECISIONS 1991, S. 29 f.

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flussreiches europäisches Land und Tor zum Osten – sei die Achtung der Prinzipien, die im Fall Zypern eine Rolle spielen, von größter Bedeutung: – Es gebe eine Vielzahl VN- und SR-Resolutionen zu Zypern und zu anderen Konflikten. Man könne nicht einige anwenden und andere „vergessen“. – Auf Zypern stehe seit 18 Jahren eine VN-Friedenstruppe5: Niemand werde im Falle Kroatiens6 und in anderen künftigen Fällen für Friedenstruppen stimmen, wenn eine derartig lange Verweildauer absehbar sei. Die VN-Truppen müssten sich vielmehr darauf konzentrieren, dem Töten Einhalt zu gebieten – dann müsse eine politische Friedensregelung erreicht werden. Heute sei der Zypernkonflikt von vielen vergessen – aber die Grundprobleme kämen in Jugoslawien, auf dem Balkan insgesamt und in der früheren SU wieder auf die Tagesordnung. Hinsichtlich einer Zypernlösung brauche man jetzt dringend Bewegung, man müsse mit amerikanischer und deutscher Unterstützung Ankara verdeutlichen, dass das Zypernproblem nicht einfach vergessen werden dürfe, sondern vielmehr gelöst werden müsse. Der Bundeskanzler bittet um nähere Erläuterung, warum die Dinge mit MP Demirel schwieriger voranzubringen seien als mit seinem Vorgänger. Schließlich habe sich Demirel kürzlich mit MP Mitsotakis in Davos getroffen7 – danach habe es positive Geräusche gegeben. Vassiliou erwähnt auch eigenes, allerdings nicht veröffentlichtes Treffen mit MP Demirel in Davos. Er – V. – sei mit Demirel persönlich gut zurechtgekommen – aber dieser habe seit seiner Amtsübernahme überhaupt nichts getan. Demgegenüber sei Özal entschlossen gewesen, das Problem zu lösen, und habe dementsprechend den Kampf gegen die Bürokratie aufgenommen. Demirel hingegen spiele auf Zeit. Er wolle die Reaktion des Westens testen – falle sie, insbesondere bei USA, EG und D, eher verhalten aus, dann werde Demirel weiterhin nichts tun. Nur eine harte Reaktion werde ihn möglicherweise zu einer Positionsänderung bringen. Im Übrigen – so V. weiter – habe das Zypernproblem für die Türkei heute nicht mehr das Gewicht wie früher, sie habe bedeutsame Dinge im Norden und in Asien im Sinn. Denktasch – der sich wie ein Pascha aus alter Zeit aufführe – sei seinerseits nicht bereit, irgendeinen Kompromiss einzugehen. Das türkische Außenministerium unterstütze ihn. Umso wichtiger sei es, Demirel durch einen neuen Impuls dazu zu bringen, endlich etwas zu tun. Özal, der den Weg zur Lösung begonnen habe, werde keinen Widerstand leisten. Auf Frage des Bundeskanzlers nach der Rolle des Militärs erläutert V., natürlich gebe es das verbreitete Gefühl, dass das, was die Militärs erobert hätten, nun von den Politikern aufgegeben werden solle – aber die Situation in Zypern sei für das Militär insgesamt kein Vorteil. Auf Frage des Bundeskanzlers, welchen Vorteil die Türkei überhaupt habe, erwidert Vassiliou, im Grunde keinen – aber die Sache sei in hohem Maße irrational. In Ankara 5 Die „United Nations peace-keeping Force in Cyprus“ (UNFICYP) wurde durch Resolution Nr. 186 des VNSicherheitsrats vom 4. März 1964 geschaffen. Vgl. UNITED NATIONS RESOLUTIONS, Serie II, Bd. V, S. 12–14. Seither wurde deren Mandat regelmäßig verlängert, zuletzt am 12. Dezember 1991 mit Resolution Nr. 723 des VN-Sicherheitsrats. Vgl. RESOLUTIONS AND DECISIONS 1991, S. 30. 6 Zur Aufstellung von UNPROFOR vgl. Dok. 56, Anm. 5. 7 Beim Weltwirtschaftsforum vom 29. Januar bis 2. Februar 1992 führten die MP Demirel (Türkei) und Mitsotakis (Griechenland) am 31. Januar 1992 ein Gespräch.

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herrsche eine Art Spät-Breschnewismus: Was man einmal übernommen habe, wolle man behalten – und hoffe darauf, dass die anderen es vergäßen. Der Bundeskanzler fragt nach der Stimmung in der türkisch-zypriotischen Bevölkerung. Vassiliou erwidert, in der Türkei selbst sei nach jüngsten Meinungsumfragen Zypern „kein Problem“. In der türkisch-zypriotischen Bevölkerung sei offenbar eine Mehrheit gegen die von Denktasch angestrebte Lösung. Aber es sei wie in der DDR vor fünf Jahren: Die Leute könnten sich nicht frei äußern, weil sie von Denktasch und/oder der Armee abhingen. Denktasch erlaube keine Kontakte zwischen türkisch-zypriotischer und griechisch-zypriotischer Bevölkerung. Stattdessen baue die Propaganda eine Atmosphäre des Hasses auf. Dabei sei – so V. weiter – die türkische Haltung zu Bosnien-Herzegowina und Mazedonien einerseits und zu Zypern andererseits widersprüchlich: Während man dort auf eine multikulturelle Gesellschaft setze, wolle man auf Zypern Apartheid! Auf Fragen zur wirtschaftlichen Lage im türkisch-zypriotischen Teil berichtet V. sarkastisch, von einer Wirtschaft könne man im Grunde nicht sprechen. Die Bevölkerung stehe direkt oder indirekt im Dienst der Regierung oder der Armee. Im Übrigen ernähre man sich durch „Kofferhandel“-Schmuggel in die Türkei. Kurzum: eine Parasitenwirtschaft, keine Substanz. V. erläutert sodann die Bevölkerungsstruktur in beiden Landesteilen. Er hebt hervor, dass im türkisch-zypriotischen Teil die Armee und die zugewanderte Bevölkerung inzwischen die Mehrheit stellten und dass im griechisch-zypriotischen Landesteil aufgrund der guten Wirtschaftslage inzwischen die Rückwanderung eingesetzt habe. Der Bundeskanzler fragt nach Möglichkeiten und Chancen eines neuen Anstoßes gegenüber der Regierung in Athen. Vassiliou bescheinigt der Athener Regierung und ihren führenden Persönlichkeiten guten Willen, sie seien jedoch sowohl innenpolitisch und wirtschaftlich in einer schwierigen Situation, als auch außenpolitisch – insbesondere im Blick auf das auseinanderfallende Jugoslawien – vor neue Herausforderungen gestellt. MP Mitsotakis habe in Davos gegenüber MP Demirel den Eröffnungszug getan – aber von dessen Seite eine negative Haltung geerntet. Nun sei es ihm schwer möglich, noch etwas zu tun. Auf Bitten des Bundeskanzlers erläutert V. den Stand der VN-Bemühungen. Er werde in zehn Tagen mit VN-GS Boutros-Ghali zusammentreffen und die Lage beraten: Die „Gute-Dienste-Mission“ des GS8 stecke in der Sackgasse, weil die Türkei die Lösungsprinzipien in den jüngsten VN-SR-Resolutionen ablehne. In dieser Lage werde er den GS bitten, dem SR reinen Wein einzuschenken. Man müsse abwarten, inwieweit die USA eine klare Sprache des SR zulassen würden (Exkurs: Wahlkampf in USA9 – Gewicht der griechischen Stimmen). V. kritisiert in diesem Zusammenhang die amerikanische Haltung gegenüber der Türkei: Zunächst sei diese „bester Verbündeter“ gegenüber der SU gewesen, dann „strategischer Verbündeter“ im Golfkrieg, jetzt Vorzugs-Partner im Kampf gegen den Fundamentalismus. 8 Zu den Vermittlungsbemühungen des Sonderbeauftragten des VN-GS im Zypernkonflikt, Camilión, vgl. Dok. 10, Anm. 8. 9 In den USA fanden am 3. November 1992 Präsidentschaftswahlen, Wahlen zum Repräsentantenhaus sowie Teilwahlen zum Senat und für die Gouverneursämter statt.

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10Dabei könne die Türkei Usbekistan und den anderen zentralasiatischen Republiken

nicht bieten, was diese dringend brauchten – Know-how, Kapital, Absatzmärkte – und ihre Eingliederung in die Weltwirtschaft nicht erleichtern. Diese Hebel hätten vielmehr die USA und insbesondere Europa in Händen. Der Bundeskanzler bezeichnet die Lage auf Zypern vor dem Hintergrund der Veränderungen in der Welt als absurd. Vassiliou sieht wenig Chancen, auf dem Weg einer internationalen Konferenz – etwa nach dem Vorbild der Nahost-Konferenz11 – weiterzukommen. USA und Türkei seien dagegen. Mehr verspreche er sich von einer harten Äußerung des Sicherheitsrats mit Fristsetzung für die Türkei, ihre Truppen zurückzuziehen. Auf Fragen des Bundeskanzlers ergänzt V., die Stationierung von 35 000 Mann sei für die Türkei sehr teuer, jedoch nicht zu teuer – insbesondere, wenn man dies mit der militärischen Unterstützung vergleiche, die die Türkei aus USA und anderen Bündnisstaaten erhalte. Der Bundeskanzler unterstreicht als unsere Position, dass wir die Bemühungen der Vereinten Nationen unterstützten – alles andere bringe nach seinem Urteil nichts. Vassiliou unterstreicht, dass – neben der von ihm erhofften klaren Sprache des VN-GS und des VN-SR – der pychologische Druck auf die Türkei auch durch Behandlung des zypriotischen Antrags auf EG-Mitgliedschaft12 erhöht werde. Dieser Antrag liege derzeit der Kommission vor, die – so V. – keinesfalls Nein sagen solle, denn dies käme praktisch einem türkischen Veto gleich. Stattdessen möge die Gemeinschaft, wenn der Zeitpunkt zur Aufnahme neuer Mitglieder gekommen sei, auch Zypern als Mitglied akzeptieren, aber bis zur Lösung des Konflikts nur den Teil des Territoriums effektiv einbeziehen, der sich unter griechischer Hoheit befinde. Dies werde auf die türkisch-zypriotische Bevölkerung große Anziehungskraft entfalten. Und schon die Ankündigung eines derartigen Vorgehens könne Ankara zu neuen Überlegungen veranlassen. Der Bundeskanzler wirft ein, dass die bessere Wirtschaftslage im griechisch-zypriotischen Teil sicher die größte Anziehungskraft entfalte.13 Vassiliou stimmt zu – jedoch sei es wie im Verhältnis der alten Bundesrepublik Deutschland zur früheren DDR – man habe trotz aller Anziehungskräfte die Situation nicht ändern können, ehe nicht Gorbatschow in Moskau die Geschäfte übernahm. Der Bundeskanzler bietet an, wenn gewünscht, den Versuch zu unternehmen, mit unseren Möglichkeiten den Prozess der Vernunft zu unterstützen. So könne er mit MP Demirel noch einmal sprechen, wie er es übrigens früher auch mit MP Özal getan habe. (Exkurs: Vassiliou schildert Umschwung in der Haltung Özals: erst ehrlicher Wille zum Ausgleich, dann Wahlkampf mit nationalistischen Parolen.) V. bittet um eine klare Botschaft an MP Demirel: Die Situation könne nicht für ewig andauern – dies beeinträchtige auch die politischen Möglichkeiten der Europäer auf dem Balkan. (Exkurs: Der Bundeskanzler berichtet über deutsch-türkische Verstimmungen zu Beginn 10 Beginn der Seite 5 der Vorlage. Vgl. Anm. 1. 11 Zur multilateralen Nahost-Friedenskonferenz am 28./29. Januar 1992 in Moskau vgl. Dok. 15, Anm. 14. 12 Am 4. Juli 1990 stellte Zypern einen Antrag auf EG-Beitritt. Vgl. AAPD 1990, II, Dok. 212. 13 Ende der Seite 5 der Vorlage. Vgl. Anm. 1.

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des Golfkrieges14 – dann Versuch eines Neuanfangs nach Amtsantritt MP Demirels – Besuch Außenminister Çetin15.) Der Bundeskanzler unterstreicht, er habe kein Interesse, dass die deutsch-türkischen Beziehungen unter einem Schatten lägen. Man wolle das Vergangene vergessen – aber die Türkei müsse zu einer Zypernlösung beitragen. Vassiliou unterstreicht, auch er sei an einem guten Verhältnis zur Türkei interessiert – was ihm in Griechenland vehement vorgehalten werde – und trete sogar dafür ein, dass die Türkei, wenn die Voraussetzungen gegeben seien, auch Mitglied der Europäischen Gemeinschaft werden solle.16 Er wolle jedoch nicht mit einem pessimistischen Ton enden – vielmehr sei es seine Überzeugung, dass die Türkei, wenn man ihr gegenüber entschieden auftrete, sich bewegen werde. Auch der Bundeskanzler unterstreicht seinen Optimismus: Der Strom der Entwicklung laufe in eine andere Richtung. Die türkische NATO-Position habe wegen der Entwicklung in der früheren SU an Gewicht verloren. Das große Problem für die USA und den Westen insgesamt sei jetzt der Persische Golf, Iran, Fundamentalismus. Vassiliou wirft ein, Fundamentalismus werde durch falsche Politik geschaffen – Beispiel Algerien. Man könne ihn nicht mit militärischen Mitteln angehen – man müsse mit politischen Mitteln auf die Länder und die Gesellschaften einwirken. Der Bundeskanzler wirft ein, dies sei auch für die USA die Lehre aus dem Golfkrieg! (Exkurs: Parallelen in der Entwicklung Irans und Algeriens; Politik der USA nach dem Ersten Weltkrieg/Wilson und nach dem Zweiten Weltkrieg/Truman und Marshall; Hilfsnotwendigkeit für das besiegte Deutschland damals und für die SU-Nachfolgerepubliken heute; phychologische Langzeitwirkungen!) Vassiliou bringt abschließend seine Bewunderung für die Politik des Bundeskanzlers, insbesondere gegenüber Russland und den anderen GUS-Staaten, zum Ausdruck und ermutigt ihn, sie auch gegen Zauderer und Kritiker durchzusetzen. B 26, ZA-Bd. 181333

14 Zu den deutsch-türkischen Dissonanzen infolge des türkischen Antrags auf eine Entsendung der Luftkomponente der Mobilen Eingreiftruppe (AMF) der NATO vgl. AAPD 1990, II, Dok. 429, und AAPD 1991, I, Dok. 1 und Dok. 108. 15 Der türkische AM Çetin besuchte die Bundesrepublik am 18. Dezember 1991 und führte Gespräche mit BK Kohl und BM Genscher. Für das Gespräch mit Genscher vgl. B 1, ZA-Bd. 178930. 16 Die Türkei und die EWG schlossen am 12. September 1963 in Ankara ein Abkommen zur Gründung einer Assoziation, in dessen Präambel sowie in Artikel 28 ein späterer Beitritt des Landes zur Gemeinschaft erwähnt wurde. Für das Abkommen und die zugehörigen Dokumente vgl. BGBl. 1964, II, S. 510– 579. Am 14. April 1987 stellte die Türkei einen Antrag auf EG-Beitritt. Vgl. AAPD 1987, I, Dok. 93 und Dok. 136, sowie AAPD 1987, II, Dok. 218, und AAPD 1988, I, Dok. 74.

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77 Runderlass des Vortragenden Legationsrats I. Klasse Libal 215-320.10 JUG VS-NfD Fernschreiben Nr. 34 Plurez Betr.:

Aufgabe: 11. März 19921

Jugoslawien-Konflikt; hier: Treffen der AM der EG mit US-AM Baker am 10.3.1992 in Brüssel

Ergänzend zum (noch nicht vorliegenden) Coreu der Präsidentschaft2 wird nur zur eigenen Unterrichtung folgender Vermerk über das o. g. Treffen übermittelt: 1) Begegnung war auf Vorschlag von AM Baker zustande gekommen. Ihr Zweck: Abstimmung des Vorgehens zwischen USA und EG im Hinblick auf die Entwicklung in JUG. Treffen zeigte hohes Maß an Übereinstimmung sowohl unter den Zwölf als auch mit den USA. US-Wunsch nach Abstimmung wurde allgemein begrüßt. Ergebnisse der Aussprache fanden ihren Niederschlag in gemeinsamer Erklärung.3 2) Anerkennung von Slowenien und Kroatien durch USA: Entsprechender Passus der Erklärung spiegelt Bereitschaft der USA zur Anerkennung dieser Republiken. Wie Baker ausführte, haben neuere Entwicklungen (VN-Friedensoperation4, Volksabstimmungen in Bosnien-Herzegowina5 und Montenegro6) Überprüfung bisheriger US-Haltung in der Frage der Anerkennung möglich gemacht. Anerkennung von SLO und KRO könne nunmehr positiven Einfluss auf Bemühungen um eine Lösung haben, zumindest keine negative Wirkung mehr. Baker ließ jedoch genauen Zeitpunkt der Anerkennung offen und gab zu erkennen, dass USA Zusammenhang mit Anerkennung von Bosnien-Herzegowina und Makedonien aufrechterhalten wollen.7 1 Hat Referat 200 vor Abgang am 11. März 1992 zur Mitzeichnung vorgelegen. 2 Vgl. das Fernschreiben Nr. 260 aus Brüssel (Coreu-Sekretariat) vom 11. März 1992; B 220, ZA-Bd. 155735. Portugal hatte vom 1. Januar 1992 bis 30. Juni 1992 die EG-Ratspräsidentschaft inne. 3 Für die gemeinsame Erklärung der EG-Mitgliedstaaten und der USA vgl. BULLETIN DER EG 3/1992, S. 104. 4 Zur Aufstellung von UNPROFOR vgl. Dok. 56, Anm. 5. 5 In Bosnien-Herzegowina fand am 29. Februar und 1. März 1992 eine Volksabstimmung über die Unabhängigkeit statt, die von Unruhen, Straßenbarrikaden und Schießereien überschattet wurde. Die dortige serbische Bevölkerungsgruppe hatte sich schon im Vorfeld gegen die Abstimmung ausgesprochen und zu deren Boykott aufgerufen. Botschafter Eiff, Belgrad, teilte am 4. März 1992 mit: „Das amtliche Endergebnis des B+H-Referendums lautet: Wahlbeteiligung 63,04 Prozent (d. h. 1 997 666 von 3 199 031 Wahlberechtigten). Für die Unabhängigkeit stimmten 62,68 Prozent der Wahlberechtigten (= 1 986 202), dagegen 0,19 Prozent (= 5 997), ungültig waren 0,16 Prozent der Stimmen (= 5 070).“ Vgl. DB Nr. 274; B 42, ZA-Bd. 183095. 6 Korrigiert aus: „Makedonien“. Zur Volksabstimmung am 1. März 1992 in Montenegro über dessen Verbleib in einem Bundesstaat Jugoslawien teilte BR I Lutz, Belgrad, am 3. März 1992 mit: „63 Prozent der 421 000 Wahlberechtigten nahmen daran teil. 96 Prozent stimmten mit Ja, 2,3 Prozent mit Nein. Zwischenfälle während der Abstimmung gab es keine“. Bei der parallel durchgeführten Abstimmung in der Republikhauptstadt Titograd habe sich zudem eine klare Mehrheit für die Rückbenennung der Stadt in Podgorica ausgesprochen. Vgl. DB Nr. 265; B 42, ZA-Bd. 175627. 7 Der amerikanische Präsident Bush gab am 7. April 1992 die Anerkennung von Bosnien-Herzegowina, Kroatien und Slowenien als selbstständige Staaten durch die USA bekannt. Vgl. PUBLIC PAPERS, BUSH 1992–93, S. 553.

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3) Bosnien-Herzegowina: Allgemein kam Bereitschaft zur Anerkennung zum Ausdruck (vgl. hierzu auch die Erklärung). BM befürwortete Anerkennung als notwendigen Beitrag zur Stabilisierung. Einige Staaten (vor allem USA und I) präzisierten dieses Argument dahingehend, eine Anerkennung diene auch als Mittel zur Entmutigung von Versuchen zur Destabilisierung und Teilung der Republik. Andere Staaten (UK, F, GRI) äußerten die Sorge, eine vorschnelle Anerkennung könnte Verfassungsgespräche im Rahmen der Jugoslawien-Konferenz8 gefährden und Konflikt zwischen den nationalen Gemeinschaften erst recht provozieren. Im Lichte dieser Erwägungen fand die auch vom BM aufgegriffene Anregung des Sonderbeauftragten des VN-GS, Vance, Anklang, mit der Anerkennung zu warten, bis die Stationierung der VN-Truppen mehr oder weniger abgeschlossen sei, also bis Anfang April.9 In der Zwischenzeit soll die Präsidentschaft ihre Bemühungen um eine Einigung zwischen den nationalen Gemeinschaften über die künftigen inneren Strukturen von Bosnien-Herzegowina fortsetzen. Vor etwaigen Versuchen einer Destabilisierung oder Teilung der Republik wird in der Erklärung ausdrücklich gewarnt. 4) Makedonien: Nahezu alle Teilnehmer, auch BM, sprachen sich grundsätzlich für eine Anerkennung Makedoniens aus, äußerten aber zugleich Verständnis für die griechischen Sorgen. Einige Staaten (USA, UK) wiesen auf die Gefahr hin, Makedonien allzu lange im Ungewissen zu lassen. GRI äußerte sich betont unpolemisch und brachte grundsätzlich Bereitschaft zur Anerkennung und zur Unterstützung der „Republik von Skopje“ zum Ausdruck. Die Präsidentschaft wird ihre Bemühungen um eine Regelung der noch offenen Fragen zwischen Athen und Skopje fortsetzen. 5) Serbien und Montenegro (Drittes Jugoslawien10): Eine Reihe von Staaten (F, I, E, B) unterstrich die Notwendigkeit, eine Isolierung Serbiens auf Dauer zu vermeiden und Serbien durch vertrauensbildende Maßnahmen, wie die Aufhebung der Sanktionen11, Anreize für die Beteiligung an einer umfassenden politischen Lösung zu bieten, gegebenenfalls auch durch Akzeptierung des Anspruchs auf die Nachfolge Jugoslawiens (so USA). BM (unterstützt von DK) verwies demgegenüber auf das Gutachten der Schiedskommission vom Dezember 1991 über die Auflösung des jugoslawischen Staates12 und unterstrich, dass ein gemeinsamer serbisch-montenegrinischer Staat nicht das alte Jugoslawien, sondern eine neue Einheit verkörpern würde. Für die Anerkennung dieses neuen Staates müssten die gleichen Maßstäbe gelten wie bei den anderen Republiken, die bereits um Anerkennung nachgesucht haben. BM machte ferner deutlich, dass eine Aufhebung der Sanktionen gegen Serbien davon abhänge, dass Serbien, wie alle anderen Republiken auch, schriftlich, verbindlich und vorbehaltlos die von der EG festgelegten Verpflichtungen13 vor allem im Hinblick auf die Anerkennung der Grenzen und die Achtung der Minderheitenrechte übernehme. 8 Zu den Gesprächen der verschiedenen Volksgruppen von Bosnien-Herzegowina am 22./23. Februar 1992 in Lissabon vgl. Dok. 56, Anm. 13. 9 BM Genscher und der Sonderbeauftragte des VN-GS für Jugoslawien, Vance, trafen am 8. März 1992 zusammen. Für den mit DE Nr. 2968 des VLR I Libal vom 12. März 1992 übermittelten Gesprächsvermerk vgl. B 42, ZA-Bd. 183739. 10 Zur Frage der Rechtsnachfolge Jugoslawiens vgl. Dok. 65. 11 Zu den Maßnahmen der EG-Mitgliedstaaten gegen Jugoslawien vgl. Dok. 26, Anm. 5. 12 Zum Gutachten Nr. 1 der Schlichtungskommission der EG für Jugoslawien vom 29. November 1991 vgl. Dok. 16, Anm. 6. 13 Zu den Leitlinien der EG-Mitgliedstaaten vom 16. Dezember 1991 vgl. Dok. 2, Anm. 10.

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Passus der Erklärung zu Serbien und Montenegro nimmt zur Frage von Identität und Kontinuität eines neuen Jugoslawien mit dem bisherigen Staat dieses Namens nicht direkt Stellung, entspricht aber im Hinblick auf die Anforderungen an das Verhalten Serbiens und Montenegros in der Sache unseren Vorstellungen. 6) Wirtschaft: Sowohl USA als auch Kommission (Delors) hoben Bedeutung schneller Normalisierung des Wirtschaftslebens hervor, auch um Kosten für Wiederaufbau nicht weiter ansteigen zu lassen. Kommission plädierte für Verknüpfung der Aufhebung der Sanktionen gegen Serbien mit einer Beendigung der faktischen Wirtschaftsblockade Serbiens gegen die anderen Republiken. Ferner solle die künftige Zusammenarbeit der EG mit den jug. Republiken sich am Grad ihrer Zusammenarbeit untereinander (außer Slowenien) orientieren. Vorbereitung eines Handels- und Kooperationsabkommens mit KRO müsse bis zu einer befriedigenden Minderheitenregelung warten, dann jedoch sei im Hinblick auf die Zerstörungen in KRO eine besondere Anstrengung erforderlich. 7) Weiteres Vorgehen: Es bestand allgemeine Übereinstimmung, dass erst Anfang April der Zeitpunkt für weitere Entscheidungen gekommen sein wird. Dann wird die Stationierung der VN-Friedenskräfte kurz vor dem Abschluss stehen, was zur weiteren Stabilisierung der Lage, vor allem in Bosnien-Herzegowina, beitragen sollte. Anfang April wird die Präsidentschaft auch über den Stand ihrer Bemühungen im Hinblick auf die Verfassungsordnung in Bosnien-Herzegowina und das Verhältnis Makedoniens zu Griechenland berichten können. Ferner wird größere Klarheit in der Frage erwartet, inwieweit das Verhalten Serbiens eine Aufhebung der Sanktionen möglich macht. Die Präsidentschaft wird den Zwölf auf dem nächsten Allgemeinen Rat am 6. April14 ihre Schlussfolgerungen unterbreiten und hierüber auch die amerikanische Seite unterrichten, sodass ein abgestimmtes Vorgehen erreicht werden kann. Libal15 B 42, ZA-Bd. 175627

14 Zur EG-Ministerratstagung in Luxemburg teilten VLR I Libal und VLR I von Jagow am 7. April 1992 mit, die Außenminister hätten den Jugoslawien-Konflikt „ausschließlich in engstem Kreis (nur Minister)“ behandelt. Dabei sei einerseits die „Anerkennung von Bosnien-Herzegowina mit Wirkung vom 7.4.1992 beschlossen“ worden, andererseits sei entschieden worden, „auch Serbien in den Genuss positiver Maßnahmen kommen zu lassen (d. h. die Sanktionen gegen Serbien aufzuheben). Es handelt sich um eine Entscheidung in zwei Schritten: Über die Modalitäten der Inkraftsetzung dieser Entscheidung sollen die Präsidentschaft, die Kommission und der Vorsitzende der Friedenskonferenz mit der Führung Serbiens sprechen. Intern waren sich die AM einig, dass drei Bedingungen erfüllt sein müssten: Die Anerkennung der Grundsätze der Friedenskonferenz; die Herstellung der Freiheit des Luftverkehrs über Slowenien und Kroatien; die Rückgängigmachung der Einführung der föderalen Gesetzgebung in den Teilen Kroatiens, die unter dem Schutz der VN stehen. Zu einer Entscheidung über die Anerkennung Makedoniens ist es nicht gekommen.“ Vgl. RE Nr. 50; B 42, ZA-Bd. 183628. 15 Paraphe.

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12. März 1992: Gespräch zwischen Genscher und Dumas

78 Gespräch des Bundesministers Genscher mit dem französischen Außenminister Dumas in Paris 12. März 19921 Gespräch des BM mit dem französischen Außenminister Dumas am 12.3.1992 im Quai d’Orsay, Paris BM Genscher und sein französischer Kollege Dumas hatten am 12.3.1992 – im Anschluss an die Verabschiedung einer Gemeinsamen Erklärung2 – einen mehr als einstündigen Gedankenaustausch über Fragen der Sicherheits- und Europapolitik sowie über aktuelle internationale Fragen. Auf französischer Seite nahmen GS Boidevaix und aus dem Cabinet des Ministers ein Note-taker, auf deutscher Seite der Unterzeichnete (nicht anwesend in der ersten Viertelstunde) teil. Aus dem Gespräch wird Folgendes festgehalten: Europäisches Korps3 AM Dumas wies auf Schwierigkeiten hin, die bei den Vorbereitungen zur Bildung des Europäischen Korps aufgetreten seien und die Realisierung des Vorhabens „auf politischer Ebene“ blockierten; er fragte, wie man sie aus dem Wege räumen könnte. GS Boidevaix erläuterte (unter Bezugnahme auf seine Gespräche mit StS Kastrup4), es handele sich um die Frage des Einsatzrahmens des neu zu schaffenden Korps („l’emploi des forces“). BM Genscher erwiderte, in Deutschland bestehe ein Verfassungsproblem; das Grundgesetz erlaube gegenwärtig nur den Einsatz innerhalb des Gebietes des Atlantischen Bündnisses5. Die Notwendigkeit einer Verfassungsänderung für einen darüber hinausgehenden Einsatz stehe außer Zweifel. Hierfür sei eine 2/3-Mehrheit im Bundestag und daher auch die Zustimmung der SPD erforderlich. Diese bewege sich, sei aber mit ihrer internen Meinungsbildung „noch nicht ganz so weit“. Er sei gleichwohl zuversichtlich, dass es am Ende zu einer Regelung in dem von der FDP befürworteten Sinne kommen werde: Verfassungsänderung mit dem Vorbehalt einer Entscheidung des Bundestages im konkreten Fall (wie Frankreich und die USA im Falle des Golfkrieges). Bis dahin werde man mit einer Formulierung auskommen müssen, wonach der Einsatz des Korps „den jeweiligen Verfassungsbestimmungen“ unterliegt. 1 Der Gesprächsvermerk wurde von Gesandtem Heinichen, Paris, gefertigt und mit DB Nr. 698 vom 13. März 1992 an das Auswärtige Amt übermittelt mit der Bitte „um Herbeiführung der Genehmigung des Ministers“. Hat VLR Brose vorgelegen, der die Weiterleitung an BM Genscher „m[it] d[er] B[itte] um Billigung“ verfügte. Hat Genscher am 19. März 1992 vorgelegen. 2 Für die Gemeinsame Erklärung des BM Genscher und des französischen AM Dumas vom 12. März 1992 vgl. LA POLITIQUE ÉTRANGÈRE 1992 (März/April), S. 12 f. 3 Zum Eurokorps vgl. Dok. 91. 4 StS Kastrup erörterte am 5. Februar 1992 mit dem französischen Botschafter Boidevaix sicherheits- und verteidigungspolitische Fragen. Vgl. den Gesprächsvermerk; B 14, ZA-Bd. 161176. 5 Das Bündnisgebiet war in Artikel 6 des NATO-Vertrags vom 4. April 1949 festgelegt. Vgl. BGBl. 1955, II, S. 290.

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AM Dumas schloss hieran die Frage, ob sich die notwendige Verfassungsänderung in Deutschland nicht mit der Ratifizierung der Maastrichter Beschlüsse verbinden lasse, so wie es auch in Frankreich in diesem Zusammenhang zu einer Verfassungsdebatte kommen werde. BM Genscher verneinte diese Frage: Zwar setze auch in Deutschland die Ratifizierung der Maastrichter Beschlüsse eine Änderung der Verfassung in zwei Punkten voraus, sodass auch bei uns eine Verfassungsdebatte unvermeidbar werde. Hiermit die notwendige Verfassungsänderung über den Einsatz der Bundeswehr außerhalb der NATO zu verbinden, würde jedoch die Ratifizierung von „Maastricht“ zu sehr belasten, zumal die Opposition dann auch weitere von ihr gewünschte Verfassungsänderungen in die Debatte einführen werde mit der Folge, dass die Maastrichter Beschlüsse in diesem Jahre nicht mehr – wie beabsichtigt – ratifiziert werden könnten. Indessen sehe er hierin für das deutsch-französische Korps kein praktisches Problem; man müsse die Sache unter zeitlichem Aspekt sehen: Die Änderung der Verfassung hinsichtlich des Einsatzes der Bundeswehr außerhalb der NATO müsse noch in dieser Legislaturperiode erfolgen. Das bedeute, dass diese – da die nächsten Bundestagswahlen 19946 stattfinden und dann die Verfassungsdebatte nicht mehr geführt werden könne – im Jahr 1993 über die Bühne gehen müsse. Da das deutschfranzösische Korps vor Ende 1993 ohnehin nicht operativ werden könne, stelle sich deshalb ein praktisches Problem in diesem Zusammenhang nicht. AM Dumas stimmte zu. Beide Minister waren sich deshalb darin einig, dass bis zum deutsch-französischen Gipfel7 eine Formulierung gefunden werden müsse, wonach der Einsatz des Korps „in den Grenzen der jeweiligen Verfassungen“ beider Seiten stattfindet. Ratifizierung der Maastrichter Beschlüsse AM Dumas stellte die französische Situation dar. Die Regierung sei entschlossen, das Ratifizierungsverfahren möglichst schnell zu einem Abschluss zu bringen, um die Sache nicht „faulen zu lassen“ („ne pas pourrir l’affaire“) und inbesondere auch die öffentliche Diskussion im Vorfeld der anstehenden Wahlen zur Nationalversammlung im Jahre 19938 nicht mit dieser Frage zu belasten. Präsident Mitterrand habe deswegen den französischen Verfassungsrat (Cour constitutionnel) um eine Stellungnahme zur Frage notwendiger Verfassungsänderungen ersucht. Das Vertragswerk werde zusammen mit dieser Stellungnahme dem französischen Parlament Anfang April zugeleitet. Die Regierung werde alles daransetzen, um eine schnelle Entscheidung herbeizuführen. Er sei zuversichtlich, dass es sowohl in der Nationalversammlung als auch im Senat eine Mehrheit geben werde. Allerdings bedürfe es einer 3/5-Mehrheit in dem aus der Nationalversammlung und Senat für die Verfassungsänderung zu bildenden „Kongress“. Wenn diese nicht erreicht werde, müsse ein Referendum durchgeführt werden.9 Insofern bestehe eine gewisse Unsicherheit. Dennoch sei er „optimistisch“. BM Genscher stellte seinerseits das deutsche Ratifizierungsverfahren und die sich bei uns stellenden Probleme dar. Auch er sei zuversichtlich; es werde im Bundestag eine ausrei6 Die Wahlen zum Bundestag fanden am 16. Oktober 1994 statt. 7 Zu den deutsch-französischen Konsultationen am 21./22. Mai 1992 in La Rochelle vgl. Dok. 142 und Dok. 144. 8 Die Wahlen zur französischen Nationalversammlung fanden am 21. und 28. März 1993 statt. 9 In Frankreich fand am 20. September 1992 ein Referendum über das Vertragswerk von Maastricht statt. Vgl. Dok. 293 und Dok. 300.

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chende Mehrheit geben. Die SPD kritisiere das Maastrichter Ergebnis zwar in einzelnen Punkten (Rechte des EP, Währungsunion), werde die Ratifizierung daran jedoch letztlich nicht scheitern lassen. Ein besonderes Problem stelle sich im Bundesrat, da dieser seine Zustimmung von einer künftigen Verstärkung der Mitwirkungsrechte der Bundesländer an der deutschen Meinungsbildung in Fragen der Gemeinschaftspolitik abhängig mache. Der Bundeskanzler nehme das Gespräch mit den Ministerpräsidenten der Länder deshalb schon jetzt auf. Die Bundesregierung wolle die Ratifizierung der Maastrichter Beschlüsse vor Ende 1992 abschließen. Bei diesem Bemühen sei es hilfreich, wenn Frankreich ein Beispiel gebe, auf das wir uns mit dem Hinweis auf unser Interesse an einem möglichst zeitgleichen Vorgehen beider Länder berufen könnten. In Maastricht offengebliebene Fragen AM Dumas sprach die drei in Maastricht noch nicht entschiedenen – „besonders leichten“ – Fragen an: künftige Zahl der Kommissionsmitglieder, Zahl der EP-Abgeordneten, Sitz der Europäischen Zentralbank. BM Genscher: – Zur Frage der Kommissionsmitglieder: Die Sache sei für uns „so einfach und klar“, dass man darüber nicht weiter zu sprechen brauche. – Zur Frage der Zahl der EP-Abgeordenten10: In der EG habe stets das Prinzip der „Wahrung des Besitzstandes“ gegolten. Dies müsse man auch jetzt berücksichtigen, da das EP mehr Rechte erhalte. Deutschland habe bisher für elf Bundesländer 81 Abgeordnete nach Straßburg entsandt. Da künftig auch die neuen fünf Länder vertreten sein müssten, würde man den alten elf Ländern – was völlig ausgeschlossen sei – eine entsprechende Zahl von Abgeordneten wegnehmen müssen, wenn die Zahl der EP-Abgeordneten nicht erhöht werde. Die einzige Möglichkeit sehe er darin, dass auch Frankreich und die anderen großen Mitgliedsländer künftig mehr Abgeordnete als bisher in das EP entsenden; die Zahl „81“ sei für uns nicht mehr heilig. Auf die Frage von AM Dumas, ob es sich nicht empfehle, eine solche Neuregelung im Zuge der nächsten Erweiterung ins Auge zu fassen, antwortete BM Genscher ablehnend: Dieser Weg sei nicht gangbar, da die nächsten EP-Wahlen11 früher anstehen, als mit dem Abschluss einer neuen Erweiterung gerechnet werden könne, und für uns die Einbeziehung der neuen Bundesländer schon bei den nächsten Wahlen unverzichtbar sei. Vielleicht 10 Referat 410-9 erläuterte am 13. Mai 1992, das Europäische Parlament habe am 9. Oktober 1991 eine Entschließung verabschiedet, „die fordert, dass die Anzahl der deutschen Mandate einseitig um 18 erhöht werden soll. […] Daraufhin wurde im Rahmen der Regierungskonferenz über die Politische Union eine entsprechende Änderung der Verträge vorgesehen. Die Berechtigung des deutschen Wunsches nach einer Erhöhung der Mandate wurde von niemandem bestritten. Problematisch war allerdings die Gleichbehandlung von F bzw. den anderen großen MS.“ Auf der Tagung des Europäischen Rats am 9./10. Dezember 1991 in Maastricht sei man übereingekommen, „die Frage der Anzahl der Kommissare und der Mitglieder des EP spätestens bis Ende 1992 einvernehmlich zu regeln“. Der Institutionelle Ausschuss des Europäischen Parlaments habe am 30. Januar 1992 einen neuen Vorschlag vorgelegt, der bei einer „degressiv proportionalen“ Fortschreibung des bisherigen Verteilungsmodus für die Bundesrepublik 99 Mitglieder (+18) vorsehe, für Großbritannien und Italien 87 Mitglieder (+6) sowie Frankreich 86 Mitglieder (+5). Dies sei auf „harten Widerstand“ der französischen Abgeordneten gestoßen. Vgl. B 200, ZA-Bd. 153710. 11 Die vierten Direktwahlen zum Europäischen Parlament fanden vom 9. bis 12. Juni 1994 statt.

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könne man den Gedanken aber in der Weise aufgreifen, dass man die Erhöhung der Abgeordnetenzahl in die Perspektive der Erweiterung stelle, indem man jetzt die mit der nächsten Erweiterung geltende Zahl der Abgeordneten festlege, diese Regelung im Falle Deutschlands (ggfs. auch anderer MS) auch schon für die nächsten Wahlen Anwendung finden lasse. AM Dumas warf ein, ob man nicht evtl. auch das laufende Mandat der EP-Abgeordneten bis zur nächsten Erweiterung verlängern könne. BM Genscher bezeichnete diesen Gedanken nach unserem Verfassungsverständnis als nicht realisierbar. AM Dumas wandte ein, es handele sich doch um ein europäisches Parlament, und schloss die Aussprache über diesen Punkt mit dem Bemerken ab, man werde „weiter überlegen“ müssen. – Zur Frage des Sitzes der Europäischen Zentralbank: BM Genscher bezeichnete die Wahl eines Sitzes der Bank außerhalb Deutschlands für uns als „inakzeptabel“. Dabei sehe er keine Schwierigkeiten mit unseren französischen Partnern, da Frankreich in diesem Punkt – die von Lyon angemeldete Kandidatur sei im Grunde nicht ernst zu nehmen – mit uns nicht konkurriere. In Betracht komme nur ein großer Bankplatz. Als solcher könne neben Frankfurt nur London gelten, das jedoch schon deshalb ausscheide, weil GB an der Währungsunion nicht teilnehmen wolle. Die Benelux-Länder hätten im Übrigen die meisten europäischen Einrichtungen, Deutschland dagegen als einzige nennenswerte Gemeinschaftsinstitution nur das Europäische Patentamt im München. Wir hätten bewusst auf andere Kandidaturen mit dem Blick auf die Europäische Zentralbank verzichtet. AM Dumas bemerkte, für Frankreich bestehe immer noch das „Straßburg-Problem“ in der Sitzfrage des EP; er hoffe, dass mit der neuen belgischen Regierung hierüber leichter zu reden sein werde als mit der bisherigen. BM Genscher unterstrich die Unterstützung Frankreichs durch die Bundesregierung in dieser Frage schon in der Vergangenheit; Frankreich werde auch in Zukunft auf uns zählen können. Andererseits setzten wir auf die französische Unterstützung in der Sitzfrage der Europäischen Zentralbank. GATT AM Dumas bezog sich auf öffentliche Äußerungen von deutscher Seite in jüngerer Zeit, die in Frankreich gewisse „Irritationen“ ausgelöst hätten, und fragte, „wo man jetzt stehe“. BM Genscher antworte, man müsse den innenpolitischen Hintergrund sehen; außenpolitisch bestehe kein Anlass zur Beunruhigung. Serbien AM Dumas sprach sich für eine gemeinsame Position „wie im Falle der baltischen Staaten“12 aus. Man müsse die Entwicklung in Richtung auf eine politische Lösung fördern und dürfte in diesem Bemühen Serbien – selbst wenn es immer noch kommunistisch sei – nicht „in die Ecke drängen“. BM Genscher stimmte zu. Deutschland habe sich von Anfang an um Ausgewogenheit seiner Politik gegenüber allen Nachfolgestaaten des zerfallenen Jugoslawiens bemüht und in diesem Bestreben auch der serbischen Seite entsprechende Signale gegeben, z. B. auch durch die Einladung des serbischen Außenministers13 nach Bonn bereits im vergangenen 12 Vgl. das gemeinsame Schreiben des BK Kohl und des französischen Staatspräsidenten Mitterrand vom 26. April 1990 an den Präsidenten des Obersten Sowjet von Litauen, Landsbergis; AAPD 1990, I, Dok. 113. 13 Vladislav Jovanović.

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13. März 1992: Gespräch zwischen Genscher und Krawtschenko

Jahr (vor Antritt seiner Reise nach Slowenien und Kroatien14), der dieser bisher nicht nachgekommen sei. Inzwischen sehe man, dass sich auch Serbien bewege. Milošević komme zunehmend unter den Druck der bisher schweigenden Mehrheit, die eine friedliche Lösung der Probleme wolle. Es sei deshalb abzusehen, dass auch Serbien sich schließlich dazu durchringen werde, die von der Gemeinschaft geforderten Bedingungen für eine Anerkennung15 zu akzeptieren. Sonstiges Auf Bitten von BM Genscher berichtete AM Dumas von den Eindrücken seines Besuchs in Minsk.16 BM Genscher unterrichtete seinen französischen Kollegen über das Treffen der Ostsee-Anrainerstaaten in Kopenhagen17. NL Genscher, Bd. 141

79 Gespräch des Bundesministers Genscher mit dem belarussischen Außenminister Krawtschenko in Minsk 213-321.00 WEI

13. März 19921

Vermerk (von BM noch nicht gebilligt.) BM-Besuch in Minsk am 13.03.1992; hier: Gespräch BM mit AM Krawtschenko Krawtschenko (K.) begrüßte BM und schlug vor, sich nach den vorangegangenen Gesprächen mit dem Präsidenten2 und dem Premierminister3 im Wesentlichen auf drei Themen zu konzentrieren, nämlich: 14 Zum Besuch des BM Genscher am 22./23. Februar 1992 in Slowenien und Kroatien vgl. Dok. 56 und Dok. 57. 15 Zu den Leitlinien der EG-Mitgliedstaaten vom 16. Dezember 1991 vgl. Dok. 2, Anm. 10. 16 Der französische AM Dumas besuchte Belarus am 26. Januar 1992. 17 Am 5./6. März 1992 fand unter dem abwechselnden Vorsitz des dänischen AM Ellemann-Jensen bzw. von BM Genscher eine Außenministerkonferenz der Ostsee-Anrainerstaaten statt, auf der die Gründung eines Ostseerates beschlossen wurde. VLR I Bettzuege erläuterte am 9. März 1992: „Der Ostseerat wird künftig einmal jährlich nach dem Rotationsprinzip in einem der zehn Teilnehmerstaaten zusammentreten, wobei der Vorsitz ebenfalls jährlich wechselnd von einem anderen Außenminister übernommen wird.“ Vgl. RE Nr. 15; B 5, ZA-Bd. 161325. 1 Kopie. Der Gesprächsvermerk wurde von VLR I Neubert am 16. März 1992 gefertigt und an das Ministerbüro geleitet „mit der Bitte, Billigung BM herbeizuführen“. Hat VLR I Matussek am 23. März 1992 vorgelegen, der den Rücklauf an Referat 213 verfügte und handschriftlich vermerkte: „Kann mit übl[ichem] Vermerk verteilt werden.“ 2 Im Gespräch mit dem Vorsitzenden des belarussischen Obersten Sowjet, Schuschkewitsch, am 13. März 1992 in Minsk erörterte BM Genscher die Beziehungen von Belarus zu internationalen Organisationen,

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– die bilateralen Beziehungen nach dem Ende der SU, – die Integration Weißrusslands in europ. Strukturen, – Entschädigung für NS-Verfolgung. (K. fügte hinzu, das russische Wort „kompensazija“ sei nicht der richtige Terminus, man könne hier auch eine andere Bezeichnung finden.) BM warf ein, vor Eintritt in diesen Themenkatalog wolle er kurz hören, wie sich Weißrussland seine diplomatische Vertretung in Deutschland vorstelle.4 Krawtschenko führte hierzu aus, Weißrussland wolle Botschaft in Berlin eröffnen, als künftigen Botschafter wolle er uns informell Herrn Sadoǔski, den Vorsitzenden des Auswärtigen Ausschusses, Germanistikprofessor, vorstellen. Der Vorschlag müsse noch in Regierung und Präsidium des Obersten Sowjet behandelt werden, wenn diese Formalien erledigt seien, werde Sadoǔski sehr schnell seinen Dienst antreten.5 Weißrussland sei bereit, uns in Minsk ein Gebäude zu überlassen von ca. 500 – 800 qm. Entweder a) kostenlos und auf Reziprozitätsbasis in Berlin, falls dieses für uns nicht akzeptabel sei, dann b) dasselbe Gebäude, aber gegen Bezahlung. Weißrussland würde seinerseits Anspruch auf das Gebäude des ehemaligen sowjetischen GK in West-Berlin erheben. BM sagte zu, dass wir diese beiden Alternativen prüfen würden, verwies zu Berlin aber auf Tatsache, dass Bundesregierung noch geraume Zeit in Bonn bleiben werde.6 Krawtschenko sagte dazu, dass seines Wissens die sowjetische Botschaft in Bonn über 17 Gebäude verfüge und dass Weißrussland Platz für eine Außenstelle seiner Botschaft aus diesem Gebäudebestand finden werde. Er kam auf Thema der bilateralen Beziehungen zurück und sagte, es ginge jetzt darum, die juristische Infrastruktur für die beiderseitigen Beziehungen herzustellen. Weißrussland bekenne sich zur Rechtsnachfolge der SU und werde deren internationale Verpflichtungen erfüllen. Seines Wissens hätten zwischen Deutschland und der Sowjetunion ca. 70 völkerrechtliche Vereinbarungen bestanden. Einige seien wohl veraltet, andere hätten keinen Bezug zu Weißrussland, andere einen besonderen Charakter (gemeint wohl geprägt durch die besonderen Probleme der Teilung Deutschlands und des dadurch bedingten Verhältnisses zur SU). Er schlage daher vor, dass Fachleute beider Seiten die Verträge überprüfen sollten. Darüber hinaus sollten bilaterale Vereinbarungen ausgearbeitet werden, wie z. B. eine Konsularkonvention, ein Investitionsschutzabkommen, ein Transitabkommen und Vereinbarungen über Handel, Wirtschaft und Verkehr. Fortsetzung Fußnote von Seite 318 insbesondere der EG, die Entwicklung der GUS, Fragen der Rüstungskontrolle, der Nonproliferation und der Sicherheit von Atomkraftwerken sowie die praktische Umsetzung der Aufnahme diplomatischer Beziehungen. Vgl. B 1, ZA-Bd. 178913. 3 Im Mittelpunkt des Gesprächs des BM Genscher mit dem belarussischen MP Kebitsch am 13. März 1992 in Minsk standen Fragen der wirtschaftlichen Zusammenarbeit mit der Bundesrepublik, der EG und dem IWF. Vgl. B 1, ZA-Bd. 170746. 4 Anlässlich des Besuchs von BM Genscher nahmen die Bundesrepublik und Belarus diplomatische Beziehungen auf. 5 Zur Erteilung des Agréments vgl. BULLETIN 1992, S. 1016. 6 Zum Bonn-Berlin-Beschluss des Bundestags vom 20. Juni 1991 vgl. Dok. 75, Anm. 10.

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K. übergab Entwurf für einen Konsularvertrag und erwähnte, Weißrussland habe bereits mit einigen Staaten derartige Verträge abgeschlossen und erwarte unsere Reaktion nach Prüfung Textentwurf.7 Weißrussland sei nicht nur an bilateralen Abkommen interessiert, sondern auch bereit zu Integration in europäische multilaterale Vereinbarungen und erwähnte als Beispiel die Energiecharta, wie von MP a. D. Lubbers vorgeschlagen.8 Man wolle mit EG-Kommission den Weg zu europäischer Integration suchen. Außerdem schlage er vor, ein Protokoll über Zusammenarbeit zwischen den beiden Außenministerien auszuhandeln. Er wisse, dass wir eine entsprechende Vereinbarung mit Ungarn hätten (gemeint: Konsultationsprotokoll9). Er werde eine ähnliche Vereinbarung im März oder April mit dem franz. Außenministerium unterschreiben. Er wisse, dass dieses Abkommen für Weißrussland wichtiger sei als für uns, aber er bitte dennoch, den Gedanken wohlwollend zu prüfen. BM entgegnete, diese Überlegungen für den vielfältigen Ausbau der Beziehungen träfen sich mit unseren, kurz, wir seien bereit, über alle diese Themen zu sprechen. Krawtschenko fügte als Postscriptum zu diesem Thema noch an, ob wir nicht schon bald Visafreiheit für die Diplomaten beider Seiten vereinbaren könnten sowie Visa-Erleichterungen für die Bürger beider Staaten. Experten sollten das prüfen. BM verwies darauf, dass Visafrage zwischen einigen EG-Staaten gemeinsames Anliegen sei. Wir würden Frage dort aufgreifen und dann Reaktion übermitteln.10 Krawtschenko entgegnete, Bedeutung Schengener Abkommens sei Weißrussland durchaus bekannt. Weißrussland werde aber schon bald eigene Pässe einführen, die dem europ. Standard (Fälschungssicherheit?) entsprechen würden. Weißrussland wolle maximale Bewegungsfreiheit sowohl für Reisen, den Warenverkehr und den Kapitalverkehr herstellen. Es ginge Minsk um zivilisierte und intensive Beziehungen zum Ausland. Man wolle eine 7 Für die am 14. Mai 1992 von VLR I Neubert an Referat 502 übermittelte deutsche Übersetzung des BM Genscher am 13. März 1992 in Minsk übergebenen belarussischen Entwurfs eines Konsularvertrags vgl. B 81, Bd. 1360. 8 Der niederländische MP Lubbers legte auf der Tagung des Europäischen Rats am 25./26. Juni 1990 in Dublin ein Papier für „A European Energy Community“ vor. Vgl. SB Nr. 940 des BR von Graevenitz, Den Haag, vom 3. Juli 1990; B 224, ZA-Bd. 168790. Am 17. Dezember 1991 unterzeichneten Vertreter von 48 Staaten sowie der Europäischen Kommission und des Interstate Economic Committee in Den Haag das Schlussdokument über die Europäische EnergieCharta mit der Absicht, die Erklärung in naher Zukunft durch ein rechtsverbindliches Basisabkommen zu konkretisieren. Für die Schlusserklärung vgl. https://www.energychartertreaty.org/treaty/energycharter-treaty. 9 Vgl. Artikel 8 Absatz 3 des deutsch-ungarischen Vertrags vom 6. Februar 1992 über freundschaftliche Zusammenarbeit und Partnerschaft in Europa; BGBl. 1992, II, S. 478. 10 LR I Regenbrecht, Minsk, berichtete am 13. September 1992, mit Blick auf den Besuch von AM Krawtschenko am 29. September 1992 in der Bundesrepublik habe sich die belarussische Seite nach dem Stand der Überlegungen zu einem bilateralen Konsularabkommen erkundet, da eine Stellungnahme zu dem am 13. März 1992 BM Genscher übergebenen belarussischen Entwurf noch ausstehe. Vgl. DB Nr. 479; B 81, Bd. 1360. VLR Richtsteig vermerkte am 22. September 1992, ein von Belarus gewünschter Konsularvertrag sei „entbehrlich, da auch Weißrussland Vertragsstaat des WÜK ist. Das WÜK reicht als Grundlage für die Gestaltung der bilateralen konsularischen Beziehungen völlig aus. Abgesehen davon, dass wir seit dem deutschen Beitritt (1969) zum WÜK keine bilateralen Konsularabkommen mehr abschließen […], erscheint der weißrussische Entwurf inhaltlich nicht akzeptabel“. Vgl. B 81, Bd. 1360.

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offene und demokratische Gesellschaft schaffen. Deswegen sei ihm vor allem wichtig, für die Jugend Reisemöglichkeiten zu schaffen. Es sei auch wichtig für das Verhältnis Weißrussland – Polen, wo ca. 500 000 Weißrussen lebten, einerseits und andererseits, weil auch die Polen zu den in Weißrussland ansässigen Landsleuten Reisefreiheit wünschten. BM sagte zu, auf Reisefrage zurückzukommen und es im Rahmen von Schengen zu lösen. Krawtschenko verwies darauf, dass bei Gespräch mit Premierminister die Frage wirtschaftlicher und finanzieller Zusammenarbeit angesprochen worden sei. Für die Gestaltung der bilateralen Beziehungen sei auch wichtig zu wissen, dass Weißrussland sich sehr stark an der DM orientiere, vor allem was die Preisbildung angehe, aber auch wegen makroökonomischer Fragen. Weiteres wichtiges Anliegen für Weißrussland sei die Telekommunikation, auch um die Verbindung zum internationalen Bankwesen herzustellen. Weißrussland habe bereits eine eigene Außenhandelsbank und eine Nationalbank geschaffen. BM erwiderte, Verbesserung der Telekommunikation entspreche auch unserem Interesse. Er werde zuständige Stellen in Deutschland verständigen, damit diese Kontakt zu den weißruss. Stellen aufnehmen. Zur Frage eines modernen Banksystems sagte er, es sei in der Tat unmöglich ohne die entsprechende Organisationstechnik und den bargeldlosen Zahlungsverkehr. Krawtschenko kam dann darauf zu sprechen, dass in Alma Ata (21.12.9111) die Nachfolgestaaten der SU Russland nur die Kontinuität mit der Sowjetunion bezüglich der Vereinten Nationen und der intern. Organisationen zugestanden hätten. Bereits am 13.12.91 sei ein Beschluss über die Aufteilung des Eigentums gefasst worden. Dieses werde erneut in Kiew am 20.3. Thema sein, und zwar auf Vorschlag Weißrusslands.12 Die rechtliche Nachfolge in das Vermögen der SU müsse nun geregelt werden. Weißrussland beanspruche 4,13 % und poche auf eine rechtliche Regelung, da es in Ungarn einen russischen Versuch gegeben habe, die ehemals sowjetischen Gebäude auch rechtlich vollständig zu übernehmen (offenbar Grundbucheintragung beantragt). Gleiches gelte für den SU-Besitz an Gold, Diamanten, Archiven und Kunstschätzen. BM sagte, wir seien uns der Tragweite dieser Frage bewusst, und würden beobachten, zu welchen Ergebnissen der Gipfel komme. Krawtschenko sagte, er werde uns informieren, sobald die weißruss. Bemühungen Erfolg zeitigten, und fügte hinzu, auch die Nuklearwaffen, die Russland letztlich allein behalten werde, seien durch die Anstrengungen aller Sowjetbürger bezahlt und angeschafft worden. Er sagte dann, die dritte Frage habe einen sehr delikaten Charakter, aber auch Bedeutung für beide Seiten. Er habe seinerzeit der13 Zeremonie für die Einweihung eines deutschen Friedhofs in Riga beigewohnt, heute würden erste Schritte in die gleiche Richtung auch in Weißrussland unternommen. Für viele Hunderttausend Menschen in Weißrussland seien die Gespräche Deutschland – Sowjetunion, unter Teilnahme weißrussischer und ukrainischer Bevollmächtigter, 11 Am 21. Dezember 1991 einigten sich die Vertreter von elf ehemaligen Teilrepubliken der UdSSR in Alma Ata auf den Beitritt zu der am 8. Dezember 1991 gegründeten Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS). Vgl. die Erklärung; EUROPA-ARCHIV 1992, D 305 f. Vgl. auch AAPD 1991, II, Dok. 441. 12 In Kiew fand am 20. März 1992 eine Gipfelkonferenz der GUS-Mitgliedstaaten statt. Vgl. Dok. 83, Anm. 2. 13 Korrigiert aus: „seinerzeit an der“.

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über eine humanitäre Regelung zugunsten von NS-Verfolgten sehr wichtig.14 Er möchte, dass diese heutige15 Erörterung als Aktualisierung des Themas verstanden würde. Weißrussland möchte nach dem Zerfall der SU diese Gespräche als Völkerrechtssubjekt selbst fortsetzen. Wir möchten daher dies bitte als Antrag auf Fortsetzung der Verhandlungen betrachten, auch wenn ein gemeinsames Weiterverhandeln mit Russland und Ukraine nicht ausgeschlossen sei. Neben der rechtlichen habe diese Frage für Weißrussland auch eine moralische Dimension. Ihm sei klar, dass es nicht um Kompensation ginge, sondern um einen Akt des guten Willens, einmalig, der einen Strich unter die Vergangenheit ziehen soll. Er bat um Verständnis, aber die Gruppe der Geschädigten in Weißrussland sei groß. BM stellte klar, dass bei Gespräch mit AM auf der Fahrt wohl über moralische Dimension der Vergangenheit gesprochen worden sei, nicht jedoch spezifisch über die bisherigen Gespräche in Sachen NS-Verfolgung. Er verwies K. dann darauf, dass die SU und die DDR seinerzeit einen Reparationsverzicht vertraglich besiegelt hätten und es deshalb keine „Verhandlungen“ geben könne.16 Wir hätten uns allerdings gegenüber der SU zu einer humanitären Geste bereit erklärt, an den Gesprächen darüber sei Weißrussland, zusammen mit SU und Ukraine, beteiligt gewesen. Wir hätten das Stiftungsmodell vorgeschlagen und ein Angebot gemacht. Wir befänden uns aber in einer komplizierten Lage. Es gebe nunmehr drei Staaten, könne man an einer gemeinsamen Stiftung festhalten? Nach unserer Auffassung sollten die drei Staaten ihr Verhältnis untereinander regeln, dann könne man evtl. auch gemeinsam miteinander sprechen. Krawtschenko entgegnete, er habe diese Ausführungen mit großer Aufmerksamkeit verfolgt und sei damit einverstanden. Er wolle nur anmerken, dass das Problem nicht als erledigt gelten dürfe, da 1991 ja Gespräche in Bonn und Moskau geführt worden seien. Es gehe auch nicht um Reparationen zwischen Staaten in ihren internationalen Beziehungen, sondern um Entschädigung der betroffenen Menschen. Die Stiftungsidee sei Weißrussland bekannt. Die Positionen der Ukraine und Russlands seien bekannt. Er hielte eine Stiftung für denkbar, es müsse aber drei getrennte Konten für die drei Staaten geben, denn jeder habe sehr unterschiedliche Probleme bezüglich der Zielgruppen, die zu entschädigen seien. Jeder Staat müsse selbst entscheiden können, welchem seiner Bürger er eine Entschädigung aus der Stiftung leiste. BM machte noch einmal deutlich, dass es für das Verhältnis der beiden Staaten wichtig sei, dass Weißrussland die SU-Verträge als gültig betrachte. Dazu gehöre insbesondere auch der SU-DDR-Vertrag über den Reparationsverzicht mit Wirkung für ganz Deutschland. Grundlage einer humanitären Regelung sei die Verständigung über diese Rechtsposition; wir hätten dies so auch mit der Sowjetunion in den Gesprächen klargestellt, an denen Weißrussland teilgenommen habe. Wir würden die gleiche Haltung auch gegenüber Russland und Ukraine vertreten. 14 Zu den Gesprächen zwischen der Bundesrepublik und der UdSSR über einen Ausgleich für nationalsozialistische Verfolgungsmaßnahmen vgl. AAPD 1991, II, Dok. 373. Vgl. ferner das Schreiben des sowjetischen AM Schewardnadse vom 4. Dezember 1991 an BM Genscher; Dok. 13, Anm. 38. Zum Fortgang vgl. Dok. 111. 15 Korrigiert aus: „heute“ 16 Zum Verzicht der UdSSR auf Reparationszahlungen vgl. das vom sowjetischen AM Molotow und dem Vorsitzenden des Ministerrats der DDR, Grotewohl, am 22. August 1953 in Moskau unterzeichnete Protokoll über die Reparationszahlungen der DDR an die UdSSR; EUROPA-ARCHIV 1953, Bd. 2, S. 5974 f. Vgl. ferner AAPD 1990, I, Dok. 76.

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13. März 1992: Gespräch zwischen Genscher und Krawtschenko

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Krawtschenko sagte, ihm ginge es nicht um die Darstellung der Rechtspositionen, sondern um die Verwirklichung, damit ein Ergebnis für die Betroffenen erzielt werden könne, und um das Problem, dass Weißrussland völlig abhängig von Russland werde, wenn es eine Stiftung mit nur einem einheitlichen Konto gebe. BM machte noch einmal deutlich, dass es nicht um völkerrechtliche „Verhandlungen“ gehen könne, sondern um ein Gespräch über eine humanitäre Geste. Dazu sei erforderlich, dass Weißrussland nicht die Gütigkeit des Vertrages SU – DDR anzweifelte. Wir seien bereit, mit Weißrussland über eine humanitäre Geste weiter zu sprechen. Diese Bereitschaft gelte auch für Russland und Ukraine. Krawtschenko wiederholte, ihm sei die formelle Bezeichnung nicht vorrangig, sondern die Fortsetzung der Kontakte in der Sache. BM entgegnete, die Definition des Gesprächscharakters sei auch eine Substanzfrage, um nicht Probleme zu schaffen. Er hielte Klarheit am Anfang der neuen Beziehung für sehr wichtig. Krawtschenko sagte, er bäte inständig, diese Frage [zu] lösen, Weißrussland wolle nicht aufdringlich erscheinen, es sei jedoch für die Bevölkerung sehr wichtig. BM antwortete, Weißrussland sollte dies nicht zum zentralen Punkt der neuen Beziehungen machen. Krawtschenko entgegnete, deshalb habe er es auch als dritten und letzten angesprochen, aber er bat um Verständnis, dass er diesen Punkt ansprechen musste. BM verwies ihn darauf, dass er seinerseits auch den deutschen Mitbürgern, insbesondere in der DDR, Rede und Antwort stehen müsse. Diese hätten seit 1945 für die Reparationen bezahlt. Es ginge jetzt nicht an, die Reparationen noch einmal zu leisten. Deshalb müsse der Vertrag SU – DDR Bestand haben. Krawtschenko sagte, er verstände sehr wohl, dass es eine weitverbreitete und falsche Vorstellung sei, Deutschland als ein reiches Land [zu] betrachten. Er verstände unsere Probleme mit der Hinterlassenschaft der DDR, er wolle nicht diesen Stimmungen nachgeben, sondern im Gegenteil konkrete Arbeit leisten, und betrachte eine Lösung dieser Frage auch als einen Akt des Verzeihens und des Abschieds von der Vergangenheit. Kurz, als Geste des guten Willens. BM sagte, er habe darüber keinen Zweifel, aber es müssten Prioritäten gesetzt werden, worüber wir bilateral sprechen. Krawtschenko dankte für den Meinungsaustausch und leitete dann über zu dem Thema bilaterale Beziehungen und sagte, mit der heutigen Entwicklung sei eine neue Ebene dafür geschaffen worden. BM entgegnete darauf, Ziel und Motiv für seine Reise sei genau dies gewesen. Was beide Seiten sich heute vorgenommen hätten, zeige die Richtung. (Anschließend Pressebriefing) B 1, ZA-Bd. 178913

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17. März 1992: Gespräch zwischen Kohl und König Hussein

80 Gespräch des Bundeskanzlers Kohl mit dem jordanischen König Hussein 17. März 19921 Der Bundeskanzler heißt König Hussein herzlich willkommen2 und schlägt vor, über alle Fragen zu sprechen, die aus dessen Sicht wichtig seien. Er werde am kommenden Samstag mit Präsident Bush in Camp David zusammentreffen3 und könne auch dort – falls der König dies wünsche – gewisse Dinge nacharbeiten. König Hussein erwidert, der Besuch in den Vereinigten Staaten sei für ihn eine gute Chance gewesen, die freundschaftlichen Beziehungen zwischen den USA und Jordanien wieder aufzufrischen und gleichzeitig die persönlichen Beziehungen zwischen Präsident Bush und ihm wieder auf den alten Stand zu bringen.4 Er sei auch mit Außenminister Baker zusammengetroffen, der sich wiederholt im Nahen Osten aufgehalten habe. Sein Land mache schwere Zeiten durch, und er hoffe, dass auch der Bundeskanzler ihn weiterhin unterstütze. Der Bundeskanzler wirft ein, hiervon könne der König ausgehen. König Hussein erklärt, Jordanien setze seine Bemühungen im Rahmen des NahostFriedensprozesses fort, obschon es bisher keine großen Fortschritte gegeben habe.5 Man habe eine gemeinsame Delegation mit den Palästinensern. Auch hierdurch seien die Beziehungen zu den Palästinensern enger geworden. Es gehe jetzt darum, dass die Palästinenser in den besetzten Gebieten ihr Selbstbestimmungsrecht auf der Grundlage der Resolution 2426 verwirklichen könnten. 1 Kopie. Der Gesprächsvermerk wurde von MD Hartmann, Bundeskanzleramt, am 18. März 1992 gefertigt und am selben Tag über BM Bohl an BK Kohl geleitet. Dazu vermerkte Hartmann: „Ich gehe davon aus, dass der Vermerk nicht weitergeleitet wird.“ Ferner verfügte Hartmann die Weiterleitung an MDg Kaestner, MR Freiherr Leuckart von Weißdorf und VLR I Ueberschaer, alle Bundeskanzleramt, und bat handschriftlich: „Bitte Memo (S. 9) besorgen.“ Vgl. Anm. 18. Hat Bohl am 18. März 1992 vorgelegen. Hat Kaestner und Ueberschaer am 19. März 1992 vorgelegen. Hat Leuckart am 20. März 1992 vorgelegen, der zu Hartmanns Bitte handschriftlich vermerkte: „Ist erbeten.“ Vgl. den Begleitvermerk; BArch, B 136, Bd. 59730. 2 Der jordanische König Hussein hielt sich am 17./18. März 1992 in der Bundesrepublik auf. 3 Für die Gespräche des BK Kohl mit dem amerikanischen Präsidenten Bush am 21./22. März 1992 vgl. Dok. 82. 4 Der jordanische König Hussein hielt sich am 12./13. März 1992 in den USA auf, wo er am 12. März 1992 in Washington Gespräche mit Präsident Bush und AM Baker führte. Vgl. die amerikanischen Gesprächsprotokolle; https://bush41library.tamu.edu/archives/memcons-telcons (zum Zeitpunkt des Zugriffs nur teilweise freigegeben). 5 Zur vierten Runde der bilateralen Nahost-Verhandlungen zwischen Israel und den arabischen Staaten vgl. Dok. 53, Anm. 2. 6 Für die Resolution Nr. 242 des VN-Sicherheitsrats vom 22. November 1967 vgl. UNITED NATIONS RESOLUTIONS, Serie II, Bd. VI, S. 42 f. Für den deutschen Wortlaut vgl. EUROPA-ARCHIV 1969, D 578 f.

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17. März 1992: Gespräch zwischen Kohl und König Hussein

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Abb. 3: BK Kohl und der jordanische König Hussein

Der Bundeskanzler erklärt, er sei außerordentlich besorgt über die gesamte Entwicklung. Er habe schon vor einem Jahr Präsident Bush vor dem Hintergrund des Golfkrieges vor der Gefahr gewarnt, dass der Krieg gewonnen, aber der Frieden verloren werde.7 Diese Gefahr sei jetzt mit Händen zu greifen. Er frage sich im Hinblick auf die jetzt handelnden Personen, auf wen die Israelis eigentlich warteten. Die Bedingungen für eine Friedenslösung würden mit der Zeit nicht besser. Er traue sowohl Präsident Bush als auch AM Baker zu, dass sie etwas durchsetzen wollten, sehe aber keine Bewegung in Israel. In den nächsten drei bis fünf Jahren würden rund eine Million Juden aus der Sowjetunion nach Israel einwandern. Dies werde die künftigen Wahlen in Israel nicht zugunsten der Gemäßigten beeinflussen. Dies, aber auch der wachsende Fundamentalismus in den arabischen Nachbarländern, mache ihm Sorgen. Die Zeit arbeite gegen den Frieden. Dies habe er auch den Israelis immer wieder gesagt. Ihn interessiere, wie König Hussein diese Fragen einschätze. König Hussein erwidert, er wisse natürlich nicht, wie die Wahlen in Israel8 ausgehen würden, und vor allem auch nicht, ob die Neueinwanderer eher für Labour oder Schamir stimmen würden. Der Bundeskanzler erklärt, seine Prognose sei, dass sie nicht für den Sozialismus stimmen würden. Für diese Annahme sprächen auch unsere eigenen deutschen Erfahrungen. 7 Vgl. das Gespräch des BK Kohl mit dem amerikanischen Präsidenten Bush am 20. Mai 1991 in Washington; AAPD 1991, I, Dok. 174. 8 Am 23. Juni 1992 fanden in Israel Parlamentswahlen statt.

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17. März 1992: Gespräch zwischen Kohl und König Hussein

König Hussein erklärt, wahrscheinlich habe der Bundeskanzler in diesem Punkt recht. Er wolle darauf hinweisen, dass seit dem Golfkrieg weit über 300 000 Menschen aus der Golfregion nach Jordanien zurückgekehrt seien. Wenn man die Menschen zusammenzähle, die heute in Jordanien und in Israel zusammenlebten, komme man zu dem Schluss, dass die Gesamtregion sie nicht ernähren könne, zumal es an wichtigen Ressourcen wie Wasser fehle. Vor allem bestehe keine Chance, die Probleme zu lösen ohne eine dauerhafte Friedensordnung. Hinzu komme – wie der Bundeskanzler zu Recht unterstreiche – die Gefahr des Fundamentalismus. Er sei mit Schamir wiederholt vor dem Golfkrieg zusammengetroffen und habe ihm klargemacht, dass Jordanien sich aus dem Krieg heraushalten wolle. Dies sei gelungen, und jetzt gehe es darum, wirklichen und dauerhaften Frieden zu schaffen. Man müsse sehen, dass dies die letzte Chance sei. Er habe während seines jüngsten USA-Aufenthaltes auch VN-Generalsekretär Boutros-Ghali getroffen, der von der Gefahr eines neuen Schlages gegen den Irak gesprochen habe. Jordanien beteilige sich an allen Sanktionen gegen den Irak und führe diese konsequent durch, auch wenn man sehe, dass darunter die Menschen zu leiden hätten und nicht nur die Führung. Der Bundeskanzler stellt die Frage, wie König Hussein die Lage im Irak einschätze. König Hussein erwidert, die irakische Führung versuche der Bevölkerung klarzumachen, dass sie selbst – und nicht nur die Führung – Opfer der westlichen Politik sei. Die westliche Haltung sei widersprüchlich. Einerseits wolle man einen einheitlichen Irak als militärisches Gegengewicht zum Iran. Andererseits begünstige man die Aufspaltung des Irak. Jetzt sei die Rede davon, dass die Vereinten Nationen die Grenze zwischen dem Irak und Kuwait neu ziehen sollten. Dies sei aus seiner Sicht fatal, weil es nur zu neuen Konflikten führen werde. Auf eine entsprechende Frage des Bundeskanzlers erklärt König Hussein, die Frage werde derzeit in einem VN-Ausschuss diskutiert, wobei Großbritannien eine starke Rolle spiele. Unter anderem gehe es auch darum, Kuwait neue Ölfelder zugänglich zu machen und einen Hafen sowie einen Flughafen aufzuteilen. Der Bundeskanzler erklärt, damit werde in der Tat die Saat für weitere Auseinandersetzungen gesät. König Hussein erklärt, das entscheidende Problem der Region bleibe allerdings die Palästinenserfrage, die gelöst werden müsse. Der Bundeskanzler stellt die Frage, wie die Entwicklung innerhalb der Palästinenser verlaufe und ob der Radikalismus zunehme. König Hussein erwidert, dies sei in der Tat der Fall. Es gebe eine zunehmende – auch finanzielle – Unterstützung für Gruppen, die vorgäben, den Islam hochzuhalten. Der Bundeskanzler stellt die Frage, ob König Hussein eine Vorstellung von dem langfristigen Konzept Schamirs habe. König Hussein verneint dies. Der Bundeskanzler stellt die Frage, ob Schamir auf Zeit spiele. König Hussein bejaht dies. Der Bundeskanzler erklärt, er verstehe dies nicht. König Hussein erklärt, letztlich wolle Schamir sowohl Land als auch Frieden. Das gefährlichste Element derzeit sei die fortgesetzte Siedlungstätigkeit Israels in den besetzten Gebieten. Dies habe enorme Auswirkungen auf die Stimmung. 326

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Er habe kürzlich eine nationale Konferenz durchgeführt. Dort habe eine große Mehrheit für den Friedensprozess gestimmt. Solange aber die Siedlungstätigkeit weitergehe, werde die Politik aller gemäßigten Kräfte im arabischen Lager diskreditiert. PM Scharif Zaid ibn Schaker wirft ein, es gebe jetzt eine gegenläufige Entwicklung. Die Siedlungstätigkeit beweise die Unnachgiebigkeit Israels, und es sei so, wie der Bundeskanzler es gesagt habe: Die Zeit arbeite nicht für die Gemäßigten, sondern gegen alle. Der Bundeskanzler stellt die Frage, was Präsident Bush zu tun gedenke. König Hussein erklärt, Präsident Bush habe eine sehr feste Haltung eingenommen und engagiere sich stark im Friedensprozess. Er habe allerdings deutlich gemacht, dass die USA jetzt noch nicht bereit seien, ihren gesamten Einfluss aufs Spiel zu setzen. Sie würden dies aber auch zu gegebener Zeit tun. Der Bundeskanzler erklärt, die amerikanischen Kreditbürgschaften seien für Israel sehr wichtig. Heute habe eine Agentur gemeldet, dass Israel diese Bürgschaften wegen der damit verbundenen Bedingungen zurückweise.9 PM Scharif Zaid ibn Schaker erklärt, Präsident Bush habe hierzu gesagt, dass er seine Haltung in der Frage nicht ändern werde.10 Der Bundeskanzler fährt fort, auch wir seien involviert, und er habe deutlich gemacht, dass wir keine Kredite geben würden, die für Siedlungszwecke benutzt würden.11 König Hussein begrüßt dies nachdrücklich und erklärt, die innere Lage in Jordanien sei stabil. Die Menschen seien stolz auf das, was man erreicht habe, und insbesondere auf die neuen Freiheiten. Nächstes Jahr werde man wahrscheinlich Wahlen durchführen.12 Gleichzeitig sei allerdings der Druck, der auf Jordanien laste, gewaltig. Er hoffe, dass man bis zu den Wahlen die nationale Charta umgesetzt habe, um einen wirklichen Pluralismus zu erreichen. Jordanien müsse, wie gesagt, eine große Zahl von Rückkehrern integrieren. Die 10 Milliarden Kreditbürgschaften, die Israel von den USA fordere, entsprächen im Übrigen der gesamten Staatsverschuldung von Jordanien. 9 Zur Frage amerikanischer Kreditbürgschaften für Israel vgl. Dok. 53, Anm. 6. In der Presse wurde berichtet, der israelische VM Arens habe am 17. März 1992 bei einer Rede vor dem American Jewish Appeal in Washington die Weigerung der israelischen Regierung bekräftigt, „die amerikanischen Bedingungen für Kreditbürgschaften in Höhe von zehn Milliarden Dollar anzunehmen“. Vgl. den Artikel „Israel hält an seiner Siedlungspolitik fest“; FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG vom 18. März 1992, S. 1 f. Botschafter von der Gablentz, Tel Aviv, berichtete am 31. März 1992: „PM Schamir hat vergangene Woche noch einmal bekräftigt, dass für seine Regierung ein Siedlungsstopp in den besetzten Gebieten im Gegenzug für Kreditgarantien nicht annehmbar ist. […] Israelisch-amerikanische Beziehungen sind über verschiedene Irritationen (v. a. Kreditgarantiefrage, Aufweichungsversuche der Madrider Verfahrensregeln bei den multilateralen Friedensgesprächen, AM Bakers angeblicher ‚F… the jews‘Kommentar und die ‚Patriot‘-Affäre mit ihren – gesteuerten (?) – Enthüllungen aus internen USPapieren über vertragswidrigen Technologietransfer Israels, insbesondere an China) inzwischen auf einem Punkt gesunken, den manche Medienkommentare als beispiellos bezeichnen.“ Vgl. DB Nr. 358; B 36, ZA-Bd. 185344. 10 Für die Äußerungen des amerikanischen Präsidenten Bush am 17. März 1992 gegenüber der Presse vgl. PUBLIC PAPERS, BUSH 1992-93, S. 468 f. 11 Zu den deutsch-israelischen Finanzbeziehungen vgl. Dok. 37 und Dok. 108. 12 In Jordanien fanden am 8. November 1993 Parlamentswahlen statt.

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Der Bundeskanzler stellt die Frage, wie sich Ägypten entwickeln werde. Seiner Meinung nach müsse Israel an einer stabilen Entwicklung dort besonders interessiert sein. König Hussein erwidert, die Beziehungen Jordaniens zu Ägypten und Syrien seien nach wie vor ziemlich kühl. Das Gleiche gelte für Saudi-Arabien. Vielleicht werde sein jüngster Besuch in den Vereinigten Staaten eine Änderung herbeiführen. Jordanien selbst habe sich flexibel gezeigt. Vielleicht sei dies aber von den anderen arabischen Staaten als Schwäche ausgelegt worden. Was den Friedensprozess anbetreffe, so habe er immer wieder deutlich gemacht, dass Jordanien bereit sei, daran mitzuwirken. Es gehe allerdings nicht an, dass die Israelis die Moral für sich beanspruchten und sich aufs hohe Ross setzten. Auch Jordanien habe ein Recht auf eine eigene Meinung. Der Bundeskanzler stellt die Frage, was Saudi-Arabien wolle. König Hussein erklärt, dies sei schwer zu sagen. Möglicherweise warte Saudi-Arabien auf ein Zeichen aus den Vereinigten Staaten. Vielleicht glaubten die Saudis auch, dass Jordanien in irgendwelche finsteren Pläne mit dem Irak verwickelt sei. Dies sei allerdings völlig aus der Luft gegriffen. Andererseits gebe es deutliche Hinweise auf eine Unterstützung des Fundamentalismus durch Saudi-Arabien. Dies habe er auch in den USA angesprochen. Auf die entsprechende Frage des Bundeskanzlers erklärt König Hussein, er habe hierfür eindeutige Beweise, die im Übrigen auch den Amerikanern vorlägen. Der Bundeskanzler erklärt, diese Politik verstehe er nicht. Sie müsse letzten Endes in eine Katastrophe einmünden. Man brauche nur daran zu denken, welche konventionellen Waffen heute in einem Krieg zur Verfügung stünden. König Hussein stimmt zu und erklärt, inzwischen höre man, dass am laufenden Band Waffen aus der Sowjetunion in den Iran gelangten. Außerdem seien nicht alle nuklearen Waffensysteme in der früheren Sowjetunion unter Kontrolle. Der Bundeskanzler wirft ein, dies gelte nicht zuletzt für die C-Waffen. Er stellt die Frage, welche Rolle der Iran spielen werde und wie die Beziehungen Jordaniens zum Iran seien. König Hussein erwidert, die Beziehungen zum Iran seien gut. Er habe Präsident Rafsandschani eingeladen, und dieser sei auch bereit zu kommen. Die Iraner seien außerordentlich aktiv in der Region und unterstützten den Fundamentalismus. Es gebe einen offenen Wettbewerb zwischen dem Iran und der Türkei bezüglich der mittelasiatischen Republiken in der früheren Sowjetunion. Im Grunde genommen sei es so, dass Saudi-Arabien zahle und der Iran profitiere. Der Bundeskanzler erklärt, dies alles sei schwer verständlich, und er frage sich, wie die nächste Generation im Hause Saud denke. König Hussein erwidert, dies wisse er auch nicht. Das Königshaus vergrabe sich in alte Positionen, anstatt die Demokratie zu entwickeln. Der Bundeskanzler erklärt, er sei sicher, dass der vorübergehende Aufenthalt von fast 500 000 Soldaten in Saudi-Arabien Auswirkungen haben werde. König Hussein stimmt zu. Der Bundeskanzler fährt fort, er verstehe auch nicht, was die Kuwaitis machten. Sie hätten offenbar nichts dazugelernt. König Hussein erklärt, dies sei in der Tat der Fall, und dies alles beunruhige ihn sehr. Der Bundeskanzler erklärt, die Golfregion sei heute seiner Meinung nach der gefährlichste Punkt der Welt. Europa sei stabil, und dies werde auch so bleiben. Der europäische 328

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Einigungsprozess gehe weiter in Richtung auf eine Europäische Union. Er gehe auch davon aus, dass es gelingen werde, in der früheren Sowjetunion einen Weg zu finden, auch wenn dies lange dauern werde. Er wolle noch einmal betonen, dass wir bereit seien zu helfen, wo dies möglich sei. Unsere Sympathie gelte nicht nur Jordanien, sondern auch der Person des Königs. Wenn dieser das Gefühl habe, dass er – der Bundeskanzler – behilflich sein könne, solle er zum Telefon greifen. Natürlich sei es für Präsident Bush im Hinblick auf die bevorstehenden amerikanischen Wahlen13 schwierig, dem Druck der jüdischen Organisationen zu widerstehen. Andererseits werde man lange warten müssen, bis sich eine neue Chance auftue, wenn Präsident Bush es jetzt nicht schaffe. Der Bundeskanzler stellt die Frage nach der Entwicklung in Syrien. König Hussein erklärt, dies sei in der Tat ein weiteres Problem. Die Entwicklung dort sei ähnlich wie im Irak und wie in Ägypten in den 50er Jahren. Die wirtschaftliche Lage sei sehr schlecht. Die Wahlen, die stattfänden, seien eine Farce. Das zeige allein die Tatsache, dass Präsident Assad 99,8 % der Stimmen erhalten habe.14 Im Friedensprozess betätige sich Syrien sehr zögerlich. Die weitere Entwicklung sei schwer vorherzusagen. Der Bundeskanzler stellt die Frage, welche Rolle Özal für die Türkei anstrebe. König Hussein erklärt, nach seinem Eindruck bestehe ein gewisser Unterschied in der Haltung von Özal und Demirel. Er glaube, dass nach der Wahl Demirels15 die Rolle Özals nicht mehr so stark sei. Der Bundeskanzler erklärt, wir hätten eine alte Freundschaft mit der Türkei, die wir halten wollten. Leider habe es während des Golfkrieges einen Disput gegeben.16 Auch das Verhalten der Türkei in der Zypernfrage und die kostspielige Stationierung von türkischem Militär dort seien absurd. Er hoffe, dass Demirel versuche, in eine andere Richtung zu gehen. Der Bundeskanzler stellt dann die Frage, welchen Eindruck König Hussein von der britischen Politik im Nahen Osten habe. König Hussein erklärt, die Beziehungen zu Großbritannien seien angespannt. Man wisse nicht genau, was die britische Position sei. Es gebe Wunden, die nicht schnell verheilen würden. Dies betreffe vor allem die Menschen in seinem Land. Er habe den Eindruck, dass es in Großbritannien Leute gebe, die auf eine Wiederbelebung alter Ideen hinauswollten und die die Region aufzuspalten versuchten, um dann eingreifen zu können. Der Bundeskanzler erklärt, dies sei aber eine Politik von gestern, und er könne auch nicht glauben, dass dies ernsthaft so gewollt sei. Wenn König Hussein einverstanden sei, werde er über diese Frage nach den Wahlen17 mit PM Major sprechen. 13 In den USA fanden am 3. November 1992 Präsidentschaftswahlen, Wahlen zum Repräsentantenhaus sowie Teilwahlen zum Senat und für die Gouverneursämter statt. 14 Die Präsidentschaftswahlen in Syrien, wo lediglich Amtsinhaber Assad als Kandidat zugelassen war, fanden am 2. Dezember 1991 statt. 15 Der Vorsitzende der Gerechtigkeitspartei, Demirel, wurde am 20. November 1991 türkischer MP. 16 Zu den deutsch-türkischen Dissonanzen infolge des türkischen Antrags auf eine Entsendung der Luftkomponente der Mobilen Eingreiftruppe (AMF) der NATO vgl. AAPD 1990, II, Dok. 429, und AAPD 1991, I, Dok. 1 und Dok. 108. 17 Der britische PM Major kündigte am 11. März 1992 Wahlen zum Unterhaus für den 9. April 1992 an.

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20. März 1992: Vorlage von Lambach 18Vielleicht gebe es im Augenblick nicht viel Bewegung im Friedensprozess, weil man

in Israel die Wahlen in den USA abwarte. Er werde mit Präsident Bush auch darüber reden, was Europa tun könne, um diesen Prozess voranzubringen. Mit Präsident Mitterrand sei er in dieser Frage nicht weit auseinander. Hierbei sei auch zu bedenken, dass für Frankreich durch das Vordringen des Fundamentalismus in Algerien eine neue Lage entstanden sei. König Hussein erklärt, die Vorgänge in Algerien seien in der Tat schwer zu verstehen. Dies gelte nicht nur für die bisherige Rolle der FLN, sondern auch für die nachweisliche finanzielle und politische Unterstützung der Fundamentalisten durch Saudi-Arabien. Der Bundeskanzler erklärt, man müsse doch sehen, dass, wenn Algerien in die Hände der Fundamentalisten falle, Tunesien und Marokko als nächste dran seien. PM Zaid ibn Schaker erklärt abschließend, er habe heute dem Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit19 ein Memorandum überreicht, in dem die wirtschaftlichen Schwierigkeiten Jordaniens ausführlich dargelegt seien. Er wäre dankbar, wenn der Bundeskanzler sich dieser Probleme auch persönlich annehmen würde. Der Bundeskanzler sagt dies zu. BArch, B 136, Bd. 59730

81 Vorlage des Vortragenden Legationsrats I. Klasse Lambach für Staatssekretär Kastrup 216-554.01

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Über Dg 212, D 23 Herrn Staatssekretär4 Betr.: Deutsch-sowjetischer Aufenthalts- und Abzugsvertrag (AAV); hier: Fünfte Sitzung der Gemischten Kommission am 17.3.1992 in Bonn Anlg.: 25 Zweck der Vorlage: Zur Unterrichtung Kurzfassung Am 17.3.1992 trat im Auswärtigen Amt die Gemischte Deutsch-Sowjetische Kommission nach Art. 25 AAV zu ihrer fünften Sitzung zusammen (Leitung: Botschafter Dr. Bertele und Generaloberst Burlakow). Der Vorsitz lag turnusgemäß bei der deutschen Seite. Die nächste Sitzung ist für Juni 1992 in Berlin vorgesehen. 18 Beginn der Seite 9 der Vorlage. Vgl. Anm. 1. 19 Carl-Dieter Spranger. 1 Durchschlag als Konzept. Die Vorlage wurde von LS Prügel konzipiert. 2 Hat in Vertretung des MDg von Studnitz VLR I Lambach am 23. März 1992 erneut vorgelegen. 3 Hat in Vertretung des MD Chrobog MDg Schilling am 23. März 1992 vorgelegen. 4 Dieter Kastrup. 5 Vgl. Anm. 13 und 14.

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20. März 1992: Vorlage von Lambach

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Hervorzuheben ist, dass die Delegation der WGT erneut die Verzögerungen beim Wohnungsbau und die schleppende Verwertung der mit sowjetischen Mitteln erbauten unbeweglichen Vermögenswerte beklagte. Sie stellte die Lösung dieser Probleme wiederum in den Zusammenhang mit der Gewährleistung des planmäßigen Abzugs. Darüber hinaus machte die Delegation der WGT geltend, dass der deutsche Beitrag zu den Transportkosten für den Abzug der WGT angesichts gestiegener Kosten und verlängerter Abzugswege nicht mehr ausreichend sei. Deutsche Seite hat darauf hingewiesen, dass die aufgetretenen Probleme durch die WGT bzw. GUS zu vertreten seien. Im Übrigen bestehe kein Junktim zwischen Wohnungsbau und Truppenabzug. Die WGT unterrichtete über die Absicht, Kampftechnik auf dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland im Einklang mit dem KSE-Vertrag und unter Anrechnung auf die russische Reduzierungsverpflichtung zu zerstören. Sie kündigte an, dass die russische Seite in dieser Angelegenheit in Kürze auf diplomatischem Wege an die Bundesregierung herantreten werde. Eine Zerstörung von Munition ist nicht mehr beabsichtigt. In der Frage der Regelung von Schadensersatzansprüchen nach Artikel 23 und 24 AAV konnten die bestehenden prinzipiellen Meinungsverschiedenheiten ausgeräumt werden, sodass in Kürze mit der Unterzeichnung der entsprechenden Ressortvereinbarungen zu rechnen ist. Die Abgleichung der Abzugsdaten bestätigte den planmäßigen Fortgang des Abzugs der sowjetischen Truppen. Differenzen beim Abzug von Gerät und Material konnten weitgehend ausgeräumt, für die Zukunft eine engere (monatliche) Abgleichung der Abzugszahlen auf der Basis gemeinsam festgelegter Zählkriterien vereinbart werden. Die Kommission erörterte Fragen des Umweltschutzes und begrüßte die weitgehende inhaltliche Einigung auf eine Vereinbarung zur Regelung des Ausbildungs- und Übungsbetriebs der Truppen der WGT in Deutschland. Die erfolgreiche Durchführung der Maßnahmen zur Förderung der menschlichen und kulturellen Kontakte zwischen der deutschen Bevölkerung und der WGT wurde einvernehmlich gewürdigt. Im Einzelnen 1) Erfüllung des Abzugsplans Der Abzug der sowjetischen Truppen verläuft weiterhin nach Plan. Im Jahre 1991 wurden 165 000 Personen (darunter 100 000 Soldaten), 34 500 Einheiten Waffen und Gerät und ca. 781 000 t Material abgezogen. Für 1992 ist nach Angaben der WGT der Abzug von weiteren 30 % des ursprünglichen Gesamtbestands an Personal und Material, d. h. 164 000 Personen, 34 000 Einheiten Waffen und Gerät sowie 780 000 t Material (darunter 200 000 t Munition) vorgesehen. Der Abzugsplan 1992 und die Quartalsabzugspläne für das erste und zweite Quartal 1992 sind abgestimmt. Im Vorfeld der Kommissionssitzung in der AG Abzug aufgetretene Differenzen beim Abzug von Material konnten einvernehmlich geklärt werden. Zur Gewährleistung einer besseren Verifikation der Abzugszahlen wurde für die Zukunft eine monatliche Abgleichung auf Arbeitsebene auf der Basis gemeinsamer Zählkriterien vereinbart. 2) Andere Fragen im Zusammenhang mit dem Truppenabzug Die Delegation der WGT sprach erneut die Probleme des Wohnungsbaus und der Verwertung von Liegenschaften an. Sie wies darauf hin, dass der Wohnungsbau weit hinter 331

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20. März 1992: Vorlage von Lambach

der Planung zurückliege, 1991 seien nur 58 % der geplanten Wohneinheiten fertiggestellt worden. Sie beklagte weiterhin, dass die Verwertung der an die deutsche Seite übergebenen Liegenschaften nicht vorankomme und bisher noch keine Erlöse erzielt worden seien. Diese Mittel seien ebenfalls für den Wohnungsbau dringend erforderlich. Deutsche Seite zeigte Verständnis für diese Probleme, wies jedoch darauf hin, dass die Verantwortung hierfür nicht auf deutscher Seite liege und die deutsche Seite ihre Verpflichtungen voll erfülle. Die Verzögerungen bei der Verwertung von Liegenschaften seien darauf zurückzuführen, dass die russische Seite bisher kaum bereit sei, der Verwertung – wie vertraglich festgelegt – zu Marktbedingungen zuzustimmen. Voraussetzung für die zügige Durchführung des Wohnungsbauprogramms sei eine umfassende Einigung zwischen den betroffenen Republiken über die zukünftigen Standorte der Wohnungen.6 Botschafter Dr. Bertele wies in diesem Zusammenhang darauf hin, dass auch für andere Republiken der GUS Rechte und Pflichten aus den Verträgen bestünden, diese daher auch bei der Vertragserfüllung zu beteiligen seien. Die durch die Auflösung der Sowjetunion entstandenen Probleme könnten nicht durch die deutsche Seite gelöst werden. Im Übrigen bestehe für das Wohnungsbauprogramm, das nicht in der Zuständigkeit der Gemischten Kommission läge, kein Junktim mit dem Abzug. 3) Transport/Transit Die WGT führte aus, dass nach ihren Berechnungen der von deutscher Seite vertraglich zugesagte Beitrag zu den Kosten des Abzugstransports von 1 Mrd. DM aufgrund gestiegener Kosten und verlängerter Abzugswege nicht ausreichend sei. Deutsche Seite betonte zunächst, dass unsererseits ein Beitrag zu den Abzugskosten in Höhe von 1 Mrd. DM zugesagt worden sei, und verwies im Übrigen auf eigene Berechnungen, denen zufolge der deutsche Beitrag zur Deckung der Transportkosten unabhängig von den gewählten Abzugswegen ausreiche. Sie unterstrich die Notwendigkeit der Offenhaltung aller zur Verfügung stehenden Transitwege und bat, insbesondere die im Transit durch Litauen aufgetretenen Probleme7 bilateral zu lösen. Die deutsche Seite sei wie bisher zu flankierenden Gesprächen mit den Transitländern bereit.8 4) Vernichtung von Kampftechnik der WGT in Deutschland Die WGT unterrichtete über die Absicht, auf den Liegenschaften Kampftechnik zu zerstören. Die Zerstörung solle im Einklang mit dem KSE-Vertrag und unter Anrechnung auf die russische Reduzierungsverpflichtung erfolgen. Die Vernichtung von Munition sei nicht mehr beabsichtigt, diese werde vollständig abtransportiert. Deutsche Seite wies darauf hin, dass die Zerstörung von Kampftechnik über den Vertrag hinausgehe und daher die Zustimmung der deutschen Seite voraussetze. Ebenso seien 6 Zur weiteren Durchführung des Wohnungsbauprogramms vgl. Dok. 280. 7 Zu Transitproblemen mit Litauen beim Abzug der WGT vgl. Dok. 46, Anm. 4. 8 VLR I Neubert vermerkte am 4. Mai 1992, die ungeklärten Abzugsmodalitäten für die ca. 80 000 vormals sowjetischen Soldaten belasteten die Beziehungen zwischen Russland einerseits und Estland, Lettland und Litauen andererseits: „Die Balten dringen auf einen zügigen Abzug (mit Festlegung eines Enddatums). Die RF betont die soziale und wirtschaftliche Problematik und drängt auf eine längere Frist; ein genauer Zeitplan (mit Enddatum) ist aus ihrer Sicht nicht festlegbar.“ Der Bundesrepublik sei „an Stabilität und Herausbildung gutnachbarlicher Beziehungen in der Region gelegen“; zudem besitze sie ein besonderes Interesse an Litauen, „da ein erheblicher Teil der Abzugstransporte der WGT aus Deutschland über Litauen verläuft.“ Vgl. B 41, ZA-Bd. 221831.

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Fragen der umweltgerechten Vernichtung und Entsorgung sowie der wirtschaftlichen Verwertbarkeit zu klären. Der Abzug dürfe hierdurch nicht verzögert werden. Russische Seite kündigte an, in Kürze mit diesem Anliegen auf diplomatischem Wege an die Bundesregierung heranzutreten. Die Aufnahme baldiger Expertengespräche wurde vereinbart.9 5) Fragen des Umweltschutzes Von deutscher Seite wurde auf ungelöste Probleme beim Umweltschutz hingewiesen. Insbesondere seien der Zugang zu Liegenschaften der WGT zur Gefahrenabwehr durch deutsche Behörden und die frühzeitige Unterrichtung vor Räumung von Liegenschaften zur Gewährleistung der geordneten Übernahme nicht gewährleistet. Die russische Seite sagte verbesserten Zugang zu. Ungeachtet dessen würdigten beide Seiten die in diesem Bereich erreichten Fortschritte. 6) Regelung der Schadensersatzfragen In der Frage der Regelung von Schadensersatzansprächen gemäß Art. 23 und 24 AAV wurde in den beiden grundlegenden Streitpunkten Einigung erzielt, sodass in Kürze mit der Unterzeichnung der entsprechenden Ressortvereinbarungen gerechnet werden kann. Als Schäden und Schadenshandlungen der Vertragspartei Bundesrepublik Deutschland sind demnach nicht nur diejenigen des Bundes, sondern auch die der Länder und Gemeinden anzusehen. In der Streitfrage des Verfahrens zur Abgeltung von Belegungsschäden an Drittgrundstücken wurde festgelegt, dass diese Schäden im Außenverhältnis zum Geschädigten unter Anwendung des Art. 24 AAV von den deutschen Behörden abgegolten werden, dass aber über die Erstattung der gezahlten Entschädigungen seitens der WGT ausschließlich von der nach Art. 7 Überleitungsabkommen10 gebildeten Kommission entschieden wird. 7) Gesellschaftliche und kulturelle Kontakte Beide Seiten begrüßten die positive Resonanz auf die mit Bundesmitteln geförderten Maßnahmen zur Förderung der gesellschaftlichen und kulturellen Kontakte zwischen der WGT und der deutschen Bevölkerung. Allein in den letzten Monaten des Jahres 1991 seit Anlaufen der Maßnahmen wurden über 100 Projekte verschiedenster Art durchgeführt. 8) Ausbildung und Übungen der WGT Die Kommission nahm mit Befriedigung die in der Arbeitsgruppe „Ausbildung und Übungen der sowjetischen Truppen“ erzielte weitgehende inhaltliche Einigung auf eine Vereinbarung, die den Ausbildungs- und Übungsbetrieb der WGT in Deutschland regelt, zur Kenntnis. Die Vereinbarung, die die WGT auf Einhaltung der entsprechenden deutschen Vorschriften verpflichtet, soll Anfang April unterzeichnet werden.11 9 Im Protokoll der sechsten Sitzung der Gemischten Deutsch-Sowjetischen Kommission für den WGTAbzug vom 16. Juni 1992 in Berlin hieß es dazu, in bilateralen Expertengesprächen seien Fragen der von russischer Seite beabsichtigten „Zerlegung von bis zu 2389 gepanzerten Fahrzeugen, darunter 1789 Mannschaftstransportwagen des Typs BTR-60 und 600 Schützenpanzern des Typs BMP-1, behandelt worden“. Ein entsprechender Notenwechsel solle schnellstmöglich durchgeführt werden. Vgl. B 38, ZA-Bd. 184732. 10 Für das Abkommen vom 9. Oktober 1990 zwischen der Bundesrepublik und der UdSSR über einige überleitende Maßnahmen (Überleitungsabkommen) vgl. BGBl. 1990, II, S. 1655–1659. Vgl. ferner AAPD 1990, II, Dok. 334, und DIE EINHEIT, Dok. 156. 11 Eine Vereinbarung über die Durchführungen von Übungen der WGT wurde am 18. April 1992 unterzeichnet. Vgl. den Vermerk von Referat 216 vom 12. Juni 1992; B 38, ZA-Bd. 184732.

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9) Die Kommission behandelte weiterhin Fragen der Rechtshilfe und administrativen Zusammenarbeit, der Sicherheit und der medizinischen Versorgung. 10) Die Kommission begrüßte den gemeinsamen Beschluss der deutschen Seite und der betroffenen GUS-Staaten, nun doch einen Teil der im Abkommen über einige überleitende Maßnahmen vorgesehenen Ausbildungs- und Umschulungsmaßnahmen für Militärangehörige der WGT in Deutschland durchzuführen.12 11) Das abgestimmte, aber noch zu unterzeichnende Protokoll liegt in deutscher Fassung vor (s. Anlage13). Die abgestimmte Presseerklärung ist beigefügt.14 Botschafter Dr. Bertele hat dieser Aufzeichnung zugestimmt. Lambach15 B 38, ZA-Bd. 184730

82 Gespräche des Bundeskanzlers Kohl mit dem amerikanischen Präsidenten Bush in Camp David 21./22. März 19921 Gespräch des Herrn Bundeskanzlers am 21./22. März in Camp David I. Aus dem Gespräch am 21. März 1992, an dem auch VP Quayle sowie AM Baker teilgenommen haben, halte ich2 fest: 12 Referat 216 vermerkte am 10. März 1992: „Gemäß dem am 4.3.92 unterzeichneten M[emorandum] o[f] U[nderstanding] zur Durchführung der Vereinbarung vom 21.6.91 zu Art. 4 Überleitungsabkommen ist nun vorgesehen, aus dem 200 Mio.-Programm auch standortbegleitende Ausbildungs- und Umschulungsmaßnahmen im Aufenthaltsgebiet durchzuführen. Insgesamt sind hierfür 22,8. Mio. DM vorgesehen.“ Vgl. B 38, ZA-Bd. 184730. 13 Dem Vorgang beigefügt. Für das Protokoll sowie eine Teilnehmerliste vgl. B 38, ZA-Bd. 184730. 14 Dem Vorgang beigefügt. Für die Presseerklärung vgl. B 38, ZA-Bd. 184730. 15 Paraphe vom 23. März 1992. 1 Kopie. Der Gesprächsvermerk wurde von MD Hartmann, Bundeskanzleramt, am 23. März 1992 gefertigt und am selben Tag über BM Bohl an BK Kohl geleitet. Dazu vermerkte Hartmann: „Weisungsgemäß wird der Vermerk nicht weitergeleitet. Lediglich StS Dr. Köhler hat Auszug aus dem Vermerk betr. UNCED und Weltwirtschaftsgipfel erhalten. Herr AL 4 wird zusammen mit Abteilung 2 den Entwurf eines Schreibens an die Staats- und Regierungschefs der G 7-Staaten vorlegen.“ Vgl. den Begleitvermerk; BArch, B 136, Bd. 59730. Für das amerikanische Gesprächsprotokoll vgl. https://bush41library.tamu.edu/archives/memcons-telcons (zum Zeitpunkt des Zugriffs nur teilweise freigegeben). Vgl. ferner KOHL, Erinnerungen 1990 – 1994, S. 423– 430. 2 Peter Hartmann.

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1) Der Bundeskanzler gibt eingangs eine kurze Analyse der Lage in Europa. Was die britischen Wahlen angehe3, so gebe es zwischen den Parteien ein Kopf-an-Kopf-Rennen, aber bei den Personen gehe er von einem Vorsprung Majors aus. In Italien habe man es mit einer Entwicklung zu tun, die sich gegen die bestehenden Parteien richte. Beispiel: die „Liga“ in Norditalien.4 Die Frage von Präsident Bush, ob dies die italienische Haltung zu EG und NATO beeinflusse, verneint der Bundeskanzler. Die wichtigste politische Wahl finde derzeit in Frankreich statt.5 Die Frage von Präsident Bush, ob der Ausgang die Position von Präsident Mitterrand beeinflussen werde, bejaht der Bundeskanzler. Er untermauert dies durch Hinweis auf aktuelle Umfrageergebnisse für die einzelnen Parteien. Vermutlich werde dann die Regierung Cresson am Ende sein.6 Auf die Lage in Deutschland eingehend, weist der Bundeskanzler auf die bevorstehenden Landtagswahlen7 hin und gibt eine kurze Analyse der wirtschaftlichen Entwicklung. 1992 sei von einer Steigerung des BSP um 2 % auszugehen. Davon entfielen 10 % auf die neuen Bundesländer. Die Inflation werde bis Ende des Jahres unter 4 % fallen. Schwierigstes Problem bleibe die Arbeitslosigkeit in den neuen Bundesländern. Dort vollziehe sich eine dramatische Veränderung. (Hinweis darauf, dass von 6000 staatlichen Betrieben inzwischen 3000 privatisiert wurden.) Größtes Problem im Augenblick sei die tarifpolitische Auseinandersetzung mit den Gewerkschaften.8 Auf die entsprechende Frage des amerikanischen Präsidenten erklärt der Bundeskanzler, in der deutschen Bevölkerung gebe es eine klare Mehrheit für die Präsenz amerikanischer Truppen und die NATO. Dies zeigten Umfragen, die in diesem Punkt noch eindeutiger seien als Anfang 1991. Beachtlich sei auch die Antwort auf die Frage, wer für die Sicherheit in Deutschland wichtig sei. Hierbei hätten 58 % die USA, 18 % Frankreich und 8 % Großbritannien genannt. Er verstehe, wenn die USA die Truppenpräsenz reduzierten. Aber es wäre – auch aus amerikanischer Sicht – ein schwerer Fehler, die Truppen völlig zurückzuziehen. Über die 3 Der britische PM Major kündigte am 11. März 1992 Wahlen zum Unterhaus für den 9. April 1992 an. 4 In Italien fanden am 5./6. April 1992 Wahlen zur Abgeordnetenkammer und zum Senat statt. Bei der Wahl zur Abgeordnetenkammer fiel die Democrazia Cristiana (DC) auf 29,7 % der Stimmen, die Sozialistische Partei (PSI) erzielte 14,3 % der Stimmen, die Liberale Partei (PLI) 2,7 %, die Sozialdemokratische Partei (PSDI) 2,7 %, die Lega Nord 8,7 %, die Partei der Linken (PDS) 16,1 % und die Neofaschisten (MSI) 5,4 % der Stimmen. BR I Wendler, Rom, analysierte am 6. April 1992: „Besonders die Christdemokraten sind die großen Verlierer der Wahlen, da sie erstmals in ihrer Geschichte unter die 30 v. H.-Grenze gerutscht sind. […] Eine neue politische Landschaft ist entstanden, aber keine Alternative zur bisherigen Koalitionsregierung. Die Gewinner haben kein Programm, mit dem sie die vielschichtigen Probleme des Landes lösen könnten; sie vereint nur der Protest.“ Vgl. DB Nr. 383; B 26, ZA-Bd. 173556. 5 In Frankreich fanden am 22. und 29. März 1992 Regionalwahlen statt. 6 Am 2. April 1992 trat die französische MPin Cresson zurück. Zu ihrem Nachfolger ernannte der französische Staatspräsident Mitterrand am selben Tag den bisherigen FM Bérégovoy. 7 Am 5. April 1992 fanden Landtagswahlen in Baden-Württemberg und Schleswig-Holstein statt. In BadenWürttemberg erzielte die CDU 39,6 % der Stimmen, die SPD 29,4 %, die Republikaner 10,9 %, Die Grünen 9,5 % und die FDP/DVP 5,9 %. MP Teufel (CDU) bildete am 11. Juni 1992 eine Koalition mit der SPD. In Schleswig-Holstein erzielte die SPD 46,2 % der Stimmen, die CDU 33,8 %, die DVU 6,3 %, die FDP 5,6 %, Die Grünen 4,9 % und der SSW 1,9 %. MP Engholm (SPD) setzte die SPD-Alleinregierung fort. 8 Zur Tarifauseinandersetzung im Öffentlichen Dienst vgl. Dok. 140, Anm. 3.

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Größenordnung könne man reden. Mulroney habe mit dem totalen Rückzug9 einen Fehler gemacht. Die USA sollten im Auge behalten, dass Europa nicht nur militärisch, sondern auch politisch immer interessanter werde. 2) Der Bundeskanzler erläutert sodann anhand eines der amerikanischen Seite überreichten Papiers (Anlage 110) unsere Haltung zu den GATT-Verhandlungen. Er unterstreicht, dass er selber keine Verhandlungen führen wolle. Es gehe um einen Gedankenaustausch. Man müsse sich darüber im Klaren sein, dass die Sache nicht leichter werde, wenn man die Verhandlungen vertage. Schwierigstes Kapitel sei die Landwirtschaft. Der Bundeskanzler erläutert hierzu anhand des Papiers die drei entscheidenden Problembereiche und erklärt, man müsse jetzt einen Kompromiss finden. Hierbei sei auch eine enge Zusammenarbeit zwischen den Mitarbeitern wichtig. Er verabredet mit Präsident Bush, dass MD Feiter erneut zu Fachgesprächen nach Washington kommt (evtl. 30. März 1992). Ein Erfolg der GATT-Runde sei für die Weltwirtschaft und nicht zuletzt für die Länder der Dritten Welt von größter Bedeutung. Präsident Bush erklärt, auch die amerikanische Seite wolle die Verhandlungen zum Erfolg führen. Dies liege in jedermanns Interesse. Natürlich beeinflusse der Wahlkampf11 die Flexibilität seiner Regierung. Das deutsche Papier sei nicht ohne politische Probleme im Hinblick auf die amerikanische Innenpolitik. Die amerikanische Seite habe die „Safe-Box“ als Kompromiss vorgeschlagen und sei der Auffassung, dass man damit ein größeres Zugeständnis gemacht habe. Man sei bereit, auch noch weiter zu gehen. Bei Cornglutenfeed habe man jedoch erhebliche Probleme. Dies sei das einzige Produkt, dessen Export steige. Dies sei eine für ihn politisch harte Sache. Der Bundeskanzler unterstreicht, dass es nicht darum gehe, die Importe der Substitute einzuschränken, sondern einzufrieren. Im Gegenzug müsse die EG dann die Weizenimporte absenken. Delors habe beispielsweise von einer Rückführung von 20 Mio. auf 15 Mio. Tonnen gesprochen. Präsident Bush wirft ein, in Den Haag habe Delors 12 Mio. Tonnen genannt.12 AM Baker erklärt, Delors habe ihm gegenüber davon gesprochen, dass man eine Rückführung um 15 % statt der in dem Dunkel-Papier13 geforderten 24 % anbieten könne, und fügt hinzu, dies alles schaffe erhebliche Probleme in den USA. Man versuche, die Unterschiede zu überbrücken. Allerdings hätten die einzelnen Mitgliedstaaten der EG auch unterschiedliche Interessen. Für die USA sei das Dunkel-Papier im Landwirtschaftsteil ziemlich akzeptabel. Es stelle eine Grundlage dar, von der man nur schwer wegkomme. Mit der von den USA akzeptierten „Safe-Box“ vermeide die EG praktisch jegliche Einschnitte bei den internen Stützungen, während die USA derartige Einschnitte vornehmen (auf meine 9 Zum Abzug der kanadischen Truppen aus Europa vgl. Dok. 60, besonders Anm. 5. 10 Dem Vorgang beigefügt. Für das undatierte Non-paper „GATT-Verhandlungen“ vgl. BArch, B 136, Bd. 59730. 11 In den USA fanden am 3. November 1992 Präsidentschaftswahlen, Wahlen zum Repräsentantenhaus sowie Teilwahlen zum Senat und für die Gouverneursämter statt. 12 Der amerikanische Präsident Bush erörterte am 9. November 1991 den Stand der GATT-Verhandlungen mit EG-Kommissionspräsident Delors und dem niederländischen MP Lubbers in dessen Eigenschaft als EG-Ratspräsident. Vgl. das amerikanische Gesprächsprotokoll; https://bush41library.tamu.edu/archives/ memcons-telcons. 13 Zum „Dunkel-Papier“ vom 20. Dezember 1991 vgl. Dok. 6, Anm. 3.

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Rückfrage erläutert AM Baker, dass er damit Einkommensstützungen meine). Man habe damit eine wichtige Konzession gemacht. Man habe alternativ vorgeschlagen, jegliche Änderungen an den internen Stützungen für zwei Jahre zu verschieben, solange man darin einig sei, dass man in diesem Zeitraum über weitere Reduzierungen verhandele. Das Hauptproblem bestehe in einem Abgehen von dem Dunkel-Papier. Der Bundeskanzler weist darauf hin, dass die EG den Dunkel-Text nie akzeptiert habe. Im Übrigen wolle er deutlich sagen, dass es sich um eine gemeinsame Position der EG-Staaten handele. Herr Gompert (NSC) weist darauf hin, dass die Europäische Kommission den Hauptakzent auf die Einkommenssubventionen lege. Daher habe man sich in der Safe-Box auf diese Frage konzentriert. Dies sei in der Tat eine entscheidende amerikanische Konzession. Es sei unter diesen Umständen schwierig, bei den Substituten auch noch Konzessionen zu machen. Der Bundeskanzler weist darauf hin, dass die EG ihrerseits erhebliche Konzessionen bei Weizenexporten mache. Der Bundeskanzler trägt sodann anhand des beigefügten internen Papiers (Anlage 214) die Überlegung vor, dass die EG dann mehr Weizen exportieren könne, wenn die USA die Exporte von Substituten steigerten. Dies bedeute im Ergebnis, dass die Importe von Substituten und die künftigen Weizenexporte sich gegenseitig bedingten. Über diese Frage solle man nachdenken. AM Baker erklärt, das größte Problem bestehe darin, dass man sich mit einem solchen Ansatz vom Kontext des Dunkel-Vorschlages wegbewege. Die Frage sei daher, ob sich der Vorschlag des Bundeskanzlers in den Kontext des Dunkel-Papieres einfügen lasse. Der Bundeskanzler erklärt, dies müsse man prüfen. Hierüber könne man auf informellem Wege sprechen. Präsident Bush stimmt dem zu. 3) Der Bundeskanzler überreicht sodann ein Memorandum zur UNCED-Konferenz in Rio de Janeiro.15 Er fügt hinzu, dass dieses Thema auch für die Wahlen Relevanz haben dürfte. Es sei wichtig, dass man auch im Hinblick auf die UNCED-Konferenz eng zusammenarbeite. Die zuständigen Mitarbeiter sollten den Kontakt halten. Präsident Bush greift diesen Gedanken auf und erklärt, es liege eine Reihe Punkte schon sehr nah beieinander. Das gelte u. a. für die Konvention zur Erhaltung der Wälder. Hauptproblem für die USA sei, dass man die Folgen für die Wirtschaft im Auge behalten müsse. Im Übrigen wolle man keine große Rechnung auf dem Tisch haben. Die Frage des amerikanischen Präsidenten, ob der Bundeskanzler selbst an der Konferenz teilnehmen werde, bejaht dieser. Präsident Bush erklärt, für ihn sei dies ein ungünstiger Zeitpunkt. Der Bundeskanzler rät Präsident Bush, wenn möglich teilzunehmen, auch um den Eindruck zu vermeiden, dass in dieser Frage zwischen Europa und den USA Meinungsverschiedenheiten bestünden. Der Bundeskanzler weist ebenfalls darauf hin, dass man sich in vielen Punkten bereits einig sei. Das gelte sowohl für die Klima-Rahmenkonvention und die Konvention über die geologische Vielfalt wie auch für die Grundsätze für die Haltung und Bewirtschaftung der Wälder. Natürlich werde es beim Geld Krach geben, zumal die Dritte Welt die vorgesehene globale Umweltfazilität umfunktionieren wolle. 14 Dem Vorgang beigefügt. Für die Vorlage des MD Feiter, Bundeskanzleramt, z. Z. Washington, vom 21. März 1992 vgl. BArch, B 136, Bd. 59730. 15 Zur VN-Konferenz über Umwelt und Entwicklung (UNCED) vom 3. bis 14. Juni 1992 vgl. Dok. 177.

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Präsident Bush weist noch einmal darauf hin, dass er Terminprobleme habe und auch die Stimmung zu Hause beachten müsse. Man habe in den USA vor allem ein Problem bei CO2. Man müsse darauf achten, dass man hier aufgrund von wissenschaftlichen Fakten agiere. Hierzu erwarte er noch Ergebnisse einer Arbeitsgruppe. Seines Wissens seien auch die G 7 nicht mit den Vorschlägen zur Erhöhung der globalen Umweltfazilität einverstanden. Der Bundeskanzler weist darauf hin, dass die Zeitachse hierbei eine wichtige Rolle spiele, und diese könne man flexibel gestalten. 4) Zum Weltwirtschaftsgipfel in München16 weist der Bundeskanzler auf die Diskussionen bei den Sherpas hin.17 Wenn es Probleme gebe, könne man hierüber am Telefon sprechen. Präsident Bush erinnert an das Problem der Einladung Jelzins. Dieser habe ihn angerufen und gebeten, die Frage mit dem Bundeskanzler aufzunehmen.18 Vielleicht solle man so verfahren wie letztes Jahr mit Gorbatschow in London.19 Er sei sich in dieser Frage aber noch nicht sicher. Der Bundeskanzler erklärt, er werde Jelzin am Telefon sagen, dass diese Frage erst in einigen Wochen entschieden werden könne.20 Dies sei auch wichtig, weil man jetzt noch nicht wisse, wie im Mai der Zustand der GUS sei und wie sich beispielsweise die Ukraine verhalten werde. Deshalb solle man diese Frage später entscheiden. Präsident Bush weist darauf hin, dass Jelzin sehr sensibel reagiere, wenn man ihn mit Gorbatschow vergleiche. Er sei einverstanden, die Frage bis Ende April/Anfang Mai zu vertagen. AM Baker stimmt zu und erklärt, dass es besser sei, jetzt zu warten. Dann müsse man Kriterien für eine eventuelle Teilnahme Russlands entwickeln, die eine Unterscheidung zwischen Russland einerseits und den anderen GUS-Staaten, aber auch Ländern wie Polen oder den Niederlanden möglich mache. Beispielsweise könne der IWF Kriterien erarbeiten, die auf die wirtschaftliche Bedeutung und Größe Russlands abstellten. 5) Bei dem dann folgenden Mittagessen werden aktuelle außenpolitische Fragen erörtert. Präsident Bush spricht die Frage der Vierer-Konferenz über Nuklearwaffen an.21 Die französische Seite dränge nachhaltig darauf, bald eine Konferenz auf Ministerebene einzuberufen. Die amerikanische Seite sei ihrerseits nur bereit, Gespräche auf hoher Beamtenebene zu führen. Gegen die Gespräche gebe es insbesondere von italienischer Seite erheblichen Widerstand. Der Bundeskanzler erklärt, wir hätten gegen derartige Gespräche nichts einzuwenden. 16 Zum Weltwirtschaftsgipfel vom 6. bis 8. Juli 1992 vgl. Dok. 225. 17 Zum Treffen der Persönlichen Beauftragten für den Weltwirtschaftsgipfel („Sherpas“) vom 28. Februar bis 1. März 1992 in Kronberg im Taunus vgl. Dok. 13, Anm. 24. 18 Der amerikanische Präsident Bush und der russische Präsident Jelzin führten am 19. März 1992 ein Telefongespräch. Vgl. die Pressemitteilung vom selben Tag; PUBLIC PAPERS, BUSH 1992-93, S. 473. 19 Im Anschluss an den Weltwirtschaftsgipfel vom 15. bis 17. Juli 1991 in London traf sich der sowjetische Präsident Gorbatschow, der sich vom 17. bis 19. Juli 1991 in Großbritannien aufhielt, mit den Staats- und Regierungschefs der G 7-Staaten. Zum Weltwirtschaftsgipfel vgl. AAPD 1991, II, Dok. 249. Für das Gespräch mit Gorbatschow vgl. das amerikanische Gesprächsprotokoll; https://bush41library.tamu. edu/archives/memcons-telcons. Für die russischen Gesprächsvermerke vgl. GORBATSCHOW, Sobranie, Bd. 27, S. 13–92. 20 Für das Telefongespräch des BK Kohl mit dem russischen Präsidenten Jelzin am 23. März 1992 vgl. Dok. 83. 21 Zur amerikanischen Zustimmung zu einer Konferenz der Nuklearstaaten vgl. Dok. 40, Anm. 8.

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Anschließend erläutert AM Baker kurz die zugespitzte Lage in Nagorny Karabach und weist auf die Notwendigkeit hin, Druck auf Armenien auszuüben. Zu Irak erklärt Präsident Bush, man werde jetzt abwarten, ob der Irak seine jüngsten Zusagen bezüglich der Vernichtung von Trägersystemen einhalte. Zu Israel weist Präsident Bush darauf hin, dass er in der Frage der Kreditbürgschaften hart bleiben werde.22 Er habe hierfür starke Unterstützung in der amerikanischen Bevölkerung. (General Scowcroft erklärt zusätzlich dem Unterzeichner, dass Präsident Bush auch bereit sei, sein Veto gegen einen möglichen Gesetzentwurf im Kongress einzulegen, wenn dieser die bisherige Haltung der amerikanischen Regierung in diesen Verhandlungen unterlaufe.) Der Bundeskanzler erklärt, dass wir ebenfalls mit israelischen Forderungen in erheblicher Höhe konfrontiert seien23 und uns in dieser Frage weiterhin mit der amerikanischen Seite eng abstimmen würden. Nach dem Mittagessen wird das Gespräch über aktuelle außenpolitische Fragen fortgesetzt. AM Baker weist darauf hin, dass die USA beabsichtigen, am 6. April 1992 Slowenien, Kroatien sowie Bosnien-Herzegowina förmlich anzuerkennen, wenn die EG ebenfalls die entsprechenden Beschlüsse fasse bzw. gefasst habe. Der Bundeskanzler weist zu Südafrika darauf hin, dass man alles tun sollte, um Präsident de Klerk zu unterstützen. Präsident Bush stimmt dem nachdrücklich zu. Er weist darauf hin, dass die amerikanische Seite bereit sei, die noch bestehenden Sanktionen aufzuheben. Der Bundeskanzler erklärt, dies werde auch seitens der EG geschehen.24 Auf die entsprechende Frage des Bundeskanzlers erklärt Präsident Bush, die amerikanische Truppenpräsenz in Europa werde keine große Rolle im Wahlkampf spielen. Allerdings sei diese Frage insofern ein Thema, als die Demokraten weitere Einschnitte bei dem Verteidigungshaushalt vornehmen und parallel dazu die Truppen substanziell reduzieren wollten. Seiner Meinung nach sei es nicht Wunsch der amerikanischen Bevölkerung, die Truppen völlig zurückzuziehen. Man spreche derzeit über die richtige Größenordnung. General Scowcroft fügt hinzu, dass man möglicherweise unter 150 000 zurückgehen müsse. Der Bundeskanzler wiederholt, dass es aus seiner Sicht eine große Torheit wäre, wenn die Amerikaner sich aus Europa völlig zurückziehen würden. Er wolle jetzt nicht über Zahlen streiten. Man dürfe allerdings nicht bei einer rein symbolischen Zahl stehen bleiben, die nicht mehr glaubhaft wäre, aber dazwischen gebe es sicher eine Reihe Möglichkeiten. 22 Zur Frage amerikanischer Kreditbürgschaften für Israel vgl. Dok. 80, Anm. 9. 23 Zu den deutsch-israelischen Finanzbeziehungen vgl. Dok. 37 und Dok. 108. 24 VLR I Daerr erläuterte am 20. März 1992, die von der EG 1986 beschlossenen restriktiven Maßnahmen gegen Südafrika seien in zwei Schritten aufgehoben worden: „Verbot neuer Investitionen in Südafrika: Aufhebung durch EG im Dezember 1990; Importverbote für Eisen, Stahl und Goldmünzen: förmliche Aufhebung durch den Rat am 27.1.1992, nachdem Dänemark Anfang Januar 1992 seinen Vorbehalt gegen den Aufhebungsbeschluss der EG-AM vom 15.4.1991 zurückgezogen hatte. Die 1985 beschlossenen restriktiven Maßnahmen (Waffenembargo, Verbot der militärischen Zusammenarbeit, Verbot des Exports sensitiver Ausrüstungsgegenstände, Ölembargo, Verbot der neuen nuklearen Zusammenarbeit, Einfrieren der Kontakte im Sicherheitsbereich, ,Konditionierung‘ der Kultur-, Wissenschafts- und Sportkontakte) sind dagegen bis heute in Kraft.“ Die USA hätten ihre Sanktionen gegen Südafrika fast völlig aufgehoben. Betroffen sei nur noch der Zugang Südafrikas zum IWF. Vgl. B 34, ZA-Bd. 155802.

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6) Der Bundeskanzler erläutert sodann die weitere Entwicklung in Europa, insbesondere im Bereich des Binnenmarktes und der Erweiterung. Es sei fest davon auszugehen, dass Schweden25, Finnland26, Norwegen27 und Österreich28 – möglicherweise auch am Ende die Schweiz29 – der EG beitreten würden. Dann werde es allerdings zu einer erheblichen Pause kommen, bevor man an einen Beitritt der ČSFR, Ungarns und Polens denken könne. Bei dieser Entwicklung sei es außerordentlich wichtig, dass die USA in Europa und Deutschland präsent seien. In diesem Zusammenhang unterstreicht der Bundeskanzler noch einmal die Bedeutung der deutsch-amerikanischen Akademie der Wissenschaften30 und schlägt vor, hierauf auch im Wahlkampf hinzuweisen. Er sei im Übrigen überzeugt, dass Frankreich seine Position bezüglich der NATO langsam verändern werde. Dies sei sogar bei Präsident Mitterrand spürbar. Seine Überlegungen beispielsweise zum deutsch-französischen Korps gingen deutlich in diese Richtung. Er habe über diese Frage auch lange mit Chirac gesprochen.31 Präsident Bush wiederholt, dass er sich nachdrücklich für eine vernünftige Größenordnung bei der amerikanischen Truppenpräsenz einsetzen werde. Er werde dies auch in der Pressekonferenz ansprechen. AM Baker erklärt, er freue sich zu hören, dass die französische Haltung zur NATO sich ändere. Er habe allerdings den Eindruck, dass diese Änderung bisher kaum erkennbar sei. Die Diskussion mit Frankreich sei nach wie vor sehr schwierig. Wenn es Leute in Europa gebe, die die amerikanische Truppenpräsenz nicht wünschten oder glaubten, dass die USA sich zurückziehen würden, dann sei dies gefährlich, zumal daraus eine „self-fulfilling prophecy“ werden könne. Jedes Mal, wenn man in Brüssel in der NATO von deren Stärkung oder politischen Rolle spreche, verhalte sich Frankreich negativ. Dies mache das Gespräch so schwierig. Man müsse doch klar sehen, dass ohne die NATO für die USA keine Grundlage für die Präsenz ihrer Truppen in Europa gegeben sei. Auf eine entsprechende Frage des amerikanischen Präsidenten erklärt der Bundeskanzler, dass der deutsche Teil beim deutsch-französischen Korps selbstverständlich der NATO zugeordnet bleibe. Auf die Frage des Präsidenten nach den französischen taktischen Nuklearwaffen erklärt der Bundeskanzler, hierüber gebe es zwar auch in seiner eigenen Partei eine gewisse Auf25 Schweden stellte am 1. Juli 1991 einen Antrag auf EG-Beitritt. 26 Zum finnischen Antrag auf EG-Beitritt vgl. Dok. 84, besonders Anm. 3. 27 Zu einem möglichen EG-Beitrittsantrag Norwegens vgl. Dok. 229. 28 Österreich stellte am 17. Juli 1989 einen Antrag auf EG-Beitritt. Vgl. AAPD 1989, II, Dok. 214. 29 Die Schweiz stellte am 20. Mai 1992 einen Antrag auf EG-Beitritt. 30 VLR I Wagner notierte am 3. Juli 1992, BK Kohl habe „als Teil seiner im Juli 1988 der Öffentlichkeit vorgestellten Initiative zur Intensivierung der Wissenschaftskooperation zwischen Deutschland und den USA“ die Gründung einer deutsch-amerikanischen Akademie der Wissenschaften vorgeschlagen. Bei einem ersten Treffen der in den USA und in der Bundesrepublik eingesetzten Arbeitsgruppen am 29. Mai 1992 in Washington habe das BMFT angekündigt, „ab sofort Haushaltsmittel für die Akademie bereitzustellen. Der hierfür vorgemerkte Betrag wird bis zum Jahre 1996 auf einen jährlichen Zuschuss in Höhe von 10 Mio. DM ansteigen und v. a. für die Finanzierung von Forschungsvorhaben, zu einem kleineren Teil als Betriebsmittel der Akademie Verwendung finden.“ Vgl. B 32, ZA-Bd. 179568. 31 BK Kohl führte am 24. Februar 1992 ein Gespräch mit dem Vorsitzenden des französischen RPR, Chirac, in dessen Zentrum die innenpolitische Situation Frankreichs, die Haltung zum Vertragswerk von Maastricht sowie die Arbeit der EVP-Fraktion im Europäischen Parlament standen. Vgl. BArch, B 136, Bd. 59747.

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regung, aber er sei über die französischen Raketen nicht weiter beunruhigt, zumal diese eine völlige Fehlinvestition ohne militärischen Sinn darstellten.32 AM Baker weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass Frankreich versuche, der KSZE über einen Sicherheitsvertrag eine neue Qualität zu geben.33 Wenn man die KSZE auf eine Vertragsgrundlage stelle, werde sie der NATO ähnlich. Dies würden die USA nicht mitmachen, zumal damit gewisse Sicherheitsgarantien bis zur chinesischen Grenze verbunden wären. Diese Frage habe er auch mit BM Genscher besprochen, und er gehe davon aus, dass wir uns in diesem Punkte einig seien. II. Fortsetzung des Gesprächs am Sonntag, dem 22. März 1992. 7) Präsident Bush wirft noch einmal die Frage auf, wie ein Hilfsprogramm für Russland aussehen könne. Die Frage sei außerordentlich kompliziert für alle, besonders für die Vereinigten Staaten von Amerika. Der Bundeskanzler erwidert, man müsse unterscheiden zwischen dem, was die Russen tun müssten, und dem, was wir tun könnten. Der entscheidende Punkt sei, dass die Verantwortlichen in der früheren Sowjetunion begreifen müssten, dass sie sich selber helfen müssten. Wir müssten unsererseits alles vermeiden, was nach Vormundschaft aussehe. Andererseits sei es beispielsweise eine Katastrophe, dass die drei baltischen Staaten jeder für sich eine eigene Währung und eigene Zollbestimmungen eingeführt hätten und auch Infrastrukturmaßnahmen beispielsweise im Energiesektor getrennt durchführten. So sei es sinnvoll, das einzig vorhandene Kernkraftwerk in Litauen zu modernisieren. Hierüber hätten Finnland, Norwegen und Dänemark bereits ein Programm in Höhe von 100 Mio. US-Dollar entworfen, an dem wir uns beteiligen würden. Dazu komme, dass die Beziehungen zwischen Russen und Ukrainern sehr schlecht seien und dass die anderen Republiken sich aus Angst vor Dominanz abwehrend gegen die beiden Großen verhielten. Vor allem hätten die Republiken keine Ahnung, wie man die Wirtschaft in Gang bringe. Deshalb komme es jetzt vor allem darauf an, die internationalen Finanzinstitutionen zu mobilisieren. Unsere bilateralen Finanzierungsmöglichkeiten seien an die Grenze gelangt. Präsident Bush erklärt, in der Tat habe Deutschland viel getan. Beim IWF gebe es eine „general authority to borrow“, der 28 Mrd. US-Dollar zur Verfügung stünden. Die Finanzminister sollten darüber sprechen, wie dieser Fonds genutzt werden könne. Eine andere Frage sei, was man hinsichtlich der Reformen in der früheren SU tun könne. Der Bundeskanzler erklärt, zunächst müsse man wissen, was die jeweiligen Republiken wollten. Krawtschuk bewege sich sehr viel langsamer in der Reformpolitik als Jelzin. Gorbatschow habe ihm im Übrigen mitgeteilt, dass Krawtschuk sich beim Staatsstreich im vergangenen August34 sehr zögerlich verhalten habe. 32 Zum französischen nuklearen Kurzstreckensystem Hades vgl. zuletzt AAPD 1991, I, Dok. 14. Oberst i. G. Speidel, Paris, erläuterte am 27. Februar 1992 im „Jahresbericht 1991“, trotz Protesten in der Bundesrepublik sei der Bau von Hades nicht unterbrochen worden: „Allerdings wurde der Umfang von ursprünglich 120 über 60 auf jetzt 30 Systeme deutlich zurückgenommen und eine Einlagerung statt der Aufstellung angeordnet.“ Vgl. den Einzelbericht des Militärattachéstabs Paris Nr. 18/92; B 14, ZA-Bd. 161176. 33 Zum französischen Vorschlag eines gesamteuropäischen Sicherheitsvertrags vgl. Dok. 87. 34 Vom 19. bis 21. August 1991 kam es in der UdSSR zum Putschversuch durch ein „Staatskomitee für den Ausnahmezustand“. Vgl. AAPD 1991, II, Dok. 266–269, Dok. 271, Dok. 272, Dok. 274–276 und Dok. 284.

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Auf unserer Seite komme es jetzt darauf an, die verschiedenen Aktivitäten besser zu koordinieren. Dies gelte einmal für die internationalen Organisationen. Aber man könne auch die Sherpas in dieser Frage stärker aktivieren. Präsident Bush erklärt, was die bilateralen finanziellen Möglichkeiten angehe, so sei er der gleichen Auffassung. Man müsse den Schwerpunkt auf die internationalen Finanzorganisationen legen. Auch hier sei es schwierig für ihn, entsprechende Vorschläge durch den Kongress zu bringen. Andererseits werde auch in den USA mehr und mehr erkannt, dass ein Erfolg in den GUS wichtig sei für die Durchsetzung der Demokratie.35 Er werde im Übrigen Jelzin sagen, dass er im Energiesektor mehr tun müsse. Der Bundeskanzler äußert Verständnis für die amerikanischen Probleme und gibt zu überlegen, der amerikanischen Öffentlichkeit gegenüber deutlich zu machen, dass man an einem ähnlichen Neuanfang stehe wie 1945. Präsident Bush erwidert, dies tue man bereits. Man arbeite im Augenblick an einem Hilfsprogramm. Der Bundeskanzler und der Präsident einigen sich sodann, ihre gemeinsame Haltung in dieser Frage auch gegenüber der Presse heute deutlich zu machen.36 Dabei solle man auch die Unterstützung Jelzins unterstreichen. Präsident Bush erklärt, er habe kürzlich eine Kolumne in einer großen amerikanischen Zeitung gelesen, in der behauptet worden sei, dass die amerikanische Regierung Jelzin bereits aufgegeben habe. Dies sei verheerend gewesen. Der Bundeskanzler schlägt vor, dass sich der deutsche und amerikanische Sherpa37 zusammensetzen und informell die Frage des Hilfsprogramms für Russland und die anderen GUS-Staaten vorbesprechen sollten. Präsident Bush stimmt dem zu und fügt hinzu, hierbei solle auch die Frage der Einladung an Jelzin geprüft werden. Der Bundeskanzler wiederholt, er gehe davon aus, dass Jelzin in irgendeiner Form teilnehmen werde. Er werde dies Jelzin morgen auch am Telefon sagen, allerdings die Frage der Modalitäten der Teilnahme noch offenlassen. Hierüber müsse man auch noch mit den anderen G 7-Partnern reden. Präsident Bush erklärt, das Hauptproblem werde Krawtschuk sein, der unbedingt kommen wolle. Der Bundeskanzler stimmt dem zu und erklärt, dann werde allerdings auch Polen die gleiche Forderung stellen. Präsident Bush erklärt, man müsse darauf hinweisen, dass Russland eben wirtschaftlich und politisch eine besondere Größe sei. Vielleicht könne man sich hierbei auf die Ideen von AM Baker abstützen. General Scowcroft wirft ein, man dürfe allerdings nicht vergessen, dass die Wirtschaft Chinas zurzeit bedeutender sei als die Russlands. [8)] Präsident Bush äußert sich besorgt darüber, dass die G 7 sich möglicherweise zu sehr ausweite. Der Bundeskanzler stimmt dem zu und erklärt, die Gesamtentwicklung sei aus seiner Sicht falsch. Er frage sich beispielsweise, warum die Außenminister tagen müssten, um sich zu allen möglichen Fragen der Weltpolitik zu äußern. Präsident Bush wirft ein, dies ziehe sofort Forderungen anderer Ressortminister nach. Der Bundeskanzler gibt Auftrag, einen Brief an Staatssekretär Köhler zu schreiben, der die Bitte enthalte, die Themen auf dem bevorstehenden Wirtschaftsgipfel radikal zu kürzen. 35 Zur internationalen Finanzhilfe für Russland vgl. Dok. 100, Anm. 7. 36 Für die Pressekonferenz des amerikanischen Präsidenten Bush und des BK Kohl am 22. März 1992 in Camp David vgl. PUBLIC PAPERS, BUSH 1992-93, S. 483–490. Vgl. zudem die Ausführungen von Kohl am 23. März 1992 vor der Bundespressekonferenz; BULLETIN 1992, S. 309–311. 37 Horst Köhler und Robert Zoellick.

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Ferner werde er sich in den nächsten Tagen an alle Regierungschefs der G 7 wenden und den gleichen Vorschlag machen. Man brauche mehr Zeit für informelle Gespräche.38 Präsident Bush erklärt, er begrüße dieses Konzept nachdrücklich. Vor allem brauche man nicht endlos lange Kommuniqués. Der Bundeskanzler weist darauf hin, dass Präsident Mitterrand ähnlich denke und wahrscheinlich auch PM Major und PM Mulroney. Lediglich die Japaner sähen dies anders. Für sie seien die G 7 ein Ersatz für die Mitgliedschaft in der EG und NATO. Präsident Bush stimmt zu und erklärt, er habe darüber bereits mit Kaifu lange gesprochen. 9) Präsident Bush stellt sodann die Frage, wie die Erweiterung der EG vonstatten gehen werde, was möglicherweise nicht lösbare Probleme aufwerfe. Der Bundeskanzler erwidert, diese Probleme seien nicht unlösbar, insbesondere wenn man an die Erweiterung um die EFTA-Staaten denke, die bis 1995 abgeschlossen sein könnte. Auf die entsprechende Frage des amerikanischen Präsidenten erklärt der Bundeskanzler, die Türkei werde definitiv nicht Mitglied der EG.39 Man müsse allerdings einen vernünftigen Assoziationsstatus für die Türkei finden. Zu einem späteren Zeitpunkt werde man dann auch den Beitritt Polens, der Tschechoslowakei und Ungarns in Angriff nehmen. Der Bundeskanzler fährt fort, eine aktive Rolle von Großbritannien und Deutschland gegenüber den USA sei besonders wichtig für das amerikanisch-europäische Verhältnis. Die deutsche Rolle werde hierbei auch dazu beitragen, gewisse Ängste kleinerer europäische Nachbarstaaten gegenüber Deutschland abzubauen. Wenn die amerikanischen Wahlen vorbei seien, solle man über langfristige Aspekte der Zusammenarbeit sprechen. Er wolle im Übrigen noch hinzufügen, dass eine europäische Präsenz in den USA auch wichtig als Gegengewicht zu Japan sei. Auf die entsprechende Frage des Präsidenten erklärt der Bundeskanzler, er glaube nicht, dass sich ein Labour-Premierminister in EG-Fragen anders verhalten werde als die derzeitige Regierung. Er werde vielleicht in Fragen der Sozialpolitik aktiver sein. Die Gegner einer zu starken Integration in Großbritannien könnten die Entwicklung nicht aufhalten. Das wirkliche Leben spiele sich im Wirtschaftsbereich ab. Seit Maastricht40 gebe es kein Zurück mehr in der Europäischen Gemeinschaft. Die Amerikaner sollten auf diese Entwicklung setzen. 10) Auf die entsprechende Frage des Bundeskanzlers erklärt Präsident Bush, das Hauptproblem im Wahlkampf sei für ihn die Wirtschaftslage. Dies spiegele sich deutlich in den Umfragen wider. Die Strategie der Demokraten laufe darauf hinaus, ihn, den Präsidenten, für die wirtschaftlichen Probleme verantwortlich zu machen. 38 In dem Schreiben vom 31. März 1992 an den amerikanischen Präsidenten Bush, das gleichlautend an die übrigen Staats- und Regierungschefs der G 7-Staaten ging, unterstrich BK Kohl seine Absicht, „bei unserem Zusammentreffen im Juli mehr Zeit für intensive Gespräche zwischen den Staats- und Regierungschefs vorzusehen. Dabei ist es mir ein wichtiges Anliegen, unsere Diskussion auf wenige und die wirklich globalen Themen zu konzentrieren. Dies sollte es uns ermöglichen, die Politische Erklärung und die Wirtschaftserklärung des Gipfels deutlich zu straffen und auf zentrale Anliegen zu begrenzen.“ Der Schwerpunkt des Treffens solle liegen auf: „1) Lage und Perspektive der Weltwirtschaft. 2) Entwicklung in der früheren Sowjetunion und den Reformländern Mittel-, Ost- und Südosteuropas. 3) Situation in den Entwicklungsländern.“ Vgl. B 52, ZA-Bd. 174521. Für einen weiteren Auszug vgl. Dok. 105, Anm. 12. 39 Die Türkei stellte am 14. April 1987 einen Antrag auf EG-Beitritt. Vgl. AAPD 1987, I, Dok. 93 und Dok. 136, sowie AAPD 1987, II, Dok. 218, und AAPD 1988, I, Dok. 74. 40 Zum Vertragswerk von Maastricht vgl. Dok. 3, Anm. 8.

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Auf die entsprechende Frage des Bundeskanzlers nach der Rolle der Außenpolitik erklärt Präsident Bush, im Herbst würden außenpolitische Fragen erheblich an Gewicht gewinnen. In der amerikanischen Bevölkerung herrsche der Eindruck vor, dass die derzeitigen Probleme in der Wirtschaft auch mit der internationalen Rolle der USA zu tun hätten. Man frage sich, warum man nach dem Kollaps des Kommunismus noch weiterzahlen solle. Es gebe eine Strömung des Isolationismus im Lande. Im Augenblick sei die Lage für ihn in der Tat schwierig. Wenn aber die wirtschaftlichen Daten sich wieder verbesserten, werde sich die Stimmung ändern. Auf die entsprechende Frage des Bundeskanzlers, wer Vizepräsident bei den Demokraten werden könnte, erklärt Präsident Bush, dies könnten entweder Cuomo oder Tsongas werden. Das größte Problem für Clinton sei der inzwischen veröffentlichte Brief, mit dem er sich dem Wehrdienst entzogen habe.41 Der Bundeskanzler weist abschließend darauf hin, dass er am 5. Mai 1992 in New York vor amerikanischen Zeitungsherausgebern sprechen werde.42 Er werde bei dieser Gelegenheit auch die Rolle des Präsidenten in der internationalen Politik der letzten Jahre würdigen. Der Bundeskanzler schlägt vor, dass man die entsprechenden Passagen seiner Rede mit dem Weißen Haus abstimme. Präsident Bush und der Bundeskanzler beauftragen General Scowcroft und den Unterzeichner mit der Abstimmung. BArch, B 136, Bd. 59730

83 Telefongespräch des Bundeskanzlers Kohl mit dem russischen Präsidenten Jelzin 23. März 19921 Telefongespräch des Herrn Bundeskanzlers mit dem Präsidenten der Russischen Föderation, Boris N. Jelzin, Montag, 23. März 1992, 9.27 – 9.50 Uhr Nach freundschaftlicher Begrüßung erkundigt sich der Bundeskanzler, wie es Präsident Jelzin gehe und wie die Dinge in Russland stünden. 41 Nachdem die amerikanische Tageszeitung „Wall Street Journal“ am 6. Februar 1992 berichtet hatte, der demokratische Präsidentschaftskandidat und Gouverneur von Arkansas, Clinton, habe sich 1969 als RhodesStipendiat in Oxford dem Wehrdienst entzogen, veröffentlichte der amerikanische Fernsehsender ABC am 12. Februar 1992 ein Schreiben des damals 22-Jährigen vom 3. Dezember 1969 in dieser Angelegenheit. Für Clintons Schreiben und seine Stellungnahme in der ABC-Sendung „Nightline“ vgl. https://www.pbs.org/ wgbh/pages/frontline/shows/clinton/etc/draftletter.html. Vgl. ferner CLINTON, My life, S. 388 f. 42 BK Kohl hielt sich am 4./5. Mai 1992 in New York auf. Für seine Rede am 5. Mai 1992 vor der Jahresversammlung der American Newspaper Publishers Association vgl. BULLETIN 1992, S. 425–428. 1 Kopie. Der Gesprächsvermerk wurde von MDg Kaestner, Bundeskanzleramt, am 23. März 1992 gefertigt und am selben Tag von MD Hartmann, Bundeskanzleramt, über BM Bohl an BK Kohl „mit der Bitte um Ge-

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Präsident Jelzin antwortet scherzhaft mit einem russischen Sprichwort: Es gehe mal schlecht, mal sehr schlecht. Das Treffen der Staatschefs der GUS-Staaten in Kiew2 sei – entgegen dem in der Presse erweckten Eindruck – das erfolgreichste der bisherigen sechs Treffen dieser Art gewesen. Man habe eine Rechtsgrundlage für vereinte Streitkräfte geschaffen und auch alle anderen Abkommen, die die Armee beträfen, unter Dach und Fach. Er – Jelzin – hoffe aufgrund dieses Ergebnisses, dass die GUS sich weiter festigen und vorankommen werde. Parallelgespräche habe er mit den Präsidenten Krawtschuk/Ukraine und Nasarbajew/ Kasachstan geführt. Dabei habe Krawtschuk ihm hinsichtlich der taktischen Raketen (sic) bestätigt, dass die Ukraine diese bis zum 1. Juli an Russland übergeben werde, aber an der Kontrolle ihrer Vernichtung beteiligt sein wolle.3 Anderslautende Pressemeldungen seien – so Krawtschuk ihm gegenüber – falsch. Hinsichtlich der Wirtschaftsreformen – so Jelzin weiter – laufe alles nach den Zeitplänen, die man sich vorgenommen habe. Mit den Maßnahmenkatalogen, die man den Experten des IWF übermittelt habe, seien diese vollkommen zufrieden. Im April werde man nunmehr die restlichen Preise freigeben, darunter für Treib- und Brennstoffe und andere Rohstoffe. Was die Stimmung in der Bevölkerung angehe, so erdulde das Volk die Maßnahmen, wenn auch nur mit Mühe. Größere Streiks seien ausgeblieben, bei lokalen Streiks hätten sich einige Hunderte, im Höchstfall 2000 – 3000 Menschen beteiligt.

Fortsetzung Fußnote von Seite 344 nehmigung“ geleitet. Dazu vermerkte Hartmann: „Ich gehe davon aus, dass der Vermerk nicht außer Hauses weitergegeben wird, erbitte jedoch Ihre Zustimmung, dass die von Präsident Jelzin angesprochenen Sachthemen mit den Ressorts aufgenommen werden.“ Vgl. den Begleitvermerk; BArch, B 136, Bd. 59730. Vgl. ferner KOHL, Erinnerungen 1990 – 1994, S. 432–434. 2 Zur Gipfelkonferenz der GUS-Mitgliedstaaten am 20. März 1992 teilte VLR Mülmenstädt am 23. März 1992 mit: „Die acht Staaten (RF, Weißrussland, Armenien und die zentralasiatischen Staaten), die sich im Februar in Minsk auf vereinte GUS-Streitkräfte geeinigt hatten, konkretisierten in verschiedenen Abkommen die militärische Kooperation.“ Gemeinsame Grenztruppen sollten die äußeren Staatsgrenzen schützen. Alle Mitgliedstaaten hätten erneut eine Erklärung über die Nichtanwendung und Androhung von Gewalt untereinander unterzeichnet und „die Schaffung eines militärischen Beobachterkorps und einer friedlichen Eingreiftruppe zur Streitschlichtung innerhalb der GUS“ vereinbart. Keine Einigung sei erzielt worden über die Nutzung des Luftraums, die Behandlung des START-Vertrags sowie die Verlegung taktischer Nuklearwaffen aus der Ukraine nach Russland: „Am Rande des Gipfels vereinbarten Jelzin und Krawtschuk, eine aus Vertretern von der RF, der Ukraine, Weißrussland und Kasachstan zu besetzende Kommission zur Überwachung des Abtransportes und der Vernichtung von Atomwaffen zu schaffen.“ Die Aufteilung des Höchststärkenanteils von KSE-vertragsbegrenztem Gerät sei offengeblieben. Vgl. DE Nr. 1 an BM-Delegation; B 41, ZA-Bd. 158732. 3 VLR I Boden teilte der Botschaft in Kiew am 16. März 1992 mit, Presseberichten zufolge habe der ukrainische Präsident Krawtschuk die Aussetzung des Abzugs taktischer Nuklearwaffen für zwei bis drei Monate mit politischen Instabilitäten in Russland begründet sowie mit Russlands unzureichenden Kapazitäten zur Nuklearwaffenzerstörung: „Die Ukraine denke eventuell daran, sich mit westlicher Hilfe ebenfalls entsprechende Einrichtungen zur Vernichtung von Nuklearwaffen zu schaffen, um diese dann unter internationaler Kontrolle abzuwickeln.“ Im Prinzip wolle die Ukraine „am Datum des 1.7.1992 für Gesamtabzug aller taktischen Nuklearwaffen nach Russland festhalten“. Vgl. DE Nr. 3119; B 43, ZA-Bd. 228355.

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Präsident Jelzin drückt sodann seine Zufriedenheit über den Erfolg des russisch-deutschen Weltraumfluges4 aus und regt an, über gemeinsame Weltraumforschung – über das bestehende Abkommen5 hinausgehend – einen Regierungsvertrag abzuschließen. Hinsichtlich des Wirtschaftsgipfels München6 richte er sich an den Bundeskanzler als Koordinator des Treffens mit der Erwartung, dass er eingeladen werde, wobei der Bundeskanzler die Frage, ob am Anfang oder am Ende, mit den übrigen Gipfelpartnern entscheiden möge. Der Bundeskanzler antwortet zunächst mit prinzipiellen Bemerkungen: Für ihn sei es wichtig, dass zwischen Deutschland und Russland sich möglichst enge und freundschaftliche Beziehungen entwickelten. Russland sei ein großes, wichtiges, bedeutendes Land, das im Rahmen der Republiken der ehemaligen SU die entscheidende Rolle spiele. Was für beide Länder gelte, solle auch zwischen ihm und dem Präsidenten so sein: möglichst enge, freundschaftliche Beziehungen. Er – der Bundeskanzler – würde es deshalb sehr begrüßen, wenn man – ungeachtet der normalen Entwicklung der Beziehungen – in regelmäßigen Abständen, etwa alle drei Wochen, miteinander telefonieren könnte; sollte etwas Wichtiges vorfallen, möge man sofort zum Telefonhörer greifen. Zu den von Präsident Jelzin angesprochenen Themen führt der Bundeskanzler aus: – Er begrüße, dass auf dem GUS-Treffen in Kiew bedeutsame Fortschritte erzielt worden sind. – Insbesondere die Regelung der zukünftigen Streitkräfte sei für alle von größter Bedeutung, da dies auch Konsequenzen für die notwendigen Entscheidungen hinsichtlich des KSE- und des START-Vertrages habe. – Er hoffe sehr, dass die Wirtschaftsreformen in der Russischen Föderation in der vom Präsidenten gewünschten Richtung vorankämen. – Hinsichtlich des Wirtschaftsgipfels München werde man mit Sicherheit eine Einigung finden. Er habe soeben mit Präsident Bush in Camp David über die Thematik gesprochen – sie seien beide einig, dass Präsident Jelzin am Gipfel teilnehmen sollte.7 Er – der Bundeskanzler – werde nunmehr mit den anderen Gipfelpartnern reden. Er bitte Präsident Jelzin jedoch, diese Frage zunächst nicht in der Öffentlichkeit zu behandeln. Der Bundeskanzler betont sodann erneut, dass er großen Wert auf enge, freundschaftliche Zusammenarbeit mit dem Präsidenten lege. Er sei nachdrücklich an seinem Erfolg interessiert, denn dies sei für alle von größter Bedeutung, für die Sicherung des Friedens und die Wahrung der Stabilität. 4 VLR I Fulda notierte am 25. März 1992: „Mit der Rückkehr des deutschen Astronauten Klaus-Dietrich Flade und zweier russischer Kosmonauten von der Raumstation Mir ist heute die erste Weltraummission nach Gründung der GUS erfolgreich abgeschlossen worden.“ Dem Start der Sojus TM-14-Rakete am 17. März 1992 auf dem Weltraumbahnhof im kasachischen Baikonur habe BM Riesenhuber beigewohnt. Vgl. B 73, ZA-Bd. 163030. 5 Für das am 5. Juli 1990 in Kraft getretene Abkommen vom 25. Oktober 1988 zwischen dem BMFT und der Akademie der Wissenschaften der UdSSR über die wissenschaftlich-technische Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Erforschung und Nutzung des Weltraums zu friedlichen Zwecken vgl. BGBl. 1990, II, S. 801–803. 6 Zum Weltwirtschaftsgipfel vom 6. bis 8. Juli 1992 vgl. Dok. 225. 7 Für die Gespräche des BK Kohl mit dem amerikanischen Präsidenten Bush am 21./22. März 1992 vgl. Dok. 82.

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Präsident Jelzin dankt für diese ermutigenden Worte und erklärt sich mit dem vom Bundeskanzler vorgeschlagenen Prozedere zum Wirtschaftsgipfel München einverstanden. Sodann lenkt er die Aufmerksamkeit des Bundeskanzlers auf die vom Präsidenten der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung, Jacques Attali, ergriffene Initiative: Kopplung der Vernichtung von nuklearen Raketen und anderer Nuklearwaffen mit einer Reduzierung der russischen Auslandsschuld.8 Dadurch werde – zusätzlich zur menschlichen und politischen Verpflichtung – ein wirtschaftlicher Zwang geschaffen, diese Waffen so schnell wie möglich zu beseitigen. Er selbst – Jelzin – habe vor kurzem im Forschungszentrum Asana 16 mit Wissenschaftlern über Verfahren zur schnellstmöglichen Beseitigung der Nuklearwaffen der ehemaligen Sowjetunion gesprochen. Hinsichtlich der Wolga-Deutschen – so Präsident Jelzin weiter – werde er in der Presse kritisiert, weil er angeblich seine Position geändert habe.9 Er wolle dem Bundeskanzler von Mann zu Mann sagen: Dies treffe nicht zu. Selbstverständlich werde es zu einer Autonomie kommen, er habe kürzlich ein entsprechendes Dekret unterzeichnet.10 Er bitte jedoch den Bundeskanzler um Verständnis, dass – nachdem dieses Problem nun schon 50 Jahre einer Lösung harre – man noch etwas Zeit brauche, etwa ein halbes oder ein ganzes Jahr. Auch der Frage nach dem Verbleib Erich Honeckers wolle er nicht ausweichen: Honecker befinde sich noch in der chilenischen Botschaft, und von russischer Seite kontrolliere man die Sache, wie er dem Bundeskanzler bereits versprochen habe, sehr genau.11 Honecker habe ihn bereits viermal brieflich gebeten, ihm die Ausreise nach Chile oder in ein anderes Land zu ermöglichen. Er – Jelzin – sei gegen diese Lösung. Vielmehr werde die Frage nur gelöst werden, wenn man Honecker überzeuge, dass er doch nach Deutschland reise. Wenn die chilenische Botschaft ihn an die russische Seite übergebe, dann werde man ihn auf unmittelbarem Wege mit einer Sondermaschine nach Deutschland ausfliegen. Auf russischem Territorium werde er jedenfalls nicht leben können. Er – Jelzin – glaube, man solle aktiver mit der chilenischen Führung sprechen, vielleicht auch der Bundeskanzler. 8 EBRD-Exekutivdirektor Winkelmann, London, teilte dem BMF am 11. Dezember 1991 mit: „Bei einem Frühstück von Präsident Attali mit den G 7-Direktoren präsentierte Attali den beiliegenden Vorschlag für eine Übernahme der Schulden der SU in Höhe von $ 60 Mrd. durch einen zu gründenden Fonds gegen die Übergabe und spätere Zerstörung des SU-Atombomben-Arsenals. Der zu gründende Fonds soll durch Beiträge der G 7-Länder und der EG primär gespeist werden. Der Fonds würde darüber hinaus Schuldscheine (Zehn-Jahres-Papier), die von den G 7 garantiert sind, ausgeben, um damit Schulden der SU bei den privaten Banken zu einem zu vereinbarenden Abschlag (40 %) aufzukaufen. Davon […] wären hauptsächlich die deutschen Banken betroffen.“ Vgl. die FK; B 43, ZA-Bd. 160758. 9 Vgl. die Äußerungen des russischen Präsidenten Jelzin am 8. Januar 1992 in Saratow; Dok. 20, Anm. 6. 10 Botschafter Blech, Moskau, nahm am 3. März 1992 Stellung zum Dekret des russischen Präsidenten Jelzin vom Vortag „über dringende Maßnahmen zur Rehabilitierung der Russlanddeutschen“: Zwar gebe es erstmals „eine durch den Präsidenten Russlands erlassene Rechtsgrundlage für die etappenweise Errichtung deutscher staatlicher Strukturen im Wolga-Gebiet“, aber die entscheidende Perspektive einer Republik, wie sie in Ziffer 12 der Gemeinsamen Erklärung von BK Kohl und Jelzin vom 21. November 1991 genannt werde, fehle. Jegliche zeitlichen, geographischen oder demographischen Festlegungen seien vielmehr vermieden worden. Vgl. DB Nr. 1019; B 41, ZA-Bd. 148740. 11 Zum Fall Honecker vgl. Dok. 29.

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Der Bundeskanzler wirft ein, er stehe mit der chilenischen Regierung in intensivem Kontakt. Er habe unmissverständlich zum Ausdruck gebracht, dass es absolut zwingend sei, dass Honecker die Botschaft verlasse und es dann auch – im Sinn dessen, was Präsident Jelzin gesagt habe – zu seiner Überstellung nach Deutschland komme. Es sei absolut garantiert, dass hier ein fairer Prozess gegen ihn geführt werde. Auf dieser prinzipiellen Position müsse er bestehen. Präsident Jelzin ist einverstanden und verspricht dem Bundeskanzler persönlich, dass, sobald Honecker die chilenische Botschaft verlasse, er innerhalb von ein bis zwei Stunden mit Sonderflugzeug nach Deutschland gebracht werde. Der Bundeskanzler dankt für diese Zusage. Präsident Jelzin spricht sodann sein Schreiben an den Bundeskanzler vom 3. d. M. in Sachen Bernsteinzimmer an und fragt, ob der Bundeskanzler sich mit der Angelegenheit vertraut gemacht habe.12 Der Bundeskanzler bestätigt dies – die Sache werde zurzeit geprüft.13 Präsident Jelzin erklärt abschließend sein Einverständnis, in Zukunft häufiger mit dem Bundeskanzler zu telefonieren, um Informationen auszutauschen und sich über schwierige Probleme zu beraten. Der Bundeskanzler schlägt vor, dass noch vor Ostern14 ein weiteres Telefongespräch stattfindet. Präsident Jelzin ist einverstanden. Freundschaftliche Verabschiedung, gute Wünsche. BArch, B 136, Bd. 59730 12 VLR Stüdemann notierte am 2. Januar 1991: „Bei dem ‚Bernsteinzimmer‘ (bernsteinverzierte Wandpaneele von rd. 41 qm) handelt es sich um ein Geschenk des preußischen Königs Friedrich Wilhelm I. an Zar Peter den Großen. Das Zimmer wurde 1755 im Katharinenpalais von Zarskoje Selo bei Leningrad eingebaut und 1942 während der Belagerung Leningrads von deutschen Stellen in das Königsberger Schloss gebracht, dort erneut aufgebaut und zur Besichtigung freigegeben. Im August 1944 brannte das Schloss beim Luftangriff auf Königsberg aus. Rechtzeitig vorher konnte das Bernsteinzimmer jedoch abgebaut und in Kellergewölben des Schlosses gelagert werden. Von dort verliert sich die Spur. Indizien deuten darauf hin, dass es auch in das Gebiet der heutigen Bundesrepublik Deutschland gelangt sein könnte.“ Vgl. B 90, ZA-Bd. 208900. Am 11. März 1992 übermittelte VLR I Schäfers, Bundeskanzleramt, VLR I Reiche ein Schreiben des russischen Präsidenten Jelzin an BK Kohl, in dem angeregt wurde, „die Suche nach dem Bernsteinzimmer gemeinsam zu betreiben.“ Vgl. B 90, ZA-Bd. 208900. 13 VLR I Pieck legte am 6. April 1992 den Entwurf eines Antwortschreibens des BK Kohl vor und notierte dazu, der russische Präsident Jelzin habe „während seines letztjährigen Deutschlandbesuchs behauptet, er kenne den Aufbewahrungsort des Bernsteinzimmers“, ohne dies jedoch zu konkretisieren. Jelzins Vorschlag, „mit der Suche nach dem Bernsteinzimmer eine eigens eingesetzte Gemischte DeutschRussische Kommission zu beauftragen, lässt offen, ob es sich bei dieser Kommission um diejenige handeln soll, deren Gründung wir mit Note vom 2.9.1991 und zwei Folgenoten vorgeschlagen hatten“. Wegen „seiner vagen Formulierungen“ sei das Schreiben „lediglich als Zeichen dafür zu werten, dass in Russland auch auf höchster politischer Ebene ein Interesse an einer Zusammenarbeit bei der Lösung der Rückführungsprobleme besteht.“ Vgl. B 90, ZA-Bd. 208900. VLR Kraemer übermittelte der Botschaft in Moskau am 29. April 1992 „mit der Bitte um Weiterleitung“ das auf 28. April 1992 datierte Antwortschreiben Kohls an Jelzin. Darin hieß es: „Es freut mich, dass Sie den von deutscher Seite auf diplomatischem Wege unterbreiteten Vorschlag aufnehmen, eine Gemischte Deutsch-Russische Kommission mit den Nachforschungen und der anschließenden Rückführung möglichst aller kriegsbedingt verlagerten Kulturgüter beider Seiten zu beauftragen.“ Vgl. B 41, ZA-Bd. 158782. 14 19./20. April 1992.

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84 Gespräch des Bundesminister Genscher mit dem finnischen Außenminister Väyrynen in Helsinki 23. März 19921 Aufenthalt von Bundesminister Genscher in Helsinki am 23./24. März 1992 anlässlich der Eröffnung der vierten KSZE-Folgekonferenz2; hier: Gespräch des Bundesministers mit Außenminister Väyrynen Am Abend des 23. März 1992 fand ein etwa 20-minütiges Gespräch des BM mit Außenminister Väyrynen statt, um das Väyrynen gebeten hatte. Außenminister Väyrynen lag vor allem daran, die Einschätzung des BM zum EG-Mitgliedsantrag Finnlands3 und seiner weiteren Behandlung zu erfahren. BM legte dar, dass wir uns in Deutschland aus mehreren Gründen über die Absicht Finnlands, der EG als Mitglied beizutreten, freuten. Wir hielten es für wichtig, dass ein Land, dem wir uns freundschaftlich verbunden fühlten, mit uns als voller Partner in der EG an der Gestaltung Europas mitarbeite. Wir seien aber auch der Ansicht, dass der europäische Norden in Europa nicht abseitsstehen dürfe; ohne den Norden bestehe die Gefahr, dass die Gemeinschaft eine Schlagseite nach Süden hin erhalte. Deutschland sei schließlich auch der Auffassung, dass innerhalb der EG in Zukunft die Entwicklung regionaler Zusammenarbeitsstrukturen von besonderer Bedeutung sein werde. In diesem Rahmen werde der Ostseeraum eine wichtige Rolle zu spielen haben. Deutschland werde sich auch dafür einsetzen, dass der finnische Antrag zügig und möglichst zusammen mit den Anträgen Österreichs4 und Schwedens5 behandelt wird. Finnland sei ebenso wie Österreich und Schweden von seiner wirtschaftlichen Struktur und Ausrichtung her für einen Beitritt zur Gemeinschaft gut vorbereitet. AM Väyrynen begrüßte diese Erläuterungen und dankte nochmals ausdrücklich für das Gespräch mit BM Mitte Januar ds. Js.6, das für die weiteren Entscheidungen innerhalb der finnischen Regierung in der EG-Beitrittsfrage von großer Bedeutung gewesen sei. Die damalige Begegnung habe wesentlich mitgeholfen, Zweifel daran zu beseitigen, dass für Finnland und seine Probleme ausreichend Verständnis in der Gemeinschaft vorhanden 1 Der Gesprächsvermerk wurde von Botschafter Bazing, Helsinki, mit DB Nr. 140 vom 22. März 1992 an das Auswärtige Amt übermittelt. Hat VLR I Haak vorgelegen. 2 Zur vierten KSZE-Folgekonferenz vom 24. März bis 8. Juli 1992 sowie zur Gipfelkonferenz am 9./10. Juli 1992 vgl. Dok. 226. 3 Finnland reichte am 18. März 1992 einen Antrag auf EG-Mitgliedschaft ein, nachdem das finnische Parlament am selben Tag mit 133 Ja- zu 62 Nein-Stimmen den EG-Beitrittswunsch der Regierung gebilligt hatte. Vgl. den Vermerk des VLR I Kaufmann-Bühler vom 20. März 1992; B 221, ZA-Bd. 177683. 4 Österreich stellte am 17. Juli 1989 einen Antrag auf EG-Beitritt. Vgl. AAPD 1989, II, Dok. 214. 5 Schweden stellte am 1. Juli 1991 einen Antrag auf EG-Beitritt. 6 BM Genscher und der finnische AM Väyrynen führten am 15. Januar 1992 ein Gespräch, in dessen Mittelpunkt ein EG-Beitritt Finnlands und dessen Folgen für die finnische Neutralität sowie Landwirtschaftsfragen standen. Weitere Themen waren der KSZE-Prozess und die bilateralen Beziehungen. Vgl. den Gesprächsvermerk; B 1, ZA-Bd. 178913.

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23. März 1992: Gespräch zwischen Genscher und Väyrynen

sei. AM Väyrynen äußerte dann seine Sorge über die Vorstellungen der Kommission zur Dauer der Beitrittsverhandlungen; er empfinde diesen Zeitplan als zu lang. BM sagte, dass auch wir erst noch Näheres von der Kommission hierzu erfahren wollten.7 Das Thema werde auch im Europäischen Rat Anfang April besprochen werden.8 AM Väyrynen sprach dann die Lage in Russland und den anderen Nachfolgestaaten der SU an. Die Hilfe zum Aufbau in den GUS-Staaten werde nicht von Europa alleine kommen können. Seien hierzu positive Beschlüsse auf der nächsten Tagung der führenden Industrienationen zu erwarten?9 BM betonte die Bedeutung, die dem Einverständnis der USA zur Einladung Jelzins zu diesem Treffen zukomme. Freilich könne man heute noch nicht sagen, wieweit sich die amerikanische Haltung auch in finanzieller Hinsicht bewegen werde. Insgesamt sehe er in der Administration heute etwas mehr Aufgeschlossenheit für die Notwendigkeit rascher und wirksamer Unterstützung der Reformen. Hieran schloss sich ein kurzer Meinungsaustausch beider Minister zur KSZE an. AM Väyrynen stimmte der Auffassung des BM zu, dass die KSZE mit der Folgekonferenz in Helsinki in eine neue Phase trete. Es geht nicht mehr wie früher vor allem um die Festlegung und die Formulierung von Prinzipien; vielmehr müsse die operative Fähigkeit der KSZE im Blick auf Friedensbewahrung und Krisenmanagement gestärkt werden. Anzustreben sei, die KSZE zu einer Abmachung gemäß Kap. VIII der VN-Charta10 zu machen. Beide Minister stimmten in der Auffassung überein, dass die Herstellung eines Sicherheitsraums von Vancouver bis Wladiwostok, wie dies durch den Open-Skies-Vertrag11 geschehe, von größter Bedeutung sei. Beide Minister unterstrichen anschließend die Wichtigkeit weiterhin enger Kontakte mit den USA gerade auch im Rahmen der KSZE. B 28, ZA-Bd. 158709

7 Vgl. das Gespräch des BM Genscher mit dem Vizepräsidenten der EG-Kommission, Andriessen, am 7. April 1992; Dok. 102. 8 Auf der Tagung am 6. April 1992 in Luxemburg beschloss der EG-Ministerrat, das vertraglich vorgesehene Verfahren zum EG-Beitritt Finnlands einzuleiten. Vgl. BULLETIN DER EG 4/1992, S. 65. 9 Zum Weltwirtschaftsgipfel vom 6. bis 8. Juli 1992 in München vgl. Dok. 225. 10 Für Kapitel VIII der VN-Charta vom 26. Juni 1945 vgl. BGBl. 1973, II, S. 466–469. 11 Zum Open-Skies-Vertrag vom 24. März 1992 vgl. Dok. 85.

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23. März 1992: Runderlass von Bettzuege

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85 Runderlass des Vortragenden Legationsrats I. Klasse Bettzuege 012-9-370.26 VS-NfD Fernschreiben Nr. 19 Ortez Betr.:

23. März 19921 Aufgabe: 25. März 1992

Unterzeichnung des „Open-Skies“-Vertrags am 24.3.19922

I. Zu Beginn des KSZE-Folgetreffens in Helsinki am 24.3.19923 wurde von den Außenministern der 24 Open-Skies-Vertragsstaaten das in viermonatiger Verhandlungsdauer ausgearbeitete Abkommen über ein Regime des „Offenen Himmels“ („Open Skies“) unterzeichnet. Der „Open-Skies“-Vertrag schafft den Rahmen für die Luftbeobachtung des Territoriums der Teilnehmerstaaten zwischen Vancouver und Wladiwostok. Nach Überwindung der Teilung Europas ist er das erste Vertragsergebnis eines neuentwickelten kooperativen Sicherheitsverständnisses der Vertragsstaaten und zugleich Ausdruck eines Sicherheitsverbundes, der über Europa hinausreicht, indem er das gesamte Gebiet Russlands und Nordamerikas erfasst. Die Verhandlungen waren seit ihrer Wiederaufnahme Anfang November 1991 insofern beispielhaft, als zum ersten Mal in der Geschichte der Rüstungskontrolle Russland nicht als Gegner behandelt wurde. Wenn immer die russische Delegation ein ernstes Anliegen vorbrachte, zeigten die Partner Bereitschaft, konstruktiv darauf einzugehen. In Ergänzung der bisherigen Beobachtungsmöglichkeiten mit Satelliten, die nur wenigen Staaten zur Verfügung stehen, bietet die Luftüberwachung durch mit Sensoren ausgestattete Flugzeuge einen kooperativen Ansatz und die folgenden Vorteile: – einen nach Wahl des Zeitpunkts, der zu überwachenden Region, der Flugroute und der Flughöhe flexiblen Einsatz über große Entfernungen, – eine hohe Wirksamkeit der Überwachung aufgrund der vielfältigen und den unterschiedlichen Sichtbedingungen Rechnung tragenden Sensoren (optische und Videokameras, Infrarot- und Radarsensoren) mit angemessenem Auflösungsvermögen, – im Vergleich zu Satelliten wesentlich niedrigere Kosten und – eine für alle beteiligten Staaten gleiche, zeitverzugsarme Verfügbarkeit der bei den Überwachungsflügen ermittelten Daten. Als Beitrag zur Offenheit und Transparenz ist der Open-Skies-Vertrag auf Erfassung militärischer Aktivitäten angelegt. Künftig kann seine Nutzung auf die Verifikation rüstungskontrollpolitischer Vereinbarungen, namentlich des KSE-Vertrages, auf die Konfliktverhütung und das Krisenmanagement sowie auch auf den Umweltschutz ausgeweitet werden. II. Im Einzelnen Das umfangreiche Vertragswerk (ca. 190 Schreibmaschinenseiten) besteht aus dem Vertragstext mit 19 Artikeln und zwölf Annexen. Die wichtigsten Bestimmungen sind: 1 Der Runderlass wurde von VLR Drautz konzipiert. 2 Für den Open-Skies-Vertrag (Vertrag über den Offenen Himmel) vom 24. März 1992 und die zugehörigen Dokumente vgl. BGBl. 1993, II, S. 2047–2160. 3 Vom 24. März bis 8. Juli 1992 fand in Helsinki die vierte KSZE-Folgekonferenz statt, an die sich am 9./10. Juli 1992 eine Gipfelkonferenz anschloss. Vgl. Dok. 226.

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– Artikel III, der die Überflugquoten regelt. Er ist wesentlich von uns beeinflusst, namentlich durch die in Anlehnung an den KSE-Vertrag vorgenommene Unterscheidung zwischen aktiven und passiven Quoten und das in Artikel III Absatz 2 aufgenommene Konzept der „Gruppen von Staaten“. Zu einer derartigen Gruppe haben sich die WEU-Staaten zusammengeschlossen. Die Anzahl der jährlich zulässigen Überflüge wird in Annex A zu Artikel III aufgeführt. Sie beträgt z. B. für die USA und Russland/Belarus 42, für D, F, UK und I jeweils zwölf. Die Überflugquoten sind in den ersten drei Jahren auf 75 Prozent der Quoten beschränkt. Die Verteilung der aktiven Quoten wird jährlich im Konsens neu festgelegt. Grundlegendes Verteilungsprinzip für die Aktivquoten ist der Grundsatz der Reziprozität. Die Flüge sind in Abhängigkeit zur Größe des beobachteten Landes und der Anzahl von festgelegten Flugplätzen auf bestimmte Maximalentfernungen begrenzt. – Artikel IV – Sensoren: Die Sensorausstattung der Flugzeuge besteht in der nach drei Jahren zu erreichenden Endstufe aus einer Reihe von optischen bzw. Videokameras, einem SAR-Radar4 sowie Infrarotsensoren. Bis dahin werden die Flugzeuge mit geringerwertigen Geräten ausgestattet sein. – Artikel V – Flugzeugdesignierung: Jeder Staat kann ein oder mehrere bei ihm registrierte Flugzeugtypen als Observierungsflugzeuge bestimmen, die nach einem in den Annexen C und D festgelegten Verfahren zugelassen und überprüft werden. – Artikel VI und Artikel VIII: Wahl des Observierungsflugzeuges und Durchführung des Fluges. Nur aus Gründen der Flugsicherheit kann ein Observierungsflug abgelehnt bzw. können Änderungen des vorgelegten Flugplans verlangt werden. Die Flüge werden in der Regel mit Flugzeugen des beobachtenden Staates durchgeführt. Das zu beobachtende Land hat jedoch das Recht, seinerseits das Observierungsflugzeug bereitzustellen. Eine entsprechende Kostenregelung wird noch in der Open-Skies-Beratungskommission zu vereinbaren sein. – Artikel IX regelt u. a. die Weitergabe von den ermittelten Rohdaten an andere Vertragsstaaten. – Artikel X sieht die Errichtung einer Beratungskommission „Offener Himmel“ (OSCC) vor, welche die Implementierung, die Einhaltung und die Interpretation des Vertrages überwacht und die Entscheidung über Beitrittsanträge trifft. In einem Kompromiss ist festgelegt, dass die Kommission „die Nutzung der Einrichtungen und Verwaltungsunterstützung des Konfliktverhütungszentrums oder von anderen in Wien bestehenden Institutionen in Anspruch nimmt, es sei denn, sie bestimmt etwas anderes“. – Artikel XVII ist wegen der in ihm enthaltenen Beitrittsklausel und deren Bedeutung für den Beitrittswunsch Zyperns und anderer neutraler Staaten eine zentrale Bestimmung des Vertrages. Sein Absatz 4 regelt, dass binnen sechs Monaten nach Inkrafttreten solche KSZE-Staaten, die nicht originäre Vertragsstaaten sind, beitreten können. Absatz 5 sieht vor, dass nach Ablauf von sechs Monaten nach Inkrafttreten auch andere Staaten (z. B. Japan oder China) auf Einladung dem Vertrag beitreten können. Ähnlich wie im KSE-Vertrag musste die Lösung einer Reihe von Fragen verschoben werden. Sie wurde der „Open Skies Consultative Commission“ übertragen, die bereits am 2.4.1992 erstmals zusammentreten wird. 4 Synthetic Aperture Radar.

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III. Die Zahl der Erstunterzeichner (24) ergibt sich aus der Entwicklung der Verhandlungen, die auf Vorschlag von Präsident Bush5 im Februar 1990 in Ottawa als Verhandlungen zwischen der NATO und dem Warschauer Pakt begonnen hatten.6 Nach einer zweiten Verhandlungsrunde in Budapest (April/Mai 1990) wurden sie wegen grundlegender Meinungsverschiedenheiten zwischen der Sowjetunion und den anderen Verhandlungspartnern vertagt.7 Die KSE-Verhandlungen unternahmen in der zweiten Hälfte 1990 ihrerseits einen ergebnislosen Anlauf, wesentliche Open-Skies-Elemente im Rahmen eines KSE-Luftinspektionsregimes zu verhandeln. Der KSE-Vertrag, speziell die massive Verbringung von vertragsbegrenztem Gerät aus der europäischen Sowjetunion nach jenseits des Urals, gab aber 1991 den Anstoß für intensive Bemühungen um die Wiederaufnahme von Open Skies (u. a. forderte Bundesminister Genscher im Namen der WEU den damaligen sowjetischen Außenminister Schewardnadse zu einer Wiederaufnahme von Open Skies auf8). Nach einer exploratorischen Runde im September 1991 wurden die Verhandlungen – wegen des Sachzusammenhangs mit VKSE – in Wien Anfang November 1991 wiederaufgenommen. Der konstruktive und zügige Verhandlungsverlauf ist in erster Linie auf die von uns initiierte enge Zusammenarbeit von RF, US, UK, F und D zurückzuführen. Die fünf Delegationsleiter trafen sich ein- bis zweimal wöchentlich. Ihre Delegationen haben durch Übernahme der Koordinatorfunktion für informelle Arbeitsgruppen die Hauptlast der Verhandlungen getragen. Der Beitrag der deutschen Delegation bestand einmal in der konzeptionellen Lösung des Quotenproblems, die vor allem für die Erfassung der Nachfolgestaaten der SU wichtig ist. Ohne Etablierung einer Gruppe der WEU-Staaten wäre aber auch eine akzeptable allgemeine Aufteilung der Aktivquoten kaum möglich gewesen. Die Delegation hatte ferner die Koordinatorenfunktion für alle mit den Flugregeln zusammenhängenden Fragen sowie für die Kostenfrage. Die Schlüsselfrage der Verhandlungsführung, die durch den Wunsch Zyperns nach Teilnahme und die Ablehnung dieses Wunsches durch TUR entstand, wurde in der Weise gelöst, dass die Verhandlungen weitestgehend im informellen Rahmen stattfanden. Die beitrittswilligen Staaten nahmen auf Grundlage eines verbesserten Beobachterstatus teil, der ihnen ein Rederecht in den Plenarsitzungen gewährte. Die in Artikel XVII gefundene Beitrittslösung wird bei der Unterzeichnung des Vertrages in Helsinki durch eine von den Außenministern zu verabschiedende „KSZE-Deklaration zum Vertrag Offener Himmel“9 ergänzt, die Finnland eingebracht hat. Kernpunkt ist, dass beitrittswillige Staaten trotz ihrer Nichtzugehörigkeit an der Implementierung des Vertrags beteiligt werden. 5 Zum Open-Skies-Vorschlag des amerikanischen Präsident Bush vom 12. Mai 1989 vgl. dessen Rede an der „Texas A & M University“ in College Station; PUBLIC PAPERS, BUSH 1989, S. 540–543. Für den deutschen Wortlaut vgl. EUROPA-ARCHIV 1989, D 331–334 (Auszug). Vgl. auch AAPD 1989, II, Dok. 312. 6 Zu den Open-Skies-Verhandlungen zwischen den NATO- und Warschauer-Pakt-Staaten vom 12. bis 27. Februar 1990 in Ottawa vgl. AAPD 1990, I, Dok. 62. 7 Die zweite Runde der Open-Skies-Verhandlungen zwischen den NATO- und Warschauer-Pakt-Staaten fand vom 23. April bis 10. Mai 1990 in Budapest statt. 8 Mit Schreiben vom 29. Juli 1991 bat BM Genscher als WEU-Ratspräsident den sowjetischen AM Bessmertnych um eine positive Antwort auf die Vorschläge der NATO-Mitgliedstaaten vom April 1991 zur Wiederaufnahme der Open-Skies-Verhandlungen. Vgl. DE Nr. 1337 des Botschafters Holik vom selben Tag; B 1, ZA-Bd. 178933. 9 Für die Erklärung vom 24. März 1992 vgl. https://www.osce.org/mc/16146.

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24. März 1992: Vorlage von Elbe

Den neuen Nachfolgerepubliken der SU, die bisher nicht an den Vertragsverhandlungen teilgenommen hatten, wird eingeräumt, jederzeit die Unterzeichnung vornehmen zu können. Bettzuege B 5, ZA-Bd. 161325

86 Vorlage des Ministerialdirektors Elbe für Bundesminister Genscher 24. März 19921 Über Herrn Staatssekretär2 Herrn Bundesminister3 Kurzfassung Betr.:

Probleme und Perspektiven der EG-Erweiterung; hier: Konsequenzen der Erweiterung um mitteleuropäische Staaten (P4, H, ČSFR) auf die Erweiterungs-Strategie

Zweck der Vorlage: Zur Information 1) Westeuropa steht unter Erfolgszwang: Die EG muss in der entstehenden gesamteuropäischen Architektur durch ihre Erweiterungs-Strategie gegenüber den EFTA-Staaten, noch mehr jedoch für die mittel-, ost- und südosteuropäischen Staaten, den wichtigsten materiellen Baustein liefern. Die Erweiterung könnte aber schon bald kontrovers werden. In der Gemeinschaft stehen wir zusammen mit GB5 als ausgesprochene Befürworter der Erweiterung fast allein. Für uns stehen die Erkenntnis über die Risiken der Nicht­Erweiterung und die Kalkulation über die Vorteile der Erweiterung für die politische Stabilität der europäischen Ordnung im Mittelpunkt der Überlegungen. Darüber hinaus sind die langfristig für uns und Europa zu erwartenden wirtschaftlichen Vorteile zu bedenken. Außerdem müssen wir weiterhin daran interessiert sein, unsere bisher schon beträchtliche bilaterale Hilfe an die osteuropäischen Staaten durch Lastenteilung zu „vergemeinschaften“. Fast alle anderen MS befürchten aber durch die Erweiterung eher eine Relativierung ihres politischen Einflusses, geographische Marginalisierung und verringerte materielle Transferleistungen. Ihre Haltung ist deshalb insgeheim eher ablehnend. 1 Die Vorlage wurde von VLR I Hauswedell konzipiert. 2 Hat StS Lautenschlager am 27. März 1992 vorgelegen. 3 Hat BM Genscher am 19. April 1992 vorgelegen. Hat OAR Rehlen am 27. April 1992 vorgelegen, der den Rücklauf über das Büro Staatssekretäre an den Planungsstab verfügte. Hat VLR I Reiche am 27. April 1992 vorgelegen. 4 Polen. 5 An dieser Stelle vermerkte StS Lautenschlager handschriftlich: „wobei GB z. T. andere Motive hat.“

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24. März 1992: Vorlage von Elbe

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2) Durch die Maastrichter Entscheidungen6 haben wir uns (aus guten Gründen) zusammen mit den Partnern für die Priorität Vertiefung vor Erweiterung bekannt. Aber dadurch haben wir auch die Hürden für den Beitritt höher gelegt. Da die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen erst nach Lösung der Finanzprobleme der EG erfolgen soll, wird politischer Druck notwendig sein, um sie prioritär zu behandeln. Es besteht die Befürchtung, dass kleinere und ärmere MS sich die Erweiterung gegen entsprechende Ausstattung der Kohäsions- und Regionalfonds „abkaufen“ lassen möchten. 3) Während der Beitritt von EFTA-Staaten7 noch zu einer Entlastung der bisherigen großen Netto-Zahler führen wird, dürfte schon die Erweiterung um die drei mitteleuropäischen Staaten (P, ČSFR und H) zu einer erheblichen finanziellen, wirtschaftlichen und sozialen Belastung der Gemeinschaft und ihrer MS führen. Die Problemsektoren mit diesen Staaten sind Landwirtschaft, Freizügigkeit und Umwelt. Hier kommen gerade auch auf D große Probleme zu. Die innenpolitische Akzeptanz muss angesichts der Schmerzgrenze bei der Steuerbelastung und der Debatte über die Bedeutung der Währungsunion für den Bürger deutlich berücksichtigt werden. Bei einigen unserer Partner besteht deshalb die Hoffnung, dass sich das größere deutsche Engagement für die Erweiterung angesichts ihrer finanziellen Konsequenzen abkühlen wird. 4) Es wird davon ausgegangen, dass die EG an der Erweiterung und der Vollmitgliedschaft dieser Staaten festhalten muss. Zwar wird die Erweiterung Kosten verursachen − aber ihre Unterlassung könnte langfristig noch größere Kosten und soziale Eruptionen8 auslösen. Die besonderen Probleme der Erweiterung um mitteleuropäische Staaten erfordern jedoch eine entsprechende Erweiterungsstrategie. In einer ersten Option wird erwogen, ob die Gemeinschaft vor Beitritt dieser Staaten ihren materiellen Acquis verändern soll, d. h. eine einschneidende Rückstufung aller finanziellen und sozialen Transferleistungen beschließt, um den Beitritt dadurch „finanzierbar“ zu machen. Diese Option wird jedoch zugunsten einer zweiten verworfen, die von der Beibehaltung des materiellen Acquis ausgeht und plädiert, das Problem der Beitritte der mitteleuropäischen Staaten durch längere Übergangsfristen zu lösen. Andere Optionen, die auf eine Teilmitgliedschaft dieser Staaten hinauslaufen oder ihre Anbindung an die EG durch sektorelle Kooperation in einem Europa verschiedener Kreise erwägen, werden aus verschiedenen Gründen verworfen. Dies gilt ebenso für Ersatz-Lösungen wie für die Pläne einer „Europäischen Konföderation“9. 6 Zur Tagung des Europäischen Rats am 9./10. Dezember 1991 in Maastricht vgl. AAPD 1991, II, Dok. 425 und Dok. 431. Für die Schlussfolgerungen des Vorsitzes mitsamt Anlagen vgl. BULLETIN DER EG 12/1991, S. 7–12. 7 Österreich stellte am 17. Juli 1989 einen Antrag auf EG-Beitritt. Vgl. AAPD 1989, II, Dok. 214. Schweden stellte am 1. Juli 1991 einen Antrag auf EG-Beitritt. Finnland reichte am 18. März 1992 einen Antrag auf EG-Mitgliedschaft ein. Vgl. Dok. 84. Die Schweiz stellte am 20. Mai 1992 einen Antrag auf EG-Beitritt. Zu einem möglichen EG-Beitrittsantrag Norwegens vgl. Dok. 229. 8 Die Worte „soziale Eruptionen“ wurden von StS Lautenschlager hervorgehoben. Dazu vermerkte er handschriftlich: „Wo?“ 9 Zu den französischen Überlegungen für eine Europäische Konföderation vgl. AAPD 1991, I, Dok. 82.

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24. März 1992: Vorlage von Elbe

Langfassung Betr.:

Probleme und Perspektiven der EG-Erweiterung; hier: Konsequenzen der Beitritte mitteleuropäischer Staaten (Polen, Ungarn, ČSFR) für die Erweiterungs-Strategie

Zweck der Vorlage: Zur Information 1) Die EG-Erweiterung ist für uns und die mittel-, ost- und südosteuropäischen Staaten der wichtigste materielle Baustein der entstehenden gesamteuropäischen Architektur. Der Erfolgszwang des Westens und der Erwartungsdruck des Ostens sind gleich hoch. Die Erweiterung wird ein schwieriges, finanziell kostspieliges und politisch kontroverses Vorhaben werden. Die Erweiterung um die EFTA-Staaten, viel bedeutender jedoch die um die mittel-, ostund südosteuropäischen Staaten, wird die politisch bedeutsamste Aufgabe der EG für den Rest dieses Jahrzehnts werden. Die Erweiterung hat im Rahmen der entstehenden gesamteuropäischen Architektur die Aufgabe, den wichtigsten materiellen Baustein für die Einheit Europas zu liefern. Hier steht Westeuropa unter Erfolgszwang, wenn wir eine neue Wohlstandsgrenze in Europa vermeiden wollen. Dem entspricht auch der Erwartungsdruck der mittel-, ost- und südosteuropäischen Staaten, die von der EG fast mit einer Art Cargo­KultMentalität10 die Lösung aller ihrer Probleme erwarten. Der mit der Erweiterung zulasten der bisherigen EG-Zwölf wahrscheinlich verbundene Ressourcen-Transfer und die Neuordnung politischen Einflusses lassen es wahrscheinlich werden, dass die Erweiterung unter den jetzigen MS schon bald kontrovers werden wird. Vertiefung und Erweiterung stehen doch in einem Spannungsverhältnis, das umso sichtbarer werden wird, wenn sich die materiellen Dimensionen der Erweiterung um MOE-Staaten zulasten der bisherigen EG-Zwölf abzeichnen. Welche Probleme auf die EG durch die Erweiterung um Staaten aus diesem Bereich zukommen, soll in dieser Aufzeichnung in erster Linie mit Bezug auf die drei „anerkanntesten“ Beitrittskandidaten Polen, Ungarn und ČSFR dargelegt werden, mit denen die EG Europa-Abkommen mit Beitrittsperspektive abgeschlossen hat.11 Deren Beitritts-Probleme erlauben jedoch Rückschlüsse auf spätere Verhandlungen mit anderen potenziellen Beitrittsaspiranten aus diesem Bereich (Rumänien, Bulgarien, Nachfolgestaaten Jugoslawiens, die baltischen Staaten), für deren Beitrittsperspektive wir uns bei Vorliegen der entsprechenden Voraussetzungen ausgesprochen haben. In den folgenden Ausführungen wird deshalb öfter von „osteuropäischen“ Staaten gesprochen, wenn es sich um Schlussfolgerungen handelt, die für die Gesamtheit dieser Staaten gelten. Die Beitritts-Probleme der mitteleuropäischen Staaten haben auch Rückwirkungen auf weitere, noch nicht in diese Aufzeichnung einbezogene Staaten: die Sonderprobleme Türkei12 und Albanien, die Beitrittswünsche 10 Dieses Wort wurde von StS Lautenschlager hervorgehoben. Dazu Fragezeichen. 11 Die EG schloss am 16. Dezember 1991 Europa-Abkommen zur Gründung einer Assoziation mit Polen bzw. Ungarn. Vgl. BGBl. 1993, II, S. 1317–1471 bzw. S. 1473–1714. Vgl. auch AAPD 1991, II, Dok. 407. Ebenso wurde ein entsprechendes Abkommen mit der ČSFR geschlossen. Vgl. BULLETIN DER EG 12/1991, S. 97 f. 12 Die Türkei stellte am 14. April 1987 einen Antrag auf EG-Beitritt. Vgl. AAPD 1987, I, Dok. 93 und Dok. 136, sowie AAPD 1987, II, Dok. 218, und AAPD 1988, I, Dok. 74.

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kleinerer Mittelmeer-Staaten (Zypern13, Malta14) und das von der EG zu schaffende neue Vertragsinstrument für die besonderen Beziehungen zu Russland und den GUS-Staaten. 2) Spannungsverhältnis zwischen Vertiefung und Erweiterung; die Interessenkonstellation der Partnerstaaten Bereits Ende l989, zwei Jahre vor Maastricht, als sich durch die Überwindung der Teilung Europas auch die Dimension der Erweiterung abzeichnete, war die Entscheidung für die Priorität Vertiefung vor Erweiterung gefällt worden. Dies hing auch damit zusammen, um nach der Einheit durch Bekräftigung der europäischen Finalität deutscher Politik das Misstrauen einiger Partner auszuräumen. Es war auch politisch15 vernünftig, da wir angesichts der epochalen Umbrüche in Europa die Handlungsfähigkeit und Effizienz der EG als der Stabilitätszelle Europas stärken wollten. Es muss jedoch auch gesagt werden, dass in Maastricht (besonders im Währungsbereich, aber auch im Sicherheitsbereich) die Hürden für den Beitritt höhergelegt worden sind, er also insbesondere für die mittel- und osteuropäischen Staaten erschwert wurde. Dies war für einige MS sogar ein durchaus legitimer Hintergedanke. In unseren öffentlichen Verlautbarungen gehen wir davon aus, dass uns die Beschlüsse von Maastricht nun in die Lage versetzt haben, mit der Herausforderung der Erweiterung fertigzuwerden. Der entscheidende Satz der Schlussfolgerungen des Vorsitzes von Maastricht lautet: „Der Europäische Rat nimmt davon Kenntnis, dass die Verhandlungen über den Beitritt zur Europäischen Union auf der Grundlage des jetzt vereinbarten Vertrags beginnen können, sobald die Gemeinschaft 1992 ihre Verhandlungen über die Eigenmittel und die damit in Zusammenhang stehenden Fragen abgeschlossen hat.“ Der Beginn der Erweiterungs-Verhandlungen ist bei restriktiver Auslegung dieser Schlussfolgerungen von einer alle MS zufriedenstellenden Regelung der Neuordnung der Finanzen und der Ausstattung des Kohäsions- und der Struktur-Fonds (Regional, Agrar) abhängig. Angesichts der Schwierigkeit der Materie sind Verzögerungen zu erwarten. Es wird politischer Druck notwendig werden, um die Erweiterung zügig anzugehen, da politische und materielle Eigeninteressen vieler MS − D nicht ausgenommen − berührt sind. Es besteht die Befürchtung, dass die ärmeren MS sich die Erweiterung nur durch entsprechende Ausstattung des Kohäsions-Fonds „abkaufen“ lassen werden. Insofern müssten wir für die Erweiterung „zweimal“ bezahlen. Unter·allen Partnerstaaten gelten wir als die entschiedensten Befürworter der Erweiterung. Wir haben diesen Ruf sowohl bei den EFTA-Staaten wie auch bei den mittel- und südosteuropäischen Staaten, bei denen wir auch durch entsprechende Passus in den Nachbarschaftsverträgen16 im Wort stehen. Unsere Partner in der EG kalkulieren zu Recht, 13 Am 4. Juli 1990 stellte Zypern einen Antrag auf EG-Beitritt. Vgl. AAPD 1990, II, Dok. 212. 14 Malta stellte am 16. Juli 1990 einen Antrag auf EG-Beitritt. Vgl. BULLETIN DER EG 7-8/1990, S. 99. 15 An dieser Stelle wurde von StS Lautenschlager handschriftlich eingefügt: „und ökonomisch“. 16 Vgl. Artikel 8 Absatz 2 und 3 des deutsch-polnischen Vertrags vom 17. Juni 1991 über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit; BGBl. 1991, II, S. 1318. Vgl. auch Artikel 7 Absatz 4 des deutsch-bulgarischen Vertrags vom 9. Oktober 1991 über freundschaftliche Zusammenarbeit und Partnerschaft in Europa; BGBl. 1992, II, S. 561. Vgl. ferner Artikel 3 Absatz 2 und 3 des deutsch-ungarischen Vertrags vom 6. Februar 1992 über freundschaftliche Zusammenarbeit und Partnerschaft in Europa; BGBl. 1992, II, S. 476 f.

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dass wir politisch und materiell ein besonderes Interesse an der Erweiterung haben, da sie die Vorteile unserer geographischen Mittellage zur Geltung bringen würde. Wir sehen aber auch sehr viel deutlicher als andere die politischen und sozialen Risiken der Nicht­ Erweiterung. Außerdem geht es für uns entscheidend darum, das bisher schon beträchtliche deutsche bilaterale Engagement zur Stabilisierung Osteuropas zu „vergemeinschaften“, um eine gerechtere Lastenverteilung durchzusetzen. Neben uns ist nur GB ein ausdrücklicher Befürworter der Erweiterung, auch um die osteuropäischen Staaten. Das britische Leitmotiv besteht jedoch hauptsächlich darin, durch die Erweiterung der EG ihrer Vertiefung entgegenzuarbeiten17. Die dänische Haltung zur Erweiterung ist wegen der Solidarität mit Skandinavien und den baltischen Staaten zumindestens aufgeschlossen, könnte aber bei den MOE bereits abbröckeln. Die Haltung aller anderen MS reicht jedoch − trotz manchmal anderslautender offizieller Äußerungen − von versteckter Ablehnung bis zur Skepsis. Diese Staaten, insbesondere F, befürchten − wahrscheinlich zu Recht − eine Relativierung ihres politischen Einflusses, eine geographische Marginalisierung und verringerte finanzielle und soziale Transferleistungen in einer zukünftigen größeren EG. Bei F steht das Sonderproblem seiner Rivalität mit D und der wahrscheinliche Verlust seiner stillschweigenden Führungsrolle18 in der EG deutlich im Vordergrund aller Überlegungen zur Erweiterung. Die Befürchtungen der kleineren und ärmeren MS sind aus deren subjektiver Sicht und kurzfristigen Analyse ihrer Interessen größtenteils berechtigt. Sie klammern sich zum Teil auch an die illusionäre Hoffnung, dass sich die EG-Zwölf als Oase wirtschaftlicher und politischer Stabilität gegenüber Osteuropa einfach abschotten kann. In einer größeren EG dürfte sich die derzeitige relative Gleichrangigkeit und Privilegierung kleinerer Staaten in den Institutionen kaum in dem gegenwärtigen Maße aufrechterhalten lassen. Angesichts der schon jetzt erkennbaren Haushaltszwänge und der besonderen Notlage der osteuropäischen Staaten wird es unter den westeuropäischen MS wohl auch weniger zu verteilen geben. Dazu kommen wirtschaftliche Befürchtungen: Aus dem Blickwinkel der EG-Peripherie sind die osteuropäischen Volkswirtschaften potenziell gefährliche Konkurrenten, weil sie ähnliche Außenhandelsstrukturen haben. Wenn sich die Befürchtungen dieser MS bestätigen, dass sie durch die Erweiterung Wettbewerbsnachteile gegenüber den osteuropäischen Staaten in Kauf nehmen müssen, dann dürfte ihre Kompromissbereitschaft bei den Erweiterungs-Verhandlungen beschränkt sein. Das derzeitige Credo der EG lautet deshalb, dass die Erweiterung nicht auf Kosten der Vertiefung betrieben werden darf. Dabei setzen die Staaten, die der Erweiterung skeptisch gegenüberstehen, das Wort Vertiefung nicht nur mit der institutionellen Effizienz der Gemeinschaft, sondern durchaus auch mit ihren kurzfristigen materiellen Eigeninteressen gleich. Eine langfristige Interessenanalyse, dass das Scheitern der Erweiterung auch Fortsetzung Fußnote von Seite 357 Vgl. weiterhin Artikel 10 Absatz 2 des deutsch-tschechoslowakischen Vertrags vom 27. Februar 1992 über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit; BGBl. 1992, II, S. 466. Vgl. zudem Artikel 9 Absatz 3 und 4 des deutsch-rumänischen Vertrags vom 21. April 1992 über freundschaftliche Zusammenarbeit und Partnerschaft in Europa; BGBl. 1993, II, S. 1778. 17 An dieser Stelle wurde von StS Lautenschlager handschriftlich eingefügt: „und die Gemeinschaft ‚umzufunktionieren‘ (Ablehnung der föderalen Perspektive).“ 18 Die Wörter „stillschweigenden Führungsrolle“ wurden von StS Lautenschlager hervorgehoben. Dazu vermerkte er handschriftlich: „Ob man das noch so sagen kann?“

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ihre eigene politische, wirtschaftliche und soziale Stabilität untergraben könnte, hat sich in diesen Staaten noch nicht durchgesetzt (s. u.). Eine offene Ablehnung der Erweiterung ist politisch für diese Staaten nicht möglich. Sie benutzen stattdessen eher die Argumente, dass die EG nur schrittweise, im Rahmen ihrer Aufnahmekapazität und des institutionell Machbaren erweitert werden kann. Sie gebrauchen auch das Argument, dass man den osteuropäischen Staaten keinen Gefallen tun würde, wenn man sie zu früh aufnehmen würde, da sie bei einer gegenseitigen Marktöffnung der westlichen Konkurrenz nicht standhalten könnten. Das wichtigste Argument der Erweiterungs-Skeptiker, dem auch wir uns in gewissem Maße nicht verschließen können, lautet jedoch, dass eine übereilte Erweiterung die EG auch gefährden könnte. Allerdings ist das Gegenargument ebenso gewichtig, dass auch das Hinausschieben der Erweiterung die EG gefährden könnte. Wenn die mittel-, ost- und südosteuropäischen Staaten in ihren gesamteuropäischen Hoffnungen enttäuscht und auf nationalstaatliche Lösungen zurückgeworfen würden, entstünden für die EG erhebliche Risikofaktoren. Unser stärkeres Drängen für eine Erweiterung, insbesondere unsere Forderung, über den Kreis der „anerkannten“ drei Staaten (Polen, ČSFR, Ungarn) hinaus auch RUM, BUL, den Nachfolgestaaten Jugoslawiens und den baltischen Staaten die Beitrittsperspektive anzubieten, stößt deshalb bei unseren Partnern (bis auf GB) auf große Skepsis. Es besteht bei ihnen die stille Hoffnung, dass auch D angesichts der wirtschaftlichen und finanziellen Konsequenzen der Erweiterung schon um die drei mitteleuropäischen Staaten zurückschrecken und sein „Erweiterungs-Enthusiasmus“ sich abkühlen wird. Diese Kalkulation der Partnerstaaten muss angesichts der zunehmend kritischen innenpolitischen Akzeptanz Europas in unserer Bevölkerung ernst genommen werden. Präsident Mitterrand hat − ganz offensichtlich auf uns gemünzt − in seiner Rede vom 29. Februar vorausgesagt, dass die Haltung einiger Staaten sich ändern würde, wenn es ans Zahlen ginge.19 3) Die wirklichen finanziellen und wirtschaftlichen Probleme der EG-Erweiterung stellen sich nicht bei den EFTA-Staaten, sondern erst im Zuge der Erweiterung um die mittel- und osteuropäischen Staaten Die EFTA-Staaten, insbesondere Österreich und Schweden, werden Netto-Zahler zum EG-Haushalt sein und damit zu einer Entlastung der übrigen Netto-Zahler beitragen. Schweden und Österreich sind auch Netto-Agrar-Importstaaten. Sie entlasten also die Agrarüberschuss-Bilanz der EG. Durch die Verhandlungen zum EWR20 und die Anpassung an den Binnenmarkt sind mit den EFTA­Staaten praktisch 70 % der Beitritts-Materie bereits verhandelt; die Verhandlungen könnten deshalb relativ schnell abgeschlossen werden. Generell dürften von dieser Ländergruppe auch keine Probleme bei der Übernahme des EG-Umweltrechts, bei der Freizügigkeit der Arbeitnehmer und der Übernahme der Gemeinsamen Agrarpolitik aufkommen. Die wichtigsten bei der Aufnahme der EFTA-Staaten notwendigen institutionellen Änderungen (Abstimmungsverfahren und Stimmengewichtung, Zusammensetzung der 19 Für die Ausführungen des französischen Staatspräsidenten Mitterrand am 29. Februar 1992 während des Kolloquiums „le tribut de l’Europe“ in Paris vgl. LA POLITIQUE ÉTRANGÈRE 1992 (Januar/Februar), S. 161– 166. Für den deutschen Wortlaut vgl. FRANKREICH-INFO, Nr. 8 vom 6. März 1992, S. 1–8. 20 Zu den Verhandlungen und zum Vertrag vom 2. Mai 1992 zwischen EG und EFTA über den EWR vgl. Dok. 126.

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EGK, Mitgliederzahl des EP, Richterstellen beim EuGH, usw.) lassen sich im Zusammenhang mit der Revisionskonferenz von 199621, kleinere Anpassungen davor22 verwirklichen. Allerdings gibt es jetzt auch kritische Äußerungen der EGK (Andriessen), dass schon der Beitritt von nur zwei bis drei Staaten der EFTA die Aktionsfähigkeit der EG infrage stellen würde und dass der bisher avisierte Zeitplan (Verhandlungen mit Beitrittskandidaten 1993, Ratifizierungsverfahren 1994, Beitritt 1995, Reg.-Konferenz mit den neuen Mitgliedern 1996) wohl eher voreilig sei. Aber schon die Erweiterung um die drei mitteleuropäischen Staaten stellt die EG-Zwölf vor erhebliche politische und finanzielle Probleme, deren Ausmaße sich noch gar nicht quantifizieren lassen. Jede EG-Erweiterung ist bisher in erster Linie von den größeren MS finanziert worden und war mit erheblichen Transferleistungen an ärmere Beitrittskandidaten (auch im Rahmen von Vorbeitritts-Hilfen) verbunden. Neben den politischen Argumenten für die Erweiterung konnten die großen MS − insbesondere D − auf der Haben-Seite verbuchen, dass jede Erweiterung einen handelsschaffenden Effekt auslöst und sich deshalb wirtschaftlich vorteilhaft für große Exportstaaten auswirkt. Schon bei der Erweiterung um P, H und ČSFR könnte jedoch zum ersten Mal der Fall eintreten, dass die wirtschaftlichen, finanziellen und sozialen Folgen der Beitritte für die großen Netto-Zahler, allen voran für uns, zu einer derartigen Belastung führen, dass die Vorteile der Erweiterung kaum sichtbar aufgewogen werden oder sich erst sehr verspätet einstellen. Die Erweiterung müsste dann in unserer Innenpolitik in erster Linie politisch begründet werden. Die mittel- und osteuropäischen Staaten werden in höherem Maße Netto-Empfänger sein, als es die jetzigen ärmeren MS Griechenland, Spanien, Portugal und Irland sind. Immer unter der Voraussetzung, dass das bisherige EG-System der Transfers und Beihilfen beibehalten wird, müssten der Kohäsionsfonds, der Agrarstrukturfonds, der Regionalfonds, der Sozialfonds und auch die Kapitalausstattung der EIB bei dem Beitritt dieser Staaten erheblich aufgestockt werden. Die wichtigsten Problem-Sektoren der MOE-Beitritte sind Landwirtschaft, Freizügigkeit und Umwelt. a) Landwirtschaft In der Landwirtschaft der EG würde durch den Beitritt traditioneller Netto-Agrarexportländer wie Polen, Ungarn, ČSFR, Rumänien und Bulgarien bei Übernahme der gesamten Agrarpolitik durch die Beitrittsländer eine hohe Kostenexplosion ausgelöst werden. Bei den wichtigsten Produkten dieser Länder (Getreide, Fleisch, Milchprodukte) besteht bereits jetzt ein Selbstversorgungsgrad der EG-Zwölf von zwischen 100 – 148 %. Wenn diese Länder als zusätzliche Konkurrenten auftreten, würde der Selbstversorgungsgrad weiter erhöht; die EG-Finanzen würden durch Interventionsregelungen, Lagerkosten und Exporterstattungssystem weiter belastet. 21 Artikel N Ziffer 2 des Vertrags vom 7. Februar 1992 über die Europäische Union sah die Einberufung einer Regierungskonferenz im Jahr 1996 vor, die die Prüfung bestimmter Vertragsartikel, für die eine Revision vorgesehen war, übernehmen sollte. Vgl. BGBl. 1992, II, S. 1295. Die Regierungskonferenz begann am 29. März 1996 in Turin. 22 Die Wörter „Revisionskonferenz“ und „davor“ wurden von StS Lautenschlager hervorgehoben. Dazu vermerkte er handschriftlich: „M. E. parallel zu den Beitrittsverhandlungen.“

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Gefährlich ist, dass heute nicht einmal eine gesicherte Quantifizierung der Belastungen möglich ist, da in einigen dieser Staaten nach dem Abschütteln der kommunistischen Systeme hohe Produktionsreserven in der Landwirtschaft schlummern. Durch das wesentlich höhere Preisniveau in der EG wird bei diesen Staaten unfehlbar ein gewaltiger Produktionsanreiz ausgelöst werden. Da anzunehmen ist, dass diese Überschüsse dann auf dem Weltmarkt abgeladen werden, sind die Spannungen mit Drittländern wegen des Agrarprotektionismus vorprogrammiert. b) Freizügigkeit; Sozialleistungen Ein weiterer kritischer Bereich ist die Freizügigkeits­Regelung mit den Sozialkosten, die für die Zuwendungen an ausländische Arbeitnehmer aus Osteuropa entstehen könnten. Bei einem Beitritt von Ländern mit hoher Arbeitslosigkeit und schlechterer sozialer Absicherung als in den EG-Mitgliedstaaten wird die Freizügigkeit der Arbeitnehmer Probleme aufwerfen. Diese Probleme werden insbesondere für D entstehen. Da wir im EG-Vergleich die höchste Sozialhilfe zahlen, wird sich die Freizügigkeit besonders auf uns auswirken. Aus geographischen, kulturellen und materiellen Gründen werden wir das bevorzugte Anlaufziel von Arbeitnehmern aus den mitteleuropäischen Staaten sein. Der Zuzug wird nicht nur durch Arbeitslose dieser Staaten erfolgen. Solange der Nettolohn in diesen Ländern geringer ist als die Sozialhilfe in D, besteht auch für Beschäftigte ein Anreiz auf Zuzug. Polen dürfte mit 18,9 Mio. Erwerbstätigen und 2,2 Mio. Arbeitslosen für D das größte Problem sein. In den Beitrittsverträgen könnte deshalb der Ausschluss der Freizügigkeit für eine lange Übergangsperiode die notwendige Lösung sein. Allerdings lässt sich die Freizügigkeit nicht auf längere Dauer ausschließen. c) Umweltsektor Ein dritter Problembereich der Erweiterung liegt bei den mittel- und osteuropäischen Staaten auf dem Umweltsektor. Alle potenziellen Beitrittsaspiranten haben schwerwiegende Umweltprobleme mit einem hohen Anteil von Stein- und Braunkohle an der Stromerzeugung. Die Kosten der Altlasten-Sanierung in den neuen Bundesländern lassen die Dimension der für die Sanierung notwendigen Mittel in diesen Staaten erahnen. Bei einem Beitritt würden diese Staaten kurz- und selbst mittelfristig nicht in der Lage sein, die Umweltpolitik der EG (Reduzierung der Schadstoff-Emissionen in Luft und Wasser; Auflagen beim produktbezogenen Umweltschutz) zu übernehmen. Da es nicht vorstellbar ist, dass sich die EG angesichts der erdrückenden Kosten der Umweltsanierung in diesen Staaten auf eine Angleichung der Vorschriften auf niedrigerem Niveau einlassen wird (dies ginge auf Kosten der internationalen Glaubwürdigkeit der EG und der Lebensqualität ihrer Bürger), wird es nur übrigbleiben, längere Übergangsregeln bzw. den zeitweiligen Ausschluss von den Umwelt-Verpflichtungen zu vereinbaren. Derartige Ausnahmebestimmungen verzerren jedoch die Wettbewerbsbedingungen für die EG-Staaten mit hohen Umweltauflagen. Fehlende Umweltauflagen in den mittelund osteuropäischen Staaten verringern dort die Produktionskosten; sie könnten auch die Standortbedingungen für den EG-Kernbereich verändern, wenn von dort die umweltintensive Industrie in die MOE ausgelagert wird. Sie hätten bei uns auch eine Verstärkung der Arbeitslosigkeit zur Folge. 361

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4) Die Konsequenzen der Problematik der Beitritte von P, H und ČSFR für die ErweiterungsStrategie der EG Immer vorausgesetzt, dass wir den materiellen Acquis communautaire der EG beibehalten wollen, wird schon der Beitritt der mitteleuropäischen Staaten (ganz zu schweigen von weiteren Staaten der Region) für uns und die anderen Netto­Zahler der EG ohne eine erhebliche Erhöhung der Finanzbeiträge an den EG-Haushalt nicht möglich sein. Wir müssen uns deshalb überlegen, ob wir den Beitritt dieser Staaten finanzieren können. Die Frage nach den Grenzen der finanziellen Solidarität der MS steht im Raum. Wir müssen bedenken, dass neben den Kosten der Erweiterung um die mittel- und osteuropäischen Staaten die EG auch weiterhin zusätzlich durch die Stabilisierung der GUS-Staaten erheblich in Anspruch genommen werden wird. Selbst wenn der Beitritt finanziell erträglich gestaltet werden kann, ist es fast undenkbar, dass ein Beitritt dieser Staaten ohne Anpassung der Agrarpolitik, ohne Einschränkung der Freizügigkeit der Arbeitnehmer, ohne begrenzte Freistellung von den Verpflichtungen zur Übernahme des EG-Umweltrechts möglich sein wird. Denn ohne diese Einschränkungen und Ausnahmeregeln könnte die Erweiterung bei uns innenpolitisch aus politischen und sozialen Gründen (Freizügigkeit und Anspruch auf Sozialleistungen) in AkzeptanzProbleme geraten. Wenn diese Entwicklungen mit der vermeintlichen Europa-Müdigkeit der Bevölkerung und ihrer Schmerzgrenze bei der Steuerbelastung zusammenfallen, muss jede auf Wiederwahl bedachte Regierung die Alarmsignale erkennen. Vieles spricht also für ein vorsichtiges Vorgehen auch durch uns. Die EG-Erweiterung ist eine Jahrhundertaufgabe und wird große Anstrengungen und finanzielle Opfer von uns erfordern. In der öffentlichen Debatte müssten diese damit begründet werden, dass die Erweiterung zwar Kosten verursachen wird, aber ihre Unterlassung langfristig noch größere Kosten und soziale Eruptionen auslösen würde. Es stehen auch die politische und moralische Glaubwürdigkeit der Bundesregierung (allerdings auch die unserer EG-Partner) gegenüber den osteuropäischen Partnerstaaten auf dem Spiel. Unsere Bekenntnisse, die Einheit Europas zu vollenden, keine neue Wohlstandsgrenze in Europa zuzulassen und die osteuropäischen Staaten beim Anschluss an die EG zu unterstützen, erlauben es nicht, dass wir wegen unserer kurzfristigen materiellen Eigeninteressen nun die Erweiterung plötzlich tiefer hängen. Es wird notwendig werden, auf die langfristigen Interessen der politischen Stabilität der gesamteuropäischen Ordnung abzustellen. Die Bundesregierung sollte deshalb sehr bald zusammen mit den EG-Partnern ein tragfähiges Gesamtkonzept für die Erweiterung zunächst für die mitteleuropäischen Staaten erarbeiten. Bei der Lösung der Schwierigkeiten der Erweiterung könnten wir folgende Optionen erwägen: a) Vollmitgliedschaft bei Beibehaltung des Acquis communautaire Die Vollmitgliedschaft in der EG ist für alle mitteleuropäischen Staaten (wie auch weitere Beitrittsaspiranten aus der Region) das angestrebte Ziel. Eine Teilintegration, ein Status minderer Mitgliedschaft, dürfte politisch diskriminierend wirken und von diesen Ländern nicht akzeptiert werden, wenn dieser Status nicht zeitlich befristet und sachlich begründet ist. Ein Status minderer Mitgliedschaft könnte auch Fehlentwicklungen dieser Staaten provozieren, die der europäischen Stabilität abträglich sind. Die EG wird es sich nicht leisten können, den Beitrittstermin der mitteleuropäischen Staaten dadurch hinauszuzögern, indem sie die Beitritts-Kriterien restriktiver auslegt. Es 362

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wäre politisch schädlich, allzu stringente Kriterien für ein perfektes Funktionieren einer marktwirtschaftlichen Ordnung dieser Staaten zur Voraussetzung der Beitritte zu machen, da diese Anforderungen sonst zur Verschleppung der Beitrittsanträge benutzt werden könnten. Wenn sich Marktwirtschaft und repräsentative Demokratie in diesen Staaten halten und wenn ihre Marktwirtschaften einen hinlänglichen23 Wettbewerb mit den übrigen EG­Staaten aushalten können, dann kann der Beitrittsfrage nicht mehr ausgewichen werden. Politische Kriterien haben bei den bisherigen Beitritten zur EG immer schon ein erhebliches Gewicht gehabt. Die Süd-Erweiterung der Gemeinschaft um GR, SP und Portugal24 war auch eine politische Entscheidung, um in diesen Staaten Demokratie und Marktwirtschaft abzusichern. Für die mitteleuropäischen Staaten gilt dieses politische Argument erst recht. Die politische Dimension, die Dringlichkeit der Erweiterung ist ihnen gegenüber noch bedeutender als in den vorgelagerten westeuropäischen Fällen. Angesichts der oben beschriebenen wirtschaftlichen, finanziellen und sozialen Probleme, die eine Vollmitgliedschaft der drei mitteleuropäischen Staaten für die jetzigen EG-MS mit sich bringen würde, könnte jedoch erwogen werden, diese Probleme entweder durch Änderung der EG-Verträge oder durch Streckung der Übergangsfristen beim Beitritt dieser Staaten aufzufangen. Die erste Option würde beeinhalten, dass man den materiellen Acquis communautaire der EG vor ihrem Beitritt entscheidend verändert, d. h. einschneidende Rückstufung aller finanziellen und sozialen Transfers vornimmt. Die zweite Option könnte darin bestehen, den Acquis unverändert zu lassen und stattdessen den Beitrittskandidaten sehr viel längere Übergangsfristen (bisher waren fünf bis sieben Jahre üblich) bis zur Angleichung ihres Entwicklungsstandes mit dem der EG zuzumuten. aa) Option 1: Änderung des materiellen Acquis vor Beitritt der mitteleuropäischen Staaten Diese Option (Herabstufung der materiellen Vergünstigungen einer EG-Mitgliedschaft vor Beitritt) hat auf den ersten Blick den Vorteil, dass die finanziellen Belastungen der Beitritte erträglich würden. Ein solcher Schritt würde jedoch auch die materielle und ideelle Geschäftsgrundlage der EG verändern und dürfte deshalb schon bei den bisherigen MS auf Widerstand stoßen. Das Entwicklungstempo und die Motivation der Gesamt-EG würden sich zweifellos verlangsamen. Auch die mitteleuropäischen Staaten dürften es als Diskriminierung empfinden, wenn ausgerechnet vor ihrem Beitritt die materiellen Leistungen der EG für die MS beschnitten würden. Diese Lösung erscheint deshalb wenig praktikabel; sie könnte wohl nur als Notbremse eingesetzt werden. bb) Option 2: Unveränderte Beibehaltung des materiellen Acquis, jedoch Vereinbarung längerer Übergangsfristen Diese zweite Option der Vollmitgliedschaft dürfte für beide Seiten die politisch akzeptablere Lösung sein. Wir sollten uns dafür entscheiden. Sie gibt den Alt-MS eine längere Übergangszeit, um ihr eigenes Haus zu ordnen und die Finanzierbarkeit der Vollmitgliedschaft mit den mitteleuropäischen Staaten sicherzustellen. Es müsste den mitteleuropäischen Staaten auch nahegelegt werden, dass längere Übergangsfristen angesichts der 23 Dieses Wort wurde von StS Lautenschlager hervorgehoben. Dazu Fragezeichen. 24 Griechenland trat mit Wirkung vom 1. Januar 1981 der EG bei. Der Beitritt Spaniens und Portugals erfolgte mit Wirkung vom 1. Januar 1986.

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gravierenden ökonomischen Rückstände dieser Staaten in ihrem eigenen Interesse liegen, da sie sonst dem Wettbewerbsdruck der EG nicht standhalten könnten. Um zu vermeiden, dass die längeren Übergangsfristen als eine unbefristete Aufschiebung des Beitritts interpretiert werden, könnte man diesen Staaten entgegenkommen, indem periodische Überprüfungen für eine eventuelle Verkürzung der Übergangsperioden angesetzt werden. Längere Übergangsfristen müssten auch durch weitere asymmetrische Marktöffnungsmaßnahmen der EG zugunsten dieser Staaten begleitet werden. Aber selbst wenn die EG diese Option ergreift und sich für Beibehaltung des Acquis communautaire entscheidet, stellt sich insbesondere in einem Sektor die Frage der finanziellen Realisierbarkeit. Da die Agrarausgaben schon jetzt zwei Drittel des Haushalts ausmachen und durch die Beitritte von P, H und der ČSFR erneut hochschnellen werden, könnte erwogen werden, ob nicht zumindestens auf diesem Sektor vor Beitritt dieser Staaten eine entscheidende Reform im Sinne einer Ausgabenbegrenzung durchgeführt werden muss. Der Druck für eine solche Lösung dürfte wachsen, er könnte von der britischen Präsidentschaft25 ausgehen. Insofern könnten die schwerwiegenden finanziellen Konsequenzen der Beitritte der mitteleuropäischen Staaten auf den EG-Agrarhaushalt zum entscheidenden Reform-Anstoß für diesen Sektor führen. Ob eine derartige Reform gelingt, ist jedoch angesichts der Stärke der Agrar-Interessen in den Alt-MS26 zweifelhaft: Eine Rückführung des EG­Agrarhaushalts würde ja nicht nur die Beitrittskandidaten, sondern auch die Alt-MS treffen. Im Augenblick sieht es danach aus, dass die Agrar-Interessen der Alt-MS sich wahrscheinlich eher darauf verständigen könnten, die Beitritte der mitteleuropäischen Staaten zu sabotieren, als eine Rückführung der Agrarhaushalte zur Ermöglichung der Beitritte hinzunehmen. b) Teilmitgliedschaft (mit Varianten Abgestufte Integration/Europa der variablen Geometrie/ Europa mehrerer Kreise, Sektorelle Kooperation) Die beschriebenen Probleme bei der Erweiterung um die drei mitteleuropäischen Staaten könnten auch zu der − von uns wahrscheinlich nicht gewünschten − Schlussfolgerung führen, dass ihre Vollmitgliedschaft zur Zeit wegen ihrer wirtschaftlichen und politischen Rückständigkeit sowie wegen des von ihnen ausgehenden sozialen Konfliktpotenzials eine Aufweichung oder sogar eine Gefährdung des Integrationsstandes der Gemeinschaft darstellen würde und dass sie deshalb auf lange Zeit noch nicht in Betracht kommen kann. Allenfalls können derzeit eine Teilmitgliedschaft, eine sektorelle Integration in bestimmten, weniger kostenträchtigen Institutionen oder Politikbereichen in Betracht gezogen werden. Alle diese Vorschläge für eine Teilmitgliedschaft durch abgestufte Integration, eine Zusammenarbeit in variabler Geometrie, haben auf den ersten Blick den Vorteil, dass sie von den objektiven Fähigkeiten der beitrittswilligen Staaten zur Kooperation mit der EG ausgehen und diese zunächst auf Felder begrenzen, in denen diese Staaten der Kooperation gewachsen sind. Eine derartige Teilmitgliedschaft könnte auch als Teil einer Aufhol-Strategie begründet werden. Je nach Entwicklung ihrer Fähigkeiten könnten diese Staaten dann zusätzliche Verpflichtungen und Rechte übernehmen und auf die Vollmitgliedschaft hinsteuern. 25 Großbritannien hatte vom 1. Juli bis 31. Dezember 1992 die EG-Ratspräsidentschaft inne. 26 An dieser Stelle vermerkte StS Lautenschlager handschriftlich: „einschließlich Deutschland! (siehe GATTVerhandlungen)“.

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Derartige Konzepte haben jedoch auch politische und institutionelle Nachteile. Zunächst wirken sie diskriminierend, da wir diesen Staaten zunächst die Europa-Fähigkeit absprechen müssten. Diese Überlegungen würden auch davon ausgehen, dass es einen inneren Kreis der EG-Integration gibt, der sich hierarchisch wahrscheinlich westeuropäisch und durch die EFTA-Staaten definiert, während die mitteleuropäischen Staaten in einem zweiten Kreis stehen. Während der erste Kreis seine Vertiefung beschleunigt fortsetzt, muss sich der zweite Kreis in selektiver Kooperation mit dem ersten Kreis bewähren. Da sich Berührungspunkte zwischen dem ersten und zweiten Kreis zunächst aber nur in einigen Institutionen und Politikfeldern ergeben, würden die Rechte und Verpflichtungen der Mitgliedstaaten und der Teilmitgliedstaaten zueinander unausgeglichen sein. Der zweite Kreis würde bei wichtigen Entscheidungen des ersten Kreises zwar durch seinen Assoziierungsstatus dabei sein, aber nicht aktiv mitentscheiden können. Er könnte den Anschluss an den ersten Kreis verlieren. Eine derartige sektorbezogene Teilmitgliedschaft setzt auch voraus, dass die strikte Aufteilung in Sektoren und Politikfelder möglich und sinnvoll ist. Die Entwicklung in der Gemeinschaft verläuft aber gerade gegenteilig. Hier bemühen wir uns, wegen zunehmender Interdependenz immer weitere Bereiche zu vergemeinschaften und in einem dynamischen „mix of policy areas“ große Paketlösungen, wie z. B. den Binnenmarkt, zu konsolidieren. Nicht die Aufsplitterung der Bereiche, sondern ihre Zusammenführung steht im Vordergrund der Bemühungen der EG. Wenn ein Teilmitglied aus dem zweiten Kreis nicht in allen Institutionen und Politikfeldern des ersten Kreises beteiligt ist, sind seine Möglichkeit für den internen „political bargaining“-Prozess mit den anderen MS auch limitiert. Er dürfte eher marginalisiert werden. Ein weiterer Nachteil bei einer Teilmitgliedschaft würde für das Rechtssystem der Gemeinschaft entstehen. In einem System mit differierender Beteiligung, Rechten und Pflichten der MS würde die Implementierung der Gemeinschaftspolitik schwieriger fallen als bei einer einheitlichen Vertragsstruktur gleichberechtigter Mitglieder. Die Begleitumstände einer Teilmitgliedschaft sind deshalb weder für die EG noch für die Beitrittsstaaten besonders attraktiv. Sie sind darüber hinaus schädlich, weil sie der Einheitlichkeit der EG-Vertragsstruktur entgegenstehen und einen Präzedenzfall für ein À la carte-Europa bilden würden. Sie würden die Tendenz eines Europa der unterschiedlichen Geschwindigkeiten, die im Währungssektor ohnehin droht, weiter vermehren. Selbst wenn man gegenüber den MOEs erklärt, dass diese Teilmitgliedschaft je nach ihren wirtschaftlichen und politischen Fortschritten auch auf weitere Integrationsbereiche ausgedehnt werden kann und in der Vollmitgliedschaft enden wird, dürften sich diese Staaten mit einer derartigen Konstruktion nur ungern anfreunden. Es ist jedoch nicht auszuschließen, dass die objektiven Schwierigkeiten der EG-Erweiterung uns zunächst dazu zwingen könnten, in Richtung einer Teilmitgliedschaft zu denken. Sollte das der Fall sein, müssten wir aber darauf achten, dass diese nur als Übergangslösung zu einer späteren Vollmitgliedschaft und keineswegs als Dauereinrichtung konzipiert wird. c) Ersatz-Lösungen für die Erweiterung: Neue Institutionen gesamteuropäischer Zusammenarbeit bzw. Regionale Gruppierungen als Auffangbecken Wegen der objektiven Schwierigkeiten der Erweiterung gibt es aufseiten der Erweiterungs-Skeptiker auch Überlegungen, gegenüber diesen Staaten bei den Assoziierungsverträgen stehenzubleiben und ihnen als Ersatz für die EG-Mitgliedschaft die Zusammenarbeit mit der EG in einer neuen gesamteuropäischen Institution und in den schon bestehen365

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den sonstigen europäischen Institutionen anzubieten. Gleichzeitig wird gegenüber den mittel- und osteuropäischen Staaten angeregt, sich untereinander zu regionalen Organisationen nach dem Muster der EG zusammenzuschließen. Obwohl die Absicht, diesen Staaten damit möglichst den Verzicht auf Beitritts-Aspirationen und ihnen stattdessen eine Ersatz-Lösung nahezulegen, nicht offen ausgesprochen wird, ist sie doch evident. Präsident Mitterrands Vorschlag einer „Europäischen Konföderation“ muss in dieser Richtung verstanden werden. Es handelt sich dabei weniger um ein Wartezimmer für diese Staaten vor der Mitgliedschaft, sondern eher um eine bequem eingerichtete Auffang-Institution, um die Erwartungen dieser Staaten von der Beitrittsaspiration abzulenken. Für uns sollten Ersatzlösungen für den Beitritt der MOE­Staaten nicht akzeptabel sein. Die Kritik der mittel­ und osteuropäischen Staaten an den Plänen für eine Europäische Konföderation hat gezeigt, dass sie es auch dort nicht sind. Wir würden durch eine Unterstützung derartiger Pläne unsere Glaubwürdigkeit bei der Wiederherstellung der europäischen Einheit verspielen. Frank Elbe B 9, ZA-Bd. 178533

87 Vermerk des Vortragenden Legationsrats Pauls 212-9-350.70

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Betr.: Das französische Konzept eines Gesamteuropäischen Sicherheitsvertrages1 Anlg.: 32 I. 1) Frankreich hat den WEU-Partnern ein Memorandum zu seiner Sicht der Post-Helsinki Sicherheitsverhandlungen übergeben (Anlage 13). Ziel der Verhandlungen solle ein Gesamteuropäischer Sicherheitsvertrag sein. Das französische Konzept wird im WEU­Rahmen bereits erörtert. Bei der NATO steht dies am 31.3.1992 (Brainstorming) an.4 1 Oberst i. G. Speidel, Paris, berichtete am 11. Februar 1992, der französische AM Dumas habe am 4. Februar 1992 vor dem Institut des hautes études de la défense nationale „in freier Rede u.a. über eine zukünftige europäische Sicherheitsstruktur“ gesprochen: „Die Idee, die großen Prinzipien der KSZE im Sicherheitsbereich zu kodifizieren, dabei als Ziel einen Sicherheitsvertrag (traité de securité) vor Augen, wurde bereits im Januar in Gesprächen vom franz. Außenministerium dem deutschen Gesprächspartner mitgeteilt. Wunsch der franz. Seite sei es, dieses Projekt der Kodifiszierung des sicherheitspolitischen KSZERegelwerkes derart in die Tat umzusetzen, dass es bereits beim nächsten KSZE-Folgetreffen unterschrieben werden könne.“ Vgl. DB Nr. 392; B 28, ZA-Bd. 158667. 2 Vgl. Anm. 3, 5 und 9. 3 Dem Vorgang beigefügt. Für das französische Papier „French Memorandum on Post-Helsinki Security Negotiations“ vom 10. Februar 1992 vgl. B 28, ZA-Bd. 158667. Handschriftlich wurde darauf vermerkt: „Bei EPZ-AG am 20./21.2. von F verteilt (keine Aussprache).“ 4 Botschafter von Ploetz, Brüssel (NATO), teilte am 1. April 1992 mit, bei der informellen Sitzung des Ständigen NATO-Rats am Vortag sei „F-Vorschlag eines gesamteuropäischen Sicherheitspakts“ erörtert wor-

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2) Frankreich hat uns am 19.3.1992 anlässlich einer Sitzung der deutsch-französischen AG „Strategie und Abrüstung“ weitere Erläuterungen zu seinem Projekt übergeben (Anlage 25). Am 24.3.1992 erhielt D 26 von seinem französischen Kollegen7 am Rande des KSZE-Außenministertreffens in Helsinki8 eine überarbeitete Fassung dieser Erläuterungen (Anlage 39). 3) Die französischen Überlegungen sind ehrgeizig und weitreichend. Sie weisen sowohl Elemente auf, die sich bereits bei den informellen Verhandlungen in Wien als konsensfähig abgezeichnet haben, wie auch weiterführende Anstöße, z. B. für die konventionellen Rüstungskontrollverhandlungen, die bedenkenswert sind. Andere Elemente dürften bereits unter den westlichen Partnern nicht oder kaum konsensfähig sein. Im Folgenden werden zunächst die heikelsten Elemente des Memorandums, sodann die durch die französischen Erläuterungen erfolgten Änderungen hieran und schließlich weitere Elemente des Memorandums bewertet. II. 1) Die heikelsten Aspekte des Memorandums Ohne Aussicht auf Konsens sind folgende Bestandteile des anvisierten Gesamteuropäischen Sicherheitsvertrages: – eine Solidaritäts- und Beistandsklausel auf dem Gebiet der Sicherheit; – ein System kollektiver Sicherheitsgarantien der Teilnehmerstaaten auf der Grundlage von Vereinbarungen, die an Regionaltischen verhandelt werden sollen. Gesamteuropäische Beistandsklauseln und kollektive Sicherheitsgarantien rühren an den Nerv des Nordatlantischen Bündnisses. Der französische Vorschlag wirft Fragen auf: Welchen Sinn hätten NATO-interne Beistandsgarantien noch, wenn ein Gesamteuropäischer Sicherheitsvertrag für alle KSZE­Teilnehmerstaaten den Beistand untereinander sicherstellt, den das Bündnis heute seinen Mitgliedern gewährleistet? Was wäre der qualitative Unterschied zwischen NATO und Gesamteuropäischem Sicherheitsvertrag? Bliebe nur die integrierte Militärstruktur übrig? Die NATO könnte militärisch obsolet werden. Das französische Konzept liest sich so, als ob es bewusst darauf angelegt sei, die NATO politisch zu entwerten, die besonderen Bindungen zwischen USA und Westeuropa zu beenden. Die Rolle der USA in Europa könnte auf die eines Staates von mehr als 50 KSZETeilnehmerstaaten, wenn auch eines besonders gewichtigen, reduziert werden. Diese Annahme wird durch das französische Bemühen genährt, den Nordatlantischen Kooperationsrat an seiner Entfaltung zu hindern, die NATO auf den Bereich „Kollektive VerteidiFortsetzung Fußnote von Seite 366 den: „Die meisten Partner äußerten Zweifel zum F-Ansatz der Kodifizierung. Offen ist auch, wie dieser in Beziehung zu unserem am Vortag in die Bündnisdiskussion eingebrachten Vorschlag zu setzen ist, die KSZE als Regionalorganisation nach Kapitel VIII der VN-Ch[arta] zu erklären.“ Vgl. DB Nr. 543; B 28, ZA-Bd. 158667. 5 Dem Vorgang beigefügt. Für das undatierte französische Papier „Traité de Securité dans le Cadre de la CSCE“ vgl. B 28, ZA-Bd. 158667. 6 Jürgen Chrobog. 7 Alain Dejammet. 8 Zur vierten KSZE-Folgekonferenz vom 24. März bis 8. Juli 1992, die vom 24. bis 26. März 1992 auf Außenministerebene stattfand, sowie zur Gipfelkonferenz am 9./10. Juli 1992 vgl. Dok. 226. 9 Dem Vorgang beigefügt. Für das französische Papier „Traité de Securité de la CSCE“ vom 20. März 1992 sowie die vom Sprachendienst des Auswärtigen Amts gefertigte Übersetzung vgl. B 28, ZA-Bd. 158667.

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gung“ zurückzuführen und die Fragen gesamteuropäischer Sicherheit generell der KSZE zu überantworten. Frankreich hat mit den Implikationen seiner ersten Version eines Gesamteuropäischen Sicherheitsvertrags insgesamt das Misstrauen seiner Hauptpartner verstärkt. Es müsste vor allem darlegen, welche Existenzberechtigung die NATO neben oder im Rahmen des Gesamteuropäischen Sicherheitsvertrags hätte. Kollektive Sicherheit für Europa ist nicht durch ein institutionell schwächeres kollektives europäisches Sicherheitsbündnis zu erreichen, dessen politische Auswirkungen bereits heute einen Keil zwischen Partner des Nordatlantischen Bündnisses treiben würden. Das französische Konzept könnte daher − als geschlossenes Ganzes – von uns nicht mitgetragen werden. Andererseits könnte der französische Vorschlag für Nicht-NATOStaaten attraktiv sein, weil er die sicherheitspolitische Klassengesellschaft in Europa, d. h. die bestehenden Zonen unterschiedlicher Sicherheit, zu beseitigen verspräche. Die Schaffung von Zonen gleicher Sicherheit ist ein Ziel, das auch wir immer unterstützt haben. 2) Die Erläuterungen Der Gesamteuropäische Sicherheitsvertrag werde Beistandsabkommen und Sicherheitsinstitutionen, die bereits zur europäischen Sicherheit beitrügen, nicht in Mitleidenschaft ziehen, heißt es. Fallengelassen werden die im Memorandum aufgeführte Solidaritäts- und Beistandsklausel und das System kollektiver Sicherheitsgarantien. Es gehe darum, Sicherheitsgarantien zwischen den KSZE­Teilnehmerstaaten auszuarbeiten, die anderer Natur seien als die eines Verteidigungsbündnisses. Beispielhaft werden genannt: – Eine allgemeine Garantie für einen Staat, der das Opfer einer anhaltenden, schweren Verletzung von Normen des Sicherheitsvertrags (zwischenstaatliche Verhaltensnormen) ist, dass die anderen Teilnehmerstaaten sich dafür einsetzen werden mit dem Ziel zusammenzuarbeiten, das Recht durch Nutzung der angemessenen KSZE-Mechanismen im Bereich der Konfliktverhütung und Krisenbewältigung wiederherzustellen. – Negative Sicherheitsgarantien: Diese könnten den Verzicht auf den Einsatz bestimmter Kategorien von Waffen und die Bedingungen für die Stationierung von Streitkräften von Teilnehmerstaaten auf dem Territorium anderer Teilnehmerstaaten umfassen. – Garantien durch alle Teilnehmerstaaten gegenüber solchen Teilnehmerstaaten, die Unterzeichner eines im Rahmen der KSZE ausgehandelten regionalen Abkommens zu Abrüstung und Vertrauensbildung sind. Die aufgeführten Beispiele von Garantien stellen gegenüber den in dem Memorandum genannten ein qualitatives Aliud dar. Sie dürften als direkte Folge eindeutiger Kritik aus dem Kreise der Alliierten an dem Memorandum formuliert worden sein. Bewertung – Generelle Garantien Gegen eine Verpflichtung der KSZE-Teilnehmerstaaten, zusammenzuarbeiten, um einen rechtmäßigen Zustand wiederherzustellen, wäre nichts einzuwenden. Gegenüber der ersten Erläuterung ist fallengelassen worden, dass die Teilnehmerstaaten sich dafür einsetzen würden, ggf. Retorsions-Maßnahmen zu beschließen. – Negative Sicherheitsgarantien der genannten Art könnten einen Beitrag zu mehr Sicherheit darstellen. Woran wird im Einzelnen gedacht? Die Formulierung legt z. B. einen Verzicht auf den Ersteinsatz nuklearer Waffen nahe. Die Diskussion hierzu ist im west368

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lichen Bündnis bereits einmal geführt worden.10 Haben sich die grundlegenden Umstände derart geändert, dass heute mit einem anderen Diskussionsausgang zu rechnen wäre? Würden Kriterien für die Truppenstationierung ohne Auswirkung auf Abkommen/ Absprachen zwischen NATO-Partnern bleiben? Bleiben können? – Die Garantien aller Teilnehmerstaaten für solche Teilnehmerstaaten, die Partner von an regionalen Tischen ausgehandelten Abkommen waren, sind nicht spezifiziert. Um welche Garantien sollte es sich handeln? Frankreich muss seine Vorstellungen weiter präzisieren. Bereits heute sollten wir mit Blick auf das französische Konzept in Rechnung stellen, dass es keine Aussichten hat, durch die USA gutgeheißen zu werden. Sie werden sich kaum auf Verhandlungen hierzu einlassen. Dies gilt unabhängig von weiteren inhaltlichen Erläuterungen/Änderungen Frankreichs. Das Misstrauen ist bei einer Reihe von Verbündeten mit dem Memorandum geweckt worden. Es wird sich nicht durch nachträgliche Abstriche beseitigen lassen. Das französische Konzept ist mit weiteren Hypotheken belastet. Es baut auf der Verrechtlichung bestehender KSZE­Verpflichtungen auf. Für eine Reihe von Teilnehmerstaaten ist dieser Weg nicht begehbar. Weiterhin heißt es, „der Vertrag werde allen Teilnehmerstaaten zur Unterzeichnung offenstehen“. Welche Bedeutung hat diese Formulierung? Soll es einen Sicherheitsvertrag nur geben, wenn alle Teilnehmerstaaten ihm beitreten, oder wird von vornherein in Rechnung gestellt, dass er in Kraft treten wird, auch wenn einige Teilnehmerstaaten den Vertrag nicht zeichnen? Z. B. die USA? 3) Schlussfolgerung Den französischen Vorschlag, der KSZE-Gipfel solle einen Auftrag zu Konsultationen über einen Gesamteuropäischen Sicherheitsvertrag erteilen, können wir nicht mittragen. Wir sollten uns bemühen, im Zusammenwirken mit Frankreich die Elemente seines Konzepts zu erhalten, die sich von einem Sicherheitsvertrag abtrennen und ggf. selbstständig in die Post­Helsinki-Verhandlungen einbringen lassen. Unsere westlichen Partner müssen dazu wissen, dass wir mit unserem Vorgehen ausschließlich Sachbereiche aufgreifen, die ihren eigenständigen Wert haben und nicht als Teil des französischen Konzepts eines Gesamteuropäischen Sicherheitsvertrags gesehen werden dürfen. III. Zu weiteren Elementen des französischen Konzepts 1) Bereich Rüstungskontrolle und Abrüstung Das Ergebnis der Rüstungskontrollverhandlungen über die Harmonisierung und Anpassung der sich aus dem KSE-Vertrag und dem Wiener Dokument über VSBM11 ergebenden 10 Der Politische Beratende Ausschuss des Warschauer Pakts schlug bei der Tagung in Bukarest am 25./26. November 1976 vor, einen Vertrag über den Verzicht auf Ersteinsatz von Kernwaffen abzuschließen. Vgl. EUROPA-ARCHIV 1976, D 648, bzw. D 653 f. Vgl. auch AAPD 1976, II, Dok. 350. Die NATO-Mitgliedstaaten lehnten dies ab und forderten stattdessen, gemäß der KSZE-Schlussakte vom 1. August 1975 auf die Androhung und Anwendung von Gewalt ganz zu verzichten. Vgl. Ziffer 3 des Kommuniqués der NATO-Ministerratstagung am 9./10. Dezember 1976 in Brüssel; NATO FINAL COMMUNIQUES 1975–1980, S. 61. Für den deutschen Wortlaut vgl. EUROPA-ARCHIV 1977, D 101. Vgl. auch AAPD 1976, II, Dok. 356. 11 Korrigiert aus: „KSZE-Vertrag und dem Wiener Dokument über VSMB“. Zum „Wiener Dokument 1992“ vom 4. März 1992 vgl. Dok. 70.

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Verpflichtungen über Transparenz, Verifikation und Streitkräfteumfang soll die Substanz eines Vertrags über die Begrenzung konventioneller Streitkräfte bilden, der entweder als selbstständiges Dokument oder als Teil des Gesamteuropäischen Sicherheitsvertrags bestehen könnte. Ausgehend von diesem Vertrag könnten weitere Maßnahmen bzw. Begrenzungen verhandelt werden. Bewertung … (durch Abt. 2 A) 2) Bereich Verhaltenskodex der KSZE-Staaten Hier sollen zunächst die Bereiche festgelegt werden, in denen Verhaltensregeln der Staaten aufgestellt werden sollten. Sodann sollen Prinzipien der Schlussakte von Helsinki, der Charta von Paris und anderer KSZE-Dokumente sowie ggf. neu auszuarbeitende kodifiziert und rechtlich verbindlich gemacht werden. Eine Beschränkung auf einen engeren, militärischen Sicherheitsbegriff soll es nicht geben, denn als Beispiele für die Kodifizierung werden u. a. genannt: Verhalten gegenüber nationalen Minderheiten; Achtung von Menschenrechten; die Frage der Nichteinmischung in innere Angelegenheiten; das Recht, humanitäre Hilfe zu gewähren; Verhalten bei innerstaatlichen Schwierigkeiten (z. B. im Zusammenhang mit Minderheiten, Flüchtlingen, Terrorismus), die die Sicherheit eines Nachbarstaates berühren könnten. Bewertung Ein erstes Etappenziel könnte eine Kodifizierung von Normen für das sicherheitspolitische Grundverhalten von Staaten untereinander sein. An eine Verrechtlichung sollte zunächst nicht gedacht werden. Zum einen könnte sie die bisherige Stärke des KSZEProzesses − politische Normen und Strukturen sowie ein hohes Maß an Flexibilität − gefährden. Zum anderen wissen wir, dass eine Reihe von Teilnehmerstaaten einen rechtlich verbindlichen Verhaltenskodex z. Zt. entweder prinzipiell nicht akzeptieren oder seine Ratifizierung nicht gewährleisten könnte. Damit könnte sich das Problem einer unterschiedlichen Verbindlichkeit von Verhaltensnormen unter den KSZE-Teilnehmerstaaten ergeben. Die Einheitlichkeit der KSZE ist jedoch ein Wert, der erhalten bleiben sollte. Anstreben sollten wir jedoch einen politischen Verhaltenskodex. Er wäre ein nicht gering zu schätzendes Ergebnis. Ihm könnte eine entsprechende politische Bezeichnung, z. B. Dokument über die Sicherung der Stabilität, gegeben werden. Das politische Dokument ließe sich sukzessive ausbauen und so formulieren, dass es ohne größere inhaltliche Änderungen einmal in den Rang eines rechtlichen Instruments erhoben werden könnte. Bei Ausarbeitung dieses politischen Dokuments in dem zukünftigen Wiener Sicherheitsforum stünden wir vor einem Dilemma: Zum einen besteht das Risiko einer Beschränkung der Thematik auf einen engen, in erster Linie militärisch verstandenen Begriff der Sicherheit. Dies widerspräche unserem Verständnis des weiten Sicherheitsbegriffs. Andererseits könnte die Ausarbeitung eines Verhaltenskodexes in Wien, der sich an dem weiten Sicherheitsbegriff orientierte, auf den Widerspruch von Teilnehmerstaaten stoßen, die dem Sicherheitsforum lediglich Materie mit politisch­militärischem Inhalt zuweisen wollen und berechtigterweise geltend machen könnten, das Wiener Forum würde Sachbereiche an sich ziehen, die innerhalb der KSZE z. B. dem AHB oder Treffen zur menschlichen Dimension vorbehalten seien. Die Teilnehmerstaaten müssten sich für eine der Alternativen entscheiden. 370

26. März 1992: Vermerk von Pauls

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3) Bereich der Friedenserhaltung, Krisenbewältigung und Streitschlichtung Organe der KSZE sollen Beschlüsse fassen können, die durch Rechtsnormen gestützt werden. Bewertung Die französischen Ausführungen hierzu legen den Schluss nahe, dass KSZE-Entscheidungsgremien, sobald ein rechtlich verbindlicher Verhaltenskodex bestünde, bei Vorliegen außergewöhnlicher Umstände Beschlüsse fassen können sollen, auch wenn ein Konsens nicht gegeben wäre. Aufschlüsse, ob dann das Mehrheitsprinzip gelten sollte oder andere Qualifizierungen vorzusehen seien, sowie eine Definition der „außergewöhnlichen Umstände“ fehlen. Der französische Gedankengang ist in sich schlüssig: Verbindliche Normen müssen durchgesetzt werden können, ohne dass dies durch denjenigen blockiert werden kann, der gegen solche Normen verstoßen hat. Eine solche Entscheidung wäre jedoch ein Riesenschritt in Richtung Abschaffung des Konsensprinzips in der KSZE. Die Zeit ist für einen Schritt dieser Tragweite noch nicht reif. Das Ziel können wir jedoch teilen. 4) Bereich KSZE-Institutionen Angesprochen werden: Die Beauftragung des KVZ als Depositar-Stelle für Sicherheitsvereinbarungen in Europa. Der Ausbau des KVZ zu einem europäischen Verifikationszentrum. Stärkung des KVZ als Instrument zur Krisenbewältigung durch Aufbau seiner Fähigkeiten, eigenständig fact finding und Beobachtermissionen durchzuführen. Verleihung eines rechtlichen Status an das KVZ. Bewertung Überlegungen zum Ausbau und zur Stärkung des KVZ sind zum Teil bereits gedankliches Gemeingut in der KSZE. Sie gehen insgesamt in eine Richtung, die wir mittragen. Der Vorschlag, dem KVZ eine rechtliche Grundlage zu geben, gehört zum französischen Bestreben, den drei KSZE­Institutionen (Sekretariat, Büro für demokratische Institutionen und Menschenrechte sowie KVZ) aus haushaltsrechtlichen Gründen einen solchen Status zu verschaffen. Die Entwicklung der drei Institutionen ist jedoch noch im Fluss. Wir müssen uns beispielsweise die Frage stellen, ob es bei den drei Orten Prag − Wien − Warschau bleiben muss. Zudem stellt sich auch hier das Problem der notwendigen Ratifizierung durch die KSZE-Teilnehmerstaaten. Überlegenswert wäre eine Art von Organisationsstatut, wiederum als politisches Dokument, das auch den Rat und den AHB umfassen würde und in dem die institutionellen Regelungen der Charta von Paris, des Prager Dokuments12 sowie eventuell in Helsinki neu hinzukommende zusammengefasst werden könnten. Referat 201 hat mitgewirkt. Pauls B 28, ZA-Bd. 158667

12 Für die auf der zweiten Sitzung des KSZE-Außenministerrats am 30./31. Januar 1992 in Prag verabschiedeten Dokumente vgl. BULLETIN 1992, S. 83–88. Vgl. auch Dok. 34.

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27. März 1992: Vorlage von Kyaw

88 Vorlage des Ministerialdirigenten von Kyaw für Bundesminister Genscher 411-433.90

27. März 19921

Über Herrn Staatssekretär2 Herrn Bundesminister3 Betr.:

Uruguay-Runde

Zweck der Vorlage: Zur Information I. Im Anschluss an eine Besprechung bei ChBK und eine Sitzung des Ausschusses nach Art. 113 des EWG-V4 in Brüssel am 26.3. stellt sich der Stand der Verhandlungen in der Uruguay-Runde derzeit wie folgt dar: 1) Bei seinen Gesprächen in Camp David hat der BK die Agrarfragen „in ihrem gesamten Ausmaß und mit all ihren Implikationen“ (MD Feiter, ChBK) mit Präsident Bush erörtert.5 Er habe nicht verhandelt, jedoch habe er zuvor „mit den entscheidenden vier bis fünf Personen in Europa“ gesprochen. Diese hätten sich auch von sich aus vor dem Besuch des BK an Washington gewandt. Die Verlässlichkeit der Position des BK sei so völlig klar gewesen. Die Amerikaner hätten gewusst, was von ihnen erwartet werde, ohne dass sie befürchten müssten, in einem späteren Stadium von anderer Seite mit weiteren Forderungen konfrontiert zu werden. Im Kern sei es um die Green Box (Umfang der Zulässigkeit direkter Einkommensbeihilfen) sowie um den „Zusammenhang zwischen der Begrenzung subventionierter Getreideexporte und der Begrenzung der Getreidesubstitut-Importe der EG“ gegangen. In der Green-Box-Frage gebe es Bewegung. In dem anderen Komplex, man verwende nicht mehr das Wort „rebalancing“, seien nun die Positionen klar. Jetzt müsse die EG-KOM mit den USA verhandeln. Ebene und Ort dafür würden derzeit sondiert. Der politische Abschlusswille der USA sei klar. Im weiteren Verlauf spiele das Datum des 23. April, an dem der nächste transatlantische Gipfel stattfindet (Gipfeltreffen EG, vertreten durch Präsidentschaft und KOM, mit USA6), wohl eine wesentliche Rolle. 1 Die Vorlage wurde von VLR I von Arnim konzipiert. 2 Hat StS Lautenschlager am 27. März 1992 vorgelegen. 3 Hat BM Genscher am 4. April 1992 vorgelegen, der handschriftlich für StS Lautenschlager vermerkte: „Ich verfolge die regierungsinterne Behandlung der Materie mit zunehmender Sorge. Nach der Osterpause möchte ich die Frage mit BK aufnehmen.“ Hat OAR Rehlen am 6. April 1992 vorgelegen, der den Rücklauf an Lautenschlager verfügte. Hat Lautenschlager am 7. April 1992 erneut vorgelegen, der handschriftlich für MD Dieckmann vermerkte: „M[it] d[er] B[itte] um erneute Befassung BM nach Ostern gemäß Weisung BM unten.“ Hat Dieckmann am 8. April 1992 vorgelegen, der den Rücklauf über MDg von Kyaw an Referat 411 verfügte. Hat in Vertretung von Kyaw VLR I Kaufmann-Bühler am 9. April 1992 vorgelegen. Hat VLR Schlageter am 10. April 1992 vorgelegen. 4 Für Artikel 113 des EWG-Vertrags vom 25. März 1957 vgl. BGBl. 1957, II, S. 846. 5 Für die Gespräche zwischen BK Kohl und dem amerikanischen Präsidenten Bush am 21./22. März 1992 vgl. Dok. 82. 6 EG-Kommissionspräsident Delors und der portugiesische MP Cavaco Silva als EG-Ratspräsident führten am 22. April 1992 „im Rahmen der halbjährlichen Konsultationen auf der Grundlage der transatlantischen Erklärung EG – USA“ ein Gespräch mit dem amerikanischen Präsidenten Bush in Washington. Botschafter

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27. März 1992: Vorlage von Kyaw

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Es sei jetzt ganz entscheidend, den deutschen Erfolgswillen zu betonen und allen Behauptungen entgegenzutreten, es sei inzwischen für einen Abschluss der Runde zu spät. 2) Die Darlegungen der EG-KOM im 113er-Ausschuss waren eher pessimistisch gefärbt. Die Positionen der US-Unterhändler sowohl zur mengenmäßigen Begrenzung der EGGetreideexporte wie in der Substitut-Frage seien unverändert. In Genf hat es inzwischen bereits Gespräche im EG-Kreis über „Schadensbegrenzung“ für den Fall des endgültigen Scheiterns der Runde gegeben. 3) Sowohl Präs. Delors wie die französische Regierung haben in den letzten Tagen die USA wegen deren Forderung nach Ausnahmen vom Meistbegünstigungsprinzip im Kapitel Dienstleistungen für Luft­ und Seeverkehr, Telekommunikation und Finanzdienstleistungen scharf angegriffen und aus dieser Forderung den mangelnden Erfolgswillen der USA insgesamt ableiten wollen. Demgegenüber hat das Kabinett Andriessen − zutreffend − darauf hingewiesen, dass die EG-Position in dieser Frage in der Substanz mit der der USA weitgehend identisch sei, da das EG-Angebot die Gewährung des Marktzugangs im Dienstleistungsbereich weitgehend von Reziprozität abhängig mache (was in der Substanz die gleiche Wirkung hat wie die Forderung nach Ausnahmen vom Meistbegünstigungsprinzip). II. Bewertung 1) Die wesentlichen Teile der Verhandlungen verlaufen derzeit informell und im Einzelnen kaum überblickbar zwischen dem Kanzleramt, dem Weißen Haus, dem Élysée und den Kabinetten von Präs. Delors und VP Andriessen. Sie konzentrieren sich fast völlig auf das Agrarkapitel. 2) Die Verhandlungen in Genf verlaufen schleppend und haben derzeit ihre Schwerpunkte in den übrigen Kapiteln, wie z. B. Dienstleistungen. Auch in diesen Bereichen sind jedoch nur geringe Fortschritte zu verzeichnen, da die großen Verhandlungspartner USA, EG und Japan sich vor weiterer Klärung der Agrarfragen auch in diesen Bereichen nicht voll engagieren. 3) Nächstes wichtiges Datum könnte der 6. April werden, da auf der TO der Tagung des Allgemeinen Rates für diesen Tag auch die UR steht.7 Es ist nicht auszuschließen, dass die EG-KOM versucht, bis dahin eventuell informell mit den USA erzielte Ergebnisse vom Rat billigen zu lassen, bevor sie sie in Genf einbringt. 4) Aus unserer Sicht ist es jedoch wichtig, dass der Rat formell erst befasst wird, wenn über einen in Genf erzielten Gesamtabschluss der UR zu entscheiden ist, weil so eine isolierte Prüfung nur der Agrarfragen vermieden werden kann. Auf ein solches Verfahren wird sich F jedoch nur einlassen, wenn es informell in die Verhandlungen voll eingeschaltet bleibt und in dem informellen Verhandlungsprozess unter den Hauptstädten ein auch für Fortsetzung Fußnote von Seite 372 Ruhfus, Washington, teilte am selben Tag mit, die Gespräche seien vor allem den GATT-Verhandlungen gewidmet gewesen: „Es seien von beiden Seiten neue politische Ideen zur Lösung der im Zentrum stehenden Agrarprobleme unterbreitet worden. Über ihren Inhalt habe man strenge Vertraulichkeit vereinbart.“ Vgl. DB Nr. 1315; B 221, ZA-Bd. 166598. 7 Zur EG-Ministerratstagung in Luxemburg berichtete Botschafter Trumpf, Brüssel (EG), am 7. April 1992: „Der Rat hörte im engeren Rahmen einen Bericht von VP Andriessen und erörterte den Stand der Verhandlungen. Alle Del[egationen] äußerten sich besorgt über den Mangel an Fortschritten und bekräftigten den festen Willen, bis Ende April eine abschließende Einigung zu erzielen. Der Vors[itzende] forderte die KOM auf, innerhalb des gegebenen Rahmens zu politischen Kompromissen zu gelangen.“ Vgl. DB Nr. 998; B 221, ZA-Bd. 166598.

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30. März 1992: Drahtbericht von Weisel

F akzeptables Ergebnis erzielt wird. Ob dies angesichts der Härte der amerikanischen und französischen Positionen im Getreideexport und Substitut-Import-Komplex gelingt, ist derzeit noch nicht zu übersehen. Für uns wäre eine mengenmäßige Beschränkung der amerikanischen Substitutexporte in die EG wichtiger als die Verhinderung der von den USA geforderten mengenmäßigen Rückführung der europäischen Getreideexporte.8 Während die französische Interessenlage eher umgekehrt liegt, haben die USA mit beiden Varianten größte innen- und außenhandelspolitische Probleme. v. Kyaw B 221, ZA-Bd. 166598

89 Drahtbericht des Botschafters Weisel, Zagreb Fernschreiben Nr. 204 Citissime Betr.:

Aufgabe: 30. März 1992, 14.45 Uhr1 Ankunft: 30. März 1992, 18.28 Uhr

Gespräch mit Präsident Tudjman

Bezug: 1) DB Nr. 192 vom 25.3.19922 2) Plurez Nr. 3149 vom 17.3. 1992 – 420-410.20 KRO3 1) Ich hatte heute ein knapp zweistündiges Gespräch mit Präsident Tudjman, zu dessen bilateralem Teil Tudjman MP Gregurić hinzuzog. Folgende Themen wurden behandelt: Stationierung der VN-Friedenstruppen4 T. sagte, er habe wegen der jüngsten Waffenstillstandsverletzungen der JVA und der Freischärler, bei denen es wieder zu beträchtlichen Opfern unter der Zivilbevölkerung in 8 An dieser Stelle vermerkte StS Lautenschlager handschriftlich: „Spielt die Frage einer EG-Getreidepreissenkung keine Rolle mehr? (ursprünglich eine frz. Präferenz, die uns in große Schwierigkeiten bringen würde.)“ 1 Hat VLR I Libal am 31. März 1992 vorgelegen. 2 Botschafter Weisel, Zagreb, berichtete, laut Mitteilung der kroatischen Regierung werde die Finanzwirtschaft kollabieren, „wenn nicht umgehend aus dem Ausland Überbrückungskredite kämen“. Der Großteil dieser Kredite würde von der Bundesrepublik erwartet. Vgl. B 63, ZA-Bd. 170786. 3 VLR I Dahlhoff legte dar, die Bundesregierung unterstütze „grundsätzlich die Bemühungen von Lord Carrington, auf der Basis der Artikel 3 und 8 der von ihm entworfenen Übereinkunft (‚convention‘, corrected version 4. November 1991) möglichst ungehinderte Wirtschaftsbeziehungen – oder auch einen möglichst einheitlichen Wirtschaftsraum – zwischen den Republiken des früheren Jugoslawien zu erhalten oder wiederherzustellen“. Kroatien solle ermutigt werden, „eine möglichst freizügige wirtschaftliche Zusammenarbeit zwischen den ehemaligen Republiken, einschließlich Serbien und Montenegro, anzustreben.“ Vgl. B 63, ZA-Bd. 170786. 4 Zur Aufstellung von UNPROFOR vgl. Dok. 56, Anm. 5. Botschafter Graf zu Rantzau, New York (VN), berichtete am 27. März 1992, VN-USG Goulding habe am selben Tag in Schreiben an den kroatischen Präsidenten Tudjman und den serbischen Vertreter im jugo-

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30. März 1992: Drahtbericht von Weisel

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Ostslawonien und in Dalmatien sowie zu Vertreibungen in Ostslawonien gekommen sei, Briefe an Lord Carrington5, Cyrus Vance und Bundeskanzler Kohl6 mit der Bitte gerichtet, in Belgrad zu intervenieren, damit diese Verbrechen aufhörten und damit Belgrad auch die Luft-, See­ und Landblockade sofort aufhebe. Auf der Plenarsitzung der EG-Friedenskonferenz übermorgen7 werde er fordern, dass sich die JVA und die Freischärler bis zum 15. April aus den Nicht-UNPAs-Gebieten zurückziehen, nämlich aus Zadar, Šibenik, Vis und Lastovo sowie aus Dubrovnik. Ferner werde er fordern, dass die JVA bis zum 15. Mai aus den UNPAs abziehe. Ich betonte, dass es für die Stationierung der VN­Friedenstruppen zunächst einmal nötig sei, dass absoluter Waffenstillstand herrsche. Die EG-Monitoren hätten in der Vergangenheit festgestellt, dass zahlreiche Verletzungen auch von der kroatischen Seite begangen worden seien. Präsident T. erwiderte emotional: Ob er denn seine Truppen zurückhalten könne, wenn die Serben durch Vertreibung von Kroaten zu verstehen gäben, dass sie sich das besetzte Gebiet auf Dauer einverleiben wollten? Ich verwies darauf, dass die internationale Staatengemeinschaft die Veränderung der Grenzen mit Gewalt nicht zulassen werde, und appellierte an den Präsidenten, alles in seiner Macht Stehende zu tun, damit von kroatischer Seite der Waffenstillstand eingehalten werde. Der VN-SR werde sich möglicherweise noch einmal mit der Situation befassen, und da dürfe KRO nichts vorgeworfen werden dürfen. Der Präsident antwortete, wenn erste Zeichen der Bereitschaft der JVA zum Rückzug gegeben würden, dann könne er seine Truppen einfacher kontrollieren. Er stimmte im Übrigen zu, dass die Einhaltung des Waffenstillstands die Voraussetzung für die Stationierung der VN-Truppen sei. Auf meine Frage nach dem Stand der Verhandlungen über das VN-Stationierungsabkommen sagte T., Kroatien könne auf keinen Fall die Anwendung der kürzlich erlassenen Bundesgesetze akzeptieren. – Ich warf ein, dass dies auch die Staatengemeinschaft so sehe. – Der Präsident fuhr fort, die Post, die Eisenbahn, das Gerichtswesen und die Währung müssten kroatisch sein. Leider sei es so, dass General Nambiar und die übrigen Herren der VN, mit denen verhandelt werde, nur eine ungenaue Vorstellung der politischen Lösung hätten. Dies bedeute, dass sie die Unabhängigkeit Kroatiens nicht sähen. Fortsetzung Fußnote von Seite 374 slawischen Staatspräsidium, Jović, „die ernste Besorgnis der VN über die andauernden Waffenstillstandsverletzungen zum Ausdruck“ gebracht. In den nächsten Tagen solle der VN-Sicherheitsrat „eine Resolution verabschieden, durch die Dislozierung von UNPROFOR abschließend gebilligt würde. VN-Sekretariat hält eine solche Resolution v. a. im Hinblick auf die derzeit restriktive Haltung der USA für notwendig.“ Vgl. DB Nr. 782; B 30, ZA-Bd. 180394. 5 Für das Schreiben des kroatischen Präsidenten Tudjman vom 25. März 1992 an den Vorsitzenden der Jugoslawien-Konferenz, Lord Carrington, und dessen Antwortschreiben vom 26. März 1992 vgl. das Fernschreiben Nr. 609 aus Lissabon (Coreu); B 220, ZA-Bd. 155716. 6 VLR I Schäfers, Bundeskanzleramt, übermittelte VLR I Reiche am 6. April 1992 Kopien von undatierten Schreiben des kroatischen Präsidenten Tudjman an BK Kohl bzw. den Sonderbeauftragten des VN-GS für Jugoslawien, Vance. Dazu teilte Schäfers mit, Tudjman fordere die Adressaten auf, „sich persönlich für eine Einstellung serbischer Übergriffe gegen Kroatien einzusetzen. Gleichzeitig bittet er die EG, sich für eine Aufhebung der Blockade gegen Kroatien einzusetzen.“ Vgl. B 42, ZA-Bd. 175606. 7 Das elfte Plenum der Friedenskonferenz für Jugoslawien fand am 1. April 1992 in Brüssel statt. Vgl. Dok. 94.

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Ich hielt es für angezeigt, den Präsidenten an die Geschäftsgrundlage der VN-Stationierung zu erinnern: Abzug der JVA, Entwaffnung der Freischärler, Rückkehr der Flüchtlinge, dafür vorübergehende Einschränkung der kroatischen Souveränität. Was die Einschränkung der Souveränität betreffe, so sei es doch zweckmäßig, Dinge in der Schwebe zu lassen. Es sei in dieser Situation falsch, alles bis ins Letzte ausbuchstabieren zu wollen. Der Präsident stimmte zu, meinte allerdings, dass die Flüchtlinge nur dann zurückkehren würden, wenn sie·sicher sein könnten, dass das kroatische Gesetz gelte. Dazu bemerkte ich, dass Teil des Vance-Plans8 die Rückführung der Flüchtlinge unter der Ägide der VN sei, die diese Aufgabe auch erfüllen würden. Präsident Tudjman schnitt sodann die Frage der Öffnung des kroatischen Luftraums an. Er sagte, die Deblockierung des kroatischen Luftraums werde die Stationierung der VN­Truppen erleichtern und beschleunigen. Die Öffnung sei auch unabdingbar für die wirtschaftliche Wiedererholung Kroatiens. Er fragte, warum die EG und die UNO nicht Sanktionen gegenüber Serbien ergriffen, damit Belgrad der Deblockierung des kroatischen Luftraums zustimme. D und I hätten das Vorbild gegeben, indem sie den Luftverkehr mit Belgrad in beiden Richtungen eingestellt hätten.9 Ich erinnerte an die bisher leider erfolglosen Schritte der EG und der VN. EG-Friedenskonferenz Ich sagte, dass Lord Carrington die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen den Nachfolgerepubliken an die erste Stelle der Tagesordnung gesetzt habe. Was uns betreffe, so wollten wir Kroatien ermutigen, möglichst ungehinderte Wirtschaftsbeziehungen wiederherzustellen, wobei differenzierende Lösungen zwischen den Republiken zweckmäßig sein könnten. Es werde für Kroatien von unmittelbarem Vorteil sein, wenn kroatische Firmen wieder möglichst ungehindert mit Firmen in anderen Teilen des ehemaligen Jugoslawiens handeln könnten. Dies werde schneller zur wirtschaftlichen Erholung beitragen als alles andere. Die evtl. Hilfe aus der EG werde Zeit benötigen. Auch werde sich die EG am Grad der Zusammenarbeit der Nachfolgerepubliken untereinander bei ihrer Zusammenarbeit orientieren. Präsident T. erwiderte, es liege im kroatischen Interesse, wenn es zu einer wirtschaftlichen Zusammenarbeit der unabhängigen Republiken komme. Der Präsident sagte, das vorrangige Thema der Friedenskonferenz sei die Regelung der Sukzession. Hier gehe es vor allem um die Verteilung der Devisenguthaben. Bosnien und Herzegowina (B+H) Präsident T. sagte, B+H sei ein kleines Jugoslawien. Izetbegović betreibe die gleiche Politik wie früher Belgrad. Er wolle einen fundamentalistischen Staat errichten. Die Kroaten müssten dann auswandern. KRO sei für die Unabhängigkeit B+Hs unter der Voraussetzung, dass die Kroaten ein konstitutives Volk seien und nicht zur Minderheit erklärt würden. Falls B+H als unabhängiger Staat keine Zukunft habe, müsse gesagt werden, dass die Grenzen Kroatiens unnatürlich seien. Der Präsident gab zu verstehen, dass im Fall einer Auflösung B+Hs die kroatischen Gebiete in der Herzegowina und Nordbosnien an Kroatien fallen müssten. KRO trete jetzt aber entschieden für die Unabhängigkeit B+Hs ein. Wiederholung der Bitte um ungebundenen Finanzkredit durch D Präsident T. brachte nochmals seinen Dank gegenüber Bundeskanzler Kohl und BM Genscher für die Rolle zum Ausdruck, die sie bei der Erlangung der kroatischen Unabhän8 Zum Plan des Sonderbeauftragten des VN-GS für Jugoslawien, Vance, vgl. Dok. 2, Anm. 6. 9 Zur Suspendierung der Verkehrsabkommen mit Jugoslawien vgl. Dok. 23, Anm. 4.

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gigkeit gespielt hätten. Was nun die wirtschaftliche Zusammenarbeit betreffe, so hätten die Fachleute schon miteinander gesprochen.10 KRO habe heute ein dringendes Finanzproblem. Es müsse eine Armee von 200 000 Mann unterhalten, die zwar langsam demobilisiert werde. Die Demobilisierten bildeten dann aber eine Armee von Arbeitslosen. Gleichzeitig müsse es das sozialistische System reformieren. Die Flüchtlinge müssten wieder zurückgeführt werden. Dies alles koste viel Geld. Seine Regierung bitte die Bundesregierung um einen langfristigen Kredit von 500 Mio. DM. Ich erwiderte, dass ich es für so gut wie ausgeschlossen hielte, dass die Bundesregierung einen solchen Kredit gewähren könne. Ich stellte die finanziellen Lasten dar, welche D für den Wiederaufbau in Ostdeutschland tragen müsse. Außerdem beschrieb ich das große finanzielle Engagement, das D zur Abwendung eines Chaos in der früheren SU eingegangen sei, wodurch wir ganz Europa, also auch Kroatien, nützten. Der Präsident und der jetzt anwesende MP sagten, auch in KRO könne es zu sozialen Unruhen kommen. Ich fragte, ob KRO denn schon an andere befreundete Staaten wegen eines ungebundenen Finanzkredits herangetreten sei, z. B. an Österreich. Der MP erwiderte, es hätten Gespräche stattgefunden. Österreich habe an die EG verwiesen. Präsident T. glaubte, seine Bitte durch den Hinweis besonders dringlich zu machen, dass Investitionsangebote Italiens und Japans vorlägen. KRO wünsche D anstelle dieser Länder als starken Partner. Ich erwiderte, dass D keine Sonderrolle in KRO wünsche und dass wir im Gegenteil KRO ermutigen wollten, seine Beziehungen zu diversifizieren. MP Gregurić fragte, ob es nicht möglich sei, Projekte in Ostdeutschland im Betrag von 500 Mio. DM zu verschieben, um diese Summe KRO als Kredit zu gewähren. Ich machte deutlich, dass ich dies nicht für möglich hielte. Ich sagte, dass ich berichten werde, gab aber nochmals zu verstehen, dass ich hinsichtlich des Kredits keine Hoffnung machen könne. 2.1) Das merkwürdige Verhalten von Präsident Tudjman, der vorübergehenden Einschränkung der kroatischen Souveränität in den UNPAs zwar stets zuzustimmen, gleichzeitig aber doch Regelungen zu fordern, die dieser Zustimmung widersprechen, ist mit innenpolitischen Motiven zu erklären. Teile der Opposition, so die Sozialliberalen und die Christdemokraten – bemerkenswerterweise nicht die Reformkommunisten und auch nicht die Kroatische Volkspartei unter Frau Dabčević-Kučar –, machen lautstark gegen ein Stationierungsabkommen Stimmung, das Einschränkungen der kroatischen Souveränität impliziert. Auch ein großer Teil der Nationalgarde ist gegen ein solches Abkommen. Präsident Tudjman und seine Partei möchten sich in der Vorwahlkampfperiode11 nicht den Verrat kroatischer Interessen nachsagen lassen. Deshalb machen sie den Versuch einer „Nachbesserung“ 10 Zu den Expertengesprächen mit Kroatien vgl. Dok. 56, Anm. 19. Botschafter Weisel, Zagreb, berichtete am 26. Februar 1992, eine Delegation der Bundesbank habe zwei Tage lang Beratungsgespräche mit der kroatischen Zentralbank geführt. Vgl. DB Nr. 104; B 63, ZABd. 157118. Referat 420 notierte am 27. März 1992, der kroatische Wunsch nach einem ungebundenen Finanzkredit der Bundesregierung sei unerfüllbar: „Lösung muss zu gegebener Zeit in den Internationalen Finanzinstitutionen (IWF, Weltbank, G 24) gesucht werden. Wir setzen uns für eine Mitgliedschaft Kroatiens in diesen Institutionen ein.“ Vgl. B 63, ZA-Bd. 170786. 11 Am 2. August 1992 fanden in Kroatien Parlaments- und Präsidentschaftswahlen statt.

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31. März 1992: Gespräch zwischen Genscher und Wałęsa

gegenüber den VN, wobei sie sich über die geringen Erfolgsaussichten dieses Versuchs weitgehend im Klaren sein dürften, weil sie es auf einen Bruch mit den VN nicht ankommen lassen wollen. Der Fehler der Regierung ist, dass sie versäumt, gegen die Argumentation der Oppositionsparteien mit den adäquaten Mitteln vorzugehen: Sie müsste die Bevölkerung fragen, ob sie denn bei dem von der Opposition vorgeschlagenen Vorgehen, das den Bruch mit den VN in Kauf nehmen will, bereit sei, die Kosten eines weiteren Blutvergießens und eines weiteren wirtschaftlichen Niedergangs in Kauf zu nehmen. Vor diese Alternative hat die Regierung das Volk nie gestellt. 2.2) Was die Bitte um den ungebundenen Finanzkredit betrifft, so besteht auf kroatischer Seite die Vorstellung, dass D gegenüber KRO, nachdem es bei der Erlangung der Unabhängigkeit maßgeblich mitgeholfen habe – was aus historischer Freundschaft zum kroatischen Volk geschehen sei, wie man hier meint –, nun verpflichtet sei, auch die Hauptlast der vom Land nicht allein zu lösenden wirtschaftlichen Probleme zu übernehmen. Ich habe vom ersten Tag meines Hierseins12 in allen meinen Gesprächen und auch öffentlich dargestellt, welches unsere – von den kroatischen Vorstellungen abweichenden – Motive für die Hilfe bei der Erlangung der Unabhängigkeit waren, dass wir keine Sonderrolle in KRO spielen wollten und dass wir dringend dazu rieten, die Beziehungen zu diversifizieren, vor allem auch in Bezug auf die wirtschaftliche und finanzielle Zusammenarbeit. Ich habe hier als möglichen Partner immer zuerst die EG genannt. Die politische Führung ist – wie das heutige Gespräch erneut gezeigt hat –noch nicht bereit, unsere Motive und unsere Haltung als Wirklichkeit zu akzeptieren. Sie erwartet nach wie vor, dass wir die Rolle eines „Superpaten“ spielen. [gez.] Weisel B 42, ZA-Bd. 175606

90 Gespräch des Bundesministers Genscher mit dem polnischen Präsidenten Wałęsa 214-321.00 POL

31. März 19921

Staatsbesuch Lech Wałęsa (W.)2; hier: Frühstück des Staatspräsidenten mit BM am 31.3.1992 BM äußert eingangs seine Freude, mit W. zusammenzutreffen, und erläutert die Bedeutung, die W.s Besuch in D zukommt. 12 Botschafter Weisel trat seinen Posten in Zagreb mit Wirkung vom 15. Januar 1992 an. Zur Erteilung des Agréments durch die kroatische Regierung vgl. BULLETIN 1992, S. 223. 1 Der Gesprächsvermerk wurde von VLR I Derix am 1. April 1992 gefertigt. Hat BM Genscher am 4. April 1992 vorgelegen. Hat OAR Rehlen am 6. April 1992 vorgelegen, der den Rücklauf an Referat 214 verfügte. 2 Der polnische Präsident Wałęsa besuchte die Bundesrepublik vom 30. März bis 3. April 1992. VLR I Derix teilte am 3. April 1992 mit: „Es war der erste Besuch eines frei gewählten polnischen Staatsoberhaupts

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31. März 1992: Gespräch zwischen Genscher und Wałęsa

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Wałęsa: Sein Ziel sei, alles zu tun, um die Aussichten für ein friedliches Europa an der Schwelle zum dritten Jahrtausend umzusetzen. Alle freien Völker wollten in die EG und die NATO. Es sei aber ein Problem, sie alle gut aufzunehmen. BM führt aus, dass die EG in ihrer jetzigen Zusammensetzung nicht das letzte Wort sei. Die MOE-Staaten gehörten dazu. Die Assoziierungsverträge mit Polen, der ČSFR und Ungarn3 seien Vorbereitungsverträge für die volle Mitgliedschaft. In Bezug auf die GUS müsse die EG die Frage beantworten, wie sie sich auf die Entwicklungen dort einstellen wolle. Nach unserer Auffassung müsse die EG Vertragsinstrumente anbieten, die weniger seien als die Assoziierung, aber auf Zusammenhang ausgerichtet. Die Verträge sollten mit allen GUS-Staaten gleich sein. Sie würden dadurch mit der EG verbunden, ohne Mitglieder zu sein. Es entstünden dann zwei Kategorien: die Assoziierungsabkommen in der Beitrittsperspektive mit den MOE-Staaten und die Kooperationsverträge mit den GUS-Staaten. Wałęsa: Er verstehe, was BM sage. Er sei aber in der Revolution groß geworden. Man müsse etwas tun, damit auch die aus der Revolution erwachsenen Argumente Berücksichtigung fänden. Deshalb sei ein klarer Weg nötig, sozusagen eine Durchgangsphase zur EG („EG/B“) und NATO. Man müsse sich klar werden, wie diese Phase aussehen solle: Im wirtschaftlichen Bereich sollten die östlichen Staaten zusammenarbeiten und ihren Handel wiederaufbauen, aber nicht unter Moskauer Dominanz. BM fragt, ob W. an die GUS-Staaten oder die MOE-Länder denke. Wałęsa: Er denke an alle Länder im Osten einschließlich Polens. Sein Land habe bisher keine Zeit gehabt, seine Produktion umzustellen. Polen erreiche heute weniger als ein Zehntel der westlichen Effizienz. Das könne so nicht weitergehen. AM Skubiszewski stellt klar, die polnische Strategie im Verhältnis zur EG solle aber nicht in Zweifel gezogen werden. Der Assoziierungsvertrag sei ein Übergangsvertrag. BM: ... und ein Vorbereitungsvertrag für den Beitritt. Wałęsa führt aus, er wolle aber nicht zulassen, dass die Kooperationsbeziehungen zwischen den GUS-Staaten und den MOE-Ländern völlig aufgelöst würden. Man wolle natürlich den RGW nicht neu beleben. Es gehe aber um Zusammenarbeit, sonst werde eine Völkerwanderung einsetzen. Das sei eine große Sorge. Fin.M4 kommt auf einen „Dienstbier-Plan“ zu sprechen, wonach die drei Troika-Staaten (POL, TSE, UNG) sich für die Erhaltung eines Mechanismus wirtschaftlicher Zusammenarbeit im östlichen Europa aussprechen. Die Handelszahlen gingen in diesem Bereich deutlich zurück. Die EG und die Europäische Bank sollten deshalb Hermes-Deckungen für Osteuropa geben. BM fragt, wer mit Osteuropa gemeint sei. Fin.M: Das müsse man definieren: Es seien die alten RGW-Beziehungen.

Fortsetzung Fußnote von Seite 378 in Deutschland seit dem Wiedererstehen Polens als Staat im Jahre 1918.“ Vgl. RE Nr. 3913; B 42, ZABd. 171259. 3 Die EG schloss am 16. Dezember 1991 Europa-Abkommen zur Gründung einer Assoziation mit Polen bzw. Ungarn. Vgl. BGBl. 1993, II, S. 1317–1471 bzw. S. 1473–1714. Vgl. auch AAPD 1991, II, Dok. 407. Ebenso wurde ein entsprechendes Abkommen mit der ČSFR geschlossen. Vgl. BULLETIN DER EG 12/1991, S. 97 f. 4 Polnischer FM war Andrzej Olechowski.

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31. März 1992: Gespräch zwischen Genscher und Wałęsa

Wałęsa: Die EG denke, sie müsse viel Geld geben. Worum es gehe, sei zunächst, den Produktionsrückgang zu stoppen. Die Produktion dürfe nicht weiter absinken. Der Produktionsrückgangsstopp koste nicht viel. Erst die Investitionen kosteten Geld. BM fragt, ob Russland in der Lage sei, Zahlungen zu leisten im Rahmen eines Handelsaustausches. Wałęsa führt aus, ohne Kooperation werde Russland noch schlechter dastehen. Es komme deshalb darauf an, zuerst den Produktionsrückgang zu stoppen. Der Westen müsse sehen, dass es um eine Frage der Sicherheit gehe. Investitionen seien erst in einer zweite Phase gefragt. Der Westen brauche eine Orientierung, wie vorzugehen sei, er habe einen anderen Stil. Er, W., trete dafür ein, die Wirtschaftsbeziehungen neu zu ordnen, dann könne auch die EG besser entscheiden. AM schaltet sich erneut mit dem Hinweis ein, die Fakten änderten nichts am strategischen Ziel Polens, Mitglied der EG zu werden. Die Ratifizierung des Assoziierungsabkommens werde bei den Zwölf keine Probleme machen. In Polen werde der Agrarbereich gewisse Diskussionen auslösen; der Vertrag werde aber ratifiziert werden. Wałęsa erwähnt die östlichen Nuklearstaaten und das Streben einer Reihe östlicher Staaten, Mitglied der NATO zu werden. Vielleicht sollten sie zunächst in einer „NATOUntergemeinschaft“ („NATO/B“) bleiben. Alle Staaten sollten Gewaltverzicht unterstützen und Grenzen respektieren. Er spricht den Abzug der russischen Truppen an und äußert Sorge, weil heute niemand mehr wisse, wo die Raketen sich befänden. Die Lage sei deshalb auch gefährlicher als früher. Dies gelte auch in Bezug auf die Kernkraftwerke. BM: W. habe drei Probleme angesprochen: die Nuklearwaffen; hier gebe es elf Nuklearstaaten mit mehreren 10 000 taktischen Waffen, deren jede einzelne die Wirkung der Hiroshima-Bombe habe und hochmobil sei; die Kernkraftwerke, hier drohe Gefahr, es könne jederzeit etwas passieren; und die Migrationsbewegungen. Jedes dieser Probleme bedeute eine große Herausforderung, von der alle betroffen seien. Wałęsa stimmt zu; wenn man nicht organisiert vorgehe, werde es keine Lösung geben. Er wiederholt als sein Ziel im Wirtschaftsbereich das Bestreben, die Zusammenarbeit aufrechtzuhalten. Man habe die Entwicklung in der Ex-DDR vor Augen. Es gelte, den Blick nach Osten zu richten. In Straßburg habe er den Westen zu mehr Kooperation aufgefordert.5 Sonst werde es Emigrationswellen geben. Er appelliere an den Westen, seine Konzepte zu überdenken und zu verbessern. B 42, ZA-Bd. 171259

5 Für die Rede des polnischen Präsidenten Wałȩsa vor der Parlamentarischen Versammlung des Europarats am 4. Februar 1992 vgl. http://www.assembly.coe.int/nw/xml/Speeches/Speech-XML2HTML-EN.asp? SpeechID=249&a1=7&p2=2&lang=EN.

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31. März 1992: Vorlage von Bertram

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91 Vorlage des Vortragenden Legationsrats I. Klasse Bertram für Bundesminister Genscher 201-360.92 EK

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Über Dg 202, D 23 Herrn Staatssekretär4 Herrn Bundesminister Betr.:

Verstärkung der deutsch-französischen militärischen Zusammenarbeit; hier: Stand der Arbeiten am gemeinsamen Korps

Anlg.: 25 Zweck der Vorlage: Zur Unterrichtung und Vorbereitung für StS-Gespräch im ChBK über Auftragsformulierung6 1) BK Kohl und Präsident Mitterrand verständigten sich in ihrer gemeinsamen Initiative vom 14. Oktober 1991 darauf, die deutsch-französische militärische Zusammenarbeit über die bestehende Brigade7 hinaus in Richtung auf ein gemeinsames Korps auszubauen.8 Dieser deutsch-französische Großverband könne den Kern für ein europäisches Korps bilden, das allen WEU-Staaten zur Beteiligung offenstehe. Der Deutsch-Französische Verteidigungs- und Sicherheitsrat beauftragte am 15. November 1991 die beiden Verteidigungsminister und die Gremien der bilateralen Zusammenarbeit, zu seiner nächsten Sitzung (voraussichtlich 22. Mai 1992) entscheidungsreife Vorschläge für die Aufträge, die Struktur, die Organisation und einen Zeitplan für die Aufstellung des Großverbands vorzulegen.9 Der frühzeitigen Beteiligung anderer europäischer Partner sollte dabei besonderes Augenmerk gewidmet werden. 1 2 3 4

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Die Vorlage wurde von VLR Wenzel konzipiert Hat MDg Hofstetter am 31. März 1992 vorgelegen. Hat MD Chrobog am 31. März 1992 vorgelegen. Hat StS Kastrup am 27. April 1992 vorgelegen, der die Weiterleitung an BM Genscher strich und den Rücklauf an MD Chrobog verfügte. Hat Chrobog laut Vermerk vom 4. Mai 1992 erneut vorgelegen. Vgl. Anm. 15 und 18. StS Kastrup unterrichtete BM Genscher am 1. April 1992 über seine Besprechung mit MD Hartmann, Bundeskanzleramt, und StS Schönbohm, BMVg, am selben Tag im Bundeskanzleramt zur Auftragsbeschreibung des Eurokorps. Beide Gesprächspartner hätten „eine autonome europäische Option“ eingefordert, „die den Einsatz des Korps unabhängig von einem Tätigwerden der Vereinten Nationen ermögliche“. Er, Kastrup, habe abgelehnt, „ein Tätigwerden im Rahmen der Vereinten Nationen einem Einsatz im europäischen Rahmen“ gegenüberzustellen: „Auch der Handlungsspielraum der Politischen Union bestimme sich nach der VN-Charta.“ Zur Klärung der Rechtsfragen solle „Anfang Mai ein Ministergespräch unter Leitung des Bundeskanzlers“ stattfinden. Vgl. B 14, ZA-Bd. 161201. Am 22. Januar 1988 wurde in Paris die Aufstellung einer Deutsch-Französischen Brigade vereinbart. Vgl. AAPD 1988, I, Dok. 32. Für die Gemeinsame Botschaft des BK Kohl und des französischen Staatspräsidenten Mitterrand an den amtierenden EG-Ratspräsidenten, den niederländischen MP Lubbers, vgl. BULLETIN 1991, S. 929–931. Vgl. auch AAPD 1991, II, Dok. 347. Zu den deutsch-französischen Konsultationen am 14./15. November 1991, in deren Rahmen auch der bilaterale Verteidigungs- und Sicherheitsrat tagte, vgl. AAPD 1991, II, Dok. 401.

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Zur Umsetzung dieses Auftrags haben beide Verteidigungsministerien Arbeitsgruppen eingerichtet („AG Europäisches Korps“ im BMVg). Sie sollen in enger bilateraler Abstimmung bis Anfang Mai 1992 einen Bericht mit konkreten Vorschlägen an den deutsch-französischen Rat erarbeiten. Die Arbeiten wurden zügig in Angriff genommen, bedürfen jetzt aber in Teilaspekten politischer Weisungen, um zu weiteren Fortschritten zu gelangen. 2) Nach insgesamt drei Abstimmungsrunden (Seminare 1 bis 3), die Ende Januar begannen10, liegt eine Reihe von konkreten Ergebnissen vor. So konnte über den Umfang von Truppenbeiträgen im Grundsatz Einvernehmen erzielt werden. Deutscherseits sind eine Division mit zwei Brigaden und Divisionstruppen vorgesehen sowie ein Anteil an den Korpstruppen. Französischerseits sind die anderenfalls für den Abzug aus Deutschland vorgesehene 1. Panzerdivision mit Divisionstruppen sowie ein Anteil an den Korpstruppen vorgesehen. Zusammen mit dem französischen Beitrag zur deutsch-französischen Brigade könnten zwischen 15 000 und 16 000 französische Soldaten im Rahmen des gemeinsamen Korps in Deutschland stationiert bleiben. In den praktischen Fragen der Verwaltung, des Haushalts und der Einrichtung des Korpsstabes wurden Fortschritte erzielt, die sicherstellen, dass der Zeitplan mit einem Arbeitsbeginn Juli 1992 für den Aufstellungsstab eingehalten werden kann. Das zweite Seminar diente neben bilateralen Gesprächen auch der ausführlichen Information unserer WEU-Partner. Dabei wurde von uns und Frankreich unterstrichen, dass die deutsch-französischen Festlegungen zu Zeitplan, Aufträgen und Grundstruktur des Korps nicht zur Disposition stehen. SPA, BEL und LUX zeigten Interesse an dem deutsch-französischen Ansatz, ließen jedoch offen, ob, zu welchem Zeitpunkt und in welcher Größenordnung sie sich beteiligen wollen. 3) Im Verlauf der Gespräche konnte jedoch in mehreren Fragen grundsätzlicher Bedeutung keine Annäherung erreicht werden. Es handelt sich um die Frage der Aufträge und die Frage der Unterstellungsverhältnisse/NATO-Bindung, deren teils innenpolitische, teils bündnispolitische Relevanz über die fachbezogene Bedeutung hinausweist. 3 a) Aufträge Wir haben bei den Vorarbeiten für den beim nächsten Gipfel11 zu verabschiedenden Bericht über das gemeinsame Korps gegenüber dem BMVg und in den Arbeitssitzungen mit der französischen Seite auf die Wiederholung des von Ihnen für den „Zwischenbericht des französischen und deutschen Verteidigungsministers an den deutsch-französischen Verteidigungs- und Sicherheitsrat“ vom 28. November 1991 gebilligten Texts gedrängt:12 10 Zum ersten deutsch-französischen Arbeitstreffen (Seminar) am 28./29. Januar 1992 in Straßburg vgl. den Vermerk des VLR I Bertram vom 30. Januar 1992; B 14, ZA-Bd. 161201. Ein weiteres Seminar wurde am 19./20. Februar 1992 in Mendig abgehalten unter Beteiligung von Vertretern aus Belgien, Großbritannien, Italien, Luxemburg, den Niederlanden, Portugal und Spanien. Vgl. den Vermerk von Bertram vom 21. Februar 1992; B 14, ZA-Bd. 161201. Das dritte deutsch-französische Seminar fand vom 17. bis 19. März 1992 in Fontainebleau statt. 11 Zu den deutsch-französischen Konsultationen am 21./22. Mai 1992 in La Rochelle vgl. Dok. 142 und Dok. 144. 12 VLR I Bertram vermerkte am 9. Dezember 1991 für BM Genscher, mit Schreiben vom 29. November 1991 habe BM Stoltenberg Genscher mit der Bitte um Zustimmung den mit dem französischen VM Joxe abgestimmten „Zwischenbericht an den deutsch-französischen Rat für Verteidigung und Sicherheit“ vom Vortag übersandt, der inzwischen vom französischen AM Dumas gebilligt worden sei: „Die Verteidigungsminister hatten den Berichtsentwurf in der Sitzung des Ratskomitees am 15.11.1991 vorgelegt, wo

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Diese Aufträge müssen vorgesehen werden – entweder für die gemeinsame Verteidigung der Verbündeten in Anwendung des Art. V des Vertrages von Washington13, – oder zur Erhaltung und Wiederherstellung des Friedens auf der Grundlage eines Mandats der VN, – oder im Rahmen humanitärer Aktionen. Der Entwurf vom 28. November 1991 stellt diese Aufträge unter verfassungsrechtlichen Vorbehalt, den wir ebenfalls weitgehend unverändert übernehmen wollen: Dies wird im Rahmen der jeweiligen verfassungsrechtlichen Regelungen erfolgen. sowie: Auf die vom GG gesetzten Grenzen wird hingewiesen. BM Stoltenberg erklärte mit Schreiben vom 24. Februar 1992 sein Einverständnis mit der vorstehenden, Ihre Änderungswünsche berücksichtigenden Auftragsformulierung und bat um Ihre Zustimmung für die weitere Verwendung dieses Textes.14 Ein positiver Antwortentwurf wurde Ihnen am 18. März 1992 weisungsgemäß vorgelegt (Anlage 115). BM Stoltenberg bezog sich in seinem Brief auf ein Gespräch mit Verteidigungsminister Joxe und stellte eine französische Zustimmung zu dieser Auftragsformulierung in Aussicht. Dies erscheint jedoch neuerdings zweifelhaft. Von Anfang an ließ die französische Seite Schwierigkeiten mit einer für uns durch die Verfassung eingeschränkten Auftragsformulierung erkennen. Frankreich wünscht im Grunde eine seiner eigenen Rechtslage entsprechende, unkonditionierte Einsatzregelung für humanitäre Aktionen sowie bei den friedenssichernden Maßnahmen die Einsatzmöglichkeit nicht nur durch ein Mandat der Vereinten Nationen, sondern insbesondere auch durch die Politische Union. Die Botschaft Paris berichtete vergangene Woche, dass ihr auf hoher politischer Ebene im Élysée und Verteidigungsministerium die fehlende Europaoption als für Frankreich nicht akzeptabel bezeichnet worden sei.16 Die französische Seite insistiere auf der ursprünglichen − und von Ihnen in der damaligen Fassung nicht akzeptierten − Formulierung des Zwischenbericht-Entwurfs vom 28. November 1991: Diese Aufträge müssen vorgesehen werden – entweder für die gemeinsame Verteidigung der Verbündeten in Anwendung des Art. V des Vertrages von Washington, Fortsetzung Fußnote von Seite 382 er nicht die Zustimmung der beiden Außenminister erhielt. In dem anschließenden Treffen des Verteidigungsrats beim Bundeskanzler hatten Sie darauf hingewiesen, dass Sie ohne klaren Hinweis auf unsere verfassungsrechtlichen Schranken bei der Festlegung der möglichen Aufgaben für den zu bildenden Großverband dem Berichtsentwurf nicht zustimmen könnten“. Vgl. B 130, VS-Bd. 12183 (201), bzw. B 150, Aktenkopien 1991. Für den Zwischenbericht vom 28. November 1991 vgl. B 14, ZA-Bd. 161201. Genscher teilte Stoltenberg mit Schreiben vom 13. Dezember 1991 mit, er könne dem Zwischenbericht wegen verfassungsrechtlicher Bedenken weiter nicht zustimmen. Vgl. B 130, VS-Bd. 12183 (201), bzw. B 150, Aktenkopien 1991. 13 Für Artikel 5 des NATO-Vertrags vom 4. April 1949 vgl. BGBl. 1955, II, S. 290. 14 Für das Schreiben des BM Stoltenberg vom 24. Februar 1992 an BM Genscher vgl. B 14, ZA-Bd. 161201. 15 Dem Vorgang beigefügt. Für die Vorlage des VLR I Bertram für BM Genscher vgl. B 14, ZA-Bd. 161201. 16 Gesandter Heinichen, Paris, informierte am 27. März 1992 über „kritische frz. Stimmen zu der in F als zu restriktiv empfundenen Auftragsbeschreibung für das Eurokorps“. Vgl. DB Nr. 805; B 14, ZA-Bd. 161201.

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– oder zur Erhaltung und Wiederherstellung des Friedens auf der Grundlage von Weisungen der Politischen Union oder eines Mandats einer internationalen Organisation (VN, KSZE), – oder im Rahmen humanitärer Aktionen. Die von französischer Seite damit erneut und teilweise überraschend geäußerte Kritik unterscheidet zwischen dem – einerseits von uns gewünschten Hinweis auf unsere verfassungsrechtlichen Schranken bei der Festlegung der Auftragsoptionen. Sie hatten in Ihrem Gespräch am 12. März 1992 Außenminister Dumas erläutert, dass unter Berücksichtigung des zeitlichen Aspekts kein praktisches Problem für das Korps entstehen könne.17 Eine Verfassungsänderung würde in jedem Fall vor der geplanten Einsatzbereitschaft des Korps liegen. AM Dumas hatte dieser Beurteilung zugestimmt und war sich mit Ihnen einig, dass bis zum deutsch-französischen Gipfel am 21./22. Mai 1992 eine Formulierung gefunden werden müsse, wonach der Einsatz des Korps „in den Grenzen der jeweiligen Verfassungen“ beider Seiten stattfinde. Unklar ist allerdings, ob und wie das französische Verteidigungsministerium diese Absprache mitträgt, – und andererseits der als unverzichtbar angesehenen Erweiterung der Auftragsformulierung um eine europäische Perspektive. Die von französischer Seite hierfür gewünschte Formulierung aus dem Zwischenberichts-Entwurf vom 28. November 1991 hatten Sie seinerzeit ausgeschlossen. Mit Schreiben vom 24. März 1992 an Sie und BM Stoltenberg hat der Bundeskanzler darum gebeten, dass vor weiteren Gesprächen mit der französischen Seite zunächst unter der Federführung des Bundeskanzleramts eine einvernehmliche deutsche Haltung erarbeitet wird (Anlage 218). 3 b) Unterstellungsverhältnisse und NATO-Bindung Hier geht es um die Frage der Unterstellung der deutschen und französischen Truppen unter das Korps sowie die Kompatibilität dieser Regelungen mit bestehenden Bündnisverpflichtungen. Aus den französischen Vorstellungen könnten sich für uns bündnispolitische Schwierigkeiten ergeben. Frankreich wünscht, dass durch eine möglichst unmittelbare Friedensunterstellung der jeweiligen Truppen unter den gemischten Korpsstab die Existenz des gemeinsamen Korps nach außen hin verdeutlicht wird. Eine weiterbestehende NATO-Assignierung der für das Korps vorgesehenen Bundeswehrverbände sei verzichtbar. Ihre Verbindung zur NATO sei stets dann de facto gegeben, wenn das Korps im NATO-Rahmen eingesetzt werde. Hierzu erkläre sich Frankreich aber bereit. Vorgesehen sei deshalb eine Vereinbarung, die den Einsatz des Korps als Ganzes im Rahmen der NATO regelt. Frankreich glaubt, dass die NATO-Verbündeten dies akzeptieren werden, und verweist auf das in Rom beschlossene Neue Strategische Konzept des Bündnisses19, das in Ziffer 52 nach französischer Interpretation ein solches Vorhaben legitimiere: 17 Für das Gespräch in Paris vgl. Dok. 78. 18 Dem Vorgang beigefügt. Für das Schreiben von BK Kohl vgl. B 14, ZA-Bd. 161201. 19 Für das bei der NATO-Gipfelkonferenz am 7./8. November 1991 verabschiedete Strategiekonzept vgl. https://www.nato.int/cps/en/natohq/official_texts_23847.htm?selectedLocale=en. Für den deutschen Wortlaut vgl. BULLETIN 1991, S. 1039–1048. Zur Gipfelkonferenz vgl. AAPD 1991, II, Dok. 375 und Dok. 376.

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„(...) Integrierte und multinationale europäische Strukturen werden in dem Maße, wie sie im Kontext einer sich herausbildenden europäischen Verteidigungsidentität weiterentwickelt werden, ebenfalls zunehmend eine ähnlich wichtige Rolle zu spielen haben bei der Stärkung der Fähigkeit der Verbündeten, auf dem Gebiet der gemeinsamen Verteidigung zusammenzuarbeiten. (...)“ Wir haben Zweifel, dass diese Interpretation im Bündnis geteilt wird. Bundeskanzler und BMVg haben mehrfach erklärt, dass aufgrund der NATO-Integration unserer Streitkräfte eine Aufhebung bzw. Änderung der NATO-Assignierung unserer für das Korps vorgesehenen Truppenverbände ausgeschlossen sei. Ausgeschlossen ist damit auch die von Frankreich gewünschte Friedensunterstellung der deutschen Truppen. Eine „Doppelassignierung“ unserer Verbände auch für das Korps ist in der präzisen Bedeutung des entsprechenden NATO-Verfahrens nicht möglich. Denkbar ist jedoch eine neue zusätzliche Aufgabenzuweisung für das Korps, für die zu ihrer vertragsmäßigen Umsetzung noch eine geeignete Formulierung gefunden werden muss. (BK in Regierungserklärung vom 6. November 1991: „Ich will dabei klarstellen, dass deutsche Einheiten, die hierfür vorgesehen werden, nicht ihrer NATO-Verpflichtung entzogen werden. Vielmehr handelt es sich darum, ihnen eine zusätzliche Aufgabe zuzuweisen.“20) Das BMVg geht davon aus, dass unter Beibehaltung der ausschließlichen NATOAssignierung ein Katalog zusätzlicher Aufgaben für die deutschen Truppenteile vereinbart und dem gemeinsamen Korpsstab entsprechende Planungs- und Übungsbefugnisse eingeräumt werden können. Eine NATO-verträgliche Lösung wird für möglich gehalten, an der gegenwärtig im BMVg allerdings noch gearbeitet wird. Die bisherigen Gespräche mit Frankreich haben insoweit noch zu keinem Ergebnis geführt. 4) In der Sitzung der deutsch-französischen Arbeitsgruppe Strategie und Abrüstung vom 19. März 1992 unter Leitung von Dg 20 und StAL Fü S III, Generalmajor Eisele, zeigten sich zu vorstehenden Fragen auf der französischen Seite Bewertungsunterschiede, die teilweise auch Koordinations- und Abstimmungsprobleme offenbarten.21 Da der von BK Kohl und Präsident Mitterrand zur Vorlage in der Sitzung des Deutsch-Französischen Verteidigungsund Sicherheitsrates am 22. Mai 1992 verlangte Bericht zuvor von den Außen- und Verteidigungsministern gebilligt werden muss, wurde in der AG vereinbart, dass der deutschfranzösische Ausschuss (Ebene D 2, Generalinspekteur22) in seiner Sitzung am 30. April 1992 den Entwurf des Berichts berät und ihn soweit wie möglich verabschiedungsreif machen soll. Bertram B 14, ZA-Bd. 161201

20 Für die Äußerungen von BK Kohl vgl. BT STENOGRAPHISCHE BERICHTE, 12. WP, 53. Sitzung, S. 4366. 21 Zur Sitzung der deutsch-französischen Arbeitsgruppe Strategie und Abrüstung vgl. den Vermerk des VLR I Bertram vom 20. März 1992; B 14, ZA-Bd. 161201. 22 Klaus Naumann.

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1. April 1992: Vorlage von Ackermann

92 Vorlage des Vortragenden Legationsrats I. Klasse Ackermann für Bundesminister Genscher 424-411.10 TUR

1. April 19921

Über Herrn Dg 422, Herrn D 4 i. V.3, Herrn Staatssekretär4 Herrn Bundesminister5 Betr.: Ausfuhrgenehmigungen für Kriegswaffen und sonstige Rüstungsgüter in die Türkei Anlg.: 36 Zweck der Vorlage: Mit der Bitte um Zustimmung zu IV. (Bitte an BMWi, bis auf Weiteres alle Anträge auf Ausfuhrgenehmigungen für Kriegswaffen und Rüstungsgüter in die Türkei zurückzustellen7, und Mitteilung an das BMWi, dass das Auswärtige Amt damit einverstanden ist, dass bereits erteilte, aber noch nicht ausgenutzte Genehmigungen nicht widerrufen werden.) I. 1) Angesichts der Entwicklungen in der Türkei und der Haltung der Bundesregierung zur Frage von Waffenexporten in die Türkei (öffentliche Erklärungen von Ihnen8 und von 1 2 3 4 5

Die Vorlage wurde von VLR Friedrich konzipiert. Hat MDg Schönfelder am 1. April 1992 vorgelegen. Hat in Vertretung des MD Dieckmann MDg von Kyaw am 1. April 1992 vorgelegen. Hat StS Lautenschlager am 1. April 1992 vorgelegen. Hat BM Genscher am 3. April 1992 vorgelegen, der handschriftlich vermerkte: „1) Mit dem Verfahren für laufende und künftige Anträge einverstanden. 2) Nicht einverstanden mit Behandlung schon erteilter, aber noch nicht ausgenutzter Genehmigungen. Hier sollte Auslieferung vorläufig unterbleiben. Es muss abgewartet werden, welche Bedeutung dem Signal des Ausschusses vom 7.11.1991 in Zukunft gegeben wird. BSR muss sich mit der Gesamtproblematik Türkei befassen. Bis dahin darf keine Auslieferung erfolgen.“ Hat OAR Rehlen am 3. April 1992 vorgelegen, der den Rücklauf über das Büro Staatssekretäre, MD Dieckmann und MDg Schönfelder an Referat 424 verfügte. Hat VLR Wittig am 3. April 1992 vorgelegen, der handschriftlich vermerkte: „Vorab telef[onisch] unterrichtet.“ Hat StS Lautenschlager am 3. April 1992 erneut vorgelegen. 6 Vgl. Anm. 10, 11 und 13. 7 An dieser Stelle wurde von StS Lautenschlager handschriftlich eingefügt: „im Sinne des retardierenden Verfahrens gemäß Ziffer I.2 bei Überprüfung etwa nach Ostern (erneute Leitungsentscheidung).“ 8 Das Pressereferat des Auswärtigen Amts teilte mit Information Nr. 109 vom 26. März 1992 mit, BM Genscher habe am 25. März 1992 die portugiesische EG-Ratspräsidentschaft gebeten, „einen gemeinsamen Protest der Europäischen Gemeinschaften bei der türkischen Regierung gegen die militärischen Aktionen gegen die kurdische Zivilbevölkerung zu unternehmen und die türkische Regierung aufzufordern, die Menschenrechte und die Minderheitenrechte zu respektieren“. Zudem habe Genscher gebeten, die EG solle beantragen, dass sich die KSZE „mit den Ereignissen in der Türkei“ befasse. Auf Genschers Weisung habe zudem StS Kastrup am 26. März 1992 den türkischen Geschäftsträger einbestellt und „mit großem Nachdruck umgehende Aufklärung darüber erbeten, ob bei Einsätzen der türkischen Sicherheitskräfte gegen Kurden aus Deutschland stammende NVA-Waffen verwendet wurden. In Fernsehaufnahmen seien solche Waffen erkennbar gewesen.“ Falls dies zuträfe, sei dies „ein klarer Vertragsbruch […], der nicht ohne Auswirkungen auf die deutsch-türkischen Beziehungen und die künftige verteidigungspolitische Zusammenarbeit bleiben könne.“ Vgl. B 70, ZA-Bd. 220589.

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Regierungssprecher Vogel9 − Anlage 110) hat das Auswärtige Amt (Dg 42) am 27.3.1992 BMWi und BMF schriftlich gebeten, bis auf Weiteres keine Ausfuhrgenehmigungen für Waffen und sonstige Rüstungsgüter sowie für alle Lieferungen an militärische Empfänger in der Türkei zu erteilen (Anlage 211). Das Schreiben ging nachrichtlich auch an ChBK, BMVg, BMJ, BND und BAW. Vor dem Hintergrund des Konfliktes zwischen der Türkei und der kurdischen Bevölkerung hatte das BMWi bereits am 26.3.1992 das BAW angewiesen, alle Anträge von bestimmten Rüstungsgüterpositionen der Ausfuhrliste, die insbesondere landgestützte Waffen- und Flugsysteme betreffen, dem BMWi zur Genehmigung vorzulegen. Nach Eingang des Schreibens des Auswärtigen Amtes wies das BMWi das BAW an, keinerlei Genehmigungen für die Lieferungen von Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern in die Türkei mehr zu erteilen und alle entsprechenden Anträge den Ressorts (BMWi und Auswärtiges Amt) zur Stellungnahme zuzuleiten. Über Exporte von Kriegswaffen wird vom BMWi selbst in Abstimmung mit den Ressorts entschieden. 2) Das BMWi schlägt vor12, bei künftigen Anträgen das bereits eingeschlagene retardierende Verfahren der Vorlage aller Einzelfälle beim BMWi weiterzuverfolgen. BM Möllemann hat am 31.3.1992 dieses Verfahren gebilligt (s. als Anlage 3 beigefügte Vorlage des BMWi13). Das BMWi hat das Auswärtige Amt um Zustimmung gebeten. II. 1) Für das Auswärtige Amt stellt sich die Frage, welche Haltung hinsichtlich in der Zukunft zu erteilender Ausfuhrgenehmigungen für Kriegswaffen und sonstige Rüstungsgüter eingenommen werden soll. Hierfür bieten sich vier Optionen an: a) Das BMWi könnte formell − gegebenenfalls durch Beschluss der Bundesregierung – aufgefordert werden, bis auf Weiteres alle entsprechenden Anträge abzulehnen. Dies würde praktisch ein Waffenembargo gegenüber dem NATO-Partner Türkei darstellen, was erhebliches Aufsehen erregen dürfte. Ein solcher Beschluss dürfte sowohl unsere Beziehungen zur Türkei nachhaltig beeinträchtigen, wie auch Irritationen im Verhältnis zu unseren übrigen NATO-Partnern hervorrufen. Eine solche weitgehende präzedenzlose Maßnahme empfiehlt sich daher nicht. b) Das BMWi könnte aufgefordert werden, bis auf Weiteres alle Anträge auf Ausfuhrgenehmigung für Kriegswaffen und sonstige Rüstungsgüter zurückzustellen, ohne eine Entscheidung in der Sache zu treffen. Dies hätte den Vorteil, dass ohne formellen Beschluss in der gegenwärtigen Situation keine Genehmigungen für Kriegswaffen und sonstige Rüstungsgüter in die Türkei erteilt würden und dass Ablehnungen vermieden würden. Dieses 9 StS Vogel, BPA, erklärte am 26. März 1992, die Bundesregierung bekräftige ihre Erklärung vom Vortag hinsichtlich des Vorgehens türkischer Sicherheitskräfte im Südosten der Türkei und dringe auf umgehende Stellungnahme zur Frage, „ob und inwieweit von Deutschland geliefertes Rüstungsmaterial bei den Einsätzen benutzt worden ist“. Im Rahmen der NATO-Verteidigungshilfe geliefertes Material dürfe „ausschließlich durch die türkischen Streitkräfte und nur zu Abwehr eines bewaffneten Angriffes auf das NATO-Vertragsgebiet“ verwendet werden; alles andere sei eine Verletzung bestehender Abkommen: „Solange diese Fragen nicht restlos und befriedigend geklärt sind, wird die Bundesregierung kein Rüstungsmaterial an die Türkei liefern.“ Vgl. BULLETIN 1992, S. 323. 10 Dem Vorgang beigefügt. Vgl. Anm. 8 und 9. 11 Dem Vorgang beigefügt. Für das Schreiben des MDg Schönfelder vgl. B 70, ZA-Bd. 220589. 12 An dieser Stelle wurde von StS Lautenschlager handschriftlich eingefügt: „(mit Schreiben vom 31.3.).“ 13 Dem Vorgang beigefügt. Für die Vorlage des BMWi vom 30. März 1992 vgl. B 70, ZA-Bd. 220589.

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Verfahren ließe sich allerdings nur für begrenzte Zeit anwenden und müsste im Lichte der laufenden Entwicklung, etwa nach Ostern14, erneut überprüft werden. c) Das Auswärtige Amt könnte dem von BM Möllemann gebilligten Verfahren zustimmen, dass über alle Anträge für Rüstungslieferungen in die Türkei erst nach Leitungsentscheidung im Einzelfall entschieden wird. Dies hätte den Vorteil, dass auf die besonderen Gegebenheiten des Einzelfalls besser eingegangen werden kann und dass weniger sensitive Ausfuhren von Rüstungsgütern (etwa Ersatzteile für Kriegsschiffe oder Funkgeräte) genehmigt werden können. Auf der anderen Seite müsste die Leitung des Auswärtigen Amtes zu einer Fülle von Einzelfällen Stellung nehmen, ohne dass sich möglicherweise ein anderes Ergebnis ergibt als bei einer generellen Zurückstellung. Bei diesem Verfahren läge der Onus der Nicht-Genehmigung und der Verzögerung in jedem Einzelfall im Endergebnis beim Auswärtigen Amt. d) Das Auswärtige Amt könnte sich für eine Zurückstellung lediglich der Anträge zur Ausfuhr von Kriegswaffen15 aussprechen. Damit würde es allerdings weniger weit gehen als das BMWi. 2) Bei Abwägung der Vor- und Nachteile der genannten Optionen erscheint Option 1 b) (vorläufige Zurückstellung aller Anträge) der gegenwärtigen Situation am ehesten gerecht zu werden. Das Auswärtige Amt sollte sich daher in diesem Sinne gegenüber dem BMWi äußern. III. 1) Einen besonderen Aspekt stellen die bereits erteilten, aber noch nicht ausgeschöpften Ausfuhrgenehmigungen dar. Es stellt sich die Frage, ob in diesen Fällen ein Widerruf erforderlich ist. Bei Kriegswaffen käme ein Widerruf infrage, wenn die Gefahr besteht, dass sie bei einer friedenstörenden Handlung verwendet werden. Bei sonstigen Rüstungsgütern wäre ein Widerruf möglich, wenn die Gefahr besteht, dass die auswärtigen Beziehungen der Bundesrepublik Deutschland durch den geplanten Export erheblich gestört werden. In beiden Fällen entsteht jedoch eine Entschädigungspflicht der Bundesregierung. 2) Bei den bereits erteilten KWKG-Genehmigungen handelt es sich nach Auskunft des BMWi um folgende Fälle: – Als schwimmende Ware 50 Maschinengewehre und 50 Granatpistolen mit Zubehör (Fa. Heckler & Koch) an die türkische Gendarmerie. Wert: DM 329 000. Das türkische Schiff hat am 24. März Hamburg verlassen. Voraussichtliche Ankunft in der Türkei zwischen dem 6. und 12. April. – Diverse Ersatzteillieferungen u. a. für Fregatten (werden zurzeit im Hamburger Freihafen noch festgehalten). – Laufende Fertigung für Restlieferungen für U-Boote (Fa. HDW). Nächste Auslieferung: Torpedorohrsektion im Juli und Dezember 1992 sowie Waffenleitanlagen und Radar in 1993. – Gesamtwert der Restlieferungen ca. DM 80 Mio. Gesamtwert der U-Boote: DM 400 Mio. – Laufende Fertigung von zwei Fregatten (Fa. Blohm & Voss). Gesamtwert des deutschen Lieferanteils DM 600 Mio. Erste Auslieferung eines Teilesatzes im Frühjahr 1993. 14 19./20. April 1992. 15 Korrigiert aus: „Ausfuhr Kriegswaffen“.

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1. April 1992: Vorlage von Ackermann

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– Rücklieferung im türkischen Eigentum stehender und in Deutschland instandgesetzter Teile für Sidewinder-Raketen. – Transport von 56 US-Kampfpanzern M 60-A 1 und 77 US-Kampfpanzern M 60-A 3 durch eine deutsche Firma. Es handelt sich um US-Lieferungen im Zusammenhang mit dem KSE-Vertrag. Das deutsche Unternehmen ist nur deswegen beauftragt worden, weil den USA nicht genügend Transportkapazität zur Verfügung steht. 3) Bei den AWG-Genehmigungen ist − ebenfalls nach Auskunft des BMWi – eine Übersicht der noch nicht ausgenutzten Genehmigungen nicht verfügbar. Es muss jedoch davon ausgegangen werden, dass vom Gesamtwert der Genehmigungen von DM 140 Mio. allein der letzten zwölf Monate noch zahlreiche Projekte vor der (Rest-) Abwicklung stehen. 4) Das BMWi schlägt in der beigefügten Vorlage vor, von einer Rücknahme dieser Genehmigungen abzusehen. Dieser Haltung sollte sich das Auswärtige Amt anschließen. – Die Bundesregierung hat keine Möglichkeit, das türkische Schiff zu stoppen, da es die deutschen Hoheitsgewässer verlassen hat. – Die Rücklieferung türkischen Eigentums und die Lieferung von Ersatzteilen und Teilen für bereits begonnene Projekte sollten auch in der gegenwärtigen Situation nicht versagt werden. – Die Lieferung der Teile für die Fregatten steht erst ab 1993 an. – Ein Eingriff in Lieferungen der USA wäre geeignet, die Beziehungen zu den USA zu belasten. – Eine Rücknahme der Genehmigungen würde erhebliche Regressforderungen an die Bundesregierung auslösen. – Die bereits beeinträchtigten deutsch-türkischen Beziehungen sollten nicht zusätzlich durch den Vorwurf mangelnder Vertragstreue belastet werden. IV. Es wird daher um Zustimmung gebeten, das BMWi zu bitten, bis auf Weiteres16 alle Anträge auf Ausfuhrgenehmigungen für Kriegswaffen und Rüstungsgüter in die Türkei zurückzustellen und dem BMWi ferner mitzuteilen, dass das Auswärtige Amt damit einverstanden ist, dass bereits erteilte, aber noch nicht ausgenutzte Genehmigungen nicht widerrufen werden.17 D 218 i. V. hat mitgezeichnet. Ackermann B 70, ZA-Bd. 220589 16 An dieser Stelle wurde von StS Lautenschlager handschriftlich eingefügt: „bei Überprüfung etwa ‚nach Ostern‘.“ 17 VLR I Ackermann unterrichtete BM Genscher am 6. April 1992, das BMWi sei noch am 3. April 1992 über Genschers Weisung auf der Vorlage vom 1. April 1992 unterrichtet worden und plane nun eine im Umlaufverfahren zu verabschiedende BSR-Vorlage, die an seiner bisherigen Position festhalte: „Bei bestehenden Genehmigungen Absehen von einer Rücknahme; bei zukünftigen Genehmigungen retardierendes Verfahren“. Die von Genscher gewünschte Aussetzung der Auslieferung bereits genehmigter, aber noch nicht vollzogener Rüstungsgüter sei „nur durch eine vorherige Entscheidung auf Regierungsebene“ zu erreichen. Selbst bei Widerspruch gegen die BSR-Vorlage des BMWi würden Lieferungen mit gültiger Ausfuhrgenehmigung nicht ausgesetzt „bis zu einer eventuellen Entscheidung des Bundeskabinetts oder des BSR im mündlichen Verfahren“. Ackermann argumentierte, das Verfahren des BMWi biete den Vorteil, „die Verantwortung für die Behandlung der Rüstungsexporte in die Türkei zu einer Angelegenheit

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2. April 1992: Vorlage von Elbe

93 Vorlage des Ministerialdirektors Elbe für Bundesminister Genscher 2. April 19921 Über Herrn Staatssekretär2 Herrn Bundesminister3 Betr.:

Islam und Fundamentalismus

Zur Unterrichtung Seit der Etablierung der betont anti-westlichen Islamischen Republik Iran Ayatollah Khomeinis4 und verstärkt durch pro-irakische Emotionen in der islamischen Welt während des zweiten Golfkriegs verbreitet sich im Westen zunehmend ein Gefühl der Bedrohung durch islamischen Fundamentalismus. Mit dem Ende des Ost-West-Konflikts scheint sich die Islam­Perzeption im Westen vielfach zu einem neuen weltpolitischen Feindbild zu verdichten. Dabei werden häufig Pauschalurteile gefällt, die dem durchaus differenzierten Phänomen des Islam als Religion und als Gesellschaftsordnung nicht gerecht werden und einen vorurteilsfreien Dialog mit der islamischen Welt ebenso erschweren wie das Verständnis für die Ursachen und Motive fundamentalistischer Strömungen. Es trifft zu, dass seit den 70er Jahren und verstärkt seit der islamischen Revolution im Iran eine Re-Islamisierungswelle vor allem im arabischen Raum und in Vorderasien zu verzeichnen ist, die in jüngster Zeit auch die südlichen GUS-Republiken berührt. Sie ist in Fortsetzung Fußnote von Seite 389 der gesamten Bundesregierung“ zu machen. Eine Suspendierung bestehender Rüstungsexport-Genehmigungen sei in der Praxis „kaum durchführbar“. Eine Rücknahme aller Genehmigungen könne „Schadensersatzforderungen von ungewisser Höhe an die Bundesregierung auslösen“ und stelle ein „De-factoWaffenembargo“ dar, das „zu einer erheblichen weiteren Belastung unserer Beziehungen zur Türkei führen“ und die Bundesrepublik „im Kreise unserer westlichen Partner isolieren“ werde. Daher solle dem Vorhaben des BMWi nicht widersprochen werden. Genscher vermerkte indes am selben Tag handschriftlich: „Es bleibt bei meiner Entscheidung. Worauf sollen sich Schadensersatzforderungen stützen?“ Vgl. B 70, ZA-Bd. 220589. 18 Jürgen Chrobog. 1 Die Vorlage wurde von VLRin Dunkl konzipiert. 2 Hat StS Kastrup am 2. April 1992 vorgelegen. 3 Hat BM Genscher vorgelegen. Hat VLR Wittig am 10. April 1992 vorgelegen, der den Rücklauf über das Büro Staatssekretäre an MD Elbe verfügte und handschriftlich vermerkte: „S[iehe] Anm. BM S. 2.“ Vgl. Anm. 5. Hat VLR I Reiche am 10. April 1992 vorgelegen. Hat Elbe erneut vorgelegen. 4 Im Iran kam es seit Januar 1978 zu sich ständig verschärfenden Demonstrationen gegen die Herrschaft des Schahs Reza Pahlevi, der das Land am 16. Januar 1979 verließ. Nach der Rückkehr von Ayatollah Khomeini aus seinem Exil in Frankreich am 1. Februar 1979 wurde am 1. April 1979 die Islamische Republik Iran proklamiert. Vgl. AAPD 1978, II, Dok. 258, Dok. 332, Dok. 340, Dok. 362 und Dok. 393, sowie AAPD 1979, I, Dok. 49 und Dok. 103.

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2. April 1992: Vorlage von Elbe

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erster Linie eine Protestbewegung in Reaktion auf das Versagen von (westlich bzw. nördlich orientierten oder beeinflussten) Entwicklungsmodellen. Ihre Ursachen liegen in sozialen Spannungen aufgrund wirtschaftlicher Krisen und Verteilungsungerechtigkeiten, in der politischen Krise der arabischen Welt nach der Niederlage gegen Israel und in der kulturellen Desorientierung durch die westliche, insbesondere technologische, Herausforderung. Alle diese Faktoren beinhalten Elemente der Kritik an der westlichen Welt und geben dem Islamismus eine spürbar anti-westliche Färbung. Er ist jedoch keine vorrangig und schon gar nicht geschlossen gegen den Westen (Norden) formierte Kampffront. Einer undifferenzierten Ablehnung und Dämonisierung der islamischen Welt ist entgegenzuhalten: Islam ist nicht gleich Fundamentalismus, islamische Welt ist nicht gleich arabische Welt, und Fundamentalismus ist keine islamische Spezialität.5 Die islamischen Gesellschaften befinden sich in einem Dilemma. Auf der einen Seite erhebt der Islam Absolutheitsanspruch als einzig wahre Religion, die sich zugleich als bestes, da gottgegebenes gesellschaftliches Ordnungssystem (Gottesstaat) versteht. Auf der anderen Seite steht die Realität eigener Unterentwicklung angesichts überlegener westlicher Wirtschaftsmacht und Technologie, aus der sich der Zwang zur Modernisierung ergibt. Die Reaktion der islamischen Welt auf diese westliche Herausforderung ist durchaus unterschiedlich: – Säkulare Konzepte, die sich nicht (vorrangig) islamisch legitimieren, vertreten nach europäischem Vorbild die Trennung von Religion und Staat. Sie betrachten den traditionellen Islam als ungeeignete Basis für eine moderne Gesellschaft und als hinderlich für wirtschaftlich-technologischen Fortschritt und wollen ihn auf die religiöse Rolle beschränkt sehen. Beispiele sind die Baath-Parteien in Syrien und Irak, der Kemalismus in der Türkei und der ägyptische Nationalismus Nassers. Orthodoxe Moslems haben diese säkulare Trennung von Staat und Religion stets bekämpft und sahen sich deshalb immer wieder (etwa in Syrien und Ägypten) der Verfolgung ausgesetzt. Es ist allerdings nicht zu übersehen, dass das Ausbleiben erhoffter Modernisierungserfolge zur Überwindung der Unterentwicklung den islamischen Säkularismus und seine Nachahmung europäischer Vorbilder zunehmend unter Druck auch vonseiten breiter Bevölkerungsschichten bringt. Re-Islamisierungstendenzen haben in den 80er Jahren in Irak und Ägypten und auch in dem am stärksten säkular geprägten islamischen Staat, der Türkei, zugenommen; sie konnten sich aber bisher mangels überzeugender alternativer Entwicklungskonzepte nicht gegen die etablierten säkularen Kräfte durchsetzen. Dies trifft auch auf die südlichen GUS-Republiken zu, wo trotz Re-Islamisierungsbestrebungen nach dem Wegfall der sowjetischen Repression nicht eine islamische Revolution à la Iran, sondern Modernisierung unter säkularen Vorzeichen den größten Anklang zu finden scheint. Es existieren allerdings zum Teil dieselben oder ähnliche soziokulturelle und materielle Bedingungen, die in anderen Teilen der islamischen Welt fundamentalistische Opposition begünstigt haben, sodass bei schlechter wirtschaftlicher Entwicklung eine Zunahme fundamentalistischer Strömungen nicht ausgeschlossen ist. 5 Dieser Satz wurde von BM Genscher hervorgehoben. Dazu vermerkte er handschriftlich: „Sehr richtig!“ Vgl. Anm. 3.

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2. April 1992: Vorlage von Elbe

Wie sich der bisher stark unterdrückte Islam in Jugoslawien/Bosnien und in Albanien weiterentwickeln wird, ist noch offen; bisher hat wohl auch dort die säkulare Variante die größten Chancen. – Eine Mittelposition vertreten die islamischen Liberalen. Sie sehen zwar im Islam − und nicht in europäischen Vorbildern − die Basis für die gesellschaftlich-politische Ordnung (Einheit von Religion und Staat) und halten an den grundlegenden Werten und Forderungen des Islam fest. Sie sind aber bereit, ihn durch Reformen in großzügiger Auslegung des Korans an moderne Verhältnisse anzupassen. Beispiele finden sich im Maghreb und in außerarabischen islamischen Ländern Asiens. Die reformistische islamische Bewegung im Maghreb (Salaffiyya) geht auf die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts zurück und entwickelte sich in Ägypten in den 20er Jahren dieses Jahrhunderts zur Grundlage einer religiös-politischen Bewegung. Sie ist der Versuch, zwischen den orthodoxen islamischen Institutionen und den neuen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Kräften zu vermitteln, um dem Islam die gesellschaftliche Ordnungsfunktion unter modernen Bedingungen zu erhalten. Die reformistische Bewegung erfuhr, neben Ägypten vor allem in Tunesien, Algerien und Marokko einen starken Aufschwung und entwickelte jeweils in der Auseinandersetzung mit dem Kolonialsystem eine religiös-nationalistische Prägung, die (eigentlich im Gegensatz zum islamischen Einheitsgedanken) den Übergang zum Nationalstaat mittrug. Ein konkretes Programm für den Aufbau einer neuen, modernitätskonformen islamischen Ordnung, ein durchgängiges Konzept des islamischen Liberalismus hat der Reformismus im Maghreb aber nicht anzubieten. In den islamischen Staaten Süd- und Südostasiens traf der Islam von Anfang an auf ein soziokulturell und mentalitätsmäßig anderes Umfeld als im arabischen Raum. Die unmittelbare ständige Auseinandersetzung mit anderen großen Religionen und größere Offenheit und Flexibilität haben dort den Rigorismus des Islam abgeschwächt und pragmatischere Anpassungsformen begünstigt. Gleichzeitig ist bei wirtschaftlichem Erfolg (z. B. Malaysia) die Attraktivität fundamentalistischer Protestbewegungen geringer (es gibt aber auch militante muslimische Extremisten, etwa auf den Philippinen und in Indonesien). Auch in Pakistan und Bangladesch hat orthodoxer Islamisierungseifer, etwa unter Zia ul­Haq zur Stützung des Militärregimes, keinen tiefgreifenden Mobilisierungseffekt bei der Bevölkerung. Länder wie Malaysia belegen, dass auch islamische Gesellschaften wirtschaftlich erfolgreich sein können, wenn sie einer flexiblen liberalen und pragmatischen Interpretation des Islam folgen. – Demgegenüber lehnt der islamische Fundamentalismus oder Islamismus6 eine liberale Auslegung und Adaption des Islam an moderne Erfordernisse ab. Er fordert die völlige 6 An dieser Stelle Fußnote in der Vorlage: „Die Begriffe Fundamentalismus, Islamismus und Islamischer Integralismus werden oft synonym gebraucht. Eigentlich meint ‚Fundamentalismus‘ (generell, auch in anderen Religionen und Ideologien) den Rückgriff auf die fundamentalen Quellen, d. h. im Islam auf den Koran und seine Rechtsbestimmungen sowie auf die Zeit seiner Entstehung (Rückkehr zu den Zuständen im Frühislam); ‚Islamismus‘ bezeichnet die Ausweitung des Begriffs Islam als Religion und Lebensform zu einer umfassenden Gesellschaftsordnung. Staatsphilosophie und Ideologie, die alle Lebensbereiche regelt. ‚Islamischer Integralismus‘ bezieht sich auf die Forderung nach islamischer Vereinheitlichung sowohl durch Ausschluss aller anderen Normensysteme (u. a. auch des westlichen Pluralismus) im islamischen Staat wie auch durch Integration islamischer Einzelnationen zur universellen Gemeinschaft aller Gläubigen = ‚Umma‘ mit letztlich weltweitem Anspruch.“

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2. April 1992: Vorlage von Elbe

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Einheit von Religion und Staat/Gesellschaftsordnung und die Regelung aller Lebensbereiche auf der Grundlage der göttlichen Offenbarungen des Koran (Beispiel Iran und im Ansatz Sudan). Mit der Rückkehr zu den ursprünglichen Zuständen im Frühislam und dem wörtlichen Festhalten an der „reinen Lehre“ will er an die Glanzzeit islamischer Herrschaft anknüpfen. Er vertritt in letzter Konsequenz den Absolutheits- und weltweiten Allgemeingültigkeitsanspruch des Islam, der im permanenten „Heiligen Krieg“ gegenüber den Ungläubigen verfolgt werden muss. Der fundamentalistische politische Islam tritt an gegen den von säkularen europäischen Vorstellungen geprägten Normenkonsens, wie er sich vor allem seit dem Zweiten Weltkrieg weltweit ausgebreitet und seit dem Ende des Ost-West-Konflikts auf das westliche Wertesystem verengt hat. Dabei kritisieren Islamisten nicht das Prinzip universeller Normen an sich, sondern nur ihre europäisch säkulare Prägung; der Islam erhebt ja selbst Anspruch auf Universalität. Dies führt insbesondere im Bereich grundlegender Menschenrechte und Demokratievorstellungen zum heftigen Antagonismus der beiden Systeme. Insgesamt lässt sich feststellen, dass die islamische Welt und der Islam keine monolithische Einheit bilden, weder nach innen noch nach außen und im Verhältnis zum Westen. Der islamische Aufbruch des vergangenen Jahrzehnts war eine diffuse Bewegung. Eine Stoßrichtung und konkrete Konzepte sind nicht eindeutig auszumachen. Islamische Regime stellen sich politisch sehr unterschiedlich dar, mit zum Teil konträren Gesellschaftsordnungen und großen wirtschaftlichen Unterschieden. Zwischen iranischer Theokratie, türkischem Säkularstaat und aufstrebendem Schwellenland Malaysia liegen Welten, und zwischen islamischem Säkularismus, Liberalismus und Fundamentalismus gibt es vielfältige Formen der Abstufung. Von Intention und Zielsetzung her muss der Islamismus sicherlich als ernstzunehmender Angriff (oder Gegenangriff) auf unsere westlichen Werte gesehen werden. Fundamentalistischer Islam ist mit den Grundsätzen liberaler Demokratie nicht vereinbar: – Der Islam versteht den „Staat“ als Organisation der Gläubigen, die sich unter dem Gesetz der Scharia religiös legitimiert (Einheit von Religion und Staat). Staat ist demnach Ausdruck der Herrschaft Gottes auf Erden. Der Mensch kann nicht eigenständiges Rechtssubjekt sein, es bleibt kein Raum für Volkssouveränität (souverän ist nur Gott). – Aufgabe des Staates ist die Durchsetzung der Scharia mit Anspruch auf Regelung aller Lebensbereiche. Gewaltenteilung findet nicht statt. Die weltliche Gewalt geht vom Kalifen aus. Legislative (auf der Basis von Koran/Scharia) und Kontrolle liegen bei den Rechtsgelehrten. Eine freie Rechtssetzung durch Menschen ist nicht akzeptiert. – Ein Gleichheitsgedanke aller Bürger fehlt. („Bürger“ wird durch Religionszugehörigkeit definiert, nicht als „Staatsbürger“.) – Der säkulare Nationalitätsgedanke ist dem Islam fremd. Stattdessen ist Bezugsgröße die umma = Gemeinschaft aller Gläubigen. – Parteienwesen als Bestandteil einer pluralistischen Ordnung widerspricht dem Absolutheitsanspruch des Islam (stattdessen Sammlungsbewegungen ohne politische Programmatik und ohne innere Demokratie). Die fundamentalistische ist jedoch nicht die einzige und zumindest gegenwärtig nicht die mehrheitliche Ausprägung des Islam (ebenso wenig wie protestantischer, katholischer, 393

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2. April 1992: Vorlage von Ahrens

jüdischer, grüner oder feministischer Fundamentalismus). Zu pragmatisch-reformistischen und säkularistischen islamischen Gesellschaften muss die Differenz des westlichen Wertesystems nicht unüberwindlich bleiben. Die Vorlage beschränkt sich auf die Darstellung der unterschiedlichen Aspekte, unter denen der Islam als Religion und Gesellschaftsordnung zu bewerten ist. Der Planungsstab wird bei nächster Gelegenheit eine Analyse vorlegen, die sich mit den operativen Folgerungen befasst, die sich aus einer differenzierten Sicht des Islam ergeben.7 Frank Elbe B 9, ZA-Bd. 178533

94 Vorlage des Vortragenden Legationsrats I. Klasse Ahrens für Bundesminister Genscher VS-NfD

2. April 1992

Über Dg 21 i. V.1, D 2 i. V.2, Herrn Staatssekretär3 Herrn Bundesminister4 Betr.: Elftes Plenum der Jugoslawien-Konferenz, 1. April 1992 in Brüssel5 Anlg.: 26 Zweck der Vorlage: Zur Information 7 Am 26. Mai 1992 legte MD Elbe diese Vorlage über StS Kastrup dem Nachfolger von BM Genscher, Kinkel, vor. Dazu teilte er mit: „Das Thema ‚Islam als politisches Phänomen‘ und seine differenzierte Betrachtung wird Gegenstand eines Planungsstabskolloquiums Ende Juli dieses Jahres sein, zu dem Islamexperten aus verschiedenen Regionen der islamischen Welt eingeladen werden.“ Kinkel notierte dazu am 27. Mai 1992 handschriftlich: „Interessant! Weiter an diesem Thema bleiben.“ Vgl. B 9, ZA-Bd. 178533. 1 Hat in Vertretung des MDg von Studnitz VLR I Derix am 2. April 1992 vorgelegen. 2 Hat in Vertretung des MD Chrobog MDg Hofstetter am 2. April 1992 vorgelegen. 3 Hat VLR I Reiche am 3. April 1992 vorgelegen, der handschriftlich vermerkte: „Diese Vorlage konnte keinem der beiden StSe mehr vorgelegt werden; sie sollte aber in die BM-Mappe für Brüssel (6.4.) aufgenommen werden.“ 4 Hat im Ministerbüro VLR Wittig am 6. April 1992 vorgelegen, der handschriftlich vermerkte: „Hat BM vorgelegen.“ Ferner verfügte er den Rücklauf an Botschafter Ahrens. Hat VLRin Völkel am 13. April 1992 vorgelegen, die die Weiterleitung an VLR I Libal „z[ur] K[enntnisnahme]“ verfügte. Hat Libal erneut vorgelegen. 5 BR Wnendt, Brüssel (EG), teilte am 2. April 1992 zum elften Plenum der Friedenskonferenz für Jugoslawien mit, im Zentrum hätten Fragen der Staatennachfolge gestanden und die Ausarbeitung einer „Erklärung über die Prinzipien für die Handels- und Wirtschaftsbeziehungen zwischen den JUG-Republiken. Im Rahmen der Gespräche über Bosnien-Herzegowina wurden Mechanismen zur Verankerung des Menschenrechtsschutzes in der Verfassung vereinbart sowie die Einsetzung einer AG zur Abgrenzung der ethnischen Siedlungsgebiete in Bosnien-Herzegowina beschlossen, die bis zum 15. Mai einen Bericht vorlegen soll.“ Vgl. DB Nr. 936; B 42, ZA-Bd. 309610. 6 Vgl. Anm. 7 und 13.

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2. April 1992: Vorlage von Ahrens

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1) Das elfte Plenum hat außer der beigefügten Wirtschaftserklärung (Anlage 17), deren Verwirklichung abzuwarten ist, wenig Fortschritte erbracht. Ein Datum für das zwölfte Plenum wurde nicht festgelegt.8 Die Arbeitsgruppen sollen sich erst Ende April wieder treffen. Der neue französische Stellvertreter von Lord Carrington, Thierry de Beaucé, der die Verhandlungen über die ethnischen Konflikte vor allem in Kroatien und Serbien führen soll, hielt sich wegen der Regierungskrise in Paris9 nur kurz auf der Konferenz auf und ließ nichts über seine Absichten verlauten. 2) Lord Carrington wird den zwölf Außenministern am 6. April10 voraussichtlich eine kurze Erklärung vorlesen, die besagt, dass Präsident Milošević ihm in bilateralem Gespräch nicht näher bezeichnetes Entgegenkommen angedeutet habe, falls ihm die Zwölf entgegenkämen. Dies bezieht sich auf die Sanktionen11. Ich würde die Aufhebung der Sanktionen zum gegenwärtigen Zeitpunkt für einen schweren Fehler halten: – Milošević hat in dem elften Plenum mit der leider von der Konferenzleitung nicht zurückgewiesenen Erklärung, in Serbien würden die Menschenrechte auf das Vollkommenste beachtet und Serbien denke nicht daran, beim Minderheitenschutz über den KSZE-Standard hinauszugehen, eindeutig Kapitel I und II der Treaty Provisions12 abgelehnt. Diese sehen aus guten Gründen für Jugoslawien einen in den KSZE-Dokumenten so nicht vorgesehenen Spezialstatus als Ausgleich für unveränderte Grenzen vor. Milošević ist damit weit hinter die Ergebnisse, die ich in AG-Gesprächen mit Serben und Kosovo-Albanern schon erreicht hatte, zurückgefallen. Er verletzt zudem seine eigene Verfassung vom September 1990 (s. Anlage 213), die für Kosovo und Wojwodina Autonomie vorsieht. – Beteuerungen Miloševićs, Serbien habe mit der schleichenden Annexion der kroatischen UNPA-Gebiete durch jugoslawische „Bundesbehörden“ (Beispiel: Ausdehnung der Zollverwaltung) und mit dem „ethnic cleansing“, also der Vertreibung nicht-serbischer Volksgruppen, nichts zu tun, sind wenig glaubhaft. Vielmehr legen die Maßnahmen der „Krajina“-Republik in Kroatien unter „Präsident“ Hadžić, der als Gefolgsmann Miloševićs gilt, und das bosnische Wechselbad − das z. Zt. etwas angenehmere Temperaturen aufweist − die Vermutung nahe, hier werde ein abgekartetes Spiel getrieben. – Ob Milošević mit der Wirtschaftserklärung wirklich Entgegenkommen gezeigt hat, ist abzuwarten. Die Zwölf sollten die von ihm vorgenommene Verknüpfung zwischen der Aufhebung ihrer Sanktionen und der von Serbien gegen seine Nachbarrepubliken praktizierten Sanktionen, deren Bestehen Milošević bestreitet, nicht hinnehmen. Eine Dis7 Dem Vorgang beigefügt. Für die undatierte Erklärung des Vorsitzenden der Jugoslawien-Konferenz, Lord Carrington, vgl. B 42, ZA-Bd. 175627. 8 Das zwölfte Plenum der Jugoslawien-Konferenz fand am 6. Mai 1992 in Brüssel statt. Vgl. Dok. 125, Anm. 34. 9 Am 2. April 1992 trat die französische MPin Cresson zurück. Zu ihrem Nachfolger ernannte der französische Staatspräsident Mitterrand am selben Tag den bisherigen FM Bérégovoy. 10 Zur EG-Ministerratstagung am 6. April 1992 in Luxemburg vgl. Dok. 77, Anm. 14. 11 Zu den Maßnahmen der EG-Mitgliedstaaten gegen Jugoslawien vgl. Dok. 26, Anm. 5. 12 Für das Dokument „Treaty Provisions for the Convention“ vom 4. November 1991 („Carrington-Plan“) vgl. B 42, ZA-Bd. 175713. 13 Dem Vorgang beigefügt. Für den Auszug aus der serbischen Verfassung vom 28. September 1990 vgl. B 42, ZA-Bd. 175627.

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2. April 1992: Vorlage von Ahrens

kussion zwischen Milošević und Kučan über den ersten Satz der Ziffer 1 der Wirtschaftserklärung zeigt die eigentliche serbische Absicht: Milošević verweigerte die von Kučan vorgeschlagene Formel „ … dismantled by all those Republics who have introduced them“ mit der Begründung, diese Formel erfasse die EG-Sanktionen nicht. An dieser Stelle stellte Lord Carrington klar, dass die EG-Sanktionen ohnehin nicht gemeint seien. 3) Seit den Diskussionen um die Anerkennung Kroatiens und Sloweniens um den Jahreswechsel 1991/9214 ist das Klima im Konferenzmanagement für mich erheblich rauher geworden. Das Bestreben, den deutschen Einfluss zu beschneiden, wird deutlich. Dies zwingt zu großer Vorsicht. So hatte ich monatelang auch unter Vorlegung von Papieren auf Beschäftigung mit Bosnien gedrängt und die erste Sitzung mit den drei bosnischen Parteien mit allseits anerkanntem Erfolg geleitet, wurde dann aber an den Vermittlungsbemühungen Cutileiros15 nicht mehr beteiligt. 4) Die Ernennung des französischen Vizevorsitzenden für die Verhandlungen aus dem Bereich meiner Arbeitsgruppe macht es jedenfalls höchst ratsam, bald enge Zusammenarbeit mit ihm zu erreichen. Leider konnte ich ihn in Brüssel nicht sprechen. Vielleicht wäre es zweckmäßig, wenn Sie AM Dumas am 6. April unsere Befriedigung über die Ernennung eines französischen Konferenz­Vizevorsitzenden ausdrücken und ihm meine Bereitschaft andeuten könnten, jederzeit zu ersten Gesprächen nach Paris zu kommen. Herr de Beaucé wäre ja ohne Zweifel schlecht beraten, wenn er nicht die sich ihm bietende Expertise nutzte. Seine Gespräche, insbesondere über die serbisch besiedelten Gebiete in Kroatien, werden jetzt zur Speerspitze der Konferenz, doch wird er sich auch mit dem Kosovo auseinandersetzen müssen. Beides eilt. RL 21516 hat im Konzept mitgezeichnet. Ahrens B 42, ZA-Bd. 175627

14 Zur Frage der Anerkennung von Kroatien und Slowenien vgl. Dok. 11, Anm. 4. 15 Zu den Gesprächen der verschiedenen Volksgruppen von Bosnien-Herzegowina am 22./23. Februar 1992 in Lissabon vgl. Dok. 56, Anm. 13. BR I Lutz, Belgrad, berichtete am 18. März 1992, zum Abschluss der fünften Runde der Gespräche sei am 17./18. März 1992 in Sarajevo „eine vom Vorsitzenden, Botschafter Cutileiro, vorgelegte Prinzipienerklärung (‚Statement of principles‘)“ unterzeichnet worden, die Bosnien-Herzegowina als einen Staat definiere, der sich zusammensetze „aus drei konstituierenden Einheiten, die auf nationalen Prinzipien, unter Berücksichtigung ökonomischer, geographischer und anderer Kriterien, beruhen“. Zu den von diesen Einheiten ausgeübten Kompetenzen „gehören neben einer Reihe wirtschaftlicher Einzelbereiche auch das Erziehungs- und Kulturwesen sowie die Polizei“. Vgl. DB Nr. 353; B 42, ZA-Bd. 183095. 16 Michael Libal.

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2. April 1992: Vorlage von Dassel

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95 Vorlage des Vortragenden Legationsrats I. Klasse Dassel für Bundesminister Genscher 311-555.30 LIY

2. April 19921

Über Dg 312, D 33, Herrn Staatssekretär4 Herrn Bundesminister5 Betr.:

Lockerbie-SR-Resolution vom 31.3.19926; hier: Vorbereitung der innerstaatlichen Umsetzung und Lage der Deutschen in Libyen

Anlg.: 27 Zweck der Vorlage: Zur Unterrichtung über den Stand der Vorbereitungen bei der Umsetzung der SR­Resolution vom 31.3.1992 1) Libyen wird aufgrund von polizeilichen Ermittlungsergebnissen beschuldigt, für die Bombenanschläge auf einen Jumbo der Gesellschaft PanAm über Lockerbie am 21.12.1988 sowie auf eine französische Passagiermaschine der französischen Gesellschaft UTA im September 1988 über Niger8 verantwortlich zu sein. Libyen kam der britischen und amerikanischen Forderung nicht nach, – die Verantwortung für das Attentat zu übernehmen, – alle bekannten Tatbestände der Verbrechen offenzulegen, – libysche Staatsangehörige auszuliefern, die der Attentate verdächtigt werden, – angemessenen Schadensersatz zu leisten. 2) Am 21.1.1992 verabschiedete der VN-SR einstimmig auf Initiative der USA, GB sowie F die Resolution 731, in der die bisherige mangelhafte Kooperation Libyens bedauert, die Erfüllung der an Libyen gestellten Forderungen angemahnt, die Unterstützung des VN-GS9 erbeten sowie die UN-Mitgliedstaaten aufgefordert werden, entsprechend auf Libyen einzuwirken.10 1 2 3 4 5

Die Vorlage wurde von VLR Blaas und LR Nicolai konzipiert. Hat MDg Bartels am 2. April 1992 vorgelegen. Hat MD Schlagintweit am 3. April 1992 vorgelegen. Hat StS Kastrup und StS Lautenschlager am 3. April 1992 vorgelegen. Hat BM Genscher am 5. April 1992 vorgelegen. Hat OAR Rehlen am 6. April 1992 vorgelegen, der den Rücklauf über das Büro Staatssekretäre, MD Schlagintweit und MDg Bartels an Referat 311 verfügte. Hat VLR I Reiche am 6. April 1992 vorgelegen Hat Schlagintweit am 8. April 1992 erneut vorgelegen. Hat Bartels am 8. April 1992 erneut vorgelegen. 6 Für die Resolution Nr. 748 des VN-Sicherheitsrats vgl. RESOLUTIONS AND DECISIONS 1992, S. 52–54. 7 Vgl. Anm. 11 und 22. 8 Zu den Anschlägen vgl. Dok. 14, Anm. 2 und 4. 9 Boutros Boutros-Ghali. 10 Zur Resolution Nr. 731 des VN-Sicherheitsrats vom 21. Januar 1992 vgl. Dok. 30.

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2. April 1992: Vorlage von Dassel

3) Am 31.3.1992 hat der VN-Sicherheitsrat eine zweite Resolution (748, Anlage 111) zu Libyen verabschiedet (keine Gegenstimme, fünf Enthaltungen), die von Libyen a) die sofortige Erfüllung der Resolution 731 vom 21.1.1992 und b) den Nachweis über die Einstellung aller terroristischen Aktionen und aller Unterstützung für terroristische Gruppen fordert. Bei Nichterfüllung dieser Forderungen sollen am 15.4.1992 die im Folgenden aufgeführten Sanktionen in Kraft treten: – ein umfassendes Luftfahrtembargo, – ein umfassendes Waffenembargo, – Begrenzung von Zahl und Bewegungsfreiheit libyscher Botschaftsangehöriger im Ausland. Alle Staaten werden in der Resolution aufgefordert, nach Inkrafttreten der Sanktionen dem VN-GS bis zum 15. Mai 1992 über die Umsetzung der Sanktionen zu berichten. Es ist weiterhin vorgesehen, dass der VN-SR alle 120 Tage zusammentritt, um über die Situation und die Fortdauer der Sanktionen neu zu entscheiden. 4) Die innerdeutsche Umsetzung des Sanktionsbeschlusses ist folgendermaßen vorbereitet: Am 20.3.1992 hat im AA eine Ressortbesprechung zur innerstaatlichen Umsetzung eines möglichen Sanktionsbeschlusses des VN-SR gegen Libyen stattgefunden.12 Stand der Vorbereitung des Luftfahrtembargos § 4 a des Resolutionsentwurfs (Unterbrechung des Luftverkehrs von und nach Libyen): Das BMV beabsichtigt, kurzfristig die folgenden Maßnahmen mit Wirkung vom 15.4.1992 zu treffen: – Telefax an die Lufthansa zum Widerruf der erteilten Verkehrsrechte, – Telefax an die Libyan Arab Airlines zum Widerruf der erteilten Betriebsgenehmigung, – Weisung an die Bundesanstalt für Flugsicherung (BFS), dass keine Freigaben an Luftfahrzeuge von/nach Libyen erteilt werden, – Weisung an das Luftfahrtbundesamt, keine Lufttüchtigkeitszeugnisse für libysche Flugzeuge auszustellen (§ 4 b). § 4 b; 5 a, b; 6 b: Zur innerstaatlichen Umsetzung der in Ziffern – 4 b: Verbot der Lieferung von Luftfahrzeugen oder deren Bestandteilen und der damit in Zusammenhang stehenden Zahlungen und Dienstleistungen sowie Verbot der Erteilung von Lufttüchtigkeitszeugnissen für libysche Flugzeuge, – 5 a, b: Verbot der Lieferung von Waffen, Munition und sonstigen Rüstungsgütern sowie für sämtliche sonstige Zulieferungen und Dienstleistungen, die mit Vorgenanntem in Verbindung stehen, – 6 b: Verhinderung der Tätigkeit des Büros der Libyan Arab Airlines enthaltenen Bestimmungen ist das BMWi dabei, eine entsprechende Rechtsverordnung (21. Verordnung zur Änderung der Außenwirtschaftsverordnung) zu erarbeiten. Der Entwurf zur 21. VO sieht in seinem § 69 h eine an die deutsche Rechtsterminologie angepasste 11 Dem Vorgang beigefügt. Für den Entwurf S/23762 vom 20. März 1992, der der Resolution Nr. 748 des VN-Sicherheitsrats vom 31. März 1992 zugrunde lag, vgl. B 36, ZA-Bd. 170200. Vgl. Anm. 6. 12 Zur Ressortbesprechung vgl. den Vermerk des LR Nicolai vom 26. März 1992; B 36, ZA-Bd. 170200.

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Übersetzung der Ziffern 4 b, 5 a, b und 6 b der VN-SR-Resolution vor und setzt damit die VN-SR-Resolution unmittelbar in deutsches Recht um.13 Die EG-Kommission bereitet derzeit einen Verordnungsentwurf vor, soweit zur Umsetzung der VN-SR-Resolution eine EG-Kompetenz gegeben ist (insbesondere zum Verbot der Lieferung von Flugzeugen und deren Bestandteilen).14 Eine solche EG-Verordnung muss aber zur Strafbewehrung in der deutschen Außenwirtschaftsverordnung veröffentlicht werden. Der Verordnungsentwurf des BMWi soll daher in § 69 g entsprechende Regelungen enthalten. Der Entwurf wird am 3.4.1992 in einer vom BMWi einberufenen Ressortbesprechung abschließend erörtert. Er soll nach bisheriger Planung vom Kabinett im Umlaufverfahren mit Ende der Umlauffrist am 15.4.1992 gebilligt werden, sodass die Verordnung fristgerecht in Kraft treten kann. § 5 c (Verbot militärischer Beratung): durch bestehende Gesetzgebung abgedeckt. § 6 a (Beschränkung von Zahl, Rang und Bewegungsfreiheit libyschen diplomatischen und konsularischen Personals): Referat 311 bereitet in Zusammenarbeit mit Referat 701 und dem BMI/P I 2 eine Liste von libyschen Botschaftsangehörigen (roter Pass) vor, die im Falle eines Sanktionsbeschlusses nach Ablauf der vorgesehenen Frist ausgewiesen werden könnten. Bei der Festlegung der Zahl der auszuweisenden libyschen Botschaftsangehörigen werden wir uns an unseren großen EG-Partnern F und I (GB unterhält keine diplomatischen Beziehungen mit Libyen15) orientieren, die sehr viel größere Vertretungen haben als wir. Libyen wurde vom Auswärtigen Amt16 ein Kontingent von 21 Botschaftsangehörigen mit Diplomatenstatus zugestanden. Derzeit sind dem Auswärtigen Amt 16 Libyer mit Diplomatenstatus gemeldet. Dies gibt uns Spielraum zu entscheiden, ob wir die Soll-Stärke der Libyer (1986 festgelegte Höchstzahl) vermindern oder von der heutigen Ist-Stärke ausgehen. Bei einer tatsächlichen Personalverminderung der libyschen Vertretung in Bonn ist zu berücksichtigen, dass es bei Reziprozitätsmaßnahmen durch Tripolis nach Annahme der Resolution auch darum geht, über einsatzfähige eigene Vertretungen zu verfügen. Botschafter Hach spricht sich gegen eine Personalkürzung unserer Vertretung aus. Sie sei mit zwölf Diplomaten17 vergleichsweise schwach ausgestattet. Anzahl der Bediensteten mit Diplomatenpass in anderen Vertretungen in Libyen: Russland 43, ITA 37, F 20, TUR 15, GR 13. Die SR-Resolution fordert nicht die Ausdünnung der Vertretungen in Libyen.18 13 Für den Entwurf der 21. Verordnung zur Änderung der AWV vgl. die Anlage zum Schreiben des BMWi vom 2. April 1992; B 36, ZA-Bd. 170200. Für die VO vom 15. April 1992 vgl. BUNDESANZEIGER 1992, S. 3277. 14 Referat 311 notierte am 14. April 1992 zur Umsetzung der Sanktionsbeschlüsse gegen Libyen im EGRahmen: „AStV erzielte am 13.4.1992 Einvernehmen über eine Verordnung zur Verhinderung der Versorgung Libyens mit bestimmten Waren und Dienstleistungen. Rat und Kommission hielten in gemeinsamer Erklärung fest, dass der Rückgriff auf Artikel 113 EWG-Vertrag für die vorliegende Verordnung keinen Präzedenzfall für den Bereich der Dienstleistungen (insbesondere im Luftverkehrsbereich) darstellt.“ Vgl. B 36, ZA-Bd. 170200. Vgl. auch BULLETIN DER EG 4/1992, S. 70. 15 Großbritannien brach am 22. April 1984 die diplomatischen Beziehungen zu Libyen ab. 16 An dieser Stelle wurde von MD Schlagintweit handschriftlich eingefügt: „bei der letzten Krise 1986“. 17 An dieser Stelle wurde von StS Lautenschlager handschriftlich eingefügt: „d. h. Angehörige der Vertretung mit Dipl[omaten]Pass“. 18 VLR I Dassel empfahl BM Genscher am 13. April 1992, „vor dem Hintergrund der Notwendigkeit der Aufrechterhaltung der Arbeitsfähigkeit unserer Vertretung in Tripolis und andererseits der Notwendigkeit,

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§ 6 c19 (Einreiseverbot und Ausweisung aller libyschen Staatsangehörigen, die von anderen Staaten wegen terroristischer Aktivitäten ausgewiesen worden sind): durch bestehende Gesetzgebung und Praxis abgedeckt20. Die Verordnung des BMWi soll vom Kabinett im Umlaufverfahren gebilligt werden, sodass sie vor dem 15.4.1992 in Kraft treten kann. 5) Unsere Botschaft in Tripolis hat seit langem die deutsche Kolonie (ca. 1000 Personen) auf die bevorstehenden Sanktionen und die Konsequenzen aufmerksam gemacht. Bereits im November vergangenen Jahres wies sie die Deutschen darauf hin, dass sie ihre Ausreisevisen jederzeit parat halten sollten. Seit der Vorbereitung der gestern angenommenen Resolution des VN-SR steht Botschafter Hach in ständigem Kontakt mit den Vertretern der in Libyen lebenden Deutschen. Auf Weisung des AA hat er dringend geraten, dass alle die Deutschen, die nicht aus zwingenden Gründen in Libyen anwesend sein müssen, das Land verlassen. Dies gelte vor allem für Familienangehörige. Auch alle anderen müssten in eigener Verantwortung über ihr Verbleiben entscheiden. Die Botschaft hat auf die Möglichkeit einer Situation wie in Irak21 hingewiesen. Diese Aufforderung wurde Ende vergangener Woche während des islamischen Feiertages telefonisch wie auch im Anschluss daran bei mehreren Treffen wiederholt. Bisher sind nur etwa 50 Deutsche, im wesentlichen Familienangehörige, dieser Aufforderung gefolgt. 6) Das AA hat am 19.3.1992 die in der Anlage enthaltene Reiseempfehlung für die Deutschen in Libyen und für Deutsche, die nach Libyen reisen wollen, veröffentlicht. Der Text liegt bei (Anlage 222). 7) Libyen hat mehrfach, zuletzt am 26.3.1992, erklärt, es werde bei einem Flugembargo die Ausreise auf dem See- und Landweg nicht behindern. In der vergangenen Woche sind jedoch Schwierigkeiten bei der Ausreise von nichtarabischen Ausländern aufgetreten. Eine Reihe von Deutschen, die ausreisen wollen, wird von Fortsetzung Fußnote von Seite 399 eine deutliche Geste zu machen“, das libysche Botschaftspersonal um zwei Personen zu vermindern: „Um unnötige Härten zu vermeiden, sollte den beiden Mitarbeitern eine angemessene Ausreisefrist von drei Wochen eingeräumt werden.“ Dem libyschen Geschäftsträger solle dies am 15. April 1992 mitgeteilt werden, falls Libyen bis dahin nicht der Aufforderung zur Auslieferung seiner beiden des Terrorismus verdächtigen Staatsangehörigen nachkomme. Vgl. B 36, ZA-Bd. 170200. Botschafter Hach, Tripolis, teilte am 16. April 1992 mit, ihm sei am selben Tag im libyschen Außenministerium mitgeteilt worden, „dass zwei Mitglieder unserer Botschaft Libyen verlassen müssten. Dies entspreche der Zahl der deutscherseits ausgewiesenen Botschaftsmitglieder.“ Vgl. DB Nr. 296; B 36, ZABd. 170200. 19 Korrigiert aus: „6 c“. 20 Die Wörter „bestehende“ und „abgedeckt“ wurden von StS Lautenschlager hervorgehoben. Dazu vermerkte er handschriftlich: „(offenbar bedarf es dennoch einer Verordnung – siehe folgenden Absatz)“. 21 Nach dem Einmarsch irakischer Streitkräfte in Kuwait am 2. August 1990 verhängte die irakische Regierung ein Ausreiseverbot für Ausländer. In der Folgezeit verbrachten irakische Sicherheitskräfte diese Personen in Hotels, um sie später an strategisch wichtigen Orten zu verteilen. Vgl. AAPD 1990, II, Dok. 359, Dok. 391 und Dok. 408. 22 Dem Vorgang beigefügt. Für die „Reiseempfehlung Libyen“ des Referats 311 vom 18. März 1992 vgl. B 36, ZA-Bd. 170200.

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den libyschen Behörden seit mehreren Tagen hingehalten; man verlangt schwer beschaffbare Papiere gemäß existierenden Vorschriften, die bisher großzügiger gehandhabt wurden, und Quittungen als Voraussetzung für das Ausreisevisum (Gesundheitstest, bezahlte Stromund Gasrechnungen). Botschafter Hach rät aber davon ab, diese Frage zu dramatisieren, da auch immer wieder Visa an Ausländer erteilt werden, zuletzt an alle ausreisewilligen Koreaner. Wegen der bevorstehenden Festtage zum Ende des Ramadanmonats (3.–6.4.) erwartet die Botschaft allerdings weitere − nicht politisch motivierte − Verzögerungen bei der Ausstellung von Ausreisevisen. Auf Weisung des AA hat Botschafter Hach zweimal, zuletzt am 30.3.1992, auf hoher Ebene im libyschen Außenministerium protestiert und die sofortige Ausstellung der Ausreisevisen gefordert. Am 1.4. wurde der libysche Geschäftsträger deswegen ins AA einbestellt. Botschafter Hach teilt mit, dass die libyschen Behörden inzwischen fünf dringende Fälle erledigt hätten. Gleichwohl bereiten die zwölf EG-Botschafter zusammen mit anderen interessierten Vertretungen eine weitere Demarche in Tripolis vor, die in den nächsten Tagen durchgeführt wird. Das PK23 befasste sich am 1./2.4. mit dieser Frage. D 424 i. V. und Referat 230 haben mitgezeichnet. Dassel B 36, ZA-Bd. 170200

96 Vermerk des Referats 240 2. April 19921 Nuklearwaffen (NW) in der ehemaligen Sowjetunion Sachstand 1) Potenzial: Auf dem Territorium der ehemaligen Sowjetunion sind die über 10 000 strategischen Gefechtsköpfe und über 20 000 taktischen Nuklearwaffen (SNF-Gefechtsköpfe, 23 Die Wörter „Das PK“ wurden von StS Lautenschlager hervorgehoben. Dazu vermerkte er handschriftlich: „Ergebnis?“ 24 Heinrich Dieckmann. 1 Hat BM Genscher am 3. April 1992 vorgelegen. Hat OAR Rehlen am 6. April 1992 vorgelegen, der den Rücklauf über das Büro Staatssekretäre, Botschafter Holik und MDg Roßbach an Referat 240 verfügte. Dazu vermerkte er handschriftlich: „S[iehe] Frage BM und W[ieder]v[orlage].“ Vgl. Anm. 2. Hat VLR Brose am 6. April 1992 vorgelegen, der alle Angaben vor Referat 240 strich und handschriftlich vermerkte: „H[err] Zobel, wie bespr[ochen].“ Ferner verfügte Brose die Weiterleitung an VLR I Boden „wie telef[onisch] besprochen.“ Hat Boden am 7. April 1992 vorgelegen.

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Artilleriegranaten und Minen) und ihre Trägersysteme zum größten Teil in der Republik Russland stationiert bzw. gelagert (knapp 9000 strategische und über 10 000 taktische Gefechtsköpfe). Mit über 1600 strategischen und rund 2500 taktischen GK hat die Ukraine den zweitgrößten Kernwaffenbestand, gefolgt von Kasachstan (rd. 1900 GK, davon 1400 strategische) und Weißrussland (rd. 1300 GK, davon 72 strategische). Nur diese vier Republiken verfügen über strategische Systeme. Die taktischen NW, die in fast allen sowjetischen Republiken stationiert waren, sollen bis Mitte 1992 vollständig auf russischem Territorium zusammengezogen werden (nach US-Erkenntnissen außerhalb Russlands jetzt nur noch in Weißrussland2 und der Ukraine3; am 12.3.92 hat ukrainischer Präsident Verlagerung taktischer NW nach Russland mit der Begründung angehalten, dass vereinbarte dortige Unbrauchbarmachung der GK z. Zt. nicht gewährleistet sei4). 2) Sicherheit: Grundsätzlich bestehen strenge personelle und technische Sicherheitsvorkehrungen, um einen versehentlichen oder unautorisierten Einsatz der NW auszuschließen. Die große Mobilität der taktischen NW (da relativ klein und leicht) macht das Risiko ihres Missbrauchs jedoch ungleich höher als bei den strategischen NW. Hinzu kommt, dass nicht feststeht, ob alle sowjetischen NW inventarisiert sind. Infolge des Zerfalls der bisherigen Autoritätsstrukturen besteht zunehmend die Gefahr eines weltweiten Handels mit sowjetischem atomarem Gerät, waffenfähigem Spaltmaterial, nuklearer Technologie und atomarem „Know-how“. 3) Entscheidungsgewalt: Die strategischen NW wurden im Minsker Abkommen vom 30.12.915 einem vereinigten Kommando unterstellt, zu dessen Oberbefehlshaber Marschall Schaposchnikow bereits am 21.12.91 ernannt worden war (am 14.2.92 bestätigt6). Eine eventuelle Einsatzentscheidung trifft laut Abkommen „bis zur vollständigen Abschaffung der Atomwaffen“ der Präsident Russlands in Absprache mit den Staatschefs Weißrusslands, Kasachstans und der Ukraine. 4) Vernichtung: Im „Abkommen über gemeinsame Maßnahmen in Bezug auf Nuklearwaffen“ von Alma Ata vom 21.12.91 haben Russland, Weißrussland, Kasachstan und die Ukraine gegenseitige Hilfe vereinbart, „die Atomwaffen bis zum 1. Juli 1992 in Weißrussland zu vernichten und in Kasachstan und in der Ukraine den Abzug der taktischen Atomwaffen zum Zweck der Verschrottung unter gemeinsamer Aufsicht in zentralen Anlagen sicherzustellen“.7 Diese Anlagen befinden sich in Russland. Im Minsker Abkommen vom 30.12.91 hat sich die Ukraine weiter verpflichtet, alle taktischen NW bis zum 1.7.92 und alle strategischen NW bis 1994 „vollständig zu vernichten“. 2 Die Wörter „jetzt“ und Weißrussland“ wurden von BM Genscher hervorgehoben. Dazu vermerkte er handschriftlich: „Stimmt das? Erkundigungen einziehen! W[ieder]v[orlage].“ 3 Die Wörter „Russlands“, „Weißrussland“ und „Ukraine“ wurden von VLR Brose hervorgehoben. Dazu vermerkte er handschriftlich: „taktische NW.“ 4 Zum ukrainischen Moratorium für den Abzug taktischer Nuklearwaffen vgl. Dok. 83, Anm. 3. 5 Die GUS-Mitgliedstaaten schlossen am 30. Dezember 1991 in Minsk ein Abkommen über die Bildung eines Vereinigten Kommandos der strategischen Streitkräfte sowie eine einheitliche Kontrolle der Atomwaffen der ehemaligen UdSSR. Vgl. EUROPA-ARCHIV 1992, D 308 f. 6 Für das bei der Gipfelkonferenz der GUS-Mitgliedstaaten am 14. Februar 1992 in Minsk unterzeichnete „Abkommen über den Status der strategischen Streitkräfte“ vgl. EUROPA-ARCHIV 1992, D 323–326. 7 Zu den Vereinbarungen von Alma Ata vgl. AAPD 1991, II, Dok. 441.

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Die weißrussische Position wurde später dahingehend modifiziert, dass die taktischen NW bis zum 1.7.92 auf russisches Territorium verbracht werden sollen und die strategischen Systeme innerhalb der nächsten zwei Jahre (aus technischen Gründen wird für die strategischen Systeme jetzt von längerem Zeitraum ausgegangen). Dies entspricht den wiederholten Erklärungen Weißrusslands und der Ukraine, einen nuklearwaffenfreien Status anzustreben. Kasachstan will nach den Worten seines Präsidenten Nasarbajew (auf Pressekonferenz in Minsk am 30.12.91) ebenfalls „eine kernwaffenfreie Zone werden“ und „sich an allen Prozessen zur Reduzierung der strategischen atomaren Angriffswaffen beteiligen“. Seit Februar 1992 wiederholte Aussagen Nasarbajews, dass sein Land strategische NW nur auf gleicher Basis wie andere Atommächte (USA, Russland, China) abrüsten werde. Eine Verpflichtung zur Vernichtung von NW über den START-Vertrag hinaus ist außer Weißrussland und der Ukraine keine Republik eingegangen. Dieser soll − so Russland, Weißrussland, Kasachstan und die Ukraine im Abkommen von Alma Ata − den Parlamenten der vier GUS-Staaten zur Ratifizierung zugeleitet werden. Dies kann jedoch erst nach der am 14.2. von den GUS­Staatschefs (für ihr nächstes Treffen am 20.3.8) beschlossenen Ausarbeitung einer internen Vereinbarung über die Umsetzung des START-Vertrages erfolgen. Mit den Jelzin-Vorschlägen vom 29.1.92 zur weiteren Abrüstung strategischer Systeme9, die als Reaktion auf die Bush-Initiative vom Vortag10 an die einseitige Willenserklärung vom 5.10.91 (Gorbatschow-Initiative11) anknüpfen und z. T. darüber hinausgehen, hat sich der ukrainische Präsident Krawtschuk inhaltlich einverstanden erklärt, jedoch zur Form ebenso wie Nasarbajew bemängelt, dass der russische Präsident die anderen drei GUSAtommächte am Entscheidungsprozess nicht beteiligt habe. Es steht z. Zt. nicht fest, ob mit der Vernichtung der auf russischem Territorium zusammengezogenen taktischen NW bereits begonnen worden ist. Nicht bekannt ist auch, wann und wie die Eliminierung der (nicht nach Russland zu verbringenden) strategischen NW erfolgen soll. 5) Nichtverbreitung: Im Abkommen von Alma Ata haben sich nur die Ukraine und Weißrussland dazu verpflichtet, dem Nichtverbreitungsvertrag (NVV) von 1968 als nichtnukleare Staaten beizutreten und entsprechende Garantievereinbarungen mit der IAEO abzuschließen. Russland und Kasachstan haben allerdings in dem Abkommen einseitig die Verpflichtung zur Nichtverbreitung von NW und entsprechendem technischen „Know-how“ übernommen. Im Falle Russlands gehen wir davon aus, dass es in alle Rechte und Pflichten, die sich für die ehem. SU aus dem NVV ergaben, eingetreten ist. Das kasachische AM hat mit Verbalnote an die EG­Ratspräsidentschaft vom 6.1.92 den Beitritt Ks zum NVV 8 Zur Gipfelkonferenz der GUS-Mitgliedstaaten in Kiew vgl. Dok. 83, Anm. 2. 9 VLR I Boden legte am 30. Januar 1992 dar, der russische Präsident Jelzin habe in einer Fernsehansprache am Vortag „Schritte zum Produktionsstopp bei nuklearen Waffen und schweren Bombern in Aussicht“ gestellt und angedeutet, „die strategischen Angriffswaffen auf 2000 – 2500 atomare Sprengköpfe reduzieren“ zu wollen: „Bei taktischen Raketen sowie atomarer Artillerie und nuklearen Minen sei die Produktion eingestellt worden.“ Vgl. B 43, ZA-Bd. 228363. 10 Zur Initiative des amerikanischen Präsidenten Bush vom 28. Januar 1992 vgl. Dok. 9, Anm. 6. 11 Zu den Vorschlägen des sowjetischen Präsidenten Gorbatschow vgl. AAPD 1991, II, Dok. 339 und Dok. 408.

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und die Erklärung des kas. Territoriums zur nuklearfreien Zone „in due course“ in Aussicht gestellt.12 Seit Februar 1992 beharrt kas. Präsident auf (aus unserer Sicht nicht möglichem) NVV­Beitritt als „Nuklearwaffen-Staat“.13 B 43, ZA-Bd. 228355

97 Drahtbericht des Botschafters von Ploetz, Brüssel (NATO) VS-NfD Fernschreiben Nr. 544 Citissime Betr.:

Aufgabe: 2. April 1992, 06.37 Uhr1 Ankunft: 2. April 1992, 06.59 Uhr

Tagung von Verteidigungsministern mit Kooperationspartnern am 1. April 1992; hier: Berichterstattung Ministertagung

Zur Unterrichtung Hiermit wird eine erste analysierende und zusammenfassende Bewertung vorgelegt. Zu Einzelaspekten erfolgt gesonderte Berichterstattung nach Vorliegen des Wortprotokolls. Zur Frage des Abzugs sowjetischer Streitkräfte wird zusätzlich in getrenntem Bericht aus einem bilateralen Gespräch berichtet.2 12 Zur kasachischen Note vgl. Dok. 61, Anm. 5. 13 Am 8. April 1992 legte VLR I Boden BM Genscher entsprechend dessen „Randweisung auf Sachstand 240 ‚Nuklearwaffen (NW) in der ehemaligen Sowjetunion‘ vom 2.4.1992“ einen Vermerk zur „Dislozierung taktischer Nuklearwaffen“ in den GUS-Mitgliedstaaten vor: „Nach allen uns vorliegenden Erkenntnissen können wir davon ausgehen, dass sich taktische Nuklearwaffen gegenwärtig außerhalb Russlands nur noch in Weißrussland und der Ukraine befinden. Dies entspricht Angaben aus GUS selbst und auch denen der westlichen Nachrichtendienste.“ Aufgrund mangelnder Verifikationsmöglichkeiten „über die Gesamtanzahl taktischer Raketengefechtsköpfe und vor allem Artilleriegranaten“ blieben allerdings Unsicherheiten: „Derartige Zweifel werden teilweise auch noch aufgrund von Fehlinformationen, Prestigebedürfnis oder innenpolitischen Motiven geschürt, wie etwa durch die inzwischen dementierte Äußerung des russ. VP Ruzkoj von Mitte März über angebliche Restbestände takt[ischer] NW in Armenien und Aserbaidschan oder immer wieder auftauchende Gerüchte über das Vorhandensein derartiger Waffen bei den noch im Baltikum stationierten ehemals sowjetischen Streitkräften.“ Vgl. B 43, ZA-Bd. 228355. 1 Der Drahtbericht wurde von Kapitän zur See Feist, BMVg, z. Z. Brüssel, konzipiert. Hat VLR I Bertram am 2. April 1992 vorgelegen. 2 Botschafter von Ploetz, Brüssel (NATO), berichtete am 2. April 1992: „Vor allem baltische Staaten und Moldawien nahmen teilweise massiv und mit scharfer Formulierung Stellung zu Problemen im Zusammenhang mit dem Abzug russischer Streitkräfte von ihrem Territorium.“ Im bilateralen Gespräch habe der Vertreter Russlands dargelegt, dass ein Abzug erst nach der logistischen Lösung der Unterbringung der Soldaten in Betracht komme: „Angesichts der Verpflichtungen gegenüber D/PL komme ein Abzug aus dem Baltikum erst im Anschluss daran infrage, es sei denn, von dritter Seite würden vorher die Voraussetzungen dafür geschaffen.“ Vgl. DB Nr. 545; B 14, ZA-Bd. 161246.

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Vorbemerkung: Die derzeitigen Probleme im D-TUR-Verhältnis3 spielten keine Rolle. Immerhin wurde aufmerksam Geste des TUR-VM4 registriert, der als sechster Sprecher seinen Beitrag mit dem tiefen Bedauern über die Abwesenheit seines D-Kollegen5 einleitete und damit als erster dieses Thema ansprach. GS6 pflichtete im Schlusswort nachhaltig zu und hob den persönlichen Beitrag Dr. Stoltenbergs gerade in der Vorbereitung dieser Tagung hervor. (Zu bilateralem Gespräch mit TUR-VM am Rande siehe gesonderter Bericht.7) 1) Der hohe symbolische Charakter der Tagung wurde nicht nur in der Einführung GS deutlich, sondern in nahezu allen Beiträgen der VM unterstrichen. Deutlich wurde, dass Kooperation bereits jetzt so weit fortgeschritten ist, dass Begriffe wie „ehemalige Gegner“ den bereits bestehenden Realitäten nicht mehr gerecht werden. Es verdient Erwähnung, dass bei dieser Sitzung, anders als noch bei NAKR am 10.3.928, die Flaggen aller Teilnehmer, auch aller Kooperationspartner, im Saal waren. Unter den Delegationsleitern der Kooperationspartner betonten die VM mehrerer MOE/ SOE mit Stolz, dass zum ersten Mal in ihren Ländern das Amt des VM (anders als bei einigen Vertretern der GUS) in ziviler Hand läge. Die Atmosphäre der Tagung war auch in solchen Augenblicken, in denen kritische, vitale Fragen, z. B. der Balten oder Moldawiens (Forderung nach Abzug russischer Truppen) teilweise massiv und mit scharfer Formulierung vorgetragen wurden, dennoch immer durch kooperativen und aufgeschlossenen Geist geprägt. Es scheint, dass die genannten Staaten mit ihrem Vorschlag, Abzugsverhandlungen mit Moskau in einen multinationalen Prozess einzubetten, den kooperativen Ansatz instrumentalisieren wollen. Die Frage einer europäischen Sicherheitsarchitektur wurde erfrischend pragmatisch und konkret aufgegriffen. Unser Grundansatz in der Folge von Rom9, den bestehenden Dialog und Partnerschaft durch konkrete Kooperation zu ergänzen, wurde sowohl in einem regionalen Kontext wie auch gesamteuropäisch bestätigt. Aussage Stv. VM Aserbaidschan verdient festgehalten zu werden, die zentrale Aufgabe bestehe darin, Strukturen zu schaffen und Institutionen, in denen sich die Mitglieder an die vereinbarten Regeln regionaler und internationaler Sicherheit halten. Allerdings muss man auch im Lichte der zahlreichen Gespräche am Rande doch fragen, inwieweit die zugrundeliegenden Konzepte wirklich inhaltlich durchdrungen sind. Manche Erklärungen der Kooperationspartner wirkten eher wie ein Mosaik aus bewährten Formulierungen der Allianz. 3 Zu Spannungen im Verhältnis zur Türkei vgl. Dok. 92. 4 Nevzat Ayaz. 5 Im Zusammenhang mit vom Bundestag nicht genehmigten Waffenlieferungen an die Türkei erklärte BM Stoltenberg am 31. März 1992 seinen Rücktritt. 6 Manfred Wörner. 7 Botschafter von Ploetz, Brüssel (NATO), informierte am 1. April 1992 über das Gespräch des türkischen VM Ayaz mit StS Schönbohm, BMVg, am Vortag, in dessen Zentrum der Einsatz von Waffen aus der Verteidigungshilfe im Innern der Türkei gestanden habe. Vgl. DB Nr. 538; B 26, ZA-Bd. 181312. 8 Zur NAKR-Ministertagung in Brüssel vgl. Dok. 74. 9 In Rom fand am 7./8. November 1991 eine NATO-Gipfelkonferenz statt. Vgl. AAPD 1991, II, Dok. 375 und Dok. 376.

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Es gehört auch zu den Eigentümlichkeiten der Übergangsphase, dass georgischer Vertreter am Tisch sitzen und für Einladung danken konnte, obwohl sie nicht ausgesprochen war und Aufnahme Georgiens in NAKR erst am 15.4. vorgesehen ist, sofern es sich bis dahin auf den Acquis des NAKR verpflichtet hat. Die Botschaft, die die Kooperationspartner mitnehmen, ist die einer großen Aufgeschlossenheit seitens der NATO, ihnen beratend, unbürokratisch und, zugeschnitten auf die jeweilige Bedarfslage, auch vor Ort Unterstützung zu leisten. 2) Die Proliferation von Waffen war ein zentraler Punkt der Sorge aller Teilnehmer. Im Hinblick auf die nuklearen Waffen wurde die Notwendigkeit von deren Konsolidierung auf russischem Territorium bekräftigt. Vertreter RUS gab nachdrückliche Versicherung hinsichtlich Sicherheit und Kontrolle ab. UKR unterstrich seine Forderung nach einem Veto-Recht gegen den Einsatz solcher Waffen von seinem Territorium, bekannte sich zu einem künftigen nuklearwaffenfreien Status und forderte internationale Kontrolle und eigene Beteiligung bei der Vernichtung der derzeit auf seinem Boden stationierten Waffen. Dem widersprach Vertreter RUS mit Hinweis auf von UKR mitgetragene Erklärung von Alma Ata10. Von westlicher Seite bestätigten US- und GB-VM11 die Einschätzung, dass, sobald ausreichende Zusicherungen für Ukraine vorlägen, mit Fortsetzung der Konsolidierung der nichtstrategischen Nuklearwaffen auf russischem Boden zu rechnen sei. Vor allem VM GB und Moldawien thematisierten die Gefahr konventioneller Proliferation, die allgemein als Gefährdung des Friedens empfunden wurde. Herausgestellt wurde dabei der Zusammenhang zwischen der Proliferation konventioneller Waffen und dem Terrorismus. Für VM Moldawien12, der separatistische Bestrebungen in seinem Lande mit Terrorismus weitgehend gleichsetzte, war dies Anlass, den beschleunigten Abzug russischer Streitkräfte zu fordern, die er der Weitergabe von Waffen beschuldigte. Zwei Lösungsansätze wurden in der Aussprache wiederholt deutlich: entschlossene Umsetzung des KSE-Vertrages einschließlich Fortsetzung von Rüstungskontrolle und Abrüstung und wirksame Unterstellung von Streitkräften unter demokratische Kontrolle. C-Waffen wurden im Verlauf der Tagung nicht angesprochen. 3) Als aktuelle Konfliktherde in Europa wurden Nagorny Karabach, Dnjestr-Region und Jugoslawien angesprochen. In diesem Zusammenhang verdienen insbesondere die ausgewogenen Ausführungen des aserischen VM13 mit pan-europäischer Perspektive Beachtung, der auf eine baldige politische Lösung des Konfliktes in Nagorny Karabach drängte, womit dann auch der Weg für neue Institutionen freigemacht werden könne, mit denen Möglichkeiten für neue regionale Stabilität geschaffen werden könnten. 4) Beiträge der Kooperationspartner konzentrierten sich darauf, dass man sich derzeit in entscheidender Phase der Umstrukturierung der nationalen Verteidigungsstrukturen befindet. Dieser Aspekt stand eindeutig im Mittelpunkt ihrer Einlassungen. Derzeit ständen zentrale Weichenstellungen für Verkleinerung von Streitkräften, Umstellung auf reine Verteidigungserfordernisse und insbesondere die Eingliederung der Streitkräfte in zivil10 Zu den Vereinbarungen vom 21. Dezember 1991 vgl. AAPD 1991, II, Dok. 441. 11 Richard B. Cheney und Tom King. 12 Ion Costaș. 13 Rahim Hasan oglu Gaziyew.

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demokratisch kontrollierte Strukturen an. Auf diese Bereiche konzentrierte sich auch ihr Wunsch nach Unterstützung. Dem kommt das konkrete Angebot der NATO-VM entgegen, das auf die nachgeschobene D-US-Initiative zurückgeht, bei Bedarf Expertengruppen vor Ort zu schicken. Dieses Angebot wurde immer wieder mit Interesse angesprochen. UK-VM nahm in diesem Zusammenhang wichtige Klarstellung vor, als er unterstrich, es solle durch multinationale Zusammensetzung betont werden, dass es hierbei nicht um Konkurrenz unter den NATO-Partnern und schon gar nicht um den Aufbau von nationalen Einflusszonen gehen könne. Dies entspricht auch unserer Position, wie StS Schönbohm als Vertreter VM betonte. 5) Vor allem von Vertretern der NATO-Staaten wurden das baldige Inkrafttreten des KSEVertrages ohne Nachverhandlungen und seine volle Umsetzung als eine der Grundbedingungen für die volle Entfaltung des Kooperationsprozesses herausgestellt. Es wurde die Erwartung geäußert, dass der Vertrag zum KSZE-Gipfel in Helsinki im Juli14 in Kraft ist. Im Interesse der Stärkung von Sicherheit und Stabilität in Europa wurde die Entschlossenheit unterstrichen, ein Abkommen über die Begrenzung der personellen Streitkräfteumfänge abzuschließen.15 Die Teilnehmer begrüßten den Vertrag über „offene Himmel“16 und das Wiener VSBM-Dokument 199217 für größere Offenheit und Vertrauensbildung auf dem Gebiet der Sicherheit. 6) Es wurde nicht mit positiven Aussagen über die Allianz und ihre stabilisierende Rolle im neuen Europa gespart. Kooperationspartner bekräftigten die Bedeutung der atlantischen Verbindungen, der nordamerikanischen Präsenz in Europa und der Kooperation für die kollektive Sicherheit. Das Bündnis ist für sie Garant für Stabilität in Europa, Berechenbarkeit und defensive Suffizienz. In wiederholten Aussagen der Kooperationspartner wurde deutlich, dass die Beschlüsse der Allianz insbesondere von Rom Maßstab für den Wandel in Europa und Ausgangspunkt für ihre Hoffnungen auf die Zukunft bilden. Die stabilisierende Funktion, die das Bündnis bereits durch seine Existenz habe, bildete in Verbindung mit dem Wunsch nach möglichst engen kooperativen Beziehungen den Schwerpunkt der Aussage. Ein Wunsch nach Sicherheitsgarantien oder gar Beitritt wurde von keiner Seite vorgetragen. Diese Einschätzung der transatlantischen Beziehung wie auch die Rolle des Bündnisses nimmt US-VM als ein wichtiges Argument für die inneramerikanische Diskussion mit. 7) Bei der Diskussion des Entwurfs der gemeinsamen Erklärung18 beantragte Estland die Aufnahme einer Formulierung zum „vollständigen und unwidersprochenen Abzug aller fremden Truppen aus den Ländern, deren Regierungen die Anwesenheit als illegal betrachten“. Die Verwendung des Begriffs „illegal“ gab RUS-Vertreter die Möglichkeit, die Zustim14 Vom 24. März bis 8. Juli 1992 fand in Helsinki die vierte KSZE-Folgekonferenz statt, an die sich am 9./10. Juli 1992 eine Gipfelkonferenz anschloss. Vgl. Dok. 226. 15 Zum Abschluss der KSE Ia-Verhandlungen vgl. Dok. 202. 16 Zum Open-Skies-Vertrag vom 24. März 1992 vgl. Dok. 85. 17 Zum „Wiener Dokument 1992“ vom 4. März 1992 vgl. Dok. 70. 18 Für die Erklärung des NAKR-Treffens auf der Ebene der Verteidigungsminister am 1. April 1992 in Brüssel einschließlich der beigefügten Auflistung möglicher Bereiche für weitere Zusammenarbeit in Verteidigungsfragen vgl. NATO FINAL COMMUNIQUÉS 1991–1995, S. 63–66. Für den deutschen Wortlaut vgl. BULLETIN 1992, S. 374 f.

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mung mit annähernd nachvollziehbarem Rational zu verweigern. Im Grunde ist zu bedauern, dass Esten und auch andere das durchaus berechtigte Anliegen, welches überzeugend gewesen wäre, nicht abgewogen formulieren konnten. Auch der Antrag UKR auf Aufnahme einer Formulierung, die Vernichtung der Nuklearwaffen in den Staaten der GUS solle unter internationaler Kontrolle und unter Teilnahme der betroffenen Länder erfolgen, wurde von RUS aus eher formalen Gründen zurückgewiesen. Armenien versuchte, ein missverständliches Junktim zwischen der TLE-Aufteilung der GUS-Republiken und Nachbesserungen am KSE-Vertrag herzustellen. Bezeichnenderweise übernahm TUR Führungsrolle dabei, jeden Gedanken an Nachverhandlung KSE zurückzuweisen. 8) Nach dem Verständnis aller Teilnehmer gehörte dieses wie auch zukünftige Treffen der VM in den Kontext der Kooperation. Im vorangegangenen, allianzinternen Gespräch wurde ein Folgetreffen für Anfang 1993 ins Auge gefasst. Mit Rücksicht auf die transatlantischen Partner wurde aber auch ein Treffen mit Kooperationspartnern im zeitlichen Zusammenhang mit dem Herbsttreffen des Verteidigungsplanungsausschusses19 − organisatorisch und sachlich deutlich getrennt − nicht ausgeschlossen. Entscheidungen fielen nicht.20 Die Nichtbeteiligung F.s wurde ausdrücklich nur von I bedauert. In dem vorbereitenden allianzinternen Treffen wurde aber D-Position ausdrücklich durch GS bestätigt, dass Tür für F weit offen ist und dass auch bei künftigen Treffen nichts geschehen solle, was F Teilnahme erschweren könnte. 9) Bewährt hat sich die enge Abstimmung zwischen US und uns, die ihren Ausgangspunkt im Grundkonzept des Nordatlantischen Kooperationsrats hatte und die mit dem Angebot zu konkreter Hilfe vor Ort eines der zentralen Ergebnisse des Treffens hervorbrachte. 10)21 Mit dem Treffen der VM (und Militärausschuss am 10.4.) ist die Kooperation sichtbar in eine konkrete Phase getreten. Viele, zum Teil unerfüllbare Erwartungen richten sich auf die Allianz, aber auch auf die bilaterale Zusammenarbeit. D ist neben US Wunschpartner, weil man in drei Bereichen besondere Leistungen erwartet: – Beratung bei Grundsatzentscheidungen zur Wehrverfassung aufgrund der Erfahrungen bei Gründung der Bundeswehr. – Verständnisvoller Rat bei Umstellung von Streitkräften des WP auf Verteidigungsstrukturen unter demokratischer Kontrolle aufgrund der Erfahrungen mit der NVA im Zusammenhang mit der deutschen Einigung. – Materielle Unterstützung, weil wir als einzige über umfangreiche Zahlen an Waffen und Gerät/Ersatzteile aus dem Inventar des ehemaligen WP verfügen. Das ändert nichts am Wunsch dieser Länder, Ostgerät durch Westgerät abzulösen. [gez.] Ploetz B 14, ZA-Bd. 161246 19 Die Ministersitzung des DPC der NATO fand am 11. Dezember 1992 in Brüssel statt. Vgl. Dok. 415. 20 Das nächste NAKR-Treffen auf der Ebene der Verteidigungsminister fand am 29. März 1993 in Brüssel statt. Vgl. AAPD 1993. 21 Korrigiert aus: „9)“.

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3. April 1992: Gespräch zwischen Kohl und Krawtschuk

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98 Gespräch des Bundeskanzlers Kohl mit dem ukrainischen Präsidenten Krawtschuk 3. April 19921 Gespräch des Bundeskanzlers mit dem Präsidenten der Ukraine, Leonid Krawtschuk; Bonn, 3. April 1992, 15.45 – 16.30 Uhr2 Der Herr Bundeskanzler begrüßt Präsident Krawtschuk aufs Herzlichste. Präsident Krawtschuk dankt für diesen freundlichen Empfang, gratuliert dem Herrn Bundeskanzler zum Geburtstag und überreicht als Geschenk einen Hetmanstab aus Kristall. Damit wolle er symbolisch die Rolle des Bundeskanzlers in Europa – und darüber hinaus – unterstreichen. Er freue sich sehr – so Präsident Krawtschuk weiter –, bereits nach kurzer Zeit wieder in Deutschland zu sein und den Bundeskanzler über inzwischen erzielte Fortschritte in seinem Land unterrichten zu können.3 Das Problem der Bedienung der Außenschuld der früheren UdSSR, das beim Gespräch Anfang Februar im Mittelpunkt gestanden habe, sei dank der Unterstützung durch StS Dr. Köhler gelöst: Die Ukraine habe inzwischen das MoU der G 74 unterzeichnet. Unterstreichen wolle er auch, dass die Ukraine alle Verpflichtungen hinsichtlich der taktischen und strategischen Nuklearwaffen erfüllen werde. Um diese Frage habe es eine Fülle von Spekulationen gegeben. Heute habe Präsident Jelzin sein Einverständnis zur Bildung einer Kommission zur Überwachung der Vernichtung der taktischen Nuklearwaffen gegeben; bereits in zwei bis drei Tagen würden Vertreter aus Moskau nach Kiew 1 Kopie. Der Gesprächsvermerk wurde von MDg Kaestner, Bundeskanzleramt, am 6. April 1992 gefertigt und am 10. April 1992 von MR Stark, Bundeskanzleramt, an MD Schomerus, BMWi, und MD Haller, BMF, „mit der Bitte um Kenntnisnahme“ übermittelt. Vgl. das Begleitschreiben; B 63, ZA-Bd. 170703. Das BMF übersandte den Gesprächsvermerk mit Begleitschreiben vom 14. April 1992 an das Auswärtige Amt „mit der Bitte um Kenntnisnahme“. Hat VLR I Göckel am 16. April 1992 vorgelegen. Vgl. B 63, ZA-Bd. 170703. 2 Der ukrainische Präsident Krawtschuk hielt sich am 3./4. April 1992 zur Teilnahme am internationalen Forum der Bertelsmann Stiftung in der Bundesrepublik auf. Am 3. April 1992 führte Krawtschuk zudem ein Gespräch mit BM Genscher. Vgl. dazu Dok. 105. 3 Für das Gespräch des BK Kohl mit dem ukrainischen Präsidenten Krawtschuk am 4. Februar 1992 vgl. Dok. 32. 4 Zum „Memorandum of Understanding“ vom 28. Oktober 1991 zur Regelung der Altschulden der ehemaligen UdSSR vgl. Dok. 17. VLR I Runge legte am 1. April 1992 dar, im Pariser Club sei am 31. März 1992 eine Einigung der staatlichen Gläubiger „mit den Vertretern des zwischenstaatlichen Rats der GUS für Schuldenabwicklung sowie der Außenwirtschaftsbank (VEB) über eine Verlängerung des am 3./4.1.1992 zunächst für drei Monate gewährten Zahlungsaufschubs bis zum 30. Juni 1992“ erzielt worden, nachdem am 27. März 1992 in Frankfurt am Main eine vergleichbare Regelung mit privaten Gläubigern abgeschlossen worden sei. Allerdings sei weiter mit Zahlungsverzögerungen zu rechnen: „Nach wie vor bedient die GUS-Seite Zinsfälligkeiten selektiv und nach selbstgesetzten Prioritäten, d. h. Forderungen der Banken haben Vorrang vor staatlichen oder staatlich garantierten Fälligkeiten.“ Vgl. B 52, ZA-Bd. 173906.

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kommen, und dann werde die Ukraine mit dem Transfer dieser Waffen in die Russische Föderation fortfahren.5 Der einzige Grund, diesen Transfer zu unterbrechen, sei die begründete Unruhe gewesen, dass die Vernichtung nicht unter sicherer Kontrolle verlaufen könnte. Ferner würden Admiräle aus Moskau kommen, um das Problem der Schwarzmeerflotte endgültig zu lösen: Sie solle entsprechend der in Moskau vereinbarten Formel in einen strategischen und einen nichtstrategischen Teil geteilt werden; auf der Grundlage des letzteren werde die Ukraine sodann ihre eigene Flotte aufbauen.6 Für diese Flotte – so Präsident Krawtschuk weiter – gebe es inzwischen noch einen weiteren guten Grund: Man müsse verhindern, dass auf dem Seewege Waffen nach Moldawien (Donau-Hafen Reni) verbracht würden. Auch habe die Ukraine ihre Grenzen für den Landtransit von Waffen dorthin geschlossen. (Exkurs: Krisenhafte Zuspitzung in Moldawien7, Beschreibung der Konfliktparteien, Gefahr der Verwicklung der in Moldawien stationierten 14. Armee.) Er sei sich mit Präsident Jelzin einig, dass alles getan werden müsse, diesen Konflikt in den Griff zu bekommen und so eine weitere Destabilisierung der Region auf jeden Fall zu vermeiden. Sodann erläutert Präsident Krawtschuk das soeben vom ukrainischen Parlament angenommene Wirtschaftsreformprogramm, das auf den Hauptelementen Übergang zur Marktwirtschaft – Privatisierung und Entmonopolisierung – Schaffung aller nötigen Organe zur Verwirklichung einer liberalen Marktwirtschaft beruhe. Auf Fragen des Herrn Bundeskanzlers, worin sich dieses Programm von dem Programm der Russischen Föderation unterscheide, erläutert Präsident Krawtschuk, dass die Programme inhaltlich nahe beieinanderlägen, jedoch das ukrainische Programm auf einer eigenen Währung beruhen werde. Der Übergang zur eigenen Währung sei schon deshalb erforderlich, weil es den Rubel als Zahlungsmittel praktisch nicht mehr in ausreichender Menge gebe. Die Lage werde noch schlimmer, wenn die Russische Föderation weitere Preise freigebe. In der Ukraine könne man bereits jetzt Löhne nicht mehr auszahlen. (Exkurs: Ablösung des russischen Finanzministers Gajdar8 – Präsident Krawtschuk wertet dies als taktischen Zug Jelzins am Vorabend der Sitzung des Kongresses der Volksdeputierten9, um der Kritik gegen sein Wirtschaftsprogramm die Spitze zu nehmen.) 5 Zum ukrainischen Moratorium für den Abzug taktischer Nuklearwaffen vgl. Dok. 83, Anm. 3. 6 Zur Frage der Aufteilung der Schwarzmeerflotte vgl. Dok. 13, Anm. 37. Am 7. April 1992 unterstellten der russische Präsident Jelzin wie der ukrainische Präsident Krawtschuk die Schwarzmeerflotte ihrer Jurisdiktion. Am 9. April 1992 gaben beide Seiten bekannt, diese Erlasse seien vorerst ausgesetzt; eine Parlamentarierdelegation solle die Streitfrage regeln. Vgl. EUROPA-ARCHIV 1992, Z 112. 7 Zum Moldau-Konflikt vgl. Dok. 211. 8 Am 2. April 1992 entzog der russische Präsident Jelzin dem Finanz- und Wirtschaftsminister Gajdar das Finanzministerium, dessen neuer Leiter der bisherige Erste Stellvertretende Finanzminister Bartschuk wurde. Botschafter Blech, Moskau, urteilte: „Mit der Befreiung von der administrativen Bürde des Finanzministeriums dürfte Gajdar, der Erster Stellvertretender Premierminister mit Vorrangzuständigkeit für die Wirtschaftsreform bleibt, sich künftig vielmehr voll auf die Reform und ihre Umsetzung konzentrieren können.“ Vgl. DB Nr. 1571 vom 2. April 1992; B 41, ZA-Bd. 158743. 9 Zum Kongress der Volksdeputierten vom 6. bis 21. April 1992 in Moskau vgl. Dok. 111, Anm. 7 und 9.

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Das Wirtschaftsreformprogramm – so Präsident Krawtschuk weiter – werde ab sofort umgesetzt. Wichtige Einzelheiten müssten mit Russland geklärt werden, insbesondere die Frage der Berechnung der Energiepreise zu Weltmarktpreisen bzw. Vereinbarung von Barter-Geschäften. Wenn die Russen – wie von ihnen angestrebt – tatsächlich zum 15. Mai auf Weltmarktpreise übergingen, müsse auch die Ukraine ihre Produkte entsprechend fakturieren und im Übrigen die Frage wichtiger Produktionszweige grundsätzlich stellen: So importiere man derzeit große Mengen Erdgas und Kokskohle, um Stahl in großen Mengen für die Russische Föderation herzustellen. Er habe deshalb Jelzin vorgeschlagen, ein komplexes Programm für die Erdöl- und Erdgasförderung auszubauen, desgleichen gemeinsame Entwicklungen in der Raketentechnologie und Weltraumforschung. Auf Fragen des Herrn Bundeskanzlers nach Beziehungen Ukraine – IWF10 erläutert Präsident Krawtschuk, dass das ukrainische Reformprogramm von den internationalen Experten bereits begutachtet und für solide befunden worden sei. Es werde nun formell dem IWF – und parallel der belgischen Regierung, die die Ukraine in der entsprechenden IWF-Stimmgruppe vertrete – zugeleitet. Der Bundeskanzler erkundigt sich nach der Lage der ukrainischen Landwirtschaft und Lebensmittelexporten in die Russische Föderation. Präsident Krawtschuk bezeichnet Fleisch, Milch, Eier, Zucker und Öle als Hauptexportprodukte. Hinsichtlich des Weizens tausche man Hartweizensorten gegen andere aus. Auch hier gelte im Übrigen: Wenn Russland für Erdöl Weltmarktpreise verlange, müsse es auch für Fleisch entsprechend zahlen. Präsident Krawtschuk erläutert sodann auf Fragen des Bundeskanzlers, dass die Reform der Landwirtschaft unter dem Zeichen der Privatisierung stehen werde: Es werde unterschiedliche Formen von Privateigentum an Grund und Boden geben, man könne landwirtschaftliche Flächen verpachten oder verkaufen. Insgesamt sei die Landwirtschaft jedoch für die Ukraine ein vergleichsweise leicht zu lösendes Problem. Wesentlich größer sei das Problem der Verarbeitung landwirtschaftlicher Produkte, wo – vor allem durch lange Transportwege vom Erzeuger zu den Fabriken – Verluste von im Schnitt 30 % des Erntevolumens einträten. Hier strebe man mit großem Nachdruck danach, kleinere, erzeugernahe Betriebe einzurichten. Der Bundeskanzler wirft ein, er habe bereits mit Präsident Gorbatschow vor zwei Jahren dieses schlimme Problem diskutiert.11 Er fragt sodann nach der Entwicklung hinsichtlich der Ansiedlung von Deutschen in der Ukraine. 10 Referat 412 vermerkte am 2. April 1992, die Ukraine habe am 19. Dezember 1991 ihre Mitgliedschaft im IWF beantragt: „Irritationen, die aufgrund der Weigerung der Ukraine, das Memorandum of Understanding zur Übernahme eines angemessenen Teils der Außenschuld der ehemaligen SU zu unterzeichnen, [entstanden], sind inzwischen durch Beitritt der Ukraine zum Memorandum ausgeräumt. […] Mit der Aufnahme der Ukraine in den IWF ist nach der jetzt erfolgten amerikanischen Zustimmung zur Quotenerhöhung während der Frühjahrstagung des IWF (25. bis 27.4.1992) zu rechnen.“ Vgl. B 63, ZA-Bd. 170703. 11 Vgl. das Gespräch des BK Kohl mit dem sowjetischen Präsidenten Gorbatschow am Nachmittag des 15. Juli 1990 in Stawropol; KOHL, Erinnerungen 1990–1994, S. 172, bzw. die Pressekonferenz von Kohl und Gorbatschow am 16. Juli 1990 in Schelesnowodsk; GORBATSCHOW UND DIE DEUTSCHE FRAGE, Dok. 105.

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Präsident Krawtschuk unterstreicht, hier gebe es kein Problem: Davon habe sich der Beauftragte des Bundeskanzlers (PStS Waffenschmidt) selbst überzeugen können.12 Die ukrainische Bevölkerung vor Ort, die örtlichen Behörden und die Regierung von Kiew zögen alle an einem Strang. Die Deutschen seien willkommen. Der Bundeskanzler kündigt an, dass bereits in der nächsten Woche Staatssekretär Priesnitz/BMI in die Ukraine reisen werde, um das Programm voranzutreiben.13 Präsident Krawtschuk begrüßt dies sehr. Er berichtet, dass er jetzt aus Landesteilen, wo keine Ansiedlung von Deutschen vorgesehen sei (Rowno, Poltawa, Tscherkask), Briefe und Petitionen in dem Sinne bekomme, diese Gegenden in das Ansiedlungsprogramm einzubeziehen. Es gebe offenbar auf dem Lande viele leerstehende Häuser, in denen die Deutschen sofort unterkommen könnten. Insgesamt – so Präsident Krawtschuk weiter – sei er zutiefst überzeugt, dass es auch in Zukunft keinerlei Probleme, insbesondere keine Nationalitätenkonflikte geben werde (dies gelte hinsichtlich der Krim eingeschränkt). Der Bundeskanzler spricht sodann den Vertrag über konventionelle Streitkräfte in Europa an und bittet Präsident Krawtschuk, das Seine dazu beizutragen, dass dieser Vertrag bald ratifiziert wird und in Kraft treten kann. Präsident Krawtschuk pflichtet lebhaft bei: Er habe vorgeschlagen, diese Frage bereits beim kürzlichen Treffen der GUS-Staatschefs in Kiew14 zu klären, bedauerlicherweise seien aber die Dokumente noch nicht fertig geworden. Im Prinzip sei man aber einig, dass alle Staaten der GUS diesen Vertrag unterzeichnen und ratifizieren würden – in der Ukraine werde es dabei kein Problem geben.15 Der Bundeskanzler stellt erfreut die großen Fortschritte fest, die die Ukraine seit seiner letzten Begegnung mit dem Präsidenten erreicht habe. Jeder Fortschritt in Richtung Stabilität, den die Ukraine mache, sei auch ein Fortschritt für unser Land. Präsident Krawtschuk pflichtet bei: Sein Land werde diesen Kurs mit Ernst und auf rechtlicher Grundlage fortführen. So sei am besten gewährleistet, dass in der Region keine Instabilitäten entstünden und sich anderswo auswirkten. In diesem Sinn telefoniere er fast täglich mit dem moldawischen Präsidenten Snegur, den er dringend bitte, es nicht zu einem Krieg kommen zu lassen. Der Bundeskanzler unterstreicht die große Bedeutung einer ruhigen Vorwärtsentwicklung. Dabei stellt sich für die Menschen ein psychologisches Problem: Sie verstünden oft nicht, welche gewaltigen Veränderungen abliefen. Dasselbe gelte im Übrigen auch für den Westen – hier könnten die Deutschen aufgrund ihrer Erfahrungen in den neuen Bundesländern noch eher ermessen, welch grundlegender Wandel im Gange sei, aber bereits unsere 12 Zum Besuch des Beauftragten der Bundesregierung für Aussiedlerfragen, PStS Waffenschmidt, BMI, am 27./28. Februar 1992 in der Ukraine vgl. Dok. 32, Anm. 12. 13 StS Priesnitz, BMI, besuchte die Ukraine vom 6. bis 8. April 1992. Botschafter Graf von Bassewitz, Kiew, teilte am 13. April 1992 mit, das wichtigste Ergebnis sei ein unterzeichnetes „Absichtsprotokoll über ukrainische Bemühungen, den Deutschstämmigen – auch aus anderen GUS-Staaten – neue Heimstatt in der Ukraine zu bieten bzw. die Fixierung von 12 Rayons im Gebiet Odessa, in denen Siedlungswilligen Grundstücke und deren Bewirtschaftung nach ihrer Wahl gemäß ukrainischer Gesetzgebung“ in Aussicht gestellt würden. Vgl. DB Nr. 346; B 41, ZA-Bd. 184093. 14 Zur Gipfelkonferenz der GUS-Mitgliedstaaten am 20. März 1992 vgl. Dok. 83, Anm. 2. 15 Zur Einigung auf die Aufteilung der Rechte und Pflichten der ehemaligen UdSSR aus dem KSE-Vertrag vgl. Dok. 141.

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westlichen Nachbarn und unsere transatlantischen Verbündeten hätten größere Schwierigkeiten, dies zu verstehen. Auf die Frage des Herrn Bundeskanzlers, ob die ukrainische Bevölkerung den Reformkurs weiter mittragen werde, antwortet Präsident Krawtschuk mit unbedingtem Ja: Die Ukrainer hätten verstanden, dass es kein Zurück mehr gebe – denn dies würde eine Katastrophe auslösen – und man deshalb entschlossen nach vorn gehen müsse. Wenn man alle Karten auf den Tisch lege, so wachse das Verständnis in der Bevölkerung, und sie sei bereit, auch schwierige Entscheidungen mitzutragen. Herzliche Verabschiedung. B 63, ZA-Bd. 170703

99 Gespräch des Bundesministers Genscher mit dem estnischen Präsidenten Rüütel 214-321.00 EST

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Von BM noch nicht gebilligt Gespräch BM mit dem estnischen Präsidenten Rüütel am 3.4.1992 im Gästehaus Kiefernweg2 Rüütel gibt nach der Begrüßung durch BM eine Darstellung der Lage in Estland: In rechtlicher Hinsicht habe man die Unabhängigkeit wiedergewonnen. In der Praxis gebe es aber viele Probleme. Von Russland werde immer noch politischer Druck ausgeübt. Dies geschehe in erster Linie mit wirtschaftlichen Mitteln. Moskau zahle für estnische Lieferungen (Fleisch/ Milch) derzeit nicht. Auf dem russischen Schuldenkonto sei ein Betrag von 2 Mrd. Rubel aufgelaufen. Gleichzeitig verlange Russland für Öllieferungen aber Vorauskasse. BM fragt, ob R. dahinter eine gezielte Strategie vermute, oder ob es sich um Unvermögen handele. Rüütel sieht eine gezielte Strategie. Estnische Guthaben in Devisen seien in Moskau in einer Höhe von 20 Mio. $ eingefroren; dazu Spareinlagen in Höhe von 2 Mrd. Rubel. Dies gehe aber wohl nicht von Jelzin, sondern von alten Kräften aus. Die russische Seite werfe Estland außerdem angebliche Menschenrechtsverletzungen vor. In den 60er Jahren seien Kriegsverbrecherprozesse durchgeführt worden. Jetzt belebe Russland das Thema wieder. Man habe die Errichtung einer Kommission zur Erforschung dunkler Kapitel in der Stalinzeit beschlossen. Es gehe nicht um die Inhaftierung von Menschen. Estland müsse sich aber zur Wahrheit bekennen. 1 Kopie. Der Gesprächsvermerk wurde am 6. April 1992 von VLR I Derix „im Konzept gezeichnet“ und „i[n] V[ertretung]“ von LR I Lucas an das Ministerbüro geleitet. Hat VLR I Matussek am 6. April 1992 vorgelegen, der den Rücklauf an Referat 214 verfügte und handschriftlich vermerkte: „Kann mit Vermerk ,Von BM noch nicht gebilligtʻ verteilt werden.“ 2 Der estnische Präsident Rüütel besuchte die Bundesrepublik am 2./3. April 1992.

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Ein schwieriges Kapitel sei auch der Abzug der sowjetischen Truppen. Durch die Ausübung von Druck wolle Russland die Position Estlands schwächen. R. äußert sodann zwei konkrete Bitten: Die Bauern müssten jetzt ihre Felder bestellen. Es fehle aber an finanziellen Mitteln für Benzin und Diesel. Dafür benötige Estland Kredite in Höhe von 15 Mio. US-$ noch im April. Die Zeit der Aussaat beginne jetzt. Er habe darüber auch mit dem Bundespräsidenten gesprochen. BM fragt, wo Estland den Kraftstoff kaufen wolle. Rüütel weist auf Finnland und Schweden hin. Von Finnland sollten 40 000 t bezogen werden. Ein Teil sei bereits eingetroffen. Von der Weltbank wolle Estland einen Kredit in Höhe von 300 Mio. US-$ erbitten als strategische Reserve für den nächsten Winter. Die zweite Bitte betreffe den Aufbau eines Grenzschutzes zur Kontrolle der estnischen Küste. Man habe bereits 2000 Mann mobilisiert, die aber bisher nur mit Gummiknüppeln ausgerüstet seien. Von D erhoffe man Hilfe in der Gestalt von Waffen aus NVA-Beständen und zehn schnelle Boote mit moderner technischer Ausstattung für den Küstenschutz. Schweden habe drei Boote älteren Datums übergeben. Estland habe keine Mittel, um moderne Boote zu kaufen. Es gelte aber, ca. 1000 km Küste zu kontrollieren. BM äußert Verständnis für die schwierige Lage Estlands. Zur Bitte um Kredithilfe für Treibstoff für die Landwirtschaft: Er könne nichts versprechen. Wenn es aber eine Möglichkeit zur Hilfe gebe, werde man sie nutzen. Er werde die Frage prüfen lassen und der estnischen Seite eine baldige Antwort über unsere Botschaft zukommen lassen.3 Er sehe die estnische Abhängigkeit von Russland. Die baltischen Staaten, die dabei seien, sich von der früheren SU zu lösen, müssten andere Ufer finden. Ein neues Ufer könne in dieser Lage nur die EG sein. Er, BM, bemühe sich zusammen mit DK um Assoziierungsabkommen der EG mit den baltischen Staaten. Am kommenden Montag werde er im EGKreis darauf drängen, dass noch bestehende Bedenken bei den Partnern beseitigt würden.4 Zur Bitte um Waffen und Boote: Diese Frage sei sehr schwierig und in jüngster Zeit noch sensitiver geworden. Gleichwohl wolle er veranlassen, dass diese Frage geprüft werde. Er müsse aber nochmals auf die Sensitivität hinweisen. Rüütel erwidert, Waffen seien letztendlich nicht so wichtig wie technisch gut ausgerüstete Küstenschnellboote und auch wie Uniformen.5 3 VLR Hausmann bat die Botschaft in Tallinn am 24. April 1992, der estnischen Regierung mitzuteilen, dass die Bundesregierung keine 15 Mio. US-Dollar Kredithilfe gewähren könne, aber bereit sei, „HermesAusfuhrbürgschaften für kleinere Einzelgeschäfte (Volumen bis 5 Mio. DM) zu kurzfristigen Zahlungsbedingungen gegen eine Zahlungsgarantie des Staates zu übernehmen“. Der estnischen Botschaft würden zudem „Anschriften von Unternehmen der deutschen Mineralölwirtschaft zugeleitet, die für Treibstofflieferungen infrage“ kämen: „Im Rahmen der landwirtschaftlichen Unterstützungsmaßnahmen für Estland kommen auch PHARE-Mittel für die Finanzierung von Treibstofflieferungen infrage, soweit der übliche Verfahrensweg eingehalten wird.“ Vgl. den RE; B 221, ZA-Bd. 166638. 4 Am 6. April 1992 fand in Luxemburg eine EG-Ministerratstagung statt. Vgl. BULLETIN DER EG 4/1992, S. 95. Am 11. Mai 1992 wurde in Brüssel das auf zehn Jahre ausgelegte Abkommen zwischen der EWG und Estland „über den Handel und die handelspolitische und wirtschaftliche Zusammenarbeit“ unterzeichnet, das wie die am gleichen Tag unterzeichneten Abkommen mit Albanien, Lettland und Litauen „zur Durchführung von Assoziationsabkommen mit diesen Ländern und zum Ausbau der Beziehungen beitragen“ sollte. Vgl. BULLETIN DER EG 5/1992, S. 84. 5 Botschafter von Wistinghausen, Tallinn, äußerte am 15. Juli 1992 sein Bedauern, „dass wir […] bislang nicht zu einer hier besonders geschätzten und öffentlichkeitswirksamen bilateralen Zusammenarbeit

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BM fragt nach der Zahl russischer Bürger und Soldaten in Estland. Rüütel nennt die Zahl von ca. 600 000, darunter 11 000 pensionierte Offiziere mit Familien, 1400 KGB-Offiziere sowie 15 000 aktive Offiziere und Unteroffiziere. Er, R., habe die verschiedenen Staatschefs der GUS-Republiken angerufen und sie gebeten, ihre Volksangehörigen (Armee) zurückzuholen. Weißrussland und Russland hätten auf fehlende Wohnungen und Kasernen hingewiesen. BM fragt, wer die sowjetischen Truppen besolde. Rüütel: Moskau. Man wolle in der Abzugsfrage nicht auf Konfliktkurs gehen. Estland könne aber seine Unabhängigkeit nur dann erreichen, wenn es eine Dekolonisierung durchführe.6 Man habe deshalb vor, eine Stiftung für Reemigration zu gründen. Hier hoffe man auch auf Beiträge von ausländischen Staaten. BM unterstreicht, wir wollten, dass die baltischen Staaten ihre Unabhängigkeit finden, aber in einer Weise, die den Weg nach Europa öffne. Er weist nochmals auf die Bedeutung des Assoziierungsabkommens hin (Beitrittsperspektive). B 1, ZA-Bd. 178913

100 Schreiben des Bundeskanzlers Kohl an den russischen Präsidenten Jelzin 412-651 09-Russland

3. April 19921

Sehr geehrter Herr Präsident, für Ihr Schreiben vom 24. Januar 1992, das Sie an mich in meiner Eigenschaft als Gastgeber des diesjährigen Wirtschaftsgipfels2 gerichtet haben, möchte ich Ihnen sehr danken. In Fortsetzung Fußnote von Seite 414 mit Estland im Verteidigungsbereich in der Lage waren (wie Frankreich: Lieferung von Uniformen, Schiffsbesuch). Hier wäre ohne große Anstrengung aus vorhandenen Beständen (NVA-Material) bzw. bei etwas organisatorischer Anstrengung (Flottenbesuche) im ersten Jahr der wiedererlangten Unabhängigkeit viel außenpolitisches Kapital zu gewinnen gewesen.“ Vgl. SB Nr. 436; B 31, ZA-Bd. 171317. Am 31. Juli 1992 bat das BMVg das Auswärtige Amt „um Bestätigung eines dringenden Bundesinteresses gem. § 63 (4) B[undes]H[aushalts]O[rdnung]“ an einer beabsichtigten unentgeltlichen Abgabe von NVAMaterial an Estland, die „in nahezu gleicher Größenordnung auch an Lettland und Litauen“ vorgesehen sei. Diese Bestätigung erfolgte am 7. August 1992 durch LR I Lucas. Für die Schreiben vgl. B 31, ZABd. 171317. 6 Botschafter von Wistinghausen, Tallinn, berichtete am 5. Juni 1992, die am 14./15. April 1992 begonnenen estnisch-russischen Gespräche über einen Truppenabzug seien nach der dritten Runde vom 2. bis 4. Juni 1992 wegen mangelnder Fortschritte vorübergehend unterbrochen worden. Vgl. DB Nr. 279; B 31, ZA-Bd. 171318. 1 Kopie. Das Schreiben wurde von MR Stark, Bundeskanzleramt, konzipiert. Hat VLR Mülmenstädt vorgelegen, der handschriftlich vermerkte: „Umlauf 213.“ 2 Zum Weltwirtschaftsgipfel vom 6. bis 8. Juli 1992 in München vgl. Dok. 225.

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diesem Schreiben erläuterten Sie das von Ihrer Regierung damals auf den Weg gebrachte russische Reformprogramm, wobei Sie um Unterstützung seitens der G 7-Länder für Ihren Antrag auf Mitgliedschaft in den Institutionen von Bretton Woods3 und Ihren Wunsch nach Schaffung eines Stabilisierungsfonds baten.4 Ich habe während der letzten Monate wegen dieser Fragen in engem Kontakt mit meinen Kollegen gestanden. Während dieser Zeit waren wir Zeuge ermutigender Fortschritte bei Ihrem wirtschaftlichen Reformprogramm, die wir sehr begrüßen. Die – in Zusammenarbeit mit dem IWF erfolgte – Ausarbeitung des Wirtschaftspolitischen Memorandums5 stellte einen bedeutenden Schritt hin zur Umwandlung der russischen Volkswirtschaft dar. Es kommt jetzt darauf an, die in dem Memorandum zusammengefassten politischen Zielsetzungen und Reformmaßnahmen in vollem Umfang und unverzüglich zu verwirklichen. Die Gipfelteilnehmer haben ihre Bereitschaft unter Beweis gestellt, das Reformprogramm der russischen Regierung zu unterstützen. Große Mengen an Lebensmitteln und umfangreiche humanitäre Hilfe wie auch Technische Hilfe sind zur Verfügung gestellt worden.6 Am 31. März 1992 haben sich die G 7-Länder und zehn weitere Gläubigerländer darauf geeinigt, den im letzten Jahr vereinbarten Aufschub für die Schuldenrückzahlung zu verlängern.7 Ferner haben die G 7-Länder nachdrücklich die baldige Mitgliedschaft Ihres Landes im IWF und in der Weltbank unterstützt, sodass das Beitrittsverfahren innerhalb der nächsten Wochen vollendet wird. Damit wird ein großer Schritt auf dem Weg zur Eingliederung Ihres Landes in die internationale Gemeinschaft getan sein, und es wird sich die Möglichkeit einer bedeutenden finanziellen Unterstützung Ihres Landes durch diese Institutionen eröffnen. In den nächsten Monaten wird Ihre Regierung weiterhin eng mit dem IWF zusammenarbeiten, um ein Stabilisierungsprogramm zu entwickeln, das der IWF alsbald nach dem Beitritt Ihres Landes finanziell unterstützen kann. Wie Sie wissen, arbeiten die G 7 derzeit an einem substanziellen Paket finanzieller Hilfen. Dabei prüfen wir auch die Errichtung 3 Zum russischen Beitrittsantrag zu IWF und Weltbank vgl. Dok. 6, Anm. 17. 4 Für das Schreiben des russischen Präsident Jelzin vom 24. Januar 1992 vgl. B 52, ZA-Bd. 173735. 5 Für das über die russische Nachrichtenagentur ITAR-TASS am 4. März 1992 veröffentlichte „Memorandum über die Wirtschaftspolitik der Russischen Föderation“ vom 27. Februar 1992 vgl. die Dokumentation des BPA, Fernseh-/Hörfunkspiegel Ausland vom 6. März 1992; B 41, ZA-Bd. 158767. 6 Vgl. die Koordinierungskonferenz für humanitäre Hilfe an die GUS-Mitgliedstaaten am 22./23. Januar 1992 in Washington; Dok. 38. Vgl. auch die Koordinierungskonferenz für humanitäre Hilfe an die GUS-Mitgliedstaaten sowie an Georgien am 23./24. Mai 1992 in Lissabon; Dok. 160. 7 Referat 412 notierte am 2. April 1992: „Am 31.3.1992 haben die G 7 (Finanzstaatssekretäre) in Paris den Rahmen der multilateralen Finanzhilfen für Russland und andere GUS-Republiken abgesteckt. Dadurch sollten die Vorbereitungen für die Aufnahme in den IWF vorangebracht und gleichzeitig rechtzeitig vor der Debatte im Parlament am 6.4.1992 in Moskau ein deutliches Signal der Unterstützung für den Reformkurs gesetzt werden.“ Die G 7 gingen bei Russland „von einer Finanzierungslücke in der Zahlungsbilanz für das Jahr 1992 von bis zu 18 Mrd. $ aus (der IWF veranschlagte Anfang März noch 12,3 Mrd. $). Davon wollen die G 7 knapp 12 Mrd. $ finanzieren (darunter unsere 5 Mrd. DM Nahrungsmittelhilfe und Exportkredite, die rd. ein Viertel der Gesamthilfe entsprechen würden). Gut 4 Mrd. $ sollen durch die IFIs (IWF, Weltbank, EBRD) aufgebracht werden.“ Ferner solle ein Stabilisierungsfonds von 6 Mrd. US-Dollar eingerichtet, aber „keine zusätzliche ungebundene Zahlungsbilanzhilfe 1992 gewährt werden“. Hinzu komme „der Zahlungsaufschub für staatliche und staatlich verbürgte Tilgungsfälligkeiten“. Vgl. B 52, ZA-Bd. 173735. Zur Frage der Altschulden der ehemaligen UdSSR vgl. Dok. 98, Anm. 4.

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eines Währungs-Stabilisierungsfonds, der auf der Grundlage der Umsetzung eines mit dem IWF vereinbarten Programms in Kraft gesetzt werden könnte. Die Grundlage für alles dies sind Ihre mutigen und fortgesetzten Reformbemühungen und die Zusammenarbeit Russlands als verantwortungsbewusster Partner in der internationalen Gemeinschaft in Übereinstimmung mit den Grundsätzen von Gesetz und Gerechtigkeit. Ihr Land hat unter Ihrer Führung ein kühnes und mutiges Reformprogramm in Angriff genommen. Nur das russische Volk selbst kann die Reformbemühungen zum Erfolg führen. Ich möchte Ihnen jedoch versichern, dass Deutschland und die übrigen Gipfelteilnehmer bereitstehen, um Ihr Land auch weiterhin zu unterstützen. Ich komme zurück auf unsere kürzliche telefonische Unterredung8 und bestätige meinen Wunsch und meine Erwartung, dass wir uns in München mit den Gipfelteilnehmern der G 7 treffen werden. Die Einzelheiten werde ich mit meinen Kollegen noch besprechen müssen. Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie meinen Persönlichen Beauftragten für die Vorbereitung des Gipfels, Herrn Staatssekretär Dr. Horst Köhler, im Laufe des Monats Mai empfangen könnten.9 Mit freundlichen Grüßen [Kohl] B 41, ZA-Bd. 158743

101 Gespräch des Bundeskanzlers Kohl mit dem kirgisischen Präsidenten Akajew 7. April 19921 Gespräch des Herrn Bundeskanzlers mit dem kirgisischen Präsidenten Akajew am 7. April 1992, 16.00 Uhr – 17.30 Uhr2 8 Für das Telefongespräch des BK Kohl mit dem russischen Präsidenten Jelzin am 23. März 1992 vgl. Dok. 83. 9 Zum Besuch von StS Köhler, BMF, am 10./11. Juni 1992 in Russland vgl. Dok. 175. 1 Kopie. Der Gesprächsvermerk wurde von MD Hartmann, Bundeskanzleramt, am 8. April 1992 gefertigt und von VLR I Schäfers, Bundeskanzleramt, am 24. April 1992 an VLR I Reiche „zur Unterrichtung des Auswärtigen Amtes“ übermittelt. Dazu teilte Schäfers mit: „Angesichts der inzwischen erfolgten Kabinettsentscheidung, eine hochrangige Delegation nach Kirgistan zu entsenden, wäre das Bundeskanzleramt für Unterrichtung über Beteiligung an den Vorbereitungen zu dieser Reise dankbar.“ Hat AR Sawroch am 24. April 1992 vorgelegen, der die Weiterleitung über MD Dieckmann und MDg Schönfelder an VLR I Göckel „m[it] d[er] B[itte] um weitere Veranlassung“ verfügte. Hat Dieckmann am 30. April 1992 vorgelegen. Hat Schönfelder am 4. Mai 1992 vorgelegen. Hat Göckel am 4. Mai 1992 vorgelegen. Vgl. das Begleitschreiben; B 63, ZA-Bd. 170575. 2 Der kirgisische Präsidenten Akajew besuchte die Bundesrepublik vom 5. bis 9. April 1992. Dabei führte er auch Gespräche mit Bundespräsident Freiherr von Weizsäcker und BM Genscher. Für letzteres am 7. April 1992 vgl. den Gesprächsvermerk; B 41, ZA-Bd. 171764.

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Der Bundeskanzler heißt Präsident Akajew herzlich willkommen und fordert ihn auf, über die Lage in seinem Land zu berichten. Präsident Akajew erklärt, er wolle zunächst sagen, dass die aktive Rolle des Bundeskanzlers in Kirgistan sehr hoch eingeschätzt werde. Dies beziehe sich vor allem auf die Rolle des Bundeskanzlers bei der Vereinigung Europas und bei der aktiven Hilfe für die GUS-Staaten. Man wisse sehr gut in Kirgistan, dass Deutschland die meiste Hilfe in dieser schwierigen Übergangsphase leiste. Auch wisse man in Kirgistan die Rolle des Bundeskanzlers bei der deutschen Wiedervereinigung hoch einzuschätzen. Natürlich sei die Lage zwischen Deutschland und Kirgistan unterschiedlich. Nachdem Kirgistan aber seine Unabhängigkeit erlangt habe, fühle man sich den gleichen Werten wie Deutschland verpflichtet. Seine Regierung wolle künftig die privaten Interessen der Bürger und auch ihr privates Eigentum schützen. Dies entspreche dem neuen Verständnis von Freiheit und Verantwortung. Ferner strebe man inneren Frieden und Einvernehmen mit anderen Nationen an. Kirgistan wolle auch die Rechte der nationalen Minderheiten sicherstellen. Im Lande gebe es rund 80 ethnische Gruppen, die mehr als 20 Sprachen sprächen. Man sei jetzt dabei, einen demokratischen Staat aufzubauen und den Rechtsstaat zu gestalten. Seine Regierung habe als erste der GUS-Staaten auf die kommunistische Ideologie verzichtet und auch die Wiedergeburt der Religion gefördert. Das kirgisische Volk habe stets den religiösen Extremismus abgelehnt und demzufolge auch den kommunistischen Extremismus. Heute wehre man sich gegen die Einflüsse des Fundamentalismus. Die kirgisische Kultur habe sowohl westliche als auch östliche Elemente aufgenommen. Kirgistan sei heute die einzige Republik in Mittelasien, auf deren Boden verschiedene Religionen friedlich zusammenlebten. Auf eine entsprechende Frage des Bundeskanzlers stellt Präsident Akajew klar, dass rund 70 % der Bevölkerung Moslems, weitere 25 % orthodoxe Christen und der Rest Buddhisten, Katholiken und Protestanten seien. Kirgistan fühle sich stärker zu Europa hingezogen als zu seinen asiatischen Nachbarn. Dies erkläre auch die traditionell besonderen Beziehungen, die man zu Russland gehabt habe. Kirgistan sei seinerzeit dem Russischen Reich freiwillig beigetreten. Den islamischen Fundamentalismus betrachte man als sehr gefährlich und halte sich daher bei der Entwicklung der Beziehungen zu Ländern wie Iran, Pakistan und SaudiArabien sehr zurück. Stattdessen wolle man die freundschaftlichen Beziehungen zu den westlichen Ländern ausbauen. Im nahöstlichen Bereich unterhalte man besonders enge Beziehungen zur Türkei. Was Europa angehe, so setze man die größte Hoffnung auf eine enge Zusammenarbeit mit Deutschland. Einer der Gründe hierfür sei, dass seit mehr als 100 Jahren Deutsche in Kirgistan lebten. Auf eine entsprechende Frage des Bundeskanzlers präzisiert Präsident Akajew, dass es sich um rund 100 000 Deutschstämmige handele, von denen allerdings 25 000 sich in der Vergangenheit als Russen getarnt hätten. Die Deutschen hätten einen wichtigen Beitrag vor allem zur wirtschaftlichen Entwicklung des Landes geleistet. Das kirgisische Volk habe besondere Sympathien für die Deutschen, und er sei überzeugt, dass die deutsche Minderheit ein wichtiges Bindeglied für die 418

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künftige Zusammenarbeit sein könne. Seine Regierung sei sehr daran interessiert, dass die Deutschen im Lande blieben. Sie stellten die besten Ingenieure und tüchtigsten Bauern. Nach der Unabhängigkeit habe man daher Schritte unternommen, um die Interessen der deutschen Minderheit besser zu schützen. Man werde auf diesem Wege weitergehen und beispielsweise bald die erste deutsche Kirche eröffnen. Der Bundeskanzler wirft ein, dass er dies nachdrücklich begrüße. Präsident Akajew fährt fort, vor kurzem habe man zwei deutsche nationale Bezirke gegründet.3 Er sei aber auch gerne bereit, noch weiterzugehen und auch eine territoriale Autonomie ins Auge zu fassen. Dies sei allerdings deswegen kompliziert, weil es im Lande wie gesagt viele nationale Minderheiten gebe. In Kirgistan gebe es viele Bodenschätze, darunter auch wichtige strategische Güter. Er wisse, dass die deutsche Industrie an deren Erschließung sehr interessiert sei. Im Einzelnen handele es sich um Antimon, Quecksilber, Wolfram und seltene Erden. Kirgistan verfüge außerdem über beachtliche Energiereserven, insbesondere Wasser. Schon heute produziere sein Land Strom im Überfluss. Kirgistan sei daher sehr an deutschen Investitionen und deutscher Technologie interessiert, vor allem um die Bodenschätze auszubeuten. Sein Land habe die rechtlichen Grundlagen für ausländische Investitionen und die notwendigen Garantien für Investoren geschaffen. Kirgistan habe als erste GUS-Republik die entsprechenden Gesetze verabschiedet. Sein Land sei bereit, den Deutschen hierbei Priorität einzuräumen. Deutschland habe heute die Chance, in Kirgistan und damit in Mittelasien eine wesentliche Rolle zu übernehmen. Er habe Verständnis dafür, dass die Zusammenarbeit nicht so schnell Früchte zeigen werde, aber man solle jetzt einen Anfang machen. Seine Regierung sei auch bereit, junge Leute zur Ausbildung nach Deutschland zu schicken. Er habe über diese Zusammenarbeit schon mit verschiedenen Ministerien und auch Vertretern der deutschen Wirtschaft gesprochen und dabei großes Interesse festgestellt. Der Bundeskanzler bedankt sich für die ausführliche Unterrichtung und erklärt, die Bundesregierung habe das Wirken von Präsident Akajew mit viel Aufmerksamkeit und Sympathie verfolgt. Er habe es besonders bemerkenswert gefunden, wie sich Präsident Akajew nach dem Putsch in Moskau4 verhalten habe. Er habe hierüber auch mit dem früheren Präsidenten Gorbatschow gesprochen.5 Zu unserer grundsätzlichen Position wolle er sagen, dass wir natürlich interessiert seien, die deutsch-kirgisischen Beziehungen zügig zu entwickeln. Wir seien ferner sehr interessiert, dass Präsident Akajew mit seiner Politik Erfolg habe. Er habe im Übrigen mit Interesse gehört, welche Rolle Präsident Akajew der deutschen Minderheit in Kirgistan einräume. Er werde sich persönlich darum kümmern, dass bald die beabsichtigte Reise einer deutschen Delegation nach Kirgistan zustande komme. Die Delegation könne dann die Investi3 Die Botschaft in Moskau übermittelte am 4. Februar 1992 einen Erlass des kirgisischen Präsidenten Akajew vom 29. Januar 1992 „über die Bildung deutscher nationaler Kulturkreise und nationaler Industrie- und Handelsstrukturen der Deutschen“ in Kirgisistan. Vgl. SB Nr. 701; B 41, ZA-Bd. 171764. 4 Vom 19. bis 21. August 1991 kam es in der UdSSR zum Putschversuch durch ein „Staatskomitee für den Ausnahmezustand“. Vgl. AAPD 1991, II, Dok. 266–269, Dok. 271, Dok. 272, Dok. 274–276 und Dok. 284. 5 Der ehemalige sowjetische Präsident Gorbatschow hielt sich vom 4. bis 12. März 1992 in der Bundesrepublik auf und führte am 4. März 1992 ein Gespräch mit BK Kohl.

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tionsmöglichkeiten vor Ort näher prüfen. Wir seien auch bereit, die politischen Beziehungen weiter zu vertiefen. Die Grundlagen hierfür könne man im Rahmen einer Vereinbarung schaffen. Man wolle die Beziehungen auf breiter Ebene entwickeln, d. h. sowohl im politischen wie auch im wirtschaftlichen und kulturellen Bereich. Der Besuch des Präsidenten sei ein wichtiger Anstoß hierfür. Präsident Akajew erklärt, er sei dankbar für die konkreten Vorschläge des Bundeskanzlers, die es möglich machen würden, die Zusammenarbeit zu dynamisieren. Er sei selber bereit, das Gespräch mit der deutschen Delegation zu führen. Darüber hinaus wolle er den Bundeskanzler im Namen des kirgisischen Volkes zu einem Besuch noch in diesem Jahr einladen. Ein solcher Besuch würde der Zusammenarbeit einen gewaltigen Impuls geben. Der Bundeskanzler bedankt sich für die Einladung und erklärt, er freue sich sehr darüber. Leider sei er jetzt nicht in der Lage, einen konkreten Termin zu nennen. Grundsätzlich nehme er aber die Einladung gerne an.6 Der Bundeskanzler stellt die Frage, wie Präsident Akajew die Situation in den übrigen GUS-Staaten einschätzt. Präsident Akajew erwidert, die Lage sei außerordentlich kompliziert. Man mache eine sehr tiefe Wirtschaftskrise durch. Leider sei es so, dass jeder sehen müsse, wie er allein aus dieser Krise wieder herauskomme. Die GUS sei ein zerbrechliches Gebilde, weil es kein festes Fundament für wirtschaftliche Zusammenarbeit gebe. Er sei seinerzeit der erste gewesen, der für einen Vertrag über die wirtschaftliche Zusammenarbeit nach dem Muster der EG eingetreten sei. Noch unter der Präsidentschaft von Gorbatschow habe man auch einen entsprechenden Vertrag unterzeichnet7, der aber nach der Gründung der GUS zu Grabe getragen worden sei. Die GUS-Staaten seien derzeit nicht imstande, Einvernehmen über ihre künftige wirtschaftliche Zusammenarbeit zu erzielen. Er sei hingegen zutiefst überzeugt, dass die Zukunft der GUS davon abhängen werde, dass es gelinge, einen Handlungsrahmen für die wirtschaftliche Zusammenarbeit zustande zu bringen. Auf die entsprechende Frage des Bundeskanzlers nach den Chancen hierfür erklärt Präsident Akajew, er sehe die Sache heute sehr pessimistisch. Aus diesem Grund sei seine Regierung auch aktiv bemüht, die Zusammenarbeit mit den führenden Industriestaaten des Westens, insbesondere mit Deutschland, voranzubringen. Er wolle noch einmal wiederholen, dass Kirgistan ohne westliche Investitionen und ohne westliche Technologie es sehr schwer haben werde, den wirtschaftlichen Aufschwung zu schaffen. Die Lage der GUS werde ferner dadurch kompliziert, dass es erhebliche Differenzen zwischen den verschiedenen Nationen auf dem Territorium der früheren SU gebe bis hin 6 MD Hartmann, Bundeskanzleramt, unterrichtete StS Kastrup mit Schreiben vom 12. Juni 1992, der kirgisische Präsident Akajew habe mit Schreiben vom 22. April 1992 seine Einladung an BK Kohl erneuert. Hartmann bat, StM Schäfer möge „anlässlich der für Anfang Juli geplanten Reise einer Regierungsdelegation nach Kirgistan Präsident Akajew […] in vorsichtiger Weise“ wissen lassen, dass ein Besuch Kohls „in absehbarer Zeit nicht möglich sein wird“. Vgl. B 41, ZA-Bd. 171807. 7 Am 18. Oktober 1991 unterzeichneten der sowjetische Präsident Gorbatschow sowie die Vertreter der RSFSR sowie von Armenien, Belarus, Kasachstan, Kirgisistan, Tadschikistan, Turkmenistan und Usbekistan in Moskau den Vertrag zur Gründung einer Wirtschaftsunion. Botschafter Blech, Moskau, informierte am 21. Oktober 1991: „Neben den ferngebliebenen Vertretern der baltischen Staaten, Georgiens und Moldawiens haben kurzfristig auch die Ukraine und Aserbaidschan auf ihre Unterschrift, zumindest zum gegenwärtigen Zeitpunkt, verzichtet.“ Vgl. DB Nr. 4105; B 41, ZA-Bd. 151730.

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zu militärischen Konflikten wie in Berg-Karabach. In Kiew8 sei er zu der Überzeugung gelangt, dass es im Rahmen der GUS nicht möglich sei, den Konflikt um Berg-Karabach zu lösen. Dies sei nur mit Hilfe der Vereinten Nationen bzw. der europäischen Staaten möglich. Auf die entsprechende Frage des Bundeskanzlers erklärt Präsident Akajew, zu Russland unterhalte Kirgistan seit jeher besondere Beziehungen. Auf die weitere Frage des Bundeskanzlers nach der Zukunft der wirtschaftlichen Beziehungen zu Russland erklärt Präsident Akajew, Russland sei heute vorwiegend mit seinen eigenen Problemen beschäftigt, und es falle den Russen daher schwer, die Beziehungen zu den anderen Staaten konstruktiv zu entwickeln. Auf die entsprechende Frage des Bundeskanzlers erklärt Präsident Akajew weiter, der Warenaustausch mit Russland habe früher vor allem aus Rohstoffen und landwirtschaftlichen Produkten bestanden. Auf die weitere Frage des Bundeskanzlers erklärt Präsident Akajew, inzwischen flache der Warenverkehr ab, da überall die Produktion zurückgehe. Im ersten Quartal dieses Jahres sei die Produktion in Kirgistan beispielsweise um 15 % gefallen. Auf die Frage des Bundeskanzlers nach der Lebensmittelversorgung in Kirgistan erklärt Präsident Akajew, sein Land sei imstande, die Bevölkerung angemessen zu versorgen. Lediglich Getreide werde noch in größerem Umfang importiert, da man seinerzeit die entsprechenden Getreideanbauflächen auf Tabak habe umstellen müssen. Es gebe keinen Hunger im Lande. Im Rahmen einer Bodenreform würden die landwirtschaftlichen Flächen systematisch privatisiert. Im vorigen Jahr habe es 600 private landwirtschaftliche Betriebe gegeben. Jetzt gebe es schon 13 000 solcher Betriebe. Im Übrigen seien in diesem Bereich die Kirgisendeutschen besonders aktiv. Es gebe allerdings erhebliche Probleme mit landwirtschaftlichen Geräten. Die kleinen Betriebe könnten nicht mit dem bisherigen Großgerät weiterarbeiten, sondern benötigten kleineres Gerät. Außerdem wolle man die Verarbeitung landwirtschaftlicher Produkte voranbringen und rechne insbesondere in diesem Bereich auf deutsche Unterstützung. PStS Waffenschmidt habe angeboten, Musterbetriebe zu errichten.9 Hierfür sei man dankbar. Sein Land brauche Tausende solcher Betriebe. Der Bundeskanzler erklärt, unter diesen Umständen sei es wichtig, dass die geplante deutsche Delegation sich auch um den Landwirtschaftsbereich kümmere. Präsident Akajew stimmt dem nachdrücklich zu. Der Bundeskanzler gibt dem Unterzeichner den Auftrag, ihm zu der Frage der Entsendung einer Delegation eine Notiz zukommen zu lassen. Der Bundeskanzler erklärt, Präsident Akajew sei der erste Vertreter, der ein klares Konzept habe. Präsident Akajew bedankt sich für dieses Kompliment und wiederholt, er sei persönlich bereit, die deutsche Delegation zu empfangen. Er wolle auch noch darauf hinweisen, dass es ein interessantes Großprojekt gebe. Seine Regierung beabsichtige, eine Reihe von 8 In Kiew fand am 20. März 1992 eine Gipfelkonferenz der GUS-Mitgliedstaaten statt. Vgl. Dok. 83, Anm. 2. 9 Zum Gespräch des Beauftragten der Bundesregierung für Aussiedlerfragen, PStS Waffenschmidt, BMI, mit dem kirgisischen Präsidenten Akajew am 6. April 1992 auf dem Petersberg vgl. den Vermerk des BMI vom 8. April 1992; B 41, ZA-Bd. 171764.

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Wasserkraftwerken an der chinesischen Grenze zu bauen. Diese Kraftwerke könne man zusammen mit Deutschland bauen und den Strom an China verkaufen. Auf die entsprechende Frage des Bundeskanzlers erklärt Präsident Akajew, die Beziehungen zu China seien sehr freundschaftlich. Er beabsichtige, im Mai einen Besuch in Peking zu machen.10 Für diesen Besuch habe man bereits zehn verschiedene Verträge vorbereitet. Auch die Chinesen seien der Meinung, dass Deutschland sich an dem Wasserkraftwerk beteiligen sollte. Der Bundeskanzler erklärt, dies sei in der Tat ein interessantes Projekt. Er hoffe, dass sich China politisch weiter öffne. Es gebe entsprechende Hinweise, und er sei insbesondere gespannt, wie der Parteitag im Herbst verlaufen werde.11 Auf die entsprechende Frage des Bundeskanzlers erklärt Präsident Akajew, er sei persönlich der Meinung, dass der Prozess der Demokratisierung in China unvermeidlich sei. Dies spüre man auch deutlich in den Kirgistan benachbarten Provinzen. Er sei der Meinung, dass nicht nur die wirtschaftlichen, sondern auch die politischen Reformen kommen würden. Er sei überzeugt, dass der Kurs von Deng Xiaoping Erfolg habe. Der Bundeskanzler erklärt, dies hoffe er auch. Er habe im Übrigen auf den früheren Ministerpräsidenten seine Hoffnung gesetzt, der vielleicht wiederkomme. Präsident Akajew bestätigt diese Einschätzung und erklärt, er schließe eine Wiederkehr des früheren Ministerpräsidenten Zhao Ziyang nicht aus. Der Bundeskanzler erklärt, er würde sich sehr freuen, wenn man in persönlichem Kontakt bleibe. Wenn Präsident Akajew glaube, dass der Bundeskanzler hilfreich sein könne, so solle er ihm ein paar Zeilen schreiben. Präsident Akajew greift diesen Vorschlag gerne auf und erklärt, er habe seinerzeit Präsident Jelzin gesagt, Deutschland habe Russland schon zweimal auf die Beine geholfen, nämlich unter Peter dem Großen und in den zwanziger Jahren. Russland habe nicht nur von der deutschen Wirtschaft und Technik, sondern auch von der deutschen Sprache und Kultur profitiert. Für sein Land sei es deswegen wichtig, dass auch die kulturelle Zusammenarbeit vorankomme. Der Bundeskanzler stimmt nachdrücklich zu und erklärt, die kulturellen Bindungen seien auf Dauer mindestens so wichtig wie die ökonomischen. Er sei sehr damit einverstanden, wenn man die Förderung von Sprache und Kultur in die künftige Zusammenarbeit einbeziehe. Präsident Akajew erklärt, seine Regierung sei bereit, einige Fakultäten für Deutsch zu eröffnen, wenn die Bundesregierung mit Dozenten und Lehrmaterial helfe. Der Bundeskanzler erklärt, er werde auch diesen Gesichtspunkt bei der geplanten Delegationsreise berücksichtigen.12 B 63, ZA-Bd. 170575 10 Der kirgisische Präsident Akajew besuchte die Volksrepublik China vom 12. bis 16. Mai 1992. 11 Zum 14. Parteitag der KPCh vom 12. bis 18. Oktober 1992 in Peking vgl. Dok. 328. 12 StM Schäfer besuchte Kirgisistan vom 3. bis 7. Juli 1992. Am 13. Juli 1992 teilte VLR I Neubert dem BMI mit, der Besuch Schäfers habe gezeigt, dass sich „die Lage der Deutschen in dieser Republik“ dramatischer darstelle als angenommen: „Ein Verbleib der 70 000 – 100 000 Deutschen in Kirgistan ist nach dem Eindruck aller Delegationsteilnehmer wenig wahrscheinlich. An einer Umsiedlung an die Wolga oder in andere Gebiete der ehemaligen UdSSR ist aber kaum jemand interessiert, alle wollen in die Bundesrepublik aussiedeln.“ Daher empfehle sich ein Besuch des Beauftragten der Bundesregierung für Aussiedlerfragen,

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102 Gespräch des Bundesministers Genscher mit dem Vizepräsidenten der EG-Kommission, Andriessen 410-420.10

7. April 19921

EG-Erweiterung; hier: Besuch EGK-VP Andriessen am 7.4. bei BM2 Gesprächsteilnehmer: EGK-VP Andriessen, begleitet von stv. Kabinettchef Brouwer, BM, StS L.3, StMin S.-A.4, Dg 415, RL 4106, VLR Wittig (010). Nach einleitenden Bemerkungen Andriessens über GATT-Erörterungen im gestrigen Rat7 und nachdrücklichem Hinweis BM auf die Notwendigkeit einer GATT-konformen Bananenregelung8 (BM: Es darf keinen Rückschritt beim freien Zugang zu unserem Markt Fortsetzung Fußnote von Seite 422 PStS Waffenschmidt, BMI, weil „der sich anbahnenden großen Ausreisewelle anders wirksam nicht mehr begegnet werden kann“. Vgl. das Schreiben; B 41, ZA-Bd. 171764. Zum Besuch von Waffenschmidt in Kirgisistan vgl. Dok. 284. 1 Der Gesprächsvermerk wurde von VLR I Kaufmann-Bühler am 8. April 1992 gefertigt und am folgenden Tag über das Büro Staatssekretäre an das Ministerbüro geleitet „m[it] d[er] B[itte], Zustimmung BM herbeizuführen“. Dazu vermerkte Kaufmann-Bühler handschriftlich: „Vermerk ist von Dg 41 gebilligt“. Hat StS Lautenschlager am 9. April 1992 vorgelegen. 2 StS Lautenschlager notierte am 5. April 1992 für BM Genscher, die EG-Kommission müsse dem Europäischen Rat am 26./27. Juni 1992 in Lissabon ihre Vorstellungen zur EG-Erweiterung darlegen, sei sich aber uneins: „Andriessen soll aber eher zu denen gehören, die vor zu frühem Beginn von Erweiterungsverhandlungen warnen und für weitere strukturelle und institutionelle Veränderungen vor neuer Erweiterung eintreten.“ Vgl. B 221, ZA-Bd. 166579. 3 Hans-Werner Lautenschlager. 4 Ursula Seiler-Albring. 5 Dietrich von Kyaw. 6 Werner Kaufmann-Bühler. 7 Zur Behandlung von GATT-Fragen auf der EG-Ministerratstagung am 6. April 1992 in Luxemburg vgl. Dok. 88, Anm. 7. 8 VLR Knoop legte am 24. März 1992 dar, die Verwirklichung des EG-Binnenmarkts und GATT würden eine Harmonisierung des bislang national unterschiedlich geregelten Bananenmarkts erfordern. Als größter Bananenverbraucher der EG setze sich die Bundesrepublik „aus GATT- und Verbrauchergründen dafür ein, dass die Bananen-Regelung im Rahmen der GATT-Runde getroffen wird […]. Dagegen tritt Frankreich, das den Absatz der Produktion seiner überseeischen Départments weiterhin sichern will, mit Unterstützung Großbritanniens, Spaniens und Portugals als energischer Befürworter eines durch Quoten und Zölle reglementierten Importsystems“ auf. Vgl. B 222, ZA-Bd. 187472. In einem mit Genscher persönlich abgestimmten Schreiben an EG-Kommissionspräsident Delors drückte BK Kohl am 3. April 1992 Besorgnis über die Überlegungen der EG-Kommission zur Bananenregelung aus. Wenn die bisherige „liberale GATT-konforme Reglungen eingeschränkt“ würde, erschwere dies in der Bundesrepublik die „Akzeptanz der Beschlüsse von Maastricht und die Umsetzung des ‚Delors II-Pakets‘ “. Außerdem würde „eine derartige Reglung die bestehenden Liefermöglichkeiten der lateinamerikanischen Entwicklungsländer, die im hohen Maße von Bananenexporten abhängig sind, reduzieren“. Vgl. B 222, ZA-Bd. 187473.

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geben9) kam Andriessen auf die Beitrittsthematik zu sprechen. Er beginne eine Runde von Konsultationen mit dem Gespräch in Bonn, parallel werde GD Krenzler mit den Botschaftern in Brüssel sprechen. Die von ihm geleitete Steering-group in der Kommission zur Vorbereitung des Berichts an den ER Lissabon10 sei noch zu keinem Ergebnis gekommen. Er spreche auf persönlicher Basis, EGK werde ihren Bericht den Außenministern ca. zehn Tage vor dem ER Lissabon vorlegen.11 Ziel seines Besuchs sei, unsere Vorstellungen zu hören. Er habe den Eindruck, die institutionellen Fragen der Erweiterung würden in der Gemeinschaft unterschätzt. Wesentliche Fragenkreise des Gesprächs waren die Bildung von Ländergruppen, deren Zusammensetzung, die zeitlichen Perspektiven, die geographischen und politischen Abgrenzungskriterien, institutionelle Fragen und die Neutralität. Im Einzelnen 1) Verhandlungsgruppe EFTA-Länder Andriessen: Über Beitritt solle man nicht verhandeln, solange Maastricht12 nicht ratifiziert sei und die Delors II-Ergebnisse13 nicht vorliegen. Er sehe Probleme z. B. in NL und den Kohäsionsländern. Beginnen solle man mit vier bis fünf Ländern: Ö14, S15, FIN16, N17 9 Am 7. April 1992 veröffentlichte die EG-Kommission Leitlinien für eine EG-Bananenmarktregelung. Vgl. die Anlage zum Schreiben der VLRin Knotz vom 13. April 1992 an die Ressorts; B 222, ZA-Bd. 187479. Vgl. auch BULLETIN DER EG 4/1992, S. 78. Mit Schreiben vom 13. April 1992 an EG-Kommissionspräsident Delors monierte BM Genscher, „dass neue Handelsschranken an die Stelle liberaler und – soweit die Bundesrepublik Deutschland und eine Anzahl weiterer EG-Mitgliedstaaten betroffen sind – mit dem internationalen Handelsrecht voll übereinstimmender Regelungen gesetzt werden sollen. Die Gemeinschaft wird sich damit in direkten Widerspruch zu den Zielen der laufenden multilateralen Handelsverhandlungen stellen und den erfolgreichen Abschluss der Uruguay-Runde in erheblichem Umfang erschweren.“ Vgl. den RE des VLR I van Edig vom 14. April 1992; B 222, ZA-Bd. 187473. 10 Zur Tagung des Europäischen Rats am 26./27. Juni 1992 vgl. Dok. 201. 11 Für den Bericht der EG-Kommission „Die Erweiterung Europas: eine neue Herausforderung“ vgl. BULLETIN DER EG, Beilage 3/92, S. 9–20. 12 Zum Vertragswerk von Maastricht vgl. Dok. 3, Anm. 8. 13 Zum „Delors-Paket II“ vgl. Dok. 47. Botschafter Trumpf, Brüssel, berichtete am 7. April 1992, der EG-Ministerrat habe dazu am Vortag „auf der Grundlage des Berichts des Vors[itzenden] (Dok. 5634/92 einschl. Add. 1 und 2) eine erste Substanzdiskussion“ geführt: „Von mehreren Del[egationen] (insbesondere NL, F, UK, B und D) wurde die Notwendigkeit betont, vor einer Entscheidung über eine mögliche Erhöhung der Strukturfondsmittel eine umfassende Evaluierung der bisherigen strukturpolitischen Maßnahmen, insbesondere auf der Ebene der Regionen, vorzunehmen.“ Zu der von der EG-Kommission gewünschten „Erhöhung des Eigenmittelplafonds für 1997 auf 1,37 % des BSP“ sei nur vage Stellung genommen worden; Großbritannien habe aber deutlich gemacht, „dass ein realer Anstieg der EG-Ausgaben um durchschnittlich 4,6 % jährlich nicht akzeptabel sei […]. Positiv äußerten sich mehrere MS zu den von KOM vorgeschlagenen Änderungen der Eigenmittelstruktur (IRL, P, GR, E, F, UK, LUX) und zum Abschluss eines neuen interinstitutionellen Abkommens (LUX, IRL, P, GR).“ Vgl. DB Nr. 1013; B 224, ZA-Bd. 187270. 14 Österreich stellte am 17. Juli 1989 einen Antrag auf EG-Beitritt. Vgl. AAPD 1989, II, Dok. 214. 15 Schweden stellte am 1. Juli 1991 einen Antrag auf EG-Beitritt. 16 Zum finnischen Antrag auf EG-Beitritt vgl. Dok. 84, besonders Anm. 3. 17 Zu einem möglichen EG-Beitrittsantrag Norwegens vgl. Dok. 229.

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und evtl. CH18 oder Malta19. Er rechne Malta eher zu EFTA-Ländern als zur Gruppe Zypern20/Türkei21. BM fragte, wie CH innere Probleme regeln wolle, und verweist auf Mitwirkungsbestrebungen der deutschen Bundesländer22, die umso stärker würden, wenn sich CH alle Optionen für Rechte ihrer Kantone offenhalte. D müsste in Brüssel handlungsfähig bleiben. StS L. stellt Frage weiterer Verzögerung, wenn Anträge N und CH abgewartet werden sollten, und befürwortet frühzeitigen Verhandlungsbeginn in 1993 mit Ö, S und FIN, deren Anträge vorlägen. N könne in die laufenden Verhandlungen einsteigen, baldiger Antrag von CH sei doch wohl fraglich. Andriessen verwies darauf, dass N NATO-Mitglied sei und Ende 1992 mit dem Beitrittsantrag kommen werde. Der Avis der Kommission sei in einem halben Jahr machbar. BM und StS L. wiederholen Notwendigkeit von Termin- und Zeitdruck. Andriessen: Zeitdruck sei Stimulans für weitere Anträge. Sobald die Europa-Abkommen23 ratifiziert seien, kämen die Beitrittsanträge der drei MOE-Staaten. 2) Ungarn, ČSR, Polen Andriessen: Ungarn und ČSR hätten die wirtschaftlichen Voraussetzungen für einen Beitritt gegen Ende des Jahrhunderts, Polen nicht. BM: ČSR sei schneller als Ungarn. Er spräche nicht von Ost-Europa, sondern stets von Mittel- und Südosteuropa. Slowenien, Kroatien seien unter Umständen24 ähnlich wie ČSR25 und Ungarn zu behandeln. Andriessen zustimmend. Albanien sei Entwicklungsland, aber auch potenzieller Beitrittskandidat. Beitrittskandidaten auch die baltischen Länder. 18 Die Schweiz stellte am 20. Mai 1992 einen Antrag auf EG-Beitritt. 19 Malta stellte am 16. Juli 1990 einen Antrag auf EG-Beitritt. Vgl. BULLETIN DER EG 7-8/1990, S. 99. 20 Am 3. Juli 1990 stellte Zypern einen Antrag auf EG-Beitritt. Vgl. AAPD 1990, II, Dok. 212. 21 Die Türkei stellte am 14. April 1987 einen Antrag auf EG-Beitritt. Vgl. AAPD 1987, I, Dok. 93 und Dok. 136, sowie AAPD 1987, II, Dok. 218, und AAPD 1988, I, Dok. 74. 22 VLR Duckwitz nahm am 1. April 1992 Stellung zu einem Schreiben des hessischen MP Eichel vom 23. März 1992 an BK Kohl, in dem der Vorsitzende der Ministerpräsidentenkonferenz Forderungen der Bundesländer darlegte und die Zustimmung zum Vertragswerk von Maastricht abhängig machte von einer „befriedigenden Fortentwicklung der föderativen Grundentscheidungen des Grundgesetzes und der Verbesserung der innerstaatlichen Beteiligung der Länder in EG-Angelegenheit“. Duckwitz legte dar, wesentliche Länderforderungen seien bereits erfüllt durch „Verankerung des Subsidiaritätsprinzips, Einrichtung eines Regionalausschusses, Ausgestaltung der Gemeinschaftskompetenzen nur als ergänzende Zuständigkeiten, Schaffung der vertraglichen Voraussetzungen für die Möglichkeit der Übernahme der Sprecherrolle im Rat in Einzelfällen durch die Länder und vor allem durch föderale Ausrichtung des gesamten Vertragswerks“. Auch die Rechte des Europäischen Parlaments seien gestärkt worden. Eine Erfüllung aller Länderforderungen würde die Handlungsfähigkeit der Bundesregierung beeinträchtigen. Vgl. B 210, ZA-Bd. 162226. 23 Die EG schloss am 16. Dezember 1991 Europa-Abkommen zur Gründung einer Assoziation mit Polen bzw. Ungarn. Vgl. BGBl. 1993, II, S. 1317–1471 bzw. S. 1473–1714. Vgl. auch AAPD 1991, II, Dok. 407. Ebenso wurde ein entsprechendes Abkommen mit der ČSFR geschlossen. Vgl. BULLETIN DER EG 12/1991, S. 97 f. 24 Die Wörter „unter Umständen“ wurden von StS Lautenschlager gestrichen. 25 Dieses Wort wurde von StS Lautenschlager gestrichen. Dafür fügte er handschriftlich ein: „ČSFR, Polen“.

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Auf Dg 41-Bemerkung unterstreicht Andriessen Bedeutung weiterer Liberalisierungsschritte im Handel mit den MOE-Ländern als Vorbereitung auf deren späteren Beitritt. Dies sei in der Gemeinschaft nicht einfach (Agrar, Stahl, Textil). Zielvorstellung sei, Elemente des EWR auf MOE-Länder zu erstrecken. EWR habe bekanntlich Beitritt stimuliert. 3) Malta, Zypern, Türkei Bei26 Malta Übereinstimmung über Notwendigkeit27 institutioneller Änderungen. Problem der Mini-Staaten. BM wirft Frage eines Kommissars für Malta auf. Man müsse anders verfahren als bei LUX. Bei Zypern, Türkei Übereinstimmung, dass erst interne Probleme zu regeln sind. BM verweist auf GR-Meinung, Mitgliedschaft28 Zyperns zu akzeptieren und für derzeit besetzten Teil erst später wirksam werden zu lassen. 4) Frage der Abgrenzung BM stellt Frage, wo die Grenzen der Erweiterung liegen. Andriessen: Schwierig, EG stehe allen europäischen Ländern offen, die mit unseren Zielen übereinstimmen. Russland nein. Bei Ukraine, Weißrussland sei dies eine Frage. Übereinstimmung darüber, dass, wenn man Ukraine und Weißrussland den Beitritt in Aussicht stelle, die Mitgliedschaft auch Russland nicht verwehrt werden könne. Demgegenüber legte BM dar, vernünftig sei Förderung der Zusammenarbeit unter den SU-Nachfolgestaaten, um dann seitens der EG mit dieser Gruppe zusammenzuarbeiten. Es sei sehr kompliziert, die SU-Nachfolgestaaten in die Gruppe der Beitrittskandidaten aufzunehmen. Dringlicher seien die Nachfolgestaaten Jugoslawiens. Andriessen: Wir perpetuieren dann aber einen Zusammenhalt, der künstlich war; StS L. verweist ergänzend auf Dilemma, dass wir dann alte Strukturen (barter trade) fördern. Übereinstimmung darüber, dass Abgrenzungsfrage politische, nicht geographische Entscheidung ist. BM: Frage Mitgliedschaft stellt sich für diese Länder nicht in diesem Jahrhundert. Es wäre falsch, jetzt Doktrinen zu entwickeln. Wir dürfen jedenfalls kein Problem mit Russland heraufbeschwören.29 5) Institutionelle Fragen BM fragt, inwieweit jetzt institutioneller Regelungsbedarf besteht. StS L. empfiehlt schrittweises Vorgehen bis 1996, entsprechend traditioneller Gemeinschaftspraxis und abhängig von der Anzahl neuer Mitglieder. Andriessen befürwortet Regierungskonferenz für institutionelle Fragen bzw. zeitliches Vorziehen der 96er-Konferenz30. StS L.: Noch 1992 seien zunächst prioritär zu regeln: – Ratifizierung Maastricht, – Verhandlungen über Delors II-Paket, – Zahl der EP-Mitglieder31 einschließlich der Erhöhung der dt. MdEP in der Perspektive der Erweiterung, Zahl der Kommissare, Sitz EZB. 26 Dieses Wort wurde von StS Lautenschlager gestrichen. Dafür fügte er handschriftlich ein: „Bzgl.“ 27 An dieser Stelle wurde von StS Lautenschlager handschriftlich eingefügt: „gewisser“. 28 An dieser Stelle wurde von StS Lautenschlager handschriftlich eingefügt: „ganz“. 29 An dieser Stelle wurde von StS Lautenschlager handschriftlich eingefügt: „(Hinweis auf Ukraine).“ 30 Zur Überprüfungskonferenz für das Vertragswerk von Maastricht vgl. Dok. 86, Anm. 21. 31 Zur Frage der Erhöhung der Zahl der Mitglieder des Europäischen Parlaments vgl. Dok. 78, Anm. 10.

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Weitere institutionelle Fragen, wie z. B. die Stimmengewichtung im Rat, können im Rahmen von Beitrittsverhandlungen behandelt werden oder parallel hierzu, indem sich Rat den Hut der Regierungskonferenz aufsetzt. Spektakuläre Regierungskonferenz jetzt vermeiden, ebenso Fragen wie Mehrheitsentscheidung im Rat, wofür kurz nach Maastricht Fortschritte nicht zu erwarten sind. Diese und andere hierfür vorgesehene Fragen seien auf der Revisionskonferenz 1996 zu verhandeln, die bereits ab 1995 vorzubereiten sei. Andriessen verweist auf Notwendigkeit der Aufrechterhaltung der Handlungsfähigkeit einer Gemeinschaft von 17/18 MS. Rat könne dann nicht mehr über die ganze Bandbreite der Fragen entscheiden wie bisher, ebenso wenig EP, Aufgaben der Präsidentschaft seien zu überlegen, Sprachenfrage als sehr wichtig zu regeln. StS L.: Bei von A. befürworteter Regierungskonferenz parallel zu Beitrittsverhandlungen bestehe Gefahr, dass Ratifizierung von Maastricht in einigen MS zurückgestellt wird. Lissabon dürfe nichts bringen, was Ratifizierung erschwere. Andriessen bestätigt, dass EGK-Bericht nur Analyse enthalten und Orientierung auch zur parallelen Befassung mit institutionellen Fragen geben werde, aber – nach seiner Meinung – keinen Prozedurfestlegungsvorschlag enthalten solle. 6) Außenpolitische Zusammenarbeit und Neutralität A. wirft Frage auf, ob Einbeziehung in GASP für osteuropäische Länder vielleicht einfacher sei als Teilnahme an Wirtschaftspolitik. StS L. tritt ein für Festhalten an der Einheit von GASP und EG-Mitgliedschaft. Eine Einbeziehung in die Institutionen dürfe es in Teilbereichen nicht geben. Statt abgestufter Integration müsse man evtl. andere Termini finden, auch wenn diese bei WWU vorprogrammiert sei. StS L. wiederholt Appell, jetzt nicht Zukunftsprobleme anzuhäufen, sondern die anstehenden Fragen schrittweise zu regeln. Zur Neutralität verweist Andriessen darauf, dass außer N alle demnächst anstehenden Beitrittskandidaten „in irgendeiner Weise“ neutrale Staaten seien. BM: Außer bei CH sei Neutralität dieser Länder eine Reaktion auf den Ost-WestKonflikt gewesen. Dieser aber sei heute kein Problem mehr. Unter Bezugnahme auf Aussage der Kommission im Avis zu Ö32 betreffend Teilnahme an friedenserhaltenden Aktionen ohne UNO-Mandat legt BM unsere Philosophie über UNO-Einbindung eines jeden Truppeneinsatzes dar, die auch für WEU und NATO gelte, und schließt dritten Weg aus.33 Andriessen stellt Antwort zu BM-Frage nach Bedeutung der EGK-Aussage zu Ö im Lichte der Ergebnisse von Maastricht34 für später in Aussicht. Abschließend stellt BM Übereinstimmung mit A. in wesentlichen Punkten fest. Andriessen sagt Unterrichtung über Erkenntnisse aus seinen weiteren Sondierungsgesprächen zu. B 221, ZA-Bd. 166579

32 Die EG-Kommission befürwortete am 31. Juli 1991 in einer Stellungnahme (Avis) den EG-Beitritt Österreichs. Vgl. BULLETIN DER EG 7-8/1991, S. 84. 33 An dieser Stelle wurde von StS Lautenschlager handschriftlich eingefügt: „Recht der kollektiven Selbstverteidigung i. S. Art. 51 VN-Charta bleibt davon unberührt.“ 34 Der Passus „im Lichte der Ergebnisse von Maastricht“ wurde von StS Lautenschlager gestrichen.

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8. April 1992: Gespräch zwischen Genscher und Mussawian

103 Gespräch des Bundesministers Genscher mit dem iranischen Botschafter Mussawian 311-321.21 IRN VS-NfD

8. April 19921

Ausschreitungen gegen die iranische Botschaft und iranische Generalkonsulate in Deutschland2; hier: Gespräch BM Genscher/Botschafter Mussawian am 8. April 1992 Der BM empfing am 8.4. den iranischen Botschafter zu einem über einstündigen Gespräch. Teilnehmer: D 33, VLR Gerdts, Herr Amirpur und ein Botschaftsmitarbeiter. Der Botschafter schilderte eingangs den Ablauf der Vorfälle in Deutschland. Auf den Einwurf des BM, dass ähnliche Zerstörungen auch in vielen anderen Hauptstädten verursacht worden seien, sagte der Botschafter, es gebe eine Reihe von Unterschieden. Vor allem seien in D auch Diplomaten von der Polizei in die Vorfälle verwickelt worden; die Diplomaten seien verhaftet und in Handschellen abgeführt worden; die Schäden seien in Bonn am größten; in D hätte die Botschaft im Anschluss an frühere Ausschreitungen seitens der Mudschahedin mehrfach Warnungen und Bitten um Schutz an die Behörden herangetragen, die nicht befolgt worden seien. In aller Freundschaft wolle er uns sagen, in Iran drohe die Geduld verloren zu gehen. Man sage sich dort, Bonn müsse wählen zwischen Iran und den Terroristen. Die iranischen Diplomaten fühlten sich mit einer kriminellen Energie, wie sie am letzten Sonntag4 zutage getreten sei, nicht mehr sicher. Dies würde auch zur Folge haben, dass iranische Minister sich nicht mehr nach D wagen würden. Auf seine Veranlassung hätten 1 Der Gesprächsvermerk wurde von MD Schlagintweit am 9. April 1992 gefertigt und „mit der Bitte um Billigung“ an BM Genscher geleitet. Hat Genscher am 12. April 1992 vorgelegen. Hat VLR Brose am 13. April 1992 vorgelegen, der den Rücklauf an Schlagintweit verfügte. Hat Schlagintweit am 13. April 1992 erneut vorgelegen, der die Weiterleitung an MDg Bartels verfügte. 2 VLR I Dassel vermerkte am 7. April 1992: „Am 5.4.1992 besetzte etwa um 15.00 Uhr eine aus ca. 40 Personen bestehende Gruppe iranischer Volksmudschahedin gewaltsam die iranische Botschaft. Während der ca. zwei Stunden andauernden Besetzung wurde die Inneneinrichtung des Botschaftsgebäudes fast vollständig zerstört, Botschaftsangehörige wurden verletzt.“ Zeitgleich hätten vergleichbare „Übergriffe gegen die iranischen GK in Hamburg und München sowie gegen die diplomatischen Vertretungen Irans in Den Haag, Stockholm, Oslo, Paris, London, Bern, Ottawa, Canberra sowie New York (VN)“ stattgefunden. Am 6. April 1992 seien die Botschafter aller betroffenen Staaten in das iranische Außenministerium einbestellt worden, wo ihnen je spezifische Forderungen präsentiert worden seien. Von der Bundesregierung werde eine öffentliche Entschuldigung gefordert, zudem „Auslieferung der Täter; Verhinderung einer Wiederholung von Übergriffen gegen die Botschaft durch Ergreifen ernsthafter Maßnahmen zum Schutz von Vertretungen und Residenzen sowohl in Bonn als auch den Standorten der iranischen Generalkonsulate; Erstattung der Schäden und Zurverfügungstellung von entsprechend ausgestatteten Büroräumen bis zur Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit der Botschaft und der Generalkonsulate; Vorgehen gegen die hiesigen Volksmudschahedin und Ausweisung der Führer der Organisation.“ Vgl. B 36, ZA-Bd. 170182. 3 Reinhard Schlagintweit. 4 5. April 1992.

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8. April 1992: Gespräch zwischen Genscher und Mussawian

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sich iranische Minister bereit erklärt, sogar ohne Einladung nach D zu kommen, um hier umfangreiche Verträge zu unterzeichnen. Es handelt sich sowohl um Aufträge wie um Investitionen in D. Der Bergbauminister5, der sich am Sonntag hier befunden habe, sei ohne Vertragsunterzeichnung abgereist. Alle Pläne für 1992 hätten jetzt das gleiche Schicksal. Wenn D sich für Iran entscheide, werde er sich dafür einsetzen, dass alles weitergehe. Wenn dies nicht der Fall sei, müssten er und seine Kollegen sehen, wie sie ihr Leben schützten. AM Velayati sei so erregt, dass er kaum mit ihm reden könne. Er habe gesagt, wenn nur ein Hundertstel davon in Teheran passiert wäre, hätte BM Genscher das nicht ertragen. Die Dinge seien dadurch noch schlechter geworden, dass Botschafter Freitag in Teheran gesagt habe, die Bundesregierung werde sich nicht entschuldigen. Er weise nochmals darauf hin, dass Botschaftsangehörige in Bonn in Handschellen abgeführt worden seien.6 Er wiederholte die Bitte um Auslieferung, da man sehe, dass hier nicht gegen diese Gruppen vorgegangen würde. Außerdem solle ein Sonderbotschafter nach Teheran geschickt werden, um die Gemüter zu beruhigen. Der Botschafter berichtete von einem Anruf seines Generalkonsuls in Hamburg7, er würde dort von bewaffneten Gegnern verfolgt. Der BM erwiderte, der Botschafter werde sich erinnern, dass er ihn am Sonntag anrief, dabei das Bedauern der Bundesregierung zum Ausdruck gebracht und eine Untersuchung angekündigt habe. Er wolle das hier wiederholen. Er habe die Vorgänge vom Sonntag im Kabinett besprochen und die Erwartung geäußert, dass die diplomatischen Vertretungen ausreichend geschützt würden.8 Er habe dabei die Unterstützung des ganzen Kabinetts gefunden. Selbstverständlich würden wir alles in unseren Möglichkeiten Stehende tun, um die ausländischen Vertretungen in D zu schützen, auch dann, wenn die Angreifer Staatsangehörige des Landes seien, dessen Vertretung angegriffen würde. Da solche Vorfälle auch in anderen Ländern vorgekommen seien, wäre es falsch, die Vorfälle vom Sonntag als Angelegenheit der deutsch-iranischen Beziehungen zu behandeln. Wir seien nicht für das Verhalten iranischer Staatsbürger verantwortlich, wohl aber für den Schutz fremder Vertretungen und ihrer Angehörigen. Wir stünden nun vor der Frage, wie wir unsere Beziehungen gestalten wollten. Die Bundesregierung habe in öffentlichen Erklärungen und in den Erklärungen gegenüber dem Botschafter gesagt, dass sie an der Fortsetzung der guten und vertrauensvollen Beziehungen zu Iran interessiert sei. Zu unseren Bemühungen gehöre auch die Tatsache, dass die 5 Mohammed Hossein Mahludschi. 6 VLRin I Zenker notierte am 6. April 1992, dem Polizeipräsidenten von Bonn zufolge habe die Polizei bei Räumung der Botschaft „vier Botschaftsangehörige, die offenbar versucht hatten, vor Eindringen der Polizei anstürmende Botschaftsbesetzer abzuwehren, in Verkennung ihrer Funktionen ebenfalls festgenommen. Diese wurden nach Aufklärung des Irrtums wieder freigelassen.“ Vgl. B 36, ZA-Bd. 170182. Am 10. April 1992 teilte der Leitende Oberstaatsanwalt in Bonn dem BMJ mit, sechs iranische Botschaftsangehörige hätten am 5. April 1992 teils mit Metallstangen bereits von der Polizei festgenommene Besetzer der iranischen Botschaft angegriffen und seien deshalb in Gewahrsam genommen worden. Vgl. B 36, ZA-Bd. 170183. 7 Bagher Golzarnia. 8 Die Kabinettssitzung fand am 8. April 1992 statt. Vgl. den dafür von VLRin I Zenker am Vortag vorbereiteten Sprechzettel sowie den Entwurf einer Presseerklärung; B 36, ZA-Bd. 170182.

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Bundesregierung in der Öffentlichkeit keinen Gebrauch gemacht habe von den Übergriffen der iranischen Behörden gegenüber dem deutschen Botschafter in Teheran.9 Dies seien keine Übergriffe Deutscher gewesen, sondern der iranischen Sicherheitsorgane. Diese hätten dem deutschen Botschafter aufgelauert und eine gezielte Aktion durchgeführt. Sie hätten erklärt, dass sie schon seit Stunden auf ihn gewartet hätten. Sie beschlagnahmten ein diplomatisches Fahrzeug. Er hätte angeordnet, diesen Vorfall nicht öffentlich zu machen, weil wir nicht die deutsch-iranischen Beziehungen durch das Fehlverhalten iranischer Sicherheitsorgane stören lassen wollten. Wenn solche Angriffe fortgesetzt würden, würden wir uns zu wehren wissen. Er hätte erwartet, dass der Botschafter hierüber zumindest ein Wort des Bedauerns gefunden hätte. Zu den Ereignissen in D sei es seine feste Meinung, dass wir nicht die Austragung innenpolitischer Streitigkeiten auf unserem Boden dulden dürften. Wir würden uns zu unserer Verantwortung für die persönliche Integrität ausländischer Diplomaten und die Unversehrtheit ihrer Dienst- und Wohnräume bekennen. Die Frage der Festnahme iranischer Diplomaten werde er untersuchen lassen. Die Zuständigkeit liege bei der Landesregierung von Nordrhein-Westfalen. Der Besuch von Regierungspräsident Antwerpes hätte gezeigt, dass diese Behörden die Vorfälle ebenso ernst nähmen wie die Bundesregierung. Es gebe immer wieder Situationen in den Beziehungen zweier Länder, in denen es sich entscheide, wie wertvoll diese Beziehungen ihnen sind. Für die Bundesregierung seien die Beziehungen zu Iran wertvoll. Er habe in seiner ganzen Amtszeit noch nie am Wochenende einen Botschafter angerufen, um sein Bedauern so auszudrücken wie vergangenen Sonntag. Er habe dies getan, weil er den Botschafter und seine Arbeit schätze, weil ihm sein Verhältnis zum iranischen Außenminister wertvoll sei und er den deutsch-iranischen Beziehungen große Bedeutung beimesse. Er nehme an, dass die iranische Regierung dies ebenso bewerte. D habe alles getan, um aus dem Übergriff gegen die iranische Botschaft und ihre Angehörigen keinen Schaden entstehen zu lassen. Der Botschafter erwiderte, über die Beschlagnahme der Autos unseres Botschafters in Teheran habe er mit seinem AM gesprochen. Dieser habe sich mit dem Polizeipräsidenten in Teheran in Verbindung gesetzt. Der deutsche Botschafter habe eine besondere Linie überquert. Wenn es zutreffe, dass der Botschafter eine schriftliche Genehmigung habe, würde man dafür sorgen, dass die Verantwortlichen bestraft werden. Auf jeden Fall werde der Botschafter in dieser schwierigen Zeit voll geschützt. Er wolle für den Anruf des Bundesministers am Sonntag danken, auch im Namen der Regierung. Er wolle aber noch einmal darauf hinweisen, dass man etwas gegen die Gruppen tun müsse, deren wahrer Charakter neuerdings offenbar geworden sei. Würde D sie bei sich behalten, so könne man sich nicht mehr sicher fühlen. Selbst ein iranischer Minister 9 Botschafter Freitag, Teheran, berichtete am 8. April 1992, er sei am Vortag „auf der Fahrt von der Kanzlei zur Residenz von der Polizei (unter der sich hohe Offiziere befanden) angehalten und an der Weiterfahrt gehindert“ worden: „Nachdem die Polizei nur mit Mühe vom Abschleppen der Wagen abgehalten werden konnte, mussten der sondergeschützte Dienstwagen sowie der Sicherheitsbegleitwagen auf einem besonderen Parkplatz abgestellt werden. Erst nach viereinhalb Stunden wurden sie wieder freigegeben. […] Äußerungen mitwirkender Polizeibeamter bestätigen, dass es sich um eine von hoher Stelle angeordnete und geplante Aktion handelte.“ Vgl. DB Nr. 305; B 36, ZA-Bd. 170182.

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sei angegriffen worden. Könne man ihm versichern, dass dies nicht mehr wiederholt werde? Auch, dass Diplomaten mit Handschellen abgeführt und verprügelt würden, müsse ernst genommen werden. Was sollten seine Mitarbeiter angesichts der zerstörten Botschaft machen, die mindestens sechs Monate lang unbrauchbar sei? Der BM sagte, er müsse befürchten, dass es sich bei den Übergriffen auf Botschafter Freitag um einen Retorsionsakt gehandelt habe. Sie seien ja schon angekündigt worden.10 Dies sei ein einmaliger Vorgang und für uns inakzeptabel. Wenn das die Reaktion Irans sei, müssten wir annehmen, dass die iranische Regierung über die Beziehungen eine negative11 Entscheidung getroffen hätte. Dies würde er sehr bedauern. Auf deutscher Seite sei alles unternommen worden, um Iran zu zeigen, wie sehr wir solche Vorfälle bedauern. Bürgermeister Voscherau habe den AM angerufen. Er selbst habe den Botschafter angerufen. Wenn man dies nicht zu würdigen wisse, können wir das nicht ändern. Wir würden alles tun, um den iranischen Diplomaten ausreichenden Schutz zu gewähren. Die von ihm verlangte Untersuchung und der Schutz der Diplomaten zeige, dass wir nicht wollten, dass unsere Beziehungen beschädigt werden. Er glaube, dass dies umgekehrt auch so gesehen werde. Der Botschafter fragte, was man tun könne, um weitere terroristische Aktionen zu vermeiden. Der BM antwortete, er sehe die Möglichkeit, die Schutzmaßnahmen zu verstärken; entsprechende Aktivitäten gebe es auf der ganzen Welt. Der Botschafter hielt dies nicht für ausreichend. Solange diesen Gruppen nicht Einhalt geboten würde, würden seine Mitarbeiter und er sich nicht sicher fühlen. Er müsse dann seinen Stab reduzieren. Die Leute, die sie angriffen, genössen deutschen Schutz. Der BM erwiderte, es handele sich um iranische Staatsangehörige. Selbstverständlich würden kriminelle Handlungen nicht geschützt, aber bei – wie der Botschafter gesagt habe – 200 000 Ausländern befänden sich eben mehr kriminelle Elemente als bei den 1000 Deutschen in Iran. Der Botschafter erklärte, Teheran habe entschieden, dass nichts gegen Diplomaten unternommen werde, im Gegenteil, sie würden besonders geschützt werden. Wenn in D kein ausreichender Schutz gewährt werden könne und keine ernsthaften Schritte unternommen würden, so würde Iran, ohne groß davon zu sprechen, die Beziehungen reduzieren. Die Wirtschaftsbeziehungen seien sehr gut, aber einseitig zugunsten Deutschlands. Er hoffe, dass diese Beziehungen erhalten bleiben könnten. Dies sei aber nicht der Fall, wenn es niemand mehr wagen würde, nach D zu kommen. Er hätte angenommen, dass im Kabinett wichtige Schritte beschlossen würden und dass er seine Regierung hiervon unterrichten könne. Der BM antwortete, er habe ihn bereits von der Behandlung dieser Frage im Kabinett unterrichtet. Der Botschafter könne daraus feststellen, dass Schutzmaßnahmen ergriffen 10 VLR Kraemer vermerkte am 6. April 1992, der Erste Bürgermeister von Hamburg, Voscherau, habe am selben Tag StS Lautenschlager telefonisch über sein Gespräch mit dem iranischen GK in Hamburg, Golzarnia, unterrichtet. Dieser habe bei Voscheraus Besuch der am Vortag verwüsteten Vertretung von seinem Telefongespräch mit dem iranischen AM berichtet, Velayati sei „außerordentlich erregt gewesen (‚ausgerastet‘) und habe – sinngemäß – erklärt, wenn iran. Diplomaten in D in solcher Weise behandelt würden, könne man nicht ausschließen, dass deutsche Diplomaten in Iran ähnlich behandelt würden. Er – Voscherau – halte dies für eine versteckte Drohung und aus dem Munde eines AM für bemerkenswert.“ Vgl. B 36, ZA-Bd. 170182. 11 Dieses Wort wurde von BM Genscher handschriftlich eingefügt.

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würden. Wenn sie nicht ausreichten, solle dies gesagt werden. Wir bedauerten die Zwischenfälle. Aber es gebe auch Grenzen. Wenn der Hinweis auf die Handelsbeziehungen eine Drohung sein solle, so würde er antworten, wir hätten uns noch nie erpressen lassen. Der BM fuhr fort, er wolle in allem Ernst darauf hinweisen, dass er in seiner Zeit als AM alles getan habe, um die Beziehungen zu Iran zu verbessern. In schwerster Zeit habe sich D als verlässlicher Partner erwiesen. Dies wollten wir auch in Zukunft tun. Aber das müsse auf Gegenseitigkeit beruhen. Wenn es Kräfte in Iran gebe, die dagegen arbeiteten, könne er das nicht verhindern. Wir würden alles in unseren Kräften Stehende tun, um iranische Vertretungen und Diplomaten12 zu schützen. Wie ernst das sei, was er gesagt habe, sähe Iran daraus, dass wir die Übergriffe gegen den deutschen Botschafter diskret behandelt hätten, obwohl dies ein einmaliger Akt gewesen sei – vorbereitet, abgewartet, aufgelauert. Dies zeige unsere Einstellung. Nun liege das weitere Schicksal der Beziehungen in der Hand der iranischen Regierung. Wir hätten unsere Entscheidung getroffen. Wir wollten gute Beziehungen zu Iran und behandelten den Vorgang in Teheran auf kleiner Flamme. Der BM bat abschließend den Botschafter, Herrn Außenminister Velayati von ihm zu grüßen und ihm zu sagen, wie leid ihm die Vorgänge vom vergangenen Sonntag täten und wie sehr er an der Fortsetzung der Beziehungen interessiert sei.13 B 36, ZA-Bd. 170182

12 Die Wörter „iranische Vertretungen und Diplomaten“ wurden von BM Genscher handschriftlich eingefügt. Dafür wurde gestrichen: „Iran“. 13 VLR I Dassel übermittelte Botschafter Freitag, Teheran, am 10. April 1992 ein Schreiben des BM Genscher mit der Bitte, dieses an den iranischen AM Velayati „möglichst umgehend weiterzuleiten“. Genscher teilte mit, die Sicherheitsmaßnahmen für iranische Diplomaten und Vertretungen würden verstärkt: „Hinsichtlich des Schutzes unserer Botschaft in Teheran und ihrer Angehörigen vertraue ich weiter auf Ihre besondere Aufmerksamkeit. Ich habe mein Ministerium angewiesen, unverzüglich mit Ihrer Botschaft über die Entschädigung für die entstandenen Schäden an den iranischen Vertretungen in Bonn, Hamburg und München zu sprechen.“ Vgl. DE Nr. 159; B 36, ZA-Bd. 170182. Velayatis Antwortschreiben wurde am 14. April 1992 durch den iranischen Botschafter Mussawian übergeben. Velayati beklagte „die inakzeptable und unerwartete Nachlässigkeit Ihrer Polizei“. Man dürfe niemandem erlauben, „unsere Beziehungen zu zerstören. Es muss aber festgestellt werden, wer diese zerstörerischen Elemente in unseren Beziehungen sind. Es besteht kein Zweifel daran, dass nur durch tatkräftige und ernsthafte Maßnahmen diesen Verschwörungen begegnet werden kann.“ Vgl. B 36, ZA-Bd. 170182.

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9. April 1992: Vorlage von Dieckmann

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104 Vorlage des Ministerialdirektors Dieckmann für Bundesminister Genscher 431-466.22

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Über Herrn Staatssekretär2 Herrn Bundesminister3 Betr.:

Reform des Nichtverbreitungssystems; hier: Sicherungsmaßnahmen und Lieferbedingungen

Bezug: StS-Randweisungen vom 6.4.92 auf DB Warschau (4.4.924) und vom 28.2.92 auf DB Wien Inter (28.2.925) Zweck der Vorlage: Zur Unterrichtung über im Februar/März 1992 beschlossene Maßnahmen zur Verstärkung des Nichtverbreitungssystems 1) Die Beschlüsse des IAEO-Gouverneursrats (in Wien vom 24. bis 26.2.92) und der Gruppe der Nuklearlieferländer (NSG-Treffen in Warschau, 31.3. bis 3.4.926) stellen einen wesentlichen Beitrag zur Stärkung des nuklearen Nichtverbreitungssystems (NV-System) dar. Die entscheidenden Inhalte dieser Beschlüsse sind: a) Aktivierung der „Sonderinspektionen“ Die IAEO hat jetzt gegenüber NVV-Mitgliedern das Recht, „Sonderinspektionen durchzuführen, wenn dies notwendig und angemessen ist und um sicherzustellen, dass alle Nuklearmaterialien in friedlichen Nuklearaktivitäten Sicherungsmaßnahmen unterliegen“ (Zusammenfassung des Vorsitzenden). Dies schließt auch das Recht auf Verwendung „zusätzlicher Informationen“ (z. B. Nachrichtendienste) und des Zugangs zu „zusätzlichen Orten“ (d. h. nicht gemeldete Anlagen) ein. 1 Die Vorlage wurde von VLR I Nocker und VLR Preisinger konzipiert. 2 Hat StS Lautenschlager am 14. April 1992 vorgelegen. 3 Hat im Ministerbüro VLR Wittig am 5. Mai 1992 vorgelegen, der handschriftlich vermerkte: „Rücklauf BM.“ Ferner verfügte er den Rücklauf über das Büro Staatssekretäre an Referat 431. Hat VLR I Reiche am 5. Mai 1992 vorgelegen. Hat VLR Preisinger am 6. Mai 1992 erneut vorgelegen, der die Weiterleitung an VLR I Nocker „z[ur] g[efälligen] K[enntnisnahme]“ verfügte. Hat Nocker erneut vorgelegen. 4 MDg Graf von Matuschka, z. Z. Warschau, informierte über Verlauf und Ergebnisse des NSG-Treffens vom 31. März bis 3. April 1992 in Warschau. StS Lautenschlager vermerkte am 6. April 1992 darauf handschriftlich: „Bitte BM-Vorlage.“ Vgl. B 72, ZA-Bd. 164302. 5 MDg Loosch, BMFT, z. Z. Wien, berichtete am 27. Februar 1992 über Verlauf und Ergebnisse der Sitzung des IAEO-Gouverneursrats vom 24. Februar 1992, in dessen Zentrum Maßnahmen zur Stärkung des IAEO-Sicherungssystems standen. Auf dem am 28. Februar 1992 im Auswärtigen Amt eingegangenen Fernschreiben vermerkte StS Lautenschlager am selben Tag handschriftlich: „Um was handelt es sich?“ Vgl. B 72, ZA-Bd. 164301. 6 Korrigiert aus: „4.3.1992“. Vgl. die Pressemitteilung vom 3. April 1992 des NSG-Treffens in Warschau; https://www.nuclearsuppliers group.org/images/Files/Documents-page/Public_Statements/1992-Press.pdf.

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9. April 1992: Vorlage von Dieckmann

Die wesentliche Neuerung dieses Beschlusses ist darin zu sehen, dass die zwar in allen Kontrollabkommen bereits enthaltenen Sonderinspektionen (§ 737) – die wegen ihrer Nichtanwendung und ihres umstrittenen Inhalts zu einer Fiktion zu werden drohten – nunmehr eine ausdrückliche Bestätigung als Teil des Inspektioneninstrumentariums der IAEO gefunden haben und vom Generaldirektor bei hinreichendem Verdacht auf vertragswidrige Nuklearaktivitäten angeordnet werden können. b) Erweiterung der Meldepflichten Die „Frühzeitige Anlageninformation“ bezüglich Nuklearanlagen setzt nunmehr bereits zum Zeitpunkt des Baubeschlusses ein. In der Vergangenheit hatte sich der in den Kontrollabkommen vorgesehene Zeitpunkt des „so früh wie möglich“ (§ 428) faktisch auf ein „so spät als möglich“ vor der Einführung von Nuklearmaterial in eine Anlage verschoben. Der Reformcharakter der vom Gouverneursrat der IAEO vorgenommenen verbindlichen Interpretation dieser Meldepflichten besteht in der Vorverlegung und Präzisierung ihres Einsatzzeitpunkts. Hierdurch wird der Bau geheimer Nuklearanlagen erschwert und der friedliche Charakter nationaler Nuklearprogramme von Anfang an durchgehend einer internationalen Verifikation unterworfen. c) Schaffung eines Kontrollregimes für „nuklearbezogene Mehrzweckgüter“ Das von der Gruppe der Nuklearlieferländer durch Notenwechsel vereinbarte Regime wird nach einzelstaatlicher Umsetzung noch innerhalb dieses Jahres in Kraft treten. Für den im Kreis der 27 NSG-Mitglieder noch ausstehenden Beitritt der Russischen Föderation wurde zugesichert, diesen nach Herbeiführung der innerstaatlichen Voraussetzungen im Juni d. J. nachholen zu wollen.9 Dieses neue Exportkontroll-Regime ergänzt die „Richtlinien für Nukleartransfers“ (1978, Londoner Richtlinien10) erstmals um den zunehmend NV-politisch relevant gewordenen Bereich der „Dual-Use“-Güter. Die beschlossene internationale Ausfuhrkontrollliste enthält zahlreiche, für die Herstellung von Nukleartechnologien erforderliche Mehrzweckgüter. Sie erfasst u. a. Metallbearbeitungsmaschinen, die für die nukleare Anreicherungstechnologie erforderlich sind und deren NV-politische Bedeutung durch die Offenbarungen des Irak-Falles11 drastisch vor Augen geführt worden sind. Neue, restriktive und einheitliche 7 Vgl. zum Beispiel Artikel 73 des Übereinkommens vom 5. April 1973 zwischen Belgien, der Bundesrepublik, Dänemark, Irland, Italien, Luxemburg, den Niederlanden, EURATOM und der IAEO in Ausführung von Artikel III Absätze 1 und 4 des Vertrags vom 1. Juli 1968 über die Nichtverbreitung von Kernwaffen (Verifikationsabkommen); BGBl. 1974, II, S. 814. 8 Vgl. zum Beispiel Artikel 42 des Übereinkommens vom 5. April 1973 zwischen Belgien, der Bundesrepublik, Dänemark, Irland, Italien, Luxemburg, den Niederlanden, EURATOM und der IAEO in Ausführung von Artikel III Absätze 1 und 4 des Vertrags vom 1. Juli 1968 über die Nichtverbreitung von Kernwaffen (Verifikationsabkommen); BGBl. 1974, II, S. 808. 9 BR I Schöning, Moskau, teilte am 10. Juni 1992 mit, die russische Regierung habe mit Dekret vom 29. Mai 1992 „die Beschlüsse der Nuclear Suppliers’ Group von Ende März/Anfang April 1992 in Warschau über Exportkontrollen bei nuklearen Dual-use-Gütern gebilligt. Das RAM wird angewiesen, den Beitritt zu den entsprechenden Warschauer Beschlüssen dem Generaldirektor der IAEO zu notifizieren. Die Kommission für Export-Kontrolle der russischen Regierung und das russische Atomenergieministerium werden gemeinsam mit anderen zuständigen Stellen angewiesen, Vorschläge zur Verwirklichung der in Warschau beschlossenen nuklearen Kontrollmaßnahmen zu unterbreiten.“ Vgl. DB Nr. 2480; B 72, ZA-Bd. 164303. 10 Zur Gründung der NSG und zu den Londoner Richtlinien von 1978 vgl. Dok. 61, Anm. 18. 11 Vgl. die Untersuchungen der VN-Sonderkommission Abrüstung Irak; Dok. 8 und Dok. 133.

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9. April 1992: Vorlage von Dieckmann

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Ausfuhrregeln der hauptsächlichen Lieferländer für Mehrzweckgüter werden zukünftig den Aufbau geheimer, nicht friedlicher Nuklearpotenziale wesentlich erschweren. d) Anwendung „umfassender Sicherungsmaßnahmen“ Für diese Lieferbedingung des internationalen Nuklearhandels wurde von uns auf der Grundlage des Kabinettsbeschlusses zur NV-Politik (9.8.199012) bei der Gruppe der 27 Nuklearlieferländer (EG-Zwölf, AUS, BUL, CDN, ČSFR, FIN, JAN, NOR, OST, POL, RUM, RUS, SWE, SWZ, UNG, USA) ein Beschlussvorschlag bereits 1991 eingebracht. Die jetzt erzielte Vereinbarung bezieht sich auf neue Lieferverpflichtungen für Nukleargüter, die in der Export-Triggerliste der bisherigen Richtlinien für Nukleartransfers erfasst sind. Sie sieht eine Ausnahmebestimmung für Sicherheitsausrüstungen unter anlagenbezogenen Sicherungsmaßnahmen vor. Die NV-politische Bedeutung dieser verschärften internationalen Exportpolitik ergibt sich aus dem Druck, den sie gegenüber Staaten erzeugt, die weiterhin den NVV oder entsprechende umfassende Sicherungsmaßnahmen ablehnen und folglich nicht mehr mit Nuklearlieferungen rechnen können. Als Wertung des NSG-Beschlusses kann auf die in Warschau getroffene Feststellung der amerikanischen Delegation (Sonderbotschafter Kennedy) verwiesen werden, wonach die in enger deutsch-amerikanischer Abstimmung in den letzten Jahren entwickelten Kriterien für eine wirksame nukleare NV-Politik nunmehr von den Hauptlieferländern multilateral übernommen worden sind. 2) „Sonderinspektionen“ und „Frühzeitige Anlageninformation“ sowie das Kontrollregime für „nuklearbezogene Mehrzweckgüter“ und „umfassende Sicherungsmaßnahmen“ sind die NV-politisch entscheidenden Teilkomponenten der 1991 eingeleiteten und nunmehr in die Tat umgesetzten Reformarbeiten zur Stärkung des nuklearen NV-Systems. Weitere Schritte sind im Rahmen der IAEO und der NSG vorgesehen. Hierzu zählt insbesondere auch die in Warschau verabschiedete Konsens-Erklärung zur NV-Problematik der GUS. Spätestens beim nächsten Jahrestreffen13 werden die darin enthaltenen Forderungen des Beitritts weiterer Nachfolgestaaten der UdSSR zum NVV und zu den NV-Regimen als Nichtkernwaffenstaaten wieder auf der Tagesordnung stehen. Dem NSG-Mitglied Russland wurde eine „möglichst kurze Übergangszeit“ eingeräumt, um kerntechnische Sicherheitsanlagen und Kernbrennstoffe für Kernkraftwerke an andere GUS-Staaten auch ohne IAEOSicherungsmaßnahmen zu liefern. Auch diese Übergangsregelung wird spätestens dann einer Überprüfung unterliegen. Zusammen mit den laufenden Reformarbeiten im Rahmen des TrägertechnologieKontrollregimes14 und der noch in diesem Jahr vorgesehenen Generalisierung und Verdeutlichung des NV-politischen Sanktionsmechanismus des VN-SR tragen die gestärkten NV-Regime bereits jetzt dazu bei, die Vertrauenswürdigkeit des nuklearen NV-Systems zu verbessern und langfristig abzusichern. Dieckmann B 72, ZA-Bd. 164302

12 Zum Kabinettsbeschluss zur Nichtverbreitungspolitik vgl. AAPD 1990, II, Dok. 281. 13 Das nächste NSG-Treffen fand vom 30. März bis 1. April 1993 in Luzern statt. 14 Zur Weiterentwicklung des MTCR vgl. Dok. 217.

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105 Vermerk des Ministerialdirektors Chrobog 204-321.15-73/92 VS-vertraulich Betr.:

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Treffen der Politischen Direktoren im kleinen Kreis am 8. April 1992 in London

Die Politischen Direktoren (D 22, Dejammet (F), Appleyard (GB), Niles (USA) ) trafen sich am 8. April 1992 in London zu Konsultationen. Die Tagesordnung umfasste folgende Themen: 1) GUS a) Nuklearwaffen b) Ukraine c) Nagorny Karabach d) Moldovia e) Georgien 2) GUS-Wirtschaftsfragen 3) KSZE 4) Europäische Sicherheit 5) Mittel-/Osteuropa 6) Jugoslawien 7) Türkei 8) Friedensprozess im Nahen Osten 9) Irak 10) Südafrika 11) Lockerbie gez. Chrobog [Anlage] TOP 1 GUS a) Nuklearwaffen – Das Thema „Nuklearwaffen“ – das zusätzlich zu der vereinbarten Tagesordnung behandelt wurde – wurde von US eingeführt. US äußerte sich zu strategischen und taktischen Nuklearwaffen wie folgt: – Strategische Waffen US-Regierung bemühe sich intensiv um baldige Ratifizierung des START-Vertrags. Angesichts der beschränkten Sitzungsperioden des Senats in diesem Jahr3 komme es darauf an, den START-Vertrag baldmöglichst dem Senat vorzulegen. Voraussetzung 1 Der Vermerk wurde von VLR I Wagner konzipiert. Hat MD Chrobog am 13. April 1992 erneut vorgelegen. 2 Jürgen Chrobog. 3 In den USA fanden am 3. November 1992 Präsidentschaftswahlen, Wahlen zum Repräsentantenhaus sowie Teilwahlen zum Senat und für die Gouverneursämter statt.

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hierfür sei Verständigung der vier betroffenen GUS-Republiken untereinander, die bisher noch nicht gelungen sei. USA hofften, dass das Treffen der Vier in Moskau am 11./12. April zu einem Ergebnis führen werde.4 US-Regierung führe auch Gespräche mit den vier Republiken über das Thema „Fortsetzung der strategischen Abrüstung nach START“. Hauptgesprächspartner sei zwar Russland, doch müsse Ausscheren einer der drei anderen betroffenen Republiken verhindert werden. – Taktische Waffen Bei den taktischen Nuklearwaffen wirke die US-Regierung sowohl auf Russland als auch auf die Ukraine ein. Sie fordere Russland auf, die Anfang Dezember vereinbarte Kommission der vier Republiken zur Überwachung des Abrüstungsprozesses der taktischen Nuklearwaffen endlich einzurichten. Der Ukraine lege sie nahe, den Transport der nuklearen Gefechtsköpfe nach Russland wieder aufzunehmen.5 US-Regierung stehe wegen technischer Fragen der Beseitigung der nuklearen Gefechtsköpfe in intensivem Gespräch mit Russland. Ungelöst sei beispielsweise noch die Frage, was mit dem nuklearen Material nach der Zerstörung der Gefechtsköpfe geschehen solle. Russische Gesprächspartner meinten, man könne dieses Material entweder lagern oder für die Verwendung in Kernkraftwerken aufbereiten. Amerikanische Experten hielten die letztgenannte Möglichkeit für nicht realisierbar. Nach amerikanischen Erkenntnissen sei im Übrigen die Rückführung taktischer Nuklearwaffen aus Kasachstan abgeschlossen; in Weißrussland sei noch ein Restbestand vorhanden, den die Weißrussen aber schnell loswerden wollten. Das wirkliche Problem stelle die Ukraine dar. D berichtete über Gespräch BM/Krawtschuk am 3.4. in Bonn.6 Krawtschuk habe erklärt, dass die Ukraine eine Vereinbarung mit Russland über die gemeinsame Kontrolle der nach Russland verbrachten taktischen Nuklearwaffen getroffen habe. Er habe weiter versichert, dass bis zum 1. Juli d. J. alle taktischen Nuklearwaffen aus der Ukraine nach Russland verbracht seien. F wies darauf hin, dass auch Frankreich intensive Gespräche über nukleare Abrüstung mit Russland führe. Vergangene Woche sei General Rannon mit einer großen Delegation in Moskau gewesen. Sowohl Russland als auch Ukraine hätten gegenüber der französischen Regierung die Möglichkeit einer internationalen Kontrolle über die Beseitigung der taktischen Nuklearwaffen erwähnt, seien aber nicht spezifisch geworden. Kosyrew habe immerhin erklärt, dass das Treffen der vier Republiken am 11./12.4. zu einer Vereinbarung über die Einrichtung einer internationalen Aufsicht führen könne. F legte im Übrigen dar, dass die französische Regierung über diese Thematik nur mit Russland spreche und die anderen drei Republiken lediglich informiere. Es sei wichtig, den anderen Republiken nicht den Eindruck zu vermitteln, dass sie aufgrund des Besitzes von Nuklear4 LR I Münzel vermerkte am 15. April 1992 Informationen der russischen Botschaft über das Treffen der AM Kosyrew (Russland), Krawtschenko (Belarus), Slenko (Ukraine) und Süleimenow (Kasachstan) am 11. April 1992 in Moskau, bei dem kein Einvernehmen über das Ratifikationsverfahren des STARTVertrags erzielt worden sei. Belarus, Kasachstan und Russland seien sich einig gewesen, dass Russland als alleinige Vertragspartei des START-Vertrags fungieren solle, die Ukraine habe dies abgelehnt. Vgl. B 41, ZA-Bd. 158764. 5 Zum ukrainischen Moratorium für den Abzug taktischer Nuklearwaffen vgl. Dok. 83, Anm. 3. 6 Für das Gespräch des BM Genscher mit dem ukrainischen Präsidenten Krawtschuk vgl. den Gesprächsvermerk; B 41, ZA-Bd. 184056. Für Krawtschuks Gespräch mit BK Kohl am selben Tag vgl. Dok. 98.

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waffen zu einem hervorgehobenen Gesprächspartner für den Westen würden. US griff diesen Gedanken auf: Solche Vorstellungen seien insbesondere in Kasachstan zu erkennen, wo Nasarbajew sich als schwieriger Gesprächspartner erweise, der zu seinen Zusicherungen gegenüber AM Baker im Dezember 1991 nicht stehe.7 Andererseits müsse man aber darauf achten, dass nicht durch eine zu starke Konzentration des Westens auf Russland als Gesprächspartner bei den anderen Republiken der Eindruck entstehe, der Westen stecke mit Russland unter einer Decke. GB sprach kurz die bei der Behandlung des Wissenschaftszentrums Moskau im EGRahmen aufgetretenen Verzögerungen an.8 US gab Hoffnung auf schnelles EG-Einvernehmen in dieser Angelegenheit Ausdruck. GB fasste Diskussion wie folgt zusammen: – In der Frage der taktischen Nuklearwaffen solle in der von USA dargelegten Weise bilateral und kollektiv auf Russland und die Ukraine Druck ausgeübt werden. Zu denken sei auch an eine erneute gemeinsame Demarche9 (als „Follow-up“ zur WEU-Demarche10). – Im EG-Rahmen müsse nachdrücklich auf schnelle Verwirklichung des Wissenschaftszentrums gedrängt werden. b) Ukraine D berichtete über Gespräch BM/Krawtschuk vergangene Woche in Bonn. Krawtschuk habe sich dabei hinsichtlich der Wirtschaftslage in der Ukraine optimistisch gezeigt. Er habe sehr stark die Verbundenheit der Ukraine mit dem Westen hervorgehoben und dabei auf die Beachtung der Menschen- und Minderheitenrechte in der Ukraine verwiesen. Zu 7 Der amerikanische AM Baker führte am 17. Dezember 1991 in Alma Ata ein Gespräch mit dem kasachischen Präsidenten Nasarbajew. Vgl. Dok. 13, Anm. 32. 8 Zur Gründung eines internationalen Wissenschafts- und Technologiezentrums in Russland zur Verhinderung der Verbreitung von Nuklearwaffen durch Wissenstransfer vgl. Dok. 50. Botschafter Trumpf, Brüssel (EG), teilte am 9. April 1992 mit, der AStV habe sich am selben Tag nur mühsam „auf Kompromisstext für eine gemeinsame Erklärung von Rat und KOM“ einigen können, „durch den Abschluss eines Gemeinschaftsabkommens zum IWTZ ermöglicht wird. Bei dem Kompromiss handelt es sich um eine filigran abgestimmte Aufteilung der Sprecherrolle für die Gemeinschaft im Verwaltungsrat des IWTZ, durch den die beinahe unversöhnlichen Positionen von KOM auf der einen Seite und GB sowie F auf der anderen Seite gesichtswahrend in Einklang gebracht wurden.“ Vgl. DB Nr. 1066; B 41, ZA-Bd. 158763. 9 Gesandter Bächmann, Brüssel (NATO), berichtete am 15. April 1992, im Politischen Ausschuss und im Ständigen NATO-Rat sei entschieden worden, dass der stellvertretende NATO-GS De Franchis am 16. oder 17. April 1992 beim russischen Botschafter bei der NATO in Brüssel, Afanassiewskij, sowie per Telefon oder Fax beim ukrainischen Geschäftsträger in Paris und in den Außenministerien in Minsk und Alma Ata wegen des Beitritts von Belarus, Kasachstan und der Ukraine zum Nichtverbreitungsvertrag demarchieren solle. Die Bundesregierung solle parallel dazu durch Botschafter Kraus, Minsk, im belarussischen Außenministerium demarchieren, „während USA und CND den Text durch ihre Botschafter in Alma Ata überreichen werden“. Vgl. DB Nr. 632; B 41, ZA-Bd. 158763. Kraus übergab die entsprechende Erklärung am 16. April 1992. Vgl. DB Nr. 200; B 41, ZA-Bd. 158763. 10 Die Bundesrepublik als WEU-Präsidentschaft schlug am 1. April 1992 den übrigen Mitgliedstaaten eine Demarche in Russland und der Ukraine vor zur Frage der eingetretenen Verzögerung des Transfers taktischer bzw. strategischer Nuklearwaffen der ehemaligen UdSSR nach Russland. Vgl. RE Nr. 91; B 43, ZA-Bd. 228355. Die Demarche wurde am 3. April 1992 in Kiew bzw. Moskau durchgeführt. Vgl. den Runderlass; B 43, ZA-Bd. 228355.

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kritischen Fragen (bspw. Krim) habe er sich nicht präzise geäußert. Die anderen Direktoren stimmten dieser Charakterisierung Krawtschuks zu: Die richtigen Worte gingen ihm flüssig über die Lippen, tatsächlich sei aber in der Ukraine, insbesondere im wirtschaftlichen Bereich, wenig Bewegung festzustellen. US und F stimmten überein, dass zwar aktuelle ukrainisch-russische Streitigkeiten gelöst werden könnten: Der Streit um die Schwarzmeerflotte werde schon dadurch entschärft, dass sich keine der beiden Republiken die Unterhaltung der gesamten Flotte leisten könne (US).11 Mittelfristig werde aber der ukrainisch-russische Gegensatz ein enormes Problem darstellen. In beiden Republiken sehe man die Wiedergeburt nationalistischen Denkens. GB fasste zusammen, dass unsere Haltung zu den beiden Republiken einerseits von der Unterstützung Jelzins und Krawtschuks und unserer Bereitschaft zur materiellen und finanziellen Hilfe geprägt sein sollte, dass wir damit aber andererseits unsere Erwartungen hinsichtlich des innen- und außenpolitischen Verhaltens der beiden Republiken deutlich verbinden müssten. D berichtete über den Brief des BK an die anderen G 7-Länder in der Frage Teilnahme Jelzins am Münchener Wirtschaftsgipfel.12 Eine Teilnahme anderer GUS-Staats- bzw. Regierungschefs an dem Gipfel komme aus unserer Sicht wohl nicht infrage, wir prüften allerdings die Möglichkeit, wie deren Interessen in anderer Form Rechnung getragen werden könne. Die anderen Politischen Direktoren schlossen sich dem Vorschlag Ds an, die – negative – Antwort auf eventuelle andere Teilnahmewünsche am Gipfel miteinander abzustimmen. c) Nagorny Karabach F leitete ein mit Bericht über den kürzlichen Besuch eines hohen Beamten des Quai in Teheran. Iran habe dabei einen 13-Punkte-Plan für Nagorny Karabach vorgelegt, der zwar wenig Neues enthalten habe, in seiner Zielsetzung – Sonderstatus für N. K. innerhalb Aserbaidschans – aber vernünftig sei. Frankreich habe den Eindruck, dass Iran als Vermittler ernst genommen werden müsse und bereit sei, sich wirklich zu engagieren. Iran wünsche auch, einen Kontakt zur KSZE-Konferenz über N. K. herzustellen. Was diese Konferenz angehe, habe Frankreich im Übrigen den Eindruck, dass man noch auf die ČSFR einwirken müsse, um schnelleres und energisches Handeln zu erreichen.13 F erwähnte auch, dass im 11 Zur Frage der Aufteilung der Schwarzmeerflotte vgl. Dok. 98, Anm. 6. Oberst i. G. Rohde, Moskau, teilte am 30. April 1992 mit, die russisch-ukrainischen Verhandlungen über die Schwarzmeerflotte am 29./30. April 1992 in Odessa seien ohne Ergebnis geblieben. Zwar bestehe Einvernehmen über die Fortgeltung der Minsker Vereinbarung vom Dezember 1991, „wonach die ‚strategischen‘ Teile der Flotte der GUS-Marine erhalten bleiben, die ‚nicht-strategischen‘ Teile aber zum Aufbau einer ukrainischen Marine zur Verfügung stehen sollen“. Strittig bleibe indes die Definition von strategisch. Vgl. DB Nr. 1932; B 41, ZA-Bd. 158759. 12 In dem Schreiben des BK Kohl vom 31. März 1992 an den amerikanischen Präsidenten Bush, das gleichlautend an die übrigen Staats- und Regierungschefs der G 7-Staaten ging, hieß es: „Bezüglich der Teilnahme Präsident Jelzins am Gipfel habe ich am 23. März 1992 mit dem russischen Präsidenten telefoniert. Er erwartet eine Einladung nach München. Ich schlage vor, die Modalitäten der Anwesenheit Präsident Jelzins auf dem Gipfel durch unsere Sherpas vorklären zu lassen. Dabei muss auch erörtert werden, wie mögliche andere Teilnahmewünsche behandelt werden sollen.“ Vgl. B 52, ZA-Bd. 174537. Zum Weltwirtschaftsgipfel vom 6. bis 8. Juli 1992 vgl. Dok. 225. 13 Entsprechend dem Auftrag der außerordentlichen Sitzung des KSZE-Außenministerrats am 24. März 1992 in Helsinki bereiste der tschechoslowakische AM Dienstbier, begleitet von Vertretern des vorhergehenden

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Zusammenhang mit der Ernennung Kouchners zum Gesundheitsminister nun ein neuer französischer N.-K.-Beauftragter ernannt werde. Auch D sprach sich dafür aus, Iran in den Friedensprozess einzubeziehen. Zu nutzen seien auch Möglichkeiten der Türkei, die nicht einseitig pro-aserbaidschanisch sei und auch versuche, ihre Beziehungen zu den Armeniern zu verbessern. Eine positive Rolle spiele dabei insbesondere Demirel, den der Westen dabei unterstützen solle. Auch GB sprach sich für eine pragmatische Unterstützung der iranischen Bemühungen aus, die einerseits dem nationalen Interesse des Landes dienten, andererseits aber auch als Teil der iranischen Bemühungen um neue Respektabilität zu sehen seien: US erinnerte an die Probleme der amerikanisch-iranischen Beziehungen, betonte jedoch, dass dies die USA daran nicht hindern sollte, das Engagement Irans für eine friedliche Lösung in N. K. zu würdigen. Was die KSZE-Konferenz angehe, so sei eine direkte Verbindung zu Iran wohl nicht angebracht. Man könnte aber erwägen, ob die Konferenz nicht grundsätzlich die Verpflichtung auf sich nehmen solle, andere Länder der Region – und damit auch Iran – über den Konferenzverlauf zu unterrichten. Es bestand Einvernehmen, dass im Mittelpunkt unserer Bemühungen jetzt die KSZEKonferenz stehen müsse. GB verwies darauf, dass noch fünf Fragen offen seien: – Vorsitzender: Der frühere Außenminister Howe, der gefragt worden sei, stehe leider nicht zur Verfügung. – Zeitpunkt der Konferenz. – Konferenzort: Es bestand Einvernehmen, dass Minsk nur für die Eröffnungsveranstaltung infrage komme. – Konferenzmandat. – Vertretung N. Ks. Es bestand Einvernehmen, dass schnelles Handeln erforderlich sei und auf die ČSFR in diesem Sinne eingewirkt werden müsse.14 Fortsetzung Fußnote von Seite 439 und folgenden KSZE-Ratsvorsitzes bzw. des UNHCR, am 30. März und 1. April 1992 Armenien, Aserbaidschan und das Konfliktgebiet von Nagorny Karabach. Der mitreisende Botschafter z. b. V. Höynck, z. Z. Helsinki, teilte am 6. April 1992 mit, alle Beteiligten seien dafür, dass für eine Nagorny-KarabachKonferenz nach dem Modell der Jugoslawien-Konferenz „Arbeitsgruppen die zentralen Fragen klären und entsprechende Entscheidungen vorbereiten sollten. Das Konferenzplenum sollte kurz und bei Bedarf tagen.“ Während es gegen den Konferenzort Minsk erhebliche Vorbehalte gebe, hielten alle Parteien „unbewaffnete Beobachter/Monitoren“ für einen wirksamen Waffenstillstand für geboten. Vgl. DB Nr. 189; B 28, ZA-Bd. 158658. 14 VLR I Haak analysierte am 22. April 1992 einen vom tschechoslowakischen AM Dienstbier am 17. April 1992 vorgelegten „Entwurf zu Leitlinien einer KSZE-Beobachter-Mission zum Nagorny-KarabachKonflikt“ für das Sondertreffen des AHB der KSZE am 29./30. April 1992 in Helsinki. Zentral sei die Überwachung eines Waffenstillstands für zunächst ein halbes Jahr durch von verschieden Stützpunkten aus tätige Beobachter aus KSZE-Teilnehmerstaaten: „Eine Beobachter-Mission zum Nagorny-KarabachKonflikt wäre die erste ihrer Art der KSZE. Sie weise Charakteristika von friedenserhaltenden Maßnahmen auf. Für die Entwicklung einer glaubwürdigen Rolle der KSZE bei Konfliktverhütung und Krisenbewältigung käme ihr entscheidende Bedeutung zu.“ Vgl. B 28, ZA-Bd. 158658. Am 5. Mai 1992 notierte Referat 212, zu den Entscheidungen des AHB vom 1. Mai 1992 hinsichtlich Verfahrensregeln, Infrastruktur und sonstigen Modalitäten einer Nagorny-Karabach-Konferenz gehöre, dass die Konferenz „aus praktischen oder finanziellen Erwägungen auch an anderen Ort“ als Minsk tagen könne. Ein Zeitpunkt der Einberufung stehe noch nicht fest; Teilnehmer seien „Armenien, Aserbaidschan, Weißrussland, ČSFR, Frankreich, Deutschland, Italien, Russland, Schweden, Türkei und USA“. Trotz

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d) Moldovia15 US berichtete, dass Kosyrew gestern Baker über den von den vier Hauptbeteiligten (Russland, Ukraine, Moldovia, Rumänien) vereinbarten Waffenstillstand unterrichtet habe. Die USA würden eine Erklärung abgeben, wonach sie diese Vereinbarung und den Friedensprozess insgesamt unterstützten. GB erklärte sich bereit, die Initiative zu einer entsprechenden europäischen Erklärung zu übernehmen.16 e) Georgien D wies auf bevorstehenden BM-Besuch und baldige Einrichtung einer deutschen Botschaft in Tbilissi hin.17 US erklärte, dass amerikanische Botschaft in Tbilissi am 15.4. eröffnet werde und dass die USA damit Botschaften in allen zwölf Republiken haben werden. Er wiederholte Angebot zur Zusammenarbeit mit europäischen Botschaften. D dankte und erklärte, wir seien an Zusammenarbeit interessiert. TOP 2 GUS – Wirtschaftsfragen Die Diskussion war kurz: Es bestand Einvernehmen, dass der Sitzung des IWF am 27./28.4. in Washington18 eine Schlüsselrolle zukommt und dass eine wichtige Voraussetzung für den Erfolg dieser Sitzung, nämlich die Einigung über den IWF-Anteil Russlands, bereits erreicht ist. US wies darauf hin, dass durch den Zusammenbruch des Handels zwischen den mittel- und osteuropäischen Staaten und den Republiken der früheren Sowjetunion eine kritische Lage entstanden ist. Überlegungen, wie dieser Handel wieder in Gang gebracht werden kann, sollten auch im Westen angestellt werden. D stimmte zu und verwies darauf, dass diese Thematik auch in das für den Münchener Wirtschaftsgipfel vorbereitete Programm „Hilfe zur Selbsthilfe“ aufgenommen werden soll. TOP 3 KSZE Hauptthemen waren die französische Initiative zu einer Kodifizierung des KSZE-Acquis mit der Perspektive eines Sicherheitsvertrags19 und die deutsche Initiative, der KSZE den Charakter einer „regionalen Abmachung“ im Sinne der VN-Charta zu geben.20 Fortsetzung Fußnote von Seite 440 des Grundsatzbeschlusses für eine Monitoring-Mission seien dafür nötige Personalzusagen spärlich geblieben. Vgl. B 28, ZA-Bd. 158658. 15 Zum Moldau-Konflikt vgl. Dok. 211. 16 Für die Erklärung der EG-Mitgliedstaaten vom 10. April 1992 vgl. BULLETIN DER EG 4/1992, S. 84. 17 Zum Besuch des BM Genscher am 12./13. April 1992 in Georgien vgl. Dok. 106. 18 VLR I Barth und VLR I Zimprich resümierten am 7. Mai 1992: „Mit der Annahme der Mitgliedsanträge der Republiken der ehemaligen SU konnte im Rahmen der IWF/WB-Frühjahrstagung unser Hauptziel, die Einbindung der Staaten der ehemaligen SU in das Bretton-Woods-System, erreicht werden.“ Des Weiteren sei es gelungen, „vonseiten der US-Administration laut gewordene Kritik an der deutschen Finanz- und Geldpolitik durch Darlegung der historischen, einigungsbedingten Belastungen sowie des eingeleiteten Konsolidierungskurses auszuräumen.“ IWF-Exekutivdirektor Camdessus habe zudem die Notwendigkeit betont, künftig verstärkt die Umweltauswirkungen makroökonomischer Entscheidungen zu berücksichtigen: „Im Hinblick auf UNCED bestand Einvernehmen, dass praktisch alle in der Agenda 21 behandelten Themen des nationalen Umweltschutzes mit den bestehenden entwicklungspolitischen Instrumenten angegangen werden können. Die Schaffung neuer, sog. Grüner Fonds ist nicht vorgesehen“. Vgl. B 52, ZA-Bd. 173862. 19 Zum französischen Vorschlag eines gesamteuropäischen Sicherheitsvertrags vgl. Dok. 87. 20 In seiner Rede anlässlich der Eröffnung der KSZE-Folgekonferenz am 24. März 1992 in Helsinki schlug BM Genscher vor, die KSZE solle sich künftig als regionale Abmachung im Sinne von Kapitel VIII der

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a) F legte dar, dass es in der logischen Entwicklung des KSZE-Prozesses liege, das Erreichte durch vertragliche Festlegung zu sichern und damit die Grundlage für die Ausgestaltung der KSZE zu einem umfassenden Sicherheitsvertrag zu legen. Es gehe darum, in einer ersten Stufe die KSZE-Verpflichtungen präzise festzuschreiben und dabei auch die Perspektive einer Weiterentwicklung und Ausweitung zu eröffnen. Dies sei für die neuen Mitglieder wichtig, da man damit ihrem Sicherheitsbedürfnis entspreche; es sei aber auch für uns wichtig, weil die neuen Mitglieder auf diese Weise fest auf die KSZE-Standards verpflichtet würden. Nicht zuletzt komme es auch darauf an, die Parlamente auf dem Wege der Ratifikation formell in den KSZE-Rahmen einzubinden. Besonderes Gewicht legte F darauf, dass die Verwirklichung dieser Initiative erst nach dem Helsinki-Gipfel21 ins Auge gefasst werden solle. Frankreich beabsichtige, pragmatisch vorzugehen, und strebe für Helsinki nur die Vereinbarung eines kurzen Mandats (einen Satz oder zwei Sätze) als Grundlage für die Aufnahme der Diskussion im KSZE-Rahmen an. D wies darauf hin, dass BM Genscher mit seinem Vorschlag, einen KSZE-Verhaltenskodex festzulegen22, in eine ähnliche Richtung wie Frankreich gedacht habe.23 Wir seien dafür, den französischen Gedanken weiter zu verfolgen und mit dem Helsinki-Gipfel ein Signal für die Weiterentwicklung der KSZE, ggf. auch durch die Kodifizierung ihrer bisherigen Ergebnisse, zu geben. US erklärte Bereitschaft, den französischen Vorschlag zu prüfen, meldete jedoch Bedenken gegen die Umwandlung der KSZE in eine kollektive Sicherheitsorganisation an, da damit der KSZE-Prozess seine Flexibilität und Anpassungsfähigkeit verlieren würde. F präzisierte, dass keineswegs die Schaffung einer neuen Organisation beabsichtigt sei und dass im Fortsetzung Fußnote von Seite 441 VN-Charta vom 26. Juni 1945 verstehen: „Das drückt den Willen der KSZE aus, die europäischen Interessen selbst wahrzunehmen, und zwar im Rahmen der Vereinten Nationen.“ Vgl. die Rede; Mitteilungen für die Presse Nr. 1059/92; B 7, ZA-Bd. 179088. VLR Berg vermerkte am 13. April 1992, durch den für die Abschlusserklärung des KSZE-Gipfeltreffens am 9./10. Juli 1992 in Helsinki vorgesehenen Beschluss, „dass sich die KSZE als eine regionale Abmachung im Sinne von Kapitel VIII der UNO-Charta versteht, würden die KSZE-TNS ihre bestehenden Verpflichtungen gegenüber den Vereinten Nationen“ sowie ihre Absicht bekräftigen, „in dem von der Charta gesetzten Rahmen als regionale Abmachung zur Lösung von Konfliktfällen beizutragen“. Diese Aussage habe mehr eine klarstellende als konstitutive Bedeutung: „Ausschlaggebend sollte eine funktionale Betrachtungsweise sein, d. h. die KSZE muss in der Lage sein, die in der Charta vorgesehenen Aufgaben der friedlichen Streitbeilegung und Friedenserhaltung zu erfüllen. Dabei ist es unschädlich, dass sie (noch) nicht über die rechtlichen Durchsetzungsmöglichkeiten verfügt.“ Vgl. B 28, ZA-Bd. 158724. 21 Vom 24. März bis 8. Juli 1992 fand in Helsinki die vierte KSZE-Folgekonferenz statt, an die sich am 9./10. Juli 1992 eine Gipfelkonferenz anschloss. Vgl. Dok. 226. 22 In seiner Rede anlässlich der Eröffnung der KSZE-Folgekonferenz am 24. März 1992 in Helsinki führte BM Genscher aus, die vierte KSZE-Folgekonferenz müsse „einen neuen Abschnitt der Abrüstung und Rüstungskontrolle einleiten“. Ziel müsse „ein Kodex eines neuen kooperativen sicherheitspolitischen Grundverhaltens sein“. Vgl. die Rede; Mitteilungen für die Presse Nr. 1059/92; B 7, ZA-Bd. 179088. 23 MD Chrobog und Botschafter Holik unterrichteten BM Genscher am 9. April 1992 in einer gemeinsamen Vorlage, bei „schwierigen Gesprächen“ am 7. April 1992 in Paris sei es mit Einigung auf einen gemeinsamen Text gelungen, „die sehr weitreichenden und nicht konsensfähigen französischen Vorschläge“ für einen gesamteuropäischen Sicherheitsvertrag „auf den machbaren Kern eines politisch verbindlichen Verhaltenskodex zu konzentrieren, allerdings bei gleichzeitiger Öffnung einer Perspektive auf einen Sicherheitsvertrag in einer späteren Phase.“ Nun gelte es, die USA zu überzeugen, „dass der vorliegende deutsch-französische Kompromiss die von F angestrebte und den USA abgelehnte Verrechtlichung von KSZE-Normen faktisch auf die lange Bank schiebt“. Vgl. B 28, ZA-Bd. 158667.

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Übrigen die Voraussetzung für KSZE-Verpflichtungen analog Artikel 5 des WEU- oder NATO-Vertrages24 überhaupt nicht gegeben seien. Der KSZE-Acquis, den Frankreich kodifizieren wolle, biete hierfür keine Ansätze. GB erklärte Bereitschaft, den französischen Vorschlag zu prüfen. Auch Großbritannien gehe es im Übrigen darum, die Dynamik des KSZE-Prozesses zu erhalten. b) D legte dar, dass KSZE zu einer regionalen Abmachung im Sinne von Kapitel VIII der VN-Charta25 entwickelt werden sollte: Der KSZE-Prozess werde durch die Anerkennung durch die VN und die Einbindung in die VN-Charta gestärkt. Andererseits ziehe die KSZE keine VN-Zuständigkeit an sich, da der Sicherheitsrat nach wie vor die Möglichkeit haben werde, selbst zu entscheiden, welcher Themen er sich annehmen wolle. Grundsätzlich entspreche es jedoch dem KSZE-Prozess und dem der KSZE zugrundeliegenden Verständnis von der künftigen Rolle Europas, dass Europa in die Lage versetzt werde, bei Krisen in Europa selbst tätig zu werden. F unterstützte diese Argumente; GB wies auf bisherige Vorbehalte hin, erklärte jedoch Bereitschaft, Haltung zu überdenken. Ausführlicher äußerte sich US: Die US-Regierung habe kein grundsätzliches Problem mit dem deutschen Vorschlag und finde ihn insbesondere wegen der Möglichkeit interessant, dass die NATO im Auftrag der KSZE und unter dem Dach der VN-Charta tätig werden könne. Die USA gingen davon aus, dass es noch länger dauern werde, bis die KSZE ihre eigene militärische Struktur haben werde. Es wäre daher durchaus vorstellbar, dass KSZE auf militärische Dienste der NATO zurückgreife. Der deutsche Vorschlag könne im Übrigen unabhängig von Fortschritten bei der Umstellung der KSZE von einer politischen auf eine juristische Basis verwirklicht werden. c) Zu weiteren KSZE-Themen äußerten sich die Direktoren wie folgt: – Die deutsche Initiative, KSZE-Lenkungsausschüsse einzusetzen26, wurde von F und GB gutgeheißen. – Zu unserer Initiative, KSZE-Schiedsinstanzen einzusetzen27, äußerten sich F und US positiv. 24 Für Artikel V des WEU-Vertrags vom 23. Oktober 1954 vgl. BGBl. 1955, II, S. 286. Für Artikel 5 des NATO-Vertrags vom 4. April 1949 vgl. BGBl. 1955, II, S. 290. 25 Für Kapitel VIII der VN-Charta vom 26. Juni 1945 vgl. BGBl. 1973, II, S. 466–469. 26 Bei einem Kolloquium der WEU-Versammlung in Berlin erläuterte BM Genscher am 1. April 1992 den Vorschlag für einen KSZE-Lenkungsausschuss: „Er könnte sich aus dem amtierenden KSZE-Vorsitz, unterstützt vom Vorgänger und Nachfolger im Amt sowie drei bis vier besonders interessierten Staaten zusammensetzen. In kritischen Situationen mit akutem Handlungsbedarf wird er die Handlungsfähigkeit der nunmehr 51 Teilnehmerstaaten stärken.“ Vgl. Mitteilung für die Presse Nr. 1062/92; B 29, ZA-Bd. 213095. 27 Zur französischen Initiative für eine Gesamteuropäische Schiedsinstanz (Badinter-Initiative) vgl. Dok. 51, Anm. 16 und 17. VLR I Haak notierte am 20. März 1992, die Bundesregierung könne sich der von französischer Seite gewünschten Miteinbringerschaft nicht verweigern, „obwohl wir keine Möglichkeit zur Einflussnahme auf den jetzt vorliegen Text hatten, den Badinter mit einem Kreis von ihm ausgewählter Experten (darunter Prof. Bernhardt, Heidelberg) ausgearbeitet hat“. Da jedoch zweifelhaft sei, „ob die Einführung in die Konferenz durch die Minister der zweckmäßigste Weg sei, um unser gemeinsames Ziel zu erreichen“, empfehle sich, „die Präsentation während der Ministerphase der Konferenz etwas niedriger zu hängen“ und die Initiative besser „etwas später nach Sondierungen mit anderen Partnern“ einzubringen. Vgl. B 28, ZA-Bd. 158685.

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– US sprach sich gegen Überlegungen (Österreich, Finnland) aus, KSZE-Berichterstatter in die Südost-Türkei zu schicken.28 Es sei nicht angebracht, dass die KSZE öffentlich Druck auf die Türkei ausübe. TOP 4 Europäische Sicherheit US leitete mit der grundsätzlichen Bemerkung ein, dass Amerika an seiner militärischen Rolle in Europa festhalte. Dies gelte nicht nur für Bush, sondern auch für die große Mehrheit der Demokratischen Partei, einschließlich Clinton. Die Entwicklung des deutschfranzösischen Korps verfolge man mit Interesse und in der Hoffnung, dass die integrierte Kommandostruktur der NATO dadurch nicht geschwächt werde. Die US-Regierung verfolge auch aufmerksam den Ausbau der WEU; sie frage sich, welchen Einfluss auf die amerikanischen NATO-Verpflichtungen der WEU-Beitritt eines Nicht-NATO-Partners haben würde. Der schwedische MP Bildt habe bei seinem kürzlichen Besuch in Washington diese Möglichkeit erwähnt.29 D berichtete kurz über WEU-Verhandlungen mit Griechenland, Norwegen und der Türkei.30 Er wies darauf hin, dass wir die Türkei so nahe wie möglich an die WEU heranbringen und damit ihre Bindung zu Europa stärken wollten; die WEU-Beistandsklausel könne allerdings nur für WEU-Mitglieder und nicht für assoziierte Länder gelten. Eine WEU-Mitgliedschaft Schwedens sei auch vor dem Hintergrund der 1996 beginnenden Verhandlungen über die Revision des WEU-Vertrags zu sehen. US-Besorgnisse im Hinblick auf die Rolle der WEU im Rahmen der Schaffung der Europäischen Union seien im Übrigen unbegründet. GB unterstützte die Ausführungen Ds zur Türkei: Zwischen Mitgliedschaft und Assoziierung müsse ein deutlicher Unterschied bleiben. Die WEU müsse der Türkei ein faires und für diese akzeptables Angebot machen, aber auch darauf achten, dass dieses Assoziierungsangebot von Ankara als ein Mehr für die Türkei und nicht ein Minder im Vergleich zu anderen Ländern erkannt werde. Zum Thema Schweden meinte GB, dass das Prinzip, neuen EG-Mitgliedern auch die WEU-Mitgliedschaft anzubieten, auch ausdehnbar sei: Vielleicht sollte gleichzeitig das Angebot der NATO-Mitgliedschaft unterbreitet werden? US erklärte hierzu, ein solches Vorgehen sei aus amerikanischer Sicht sehr erwägenswert. Zum deutsch-französischen Korps bekräftigte GB seine bekannte Position: Deutschfranzösisches Korps dürfe seinen Platz nicht außerhalb der NATO haben, Großbritannien sei andererseits selbst an Bindung seiner Truppen an die WEU interessiert. D bekräftigte, dass die für das Korps vorgesehenen deutschen Truppen NATO-assigniert bleiben würden. (D wies am Rande auf WEU-Terminproblem angesichts der Absage des für den 5. Mai vorgesehenen Ministertreffens hin. GB stimmte zu, dass Einvernehmen über WEU-Position zu Verhandlungen mit Beitritts- bzw. Assoziierungskandidaten auch durch Zustimmung der Hauptstädte ohne ein eigenes Ministertreffen erfolgen könne.) 28 BR I Krebs, Wien, berichtet am 30. März 1992: „Das österr. AM hat am 28.3.1992 bekanntgegeben, dass es wegen der jüngsten Militäraktionen in den Kurdengebieten der TUR die erste Stufe des KSZE-Krisenmechanismus zum Schutz der Menschenrechte eingeleitet habe.“ Vgl. DB Nr. 394; B 28, ZA-Bd. 158685. 29 Der schwedische MP Bildt führte am 20. Februar 1992 in Washington ein Gespräch mit dem amerikanischen Präsidenten Bush. 30 Zu einer Erweiterung der WEU vgl. Dok. 61, Anm. 13.

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10. April 1992: Vermerk von Chrobog

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TOP 5 Mittel-/Osteuropa GB leitete ein mit kurzen Bemerkungen zu Polen (schwere wirtschaftliche Probleme), ČSFR (Besorgnis, dass bei Juni-Wahlen31 im tschechischen Teil ein Rechtsruck stattfinden und im slowakischen Teil die Nationalisten siegen würden) und zu Ungarn (relativ beste wirtschaftliche Ausgangslage, aber zu hohe Erwartungen hinsichtlich baldigen EG-Beitritts). Der Westen tue gut daran, die Folgen einer Abspaltung der Slowakei schon jetzt zu durchdenken. US äußerte sich zu Polen: US-Regierung werde Olszewski bei seinem Washington-Besuch nächste Woche32 nachdrücklich nahelegen, IWF-Verpflichtungen einzuhalten. Angesichts der Knappheit öffentlicher Mittel sei es wichtig, auch westliches privates Kapital für Polen zu aktivieren. D berichtete über Wałęsa-Besuch in Bonn, der einen wirklichen Fortschritt in den deutsch-polnischen Beziehungen gebracht habe.33 Skubiszewski habe versichert, dass sich Polen an IWF-Verpflichtungen halten werde. Direktoren würdigten demokratische Entwicklungen in Albanien.34 D erklärte, dass westliche Hilfe wegen der katastrophalen Wirtschaftslage, aber auch zur Stützung Berishas erforderlich sei. US stimmte zu und kündigte an, US-Regierung werde Berisha nach Washington einladen.35 TOP 6 Jugoslawien GB leitete mit Hinweis darauf ein, dass EG und USA nun erfreulicherweise wieder gemeinsame Linie verfolgten, was sich am Beispiel der Anerkennung Bosnien-Herzegowinas zeige.36 Britische Regierung habe vorgeschlagen, dass EG Initiative zu Gesprächen mit den Konfliktparteien in Bosnien-Herzegowina ergreife. US begrüßte dies und fügte hinzu, dass auch Druck auf Tudjman und Milošević aufrechterhalten werden müsse, und zwar mit der Botschaft, dass die künftige westliche Haltung zu Kroatien und Serbien vom jetzigen Verhalten dieser beiden Länder bestimmt sein werde. F wies darauf hin, dass Boutros-Ghali förmlich um die Entsendung weiterer EG-Beobachter nach Bosnien-Herzegowina gebeten habe. EG-Antwort sei noch nicht erfolgt. D wies darauf hin, dass es ein Fehler gewesen sei, das Mandat der VN-Friedenstruppe nicht auf Bosnien-Herzegowina auszudehnen.37 31 Zu den Parlamentswahlen am 5./6. Juni 1992 in der ČSFR vgl. Dok. 216, Anm. 3. 32 Der polnische MP Olszewski führte am 13. April 1992 in Washington ein Gespräch mit dem amerikanischen Präsidenten Bush. Vgl. das amerikanische Gesprächsprotokoll; https://bush41library.tamu.edu/ archives/memcons-telcons. 33 Der polnische Präsidenten Wałęsa besuchte die Bundesrepublik vom 30. März bis 3. April 1992. Vgl. Dok. 90. 34 Bei den Parlamentswahlen am 22. März 1992 in Albanien errang die bisherige oppositionelle Demokratische Partei die absolute Mehrheit der Sitze. 35 Der albanische Präsident Berisha besuchte die USA vom 14. bis 16. Juni 1992. 36 Vgl. die gemeinsame Erklärung der EG-Mitgliedstaaten und der USA vom 10. März 1992 in Brüssel zur Anerkennung neuer Staaten; BULLETIN DER EG 3/1992, S. 104. Vgl. auch Dok. 77. Die EG-Mitgliedstaaten anerkannten Bosnien-Herzegowina am 6. April 1992, die USA am Folgetag. 37 Zur UNPROFOR vgl. Dok. 89, Anm. 4. Am 7. April 1992 bekräftige der VN-Sicherheitsrat mit Resolution Nr. 749, UNPROFOR solle baldmöglichst disloziert werden. Vgl. RESOLUTIONS AND DECISIONS 1992, S. 10. Für den deutschen Wortlaut vgl. EUROPAARCHIV 1992, D 580 f.

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US erinnerte daran, dass Kosovo derzeit das größte Menschenrechtsproblem in Europa sei. GB meinte, dass Kosovo die nächste Mine sei, die auf dem Balkan hochgehen werde. Zur Frage der Staatennachfolge Jugoslawiens meinte US, der Westen verfüge hiermit über ein Druckmittel gegenüber Serbien und Montenegro, das er ausnützen solle. D wies darauf hin, dass Belgrad in der Frage des Luftraums über Kroatien nach wie vor an überholten Positionen festhalte. US stimmte zu und erklärte, dass Serbien auch die Blockade Mazedoniens und Bosniens-Herzegowinas einstellen müsse. F plädierte dafür, die Serben nicht als Ausgestoßene abzustempeln. Der Westen tue gut daran, auch positive Bewegungen der serbischen Haltung (Aufnahme Sloweniens und Kroatiens in die KSZE38) zu würdigen. Mit dem Namen Jugoslawien für Serbien/Montenegro habe Frankreich keine Probleme. D wies darauf hin, dass auch wir Kontakt mit Serbien aufrechterhielten (Einladung des serbischen Außenministers Jovanović zu Bonn-Besuch39). US stellte Frage, wie man in der von Griechenland blockierten Frage der Anerkennung Mazedoniens weiterkommen könne. D erklärte, dass Mazedonien von sich aus die Voraussetzungen verbessern könne, indem es eine öffentliche Erklärung folgenden Inhalts abgebe: „Wir sind zu Verhandlungen über einen Grenzvertrag mit Griechenland bereit; wir haben keine territorialen Ansprüche; wir sind an guten Beziehungen mit allen unseren Nachbarn interessiert.“ Ds Anregung, US solle dies an mazedonische Gesprächspartner und auch an McFarlane weitergeben, nahm US positiv auf. TOP 7 Türkei GB erklärte einleitend, dass das grundlegende Dilemma weiter bestehe: Wir seien einerseits daran interessiert, die Bindungen der Türkei an Europa und den Westen zu stärken, andererseits sei die EG in der Frage des Vierten Finanzprotokolls40 und des Mittelmeerprotokolls41 keinen Schritt weitergekommen. Die EG müsse sich nun ernsthaft die Frage stellen, in welchem Maße sie bereit sei, Druck auf Griechenland auszuüben. US hob die strategische Bedeutung der Türkei für den Westen hervor und verwies auf Fortschritte unter der Regierung Demirel in Menschenrechts- und Minderheitenfragen. Die PKK sei für die Türkei ein ernstes Terroristenproblem. Bezeichnend sei, dass die Kurden 38 Zusammen mit Georgien wurden Slowenien und Kroatien am 24. März 1992 bei der außerordentlichen Sitzung des KSZE-Außenministerrats in Helsinki in die KSZE aufgenommen. Vgl. das Schlussdokument nebst Anlagen; https://www.osce.org/mc/29121. 39 BM Genscher und der serbische AM Jovanović führten am 23. April 1992 ein Gespräch. Vgl. Dok. 119, Anm. 7. 40 Zum Vierten Finanzprotokoll EG – Türkei vgl. Dok. 61, Anm. 8. 41 In einem gemeinsamen Vermerk von AA, BMWi, BMF, BML und BMZ vom 3. April 1992 zur EG-Mittelmeerpolitik hieß es: „Die Verabschiedung der Durchführungs-VO für die Anwendung der MittelmeerFinanzprotokolle und der Basis-VO zur horizontalen Kooperation, die neben den Finanzprotokollen mit den Mittelmeerdrittländern ein wesentliches Element der erneuerten Mittelmeerpolitik der Gemeinschaft ist, wird derzeit allein durch den politisch motivierten griechischen Vorbehalt hinsichtlich der Einbeziehung der Türkei in den Anwendungsbereich der Basis-VO verhindert (da beide Verordnungen auf Art. 235 EWG-V gestützt sind, muss der Rat einstimmig zustimmen).“ Griechenland begründe seinen Vorbehalt mit mangelndem Fortschritt in der Zypernfrage. Durch die „horizontale Kooperation“ wolle die EG Projekte der regionalen Zusammenarbeit in den Mittelmeerstaaten mit einer Laufzeit von fünf Jahren in Höhe von 2,03 Mrd. ECU fördern. Vgl. B 222, ZA-Bd. 175858.

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im Irak die PKK nicht unterstützten. Amerikanische Einwirkung auf Syrien wegen der PKK-Trainingslager in der Bekaa seien bisher noch erfolglos. Die US-Regierung habe im Übrigen entschieden, die Türkei um ihre Zustimmung zur Weiterführung der Aktion „Provide Comfort“ zu bitten.42 D machte zu diesen Ausführungen, denen er weitgehend zustimme, zwei Anmerkungen: a) Fortschritte in der Kurdenfrage seien nur möglich, wenn die türkische Regierung bei ihrem Vorgehen gegen die PKK Rücksicht auf die Zivilbevölkerung nehme. Gleichzeitig sei es erforderlich, den Kurden Autonomie in Aussicht zu stellen und ihre wirtschaftliche und soziale Lage zu verbessern. b) Die Verschärfung der Haltung Ankaras und damit die Zuspitzung der Lage im Südosten seien auf das unheilvolle Wirken Özals zurückzuführen. Özal habe durch sein propagandistisch-nationalistisches Auftreten auch die Basis für die Bemühungen Demirels um türkisch-kurdische Annäherung untergraben. US wies darauf hin, dass Özal voraussichtlich bald zur ärztlichen Behandlung in die USA (Houston) kommen werde; falls er dabei Washington besuche, werde die US-Regierung versuchen, auf ihn einzuwirken.43 TOP 8 Friedensprozess im Nahen Osten44 US leitete ein mit Dank an die EG für ihre konstruktive Haltung. US-Regierung setze sich für EG-Teilnahme an Arbeitsgruppe „Rüstungskontrolle und Sicherheit“ ein. USExperten Kurtzer und Miller, die gerade in Israel weilten, hätten dieses Thema gegenüber der israelischen Regierung aufgenommen. Der größte Widerstand gegen EG-Rolle im Friedensprozess komme aus dem israelischen Verteidigungsministerium. Insgesamt seien USA mit Verhandlungsverlauf zufrieden. Syrien, Libanon und Jordanien hätten zugesagt, zur Fortsetzung der bilateralen Gespräche am 27.4.92 Delegationen nach Washington zu entsenden. Die USA stünden mit Syrien, Libanon und den Palästinensern in Verbindung, um deren Teilnahme an der multilateralen Phase zu erwirken. F stellte weitere Unterstützung der amerikanischen Bemühungen durch die EG in Aussicht und wies darauf hin, dass die EG auch israelischen Positionen gegenüber aufgeschlossener sein werde, falls Israel der Beteiligung der EG in dem von ihr gewünschten Umfang zustimme. TOP 9 Irak In einem kurzen Meinungsaustausch erklärte GB, der Westen habe keinen Grund, von seiner bisherigen festen Haltung abzulassen. US stimmte zu und meinte, Irak verfolge eine Linie des „cheat and retreat“. Die Staatengemeinschaft müsse ihren Druck auf Saddam Hussein aufrechterhalten und dürfe von der Forderung nach Erfüllung der Sicherheitsratsresolution 71245 nicht abgehen. 42 Zur Entscheidung des amerikanischen Präsidenten Bush, zur Versorgung der irakischen Flüchtlinge militärisch geschützte Lager im Nordirak einzurichten („Operation Provide Comfort“), vgl. AAPD 1991, I, Dok. 131. 43 Der türkische Präsident Özal hielt sich vom 28. bis 30. April 1992 in den USA auf. Für sein Gespräch mit dem amerikanischen Präsidenten Bush am 28. April 1992 in Washington vgl. das amerikanische Gesprächsprotokoll; https://bush41library.tamu.edu/files/memcons-telcons. 44 Zur Beteiligung der EG-Mitgliedstaaten am Friedensprozess im Nahen Osten vgl. Dok. 121. 45 Für die Resolution Nr. 712 des VN-Sicherheitsrats vom 19. September 1991 vgl. RESOLUTIONS AND DECISIONS 1991, S. 24 f.

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TOP 10 Südafrika46 GB wies darauf hin, dass es jetzt [darauf] ankomme, die Bildung einer Übergangsregierung und daran anschließend einer repräsentativen demokratischen Regierung zu unterstützen. Dies könne durch umfassendes Aufheben der Sanktionen47 und Wiederaufnahme Südafrikas in die internationale Staatengemeinschaft erfolgen.48 US erläuterte Bedeutung des Gramm-Rudman-Amendments für US-Zustimmung zu IWF-Kreditgewährung an Südafrika.49 TOP 11 Lockerbie50 US erklärte, dass Gaddafi wenig Unterstützung von den anderen arabischen Ländern erhalte, die wegen seiner Unberechenbarkeit verärgert seien. F hielt entgegen, dass man immer noch von Solidarität mit Gaddafi ausgehen müsse. Zu Sanktionen gegen Libyen hatte F ein warnendes Wort: Wenn Länder wie Ägypten und Saudi-Arabien diese Sanktionen unterlaufen und Luftverkehr mit Libyen aufrechterhalten würden – würden wir wirklich gegen sie vorgehen? B 130, VS-Bd. 13046 (221)

46 Zum Reformprozess in Südafrika vgl. Dok. 59, Anm. 6. Beim Referendum der weißen Bevölkerung Südafrikas am 17. März 1992 stimmten 68,7 % für eine Fortsetzung der Reformpolitik von Präsident de Klerk. Vgl. die Vorlage des VLR I Daerr vom 18. März 1992; B 34, ZA-Bd. 155790. Botschafter Stabreit, Pretoria, berichtete am 1. April 1992, weitere Gespräche im Rahmen der „Convention for a Democratic South Africa“ (CODESA II) sollten am 15./16. Mai 1992 stattfinden. Erwartet würden dabei „Vereinbarungen über eine Interimsregierung, Wahlen (Form und Wahldatum) zu einer verfassungsgebenden Versammlung“, Wiedereingliederung der „Homelands“ bzw. „Einigung über föderale bzw. regionale Strukturen, gemeinsame Kontrolle über die Sicherheitskräfte und gemeinsame Kontrolle über die Staatsmedien.“ Vgl. DB Nr. 155; B 34, ZA-Bd. 155792. 47 Zur Aufhebung von Sanktionen gegen Südafrika vgl. Dok. 82, Anm. 24. 48 VLR I von Jagow informierte am 7. April 1992, bei der EG-Ministerratstagung am Vortag in Brüssel sei eine Erklärung zu Südafrika mit folgenden Elementen verabschiedet worden: „Ermutigung der Entwicklung im Rahmen der Convention for a Democratic South Africa (CODESA), Ermutigung der Bildung einer Interimsregierung; Aufhebung des Ölembargos durch EG-MS; ebenfalls formale Aufhebung der restriktiven Maßnahmen zur Zusammenarbeit in den Bereichen Kultur, Wissenschaft, Sport. Fortsetzung der Förderung positiver Maßnahmen zur Unterstützung der Opfer der Apartheid.“ Vgl. RE Nr. 50; B 42, ZA-Bd. 183638. Für die Erklärung vgl. BULLETIN DER EG 4/1992, S. 83. 49 LR I Pulch, Washington, berichtete am 28. Februar 1992, das amerikanische Außenministerium habe mitgeteilt, die „im Gramm-Amendment niedergelegten vier Bedingungen“ für eine Zustimmung zu einem IWF-Kredit für Südafrika würden weiter gelten: „S[üd]A[frika] muss Apartheid-Gesetze im Bereich Arbeit/ Wohnrecht abschaffen. Diese Bedingung gilt als erfüllt. Durch das Programm müssen Ungleichheiten bei Arbeit und Kapital abgebaut werden. Das dem Kreditvertrag zugrunde gelegte Programm muss vorteilhafte Auswirkungen für die schwarze Mehrheit haben. Diese beiden Bedingungen sind abhängig von einem noch zu stellenden Kreditantrag. SA muss ein Zahlungsbilanzdefizit aufweisen und nicht in der Lage sein, die Mittel auf dem privaten Kapitalmarkt aufzubringen.“ Vgl. DB Nr. 699; B 34, ZA-Bd. 155801. 50 Zu den Sanktionen gegen Libyen vgl. Dok. 95.

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106 Gespräch des Bundesministers Genscher mit dem Vorsitzenden des georgischen Staatsrats, Schewardnadse, in Tiflis 105-A2/92

12. April 19921

Vier-Augen-Gespräch zwischen dem Bundesminister des Auswärtigen, Herrn HansDietrich Genscher (im weiteren abgekürzt als BM), und dem Vorsitzenden des Staatsrates der Republik Georgien, Herrn E. A. Schewardnadse (im weiteren abgekürzt als Sch.); Beginn 19.15 Uhr, Ende 20.20 Uhr2; hier: Dolmetscheraufzeichnung Schewardnadse: Neben der Ausrichtung freundlicher Grüße an den Herrn Bundespräsidenten, den Bundeskanzler und die Bundesregierung wolle er mit dem Gefühl großer Dankbarkeit ausdrücken, dass Georgien Deutschland die große Unterstützung, die es mit der Anerkennung Georgiens3 erwiesen habe, nie vergessen werde. Man könne ohne Übertreibung sagen, dass dieser Besuch für Georgien eine ganz überragende Bedeutung habe. Dies habe Georgien zwar schon amtlich erklärt, das reale Gewicht dieses Schrittes werde sich jedoch erst in der Zukunft erweisen. Gerade dieses Vier-Augen-Gespräch gebe ihm Gelegenheit, seiner großen Genugtuung darüber Ausdruck zu verleihen, dass er, BM, als erster im Westen den ersten Schritt der Anerkennung getan habe. Hierfür gebühre ihm sehr viel Dank. BM: Viele seiner Außenministerkollegen seien natürlich sehr daran interessiert, mit welchen Eindrücken er von diesem Besuch zurückkehre. Er habe vor kurzem mit dem jetzigen Vorsitzenden des EG-Ministerrates, dem portugiesischen Außenminister4, gesprochen, in zwei Wochen werde er gemeinsam mit dem Bundespräsidenten den USA einen 1 Der Gesprächsvermerk wurde von VLR Weiß am 14. April 1992 gefertigt und „im Konzept von VLR Scheel abgezeichnet“. Hat BM Genscher am 22. April 1992 vorgelegen, der handschriftlich vermerkte: „Erbitte operative Vorschläge“. Vgl. Anm. 27. Hat OAR Rehlen am 22. April 1992 vorgelegen, der den Rücklauf über das Büro Staatssekretäre, MD Chrobog und MDg von Studnitz an Referat 213 verfügte. Dazu vermerkte er handschriftlich: „S[iehe] Weisung BM“ sowie „Siehe auch S. 6 und 10.“ Vgl. Anm. 13 und 21–23. Hat StS Kastrup am 22. April 1992 vorgelegen, der für „D 2 i. V“ handschriftlich vermerkte: „Bitte Aufzeichnung für BM.“ Hat in Vertretung von Chrobog MDg Schilling am 23. April 1992 vorgelegen. Zum Gespräch vgl. auch SCHEWARDNADSE, Vorhang, S. 251–255. 2 BM Genscher hielt sich am 12./13. April 1992 in Georgien auf. Für seine weiteren Gespräche im georgischen Staatsrat sowie mit AM Tschikwaidse vgl. B 41, ZA-Bd. 171741. 3 Die EG-Mitgliedstaaten gaben am 23. März 1992 kollektiv die Anerkennung Georgiens bekannt. Vgl. BULLETIN 1992, S. 312 f. VLR I Bettzuege informierte am 16. April 1992: „Durch einen Briefaustausch zwischen Bundesminister Genscher und Außenminister Tschikwaidse nahmen die Bundesrepublik Deutschland und die Republik Georgien am 13.4.1992 diplomatische Beziehungen auf. Im Anschluss an den Briefaustausch übergab Botschafter Dahlhoff sein Beglaubigungsschreiben. Damit ist Deutschland als erster Staat durch einen Botschafter in Tiflis vertreten.“ Vgl. den am 14. April 1992 konzipierten RE Nr. 21; B 41, ZA-Bd. 171741. 4 João de Deus Pinheiro.

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Staatsbesuch abstatten.5 Er werde sich in der nächsten Zeit bemühen, in den anderen Hauptstädten das Verständnis für Georgien zu stärken. Dieses Vier-Augen-Gespräch gebe eine gute Gelegenheit, alle Probleme offen anzusprechen und zu beraten, wie man Georgien auf seinem Weg zur demokratischen Rechtsstaatlichkeit und sozialen Marktwirtschaft am besten helfen könne.6 Schewardnadse: Wenn es diese Unterstützung seitens Deutschlands und anderer Partner nicht gebe, werde man überhaupt kaum über ein demokratisches Georgien sprechen können. Alles, was im Lande habe zerstört werden können, sei auch zerstört worden. Die Industrieproduktion sei im Vergleich zu 1985 um 25 % gesunken. In ganzen Wirtschaftsbranchen liege die Volkswirtschaft praktisch lahm, das Verkehrswesen funktioniere nicht. Man müsse jetzt beginnen, nach und nach auf die Füße zu kommen. Das Land habe wenig natürliche Ressourcen, es gebe aber kleine Ansatzpunkte für bessere Aussichten, wozu zum Beispiel der Tourismus gehöre. Auch habe zum Beispiel Georgien Hydroressourcen, die gegenwärtig nur zu 14 % genutzt würden. Insgesamt sei gegenwärtig die Lage sehr beschwerlich. In Ländern, die ganz und gar verarmt seien, könne keine Demokratie lange existieren. Er wolle damit nicht den Eindruck erwecken, als ob Georgien sich anschicke, bettelnd die Hand aufzuhalten. Man wolle niemandem zur Last fallen. Es sollten aber Formen der Zusammenarbeit gefunden werden, die zum Aufbau der Volkswirtschaft beitragen könnten und ein attraktives Investitionsumfeld für ausländische Geschäftskreise bieten könnten. Sollten Europa und Deutschland Interesse zeigen, im Gebiet des Kaukasus Einfluss zu gewinnen, dann sollte die wirtschaftliche Zusammenarbeit im Vordergrund stehen. Soviel als erster Punkt. Zweitens: Georgien wolle besondere Beziehungen zu Deutschland anbahnen; in welchem Maße sich dies verwirklichen lasse, werde von D abhängen. Er meine aber auch, dass es ebenfalls im deutschen Interesse sein werde, gute Beziehungen zu Georgien zu fördern. Es werde sich bald zeigen, wie bedeutend die Präsenz in der Region sei. Islamische Staaten gerieten bereits in Bewegung: Sowohl die Türkei wie der Iran versuchten, über Georgien am Schwarzen Meer breiter Fuß zu fassen und hier einen Einflussbereich zu gewinnen. Aus diesem Bestreben sei seitens der Türkei auch nie ein Geheimnis gemacht worden. Bereits heute agierten die Türkei und Aserbaidschan wie Brüder, zwischen denen Armenien erdrückt werde. Georgien verfüge andererseits dadurch über einen gewissen Spielraum; es werde von Georgien abhängen, wie die Region sich präsentiere. Es müsse und könne vermieden werden, zur islamischen Nachbarwelt in Konflikt zu geraten. Dennoch müsse vor einer Unterschätzung des islamischen Faktors durch die Außenwelt gewarnt werden. 5 Im Rahmen des Staatsbesuchs des Bundespräsidenten Freiherr von Weizsäcker vom 28. April bis 3. Mai 1992 hielt sich BM Genscher vom 28. bis 30. April 1992 in den USA auf. 6 VLR I Neubert legte am 20. Februar 1992 dar, nach einem Referendum am 31. März 1991 habe sich Georgien am 9. April 1991 für unabhängig erklärt. Der GUS sei Georgien nicht beigetreten, habe aber als Beobachter an einigen Treffen der Regierungschefs teilgenommen: „In Georgien ist mit dem Sturz Gamsachurdias (26.5.1991 bei Präsidentenwahlen von 86,5 % gewählt, fünf Gegenkandidaten) am 6.1.1992 der blutige Machtkampf vorerst entschieden. Gamsachurdias Versuch, von seinem westgeorgischen Heimatterritorium aus zur Macht zurückzukehren, ist an der erdrückenden Übermacht der militärischen Kräfte aufseiten des Militärrates gescheitert.“ Georgien bleibe „im Schatten des Bürgerkrieges“. Neben der Wirtschaftskrise gebe es ethnische Konflikte, insbesondere in Südossetien. Vgl. B 41, ZABd. 171737.

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BM erkundigt sich nach dem quantitativen Verhältnis der Glaubensbekenntnisse in Georgien. Schewardnadse: 75 bis 80 % der georgischen Bevölkerung seien Christen. Es seien im Lande aber auch islamische Minderheiten, wie zum Beispiel Aserbaidschaner, ansässig. BM: Er wolle nun einige Fragen ansprechen, die vorerst in diesem engen Kreise zur Diskussion gestellt werden sollten. Erstens: Die Bundesregierung wolle in nächster Zeit eine Expertendelegation nach Georgien entsenden, um in der ganzen Breite zu erörtern, wie die bilateralen wirtschaftlichen Beziehungen gestaltet werden sollten. Außerdem wolle Deutschland mit beratender Tätigkeit beim Aufbau rechtsstaatlicher Strukturen, der staatlichen Verwaltung, insbesondere bei der Schaffung des rechtlichen Rahmens für ein günstiges Investitionsklima behilflich sein.7 Schewardnadse bestätigt die Bereitschaft Georgiens, eine solche Delegation zu empfangen. BM: Zweitens: In der Delegation befinde sich ein Abteilungsleiter aus der wirtschaftspolitischen Abteilung des Amtes, um mit georgischen Partnern zu beraten, was Georgien im Hinblick auf die Lissaboner Konferenz8 unternehmen sollte, um sich einen angemessenen Anteil der für die Nachfolgestaaten der UdSSR vorgesehenen Hilfestellung zu sichern. Drittens: Die EG habe eine neue Vertragsform, die sogenannten neuen Ostverträge, entwickelt, nach der zwischen der Gemeinschaft und den Nachfolgestaaten eine über die herkömmlichen Kooperationsabkommen hinausgehende Vertragsgrundlage für die künftigen Beziehungen geschaffen werden solle. Er, der BM, werde darauf drängen, dass die EG mit Georgien als einem der ersten Nachfolgestaaten abschließen solle. Jedenfalls werde Herr Schönfelder schon während des Besuchs mit den jeweiligen georgischen Beauftragten diese Dinge erörtern können. Er habe mit Freude gesehen, dass die früheren Mitkämpfer noch bei Herrn Sch. seien, vielleicht könnten sie sich mit Herrn Schönfelder gleich bekannt machen. Die Delegationen beider Seiten könnten übrigens auch über Möglichkeiten der finanziellen Unterstützung beraten. Letztlich gehe es nicht nur um die bilateralen deutschgeorgischen Beziehungen, sondern um die Heranführung Georgiens an Europa und die ganze westliche Welt überhaupt. Nach der Rückkehr werde der BM sicher gefragt werden, wie er die Möglichkeiten für die Stabilisierung der Lage in Georgien einschätze, wie hoch der Einfluss des früheren Präsidenten9 noch sei und wie die Aussichten auf baldige Wahlen im Lande stünden. Schewardnadse: Seine Antwort verstoße sicher gegen das Gebot der Bescheidenheit, aber in diesem Falle müsse er das in Kauf nehmen: In der noch kurzen Zeit seit seiner Amtsübernahme10 sei bereits eine Tendenz zur Stabilisierung erkennbar. Das Volk habe wieder neue Hoffnung geschöpft. 7 Zur Unterstützung der Bundesrepublik für Georgien vgl. Dok. 205. 8 Zur Koordinierungskonferenz für humanitäre Hilfe an die GUS-Mitgliedstaaten sowie an Georgien am 23./24. Mai 1992 vgl. Dok. 160. 9 Swiad Gamsachurdia. 10 BR I Stüdemann, Moskau, teilte am 12. März 1992 mit: „Eduard Schewardnadse ist am 10.3. in einer gemeinsamen Sitzung der Übergangsregierung Georgiens und ihres politischen Konsultativrates zum Vorsitzenden eines neugebildeten vierköpfigen Staatsrates ernannt worden. Bis zur Abhaltung allgemeiner Wahlen […] wird der Staatsrat die obersten Regierungs- und Legislativfunktionen ausüben. Der nach dem Sturz Präsident Gamsachurdias gebildete Militärrat wurde inzwischen aufgelöst. Der Staatsrat

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BM: Wir wollten dazu beitragen, dass diese Hoffnungen sich erfüllten. Schewardnadse: Er wolle dem BM in diesem Zusammenhang besonders für die Erklärung bei der Ankunft auf dem Flughafen danken. Der Einfluss des früheren Präsidenten sei nicht mehr besonders schwerwiegend. Man könne annehmen, dass noch ungefähr 10 bis 15 % des Volkes, die seine besonders fanatischen Anhänger gewesen seien, ihm auch heute noch anhingen. Der bewusste Teil der Bevölkerung jedoch werde sich für die Politiker entscheiden, die dem Volk den Weg zur Demokratie zeigen. In Georgien beginne jetzt die Vorbereitung für Wahlen. Am kommenden Dienstag11 werde mit der Beratung der Modalitäten für die Parlamentswahl begonnen. Da sich Georgien als eine künftige parlamentarische Republik verstehe, werde auch das Parlament zu entscheiden haben, ob es das Amt des Präsidenten weiterhin geben solle oder nicht. BM erkundigt sich nach dem Zeitpunkt der Wahl. Schewardnadse: Die Parlamentswahl sollte spätestens im Oktober abgehalten werden, eher sei es schwer zu machen.12 Das staatliche Leben müsse sich weiter normalisieren, Konfliktherde müssten beseitigt sein, eine relative Normalisierung der Situation müsse gesichert werden. Kommunalwahlen jedoch sollten schon vor Oktober abgehalten werden. Es stehe ganz außer Zweifel, dass Georgien den Weg zur Demokratie als den einzig möglichen betrachte, den man gehen wolle. Hierbei müssten ernsthafte ethnische Konflikte von Anfang an vermieden werden. Gegenwärtig lebten in Georgien 120 000 Flüchtlinge, die wegen ethnischer Zusammenstöße ihre Heimat verlassen hätten. Das georgische Volk verhalte sich gut zu diesen Menschen. Es scheine, als könne man in Georgien ein Modell für ethnische Versöhnung schaffen. Sollte es gelingen, in Georgien die Nationalitätenproblematik friedlich zu lösen, so werde dies eine große Bedeutung auch für Russland und die kaukasische Region haben. In Georgien würde gewissermaßen ein Labor für „Konfliktologie“ geschaffen. BM erkundigt sich nach dem Zeitpunkt für die Kommunalwahlen. Schewardnadse: Dafür könne man den Juli ins Auge fassen, ein Beschluss dazu liege jedoch noch nicht vor. BM: Er habe vor der Abreise viele Briefe und Anrufe erhalten, auch Anfragen seitens Abgeordneter oder von Pressevertretern hinsichtlich der Frage, ob es in Georgien nicht politische Haftfälle gäbe; es sei davon die Rede gewesen, dass auch Abgeordnete in Georgien aus politischen Gründen verhaftet worden seien. Schewardnadse: Es gebe in Georgien keine politischen Häftlinge, und es werde solche nicht geben. Er sei nicht genau informiert, wenn es jedoch Haftfälle bei Abgeordneten gebe – dabei könne es sich aber um nur wenige Personen handeln –, so seien diese Verhaftungen wegen der Unterschlagung staatlicher Gelder vorgenommen worden. Es gehe hier um Schädigung der Volkswirtschaft in Millionen- und Milliardenhöhe. BM: Er habe diese Frage nur gestellt, weil konkret von politischen Häftlingen in Georgien die Rede gewesen sei. Allgemein drücke sich in den Anfragen, die er bekommen habe, Fortsetzung Fußnote von Seite 451 erhebt den Anspruch, eine Art Regierung des nationalen Konsenses darzustellen.“ Vgl. DB Nr. 1175; B 41, ZA-Bd. 171737. 11 14. April 1992. 12 Am 11. Oktober 1992 fanden in Georgien Wahlen zum Parlament und zum Präsidentenamt statt.

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jedoch auch das Interesse daran aus, dass in Georgien auf dem Weg zur rechtsstaatlichen Ordnung die Menschen- und Minderheitenrechte geachtet würden.13 Schewardnadse: Der Herr BM könne versichert sein, dass es ein Problem politischer Häftlinge nicht gebe; das einzige, was hier nicht verziehen werden könne, sei Diebstahl am Volk und Unterschlagungsverbrechen gegen den Staat. In diesem Sinne würden auch starke Vorwürfe gegen den ehemaligen Präsidenten erhoben. Die georgische Führung sei durchaus bereit, zwecks Beobachtung der Menschenrechtssituation Beobachter des Europaparlaments einzuladen. BM: Eine Reihe von Schritten sollte möglichst schnell getan werden. In diesem Zusammenhang sei die Äußerung des Herrn Staatsratsvorsitzenden gut, dass eine Delegation europäischer Abgeordneter eingeladen werden solle. Es folgt eine Aufzählung von Angeboten des BM: a) Abschluss eines bilateralen Kulturabkommens, b) Möglichkeit der Teilnahme an der Stipendienvergabe durch den DAAD, c) Teilnahme am Programm der Aus- und Fortbildung für Fach- und Führungskräfte der Wirtschaft, d) georgische Teilnahme am Netz der Hochschulpartnerschaften, insbesondere zwischen der Technischen Universität Dresden, den Universitäten Halle, Jena und Saarbrücken einerseits sowie der Universität Tiflis andererseits. Die Ergebnisse dieses Besuchs würden nach der Rückkehr den Experten verschiedener Fachministerien zur Kenntnis gebracht, und entsprechend würde dann die Expertendelegation, die nach Georgien kommen solle, zusammengesetzt. Außerdem bestehe für Georgien auch die Möglichkeit, an einem Ausbildungsprogramm für junge Diplomaten aus den Nachfolgestaaten der ehemaligen UdSSR teilzunehmen. Im Zusammenhang mit all diesen Angeboten wolle er die praktische Bitte äußern, dem neuen deutschen Botschafter14 möglichst schnell die Aufnahme seiner Tätigkeit zu ermöglichen; es sei wichtig, jemanden am Ort zu haben, der all diese Vorhaben auf die richtigen Gleise bringen könne. Die deutsche Delegation habe ein Non-paper mitgebracht hinsichtlich der möglichen Nutzung des früheren deutschen Generalkonsulats. Die Bitte sei, festzustellen, ob dieses Gebäude auch heute noch geeignet sei und wieder zur Verfügung gestellt werden könne. Das Wichtigste sei jedoch nicht, dieses frühere Gebäude unter allen Umständen wieder zurückzuerhalten, sondern es komme darauf an, so schnell wie möglich eine funktionsfähige Vertretung Deutschlands einrichten zu können.15 13 An dieser Stelle wurde von BM Genscher gestrichen: „Nach der Antwort von Herrn Sch. sei für ihn die Angelegenheit geklärt.“ Vgl. Anm. 1. 14 Günther Dahlhoff. 15 OAR Wittek vermerkte am 16. April 1992: „Nach Unterlagen des Auswärtigen Amts befand sich das deutsche Generalkonsulat in Tiflis, das am 15.1.1938 geschlossen wurde, in dem Gebäude ulica Kolchizkaja 16 (früher ulica Loinadze 16). Dieses Gebäude war im Jahre 1927 vom Deutschen Reich gekauft worden. Laut Reichgrundbesitzverzeichnis des Auswärtigen Amts über Liegenschaften im Ausland (Stand: 13.3.1941) waren Grundstück und Gebäude dem Reich von der Regierung der UdSSR ohne zeitliche Begrenzung zur Benutzung überlassen worden.“ Bislang lasse sich jedoch „ein Gebäude unter der o. g. Straßenbezeichnung“ nicht identifizieren: Das georgische Außenministerium verorte das frühere deutsche Generalkonsulat an einem anderen Ort als die Stadtverwaltung von Tiflis. Vgl. B 41, ZABd. 171741.

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Schewardnadse: Zum letzten Punkt: Die georgische Seite arbeite bereits daran, hier alle Voraussetzungen zu schaffen. Das Non-paper werde auch beantwortet werden; man müsse feststellen, wie das genannte Gebäude jetzt genutzt werde. Es gebe jedoch schon praktische Lösungsvorschläge von georgischer Seite. Herr Sch. äußert seinen Dank für die geäußerten Vorschläge zur Zusammenarbeit. Er billige den Vorschlag zur Entsendung einer Expertendelegation nach Georgien voll und ganz; auch georgischerseits könnten die Gespräche umgehend aufgenommen werden. Besonders interessiert sei man an einer möglichst umgehenden Schaffung der Rahmenbedingungen, aufgrund derer man Auslandsinvestitionen erhalten könne. BM: Notwendig sei seitens Georgiens auch die verbindliche Klärung hinsichtlich der Teilnahme an der Haftung für Schulden der früheren UdSSR. Zwar habe sich Georgien dazu grundsätzlich positiv geäußert, es gehe jedoch darum, das Memorandum of Understanding vom 28.10.199116, das die Mehrheit der SU-Nachfolgestaaten unterzeichnet habe, auch für Georgien verbindlich zu machen. Nur dadurch werde es der Bundesregierung möglich, Ausfuhrgeschäfte mit Georgien durch staatliche Bürgschaften abzudecken. Schewardnadse: Georgien habe seine Zustimmung zum Inhalt des Memorandums gegeben, noch ausstehende Formalitäten stellten kein Problem dar. BM: Es sei wichtig, so schnell wie möglich die Voraussetzungen für eine Bundesdeckung für Ausfuhrgeschäfte zu schaffen, auch für die Zusammenarbeit mit dem IWF sei die georgische Unterschrift unter dem MoU entscheidend wichtig. Es gehe also um eine Unterschrift zwischen den ehemaligen Nachfolgestaaten der UdSSR, danach entfielen auf Georgien 1,62 % der Altschulden der UdSSR. Die zweite Unterschrift müsse unter dem Memorandum of Understanding zwischen den Nachfolgestaaten und der G 7 geleistet werden. Ein georgischer Vertreter habe im Oktober 1991 an den Beratungen teilgenommen, habe sogar Unterschriftsvollmacht gehabt, diese Unterschrift zur Verwunderung der anderen Teilnehmer jedoch nicht vollzogen. Herr Schönfelder könne in seinem Gespräch mit seinem georgischen Kollegen seinen Ratschlag anbieten, wie Georgien in dieser Frage am besten vorgehen könne. Georgien habe einen Antrag auf Aufnahme in den IWF gestellt17, dieser werde von Deutschland nachhaltig unterstützt. Er, der BM, rate ebenfalls sehr, eine Mitgliedschaft in der EBWE anzustreben. Es liege das Schreiben des Präsidenten dieser Bank18 vom 26.3. vor, mit dem Georgien zur Mitgliedschaft eingeladen werde.19 Diese Bank verfüge über viele für ihre Mitglieder mobilisierbare Mittel. Ebenfalls wolle er sehr raten zur Kontaktaufnahme mit dem Europarat, was auf dem Gebiet der Menschenrechte, des Aufbaus 16 Zum „Memorandum of Understanding“ vom 28. Oktober 1991 zur Regelung der Altschulden der ehemaligen UdSSR vgl. Dok. 17. 17 Mit Schreiben vom 10. März 1992 an IWF-Exekutivdirektor Camdessus beantragte der georgische MP Sigua die Mitgliedschaft seines Landes im IWF. Vgl. B 41, ZA-Bd. 171747. 18 Jacques Attali. 19 MD Chrobog vermerkte am 13. Mai 1992 zu den Beziehungen Georgiens zur Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung: „Georgien hat am 29.3. Antrag auf Mitgliedschaft gestellt. Zustimmung des Gouverneursrates wird voraussichtlich im Umlaufverfahren zügig erfolgen. Der Präsident der EBWE hat Georgien eine Quote von 0,1 % am Kapital der Bank vorgeschlagen. Von den 1000 Anteilen des zu zeichnenden Kapitals sind 300 in fünf Jahresraten einzuzahlen.“ Vgl. B 41, ZA-Bd. 171741.

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rechtstaatlicher Strukturen und des Rechtsprechungswesens sehr wichtig sei.20 Auch hier wolle D Georgien helfen, in dieses Gremium aufgenommen zu werden; dies werde für Georgien von großer Wichtigkeit sein. Wie gedenke Georgien sein Verhältnis zur GUS zu gestalten; sei an späteren Beitritt gedacht? Das hohe Ansehen, das Herr Sch. in Europa und der ganzen westlichen Welt genieße, werde alle diese Schritte zur Annäherung Georgiens an die europäischen und internationalen Institutionen sehr erleichtern. Schewardnadse: Alle diese Ratschläge seien sehr begründet, für die er herzlich danke. Alles, was Herr BM dazu gesagt habe, könne Georgien ohne Weiteres akzeptieren. Dieser Tage sei ja eine georgische Delegation in Deutschland gewesen, auch müsse die Entscheidung über die IWF-Mitgliedschaft bald fallen. Die deutsche Unterstützung sei hier sehr wertvoll. Der Brief des EBWE-Präsidenten sei in Georgien positiv aufgenommen worden; auch Kontakte zum Europarat gebe es schon. Was die Zugehörigkeit zur GUS betreffe, so werde sich Georgien nicht beeilen. Man wisse nicht, wie es in dieser Staatengemeinschaft weitergehe, auf jedem Fall habe Georgien zu Unionszeiten schon viel Schaden erlitten. Russland habe jetzt zu viel mit sich selbst zu tun und könne sich nicht darum kümmern, was aus Georgien und aus der GUS werde. Er, Sch., habe daher die Bitte, über all den Schritten, die zugunsten der GUS unternommen würden, Georgien nicht zu vergessen. BM unterstreicht das deutsche Interesse, die Annäherung Georgiens an Europa zu unterstützen. Schewardnadse: Was die Perspektive der Beziehungen angehe, so stelle sich die Frage, ob man nicht einen grundsätzlichen Vertrag über die bilateralen Beziehungen Deutschland – Georgien schließen solle? Wenn dieser Gedanke im Grundsatz für die deutsche Seite akzeptabel sei, so könne man ja eine bilaterale Kommission einsetzen, die ohne Hast und Übereilung an der Vorbereitung dieses Vertrags arbeiten könne. BM: D sei im Prinzip21 für den Abschluss eines umfassenden Vertrags22. Er, der BM, habe23 gemeinsam mit Herrn Sch. den von Herrn Toepfer, Hamburg, gestifteten KantPreis zugesprochen bekommen.24 Er selber habe diesen Preis schon entgegengenommen und hoffe, dass auch Herr Sch. diesen übrigens gut ausgestatteten Preis bald entgegennehmen könne. Vielleicht ließe sich dies in Verbindung mit einem Deutschland-Besuch machen. Herr Toepfer, der mit diesem Preis seinen Dank an beide Außenminister für ihren Beitrag zur deutschen Einheit habe abstatten wollen, meine, nicht mehr viel Zeit zu haben, er sei bereits 98 Jahre alt. 20 Referat 200 legte am 27. März 1992 dar, Georgien habe zwar im Dezember 1991 mit einem undatierten, nicht unterzeichneten Fernschreiben des Obersten Rats an das Europäische Parlament Interesse an einer Aufnahme in den Europarat bekundet, sei jedoch darauf nicht wieder zurückgekommen: „Die Parlamentarische Versammlung (PV) prüft gegenwärtig, ob und zu welchem Zeitpunkt Georgien der Sondergaststatus in der PV zuerkannt werden kann.“ Vgl. B 21, ZA-Bd. 184964. 21 Die Wörter „im Prinzip“ wurden von BM Genscher handschriftlich eingefügt. Vgl. Anm. 1. 22 An dieser Stelle wurde von BM Genscher gestrichen: „ ; nach diesem Besuch könne man in Verhandlungen dazu eintreten.“ Vgl. Anm. 1. 23 An dieser Stelle wurde von BM Genscher gestrichen: „ja“. Vgl. Anm. 1. 24 Zur Übergabe des Immanuel-Kant-Preises an BM Genscher am 9. März 1992 in Berlin vgl. Dok. 74, Anm. 21.

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Schewardnadse drückt seinen Dank für die Preisverleihung aus und meint, dass die Entgegennahme sich vielleicht mit einem Besuch kombinieren lasse.25 BM: Er meine, Herr Sch. solle diese Reise antreten, wenn es vor dem Hintergrund der inneren Entwicklung Georgiens am günstigsten wäre. Man werde sich nach den georgischen Erwägungen richten. Schewardnadse: Orientierungshalber komme die zweite Maihälfte infrage. Nach einer entsprechenden öffentlichen Erklärung über die bevorstehenden Wahlen lasse sich hoffen, dass ein ausreichender Stabilitätsgrad erreicht werde. BM weist zum Schluss des Vier-Augen-Gesprächs darauf hin, dass er es begrüßen würde, wenn Herr Sch. den Leiter der deutschen Sektion des WWF26 auf zehn bis zwanzig Minuten zu einem Gespräch einladen könne. Es werde um die Einrichtung von Naturschutzgebieten gehen, was sich schließlich günstig für künftigen Georgien-Tourismus auswirken könne.27 B 41, ZA-Bd. 171741

25 Der georgische Präsident Schewardnadse hielt sich vom 23. bis 26. Juni 1993 in der Bundesrepublik auf. Vgl. AAPD 1993. In der Presse wurde berichtet, am 26. Juni 1993 erhalte er „den mit 100 000 Mark dotierten ImmanuelKant-Preis“ der Hamburger Alfred Toepfer Stiftung, wobei der ehemalige BM Genscher die Laudatio halte. Vgl. den Artikel „Preis für Schewardnadse“; TAZ vom 9. Juni 1993, S. 20. 26 Carl-Albrecht von Treuenfels. 27 MD Chrobog unterrichtete am 13. Mai 1992 über die „operative Umsetzung“ der beim Besuch des BM Genscher am 12./13. April 1992 in Georgien behandelten Themen. Der georgische Staatsratsvorsitzende Schewardnadse habe inzwischen den Immanuel-Kant-Preis der Hamburger Alfred Toepfer Stiftung angenommen, die Präzisierung eines Besuchstermins in Deutschland stehe aber wegen der instabilen Lage in Georgien weiter aus. Dem im Prinzip vereinbarten „Abschluss eines politischen Vertrages“ solle zunächst „eine Gemeinsame Erklärung“ vorangehen, über die Verhandlungen aber frühestens nach den Wahlen in Georgien im Herbst abgeschlossen werden könnten. Auch im Bereich der Rechtsstaatlichkeitshilfe, der Kulturbeziehungen, der Aus- und Weiterbildung sowie humanitärer und finanzieller Hilfsmaßnahmen seien entsprechende Kontakte eingeleitet worden. Vgl. B 41, ZABd. 171741.

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107 Vermerk des Vortragenden Legationsrats I. Klasse Kaufmann-Bühler 410-350.00/1-3

13. April 19921

Gesprächsteilnehmer: BM, StS L2, D 23, D 44, RL 4105, L 0106, VLR Dr. Wittig (010); BMJ Dr. Kinkel, PStS Funke, MD Heyde, RD Hilgendorf-Schmidt; MdB Dr. Däubler-Gmelin, stv. Fraktionsvorsitzende SPD-BT-Fraktion, MdB Wieczorek-Zeul. Betr.:

Ratifizierung ER Maastricht7

Hauptthemen des Gesprächs waren die Ratifizierung des Vertrags über die Europäische Union und die hierbei notwendigen Verfassungsänderungen, namentlich bei Art. 24 GG, die Unterrichtung über den Stand des Verfahrens, das Interesse der SPD an rechtzeitiger Beteiligung an diesem Prozess, Out-of-area-Einsatz der Bundeswehr, Bedeutung einer BTEntschließung bei Ratifizierung insbesondere für Eintritt in dritte Stufe WWU und EGErweiterung. BM erläutert Stand und Zeitplan der Ratifizierung: Kabinettvorlage liege seit längerer Zeit vor, er hoffe auf Kabinettsbefassung Ende April.8 StS L. ergänzt: BR am 5.6., um erste Lesung im BT vor Sommerpause zu ermöglichen. Ziel jedenfalls Abschluss Ratifizierung in 92. D-G9 verweist auf Anhörung der Verfassungskommission10 am 22.5. und abschlie1 Der Vermerk wurde von VLR I Kaufmann-Bühler am 13. April 1992 über MD Dieckmann und StS Lautenschlager an BM Genscher geleitet „m[it] d[er] B[itte] um Billigung des Vermerks und seiner Verteilung“. Hat Dieckmann am 14. April 1992 vorgelegen. Hat Lautenschlager am 15. April 1992 vorgelegen, der handschriftlich einen kleinen Verteiler verfügte: „(D 2, D 4, D 5)“. Hat Genscher am 20. April 1992 vorgelegen. Hat OAR Rehlen am 21. April 1992 vorgelegen, der den Rücklauf über das Büro Staatssekretäre und Dieckmann an Referat 410 verfügte. Hat StS Kastrup am 22. April 1992 vorgelegen. Hat Dieckmann am 22. April 1992 erneut vorgelegen. Hat Kaufmann-Bühler am 24. April 1992 erneut vorgelegen. 2 Hans-Werner Lautenschlager. 3 Jürgen Chrobog. 4 Heinrich-Dietrich Dieckmann. 5 Werner Kaufmann-Bühler. 6 Thomas Matussek. 7 Zur Tagung des Europäischen Rats am 9./10. Dezember 1991 vgl. AAPD 1991, II, Dok. 425 und Dok. 431. Zum Vertragswerk von Maastricht vgl. Dok. 3, Anm. 8. 8 Zur Befassung des Kabinetts mit dem Vertragswerk von Maastricht vgl. Dok. 234. 9 Herta Däubler-Gmelin. 10 Am 28. November 1991 beschloss der Bundestag und am Folgetag der Bundesrat die Einsetzung einer Gemeinsamen Verfassungskommission aus Mitgliedern des Bundestags und des Bundesrats, um sich gemäß Artikel 5 des Einigungsvertrags vom 31. August 1990 „mit den im Zusammenhang mit der deutschen Einigung aufgeworfenen Fragen zur Änderung oder Ergänzung des Grundgesetzes zu befassen“, insbesondere dem Bund-Länder-Verhältnis, einer möglichen Neugliederung für den Raum Berlin–Brandenburg, weiteren Staatszielbestimmungen und der Anwendung des Artikels 146 GG. Am 16. Januar 1992 konstituierte sich die Gemeinsame Verfassungskommission unter dem gleichberechtigten Vorsitz des

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ßende Beratung in der Verfassungskommission am 4.6. Auf Frage W-Z11 erläutert BMJ Kinkel die Arbeitskreise bei FDP (unter seinem Vorsitz) und CDU, die noch zu keiner Endkoordinierung gekommen seien, und Begrenzung in Kabinettvorlage auf das derzeitig Notwendige bei Artikel 28 und 88, auch wenn zwangsläufig eine Koppelung mit Artikel 24 bestehe. D-G wirft Frage einer Öffnungsklausel bei Art. 28 GG auf, durch die den Ländern, die es wünschten, die Zulassung von Türken zu Kommunalwahlen eröffnet würde. BMJ antwortet, die Frage sei angedacht worden, mit CDU aber nicht machbar. Zur Frage eines neuen Art. 23 bzw. 24 a zu Hoheitsübertragungen im EG-Bereich erklärte D-G, dass sie Bewegung bei der Union feststelle; SPD denke in ähnlicher Richtung. Ob auch diese Frage im Mai/Juni lösbar sei? BM antwortet, dies könne auch später sein. Denkbar sei Zuleitung der Vorlage in jetziger Form an BR mit einem Begleitschreiben, in dem auf grundsätzliche Bereitschaft des Bundes, Länderanliegen bei Art. 24 in gewissem Umfang zu berücksichtigen, verwiesen werde. D-G zeigt sich hierüber zufrieden; man solle jetzt nicht zu viel festlegen. Es bestehe beträchtlicher Gesprächsbedarf, auch im Detail. Sie bittet BMJ um rechtzeitige Überlassung von Texten, insbesondere zu Art. 24, vor Festlegung innerhalb Koalition. StS L. Hinweis, dass Bund mit einem Verzicht auf Änderung des Art. 109 GG den Ländern bereits erheblich entgegengekommen und die Frage einer Änderung von Art. 24 noch nicht entschieden sei. BM wirft Frage der Handlungsfähigkeit einer jeden Bundesregierung auf. StS L. erwähnt Gefahr von Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht bei Fixierung der Länderbeteiligungsrechte in der Verfassung. Übereinstimmung darüber, die Länder bei künftigen Hoheitsübertragungen im EGBereich im Bundesratsverfahren (Mehrheitsentscheidung!) zu beteiligen und dies im GG zu fixieren, nach AA-Ansicht in Art. 24 Abs. 1. BM macht deutlich, dass Regelung zu beschränken sei auf Angelegenheiten, bei denen Länder in ihren Kompetenzen betroffen seien, jedenfalls kein Bundesratsvotum, wenn eindeutig der Bund betroffen ist, z. B. bei GASP. D-G grundsätzlich zustimmend. BMJ Kinkel fragt SPD nach Haltung zu Beteiligungsvorbehalt hinsichtlich des Bundestags, solange Gesetzgebungsrechte noch nicht voll beim EP liegen. D-G antwortet, dies sei eine der Möglichkeiten. SPD sehe acht bis neun größere Probleme, wolle aber keine Festlegungen im Vorhinein treffen, insbesondere nicht vor Anhörung in Verfassungskommission. StS L. verweist darauf, dass eigene Ländervertretungen unvereinbar mit Außenvertretungsrecht des Bundes nach Art. 32 GG wären.12 BMJ zustimmend. Zum Out-of-area-Einsatz der Bundeswehr fragt W-Z, ob Äußerung MdB Lamers, wonach der EU-Vertrag eine Änderung des Bundeswehrauftrags bewirkt habe13, im AA geteilt werde. BM verneint dies unter Hinweis auf seine Rede in Koblenz vor Führungsakademie Fortsetzung Fußnote von Seite 457 MdB Scholz (CDU) und des Ersten Bürgermeisters von Hamburg, Voscherau (SPD). Vgl. BT DRUCKSACHEN, Nr. 12/6000, S. 5. 11 Heidemarie Wieczorek-Zeul. 12 Zum Bund-Länder-Verhältnis im Bereich der Auswärtigen Beziehungen vgl. AAPD 1988, II, Dok. 241. Zu den Verfassungsänderungswünschen der Bundesländer vgl. Dok. 102, Anm. 22. 13 Zu den Äußerungen des außenpolitischen Sprechers der CDU/CSU-Fraktion vgl. den Artikel „Lamers: Deutschland muss seine Sonderrolle beenden“; FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG vom 23. März 1992, S. 6.

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der Bundeswehr und zitiert aus Rede.14 Institutionell und völkerrechtlich könne in Verteidigungsfragen kollektiv nicht weiter gegangen werden, als jeder Staat es individuell tun könne. Dies heiße Ja zur Selbstverteidigung und Ja zur Autorisierung von Einsätzen durch den VN-SR. Die Meinung, dass EU-Vertrag in die Lage versetzen könne, ohne Sicherheitsrat zu handeln, bezeichnet BM als abwegig. W-Z: Dies ist für uns die wichtigste Frage. Zum Ausbau der EP-Rechte erläutert BM die in Maastricht erreichten Fortschritte, die aber nicht ausreichend seien. Allerdings gehe es nicht nur um eine Stärkung der Rechte des EP, auch die Wahlen müssten künftig „gleicher“ sein. Allerdings schaffe EG-Vertrag keine Grundlage für gleiche Wahlen. Begünstigt würden die kleineren Länder, wie auch in D im Bundesrat (Parenthese: BM kritisiert Haltung der Länder, den Regionalausschuss ausschließlich mit Ländervertretern und nicht auch mit Kommunalvertretern zu beschicken). Auch die 18 zusätzlichen deutschen MdEP15 würden das Problem unterschiedlichen Stimmengewichts nicht lösen. StS L. ergänzt, dass ein gleiches Wahlrecht in Reinkultur nicht zu erreichen sei. Auf Frage von D-G erläutert BM, dass ein fester Plan nicht bestehe. Ziel sei ein EP mit allen Rechten eines Parlaments. Auf Frage W-Z eines Vorziehens der 96er Regierungskonferenz16 auf 94 stellt BM klar, dass erst ratifiziert werden müsse, dass unmittelbar nach Ratifizierung Aufgabe der deutschen Außenpolitik sein müsse, weitere Integrationsfortschritte in der EG zu thematisieren. Er habe keine Einwendungen gegen eine17 Entschließung18 bei der Ratifizierung. Die Frage sei aber, wann weiterführende Ziele operativ in der EG betrieben werden sollen. StS L. verweist auf die 1992 anstehenden Aufgaben, insbesondere die 18 MdEP, warnt vor spektakulärer, allzu früher Regierungskonferenz. GB-Entgegenkommen sei nach Wahlausgang19 nicht zu erwarten. Beitrittsverhandlungen seien Möglichkeit, dass Rat („mit anderem Hut“) institutionelle Fragen parallel aufgreife. Die Regierungskonferenz für 96 müsse schon in 95 vorbereitet werden. W-Z verweist auf die Alternative eines Verfassungsentwurfs des EP. W-Z: Entschließung BT/BR sei wichtig, insbesondere im Hinblick auf erneute Befassung vor dritter Stufe WWU und Akzeptanz in der Bevölkerung. Auf Frage BM, ob SPD Unwiderruflichkeit der WWU infrage stellen wolle, stellt W-Z klar, rechtlich sei dies nicht beabsichtigt; politisch müsse aber WWU im Augenblick des Eintritts in die Endstufe in D akzeptabel sein. D-G ergänzt, es gehe um eine politische Bewertung, in dem Maße, in dem Bundesregierung bewerten könne. BM erklärt, er hoffe, dass es nicht zu einer Kontroverse zwischen Bundesregierung und BT komme. Die politische Diskussion halte auch er für wichtig, schon zur Beruhigung der Öffentlichkeit. Im Zusammenhang mit Beitrittsdiskussion meint W-Z, es sollten nicht zu viele Hoffnungen geweckt werden, die später zu Enttäuschungen führen würden. BM erläutert, dass die Perspektive des EG-Beitritts infrage kommt für die Baltenstaaten20, Nachfolge14 Für die Rede des BM Genscher am 7. April 1992 vor dem „Zentrum Innere Führung“ der Bundeswehr vgl. Mitteilung für die Presse Nr. 1065/92; B 7, ZA-Bd. 179088. 15 Zur Frage der Erhöhung der Zahl der Mitglieder des Europäischen Parlaments vgl. Dok. 78, Anm. 10. 16 Zur Überprüfungskonferenz für das Vertragswerk von Maastricht vgl. Dok. 86, Anm. 21. 17 An dieser Stelle wurde von MD Dieckmann handschriftlich eingefügt: „entsprechende“. 18 An dieser Stelle wurde von MD Dieckmann handschriftlich eingefügt: „des Parlaments“. 19 In Großbritannien fanden am 9. April 1992 Wahlen zum Unterhaus statt, bei denen die regierende Konservative Partei unter PM Major erneut die Mehrheit der Sitze gewann. 20 Dieses Wort wurde von MD Dieckmann gestrichen. Dafür fügte er handschriftlich ein: „baltischen Staaten“.

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14. April 1992: Kohl an Levy

staaten Jugoslawien, MOE, Bulgarien und Rumänien, nicht dagegen für die Nachfolgestaaten SU. Er stimme mit BK hierin überein, warne aber davor, das Tor zuzumachen21. Auf dem ER Lissabon22 sei zu sagen, was nötig sei, insbesondere auch im Hinblick auf die Institutionen, deren Reform durchzuführen sei (im Übrigen auch bei zwölf MS), z. B. dass nicht jedes Land stets einen Kommissar stellen müsse. Den von ihm genannten Beitrittsaspiranten sei die europäische Option anzubieten, um der Gefahr der nationalistischen Option entgegenzuwirken. Lange Übergangsfristen seien nötig. D treffe eine besondere politische Verantwortung für die Länder Mittel- und Südosteuropas. Andere Partner in der Gemeinschaft sähen nur ihren eigenen Vorteil. Auf W-Z-Einwand, europäische Option müsse nicht Beitritt sein, entgegnet BM, dass Beitrittsperspektive für viele der unabhängig gewordenen Länder die einzig mögliche Antwort sei. Kaufmann-Bühler B 210, ZA-Bd. 176310

108 Schreiben des Bundeskanzlers Kohl an den israelischen Außenminister Levy 14. April 19921 Sehr geehrter Herr Außenminister, haben Sie Dank für Ihre Schreiben vom 11. Februar an mich und an Außenminister Genscher, in denen Sie die Bundesregierung gebeten haben, die deutsch-israelischen Finanzgespräche2 mit dem Ziel eines erfolgreichen Abschlusses wiederaufzunehmen.3 Wir sind uns der Bedeutung der Aufgabe für den Staat Israel bewusst, eine so große Zahl von Einwanderern aus der ehemaligen Sowjetunion in Ihrem Lande aufzunehmen. 21 Der Passus „warne aber davor, das Tor zuzumachen“ wurde von MD Dieckmann gestrichen. 22 Zur Tagung des Europäischen Rats am 26./27. Juni 1992 vgl. Dok. 201. 1 Kopie. MD Hartmann, Bundeskanzleramt, notierte am 16. April 1992, er habe am Vortag dem israelischen Botschafter Navon das Schreiben des BK Kohl vom 14. April 1992 an AM Levy überreicht. Dabei habe er weisungsgemäß verdeutlicht, „dass wir in der Frage der Kreditbürgschaften auf die amerikanische Haltung Rücksicht nehmen wollen“. Navon habe daraufhin angeregt, „nach den Parlamentsferien und der Regierungsbildung in Israel noch einmal auf die […] Frage einer weiteren Gesprächsrunde im Lichte der Entwicklung“ zurückzukommen. Vgl. B 36, ZA-Bd. 185342. 2 Zu den deutsch-israelischen Finanzbeziehungen vgl. Dok. 37. 3 Am 13. Februar 1992 übermittelte der israelische Botschafter Navon BM Genscher ein Schreiben des israelischen AM vom 11. Februar 1992, in dem Levy über seinen Besuch in der Volksrepublik China vom 22. bis 25. Januar 1992 und am 28./29. Januar 1992 in Russland anlässlich der multilateralen NahostFriedenskonferenz in Moskau informierte. Beigefügt war zudem Levys Schreiben an BK Kohl vom selben Tag, in dem um Wiederaufnahme der bilateralen Finanzgespräche gebeten wurde. Vgl. B 36, ZABd. 185342.

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Die Heimkehr von Juden nach Israel, dem Land der Väter, wird in Deutschland mit Verständnis und Sympathie verfolgt. Meine Regierung ist im Rahmen ihrer Möglichkeiten bereit, Israel bei der wirtschaftlichen Eingliederung der Einwanderer zu helfen. Diese grundsätzliche Haltung, welche ich bereits bei Ihrem Besuch in Bonn am 15. März 1991 dargelegt habe4, sowie das deutsche Verständnis für die israelischen Probleme hat die deutsche Seite in den deutsch-israelischen Finanzierungsgesprächen klar zum Ausdruck gebracht. Wie Sie wissen, hat die Bundesregierung bei der Verhandlungsrunde am 2. Oktober 1991 ein konkretes Angebot für weitere deutsche finanzielle Hilfen an Israel unterbreitet.5 Es wurde jedoch von israelischer Seite als unzureichend abgelehnt. Schon dieses Angebot ist der Bundesregierung nicht leichtgefallen. Die Bundesrepublik Deutschland ist nicht nur durch den deutschen Einigungsprozess mit besonderen wirtschaftlichen und finanziellen Problemen konfrontiert. Auch durch die historischen Veränderungen in der ehemaligen Sowjetunion und den Staaten Mittel- und Osteuropas sind auf Deutschland Aufgaben und Belastungen zugekommen, welche seine Wirtschafts- und Finanzkraft bereits jetzt spürbar belasten. Eine Verminderung oder gar ein Ende dieser ungeheuren Anforderungen an uns ist nicht in Sicht. Im Gegenteil zeichnet sich ab, dass von der Bundesrepublik Deutschland auf absehbare Zeit weitere erhebliche Leistungen abverlangt werden. Der Erfolg des Umstrukturierungsprozesses in Osteuropa, von dem die Stabilität der ganzen Region entscheidend abhängt, liegt im Interesse aller Staaten und des Friedens in der Welt. Auch die Notwendigkeit, meinen Landsleuten in den fünf neuen Bundesländern zu helfen, ist für die Bundesregierung unabweisbar. Vier Jahrzehnte sozialistischer Misswirtschaft haben dort ein bedrückendes Erbe hinterlassen. Das wirkliche Ausmaß der wirtschaftlichen, sozialen, ökologischen und menschlichen Probleme wird erst jetzt zunehmend deutlich. Wer den inneren Frieden im geeinten Deutschland sichern will, muss sich diesen Aufgaben mit ganzer Kraft zuwenden. Ich bin auf diese zunehmend schwierige Haushalts- und Finanzlage so ausführlich eingegangen, um deutlich zu machen, dass es der Bundesregierung nicht möglich sein wird, über das seinerzeit unterbreitete Angebot hinauszugehen. Was die Frage einer weiteren Gesprächsrunde anbetrifft, so ist die Bundesregierung grundsätzlich dazu bereit, die Gespräche zu gegebener Zeit fortzuführen. Zugleich bitte ich um Verständnis dafür, dass wir bei der weiteren Behandlung dieser Frage ihre internationalen Zusammenhänge in unsere Überlegungen einzubeziehen haben. Mit freundlichen Grüßen Kohl6 B 36, ZA-Bd. 185342

4 Zum Besuch des israelischen AM Levy vom 13. bis 15. März 1991 vgl. AAPD 1991, I, Dok. 92 und Dok. 93. 5 Zu den deutsch-israelischen Gesprächen über Finanzhilfe vgl. AAPD 1991, II, Dok. 331. 6 Paraphe.

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14. April 1992: Vorlage von Bertram

109 Vorlage des Vortragenden Legationsrats I. Klasse Bertram für Bundesminister Genscher 201-360.92 EK VS-NfD

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Über Dg 202, D 23, Herrn Staatssekretär4 Herrn Bundesminister5 Betr.:

Aufstellung eines gemeinsamen deutsch-französischen Korps („Euro-Korps“); hier: Berichtsentwurf der Verteidigungsminister zur Vorlage an den deutschfranzösischen Gipfel am 22.5.926

Bezug: Vorlage 201 vom 31.3.92 – 360.92 EK7 Anlg.: 28 Zweck der Vorlage: Kenntnisnahme und Billigung des Berichtsentwurfs als Grundlage für die weitere Arbeit an der Endfassung 1) Vom 6. bis 9.4. fand in Hamburg die vierte Arbeitssitzung (Seminar) der um Mitglieder der beiden Außenministerien erweiterten Arbeitsgruppe der D/F-Verteidigungsministerien statt. Arbeitsziel war es, auf der Grundlage der bereits vorliegenden Arbeitsergebnisse den Bericht der Verteidigungsminister an die Staats- und Regierungschefs für den deutschfranzösischen Gipfel (21./22. Mai 1992) in einem ersten Gesamtkonzept fertigzustellen (Berichtsentwurf vergleiche Anlage 19). 2) Es wurde Einvernehmen erzielt sowohl für den gesamten Text als insbesondere auch für die für die Aufstellung des Korps bisher strittigen Grundsatzfragen – Aufträge, – Unterstellungsverhältnisse, – NATO-Bindung. 1 2 3 4

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Die Vorlage wurde von VLR Wenzel konzipiert. Hat MDg Hofstetter am 14. April 1992 vorgelegen. Hat MD Chrobog am 14. April 1992 vorgelegen. Hat StS Kastrup am 24. April 1992 vorgelegen, der handschriftlich vermerkte: „Ich halte die jetzt gefundene Formel für die Aufträge für vertretbar. Sie wahrt m. E. unsere Interessen. Ich verweise dazu auch auf den beigefügten DB 1042 aus Paris.“ Vgl. Anm. 19. Hat BM Genscher am 23. April 1992 vorgelegen. Hat OAR Rehlen am 23. April 1992 vorgelegen, der den Rücklauf über das Büro Staatssekretäre, MD Chrobog und MDg Hofstetter an Referat 201 verfügte. Hat Chrobog am 27. April 1992 erneut vorgelegen. Hat in Vertretung Hofstetters VLR I Nestroy am 28. April 1992 vorgelegen. Die deutsch-französischen Konsultationen fanden am 21./22. Mai 1992 in La Rochelle statt. Vgl. Dok. 142 und Dok. 144. Für die Vorlage des VLR I Bertram vgl. Dok. 91. Vgl. Anm. 9 und 10. Dem Vorgang beigefügt. Für den ersten, deutsch-französisch abgestimmten Entwurf (Stand: 9. April 1992) des Berichts „des deutschen und des französischen Verteidigungsministers an den Deutsch-Französischen Verteidigungs- und Sicherheitsrat über Vorschläge zur Aufstellung eines Europäischen Korps“ vgl. B 14, ZA-Bd. 161201.

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Über ihre fachspezifische Bedeutung hinaus haben gerade diese Fragen teils innenpolitische, teils bündnispolitische und damit außenpolitische Relevanz (hierzu ausführlich vergleiche Bezugsvorlage in Anlage 210). 3) Aufträge (Ziffer B.1.1 des Berichtsentwurfs) Die Formulierung der Aufträge orientiert sich an dem Wortlaut aus dem Zwischenbericht der Verteidigungsminister vom 28. November 1991 in der von Ihnen geforderten Fassung11 mit einem von uns nachdrücklich verlangten Verfassungsvorbehalt. Zur Verdeutlichung seiner durchgängigen Geltung ist der Verfassungsvorbehalt mit folgender Formulierung als „Regelung vor der Klammer“ in den Vorspann für die Aufträge gezogen worden: „...unter Wahrung der nationalen verfassungsrechtlichen Grenzen ...“ – Neu aufgenommen wurde ebenfalls in den die Aufträge definierenden und interpretierenden Vorspann auf ausdrücklichen Wunsch des französischen Außenministeriums die Verpflichtung, dass die Aufträge für den Einsatz des Korps erfolgen „unter Wahrung der Bestimmungen der Charta der Vereinten Nationen ...“ Wir haben dieser Festlegung in Umsetzung Ihrer entsprechenden Ausführungen vor dem Zentrum Innere Führung in Koblenz am 7.4.9212 ad referendum zugestimmt. In Gesprächen am Rande wies die französische Seite erläuternd darauf hin, dass sie mit ihrem Vorschlag, den VN-Bezug nach oben zu ziehen, zwei Ziele verfolge: – Beendigung der bislang eine Einigung ausschließenden Diskussion über die von F zunächst gewünschte Aufnahme der Politischen Union in die Auftragsformulierung; – Offenhalten der Möglichkeit von friedenserhaltenden Maßnahmen ohne Beschluss des Sicherheitsrats als Maßnahme der friedlichen Streitbeilegung nach Kapitel VI der VN-Charta13 (vergleiche Aufzeichnung Referat 500-501.03 vom 10.4.92, die die Möglichkeit bejaht, dass die Politische Union oder jede andere Gruppe von Staaten im allseitigen Einverständnis Friedenstruppen zur Erhaltung des Friedens aufstellen und entsenden kann14). – In den Vorspann aufgenommen wurde weiter die der französischen Seite unverzichtbare Feststellung, dass „die Aufträge des Euro-Korps in der Perspektive einer Europäischen Union stehen“. Fallengelassen wurde dafür in den Aufträgen die von Ihnen beanstandete und seinerzeit vorgesehene ausdrückliche Einsatzmöglichkeit des Euro-Korps bei der Aufrechterhaltung und Wiederherstellung des Friedens „auf der Grundlage von Richtlinien der Politischen Union“. In Gesprächen am Rande distanzierten sich die Vertreter des französischen Außenministeriums nachdrücklich von der Kritik des französischen Verteidigungsministers Joxe gegenüber BM Stoltenberg, wonach die ausdrückliche Erwähnung der „Politischen 10 Dem Vorgang beigefügt. Vgl. Anm. 7. 11 Zum „Zwischenbericht des französischen und deutschen Verteidigungsministers an den deutschfranzösischen Rat für Verteidigung und Sicherheit“ vom 28. November 1991 sowie den Vorbehalten von BM Genscher vgl. Dok. 91, Anm. 12. 12 Für die Rede des BM Genscher am 7. April 1992 vgl. Mitteilung für die Presse Nr. 1065/92; B 7, ZABd. 179088. 13 Für Kapitel VI der VN-Charta vom 26. Juni 1945 vgl. BGBl. 1973, II, S. 454–459. 14 Für die Vorlage des VLR I Hilger vgl. B 80, Bd. 1407.

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Union“ in den Aufträgen unerlässlich sei für die Verwirklichung der europäischen Option des Korps. Diese Intervention von VM Joxe sei nicht mit dem Quai abgestimmt gewesen. Sie sei ungeschickt und werde vom Quai auch in der Sache nicht geteilt. Im Quai verstehe man, dass für uns die Streichung der „Politischen Union“ erforderlich sei zur Verdeutlichung unserer verfassungsrechtlichen Schranken und nicht gedacht sei als Absage an das für die französische Seite unverzichtbare Bekenntnis zur europäischen Perspektive für gemeinsames Handeln. Aber ohne Hinweis auf die Politische Union würde der NATO – zumindest optisch – eine Präferenz eingeräumt, die in Frankreich nicht akzeptabel sei. Wir haben die Beseitigung dieses offensichtlichen Missverständnisses über unsere Beweggründe begrüßt und Übereinstimmung festgestellt mit der von Frankreich vertretenen europäischen Perspektive für Aufstellung und Einsatzmöglichkeiten des Korps. Diese europäische Präferenz kommt ein weiteres Mal deutlich zum Ausdruck bei der Darstellung der Ausführung der Aufträge (Seite 7, Ziffer B.3.2.1), wonach der Einsatz des Korps im Rahmen der WEU Priorität habe. – Aus Gesprächen am Rande mit den Vertretern des französischen Außenministeriums wurde außerdem unzweideutig klar, dass zumindest im Quai keine Einwände dagegen erhoben werden, dass der Bericht auf unsere verfassungsrechtlichen Schranken für die Einsatzmöglichkeiten hinweist sowie weiter, dass die französische Seite von einem Fortbestehen dieser verfassungsrechtlichen Schranken für die deutschen Truppenteile des Euro-Korps über den Zeitpunkt des deutsch-französischen Gipfels (Mai 1992) hinaus ausgeht. Forderungen, wie sie von französischer militärischer Seite im Vorfeld der Tagung der Arbeitsgruppe erhoben wurden, nämlich die verfassungsrechtlichen Schranken auf deutscher Seite bis zum Gipfeltreffen im Mai aufzuheben, wurden nicht wiederholt und von den Vertretern des französischen Außenministeriums als unrealistisch abgetan. Wir sehen hierin ein Ergebnis Ihres Gesprächs mit Außenminister Dumas vom 12.3.92 in Paris.15 4) Unterstellungsverhältnisse (Struktur /Organisation) (Ziffer B.2 des Berichtsentwurfs) Die für den Berichtsentwurf gefundenen Formulierungen sind das Ergebnis intensiver Verhandlungen, die schließlich dazu führten, dass Frankreich von seiner Maximalforderung, d. h. Aufgabe der NATO-Assignierung für die deutschen Truppenteile des Korps, abrückte. Die jetzt gefundene Formulierung bringt (in militärischer Fachsprache) deutlich zum Ausdruck, dass die deutschen Truppenteile wie bisher der NATO assigniert bleiben und zusätzlich dem Euro-Korps – allerdings mit europäischem Einsatzvorrang – zugeordnet werden. Dieses Verhandlungsergebnis ist nach Einschätzung des BMVg, die von uns geteilt wird, mit unseren Bündnisverpflichtungen voll kompatibel und sollte keinen begründeten Anlass für bündnispolitische Schwierigkeiten geben. Französische Gesprächspartner aus dem Außenministerium gaben uns auf persönlicher Basis zu verstehen, dass Frankreich von der eigentlich gewünschten Aufhebung der NATO-Assignierung der deutschen Truppenteile für das Korps und ihrer unmittelbaren und ausschließlichen Unterstellung unter den Korpskommandeur in dem Verständnis eines politischen „Tauschgeschäfts“ abgerückt sei. Frankreich vollziehe einen politisch nicht einfachen Positionswechsel, indem es durch Teilnahme an dem Euro-Korps 15 Für das Gespräch vgl. Dok. 78.

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– seine Truppen (im Korps) wieder militärisch integriere16 und – durch die gemeinsam vorgesehene Einsatzmöglichkeit des Korps auch „für die gemeinsame Verteidigung der Verbündeten entsprechend Artikel V des Washingtoner Vertrags“17 wieder eine vertragliche Verbindung zur NATO herstelle. Die bislang über die erste französische Armee bestehende Vertragsabsprache mit der NATO entfällt mit der Auflösung dieser Armee und ihrem bereits begonnenen Abzug aus Deutschland. Dieser Positionswechsel sei für Frankreich innenpolitisch nur möglich, wenn es nachweisen könne, dass mit der Aufstellung des Korps ein deutlicher Fortschritt in Richtung auf eine europäische Verteidigung erreicht worden sei. Die europäische Perspektive und Einsatzpräferenz des Korps im europäischen Rahmen müsse deshalb in dem Bericht klar zum Ausdruck gebracht werden. 5) NATO-Bindung Frankreich hat akzeptiert und trägt die einschlägigen Formulierungen des Berichtsentwurfs mit, dass das Euro-Korps im NATO-Rahmen eingesetzt wird. Die Verbindung zur NATO im Einzelnen muss durch eine Vereinbarung für den Einsatz des Korps im NATO-Rahmen geregelt werden. Einzelheiten sind nicht Gegenstand des vorliegenden Berichtsentwurfs. Sie müssen zu einem späteren Zeitpunkt ausgearbeitet werden. Festgelegt wurde allerdings bereits jetzt, dass das Korps aus Gründen politischer Optik vorrangig als Ganzes eingesetzt wird. Die im Berichtsentwurf bereits enthaltenen Bestimmungen, wer als Vertragschließender später auftritt, sowie die ausführlichen Regelungen über die Zuständigkeit des Korps-Kommandeurs sind nach Einschätzung des BMVg sachgerecht und wahren die deutsche Position, wonach die deutschen Truppenteile des Korps grundsätzlich ihre NATO-Assignierung beibehalten und außer im Fall eines Einsatzes national unterstellt bleiben. Diese Regelung wahrt unsere Verpflichtungen gegenüber dem Bündnis und gibt keinen Anlass zu Bedenken aus der Sicht des Auswärtigen Amts. 6) Weitere Behandlung des Berichtsentwurfs Der Teil des Berichtsentwurfs zu den Aufträgen wurde von uns geklammert (Vorbehalt einer politischen Entscheidung). Der Berichtsentwurf im Übrigen wurde von den beiden Arbeitsgruppen auf Arbeitsebene ad referendum angenommen. Er wird noch ergänzt durch organisatorische, administrative, technische etc. Einzelheiten für die Aufstellung des Korpsstabes sowie der Truppenteile und ihrer Gliederung und Stärke. Hierbei handelt es sich um rein militärische Sachfragen, die auf beiden Seiten von einschlägigen Experten behandelt werden. Ihre Ergebnisse sollen dem Bericht als Anlagen beigefügt werden. Bereits Ende April soll der Berichtsentwurf statutengemäß in den Gremien der deutschfranzösischen militärischen Zusammenarbeit beschlussreif gemacht werden zur Vorlage über das Ratskomitee (AM und VM) an den Rat. Der deutsch-französische Ausschuss (Ebene Politische Direktoren/Generalinspekteur) wird ihn in seiner Sitzung am 30.4. behandeln.18 In der Arbeitsgruppe wurde vereinbart, dass beide Seiten in ihren jeweiligen Häusern die vorläufige Billigung des Entwurfs für seine Behandlung im Ausschuss (30.4.) einholen. 16 Frankreich schied am 1. Juli 1966 aus dem integrierten militärischen Kommando der NATO aus. Vgl. AAPD 1966, I, Dok. 48. 17 Für Artikel 5 des NATO-Vertrags vom 4. April 1949 vgl. BGBl. 1955, II, S. 290. 18 In der Sitzung des deutsch-französischen Ausschusses wurde der Berichtsentwurf „mit einigen Änderungen“ verabschiedet. Vgl. den Gesprächsvermerk; B 14, ZA-Bd. 161201.

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7) Vorschlag Es wird vorgeschlagen, den beiliegenden Berichtsentwurf der Verteidigungsminister für die Aufstellung des Euro-Korps zur Kenntnis zu nehmen und ihn als Grundlage für die weitere Arbeit an der Endfassung zu billigen.19 Referat 500 hat mitgezeichnet. Bertram B 14, ZA-Bd. 161201

110 Vorlage des Vortragenden Legationsrats I. Klasse Spohn für Staatssekretär Kastrup 330-320.10 PER

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Über Dg 33 i. V.2, D 3 i. V.3 Herrn Staatssekretär4 Betr.: Staatsstreich in Peru am 5.4.1992; hier: Perupolitik Bezug: Ihre Weisung vom 14.4. auf der Vorlage vom 7.4.1992 – 330-320.10 PER5 Anlg.: 36 Zweck der Vorlage: Unterrichtung Zustimmung zu Punkt 5 c) bis f) 19 Gesandter Ischinger, Paris, berichtete am 21. April 1992: „In Paris bleibt man nachdrücklich daran interessiert, trotz der aufgetretenen Formulierungsschwierigkeiten bei der Ausgestaltung des deutsch-französischen Korps beim deutsch-französischen Gipfel in La Rochelle einen Erfolg präsentieren zu können. […] Die ‚Hamburger Formel‘ stelle das bare Minimum dessen dar, was in Paris konsensfähig sei.“ Die Botschaft habe eine entsprechende Unterrichtung der Amtsführung zugesagt: „Dabei haben wir auf den noch nicht abgeschlossenen Abstimmungsprozess in Bonn hingewiesen. Wir haben außerdem empfohlen, dass AM Dumas in dieser Sache am 24.4.1992 in Bergerac BM am besten nochmals persönlich ansprechen möge.“ Vgl. DB 1042; B 14, ZA-Bd. 161201. 1 2 3 4 5

Die Vorlage wurde von VLR Mondorf konzipiert. Hat in Vertretung des MDg Henze VLR I Heymer am 16. April 1992 vorgelegen. Hat in Vertretung des MD Schlagintweit MDg Zeller am 16. April 1992 vorgelegen. Hat in Vertretung des StS Kastrup StS Lautenschlager am 16. April 1992 vorgelegen. VLR I Spohn legte dar, der peruanische Präsident Fujimori habe am Abend des 5. April 1992 in einer Fernsehansprache „die vorübergehende Suspendierung der Verfassung, die Auflösung des Parlaments sowie einen Ausnahmezustand angekündigt. Der nationale Wiederaufbau fordere eine Verfassungsreform, eine Säuberung des Staatsapparats von Korruption sowie eine radikale Justizreform.“ Vgl. B 33, ZA-Bd. 159221. Auf der am 14. April 1992 vorgelegten Erstfassung der Vorlage vom 16. April 1992 vermerkte StS Lautenschlager am selben Tag handschriftlich: „Ist dies eine Unterrichtungsvorlage? Oder sollen hiermit operative Vorschläge gemäß Ziffer 5 gebilligt werden? Wenn letzteres vorgeschlagen wird, müsste ich wissen, wie die Leitungen der Abteilungen 4 + 5 dazu stehen u. was die Meinung der betroffenen Ressorts ist.“ Vgl. B 33, ZA-Bd. 159221. 6 Vgl. Anm. 7, 17 und 19.

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1) Präsident Fujimori hat mit einem „kalten Staatsstreich“ am 5.4. die Verfassung Perus außer Kraft gesetzt und beide Kammern des Parlaments aufgelöst (Einzelheiten s. Anl. 17). Er hat eine Volksabstimmung über seine Maßnahmen innerhalb von vier Wochen, eine Überarbeitung der Verfassung innerhalb von 12 – 18 Monaten, eine erneute Abstimmung hierüber und anschließende Neuwahlen angekündigt. Die Lage im Land scheint unter Kontrolle der Regierung zu sein. 70 % der Bevölkerung haben nach Meinungsumfragen die „Maßnahmen“ befürwortet (entschiedene Gegner sind die Vertreter der etablierten Parteien – insbes. die APRA8 unter Alan García – und Parlamentarier, Befürworter der Unternehmerverband). Die peruan. Bischofskonferenz hat ihr Bedauern über die Maßnahmen ausgedrückt. Sie hat zum Dialog und zu entschlossenem Handeln zur Beseitigung von Terrorismus, Rauschgifthandel und Korruption aufgerufen. Eine absolute Mehrheit der Parlamentarier hat am 9.4. im Untergrund den Vizepräsidenten San Román9 wegen des Verfassungsbruchs zum vorläufigen Präsidenten bestimmt (San Román hält sich z. Z. im Ausland auf). Fujimori strebt an, mit Unterstützung der Bevölkerung und des Militärs die Hauptprobleme des Landes – Wirtschaftskrise, Verarmung, Terrorismus, Drogenhandel, Korruption – auf cäsaristische Manier zu lösen. Der Staatsstreich hat aber keines der Probleme Perus gelöst, sondern zunächst ihre Zahl um ein verfassungsrechtlich-politisches Problem erhöht. Fujimori ist ein hohes Risiko eingegangen: – Er hat sich bis auf weiteres von den Militärs abhängig gemacht. – Die Guerillabewegungen (Sendero und MRTA10) haben einen neuen Vorwand für ihren „bewaffneten Kampf“. – Ihm droht internationale Isolierung. – Sein Rückhalt in der Bevölkerung beruht auf Unzufriedenheit mit dem politischen Establishment und wirtschaftlichen Erwartungen, die schwer einzulösen sind. So berechtigt seine Kritik an der Obstruktionspolitik des Parlaments und der Korruption der Justiz sein mag, so fraglich sind die Erfolgsaussichten seines Versuchs, über einen Staatsstreich und gegen die „politische Kaste“ die Probleme in den Griff zu bekommen. 2) Die internationale Reaktion, insbesondere auch in LA, ist negativ. Die USA haben ihre Wirtschaftshilfe mit Ausnahme der humanitären Hilfe suspendiert; nur Japan setzt sie uneingeschränkt fort. Eine Sondersitzung der Außenminister der OAS hat am 13.4. stattgefunden: Der Staatsstreich Fujimoris wird bedauert, die sofortige Rückkehr zur demokratischen verfassungsmäßigen Ordnung verlangt, eine OAS-Delegation und die Kommission der Interamerikanischen Menschenrechtsorganisation wird nach Lima entsandt. Auch die Rio-Gruppe bereitet eine Stellungnahme vor. Kolumbien hat die Teilnahme Perus an den laufenden Verhandlungen im Andenpakt ausgeschlossen. Die EPZ hat in einer gemeinsamen Erklärung vom 8.4. Fujimoris Maßnahmen verurteilt.11 7 Dem Vorgang beigefügt. Vgl. Anm. 5. 8 Alianza Popular Revolucionaria Americana. 9 Durchgehend korrigiert aus: „San Ramon“. 10 Movimiento Revolucionario Túpac Amaru. 11 Für die Erklärung der EG-Mitgliedstaaten im Rahmen der EPZ vgl. BULLETIN DER EG 4/1992, S. 84.

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3) Stand der Beziehungen D ist für Peru ein herausgehobener Partner, was umgekehrt nicht zutrifft. Die deutschen Interessen in Peru sind begrenzt. a) Besuche: aa) Deutsche: zuletzt 1975 AM Genscher12, 1979 BK Schmidt13. ab) Peruanische: letzter Staatsbesuch eines PER-Präsidenten 196014, letzter Arbeitsbesuch eines Ministerpräsidenten 198215, zuletzt 1992 AM Blacker Miller16. Für 11./12. Mai 1992 war Arbeitsbesuch von Präsident Fujimori geplant. b) Die Bundesrepublik nimmt unter den Handelspartnern Perus jeweils die dritte Position nach den USA und ARG als Lieferant bzw. USA und JAP als Abnehmer ein. D ist traditionell der wichtigste Markt Perus in Europa (1990: 117 Mio. US-$ Überschuss für Peru, 1991 voraussichtlich gleiche Ziffer). Das Interesse deutscher Investoren an Peru ist schwach (1983: 126 Mio. DM Direktinvestitionen, 1984: 82 Mio. DM, Ende 1989: 39 Mio. DM). c) Peru war in den 70er und 80er Jahren ein Schwerpunkt deutscher EZ. FZ-Zusagen Dez. 1991: 227,1 Mio. DM (50 Mio. DM Neuzusagen, 177,1 Mio. DM Altzusagen). FZ-Zusagen kumuliert bis 31.12.91: 956,5 Mio. DM. TZ-Zusagen 1991: neu 14,2 Mio. DM, reprogrammiert 7,6 Mio. DM. TZ-Zusagen kumuliert bis 31.12.91: 540,7 Mio. DM (Projektliste Anl. 217). d) In die Peru Support Group zur Wiedereingliederung des Landes in die internationalen Finanzinstitutionen (Regelung der Beziehungen zu IWF, Weltbank, BID) hat D die unter 3 c) erwähnten 227,1 Mio. DM eingebracht. D ist nach JAP (406 Mio. US-$) und USA (400 Mio. US-$) drittstärkster Geber. 4) Unsere Reaktion auf die Maßnahmen Fujimoris a) Die Bundesregierung hat in einer Presseerklärung vom 6.4. ihr Bedauern über die Maßnahmen und die Hoffnung auf baldige Wiederherstellung der verfassungsmäßigen Ordnung ausgedrückt.18 Sie hat eine Überprüfung der wirtschaftspolitischen Zusammenarbeit angekündigt. b) BM Spranger hat am 9.4. angekündigt, dass Strukturhilfemittel und der Infrastruktur des Landes dienende Maßnahmen vorläufig suspendiert werden. Projekte, die der Armuts12 Zum Besuch des BM Genscher am 20./21. November 1975 in Peru vgl. AAPD 1975, II, Dok. 351, Anm. 27. 13 BK Schmidt hielt sich vom 7. bis 11. April 1979 im Rahmen einer Lateinamerika-Reise in Peru auf. Vgl. AAPD 1979, I, Dok. 104. 14 Der Besuch des peruanischen Präsidenten Prado fand vom 3. bis 6. März 1960 statt. 15 Der peruanische MP Ulloa Elías hielt sich vom 1. bis 4. Juli 1982 in der Bundesrepublik auf. Für das Gespräch mit BK Schmidt am 2. Juli 1982 vgl. AAPD 1982, I, Dok. 199. 16 Der peruanische AM Blacker Miller besuchte die Bundesrepublik vom 8. bis 11. Februar 1992. Für sein Gespräch mit StM Schäfer am 11. Februar 1992 vgl. B 33, ZA-Bd. 204037. 17 Dem Vorgang beigefügt. Für den undatierten Vermerk „Derzeit durchgeführte bzw. vorbereitete Projekte, Stand: 31.1.1992“ vgl. B 33, ZA-Bd. 159221. 18 Für die Erklärung der Bundesregierung vgl. FK Nr. 35 des VLR I Spohn vom 7. April 1992 an die Botschaft in Lima; B 33, ZA-Bd. 159221.

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bekämpfung oder der Gesundheitsfürsorge (Cholera) dienen, werden ebenso fortgesetzt werden („keine Doppelbestrafung der Armen“) wie begonnene TZ-Projekte („keine Entwicklungshilferuinen“). Neue TZ-Projekte werden nicht in Angriff genommen (Erklärung Anl. 319). 5) Konsequenzen für unsere Peru-Politik: – bereits eingetreten: a) Besuch Fujimori findet nicht statt (Botschafter Perus20 hat am 14.4. abgesagt). b) Zurückstellung der vorgesehenen EZ (Ziff. 4 b). – noch zu treffen (vorgeschlagen): c) Laufende Vertragsverhandlungen: – Verhandlungen über Doppelbesteuerungsabkommen sind noch nicht terminiert. Verhandlungen über Investitionsschutz- und Fördervertrag sollten bis auf Weiteres ausgesetzt werden. – Umschuldungsabkommen sollte vorläufig nicht unterzeichnet werden; dies wäre ein falsches politisches Signal zum jetzigen Zeitpunkt. d) Durchführung des unterzeichneten Abkommens über Ausstattungshilfe (1 Mio. DM zur Drogenbekämpfung – technisches Gerät – für Zeitraum 1992 bis 94) ist erst ab Mitte 1993 geplant. Die Ausbildung von vier Offizieren der Drogenpolizei ab Juli 92 sollte wegen unseres eigenen Interesses an der Bekämpfung des Drogenmissbrauchs wie geplant durchgeführt werden. e) In multilateralen Finanzinstitutionen (IWF, WB, BID) sollten wir uns vorläufig nicht gegen Programme bzw. Kredite zugunsten Perus aussprechen. f) Ausbildungshilfe: derzeit kein peruan. Offizier in D. Ausbildungsangebote sollten bis auf Weiteres nicht gemacht werden. Die skizzierte Linie ist auf Arbeitsebene mit Ressorts abgestimmt. Soweit notwendig, sollte sie von AA vertreten werden. D 421 i. V. und D 522 i. V. haben mitgezeichnet. Spohn B 33, ZA-Bd. 159221

19 Dem Vorgang beigefügt. Für die Pressemitteilung Nr. 40 des BMZ vom 10. April 1992 vgl. B 33, ZABd. 159221. 20 Gabriel García Pike. 21 Heinrich-Dietrich Dieckmann. 22 Jürgen Oesterhelt.

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23. April 1992: Gespräch zwischen Genscher und Terechow

111 Gespräch des Bundesministers Genscher mit dem russischen Botschafter Terechow 23. April 19921 Gespräch BM mit Botschafter Terechow am 23.4.1992, 8.00 – 8.30 h Weitere Teilnehmer: BR Kurpakow, Leiter 0102. Terechow (T.) führte einleitend aus, er sei von den drei Außenministern Russlands, Weißrusslands und der Ukraine beauftragt worden, BM persönlich einen Brief zu übergeben (Übersetzung in Anlage beigefügt3). Nach Lektüre des Briefes erklärte BM, man habe über die Frage der Wiedergutmachung für NS-Unrecht Gespräche mit der damaligen sowjetischen Regierung geführt.4 An diesen Gesprächen seien auch Vertreter der drei genannten Republiken beteiligt gewesen, wobei die russische Seite durch die sowjetische Regierung vertreten gewesen sei. Diese Gespräche könnten aus unserer Sicht fortgeführt werden. Der Brief gehe jedoch von einer falschen Grundannahme aus, da er von Rechtsansprüchen spreche. Es sei jedoch zweifelsfrei, dass die sowjetische Regierung auf alle künftigen Ansprüche „auch gegen das vereinigte Deutschland“ durch den damaligen Vertrag mit der DDR verzichtet habe.5 Dies sei für uns auch Grundlage für die Gespräche gewesen. Er, BM, habe dies bilateral auch sehr deutlich jedem der drei genannten Außenminister gesagt. Wir könnten keine Gespräche über die Frage der Entschädigung führen, wenn von einer Seite die Geschäftsgrundlage nunmehr angezweifelt werde. Der sowjetischen Regierung war das damals klar. Nur deswegen konnten Gespräche überhaupt aufgenommen werden. Selbstverständlich würden wir den Brief umgehend beantworten. Terechow stimmte dem im Prinzip zu. Die Voraussetzungen für den Eintritt in Gespräche waren damals mit der sowjetischen Regierung gegeben. Diese Voraussetzungen könnten auch jetzt die Grundlage für künftige Verhandlungen sein. Wahrscheinlich werde man auf GUS-Seite sogar eine einheitliche Delegation vorschlagen. Neben den rechtlichen Aspekten wolle er jedoch auf die große politische und moralische Bedeutung der Angelegen1 Kopie. Der Gesprächsvermerk wurde von VLR I Matussek am 23. April 1992 gefertigt. Hat BM Genscher am 24. April 1992 vorgelegen. 2 Thomas Matussek. 3 Dem Vorgang nicht beigefügt. Für das Schreiben der AM Kosyrew (Russland), Krawtschenko (Belarus) und Slenko (Ukraine) vom 14. April 1992 vgl. B 41, ZA-Bd. 158782. 4 Zu den Gesprächen zwischen der Bundesrepublik und der UdSSR über einen Ausgleich für nationalsozialistische Verfolgungsmaßnahmen vgl. AAPD 1991, II, Dok. 373. Vgl. ferner das Schreiben des sowjetischen AM Schewardnadse vom 4. Dezember 1991 an BM Genscher; Dok. 13, Anm. 38. 5 Zum Verzicht der UdSSR auf Reparationszahlungen vgl. das vom sowjetischen AM Molotow und dem Vorsitzenden des Ministerrats der DDR, Grotewohl, am 22. August 1953 in Moskau unterzeichnete Protokoll über die Reparationszahlungen der DDR an die UdSSR; EUROPA-ARCHIV 1953, Bd. 2, S. 5974 f. Vgl. ferner AAPD 1990, I, Dok. 76.

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23. April 1992: Gespräch zwischen Genscher und Terechow

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heit hinweisen. Die Frage der individuellen Wiedergutmachung spiele in der Öffentlichkeit eine große Rolle. Falls den GUS-Bürgern klar werde, dass auch einzelnen Bürgern geholfen werden könne, werde es für oppositionelle Kräfte, die hier agitierten, schwieriger werden. BM stellte erneut sehr baldige Antwort in Aussicht6 und erkundigte sich nach T.s Lageeinschätzung hinsichtlich Russlands. Terechow bezeichnete das Ergebnis des nach zweiwöchiger Tagung abgeschlossenen Kongresses der Volksdeputierten als positiv.7 Jelzins Abschlussrede sei gemäßigt und ausgewogen gewesen.8 Er habe diese vermittelnde und ausgewogene Haltung während des gesamten Kongresses an den Tag gelegt. Im Ergebnis sei der Reformkurs bestätigt worden, trotz zum Teil heftiger Diskussionen. Im Übrigen sei der Streit nicht um das „Ob“, sondern das „Wie“ des Reformkurses gegangen. BM bestätigte, dies sei auch sein Eindruck gewesen. Terechow zeigte sich überzeugt, dass die Regierung nunmehr die notwendigen Korrekturen umgehend durchführen werde, da die Härten der Umwandlung des Systems für die einzelnen Bürger gemildert werden müssten. Schon in den nächsten Wochen werde man konkrete Maßnahmen sehen. Die persönliche Position Jelzins sei gestärkt worden. Die Prozesse der Formierung der Gruppen seien weiter fortgeschritten. Das Zusammenspiel zwischen Regierung und Opposition sei zwar noch verbesserungsfähig, jedoch auf gutem Wege. Auf Frage von BM, ob diese Formierung der Gruppen nur in Moskau stattfinde oder auch in der Provinz, räumte Terechow ein, dass das Spektrum in den verschiedenen Regionen sehr bunt sei. Auf Zusatzfrage von BM erläutert er, dass es auch regionale Gruppierungen gebe, die einheitlich aufträten, insbesondere in den nördlichen Regionen Russlands. Aber hauptsächlich sei die Formierung der Gruppen politisch oder beruflich orientiert, z. B. Industrie, Landwirtschaft etc. Drei Hauptgruppen begännen sich zu formieren: die, die das Regierungslager stütze und bilde, eine linke Bewegung, der sich auch die sog. „patriotischen Kräfte“ hinzugesellten, sowie das breite Zentrum. 6 VLR Goetz notierte am 23. Juni 1992, eine Antwort habe sich verzögert, weil das BMF statt der 1991 angekündigten Summe von 1 Mrd. DM nur noch 750 Mio. für einen Fonds für ehemalige sowjetische Zwangsarbeiter zur Verfügung stellen wolle. BK Kohl habe inzwischen „den Betrag von 1 Milliarde DM bestätigt“. Allerdings habe das Bundeskanzleramt gebeten, den „Antwortbrief erst nach dem Weltwirtschaftsgipfel in München abzusenden“. Vgl. B 41, ZA-Bd. 158782. Zum Antwortschreiben des BM Kinkel vgl. Dok. 212, Anm. 21. 7 Der Kongress der Volksdeputierten fand vom 6. bis 21. April 1992 in Moskau statt. Gesandter Heyken, Moskau, resümierte am 24. April 1992, der Volkskongress habe „mit einem knappen, psychologischen Sieg der Regierung und einem fragilen Kompromiss zwischen Exekutive und Legislative“ geendet: „Es wurde deutlich, dass es auf Dauer eine Ko-Existenz der Reformregierung unter dem Ersten Vize-PM Gajdar und dem mehrheitlich von system- und nationalkonservativen Kräften beherrschten Volkskongress nicht geben kann oder nur unter Verlängerung der schweren Macht- und Verfassungskrise.“ Vgl. DB Nr. 1860; B 41, ZA-Bd. 221543. 8 Zur Rede des russischen Präsidenten am 21. April 1992 teilte Gesandter Heyken, Moskau, am 24. April 1992 mit, Jelzin habe zum Kompromiss zwischen Exekutive und Legislative aufgerufen, „eine Reform der Gesetzgebungsorgane auf verfassungsmäßiger Grundlage“ gefordert und Kernpunkte seiner Regierungspolitik dargelegt, darunter „besondere Beachtung des Staatshaushalts (‚Russland darf nicht über seine Verhältnisse leben.‘), Reduzierung des Staatsapparates – auch des Präsidialapparats –, Ende der Privilegien für die Nomenklatura, Abbau übermäßiger Sozialleistungen für die Staatsbediensteten“. Vgl. DB Nr. 1860; B 41, ZA-Bd. 221543.

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23. April 1992: Gespräch zwischen Genscher und Terechow

Jelzin habe mit all diesen Gruppen Kontakte und könnte daher auftretende Antagonismen überwinden. Die großen Probleme blieben aber bestehen: Inflation, Härten für die Bevölkerung etc. BM bezeichnete es als sehr wichtig, dass Jelzins Kurs im Prinzip bestätigt worden sei. Um seine Einschätzung der Entwicklung in der GUS gebeten, bezeichnete Terechow diese als schwierig. Aber es gebe Zeichen für einen wachsenden Zusammenhalt der Republiken. Man wolle zwar nicht zu einer Sowjetunion alten Musters zurückkehren, aber eine engere Verbindung der Republiken habe auch Eingang in eine Resolution gefunden, die mit großer Mehrheit angenommen worden sei.9 Die Regierungskontakte zwischen den einzelnen Staaten entwickelten sich zwar unter Schwierigkeiten, aber mit zunehmender Verdichtung. Die Gespräche würden Ende des Monats weitergeführt. Er hoffe, dass auch die Wirtschaftskontakte gestärkt würden. Es gebe also zahlreiche Möglichkeiten, jedoch auch erhebliche Schwierigkeiten. BM berichtete kurz aus Georgien, das zwar außerhalb der GUS stünde, sich aber ähnlich schwierigen Problemen ausgesetzt sehe.10 Am schwierigsten habe er die Lage gestern in Albanien angetroffen.11 Die jahrzehntelange Abschottung habe hier zusätzliche Probleme geschaffen. Hinweis auf die Besichtigung eines Werks mit chinesischer Technologie aus den 60er Jahren. Terechow kam sodann auf das bilaterale deutsch-russische Verhältnis zu sprechen. Er wolle hier, ohne den Auftrag dazu zu haben, auf persönlicher Basis sagen, dass auf einigen Gebieten die Dinge ins Stocken geraten seien, jedenfalls sei ein gewisser Schwung dahin. Auf Nachfrage von BM präzisierte er die Themenkreise Eigentum der WGT, Wohnungsbauprogramm, Hermeskredite. Hier habe man staatliche Garantien vonseiten Russlands gefordert. Daher habe man im ersten Quartal die Bürgschaften nicht realisieren können. Wichtig sei insbesondere, dass die bilateralen Beziehungen zwischen Deutschland und Russland, den wichtigsten Partnern in Europa, stärker im Bewusstsein der Öffentlichkeit verankert würden. Auf Frage meinte T., man könne z. B. das Programm unserer humanitären Leistungen an Russland stärker publizieren. BM war hier skeptisch, da dies als Eigenlob aufgefasst werden könne. Terechow meinte jedoch, man könne eine solche öffentlichkeitswirksame Kampagne gemeinsam durchführen. Auch könne man das Augenmerk stärker auf den wirtschaftlichen Bereich oder auf die Zusammenarbeit in den internationalen Beziehungen legen. BM gab zu erwägen, ob hierfür nicht auch persönliche Begegnungen, z. B. mit AM Kosyrew, hilfreich seien. Terechow erläuterte, dass Kosyrew sich vom 6. bis 8.5. in Straßburg aufhalte, wo er den Antrag auf Aufnahme Russlands in den Europarat stellen werde. Man erwarte eine positive Einstellung der Freunde Russlands. Im AA habe er die russische Position bereits den zuständigen Referaten dargelegt und sei auf ein gutes 9 Gesandter Heyken, Moskau, berichtete am 24. April 1992, der Kongress der Volksdeputierten habe am 20. April 1992 eine rechtlich nicht bindende Entschließung angenommen, „nach der die GUS eine neue rechtliche und politische Form einer freiwilligen Union souveräner Staaten ist. […] Somit ist es nicht gelungen, rechtlich stabile Voraussetzungen für eine konsequente Weiterverfolgung der integrativen GUS-Politik der russischen Regierung zu schaffen.“ Vgl. DB Nr. 1859; B 41, ZA-Bd. 221543. 10 Zum Besuch des BM Genscher am 12./13. April 1992 in Georgien vgl. Dok. 106. 11 BM Genscher hielt sich am 22. April 1992 in Albanien auf, wo er Gespräche mit Präsident Berisha, MP Meksi und AM Serreqi führte. Im Zentrum standen Fragen der wirtschaftlichen Zusammenarbeit sowie die Lage der Albaner im Kosovo. Vgl. den Vermerk des VLR I Libal vom 27. April 1992; B 14, ZA-Bd. 161229, sowie RE Nr. 22 des VLR Koenig vom 29. April 1992; B 41, ZA-Bd. 158737.

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23. April 1992: Gespräch zwischen Genscher und van den Broek

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Echo gestoßen.12 Auf Frage von BM äußerte er die Vermutung, dass AM Kosyrew auch eine Rede halten werde.13 BM bekräftigte unsere uneingeschränkte Unterstützung des Aufnahmeantrags. Es wurde sodann über die Möglichkeit eines Treffens im Zusammenhang mit dem Straßburg-Besuch, evtl. in Bonn, gesprochen. Wenn AM Kosyrew vor dem Europarat spreche, werde BM prüfen, ob sein Terminkalender eine Teilnahme in Straßburg zulasse.14 Abschließend bat BM um Übermittlung seiner Glückwünsche an Präsident Jelzin zu dem erfolgreichen Abschluss des Volksdeputiertenkongresses. B 1, ZA-Bd. 178913

112 Gespräch des Bundesministers Genscher mit dem niederländischen Außenminister van den Broek 203-321.11 NLD

23. April 19921

BM unterrichtete NL-AM über seine Besuche in Albanien2, Georgien3 und Griechenland4. Weiterhin berichtete BM über sein Gespräch am selben Morgen mit dem serbischen Außenminister Jovanović.5 Das Gespräch habe seine Sorgen eher verstärkt als vermindert. Er habe jedoch den Eindruck erhalten, dass der serbische AM durchaus mit deutscher Kritik gerechnet habe und diese mit nach Belgrad nehmen werde. 12 VLR I von Jagow vermerkte am 21. April 1992, der russische BR Golowin habe ihn am selben Tag darüber informiert, dass AM Kosyrew auf der bevorstehenden Sitzung des Ministerkomitees vom 6. bis 8. Mai 1992 in Straßburg den offiziellen Beitrittsantrag zum Europarat vorlegen werde, und um Unterstützung durch die Bundesregierung gebeten. Vgl. B 41, ZA-Bd. 222014. 13 Für die Rede des russischen AM Kosyrew am 7. Mai 1992 im Europarat in Straßburg vgl. https://search. coe.int/cm/Pages/result_details.aspx?ObjectId=09000016804e4480, S. 72–75. 14 BM Genscher und der russische AM Kosyrew führten am 7. Mai 1992 in Straßburg ein Vier-AugenGespräch. Vgl. Dok. 136, Anm. 3. 1 Kopie. Der Gesprächsvermerk wurde von VLR I Nestroy am 27. April 1992 gefertigt. Hat VLR Brose am 27. April 1992 vorgelegen, der die Weiterleitung an BM Genscher „m[it] d[er] B[itte] um Billigung“ verfügte. Hat Genscher vorgelegen. Hat OAR Rehlen am 4. Mai 1992 vorgelegen, der den Rücklauf an Nestroy verfügte. Hat Brose am 5. Mai 1992 erneut vorgelegen. 2 Zum Besuch des BM Genscher am 22. April 1992 in Albanien vgl. Dok. 111, Anm. 11. 3 Zum Besuch des BM Genscher am 12./13. April 1992 in Georgien vgl. Dok. 106. 4 BM Genscher besuchte Griechenland vom 14. bis 16. April 1992. Im Zentrum seines Gesprächs mit dem griechischen Präsidenten Karamanlis am 16. April 1992 in Athen standen die EG-Erweiterung und die Mazedonien-Frage. Vgl. DB Nr. 399 des Botschafters von Bredow, Athen, vom selben Tag; B 26, ZABd. 173536. 5 Zum Gespräch des BM Genscher mit dem serbischen AM Jovanović vgl. Dok. 119, Anm. 7.

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23. April 1992: Gespräch zwischen Genscher und van den Broek

Beide AM waren sich darüber einig, dass es in der Frage Bosnien-Herzegowina zu Problemen mit dem GS der VN6 und dem Sicherheitsrat kommen werde, wenn der VanceBericht anerkannt würde.7 Sie stimmten darin überein, dass der Sicherheitsrat möglichst bald über Bosnien-Herzegowina tagen müsse. Auf Bitten von niederländischem AM erklärte sich BM bereit, AM Dumas in Bergerac am 24.4.92 darauf anzusprechen.8 BM bemerkte, Druck auf Serbien sei unerlässlich, aber allein nicht ausreichend. Vielmehr müsse auch vor Ort durch die verstärkte Stationierung von internationalen Beobachtern gehandelt werden. NL-AM trat entschieden für eine baldige Anerkennung von Mazedonien ein. Es gehe nicht an, dass Griechenland der EG das Handeln diktiere. Griechenland müsste auch in vielen anderen Bereichen zu Konzessionen gegenüber den EG-MS veranlasst werden. Athen zeige in keiner der wesentlichen Fragen Bereitschaft zur Bewegung. Hier könne nur mit Schocktherapie vorgegangen werden. BM erklärte jedoch, dass es die EG-AM sich sehr überlegen müssten, ob sie in der Ministerratstagung in Portugal9, an der der griechische Ministerpräsident in seiner Eigenschaft als AM10 teilnehmen werde, ein Votum gegen Griechenland aussprechen sollten. Damit würde die EG die Regierung eines Mitgliedstaates stürzen. Darüber müsse man sich ganz klar sein. Unter diesen Gesichtspunkten sei kaum zu vermeiden, noch eine Frist einzuräumen. Länger als bis zum Sommer 92 werde man allerdings nicht warten können. NL-AM betonte, dass die Glaubwürdigkeit der EG auf dem Spiel stünde, da Mazedonien alle Bedingungen für eine Anerkennung erfülle. Es wäre für die EG schädlich, wenn eine Verschlechterung der Situation in Mazedonien in der Öffentlichkeit mit der Untätigkeit der EG bezüglich Anerkennung in Verbindung gebracht werde. BM äußerte die Ansicht, dass die Regierung von Mazedonien durchaus noch zeitlichen Spielraum in der Anerkennungsfrage hätte. Er habe Zusagen des albanischen Ministerpräsidenten11 mitgebracht, dass dieses Land sich in der Frage Mazedonien und Kosovo zurückhalten werde. Dies würde sich allerdings sofort ändern, wenn die JVA eingriffe. Zur KSZE übergehend, dankte NL-AM BM für die deutsche Unterstützung des NLVorschlags eines Hohen Kommissars für Minderheiten.12 Er bat BM, sich bei dem ameri6 Boutros Boutros-Ghali. 7 Botschafter Vergau, New York (VN), berichtete am 21. April 1992, der Sonderbeauftragte des VN-GS für Jugoslawien, Vance, werde nach Gesprächen vom 15. bis 17. April 1992 in Belgrad, Sarajevo und Lissabon einen weiteren Bericht zur Lage im ehemaligen Jugoslawien vorlegen. Dem VN-Sekretariat zufolge enthalte der Vance-Bericht folgende Punkte: „Warnung vor einseitiger Verurteilung der Serben, da auch Kroaten und Muslime den Konflikt angeheizt hätten (Vance soll besonders von Izetbegović enttäuscht sein) und JVA ein insgesamt stabilisierender Faktor sei; Ablehnung einer Ausdehnung des UNPROFOR-Mandats auf B+H bei vorgezogener Verlegung von 41 Militärbeobachtern in die Region von Mostar bis Ende April; Unterstützung der Bemühungen des port[ugiesischen] Botschafters Cutileiro um eine politische Lösung“. Vgl. DB Nr. 993; B 30, ZA-Bd. 158146. 8 Für das Gespräch des BM Genscher mit den AM Dumas (Frankreich) und Skubiszewski (Polen) vgl. Dok. 114. 9 Zum informellen Treffen der Außenminister der EG-Mitgliedstaaten im Rahmen der EPZ am 1./2. Mai 1992 in Guimarães vgl. Dok. 125. 10 Wegen Differenzen in der Mazedonien-Frage entließ der griechische MP Mitsotakis am 13. April 1992 AM Samaras und übernahm zusätzlich das Amt des Außenministers. 11 Aleksandër Meksi. 12 Zum niederländischen Vorschlag eines KSZE-Hochkommissars für Minderheiten vgl. Dok. 48, Anm. 19.

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kanischen und britischen Kollegen13, die beide bisher dem Vorschlag reserviert gegenüberstünden, positiv zu verwenden. NL-AM bat BM, sich bei F-AM Dumas dafür einzusetzen, dass F dem Vorschlag zustimme, NATO und WEU für Sicherheitsmaßnahmen der KSZE im Wege eines Auftrags zu nutzen. F solle auf eigene Vorstellungen verzichten, neue „operating facilities“ innerhalb der KSZE für diese Zwecke zu schaffen.14 Dasselbe gelte übrigens bei den Menschenrechten für die Einsetzung des Europarats und bei Wirtschaftsfragen für die Nutzung der EG. Er bat BM, sich auch bei den anderen Regierungen für diese Ideen einzusetzen. BM sagte zu, dass wir uns mit großem Nachdruck für diese Ideen einsetzen würden. Die Logik der französischen Ablehnung einer Beauftragung von NATO und WEU richte sich eigentlich nicht gegen die WEU, sondern vielmehr gegen die NATO. F solle seine Haltung zur Frage Beauftragung von NATO und WEU durch KSZE überdenken. F-Sorge, gegen seinen Willen in entsprechende Sicherheitsmaßnahmen hineingezogen zu werden, sei unbegründet: F kann ggf. bereits in der KSZE verhindern, dass überhaupt ein Auftrag an NATO oder WEU erteilt wird. Als zweite Stufe kann es die Annahme des Auftrags in NATO und WEU verhindern. Eine Zustimmung von F zur Nutzung der WEU bei Ablehnung der NATO wäre insbes. im Hinblick auf die nunmehr positivere US-Haltung zur KSZE wenig glücklich. BM gab noch einen weiteren Sachgrund für eine Einbeziehung der NATO im Auftrag der KSZE an: Eine Beauftragung von GUS-Truppen sei durchaus problematisch, wenn ihr nicht als Gegengewicht auch amerikanische Truppen im NATO-Rahmen gegenüberstünden. Es müsse mit Sorge erfüllen, wenn man sich vorstellt, dass das US-Gegengewicht innerhalb der KSZE in diesem Bereich fehlt. BM bat NL-AM um Unterstützung des deutschen Vorschlages zur Errichtung von Lenkungsausschüssen in der KSZE15. NL-AM sagte diese Unterstützung zu. Weiterhin bat BM den NL-AM um Unterstützung für den deutschen Vorschlag, die KSZE als regionale Abmachung zu etablieren.16 Auch hier stellte NL-AM seine Unterstützung in Aussicht. Dasselbe galt für das deutsche Anliegen der Schaffung von KSZE-Grünhelmen.17 13 James A. Baker und Douglas Hurd. 14 Vgl. den französischen Vorschlag eines gesamteuropäischen Sicherheitsvertrags; Dok. 87. 15 Zum Vorschlag eines KSZE-Lenkungsausschusses vgl. Dok. 105, Anm. 26. 16 Zur Initiative, die KSZE zu einer Regionalorganisation nach Kapitel VIII der VN-Charta zu erklären, vgl. Dok. 105, Anm. 20. 17 VLR Mann vermerkte am 20. Februar 1992, MDg Graf von Matuschka habe bei einer Ressortbesprechung am 18. Februar 1992 Überlegungen für „eine Hilfstruppe bei Umweltunfällen und -katastrophen (‚Grünhelme‘) im KSZE-Rahmen“ vorgestellt. Aus Sorge um die internationale Reaktionsfähigkeit bei Umweltunfällen größeren Ausmaßes habe BM Genscher „bei verschiedenen Gelegenheiten, zuletzt während des KSZE-AM-Rates Ende Januar in Prag, die Forderung nach Koordinierungsmechanismen und Frühwarn- und Eingreifmechanismen zum verstärkten Schutz der Umwelt und zur Koordinierung internationaler Aktionen im Falle von Umweltunfällen“ erhoben. Auf der KSZE-Folgekonferenz vom 24. März bis 8. Juli 1992 in Helsinki solle ein entsprechender Auftrag erwirkt werden. Vgl. B 28, ZABd. 158725. Am 20. Mai 1992 führten die Bundesrepublik und die Schweiz mit Unterstützung Bugariens, der ČSFR, Dänemarks, Frankreichs, Griechenlands, Kanadas, Liechtensteins, Luxemburgs, Maltas, Polens, Rumäniens, Russlands, Spaniens und der Ukraine den Vorschlag „Umwelteinsätze in Notfällen (‚Grünhelme‘)“ (CSCE/HM/WG4/5) in die KSZE-Folgekonferenz in Helsinki ein. Vgl. B 75, ZA-Bd. 299843.

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23. April 1992: Gespräch zwischen Genscher und van den Broek

Beide AM stimmten überein, dass eine gemeinsame deutsch-niederländische Initiative zur Zulassung von Bosnien-Herzegowina als Beobachter bei der KSZE im Rahmen des AHB-Treffens18 eingebracht werden sollte. Zur Frage der Abstimmung der „Zwölf“ im Rahmen der KSZE waren sich beide AM einig, dass bei dem bevorstehenden Ministerrat in Portugal das Thema angesprochen werden soll, um Impuls für intensivere KSZE-Abstimmung der „Zwölf“ zu geben. Auf das Euro-Korps angesprochen, antwortete BM, dass es sich hier um eine multilaterale Streitkraft handeln werde, die allen anderen Europäern offenstünde. Die deutschen Truppen müssten unter zwei Hüten zugeordnet werden, da wir eben nur NATO unterstellte Truppen hätten. Hier bestünde ein essentieller Unterschied zu Frankreich oder etwa Spanien. Wegen unserer Verfassungsprobleme würden wir zurzeit nur mit dem Vorbehalt „unter Wahrung der verfassungsrechtlichen Möglichkeiten und im Rahmen der Charta der Vereinten Nationen“ operieren können. Ab Herbst werde es in Deutschland zur innenpolitischen Diskussion über diese Frage kommen. Die Bundesregierung werde sich dabei für die Erfüllung ihrer Verantwortlichkeiten im Rahmen der VN einsetzen. Sie werde für Blauhelme und Einsätze wie Golf plädieren. Es sei allerdings offen, ob für letzteres eine Mehrheit zustande käme. Sollte es zu einer Beschränkung auf Blauhelme kommen, so bestehe hier die Gefahr einer Festlegung auf lange Jahre. Zur Uruguay-Runde des GATT äußerte BM die Sorge, dass der Weltwirtschaftsgipfel in München19 mit dieser Frage belastet werden könne. Zum Thema der Ratifizierung von Maastricht20 waren beide Minister der Ansicht, dass bis auf Dänemark mit der Ratifizierung in allen anderen Mitgliedstaaten fest zu rechnen sei.21 BM fügte hinzu, dass selbstverständlich in Deutschland trotz aller Schwierigkeiten vor allen Dingen mit den Ländern rechtzeitig ratifiziert werden würde. Wichtig sei, dass vor allen Dingen in der Durchführung von Maastricht und auch bei der künftigen Revisionskonferenz22 keine übergebührlichen Forderungen der südlichen Mitgliedstaaten erhoben würden. Dies würde zu einer Belastung der Diskussion führen. 18 Am 21. April 1992 beantragte der AM von Bosnien-Herzegowina, Silajdžić, mit Schreiben an den tschechoslowakischen AM Dienstbier in dessen Eigenschaft als KSZE-Ratsvorsitzender den Beitritt seines Landes zur KSZE. Vgl. B 28, ZA-Bd. 158692. Botschafter z. b. V. Höynck, z. Z. Helsinki, berichtete am 2. Mai 1992, in der AHB-Sitzung vom 29. April bis 1. Mai 1992 sei Bosnien-Herzegowina am 30. April als 52. Teilnehmerstaaten in die KSZE aufgenommen worden, während der „Status des bisherigen KSZE-Teilnehmerstaates ‚Jugoslawien‘ “ in der KSZE offengeblieben sei. Zur Lage in Bosnien-Herzegowina habe der AHB eine eindeutige Verletzung von KSZE-Prinzipien festgestellt, „insbesondere in Form fortgesetzter Aggression gegen die Autorität der legitimen Regierung von Bosnien-Herzegowina seitens der jugoslawischen Bundesarmee und der irregulären Kräfte, die sie unterstützt“. Vgl. DB Nr. 277; B 28, ZA-Bd. 158692. 19 Zum Weltwirtschaftsgipfel vom 6. bis 8. Juli 1992 vgl. Dok. 225. 20 Zum Vertragswerk von Maastricht vgl. Dok. 3, Anm. 8. 21 Botschafter Gründel, Kopenhagen, berichtete am 23. März 1992, die dänische Regierung habe am 10. März 1992 dem Parlament das Ratifikationsgesetz zum Vertrag über die Europäische Union zugeleitet. Das Gesetz bedürfe wegen seines verfassungsändernden Charakters „einer qualifizierten Mehrheit von fünf Sechstel der Mitglieder des Folketing“. Statt der bei 175 Abgeordneten notwendigen 146 Stimmen werde es „nach derzeitiger Meinungslage“ jedoch voraussichtlich nur 137 Ja-Stimmen geben: „Die Regierung sieht deshalb für diesen Fall das nach dänischer Verfassung mögliche Verfahren einer Volksabstimmung vor.“ Vgl. DB Nr. 131; B 4, ZA-Bd. 159747. 22 Zur Überprüfungskonferenz für das Vertragswerk von Maastricht vgl. Dok. 86, Anm. 21.

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23. April 1992: Gespräch zwischen Genscher und Haroun

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BM befürwortete weiterhin eine vorgezogene Regierungskonferenz zur Vertragsrevision. NL-AM äußerte, seine Regierung würde dann dieser Idee beitreten, wenn ein positiver Ausgang einer solchen vorgezogenen Regierungskonferenz absehbar wäre. In der Frage „Vertiefung – Erweiterung“ legte BM dar, dass ganz unabhängig von jeder Frage der Erweiterung eine Verbesserung der Gemeinschaftsinstitutionen unabdingbar wäre. NL-AM schnitt Frage des Beitritts von GUS-Mitgliedstaaten zum Europarat an. Insbes. stelle er sich die Frage, wie man auf einen Antrag Russlands reagieren solle.23 Der Antrag sei in Aussicht gestellt, allerdings mit einem Zeitelement versehen worden. BM antwortete, dass man auch hierbei nach dem Grundsatz „einbeziehen und beeinflussen“ handeln solle. NL-AM stimmte dem zu. NL-AM bat um Unterstützung der NL-Kandidatur für den Sitz des CW-Sekretariats in Den Haag. BM sagte deutsche Unterstützung zu. NL werde, da MS der EG, unterstützt, wenn die anderen Kandidaten nicht MS der EG seien. NL dankte für diese deutsche Zusage. B 1, ZA-Bd. 178913

113 Gespräch des Bundesministers Genscher mit dem Mitglied des algerischen Hohen Staatsrats, Haroun 23. April 19921 Gespräch Bundesminister mit Mitglied des algerischen Hohen Staatsrates, Ali Haroun, am 23.4.19922 Auf Begrüßungsworte BM und Versicherung, dass er an den Ereignissen in Algerien3 großen Anteil nehme, übermittelte Haroun (H.) die Grüße des Staatsratsvorsitzenden Boudiaf und erneuerte Einladung an BM zu Besuch Algeriens. 23 Zum russischen Antrag auf Beitritt zum Europarat vgl. Dok. 111, Anm. 12. 1 Kopie. Der Gesprächsvermerk wurde von MDg Bartels am 27. April 1992 gefertigt. 2 Das Mitglied des algerischen Hohen Staatsrats, Haroun, hielt sich vom 22. bis 25. April 1992 in der Bundesrepublik auf. VLR I Dassel vermerkte am 14. April 1992, der Besuch finde „im Rahmen der Bemühungen der neuen algerischen Führung statt, sich der politischen und wirtschaftlichen Unterstützung des Auslands zu versichern und die gegenwärtige innenpolitische Entwicklung in Algerien zu erläutern. Haroun hat entsprechende Besuche bereits Belgien, Spanien, Dänemark sowie den Niederlanden abgestattet.“ Vgl. B 36, ZA-Bd. 170164. 3 Zur Entwicklung in Algerien vgl. Dok. 18, Anm. 31. Referat 311 notierte am 21. April 1992, seit Ausrufung des Notstandes am 9. Februar 1992 sei in Algerien der Einfluss der Islamisten konsequent zurückgedrängt worden: „Mindestens einige tausend Islamisten sind auf dieser Grundlage gezielt festgenommen und in Lagern in der Sahara interniert worden. Selbst wenn deren Haftbedingungen – wie von der Regierung behauptet – tragbar sein sollten, bedeuten diese

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23. April 1992: Gespräch zwischen Genscher und Haroun

H. erläuterte dann eingehend die Umstände, die zum Regimewechsel in Algerien führten. Nach 28 Jahren Herrschaft der Einheitspartei FLN habe Präsident Chadli ab 1988 erste und erfolgreiche Schritte in Richtung Demokratie, Pluralismus und Pressefreiheit unternommen. Unter den 62 Parteien, die sich daraufhin etablierten, sei der integristische, autoritäre und theokratische FIS gewesen, der vor allem bei der frustrierten Jugend Zulauf fand. Dem FIS komme nur ein Verdienst zu, sich offen zu seinen Zielen bekannt zu haben, nämlich bei Erlangen der Macht die Demokratie durch einen religiösen Rat und durch die Einführung eines islamischen Rechtssystems ersetzen zu wollen. Der Wahlerfolg des FIS habe Algerien im Dez. 91/Jan. 92 in große Schwierigkeiten gestürzt, da beim zweiten Wahlgang eine absolute Mehrheit der Partei zu erwarten war. Am 11.1. sei Präsident Chadli zurückgetreten. Der Parlamentspräsident4 habe ihn nicht ersetzen können, da die Legislaturperiode am 4.1.92 abgelaufen war. Der Präsident des Verfassungsrats5 wiederum habe die Übernahme des Amtes Chadlis abgelehnt, weil die algerische Verfassung dies nur beim Tod des Staatspräsidenten, nicht jedoch bei dessen Rücktritt vorsieht. Um das durch den Rücktritt Chadlis entstandene Vakuum zu füllen, sei dann der Hohe Staatsrat als kollegiales Gremium von fünf Mitgliedern einberufen worden, um bis Dezember 1993, d. h. bis zum Ende des Mandats Präsident Chadlis, staatliche Kontinuität zu gewährleisten und zu den normalen Funktionen der Demokratie zurückkehren zu können. Daneben sei am 22.4.92 ein 60-köpfiger Konsultativrat gebildet worden. BM bemerkte, dass Protesthaltung ein auch uns bekanntes Motiv bei der Stimmabgabe sei. Er fragte nach den algerischen Überlegungen, wie sich durch Änderung der wirtschaftlichen und sozialen Gegebenheiten eine Wiederholung des FIS-Erfolges vermeiden lasse. Haroun flocht zunächst persönliche Anmerkungen ein. Er stehe in einer großen Dankesschuld an Deutschland, wo er in schwierigen Jahren Zuflucht gefunden habe.6 Nach seiner Rückkehr nach Algerien sei er – länger als BM – aktiver Rechtsanwalt gewesen und vor allem in politischen Prozessen für die Wahrung von Menschenrechten eingetreten, was zu seiner Ernennung als Minister für Menschenrechte im Juli 1991 geführt habe. Er pflichte BM bei, dass die wirtschaftlichen Probleme Algeriens, eines reichen, aber schlecht geführten Landes, jedenfalls im Ansatz gelöst sein müssten, wolle die Regierung im Dezember 1993 nicht mit denselben Problemen konfrontiert werden. Zweifellos seien bis dahin nicht alle Probleme – Arbeitsplatzbeschaffung, Wohnungsbau – zu lösen. Wichtig für Algerien sei marktwirtschaftlich ausgerichtete Partnerschaft mit Europa und Hilfe bei der Berufsausbildung für Jugendliche, um 100 – 300 000 neue Arbeitsplätze zu schaffen. Spanien und Dänemark hätten Hilfe im Bereich des Wohnungsbaus zugesagt. Als großes, potenziell reiches Land mit verdoppelter Erdölförderung und großen Vorkommen an Erdgas, das über Fortsetzung Fußnote von Seite 477 willkürlichen Freiheitsberaubungen doch eine eklatante Verletzung der Menschenrechte. Die islamistische Heilspartei ist durch erstinstanzliches Urteil im März verboten worden. Obwohl der Richterspruch noch keine Rechtskraft erlangt hat, ist die Auflösung der Partei faktisch vollzogen.“ Vgl. B 36, ZA-Bd. 170164. 4 Abdelaziz Belkhadem. 5 Abdelmalek Banhabylès. 6 BR I Rau, Algier, teilte am 1. März 1992 zur Biographie des Staatsratsmitglieds Haroun mit: „Während des algerischen Unabhängigkeitskrieges (1954–1962) engagierte er sich politisch stark für die ‚Front de libération nationale‘ (FLN, spätere Einheitspartei). In jenen Jahren hat er sich über längere Zeit in Deutschland mit seiner Frau aufgehalten, die dort zwei Kinder zur Welt brachte.“ Vgl. DB Nr. 111; B 36, ZA-Bd. 170164.

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Italien und Spanien nach Deutschland geliefert werden könne, werde sich eine Partnerschaft mit Algerien für uns auszahlen. BM unterstrich das beträchtliche deutsche Interesse an der Mittelmeer-Region, vor allem am Maghreb. Wichtig für den Erfolg der neuen Führung sei der Abbau von Unzufriedenheit. Die Bevölkerung müsse das Empfinden haben, dass sich die Dinge in die richtige Richtung bewegten. Aus unserer engen und freundschaftlichen Verbundenheit folge die Sorge um die Zukunft Algeriens, um die Zerrissenheit der algerischen Gesellschaft. Erfahrung zeige, dass durch Internierung Oppositioneller keine Probleme gelöst, vielmehr Leidenschaften angeheizt und Märtyrer geschaffen würden. Darüber hinaus bedürfe die Regierung schnell einer neuen Legitimierung. Die Bundesregierung habe sich bei Bewertung der Vorgänge in Algerien in der Öffentlichkeit größte Zurückhaltung auferlegt, und so werde auch über dieses Gespräch, das er als guter Freund Algeriens geführt habe, keine Pressemitteilung erfolgen. Haroun dankte für die freundschaftliche Offenheit und das Verständnis des BM. Man sei problembewusst: Die Rechtsgüterabwägung zwischen der Sicherheit des ganzen Volkes und den demokratischen Rechten einer terroristisch-religiösen Gruppe, die die Macht an sich reißen wolle, sei schwierig. Bei der Verhaftung seien die Menschenrechte voll respektiert worden, alle Entscheidungen seien justiziabel. Die ersten 400 Inhaftierten seien im Ramadan freigelassen worden. In dieser Größenordnung gehe es kontinuierlich weiter, sodass bis Dezember 1993 alle entlassen würden. BM verabschiedete seinen Gast mit besten Wünschen für das algerische Volk und in der Hoffnung auf baldige Rückkehr zu demokratischen Verhältnissen.7 Vor der Begegnung mit BM wurde Haroun auf das Problem der Rechtsverbindlichkeit der arabischen Sprache angesprochen.8 Er war vollauf problembewusst. Der algerische Botschafter9 sekundierte, ohne Abschaffung des fraglichen Gesetzes sei eine wirtschaftliche Entwicklung in Algerien unmöglich. Haroun wies darauf hin, dass ein Gesetz nur durch ein anderes Gesetz für ungültig erklärt werden könne und dass dafür die Voraussetzungen jetzt gegeben seien. B 1, ZA-Bd. 178913

7 BR I Rau, Algier, berichtete am 5. Mai 1992: „FIS ist am 29.4.1992 endgültig vom algerischen Obersten Gerichtshof verboten und aufgelöst worden. Grund ist der während des Prozesses festgestellte ‚gewalttätige Charakter‘ der FIS“. Vgl. DB Nr. 212; B 36, ZA-Bd. 170165. 8 Referat 311 notierte am 22. April 1992: „Ein erheblicher Verunsicherungsfaktor im Rahmen des privaten Geschäftsverkehrs stellt zurzeit das Sprachengesetz dar […]. Das Gesetz vom Januar 1991 (Inkrafttreten aller Bestimmungen spätestens bis 5.7.1992) schreibt die Verwendung der arabischen Sprache im gesamten politischen und wirtschaftlichen Leben Algeriens einschließlich der Außenbeziehungen vor. Die deutschen Banken sind zur Verwendung des Arabischen als Vertragssprache aus praktischen und rechtlichen Gründen nicht bereit und sehen negative Folgen für die Entschädigungsfähigkeit versicherter Auslandsforderungen durch Hermes voraus.“ Vgl. B 36, ZA-Bd. 170164. 9 Noureddine Harbi.

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24. April 1992: Gespräch zwischen Genscher, Dumas und Skubiszewski

114 Gespräch des Bundesministers Genscher mit den Außenministern Dumas (Frankreich) und Skubiszewski (Polen) in Bergerac 24. April 19921 Von BM noch nicht gebilligt Trilaterales Treffen am 24.4.1992 in Bergerac2 Teilnehmer: Frankreich: AM Dumas; stellv. Direktor der Europa-Abt.3; Herr Casa, MB; Polen: AM Skubiszewski; Direktor der Europa-Abt.4; Herr Niesyto, LMB5; Deutschland: BM; Bo[tschafter] Klaiber; VLR Brose, MB. In dem eineinhalbstündigen Gespräch behandelten die Minister die Themen Stärkung des KSZE-Instrumentariums, Lage in der GUS und Truppen der ehemaligen Sowjetarmee in den MOE-Ländern. Sie verabschiedeten eine Gemeinsame Erklärung und ein Kommuniqué über die gemeinsame Haltung zur Lage in Bosnien-Herzegowina, zu Berg-Karabach und zu Afghanistan (Anlage6). 1) KSZE Dumas (D): – KSZE muss stärker institutionalisiert werden, um Handlungsfähigkeit zu erhöhen. – Badinter-Bericht: In Helsinki sollte Mandat erteilt werden zur Konkretisierung des Vorschlages der Einrichtung eines europäischen Schlichtungs- und Schiedsgerichtshofes.7 Amerikanische Haltung hierzu bisher unklar. Hinweis auf seine bevorstehende USAReise.8 1 Kopie. Der Gesprächsvermerk wurde von VLR Brose sowie im Teilbereich Mittagessen von Botschafter z. b. V. Klaiber am 27. April 1992 gefertigt, wobei Brose „f[ür] d[ie] R[ichtigkeit]“ zeichnete. Hat VLR Geier am 29. April und erneut am 8. Mai 1992 vorgelegen. 2 VLR I Nestroy notierte am 23. April 1992 für BM Genscher: „Es wird zwar immer von einem Treffen in Bergerac gesprochen, weil dies die größere und bekanntere Stadt ist. Das Treffen findet jedoch in Trémolat/Dordogne statt, einem kleineren Ort (weniger als 2000 Einwohner) etwa 30 km östlich von Bergerac.“ Vgl. B 24, ZA-Bd. 174761. 3 Pascal Fieschi. 4 Andrzej Ananicz. 5 Leiter Ministerbüro. 6 Dem Vorgang beigefügt. Für die „Gemeinsame Erklärung der Außenminister von Deutschland, Frankreich und Polen“ vom 24. April 1992 sowie das gemeinsame Kommuniqué zur Lage in Bosnien-Herzegowina, Nagorny Karabach und Afghanistan, das am selben Tag in Trémolat veröffentlicht wurde, vgl. B 24, ZA-Bd. 174761. Für die Gemeinsame Erklärung vgl. auch BULLETIN 1992, S. 409 f. Für das Kommuniqué vgl. auch LA POLITIQUE ÉTRANGÈRE 1992 (März/April), S. 69. 7 Zur deutsch-französischen Initiative für eine Gesamteuropäische Schiedsinstanz vgl. Dok. 105, Anm. 27. 8 Der französische AM Dumas besuchte die USA am 11. Mai 1992.

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24. April 1992: Gespräch zwischen Genscher, Dumas und Skubiszewski

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– Unterstützt deutschen Vorschlag der Formulierung eines Verhaltenskodex.9 Kodex sollte später zu Sicherheitsvertrag im Rahmen der KSZE10 weiterentwickelt werden. Skubiszewski (S): – Rät zu Vorsicht in Bezug auf Sicherheitsvertrag. Hinweis auf amerikanische Zweifel. Polen unterstützt Gedanken, hält aber nach Helsinki II11 zunächst allgemeine Beschäftigung mit Prinzipien für angebracht, um Teilnehmerstaaten an Projekt eines Sicherheitsvertrages heranzuführen. – Unterstützt deutsche Idee eines Verhaltenskodex. Parallelismus zu Arbeiten an Sicherheitsvertrag muss vermieden werden. – Hinweis darauf, dass finanzielle Basis der KSZE zunehmend zu einem Problem wird. – Polen unterstützt friedenswahrende Aktivitäten der KSZE unter Einschaltung bereits existierender Organisationen (WEU, NATO). BM: Hinweis auf bevorstehende USA-Reise in Begleitung BuPrä.12 BM will mit Baker im Sinne der heutigen gemeinsamen Erklärung insbesondere zur KSZE-Frage sprechen, um ihn für gemeinsame Position zu gewinnen. Dumas: – Betont, dass Ausbau der KSZE nicht gegen US bzw. NATO gerichtet ist. – Jugoslawien hat Schwächen der KSZE aufgezeigt. Wir brauchen ein Werkzeug, das uns in Europa handlungsfähig macht. – Er wird in Washington im gleichen Sinne wie BM mit Baker sprechen. BM unterstützt S. in Bezug auf Problem der Finanzausstattung KSZE. Einige Länder könnten gegenwärtig schon aus finanziellen Gründen nicht an Aktivitäten teilnehmen. Dumas schlägt Einsetzung Expertengruppe zu diesem Thema in Helsinki vor. Skubiszewski: US sind besonders bezüglich obligatorischer Schiedsgerichtbarkeit skeptisch. Vereinbarung über Schiedsgericht muss aber nicht von allen Teilnehmerstaaten zugleich unterzeichnet werden. BM schließt sich Gedanken von S. an. Man darf nicht warten, bis alle beitreten. Am Ende werden es aber alle sein. Dumas: Abkommen über Schlichtung und Schiedsgericht könnten getrennt werden, sodass Staaten ggf. Schlichtungsabkommen beitreten könnten, ohne obligatorische Schiedsgerichtsbarkeit anzuerkennen. 2) Lage in der GUS BM: – Größte Probleme in Russland selbst. Die kleineren Nachfolgestaaten haben es leichter, Identität zu finden. Russland wird daher auch in Zukunft unsere besondere Aufmerksamkeit beanspruchen. 9 Zum Vorschlag für einen KSZE-Verhaltenskodex vgl. Dok. 105, Anm. 22. 10 Zum französischen Vorschlag eines gesamteuropäischen Sicherheitsvertrags vgl. Dok. 87. 11 Vom 24. März bis 8. Juli 1992 fand in Helsinki die vierte KSZE-Folgekonferenz statt, an die sich am 9./10. Juli 1992 eine Gipfelkonferenz anschloss. Vgl. Dok. 226. Zur Bezeichnung des Gipfels als „Helsinki II“ vgl. Dok. 51, Anm. 5. 12 Im Rahmen des Staatsbesuchs des Bundespräsidenten Freiherr von Weizsäcker vom 28. April bis 3. Mai 1992 hielt sich BM Genscher vom 28. bis 30. April 1992 in den USA auf.

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– Gemeinsame Wirtschaftsstrukturen der GUS wünschenswert. – Schwierigste Frage: Quotenaufteilung zwischen GUS-Mitgliedern im Bereich der Abrüstung (KSE).13 Appell, dass alle Staaten, insbesondere auch Polen, ihre Möglichkeiten nutzen, um GUS klarzumachen, wie wichtig diese Frage für uns ist. Dumas: Vielzahl der Probleme zwischen den Mitgliedstaaten der GUS, innerhalb der einzelnen Staaten und im Bereich der Wirtschaft gibt wenig Anlass zu Optimismus. 3) Ehemalige Sowjettruppen in MOE BM: Russland hat keine anderen Möglichkeiten, Soldaten, die sich aus dem westlichen Vorfeld zurückziehen, unterzubringen, als in vom Westen gebauten Wohnungen. Diese Überlegung ist für baltische Staaten und Polen ebenso wichtig wie für D. Zu Polen und Baltikum gibt es jedoch – im Unterschied zu D – keine festen Abzugstermine. Daher größere Gefahr emotionaler Reaktionen der Bevölkerung. Dumas: – Berichtet von kürzlichem Besuch von Präsident Landsbergis (Litauen).14 L. klagte über Präsenz ehemals sowjetischer Truppen in seinem Lande. Litauen könne nicht umhin, Problem der „Besetzung“ auf den Tisch der KSZE zu legen. – Sieht weder in baltischen Staaten noch in GUS Verbesserung der Lage. Skubiszewski: – Sieht ebenso wie D viel Anlass für Pessimismus. Fragt sich, ob amerikanische Hilfszusage Beginn einer neuen Strategie sein könnte. Wie kann Bevölkerung von Richtigkeit der Reformpolitik in Russland überzeugt werden? – Präsenz russischer Truppen in Polen entwickelt sich zunehmend zu hoch emotionalem Thema. Beim Bau von Wohnungen in Russland für heimkehrende Soldaten kann Polen mit Arbeitskräften, nicht aber mit Geld helfen. Fragt, ob nicht von westlicher Hilfe an GUS bestimmter Betrag für Zweck Wohnungsbau abgezweigt werden könne. Dumas plädiert dafür, Thema russischer Truppen in Polen/Baltikum gegenwärtig nicht in KSZE aufzunehmen, und empfiehlt pragmatisches Vorgehen bei Wohnungsbau. Mittagessen: Bei Mittagessen trug Dumas Gedanken vor, das Abschlussessen am zweiten Tag des ER15, welcher in der Regel nach Verabschiedung der Dokumente wenig substanziell gewesen sei, für ein Treffen mit den Ländern Osteuropas zu nutzen, die die Perspektive einer künftigen Mitgliedschaft hätten. Skubiszewski begrüßte Gedanken und regte an, dabei über Erweiterungsproblematik zu sprechen. Dumas und BM unterstützten ihrerseits Gedanken polnischen Kollegens, ein Treffen der Auswärtigen Ausschüsse der drei Parlamente zu empfehlen. Dumas sagte, er wolle dies in Paris empfehlen.16 13 Zur Einigung auf die Aufteilung der Rechte und Pflichten der ehemaligen UdSSR aus dem KSE-Vertrag vgl. Dok. 141. 14 Der litauische Präsident Landsbergis besuchte Frankreich am 22. April 1992. 15 Zur Tagung des Europäischen Rats am 26./27. Juni 1992 in Lissabon vgl. Dok. 201. 16 An dieser Stelle handschriftlicher Vermerk: „G. b[itte] R[ücksprache].“ Zusätzlich wurde an dieser Stelle handschriftlich vermerkt: „S[chreiben] BM [an] Stercken?“

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24. April 1992: Vorlage von Erck

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Schließlich berichtete Dumas über kürzlichen sehr erfolgreichen Besuch Mitterrands in der Türkei.17 Die Türken seien sich ihrer neuen großen Verantwortung bei der Bekämpfung des Fundamentalismus in Asien.18 Nach wie vor liege Türkei an guten Beziehungen zu Europa. Özal habe Verständnis für die im Zusammenhang mit einem Beitritt sich stellenden Fragen gezeigt und vorgeschlagen, evtl. mit einer Zollunion zu beginnen.19 Damit könne die Asylproblematik entschärft werden. Türkei beschäftige sich sehr intensiv mit der Kurdenfrage, insbesondere vor dem Hintergrund neuerlicher internationaler Kritik. B 24, ZA-Bd. 174761

115 Vorlage des Vortragenden Legationsrats I. Klasse Erck für Staatssekretär Kastrup 202-363.60

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Über Dg 202, D 23 Herrn Staatssekretär4 Betr.:

Deutsche NATO-Verteidigungshilfe für Griechenland, Portugal und die Türkei5; hier: Weiteres Vorgehen

Bezug: StS-Vorlage von Referat 202 vom 26.11.1991, 202-363.606 Anlg.: 27 Zweck der Vorlage: Zur Billigung des weiteren Vorgehens unter III. 17 Der französische Staatspräsident Mitterrand besuchte die Türkei am 13./14. April 1992. 18 Unvollständiger Satz in der Vorlage. 19 Zu den Beziehungen der Türkei zur EG vgl. Dok. 76, Anm. 16. 1 Die Vorlage wurde von VLRin Cyrus konzipiert. 2 Hat in Vertretung des MDg Hofstetter VLR I Kuhna am 24. April 1992 vorgelegen. 3 Hat MD Chrobog am 27. April 1992 vorgelegen, der handschriftlich für StS Kastrup vermerkte: „M[it] d[er] B[itte], über dieses Thema gelegentlich ein Gespräch zu führen“. 4 Hat im Büro Staatssekretäre VLR Ney am 14. Mai 1992 vorgelegen, der vermerkte: „Hat StS Kastrup vorgelegen.“ Ferner verfügte Ney den Rücklauf an VLR I Erck. 5 In einer Vorlage des Auswärtigen Amts vom 26. November 1991 für den Auswärtigen Ausschuss des Bundestags wurde erläutert: „Aufgrund einer Empfehlung des NATO-Rats gewährt die Bundesrepublik den NATO-Partnern Türkei (seit 1964), Griechenland (1964, mit Unterbrechung von 1967 – 1974) und Portugal (seit 1978) Verteidigungshilfe. Aufgrund aufeinanderfolgender Tranchenabkommen erhalten die Empfängerländer zu 80 % neu zu beschaffendes Rüstungsmaterial aus deutscher Produktion und zu 20 % Überschussmaterial aus Beständen der Bundeswehr.“ Vgl. B 29, ZA-Bd. 213064. 6 Für die Vorlage des VLR I Erck, mit der die Vorlage vom selben Tag für den Auswärtigen Ausschuss des Bundestags vorgelegt wurde, vgl. B 29, ZA-Bd. 213064. 7 Vgl. Anm. 9 und 10.

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24. April 1992: Vorlage von Erck

I. 1) Der am 26.3.1992 von der Bundesregierung verhängte Lieferstopp für Rüstungsgüter in die Türkei8 wirft die grundsätzliche Frage auf, ob die deutsche NATO-Verteidigungshilfe fortgesetzt werden soll. Diese Frage muss unter Berücksichtigung der veränderten Sicherheitslage, vor dem Hintergrund der Mittelknappheit des Bundes und der zunehmend kritischen Einstellung der deutschen Öffentlichkeit und des Parlaments gesehen werden. Für Grundsatzfragen über die Gewährung von NATO-Verteidigungshilfe, den Abschluss neuer Tranchenabkommen sowie deren Behandlung in den parlamentarischen Ausschüssen liegt die Federführung beim Auswärtigen Amt, in dessen EPl 05 entsprechende Haushaltsmittel eingestellt sind. Die im Rahmen der Verteidigungshilfe-Abkommen vorgesehenen Maßnahmen werden bilateral vom BMVg mit den Empfängerländern Griechenland, Portugal und Türkei verhandelt. Das Auswärtige Amt nimmt an den Verhandlungen teil. Alle drei Abkommen werden als Paket durch das Auswärtige Amt dem Auswärtigen Ausschuss und dem Haushaltsausschuss zur Zustimmung vorgelegt. Für die konkrete Durchführung der Verteidigungshilfe ist das BMVg zuständig, das sich dabei der Hilfe des Bundesamtes für Wehrtechnik und Beschaffung (BWB) bedient. 2) Am 31.12.1991 liefen die bisherigen Tranchenabkommen mit den drei Empfängerländern aus. Der Auswärtige Ausschuss hat bereits auf seiner Sitzung am 11.12.1991 die Vorlage des Auswärtigen Amtes (Anlage 19) über die geplante Fortsetzung der deutschen NATOVerteidigungshilfe an Griechenland, Portugal und die Türkei zustimmend zur Kenntnis genommen. Bevor die neuen Tranchenabkommen (Laufzeit 1992 – 1994) unterzeichnet werden können, muss auch der Haushaltsausschuss zustimmen. Eine entsprechende Vorlage des Auswärtigen Amtes wurde dem BMF zur weiteren Veranlassung am 4.3.1992 zugeleitet (Anlage 210). Die Befassung des Haushaltsausschusses war ursprünglich für Ende April vorgesehen. 3)11 Angesichts der Liefersperre für Rüstungsmaterial an die Türkei hat Referat 202 das BMF auf Arbeitsebene am 31.3.1992 gebeten, von einer Weiterleitung der Vorlage vorerst abzusehen, bis im Auswärtigen Amt eine Entscheidung über das weitere Vorgehen getroffen sei. II. 1) Die Abgeordneten haben bereits in der Sitzung des Auswärtigen Ausschusses am 11.12.1991 und zuletzt auf der Sondersitzung des Auswärtigen Ausschusses am 30.3.1992 deutlich gemacht, dass sie eine grundsätzliche Diskussion über das Instrument der Verteidigungshilfe führen wollen. Das Auswärtige Amt hat jetzt die Möglichkeit, die Weichen für die Verteidigungshilfe neu zu stellen. Dabei ist zu bedenken, dass jetzt eine Entscheidung über ein Programm getroffen werden muss, das eine Laufzeit von drei Jahren (1992 – 1994) hat. 2) Drei Optionen bieten sich an: Option 1 Die Verteidigungshilfe für alle drei Empfängerländer wird sofort beendet, d. h. die Vorlage des AA wird dem Haushaltsausschuss nicht vorgelegt. 8 Zum Lieferstopp von Rüstungsgütern in die Türkei vgl. Dok. 92, besonders Anm. 9. 9 Dem Vorgang beigefügt. Vgl. Anm. 5. 10 Dem Vorgang beigefügt. Für das Schreiben des VLR I Erck vgl. B 29, ZA-Bd. 213064. 11 Korrigiert aus „2)“.

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Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Verhandlungen mit den Empfängerländern in zwei Runden bereits 1991 abgeschlossen wurden. Nach der Entscheidung des Haushaltsausschusses vom 9.10.1991, den Verteidigungshilfe-Ansatz von 164 Mio. DM auf 134 Mio. DM p. a. zu kürzen, musste bereits eine Anpassung der vereinbarten Projekte an das neue Volumen erfolgen. Die Empfängerländer erwarten jetzt eine möglichst zügige Unterzeichnung der neuen Tranchenabkommen. Bei einer vollständigen Einstellung der Verteidigungshilfe zum jetzigen Zeitpunkt könnten sich folgende Probleme ergeben: – Schaden für unsere politische Glaubwürdigkeit. Die unserer Vorlage an den Auswärtigen Ausschuss vom 26.11.1991 zugrundeliegende Analyse, die für eine Fortsetzung der Verteidigungshilfe spricht, gilt nach wie vor. – Politische Irritationen nicht nur bei der Türkei, sondern auch bei Griechenland und Portugal, die damit in den Sog unseres Waffenembargos gegenüber der Türkei gerieten. Mit Portugal stehen wir wegen der wahrscheinlichen Aufgabe des Luftwaffenstützpunktes Beja12 vor schwierigen Abwicklungsverhandlungen. Portugal wird auf Erbringung substanzieller Gegenleistung für die Nutzung von Beja bis Ende 1993 drängen. Eine Einstellung der Verteidigungshilfe zum jetzigen Zeitpunkt könnte die Verhandlungen zusätzlich belasten. Griechenland wiederum legt im Zusammenhang mit unserer Golfhilfe für die Türkei13 Wert auf von uns zugesagte angemessene Berücksichtigung. Eine Einstellung der Verteidigungshilfe stünde hierzu im Widerspruch. – Haushaltstechnische Schwierigkeiten. Durch Verzögerungen bei der Realisierung mehrerer Projekte aus früheren Tranchenabkommen sind Altverpflichtungen (Größenordnung ca. 80 Mio. DM) entstanden, auf deren Erfüllung die Empfängerländer einen völkerrechtlichen Anspruch haben. Es müssten sich auch Auswirkungen auf mit der Industrie bereits eingegangene Leistungsverträge ergeben. Der BMF drängt auf einen zügigen Abbau der Altverpflichtungen. Die sofortige Einstellung der Verteidigungshilfe könnte daher nicht sofort haushaltsneutral erfolgen. Es müsste auf jeden Fall dafür Sorge getragen werden, dass ausreichend Haushaltsmittel für den Abbau der Altverpflichtungen bereitgestellt werden.

12 VLR I Bertram legte am 8. Mai 1992 dar: „Die Luftwaffenbasis Beja wurde in den 60er Jahren mit deutschen Hilfsmitteln (insg. ca. 180 Mio. DM) errichtet und wird seitdem von der Bundesluftwaffe (Tiefflug-, Waffen- und Luftkampfausbildung vorwiegend mit dem Typ Alpha Jet) intensiv genutzt. Das bilaterale Nutzungsabkommen (plus einiger weiterer damit in Zusammenhang stehender technischer Vereinbarungen) lief zum 31. Juli 1988 aus. Mit Notenwechseln vom 29. Juli 1988 wurde eine Interimsvereinbarung abgeschlossen, die die weitere Nutzung der Basis im bisherigen Umfang bis zum Abschluss eines neuen Beja-Abkommens festschreibt.“ Da es nicht gelungen sei, über Substanzfragen eines neuen Abkommens Einigkeit zu erzielen, habe die Bundesregierung am 19. Februar 1992 vorgeschlagen, „die Nutzung der Basis Beja zum Jahresende 1993 (Auslaufen der Übungsflüge mit Alpha Jet) zu beenden“. Auch ohne eine vertragliche Vereinbarung für die Zeit seit 31.7.1988 erwarte Portugal als Ausgleich für die Übungstätigkeiten der Bundesluftwaffe „40 Flugzeuge des Typs Alpha Jet und 50 gepanzerte Fahrzeuge des Typs M 113“. Trotz befürwortender Voten des BMVg und des AA widersetze sich dem das BMF, was die Beziehungen zu Portugal beschädigen dürfte. Vgl. B 14, ZA-Bd. 161172. 13 Zur Hilfe der Bundesrepublik für die von der Golfkrise besonders betroffenen Staaten vgl. AAPD 1990, II, Dok. 307 und Dok. 345. Zur Hilfe für die Türkei ferner AAPD 1991, I, Dok. 55.

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Option 2 Die Verteidigungshilfe für die Türkei wird aus dem Gesamtpaket der Verteidigungshilfe vorerst herausgelöst. Nur die Verteidigungshilfe für Griechenland und Portugal (Laufzeit 1992 – 1994) wird unverzüglich dem Haushaltsausschuss zur Billigung vorgelegt. Eine grundsätzliche Entscheidung über die Fortführung der Verteidigungshilfe für diese beiden Länder über 1994 hinaus wird auf einen späteren Zeitpunkt verschoben. Damit wird der Regierungsbeschluss zur Türkei konsequent umgesetzt. Andererseits vermeiden wir politische Irritationen bei Griechenland und Portugal. Auch könnte der Abbau der Altverpflichtungen gegenüber Griechenland und Portugal planmäßig fortgeführt werden. Nach Einschätzung der Botschaft Ankara müssen wir jedoch damit rechnen, dass eine Aussetzung der Verteidigungshilfe nur für die Türkei auf türkischer Seite als endgültiger Bruch der Zusammenarbeit im Rüstungsbereich verstanden würde.14 Sollten wir uns darüber hinaus auch gegen die Bedienung von Altverpflichtungen (ca. 42 Mio. DM) entscheiden, sind aufgrund bereits bestehender Leistungsverträge mit der Industrie Regressforderungen nicht auszuschließen. Option 3 Die Verteidigungshilfe wird für die Laufzeit 1992 – 1994 grundsätzlich fortgesetzt, wobei für die Türkei ein Vorbehalt entsprechend der Entscheidung der Bundesregierung vom 26.3.1992 gemacht wird. Wir kündigen bei der Vorlage an den Haushaltsausschuss an, dass wir die Verteidigungshilfe ab 1994 generell beenden werden. III. 1) Vorschlag zum weiteren Vorgehen Es wird vorgeschlagen, entsprechend der Option 3 zu verfahren, d. h.: – Die Verteidigungshilfe für die Türkei, Griechenland und Portugal wird dem Haushaltsausschuss baldmöglich zur Zustimmung vorgelegt, für die Türkei mit dem Vorbehalt einer notwendigen Aufhebung des von der Bundesregierung beschlossenen Lieferstopps. – Das Auswärtige Amt stellt klar, dass es ab 1994 die Verteidigungshilfe generell beenden wird. – Die Entscheidung sollte angesichts ihrer Tragweite im Hinblick auf das Bündnis und die bilateralen Beziehungen zu den Empfängerländern vorab mit ChBK und BMVg abgeklärt werden. Ggf. wäre auch zu erwägen, eine Entscheidung des BSR herbeizuführen. – Wir sollten unsere Verbündeten rechtzeitig über diese Entscheidung der Bundesregierung unterrichten. 2) Eine Entscheidung zum weiteren Vorgehen ist insofern zeitkritisch als – wir in den Verhandlungen über den Haushalt 1993 eine Verhandlungslinie gegenüber dem BMF brauchen. Der BMF hat den Haushaltsansatz 1993 für die Verteidigungshilfe 14 Botschafter Eickhoff, Ankara, konstatierte am 15. April 1992, die Beziehungen zur Türkei befänden sich „auf dem Tiefpunkt“. Der Schaden für die deutsche Wirtschaft sei noch nicht absehbar: „US, F und GB haben umgehend Ersatzangebote für unsere Fregatten und Minenjäger gemacht. Insgesamt wird unsere traditionelle Position auf dem türkischen Markt sicher behauptet. […] Keinesfalls darf die 18. Tranche Verteidigungshilfe ausfallen, die Fregattenbau, Transall-Instandhaltung und Kampfwertsteigerung von Artillerie, aber keine Waffenlieferungen im engen Sinne vorsieht.“ Vgl. DB Nr. 491; B 29, ZA-Bd. 213069.

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streitig gestellt, d. h. keine Mittel vorgesehen. Die nächste Verhandlungsrunde auf Abteilungsleiter-Ebene ist am 15. Mai. Sollte bis dahin keine politische Entscheidung getroffen sein, wird die Verteidigungshilfe abschließend auf Minister-Ebene behandelt werden müssen; – bis zu einer Entscheidung über das weitere Vorgehen die Vorlage an den Haushaltsausschuss zur Fortführung des Verteidigungshilfe-Programms 1992 – 1994 zurückgestellt ist; – Griechenland und Portugal auf eine baldige Unterzeichnung der neuen Abkommen drängen werden; – im Bündnis wird z. Zt. in Vorbereitung des DPC am 26./27.5.15 der Bericht „1992 NATO Force Goals – General Report“ vorbereitet. In dem bisher vorliegenden ersten Entwurf wird routinemäßig in allgemeiner Form an die Partner appelliert, ihre Anstrengungen zur Unterstützung Griechenlands, Portugals und der Türkei z. B. durch die Fortsetzung bestehender Programme zu verstärken. Je nach politischer Entscheidung zur Zukunft der Verteidigungshilfe müssten wir u. U. rechtzeitig dagegenhalten.16 3) Referat 20617 hat mitgezeichnet. Erck B 29, ZA-Bd. 213064

15 Zur Ministersitzung des DPC der NATO am 26. Mai 1992 in Brüssel vgl. Dok. 155. 16 Referat 202 vermerkte am 12. Juni 1992, das BMF dringe „bei Nachverhandlungen über den Haushaltsvoranschlag 1993“ auf weitere Kürzungen der NATO-Verteidigungshilfe. In der BSR-Sitzung am 25. Mai 1992 habe BM Kinkel ausgeführt, „dass wir die Verteidigungshilfe für alle drei betroffenen Länder überprüfen und auf Dauer sogar einstellen sollten. Der Bundeskanzler hat daraufhin bestätigt, dass ‚wir die Verteidigungshilfe lediglich überprüfen würden, aber mit Tendenz zu geringeren Leistungen‘.“ Daher solle darauf geachtet werden, dass „das Volumen der Verteidigungshilfe eine gewisse Grenze nicht unterschreitet.“ Vgl. B 29, ZA-Bd. 213064. Vgl. weiter Dok. 333. 17 An dieser Stelle vermerkte VLR I Kuhna handschriftlich: „Die mit Bo[tschafter] 2-Z 2 besprochenen Änderungen sind eingearbeitet.“

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24. April 1992: Vorlage von Derix

116 Vorlage des Vortragenden Legationsrats I. Klasse Derix für Bundesminister Genscher 214-321.05 TSE

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Über Dg 21 i. V.2, D 2 i. V.3, Herrn Staatssekretär4 Herrn Bundesminister5 Betr.: Deutsch-tschechoslowakischer Vertrag über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit6; hier: Ratifizierung durch die tsl. Föderalversammlung am 22.4.1992 Bezug: Ihre Weisung vom 24.4.1992 Anlg.: 57 Zweck der Vorlage: Zur Unterrichtung 1) Die tschechoslowakische Föderalversammlung hat nach eintägiger, zum Teil kontroverser, aber insgesamt lustloser Debatte am 22. April 1992 den deutsch-tschechoslowakischen Nachbarschafts- und Freundschaftsvertrag mit 144 gegen 33 Stimmen bei 47 Enthaltungen angenommen. Gegen den Vertrag stimmten außer den Kommunisten die Sozialdemokraten sowie slowakische Nationalisten. Im Zusammenhang mit der Billigung des Vertrags hat das tsl. Bundesparlament – entgegen den ursprünglichen Absichten bestimmter Parteien und interessierter Gruppen – keine gesonderte Entschließung verabschiedet. In der Debatte hat AM Dienstbier vor allem die Bedeutung des Vertrags für die Eingliederung der ČSFR in das demokratische Europa hervorgehoben und dem Vertrag eine Schlüsselrolle für die ČSFR zugewiesen. Seinem Engagement ist die Ratifizierung mit einer insgesamt beachtlichen Mehrheit zuzuschreiben. Der Bericht der Botschaft Prag vom 23.4. konnte wegen technischer Probleme erst am 24.4 abgesetzt werden; er ist als Anlage 5 beigefügt.8 1 2 3 4 5

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Die Vorlage wurde von LR I Eberts konzipiert. Hat in Vertretung des MDg von Studnitz VLR I Derix am 24. April 1992 erneut vorgelegen. Hat in Vertretung des MD Chrobog MDg Schilling am 24. April 1992 vorgelegen. Hat StS Kastrup am 24. April 1992 vorgelegen, der handschriftlich vermerkte: „Mein Entwurf einer Entschließung ist beigefügt.“ Hat BM Genscher am 25. April 1992 vorgelegen. Hat OAR Rehlen am 27. April 1992 vorgelegen, der den Rücklauf über das Büro Staatssekretäre, MD Chrobog und MDg von Studnitz an Referat 214 verfügte. Hat VLR I Reiche am 27. April 1992 vorgelegen. Hat Chrobog am 28. April 1992 vorgelegen. Hat Studnitz am 29. April 1992 vorgelegen. Hat VLR I Derix am 4. Mai 1992 erneut vorgelegen. Die Bundesrepublik und die ČSFR schlossen am 27. Februar 1992 einen Vertrag über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit. Vgl. BGBl. 1992, II, S. 463–473. Vgl. auch Dok. 64. Vgl. Anm. 8, 9, 11 und 12. Beigefügt war zudem der „Entwurf einer Entschließung des Deutschen Bundestages zum Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Tschechischen und Slowakischen Föderativen Republik über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit“. Vgl. Anm. 4. Dem Vorgang beigefügt. Mit dem am 24. April 1992 erneut übermittelten DB Nr. 611 vom 23. April 1992 informierte Botschafter Huber, Prag, über die Ratifizierung des deutsch-tschechoslowakischen Vertrags

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24. April 1992: Vorlage von Derix

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2) In der Debatte des Bundesparlaments stand – wie in der vorausgegangenen öffentlichen Diskussion – die Kontroverse um den Begriff „Vertreibung“ in der Präambel des Vertrags im Vordergrund. Die Gegner der Verwendung dieses Begriffes äußerten erneut die Befürchtung, es könnten daraus in der Zukunft Ansprüche der Sudetendeutschen abgeleitet werden. In der als Anlage 1 beigefügten Denkschrift der tsl. Regierung zu dem Vertrag9 wird in einschränkender Interpretation (S. 2/3) des Begriffs zwischen einer frühen „wilden“ Phase der ungeordneten Vertreibung und einer späteren, nach Maßgabe des Potsdamer Abkommens10 „legalen“ Phase der „Aussiedlung“ unterschieden. Dabei wird postuliert, dass sich der in der Präambel verwendete Begriff ausschließlich auf die erstere beziehe. Diese Interpretation findet im Wortlaut des vom tsl. Parlament nunmehr ratifizierten Vertrags keine Stütze. In den Verhandlungen wurde von tsl. Seite eine derartige einschränkende Interpretation auch nicht vorgebracht. Zudem steht sie im Widerspruch zu mehrfachen Äußerungen StP Havels, der sich deutlich und ohne jegliche Relativierung dafür ausgesprochen hatte, das Vertreibungsunrecht auch als solches zu benennen. Im Vorfeld der Ratifizierungsdebatte hatten sich bekanntlich 30 Abgeordnete der Föderalversammlung in Schreiben an die Signatarstaaten des Potsdamer Abkommens gewandt, um ihre Interpretation der Vertreibung als „geordnete und humane Umsiedlung“ im Sinne des Potsdamer Abkommens bestätigen zu lassen. Die US-Regierung und die britische Regierung haben – nach offenkundiger vorheriger Abstimmung untereinander – in einer Weise darauf geantwortet, die deutlich macht, dass beide Länder nicht in die innenpolitischen Auseinandersetzungen der ČSFR hineingezogen werden wollen (vgl. Anlg. 211 u. 312). Die französische Seite beabsichtigt nach unserer Kenntnis nicht, das Schreiben zu beantworten. Von einer Reaktion der russischen Seite ist uns nichts bekannt. Fortsetzung Fußnote von Seite 488 vom 27. Februar 1992 über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit durch die Föderalversammlung am 22. April 1992. Vgl. B 42, ZA-Bd. 156432. 9 Dem Vorgang beigefügt. BR I Hiller, Prag, übermittelte am 31. März 1992 eine „Arbeitsübersetzung des Gesetzentwurfs zur Ratifizierung des Nachbarschaftsvertrags“. Vgl. FK Nr. 33; B 42, ZA-Bd. 156432. 10 Auf der Konferenz vom 17. Juli bis 2. August 1945 in Potsdam trafen die britischen PM Churchill bzw. ab 28. Juli 1945 Attlee mit dem amerikanischen Präsident Truman und dem Vorsitzenden des Rates der Volkskommissare der UdSSR, Stalin, zusammen. Für das Kommuniqué vom 2. August 1945 über die Konferenz von Potsdam („Potsdamer Abkommen“) vgl. DzD II/1, S. 2102–2148. 11 Dem Vorgang nicht beigefügt. Botschafter Huber, Prag, übermittelte am 25. Februar 1992 den Text des auf den Folgetag datierten Antwortschreibens der amerikanischen Botschafterin in Prag, Temple Black, „auf Brief tsl. Abgeordneter an Signatarmächte des Potsdamer Abkommens zu Frage der Vertreibung“. Dazu teilte er mit: „US-Schreiben zitiert lediglich Artikel XII des Drei-Mächte-Protokolls von Berlin (Potsdam) und weist im Übrigen darauf hin, dass jeder Bezug in dem Nachbarschaftsvertrag hinsichtlich der Frage der Vertreibung (transfer of the German population from Czechoslovakia) eine bilaterale Angelegenheit zwischen den beiden betroffenen Staaten Deutschland und Tschechoslowakei sei und US-Regierung jeden Kommentar insoweit für nicht angemessen halte.“ Vgl. DB Nr. 299; B 42, ZA-Bd. 156431. 12 Dem Vorgang beigefügt. BR I Hiller, Prag, übermittelte am 13. März 1992 ein Antwortschreiben des britischen Botschafters in Prag, Brighty, vom 26. Februar 1992 an einen Abgeordneten der tschechoslowakischen Föderalversammlung, der in tschechoslowakischer Übersetzung in der Presse gedruckt worden sei. Vgl. B 42, ZA-Bd. 156432.

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24. April 1992: Vorlage von Derix

Wir haben bisher davon abgesehen, die restriktive Interpretation des Begriffs „Vertreibung“ in der Denkschrift mit der tsl. Seite aufzunehmen. Der Vertragstext bietet keinerlei Anhaltspunkt für diese Interpretation. Angesichts der innenpolitischen Situation in der ČSFR vor den Juni-Wahlen13 wäre von tsl. Seite nur eine unbefriedigende, das Verhandlungsergebnis im Nachhinein beeinträchtigende Stellungnahme zu erwarten. Das Ratifizierungsverfahren unserer gesetzgebenden Körperschaften wird aber Gelegenheit bieten, die deutsche Haltung in dieser Frage nochmals klarzustellen. 3) Ein weiterer wichtiger Punkt in der Debatte war erneut die Frage der Nichtigkeit des Münchener Abkommens14. In der Föderalversammlung kam die tsl. Auffassung hierzu (Nichtigkeit ex tunc, vgl. Denkschrift in Anlg. 1, S. 3) erneut zum Ausdruck. Wir haben in den Vertragsverhandlungen deutlich gemacht, dass wir über die Regelung im Prager Vertrag von 197315 in der Sache nicht hinausgehen können. Dem ist durch die Bestätigung des Prager Vertrags in der Präambel des Nachbarschaftsvertrags Rechnung getragen worden. Unsere Position in dieser Grundfrage ist somit unberührt. Den ursprünglichen Wunsch der tsl. Seite, in den Vertrag eine Formulierung über die Kontinuität der dt.-tsl. Grenze seit 1918 aufzunehmen, haben wir im Hinblick auf die Problematik des Münchener Abkommens nicht akzeptiert. Stattdessen enthält die Präambel eine Formulierung über die „Anerkennung der Tatsache, dass der tschechoslowakische Staat seit 1918 nie zu bestehen aufgehört hat“. Diese Formulierung ist für unseren Rechtsstandpunkt unbedenklich und wurde von der tsl. Seite akzeptiert. 4) Einige Abgeordnete sprachen erneut auch die Frage des Begriffs „zwischen ihnen (den Vertragsparteien) bestehende Grenze“ (Art. 3, Abs. 1) kritisch an. Wir haben bereits bei den Verhandlungen deutlich gemacht, dass für uns die Begriffe „Grenze“ und „Staatsgrenze“ synonym sind. Der begleitende Briefwechsel spielte in der Debatte der Föderalversammlung keine besondere Rolle. 5) Erste Wertung: Dass den 144 Ja-Stimmen 80 Stimmen („Nein“ und Enthaltungen) gegenüberstehen, die ihre Zustimmung versagten, macht die innenpolitische Brisanz bestimmter Aspekte des Nachbarschaftsvertrags in der ČSFR deutlich. Gleichwohl hat der Vertrag in der Föderalversammlung eine ausreichende Mehrheit gefunden, sodass er seine Rolle als neuer Rahmen für die künftige weitere Ausgestaltung des deutsch-tschechoslowakischen Verhältnisses erfüllen kann. Mit der Ratifizierung des Nachbarschaftsvertrags durch die tsl. Föderalversammlung hat die innenpolitische Auseinandersetzung in der ČSFR einen vorläufigen Abschluss gefunden. Es ist jedoch davon auszugehen, dass der weitere Verlauf des parlamentarischen Zustimmungsverfahrens in der Bundesrepublik Deutschland von allen Beteiligten mit großem Interesse verfolgt werden wird. Die Ratifizierungsdebatte und das Abstimmungsergebnis im tsl. Bundesparlament bestätigt den Willen der tsl. Seite, die Beziehungen zur Bundesrepublik Deutschland in zutreffender Einschätzung der Rolle Deutschlands in Europa substanziell und zukunftsorientiert auszubauen. Sie machen zugleich aber auch deutlich, 13 Zu den Parlamentswahlen am 5./6. Juni 1992 in der ČSFR vgl. Dok. 216, Anm. 3. 14 Für das Münchener Abkommen vom 29. September 1938 vgl. ADAP, D, II, Dok. 675. 15 Für den Vertrag vom 11. Dezember 1973 über die gegenseitigen Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und der ČSSR vgl. BGBl. 1974, II, S. 990–992. Vgl. auch AAPD 1973, III, Dok. 412.

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24. April 1992: Vorlage von Haber

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dass die Folgen aus der jüngsten Vergangenheit noch keineswegs überwunden sind. Der Prozess der Verständigung und Versöhnung wird deshalb auch noch ein weiter Weg bleiben. Derix B 42, ZA-Bd. 156432

117 Vorlage der Legationsrätin I. Klasse Haber für Bundesminister Genscher 213-321.39 RUS

24. April 19921

Über Dg 21 i. V.2, D 2 i. V.3, Herrn Staatssekretär4 Herrn Bundesminister5 Betr.:

Deutsch-russisches Protokoll über die stufenweise Wiederherstellung der WolgaRepublik6; hier: Perspektiven der Umsetzung

Bezug: auf Weisung BM vom 24.4.92 Anlg.: Text des Protokolls7 Zweck der Vorlage: Zur Unterrichtung Am 23.4.92 hat PStS Waffenschmidt das in drei Verhandlungsrunden vollständig vom AA ausgehandelte „Protokoll über die Zusammenarbeit ... zur stufenweisen Wiederherstellung der Staatlichkeit der Russlanddeutschen“ paraphiert, er wird vermutlich anlässlich seiner Reise in das Wolga-Gebiet am 29./30.5. auf Unterzeichnung drängen. Die Implementierung des Protokolls durch die russische Regierung und die Akzeptanz der getroffenen Regelungen für die deutsche Bevölkerung in der ehemaligen Sowjetunion müssen jedoch mit Skepsis betrachtet werden: 1) Die Äußerungen Jelzins in Saratow vom 8.1.928 stehen weiterhin im Raum, die Zurückhaltung der russischen Seite, die Wiederherstellung der Wolga-Republik (WR) in den alten 1 2 3 4 5

Die Vorlage wurde von LR I Foth konzipiert. Hat in Vertretung des MDg von Studnitz VLR I Derix am 24. April 1992 vorgelegen. Hat in Vertretung des MD Chrobog MDg Schilling am 24. April 1992 vorgelegen. Hat StS Kastrup am 24. April 1992 vorgelegen. Hat BM Genscher am 26. April 1992 vorgelegen. Hat OAR Rehlen am 27. April 1992 vorgelegen, der den Rücklauf über das Büro Staatssekretäre, MD Chrobog und MDg von Studnitz an Referat 213 „für Vorlage bis 4.5. (siehe S. 2)“ verfügte. Vgl. Anm. 10. Hat VLR I Reiche am 27. April 1992 vorgelegen. Hat Chrobog am 28. April 1992 vorgelegen. Hat Studnitz am 29. April 1992 vorgelegen. 6 Zur Frage der Wiedererrichtung einer Wolga-Republik vgl. Dok. 20. 7 Dem Vorgang beigefügt. Vgl. B 41, ZA-Bd. 158740. Vgl. auch BULLETIN 1992, S. 410–412. 8 Zu den Äußerungen des russischen Präsidenten Jelzin vgl. Dok. 20, Anm. 6.

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24. April 1992: Vorlage von Haber

Siedlungsgebieten zuzulassen, ist nicht grundsätzlich aufgegeben. Ansätze zur Autonomie („Autonomer Kreis“ – zwei Stufen unter „Autonome Republik“) gibt es – im Gebiet Saratow nur auf der Sowchose 23 (25 000 ha); das Gelände war schon zuvor bekannt. Maximal 200 Familien können dorthin zugesiedelt werden. – Im Gebiet Wolgograd wird weiterhin an das Raketentestgelände Kapustin Jar gedacht (Erwähnung auf PK auf Anraten von Waffenschmidt von Russen unterlassen) sowie an ein südlich daran gelegenes Gebiet um die Stadt Elton, beides liegt weit außerhalb der ehemaligen WR und entlegen von Bewässerungsmöglichkeiten aus der Wolga. Aus psychologischen und praktischen Gründen ist daher dort eine Besiedlung durch die Deutschen nicht realistisch. 2) Auf der russischen Seite bestehen völlig überzogene Erwartungen hinsichtlich des finanziellen Engagements der Bundesrepublik. Vor allem die Gouverneure der beiden Gebiete erwarten Sanierung ihrer maroden Betriebe. Die Stimmung der Lokalbevölkerung zugunsten des deutschen Zuzugs und einer späteren Republik soll durch spürbare Verbesserung des Lebensstandards erkauft werden. Die Frage der Deutschen ist für beide zweitrangig. Sie haben ein Interesse daran, dass die antideutsche Stimmung an der Wolga bleibt: Das sichert Wählerstimmen, Macht und Gehör in Moskau sowie deutsches Geld. Das Missverhältnis von Erwartungen und möglichen Leistungen ist nicht zuletzt durch die zwielichtigen Machenschaften der Mittlerorganisation der Bundesregierung, Verein für das Deutschtum im Ausland (VDA), d. h. vertragliche Zusagen zulasten der Bundesrepublik und offensichtlich auch Bestechungsgelder, erzeugt worden (213 liegen dazu Beweise vor; zum Stand der Ermittlungen des Bundesrechnungshofes folgt gesonderte Aufzeichnung9). Die sich schon jetzt abzeichnenden finanziellen Forderungen können unsererseits nicht erfüllt werden und damit der russischen Seite den Vorwand bieten, eine Autonomie immer weiter hinauszuzögern.10 Umgekehrt wird es angesichts der fatalen Haushalts- und Wirtschaftslage sowie der allgemeinen Konzeptionslosigkeit der russischen Seite schwerfallen, ihrerseits irgendwelche ernstzunehmenden finanziellen Mittel für die Ansiedlung von Deutschen (Häuserbau, Schaffung von Infrastruktur) zur Verfügung zu stellen. Der ungleich größere Teil der Last liegt damit auf deutschen Schultern. Aber: Mit Blick auf die enormen Summen, die für den WGT-Häuserbau bereitgestellt wurden, kann man sich vorstellen, wie wenig mit DM 100 Mio. zu erreichen ist. 3) Trotz Einbeziehung führender Vertreter der Deutschen in die russische Delegation (Groth, Falk und Martens saßen mit am Verhandlungstisch; Groth brachte konkrete Ver9 VLR Mülmenstädt notierte am 23. Juli 1992, das BMI verweigere dem Auswärtigen Amt eine Unterrichtung, „geschweige denn eine Beteiligung“ an seinen Fördermaßnahmen für Russlanddeutsche: „Bei der einzigen Mittlerorganisation, über die die Projekte beider Häuser bislang abgewickelt werden, dem Verein für das Deutschtum im Ausland (VDA), hat seit Ende 1991 der Bundesrechnungshof ermittelt“. Dieser rüge, „dass die ‚Vergabepraxis des VDA mit einer ordnungsgemäßen Geschäftsführung nicht im Einklang steht“. In einem Schreiben an den Haushaltsausschuss des Bundestags habe der Bundesrechnungshof bereits am 15. Juni 1992 darum gebeten, „die bislang gesperrten DM 50 Mio. dem BMI nicht freizugeben. Bislang sind ausschließlich die Wirtschaftsprojekte des BMI untersucht worden, für deren Abwicklung der VDA weder Know-how noch Kapazitäten besaß. BMI hat bereits erste Konsequenzen gezogen und mit der Diversifizierung der Mittlerorganisationen begonnen.“ Die vom Auswärtigen Amt finanzierten kulturellen Projekte hätten dem Bundesrechnungshof keinen Anlass für eine Prüfung gegeben. Vgl. B 41, ZA-Bd. 158741. 10 Zu diesem Satz vermerkte BM Genscher handschriftlich: „Vorlage bis 4.5.“ Vgl. Anm. 5.

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änderungsvorschläge ein, die z. T. übernommen wurden), ist deren Unterstützung für das Projekt nicht sicher. Groth hatte sich angesichts des russischen Widerstands an der Wolga und der Hinhaltetaktik der russischen Regierung seit einigen Jahren vor dem letzten Kongress der Deutschen (Moskau, 20. – 22.3.92) von der Idee der Wolga-Republik distanziert und auf Ausreise bzw. Umsiedlung in die Ukraine gesetzt. Er hatte damit zwar auf dem Kongress eine Niederlage erlitten, seine Skepsis über die Echtheit des russischen Engagements für die deutsche Minderheit dürfte jedoch von vielen seiner Landleute geteilt werden. Auch im Lichte der wenig konkreten Aussage des Protokolls zur Wiederherstellung der Wolga-Republik (Art. 1 bekräftigt lediglich die Absicht dazu) ist kaum mit einer stärkeren Zuwanderung an die Wolga zu rechnen. Fazit: Auch nach Entsperrung der 100 Mio. DM, die der Deutsche Bundestag im Haushaltsjahr 1992 für die Wiederherstellung der Wolga-Republik bereitgestellt hat, ist mit einer Wiedererrichtung der deutschen Autonomie auf absehbare Zeit nicht zu rechnen. Der Aussiedlerstrom in die Bundesrepublik11 wird von der vertraglichen Vereinbarung unbeeinflusst, der Zuzug Deutscher an die Wolga minimal bleiben. Es wird jetzt unsere Aufgabe sein, im Dialog mit den jeweiligen Staaten der Abwanderung an ihrem Ursprungsort Herr zu werden, nämlich vor allem in Kasachstan und Kirgistan. 12 Haber B 41, ZA-Bd. 158740

118 Gespräch des Bundesministers Genscher mit dem belgischen Außenminister Claes 203-321.11 BEL

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Vom BM noch nicht gebilligt Beide Minister stellten mit Befriedigung fest, dass zwischen D und B Übereinstimmung, vor allem in EG-Fragen, besteht. 11 Zur Entwicklung der Aussiedlerzahlen im ersten Quartal 1992 vgl. BULLETIN 1992, S. 368. 12 BRin Hertrampf, Moskau, informierte am 10. Juli 1992, das Protokoll über die Zusammenarbeit zwischen der Bundesrepublik und Russland zur Wiederherstellung der Staatlichkeit der Russlanddeutschen sei am selben Tag in Moskau unterzeichnet worden, auf deutscher Seite von Botschafter Blech und dem Beauftragten der Bundesregierung für Aussiedlerfragen, PStS Waffenschmidt, BMI. Vgl. DB Nr. 2955; B 41, ZA-Bd. 158741. 1 Kopie. Der Gesprächsvermerk wurde von VLR I Nestroy am 29. April 1992 gefertigt. Hat MD Dieckmann am 30. April 1992 vorgelegen. Hat VLR Cuntz am 4. Mai 1992 vorgelegen.

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AM Claes unterstrich Interesse an D durch diese erste Reise als neuer Außenminister2 in das Ausland. Auf die Frage von BM nahm AM Claes zur Ratifikation von Maastricht3 in B Stellung: Er sehe keine Probleme mit einer rechtzeitigen Ratifikation. Als belgische Besonderheit müssten dort alle drei Gemeinschaften jeweils mit Mehrheit für Maastricht stimmen. Das sei allerdings ohne Probleme. Eine andere Besonderheit in B sei, dass die Frage der Verfassungsänderungen erst nach der Ratifizierung zu stellen und beantworten sei.4 BM erläuterte, dass in der Bundesrepublik die Frage der Länderbeteiligung von Bedeutung sei. Sie werde aber die Ratifizierung letztlich nicht verzögern. Weiterhin trete er für eine Vorverlegung der Überprüfungskonferenz5 nach Maastricht ein. AM Claes stimmte dem generell zu. Zur Frage der Erweiterung führte er aus, dass die neuen Mitglieder sowohl den Acquis als auch die politische Finalität ohne Vorbehalte annehmen müssten. Sodann auch, dass Maastricht nicht eine Endlösung, sondern nur eine Übergangsphase bedeute. Eine Erweiterung käme zunächst nur für EFTA-MS in Betracht. Die Visegrád-Staaten seien dazu – auf absehbare Zeit – noch nicht in der Lage. BM unterstrich, dass gerade hierfür die Assoziations-Verträge6 von besonderer Bedeutung seien, da sie die östlichen Staaten an die EG heranführten. Die Neutralität künftiger MS sei, so BM, Sache der Beitrittskandidaten. Sie sei sehr unterschiedlich in Form und Charakter. Die Schweiz sei schon vor dem Ost-West-Konflikt neutral gewesen. Österreich hingegen habe sich im Rahmen des Ost-West-Konfliktes für neutral erklärt.7 Deshalb sei die österreichische Neutralität wie die finnische8 nunmehr gegenstandslos. AM Claes wiederholte, dass er wegen anderer Kandidaten als der EFTA-MS wenig enthusiastisch sei. Auf Frage von AM Claes betonte BM, dass das D-F-Korps nur der Kern eines europäischen Korps sein solle. D hoffe, dass B ebenso wie Spanien als erste Staaten sich anschließen würden. Dies würde den europäischen Charakter des Korps besonders verdeutlichen. 2 Willy Claes wurde am 7. März 1992 als belgischer AM vereidigt. 3 Zum Vertragswerk von Maastricht vgl. Dok. 3, Anm. 8. 4 Gesandter Buerstedde, Brüssel, berichtete am 18. Mai 1992, der belgische Staatsrat habe am 13. Mai 1992 entschieden, „Artikel 4 der belgischen Verfassung, der gegenwärtig belg. Staatsangehörigen das Wahlrecht vorbehält, müsse vor der Ratifizierung von Maastricht geändert werden.“ Diese für Regierung und Parlament nicht bindende Stellungnahme erschwere „die von der Regierungskoalition gewünschte Ratifizierung vor Ende 1992: Die Regierung Dehaene wollte die eigentlich unter den großen Parteien unstrittige Ratifizierung nicht mit dem Wahlrechtsthema befrachten, das zum Ausbruch von kommunitären Spannungen unter Flamen und Wallonen führen könnte.“ Vgl. DB Nr. 234; B 210, ZA-Bd. 162210. 5 Zur Überprüfungskonferenz für das Vertragswerk von Maastricht vgl. Dok. 86, Anm. 21. 6 Die EG schloss am 16. Dezember 1991 Europa-Abkommen zur Gründung einer Assoziation mit Polen bzw. Ungarn. Vgl. BGBl. 1993, II, S. 1317–1471 bzw. S. 1473–1714. Vgl. auch AAPD 1991, II, Dok. 407. Ebenso wurde ein entsprechendes Abkommen mit der ČSFR geschlossen. Vgl. BULLETIN DER EG 12/1991, S. 97 f. 7 Vgl. Artikel I des Bundesverfassungsgesetzes vom 26. Oktober 1955 über die Neutralität Österreichs; BUNDESGESETZBLATT FÜR DIE REPUBLIK ÖSTERREICH 1955, S. 1151. 8 Vgl. die Interpretationserklärung der finnischen Regierung vom 21. September 1990 zum Friedensvertrag vom 10. Februar 1947 mit Finnland sowie zum Vertrag vom 6. April 1948 zwischen Finnland und der UdSSR über Freundschaft, Zusammenarbeit und wechselseitigen Beistand; AAPD 1990, II, Dok. 321.

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AM Claes antwortete, dass er diesen Wunsch gern seiner Regierung vorlegen würde. Wichtig sei dafür allerdings, dass eine klare Verbindung zwischen WEU und EG festgestellt würde.9 Das Korps müsse unbedingt innerhalb des europäischen Rahmens angesiedelt sein. Er habe hier Zweifel bzgl. der französischen Haltung. BM versicherte, dass es zwischen D und F bzgl. der europäischen Verteidigungsidentität sehr weit angenäherte Standpunkte gäbe und dass es neben NATO und WEU keine anderen Institutionen in diesem Bereich geben werde. Die Motivlage sei bei D und F identisch. AM Claes hielt es für sehr wichtig, dass diese Offenheit klar zum Ausdruck käme. Er führte aus, dass B keine nationalen Truppen für ein solches Korps zur Verfügung stellen könnte, die nicht in der NATO integriert sind. BM erläuterte, dass die doppelte Assignierung die Antwort darauf sei, wie das auch in D der Fall sei. AM Claes wiederholte, dass er, wenn eine feste Verbindung des Korps zur WEU bestehen werde, seiner Regierung vorschlagen werde, die Beteiligung von B an dem Korps positiv zu betreiben. Auf die entsprechende Frage betonte BM, dass D auch ein grundsätzliches Interesse an der Beteiligung Spaniens hätte. Er sei zuversichtlich, dass auf D-F-Gipfel in La Rochelle10 eine Erklärung zum D-F-Korps abgegeben würde. Zur Out-of-area-Problematik werde es eine Formel geben: „Einsatz im Rahmen der Verfassung und der Charta der Vereinten Nationen“. Auf „Delors II“11 übergehend, betonte BM, dass für 1993 die Mittel ausreichten. Es wäre deshalb falsch, vorher eine Entscheidung zu forcieren. Es wäre sehr problematisch, wenn die Frage höherer finanzieller Leistungen für die EG jetzt mit der Ratifizierungsdebatte von Maastricht verbunden würde. AM Claes versicherte, dass B von Delors II wenig begeistert sei, vor allen Dingen, weil es bei weitem über Maastricht hinausgehe. B fordere einen „global approach“. Die Behandlung der Mehrwertsteuer sei seitens Belgiens möglich. Allerdings müsse auch die fünfte Finanzierungsquelle (eigene Einnahmen) geregelt werden. BM fragte nach der Haltung von B zur Behandlung von Bosnien-Herzegowina im Sicherheitsrat der VN12. AM Claes nannte den Vance-Bericht „sehr moderat“.13 Er mahnte, dass bald etwas geschehen müsse. 9 Zur Absicht, die WEU zur Verteidigungskomponente der EG zu entwickeln, vgl. die dem Maastrichter Vertragswerk vom 7. Februar 1992 beigefügten Erklärungen Belgiens, der Bundesrepublik, Frankreichs, Großbritanniens, Italiens, Luxemburgs, der Niederlande, Portugals und Spaniens, die Mitglieder der EG wie WEU waren; BGBl. 1992, II, S. 1324–1326. Vgl. auch AAPD 1991, II, Dok. 431. 10 Zu den deutsch-französischen Konsultationen am 21./22. Mai 1992 vgl. Dok. 142 und Dok. 144. 11 Zum „Delors-Paket II“ vgl. Dok. 102, Anm. 13. 12 Belgien gehörte 1991/1992 dem VN-Sicherheitsrat als nichtständiges Mitglied an. Zur Entschließung des VN-Sicherheitsrats vom 24. April 1992 zu Bosnien-Herzegowina vgl. Dok. 119, Anm. 8. 13 Zum Bericht des Sonderbeauftragten des VN-GS für Jugoslawien, Vance, vgl. Dok. 112, Anm. 7. Botschafter Graf zu Rantzau, New York (VN), teilte am 25. April 1992 mit, der am Vortag vorgelegte Vance-Bericht sei von VN-GS Boutros-Ghali „nochmals in einigen Punkten abgeschwächt worden […], da der Bericht in dieser Form nach Auffassung der westlichen SR-Mitglieder keine Grundlage für Vorgehen des SR bietet“. Vgl. DB Nr. 1033; B 30, Bd. 158146. Für den „Report of the Secretary-General pursuant to Security Council resolution 749 (1992)“ (S/23836) vgl. https://digitallibrary.un.org/record/143263.

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BM äußerte seine große Sorge, dass die Hinnahme eines Krieges im Westen dazu führen könne, dass auch in der GUS Kriege als führbar angesehen würden (Ansteckungsgefahr). Auf die Frage von AM Claes, was BM vom Sicherheitsrat für Bosnien-Herzegowina erwarte, antwortete BM: Blauhelme und Sanktionen. Er ergänzte, dass sich die internationale Lage insofern stark verändert habe, als in Bosnien-Herzegowina jetzt Moslems in der Verantwortung stünden. Dies würde eine Solidarisierung der arabischen Welt und entsprechende Veränderungen in internationalen Organisationen mit sich bringen. AM Claes führte aus, dass B im ehemaligen Jugoslawien sehr aktiv sei: in der Monitorgruppe und mit seinen 500 Soldaten in den gefährlichsten Gebieten. Belgien sei auch bereit zum nächsten Schritt, nämlich der Demilitarisierung. Die Regierung in Brüssel sei sehr überrascht von der Haltung des indischen VN-Befehlshabers14. Dieser habe trotz Vorliegens aller Voraussetzungen die entsprechenden Maßnahmen zur Demilitarisierung bisher nicht zugelassen. BM führte auf eine entsprechende Frage aus: D halte sich streng an das Badinter-Gutachten15: Jugoslawien sei zerfallen. Das neue aus Serbien und Montenegro gebildete Jugoslawien sei nicht identisch mit dem alten Jugoslawien, ebenso wenig, wie das für Slowenien und Kroatien zuträfe. Der Name allein könne hier nichts beweisen.16 Es sei eine Auseinandersetzung zwischen allen neuen Staaten über Vermögen, Schulden etc. erforderlich. Die Staatennachfolge Russland/Sowjetunion sei kein Beleg für eine Nachfolge seitens des neuen Jugoslawien, sondern ein Gegenargument. (Die GUS hatte sich in Alma Ata17 darauf verständigt. Eine vergleichbare Übereinkunft fehlt im Falle der Nachfolgestaaten Jugoslawiens.) Zu Mazedonien führte BM aus, dass die EG durch ihr Votum vom 16.12.9118 gewissermaßen gebunden sei, auf Griechenland Rücksicht zu nehmen. Zur Frage der Gebietsansprüche empfahl er einen besonderen Grenzvertrag zwischen Griechenland und Mazedonien. Bei der Namensgebung bedauerte er, dass diese Frage in Griechenland hochgeschraubt worden sei, plädierte aber dafür, dass Griechenland noch etwas Zeit gegeben würde. Keine Nachfolgeregierung könne sich anders verhalten als die derzeitige griechische Regierung, denn man müsse sich im Klaren sein, dass eine Entscheidung der EG gegen Griechenland zum Sturz der dortigen Regierung führen werde. 14 Chenicheri Satish Nambiar. 15 Zum Gutachten Nr. 1 der Schlichtungskommission der EG für Jugoslawien vom 29. November 1991 vgl. Dok. 16, Anm. 6. 16 Am 27. April 1992 verabschiedete das nur noch aus Abgeordneten aus Serbien und Montenegro bestehende jugoslawische Rumpfparlament eine neue Verfassung der Bundesrepublik Jugoslawien. MD Chrobog informierte am 29. April 1992, „dass die aus Serbien und Montenegro neu gebildete ‚Bundesrepublik Jugoslawien‘ mit dem früheren Jugoslawien nicht identisch ist und auch nicht die alleinige Rechtsnachfolge des früheren Jugoslawiens beanspruchen kann“. Die Bundesregierung erstrebe eine einheitliche Haltung des Westens: „Gegenwärtig läßt sich die gemeinsame Haltung höchstens (GRI ist davon praktisch schon abgewichen) so umreißen: Die Zwölf behalten sich zurzeit ihre Position zum Status der Bundesrepublik Jugoslawien vor. Fragen der Kontinuität sollten Gegenstand von Übereinkünften zwischen allen Republiken sein.“ Vgl. RE Nr. 4843; B 42, ZA-Bd. 175641. 17 Zur Übereinkunft vom 21. Dezember 1991 von elf ehemaligen Teilrepubliken der UdSSR vgl. Dok. 1, Anm. 2. 18 Zu den Leitlinien der EG-Mitgliedstaaten vom 16. Dezember 1991 vgl. Dok. 2, Anm. 10.

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AM Claes pflichtete bei, dass die EG ihren MS helfen müsse. Allerdings dürfe man die Glaubwürdigkeit der EG nicht aufs Spiel setzen. Diese verlange eine baldige Anerkennung, da die entsprechenden Bedingungen erfüllt sind. Belgien sei deshalb für eine baldige Anerkennung, räume allerdings ein, dass der griechischen Regierung noch ein wenig Zeit zu gewähren sei. Er empfahl, dass Griechenland sich internationale Garantien geben lassen solle, um endlich einlenken zu können. BM leitete auf die KSZE über und bat Belgien, sich an der Stärkung der KSZEInstitutionen und ihrer Handlungsfähigkeit zu beteiligen. Außerdem erbat er die Unterstützung von B zur Erklärung der KSZE zu einer regionalen Abmachung im Sinne von Kap. VIII der VN-Charta.19 AM Claes antwortete, dass B diese Idee voll unterstütze. Dies gelte auch für die deutschfranzösische Initiative zur Errichtung eines Schlichtungs- und Schiedsgerichtshofes.20 Allerdings sehe er ein Problem mit der französischen Idee eines Sicherheitsvertrages innerhalb der KSZE.21 Dafür sei die Zeit nicht reif. BM trug die entsprechende Passage der deutsch-französisch-polnischen Erklärung von Bergerac vor.22 AM Claes zeigte sich sehr befriedigt von dieser Formel und sagte, dass sie voll akzeptabel und ein „good approach“ sei, mit dem er voll einverstanden sein könne. BM kündigte an, dass er bei seinem bevorstehenden Besuch in den USA mit dem Bundespräsidenten versuchen werde, Washington für diese Formel zu gewinnen.23 AM Claes fügte hinzu, dass in absehbarer Zeit die Rechte und Pflichten der Mitgliedstaaten der KSZE im Rahmen eines Vertrages festgeschrieben werden sollten. 1

B 210, ZA-Bd. 162210

19 Zur Initiative, die KSZE zu einer Regionalorganisation nach Kapitel VIII der VN-Charta zu erklären, vgl. Dok. 105, Anm. 20. 20 Zur deutsch-französischen Initiative für eine Gesamteuropäische Schiedsinstanz vgl. Dok. 105, Anm. 27. 21 Zum französischen Vorschlag eines gesamteuropäischen Sicherheitsvertrags vgl. Dok. 87. 21 Für die Gemeinsame Erklärung, insbesondere Ziffer 3, nach dem Gespräch des BM Genscher mit den AM Dumas (Frankreich) und Skubiszewski (Polen) vgl. BULLETIN 1992, S. 409 f. Zum Treffen vgl. Dok. 114. 23 Im Rahmen des Staatsbesuchs des Bundespräsidenten Freiherr von Weizsäcker vom 28. April bis 3. Mai 1992 hielt sich BM Genscher vom 28. bis 30. April 1992 in den USA auf.

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119 Drahtbericht des Botschafters Weisel, Zagreb Fernschreiben Nr. 268 Betr.:

Aufgabe: 27. April 1992, 14.00 Uhr1 Ankunft: 27. April 1992, 17.33 Uhr

Gespräch mit Präsident Tudjman

Bezug: DB Nr. 267 vom 27.4.19922 1) Ich hatte heute ein einstündiges Gespräch mit Präsident Tudjman. Dabei wurden folgende Themen behandelt: Flüchtlinge aus B+H Präsident Tudjman beklagte sich, dass Kroatien mit dem anhaltenden Strom von Flüchtlingen aus B+H alleingelassen werde. Slowenien, Österreich und Deutschland hätten die Grenzen zugemacht. Es fehle an allem für die Flüchtlinge. Jetzt fehlten sogar Lebensmittel. Ich erwiderte, dass das Büro Deutsche Humanitäre Hilfe in Zagreb kräftig Hilfe leiste, auch und vor allem mit Lebensmitteln. Die Möglichkeit der Aufnahme von weiteren B+H-Flüchtlingen in D werde von deutschen Regierungsstellen geprüft. Es könne aber keinesfalls so sein, dass sich der Flüchtlingsstrom von Kroatien einfach nach Deutschland weiterbewege. Unsere Möglichkeiten seien im Hinblick auf die Massen von Asylbewerbern3 auch aus anderen Ländern nun wirklich begrenzt. T. bekundete Verständnis. Er bat um Unterrichtung seines Außenministers4 über alle deutschen Entscheidungen in dieser Sache. Situation in und um B+H Ich fragte den Präsidenten, ob reguläre Streitkräfte der kroatischen Nationalgarde in B+H operierten. General Adžić habe am 22.4. in einem Brief an VM von B+H, Doko, dies behauptet, und er habe die Dislozierung der kroatischen Einheiten samt Bewaffnung und Operationsgebiet in B+H genannt. Auch den Amerikanern lägen Berichte über kroatische Truppen in der westlichen Herzegowina vor. Präsident T. antwortete, es treffe nicht zu, dass reguläre kroatische Truppen in B+H operierten. Vielmehr sei es so, dass Freiwillige aus der Nationalgarde ausschieden, um 1 Hat VLR Wrede am 27. April 1992 vorgelegen. 2 Botschafter Weisel, Zagreb, informierte, vor der Botschaft warteten „etwa 50 Personen, die behaupten, an der deutschen, der österreichisch-slowenischen oder kroatisch-slowenischen Grenze zurückgewiesen worden zu sein“, nachdem sie mit Bussen aus Bosnien-Herzegowina evakuiert worden seien. Angesichts der erschöpften Aufnahmefähigkeit Kroatiens versuchten die Flüchtlinge, in andere Länder zu gelangen, „wobei D das bevorzugte Ziel ist, weil in D die günstigsten Aufnahmemöglichkeiten erwartet werden“. Das „Flüchtlingsproblem aus B+H“ müsse international angegangen werden: „Es ist durchaus vorstellbar, dass die Flüchtlinge in Kroatien eine vorläufige Aufnahme finden könnten, wenn die internationale Gemeinschaft für die Kosten aufkäme und auch die nötige Infrastruktur zur Verfügung stellte (Zelte, Feldbetten etc.).“ Vgl. B 30, ZA-Bd. 158146. 3 Für die Zahl und Herkunft der im März bzw. April 1992 registrierten Asylbewerber vgl. BULLETIN 1992, S. 38 und 47. 4 Zvonimir Šeparović.

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dann in B+H zur Verteidigung der kroatischen Siedlungen zu kämpfen. Es kämen auch viele Freiwillige aus Deutschland, den USA usw., deren Familien in B+H beheimatet seien. Niemand könne diese Menschen zurückhalten. Ich erwiderte, dass ich einen Gedanken äußern wolle: Wenn es so sei, dass keine regulären kroatischen Streitkräfte in B+H operierten, dann könne es zum Beweis der kroatischen Unschuld nützlich sein, wenn die EG-Monitoren die Truppenteile, die General Adžić genannt habe, in ihren Stellungen in Kroatien aufsuchten, um festzustellen, dass sie dort und nicht woanders seien. Präsident T. ging auf diese Bemerkung zunächst nicht ein. Als ich dann nachfragte, was er von diesem Gedanken halte, antwortete er, wenn die Verifizierung durch die EGMonitoren verlangt werde, könne sich KRO dem nicht entziehen. Ich erwiderte, dass bisher nichts dergleichen verlangt werde, sondern ich hätte mir eine kroatische Initiative in dieser Richtung als für KRO nützlich vorgestellt. Präsident T. sagte nichts darauf. Ich fragte sodann, wer denn die irregulären kroatischen Verbände in B+H bewaffne und bezahle. Präsident T. antwortete, das wisse er auch nicht. Ich sagte, ich verstehe sehr wohl das Dilemma, in dem sich KRO befinde: Einerseits habe es den natürlichen Wunsch, den Kroaten in B+H gegen die serbischen Freischärler und die JVA zu helfen, auf der anderen Seite dürfe es sich in dem diplomatisch-politischen Ringen aber keine Verletzung des Völkerrechts zuschulden kommen lassen. Da nach meiner Auffassung der Konflikt letztendlich auf dem diplomatisch-politischen Feld entschieden werde, sei dringend zu empfehlen, die Regeln des Völkerrechts strikt einzuhalten, um nicht rechtlich und damit diplomatisch-politisch ins Unrecht gesetzt zu werden. Es sei langfristig richtig, der Politik der Rechtstreue Vorrang vor allem anderen zu geben. D habe seit 1945 eine Politik strikter Rechts- und Vertragstreue verfolgt und habe nicht zuletzt dadurch sein Ansehen erlangt und seine nationalen Ziele erreicht. T. fragte, ob denn eine militärische Intervention der Staatengemeinschaft ausgeschlossen sei. Könne denn nicht die amerikanische 6. Flotte in die Adria einlaufen5 und damit drohen, bei weiteren Kriegshandlungen Serbiens einzugreifen? Könnten denn die NATO oder die WEU nicht intervenieren? Ich erwiderte, dass ich ein militärisches Eingreifen der Staatengemeinschaft für ausgeschlossen hielte. Die Gründe seien die gleichen, die ein Eingreifen im Fall Sloweniens und Kroatiens gehindert hätten und die T. wohlbekannt seien. Es bleibe dabei, der Konflikt müsse politisch-diplomatisch gelöst werden. Dabei sei ein Ergebnis mit Sicherheit vorgegeben: Es werde keine Anerkennung von gewaltsamen Eroberungen gegeben. Dies sei ein fundamentales Prinzip der Staatengemeinschaft, auf dem das friedliche Neben- und Miteinander der Staaten basiere, die wegen dieses Prinzips – sofern vorhanden – ihrem Wunsch nach Gebietserwerb nicht freien Lauf lassen könnten. – Während wir diesen Punkt behandelten, wurde der Präsident vom Verteidigungsminister6 angerufen, der mitteilte, dass sich ein jugoslawischer Flottenverband, einschließ5 Der Passus „amerikanische 6. Flotte in die Adria einlaufen“ wurde von VLR Wrede hervorgehoben. Dazu Fragezeichen. 6 Gojko Šušak.

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lich eines U-Bootes, auf Dubrovnik zubewege. Ich empfand, was es bedeuten muss, hilflos einer militärischen Übermacht ausgeliefert zu sein. – Präsident Tudjman meinte, Ziel der serbischen Operation sei es, das Gebiet östlich der Neretva (Ploče, Metković) einschließlich Dubrovniks in die Hand zu bekommen und dem neuen Staat Serbien/Montenegro einzuverleiben. T. sagte, wenn die kroatische Nationalgarde nur stark genug sei, werde sie die JVA und die serbischen Freischärler innerhalb von zwei Monaten aus Kroatien hinauswerfen. Ich übergab Präsident T. die Presseerklärung über das Gespräch von BM Genscher mit dem serbischen AM Jovanović7. T. sagte, alles, was der BM gesagt habe, stimme 100-prozentig mit kroatischen Positionen überein. Wir sprachen sodann über das Ergebnis der VN-Sicherheitsratssitzung vom 24.4.8 sowie über die bevorstehende Behandlung des Themas auf der KSZE-Konferenz am 29.4.9 T. äußerte die Besorgnis, dass die pro-serbischen Kräfte in beiden Gremien zu starken Einfluss hätten. Ich sagte, die Dinge seien durchaus im Fluss. Das Beste, was Kroatien tun könne, sei, einen „clean record“ glaubhaft zu machen. Zusammenarbeit KROs mit der EG Ich berichtete von meinem Besuch bei der EG-Kommission und empfahl, dass KRO nun seinerseits wegen des Abschlusses eines Handels- und Kooperationsabkommens initiativ wird. Ich sagte, dass zum Handels- und Kooperationsabkommen üblicherweise auch je ein Transitabkommen und ein Finanzprotokoll gehörten. Letzteres liege doch sehr im Interesse KROs. Tudjman war dieser Zusammenhang nicht bekannt. Er sagte, er werde MP Gregurić informieren, der ja morgen zu Verhandlungen nach Brüssel fahre. Bevorstehender Rücktritt BM Genschers10 Präsident T. fragte sehr besorgt nach den Auswirkungen des angekündigten Rücktritts BM Genschers auf die deutsche Politik gegenüber KRO. Ich sagte, dass die deutsche Politik 7 In dem Gespräch mit dem serbischen AM Jovanović am 23. April 1992 betonte BM Genscher den Wunsch nach guten Beziehungen zu Serbien. Er forderte den Rückzug der JVA aus Kroatien und BosnienHerzegowina und erklärte, „dass Serbien unverzüglich die Prinzipien der Europäischen Gemeinschaft für die Lösung der jugoslawischen Frage ohne Einschränkung und in verbindlicher Form akzeptieren müsse. Notwendig sei ferner, dass Serbien unverzüglich den nationalen und ethnischen Gruppen in Serbien, vor allem in Kosovo und der Wojwodina, die Rechte einräume, die für Serben in Kroatien vorgesehen seien.“ Genscher würdigte „die in dieser Begegnung abgegebene Erklärung des serbischen Außenministers, dass Serbien die territoriale Integrität Kroatiens und Bosnien-Herzegowinas anerkenne und dass Serbien bereit sei, abweichend von seiner früheren Haltung, den Zugang der aus dem ehemaligen Jugoslawien hervorgegangenen Staaten zu internationalen Organisationen zu unterstützen“. Vgl. Information des Pressereferats des Auswärtigen Amts, Nr. 140/92 vom 23. April 1992; B 7, ZA-Bd. 178990. 8 Botschafter Graf zu Rantzau, New York (VN), berichtete am 25. April 1992, der VN-Sicherheitsrat habe am Vortag eine Erklärung zu Bosnien-Herzegowina verabschiedet, in der die Bemühungen der EG und des VN-GS zur Durchsetzung eines Waffenstillstands begrüßt, zur Ermöglichung humanitärer Hilfe aufgefordert und Bemühungen um Friedensvermittlung unterstützt worden seien. Rantzau führte aus: „Die Erklärung greift nicht die Forderung nach Entsendung von VN-Friedenstruppen nach B+H auf, da diese im SR kurzfristig nicht durchsetzbar war.“ Vgl. DB Nr. 1033; B 30, ZA-Bd. 158146. Für die Entschließung vgl. RESOLUTIONS AND DECISIONS 1992, S. 12. 9 Zur AHB-Sitzung vgl. Dok. 112, Anm. 18. 10 BM Genscher kündigte am 27. April 1992 seinen Rücktritt als Außenminister an. Das Auswärtige Amt veröffentlichte am selben Tag den Wortlaut zweier Schreiben Genschers an BK Kohl, ein amtlich gehal-

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gegenüber KRO konstant bleiben werde. T. bedauerte lebhaft das Abtreten BM Genschers von der Bühne der Außenminister. Er bat mich, dem BM schon jetzt seine besten Wünsche für den weiteren Lebensweg zu übermitteln. 2) Zum wichtigsten Punkt des Gesprächs: Operieren reguläre kroatische Streitkräfte auf dem Boden B+Hs, kann ich nicht verhehlen, dass Präsident T. sein Dementi in nicht ganz überzeugender Weise vorgebracht hat. Ich möchte dem Präsidenten jedoch zugutehalten, dass dies auch an seiner oft unbeholfen wirkenden Art liegen kann. Jedenfalls dürften die Grenzen zwischen regulären und irregulären kroatischen Verbänden fließend sein. Ich fragte mich während des Gesprächs, als von den irregulären kroatischen Streitkräften die Rede war, wie das Selbstverteidigungsrecht in einem Staat wie B+H rechtlich zu definieren ist, in dem drei anerkannte Volksgruppen mit angestrebter eigener rechtlicher Verfassung existieren. Hat in diesem Fall nicht nur der Staat als solcher, sondern auch jede einzelne Volksgruppe das Recht auf Selbstverteidigung? Für gelegentliche Weisung zu dieser Frage wäre ich dankbar. 1

[gez.] Weisel B 42, ZA-Bd. 175606

Fortsetzung Fußnote von Seite 500 tenes und ein persönliches. In ersterem hieß es: „Wie mit Ihnen besprochen, bitte ich, die Entlassung für die erste Sitzungswoche nach dem 17. Mai 1992, dem 18. Jahrestag meiner erstmaligen Ernennung zum Bundesminister des Auswärtigen, vorzusehen.“ In dem zweiten, persönlichen Schreiben hieß es: „Aus dem Gespräch, das wir darüber erstmalig am Jahresbeginn geführt haben, weißt Du, dass diese Bitte das Ergebnis reiflicher Überlegungen ist. Es ist meine feste Überzeugung, dass dieser Schritt richtig und notwendig ist. Dies gilt auch für den Zeitpunkt.“ Vgl. Information des Pressereferats des Auswärtigen Amts, Nr. 143/92; B 7, ZA-Bd. 178990. Vgl. auch den Artikel „ ‚Wir haben Bleibendes für unser Land geschaffen‘ “; SÜDDEUTSCHE ZEITUNG vom 28. April 1992, S. 7. Auf seinen Antrag wurde Genscher am 18. Mai 1992 von Bundespräsident Freiherr von Weizsäcker gemäß Artikel 64 Absatz I GG aus dem Amt entlassen. Vgl. BULLETIN 1992, S. 508.

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28. April 1992: Telefongespräch zwischen Genscher und Boutros-Ghali

120 Telefongespräch des Bundesministers Genscher mit VN-Generalsekretär Boutros-Ghali 28. April 19921 Telefonat BM mit GS Boutros-Ghali, 28.4.1992, 9.10 Uhr (Zu Jugoslawien siehe gesonderter Vermerk2) GS Boutros-Ghali (GS) rief BM an, um ihm gute Neuigkeiten mitzuteilen. Er sei soeben aus Teheran zurückgekehrt3, wo er mit dem Präsidenten, auch unter vier Augen, gesprochen habe und von diesem eine positive Antwort in der Geiselfrage4 erhalten habe. Er habe sein Ehrenwort für die Einhaltung folgender drei Elemente geben müssen und auch gegeben: bessere Behandlung der Hamadis, das Recht der Hamadis, ihre Familienangehörigen zu empfangen, und dass man in einer weiteren Zukunft an eine endgültige Lösung denken könne. BM warf ein, dass dem GS natürlich bekannt sei, dass wir das dritte Element nicht indossieren könnten. GS erwiderte, er habe sich sehr vage ausgedrückt. Dies hätte Präsident Rafsandschani auch als vage Absichtserklärung verstanden. Sein Beauftragter Picco würde in den nächsten drei Tagen nach Damaskus reisen, um die Einzelheiten zu regeln. Im Übrigen habe er mit dem Präsidenten auch über Afghanistan und Nagorny Karabach gesprochen. Der Präsident sei dankbar für die Bemühungen der VN gewesen. GS drückte die Hoffnung aus, dass zwischenzeitlich nicht „etwas passiere“, was diese Abmachung gefährde. Auf erneute Nachfrage von BM bestätigte GS, dass es sich bei dem dritten Element nicht um eine Zusage, sondern ein vages Inaussichtstellen handele, von dem allen beteiligten Seiten bekannt sei, dass die Bundesregierung sich hierbei zu nichts verpflichten könne.5 B 46, ZA-Bd. 229626

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1 Kopie. Der Gesprächsvermerk wurde von VLR I Matussek am 28. April 1992 gefertigt. Hat VLR Gaerte am 6. Mai 1992 vorgelegen. 2 VLR I Matussek vermerkte am 28. April 1992, auf die Frage des BM Genscher, warum die VN keine „Blauhelme“ nach Bosnien-Herzegowina entsenden, habe VN-GS Boutros-Ghali auf das Finanzierungsproblem verwiesen und die Gegenfrage gestellt, „warum nicht die WEU eingriffe, etwa mit einer europäischen Flotte wie während des Golfkrieges“. Vgl. NL Genscher, Bd. 141. 3 VN-GS Boutros-Ghali hielt sich am 27. April 1992 im Iran auf. 4 Zum Entführungsfall Strübig und Kemptner vgl. Dok. 12, besonders Anm. 11 und 13. 5 VLR I von Hoessle übermittelte der Ständigen Vertretung bei den VN in New York am 8. Mai 1992 den Vermerk über das Telefongespräch des BM Genscher mit VN-GS Boutros-Ghali mit dem Hinweis, den letzten Absatz des Vermerks habe „BM Kinkel wie folgt kommentiert: ‚Bitte AA mitteilen, dass keinerlei Bewegungsmöglichkeit zu x (gemeint ist der vorstehend zitierte letzte Passus des Vermerks) besteht.‘“ Hoessle bat, den Sonderbeauftragten des VN-GS, Picco, „vom Inhalt des Vermerks und dem Kommentar des designierten Außenministers in Kenntnis zu setzen“. Vgl. DE Nr. 5185; B 46, ZA-Bd. 229626.

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121 Vorlage des Vortragenden Legationsrats Kaul für Bundesminister Genscher 310-310.10 NO

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Über Dg 311, D 32, Herrn Staatssekretär3 Herrn Bundesminister4 Betr.:

Nahost-Friedensprozess – Rolle Europas und weiteres Verhältnis EG – Israel; hier: Unsere Haltung

Zweck der Vorlage: Billigung der vorgeschlagenen Linie (Ziff. 7) für nahostpolitischen Meinungsaustausch bei informellem Ministertreffen in Guimarães/Portugal, 1./2.5.19925 und im Hinblick auf den Kooperationsrat EG/Israel, 12. Mai, Brüssel6 1) Die Zwölf sind am Nahost-Friedensprozess gemäß dem bei der Konferenz in Madrid7 grundsätzlich akzeptierten Verhandlungskonzept von AM Baker wie folgt beteiligt: (1) Bilaterale direkte Verhandlungen der Konfliktparteien Keine offizielle Beteiligung der Zwölf, aber jeweils informelle Präsenz der Troika der Nahost-Direktoren am Verhandlungsort (so auch bei fünfter Verhandlungsrunde ab 27.4. in Washington8). (2) Multilaterale Verhandlungen über regionale Fragen (wie in Moskau am 28./29.1.92 beschlossen9) in – AG Rüstungskontrolle und regionale Sicherheit (Washington, 11.–14. Mai), 1 2 3 4

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Hat MDg Bartels am 28. April 1992 vorgelegen. Hat MD Schlagintweit am 28. April 1992 vorgelegen. Hat StS Lautenschlager am 28. April 1992 vorgelegen. Hat BM Genscher am 3. Mai 1992 vorgelegen. Hat OAR Rehlen am 4. Mai 1992 vorgelegen, der den Rücklauf über das Büro Staatssekretäre, MD Schlagintweit und MDg Bartels an Referat 310 verfügte. Hat VLR I Reiche am 5. Mai 1992 vorgelegen. Hat Schlagintweit am 5. Mai 1992 erneut vorgelegen. Hat Bartels am 6. Mai erneut vorgelegen. Hat VLR I von Hoessle am 6. Mai 1992 vorgelegen. Zum informellen Treffen der Außenminister der EG-Mitgliedstaaten im Rahmen der EPZ vgl. Dok. 125. Zur Sitzung des Kooperationsrats EG – Israel vgl. Dok. 125, Anm. 8. Zur Friedenskonferenz über den Nahen Osten vom 30. Oktober bis 1. November 1991 vgl. Dok. 15, Anm. 6. Vom 27. bis 30. April 1992 fand in Washington die fünfte Runde der bilateralen Nahost-Verhandlungen zwischen Israel und den arabischen Staaten statt. Botschafter Ruhfus, Washington, teilte am 30. April 1992 mit, die Gespräche hätten „unerwartete Fortschritte erbracht. Diese bestanden einerseits in der von allen Parteien bestätigten weiter verbesserten Gesprächsatmosphäre […]. Andererseits hat gerade SYR-Delegation mit ihrer Ankündigung freier Ausreisemöglichkeit für syrische Juden die größte inhaltliche Überraschung geliefert“. Nach vier Gesprächsrunden in Washington bleibe „ein zuversichtliches Fazit: Der bilaterale Friedensprozess kehrt bereichert, gefestigt und beinahe schon fest institutionalisiert aus Amerika in den Mittelmeerraum zurück, wo er im Oktober 1991 begonnen hat.“ Vgl. DB Nr. 1389; B 36, ZA-Bd. 196081. Zur multilateralen Nahost-Friedenskonferenz vgl. Dok. 15, Anm. 14.

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AG regionale wirtschaftliche Entwicklung (Brüssel, 11./12. Mai), AG Wasser (Wien, 13.–15. Mai), AG Umwelt (Tokio, 18./19.Mai), AG Flüchtlingsfragen (Ottawa, 13.–15. Mai).

Jeweils im Grundsatz voll berechtigte Teilnahme der EG als solcher (duale Vertretung durch Präsidentschaft und EG-KOM), dazu auch Teilnahme einzelner EG-MS wie D in nationaler Eigenschaft. 2) Israel lehnt jedoch bisher die Beteiligung der Europäer (der EG und von EG-MS national) an der wichtigen multilateralen AG „Rüstungskontrolle“ vor allem mit folgenden Argumenten ab: – Bei diesen Gesprächen über vitale Sicherheitsinteressen Israels müsse es sich zunächst (?) um rein israelisch-arabische Gespräche handeln. – „Kein Vertrauen“ zu Europäern; voraussichtliche europäische Parteinahme für arabische Seite werde Gespräche behindern (Waffenlieferungen von EG-MS an Araber als Beleg für Parteilichkeit). – Da die EG ihre angeblichen „Verpflichtungen“ zu wirtschaftlichen Konzessionen im Verhältnis EG – Israel (angeblich aus Absprache AM Levy – EG-AM-Troika, Paris, 5.6.9110) nicht eingehalten habe, fühle Israel sich von dieser Absprache über europäische Beteiligung am NO-Friedensprozess frei. 3) Die israelische Verweigerung einer europäischen Teilnahme an der AG „Rüstungskontrolle“ ist derzeit ein ernstes, ungelöstes Problem im Verhältnis der Gemeinschaft zu Israel. Die Europäer sind über die bisherige israelische Ablehnung verstimmt, zumal diese einen klaren Verstoß gegen das Einvernehmen EG –Israel (Paris, 5.6.91: „Die Gemeinschaft wird am Tisch der Nahost-Konferenz sein und an den multilateralen Arbeitsgruppen teilnehmen, die die Konferenz bilden wird“) beinhaltet. Die Zwölf sind nicht bereit, die israelische Haltung ohne Weiteres hinzunehmen. Denn mit dieser Frage sind nach Auffassung der Zwölf grundsätzliche Aspekte verbunden: – Frage nach europäischer Rolle im Nahost-Friedensprozess insgesamt; – weiteres Verhältnis EG – Israel, dies auch im Anblick auf den anstehenden Kooperationsrat am 12. Mai mit – wie üblich – einer grundsätzlichen Erörterung der Perspektiven der weiteren Zusammenarbeit. 4) In der Frage der europäischen Beteiligung an der AG „Rüstungskontrolle“ erscheint ein Kompromiss möglich. Denkbare Kompromiss-Formeln wären etwa – bei erster AG-Sitzung Beteiligung der EG wie in Madrid (EG-Delegation geleitet von Präsidentschaft11; in Delegation je ein Vertreter EG-KOM und der EG-MS) oder – bei erster AG-Sitzung Teilnahme der Troika; – nationale Teilnahme einzelner EG-MS (wie in Moskau grundsätzlich beschlossen) erst bei weiteren AG-Sitzungen. Die Präsidentschaft und die Troika (NO-Direktoren) bemühen sich derzeit in enger Abstimmung mit den USA um eine Kompromisslösung mit Israel. Die USA unterstützen das 10 Zur Absprache der AM van den Broek (Niederlande), De Michelis (Italien) und Poos (Luxemburg) mit dem israelischen AM Levy vgl. den Vermerk des Referats 310 vom 4. Juli 1991; B 36, ZA-Bd. 196078. 11 Portugal hatte vom 1. Januar bis 31. Juli 1992 die EG-Ratspräsidentschaft inne.

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Prinzip europäischer Teilnahme. Die Erfolgsaussichten der Vermittlungsbemühungen sind unsicher. 5) Wegen dieser Frage und generell wegen der kompromisslosen Haltung12 der israelischen Regierung bei den Nahost-Verhandlungen und bei der trotz weltweiter Proteste intensiv fortgesetzten Siedlungstätigkeit gibt es derzeit in der EPZ (AG, auch in PK) eine intensive Diskussion unter den Zwölf über das weitere Verhältnis zu Israel. Bei unseren Partnern werden zunehmend Tendenzen und „Stimmungen“ erkennbar, die weitere Ausgestaltung der Beziehungen EG – Israel von der Haltung Israels beim NO-Friedensprozess abhängig zu machen. Die Frage ist besonders aktuell im Hinblick auf die Vorbereitung des EG-Kooperationsrates EG – Israel am 12. Mai in Brüssel, bei dem Israel voraussichtlich einen erneuten Anlauf zur „Zulassung Israels zum Europäischen Wirtschaftsraum“ unternehmen dürfte. (Hinter dieser Formel steht die israelische Vorstellung einer möglichst vollen Teilhabe Israels an den wirtschaftlichen Möglichkeiten in der EG, jedoch ohne die Pflichten der EG-Mitgliedschaft.) 6) Vor den Wahlen in Israel (23. Juni) sind spürbare Fortschritte beim Nahost-Friedensprozess unwahrscheinlich. Die Zwölf sollten in dieser Zeit keine dramatischen Akzente gegenüber Israel setzen, aber auch keine Behinderung ihrer Beteiligung am Nahost-Friedensprozess hinnehmen. 7) Wir sollten daher auch im EG-Kreis für eine ausgewogene Haltung mit folgenden Eckwerten eintreten. – Bestehen auf europäischer Teilnahme auch bei AG „Rüstungskontrolle“, zugleich Kompromissbereitschaft hinsichtlich des Formats der Teilnahme. – Kein Junktim mit der Teilnahme an anderen regionalen Arbeitsgruppen, dies wegen unseres Interesses am vollen Fortgang des Nahost-Friedensprozesses. – Kontinuierliches Drängen der Zwölf auf Fortschritte des Friedensprozesses. Zum weiteren Verhältnis EG – Israel – Kein grundsätzliches Infragestellen der Beziehungen EG – Israel bzw. des bisherigen Acquis der Beziehungen und Zusammenarbeit durch NO-politische Meinungsverschiedenheiten.13 – Keine zeitliche Verschiebung des geplanten Kooperationsrates (EG – Israel am 12.5. (wie intern von einer Minderheit der Partner anvisiert).14 – Sachliche Weiterbehandlung verschiedener israelischer Bitten um wirtschaftliche Konzessionen der EG (z. B. Marktzugang, Ursprungsregeln usw.) jeweils „on their merits“.15 Auf der anderen Seite – Kein besonderes Entgegenkommen der Zwölf („kein qualitativer Sprung in den Beziehungen“16) politisch wie auch wirtschaftlich gegenüber Israel, solange Israel beim Nahost-Friedensprozess keine Flexibilität zeigt (insbesondere bei Siedlungsfrage). 12 Korrigiert aus: „kompromisslosen und Haltung“. 13 Zu diesem Absatz vermerkte StS Lautenschlager handschriftlich: „r[ichtig]“. 14 Zu diesem Absatz vermerkte StS Lautenschlager handschriftlich: „r[ichtig]“. 15 Zu diesem Absatz vermerkte StS Lautenschlager handschriftlich: „r[ichtig]“. 16 Die Wörter „(,kein qualitativer Sprung in den Beziehungen‘)“ wurden von StS Lautenschlager hervorgehoben. Dazu vermerkte er handschriftlich: „Steht dieser zur Diskussion?“

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– Zugleich keine europäischen Versprechungen an Israel, die Gemeinschaft werde israelische Konzessionen beim NO-Friedensprozess jeweils durch Verbesserungen im Verhältnis EG – Israel „honorieren“ bzw. die von Israel betriebene „Verankerung im Europäischen Wirtschaftsraum“ akzeptieren. – In diesem Rahmen auch kein Eingehen auf israelische Bestrebungen, sich europäische Teilnahme an der AG „Rüstungskontrolle und regionale Sicherheit“ durch wirtschaftliche Konzessionen der EG abhandeln zu lassen.17 Unter den EG-Partnern (z. B. UK, F, B, P, SP) gibt es Stimmen, die Zwölf sollten bei dem anstehenden Kooperationsrat EG – Israel auch ihre Unzufriedenheit mit der bisherigen Haltung Israels im Friedensprozess auf dieser Linie deutlich zur Sprache bringen. Wir können dies ggfs., ohne uns zu exponieren, mittragen. Ref. 413 hat mitgezeichnet. Kaul B 36, ZA-Bd. 196093

122 Runderlass des Vortragenden Legationsrats Koenig 012-9-312.74 VS-NfD Fernschreiben Nr. 24 Ortez Betr.:

28. April 19921 Aufgabe: 29. April 1992

Besuch von BM Genscher in Bukarest am 21.4.1992

1) BM Genscher führte am 21.4.1992 in Bukarest Gespräche mit der rum. Führung. Anlass des Besuchs war die Unterzeichnung des dt.-rum. Vertrages über freundschaftliche Zusammenarbeit und Partnerschaft in Europa2 sowie eines Regierungsabkommens über die Zusammenarbeit in der Aus- und Weiterbildung von Fach- und Führungskräften3, die am gleichen Tage stattfand. BM sprach mit Präs. Iliescu, MP Stolojan und AM Năstase. Er empfing die Führung der Nationalliberalen Partei und der in der Demokratischen Konvention zusammengeschlossenen Opposition sowie Vertreter der deutschen Minderheit und der deutschsprachigen Medien. 17 Der Passus „Kein besonderes Entgegenkommen […] abhandeln zu lassen.“ wurde von StS Lautenschlager hervorgehoben. Dazu vermerkte er handschriftlich: „Hier sollten wir auch Partnern in der ‚Diskussion den Vortritt lassen‘ u. einen Konsens bei Festlegung der 12er-Haltung nicht im Wege stehen.“ 1 Kopie. Der Runderlass wurde von VLR I Libal konzipiert, dem er „vor Abgang“ am selben Tag zur Mitzeichnung vorgelegen hat. 2 Für den Vertrag vom 21. April 1992 über freundschaftliche Zusammenarbeit und Partnerschaft in Europa vgl. BGBl. 1993, II, S. 1775–1782. 3 Für das Abkommen vom 21. April 1992 über eine Zusammenarbeit in der Aus- und Weiterbildung von Fach- und Führungskräften der Wirtschaft vgl. BGBl. 1995, II, S. 212–214.

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2) Der dt.-rum. Vertrag ist das letzte Glied in einer Kette bilateraler Verträge mit den neuen Demokratien in Mittel- und Osteuropa. Er orientiert sich in seiner Gliederung weitgehend an den vergleichbaren Verträgen mit den anderen Staaten und behandelt in 32 Artikeln folgende Bereiche: – die Grundsätze der Beziehungen, – Europa (dt. Unterstützung für ein Assoziierungsabkommen mit der EG und weitere Heranführung an die Gemeinschaft), – Unterstützung regionaler Zusammenarbeit (Donau), – europäische Sicherheit (KSZE, Konsultationen in Krisenfällen, VN, kooperative Strukturen, Abrüstung, europäische Institutionen), – Zusammenarbeit auf den Gebieten Wirtschaft, Soziales, Wissenschaft, im Bereich der Kultur, der Jugend und der Medien und im Rechtswesen. Aus unserer Sicht liegt die zentrale Bedeutung des Vertrages in den Bestimmungen über die dt. Minderheit. Hier bestimmt der Vertrag, dass der KSZE-Standard, insbes. wie er im Dokument des Kopenhagener Treffens vom 29.6.19904 niedergelegt ist, „als Recht angewendet“ wird. Mit dieser Verpflichtung, den KSZE-Standard in die innere Rechtsordnung aufzunehmen, können auch zukünftige Entwicklungen des KSZE-Standards erfasst werden. Einige zentrale Bestimmungen aus dem Kopenhagener Dokument werden zitiert: das Recht auf Identitätswahrung, die Freiheit von erzwungener Assimilierung, das Diskriminierungsverbot und die wirksame Teilnahme an öffentlichen Angelegenheiten, die den Schutz und die Förderung der Identität betreffen. RUM verpflichtet sich ferner zu konkreten Förderungsmaßnahmen, insbes. zur Schaffung günstiger Bedingungen für deutschsprachige Schulen und Kultureinrichtungen. Dt. Förderungsmaßnahmen sind zu ermöglichen und zu erleichtern. Auf rum. Vorschlag wird der Erhalt der Minderheit als Ziel festgehalten. 3) Hauptthema der Gespräche war die Fortsetzung des Prozesses der Demokratisierung und der wirtschaftlichen Reformen im Inneren und seine Unterstützung von außen durch die Einbettung Rumäniens in die Gemeinschaft der demokratischen Staaten Europas. Die rum. Seite bekräftigte den Willen zur Fortsetzung der Reformpolitik. Die Wirtschaftsreform werde trotz großer Ungleichgewichte und Probleme konsequent fortgesetzt. Rum. Seite gab eine gewisse Sorge vor der Gefahr einer Isolierung RUMs von der Entwicklung der Beziehungen des Westens zu den Staaten Mittel- und Osteuropas zu erkennen. Sie bat um Hilfe bei der Überwindung der vorübergehenden, nichtsdestoweniger ernsten Schwierigkeiten im Gefolge der Reformpolitik und bei der Einbeziehung RUMs in internationale, vor allem europäische Institutionen und Organisationen. RUM bat um stärkere deutsche Investitionstätigkeit und eine Erhöhung des Hermes-Plafonds. 4) BM unterstrich seinerseits die Bedeutung der Abhaltung der Parlaments- und Präsidentenwahlen zum vorgesehenen Zeitpunkt (Ende Juni) für die Glaubwürdigkeit des Reformprozesses.5 Er bekräftigte unsere Bereitschaft, bilateral und im Rahmen der EG RUM bei der Überwindung seiner wirtschaftlichen Probleme und bei der Aufnahme in die demo4 Für das Schlussdokument vom 29. Juni 1990 der Konferenz über die „menschliche Dimension der KSZE“ (CHD) in Kopenhagen vgl. EUROPA-ARCHIV 1990, D 380–394. Zur Konferenz vgl. AAPD 1990, I, Dok. 202. 5 Parlaments- und Präsidentschaftswahlen fanden in Rumänien am 27. September 1992 statt. In der Stichwahl am 11. Oktober 1992 wurde Amtsinhaber Iliescu im Präsidentenamt bestätigt.

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kratische Staatengemeinschaft zu unterstützen. BM forderte in diesem Zusammenhang RUM auf, sich aktiv am Ausbau der KSZE-Institutionen und -Mechanismen zu beteiligen. Er unterstrich ferner die Bedeutung des Handels- und Kooperationsabkommens mit der EG6 und bekräftigte unser Eintreten für ein Assoziierungsabkommen mit der Perspektive einer künftigen Mitgliedschaft in der EG7. BM mahnte, die vorläufige Hermes-Zusage nicht mit einem verspäteten Vertragsabschluss zur Kraftwerksrehabilitierung zu gefährden.8 5) Beide Seiten würdigten die Existenz der dt. Minderheit in RUM als positiven Faktor in den bilateralen Beziehungen. 6) Der Besuch des BM in Bukarest dokumentierte den Willen beider Seiten, auf der Grundlage des Vertrages eine neue dynamische Phase in den bilateralen Beziehungen einzuleiten. Der Besuch war ferner ein Glied der Kette unserer Bemühungen, den vom Kommunismus befreiten Staaten in Mittel- und Osteuropa unsere Unterstützung zuzusichern und ihnen eine gesamteuropäische Perspektive zu eröffnen, um in der Öffentlichkeit dieser Länder positive Voraussetzungen für die Meisterung der außerordentlich schwierigen Übergangsphase zu schaffen und einer neuen Teilung des Kontinents in reiche und arme Staaten entgegenzuwirken. Koenig9 B 5, ZA-Bd. 161325

6 Für das Handels- und Kooperationsabkommen vom 22. Oktober 1990 zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und Rumänien vgl. AMTSBLATT DER EUROPÄISCHEN GEMEINSCHAFTEN, Nr. C 277 vom 5. November 1990, S. 25–35. 7 Zur Sondierung einer EG-Assoziierung Rumäniens vgl. Dok. 71, Anm. 9. Zur ersten Runde der Verhandlungen zwischen EG-Kommission und Rumänien am 19./20. Mai 1992 vgl. Dok. 140, Anm. 7. 8 Bei der Tagung der Gemischten Wirtschaftskommission am 27. November 1991 monierte die deutsche Seite im Energiebereich eine „Vielzahl von Problemen, die als exemplarisch auch für andere Bereiche der rumänischen Wirtschaft gelten können: Finanzierungsproblem: Finanzierungslücke bei Kraftwerksrehabilitierung Turceni/Rovinari (20 Mio. DM Anzahlung); Entscheidungsprozesse dauern auf rumänischer Seite zu lange; ineffizient auch das ‚Nebeneinanderherlaufen‘ verschiedener rumänischer Unternehmen im Energiebereich; Verbesserung der Zahlungsmoral der rumänischen Partner“. Vgl. den Vermerk des BMWi vom 12. Dezember 1991; B 63, ZA-Bd. 157158. Gegenüber dem rumänischen MP Stolojan unterstrich BM Genscher am 21. April 1992 in Bukarest die „Notwendigkeit eines baldigen Vertragsabschlusses bei Kraftwerksrehabilitierung, um vorläufige HermesZusage und damit termingerechte Fertigstellung nicht zu gefährden und nicht wiederum Bedarf an Stromhilfe (Hinweis: 2 x 50 Mio.) zu provozieren.“ Erst dann könne eine von Rumänien gewünschte Steigerung des Hermes-Plafonds von 300 auf 500 Mio. DM erörtert werden. Vgl. den Vermerk des VLR Hausmann vom 23. April 1992; B 55, ZA-Bd. 170146. 9 Paraphe.

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30. April 1992: Gespräch zwischen Kohl und Miyazawa

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123 Gespräch des Bundeskanzlers Kohl mit dem japanischen Ministerpräsidenten Miyazawa 30. April 19921 Gespräch des Herrn Bundeskanzlers mit dem japanischen Ministerpräsidenten Kiichi Miyazawa, Bonn, den 30. April 1992, 11.45 – 12.10 Uhr2 Nach herzlicher Begrüßung erinnert MP Miyazawa an seine erste Begegnung mit dem Bundeskanzler im September 1990 – kurz vor der Wiedervereinigung.3 Er wolle sich nochmals für das damalige Zeitopfer des Bundeskanzlers bedanken – heute komme er als Ministerpräsident und treffe den Bundeskanzler wieder in einer Zeit wichtiger politischer Weichenstellungen. Der Bundeskanzler unterstreicht die Bedeutung des Besuchs des Ministerpräsidenten – er wolle, ausgehend von dieser heutigen Begegnung, einen intensiven persönlichen Kontakt knüpfen und lade den Ministerpräsidenten ein, auch zwischen den Begegnungen zum Telefonhörer zu greifen. Unser Interesse sei es, die traditionell freundschaftlichen deutsch-japanischen Beziehungen in jeder Hinsicht zu pflegen. In der Tat gingen in der Welt dramatische Veränderungen vor – hoffentlich zum Guten. Umso wichtiger sei es, auf feste Freunde rechnen zu können. MP Miyazawa unterstreicht, wie reibungslos die deutsch-japanischen Beziehungen sich nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelt haben. Davon zeuge dichter Besuchsaustausch, der in diesem Jahr mit der Begegnung beim Münchener Wirtschaftsgipfel4 sowie beim Bundeskanzlerbesuch in Tokio5 fortgesetzt werde. Darüber hinaus sei man seit einiger Zeit im Gespräch über ein deutsch-japanisches Dialogforum – derzeit treffe man konkrete Vorbereitungen, und er hoffe, diese Vorberei1 Kopie. Der Gesprächsvermerk wurde von MDg Kaestner und VLR I Ueberschaer, beide Bundeskanzleramt, am 4. Mai 1992 gefertigt und am selben Tag von MD Hartmann, Bundeskanzleramt, über BM Bohl an BK Kohl „mit der Bitte um Genehmigung“ geleitet. Dazu vermerkte Hartmann: „Ich gehe davon aus, dass dieser Vermerk nicht außer Hauses weitergegeben wird, erbitte aber Ihre Zustimmung, die Ressorts – insbesondere StS Dr. Köhler – über die sie betreffenden Sachpunkte zu unterrichten.“ Hat Kohl vorgelegen, der zu Hartmanns Vermerk handschriftlich notierte: „Ja.“ Ferner vermerkte er für Hartmann: „Erl[edigen].“ Hat Hartmann am 6. Mai 1992 erneut vorgelegen, der die Weiterleitung an Kaestner „z[ur] K[enntnisnahme]“ verfügte. Dazu vermerkte er handschriftlich: „Erledige ich“. Hat Kaestner am selben Tag erneut vorgelegen. Vgl. den Begleitvermerk; BArch, B 136, Bd. 59730. 2 Im Zuge einer Europareise hielt sich der japanische MP Miyazawa am 30. April und 1. Mai 1992 in der Bundesrepublik auf. Vgl. RE Nr. 27 des VLR I Bettzuege vom 8. Mai 1992; B 5, ZA-Bd. 161325. 3 BK Kohl empfing am 4. September 1990 acht Abgeordnete der Liberal-Demokratischen Regierungspartei Japans unter Führung des ehemaligen japanischen FM Miyazawa. Vgl. BULLETIN 1990, S. 1136. 4 Zum Weltwirtschaftsgipfel vom 6. bis 8. Juli 1992 vgl. Dok. 225. 5 Für den Oktober 1992 war eine Reise von BK Kohl nach Indien (8./9. Oktober), Singapur (9. bis 11. Oktober), Indonesien (11. bis 13. Oktober), Südkorea (13./14. Oktober) sowie Japan (14.–17. Oktober) vorgesehen. Diese wurde jedoch mit Blick auf die Sondertagung des Europäischen Rats am 16. Oktober 1992 in Birmingham kurzfristig verschoben. Im Zuge einer Asienreise vom 18. Februar bis 3. März 1993 hielt sich Kohl vom 26. Februar bis 1. März 1993 in Japan auf. Vgl. AAPD 1993.

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tungen bis zum Besuch des Bundeskanzlers im Oktober zu einem konkreten Abschluss bringen zu können. Die erste Tagung könne dann im Deutsch-Japanischen Zentrum in Berlin noch in diesem Jahr veranstaltet werden. Der Bundeskanzler erwidert, er halte die Idee des Dialogforums für sehr gut und freue sich, wenn die Dinge so, wie der Ministerpräsident sie vorgezeichnet habe, zu einem guten Abschluss kämen. (Exkurs: Einweihung des Deutsch-Japanischen Zentrums mit dem damaligen MP Nakasone in Berlin.6) Für ihn sei entscheidend, dass in diesem Forum nicht nur Politiker und Wirtschaftler einander begegneten, sondern vor allem auch kulturelle Persönlichkeiten. Leider habe es die Weltentwicklung in den letzten Jahrzehnten mit sich gebracht, dass man fast nur noch über militärische, sicherheitspolitische und wirtschaftliche Fragen gesprochen habe. Dies alles sei wichtig, aber Beziehungen zwischen Menschen würden nicht über den Verstand, sondern über das Herz aufgebaut. Deshalb messe er den kulturellen Beziehungen allergrößte Bedeutung bei, nicht zuletzt im Blick auf die junge Generation.7 MP Miyazawa pflichtet lebhaft bei. Der Stand der bilateralen Beziehungen sei ausgezeichnet, man habe zwar noch einige Probleme auf wirtschaftlichem Gebiet, diese aber seien lösbar. Umso wichtiger sei es, jetzt die kulturelle Dimension auszubauen. Was den Münchener Wirtschaftsgipfel angehe, so habe der Bundeskanzler vorgeschlagen, sich auf drei Themenkreise zu konzentrieren: Weltwirtschaft, Hilfe für die GUS/MOE, Lage der Entwicklungsländer.8 Er wolle zusätzlich anregen, auch über asiatische Themen zu reden: China, Entwicklungen auf der koreanischen Halbinsel, in Vietnam und Kambodscha sowie in den ASEANStaaten. Auch über Rüstungskontrolle könne man sprechen. Er – Miyazawa – habe gestern diese Themen auch gegenüber Staatspräsident Mitterrand angeregt, dieser habe sich aber hinsichtlich politischer Themen allgemein zurückhaltend gezeigt. Was eine Einladung Präsident Jelzins9 angehe, so stimme er dieser Idee zu. Das Gespräch mit ihm solle nach der Formel 7 + 1 nach der eigentlichen Gipfelkonferenz stattfinden. Der Bundeskanzler pflichtet bei und gibt sodann einen Abriss über den Gipfelfahrplan. 6 BK Kohl und der japanische MP Nakasone vereinbarten am 1. November 1983 in Tokio, das Grundstück der ehemaligen japanischen Botschaft in Berlin (West) zur Errichtung einer deutsch-japanischen Begegnungsstätte zu nutzen. Vgl. AAPD 1983, II, Dok. 323. Am 15. Juni 1985 wurde das Japanisch-Deutsche Zentrum Berlin (JDZB) als private Stiftung deutschen Rechts gegründet mit dem Zweck, die bilaterale wie internationale Zusammenarbeit in Wissenschaft, Kultur und Wirtschaft zu intensivieren. Eröffnet wurde das JDZB am 8. November 1987 durch den japanischen Prinzen Naruhito, den ehemaligen MP Nakasone und BK Kohl. 7 StS Vogel, BPA, teilte am 30. April 1992 mit, BK Kohl und der japanische MP Miyazawa hätten bei ihrem Treffen am selben Tag „die Gründung eines Gesprächsforums führender Persönlichkeiten beider Länder“ vereinbart. Vgl. die Pressemitteilung Nr. 228; B 37, ZA-Bd. 161939. MDg Zeller vermerkte am 25. September 1992, auf japanischen Wunsch sei der Termin für ein erstes Treffen des Dialogforums im Japanisch-Deutschen Zentrum Berlin auf März 1993 verschoben worden. Inzwischen bestehe Einigkeit über den deutschen Teilnehmerkreis, während Hinweise über die japanischen Mitglieder ausstünden. Vgl. B 37, ZA-Bd. 161939. 8 Vgl. das Schreiben des BK Kohl vom 31. März 1992 an die Staats- und Regierungschefs der G 7-Staaten; Dok. 82, Anm. 38. 9 Zu einer Einladung des russischen Präsidenten Jelzin zum Weltwirtschaftsgipfel in München vgl. Dok. 100.

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Abb. 4: BK Kohl und der japanische MP Miyazawa

In der Sache gehe es ihm darum, nicht unzählige Papiere, die kein Mensch lese, zu produzieren oder nach einer festen Tagesordnung vorzugehen, sondern möglichst viel Zeit für das persönliche Gespräch der Gipfelpartner zu gewinnen. Er hoffe, dass der Ministerpräsident bereits am Sonntag, 5. Juli, eintreffen könne – er würde sich dann auf eine erste Begegnung bereits an diesem Tage freuen. Der Ministerpräsident wirft ein, in der Tat plane er die Anreise für den 5. Juli und nehme das Angebot des Bundeskanzlers gern an. Der Bundeskanzler erläutert sodann die Planungen für den letzten Gipfeltag: Abschluss am Mittag, dann Mittagessen des Bundespräsidenten, bei dem Jelzin bereits eingeladen sei, dann Treffen der Gipfelpartner mit Jelzin für den Rest des Nachmittags. Damit sei die Formel 7 + 1 gewahrt. Die vom Ministerpräsidenten genannten asiatischen Themen wolle er gern aufnehmen. Auch dabei gehe es darum, Zeit für das wirkliche Gespräch zu finden, nicht aber Resolutionen zu verfassen und Formulierungen auszuhandeln. MP Miyazawa ist einverstanden. Er bittet sodann den Bundeskanzler um besonderes Verständnis für die Haltung Japans zu Unterstützungsmaßnahmen für die GUS-Staaten. Bereits bei der ersten Begegnung im Herbst 1990 habe der Bundeskanzler ihm vorausgesagt, dass die Territorialfrage zwischen Japan und der damaligen SU10 früher oder später gelöst werde. Deshalb solle Japan [sich] stärker für die wirtschaftliche Zusammenarbeit engagieren. 10 Zur Kurilen-Frage vgl. Dok. 13, Anm. 43.

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Japan tue das in der Tat: In der Vorwoche sei bei der Tagung von IWF und Weltbank in Washington ein 24 Mrd.-Dollar-Paket für Russland beschlossen worden, einschließlich eines 6 Mrd.-Dollar-Stabilisierungsfonds für den Rubel.11 Voraussetzung des Paketes sei, dass der Reformprozess gemäß IWF-Programm fortgesetzt werde. Im bilateralen Bereich habe Deutschland bereits eine Spitzenrolle übernommen, was er sehr würdige. Bei dieser Konstellation – so nehme er an – werde nun von Japan erwartet, seinerseits einen stärkeren Beitrag zu leisten. Der Bundeskanzler wirft ein: So ist es! Der Ministerpräsident bittet jedoch, in diesem Zusammenhang das Problem der Nördlichen Territorien nicht zu übersehen. Territorialfragen seien – vom Ausland aus gesehen – immer klein, für die Betroffenen jedoch im hohen Maße emotional – wie Deutschland ja selbst an den Oder-Neiße-Gebieten erlebt habe. Der Ministerpräsident gibt einen historischen Aufriss des Problems und unterstreicht, dass dieses Problem bereits bei der Friedenskonferenz in San Francisco 1951 – an der er teilgenommen habe – dazu geführt habe, dass Gromyko vom Verhandlungstisch aufgestanden sei und es bis heute keinen japanisch-russischen Friedensvertrag gebe. Seit dem Amtsantritt Gorbatschows12 gebe es einen gewichtigen Fortschritt: Die Fakten würden nicht mehr bestritten. Man plädiere von zunächst sowjetischer, jetzt russischer Seite dafür, noch zuzuwarten, bis die psychologischen Voraussetzungen geschaffen seien. Was das Schicksal der jetzt auf den Inseln lebenden Bevölkerung angehe, so habe Japan von Anfang an klargemacht, dass niemand von den 20 000 Russen vertrieben werde, dass vielmehr jedermann bleiben könne – was hinsichtlich des höheren japanischen Lebensstandards durchaus attraktiv sein könne. Er bitte nun den Bundeskanzler – wie er es auch im Januar gegenüber Präsident Bush13 und gestern gegenüber Staatspräsident Mitterrand getan habe –, die Frage der vier Inseln nicht als bilaterale japanisch-russische Frage zu sehen, sondern die aktive Unterstützung der G 7-Partner zu gewähren. Japan bemühe sich, aktiv an der Unterstützung der GUS-Staaten mitzuwirken – dazu brauche er jedoch einen Zustand, in dem das japanische Volk diese Bemühungen bejahen könne. Hier sei leider die Territorialfrage – und der fehlende Friedensvertrag insgesamt – wie eine Fischgräte im Hals. Dieses Hindernis müsse beseitigt werden! Er wiederhole deshalb die Bitte, dass alle G 7-Staaten die Frage als gemeinsames Problem der G 7 behandelten. Aus den letzten Kontakten mit der russischen Seite habe man entnommen, dass es nach wie vor für die Russen sehr schwierig sei, die Inseln zurückzugeben, wenngleich man heute in historischer und grundsätzlicher Hinsicht einig sei. Im September des Jahres komme Jelzin nach Japan14, und er – der Ministerpräsident – werde versuchen, in der Frage Fortschritte zu erzielen, erneuere jedoch gleichwohl die 11 Zur Frühjahrstagung von IWF und Weltbank am 27./28. April 1992 in Washington vgl. Dok. 105, Anm. 18. Zu den G 7-Hilfen für Russland vgl. Dok. 100, Anm. 7. 12 Michail Sergejewitsch Gorbatschow wurde am 11. März 1985 GS des ZK der KPdSU. Vgl. AAPD 1985, I, Dok. 59. 13 Der japanische MP Miyazawa führte am 30. Januar 1992 in New York ein Gespräch mit dem amerikanischen Präsidenten Bush. Vgl. das amerikanische Gesprächsprotokoll; https://bush41library. tamu. edu/ archives/memcons-telcons (zum Zeitpunkt des Zugriffs nur teilweise freigegeben). 14 Zum geplanten Besuch des russischen Präsidenten Jelzin in Japan vgl. Dok. 302, Anm. 10.

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Bitte an den Bundeskanzler als G 7-Vorsitzenden, sich seinerseits der Angelegenheit anzunehmen. Der Bundeskanzler unterstreicht, dass das Problem ihm sehr gut bekannt sei. Bekanntlich habe er Staatspräsident Gorbatschow – auf Bitten der Vorgänger des Ministerpräsidenten – mehrfach angesprochen, so im Juni 1989 in Bonn15 und im Juli 1991 in Kiew16. Auch ihm habe Gorbatschow vier Wochen vor dem Moskauer Putsch17 gesagt, er sehe nunmehr ein, dass man die Inseln zurückgeben müsse, brauche aber noch etwas Zeit. Dasselbe Problem habe jetzt Jelzin. Gleichwohl müsse man ihm verdeutlichen, dass er jetzt handeln müsse; er – der Bundeskanzler – sei gern bereit, ihm dies zu sagen. Wichtig sei ein psychologisch geschicktes Herangehen, damit Jelzin nicht das Gesicht verliere. (Exkurs: Geographie, wirtschaftliche und militärische Bedeutung der Inseln.) MP Miyazawa dankt dem Bundeskanzler für das gezeigte Verständnis. Er könne nur wiederholen: Wenn er das Einverständnis der japanischen Bevölkerung auf diesem Wege bekomme, werde es um vieles einfacher, bei der Unterstützung der GUS-Staaten mitzuwirken. MP Miyazawa unterstreicht sodann erneut die politische Bedeutung der Wirtschaftsgipfel für Japan. Zwar verstehe er die Zurückhaltung von Staatspräsident Mitterrand, bitte jedoch zu würdigen, dass Japan weder zur NATO, noch zur Europäischen Gemeinschaft/ EPZ, noch zur KSZE gehöre. Deshalb seien die G 7-Gipfel der zentrale Platz für sein Land, mit den anderen führenden Industriestaaten auch über politische Probleme zu sprechen. Die Idee, eine Konferenz von politischen Sherpas einzuberufen, habe bei Mitterrand keine Gegenliebe gefunden. Vielleicht aber könne man eine andere Organisationsform finden. Ihm gehe es um weltweite Themen wie Drogen, Flüchtlinge, Abrüstungs- und Rüstungskontrolle, Friedensorganisation der Vereinten Nationen. Der Bundeskanzler betont, die japanischen Probleme seien ihm wohlbekannt – sie ergäben sich nicht zuletzt aus Geographie und Geopolitik. Natürlich seien die Wirtschaftsgipfel ökonomische Gipfel – dies müsse im Prinzip so bleiben. (Exkurs: Psychologische Probleme anderer Gipfelpartner, die sich letztendlich daraus ergäben, dass Japan und Deutschland die Verlierer des Zweiten Weltkrieges seien, die Nachkriegsordnung nicht mitgestaltet hätten – und jetzt führende Wirtschaftsnationen mit zunehmender politischer Bedeutung seien.) Er wolle jedenfalls die Anregung des Ministerpräsidenten aufnehmen und darüber nachdenken, wie man hilfreich sein könne. Jedenfalls könne diese Frage kein Thema für München sein. Vielmehr wolle er mit anderen Partnern vertraulich darüber sprechen und mit dem Ministerpräsidenten erneut bei seinem Besuch im Oktober. 15 Der GS des ZK der KPdSU, Gorbatschow, hielt sich vom 12. bis 15. Juni 1989 in der Bundesrepublik auf. Vgl. AAPD 1989, I, Dok. 179 und Dok. 182. Für das erste und zweite Vier-Augen-Gespräch mit BK Kohl am 12./13. Juni 1989 sowie für das Delegationsgespräch am 13. Juni 1989 vgl. DEUTSCHE EINHEIT, Dok. 2–4. Für die Vier-Augen-Gespräche vgl. auch die sowjetischen Gesprächsvermerke; GORBATSCHOW UND DIE DEUTSCHE FRAGE, Dok. 34 und Dok. 37. Am 14. Juni 1989 führten Kohl und Gorbatschow ein drittes Vier-Augen-Gespräch. Vgl. den sowjetischen Gesprächsvermerk; GORBATSCHOW UND DIE DEUTSCHE FRAGE, Dok. 42. 16 Zum Gespräch des BK Kohl mit dem sowjetischen Präsidenten Gorbatschow am 5. Juli 1991 in Meschigorje vgl. AAPD 1991, II, Dok. 235 und Dok. 236. Für den sowjetischen Gesprächsvermerk vgl. GORBATSCHOW, Sobranie, Bd. 26, S. 363–371. 17 Vom 19. bis 21. August 1991 kam es in der UdSSR zum Putschversuch durch ein „Staatskomitee für den Ausnahmezustand“. Vgl. AAPD 1991, II, Dok. 266–269, Dok. 271, Dok. 272, Dok. 274–276 und Dok. 284.

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MP Miyazawa fragt, ob man sich im Rahmen der KSZE eine stärkere Einbeziehung Japans vorstellen könne.18 Der Bundeskanzler verweist auf den angeknüpften Dialog EG/Japan19, den man – parallel zum Ausbau der Politischen Union – intensiv weiterverfolgen solle. Ab 11.50 Uhr wird das Gespräch in erweitertem Kreis fortgeführt. Auf japanischer Seite nehmen zusätzlich der stellvertretende Kabinettchef Kondo sowie Botschafter Murata, auf deutscher Seite VLR I Dr. Ueberschaer teil. MP Miyazawa weist darauf hin, dass er das Schreiben des Bundeskanzlers zum Thema Umwelt- und Entwicklungskonferenz in Rio de Janeiro20 und dessen Vorschläge zur Zusammenarbeit in Umweltfragen bereits positiv beantwortet habe. Als konkreten Ansatz hierzu schlage er das von ihm erläuterte Projekt zum Schutze des Tropenwaldes in Sarawak/ Malaysia vor.21 Deutsche und japanische Experten sollten sich zur Prüfung dieses Projekts treffen. Der Bundeskanzler stimmt dem zu. Die Erhaltung des tropischen Regenwaldes sei von vorrangiger Bedeutung. Der Projektvorschlag sollte in der Tat zunächst von Experten beider Seiten geprüft werden. Wer innerhalb der japanischen Regierung sei für dieses Projekt zuständig? MP Miyazawa erklärt, dass dies Sache des japanischen Ministeriums für Land- und Forstwirtschaft sei. Der Bundeskanzler bittet, ihm eine Notiz mit detaillierten Angaben zu übermitteln, er werde dann alles Notwendige für ein baldiges Expertentreffen veranlassen.22 18 In Abschnitt IV, Ziffer 9–11 der „Beschlüsse von Helsinki“ vom 10. Juli 1992 wurden Japan eine engere Zusammenarbeit mit der KSZE sowie ein Beobachterstatus angeboten. Vgl. BULLETIN 1992, S. 789. 19 Zu den Beziehungen Japans zur EG notierte Referat 411 am 31. August 1992, auf japanische Initiative hätten die EG und Japan am 18. Juli 1991 eine gemeinsame Erklärung verabschiedet, die „(ähnlich wie die Transatlantische Erklärung EG – USA und EG – Kanada) Grundsätze, Ziele und die Felder der Zusammenarbeit“ beschreibe und einen institutionalisierten Dialograhmen setze, „u. a. jährliche Konsultationen zwischen dem Präsidenten des ER und dem EG-KOM-Präsidenten mit dem japanischen PM; halbjährliche AM-Konsultationen, auf EG-Seite: Troika“. Vgl. B 37, ZA-Bd. 161941. Für die Erklärung vgl. BULLETIN DER EG 7-8/1991, S. 113 f. 20 Zur VN-Konferenz über Umwelt und Entwicklung (UNCED) vom 3. bis 14. Juni 1992 vgl. Dok. 177. 21 Am 21. April 1992 übermittelte LRin Prinz anderen Ressorts per Fernkopie ein am selben Tag von der japanischen Botschaft übergebenes Papier zur bilateralen Zusammenarbeit beim Schutz tropischer Wälder, das „noch in das Gespräch zwischen Bundeskanzler Kohl und Ministerpräsident Miyazawa am 30.4.92 aufgenommen“ werden solle. Dazu legte Referat 402 am 23. April 1992 dar: „Konkret wurde Zusammenarbeit bei drei Projekten in Sarawak (Malaysia) vorgeschlagen (Finanzvolumen seitens JAPRegierung 1 Mio. US-$).“ Der Vorschlag könne „allenfalls als Signal gewertet werden, dass JAP sich der politischen Belastungen bewusst wird, die sich aus seinem bisherigen Verhalten ergeben. Ein Angebot zur Zusammenarbeit mit uns darf nicht als Feigenblatt für anhaltenden raubbauartigen Holzeinschlag in Sarawak dienen.“ Dennoch solle das Gesprächsangebot aufgegriffen werden. Vgl. B 52, ZA-Bd. 174055. 22 Das erste deutsch-japanische Expertentreffen zu Tropenwaldfragen fand am 16./17. September 1992 in Berlin statt. VLR Resch resümierte am 21. September 1992: „Grundsätzliche Übereinstimmung bei den Zielen der bilateralen Zusammenarbeit mit Entwicklungsländern, insbesondere Erhaltung der Schutzfunktion des Waldes, Berücksichtigung der lokalen Bevölkerung, nachhaltige Nutzung von Rohstoffen aus Wäldern, Verbesserung der Rahmenbedingungen in Tropenwaldländern, CO2-Problematik. JAP und D wollen den bisher nicht zufriedenstellend funktionierenden Tropenwald-Aktionsplan (TFAP [Tropical Forestry Action Plan]) mit neuem Schwung versehen. ITTO [International Tropical Timber Organization] und TFAP sollen sich hierbei ergänzen. UNCED als wichtiger, aber noch nicht ausreichender Schritt in

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MP Miyazawa weist darauf hin, dass dies alles bereits in seinem Brief enthalten sei. Er hebt sodann hervor, dass ein besonders wichtiges Thema des Umweltschutzes die Reduzierung des CO2-Gehalts der Erdatmosphäre sei. Für eine weltweite Übereinkunft spiele die Haltung von Präsident Bush eine entscheidende Rolle. Der Bundeskanzler erwähnt, dass er Präsident Bush bei einem kürzlichen Treffen geraten habe, an der UNCED-Konferenz in Rio teilzunehmen.23 Angesichts der bevorstehenden Präsidentschaftswahlen24 wäre dies für ihn auch innenpolitisch günstig. Das Denken der jungen Generation im Hinblick auf Umweltfragen sei in der ganzen Welt gleich; dies gelte auch für die USA. Wer jetzt 20 Jahre alt sei, könne damit rechnen, das Jahr 2050 noch zu erleben. Man könne diesen jungen Leuten nicht verübeln, wenn sie sich darüber Gedanken machten, wie die Welt dann aussehen werde. Er habe daher gestern BM Töpfer – der heute in Washington sei – gebeten, Präsident Bush unser Bemühen um eine Kompromissformel für die Klima-Konvention, mit der auch er leben könne, zu verdeutlichen. MP Miyazawa bemerkt, dass der frühere US-Präsident Jimmy Carter bei seinem kürzlichen Besuch in Japan25 die gleiche Auffassung wie der Bundeskanzler vertreten habe. Auf das Thema GATT übergehend, fragt der Bundeskanzler, ob Einigkeit darüber bestehe, dass man die Uruguay-Runde jetzt zu einem positiven Abschluss bringen müsse, was MP Miyazawa bejaht. Der Bundeskanzler bittet seinen Gast sodann um Bewertung der Lage in der VR China. MP Miyazawa weist darauf hin, dass seit Herbst vergangenen Jahres Deng Xiaoping bemüht sei, der Politik der Wirtschaftsreformen im Innern und der wirtschaftlichen Öffnung zum Ausland neue Impulse zu geben. Entsprechend habe er bei seiner Reise nach Schanghai und nach Südchina für den Reformkurs geworben.26 Dabei habe es Deng sicher nicht leicht gehabt; es gebe starke Widerstände bei den Konservativen, was besonders in den Monaten Dezember 1991 bis Februar 1992 deutlich geworden sei. Man sage jedoch, dass die Reformpartei die Auseinandersetzung gewonnen habe. Der Bundeskanzler fragt nach den zu erwartenden Entwicklungen auf dem bevorstehenden Parteitag der KPCh27. MP Miyazawa erklärt mit der Bitte um vertrauliche Behandlung, dass er damit rechne, dass MP Li Peng abgelöst werde und man ihm anschließend eine Repräsentationsrolle – möglicherweise die des Staatspräsidenten – übertragen werde. Sicher sei, dass Deng auch weiterhin die wirtschaftlichen Reformen vorantreiben, aber politische Freiheiten nicht zulassen werde. Der Bundeskanzler weist darauf hin, dass sich alle Experten darüber einig seien, dass dies in der Weltpolitik noch nie funktioniert habe. Den sowjetischen Kosmonauten habe Fortsetzung Fußnote von Seite 514 Richtung auf Ziel einer Wald-Konvention, auf die beide Seiten aktiv hinarbeiten wollen.“ Vgl. B 37, ZABd. 161950. 23 Für die Gespräche des BK Kohl mit dem amerikanischen Präsidenten Bush am 21./22. März 1992 in Camp David vgl. Dok. 82. 24 In den USA fanden am 3. November 1992 Präsidentschaftswahlen, Wahlen zum Repräsentantenhaus sowie Teilwahlen zum Senat und für die Gouverneursämter statt. 25 Jimmy Carter nahm am 14. bis 17. April am „Eminent Persons’ Meeting on Financing Global Environment and Development“ in Tokio teil. Vgl. den Artikel „Rich Nations Will Help: Developing Countries Told to Pay for Conservation“; JAPAN TIMES vom 27. April 1992, S. 3. 26 Zur Reise des ehemaligen Mitglieds des Politbüros der KPCh, Deng Xiaoping, vgl. Dok. 73, Anm. 4. 27 Zum 14. Parteitag der KPCh vom 12. bis 18. Oktober 1992 in Peking vgl. Dok. 328.

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man seinerzeit nicht das Recht gegeben, an der Wahl des Bürgermeisters in ihrem eigenen Dorf weiterzuwirken. So etwas funktioniere eben nur begrenzte Zeit. MP Miyazawa bemerkt, dass die chinesischen Reformer Marxisten seien und blieben. Der Misserfolg Gorbatschows habe sie in ihrer Auffassung nur bestärkt, dass politische Reformen zu Auflösungserscheinungen wie in der ehemaligen Sowjetunion führen müssten. Man müsse daher auch davon ausgehen, dass sich künftig in China Entwicklungen wie das Massaker am Platz des Himmlischen Friedens28 wiederholen könnten. KPCh-Generalsekretär Jiang Zemin habe ihm, Miyazawa, bei seinem kürzlichen JapanBesuch29 gesagt, dass in chinesischer Sicht die Menschenrechtsvorstellungen regional unterschiedlich seien. Der chinesischen Führung gehe es vor allem um die kollektiven Menschenrechte von einer Milliarde Chinesen auf Essen, Kleidung und Wohnung. Die chinesischen Massen hätten auch ein Menschenrecht auf wirtschaftlichen Aufschwung. Der Stand der Menschenrechte in einem Land wie China lasse sich demnach nur an der Wirtschaftslage bemessen. Die chinesische Führung könne und werde eine Einmischung des Auslands unter dem Vorwand des Schutzes der Menschenrechte nicht dulden. Der Bundeskanzler erklärt, dass diese Ausrede verwendet werde, seit es Diktaturen gebe. Wahr sei indessen, dass die chinesische Führung seit 1978 auf wirtschaftlichem Gebiet große Leistungen vollbracht habe, die die Existenz ihrer Milliarden-Bevölkerung sicherten. Dennoch müsse auch sie den Satz Talleyrands berücksichtigen, dass man auf Bajonetten nicht ruhig schlafen könne. Jede Diktatur erlahme nach einer gewissen Zeit. Der letzte kommunistische Innenminister Polens30 habe ihm, dem Bundeskanzler, hier in Bonn im Jahre 1987 auf dessen Frage, wie lange sich das polnische Regime noch an der Macht halten werde, geantwortet, dass es den Staat fest im Griff habe. Der Bundeskanzler habe dazu bemerkt, dass die polnische Regierung dennoch gegen ihren Willen den Papst nach Polen habe einreisen lassen müssen, dem es dann gelungen sei, sich eine Gefolgschaft von einer Million Menschen zu sichern.31 Bei einem Gespräch mit Präsident Gorbatschow hier am Rhein im Juni 1989 habe er, der Bundeskanzler, ihm gesagt, dass der Mensch den Fluss des Rheines nicht stoppen könne. Man könne ihn vielleicht verzögern, letztendlich werde sein Wasser aber doch ins Meer fließen. Auch das SED-Regime könne die deutsche Einheit nur für eine begrenzte Zeit bremsen. Dies sei das erste Mal gewesen, dass Gorbatschow ihm bei dieser Feststellung nicht widersprochen habe. Wenig mehr als ein Jahr später habe man die deutsche Einheit dann erreicht. Ähnlich werde die Entwicklung auch in der Frage der Wiedereingliederung der Kurilen durch Japan verlaufen. Nach einer langen Phase der Stagnation komme jetzt offenbar Bewegung in diese Frage. Er selbst wolle Japan gern behilflich sein, soweit er dies vermöge. 28 Zur Niederschlagung der Demokratiebewegung in der Volksrepublik China am 3./4. Juni 1992 vgl. Dok. 66, Anm. 5. 29 Der GS des ZK der KPCh, Jiang Zemin, besuchte Japan vom 6. bis 10. April 1992. 30 Czesław Kiszczak. 31 Papst Johannes Paul II. besuchte seine Heimat Polen vom 2. bis 10. Juni 1979, erneut vom 16. bis 23. Juni 1983 sowie vom 8. bis 14. Juni 1987. Vgl. AAPD 1979, I, Dok. 174, Anm. 24, AAPD 1983, I, Dok. 197, und AAPD 1983, II, Dok. 216, sowie AAPD 1987, Dok. 210, Anm. 9.

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Für Deutschland wie für Japan sei in diesem Jahrhundert nicht alles geradlinig verlaufen. Beide Völker hätten in den letzten Jahrzehnten aber viel in Ordnung bringen können. Darüber hinaus hätten sie bis zur Jahrtausendwende noch weitere acht Jahre zur „Reparatur“. MP Miyazawa erinnert daran, dass der Bundeskanzler ihm von der Szene mit Präsident Gorbatschow am Rhein bereits bei ihrem ersten Zusammentreffen im Jahre 1990 berichtet habe. Er habe diese Anekdote seither an die 200-mal in Wahlreden verwendet. BArch, B 136, Bd. 59730

124 Vorlage des Vortragenden Legationsrats I. Klasse Ackermann für Bundesminister Genscher 424-411.10 IRN

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Über Herrn Dg 422, Herrn D 43, Herrn Staatssekretär4 Herrn Bundesminister5 Betr.: Genehmigungspraxis für die Ausfuhr von gem. § 5 c AWV6 genehmigungspflichtigen Gütern nach Iran Bezug: Vorlage vom 2.11.1989 – 424-411.10 IRN/IRK7 Anlg.: Bezugsvorlage8 1 2 3 4 5

Die Vorlage wurde von VLR Friedrich konzipiert. Hat MDg Schönfelder am 30. April 1992 vorgelegen. Hat MD Dieckmann am 30. April 1992 vorgelegen. Hat StS Lautenschlager am 5. Mai 1992 vorgelegen. Hat BM Genscher vorgelegen, der allerdings seine Paraphe wieder strich. Hat BM Kinkel am 19. Juni 1992 vorgelegen. Hat OAR Salzwedel am 22. Juni 1992 vorgelegen, der den Rücklauf über das Büro Staatssekretäre, MD Dieckmann und MDg Schönfelder an Referat 424 verfügte. Hat StS Lautenschlager am 22. Juni 1992 erneut vorgelegen. Hat Dieckmann am 23. Juni 1992 erneut vorgelegen. Hat Schönfelder am 24. Juni 1992 erneut vorgelegen. 6 Für § 5 der AWV vom 18. Dezember 1986 vgl. BGBl. 1986, I, S. 2672. Für den durch die 14. Verordnung vom 11. März 1991 zur Änderung der AWV eingeführten § 5 c vgl. BUNDESANZEIGER 1991, S. 1725. 7 Angesichts von seit Dezember 1988 zurückgestellten Ausfuhrgenehmigungsanträgen „mit einem Wert von ca. 860 Mio. DM für den Iran und ca. 34 Mio. DM für den Irak“ empfahl VLR I Ackermann BM Genscher für die Behandlung unerledigter wie künftiger Anträge folgende Verfahrensweise: „Anträge auf Lieferung von Rüstungsgütern der Liste A nach Iran oder Irak bleiben vorläufig zurückgestellt; Anträge auf Lieferung von Dual-use-Gütern der Liste C für militärische Empfänger nach Iran oder Irak bleiben ebenfalls vorläufig zurückgestellt; Anträge auf Lieferung von Dual-use-Gütern der Liste für zivile Empfänger werden auf dem bis zur Zurückstellung üblichen Wege (Arbeitsebene unter Beteiligung der Ressorts) genehmigt. Die Antragsteller haben zusätzlich eine Erklärung der Empfänger vorzulegen, dass die Waren nicht für militärische Zwecke verwendet werden.“ Vgl. B 70, ZA-Bd. 220540. 8 Dem Vorgang beigefügt. Vgl. Anm. 7.

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Zweck der Vorlage: Zustimmung zu III Ziff. 2 und 5 (1. Keine Genehmigung von § 5 c Waren nach Iran, es sei denn, es handelt sich um Lieferungen im Rahmen von Gewährleistungsansprüchen oder um Allerweltswaren. 2. Mitteilung an BMWi, dass Auswärtiges Amt der Lieferung von Zylinderröhren für Hebebühnen und Ersatzteilen für Luftkompressoren zur Wartung von Flugzeugen nicht zustimmt und der Rücklieferung der Dieselmotoren und Zubehör für Schnellboote der iranischen Marine zustimmt, da es sich um die Rücklieferung in iranischem Eigentum stehender Motoren handelt.) I. Das Bundesausfuhramt hat dem Auswärtigen Amt drei Anträge für gem. § 5 c AWV ausfuhrgenehmigungspflichtige Waren für Iran mit der Bitte um Stellungnahme vorgelegt. Es handelt sich dabei um Anträge für – nahtlose Zylinderröhren für pneumatische Hebebühnen. Empfänger: Sazemane Sanaye Defa (Firma, die dem iranischen Verteidigungsministerium unterstellt ist). Wert: ca. 180 000 DM – Ersatzteile für Luftkompressoren zur Wartung von Flugzeugen. Empfänger: Iran Aircraft Industries (ist nach Auskunft des BND zu den Rüstungsbeschaffungsorganisationen des Iran zu rechnen) Wert: ca. 10 000 DM – Dieselmotoren für Schnellboote der iranischen Marine (Rücklieferung nach Instandsetzung). Empfänger: iranische Marine Wert: ca. 5 Mio. DM Das BMWi hat sich in allen Fällen für die Genehmigung der geplanten Ausfuhren ausgesprochen. Von der Zustimmung des BMVg zu den geplanten Ausfuhren ist auszugehen. II. 1) Bei den auszuführenden Waren handelt es sich weder um sonstige Rüstungsgüter noch um Dual-use-Güter. Die Genehmigungspflicht der Ausfuhr ergibt sich vielmehr aus dem Ende März 1991 in Kraft getretenen § 5 c Außenwirtschaftsverordnung, nach dem die Ausfuhr an sich genehmigungsfreier Waren einer Genehmigungspflicht unterliegt, wenn – die Ware für die Errichtung oder den Betrieb einer Anlage zur Herstellung von Waffen, Munition oder Rüstungsmaterial oder zum Einbau in Rüstungsgüter bestimmt ist, – Bestimmungsland ein Land der Länderliste H9 ist, – der Ausführer Kenntnis von diesem Zusammenhang hat. 2) Seit Inkrafttreten des § 5 c unterliegt eine große Anzahl von Gütern der Genehmigungspflicht, die von der Grundsatzvorlage zur Genehmigungspraxis gegenüber dem Iran vom November 1989 nicht erfasst sind und vor März 1991 unkontrolliert nach Iran ausgeführt wurden. Dies gilt auch für die hier infrage stehenden Teile. III. Es stellt sich nun die Frage, welche Genehmigungspolitik im Hinblick auf die Ausfuhr von 5 c-Waren nach Iran grundsätzlich verfolgt werden soll. 9 Zur Neufassung der Länderliste H der Außenwirtschaftsverordnung vgl. Dok. 63, Anm. 5.

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30. April 1992: Vorlage von Ackermann

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1) Dabei ist zu berücksichtigen, dass es sich um von ihrer Art her weniger sensible Güter handelt als Dual-use-Güter und Rüstungsgüter. Diese Waren unterliegen in keinem anderen Land Exportkontrollen. Auch bei uns sind sie entsprechend der Formulierung des § 5 c AWV nur bei der Fertigung von oder beim Einbau in Rüstungsgüter genehmigungspflichtig, für eine zivile Verwendung im Iran jedoch frei ausführbar. 2) Auf der anderen Seite ist aber zu berücksichtigen, dass es sich um Güter handelt, die für die Rüstungsindustrie bestimmt sind. Entsprechend unserer allgemeinen Linie bei Lieferungen von Rüstungsgütern und Dual-use-Gütern an militärische Empfänger sollte im Falle des Iran bei der Genehmigung von Ausfuhranträgen nach § 5 c sehr restriktiv verfahren werden. Hiesigen Erachtens sind solche Anträge in aller Regel nicht genehmigungsfähig. Ausnahmen sollten im Interesse der Erhaltung des Rufs der deutschen Industrie als zuverlässiger und vertragstreuer Lieferant nur in folgenden Fällen gemacht werden: a) Bei Lieferung zu Erfüllung von Gewährleistungsansprüchen aus Verträgen, die vor Inkrafttreten des § 5 c abgeschlossen wurden und die nicht zu einer technischen Verbesserung der gelieferten Anlagen führen. b) Bei der Lieferung von Allerweltswaren (sog. Katalog- oder Regalwaren), die überall in der Welt auf Bestellung frei geliefert werden und nicht als spezifischer Beitrag zu Aufrüstungszwecken angesehen werden können. 3) Um Zustimmung zu dieser generellen Linie für die Genehmigungen von Ausfuhren von gem. § 5 c ausfuhrgenehmigungspflichtiger Waren nach Iran wird gebeten. 4) Im Falle der Billigung der oben vorgeschlagenen grundsätzlichen Linie für die Ausfuhr von § 5 c-Waren würde dies für die vorliegenden Einzelfälle bedeuten: – Die nahtlosen Zylinderrohre und die Ersatzteile für Luftkompressoren sind für die Firma Sazemane Sanaye Defa bzw. für die Iran Aircraft Industries bestimmt, die zu den militärischen Beschaffungsorganisationen des Iran gehören. Daher sollte der Ausfuhr nicht zugestimmt werden. Es handelt sich nicht um einfache Katalogwaren.10 – Die Dieselmotoren sind Eigentum der iranischen Kriegsmarine und sollen nach Reparatur in Deutschland wieder nach Iran zurückgebracht werden.11 Da der Vertrag aber vor Inkrafttreten des § 5 c abgeschlossen wurde und die Motoren im iranischen Eigentum stehen, sollte dem Reexport ausnahmsweise zugestimmt werden. Es handelt sich hier nicht um eine Neulieferung, die zu einer Stärkung der militärischen Fähigkeiten des Iran beitragen würde, sondern lediglich um eine Rücklieferung von Motoren, die sich bereits im Iran befanden und dorthin entsprechend der damaligen Rechtslage genehmigungsfrei ausgeführt worden waren. 5) Es wird daher um Zustimmung gebeten, dem BMWi mitzuteilen, dass das Auswärtige Amt gegen die Genehmigung der Ausfuhr von – nahtlosen Zylinderröhren für pneumatische Hebebühnen – Ersatzteilen für einen Luftkompressor zur Reparatur von Flugzeugen Bedenken erhebt, 10 Dieser Absatz wurde von BM Kinkel durch Häkchen hervorgehoben. 11 Dieser Satz wurde von BM Kinkel durch Häkchen hervorgehoben

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4. Mai 1992: Vermerk von Wittig

dagegen dem Reexport von im Eigentum der iranischen Marine stehenden Motoren für Schnellboote der iranischen Marine zustimmt. D 312 hat mitgezeichnet. Ackermann B 70, ZA-Bd. 220540

125 Vermerk des Vortragenden Legationsrats Wittig 4. Mai 19921 Von BM noch nicht gebilligt Betr.:

Informelles EG-AM-Treffen am 1./2. Mai 1992 in Guimarães/Portugal

Anlg.: 52 Die Außenminister berieten – wie bei den informellen Treffen üblich – unter Ausschluss von Mitarbeitern. Nachstehende Unterrichtung stützt sich im Wesentlichen auf Angaben der portugiesischen Präsidentschaft. 1) Irisches Protokoll zum Vertrag über die Europäische Union3 AMs nahmen ohne Aussprache vorliegenden Textentwurf einer Interpretationserklärung zum Protokoll4 betreffend Artikel 40.3.3. der irischen Verfassung (Recht auf Leben) an. 2) Nahost Portugiesische Präsidentschaft5 verteilt Arbeitspapier (Anlage 16). Sie unterrichtet über jüngst erklärte israelische Bereitschaft, Widerstand gegen EG-Teilnahme an Arbeitsgruppe Abrüstung der laufenden Friedenskonferenz7 aufzugeben. Sie stellt Modalitäten 12 Reinhard Schlagintweit. 1 Kopie. Hat MDg von Kyaw am 4. Mai 1992 vorgelegen, der die Weiterleitung an VLR I Schürmann verfügte. Ferner verfügte er die Weiterleitung an VLR I van Edig nach Rückkehr und vermerkte handschriftlich: „Zu TOPen 5, 8 ff.“ Hat Schürmann am 5. Mai 1992 vorgelegen. Hat van Edig vorgelegen. 2 Vgl. Anm. 6, 29, 30, 32 und 39. 3 Für das Protokoll vgl. BULLETIN 1992, S. 177. 4 Für den Entwurf einer Interpretationserklärung vgl. B 220, ZA-Bd. 158894. 5 João de Deus Pinheiro. 6 Dem Vorgang nicht beigefügt. 7 Zur Beteiligung der EG-Mitgliedstaaten am Friedensprozess im Nahen Osten vgl. Dok. 121.

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und Zeitpunkt der europäischen Teilnahme an AG Abrüstung (nächste Sitzung 11. Mai), den bevorstehenden Kooperationsrat EG – Israel am 12. Mai8 und eine mögliche NahostErklärung auf dem ER in Lissabon9 zur Diskussion. Außerdem informiert sie die Partner, dass sie die EFTA-Länder zur Zurückhaltung gegenüber israelischen Bestrebungen gemahnt habe, über vertragliche Vereinbarungen mit der EFTA Zugang zum EWR zu erhalten. Die Ergebnisse der Aussprache resümiert die Präsidentschaft wie folgt: – Der Kooperationsrat EG – Israel soll planmäßig stattfinden, indes keine neuen Projekte beschließen, allerdings auch keine laufenden Projekte streichen. Er soll mithin eher politischen als wirtschaftlichen Charakter tragen. – Präsidentschaft wird Entwurf einer Nahost-Erklärung von Lissabon zirkulieren, der in PK weiter beraten werden soll. – Eine frühe EG-Teilnahme an der AG Abrüstung der Nahost-Friedenskonferenz erscheint wichtiger als die Modalitäten. Die Moskau-Teilnahmeformel10 ist die bevorzugte Option. Präsidentschaft will Partner vor dem 11. Mai über die Kontakte mit den Veranstaltern der Konferenz unterrichten.11 – Weiterhin enger Kontakt mit den USA über den Fortgang des Friedensprozesses ist wesentlich. 3) GASP (Orientierungsdebatte über portugiesischen Berichtsentwurf zu GASP12 und neue Verfahrensform der „Gemeinsamen Aktionen“) Portugiesische Präsidentschaft hebt eingangs Unvollständigkeit des eigenen Berichtes hervor. GB13 wendet sich gegen Formulierung der „Unumkehrbarkeit gemeinsamer Aktionen“. Statt Vollständigkeit anzustreben, solle ein Pilotprojekt einer Gemeinsamen Aktion herausgegriffen werden. GB (wie auch F14, LUX15, NL16, I17) spricht sich für die Berücksichtigung der Sicherheitspolitik aus. Mehrere AMs warnen vor dem Versuch, einen „Codex“ 8 Botschafter Trumpf, Brüssel (EG), berichtete am 12. Mai 1992: „Bei der zehnten Sitzung des Kooperationsrats EWG – Israel […] erläuterte AM Levy u. a. die Position seines Landes zur Nahost-Friedenskonferenz. Er wies darauf hin, dass ISR trotz der geografischen Nähe zu Europa zu keiner Zeit an der Lösung europäischer Sicherheitsfragen direkt beteiligt gewesen sei. Dies müsse umgekehrt auch für die Nahost-Friedenskonferenz gelten, bei der Frieden in der Region nur direkt zwischen den betroffenen Streitparteien erreicht werden könnte.“ Vgl. DB Nr. 1374; B 221, ZA-Bd. 166577. 9 Zur Tagung des Europäischen Rats am 26./27. Juni 1992 vgl. Dok. 201. 10 In Moskau fand am 28./29. Januar 1992 die multilaterale Nahost-Friedenskonferenz statt. Vgl. Dok. 15, Anm. 14. 11 VLR I von Jagow teilte am 8. Mai 1992 mit, das Politische Komitee im Rahmen der EPZ habe in seiner Sitzung am 6./7. Mai 1992 in Lissabon beschlossen, die portugiesische EG-Ratspräsidentschaft zu beauftragen, umgehend bei Russland und den USA zu demarchieren, um „angemessene Vertretung der Gemeinschaft zu gewährleisten“. Dies sei inzwischen gegenüber der amerikanischen bzw. russischen Botschaft in Lissabon durchgeführt worden, mit einer „befriedigenden Antwort“ bis zum 11. Mai 1992 sei aber kaum zu rechnen. Vgl. den RE; B 42, ZA-Bd. 156540. 12 Für den Entwurf der portugiesischen Ratspräsidentschaft vgl. das Fernschreiben Nr. 818 aus Lissabon (Coreu) vom 27. April 1992; B 220, ZA-Bd. 158894. 13 Douglas Hurd. 14 Roland Dumas. 15 Jacques Poos. 16 Hans van den Broek. 17 Gianni De Michelis.

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zu entwerfen (B18, E19, LUX). Andere vermissen bestimmte geographische Gebiete (F, E, I für Berücksichtigung des Mittelmeerraums; I für Balkan) oder politische Bereiche (LUX für Berücksichtigung des Nord-Süd-Verhältnisses). BM würdigt Berichtsentwurf als exzellenten Ansatz, der unseren Vorstellungen nahekomme. Textarbeit solle von Politischen Direktoren fortgesetzt werden. Präsidentschaft resümiert, dass PK Arbeit an Bericht fortsetzen und revidierten Entwurf vorlegen solle, und fordert zudem Kommission zu Beitrag auf. 4) Südafrika DK-AM berichtet von jüngster Reise nach SUA20 und drückt Sorge über Ausmaß der Gewaltanwendung aus. Er regt die Entsendung eines Berichterstatters oder einer Beobachter- bzw. Untersuchungskommission an. GB und IRL21 teilen dänische Besorgnisse und sehen Hauptproblem in den SUA-Polizeikräften. NL regt Kontaktaufnahme der Troika mit Goldstone-Kommission22 an. Präsidentschaft fasst Termin für Troika-Besuch nach dem 1. Juni ins Auge. Besuch soll Augenmerk auf Gewaltanwendung richten und die EG-Optionen (Berichterstatter, Missionen) sondieren. 5) Türkei GB-AM berichtet von Türkei-Reise.23 Er hebt die politische Bedeutung der Türkei hervor und plädiert für verstärkten Dialog EG – Türkei. Auch F schildert Eindrücke vom jüngsten frz. Staatsbesuch in der Türkei.24 Die neue Regierung Demirels sehe das Verhältnis EG – Türkei vernünftiger. F gibt Schritte in Richtung Zollunion zu erwägen. GR25 mahnt Lösung des Zypernproblems an. BM würdigt die politische Bedeutung der Türkei. Er stellt gewisse Gegensätze zwischen Özal und der türkischen Regierung fest. Die Behandlung der Kurdenfrage mache Sorge. Die Zwölf sollten die Türkei überzeugen, die Stabilität der Region zu fördern, z. B. in Nagorny Karabach, sowie ein Signal geben, dass sie Fortschritte in der Zypernfrage erwarteten. D unterstütze die Zypern-Friedensbemühungen der VN. GB erklärte sich auf Bitten der Präsidentschaft bereit, demnächst Arbeitspapier zur Türkei zu zirkulieren. 6) Andriessen-Bericht über GUS-Reise Kommissar Andriessen berichtet über seine jüngste Besuchsreise nach Kirgistan, Tadschikistan und Turkmenistan.26 18 Willy Claes. 19 Francisco Fernández Ordóñez. 20 Der dänische AM Ellemann-Jensen hielt sich vom 11. bis 18. April 1992 in Südafrika auf. 21 David Andrews. 22 Referat 320 erläuterte am 15. Juni 1992, die von der südafrikanischen Regierung zur Untersuchung der Gewaltakte eingesetzte Kommission unter Vorsitz des Richters Goldstone sei zu dem Ergebnis gekommen, dass „60 % der Gewalt zulasten der Inkatha und je 20 % zulasten des ANC und der südafrikanischen Regierung“ gingen. Vgl. B 34, ZA-Bd. 155790. 23 Der britische AM Hurd besuchte die Türkei am 20. April 1992. 24 Der französische Staatspräsident Mitterrand hielt sich am 13./14. April 1992 in der Türkei auf. 25 Konstantinos Mitsotakis. 26 Der Besuch fand vom 26. April bis 1. Mai 1992 statt.

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7) Neue Mitglieder Europarat NL spricht Aufnahmeantrag von RUS für Europarat27 an und erhält von Präsidentschaft Auftrag, ein Arbeitspapier zu erstellen.28 BM plädiert nachdrücklich für die Aufnahme Georgiens in den Europarat. F unterbreitet Vorschlag, die Staats- und Regierungschefs der europäischen Partnerstaaten der EG zum zweiten Tag des nächsten ER einzuladen. F erhält Auftrag, eine entsprechende Aufstellung zu erstellen und dann Thema erneut einzuführen. 8) Mazedonien Ergebnis der Beratungen ist Verabschiedung einer Zwölfer-Erklärung nach kontroverser Diskussion (Anlage 229). Präsidentschaft erläutert (das in Erklärung erwähnte, aber nicht spezifizierte) „Paket“, das mit Athen und Skopje diskutiert worden sei: – Abschluss eines zweiseitigen Vertrags mit Grenzgarantien. – Änderungen der mazedonischen Verfassung, soweit sie zu Zweifeln am Verzicht territorialer Erweiterung Anlass gibt. – Briefwechsel über Garantie von Minderheitenrechten in beiden Staaten. – Erklärung der Zwölf über Bereitschaft der Zusammenarbeit mit neuem Staat. – Änderung des Namens „Mazedonien“. Athen habe indes alle Namensvorschläge abgelehnt, die die Bezeichnung Mazedonien in irgendeiner Form enthielten. Mithin betrachte Präsidentschaft Aufgabe zunächst als beendet. GR-MP weist auf völligen innergriechischen Konsens in Namensfrage hin, warnt vor einer Destabilisierung der Region und lehnt Kompromiss in Namensfrage ab. Einige AMs (z. B. DK, B) warnen vor der Entstehung einer Grauzone und sprechen sich für sofortige Anerkennung von Mazedonien aus. F plädiert für eine Trennung der Komplexe Anerkennung und Staatsname. Die Zuhilfenahme von KSZE-Prinzipien (Anerkennung bestehender Grenzen) könne beim Spannungsabbau hilfreich sein. GB stimmt F zu. Skopje habe sich verantwortungsbewusst gezeigt. Mazedonien solle als souveräner Staat existieren können. Wenn nicht sofortige Anerkennungserklärung, dann zumindest Beginn mit praktischen Maßnahmen der EG-Kooperation. BM weist auf die historischen Wurzeln der griechischen Befürchtungen hin. Es handele sich um ein vitales nationales Interesse eines Mitgliedstaates, das es zu respektieren gelte. BM unterstützt einen Grenzvertrag zwischen Athen und Skopje. 9) Bosnien-Herzegowina Botschafter Cutileiro erstattet Bericht (s. Anlage 330) und begründet die Aussetzung der laufenden Gesprächsrunde.31 27 Zum russischen Antrag auf Beitritt zum Europarat vgl. Dok. 111, Anm. 12. 28 Für das niederländische Arbeitspapier „Implications of a rapid, considerable enlargement of the Council of Europe“ vgl. das Fernschreiben Nr. 376 aus Den Haag (Coreu) vom 26. Juni 1992; B 21, ZA-Bd. 184957. 29 Dem Vorgang nicht beigefügt. Für die am 4. Mai 1992 veröffentliche Erklärung über Mazedonien vgl. BULLETIN DER EG 5/1992, S. 107. 30 Dem Vorgang nicht beigefügt. 31 Zu den Gesprächen der verschiedenen Volksgruppen von Bosnien-Herzegowina vgl. Dok. 94, Anm. 15. Referat 215 erläuterte am 28. April 1992: „Die Mission des port[ugiesischen] AM Pinheiro (zusammen

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F plädiert anhand eines zirkulierten Papiers (s. Anlage 432) u. a. für die Entsendung einer UNO-Beobachtermission nach Beendigung der Goulding-Sondierungen33, für die Intensivierung der Cutileiro-Gespräche, die Reaktivierung der Carrington-Konferenz34 mit dem Ziel gegenseitiger Anerkennung der unabhängigen Republiken und der neuen jugoslawischen Föderation35 sowie einer Regelung der Nachfolgefragen, für die Befassung der Badinter-Kommission36 mit Personen- und Gruppenstatusfragen, für verstärkte humanitäre Hilfe (Luftbrücke von Österreich) sowie für Einschluss wirtschaftlicher Fragen in die Friedensbemühungen. GB-AM erklärt sich bereit, nach dem Goulding-Bericht die Stationierung von UNO­Blauhelmen zu erwägen, wenn Cutileiro die Entwaffnung und den Rückzug der JVA erreichen könne. Er plädiert für eine Verbindung zwischen Anerkennung der neuen jug. Föderation und greifbaren Zugeständnissen Serbiens in B-H (ähnlich I und NL). BM verlangt den Rückzug der JVA. Ihr Verbleiben in B-H sei für den Kriegszustand wesentlich verantwortlich. Serbien und Montenegro seien frei, einen neuen Staat zu bilden, könnten jedoch keine Rechtsnachfolge beanspruchen. Badinter habe die Auflösung des alten Jugoslawien konstatiert.37 Für die Anerkennung müsse die neue Republik die EGBedingungen vom 16. Dezember 199138 erfüllen. Hier dürfe es kein Messen mit zweierlei Maß geben. BM weist außerdem auf die Dimension des Flüchtlingsproblems hin und fordert die Partner und die Kommission zur Hilfe auf. AMs einigen sich auf folgende, der Presse mitteilbare Schlussfolgerungen: Fortsetzung Fußnote von Seite 523 mit Carrington) nach JUG hat zu einem erneuten Waffenstillstand, der allerdings brüchig ist, geführt und ermöglicht, dass die Verfassungskonferenz über Bosnien-Herzegowina unter EG-Schirmherrschaft in Lissabon fortgeführt wird.“ Dort sollten die Hauptstreitfragen, die territoriale Aufteilung der drei „konstitutiven Einheiten“ und das Problem der JVA, nämlich Abzug oder Unterstellung unter die Regierung von Bosnien-Herzegowina, in Angriff genommen werden. Vgl. B 42, ZA-Bd. 183639. Am 1. Mai 1992 gab der portugiesische Koordinator Cutileiro eine Unterbrechung der Gespräche bekannt, da die serbische Seite nicht wie vereinbart die Artillerie und Straßenblockaden rund um Sarajevo abgebaut habe. Vgl. die mit Fernschreiben Nr. 877 aus Lissabon (Coreu) am 4. Mai 1992 übermittelte Presseerklärung; B 42, ZA-Bd. 183640. 32 Dem Vorgang nicht beigefügt. Für das französische Papier „Yougoslavie: Proposition de Plan D’Action en 8 points“ vom 1. Mai 1992 vgl. B 42, ZA-Bd. 183640. 33 VN-UGS Goulding hielt sich vom 4. bis 10. Mai 1992 in Serbien, Bosnien-Herzegowina und Kroatien auf. Für einen Bericht über seine Reise vgl. den Bericht von VN-GS Boutros-Ghali vom 12. Mai 1992 an den VN-Sicherheitsrat (S/23900); https://documents-dds-ny.un.org/doc/UNDOC/GEN/N92/202/18/pdf/ N9220218.pdf. Vgl. auch Dok. 143, Anm. 10. 34 Zum Stand der Friedenskonferenz für Jugoslawien vgl. Dok. 94. Das zwölfte Plenum fand am 6. Mai 1992 in Brüssel statt. BR Wnendt, Brüssel (EG), berichtete am 7. Mai 1992, Bosnien-Herzegowina habe nicht teilgenommen. Es habe keine konkreten Ergebnisse gegeben, „jedoch sollen, falls der Waffenstillstand hält, die Gespräche über Bosnien-Herzegowina möglichst rasch wiederaufgenommen werden“. Vgl. DB Nr. 1330; B 42, ZA-Bd. 175713. 35 Zur Bildung der Bundesrepublik Jugoslawien (Serbien/Montenegro) am 27. April 1992 vgl. Dok. 118, Anm. 16. 36 Zur Schlichtungskommission der EG für Jugoslawien vgl. Dok. 10, Anm. 4. 37 Vgl. das Gutachten Nr. 1 der Schlichtungskommission der EG für Jugoslawien vom 29. November 1991; Dok. 16, Anm. 6. 38 Zu den Leitlinien der EG-Mitgliedstaaten vom 16. Dezember 1991 vgl. Dok. 2, Anm. 10.

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4. Mai 1992: Runderlass von Bettzuege

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Würdigung der Goulding-Mission und Unterstützung der VN-Bemühungen. Aufstockung der Anzahl der VN-Beobachter, sobald es die Bedingungen gestatten. Entschlossene Fortsetzung der Cutileiro-Gespräche. Notwendigkeit humanitärer Hilfe (Luftbrücke). Weiterer Druck auf Konfliktparteien, insbesondere Serbien. Rückzug der JVA als wesentliche Bedingung eines Friedens in B-H. Aufforderung an EG-Kommission, Vorschläge für ökonomisches Paket der Jugoslawien-Konferenz zu unterbreiten.

10) Neue jugoslawische Föderation Präsidentschaft reißt zwei Aspekte an: Anerkennung und Rechtsnachfolge. BM schlägt vor, nach den gleichen Kriterien und Verfahren wie bei den übrigen Republiken vorzugehen. Präsidentschaft schließt, dass Frage der Anerkennung noch nicht akut sei, da neue Föderation die EG nicht um Anerkennung ersucht habe. Carrington und Badinter sollten befasst werden, im Übrigen aber abgewartet werden, bis neue Föderation auf EG mit Anerkennungspetitum zugeht. 11) Treffen EG – AM Mercosur Mittagessen am 2. Mai mit AMs bzw. Vertretern der Mercosur-Staaten (Argentinien, Brasilien, Uruguay, Paraguay). Teilnehmerliste s. Anlage 5.39 12) Unterzeichnung EWR-Vertrag am 2. Mai in Porto40 Wittig B 222, ZA-Bd. 175853

126 Runderlass des Vortragenden Legationsrats I. Klasse Bettzuege 012-9-312.74 VS-NfD Fernschreiben Nr. 25 Ortez Betr.:

4. Mai 19921 Aufgabe: 6. Mai 1992

Unterzeichnung des EWR-Vertrages

1) Am 2. Mai wurde in Porto das Abkommen zwischen der EG, ihren MS und den MS der EFTA über den Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) von den Außenministern der beteiligten Staaten und VP Andriessen für die EG-Kommission unterzeichnet.2 Es soll, parallel zum Beginn des Europäischen Binnenmarktes, am 1.1.93 in Kraft treten. Zu diesem Zweck 39 Dem Vorgang nicht beigefügt. 40 Zur Unterzeichnung des EWR-Vertrags vgl. Dok. 126. 1 Der Runderlass wurde von VLR I von Arnim konzipiert. 2 Für das Abkommen vom 2. Mai 1992 über den Europäischen Wirtschaftsraum (EWR-Abkommen) einschließlich aller zugehörigen Dokumente vgl. BGBl. 1993, II, S. 267–690.

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4. Mai 1992: Runderlass von Bettzuege

beginnen nun die parlamentarischen Zustimmungsverfahren in allen 19 Staaten sowie im Europäischen Parlament. 2) Die Unterzeichnung kam zustande, nachdem es in schwierigen Verhandlungen in der Nacht vom 29.4. auf den 30.4. und am 30.4. gelungen war, eine Einigung zwischen der EG und Österreich über ein mit dem EWR verknüpftes Abkommen über den Alpentransit3 zu erzielen. Angesichts der Bedeutung ökologischer Gesichtspunkte einerseits und den mit dem Zusammenwachsen im Binnenmarkt steigenden Transitnotwendigkeiten fiel dies besonders schwer, auch weil Österreich in den letzten Tagen noch Nachforderungen auf weitere Kürzung der Transitkontingente für den Straßenverkehr erhoben hatte. Durch eine Protokollerklärung wurde klargestellt, dass diese Transitregelung (wie andere mit dem EWR verbundene Regelungen) Beitrittsverhandlungen4 nicht präjudiziert. 3) Das Abkommen stellt die Zusammenarbeit zwischen der Europäischen Gemeinschaft und den EFTA-Staaten, mit denen bereits seit 1973/74 Freihandelsabkommen bestehen5, auf eine neue Grundlage. Sinn des Abkommens ist es, den EFTA-Staaten die möglichst gleichberechtigte Teilnahme am Binnenmarkt der Gemeinschaft zu ermöglichen, indem die im Binnenmarkt geltende Ordnung des Gemeinschaftsrechts so weit wie irgend möglich auf die EFTA-Staaten übertragen und die EFTA-Staaten an der Fortentwicklung und Neuschöpfung des für den Binnenmarkt relevanten Gemeinschaftsrechts durch Konsultationen beteiligt werden. Dem dient insbesondere die mit dem EWR-Vertrag vereinbarte Übernahme von 1400 EG-Rechtsakten, der Masse des Sekundärrechtes der EG, durch die EFTA-MS. 4) Das Schwergewicht des Abkommens liegt in der (zum Inhalt des Abkommens im Einzelnen vergleiche Ortez Nr. 726 vom 24.10.1991) weitgehenden Ausdehnung der Freizügigkeit für Waren, Dienstleistungen, Personen und Kapital auf die EFTA-Staaten auf der Grundlage voller Gegenseitigkeit. Die hiermit verbundenen Harmonisierungs- und Deregulierungseffekte ergeben für die beteiligten Volkswirtschaften zusätzliche Wachstumsspielräume. Da die EG- und die EFTA-Staaten hinsichtlich ihrer Wirtschaftskraft, ihrer Wirtschaftsstruktur und ihres Wirtschaftssystems sehr ähnlich sind und sie zudem bereits jetzt durch enge Wirtschaftsbeziehungen verbunden sind, ist zu erwarten, dass diese Wachstumsspielräume ohne größere Anpassungsschwierigkeiten ausgeschöpft werden können. Das EWR-Abkommen sieht aber keine Zollunion, keine gemeinsame Agrarpolitik und keine Harmonisierung indirekter Steuern vor. Kontrollen an den Grenzen zwischen der EG und den EFTA-Staaten bleiben damit grundsätzlich bestehen. 3 Für das Abkommen vom 2. Mai 1992 zwischen der EWG und Österreich über den Güterverkehr im Transit auf der Schiene und der Straße und die zugehörigen Dokumente vgl. AMTSBLATT DER EUROPÄISCHEN GEMEINSCHAFTEN, Nr. L 373 vom 21. Dezember 1992, S. 6–24. 4 Österreich stellte am 17. Juli 1989 einen Antrag auf EG-Beitritt. Vgl. AAPD 1989, II, Dok. 214. 5 Am 22. Juli 1972 wurden Freihandelsabkommen zwischen der EG und Island, Österreich, Portugal, Schweden und der Schweiz unterzeichnet. Das Abkommen mit Finnland konnte nur paraphiert werden, da am 19. Juli 1972 die finnische Minderheitsregierung zurückgetreten war. Es wurde am 5. Oktober 1973 unterzeichnet. Vgl. BULLETIN DER EG 9/1972, S. 11–22, bzw. BULLETIN DER EG 10/1973, S. 63. Ein Freihandelsabkommen mit Norwegen wurde am 14. Mai 1973 unterzeichnet. Vgl. SIEBENTER GESAMTBERICHT 1973, S. 407 f. 6 Korrigiert aus: „Ortez Nr. 39“. Für den RE des VLR Koenig vgl. AAPD 1991, II, Dok. 360.

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5) Für den sog. Kohäsionsfonds (= Entwicklungsfonds für ärmere EG-Gebiete) werden die EFTA-MS eine Summe von 1,5 Mrd. ECU für „soft loans“ (Laufzeit zehn Jahre, 3 % Zinsbonifikation, zwei Freijahre) sowie 500 Mio. ECU Zuschüsse in fünf Jahrestranchen à 100 Mio. ECU für E, P, IRL, GR zur Verfügung stellen. Die EFTA-Staaten haben damit die politische Notwendigkeit anerkannt, sich in einem gewissen Umfang am Nord-Süd-Ausgleich in Europa zu beteiligen, wenn sie sich dem Integrationsprozess weiter annähern wollen. 6) Der im Rahmen des EWR-Abkommens vereinbarte politische Dialog EG – EFTA wird die Möglichkeiten der politischen Zusammenarbeit weiter verstärken. Schon jetzt lehnen die EFTA-MS ihre Verhandlungen mit Drittstaaten, z. B. mit den mittel- und osteuropäischen Staaten, eng an das Vorgehen der Gemeinschaft gegenüber diesen Staaten an. 7) Im Abkommen sind Vorkehrungen getroffen, die auch bei Fortentwicklung des relevanten Gemeinschaftsrechts die Homogenität des Rechtes im Europäischen Wirtschaftsraum so weit wie möglich sichern. Neue Rechtsakte der Gemeinschaft werden durch Beschluss des Gemeinsamen Ausschusses in das EWR-Abkommen übernommen. Die EFTA-Staaten werden an der Vorbereitung neuer Rechtsakte der Gemeinschaft – soweit sie für den Europäischen Wirtschaftsraum von Bedeutung sind – beteiligt, in ihren Entscheidungen bleibt die Gemeinschaft jedoch autonom. 8) Das Problem der Wahrung der Homogenität des EWR-Rechts war eng verknüpft mit der Frage der Streitregelung im EWR, bei der eine erste Lösungsformel (u. a. Errichtung eines EWR-Gerichtshofes) vom EuGH als mit dem EWG-Vertrag7 unvereinbar verworfen worden war. Die im einzelnen komplizierte Neuregelung verlegt die Streitregelung weitgehend in den vom Abkommen geschaffenen Gemischten Ausschuss. Sie wurde vom EuGH, der vom EP um Begutachtung auch der Neuregelung gebeten worden war, gebilligt. 9) Im bevorstehenden Ratifikationsprozess des EWR könnten insbesondere durch die in der Schweiz erforderlichen Volksabstimmungen8 Verzögerungen auftreten, auch wenn der Bundesrat, wohl auch im Hinblick auf das sich in der Schweiz entwickelnde Interesse am EG-Beitritt, beabsichtigt, alles zur Beschleunigung Mögliche zu tun. Falls die für die Inkraftsetzung vorgesehene Frist bis Jahresende nicht eingehalten werden kann, muss auf einer diplomatischen Konferenz aller Beteiligten die Lage überprüft werden. 10) Da die EFTA-Staaten bereits im Rahmen des Europäischen Wirtschaftsraumes große Teile des Gemeinschaftsrechts in ihr nationales Recht übernehmen, werden Beitrittsverhandlungen wesentlich erleichtert und verkürzt. Außerdem bietet der Europäische Wirtschaftsraum eine gute Grundlage dafür, die enge Zusammenarbeit zwischen beitretenden und nicht-beitretenden EFTA-Staaten fortzusetzen. In jedem Fall ist durch den EWR nicht nur die Annäherung der EFTA-MS an die EG deutlich beschleunigt, sondern auch für die bevorstehende Übergangsphase eine tragfähige Grundlage geschaffen worden. Bettzuege9 B 5, ZA-Bd. 161325 7 Für den EWG-Vertrag vom 25. März 1957 vgl. BGBl. 1957, II, S. 766–963. 8 In der Schweiz fand am 6. Dezember 1992 ein Volksentscheid zum EWR-Abkommen vom 2. Mai 1992 statt. Vgl. Dok. 404 und Dok. 410. 9 Paraphe.

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4. Mai 1992: Drahtbericht von Siemes

127 Drahtbericht des Botschafters Siemes, Seoul VS-NfD Fernschreiben Nr. 684 Betr.:

Aufgabe: 4. Mai 1992, 14.12 Uhr1 Ankunft: 4. Mai 1992, 08.33 Uhr

Besuch von Dg 34, Herrn Dr. Klaus Zeller, in Korea (27.4.–2.5.1992)

Bezug: DB Nr. 660 vom 24.4.922 Zur Unterrichtung I. Dg 34 hat vom 27.4. bis 2.5.1992 die Republik Korea besucht. Er führte politische Gespräche mit dem koreanischen Außenminister Lee Sang-ock, dem Vizeminister für Wiedervereinigung, Lim Dong-won, sowie dem Generaldirektor für Europa im Außenministerium, Kwon Young-min. Ferner konnte Dg 34 – als erster deutscher Regierungsvertreter überhaupt – eine Unterredung mit dem Generaldirektor für Nordkorea-Angelegenheiten in der Agentur für Nationale Sicherheitsplanung NSP (koreanischer Geheimdienst; frühere Bezeichnung: KCIA3), Kwon Min-ung, führen. Er war außerdem Mitglied der deutschen Delegation bei den wirtschaftspolitischen Gesprächen mit dem koreanischen Außenministerium, die auf deutscher Seite von PStS Beckmann (BMWi) geleitet wurden (s. gesonderten Bericht4). Am 29. und 30.4. nahm er ferner an der vierten Asien-Pazifik-Konferenz der deutschen Handelskammer in Seoul teil, vor welcher er einen Vortrag zum Thema „AsienPazifik – aktuelle politische Entwicklungen aus deutscher Sicht“ hielt (s. gesonderter Bericht). II. Zentrale Themen der politischen Gespräche waren der Nord-Süd-Dialog auf der koreanischen Halbinsel, das nordkoreanische Nuklearprogramm sowie die deutsch-koreanischen Beziehungen. Außerdem wurden u. a. Fragen der Zusammenarbeit in der Asien-PazifikRegion erörtert. Im Einzelnen: 1) AM Lee Sang-ock trug erneut den Wunsch seiner Regierung vor, dass BK Kohl im Rahmen seiner Asien-Reise im Oktober auch Korea besuche.5 Ein solcher Besuch könne zum Ausbau der bereits vorzüglichen Beziehungen zwischen beiden Ländern beitragen. Dg 34 sagte zu, sich weiter für die Realisierung dieses Wunsches einzusetzen, wies aber 1 Das von LR I Elbling, Seoul, konzipierte Fernschreiben wurde in zwei Teilen übermittelt. Vgl. Anm. 15. 2 Botschafter Siemes, Seoul, übermittelte das Programm zum Aufenthalt von MDg Zeller vom 27. April bis 2. Mai 1992 in Südkorea. Vgl. B 37, ZA-Bd. 162005. 3 Korean Central Intelligence Agency. 4 Botschafter Siemes, Seoul, informierte am 5. Mai 1992 über die Gespräche am 28. April 1992, erörtert worden seien internationale und regionale Wirtschaftsfragen, die wirtschaftliche Lage in beiden Staaten sowie die bilateralen Wirtschaftsbeziehungen. Vgl. DB Nr. 697; B 37, ZA-Bd. 162009. 5 Für den Oktober 1992 war eine Reise von BK Kohl nach Indien (8./9. Oktober), Singapur (9. bis 11. Oktober), Indonesien (11. bis 13. Oktober), Südkorea (13./14. Oktober) sowie Japan (14.–17. Oktober) vorgesehen. Diese wurde jedoch mit Blick auf die Sondertagung des Europäischen Rats am 16. Oktober 1992 in Birmingham kurzfristig verschoben. Der Besuch in Südkorea fand schließlich vom 1. bis 3. März 1993 statt. Vgl. AAPD 1993.

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auf die aus deutscher Sicht schwierige Terminlage (u. a. auch wegen des in Korea zu jenem Zeitpunkt stattfindenden Wahlkampfes zu den Präsidentschaftswahlen6) hin. Dg 34 befürwortete den Ausbau der bilateralen wirtschaftlichen und technologischen Kooperation. Der anstehenden Entscheidung über die Bewerbung des deutschen ICEKonsortiums für die Schnellbahnstrecke Seoul – Pusan7 komme dabei zukunftsweisende Bedeutung zu. Ein weiteres Thema war die Entwicklung der Zusammenarbeit in der AsienPazifik-Region im Rahmen des APEC-Prozesses. Dg 34 machte das Interesse sowohl von D als auch der EG an engeren Beziehungen zur APEC deutlich. Aus Sicht Südkoreas, so AM Lee, sei die APEC noch in einem Anfangsstadium ihrer Entwicklung begriffen. Das nächste Ministertreffen in Bangkok im September8 werde u. a. zwei entscheidende Fragen zu behandeln haben: Schaffung von Institutionen (in dieser Frage seien insbesondere die ASEANLänder noch zurückhaltend) sowie die Aufnahme neuer Mitglieder (es lägen Beitrittsanträge von verschiedenen lateinamerikanischen Staaten sowie Russland vor). Angesichts der noch offenen Fragen sei die Idee des australischen PM Keating für ein APEC-Gipfeltreffen aus Sicht SKs noch verfrüht. Auf den Friedensprozess in Kambodscha angesprochen, erläuterte AM Lee, dass auch Seoul von VN-Generalsekretariat um Mitwirkung gebeten worden sei. SK werde aber nur einen vergleichsweise geringen Beitrag leisten können. 2) Im Mittelpunkt des Gesprächs mit Vizeminister Lim Dong-won standen der Nord-SüdDialog, die politische Situation in Nordkorea sowie die Seouler Bewertung des nordkoreanischen Nuklearprogramms. Vizeminister Lim, der selbst als Mitvorsitzender des seit März des Jahres tagenden Nord-Süd-Unterausschusses für Austausch und Zusammenarbeit an hervorgehobener Stelle die Nord-Süd-Verhandlungen mitgestaltet, nahm sich für das Gespräch deutlich mehr Zeit als geplant. Die Unterredung wurde offen und konzentriert geführt. Die Ausführungen von Vizeminister Lim waren substanziell und informativ. Die Dynamik der Nord-Süd-Annäherung habe sich, so Vizeminister Lim, nach Abschluss des Grundlagenabkommens vom 13.12.9 und Verabschiedung der Nukleardeklaration vom 31.12.199110 in den letzten Monaten verlangsamt. Dennoch seien ständige Fortschritte in 6 Die Präsidentschaftswahlen in Südkorea fanden am 18. Dezember 1992 statt. 7 Botschafter Siemes, Seoul, legte am 22. Mai 1992 dar, die südkoreanische Regierung wolle bis Ende 1998 eine Hochgeschwindigkeitszugstrecke von 410 km Länge bauen. Das Investitionsvolumen liege bei 8 Mrd. US-Dollar. An der Ausschreibung nähmen teil das japanische Shinkansen-Konsortium unter Leitung von Mitsubishi, das französische TGV-Konsortium unter Leitung von GEC-Alsthom sowie das deutsche ICE-Konsortium unter Federführung von Siemens. Eine erste Evaluierung der Angebote habe zum 30. April 1992 stattgefunden, jedoch sei noch keine Entscheidung getroffen worden. Vgl. DB Nr. 764; B 57, ZABd. 239814. 8 Das APEC-Ministertreffen fand am 10./11. September 1992 statt. 9 Botschafter Kleiner, Seoul, teilte am 13. Dezember 1991 mit, Nord- und Südkorea hätten am selben Tag eine Vereinbarung über Versöhnung, Nichtangriff, Austausch und Zusammenarbeit unterzeichnet. Diese sehe vor: „Respektierung des Systems des Anderen, Nichteinmischung, gegenseitige Zusammenarbeit; Nichtangriff, Verzicht auf Gewaltanwendung, friedliche Streitschlichtung; Beendigung der gegenseitigen Konfrontation und Konkurrenz auf internationaler Ebene, stattdessen Zusammenarbeit für das nationale Ansehen; Austausch von Personen und Gütern.“ Vgl. DB Nr. 2019; B 37, ZA-Bd. 161990. 10 BR Michael, Seoul, berichtete am 3. Januar 1992, Nord- und Südkorea hätten am 31. Dezember 1991 in Panmunjom eine „Gemeinsame Erklärung über die nuklearfreie koreanische Halbinsel“ verabschiedet. Darin verpflichteten sie sich, „Nuklearwaffen nicht zu testen, herzustellen, zu produzieren, anzunehmen

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den Gesprächen zu verzeichnen. Aufgrund der Unkenntnis der nordkoreanischen Unterhändler in vielen Fragen fände insbesondere im Wirtschaftsbereich eher ein nordkoreanischer Lernprozess als eine Verhandlung im eigentlichen Sinne statt. Zurzeit werde daran gearbeitet, getrennte Protokolle (Abkommen) für die verschiedenen Bereiche des Grundlagenabkommens (politische, militärische Fragen der wirtschaftlichen Zusammenarbeit, des Austauschs von Personen) abzuschließen. Gemeinsame Nord-Süd-Kommissionen sollen dann diese Einzelvereinbarungen durchführen. Vizeminister Lim gab sich vorsichtig optimistisch, dass die Premierminister auf ihrer siebten Gesprächsrunde (5.–8.5.) in Seoul die Einrichtung dieser gemeinsamen Kommissionen vereinbaren könnten.11 In Nordkorea habe sich als Reaktion auf die katastrophale Wirtschaftslage eine Fraktion der „Reformer“ unter dem Schutz von Kim Jong-il gebildet. Ihr gehörten Technokraten aus dem Wirtschafts- und Außenministerium an, u. a. Premierminister Yon Hyong-muk, Vizepremierminister Kim Dal-hyon sowie der Direktor für internationale Beziehungen der Arbeiterpartei, Kim Yong-sun. Erklärtes Ziel dieser Gruppe sei es, Nordkorea wirtschaftlich zu öffnen. Ihre Stimme sei jedoch vergleichsweise noch sehr schwach. Das wichtigste Problem der Nordkorea-Politik sei jetzt die Nuklearfrage. Vizeminister Lim hofft, dass die Inspektion der nordkoreanischen Nuklearanlagen durch die IAEO im nächsten Juni erfolgen könne.12 SK wisse nicht mit Sicherheit, ob Pjöngjang Plutonium für den Bau eigener Atomwaffen oder vielmehr für den Export in Drittländer (Mittlerer Osten) gewinnen wolle. NK verfüge zwar über eigenes Uranium ausgezeichneter Qualität, sei aber noch nicht in der Lage, dieses wiederaufzubereiten. Pjöngjang forsche jedoch bereits in diesem Bereich. 3) Die Unterredung mit NSP-Generaldirektor Kwon Min-ung vermittelte einen interessanten Einblick in die aktuelle Nordkorea-Perzeption des südkoreanischen Geheimdienstes. Die NSP gilt nicht nur als die bestinformierteste Stelle über NK, sondern soll auch an der Gestaltung der Seouler Nordpolitik weiterhin erheblichen Anteil haben. Zentrales Thema des Gesprächs war Nordkoreas Nuklearprogramm. GD Kwon räumte ein, dass nicht mit Sicherheit feststünde, ob NK bereits im Besitz von Plutonium sei. Es sei aber aufgrund von geheimdienstlichen Informationen erwiesen, dass Pjöngjang kurz vor Inbetriebnahme einer Wiederaufbereitungsanlage stehe. Wahrscheinlich sei diese sogar bereits in „trial operation“. NK habe erst kürzlich der IAEO die Existenz eines zuvor unbekannten 30 Megawatt-Nuklearreaktors mitgeteilt, der mit nordkoreanischer Technologie Fortsetzung Fußnote von Seite 529 (accept), zu besitzen, zu lagern, aufzustellen oder zu gebrauchen; Atomenergie nur zu friedlichen Zwecken zu nutzen; weder atomare Wiederaufbereitungs- noch Urananreicherungsanlagen zu unterhalten“. Ferner seien gegenseitige Inspektionen von Anlagen vorgesehen sowie die Bildung eines gemeinsamen Komitees für nukleare Kontrolle. Vgl. DB Nr. 9; B 37, ZA-Bd. 162007. 11 Botschafter Siemes, Seoul, berichtete am 11. Mai 1992, zum Abschluss des Treffens der MP Chung Won-shik (Südkorea) und Yon Hyong-muk (Nordkorea) am 6./7. Mai 1992 seien folgende Dokumente unterzeichnet worden: „Abkommen über die Errichtung einer gemeinsamen militärischen Kommission, zweier Kommissionen für Austausch und Zusammenarbeit sowie über die Einrichtung von Nord-SüdVerbindungsbüros in Panmunjom. Ferner wurde vereinbart, die Einrichtung einer gemeinsamen Kommission für Versöhnung vorzubereiten.“ In der Frage der nuklearen Inspektionen sei keine Annäherung erreicht worden. Vgl. DB Nr. 717; B 37, ZA-Bd. 162007. 12 Referat 431 erläuterte am 30. Juli 1992, vom 11. bis 16. Mai 1992 habe eine IAEO-Delegation unter Leitung von GD Blix Nordkorea besucht: „Die förmlichen Sicherungsmaßnahmen (Safeguards-Inspektionen) sind ebenfalls zwischenzeitlich angelaufen.“ Vgl. B 72, ZA-Bd. 164349.

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erbaut worden und seit 1987 in Betrieb sei. In den fünf Jahren seines Betriebes mussten nach südkoreanischer Einschätzung etwa 150 t verbrauchten Brennstoffs angefallen sein. Die größte Sorge bereite seiner Regierung daher die Frage, ob NK bereits eine PilotAnreicherungsanlage betreibe, in welcher dieser verbrauchte Uran-Brennstoff eventuell schon seit längerer Zeit wiederaufbereitet worden sein könnte (aus den 150 t verbrauchten Brennstoffs sei genug Brennstoff für zwei „Nagasaki-Bomben“ zu gewinnen). Das Bestehen einer solchen Pilot-Anlage könne zwar nur vermutet werden. Zum einen habe aber die erst jetzt erfolgte Meldung des 30 Megawatt-Reaktors bewiesen, dass NK in der Lage sei, eine solche Anlage über einen längeren Zeitraum verborgen zu halten. Pjöngjang habe zum anderen erst kürzlich anerkannt, dass es zwei weitere Anlagen zur Herstellung von Brennelementen betreibe, von denen die eine als Pilot-Anlage seit Anfang der 80er Jahre, die andere seit Ende der 80er Jahre in Betrieb sei. Ein ähnliches stufenweises Vorgehen könne auch für die Wiederaufbereitungsanlage vermutet werden. GD Kwon rechnet damit, dass die IAEO im Juni jene Anlagen inspizieren kann, die Pjöngjang im Rahmen des vorläufigen Berichts nach dem IAEO-Sicherungsabkommen13 (von NK für Anfang Mai angekündigt14) benennen wird. Die Wiederaufbereitungsanlage werde von einer solchen Inspektion zunächst aber ausgeschlossen sein. 15Über die bilateralen Inspektionen gemäß der Nuklearerklärung sei bisher keine Einigung erzielt worden. NK beharre darauf, dass es selbst nur die Inspektion der Anlagen in Nyongbyon, die Gegenseite aber die aller US-Stützpunkte in Südkorea akzeptieren müsse. Seoul lege aber gerade auf die bilateralen Inspektionen besonderen Wert, da sie nach südkoreanischer Vorstellung umfassender und strenger sein sollen als die IAEO-Inspektionen. Auf das Thema des nordkoreanischen Exports von Raketen angesprochen, bestätigte GD Kwon, dass NK seit 1987 Scud B-Raketen (Reichweite 300 km) sowjetischer Herkunft nachgebaut und z. T. exportiert habe. Seit 1988 stelle NK das Nachfolgemodell Scud C (Reichweite: 500 km) her. Etwa 200 Stück seien bereits an Syrien und Iran verkauft worden. Ferner habe Pjöngjang mit Libyen ein Abkommen zur Entwicklung eines weiteren NachfolgeModells, der „Nodong“, abgeschlossen. Sie soll 1000 km Reichweite haben (und damit den Westen Japans bedrohen können). Die Rakete werde z. Zt. entwickelt, mit einem Probeflug sei bald zu rechnen. Es gebe keine Anzeichen dafür, dass Russland oder die VR China bei der Entwicklung der „Nodong“ mitgewirkt haben. Die bereits fertiggestellte Abschussrampe ähnele jedoch chinesischen Rampen für den Abschuss von Weltraumraketen. NK habe 24 Scud-Raketen 30 bis 40 km vor der entmilitarisierten Zone aufgestellt. Diese Raketen könnten nukleare, konventionelle und chemische Gefechtsköpfe befördern. Angesichts der fortgeschrittenen Chemie-Industrie in NK sei davon auszugehen, dass NK auch 13 Die IAEO und Nordkorea schlossen am 30. Januar 1992 ein Abkommen über Sicherungsmaßnahmen im Zusammenhang mit dem Nichtverbreitungsvertrag vom 1. Juli 1968 (INFCIRC/403). Vgl. https://www. iaea.org/publications/documents/infcircs/agreement-30-january-1992-between-government-democraticpeoples-republic-korea-and-international-atomic-energy-agency-application-safeguards-connectiontreaty-non-proliferation-nuclear-weapons. 14 Botschafter Schaad, Wien (Internationale Organisationen), berichtete am 11. Mai 1992, Nordkorea habe der IAEO am 4. Mai 1992 einen „initial report“ übergeben „über alles in der DVR Korea den IAEOSicherungsmaßnahmen unterliegende Kernmaterial sowie anlagenspezifische Informationen“. Vgl. DB Nr. 156; B 72, ZA-Bd. 164349. 15 Beginn des mit DB Nr. 685 übermittelten zweiten Teils des Fernschreibens. Vgl. Anm. 1.

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über chemische Waffen verfüge. Die südkoreanische Regierung geht davon aus, so Kwon, dass das nordkoreanische Regime stabil sei und uneingeschränkte Autorität besitze. Von einem Druck der Bevölkerung in Richtung Reform könne zum jetzigen Zeitpunkt nicht gesprochen werden. 4) An der Unterredung mit GD Kwon Young-min im koreanischen Außenministerium nahmen auch die für D, China und die Nord-Süd-Politik zuständigen Referatsleiter teil. Nach der Feststellung, dass die bilateralen Beziehungen gut und unproblematisch seien, wurde die Frage der Beziehungen von D zu Nordkorea erörtert. Dg 34 stellte den jetzigen Stand der Beziehungen und den Status der Schutzmachtvertretung in Pjöngjang16 dar. Man sei bemüht, mit Nordkorea einen Gesprächskanal offenzuhalten, um einen Beitrag zur größeren Berechenbarkeit Nordkoreas zu leisten. Es müsse verhindert werden, dass NK wieder in eine gefährliche Selbstisolation verfalle. Dg 34 wiederholte die von der EPZ an die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zu NK geknüpften Voraussetzungen.17 Hierzu zähle insbesondere die Durchführung von Inspektionen der nordkoreanischen Nuklearanlagen durch die IAEO. Danach werde man weitersehen: D habe keine konkrete Zeitvorstellung für die Aufnahme diplomatischer Beziehungen, aber dass diese eines Tages geknüpft werden, erscheine klar. SK würde von einer solchen Entwicklung aber – wie bereits in der Vergangenheit – rechtzeitig unterrichtet. GD bat um vorherige Konsultation SKs, „damit die Regierung die in dieser Frage besonders sensible südkoreanische Öffentlichkeit auf einen solchen Schritt angemessen vorbereiten“ könne. Die anschließende Darstellung des gegenwärtigen Standes des Nord-Süd-Dialogs durch den Referatsleiter für Nord-Süd-Politik, Choo, fiel pessimistischer aus als jene von Vizeminister Lim Dong-won. Nach drei Gesprächsrunden in drei Unterausschüssen behindere NK den Fortgang der Verhandlungen durch sein Beharren auf dem Prinzip, dass alle anstehenden Fragen nur „im Paket“ gelöst werden könnten. SK wolle demgegenüber Schritt für Schritt vorgehen. NK verfolge nicht wirklich eine Verbesserung seiner Beziehungen zu Seoul, sondern wolle den Nord-Süd-Dialog als Zeichen seines guten Willens gegenüber dritten Staaten (US, Japan) vorzeigen. Dies gelte auch für den Wirtschaftsbereich. Aus Sicht der südkoreanischen Regierung könne nach dem Start von Inspektionen (IAEO- und bilaterale Inspektionen seien dabei gleich wichtig) eine begrenzte wirtschaftliche Zusammenarbeit beginnen. Die Regierung wolle aber die Wirtschaftskontakte nicht nur den Privatunternehmen überlassen, sondern auch an diesen mitwirken. Weiteres Thema des Gespräches waren die Beziehungen Südkoreas zur VR China. Man gehe davon aus, so der für China zuständige Referatsleiter Shin, dass – trotz des Problems bestehender diplomatischer Beziehungen zu Taiwan – in nicht zu später Zukunft diplomatische Beziehungen zu Peking aufgenommen werden können. Bei einem Handelsvolumen von 1991 fast 6 Mrd. US-Dollar werde das Verhältnis zu China auch wirtschaft16 Zum Status der Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und Nordkorea vgl. AAPD 1990, II, Dok. 274, AAPD 1991, I, Dok. 126, und AAPD 1991, II, Dok. 387. 17 VLR I von Jagow teilte am 15. Februar 1992 mit, in der Sitzung des Politischen Komitees im Rahmen der EPZ am 12./13. Februar 1992 in Lissabon habe Einvernehmen bestanden, dass der Zeitpunkt für die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zu Nordkorea noch nicht gekommen sei: „Als Voraussetzungen wurden festgehalten: tatsächliche Durchführung von IAEO-Inspektionen, Verbesserung der Menschenrechtslage, Fortschritte im inner-koreanischen Verhältnis.“ Vgl. den RE; B 42, ZA-Bd. 156539.

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lich immer wichtiger. AM Lee sei bei seinem Besuch in Peking anlässlich eines ESCAPTreffens18 erneut mit seinem chinesischen Amtskollegen Qian Qichen sowie mit PM Li Peng zusammengetroffen und habe u. a. den weiteren Fortgang der bilateralen Beziehungen erörtert. Der Empfang mit großen protokollarischen Ehren unterstreiche den hohen Stellenwert, den Peking mittlerweile seinen Beziehungen zu Südkorea einräume. Auf Vietnam angesprochen, führte Shin aus, dass Seoul den Austausch von „Liaison offices“ mit Vietnam als Vorstufe zur Aufnahme diplomatischer Beziehungen plane. Das südkoreanische Büro in Hanoi solle im Juli eröffnet werden. III. Die politischen Gespräche von Dg 34 verliefen in sehr freundlicher und sachlicher Atmosphäre. Sie waren vom erkennbaren koreanischen Willen zum konstruktiven substanziellen Dialog gekennzeichnet. Dass die koreanische Seite bereit war, auch Einblick in vertrauliche Informationen und Lagebewertungen zu gewähren, zeigt die große und weiter zunehmende Bedeutung, die sie den Beziehungen zu D beimisst. Zusätzlich unterstrichen wurde dieser Umstand durch die hochrangige Wahrnehmung, die Dg 34 in Seoul zuteilwurde. Die Frage der Aufnahme diplomatischer Beziehungen westlicher Staaten zu Nordkorea trifft noch auf deutliche südkoreanische Sensibilitäten. Als „Voraussetzungen“ für eine solche Aufnahme hatte die Regierung noch vor wenigen Monaten zum einen die Durchführung der IAEO-Inspektionen, zum anderen eine substanzielle Verbesserung im NordSüd-Verhältnis statuiert. Ihr erneut vorgetragener Wunsch nach vorherigen „Konsultationen“ macht deutlich, dass Seoul auch weiter ein Wort bei der Gestaltung der Beziehungen westlicher Staaten zu Nordkorea mitreden will. Insgesamt unterstrichen die Gespräche einmal mehr, dass die anstehende Lösung der Nuklearfrage zum gegenwärtigen Zeitpunkt das größte Hindernis für die Fortsetzung des Nord-Süd-Dialogs darstellt. Substanzielle Fortschritte (auch im Wirtschaftsbereich) sind erst nach dem Beginn der IAEO-, vielleicht gar [erst] nach einer bilateralen Inspektion der Nuklearanlagen zu erwarten. [gez.] Siemes B 37, ZA-Bd. 162005

18 Die Sitzung der „Economic and Social Commission for Asia and the Pacific“ der VN fand vom 14. bis 23. April 1992 statt.

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128 Gespräch des Bundesministers Genscher mit dem kasachischen Ministerpräsidenten Tereschtschenko 213-321.11 KAS

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Von BM noch nicht gebilligt Gespräch des kasachischen MP Tereschtschenko (T.) am 5. Mai 1992 in Bonn2 BM empfing MP T. am 5.5. zu rund einstündigem Gespräch, das in sehr freundlicher Atmosphäre verlief. Er begrüßte MP T. unter Anknüpfung an BM-Reise nach Alma Ata3 (Ernennung T.) und sagte, Beziehungen zu Kasachstan seien uns wichtig, deswegen sei es gut, dass MP-Besuch so rasch erfolgt. Er sei in Alma Ata beeindruckt gewesen von den klaren Vorstellungen der kasachischen Führung über die Zukunft des Landes, wie sähen Lage und Perspektiven aus heutiger Sicht aus? MP Tereschtschenko dankte für Einladung nach Deutschland und Empfang der Delegation hier und übergab BM persönliche Botschaft von Präsident Nasarbajew. Zur Lage sagte T., KAS lege großen Wert auf Beziehungen zu Deutschland, er wolle Dank im Namen Präsident Nasarbajews und kasachischen Volkes für Unterstützung durch Anerkennung der Unabhängigkeit von KAS ausdrücken. Er stellte dann seine Begleiter vor (Außenwirtschaftsminister Kabdrachmanow und Minister für Antimonopolkommission, Driller) und schilderte restliche Zusammensetzung seiner Delegation (auch Unternehmer aus Alma Ata). Aufgabe der Delegation sei dreierlei: a) Vorbereitung Besuch Präsident Nasarbajew, dies in Gespräch mit BM Bohl4 erörtert, Nasarbajew möchte am 4. oder 5. Juli anreisen und bis 7. Juli bleiben5, b) Teilnahme an Konferenz der Wirtschaftsminister in Münster6, c) Anknüpfung von Kontakten zu deutschen Firmen. Er hoffe, dass es während des Besuchs möglich sei, „vielleicht“ einige staatliche oder private Vereinbarungen über Wirtschaftsfragen unterschriftsreif zu machen. Zur Lage in 1 Kopie. Der Gesprächsvermerk wurde von VLR I Neubert am 6. Mai 1992 gefertigt und an das Ministerbüro mit der Bitte geleitet, „Zustimmung BM herbeizuführen“. Hat VLR Brose am 7. Mai 1992 vorgelegen, der den Rücklauf an Referat 213 verfügte und handschriftlich vermerkte: „Kann mit Vermerk ,Von BM noch nicht gebilligt‘ verteilt werden.“ 2 Der kasachische MP Tereschtschenko hielt sich am 4./5. Mai 1992 in der Bundesrepublik auf. 3 BM Genscher besuchte Kasachstan am 16./17. Oktober 1991. Vgl. AAPD 1991, II, Dok. 346. 4 In dem Gespräch zwischen BM Bohl und dem kasachischen MP Tereschtschenko wurden die kasachische Außenpolitik, die bilateralen Beziehungen, auch im wirtschaftlichen Bereich, die Frage der Nuklearwaffen der ehemaligen UdSSR auf dem Gebiet Kasachstans sowie die deutsche Minderheit erörtert. Vgl. den Gesprächsvermerk; BArch, B 136, Bd. 42631. 5 Der Besuch des kasachischen Präsidenten Nasarbajew fand vom 21. bis 23. September 1992 statt. Für sein Gespräch mit BK Kohl am 22. September 1992 vgl. Dok. 297. 6 Vom 7. bis 9. Mai 1992 fand in Münster eine Konferenz der Wirtschafts-, Industrie- und Handelsminister der G 7-Staaten und der portugiesischen EG-Ratspräsidentschaft mit Regierungsvertretern aus Belarus, der ČSFR, Kasachstan, Polen, Russland, der Ukraine und Ungarn sowie Vertretern der EG-Kommission,

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KAS verwies T. auf die großen Veränderungen seit BM-Besuch (Auflösung SU, Unabhängigkeit). Heute gebe es 15 souveräne Staaten auf dem Territorium der Ex-SU, KAS sei von 100 Staaten anerkannt und habe bereits mit 50 Staaten diplomatische Beziehungen aufgenommen. Deutschland, USA, Türkei und China hätten bereits Botschaften in Alma Ata eröffnet, bald werde KAS Botschafter ins Ausland entsenden und beginnen, sich in die weltweite Staatengemeinschaft einzuleben. T. verwies auf großes Territorium des Landes (2,7 Mio. qkm, 17 Mio. Einwohner) und große natürliche Ressourcen, im Westen Öl und Erdgas, im Norden Kohle und verstreut über das Land Vorkommen von Buntmetall, Blei, Zinn, Titanium und anderen seltenen Metallen und Erden. 13,6 Mio. Hektar Ackerland seien unter dem Pflug, in normalen Jahren (1991: Dürre) exportiere KAS 8–10 Mio. t Getreide (Baumwolle, Milch, Fleisch). Parlament verabschiede derzeit Wirtschaftsgesetzgebung, Probleme seien nicht einfach, wie in Deutschland in den 50er Jahren, der Staat habe nicht genügend Geld, die Inflation sei hoch, die Waren knapp, Industrie und Landwirtschaft müssten modernisiert werden. Er erwarte jedoch nicht, dass KAS seinen Reformkurs verlassen werde, sondern es werde sich deutlich weiter auf Marktwirtschaft zubewegen. Dabei setze man auch auf Auslandsinvestitionen, man sei dabei, eigene Goldreserven anzulegen und Wohnraum, kleine Geschäfte und Betriebe zu privatisieren. Ein Präsidialdekret sehe Ausgabe von Aktien für Mittel- und Großbetriebe vor, dies sei aber nicht leicht und brauche mehr Zeit. Gemäß Präsidialdekret sollten bis 1.3.93 alle Landwirtschaftsbetriebe umgestaltet werden, zuerst zu Kollektiveigentum und dann Aufteilung in genossenschaftliche Bewirtschaftung und in Einzelhöfe. Zur Durchführung der Gesetze des Obersten Sowjets sei eine Präsidialregierung gebildet worden, und in den Verwaltungsgebieten, Städten und Landkreisen würden Vertreter des Präsidenten eingesetzt, um die Ausführung der Gesetze sicherzustellen. Man habe Einrichtungen geschaffen, um den Übergang zu Marktstrukturen zu beschleunigen, ein Außenwirtschaftsministerium, ein Tourismusministerium, eine Außenhandelsbank und ein Zollkomitee. Insgesamt sollen mehr Entscheidungsbefugnisse an die wirtschaftliche Basis delegiert werden, damit die Unternehmen selbst entscheiden können. T. verwies auf Geschäftskontakte mit Südkorea, Türkei, Pakistan; bei Besuch von türkischem PM Demirel7 wurden Dokumente unterzeichnet, die stärkere Kooperation im Bereich Wirtschaft, Gesundheitsfürsorge, Wissenschaft und Kultur vorsähen. Nach jüngstem Besuch japanischen Außenministers8 (2.5.92) erwarte er größeren Zufluss von japanischem Kapital und Geschäftsleuten. Nach den Besuchen des BMWi9, des BMF10 und des BM selbst seien Kontakte Fortsetzung Fußnote von Seite 534 der EBRD und der OECD und Repräsentanten verschiedener Wirtschaftsunternehmen statt. Das BMWi berichtete am 13. Mai 1992, erörtert worden seien die Reform der wirtschaftlichen Strukturen, die Umstellung der militärischen Produktion, die Ausweitung des internationalen Handels, die Förderung von Privatinvestitionen sowie Fragen der Ausbildung und des Umweltschutzes. Ferner sei eine Fortsetzung dieses Konsultationsprozesses verabredet worden. Vgl. B 63, ZA-Bd. 171170. 7 Der türkische MP Demirel hielt sich am 30. April 1992 in Kasachstan auf. 8 Michio Watanabe. 9 BM Möllemann besuchte Kasachstan am 4./5. Februar 1992. Botschafter Blech, Moskau, berichtete am 7. Februar 1992, im Gespräch mit Präsident Nasarbajew seien die bilateralen Wirtschaftsbeziehungen, der Abzug der WGT aus der Bundesrepublik, die deutsche Minderheit in Kasachstan, die Entwicklung der GUS sowie Abrüstungsfragen erörtert worden. Vgl. DB Nr. 564/580; B 41, ZA-Bd. 171755. 10 BM Waigel hielt sich am 24. September 1991 in Kasachstan auf.

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zu Siemens, Mannesmann, Nukem, RWE und anderen geknüpft worden. Auf dieser Reise seien bereits Gespräche mit Deutscher Bank, SEL und Firma Seidle erfolgt. Er bitte um Aufmerksamkeit und Hilfe des BM, damit möglichst viele deutsche Firmen Zusammenarbeit mit Kasachstan begönnen, KAS sei dank einzigartiger geopolitischer Lage Brücke von Europa nach Asien. Bei seinem jüngsten Besuch in China11 habe er Direktflüge Alma Ata – Peking vereinbart, in den nächsten Wochen würden Direktflüge in die Türkei aufgenommen. Es gebe sogar eine Straßenverbindung, und nach Fertigstellung einer Anschlussstrecke zwischen der ex-sowjetischen und der chinesischen Eisenbahn verbinde nun eine Eisenbahnlinie Rotterdam mit Schanghai, quer durch Kasachstan. Kasachstan sei ein künftiger Markt und eine Region mit großen natürlichen Ressourcen und ein Brückenkopf zur wirtschaftlichen Erschließung Asiens (gemeint: Zentralasien), aber auch nach Sibirien und nach China hinein. Er bäte, hier ein hilfreiches Wort zu sagen. KAS wolle keine unentgeltliche Hilfe erbitten, es habe selbst Ressourcen. Man wolle in fünf bis sieben Jahren auf das Niveau entwickelter Länder kommen. Müsse man dies allein tun, würde es länger dauern, bis zu 15 Jahre, mit Firmen aus Deutschland, Japan und USA ginge es erheblich schneller. Bei Gespräch mit BM Bohl und PStS Waffenschmidt sei auch Lage der Deutschen in KAS angesprochen worden. Haltung Präsident Nasarbajew sei unverändert, ebenso wie die der Regierung. Man möchte, dass die 900 000 Deutschen bleiben, dass die Probleme gelöst werden. Man habe den Vorschlag von PStS Waffenschmidt, eine deutsch-kasachische Kommission zu bilden und dort ein Dokument (Vereinbarung oder Protokoll) im Vorfeld des Besuchs von Präsident Nasarbajew auszuarbeiten, mit Verständnis aufgenommen. Darin könne man Bereiche künftiger Kooperation festlegen. So gebe es z. B. Gespräche mit SEL, in drei bis fünf Jahren die Kommunikation über Satellit erheblich zu verbessern. Schließlich gebe er zu bedenken, dass die Türkei bei nur 40 000 Türken in Kasachstan mit Fernsehdirektübertragungen begonnen habe, er könne sich vorstellen, dass auch Deutschland diese mit KAS vereinbaren könnte. Schließlich kam T. auf BM-Besuch zurück und kas. Wunsch, direkte Flugverbindungen zwischen Alma Ata und Frankfurt zu erörtern. Er übergab den Entwurf eines Luftverkehrsprotokolls12, dies sollte nach Möglichkeit bis zum Besuch von Präsident Nasarbajew entschieden werden. BM dankte für Darlegung der Absichten und Pläne der kasachischen Regierung. Er erkenne vieles wieder, was in Alma Ata besprochen worden sei. Wichtig sei die Verbesserung von Infrastruktur und Verkehrswesen, da entscheidend für eine moderne Volkswirtschaft. Dies gelte für Verkehr und Eisenbahn, KAS solle sich aber auch auf seine Bodenschätze besinnen. Modernisierung im Bereich Rohstoff-Energiewirtschaft könne die Deviseneinnahmen bringen, die KAS dann als Investitionen umsetzen könne. Für das Interesse ausländischer Investoren sei die innere Stabilität Kasachstans besonders wichtig. Er könne T. versichern, dass KAS ein wichtiger Partner für uns sei und die Rolle KASs und Präsident Nasarbajews in Zentralasien das Vertrauenskapital für KAS erhöht habe. Er könne nicht über Terminkalender BK verfügen, aber werde sich für Besuch in diesem Zeitraum einsetzen, damit Nasarbajew hier seine Politik darlegen könne, auch gegenüber der deutschen Privatwirtschaft. Er bitte T., den Eindruck mitzunehmen, dass 11 Der kasachische MP Tereschtschenko besuchte die Volksrepublik China am 25./26. Februar 1992. 12 Für den kasachischen Entwurf eines Luftverkehrsabkommens sowie eines -protokolls vgl. B 41, ZABd. 171760.

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KAS für Bundesregierung ein bevorzugter Gesprächspartner sei. Selbstverständlich werde er die Textentwürfe prüfen. Hinsichtlich des Fernsehens hielte er es für gut, wenn T. noch während seines Besuchs ein Gespräch mit dem Intendanten der Deutschen Welle13 führen könne. BM übergab dann den deutschen Entwurf für ein Kulturabkommen14, den T. entgegennahm. In Anknüpfung an die stabilisierende Rolle Kasachstans in der Region bat er T. um eine Lageeinschätzung zur Zukunft der zentralasiatischen Republiken, aber auch zur engeren Kooperation der fünf Staaten nach dem Gipfeltreffen in Bischkek.15 MP Tereschtschenko führte aus, KAS und die anderen zentralasiatischen Völker hätten gemeinsame kulturelle und sprachliche Wurzeln, in Bischkek sei es allerdings um Wirtschaftsfragen sowie Fragen der Integration und Entwicklung in der Region gegangen. Zur Frage des Islam führte T. aus, KAS würde seine Politik unabhängig von konfessionellen Erwägungen entwickeln, man wolle ohne Dogmen von außen oder innen bleiben und insbesondere keinen Fundamentalismus, wie Präsident Nasarbajew seinerzeit bereits ausgeführt habe. Besondere Akzente seien in Bischkek Fragen der Energie, der Wasserwirtschaft und der ökologischen Tragödie des Aral-Sees gewesen. Auf Frage BM, ob sich daraus eine laufende Zusammenarbeit entwickeln werde, bejahte Tereschtschenko dies, auf Frage des BM nach den Beziehungen zu den zentralasiatischen Nachbarn einerseits und Türkei, Iran, Irak andererseits sagte T., KAS werde Beziehungen nur dort pflegen, wo es wirtschaftlich vorteilhaft sei. KASs Beziehungen bauten auf guter Nachbarschaft auf. Es sei VN-Mitglied und wolle sich an alle Grundsätze halten, die global von Geltung sind. Zurzeit verhandele man einen umfassenden Vertrag mit Russland, kasachische Perspektive sei, viele solche bilateralen Verträge mit anderen Partnern zu schließen. BM wünschte T., dass die Stabilität, die KAS vorbildhaft gewährleistet habe, auch weiterhin erhalten bleibe, und äußerte die Hoffnung, dass diese auf die ganze Region ausstrahle. Bundesregierung wünsche, dass die Vorstellung eines guten Verhältnisses zu KAS Realität werde, wichtig auch wegen der vielen Deutschen, die in KAS leben. Bei Gesprächen in Alma Ata hätten deren Berichte beeindruckt über menschliche Aufnahme, als sie 1941 dorthin deportiert wurden. Es wäre gut, wenn sich die Lebensumstände in KAS so entwickelten, dass sie dort eine Perspektive zum Verbleiben sehen. Er sehe die Probleme, die vor KAS liegen, aber der Wille und die Entschlossenheit zur Kooperation seien ebenso vorhanden wie freundschaftliche Gefühle für KAS. In dieser schwierigen, aber wichtigen Zeit werde Deutschland ein guter Partner sein. MP Tereschtschenko versicherte, dies entspräche Haltung von Präsident Nasarbajew, dem Interesse an engen Verbindungen und der Entwicklung der Absprachen, die beim BMBesuch in Alma Ata getroffen wurden. Zur Vorbereitung des Nasarbajew-Besuchs wolle er drei Entwürfe übergeben, einen über die Aus- und Fortbildung von Fachleuten, einen weiteren über die Entwicklung von kleineren und mittleren Betrieben und einen über Handelsfragen16. Wenn die Experten es schaffen, so wäre es gut, diese Abmachungen beim 13 Dieter Weirich. 14 Für den Entwurf vgl. B 97, Bd. 1122. 15 In Bischkek fand am 22./23. April 1992 eine Gipfelkonferenz von Kasachstan, Kirgisistan, Tadschikistan, Turkmenistan und Usbekistan statt. 16 Für die kasachischen Entwürfe vgl. B 41, ZA-Bd. 171760.

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Besuch Nasarbajews unterzeichnen zu können. BM sagte rasche Prüfung zu, Experten sollten bald zusammentreten, und bat, Grüße an Präsident Nasarbajew zu übermitteln, Erfolgswünsche für MP (Ende des Gesprächs). B 41, ZA-Bd. 171754

129 Gespräch des Bundeskanzlers Kohl mit VN-Generalsekretär Boutros-Ghali in New York 5. Mai 19921 Während seines eintägigen Aufenthalts in New York (4./5.5.) anlässlich der 106. Jahresversammlung der American Newspaper Publishers Association2 kam der Herr Bundeskanzler zu einem Gespräch mit dem Generalsekretär der Vereinten Nationen, BoutrosGhali, zusammen. Aus dem etwa einstündigen weitgespannten Gedankenaustausch hebe ich folgende Punkte hervor: Deutschlands Rolle in den Vereinten Nationen Der Bundeskanzler unterstrich, dass es seine Politik sei, die Vereinten Nationen zu stärken. Hierzu gehöre auch eine Stärkung der Mitarbeit Deutschlands in den Vereinten Nationen. Die gegenwärtig durch die deutsche Verfassungssituation eingeschränkte Rolle Deutschlands sei nicht länger hinnehmbar. Es gehe nicht an, dass Deutschland die Rechte eines VN-Mitglieds genieße, nicht aber auch allen Pflichten nachkommen könne. Er strebe noch in dieser Legislaturperiode eine Verfassungsänderung an, die Deutschland in die Lage versetze, auch allen Pflichten nachzukommen. Eine solche Verfassungsänderung sei sowohl für unser Selbstverständnis notwendig als auch von unseren Nachbarn erwartet. Er werde an einer Wehrpflichtarmee festhalten. Dies halte er aus in der deutschen Geschichte liegenden Gründen für die gesellschaftliche Rolle einer Armee in Deutschland für notwendig. Wichtig sei auch, dass junge wehrpflichtige Deutsche während ihres Wehrdienstes sich auch im Dienst der Vereinten Nationen bewähren könnten. Der Generalsekretär begrüßte diese Absicht des Bundeskanzlers. Er wies darauf hin, dass die Fortentwickelung der friedenserhaltenden Maßnahmen immer häufiger den Einsatz von Polizisten, wie z. B. in der Westsahara3 und in Kambodscha4, zur Sicherung der von den 1 Der Gesprächsvermerk wurde von Botschafter Graf zu Rantzau, New York (VN), mit DB Nr. 1128 an das Auswärtige Amt übermittelt. Hat VLR I von Hoessle am 7. Mai 1992 vorgelegen. 2 Für die Rede von BK Kohl am 5. Mai 1992 vgl. BULLETIN 1992, S. 425–428. 3 Mit Resolution Nr. 690 des VN-Sicherheitsrats vom 29. April 1991 wurde die „Mission des Nations Unies pour l’organisation d’un référendum au Sahara occidental“ (MINURSO) geschaffen. Sie hatte den Auftrag, die Durchführung der im Abkommen vom 30. August 1988 zwischen Marokko und der Frente Polisario vereinbarten Maßnahmen zu überwachen und ein Referendum über die Unabhängigkeit der Westsahara vorzubereiten. Vgl. RESOLUTIONS AND DECISIONS 1991, S. 35. 4 Zum Verlauf des Friedensprozesses in Kambodscha und zur Beteiligung der Bundesrepublik an UNTAC vgl. Dok. 305.

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Vereinten Nationen eingeleiteten Maßnahmen erforderlich mache. Könne Deutschland nicht, bis eine Verfassungsänderung auch den Einsatz deutscher Soldaten erlaube, für die von ihm genannten friedenserhaltenden Maßnahmen Polizisten zur Verfügung stellen? Er wies darauf hin, dass für die VN-Aktion in Kambodscha sowohl die Vereinigten Staaten als auch die Schweiz wegen ihrer bundesstaatlichen Strukturen keine Polizisten entsenden könnten und die Vereinten Nationen deswegen einen Mangel an solchen Kräften hätten. Hier sei Hilfe sehr erwünscht. Der Bundeskanzler griff diesen Gedanken mit Interesse auf und sagte wohlwollende Prüfung zu. Er wolle gern helfen, soweit dies bei unseren Strukturen von Länder- und Bundespolizei möglich sei. Der Generalsekretär bat, ebenfalls zu prüfen, ob Deutschland nicht Wahlbeobachter zur Verfügung stellen könne. Auch hieran bestehe erheblicher Bedarf. Rolle der Regionalorganisationen Der Generalsekretär wies auf das Tätigwerden im Jugoslawien-Konflikt der Europäischen Gemeinschaft und der KSZE einerseits und der Vereinten Nationen andererseits als ein Beispiel für die von ihm angestrebte Arbeitsteilung zwischen Regionalorganisationen und der Weltorganisation hin. Er hoffe, dass man so auch in anderen Regionalkonflikten, wie z. B. in Somalia oder Nagorny Karabach, verfahren könne. Die Vereinten Nationen könnten bei Aktionen von Regionalorganisationen technische Hilfestellung leisten. Der Bundeskanzler drückte sein Einverständnis mit diesem Konzept aus, die Vereinten Nationen könnten nicht überall sein. Verhältnis des Westens zur Dritten Welt Der Generalsekretär berichtete, dass er bei seiner kürzlichen dreiwöchigen Reise durch Ost- und Westasien5 immer wieder auf die Besorgnis gestoßen sei, dass die Länder ihre Energien in den Wiederaufbau der Länder Mittel- und Osteuropas investierten und darüber die Bedürfnisse der Dritten Welt vergäßen. Der Bundeskanzler betonte nachdrücklich, dass dieses nicht seine Politik sei. Man müsse aber auch sehen, dass es eine unverzeihliche Unterlassung sein würde, wenn man die Völker der ehemaligen Sowjetunion im Stich ließe. Würden wir ihnen heute nicht helfen, würden wir morgen mit noch größeren Problemen konfrontiert sein. Allerdings müssten diese Länder sich auch selbst helfen. Lage in Deutschland Auf eine entsprechende Frage des Generalsekretärs erklärte der Bundeskanzler, dass die Wiedervereinigung sehr große wirtschaftliche Probleme, die in dieser Größenordnung nicht vorhersehbar gewesen seien, mit sich gebracht hätte, sie seien aber lösbar. Schwieriger und erst auf längere Frist zu überwinden sei die immaterielle, die menschliche Seite der überwundenen Teilung. Zypernkonflikt Auf eine Nachfrage des Bundeskanzlers erwähnte der Generalsekretär, dass er in Kürze die politischen Führer Zyperns empfangen werde.6 Wenn hier nicht wirkliche Bewegung einsetze, dann müssten die VN-Friedenstruppen aus Zypern7 abgezogen werden. 5 VN-GS Boutros-Ghali hielt sich vom 14. bis 17. April 1992 in der Volksrepublik China auf, am 17./18. April in Hongkong, vom 18. bis 20. April in Kambodscha, am 20./21. April in Thailand, vom 21. bis 23. April in Indien, vom 24. bis 26. April in Pakistan sowie am 27. April 1992 im Iran. 6 Zu den Gesprächen vom 18. bis 23. Juni 1992 in New York vgl. Dok. 223, Anm. 29. 7 Zur Bildung der UNFICYP vgl. Dok. 76, Anm. 5.

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Iran – Geiselfrage8 Der Generalsekretär wies darauf hin, dass er bei seinem jüngsten Aufenthalt in Teheran in Bezug auf die deutschen Geiseln im Libanon Hinweise erhalten habe, die ihn sehr hoffnungsvoll gestimmt hätten. Dies habe er in einem Telefongespräch von Paris aus BM Genscher mitgeteilt.9 Der Bundeskanzler begrüßte diese Nachricht und bewertete sie als ein Zeichen dafür, dass Bewegung in die Lage im Iran gekommen sei. Der Generalsekretär bestätigte dieses und sagte, dass es bei seinen Gesprächen mit Rafsandschani und Velayati deutlich geworden sei, dass sie eine Rolle spielen und sich aus der Isolation lösen wollten. Der Bundeskanzler erklärte, auch er habe von der iranischen Führung das Gefühl vermittelt bekommen, dass sie alte Kontakte wiederherstellen wolle und dieses nicht nur im ökonomischen Bereich. Er werde die Entwicklung im Iran bedächtig verfolgen. Wenn die Geiselfrage gelöst sein werde, sei es an der Zeit, dass auch Washington seine Haltung überdenke. Anknüpfend an die traditionellen Beziehungen Deutschlands zur islamischen Welt, insbesondere zu Indien und zu Iran, bezeichnete es der Bundeskanzler als einen Fehler, wenn man diese Beziehung nur im wirtschaftlichen Bereich, nicht aber auch im geistigen und kulturellen Bereich sehe. Umweltgipfelkonferenz in Rio10 Bundeskanzler erklärte, dass er der Umweltkonferenz in Rio größte Bedeutung beimesse. Er setze sich nachdrücklich für einen Erfolg dieser Konferenz ein und stehe dieserhalb auch mit Präsident Bush in telefonischem Kontakt. Der Generalsekretär bezeichnete dieses als sehr wichtig, erwähnte auch die Bedeutung des G 7-Treffens für die Vorbereitung der Rio-Konferenz. Sozialgipfel Der Generalsekretär unterstrich die große Bedeutung, die er dem für 1995 geplanten Sozialgipfel11 für die Weiterentwicklung der sozialen Fragen beimisst. Auch der IMF beginne, die sozialen Fragen mehr und mehr in seine Überlegungen einzubeziehen. Nord-Süd-Zentrum Bonn Der Bundeskanzler wies auf das Angebot der Bundesregierung hin, UNDP und UNFPA in Bonn anzusiedeln und damit den Kern für ein Nord-Süd-Zentrum zu schaffen.12 Dieses entspräche der neuen Rolle, die sich Deutschland nach der Wiedervereinigung zumesse. Er wisse, dass es hierzu auch skeptische Stimmen gebe, bitte aber den Generalsekretär um eine faire Prüfung des deutschen Angebots. 8 Zum Entführungsfall Strübig und Kemptner vgl. Dok. 12, besonders Anm. 11 und 13. 9 Für das Telefongespräch am 28. April 1992 vgl. Dok. 120. 10 Zur VN-Konferenz über Umwelt und Entwicklung (UNCED) vom 3. bis 14. Juni 1992 vgl. Dok. 177. 11 Der Weltgipfel für Soziale Entwicklung fand vom 6. bis 12. März 1995 in Kopenhagen statt. 12 Botschafter Reichenbaum erläuterte am 23. Juni 1992: „Am 8. April 1992 hat das Bundeskabinett ein Angebot an das United Nations Development Programme (UNDP), den Bevölkerungsfonds der Vereinten Nationen (UNFPA) und andere mit UNDP in Verwaltungseinheit arbeitende Fonds zur Übersiedlung von New York nach Bonn verabschiedet. Dieses Angebot ist am 12. Mai 1992 durch die Parlamentarische Staatssekretärin im BMZ, Frau Geiger, dem UNDP-Verwaltungsrat offiziell unterbreitet worden. Seine wesentlichen Bestandteile sind: mietfreie Gestellung von Büroraum in Bonn, Übernahme der Umzugskosten, Übernahme der Eingliederungskosten, substanzielle Erhöhung unserer freiwilligen Beiträge zu den o. a. VN-Programmen. Der Deutsche Bundestag hat sich bereit erklärt, den für ihn geplanten Erweiterungsbau (Schürmann-Bau) bereits mit seiner Fertigstellung im Jahr 1996 den Vereinten Nationen zur Verfügung zu stellen.“ Vgl. B 54, ZA-Bd. 159437.

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5. Mai 1992: Vorlage von Elbe

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Der Generalsekretär sagte dies zu, wies aber gleichzeitig darauf hin, dass sowohl in Bangkok als auch in Tokio große Konferenzanlagen geschaffen seien, für die beide Länder unter dem Stichwort Dezentralisation die Verlagerung von wichtigen VN-Agenturen erbäten. Hier stelle sich auch das Problem der Eigeninteressen der großen VN-Organisationen. Der Bundeskanzler meinte, man müsse einen mittleren Weg einschlagen. Das deutsche Angebot könne sich mit seiner Perspektive, auch unabhängig von den finanziellen Beiträgen, die wir zu bezahlen bereit seien, durchaus sehen lassen. B 36, ZA-Bd. 196648

130 Vorlage des Ministerialdirektors Elbe für Bundesminister Genscher 5. Mai 19921 Über Herrn Staatssekretär2 Herrn Bundesminister3 zur Information Betr.:

Zielsetzungen einer aktuellen Afghanistan-Politik

Da eine Fehlentwicklung in der jetzigen Endphase des afghanischen Bürgerkriegs4 von gravierender Bedeutung für die Stabilität der südwestasiatischen Gesamtregion sein könnte und auch die KSZE tangiert ist (insbes. durch Mitgliedstaaten Tadschikistan, Usbekistan, Turkmenistan), sollte unsere Afghanistan-Politik im Verbund mit den Partnerstaaten von folgenden Zielsetzungen bestimmt sein: 1) Erhaltung der territorialen Integrität Afghanistans Grenzen sind als Produkt einer imperialen Interessenabgrenzung zwischen GB und dem zaristischen Russland künstlicher Natur. Eine starke Zentralregierung hat es in Afghanistan nie gegeben. Die derzeitigen Machtkämpfe unter den zerstrittenen Mudschahedin-Gruppen gefährden deshalb die ohnehin fragile Einheit des Staates. Ethnische Vielfalt (etwa 200 Völker und Volksgruppen; weitere Unterteilung in Stämme und Clans) und religiöse Loyalitäten (ca. 80 % Sunniten, 20 % Schiiten) treten erschwerend 1 Die Vorlage wurde von VLR I Hauswedell und VLR Adam konzipiert. 2 Hat StS Kastrup am 5. Mai 1992 vorgelegen. 3 Hat BM Genscher am 10. Mai 1992 vorgelegen. Hat OAR Rehlen am 11. Mai 1992 vorgelegen, der den Rücklauf über das Büro Staatssekretäre an den Planungsstab verfügte. Hat VLR I Reiche am 12. Mai 1992 vorgelegen. 4 Referat 340 erläuterte am 12. Mai 1992 zur Entwicklung in Afghanistan: „Am 25.4.92 haben Mudschahedin-Kämpfer verschiedener Gruppen unter Ahmed Schah Massud Kabul besetzt. Der Versuch Gulbuddin Hekmatyars, sich ebenfalls Kabuls zu bemächtigen, ist bislang gescheitert. Ex-Präsident Nadschibullah hält sich noch in Kabul verborgen.“ Ebenfalls am 25. April 1992 habe sich in Peschawar ein Interimsrat verschiedener Mudschahedin-Anführer gebildet, dem der bisherige Präsident der Exilregierung, Modschaddedi, vorstehe. Die eigentliche Macht liege jedoch bei einem sechsköpfigen Militärrat unter Führung des Tadschiken Massud, der auch zum Verteidigungsminister ernannt worden sei. Nach wie vor gebe es Kämpfe zwischen dem Paschtunen Hekmatyar und Massud sowie dessen Verbündetem, dem usbekischen Milizenführer Dostum. Vgl. B 37, ZA-Bd. 166166.

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5. Mai 1992: Vorlage von Elbe

hinzu. Der Bürgerkrieg hat das Gefühl der Einheit der Bevölkerungsgruppen nicht verstärkt, sondern ethnische und religiöse Konflikte eher verschärft. Durch die aufgestauten Animositäten könnten zentrale Begriffe einer feudalen Stammesgesellschaft (Blutrache, Ehre) jetzt zunächst ihren Tribut fordern. Durch die Machtverteilung zwischen den Kommandanten und der Übergangsregierung nach der Eroberung Kabuls droht Gefahr für die ethnische Balance Afghanistans. Das traditionell führende „Staatsvolk“ der Paschtunen (ca. 40 % der Gesamtbevölkerung) könnte an Einfluss verlieren; die Rolle der nördlichen Völker (Tadschiken, Usbeken, Turkmenen) könnte zunehmen. Wenn die Einbindung der Kräfte des radikalen islamischen Fundamentalisten Hekmatyar, Paschtune und Vertreter des Sunni-Elements, in die Übergangsregierung nicht gelingt, besteht die Gefahr, dass der eher paschtunische Süden und Südosten Afghanistans sich als „Paschtunistan“ abspaltet. Für das ohnehin instabile Pakistan, in dem an der Nordwestgrenze 7 Mio. Paschtunen leben, stünde der Fortbestand der territorialen Integrität auf dem Spiel. Auch wenn der machiavellistische Demagoge Hekmatyar nicht alle Paschtunen repräsentiert und er offenbar die Neigung der Gesamtbevölkerung zu Ausgleich und Frieden unterschätzt, so ist seine Gruppierung doch stark genug, um eine fragile Übergangsregierung zu gefährden. Er hat in der Vergangenheit öfter seine Rolle als „spoiler“ ausgespielt. Seine politischen Fähigkeiten sind höher als seine militärischen einzuschätzen. Eine Sezession auch nur einer ethnischen Gruppe könnte durch eine Kettenreaktion eine Jugoslawisierung Afghanistans einleiten und die Begehrlichkeiten der Nachbarn (insbes. Pakistan, Iran, Tadschikistan, Usbekistan, Turkmenistan) wecken. Die Situation ist noch gefährlicher als in Jugoslawien: Fast alle Bevölkerungsteile haben enge Verbindungen über Staatsgrenzen hinweg. Die Flüchtlingsbewegungen seit 1975 (noch immer leben 5 Mio. Flüchtlinge in Pakistan und im Iran) haben die ethnischen Affinitäten über Staatsgrenzen hinweg eher verstärkt. Ein neo-kolonialer Wettlauf der Nachbarn um Einflusssphären könnte ausgelöst werden. Eine Destabilisierung der gesamten Region könnte die Folge sein. Als „worst case scenario“ droht Afghanistan ein „warlordism“, d. h. ein Zerfall in kleine Territorien, die jeweils unter der Autorität eines Militärkommandanten stehen. Bei einer solchen Zersplitterung des Landes würde die Konkurrenz ausländischen Einflusses wegen des Fehlens einer Zentralregierung zunehmen. „Warlordism“ würde auch die HeroinProblematik Afghanistans verschärfen, da die lokalen Machthaber dann diesen Weg der schnellen Finanzierung beibehalten würden. Die systematische Kontrolle der Anbauflächen würde damit praktisch unmöglich gemacht. In allen unseren Erklärungen sollten wir deshalb zusammen mit den Partnern und den Nachbarstaaten Afghanistans auf die Einhaltung der territorialen Integrität Afghanistans drängen. Eine diplomatische Initiative mit dem Ziel einer formellen Garantieerklärung der unmittelbaren Nachbarn für die territoriale Integrität Afghanistans wäre sinnvoll. Die Übergangsregierung würde dadurch unterstützt. 2) Erhaltung der politischen Unabhängigkeit und Neutralität Die Reaktion des Westens auf die sowjetische Invasion Afghanistans 19795 war auch deshalb so eindeutig, weil das stillschweigende Einverständnis über Unabhängigkeit und 5 Am 24. Dezember 1979 intervenierten Streitkräfte der UdSSR in Afghanistan. Vgl. AAPD 1979, II, Dok. 393–395.

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Neutralität Afghanistans gebrochen wurde. Dieses Einverständnis sollte nun für das befreite Afghanistan wiederhergestellt werden. Es sollte seine traditionelle Rolle als Pufferstaat beibehalten. Die Afghanen haben durch die Opfer des Konflikts ihren Willen zur Unabhängigkeit bewiesen. Trotz der erheblichen Zuwendungen des Westens haben sich die Widerstandsgruppen ihre Unabhängigkeit bewahrt, oft auch gegen die Interessen ihrer Verbündeten gehandelt. Es besteht also keine Sorge, dass Afghanistan nicht für seine Unabhängigkeit eintreten wird. Vielmehr geht es darum, ob es sie angesichts anhaltender Schwäche gegenüber den Nachbarn behaupten kann. Amerikanische und russische Unterstützung für die politische Unabhängigkeit ist gewiss, sie müsste allerdings als Zusicherung stärker artikuliert werden. Russland ist durch das Primat der Innenpolitik derzeit fast nur am Schicksal der letzten russischen Gefangenen interessiert. Die Unterstützung der Nachbarn für dieses Konzept ist problematischer. Pakistan und Iran bekräftigen ihr Interesse an der politischen Unabhängigkeit Afghanistans. Dies ist auch als Mittel zur Stabilisierung ihrer Staatsgrenzen (insbes. Pakistan).6 Sollte jedoch Afghanistans territoriale Integrität infrage gestellt werden, so könnte sich die Interessenlage dramatisch wandeln. Bei den KSZE-Mitgliedern Tadschikistan, Turkmenistan und Usbekistan ist die Interessenlage weniger eindeutig. Die neue afghanische Regierung müsste wohl Gewähr dafür bieten, dass die ethnischen und religiösen Rechte ihrer in Afghanistan lebenden Brudervölker gewahrt werden. Je deutlicher die Sicherung der territorialen Integrität gelingt, desto wahrscheinlicher ist es, dass die Nachbarn auch der politischen Unabhängigkeit zustimmen. 3) Hilfe des Westens an rasche Beendigung des Bürgerkriegs und nationale Versöhnung knüpfen; Unparteilichkeit wahren Historisch gesehen, ist Afghanistan ein Paradebeispiel für das Scheitern ausländischer Interventionen. Solange die gegenwärtige unübersichtliche Situation anhält, sollten wir jede Unterstützung einer Fraktion der Bürgerkriegsparteien vermeiden. Die eher gemäßigte (Mehrparteien-System) und auf friedlichen Machtwechsel abzielende Haltung des Kommandanten Massud dürfte zwar den westlichen Interessen eher entsprechen als die fremdenfeindlichere Haltung Hekmatyars, der möglicherweise ein theokratisches System iranischer Prägung errichten würde. Aber es wäre falsch, jetzt alles auf Massud zu setzen. Seine Koalition mit dem Söldnerheer des Usbeken-Generals Dostum könnte temporärer Natur sein, denn dieser war vorher eine Stütze Nadschibullahs. Desgleichen muss abgewartet werden, ob die taktische Allianz zwischen Massud und den Kräften des alten Regimes (Armee, Watan-Partei) ein Beitrag zur nationalen Versöhnung war und anhält oder ob sie doch lange angestauten Rachegelüsten zum Opfer fällt. Hekmatyars gegenwärtige Aktion gegen Kabul dient dem Zweck, die Widersprüche dieser taktischen Allianz Massuds mit der Usbeken-Miliz Dostums aufzuzeigen. Wenn der Westen angesichts dieser Ungeklärtheiten eine Fraktion (etwa Massud) unterstützt, könnten die anderen Fraktionen dagegen von sich behaupten, sie seien die wahren islamischen Patrioten. 6 So in der Vorlage.

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5. Mai 1992: Vorlage von Wagner

Sollte die Übergangsregierung sich jedoch behaupten und sich für die gesamte Bevölkerung als repräsentativ erweisen (also auch die Einbindung der Hekmatyar-Kräfte gelingen), sollten wir zusammen mit den Partnern darauf dringen, dass der Abfluss der internationalen Hilfe für Afghanistan von anhaltender friedlicher Konfliktlösung abhängig ist. Frank Elbe B 9, ZA-Bd. 178533

131 Vorlage des Vortragenden Legationsrats I. Klasse Wagner für Staatssekretär Kastrup 204-321.15/1 USA

5. Mai 19921

Über Dg 20, D 22 Herrn Staatssekretär3 Betr.:

Deutsch/amerikanisch-jüdische Beziehungen; hier: Stand und weitere Entwicklung der Beziehungen

Zweck der Vorlage: Zur Unterrichtung I. 1) Die Pflege der deutsch/amerikanisch-jüdischen Beziehungen ist schwieriger geworden. Dies zeigt sich an Äußerungen von Vertretern amerikanisch-jüdischer Organisationen über Rechtsradikalismus in Deutschland, über den zukünftigen Weg des vereinten Deutschlands und der deutschen Außenpolitik sowie an immer deutlicher vorgetragenen Forderungen hinsichtlich unserer Politik gegenüber Israel (Kreditvergabe4, Maßnahmen gegen Israel-Boykott5, Wiedergutmachungszahlungen). Öfter als bislang üblich werden Entwicklungen in und außenpolitische Schritte der Bundesrepublik mit dem nationalsozialistischen (oder vereinzelt völlig undifferenziert mit einem fast-schon-wieder-nationalsozialistischen) Deutschland in Verbindung gebracht. 2) Die Gründe für das Anwachsen der Spannungen sind weniger tagespolitischer Natur als vielmehr das Ergebnis verschiedener langfristiger Entwicklungen weltweit und innerhalb der jüdischen Gemeinschaft in den USA. 1 Die Vorlage wurde von LS Hutter konzipiert. 2 Hat, auch in Vertretung des MD Chrobog, MDg Hofstetter am 6. Mai 1992 vorgelegen. 3 Hat StS Kastrup am 6. Mai 1992 vorgelegen. Hat VLR Ney am 6. Mai 1992 vorgelegen, der den Rücklauf an VLR I Wagner verfügte. Hat Wagner am 7. Mai 1992 erneut vorgelegen, der die Weiterleitung an VLR Freiherr von Kittlitz und LRin I Sräga-König „n[ach] R[ückkehr]“ mit der Bitte um „gel[egentliche] R[ücksprache]“ verfügte. Hat Kittlitz am 7. Mai 1992 vorgelegen. Hat Sräga-König am 11. Mai und 2. Juni 1992 vorgelegen, die handschriftlich vermerkte: „Wird im Blauen Dienst abgedruckt (lt. Frau Tiedt am 1.6.).“ 4 Zu den deutsch-israelischen Finanzbeziehungen vgl. Dok. 108. 5 Zur Einführung einer nationalen Anti-Boykott-Regelung vgl. Dok. 233.

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5. Mai 1992: Vorlage von Wagner

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– Nach dem Ende der Ost-West-Konfrontation und der Teilung Deutschlands wird von Deutschland allgemein (insbesondere in den USA) die Übernahme größerer Verantwortung erwartet. Für die amerikanisch-jüdischen Organisationen, die sich vor allem als Interessenwalter Israels sehen, heißt dies, dass Deutschland auch eine wachsende (politische und finanzielle) Verantwortung für Israel übernehmen soll. – Mit dieser Haltung passen sich die amerikanisch-jüdischen Organisationen auch der veränderten amerikanischen Israel-Politik an. In dem Maße, in dem die amerikanische Regierung israelischen Forderungen nicht nachkommt, fordern sie verstärkt anderweitig, d. h. insbesondere in Deutschland, Unterstützung für Israel ein. – Israels Bedarf an finanzieller Unterstützung zur Eingliederung russisch-jüdischer Einwanderer hat sich seit 1989 drastisch verstärkt. Hinzu kommen weitere finanzielle Forderungen der Claims Conference zur Wiedergutmachung von NS-Unrecht6 sowie grundsätzlich die jüdische Erwartung deutscher Bereitschaft zur Zahlung ausstehender Entschädigungsleistungen der ehemaligen DDR. Ihrer Aufgabe als Interessenvertreter Israels und als Vertreter eigener Interessen entsprechen die Organisationen, indem sie diese Forderungen tel quel unterstützen. – Die Erinnerung an den Holocaust und der hohe Identifikationsgrad mit Israel sorgten bislang dafür, dass amerikanische Juden in hohem Maße organisiert und politisch aktiv (und erfolgreich) waren. Die israelische Siedlungspolitik und die starre Haltung Israels im Nahost-Friedensprozess haben den wichtigen Konsens in der Haltung amerikanischer Juden zu Israel aufbrechen lassen. Die Erinnerung an den Holocaust ist für amerikanische Juden damit (mehr noch als für israelische Juden) der wichtigste Identifikationsfaktor geworden. (Für 1993 wird die Eröffnung von 13 Holocaust-Gedenkstätten in den USA erwartet.) – Überalterung, Säkularisierung und Assimilierung in die amerikanische Gesellschaft haben bei den amerikanisch-jüdischen Organisationen zu Mitgliederschwund und Geldmangel geführt. Das Überzeichnen bzw. die Verzerrung des Bildes vom heutigen, realen Deutschland dient somit auch dem Ziel, dem weiteren Absinken des Engagements der amerikanischen Juden für die amerikanisch-jüdischen Organisationen entgegenzuwirken. – Die in den letzten 20 Jahren gegründeten Organisationen zur Erinnerung an den Holocaust, wie etwa das Simon Wiesenthal Center in Los Angeles, betreiben eine offensive, teilweise aggressive Öffentlichkeitsarbeit und haben zunehmend an Bedeutung gewonnen. Um das Holocaust-Thema nicht allein diesen Gruppen zu überlassen, haben die „mainstream“-Organisationen ihre Tätigkeit auf diesem Gebiet aus Konkurrenzgründen ebenfalls gesteigert. II. 1) Das Verhältnis zu den amerikanisch-jüdischen Organisationen konnte seit Anfang der achtziger Jahre verbessert werden. Die Kontakte zu Vertretern amerikanisch-jüdischer Organisationen wurden breiter und intensiver; sie konnten stärker als vorher in die übergeordneten deutsch-amerikanischen und deutsch-jüdischen Beziehungen eingefügt werden. Organisationen wie das American Jewish Committee, die Anti-Defamation League, B’nai B’rith und in neuerer Zeit der American Jewish Congress und das aus dem American Jewish Committee hervorgegangene Armonk Institute haben ihre Kontakte zu Deutschland intensiviert. (Hervorzuheben sind die seit Anfang der achtziger Jahre bestehenden Aus6 Zu den Verhandlungen des BMF mit der Jewish Claims Conference vgl. Dok. 287.

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5. Mai 1992: Vorlage von Wagner

tauschprogramme des American Jewish Committee mit der Konrad-Adenauer-Stiftung und der Friedrich-Ebert-Stiftung.) Gleichwohl erreichen wir nach wie vor nur den Teil der amerikanischen Juden, der von sich aus an Kontakten mit uns interessiert ist. 2) Zielsetzung auf jüdischer Seite ist dabei nur zum Teil die Annäherung und Aussöhnung zwischen Deutschen und Juden. Treffen von Vertretern führender amerikanisch-jüdischer Organisationen mit Repräsentanten Deutschlands verschaffen den Organisationen die Möglichkeit, ihre Forderungen an hochrangiger Stelle vorzutragen. Mahnungen, den Holocaust nicht zu vergessen, Warnungen vor einem Anwachsen des Rechtsextremismus in Deutschland und Forderungen an Deutschland, besondere Anstrengungen im Verhältnis zu Israel zu leisten, dienen den amerikanisch-jüdischen Organisationen indirekt dem Zweck, den für sie bedrohlichen Trends entgegenzuwirken. III. Ausblick Derzeit ist eher von einem weiteren Anhalten der Spannungen im deutsch/amerikanischjüdischen Verhältnis auszugehen. Dies könnte sich negativ auf die deutsch-amerikanischen und deutsch-jüdischen Beziehungen auswirken. Um zu verhindern, dass es zu einer Verschärfung der Spannungen kommt und um langfristig zu einer Verbesserung in den Beziehungen zu den amerikanisch-jüdischen Organisationen beizutragen, sollte von unserer Seite folgendes Vorgehen eingeschlagen werden: – Grundsätzliche Gesprächsbereitschaft gegenüber allen amerikanisch-jüdischen Organisationen. Diese muss sich dabei naturgemäß nach der Dialogbereitschaft der jeweiligen Organisation richten. Die Bereitschaft der Bundesregierung zur Zusammenarbeit mit amerikanisch-jüdischen Organisationen sollte sich jedoch keinesfalls nur auf eine oder einige wenige Organisationen beschränken. Dialogbereitschaft gegenüber jenen Organisationen, die Deutschland bislang abwartend und/oder kritisch gegenüberstehen, kann dazu beitragen, Wissenslücken zu füllen und Vorurteile abzubauen. Vertretern der amerikanisch-jüdischen Organisationen sollte dabei vor Augen geführt werden (je kritischer sie sind, umso deutlicher), dass diese Spannungen langfristig nicht in ihrem Interesse sein können, da es für die Bundesregierung mit der Zeit immer schwieriger werde, der deutschen Bevölkerung angesichts der aus deutscher Sicht überzogenen Kritik an Deutschland unser großes Engagement für jüdische Belange und für Israel zu erklären. Nicht nur die Bundesregierung, sondern auch die jüdischen Organisationen selbst müssten aus wohlverstandenem Eigeninteresse dafür Sorge tragen, dass die Distanz zwischen Deutschen und amerikanischen Juden nicht größer, sondern kleiner wird. – Hochrangige Kontakte werden auch in Zukunft unverzichtbar bleiben, um bei führenden Vertretern amerikanisch-jüdischer Organisationen für Verständnis für die deutsche Haltung zu werben. Die Arbeitsebene dieser Organisationen („European Representatives“, „International Directors“) sollte jedoch in der Regel von der Arbeitsebene auf unserer Seite wahrgenommen werden. Über diese Politik sollten sowohl die Auslandsvertretungen, bei denen die Gesprächswünsche zumeist angemeldet werden, und andere Bundesministerien (BMWi, BMI, BMJ), die mit den amerikanisch-jüdischen Organisationen oft nicht so vertraut sind, informiert werden. – Die Auslandsvertretungen sollten insbesondere den Kontakt zu Vertretern der jüngeren Generation, die in der Regel nicht zur Führungsspitze amerikanisch-jüdischer Organisationen gehören, suchen. Dadurch kann: 1) Interesse am heutigen Deutschland geweckt werden, 546

5. Mai 1992: Drahtbericht von Richthofen

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2) ein Bruch verhindert werden, wenn die jetzige, mit Deutschland zum Teil aufgrund ihrer Biographie vertraute Führungsspitze abtritt, 3) eine Beziehung zur zukünftigen Führungsschicht der amerikanisch-jüdischen Organisationen aufgebaut werden. – Wir betreiben in den USA schon jetzt eine intensive Öffentlichkeitsarbeit mit jüdischem Bezug (Ausstellungen, Theater- und Filmvorführungen; Vortrags- und Seminarveranstaltungen). Künftig sollten dabei vermehrt auch Projekte, die dazu beitragen, Wissen über das heutige Deutschland zu vermitteln, unterstützt werden. (Beispiele für derartige Projekte sind das „Institute of the Righteous“ in Detroit, die Förderung der „Villa Aurora“ in Los Angeles und die Ausstellung „Jüdische Gemeinden in Deutschland nach 1945“, die 1995 in Frankfurt und danach in den USA gezeigt werden soll.) Wagner B 32, ZA-Bd. 179508

132 Drahtbericht des Botschafters Freiherr von Richthofen, London VS-NfD Fernschreiben Nr. 887 Betr.:

Aufgabe: 5. Mai 1992, 17.51 Uhr1 Ankunft: 5. Mai 1992, 19.34 Uhr

Gespräch mit PM a. D. Margaret Thatcher am 5.5.1992

1) Die frühere britische PM Margaret Thatcher bat mich heute zu einem Gespräch in ihr neues Büro am Chesham Place, gegenüber der Botschaft, um sich über die aktuelle Lage in Deutschland unterrichten zu lassen. Eigentlicher Grund des Gespräches war – wie mir ihr Persönlicher Referent sagte – ihre Sorge über das Ausscheiden von BM aus der Bundesregierung2 zum jetzigen Zeitpunkt. Sie leitete das Gespräch mit der Feststellung ein, dass ihr Verhältnis zu BM entgegen dem, was manche Leute sagten, immer sehr gut gewesen sei, weil man offen und vernünftig miteinander habe sprechen können. Sie habe in allen Begegnungen mit BM das Gefühl gehabt, dass er ein tiefes Verständnis für die anliegenden Probleme hatte. Sie bedauere seinen Rücktritt gerade jetzt, wo sich Europa in immensen Schwierigkeiten befinde. BM habe in Jugoslawien von Anfang an Recht gehabt. Sie habe AM Hurd mehrfach darauf hingewiesen, dass die Glaubwürdigkeit Europas darunter leiden müsse, wenn die Europäer nichts täten, um dem Blutvergießen in Slowenien und Kroatien Einhalt zu gebieten. Die am 16.12.1991 schließlich erreichte Anerkennung3 sei viel zu spät gekommen, und es sei auch falsch gewesen, dass GB den Eindruck habe aufkommen lassen, die Zwölf hätten sich dazu nur unter deutschem Druck bewegen lassen. Sie bedauere auch die Halbherzigkeit 1 Hat VLRin Völkel am 6. Mai 1992 vorgelegen. 2 Zum angekündigten Rücktritt von BM Genscher vgl. Dok. 119, Anm. 10. 3 Zur Frage der Anerkennung von Kroatien und Slowenien vgl. Dok. 11, Anm. 4.

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5. Mai 1992: Drahtbericht von Rantzau

in Bezug auf Bosnien-Herzegowina. Was dort zum Schutz der Menschen erforderlich wäre, sei Schutz aus der Luft und Zurverfügungstellung schwerer Waffen. Sie erinnerte in diesem Zusammenhang an ihr Eintreten am Golf, die Annexion Kuwaits durch den Irak4 rückgängig zu machen. Frau Thatcher schien das Ausscheiden von BM Stoltenberg5 und BM Genscher aus der Bundesregierung so kurz hintereinander als eine Schwächung der Verlässlichkeit und Vernunft zu verstehen. Sie hatte andererseits Verständnis für die persönlichen Gründe von BM und fand es richtig, genügend Abstand zu gewinnen, um die politischen Erfahrungen aus langer Amtszeit mit Gewicht an die nächste Generation weitergeben zu können. Sie bat mich, BM ihre besten Wünsche zu übermitteln, und zeigte sich interessiert, falls er gelegentlich nach London käme, ihn wiederzusehen und das Gespräch mit ihm fortzusetzen. 2) Frau Thatcher wird demnächst eine Europarede in NL halten6 (ihre anti-europäischen Ansichten sind noch härter geworden) und auf einem internationalen (amerikanischen) Kongress am 13./14.5.1992 in München sprechen. [gez.] Richthofen B 42, ZA-Bd. 175655

133 Drahtbericht des Botschafters Graf zu Rantzau, New York (VN) Fernschreiben Nr. 1131 Betr.:

Aufgabe: 5. Mai 1992, 22.12 Uhr1 Ankunft: 6. Mai 1992, 04.29 Uhr

Irak-Sonderkommission der VN gem. SR-Res. 6872; hier: Stand der Arbeiten ein Jahr nach Einrichtung der Kommission3

Zur Unterrichtung 1) Die 21 Mitglieder der Irak-Sonderkommission der VN traten vom 4. bis 6.5. im New Yorker UNO-Hauptquartier zu einer Plenarsitzung zusammen, um das bei Umsetzung von 4 Irakische Truppen marschierten am 2. August 1990 in Kuwait ein. Vgl. AAPD 1990, II, Dok. 238. Am 8. August 1990 gab die irakische Regierung die Vereinigung Kuwaits mit dem Irak bekannt. Für die Erklärung vgl. EUROPA-ARCHIV 1991, D 45 f. 5 Im Zusammenhang mit vom Bundestag nicht genehmigten Waffenlieferungen an die Türkei erklärte BM Stoltenberg am 31. März 1992 seinen Rücktritt. 6 Für die Rede der ehemaligen britischen PM Thatcher am 15. Mai 1992 in Den Haag vgl. https://www. margaretthatcher.org/document/108296. 1 Hat VLR Petri am 6. Mai 1992 vorgelegen, der die Weiterleitung an VLR I Ackermann „z[ur] g[efälligen] K[enntnisnahme]“ verfügte. Hat Ackermann am 6. Mai 1992 vorgelegen. 2 Für die Resolution Nr. 687 des VN-Sicherheitsrats vom 3. April 1991 vgl. RESOLUTIONS AND DECISIONS 1991, S. 11–15. Für den deutschen Wortlaut vgl. EUROPA-ARCHIV 1991, D 227–233. 3 Zur bisherigen Tätigkeit der VN-Sonderkommission Abrüstung Irak vgl. Dok. 28.

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5. Mai 1992: Drahtbericht von Rantzau

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SR-Res. 687 im letzten Halbjahr Erreichte zu bewerten und weiteres Vorgehen zu erörtern. Zu Beginn gab der schwedische Vorsitzende Botschafter Ekéus einen Überblick über die Entwicklungen der vergangenen Monate. Als auf der Positivseite zu verbuchen stellte er besonders heraus: – unverändert intensive Kontrolltätigkeit im Irak – einschl. Nuklearkontrollen – mit inzwischen 34 Inspektionen (mit meist einem oder mehreren deutschen Teilnehmern) und sechs Sondermissionen (zweimal mit Beteiligung des deutschen Kommissionsmitgliedes RL 2424); – anhaltender Konsens im VN-SR bei nachhaltiger Unterstützung der SK-Maßnahmen; – unverminderte Unterstützung durch Mitgliedsregierungen, insbesondere durch Stellung hochqualifizierten Inspektionspersonals; – Offenlegung und Verifikation weiterer irakischer Waffen und Komponenten. Besonders ins Gewicht fällt dabei das vom Irak im März 1992 zugegebene mehrmonatige Verbergen eines Raketenarsenals von 89 Scud nebst Zubehör – mehr als im ganzen Golfkrieg verschossen wurde – mit heimlicher Vernichtung im Juli 1991. Reste dieses resolutionswidrig verborgenen und vernichteten Waffenpotenzials konnten inzwischen verifiziert werden; – Fortschritte bei CW-Vernichtung, gute irak. Kooperation bei Erstellung von CW-Vernichtungsanlagen (hierzu gesonderter Bericht); – nach langem Sträuben irak. Zusammenarbeit bei Vernichtung von Produktionsanlagen für Raketen und Nuklearkomponenten bzw. entsprechenden Einrichtungen. 2) Auf der Negativseite stellt der Bericht des Kommissionsvorsitzenden besonders heraus: – unverändert schwierige Finanzsituation der Sonderkommission, die weiterhin „von der Hand in den Mund“ lebt; – anhaltende Zweifel an voller Offenlegung aller Massenvernichtungswaffen durch Irak. Insbesondere besteht Verdacht, dass noch Raketen verborgen sein könnten, und im CW-Bereich wird vor allem vermutet, dass noch Senfgas-Munition geheim gehalten wird. Auch im Nuklearbereich bestehen offene Fragen, an erster Stelle bzgl. Anreicherungs- und Reaktorprogrammen; – großes politisches Gewicht wird der Nichtvorlage der längst überfälligen Erklärungen zu Waffenprogrammen („full, final and complete declarations“ gem. SR-Res. 7075), der vollständigen Datenangaben für Langzeitüberprüfung (SR-Res. 7156) und der von SR geforderten förmlichen Anerkennung von Res. 707 und 715 beigemessen. 3) Besonders letztgenannte Punkte bereiten der SK Sorgen und verhindern, auch nur begrenztes Vertrauen in die irakischen Angaben zu haben. In den letzten vier Monaten war in langsam eskalierenden Bemühungen (zwei Sondermissionen, hochrangige Expertengespräche in New York, Erörterung mit Vize-Premier Tarik Aziz im SR, nachdrücklich fordernde Erklärungen des SR) alles versucht worden, Irak zu den ausstehenden Erklärungen und Datenangaben zu bewegen, die er mehrfach als unmittelbar bevorstehend an4 Peter von Butler. 5 Für die Resolution Nr. 707 des VN-Sicherheitsrats vom 15. August 1991 vgl. RESOLUTIONS AND DECISIONS 1991, S. 22–24. 6 Für die Resolution Nr. 715 des VN-Sicherheitsrats vom 11. Oktober 1991 vgl. RESOLUTIONS AND DECISIONS 1991, S. 26 f.

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kündigte. Nachdem in jüngster Zeit jedoch Verhärtung irakischer Position bei Ölverkaufsgesprächen (Hauptargument: Beeinträchtigung irakischer Souveränität durch weitgehende UNO-Kontrollmaßnahmen) zu beobachten ist, wird ähnliche Verhärtung im Bereich der Verifikation von Massenvernichtungswaffen angenommen. Am 1.5. hat hiesiger irakischer Botschafter7 dem SK-Vorsitzenden mitgeteilt, dass Vize-Premier Tarik Aziz, beginnend in Marokko, Gespräche mit allen sechs ungebundenen Mitgliedern des SR8 führen werde. Vorher sei mit den ausstehenden irakischen Erklärungen nicht zu rechnen. Hierin wird von SK möglicher Versuch gesehen, den SR zu spalten und von den Ungebundenen Zusagen bzgl. Sanktionierungsaufhebung oder Dauer der Langfristinspektionen auszuhandeln, dem man aber keine großen Erfolgsaussichten beimisst. 4) Es scheint, als ob Irak weiter pokert, wobei es ihm jetzt mehr um ein Zurückdrängen der weitergehenden souveränitätsbeschränkenden UNO-Vollmachten im Rahmen der Kontrollmaßnahmen der Sonderkommission gehen dürfte, bei gleichzeitigem Bemühen um schnelle Sanktionsaufhebung, und weniger um das Bestreben, noch Waffenbestände von Gewicht zu verbergen. Das bisherige irakische Taktieren und die Haltung, wesentliches Entgegenkommen nur nach Androhung militärischer Gewalt zu zeigen, sowie9 die Tatsache unverminderter Expertise und industrieller Basis im Irak für Herstellung von Massenvernichtungswaffen lassen in SK allerdings die Befürchtung überwiegen, dass Irak nach Beendigung von VNKontrollen schnell wieder um Herstellung10 von Massenvernichtungswaffen bemüht sein könnte. Das gegenwärtige irakische Verhalten lässt eine baldige Beendigung der – zeitlich nicht limitierten – UNO-Kontrollen unwahrscheinlich erscheinen. Vielmehr dürfte die SK in nächster Zeit, mangels ausreichender irakischer Erklärungen, intensiv bemüht sein, durch Inspektionen sich selbst die Datenbasis für die Langfristverifikation zu beschaffen. Die SK hat allerdings Irak auch zu verstehen gegeben, dass nach Vorlage befriedigender Erklärungen und Datenangaben die langfristigen VN-Kontrollen in fairer und kooperativer Weise durchgeführt werden. 5) In den nächsten Monaten wird die SK vermehrt mit der Vernichtung der irakischen CW und der Dual-use-Produktionseinrichtungen, die für die Zwecke von Massenvernichtungswaffen verwandt wurden, befasst sein. Die Inspektionen zur Offenlegung von Waffen werden mit zunehmender Transparenz des irakischen Potenzials zurückgehen, während die Vorbereitung der Langfrist-Verifikation in zivilen Anlagen, die für Zwecke von Massenvernichtungswaffen missbraucht werden könnten, systematisch vorangetrieben wird. Dabei geht die SK von anhaltender Unterstützung des SR, dessen subsidiäres Organ sie ist, aus. Zugleich ist man sich der Tatsache bewusst, dass Zeitablauf sowie neue internationale Probleme, die Staaten-Engagement für friedenserhaltende Maßnahmen erfordern (so Kambodscha, Jugoslawien), das Interesse am Irak-Abrüstungsprozess relativieren, ohne seine Bedeutung für Nahost-Friedensprozess zu mindern.

7 Abdul Amir al-Anbari. 8 Folgende blockfreie Staaten gehörten 1992 dem VN-Sicherheitsrat an: Ecuador, Indien, Kap Verde, Marokko, Simbabwe und Venezuela. 9 Korrigiert aus: „zeigen und sowie“. 10 Korrigiert aus: „Bestellung“.

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6) Der weiterhin äußerst professionell und gewandt agierende schwedische Kommissionsvorsitzende Ekéus und sein amerikanischer Stellvertreter11 können sich in New York auf ein eingespieltes internationales Team im Büro der SK abstützen. Den weiteren 19 Kommissionsmitgliedern kommt zunehmend die Rolle eines politischen und fachlichen Beratergremiums zu, und Sitzungen, auch die der Arbeitsgruppen, dürften künftig etwa in Halbjahresabständen erfolgen, mit der Option kurzfristiger Einbestellung nach New York bei dringendem Bedarf. 7) Permanentes und temporäres deutsches personelles Engagement im New Yorker SKBüro sind weiterhin Ausdruck unseres großen Interesses am Gelingen dieser wichtigen Abrüstungsmaßnahmen der VN und genießen unveränderte Wertschätzung. Das deutsche Kommissionsmitglied ist in den vergangenen zwölf Monaten siebenmal zu teilweise mehrwöchigen Sitzungen der unter seinem Vorsitz stehenden Langzeit-Verifikations-Arbeitsgruppe und zu Plenarsitzungen der Kommission in New York gewesen. Der deutsche Raketenfachmann im Büro der SK, OTL Biermann, ist vom Vorsitzenden gerade zum stellvertretenden Operationschef der SK bestellt worden. 8) Die SK ist im Übrigen bemüht, ihre Erfahrungen auch anderen internationalen Abrüstungsgremien zur Verfügung zu stellen. Dies ist bereits im Genfer CW-Verhandlungsausschuss sowie in der Ad-hoc-Gruppe für BW-Verifikation geschehen, wobei jedoch eine Reihe von Drittweltstaaten (so Kuba und andere) bisher darauf hingewirkt hat, dass dies bisher noch nicht in offizieller Sitzung geschehen konnte. [gez.] Rantzau B 70, ZA-Bd. 220551

134 Gespräch des Bundesministers Genscher mit dem französischen Staatspräsidenten Mitterrand in Paris 105-A3/92

7. Mai 19921

Gespräch BM mit Präsident Mitterrand am 7.5.1992 im Élysée-Palast2; hier: Dolmetscheraufzeichnung Präsident Mitterrand erklärte einleitend, die Nachricht vom Rücktritt des BM3 habe ihn betrübt. BM sei stets mit seinem vollen Engagement für die deutsch-französische Sache 11 Robert L. Gallucci. 1 Kopie. Der Gesprächsvermerk wurde von VLRin I Siebourg am 11. Mai 1992 gefertigt. Hat BM Genscher am 13. Mai 1992 vorgelegen. Hat VLR I Matussek am 13. Mai 1992 vorgelegen, der die Anfertigung von Kopien für „S[amm]l[un]g, L[eiter] 010“ sowie die Weiterleitung an MD Chrobog verfügte. 2 BM Genscher hielt sich vom 6. bis 8. Mai 1992 in Frankreich auf. 3 Zum angekündigten Rücktritt von BM Genscher vgl. Dok. 119, Anm. 10.

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7. Mai 1992: Gespräch zwischen Genscher und Mitterrand

eingetreten. Er habe bewiesen, dass man ein guter Deutscher und zugleich ein guter Europäer und überdies ein verlässlicher Freund für den französischen Partner sein könne. Der Präsident fragte sodann nach der derzeitigen Lage in Deutschland und nach den Hauptthemen der parlamentarischen Auseinandersetzung. BM erwiderte, es gehe zum einen um die Beschlüsse von Maastricht4, zum anderen um erforderliche Einschnitte im Haushalt. Letzteres sei das problematische Thema, denn die eigentliche Frage dahinter sei, wie die Produktion in den neuen Bundesländern angekurbelt werden könne. BM legte ausführlich die wirtschaftliche Situation in den neuen Bundesländern dar. Letztlich gehe es dabei auch um europäische, nicht ausschließlich um deutsche Probleme (Vorsprung bzw. Vorteil der japanischen Autoindustrie; EUREKAKonzept5). Der Präsident warf ein, Frankreich stehe in der Tat selbst auch vor diesen Problemen, verspüre aber deren Auswirkungen weniger. BM erläuterte die zusätzliche Schwierigkeit, die sich für Deutschland aus dem Zuwachs um 18 Millionen Menschen und einer maroden Wirtschaftslage in der ehemaligen DDR ergebe. (Beispiel der Waggon-Herstellung bei Halle; Auftraggeber die SU bzw. heute Russland, das jedoch nicht zahlen könne; der Erhalt der verbliebenen Arbeitsplätze müsse jedoch als vorrangig eingeordnet werden.) Präsident Mitterrand würdigte erneut die Leistung des BM und die so angenehme fruchtbare Zusammenarbeit über viele Jahre. BM sei im Élysée stets willkommen. BM entgegnete, die Zusammenarbeit gerade mit Frankreich gehöre für ihn zu den ereignisreichsten Kapiteln der letzten Jahre. Die Jahre, während denen er mit ihm, dem Präsidenten Mitterrand, mit seinem Freund Roland Dumas – ob im Ministeramt oder nicht – habe zusammenarbeiten können, werden ihm unvergesslich bleiben. Er danke für das Verständnis, das er hier stets für die deutschen Belange gefunden habe. Er erinnere sich noch deutlich an eine Begegnung mit dem Präsidenten in Süddeutschland, bei der es hauptsächlich um die Raketenfrage gegangen sei. Bedeutsam sei insbesondere auch jenes Gespräch im Élysée-Palast gewesen, bei dem der Präsident ihm gesagt habe, Frankreich sei für die Einheit Deutschlands, erwarte aber von Deutschland, dass es im selben Maße für die Einheit Europas sei.6 Er (BM) habe damals entgegnet, für ihn gehörten diese beiden Dinge unauflöslich zusammen. Aus diesem Grunde habe er in seiner Suche nach dem geeigneten Zeitpunkt seines Rücktritts auch beschlossen, dieser müsse nach den Beschlüssen von Maastricht und nach einem erfolgreichen Maastricht liegen. Aus der Einheit Deutschlands erwüchsen Deutschland Verpflichtungen, nämlich für die Einheit Europas. Der Präsident erwiderte, er habe stets an die Einheit als eine logische historische Entwicklung geglaubt. Immerhin habe man 45 Jahre auf sie warten müssen. Die Gemeinschaft habe man in der Zwischenzeit geschaffen, und sie sei gut. Nun aber stünde eine hohe Zahl neuer Staaten vor den Toren, jeder mit eigenen Problemen behaftet, ob man nun die Ukraine ansehe und ihre Konfliktpunkte mit Russland, ob man das zerfallende und in kriegerischer Auseinandersetzung vergangene Jugoslawien betrachte, ob man an das während seiner 4 Zum Vertragswerk von Maastricht vgl. Dok. 3, Anm. 8. 5 Zum europäischen Forschungs- und Technologieprogramm EUREKA vgl. AAPD 1985, II, Dok. 189, sowie AAPD 1989, I, Dok. 113. 6 Vgl. das Gespräch zwischen BM Genscher und dem französischen Staatspräsidenten Mitterrand am 30. November 1989 in Paris; DIPLOMATIE, Dok. 11.

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7. Mai 1992: Gespräch zwischen Genscher und Mitterrand

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gesamten Existenz nie stabile Polen denke oder an die neu erwachten nationalistischen Bestrebungen insgesamt. BM erwiderte, wenn neu aufflammender Nationalismus im Osten auf dem Hintergrund jahrelanger Unterdrückung noch verständlich sei, so seien diese Bewegungen im Westen Europas noch komplizierter in ihren Ursprüngen. Dieser Form des Nationalismus gelte es entgegenzutreten. Und die östlichen Staaten dürfe man nicht in ihre Nationalismen entlassen. Gestern habe er im Bundestag die Verträge mit der Tschechoslowakei7 und mit Ungarn8 eingebracht.9 Er habe dabei darauf hingewiesen, dass es die Aufgabe demokratischer Parteien sei, dem Nationalismus entgegenzutreten, nicht sich ihm opportunistisch anzupassen. Dem Nationalismus gegenüber könne man kein Zugeständnis machen, man könne ihn nur bekämpfen, und dies gelinge wiederum nur, wenn man durch und durch europäisch gesonnen sei. Nur der Dynamismus Europas könne diese Bewegungen überwinden. Heute gebe es keine Probleme in Europa mehr, auf die es nicht eine europäische Antwort gebe. Dies gelte auch für den Osten Europas. Man dürfe die Staaten auch nicht entlassen in den Nationalismus der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg. Vielmehr müssten alle einen Platz in der Architektur Europas finden. Der Präsident pflichtete diesen Gedanken bei. Verträge, wie sie allgemein nach Kriegen gemacht würden, wie sie insbesondere nach dem Ersten Weltkrieg gemacht wurden, trügen den Keim neuer Auseinandersetzungen in sich. Heute aber gehe es um die Architektur Gesamteuropas. Der Präsident erklärte abschließend, er habe den Vizekanzler Deutschlands eigentlich, nun nicht eben in einer Atmosphäre der Feierlichkeit, aber doch in der Art empfangen wollen, wie Frankreich sie dem Vizekanzler Deutschlands schulde. Er lade ihn hiermit zu einem Mittagessen in den Élysée-Palast ein, AM Dumas könne sicherlich einen baldigen Termin, etwa Anfang Juni, mit ihm verabreden. Er würde sich freuen, wenn BM diese Einladung annehme. AM Dumas regte an, in die Einladung auch Frau Genscher einzuschließen. Der Präsident entsprach dieser Anregung. BM erklärte, diese Einladung sei für ihn eine Ehre; er nehme sie gern an. Das Gespräch endete gegen 16.30 Uhr. B 1, ZA-Bd. 178913

7 Für den deutsch-tschechoslowakischen Vertrag vom 27. Februar 1992 über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit vgl. BGBl. 1992, II, S. 463–473. Vgl. auch Dok. 64. 8 Für den deutsch-ungarischen Vertrag vom 6. Februar 1992 über freundschaftliche Zusammenarbeit und Partnerschaft in Europa vgl. BGBl. 1992, II, S. 475–483. Vgl. auch Dok. 41. 9 Für die Rede von BM Genscher am 6. Mai 1992 im Bundestag vgl. BT STENOGRAPHISCHE BERICHTE, 12. WP, 90. Sitzung, S. 7373–7376.

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8. Mai 1992: Vermerk von Arnim

135 Vermerk des Vortragenden Legationsrats I. Klasse von Arnim 411-433.00 Betr.:

8. Mai 19921

Uruguay-Runde des GATT

Die bisher ungelösten Probleme der Disziplinierung der Subventionspraktiken im internationalen Agrarhandel – die untrennbarer Teil des Verhandlungspakets der Uruguay-Runde geworden sind – drohen den Münchener Weltwirtschaftsgipfel2 erheblich zu belasten, es sei denn, es gelänge, sich EG-intern in den nächsten Wochen auf die Grundparameter einer Reform der Gemeinsamen Agrarpolitik der EG3 zu einigen, die geeignet sind, die Weltmärkte von den EG-Überschüssen fühlbar zu entlasten. Die US-Administration hat ein massives Interesse an der Rückdrängung dieser Überschüsse, um u. a. mit eigenem gesteigerten Agrarexport das strukturelle Außenhandelsdefizit der USA, das aus ihrem4 Handel mit gewerblichen Gütern mit Japan herrührt, zu bekämpfen. Der subventionierte Agrarexport der EG ist dagegen ein kardinales Anliegen von F, da es nach der bisherigen Struktur der Gemeinsamen Agrarpolitik seine Überschüsse nicht innerhalb der EG absetzen kann und im gewerblichen Bereich nicht konkurrenzstark genug ist, um seine Handelsbilanz erträglich zu gestalten. Wir haben am Erfolg der Uruguay-Runde insbesondere wegen unserer Exportinteressen im gewerblichen Bereich ein massives Interesse. Im Falle eines Scheiterns der UruguayRunde wachsen die Risiken handelspolitischer Auseinandersetzungen zwischen den USA und der EG und der Unterhöhlung des multilateralen globalen Welthandelssystems des GATT durch Unilateralismus und Regionalisierung. Diesem Interesse im gewerblichen Bereich steht aber das deutsche Interesse am Schutz seiner Landwirtschaft gegenüber, die aufgrund von Struktur und Klima in weiten Teilen unfähig wäre, auf offenen internationalen Märkten zu konkurrieren. Dieses deutsche Interessendilemma wird von den USA und F jeweils in entgegengesetzter Richtung eingesetzt. Hinzu kommt unsere Rolle als gegenwärtiger G 7-Vorsitz, in der wir uns dem Versuch einer Vermittlung in den offenen Fragen der Uruguay-Runde auf dem Weltwirtschaftsgipfel kaum entziehen können, wenn es in den laufenden Verhandlungen zwischen EG und USA, die durch parallele Kontakte zwischen Kanzleramt, Weißem Haus, Élysée-Palast und den Brüsseler Kabinetten ergänzt werden, nicht gelingt, die noch offenen Sachfragen zu lösen und dadurch die Verhandlungen in den übrigen Kapiteln der Uruguay-Runde, insbesondere über Marktzugang (Zölle) und über den Handel mit Dienstleistungen, zu deblockieren. Der Druck auf einen Erfolg der Uruguay-Runde beruht auch auf dem die Weltkonjunktur stimulierenden Effekt der durch die UR erwarteten Liberalisierung des Handels. Daran sind vor allem die USA interessiert, da sie wegen ihres hohen Haushaltsdefizits und bereits niedrigen Diskontsatzes weder fiskal- noch geldpolitisch über kurzfristig wirksame 1 2 3 4

Hat VLR Sander am 11. Mai 1992 vorgelegen. Zum Weltwirtschaftsgipfel vom 6. bis 8. Juli 1992 vgl. Dok. 225. Zur geplanten Reform der GAP vgl. Dok. 47, Anm. 12. Korrigiert aus: „seinem“.

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8. Mai 1992: Vermerk von Arnim

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Stimulierungsmittel verfügen. Gleichzeitig stagniert die Konjunktur in Japan und wird die europäische Konjunktur durch die hohen deutschen Zinssätze gebremst. Der von Handelsliberalisierung erhoffte Anstoß ist so auch konjunkturpolitisch sehr bedeutsam. Strukturell sind die angestrebten Marktöffnungen insbesondere für die MOE-Staaten und die Dritte Welt von größtem Interesse, da sie durch Exportwachstum erheblich höhere Einnahmen als durch Entwicklungshilfetransfers erwarten können. Das sachliche Schlüsselproblem für den Gesamterfolg der UR ist so die von den USA geforderte Reduzierung der Menge der subventionierten Getreideexporte der EG um 24 % in sechs Jahren. Die EG will bisher nur 18 % zugestehen. Wir sind grundsätzlich bereit, auf die US-Forderung einzugehen, da wir Getreide nur in unbedeutenden Mengen exportieren. F (und die französisch geführte EG-KOM) will sich darauf jedenfalls solange nicht einlassen, wie es nicht sicher ist, die dann auf dem Weltmarkt nicht mehr absetzbaren Mengen innerhalb der EG verkaufen zu können. Dies ist nur bei einer Reduzierung der Getreideproduktion in anderen MS der EG möglich. Das BML versucht aber, die deutsche Produktion möglichst nur in Formen zu begrenzen, die das Überleben einer möglichst großen Zahl bäuerlicher Betriebe nicht gefährden. Dadurch wird zweifelhaft, ob genügend Platz für F-Exporte innerhalb der Gemeinschaft geschaffen werden kann. Hier liegt die sachliche Verknüpfung der Probleme der Uruguay-Runde mit der Reform der GAP der EG. Das BML verfolgt im Kern ein Konzept der Überschussreduzierung durch eine Quotierung des EG-Marktes (auch wenn das nicht so gesagt wird). Die EG-KOM will dieses Ziel dagegen vor allem durch drastische Preissenkungen und das dadurch bewirkte Ausscheiden nicht mehr konkurrenzfähiger Produzenten erreichen. Gegenwärtig erscheint nicht ausgeschlossen, dass auch das BML bei den im Mai in Brüssel bevorstehenden Verhandlungen des Agrarrates über die GAP-Reform5 Preissenkungen in der von der Präsidentschaft6 vorgesehenen Höhe (28 % für Getreide) zustimmt (F und die Mehrzahl der Mitgliedstaaten scheint dazu bereit), wenn die EG-KOM den vollen Ausgleich der dadurch eintretenden Einkommensverluste durch direkte Beihilfen gewährt. Dies führte zwar zu einer fühlbaren Mehrbelastung des EG-Agrarhaushaltes (nach Schätzung des BML ca. 7 Mrd. ECU pro Jahr im Getreidesektor). Die weitgehende Absenkung des EG-Getreidepreises auf das Weltmarktniveau würde aber den amerikanischen Interessen auf Reduzierung des Exportdrucks der EG-Überschüsse auf dem Weltmarkt wesentlich 5 MDg Grünhage, Brüssel (EG), berichtete am 22. Mai 1992 zur EG-Ratstagung auf der Ebene der Landwirtschaftsminister vom 18. bis 21. Mai 1992: „Nach einem viertägigen Verhandlungsmarathon am Ende monatelanger intensiver Diskussionen beschlossen die Agrarminister gestern die Reform der EG-Agrarpolitik. Der von elf MS (I hat wegen ungelöster Probleme der ital[ienischen] Milcherzeugung nicht zugestimmt) und KOM mitgetragene Globalkompromiss zur Reform, zum Preispaket 1992/93 und zu anderen wichtigen Regelungen (u. a. Folgeregelung zum Drei-Prozent-Mwst.-Ausgleich) leitet eine grundlegende Systemumstellung der europäischen Agrarpolitik ein. Gleichzeitig ist dieser Beschluss ein deutliches Signal für die GATT-Verhandlungen. Die Gemeinschaft ist jetzt in die Lage versetzt, ihren Beitrag für einen erfolgreichen Abschluss der Uruguay-Runde zu erbringen. Vor allem bei Getreide und anderen Ackerkulturen (aber auch in der Rindfleischerzeugung) wird die Sicherung der landwirtschaftlichen Einkommen künftig in erster Linie über produktionsneutrale, direkte Transferzahlungen und nicht mehr wie bisher über produktionsstimulierende, staatlich garantierte Stützpreise erfolgen. Gleichzeitig werden die Ausgleichszahlungen für den Abbau der Preisstützung nur denjenigen Landwirten gewährt, die mit zur Produktionsbegrenzung beitragen (z. B. Teilnahme an der Flächenstilllegung).“ Vgl. DB Nr. 1552; B 223, ZA-Bd. 172111. 6 Portugal hatte vom 1. Januar bis 30. Juni 1992 die EG-Ratspräsidentschaft inne.

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10. Mai 1992: Drahterlass von Chrobog

entgegenkommen, wenn auch primär durch Preissenkungseffekte als durch mengenmäßige Begrenzung. Dadurch könnten die andauernden Schwierigkeiten der Deblockierung der Uruguay-Runde entscheidend verringert werden. v. Arnim7 B 221, ZA-Bd. 166599

136 Drahterlass des Ministerialdirektors Chrobog an Botschafter Blech, Moskau 212-342.01 SB JUG Fernschreiben Nr. 5196 Plurez Citissime nachts Betr.:

10. Mai 19921

Suspendierung der „jugoslawischen“ Delegation von Mitwirkung an KSZE-Entscheidungen

Bezug: Drahtbericht Nr. 301 vom 9.5.19922 Enthält Weisung des BM für Botschafter 1) Laut Berichterstattung von Botschafter Höynck aus der KSZE-Dringlichkeitssitzung zu Bosnien-Herzegowina (Fortsetzung Montag, 11.5.1992, 18.00 Uhr OZ) in Helsinki hat sich Frage einer Suspendierung der Mitwirkung der „jugoslawischen“ Delegation an KSZEEntscheidungen dahin zugespitzt, dass 50 Delegationen den Konsens minus eins (d. h. minus JUG) mittragen und ausschließlich Russland den Konsens blockiert. BM hat AM Kosyrew bereits am 7.5. in Straßburg mit Nachdruck auf die Bedeutung einer konstruktiven Rolle der russischen Delegation bei der Konsensbildung in Helsinki hingewiesen.3 7 Paraphe. 1 Der Drahterlass wurde von VLR I Haak konzipiert und von LR I Krumrei (Bereitschaftsdienst) übermittelt. Dazu vermerkte Krumrei handschriftlich: „StS, BM haben gezeichnet.“ 2 Botschafter Höynck, Helsinki (KSZE-Delegation), teilte mit, dass Russland nach wie vor die Annahme eines Beschlusses blockiere, „der JUG sachlich und zeitlich begrenzt von KSZE-Entscheidungen ausschließen würde“, und kam zu dem Schluss, dass eine Kooperationsbereitschaft der russischen Delegation nur „durch hochrangige Intervention in Moskau“ zu erreichen sei. Vgl. B 28, ZA-Bd. 158643. 3 VLR I Matussek vermerkte am 8. Mai 1992, nach Auskunft von BM Genscher habe dieser den russischen AM Kosyrew am Vortag „eindringlich auf die Notwendigkeit der Deblockierung beim AHB in Helsinki zur Frage der teilweisen Suspendierung der jugoslawischen Mitgliedschaft angesprochen. Er habe ausgeführt, die Sowjetunion sei auseinandergegangen, ohne dass die großen Republiken die kleinen an ihren Unabhängigkeitsbestrebungen gehindert hätten. Ebenso könne man im ehemaligen Jugoslawien nicht zulassen, dass Serbien und die von Serbien dominierte Jugoslawische Volksarmee in Bosnien Annexionspolitik betreiben. Er habe an Kosyrew die dringende Bitte gerichtet, sich nicht in der KSZE zu isolieren. Kosyrew habe sich beeindruckt gezeigt und zugesagt, seine Delegation in dieser Richtung zu beeinflussen.“ Vgl. B 1, ZA-Bd. 178913.

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10. Mai 1992: Drahterlass von Chrobog

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Russische Unterstützung des im Übrigen völlig isolierten Serbiens in Helsinki hat Bedeutung für KSZE- wie Balkanpolitik, aber auch für Aufnahme russischer Politik in unserer Öffentlichkeit. Deshalb erscheint hochrangige bilaterale Demarche in Moskau dringlich. Hierbei ist zu beachten, dass nach Hinweis russischen Delegationsleiters4 gegenüber Botschafter Höynck seine Weisung „von jenseits der Ebene AM Kosyrew aus der unmittelbaren Umgebung des Präsidenten5“ kommen soll. Botschafter wird deshalb gebeten, möglichst hochrangig in der Umgebung des Präsidenten, aus unserer Sicht mindestens Staatsminister Burbulis, auf der Grundlage vertrauensvoller deutsch-russischer Zusammenarbeit die persönliche Bitte des BM zu übermitteln, Haltung zu überprüfen und Konsens mitzutragen. Zu denken wäre auch an Demarche im RAM, möglichst bei AM Kosyrew, um ihn zu informieren, wobei aber bei Anmeldung der Termine zu vermeiden wäre, dass wir von vornherein auf das RAM verwiesen werden. Im Übrigen würde hier interessieren, wer hinter dieser proserbischen Haltung steht, und welche Rolle gegebenenfalls Woronzow in der Angelegenheit spielt. 2) Folgen Elemente für die Gesprächsführung: – Verschärfung der Lage in B-H (Terrorisierung der Bevölkerung von Sarajevo durch Einsatz schwerer Waffen, Freiheitsberaubung Präsident Izetbegović6, Erschießung eines EG-Monitors7) haben zum dritten Zusammentreten der KSZE in drei Wochen geführt. Derzeitige Dringlichkeitssitzung wird am Montag, 18.00 Uhr OZ, fortgesetzt. – „Konsens minus eins“ über Suspendierung der Mitwirkung jugoslawischer Delegation an KSZE-Entscheidungen wird von 50 Delegationen mitgetragen. Nur Russland zögert noch. – Es geht nicht um endgültigen oder zeitweisen Ausschluss aus den Sitzungen oder allgemeinen Entzug des Rede- und Stimmrechts, – es geht vielmehr um Ausschluss bis 30.6. von der Mitwirkung an KSZE-Entscheidungen in Fragen mit direktem Bezug zur Krise, also eine zeitlich wie thematisch begrenzte Maßnahme, – es geht nicht um rechtliche Frage der Staatennachfolge, sondern politische Bewertung hinsichtlich des Verhaltens Serbiens. – Dieses enthält „eindeutige, grobe und nicht behobene Verletzungen von KSZE-Verpflichtungen“ (Prager Dokument § 168), sodass die beabsichtigte Maßnahme das Mindeste ist, was nach dem Urteil von 50 Teilnehmerstaaten (TNS) der KSZE nötig erscheint. Wer 4 Jewgenij Petrowitsch Gussarow. 5 Boris Nikolajewitsch Jelzin. 6 Am 2. Mai 1992 wurde der Präsident von Bosnien-Herzegowina, Izetbegović, nach seiner Rückkehr aus Portugal am Flughafen von Sarajevo von der JVA verhaftet und am folgenden Tag wieder freigelassen, nachdem er im Rundfunk die muslimischen Verbände aufgefordert hatte, Angriffe auf die JVA einzustellen. Vgl. den Artikel „EG fordert Abzug der Bundesarmee aus Bosnien. Serbische Militärs lassen Präsident Izetbegović frei“; SÜDDEUTSCHE ZEITUNG vom 4. Mai 1992, S. 1. 7 Am 2. Mai 1992 wurde in Cula in der Nähe von Mostar ein belgisches Mitglied der EG-Beobachtermission durch einen Angriff der JVA getötet, während seine Gruppe zivile Arbeiter eskortierte, die eine Stromleitung reparieren wollten. Vgl. den Bericht Nr. 320 der EG-Beobachtermission, den die portugiesische EG-Präsidentschaft mit Fernschreiben Nr. 894 aus Lissabon (Coreu) vom 6. Mai 1992 übermittelte; B 42, ZA-Bd. 183652. 8 Für § 16 des „Prager Dokuments über die weitere Entwicklung der KSZE-Institutionen und -Strukturen“ vom 30./31. Januar 1992 vgl. BULLETIN 1992, S. 84.

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in so eklatanter Weise Menschenrechte verletzt, verwirkt das Recht, an KSZE-Beschlüssen mitzuwirken, die auf die Wiederherstellung der Menschenrechte mit Bezug auf diesen Konflikt gerichtet sind. Angesichts bisheriger fruchtloser Beratungen und Beschlüsse der KSZE, insbesondere nach den dringenden, sehr konkret formulierten Aufforderungen der KSZE am 15.4.9 und 1.5.10 an Belgrad zur Verhaltensänderung, kann nicht länger zugewartet werden; Glaubwürdigkeit der KSZE, an der alle, insbesondere auch Deutschland und Russland, interessiert sind, würde infrage gestellt, wenn angesichts fortgesetzter KSZE-Verletzungen unter Missachtung von KSZE-Beschlüssen nicht einmal eine solche sehr begrenzte Maßnahme jetzt zustande käme. Die in Prag11 am 31.1.1992 beschlossene Regel, dass bei so groben Verletzungen von KSZE-Verpflichtungen Maßnahmen auch ohne Zustimmung des betroffenen Staates ergriffen werden können (Konsens minus eins), beruht auf einer deutsch-russischen Initiative beim Moskauer CHD-Treffen im September 199112 und ist von AM Kosyrew in seiner Rede am 24.3. in Helsinki13 noch einmal ausdrücklich hervorgehoben worden. Wir laufen Gefahr, dieses auf deutsch-russischer Initiative beruhende Instrument durch Nichtanwendung in einem eklatanten Fall für die Zukunft zu entwerten. Von einer verfrühten Anwendung kann keine Rede sein. Europäische Öffentlichkeit hat große Sympathie für Aufbau von Demokratie und sozialer Marktwirtschaft in Russland und GUS-Staaten, nimmt aber auch starken Anteil an Vorgängen in B-H und reagiert in Menschenrechtsfragen äußerst sensibel. In der europäischen Öffentlichkeit würde Inaktivität gegenüber einem Aggressor als mangelndes Engagement der KSZE-Staaten für die effektive Durchsetzung von Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit verstanden werden. Wir müssen schnell handeln. Europa hat in der Vergangenheit viel Leid dadurch erfahren, dass die Demokratien nicht die Kraft aufbringen konnten, Aggressionen entschlossen entgegenzutreten. Dieses Versäumnis darf sich nicht wiederholen. Deshalb Appell des BM an die russische Regierung, die russische Delegation in Helsinki rechtzeitig bis Wiederbeginn der Dringlichkeitssitzung anzuweisen, Konsens nicht zu verhindern.

Weisung hat BM vorgelegen. [gez.] Chrobog B 28, ZA-Bd. 158650 9 In der Erklärung der Plenarsitzung vom 15. April 1992 äußerten die KSZE-Teilnehmerstaaten ihre Besorgnis über die Kampfhandlungen in Bosnien-Herzegowina. Sie erklärten ihre Unterstützung für die territoriale Integrität Bosnien-Herzegowinas sowie für die Friedensbemühungen von EG und VN. Serbien wurde aufgefordert, seine Truppen sowie von ihm unterstützte Verbände abzuziehen und die Unabhängigkeit Bosnien-Herzegowinas anzuerkennen sowie sich konstruktiv an den Friedensbemühungen zu beteiligen. Vgl. die Erklärung, die mit FK vom 16. April 1992 der Delegation bei der KSZE in Helsinki übermittelte wurde; B 42, ZA-Bd. 175673. 10 Zur AHB-Sitzung vgl. Dok. 112, Anm. 18. 11 Zur zweiten Sitzung des KSZE-Außenministerrats am 30./31. Januar 1992 vgl. Dok. 34. 12 Zur KSZE-Konferenz über die Menschliche Dimension vom 10. September bis 4. Oktober 1991 vgl. AAPD 1991, II, Dok. 333. 13 Für die Rede des russischen AM Kosyrew vgl. B 41, ZA-Bd. 158752.

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137 Vorlage des Vortragenden Legationsrats I. Klasse Bertram für Staatssekretär Kastrup 201-360.92 EK

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Über Dg 20, D 21 Herrn Staatssekretär2 Betr.: Gemeinsames deutsch-französisches Korps („Euro-Korps“) Bezug: Ihre Bitte um Stellungnahme zu dem Schreiben MD Dr. Hartmann vom 6.5.92 Anlg.: 23 1) MD Dr. Hartmann unterrichtete Sie mit Schreiben vom 6.5. (vgl. Anlage 14) über die Vorsprache von Botschafter Kimmitt und bei diesem Anlass geäußerte amerikanische Besorgnisse über die Aufstellung des Euro-Korps. Der amerikanische Botschafter verweist als Hintergrund seiner Besorgnisse auf den noch nicht veröffentlichten gemeinsamen Bericht der Verteidigungsminister (vgl. Anlage 25), der bislang weder von uns noch – soweit uns bekannt – vom BMVg der hiesigen US-Botschaft überlassen wurde. Zahlreiche Gespräche hiesiger amerikanischer Botschaftsvertreter sowohl im AA als auch im BMVg sollten der hiesigen Botschaft jedoch mit großer Sicherheit ein ziemlich konkretes Bild über den Stand der Arbeiten und den Inhalt des Berichts vermittelt haben. In Gesprächen erwähnt wurden uns gegenüber gelegentlich auch „besorgniserregende Informationen“, die die amerikanische Botschaft in Paris über das Euro-Korps erhalten habe, besonders auch Hinweise auf die europäische Zielsetzung des Euro-Korps. 2) In der Sache gehen die amerikanischen Befürchtungen, das Euro-Korps könnte das Atlantische Bündnis schwächen, fehl. Der Berichtsentwurf enthält keine Regelungen, aus denen dies hergeleitet werden könnte. Er widerlegt im Gegenteil häufig vorgebrachte amerikanische Besorgnisse mit der Feststellung, dass – die deutschen Truppenteile für das Euro-Korps im Frieden national unterstellt und – der NATO unbeschadet ihrer Zuordnung zum Euro-Korps im bisherigen Umfang uneingeschränkt assigniert bleiben, – das Euro-Korps im Rahmen eines besonderen Beitrags zur NATO auch für die gemeinsame Verteidigung der Verbündeten entsprechend Artikel 5 des Washingtoner Vertrags6 eingesetzt werden kann. 1 Hat, auch in Vertretung des MD Chrobog, MDg Hofstetter am 11. Mai 1992 vorgelegen. 2 Hat StS Kastrup am 12. Mai 1992 vorgelegen. Hat VLR Ney am 15. Mai 1992 vorgelegen, der den Rücklauf an VLR I Bertram verfügte. Hat in Vertretung von Bertram VLR Schumacher am 18. Mai 1992 vorgelegen. 3 Vgl. Anm. 4 und 5. 4 Dem Vorgang beigefügt. In dem Schreiben legte MD Hartmann, Bundeskanzleramt, dar: „Da die amerikanische Regierung – wie die Erfahrungen der Vergangenheit gezeigt haben – in dieser Angelegenheit äußerst sensibel reagiert, bin ich der Meinung, dass wir alles tun sollten, um diesen Missverständnissen rasch entgegenzuwirken.“ Vgl. B 14, ZA-Bd. 161201. 5 Dem Vorgang beigefügt. Für den Entwurf eines Berichts der Verteidigungsminister über die Aufstellung des Eurokorps vgl. B 14, ZA-Bd. 161201. 6 Für Artikel 5 des NATO-Vertrags vom 4. April 1949 vgl. BGBl. 1955, II, S. 290.

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Der Bericht rechtfertigt in seiner vorliegenden Fassung mit keiner Formulierung die von Botschafter Kimmitt geäußerten Besorgnisse, dass – der Auftrag der deutschen Korpstruppen im Bereich des Bündnisses zweitrangig sei und – Deutschland gegenüber dem Bündnis eine ähnliche Stellung wie Frankreich einnehme. Mit diesen Feststellungen versucht die amerikanische Regierung bereits jetzt antizipierend und in deutlicher Form Einfluss zu nehmen auf die erst nach dem Gipfel in La Rochelle7 anstehende Ausarbeitung über die Einsatzmodalitäten des Korps im Rahmen der NATO. 3) Eine Formulierung wie in Ziffer 3.2.1 des Berichts über den „vorrangigen“ Einsatz des Korps im Rahmen der WEU könnte durch die amerikanische Seite dennoch als Beweis für die Richtigkeit ihrer Besorgnis herangezogen werden. Die Aufnahme dieser Formulierung in den Bericht war für Frankreich unverzichtbar – als Ausdruck seiner europapolitischen Zielsetzung beim Aufbau des Euro-Korps und – als europäische „Rechtfertigung“ für die französische Bereitschaft, über das Korps mit der NATO Absprachen für die Einbeziehung französischer Truppen in die gemeinsame Verteidigung zu vereinbaren. 4) Die USA müssen anerkennen, dass das klare Bekenntnis zu einer europäischen Perspektive für das Euro-Korps legitim ist und auch von uns mitgetragen wird. Diese Perspektive gibt keinen Anlass für die von Botschafter Kimmitt geäußerte Besorgnis. Außerdem bedarf sie noch der operativen Umsetzung in einer Vereinbarung der Einsatzmodalitäten des Euro-Korps für die gemeinsame Verteidigung der Verbündeten. Diese Bestimmungen, „die mit den NATO-Stellen in einem Abkommen auf politischer Ebene sowie in Zusatzabkommen und -protokollen auf operativer Ebene festzulegen sind“ (Ziff. 3.2.2), werden jedoch erst nach dem Gipfel in La Rochelle ausgearbeitet werden. 5) Dennoch sollten wir – und hierüber sind wir uns mit F einig – die amerikanischen Besorgnisse, die teilweise auch von anderen Bündnispartnern geteilt werden, ernst nehmen und sie nicht unwidersprochen lassen. Dies gilt sowohl für die Nutzung bilateraler Gespräche als auch für eine geeignete Presseunterrichtung anlässlich des deutsch-französischen Gipfels in La Rochelle. Auf französischen Vorschlag hin soll in den nächsten Sitzungen der deutsch-französischen Arbeitsgruppe zur Aufstellung des Korps am 18./19. Mai in Paris8 – und damit noch vor dem Gipfel in La Rochelle – geprüft werden, wie die „NATOOption“ des Euro-Korps beim Gipfel in La Rochelle herausgestellt werden kann, um noch bestehende Bedenken von Bündnispartnern, das Euro-Korps könne das Atlantische Bündnis schwächen, abzubauen. Frankreich unterrichtete uns am 7.5. während der letzten Arbeitssitzung (fünftes Seminar) aus den F-UK-Generalstabsgesprächen vom 5.5.92 über massive britische Vorwürfe, dass die D-F-Initiative zur Aufstellung des Euro-Korps das Bündnis schwäche. 7 Zu den deutsch-französischen Konsultationen am 21./22. Mai 1992 vgl. Dok. 142 und Dok. 144. 8 Zur Sitzung der deutsch-französischen Arbeitsgruppe am 18. Mai 1992 legte das BMVg am 19. Mai 1992 dar, es sei Konsens erzielt worden, „dass man im Rahmen des Gipfels allenfalls global aussprechen könne, dass man nach derzeitigem Planungsstand so weit gekommen sei, die Frage der Zuordnung des Korps zum Bündnis anzugehen“. Vgl. B 14, ZA-Bd. 161201.

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6) Wir werden u. a. insbesondere folgende Anlässe nutzen, um sowohl bilateral den USA als auch im Bündnis unsere Absichten für die Errichtung des Euro-Korps zu erläutern und durch sachliche Informationen unbegründete Zweifel an unserer Bündnistreue sowie Bedenken wegen einer Schwächung der NATO durch das Euro-Korps zu widerlegen: – sicherheitspolitische Konsultationen von D 2 am 13.5. in Washington 9, – Treffen der WEU-Generalstabschefs am 20.5., – Herausstellen der „NATO-Optionen“ des Euro-Korps beim deutsch-französischen Gipfel in La Rochelle. 9

7) BMVg wurde von MD Dr. Hartmann ebenfalls mit inhaltsgleichem Schreiben (vgl. Anlage 1) über die Vorsprache von Botschafter Kimmitt unterrichtet. BMVg übernimmt in Abstimmung mit Auswärtigem Amt die vom Bundeskanzleramt erbetene Stellungnahme. Eine gesonderte Beantwortung des Schreibens von MD Dr. Hartmann durch Sie ist damit nicht erforderlich. Bertram B 14, ZA-Bd. 161201

9 Gesandter von Nordenskjöld, Washington, berichtete am 13. Mai 1992, bei den deutsch-amerikanischen sicherheitspolitischen Konsultationen von MD Chrobog sei ausführlich über das Vorhaben des Eurokorps informiert worden. Auf amerikanischer Seite bestehe aber weiterhin „Unklarheit, welche ,fundamentale Einstellung‘ Frankreich zur NATO und zur Rolle der USA in Europa habe. Man habe weiterhin die Befürchtung, dass die deutsch-französische Initiative Frankreich nicht näher an das Bündnis heranbringen, sondern eher Deutschland vom Bündnis entfernen könne. Das Gleiche sei für Streitkräfte anderer europäischer Staaten, die dem Eurokorps beitreten, zu befürchten. US-Seite sähe sehr ungern, dass das Verhältnis Frankreichs zum Bündnis als Verhaltensmuster für andere Länder Schule mache. […] US-Seite führte weiter aus, dass deutsch-französische Initiative angesichts des US-Interesses, die Präsenz amerikanischer Truppen in Europa auf einem hohen Stand zu halten, zum denkbar ungünstigsten Zeitpunkt gekommen sei.“ Vgl. DB Nr. 1523; B 14, ZA-Bd. 161206.

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13. Mai 1992: Vorlage von Butler

138 Vorlage des Vortragenden Legationsrats I. Klasse von Butler für Bundesminister Genscher 242-370.45

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Über Dg 242, D 2 A3, Herrn Staatssekretär4 Herrn Bundesminister Betr.: Genfer CW-Verhandlungen; hier: Stand am Beginn der Endphase Bezug: 1) BM-Vorlage vom 20. Januar 1992 (dem Original beigefügt)5 2) StS-Vorlage vom 3. April 1992 (dem Original beigefügt)6 Anlg.: 3 (nur bei Original)7 Zweck der Vorlage: Zur Unterrichtung I. Zusammenfassung Bei den Verhandlungen in der Genfer Abrüstungskonferenz (CD) über ein vollständiges und zuverlässig überprüfbares Verbot chemischer Waffen ist die Endphase erreicht. Nach neun Jahren bewegter Verhandlungsgeschichte besteht bei der überwiegenden Mehrheit der 39 CD-Staaten der Wille, in diesem Jahr zu einem Ergebnis zu kommen. Die zehn westlichen Mitglieder haben bei einem Treffen in Rom am 6./7. Mai8 ihre Geschlossenheit demonstriert. Der deutsche CD-Botschafter von Wagner trägt als diesjähriger Vorsitzender des CWAd-hoc-Verhandlungsausschusses hierfür große Verantwortung. Die Bundesregierung hat immer wieder unter Beweis gestellt (zuletzt BM Genscher in seiner CD-Plenarerklärung am 20. Februar 19929), dass sie aktiv und engagiert die Verhandlungen in Genf vorantreibt und flankierend bilateral unterstützt. In der CD besteht Einigkeit, dass nur ein intensiviertes Verfahren den Abschluss 1992 ermöglichen kann. Nachdem der australische AM Evans am 19.3. hierzu aufgerufen und 1 2 3 4

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Die Vorlage wurde von VLR Gottwald konzipiert. Hat MDg Roßbach am 14. Mai 1992 vorgelegen. Hat Botschafter Holik am 14. Mai 1992 vorgelegen. Hat StS Kastrup am 15. Mai 1992 vorgelegen, der die Weiterleitung an BM Genscher strich. Hat VLR Ney am 15. Mai 1992 vorgelegen, der den Rücklauf an VLR I von Butler verfügte. Hat Butler am 18. Mai 1992 erneut vorgelegen, der die Weiterleitung an VLR Gottwald „z[ur] K[enntnisnahme] S. 5“ verfügte. Vgl. Anm. 16. Hat Gottwald am 18. Mai 1992 erneut vorgelegen, der handschriftlich vermerkte: „D[urch]d[ruck] an 012 für Bl[auen] Dienst“. Dem Vorgang beigefügt. Für die Vorlage des Botschafters Holik vgl. Dok. 19. Dem Vorgang nicht beigefügt. VLR I von Butler erörterte organisatorische Fragen der Genfer CW-Verhandlungen, u. a. Aufbau und Sitz der OPCW sowie deren Finanzierung. Vgl. B 43, ZA-Bd. 166091. Vgl. Anm. 5, 6 und 11. Zum Treffen der Westlichen Gruppe vgl. RE Nr. 5279/5280 des VLR I von Butler vom 12. Mai 1992; B 43, ZA-Bd. 166091. Für die Rede des BM Genscher in Genf vgl. BULLETIN 1992, S. 217–220.

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einen „Modell-Konventionstext“ vorgelegt hat10, konnte Botschafter von Wagner die Zustimmung der Verhandlungspartner erreichen, in einem mehrstufigen Verfahren einen „Chairman’s draft“ zu entwickeln. Dieser soll als möglichst ausgewogener Kompromiss für alle akzeptabel sein. Bilaterale Kontakte mit Schlüsselländern (Reisen D 2 A) sollen unmittelbar nach Vorlage eindringlich hierfür werben. Der „Chairman’s draft“ soll, nach möglichst nur noch kleineren Nachbesserungen, der diesjährigen VN-GV übermittelt und mit einer Resolution allen Mitgliedstaaten zur Zeichnung empfohlen werden. Frankreich hat zu einer – noch nicht fest terminierten – Zeichnungskonferenz noch vor Jahresende nach Paris eingeladen. II. Im Einzelnen 1) Am 12. Mai hat in Genf der zweite Abschnitt der CD-Jahressitzung 1992 begonnen. Während der Zwischensitzungsperiode hat Botschafter von Wagner als Ad-hoc-Ausschussvorsitzender einen neuen konsolidierten Text (ungeklammert und ohne Vorbehalts-Fußnoten) der Konvention erarbeitet, der zunächst die noch umstrittenen Passagen offenlässt. Für diese sollen die jeweils zuständigen Mitglieder des Ausschuss-„Büros“ als „friends of the chair“ Vorschläge in eigener Verantwortung vorlegen. Etwa bis Mitte Juni wird dann versucht, diesen „Mai-Entwurf“ möglichst konsensfähig zu entwickeln. In der zweiten Junihälfte folgt der „Chairman’s draft“. Dieses mit den anderen westlichen Partnern abgestimmte Verfahren ist nicht ohne Risiko: Die überwiegende Mehrheit der Verhandlungspartner muss [den] Text als fairen Kompromiss akzeptieren. Änderungswünsche sollen durch „give and take“ die Ausgewogenheit nicht aus der Balance bringen. 2) BM Genscher hat mit Schreiben vom 8. Februar an seine 38 AM-Kollegen um Unterstützung für Verhandlungsabschluss 1992 geworben (s. Anl. 211). In den eingegangenen Antworten wird übereinstimmend unser Engagement als Vorsitzland begrüßt und Abschluss in diesem Jahr unterstützt. Wir wollen durch bilaterale Gespräche in wichtigen Schlüsselländern, vor allem in den Staaten aus dem Lager der N+N (in der CD: G 21), die in Genf noch die meisten Probleme bereiten, für diesen Kompromisstext werben. Das Vorhaben wird von den Partnern aus der westlichen Gruppe mit Nachdruck begrüßt, und Australien, das im Februar mit fünf AM-Vertretern eine Vielzahl von Dritte-Welt-Staaten zur Werbung für seinen CWKonventionstext bereiste, weist auf die Wirksamkeit solcher Aktionen hin. D 2 A beabsichtigt daher nach Vorlage des „Chairman’s draft“ Ende Juni/Anfang Juli Reisen nach Washington (schwierigster westlicher Partner), Tokio/Peking, Neu Delhi/Islamabad, falls notwendig auch nach Teheran, Kairo, Algier und einige andere Hauptstädte.12 3) Im dritten Abschnitt der CD-Jahressitzung 20.7. – 3.9. entscheidet sich, ob es gelingt, den Text im Konsens an die VN-GV zu überweisen. Um notwendige Übersetzungen und redaktionelle Arbeiten rechtzeitig leisten zu können, wird Entscheidung möglichst für Anfang August angestrebt. Falls Widerstand einiger Staaten Konsens verhindert, insbes. 10 VLR I von Butler vermerkte am 23. März 1992, der vom australischen AM Evans am 19. März 1992 vorgelegte „Modell-Konventionsentwurf“ stimme zu „ca. 80 % mit Substanz des ,rolling text‘ überein, der Verhandlungsgrundlage in Genf ist“. Der Text habe zwar „überall höfliche Aufnahme gefunden, eindeutige Unterstützung außerhalb der westlichen Gruppe jedoch nicht erhalten“. Vgl. B 43, ZA-Bd. 166090. 11 Dem Vorgang beigefügt. Für das Schreiben vgl. B 43, ZA-Bd. 166114. 12 Zu den Ergebnissen der Reisen von Botschafter Holik vgl. Dok. 237.

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China und Pakistan gelten als kritisch, sind wir bereit, als Vorsitz-Land den Text mit möglichst vielen Ko-Sponsoren als nationale Resolution in den VN einzubringen. Ziel ist die Billigung durch die GV und deren Empfehlung an alle Mitgliedstaaten zur Zeichnung.13 4) Nachstehend folgt kurzer Überblick über offene Verhandlungsfragen. a) Verifikation: Glaubwürdigkeit der CW-Konvention (CWC) setzt voraus, dass Verstöße unter Entdeckungsrisiko gestellt werden. Verdachtskontrollen des technischen Sekretariats auf Antrag eines Mitgliedstaates sollen grundsätzlich überall im Vertragsgebiet stattfinden können. Bedenken der USA gegen die mögliche Offenlegung sensitiver Anlagen und generelle Skepsis einiger G 21-Staaten gegen zu intrusive Verifikation haben jedoch zu Einschränkungs- und Verzögerungsmöglichkeiten des Zugangs im konkreten Fall geführt. Ablehnung eines Inspektionsantrages soll nur in Extremfällen möglich sein, letzter Gesamtkonsens steht noch aus. In der chemischen Industrie sollen Routinekontrollen dafür sorgen, dass keine verdeckte CW-Produktion erfolgt. Die Größe und Bedeutung der chemischen Industrie hebt diese Aufgabe weit über den Umfang der im Rahmen der IAEA vereinbarten nuklearen Inspektionen. Westliche Industrieverbände unterstützen breit angelegtes Konzept, um jeglichen Verdacht auf CW-Aktivitäten entkräften zu können. G 21 haben Erstreckung der Routinekontrollen auf gesamte chem. Industrie noch nicht zugestimmt. Neben der Überprüfung der Vernichtung deklarierter CW-Bestände (innerhalb von zehn Jahren, russische Fähigkeit hierzu wird bezweifelt) stellt die Routinekontrolle die Hauptaufgabe der künftigen „Organization for the Prohibition of Chemical Weapons – OPCW“ dar. b) Tränengase und Reizstoffe: Lückenlose Erfassung aller derzeitigen und künftigen chemischen Kampfstoffe in der CW-Definition der CWC ist Voraussetzung für Glaubwürdigkeit des umfassenden CW-Verbots. Nur US vertritt Anliegen, begrenzte militärische Verwendung von Reizstoffen zuzulassen. Wenn es nicht gelingt, hier Kurskorrektur zu erreichen, könnte Eindeutigkeit des umfassenden CW-Verbots infrage stehen. c) Exportkontrollen/Handelsbeschränkungen: G 21 fordern als „Preis“ ihrer Zustimmung die Aufhebung von sie belastenden Exportkontrollmaßnahmen (Australische Gruppe14). Industriestaaten verweisen auf Notwendigkeit, zunächst Erfahrung mit CWC zu sammeln. d) Organisatorische Fragen der künftigen OPCW: Zusammensetzung des Exekutivrates ist „politischste“ Entscheidung. Westen versucht, durch ein „Industriekriterium“ zumindest Sperrminorität in einem nicht zu großen und damit handlungsfähigen Gremium zu erhalten. US, GB und besonders F wollen quasiständige Sitze durchsetzen. Wir vertrauen auf häufige Beteiligung aufgrund der Stärke unserer chemischen Industrie. Kandidaten für den Sitz der OPCW sind Wien, Den Haag und Genf. CD versucht, durch ein „Versteigerungsverfahren“ möglichst günstige Konditionen auszuhandeln und Zuschlag dem „Meistbietenden“ zu geben. NL appelliert an EG-Solidarität. BM Genscher hat NL-AM diese grundsätz13 Zum Abschluss der Verhandlungen vgl. Dok. 277. 14 Seit 1984 bemühten sich die Teilnehmerstaaten der „Australischen Gruppe“ bei informellen Treffen um Exportkontrollen für Substanzen, die zur Herstellung von Chemiewaffen geeignet sind. Vgl. AAPD 1987, I, Dok. 45, und AAPD 1987, II, Dok. 272.

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lich in Aussicht gestellt15, F ist aber klar für Genf. Für Wien spricht Präsenz IAEA und VN-Suchtstoffkommission (siehe auch StS-Vorlage vom 3.4.1992, Anlg. 3)16. Wir sollten uns als zwangsläufig unparteiischer Vorsitz in Genf mit Äußerungen zum Sitz gegenwärtig möglichst zurückhalten. 5) Perspektiven Nach einhelliger Meinung ist 1992 das „Fenster der Gelegenheit“ für die CWC. Wird es nicht genutzt, gerieten die Verhandlungen in eine tiefe Krise, und mühsam erreichte Kompromisse wären infrage gestellt. Angesichts dieser Erkenntnis herrscht in Genf Zuversicht vor, dass Abschluss dieses Jahr möglich ist. Es kommt nun darauf an, noch zögernde Staaten zu überzeugen: Niemandem wird eine Konvention nach westlichen Vorstellungen aufgenötigt, in einem kooperativen Ansatz geht es um eine Vereinbarung, die allen Staaten Vorteile verspricht. Durch Eingehen auf die Anliegen der G 21 muss die große Mehrheit in Genf gewonnen werden, um notfalls Einzelne, die sich dem Kompromiss in den Weg stellen, zu isolieren. Noch aber besteht Hoffnung, dass es gelingt, selbst die schwierigsten Partner zumindest zu einer Tolerierung des Ergebnisses zu bewegen. Auch China hat sein Interesse am Abschluss der Konvention in diesem Jahr mehrfach betont. Die VN-GV wird mit Sicherheit die CWC auf der Tagesordnung sehen. Butler B 43, ZA-Bd. 166114

139 Drahtbericht des Botschafters Höynck, Helsinki (KSZE-Delegation) Fernschreiben Nr. 310 Citissime

Aufgabe: 13. Mai 1992, 00.14 Uhr1 Ankunft: 13. Mai 1992, 00.51 Uhr

Ausschluss der „jugoslawischen“2 Delegation von Mitwirkung an KSZE-Beschlussfassung zu JUG-Krise; hier: Ergebnis des AHB-Dringlichkeitstreffens (Helsinki 6.5. – 12.5.1992) Delegationsbericht Nr. 126 Zur Unterrichtung Betr.:

I. 1) Unter erstmaliger Anwendung des Konsens-minus-eins-Prinzips3 ist Jugoslawien durch Beschluss des AHB vom 12. Mai wegen „eindeutiger, grober und nicht behobener Verlet15 Vgl. das Gespräch zwischen BM Genscher und dem niederländischen AM van den Broek am 23. April 1992; Dok. 112. 16 An dieser Stelle wurde von Botschafter Holik handschriftlich eingefügt: „wie auch bereits vorhandene umfassende Präsenz der Mitgliedstaaten“. Vgl. Anm. 4. 1 Das von VLR Beuth, z. Z. Helsinki, konzipierte Fernschreiben wurde in zwei Teilen übermittelt. Vgl. Anm. 10. 2 Zur Bildung der Bundesrepublik Jugoslawien (Serbien/Montenegro) vgl. Dok. 118, Anm. 16.

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zungen von KSZE-Verpflichtungen“ die Möglichkeit genommen worden, Entscheidungen der KSZE, die im Zusammenhang mit der Krise (in Bosnien-Herzegowina) stehen, zu verhindern, und zwar mit Wirkung bis zum 30. Juni. Damit ist ein klares Signal der KSZETeilnehmerstaaten an die Führung in Belgrad und die JNA wegen ihrer Aggression gegen Bosnien-Herzegowina gerichtet worden. RF hat nach langem Widerstand die Substanz der von den anderen Teilnehmerstaaten geforderten Entscheidung akzeptiert, nachdem der Hinweis auf eine Suspendierung von Rechten aus der ursprünglich vorgesehenen Formulierung entfernt worden war. 3

2) Die heutige Entscheidung ist ein großer Schritt auf dem Weg zu dem beim EG-Ministerrat am 11.5. gesetzten Ziel, Jugoslawien aus der KSZE auszuschließen.4 Ohne den in der ersten Phase dieses AHB nur mit Mühe erreichten Zusammenhalt der Zwölf wäre die Entscheidung in der KSZE nicht zustande gekommen. 3) Die klare Haltung der USA mit ihrer seit dem 15.4. erhobenen Forderung nach Ausschluss Jugoslawiens war für eine Vielzahl von Delegationen der entscheidende Maßstab. Unter US-Führung bildete sich eine Gruppe von „Freunden Bosniens“, die mit den Mitgliedstaaten der Gemeinschaft das vorliegende Ergebnis ermöglichte. 4) Mit der Entscheidung gegen Jugoslawien ist klargestellt, dass die im Prager Dokument vereinbarte Konsens-minus-eins-Regel weit auszulegen ist. Das gibt neue Möglichkeiten im KSZE-Krisenmanagement. 5) Bereits am 18.5. wird sich der AHB erneut mit der Lage in Bosnien-Herzegowina sowie den übrigen Teilen des früheren Jugoslawiens befassen und dabei prüfen, welche weiteren Maßnahmen erforderlich sein können.5 Damit ist auch die Möglichkeit gegeben, die Rechte „Jugoslawiens“ weiter einzuschränken. Dies bedürfte jedoch sorgfältiger diplomatischer Vorbereitungen, insbesondere in Moskau. Die eigentliche Überprüfung der heutigen Entscheidung wird am 29. Juni erfolgen. Dann wird auch darüber zu befinden sein, ob Präsident Milošević am KSZE-Gipfel am 9./10. Juli6 teilnehmen wird. II. Im Einzelnen 1) Langwierige Verhandlungen in dem am 6.5. zusammengetretenen, von uns mit beantragten AHB-Dringlichkeitstreffen hatten bis zum 9.5. zu einem Text geführt, dem 50 Delegationen ihre Zustimmung geben konnten. Als einzige verweigerte RF-Delegation die Zustimmung zu dem Konsens-minus-eins (JUG)-Vorschlag. Am Morgen des 12.5. deutete RF-Delegation Aufgabe des bisherigen Widerstands und Bereitschaft an, auf einer Linie, wie sie Botschafter Blech bei Gespräch im RAM (DB aus Fortsetzung Fußnote von Seite 565 3 Vgl. § 16 des „Prager Dokuments über die weitere Entwicklung der KSZE-Institutionen und -Strukturen“ vom 30./31. Januar 1992; BULLETIN 1992, S. 84. 4 Vgl. die Erklärung der EG-Mitgliedstaaten im Anschluss an die EG-Ministerratstagung in Brüssel; BULLETIN DER EG 5/1992, S. 108. 5 Botschafter Höynck, Helsinki (KSZE-Delegation), teilte am 21. Mai 1992 mit, der AHB habe am 20. Mai 1992 eine Resolution verabschiedet. Darin würden u. a. ein sicherer Zugang für humanitäre Hilfe zu den Flughäfen von Bosnien-Herzegowina und die Anerkennung der Stadt Sarajevo und ihres Flughafens als „Sicherheitszone“ gefordert: „Weitere Einschränkungen des Status der ,JUG‘-Delegation wurden, da nicht konsensfähig, nicht vorgenommen.“ Vgl. DB Nr. 368/369; B 42, ZA-Bd. 183167. 6 Zur KSZE-Gipfelkonferenz am 9./10. Juli 1992 vgl. Dok. 226.

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Moskau Nr. 2056) erläutert worden war, Substanz der Mehrheitsmeinung zu akzeptieren. Russischer DL bestätigte unter Bezugnahme auf Gespräch von Botschafter Blech den Kern des russischen Vorschlags: Als Entgegenkommen an RF-Seite sollte auf die ausdrückliche Erwähnung des Begriffs der „Suspendierung“ verzichtet und diese durch die Bezugnahme auf § 16 des Prager Dokuments ersetzt werden. Damit blieb das praktische Ergebnis gleich, es änderte sich die rechtliche Präsentation. Auf dieser Basis wurde unter unserer maßgeblichen Beteiligung ein Kompromiss-Text der Zwölf formuliert. Im Sinne der Entscheidung des EG-Rats vom 11.5. in Brüssel wurde ein Hinweis auf die Möglichkeit weiterer Entscheidungen des AHB bereits bei seiner nächsten Sitzung am 18. Mai hinzugefügt. Dieser Text wurde von Troika mit US, TUR und HUN dem russischen DL präsentiert, der ihn nach Rücksprache mit Moskau ohne Änderungen akzeptierte. Während dieser entscheidenden Schlussphase habe ich mit RF-Delegationsleiter Gussarow ständigen Kontakt gehalten, der sich dafür nach Abschluss der Verhandlungen unter ausdrücklichem Bezug auf den Appell von BM an AM Kosyrew7 bedankte. 2) Nachdem Einigung unter Hauptbeteiligten erzielt war, wurde Text der Resolution (liegt dort als Fax vor8) in AHB zur Entscheidung gestellt. JUG-Del., Bo[tschafter] Pavicević, reagierte in bekannter Weise: Er könne der Erklärung und der Entscheidung nicht zustimmen, sie jedoch auch nicht verhindern. Im Übrigen unterstrich er Hoffnung auf friedliche Lösung, dankte der KSZE für ihre Bemühungen und insbesondere den Delegationen, denen es nicht um eine Bestrafung, sondern um eine Warnung an alle Parteien, einschließlich seiner eigenen, gehe, und kündigte ein auch weiterhin kooperatives Verhalten und Präsenz seiner Delegation im AHB an. Aufgrund dieser Intervention fragte ČSFR-Vorsitz, ob Resolution „im Konsens“ angenommen werde. Dagegen gab es keinen Widerspruch. Da die Entscheidungsgrundlage unsicher war, habe ich im Zusammenwirken mit US-Del. Kornblum Klarstellung durch Bo. Pavicević noch im Plenum provoziert, dass er dies als Entscheidung im Konsens-minus-eins ansehe. Danach habe ich im Tagesjournal eindeutig feststellen lassen, dass die getroffene Entscheidung in Anwendung von § 16 des Prager Dokuments auf der Basis des Konsens-minus-eins-Prinzips getroffen worden ist. 3) Mit der Bosnien-Herzegowina-Deklaration des AHB ist ein unmissverständliches Zeichen der politischen Verurteilung und Isolierung der JNA, der Belgrader Regierung und der serbischen Kräfte gegeben worden. Für die KSZE ist die erstmalige Anwendung des Konsens-minus-eins-Prinzips kurze Zeit, nachdem diese Möglichkeit beim Prager KSZERat Ende Januar9 eröffnet wurde, insbesondere angesichts sehr zurückhaltender Ausgangspositionen einiger unserer Partner sowie der RF-Delegation, ein wichtiger Fortschritt. Spätestens am 29. Juni wird es für den AHB darum gehen, die jetzt ergriffene Sanktion fortzusetzen. Dazu bedarf es erneuten Konsenses (minus Jugoslawien), wobei gemäß dem Resolutionstext der Bewertung der Europäischen Gemeinschaft eine wichtige Rolle zukommt. 7 Vgl. die Weisung an Botschafter Blech, Moskau, zu einer Demarche im russischen Außenministerium; Dok. 136. 8 Für die Fernkopie der Resolution des AHB vom 12. Mai 1992 vgl. B 28, ZA-Bd. 158650. 9 Zur zweiten Sitzung des KSZE-Außenministerrats am 30./31. Januar 1992 vgl. Dok. 34.

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104) Zur Haltung der Delegationen

Drei Hauptakteure waren für den Fortgang der Verhandlungen und das schließliche Ergebnis entscheidend: a) RF hatte von Anfang an ausdrücklich erklärt, einen Beschluss des AHB auf Suspendierung oder Ausschluss – zumindest zum jetzigen Zeitpunkt – nicht mittragen zu können. Dies geschah sicher auch in der Erwartung, dass andere Delegationen ähnliche Zweifel haben, sodass RF in dieser Frage letztlich nicht isoliert sein würde. (Rumänien hat russische Verweigerung nicht unterstützt.) Nachdem klar geworden war, dass RF in dieser Frage völlig alleinstand, hat es sich nach einigen hochrangigen Demarchen (außer BM sicher auch AM Baker) in der Substanz dem Konsens der Übrigen angeschlossen. In Schlusserklärung betonte RF-DL, dass man sich von Anfang an in Sorge über Lage in Bosnien-Herzegowina, über Notwendigkeit der Beendigung des Blutvergießens, der Feuereinstellung und einer friedlichen Lösung mit allen übrigen Teilnehmerstaaten einig gewesen sei. Einigung zeige, welch einzigartiges Potenzial die KSZE für Lösungen selbst in heikelsten Situationen besitze. Gussarow sprach allen Delegationen, insbesondere den Zwölf und den USA, Dank „für deren professionelle Unterstützung“ aus. Hauptziel bleibe, Blutvergießen zu beenden, dies sei Ziel des Appells von AM Kosyrew an serbische Führung gewesen, der aber auch an andere Konfliktparteien gerichtet gewesen sei. b) Entscheidend für Zustandekommen des AHB-Beschlusses war Haltung der USA, die mit der seit dem 15. April vertretenen Forderung nach Ausschluss von Jugoslawien aus der KSZE Messlatte sehr hoch gelegt hatten. USA führten Gruppe von „Freunden Bosniens“ an (USA, SLO, KRO, BOS, baltische Staaten, ALB, TUR), mit der die Zwölf den Beschlussvorschlag aushandelten. c) Die Zwölfer-Diskussion war vordergründig durch den Gegensatz zwischen D, NL und DK einerseits und F und GRI andererseits bestimmt, wobei wir innerhalb der Zwölf der Linie der Bosnien-Freunde am nächsten standen, während F und GRI objektiv gesehen die RUS-Position innerhalb der Zwölf vertraten. Praktisch spiegelte sich damit das Spektrum unter den 52 innerhalb der Zwölf wider, sodass die nach schwieriger intensiver Diskussion gefundene Zwölfer-Haltung letztlich bereits im Wesentlichen den Gesamtkompromiss umriss. Für die Zwölfer-Einigung war erster wichtiger Schritt, dass F seine grundsätzlichen Bedenken zurückstellte und eine zeitlich und territorial beschränkte Anwendung des Konsenses-minus-eins-Prinzips akzeptieren konnte. Der für eine Einigung mit den „Freunden Bosniens“ notwendige zweite Schritt einer Formel, der den Anwendungsbereich in konstruktiver Zweideutigkeit offenlässt, konnte erst nach Telefongespräch von BM mit AM Dumas am 8.5. erreicht werden. Angesichts dieser schwierigen Ausgangslage und dem letztlich gefundenen Gesamtkompromiss, der nahe bei der Zwölfer-Linie liegt, wurde der mühsam erzielte Zwölfer-Zusammenhalt von ausschlaggebender Bedeutung für den Erfolg. 5) Die übrigen Elemente der Resolution greifen teilweise auf Resolution der 10. AHBSitzung vom 1. Mai11 zurück: – Feststellung der Selbstisolierung Belgrads und vorrangige Verantwortung für Blutvergießen und Zerstörung. 10 Beginn des mit DB Nr. 311 (Delegationsbericht Nr. 126a) übermittelten zweiten Teils des Fernschreibens. Vgl. Anm. 1. 11 Zur AHB-Sitzung vgl. Dok. 112, Anm. 18.

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– Verurteilung der Beschießung Sarajevos und anderer Städte durch die JNA und Beendigung dieser JNA-Aggression. – Einstellung der Zerstörung des historischen, religiösen und kulturellen Erbes von Bosnien-Herzegowina. – Unterstellung der JNA unter Verantwortung der B.-H.-Autoritäten, Rückzug in Kasernen oder Abzug aus B.-H. und Auflösung. – Untersuchung und Feststellung der Verantwortlichkeit für Tod des belgischen EGMonitors Major Borrey12. – Humanitäre Hilfe für Flüchtlinge und Vertriebene sowie für Aufnahmeländer Kroatien, Slowenien und andere, Luftbrücke und freier Zugang unter internationaler Kontrolle der Flughäfen in B.-H. und ungehinderte Verteilung der Hilfe. – Unterstützung der EG-Bemühungen bei Verhandlungen in Brüssel und Lissabon13, insbesondere Aufruf an Regierung von Serbien, Kapitel 1 des Verfassungsentwurfs zu akzeptieren und insbesondere bei Fragen der Staatensukzession zu kooperieren. [gez.] Höynck B 28, ZA-Bd. 158650

140 Drahtbericht des Botschafters Freiherr von Richthofen, London Fernschreiben Nr. 965 Betr.:

Aufgabe: 14. Mai 1992, 18.32 Uhr1 Ankunft: 14. Mai 1992, 20.17 Uhr

Abschiedsbesuch von BM Genscher am 12.5. in London

1) BM traf anlässlich seines Abschiedsbesuches in GB am 12.5. zu einem 45-min. Gespräch mit PM Major zusammen. Anschließend führte er mit AM Hurd ca. 30-min. Gespräch. Daran schloss sich Abschiedsessen seines britischen Kollegen an, an dem mehrere frühere Amtskollegen teilnahmen. Die Gespräche und das Abendessen mit Damen fanden in besonders herzlicher Atmosphäre und freundschaftlichem Geist statt. Im Vordergrund der politischen Gespräche standen Themen wie Ratifizierung des Vertrags über die Europäische Union und europäische Sicherheitsarchitektur. Im Einzelnen 2) BM traf am späten Nachmittag in Begleitung von Frau Genscher zu fünfstündigem Aufenthalt in London ein und führte in Begleitung der beiden jeweiligen Referenten und Botschafter2 45-min. Gespräch in 10 Downing Street. Gespräch fand in sehr kooperativem Geist 12 Zur Tötung eines belgischen Mitglieds der EG-Beobachtermission am 2. Mai 1992 vgl. Dok. 136, Anm. 7. 13 Zum Stand der Friedenskonferenz für Jugoslawien bzw. zu den Gesprächen der verschiedenen Volksgruppen von Bosnien-Herzegowina vgl. Dok. 125, Anm. 31 und 34. 1 Hat VLR Cuntz vorgelegen. 2 Hermann Freiherr von Richthofen (Bundesrepublik) und Christopher Mallaby (Großbritannien).

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statt und unterstrich die Hochachtung vor der langjährigen Erfahrung und Kompetenz des scheidenden deutschen Außenministers. Auf britischer Seite war als Gesprächsziel zu erkennen, die Auffassungen BMs über die langfristige Entwicklung in Europa zu hören. BM gab ausführliche Darstellung zur wirtschaftlichen und politischen Lage in Deutschland einschließlich der Streiksituation3. Im Zusammenhang mit der Darstellung der Lage in den neuen Bundesländern wurde der Anteil Großbritanniens an den ausländischen Neuinvestitionen hervorgehoben und die engagierte Rolle des britischen Botschafters bei der Förderung britischen Engagements (über Treuhand, aber auch unabhängig hiervon) gewürdigt. PM Major fragte nach Stand der Ratifizierung der Verträge von Maastricht in D. BM erläuterte Position der Koalition hierzu unter Hinweis auf extensive Forderungen der Bundesländer nach Anhörung und Mitbestimmung in wichtigen europapolitischen Fragen4, nicht nur im Rahmen ihrer ausschließlichen Gesetzbarkeit. PM interessierte sich im Einzelnen für Besetzung des Regionalausschusses durch die beteiligten Bundesländer. PM sieht GB in dieser Frage noch nicht so weit, bei großem Interesse in Schottland seien grundsätzliche Fragen der Berücksichtigung der Regionen und anderer Landesteile noch nicht geklärt. Er ging kurz auf Inhalt der Rede der Königin am 12.5. in Straßburg5 ein und erläutert die in den Medien diskutierte Kontroverse zur Rede (unglückliche, unzusammenhängende Pressezusammenfassung der Rede der Königin). Zum Thema EG-Erweiterung stimmten Gesprächspartner darin überein, dass die EG gesamteuropäisch angelegt sei. Nach der Aufnahme der EFTA-MS sollten die neuen Demokratien Mittel- und Südosteuropas, vor allem die Visegrád-Gruppe, der Gemeinschaft beitreten können. Hierfür die wirtschaftliche Voraussetzung zu schaffen durch Assoziierung mit Beitrittsperspektive zur Gewährleistung innenpolitischer Stabilität, sei die Herausforderung der nächsten Jahre. BM fand bei der Erwähnung einer späteren Aufnahme auch der baltischen Staaten in EG keinerlei Widerspruch. Fortzuführen seien die Assoziierungsverhandlungen mit Bulgarien6 und Rumänien7. PM Major gab darüber hinaus 3 Am 27. April 1992 begann im Öffentlichen Dienst Westdeutschlands der erste flächendeckende Streik seit 1974, nachdem beide Seiten einen Schlichtungsspruch abgelehnt hatten, der Lohnerhöhungen von 5,4 % vorgesehen hatte. Forderungen der Gewerkschaften nach 9,5 % Lohnerhöhungen stand ein Arbeitgeberangebot von 4,8 % gegenüber. Am 7. Mai 1992 wurde eine Einigung auf 5,4 % mehr Lohn erzielt und der Streik zunächst ausgesetzt. Dieses Ergebnis wurde jedoch in einer Urabstimmung der Beschäftigten mit 44,1 % zu 55,9 % abgelehnt. Der ÖTV-Hauptvorstand setzte sich am 25. Mai 1992 über dieses Votum hinweg und nahm den Abschluss an. Vgl. die Artikel „Gewerkschaften wollen Öffentlichen Dienst lahmlegen. Wulf-Mathies: Streikziel jetzt mehr als 5,4 Prozent“ bzw. „ÖTV erklärt Streik offiziell für beendet“; SÜDDEUTSCHE ZEITUNG vom 27. April 1992, S. 1, bzw. 26. Mai 1992, S. 6. 4 Zu den Verfassungsänderungswünschen der Bundesländer vgl. Dok. 102, Anm. 22. 5 Für die Rede der britischen Königin Elizabeth II. vgl. https://multimedia.europarl.europa.eu/en/queenelizabeth-ii-addresses-the-european-parliament_B001-0122_ev. 6 Zur Sondierung einer EG-Assoziierung Bulgariens vgl. Dok. 11, Anm. 10. RD Mohrmann, Brüssel (EG), berichtete am 18. Mai 1992, nach Verabschiedung des Verhandlungsmandats für die EG-Kommission durch den EG-Ministerrat am 11. Mai 1992 hätten am 14./15. Mai 1992 die ersten Verhandlungen über ein Assoziierungsabkommen stattgefunden: „Ernsthaftere Schwierigkeiten zeichnen sich bisher nur im Agrarbereich ab, wo die bulg[arischen] Forderungen wesentlich weiter gehen als das, was das Mandat für die EG zulässt.“ Vgl. DB Nr. 1463; B 221, ZA-Bd. 166628. 7 Zur Sondierung einer EG-Assoziierung Rumäniens vgl. Dok. 71, Anm. 9. Am 25. Mai 1992 legte das BMWi dar, nach Erteilung des Verhandlungsmandats am 11. Mai 1992 habe am 19./20. Mai 1992 eine erste Verhandlungsrunde in Brüssel stattgefunden. Die EG-Kommission

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auch zu überlegen, nicht nur Belarus und Ukraine, sondern auch Russland langfristig (50 Jahre?) durch Einbeziehung in die Gemeinschaft gesamteuropäisch zu absorbieren. PM Major bat BM um Eindruck von seinem Besuch in Georgien8 und jetziger Rolle Schewardnadses. BM unterrichtete ebenfalls über sein Gespräch mit Gorbatschow in Bonn.9 3) Das halbstündige Gespräch im Hause des Außenministers, das dem Abschiedsessen vorgeschaltet war, drehte sich eingangs um die Situation im früheren Jugoslawien. Hurd unterstrich, dass es unvorstellbar sei, eine öffentliche Zustimmung für den Einsatz britischer Soldaten im Rahmen grösser angelegter friedenssichernder Maßnahmen dort gewinnen zu können. Die Sicherheitslage in MOE schätzten beide AM als nicht von außen bedroht ein. Problem sei die interne Sicherheit der Staaten, wobei gerade Unruhen im Nachbarstaat psychologisches Sicherheitsproblem bedeuteten. Das Sicherheitsbedürfnis könne am ehesten durch die Einbeziehung in die verschiedensten Institutionen und Konsultationsmechanismen erreicht werden. Zusätzlich habe Assoziierung bei der EG ebenfalls hohen Sicherheitsstellenwert. Beide AM unterstrichen noch einmal nachdrücklich ihre energische Ablehnung jedweder Anerkennung von durch Gewalt geschaffenen neuen Grenzen. Konflikte seien nicht durch Grenzverschiebungen und Entflechtungen zu lösen, sondern nur durch den entschiedenen Schutz von Minderheiten und Respekt von Menschenrechten und die Erfüllung entsprechender Minderheitenregime. BM betonte die Notwendigkeit, der KSZE die Eigenschaft einer Unterorganisation der VN zuzumessen. AM Hurd zeigte sich der Argumentation gegenüber aufgeschlossen und zeigte insbesondere Verständnis für die Überlegungen, bei zukünftigen Peacekeeping-Operationen der KSZE auf andere Organisationen (NATO, WEU) zurückzugreifen und auf ein eigenes Instrumentarium zu verzichten. Gegen den Einwand einer Duplizität von friedenssichernden Organisationen gab BM zu bedenken, dass Duplizierung in Kauf genommen werden sollte, wenn damit psychologisch und politisch ein Gefühl der Sicherheit vermittelt werde. BM berichtete von seinem Besuch in Japan10 über Interesse Japans, als Beobachter bei der KSZE zugelassen zu werden. Eine japanische Beteiligung an den wirtschaftlichen Aufbaumaßnahmen in der GUS und MOE sei eher zu erwarten, wenn Japan zumindest eine Beobachterrolle hätte. AM Hurd zeigte sich skeptisch, anerkannte jedoch Argumentation. BM hob Notwendigkeit hervor, dass VN-SR nach Beendigung des Ost-West-Konflikts seine friedenserhaltende und friedensstiftende Rolle voll verantwortlich ausfülle. Er erwähnte Vorstöße zahlreicher DW-Staaten (so kürzlich mexikanischer AM bei Besuch in Bonn11), die gerne Beteiligung von D im SR sähen. Er antworte darauf, dass D keinen stänFortsetzung Fußnote von Seite 570 halte es für möglich, noch bis Jahresende ein Assoziierungsabkommen zu schließen. Vgl. B 221, ZABd. 166662. 8 BM Genscher hielt sich am 12./13. April 1992 in Georgien auf. Vgl. Dok. 106. 9 Der ehemalige sowjetische Präsident Gorbatschow hielt sich vom 4. bis 12. März 1992 in der Bundesrepublik auf. 10 Zum Besuch des BM Genscher vom 11. bis 13. Februar 1992 in Japan vgl. Dok 54. 11 Im Gespräch mit dem mexikanischen AM Solana am 12. Mai 1992 führte BM Genscher aus: „Was die Zusammensetzung des SR angehe, so entspreche diese sicher nicht den Realitäten. Auch über die Frage des Veto-Rechts könne man verschiedener Meinung sein. Deutschland betreibe diese Diskussion jedoch nicht. Wir erklärten, dass die Frage eines Sitzes im SR nicht zu unseren außenpolitischen Prioritäten gehöre. Wichtiger sei, dass der SR jetzt nach dem Ende des West-Ost-Konflikts seine Aufgaben wahrnehme, gegen Rechtsbrecher einschreite und die globalen Herausforderungen aufnehme.“ Vgl. B 33, ZA-Bd. 161423.

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14. Mai 1992: Drahtbericht von Richthofen

Abb. 5: Amtswechsel im Weltsaal des Auswärtigen Amts: BM a. D. Genscher, BM Kinkel, Ursula Kinkel, Barbara Genscher, StS Lautenschlager, StS Kastrup

digen Sitz im SR anstrebe, da europäisches Interesse durch GB und F vertreten würde. Beide AM zeigten Verwunderung über das von Boutros-Ghali im Zusammenhang mit zukünftigen Peacekeeping-Einsätzen strapazierte Kostenargument. AM Hurd fragte nach derzeitigem Stand der Out-of-area-Debatte. BM verwies auf Stellungnahme des Bundeskanzlers in Leipzig anlässlich der Kommandeurtagung12 und nannte deutsche Beteiligung an VNMission in Kambodscha13 ein Zeichen vorsichtiger Auflockerung. 4) Zu dem Black-Tie-Dinner mit Ehefrauen waren vier der acht britischen Außenminister, die von 1974 bis heute Kollegen von BM Genscher gewesen waren, anwesend: neben AM Hurd Lord Callaghan, Lord Pym, David Owen. Zusätzlich waren der frühere liberale Parteiführer Sir David Steel und Denis Healey erschienen. In seiner sehr persönlich gehaltenen Rede ging Gastgeber Hurd, aus seiner sonstigen Zurückhaltung herausgehend, auf den ausgezeichneten Stand der deutsch-britischen Beziehungen ein. Er beschrieb sehr warmherzig die Rolle und das Verhandlungsgeschick von BM Genscher bei den Treffen mit seinen europäischen AM-Kollegen. Hurd unterließ nicht den Hinweis auf die erfahrene Verhandlungsstrategie und Gesprächsführung des BM bis hin zur Farbe der Kleidungsstücke (gelber Pullover). Seine besondere Wertschätzung für den AM-Freund unterstrich er auch in der Aussage, wie sehr er sich auf ihn habe immer verlassen können. Als Ab12 Für die Rede von BK Kohl auf der Kommandeurtagung der Bundeswehr am 12. Mai 1992 vgl. EUROPAARCHIV 1992, D 445–448 (Auszug). 13 Zum Verlauf des Friedensprozesses in Kambodscha und zur Beteiligung der Bundesrepublik an UNTAC vgl. Dok. 305.

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20. Mai 1992: Vorlage von Gruber

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schiedsgeschenk übergab er eine Zeichnung von Westminster, die von den brit. AM der Genscher-Amtszeit signiert worden war. 5) Gesamter Besuch entsprach in seiner Anlage, unkomplizierten und familiären Durchführung dem ausgezeichneten Verhältnis, das BM zur britischen Regierung hat und unsere bilateralen Beziehungen auszeichnet. Es zeigte ferner den hohen Respekt, den PM Major und AM Hurd ihrem Gast entgegenbringen. Rat und staatsmännische Erfahrung von BM werden seinen britischen Partnern sicherlich fehlen. [gez.] Richthofen B 210, ZA-Bd. 176310

141 Vorlage des Vortragenden Legationsrats I. Klasse Gruber für Bundesminister Kinkel 241-376.14 GUS

20. Mai 19921

Über D 2 A i. V.2, Herrn Staatssekretär3 Herrn Bundesminister4 Betr.:

Inkraftsetzung des Vertrags über konventionelle Streitkräfte in Europa (KSE-V); hier: Aufteilungsvertrag der acht betroffenen Folgestaaten über Rechte und Pflichten der früheren SU

Anlg.: 35 Zweck der Vorlage: Zur Unterrichtung und zur Billigung der Sprachregelung (Ziff. 5) 1) Wider Erwarten haben sich die sieben im Anwendungsgebiet des KSE-Vertrags gelegenen GUS-Staaten (RF, UKR, WEI, KAS, MOL, ARM, ASE) auf dem GUS-Gipfel in Taschkent am 15.5.1992 über die Aufteilung der Rechte und Pflichten der früheren SU aus dem Vertrag geeinigt. Georgien, das in Taschkent – als Beobachter – durch seinen Verteidigungsminister Kitowani6 vertreten war, hat nicht unterzeichnet, um seiner Forderung nach einem Anteil bei der Aufteilung der Schwarzmeerflotte Nachdruck zu verleihen. Nach einem Telefongespräch von D 2 A mit Schewardnadses Berater Tarassenko7 am 19.5. über die geor1 2 3 4

Die Vorlage wurde von LS Schnakenberg konzipiert. Hat MDg Roßbach am 20. Mai 1992 vorgelegen. Hat StS Kastrup am 21. Mai 1992 vorgelegen. Hat BM Kinkel am 25. Mai 1992 vorgelegen. Hat OAR Rehlen am 27. Mai 1992 vorgelegen, der den Rücklauf über das Büro Staatssekretäre und Botschafter Holik an Referat 241 verfügte. Hat VLR I Reiche und Holik am 29. Mai 1992 vorgelegen. Hat VLR I Gruber am 29. Mai 1992 erneut vorgelegen. 5 Vgl. Anm. 8, 9 und 15. 6 Durchgehend korrigiert aus: „Titowani“. 7 Botschafter Holik vermerkte am 19. Mai 1992, er habe gegenüber dem Berater des georgischen Präsidenten seine Enttäuschung zum Ausdruck gebracht, „dass Georgien in dieser wichtigen Frage als Einzi-

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20. Mai 1992: Vorlage von Gruber

gische Haltung ließ dieser über unsere Botschaft Tiflis mitteilen, Schewardnadse habe sich mit Kitowani verständigt, dass Georgien sich dem Aufteilungs-Abkommen anschließt. 2) Der Aufteilungsvertrag (Übersetzung des Wortlauts s. Anlage 18) stellt die Verantwortung der acht betroffenen Nachfolgestaaten der SU für die Erfüllung der Pflichten der früheren SU aus dem KSE-Vertrag klar. Russland hat darüber hinaus ausdrücklich die Verantwortung für die auf dem Gebiet Deutschlands, Polens und der baltischen Staaten dislozierten Waffen, soweit deren Rückzug auf russisches Gebiet vorgesehen ist; soweit der Rückzug auf das Gebiet eines anderen GUS-Staats erfolgen sollte, übernimmt dieser auch unter KSE-Aspekten die Verantwortlichkeit dafür. Der Aufteilungsvertrag legt fest, dass die Anteilshöchstgrenzen der einzelnen Staaten in ihrer Gesamtheit nicht die Anteilshöchstgrenzen der früheren SU – einschließlich der regionalen Zwischenhöchststärken – für konventionelle Waffen und Ausrüstungen überschreiten werden. Vereinbart wird ferner die Zusammenarbeit der Acht bei der Durchführung der Verifikations- und Inspektionstätigkeit. 3) Zentraler Streitpunkt bis zum Gipfel von Taschkent war die Aufteilung der numerischen Obergrenzen für die konventionellen Waffen unter den Erben der Sowjetunion. Hier haben sich die Acht nunmehr auf entsprechende „Quoten“ verständigt (Details s. Tabelle in Anlage 29). Besonders schwierig gestaltete sich die Aufteilung der vom KSE[-V] sehr eng bemessenen Höchststärken für die sog. Flankenregion im Norden und Süden der früheren Sowjetunion. Hier waren u. a. das Anrecht auf 1850 Panzer auf Russland (in den Militärbezirken St. Petersburg, Nordkaukasus), Ukraine (Militärbezirk Odessa) sowie Moldau, Georgien, Armenien und Aserbaidschan aufzuteilen. Nachdem Russland in den Anfangsphasen der Verhandlungen offenbar die kleineren Partner durch ungeschicktes Auftreten gegen sich aufgebracht und zu – aus seiner Sicht überzogenen – Forderungen gereizt hatte, zeigte Russland in der Schlussphase der Verhandlungen offenbar Flexibilität und Entgegenkommen. Bemerkenswert an dem numerischen Aufteilungsergebnis ist u. a.: – Russland fällt zwar der Hauptteil des Erbes der früheren sowjetischen Anteilshöchststärken zu. Sein Anteil ist jedoch nicht überzogen; so erhält es z. B. von den 13 150 der SU gemäß KSE-V zugestandenen Kampfpanzern nur 6400, d. h. also weniger als 50 % in dieser Waffenkategorie. – Die Ukraine schneidet bei der Aufteilung des sowjetischen Kuchens sehr gut ab. Ihre10 Anteilshöchststärken sind höher als z. B. die von Deutschland (z. B. 1090 Kampfflugzeuge gegen 900 für D). – Die drei Kaukasus-Staaten mussten zwar einige Abstriche von ihren ursprünglichen Ansprüchen, besonders hinsichtlich ihrer Obergrenzen für Kampfflugzeuge und -hubschrauber machen. Sie sollten jedoch über das Aufteilungsergebnis, das ihnen u. a. das Fortsetzung Fußnote von Seite 573 ger den Konsens blockiere“. Tarasenko habe anklingen lassen, dass der georgische Verteidigungsminister Kitowani „seine eigene Politik verfolge und dass die ,lines of communication‘ innerhalb der Regierung noch nicht richtig funktionierten“. Vgl. B 43, ZA-Bd. 177849. 8 Dem Vorgang beigefügt. Für den Vertrag und die zugehörigen Dokumente vgl. B 43, ZA-Bd. 177849. Für den deutschen Wortlaut vgl. VERTRAG ÜBER KONVENTIONELLE STREITKRÄFTE, S. 519–532. 9 Dem Vorgang beigefügt. Für die tabellarische Übersicht der Obergrenzen für bestimmte Waffenarten je Staat vgl. B 43, ZA-Bd. 177849. 10 Korrigiert aus: „Seine“.

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20. Mai 1992: Vorlage von Gruber

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Ausrüstungsäquivalent von etwa einer schweren Division zuspricht, zufrieden sein. Wichtig ist, dass Aserbaidschan, Armenien und Georgien identische Höchststärken zugeteilt erhalten. 4) Zur Bewertung des Aufteilungs-Abkommens von Taschkent ist festzustellen: – Das Abkommen ist ratifizierungsbedürftig. Sein Schicksal und damit auch das des KSEVertrags hängen von der Zustimmung in den acht Hauptstädten ab. Die Möglichkeit neuer Schwierigkeiten ist also u. a. wegen der inneren Lage in Aserbaidschan oder des Konflikts zwischen Armenien und Aserbaidschan in Rechnung zu stellen. – Dass sich die sieben GUS-Staaten wider Erwarten in Taschkent geeinigt haben, ist sicher auch dem konzentrierten internationalen Erwartungsdruck (u. a. Briefe BM Genschers11 und AM Bakers, konzertierte Demarchen-Aktion westlicher Staaten12) zuzuschreiben. Mit ihrer Vereinbarung lieferten die sieben GUS-Staaten den überraschenden Beweis einer Entscheidungsfähigkeit zumindest in diesem Teilbereich der Sicherheitspolitik. Der Aufteilungsvertrag ist ein vernünftiger Kompromiss. – Ungeregelt bleibt in dem Taschkenter Vertrag, der die Aufteilung der künftigen SollStärken an konventionellen Waffen regelt, die Aufteilung der derzeitigen Ist-Bestände und damit auch im Hinblick auf den KSE-Vertrag die Aufteilung der Reduzierungsverpflichtungen. Ebenfalls ungeregelt bleiben einige rechtliche Spezialfragen, die sich bei der Aufteilung der sowjetischen KSE-Pflichten und -Rechte ergeben (u. a. Zahl der Schützenpanzer in paramilitärischen Verbänden). Sie sollten sich jedoch bei den in der Gemeinsamen Beratungsgruppe in Wien laufenden Arbeiten an den Dokumenten für die außerordentliche Konferenz auf Ministerebene zur Inkraftsetzung des KSE-Vertrags am Rande des NAKRTreffens am 5.6. in Oslo13 ausräumen lassen. Damit macht der Taschkenter Vertrag den Weg frei für den Erfolg dieser a. o. Konferenz und – unter Voraussetzung der Ratifizierung durch die betroffenen acht Staaten – für die Inkraftsetzung des KSE-Vertrags bis zum KSZE-Gipfel in Helsinki.14 – Das Taschkenter Abkommen ist über den KSE-V hinaus von erheblicher sicherheitspolitischer Bedeutung: Es legt verbindliche Höchststärken für die konventionellen Streitkräfte der SU-Nachfolgestaaten in Europa und damit für das Kräfteverhältnis zwischen Russland und Ukraine sowie zwischen den Konfliktparteien im Kaukasus fest. Es stellt einen Rahmen auf, an dem sich die Planungen über die künftigen Streitkräftestrukturen der GUS-Staaten in Europa und Georgien als Obergrenze orientieren müssen. Ob die Obergrenzen angesichts der Finanznot von den Acht ausgenutzt werden können, steht auf 11 In seiner Eigenschaft als WEU-Ratsvorsitzender richtete BM Genscher am 23. April 1992 ein Schreiben an die Außenminister der betroffenen Nachfolgestaaten der UdSSR, in dem er „dringend“ darum bat, eine Einigung über die Aufteilung der Verpflichtungen aus dem KSE-Vertrag bis zur außerordentlichen Konferenz am 5. Juni 1992 in Oslo zu erzielen, um ein Inkrafttreten des Vertrags bis zur KSZE-Gipfelkonferenz am 9./10. Juli 1992 in Helsinki zu ermöglichen. Vgl. die Anlage zu RE Nr. 4628 des Botschafters Holik vom selben Tag; B 43, ZA-Bd. 177867. 12 VLR I Gruber informierte am 11. Mai 1992, die NATO-Mitgliedstaaten hätten eine Demarche beschlossen, die „möglichst gemeinsam von den am Ort vertretenen NATO-Staaten gegenüber der Gastregierung auf hoher politischer Ebene“ ausgeführt werden sollte. Vgl. DE Nr. 5258 an die Botschaften in Alma Ata und Tiflis; B 43, ZA-Bd. 177848. 13 Zur NAKR-Ministertagung sowie zur außerordentlichen Konferenz zum KSE-Vertrag vgl. Dok. 170. 14 Zur Inkraftsetzung des KSE-Vertrags vgl. Dok. 221.

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21. Mai 1992: Gespräch zwischen Kinkel und Dumas

einem anderen Blatt. Insgesamt kann von dem Aufteilungsvertrag eine nicht zu unterschätzende stabilisierende Wirkung im Hinblick auf die weitere Entwicklung der Streitkräftestrukturen auf dem Boden der früheren Sowjetunion ausgehen. 5) Wir sollten die Vereinbarung von Taschkent positiv würdigen. Für Anfragen oder etwaige Pressegespräche sind Elemente für eine Sprachregelung mit der Bitte um Billigung als Anlage 315 beigefügt. Auf der nächsten HLWG-Sitzung am 25.5. in Brüssel16 werden wir uns auf der gleichen Linie äußern. Gruber B 43, ZA-Bd. 177849

142 Gespräch des Bundesministers Kinkel mit dem französischen Außenminister Dumas in La Rochelle 203-321.90/1 FRA 416-321.15 FRA

21. Mai 19921

59. Deutsch-französische Gipfelkonsultationen am 21./22. Mai 1992 in La Rochelle2; hier: Konsultationen des BM mit AM Dumas am 21. Mai 1992 Vom Bundesminister noch nicht genehmigt Allgemeines BM wies auf seine erste Bundestagsrede in Berlin vom Vortag3 hin (dritte Lesung der TSE- und UNG-Verträge4), in der er die besondere Bedeutung der deutsch-französischen 15 Dem Vorgang beigefügt. Für die Sprachregelung vgl. B 43, ZA-Bd. 177849. 16 VLR I Gruber, z. Z. Brüssel, teilte am 25. Mai 1992 zur Sitzung der erweiterten HLTF für die Inkraftsetzung des KSE-Vertrags (HLWG) mit, die NATO-Mitgliedstaaten sowie die MOE-Staaten hätten das Abkommen vom Taschkent vom 15. Mai 1992 begrüßt und die Unterzeichnerstaaten gedrängt, es rasch zu ratifizieren. Vgl. DB Nr. 840; B 43, ZA-Bd. 177849. 1 Kopie. Der Gesprächsvermerk wurde von VLR I Nestroy und VLR I Schürmann am 26. Mai 1992 gefertigt und am selben Tag von Nestroy an das Ministerbüro geleitet. Dazu vermerkte er: „Es wird um Genehmigung der Verteilung des beiliegenden Vermerks mit dem Hinweis ,vom Bundesminister noch nicht genehmigt‘ gebeten. Der Vermerk hat D 4 und Dg 20 vorgelegen.“ Hat VLR I Matussek am 26. Mai 1992 vorgelegen, der den Rücklauf an Referat 203 verfügte und handschriftlich vermerkte: „1) Kann mit o. a. Vermerk verteilt werden. 2) Je [Durchdruck] S[amm]l[un]g, L[eiter] 010.“ Vgl. den Begleitvermerk; B 1, ZA-Bd. 178945. 2 Zu den deutsch-französischen Konsultationen vgl. auch Dok. 144. 3 Für die Rede von BM Kinkel am 20. Mai 1992 im Bundestag vgl. BT STENOGRAPHISCHE BERICHTE, 12. WP, 93. Sitzung, S. 7647–7650. 4 Für den deutsch-ungarischen Vertrag vom 6. Februar 1992 über freundschaftliche Zusammenarbeit und Partnerschaft in Europa vgl. BGBl. 1992, II, S. 475–483. Vgl. auch Dok. 41.

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Freundschaft hervorgehoben habe. Dies sei von den deutschen Abgeordneten ebenso positiv aufgenommen worden wie sein entsprechender Hinweis bei seinem ersten Auftritt vor dem Auswärtigen Ausschuss in Berlin am 19. Mai 1992. KSZE BM unterstrich KSZE als besonders wichtigen Bereich deutsch-französischer politisch­ strategischer Zusammenarbeit. Frankreich und Deutschland sollten gemeinsam dazu beitragen, Helsinki zu einem „Gipfel der Stabilität“ für Europa zu machen. Die KSZE müsse zu einem Aktionszentrum und zu einem Forum für Konfliktverhütung weiterentwickelt werden. Beide Seiten müssten jetzt mit praktischen Vorschlägen zu richtigen Weichenstellungen beitragen. BM äußerte in diesem Zusammenhang allerdings die Befürchtung, dass die Zeit zur Ausarbeitung des gemeinsamen Vorschlags einer KSZE­Schiedsinstanz5 knapp werden könne. Er bat um französische Unterstützung zu dem Vorschlag, die KSZE zu einer regionalen Abmachung im Sinne von Kap. VIII der VN-Charta6 zu erklären.7 AM Dumas erklärte, Deutschland und Frankreich seien sich über Natur und Funktion der KSZE einig. F erhoffe sich von der KSZE große Dienste bei der Lösung europäischer Probleme. Wichtigste Aufgabe sei jetzt die Perfektionierung des Systems, das man effizienter gestalten müsse. Nach der Explosion der sozialistischen Staaten müsse man verhindern, dass Europa sich zum Monstrum entwickele. Als Beispiele für institutionelle Verbesserungen nannte AM Dumas die von BM Genscher vorgeschlagene Modifizierung der Konsens-Regel (Konsens minus eins) sowie die [von] Deutschland und Frankreich eingebrachte Idee der KSZE­Schiedsinstanz, die jetzt von 16 Staaten unterstützt werde. Einige Länder, darunter die USA, seien gegen eine KSZE-Schiedsinstanz, weil sie in der KSZE nur ein politisches und nicht auch ein juristisches Projekt sehen. Ein weiteres Beispiel sei der KSZE-Verhaltenskodex. Auf Nachfrage des BM bestätigte AM Dumas, dass Frankreich nunmehr bereit sei, die Erklärung der KSZE zur Regionalen Abmachung mitzutragen als Teil eines deutsch-französischen Gesamtpakets zur Entwicklung der KSZE. AM Dumas stimmte der Einschätzung von Dg 208 zu, dass das Arbeitspapier zum KSZE­ Verhaltenskodex, das von Frankreich und Deutschland in sehr enger Zusammenarbeit erarbeitet worden sei9, einen guten Kompromiss darstelle. Fortsetzung Fußnote von Seite 576 Für den deutsch-tschechoslowakischen Vertrag vom 27. Februar 1992 über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit vgl. BGBl. 1992, II, S. 463–473. Vgl. auch Dok. 64. Der Bundestag stimmte beiden Verträgen am 20. Mai 1992 zu. Vgl. BT STENOGRAPHISCHE BERICHTE, 12. WP, 93. Sitzung, S. 7651. 5 Zur deutsch-französischen Initiative für eine Gesamteuropäische Schiedsinstanz vgl. Dok. 105, Anm. 27. 6 Für Kapitel VIII der VN-Charta vom 26. Juni 1945 vgl. BGBl. 1973, II, S. 466–469. 7 Zu dem Vorschlag vgl. Dok. 105, Anm. 20. 8 Rolf Hofstetter. 9 Zum Vorschlag für einen KSZE-Verhaltenskodex vgl. Dok. 105, Anm. 22. Für den deutsch-französischen Vorschlag vgl. die Anlage zur Fernkopie des Botschafters Joetze, Helsinki (KSZE-Delegation), vom 13. Mai 1992; B 28, ZA-Bd. 158667. MDg von Studnitz teilte am selben Tag mit: „Die französische Ausgangsposition eines Sicherheitsvertrages als Hauptgegenstand des Vorschlages war bei Partnern auf Bedenken und auch Misstrauen gestoßen und wäre unter keinen Umständen konsensfähig gewesen. Sie war auch für uns wegen der mit der Vertragsform verbundenen Behinderung der weiteren Entwicklung der KSZE nicht akzeptabel. Bei den Amerikanern erweckte sie den Verdacht langfristigen Herausdrängens der USA aus dem KSZE-Prozess und der Transformation der KSZE in ein kollektives Sicherheitssystem als Konkurrenz zur NATO. Paris

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Verhältnis KSZE/NATO AM Dumas unterstrich die Notwendigkeit von militärischen Mitteln zur Unterstützung der KSZE, falls eine Schlichtung nicht weiterführe. Welche Rolle die NATO dabei spielen könne, sei eine noch offene Frage. Auch in dieser Frage solle man auf einen intelligenten Kompromiss hinarbeiten. Dg 20 erklärte, dass man eine pragmatische Lösung anstreben solle. Die KSZE solle bei Peace-keeping-Aktionen auf die Ressourcen der NATO zurückgreifen können, aber nicht müssen. Die NATO-Botschafter von Deutschland10, Frankreich11, Großbritannien12 und USA13 bemühten sich um eine Kompromissformel14 für das Kommuniqué der NATOAM-Tagung in Oslo15. Er sei sicher, dass es ihnen gelingen werde, sich auf einen allseits befriedigenden Kompromissvorschlag zu einigen. Guelluy (Leiter der Unterabteilung Strategische Fragen und Abrüstung im Quai) erklärte zur französischen Position, dass Konzept und politische Verantwortung für friedenserhaltende KSZE-Maßnahmen eindeutig bei der KSZE liegen müssten und dieses Mandat nicht an die NATO delegiert werden dürfe. Im Übrigen seien die KSZE-Mitgliedstaaten frei, militärische Strukturen der Organisationen zu nutzen, deren Mitglied sie sind. BM machte auf eine Presseerklärung von NATO-Generalsekretär Wörner aufmerksam, in der dieser die Bereitschaft der NATO zur Unterstützung der KSZE unterstrichen hatte. Wirtschaftsgipfel München (MWG)16 BM erklärte, vom MWG solle eine Wachstumsbotschaft an die Welt ausgehen. Die Bundesregierung hoffe, die Probleme der Uruguay-Runde des GATT noch vor dem Gipfel zu lösen. Er habe den Eindruck, dass Frankreich mit dem Vorschlag einverstanden sei, Präsident Jelzin zum Gipfel einzuladen.17 Er begrüße nachdrücklich den Vorschlag von Präsident Mitterrand, noch vor dem Gipfel Gespräche zur Sicherheit sowjetischer Kernkraftwerke mit MOE- und GUS-Staaten aufzunehmen, sobald sich die internen Vorstellungen der G 7 zu diesem Thema gefestigt hätten.18 Fortsetzung Fußnote von Seite 577 kann uns dankbar sein, dass wir ihm mit dem Projekt des Verhaltenskodex eine Brücke gebaut haben.“ Vgl. RE Nr. 5392; B 28, ZA-Bd. 158667. 10 Hans-Friedrich von Ploetz. 11 Gabriel Robin. 12 John Weston. 13 William Howard Taft. 14 Botschafter von Ploetz, Brüssel (NATO), berichtete am 19. Mai 1992, am selben Tag sei im kleinen Kreis über die Kommuniquépassage zu einer möglichen Rolle der NATO bei friedenswahrenden Maßnahmen der KSZE beraten worden, und übermittelte den entsprechenden Entwurf. Vgl. DB Nr. 783; B 14, ZA-Bd. 161214. Am 27. Mai 1992 teilte Ploetz mit, nach verschiedenen Beratungen auch im größeren Kreis sei es nach wie vor nicht gelungen, zu diesem Thema sowie zum Verhältnis NATO – WEU und zur Frage von Regionalkonflikten eine konsensfähige Formulierung zu finden, „sodass angesichts der zugrundeliegenden divergierenden Sachpositionen und des hohen politischen Stellenwertes dieser Fragen damit gerechnet werden muss, dass diese erst auf AM-Ebene in Oslo gelöst werden können“. Vgl. DB Nr. 863; B 14, ZA-Bd. 161214. 15 Zur NATO-Ministerratstagung am 4. Juni 1992 vgl. Dok. 170. 16 Zum Weltwirtschaftsgipfel vom 6. bis 8. Juli 1992 vgl. Dok. 225. 17 Zu einer Einladung des russischen Präsidenten Jelzin zum Weltwirtschaftsgipfel in München vgl. Dok. 100 und Dok. 175. 18 Das BMU legte am 6. Mai 1992 dar, in einem Schreiben von Ende April an BK Kohl habe der französische Staatspräsident Mitterrand die Sicherheit der Kernkraftwerke in Osteuropa und der ehemaligen

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AM Dumas unterstrich ebenfalls die politische Bedeutung des MWG und die besondere Verantwortung Deutschlands als Gastgeber. Frankreich wünsche einen erfolgreichen Gipfel und sei bereit, Deutschland, soweit erwünscht, zu unterstützen. In der Uruguay-Runde des GATT habe es bisher gemeinsame und solidarische deutsch-französische Positionen gegeben. Auch der Bundeskanzler und Präsident Mitterrand hätten noch einmal die deutsch­französische Solidarität in dieser Frage bekräftigt. Die Probleme seien allerdings so umfangreich, dass es schwierig sei, sie alle noch vor dem Gipfel einer Lösung zuzuführen. Angesichts von Haushaltsdefiziten und Inflation werde es auch nicht leicht sein, die gewünschten Wachstumsimpulse zu geben. Auch die deutsche Leitzinspolitik begünstige den Aufschwung nicht. Dennoch sei Frankreich bereit, Deutschland auch in dieser Hinsicht zu helfen. Bei Anerkennung der Schwierigkeiten im Rahmen der GATT-Verhandlungen unterstrich BM noch einmal die Notwendigkeit, das Ziel einer Einigung nicht aus den Augen zu verlieren. In diesem Zusammenhang bewertete er die Zusammenarbeit des deutschen und französischen Landwirtschaftsministers19 im Rahmen der Verhandlungen zur Reform der Gemeinsamen Agrarpolitik20 positiv. Zur Politischen Erklärung führte der BM aus, dass sie nach deutscher Auffassung nur zentrale Fragen behandeln dürfe und gestrafft werden solle. Sie solle die Mitverantwortung Japans deutlich zum Ausdruck bringen. Auch AM Dumas warnte davor, die G 7 als „Gewissensdirektoren des Weltgeschehens“ zu behandeln und, wie in der Vergangenheit, lange und unverdauliche Kommuniqués zu produzieren. Er erkundigte sich nach der deutschen Einschätzung des japanischen Anliegens, die Kurilenfrage21 in die Politische Erklärung aufzunehmen. Präsident Mitterrand habe dem japanischen Premierminister22 diesbezüglich Hoffnungen gemacht. BM war hinsichtlich der Behandlung der Kurilen in der Politischen oder der Wirtschaftserklärung des WGM23 zurückhaltend. Er gehe davon aus, dass die Politischen Direktoren auf Rügen diese Frage klären würden.24 D 425 verwies darauf, dass die Japaner eine Fortsetzung Fußnote von Seite 578 UdSSR angesprochen: „Er verweist in seinem Schreiben auf einen französischen Vorschlag für ein Aktionsprogramm, der über die Sherpas in Vorbereitung des G 7-Gipfels eingebracht werden soll. Er schlägt vor, dass über ein solches Aktionsprogramm mit den Staaten, in denen sich diese Kernkraftwerke befinden, schon vor dem Wirtschaftsgipfel gesprochen wird.“ Das BMU erläuterte weiter, bereits seit dem Frühjahr 1991 werde zwischen Belgien, der Bundesrepublik, Frankreich und Großbritannien über ein Aktionsprogramm gesprochen: „Dieser gemeinsame Vorschlag ist am 28. April 1992 in London finalisiert worden. Nach Mitteilung der französischen Delegation wird damit das französische Aktionsprogramm, das ohnehin mit dem gemeinsamen Vorschlag weitgehend übereinstimmt, abgedeckt. Die Sherpas haben am 2. Mai 1992 eine Arbeitsgruppe eingerichtet, die bis zur nächsten Sitzung der Sherpas am 22. Mai 1992 Vorschläge für ein Aktionsprogramm erarbeiten soll. Der gemeinsame Vorschlag von F, D, GB und B wurde als Grundlagenpapier in diese Arbeitsgruppe eingebracht.“ Vgl. B 72, ZA-Bd. 164307. 19 Ignaz Kiechle und Louis Mermaz. 20 Zur Reform der GAP vgl. Dok. 135, Anm. 5. 21 Zur Kurilenfrage vgl. Dok. 13, Anm. 43. 22 Kiichi Miyazawa. 23 Wirtschaftsgipfel München. 24 VLR I Wagner notierte am 1. Juni 1992, in der Sitzung der Politischen Direktoren der G 7-Staaten am 21./22. Mai 1992 in Sellin/Rügen sei Einvernehmen über einen Text für die Politische Erklärung bezüglich der japanisch-russischen Territorialfrage erzielt worden: „Er wurde auf Wunsch von Frankreich geklammert, das zwar dem Text inhaltlich zustimmte, jedoch an grundsätzliche französische Bedenken

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Verbindung zwischen der Berücksichtigung japanischer Anliegen und ihrem Beitrag zu den vorgesehenen Unterstützungsprogrammen für die GUS-Staaten herstellen. Europadirektor Blot erinnerte in diesem Zusammenhang an den japanischen Wunsch, assoziiertes KSZE­Mitglied zu werden. AM Dumas schlug mit Zustimmung des BM vor, über diese Frage erst nachzudenken, sobald ein entsprechender japanischer Antrag vorliege. 30 Jahre Élysée-Vertrag26 BM schlug Einrichtung einer gemeinsamen Arbeitsgruppe von AA und Quai zur Vorbereitung des Jubiläums vor. AM Dumas stimmte diesem Vorschlag zu und regte an, diesen Anlass durch entsprechende Verschiebung des deutschen Herbstgipfels 1992 auf 22. Januar 1993 in Deutschland, eventuell sogar in Berlin, zu würdigen.27 Eurokorps Beide AM diskutierten den Entwurf der Presseerklärung des Sicherheits- und Verteidigungsrats (endgültige Fassung siehe Anlage28). Jugoslawien BM wies darauf hin, dass mit den Flüchtlingsströmen eine neue Problematik für Deutschland entstanden sei. Die innenpolitische Situation in Deutschland würde schwieriger. Bei der Diskussion über die Ausländer- und Asylproblematik könnten diese Flüchtlinge das Fass zum Überlaufen bringen. Eine deutsch-französische Verständigung sei die Voraussetzung für den Konsens in der EG und für die internationale Geschlossenheit. Zum Doppelansatz – Befriedung vor Ort durch VN-Truppen und politische Gesamtlösung im Rahmen der EG­Jugoslawien-Konferenz – gebe es keine Alternative. Die deutschen Innenminister hätten sich soeben darauf verständigt, die Visapflicht für Bosnier nicht aufzuheben, jedoch die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis für bestimmte Gruppen (familiäre Bande in Deutschland, Verwundete). Schwerpunkt humanitärer Maßnahmen solle Hilfe vor Ort sein. Auch AM Dumas unterstrich die Dimension des Flüchtlingsproblems, mit 1,3 Mio. Menschen die größte Migration der Nachkriegsgeschichte. Er habe sich darüber auch mit dem österreichischen AM Mock unterhalten. Frankreich werde sich an der Flüchtlingshilfe beteiligen. Er habe Lord Carrington gebeten, die Arbeit der EG-Jugoslawien-Konferenz zu beschleunigen, um einer Aufteilung Bosnien-Herzegowinas zuvorzukommen. Schon jetzt entstehe eine kroatische und eine serbische Republik in Bosnien-Herzegowina. Er glaube zwar, dass Europa diese Prüfungen nicht erspart werden können. Man müsse jedoch den Prozess beschleunigen. BM wies abschließend auf die allgemeine Problematik von Vielvölkerstaaten in Osteuropa nach Entlassung aus dem „Eisschrank des Kommunismus“ hin (siehe BT-Rede des BM vom Vortage). Fortsetzung Fußnote von Seite 579 gegen ein Handeln der G 7 als politisches Gremium erinnerte. Entscheidung müsse daher in Paris auf hoher Ebene getroffen werden.“ Vgl. B 32, ZA-Bd. 179576. 25 Heinrich-Dietrich Dieckmann. 26 Für den deutsch-französischen Vertrag vom 22. Januar 1963 vgl. BGBl. 1963, II, S. 706–710. Vgl. auch AAPD 1963, I, Dok. 44. 27 Die deutsch-französischen Konsultationen fanden am 3./4. Dezember 1992 statt. Vgl. Dok. 399 und Dok. 401. 28 Dem Vorgang nicht beigefügt. Für den Entwurf vom 21. Mai 1992 für eine Presseerklärung vgl. B 14, ZA-Bd. 161202.

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Europa-Fragen Im Kreise der Außenminister berichteten Frau StM Seiler-Albring und Frau Guigou eingangs über die von ihnen im bilateralen Gespräch erörterten Europa-Fragen (vgl. dazu gesonderten Vermerk von Ref. 41629). Weitgehende Übereinstimmung bestehe zur EGErweiterung und zum Delors-Paket II30. Unterschiedliche Auffassungen gäbe es zur künftigen EG­Bananenregelung31 sowie zur Erhöhung der Anzahl der deutschen EP-Abgeordneten und zur französischen Idee, dass zum abschließenden Mittagessen beim ER Lissabon32 die Assoziierungspartner der EG eingeladen werden sollten. Zum letzten Thema machte Frau StM Seiler-Albring in ihrem Bericht unsere Zurückhaltung deutlich und wies darauf hin, dass nach F­Auffassung weder die baltischen Staaten noch ehemalige JUG-Republiken wie z. B. Slowenien und Kroatien noch GUS-Staaten eingeladen werden sollten, wohl aber unter den Assoziierungspartnern auch die Türkei, Zypern und Malta. Die letzten beiden Themen seien von den Außenministern bzw. letztlich von Präsident Mitterrand und BK Kohl zu behandeln. ER Lissabon/Mittagessen am zweiten Tage AM Dumas bemerkte zur Erläuterung der französischen Idee: Die Arbeiten des Europäischen Rats gingen jeweils am Vormittag des zweiten Tages zu Ende, sodass die Präsidentschaft mittags etwas in Verlegenheit („gêné“) sei. Deshalb habe F der P­Präsidentschaft vorgeschlagen, sie solle die durch Assoziierungsabkommen mit der EG verbundenen Partnerländer zu einem informellen Gespräch beim Mittagessen einladen. Diese Idee habe der deutschen Seite gefallen. BM bemerkte dann, dass AM Dumas diese Idee – wie er sich erinnere – im Gespräch am Montagabend in Paris33 kurz angesprochen habe. Wie er höre, sei hierzu ein Schreiben von AM Dumas unterwegs. Dies wolle er zunächst abwarten. Erhöhung der Anzahl der deutschen EP-Abgeordneten34 Frau Guigou hielt die gleiche Anzahl vor 18 zusätzlichen EP-Abgeordneten für die großen vier Mitgliedstaaten Deutschland, Frankreich, Großbritannien und Italien für geboten, wie dies auch von Präsident Mitterrand gegenüber BK Kohl in Maastricht zum Ausdruck gekommen sei. Damit würde das EP 603 Abgeordnete zählen, also immer noch weniger als das britische Unterhaus mit 650 Abgeordneten. Nach 1996 könne diese Frage erneut geprüft werden. Frau StM Seiler-Albring betonte demgegenüber nachdrücklich die deutsche Auffassung, dass in D die Relation Abgeordnete – Wähler angesichts des Zuwachses von 16 Mio. Bürgern durch die deutsche Vereinigung nicht mehr stimme. Diesem Prinzip werde durch 18 zusätzliche deutsche EP-Abgeordnete angemessen entsprochen. Auch der jüngste Beschluss des Institutionellen Ausschusses des EP (18 zusätzliche Abg. für D, je sechs für F, 29 Für den Vermerk des VLR I Schürmann vom 25. Mai 1992 vgl. B 210, ZA-Bd. 162253. 30 Zum „Delors-Paket II“ vgl. Dok. 102, Anm. 13. 31 Zur EG-Bananenmarktregelung vgl. Dok. 102, Anm. 8 und 9. 32 Zur Tagung des Europäischen Rats am 26./27. Juni 1992 vgl. Dok. 201. 33 BM Kinkel absolvierte am 18. Mai 1992 seinen Antrittsbesuch in Frankreich. Im Gespräch mit dem französischen AM Dumas wurden die Ratifizierung des Vertragswerks von Maastricht, das Eurokorps, die Beziehungen zwischen KSZE und NATO, das geplante Wissenschaftszentrum in Moskau bzw. Kiew und die Teilnahme der Visegrád-Staaten an der Tagung des Europäischen Rats am 26./27. Juni 1992 in Lissabon erörtert. Vgl. den Gesprächsvermerk; B 1, ZA-Bd. 178945. 34 Zur Frage der Erhöhung der Zahl der Mitglieder des Europäischen Parlaments vgl. Dok. 78, Anm. 10.

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GB, I) verbessere die Relation. Dagegen würde eine gleiche Zahl von 18 zusätzlichen EPAbg. für alle vier großen MS diesem Prinzip nicht angemessen entsprechen. Frau Guigou bemerkte dazu, dass der Beschluss des Institutionellen Ausschusses des EP sich von der F-Haltung unterscheide. Diese Frage sei von Präsident Mitterrand und BK Kohl zu behandeln. BM betonte, dass es politische Vorgaben im Bundestag gebe. Für die Ratifizierung des Vertrages über die Europäische Union im Bundestag und die Europa-Akzeptanz in der deutschen Öffentlichkeit spiele die Erhöhung der Anzahl der deutschen EP-Abgeordneten eine große Rolle. AM Dumas räumte ein, dass dies ein heikles Problem für D sei. Er habe viel mit H.-D. Genscher darüber gesprochen. (BM: Das hat er mir gesagt.) Delors-Paket II BM unterstrich die große politische Bedeutung des Delors-Pakets II. Deshalb sei es wichtig, dass dieser Komplex vorrangig Sache der Außenminister bleiben und dem Allgemeinen Rat weiterhin die maßgebliche Rolle zukommen müsse. AM Dumas erklärte sich mit dieser Position voll einverstanden. B 1, ZA-Bd. 178945

143 Vorlage des Vortragenden Legationsrats I. Klasse Libal für Bundesminister Kinkel 215-320.10 JUG

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Über Dg 21, D 21, Herrn Staatssekretär2 Herrn Bundesminister3 Betr.:

Krise in Jugoslawien; hier: Bewertung der jüngsten Entwicklungen

Zweck der Vorlage: Zur Unterrichtung I. Die größten Gefahren gehen gegenwärtig von der Möglichkeit eines Scheiterns der VNFriedensoperation in Kroatien aus, das aller Voraussicht nach zum Wiederaufflammen der Kämpfe zwischen Serbien und Kroatien führen würde. 1) Der erste potenzielle Sprengstoff für die VN­Friedensoperation liegt in der sogen. „pink zone“, d. h. in der Kampfzone, die nicht zu den VN-Schutzgebieten gehört. Nach dem 1 Hat MDg von Studnitz, auch in Vertretung des MD Chrobog, am 22. Mai 1992 vorgelegen. 2 Hat StS Kastrup am 22. Mai 1992 vorgelegen. 3 Hat BM Kinkel am 24. Mai 1992 vorgelegen, der handschriftlich vermerkte: „Ich bitte um eine Karte, in der die Lage (derzeit), Probleme eingezeichnet wird.“ Hat OAR Rehlen am 25. Mai 1992 vorgelegen, der den Rücklauf an Referat 215 verfügte. Dazu vermerkte er handschriftlich: „S[iehe] Verfügung BM.“

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Vance-Plan4 müssen alle regulären und irregulären Formationen der Serben auch aus diesem Gebiet abziehen. Die Nichtzugehörigkeit zu den VN-Schutzgebieten (sogen. „UNPAs“) impliziert, dass dann die kroatische Hoheitsgewalt wiederhergestellt wird. Dies ist auch insofern logisch, als die „pink zone“ nicht zu den serbischen Siedlungsgebieten mit künftigem Autonomie-Sonderstatut zählt, weil die Serben dort in der Minderheit waren. Die serbische Seite weigert sich nunmehr, den Vance-Plan voll einzuhalten, und versucht, durch Umwandlung der JVA in serbische Territorialverteidigung ihre militärische Präsenz dort aufrechtzuerhalten. Sie fordert eine Ausweitung des UNPA-Regimes auf diese Zone, was für die Kroaten inakzeptabel ist, weil es die Beibehaltung der (meist gewaltsam geschaffenen) serbischen Zivilverwaltung implizieren würde. Wenn die serbische Seite sich dort nicht an einmal gegebene Zusagen hält und auch ein entsprechender Druck der Staatengemeinschaft wirkungslos bleibt, wird die kroatische Seite das Recht beanspruchen, ihre Hoheitsgewalt in der „pink zone“ mit Gewalt wiederherzustellen. Allerdings müsste Kroatien zu diesem Zweck den Waffenstillstand brechen, der wiederum eines der zentralen Elemente der gesamten VN-Friedensoperation ist. Die serbische Seite könnte auf eine Aufkündigung des Waffenstillstandes in der „pink zone“ durch Kroatien mit einem Rückzug aus ihren Verpflichtungen in den „UNPAs“ antworten. Das wäre das Ende der VN-Operation. Ein denkbarer Ausweg wäre die Entsendung von EG- und VN-Beobachtern in größerer Zahl in die „pink zone“, um das Verhalten der zurückkehrenden kroatischen Verwaltung gegenüber der serbischen Minderheit zu kontrollieren. Hierzu könnte die kroatische Seite vielleicht bereit sein. 2) In den UNPAs selbst sieht die Lage nicht viel erfreulicher aus. Auch hier scheint die serbische Seite zu versuchen, bisherige JVA-Einheiten als Territorialverteidigung zu verkleiden und unter Waffen zu lassen. Beschießungen und Vertreibungen werden fortgesetzt. Es besteht Anlass zu Zweifel an dem Willen und der Fähigkeit der VN-Truppen, ihre Autorität energisch durchzusetzen. Sollte es UNPROFOR nicht gelingen, dem Treiben der serbischen Freischärler ein Ende zu setzen und die Schlüsselbestimmungen des Vance-Planes im Hinblick auf die Zivilverwaltung (Polizeikräfte gemäß ethnischer Verteilung vor dem Krieg) und die Rückkehr der Flüchtlinge durchzusetzen, wird die VN-Operation jeden Sinn für die kroatische Seite verlieren. Sie würde versucht sein, auch hier eine gewaltsame Rückeroberung zu wagen. In der Frage der VN-Operation steht auch unsere eigene Glaubwürdigkeit auf dem Spiel. Wir haben zu Beginn des Jahres die Führung in Zagreb energisch zur uneingeschränkten Annahme des Vance-Planes angehalten5, auch mit der Begründung, dass die konsequente Verwirklichung dieses Planes letztlich der kroatischen Seite zugutekommen würde. Das mindeste, was wir tun müssen, ist also, auf strikte Durchführung sämtlicher Bestimmungen dieses Planes zu drängen. Falls die VN sich dazu nicht in der Lage zeigen, müssen die Verantwortlichen für den Bruch der Vereinbarungen klar benannt und entsprechende Zwangsmaßnahmen  zumindest politischer und wirtschaftlicher Natur  von den VN selbst gegen Serbien angeordnet werden. 4 Zum Plan des Sonderbeauftragten des VN-GS für Jugoslawien, Vance, vgl. Dok. 2, Anm. 6. 5 Vgl. das Schreiben des BM Genscher vom 4. Februar 1992 an den kroatischen Präsidenten Tudjman; Dok. 36, Anm. 5.

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II. Als Haupttendenz der gegenwärtigen Entwicklung in Bosnien-Herzegowina schält sich eine entscheidende Schwächung der Stellung der Moslems heraus. Dies ist der bittere Preis für den Versuch dieser Nation, einer bewaffneten Konfrontation möglichst lange aus dem Weg zu gehen. Die Kroaten sind das militärische Rückgrat des Widerstandes gegen die Serben, und dies wirkt sich auch politisch aus. Die kroatische Politik (im weitesten Sinne als Politik von Kroaten sowohl in Kroatien als auch in Bosnien-Herzegowina) ist nicht eindeutig. Offenkundig besteht eine starke Neigung, die Republik faktisch zwischen Serben und Kroaten über die Köpfe der Moslems hinweg aufzuteilen (Gespräch in Graz6). Daneben besteht die Tendenz, sei es in Ergänzung, sei es als Alternative zur Teilungspolitik, eine Konföderation zwischen einem (verkleinerten?) kroatisch-moslemischen BosnienHerzegowina und der Republik Kroatien zu schaffen. Dies würde Bosnien-Herzegowina praktisch zu einem Protektorat Kroatiens machen. Offensichtlich lässt die Situation der Moslems ihrer Führung keine andere Wahl, als sich auf derartige Konzeptionen einzulassen (Gespräch in Split7), um der Gefahr der Aufteilung zu entgehen und den Moslems die militärische Unterstützung der kroatischen Verbände zu sichern. Zugleich bedeuten diese Entwicklungen einen schweren, vielleicht tödlichen Schlag für alle Versuche, nicht zuletzt im Rahmen der EG-Verhandlungen über Bosnien-Herzegowina8, die Integrität dieses Staates zu bewahren. Die serbische Seite muss sich durch die Konföderationspläne in ihren Befürchtungen hinsichtlich einer dauernden Majorisierung durch die anderen beiden Nationen bestätigt fühlen und wird daraus im Nachhinein eine Rechtfertigung für ihre Gewaltpolitik ableiten. Schon jetzt beansprucht sie das entsprechende Recht für die „Serbische Republik Bosnien“ auf Konföderation mit der „Bundesrepublik Jugoslawien“. Das international weitverbreitete latente Misstrauen in die Aufrichtigkeit der kroatischen Politik gegenüber Bosnien-Herzegowina erhält weitere Nahrung. Wir sollten unter diesen Umständen an der mit der Anerkennung von Bosnien-Herzegowina als unabhängigen Staat9 verknüpften Linie festhalten: keine faktische Zerschlagung dieses Staates unter Inkaufnahme gewaltsamer Bevölkerungsverschiebungen, keine ein6 VLR Wrede legte am 14. Mai 1992 dar: „Die mit einer Vereinbarung […] am 6. Mai 1992 in Graz abgeschlossenen Geheimgespräche zwischen den Führern der serbischen und kroatischen Volksgruppe in Bosnien-Herzegowina, Karadžić und Boban (enger Vertrauter Tudjmans), sollen allein dem Zweck gedient haben, die künftigen konstituierenden Einheiten der Serben bzw. der Kroaten voreinander abzugrenzen.“ Vgl. B 42, ZA-Bd. 183108. Für die Absprache vgl. das Fernschreiben Nr. 1047 aus Lissabon (Coreu) vom 22. Mai 1992; B 42, ZABd. 183640. 7 Botschafter Weisel, Zagreb, berichtete am 19. Mai 1992 über ein Gespräch mit dem kroatischen Präsidenten Tudjman am selben Tag. Dieser habe ihm bestätigt, „dass vorgestern in Split ein Gespräch geführt worden sei, an dem auf kroatischer Seite Brkić als Vertreter der HDZ in Bosnien und Boras als kroatisches Präsidiumsmitglied und HDZ-Mann in Bosnien sowie auf moslemischer Seite Šabić und Tanković – beide Moslems und SDA-Mitglieder aus Kroatien – sowie Alibegović als SDA-Mitglied aus Bosnien teilgenommen hätten. Dabei hätten in der Tat beide Seiten übereingestimmt, dass eine Konföderation zwischen B+H und Kroatien sowohl für die moslemische als auch für die kroatische Volksgruppe in B+H akzeptabel sei.“ Vgl. DB Nr. 331; B 28, ZA-Bd. 158643. 8 Zu den Gesprächen der verschiedenen Volksgruppen von Bosnien-Herzegowina vgl. Dok. 125, Anm. 31. 9 Die Anerkennung Bosnien-Herzegowinas durch die EG-Mitgliedstaaten erfolgte am 6. April 1992.

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22. Mai 1992: Sitzung des Deutsch-Französischen Rats

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seitigen Maßnahmen zulasten einer der drei konstituierenden Nationen, soweit sie nicht unbedingt zur Abwehr der serbischen Eroberungspolitik notwendig sind. Zum gegenwärtigen Stand der VN-Friedensmission folgt gesonderte Vorlage von Ref. 230.10 Ref. 230 hat mitgezeichnet. M. Libal B 42, ZA-Bd. 175641

144 Sitzung des Deutsch-Französischen Rats für Verteidigung und Sicherheit in La Rochelle 201-360.92 FRA VS-NfD

22. Mai 19921

Sitzung2 des deutsch-französischen Verteidigungs- und Sicherheitsrats am 22.5.1992 in La Rochelle 1) Präsident Mitterrand eröffnet die Sitzung und begrüßt Bundesaußenminister Kinkel und Bundesverteidigungsminister Rühe, die zum ersten Mal an der Sitzung des Verteidigungsund Sicherheitsrats teilnehmen. 2) Admiral Lanxade trägt kurz den Inhalt des vom Ratskomitee gebilligten Ausschussberichts3 vor. General Naumann stimmt zu. Der Rat billigt den Bericht ohne weitere Aussprache. 10 VLR I Schmidt legte BM Kinkel am 22. Mai 1992 die Probleme der UNPROFOR und der Umsetzung des Vance-Plans dar, insbesondere in der Frage der Schutzzonen (UNPAs) Ostslawonien, Westslawonien und Krajina: „Die fortgesetzten Vertreibungen, die sich abzeichnenden Schwierigkeiten bei der Flüchtlingsrückführung und der Demobilisierung sowie die Auseinandersetzung um die pink zones belasten die Durchführung des Vance-Planes, stellen ihn aber bisher nicht grundsätzlich infrage.“ Schmidt wies darauf hin, dass die Stationierung von UNPROFOR ein Ausgreifen der bewaffneten Auseinandersetzungen auf Bosnien-Herzegowina nicht habe verhindern können. VN-GS Boutros-Ghali habe nach einer Erkundungsmission von VN-UGS Goulding dem VN-Sicherheitsrat am 12. Mai 1992 einen Bericht vorgelegt, „der die Aussichten einer VN-Friedensmission in B+H mit großer Skepsis beurteilt“. Dennoch habe der VN-Sicherheitsrat Boutros-Ghali am 15. Mai 1992 mit Resolution Nr. 752 aufgefordert, die Möglichkeit des Einsatzes von VN-Friedenstruppen weiter zu prüfen. Schmidt führte aus: „Die Erfüllung der beiden klassischen Voraussetzungen für eine VN-Friedensmission – ein allseitig respektierter Waffenstillstand und die Zustimmung aller Konfliktparteien – ist in B+H augenblicklich nicht zu erwarten.“ Zwar seien verschiedene Szenarien für den Einsatz von VN-Friedenstruppen denkbar: „Generell muss aber gesagt werden, dass ein Einsatz von VN-Truppen eine politische Lösung nicht ersetzen kann. Der Schlüssel zur Lösung der Krise liegt in Belgrad.“ Vgl. B 30, ZA-Bd. 158147. 1 Der Gesprächsvermerk wurde von MDg Hofstetter am 25. Mai 1992 gefertigt und am 26. Mai 1992 an VLR I Bertram „z[ur] g[efälligen] K[enntnisnahme]“ geleitet. Hat Bertram am 28. Mai 1992 vorgelegen. 2 Korrigiert aus: „Sitz“. 3 Für den „Bericht des deutschen und des französischen Verteidigungsministers über die Aufstellung des Europäischen Korps“ vom 22. Mai 1992 vgl. B 14, ZA-Bd. 161202.

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3) Zum Thema Eurokorps führt Präsident Mitterrand aus, dass es sich unter europäischen Gesichtspunkten um ein wichtiges Ereignis handele. Verteidigungsminister Joxe ergänzt, dass die Idee erst vor wenigen Monaten lanciert worden sei und sich bereits jetzt im Stadium der Realisierung befinde. Belgien habe bereits entschieden, sich an dem Korps zu beteiligen. Der Bundeskanzler führt aus, dass das Eurokorps dem Geist von Maastricht4 entspreche. Das Korps werde der Stärkung der Nordatlantischen Allianz dienen. Wichtig sei es, die Partner genau zu informieren, da Missverständnisse aufgetreten seien. Diesem Zweck diene auch die Presseerklärung.5 Die Beteiligung europäischer Partner sei wichtig. Es sei zu begrüßen, dass Belgien bereits eine Entscheidung getroffen habe. Seinem Eindruck nach werde Spanien folgen und vielleicht auch Italien. Zu den amerikanischen Reaktionen wolle er darauf hinweisen, dass wir das täten, was die USA immer gewollt hätten: Stärkung des europäischen Beitrags. Wir sollten jede Gelegenheit nutzen, um mit den Amerikanern darüber zu sprechen. Das Eurokorps sei eine gute Sache. Die Europäische Union dürfe sich nicht nur auf die Wirtschafts- und Währungsunion beschränken. Präsident Mitterrand stimmte zu, die Vereinigten Staaten seien immer daran interessiert gewesen, dass die Europäer sich stärker engagierten. Er glaube, dass Präsident Bush Verständnis habe und die Missverständnisse sich beseitigen ließen. Verteidigungsminister Rühe: Die entstandene internationale Diskussion zeige, welche Bedeutung dem Thema zukomme. Es sei wichtig, dass klargemacht werde, dass bestehende Verpflichtungen nicht berührt würden. Präsident Mitterrand: Er habe keine Bedenken, wenn dieser Satz der Presseerklärung auch in dem Bericht der Verteidigungsminister aufgenommen werde. 4)6 AM Dumas gibt zum Thema „Europäische Sicherheitsarchitektur“ einen Überblick über die Diskussion des Ratskomitees. Darin hebt er die erfolgreiche deutsche WEU-Präsidentschaft7 hervor, während der gute Arbeit geleistet worden sei. Zum Verhältnis NATO – KSZE führte er aus, dass die Beratungen in Brüssel noch nicht zu Ende seien. Beim KSZEGipfeltreffen in Helsinki8 stünden wichtige Entscheidungen über die KSZE-Strukturen an. BM Kinkel stimmte den Ausführungen von AM Dumas im Hinblick auf das KSZEAbkommen zu und dankt für die freundliche Aufnahme. Präsident Mitterrand weist abschließend auf die große Bedeutung des GUS-Treffens in Taschkent für KSE-Vertrag9 hin. Er nimmt zum Schluss Bezug auf die KSZE-Vorschläge eines europäischen Schiedsgerichtshofs10 und eines Verhaltenskodex11 mit der Perspektive 4 Zum Vertragswerk von Maastricht vgl. Dok. 3, Anm. 8. 5 Für die Presseerklärung vom 22. Mai 1992 zum Eurokorps vgl. LA POLITIQUE ÉTRANGÈRE 1992 (Mai/ Juni), S. 75. Für den deutschen Wortlaut vgl. EUROPA-ARCHIV 1992, D 454 f. 6 Korrigiert aus: „3)“. 7 Die Bundesrepublik hatte vom 1. Juli 1991 bis 30. Juni 1992 die WEU-Präsidentschaft inne. Vgl. AAPD 1991, I, Dok. 178. 8 Zur KSZE-Gipfelkonferenz am 9./10. Juli 1992 vgl. Dok. 226. 9 Zur Gipfelkonferenz der GUS-Mitgliedstaaten am 15. Mai 1992 und der Einigung auf die Aufteilung der Rechte und Pflichten der ehemaligen UdSSR aus dem KSE-Vertrag vgl. Dok. 141. 10 Zur deutsch-französischen Initiative für eine Gesamteuropäische Schiedsinstanz vgl. Dok. 105, Anm. 27. 11 Zum Vorschlag für einen KSZE-Verhaltenskodex vgl. Dok. 142, Anm. 9.

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eines Sicherheitsvertrags. Beides seien sehr wichtige Vorschläge. Die beiderseitigen Delegationen in Helsinki sollten eng zusammenarbeiten. Bundeskanzler Kohl stimmt dem zu. Abschließend begrüßt Präsident Mitterrand Generalmajor Wiesmann als neuen Ratssekretär des deutsch-französischen Sicherheitsrats. B 14, ZA-Bd. 161202

145 Vorlage des Ministerialdirektors Elbe für Bundesminister Kinkel 22. Mai 19921 Über Herrn Staatssekretär2 Herrn Bundesminister3 Betr.:

Die Dritte Welt nach drei Entwicklungsdekaden; Perspektiven für unsere Süd-Politik

Zweck der Vorlage: Zur Unterrichtung Der Begriff „Dritte Welt“, der mehr als drei Jahrzehnte lang Verständnis und Selbstverständnis der „unterentwickelten Länder des Südens“ prägte und über 130 Länder in einer Staatengruppe zusammenfasste, die den westlichen Industrieländern und dem Ostblock gegenüberstand, ist als politisches Konzept überholt. Zu Beginn der vierten Entwicklungsdekade der 90er Jahre stellt sich die weltpolitische Lage der Entwicklungsländer im Ergebnis zweier tiefgreifender Veränderungen gewandelt dar – durch zunehmende Differenzierung innerhalb der „Dritten Welt“ und – durch das Ende der Ost-West-Bipolarität (es gibt keine „Zweite Welt“ mehr). 1) Die Umstrukturierungen der Weltwirtschaft seit der Ölkrise der 70er Jahre (Bedeutungs­ und Preisverfall von Rohstoffen durch Anpassungsprozesse in den IL, Verschlechterung der Terms of Trade für EL, Wandel vom Industrie- zum Informationszeitalter) haben einen beschleunigten wirtschaftlichen Differenzierungsprozess innerhalb der Dritten Welt in Gang gesetzt und für den größten Teil der EL die Kluft zu den IL vertieft. Diese Entwicklung wurde durch unterschiedliche Anpassungsfähigkeit der EL an die veränderten Weltmarktbedingungen gesteuert und steht in Kontrast zu gegengerichteten Tendenzen weltweiter ideologischer Annäherung und Vereinheitlichung zum „globalen Dorf“ des Informationszeitalters. 1 Die Vorlage wurde von VLRin Dunkl konzipiert. 2 Hat StS Kastrup am 22. Mai 1992 vorgelegen. 3 Hat BM Kinkel am 25. Mai 1992 vorgelegen, der handschriftlich vermerkte: „Interessant! Erb[itte] Bespr[echung].“ Hat VLR Gerdts am 28. Mai 1992 vorgelegen, der zum Wunsch Kinkels nach Besprechung handschriftlich vermerkte: „Erl[edigt]“. Hat StS Kastrup am 1. Juni 1992 erneut vorgelegen.

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In den 80er Jahren haben sich deutliche Unterschiede und ein Wohlstandsgefälle zwischen den Großregionen der Dritten Welt und zum Teil auch innerhalb der Regionen herausgebildet. Die Schere reicht von den absolut armen Ländern (über 40 LLDCs) bis zu den Neuen Industrieländern Ost-/Südostasiens, die den Anschluss an OECD-Niveau bereits gefunden haben. Die Auseinanderentwicklung der EL vollzieht sich weitgehend im Rahmen der geographisch-kulturellen Großregionen Lateinamerika, Schwarzafrika, arabischer Raum, Südasien und Ost-/Südostasien mit Sonderstellung der beiden asiatischen Riesen China und Indien. Gleichzeitig erfolgt eine zunehmende Distanzierung der aufstrebenden Schwellenländer vor allem Südostasiens und Lateinamerikas von der weiter verarmenden „Vierten Welt“ der übrigen EL. Für die Herausbildung künftiger Weltstrukturen ist vor allem das dynamische Potenzial der einzelnen Entwicklungsregionen von Bedeutung. Während in Ost-/Südostasien nach den NICs4 (Hongkong, Singapur, Taiwan und Südkorea) immer neue Wirtschaftstiger zum Sprung nach vorn ansetzen und ASEAN sich zu einer führenden Wachstumsregion entwickelt, waren die 80er Jahre für die Entwicklung der übrigen Regionen der Dritten Welt eine „verlorene Dekade“, die – in unterschiedlichem Ausmaß – Stagnation und Rückschritt brachte. Diese Regionen haben an Entwicklungsdynamik verloren, der Abstand in Wirtschaftskraft, Produktivität und Lebensstandard zu den IL hat sich weiter vertieft: – stagnierendes bis sinkendes Pro-Kopf-Einkommen, – abnehmende Wachstumsraten (BIP, BSP), – sinkender Anteil an der Weltproduktion bei steigendem Anteil an der Weltbevölkerung, – sinkender Anteil am Welthandel, – stagnierende bis sinkende Investitionsraten, – abnehmende Wettbewerbsfähigkeit bei sinkender Produktivität, wachsendem technologischem Abstand zu den IL und abnehmenden Standortvorteilen (Rohstoffe, billige Arbeit) beim Übergang ins Informationszeitalter, – negativer Netto-Kapitaltransfer bei weiterwachsender Verschuldung, – teilweise (Schwarzafrika, arabischer Raum) rückläufige Nahrungsmittelproduktion pro Kopf, – teilweise (Schwarzafrika, Lateinamerika) sogar Anzeichen für Rückschritte in der menschlichen Entwicklung (Kindersterblichkeit, Analphabetismus). Die Unfähigkeit der meisten Entwicklungsländer – Ausnahme Ost-/Südostasien –, auf die veränderten externen Wirtschaftsbedingungen angemessen, flexibel und dynamisch zu reagieren, beruht auf unterschiedlich stark, aber durchwegs ausgeprägten internen Strukturproblemen, die bis zur Ölkrise durch günstige Weltmarktlage und danach noch für mehrere Jahre durch starke Kapitalzuflüsse (Kredite) verdeckt worden waren (Verteilungsungleichheiten, mangelnde demokratische Partizipation, „duale Wirtschaften“; geringe Produktivität, geringe Diversifizierung, investitionsfeindliche Rahmenbedingungen; mangelnde Ausbildung, Braindrain und mangelnde Innovationsfähigkeit; Protektionismus, Ineffizienz staatlicher Überregulierung, Kapitalflucht, Korruption und „bad governance“; innere Konflikte und starkes Bevölkerungswachstum). Für die 90er Jahre prognostiziert die Weltbank im Gefolge von wirtschaftlichen Reformanstrengungen in vielen Ländern insgesamt etwas günstigere wirtschaftliche Zukunfts4 Newly Industrialized Countries.

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aussichten für die Entwicklungsländer (durchschnittliche jährliche Wachstumsrate von 4,9 % gegenüber 3,2 % in den 80er Jahren). Im Vergleich der Entwicklungsregionen steht Ost-/Südostasien (ganz abgesehen von den NICs, die sich bereits den IL zugesellt haben) hinsichtlich Entwicklungsstand und -dynamik mit weitem Abstand an der Spitze und ist führende Wachstumsregion der Welt. Es hat als einzige Entwicklungsregion in den 80er Jahren in den meisten Ländern keinen Einbruch erlitten, sondern ein Wirtschaftswunder erlebt. China konnte deutliche Wachstumsschübe verzeichnen und verfügt über ein riesiges Entwicklungspotenzial, das jedoch durch wieder steigendes Bevölkerungswachstum und zunehmende Umweltprobleme behindert wird. Lateinamerika, das von einem bis in die 70er Jahre vergleichsweise hohen Entwicklungsniveau zehrt, ist durch die massive Wirtschafts- und Verschuldungskrise im Gefolge der Ölkrise und verfehlter Wirtschaftspolitik relativ verarmt und weist besonders krasse Verteilungsungleichheiten auf. Der deutliche Trend zur (Re-) Demokratisierung in fast allen Ländern der Region bleibt durch politische Instabilität und weitverbreitete (vor allem Drogen-) Kriminalität bedroht. Lateinamerika verfügt jedoch, namentlich in den großen Schwellenländern, über ein beträchtliches Wirtschaftspotenzial, das bei konsequenter Fortsetzung von Strukturreformen eine Dynamisierung und Stabilisierung verspricht. Mexiko und Argentinien haben mit Strukturanpassungsmaßnahmen erste Erfolge erzielt. Südasien, insbesondere Indien, besitzt ein enormes dynamisches Potenzial an vor allem menschlichen Ressourcen. Es konnte dieses aber durch Übervölkerung und behindernde Wirtschaftsstrukturen nicht zur Entfaltung bringen und hat mit hoher Massenarmut zu kämpfen. Bei rückläufigen Bevölkerungszuwachsraten und realistischen Reformansätzen bestehen jedoch positive Entwicklungsaussichten, wenn es gelingt, der Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen rechtzeitig Einhalt zu gebieten. Der arabische Raum hat zwar durch den Ölboom einen deutlichen Entwicklungsschub erfahren (auch in Nicht-Ölstaaten durch Hilfe reicher Ölländer), der sich aber nicht in nachhaltiger struktureller Entwindung niederschlug. Die wirtschaftliche Dynamik Südostasiens fehlt. Konflikte, Kriege und islamisch-fundamentalistische Strömungen hemmen die Entwicklung. Der Verfall der Ölpreise führte zu Stagnation und Rückschritt. Die jüngsten Prognosen der Weltbank sehen jedoch für die 90er Jahre wieder günstigere Entwicklungschancen für die Region. Schwarzafrika ist das weitgehend absolut verarmte „Schlusslicht“ der Entwicklungsregionen, in dem sich die Mehrzahl der ärmsten EL (LDCs) konzentriert. Es steckt in einer tiefgreifenden dauerhaften Strukturkrise, aus der es sich aus eigener Kraft und auf absehbare Zeit nicht wird befreien können. Als Region mit der größten Bevölkerungsdynamik (Zuwachsrate 3,2 %) hat es zugleich die geringste wirtschaftliche Dynamik. Es droht sich völlig von der Weltwirtschaft abzukoppeln und sich zu einem wirtschaftlichen und politischen Dauerkrisenherd zu entwickeln. Angesichts der Differenziertheit der Dritten Welt verlieren Durchschnittswerte zur wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung „der“ EL zunehmend an Aussagekraft. Globalaussagen über die Dritte Welt sind keine brauchbare Basis mehr für politische Entscheidungen. An ihre Stelle muss eine differenzierte Betrachtung und Wahrnehmung der Entwicklungsregionen treten, die auf spezifische Probleme und Chancen eingeht. 2) Mit dem Ende des Ost-West-Konflikts verlieren die EL ihren politischen Hebel als „Dritter zwischen zwei sich Streitenden“. Für die Mehrzahl der EL birgt dies in einer zunehmend 589

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von wirtschaftlichen Macht- und Einflussfaktoren bestimmten Welt die Gefahr der Marginalisierung, und es bedeutet eine mögliche Verschärfung des Nord-Süd-Gegensatzes als neue Hauptkonfliktlinie. Gleichzeitig bieten sich den EL aber  neben dem Ende von Stellvertreterkriegen  auch neue Möglichkeiten größerer eigenständiger Bewegungsfreiheit, allerdings unter der Voraussetzung wirtschaftlichen Erfolgs (Bsp. selbstbewusstes Auftreten der ASEAN-Staaten in der MR-Debatte und zur internationalen Umweltpolitik). Marginalisierung und wirtschaftlich-politischer Erfolg werden auf die Entwicklungsregionen in unterschiedlicher Weise zutreffen; damit wird sich der Differenzierungsprozess weiter verstärken, aber auch der Trend zu regionaler Kooperation. Ein weiterer Aspekt der Lage nach dem Kalten Krieg ist, dass in vielen Teilen der Dritten Welt Demokratisierungsbestrebungen zusammenfallen mit der wachsenden entwicklungspolitischen Erkenntnis der EL aus den „verlorenen 80er Jahren“, dass die Probleme des Südens nicht allein von außen gelöst werden können, sondern zunächst die Mobilisierung der eigenen Kräfte und interne Reformen erfordern. Dieser „neue Realismus“ kann eine Basis für eine konstruktivere und weniger einseitige Nord-Süd-Kooperation schaffen, in der beide Seiten konkrete Beiträge sowohl für die Entwicklung des Südens als auch zur Lösung globaler Probleme leisten müssen. Demokratisierung, entwicklungspolitisches Umdenken und die Übernahme gemeinsamer globaler Verantwortung (insbesondere Umweltschutz) sind jedoch ein langwieriger Prozess, der immer wieder Rückschläge erleiden und viel Geduld erfordern wird. 3) Konsequenzen für unsere Politik Die Differenzierung der Entwicklungsregionen ist ein wesentliches Element neuer globaler Strukturen. In Verbindung mit dem Ende der Ost-West-Polarisierung ergeben sich daraus längerfristig vor allem zwei Perspektiven für eine neue, polyzentristische Weltordnung: – Eine Formierung dreier großer zentraler Weltregionen im jeweiligen Einflussbereich der drei großen Wirtschaftsräume des Nordens (Nordamerika, Europa, Japan), an deren Peripherie stagnierende Armutsregionen wie Schwarzafrika marginalisiert werden, zeichnet sich in Ansätzen bereits ab: – mit der angestrebten Ausweitung der Nordamerikanischen Freihandelszone nach Mexiko5 und der weiterreichenden US-Initiative for the Americas6, – mit der verstärkten Anbindung der südlichen Mittelmeeranrainer und der GUSStaaten an Europa (EG, KSZE), – mit dem starken japanischen Einfluss im wirtschaftlichen „powerhouse“ des asiatisch­pazifischen Raums und dem wirtschaftlichen Potenzial Chinas mit enormen Wachstumschancen und der Perspektive eines großchinesischen Handelsblocks. 5 Referat 331 erläuterte am 3. April 1992: „Die NAFTA-Verhandlungen zwischen USA, Kanada und Mexiko wurden im Juni 1991 in Toronto aufgenommen. Inhaltlich bedeutet das geplante Abkommen eine Ausweitung des am 2.1.1988 zwischen den USA und Kanada unterschriebenen Freihandelsabkommens, das insbesondere innerhalb einer Zehn-Jahres-Frist ab 1.1.1989 eine Abschaffung sämtlicher Zölle und weitgehende Beseitigung nichttarifärer Handelshemmnisse für Güter und Dienstleistungen vorsieht.“ Die Verhandlungen seien bisher gut vorangekommen, in einigen Kernfragen wie Erdöl, Landwirtschaft, Umwelt und Textilindustrie stehe eine Einigung jedoch noch aus. Vgl. B 33, ZA-Bd. 161429. 6 Am 27. Juni 1990 stellte der amerikanische Präsident Bush ein Programm für Zentralamerika vor, das die Schaffung einer Freihandelszone, Maßnahmen zur Schuldenerleichterung und die Einrichtung eines multilateralen Investmentfonds vorsah („Enterprise for the Americas“-Initiative). Vgl. PUBLIC PAPERS, BUSH 1990, S. 873–877.

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Indien hat zumindest Potenzial und weltpolitischen Spielraum, sich zum Zentrum einer eigenen dynamischen Großregion zu entwickeln. – Denkbar ist aber auch die Entstehung eines noch stärker polyzentristischen Weltszenarios bei Erfolg der verstärkten Integrationsbemühungen innerhalb der Entwicklungsregionen. Bisher war den zahlreichen regionalen Kooperationsbestrebungen innerhalb der Dritten Welt wenig durchschlagender Erfolg beschieden. Zu gering waren und sind wirtschaftliche Komplementarität, zu schwach grenzübergreifende Infrastruktur, zu groß unmittelbar drängende einzelstaatliche Interessen. Nach dem Ende des Ost-West-Konflikts und mit der Notwendigkeit einer Neuorientierung der Blockfreienbewegung haben sich zumindest die Chancen für eine Verstärkung regionaler Zusammenarbeit vergrößert. Tendenzen zu einer stärker polyzentristischen Weltentwicklung sollten wir aktiv fördern, durch die Unterstützung von regionalen Kooperationsbestrebungen und enge Zusammenarbeit mit stabilisierenden Regionalmächten. Eine Aufteilung der Welt in drei Wirtschaftsblöcke bei Marginalisierung peripherer Armutsregionen liegt am wenigsten im Interesse Europas, das geographisch-historisch mit den wirtschaftlich schwächsten und konfliktträchtigsten Regionen des Südens und Ostens (Nahost und Afrika, GUS) verbunden ist, im Gegensatz zum dynamischen Potenzial vor allem Asiens, aber auch lateinamerikanischer Schwellenländer wie Mexiko. Eine wachsende Ausrichtung Lateinamerikas und Asiens auf Nordamerika und Japan, möglicherweise verbunden mit sich verstärkenden Protektionismustendenzen, kann sich für Europa verhängnisvoll auswirken. In unserem und dem europäischen Interesse liegt vielmehr die Entstehung eigenständiger Entwicklungszentren in allen Regionen des Südens und ihre Einbindung als unsere Partner in die Weltwirtschaft. Europa muss sich den Zugang zu und die Kooperation mit allen Entwicklungsregionen sichern, besonders mit den bereits jetzt oder mittelfristig wachstumsstarken Südostasiens, zu China, Indien und Lateinamerika. Die arabischen Staaten des Maghreb, des Nahen und des Mittleren Ostens einschließlich Iran werden aufgrund ihrer geographischen Nähe, ihres Konfliktpotenzials (u. a. Fundamentalismus, Migration) und ihres Ölreichtums ein natürlicher Schwerpunkt für unsere Südpolitik bleiben. Schwarzafrika wird für unsere Politik auf absehbare Zeit nicht als lukrativer wirtschaftlicher Partner, Absatzmarkt oder Wachstumsregion eine Rolle spielen können. Durch koloniale Bindungen, entwicklungspolitische Tradition (Lomé-Verträge7) und humanitäres Engagement wird ihm aber auch weiterhin europäisches Interesse gelten. Sowohl unser Einsatz für weltweite Durchsetzung menschenwürdiger Lebensverhältnisse als auch Gefahren aus afrikanischem Chaos- und Migrationspotenzial sprechen dagegen, den Kontinent abzuschreiben und als rein humanitäres Betätigungsfeld der Marginalisierung zu überlassen. Es kann aber nicht im europäischen und deutschen Interesse liegen, im Rahmen einer Dreiteilung der Welt mit der Bewältigung des Aufbaus der zentralasiatischen GUS-Staaten, der strukturellen Dauerkrise Schwarzafrikas und der multiplen Krisensituation im arabi7 Die EWG-Mitgliedstaaten schlossen erstmals am 28. Februar 1975 ein Abkommen mit den AKP-Staaten. Das vierte Abkommen (Lomé IV) wurde am 15. Dezember 1989 unterzeichnet. Vgl. AAPD 1989, II, Dok. 397.

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schen Raum befrachtet zu werden, während sich dynamischere Regionen nach USA und Japan orientieren. Hilfe für Afrika wie auch für Zentralasien muss von den G 7 in gemeinsamer Verantwortung geleistet werden. Mit der Übernahme größerer Verantwortung in der Weltpolitik und einem deutlicheren Profil in den VN (SR?) sollten wir auch unserer Politik gegenüber den Ländern des Südens deutlichere Konturen geben und dabei den regionalen und länderspezifischen Unterschieden Rechnung tragen. Wir müssen die Chancen für einen neuen konstruktiveren Nord-Süd-Dialog mit allen Regionen der Dritten Welt ergreifen. Das erfordert auch, dass wir in den Entwicklungsregionen nicht mehr (nur) Entwicklungshilfe-Empfänger sehen, sondern sie vor allem als Partner in der Weltpolitik wahrnehmen. „Dritte-Welt-Politik“ kann nicht mehr weitgehend identisch sein mit Entwicklungshilfepolitik und sich auf diese beschränken. Vor allem gegenüber den ärmsten Staaten (LDCs) muss Entwicklungshilfe zwar weiterhin eine entscheidende Rolle spielen („Vierte-Welt-Politik“ der Armutsbekämpfung). Im Übrigen müssen wir aber den einzelnen Entwicklungsregionen einen grundsätzlich höheren politischen Stellenwert einräumen. Dazu sollten wir vor allem schwerpunktmäßig deutliche Initiativen zu einer engeren politischen und wirtschaftlichen Zusammenarbeit mit den wichtigen Schwellenländern der einzelnen Regionen unternehmen, insbesondere in Asien gegenüber den zukunftsträchtigen Ländern der ASEAN, gegenüber China und Indien; in Lateinamerika gegenüber Mexiko und Brasilien und in Afrika mit einem PostApartheid Südafrika. Gegenüber dem arabisch-islamischen Raum einschließlich Mittelasiens und der südlichen GUS-Staaten ist vor allem ein konstruktiver europäisch-islamischer Dialog erforderlich, um säkulare und liberale islamische Strömungen zu fördern und die Verfestigung neuer Feindbilder zu verhindern, die sich angesichts drohender Proliferation von Massenvernichtungswaffen gerade in diesem Raum zu einer akuten Gefahr verdichten könnten. Eine politische Vernachlässigung aktueller oder potenzieller Wachstumsräume wie China, Indien, den ASEAN-Staaten oder Südamerika gefährdet mögliche Zukunftsoptionen, auf die wir nicht freiwillig verzichten sollten. Schwellenländer wie Brasilien entfernen sich in ihren Positionen zunehmend von traditionellen Dritte-Welt-Standpunkten und bauen eigene Positionen auf, teils in Annäherung an die IL, teils in Abwehr gegen sie (G 77, insbesondere Gruppe der 158). Die NICs Asiens sind de facto bereits IL. 8 Referat 402 erläuterte am 27. Februar 1992, die „Gruppe der 15“, bestehend aus Algerien, Argentinien, Ägypten, Brasilien, Indonesien, Indien, Jamaika, Jugoslawien, Malaysia, Mexiko, Nigeria, Peru, Senegal, Simbabwe und Venezuela, habe mittlerweile zwei „Süd-Süd-Gipfel“ abgehalten und sich damit weiter konsolidiert: „Sie verstehen sich als Interessenvertreter von EL. In der Erkenntnis wachsender Interdependenzen und zunehmender globaler Probleme suchen sie Verstärkung der Süd-Süd-Zusammenarbeit sowie auch vermehrte Mitsprache bei der Gestaltung weltwirtschaftlicher Rahmenbedingung im Wege des Dialoges mit Industrieländern.“ Vgl. B 58, ZA-Bd. 251520. Am 19. Mai 1992 vermerkte Referat 402, die G 15 hätten am 4. Mai 1992 ein Dokument über die Neue Weltordnung vorgelegt, in dem sie ihren Willen zum Dialog mit den Industrieländern bekräftigten, unter Hinweis auf Zusammenhänge zwischen Entwicklung, Weltfrieden und Demokratie jedoch mehr Mitsprache suchten: „Vor dem Hintergrund der Umwälzungen in MOE befürchten sie noch weitere Marginalisierung.“ Vgl. B 52, ZA-Bd. 174530.

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Wir müssen diese Länder in unsere politischen und wirtschaftlichen Strategien einbeziehen und sie für die Lösung globaler Fragen (insbesondere Umweltschutz, Bevölkerungspolitik und Armutsbekämpfung) und bei der Durchsetzung von Demokratie und Menschenrechten in die Pflicht nehmen. Der traditionelle Nord-Süd-Konflikt darf weder an die Stelle des alten ost-westlichen Feindbildes treten, noch darf er mit dem Auseinanderfallen des Südens durch neue Frontenbildungen (IL – Schwellenländer – marginalisierte „Vierte Welt“) ersetzt werden. Die ärmsten Länder, insbesondere Schwarzafrika, brauchen nicht nur Kapitaltransfer. Sie brauchen und erwarten Hilfe zur Selbsthilfe in Form struktureller Entwicklungshilfe, aber auch durch außenpolitische Wahrnehmung und Unterstützung ihrer Anliegen (u. a. Öffnung der Märkte der IL; Technologietransfer; Schuldenerlasse; VN-Reformen; Umweltschutz). Eine Süd-Politik, die sich an den neuen Realitäten der Entwicklungsregionen orientiert, sollte sich vor allem auf zwei Aufgaben konzentrieren: – „politische Entwicklungshilfe“ (Boutros-Ghali) – verstärkte und hochrangige Kontakte, intensivierter Dialog und Besucheraustausch mit allen Entwicklungsregionen und -ländern unter Berücksichtigung unterschiedlicher Entwicklungsniveaus (partnerschaftliche Einbindung der Schwellenländer in Weltverantwortung – Verhinderung einer Marginalisierung der ärmeren EL). – besonderer Schwerpunkt auf intensivierter Zusammenarbeit mit den genannten Schwellenländern (ASEAN, China, Indien, Mexiko, Brasilien, Post-Apartheid Südafrika). Durch kontinuierliche politische Kontakte (mit Regierungen und gesellschaftlichen Gruppen) kann Überzeugungsarbeit geleistet und das Bewußtsein der Eigenverantwortung für den Entwicklungsprozess und der Mitverantwortung vor allem für die Bewahrung der Lebensgrundlagen stärker gefördert werden, als dies durch die materielle Hilfe allein bisher möglich war. Eine deutlicher von Entwicklungshilfe abgesetzte außenpolitische Wahrnehmung der EL könnte evtl. auch dazu beitragen, die Akzeptanz demokratischer Werte zu stärken und der WZ9-Politik einen größeren Spielraum für Einwirkung durch (vor allem positiv) konditionierte Hilfe im Sinne von „good governance“ verschaffen. Wachsender Bereitschaft der EL zu eigenverantwortlichen Entwicklungsanstrengungen (wie sie z. B. bei der 24. Vollversammlung der VN-Wirtschaftskommission für Lateinamerika und die Karibik im April 9210 zum Ausdruck kam) muss allerdings auch im Norden eine von der breiten Bevölkerung mitgetragene Einsicht gegenüberstehen: – dass die IL mit einem Fünftel der Weltbevölkerung gegenwärtig vier Fünftel aller Ressourcen verbrauchen und den größten Teil der umweltschädigenden Emissionen (bei CO2 80 %) verursachen und damit eine größere globale Verantwortung tragen, ihr Geld und ihre Technologie weltweit zur Wahrung der Lebensgrundlagen einzusetzen,  dass Umweltzerstörung und Verelendung im Süden den Norden gleichermaßen ökologisch und ökonomisch (Migrationsdruck) bedrohen, 9 Wirtschaftliche Zusammenarbeit. 10 Die Sitzung der „Economic Commission for Latin America and the Carribbean“ (ECLAC) fand vom 8. bis 15. April 1992 in Santiago de Chile statt.

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 dass die EL durch Benachteiligung im internationalen Handel mehr verlieren, als sie durch Entwicklungshilfe aus den IL erhalten. Diese Einsicht muss sich in den Beziehungen mit den Entwicklungsregionen und in der internationalen Zusammenarbeit niederschlagen (GATT, UNCED11, Schuldenerlasse). – Unterstützung beim Aufbau leistungsfähiger regionaler Kooperation zur wirtschaftlichen und politischen Dynamisierung der Entwicklungsregionen und zur Förderung ausgewogener polyzentristischer Weltstrukturen (Bsp. Esquipulas-Prozess in Zentralamerika12). Ein handelspolitischer Ansatz (Marktöffnung und konkrete Handelsförderung), der den EL verstärkt Einnahmen aus dem Wirtschaftsaustausch ermöglicht, verspricht dafür nachhaltigere Erfolge als traditionelle Entwicklungshilfe. Wichtig sind vor allem auch regionale Konfliktverhinderungs- und Lösungsmechanismen, da soziale, ethnische und religiöse Unruhen und Bürgerkriege nicht nur eine Quelle politscher Instabilität, sondern auch eine wesentliche Ursache fortbestehender wirtschaftlicher Unterentwicklung darstellen. In diesem Rahmen und unter Nutzung der Mechanismen von VN (Regionalorganisationen, Konfliktlösung) und GATT (Marktöffnung) sollten wir eine mit der WZ-Politik kompatible und abgestimmte, aber davon unabhängige intensivierte Außenpolitik gegenüber den Entwicklungsregionen verfolgen, um unsere langfristigen Interessen zu befördern (globale Stabilität; Eindämmung von Migration, Bevölkerungsexplosion, Umweltzerstörung, Drogenhandel und Waffenproliferation; Förderung von Demokratie und Menschenrechten; Sicherung des Zugangs zu Wachstumsregionen und Märkten der Zukunft). Ziel muss sein, intensive und langfristig angelegte politische und wirtschaftliche Bindungen zu den Schlüsselländern der Entwicklungsregionen, besonders Asiens und Lateinamerikas, fest zu verankern und gleichzeitig Japan und Nordamerika in die Entwicklung Zentral- und Vorderasiens und Afrikas einzubinden, um eine Dreiteilung der Welt zuungunsten Europas zu verhindern. Als Anhang ist eine ausführliche Aufzeichnung zur Lage der Dritten Welt und der Entwicklungsregionen nach drei Entwicklungsdekaden (mit statistischem Material) beigefügt.13 Frank Elbe B 9, ZA-Bd. 178533

11 Zur VN-Konferenz über Umwelt und Entwicklung (UNCED) vom 3. bis 14. Juni 1992 in Rio de Janeiro vgl. Dok. 177. 12 Am 24./25. Mai 1986 trafen in Esquipulas (Guatemala) die Präsidenten Arias (Costa Rica), Azcona (Honduras), Cerezo (Guatemala), Duarte (El Salvador) und Ortega (Nicaragua) zusammen. Für die Erklärung vom 25. Mai 1986 vgl. http://peacemaker.un.org/centralamerica-esquipulasI86. Während einer weiteren Konferenz am 6./7. August 1987 in Guatemala-Stadt wurde ein Friedensabkommen für Zentralamerika unterzeichnet. Vgl. ILM, Vol. 26 (1987), S. 1164–1174. Für den deutschen Wortlaut vgl. EUROPA-ARCHIV 1987, D 499–504. Vgl. auch AAPD 1987, II, Dok. 228. 13 Dem Vorgang beigefügt. Vgl. B 9, ZA-Bd. 178533.

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22. Mai 1992: Vorlage von Ahrens

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146 Vorlage des Vortragenden Legationsrats I. Klasse Ahrens für Bundesminister Kinkel VS-NfD

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Über Dg 212, D 23, Herrn Staatssekretär4 Herrn Bundesminister5 Betr.:

Friedenskonferenz über Jugoslawien

Anlg.: 26 Zweck der Vorlage: Zur Unterrichtung Kurzfassung ergibt sich durch Lektüre der unterstrichenen Passagen7 1) Die am 7. September 1991 eröffnete Friedenskonferenz über Jugoslawien hat bisher wenig bewirkt. Sie hatte gegenüber einer zu allem entschlossenen serbischen Führung auch nur wenig Druckmittel. Diese wenigen Druckmittel wurden überdies kaum eingesetzt, weil die Zwölf in ihrer Bewertung der Krise voneinander abwichen. Die Konferenzleitung vertrat dabei die jeweils serbienfreundlichste Linie unter den Zwölf und brachte wenig Verständnis für Kroaten und Slowenen auf. Lord Carrington ist bis heute der Auffassung, der deutsche Außenminister habe ihm mit der „verfrühten“ Anerkennung Zagrebs und Laibachs8 die Konferenz ruiniert.9 2) Zum bisherigen Ablauf: Die eigentliche europäische Vermittlung begann mit Ausbruch von Kämpfen in Slowenien im Juni 1991. Mehreren Troika-Missionen10 folgte das Brioni-Abkommen vom 7. Juli 199111, das innerjugoslawische Verhandlungen bis spätestens 1. August vorsah. Als diese Verhandlungen ausblieben, richtete die EG die Konferenz12 1 2 3 4 5

Hat VLR I Libal am 22. Mai 1992 zur Mitzeichnung vorgelegen. Hat in Vertretung des MDg von Studnitz VLR I Lambach am 25. Mai 1992 vorgelegen. Hat MD Chrobog am 25. Mai 1992 vorgelegen. Hat StS Kastrup am 25. Mai 1992 vorgelegen. Hat BM Kinkel am 26. Mai 1992 vorgelegen. Hat OAR Rehlen am 27. Mai 1992 vorgelegen, der den Rücklauf über das Büro Staatssekretäre, MD Chrobog und MDg von Studnitz an Referat 215 verfügte. Hat VLR I Reiche am 27. Mai 1992 vorgelegen. Hat Chrobog am 29. Mai 1992 erneut vorgelegen. Hat in Vertretung von Studnitz VLR I Lambach erneut vorgelegen. Hat VLR I Libal am 1. Juni 1992 erneut vorgelegen, der die Weiterleitung an Botschafter Ahrens „z[ur] g[efälligen] K[enntnisnahme]“ verfügte. Hat Ahrens am 1. Juni 1992 erneut vorgelegen. 6 Vgl. Anm. 15 und 16. 7 Unterstreichungen im Abdruck nicht wiedergegeben. 8 Zur Frage der Anerkennung von Kroatien und Slowenien vgl. Dok. 11, Anm. 4. 9 Dieser Satz wurde von StS Kastrup durch Ausrufezeichen hervorgehoben. 10 Zu den Reisen der EPZ-Troika auf Außenministerebene vgl. AAPD 1991, II, Dok. 220 und Dok. 261. 11 Für die Übereinkunft von Brioni vom 7. Juli 1991 vgl. EUROPA-ARCHIV 1991, D 537–539. 12 Zur Friedenskonferenz für Jugoslawien sowie zur Einsetzung einer Schlichtungskommission vgl. Dok. 10, Anm. 4.

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aus. Bisher fanden zwölf Plenarsitzungen statt, an denen in letzter Zeit auf jugoslawischer Seite die Staatsoberhäupter teilnahmen, die bisher letzte am 6. Mai 199213. In den Plenarsitzungen wurden bekannte Positionen verlesen, doch waren die am Rande geführten Einzelgespräche von größerer Bedeutung. 3) Die Organisation der Konferenz ist unübersichtlich. Ihre Personalpolitik war nicht immer glücklich. So wurden die ursprünglichen Vize-Vorsitzenden mehr oder weniger offen als unfähig kaltgestellt. Den größten Einfluss auf Lord Carrington dürfte noch immer der offiziell als „Koordinator“ geführte niederländische Botschafter Wijnaendts ausüben. Neben ihm spielen wichtige Rollen der seit Januar ebenfalls als „Koordinator“ geführte portugiesische Botschafter Cutileiro, der die Bosnien-Verhandlungen14 führt, sowie der seit April als Stellvertreter Lord Carringtons tätige französische Minister de Beaucé, der sich der übrigen ethnischen Konflikte auf hoher Ebene annehmen soll. Eine de facto einflussreiche Rolle spielen die Vorsitzenden der häufiger tagenden drei Arbeitsgruppen Wirtschaft (Durieux, belgischer Generaldirektor der EGK), Institutionen (Darwin, britischer Senior Legal Advisor des FCO) und Menschenrechte sowie Minderheiten (Verfasser). Sie haben, da die jugoslawischen Parteien konsensfähige Vorschläge nicht hervorbrachten, die Treaty Provisions for the Convention erarbeitet (Anlage 115). Sie enthalten den Lösungsvorschlag der Konferenz. Nachdem die anerkennungsfeindliche Konferenzleitung sich lange geweigert hatte, Sukzessionsfragen zu erörtern, wurde schließlich im April 1992 der portugiesische Botschafter in Kairo, do Valle, als dritter „Koordinator“ mit der Koordinierung der Sukzessionsdiskussionen in den drei Arbeitsgruppen beauftragt. Er erarbeitete zusammen mit den drei AG-Vorsitzenden den als Anlage 216 beigefügten Sukzessionsvorschlag der Konferenz. Alle Genannten  und nur sie  nehmen für die Zwölf an den Plenarsitzungen teil. Zu der Konferenzorganisation gehört im weiteren Sinne auch die fünfköpfige ArbitrageKommission unter dem Vorsitz des Franzosen Badinter, der der Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Herzog, angehört. Sie hat sich in verschiedenen Gutachten zu Fragen des Selbstbestimmungsrechts, der Natur innerjugoslawischer Grenzen und den Anerkennungsvoraussetzungen geäußert.17 4) Zu den Treaty Provisions (Anlage 1): Sie enthalten in Kapitel I die Lösungsprinzipien. Diese laufen auf Fortbestand der Grenzen gegen Minderheiten- und Menschenrechtsschutz hinaus. Kapitel II enthält die Menschenrechtsbestimmungen, und zwar in a) den internationalen Menschenrechtstandard, in b) den internationalen Minderheitenstandard und in c) unter der Überschrift „Special Status“ die heftig umstrittenen Autonomie-Regelungen, die über den internationalen Standard hinausgehen. 13 Zum zwölften Plenum der Friedenskonferenz für Jugoslawien in Brüssel vgl. Dok. 125, Anm. 34. 14 Zu den Gesprächen der verschiedenen Volksgruppen von Bosnien-Herzegowina vgl. Dok. 125, Anm. 31. 15 Dem Vorgang beigefügt. Für das Dokument „Treaty Provisions for the Convention“ vom 4. November 1991 („Carrington-Plan“) vgl. B 42, ZA-Bd. 175713. 16 Dem Vorgang beigefügt. Für das undatierte Dokument „Succession of States“ vgl. B 42, ZA-Bd. 175713. 17 Vgl. das Gutachten Nr. 1 der Schlichtungskommission der EG für Jugoslawien vom 29. November 1991; Dok. 16, Anm. 6. Zu den Gutachten Nr. 4 und Nr. 5 vom 11. Januar 1992 vgl. Dok. 36, Anm. 8, bzw. Dok. 18, Anm. 4.

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Kapitel III enthält Kooperations-, Kapitel IV institutionelle Vorschläge. Lord Carrington ist der Auffassung, dass Kapitel I und II nach der „vorzeitigen“ Anerkennung einzelner Republiken hinfällig seien. Ich halte dagegen Kapitel III und IV für weitgehend obsolet und meine, dass an den Grundlagen von Kapitel I und II mit äußerster Konsequenz festzuhalten ist. 5) Die Stellung des deutschen Vertreters in der Konferenz ist, wie sich aus dem Gesagten ohne Weiteres ergibt, gelegentlich prekär. Die Konferenzleitung versucht immer wieder, den deutschen Einfluss zu begrenzen. Die Ernennung de Beaucés für den Arbeitsbereich der deutsch geleiteten Arbeitsgruppe  der zugleich der Kernbereich des Konflikts ist  ist sicherlich auch in diesem Zusammenhang zu sehen. Es scheint jedoch, wenn auch nach Mühen, zu gelingen, eine wirklich fruchtbare deutsch-französische Teamarbeit zu erreichen. Nach wie vor ist der deutsche Vertreter der Einzige, der Land, Leute und Landessprache kennt. Allen Übrigen ist die Mentalität der Kontrahenten erkennbar fremd. 6) Zu den gegenwärtigen Aktivitäten der Konferenz 6.1) Die drei Hauptprobleme, mit denen die Konferenz befasst ist, sind derzeit so gut wie unlösbar (hierzu zu gegebener Zeit weitere Vorlagen): – Im kroatisch-serbischen Konflikt konzentriert sich die Konferenz mit Hingabe auf die Perfektionierung des kroatischen Minderheitenstatuts, ohne die Führer der eroberten sezessionistischen Serbengebiete, für die dieses Statut bestimmt ist, auch nur an den Verhandlungstisch zu bekommen. Hier machen die VN freilich keine bessere Figur. – Im bosnischen Konflikt dürfte der Ansatz territorialer Aufteilung in einem Bundesstaat scheitern. Autonomie auf personaler Basis, wie sie vor der kommunistischen Machtübernahme teilweise bestanden hatte, wäre möglicherweise ein besserer Ansatz gewesen. – Im Kosovo stehen sich die Unabhängigkeitsforderung der Albaner, die die Konferenz nach ihren eigenen Prinzipien nicht unterstützen kann, und serbische Vorenthaltung selbst grundlegender Rechte, solange die Albaner sich nicht zu dem serbischen Staatsverband bekennen, unversöhnlich gegenüber. Es ist schwer vorstellbar, dass sich die Albaner je freiwillig wieder mit der Herrschaft Belgrads abfinden könnten. 6.2) Auf drei Nebenschauplatzen sind Erfolge denkbar: – In Mazedonien streben die Albaner nur nach Autonomie, beide Seiten wünschen europäische Vermittlung. Nach Absprache mit de Beaucé werde ich diese Verhandlungen demnächst beginnen. – In Montenegro erstreben die Moslems in dem montenegrinischen Teil des Sandžak und die Albaner in Ulcinj Autonomie. Auch hier haben beide Seiten europäische Vermittlung erbeten. Auch hier werde ich die Verhandlungen demnächst einleiten. – In Serbien lässt sich möglicherweise etwas für die verfolgten Ungarn, Kroaten und Slowaken in der Wojwodina tun, vielleicht auch für die Moslems im serbischen Teil des Sandžak. Die Milošević-Führung ist derzeit jedoch unzugänglich. 6.3) Die Sukzessionsverhandlungen werden mühsam sein. Der serbische Vorschlag, bei der Staatsangehörigkeit nicht auf die bisherige Republikzugehörigkeit abzustellen, sondern ein Wahlrecht zu geben, verheißt wenig Gutes. 7) Nach den bisherigen Erfahrungen schließe ich eine auch Nachbarstaaten erfassende Dauerkrise nicht aus. Es ist denkbar, dass der durch Eroberung erreichte territoriale Besitzstand infolge internationaler Machtlosigkeit und Uneinigkeit erhalten bleibt und durch 597

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ethnische Säuberung (ein in Jugoslawien jetzt gängiger Begriff) konsolidiert wird. Dies würde zu langandauernder und zu Explosionen neigender Feindschaft zwischen Serben einerseits und Kroaten sowie Moslems andererseits führen. Internationaler Druck auf Serbien kann nur dann zu einer Stabilisierung der Lage führen, wenn entweder die Milošević-Regierung selbst zur Vernunft kommt und einem Auseinandergehen nach den Treaty Provisions zustimmt, oder wenn sie nach möglicherweise gewaltsamem Sturz nicht durch noch radikalere Elemente, sondern durch vernünftige Politiker ersetzt wird, wie es sie in Belgrad durchaus noch gibt. Ob und inwieweit diese Politiker aber die zahlreichen lokalen Warlords kontrollieren könnten, steht dahin. Die auf lange Sicht letztlich notwendige Annäherung der jugoslawischen Republiken aneinander zeichnet sich bisher nicht ab. Fast überall scheinen vielmehr Ethnozentrismus und die politische Rechte ihrem Höhepunkt erst noch entgegenzustreben. Deshalb sollte jetzt jedenfalls das stabilisiert werden, was sich stabilisieren lässt: nach Slowenien vor allem Mazedonien, wo sich die Zwölf durch griechische Unvernunft paralysieren lassen. Ahrens B 42, ZA-Bd. 175713

147 Vorlage des Vortragenden Legationsrats Stanchina für Bundesminister Kinkel 424-411.10 GUS 1

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Über Herrn Dg 421, Herrn D 42, Herrn Staatssekretär3 Herrn Bundesminister Betr.:

Ergebnis einer multilateralen Delegationsreise zu Exportkontrollen in sieben Staaten der GUS und nach Georgien vom 4. – 16.5.1992

Zweck der Vorlage: Zur Unterrichtung und mit Bitte um Zustimmung zum weiteren Vorgehen entspr. Ziffer 7 1 Hat MDg Schönfelder am 22. Mai 1992 vorgelegen. 2 Hat in Vertretung des MD Dieckmann MDg von Kyaw am 22. Mai 1992 vorgelegen. 3 Hat StS Lautenschlager am 25. Mai 1992 vorgelegen, der die Weiterleitung an BM Kinkel strich und handschriftlich für MD Dieckmann vermerkte: „Einv[erstanden] mit Verfahrensvorschlag. Der BM könnte allenfalls in einer kurzen Unterrichtungsvorlage befasst werden (über das Faktum der Reise, einige Eindrücke u. das weiter vorgesehene Verfahren, das nicht einer Entscheidung des BM bedarf).“ Hat Dieckmann am 26. Mai 1992 vorgelegen, der das Wort „allenfalls“ hervorhob und handschriftlich für VLR I Ackermann vermerkte: „Also bitte nur eine kurze Vorlage im obigen Sinne.“ Hat Ackermann vorgelegen, der die Weiterleitung an VLR Stanchina verfügte. Hat Stanchina am 1. Juni 1992 erneut vorgelegen, der handschriftlich vermerkte: „Nach erneuter R[ück]spr[ache] mit D 4, RL 424: keine BM-Vorlage; nur Verteilung an Referate.“

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I. Zusammenfassung Eine Delegation der G 7 und Australiens besuchte vom 4.–16.5.1992 die vier Nuklearstaaten (Weißrussland, Ukraine, Russland, Kasachstan) und vier weitere Staaten der ehemaligen SU. Ihr Ziel: – die Regierungen auf Exportkontrollen für konventionelle sowie Massenvernichtungswaffen und Träger zu verpflichten, – zum Beitritt zu den internationalen Nichtverbreitungs-Regimen aufzufordern, – bestehende Exportkontrollen zu analysieren. Die Delegation kam einvernehmlich zu folgenden Ergebnissen: 1) Proliferation von A-, B- und C-Waffen: z. Zt. keine konkrete Gefahr. Politische Ebene hat Bedeutung erkannt, die Proliferationsverhinderung für uns hat. Sollte jedoch die zentrale Kontrolle über die mit Massenvernichtungswaffen ausgerüsteten GUS-Streitkräfte zerbrechen, drohen insbesondere bei CW erhebliche Proliferationsgefahren. 2) Konventionelle Waffen: RUS und UKR bleiben bedeutende Waffenexporteure. Politische und wirtschaftliche Zwänge werden in Einzelfällen zu unerwünschten Exporten führen. Andere Staaten könnten Waffen der GUS-Streitkräfte verkaufen. 3) Nukleartechnik, Raketen, Dual-use-Waren: Das Verständnis dieser Probleme ist gering. Die Risiken sind zurzeit schwer abzuschätzen. Vereinzeltes unkontrolliertes Abfließen von gefährlichen Gütern ist zu erwarten: Einige Republiken betrachten den Iran als Partner, nicht als Bedrohung (dies gilt auch für Ziffer 2). 4) Politisches Verständnis der Notwendigkeit von Exportkontrollen: ausgeprägt nur in RUS. Trotz politischer Verpflichtungserklärungen, Exportkontrollen einzuführen und den Regimen beizutreten, bleiben Zweifel an der Fähigkeit der örtlichen Bürokratien. Entscheidend werden die Anreize sein, die der Westen bietet. Nachdenken über COCOM-Erleichterungen ist nötig. 5) Zollkontrollen (enforcement) sind für alle GUS-Staaten bekanntes Gebiet. Das Ausmaß internationaler Zusammenarbeit überraschte. Allgemeine Zollkontrollen und damit auch spezifische Exportkontrollen sensitiver Güter werden sich verbessern. Noch gibt es kaum Binnenkontrollen in der GUS. Gegenüber den baltischen Staaten gibt es gefährliche Lücken. 6) Weiteres Vorgehen: Zwei Aspekte: a) Politische Willensbildung. Westliche Politiker werden die Notwendigkeit von Exportkontrollen für sensitive Produkte immer wieder aufbringen und wiederholen müssen. b) Aufbau handlungsfähiger Verwaltungen. Die acht Staaten wollen die internationale Zusammenarbeit fördern, eigene Hilfsmöglichkeiten analysieren und ein Hilfskonzept bis zum MTCR4­Treffen in Oslo (Anfang Juli 1992)5 erarbeiten. High Level Meeting (1./2.6.) des COCOM6 wird COCOM-Erleichterungen erörtern. Um Fragen (u. a. RUS bat um zweites Treffen, Besuch weiterer GUS-Länder) zu besprechen, regten Partner an, sich in Bonn zu treffen. 4 Zu diesem Wort vermerkte StS Lautenschlager handschriftlich: „Missile Technology Control Regime.“ 5 Zum MTCR-Treffen vom 29. Juni bis 2. Juli 1992 vgl. Dok. 217. 6 Zum High Level-Meeting des COCOM in Paris vgl. Dok. 203.

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7) Es wird daher vorgeschlagen, – das BMWi aufzufordern, die Vertreter der sieben anderen Staaten zu einem Treffen vor Oslo (z. B. Freitag, 26. Juni) nach Bonn einzuladen, um diese Fragen zu erörtern7, – ein weiteres Treffen der Gruppe (mit Russland) und unsere Teilnahme an der Reise in die zentralasiatischen Republiken  vertretbare Kosten vorausgesetzt  ins Auge zu fassen, – unsere bereits eingeleiteten bilateralen Bemühungen, UKR und WEI beim Aufbau eigener Exportkontrollsysteme zu helfen, intensiv weiter zu verfolgen. II. Langfassung Ziel der Reise war, den Regierungen die Notwendigkeit funktionierender Exportkontrollen für A-, B- und C-Waffen bzw. Trägersysteme und konventionelle Waffen klarzumachen, sie aufzufordern, den internationalen Regimen (Nuklearer Nichtverbreitungsvertrag, Nuclear Suppliers’ Group8, Australische Gruppe9, Missile Technology Control Regime) beizutreten und Erkenntnisse über das Bestehen bzw. Funktionieren von Exportkontrollen zu gewinnen. Der multilateralen Delegation gehörten Vertreter der G 7 und Australiens an. Die Delegation führte Gespräche in Weißrussland (WEI), Ukraine (UKR), Russland (RUS), Kasachstan (KAS), Aserbaidschan (ASE), Armenien (ARM), Georgien (GEO) und Moldavia (MOL). Ein Besuch in den asiatischen Republiken Usbekistan (USB), Kirgistan (KIG), Tadschikistan (TAD) und Turkmenistan (TUK) kam nicht zustande, soll aber nachgeholt werden. Die skandinavischen Länder wollten sich des Themas bei den baltischen Staaten annehmen. Die acht Delegationsleiter stellten einvernehmlich am 16.5.1992 die folgenden Ergebnisse fest: 1) Proliferation von A-, B- und C-Waffen Diese Gefahr besteht, erscheint aber zurzeit nicht sehr konkret. Politische Ebene hat die Bedeutung erkannt, die der Westen der Proliferationsverhinderung beimisst. Sollte jedoch die  von RUS ausgeübte  zentrale GUS-Kontrolle über die mit Massenvernichtungswaffen ausgerüsteten GUS-Streitkräfte zerbrechen, dürften insbesondere auf dem CW-Bereich erhebliche Proliferationsgefahren entstehen. 2) Konventionelle Waffen RUS und UKR werden bedeutende Waffenexporteure bleiben. Politische und wirtschaftliche Zwänge können in Einzelfällen die Oberhand über verantwortungsbewusste Exportpolitik gewinnen. Den anderen Staaten fehlt die wirtschaftliche Basis für konsequente Exporte, da sie unter der SU-Herrschaft meist nur Teile und keine vollständigen Waffen hergestellt hatten. Sie können allerdings vorhandene Waffen der GUS-Streitkräfte verkaufen. 7 Referat 424 legte am 3. August 1992 dar: „Erneute Erörterungen der acht Staaten haben Ende Juni ergeben, dass nur die USA auch die restlichen vier Staaten der GUS besuchen wollen. Die Acht stimmten einem formlosen Informationsaustausch auch in Zukunft zu. Wesentliche bilaterale Unterstützungsaktionen konnte außer D keines der acht Länder vermelden.“ Vgl. B 70, ZA-Bd. 220577. 8 Zur NSG vgl. Dok. 104. 9 Seit 1984 bemühten sich die Teilnehmerstaaten der „Australischen Gruppe“ bei informellen Treffen um Exportkontrollen für Substanzen, die zur Herstellung von Chemiewaffen geeignet sind. Vgl. AAPD 1987, I, Dok. 45, und AAPD 1987, II, Dok. 272.

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3) Nukleartechnik, Raketen, Dual-use-Waren Das örtliche Verständnis dieser Probleme ist noch gering. Häufig wissen die Staaten nicht, was ihre früher zur Arbeitsteilung gezwungene Wirtschaft produzieren könnte, da russische Offiziere und Kontrolleure während des Umbruchs auch zahlreiche Produktionsunterlagen mitgenommen haben. Die Risiken sind zurzeit schwer abzuschätzen. Vereinzeltes unkontrolliertes Abfließen von gefährlichen Gütern ist zu erwarten, insbesondere da einige südliche Republiken den Iran als potenziellen Partner und nicht als Bedrohung betrachten (dies gilt auch für Ziffer 2). 4) Politisches Verständnis der Notwendigkeit von Exportkontrollen Ausgeprägt nur in RUS (und in MOL, das Angst vor destabilisierenden Waffenlieferungen nach Transnistrien hat). Zwar gab es in mehreren Staaten politische Verpflichtungserklärungen, Exportkontrollen einzuführen und den Proliferationsregimen beizutreten. Doch bleiben Zweifel an der Fähigkeit der örtlichen Bürokratien, trotz des z. T. großen Engagements von einzelnen Verantwortlichen. Die Bereitschaft, auf diesem Gebiet etwas zu tun, hängt natürlich auch von den Anreizen ab, die der Westen bieten kann. Nachdenken über COCOM­Erleichterungen erscheint daher nötig. 5) Zollkontrollen (enforcement) Dies ist ein für alle GUS-Staaten bekanntes Gebiet (sogar in Aserbaidschan blickt der Zoll auf eine 185-jährige Tradition zurück). Allerdings gilt dies für die hier interessierenden spezifischen Kontrollen nur begrenzt. Das Ausmaß internationaler Zusammenarbeit (z. B. mit Brüsseler Zollrat, EGK oder bilateral) überraschte. Die Aussichten auf dem allgemeinen Gebiet des Zolls sind erfolgversprechend; damit wachsen auch die Chancen für eine spezifische Exportkontrolle sensitiver Güter. In der gegenwärtigen Umbruchsphase gibt es allerdings kaum Binnenkontrollen in der GUS. An manchen Außengrenzen  insbesondere gegenüber den baltischen Staaten  gibt es offenbar zurzeit potenziell gefährliche Lücken. 6) Weiteres Vorgehen Das Problem hat zwei wesentliche Aspekte: einerseits die politische Willensbildung. Daher werden westliche Politiker bei ihren Gesprächen die Notwendigkeit von Exportkontrollen für sensitive Produkte immer wieder aufbringen und wiederholen müssen. Die neuen Staaten müssen ein funktionierendes Exportkontrollsystem aufbauen und sollten den internationalen Nichtverbreitungsregimen (Nuklearer Nichtverbreitungsvertrag, Nuclear Suppliers’ Group, Missile Technology Control Regime, Australische Gruppe für B- und C-Waffen) beitreten. Dabei sollten westliche Politiker vor einer vereinfachenden Darstellung nicht zurückschrecken: Wenn Ihr gefährliche Güter unkontrolliert durchlasst, wird das schwerwiegende Auswirkungen auf Eure Außenpolitik haben. Andererseits handelt es sich um den Aufbau handlungsfähiger Verwaltungen. Um dabei zu helfen, sollten die acht Staaten – sich zuerst über das Ausmaß der bereits bestehenden Zusammenarbeit der Zollverwaltungen klar werden und diese Zusammenarbeit fördern, – ihre eigenen Hilfsmöglichkeiten analysieren und – schließlich ihre Pläne abstimmen, um ein stimmiges Konzept zu erarbeiten und Doppelarbeit zu vermeiden. Es wurde beschlossen, dass Russland  entsprechend seinem Wunsch  durch GB informell über das Ergebnis der Reise unterrichtet werden sollte. Australien will die Australische 601

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22. Mai 1992: Vorlage von Stanchina

Gruppe, Frankreich das MTCR, Japan die NSG, Italien das COCOM und GB im Wege eines COREU die EG-Partner unterrichten. Die Abstimmung mit den skandinavischen Staaten muss noch geklärt werden. Es wurde weiter vereinbart, dass die acht Staaten bis zum MTCR­Treffen in Oslo (29.6. – 2.7.1992) ihre Vorstellungen entwickeln. Bis dahin sollte insbesondere der Fragenkomplex COCOM-Erleichterungen durchdacht werden. Dies genau wird eines der Hauptthemen auf dem nächsten High Level Meeting (1./2.6.) sein. Mit Ausnahme der deutschen Delegation werden die anderen sieben Delegationsleiter persönlich in Oslo sein.10 In Oslo böte sich auch die Möglichkeit, mit dem wichtigsten GUS-Partner Russland das weitere Vorgehen zu besprechen. RUS hatte offiziell ein weiteres Treffen erbeten. Auch ist zu entscheiden, ob die Visite in den noch nicht besuchten Republiken Zentralasiens nachgeholt werden sollte. Um die anstehenden Fragen zu besprechen, kam von verschiedener Seite der Vorschlag, sich auf dem Weg nach Oslo zu einer Besprechung in Bonn zu treffen. 7) Es wird daher vorgeschlagen – zu dem Fragenkomplex: deutsche Hilfsmöglichkeiten mit BMWi und BMF Gespräche aufzunehmen, – das BMWi aufzufordern, die Vertreter der sieben anderen Staaten zu einem Treffen vor Oslo (z. B. Freitag, 26. Juni) in Bonn einzuladen, um diese Fragen zu erörtern, – ein weiteres Treffen der Gruppe (mit Russland) und unsere Teilnahme an der Reise in die zentralasiatischen Republiken  vertretbare Kosten vorausgesetzt  ins Auge zu fassen, – unsere bereits eingeleiteten bilateralen Bemühungen, UKR und WEI beim Aufbau eigener Exportkontrollsysteme zu helfen, intensiv weiter zu verfolgen. Stanchina B 70, ZA-Bd. 220532

10 Dieser Satz wurde von StS Lautenschlager durch Fragezeichen hervorgehoben.

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24. Mai 1992: Gespräch zwischen Kinkel und Moussa

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148 Gespräch des Bundesministers Kinkel mit dem ägyptischen Außenminister Moussa in Lissabon 310-321.11 AGY

24. Mai 19921

Der Bundesminister führte am 24.5. ein etwa dreißigminütiges Gespräch mit dem ägyptischen AM.2 Nach einer Begrüßung durch den BM sagte der AM, er freue sich, den BM kennenzulernen. Ägypten sei der Freundschaft und der Zusammenarbeit mit Deutschland tief verpflichtet. Ägypten sähe die wachsende Rolle Deutschlands in Europa und hoffe, dass diese auch in der Region zur Geltung gebracht werde. Er wolle drei Fragen ansprechen: 1) Die Zusammenarbeit im Mittelmeer. AGY3 habe eine Initiative für ein MittelmeerForum unternommen. Darin sollen die arabische Welt und Europa über Gemeinsamkeiten auf politischem, wirtschaftlichem und kulturellem Gebiet diskutieren. Dieser Überlegung habe der Schock zugrunde gelegen, den AGY beim Golfkrieg erlebt habe: Die arabische Welt habe sich so verhalten, als ob es außer ihr nichts gäbe. AGY glaube aber, dass es heutzutage keine gesonderte arabische oder europäische Politik mehr geben könne, alles hänge unmittelbar zusammen. Das Mittelmeer sei der See, der Europa und die arabische Welt verbinde. 2) Ein solches Forum könne nicht arbeiten, wenn nicht die großen Konflikte des Raums gelöst würden. Dies gelte vor allem für den Palästina-Konflikt. Leider habe der Friedensprozess noch keine Resultate gebracht. Miteinander reden sei für eine gewisse Zeit gut. Auf die Dauer müsse das Gespräch aber zum Rückzug Israels aus dem besetzten Gebiet führen. Israel täusche sich, wenn es glaube, dass es darum herumkomme. Würde der Friedensprozess scheitern, so würde der Mittlere Osten in eine chaotische Phase eintreten, die die Sicherheitslage weit über den Mittleren Osten hinaus tief berühren müsse. Auf die Dauer könne Israel die besetzten Gebiete nicht behalten. Die israelische Siedlungspolitik sei dumm. Israel müsse die Siedlungen stoppen. Die amerikanische Haltung4 sei gut, auch die deutsche (der AM sprach die Ablehnung der israelischen Finanzwünsche5 an). 1 Der Gesprächsvermerk wurde von MD Schlagintweit am 25. Mai 1992 gefertigt und „mit der Bitte um Billigung“ an BM Kinkel geleitet. Hat VLR Wittig am 27. Mai 1992 vorgelegen, der den Rücklauf an Schlagintweit verfügte „m[it] d[er] B[itte], Vermerk mit dem Zusatz ,Von BM noch nicht gebilligt‘ laut Verteilungsvorschlag zu verteilen.“ Hat in Vertretung von Schlagintweit MDg Sulimma am 29. Mai 1992 vorgelegen, der die Weiterleitung an VLR I von Hoessle verfügte. Hat Hoessle am 29. Mai 1992 vorgelegen. Vgl. den Begleitvermerk; B 36, ZA-Bd. 196705. 2 BM Kinkel hielt sich anlässlich der Koordinierungskonferenz für humanitäre Hilfe an die GUS-Mitgliedstaaten sowie an Georgien am 23./24. Mai 1992 in Lissabon auf. Vgl. Dok. 160. 3 Durchgehend korrigiert aus: „EGY“. 4 Zur Frage amerikanischer Kreditbürgschaften für Israel vgl. Dok. 80, Anm. 9. 5 Zu den deutsch-israelischen Finanzbeziehungen vgl. Dok. 108.

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24. Mai 1992: Gespräch zwischen Kinkel und Moussa

Würde die Arbeiterpartei bei den kommenden Parlamentswahlen in Israel6 gewinnen, so würden sich zwar Akzente verschieben, aber auch Rabin könne nicht Land für Frieden anbieten. Er könne vielleicht Teile des Landes bieten, wolle aber dafür den ganzen Frieden. Würde Schamir gewinnen und sagen, dass er das Prinzip Land für Frieden nicht akzeptieren kann, so müsse die Welt energisch reagieren. 3) Es gebe auch die Frage der Sicherheit im Golf. Man fürchte dort die iranische Hegemonialpolitik. Man wisse, dass es kein Gegengewicht gegen Iran gebe. Dies sei auch der Grund für die Damaskus-Erklärung7 und die ägyptische Rolle am Golf gewesen. Iran habe die Absicht, die Revolution zu exportieren, nicht aufgegeben. Er habe darüber mit Velayati gesprochen, der meinte, die Wahlen hätten Rafsandschani mehr Freiheit für eine gemäßigte Politik gegeben.8 Dennoch glaube er, dass sich in Wirklichkeit nichts geändert habe. Der BM warf ein, vielleicht komme das noch. Der AM bezweifelte dies. BM sagte, geographische Lage und Bevölkerungsstärke gäben AGY eine Brückenfunktion. Diese Funktion könne einfließen in das Forum, von dem der AM gesprochen habe. Dazu komme die führende Position Ägyptens in der arabischen Welt. All dies gebe AGY eine besondere Verantwortung für die Stabilisierung des Friedensprozesses. In jüngster Zeit sei der Nahost-Konflikt, auch bei uns, durch andere Weltkonflikte überschattet worden. Wir wollten uns aber auch dieser Frage wieder vermehrt zuwenden. Er sehe die Situation in der Region im Wesentlichen wie der AM. In der Siedlungsfrage habe Deutschland eine klare Meinung. Dies gelte auch für die besetzten Gebiete. Eine andere Frage sei, was wir erreichen könnten. Er werde unsere Position künftig klarmachen. Er wolle aber auch ehrlich sagen, dass er neben seinen guten Beziehungen zu den Arabern auch gute Beziehungen zu Israel hatte und habe. Die Lage am Golf interessiere ihn persönlich. Er sei kürzlich wegen der Geiselfrage9 in Iran gewesen und habe auch Rafsandschani gesprochen.10 Wir beobachteten genau, was 6 Am 23. Juni 1992 fanden in Israel Parlamentswahlen statt. 7 Auf der Konferenz der Außenminister der GCC-Staaten sowie Ägyptens und Syriens am 5./6. März 1991 in Damaskus wurde am 6. März 1991 eine Deklaration über Koordinierung und Zusammenarbeit unterzeichnet, mit der u. a. Absprachen über die Sicherheit in der Golfregion getroffen wurden. Ägyptische und syrische Truppen auf dem Gebiet Saudi-Arabiens und anderer Staaten sollten den Kern einer arabischen Friedenstruppe darstellen. Vgl. die Anlage zum Schreiben des syrischen VN-Botschafters elFattal vom 20. März 1991 an VN-GS Pérez de Cuéllar (A/46/120 bzw. S/22374); https://digitallibrary.un.org/ record/110062. Für den deutschen Wortlaut vgl. Volker PERTHES: Regionale Auswirkungen des zweiten Golfkrieges. Probleme der Sicherheit und Zusammenarbeit im arabischen Raum und die Optionen europäischer Politik, Bonn 1991, S. 61–63. 8 Im Iran fanden am 10. April bzw. 8. Mai 1992 Parlamentswahlen statt. Botschafter Freitag, Teheran, berichtete am 14. Mai 1992, es seien diejenigen Kräfte gestärkt worden, „die der Politik Rafsandschanis nahestehen. Die innere islamisch-radikale Opposition hat erhebliche Verluste erlitten. […] Für die Regierung Rafsandschani wird es jetzt darauf ankommen, Erfolge vor allem auf wirtschafts- und innenpolitischem Gebiet beizubringen. Die Entschuldigung, durch die Opposition der Islamisch-Radikalen im Parlament bei der Durchsetzung seiner Reformpolitik behindert zu werden, kann er in Zukunft nicht mehr vorbringen.“ Vgl. DB Nr. 404; B 36, ZA-Bd. 170179. 9 Zum Entführungsfall Strübig und Kemptner vgl. Dok. 12, besonders Anm. 11 und 13. 10 BM Kinkel traf am 29. Januar 1992 in Teheran mit dem iranischen Präsidenten zusammen. In der Frage der im Libanon festgehaltenen Deutschen Strübig und Kemptner erklärte Rafsandschani, er sehe „eine Lösungsmöglichkeit darin, dass die beiden Geiseln bedingungslos freigelassen würden, zugleich aber

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sich dort entwickele. Iran zeige vorwärts- und aufwärtsstrebende Tendenzen. Eine interessante Entwicklung sei ganz allgemein die stärkere Selbstartikulation des Islam. Das würde uns große Probleme in der Menschenrechtsfrage bescheren. Das Interesse gerade auch der Jugend in Deutschland am Islam nehme stark zu. Die wichtige Rolle Ägyptens in der Region mache dieses Land für Deutschland hochinteressant. Daher wolle er mit diesem Land und seinem AM in engem Kontakt bleiben. Der AM erklärte, er wolle noch ein Thema ansprechen: Jugoslawien. Aufgrund der Entwicklung in Bosnien-Herzegowina koche die arabische Welt. Man müsse weiteren Schaden unbedingt verhüten. Angeblich habe Kroatien die Teilung Bosnien-Herzegowinas mit Serbien vereinbart. Als Ergebnis dieser Entwicklung habe AGY die Aufnahme Serbiens und Kroatiens in die Vereinten Nationen mit eingebracht und für die Aufnahme Bosnien-H.s gestimmt. Der BM antwortete, darüber hätte er gestern gesprochen. Er sei für stärkere Sanktionen eingetreten, habe sich aber nicht durchsetzen können. Am Dienstag werde man dies auf europäischer Ebene erörtern.11 Er habe den Eindruck, dass man sich, vielleicht mit Ausnahme Frankreichs und Griechenlands, in eine Richtung bewege, die schärfere Maßnahmen vorsehe. Darüber habe er auch mit Baker gesprochen.12 Man müsse die Luft für Serbien dünner machen und den Konflikt in den Griff bekommen. Der AM sagte, auch er habe mit Baker gesprochen und ihn gefragt, warum er nicht Kap. VII13 anwende. Der BM warf ein, das sei auch das deutsche Ziel. Der AM sagte, Baker habe geantwortet, man werde dies prüfen. Er fragte, ob D den serbisch-montenegrinischen Staat14 als Nachfolger Jugoslawiens anerkennen werde. Der BM antwortete: Nein. Der AM fragte: Was bedeutet das? D 215 sagte, der neue Staat brauche eine neue Anerkennung auch aufgrund der von den Europäern ausgearbeiteten Kriterien16. Dazu brauche man auch die Unterstützung der Fortsetzung Fußnote von Seite 604 seitens Iran der Familie Hamadi ,ein Versprechen‘ gemacht würde. Iran könne die Geheimhaltung dieses Lösungsweges anbieten. BM Kinkel erwiderte, dass einem solchen iranischen Versprechen von der Bundesregierung ein Inhalt gegeben werden müsste. Wir seien aber nicht bereit und rechtlich auch nicht in der Lage, einen ,Deal‘ einzugehen.“ Vgl. den mit DB Nr. 108 des Botschafters Freitag, Teheran, vom 3. Februar 1992 übermittelten Gesprächsvermerk; B 46, ZA-Bd. 229625. 11 Am 26. Mai 1992 fand in Brüssel ein Expertentreffen zur Frage von Sanktionen statt. Botschafter Klaiber, z. Z. Brüssel, teilte am 27. Mai 1992 mit: „Die gemischte EPZ-Ratsgruppe konnte in zentraler Frage der Verhängung von Wirtschaftssanktionen, vor allem in Form eines umfassenden Handelsembargos (inkl. Ölembargo) durch die Gem[einschaft], trotz unseres engagierten und intensiven entsprechenden Eintretens, das von GB und DK unterstützt wurde, im Wesentlichen wegen intransigenter Haltung von F keine Einigung erzielen. F verlangte als Voraussetzung einen entsprechenden Beschluss des SR der VN; I – anders als noch beim PK vom 22.5. – und GR schlossen sich dem – allerdings in abgeschwächter Form – an. Auch unser wiederholter direkter Appell unter Hinweis auf Beschlusslage der Minister in Lissabon blieb ohne jeden Erfolg. Ich fürchte, dass – wenn überhaupt – Bewegung bei F nur auf hoher politischer Ebene erzielt werden kann.“ Vgl. DB Nr. 1563; B 42, ZA-Bd. 183762. 12 Zum Gespräch des BM Kinkel mit dem amerikanischen AM Baker am 23. Mai 1992 in Lissabon vgl. Dok. 149. 13 Für Kapitel VII der VN-Charta vom 26. Juni 1945 vgl. BGBl. 1973, II, S. 458–465. 14 Zur Bildung der Bundesrepublik Jugoslawien (Serbien/Montenegro) vgl. Dok. 118, Anm. 16. 15 Jürgen Chrobog. 16 Zu den Leitlinien der EG-Mitgliedstaaten vom 16. Dezember 1991 vgl. Dok. 2, Anm. 10.

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Ungebundenen. Alle inzwischen selbstständig gewordenen Staaten seien Rechtsnachfolger Jugoslawiens. Der AM erklärte: Auch die Unterstützung der islamischen Staaten sei wichtig. Er riet, auch wir sollten uns mit ihnen in Verbindung setzen. Sie würden sich im nächsten Monat in Istanbul treffen.17 Der BM erklärte, Hauptsache sei zunächst einmal, von Gewalt und Krieg wegzukommen. Er bitte AGY, hieran mitzuwirken. Der AM antwortete: Ja, aber als zweiten Schritt müssten die Serben sich von den von ihnen besetzten Gebieten zurückziehen. B 36, ZA-Bd. 196705

149 Vermerk des Ministerialdirektors Chrobog 25. Mai 19921 Von BM noch nicht gebilligt I. Gespräch mit AM Baker in Lissabon2 am Samstag, dem 23. Mai 1992 Das erste Gespräch BM Kinkels mit AM Baker begann mit einem überraschend angesetzten Pressetermin, in dem Baker den amerikanischen Journalisten breiten Raum ließ, um Fragen zum deutsch-französischen Korps und entsprechende amerikanische Besorgnisse zu äußern. BM Kinkel verwies auf die NATO-Verpflichtungen Deutschlands sowie auf die Presseerklärung von Präs. Mitterrand und BK Kohl in La Rochelle.3 AM B. konstatierte, dass die Amerikaner nur solange Truppen in Europa stationieren würden, wie die Europäer es wünschten, äußerte sich gleichzeitig aber positiv über die Presseerklärung von La Rochelle. Die eigentlichen Gespräche begannen mit einer gegenseitigen Versicherung, die guten Beziehungen, die früher zwischen den Ministern bestanden haben, auch mit dem neuen deutschen Außenminister fortzusetzen. Anschließend wandte man sich Jugoslawien zu. AM B. betonte, dass die USA die europäische Haltung immer unterstützt hätten mit Ausnahme der Anerkennung von Kroatien und Slowenien4. Inzwischen sei man hier aber 17 Am 17./18. Juni 1992 fand eine außerordentliche Tagung der Außenminister der Organisation der Islamischen Konferenz statt. 1 Kopie. Hat VLR I Matussek am 26. Mai 1992 vorgelegen, der den Rücklauf an MD Chrobog verfügte und handschriftlich vermerkte: „1) Kann mit Vermerk ,Von BM noch nicht gebilligt‘ verteilt werden. 2) Je [Durchdruck] S[amm]l[un]g, L[eiter] 010.“ 2 BM Kinkel hielt sich anlässlich der Koordinierungskonferenz für humanitäre Hilfe an die GUS-Mitgliedstaaten sowie an Georgien am 23./24. Mai 1992 in Lissabon auf. Vgl. Dok. 160. 3 Für die Presseerklärung vom 22. Mai 1992 zum Eurokorps vgl. LA POLITIQUE ÉTRANGÈRE 1992 (Mai/Juni), S. 75. Für den deutschen Wortlaut vgl. EUROPA-ARCHIV 1992, D 454 f. 4 Zur Frage der Anerkennung von Kroatien und Slowenien vgl. Dok. 11, Anm. 4.

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Abb. 6: BM Kinkel während der Koordinierungskonferenz für humanitäre Hilfe an die GUS-Mitgliedstaaten sowie an Georgien in Lissabon

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ebenfalls wieder auf gleicher Linie.5 Er äußerte sich äußerst engagiert zu notwendigen Aktionen gegenüber Serbien und kritisierte, dass die Europäer hier nicht genug täten. Das Verhalten der JNA dürfe nicht hingenommen werden. Er verwies auf die große Zahl von Opfern, die Versuche der JNA, ganze Bevölkerungsgruppen aus bestimmten Gebieten zu vertreiben, und forderte umgehende Maßnahmen der Europäischen Gemeinschaft, denen sich die Vereinigten Staaten anschließen würden. Wenn derartige Maßnahmen am Widerstand Frankreichs und Griechenlands scheitern würden, empfahl er, ohne diese Länder vorzugehen. Er verwies in diesem Zusammenhang auf die amerikanischen Vorschläge zu zukünftigen politischen und wirtschaftlichen Maßnahmen.6 BM unterstützte diesen amerikanischen Ansatz und erklärte, alles mittragen zu können, was die Amerikaner inzwischen an Vorschlägen vorgelegt hätten. Er verwies darauf, dass er eine bereitstehende harte und eindeutige Erklärung im Rahmen der Zwölf gefordert habe, und stimmte AM B. zu, dass EG und Amerikaner gemeinsame politische, diplomatische und wirtschaftliche Maßnahmen ergreifen sollten. Beide Minister stimmten weiter darin überein, dass Milošević die Legitimität bestritten werden sollte, die Föderation aus Serbien und Montenegro7 dürfe keinesfalls als Nachfolgestaat Jugoslawiens anerkannt werden. Es gehe darum, diesen Staat in allen internationalen Organisationen zu isolieren. Zweites Gesprächsthema war das deutsch-französische Korps: AM B. unterstich, dass die US-Regierung erheblich beunruhigt sei, dies auch im Hinblick auf die Reaktion in Senat und Kongress zur Frage der zukünftigen amerikanischen Truppenpräsenz in Europa. Insbesondere beanstandete er, dass das deutsch-französische Korps prioritär außerhalb der NATO eingesetzt werden solle und dass in der Zukunft Vereinbarungen zwischen diesem Korps und der NATO über die Beziehungen zwischen beiden getroffen werden müssten. Das bedeute, dass letztlich die deutschen Truppen nicht Teil der NATO-Integration seien. BM erläuterte nachdrücklich die deutsche Haltung und verwies darauf, dass das erste Zugriffsrecht auf dieses Korps in einem NATO-Fall bei der NATO liege. Beide Minister vereinbarten einen engen Informations- und Konsultationsaustausch im Hinblick auf die Ausgestaltung der Beziehung zwischen diesem Korps und der NATO sowie baldige Gespräche auf Expertenebene über die europäische Sicherheitspolitik und deren Auswirkung auf das amerikanisch-europäische Verhältnis. 5 Der amerikanische Präsident Bush gab am 7. April 1992 die Anerkennung von Bosnien-Herzegowina, Kroatien und Slowenien als selbstständige Staaten durch die USA bekannt. Vgl. PUBLIC PAPERS, BUSH 1992– 93, S. 553. 6 Gesandter von Nordenskjöld, Washington, teilte am 20. Mai 1992 mit, nach Auskunft des amerikanischen Außenministeriums hätten die Botschaften in Europa Weisung erhalten, weitere Maßnahmen gegen Serbien vorzuschlagen. Vgl. DB Nr. 1615; B 30, ZA-Bd. 158147. Die amerikanische Botschaft übergab am 21. Mai 1992 im Auswärtigen Amt ein Papier zu möglichen Maßnahmen im politischen und wirtschaftlichen Bereich, etwa in der Frage der Staatennachfolge Jugoslawiens, der zukünftigen diplomatischen Beziehungen zur Bundesrepublik Jugoslawien (Serbien/Montenegro) und der Mitgliedschaft in internationalen Organisationen sowie bezüglich der Meistbegünstigung, der Gewährung von Krediten durch die internationalen Finanzorganisationen und der internationalen Schifffahrt. Vgl. das amerikanische Papier „Sanctions Against Serbian Aggression In Bosnia“; B 30, ZA-Bd. 158147. 7 Zur Bildung der Bundesrepublik Jugoslawien (Serbien/Montenegro) vgl. Dok. 118, Anm. 16.

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II. Russischer AM Kosyrew am Samstag, dem 23. Mai 1992 Bei ihrem ersten Treffen versicherten beide Minister, die guten persönlichen Beziehungen, die früher bestanden hatten, auch zwischen ihnen beiden fortzusetzen. Beide Minister bewerteten die bilateralen Beziehungen als erfreulich gut. Sie äußerten ihr Interesse an einer baldigen ausführlicheren Begegnung in Moskau.8 Jugoslawien Kosyrew berichtete über seine Reise nach Belgrad.9 Zu einer Weiterreise in andere Republiken sei es nicht gekommen, da er aus unvorhersehbaren Gründen hätte zurückkehren müssen. Insofern sei sein derzeitiger Kenntnisstand über die wahren Ursachen des Konfliktes in JUG nur einseitig. Er beabsichtige, die Sondierungsgespräche in der nächsten Zeit fortzusetzen. In Belgrad sei ihm versichert worden, dass man bereit sei zu einer Feuereinstellung, zu einer Anerkennung der territorialen Integrität Bosnien-Herzegowinas sowie einer Respektierung der Ergebnisse der Lissaboner Dreiergespräche.10 Er habe darauf bestanden, dass der Flughafen in Sarajevo zu einer sicheren Zone erklärt werde, um dann diese Zone auf ganz Sarajevo und schließlich auf das ganze Gebiet Bosnien-Herzegowinas auszuweiten. Seine Gesprächspartner hätten ihm versichert, sie seien bereit, jede Vereinbarung zu akzeptieren, die er erreiche. Er habe immer wieder darauf hingewiesen, dass Belgrad die Beschlüsse von KSZE und VN beachten müsse. Ihm sei in Belgrad erklärt worden, die JNA sei nicht an den Kämpfen beteiligt, da die JNA-Einheiten abgezogen worden seien. Die Streitkräfte in Bosnien-Herzegowina beständen nur aus bosnischen Serben. Es gebe vielleicht noch 10 % der früheren JNA, die aber bisher Bosnien nicht hätten verlassen können, da die Kasernen blockiert worden seien. Sein Eindruck sei, dass Belgrad nicht mehr die vollständige Kontrolle über die Streitkräfte in Bosnien habe. Dies entspräche der Situation, die auch in der früheren Sowjetunion entstanden sei. Beunruhigend sei, dass Bosnien-Herzegowina eigene Streitkräfte der Moslems aufstellen wolle. Dieses sei eine bedrückende Aussicht, denn die Serben hätten daraufhin die allgemeine Mobilmachung verkündet. Kosyrew unterstrich die besondere Rolle Russlands in Bezug auf Serbien. Serbien sehe sich von einer Ablehnungsfront umgeben und betrachte Russland als das letzte befreundete Land. Er habe der Regierung [in] Belgrad den freundschaftlichen Rat gegeben, alle KSZE- und VN-Beschlüsse zu akzeptieren mit dem Hinweis, dass auch die russische Regierung sonst nicht mehr in der Lage sein werde, sich verschärfenden Beschlüssen in VN und KSZE entgegenzustellen. BM unterstrich das deutsche Interesse daran, dass Russland seine guten Beziehungen zu Serbien in dieser Form nutze. KSZE und VN müssten unterstützt werden. Die EG werde die Maßnahmen gegen Serbien massiv verstärken. Auch die USA träten für umfangreiche politische und wirtschaftliche Maßnahmen ein, die wir voll unterstützten. Der Druck in der deutschen Bevölkerung werde immer stärker, weil man nicht mehr verstehe, dass die Europäer nicht in der Lage seien, diesen Konflikt zu beenden. BM sprach den Fall Honecker an und verwies auf seine gute Zusammenarbeit mit Justizminister Fjodorow. Auch als Außenminister bitte er um Unterstützung in dieser Angelegen8 BM Kinkel hielt sich am 6./7. Oktober 1992 in Russland auf. Vgl. Dok. 311, Dok. 314 und Dok. 315. 9 Der Besuch des russischen AM Kosyrew fand vom 18. bis 20. Mai 1992 statt. 10 Zu den Gesprächen der verschiedenen Volksgruppen von Bosnien-Herzegowina vgl. Dok. 125, Anm. 31.

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heit, wobei er gleich seinen Dank für die bisherige Zusammenarbeit ausdrücken wolle. Er garantiere, dass Honecker bei einer eventuellen Rückkehr nach Deutschland ein faires und rechtstaatliches Verfahren erhalten werde. Nagorny Karabach Zu diesem Konflikt äußert sich Kosyrew resignativ. Es sei unmöglich, beide Seiten zu einem Kompromiss zu bringen. Dadurch seien die Möglichkeiten anderer Staaten drastisch beschränkt. Russland habe Kontakte zu beiden Seiten. Gerade vor wenigen Tagen sei eine hochrangige Delegation nach Armenien gereist und habe dort betont, dass eine militärische Lösung des Konfliktes nicht möglich sei. Es sei aber von großer Wichtigkeit, dass sich die Nachbarn der Region in diesen Konflikt nicht einmischten. Eine Lösung könne nur im Rahmen der KSZE und in ihrem regionalen Raum gefunden werden. Er selbst habe AM Dienstbier gebeten, die Anstrengungen im Hinblick auf die Konferenz in Minsk11 zu verstärken. BM erläuterte die deutsche Haltung und verwies darauf, dass die Schaffung eines Korridors12 und Grenzveränderungen für uns nicht akzeptabel seien. Es setze sich ebenfalls für eine Lösung im Rahmen der KSZE ein. BM empfahl AM Kosyrew, Präs. Jelzin zum Weltwirtschaftsgipfel nach München13 zu begleiten. Kosyrew erkundigte sich nach den Zielen des Weltwirtschaftsgipfels. BM verwies auf die Einladung an Präs. Jelzin und auch die bevorstehende Reise von StS Köhler14, der über alle Einzelheiten sowie unsere Erwartungen berichten werde, um seinerseits die Erwartungen Russlands zu erfahren. III. Gespräch mit dem niederländischen Außenminister15 am Sonntag, dem 24. Mai 1992 Zu Jugoslawien bestand weitgehend Übereinstimmung zwischen beiden Ministern wie auch über die Absicht, am Dienstag, dem 26.5.92 bei dem Expertentreffen in Brüssel16 zu konkreten Entscheidungen zu gelangen. NL-AM schlug einen Importstopp vor sowie eine Unterbrechung des Fluglinienverkehrs. Bezüglich eines Handelsembargos äußerte er sich skeptisch. Ein Exportstopp träfe nur die eigene Wirtschaft und würde von anderer Seite unterlaufen werden. Er sprach sich weiter dafür aus, dass der Sicherheitsrat der VN Sanktionen gem. Kap. VII der VN­Charta17 be11 Zur geplanten Konferenz über Nagorny Karabach im Rahmen der KSZE in Minsk vgl. Dok. 105, Anm. 14. 12 VLR I Neubert erläuterte am 12. Mai 1992, Armenien habe durch die Einnahme der aserischen Stadt Schuscha „de facto Folgendes erreicht: Korridor zwischen Nagorny Karabach und Armenien. Von der Stadt Schuscha aus, auf einem Berghang gelegen, lässt sich die Straße von Armenien-Latschin-Stepanakert kontrollieren, d. h. die Westverbindung zur Enklave durch den engsten, ca. 8 km breiten aserbaidschanischen Gebietsstreifen zwischen Nagorny Karabach und Armenien.“ Nach der Einnahme Schuschas hätten armenische Verbände zur Versorgung der Enklave mit Lebensmitteln, Treibstoff und Waffen die Landverbindung hergestellt: „Ter Petrosjan hat Botschafter Höynck vor wenigen Wochen erklärt, wenn Aserbaidschan den Korridor nicht freiwillig überlasse, werde Armenien ihn mit militärischen Mitteln erzwingen.“ Vgl. B 41, ZA-Bd. 171720. 13 Zum Weltwirtschaftsgipfel vom 6. bis 8. Juli 1992 vgl. Dok. 225. 14 Zur Einladung des russischen Präsidenten Jelzin sowie zum Besuch von StS Köhler, BMF, am 10./11. Juni 1992 in Russland vgl. Dok. 175. 15 Hans van den Broek. 16 Zum Expertentreffen vgl. Dok. 148, Anm. 11. 17 Für Kapitel VII der VN-Charta vom 26. Juni 1945 vgl. BGBl. 1973, II, S. 458–465.

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schließen solle, wobei er sich allerdings sehr skeptisch gegenüber einem Öl­Embargo äußerte. Wichtig sei es, sichere Zonen in Bosnien zu schaffen sowie den Schutz von Hilfskonvois sicherzustellen. Auch müsse das Waffenembargo der VN18 verschärft werden. Er sprach sich weiter dafür aus, den Kommissionsvorschlag für eine EG-Hilfe für Flüchtlinge in Höhe von 60 Mio. ECU zu unterstützen. BM stimmte im Wesentlichen den Ausführungen seines niederländischen Amtskollegen zu, verwies aber darauf, dass wir bereit seien, auch weiter zu gehen, insbesondere was ein Handelsembargo sowie ein Öl-Embargo angehe. Insgesamt müsse es für Serbien enger werden. Selbst wenn ein Öl-Embargo noch nicht durchgesetzt werden könne, sollte man dieses jedoch heute bereits nachdrücklich ins Gespräch bringen. Zur Mazedonien-Frage waren beide Minister der Auffassung, dass die Solidarität der EG sich langsam verbrauche und dass das Risiko, dass es auch dort zu kriegerischen Auseinandersetzungen komme, groß sei, wofür dann die EG die Verantwortung tragen müsse. Zum Europäischen Korps vereinbarten beide Minister einen zukünftigen Meinungsaustausch. Hier bedauerte die niederländische Seite einen Mangel an Information und stellte die Frage, wie sich dieses Korps in die Diskussion zur Westeuropäischen Union, zur europäischen Sicherheitspolitik und zur NATO einordne. Beide Minister vereinbarten ein baldiges Treffen in Den Haag19 und einen vertiefenden Meinungsaustausch über diese Frage. IV. Gespräch mit dem belgischen Außenminister20 Belgischer AM forderte sofortige politische und wirtschaftliche Sanktionsmaßnahmen gegen Serbien, wovon einige im Sicherheitsrat der VN festgeschrieben werden sollten. Er äußerte seinerseits allerdings Zweifel daran, ob sich dafür bereits im SR eine Mehrheit finden lasse. In der Mazedonien-Frage riet er zur Vorsicht, weil die Gefahr bestehe, dass Mitsotakis darüber stürzen könne und damit auch die Ratifizierung des Maastrichter Vertrages gefährdet werde. Eine militärische Intervention in Bosnien sei nach seiner Auffassung nicht möglich, wenn sie über den Bereich des Peace-keeping hinausgehe, für ein Peace-making gebe es kaum eine Mehrheit, und das Risiko sei überaus hoch. Auch der belg. AM sprach das deutsch-französische Korps an und bat um weitere Informationen hierüber. Beide Minister vereinbarten ein baldiges Gespräch in Brüssel.21 V. Gespräch mit dem bulgarischen Außenminister22 am Sonntag, dem 24. Mai 1992 Bulg. AM sprach sich für einen Ausbau der deutsch-bulgarischen Beziehungen aus. Insbesondere ging es ihm darum, uns zu bitten, dabei zu helfen, dass Bulgarien an der Drei18 Mit Resolution Nr. 713 vom 25. September 1991 verhängte der VN-Sicherheitsrat ein Waffenembargo gegen Jugoslawien. Vgl. RESOLUTIONS AND DECISIONS 1991, S. 42 f. Für den deutschen Wortlaut vgl. EUROPA-ARCHIV 1991, D 550–552. 19 Für das Gespräch am 11. Juni 1992 vgl. Dok. 173. 20 Willy Claes. 21 BM Kinkel und der belgische AM Claes trafen am 28. Juli 1992 zusammen. Erörtert wurden die Bedeutung und Zusammensetzung des VN-Sicherheitsrats, die Ratifikation des Vertragswerks von Maastricht, die Flüchtlingsproblematik im Zusammenhang mit der Entwicklung im ehemaligen Jugoslawien sowie die geplante Jugoslawien-Konferenz. Vgl. den Gesprächsvermerk; B 24, ZA-Bd. 174743. 22 Stojan Ganew.

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ecks-Kooperation im Rahmen der GUS-Hilfe beteiligt werde. Er beanstandete, dass die GUS-Staaten sich ihre Geberländer praktisch selbst aussuchen könnten. So seien POL, ČSFR und UNG an derartigen Dreiecksgeschäften beteiligt. BM zeigte Verständnis für den Wunsch Bulgariens, hier miteinbezogen zu werden, wies aber gleichzeitig darauf hin, dass wir nur wenig Möglichkeiten hätten, konkret etwas zu tun. Er wolle sich aber gern im Rahmen seiner Möglichkeiten einsetzen. Bulg. AM unterstrich die Rolle seines Landes als Mittler auf dem Balkan. Man sei dabei, ein Balkan-Forum zu schaffen. In Helsinki habe bereits ein Treffen der Delegationsleiter unter Einschluss Sloweniens und Kroatiens stattgefunden. Dies sei ein guter Ansatz für eine regionale Kooperation. Sein Land sei bemüht, Skopje und Athen bei der Beilegung des Konfliktes zu helfen. BUL wolle damit unterstreichen, dass es damit ein europäischer Faktor in der Balkan­Region werden könne. VI. Gespräch mit dem armenischen Außenminister23 am Sonntag, dem 24. Mai 1992 Arm. AM erinnerte BM an die gegenüber BM Genscher ausgesprochene Einladung zu einem Besuch in Armenien. Er bittet darum, dass bald ein derartiges Treffen, ggf. auch in Bonn, in Betracht komme. Am liebsten wäre ihm eine Einladung seines Präsidenten24 nach Bonn. BM verweist auf die schwierige Terminlage in den ersten Monaten seiner Amtszeit und erklärt sich bereit, seinen Amtskollegen zu einem Gespräch zu empfangen. Er betont die Bedeutung einer friedlichen Lösung des Nagorny-Karabach-Konfliktes auch im Hinblick auf die Weiterentwicklung der bilateralen Beziehungen. Insbesondere unterstreicht er, dass mit Gewalt herbeigeführte Gebietsveränderungen, z. B. durch die Schaffung eines Korridors, von der Staatengemeinschaft nicht akzeptiert werden. Arm. AM setzt sich für eine friedliche Lösung entsprechend den Prinzipien der KSZE ein. Die derzeitige Lage sei ein Ergebnis der Politik Stalins gewesen. Geschichtlich sei Nagorny Karabach ein Teil Armeniens. Armenien mache heute aber keinen Wiedervereinigungsanspruch geltend. Allerdings müsse auch für Nagorny Karabach das Recht auf Selbstbestimmung gelten. Wenn es ein unabhängiger Staat werden wolle, so müsse ihm dieses Recht zugebilligt werden. Alles, was zwischen Nagorny Karabach und Aserbaidschan ausgehandelt werde, werde die Zustimmung Armeniens finden. Was den Korridor angehe, so habe Nagorny Karabach mit Hilfe der kurdischen Bevölkerung diesen geöffnet, der seit vier Jahren verschlossen gewesen sei. Die Versorgung mit Nahrungsmitteln und medizinischen Hilfsgütern sei prekär gewesen. Es handele sich hier um eine Maßnahme, um das Überleben der Menschen in Nagorny Karabach zu sichern. Man trete in Armenien dafür ein, dass die Straße nunmehr unter internationale Kontrolle gestellt werde, damit Versorgungsgüter passieren könnten. Er sprach sich ausdrücklich für die Entsendung von Friedenstruppen aus, stimmte allerdings dem deutschen Einwand zu, dass hierfür die Voraussetzungen erst geschaffen werden müssten. Arm. AM erläutert die Beziehungen seines Landes zur Türkei, um deren Verbesserung sich seine Regierung sehr bemüht habe. Türkei helfe einseitig Aserbaidschan. Man müsse TUR vor jeder Intervention in diesem Konflikt dringend warnen. 23 Raffi Hovannisian. 24 Lewon Ter-Petrosjan.

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Abschließend wiederholten die Minister ihre Vereinbarung, sich gelegentlich in Bonn zu sehen. Ein Termin für diesen Besuch solle gefunden werden. Chrobog B 1, ZA-Bd. 178945

150 Drahtbericht des Botschafters Blech, Moskau Fernschreiben Nr. 2273 Citissime Betr.:

Aufgabe: 25. Mai 1992, 15.51 Uhr1 Ankunft: 25. Mai 1992, 14.22 Uhr

Dortige erste Überlegungen zur Herstellung eines Junktims zwischen Rückführung deutscher Kulturgüter aus Russland und umfangreichen deutschen Leistungen an Russland auf anderen Gebieten

Bezug: Vermerk zum sechsten Treffen mit BMI am 30.4.1992 – 600-630.03 Allgem.2 I. Hier würde angesichts Bezugsvermerk, Ziff. 2, interessieren, ob AA, BMI, BMWi tatsächlich daran arbeiten, notfalls ein Junktim gemäß Betreff in Erwägung zu ziehen. II. Für den Fall eines deutschen Junktims ergeben sich aus Sicht der Botschaft ausschließlich Bedenken. Eine empfindliche Störung der bilateralen Beziehungen wäre wahrscheinlich, und wir würden außerdem nur unseren eigenen, aber auch westlichen Interessen schaden: 1) Nichts wäre politisch-psychologisch kontraproduktiver, als die hiesigen Verlierer der Geschichte durch eine Kombination von Zuckerbrot und Peitsche ausgerechnet in der Restitutionsfrage gefügig machen zu wollen. Diese Frage hält wie kaum eine andere die Erinnerung wach an den vergangenen Sieg (Trophäen!) wie auch an den diesem vorausgegangenen Vernichtungs- und Raubkrieg Nazideutschlands gegen Leben (20 Mio.), Natur und Kultur (Rosenberg u. a.) in der Sowjetunion. Derartigen Junktim-Überlegungen sollte ggf. von Anfang an entgegengewirkt werden, sowohl innerhalb der Bundesregierung als auch und gerade, wenn in der deutschen Öffentlichkeit entsprechende Forderungen hochkommen sollten. 2) Die soeben im russischen Parlament einmütig und emotional erfolgte Zurückweisung des GUS-internen Rückführungsvertrags von Minsk vom 14.2.1992 (es geht dabei, wie berichtet, nur um normale, d. h. nicht einmal kriegsbedingte Rückführungen innerhalb der GUS-Staaten) zeigt die ungeheuere Empfindlichkeit der Thematik in der hiesigen Öffentlichkeit und Politik. 1 Der Drahtbericht wurde von BR I Weiß, Moskau, konzipiert. Hat VLR I Neubert und VLR Mülmenstädt vorgelegen. 2 In einem undatierten Vermerk hielt LR I Haßmann unter Ziffer 2 als Ergebnis der Besprechung u. a. fest: „BMI stellt bei BMWi hinsichtlich Wirtschaftshilfe, AA im eigenen Hause hinsichtlich Systemhilfe fest, welches jeweils die größten Einzelprojekte sind, um Grundlage für Überlegungen zur Herstellung eines Junktims zwischen Rückführung deutscher Kulturgüter aus RUS einerseits und umfangreichen deutschen Leistungen an RUS auf anderen Gebieten andererseits zu schaffen.“ Vgl. B 90, ZA-Bd. 209154.

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Um wieviel empfindlicher würden die politischen Gruppierungen und die breitere Öffentlichkeit ggf. auf eine Junktim-Druckstrategie ausgerechnet Deutschlands bei der kriegsbedingten Rückführungsproblematik reagieren. Es käme wahrscheinlich zum Schulterschluss quer durch die politischen Strömungen und vor allem die Generationen! Ein immer noch unterschwellig nachwirkendes negatives Deutschlandbild in der älteren Generation würde trotz des positiven politischen Wandels und des Generationenwechsels u. U. perpetuiert. Die Möglichkeit für Jelzin/Sidorow, eine politische Lösung im Sinne der Gemeinsamen Erklärung3 durchzusetzen, würde äußerst erschwert, ja die russische Führung könnte dies zum Vorwand nehmen, um am Ende den Schwarzen Peter für die Undurchführbarkeit einer politischen Lösung uns zuzuschieben. Eine kooperative, geschichtsbewusste Lösung in Würde und als Ausdruck eines neuen politischen Miteinanders zwischen Deutschland und Russland (Gemeinsame Erklärung, Ziff. 11) wäre grundsätzlich gefährdet.4 3) Vor allem aber müssen wir uns fragen, ob wir unseren eigenen und im Vergleich zur Restitutionsfrage gewiss vorrangigen Stabilitätsbeitrag zur Entwicklung Russlands infrage stellen wollen. Wir leisten diesen Beitrag auf einer ganz anderen, sich einem Junktim-Denken von vorneherein entziehenden Ebene aus einer eigenen Interessenlage heraus. In jenem Miteinander, das erst im Stadium der Formierung und Orientierungssuche, also nicht beliebig belastbar ist, ist natürlich alles mit allem verbunden.5 Das Programm der Gemeinsamen Erklärung vom November 1991 ist im Prinzip unteilbar. Diese Unteilbarkeit bedarf eines politischen Managements, dessen Behutsamkeit seiner Bestimmtheit nicht im Wege stehen muss. Erklärte Junktims zwischen Fragen verschiedener Sachbereiche sind hier grundsätzlich kein geeignetes Instrument. 4) Schließlich würde ein Junktim, selbst wenn es erfolgreich wäre, in der Praxis vermutlich recht häufig ins Leere stoßen, selbst wenn der russische Staat unseren Rückgabeanspruch intern durchzusetzen versucht. Der zunehmende Zerfall der russischen Staatsautorität und die immer stärkere materielle, finanzielle und ideelle Abwendung des Staates von der Kultur, den Museen, Bibliotheken, Archiven etc., die mit der Aufforderung zu deren wirtschaftlicher und sonstiger Selbstständigkeit verbunden wird, lässt sogar zunehmend die Frage aufkommen, welchen Wert offizielle bilaterale Restitutionsabsprachen am Ende bei der Abwicklung der Rückführung haben werden. III. Einige Elemente einer kooperativen Konzeption (die Botschaft sieht sich immer noch nicht hinreichend informiert über die dortigen Überlegungen und ist der Auffassung, dass das Stichwort „Gesamtlösung“ den real auf uns zukommenden Problemen nicht gerecht werden wird): 3 Vgl. Ziffer 11 der Gemeinsamen Erklärung von BK Kohl und dem russischen Präsidenten Jelzin vom 21. November 1991; BULLETIN 1991, S. 1083. 4 Dieser Absatz wurde von VLR Mülmenstädt durch Fragezeichen hervorgehoben. 5 Der Passus „Wir leisten … allem verbunden“ wurde von VLR I Neubert hervorgehoben. Dazu vermerkte er handschriftlich: „r[ichtig]“.

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1) Der wichtigste Ansatz wird bei aller notwendigen zwischenstaatlichen Rahmengebung sein, das Interesse der einschlägigen russischen Museen und sonstigen öffentlichen Einrichtungen (auf privater Ebene vmtl. sowieso nach Quedlinburger Domschatz6 andere Ansätze notwendig) unmittelbar zu stimulieren und die Rückführung in jedem Einzelfall als Initialzündung für neue Formen der direkten Zusammenarbeit zwischen deutschen/ russischen Museen, Archiven, Bibliotheken etc. wirken zu lassen. Damit wird die Rückführung nicht als weiterer Verlust im Bewusstsein der russischen Beteiligten, sondern als Gewinn, wenn auch auf anderer Ebene, gelten. 2) Wir brauchen uns dabei nicht zu scheuen, überzogenen russischen Forderungen nach Kompensation (gleich wie diese etikettiert wird) die bisherige, die russische Seite durchaus beschämende Behandlung deutschen Kulturguts entgegenzuhalten. Dies wird der entscheidende psychologische Hebel sein, derartige Forderungen zu minimieren. Was bislang weitgehend als wertloses Gut behandelt wurde, kann nun nicht plötzlich für die russische Seite von unschätzbarem, deutscherseits zu kompensierendem Wert sein. 3) Wir sollten den russischen Staat zur Einhaltung der politischen Leitlinie Bundeskanzler/ Jelzin vor allem dort auffordern, wo er eindeutig selbst verantwortlich gemacht werden und handeln kann. Deshalb ist der Komplex Uskoje7 im Sinne einer positiven Präzedenzwirkung vermutlich weniger geeignet (die Akademie ist zwar eine öffentliche Anstalt, aber statusmäßig selbstständig) als die angebotenen deutschen Bücher bei der russ. Generalstaatsanwaltschaft (vgl. Berichterstattung). Wir sollten, wenn die Mission von Prof. Lehmann zu Uskoje8 scheitert (was die Botschaft annimmt), einen taktischen Wechsel beschließen und uns auf diesen kleineren, aber in jeder Hinsicht beispielgebenden und für uns vorteilhafteren Fall konzentrieren.9 4) Wir müssen in jedem Falle Mittel bereithalten für die objektiven Kosten der Rückführung (d. h. Personal- und Sachkosten für die hiesige Erfassung von Objekten, technische Über6 Zum Fall des Quedlinburger Domschatzes, der 1945 durch einen amerikanischen Soldaten gestohlen und in die USA verbracht wurde, vermerkte AS 505 am 14. Februar 1992, die Domgemeinde habe einen Vergleich geschlossen, dem zufolge „kein Kaufpreis für die Rückgabe der Gegenstände, sondern ein Aufwendungsersatz für Kosten und Aufwendungen“ an die Erben des Soldaten gezahlt werde: „Insoweit kann aus dem Vergleich auch keine Präjudizwirkung für künftige Fälle der Rückführung durch den Krieg abhanden gekommener Kulturgüter hergeleitet werden.“ Vgl. B 1, ZA-Bd. 257761 7 In der Kirche St. Anna in Uskoje bei Moskau lagerten mehrere hunderttausend Bücher aus deutschen Bibliotheken, die 1945 in die UdSSR verbracht worden waren. Zuständig war das Institut für wissenschaftliche Information der Gesellschaftswissenschaften (INION) der Akademie der Wissenschaften unter Leitung seines Direktors Winogradow. In einer Besprechung über eine Rückführung am 11. Oktober 1991 teilte der Generaldirektor der Deutschen Bibliothek, Lehmann, mit, wirklich wertvoll seien nur knapp 1400 Bücher aus Gotha. Vgl. den Vermerk des LR I Haßmann vom 14. Oktober 1991; B 90, ZA-Bd. 209178. Am 28. April 1992 berichtete BR I Weiß, Moskau, nach Auskunft von Winogradow sei die Zahl der Bücher aus Gotha mittlerweile auf 5000 angewachsen. Vgl. DB Nr. 1884; B 90, ZA-Bd. 209178. 8 Der Generaldirektor der Deutschen Bibliothek, Lehmann, hielt sich vom 17. bis 21. Juni 1992 in Russland auf. BRin Hertrampf, Moskau, berichtete am 24. Juni 1992, in den Verhandlungen mit INION-Direktor Winogradow über ein Rückgabeabkommen habe Lehmann eine Höchstsumme von 700 000 DM für Sachspenden genannt, während Winogradow zunächst 2 Mio. US-Dollar verlangt, schließlich aber eingelenkt habe. Hertrampf teilte mit, das Ergebnis der Reise müsse als Erfolg bewertet werden: „Die unrealistischen Forderungen des INION dürften damit nunmehr endgültig vom Tisch sein.“ Vgl. DB Nr. 2653; B 90, ZA-Bd. 209178. 9 Dieser Satz wurde von VLR I Neubert hervorgehoben und mit Häkchen versehen.

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führung etc. von Russland nach Deutschland) und diese Bereitschaft auch erklären. Dabei fallen, wie der Archivbereich zeigt, der sich leider zunehmend verselbstständigt und ungünstige Präzedenzwirkung in andere Restitutionsbereiche hineinbringt (Botschaft regt dringend stärkere Synchronisation an), erhebliche Beträge für zusätzliche Personalkosten und technische Infrastruktur auf Partnerseite an. Diese Bereitschaft kann bei den hiesigen Museen angesichts einer immer schwerer werdenden sozialen Lage der Mitarbeiter krampflösend wirken und das Gespräch über den eigentlichen wertmäßigen Kern der deutschen Kulturgüter erleichtern. 5) Wir sollten die völkerrechtliche Diskussion zu Rückführungsfragen vorbereiten und dann aktiv anstoßen. Die Restitution als zivilisatorisch gebotener Akt im Gegensatz zum Beuterecht, das schon im 19. Jh. gewohnheitsrechtlich nicht mehr anerkannt wurde, sollte durchaus im Zusammenhang der russischen Geschichte thematisiert werden. So könnte an die Brüsseler Expertenkonferenz von 1874 zum Schutz von Kulturgütern im Krieg und zu Restitutionsfragen angeknüpft werden, die auf eine Initiative des russischen Zaren Alexander II. zurückging und später für die einschlägigen Bestimmungen der Haager Landkriegsordnung von 190710 (u. a. Artikel 53, 55, 56) an Bedeutung gewann. Dies würde sich psychologisch durchaus in das russische Bestreben nach Integration in zivilisatorische Prozesse unter Rückbesinnung auf die eigene Geschichte einfügen.11 IV. Hinweis zur Literatur, falls dort nicht bekannt: Festschritt für Karl Doehring, Staat und Völkerrechtsordnung, Band 98 der Beiträge zum ausländischen öffentlichen Recht und Völkerrecht, Berlin 1989, Aufsatz von Walter Rudolf über den internationalen Schutz von Kulturgütern, Anm. 13 und besonders Anm. 3612; Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen, Berichte aus Mittel- und Ostdeutschland. Die Verluste der öffentlichen Kunstsammlungen in Mittel- und Ostdeutschland 1943/1946.13 [gez.] Blech B 41, ZA-Bd. 222300

10 Für das Abkommen vom 18. Oktober 1907 betreffend die Gesetze und Gebräuche des Landkriegs (Haager Landkriegsordnung) vgl. REICHSGESETZBLATT 1910, S. 107–151. 11 MDg Schirmer teilte der Botschaft in Moskau am 5. Juni 1992 mit, in einem Gespräch am 26. Mai 1992 zwischen dem Auswärtigen Amt und dem BMI habe Einigkeit bestanden, „dass gegenüber russischer Seite erneut unser Wunsch mit Nachdruck vorgebracht werden muss, möglichst bald das erste förmliche Gespräch in der Frage zu führen“. Das Auswärtige Amt teile die Auffassung der Botschaft, „dass ein ,Junktim‘ zwischen unseren Rückführungsbegehren und unseren sonstigen weitgehenden Leistungen bei der Unterstützung des politischen, sozialen und wirtschaftlichen Reformprozesses in Russland nicht hergestellt werden kann und darf“. Vgl. DE Nr. 979; B 90, ZA-Bd. 209152. 12 Vgl. Walter RUDOLF, Über den internationalen Schutz von Kulturgütern, in: Kay HAILBRONNER, Georg RESS, Torsten STEIN (Hg.), Staat und Völkerrechtsordnung: Festschrift für Karl Doehring, Berlin, Heidelberg u. a. 1989, S. 853–871. 13 Vgl. BUNDESMINISTERIUM FÜR GESAMTDEUTSCHE FRAGEN (Hg.), Bonner Berichte aus Mittel- und Ostdeutschland. Die Verluste der öffentlichen Kunstsammlungen in Mittel- und Ostdeutschland 1943–1946, Bonn 1954.

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151 Vorlage des Vortragenden Legationsrats I. Klasse Neubert für Bundesminister Kinkel 213-320.10 UKR

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Über Dg 212, D 23, Herrn Staatssekretär4 Herrn Bundesminister5 Betr.:

Krim

Zweck der Vorlage: Zur Unterrichtung 1) Die Krim, seit Mitte des 19. Jahrhunderts zu Russland gehörend (vorher Türkei), war 1954 von dem ukrainestämmigen Nikita Chruschtschow der Ukrainischen SSR zum 300. Jahrestag des verhängnisvollen russisch-ukrainischen Schutzabkommens zum Geschenk gemacht worden. Seinerzeit weitgehend unbeachtet, gewann der Transfer mit dem Zerfall der SU Bedeutung für die russisch-ukrainischen Beziehungen. Während das russische Parlament im Herbst 1991 eine Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit der Schenkung anordnete, hatte Boris Jelzin wiederholt klargestellt, dass RUS keine Gebietsansprüche gegen die UKR habe. Die Haltung der zu 60 % russisch besiedelten Krim-Bevölkerung selbst schwankt. Nachdem am 1. Dezember 1991 auch auf der Krim eine absolute Mehrheit der abgegebenen Stimmen für die ukrainische Unabhängigkeit stimmte, wenn auch mit einer mäßigen Wahlbeteiligung (um 65 %), billigte der Oberste Rat (Regionalparlament) der Krim nach monatelangen Verhandlungen mit Kiew, denen ein Autonomiereferendum auf der Krim vorausgegangen war6, ein am 29. April 1992 durch das ukrainische Parlament bestätigtes Gesetz, dem zufolge die Halbinsel autonomer Bestandteil der Ukraine ist. Demgegenüber verabschiedete er am 5. Mai einen „Akt der Unabhängigkeitserklärung der Republik Krim“ und beschloss ein neues Referendum hierüber. Schon am 6. Mai versuchte er, den entstehenden Konflikt durch Aufnahme eines Passus in die Krimer Verfassung zu entschärfen, dem zufolge die Republik Krim Teil des ukrainischen Staates sein und ihre Beziehungen zu ihm durch Verträge und Abkommen regeln solle. Der Oberste Rat der Ukraine erklärte die einseitigen Beschlüsse am 13. Mai für verfassungswidrig und damit nichtig und forderte das Parlament der Krim zur Rücknahme bis 1 2 3 4 5

Die Vorlage wurde von LR I Welberts konzipiert. Hat in Vertretung des MDg von Studnitz VLR I Lambach am 29. Mai 1992 vorgelegen. Hat MD Chrobog am 1. Juni 1992 vorgelegen. Hat StS Kastrup am 1. Juni 1992 vorgelegen. Hat BM Kinkel am 6. Juni 1992 vorgelegen. Hat OAR Rehlen am 9. Juni 1992 vorgelegen, der den Rücklauf über das Büro Staatssekretäre, MD Chrobog und MDg von Studnitz an Referat 213 verfügte. Hat VLR I Reiche am 10. Juni 1992 vorgelegen. Hat Chrobog laut Vermerk erneut vorgelegen. Hat Studnitz am 10. Juni 1992 vorgelegen. Hat LR I Welberts am 11. Juni 1992 erneut vorgelegen. 6 Zum Autonomiereferendum vom 20. Januar 1991 vgl. Dok. 32, Anm. 9.

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zum 20. Mai auf. Weiter schlug er dem ukrainischen Präsidenten vor, „Maßnahmen zur Wiederherstellung einer verfassungskonformen Rechtsordnung in der Autonomen Republik Krim zu ergreifen“, ohne die Halbinsel jedoch, wie von der oppositionellen „Ruch“ gefordert, direkter Präsidialverwaltung zu unterstellen. Am 20. Mai widerrief das Krimer Parlament daraufhin seinen Unabhängigkeitsbeschluss. Dessen ungeachtet erklärte der Oberste Sowjet Russlands am 1. Mai die Schenkung von 1954 für verfassungswidrig und forderte Verhandlungen über die Zukunft der Halbinsel. Dies relativierte er am 22. Mai mit einer Erklärung an das ukrainische Parlament, der zufolge Russland die innerhalb der GUS bestehenden Grenzen respektiert und entsprechend dem bilateralen Vertrag vom 19. November 19907 auch gegenüber der Ukraine keine Gebietsansprüche hat. Das ukrainische AM hat am 23. Mai die Forderung nach Verhandlungen zurückgewiesen. Der Status der Krim sei innere Angelegenheit der Ukraine und könne nicht Gegenstand von Verhandlungen „mit irgendeinem anderen Staat“ sein. 2) Die Bestrebungen des Parlaments der Krim sind bei genauem Hinsehen weniger auf eine Loslösung als auf einen noch weitergehenden Ausbau ihrer bestehenden Autonomie innerhalb der Ukraine gerichtet. Die Verantwortlichen auf der Krim wissen, dass die Halbinsel als unabhängiger Staat gegen den Widerstand des ukrainischen Festlands, auf das sie für ihre Versorgung insbesondere mit Wasser und Energie angewiesen ist, nicht überleben könnte. Ein Anschluss an Russland müsste auch daran scheitern, dass sich Moskau mit Rücksicht auf Unabhängigkeitsbestrebungen im eigenen Land eine offene Unterstützung der Sezession der Krim nicht leisten kann. Zudem hätte die altkommunistische Führungsriege der Krim, die mit dem Putschversuch vom 19. August 19918 sympathisierte, von Jelzins Russland nicht nur Gutes zu erwarten. Das Interesse der Krim gegenüber Kiew lautet daher: So viel Unabhängigkeit wie möglich, so viel Einbindung wie nötig. Die ungewohnt harte Gangart der ukrainischen Führung ist angesichts deren Frustration über die Aufkündigung der mit der Krim ausgehandelten Kompromisslösung („Autonomiegesetz vom 29.4.1992“) verständlich. Diese hatte der Krim weitgehende politische, wirtschaftliche und kulturelle Autonomie eingeräumt. Die Unabhängigkeitserklärung der Krim rührte aus Kiewer Sicht an die territoriale Integrität der Ukraine. Sie hat zudem entscheidende Auswirkung auf die Frage der Schwarzmeerflotte9, da deren Großteil nur unterhalten kann, wer über den Haupthafen Sewastopol verfügt. Andererseits verquicken sich hier handfeste militärische Interessen mit tiefgehenden historisch-emotionalen, innenpolitisch relevanten Stimmungen: AM Kosyrew sagte im Januar 1992 zu BM Genscher10, das Flottenproblem sei durch Zahlenkompromisse lösbar, weit schwieriger sei es, in Russland dem Volk und dem Parlament verständlich zu machen, dass Sewastopol jetzt eine Stadt „im Ausland“ sei. 7 Korrigiert aus: „19. Sept. 1990“. Für den Vertrag vom 19. November 1990 zwischen der USSR und der RSFSR über Freundschaft, gute Nachbarschaft und Zusammenarbeit vgl. UNTS, Bd. 1641, S. 220–237. 8 Vom 19. bis 21. August 1991 kam es in der UdSSR zum Putschversuch durch ein „Staatskomitee für den Ausnahmezustand“. Vgl. AAPD 1991, II, Dok. 266–269, Dok. 271, Dok. 272, Dok. 274–276 und Dok. 284. 9 Zur Frage der Aufteilung der Schwarzmeerflotte vgl. Dok. 105, Anm. 11. 10 Für das Gespräch des BM Genscher mit dem russischen AM Kosyrew am 15. Januar 1992 vgl. Dok. 13.

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Ungeachtet dessen wäre ein geduldiges, hinhaltendes Eingehen auf die Neuverhandlungswünsche Simferopols besonders mit Blick auf Stimmungen in Russland taktisch klüger gewesen. Allerdings ließen die jüngsten radikalen Forderungen der „Ruch“ (Auflösung des Krimparlaments, Präsidialherrschaft, strafrechtliche Verfolgung des Krimer Parlamentspräsidenten11, Verbot aller Parteien und Bewegungen, die eine Änderung der Grenzen anstreben) Leonid Krawtschuk nur geringen innenpolitischen Spielraum. Dieser hoffte offensichtlich, den oszillierenden Kurs der Krimführung durch politische Konfrontation zu einer erneuten, diesmal endgültigen Wende zu zwingen. Wenn der Oberste Sowjet der RF, der in der Krimfrage offenbar nicht Jelzins Unterstützung genießt, nun nicht weiter insistiert, wohl auch aus Sorge, dass erfolgreiche Sezession der Krim in Russland Schule machen könnte (Tatarstan), wäre Krawtschuks Rechnung aufgegangen und das Problem im Grundsatz beigelegt. 3) Das seit neuesten Meldungen für Anfang Juni geplante Treffen Jelzin – Krawtschuk12 könnte den Trend zu einer Beilegung dieser wohl gefährlichsten Streitpunkte bestätigen: – Die GUS-VM haben sich geeinigt, dass nur nukleare auch „strategische“ Kräfte im Sinne der Vereinbarungen von Minsk13 und Kiew14 sind. Damit ist die Hochseeflotte nicht mehr Objekt von Prinzipienreiterei, sondern verhandlungs- und damit kompromissfähig. Die Ukraine beansprucht ohnehin nur ca. 30 % der Schwarzmeerflotte, mehr kann sie sich finanziell auch nicht leisten. – Kiew hat der Krim wirklich akzeptable Autonomieregelungen zugestanden, Russland hat kein Interesse, die allgemeine Sezessions-Euphorie zu fördern15, wie Tatarstan zeigt. – Jelzin und Krawtschuk haben Interesse daran, die nationalistischen Extremisten in Kiew, Moskau (und vielen anderen Orten) politisch zu überspielen, um sich anderen dringenden Problemen zuwenden zu können. Ein beiderseits akzeptabler Geschäftsabschluss ist erwünscht, er scheint machbar. Die dann verbleibenden Probleme, wie Auslandsschulden und -vermögen, sind nicht spezifisch ukrainisch-russisch, sie lassen sich daher auch eher im allgemeinen GUSRahmen behandeln, der nötige Kompromisse besser kaschieren hilft. Neubert B 41, ZA-Bd. 184025

11 Nikolai Wassiljewitsch Bagrow. 12 Die Präsidenten Jelzin (Russland) und Krawtschuk (Ukraine) trafen am 23. Juni 1992 in Dagomys/Sotschi zusammen. Vgl. Dok. 195, Anm. 6. 13 Die GUS-Mitgliedstaaten schlossen am 30. Dezember 1991 in Minsk ein Abkommen über die Bildung eines Vereinigten Kommandos der strategischen Streitkräfte sowie eine einheitliche Kontrolle der Atomwaffen der ehemaligen UdSSR. Vgl. EUROPA-ARCHIV 1992, D 308 f. Vgl. auch das bei der Gipfelkonferenz der GUS-Mitgliedstaaten am 14. Februar 1992 in Minsk unterzeichnete „Abkommen über den Status der strategischen Streitkräfte“; EUROPA-ARCHIV 1992, D 323–326. 14 Zur Gipfelkonferenz der GUS-Mitgliedstaaten am 20. März 1992 vgl. Dok. 83, Anm. 2. 15 Korrigiert aus: „gefährden“.

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26. Mai 1992: Drahtbericht von Ploetz

152 Drahtbericht des Botschafters von Ploetz, Brüssel (NATO) VS-NfD Fernschreiben Nr. 841 Betr.:

Aufgabe: 26. Mai 1992, 11.43 Uhr1 Ankunft: 26. Mai 1992, 12.43 Uhr

1) Europäische Sicherheits- und Verteidigungsidentität, insbesondere WEU und deutsch-französische Beschlussfassung zum Eurokorps 2) Krisenbewältigung im ungeteilten Europa nach Ende des Kalten Krieges; hier: Beratung der Eurogroup-Verteidigungsminister am 25.5.1992 in Brüssel

Zusammenfassung Am Vorabend des ersten Treffens der NATO-Verteidigungsminister2 nach Auflösung der SU, Maastricht3 und den deutsch-französischen Beschlüssen von La Rochelle4  und dem letzten derartigen Treffen vor den amerikanischen Präsidentschaftswahlen5  standen die o. g. Themen im Mittelpunkt der Ministerberatungen. D6 und GB7 waren durch neue VMs vertreten, die erwartungsgemäß den Ton angaben für die unterschiedlichen Denkschulen (BM-Intervention s. Anhang8). NWG-VM9, der für Nachfolge des NATO-GS10 kandidiert, verstärkte gerade beim ersten Thema die deutschen Argumente des „sowohl als auch“. GB-VM hatte in klassischer britischer Weise damit eingeleitet, dass er die Grenzen europäischer Entwicklungen verdeutlichte. BM reagierte hierauf  und auf zahlreiche Fragen, besonders von NL11  mit einer sowohl unter atlantischen wie unter europäischen Vorzeichen glaubwürdigen Präsentation der Beschlüsse von La Rochelle. NWG-VM appellierte als „Außenseiter“ an europäische Partner, keine künstlichen Widersprüche zu konstruieren zwischen Allianz und europäischer Einigung. In Europa müsse es eine Wirtschaftsunion und damit eine Politische Union geben, diese müsse Verteidigung einschließen. Im Kern gehe es also darum, die wesentliche Errungenschaft der Allianz  kollektive Verantwortung für Sicherheit und Verteidigung  zu erhalten. F verlasse de Gaulle’sche Positionen er1 2 3 4 5

Das Fernschreiben wurde in zwei Teilen übermittelt. Vgl. Anm. 24. Zur Ministersitzung des DPC der NATO am 26. Mai 1992 in Brüssel vgl. Dok. 155. Zur Tagung des Europäischen Rats am 9./10. Dezember 1991 vgl. AAPD 1991, II, Dok. 425 und Dok. 431. Zu den deutsch-französischen Konsultationen am 21./22. Mai 1992 vgl. Dok. 142 und Dok. 144. In den USA fanden am 3. November 1992 Präsidentschaftswahlen, Wahlen zum Repräsentantenhaus sowie Teilwahlen zum Senat und für die Gouverneursämter statt. 6 Volker Rühe. 7 Malcolm Rifkind. 8 Dem Vorgang beigefügt. Vgl. Anm. 24. 9 Johan Jørgen Holst. 10 Auf der NATO-Gipfelkonferenz am 7./8. November 1991 in Rom wurde eine Verlängerung der Amtszeit von NATO-GS Wörner bis zum 30. Juni 1993 gebilligt. Vgl. AAPD 1991, II, Dok. 375. Eine weitere Verlängerung seiner Amtszeit bis zum 30. Juni 1996 wurde auf der NATO-Ministerratstagung am 17. Dezember 1992 in Brüssel beschlossen. Vgl. Ziffer 23 des Kommuniqués; NATO FINAL COMMUNIQUÉS 1991–1995, S. 93. Für den deutschen Wortlaut vgl. BULLETIN 1992, S. 1308. Zur NATOMinisterratstagung vgl. Dok. 431. 11 Aurelus ter Beek.

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kennbar in Richtung auf kollektive Verteidigung, wenn auch nicht „durch den Haupteingang“ im Allianzrahmen. Dies sei positiv. NWG-Intervention, sekundiert durch B12 und E13, reduzierte das Momentum kritisch gemeinter Fragen. Die Tatsache, dass NWG-VM bereits in der Nachmittagssitzung einen NWG-Aufnahmeantrag in die EG14 für Herbst 1992 angekündigt hatte, verstärkte das Gewicht seiner Argumentation. Die Erörterung des Jugoslawien-Konfliktes und möglicher vergleichbarer Herausforderungen brachte, ebenfalls unter argumentativer Führung von NWG-VM, eine dramatische „Demilitarisierung“ der Argumentation: Mehrere Minister stimmten Holst darin zu, dass rechtzeitige Nutzung von politisch-wirtschaftlichen Einflussmöglichkeiten und Sanktionsinstrumenten wesentlich wirkungsvoller zur Verhinderung oder Begrenzung des Konflikts beigetragen hätte. Militärische Instrumente seien unverzichtbar, könnten und sollten aber nicht im Vordergrund stehen. Die während des Gesprächs bekanntwerdende Wahl des italienischen Staatspräsidenten15 wurde mit Befriedigung aufgenommen. Bezeichnenderweise konnte aber auch italienische Seite zahlreiche interessierte Fragen nach dem neuen Präsidenten nicht beantworten. Ergänzend und im Einzelnen 1) Europäische Sicherheits- und Verteidigungsidentität a) Rifkind (GB) stellte drei Fragen in den Mittelpunkt: – Stärken europäische Entwicklungen die Allianz oder nicht? – Werden unnötige Kosten und Duplizierungen vermieden oder nicht? – Wird die WEU genutzt, die den USA wohl vertraut und durch Maastricht und Rom16 als europäischer Pfeiler designiert ist oder nicht? Insgesamt ließ britische Darstellung Verständnis für den autonomen historischen Prozess der europäischen Integration vermissen. Europäische Sicherheits- und Verteidigungsidentität wurde vielmehr als Funktion des Bemühens verstanden, die USA in Europa zu halten. Dabei war die Präsentation Rifkinds verbindlicher und werbender als bei VM King. b) E mahnte knapp, aber zutreffend europäische Handlungsfähigkeit an und legte dabei das Schwergewicht auf Herausforderungen außerhalb des NATO-Vertragsgebiets17. c) GRI18 verstärkte GB-Ansatz aus Sorge, dass nach den jüngsten Unruhen in USA19 die Abzugstendenzen verstärkt wirksam werden könnten. 12 Leo Delcroix. 13 Julián García Vargas. 14 Zu einem möglichen EG-Beitrittsantrag Norwegens vgl. Dok. 229. 15 Am 25. Mai 1992 wurde der bisherige Präsident des italienischen Parlaments, Scalfaro, im 16. Wahlgang zum Staatspräsidenten gewählt. 16 In Rom fand am 7./8. November 1991 eine NATO-Gipfelkonferenz statt. Vgl. AAPD 1991, II, Dok. 375 und Dok. 376. 17 Das Bündnisgebiet war in Artikel 6 des NATO-Vertrags vom 4. April 1949 festgelegt. Vgl. BGBl. 1955, II, S. 290. 18 Ioannis Varvitsiotis. 19 GK Metternich, Los Angeles, berichtete am 30. April 1992, in der Nacht sei es zu gewalttätigen Unruhen gekommen. Ausgelöst worden seien diese durch den Freispruch von vier weißen Polizisten, die wegen

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d) NL schloss nahtlos an GB an und formulierte Fragen – nach von anderen WEU-Partnern erwarteten Beiträgen zum Eurokorps, – nach Art und Weise seiner Einbindung in Allianz (D­Muster oder F-Muster?) und – nach den Aufträgen. (Ter Beek operierte mit der These, dass deutsche und französische Korps-Beiträge nicht als Reaktionsstreitkräfte eingesetzt werden könnten – BM widersprach.) e) NWG leitete über zu einer weniger dogmatischen Betrachtungsweise, indem es drei Ziele definierte: – Europa müsse unter Einbeziehung von Verteidigung konstruiert werden, dies setze Einbeziehung von F voraus. – Dabei müsse USA überzeugend nachgewiesen werden, dass es beim klassischen Verteidigungskonzept für Europa (Allianzverteidigung) bleibe, dass seine20 Erhaltung aber europäische Integration voraussetze. – Man müsse sich auf neue, unbekannte und undefinierbare Herausforderungen einstellen, in denen vielfach militärische Reaktionen nicht angemessen sein würden, aber vielleicht letztlich notwendig werden könnten. Abschließende Antworten seien im Augenblick nicht gefordert, die Optionen müssten offenbleiben. f) B schloss an mit der Forderung, über die „europäische Konstruktion“ positiv zu denken und F nicht aus diesem europäischen Rahmen auszuschließen. B werde positive Antwort zum deutsch-französischen Korps-Vorschlag geben, dieser werde F näher an die WEU und die NATO heranführen. g) In der mit großer Aufmerksamkeit registrierten Intervention von BM hakten PTG21 und GB mit technischen und eher retardierenden Fragen nach, die aus früheren Beratungen wohlbekannt sind. Kernfrage war, ob durch Schaffung des Eurokorps die diesem angehörenden französischen Truppen in ihrem Verhältnis zur NATO dem bisherigen deutschen Standard angepasst würden oder umgekehrt, ob die deutschen Korpsteile in ihrem Verhältnis zur NATO dem bisherigen französischen Status angepasst würden. In diesem Zusammenhang verdient aus dem vorausgegangenen bilateralen Gespräch BM – Rifkind die Tatsache Erwähnung, dass letzterer  fälschlicherweise  davon ausging, dass SACEUR automatisch, d. h. ohne Einschaltung nationaler politischer Instanzen, Befehlsgewalt über deutsche Verbände ausüben könne. BM reagierte mit der Gegenfrage, in welcher Lage in Europa ein Wettbewerb zwischen NATO und WEU bei der Verteidigung der Bündnispartner denkbar sei. Im NATO-Falle würde das gesamte Korps  ungeachtet des unterschiedlichen Status seiner deutschen und französischen Elemente in der NATO  der Allianz zur Verfügung gestellt. Handele die NATO hingegen nicht, sei die Fragestellung eine andere. BM erinnerte in diesem ZusamFortsetzung Fußnote von Seite 621 rechtswidriger Gewaltanwendung gegen den Afroamerikaner Rodney King im Vorjahr angeklagt waren. Vgl. DB Nr. 183; B 32, ZA-Bd. 179507. Am 14. Mai 1992 bilanzierte Metternich, die bis 5. Mai 1992 andauernden Unruhen hätten insgesamt 58 Tote und fast 2400 Verletzte gefordert sowie einen Sachschaden von 1 Mrd. US-Dollar verursacht. Erst der Einsatz von 22 000 Polizisten und Soldaten habe Ruhe gebracht. Vgl. SB Nr. 249; B 32, ZA-Bd. 179507. 20 Korrigiert aus: „ihre“. 21 Joaquím Fernando Nogueira.

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menhang an den von keinem anderen Bündnispartner erreichten Integrationsstand der Bundeswehr im Bündnis und unterstrich das Allianzengagement der Bundesrepublik Deutschland. NWG-VM pflichtete darin bei, dass die durch die jüngste deutsch-französische Verabredung beabsichtigte Stärkung der Allianz durchaus darzustellen sei: Es sei wesentlich besser, F „drin als draußen“ zu haben. Allerdings müsse man die Illusion aufgeben, dass F in die Allianzintegration zurückkehre.22 2) Europäische Krisenfelder, besonders Jugoslawien a) NWG zeigte Verständnis für Frustrationen der westlichen Öffentlichkeit, warnte aber nachdrücklich vor zu weitgehenden Schlussfolgerungen. Vielleicht hätte frühes und entschlossenes politisch-wirtschaftliches Handeln eine Krise verhindern können, abgesichert durch geeignete militärische Maßnahmen. Wahrscheinlich sei es aber nicht möglich, den Ausbruch jahrhundertealter Konflikte zuverlässig zu verhindern. Also müssten sie begrenzt werden. GRI pflichtete bei: Weder VN noch EG oder WEU hätten mit militärischen Kräften mit Aussicht auf Erfolg in den Bürgerkrieg eingreifen können. b) DK-VM23 sah  abweichend von der sonst sehr behutsamen DK-Linie im NATO-Rat  angesichts der Überbeanspruchung von VN-Ressourcen nur eine „richtige Adresse“ für militärisches Handeln im VN- oder KSZE-Rahmen: die Allianz. Sie müsse sich vorbereiten. c) NWG, unterstützt von BM, betonte erneut Zweifel an Überbetonung militärischer Instrumente. Er warnte vor der  in einer militärischen Allianz natürlichen  Versuchung, bei JUG-artigen Konflikten vor allem in Kategorien der Machtprojektion zu denken. BM sprach von „verpassten Gelegenheiten“ der politischen Krisenbewältigung und erinnerte z. B. an die wohl auch heute noch aussichtsreiche Option, den Rohölnachschub für Serbien zu unterbrechen. Auch E hielt militärische Lösung der Jugoslawienkrise im Augenblick für unmöglich und bedauerte das Fehlen effektiver Embargomaßnahmen. In Bezug auf den künftigen Nutzen der Allianz als Handlungsträger hatte E erkennbare Zweifel. Wie E arbeitete auch NWG die dringende Notwendigkeit heraus, im ungeteilten Europa die Respektierung bestimmter Verhaltensregeln durchzusetzen  falls notwendig mit politisch-militärischen Sanktionsinstrumenten und  zu ihrer Durchsetzung  Verwendung militärischer Instrumente. [gez.] Ploetz Folgt Anhang mit DB Nr. 842 […]24 B 29, ZA-Bd. 213060

22 Frankreich schied am 1. Juli 1966 aus dem integrierten militärischen Kommando der NATO aus. Vgl. AAPD 1966, I, Dok. 48. 23 Knud Enggaard. 24 DB Nr. 842 enthielt die Ausführungen von BM Rühe. Vgl. B 29, ZA-Bd. 213060.

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27. Mai 1992: Gespräch zwischen Kastrup und Çetin

153 Gespräch des Staatssekretärs Kastrup mit dem türkischen Außenminister Çetin in Ankara 206-360.00 TUR

27. Mai 19921

Staatssekretär Kastrup traf am 27.5.1992 in Ankara zu einem einstündigen Gespräch mit dem türkischen Außenminister Çetin zusammen.2 Teilnehmer von deutscher Seite: Botschafter Eickhoff, VLR Ney, MR Reichert (BMVg), Oberst Kaiser (Mil.Att.) sowie Unterzeichner3. Staatssekretär Kastrup versicherte einleitend, Ziel unserer Außenpolitik sei eine Fortsetzung und Vertiefung der traditionell engen Beziehungen zur Türkei. Hierzu gehöre auch die sicherheitspolitische Kooperation. Im Gesamtrahmen der Beziehungen käme für die Bundesregierung der Achtung der Menschenrechte ein besonderer Stellenwert zu. Auch Parlament, Medien und öffentliche Meinung seien hier sehr empfindlich. Die Bundesregierung habe mit großer Befriedigung die Fortschritte, die in diesem Bereich in letzter Zeit in der Türkei erzielt worden seien, zur Kenntnis genommen und dies auch öffentlich gesagt. Es bestehe darüber hinaus für uns auch kein Zweifel daran, dass die Türkei einer ernsten terroristischen Herausforderung gegenüberstehe. Gleichzeitig müssten wir aber auch ganz klar sagen, dass auch die Türkei auf diese Bedrohung eine Antwort finden müsse, die die Zivilbevölkerung schont und die auf ein Übermaß an Gewalt verzichtet. Die bekannten Ereignisse in der Südosttürkei hätten die Bundesregierung zu dem vorläufigen Lieferstopp4 gezwungen. Der Einsatz gepanzerter Mannschaftstransportfahrzeuge aus deutschen Lieferungen durch türkische Sicherheitskräfte bei inneren Konflikten sei für uns nicht akzeptabel. Der Bundeskanzler und der Außenminister hätten ihn daher gebeten, die türkische Regierung über das Ergebnis der Beratungen des Bundessicherheitsrats vom 25.5.1992 zu unterrichten: Die Bundesregierung sei prinzipiell bereit, die Verteidigungszusammenarbeit mit der Türkei wiederaufzunehmen. Voraussetzung hierzu sei allerdings eine eindeutige Klarstellung, dass die durch die deutsche Regierung gelieferten Waffen und Geräte ausschließlich in Übereinstimmung mit dem Nordatlantik-Vertrag5 verwendet würden. Die Bundesregierung stelle sich eine solche Klarstellung in Form eines Briefwechsels vor. Staatssekretär Kastrup überreichte die Entwürfe. In seiner Erwiderung wies AM Çetin zunächst darauf hin, dass Deutschland für die Türkei ein wichtiger Partner sei. Er hob die Bemühungen der türkischen Regierung hervor, 1 Der Gesprächsvermerk wurde von VLR von Mettenheim am 29. Mai 1992 gefertigt und an das Büro Staatssekretäre geleitet, „mit der Bitte, Billigung des Herrn Staatssekretärs herbeizuführen“. Hat StS Kastrup am 29. Mai 1992 vorgelegen. 2 StS Kastrup hielt sich am 27./28. Mai 1992 in der Türkei auf. 3 Andreas von Mettenheim. 4 Zum Lieferstopp von Rüstungsgütern in die Türkei vgl. Dok. 92, besonders Anm. 9. 5 Für den NATO-Vertrag vom 4. April 1949 vgl. BGBl. 1955, II, S. 289–292.

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27. Mai 1992: Gespräch zwischen Kastrup und Cetin

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die Kontroverse nicht zu einer Gesamtbeeinträchtigung der deutsch-türkischen Beziehungen werden zu lassen. Die türkische Regierung habe im eigenen Interesse ein radikales Reformprogramm eingeleitet. Sie verfolge derzeit drei politische Hauptziele: – Bekämpfung des Terrorismus bei gleichzeitiger Fortentwicklung der Demokratie, – Verringerung der wirtschaftlichen Ungleichgewichte, um auch so zur inneren Befriedung des Landes beizutragen, – eine Außenpolitik, die auf das friedliche Zusammenleben mit den Nachbarn abziele. Es müsse ein Unterschied zwischen Kurden und Terroristen gemacht werden. Diese Erwartung richte sich auch an manche europäischen Partner, die diese Unterscheidung nicht immer so träfen. Es sei bezeichnend, dass in den letzten Jahren viele Hunderttausend Kurden das Krisengebiet Südosttürkei verlassen hätten, jedoch nicht in Richtung Ausland, sondern in die Westtürkei, wo Türken und Kurden friedlich zusammenlebten. Gerade in den letzten Tagen hätte die PKK mit starken Verbänden aus dem Nordirak einen befestigten Grenzposten angegriffen. Hierbei seien 27 Angehörige der Sicherheitskräfte umgekommen. Dies könne die Türkei nicht tolerieren. Es sei selbstverständlich, dass die Türkei Waffen nicht gegen die eigenen Bürger richte. Jedoch bediene sich die PKK bewusst des Mittels der Involvierung von Zivilpersonen. Es sei der Türkei klar, dass der Terrorismus eine Gefahr für die Demokratie darstelle. Er sei auch ein Risiko für die Sicherheit des Bündnisses. Die NATO habe daher in ihrer Erklärung von Rom über Frieden und Zusammenarbeit vom 8.11.1991 ausdrücklich auch auf die terroristische Gefahr Bezug genommen.6 Die Türkei allein sei nicht in der Lage, das Terrorismusproblem vollständig zu lösen. Es könne aber minimiert werden. Dem vorgeschlagenen Briefwechsel stand AM Çetin zunächst zögernd gegenüber. Ein solcher könne als Eingeständnis türkischer Schuld gewertet werden und damit Probleme in der türkischen öffentlichen Meinung hervorrufen. Staatssekretär Kastrup wies darauf hin, dass der Briefwechsel lediglich auf bereits bestehende Verpflichtungen, die die Türkei eingegangen sei, Bezug nehme. Wir müssten darauf bestehen, dass über die Kernaussage eine Vereinbarung in der vorgeschlagenen Form stattfinde. Außenminister Çetin sagte zu, eine Abstimmung in der türkischen Regierung herbeiführen zu wollen. (Die Zustimmung von PM Demirel zu dem Briefwechsel in der mit DB Nr. 666 vom 28.5.1992 übermittelten Form7, die nach weiteren Gesprächen auf Staatssekretärsebene zustande kam, wurde der Botschaft Ankara am Nachmittag des 28.5. telefonisch übermittelt.) B 26, ZA-Bd. 181314 6 Vgl. Ziffer 19 der Erklärung der NATO-Gipfelkonferenz; NATO FINAL COMMUNIQUÉS 1991–1995, S. 39. Für den deutschen Wortlaut vgl. BULLETIN 1991, S. 1037. Zur Gipfelkonferenz am 7./8. November 1991 vgl. AAPD 1991, II, Dok. 375 und Dok. 376. 7 In einem Schreiben an den türkischen AM Çetin legte BM Kinkel u. a. dar, die Bundesregierung erwarte, „dass die türkischen Streitkräfte Waffen und Geräte, die von der Regierung der Bundesrepublik Deutschland im Rahmen der militärischen Hilfsprogramme geliefert wurden, ausschließlich in Übereinstimmung mit dem NATO-Vertrag verwenden“. Çetin erklärte seine Zustimmung und führte aus: „Die Regierung der Republik Türkei erinnert in diesem Zusammenhang an das Neue Strategische Konzept des Bündnisses, unter anderem Par[agraf] 13“, wie es am 7. November 1991 in Rom vereinbart worden sei. Vgl. DB Nr. 666 des Botschafters Eickhoff, Ankara; B 70, ZA-Bd. 220590.

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27. Mai 1992: Kohl an Bush

154 Schreiben des Bundeskanzlers Kohl an den amerikanischen Präsidenten Bush 27. Mai 19921 Confidential/Vertraulich Lieber George, auf dem deutsch-französischen Gipfel am 22. Mai 1992 in La Rochelle2 haben Präsident Mitterrand und ich entsprechend der gemeinsamen Initiative vom 14. Oktober 19913 die Aufstellung eines deutsch-französischen Großverbandes beschlossen. Über diese Initiative wie über die seither laufenden Arbeiten hat ein intensiver Informations- und Meinungsaustausch mit Vertretern Ihrer Regierung – auch auf hoher politischer Ebene – stattgefunden. Unsere Beweggründe und die dem Aufbau des Korps zugrunde liegenden Überlegungen sind dabei eingehend dargelegt worden. Die Haltung der Bundesregierung zur NATO ist eindeutig. Ich selber habe immer wieder betont, dass die NATO und das amerikanische Engagement in Europa für die Sicherheit der westlichen Welt unverzichtbar sind. Die NATO ist und bleibt die Basis für unsere transatlantische Partnerschaft und gemeinsame Sicherheit und Verteidigung. Dafür sind eine bedeutende und sichtbare Präsenz amerikanischer Streitkräfte in Europa und die Verfügbarkeit starker US-Verstärkungskräfte auch weiterhin erforderlich. Der erste Auftrag des Eurokorps sieht unzweideutig vor, dass es – einschließlich der französischen Kräfte – für die gemeinsame Verteidigung der Verbündeten entsprechend Artikel 5 des Washingtoner Vertrages4 eingesetzt werden kann. Das bedeutet – und dies möchte ich nachdrücklich hervorheben –, dass das Europäische Korps zur Stärkung der Atlantischen Allianz beiträgt. In diesem Zusammenhang ist von besonderer Bedeutung, dass es mit der Aufstellung des Eurokorps gelungen ist, die weitere Stationierung französischer Truppen auf deutschem Boden sicherzustellen. Auch dies ist ein entscheidender Schritt im Interesse des gesamten Bündnisses. Die von Präsident Mitterrand und mir angeregte Möglichkeit, dass auch andere Europäer sich an dem Korps beteiligen können, liegt auf der gleichen Linie, denn auch ein erweitertes Korps würde der Allianz zur Verfügung stehen und zu ihrer Stärkung beitragen. 1 Kopie. Das Schreiben wurde von VLR I Reiche mit Schrifterlass vom 29. Mai 1992 an die Botschaft in Washington mit der Bitte übermittelt, „es zur Weiterleitung an den Empfänger auf angemessener hoher Ebene zu übergeben. Eine englische Fassung des Schreibens, die der dem Originalschreiben anliegenden Höflichkeitsübersetzung entspricht, ist dem Weißen Haus vom Bundeskanzleramt bereits auf direktem Wege übermittelt worden.“ Hat MDg Hofstetter am 2. Juni 1992 vorgelegen. Hat VLR I Bertram am 3. Juni 1992 vorgelegen. Vgl. B 14, ZA-Bd. 161202. 2 Zu den deutsch-französischen Konsultationen am 21./22. Mai 1992 vgl. Dok. 142 und Dok. 144. 3 Für die Gemeinsame Botschaft des BK Kohl und des französischen Staatspräsidenten Mitterrand an den amtierenden Präsidenten des Europäischen Rats, Lubbers, vgl. BULLETIN 1991, S. 929–931. Vgl. auch AAPD 1991, II, Dok. 347. 4 Für Artikel 5 des NATO-Vertrags vom 4. April 1949 vgl. BGBl. 1955, II, S. 290.

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Lassen Sie mich ein deutliches Wort zum Status der deutschen Truppen sagen. Schon in meiner Erklärung vor dem Deutschen Bundestag vom 6. November 1991 habe ich gesagt, dass deutsche Einheiten, die für das Europäische Korps vorgesehen sind, nicht ihrer NATOVerpflichtung entzogen werden, sondern eine zusätzliche Aufgabe zugewiesen bekommen.5 Der Status der deutschen Truppen bleibt also unverändert. Sie bleiben auch weiterhin voll der NATO assigniert. Hieran wird sich auch nichts ändern durch Vereinbarungen, die die Beziehungen des Korps zur NATO regeln und die noch zu schließen sind. Mit Blick auf die deutschen Truppenteile bedürfte es eines gesonderten Abkommens mit der NATO nicht. Die Einbeziehung französischer Truppenteile macht ein solches Abkommen aber unumgänglich und sollte auch vom Bündnis gefördert werden, weil es die Einbindung des Europäischen Korps in die Planungen des Bündnisses festschreibt. Präsident Mitterrand und ich haben übrigens in der Presseerklärung in La Rochelle sehr deutlich gemacht, dass nationale Beiträge zu diesem Verband die bestehenden Verpflichtungen gegenüber anderen Organisationen nicht berühren.6 Lieber George, ich möchte noch einen Gedanken deutlich machen. Wie Sie wissen, bemühe ich mich sehr darum, in Deutschland die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass wir unseren Verpflichtungen aus der Mitgliedschaft in den Vereinten Nation in jeder Hinsicht gerecht werden können. Dass als ein möglicher Auftrag für das Eurokorps vereinbart wurde, Maßnahmen zur Aufrechterhaltung und Wiederherstellung des Friedens durchzuführen, halte ich für einen wichtigen Fortschritt in dieser für uns sehr bedeutsamen Frage. Die amerikanische Regierung hat sich in den letzten Jahrzehnten in weitsichtiger Weise immer für die europäische Integration ausgesprochen und die Entscheidungen auf dem Wege zur Europäischen Union begrüßt. Was Deutschland und Frankreich mit dem Europäischen Korps schaffen, ist Teil dieses Integrationsprozesses. Bereits jetzt ist die Europäische Gemeinschaft ein Stabilitätsfaktor, die im engen Zusammenwirken insbesondere mit der Atlantischen Allianz Stabilität auf unserem Kontinent gewährleistet. Sie weiterzuentwickeln halte ich für eine vordringliche Aufgabe, die im Interesse des gesamten Westens liegt. Die Aufstellung des Eurokorps und seine zusätzliche Verbindung zur Westeuropäischen Union werden dazu beitragen, dass Europa künftig seine Verantwortung auf dem Gebiet der Sicherheit und der Aufrechterhaltung des Friedens besser wahrnehmen kann.7 Mit freundlichen Grüßen Ihr Helmut Kohl B 14, ZA-Bd. 161202 5 Für die Ausführungen von BK Kohl vgl. BT STENOGRAPHISCHE BERICHTE, 12. WP, 53. Sitzung, S. 4366. 6 Für die Presseerklärung vom 22. Mai 1992 zum Eurokorps vgl. LA POLITIQUE ÉTRANGÈRE 1992 (Mai/Juni), S. 75. Für den deutschen Wortlaut vgl. EUROPA-ARCHIV 1992, D 454 f. 7 Botschafter Ruhfus, Washington, teilte am 4. Juni 1992 mit, das Schreiben sei von Gesandtem von Nordenskjöld am Vortag dem Mitarbeiter im Nationalen Sicherheitsrat, Hutchings, übergeben worden. Dieser habe erklärt, „dass die Ausführungen des BK sehr positiv bewertet würden. Sorgen bereite der amerikanischen Administration jedoch nach wie vor der Text der deutsch-französischen Initiative, da er praktisch die Schaffung einer neben der NATO stehenden Institution vorsehe. Die fr[an]z[ösische] Interpretation scheine ihm deshalb näher am Text zu liegen als die des BK. Selbst wenn sich letztlich in ein, zwei Jahren das Vorhaben in die richtige Richtung entwickeln würde, könne er die Zeichnung dieses Textes zum

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27. Mai 1992: Drahtbericht von Feist

155 Drahtbericht des Kapitäns zur See Feist, BMVg, z. Z. Brüssel VS-NfD Fernschreiben Nr. 862 Citissime Betr.:

Aufgabe: 27. Mai 1992, 19.53 Uhr1 Ankunft: 27. Mai 1992, 20.12 Uhr

Verteidigungsplanungsausschuss (DPC) – Ministerkonferenz am 26.5.1992; hier: Bericht geschlossener Sitzungsteil

1) GS2 eröffnete die Konferenz und begrüßte in diesem Rahmen insbesondere die drei erstmalig teilnehmenden VM B3, GB4 und D. Im Rückblick auf bisher geleistete Arbeit des Bündnisses nach den Herbsttagungen des vergangenen Jahres5 würdigte er Erneuerung des strategischen Konzeptes6, Arbeiten an neuen Streitkräftestrukturen, Straffung der Kommandostrukturen, Streitkräfteziele und Berichte zur grundsätzlichen Überarbeitung der NATO-Infrastrukturprogramme. Aus Straffungen und Reduzierungen ergäben sich Möglichkeiten für Einsparungen und Rationalisierungen. Das sei jedoch nur die eine Seite der Medaille. Die Notwendigkeit, dem Bündnis wie bisher auch weiterhin ausreichende finanzielle Grundlagen zur Verfügung zu stellen, sei die andere. Das sei angesichts sinkender Verteidigungshaushalte schwierig, jedoch sei es unabdingbar. Man dürfe es nicht zulassen, hierin unter das Minimum zu fallen. 2) Der Vorsitzende des Militärausschusses7 begann seinen Bericht mit einer Bewertung der Lage in Russland. Trotz deutlicher Reduzierungen würden die russischen Streitkräfte signifikante militärische Fähigkeiten behalten. In einigen Gebieten der Peripherie des Bündnisses seien zunehmend Unruhen, krisenhafte Entwicklungen und Bürgerkrieg zu beobachten. Fortsetzung Fußnote von Seite 627 jetzigen Zeitpunkt aus amerikanischer Sicht nur als Fehler bezeichnen. In einer äußerst schwierigen innenpolitischen Phase falle die deutsch-französische Initiative den Bemühungen der Administration, im Kongress den Verbleib einer substanziellen amerik[anischen] Truppenstärke in Europa durchzusetzen, in den Rücken.“ Vgl. DB Nr. 1725; B 14, ZA-Bd. 161202. 1 Das Fernschreiben wurde in zwei Teilen übermittelt. Vgl. Anm. 14. Hat VLR I Bertram am 28. Mai 1992 vorgelegen. 2 Manfred Wörner. 3 Leo Delcroix. 4 Malcolm Rifkind. 5 In Rom fand am 7./8. November 1991 eine NATO-Gipfelkonferenz statt. Vgl. AAPD 1991, II, Dok. 375 und Dok. 376. Zur Ministersitzung des DPC am 12./13. Dezember 1991 bzw. zur NATO-Ministerratstagung am 19. Dezember 1991 in Brüssel vgl. AAPD 1991, II, Dok. 428 bzw. Dok. 437. 6 Für das bei der NATO-Gipfelkonferenz am 7./8. November 1991 verabschiedete Strategiekonzept vgl. https://www.nato.int/cps/en/natohq/official_texts_23847.htm?selectedLocale=en. Für den deutschen Wortlaut vgl. BULLETIN 1991, S. 1039–1048. 7 Vigleik Eide.

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Diese Entwicklungen bestätigen den Prozess der gegenwärtigen Planungsarbeit im Bündnis, insbesondere zur militärischen Zusammenarbeit und für den militärischen Beitrag zum Krisenmanagement. Beides sind Schlüsselelemente für die Arbeit des Militärausschusses in den kommenden Monaten. Die Partner der Kooperation befänden sich in einer schwierigen Übergangsphase zur Schaffung struktureller Verteidigungshinlänglichkeit und demokratischer politischer Kontrolle der Streitkräfte. Daraus ergäben sich erhebliche Veränderungen in den Doktrinen, Strukturen, Organisationen, Ausrüstung und Ausbildung. Bei diesem Wandel könne die NATO wertvolle Hilfe und Unterstützung leisten. Es sei wichtig, unnötige Duplizierungen zu vermeiden, jedoch seien die in einer Kooperation eingesetzten finanziellen Aufwendungen eine gute Ausgabe. Bei Implementierung der neuen Strategie sei es erforderlich, sich auf Krisenmanagement zu konzentrieren. Art und Umfang möglicher regionaler Krisen könnten nicht vorhergesagt werden. Es sei deshalb eine außerordentlich komplexe Herausforderung, zweckmäßige militärische Optionen zu entwickeln und damit den politischen Erfordernissen zu entsprechen, falls militärischer Kriseneinsatz erforderlich werde. Besonders dafür seien kontinuierlicher Dialog und Rückkopplung zwischen politischen und militärischen Organisationen erforderlich. Der Beginn eines Zyklus angemessener NATO-KrisenmanagementÜbungen sei ermutigend. Weitere Entwicklungen seien jedoch erforderlich, um die Fähigkeit der Krisenerkennung und -beurteilung zu verbessern. Das Bündnis müsse Möglichkeiten entwickeln, im Krisenmanagement zu handeln, bevor solche Entwicklungen außer Kontrolle gerieten. Deshalb sei es auch richtig, die MC 161 als eine Informations- und Datengrundlage zu überarbeiten, die in multidirektionalem Ansatz Sicherheitsrisiken betrachtet. Sollte das Bündnis einen Beitrag zu friedenserhaltenden Maßnahmen erwägen, so seien die neuen Streitkräftestrukturen zwar nicht spezifisch darauf ausgerichtet, aber im erforderlichen Umfang flexibel und anpassbar. Es seien allerdings Planung, Vorbereitung und spezifische Ausbildung erforderlich. Für solche Einsätze könnten Kräfte aus allen Streitkräftekategorien des Bündnisses herangezogen werden. 3) VM PTG8 als Vorsitzender der Eurogroup berichtete über die Kernthemen von deren Beratungen9: a) Europäische Sicherheits- und Verteidigungsidentität Der Tenor dieses Berichtsteils stellte auf Bedingungen und Grenzen europäischer Entwicklungen stärker ab als auf deren mögliche Inhalte, z. B. – Notwendigkeit, dass europäische Sicherheits- und Verteidigungsidentität das Bündnis stärkt; – Vermeidung von Duplizierungen; – Herausbildung einer WEU-Rolle auf der Grundlage der Beschlüsse von Rom und Maastricht10; – Operationalisierung der WEU nur für Fälle, in denen NATO nicht handeln will; – Möglichkeiten der Mehrfachrolle für Streitkräfte im europäischen Rahmen (Doppelassignierung an NATO und WEU); – Bedeutung des nordamerikanischen Beitrags zur Sicherheit Europas. 8 Joaquím Fernando Nogueira. 9 Zur Ministersitzung der Eurogroup am 25. Mai 1992 in Brüssel vgl. Dok. 152. 10 Zum Vertragswerk von Maastricht vgl. Dok. 3, Anm. 8.

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27. Mai 1992: Drahtbericht von Feist

Zum deutsch-französischen Korpsvorschlag berichtete VM distanziert: D habe ihn erklärt. Er verdiene Analyse und Prüfung. Bericht solle weiteren (DPC-) Beratungen nicht vorgreifen. Es seien eine Reihe von grundsätzlichen Fragen gestellt worden, z. B. nach der prioritären Aufgabenzuweisung für NATO. b) Europäische Krisenprobleme Man habe Bewertung der Lage im früheren Jugoslawien und künftige Möglichkeiten und Grenzen des Bündnisses vorgenommen, sich an friedenserhaltenden Maßnahmen zu beteiligen und damit künftige Regionalkonflikte zu vermeiden. 4) Die Aussprache der VM konzentrierte sich auf die europäische Sicherheits- und Verteidigungsidentität mit Schwerpunkt deutsch-französische Initiative Euro-Korps (hierzu folgt gesonderter, auch bilaterale Gespräche einbeziehender Bericht11) sowie Möglichkeiten des Bündnisses, militärische Beiträge zu friedenserhaltenden Maßnahmen zu leisten. a) VM Rühe übernahm die Einführung zum ersten Thema (Einzelheiten können dem Eurogroup-Sprechzettel (vgl. DB 855) vom 27.5.12 entnommen werden). Er arbeitete besonders heraus, dass Eurokorps im „NATO-Fall“ (d. h. kollektive Verteidigung im Fall eines bewaffneten Angriffs gemäß Art. 5 Washingtoner Vertrag13) der Allianz nach noch zu regelnden Verfahren zur Verfügung stehen werde. Hierin liege Stärkung der Allianz, weil das Korps als Hauptverteidigungs- wie für Reaktionskräfte einsetzbar sei, während derzeit F-Streitkräfte nur als Reserve verfügbar seien. Wenn ein Einsatz des ganzen Korps nicht stattfinden könne, würden deutsche Korpsteile nach bestehenden und unverändert aufrechterhaltenen Unterstellungsabsprachen (Assignments) für die Allianz verfügbar sein. Es gehe also mit dem Korps um mehr als nur eine symbolische Stärkung der Allianz. Hier werde der Komplementärcharakter des Korps für die Allianz deutlich. 14b) NL-VM15 ergänzte – wie zuvor vereinbart – mit Bemerkungen zur Weiterentwick-

lung der Verteidigungsrolle des Bündnisses, wobei er auf die künftigen Streitkräftestrukturen sowie mögliche Friedenswahrungsaufgaben der Allianz (entsprechend der bekannten NL-Linie) abstellte. Das Neue Strategische Konzept sei durchaus langfristig angelegt und besitze genügend Flexibilität für Anpassungen an seit seiner Verabschiedung veränderte sicherheitspolitische Lage. Diese, besonders die Auflösung der SU, habe aber Auswirkungen 11 Botschafter von Ploetz, Brüssel (NATO), berichtete am 27. Mai 1992 zusammenfassend über die Ministersitzungen der Eurogroup und des DPC sowie verschiedene bilaterale Gespräche am 25./26. Mai 1992 in Brüssel und führte aus, die Reaktion der Allianzpartner auf das geplante Eurokorps falle gemischt aus: „Da Frankreich bei den Ministerberatungen weiter fehlt, wurde BM Rühe zum Adressaten vieler Fragen, die nur Paris beantworten kann. Wesentlicher Kritikpunkt war nicht der Inhalt unserer Argumentation, sondern die vermutete – oder unter Berufung auf F-Sprecher als bewiesen angesehene – andere Sicht der Franzosen. […] Unsere Partner bezweifeln nicht die Ernsthaftigkeit und Aufrichtigkeit unserer Motivation und der von uns verfolgten Ziele im Hinblick auf die deutsch-französische Initiative. Nicht nur die USA fragten aber besorgt, ob wir uns gegenüber der französischen Position durchsetzen werden.“ Vgl. DB Nr. 860/861; B 14, ZA-Bd. 161202. 12 Korrigiert aus: „26.5.“ Für DB Nr. 855 vom 27. Mai 1992, der den Sprechzettel für BM Rühe für das „Eurodinner“ am 25. Mai 1992 enthielt, vgl. B 14, ZA-Bd. 161202. 13 Für Artikel 5 des NATO-Vertrags vom 4. April 1949 vgl. BGBl. 1955, II, S. 290. 14 Beginn des mit DB Nr. 865 übermittelten zweiten Teils des Fernschreibens. Vgl. Anm. 1. 15 Aurelus ter Beek.

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auf künftige Streitkräfteumfänge, -strukturen und -zusammensetzung. NL werden entsprechende Überprüfung des Weißbuchs vornehmen, ggfs. auch Konsequenzen für das System der Wehrpflicht ziehen. Es sei erforderlich, auf neue und unvorhersehbare Situationen vorbereitet zu sein. Die NATO benötige deshalb die kollektive Fähigkeit, sich an friedenserhaltenden Maßnahmen zu beteiligen. Das Bündnis habe dafür erforderliche Strukturen und die Organisation. Es sei in der Lage, operative Entscheidungen zu treffen. NL habe deshalb in NATO und KSZE ebenso wie für WEU vorgeschlagen, dass NATO auf Bitten der KSZE reagieren könnte. Mit Hinweis auf den NATO-Rat in Oslo16 regte er an, dass Verteidigungsplanungsausschuss in enger Zusammenarbeit mit militärischen Gremien das richtige Forum sei, die militärischen Implikationen zu untersuchen. Zu BM-Ausführungen machte NL-VM deutlich, dass WEU intensiv mit der Umsetzung der Beschlüsse von Maastricht befasst sei. Dabei gehe es auch um die Identifizierung von Streitkräften, die für die WEU verfügbar gemacht werden könnten. Für NL kämen dafür in Übereinstimmung mit GB grundsätzlich alle Kontingente infrage. Besonders sollten aber multinationale Einheiten der WEU verfügbar gemacht werden, z. B. multinationale (NATO-) Division (mit Kräften von NL, B, GB und D) oder amphibische NL/GB-Kräfte. So könne deutlich gemacht werden, dass europäische Nationen ihre internationale Verantwortung übernähmen. c) US-VM ging zur ESVI vom „soliden Fundament“ der Beschlüsse von Rom und Maastricht aus. Er erinnerte an die „Kernfunktionen“ und das Konzept ineinandergreifender Institutionen und sah das Bündnis an einer „historischen Wegmarke“: „Werden Rom und Maastricht ernst genommen?“ Anlass zu dieser Frage sah er angesichts des Entstehens einer Verteidigungsstruktur völlig außerhalb der Allianz. Cheney unterstütze die „konstruktive Position“ des GB-VM und sei für die Zuweisung von Mehrfachrollen an Streitkräfte. Der NATO müsse aber in diesem Geflecht eine Vorrangrolle (primary responsibility) eingeräumt werden. Er sei besorgt, dass das D-F-Korps diesen Prinzipien zuwiderlaufe. Die friedenserhaltende Rolle von NATO-Streitkräften bezeichnete US-VM als wichtig für Demonstration der fortdauernden Relevanz der Allianz. Er gehe davon aus, dass die Außenminister in Oslo hierzu einen Entschluss fassen würden. Der Verteidigungsplanungsausschuss müsse deshalb beginnen, das Bündnis vorzubereiten. Ad-hoc-Regelungen reichten nicht aus. Dafür gab er mehrere Anregungen, z. B. Einrichtung einer Planungszelle für friedenserhaltende Maßnahmen, Einbeziehung solcher Maßnahmen in den Verteidigungsplanungsprozess und Einbeziehung von Mitgliedern des NAKR in Planungen. Dieser letzte Aspekt sei von ganz besonderem Gewicht, da er den Kooperationspartnern eine wichtige Perspektive eröffne. Es gebe keine bessere Möglichkeit, unsere Zielsetzungen der Kooperation zu realisieren, als die Streitkräfte der Partner gemeinsam mit NATOVerbänden einzusetzen, um den Frieden zu bewahren. Die Militärbehörden der Allianz sollten mit Definition der Erfordernisse des Bündnisses beginnen. Aus Sicht des Bündnisses sei es allerdings unabdingbar, folgende Prinzipien zu beachten: – Kein Automatismus einer NATO-Rolle für KSZE; diese müsse sich aber an NATO wenden können. – NATO behält sich die Entscheidung vor. 16 Zur NATO-Ministerratstagung am 4. Juni 1992 vgl. Dok. 170.

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– NATO behält die operative Kontrolle des Einsatzes ihrer Kräfte. – NATO ist nicht das ausschließliche Instrument der KSZE für friedenserhaltende Maßnahmen. Andere Organisationen wie WEU sollten ebenfalls ihre Rolle übernehmen; werde WEU, nicht jedoch NATO tätig, solle in der Allianz konsultiert werden. – NATO sollte Interesse an der Teilnahme neutraler oder nichtgebundener Staaten, insbesondere solcher mit Erfahrung bei17 friedenserhaltenden Maßnahmen, signalisieren. Gleichzeitig zur Entwicklung neuer Aufgaben der Friedenserhaltung gehe es darum, die Kooperation mit den Partnern im Osten weiterzuführen und auszubauen. Die Grundlagen dafür seien in der Konferenz der Verteidigungsminister am 1. April18 gelegt worden. Dieses Treffen sei aber nur der erste kleine Schritt eines langen Weges. Der vereinbarte Arbeitsplan müsse nun im Detail umgesetzt werden. Vor allem müssten wir Maßnahmen ergreifen, um die östlichen Partner zu ermutigen, den Umfang ihrer Streitkräfte zu reduzieren und sie defensiv zu orientieren. Dabei komme der eingerichteten Arbeitsgruppe (GDM19) ebenso wie den beabsichtigten Expertengruppen vor Ort eine wichtige Rolle zu. d) GB-VM griff die europäische Entwicklung auf mit dem Hinweis, dass Europa zurzeit die unsicherste Periode seit Ende des Zweiten Weltkrieges durchlaufe. Wir erlebten derzeit den ersten Krieg in Europa seit Gründung der NATO. Auch die beiden Weltkriege seien aus extremem Nationalismus entstanden. GB sehe WEU als außerordentlich attraktives Instrument an, um die europäische Rolle auszufüllen. Hier bestehe die geringste Gefahr von Duplizierung; WEU sei bekannt und bewährt. Es gebe in vielen Ländern Ideen, wie man ihre operative Rolle ausgestalten könne. Er sehe die D-F-Initiative als ein Beispiel, wie Kräfte verfügbar werden könnten. Dabei ergäben sich aber zwei Fragen, die GB und andere Partner „nervös“ machten. – Ist es ein D-F-Korps oder ein Eurokorps? Wenn es ein bilateraler Verband ist, sei er zu bewerten wie andere Möglichkeiten, z. B. der GB/NL amphibische Einsatzverband (UK/NL ATF20). Sollte es aber ein Eurokorps sein, dann bedeute das die „Genesis“ einer europäischen Armee. Damit würde die „falsche politische Botschaft“ abgegeben. – Präzise Beziehung des Verbandes mit der NATO? Sollten Angaben zutreffen, dass F sich konstruktiver zur NATO verhalte, wäre es gut. Das könne aber erst beurteilt werden, wenn Einzelheiten bekannt seien. Entscheidend sei, ob das Korps nach dem bisher für deutsche Kräfte geltenden Muster an die NATO angebunden werde oder nach dem französischen. e)21 Die weiteren Einlassungen konzentrierten sich auf die beiden Hauptthemen. Europäische Partner brachten gegenüber ihren Beiträgen beim Eurogroup-Dinner keine neuen Argumente. Weitgehende Übereinstimmung wurde deutlich, dass das Bündnis zu einer KSZE-Rolle nach Meinung der VMs aufgeschlossen reagieren soll, hierzu jedoch Beschlüsse der NATO-Außenminister vom 4. Juni in Oslo abgewartet werden sollten. Erst im Licht 17 Korrigiert aus: „und“. 18 Am 1. April 1992 trafen in Brüssel die Verteidigungsminister der NATO-Mitgliedstaaten mit den Verteidigungsministern der Kooperationsstaaten im Rahmen des NAKR zusammen. Vgl. Dok. 97. 19 Group on Defence Matters. 20 Amphibious Task Force. 21 Korrigiert aus: „d)“.

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29. Mai 1992: Gespräch zwischen Kastrup und Holger

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einer solchen Beschlussfassung soll Cheney-Anregung entschieden werden, militärische Implikationen zu untersuchen. Konsens bestand auch darin, dass die NATO Entscheidungsfreiheit bewahren und die Fähigkeit gewährleisten müsse, die Kernaufgaben des Bündnisses zu erfüllen. Die Einbeziehung auch anderer Staaten, die nicht der NATO angehören, oder Partnern der NATO-Kooperation wurde mehrfach befürwortet. SACEUR22 wies darauf hin, dass friedenserhaltende Maßnahmen vielfältige militärische Einsatzformen beinhalten könnten. Aus der Erfahrung im Zusammenhang mit dem Golfkonflikt und Einsätzen zur Hilfe der Kurden sei deutlich geworden, dass damit nicht nur friedenserhaltende, sondern auch friedenserzwingende/-wiederherstellende, humanitäre, aber auch vor Gewaltanwendung abschreckende Aspekte verbunden seien. Friedenserhaltung erfordere heute Hochtechnologie und geeignete Kräfte, nicht nur schwach bewaffnete Blauhelme. Besonders deshalb sei die NATO auf der Grundlage gesicherter politischer Entscheidungsprozesse ein besonders geeignetes Instrument. GS beendete die Diskussion mit der Feststellung, dass zu beiden Fragenkomplexen beachtlicher Konsens bestehe, dass allerdings auch Fragen verblieben seien. [gez.] Ploetz B 14, ZA-Bd. 161249

156 Gespräch des Staatssekretärs Kastrup mit dem chilenischen Sonderbotschafter Holger 216-531.00 VS-NfD

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Unter Verschluss Gespräch von StS Dr. Kastrup mit dem chilenischen Sonderbotschafter Holger im AA am 29.5.1992 Holger, der in Begleitung des Bonner chilenischen Botschafters Huneeus erschien, sagte, er habe die letzten zwei Monate in Moskau verbracht, und er beabsichtige, den am 2. April geführten Gedankenaustausch2 fortzusetzen. Bei dem Fall Honecker handelt es sich um 22 John Rogers Galvin. 1 Der Gesprächsvermerk wurde von VLR I Lambach gefertigt, der die Weiterleitung an StS Kastrup „mit der Bitte um Billigung“ verfügte. Hat Kastrup am 29. Mai 1992 vorgelegen, der die Weiterleitung an StS Kober, BMJ, und MD Hartmann, Bundeskanzleramt, verfügte. 2 In dem Gespräch deutete der chilenische Sonderbotschafter Holger „als Möglichkeit einer Lösung an, dass die Bundesregierung sich gegenüber der russischen Regierung damit einverstanden erklärt, dass Honecker nach Verlassen der Botschaft nicht unmittelbar, sondern erst nach einer Frist von etwa einer Woche rücküberstellt wird“. StS Kastrup wies Holger darauf hin, dass bereits BM Bohl eine solche Lösung abgelehnt habe: „Er könne ihm nichts Anderes sagen. Die Bundesregierung könne der chilenischen Bitte,

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ein sehr komplexes, delikates Problem sui generis. Die chilenische Haltung, so wie sie in dem an Botschafter Pabsch am 8.4.92 übergebenen Non-paper niedergelegt sei3, sei unverändert. Hier gehe es darum, dass im Interesse von drei Regierungen Gespräche geführt würden. Auch wenn Herr Honecker hierbei nicht offizieller Gesprächspartner sei, müsse er aber doch hinzugezogen werden. Einen Konsens zu finden, sei nicht leicht. Für die chilenische Regierung sei wichtig, dass für jede Regierung ein Handlungsspielraum erhalten bleibe. Russland und Deutschland sollten ihre grundsätzlichen Positionen nicht aufgeben. Die chilenische Seite wolle aber, dass sie ihre Positionen noch einmal überprüften. Die chilenische Seite erkenne grundsätzlich die Dringlichkeit eines Handlungsbedarfs. Es müsse aber auch mit Geduld und Beständigkeit nach einer Lösung gesucht werden. Die Position von Präsident Aylwin sei weiterhin, eine Lösung mit einem rechtlichen Rahmen zu suchen. Holger wolle daher zunächst einmal die Punkte zusammenstellen, in denen er eine Koinzidenz der Auffassungen sehe: – Einvernehmen herrsche darüber, dass Honecker sich einem Gerichtsverfahren in Berlin stellen solle. Daher habe Präsident Aylwin auch Herrn Honecker gebeten, die Botschaft Chiles in Moskau zu verlassen. – Chile anerkennt ohne Einschränkung die Rechtsstaatlichkeit in Deutschland, im Rahmen derer Honecker vor Gericht gestellt werden wird. – Die chilenische Seite ist darüber erfreut, dass die Anklageschrift inzwischen vorgelegt wurde. Eine Differenz aber bleibe in der Haltung zwischen Chile, Deutschland und Russland, nämlich die Modalitäten der Übergabe von Honecker an Russland und die danach erfolgende Übernahme durch Deutschland. Deutschland bestehe auf der sofortigen Überstellung, während Chile sowohl physisch wie juristisch gesehen eine akzeptable Lösung suche. Für die chilenische Seite sei es nicht annehmbar, dass Honecker als ein Postpaket behandelt werde. Chile wolle daher auf Art. 13 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte4 zurückgreifen. Dies habe Präsident Aylwin auch mit StMin Seiler-Albring diskutiert.5 Der Präsident habe gesagt, dass Honecker, wäre er in Chile, zwar kein Asyl gewährt Fortsetzung Fußnote von Seite 633 auf die russische Regierung einzuwirken, nicht entsprechen. Wir müssten die chilenische Regierung bitten, ihre Bemühungen, Honecker zum Verlassen der Botschaft zu bringen, fortzusetzen.“ Vgl. den Gesprächsvermerk; B 38, ZA-Bd. 184706. 3 Für das chilenische Non-paper vgl. B 38, ZA-Bd. 184706. 4 Für Artikel 13 des Internationalen Pakts vom 19. Dezember 1966 über bürgerliche und politische Rechte (IPBPR) vgl. BGBl. 1973, II, S. 1539 f. 5 In einem Gespräch mit StMin Seiler-Albring am 27. Mai 1992 in Santiago de Chile erklärte der chilenische Präsident Aylwin, er „wünsche, H[onecker], für den er keinerlei Sympathien habe, möglichst bald loszuwerden. Aber es sei nach den in Chile geltenden Rechtstraditionen ,unwürdig und ungeziemend‘, wenn H. beim Verlassen der chilenischen Botschaft von den Russen festgenommen und sofort ,an die Grenze gebracht‘ würde. Deshalb wünsche man seine Überstellung an eine ,adäquate russische Instanz‘, vor der er das ihm nach dem VN-Pakt zustehende Rechtsmittel einlegen könne.“ Seiler-Albring erklärte: „Die Bundesregierung handele im Auftrag der Justiz und habe deshalb keinerlei Spielraum für ,politische Lösungen‘ der vom Präsidenten vorgeschlagenen Art.“ In der nun vorliegenden Anklageschrift werde

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würde, weil die Voraussetzungen dafür nicht gegeben seien, Honecker hätte jedoch dann einen Anspruch auf ein Rechtsmittel gegen seine Ausweisung. Der Fall würde vom Obersten Gericht in Chile entschieden. Auf die Situation in Moskau angewandt, würde dies bedeuten, dass Honecker die chilenische Botschaft in dem Moment verlassen müsse, wo in Russland ein Verfahren zur Behandlung des Ausweisungsbeschlusses festgelegt würde. Jedes andere Verfahren sei unwürdig. Holger habe mit Honecker in Moskau mehrere Gespräche geführt und wolle hier einmal wiedergeben, wie Honecker seine Lage sehe. Sie sei zweifellos ein Hindernis für alle, eine vernünftige Lösung zu finden. Honecker spreche davon, dass er in Deutschland politisch verfolgt werde. Er erwarte kein gerechtes, objektives Gerichtsverfahren. Für ihn gebe es keine Garantien, dass er angesichts seines Alters und seiner Gesundheit das Verfahren in allen Einzelheiten verfolgen könne. Es sei die Absicht der Bundesregierung, nicht seine Person, sondern das ganze System der ehemaligen DDR anzuklagen. Seine Anwälte hätten ihm daher geraten, nicht nach Berlin zu gehen. Außerdem sehe Honecker eine Politisierung der deutschen Justiz darin, dass der für sein Verfahren zuständige Vorsitzende des Gerichts6 sich bereits öffentlich zum Fall Honecker in negativer Weise geäußert habe, sowie darin, dass dieser Richter das frühere Mitglied des Bundesverfassungsgerichts Hirsch für dessen Äußerungen über die Behandlung seiner Person kritisiert habe. Holger wolle hier aber betonen, dass die chilenische Regierung keine einzige dieser Ansichten, die Honecker äußerte, teile. Für die chilenische Regierung könne er nachdrücklich unterstreichen, dass Deutschland das Ansehen eines demokratischen Rechtsstaats mit einer fairen, unparteiischen Justiz genieße. Holger bat dann, nähere Ausführungen über die chilenische Haltung zur Anwendbarkeit des Art. 13 IPBPR machen zu dürfen. Dieser Artikel regele genau die Voraussetzungen für den Aufenthalt Honeckers in Moskau. Alle drei Staaten gehörten dem Pakt an. Die Lösung des Falles Honecker auf dem Wege über Art. 13 gliedere sich in die chilenische Vorstellung von der Achtung der Menschenrechte und der friedlichen Regelung von Streitigkeiten ein. Präsident Aylwin habe schon in seinem Brief vom 16. Dezember 1991 gesagt, dass eine Lösung im Rahmen des Rechtes und der Gerechtigkeit gesucht werden müsse.7 Chile habe auch in anderen internationalen Konfliktfällen Streitfragen auf friedliche Weise beizulegen vermocht. Holger erwähnte hier einen Grenzstreit mit Argentinien, der durch Johannes Paul II. 1980 entschieden worden sei; er erwähnte auch den Interamerikanischen Gerichtshof in einem weiteren Streitfall mit Argentinien, und er bezog sich auf die Ermordung des chilenischen Fortsetzung Fußnote von Seite 634 Honecker nicht nur „wegen Anstiftung zum Totschlag, sondern als Täter angeklagt“. Damit „ergebe sich für Chile jetzt durchaus die Möglichkeit, Hs. Aufenthalt in der Botschaft ohne Gesichtsverlust zu beenden“. Vgl. den mit DB Nr. 396/397 des Botschafters Pabsch, Santiago de Chile, vom 28. Mai 1992 übermittelten Gesprächsvermerk; B 38, ZA-Bd. 184708. 6 Hansgeorg Bräutigam. 7 BK Kohl richtete am 12. Dezember 1991 ein Schreiben an den chilenischen Präsidenten Aylwin, welches dieser am 16. Dezember 1991 beantwortete. Vgl. AAPD 1991, II, Dok. 424.

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Botschafters Letelier8, wo die Frage der Entschädigungsleistungen an die Familienangehörigen durch einen Vertrag von 1914 zwischen Chile und den USA geregelt worden sei. Anknüpfen wolle er auch an den Fall der Colonia Dignidad. Die Qualität der juristischen Person der Colonia Dignidad sei beendet worden.9 Gegen zwei Mitglieder der Colonia Dignidad sei ein Ausweisungsbeschluss gefasst worden. Hiergegen hätten die Betroffenen beim Obersten Gericht Berufung eingelegt. Tatsächlich sei dann auch eine Ausweisung nicht erfolgt.10 Holger führe diese Fälle nur auf, um das rechtsstaatliche Denken auf der chilenischen Seite zu illustrieren. Auch im Falle Honecker müsse man einen entsprechenden rechtlichen Rahmen haben. Das Problem Honecker sei nicht durch Chile verursacht. Es sei die sowjetische Seite gewesen, die Honecker selbst in die Botschaft gebracht habe. Russland trage als Rechtsnachfolger der Sowjetunion die Verantwortung für die Lösung des Falles. Chile sei nach Herstellung bestimmter rechtlicher Voraussetzungen bereit, Honecker zu übergeben. Chile habe daher Russland gebeten, Herrn Honecker die Möglichkeit zu geben, vor einem unabhängigen und unparteiischen Gericht den Ausweisungsbeschluss überprüfen zu lassen. Dabei müsse es sich um ein Verfahren handeln, das durch Gesetz festgelegt sei. Dies bedeute jedoch nicht, dass Chile hier die Verteidigung Honeckers übernehmen wolle oder gar Bedingungen schaffen wolle, um Honecker der deutschen Justiz zu entziehen. Rechtlich gesehen, befinde sich Honecker nach chilenischer Auffassung rechtmäßig auf russischem Territorium. Dem hätten allerdings stv. Außenminister Kolokolow und EuropaAL Fokin widersprochen. Sie sagten, Honecker befinde sich illegal in Russland. Bei seinen Gesprächen mit der russischen Seite sei Holger auch klar geworden, dass Russland Probleme mit Art. 13 IPBPR habe. Kolokolow habe unumwunden zugegeben, dass die rechtliche Infrastruktur in Russland erst noch geschaffen werden müsse, die Rechtsordnung sei auf die Berücksichtigung des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte bisher nicht vorbereitet. Man sei noch nicht so weit, das Rechtsmittel des Art. 13 zu akzeptieren. Außerdem habe Kolokolow von einer politischen Vereinbarung zwischen Präsident Jelzin und BK Kohl gesprochen, Honecker ohne Gerichtsverfahren rückzuüberstellen.11 Zusammenfassend müsse Holger feststellen, dass die russische Seite zwar nicht gesagt habe, sie lehne den Art. 13 ab, jedoch dass sie offensichtlich mit ihm Probleme hätte. 8 Der ehemalige chilenische AM Letelier wurde 1976 in Washington durch eine Bombe getötet. 9 Die chilenische Regierung entzog der Colonia Dignidad am 31. Januar 1991 den Status der Rechtspersönlichkeit und die Gemeinnützigkeit. Vgl. AAPD 1991, I, Dok. 86. 10 Botschafter Pabsch, Santiago de Chile, teile am 5. Juni 1992 mit, es handele sich um ein Ehepaar, das wegen der nicht rechtzeitigen Erneuerung der Aufenthaltserlaubnis am 15. November 1991 ausgewiesen werden sollte, dagegen Verfassungsbeschwerde eingelegt habe, der mit Urteil des höchsten chilenischen Gerichts vom 19. März 1992 stattgegeben worden sei. Der Verlauf des Verfahrens sei nach Ansicht des Rechtsanwalts Corvalán, der für die Botschaft das Thema Colonia Dignidad betreue, ein typisches Beispiel dafür, dass die chilenische Regierung zwar rechtliche Schritte gegen die Colonia Dignidad und deren führende Mitglieder in die Wege leite, die Verfahren danach jedoch nicht mehr engagiert genug weiterbetreibe. Vgl. DB Nr. B 33, ZA-Bd. 159213. 11 BK Kohl und der russische Präsident Jelzin besprachen den Fall Honecker am 21. November 1991. Vgl. AAPD 1991, II, Dok. 392. Vgl. auch das Telefongespräch am 23. März 1992; Dok. 83.

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Nach chilenischer Auffassung sei Honecker legal in Russland, weil er auf Einladung von Gorbatschow gekommen sei und aus einem sowjetischen Militärhospital mit einem sowjetischen Militärflugzeug nach Russland transportiert worden sei. Hierzu habe man in Moskau erfahren, es seien Weisungen sowohl von Vtg.-Minister Jasow als auch von KGBChef Krjutschkow ergangen. Das Argument der russischen Seite sei schwach, dass Honecker weder Visum noch Aufenthaltsgenehmigung habe. Man wisse, dass zwischen den Warschauer-Pakt-Staaten die Sichtvermerksfreiheit vereinbart gewesen sei. Diese Bestimmungen seien noch in Kraft. Honecker habe dann zwei Monate in einem Moskauer Hospital verbracht und anschließend bis Dezember 1991 in einer Regierungsdatscha gelebt. Dabei seien ihm alle Freiheiten eingeräumt worden. So habe er Theater- und Konzertveranstaltungen besucht. An dieser Stelle warf StS Kastrup ein, Honecker sei doch angeblich sehr krank gewesen. Holger: Damals offenbar nicht, 1989 fanden zwei Operationen statt. StS: Als Honecker aus Deutschland entführt wurde, wurde angegeben, dass er sich einer dringenden ärztlichen Behandlung unterziehen müsse, die in Deutschland nicht durchgeführt werden könne. Holger: Deshalb sei er auch zwei Monate im Hospital gewesen. Möglicherweise handele es sich hier nicht um sehr glaubwürdige Quellen. Aus der Tatsache, dass die russische Regierung für Honecker die Hospitalkosten bezahlt hätte, sei auf die Legalität seines Aufenthalts in Russland zu schließen. Holger bezog sich dann auf Stimmen im Obersten Sowjet, insbesondere auf den Vorsitzenden des Internationalen Rechtsausschusses, Surkow, der am 13.3. gegenüber der Presse gesagt habe, im Falle Honeckers sei eine rechtliche Regelung erforderlich. Honecker müsse entweder Asyl verlangen können oder aber in jedes Land seiner Wahl abgeschoben werden können. Holger zählte dann die rechtlichen Gründe auf, die aus chilenischer Sicht für die Anwendung von Art. 13 IPBPR sprächen. Russland sei als Rechtsnachfolger an den Pakt gebunden. Man habe ernsthafte Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Ausweisungsbeschlusses: – Er sei nicht durch die zuständigen Behörden erlassen worden. – Juristisch gesehen sei es ein willkürlicher Beschluss. – Es gebe überhaupt keine Gesetzgebung zur Durchführung von Art. 13 IPBPR im russischen Recht. Jeder Rechtsstaat mache seine Ausweisungsbeschlüsse aufgrund eines Gesetzes. – Außerdem gebe es in einem Rechtsstaat keine Willkürentscheidungen. Dies bedeute, dass Honecker die Freiheit der Entscheidung behalten müsse, wohin er gehe. – Honecker habe ihm gesagt, er habe mehrere Briefe an die russische Regierung gerichtet, die alle nicht beantwortet worden seien. Wenn man diese Briefe als Eingaben werte, so liege auch hier eine Rechtsverletzung vor. – Es sei das Recht jedes Ausländers, sich an bestimmte zuständige Behörden zu wenden, um sich gegen einen Ausweisungsbeschluss zu wehren. – Wichtig sei auch Art. 14 des IPBPR, der den Grundsatz der Unschuldsvermutung bis zum Gegenbeweis enthalte.12 12 Für Artikel 14 des Internationalen Pakts vom 19. Dezember 1966 über bürgerliche und politische Rechte (IPBPR) vgl. BGBl. 1973, II, S. 1540 f.

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Dies alles seien Gedanken, die die chilenische Regierung, aber auch Präsident Aylwin beschäftigten. Deutsche, Chilenen und Russen hätten alle unter Menschenrechtsverletzungen und Mangel an Rechtsstaatlichkeit gelitten. Daher müssten auch die Rechte eines Honecker anerkannt werden. Die chilenische Seite wünsche die Anerkennung ihrer rechtsstaatlichen Handlungskriterien. Chile werde Honecker kein Asyl gewähren. Holger werde ab Montag13 in Chile sein und dann mit der chilenischen Regierung Gespräche führen, ebenso wie mit Präsident Aylwin. Honecker werde nur ausgeliefert werden, wenn die Voraussetzungen dafür erfüllt würden. Eines wolle er aber festhalten: Chile wolle keinen Fall wie den des Kardinal Mindszenty14 schaffen. StS Kastrup begrüßte die Feststellung, dass die chilenische Regierung von der Bundesregierung keine grundsätzliche Aufgabe ihrer bisherigen Haltung erwarte. Diese Haltung sei vom Bundeskanzler in seinem Schreiben vom 25. Mai an Präsident Aylwin nochmals sehr deutlich ausgedrückt worden: „Vor diesem Hintergrund bitte ich Sie, Herr Präsident, jetzt auf die notwendigen Schritte Ihres Landes hinzuwirken, den Aufenthalt Honeckers in der chilenischen Botschaft in Moskau zu beenden. Die russische Regierung kann dann ihr uns gegebenes Versprechen einlösen, Honecker unverzüglich nach Deutschland zurück zu überstellen.“15 StS begrüßte weiter, dass die chilenische Haltung sei, Honecker müsse sich vor einem deutschen Gericht verantworten. Honecker werde wegen krimineller Delikte angeklagt, die in jedem zivilisierten Rechtsstaat mit schwerer Strafe bedroht würden. Honecker erwarte ein rechtsstaatliches Verfahren mit allen Garantien, die ein Rechtstaat nur gewähren könne. Die Einlassungen von Herrn Honecker seien von nicht zu überbietendem Zynismus, wenn man bedenke, dass Honecker als Repräsentant eines Unrechtsregimes glaube, sich so verteidigen zu müssen. Hinsichtlich der Frage, bei wem Handlungsbedarf bestehe, sei er völlig anderer Auffassung als Holger. Ganz offen gesagt, sei die gegenwärtige Lage durch Chile verursacht. Niemand habe Honecker gezwungen, sich in der chilenischen Botschaft aufnehmen zu lassen. Honecker wäre längst in Deutschland und könnte sich seinem verdienten Gerichtsverfahren stellen, wenn dies nicht geschehen wäre. StS Kastrup: Ein weiteres offenes Wort: Er könnte ja noch verstehen, dass die chilenische Regierung nach einer politischen Lösung suche, wonach Honecker nicht direkt überstellt würde. Nur der Weg über Art. 13 führe in die Irre. Er liefere keine Lösung, finde nicht die Zustimmung der Bundesregierung und auch nicht die der russischen Seite. Die Darlegung der rechtlichen Erwägungen, so wie Holger sie vorgetragen habe zu Art. 13, würde bei der deutschen16 Bevölkerung nicht das geringste Verständnis finden. Diese Argumentation erwecke eher den Eindruck eines Plädoyers für einen Mann, dem bitteres Unrecht geschehen sei. StS Kastrup: Art. 13 beschreibe auch nicht die Lage Honeckers. Von Rechtmäßigkeit seines Aufenthalts in Russland könne keine Rede sein. Es liege ein Beschluss der russischen 13 1. Juni 1992. 14 Der ungarische Kardinal Mindszenty erhielt zwischen 1956 und 1971 Asyl in der amerikanischen Botschaft in Budapest. 15 Für das Schreiben des BK Kohl an den chilenischen Präsidenten Aylwin (Entwurf) vgl. B 38, ZA-Bd. 184708. 16 Dieses Wort wurde von StS Kastrup handschriftlich eingefügt.

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Regierung vor. Es sei die Entscheidung jeden Staates, für das Territorium, das ihm gehöre, solche Entscheidungen zu treffen. Dies sei Ausfluss jeden souveränen Staates. Er denke, dass auch die chilenische Regierung dieser Ansicht sei, wenn es sich um einen US-Bürger in Chile handele. Dann würde die chilenische Regierung sicher auch die Auffassung vertreten, dies gehe dritte Staaten nichts an. Für uns sei die entscheidende Aussage der russischen Seite diejenige von Kolokolow bzw. Fokin, wenn diese sagten, dass Honecker sich jetzt illegal in Russland aufhalte. Die Entscheidung des russischen Kabinetts vom Dezember 1991 könne doch wohl kaum als eine nicht rechtmäßige Kabinettsentscheidung infrage gestellt werden. Wenn man sich im Falle Honecker über Unrecht unterhalte, dann sei festzuhalten, dass sich Honecker unter Verletzung von Recht und Verträgen ins Ausland abgesetzt habe und sich dem Gerichtsverfahren in Deutschland entziehe. StS bitte Holger, sich sehr gut zu überlegen, ob er in eine rechtliche Argumentation in der Öffentlichkeit eintreten wolle, wie er sie in diesem Gespräch gegeben habe. Wolle die chilenische Seite wirklich sagen, Honecker halte sich rechtmäßig in Russland auf, die Kabinettsentscheidung der russischen Regierung sei rechtswidrig, Herr Honecker müsse die Gelegenheit eines rechtsstaatlichen Verfahrens in Moskau erhalten? Dies würde einen Aufschrei öffentlicher Empörung auslösen. Der Versuch eines Auswegs über Art. 13 IPBPR führe in die Irre, der Weg sei rechtlich nicht gangbar und politisch schädlich. Er wolle deshalb hier auch nicht näher auf die rechtliche Argumentation eingehen. Es bleibe für uns bei der Haltung, wie sie der Bundeskanzler in seinem Brief an Präsident Aylwin niedergelegt habe. StS K. sprach dann die Frage einer Presseerklärung an. Holger wich hier mit dem Hinweis aus, dass es sich besser sprechen lasse, je weniger man die Dinge über die Presse spiele. Allerdings warteten vor der Tür schon einige Journalisten. Holger griff abschließend das Schreiben des Bundeskanzlers vom 25. Mai an Präsident Aylwin auf. Wenn es heiße, dass Honecker unverzüglich nach Deutschland zurücküberstellt werden solle, so werde es hier ein Problem mit der chilenischen Seite geben. Eine Lösung für den Fall Honecker müsse mit Nachdruck und Geduld gesucht werden. Über den Weg sei aber das letzte Wort noch nicht gesprochen. Das Ziel sei klar: Honecker solle sich vor einem Berliner Gericht verantworten. Der Weg dorthin würde aber durch einen Zwischenschritt erleichtert werden. Er wolle noch einmal wiederholen, dass die chilenische Seite Honeckers Äußerungen zum Verfahren nicht teile. Honecker sei in der Botschaft Gast auf Zeit. Er wolle hier nicht noch einmal den Dialog über die rechtliche Bewertung eines solchen Status wie beim Gespräch am 2. April mit StS Kastrup wieder aufgreifen. Aber es gebe, wenn auch nicht in der Sache, so doch in der Form gewisse analoge Fälle wie den Fall Mindszenty oder aber auch den Fall einer evangelischen Familie in der Moskauer Botschaft Chiles, aus denen sich ergebe, dass solche Zufluchtsfälle nicht neu seien. StS Kastrup: Hatte sich Mindszenty wegen Straftaten zu verantworten? Holger: M. war ein großer Verteidiger der Menschenrechte. StS Kastrup: Honecker war ein großer Verächter der Menschenrechte. Holger: Einverstanden. Präsident Aylwin habe aber auch am 11. März gegenüber der Presse klargestellt, dass er sich, wäre er an der Botschaft in Moskau gewesen, ebenso wie der chilenische Botschafter in Moskau17 verhalten hätte. 17 Clodomiro Almeyda Medina.

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Holger sagte dann, er verstehe allerdings nicht, warum die öffentliche Meinung kein Verständnis dafür haben könnte, wenn Chile sich öffentlich auf die Notwendigkeit der Einhaltung eines juristischen Weges bei der Übergabe von Honecker beziehe. StS Kastrup: Was er gesagt habe, sei eine persönlich gemeinte Empfehlung gewesen. Holger habe ja eine Reihe von Hinweisen juristischer Art dazu gemacht, dass Honecker in Moskau nicht der volle Rechtsschutz gewährleistet worden sei. So habe er auf die Willkürlichkeit der Kabinettsentscheidung und darauf hingewiesen, dass nicht zuständige Behörden entschieden hätten, sowie darauf, dass kein rechtsstaatliches Verfahren in Moskau existiere. Man müsse sehen, dass Honecker der höchste Repräsentant eines Unrechtsregimes sei, gegen den hier Anklage erhoben werde. Er sei in völkerrechtswidriger Weise nach Moskau gebracht worden. Die Bundesregierung habe einen Rücküberstellungsanspruch. Holger ließ dann anklingen, dass man sich in Santiago die definitive Antwort für eine Lösung im Fall Honecker noch genauer überlegen werde. Auf ganz persönlicher Basis neige er dazu, dass man den Weg einer Schiedsgerichtsbarkeit gehen solle, wenn sich keine Einigung zwischen den Regierungen ergeben sollte. Seine juristischen Ausführungen wolle er zunächst nur als juristische Ansichten gewertet wissen. Nach seiner Meinung werde Chile an einem notwendigen Zwischenschritt festhalten, d. h. kurz und bündig ausgedrückt, bedürfe es einer politischen Lösung mit einem juristischen Mantel. Holger bezeichnete abschließend das Gespräch mit StS K. als nützlich. Er sei dankbar, dass ihm über zwei Stunden lang zugehört worden sei. Er habe auch die Argumente von StS Kastrup angehört. Er beabsichtige, um den 15. Juni wieder in Bonn zu sein, und wäre dankbar, dann wieder von StS Kastrup empfangen zu werden, was StS K. zusagte.18 B 38, ZA-Bd. 184708

18 StS Kastrup und der chilenische Sonderbotschafter Holger trafen am 22. und am 23. Juni 1992 wieder zusammen. Für das Gespräch am 23. Juni 1992 vgl. Dok. 184.

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157 Vorlage des Vortragenden Legationsrats I. Klasse Neubert für Bundesminister Kinkel 213-322.00 RUS

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Über Dg 212, D 23, Herrn Staatssekretär4 Herrn Bundesminister5 Betr.:

Russische Außenpolitik

Zweck der Vorlage: Zur Unterrichtung I. Zusammenfassung Der Zerfall der Sowjetunion macht die Ausarbeitung einer eigenständigen russischen Außenpolitik notwendig. Die Konzeption einer solchen Politik, die sowohl im russischen Außenministerium (RAM) wie auch im Parlament angekündigt worden war, steht bislang aus. Hinter diesem Manko steht einmal die Dominanz des innenpolitischen Problemdrucks und zum anderen die Existenz verschiedener Denkrichtungen innerhalb des RAM sowie weiterer Gremien, die einen Einfluss auf die Außenpolitik ausüben. Neben den klassischen Politikfeldern (Beziehungen zu USA, Europa, Dritte Welt) kommt den Beziehungen zu den GUS-Partnern, Georgien und dem Baltikum Priorität zu. Als außenpolitische Problemfelder sind sie Neuland. Vor allem die Beziehungen zur Ukraine werden sich weiterhin schwierig gestalten. Russlands Leitvorstellung wird sein, Einflusssphären zu halten. Der Frage russischer Minderheiten kommt besondere Bedeutung zu. II. Im Einzelnen 1) Der außenpolitische Apparat a) Das Manko an gestalterischer Konzeption ist verbunden mit der bislang mangelhaften Umstrukturierung des RAM. Mit Dekret vom 18.12.1991 veranlasste Präsident Jelzin die Übernahme des (ehem.) sowjetischen AM in russische Verwaltung. Er beauftragte AM Kosyrew, Entwürfe für den Aufbau eines (aus dem ehem. sowjetischen und dem im Aufbau befindlichen russischen AM) Außenministeriums der Russischen Föderation vorzulegen. Am 23.12.1991 ging Kosyrew (TASS) von einem „optimalen“ Personalbestand von künftig 2 700 (zuletzt ca. 3 500 der beiden AM) Mitarbeiter aus. Das Botschaftspersonal soll um 30 % gekürzt werden (Informationsabt. des RAM am 30.4.). 1 2 3 4

Die Vorlage wurde von LRin I Althauser konzipiert. Hat in Vertretung des MDg von Studnitz VLR I Haak am 2. Juni 1992 vorgelegen. Hat MD Chrobog am 3. Juni 1992 vorgelegen. Hat StS Kastrup am 4. Juni 1992 vorgelegen, der die Weiterleitung an BM Kinkel strich. Hat VLR Ney am 4. Juni 1992 vorgelegen, der den Rücklauf an VLR I Neubert verfügte. 5 Hat MD Chrobog am 15. Juni 1992 erneut vorgelegen, der die Weiterleitung an das Ministerbüro verfügte und handschriftlich vermerkte: „Diese Aufzeichnung könnte für BM von Interesse sein.“ Hat BM Kinkel am 17. Juni 1992 vorgelegen. Hat OAR Rehlen am 19. Juni 1992 vorgelegen, der den Rücklauf über Chrobog und MDg von Studnitz an Referat 213 verfügte. Hat LRin I Althauser am 22. Juni 1992 erneut vorgelegen.

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Die Verschmelzung der beiden AM impliziert insofern zwei Problembereiche: – Stellenabbau, der möglichst ausgewogen sein sollte. – Zerschlagung alter Personalstrukturen. – Aus sowjet. Zeit stammende Seilschaften betreiben offensichtlich mitunter eine interministerielle Obstruktionspolitik. Aus Kreisen dieser „Kaste“ stammen die immer wieder auftauchenden Gerüchte über eine baldige Ablösung AM Kosyrews (und Abschiebung auf einen Botschafterposten, ganz im alten Stil). b) AM Kosyrew steht für eine Linie, die sich aus westlichen Leitbildern (Demokratie, Menschenrechte, Aufbau neuer Sicherheitsstrukturen) orientiert. Der in gesamteuropäischen Kategorien denkende Kosyrew will Russlands Weg in eine „demokratische und zivilisierte Gesellschaft“ unumkehrbar machen. Zielperspektive ist Russlands Integration in die europäischen und transatlantischen Institutionen. Gleichzeitig sind in der unmittelbaren Umgebung Jelzins Männer wie Staatsrat Burbulis, Vizepräsident Ruzkoj, Parlamentspräsident Chasbulatow und UN-Botschafter Woronzow aktiv und einflussreich, deren Weltbild konservativ bis russisch-national gefärbt ist. Welchen Einfluss der neu geschaffene Sicherheitsrat (erste Sitzung am 21.5.92) haben wird, bleibt abzuwarten. Schließlich stammt in dem großen Apparat im In- und Ausland die Mehrzahl der Mitarbeiter aus der Zeit nicht nur Schewardnadses, sondern Gromykos, und ihr Weltbild ist weder das Kosyrews noch der anderen Berater Jelzins. c) Der diffuse Prozess der Entscheidungsfindung erklärt die oftmals nicht stringente Linie der russ. Regierung (neben dem Druck innenpolitischer Faktoren) in Fragen mit außenpolitischem Bezug: so in den Beziehungen zu Japan, in der Frage der Russlanddeutschen (Wolga-Republik) und zuletzt Russlands Widerstand und Zögern, Rest-Jugoslawien befristet aus dem KSZE-Entscheidungsprozess auszuschließen6. Hier ergänzen sich unterschiedliche Gruppeneinflüsse, mangelnde institutionalisierte Entscheidungsgänge und stark persönlich-willkürliche Entscheidungen zu einem widersprüchlichen Bild. 2) Strategiepapiere Der Wettstreit mehrerer Denkrichtungen lässt sich nicht nur organisatorisch, am Modus der Entscheidungsfindung, sondern auch mittels bekannt gewordener Denkmodelle nachzeichnen. Wissenschaftliche Institute wurden beauftragt, neue Konzeptionen zu entwickeln. a) Zu nennen ist hier ein Strategiepapier des Moskauer Forschungszentrums für internat. Beziehungen. Wesentlicher Inhalt: – Außenpolitik soll prinzipiell einen Beitrag zur Demokratisierung Russlands leisten. – Die Beziehungen zu den anderen GUS-MS werden als Bestandteil der allgemeinen Außenpolitik definiert. – Außenpolitik soll als Instrument genutzt werden, ein weiteres, unkontrolliertes Auseinanderdriften der GUS steuerbar zu machen. – Moskau soll jegliche Bestrebungen aufgeben, Machtzentrum der GUS zu werden, um Konflikte mit anderen GUS-MS zu vermeiden. – Die Europäisierung der russ. Außenpolitik ist anzustreben, nationalpatriotischen Tendenzen im Inland ist entgegenzuwirken. 6 Zur russischen Haltung hinsichtlich der weiteren Beteiligung der Bundesrepublik Jugoslawien (Serbien/ Montenegro) an der KSZE vgl. Dok. 136.

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b) In die gleiche Richtung zielt eine Studie des Moskauer Staatlichen Instituts für Internationale Beziehungen (MGIMO7); sie soll eingeflossen sein in ein Memorandum des RAM. Auch hier liegt der Akzent auf gleichberechtigten Beziehungen. Die G 7 werden als steuernder Kern weltwirtschaftlicher Prozesse gesehen, Russland in diesem Kontext als periphere Größe. Die RF müsse darauf hinarbeiten, sich schrittweise diesem Zentrum zu nähern. Dies könne, so die MGIMO-Studie, nur bei Aufgabe der imperialen und nuklearen Erblast und durch Herstellen entsprechender innen- und außenpolitischer Bedingungen mittels Reformen gelingen. c) Ganz anders argumentierte Staatsrat Burbulis in einem internen Papier: Er spricht von einer von Russland dominierten, losen politischen Gemeinschaft als zeitlich befristeter Übereinkunft der ehemaligen Sowjetrepubliken. Sie soll den Großmachtstatus Russlands absichern und eine gegen Russland gerichtete Interessenallianz verhindern. Von gleichberechtigten Beziehungen innerhalb der GUS, von Absage an den Status einer Supermacht, ist hier nicht die Rede. 3) Stand der Beziehungen a) Beziehungen zu den westlichen Staaten – Die Pflege enger und partnerschaftlicher Beziehungen mit den USA, an zweiter Stelle mit Europa (D, GB, F und I) bleibt vorrangig. In den jap.-russ. Beziehungen ist es noch zu keinem Durchbruch gekommen. Jelzins innenpolitischer Spielraum (Stichwort: „Ausverkauf“ russ. Interessen) ist zu begrenzt, um in der strittigen Territorialfrage8 rasch weiterführende Zugeständnisse machen zu können. Für die G 7 gilt insgesamt, dass sie nicht nur als weltwirtschaftlich, sondern auch politisch zentrales Forum in der Weltpolitik angesehen wird, aus der Russland sich keineswegs verabschieden will (s. MGIMO-Studie). – Der russisch-national denkende Zirkel um Jelzin, angeführt von Burbulis, will zu den USA eine „new direct relationship“ suchen. Sie gründet sich auf den Anspruch, nach wie vor zweite Supermacht zu sein. Im Unterschied zu Gorbatschows SU sei die RF demokratisch und marktwirtschaftlich glaubwürdiger legitimiert und deshalb Verhältnis jetzt von neuer partnerschaftlicher Qualität. Eine stärkere Einbindung der USA in die wirtschaftliche „Zusammenarbeit mit“ (und nicht „Hilfsmaßnahmen für“) Russland ist fraglos ein weiteres wichtiges Motiv für die Ausrichtung hin zu Amerika. In diesem Gesamtrahmen ist der für den 16./17. Juni geplante USA-Besuch Jelzins9 zu sehen. b) Beziehungen zu den GUS-Partnern Die GUS hat bisher keine soliden integrativen Aspekte hervorgebracht oder gemeinsame Organisationen geschaffen. Ihre weitere Entwicklung liegt auch nach dem TaschkentGipfel10 im Unklaren. AM Kosyrew wurde während des Volksdeputiertenkongresses11 kritisiert, sich zu wenig um die GUS-Partner gekümmert zu haben (er besuchte die GUSHauptstädte einen Monat nach US-AM Baker12). Russland tut sich schwer mit dem Ge7 Moskovskij gosudarstvennyj institut meždunarodnych otnošenij. 8 Zur Kurilenfrage vgl. Dok. 13, Anm. 43. 9 Zum Besuch vgl. Dok. 186. 10 Zur Gipfelkonferenz der GUS-Mitgliedstaaten am 15. Mai 1992 vgl. Dok. 141. 11 Zum Kongress der Volksdeputierten vom 6. bis 21. April 1992 in Moskau vgl. Dok. 111, Anm. 7 und 9. 12 Der amerikanische AM Baker besuchte am 11. Februar 1992 Moldau, am 11./12. Februar Armenien, am 12. Februar Aserbaidschan und Tadschikistan, am 12./13. Februar Turkmenistan, am 14./15. Februar Russland, am 15./16. Februar Usbekistan und vom 16. bis 18. Februar 1992 erneut Russland.

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danken, die GUS-Staaten als wirkliches Ausland und damit die Entwicklung genuiner auswärtiger Beziehungen als normal zu betrachten. Ihre organisatorische Einordnung im RAM scheint bis heute nicht in allen Punkten geklärt zu sein. In der russischen Presse spricht man etwas unentschieden vom „nahen Ausland“. Besonderes Augenmerk werden die 25 Mio. Russen erfordern, die in anderen GUSStaaten leben. Schon aus diesem Grunde dürfte Russland an der Weiterexistenz der GUS interessiert sein. Hinzu kommt, dass die GUS für die RF ein Mittel ist, Einflusssphären zu halten (wie vor allem von der Ukraine beargwöhnt). Moskau ist offenbar der Auffassung, dass der Verlust des Imperiums mittels dieses Restbestands aus der sowjetischen Konkursmasse besser verkraftet werden kann, sowohl innenpolitisch-psychologisch wie hinsichtlich bestimmter gemeinsamer Infrastrukturfragen. Am 25.5.1992 schlossen Russland und Kasachstan (ca. 40 % Bürger russ. Nationalität) einen „Vertrag über Freundschaft, Zusammenarbeit und gegenseitigen Beistand“ ab. Es ist das erste Dokument dieser Art zwischen zwei GUS-Mitgliedern. In dem für 25 Jahre angelegten Vertrag kommen beiden Seiten u. a. überein, „ihre Verteidigung im Rahmen eines gemeinsamen militärisch-strategischen Raums zu organisieren“ sowie „ein gemeinsames Wirtschaftsgebiet“ zu schaffen. Dies stützt einmal den Trend, wonach von der RF zunehmend ein Netzwerk bilateraler Verträge mit den GUS-Partnern angestrebt wird, sowie zweitens die Entwicklung hin zu regionalen Sondervereinigungen innerhalb der GUS. Hierzu zählt auch der in Taschkent beschlossene Vertrag über kollektive Sicherheit13, der allerdings bislang nicht mehr als eine Absichtserklärung ist. III. Wertung Ein klar ausgearbeitetes außenpolitisches Konzept der RF liegt nicht vor. Vielmehr lassen sich mehrere Linien erkennen, die sich gegenseitig nicht ausschließen und die – je nach Bedarf – aktiviert werden können. In Einschätzung der russischen Führungsspitze mag insofern gar keine Notwendigkeit bestehen, für mehr Klarheit zu sorgen. Dies umso mehr, als die Zukunft der GUS im Fluss ist. Mit der GUS eng verknüpft sind jedoch die Perzeptionen der Rolle Russlands in der Welt und die Definition seiner nationalen Interessen und der Instrumente zu ihrer Umsetzung. Angesichts der zu vielen unvorhersehbaren Faktoren kann die russische Regierung bisher immer nur kurzfristig (re-) agieren. Das Hinauszögern einer „endgültigen“ außenpolitischen Festlegung kommt ihr insofern durchaus zupass. Auf die unterschiedlichen Erfordernisse kann sie flexibel eingehen, ohne Gesichtsverlust oder Preisgabe fester Positionen. In Übernahme westlicher Wertvorstellungen kann die offizielle westorientierte Außenpolitik Kosyrews ein internat. Klima schaffen bzw. erhalten, das den eigenen Regenerationsprozess (mittels Zusammenarbeit, Hilfe) günstig beeinflusst. Gleichzeitig kann durch innenpolitische Rollenverteilung (z. B. Ruzkoj) nationales Interesse stärker akzentuiert und aufgestauter innenpolitischer Problemdruck abgebaut werden. Neubert B 41, ZA-Bd. 221844

13 Für den Vertrag über kollektive Sicherheit vgl. B 41, ZA-Bd. 158732.

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1. Juni 1992: Gespräch zwischen Kohl und Cavaco Silva

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158 Gespräch des Bundeskanzlers Kohl mit dem portugiesischen Ministerpräsidenten Cavaco Silva 1. Juni 19921 Der Bundeskanzler heißt den Ministerpräsidenten herzlich willkommen2 und würdigt eingangs die gute Bilanz der portugiesischen EG-Präsidentschaft. Er erläutert seinem Gast zunächst kurz die wirtschaftliche und politische Lage in den neuen Bundesländern wie in der alten Bundesrepublik. Er hebt hervor, dass die Bundesrepublik Deutschland den Vertrag von Maastricht fristgemäß ratifizieren werde. Er weist darauf hin, dass die EuropaBegeisterung in Deutschland nachgelassen habe. Dies beruhe in erster Linie darauf, dass die Brüsseler Bürokratie sich mehr und mehr übermäßig in Einzelheiten einmische, was mit dem Prinzip der Subsidiarität unvereinbar sei. Hierüber müsse man in Lissabon3 ernsthaft sprechen. Dies ändere aber nichts an seinem politischen Grundkurs in der Europapolitik. Der Ministerpräsident dankt dem Bundeskanzler für die Unterstützung der portugiesischen Präsidentschaft durch die Bundesregierung – die Erfolge seien ohne das Verständnis und die Hilfe Deutschlands nicht möglich gewesen. Der Erfolg der deutschen Einigung sei grundlegend für ganz Europa. Deutschland stehe mitten in einer riesigen, schwierigen Aufgabe. Er beglückwünsche den Bundeskanzler für seinen Mut, wie er diese angehe. Er weise darauf hin, dass der Erfolg der deutschen Politik auch für Portugal von großer Bedeutung sei – Deutschland stehe mit Abstand an erster Stelle bei den Importen wie bei den Exporten. Es sei daher im Interesse aller Europäer, dass der Bundeskanzler in Deutschland eine günstige Entwicklung erreiche. Auf Frage des Bundeskanzlers erläutert er, dass seine Regierung die Ratifikation des Vertrages von Maastricht auf parlamentarischem Wege eingeleitet habe. Für die notwendigen Verfassungsänderungen sei eine Vier-Fünftel-Mehrheit erforderlich – da die Sozialistische Partei einverstanden sei, bestehe insoweit kein Problem. Auf weitere Frage des Bundeskanzlers verweist er darauf, dass lediglich eine kleine Partei – die Christdemokraten – für ein Referendum plädiere, um sich innenpolitisch zu profilieren. 1 Der Gesprächsvermerk wurde von VLR I Bitterlich, Bundeskanzleramt, gefertigt und am 2. Juni 1992 von MD Hartmann, Bundeskanzleramt, über BM Bohl an BK Kohl „mit der Bitte um Billigung“ geleitet. Dazu vermerkte Hartmann: „Entsprechend Ihrer Weisung habe ich vorab einen auf die Frage der künftigen EG-Finanzierung beschränkten Auszug des Vermerks Herrn StS Dr. Köhler zur persönlichen Kenntnisnahme übermittelt. Ich gehe davon aus, dass der Vermerk im Übrigen nicht weitergegeben werden soll.“ Hat Bohl am 4. Juni 1992 vorgelegen. Hat Kohl vorgelegen, der handschriftlich vermerkte: „Ja“ und für Hartmann notierte: „Erl[edigen].“ Hat Hartmann am 9. Juni 1992 erneut vorgelegen, der handschriftlich für Bitterlich vermerkte: „Bitte Anschreiben von mir an Herrn Köhler. Auch Kopie AL 4.“ Hat Bitterlich am selben Tag vorgelegen, der handschriftlich für Hartmann vermerkte: „Ist doch bereits erledigt.“ Vgl. den Begleitvermerk; BArch, B 136, Bd. 42321. 2 Der portugiesische MP Cavaco Silva hielt sich am 1./2. Juni 1992 in der Bundesrepublik auf. 3 Zur Tagung des Europäischen Rats am 26./27. Juni 1992 vgl. Dok. 201.

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Er geht sodann auf die Tagesordnung des Europäischen Rats von Lissabon ein und bittet den Bundeskanzler um Unterstützung – die Stimme Deutschlands sei auch für Lissabon von entscheidender Bedeutung. Als erstes Thema nennt er die Benennung des Präsidenten der EG-Kommission für die nächsten zwei Jahre – ab 1995 gelte ja das in Maastricht vereinbarte neue Verfahren.4 Es scheine, dass Delors bereit sei weiterzumachen. Entscheidend sei, ob Frankreich diese Position unterstütze – morgen werde er dies mit Staatspräsident Mitterrand besprechen. Der Bundeskanzler erläutert, er habe mehrmals mit dem Staatspräsidenten darüber gesprochen und sei sich mit ihm einig, Delors zu nominieren. Der Präsident des Europäischen Parlaments, Egon Klepsch, habe ihn gebeten, mit dem Ministerpräsidenten zwei Punkte für Lissabon aufzunehmen5: Einerseits gehe es darum, ob man nicht als Geste für das EP bereits in Lissabon die gesamte EG-Kommission benennen könne. Er habe mit diesem Vorschlag keine Probleme, da Deutschland das Mandat seiner beiden Kommissare6 verlängern werde. Eine Zustimmung zu dem Anliegen des EP setze allerdings voraus, dass alle Länder ihre Kommissare bis dahin benennen können. Er, der Bundeskanzler, würde dies für einen Akt der Courtoisie gegenüber dem Parlament halten. Er würde es begrüßen, wenn der portugiesische Ministerpräsident dies zustande bringen könnte. EP-Präsident Klepsch habe andererseits angeregt, in Lissabon zu Beginn der Sitzung über die bisherige Praxis hinauszugehen und nicht nur die Stellungnahme des Parlaments anzuhören, sondern in eine kurze Diskussion einzutreten – die Fragen könnten ggf. vorher abgesprochen werden. Er halte dieses Anliegen des Parlaments für voll berechtigt: Die bisherige Praxis stelle in der Tat einen eigenartigen, fast liturgischen Zustand dar. Der Ministerpräsident geht zunächst auf den ersten Fragenkomplex ein. Delors habe ihm gegenüber betont, er würde in der Tat gerne bereits im ersten Halbjahr klarsehen, welche Kommissare der Kommission in den nächsten zwei Jahren angehören werden. Soweit er bisher gehört habe, würden einige Länder die Amtszeit ihrer Kommissare verlängern, andere aber nicht, einige hätten sich noch nicht entschieden. Er habe gewisse Zweifel, ob alle Mitgliedstaaten insoweit ihre internen Probleme bis Lissabon gelöst hätten. Er werde das Thema aber gern mit den Kollegen in den kommenden Wochen aufnehmen. Im Übrigen wolle er darauf hinweisen, dass er als erster ER-Vorsitzender vor dem Europäischen Rat mit dem erweiterten Präsidium des EP zusammentreffen werde – auch dies stelle eine Änderung und Verbesserung gegenüber der bisherigen Praxis dar. Der Bundeskanzler wirft ein, der Ministerpräsident könne insoweit jederzeit auf seine volle Unterstützung rechnen. Wenn der Ministerpräsident das Gefühl habe, er könne als Vorsitzender einen bestimmten Punkt schlecht aufgreifen, den er aber gerne ansprechen wolle, so sei er gerne bereit, dies für ihn zu tun. Ggf. könne er ihn noch vor dem Europäischen Rat direkt oder über die Mitarbeiter kontaktieren. Er wolle dazu beitragen, dass der Europäische Rat in Lissabon ein Erfolg werde. 4 Artikel 158 Absatz 1 und 2 des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft (EG) vom 7. Februar 1992 regelte die Wahl der ab 7. Januar 1995 amtierenden Mitglieder der EG-Kommission und ihres Präsidenten. Gemäß Artikel 158 Absatz 3 sollten die ab 7. Januar 1993 bis 6. Januar 1995 amtierende EGKommission und ihr Präsident von den Regierungen der EG-Mitgliedstaaten „im gegenseitigen Einvernehmen ernannt“ werden. Vgl. BGBl. 1992, II, S. 1274. 5 Für das Gespräch des BK Kohl mit dem Präsidenten des Europäischen Parlaments, Klepsch, am 18. Mai 1992 vgl. BArch, B 136, Bd. 59730. Vgl. auch BULLETIN 1992, S. 515. 6 Martin Bangemann und Peter Schmidhuber.

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Der Ministerpräsident geht sodann auf den zweiten Fragenkomplex ein. Er frage sich, ob man dieses neue Vorgehen jetzt schon einführen oder das Inkrafttreten des Vertrags7 abwarten sollte. Auf Anregung des Bundeskanzlers sagt er zu, diese Frage mit den Kollegen, auch am Rande der Konferenz in Rio8, aufzunehmen. Ggf. könne man ja einen klaren zeitlichen Rahmen für das Gespräch mit dem EP-Präsidenten in ER fixieren. Der Ministerpräsident spricht anschließend die Sitzfragen an. Er habe sich dieses Dossier genau angeschaut und sei bereit, die Anstrengungen fortzusetzen, wenn er feststelle, dass die Mindestvoraussetzungen für einen Konsens gegeben seien. Die EG müsse sich endlich hier einigen – es sei eine Frage ihrer Glaubwürdigkeit. Kern des Problems stellten der Sitz des Europäischen Parlaments sowie der Zentralbank dar. Beim Sitz des EP müssten die Interessen von Frankreich, Belgien und Luxemburg berücksichtigt werden. Aus dem Parlament wie aus Frankreich höre er die Vorstellung, dass Frankreich mit der Abhaltung von zwölf Sitzungsperioden, einschl. der Haushaltsdebatte, in Straßburg zufrieden sei.9 Der Bundeskanzler verweist darauf, dass insoweit Übereinstimmung zwischen Staatspräsident Mitterrand und ihm bestehe; der Rest der Aktivitäten des EP könne dann in Brüssel erfolgen. Er müsse allerdings hinzufügen, dass in den letzten Tagen der neue belgische Ministerpräsident bei ihm gewesen sei, der skeptisch gewesen sei, ob man jetzt schon eine Einigung erzielen könne.10 Man müsse sich dabei bewusst sein, dass ohne Einigung über das EP eine Einigung insgesamt nicht möglich sei. Heute Nachmittag komme der EVP-Vorsitzende und frühere belgische Ministerpräsident Martens zu ihm; er werde ihn auffordern, zu diesem Paket zuzustimmen – anhand seiner Reaktion sei festzustellen, ob insoweit Einigungschancen bestünden, zumal der neue Ministerpräsident angedeutet habe, seine Probleme bestünden darin, dass sein Vorgänger Martens wohl bisher mehr verlangt habe. Herr Hartmann werde den Mitarbeiter des Ministerpräsidenten über das Gespräch mit Martens informieren. (Herr Hartmann hat am 2. Juni den diplomatischen Berater des Ministerpräsidenten telefonisch darüber unterrichtet, dass Herr Martens o. a. Vorschlag zustimme.) Der Ministerpräsident bedankt sich für die Demarche des Bundeskanzlers gegenüber Herrn Martens, mit dem er am kommenden Montag11 in Lissabon zusammentreffen werde. Wenn man sich in den großen Linien über das Gesamtpaket einig sei bzw. einer Einigung nahekomme, werde es für den belgischen Ministerpräsidenten schwerer, ein solches Paket abzulehnen, zumal Belgien definitiv den Sitz der Kommission, des Rats und des Wirtschafts- und Sozialausschusses sowie auch der überwiegenden Aktivitäten des Parlaments erhalte. 7 Zum Vertragswerk von Maastricht vgl. Dok. 3, Anm. 8. 8 Zur VN-Konferenz über Umwelt und Entwicklung (UNCED) vom 3. bis 14. Juni 1992 vgl. Dok. 177. 9 Referat 410 notierte am 10. März 1992, bisher habe das Europäische Parlament drei provisorische Arbeitsorte: „Straßburg (Versammlung Plenarsitzungen, gemäß Erklärung der Außenminister vom 7. Januar 1958); Luxemburg (Generalsekretariat gemäß Beschluss vom 8. April 1960) und Brüssel (Ausschusssitzungen).“ Frankreich fordere eine Garantie für die Abhaltung aller Plenarsitzungen in Straßburg; Belgien, das die Stärkung „Brüssels als europäischer Hauptstadt“ anstrebe, lehne Straßburgs Aufwertung vom „vorläufigen Arbeitsort“ zum endgültigen Sitz ab: „Luxemburg wäre bereit, auf das EP-Sekretariat zu verzichten, wenn es dafür als Sitz der Europäischen Zentralbank und des Markenamtes bestimmt würde.“ Vgl. B 200, ZA-Bd. 153718. 10 BK Kohl führte am 27. Mai 1992 ein Gespräch mit dem belgischen MP Dehaene. 11 8. Juni 1992.

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Er geht sodann auf den Sitz der Europäischen Zentralbank einschl. des Europäischen Währungsinstituts als des Vorläufers der Bank ab 1994 ein – diese Frage, über die vor Ende 1992 entschieden werden müsse, sei zweiter Teil des harten Kerns. Luxemburg gehe davon aus, entsprechend der Entscheidung von 196512 Anspruch auf den Sitz zu haben. Viele andere meinen hingegen, dass die Entscheidung von 1965 sich nicht auf den Sitz der Bank habe beziehen können. Er meine, dass in einen Gesamtkompromiss über den Sitz auch die Frage des ersten Präsidenten des Währungsinstituts einbezogen werden sollte. Aufgrund des Vertrages von Maastricht könne der ER zwar keine definitive Entscheidung über die Person treffen – hierfür sei formal ein Vorschlag des Gouverneursrats notwendig. Er halte es aber für möglich und notwendig, einen politischen Kompromiss „am Rande“ zu schließen, wonach der erste Präsident aus einem bestimmten Land kommen solle. Insgesamt dürfe man im Übrigen nicht übersehen, dass es insgesamt um 13 Sitzentscheidungen gehe. Für den Sitz der Europäischen Zentralbank sei Frankfurt in der Tat ein starker Kandidat, der Bundeskanzler kenne aber wohl die Einwände anderer Mitgliedstaaten gegen diese Stadt. Der Bundeskanzler nimmt dies auf und betont: Die Bundesregierung bestehe mit Nachdruck [dar]auf, dass die Europäische Zentralbank nach Deutschland kommt. Dies sei für Deutschland eine extrem wichtige Frage, auch aus psychologischen Gründen. Im Übrigen sei er sich sicher, dass die Bevölkerung in Europa – wenn sie gefragt würde – der gleichen Auffassung sei. Ihm sei bewusst, dass Frankfurt in Europa für manche eine Art „rotes Tuch“ darstelle; auch Berlin sei aus anderen Gründen nicht vorschlagbar. Wenn der Ministerpräsident in Lissabon daher den Vorschlag unterbreite, dass die Europäische Zentralbank nach Bonn kommen solle, werde er ihn akzeptieren. Der Ministerpräsident betont, ebendiesen Vorschlag habe er dem Bundeskanzler unterbreiten wollen. Er freue sich, dass der Bundeskanzler zustimme. Der Ministerpräsident und der Bundeskanzler sind sich einig, dieses Thema vertraulich zu behandeln und erst in Lissabon aufzunehmen. Der Ministerpräsident fährt fort, er sehe aber unverändert Schwierigkeiten seitens der Niederlande voraus. Er erinnere daran, dass die Holländer bereits an dem Sitz und dem Präsidenten der Osteuropa-Bank interessiert gewesen seien.13 Vor einigen Tagen habe Lubbers ihm brieflich noch einmal den Sitz der Zentralbank als oberste Priorität angemeldet. Er halte es für richtig, als Kompensation den Niederländern den ersten Präsidenten des Währungsinstituts anzubieten. Der Bundeskanzler betont, er kenne die Meinung von MP Lubbers – er, der Bundeskanzler, sei insoweit nicht kompromissfähig. Eine andere Frage sei es, aus welchem Land der erste Präsident kommen solle. Wenn die Niederlande einen erstklassigen Mann anbieten, so sei dies kein Problem für ihn – er könne dem zustimmen. Der Bundeskanzler verweist auf seine grundsätzliche Zurückhaltung gegenüber der Nominierung von Deutschen für europäische und internationale Spitzenpositionen. Er wehre sich auch deshalb seit Jahren dagegen, Vorsitzender der EVP zu werden. Es gäbe aber 12 Für den Beschluss der Vertreter der Regierungen der Mitgliedstaaten über die vorläufige Unterbringung der Organe vom 8. April 1965 vgl. AMTSBLATT DER EUROPÄISCHEN GEMEINSCHAFTEN, Nr. 152 vom 13. Juli 1967, S. 18–20. 13 Zur niederländischen Kandidatur für Sitz und Präsidentschaft der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung vgl. AAPD 1990, I, Dok. 147, Anm. 12.

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einen Ausnahmefall, den er hier aufgreifen wolle und für den er den Ministerpräsidenten um seine Unterstützung bitte. Es gehe ihm um die überfällige Entscheidung über die Verlängerung des Mandats des NATO-Generalsekretärs. Über die Amtszeit des NATO-Generalsekretärs gebe es bisher keine endgültige Regelung. Es halte es für unbedingt notwendig, diese jetzt zu treffen. Er schlage hierzu vor, den Generalsekretär für vier Jahre mit der Möglichkeit einmaliger Verlängerung zu benennen. Er bitte insoweit um Unterstützung, der Verlängerung der Amtszeit von GS Wörner um drei Jahre zuzustimmen – Wörner sei dann insgesamt zwei mal vier Jahre im Amt.14 Der Ministerpräsident erwidert, dass er eine solche Regelung für vernünftig halte. Der Bundeskanzler könne mit seiner Unterstützung rechnen. Der Ministerpräsident kommt auf die Frage des Präsidenten des Währungsinstituts zurück und betont, ihm gehe es darum, den Niederländern den ersten Präsidenten für die Jahre 1994 bis 1997 anzubieten, vorausgesetzt, sie würden einen guten Mann anbieten. Wenn auf diese Weise Sitz von EP und EZB gelöst seien, würde eine Einigung über die anderen Sitzfragen wesentlich erleichtert. Der Bundeskanzler bekräftigt, dass Deutschland am Sitz anderer Institutionen außer der EZB nicht interessiert sei. Der Ministerpräsident betont, er wolle seine Sondierungen entsprechend der mit dem Bundeskanzler besprochenen Linie fortsetzen. Wenn er Erfolgschancen sehe, wolle er das Thema beim Abendessen in Lissabon aufgreifen. Der Ministerpräsident geht sodann auf die weiteren Themen von Lissabon ein. Er wolle insbesondere gerne durch einen politischen Kompromiss Fortschritte auf dem Wege zu Verabschiedung von Delors II erzielen.15 Er verstehe dies – genau wie den Abschluss der Reform der EG-Agrarpolitik16 – als einen Schritt zur Konsolidierung der Ergebnisse von Maastricht. Ein baldiger Abschluss sei auch notwendig, da die bisherige finanzielle Vorausschau der EG nur bis 1992 reiche und man für den Haushalt 1993 eine Grundlage brauche. Er bitte den Bundeskanzler hierfür um seine Unterstützung. Der Bundeskanzler verweist darauf, dass nach seinem Verständnis in Lissabon eine erste Diskussion sowohl von Delors II als auch der Erweiterung erfolgen solle. In Maastricht sei ja nicht verabredet worden, Delors II in Lissabon zu verabschieden. Der Ministerpräsident weist darauf hin, man habe in Maastricht festgehalten, dass die Beitrittsverhandlungen aufgenommen werden, sobald Delors II abgeschlossen sei. Der Bundeskanzler stellt klar, damit sei die Parallelität von beiden Vorgängen gemeint. Der Ministerpräsident fährt fort, er stimme dem Bundeskanzler uneingeschränkt darin zu, dass es nicht darum gehe, Delors II in Lissabon abzuschließen; Fortschritte seien aber unbedingt notwendig, nicht zuletzt, um es der britischen Präsidentschaft im zweiten Halbjahr 1992 zu erleichtern, in Edinburgh17 zu einem grundsätzlichen Abschluss zu kommen. Die portugiesische Präsidentschaft setze sich in diesem Sinne für einen weiterführenden Kompromiss ein, wobei sie die verschiedenen Interessen der einzelnen Mitgliedstaaten genau im Auge habe. 14 Zur Verlängerung der Amtszeit des seit 1988 amtierenden NATO-GS Wörner vgl. Dok. 152, Anm. 10. 15 Zum „Delors-Paket II“ vgl. Dok. 102, Anm. 13. 16 Zur Reform der GAP vgl. Dok. 135, Anm. 5. 17 Zur Tagung des Europäischen Rats am 11./12. Dezember 1992 vgl. Dok. 421.

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Der Bundeskanzler stimmt zu, dass das Thema auf der Tagesordnung von Lissabon stehe. Man dürfe jedoch auf keinen Fall in der Öffentlichkeit den Eindruck erwecken, es gehe in Lissabon schon um Beschlüsse. Er empfehle dem Ministerpräsidenten, ganz pragmatisch vorzugehen. Der Ministerpräsident erinnere sich sicherlich noch an den Europäischen Rat unter luxemburgischem Vorsitz, mit dem man damals in der Öffentlichkeit zu hochgesteckte Ziele erweckt habe, der aber letztlich zu einem Rückschlag auf dem Wege zum Vertrag von Maastricht geführt habe.18 Er, der Bundeskanzler, wolle nicht, dass es in Lissabon zu einem solchen Rückschlag komme. Er möchte daher dem Ministerpräsidenten als Freund den politischen Ratschlag mit auf dem Weg geben, die Messlatte möglichst niedrig zu hängen; dann werde es leichter sein, auch nach außen einen Erfolg festzustellen. Der Ministerpräsident verweist darauf, dass er es nicht akzeptiert habe, zu Delors II im Frühjahr einen außerordentlichen Europäischen Rat einzuberufen – und er auch nie erklärt habe, die Verabschiedung von Delors II insgesamt in Lissabon anzustreben. Er werde den Rat des Bundeskanzlers im Gedächtnis behalten. Portugiesische Präsidentschaft habe die Absicht, dem Europäischen Rat einen Bericht über die bisherigen Arbeiten zu Delors II und die wesentlichen in Lissabon zu erörternden Fragen einschl. möglicher Antwortelemente vorzulegen; Berichtsentwurf solle zuvor von den Außenministern besprochen werden. Der Bundeskanzler hebt hervor, dass er eine Diskussion des Berichts durch die Finanzminister für unbedingt notwendig halte. Der Ministerpräsident antwortet, das Thema Delors II stehe in der nächsten Woche an der Spitze der Tagesordnung der EG-Finanzminister.19 Abschließend zählt er kurz die wesentlichen Fragen von Delors II auf: Erörterung des künftigen Finanzbedarfs der Gemeinschaft, der sich zusammensetze aus: Leitlinie der Gemeinsamen Agrarpolitik, Strukturpolitik – einschl. aus seiner Sicht positiv zu beantwortender Einbeziehung der neuen Länder in die Ziel-1-Regionen, finanzielle Ausrichtung der EG-„Innenpolitiken“, wie insbes. die Forschung, und Mittel für die EG-Außenpolitik, Kohäsionsfonds. Ferner seien auch zahlreiche Fragen mit Blick auf die konkrete Ausgestaltung der EG-Eigenmittel und der Korrektur von Haushaltsungleichgewichten offen. Im Übrigen müsse man auch über die zukünftige Gestaltung des interinstitutionellen Abkommens mit dem EP sprechen.20 Insgesamt wolle er Fortschritte erzielen, um Verzögerungen, auch im Hinblick auf die Beitritte, zu vermeiden. 18 Zur Tagung des Europäischen Rats am 28./29. Juni 1991 in Luxemburg vgl. AAPD 1991, II, Dok. 220. 19 Die EG-Ratstagung auf der Ebene der Wirtschafts- und Finanzminister fand am 9./10. Juni 1992 in Luxemburg statt. Botschafter Trumpf, Brüssel (EG), berichtete am 10. Juni 1992, beim TOP „DelorsPaket II“ seien bei der Behandlung durch EG-Kommissionspräsident Delors „nuancierte Abweichungen zu früheren Ausführungen“ in drei Punkten sichtbar geworden: „der Eigenmittelrahmen i[n] H[öhe] v[on] 1,2 v. H. des Gem[einschafts]-BSP könne für die beiden nächsten HH-Jahre (1993 und 1994) ausreichend sein; der Zeitraum für die finanzielle Vorausschau – und damit für das Paket – könne evtl. auf sieben Jahre gestreckt werden; die Mittel für Ziel-1-Regionen in den Kohäsionsländern müssten nicht numerisch exakt verdoppelt werden. Letztere Bemerkung fiel im Zusammenhang und unter Hinweis auf neue Ziel-1-Regionen, die fünf neuen Bundesländer.“ Die Diskussion habe keine Annäherung der kontroversen Standpunkte ergeben. Vgl. DB Nr. 1708; B 224, ZA-Bd. 168511. 20 Für die Institutionelle Vereinbarung über die Haushaltsdisziplin und die Verbesserung des Haushaltsverfahrens vom 29. Juni 1988 zwischen dem Europäischen Parlament, dem Europäischen Rat und der EG-Kommission vgl. AMTSBLATT DER EUROPÄISCHEN GEMEINSCHAFTEN, Nr. L 185 vom 15. Juli 1988, S. 33– 37. Vgl. auch AAPD 1988, II, Dok. 232.

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Der Ministerpräsident greift die Frage der EG-Erweiterung auf. Die Kommission sei dabei, ihren Bericht für eine gemeinsame Strategie vorzubereiten.21 Auch aus seiner Sicht sei es unbedingt notwendig, in Lissabon eine klare gemeinsame Orientierung zu entwickeln, zumal es ihm scheine, dass zurzeit jeder Mitgliedstaat eine andere Linie verfolge. Der Bundeskanzler stimmt dem zu. Er weist darauf hin, dass er es auch für notwendig halte, in Lissabon ein offenes Gespräch über die Ratifikation des Vertrages von Maastricht zu führen, insbes. darüber zu sprechen, was zu tun sei, wenn ein Land den Vertrag nicht ratifiziere.22 Seine Position hierzu sei klar – und Staatspräsident Mitterrand stimme dem zu –, die EG müsse auf der Grundlage von Maastricht weiter vorangehen.23 Der Ministerpräsident erklärt sich damit einverstanden. Kernfragen der Erweiterung seien insbesondere: Priorität für alle EFTA-Staaten oder nur für einige?, Zusammenhang mit der für 1996 vorgesehenen Regierungskonferenz?24, Haltung gegenüber Ungarn, Polen und ČSFR sowie gegenüber Zypern, Malta und insbesondere der Türkei? Ferner Behandlung der Neutralität einiger Beitrittsländer? Der Bundeskanzler nimmt die Fragen des Ministerpräsidenten auf und betont, dass es notwendig sei, sich jetzt Klarheit über diese Fragen zu verschaffen. Er wolle die Kernpunkte der deutschen Position wie folgt zusammenfassen: – Man solle in Lissabon die Kommission beauftragen, bis Ende 1992 das Mandat für die Beitrittsverhandlungen mit den fünf EFTA-Staaten vorzubereiten; aus seiner Sicht seien dies die einzigen Beitritte, die in diesem Jahrzehnt noch möglich seien. – In Bezug auf ČSFR, Polen und Ungarn plädiere er dafür, eine „Spezial-Assoziierung“ in der Erwartung zu finden, dass ein Beitritt in ungefähr zehn Jahren möglich sein könne, wenn die wirtschaftliche Entwicklung dieser Länder weit genug fortgeschritten sei; ein früherer Beitritt sei aus seiner Sicht nicht möglich, sonst würde der Weg Richtung Wirtschafts- und Währungsunion sowie Politischer Union gebremst, wenn nicht unmöglich; insgesamt solle man in Richtung auf eine Art Sonderstatus für diese Länder als Zwischenstufe bis zu einem Beitritt steuern. – Für Malta, Zypern und die Türkei befürworte er die Schaffung eines Sonderstatus entsprechend der Tendenz in der Kommission; ein Beitritt insbesondere der Türkei könne nicht infrage kommen. – Zur Frage der Neutralität sei er gegen jede Kompromissbereitschaft seitens der EG; Österreich müsse klarsehen, dass es von seinem neutralen Status in der Vergangenheit letztlich nur dank der NATO habe profitieren können; Schweden und auch Finnland seien in der Diskussion bereits weiter fortgeschritten (Erläuterung der Diskussion in Deutschland zur Out-of-area-Frage). Der Ministerpräsident dankt dem Bundeskanzler für seine Ausführungen: Die Haltung Deutschlands entspreche fast ganz und gar der Haltung Portugals. Trotzdem werde die Diskussion im Europäischen Rat nicht einfach werden. 21 Für den Bericht der EG-Kommission „Die Erweiterung Europas: eine neue Herausforderung“, der für die Tagung des Europäischen Rats am 26./27. Juni 1992 in Lissabon vorgelegt wurde, vgl. BULLETIN DER EG, Beilage 3/92, S. 9–20. 22 Vgl. das dänische Referendum vom 2. Juni 1992 über das Vertragswerk von Maastricht; Dok. 166, Anm. 2. 23 Vgl. auch die Gemeinsame Erklärung des BK Kohl und des französischen Staatspräsidenten Mitterrand vom 3. Juni 1992; BULLETIN 1992, S. 586. 24 Zur Überprüfungskonferenz für das Vertragswerk von Maastricht vgl. Dok. 86, Anm. 21.

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1. Juni 1992: Gespräch zwischen Kohl und Cavaco Silva

Der Ministerpräsident weist in diesem Zusammenhang auf den Vorschlag des französischen Außenministers hin, am zweiten Tag in Lissabon die Staats- und Regierungschefs von 15 Partnerländern der EG zum Mittagessen einzuladen. Der Vorschlag von AM Dumas umfasse die sieben EFTA-Länder, Polen, Ungarn, ČSFR, Rumänien, Bulgarien, Malta, Zypern und die Türkei. Der Bundeskanzler entgegnet, dass er mit diesem Vorschlag nicht einverstanden sei. Der französische Staatspräsident habe dies mit ihm in La Rochelle nicht besprochen.25 Der Ministerpräsident weist darauf hin, dass Staatspräsident Mitterrand vor einigen Tagen ihm diesen Vorschlag schriftlich unterbreitet habe. Zudem habe AM Dumas diesen Vorschlag zuvor beim informellen Außenministertreffen26 als Wunsch des Staatspräsidenten vorgetragen. Im Übrigen habe das portugiesische Außenministerium diesen Vorschlag allen Mitgliedstaaten inzwischen mit der Bitte um Stellungnahme übermittelt. Der Bundeskanzler bekräftigt seine Ablehnung und betont, dass Herr Hartmann diese Frage unmittelbar mit Paris aufnehmen werde. Der Ministerpräsident betont, er sei über die Antwort des Bundeskanzlers erleichtert. Auch aus seiner Sicht könne die Annahme dieses französischen Vorschlages die Gemeinschaft nur in Schwierigkeiten bringen. Der Ministerpräsident spricht abschließend den Stand und die Perspektiven der Uruguay-Runde im GATT an. Er habe sich positive Weichenstellungen oder gar einen Durchbruch durch das Treffen Baker/Andriessen in der letzten Woche27 erhofft, das ja bei dem gemeinsamen Treffen von Delors und ihm mit Präsident Bush im April28 ins Auge gefasst worden sei. Er sei von dem Ergebnis enttäuscht und mache sich zunehmend Sorgen. Immerhin habe man in zwei Bereichen, und zwar bei der sog. Peace-Clause und dem sog. Rebalancing, gewisse Fortschritte erzielt. Leider seien die Amerikaner auf die neuesten Vorschläge der EG zur Beschränkung der Mengen von subventionierten Getreideexporten nicht eingegangen. Er frage sich, ob eine Einigung bis zum 30. Juni überhaupt noch möglich sei oder ob Präsident Bush es vielleicht vorziehe, diese Fragen beim G 7-Gipfel in München29 zu lösen. Der Bundeskanzler bekräftigt seine Haltung, dass alles darangesetzt werden müsse, diese Fragen bis zum 30. Juni zu lösen. Aus verschiedenen Gründen lehne er es ab, den Gipfel in München damit zu befassen. Einerseits stelle der Gipfel von den Teilnehmern her nicht die richtige Zusammensetzung für eine Lösung derart komplexer Fragen dar, andererseits wäre es auch aus psychologischen Gründen gegenüber der Dritten Welt falsch, diese Fragen bei einem Treffen der Industrieländer, d. h. der Reichen untereinander, aufzunehmen. 25 Zu den deutsch-französischen Konsultationen am 21./22. Mai 1992 vgl. Dok. 142 und Dok. 144. 26 Zum informellen Treffen der Außenminister der EG-Mitgliedstaaten im Rahmen der EPZ am 1./2. Mai 1992 in Guimarães vgl. Dok. 125. 27 Referat 411 vermerkte am 29. Mai 1992: „Nach ersten Nachrichten über die Gespräche von EG-KOM-VP Andriessen mit den USA (AM Baker, US-Trade Representative Hills, Landwirtschaftsminister Madigan) am 27./28. Mai 1992 ist es dort, trotz der Brüsseler Agrarbeschlüsse, zu keinem wesentlichen Entgegenkommen der USA gekommen. Vielmehr versuchen die USA offenbar, noch weitere Verbesserungen über die Brüsseler Beschlüsse hinaus durchzusetzen“. Vgl. B 221, ZA-Bd. 166599. 28 Zum Gespräch des amerikanischen Präsident Bush mit EG-Kommissionspräsident Delors und dem portugiesischen MP Cavaco Silva als amtierendem EG-Ratspräsidenten am 22. April 1992 in Washington vgl. Dok. 88, Anm. 6. 29 Zum Weltwirtschaftsgipfel vom 6. bis 8. Juli 1992 vgl. Dok. 225.

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1. Juni 1992: Gespräch zwischen Kinkel und Eagleburger

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Er habe Präsident Bush in den letzten Tagen geschrieben und werde mit ihm in Rio noch einmal über diese Fragen sprechen. Der Ministerpräsident ergänzt, wenn der Durchbruch nicht bis zum 30. Juni erreicht sei, so bedeute dies eine Aufschiebung bis nach den US-Wahlen30. Der Bundeskanzler stimmt dieser Einschätzung zu, er werde aber versuchen, den Durchbruch und den Erfolg vor dem 30. Juni herbeizuführen. Der Ministerpräsident und der Bundeskanzler vereinbaren, direkt oder durch die Mitarbeiter mit Blick auf den ER in Lissabon engen Kontakt miteinander zu halten.31 BArch, B 136, Bd. 42321

159 Gespräch des Bundesministers Kinkel mit dem stellvertretenden amerikanischen Außenminister Eagleburger in Köln 204-321.11

1. Juni 19921

Gespräch BM/stellvertretender US-Außenminister Eagleburger am 1.6.1992 Anlg.: 1) Teilnehmerliste2 2) Eagleburgers talking points zum deutsch­französischen Korps und KSE/START3 3) Schreiben AM Baker an BM vom 1.6.19924 4) Presseerklärung AA vom 2.6.925 Hauptgesprächsthemen waren das deutsch-französische Eurokorps und die Lage im früheren Jugoslawien. Weitere Themen waren die bevorstehenden Außenministertreffen in 30 In den USA fanden am 3. November 1992 Präsidentschaftswahlen, Wahlen zum Repräsentantenhaus sowie Teilwahlen zum Senat und für die Gouverneursämter statt. 31 BK Kohl und der portugiesische MP Cavaco Silva führten am 15. Juni 1992 ein Telefongespräch, in dem der portugiesische EG-Ratsvorsitzende seinen mit EG-Kommissionspräsident Delors erarbeiteten Kompromissvorschlag zum „Delors-Paket II“ vorstellte. Kohl lehnte dies ab: „Es sei doch klar ins Auge gefasst worden, die Entscheidungen über Delors II erst in Edinburgh herbeizuführen.“ Vgl. den Gesprächsvermerk; B 224, ZA-Bd. 187271. 1 Der Gesprächsvermerk wurde von VLR I Wagner am 3. Juni 1992 gefertigt und über MD Chrobog an das Ministerbüro geleitet „mit der Bitte, Zustimmung BM herbeizuführen“. Hat Chrobog am 3. Juni 1992 vorgelegen. Hat BM Kinkel am 11. Juni 1992 vorgelegen. Hat VLR I Matussek am 12. Juni 1992 vorgelegen, der den Rücklauf an Referat 204 verfügte. 2 Dem Vorgang beigefügt. Vgl. B 32, ZA-Bd. 179525. 3 Dem Vorgang beigefügt. Vgl. B 32, ZA-Bd. 179525. 4 Dem Vorgang beigefügt. Für das Schreiben des amerikanischen AM Baker an BM Kinkel, das am 1. Juni 1992 von der amerikanischen Botschaft übermittelt wurde, vgl. B 32, ZA-Bd. 179525. 5 Dem Vorgang beigefügt. Vgl. B 32, ZA-Bd. 179525. Für die Erklärung vgl. BULLETIN 1992, S. 592.

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Oslo6 (Verhältnis NATO/KSZE, Ratifizierung des KSE-Vertrags) und die wirtschaftliche Lage in den neuen Republiken. 1) Eagleburger sprach Eurokorps auf – wie er sagte – ausdrückliche Weisung von AM Baker an. Er referierte hierzu auf der Grundlage der beiliegenden talking points (Anlage 2), die er uns anschließend übergab. BM erklärte, dass wir das in La Rochelle7 beschlossene Eurokorps nicht aus der Welt schaffen könnten und dies auch nicht wollten. Für US-Besorgnis habe er ein gewisses Verständnis; er wolle jedoch betonen, dass das Eurokorps nicht gegen die NATO gerichtet sei, sondern letztlich zu ihrer Stärkung beitragen solle, da das Korps auch der NATO bei Einsätzen zur Verfügung stehe. An der NATO-Assignierung des deutschen Korpsanteils werde nicht gerüttelt. Im Übrigen gelte es auch, den relativ kleinen Anteil der deutschen Eurokorpstruppen an dem gesamten der NATO assignierten deutschen Streitkräftepotenzial zu sehen. BM führte weiter aus, dass er gegenüber AM Baker in Lissabon8 klargemacht habe, dass gerade Deutschland die Bedeutung der NATO, die die Freiheit für unser Land einschließlich Berlins mitgesichert habe, zu schätzen wisse. Über die Bedenken AM Bakers habe er den Bundeskanzler unterrichtet, der daraufhin Bush einen Brief geschrieben habe.9 Unterschiedliche Nuancen zwischen Deutschland und Frankreich hinsichtlich des Eurokorps gebe es in der Tat; andererseits sollte von amerikanischer Seite unsere Versicherung ernst genommen werden, dass wir nichts tun würden, was die NATO schwäche. Eagleburger entgegnete, dass ihn die Zusicherung der fortbestehenden NATO-Assignierung des deutschen Eurokorpsanteils befriedige. Nun komme es darauf an, die Einzelheiten der Verbindung des Korps zur NATO so festzulegen, dass nicht neue Zweifel entstünden. BM stimmte zu: Einzelheiten der NATO-Zuordnung des Korps müssten nun schnell und sorgfältig festgelegt werden. Er bat Eagleburger, AM Baker als seine persönliche Botschaft auszurichten, dass Deutschland keine Turbulenzen mit den USA wolle. 2) Im Hinblick auf das bevorstehende NATO-Außenministertreffen übergab Eagleburger ein Schreiben von AM Baker an BM (Anlage 3 – Original ging Ref. 201 zu), in dem sich dieser dafür aussprach, dass die AM der NATO eine friedensbewahrende Rolle im Auftrag der KSZE, die ihrerseits auf dem Helsinki-Gipfel10 zu einer regionalen Abmachung im Sinne von Artikel VIII der VN­Charta11 erklärt werden solle, zuerkennen sollten. BM stimmte zu und bekräftigte, dass dies erklärte Linie der Bundesregierung sei. Anhand der beiliegenden talking points trat Eagleburger für gemeinsames Einwirken auf die betroffenen neuen Republiken ein, damit der KSE-Vertrag wie vorgesehen im Juli in Kraft treten könne und das START-Abkommen so bald wie möglich ratifiziert werde. BM sagte unsere Unterstützung zu. 6 Am 4. Juni 1992 fanden die NATO- bzw. eine außerordentliche EG-Ministerratstagung in Oslo statt, am Folgetag die NAKR-Tagung bzw. die außerordentlichen KSE-Konferenz. Vgl. Dok. 161, Dok. 166 und Dok. 170. 7 Zu den deutsch-französischen Konsultationen am 21./22. Mai 1992 vgl. Dok. 142 und Dok. 144. 8 Zum Gespräch des BM Kinkel mit dem amerikanischen AM Baker am 23. Mai 1992 vgl. Dok. 149. 9 Für das Schreiben des BK Kohl vom 27. Mai 1992 an den amerikanischen Präsidenten Bush vgl. Dok. 154. 10 Zur KSZE-Gipfelkonferenz am 9./10. Juli 1992 vgl. Dok. 226. 11 Zur Initiative, die KSZE zu einer Regionalorganisation nach Kapitel VIII der VN-Charta zu erklären, vgl. Dok. 105, Anm. 20.

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3) Auf Bitte BMs nahm Eagleburger zu dem früheren Jugoslawien Stellung: Durch die Entscheidung des VN-Sicherheitsrats12 seien sich die Serben offenbar jetzt des Ernstes der Lage bewusst geworden. Sie stünden vor einem Scheideweg: entweder Einlenken aufgrund des umfassenden internationalen Drucks oder, in echt serbischer Trotzreaktion, Beibehalten der bisherigen Politik. Sein Verstand spreche für die erste Option, auch wegen CIA­Analysen, in denen die entscheidende Bedeutung des Ölembargos hervorgehoben werde, sein Gefühl und seine Kenntnis der serbischen Mentalität sagen ihm aber, dass die Serben nicht einlenken würden. In diesem Fall sei er besonders besorgt wegen der Gefahr einer Ausdehnung des Konflikts auf Kosovo und von dort aus auf Mazedonien. Berisha habe zwar versprochen, sich aus dem Konflikt herauszuhalten, es sei aber fraglich, ob Albanien dazu in der Lage sei. Die USA hätten jedenfalls gegenüber Serbien an ihrer Entschlossenheit, die Sanktionen durchzusetzen, keinen Zweifel gelassen. Er selbst habe es abgelehnt, in Bukarest einen Milošević-Emissär zu empfangen. Kritisch für die Wirksamkeit der Sanktionen sei die Haltung Griechenlands und Rumäniens. Er habe diesbezüglich auch mit Năstase gesprochen. Auf Bitte des BMs nahm Eagleburger anschließend zu den Fragen der Kontrolle Miloševićs über die in Bosnien kämpfenden Serben sowie der Möglichkeit einer westlichen militärischen Intervention Stellung: – Er sei fest davon überzeugt, dass Milošević die Kontrolle über die Verbände der JVA nicht verloren habe. Im Gegenteil: Es bestehe fast eine symbiotische Beziehung zwischen der serbischen Führung und der Führung der JVA. Milošević selbst habe die Ablösung von Adžić durch Panić, der noch um einiges schlimmer sei, durchgesetzt. Schwieriger sei die Antwort auf die Frage, ob JVA und serbische Führung die in Bosnien kämpfenden serbischen Freischärler kontrollieren könnten. Es sei völlig offen, wie diese auf eine eventuelle Aufforderung Miloševićs, die Waffen niederzulegen, reagieren würden. – Öffentliche Unterstützungen durch die USA für den Einsatz von amerikanischen Bodentruppen (ich halte fest, dass Eagleburger den Ausdruck „troops on ground“ mit der Betonung auf ground wiederholte) könne er sich nicht vorstellen. Peacekeeping sei eine Sache, peacemaking würde dagegen den schnellen Einsatz von mehr als 300 000 Truppen erfordern – und auch dann sei noch mit Partisanentätigkeit nach dem Muster des Zweiten Weltkriegs zu rechnen. BM erklärte, dass der Einsatz deutscher Truppen in Jugoslawien aus historischen Gründen undenkbar sei. Er habe auch Verständnis dafür, dass das amerikanische Volk den Einsatz amerikanischer Kampftruppen nicht akzeptiere. BM und Eagleburger stimmten darin überein, dass, auch wenn die Kämpfe heute von einem Tag auf den anderen endeten, die Krise auf dem Gebiet des früheren Jugoslawiens 12 Am 30. Mai 1992 verhängte der VN-Sicherheitsrat mit Resolution Nr. 757 Sanktionen gegen die Bundesrepublik Jugoslawien (Serbien/Montenegro). Vgl. RESOLUTIONS AND DECISIONS 1992, S. 13–16. Botschafter Graf zu Rantzau, New York (VN), erläuterte am selben Tag, durch die mit 13 Stimmen bei Enthaltung der Volksrepublik China und Simbabwes verabschiedete Resolution werde „ein umfassendes Sanktionsregime erlassen: Handels-, einschließlich Erdölembargo, jedoch Ausschluss des Transitverkehrs, Luftembargo, Unterbrechung der Sportbeziehungen, Einstellung des Wissenschafts- und Kulturaustauschs und Einfrieren der Auslandsguthaben ‚Jugoslawiens‘, Reduzierung diplomatischen Personals der Auslandsvertretungen Serbiens/Montenegros. Die Sanktionen treten mit dem Zeitpunkt der Entscheidung (30.5., ca. 15 Uhr OZ) in Kraft.“ Vgl. DB Nr. 1377; B 42, ZA-Bd. 183744.

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nicht beendet sei. Interethnische Spannungen und das wirtschaftliche Chaos würden noch über Jahre hinaus die Lage bestimmen. 4) Hinsichtlich der Hilfe an die neuen Republiken stimmten BM und Eagleburger überein, dass versucht werden müsse, die im Verhältnis von Kapitaleinsatz und Wirkung effizienteste Hilfe zu leisten. Eagleburger sprach sich in diesem Zusammenhang für Förderung der Technischen Hilfe aus; BM unterstützte dies und betonte die Notwendigkeit, in den neuen Republiken rechtsstaatliche Strukturen zu verankern. B 32, ZA-Bd. 179525

160 Runderlass des Vortragenden Legationsrats Koenig 012-9-312.74 VS-NfD Fernschreiben Nr. 30 Ortez Betr.:

Aufgabe: 1. Juni 1992

Lissaboner Koordinierungskonferenz über die Hilfe an die GUS und Georgien (23./24.5.1992)

1) An der Lissaboner Konferenz nahmen 63 Staaten (neben OECD-MS und den zwölf SUNachfolgestaaten auch MOEs, Staaten der Golfregion und einige ASEAN-MS und lateinamerikanische Staaten sowie Israel und Ägypten) und zwölf internationale Organisationen (u. a. EG, VN, NATO, IWF und Weltbank) teil. Neben dem Gastgeber Portugal waren u. a. D, USA und die Mehrzahl der zwölf neuen Staaten (u. a. RUS) durch Außenminister vertreten. JAP entsandte lediglich einen Botschafter, obwohl es eine Nachfolgekonferenz im Oktober in Tokio ausrichten wird.1 2) Die Lissaboner Konferenz hatte in erster Linie einen politischen Charakter. Substanzielle Ergebnisse im Sinne von nennenswerten neuen finanziellen Zusagen oder im Sinne einer über einen Informationsaustausch hinausgehenden Koordinierung der Hilfe wurden erwartungsgemäß nicht erzielt. Die zwölf Staaten wurden ermutigt, die Reformanstrengungen fortzusetzen. BM hob hervor, dass die weitere Hilfe nur dann erfolgreich sein könne, wenn die Reformen zügig vorangetrieben würden.2 Die GUS-Staaten und Georgien erklärten den Willen, trotz Schwierigkeiten den Reformkurs zu halten. BM forderte die Empfängerländer auf, durch eine deutliche Verminderung der Militärausgaben eigene Ressourcen zu mobilisieren. Die Geber wiesen darauf hin, dass viele wirt1 Zur dritten Koordinierungskonferenz für humanitäre Hilfe an die GUS-Mitgliedstaaten sowie an Georgien am 29./30. Oktober 1992 vgl. Dok. 302, Anm. 11. 2 Für den Entwurf der Rede des BM Kinkel bei der Koordinierungskonferenz für humanitäre Hilfe an die GUS-Mitgliedstaaten sowie an Georgien, den MDg Schönfelder am 21. Mai 1992 vorlegte, vgl. B 63, ZABd. 163538.

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schaftliche Probleme vermieden werden könnten, wenn die wirtschaftliche Zusammenarbeit zwischen den zwölf Staaten verbessert würde. 3) Es wurde eine positive Bilanz der bisher geleisteten Hilfe gezogen und hervorgehoben, dass seit der Washingtoner Konferenz3 weitere Hilfe mobilisiert wurde. Übereinstimmung bestand, dass der Bedarf an Hilfe nach wie vor groß ist. Bezüglich der weiteren Wirtschaftsentwicklung überwogen aufseiten der internationalen Organisationen und der Geber pessimistische Töne. Es könnte sich im nächsten Winter wiederum als notwendig erweisen, humanitäre Hilfe bereitzustellen. 4) Die großen Leistungen der EG und ihrer Mitgliedstaaten (über 75 % der Gesamtleistungen) und vor allem Deutschlands (über 50 % der Gesamtleistungen) wurden herausgestrichen (zum Vergleich: JAP ca. 3,5 % der Gesamtleistungen; USA ca. 11 % der Gesamtleistungen). 5) Über einige Grundfragen wurde in Lissabon Konsens festgestellt: – Der Schwerpunkt der Hilfe soll von der humanitären auf die Technische Hilfe verlagert werden (Ziel: Beratung bei der Bewältigung der unvermeidlichen Strukturreformen). – Dem Bereich der Sicherheit der Kernkraftwerke sollte vordringlich Aufmerksamkeit geschenkt werden. – Die Rolle der einschlägigen internationalen Organisationen bei der Koordinierung und Durchführung der GUS-Hilfe soll verstärkt werden. 6) Der auf deutsche Initiative zurückgehende Vorschlag, eine neue Koordinierungsform einzuführen, wurde von den meisten Teilnehmern unterstützt. Nach dem deutschen Vorschlag soll die sehr bedeutsame Koordinierung vor Ort ergänzt werden durch eine Koordinierung auf internationaler Ebene durch Konsultativgruppen (analog den Weltbankgruppen für Entwicklungsländer). Wir erwarten Beschlüsse hierzu vom G 7-Wirtschaftsgipfel in München4, bei dem die Hilfe für die zwölf neuen Staaten ein Schwerpunkt sein wird. Koenig B 5, ZA-Bd. 161325

3 Zur Koordinierungskonferenz für humanitäre Hilfe an die GUS-Mitgliedstaaten am 22./23. Januar 1992 vgl. Dok. 38. 4 Zum Weltwirtschaftsgipfel vom 6. bis 8. Juli 1992 vgl. Dok. 225.

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161 Drahtbericht des Botschafters von Ploetz, Brüssel (NATO) VS-NfD Fernschreiben Nr. 883 Citissime Betr.:

Aufgabe: 1. Juni 1992, 17.30 Uhr1 Ankunft: 1. Juni 1992, 18.47 Uhr

Vorschau auf NATO-AM-Treffen am 4.6.92, Treffen des Nordatlantischen Kooperationsrates sowie außerordentliche Konferenz zum KSE-Vertrag, jeweils am 5.6.92 in Oslo2

Bezug: 1) Schreiben GS an BM vom 21.5.92 VS-v3 2) DB 548 vom 2.4.92 – I-362.05/14 3) DB 594 vom 8.4.92 – I-362.05/15 4) laufende Berichterstattung zu den Kommuniquéverhandlungen 5) DB 860 vom 27.5. – B-363.03 VS-NfD6 Zur Unterrichtung I. Zusammenfassung Frühjahrstreffen der NATO-AM am 4.6. und Treffen des Nordatlantischen Kooperationsrates sowie die außerordentliche Konferenz zum KSE-Vertrag, jeweils am 5.6.92, finden zu einem Zeitpunkt wichtiger außen- und innenpolitischer Entwicklungen in Europa und Nordamerika statt, die die Gestalt der europäischen Sicherheitsarchitektur maßgeblich beeinflussen werden. Konkret geht es insbesondere um die Perspektive der KSZE als gesamteuropäischer, aber auch transatlantischer Rahmen einer Friedensordnung, in dem NATO (und NAKR) in gegenseitiger Ergänzung und Verstärkung auch mit EU und WEU Frieden in Freiheit sichern sollen. 1 Das von BR Burkart, Brüssel (NATO), konzipierte Fernschreiben wurde in zwei Teilen übermittelt. Vgl. Anm. 19. Hat VLR Wenzel am 2. Juni 1992 vorgelegen, der die Weiterleitung an VLR Schumacher verfügte. Hat Schumacher vorgelegen. 2 Zu den Tagungen vgl. Dok. 170. 3 Für das Schreiben des NATO-GS Wörner vgl. B 14, ZA-Bd. 161214. VLR I Bertram notierte am 29. Mai 1992: „Für das Frühjahrstreffen hat GS Wörner in seinem an alle Bündnis-AM gerichteten Brief vom 21. Mai 1992 folgende Themen als Schwerpunkte der Bündniserörterungen vorgeschlagen: Beitrag der Allianz zur KSZE (peacekeeping); weitere Entwicklung des NAKRProzesses; NATO/WEU-Zusammenarbeit; Rüstungskontrolle und Abrüstung. Darüber hinaus dürften Regionalkonflikte (jugoslaw. Nachfolgestaaten, Nagorny Karabach) behandelt werden.“ Vgl. B 14, ZA-Bd. 161214. 4 Botschafter von Ploetz, Brüssel (NATO), skizzierte voraussichtliche Themen in der Sitzung des Ständigen NATO-Rats am 8. April 1992, die der Vorbereitung der NATO- bzw. NAKR-Ministerratstagung am 4./5. Juni 1992 in Oslo dienen sollte. Vgl. B 14, ZA-Bd. 161214. 5 Botschafter von Ploetz, Brüssel (NATO), informierte über die im Ständigen NATO-Rat am 8. April 1992 in Brüssel mit Blick auf die NATO- bzw. NAKR-Ministerratstagung am 4./5. Juni 1992 in Oslo erörterten Themen. Vgl. B 14, ZA-Bd. 161214. 6 Zum Bericht des Botschafters von Ploetz, Brüssel (NATO), vgl. Dok. 155, Anm. 11.

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Wie immer in Zeiten derartig fundamentaler Veränderungen zeigen sich neben zukunftsträchtigen auch nach rückwärts gewandte Tendenzen nicht nur im Aufbrechen von ethnischen und nationalistischen Konflikten im früheren Jugoslawien oder im Kaukasus. Auch innerhalb der Allianz werden, mit teilweise beunruhigenden Akzenten in den USA, die bisherigen Prioritäten überprüft, möglicherweise zulasten von Außenund Sicherheitspolitik. Es machen sich dabei auch klassische, auf Machtoptimierung gerichtete Kräfte bemerkbar, die versuchen, den in Kopenhagen7 erreichten und in Rom8 und Maastricht9 bestätigten Kompromiss zu den drei zentralen Bereichen der Sicherheit zu revidieren: – Kernfunktionen der Allianz im ungeteilten Europa, – Verhältnis NATO – europäische Sicherheits- und Verteidigungsidentität (ESVI) und – KSZE sowie Beziehungen zu den MOE- und GUS-Staaten. Besonders deutlich werden solche Ansätze in den institutionellen Präferenzen einzelner Partner. Die Reaktionen auf den deutsch-französischen Korpsbeschluss von La Rochelle10 spiegeln das wider (vgl. Bezug 5). Eine Analyse der drei genannten zentralen Politikfelder zeigt, dass es noch stärker als bisher darauf ankommt, das übergeordnete gemeinsame Ziel – Wahrung des Friedens, Sicherung der politischen und wirtschaftlichen Reform, Krisenvorbeugung und -bewältigung – in den Vordergrund zu stellen. Bei den Bemühungen, den unterschiedlichen Tendenzen zur Renationalisierung der Sicherheits- und Verteidigungspolitik entgegenzuwirken, hat die Bundesrepublik Deutschland eine zentrale Verantwortung. Wie beim DPC am 25. und 26. Mai11 der neue Bundesverteidigungsminister12, so wird in Oslo der neue Bundesminister des Auswärtigen besondere Aufmerksamkeit finden, da Partner sorgfältig auf eventuelle Akzentverschiebungen durch Ministerwechsel achten. Allianz und ESVI sind die geeigneten Institutionen auf westlicher Seite, keine von ihnen kann die Aufgabe allein bewältigen. Für ganz Europa ist die KSZE der wichtigste Handlungsrahmen, der NAKR kann einen wichtigen Beitrag leisten, wenn er richtig genutzt wird. II. Im Einzelnen und ergänzend GS hat mit seiner Vorschau (Bezug 1) die Schwerpunkte der Ministerberatungen in Oslo zutreffend skizziert: 1) Kernfunktionen der Allianz im ungeteilten Europa Die Ausfüllung der Beschlüsse von Kopenhagen und Rom im veränderten sicherheitspolitischen Umfeld erweist sich – zumal sie vor allem von USA, GB und NL auf der einen und F auf der anderen Seite in Konkurrenz zur Entwicklung der europäischen Sicherheits7 Zur NATO-Ministerratstagung am 6./7. Juni 1991 vgl. AAPD 1991, I, Dok. 190. 8 Zur NATO-Gipfelkonferenz am 7./8. November 1991 vgl. AAPD 1991, II, Dok. 375 und 376. Für das dort verabschiedete Strategiekonzept vgl. https://www.nato.int/cps/en/natohq/official_texts_23847.htm?selected Locale=en. Für den deutschen Wortlaut vgl. BULLETIN 1991, S. 1039–1048. 9 Zur Tagung des Europäischen Rats am 9./10. Dezember 1991 vgl. AAPD 1991, II, Dok. 425 und Dok. 431. 10 Zu den deutsch-französischen Konsultationen am 21./22. Mai 1992 vgl. Dok. 142 und Dok. 144. 11 Zur Ministersitzung des DPC der NATO in Brüssel vgl. Dok. 155. 12 Volker Rühe.

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und Verteidigungsidentität gesehen wird – als schwierig. „NATO-zentristische“ und „eurozentristische“ Modelle prallen aufeinander. Innenpolitische Probleme tragen das Ihre dazu bei, den Kopenhagener Kompromiss nicht der Form, aber der Sache nach immer wieder infrage zu stellen. Besonders belastend ist, dass seit Rom das Misstrauen zwischen Washington und Paris drastisch zugenommen hat. Beide Seiten handeln und reagieren empfindlich und mit eskalierender Ungeduld. Die US-Reaktionen auf WEU-Entwicklungen wie auch die jüngsten deutsch-französischen Beschlüsse waren eine Demonstration dafür, wie stark die Bereitschaft geworden ist, eher das Trennende als das Verbindende zu betonen. Andererseits gibt Paris mit Anklängen an überwunden geglaubte Verhaltensmuster nationaler Machtpolitik reichlich Anlass für solche Reaktionen. Bisher haben uns die USA zugutegehalten, dass wir die Politik des „sowohl als auch“ ernst meinen. In dem jetzt stärker emotional geprägten Misstrauensverhältnis zu Paris äußern sie – entgegen aller bisherigen Erfahrungen – nunmehr Zweifel, ob wir unsere traditionelle Linie durchhalten können. Eine zentrale Aufgabe in Oslo wird also darin bestehen, den Grundkompromiss von Kopenhagen zu erhalten, d. h. die in über vierzig Jahren entwickelte transatlantische sicherheitspolitische Kultur, d. h. die gemeinsame Definition von Sicherheit und Verteidigung der europäischen und nordamerikanischen Bündnispartner, zu erhalten und festigen und dabei – entschlossen gegenzuhalten, wenn F der Allianz eine „Nachtwächterrolle“ zuweisen will, d. h., wenn es ein Tätigwerden der Allianz auf den heute immer unwahrscheinlicheren Fall eines bewaffneten Angriffes gegen die Allianz zu begrenzen sucht, – auf der anderen Seite der Europäischen Union den zur Verwirklichung der Sicherheitsund Verteidigungsidentität nötigen Entwicklungsraum zu bewahren. 2) Verhältnis NATO – ESVI Aus der auch von F gegengezeichneten Bekräftigung des Washingtoner Vertrags13, dass die Allianz im Falle von dessen Art. 5 der Handlungsrahmen ist, versuchen einige Partner wie GB und NL so etwas wie eine Status-quo-Politik abzuleiten, was europäische Strukturen angeht. Mancher amerikanische Zweifel hat hier seinen Ursprung. Es ist unvermeidlich, dass die Veränderungen zu gewissen Spannungen führen. Sie dürfen jedoch nicht zu einem Zielkonflikt oder Verdrängungswettbewerb führen. Im Zusammenhang mit den Rom-Vorbereitungen erklärten uns amerikanische Partner mehrfach, dass sie die Richtigkeit unserer „sowohl als auch“-Politik nunmehr als die einzig zukunftsweisende akzeptieren könnten. Inzwischen haben wir manchmal den Eindruck, dass die Rückkehr Frankreichs in die Militärintegration14 als optimale Lösung betrachtet wird. Dabei wird übersehen, dass eine ESVI mit Wegfall der WP-Bedrohung noch wichtiger geworden ist, um den sicherheitspolitischen Zusammenhalt auch im transatlantischen Rahmen zu gewährleisten.

13 Für den NATO-Vertrag vom 4. April 1949 vgl. BGBl. 1955, II, S. 289–292. 14 Frankreich schied am 1. Juli 1966 aus dem integrierten militärischen Kommando der NATO aus. Vgl. AAPD 1966, I, Dok. 48.

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3) KSZE sowie Beziehungen zu den MOE- und GUS-Staaten a) KSZE, insbesondere Krisenmanagement Mit seinem – auch von uns abgelehnten – Gedanken eines europäischen Sicherheitsvertrages15 als Sofortziel hat F den US-Verdacht bestätigt, dass es die Allianz für disponibel hält. Andererseits befürchtet F, dass die USA ihre Führungsrolle in der Allianz auch für ganz Europa festschreiben wollen, indem sie dieser eine zentrale institutionelle Rolle in der KSZE bei Friedenswahrung und Krisenvorbeugung sichern wollen. Auch andere Partner lassen erkennen, dass sie sich in der entstehenden europäischen Sicherheitsarchitektur optimale Positionen sichern wollen. So deutet GB-Widerstand gegen Nutzung der KSZE als regionale Einrichtung im Sinne des Kap. VIII der VN-Charta16 darauf hin, dass eine Relativierung der Sonderrolle im VN-Sicherheitsrat vermieden werden soll. Im Übrigen ist zu bedauern, dass im Bündnis KSZE-Fragen und mögliche NATO-Beiträge zu KSZE-Krisenmanagement noch zu stark unter militärischen Kategorien gesehen werden. Das Verständnis dafür, dass Verteidigungsfähigkeit und militärische Elemente des Krisenmanagements zwar unverzichtbar sind, aber nicht als Krisenverhütungs- oder Lösungsmittel, sondern letztlich nur als militärische Rückversicherung einer weitgehend nicht militärisch definierten Politik (s. Ziff. 32 und 44 Strategiekonzept), ist deutlich unterentwickelt. Demgemäß wird Krisenmanagement mit manchmal exklusivem Akzent auf militärischen Instrumenten diskutiert – bis hin zur Nutzung integrierter Kommandos. Dies verstärkt reflexartig bei F die Sorge, „durch die Hintertür“ in die integrierten Strukturen der Allianz zurückgeholt zu werden. Ungeachtet dieser gegenseitigen Vorbehalte sind F und US in der Substanz – wenn auch aus unterschiedlichen Gründen – über die Grundparameter einer möglichen Rolle der NATO beim Krisenmanagement unter KSZE-Ägide weitgehend einig: – Bereitschaft, individuell oder kollektiv verfügbare Ressourcen und Expertise zur Verfügung zu stellen, – Verbleib der politischen Verantwortung für friedenserhaltende Maßnahmen bei der KSZE (operative Verantwortung wollen USA bei denjenigen lassen, die Kräfte bereitstellen; F-Aussagen hierzu sind verhalten), – kein Automatismus, vielmehr Einzelfallentscheidung im Rahmen der Allianz und nach ihren eigenen Verfahren und – keine exklusive Rolle der Allianz im Zusammenhang mit KSZE-Friedenswahrung. b) Zusammenarbeit mit den Kooperationspartnern Der Dauerstreit zwischen F und US ist durch den Kompromiss von Rom nicht überwunden. F ist in den meisten Fragen im Bündnis weitgehend isoliert, z. B. in der Frage der Rolle der Verteidigungsminister im Kooperationsprozess. Joxe wollte teilnehmen17, musste sich aber der dezidierten Haltung von Élysée und Quai beugen. Konkret werden sich die Minister in Oslo beschäftigen müssen mit: 15 Zum französischen Vorschlag eines gesamteuropäischen Sicherheitsvertrags vgl. Dok. 87. 16 Zur Initiative, die KSZE zu einer Regionalorganisation nach Kapitel VIII der VN-Charta zu erklären, vgl. Dok. 105, Anm. 20. 17 Zum NAKR-Treffen auf der Ebene der Verteidigungsminister in Brüssel am 1. April 1992 vgl. Dok. 97.

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Aufnahmeantrag Albaniens18: Alle Partner stimmen zu, aber einige wollen damit den Erweiterungsprozess endgültig abschließen. Hier vertritt F wie wir die Linie, dass die Aufnahme Albaniens nicht die letzte Erweiterung des NAKR sei, während US und andere nur ehemalige WP-Länder zulassen wollen. F-Haltung ist offenbar aus Überlegungen zur Finalität des Zusammenarbeitsprozesses, d. h. der Definition der Aufgaben des NAKR im Verhältnis zur Allianz einerseits und zur KSZE andererseits, begründet. Wie wir aus Gesprächen mit RUS wissen, teilt RUS die Meinung, dass der NAKR in seinem speziellen Arbeitsbereich nützlich ist und eine die KSZE stärkende Rolle auch dann spielen kann, wenn ihm alle KSZE-Mitgliedstaaten angehören. 19Inhalte der Zusammenarbeit:

Hier befinden wir uns an der Seite der USA im Widerspruch zur kaum noch nachvollziehbar restriktiven französischen Linie. Gäbe es eine olympische Disziplin des „Bedenkentragens“, so gewänne F mühelos alle drei Medaillen. GS wird wahrscheinlich in Oslo folgende Probleme ansprechen: – F blockiert in dem für die Sicherheit in Europa wie für den Erfolg der politischen und wirtschaftlichen Reformen in Osteuropa zentralen Thema der Rüstungskonversion eine konkrete Zusammenarbeit mit den Kooperationspartnern und will die Thematik im KSZE-Rahmen ansiedeln. US und übrige Partner wollen der NATO eine Rolle als „clearing house“ zuweisen, wohlwissend, dass NATO auf diesem Gebiet über keine spezifische Expertise verfügt (aber in der Sache doch deutlich näher am Thema ist als die KSZE). – Weiteres von F blockiertes Thema für die Zusammenarbeit ist die zivile/militärische Luftraumüberwachung im ungeteilten Europa, wo die Kooperationspartner große Erwartung an NATO-Gremium (CEAC20) haben. – Auch Einbeziehung von Aktivitäten im Bereich der zivilen Notstandsplanung scheitert an F aus grundsätzlicher Überlegung heraus. F ist zuzustimmen, dass Allianz in diesem Bereich Zuständigkeit nur im Falle von Krise und Krieg hat. Dennoch ist es aus unserer Sicht übertrieben, von einer Erweiterung dieser Allianzzuständigkeit der Allianz zu sprechen, wenn wir dringenden Wünschen der MOE-Partner nicht in einem sachkundigen Gespräch Rechnung tragen. Finanzierung der Kooperationsaktivitäten (s. GS-Schreiben an BK vom ... ): Auch wenn die Zusammenarbeit im NAKR-Rahmen insgesamt recht gut angelaufen ist, so wurde doch in der jüngsten Vergangenheit immer deutlicher, dass den – insbesondere 18 Gesandter Bächmann, Brüssel (NATO), teilte am 16. April 1992 mit, der albanische MP Ahmeti habe mit Schreiben vom 1. April 1992 an NATO-GS Wörner „formell um Aufnahme seines Landes in den NAKR“ nachgesucht. Vgl. DB Nr. 641; B 14, ZA-Bd. 161229. Diese Bitte wiederholte der neue albanische MP Meksi mit Schreiben an Wörner vom 24. April 1992. Vgl. DB Nr. 704 des Botschafters von Ploetz, Brüssel (NATO), vom 5. Mai 1992; B 14, ZA-Bd. 161229. VLR I Bertram bat die Ständige Vertretung bei der NATO in Brüssel am 5. Mai 1992, „sich für Aufnahme Albaniens und der von EG-MS anerkannten jug. Nachfolgestaaten in NAKR einzusetzen. […] ALB ist im Gefolge der ČSSR-Invasion des WP aus östlichem Bündnis ausgetreten. NATO sollte gewünschte Zusammenarbeit im NAKR-Rahmen nicht wegen fehlender Zugehörigkeit ALB zu WP ablehnen.“ Vgl. DE Nr. 4976; B 14, ZA-Bd. 161229. 19 Beginn des mit DB Nr. 884 übermittelten zweiten Teils des Fernschreibens. Vgl. Anm. 1. 20 Committee for European Airspace Coordination.

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kleineren und geografisch weiter entfernten – Partnern personelle und insbesondere finanzielle Grenzen der vollen Teilnahme gesetzt sind. Neben der Zurückhaltung der großen Mehrheit der Bündnispartner in der Frage der Zurverfügungstellung zusätzlicher Finanzmittel schafft F weiteres Sonderproblem dadurch, dass es die Finanzierung von Aktivitäten aus dem Zuständigkeitsbereich der VM aus dem Zivilhaushalt verweigert. Informationstätigkeit: Die in der deutsch-amerikanischen Initiative21 vorgeschlagene Einrichtung von Informationsbüros in den Hauptstädten der Partner konnte bisher nicht erreicht werden. Kooperationspartner dringen unverändert auf sichtbare Präsenz vor Ort. Dies gilt auch und gerade für Russland. Wie berichtet, sondieren wir deshalb informell den Gedanken der Einrichtung „euroatlantischer Häuser“ (Arbeitstitel) gemeinsam mit anderen Institutionen. Kooperationspartner würden dabei die Infrastruktur, westliche Organisationen die „Software“ stellen. Gedankliches Vorbild sind in gewisser Weise die Amerikahäuser im Deutschland der Nachkriegszeit. US und EG-Kommission signalisieren grundsätzlich Interesse, Gedanke wird jedoch bis Oslo nicht zur Entscheidungsreife gebracht werden können. c) Abzug der Streitkräfte der ehemaligen SU aus den baltischen Staaten Baltische Staaten haben mehrfach erkennen lassen, dass sie Problem des Abzugs der Streitkräfte mit der ehemaligen SU ansprechen werden und damit ihre Bemühungen fortsetzen, Thema zu „internationalisieren“ (ihrem Anliegen ist durch die Passage in beiden Kommuniqués zumindest teilweise Rechnung getragen). GS beabsichtigt, Problematik auch im bilateralen Gespräch mit BM aufzunehmen.22 4) Rüstungskontrolle Die Bedeutung des Rüstungskontroll- und Abrüstungsprozesses beim Aufbau von Strukturen kooperativer Sicherheit wird schon durch die zeitliche Verbindung der Ministertreffen mit der außerordentlichen Konferenz zum KSE-Vertrag manifest. Neben dem KSEVertrag als Grundpfeiler von Sicherheit und Stabilität in Europa und generell der konventionellen Rüstungskontrolle und Abrüstung hat der Zerfall des sowjetischen Weltreichs jedoch auch den Prozess der nuklearen Abrüstung komplexer gemacht und neue Proliferationsrisiken, gleichzeitig aber auch neue Chancen entstehen lassen. Ferner würde es sich aus hiesiger Sicht anbieten, dass BM aktiv CW anspricht und alle Bündnispartner (und am Folgetag auch alle NAKR-Partner) zu äußersten Anstrengungen auffordert, um das Ziel des Abschlusses eines Abkommens noch in diesem Jahr zu verwirklichen. 21 Vgl. die gemeinsamen Erklärungen des BM Genscher und des amerikanischen AM Baker vom 10. Mai bzw. 2. Oktober 1991; DEPARTMENT OF STATE DISPATCH 1991, S. 345–347 bzw. S. 736 f. Für den deutschen Wortlaut der Erklärung vom 2. Oktober 1991 vgl. BULLETIN 1991, S. 863 f. Vgl. ferner AAPD 1991, I, Dok. 159. 22 BM Kinkel führte am 4. Juni 1992 ein Gespräch mit NATO-GS Wörner in Oslo. Dabei äußerte sich Kinkel „grundsätzlich aufgeschlossen für die Wünsche der baltischen Regierungen“. Wörner argumentierte, dass „D nicht unbedingt mit Waffen, sondern eher mit Fahrzeugen oder Funkgeräten für Grenzsicherungskräfte helfen könne“. Beide teilten die Auffassung, dass dem dänischen Antrag, eine Aussage zum Abzug vormals sowjetischer Truppen aus dem Baltikum in das Kommuniqué der NATO-Ministerratstagung am selben Tag aufzunehmen, „nicht entsprochen werden sollte“. Vgl. den Gesprächsvermerk; B 1, ZA-Bd. 178913.

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5) Aktuelle Krisen Krisen im ehemaligen Jugoslawien und in GUS-Staaten werden – schon aufgrund des öffentlichen Erwartungsdrucks – Minister im NATO- und NAKR-Rahmen beschäftigen. [gez.] Ploetz B 14, ZA-Bd. 161214

162 Drahtbericht des Gesandten Wegner, London Fernschreiben Nr. 1062 Citissime nachts Betr.:

Aufgabe: 1. Juni 1992, 23.30 Uhr1 Ankunft: 2. Juni 1992, 01.25 Uhr

Besuch BM Dr. Kinkel am 1.6.1992 in London

Bericht hat BM nicht vorgelegen und beruht auf Briefing durch Botschafter unmittelbar vor Abreise zur WEU-Versammlung2. 1) BM Kinkel hielt sich am 1.6.1992 zu einem halbtägigen Kurzbesuch in London auf. BM, der von D 23, RL 0104 und stellvertretendem RL 0135 begleitet war, traf in Anwesenheit beider Botschafter6 mit AM Hurd in seiner Amtsresidenz zu ca. 45-minütigem Delegationsgespräch zusammen. Das Gespräch wurde bei einem Mittagessen fortgesetzt. Gesprächsthemen waren Situation im früheren Jugoslawien nach Verhängung der Sanktionen7, KSZE, deutsch-französisches Euro-Korps, britische EG-Präsidentschaft8/Maastricht. Nach Treffen beantworteten beide Minister kurz Fragen zu dem Sanktionsbeschluss vor der Presse. Bevor BM dann in Residenz britischer Nachrichtensendung 15-minütiges Interview gab, begrüßte er die Angehörigen der Vertretung. Anschließend berichtete BM über Gespräch deutschen Pressevertretern. 1 Das Fernschreiben wurde in zwei Teilen übermittelt. Vgl. Anm. 24. Hat VLR I Graf Leutrum am 2. Juni 1992 vorgelegen. 2 Botschafter Freiherr von Richthofen, London, nahm in Paris an der Sitzung der Parlamentarischen Versammlung der WEU vom 1. bis 4. Juni 1992 teil. Zur Sitzung vgl. BT DRUCKSACHEN, Nr. 12/3176. 3 Jürgen Chrobog. 4 Thomas Matussek. 5 Rainer Müller. 6 Christopher Mallaby (Großbritannien) und Hermann Freiherr von Richthofen (Bundesrepublik). 7 MDg Grünhage, Brüssel (EG), informierte am 28. Mai 1992: „Gemeinschaft einigte sich auf umfassendes Handelsembargo (Import/Export) gegen Serbien und Montenegro. UN-Sicherheitsrat wird gebeten, sich den Maßnahmen anzuschließen und Ölembargo zu verhängen sowie Guthaben und Finanztransaktionen einzufrieren. Montenegro wird von den am 3.2.1992 gewährten Positivmaßnahmen wieder ausgeschlossen. Exportkredite und Zusammenarbeit in Wissenschaft und Technik werden unterbunden.“ Vgl. DB Nr. 1590; B 42, ZA-Bd. 183762. Vgl. auch BULLETIN DER EG 5/1992, S. 87 f. Zu den mit Resolution Nr. 757 des VN-Sicherheitsrats am 30. Mai 1992 verhängten Sanktionen vgl. Dok. 159, Anm. 12. 8 Großbritannien hatte vom 1. Juli bis 31. Dezember 1992 die EG-Ratspräsidentschaft inne.

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Im Einzelnen 2) Eingangs übermittelte BM die persönlichen Grüße von BM a. D. Genscher an britischen Amtskollegen. AM Hurd wies auf die guten bilateralen Beziehungen hin unter Erwähnung des bevorstehenden Besuchs PM Major bei BK Kohl am 5.6.9 und hofft, dass man sich zukünftig sehr eng, auch telefonisch, austauschen werde. BM stimmte dem zu. Laut AM Hurd sei britische Seite sehr bestrebt, in vertrauensvolle und substanzielle Diskussion mit BM Kinkel einzutreten. BM dankte für freundliche Begrüßung und erwähnte die Hinweise, die ihm sein Vorgänger zur Zusammenarbeit mit Hurd gegeben habe. Er hoffe, dies genauso fortsetzen zu können. Deshalb sei er schnell nach London gereist (zweiter bilateraler Auslandsbesuch10), um die engen Beziehungen zu unterstreichen. BM begrüßte ebenfalls anwesenden Botschafter Mallaby, den er schon seit seiner Zeit als BMJ kenne. 3) Auf Vorschlag von Hurd begann man mit dem Thema Jugoslawien, wo laut britischem AM in der Vergangenheit einige „Divergenzen“ zu beobachten gewesen wären, die glücklicherweise nun nicht mehr bestünden. AM Hurd führte dann einen prozeduralen Vorschlag zum Ablauf bisheriger AM-Treffen ein. Man habe häufig über wichtige außenpolitische Themen beim Mittagessen ohne ausführliche Vorbereitung oder Papiere gesprochen, dies häufig auch ohne vorherige Abstimmung mit Partnern, insbesondere mit den USA. Er schlage deshalb vor, zu einem etwas formelleren Verfahren zurückzukehren und auf der Grundlage von Papieren zu beraten. Er wolle versuchen, „orderly discussions with papers“ zu führen. Er bitte BM um deutsche Unterstützung bei dieser Arbeitsmethode. BM dankte britischer Seite für Unterstützung bei der Verhängung von umfassenden Sanktionen gegenüber Serbien und betonte die sehr enge Zusammenarbeit in den letzten Monaten bei der Behandlung der Jugoslawien-Krise. Als Neuer im Kreis der AM müsse er sich anfangs in die Prozeduren einfinden, sei allerdings auch für effiziente Arbeit und wolle den Vorschlag unterstützen, da er ihn vernünftig finde. Er habe großes Verständnis für strukturierte ergebnisorientierte Gespräche. Diese Haltung beinhalte jedoch keine Kritik an seinem Vorgänger, dessen Politik er in der Sache voll fortzuführen gedenke. AM Hurd machte klar, dass dies so nicht von ihm gemeint gewesen sei, wolle dies jedoch zu Beginn der Zusammenarbeit vorbringen. Die beschlossenen Sanktionen beschrieb Hurd als sehr ernst, deren Auswirkungen müsse man nun für einige Wochen beobachten. FCO überprüfe derzeit, wie sich Sanktionen im Einzelnen auswirken (Bankguthaben, Verkehr, Auswirkungen auf britische Staatsangehörige, Rolle des jugoslawischen/serbischen Botschafters in London11). In letzterem Punkt fragte AM deutsche Haltung ab, die D 2 erläuterte. Man einigte sich, auf Ebene der Politischen Direktoren nachzudenken, wie man zukünftig mit diplomatischem Personal aus Belgrad umgehe. AM Hurd war besorgt um die Sanktionsauswirkungen auf humanitäre Transporte. Beide AM stimmten darüber ein, dass Lord Carrington und Botschafter Cutileiro ihre Aufgabe im Rahmen der EG-Friedenskonferenz weiterführen sollten. BM Kinkel erwähnte, Frage der Sanktionen sei in D innenpolitisches Thema, besonders das der Einhaltung und 9 BK Kohl führte am 5. Juni 1992 mit dem britischen PM Major ein Gespräch. Vgl. BULLETIN 1992, S. 612. 10 Die erste bilaterale Auslandsreise von BM Kinkel führte am 18. Mai 1992 nach Paris. Vgl. Dok. 142, Anm. 33. 11 Svetozar Rikanović.

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Überwachung. D 2 ergänzte, dass VN entsprechenden Ausschuss hätten, der sich mit der Einhaltung von Sanktionen befassen sollte. Man überlegte, wie Einhaltung von Sanktionen am besten zu überprüfen sei; Truppen als Sanktionsmechanismus fehlten. AM Hurd verwies auf Erfahrungen, die man bei Irak-Sanktionen mit Embargo-Verletzern (Jordanien) gemacht habe. AM Hurd fragte nach Reaktion der Öffentlichkeit in D zu Sanktionsbeschluss. BM berichtete über eine massive Unterstützung in der Bevölkerung. BK Kohl habe ihn bereits vor Lissaboner Treffen12 ermächtigt, Druck auf Serbien aufzubauen. Leider habe JVA bisher nicht wie erwünscht reagiert. BM zeigte sich etwas überrascht, dass sich USA jetzt sehr für Sanktionen eingesetzt hätten, dies bewirke fast eine falsche Optik, als drängten Amerikaner darauf, dass jetzt etwas geschehe und europäische Bemühungen der vergangenen Wochen unbemerkt geblieben seien. Ursprüngliche Sanktionsforderung sei von uns ausgegangen. USA seien erst später beigetreten. Die Lehre, die AM Hurd daraus ziehen wolle, sei, mit Amerikanern und Russen in engem Kontakt zu stehen, um bei VN-SR zu gemeinsamen Beschlüssen zu kommen. AM Hurd stellte Frage zur deutschen Haltung zum Kosovo13. Er interpretiere sie so, dass keiner Grenzveränderung mit Gewalt zugestimmt werde und D sich für weitgehenden Minderheitenschutz einsetze. Diese Linie, die auch Lord Carrington verfolge, werde auf serbischer Seite aber nicht respektiert. Albaner hielten dies auch nicht für ausreichend, er glaube, dass man in Belgrad sehr deutlich machen müsse, den Carrington-Plan14 auszuführen. Auch der albanischen Seite müsse klargemacht werden, dass sie nichts gewinnen werde, wenn man versuche, die Unabhängigkeit durch Gewalt zu erreichen. BM bestätigte diese Einschätzung und warnte davor, eine Pandorabüchse im Bereich Grenzveränderungen zu öffnen. D 2 fragte, wie lange man Albanern Unabhängigkeit vorenthalten könne. Bei bevorstehendem Besuch von portugiesischem AM Pinheiro15 in London und Bonn16 sollen diese Fragen erörtert werden, ebenso die Anerkennung Mazedoniens. AM Hurd meinte, dass es innerhalb der EG bequemer sei, die griechische Haltung zu unterstützen, doch langfristig brauche man Klärung. Griechenland müsse sich bewegen. BM und D 2 verwiesen auf innenpolitische Situation Mitsotakis’ und seine Rolle bei der Ratifizierung von Maastricht, man müsse wegen der Ratifizierung gewisse Rücksicht nehmen. Die Frage von SR-Sanktionen gegen Serbien und Nichtanerkennung in VN als Rechtsnachfolger Jugoslawiens17 sei für Hurd unlogisch. Eine mögliche Lösung dieses Widerspruchs könne vor der VN-GV18 durch den zuständigen Ausschuss bei der Klärung der credentials erfolgen. 12 Zur Koordinierungskonferenz für humanitäre Hilfe an die GUS-Mitgliedstaaten sowie an Georgien am 23./24. Mai 1992 vgl. Dok. 160. Zur Tagung des Europäischen Rats am 26./27. Juni 1992 vgl. Dok. 201. 13 Trotz Verbots durch die serbische Regierung fanden im Kosovo am 24. Mai 1992 Parlaments- und Präsidentschaftswahlen statt. Zur Lage im Kosovo vgl. Dok. 236. 14 Für das Dokument „Treaty Provisions for the Convention“ vom 4. November 1991 („Carrington-Plan“) vgl. B 42, ZA-Bd. 175713. 15 Korrigiert aus: „Pinter“. 16 BM Kinkel führte am 3. Juni 1992 ein Gespräch mit dem portugiesischen AM Pinheiro, in dessen Zentrum der Jugoslawien-Konflikt und EPZ-Fragen standen. Vgl. den Vermerk des VLR I Libal vom 4. Juni 1992; B 26, ZA-Bd. 173596, sowie den Vermerk des MD Dieckmann vom 5. Juni 1992; B 1, ZA-Bd. 178945. 17 Zur Frage der Rechtsnachfolge Jugoslawiens vgl. Dok. 65. 18 Die 47. VN-Generalversammlung wurde am 15. September 1992 in New York eröffnet.

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BM erwähnte seine Einflussnahme und Drängen auf russischen AM in der Sanktionsfrage.19 AM Kosyrew habe zugesagt, freundschaftliche Hand über Serbien zurückzuziehen, wenn serbische Haltung sich nicht ändere. 4) AM Hurd leitete über zum Thema KSZE mit der Feststellung, dass GB im Hinblick auf den Helsinki-Gipfel20 sehr flexible Ideen habe, dass man allerdings keine großen neuen Bürokratien und übermäßig großen Institutionen einrichten wolle. Es müsse herausgestrichen werden, dass man im Rahmen der KSZE enge Verbindungen zur NATO, zur EG und den VN unterhalte, um auch so Ressourcen und Mechanismus dieser Institutionen zu nutzen. MOE-Staaten und GUS erwarteten viel von diesem Gipfel, deshalb müsse konstruktives Ergebnis erzielt werden. BM stimmte überein. Er bat, britische Zurückhaltung bei der Anerkennung der KSZE als regionale Abmachung im Sinne von Kap. VIII der VN-Charta aufzugeben.21 AM Hurd, der darauf vorbereitet war, betonte, dass man kein KSZE-Teilnehmerland in die KSZE einsperren wolle, wenn dieser Teilnehmerstaat den Mechanismus der VN vorziehe. Solange dies berücksichtigt werde, könne UK Vorbehalt aufgeben und unser Petitum unterstützen. AM Hurd interessierte sich, ob dieses Thema auch bei der innenpolitischen Diskussion über Blau- bzw. Grünhelme22 von Bedeutung sei. BM und D 2 bejahten dies, aber dies sei nicht der alleinige Grund unseres Wunsches, denn wir hielten es für wichtig, der KSZE eine neue Option zu geben. AM Hurd bot an, ohne jedoch sich in unsere innenpolitische Auseinandersetzung einmischen zu wollen, alles dafür zu tun, was „friends can do to help the internal process“. Großes Lob wurde uns für die Entsendung von Sanitätssoldaten nach Kambodscha ausgesprochen.23 BM Kinkel erläuterte zur Diskussion über den Einsatz von Bundeswehrsoldaten bei friedenserhaltenden Maßnahmen, er sei bereit, hier weiter zu gehen als andere. Er habe bereits innenpolitisch Kritik einstecken müssen, weil er dafür sei, bei Einsätzen nicht nur mit der „Blume im Gewehr“ aufzutreten. Er habe den Kampf um die Zweidrittelmehrheit für die Grundgesetzänderung noch nicht aufgegeben. 24Unter Hinweis auf die Bitte von AM Dumas in La Rochelle25 sprach BM das Thema Konventionsentwurf für Schlichtung und Schiedsgerichtsbarkeit im Rahmen der KSZE an.26 Ohne sich auf eine rechtliche Detaildiskussion einzulassen, wolle er die Position des französischen Außenministers unterstützen. AM Hurd sagte zu, diese Frage noch vor dem Helsinki-Gipfel aufmerksam zu überprüfen, aber er störe sich an der Legalisierung. Britischer Politischer Direktor27 fügte hinzu, dass man mit deutscher Delegation in Helsinki versuche, beim Thema code of conduct28 zu einer Lösung zu kommen. Dies könnte Aus19 Zum Gespräch des BM Kinkel mit dem russischen AM Kosyrew am 23. Mai 1992 in Lissabon vgl. Dok. 149. 20 Zur KSZE-Gipfelkonferenz am 9./10. Juli 1992 vgl. Dok. 226. 21 Zu dieser Initiative vgl. Dok. 105, Anm. 20. 22 Zur Initiative für KSZE-„Grünhelme“ vgl. Dok. 112, Anm. 17. 23 Zum Verlauf des Friedensprozesses in Kambodscha und zur Beteiligung der Bundesrepublik an UNTAC vgl. Dok. 305. 24 Beginn des mit DB Nr. 1063 übermittelten zweiten Teils des Fernschreibens. Vgl. Anm. 1. 25 Zu den deutsch-französischen Konsultationen am 21./22. Mai 1992 vgl. Dok. 142 und Dok. 144. 26 Zur deutsch-französischen Initiative für eine Gesamteuropäische Schiedsinstanz vgl. Dok. 105, Anm. 27. 27 Leonard Appleyard. 28 Zum Vorschlag für einen KSZE-Verhaltenskodex vgl. Dok. 142, Anm. 9.

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weg sein. Für BM sei code of conduct auch sehr wichtig. Er wolle aber die Bitte von Dumas unterstützen. AM Hurd sagte genaue Prüfung der Frage vor Helsinki zu. 5) Delegationsbesprechung wurde bei Mittagessen fortgesetzt. BM eröffnete mit einer Erläuterung zum Eurokorps. BM wies auf sein Gespräch mit AM Baker hierzu in Lissabon hin.29 Er akzeptierte jedoch nicht amerikanische Vorhaltungen, nicht ausreichend unterrichtet gewesen zu sein. Zur Sache betonte er, dass die Bedeutung der NATO für D allerhöchsten Stellenwert genieße und unersetzbar sei. Gerade nach Wiedervereinigung und jahrzehntelanger Schutzfunktion für Berlin und die Bundesrepublik wolle er den Dank der NATO und USA gegenüber ausdrücken. Das Eurokorps sei nicht gegen die NATO gerichtet, deutsche Truppen seien der NATO assigniert, erstes Zugriffsrecht habe NATO. Unser Korpsanteil stünde der NATO voll zur Verfügung. Die Einzelheiten des Auftrages seien jetzt zwischen D und F festzulegen, und er wolle betonen, dass Eurokorps auch mit seinem französischen Teil der NATO zur Verfügung stehe, wenn von der NATO gewünscht. Bei Gespräch mit Baker in Lissabon habe amerikanischer AM davor gewarnt, dies könne Wasser auf die Mühlen derjenigen sein, die Präsenz amerikanischer Truppen in Europa verringern wollten. Er sei dem im Gespräch energisch entgegengetreten und habe jeglichen falschen Eindruck sofort korrigiert. Nach seiner Rückkehr habe er BK über dieses Gespräch unterrichtet, woraufhin BK Brief an Präsident Bush geschrieben habe, um auch bei ihm den falschen Eindruck zu korrigieren.30 AM Hurd erwähnte, man habe sich als britische Seite ausreichend unterrichtet gefühlt. Problem in GB sei jedoch, dass nach Maastricht31 die Zusammensetzung des Eurokorps und seine Rolle in Bezug auf WEU und auf NATO Verständnisfragen aufwerfe. Bei der Ratifikation von Maastricht könnte man in innenpolitische Schwierigkeiten geraten, wenn Ex-PM Thatcher und Labour Party sich hierbei verbündeten. Für britische Seite lägen die Hauptschwierigkeiten darin, dass sich die deutschen mit den französischen Erläuterungen nicht deckten. F argumentiere anders. Französische Haltung käme einer self-fulfilling prophecy gleich, da man behaupte, man wolle USA nicht aus Europa rausdrängen, aber vorhersehe, dass sie langfristig gehen werden, und deshalb jetzt eine entsprechende europäische Streitmacht aufbauen müsse. GB halte diese Argumentation für falsch und sei darüber besorgt. Man sei sich bisher noch nicht klar darüber, wie der Status der deutschen Truppen sei. Ferner benötige man Aufklärung darüber, in welcher Beziehung dieses Korps zur WEU stehen solle. Britische Seite wäre sehr zufrieden und „reassured“, wenn die MR-Sitzung der WEU am 19.6. hier absolute Klarheit brächte, besonders auch zur Unterstellung des Korps unter WEU.32 AM Hurd 29 Zum Gespräch des BM Kinkel mit dem amerikanischen AM Baker am 23. Mai 1992 vgl. Dok. 149. 30 Für das Schreiben des BK Kohl vom 27. Mai 1992 vgl. Dok. 154. 31 Zum Vertragswerk von Maastricht vgl. Dok. 3, Anm. 8. 32 Zur WEU-Ministerratstagung am 19. Juni 1992 auf dem Petersberg teilte VLR I Bettzuege am 22. Juni 1992 mit, die von den Außen- und Verteidigungsministern in der „Petersberg Erklärung“ zusammengefassten Beschlüsse seien „ein Markstein in der Entwicklung der WEU zur Verteidigungskomponente der Europäischen Union sowie zum europäischen Pfeiler der Atlantischen Allianz. Im Mittelpunkt der Beratungen stand die Umsetzung der Erklärung der WEU in Maastricht, wobei der Erweiterung der WEU und dem Ausbau ihrer operationellen Rolle eine herausragende Bedeutung zukamen. Die Diskussion der aktuellen sicherheitspolitischen Fragen betraf insbesondere die Entwicklung im früheren Jugoslawien; in einer gesonderten Erklärung zu Bosnien-Herzegowina erklärte die WEU ihre grundsätzliche Bereitschaft, auf der Grundlage eines klaren VN-Mandats zum Herbeiführen des Friedens beizutragen. Am selben Tag fand das erste Treffen des WEU-Rats mit den Außen- und Verteidigungsministern aus acht zentral-

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erwähnte ausdrücklich, dass PM Major dieses Thema am 5.6. bei BK anzusprechen gedenke, jedoch in einer konstruktiven Weise. BM Kinkel erwähnte, dass das zur WEU Gesagte von ihm ebenfalls so gesehen werde. D 2 erläuterte für britische Seite, dass das Korps sowohl im Auftrag der WEU als auch der NATO agieren werde, dass der Bundeswehrteil stets der NATO zur Verfügung stehen werde, auch wenn Frankreich dem nicht zustimmen werde. Für die Einbeziehung franz. Truppenteile sei jedoch ein entsprechendes Abkommen mit der NATO abzuschließen. Das Korps sei auf jeden Fall „answerable to WEU“. AM Hurd bat abschließend darum, dass die deutsch-franz. Entscheidungen hierzu mit den entsprechenden Bestimmungen des Vertrags von Maastricht übereinstimmten, und bat, darauf hinzuwirken, dass von franz. Seite dieselben Erläuterungen gegeben werden wie von BM Kinkel: „Ask the French to give the same explanation as you do.“ Der Schaden in Washington sei entstanden wegen der unterschiedlichen franz. Erläuterungen. Man werde jedoch diese Frage lösen können. BM schloss Thema ab mit dem Hinweis auf die Komplexität des Themas und unterschiedliche Nuancen, die sich bei derartigen Projekten zwangsläufig einstellten, dies hieße jedoch nicht, dass man mit zwei Zungen zu sprechen beabsichtige. 6) Thema EG wurde mit Schilderung der Schwerpunkte der britischen Präsidentschaft durch AM Hurd eingeleitet. Man werde zwar mit außenpolitischen Fragen wie z. B. Jugoslawien-Krise sehr viel Zeit beanspruchen, doch seien Konzentration auf die Verwirklichung des gemeinsamen Binnenmarkts, die Lösung der zukünftigen Finanzierung der Gemeinschaft (Delors II33) und die damit verknüpfte Frage der Erweiterung Schwerpunkte. Kurz wurde auf den Europäischen Rat in Lissabon und dessen Tagesordnung eingegangen. Neben Kohäsions-Fonds und zukünftigen Kosten der Gemeinsamen Agrarpolitik erwähnte AM Hurd, dass das Delors II-Paket auch Industriehilfen beinhalten solle. Als prozeduralen Vorschlag glaube er, einen Teil der Diskussionen an den ECOFIN verlagern zu können, ohne dieses Thema allerdings total aus der Hand der AM zu geben. Die Erweiterung der Gemeinschaft soll zunächst mit Österreich, Schweden, Finnland und der Schweiz und eventuell vor Jahresende noch mit Norwegen verfolgt werden. Man hoffe, dass die Kommission noch bis Jahresende ein Mandat erarbeiten könne, um 1993 Verhandlungen zu beginnen und 1995 Ergebnisse ratifizieren zu können. Dem Kreis der Beitrittsaspiranten Malta, Zypern und Türkei müsse man entgegenkommen. Ähnliches gelte für die VisegrádStaaten. AM Hurd erwähnte die bekannte britische Position, lediglich mechanische institutionelle Anpassungen im Zuge der ersten Beitrittsverhandlungen, nicht aber Reformen der Entscheidungsmechanismen durchzuführen. UK hätte große Schwierigkeiten, wenn man jetzt versuchen wolle, parallel zur Erweiterung auch Vertiefung voranzubringen. BM bestätigte Übereinstimmung bei der Frage der Erweiterung und unterrichtete über sein erstes Gespräch mit norwegischem AM Stoltenberg zu norwegischen Beitrittsabsichten.34 Entscheidung in Oslo falle wahrscheinlich im November.35 Fortsetzung Fußnote von Seite 668 europäischen Staaten statt.“ Als mögliche Aufgaben künftiger WEU-Militäreinsätze wurden aufgeführt: „humanitäre Aufgaben und Rettungseinsätze; friedenserhaltende Aufgaben; Kampfeinsätze bei der Krisenbewältigung, einschließlich Maßnahmen zur Herbeiführung des Friedens.“ Vgl. RE Nr. 34; B 5, ZABd. 161325. Für die bei der Tagung verabschiedeten Erklärungen vgl. BULLETIN 1992, S. 649–655. 33 Zum „Delors-Paket II“ vgl. Dok. 102, Anm. 13. 34 BM Kinkel führte am 25. Mai 1992 ein Gespräch mit dem norwegischen AM Stoltenberg. Vgl. Information des Pressereferats Nr. 167 vom 25. Mai 1992; B 7, ZA-Bd. 178990.

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Deutsche Haltung sei eindeutig für Vertiefung: Es gehe hier nicht um Alternativen, man müsse beides schaffen. Delors II-Paket bezeichnete BM als mittelfristige Finanzplanung für Europa und wolle sich hierzu erst weiter einarbeiten und nicht in Details gehen. AM Hurd versicherte, dass GB den Kompromissvorschlag des EP zur Zahl der deutschen MdEPs36 unterstütze, dass man aber bitte bei der Frage der Vertiefung nicht die Maastricht-Diskussion neu aufnehme. BM erwähnte Rede Delors’ beim Mittagessen des Bundespräsidenten anlässlich Karlspreis-Verleihung an diesen37, nach der seine Position nahe bei der deutschen läge; Vertiefung und Erweiterung seien gleichzeitig zu betreiben, und über die notwendigen Schritte sei man sich einig. Laut BM sei Zahl der deutschen MdEPs auch aus psychologischen Gründen wichtig. BM machte dabei Exkurs in die Innenpolitik und erläuterte, dass Bevölkerung in Deutschland doch nicht so auf Europa vorbereitet sei, wie man es gerne hätte, man müsse akzeptieren, dass bestimmte Themen nicht generell mitgetragen würden. Deshalb müsse man bei der Debatte über Maastricht darauf achten, dass Themen DM/ECU oder Zahl deutscher MdEPs entsprechend berücksichtigt und verständlich gemacht werden. Zur Ratifizierung werde man noch mit den Bundesländern verhandeln müssen, da der Bund bei Artikel 28 und 88 GG38 die Zustimmung des Bundesrates brauche und umgekehrt die Länder bei Artikel 24 GG39 stärkeren Einfluss auf europäische Innenpolitik haben möchten. AM Hurd wies auf die Bedeutung der Ratifizierungsdiskussion im Ausschussstadium am 2./3. Juni im House of Commons hin, deshalb werde er auch nicht in Oslo bei dem NATO-AM-Rat40 dabei sein. 35

7) Thema EFA41 wurde von brit. AM kurz unter vier Augen angesprochen. Das Thema Bomber Harris spielte keine Rolle.42 Gespräch endete mit dem Dank des BM für das offene

Fortsetzung Fußnote von Seite 669 35 Die norwegische Regierung übermittelte am 25. November 1992 einen Antrag auf EG-Mitgliedschaft. 36 Zur Frage der Erhöhung der Zahl der Mitglieder des Europäischen Parlaments vgl. Dok. 78, Anm. 10. VLR Koebel vermerkte am 23. April 1992, der Berichterstatter im Europäischen Parlament, MdEP de Gucht, habe einen neuen Vorschlag zur EP-Sitzverteilung vorgelegt: „Das neue Modell, das wie das bisherige für Deutschland 99 Sitze vorsieht, versucht einige der Nachteile des vorangegangenen Modells zu vermeiden. So gewinnen nach der jetzt vorgestellten Systematik alle MS Sitze bzw. behalten ihre bisherigen Mandate, was für die spätere Akzeptanz im Rat von Bedeutung ist.“ Erkauft werde dies „durch eine komplizierte Kasuistik mit 18 Stufen“, die die im Europäischen Parlament ohnehin überproportional vertretenen kleineren und mittleren EG-Mitgliedstaaten bevorzuge. Vgl. B 200, ZA-Bd. 153712. 37 Für die Rede des EG-Kommissionspräsidenten Delors anlässlich der Verleihung des Karlspreises am 28. Mai 1992 in Aachen vgl. https://www.karlspreis.de/de/preistraeger/jacques-delors-1992/rede-von-jacquesdelors. 38 Für Artikel 28 und 88 GG vom 23. Mai 1949 vgl. BGBl. 1949, S. 4 bzw. S. 12. 39 Für Artikel 24 GG vom 23. Mai 1949 vgl. BGBl. 1949, S. 4. 40 Zur NATO-Ministerratstagung am 4. Juni 1992 vgl. Dok. 170. 41 European Fighter Aircraft („Jäger 90“). Die Bundesrepublik, Frankreich, Großbritannien, Italien und Spanien vereinbarten am 11. Oktober 1984 den Bau eines europäischen Kampfflugzeugs („Jäger 90“). Vgl. AAPD 1985, II, Dok. 198. Da keine Verständi-

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und freundliche Treffen und seine freundliche Aufnahme in London. Er versprach, den Meinungsaustausch bei nächster Gelegenheit fortzusetzen. Abschließend gaben beide Minister kurze Statements vor der britischen Presse ab und beantworteten Fragen zum VN-Sanktionsbeschluss. 8) Wertung Die Antrittsreise des neuen deutschen AM nach London gerade vierzehn Tage nach Amtsübernahme ist von britischer Seite mit Befriedigung aufgenommen worden. Sie unterstreicht die guten deutsch-britischen Beziehungen. Die Tatsache, dass es sich um den zweiten bilateralen Besuch von BM handelte, wurde hier gewürdigt. Besondere Bedeutung ist dem Interview des Ministers mit BBC zuzumessen, da es seit längerer Zeit der erste Auftritt eines deutschen Politikers in einer britischen Nachrichtensendung war. Über die Presseresonanz und Wiedergabe des Interviews erfolgt gesonderter Bericht. [gez.] i. V. Wegner B 31, ZA-Bd. 178054

Fortsetzung Fußnote von Seite 670 gung über die technischen Daten des Flugzeugs gelang, schied Frankreich 1988 aus dem Projekt zugunsten eines eigenen Kampfflugzeugs („Rafale“) aus. Angesichts von Berichten, die Bundesregierung beabsichtige, „die deutsche Beteiligung in der nächsten Produktionsphase des Flugzeugs zurückzuziehen“, wandte sich der italienische MP Andreotti mit Schreiben vom 22. Mai 1992 an BK Kohl und bat, diese Entscheidung nochmals zu überdenken. Vgl. BArch, B 136, Bd. 42309. 42 Am 31. Mai 1992 wurde in London von der britischen Königinmutter, Elizabeth, ein Denkmal für den ehemaligen Oberbefehlshaber des „Royal Air Force Bomber Command“, Sir Arthur Harris („Bomber Harris“) enthüllt. Beruhend „auf Beobachtungen und Material des hiesigen ZDF-Studios, da Botschaft weisungsgemäß der Veranstaltung fernblieb“, berichtete Gesandter Kunz, London, am selben Tag: „Veranstaltung galt als privat. Träger war Veteranenverband Bomber Command Association, dessen Schirmherrin Königinmutter ist. Regierungsvertreter nahmen nicht teil […]. In nur zweiminütiger Ansprache bezeichnete Königinmutter Bomber Harris als motivierenden Führer (‚inspiring leader‘), der in einer großen Gefahrensituation Hoffnung vermittelt und schwere Verantwortung getragen habe. Sie gedachte seiner ‚tapferen Mannschaften‘ und ihrer über 55 000 Gefallenen. Der Schlusssatz war dem Gedenken des Leidens und der Opfer aller Völker im Zweiten Weltkrieg gewidmet.“ Kunz bilanzierte: „Das Ereignis ist glimpflich abgelaufen. Die guten deutsch-britischen Beziehungen sind durch dieses Irritans nur am Rande und nur vorübergehend berührt worden. Entscheidung der Bundesregierung, offiziell nicht teilzunehmen und keinen unmittelbaren Einfluss auf Geschehen zu nehmen, sondern stattdessen im Hintergrund zu wirken, hat sich ausgezahlt.“ Vgl. DB Nr. 1052; B 31, ZA-Bd. 178058.

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2. Juni 1992: Gespräch zwischen Schmidbauer und Rafsandschani

163 Gespräch des Staatsministers Schmidbauer, Bundeskanzleramt, mit dem iranischen Präsidenten Rafsandschani in Teheran 2. Juni 19921 Vermerk über das Gespräch des Staatsministers beim Bundeskanzler, Bernd Schmidbauer, mit dem iranischen Staatspräsidenten Rafsandschani in Teheran am 2. Juni 19922 Beteiligt waren auf deutscher Seite Botschafter Dr. Freitag, Präsident Dr. Werthebach (BfV), MD Prof. Dr. Dr. Dolzer (BK), MD Schlagintweit (AA), der Unterzeichnende3, auf iranischer Seite hochrangige Vertreter des Außenministeriums. Nach herzlicher Begrüßung durch Präsident Rafsandschani beglückwünscht StM Schmidbauer diesen zu dessen Erfolg bei den kürzlichen Präsidentschaftwahlen.4 Präsident Rafsandschani bemerkt dazu, dass Wahlen im Westen eine grundsätzliche Entscheidung über die Politik wie auch über das künftige politische Schicksal desjenigen darstellten, der sich zur Wahl stelle. Im Iran seien Wahlen hingegen etwas „ganz Gewöhnliches“ (d. h. wohl nur eine förmliche Bestätigung des zu Wählenden im Amt, die von vornherein feststehe). Auf Frage des Präsidenten unterstreicht StM Schmidbauer den bisherigen, sehr intensiven Verlauf der Delegationsgespräche. Er berichtet auf weitere Fragen, dass es dem Bundeskanzler gut gehe und er sich auf den bevorstehenden Besuch in Rio bei UNCED5 vorbereite. Auch dem Bundespräsidenten gehe es seiner Kenntnis nach gut. Auf Bitte des Präsidenten erläutert StM Schmidbauer den Rücktritt von BM Genscher vom Amte des Außenministers6: Nach 23 Jahren Amtszeit als Bundesminister – davon 18 Jahre als Außenminister – habe BM Genscher es für an der Zeit gehalten, seinen Platz einem jüngeren Politiker freizumachen. Er habe jedoch zugleich versprochen, in der aktiven Politik zu verbleiben. Auf Nachfrage erläutert StM Schmidbauer, dass es in der Tat ein Verlust sei, wenn gerade in der gegenwärtigen schwierigen Zeit ein erfahrener Außenminister sein Amt aufgebe. Andererseits mache Genschers dem Bundeskanzler gegebene Zusage, auch weiterhin aktiv in der deutschen Außenpolitik mitzuarbeiten, den Wechsel leichter. StP Rafsandschani bemerkt hierzu, dass aus iranischer Sicht diese Entscheidung dennoch nicht leicht zu deuten sei. StM Schmidbauer bemerkt, dass nach den großen Veränderungen in Europa der gegenwärtige Zeitpunkt noch der relativ günstigste sei, einen solchen Wechsel vorzunehmen. Später könne dies viel größere Schwierigkeiten aufwerfen. 1 Kopie. Der Gesprächsvermerk wurde von VLR I Ueberschaer, Bundeskanzleramt, am 3. Juni 1992 gefertigt und am 30. Juni 1992 zusammen mit seinem Vermerk über das Gespräch des StM Schmidbauer mit dem stellvertretenden iranischen AM Vaezi am 2. Juni 1992 in Teheran an VLR I Reiche „zur Unterrichtung des Auswärtigen Amts“ übermittelt. Vgl. das Begleitschreiben; B 36, ZA-Bd. 170179. 2 StM Schmidbauer, Bundeskanzleramt, hielt sich vom 31. Mai bis 2. Juni 1992 im Iran auf. 3 Hans-Christian Ueberschaer. 4 Zu den Parlamentswahlen am 10. April bzw. 8. Mai 1992 im Iran vgl. Dok. 148, Anm. 8. 5 Zur VN-Konferenz über Umwelt und Entwicklung (UNCED) vom 3. bis 14. Juni 1992 vgl. Dok. 177. 6 Zum Rücktritt von BM Genscher am 18. Mai 1992 vgl. Dok. 119, Anm. 10.

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StM Schmidbauer äußert sodann seine Freude über die Begegnung mit dem Staatspräsidenten, die ihm die Möglichkeit gebe, diesem eine Botschaft des Bundeskanzlers zu übermitteln. (Er übergibt sodann den Brief des Bundeskanzlers.) StP Rafsandschani dankt nach Lektüre des Briefes und erklärt, dass er mit dessen Inhalt grundsätzlich übereinstimme („harmonisiere“). StM Schmidbauer bemerkt ergänzend, dass der Bundeskanzler sich auf die Fortsetzung seiner Telefonkontakte7 und eine persönliche Begegnung mit dem Präsidenten freue. Er hoffe, dass die politische Gesamtlage einen für beide Länder fruchtbaren Gedankenaustausch ermöglichen werde. Man könne sich von konstruktiven Gesprächen eine Vertiefung der Beziehungen erhoffen. Der Bundeskanzler sei auch daran interessiert, die Probleme auszuräumen, die noch zwischen beiden Ländern bestünden. Er, StM Schmidbauer, habe den Eindruck, dass man hierbei auf dem besten Wege sei. Dem Präsidenten wolle er für dessen persönliches Engagement zugunsten einer baldigen Freilassung der deutschen Geiseln8 danken. Zugleich wolle er die Bemühungen des Generalsekretärs der Vereinten Nationen9 und dessen Sonderbeauftragten Picco würdigen. Wie er bei den bisherigen Gesprächen gehört habe, rechne man auf iranischer Seite mit einem baldigen Erfolg der laufenden Vermittlungsbemühungen von Außenminister Velayati und weiterer Regierungsmitglieder. Auch hierfür wolle er ausdrücklich danken. Er gehe davon aus, dass der Bundeskanzler nach einem erfolgreichen Abschluss dieses Problems selbst mit dem Präsidenten telefonieren wolle.10 Im Namen des Bundeskanzlers bedauere er die jüngsten Angriffe gegen die iranischen diplomatischen bzw. konsularischen Missionen in Deutschland und die Bedrohung der Bediensteten.11 Die Bundesregierung wolle dafür sorgen, dass die Täter zur Rechenschaft gezogen würden und dass solche Vorfälle sich nicht wiederholten. Die auf beiden Seiten noch bestehenden Probleme im Sicherheitsbereich habe er in seinen Gesprächen mit dem iranischen Informationsminister mit dem Ziel angesprochen, sie bald zu überwinden und zu der erforderlichen Zusammenarbeit zu gelangen.12 In jüngster Zeit 7 LS Dequin, Teheran, berichtete am 7. März 1992: „Hiesige Presse berichtete heute (6.3.) über das Telefongespräch zwischen Staatspräsident Rafsandschani und Bundeskanzler Kohl vom Vortag. Man kann vermuten, dass Rafsandschani um dieses Gespräch bat, da das Umgekehrte mit Genugtuung berichtet worden wäre. Themen waren die jüngsten Ereignisse in der Golfregion, die Sicherheit der Region und die innere Lage Iraks.“ Vgl. DB Nr. 217; B 36, ZA-Bd. 166834. Am 1. April 1992 übermittelte VLR I Dassel VLR I Ueberschaer, Bundeskanzleramt, einen Gesprächsführungsvorschlag für das „Telefongespräch Bundeskanzler Kohl mit Staatspräsident Rafsandschani am Freitag, 3. April 1992“. Vgl. B 36, ZA-Bd. 166834. 8 Zum Entführungsfall Strübig und Kemptner vgl. Dok. 148, Anm. 10, und Dok. 167. 9 Boutros Boutros-Ghali. 10 Am 2. Juli 1992 führten BK Kohl und der iranische Präsident Rafsandschani ein Telefongespräch, in dessen Zentrum die bilateralen Beziehungen und die Entwicklung in Bosnien-Herzegowina standen. Vgl. BArch, B 136, Bd. 59736. 11 Zu den Übergriffen auf iranische Auslandsvertretungen durch Angehörige der „Volksmudschahedin“ vgl. Dok. 103. 12 StM Schmidbauer, Bundeskanzleramt, erörterte am 31. Mai 1992 mit dem iranischen Sicherheitsminister Fallahian in Teheran Probleme, die im bilateralen Verhältnis aus der Tätigkeit von Nachrichtendiensten oder Oppositionsgruppen resultieren, und sondierte Möglichkeiten einer verbesserten Kooperation. Für den Gesprächsvermerk vgl. BArch, B 136, Bd. 59730.

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habe er diese Frage bereits intensiv mit dem iranischen Botschafter in Bonn, Mussawian, erörtert, er beabsichtige dies auch weiterhin zu tun. Präsident Rafsandschani äußert, dass Deutschland traditionell der engste Partner des Iran im Westen sei; Beziehungen wie die mit Deutschland unterhalte der Iran mit keinem anderen westlichen Land. Er sei sehr optimistisch, dass die Lage in Deutschland selbst wie auch die Stellung Deutschlands in Europa sich binnen kurzer Zeit festigen werde. Er sei ganz zuversichtlich, dass Deutschland in Europa und in der Welt eine wichtige und kraftvolle Rolle spielen werde; dies gelte insbesondere im Hinblick auf die Stabilisierung der GUS-Region und des Balkans. Sicher verstehe StM Schmidbauer auch die Lage des Iran. Dieser habe ein vorrangiges Interesse, seine Beziehungen zu anderen Teilen der Welt zu vertiefen – nicht zuletzt um in der Lage zu sein, zur Stabilisierung sowohl des Nahen und Mittleren Ostens als auch der kaukasischen Republiken der GUS beizutragen, mit denen ihn viele religiöse und kulturelle Gemeinsamkeiten verbänden. Eine verstärkte freundschaftliche Zusammenarbeit des Iran mit Deutschland komme auch der eigenen Region zugute, ja sei für diese von erheblicher Bedeutung. Irans Wunsch nach Vertiefung seiner Beziehungen zu Deutschland beruhe daher auf einer „kalkulierten Wahl“. Die iranische Regierung habe mit Botschafter Mussawian einen ihrer besten und aktivsten Diplomaten wegen seiner besonderen beruflichen Qualitäten nach Deutschland entsandt. Die Rückschritte, die sich in jüngster Zeit aufgrund der bekannten Misshelligkeiten ergeben hätten, passten nicht in das Bild der Beziehungen zu Deutschland, welche der Iran anstrebe. Einige der noch bestehenden Probleme habe der Bundeskanzler in seinem Brief angesprochen, andere nicht: – Wie solle z. B. das Problem des KKW Bushehr13 gelöst werden? Eine Fehlinvestition von 4 Mrd. Dollar sei für den Iran nicht akzeptabel. Der Iran habe jährlich erhebliche Aufwendungen allein zur Instandhaltung der bereits errichteten Anlagen aufzubringen. Deutschland sei bisher nicht zu einer Kompromisslösung bereit, obwohl der Iran alle Voraussetzungen hierfür erbracht habe, ein Kooperationsabkommen mit der IAEA unterzeichnet habe und bereit sei, Bushehr der Obhut der Internationalen Atomenergiebehörde zu unterstellen.14 Für die iranische Regierung sei es unlogisch, dass ein so starker und bedeutender Staat wie Deutschland eingegangene internationale Verpflichtungen nicht einhalte. 13 Zur deutsch-iranischen Zusammenarbeit beim Bau des Kernkraftwerks Bushehr und der chemischen Fabrik Ghazvin vgl. zuletzt AAPD 1991, II, Dok. 422. 14 VLR Preisinger notierte am 14. April 1992, IAEO-GD Blix habe BM Genscher am 28. November 1991 versichert, „die IAEO verfüge über keinerlei Hinweise, dass Iran seine Verpflichtungen aus den Nichtverbreitungsvertrag oder seinem umfassenden Sicherungsabkommen verletzt habe. Vom 7. – 12.2.1992 bereiste eine IAEO-Delegation den Iran und besichtigte auch mehrere Nuklearanlagen, die noch nicht der Meldebzw. Inspektionspflicht unterliegen. (Zustand vor Beschickung mit Nuklearmaterial). Der nun vorliegende Besuchsbericht führt aus, dass in den besichtigten Anlagen zum Zeitpunkt der Inspektion nuklearwaffenbezogene Aktivitäten nicht festgestellt werden und insoweit einschlägige Pressemeldungen nicht bestätigt werden konnten. Gleichwohl legen die vorsichtigen Formulierungen dieses IAEO-Berichts Zweifel nahe, ob Art und Umfang einiger Forschungsaktivitäten für friedliche Energie- und Ausbildungsbedürfnisse notwendig oder sinnvoll sind. (Neuere BND-Meldungen verstärken diese Zweifel.)“ Vgl. B 72, ZA-Bd. 164340.

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– Ein etwas weniger vorrangiges Problem sei das des Baus der Pestizidfabrik Ghazvin, auf deren Errichtung die iranischen Agrarorganisationen jedoch dringend warteten. – Bei dem zugesagten Bau von U-Booten15 sei Deutschland nicht bereit, gewisse militärische Ausrüstungen zu liefern. Dies könne der Iran vielleicht grundsätzlich akzeptieren. Insgesamt bestehe die iranische Regierung nicht auf einer vollständigen Einhaltung aller von Deutschland eingegangener Verpflichtungen: Erforderlich sei aber eine einvernehmliche grundsätzliche Lösung in freundschaftlichem Geiste. Der Iran beabsichtige keine militärische Verwendung der betreffenden Anlagen, wie dies vielfach von der Propaganda behauptet werde. Er verfolge hiermit ausschließlich wirtschaftliche Interessen. Über die sonstigen noch offenen Fragen zwischen Iran und Deutschland – vor allem im Sicherheitsbereich – könne StM Schmidbauer am besten mit dem Informationsminister sprechen. Iran wünsche für die Zukunft in den bilateralen Beziehungen keine Unklarheiten. Er – Rafsandschani – bitte, den Bundeskanzler zu grüßen und ihm zu sagen, dass die iranische Regierung selbst offen sei und Offenheit von ihren Partnern erwarte. Er, Rafsandschani, hoffe, dass die deutschen Schwierigkeiten im Libanon – d. h. die Geiselfrage – gelöst werden könnten. Die iranische Regierung setze die Entführer ständig unter Druck, aber die militärischen Entwicklungen im Libanon hätten bisher eine Lösung verzögert. Er bitte die deutsche Seite, auch auf den VN-GS einzuwirken, dass dieser sein Engagement zugunsten unserer Geiseln fortsetzen solle. StM Schmidbauer bemerkt, dass es wichtig sei, auch über diejenigen Themen Gespräche zu führen, über die bisher „Sprachlosigkeit“ geherrscht habe. Es sei auch zweckmäßig, kontroverse Punkte in die Gespräche des Präsidenten mit dem Bundeskanzler einzubeziehen, womit Präsident Rafsandschani ja begonnen habe. Deutschland wolle keine ungelösten Probleme mit dem Iran. Vielleicht könne man manches, was gegenwärtig noch unmöglich erscheine, unter Einschaltung der IAEA auf längere Sicht lösen. Vieles sei lösbar, „wenn der Nebel sich erst verzogen haben werde“.16 Der iranischen Regierung sei es zu wünschen, dass sie zur Lösung der Probleme in der Region und in den Kaukasusrepubliken beitragen könne. Deutschland habe eine ähnliche Aufgabe im Hinblick auf MOE und GUS zu erfüllen. Das in sehr freundschaftlicher Atmosphäre geführte Gespräch endete nach ca. einer halben Stunde. B 36, ZA-Bd. 170179

15 Zu iranischen Entschädigungsforderungen wegen der Sistierung eines Vertrags von 1978 über den Verkauf von U-Booten vgl. AAPD 1991, I, Dok. 114. 16 VLR I Ackermann notierte am 15. Juli 1992, er habe auf Bitten von MD Dieckmann VLR I Ueberschaer, Bundeskanzleramt, „telefonisch noch einmal auf die fortbestehenden Bedenken gegen deutsche Zulieferungen zu dem iranischen Ghazvin-Projekt hingewiesen“. Unter Bezugnahme auf die „jüngsten Äußerungen von Staatsminister Schmidbauer gegenüber iranischen Stellen, wonach über diese Lieferung noch einmal gesprochen werden könne (‚wenn der Dampf sich gelegt habe‘)“, habe er klargestellt, „dass dies nicht der Haltung der Bundesregierung entspricht“. Ueberschaer habe zugestimmt und betont, „er werde das ihm Mögliche tun, damit sich Äußerungen wie die zitierten von Herrn Schmidbauer nicht wiederholen“. Vgl. B 70, ZA-Bd. 221019.

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3. Juni 1992: Vorlage von Neubert

164 Vorlage des Vortragenden Legationsrats I. Klasse Neubert für Bundesminister Kinkel 213-321.39

3. Juni 19921

Über Dg 212, D 23, Herrn Staatssekretär4 Herrn Bundesminister5 Betr.:

Deutsche in der ehemaligen UdSSR; hier: Stand der Beziehungen und bilateralen Maßnahmen

Bezug: Ihr mögliches Zusammentreffen mit PStS Waffenschmidt Zweck der Vorlage: Zur Unterrichtung 1) Anzahl der Deutschen Nach der Volkszählung von 1989 2,1 Mio. in der gesamten ehemaligen UdSSR. Vermutlich jedoch weit mehr nach Deutschland Einreiseberechtigte: Wegen bis heute fortgesetzter Diskriminierung haben viele Deutsche sich als Russen ausgegeben und dieses als Nationalität in ihren Pass eintragen lassen. Darüber hinaus sind inzwischen fast 50 % mit NichtDeutschen verheiratet. Maximale Schätzungen gehen daher von bis zu 6 Mio. Einreiseberechtigten aus. Jährlich kommen seit 1990 ca. 150 000 Aussiedler. Dieser Trend setzt sich 1992 fort. Ca. 550 000 Aussiedleranträge liegen dem BVA6 gegenwärtig zur Bearbeitung vor, 150 000 Deutschstämmige verfügen bereits über einen positiven Aufnahmebescheid, ohne jedoch in die Bundesrepublik einzureisen. 2) Stand der bilateralen Beziehungen – Russland – (offiziell) ca. 800 000 Deutschstämmige Am 23.4.92 bilaterales Protokoll zur Zusammenarbeit bei der Wiederherstellung der Staatlichkeit paraphiert (durch PStS Waffenschmidt und Nationalitätenminister Tischkow), Unterzeichnung nach Kabinettsbefassung auf Waffenschmidts nächster RusslandReise Anfang Juli.7 Protokoll verpflichtet russ. Seite, zusätzlich zu den beiden bereits 1991 neu entstandenen Autonomen deutschen Rayons (bei Omsk und im Altai) noch in diesem Jahr in den Wolga-Gebieten Saratow und Wolgograd neue deutsche Autonome Gebiete zu schaffen und einen Stufenplan vorzulegen, nach dem die Wolga-Republik wiederherzustellen ist. 1 2 3 4 5

Die Vorlage wurde von LR I Foth konzipiert. Hat in Vertretung des MDg von Studnitz VLR I Lambach am 3. Juni 1992 vorgelegen. Hat in Vertretung des MD Chrobog MDg Hofstetter am 4. Juni 1992 vorgelegen. Hat StS Kastrup am 5. Juni 1992 vorgelegen. Hat BM Kinkel am 7. Juni 1992 vorgelegen. Hat OAR Rehlen am 12. Juni 1992 vorgelegen, der den Rücklauf an Referat 213 verfügte. Hat VLR I Neubert am 11. Juni 1992 erneut vorgelegen. 6 Bundesverwaltungsamt. 7 Zum deutsch-russischen Protokoll über die stufenweise Wiederherstellung der Wolga-Republik, das am 10. Juli 1992 in Moskau unterzeichnet wurde, vgl. Dok. 117.

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3. Juni 1992: Vorlage von Neubert





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Diese Hauptforderung aller Deutschen der ehemaligen Sowjetunion wird auf absehbare Zeit jedoch nicht zu verwirklichen sein, da der Widerstand der russischen Bevölkerung an der Wolga gegen eine echte „Autonome deutsche Republik“ groß ist und auch der Zuzug Deutscher weder so rasch noch so massiv sein wird, wie von den Republikbefürwortern erhofft. BMI stehen im laufenden Haushaltsjahr DM 100 Mio. für das Wolga-Gebiet zur Verfügung (bislang noch mit Sperrvermerk des HH-Ausschusses). Waffenschmidt ist optimistisch, dass die Deutschen nun an die Wolga zurücksiedeln. AA befürchtet – nicht zuletzt gestützt auf abfällige Bemerkungen Jelzins über die Deutschen Anfang Januar in Saratow8, dass die meisten Deutschen eine Ausreise in die Bundesrepublik einer unsicheren Zukunft in einer ihnen nicht wohlgesonnenen Wolga-Region vorziehen werden. Kasachstan – ca. 900 000 Deutschstämmige Kasachstan hat Deutschen gegenüber bislang kaum Zugeständnisse gemacht. Erhebung des Kasachischen zur Staatssprache und faktische Diskriminierung der Europäer trifft die Deutschen besonders und hält den Ausreisedruck aufrecht. Erster Kongress der Kasachstan-Deutschen für Ende Juni geplant. Präs. Nasarbajew will daran teilnehmen.9 Ukraine – ca. 30 000 Deutschstämmige Am 15.5. verabschiedete Oberster Rat Gesetz zur Wiederaufnahme der von Stalin deportierten Minderheiten. Ukraine bietet Deutschen vor allem im Schwarzmeer-Gebiet begrenzte, aber seriöse Wiederansiedlungsmöglichkeiten – nicht zuletzt aus Arbeitskräftemangel. Erste Schritte zur Rücksiedlung sind erfolgt, D hilft mit provisorischen Unterkünften sowie mit wirtschaftlichen und kulturellen Projekten. Kirgistan – ca. 100 000 Deutschstämmige Im Februar hat Präs. Akajew zwei deutsche Kulturkreise dekretiert10, später evtl. auch Gewährung territorialer Autonomie. Deutsche Projekte laufen an. Usbekistan, Tadschikistan, Turkmenistan – ca. 50 000 Deutschstämmige Bislang keinerlei Zugeständnisse an Deutsche. Wegen starker Spannungen unter den Nationalitäten kaum Hoffnung, sie im Lande zu behalten. Keine Projekte. In Zukunft evtl. Umsiedlung in Ukraine etc.

3) Arbeitsteilung und Zusammenarbeit mit BMI BMI führt sog. „gemeinschaftsfördernde“ und wirtschaftliche Projekte durch im Umfang von 1991 DM 26,9 Mio. (1992 DM 32 Mio.), zusätzlich überplanmäßige Mittel 1990 DM 34,6 Mio. und 1992 DM 51 Mio., das AA kulturelle Projekte im Umfang von 1991 DM 2 Mio. (1992 DM 3 Mio.). Weitere DM 100 Mio. werden dem BMI 1992 nur für die Wiederherstellung der Wolga-Republik zur Verfügung stehen, wenn der Haushaltsausschuss des Deutschen Bundestages seine am 15.1.92 nach den Saratower Äußerungen von Jelzin verhängte Sperre aufhebt. Waffenschmidt entfaltet als Aussiedlerbeauftragter der BReg in der Aussiedlerpolitik eine außerordentliche, im Grundsatz positiv zu bewertende Dynamik, der auch das eigene Haus nicht immer gewachsen ist, zumal es dort an Know-how über die ehemalige Sowjetunion fehlt. Waffenschmidts Optimismus, die Aussiedlerzahl substanziell senken zu können 8 Zu den Äußerungen des russischen Präsidenten Jelzin vgl. Dok. 20, Anm. 6. 9 Zur Situation der deutschen Minderheit in Kasachstan und Kirgisistan vgl. Dok. 284. 10 Zum Erlass des kirgisischen Präsidenten Akajew vom 29. Januar 1992 vgl. Dok. 101, Anm. 3.

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4. Juni 1992: Vorlage von Elbe

– u. a. durch die Wiederherstellung der Wolga-Republik –, wird hier nicht geteilt. Nach unserem Eindruck strebt die Mehrheit der Deutschstämmigen – inzwischen nur noch gebremst durch die administrativen Hindernisse des Aussiedleraufnahmegesetzes11 – in die Bundesrepublik. AA ist an gemeinsamer Projektarbeit zugunsten der Deutschen und ihres Umfeldes interessiert, aber über die Aktivitäten des BMI i. d. R. nur unvollständig informiert und an dessen Vorhaben nicht beteiligt. Der Verein für das Deutschtum im Ausland, der die finanziell umfangreichen Projekte des BMI abwickelt, ist wegen möglicher Unregelmäßigkeiten Gegenstand einer Überprüfung durch den BRH, die Maßnahmen nach sich ziehen könnte (Ausschluss von der Zuweisung von Bundesmitteln).12 Unser Ziel sollte es daher sein, die außenpolitische Kontrolle wiederzugewinnen, zumindest größere Projekte des BMI hier mitzuzeichnen und vor allem auf eine fachlich solide Basis zu stellen. Neubert B 41, ZA-Bd. 158741

165 Vorlage des Ministerialdirektors Elbe für Bundesminister Kinkel VS-NfD

4. Juni 19921

Über Herrn Staatssekretär2 Herrn Bundesminister Betr.:

Die Entscheidung für das Eurokorps als Indiz des anhaltenden Spannungsverhältnisses europäischer und transatlantischer Prioritäten in der deutschen Außenpolitik; hier: Initiative für einen Transatlantischen Vertrag mit den USA zur Absicherung unserer atlantischen Prioritäten

Zweck der Vorlage: – Zur Information – Ziffer 8: Unterbreitung eines Vorschlags für die Ausarbeitung eines formellen Transatlantischen Vertrages der EG für Freundschaft und Zusammenarbeit mit den USA und Kanada 1) Durch die Entscheidung zur Aufstellung des Eurokorps auf dem Gipfel von La Rochelle3 ist zwar die deutsch-französische Leitfunktion für die europäische Einheit und Sicherheit 11 Für das Gesetz vom 28. Juni 1990 zur Regelung des Aufnahmeverfahrens für Aussiedler (Aussiedleraufnahmegesetz, AAG) vgl. BGBl. 1990, I, S. 1247 f. 12 Zur Überprüfung der Mittelzuweisung durch den Bundesrechnungshof vgl. Dok. 117, Anm. 9. 1 Durchschlag als Konzept. Die Vorlage wurde von VLR I Hauswedell konzipiert. 2 Dieter Kastrup. 3 Zu den deutsch-französischen Konsultationen am 21./22. Mai 1992 vgl. Dok. 142 und Dok. 144.

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4. Juni 1992: Vorlage von Elbe

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erneut bestätigt worden. Aber diese Entscheidung hat eine Auseinandersetzung ausgelöst, die andere, vielleicht noch wichtigere Prioritäten unserer Außenpolitik gefährdet: die Allianz, das Verhältnis zu den USA und zu anderen westeuropäischen Partnern. Einige Verbündete (insbes. USA, GB und NL) sehen in der Aufstellung des Eurokorps eine Beeinträchtigung der transatlantischen Sicherheitsbeziehungen in der Allianz. Auch in der europäischen Verteidigungspolitik könnte die Eurokorps-Entscheidung möglicherweise einen Riss provozieren: Mit GB und NL fühlen sich wichtige Partner desavouiert. Diese Partner interpretieren unseren Beschluss für das Korps vorrangig als eine profranzösische, langfristig gegen die USA und die Allianz gerichtete Grundsatzentscheidung, die für sie Zweifel an unserer Verlässlichkeit (und offenbar auch an unserer Urteilskraft) aufkommen lässt. Die Kernsätze eines Leitartikels des Londoner Independent vom 23.5 sollten uns zu denken geben: „For the French and the Germans to set off on their own like Pied Pipers, hoping others will follow, and without even full agreement on their destination, is irresponsible. It divides and weakens Europe, worries the Americans and contributes nothing to usable military capacity.“4 Die zusätzliche Auswirkung unserer Entscheidung auf die MOE-Staaten erscheint auf den ersten Blick unbedeutend, sollte von uns jedoch auch bedacht werden. Dort stehen die NATO und die USA in hohem Ansehen. Sollte sich das Korps langfristig negativ auf die Sicherheitsbeziehungen Europa – USA auswirken, dann dürfte dort Verständnislosigkeit für die Korps-Entscheidung einsetzen. Denn die Sicherheitsvorstellungen dieser Staaten gehen unverändert von amerikanischer Präsenz in Europa aus. Diese Staaten begreifen die Verbindung zu den USA als eine große Chance ihrer Geschichte, die nicht riskiert werden sollte. 2) Auf einer rationalen Ebene können wir die Richtigkeit unserer Entscheidung erklären. Die „legitime“ Rolle des Eurokorps in der Entwicklung einer europäischen Sicherheitsund Verteidigungsidentität ist eigentlich sowohl durch die beiden deutsch-amerikanischen Erklärungen vom 10. Mai und 2. Oktober 19915 als auch durch die wichtigsten NATOKommuniqués abgesichert (Erklärung von Rom über Frieden und Zusammenarbeit, 7./8. Nov. 19916; Kommuniqué der Ministertagung vom 19./20. Dezember 91 in Brüssel7). Dort haben wir – mit Zustimmung der USA – versichert, dass wir die NATO stärken und nicht schwächen wollen. Wir stehen jedoch jetzt vor dem Phänomen, dass wir die USA auf dieser rationalen Ebene nicht mehr erreichen, da die Dissonanzen im französisch-amerikanischen Verhältnis 4 Vgl. den Artikel „The Pied Pipers of Europe“; THE INDEPENDENT vom 23. Mai 1992, S. 18. 5 Für die gemeinsamen Erklärungen des BM Genscher und des amerikanischen AM Baker vom 10. Mai bzw. 2. Oktober 1991 vgl. DEPARTMENT OF STATE DISPATCH 1991, S. 345–347 bzw. S. 736 f. Für den deutschen Wortlaut der Erklärung vom 2. Oktober 1991 vgl. BULLETIN 1991, S. 863 f. Vgl. auch AAPD 1991, I, Dok. 159. 6 Für die „Erklärung von Rom über Frieden und Zusammenarbeit“ der NATO-Gipfelkonferenz vgl. NATO FINAL COMMUNIQUÉS 1991–1995, S. 33–39. Für den deutschen Wortlaut vgl. BULLETIN 1991, S. 1033–1037. Zur Gipfelkonferenz vgl. AAPD 1991, II, Dok. 375 und Dok. 376. 7 Für das Kommuniqué der NATO-Ministerratstagung vgl. NATO FINAL COMMUNIQUÉS 1991–1995, S. 48– 53. Für den deutschen Wortlaut vgl. BULLETIN 1992, S. 5–8. Zur Ministerratstagung vgl. AAPD 1991, II, Dok. 437.

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4. Juni 1992: Vorlage von Elbe

zugenommen haben.8 Die französischen Pläne für eine die USA vom Kontinent ausschließende Europäische Konföderation9, die unwürdigen Begleitumstände beim Austausch der Transatlantischen Erklärung vom November 199010, die französische Blockade des GATTKompromisses, die Mitterrand-Äußerungen über den Niedergang der USA im Zusammenhang mit den Unruhen in Los Angeles11 – alle diese Vorfälle haben das amerikanische Misstrauen in französische Absichten geschürt. Dies hat auch irrationale Reaktionen in den USA ausgelöst, die sich jetzt am Eurokorps entzünden. 3) Die Tatsache, dass nicht Frankreich, sondern wir der Hauptadressat der Kritik wegen des Eurokorps geworden sind, ist bemerkenswert, aber folgerichtig: Angesichts der antiamerikanischen Obsessionen der französischen Politik kam die Pariser Haltung für Washington nicht überraschend. Was dort mehr beunruhigt, ist unsere Bereitschaft, trotz der Warnungen der transatlantischen Partner vor französischen Hintergedanken an der Eurokorps-Planung festzuhalten. So wie es unsere Kritiker sehen, geht es F darum, die USA militärisch und politisch aus Europa herauszudrängen und seinen eigenen politischen und militärischen Führungsanspruch im Westeuropa der EG zu festigen. Man kann sich in Washington nicht vorstellen, dass wir so naiv sind, derartige nicht nur gegen die USA, sondern auch gegen uns (Einhegung Deutschlands) gerichteten Pariser Hintergedanken nicht zu sehen. Man geht also davon aus, dass sie uns bewusst sind und dass wir uns bemühen, sie zu konterkarieren. Aber man traut uns nicht zu, die transatlantischen Gesichtspunkte beim Korps-Aufbau trotz unserer eindeutigen diesbezüglichen Aussagen korrigierend zur Geltung zu bringen. Denn in der ausländischen Perzeption der Machtbalance des deutsch-französischen Verhältnisses behauptet eindeutig Frankreich die politische Führung und besitzt den größten Durchsetzungswillen. Hier ist bei uns auch durchaus Selbstkritik angebracht: Unsere Neigung, von vornherein französische Haltungen ins Kalkül zu nehmen und die Entwicklung eigener Positionen mit Rücksicht auf die französische Haltung zu unterlassen, ist stark ausgeprägt. Das deutsch-französische Verhältnis ist auf deutscher Seite immer durch eine doppelte Antizipation bestimmt: dass die Franzosen eine bestimmte Politik nicht mitmachen könnten und dass wir bei Durchsetzen dieser Politik die deutsch-französische Freundschaft gefährden würden. Eine derartige Rücksichtnahme uns gegenüber ist bei F nicht feststellbar. 4) Obwohl wir nicht müde werden, die NATO-Verträglichkeit, ja Kongruenz des Eurokorps zu der NATO zu betonen, ist unsere Argumentation für die Partner nicht überzeugend. Unser Hauptargument, dass wir Frankreich dadurch in größere Nähe zur NATO 8 Zu den amerikanisch-französischen Beziehungen vgl. auch Dok. 182. 9 Zu den französischen Überlegungen für eine Europäische Konföderation vgl. AAPD 1991, I, Dok. 82. 10 Für die Erklärung vom 23. November 1990 zu den Beziehungen zwischen der EG und den USA vgl. BULLETIN 1990, S. 1476 f. Vgl. ferner AAPD 1990, II, Dok. 401. 11 Zu den Unruhen vom 30. April bis 5. Mai 1992 vgl. Dok. 152, Anm. 19. In der Presse wurde berichtet, der französische Staatspräsident Mitterrand habe in einem Interview mit dem französischen Sender „Europe 1“ im Zusammenhang mit den Ausschreitungen in den USA davon gesprochen, dort lebe ein Teil der Bevölkerung „dans un environnement urbain qui se dégrade fortement, un tiers-monde serti dans l’opulence“. Vgl. den Artikel „Une société à deux vitesses“; LE MONDE vom 3./4. Mai 1992, S. 1.

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bringen, streitet selbst unser Eurokorps-Partner Frankreich offen ab. Je öfter wir es wiederholen, desto unglaubwürdiger wird es. Es ist in diesem Zusammenhang auch völlig unverständlich, warum wir in letzter Minute in La Rochelle bei der gemeinsamen Presseerklärung12 auf einen für unsere Absicht wichtigen, bis zum 20. Mai in den Entwürfen enthaltenen Satz zur NATO-Kongruität des Eurokorps zugunsten einer schwächeren Formulierung verzichtet haben: „Nationale Beiträge zu diesem Verband werden ihren bestehenden Verpflichtungen gegenüber anderen Organisationen nicht entzogen, sie erhalten eine zusätzliche Aufgabe in europäischer Perspektive und tragen zur Stärkung des Atlantischen Bündnisses bei.“ Angesichts der tendenziell anti-amerikanischen Ausrichtung der französischen Außenund Sicherheitspolitik stehen die französischen Absichten mit dem Eurokorps doch sichtlich in einem Konkurrenz- und Rivalitätsverhältnis zur Allianz. Es geht für F um einen Verdrängungswettbewerb, nicht um einen ergänzenden Beitrag zur Verstärkung der NATO. Und deshalb sind in diesem Zusammenhang für die USA berechtigterweise nicht die öffentlichen Erklärungen über das Eurokorps, sondern die klar erkennbaren französischen Absichten und Hintergedanken entscheidend. Die USA gelangen angesichts der Entscheidung für das Eurokorps zu der folgenschweren Fehlperzeption, dass wir uns den französischen Absichten anschließen und zu einer Prioritätensetzung der europäischen über die atlantische Verteidigungskomponente gelangt sind. Daraus könnten sie die Schlussfolgerung ziehen, nicht mehr benötigt zu werden. Es könnte eine Entwicklung eingeleitet werden, die unserem erklärten Ziel – der Aufrechterhaltung der Sicherheitspartnerschaft zwischen Europa und USA – zuwiderläuft. Im State Department (Zoellick) besteht auch die berechtigte Sorge, dass die dort mit der negativen Symbolik des Eurokorps zusammenhängenden Stimmungen einem Neo-Isolationismus Vorschub leisten könnten, den man gerade verhindern will. 5) In einem größeren Zusammenhang ist die Eurokorps-Entscheidung ein Indiz für eine mangelnde Harmonisierung unserer außenpolitischen Prioritäten zwischen F und den USA. Der Grundsatzstreit der 60er Jahre zwischen den auf Frankreich fixierten „Europäern“ und den von der Unersetzlichkeit der USA für die europäische Verteidigung überzeugten „Atlantikern“ schwelt unentschieden weiter. Nach Maastricht13 hat es für Außenstehende jedoch eher den Eindruck, als setzten wir nun primär auf die europäische Karte. Denn die wirkliche Bedeutung des Korps als Kern einer europäischen Armee für eine (in der Zukunft möglicherweise von den USA unabhängigere) europäische Verteidigung wird nicht einmal von uns selbst bestritten. Sie liegt auch in der Konsequenz der Europäischen Union, die mitzutragen wir verpflichtet sind. Aber unsere andere Priorität, die atlantische Sicherheit, wird durch diesen Eindruck gefährdet. Es wird immer schwieriger zu vermitteln, dass wir uns beiden Prioritäten mit gleicher Aufmerksamkeit widmen können. Insbesondere wegen der eher zunehmenden französisch-amerikanischen Spannungen wird die Harmonisierung unserer Prioritäten zunehmend erschwert. Schon in der Vergangenheit hat uns der Spagat zwischen den USA und Frankreich gelegentlich überfordert. Jetzt dürfte uns unsere selbstgewählte Vermittler12 Für die Presseerklärung vom 22. Mai 1992 zum Eurokorps vgl. LA POLITIQUE ÉTRANGÈRE 1992 (Mai/Juni), S. 75. Für den deutschen Wortlaut vgl. EUROPA-ARCHIV 1992, D 454 f. 13 Zum Vertragswerk von Maastricht vgl. Dok. 3, Anm. 8.

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position zwischen F und USA zunehmend Glaubwürdigkeitsverluste nach beiden Seiten eintragen, da wir deren Differenzen nicht mehr überbrücken können. 6) In der Vergangenheit haben wir uns im gespannten Dreiecksverhältnis D – F – USA oft genötigt gesehen, den Eindruck zu großer Parteinahme für den einen Partner durch ausgleichende Zusammenarbeit mit dem anderen Partner zu kompensieren. Wenn durch unsere extensive Betonung der „Schicksalsgemeinschaft“ mit Paris der Eindruck zu großer Frankreich-Lastigkeit entstanden war, haben wir dies durch betont atlantische Zusammenarbeit mit den USA ausgeglichen. Die deutsch-amerikanischen Initiativen für den LiaisonProzess der NATO14 und den Nordatlantischen Kooperationsrat waren spektakuläre15 Beispiele einer atlantischen Kooperation, die wir trotz der bekannten Einwände Frankreichs durchgesetzt haben. Das gleiche gilt für die Transatlantische Erklärung. Dadurch haben wir unsere atlantischen „credentials“ wiederhergestellt. Nachdem die Entscheidung zum Eurokorps bei den atlantischen Partnern den Eindruck unserer Entscheidung für die europäische Priorität zulasten der Allianz hinterlassen hat, ergibt sich nicht nur die dringende Notwendigkeit zur „damage control“ im Hinblick auf das Eurokorps, sondern auch der langfristig wichtigere kompensatorische Bedarf für eine politische Aktion zur Bekräftigung unserer atlantischen Bindungen. 7) Die transatlantische Partnerschaft zwischen den USA und den meisten EG-Partnern leidet an einer gewissen Unausgeglichenheit: Sie ist am intensivsten auf dem sicherheitspolitischen Gebiet und verfügt hier durch die NATO auch über die beste institutionelle Klammer. Die gemeinsamen politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Interessen der Partner sind jedoch den sicherheitspolitischen Interessen ebenbürtig, wenn nicht in ihrer Gesamtheit noch bedeutender. Allerdings hinkt auf diesen Gebieten die Zusammenarbeit nach. Ein Grund ist, dass dafür keine gemeinsamen Institutionen vorhanden sind. Die eigentliche Breite und Tiefe der transatlantischen Partnerschaft bleibt durch diese Gegebenheiten hinter der Wirklichkeit zurück. Stattdessen werden die Beziehungen durch unterschwellige Spannungen im Sicherheits- und die Rivalitäten im Agrarhandelssektor dominiert. Es wäre deshalb an der Zeit, das Thema transatlantische Beziehungen zwischen der EG und den USA positiv zu besetzen und seine beeindruckende Bandbreite zu bekräftigen. Es hat in der Vergangenheit mehrere Anläufe für die Einrichtung eines permanenten, strukturierten und institutionalisierten politischen Dialogs zwischen der EG und den USA gegeben. Aber erst die (maßgeblich durch unsere Initiative zustande gekommene) Transatlantische Erklärung vom November 1990 schuf einen verbreiterten institutionellen Rahmen für Konsultationen. In der Öffentlichkeit ist die Transatlantische Erklärung jedoch eher durch ihre unwürdige Behandlung aufgefallen. Es stellt sich daher die Frage, ob die herkömmlichen Konsultationsmechanismen ausreichen, um die politische Koordinierung der transatlantischen Partner sicherzustellen. Die Kooperationsstrukturen der transatlantischen Partnerschaft sollten nach Maastricht ohnehin an die Fortschritte der europäischen Integration angepasst werden. Es gibt dazu durch eine Evolutivklausel in der Transatlantischen Erklärung von 1990 auch eine Möglichkeit. („Beide Seiten sind entschlossen, diese Konsultationsverfahren entsprechend der 14 Zum Liaison-Konzept der NATO vgl. AAPD 1991, I, Dok. 95. 15 Korrigiert aus: „waren das spektakuläre“.

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Entwicklung der Europäischen Gemeinschaft und ihres Verhältnisses zu den Vereinigten Staaten weiterzuentwickeln und zu vertiefen.“) 8) Es wird deshalb vorgeschlagen, dass wir gegenüber den Partnern in der EG die Initiative für die Ausarbeitung eines formellen Transatlantischen Vertrages für Freundschaft und Zusammenarbeit mit den USA (und Kanada) ergreifen, um die transatlantische Partnerschaft auf eine neue Ebene anzuheben. Auch Botschafter Kimmitt und Robert Zoellick haben mir gegenüber in persönlichen Gesprächen in jüngster Zeit auf einen weiteren Ausbau der transatlantischen Beziehungen in dieser Richtung gedrängt. Ein Transatlantischer Vertrag hätte folgende Vorteile: – Er würde nach der Sicherheitspolitik auch die politischen und wirtschaftlichen Beziehungen der transatlantischen Partnerschaft auf eine gleichwertige Ebene anheben und die Breite der Gesamtbeziehungen betonen. Damit könnten Verstimmungen in Einzelbereichen (wie etwa Europäisches Korps) in Zukunft besser aufgefangen und relativiert werden. – Für die USA würde sich der Vorteil ergeben, nach den Verbindungen durch die NATO und die KSZE mit einem dritten vertraglichen Standbein in Europa vertreten zu sein. Die Klammer zwischen Europa und Amerika würde verstärkt werden. Nach der Unteilbarkeit der Sicherheit würden die Partner jetzt auch die Unteilbarkeit der politischen Entwicklung zwischen den beiden transatlantischen Partnern bekräftigen. – Er würde die Europäische Union als gleichberechtigten Partner der USA in der Weltpolitik etablieren und ihre gemeinsame globale Verantwortung festschreiben. Dies wäre auch eine Bekräftigung des amerikanischen Angebots für eine partnerschaftliche Führung („partners in leadership“16); – Er wäre die Bekräftigung einer „Special Relationship“: Vonseiten der Europäer wäre er ein deutliches Zeichen für den Wert der transatlantischen Verbindung; vonseiten der USA würde er die Zustimmung zur europäischen Einheit signalisieren. 9) Es ist vorauszusehen, dass Frankreich, welches schon die seinerzeitigen Bemühungen um die Transatlantische Erklärung fast hätte scheitern lassen, gegen den Vorschlag eines Transatlantischen Vertrages opponieren wird. Es wird sich auf die Entscheidung für die Europäische Union und die gemeinsame Sicherheitspolitik berufen und unsere Loyalität einklagen. Gegenüber derartiger Kritik werden wir festbleiben müssen. Nach der wegen des Eurokorps anhaltenden Vertrauenskrise kommt es für uns entscheidend darauf an, unsere atlantische Flanke glaubhaft abzusichern. Wir sollten dem bewussten französischen Druck, dass wir zwischen der Partnerschaft zu Frankreich und der zu den USA zu wählen hätten, nicht folgen. Für uns geht es um eine Bekräftigung des „sowohl als auch“. Nach der Eurokorps-Entscheidung muss jetzt als Gegengewicht ein atlantisches Zeichen gesetzt werden. Elbe17 B 9, ZA-Bd. 178534

16 Vgl. die Rede des amerikanischen Präsidenten Bush am 31. Mai 1989 in Mainz; PUBLIC PAPERS, BUSH 1989, S. 650–654. 17 Paraphe.

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166 Drahtbericht des Ministerialdirigenten von Kyaw, z. Z. BM-Delegation Fernschreiben Nr. 3 Citissime Betr.:

Aufgabe: 4. Juni 1992, 18.53 Uhr1 Ankunft: 5. Juni 1992, 01.35 Uhr

EG-AM-Treffen in Oslo am 4.6.1992 zum Ergebnis des dänischen Referendums zur Europäischen Union2

1) AM verabschiedeten nach rd. zweistündiger, insgesamt im positiven Geist geführter Diskussion anliegende und mit Telefax vorab bereits an AA und ChBK übermittelte Erklärung3. Alle zwölf AM drücken darin ihre Enttäuschung über das Resultat des Referendums aus, äußern ihren Wunsch nach Schaffung der Europäischen Union durch alle MS und lehnen eine Wiedereröffnung der Verhandlungen über den Maastrichter Text ab. Sie erklären, dass der Ratifikationsprozess in Übereinstimmung mit dem vorgesehenen Zeitplan fortgesetzt werde. Die Tür für eine Teilnahme Dänemarks an der Europäischen Union bleibe offen. 2) Diskussion wurde durch von Gemeinschaftsgeist getragene Intervention des dänischen AM Ellemann-Jensen eröffnet. Er legte dar, dass es angesichts des diffusen Spektrums der dänischen Vertragsgegner schwer sei, konkrete Punkte für eine evtl. Vertragsänderung zu identifizieren. Da er wisse, dass die Vertragspartner keine Neuverhandlungen wünschten, wolle er solche auch gar nicht erst fordern. DK brauche Zeit für eine ruhigere Analyse. Es wisse auch, dass die übrigen MS zur Fortsetzung des Ratifikationsprozesses entschlossen seien. Das Ergebnis des Referendums sei kein Nein Dänemarks zur europäischen Integration. DK wünsche sich sämtliche (!) Optionen offenzuhalten. EG-Präs. Delors appellierte an die Solidarität aller MS. Es gäbe aus gutem Grund keine Regeln für den Ausschluss eines MS („eine Scheidung ist nicht vorgesehen“). In der Geschichte der Gemeinschaft habe es schon manche vorübergehenden Rückschläge gegeben. Der Maastrichter Vertrag sei keineswegs tot, und zwar weder politisch noch rechtlich gesehen. Alle MS blieben vielmehr in der gemeinschaftlichen Prozedur. Der Lissaboner ER solle deswegen auch nach der vorgesehenen TO ablaufen.4 1 Hat VLR Cuntz am 5. Juni 1992 vorgelegen. 2 Zum Ratifizierungsprozess des Vertragswerks von Maastricht in Dänemark vgl. Dok. 112, Anm. 21. Am 13. Mai 1992 stimmten im dänischen Parlament 130 Abgeordnete für, 25 gegen das Vertragswerk von Maastricht, 20 enthielten sich. Das mit diesem Verfehlen der parlamentarischen Fünf-Sechstelmehrheit notwendige Referendum fand am 2. Juni 1992 statt. Bei einer Wahlbeteiligung von 82 % erbrachte die Volksabstimmung mit 49,3 % Ja- zu 50,7 % Nein-Stimmen eine knappe Ablehnung. Die Botschaft in Kopenhagen kam zum Schluss, das Ergebnis sei zu verstehen als „Ausdruck diffuser Befürchtungen einer zunehmenden Fremdbestimmung durch eine anonyme Brüsseler Europabürokratie. Insbesondere bei sozialdemokratischen Wählern dürfte die verteidigungspolitische Komponente abschreckend gewirkt haben. Viele einfache Wähler mögen im Missverstehen der sozialen Aspekte des Unionsvertrages auch um den hohen sozialen Standard in Dänemark gefürchtet haben, wie es auch in der Frage der Einwanderungspolitik unterschwellige Ängste gegeben haben dürfte.“ Vgl. den mit SB Nr. 714 des Botschafters Gründel, Kopenhagen, am 4. September 1992 übermittelten Halbjahresbericht; B 31, ZA-Bd. 178327. 3 Für die Schlussfolgerungen der außerordentlichen EG-Ministerratstagung am 4. Juni 1992 in Oslo vgl. BULLETIN 1992, S. 632. 4 Zur Tagung des Europäischen Rats am 26./27. Juni 1992 vgl. Dok. 201.

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AM Dumas sprach von einem psychologischen Schock, der den Maastricht-Gegnern in den MS einen gewissen Auftrieb gegeben habe. In F werde die Senatsdebatte am Dienstag5 jedoch wieder aufgenommen. Wichtig sei, dass DK keine Neuverhandlungen verlange und dass alle Optionen offengehalten würden. BM Kinkel bezeichnete das Ergebnis des Referendums als einen Rückschlag, nicht jedoch als ein Desaster. Auch in anderen MS gebe es ernstzunehmende Gegenströmungen. D bleibe entschlossen, die EU in der Sache wie im Zeitplan unbeirrt abzuschließen. Neuverhandlungen kämen für uns nicht infrage. Die Tür für DK, das Zeit benötige, müsse offenbleiben. Wir seien bereit, DK auf seinem weiteren Weg zu helfen. Rechtliche Überlegungen sollten jetzt nicht im Vordergrund stehen, wenn wir auch alle wüssten, dass es hier Probleme gebe. Die Beitrittsverhandlungen einschließlich der Frage der Vertiefung der Gemeinschaft müssten weiter vorbereitet und vorangebracht werden. Auch insofern sei ein deutliches Zeichen erforderlich. Die skandinavischen Kandidaten6 würden dabei besonders auf DK schauen. Die übrigen EG-Partner äußerten sich weitgehend ähnlich. Belgischer AM Claes hielt allerdings die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen nur im Falle eines Inkrafttretens des Maastrichter Vertrages für vorstellbar. GB (AM Hurd) zeigte ein besonders großes Maß an Respekt vor dem Willen der dänischen Wähler. Der Grund dafür dürfte auch in einer wachsenden Zahl von Unterhausabgeordneten liegen, die eine Verschiebung der Ratifizierungsdebatte bzw. teilweise sogar Neuverhandlungen wünschen. Angesichts eines gewissen britischen Zögerns war die Übereinstimmung zwischen D und F bei der Ablehnung von Neuverhandlungen besonders demonstrativ. 3) Wertung Das AM-Treffen war insgesamt von der Entschlossenheit sämtlicher Beteiligten gekennzeichnet, den eingetretenen Schaden für den europäischen Einigungsprozess so gering wie möglich zu halten. In den Worten des niederländischen AM van den Broek „liegt der Ball nunmehr im dänischen Feld“. Ob und inwieweit man im weiteren Verlauf des Prozesses DK etwa noch gewisse Sonderregeln wird einräumen müssen, dürfte auch von der Entschlossenheit und Fähigkeit der übrigen MS abhängen, ihre jeweiligen nationalen Ratifizierungen erfolgreich abzuschließen. Der nächste Testfall wird schon am 18. Juni das irische Referendum sein.7 DB wurde vor Abgang von BM gebilligt. [gez.] von Kyaw Folgt Text der Schlussfolgerungen […]8 B 210, ZA-Bd. 162213

5 9. Juni 1992. 6 Schweden stellte am 1. Juli 1991 einen Antrag auf EG-Beitritt. Zum finnischen Antrag auf EG-Beitritt vgl. Dok. 84, besonders Anm. 3. Die norwegische Regierung übermittelte am 25. November 1992 einen Antrag auf EG-Mitgliedschaft. 7 Zum irischen Referendum über das Vertragswerk von Maastricht vgl. Dok. 201, Anm. 3. 8 Vgl. Anm. 3.

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167 Gespräch des Bundesministers Kinkel mit dem iranischen Botschafter Mussawian 010-392/92 VS-vertraulich

9. Juni 19921

Geiselfall Strübig/Kemptner2; hier: Gespräch BM mit iran. Botschafter Mussawian am 9.6.1992, 15.30 Uhr 1) Botschafter Mussawian hatte kurzfristig um ein Gespräch mit dem Bundesminister gebeten, um ihn über Folgendes zu unterrichten: – Die beiden deutschen Geiseln Strübig und Kemptner werden mit großer Sicherheit am Montag, 15.6., in Damaskus übergeben werden. – Der iran. AM Velayati schlägt als Datum für seinen Besuch in Bonn die Tage 30.6./ 1.7.92 vor.3 2) Im Einzelnen verlief das Gespräch wie folgt: Botschafter Mussawian berichtete über die Gespräche des iran. AM Velayati in Syrien und Libanon (1. – 4.6.92). Ziel dieser Reise sei es gewesen, den Geiselfall ein für alle Mal aus der Welt zu schaffen. AM Velayati hätte sich daher entschlossen, selbst nach Beirut zu reisen, obwohl dies nicht ohne persönliches Risiko für ihn gewesen sei. In Beirut sei er mit allen Führern der Gruppierungen, die im Geiselfall Einfluss haben, zusammengetroffen. Er sei mit seinen Gesprächen insgesamt sehr zufrieden gewesen; sie hätten große Fortschritte im Geiselfall gebracht. Allerdings hätte es nach Rückkehr Velayatis nach Teheran immer noch einige geringfügige Unklarheiten gegeben. Diese seien schließlich erst am 8.6. beseitigt worden. Die libanesischen Gruppierungen seien nun endlich zufriedengestellt. Sie seien einverstanden, dass die Geiseln am Sonntag, 14.6., aus der Geiselhaft entlassen und nach Damaskus gebracht werden. Dort könne sie dann ein Vertreter der Bundesregierung am 15.6. übernehmen. Auf Frage des BM, ob dieses Datum verbindlich sei, bestätigte Botschafter Mussawian, dass man mit großer Sicherheit von diesen Zeitvoraussagen ausgehen könne. Allerdings könne man im Libanon nie etwas hundertprozentig voraussagen. Eine Verspätung von ein bis zwei Tagen sei nach bisherigen Erfahrungen im Libanon immer möglich; aber auch eine frühere Freilassung sei nicht auszuschließen. Botschafter Mussawian übermittelte die Bitte seiner Regierung in Teheran, dass Picco am Sonntag, den 14.6., schon am Vormittag in Damaskus sein solle, um die Einzelheiten der Abwicklung vorzubereiten und mit dem dortigen iran. Botschafter4 zu besprechen. Picco müsse damit rechnen, von Damaskus nach Beirut zu reisen, um die Geiseln dort zu übernehmen, denn sie würden am 14.6. im Libanon freigelassen und dann sofort nach Damaskus gebracht. Botschafter Mussawian bat, dass die Bundesregierung Picco in New 1 Der Gesprächsvermerk wurde von VLR I von Hoessle am 10. Juni 1992 gefertigt und an BM Kinkel „mit der Bitte um Genehmigung“ geleitet. 2 Zum Entführungsfall Strübig und Kemptner vgl. Dok. 148, Anm. 10. 3 Der iranische AM Velayati hielt sich vom 14. bis 16. Juli 1992 in der Bundesrepublik auf. Vgl. Dok. 227. 4 Mohammed Hassan Akhtari.

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York hiervon unterrichte.5 Der deutsche Vertreter, der die Geiseln entgegennehmen wird, solle am Sonntagabend oder Montagfrüh in Damaskus eintreffen. Der Bundesminister dankte dem iran. Botschafter für die Unterrichtung und seine besonders intensiven, hoffentlich nun auch erfolgreichen Bemühungen in der Geiselfrage. Er stellte mit Nachdruck klar, dass von deutscher Seite für die Freilassung der beiden Deutschen eine Konzession oder Gegenleistung im Hinblick auf die Haftdauer der hier inhaftierten Hamadi-Brüder weder erfolge, noch in Aussicht gestellt werde. Nach der Freilassung der beiden Deutschen könnte lediglich die Frage von Hafterleichterung geprüft werden; dies sei aber Sache der Justizbehörden und nicht der Bundesregierung. Botschafter Mussawian erwiderte, dass wir über diese Dinge nicht sprechen sollten, bevor die Geiseln frei sind. AM Velayati habe diese Position seinen Gesprächspartnern in Beirut mit aller Deutlichkeit dargelegt. Auch im Gespräch mit Abdel Hadi Hamadi in Teheran Ende vergangener Woche habe die iran. Seite klargemacht, dass kein „Handel“ stattgefunden habe. Auch nach der Befreiung der Geiseln werde es dabei bleiben. Iran habe dies allen Beteiligten verdeutlicht. Botschafter Mussawian äußerte sodann Befürchtungen, dass Israel die Freilassungsaktion stören könne. Meldungen in der israelischen Presse über angebliche Zahlungen an die Hisbollah deuteten in diese Richtung. Iran habe jeglichen Deal dieser Art dementiert. Auch aus diesem Grunde sei es wichtig, dass über die bevorstehende Freilassung Schweigen bewahrt werde, bis Picco in der Region eingetroffen sei. Der Bundesminister erwiderte, dass er nicht an eine Störung durch Israel glaube. Als Vertreter der Bundesregierung werde StM Schmidbauer nach Damaskus fliegen. Außerdem seien D 36 und RL 3107 bei der Reise dabei, da sie die Arbeit gemacht hätten. Botschafter Mussawian übermittelte den Wunsch seines Außenministers Velayati, am 30.6./1.7.92 zu einem Besuch nach Bonn zu kommen. Er wäre dankbar, wenn der BM diesem Termin zustimmen könne. Der Bundesminister bestätigte nochmals die Einladung an AM Velayati. Er freue sich, wieder mit ihm zusammenzutreffen.8 Über den Termin könne aber erst gesprochen werden, wenn die Geiseln wirklich frei seien. Es sei besser, jetzt erst einmal abzuwarten, was am nächsten Sonntag passiere. Wenn es nämlich nicht zur Freilassung komme, sei ein Besuch des iran. AM in Deutschland vor der Öffentlichkeit kaum zu vertreten. Zur Frage des Besuches des iran. Justizministers9 in Bonn sagte Botschafter Mussawian, dass dieser grundsätzlich bereit sei, auch mit einer „Kollegin“10 Gespräche zu führen.11 5 Dieser Satz wurde von VLR I von Hoessle hervorgehoben. Dazu vermerkte er handschriftlich: „Ist am 9.6. nachmittags in Tel[efon]-Gespräch mit H[errn] Vergau geschehen.“ 6 Reinhard Schlagintweit. 7 Andreas von Hoessle. 8 BM Kinkel hielt sich vom 28. bis 30. Januar 1992 im Iran auf. Vgl. bereits Dok. 148, Anm. 9. Am 29. Januar 1992 führte Kinkel ein Gespräch mit dem iranischen AM Velayati. Themen waren die im Libanon festgehaltenen Deutschen Strübig und Kemptner, die bilateralen Beziehungen, besonders im Rechtswesen, sowie die Entwicklung in den GUS-Mitgliedstaaten. Vgl. DB Nr. 107 des Botschafters Freitag, Teheran, vom 3. Februar 1992; B 36, ZA-Bd. 170183. 9 Esmail Schuschtari. 10 Sabine Leutheusser-Schnarrenberger. 11 Zum Besuch einer Delegation des iranischen Justizministeriums vgl. Dok. 227, Anm. 15.

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Zum Abschluss dankte der Bundesminister dem iran. Botschafter nochmals für die außerordentlichen Bemühungen in der Geiselfrage. Eine glückliche Lösung dieses Falles werde den deutsch-iran. Beziehungen sehr guttun.12 B 130, VS-Bd. 14152 (010)

168 Gespräch des Bundesministers Kinkel mit dem österreichischen Außenminister Mock 9. Juni 19921 AM Mock griff als erstes Thema den österreichischen Beitrittswunsch zur EG auf.2 Insbesondere analysierte er das Ergebnis des dänischen Referendums.3 Es gäbe zwei Denkschulen: Die eine riete dazu, abzuwarten, was Dänemark am Ende des Jahres beschließen würde; erst danach sollte die Frage der Erweiterung weiter behandelt werden. Die andere Schule sähe gerade aufgrund der dänischen Entscheidung die Notwendigkeit, die Erweiterung zur Dynamisierung der gesamten EG-Entwicklung zu nutzen. Österreich erwarte vom ER Lissabon4 ein klares Signal, dass die Beitrittsverhandlungen mit Österreich Anfang 1993 beginnen würden. AM Mock übergab gleichzeitig ein Vorausexemplar eines österreichischen Memorandums zur Beitrittsfrage (siehe Anlage5). Dieses würde in den nächsten Tagen offiziell in den zwölf Hauptstädten übergeben werden. BM antwortete, an dem Ziel der Europäischen Union habe sich durch das dänische Votum weder der Sache noch dem Zeitplan nach irgendetwas geändert. Dies beziehe sich auch auf die Erweiterungsfrage. Die Erklärungen der Bundesregierung (BK und er selbst6) seien 12 Zur Freilassung der Geiseln Strübig und Kemptner am 17. Juni 1992 in Beirut vgl. Dok. 181. 1 Kopie. Der Gesprächsvermerk wurde von VLR I Nestroy am 9. Juni 1992 gefertigt. Hat VLR Wittig am 10. Juni 1992 vorgelegen, der die Weiterleitung an BM Kinkel „zur Billigung“ verfügte. Hat Kinkel am 10. Juni 1992 vorgelegen. 2 Österreich stellte am 17. Juli 1989 einen Antrag auf EG-Beitritt. Vgl. AAPD 1989, II, Dok. 214. 3 Zum dänischen Referendum vom 2. Juni 1992 über das Vertragswerk von Maastricht vgl. Dok. 166, Anm. 2. 4 Zur Tagung des Europäischen Rats am 26./27. Juni 1992 vgl. Dok. 201. 5 Dem Vorgang beigefügt. Für das auf „Juni 1992“ datierte österreichische Aide-mémoire vgl. B 1, ZABd. 178945. 6 Für die gemeinsame Erklärung des BK Kohl und des französischen Staatspräsidenten Mitterrand vom 3. Juni 1992 zum Ausgang des Referendums am Vortag in Dänemark vgl. BULLETIN 1992, S. 586. In der Presse wurde berichtet, BM Kinkel habe am 3. Juni 1992 in einer Pressekonferenz die dänische Entscheidung als „traurig für Europa“ bedauert: „Klaus Kinkel gab sich jedoch zuversichtlich, dass die

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eindeutig. Er habe dies vor allen Dingen auch auf dem außerordentlichen EG-AM-Rat in Oslo7 unzweideutig zum Ausdruck gebracht. Es gäbe keine Wahl zwischen Erweiterung und Vertiefung, sondern nur ein Sowohl-als-auch. Österreich sei hervorragend für den Beitritt vorbereitet. Es gäbe nicht den geringsten Grund, daran zu zweifeln. Österreich könne sich in der Beitrittsfrage auf D verlassen. Eine andere Frage sei die Auswirkung des dänischen Votums auf die Praxis: Auch in die Diskussion in D sei durch das dänische Votum Bewegung gekommen. Allerdings könne dies an der Entscheidung der Bundesregierung nichts ändern, dass Nachverhandlungen nicht infrage kämen. Dennoch sei davon auszugehen, dass Schwierigkeiten auf die Bundesregierung zukämen. AM Mock räumte ein, dass auch in Österreich die Zustimmung zu EG-Europa abnehme. Auf die Frage von BM nach der Auswirkung der Neutralität antwortete AM Mock, dass diese einem Beitritt Österreichs mit Übernahme des Acquis, insbesondere der Beschlüsse und der Perspektiven von Maastricht8, nicht entgegenstünde. Zum Thema „ehemaliges Jugoslawien“ bedauerte BM die Lage der Bevölkerung vor allem in Bosnien-Herzegowina und die beschränkten Möglichkeiten von VN und EG sowie der anderen internationalen Organisationen. Man müsse auch über militärische Aktionen nachdenken dürfen. Eagleburger vom US State Department habe ihm versichert, dass der Einsatz von US-Landtruppen nicht infrage käme, allenfalls wäre eventuell an Luft- und Seestreitkräfte zu denken.9 AM Mock stellte österreichische Positionen bezüglich Bosnien-Herzegowina vor: verstärkte Einschaltung des VN-Sicherheitsrats, Verstärkung der humanitären Hilfe sowie Einrichtung von Sicherheitszonen um Sarajevo, einschließlich des Flughafens. Sollte den Anstrengungen der VN und der EG kein Erfolg beschieden sein, insbesondere die Sanktionen10 nicht wirken, müssten begrenzte militärische Aktionen in Betracht kommen. Hierbei käme der NATO im Rahmen der KSZE eine besondere Rolle zu. Man müsse sich klar sein, dass nur noch langfristige Teillösungen, jedoch nicht mehr eine Globallösung für das ehemalige Jugoslawien möglich wären. Die Vorschläge im Vance-Bericht11 müssen voll umgesetzt werden. Es müsse der Gefahr begegnet werden, dass sich die dortigen Verhältnisse ähnlich wie in Zypern festfahren. Sicherheitszone und Korridore um Sarajevo seien einzurichten, nicht nur wegen der Durchführung humanitärer Hilfe, sondern auch zum Überleben der dortigen Bevölkerung. AM Mock wies auf die Gefahr hin, dass im Bereich Sarajevo chemische Waffen produziert würden. Man habe dazu Hinweise, jedoch keine schlagenden Beweise. Er ging sodann noch auf die Probleme Griechenlands mit einer Anerkennung Mazedoniens ein. Die österreichische Regierung hätte ihren mazedonischen Freunden dringend geraten, in der Namensgebung flexibel zu sein, denn nur so könne der Fortsetzung Fußnote von Seite 688 restlichen Elf, zumal die Bundesrepublik, am ‚Fahrplan zur Europäischen Union‘ festhalten. Für Dänemark müsse die Tür offenbleiben.“ Vgl. den Artikel „Eine Volksentscheidung auch in Deutschland?“; TAZ vom 5. Juni 1992, S. 2. 7 Zur außerordentlichen EG-Ministerratstagung am 4. Juni 1992 vgl. Dok. 166. 8 Zum Vertragswerk von Maastricht vgl. Dok. 3, Anm. 8. 9 Für das Gespräch des BM Kinkel mit dem stellvertretenden amerikanischen AM Eagleburger am 1. Juni 1992 in Köln vgl. Dok. 159. 10 Zu den Sanktionen gegen die Bundesrepublik Jugoslawien (Serbien/Montenegro) vgl. Dok. 159, Anm. 12, und Dok. 162, Anm. 7. 11 Zum Bericht des Sonderbeauftragten des VN-GS für Jugoslawien, Vance, vgl. Dok. 118, Anm. 13.

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griechischen Regierung ein Ausweg aus dieser außerordentlich emotionsgeladenen Lage in Griechenland geboten werden. AM Mock ging auf die Flüchtlingsproblematik aus dem ehemaligen Jugoslawien, insbesondere aus Bosnien-Herzegowina, über und bat die Bundesregierung um eine flexiblere Haltung bei der Visaerteilung12. Sie werde in Deutschland sehr streng gehandhabt. Dies habe entsprechende Auswirkungen für den Verbleib von Flüchtlingen in Österreich. Er kündigte ein Memorandum an, das (aufgrund des innerösterreichischen Drucks) in wenigen Tagen an die befreundeten Regierungen übergeben würde. BM ging im Detail auf die Probleme des Zustromes von Asylanten und Flüchtlingen in Deutschland ein. In D sei die Ausländer- und Asylfrage neben innerdeutschen Finanzfragen das entscheidende Thema. Dieses werde sich auch in den kommenden Wahlen niederschlagen. Bedauerlicherweise kanalisiere sich die allgemeine Unzufriedenheit bei den Fortschritten der innerdeutschen Einigung über das Ausländerproblem. Seiner Meinung nach gebe es nur eine übergreifende Lösung des Problems insofern, dass auch mit den Ländern Österreich, Schweiz, Polen und ČSFR eine Lösung à la Schengen und Dublin13 parallel eingeführt wird. Dies gelte sowohl für die materiellrechtliche als auch für die verfahrensrechtliche Seite. Ziel müsse sein, dass jedes Land nicht anerkannte Asylbewerber zurückschicken kann. Dies werde Wirkung zeigen, wie das Beispiel des Vertrages mit Polen beweise.14 Seit dessen Inkrafttreten sei der Zustrom der Asylanten aus Polen erheblich geringer geworden. Ansonsten gelte nach wie vor der Grundsatz, dass in jedem Falle soweit als möglich vor Ort geholfen werden müsse, um von vornherein Flüchtlingsströme zu verhindern oder zu verringern. 12 VLR I Mattes legte am 1. Juni 1992 dar, seit der Anerkennung Bosnien-Herzegowinas bestehe „automatisch Visapflicht. Die zwischen BM Genscher und BM Seiters in der Kabinettsitzung am 8.4.1992 vereinbarte Visafreiheit wurde angesichts der Fluchtbewegung zurückgestellt.“ Vgl. B 42, ZA-Bd. 175783. MDg Hillgenberg erläuterte am 2. Juli 1992: „Auf der Innenministerkonferenz (IMK) vom 22. Mai 1992 haben die Länder ihre Bereitschaft erklärt, Verwundete und Kranke aus Bosnien-Herzegowina aufzunehmen, außerdem diejenigen Flüchtlinge aus Bosnien-Herzegowina, denen im Bundesgebiet lebende Verwandte oder Bekannte, Wohlfahrtsorganisationen oder Kirchen Obdach und Lebensunterhalt gewähren.“ Die Bundesländer seien bereit, „weitere Flüchtlinge aus Bosnien-Herzegowina im Rahmen einer europäischen Kontingentvereinbarung aufzunehmen“, doch seien die internationalen Reaktionen auf entsprechende Initiativen der Bundesregierung enttäuschend. Die IMK habe ferner „am 22. Mai 1992 beschlossen, allen Bürgerkriegsflüchtlingen aus Kroatien und Bosnien-Herzegowina, die sich bereits im Bundesgebiet befinden, eine Bleibemöglichkeit zunächst bis zum 30.9.1992 zu eröffnen. Insbesondere die süddeutschen Länder haben bereits eine große Anzahl von Flüchtlingen aufgenommen. Ihre Zahl ist nicht genau bekannt, geht aber nach Schätzungen in die Zehntausende.“ Vgl. B 42, ZA-Bd. 183394. 13 Für das Übereinkommen der EG-Mitgliedstaaten vom 15. Juni 1990 über die Bestimmung des zuständigen Staates für die Prüfung eines in einem Mitgliedstaat der Europäischen Gemeinschaft gestellten Asylantrags (Dublin-Abkommen) vgl. BGBl. 1994, II, S. 792–797. Vgl. ferner AAPD 1990, I, Dok. 130. 14 Für das Übereinkommen zwischen Belgien, der Bundesrepublik, Frankreich, Italien, Luxemburg, den Niederlanden und Polen vom 29. März 1991 „betreffend die Rückübernahme von Personen mit unbefugtem Aufenthalt“ vgl. B 89, ZA-Bd. 217716. VLR I Mattes erläuterte am 21. März 1991: „Das Rückübernahmeabkommen, das von unseren SchengenPartnern als Voraussetzung für die Visabefreiung mit Polen gewünscht worden war, schreibt die Verpflichtung der Unterzeichnerstaaten fest, eigene Staatsangehörige und Drittstaater, die sich unbefugt im Hoheitsgebiet einer Vertragspartei aufhalten, zurückzunehmen, und regelt das hierfür erforderliche Verfahren.“ Vgl. B 89, ZA-Bd. 217716.

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AM Mock verwies darauf, dass Österreich schon vor einiger Zeit sein Interesse bekundet hätte, Mitglied von Schengen zu werden, dass es aber vertröstet worden sei auf die Zeit der Mitgliedschaft in der EG. Wichtig sei, dass Österreich nicht singularisiert werde, es müsse sichergestellt werden, dass Österreich gleich wie Schweiz, Polen und ČSFR behandelt würde. Er versprach gleichzeitig, die deutschen Anliegen mit dem österreichischen Innenminister15 aufzunehmen. AM Mock bat um deutsche Unterstützung für die Kandidatur Wiens für den Sitz der künftigen Chemiewaffen-Agentur. Er plädierte für stärkere Kontrolle der Vorabsondierungen zur Haltung der Mitgliedstaaten zu den verschiedenen Sitzkandidaturen seitens des Vorsitzenden (D). Es sei erforderlich, sehr exakt festzustellen, welches Land wirklich für welchen Kandidaten votiere. Hierzu gäbe es den konstruktiven Vorschlag der Verwendung von verschiedenfarbigen Zetteln. Er wäre dankbar, wenn Botschafter von Wagner entsprechende Weisungen erhielte. BM bedauerte AM Mock gegenüber, aufgrund des deutschen Vorsitzes und der damit verbundenen erforderlichen Neutralität keine Zusage einer Unterstützung der österreichischen Kandidatur abgeben zu können. B 1, ZA-Bd. 178945

169 Gespräch des Bundesministers Kinkel mit dem vietnamesischen Außenminister Nguyen Manh Cam 9. Juni 19921 BM gibt einleitend einen Überblick über die im Laufe des Gesprächs2 zu behandelnden Themen. Er verweist auf die gute Entwicklung der deutsch-vietnamesischen Beziehungen in den vergangenen zwei Jahren. Sie könnten jedoch noch an Substanz gewinnen. Er kündigt die Übergabe von zwei AI-Listen zu Menschenrechtsfällen an und bekundet sein Interesse 15 Franz Löschnak. 1 Durchschlag als Konzept. Der Gesprächsvermerk wurde von MDg Zeller am 10. Juni 1992 gefertigt und am selben Tag an VLR I Gerdts geleitet mit der Bitte, „die Zustimmung des Herrn BM“ herbeizuführen. Für VLR I Staks vermerkte Zeller dabei handschriftlich: „Die mit x markierten Passagen müssen m. E. umgesetzt werden. Über die Umschuldungsfrage würde ich gerne mit Ihnen sprechen.“ Vgl. Anm. 4, 6, 8, 10, 12, 20 und 21. Hat Staks vorgelegen, der handschriftlich vermerkte: „Investitionsschutz-Abk[ommen]/Hermes/HoechstFall; Stiftungen KAS/FNS; Siemens; Rechtsmodernis[ierung] (Stiftung BMJ); Schuldenerlass; Bez. VIET – US; MR.“ Ferner verfügte er die Weiterleitung an VLR Knieß „z[ur] K[enntnisnahme]“. Hat Knieß am 11. Juni 1992 vorgelegen. Hat Staks am 2. Juli 1992 erneut vorgelegen. 2 Im Zuge einer Europa-Reise hielt sich der vietnamesische AM Nguyen Manh Cam vom 8. bis 10. Juni 1992 in der Bundesrepublik auf.

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an einem kurzen Meinungsaustausch über die Tätigkeit deutscher Stiftungen in Vietnam. Er überlässt es sodann dem vietnamesischen AM, die ihm wichtigen Fragen anzusprechen. Auch AM Cam würdigt die Entwicklung der deutsch-vietnamesischen Beziehungen. Der Delegationsaustausch zwischen beiden Ländern sei recht lebhaft gewesen. Deutsche Unternehmen zeigten zunehmendes Interesse an Vietnam. Deutschland werde von seinem Land als ein wichtiger verantwortungsbewusster Staat von erheblicher Wirtschaftskraft hochgeschätzt. Ihm, als ehemaligem Botschafter seines Landes in Bonn3, sei an dem Ausbau der Beziehungen zu Deutschland besonders gelegen. Hier läge noch viel entwicklungsträchtiges Potenzial. Eine große Gruppe deutschsprechender Vietnamesen und auch politische Gemeinsamkeiten seien eine gute Grundlage für die zukünftigen deutsch-vietnamesischen Beziehungen, die von beiden Seiten gut genutzt werden könnte. Vietnams Interesse sei es, die Beziehungen allseitig zu entwickeln, in erster Linie in den Bereichen Wirtschaft, Handel und Kultur. Eine rasche Einigung über das Investitionsschutzabkommen4 würde hierbei hilfreich sein5, auch die weitere Erstreckung von HermesGarantien. Er hätte in Gesprächen mit deutschen Unternehmen festgestellt, dass diese sich eine deutlichere Unterstützung ihrer Aktivitäten in Vietnam durch die Bundesregierung wünschten. Er bat um deutsches Verständnis für die Schwierigkeiten in Vietnam. Die vietnamesische Volkswirtschaft befinde sich in einer Übergangsphase von der Plan- zur Marktwirtschaft. Dies werfe zahlreiche Probleme auf. Besonderer Bedarf bestehe in dieser Phase an Wirtschaftsfachleuten. Man bewundere die deutschen Erfolge und man schätze sehr hoch das deutsche Ausbildungssystem. Daher wolle man Wirtschaftsmanager, Bankund Finanzfachleute in Deutschland weiterhin ausbilden lassen. Notwendig sei auch ein kräftiger Kapitalzustrom von außen durch FZ. Der Außenhandel sei ausbaufähig. Natürlich wolle man noch mehr nach Deutschland exportieren, insbesondere Textilien und Bekleidung. Die in Brüssel hierüber geführten Gespräche seien ihm Ermutigung. Er bäte uns, die vietnamesische Position zu unterstützen. Er bitte auch, Vietnamesen, die sich jetzt noch in Deutschland aufhielten, wenn und wo immer möglich angemessene Bedingungen für weitere Arbeit in Deutschland zu gewähren. Was die politischen Stiftungen6 beträfe, so seien die entsprechenden Anträge von KAS und FNS auf gutem Wege. Seine Regierung bemühe sich jedenfalls. Cam warb des Weiteren für regelmäßige Konsultationen. Vietnam wolle einen modernen Rechtsstaat aufbauen. Mit Interesse habe er von einer kürzlich bei uns gegründeten Stiftung gehört, deren Aufgabe die Zusammenarbeit mit osteuropäischen Ländern beim Aufbau eines modernen Rechtswesens sei.7 3 Nguyen Manh Cam war von 1977 bis 1981 vietnamesischen Botschafter in Bonn. 4 Dieses Wort wurde von MDg Zeller hervorgehoben. Dazu „x“. Vgl. Anm. 1. 5 Bei einer Hausbesprechung am 24. Juni 1992 über die Umsetzung der im Gespräch des BM Kinkel mit dem vietnamesischen AM Nguyen Manh Cam am 9. Juni 1992 erörterten Themen erläuterte VLR Hacker, „dass für den Abschluss des bereits weitgehend ausgehandelten Investitionsförderungsvertrages seitens Vietnam noch zwei Bedingungen zu erfüllen seien: Regelung des Hoechst-Entschädigungsfalls (Wert ca. 500 000 DM); Hinnahme der aus unserer Sicht unverzichtbaren Formulierung zur Inländergleichbehandlung im Vertragstext“. Vgl. B 37, ZA-Bd. 164282. 6 Die Wörter „politischen Stiftungen“ wurden von MDg Zeller hervorgehoben. Dazu „x“. Vgl. Anm. 1. 7 Auf Betreiben des BMJ wurde am 11. Mai 1992 die „Deutsche Stiftung für internationale rechtliche Zusammenarbeit“ (IRZ) gegründet. Dazu hieß es in der Presse, die IRZ „soll sich ganz auf die Rechtsberatung in Mittel- und Osteuropa konzentrieren und auch Mittel von Sponsoren mobilisieren“. Vgl. den Artikel

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Als letzten Punkt seines einleitenden Vortrags sprach er noch eine Einladung an BM zum Besuch Hanois aus. BM nahm diese Einladung grundsätzlich an, verwies aber auf seine gedrängte Terminlage. Er gab sodann einen Überblick über den Stand der bilateralen Beziehungen aus unserer Sicht (EZ, Kultur, Wirtschaftsaustausch). Sie seien unserer Meinung nach ausbaufähig. BM sprach in diesem Zusammenhang die Probleme hinsichtlich des Investitionsschutzabkommens und Hermes an. Er setzte sich für das Anliegen von Siemens8 ein.9 AM Cam bezog sich auf seine ausführlichen Gespräche mit Siemens-Vertretern. Siemens habe erhebliche Entwicklungsmöglichkeiten in Vietnam. Man habe darüber sehr konkret gesprochen. BM unterstreicht noch einmal die Frage der Tätigkeit deutscher Stiftungen in Vietnam, die insbesondere im Zusammenhang mit den in Gang gesetzten Wirtschaftsreformen von Bedeutung sei. Was die Hilfe bei der Rechtsmodernisierung betreffe, so sei er auf diesem Gebiet besonders engagiert. Er erläuterte den Zweck der vom Justizministerium betreuten Stiftung10. Seiner Meinung nach könnte die Stiftung auch in Vietnam ein nützliches Tätigkeitsfeld finden. Er schlage dem AM vor, dass der vietnamesische Botschafter11 Kontakt mit dem die Stiftung im BMJ betreuenden MD Dr. Rolland aufnehme, um mit ihm Fragen einer möglichen Zusammenarbeit zu besprechen. Er erläutert sodann, wie es zur Definition eines konkreten Zusammenarbeitsprojekts im Rahmen der Stiftung kommt an dem Beispiel der Justizhilfe für Russland. AM Cam dankt. Er kommt sodann zu Beginn des gemeinsamen Mittagessens sehr nachdrücklich auf die Frage eines Schuldenerlasses für Vietnam12 zurück. Nach vietnamesischer Auffassung sollten soweit irgend möglich alte Schulden erlassen werden; neue Darlehen werde Vietnam pünktlich bedienen. Eine solche Geste seitens Ds würde in Vietnam enorme politische Wirkung haben und auch die Beziehungen Vietnams zu den ASEANStaaten kräftigen. Dg 3413 gibt eine kurze Darstellung zur Umschuldungsproblematik (bilateral, multilateral, Rolle IWF und Position der USA).14 Fortsetzung Fußnote von Seite 692 „Mit Verzögerung beginnt die Koordinierung der deutschen Osthilfe“; FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG vom 20. Juli 1992, S. 9. 8 Die Wörter „Anliegen von Siemens“ wurden von MDg Zeller hervorgehoben. Dazu „x“. Vgl. Anm. 1. 9 LS Hoelscher-Obermaier, Hanoi, berichtete am 25. Mai 1992, die seit 1989 in Vietnam in den Bereichen Telekommunikation, Energieversorgung und Medizintechnik tätige Firma Siemens stehe vor Schwierigkeiten, nachdem die vietnamesische Seite einen Vertrag für die Hochspannungsleitung Hanoi – Ho-ChiMinh-Stadt mit einem Auftragswert von 38,5 Mio. DM am 4. April 1992 teilweise zugunsten der französischen Firma Alcatel annulliert und Siemens mit der Teilstrecke Danang – Ho-Chi-Minh-Stadt (Auftragswert 10 Mio. DM) abgespeist habe. Vgl. DB Nr. 374; B 37, ZA-Bd. 164282. 10 Die Wörter „Justizministerium betreuten Stiftung“ wurden von MDg Zeller hervorgehoben. Dazu „x“. Vgl. Anm. 1. 11 Bui Hong Phuc. 12 Der Passus „Frage eines Schuldenerlasses für Vietnam“ wurde von MDg Zeller hervorgehoben. Dazu „x“. Vgl. Anm. 1. 13 Klaus Zeller. 14 LRin I Viets legte mit Schreiben vom 13. März 1992 an das BMZ dar, warum das Auswärtige Amt einem „Sonderschuldenerlass für Vietnam“ nicht zustimmen könne trotz „der bereits erfolgten teilweisen

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AM Cam verweist auf das ägyptische Beispiel. Wir hätten Ägypten bilateral kürzlich 2,4 Mrd. DM Schulden erlassen.15 Dieses Thema wird nicht vertieft. BM bekundet aber sein deutliches Interesse an dem Schuldenproblem. Sodann gibt AM Cam einen Überblick über vietnamesische Beziehungen zu China. Man habe normalisiert, ohne zu einer Sonderbeziehung zurückzukehren. Bei dem Gipfeltreffen Ende vergangenen Jahres habe man Zusammenarbeit unter Gleichberechtigten und zu gegenseitigem Vorteil in allen Bereichen vereinbart.16 Über Problemfälle solle geredet werden. Dabei habe man spezifisch einige Grenzfragen und vor allem auch die Fragen der Inseln im südchinesischen Meer angesprochen. Bis zu einer Regelung sollten beide Seiten von einseitigen Schritten Abstand nehmen. Dieser Vereinbarung würden einige kürzliche chinesische Aktivitäten hinsichtlich der Spratly-Inseln deutlich widersprechen, so das im Februar von dem Volkskongress verabschiedete Spratly-Gesetz. Danach brauchen Schiffe, die in der vietnamesischen Zone sich bewegten, eine chinesische Durchfahrtserlaubnis.17 Sehr betroffen sei Vietnam auch von der chinesischen Verabredung mit einer amerikanischen Erdölfirma über Prospektionen im von Vietnam beanspruchten Bereich. Auf die Frage des BM nach der Entwicklung im inneren China erläuterte Cam, dass es in China zwei Tendenzen gebe: eine, die rascher mit Wirtschaftsreformen vorangehen wolle, und eine, die bremste. Sein Eindruck sei, dass diejenigen, die rascher vorangehen wollten, die Oberhand behalten würden. Aber selbstverständlich müsse Deng Xiaoping auf seinem schwierigen Wege auch Kompromisse schließen. Auf die Bitte von AM Cam gab BM einen Überblick über die Lage der Gemeinschaft nach dem dänischen Referendum.18 Die Gemeinschaft werde weitermachen in der Sache wie auch im Zeitplan. Die Entwicklung in der Europäischen Gemeinschaft sei nicht rückdrehbar. Fortsetzung Fußnote von Seite 693 Aufnahme der FZ im Jahre 1991“. Voraussetzung dafür wäre die bislang ausstehende Anerkennung von Altschulden „der S[ozialistischen]R[epublik] Vietnam als Nachfolgestaat Südvietnams“. Ein genereller Schuldenerlass komme zudem „haushaltsrechtlich nicht infrage, da Vietnam nicht unter die Kategorie der Länder fällt, denen wir Schulden erlassen (LDC-Länder sowie die Länder des erweiterten Schuldenerlasses)“. In Betracht käme allenfalls eine multilaterale Umschuldung, für die es „jedoch in erster Linie einer veränderten Haltung der USA und einer prinzipiellen Einigung der Gläubigerländer im Rahmen des Pariser Clubs“ bedürfe. Vgl. B 37, ZA-Bd. 164288. 15 Zum Abkommen über die Reduzierung und Restrukturierung der Auslandsschuld der Arabischen Republik Ägypten (Ägypten II) vom 24. Mai 1992 hieß es in der Presse, die Bundesrepublik habe „auf die Rückzahlung der Hälfte der Darlehen in Höhe von 4,5 Milliarden [DM] verzichtet. […] Die restlichen Handelskredite seien über einen Zeitraum von 25 Jahren, die Entwicklungskredite über 35 Jahre zurückzuzahlen.“ Vgl. den Artikel „Deutschland erläßt Ägypten zwei Milliarden DM“; SÜDDEUTSCHE ZEITUNG vom 26. Mai 1992, S. 33. 16 Der GS der Kommunistischen Partei Vietnams, Do Muoi, und der vietnamesische MP Vo Van Kiet besuchten vom 5. bis 10. November 1991 die Volksrepublik China. 17 LR I Hecker, Peking, informierte am 29. April 1992: „China beansprucht praktisch sämtliche Inseln im südchinesischen Meer (u. a. die Spratly- und die Paracel-Insel) sowie die Diaoyu-Inseln im ostchinesischen Meer als sein Hoheitsgebiet. Diesen Anspruch hat China in dem kürzlich verabschiedeten Küstengewässergesetz bekräftigt“. Auf die „33 Inseln, 400 Inselsplitter und Atolle umfassende“ SpratlyInselgruppe würden die Volksrepublik China, Vietnam, die Republik China (Taiwan) sowie teilweise Malaysia und die Philippinen Anspruch erheben. Vgl. SB Nr. 662; B 37, ZA-Bd. 168284. 18 Zum dänischen Referendum vom 2. Juni 1992 über das Vertragswerk von Maastricht vgl. Dok. 166, Anm. 2.

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AM Cam berichtet zum augenblicklichen Stand der Beziehungen Vietnam – USA. Sie verbesserten sich in kleinen Schritten, blieben aber doch noch weit hinter den vietnamesischen Erwartungen und denen anderer Länder zurück. Eine Normalisierung würde früher oder später kommen. Man vermute in Vietnam, nach der Präsidentenwahl19. D sei ein wichtiger Partner der USA. Könnten wir nicht unseren Einfluss geltend machen, um die USA zu etwas rascherem Vorgehen zu ermutigen? BM bremste allzu hohe Erwartungen, überlegt aber, ob er das Thema bei seinem Antrittsbesuch beim US-AM in Kürze ansprechen solle.20 AM Cam dankt sehr nachdrücklich für deutsche Unterstützung bei den internationalen Finanzinstitutionen; hofft sehr, dass diese Unterstützung auch in Zukunft gewährt werde. Die Unterstützung durch das internationale Bankensystem sei für Vietnam vital. BM bemerkt, dass auch wir großes Interesse an einem stabilen Vietnam hätten. Im Rahmen unserer Möglichkeiten würden wir in dieser Richtung auch tätig werden. Er spricht sodann und unter Hinweis auf sein großes persönliches Engagement die Lage der Menschenrechte in Vietnam und hier insbesondere die drei von AI genannten Fälle an.21 Er wolle nicht anklagen. Er sehe auch, dass sich in diesem Bereich in Vietnam einiges Positive getan habe und dass die vietnamesische Regierung in diesen Fragen sensibel sei. Er bittet Cam, sein besonderes Augenmerk auf diesen Aspekt zu richten. Er übergibt ihm sodann die Aufzeichnung von AI zu drei Menschenrechtsfällen und die Inhaftiertenlisten mit der sehr nachdrücklichen, auch persönlichen Bitte an den vietnamesischen AM, diesen Fragen nachzugehen. AM Cam verspricht dies, fügt aber hinzu, dass die Insassen in Umerziehungslagern fast sämtlich schon entlassen seien. Man gehe deshalb davon aus, dass es sich auch bei einer ganzen Reihe von Namen, die in den AI-Listen enthalten seien, um schon Entlassene handele. BM sagt zu, dass er eine positive Reaktion Vietnams auf seine Menschenrechtsintervention auch deutlich publik machen werde. AM Cam verspricht, nach Überprüfung Verbindung mit BM aufzunehmen.22 Er wiederholt am Ende des Gesprächs seine Einladung an BM.23 Er sprach auch eine Einladung an BM Möllemann aus. BM verspricht, diese weiterzugeben. B 37, ZA-Bd. 164282 19 In den USA fanden am 3. November 1992 Präsidentschaftswahlen, Wahlen zum Repräsentantenhaus sowie Teilwahlen zum Senat und für die Gouverneursämter statt. 20 Dieser Satz wurde von MDg Zeller hervorgehoben. Dazu „x“. Vgl. Anm. 1. Zu den Gesprächen des BM Kinkel mit dem amerikanischen AM Baker am 30. Juni 1992 in Washington vgl. Dok. 196 und Dok. 197. 21 Dieser Satz wurde von MDg Zeller hervorgehoben. Dazu „x“. Vgl. Anm. 1. Anlässlich des Besuchs des vietnamesischen AM Nguyen Manh Cam wies die deutsche Sektion von Amnesty International BM Kinkel mit Schreiben vom 29. Mai 1992 auf drei Haftfälle in Vietnam hin. VLR Knieß vermerkte am 17. Juni 1992, BM Kinkel habe diese Liste „zusammen mit einer zweiten Liste von Inhaftierten“ im Gespräch am 9. Juni 1992 übergeben. Für das Schreiben und die Vorlage vgl. B 37, ZA-Bd. 164289. 22 Botschafter Elias, Hanoi, teilte am 24. November 1992 mit, die Botschaft habe mehrfach im vietnamesischen Außenministerium die im Gespräch der AM am 9. Juni 1992 in Bonn zugesagte Antwort zu den angesprochenen Haftfällen erbeten: „Eine Antwort steht leider noch aus.“ Vgl. B 37, ZA-Bd. 164289. 23 BM Kinkel besuchte Vietnam vom 2. bis 4. April 1993. Vgl. AAPD 1993.

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170 Runderlass des Vortragenden Legationsrats I. Klasse Bettzuege 012-9-312.74 VS-NfD Fernschreiben Nr. 32 Ortez Betr.:

Aufgabe: 10. Juni 19921

1) Frühjahrstreffen der NATO-AM am 4. Juni 1992 in Oslo und NATOKooperationsrat am 5. Juni 1992 in Oslo; 2) Außerordentliche Konferenz zur Inkraftsetzung des Vertrags über konventionelle Streitkräfte in Europa (KSE)

1) Das Frühjahrstreffen der NATO-Außenminister fand am 4. Juni 1992 in Oslo statt. Insgesamt wurden drei Erklärungen verabschiedet: – Kommuniqué der Ministertagung des Nordatlantikrats2; – Erklärung über die Krise um Berg-Karabach3; – Erklärung über die Krise im ehemaligen Jugoslawien4. 2) Die Beratungen konzentrierten sich vor dem Hintergrund der Krisen im früheren Jugoslawien und in der Kaukasus-Region auf den möglichen Beitrag des Bündnisses zu friedenserhaltenden Maßnahmen der KSZE und – vor dem Hintergrund der Umsetzung der Maastrichter Beschlüsse5 – auf die Fortentwicklung der Beziehungen zwischen NATO und Europäischer Sicherheits- und Verteidigungsidentität (ESVI). 3) NATO – KSZE Einmütigkeit bestand unter den Bündnispartnern über die Notwendigkeit, die Konfliktverhütungsmechanismen der KSZE zu stärken, und auch grundsätzlich darüber, für friedenserhaltende Maßnahmen der KSZE auf NATO-Kapazitäten zurückgreifen zu können. Die Unterstützung der sechzehn Bündnispartner konnte hergestellt und im Kommuniqué festgestellt werden für den von uns in Helsinki eingebrachten Vorschlag, dass die KSZE sich als regionale Abmachung nach Kapitel VIII der Charta der Vereinten Nationen6 erklärt. Damit schaffen wir den übergeordneten internationalen Rahmen für eine Krisenbewältigung. Wie die meisten Bündnispartner haben wir uns deutlich dafür ausgesprochen, dass die NATO imstande sein muss, ihre Erfahrungen/Kapazitäten in geeigneten Fällen der KSZE für friedenserhaltende Maßnahmen zur Verfügung zu stellen. Dabei geht es uns nicht darum, für die Allianz eine zusätzliche neue Rolle zu finden, sondern zum Vorteil aller von ihren Erfahrungen und ihren Strukturen zu profitieren. Alle bestehenden Möglichkeiten müssen geprüft und – wo sie Erfolg versprechen – auch genutzt werden. 1 Der Runderlass wurde von VLR I Bertram und VLR Schumacher konzipiert. Hat MD Chrobog vor Abgang „im Konzept“ zur Mitzeichnung vorgelegen. 2 Für das Kommuniqué vgl. NATO FINAL COMMUNIQUÉS 1991–1995, S. 71–76. Für den deutschen Wortlaut vgl. BULLETIN 1992, S. 613–616. 3 Für die Erklärung vgl. BULLETIN 1992, S. 617 f. 4 Für die Erklärung vgl. BULLETIN 1992, S. 617. 5 Zum Vertragswerk von Maastricht vgl. Dok. 3, Anm. 8. 6 Zu dieser Initiative vgl. Dok. 105, Anm. 20.

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Insbesondere F machte deutlich, dass gegen eine profilierte NATO-Rolle für peacekeeping im KSZE-Rahmen starke Vorbehalte bestehen, die nicht konsensfähig waren. Im Kommuniqué musste deshalb angesichts der Vorbehalte Fs die Streitfrage offengelassen werden, ob die KSZE mögliche Beiträge vom Bündnis selbst oder nur seinen Mitgliedstaaten anfordern könne. Die Kommuniqué-Passagen zu einer möglichen Peacekeeping-Rolle der NATO, insbesondere in Ziffer 11 des Kommuniqués, bedeuten, dass sich die Mehrheitsmeinung zu diesem Thema im Bündnis (geführt von USA und NL), die wir von Anfang an sehr deutlich mitgetragen haben, weitgehend durchgesetzt hat. Wir hätten auch eine weitergehende Formulierung, die die Allianz als Adressaten und Hilfeleistenden noch deutlicher angesprochen hätte, mitgetragen. Mit der jetzt gefundenen Kompromissformulierung ist aber ein Prozess begonnen, auf den wir setzen können und der bei erfolgreicher Anwendung seine Richtigkeit beweisen und sich überzeugend durchsetzen wird. 4) Außenminister diskutierten – vielfach mit Blick auf den WEU-Rat am 19. Juni 19927 – Stand und Perspektiven der Entwicklung des Verhältnisses zwischen NATO und ESVI. Alle Partner unterstrichen, dass die Beschlüsse von Rom8 und Maastricht als Basis der ESVI akzeptiert sind. Das schließt ein, die WEU operativer auszugestalten und sie zur Verteidigungskomponente der Europäischen Union zu machen, ohne dabei ihre Rolle als europäischer Pfeiler der Allianz zu vernachlässigen. Die Prinzipien der Transparenz, Komplementarität und Nicht-Verdoppelung von Strukturen gelten unvermindert fort. Kommuniqué spiegelt Ergebnis schwieriger Verhandlungen wider, in denen insbesondere USA, unterstützt von GB, eindeutige politische Zusicherung verlangten, dass NATOAssignierung die „primary responsibility“ (Ziffer 7) auch für WEU-zugeordnete Streitkräfte bleibe. Wir sind der Auffassung, dass Diskussion um Vorrang in der Zuordnung von NATO/ WEU-Truppen weniger praktischer, sondern überwiegend theoretischer Natur ist, da in der Praxis kaum ein Fall denkbar sein dürfte, in dem ein Bündnisfall (Artikel 5 Allianzvertrag9) mit einem WEU-Bündnisfall konkurrieren könnte. Zutreffend herausgestellt wird mit der Kompromissformel, die anstelle zweifelhafter Präferenzaussagen die Bedeutung betont, dass bestehende Verpflichtungen der Bündnispartner und Bindungen der Streitkräfte an die NATO erhalten bleiben.10 Im Übrigen konnte eine teilweise von Bündnispartnern versuchte Präjudizierung von Entscheidungen des WEU-Rats am 19. Juni 1992 zum Verhältnis NATO – WEU (US-Bestreben) vermieden werden. 5) BM nutzte Aussprache zu ESVI für erneute Erläuterung unserer Zielsetzung mit der Schaffung des deutsch-französischen Korps.11 Bundesminister unterstrich zunächst die unverzichtbare Bedeutung des transatlantischen Sicherheitsverbundes für die Stabilität in Europa. Der Beitrag der nordamerikanischen 7 Zur WEU-Ministerratstagung auf dem Petersberg vgl. Dok. 162, Anm. 32. 8 Für die „Erklärung von Rom über Frieden und Zusammenarbeit“ der NATO-Gipfelkonferenz am 7./8. November 1991 vgl. NATO FINAL COMMUNIQUÉS 1991–1995, S. 33–39. Für den deutschen Wortlaut vgl. BULLETIN 1991, S. 1033–1037. Zur Gipfelkonferenz vgl. AAPD 1991, II, Dok. 375 und Dok. 376. 9 Für Artikel 5 des NATO-Vertrags vom 4. April 1949 vgl. BGBl. 1955, II, S. 290. 10 So in der Vorlage. 11 Für den Redebeitrag des BM Kinkel vgl. DB Nr. 2 des Botschafters von Ploetz, z. Z. BM-Delegation, vom 4. Juni 1992; B 14, ZA-Bd. 161215.

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Partner in der europäischen Sicherheitsarchitektur bleibe auch in Zukunft unverzichtbar. Unser Ziel, das wir auch mit dem Euro-Korps verfolgten, sei eindeutig darauf gerichtet, das Bündnis zu stärken. Strukturen, die in Konkurrenz zum Bündnis stehen, seien nicht geplant. In der neuen Allianzstrategie12 sind aber integrierte und multinationale europäische Strukturen ausdrücklich vorgesehen, ihre Komplementarität und Kompatibilität zur Allianz und gegenseitige Transparenz vorausgesetzt. In dieser Zielsetzung ist das EuroKorps zu sehen, das allen WEU-Partnern zur Teilnahme offensteht. Euro-Korps dient zugleich der Stärkung des europäischen Pfeilers der Allianz. Unsere Truppen bleiben auch als Korps-Truppen der NATO assigniert. Von uns gegenüber der NATO eingegangene Verpflichtungen bleiben unberührt. Im Verteidigungsfall stehen unsere Verbände dem Bündnis wie bisher uneingeschränkt zur Verfügung. Wir wiesen allerdings auch darauf hin, dass die vorgesehene Verbindung des Korps zur WEU dazu beitragen wird, dass Europa seine Verantwortung auf dem Gebiet der Sicherheit und der Aufrechterhaltung des Friedens künftig besser wird wahrnehmen können. Insgesamt wurde das Euro-Korps in Oslo wesentlich ruhiger behandelt, als nach den Debatten der vergangenen Woche noch zu erwarten gewesen wäre. Es wurde deutlich, dass die mehrfachen Klarstellungen unserer Ziele und Absichten durch BM und auch Verteidigungsminister Rühe im DPC13 Wirkung zeigen. 6) Nordatlantischer Kooperationsrat (NAKR) Die dritte und erste Arbeitssitzung des Nordatlantischen Kooperationsrates verlief in betont arbeitsmäßiger Atmosphäre.14 Bündnispartner bezeichneten bisherige NAKRZusammenarbeit als ermutigend und teilweise erfolgreicher als erwartet. In perspektivischer Sicht wiesen einige dem Dialog über Sicherheitsfragen im Kooperationsprozess eine wichtige Stützungsfunktion für die KSZE zu. Erweiterung um Albanien wurde beschlossen, wobei teilweise im Vorfeld von Partnern diskutierte Frage offenblieb, ob dies der letzte Erweiterungsschritt oder vielmehr der Beginn einer neuen Serie von Erweiterungen ist. Finnland erhielt Beobachterstatus. Wir haben Aufnahme Albaniens sowie die bereits vollzogene Aufnahme Georgiens als Bestätigung unserer Auffassung begrüßt, dass nur eine Einbeziehung und nicht Ausgrenzung zu größerer Sicherheit führt. Mit Aufnahme Albaniens und Zulassung Finnlands als Beobachter wurden Weichen für eine weitere Öffnung dieses Gremiums gestellt, dessen zunehmender Nutzen von allen Teilnehmern hervorgehoben wurde. Schwerpunkte der Aussprache waren aktuelle Krisenherde in MOE und Zentralasien, zu denen die unmittelbar Beteiligten ihre kontroversen Sachpositionen vortrugen. Kritisch festgestellt wurde von uns und zahlreichen weiteren Partnern, dass Zusammenarbeit im NAKR durch Konflikt um Nagorny Karabach belastet würde. Dieser Krieg zwischen Mitgliedern der KSZE als einer Wertegemeinschaft und des NAKR kann nicht hingenommen werden. BM hat deshalb nachdrücklich gefordert, dass Konferenz in Minsk15 rasch auf12 Für das bei der NATO-Gipfelkonferenz am 7./8. November 1991 verabschiedete Strategiekonzept vgl. https://www.nato.int/cps/en/natohq/official_texts_23847.htm?selectedLocale=en. Für den deutschen Wortlaut vgl. BULLETIN 1991, S. 1039–1048. Zur Gipfelkonferenz vgl. AAPD 1991, II, Dok. 375 und Dok. 376. 13 Zur Ministersitzung des DPC der NATO am 26. Mai 1992 in Brüssel vgl. Dok. 155. 14 So in der Vorlage. 15 Zur geplanten Konferenz über Nagorny Karabach im Rahmen der KSZE in Minsk vgl. Dok. 105, Anm. 14.

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genommen wird, und an Aserbaidschan und Armenien appelliert, Gewalt zu beenden. BM hat darüber hinaus US-Vorschlag für Entsendung ziviler Beobachter unterstützt. 7)16 Das Herbsttreffen des NATO-Rats auf Außenministerebene17 sowie die nächste Tagung des Nordatlantischen Kooperationsrates18 finden im Dezember 1992 in Brüssel statt. 8)19 Am Rande des Nordatlantischen Kooperationsrats fand am 5.6. in Oslo eine außerordentliche Konferenz zum Vertrag über konventionelle Streitkräfte in Europa statt. Sie schuf die rechtlichen Grundlagen für das Inkrafttreten dieses noch von der Sowjetunion – neben 21 anderen Staaten – am 19.11.1990 unterzeichneten, aber von ihr nicht mehr ratifizierten Vertragswerks: Das auf der a. o. Konferenz von den Außenministern unterzeichnete Schlussdokument20 legt fest, dass die sieben in Europa gelegenen GUS-Staaten und Georgien an der Stelle der Sowjetunion Vertragsparteien werden, in die Rechte und Pflichten der Sowjetunion aus dem Vertrag, einschließlich der Höchststärken für konventionelle Waffen, gemeinsam eintreten und den Vertrag statt der Sowjetunion ratifizieren. Der KSE-Vertrag bleibt mit seinem Regelwerk an Obergrenzen, Informationspflichten und Überwachungsmöglichkeiten ein Eckstein für den Bau einer neuen, kooperativen Sicherheitsordnung in Europa. Vor dem Hintergrund des Entstehens neuer Streitkräftestrukturen in den GUS-Staaten gewinnt der Vertrag eine neue Ordnungsfunktion. Die Bundesregierung erwartet, dass nach der Vereinbarung der a. o. Konferenz nun auch der letzte Schritt zum endgültigen Inkrafttreten dieses für die Stabilität Europas so wichtigen Abkommens – die Billigung durch die dazu befugten Verfassungsorgane der acht neuen Vertragsstaaten21 – rasch, wenn irgend möglich bis zum KSZE-Gipfel in Helsinki22, vollzogen wird. Die betroffenen Staaten haben sich sowohl in der Präambel des Schlussdokuments der a. o. Konferenz wie im Kommuniqué des Nordatlantischen Kooperationsrats23 darauf festgelegt, den Vertrag bis zum KSZE-Gipfel in Helsinki (9./10.7.1992) in Kraft zu setzen24 und die dafür notwendigen Schritte zu unternehmen. Bettzuege25 B 5, ZA-Bd. 161325

16 Korrigiert aus: „6)“. 17 Zur NATO-Ministerratstagung am 17. Dezember 1992 vgl. Dok. 431. 18 Die NAKR-Ministertagung fand am 18. Dezember 1992 in Brüssel statt. Vgl. Dok. 435. 19 Korrigiert aus: „7)“. 20 Für das Schlussdokument der außerordentlichen Konferenz zum KSE-Vertrag vgl. BULLETIN 1992, S. 620– 624. 21 Armenien, Aserbaidschan, Belarus, Georgien, Kasachstan, Moldau, Russland und Ukraine. 22 Zur KSZE-Gipfelkonferenz am 9./10. Juli 1992 vgl. Dok. 226. 23 Für die Erklärung der NAKR-Ministertagung vom 5. Juni 1992 in Oslo vgl. NATO FINAL COMMUNIQUÉS 1991–1995, S. 77–80. Für den deutschen Wortlaut vgl. BULLETIN 1992, S. 618–620. 24 Zur vorläufigen Anwendung des KSE-Vertrags vgl. Dok. 221. 25 Paraphe.

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171 Drahtbericht des Botschaftsrats I. Klasse Lutz, Belgrad VS-NfD Fernschreiben Nr. 720 Betr.:

Aufgabe: 10. Juni 1992, 14.43 Uhr1 Ankunft: 10. Juni 1992, 17.22 Uhr

Überlegungen zu unserer Politik gegenüber dem früheren Jugoslawien

Zur Unterrichtung Nach der Verabschiedung der SR-Res. 7572 ist –wie zu hoffen steht – der Anfang vom Ende des jug. Dramas eingeläutet worden. Dies sollte Anlass sein, über einige für die Lösung des Konfliktes wichtige Aspekte nachzudenken. 1) Natur des Konfliktes: Nach dem Zeitalter der ideologischen Spaltung Europas muss man sich wieder darauf einstellen, dass es sich hier nicht um einen ideologisch motivierten Konflikt, sondern um den Zusammenprall zweier Nationalismen handelt, deren Träger, Serben und Kroaten, einander ähnlicher sind, als sie selbst wahrhaben wollen. Ein uns befreundeter Journalist sprach davon, bei beiden Völkern sei Clausewitz auf den Kopf gestellt: Der Krieg werde nicht als Fortsetzung der Politik betrachtet, sondern höchstens die Politik als Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln (andere Völker spielen in JUG nur eine Nebenrolle). Besonders in Bosnien-Herzegowina (B+H) tritt der Grundcharakter dieses Krieges als Eroberung großzügig für das eigene Volk in Anspruch genommener Lebensräume in Erscheinung (wobei KRO über den Vorteil leichterer Kontrollierbarkeit „seiner“ territorialen Siedlungsgebiete verfügt). Die Moslems sind die bevorzugten Opfer, die sich vor allem gegen serb. Ansprüche verteidigen müssen. Mittlerweile ist der Krieg in B+H in ein Stadium der „Libanonisierung“ eingetreten. Auch Serbien dürfte wohl keine direkte Kontrolle über die dort auf serbischer Seite kämpfenden Einheiten mehr haben. (Diese auch vom VN-GS im Bericht zu VN-Res. 7523 vom 26.5.924 vertretene Auffassung wird durch die nach Verhängung der Sanktionen5 noch eskalierenden Artillerie-Angriffe auf Sarajevo gestützt.) Ziel der Sanktionen gegen Serbien könnte daher diesbezüglich nur sein, Belgrad dazu zu bringen, Druck auf die bosnischen Serben auszuüben, damit diese der Gewalt entsagen. Mit schnellen Erfolgen kann aber kaum gerechnet werden. 1 Das von LR I Höfer-Wissing, Belgrad, konzipierte Fernschreiben wurde in zwei Teilen übermittelt. Vgl. Anm. 7. Hat VLR I Haak vorgelegen, der handschriftlich vermerkte: „Interessant“. 2 Zur Resolution Nr. 757 des VN-Sicherheitsrats vom 30. Mai 1992, mit der Sanktionen gegen die Bundesrepublik Jugoslawien (Serbien/Montenegro) verhängt wurden, vgl. Dok. 159, Anm. 12. 3 Für die Resolution Nr. 752 des VN-Sicherheitsrats vom 15. Mai 1992 vgl. RESOLUTIONS AND DECISIONS 1992, S. 12 f. 4 Korrigiert aus: „30.5.92“. Vgl. Ziffer 16 und 17 des Berichts von VN-GS Boutros-Ghali vom 26. Mai 1992 an den VN-Sicherheitsrat zu Resolution Nr. 752 vom 15. Mai 1992 (S/24000); https://documents-dds-ny.un.org/doc/UNDOC/GEN/ N92/226/84/pdf/N9222684.pdf?OpenElement, S. 4 f. 5 Zu den Sanktionen gegen die Bundesrepublik Jugoslawien (Serbien/Montenegro) vgl. auch Dok. 162, Anm. 7.

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2) Serbien als Hauptverantwortlicher für jug. Krieg: Obwohl ein Großteil des serbischen Volkes den Krieg nicht wünscht (es kam zu massenhaften Desertionen bzw. Nicht-Befolgung der Mobilisierungsbefehle sowie Antikriegs-Demonstrationen), scheint es zu aktiver Gegenwehr gegen die für den Krieg verantwortliche Milošević-Führung noch nicht in der Lage zu sein. Dafür gibt es Ursachen: – eine sich traditionell vom Widerstand gegen die Obrigkeit fernhaltende Mentalität, – die seit dem Zweiten Weltkrieg tiefwurzelnde Furcht, Opfer eines neuen Genozids zu sein. (Je länger der jetzige Krieg dauert, desto realer wird diese Gefahr – „self-fulfilling prophecy“.) – Die sprichwörtliche serbische Dickköpfigkeit, resultierend aus einer im Mythologischen begründeten Überzeugung, immer im Recht zu sein. Hier sind die meisten Beobachter davon überzeugt, dass das Regime Milošević unter keinen Umständen zu freiwilligem Abtritt bereit sein würde. Ein rasch in gewalttätige Anarchie ausartender Bürgerkrieg auch unter den Serben selbst gewinnt unter solchen Auspizien an Wahrscheinlichkeit (wobei vorherige oder gleichzeitige Konflikte mit den moslemischen, albanischen bzw. ungarischen Minderheiten nicht ausgeschlossen werden können). Manches spricht dafür, dass den Serben eine solche Katharsis (ungefähr vergleichbar mit dem deutschen Neubeginn nach 1945) als Voraussetzung für die Integration in das moderne Europa möglicherweise nicht erspart bleiben wird. 3) Die für einen dauerhaften Frieden im jug. Raum erforderliche grundsätzliche Neuorientierung der serb. Politik ist vom derzeit herrschenden Regime kaum zu erwarten. Die notwendigen Veränderungen können aber nur aus Serbien selbst herauskommen (wenn man die Möglichkeit einer totalen militärischen Niederlage außer Betracht lässt). Daraus folgt, dass das Ausland alles vermeiden muss, was Milošević in der Beibehaltung seines Kurses bestärken kann. Handlungen oder Äußerungen ausländischer Politiker, die den Eindruck hervorrufen können, das ganze serbische Volk solle auf die Knie gezwungen werden, treiben es in die Solidarisierung mit der gegenwärtigen Führung. 4) Die Verwirklichung des Nahziels dauerhafter Waffenruhe muss auf allseits akzeptablen Regelungen aufbauen, da sie sonst zulasten des Fernziels einer dauerhaften Friedenslösung erfolgen würde. Einige Prämissen dafür sind: – Die „Europäisierung“ der südslawischen Völker muss gefördert werden. Ansprechgruppen in der Bevölkerung sind auch in Serbien vorhanden. Kontakte zu diesen sollten gestärkt, mindestens aber (trotz Sanktionen) erhalten werden. Mit einer Isolierung Serbiens (nach früherem rum. oder alb. Muster) wäre niemandem gedient. – Die dauerhafte Befriedung des balkanischen Krisenherdes lässt sich nicht erreichen, wenn in gedemütigten Völkern Revanchismustendenzen zurückbleiben, die nach Reduzierung des ausländischen Engagements wieder zum Ausbruch kommen können. – Der Nationalismus der einzelnen Völker muss – wenn er schon von außen nicht zu stoppen ist – gewissermaßen „austariert“ werden. Wenn die Serben gedemütigt werden, besteht die Gefahr, dass andere „übermütig“ werden. Wenn das serb. Engagement in B+H mit schweren Sanktionen geahndet wird, dürfte auch die kroat. Präsenz in B+H nicht völlig ohne internationale Reaktion bleiben. – Die Barbarei von Zwangsumsiedlungen, die von beiden Kontrahenten schon praktiziert wird, birgt den Keim des Revanchismus in sich. Leider dürften aber auch Verbleib oder 701

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Rückführung von Minderheiten in den Machtbereich eines anderen Volkes angesichts des aufgestauten Hasses neue Unterdrückung oder gar Existenzbedrohung zur Folge haben. So schwer dies für uns auch zu akzeptieren sein mag: Ein friedlicher Bevölkerungsaustausch sollte nicht behindert werden. Ein friedliches Zusammenleben ethnischer Kantone in B+H wird erst möglich sein, wenn diese sich nicht mehr „von innen heraus“ bedroht fühlen. – Die neuentstandenen bzw. entstehenden Staaten weisen wohl kaum Voraussetzungen für baldige Integrationsfähigkeit in die europäischen Strukturen auf. Hier wird ein Weg gefunden werden müssen, der allen jug. Völkern eine europäische Perspektive öffnet, ohne die bestehenden Institutionen zu paralysieren. – Bisher wurde die These, „jedes JUG war besser als gar keines“, noch nicht widerlegt. Der Versuch, das jug. Problem durch Zerlegung JUGs in seine Einzelteile zu lösen, dürfte in Anbetracht der eingetretenen Ergebnisse als gescheitert anzusehen sein. Unter den obwaltenden Umständen sind die Carrington-Vorschläge, die eine lockere, auf gemeinsamen Interessen aufgebaute Verbindung der Nachfolgestaaten vorsehen6, immer noch das Beste, was auf dem Markt ist. 75) Für die Erhaltung eines gesamtjug. Rahmens sprechen auch die Auswirkungen eines

völligen Zerfalls JUGs auf ganz Südosteuropa. Am Schicksal des Kosovo, Makedoniens und der Wojwodina sind Nachbarvölker lebhaft interessiert, und die Ereignisse in B+H beschäftigen inzwischen fast alle islamischen Staaten. In jedes völkerrechtliche oder machtmäßige Vakuum werden rivalisierende Kräfte von außen eindringen. Dies gilt vor allem für Makedonien, wenn dessen Anerkennung weiter aufgeschoben werden sollte. In GRI scheint man vor lauter Fixierung auf die Namensfrage zu ignorieren, dass ein kleines MAK für GRI wesentlich weniger gefährlich als ein neuer Balkankrieg und dessen Resultate wäre. 6) Zunehmende Spekulationen im Westen über „militärische Optionen“ sind – sofern nicht nur als psychologische Druckausübung gedacht – mit größter Skepsis zu betrachten. Empfehlungen, man solle doch einige serb. Artilleriestellungen bombardieren und ggf. – wie im Nordirak – Sicherheitszonen militärisch absichern, „dann würden die Serben schon aufgeben“, sind nachgerade unverantwortlich. Nach Vietnam und Afghanistan sollte eigentlich offensichtlich sein, dass es aller Wahrscheinlichkeit nach bei solchen beschränkten Einsätzen nicht bleiben wird. Die bosnischen Waldgebirge sind keine irakische Wüste – auf Erfahrungen der Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg darf verwiesen werden. (Um Missverständnisse auszuschließen: Die Wehrmacht wurde von den meisten Kroaten und einem wesentlichen Teil der muslimischen Bevölkerung unterstützt, erlangte aber dennoch nie volle Kontrolle über B+H und die Krajina.) Für die deutsche Außenpolitik droht sich in diesem Fall die unglückliche Konstellation des Golfkriegs zu wiederholen: Wir sind – stärker als am Golf – „Meinungsführer“ einer harten Linie gegen Serbien, würden aber die militärische „Drecksarbeit“ wieder anderen überlassen. Sollte es doch zu einer deutschen Beteiligung an einer Militäraktion kommen, lässt sich zweierlei mit Bestimmtheit vorhersagen: Für etwa noch fehlenden serb. Kampf6 Für das Dokument „Treaty Provisions for the Convention“ vom 4. November 1991 („Carrington-Plan“) vgl. B 42, ZA-Bd. 175713. 7 Beginn des mit DB Nr. 721 übermittelten zweiten Teils des Fernschreibens. Vgl. Anm. 1.

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willen wäre gesorgt, und deutsche Soldaten wären die Hauptzielscheiben für serb. Tschetniks. 7) Anregungen für unsere operative Politik gegenüber Serbien-Montenegro: – Kontakte zu europäisch denkenden Kreisen in Serbien sollten unbedingt aufrechterhalten und möglichst intensiviert werden. – Eine Abschottung („Rumänisierung“) Serbiens darf nicht zugelassen oder angestrebt werden. SR-Res. 757 darf also nicht als Begründung für die Abtötung auch aller kulturellen Beziehungen dienen. Es gibt hier genug europäisch orientierte Persönlichkeiten, die für den Aufbau eines demokratischen Staates zur Verfügung stünden. – Dem Regime muss es unmöglich gemacht werden, an die Ängste der einfachen Menschen zu appellieren, um sie hinter sich zu „homogenisieren“. Wir sollten Milošević deshalb keine Monopolstellung in Bezug auf die serbische Öffentlichkeit lassen, sondern dem Volk unsere Politik klarmachen. Dazu müssten auch Auslandssender wie die „Deutsche Welle“ instrumentalisiert werden. – Obwohl die meisten Mitarbeiter nichts dagegen hätten, Belgrad zu verlassen: Die Botschaften sollten nicht geschlossen werden. Als Pfahl im Fleische erfüllen sie einen besseren Zweck denn der einmalige Effekt ihrer Schließung. Schlössen wir, würden wir gerade die gegen das Regime aktiven Kreise entmutigen. – Die von hier stammenden Arbeitnehmer in D müssen hinsichtlich ihres Status und ihrer Zukunftssicherheit beruhigt werden. An ihnen können wir demonstrieren, dass wir nichts gegen die Angehörigen des serb. Volkes haben. Dies sollte auch Richtschnur für die Behandlung der Serben an den deutschen Grenzen sein. – Last, certainly not least: Wir müssen uns bei unseren Reaktionen auf den hiesigen Nationalismus in Acht nehmen, dass wir uns nicht selbst davon infizieren lassen (manche deutsche Pressestimmen legen dieses Caveat nahe). Heute sind unsere Beziehungen zu keinem anderen Volk der Welt so schlecht wie zu den Serben. Auch wenn wir die Hauptschuld daran auf serb. Seite sehen mögen, kann es wohl kaum in unserem Interesse liegen, erstmals nach dem Zweiten Weltkrieg die Verfestigung einer neuen „Erbfeindschaft“ tatenlos hinzunehmen. [gez.] Lutz B 28, ZA-Bd. 158644

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172 Gespräch des Bundeskanzlers Kohl mit den Präsidenten Gorbunovs (Lettland), Landsbergis (Litauen) und Rüütel (Estland) in Rio de Janeiro 11. Juni 19921 Gespräch des Bundeskanzlers mit den Präsidenten von Lettland, Estland und Litauen am Rande der UNCED-Konferenz in Rio de Janeiro2 am 11.6.19923 Gesprächsteilnehmer: Auf deutscher Seite: der Bundeskanzler, StM Schmidbauer, StS Vogel, MDg Dr. Neuer, VLR I Dr. Ueberschaer (Note-taker), Frau Kaltenbach (Dolmetscherin). Auf baltischer Seite: Präsident Gorbunovs, Lettland (mit Dolmetscher), Präsident Rüütel, Estland (mit Dolmetscher), Präsident Landsbergis, Litauen (mit Dolmetscher). Der Bundeskanzler kommt nach der Begrüßung auf die große Bedeutung der Umweltkonferenz in Rio zu sprechen: Es sei die erste weltweite Konferenz nach dem Zusammenbruch des kommunistischen Systems. Die Teilnehmer, ja die ganze Welt, müssten sich erst an die neue Lage gewöhnen. Das Thema „Umwelt und Entwicklung“ sei in vielen Facetten zwischen Industrie- und Entwicklungsländern streitig. Alle Seiten täten sich schwer, Solidarität zu leben. Für uns sei es nicht akzeptabel, dass vielfach die Staaten Mittel-, Ost- und Südosteuropas von dieser Solidarität völlig ausgenommen würden und unter „ferner liefen“ rangierten. Der Bundeskanzler werde in seiner Rede4 darauf hinweisen, dass die IL mehr für die EL und alle Seiten mehr für die MOE-Länder tun müssten. Wir Deutsche fühlten uns verpflichtet, unsere Hilfe in drei Richtungen zu gewähren: – an die neuen Bundesländer, – an die Staaten Mittel-, Ost- und Südosteuropas, – an die Länder der Dritten Welt. Wir empfänden es als ungerecht, dass nur die den Entwicklungsländern, hingegen nicht die den MOE-Ländern gewährte Hilfe als ODA anerkannt werde. Viele Entwicklungsländer, deren Staats- und Regierungschefs der Bundeskanzler in den letzten zehn Jahren begegnet sei, wären weiter in ihrer Entwicklung, wenn sie die ihnen zur Verfügung gestellten Mittel nicht indirekt für Rüstung, sondern für die Entwicklung ihres Landes verwendet hätten. Er selbst habe bei der Vergabe von EZ auch Verantwortung gegenüber dem deutschen Steuerzahler. 1 Der Gesprächsvermerk wurde von VLR I Ueberschaer, Bundeskanzleramt, z. Z. Rio de Janeiro, am 12. Juni 1992 gefertigt und am 22. Juni 1992 von MD Hartmann, Bundeskanzleramt, über BM Bohl an BK Kohl „mit der Bitte um Billigung“ geleitet. Dazu vermerkte Hartmann: „Ich gehe davon aus, dass der Vermerk nicht weitergegeben werden soll.“ Hat Bohl am 22. Juni 1992 vorgelegen. Vgl. den Begleitvermerk; BArch, B 136, Bd. 43298. 2 Zur VN-Konferenz über Umwelt und Entwicklung (UNCED) vom 3. bis 14. Juni 1992 vgl. Dok. 177. 3 BK Kohl nahm vom 9. bis 14. Juni 1992 an der VN-Konferenz über Umwelt und Entwicklung (UNCED) in Rio de Janeiro teil. 4 Für die Rede des BK Kohl am 12. Juni 1992 in Rio de Janeiro vgl. BULLETIN 1992, S. 633 f.

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Deutschland sei bereit, den Staaten der Dritten Welt weiterhin solidarisch zur Seite zu stehen. Die Länder der DW müssten aber auch ihrerseits Solidarität bei der Lösung der ökologischen Probleme der Welt beweisen. Dies alles gehöre in das Bild der einen Welt. Unter den IL herrsche im Hinblick auf die Hilfe an die MOE-Staaten vielfach die Vorstellung, dass Deutschland hier allein Verantwortung zu tragen habe. Dies sei falsch. Die anderen IL müssten mehr für die MOE tun. Präsident Landsbergis unterstreicht die Freude der drei Präsidenten, dass die MOELänder und insbesondere die baltischen Staaten in ihrer besonderen Lage die Beachtung des Bundeskanzlers fänden. Sie seien weder EL noch IL, sondern „Übergangsländer“. Man wolle den EL nichts von der ihnen zustehenden Hilfe nehmen, aber auch die Übergangsländer benötigten Hilfe. Die baltischen Staaten suchten deutsche Unterstützung für ihren Status und für die von ihnen gewünschte Art der Hilfe. Ihr wichtigstes Anliegen sei es, auf dem von ihnen eingeschlagenen Weg weitergehen zu können. Sie fühlten sich demokratischen und westlichen Werten verbunden und wollten nicht erneut Bestandteil eines russisch gelenkten Staatensystems werden. Angesichts des von Russland auf sie ausgeübten politischen und wirtschaftlichen Drucks und der damit zusammenhängenden Destabilisierung habe das litauische Parlament eine Entschließung verabschiedet, die ausdrücklich unterstreiche, dass eine Beteiligung Litauens an einem russisch gelenkten Staatensystem oder „Commonwealth“ nicht in Betracht komme. Hauptsorge der litauischen Regierung sei die fortbestehende Präsenz der Truppen der ehemaligen Sowjetarmee auf litauischem Territorium und deren Verhalten.5 Die zunehmende Stärkung linker Kräfte in Russland wie in Litauen gehe Hand in Hand mit einem sichtlich aggressiveren Verhalten der noch in Litauen stationierten GUS-Truppen. Mit einem Truppenrückzug habe die GUS bisher noch nicht begonnen. Litauen sei bemüht, die Aufmerksamkeit der KSZE und der G 7 auf diese Lage zu lenken. Die Regierung Litauens appelliere an die Bundesregierung, ihre Forderung zu unterstützen, den Rückzug der Truppen der GUS in angemessener Zeit durchzuführen. Bisher habe es nur „Geschwätz und Verzögerungen“ gegeben. Präsident Gorbunovs berichtet, dass 50 % des lettischen Territoriums aus Waldgebieten und jungfräulichem Sumpfland beständen. Daher habe Lettland ein Interesse, die bei UNCED zur Zeichnung aufliegenden Vereinbarungen zu zeichnen. Probleme erwarte man noch bei der Diskussion der Fragen einer nachhaltigen Entwicklung. Ein weiteres Problem, das die lettische Regierung bewege, sei die Notwendigkeit, Zugang zu internationaler Finanzierung und zu moderner Technologie zu finden, um die traditionellen heimischen Industrien zu modernisieren und auszubauen. Der Schutz der Umwelt sei für Lettland eine ganz wesentliche Frage. Er, Gorbunovs, könne Präsident Landsbergis’ Bewertung, wonach die von der ehemaligen Sowjetunion in den baltischen Staaten verursachten Schäden in ihrem Umfang noch gar nicht abzuschätzen seien, nur bestätigen. Ein gemeinsames Problem aller der drei baltischen Staaten sei der ökologische Schutz der Ostsee vor weiterer Beschädigung. Präsident Rüütel dankt dem Bundeskanzler für die Estland gewährte deutsche Hilfe. 5 Zum Abzug vormals sowjetischer Truppen aus den baltischen Staaten vgl. Dok. 81, Anm. 8.

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Estland habe nach seiner Unabhängigkeitserklärung6 sofort enge und gute Kontakte zur deutschen und den anderen westlichen Botschaften in Moskau aufgenommen und von ihnen große Unterstützung erhalten. Dies sei einer inoffiziellen Anerkennung seines Landes gleichgekommen. Er halte das vom Bundeskanzler angesprochene Thema einer gleichgewichtigen Hilfe der IL für EL und MOE für außerordentlich wichtig. Die baltischen Staaten seien 50 Jahre besetzt gewesen. Die Okkupanten hätten das Land missbraucht und Umweltschäden größten Umfangs verursacht. Sie hätten zahlreiche Angehörige der baltischen Staaten verschleppt und dafür große Zahlen von Russen einwandern lassen. Daher gehe es heute praktisch um eine Dekolonisierung Estlands wie des gesamten Baltikums. Zunächst müssten die GUS-Truppen die baltischen Staaten unverzüglich verlassen. Sie gehörten zu den größten Umweltverschmutzern. In Estland seien die Schäden außerordentlich groß. Estlands Bodenschätze seien in der Vergangenheit von der sowjetischen Industrie ausgebeutet worden, ohne dass dies dem Lande selbst etwas gebracht habe. Moskau habe keine Investitionen in den Umweltschutz vorgenommen. Zur Dekolonisierung Estlands müsse jetzt ein Prozess der Reemigration eingeleitet werden. Zuerst gehe es darum, aktive und pensionierte Offiziere der ehemaligen Sowjetunion sowie deren Familien – insgesamt 25 000 Personen – umzusiedeln. Das gleiche gelte für rund 2000 ehemalige KGB-Mitglieder und ihre Familien – meist Russen. Estland habe eine Stiftung zur Erleichterung der Reemigration organisiert, die sowohl vom estnischen Staat als auch von den Bürgern finanziert werde. Die estnische Regierung hoffe auf eine Beteiligung der Völkergemeinschaft und der internationalen Organisationen. Estland gehe es darum, alle offiziellen Vertreter des ehemaligen Sowjetsystems von der Macht zu entfernen, wie dies ja auch in Ostdeutschland geschehen sei. Estland sei bereit, diesem Personenkreis Wohnungen in deren Heimatländern zu bauen, um dadurch die Reemigration zu fördern. Am Bau der von Deutschland zu ähnlichen Zwecken finanzierten Wohnungen in den GUS-Staaten seien im Übrigen viele Esten beteiligt. Die Dekolonisierung müsse konsequent vorangetrieben werden. Wenn die Russen Estland nicht bald verließen, werden Estlands Identität und Kultur gefährdet. Die Erfahrungen der letzten Jahre hätten gezeigt, dass die in Estland lebenden Bürger sowjetischer Herkunft die Unabhängigkeit Estlands nicht gewollt hätten und sich nach wie vor wie Okkupanten aufführten. Er, Rüütel, habe diese Überlegungen bereits mit BM Genscher aufgenommen.7 Deutschland habe bereits sehr viel getan, um seine eigenen Probleme im Osten wie auch die der MOE- und insbesondere der GUS-Staaten zu lösen. Estland erwarte daher für die geplante Stiftung von Deutschland nur eine symbolische Hilfe. Gespräche mit der Leitung der KAS hätten ergeben, dass auch diese helfen wolle. 6 Am 30. März 1990 verurteilte der Oberste Sowjet Estlands die sowjetische Annexion des Landes 1940 und verkündete eine Übergangsperiode bis zur Wiederherstellung der Unabhängigkeit. Am 8. Mai 1990 folgte die Rückbenennung in „Republik Estland“. Am 3. März 1991 fand in Estland ein Referendum statt, bei dem 77,8 % für die Unabhängigkeit stimmten. Am 20. August 1991 erklärte sich das Land für unabhängig. 7 BM Genscher traf am 11. September 1991 in Tallinn mit dem Vorsitzenden des Obersten Rates Estlands, Rüütel, zusammen. Vgl. AAPD 1991, II, Dok. 306. Vgl. ferner ihr Gespräch am 3. April 1992; Dok. 99.

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Er, Rüütel, sei sich mit den beiden anderen baltischen Präsidenten darin einig, dass das Baltikum in einer anderen Lage sei als die übrigen Staaten Mittel-, Ost- und Südosteuropas. Diese seien in der Vergangenheit nicht im vergleichbaren Maße ausgebeutet worden. Was den Umweltschutz angehe, benötige Estland zwar die gleiche Hilfe wie ein Entwicklungsland, könne diese aber weit effektiver nutzen. Die baltischen Staaten verfügten über hochmotivierte und qualifizierte Fachleute. Jede ausländische Hilfe sei bei ihnen schnell und effizient umsetzbar. Schnelle Hilfe benötige insbesondere die Ostsee, die sich in einem schrecklichen Zustand befinde. Man müsse gemeinsam etwas tun. Sinnlos sei es, den baltischen Staaten zu diesem Zweck nur einige Prozente der Gesamthilfe für die GUS einzuräumen. Der Bundeskanzler fragt, ob die Präsenz der GUS-Truppen ungeachtet der bestehenden ökonomischen und ökologischen Probleme das Hauptproblem der baltischen Staaten darstelle, was von allen drei Präsidenten bejaht wurde. Der Bundeskanzler bemerkt, dass die Sicherheitsfrage auch aus unserer Sicht Vorrang vor den ökonomischen und den ökologischen Problemen haben müsse. Die Bundesregierung kenne aus eigener Erfahrung die Probleme eines Rückzugs von GUS-Truppen, wobei die Sicherheitsfrage für uns jedoch eine geringere Rolle spiele. Auf Frage des Bundeskanzlers, ob die Verzögerung des Rückzugs der ehemaligen Sowjettruppen primär damit zusammenhinge, dass für sie erst Wohnungen und Arbeitsplätze auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion geschaffen werden müssten, betonen die drei Präsidenten einstimmig, dass in erster Linie politische Gründe für die Verzögerungen maßgebend seien. Der Bundeskanzler erklärt, dass er diese Frage in die Gespräche der G 7 mit Präsident Jelzin einbringen werde, mit dem man sowieso über Sicherheitsfragen (A- und C-Waffen, KKW-Sicherheit) sprechen wolle.8 Eine anhaltende Quasi-Okkupation der drei baltischen Staaten sei für uns ebenso inakzeptabel wie für die Betroffenen selbst. Die G 7 müssten den Russen deutlich machen, dass, wer von ihnen Hilfe erwarte, dafür auch mit einer aktiven Friedenspolitik zu bezahlen habe. Es sei deutsche und europäische Politik, sich für die volle Souveränität der drei baltischen Staaten einzusetzen. Das gelte insbesondere in der Frage der Truppenpräsenz der GUS-Staaten. Für Deutschland sei die Lage wesentlich anders als für die baltischen Staaten: Das Gebiet der ehemaligen DDR stehe unter vollem Schutz der NATO; außerdem steht auch dort die Bundeswehr. Die Frage der vollen Souveränität der drei baltischen Staaten sei eine Frage von europäischer Dimension. Der Bundeskanzler wolle dieses Thema auch namens der drei baltischen Präsidenten auf dem bevorstehenden ER in Lissabon9 ansprechen. Die russische Regierung dürfe nur dann Hilfe der EG erwarten, wenn sie die Präsenz ihrer Truppen in den baltischen Staaten deutlich zurückführe. Niemand könne sicher sein, ob nicht in Russland wieder die alten großrussischen Vorstellungen virulent würden. Der Bundeskanzler beabsichtige auch, dem G 7-Gipfel gleichermaßen vorzuschlagen, Jelzin mit der Forderung nach verbindlichen Plänen für die Rückführung seiner Truppen zu konfrontieren. Der Bundeskanzler erläutert den drei baltischen Präsidenten sodann seine Vorstellungen über deren Assoziierung an die EG. Er erwarte – trotz der jüngsten Ablehnung der Maas8 Zum Weltwirtschaftsgipfel vom 6. bis 8. Juli 1992 in München und dem anschließenden Gespräch mit dem russischen Präsidenten Jelzin vgl. Dok. 225. 9 Zur Tagung des Europäischen Rats am 26./27. Juni 1992 vgl. Dok. 201.

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trichter Verträge durch das dänische Parlament10 – den baldigen Beitritt Österreichs, Finnlands und Schwedens zur EG. Gleiches gelte für die Schweiz, wenn sie dies beantrage. Später könnten die ČSFR, Ungarn, Polen und auch die baltischen Staaten folgen. Für Letztere sei es wichtig, bald das für einen Beitritt erforderliche wirtschaftliche Niveau zu erreichen. Dazu werde eine vorherige Assoziierung hilfreich sein. Diese Assoziierung müsse man so gestalten, dass sie von vornherein den Weg für den späteren Beitritt der drei baltischen Staaten vorzeichne. Für andere Länder könne man eine solche Zielvorgabe nicht vorsehen: Die Politische Union müsse den Geist Europas, den gemeinsamen kulturgeschichtlichen Hintergrund der europäischen Staaten, reflektieren. Die baltischen Staaten seien und blieben Teil dieses Europas. Gerade sie, die mit Deutschland böse Erfahrungen gemacht hätten, verdienten es besonders, dass Deutschland und Europa ihnen die Chance geben, das in den letzten 50 Jahren Versäumte wieder aufzuholen. Mit umfangreichen privaten Direktinvestitionen aus dem Ausland sei aber erst dann zu rechnen, wenn die Frage der Truppenrückführung eindeutig geklärt sei. Der Bundeskanzler unterstreicht, dass er den drei baltischen Präsidenten rate, sich im Rahmen der UNCED deutlich mit der Dritten Welt zu solidarisieren, aber zugleich auch einen eigenen Anspruch auf Solidarität zu erheben. Dabei sei allerdings gegenüber den früheren Kolonien Behutsamkeit angebracht. Der Bundeskanzler schlägt den drei Präsidenten vor, weiter Kontakt zu halten und über seine Mitarbeiter in der Truppenfrage im Herbst weitere Konsultationen zu führen. Die drei Präsidenten stimmen zu. Präsident Rüütel berichtet über ein Gespräch mit dem ukrainischen Präsidenten Krawtschuk, der ihm zugesagt habe, die ukrainischen Offiziere in den baltischen Staaten dazu aufzurufen, unverzüglich in ihre Heimat zurückzukehren. Die ukrainischen Offiziere machten ca. 30 % des Offizierskorps der GUS-Truppen in den baltischen Staaten aus. Krawtschuk unterstütze die baltischen Pläne zur Dekolonisierung ihres Territoriums. Zur Frage des Bundeskanzlers, ob Krawtschuk diese Zusage auch einhalte, bemerkt Rüütel, dass Krawtschuk dazu bereit sei. Er habe geäußert, dass auch russische Demokraten Großrussen blieben, die die Tendenz hätten, Russland wieder zu seinen alten Grenzen zu verhelfen. Der Bundeskanzler könne seine Autorität nützen, den Abzug der Truppen und die Dekolonisierung der baltischen Staaten miteinander zu verbinden. Dies sei wichtig, da viele Russen die Tendenz hätten, im Baltikum zu bleiben. Der Bundeskanzler erklärt, dass er hierzu bereit sei. Präsident Landsbergis weist darauf hin, dass man bei der Demilitarisierung des Baltikums auch bedenken müsse, dass Russland seine Truppen nicht nur bis Königsberg zurückführen dürfe. Er bittet ferner um deutsche Hilfe bei der Bergung umfangreicher Vorräte von Munition, Bomben und Kanistern, die die Sowjetunion nach dem Krieg in Küstennähe in der Ostsee versenkt habe. Wenn die inzwischen durchgerosteten Behälter platzten, werde die Ostsee ein „totes Meer“. Er bittet schließlich den Bundeskanzler um politische Hilfe in Form eines baldigen Besuches. Der Bundeskanzler sagt einen Besuch in den drei baltischen Staaten zu, wenn die Terminlage ihm dies gestatten werde. 10 Zum dänischen Referendum vom 2. Juni 1992 über das Vertragswerk von Maastricht vgl. Dok. 166, Anm. 2.

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Präsident Rüütel wirbt – ohne dies näher zu spezifizieren – um deutsche Hilfe beim Schutze seiner Grenzen. Der Bundeskanzler dankt den drei Präsidenten, äußert Verständnis für ihre schwierige Lage und spricht ihnen seine volle Sympathie aus. Deutschland habe nicht vergessen, dass es an der Lage der baltischen Staaten nicht ganz unschuldig sei. Er erinnert an die Äußerung eines der drei Außenminister der baltischen Staaten bei deren Besuch in Bonn, dass ihre Länder „jetzt nach Europa zurückkehrten“.11 Der Bundeskanzler erläutert sodann die deutsche Politik, für die die Einheit Deutschlands wie die Einheit Europas zwei Seiten der gleichen Medaille seien. Wenn die Politische Union jetzt nicht gelinge, werde es 25 Jahre dauern, bis sich hierfür eine neue Chance biete. Er selbst wolle einen wesentlichen Beitrag zu einem vereinten Europa leisten, zu dem auch die baltischen Staaten gehörten. Dieses Europa werde weder dem Beispiel der VN noch dem der USA entsprechen. Jedes europäische Land habe seine eigene Identität, die zusammen das Bild Europas formten. BArch, B 136, Bd. 43298

173 Gespräch des Bundesministers Kinkel mit dem niederländischen Außenminister van den Broek in Den Haag 416-421.15 NL

11. Juni 19921

Im Vordergrund des Meinungsaustausches der beiden Minister zu EG-Fragen standen die Ratifizierung des Vertrages von Maastricht nach dem DK-Referendum2, die EG-Erweiterung und das Delors II-Paket3. 11 Die AM Jurkāns (Lettland), Meri (Estland) und Saudargas (Litauen) hielten sich anlässlich der ersten Sitzung des KSZE-Außenministerrats am 19./20. Juni 1991 in der Bundesrepublik auf. Vgl. AAPD 1991, I, Dok. 204. Anlässlich der Wiederaufnahme der diplomatischen Beziehungen hielten sich die drei baltischen AM am 27./28. August 1991 erneut in der Bundesrepublik auf. Vgl. AAPD 1991, II, Dok. 289. 1 Der Gesprächsvermerk wurde von MDg von Kyaw und Botschafter z. b. V. Klaiber am 15. Juni 1992 gefertigt und an VLR I Matussek geleitet „mit der Bitte, die Zustimmung des Herrn Bundesministers herbeizuführen“. Hat BM Kinkel am 16. Juni 1992 vorgelegen. Hat Matussek am 17. Juni 1992 vorgelegen, der den Rücklauf über Kyaw an Klaiber „z[ur] w[eiteren] V[eranlassung]“ verfügte. Hat Kyaw am 18. Juni 1992 erneut vorgelegen, der die Weiterleitung an Referat 416 verfügte. Hat Klaiber am 20. Juni 1992 erneut vorgelegen. 2 Zum dänischen Referendum vom 2. Juni 1992 über das Vertragswerk von Maastricht vgl. Dok. 166, Anm. 2. 3 Zum „Delors-Paket II“ vgl. Dok. 102, Anm. 13.

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11. Juni 1992: Gespräch zwischen Kinkel und van den Broek

1) Vertrag von Maastricht Beide Minister bestätigten die Linie von Oslo4: – Der Ratifizierungsprozess in den übrigen MS muss fortgesetzt und abgeschlossen werden; – es kann keine Neuverhandlungen, kein Öffnen der „Pandora-Büchse“ geben; – das Tor bleibt für DK offen, das sich zunächst selbst über den weiteren Weg klar werden muss. Dann werden alle zwölf MS sehen, welche politischen bzw. rechtlichen Lösungen geboten sein werden; – die Bürger in unseren beiden Ländern müssen besser über Inhalt und Bedeutung des Vertrages von Maastricht (und was bei der europäischen Einigung auf dem Spiel steht) informiert werden. 2) EG-Erweiterung Beide Minister waren sich einig, dass der Prozess der Vorbereitung der Erweiterungsverhandlungen mit den EFTA-Staaten fortzusetzen sei, damit Anfang 1993 mit den Verhandlungen begonnen werden kann.5 Im Hinblick auf Verlautbarungen aus Großbritannien betonte NL-AM, dass es nicht um eine „Beschleunigung“ der Verhandlungen, sondern um „business as usual“ gehen solle. BM erwiderte, es ginge um ein „normales Tempo“. 3) Delors II Beide Seiten stellten die weitgehend übereinstimmende Beurteilung der Kommissionsvorschläge durch ihre Finanzminister-Kollegen im ECOFIN-Rat6 fest. Im Übrigen waren sie der Meinung: – Ausgabensteigerungen der EG müssen stärker mit Haushaltszwängen in Einklang gebracht werden; – gegenwärtiger Eigenmittelplafond von 1,20 % des Gemeinschafts-BSP reiche noch für mehrere Jahre (NL-Europaminister Dankert sprach von zwei bis drei Jahren, wir empfahlen insoweit noch keine Festlegung); – zu den Kohäsionsfonds- und Strukturfondsmitteln seien weitere Prüfungen, insbesondere zur Mittelhöhe, erforderlich; – beim ER Lissabon7 wünschen beide politische Grundaussagen, aber noch keine zu konkreten Festlegungen. In der gegenwärtigen Konstellation nach dem DK-Referendum sei es im Übrigen wünschenswert, in Lissabon Kontroversen möglichst zu vermeiden. 4) Vor der Presse erklärte BM auf Fragen, dass wir für das Subsidiaritätsprinzip, aber gegen eine Einschränkung der Befugnisse der EG-Kommission seien. Im weiteren Verlauf des Gesprächs standen die Themen Bosnien-Herzegowina, Kosovo, Mazedonien, Chemiewaffen-Agentur und das Eurokorps im Vordergrund. 4 Zur außerordentlichen EG-Ministerratstagung am 4. Juni 1992 vgl. Dok. 166. 5 Die EG nahm am 1. Februar 1993 Beitrittsverhandlungen mit Finnland, Österreich und Schweden auf. Die Beitrittsverhandlungen mit Norwegen begannen am 5. April 1993. Vgl. AAPD 1993. 6 Zur EG-Ratstagung auf der Ebene der Wirtschafts- und Finanzminister am 9./10. Juni 1992 in Luxemburg vgl. Dok. 158, Anm. 19. 7 Zur Tagung des Europäischen Rats am 26./27. Juni 1992 vgl. Dok. 201.

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11. Juni 1992: Gespräch zwischen Kinkel und van den Broek

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Bosnien-Herzegowina Es bestand Einvernehmen, dass die von den VN beschlossenen Sanktionen gegenüber Serbien und Montenegro8 strikt eingehalten werden sollten. Dies gelte auch für die Sanktionen im Bereich des Sports (Olympische Spiele9), da diese psychologisch besondere Bedeutung hätten. Erste Wirkungen des Sanktionsbeschlusses seien inzwischen spürbar. Eine weitere Erhöhung des Drucks auf Serbien einschließlich der Möglichkeit militärischer Maßnahmen dürfe politisch nicht ausgeschlossen werden. Hierfür sei allerdings eine erneute Resolution des VN-Sicherheitsrates erforderlich. NL-AM van den Broek konnte sich z. B. einen „credible deterrent by sea and by air“ vorstellen. BM wies auf besondere historische Problematik eines deutschen Engagements im ehemaligen Jugoslawien hin. Kosovo10 Beide Minister teilten große Besorgnis vor einer ähnlich krisenhaften Entwicklung in Kosovo. Es müsse geprüft werden, ob Kosovo in der einen oder anderen Form präventiv in das Krisenmanagement einbezogen werden könne. Van den Broek erwähnte z. B. die Möglichkeit einer Stationierung von Beobachtern an der bulgarischen und albanischen Grenze. Er wolle dies auf dem EG-Treffen am 15.6.11 thematisieren. Mazedonien Es bestand Einvernehmen, dass griechische Position in der Anerkennungsfrage auf Dauer nicht zu halten sei. Sitz Chemiewaffen-Agentur BM erklärte, dass wir niederländische Kandidatur angesichts unseres Bemühens um europäische Solidarität unterstützten, dies wegen unserer Vorsitzrolle jedoch nicht nach außen vertreten könnten. Eurokorps BM erläuterte auf Bitten van den Broeks unsere Haltung zum Eurokorps. Aufstellung bewirke entgegen anderslautender Auffassungen eine Stärkung der NATO. Einzelheiten der Beziehung zum Bündnis müssten jetzt im Benehmen mit der NATO im Detail festgelegt werden. Eindeutig sei, dass deutsche Truppen unverändert der NATO assigniert blieben. Das Eurokorps stehe nach unserer Auffassung für künftige Einsätze entsprechend seinem Mandat der WEU zur Verfügung. Dies sei gemäß den Beschlüssen von Maastricht12 der 8 Zu den am 30. Mai 1992 vom VN-Sicherheitsrat gegen die Bundesrepublik Jugoslawien (Serbien/Montenegro) verhängten Sanktionen vgl. Dok. 159, Anm. 12. 9 Die Olympischen Sommerspiele fanden vom 25. Juli bis 9. August 1992 in Barcelona statt. 10 Zur Lage im Kosovo vgl. Dok. 236. 11 Die EG-Ministerratstagung fand in Luxemburg statt. Botschafter Trumpf, Brüssel (EG), berichtete am 16. Juni 1992, neben dem „Delors-Paket II“ seien „der Bericht der Persönlichen Beauftragten zum Regionalausschuss, die Vorbereitung des ER in Lissabon, der Beitrittsantrag der Schweiz, die Beziehungen der Gem[einschaft] zu Japan sowie die Beziehungen zu den Maghreb-Ländern“ erörtert worden: „Beim Mittagessen behandelten die Minister die Themen Schaffung einer europ[äischen] Drogenbeobachtungsstelle und des europ. Informationsnetzes für Drogen und Drogensucht, die Uruguay-Runde und die Frage der Einladung dritter Staaten zum ER in Lissabon. […] Im Rahmen der EPZ verabschiedeten die Minister eine Erklärung zur Situation in Jug[oslawien].“ Vgl. DB Nr. 1799; B 210, ZA-Bd. 162279. Vgl. auch BULLETIN DER EG 6/1992, S. 125 f. 12 Zur Tagung des Europäischen Rats am 9./10. Dezember 1991 vgl. AAPD 1991, II, Dok. 425 und Dok. 431.

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11. Juni 1992: Vorlage von Haak

Beginn einer sich herausbildenden europäischen Verteidigungsidentität und gleichzeitig eine Stärkung des europäischen Pfeilers der NATO. Van den Broek äußerte sich skeptisch und vertrat die Auffassung, das Korps widerspräche dem Geiste von Maastricht, insbesondere in Bezug auf die Entwicklung der WEU zur Stärkung des europäischen Pfeilers der Allianz. Es bestehe keine Klarheit, ob das Korps „answerable to“ WEU sei oder sich als Nukleus einer neuen militärischen Struktur in Europa verstehe; französische Erläuterungen stützten diese Befürchtungen.13 Er werde anlässlich des WEU-Ministertreffens am 19.6.14 niederländische Bereitschaft erklären, die britischbelgisch-niederländisch-deutsche multinationale Division für Missionen der WEU bereitzustellen für den Fall, dass dies die übrigen beteiligten Länder ebenfalls täten. B 223, ZA-Bd. 171854

174 Vorlage des Vortragenden Legationsrats I. Klasse Haak für Bundesminister Kinkel 212-341.93/1-7

11. Juni 1992

Über Dg 21, D 21, Herrn Staatssekretär2 Herrn Bundesminister3 Ausblick auf den KSZE-Gipfel 9./10. Juli 1992 in Helsinki4; hier: Substanz Bezug: a) Besprechung bei StS Kastrup am 10.6.1992 b) Vorlage vom 2. Juni 1992 (Programm, Delegationsliste)5 Anlg.: 16

Betr.:

13 VLR I Bertram wies am 19. Juni 1992 die Kritik zurück, die der niederländische AM van den Broek am 11. Juni 1992 gegenüber BM Kinkel in Den Haag am Eurokorps geäußert habe. Dessen Aufstellung sei vielmehr „ein Beitrag, die Europäische Politische Union mit Möglichkeiten des eigenen Handelns auszustatten, indem der WEU als dem sicherheitspolitischen Instrument der Union Kräfte und Mittel zur Verfügung gestellt werden, die sie zur Erfüllung der ihr in Maastricht übertragenen Aufgaben braucht“. Vgl. B 14, ZA-Bd. 161202. 14 Zur WEU-Ministerratstagung auf dem Petersberg vgl. Dok. 162, Anm. 32. 1 Hat, auch in Vertretung des MD Chrobog, MDg von Studnitz am 11. Juni 1992 vorgelegen. 2 Hat StS Kastrup am 12. Juni 1992 vorgelegen. 3 Hat BM Kinkel am 13. Juni 1992 vorgelegen. Hat OAR Salzwedel am 15. Juni 1992 vorgelegen, der den Rücklauf über das Büro Staatssekretäre, MD Chrobog und MDg von Studnitz an Referat 212 verfügte. Hat VLR I Reiche am 15. Juni 1992 vorgelegen. Hat Chrobog am 16. Juni 1992 vorgelegen. Hat Haak, auch in Vertretung von Studnitz, am 16. Juni 1992 erneut vorgelegen. 4 Zur KSZE-Gipfelkonferenz am 9./10. Juli 1992 vgl. Dok. 226. 5 Für die Vorlage des VLR I Haak vgl. B 28, ZA-Bd. 158703. 6 Dem Vorgang beigefügt. Für das undatierte Papier „Chairman’s synthesis based on contributions by the EC and Finland: The Helsinki CSCE Summit Document 1992. The Challenges of Change“ vgl. B 28, ZABd. 158703.

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11. Juni 1992: Vorlage von Haak

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Zweck der Vorlage: Zur Unterrichtung Bei den seit 24.3.1992 laufenden Verhandlungen des Folgetreffens zeichnet sich ein substanzielles Ergebnis für den Gipfel am 9./10.7.1992 ab. Zum Format: – Die Hauptuntergliederung in einen Teil „Politische Erklärung“ und einen weiteren Teil „Entscheidungen“ dürfte feststehen. – Vom Rang her kann das Schlussdokument kein Äquivalent zur Charta von Paris sein, auch wenn Annahme bzw. Zeichnung (noch nicht entschieden!) durch Staats- oder Regierungschefs vorgesehen ist. – Es handelt sich um nicht mehr, aber auch nicht weniger als ein Gipfel-Kommuniqué, nämlich des ersten von künftig regelmäßig alle zwei Jahre stattfindenden Gipfeltreffen (wie in Charta von Paris vorgesehen). I. „Politische Erklärung“ Die programmatische Erklärung der Charta von Paris mit ihren Grundsatzaussagen zu Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechten und militärischer Sicherheit lässt sich von ihrer Aussagekraft her nicht duplizieren. Leitmotiv muss vielmehr die Aufgabe der KSZE sein, den nach der Charta von Paris (mit ihrem „heilen Weltbild“ nach Überwindung der Ost-West-Konfrontation) sichtbar gewordenen tiefgehenden Wandel zu meistern, wozu die entsprechenden strukturellen Anpassungen notwendig sind. Der anliegende Gliederungsentwurf des finnischen Vorsitzes, auf dessen Grundlage jetzt im Plenarausschuss verhandelt wird, setzt dementsprechend folgende Schwerpunkte: – Würdigung des Wandels seit der Charta von Paris, – Aussagen zu positiven und negativen Entwicklungen, – Ansprache des Handlungsbedarfs für die KSZE, um den Herausforderungen des eingetretenen Wandels gerecht zu werden. Wir waren an dieser Konzeption maßgeblich beteiligt und arbeiten im Verbund der EPZ an Textvorschlägen der Zwölf mit. Ein wichtiger Punkt für uns ist die inhaltliche Konkordanz der zeitlich unmittelbar aufeinanderfolgenden Gipfel von München7 und Helsinki im Bereich der Wirtschaft. Es ist deshalb beabsichtigt, unserer Delegation schnellstmöglich Elemente aus den in Vorbereitung befindlichen Texten des Münchner Gipfels an die Hand zu geben. Außerdem wird es in Helsinki darauf ankommen, die Ergebnisse von München den MOE- und GUSStaaten zu vermitteln. Wünsche nach zusätzlichen Aussagen, z. B. Kampf gegen Terrorismus oder Verurteilung von Fremden- und Rassenhass, sind in Helsinki von verschiedenen Delegationen angemeldet worden. Ein Teil davon wird zu berücksichtigen sein. II. Entscheidungen Sie werden zurzeit in vier Arbeitsgruppen ausgehandelt: – AG 1: weitere Entwicklung der KSZE-Institutionen und -Strukturen; – AG 2: Mandat für künftige Rüstungskontrollverhandlungen; – AG 3: Menschliche Dimension; – AG 4: Zusammenarbeit in den Bereichen Wirtschaft, Wissenschaft, Technik und Umwelt. 7 Zum Weltwirtschaftsgipfel vom 6. bis 8. Juli 1992 vgl. Dok. 225.

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11. Juni 1992: Vorlage von Haak

1) Strukturen a) Unsere Anliegen sind auf gutem Wege: – Am Wichtigsten: Schaffung der Möglichkeit zu friedenserhaltenden Maßnahmen der KSZE. Insofern allerdings noch innerwestliche Formulierungsschwierigkeiten, insbesondere bezüglich Einbeziehung des Potenzials der NATO. – Erklärung der KSZE zu „regionaler Abmachung“ im Sinne von Kap. VIII der VN-Charta.8 – Lenkungsausschüsse für spezifische Aufgaben9 während Konflikten, um Entscheidungsfähigkeit zu fördern (52 Teilnehmerstaaten!). Wir wollen damit der KSZE die Perspektive eines weitergehenden Ausbaus zu einem effizienten Ordnungsfaktor eröffnen, deren nähere Bestimmung im jetzigen Stadium allerdings sicher kontraproduktiv wirken würde (Empfindlichkeiten von F und GB10 gegenüber dem Konzept eines „europäischen Sicherheitsrats“). b) Dagegen erscheinen gemeinsame D-F-Projekte in ihrer gegenwärtigen Form kaum durchsetzbar: – Verhaltenskodex11 mit Perspektive „Sicherheitsvertrag“: Nur ersterer ist realistisch und auch insofern noch Zögern der USA. – Schiedsinstanz12 („Badinter-Initiative“). Nachdem Badinter den Gedanken der Zeichnung einer Konvention schon beim Gipfel nicht aufgeben möchte und der Quai Schwierigkeiten hat, eine realistische Position zu vertreten (enges Verhältnis von Badinter zum Präsidenten13!), muss eine mögliche Konfrontation F/D gegen USA/GB auf dem Gipfel rechtzeitig vermieden werden. Es kommt darauf an, dass die Franzosen die Erfolgsaussichten richtig einschätzen. Deshalb sollten wir F-Demarchen in Washington und London unterstützen, obwohl das Ergebnis feststeht. Sie selbst hatten die Sache bereits gegenüber AM Hurd angesprochen.14 Alternative wäre: positive Aussage im Schlussdokument zu einem neuen (verbindlichen) Schlichtungs- und Schiedsverfahren, möglichst unter Bezugnahme auf den erarbeiteten Entwurf, und Weiterarbeit bis zum nächsten KSZE-Rat am 14./15. Dezember 199215. Diese Alternative sollte bei Demarchen möglichst schon erörtert werden. c) Von uns unterstütztes NL-Projekt eines Hochkommissars für Minderheiten16: Ein Konsens erscheint möglich, wenn der Kommissar keine eigenständige Untersuchungsbefugnis bekommt, sondern darauf beschränkt wird, die KSZE-Organe auf konfliktträchtige Situationen aufmerksam zu machen. Allerdings bleibt ein gewisses Fragezeichen, ob sich die Zurückhaltung von USA und GB gegen eine solche Institution gerade auf dem Gebiet des Minderheitenschutzes wirklich überwinden lässt. 8 Zu dieser Initiative vgl. Dok. 105, Anm. 20. 9 Zum Vorschlag eines KSZE-Lenkungsausschusses vgl. Dok. 105, Anm. 26. 10 Korrigiert aus: „G“. 11 Zum Vorschlag für einen KSZE-Verhaltenskodex vgl. Dok. 142, Anm. 9. 12 Zur deutsch-französischen Initiative für eine Gesamteuropäische Schiedsinstanz vgl. Dok. 105, Anm. 27. 13 François Mitterrand. 14 Zum Gespräch des BM Kinkel mit dem britischen AM Hurd am 1. Juni 1992 in London vgl. Dok. 162. 15 Zum KSZE-Außenministerrat in Stockholm vgl. Dok. 418 und Dok. 423. 16 Zum niederländischen Vorschlag eines KSZE-Hochkommissars für Minderheiten vgl. Dok. 48, Anm. 19.

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11. Juni 1992: Vorlage von Haak

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2) Bereich Sicherheit (vgl. unten zu III.) 3) Menschliche Dimension In diesem grundlegenden Bereich geht es dank des bereits in Paris17 erreichten hohen Standes der KSZE-Normen jetzt lediglich um: – Ausbau des Warschauer Büros für demokratische Institutionen und Menschenrechte als Koordinierungsstelle der KSZE für Demokratiehilfe (in Zusammenarbeit mit dem Europarat). – Implementierungstreffen alle zwei Jahre sowie kurze Spezialseminare. Wir unterstützen den estnischen Vorschlag für ein Seminar über gute Erfahrungen mit dem Minderheitenschutz18. Ein Problem für uns (BMI und BMA) ist türkischer Vorschlag, den Schutz der Wanderarbeiter weiter auszubauen19. Wir können aber einem Seminar hierüber zustimmen. Weitere Seminarvorschläge betreffen Migrationsfragen (USA)20 und Fragen von Flüchtlingen und internen Vertriebenen (Russland)21. (BMI will Beschränkung auf ein einziges Seminar.) Ein Seminar über freie Medien wurde schon vorher (beim AM-Rat in Prag22) vereinbart.23 4) Wirtschaft und Umwelt Hier bleibt grundlegend, dass auf wirtschaftlichem Gebiet die KSZE gegenüber den bestehenden Organisationen keine Doppelarbeit leisten sollte (so insbesondere die Zwölf). Aber wegen des hier liegenden besonderen Interesses der MOE- und GUS-Staaten und auch starken US-Engagements wird immerhin vorgesehen werden, eine besondere AHB-Tagung als „Wirtschaftsforum 1993“ sowie weitere Tagungen jährlich durchzuführen.24 Gute Aussicht hat unsere Initiative „Grünhelme“25, d. h. eines politischen Impulses der KSZE für ein System rascher Koordinierung von Maßnahmen bei Umweltkatastrophen (in Anknüpfung an das Centre for Urgent Environmental Assistance im Rahmen des Umweltprogramms der Vereinten Nationen (UNEP). III. Rüstungskontroll-Agenda des KSZE-Gipfels Militärische Aspekte der Sicherheit, Abrüstung und Rüstungskontrolle waren von Anfang an wesentliche Elemente des KSZE-Prozesses. Dementsprechend stehen auch auf dem 17 Zur KSZE-Gipfelkonferenz vom 19. bis 21. November 1990 vgl. AAPD 1990, II, Dok. 390. 18 Für den estnischen Vorschlag für ein „Kurzseminar über Beispiele zufriedenstellend gelöster Probleme nationaler Minderheiten“, der am 1. Juni 1992 zusammen mit der ČSFR, Kroatien, Lettland, Liechtenstein, Litauen, Malta, Österreich, Russland, Schweden, der Schweiz, Slowenien und der Ukraine in die KSZE eingeführt wurde (CSCE/HM/WG3/12), vgl. B 28, ZA-Bd. 158700. 19 Vgl. das türkische Papier „Migrant Workers and their families lawfully residing in the CSCE states“, das LR Mahnicke am 13. Mai 1992 dem BMI und BMA weiterleitete; B 28, ZA-Bd. 158701. 20 Für den amerikanischen Vorschlag eines KSZE-Seminars über Migrationsfragen vgl. das amerikanische Papier „CSCE and migration“ vom 1. Juni 1992 (CSCE/HM/WG3/13); B 28, ZA-Bd. 158701. 21 Für den russischen Vorschlag „Flüchtlinge und Vertriebene“, der am 5. Juni 1992 zusammen mit Albanien, Bulgarien, Griechenland, Jugoslawien, Kirgisistan, Österreich, Rumänien, der Schweiz und Slowenien in die KSZE eingeführt wurde (CSCE/HM/WG3/17), vgl. B 28, ZA-Bd. 158700. 22 Zum KSZE-Außenministerrat am 30./31. Januar 1992 vgl. Dok. 34. 23 Das KSZE-Seminar über freie Medien fand vom 2. bis 5. November 1993 in Warschau statt. 24 Das erste KSZE-Wirtschaftsforum fand vom 16. bis 18. März 1993 in Prag statt. 25 Zur Initiative für KSZE-„Grünhelme“ vgl. Dok. 112, Anm. 17.

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11. Juni 1992: Vorlage von Haak

KSZE-Gipfel in Helsinki in diesem Bereich wichtige Entscheidungen an. Es geht um drei Agenda-Punkte: – Inkraftsetzung des Vertrags über die konventionellen Streitkräfte in Europa (KSE-V) Der KSZE-Gipfel wird entgegen den ursprünglichen Erwartungen nicht das Inkrafttreten des KSE-V würdigen können. Umso wichtiger wird es sein, dass im Gipfel-Dokument und in den Reden der Gipfel-Teilnehmer die betroffenen Staaten mit Nachdruck aufgefordert werden, die ausstehenden Ratifikationen so rasch wie nur irgend möglich abzuschließen.26 – Durch das Dokument der a. o. Konferenz zum KSE-V von Oslo am 5.6.27 sind die internationalen Voraussetzungen für die Inkraftsetzung des KSE-Vertrags mit den acht neuen Vertragsstaaten28 anstelle der früheren SU gelegt. Es steht jetzt noch der Abschluss der innerstaatlichen Zustimmungsverfahren in den acht Staaten (sowie in der Türkei) aus. – Der ursprüngliche Fahrplan, wonach die Ratifikation bis zum KSZE-Gipfel abgeschlossen werden sollte (der sowohl in dem NAKR-Kommuniqué vom 5.6.29 wie in der Präambel des Schlussdokuments der a. o. Konferenz vom 5.6. bestätigt wurde), wird sich jedoch – wie u. a. die Einlassung des weißrussischen AM Krawtschenko in Oslo gezeigt hat – nicht einhalten lassen. – Abkommen über Personal-Höchststärken der konventionellen Streitkräfte Das KSE Ia-Abkommen, das die Form einer politisch verbindlichen Vereinbarung (voraussichtlich: „Abschließende Akte“) und nicht eines völkerrechtlichen Vertrags haben wird, wird am Rande des KSZE-Gipfels zu unterzeichnen sein. (Zu klären bleibt: die Außenminister oder die Staats- und Regierungschefs?). – Nach dem Erfolg der außerordentlichen Konferenz zum KSE-V vom 5.6. und der in jüngster Zeit von der russischen Seite gezeigten Kompromissbereitschaft in der zentralen Verhandlungsfrage der Festlegung der Streitkräftekomponenten, die einem Personalbegrenzungs-Abkommen unterliegen sollen, haben sich die Aussichten auf einen Abschluss der VKSE Ia erheblich verbessert. Nach Ansicht unserer Delegation erscheint nunmehr das politische Ziel erreichbar, dass die VKSE Ia bis zum Gipfel in Helsinki ein unterschriftsreifes Abkommen vorlegen. Voraussetzung dafür ist allerdings Kompromissbereitschaft von allen Seiten in der Schlussphase der Verhandlungen in Wien.30 – Mandat für neue Verhandlungen über Abrüstung, Sicherheits- und Vertrauensbildung Teil der Entscheidungen des Helsinki-Gipfels wird die Verabschiedung des Mandats für neue Rüstungskontroll-Verhandlungen und die Einrichtung eines permanenten Sicherheitsdialogs im Rahmen eines neu zu schaffenden „KSZE-Forums für Sicherheitszusammenarbeit“ sein. Die Mandatsverhandlungen sind im Rahmen des Folgetreffens auf gutem Weg.31 26 Zur vorläufigen Anwendung des KSE-Vertrags vgl. Dok. 221. 27 Für das Schlussdokument der außerordentlichen Konferenz zum KSE-Vertrag vgl. BULLETIN 1992, S. 620– 624. Zur Konferenz vgl. Dok. 170. 28 Armenien, Aserbaidschan, Belarus, Georgien, Kasachstan, Moldau, Russland und Ukraine. 29 Vgl. Ziffer 8 der Erklärung der NAKR-Ministertagung in Oslo; NATO FINAL COMMUNIQUÉS 1991–1995, S. 79. Für den deutschen Wortlaut vgl. BULLETIN 1992, S. 619 f. Zur Tagung vgl. Dok. 170. 30 Zur „Abschließenden Akte der Verhandlungen über Personalstärken der konventionellen Streitkräfte in Europa“ vgl. Dok. 202. 31 Zum Mandat für das KSZE-Forum für Sicherheitskooperation vgl. Dok. 209.

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12. Juni 1992: Vorlage von Dieckmann

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– Die schwierigste und politisch heikelste offene Frage ist die Festlegung des Anwendungsgebiets für neue Rüstungskontroll-Maßnahmen, insbesondere stabilisierende Maßnahmen. Russland sträubt sich gegen die Forderung, dafür sein Gebiet östlich des Urals bis zum 90. Längengrad zu öffnen. IV. Interesse Japans an institutioneller Verbindung mit der KSZE32 Wir setzen uns in Helsinki für eine möglichst weitgehende Regelung (einschließlich möglicher Beteiligung am Gipfel) ein. Wichtig ist, eine Lösung zu finden, die die KSZE jetzt nicht mit einer allgemeinen Erweiterungsdebatte belastet. Referat 241 hat beigetragen (III.) Haak B 28, ZA-Bd. 158703

175 Vorlage des Ministerialdirektors Dieckmann für Bundesminister Kinkel VS-NfD

12. Juni 1992

Über Herrn Staatssekretär1 Herrn Bundesminister2 Betr.:

Vorbereitende Gespräche in Moskau (10./11. Juni) für das Zusammentreffen der G 7 mit Präsident Jelzin am Rande des Münchner Wirtschaftsgipfels3

Anl.:

Schreiben des Bundeskanzlers an Präsident Jelzin vom 5. Juni 19924

Zweck der Vorlage: Zur Unterrichtung 32 In Abschnitt IV, Ziffer 9–11 der „Beschlüsse von Helsinki“ vom 10. Juli 1992 wurden Japan eine engere Zusammenarbeit mit der KSZE sowie ein Beobachterstatus angeboten. Vgl. BULLETIN 1992, S. 789. 1 Hat StS Lautenschlager am 12. Juni 1992 vorgelegen, der handschriftlich vermerkte: „Wichtig – auch für Gespräch bei BK am 15.6. abends.“ 2 Hat BM Kinkel am 12. Juni 1992 vorgelegen. Hat OAR Salzwedel am 15. Juni 1992 vorgelegen, der den Rücklauf über das Büro Staatssekretäre an MD Dieckmann verfügte. Hat StS Lautenschlager am 15. Juni 1992 erneut vorgelegen. Hat Dieckmann am 16. Juni 1992 erneut vorgelegen, der die Weiterleitung an MDg Schönfelder verfügte. Hat Schönfelder am 16. Juni 1992 vorgelegen. 3 Zum Weltwirtschaftsgipfel vom 6. bis 8. Juli vgl. Dok. 225. 4 Dem Vorgang beigefügt. Im Schreiben des BK Kohl hieß es, beim Weltwirtschaftsgipfel in München solle die „Unterstützung für die Reformpolitik in den neuen unabhängigen Staaten der früheren Sowjetunion deutlich“ gemacht werden: „Unser Ziel ist es, für diese Unterstützung einen breiteren und für alle Seiten verlässlichen Rahmen der Hilfe zur Selbsthilfe zu entwickeln. Dabei gehen wir davon aus, dass alle neuen Staaten das legitime Recht haben, ihren Weg zu Demokratie und Marktwirtschaft selbst zu bestimmen. Wir möchten den von Ihnen eingeschlagenen Weg der gesamtwirtschaftlichen Stabilisierung und marktwirtschaftlichen Neugestaltung unterstützen und die internationale Partnerschaft mit Russland auf breite-

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12. Juni 1992: Vorlage von Dieckmann

Aus den Gesprächen in Moskau mit Präsident Jelzin, dem Ersten Stv. Vorsitzenden der Russischen Regierung, Gajdar, dem Stv. Vorsitzenden der Russischen Regierung, Schochin, dem Reformer Jawlinskij u. a. hebe ich als politisch bedeutsam hervor: 1) StS Köhler hat die schriftliche Einladung des Bundeskanzlers an Präsident Jelzin für das Treffen in München übergeben, die dieser mit Dank annahm. Er habe die Einladung erwartet und wisse um die Verdienste des Bundeskanzlers um deren Zustandekommen. StS Köhler dürfte es im Übrigen gelungen sein, die russischen Gesprächspartner für das Treffen in München von überzogenen, vor allem finanziellen Erwartungen abzubringen. München sei ein Schritt in einem langfristig angelegten Prozess partnerschaftlicher Zusammenarbeit (Hilfe zur Selbsthilfe). München solle ein Erfolg für alle Beteiligten werden. 2) Präsident Jelzin – gut in Form, spontan in der Gesprächsführung – bekräftigte seine Entschlossenheit, an dem eingeschlagenen Reformkurs festzuhalten, verwies aber auch auf alarmierende Zeichen: Das Volk – 1000 Jahre geübt in Geduld und Patriotismus – verliere den Glauben an die Reformen. Seien diese früher von einem überwältigenden Teil der Bevölkerung getragen worden, so jetzt nur noch von einem großen Teil. Man sei daher zu „taktischen“ Abweichungen gezwungen. Wenn der Westen aber nicht bald wirksamer helfe, werde man auch die Strategie ändern müssen. Dann werde es zu einer äußerst kritischen Lage kommen. Er – Jelzin – sei entschlossen, nicht abzutreten, sein Amt vielmehr bis 1996 wahrzunehmen und auch an seinem Team (Gajdar) festzuhalten. Jelzin übte massive Kritik am Währungsfonds, der die Verhandlungen hinziehe und versuche, etablierte Vorstellungen auf ein Land zu übertragen, das er nicht kenne und das sich in einer einmaligen Situation befinde (Jawlinskij: „Nicht unterentwickelt, sondern missentwickelt“). Ein Zusammenbruch Russlands werde zu einer neuen Diktatur führen und für den Westen sehr viel teurer sein als das vorgesehene Finanzpaket von 24 Mrd. US-$.5 Er bleibe allerdings überzeugt von der Vernunft und dem Verständnis der G 7. Er bitte, seine Sorge dem Bundeskanzler zu übermitteln, er selber werde sie am 16. Juni vor dem US-Kongress zum Ausdruck bringen.6 3) Stärker als bei Jelzin standen im Gespräch mit Gajdar und Schochin Sachthemen im Vordergrund. Die russischen Gesprächspartner – auch Jelzin – akzeptierten voll unseren Ansatz, dass makroökonomische Reformen und Stabilisierung engstens einhergehen müssen mit mikroökonomischen Strukturveränderungen. Die Erkenntnis von deren Bedeutung wird gefördert durch die verbreitete Einsicht in die Unsicherheiten, mit denen u. a. die Stabilisierung des Rubels – angesichts von 15 unabhängigen Mitgliedern der Rubelzone – und eine Beseitigung des Defizits – auch angesichts der Rolle des staatlichen Sektors und der in ihm Beschäftigten – belastet sind. Fortsetzung Fußnote von Seite 717 rer Grundlage weiterentwickeln. Als Gastgeber des diesjährigen Wirtschaftsgipfels lade ich Sie daher auch im Namen der anderen G 7-Staats- und Regierungschefs nach München ein. Die Begegnung wird ein sichtbares Zeichen für das Vertrauen sein, das wir Ihrer mutigen Reformpolitik entgegenbringen.“ Vgl. B 52, ZA-Bd. 174526. 5 Zu den G 7-Hilfen für Russland vgl. Dok. 100, Anm. 7. 6 Für die Rede des russischen Präsidenten Jelzin vor dem amerikanischen Kongress am 17. Juni 1992 in Washington vgl. CONGRESSIONAL RECORD, House, Bd. 138, Teil 11, S. 15156–15158. Zum Besuch Jelzins vom 15. bis 18. Juni 1992 in den USA vgl. Dok. 186.

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Daraus auch resultieren Zweifel an der Wirksamkeit von „Lehrbuchansätzen“ des IWF. So bleibt fraglich, ob sich der IWF mit der russischen Regierung bis zum Gipfel auf ein Stabilisierungsprogramm als Voraussetzung für eine volle Mobilisierung des Finanzpakets von 24 Mrd. US-$ wird einigen können. Wohl auch aus diesem Grund akzeptieren die russischen Gesprächspartner, dass es in München nicht um einen „Finanzkoffer“ gehen könne. Die von StS Köhler vorgetragenen praxisbezogenen Kernelemente des von uns für München ausgearbeiteten „Programms der Hilfe zur Selbsthilfe“ fanden umso mehr Interesse – und Zustimmung –, insbesondere auch unser Vorschlag der Einrichtung einer Koordinierungsgruppe der wichtigsten Geber, der Finanzinstitutionen und Russlands. Die russische Seite hob in diesem Zusammenhang die große Bedeutung der Themen Schulden, Handel und Sicherheit der KKWs hervor. 4) Das Gefühl der Unsicherheit, mit dem man Moskau verlässt, geht zurück auch auf personenbezogene Fragen zum künftigen Reformkurs. Jelzins Bekenntnis zu Gajdar (als Repräsentanten der konsequenten makroökonomischen Reformpolitik) steht die Tatsache gegenüber, dass im Kabinett mit den letzten Veränderungen Repräsentanten des traditionellen „Industriellen Komplexes“ an Einfluss gewonnen haben, die angeblich Gajdar nur eine „Spielwiese für Theorien“ lassen wollen.7 Die Stärkung dieses Flügels der „Praktiker“ – in deren Hintergrund der Präsident des Unternehmerverbandes, Wolskij, – entspricht der spürbaren Kritik an „theoretischen Lehrbuchansätzen“, die der Realität im Lande nicht Rechnung tragen. Jawlinskij und der Vorsitzende des Wirtschaftsausschusses des Volkskongresses, Krassawtschenko, sprachen von der Notwendigkeit, sich jetzt auf „Irreversibles“ zu konzentrieren, d. h. vor allem die Förderung von Privateigentum, Eigentum an Grund und Boden und Demonopolisierung. Die Makroreform, so unerlässlich sie sei, dürfte diese Bereiche nicht behindern (z. B. erschweren die volle Freigabe der Energiepreise und eine Steuerreform die Privatisierung). 5) Die Reise hat bestätigt, dass wir mit unserem Ansatz für München – Ausrichtung auf praktische Zusammenarbeit im Rahmen allerdings eines fest etablierten, umfassenden Reformkurses – auf dem richtigen Wege sind. Die Reise dürfte auch ihren Zweck erreicht haben, die russische Seite für München auf Realismus einzustimmen. Zur Gewährleistung einer Übereinstimmung auf dieser Basis wird es allerdings notwendig sein, nach dem nächsten – und letzten – Sherpa-Treffen vor München (19. – 21. Juni8) noch ein weiteres Gespräch 7 Referat 213 vermerkte am 12. Juni 1992, insgesamt habe der russische Präsident Jelzin Ende Mai bzw. Anfang Juni 1992 fünf neue Regierungsmitglieder ernannt, darunter auch den bisherigen stellvertretenden Parlamentspräsidenten Schumejko, der nun erster stellvertretender MP sei: „Damit entstehen in der Regierung zwei gleichgewichtige, unterschiedliche Flügel, eine Reihe junger Wirtschaftler unter Gajdar und eine Fraktion der Direktoren von Großunternehmen, die von Schumejko an der Spitze repräsentiert wird.“ Vgl. B 41, ZA-Bd. 221582. 8 MD Dieckmann vermerkte am 22. Juni 1992, beim Treffen der Persönlichen Beauftragten für den Weltwirtschaftsgipfel („Sherpas“) sei „eine weitgehende Einigung über den Entwurf für die Wirtschaftserklärung“ erzielt worden: „Volle Übereinstimmung bestand zu den GUS-Ausführungen des Kommuniqués. Hingegen soll das von den Sherpas separat erarbeitete programmatische GUS-Papier (‚Hilfe zur Selbsthilfe‘) nicht veröffentlicht werden. Die Veröffentlichung würde eine redaktionelle Überarbeitung notwendig machen, für die die Zeit nicht mehr reicht. Die Kernelemente des Papiers finden sich im Kommuniqué. Noch vor dem Gipfel soll ein an die Stelle des IWF-Anpassungsprogramms getretener Drei-

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mit der russischen Seite zu führen. Ohne in Verhandlungen zu Einzelaspekten einzutreten, muss den Russen das Gefühl genommen werden, dass ihnen in München etwas auferlegt werden soll.9 Sie sollten vielmehr in die Lage versetzt werden, ein wie auch immer geartetes Ergebnis im Konsens mitzutragen. (Jelzin lobte ausdrücklich den im Kanzlerbrief enthaltenen Begriff der Partnerschaft; der Wunsch nach Einbeziehung in den internationalen Dialog war in allen Gesprächen spürbar.) 6) Wenn die Reise Gelegenheit bot, unser besonderes Engagement für ein Gelingen des Reformprozesses zu bekräftigen, so nutzten die russischen Gesprächspartner – insbesondere auch Präsident Jelzin – die Gelegenheit, ihre Dankbarkeit und Anerkennung für die von uns geleistete Hilfe zum Ausdruck zu bringen. Diese bestätigten sich auch auf einem Abschiedsempfang von Botschafter Blech für die EG-Task Force10 unter Leitung von Generalmajor Steinseifer, an dem StS Köhler und ich teilnahmen. Andererseits erwies es sich in den Gesprächen gelegentlich als angebracht zu unterstreichen, dass auch unsere Hilfe nicht selbstverständlich sei. So soll die Washington-Reise Präsident Jelzins offenbar genutzt werden, weitere größere Reformschritte zu verkünden (darunter Privatisierung und vor allem die internationale Ausschreibung der Ausbeutung großer Erdölvorkommen). StS Köhler erinnerte zu Recht daran, dass das Münchener Gipfeltreffen eine mindest ebenso wichtige Gelegenheit für die Verkündung derartiger Reformschritte sei. Dieckmann B 52, ZA-Bd. 174526

Fortsetzung Fußnote von Seite 719 Stufen-Plan (Absprache Camdessus/Gajdar) eine Vereinbarung über eine erste IWF-Kredittranche ermöglichen (Auszahlung an RUS noch im Juli, Abschluss des Anpassungsprogramms bis Ende September, Einrichtung des Rubelstabilisierungsfonds ‚sobald es die makroökonomische Situation zulässt‘). Die Aussichten für einen positiven Verlauf des Gesprächs mit Jelzin in München haben sich damit wesentlich verbessert.“ Vgl. B 52, ZA-Bd. 174522. 9 Dieser Satz wurde von StS Lautenschlager hervorgehoben. Dazu vermerkte er handschriftlich: „r[ichtig]“. 10 An dieser Stelle vermerkte StS Lautenschlager handschriftlich: „Koordinierung in Bonn durch AA mit erheblichem Einsatz!“

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176 Vorlage des Vortragenden Legationsrats I. Klasse Schmidt für Bundesminister Kinkel 230-381.47/1

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Über Dg 23 i. V.1, D 22, Herrn Staatssekretär3 Herrn Bundesminister4 Betr.:

VN-Aktion im ehemaligen Jugoslawien; hier: mögliche Beteiligung der Bundeswehr an Flügen zum Transport humanitärer Hilfsgüter nach Sarajevo

Zweck der Vorlage: Zur Unterrichtung I. Zusammenfassung Der VN-Sicherheitsrat hat am 8. Juni 1992 mit Resolution 7585 dem Vorschlag des VNGS zugestimmt, mit Hilfe der VN-Schutztruppe (UNPROFOR) die Sicherheit des Flugplatzes in Sarajevo herzustellen und damit den Transport von Personen und Gütern im Rahmen von humanitärer Hilfe zu ermöglichen. Wenn dieser Versuch gelingt, stehen wir vor der Frage, ob wir uns mit Flugzeugen der Bundeswehr an diesen Transporten beteiligen. Unsere politischen Interessen sprechen dafür. Verfassungsrechtliche Bedenken bestehen nicht. Wir werden aber die mit solchen Transportflügen verbundenen Risiken besonders sorgfältig prüfen müssen. II. Im Einzelnen 1) Der Sicherheitsrat hatte mit der Resolution 757 vom 30. Mai 19926 die beteiligten Parteien aufgefordert, die Voraussetzungen für die ungehinderte Lieferung von humanitären Gütern nach Sarajevo und andere Orte in Bosnien-Herzegowina zu schaffen. Gleichzeitig hatte er den VN-GS7 aufgefordert, seine guten Dienste dafür einzusetzen. Am 6. Juni 1992 hatte der VN-GS dem Sicherheitsrat vorgeschlagen, mit Hilfe von UNPROFOR die Sicherheit des Flugplatzes in Sarajevo herzustellen und dadurch humanitäre Hilfe zu ermögli1 Hat in Vertretung des MDg Schilling VLR I Schmidt am 12. Juni 1992 erneut vorgelegen. 2 Hat in Vertretung des MD Chrobog MDg von Studnitz am 12. Juni 1992 vorgelegen. 3 Hat StS Kastrup am 14. Juni 1992 vorgelegen, der handschriftlich vermerkte: „Ich halte die Linie für richtig. Sie sollten eventuell mit BM Rühe Kontakt aufnehmen und anregen, sich der Zustimmung der Opposition zu versichern.“ 4 Hat BM Kinkel am 17. Juni 1992 vorgelegen, der handschriftlich vermerkte: „1) Grundlinie richtig. 2) Entscheidung steht ja noch nicht an.“ Hat OAR Rehlen am 19. Juni 1992 vorgelegen, der den Rücklauf über das Büro Staatssekretäre, MD Chrobog und MDg Schilling an Referat 230 verfügte. Dazu vermerkte er handschriftlich für Schilling: „Siehe Vermerk v[on] D 2.“ Hat Chrobog am 19. Juni 1992 vorgelegen. Hat StS Kastrup am 22. Juni 1992 erneut vorgelegen. Hat Schilling am 23. Juni 1992 vorgelegen. 5 Für die Resolution Nr. 758 des VN-Sicherheitsrats vgl. RESOLUTIONS AND DECISIONS 1992, S. 17 f. 6 Zur Resolution Nr. 757 des VN-Sicherheitsrats vgl. Dok. 159, Anm. 12. 7 Boutros Boutros-Ghali.

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chen.8 Einem Mitarbeiter von UNPROFOR war es gelungen, in dreitägigen Gesprächen mit den Parteien in Bosnien-Herzegowina und dem Kommandeur der serbischen Kämpfer in Bosnien, Mladić, eine Vereinbarung zu erzielen, die es UNPROFOR erlaubt, die Kontrolle des Flugplatzes in Sarajevo zu übernehmen. Die Operation soll in vier Phasen durchgeführt werden: – Entsendung von Militärbeobachtern, die den Rückzug von Flugabwehrwaffen und anderen schweren Waffen überwachen sollen, – Stationierung eines Infanteriebataillons am Flugplatz, – Entsendung von Zivilpersonal für den Betrieb des Flugplatzes, – Öffnung des Flugplatzes für humanitäre Transporte. F hat bereits angekündigt, Truppen für diese Operation zur Verfügung stellen zu wollen. KAN ist dazu ebenfalls bereit. 2) Am 8. Juni 1992 hatte der SR mit Resolution 758 dem Vorschlag des VN-GS zugestimmt und das Mandat von UNPROFOR entsprechend ausgedehnt. Um GB entgegenzukommen, das die Operation mit großer Skepsis beurteilt, hatte der SR den VN-GS jedoch aufgefordert, nach Phase 1 und vor Entsendung zusätzlicher VN-Truppen eine erneute Ermächtigung des Sicherheitsrats einzuholen. 3) Die Operation hängt davon ab, dass die beteiligten Parteien sich an die durch Vermittlung der VN geschlossene Vereinbarung halten. Das gilt insbesondere für die bosnischen Serben, die weiterhin über schwere Waffen auf den Hügeln rings um Sarajevo verfügen. Jedenfalls in der Umgebung des Flugplatzes müssen die Kämpfe eingestellt werden, bevor die Operation durchgeführt werden kann. Obwohl immer noch geschossen wird, hat sich am 10. Juni 1992 der Stabschef von UNPROFOR mit acht Militärbeobachtern und 22 kanadischen VN-Soldaten nach Sarajevo begeben, um die Möglichkeit der Öffnung des Flugplatzes zu prüfen. 4) Wenn es gelingt, die Sicherheit des Flugplatzes herzustellen, werden große Mengen von Gütern auf dem Luftweg nach Sarajevo transportiert werden müssen. Die Versorgung der Stadt ist seit langem unterbrochen. Es herrscht akuter Mangel an praktisch allen lebensnotwendigen Gütern. Die Versorgungseinrichtungen sind zum großen Teil zerstört. An uns wird sich die Erwartung richten, uns daran zu beteiligen. Bei einem Besuch einer Delegation des Verteidigungsausschusses des Bundestages in Paris am 9. Juni 1992 wurde diese Frage von französischer Seite bereits angesprochen. Für unsere Beteiligung an den Transporten nach Sarajevo mit Flugzeugen der Bundeswehr spricht: – Die Anteilnahme unserer Öffentlichkeit am Schicksal der gequälten Bevölkerung im ehemaligen Jugoslawien ist groß. Von der Bundesregierung wird Hilfe mit allen verfügbaren Mitteln erwartet. – Wir haben großes Interesse an einer Befriedung im Gebiet des früheren Jugoslawien. An UNPROFOR konnten wir uns aus historischen und verfassungsrechtlichen Gründen nicht mit Personal beteiligen. Wir haben den VN allerdings Fahrzeuge – aus Beständen der früheren NVA – leihweise zur Verfügung gestellt. Nun bietet sich uns eine Gelegen8 Vgl. den „Report of the Secretary-General pursuant to Security Council resolution 757 (1992) (S/24075)“ vom 6. Juni 1992; https://digitallibrary.un.org/record/144177.

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heit, im Bereich der humanitären Hilfe, wo wir schon bisher viel geleistet haben, einen gewichtigen weiteren Beitrag zu leisten. Dies erwarten auch unsere Partner von uns. 5) Gegen Transportleistungen durch die Bundeswehr bestehen keine verfassungsrechtlichen Bedenken. Es handelt sich nicht um einen Einsatz im Sinne des Artikels 87 a des Grundgesetzes9. Die Bundeswehr hat bereits bisher eine große Zahl von Lufttransporten zum Zweck der humanitären Hilfe durchgeführt, in besonders großem Umfang zur Hilfe für kurdische Flüchtlinge in der Türkei und im Iran.10 6) Flugzeuge mit dem deutschen Hoheitszeichen könnten für einzelne fanatisierte serbische Kämpfer ein Angriffsziel sein. Der Beginn der Transportflüge kommt also erst infrage, wenn Flugabwehrwaffen und andere schwere Waffen aus der Umgebung des Flugplatzes in Sarajevo entfernt sind und wenn dort ein Infanteriebataillon von UNPROFOR stationiert ist. Auch muss einigermaßen günstige Aussicht bestehen, dass sich alle Beteiligten – auch die bosnischen Serben – an die Vereinbarung halten. Unter diesen Voraussetzungen sollte sich das Auswärtige Amt für die Bereitstellung von Flugzeugen der Bundeswehr zum Transport im Rahmen der humanitären Hilfe aussprechen. Referate 215 und 301 haben mitgezeichnet, Referat 301 mit folgender Maßgabe: Die Zustimmung von Referat 301 zum Einsatz von Flugzeugen der Bundeswehr zum Transport humanitärer Hilfe nach Sarajevo bedeutet nicht, dass damit auch bereits der Übernahme der Flugkosten zulasten des Titels 686 12 des AA zugestimmt wäre. Angesichts der 1992 besonders knappen Mittel der humanitären Hilfe kann es nicht deren Aufgabe sein, Transferleistungen vom Haushalt des AA in jenen des BMVg zu erbringen. Darüber hinaus hat sich der Einsatz von Transall-Flugzeugen als besonders teuer (d. h. unwirtschaftlich) erwiesen.11 Schmidt B 30, ZA-Bd. 180439

9 Für Artikel 87 a GG vom 23. Mai 1949 in der Fassung vom 24. Juni 1968 vgl. BGBl. 1968, I, S. 711. 10 Zum Einsatz der Bundeswehr bei Hilfsmaßnahmen für irakische Flüchtlinge vgl. AAPD 1991, I, Dok. 146. 11 VLR I Schmidt notierte am 1. Juli 1992, BM Kinkel habe „inzwischen auch erklärt, dass wir für eine humanitäre Aktion Flugzeuge zur Verfügung stellen können“. Mit dem BMVg solle geklärt werden, „unter welchen Bedingungen wir welche Transportkapazität anbieten können. Gleichzeitig sollte der Bundestag unterrichtet und Gespräche mit der Opposition geführt werden, um möglichst breite politische Unterstützung für einen solchen Schritt zu erhalten.“ Vgl. B 30, ZA-Bd. 180439. Referat 301 vermerkte am 14. Juli 1992: „Wir beteiligen uns mit zwei Flugzeugen der Bundesluftwaffe (C 160 Transall) an der am 2.7.1992 begonnenen internationalen Luftbrücke zur Versorgung der Zivilbevölkerung im eingeschlossenen Sarajevo. Transportiert werden vor allen Dingen Lebensmittel, Hygieneartikel und Medikamente. Bisher fanden 17 Transportflüge statt, mit denen rd. 180 t Hilfsgüter nach Sarajevo transportiert wurden. Zu Beginn der Luftbrücke wurden die Hilfsgüter direkt aus Deutschland eingeflogen. Am 11.7.1992 wurde der ‚Shuttle‘-Flugverkehr (Zagreb – Sarajevo – Zagreb) aufgenommen, d. h., die Flugzeuge sind in Zagreb stationiert und verbleiben dort auch über Nacht. Koordiniert werden die Flüge vom UNHCR in Genf und Zagreb. Die Landegenehmigungen werden vom Leiter UNPROFOR in Sarajevo erteilt. Verteilung der Hilfsgüter in Sarajevo erfolgt unter Schutz UNPROFOR durch UNHCR und nationale Nichtregierungsorganisationen.“ Vgl. B 45, ZA-Bd. 192075.

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177 Drahtbericht des Ministerialdirigenten von Websky, BMU, z. Z. Rio de Janeiro Fernschreiben Nr. 202 Citissime nachts Betr.:

Aufgabe: 14. Juni 1992, 23.59 Uhr1 Ankunft: 15. Juni 1992, 08.12 Uhr

UNCED2; hier: Abschlussbericht – Delegationsbericht Nr. 14

Bezug: Delegationsbericht Nr. 13 I. Gesamteinschätzung 1) Die am Sonntag (14.6.1992) zu Ende gegangene VN-Konferenz für Umwelt und Entwicklung (UNCED) kann als klarer Erfolg bezeichnet werden. Insbesondere ist es gelungen, nach intensiven Konsultationen auf Ministerebene in der äußerst schwierigen Finanzfrage (Leiter der Konsultationen niederländischer Entwicklungshilfeminister Pronk) wie auch über die politisch sehr heikle Waldgrundsatzerklärung3 (Leitung der Konsultationen BM Töpfer) Einigung zu erzielen. Mit der Verabschiedung der Rio-Deklaration zu Umwelt und Entwicklung4 und des umfassenden Aktionsprogramms Agenda 215 konnte die Basis für eine qualitativ neue Zusammenarbeit zwischen Industrie- und Entwicklungsländern im Bereich Umwelt und Entwicklung gelegt werden. Mit der Entscheidung für die Einrichtung einer Commission on Sustainable Development, die auf Ministerebene besetzt werden wird, ist zudem gewährleistet, dass dieser Politikbereich auf internationaler Ebene auch nach der Rio-Konferenz intensiv weiterverfolgt wird. Die Kommission soll insbesondere die Umsetzung der Agenda 21 überprüfen und ggfs. neue Strategien und Maßnahmenkonzepte erarbeiten. Die in Rio aufliegenden Konventionen zu Klima und biologischer Vielfalt6 sind von jeweils mehr als 150 Staaten gezeichnet worden. 1 Das von Delegationsangehörigen aus dem AA, BMF, BML, BMU, BMWi und BMZ konzipierte Fernschreiben wurde in drei Teilen übermittelt. Vgl. Anm. 13 und 19. 2 Die VN-Konferenz über Umwelt und Entwicklung (UNCED) wurde am 3. Juni 1992 eröffnet. 3 Für die Darlegung von Grundsätzen eines weltweiten Konsenses über Bewirtschaftung, Erhaltung und nachhaltige Entwicklung aller Waldarten (Wald-Grundsatzerklärung) vgl. EUROPA-ARCHIV 1993, D 51–55. 4 Für die Rio-Deklaration zu Umwelt und Entwicklung (Dok. A/CONF.151/4/Rev. 1) vgl. https://www.un. org/esa/documents/ga/conf151/aconf15126-4.htm. 5 Für das Aktionsprogramm „Agenda 21“ (A/CONF. 151/L. 3 und A/CONF. 151/L. 6)) vgl. https://sustainable development.un.org/content/documents/Agenda21.pdf. Für den deutschen Wortlaut vgl. https://www. bmz.de/de/service/lexikon/agenda-21-13996. 6 Für das Rahmenübereinkommen der Vereinten Nationen vom 9. Mai 1992 über Klimaveränderungen, das die Bundesrepublik am 12. Juni 1992 in Rio de Janeiro unterzeichnete, vgl. BGBl. 1993, II, S. 1784–1812. Für das Übereinkommen vom 5. Juni 1992 über die biologische Vielfalt mitsamt Anlagen, das die Bundesrepublik am 12. Juni 1992 in Rio de Janeiro unterzeichnete, vgl. BGBl. 1993, II, S. 1742–1772.

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2) Die von den Brasilianern gut organisierte Konferenz war durch konstruktive Verhandlungsführung fast aller Beteiligten gekennzeichnet. Härtester Verhandlungspartner war Saudi-Arabien, das bis zuletzt – unterstützt durch Libyen, Kuwait, Marokko und Iran – die Aufnahme des Kapitels Schutz der Erdatmosphäre in die Agenda 21 zu verhindern suchte. Das Kapitel wurde schließlich im Wesentlichen unverändert in die Agenda 21 aufgenommen. Saudi-Arabien erklärte Vorbehalt sowohl gegen dieses Kapitel wie auch gegen die Agenda 21 insgesamt. Konstruktiver als erwartet verhandelte Malaysia, das von BM Töpfer von Anfang an intensiv in die informellen Konsultationen zu Wäldern einbezogen worden war. Pakistan, Mexiko und Indonesien trugen durch ihre konsensbildende Verhandlungsführung sehr zum Konferenzerfolg bei. Auch Indien und China waren letztlich am Konferenzerfolg interessiert. Die EG trat in Teilbereichen wenig überzeugend auf. Zu regelrechten Verhandlungspannen kam es beim Thema Wüstenbekämpfung. Durch harte Haltung Dänemarks, Frankreichs und der Niederlande war die EG im Bereich Finanzen lange Zeit ohne gemeinsame Haltung und damit handlungsunfähig. In anderen Bereichen, vor allem hinsichtlich der CO2-Strategie der EG, gelang es aber, die Gemeinschaft auf klar erkennbare, politisch bedeutsame Positionen festzulegen. Die deutsche Verhandlungsdelegation hat bei der Konferenz viel Ansehen gewonnen. Die Rede des Bundeskanzlers7 wie auch seine mehrtägige Anwesenheit bei der Konferenz8 haben den hohen Stellenwert verdeutlicht, den die Bundesregierung den Fragen von Umwelt und Entwicklung beimisst. Der unermüdliche Verhandlungseinsatz von BM Töpfer, insbesondere in den Bereichen Wald und Finanzen, hat wesentlich zur Konsensfindung beigetragen. Den durch die Ablehnung der Konvention zu biologischer Vielfalt ins Abseits geratenen USA ist es – in enger Abstimmung mit uns – gelungen, durch substanzielle Zugeständnisse bei den Waldprinzipien Terrain zurückzugewinnen. Auf Einladung der deutschen Delegation wurden insbesondere zu den Finanzfragen intensive Beratungen im Kreis der G 7 durchgeführt. Obwohl nur schwer einzuschätzen ist, inwieweit Interessenunterschiede mit US bei weiterer Gipfelvorbereitung9 eine Rolle spielen werden, dürften – von der Konvention biologische Vielfalt abgesehen – die Unterschiede zu überbrücken sein, sodass kein negatives Follow-up zu erwarten ist. Dies wurde in bilateralen Gesprächen mit Sherpa-Zuarbeitern bestätigt. Japan verhandelte ausgesprochen unauffällig und vorsichtig. Überraschung löste das mit innenpolitischen Verpflichtungen begründete Fortbleiben des japanischen Premierministers Miyazawa aus. Eine Übertragung der Rede per Satellit wurde dem Vernehmen nach von der Konferenzleitung nicht zugelassen. II. Die wesentlichen Ergebnisse im Einzelnen 1) Wälder Die Contact Group Forests konnte in ihren Arbeitssitzungen von den 25 offenen Textparagraphen10 der Walderklärung (principles) lediglich zwölf verabschieden. Nachdem 7 Für die Rede des BK Kohl bei der VN-Konferenz über Umwelt und Entwicklung (UNCED) am 12. Juni 1992 in Rio de Janeiro vgl. BULLETIN 1992, S. 633 f. 8 BK Kohl nahm vom 9. bis 14. Juni 1992 an der UNCED in Rio de Janeiro teil. 9 Zum Weltwirtschaftsgipfel vom 6. bis 8. Juli 1992 in München vgl. Dok. 225. 10 Korrigiert aus: „Testparagraphen“.

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insbesondere die politisch sensiblen Fragen (künftige Waldkonvention, globale Bedeutung der Wälder, Notwendigkeit international abgestimmten Handelns) auch im Main Committee offengeblieben waren, bat der stellvertretende Vorsitzende der Konferenz, der brasilianische Außenminister Lafer, BM Töpfer, eine Lösung auf Ministerebene zu suchen. In zahlreichen bi- und multilateralen Gesprächen sowie durch zwei Sitzungen einer Ministerrunde konnte durch intensive Überzeugungsarbeit schließlich ein Durchbruch erreicht werden. Wenn auch die verabschiedeten Texte in vielen Punkten den Zielvorstellungen von D, der EG und wichtiger OECD-Länder nicht voll entsprechen, so wird durch eine entsprechende Festlegung im Waldkapitel der Agenda 21 immerhin der Weg zu weiterführenden Verhandlungen offengehalten. Außerdem wird die Waldgrundsatzerklärung als ein erster globaler Konsens zu Wäldern bezeichnet. Trotz Bedenken waren die USA schließlich bereit, the right to socio-economic development on a sustainable basis zu akzeptieren. Auch für die umstrittenen Fragen im Zusammenhang mit der Bedeutung der Wälder für den globalen Umweltschutz gelang es, eine allseits akzeptierte Lösung zu finden. Die von den USA angekündigte Waldinitiative11, die die schnelle Umsetzung der bei UNCED beschlossenen Maßnahmen im Waldbereich unterstützen soll und zum Ziel hat, die weltweiten finanziellen Mittel für die forstliche Entwicklungszusammenarbeit zu verdoppeln, wurde insbesondere von BK Kohl und PM Major12 begrüßt. 132) Finanzen

Nach langen und mühevollen Verhandlungen konnten in der Nacht zum 14.6. die Beratungen über das Finanzkapitel der Agenda 21 abgeschlossen werden. Streitig bis zum Schluss blieben die von der G 77 und den Nordics geforderten Verpflichtungen zu einem ODA-Zeitziel und zu einer Aufstockung der nächsten IDA-Auffüllung14 um ein sogenanntes earth increment. Die umstrittenen Themen Schuldenerlass und unkonditionierte Zurverfügungstellung von Finanzmitteln im Rahmen der GEF15 konnten im Vorfeld der Schlussberatungen ausgeräumt bzw. abgeschwächt werden. 11 Am 1. Juni 1992 gab der amerikanische Präsident Bush in Greenbelt/Maryland eine „Forests for the future“-Initiative bekannt. Vgl. PUBLIC PAPERS, BUSH 1992, S. 873–876, besonders S. 875. Die UNCED-Delegation in Rio de Janeiro resümierte am 2. Juni 1992, Bush wolle die Gelder für internationale Entwicklungszusammenarbeit im Waldbereich „von 1,35 Mrd. US-$ auf 2,7 Mrd. im nächsten Jahr“ steigern und „1993 zusätzliche Entwicklungshilfe von 150 Mio. US-$ beitragen“, mache dies für die Folgejahre „jedoch abhängig von vergleichbaren Beiträgen anderer Länder“. Noch 1992 soll bei einem „Forest Partnership Forum“ ein Überprüfungsmechanismus eingeleitet werden. Vgl. FK Nr. 1 vom 3. Juni 1992; B 88, ZA-Bd. 194645. 12 Für die Rede des britischen PM Major am 12. Juni 1992 bei der VN-Konferenz über Umwelt und Entwicklung (UNCED) in Rio de Janeiro vgl. die Anlage zur Fernkopie der deutschen UNCED-Delegation, z. Z. Rio de Janeiro, vom selben Tag; B 88, ZA-Bd. 195080. 13 Beginn des mit DB Nr. 203 übermittelten zweiten Teils des Fernschreibens. Vgl. Anm. 1. 14 Zur X. Wiederauffüllung der Mittel für die International Development Association (IDA) vermerkte Referat 400 im Herbst 1992: „Am 30.6.1993 läuft die dreijährige Wiederauffüllungsperiode von IDA IX ab. […] Die bisherigen vier Verhandlungsrunden zur Wiederaufüllung von IDA X haben noch keine konkreten Ergebnisse hinsichtlich des Volumens der Wiederauffüllung, der Anteile (burden sharing) und des möglichen Umweltzuschlages (earth increment) gebracht. Eine Einigung ist vor den amerikanischen Präsidentschaftswahlen nicht zu erwarten“. Vgl. B 58, ZA-Bd. 188493. 15 Global Environmental Facility.

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Abb. 7: Rede von BK Kohl auf der VN-Konferenz über Umwelt und Entwicklung (UNCED) in Rio de Janeiro

Das Finanzkapitel der Agenda 21 hat das Ziel, mögliche Maßnahmen und Mechanismen zur Finanzierung der Umsetzung der Agenda 21 aufzuzeigen. Die in den einzelnen Kapiteln vom Sekretariat genannten Zahlen wurden als lediglich indikativ bezeichnet. Finanziert werden sollen die Maßnahmen der Agenda 21 durch – gegebenenfalls zu verbessernde – existierende Finanzierungsquellen. Hierbei ist hervorzuheben: a) ODA-Finanzierung G 77 und Nordics bestanden auf Einfügung des Zeitziels 2000. EG-Einigung kam wegen unterschiedlicher Auffassung nicht zustande. Insbesondere Dänemark profilierte sich als Sprecher der nordischen Länder und blockierte häufig den EG-Konsens. Deutsche Delegation versuchte, auf Wunsch BK einen Formulierungsvorschlag by the year 2000 or as soon as possible thereafter unter Hinweis auf deutsche Finanzunterstützung der MOEs mit dem Zusatz taking into account the specific international obligation of different countries als Kompromissformel einzubringen. Dies scheiterte jedoch am Widerstand einiger EG-Länder (insbesondere UK, NL, Dänemark, Japan, Kanada und Australien16). Letztlich wurde ein Kompromisstext akzeptiert, in dem jedes Land seine Position wiederfinden kann (menu approach). b) IDA-Aufstockung Diskussion konzentrierte sich auf Aufstockung von IDA X um ein besonderes earth increment (von Weltbank auf 5 Mrd. Sonderziehungsrechte geschätzt). Fast alle Industrie16 So in der Vorlage.

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länder bis auf Nordics, Frankreich, Niederlande betonten, dass UNCED eine derartige Aufstockung lediglich als Erwägung nennen sollte, um die erst im November 1992 stattfindenden Auffüllungsverhandlungen nicht zu präjudizieren. Weiterhin streitig war Höhe der Auffüllung von IDA X. Gefundene Sprachregelung trägt Bedenken der Industrieländer Rechnung und entspricht in etwa einem von der deutschen Delegation eingebrachten Vorschlag (consideration should be given ...). 3) Technologietransfer Nach erfolgreichen Konsultationen unter Leitung des niederländischen Umweltministers Alders ist ein überzeugendes Kapitel unter dem neuen Titel Technologietransfer, Kooperation und Kapazitätsbildung zustande gekommen, das auch von den USA akzeptiert wurde. Die Frage der Einbeziehung der MOE- und GUS-Staaten sowie die saudische Forderung nach Aufnahme von safe and environmentally sound technologies wurde durch Einfügung eines neuen Absatzes in die Präambel der Agenda 21 geregelt. 4) Schutz der Erdatmosphäre Gegen härtesten Widerstand Saudi-Arabiens und anderer ölfördernder Staaten wurde das Kapitel Schutz der Erdatmosphäre Samstagnacht17 durch Akklamation verabschiedet. Der Text enthält alle aus deutscher Sicht wesentlichen Punkte (ökonomische Instrumente, Betrachtung des gesamten Kreislaufs der Energieversorgung, Energieeffizienz, erneuerbare Energien, Berücksichtigung aller relevanten Sektoren, Umweltverträglichkeitsprüfung, Information, Aus- und Fortbildung, Ökobilanzierung). 5) Biologische Vielfalt Die Kapitel biologische Vielfalt und Biotechnologie konnten bereits im Main Committee im Konsens verabschiedet werden. Sie enthalten auf der Grundlage der Arbeiten des UNCED-Vorbereitungsausschusses zukunftsweisende Texte, die die Konvention über biologische Vielfalt berücksichtigen und deutschen Grundpositionen nicht widersprechen. Im Kapitel biologische Vielfalt war bis zum Schluss umstritten, ob die Ergebnisse der Nutzung biologischer Ressourcen den Ursprungsländern (countries of origin) oder auch Herkunftsländern (countries providing) zugutekommen sollen. Industrieländer und Indien setzten sich gegen Mexiko mit der umfassenden Formel durch. Der angenommene Text enthält eine vorsichtige Öffnung zur Weiterentwicklung des nationalen und internationalen Rechts. 6) Landressourcen Bewirtschaftung und Verwaltung von Landressourcen, nachhaltige Landwirtschaft, ländliche Entwicklung sowie die spezifische Problematik der Bergregionen bilden das agrarentwicklungspolitische Kernstück der Agenda 21. Die darin enthaltenen Programme basieren im Grundsatz auf im Rahmen der FAO ausgehandelten Elemente, die im Wesentlichen auf die Bedürfnisse der Entwicklungsländer zugeschnitten sind. Auf deutsche Veranlassung wurden zusätzlich die Beteiligung der Betroffenen, eine verstärkte Einbeziehung der NGOs und die regionalpolitische Bedeutung der Alpenschutzkonvention18 berücksichtigt. Darüber hinaus konnte im Bereich der Erhaltung und nachhaltigen Nutzung von pflanzengenetischen Ressourcen (Ziel: Verbesserung der Ernährungssicherheit) eine Verbindung zur Konvention biologische Vielfalt hergestellt werden. Von besonderer Bedeutung ist 17 13. Juni 1992. 18 Für das Übereinkommen vom 7. November 1991 zum Schutz der Alpen (Alpenkonvention) vgl. BGBl. 1991, II, S. 2539–2564.

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aus deutscher Sicht die darin enthaltene Erwähnung einer von der Bundesregierung mitfinanzierten internationalen technischen Konferenz über pflanzengenetische Ressourcen. 197) Meeresschutzfischerei

Die Bemühungen einiger Fischereinationen, im Rahmen der UNCED nationale Fischereigrenzen (200 sm) auszuweiten und eine Überprüfung von UNCLOS20 zu beantragen, konnten nach schwierigen Verhandlungen insbesondere zwischen EG und Kanada abgewehrt werden, indem der Einberufung einer Konferenz über die Probleme der Hochseefischerei seitens der EG zugestimmt wurde. Es ist der EG-Kommission gelungen, für die Konferenz technische und wissenschaftliche Voruntersuchungen durch die FAO und die Unantastbarkeit von UNCLOS durchzusetzen. Eine Vorkonferenz von like-minded countries soll auf Wunsch Kanadas bereits im Herbst dieses Jahres in Neufundland stattfinden. 8) Institutionen Wichtigste Entscheidung dieses Kapitels ist die Einrichtung einer Commission on Sustainable Development, die künftig im zwischenstaatlichen Bereich insbesondere die Überwachung der Einhaltung der Agenda 21 und die Entwicklung neuer Strategien und Maßnahmenkonzepte übernehmen soll. Die lange umstrittene Verpflichtung zu regelmäßiger nationaler Berichterstattung an die Kommission konnte nicht durchgesetzt werden, sondern bleibt freiwillig. Weitergehende Veränderungen im VN-System sind vermieden worden. Die bei Umsetzung der Agenda 21 besonders geforderten Unterorganisationen UNEP und UNDP sollen entsprechend ihrem jeweiligen Mandat gestärkt werden. Daneben soll die Koordinierung innerhalb des VN-Systems im Bereich Umwelt und Entwicklung auch durch verstärkte Einbeziehung des Generalsekretärs der Vereinten Nationen verbessert werden. Die Einrichtung der Kommission ist ein Kompromiss zwischen den Anhängern der reinen ECOSOC-Lösung (Behandlung ausschließlich in einem der beiden Hauptausschüsse des ECOSOC) und denjenigen, die ein eigenständiges zwischenstaatliches Gremium (unmittelbar der Generalversammlung untergeordnet) gefordert haben. Als Zugeständnis an die Befürworter der ECOSOC-Lösung soll der ECOSOC unter Ausnutzung seines sog. high level segment die Arbeiten der Kommission regelmäßig überprüfen. Wichtige Einzelheiten wie Zusammensetzung der Kommission und ihr spezifiziertes Mandat werden der nächsten Generalversammlung21 vorbehalten bleiben. Schon jetzt zeichnet sich ab, dass dabei die Frage des Sitzes (Genf oder New York) besonders umstritten sein wird. 9) Rechtsinstrumente Die deutschen Initiativen zur Ächtung von Umweltverbrechen22 sowie zur Unterstützung der Arbeiten an einer Reaktorsicherheitskonvention23 sind nach äußerst langwierigen 19 Beginn des mit DB Nr. 204 übermittelten dritten Teils des Fernschreibens. Vgl. Anm. 1. 20 Für das Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen (United Nations Convention on the Law of the Sea) vom 10. Dezember 1982 vgl. BGBl. 1994, II, S. 1799–2018. Vgl. auch AAPD 1982, II, Dok. 352. 21 Die 47. VN-Generalversammlung wurde am 15. September 1992 in New York eröffnet. 22 LR I Wasum-Rainer notierte am 26. Februar 1992, BM Genscher habe am 25. September 1991 vor der VN-Generalversammlung in New York „eine deutsche Initiative zum Schutz der Umwelt in bewaffneten Konflikten angekündigt“. Wegen Einwänden Frankreichs, Großbritanniens und der USA sei es nicht möglich gewesen, „eine Resolution zur Sache zum Abschluss zu bringen. Die VN-GV hat am 9.12.1991 eine

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14. Juni 1992: Drahtbericht von Websky

und schwierigen Verhandlungen in die Agenda 21 als künftige Aktionsbereiche bei der Fortentwicklung des internationalen Umweltrechts aufgenommen worden. Der angenommene Text lautet wie folgt: (a) Measures in accordance with international law should be considered to address, in times of armed conflict, large-scale destruction of the environment that cannot be justified under international law. The General Assembly and its Sixth Committee are the appropriate forums to deal with this subject. The specific competence and role of the International Committee of the Red Cross should be taken into account. (b) In view of the vital necessity to ensure safe and environmentally sound nuclear power, and in order to strengthen international cooperation in this field, efforts should be made to conclude the ongoing negotiations for a nuclear safety convention in the framework of the International Atomic Energy Agency. Der Text zu a) erfasst wegen Bedenken insbesondere Chinas und Indiens nur Umweltverbrechen in times of armed conflict. Ein iranischer Kompromissvorschlag, der wie unser ursprünglicher Vorschlag abstrakt gefasst war und dadurch Kriegs- wie Friedenszeiten umfasste, wurde von den meisten Entwicklungsländern abgelehnt. Es war nicht möglich, eine Kompromissformulierung zu finden, die auch die Umweltverbrechen in Friedenszeiten – wenn auch nur indirekt – erfasst hätte. III.24 Die erwähnten Texte werden auf dem üblichen Weg von Bonn aus verteilt. [gez.] von Websky B 52, ZA-Bd. 174538

Fortsetzung Fußnote von Seite 729 ‚Entscheidung‘ verabschiedet, in der die Grundlage für die Weiterbehandlung des TOP auf der 47. VNGV gelegt wird.“ Vgl. B 30, ZA-Bd. 167257. Vgl. ferner AAPD 1991, II, Dok. 290. 23 Das BMU vermerkte am 17. Februar 1992 zu den in der IAEO laufenden Verhandlungen über eine Nukleare Sicherheitskonvention, diese solle „auf alle Einrichtungen und Tätigkeiten des zivilen nuklearen Brennstoffkreislaufs anwendbar sein, wobei auch Transport und Entsorgung eingeschlossen werden (Argument: einheitlicher Schutzzweck). Im Vordergrund soll zunächst die Reaktorsicherheit stehen.“ Vgl. B 72, ZA-Bd. 164420. Zum Stand legte das BMU am 3. Juni 1992 dar, die Notwendigkeit, schnell eine Konvention auszuarbeiten, werde zwar allgemein anerkannt, der Anwendungsbereich sei jedoch umstritten. Das IAEO-Sekretariat werde vermutlich im Juli den Entwurf einer nuklearen Sicherheitskonvention erstellen. Es bestehe die Chance, noch im ersten Halbjahr 1993 die Vorarbeiten für eine Konvention abzuschließen. Vgl. B 72, ZA-Bd. 164420. 24 Korrigiert aus: „IV.“

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17. Juni 1992: Gespräch zwischen Kinkel und Wong Kan Seng

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178 Gespräch des Bundesministers Kinkel mit dem singapurischen Außenminister Wong Kan Seng 17. Juni 19921 BM berichtet, indem er AM Wong begrüßt2, von einem früheren Besuch in Singapur als BND-Chef3. Sein damaliger Gesprächspartner habe ihn durch seine Tüchtigkeit beeindruckt. Für AM Wong ist sein jetziger Aufenthalt ebenfalls nicht die erste Deutschlandreise. Er hatte vor zwei Jahren den damaligen Premierminister Lee Kuan Yew begleitet.4 Wong unterstreicht, dass die deutsch-singapurischen Beziehungen sehr gut seien. Er bittet, Herrn Genscher seine Grüße auszurichten. Es sei unvergessen, wie sehr BM Genscher sich für die EG/ASEAN-Beziehungen eingesetzt habe. Diese spielten auch heute eine große Rolle. Beide Seiten seien dabei, ein neues Kooperationsabkommen5 auszuhandeln. Dies solle bis zum nächsten EG/ASEAN-Außenministertreffen in Manila6 unterzeichnungsreif sein. Wong hofft sehr, dass BM zu dem Treffen nach Manila kommen kann. BM berichtet, welch große Rolle ASEAN schon bei Dienstbeginn von BM Genscher gespielt hat, als er ihn als Leiter des Ministerbüros und danach als Planungschef7 auch in dieser Frage unterstützt und beraten habe. Er wolle versuchen, wenn irgend möglich, zu dem Außenministertreffen nach Manila zu kommen. Er wisse, dass Herr Genscher zugesagt habe zu kommen. Er bitte seinen Besucher jedoch auch zu verstehen, welch große Probleme auf ihn bei der augenblicklichen Lage in Deutschland und Europa zukommen. AM Wong entgegnet, dass er dies sehr gut verstehe. Die Probleme der Vereinigung, der Europäischen Einigung nach Maastricht8, der Beziehungen zu Mittel- und Osteuropa seien für Deutschland von außerordentlicher Bedeutung. Die Schlussfolgerungen, die BM und Herr Genscher im Jahre 1974 hinsichtlich ASEANs gezogen hätten, seien jedoch noch heute gültig, und dies verstärkt. 1 Der Gesprächsvermerk wurde von MDg Zeller am 22. Juni 1992 gefertigt und am folgenden Tag an das Ministerbüro geleitet mit der Bitte, „Zustimmung des Herrn Bundesministers herbeizuführen“. Hat VLR I Gerdts am 30. Juni 1992 vorgelegen, der den Rücklauf an Zeller verfügte und handschriftlich vermerkte: „Kann mit Vermerk ‚von BM noch nicht gebilligt‘ verteilt werden. Kopien bitte nur an Haus u. Botschaft Singapur.“ Hat in Vertretung von Zeller VLR I Holl am 1. Juli 1992 vorgelegen. Vgl. den Begleitvermerk; B 37, Bd. 164265. 2 Der singapurische AM Wong Kan Seng hielt sich im Zuge einer Europareise am 16./17. Juni 1992 in der Bundesrepublik auf. 3 Klaus Kinkel war von Januar 1979 bis Dezember 1982 Präsident des BND. 4 Der singapurische MP Lee Kuan Yew besuchte die Bundesrepublik vom 30. Mai bis 3. Juni 1990. Für sein Gespräch mit BK Kohl am 31. Mai 1990 vgl. DEUTSCHE EINHEIT, Dok. 297. 5 Für das bisherige Kooperationsabkommen vom 7. März 1980 zwischen der EWG und den ASEANMitgliedstaaten vgl. AMTSBLATT DER EUROPÄISCHEN GEMEINSCHAFTEN, Nr. L 144 vom 10. Juni 1980, S. 2–8. Vgl. auch AAPD 1980, I, Dok. 84. 6 Zur Konferenz der Außenminister der EG- und der ASEAN-Mitgliedstaaten am 29./30. Oktober 1992 vgl. Dok. 351. 7 Klaus Kinkel war von 1974 bis 1977 Leiter des Leitungsstabs im Auswärtigen Amt, danach bis 1979 Leiter des Planungsstabs. 8 Zum Vertragswerk von Maastricht vgl. Dok. 3, Anm. 8.

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Die vergangenen zehn Jahre hätten der gesamten Region ein enormes Wachstum gebracht. Die asiatischen Wirtschaften hätten die größten Wachstumsraten in der Welt. So verzeichneten die ASEAN-Staaten in den vergangenen zehn Jahren ein Wachstum zwischen 6 und 10 %. Singapurs Wirtschaft sei über die vergangenen 20 Jahre mit 10 % jährlich gewachsen. Jetzt läge Singapurs Wachstum bei etwa 6 %. Eine Ausnahme innerhalb der ASEAN-Gruppe bildeten die Philippinen mit inneren Problemen. Er sei aber zuversichtlich, dass die Philippinen ihre Probleme mit der Wahl des neuen Präsidenten9 überwinden könnten. Die NIEs10 seien mit derselben Rate gewachsen. Dasselbe gelte für China, beginnend mit 1979: durchschnittliche Wachstumsrate 9,7 %. Die südlichen Teile Chinas würden sogar mit 20 bis 30 % jährlich wachsen. Dies sei phänomenal. Halte der Wachstumstrend in den asiatischen Ländern an, wovon man ausgehen könne, so würde das Bruttosozialprodukt der NIEs und der ASEAN-Staaten zusammengenommen im Jahre 2000 die Hälfte des EG-Produkts betragen und 2/3 des amerikanischen. Nehme man Japan noch hinzu, so würde das Bruttosozialprodukt der asiatischen Region im Jahre 2000 4/5 des EG-Sozialprodukts betragen und hätte mit dem der USA gleichgezogen. Miyazawa habe kürzlich gesagt, dass in 20 – 25 Jahren Japan, die NIEs und ASEAN zusammen die USA, Mexiko und Kanada in ihrer Produktion überholen würden. Dies biete für deutsche Unternehmen enorme Chancen. Singapur sei als Standort besonders günstig. Das hätten die 360 dort tätigen deutschen Unternehmen für sich schon erkannt. Singapur biete eine vorzügliche materielle und politische Infrastruktur und außerdem erstklassige Verkehrsverbindungen in die gesamte Region hinein. Für die Deutschen und Singapurer sollte dies Anlass sein, nach Wegen zu suchen, wie sie ihre Beziehungen noch verbessern könnten. So z. B. im Bereich der Berufsausbildung, wo das deutsch-singapurische Institut schon vorzügliche Arbeit leiste, oder auch im Bereich der Umwelt, wo zurzeit ein EG-Projekt erfolgreich anlaufe. Beide Seiten sollten auch überlegen, wie sie in dritten Ländern zusammenarbeiten könnten. Dies könnte im Bereich der Berufsausbildung z. B. für Vietnam und Kambodscha geschehen. Man könnte an gemeinsame Programme, z. B. für Hafenverwaltung und Hausbau, denken oder auch im Bereich der Fernmeldetechnik. Eine Ausbildung in Singapur wäre erheblich kostensparender als eine Ausbildung in Deutschland selbst. Lee Kuan Yew habe sich kürzlich in Vietnam aufgehalten.11 Singapurs Haltung gegenüber Vietnam habe sich grundsätzlich gewandelt. Bis vor kurzem sei Singapur wegen der Besetzung Kambodschas durch Vietnam überaus kritisch gewesen. Dies habe sich mit dem Besuch des jetzigen vietnamesischen PM Vo Van Kiet geändert.12 BM 13berichtet von seinem14 kürzlichen Gespräch mit dem vietnamesischen Außenminister.15 9 Am 11. Mai 1992 fanden Präsidentschaftswahlen auf den Philippinen statt. Am 30. Juni 1992 wurde der bisherige Verteidigungsminister, Ramos, der 23,5 % der abgegebenen Stimmen erzielt hatte, als neuer Präsident vereidigt. 10 Newly Industrialized Economies. 11 Der singapurische „Senior Minister“ Lee Kuan Yew besuchte Vietnam vom 22. bis 27. April 1992. 12 Der vietnamesische MP Vo Van Kiet hielt sich von 29. Oktober bis 1. November 1991 in Singapur auf. 13 An dieser Stelle wurde von VLR I Gerdts gestrichen: „dankt für die eindrucksvolle Darstellung des Wachstums in der asiatischen Region. Er teilt die Schlussfolgerungen von AM hinsichtlich der Chancen für deutsche Unternehmen. Die Ausführungen Wongs zu einer Zusammenarbeit in Drittländern bezeichnet er als interessant und bedenkenswert. Er“.

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AM Wong fügte seinen Ausführungen zur Zusammenarbeit in Drittländern hinzu, dass es hierbei nicht nur auf die technische Zusammenarbeit ankomme, dies sei nicht einmal das Wichtigste. Wichtig sei die Signalwirkung auf deutsche Unternehmen in Richtung Singapur und Asien, der Nachholeffekt. Hier hätten die Regierungen eine eigene legitime Aufgabe. BM stimmt zu.16 AM Wong spricht die Uruguay-Runde an.17 Sie sei ein ernstes Problem. Wenn sie scheitert, würde sich dies für Europa wie für Asien sehr nachteilig auswirken. BM gibt sodann auf Bitten von AM Wong einen ausführlichen Überblick über die Lage in Europa nach dem dänischen Referendum18. Die Lage sei nicht dramatisch, wenn auch unangenehm. Mit dem dänischen Referendum hätten die Kritiker der Europäischen Gemeinschaft in allen Ländern der Gemeinschaft etwas Auftrieb erhalten. Ein Unwohlsein über Einzelfragen und auch Nebensächlichkeiten sei an die Oberfläche gespült worden. Die wirklichen Vorteile des Gemeinsamen Marktes in der Europäischen Gemeinschaft seien so selbstverständlicher Teil des täglichen Lebens geworden, dass viele sie gar nicht mehr wahrnehmen. Hier läge eine wichtige politische Führungsaufgabe in den kommenden Monaten. Alle elf übrigen Mitglieder hielten an den Zeitplänen und an den Inhalten der Maastrichter Beschlüsse fest. Sie wollten den Dänen helfen, zusammen mit ihnen durchs Ziel zu gehen. Zur NATO bestätigte BM, dass sie weiterhin der wichtigste Sicherheitsgarant für uns bleibe. Sie brauche und suche aber neue Aufgaben, so z. B. im Rahmen der KSZE. AM Wong fügt dem hinzu, dass die Entwicklung in Europa, so insbesondere im Bündnisbereich, für Asien keineswegs irrelevant sei. Man stelle sich die Frage, ob sich die USA aus Europa zurückziehen wollten. Wenn dies geschähe, welche Folgen hätte das dann für die Präsenz der USA in Asien? Für Asien stelle sich dann die beunruhigende Frage nach der Stellung Japans. BM: Die USA werden mit der NATO und als Supermacht in Europa bleiben. Dies entspreche eindeutig ihrer Interessenlage. Dasselbe gelte seiner Einschätzung nach auch für Asien. AM Wong: Ein Rückzug der USA aus Asien hätte weitreichende Folgen. Japan sei anders als Deutschland mit seiner Geschichte noch nicht ins Reine gekommen, habe sie nicht aufgearbeitet. Dies zeige sich im eigenen Verhalten, bis in den Schulunterricht hinein. Es sei daher für ganz Asien wichtig, dass die Allianz USA – Japan fortbesteht. Würden sich die USA aus Japan zurückziehen, so wäre die Folge ein Rüstungswettlauf ungeahnten 1415

Fortsetzung Fußnote von Seite 732 14 Dieses Wort wurde von VLR I Gerdts handschriftlich eingefügt. Dafür wurde gestrichen: „dem“. 15 Für das Gespräch des BM Kinkel mit dem vietnamesischen AM Nguyen Manh Cam am 9. Juni 1992 vgl. Dok. 169. 16 An dieser Stelle wurde von VLR I Gerdts gestrichen: „Er erkundigt sich nach dem Besuchsprogramm von AM Wong. Werde er auch BM Möllemann sehen? Die Wirtschaftsbeziehungen seien in unseren Beziehungen zu Singapur vorrangig. Singapurs Wirtschaft genieße bei uns einen ausgezeichneten Ruf. Singapur sei in Deutschland ein Symbol für Leistungsfähigkeit, wirtschaftliche Kraft wie auch Solidität.“ 17 Zu den GATT-Verhandlungen vgl. Dok. 185. 18 Zum dänischen Referendum vom 2. Juni 1992 über das Vertragswerk von Maastricht vgl. Dok. 166, Anm. 2.

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Ausmaßes. Ressourcen, die für die wirtschaftliche Entwicklung in den einzelnen Staaten Asiens dringend benötigt werden, würden dann in die Rüstung gehen. Aber auch schon, wenn die USA sich aus Europa zurückziehen würden, würde das Schockwellen bis nach Asien hin auslösen. Eine langsame Anpassung der US-Präsenz an neue Lagen ließe sich hingegen auffangen. So hätte der Rückzug der USA aus den philippinischen Stützpunkten durch neue Abkommen mit anderen ASEAN-Staaten abgefedert werden können, so insbesondere auch durch Abkommen, die Singapur kürzlich mit den USA abgeschlossen hat.19 Auf die Frage von BM nach der weiteren Entwicklung in China spricht AM Wong von dem riesigen Potenzial Chinas, das sich jetzt entfalte. Deng Xiaoping habe durch seine Politik ein eindrucksvolles Wachstum in China in Gang gesetzt. Seine Meinung sei, dass diese Entwicklung auch andauern und sich fortsetzen werde. Der Süden gebe das Muster ab. Aber auch in anderen Teilen Chinas sei die Entwicklung schon weiter vorangeschritten, als dies von außen bemerkt werde. Zahlreiche Gouverneure chinesischer Provinzen und die Bürgermeister großer Städte seien jung, wohl ausgebildet. Sie seien in der Welt herumgekommen. Sie wollten ihr Land nach außen öffnen, und sie wollen auch, dass Ausländer zu ihnen als Investoren hereinkommen. Es sei ganz wichtig, China auf dem Weg der Öffnung nach außen zu halten. Dazu müsse China auch Mitglied in weiteren internationalen Vereinbarungen und Institutionen wie dem GATT und dem IWF werden. Aus Singapur investiere man zunehmend in China; als Investitionspartner steht Singapur an sechster oder siebter Stelle. Auch sei Singapur einer der wichtigsten Handelspartner Chinas. Schwierig sei die politische Entwicklung in China. Bis jetzt gebe es keinen Ersatz für die Kommunistische Partei. BM berichtet über unsere augenblicklichen Überlegungen und seinen kürzlichen Bericht vor dem Auswärtigen Ausschuss20. Die kritische Menschenrechtslage in China sei ihm noch aus seiner früheren Tätigkeit als Justizminister21 gut bekannt. Hier läge vieles im Argen. Wie stehe es mit den künftigen Beziehungen zwischen China und Taiwan? Taiwan sei ein wichtiger Handelspartner für uns. Seine Lobby nehme bei uns an Einfluss zu. AM Wong: Langfristig werden sich die Beziehungen zwischen China und Taiwan gut entwickeln, sofern die gute Entwicklung in Chinas Wirtschaft anhält. Aus Taiwan werde zunehmend in China investiert. Eines sei aber klar, die Volksrepublik China werde niemals erlauben, dass Taiwan unabhängig werde. Dagegen würde sie sich notfalls auch mit militärischen Mitteln wehren. Zu Taiwan unterhalte Singapur seit langem ausgezeichnete Beziehungen. Singapurische Soldaten würden auch in Taiwan ausgebildet. BM beschließt das Gespräch mit der Bemerkung, dass er sehr an einem ständigen Kontakt zu Singapur interessiert sei. 19 Beim Besuch am 3./4. Januar 1992 in Singapur gab der amerikanische Präsident Bush am 4. Januar 1992 die Verlegung des bisherigen amerikanischen Marinestützpunkts von der philippinischen Subic Bay nach Singapur bekannt. Vgl. PUBLIC PAPERS, BUSH 1992, S. 27. 20 BM Kinkel unterrichtete am 3. Juni 1992 den Auswärtigen Ausschuss über die Lage nach dem dänischen Referendum vom 2. Juni 1992 über das Vertragswerk von Maastricht sowie über die Beziehungen zur Volksrepublik China bzw. zur Türkei. Vgl. den Vermerk des VLR Blomeyer-Bartenstein vom 4. Juni 1992; B 210, ZA-Bd. 162213. 21 Klaus Kinkel war von Januar 1991 bis 18. Mai 1992 Justizminister.

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AM Wong äußert die Bitte, dass BM bei seiner Reise nach Manila zur EG/ASEANAußenministertagung einen Zwischenstopp in Singapur einlege. B 37, ZA-Bd. 164265

179 Vermerk des Vortragenden Legationsrats I. Klasse Wagner 204-321.15-104/92 VS-vertraulich Betr.:

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Treffen der Politischen Direktoren im kleinen Kreis am 12. Juni 1992 in Paris

Anlg.: 22 Die Politischen Direktoren (D 23, Dejammet (F), Appleyard (GB), Niles (USA) ) trafen sich am 12. Juni 1992 in Paris zu Konsultationen. Folgende Themen wurden behandelt: – Mittel- und osteuropäische Länder, – Russland/Münchner Wirtschaftsgipfel4, – KSZE, – Jugoslawien, – Eurokorps. Wagner [Anlage] 1) Mittel- und osteuropäische Länder US meinte zu Polen und ČSFR, die letzten Bewertungen durch den IMF ließen einige Hoffnungsschimmer erkennen. Zur Frage des Zusammenhalts der ČSFR5 äußerte er sich gedämpft optimistisch: Letztlich würden Tschechen und Slowaken einen gemeinsamen Weg finden; Gefahr einer Spaltung gehe derzeit eher von einer Trotzreaktion der Tschechen aus, die leichter ohne Slowaken existieren könnten als umgekehrt. Was Rumänien angehe, so müsse der Westen weiter Druck auf baldige Abhaltung der Parlaments- und Präsidentschaftswahlen ausüben.6 US-Position zu Albanien lasse sich in einem Satz zusammenfassen: Albanien braucht jede nur denkbare Hilfe. 1 2 3 4 5 6

Ferner maschinenschriftlicher Vermerk: „D 2 hat im Konzept abgezeichnet.“ Dem Vorgang teilweise beigefügt. Vgl. Anm. 17. Jürgen Chrobog. Zum Weltwirtschaftsgipfel vom 6. bis 8. Juli 1992 vgl. Dok. 225. Zur Entwicklung in der ČSFR vgl. Dok. 216. Das rumänische Parlament lehnte am 7./8. Juni 1992 den 26. Juli 1992 als vorgesehenen Termin für Parlaments- und Präsidentschaftswahlen ab. Vgl. DB Nr. 642 des Botschafters Terfloth, Bukarest, vom 11. Juni 1992; B 42, ZA-Bd. 175571. Am 10. Juni 1992 erzielte der rumänische Präsident Iliescu mit den Führern der im Parlament vertretenen Parteien „eine prinzipielle Einigung auf das Datum 27. September“. Botschafter Terfloth legte am folgen-

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GB griff das Thema Albanien auf: Foreign Office sei bemüht, albanischen Regierungsvertretern hochrangige britische Gesprächspartner zu vermitteln; neben der materiellen Unterstützung durch den Westen brauche das Land auch Signale der Anerkennung seiner demokratischen Entwicklung.7 D erklärte, dass Mečiar in Gefahr sei, in seine eigene Falle zu gehen. Falls es zu einer Spaltung komme, sei slowakische Beachtung der Minderheitenrechte vorrangig. Mit seinem Hinweis auf das dänische Petitum an die G 7, auf dem Münchner Gipfel Mittel für die Unterstützung des Abzugs sowjetischer Truppen aus dem Baltikum8 bereitzustellen, leitete D eingehendere Diskussion ein. GB erklärte, der sowjetische Truppenabzug aus dem Baltikum sei eine Frage, die auch den Westen angehe. Aus britischer Sicht sei für den Westen folgende öffentliche Argumentationslinie angezeigt: – schneller Abzug wünschenswert, – Abzug solle nach vernünftigem Zeitplan erfolgen, – russische Probleme mit den zurückkehrenden Streitkräften müssten ernstgenommen werden. Im vertraulichen bilateralen Gespräch sollten Russen auf die Risiken für ihre Streitkräfte bei fortdauerndem Verbleib im Baltikum hingewiesen werden; den Balten solle man sagen, dass die russischen Probleme nicht vorgetäuscht seien. NATO-Partner könnten durch vertrauensbildende Maßnahmen zur Beruhigung beitragen (z. B. Vermittlung zwischen baltischen Staaten und Russland in der Frage des Zugangs zu den Standorten und offizieller regelmäßiger baltischer Inspektionen, wie auch durch westliche Ausbildung für baltische Streitkräfte). Darüber hinaus müsse sehr bald die Frage beantwortet werden, wieviel Geld für den Wohnungsbau im Rahmen der Entscheidungen der Lissabon-Konferenz9 bereitgestellt werden könnte. US berichtete über Anzeichen, dass die baltischen Staaten in dieser Frage beim Helsinki-Gipfel10 einen koordinierten Vorstoß machen und Gipfelkonsens damit aufhalten könnten. Davor habe Koivisto schon im März gewarnt; Bildt habe diese Fortsetzung Fußnote von Seite 735 den Tag dar: „Dies bedeutet allerdings keine formelle Festsetzung dieses Datums, da die Entscheidung vom Parlament zu treffen ist.“ Vgl. DB Nr. 645; B 42, ZA-Bd. 175571. Gesandtin Geißler-Kuß, Bukarest, teilte am 19. Juni 1992 mit: „Am 17. und 18. Juni haben Senat und Abgeordnetenhaus sowohl die Gesetze über die Präsidentschafts- und Parlamentswahlen als auch das Gesetz über die Abhaltung beider Wahlen am 27. September überraschend schnell gebilligt.“ Vgl. DB Nr. 669; B 42, ZA-Bd. 175571. 7 BR I Vorwerk, Tirana, resümierte am 24. September 1992, in Albanien habe sich „das innenpolitische Klima in den letzten zwei Monaten verschlechtert.“ Das „vergleichsweise schlechte Abschneiden“ bei den Kommunalwahlen am 26. Juli 1992 habe die seit März des Jahres amtierenden demokratischen Regierungsparteien „geschockt. Vor allem Staatspräsident Berisha hatte durch hochrangige auswärtige Besuche in Tirana, Auslandsreisen und durch das publizistisch groß aufgemachte G 24-Treffen in Tirana am Vorabend der Wahl versucht, der Öffentlichkeit den hohen Respekt und die Unterstützung des Auslands für Albanien und die derzeitige Regierung vor Augen zu führen. Die tatsächlichen Lebensumstände der Bevölkerung, die sich noch nicht wesentlich verbessert haben, haben jedoch einen Stimmungsumschwung verhindert.“ Vgl. SB Nr. 599; B 42, ZA-Bd. 175544. 8 Zum Abzug vormals sowjetischer Truppen aus den baltischen Staaten vgl. Dok. 81, Anm. 8. Vgl. auch Dok. 172. 9 Zur Koordinierungskonferenz für humanitäre Hilfe an die GUS-Mitgliedstaaten sowie an Georgien am 23./24. Mai 1992 vgl. Dok. 160. 10 Zur KSZE-Gipfelkonferenz am 9./10. Juli 1992 vgl. Dok. 226.

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Warnung vergangene Woche gegenüber amerikanischen Gesprächspartnern wiederholt. Der schwedische Außenminister11 werde deswegen, wie Bildt erklärte, kurz vor dem Helsinki-Gipfel ins Baltikum fahren und dort mit den drei Außenministern12 sprechen. D verwies auf Bemühungen, im Rahmen des Ostsee-Kooperationsrats auf die baltischen Staaten Einfluss zu nehmen. GB verteilte Papier zu Beziehungen Baltikum – Russland13 (mit Hinweis, dass es AM Hurd noch nicht vorgelegen habe) und bat um Kommentare. (Hinweis: Ich habe Papier am 15.6. an 213 und 214 weitergegeben.) 2) Russland/MWG Über Russland wurde im Zusammenhang mit dem Münchner Wirtschaftsgipfel gesprochen. D wies darauf hin, dass Gorbatschow noch die Tatsache der erstmaligen Einladung als Erfolg habe werten können14; für Jelzin zeichne sich die unerfreuliche Aussicht ab, dass er nur mit Erwartungen und Forderungen des Westens an ihn nach Moskau zurückkehren werde. GB stimmte zu und erklärte, die G 7 müssten in München die in Russland erforderlichen Reformen zwar als schwierig, aber als machbar darstellen. Die Aufforderung an Jelzin zu Reformen müsse gleichgewichtig durch ein Hilfsangebot ergänzt werden. München dürfe kein Tribunal sein, sondern müsse zu einem Dialog Gleichgestellter werden. US ergänzte, dass der Westen nicht als Buchhalter auftreten dürfe. F wies darauf hin, dass Mitterrand schon in Rom15 vor schulmeisterlichem Auftreten des Westens gewarnt habe. 3) KSZE Ergebnisse16 der Diskussion hierzu sind in beiliegendem DE vom 13.6. festgehalten.17 4) Jugoslawien Nachdem US Diskussion mit Forderung, Druck auf Serbien zu verstärken, eingeleitet hatte, legte F dezidiert abweichende Meinung dar. Abbruch der Beziehungen zu Serbien sei weder juristisch gerechtfertigt noch politisch angebracht: Jugoslawien habe ein Recht darauf, in seiner jetzigen, aus Serbien und Montenegro gebildeten Gestalt18 weiter anerkannt zu werden – so wie auch das Fortbestehen Frankreichs nach der Abspaltung Algeriens oder Pakistans nach der Abtrennung von Bangladesch unangefochten gewesen sei. Serbien und Montenegro hätten sich im Übrigen der Unabhängigkeit für die anderen Republiken nicht widersetzt – wie könne man nun ihnen verwehren, in der von ihnen gewählten Form weiter zu existieren? In politischer Hinsicht weigere sich Frankreich, gegen Milošević schärfer vorzugehen als gegen Saddam Hussein oder Gaddafi. Wenn man 11 Margaretha af Ugglas. 12 Janis Jurkāns (Lettland), Lennart Meri (Estland) und Algirdas Saudargas (Litauen). 13 Für das undatierte britische Papier „Russia and the Baltic States“ vgl. B 130, VS-Bd. 13046 (221). 14 Im Anschluss an den Weltwirtschaftsgipfel vom 15. bis 17. Juli 1991 in London traf sich der sowjetische Präsident Gorbatschow, der sich vom 17. bis 19. Juli 1991 in Großbritannien aufhielt, mit den Staatsund Regierungschefs der G 7-Staaten. Zum Weltwirtschaftsgipfel vgl. AAPD 1991, II, Dok. 249. Für das Gespräch mit Gorbatschow vgl. das amerikanische Gesprächsprotokoll; https://bush41library. tamu.edu/archives/memcons-telcons. Für die russischen Gesprächvermerke vgl. GORBATSCHOW, Sobranie, Bd. 27, S. 13–92. 15 Zur NATO-Gipfelkonferenz am 7./8. November 1991 in Rom vgl. AAPD 1991, II, Dok. 375 und 376. 16 Korrigiert aus: „Begebnisse“. 17 Dem Vorgang nicht beigefügt. 18 Zur Bildung der Bundesrepublik Jugoslawien (Serbien/Montenegro) vgl. Dok. 118, Anm. 16.

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nun die Serben als Ausgestoßene behandle, würde ihr Nationalismus nur noch zu schlimmeren Konflikten führen. Nachdem F daran erinnert hatte, dass die anti-serbische Haltung der USA relativ jungen Datums sei, verwies US darauf, dass das serbische Vorgehen in Bosnien diesen Positionswandel hervorgerufen habe. GB stimmte zu und verurteilte insbesondere die serbischen ethnischen Säuberungsaktionen in Bosnien. Auf den Hinweis Ds, dass das Prinzip der Kantonalisierung mit dem Prinzip der „Säuberung“ in einem logischen Zusammenhang stehe, verwies F auf den Libanon, wo sich, wie jetzt in Bosnien, ein gemischtes Zusammenleben verschiedener ethnischer Gruppen als nicht durchführbar erwiesen habe. D betonte, dass die Meinungsverschiedenheiten hinsichtlich Jugoslawiens/Serbiens nicht zu einer offenen, auch nach außen sichtbaren Auseinandersetzung innerhalb der EG werden dürften. Seinem Vorschlag, in dieser Frage jetzt über ein „Crisis Management“ innerhalb der EG nachzudenken, stimmte F ausdrücklich zu, mit dem ergänzenden Hinweis, dass baldige direkte Abstimmung BK – Mitterrand bzw. BM – Dumas wünschenswert sei. 5) Eurokorps Da US das Treffen vorzeitig verlassen musste, wurde hierüber im Dreierkreis gesprochen. Es bestand Einvernehmen, dass sich nach dem NATO-AM-Treffen in Oslo19 die Lage im Bündnis entspannt habe. F verwies jedoch darauf, dass Probleme mit USA fortbestünden. USA verhielten sich widersprüchlich: Einerseits hätten sie dem Prinzip einer europäischen Verteidigungsidentität zugestimmt, andererseits ließen sie nicht zu, dass an der integrierten Kommandostruktur der NATO auch nur die geringste Änderung im Sinne einer Europäisierung vorgenommen werde. D verwies darauf, dass das Recht der Europäer, eine eigene Verteidigungsstruktur aufzubauen, nicht als europäischer Wunsch nach Abzug der USA missverstanden werden dürfe; es sei zu hoffen, dass Kompatibilität europäischer Verteidigungsidentität und amerikanischer Truppenpräsenz auch von den Amerikanern erkannt würde. GB erklärte, dass noch bestehende Unklarheiten hinsichtlich des Eurokorps beseitigt werden, wenn von den Beteiligten die folgende klare Aussage getroffen werde: – Das Eurokorps ist eine der Kräfte, die der WEU zur Verfügung stehen, – für die auch der NATO unterstellten Teile des Eurokorps (double-hatted) habe die NATOUnterstellung Priorität. Dieser Feststellung stimmten sowohl D wie auch F nachdrücklich zu. 6) Nächstes Treffen US erklärte, dass man sich noch bemühe, Direktorentreffen am Rande des HelsinkiGipfels zu organisieren, Erfolg dieser Bemühungen jedoch fraglich sei. Falls Direktorentreffen in Helsinki nicht zustande kommt, will USA Treffen am Rande der VN-GV (Frühstück am 24. oder 25.9.?) organisieren.20 GB verwies darauf, dass AM Hurd für Helsinki gerne auch Frühstück der vier Außenminister organisieren wolle (10. Juli?), bisher aber nur die grundsätzliche Zustimmung von BM Kinkel zu einem solchen Treffen vorliege, während sich die Außenminister Dumas und Baker noch nicht klar geäußert hätten. B 130, VS-Bd. 13046 (221) 19 Zur NATO-Ministerratstagung am 4. Juni 1992 vgl. Dok. 170. 20 Zum Vierertreffen der Politischen Direktoren am 25. September 1992 in New York vgl. Dok. 310.

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180 Drahtbericht des Botschafters Weisel, Zagreb Fernschreiben Nr. 383 Betr.:

Aufgabe: 17. Juni 1992, 10.30 Uhr1 Ankunft: 17. Juni 1992, 14.25 Uhr

Gespräch mit Präsident Tudjman

Bezug: Gestrige Telefonate zw. AA und ChBK einerseits und Botschaft andererseits 1) Ich habe Präsident Tudjman gestern Abend den Brief des Bundeskanzlers vom 29. Mai 1992 übergeben. Nachdem ich das verspätete Eintreffen des Briefes erklärt hatte, bat ich T. um Darstellung seiner Position im Lichte des Kanzlerbriefes (Warnung in Bezug auf Teilungsabsichten gegenüber B+H und in Bezug auf den Konföderationsplan Kroatien B+H) und des neuesten Präsidentenbriefes an den Bundeskanzler2 (T. gegen Teilung B+Hs). T. äußerte sich wie folgt: Das kroatisch-moslemische Treffen in Split3, auf dem Einvernehmen über eine künftige Konföderation zwischen Kroatien und B+H hergestellt worden sei, sei von kroat. Seite als politischer Schachzug gedacht gewesen, um die fatale Wirkung zu neutralisieren, welche das kroatisch-serbische Treffen in Graz4 in der internationalen öffentlichen Meinung ausgelöst habe. Gegner Kroatiens behaupteten aber nach wie vor, dass Kroatien eine negative Rolle in Bezug auf und in B+H spiele. Um diesen Behauptungen entgegenzutreten, habe er Präsident Izetbegović zu der gemeinsamen Erklärung mit ihm veranlasst, die am 15.6. herausgegeben5 und die außer dem Bundeskanzler auch den VN und der EG übermittelt worden sei. Seine, T.s, Politik gegenüber B+H sei so: Kroatien achte die Unabhängigkeit und Integrität B+Hs. Es verfolge keine Teilungspläne. Unabdingbar für Kroatien sei aber der Schutz des Lebens und des Siedlungsgebietes der Kroaten in B+H. Die Kroaten in B+H müssten sich gegen die Serben schützen. Kroatien sei nicht so dumm, seine Streitkräfte zur Gewährung des Schutzes nach B+H zu schicken. Die dort operierenden Streitkräfte seien viel1 Hat LR I Däuble am 22. Juni 1992 vorgelegen. 2 VLR I Schäfers, Bundeskanzleramt, übermittelte VLR I Reiche am 19. Juni 1992 „zur Unterrichtung des Auswärtigen Amtes“ das Schreiben des kroatischen Präsidenten Tudjman vom 13. Juni 1992 an BK Kohl. Dazu teilte Schäfers mit: „Im Hinblick auf die grundsätzlichen Ausführungen von Tudjman zur Zukunft von Bosnien-Herzegowina wird angeregt, in dort geeignet erscheinender Weise auch die EPZPartner zu unterrichten“. Vgl. B 42, ZA-Bd. 175606. 3 Zum Treffen am 17. Mai 1992 vgl. Dok. 143, Anm. 7. 4 Zum Treffen am 6. Mai 1992 vgl. Dok. 143, Anm. 6. 5 Die Botschaft in Zagreb übermittelte am 16. Juni 1992 per Fax eine gemeinsame Erklärung der Präsidenten Izetbegović (Bosnien-Herzegowina) und Tudjman (Kroatien) vom Vortag. Darin befürworteten beide Präsidenten die unverzügliche Herstellung diplomatischer Beziehungen durch Botschafteraustausch und bedauerten, dass ihr physisches Treffen wegen der Belagerung Sarajevos nicht möglich sei. In Ziffer 3 der Erklärung wurde Kroatien gedankt „für die humanitäre und jede andere in diesen Kriegsleidenszeiten geleistete Hilfe, insbesondere jedoch für die Unterstützung, die der Aufrechterhaltung von Selbstständigkeit Bosnien und Herzegowina beigetragen hat“. In Ziffer 4 wurde bekräftigt, „dass nach der Kriegsbeendigung die politische Lösung für die Beziehungen in Bosnien und Herzegowina, nach dem Grundsatz der Gleichberechtigung dreier konstitutiver Völker von Bosnien und Herzegowina, zu suchen“ sei. Vgl. B 42, ZA-Bd. 175612.

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mehr Einheiten der Kroaten in B+H. Diese Einheiten operierten erfolgreich und erfüllten damit die ihnen zugefallene Schutzaufgabe. Die kroat. Nationalgarde braucht deshalb gar nicht einzugreifen. Richtig sei, dass viele Mitglieder der kroat. Selbstverteidigungseinheiten in B+H vorher in der kroatischen Nationalgarde gedient hätten. Es seien kroat. Bosniaken und kroat. Herzegowiner, die zunächst bei der Verteidigung Kroatiens geholfen hätten und dann in ihre Heimat zurückgekehrt seien, als diese von den Serben angegriffen worden sei. Das begrenzte kroat. Ziel in B+H, nämlich Schutz des Lebens der Kroaten und Erhaltung des kroat. Siedlungsgebiets, lasse sich nur verwirklichen, wenn B+H kantonalisiert werde. Die Kantonalisierung sei deshalb ebenfalls eine unabdingbare Forderung Kroatiens. T. wiederholte sodann, was er mir schon früher gesagt hatte: B+H werde keinen Bestand haben. B+H sei ein Jugoslawien im Kleinen. Es werde auseinanderfallen wie das ehemalige Jugoslawien. Der Hass und das Misstrauen zwischen den Volksgruppen seien so groß und ihre Ziele seien so konträr, dass ein funktionierendes Zusammenleben in einem Staat sich als nicht möglich herausstellen werde. Ich warf an dieser Stelle ein, unsere Sorge sei, dass von außen eingewirkt werde, um die vom Präsidenten gegebene Prognose zur Wirklichkeit werden zu lassen. Kroatien setze sich ins Unrecht, wenn es da mitwirke. T. erwiderte, den Moslems in B+H sei nicht zu trauen. Im Grunde könne man mit den Serben eher Vereinbarungen schließen als mit den Moslems. Er wolle zwei Beispiele geben: Mit Izetbegović habe er telefonisch die gemeinsame Erklärung ausgehandelt und vereinbart. Izetbegović habe dann den Passus in Ziff. 3 herausgestrichen, der auf Ziff. 4 Bezug nehme, wo von der Gleichberechtigung dreier konstitutiver Völker in B+H die Rede sei. In Sarajevo sei diese Fassung veröffentlicht worden. Wie könne man Vertrauen in einen Partner haben, der so etwas tue! T. übergab mir sodann einen handschriftlichen Text, den er erhalten hatte, in dem von einem Treffen von Führern der moslemischen SDA in Fürth berichtet wird. Nach diesem Text hat Irfan Ajanović, ein führendes Mitglied der SDA in Sarajevo, auf dem Treffen erklärt, erst müsse der Krieg gegen die Tschetniks gewonnen werden, dann sei der Kampf gegen die Kroaten aufzunehmen. Die Kroaten würden nie bekommen, was sie wünschten. B+H sei eine moslemische Republik. Kroatien müsse aus dieser Hinterhältigkeit und Doppelzüngigkeit Schlüsse ziehen. Es werde niemals einem Einheitsstaat, wie ihn die Moslems wünschten, zustimmen. Für die Kroaten in B+H sei es einfach eine Frage des Überlebens, dass sie ihren eigenen Kanton erhielten. Ich sagte, der Präsident habe gerade die Frage des Vertrauens in geschlossene Übereinkünfte mit den Moslems berührt. Aus Ziff. 3 der gemeinsamen Erklärung könne man herauslesen, dass die kroatischen Selbstverteidigungskräfte in B+H bereit seien, sich „einheitlichen Militärkräften“ unter der B+H-Regierung einzuordnen. Seien sie denn tatsächlich dazu bereit? T. erwiderte, dies sei unter den gegebenen Umständen nicht der Fall. Die kroat. Selbstverteidigungskräfte kooperierten mit den moslemischen Verteidigungskräften, würden sich moslemischem Kommando aber nicht unterstellen. Ich nahm die Antwort als Anlass zu der Feststellung, dass beide Seiten die gemeinsame Erklärung wohl nicht ohne Mentalreservation und mit offenbar verschiedenen politischen Zielen unterschrieben hätten. T. widersprach dieser Feststellung nicht. Ich fragte noch, welche Unterstützung B+H von islamischen Staaten erhalte. T. antwortete, es sei viel versprochen, aber so gut wie nichts gegeben worden. Wir stimmten darin 740

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überein, dass Grund für das Zögern möglicherweise die Tatsache ist, dass die Moslems in B+H zum Teil „demoslemisiert“ sind und dass fundamentalistische islamische Staaten in ihnen nicht unbedingt glaubenstreue Brüder sehen. Ich sagte, aus dieser Beurteilung folge, dass die Besorgnis des Präsidenten, die Moslems in Sarajevo wollten eine fundamentalistische islamische Republik errichten, vielleicht unbegründet sei. T. mochte sich dieser Schlussfolgerung nicht anschließen. Wir sprachen sodann über die Entwicklung in Belgrad. T. sagte, die Einsetzung von Ćosić als Präsident der Bundesrepublik Jugoslawien werde vermutlich nur eine Übergangslösung sein. Am 28.6.92, dem serbischen Vidovdantag, werde Alexander Karadjordjević nach Belgrad kommen. Es sei durchaus möglich, dass man ihn als König einsetze. Milošević habe immer noch trockenes Pulver. T. wollte sich nicht dazu äußern, ob die Sanktionen der Staatengemeinschaft6 wirkten oder nicht wirkten. Er sagte, Serbien habe den Krieg auf jeden Fall verloren. Das Volk sei kriegsmüde. Die kroat. Truppen erführen dies auch. Die gegnerische Armee habe keine Moral mehr. Abschließlich bat ich T. um eine Beurteilung der UNPROFOR-Aktion. T. sagte, die Fortschritte seien viel zu langsam. Er müsse einen guten Teil seiner politischen Arbeit darauf verwenden, die Bevölkerung, die Streitkräfte und einen großen Teil seiner Partei dazu zu bringen, Geduld zu üben. Er selbst wisse, dass Tugenden des Staatsmannes Geduld, Zurückhaltung und Mäßigung seien. Ich warf ein, da falle einem Bismarck ein. Der Historiker T. stimmte lebhaft zu. Es sei furchtbar schwer, den Landsleuten zu vermitteln, dass diese Tugenden in der internationalen Politik nötig seien. 2) T. hat sich in Bezug auf B+H deutlich geäußert: Er respektiert heute die Unabhängigkeit und die Integrität B+Hs. Unabdingbar für ihn ist aber, dass die Kroaten innerhalb dieses Landes in einem Kanton leben können. Für die Zukunft erwartet er den Zerfall B+Hs, wobei er aber weiß, dass er, wenn er zu dem Zerfall beitrüge, Kroatien international schwer schaden würde. Den Moslems in B+H misstraut er zutiefst, vereinbarte Übereinkünfte mit ihnen behandelt er deshalb unter dem Gesichtspunkt der politischen Opportunität und nicht in dem Bewusstsein einer von ihnen ausgehenden dauerhaften Bindungswirkung. Die UNPROFOR-Mission betrachtet T. nicht als gescheitert, sondern gibt ihr trotz der Verzögerung bei der Durchführung ihrer Aufgaben weiterhin eine gute Chance. [gez.] Weisel B 42, ZA-Bd. 175612

6 Zu den Sanktionen gegen die Bundesrepublik Jugoslawien (Serbien/Montenegro) vgl. Dok. 159, Anm. 12, und Dok. 162, Anm. 7.

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18. Juni 1992: Drahtbericht von Kiewitt

181 Drahtbericht des Botschafters Kiewitt, Beirut Fernschreiben Nr. 481 Citissime Betr.:

Aufgabe: 18. Juni 1992, 22.00 Uhr1 Ankunft: 19. Juni 1992, 08.09 Uhr

Freilassung der deutschen Geiseln Strübig und Kemptner

1) Mit der Freilassung von Heinrich Strübig und Thomas Kemptner am 17.6.1992 in Beirut sind – soweit bekannt – die letzten westlichen Geiseln im Libanon in ihre Heimat zurückgekehrt. Der Fall des Italieners Molinari2 bleibt ungeklärt, vermutlich ist er umgekommen. Damit ist hoffentlich ein unrühmliches Kapitel in der Geschichte des Libanon zum Abschluss gekommen, das 1982 nach der isr. Invasion3 mit der Entführung des US-Bürgers Dodge seinen Anfang nahm. 2) Dank der Bemühungen in der letzten Phase des Geiseldramas konnte StM Schmidbauer nach Gesprächen in Teheran4 und Damaskus5 mit der ihn begleitenden Delegation (u. a. D 36, Prof. Dolzer, Dr. Ueberschaer, RL 3107) S. und K. am Vormittag des 17.6. am Dienstsitz des libanesischen Ministerpräsidenten Rachid Solh nach Übergabe durch den Beiruter Chef des syr. ND, Oberst Rostom, begrüßen. S. und K. befanden sich in einigermaßen zufriedenstellender Verfassung, was später ärztlich bestätigt wurde. Wesentliche Beteiligung an der Freilassung hatte VN-USG Picco, der bis in die frühen Morgenstunden des 17.6. tätig war. 3) Nach seiner Ankunft in Beirut am 16.6. führte StM Schmidbauer Gespräche mit StP Hrawi8, MP Solh und Parlamentspräsident Husseini. Dabei kam die Erleichterung über die bevorstehende Freilassung der letzten westlichen Geiseln deutlich zum Ausdruck. Von allen Gesprächspartnern wurde die freundschaftliche Verbundenheit mit der Bundesrepublik Deutschland als wichtigem Partner in Europa betont. Insbesondere StP Hrawi, der ausführlich die libanesischen Bemühungen um S. und K. seit Sept. 91 (Besuch AM Boueiz 1 Hat MDg Hillgenberg am 19. Juni 1992 vorgelegen, der die Weiterleitung an Referat 515 verfügte. Dazu vermerkte er handschriftlich: „Haben wir ‚Punkte‘?“ Vgl. Anm. 13. Hat VLR Gaerte am 20. Juni 1992 vorgelegen, der die Weiterleitung an Referat 310 verfügte. Dazu vermerkte er handschriftlich: „Mit (erneuter) Bitte um Mitteilung, welche Punkte Picco zugesichert hat“. Hat VLR Kaul am 29. Juni 1992 vorgelegen, der die Weiterleitung an Referat 310 verfügte und handschriftlich vermerkte: „Vgl. anliegenden Vermerk. Picco ist von uns eindringlich gebeten worden, sich auf diese Punkte zu beschränken.“ Vgl. Anm. 14. Hat Hillgenberg am 1. Juli 1992 erneut vorgelegen. 2 Korrigiert aus: „Mohinari“. Der italienische Geschäftsmann Alberto Molinari wurde 1985 im Libanon entführt. 3 Am 6. Juni 1982 marschierten israelische Truppen in den Libanon ein. Vgl. AAPD 1982, I, Dok. 178 und Dok. 191. 4 Zum Aufenthalt des StM Schmidbauer, Bundeskanzleramt, vom 31. Mai bis 2. Juni 1992 im Iran vgl. Dok. 163. 5 StM Schmidbauer, Bundeskanzleramt, hielt sich vom 14. bis 16. Juni 1992 in Syrien auf. 6 Reinhard Schlagintweit. 7 Andreas von Hoessle. 8 Durchgängig korrigiert aus: „Hraoui“.

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18. Juni 1992: Drahtbericht von Kiewitt

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in Teheran) schilderte, nachdem die Vermittlungsaktion des VN-GS in Gang gekommen war, hob hervor, dass die LIA Regierung es unabhängig von anderen Fragen (Finanzhilfe9) als ihre moralische Pflicht angesehen habe, ihren Beitrag zu leisten. (Hierzu folgt gesonderter Bericht.10) Zwar könnten die Regierung und das libanesische Volk nicht für die Geiselnahmen verantwortlich gemacht werden, dennoch sei hierdurch der Name des Landes befleckt worden. Insofern sei das Land selbst durch fremdes Handeln zur Geisel geworden. Was man sich von Deutschland und Europa erwarte, sei eine verstärkte Unterstützung der VN-GV Res. 42511 (bedingungsloser isr. Rückzug aus Südlibanon). Die unruhige Lage im Süden stelle eine erhebliche politische und finanzielle Belastung dar. Insbesondere bei MP Solh kam auch das Anliegen verstärkter Zusammenarbeit beim wirtschaftlichen Wiederaufbau zum Ausdruck. Der StM überbrachte Grüße des Bundeskanzlers und der Bundesregierung sowie den Dank für die libanesische Unterstützung bei den Bemühungen um die Freilassung von S. und K. Er wies auf die positiven Auswirkungen auf die Beziehungen zu Deutschland und Europa hin und hob die neue Art der Zusammenarbeit in der Region hervor. Ggü. den Medien brachte er ferner den Dank an IRN, SYR und involvierte Persönlichkeiten wie den VN-GS12 und USG Picco zum Ausdruck. Ferner wurde nochmals deutlich gemacht, dass wir uns an die von Picco zugesicherten Punkte13, aber auch nur an diese, halten werden14 und auch eine Auslieferung der Hamadi-Brüder 9 Botschafter Kiewitt, Beirut, berichtete am 27. Februar 1992: „Nachdem die Verknüpfung der Geiselfrage mit unserer FZ von mir am 1.2. g[e]g[e]n[über] StP Hrawi sowie mit der EG-Hilfe von der EG-KOM/ EIB-Delegation am 27.2. ggn. der LIA-Regierung angesprochen wurde, hat StP Hrawi das Thema am 8.2. mit Präs[ident] Assad aufgegriffen, der seinerseits mit Präs. Rafsandschani Kontakt aufgenommen hat. […] Die Herstellung einer Verbindung zwischen dem Fall Strübig/Kemptner und dem Eigeninteresse an Wi[rtschafts]-Hilfe hat somit Fortschritte erbracht.“ Vgl. DB Nr. 156; B 36, ZA-Bd. 196606. Botschafter Trumpf, Brüssel (EG), berichtete am 18. Juni 1992, im Ausschuss der Ständigen Vertreter habe der portugiesische Vorsitz am selben Tag festgestellt, dass mit Freilassung der beiden Geiseln die „Voraussetzung für Deblockierung der Mittel aus dem 3. und 4. Finanzprotokoll für den Libanon erfüllt“ sei. Vgl. DB Nr. 1847; B 36, ZA-Bd. 196607. 10 Botschafter Kiewitt, Beirut, ordnete am 3. Juli 1992 den Entführungsfall Strübig/Kemptner in den Kontext der politischen Umbrüche im Libanon und im Nahen Osten seit 1989 ein. Vgl. DB Nr. 516/517; B 46, ZA-Bd. 229626. 11 Für die Resolution Nr. 425 des VN-Sicherheitsrats vom 19. März 1978 vgl. UNITED NATIONS RESOLUTIONS, Serie II, Bd. XI, S. 13. 12 Boutros Boutros-Ghali. 13 Der Passus „wir uns […] Punkte“ wurde von MDg Hillgenberg hervorgehoben. Vgl. Anm. 1. 14 Bei einem Gespräch mit dem Sonderbeauftragten des VN-GS, Picco, am 7. Januar 1992 auf dem Petersberg erklärte MD Schlagintweit bezüglich Zugeständnissen gegenüber den Entführern: „Einzige Möglichkeit seien Erleichterungen im Bereich der Haftbedingungen. MD Bendel [BMJ] bestätigte dies und sagte, dass nach Freilassung der Deutschen eine Zusammenlegung der Brüder Hamadi in einem Gefängnis möglich sei. Danach könne man dann über weitere Vergünstigungen mit der zuständigen Länderjustizverwaltung sprechen. Er erwähnte Fernsehen in der Zelle, Lebensmitteleinkauf in der Haftanstalt, regelmäßige Telefonate auch mit männlichen Familienangehörigen, gemeinsame Teilnahme an Freizeitbeschäftigungen, Gespräche der beiden Brüder ohne Aufsicht.“ Auf Piccos Frage nach einem „Hausarrest“ für die Hamadi-Brüder erklärte Bendel, „dass es diese Form des Strafvollzugs bei uns nicht gebe“. Zu einer vorzeitigen Haftentlassung erläuterte Bendel, „dass eine Überprüfung der Haftdauer bei Mohammed Hamadi vor Ablauf von 15 Jahren nicht infrage komme, und dass bei Abbas Hamadi der früheste Termin nach Ablauf der Hälfte der 13-jährigen Freiheitsstrafe sei“. Vgl. den Gesprächsvermerk; B 46, ZABd. 229626.

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an die USA nicht zur Diskussion stehe. D 3 erinnerte beim Parl[aments]präsidenten an die seit längerem vorliegende Einladung des BT. StP Hrawi wollte mit einem weiteren Treffen mit dem StM in Gegenwart von S. und K. kurz vor dem Abflug deutlich machen, dass damit das unrühmliche Kapitel der Geiselnahmen als Mittel der Verfolgung politischer Ziele im Libanon zu Ende sei. 4) Die mit SYR und IRN abgesprochene Freilassung von S. und K. in Beirut sollte das Signal sein, dass LIA ein weiteres Stück Souveränität und Stabilität zurückgewonnen hat. Die Devisen-Börse reagierte am 18.6. nicht zuletzt aufgrund der voreiligen Erklärung der EGKommission vom 16.6., die Hemmnisse für die Umsetzung der Finanzprotokolle seien nunmehr entfallen, mit einem nennenswerten Kurssprung des LIA Pfundes. Damit erfährt die Regierung, die erneut unter den Druck der Gewerkschaften zu geraten drohte, in der Phase der Vorbereitung zeitlich umstrittener allg. Wahlen15 eine wichtige Abstützung. Günstig wirkt sich in diesem Zusammenhang aus, dass für nächste Woche der Besuch einer EGDelegation angekündigt wurde, um über Wiederaufbauprojekte zu verhandeln. Damit wird die starke Stellung der EG-Länder in der anlaufenden Wiederaufbauphase konkretisiert. 5) Die Medien haben den Aufenthalt des StM und die Freilassung von S. und K. an vorderster Stelle behandelt. In den TV-Nachrichten vom 17.6. gab es z. T. einschl. der Abschlusserklärung des StM mit MP Solh 15-minütige Berichte, wobei in der Kommentierung die Auswirkungen auf die Wirtschaftslage im Vordergrund standen. In der arabischsprachigen Presse vom 18.6. waren allerdings erneut missverständliche Bemerkungen dahingehend zu finden, dass nunmehr binnen Kürze mit Haftverkürzung für die Hamadi-Brüder zu rechnen sei. 6) Insgesamt hat der mit der Freilassung von S. und K. verbundene Besuch von StM Schmidbauer und seiner Delegation den Hoffnungen auf eine Zusammenarbeit mit Europa, insbesondere mit uns, neuen Auftrieb gegeben. Ansehen der VN erfuhr in der hiesigen Öffentlichkeit eine wichtige Stärkung. Gleichzeitig wurde damit ein von SYR und IRN mitgetragenes Zeichen gesetzt, dass Geiselnahme nicht mehr zum politischen Instrumentarium gehören soll und Interesse an einer Stabilisierung der Lage im Libanon – auch im Rahmen der Nahost-Konferenz16 – besteht. Ob dieses Signal ggü. der Weltöffentlichkeit sich allerdings für LIA tatsächlich als Zugewinn an Souveränität und politischem Spielraum auszahlt, bleibt abzuwarten. Die Libanon-Politik sowohl von SYR als auch des IRN dürfte zunächst weiterhin von deren Einstellung zu ISR bestimmt bleiben.17 [gez.] Kiewitt B 46, ZA-Bd. 229626 15 Botschafter Kiewitt, Beirut, teilte am 14. Juli 1992 mit: „Die Aussicht auf erstmalige Abhaltung von Parlamentswahlen seit 1972 innerhalb der nächsten drei Monate scheint einen neuen Graben zwischen dem christlichen und moslemischen Bevölkerungsteil aufzutun.“ Seit April 1992 werde im christlichen Teil des Landes für einen Wahlboykott geworben, „da man eine Gleichschaltung des Parlaments mit SYR-Interessen befürchtet“. Vgl. DB Nr. 548; B 36, ZA-Bd. 196562. Die Parlamentswahlen fand am 23. August (Nordlibanon und Bekaa-Ebene), 30. August (Beirut und Umgebung) und 6. September 1992 (Südlibanon) statt. 16 Zum Friedensprozess im Nahen Osten vgl. Dok. 121. 17 Im Arbeitsstab Libanon forderte MD Schlagintweit am 2. Juli 1992 „im Interesse der Sicherheit deutscher Interessen im und außerhalb des Libanons“ eine unverzügliche „Umsetzung der von uns über Picco

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182 Drahtbericht des Botschafters Sudhoff, Paris VS-NfD Fernschreiben Nr. 1621 Citissime Betr.:

Aufgabe: 20. Juni 1992, 13.02 Uhr1 Ankunft: 25. Juni 1992, 18.06 Uhr

Stand der frz.-amerikanischen Beziehungen vor BM-Besuch in Washington2 und den Gipfelkonferenzen in München3 (G 7) und Helsinki4 (KSZE)

Bezug: DB Washington Nr. 1864, 1865 vom 18.6.1992 I. Zwischen F und den USA, deren Beziehungen zu keiner Zeit unproblematisch waren, herrschen Spannungen. Neben dem aktuellen Konfliktstoff im wirtschaftlichen Bereich hat insbesondere die Diskussion über die Schaffung einer eigenen europ. Sicherheitsidentität zu spürbaren Gereiztheiten auf beiden Seiten geführt. Das frz.-amerikanische Verhältnis ist nachhaltig gestört. Dies hat Auswirkungen auf die Beziehungen Deutschlands zu beiden Staaten und kompliziert die europäische und transatlantische Zusammenarbeit bei der Suche nach einer neuen Ordnung und neuen Strukturen. In F fehlt es an einem Konzept für die Fortentwicklung der transatlantischen Beziehungen. F hat 1990 – nolens volens – die Transatlantische Erklärung5 mit unterschrieben, jedoch keinerlei Anstrengungen unternommen, den Text mit Leben zu erfüllen. Andeutungen aus der frz. Administration, ein „neuer“ NATO-Vertrag könnte ein neues, weniger konfliktträchtiges Verhältnis begründen, bleiben vage und bieten ohnehin wenig Aussicht auf Umsetzung. Die Grundlinie der frz. Amerikapolitik, d. h. europ. Eigenständigkeit in Distanz zu den USA, hat sich verstärkt, seitdem die Sicherheitsbedrohung durch die UdSSR entfallen ist. Die dt. Politik im Spannungsfeld Europa – USA gewinnt dadurch zusätzlich an Gewicht und Verantwortung. II. Außenpolitischer Konfliktstoff F macht den USA den prinzipiellen Vorwurf, als alleinige Supermacht die Welt beherrschen und alle internationalen Angelegenheiten zum eigenen Nutzen regeln zu wollen. Zwar werde mittlerweile in Washington anerkannt, dass den Verbündeten ein MitspracheFortsetzung Fußnote von Seite 744 in Aussicht gestellten Hafterleichterungen für Mohammed Ali und Abbas Hamadi“ und kündigte an, in einem Schreiben das BMJ zu bitten, „möglichst bald an die zuständigen Landesjustizministerien mit der Bitte heranzutreten. Der AS stimmte diesem Vorschlag zu.“ Vgl. den Vermerk des VLR Kaul vom 3. Juli 1992; B 46, ZA-Bd. 229626. 1 Der Drahtbericht wurde von den Gesandten Ischinger und Junker sowie BR Göbel, alle Paris, konzipiert. Hat VLR Freiherr von Kittlitz am 26. Juni 1992 vorgelegen. 2 BM Kinkel hielt sich vom 29. Juni bis 1. Juli 1992 in den USA auf. Vgl. Dok. 196–199. 3 Zum Weltwirtschaftsgipfel vom 6. bis 8. Juli 1992 vgl. Dok. 225. 4 Zur KSZE-Gipfelkonferenz am 9./10. Juli 1992 vgl. Dok. 226. 5 Für die Erklärung vom 23. November 1990 zu den Beziehungen zwischen der EG und den USA vgl. BULLETIN 1990, S. 1476 f. Vgl. ferner AAPD 1990, II, Dok. 401.

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recht eingeräumt werden müsse. Washington setze aber alles daran, das von USA kontrollierte Bündnis zum zentralen Forum der Koordinierung der Außenpolitik weiterentwickeln zu wollen. Die tiefsitzenden und grundsätzlichen Meinungsunterschiede konkretisieren sich gegenwärtig u. a. in der Auseinandersetzung um folgende Themen: – Europäisches Korps, das nach amerik. Lesart den Beginn für ein Alternativunternehmen zur NATO darstellt und den Verdacht wecken muss, die USA aus Europa herausdrängen zu wollen. – KSZE-Sicherheitsvertrag6 bzw. -Verhaltenskodex7: US befürchten Transformation der KSZE in ein kollektives Sicherheitssystem als Konkurrenz zur NATO. – Verhältnis KSZE/NATO: F unterstellt – als illegitim empfundenen – US-Versuch, die Kontrolle über etwaige Peacekeeping-Aktivitäten zu beanspruchen, ohne einen einzigen US-Soldaten dabei einsetzen zu wollen. Unsere frz. Gesprächspartner halten die amerik. Befürchtungen für ungerechtfertigt. Paris trete bekanntlich für die Beibehaltung einer US-Präsenz in Europa ein, zumal man sich davon eine z. Zt. noch nicht zu ersetzende Stabilitätswirkung bei der Neuordnung in Europa verspricht. Man lehne es jedoch ab, den US die Federführung bei der Neugestaltung des alten Kontinents zu überlassen. Präsident Mitterrand habe sich selbst stets um gute Beziehungen zu den USA bemüht und hege keine anti-amerik. Ressentiments. Mit AM Dumas verbinde ihn jedoch eine tiefe Abneigung gegenüber der „imperialen Arroganz“, mit der manche US-Politiker gegenüber ihren europ. Partnern aufträten. Das jüngste Treffen von AM Baker mit AM Dumas habe hierfür wieder ein deutliches Beispiel gegeben.8 III. Wirtschaftlicher Konfliktstoff Im Wirtschaftsbereich kann man drei traditionelle Haupt-Konfliktfelder unterscheiden: – die Handelspolitik, – Entwicklungspolitik/Umweltpolitik, – die internationale Währungspolitik. Hinzu kommen aktuelle Spannungen in den Bereichen Hilfen für die GUS-Republiken, Luftverkehr, Neugestaltung des COCOM. Die drei Hauptfelder sind weitgehend interessenbedingt und existieren seit Jahrzehnten, auch wenn der jeweilige Streitstoff sich wandelt. Die Abwehr amerikanischen Führungsstrebens spielt hier nicht die maßgebliche Rolle. Diese Streitfelder sind in gewissem Grad unvermeidlich. a) Handelspolitik Hier geht es um die Uruguay-Runde, den Ölsaaten-Konflikt, die Subventionen im Flugzeugbau und die Mikro-Elektronik. Der gravierendste und dem Gesamtklima schädlichste Konflikt ist die UR. Die UR ist in F heute zu einer großen französisch-amerikanischen Kraftprobe denaturiert, bei der beiderseits tiefer Argwohn herrscht. Das eigentliche Ziel der UR, den Welthandel zu liberalisieren, ist dabei aus den Augen geraten. Paris kann im Land allseits auf Beifall rechnen, wenn es 6 Zum französischen Vorschlag eines gesamteuropäischen Sicherheitsvertrags vgl. Dok. 87. 7 Zum Vorschlag für einen KSZE-Verhaltenskodex vgl. Dok. 142, Anm. 9. 8 Der französische AM Dumas führte am 11. Mai 1992 in Washington Gespräche mit dem amerikanischen Präsidenten Bush, AM Baker und VM Cheney.

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seine bisherige kompromisslos harte Linie offensiv weiter durchhält. Wie wir von den Amerikanern hier hören, lässt sich für die Lösung anderer Fragen ein günstigeres Klima schaffen, wenn sich Europäer und Amerikaner bei GATT zu akzeptablen Lösungen bereitfinden. Der Ölsaaten-Konflikt ist, verglichen mit der UR, ein begrenzter Sektor-Konflikt. Er kann aber angesichts des Stillstands der UR noch im Sommer eskalieren. Die Subventionen im Flugzeugbau sind für F vor allem das Thema „Verteidigung des Airbus“. F hat zu Subventionen in der Industrie ein unproblematischeres Verhältnis als wir. b) Entwicklungspolitik/Umweltpolitik F wirft den USA vor, sich aus der Solidarität im Nord-Süd-Verhältnis mehr und mehr zurückzuziehen. Die Verschlechterung des Klimas habe sich auf der Rio-Konferenz9 gezeigt und werde weitergehen, demnächst beim G 7-Gipfel. c) Internationale Währungspolitik In der Währungspolitik treffen die Komplexe realwirtschaftlicher Interessen (Stabilität und Zinspolitik) mit prestigebestimmter Rivalität zusammen. F möchte Europa vom Vorrang des Dollars freimachen und den ECU als internationale Leitwährung etablieren. Es stößt sich an den starken Dollarkurs-Schwankungen und dem „benign neglect“ der USA gegenüber seinen Riesen-Defiziten. d) Hilfe für MOE- und GUS-Republiken Frankreich ist der „Erfinder“ der Osteuropa-Bank10 und nimmt das Verhalten der USA in dieser Bank als ständigen Störversuch wahr. Es hat eine andere Konzeption von den Zielen der GUS-Hilfe als die USA und beansprucht die Programmführung für Europa. Ein besonders unfruchtbares Scharmützel hat es sich mit den USA um die Errichtung des IWTZ in Moskau11 geliefert und sieht jetzt mit größtem Unwillen die Errichtung eines IWTZ in Kiew unter US-Führung ohne EG-Beteiligung12. 9 Zur VN-Konferenz über Umwelt und Entwicklung (UNCED) vom 3. bis 14. Juni 1992 in Rio de Janeiro vgl. Dok. 177. 10 Zur Gründung der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung vgl. AAPD 1990, I, Dok. 98. 11 Zur Gründung eines Internationalen Wissenschafts- und Technologiezentrums (IWTZ) in Russland zur Verhinderung der Verbreitung von Nuklearwaffen durch Wissenstransfer vgl. Dok. 105, Anm. 8. MD Dieckmann erläuterte am 6. Mai 1992, das Gründungsdokument für das IWTZ sei von den vier Beteiligten „in den letzten Tagen finalisiert“ worden; strittig bleibe die Sprachenfrage: „RUS, JAN und US wollen als Vertragssprachen nur Englisch und Russisch akzeptieren. Die EG besteht darauf, dass außer Englisch auch alle acht weiteren EG-Amtssprachen zu Vertragssprachen werden“. Hintergrund sei Frankreichs Insistieren auf Französisch als Vertragssprache, „womit automatisch innerhalb der EG die Allsprachenregelung eintritt“. Vgl. den DE an die Botschaften in Moskau, Tokio und Washington; B 41, ZA-Bd. 158763. Gesandter Nordenskjöld, Washington, teilte am 8. Mai 1992 mit, die USA seien außerordentlich verstimmt und drohten, „das Abkommen dreiseitig abzuschließen. Die EG wäre dann kein Gründungsmitglied mehr, sondern höchstens noch ‚unterstützendes‘ Mitglied.“ Vgl. DB Nr. 1475; B 41, ZA-Bd. 158763. 12 VLR I Nocker legte am 23. Juni 1992 dar: „Die Unterzeichnung des IWTZ-Abkommens, das am Rande der Lissabon-Konferenz am 23.5.1992 von der EGK, den USA, Japan und Russland paraphiert wurde, wird nun für den 29.6.92 in Moskau erwartet. […] Die negativen Erfahrungen mit den langwierigen Abstimmungsprozessen innerhalb der EG haben die USA dazu veranlasst, mit der Ukraine, Schweden und Kanada ein dem IWTZ ähnliches Wissenschafts- und Technologiezentrum in Kiew ohne Beteiligung der EG zu gründen. Die USA finanzieren dieses Zentrum mit 10 Mio. Dollar, Schweden mit 1,7 Mio. Dollar und Kanada mit 1 Mio. Dollar.“ Vgl. B 41, ZA-Bd. 158763.

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IV. Das schlechte Klima zwischen Paris und Washington bringt für uns erhebliche Probleme mit sich. Wir sind von dieser unfruchtbaren Auseinandersetzung direkt betroffen. Stets besteht die Gefahr, dass wir keinen der beiden Partner zufriedenstellen. Reminiszenzen an die Zeit Adenauers drängen sich auf. Paris erwartet, dass wir uns solidarisch verhalten, indem wir deutsch-französische Positionen gegenüber US-Druck standhaft verteidigen. Washington erwartet auf der anderen Seite, dass Bonn an der – traditionellen – transatlantischen Solidarität keine Zweifel aufkommen lässt und F „zur Raison bringt“ (Beispiel GATT/ BK-Reise Washington13). [1)] Wir werden in Zukunft nicht mehr Everybody’s Darling sein können. Um dies verständlich zu machen, müssen wir auf klare Positionen verweisen können. Den Amerikanern müssen wir verdeutlichen, dass eine Politik der Stärkung der europäischen Identität im ureigenen deutschen Interesse liegt. Wir suchen die Selbstbindung in dieser europäischen Identität. Dies ist auch richtig verstandenes amerikanisches Interesse. Vor allem ist es keine Politik für Frankreich oder auf Druck Frankreichs. Dabei sollten wir dem gelegentlich zu hörenden Vorwurf begegnen, deutsche Politik werde gegenüber Washington anders dargestellt als gegenüber Paris. Wechselbäder zwischen deutsch-amerikanischen (Genscher/ Baker14) und dt.-frz. Erklärungen (z. B. Eurokorps), wie sie sich im Laufe des Jahres 1991 ereigneten, verschärfen letztlich nur die bestehenden frz.-amerik. Dissonanzen und zwingen uns zu immer neuen Glaubensbekenntnissen. Hier tragen wir also eine erhebliche Mitverantwortung für ein gedeihliches Klima. Eine unmissverständliche Bekräftigung unseres Engagements bei dt.-frz. Initiativen wie dem Eurokorps oder auch z. B. der Badinter-Initiative15 auf der Ebene BM/AM Baker ist wünschbar und notwendig. Washington sollte wissen, dass es hier um dt. Interessen geht und es sich nicht auszahlt, auf dt.-frz. Interessenunterschiede zu setzen. Schon deshalb erscheinen zusätzliche politische Gesten, wie z. B. eine Bekräftigung der Transatlantischen Erklärung von 1990 oder neue vertragliche Formen gegenwärtig weder erforderlich noch hilfreich.16 Solche Gesten würden Frankreich gegen uns aufbringen und bei den Amerikanern auch nur so verstanden werden müssen, wir wollten wegen anderweitiger „Unfreundlichkeiten“ (Eurokorps!) bei ihnen gut Wetter machen wollen.17 Umgekehrt sagen wir den Franzosen immer wieder, dass wir europäische Identitätsfindung und atlantische Bindung nicht als Gegensätze, sondern komplementär definieren. Jüngste Äußerungen, wie etwa diejenigen von VM Joxe zum Eurokorps, zeigen, dass das frz. Verständnis hierfür im Wachsen begriffen ist. Wir können Paris umso leichter hierfür gewinnen, je klarer sich nachweisen lässt, dass es sich lohnt, mit den USA einen ergebnisorientierten und auf amerik.-europ. Interessenausgleich abzielenden Dialog zu führen. 2) Ob wir es verhindern können, immer wieder zwischen US-Wünsche einerseits und z. T. diametral entgegengesetzte F-Konzepte zu geraten, ist zu bezweifeln. Gleichwohl können 13 Vgl. die Gespräche des BK Kohl mit dem amerikanischen Präsidenten Bush am 21./22. März 1992 in Camp David; Dok. 82. 14 Für die gemeinsamen Erklärungen des BM Genscher und des amerikanischen AM Baker vom 10. Mai bzw. 2. Oktober 1991 vgl. DEPARTMENT OF STATE DISPATCH 1991, S. 345–347 bzw. S. 736 f. Für den deutschen Wortlaut der Erklärung vom 2. Oktober 1991 vgl. BULLETIN 1991, S. 863 f. Vgl. auch AAPD 1991, I, Dok. 159. 15 Zur deutsch-französischen Initiative für eine Gesamteuropäische Schiedsinstanz vgl. Dok. 105, Anm. 27. 16 Zum Vorschlag eines Transatlantischen Vertrags vgl. Dok. 165. 17 Zu diesem Satz vermerkte VLR Freiherr von Kittlitz handschriftlich: „r[ichtig]“.

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wir einiges tun, um hier vorbeugend zu wirken. Dazu müssen wir in noch stärkerem Maße als bisher versuchen, eigene Vorstellungen zur europ. und transatlantischen Architektur einzubringen und sowohl F wie US hierfür zu gewinnen. Etwa im Bereich der KSZEPolitik haben sich bereits erfolgreiche Ansätze in diesem Sinne ergeben. Die permanente frz.-amerik. Auseinandersetzung zwingt uns also geradezu zur Übernahme größerer Gestaltungsverantwortung. Es wird letztlich allen nützen, wenn wir diese Erkenntnis gegenüber den beiden Partnern auch vertreten und sie dabei auf die unausweichlichen Konsequenzen hinweisen, die sich aus ihrem Dauerkonflikt für uns ergeben. [gez.] Sudhoff B 32, ZA-Bd. 179532

183 Drahtbericht des Botschafters Dahlhoff, Tiflis Fernschreiben Nr. 87

Aufgabe: 22. Juni 1992, 18.47 Uhr1 Ankunft: 22. Juni 1992, 17.59 Uhr

Betr.: Georgisch-russische Beziehungen2 Bezug: DB 81 vom 19.6.923 Bitte um Weisung 1 Hat BM Kinkel am 27. Juni 1992 vorgelegen, der handschriftlich vermerkte: „Erb[itte] Bericht! Wie reagieren wir?“ Hat OAR Salzwedel am 29. Juni 1992 vorgelegen, der den Rücklauf über das Büro Staatssekretäre, MD Chrobog und MDg von Studnitz an Referat 213 verfügte. Dazu vermerkte er handschriftlich: „S[iehe] Weisung und Frage BM. 2) D[urch]d[ruck Referat] 213 vorab.“ Hat StS Kastrup am 29. Juni 1992 vorgelegen, der handschriftlich verfügte: „(Aufzeichnung)“. Vgl. Anm. 12. Hat in Vertretung von Chrobog MDg Hofstetter am 30. Juni 1992 vorgelegen. Hat Studnitz vorgelegen. Hat VLR I Neubert am 1. Juli 1992 vorgelegen. 2 VLR I Neubert erörterte am 23. Juni 1992 die Lage in Georgien: „In Südossetien (bewohnt von einem iranischen Stamm, der in den dreißiger Jahren dort angesiedelt worden ist; ein anderer Teil der Osseten wohnt in Nordossetien, das zur Russischen Föderation gehört) kommt es seit Beginn des Jahres zu bewaffneten Auseinandersetzungen. Die südossetische Autonomie wurde von der Regierung des ersten Präsidenten nach der Unabhängigkeit, Gamsachurdia, annulliert und eine teilweise gewaltsame Politik der Georgisierung betrieben. Aus den Forderungen nach Wiederherstellung der Autonomie entwickelte sich bald der Ruf nach Anschluss Südossetiens an Nordossetien. Nach dem Sturz von Gamsachurdia gewannen die Auseinandersetzungen in Südossetien an Schärfe, die Milizen der Gamsachurdia-Gegner Iosseliani und Kitowani (jetzt Stellvertreter bzw. Verteidigungsminister Schewardnadses) griffen in die Kämpfe ein und scheinen die gewaltsame Vertreibung der Südosseten anzustreben. […] Die russische Regierung steht unter dem Druck Nordossetiens, das von Flüchtlingen aus Südossetien überschwemmt wird. […] Die Zwischenfälle in Georgien haben zu einer erheblichen Belastung des georgisch-russischen Verhältnisses geführt. Bei diesen Zwischenfällen wurden auch russische Militärangehörige in Mitleidenschaft gezogen.“ Vgl. B 41, ZA-Bd. 171737. 3 Botschafter Dahlhoff, Tiflis, informierte über die teils blutigen Auseinandersetzungen in Georgien, in die auch russische Streitkräfte verwickelt seien. Ein weiterer Problemherd in Abchasien zeichne

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1) Angesichts der sich verschärfenden Spannungen zwischen Tiflis und Moskau und zur Vorbereitung des Tiflis-Besuchs von StM Schäfer (1. – 3.7.92)4 suchte ich am Morgen des 22.6.92 Schewardnadse auf. Am Nachmittag erhielt ich die Nachricht, dass Jelzin Schewardnadse angerufen und seiner Besorgnis über die Lage Ausdruck gegeben habe. Am 24.6. um 10 Uhr werden sich beide bei Sotschi treffen.5 Hierdurch erscheint manches, was Schewardnadse am Morgen sagte, in einem etwas optimistischeren Licht. Ich gebe das Gespräch nachstehend wieder, wie geführt. 2) Im Laufe des Gesprächs trug Schewardnadse folgende Bitten an uns vor, zu denen StM Schäfer bei seinem Besuch unsere – möglichst positive – Stellungnahme abgeben sollte. – Bonn möge in der KSZE vorschlagen, eine KSZE-Beobachterdelegation nach Südossetien zu entsenden, damit objektive Informationen verfügbar werden; er, Schewardnadse, werde dieses Anliegen in Helsinki6 selbst auch vertreten. – Frühestmögliche Entsendung eines deutschen Verteidigungsattachés (er bat mich, dieses Anliegen mit besonderem Nachdruck zu fördern). – Entsendung eines deutschen Polizeiberaters. – Beratung für Verhandlungen mit Russland über Stationierungsfragen. Ferner weise ich auf meine Anregungen im Bezugsbericht hin, die ich durch das Gespräch bestätigt sehe: zur russischen Südossetienpolitik EG-Demarche oder Erklärung und Ermahnung Jelzins beim Münchner Gipfel7. Auch wenn Jelzin auf Schewardnadse zugeht, sind die Probleme nicht gelöst. Schewardnadse braucht für die schwierigen Verhandlungen mit Moskau Rückenstärkung in der Südossetienfrage, damit er dort nicht unter Druck gerät, auf den die georgische Unabhängigkeit berührenden russischen Vertragsentwurf8 einzugehen. Ferner scheint Jelzin Schwierigkeiten zu haben, Politiker wie Ruzkoj Fortsetzung Fußnote von Seite 749 sich ab. Im Anhang des Fernschreibens gab Dahlhoff einen Überblick über den russischen Entwurf für einen Vertrag mit Georgien „über Freundschaft, Zusammenarbeit und gegenseitige Hilfe“. Vgl. B 41, ZA-Bd. 221865. 4 Zum Besuch des StM Schäfer vgl. Dok. 205, Anm. 10. 5 Der russische Präsident Jelzin und der Vorsitzende des georgischen Staatsrats, Schewardnadse, vereinbarten am 24. Juni 1992 in Sotschi Prinzipien zur Regelung des Südossetienkonflikts, die eine Waffenruhe ab 27. Juni und gemischte Einheiten zu ihrer Überwachung vorsahen. VLR Brose notierte am 26. Juni 1992 für BM Kinkel: „Treffen Jelzin/Schewardnadse positiv. Fraglich, ob es Schewardnadse gelingt, vereinbarte Waffenruhe in Ossetien umzusetzen (Südosseten haben Übereinkunft bereits zurückgewiesen). Weitere Bewertung erst nach Erfahrungsfrist möglich.“ Vgl. B 41, ZA-Bd. 171737. 6 Zur KSZE-Gipfelkonferenz am 9./10. Juli 1992 vgl. Dok. 226. 7 Zum Weltwirtschaftsgipfel vom 6. bis 8. Juli 1992, zu dem der russische Präsident Jelzin am 8. Juli 1992 hinzugezogen wurde, vgl. Dok. 225. 8 Botschafter Dahlhoff, Tiflis, übermittelte am 19. Juni 1992 den russischen „Entwurf für einen russischgeorgischen Vertrag über Freundschaft, Zusammenarbeit und gegenseitige Hilfe“ vom 12. Juni 1992. Vgl. SB Nr. 45; B 41, ZA-Bd. 171743. LR I Manig unterrichtete die Botschaften in Washington und Moskau am 22. Juni 1992, der „russische Vertragsentwurf hinterlasse „den Eindruck, dass es sich um ein Instrument zur Knebelung Georgiens handelt“. Dies könne in den GUS-Mitgliedstaaten „den Eindruck verstärken, Russland wolle die Souveränität der GUS-Staaten beschränken und strebe eine ungebrochene Vormachtstellung an“, was negative Auswirkungen „auf die Ratifizierung des KSE-Vertrages und letztlich auf das Ost-West-Verhältnis insgesamt haben“ könne. Vgl. DE Nr. 6774; B 41, ZA-Bd. 171743.

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Abb. 8: Konfliktregionen in Georgien

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und Chasbulatow und Teile der Streitkräfte zu kontrollieren.9 Internationaler Meinungsdruck auf diese Kräfte könnte vielleicht auch Jelzin helfen, diese einzubinden. Schewardnadse war die Last des Amtes in der gegenwärtigen Lage anzusehen, blass und angespannt. Schewardnadse führte aus: Die innenpolitische Lage sei nicht stabil, aber es gebe Zeichen einer gewissen Konsolidierung. Das sei im Moment das größte Aktivum seiner Bemühungen. Die Probleme mit Mchedrioni und der Nationalgarde seien gegenwärtig insgesamt marginal. (Sch. gibt damit eine optimistischere Wertung, als ich im Bezugsbericht dargelegt habe. Ich bleibe bei meiner Besorgnis, es sei denn, es zeige sich, dass die Spannungen mit Russland zu Mäßigung bei Kitowani und Iosseliani beitragen.) Viel mehr als über die innere Lage sei er über die äußere besorgt. Wenn aus Russland wirkende Kräfte Georgien in Ruhe ließen, könnte Georgien die südossetische Frage lösen. (Hinweis: Sch. befürwortet Wiedereinräumung von Autonomie an Südossetien, wogegen es aber erhebliche innergeorgische Widerstände gibt.) Mit Nordossetien habe er Grundsätze einer Lösung vereinbart. Das Hauptproblem seien gewisse russische Kräfte, die neue totalitäre Staatsformen befürworten. Ein typischer Vertreter und Chauvinist sei VP Ruzkoj. Sch. machte einen deutlichen Unterschied zwischen Kräften wie Ruzkoj und bestimmten Teilen des russischen militärisch-industriellen Komplexes einerseits und Jelzin andererseits. Er zeigte sich besorgt, dass Jelzin dem Verhältnis zu Georgien nicht genügend Aufmerksamkeit schenke und sich möglicherweise nicht lange in seinem Amt halten könne. Auf Frage sagte er, sein persönliches Verhältnis zu Jelzin sei normal. Er könne kein Abenteuer ausschließen. Vor einigen Wochen habe Ruzkoj ihm die Bombardierung von Tiflis angedroht. Schewardnadses Äußerungen gingen wiederholt in die Richtung der Befürchtung, dass von Norden her ein Vorwand für russische militärische Intervention geschaffen werden soll. Er selbst gebe sich in seiner schwierigen Lage die größte Mühe, einerseits die innere Situation so weit zu kontrollieren, dass russischen Interventionen kein Vorwand geliefert werde, andererseits in angemessener Sprache – öffentlich und durch diplomatische Kanäle – die nationalen Interessen seines Landes gegenüber dem nördlichen Nachbarn zu wahren. Er sei Russland weit entgegengekommen, er wolle das auch weiterhin, aber manche Kräfte spielten ein anderes Spiel an den Außengrenzen. Jelzin habe vom Westen alles bekommen, was er verlange, aber der Westen sollte auch die Situation zwischen Russland und Georgien genau beobachten. Es sei daher wichtig, Helsinki-Beobachter nach Georgien zu entsenden. Bisher habe er, Schewardnadse, KSZEBeobachter nur durch öffentliche Erklärung gefordert. Nun bitte er uns, für Georgien diese Bitte in der KSZE anhängig zu machen. Der russisch-georgische Konflikt werde von russischer Seite mit erheblichem Aufwand an Desinformation betrieben und eskaliert. (Hinweis: Bei einer KSZE-Beobachtermission fielen auch gegenüber georgischen Nationalisten innenpolitische Vorteile an, die für die Sicherung von Schewardnadses politischer Laufbahn von großer Bedeutung wären.) Ich nahm den Wunsch entgegen und sagte, dass wir ggf. 9 Referat 213 notierte am 23. Juni 1992, der Präsident des russischen Parlaments, Chasbulatow, habe mit einem Parlamentsbeschluss gedroht, „wonach Süd- mit Nordossetien vereinigt werden könnte“. Den beschwichtigenden Aufruf des Vorsitzenden des georgischen Staatsrats, Schewardnadse, vom 16. Juni 1992 zur Normalisierung der georgisch-russischen Beziehungen habe der russische Vizepräsident Ruzkoj mit der Drohung beantwortet, „dass Tiflis bombardiert würde, wenn es nicht zu einer Einstellung bewaffneter georgischer Aktionen in Südossetien käme“. Vgl. B 41, ZA-Bd. 171737.

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zunächst im Rahmen der Zwölf tätig würden.10 Ich hoffte aber, dass StM Schäfer etwas im Gepäck haben werde. In diesen Zusammenhang stellte Schewardnadse auch die Bitte um raschestmögliche Entsendung eines deutschen Verteidigungsattachés.11 Schließlich hofft er, dass StM Schäfer eine gute Nachricht zum Polizeiberater mitbringt. Wie berichtet, wird StM Schäfer durch Schewardnadse wahrgenommen. Details folgen. 3) In der Umgebung Schewardnadses wird gesagt, die letzten drei Tage seien im Raum Zchinwali die ruhigsten seit langem gewesen. Die russischen Medien verbreiteten bewusst aufgebauschte Nachrichten. Recht dramatische Nachrichten über Kämpfe zwischen Nationalgarde und Osseten hatte ich über Deutsche Welle und den Österreichischen Rundfunk gehört. Zwar habe es mehr oder weniger heftige Schießereien gegeben, aber keine Toten und keine bewaffneten Zusammenstöße von Osseten und Georgiern. Man kann das Nachrichtenbild, das ich aus den georgischen Medien bekomme, so interpretieren. Schewardnadse vermied eine direkte Antwort auf meine Frage, wie er einen möglichen Zusammenhang zwischen der russischen Ossetienpolitik und dem russischen Vertragsentwurf sehe (vgl. Anhang zum Bezugs-DB). In seiner Umgebung wird die Möglichkeit in Betracht gezogen, dass Georgien durch Druckausübung in Südossetien dazu gebracht werden soll, auf der Basis des russischen Vertragsentwurfs zu verhandeln und sich damit erneut eng – und nicht sehr selbstständig – an Russland anzuschließen.12 [gez.] Dahlhoff B 41, ZA-Bd. 171739

10 Botschafter Höynck, Helsinki (KSZE-Delegation), berichtete am 1. Juli 1992, Georgien habe den AHB der KSZE gebeten, „eine Fact-finding mission nach Südossetien zu entsenden.“ Er, Höynck, habe diesen Vorschlag unterstützt. Vgl. DB Nr. 572; B 41, ZA-Bd. 171743. Am 3. Juli 1992 beschloss der AHB eine KSZE-Mission nach Südossetien. 11 LR I Manig teilte der Botschaft in Tiflis am 23. Juni 1992 mit: „Entsendung eines deutschen Mil.Attachés wird erst dann infrage kommen, wenn GEO eigene Streitkräfte hat, die einer demokratisch gewählten Regierung auf verfassungsgemäßer Grundlage zur Verfügung stehen. Offizielle Beziehungen der Bundeswehr zur Nationalgarde oder den Mchedrioni sind jetzt nicht möglich, schon gar nicht angesichts ihrer Rolle in den laufenden gewaltsamen Auseinandersetzungen.“ Die Botschaft solle auf das „High Level Seminar on Reform Policy and Management“ des NAKR vom 1. bis 3. Juli 1992 in Brüssel verweisen, „zu dem auch georgische Teilnehmer eingeladen worden sind. Das Seminar befasst sich u. a. mit dem Aufbau von Streitkräften in demokratischen Gesellschaften.“ Vgl. DE Nr. 6838; B 41, ZABd. 171736. 12 Für die von Kinkel erbetene Vorlage zum weiteren Vorgehen vgl. Dok. 205.

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23. Juni 1992: Gespräch zwischen Kastrup und Holger

184 Gespräch des Staatssekretärs Kastrup mit dem chilenischen Sonderbotschafter Holger 216-531.00 VS-NfD

23. Juni 19921

Unter Verschluss Beendigung des Aufenthalts Honeckers in der chilenischen Botschaft in Moskau; hier: Gespräch des Staatssekretärs im Auswärtigen Amt, Dr. Kastrup, mit dem chilenischen Sonderbotschafter Holger, am Dienstag, dem 23.6.1992, 16.00 – 16.35 Uhr Teilnehmer auf deutscher Seite: Staatssekretär Dr. Kastrup, VLR I Dr. Lambach als Note-taker, VLR Dr. Ney, Dolmetscher; auf chilenischer Seite: Botschafter Holger, Botschafter Huneeus, zwei chilenische Mitarbeiter. Staatssekretär: Ihre gestern hier vorgetragenen Überlegungen wurden auf deutscher Seite sehr sorgfältig geprüft.2 Dass das Gespräch mit Ihnen bereits heute fortgesetzt wird, soll Ihnen zeigen, dass wir ebenso wie Sie an einer schnellen Erledigung der Angelegenheit interessiert sind. Was ich Ihnen jetzt mitteile, geschieht auch im Auftrag des Bundeskanzleramts. Die deutsche Seite ist bereit, dem folgenden Szenario zuzustimmen: 1) Die deutsche Regierung richtet ein Ersuchen an die russische Regierung. Sie wird dabei Bezug nehmen auf die zahlreichen Gespräche, die sie mit der russischen Regierung hatte, und auf die Zusicherungen, die sie von russischer Seite erhalten hat. Das Ersuchen richtet sich darauf, der deutschen Regierung zu bestätigen, dass Herr Honecker nach Deutschland zurückzuüberstellen ist. 2) Bei Übermittlung dieses Ersuchens weisen wir mündlich die russische Seite darauf hin, dass die chilenische Regierung zugesichert hat, im Falle einer Bestätigung den Aufenthalt von Herrn Honecker in der chilenischen Botschaft in Moskau ggfs. auch gegen seinen Willen zu beenden. Wir würden hinzufügen, dass eine schriftliche Bestätigung für die chilenische Regierung wichtig ist. 1 Der Gesprächsvermerk wurde von VLR I Lambach am 24. Juni 1992 gefertigt und StS Kastrup „mit der Bitte um Billigung“ vorgelegt. 2 StS Kastrup führte am 22. Juni 1992 ein Gespräch mit dem chilenischen Sonderbotschafter Holger. Dieser teilte mit: „Auf der Grundlage weiterer Überlegungen in Santiago und nach dem Gespräch zwischen Bundeskanzler und Präsident Aylwin stelle er für die chilenische Seite fest, dass mit der deutschen Seite in den Grundpositionen Übereinstimmung herrsche. Es gehe jetzt um die Art und Weise der Rücküberstellung. Chile halte nicht mehr an dem Verfahren nach Art. 13 des Internationalen Pakts für bürgerliche und politische Rechte fest.“ Holger kündigte an, „ab Anfang Juli Gespräche in der Botschaft in Moskau zu führen. Honecker sei dazu zu bewegen, die Botschaft Chiles in Moskau zu gegebener Zeit zu verlassen.“ Allerdings bleibe Chile dabei, „dass es eine unmittelbare und sofortige Überstellung für nicht akzeptabel halte“. Vgl. den Gesprächsvermerk; B 38, ZA-Bd. 184709. Ein weiteres Gespräch führte Holger am selben Tag mit StM Schmidbauer, Bundeskanzleramt, sowie mit BM Bohl. Vgl. die Gesprächsvermerke; BArch, B 136, Bd. 59730, bzw. B 38, ZA-Bd. 184709.

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23. Juni 1992: Gespräch zwischen Kastrup und Holger

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3) Die russische Regierung bestätigt der deutschen Regierung innerhalb weniger Tage, dass die zuständige russische Behörde entschieden hat, dass Herr Honecker sich unrechtmäßig in Russland aufhält und nach Deutschland zurückzuüberstellen ist. 4) Die deutsche Regierung unterrichtet darüber die chilenische Regierung. Der Aufenthalt von Herrn Honecker in der chilenischen Botschaft in Moskau wird danach beendet. Dies ist das Szenario, etwas präzisiert, wie gestern besprochen, dem wir zustimmen können. Ich bin ermächtigt worden, hinzuzufügen, dass der Bundeskanzler persönlich dieses Szenario gebilligt hat. Nach unserem gestrigen Gespräch haben wir gegenüber der Presse nichts über den Inhalt unserer Gespräche verlauten lassen. Innerhalb der Bundesregierung sind alle Mitarbeiter, die mit der Angelegenheit befasst sind, zu einem Höchstmaß an Diskretion verpflichtet worden. Ich persönlich bin daran sehr interessiert, mit Ihnen auf dieser Basis weiterzuarbeiten. Bundesminister Bohl hatte Ihnen zugesagt, den Kontakt mit Ihnen am Donnerstag3 wieder aufzunehmen. Dies ist jetzt nicht mehr erforderlich. Ich glaube, dass wir Ihnen damit in einer fairen Weise ein Szenario an die Hand gegeben haben. Wir hoffen, dass Sie diesem Szenario zustimmen können. Jetzt wäre noch zu besprechen, wer wann wo Gespräche führt. Holger: Ich danke für die Schnelligkeit Ihrer Reaktion. Ich nehme sie als Ausdruck besonderer Höflichkeit und der guten und freundschaftlichen Beziehungen zwischen unseren beiden Ländern entgegen. Dies ist auch ganz im Sinne des zwischen Präsident Aylwin und dem Bundeskanzler geführten Gesprächs4. Mir persönlich erscheint dieses Szenario in jeder Beziehung annehmbar. Sie werden aber verstehen, wenn ich darüber Präsident Aylwin sofort telefonisch unterrichten möchte. Ich werde dies gleich im Anschluss an unser Gespräch tun. Ich glaube, dass ich in Vorwegnahme der Antwort von Präsident Aylwin sagen kann, dass er zustimmen wird. In diesem Falle wäre ich persönlich in der Lage, bereits in dieser Woche die Gespräche in Moskau aufzunehmen oder wie vorgesehen in der nächsten Woche. Ich möchte Sie nur noch fragen, ob Sie einen informellen Vorschlag für den zu veranschlagenden Zeitrahmen haben und ob Sie Anregungen für die Moskauer Gespräche hinzufügen möchten. Staatssekretär: Wenn Ihr Präsident zustimmt, halte ich es für richtig, die Gespräche in Moskau noch in dieser Woche aufzunehmen, denn wir haben jetzt ein gemeinsames Interesse, die Sache so schnell wie möglich zu beenden. Ich gehe dabei davon aus, dass Sie die Gespräche in Moskau im Auftrag Ihres Präsidenten führen werden. Ich hatte auch vor, Ihnen für diese Gespräche Hilfe anzubieten. Ich werde daher in jedem Fall unseren Botschafter in Moskau über unser Gespräch unterrichten und wäre Ihnen dankbar, wenn Sie Ihrerseits Botschafter Blech über den Fortgang der Angelegenheit unterrichten. Ich stehe auch Ihrem Botschafter in Bonn jederzeit zur Verfügung. So können wir die nachfolgenden Schritte abstimmen. Holger: Sie haben mein völliges Einverständnis. In Moskau werde ich in meiner Funktion als Sonderbotschafter in dieser Angelegenheit meine bisherigen Gespräche fortsetzen. Ich werde Botschafter Blech unterrichtet halten. Ich bin auch damit einverstanden, dass Botschafter Huneeus für die Unterrichtung eingeschaltet wird. 3 25. Juni 1992. 4 BK Kohl und der chilenische Präsident Aylwin führten am 12. Juni 1992 am Rande der VN-Konferenz über Umwelt und Entwicklung (UNCED) in Rio de Janeiro ein Gespräch, in dessen Zentrum der Fall Honecker stand. Vgl. DB Nr. 458 des BR I Kliesow, Santiago de Chile, vom 15. Juni 1992; B 38, ZA-Bd. 184709.

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Von unserer Seite aus habe ich dem nichts mehr hinzuzufügen. Ich danke Ihnen nochmals persönlich für Ihr Interesse und Ihre Hingabe in dieser Angelegenheit. Sie waren für mich ein außerordentlich erfreulicher Gesprächspartner. Wir sind zu einer guten Übereinkunft in der Substanz gekommen, weshalb ich glaube, dass wir auch noch die fehlenden Details für die Durchführung des Szenarios erarbeiten werden. Wir haben es hier mit keiner einfachen Situation zu tun. Ich war bisher immer zögerlich, Optimismus zu zeigen, glaube aber jetzt, dass ein gewisser Optimismus erlaubt ist. Staatssekretär: Darf ich noch einmal darauf zurückkommen, wer Ihre Gesprächspartner in Moskau sein werden? Holger: Bis jetzt war mein Gesprächspartner Vizeaußenminister Kolokolow. Kolokolow hat jetzt eine mir nicht bekannte andere Funktion. Mir hat aber der zuständige Abteilungsleiter im RAM, Fokin, telefonisch mitgeteilt, dass Kolokolow weiterhin mein Gesprächspartner in Moskau sein wird. Ich persönlich glaube aber, dass es nötig sein wird, auch das Büro von Präsident Jelzin zu kontaktieren. Ein Kontakt mit dem für die außenpolitischen Fragen zuständigen Mitarbeiter in seinem Beraterstab, Herrn Rurikow, war in der Vergangenheit wegen dessen Krankheit nicht zustande gekommen. Vielleicht kann mir aber Herr Blech auch helfen, der die Moskauer Verhältnisse gut kennt. Staatssekretär: Sicher. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie Herrn Kolokolow und Herrn Fokin, die ich beide gut kenne, die hier schon auf dem Sofa gesessen haben, Grüße von mir übermitteln würden. Ich habe nichts dagegen, wenn Sie sagen, dass jedes Detail des Szenarios, das Sie vortragen werden, hier abgesprochen worden ist. Botschafter Blech steht Ihnen ganz sicherlich mit seinem Rat zur Verfügung. Wir haben sehr gute Kontakte zum russischen Justizministerium und zum Justizminister5 selbst. Ich möchte noch einen Gesichtspunkt erwähnen, und dieses in gewisser Weise außerhalb des Protokolls. Wir erwarten Präsident Jelzin zum Weltwirtschaftsgipfel in München6. Aus Gründen, die keiner näheren Erläuterung bedürfen, wird die Bereitschaft von Präsident Jelzin, unser Problem zu lösen, vor dieser Begegnung am 7. und 8. Juli besonders ausgeprägt sein. Auch dies spricht dafür, die Sache so schnell wie möglich anzugehen. Ich wünsche Ihnen viel Glück und Erfolg bei Ihrer Mission. Holger: Ich glaube, wir werden bald feiern können, was uns gemeinsam geglückt ist. Das vereinbarte Vorgehen stellt eine bloße Formalität dar. Nach meinem Gespräch mit Präsident Aylwin werde ich Ihnen so schnell wie möglich unser Einverständnis übermitteln.7 B 38, ZA-Bd. 184709 5 Nikolaj Wassiljewitsch Fjodorow. 6 Zum Weltwirtschaftsgipfel vom 6. bis 8. Juli 1992 vgl. Dok. 225. 7 StS Kastrup und der chilenische Sonderbotschafter Holger führten am 24. und 25. Juni 1992 weitere Gespräche zum Fall Honecker. Am 25. Juni 1992 präzisierte Holger, Honecker werde zwar Gelegenheit erhalten, „im Schriftwege angehört zu werden“, eine Fünf-Tages-Frist solle dabei aber nicht überschritten werden. Vgl. die Gesprächsvermerke; B 38, ZA-Bd. 184709. Am 29. Juni 1992 teilte Botschafter Blech, Moskau, mit, Holger habe ihn über sein Treffen mit Honecker am selben Tag unterrichtet, dessen Gesundheitszustand habe sich verschlechtert. Daher bitte die chilenische Seite, einer ärztlichen Untersuchung Honeckers in einer Privatklinik in Moskau zuzustimmen: „Holger sprach die Befürchtung aus, dass H[onecker] entweder Selbstmord begehen oder einen Herzschlag erleiden könne.“ Die chilenische Regierung halte gleichwohl „an dem mit uns festgelegten Szenario“ fest: „Notfalls werde Honecker mit Gewalt aus der chilenischen Botschaft gebracht werden. Der kurze

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23. Juni 1992: Vorlage von Dieckmann

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185 Vorlage des Ministerialdirektors Dieckmann für Bundesminister Kinkel 411-433.90

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Herrn Staatssekretär2 Herrn Bundesminister3 Betr.:

Uruguay-Runde; hier: Weiteres Vorgehen

Zweck der Vorlage: Zur Unterrichtung 1) Wie vertraulich zu erfahren war, hat der BK am 22.6. sowohl mit Präs. Delors wie mit AM Baker telefoniert, um Möglichkeiten zu sondieren, durch eine deutsche Initiative Bewegung in die festgefahrenen Verhandlungen der Uruguay-Runde zu bringen. Präs. Delors soll negativ reagiert haben. Insbesondere angesichts der großen Probleme in F wegen der Bauerndemonstrationen gegen die Reform der Gemeinsamen Agrarpolitik4 und der Notwendigkeit, den Ratifikationsprozess der Maastrichter Ergebnisse5 nicht zu beeinträchtigen, halte er es für nicht ratsam, Initiativen zu ergreifen, die sich zwangsläufig mit den besonders sensiblen Agrarfragen befassen müssten. AM Baker soll, diesen Angaben zufolge, dagegen positiv reagiert haben. Er habe (aus der KOM stammenden) Darstellungen widersprochen, die USA verlangten von der EG die unveränderte Annahme der Dunkel-Vorschläge6. Die USA seien zu Gesprächen bereit und auch in der Substanz noch flexibel. 2) Nach Informationen aus Brüssel ist die KOM in sich gespalten. VP Andriessen könne sich mit seinem Wunsch, die Gespräche mit den USA fortzusetzen, angesichts der Haltung Fortsetzung Fußnote von Seite 756 Klinikkaufenthalt hätte allerdings den Vorteil, dass man […] Honecker freiwillig aus der Botschaft herausbekommen könne.“ Vgl. DB Nr. 2747; B 130, VS-Bd. 15548 (216), bzw. B 150, Aktenkopien 1992. Kastrup unterrichtete BM Kinkel, z. Z. Washington, am 30. Juni 1992, er habe Holger bei dessen Telefonanruf aus Moskau mitgeteilt, „dass uns das in dem bisherigen Szenario nicht vorgesehene neue Element eines vorübergehenden Krankenhausaufenthaltes erhebliche Schwierigkeiten mache und die Angelegenheit deshalb morgen nach Ihrer Rückkehr mit dem Bundeskanzler besprochen werden müsse.“ Vgl. den DE; B 130, VS-Bd. 15548 (216), bzw. B 150, Aktenkopien 1992. 1 Die Vorlage wurde von VLR I von Arnim konzipiert. 2 Hat StS Lautenschlager am 23. Juni 1992 vorgelegen. 3 Hat BM Kinkel am 24. Juni 1992 vorgelegen. Hat VLR Wittig am 24. Juni 1992 vorgelegen, der den Rücklauf über das Büro Staatssekretäre, MD Dieckmann und MDg von Kyaw an Referat 411 verfügte. Hat VLR I Reiche am 25. Juni 1992 vorgelegen. Hat Kyaw, auch in Vertretung von Dieckmann, am 29. Juni 1992 vorgelegen. Hat VLR I von Arnim am 1. Juli 1992 erneut vorgelegen. 4 Zur Reform der GAP vgl. Dok. 135, Anm. 5. 5 Zum Vertragswerk von Maastricht vgl. Dok. 3, Anm. 8. 6 Zum „Dunkel-Papier“ vom 20. Dezember 1991 vgl. Dok. 6, Anm. 3.

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23. Juni 1992: Vorlage von Dieckmann

des KOM-Präsidenten gegenwärtig nicht durchsetzen. VP Andriessen hofft offenbar, dass es am Rande des Europäischen Rates7 zu einer „Gewissensprüfung“ in Sachen UruguayRunde kommt. Von ihr erhofft er sich einen Auftrag, in der Woche zwischen Europäischem Rat und Weltwirtschaftsgipfel8 einen letzten Versuch mit AM Baker zu unternehmen. 3) Im Bundeskanzleramt zögert man gegenwärtig, gegenüber allen G 7-Partnern, insbesondere wohl mit Rücksicht auf F, initiativ zu werden. Man wolle seine Verantwortung als G 7-Vorsitz gegenwärtig vor allen Dingen dadurch wahrnehmen, dass man die beiden Hauptunterhändler, d. h. die USA und die EG-KOM, wieder zusammenbringt. 4) Gespräche von MD Feiter (ChBK) und MD Schomerus (BMWi) mit den Generaldirektionen für Landwirtschaft und für Auswärtige Beziehungen der EG-KOM haben zu unterschiedlichen Aussagen bezüglich der Notwendigkeit einer expliziten UR-Ausnahmenregelung für die direkten Einkommensbeihilfen der EG geführt. Während MD Feiter berichtete, die Berechnungen der KOM hätten ergeben, dass die Reformbeschlüsse nicht ausreichten, um eine solche explizite Ausnahmenregelung überflüssig zu machen, hat das BMWi gehört, die Reformbeschlüsse brächten, bei Ergänzung der UR-Vorschläge um einige kleinere technische Modifikationen, einen ausreichenden Subventionsabbau. 5) Abt. 4 ist mit den beteiligten Ressorts in engem Kontakt, um für den Fall eines erneuten Ministergesprächs beim BK9 rasch Gesprächsvorschläge vorlegen zu können. Dieckmann B 221, ZA-Bd. 166599

7 Zur Tagung des Europäischen Rats am 26./27. Juni 1992 in Lissabon vgl. Dok. 201. 8 Zum Weltwirtschaftsgipfel vom 6. bis 8. Juli 1992 in München vgl. Dok. 225. 9 Ein Ministergespräch bei BK Kohl zur Vorbereitung des Weltwirtschaftsgipfels vom 6. bis 8. Juli 1992 in München, der Wirtschafts- und Finanzhilfe für Russland, zu den GATT-Verhandlungen sowie zur Öffentlichkeitsarbeit in der Europapolitik fand am 15. Juni 1992 im Bundeskanzleramt statt. Vgl. den Vermerk des BM Kinkel vom 22. Juni 1992; B 1, ZA-Bd. 178913.

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23. Juni 1992: Vorlage von Mülmenstädt

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186 Vorlage des Vortragenden Legationsrats Mülmenstädt für Bundesminister Kinkel 213-322.00 RUS-USA

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Über Dg 212, D 23, Herrn Staatssekretär4 Herrn Bundesminister5 Betr.:

Russisch-amerikanische Beziehungen; hier: Treffen der Präsidenten Jelzin und Bush in Washington am 16./17.6.1992

Zweck der Vorlage: Zur Unterrichtung I. Zusammenfassung 1) Während des zweitägigen Staatsbesuches von Präsident Jelzin wurden in Washington eine Reihe von Abkommen unterzeichnet.6 Bush und Jelzin hoben die historische Bedeutung der Verträge hervor, die als Meilenstein auf dem Weg zu einer „neuen Welt“ zu sehen seien. Kernpunkt der Abkommen bildet das „joint understanding“, rasch einen Vertrag über strategische Atomwaffen abzuschließen, deren Gefechtsköpfe um rund zwei Drittel reduziert werden sollen. Dies wird der bisher umfangreichste nukleare Abrüstungsvertrag in der Geschichte sein. 2) In einer von vielen Zuhörern als meisterlich bezeichneten Rede vor dem amerikanischen Kongress appellierte Jelzin – erfolgreich! – an die Abgeordneten, weitreichender wirtschaftlicher Unterstützung für den Reformprozess zuzustimmen.7 Er hat dabei in geschickter Weise die Jelzin-Karte ausgespielt: Der russische Präsident konnte seine Zuhörer davon überzeugen, dass die politischen und wirtschaftlichen Reformen hin zu Demokratie und Marktwirtschaft mit ihm stehen und fallen, wobei ein Scheitern unabsehbare negative Konsequenzen für die USA und ihre Partner hätte. 3) Jelzin hat sich durch weitreichende Konzessionen im sicherheitspolitischen Bereich die amerikanische Unterstützung sowohl der Regierung als auch des Kongresses im wirt1 Die Vorlage wurde von LRin I Althauser konzipiert. Hat VLR Freiherr von Kittlitz am 24. Juni 1992 zur Mitzeichnung vorgelegen. Vgl. Anm. 13. 2 Hat in Vertretung des MDg von Studnitz VLR I Lambach am 24. Juni 1992 vorgelegen. 3 Hat MD Chrobog am 24. Juni 1992 vorgelegen. 4 Hat StS Kastrup am 25. Juni 1992 vorgelegen. 5 Hat BM Kinkel am 27. Juni 1992 vorgelegen. Hat OAR Salzwedel am 29. Juni 1992 vorgelegen, der den Rücklauf über das Büro Staatssekretäre, MD Chrobog und MDg von Studnitz an Referat 213 verfügte. Hat VLR Ney am 29. Juni 1992 vorgelegen. Hat in Vertretung von Chrobog MDg Hofstetter am 29. Juni 1992 vorgelegen. Hat Studnitz vorgelegen. Hat LRin I Althauser am 1. Juli 1992 erneut vorgelegen. 6 Für die beim amerikanisch-russischen Gipfeltreffen verabschiedeten Abkommen und Dokumente vgl. DEPARTMENT OF STATE DISPATCH 1992, S. 490–504. 7 Für die Rede des russischen Präsidenten Jelzin am 17. Juni 1992 in Washington vgl. CONGRESSIONAL RECORD, House, Bd. 138, Teil 11, S. 15156–15158.

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23. Juni 1992: Vorlage von Mülmenstädt

schaftlichen Bereich gesichert. Jelzin stimmte nicht nur dem Verzicht auf Parität bei den strategischen Waffen zu. Noch bedeutsamer ist die Aufgabe der schweren, zielgenauen, landgestützten Interkontinentalraketen mit zehn Gefechtsköpfen (GK) des Typs SS-(Surface to Surface)18, ohne dass USA ihre modernsten strategischen Systeme, die auf U-Booten dislozierten Tridentraketen mit ebenfalls zehn GK, aufgeben müssen. Seit der Einführung der SS-18 im Jahr 1981, die in den USA die Furcht eines entwaffnenden nuklearen Erstschlages auslöste, haben die USA die Eliminierung dieser Waffensysteme angestrebt; in den START-Verhandlungen von 1985 bis 1991 konnten sie lediglich die Reduzierung um 50 % von 308 auf 154, d. h. 1540 GK erreichen. Im Gegenzug sind die USA nicht nur zu direkten wirtschaftlichen Unterstützungsmaßnahmen bereit, sondern auch – in Übereinstimmung mit den Forderungen Jelzins – dazu, auf den IWF einzuwirken, die Sozialverträglichkeit der Reformmaßnahmen sehr viel stärker, als vom IWF zunächst vorgesehen, zu berücksichtigen. Offen bleibt zum gegenwärtigen Zeitpunkt, ob es Jelzin gelingen wird, im Obersten Sowjet die notwendige Zustimmung zu dem zukünftigen Rüstungskontrollabkommen zu finden. Auch wenn das Konzept unterschiedlicher Obergrenzen bereits in der früheren SU diskutiert wurde, so ist das tatsächliche Abgehen von der numerischen Parität für Jelzin nicht ohne Risiko. 4) Auch wenn sich Jelzin bemühte, den Anschein eines gleichgewichtigen Partners aufrechtzuerhalten, so machte der Besuch deutlich, dass die Russische Föderation zu einem Juniorpartner der USA geworden ist – fast auf den Tag genau 20 Jahre, nachdem es der damaligen SU im Mai 1972 beim Nixon-Besuch in Moskau8 gelungen war, durch die SALT I-Vereinbarungen9 (Beschränkung strategischer Angriffswaffen auf gleichem Niveau bei nahezu völligem beiderseitigen Verzicht auf strategische Defensivsysteme und die Erklärung über die Prinzipien der bilateralen Beziehungen) den Status einer gleichberechtigten nuklearen Weltmacht zu kodifizieren. II. Im Einzelnen 1) Hauptsächliche Vereinbarung Während Jelzins zweitägigem Staatsbesuch (16./17. Juni) in Washington wurden 37 Abkommen vereinbart, von denen die Präsidenten sieben selbst unterschrieben. a) Das politisch bei weitem Gewichtigste ist das joint understanding über die zusätzliche Reduktion der strategischen Atomwaffenarsenale. Die Einigung sieht eine Verringerung der Zahl der Nuklearsprengköpfe auf 3000 (Russland) und 3500 (USA) innerhalb der nächsten zehn Jahre vor. (Der jetzige Gesamtbestand amerik./russ. Atomsprengköpfe für strateg. Waffen beläuft sich auf rd. 21 000). Dies bedeutet eine drastische Senkung der Gesamtplafonds; in dem 1991 unterzeichneten START-Abkommen waren die gemeinsamen Obergrenzen noch auf jeweils 7950 GK festgelegt worden. Gleichzeitig wurde vereinbart, dass sämtliche landgestützte Langstreckenraketen mit Mehrfachsprengköpfen (MIRV) bis zum Jahre 2003 eliminiert werden sollen. Diese Ent8 Der amerikanische Präsident Nixon hielt sich vom 22. bis 30. Mai 1972 in der UdSSR auf. Vgl. AAPD 1972, I, Dok. 149 und Dok. 161. Vgl. auch FRUS 1969–1976, XIV, Dok. 224–302. 9 Für das Interimsabkommen vom 26. Mai 1972 zwischen den USA und der UdSSR über Maßnahmen hinsichtlich der Begrenzung strategischer Waffen (SALT) mit Protokoll vgl. UNTS, Bd. 944, S. 4–12. Für den deutschen Wortlaut vgl. EUROPA-ARCHIV 1972, D 396–398.

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scheidung betrifft vor allem die 154 russ. SS-18-Raketen, die mit amerikan. Hilfe vernichtet werden sollen. Die amerikan. Seite verfügt über 50 MX-Raketen und 500 Minuteman-IIIRaketen mit Mehrfachsprengköpfen.10 b) Weitere Dokumente betreffen die Gewährung der Meistbegünstigung für russ. Exporte11 in die USA und die Erleichterung amerikan. Investitionen in der RF. Hinzu kommen Abkommen über den Austausch von Frühwarninformationen im Falle eines Angriffs von dritter Seite und über die Erweiterung der Zusammenarbeit bei der Weltraumfahrt. 2) Jelzins Rede vor dem Kongress Einen starken Eindruck hinterließ Jelzins Rede vor beiden Häusern des Kongresses. Sie wurde von vielen Zuhörern als meisterlich bezeichnet. Jelzin versicherte, er werde seinen Reformkurs unbeirrt weiterführen, er brauche dafür aber die Unterstützung des Westens. Jelzins Plädoyer für westliche Hilfe, um die Folgen von 70 Jahren kommunistischer Herrschaft zu überwinden, wurde wiederholt von Beifall unterbrochen. Die Art der Darbietung der Rede war stark an amerikanischen Gepflogenheiten ausgerichtet; inhaltlich verlor Jelzin das heimische Publikum jedoch nicht aus dem Blick. Leitmotivisch war von Russland als großem, geschichtstragendem Volk die Rede, das trotz all der gegenwärtigen schwierigen Verhältnisse, die es zu ertragen und zu überwinden hat, zu Recht als Partner an der Seite Amerikas steht. Jelzin wollte sich nicht als Bittsteller, sondern als gleichberechtigt Handelnder verstanden wissen. Offensichtlich hat Jelzins eindringlicher Appell zur Verabschiedung des amerikanischen Beitrags zum internationalen Reformhilfepaket die beabsichtigte Wirkung nicht verfehlt. Mehrere bislang zögernde Kongressabgeordnete erklärten ihre Bereitschaft, dem von Präsident Bush vorgelegten Gesetz zuzustimmen. Die Chancen, den „freedom support act“ schnell zu verabschieden, sind durch die fulminante Jelzin-Rede erheblich gestiegen. 3) Amerikanische Erwartung an den Besuch und Bewertung Amerikanische Seite bewertet den Besuch als außergewöhnlich erfolgreich. Er liefert den Rahmen für die künftige Zusammenarbeit; diese werde nicht nur für USA und RF von Nutzen sein, sondern für alle Staaten. Beeindruckt hat Jelzins Rede vor beiden Häusern des Kongresses. Die amerikanische Seite verfolgte drei Ziele, die erreicht wurden: – Neue Phase der Zusammenarbeit zu eröffnen: Dies ist dokumentiert in der „Charter for American-Russian partnership and friendship“. Charta hat politischen, sicherheitspolitischen und wirtschaftlichen Teil. Vorgeschlagen wird u. a. die Einrichtung des Amtes eines KSZE-Sonderbeauftragten für Minderheiten wie auch die Forderung nach einem ausreichend starken europäisch-atlantischen Potenzial zur Friedenswahrung. 10 In einer Analyse des amerikanisch-russischen „joint understanding“ vom 17. Juni 1992 führte VLR I Boden am 22. Juni 1992 aus: „Mit dem Vertrag sind die USA und Russland, nachdem sie zuletzt in der Form einseitiger Erklärungen den Abrüstungsprozess fortgeführt haben, wieder zu einer verlässlichen vertraglichen Grundlage zurückgekehrt. […] Die Vereinbarung von Washington bedeutet auch, dass über die nächsten Jahre eine große Menge an nuklearen Gefechtsköpfen beseitigt werden muss (allein in Russland etwa 30 000, einschließlich der taktischen Raketen). Hierfür sind sowohl die finanziellen als auch technischen Voraussetzungen (z. B. bis heute kein effizientes Verfahren zur Beseitigung von Waffenplutonium) bisher weitgehend ungeklärt.“ Vgl. B 43, ZA-Bd. 228356. 11 Korrigiert aus: „Experten“.

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23. Juni 1992: Vorlage von Mülmenstädt

– Weitreichende Reduzierungen bei strateg. Waffen, Initiative zur Zusammenarbeit beim Schutz vor ballistischen Waffen. – Wirtschaftlicher Aspekt: Jelzin sollte in Fortsetzung seines Reformprogrammes bei der Umgestaltung der Wirtschaft Russlands bestärkt werden. Im NATO-Briefing (18.6.) in Washington meinte Under Secretary of State Bartholomew zu den Abrüstungsvereinbarungen, dass Jelzin v. a. mit dem Abrücken vom Ziel der numerischen Parität deutliche Führungsqualitäten bewiesen habe. Er machte deutlich, dass die Implementierung der abgeschlossenen Vereinbarungen so wichtig wie die Vereinbarungen selbst sei. 4) Russische Einschätzung des Besuches Mit freundlicher, aber auch skeptischer Zustimmung reagierten die russischen Medien auf den Besuch. Das Abrüstungsabkommen wurde fast durchweg als wichtiger Schritt hin zu einer sichereren Welt gelobt. Die Rede des Präsidenten stieß in einigen Blättern auf Kritik. Erinnert wurde auch daran, dass die Abmachungen vom Parlament noch ratifiziert werden müssen. Die „Iswestija“ meinte, dass Jelzins Erfolg im Kongress vor allem darauf zurückzuführen sei, dass der Präsident den Abgeordneten das vortrug, was sie hören wollten. Die „Moskovskaja Pravda“ attestierte Jelzin, dass er ein gutes Gespür für die Bedürfnisse des amerikan. Publikums entwickelt habe. Das spielt an auf die eingehende Erörterung familiärer Befindlichkeiten in Jelzins Rede, auf effektheischende Passagen, wie sie bislang nicht zum Repertoire russ. Politiker gehörten. Teilweiser Unmut ist im Parlament, unter Konservativen von rechts und links, auszumachen. Ihnen geht die „Willfährigkeit“ Jelzins gegenüber den USA zu weit. Fraglich ist, ob ein Vertrag über die weitere Reduzierung strategischer Waffen mit unterschiedlichen Obergrenzen im Obersten Sowjet (OS) Zustimmung findet. So wies der stv. Vorsitzende des Verteidigungsausschusses im OS, Piskunow, darauf hin, dass die Reduzierung auf neue Obergrenzen mit erheblichen Kosten verbunden ist („Krasnaja Svesda“ vom 17.6.). Ähnlich auch der Führer der konservativ-nat. Parlamentsfraktion „Rossija“ und Stv. Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses des OS, Baburin: Er sagte, dass das Parlament der Vereinbarung über strategische Reduzierungen nicht werde zustimmen können. VM Gratschow konzedierte in einem Interview, dass die Reduzierungen der Waffenarsenale zwar ungleichgewichtig seien, fügte aber hinzu, dass für Russlands Verteidigung ein ausreichender Bestand an Waffen gesichert sei. III. Wertung Gemessen an den eher bescheidenen Erwartungen im Vorfeld, war dieses erste offizielle Gipfeltreffen sowohl in der politischen Substanz als auch für die beiden Hauptprotagonisten ein Erfolg. Dem amerikan. Präsidenten bot sich erneut Gelegenheit, sich dem amerikan. Wähler12 als erfahrener Außenpolitiker zu zeigen. Er verglich seinen vor allem an Wirtschaftshilfe interessierten Gast wiederholt mit Peter dem Großen, der das Selbstverständnis Russlands neu definiert hatte. Jelzin wurde von amerikan. Seite souveränes Auftreten – als Garant des demokratischen und marktwirtschaftlichen Reformkurses – attestiert. Bartholomew 12 In den USA fanden am 3. November 1992 Präsidentschaftswahlen, Wahlen zum Repräsentantenhaus sowie Teilwahlen zum Senat und für die Gouverneursämter statt.

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24. Juni 1992: Vorlage von Schilling

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und Dennis Ross (Leiter des Planungsstabes) betonten im NATO-Briefing, dass Jelzin sich in allen Gesprächen als sehr kompetenter, gut informierter und die Sache beherrschender Politiker präsentiert habe. An der heimischen Front brauchte Jelzin den außenpolitischen Erfolg, um den Druck zu mildern, den die Verlierer der Wirtschaftsreformen in Russland verstärkt ausüben. Über Konzessionen im Abrüstungsbereich (d. h. v. a. das Abrücken von numerischer Parität) und die Perspektive auf weitere Hilfestellung des Westens für den inneren Reformprozess glaubt Jelzin, seine eigene Position stärken zu können. Abzuwarten bleibt, wie er unzufriedene Militärs und politische Konservative, die in jedem Abrüstungsschritt einen Ausverkauf nationaler Interessen sehen, besänftigen kann. Abzuwarten bleibt ferner, ob es Jelzin gelingt, dem Muster von Gorbatschows Niedergang – Zuspruch auf internationaler Ebene, wachsender Unmut bei der eigenen Bevölkerung – zu entgehen. Die Freigabe amerikanischer Wirtschaftshilfe könnte hier ein neues positives Element sein, das Gorbatschow nie zu Gebote stand. Ref. 204 hat mitgezeichnet.13 Mülmenstädt B 41, ZA-Bd. 221884

187 Vorlage des Ministerialdirigenten Schilling für Bundesminister Kinkel 230-381.42/1

24. Juni 19921

Über D 22, Herrn Staatssekretär3 Herrn Bundesminister4 Betr.:

Mögliche Erweiterung des Sicherheitsrates

Bezug: Vorlage der Unterabteilung 23 vom 22.6.1992 – 230-321.155 Zweck der Vorlage: Zur Unterrichtung im Hinblick auf Ihre Gespräche mit AM Baker6 13 Dieser Satz wurde von VLR Mülmenstädt handschriftlich eingefügt. Vgl. Anm. 1. 1 Die Vorlage wurde von VLR I Schmidt konzipiert. 2 Hat MD Chrobog am 24. Juni 1992 vorgelegen. 3 Hat StS Kastrup am 25. Juni 1992 vorgelegen, der handschriftlich vermerkte: „Die Linie für das Gespräch mit Baker halte ich für richtig. Auch angesichts der sich abzeichnenden Stimmung im Bundestag ist es an der Zeit, zu überlegen, ob wir nicht aus der Deckung herausgehen sollten.“ 4 Hat BM Kinkel am 26. Juni 1992 vorgelegen. Hat OAR Salzwedel am 1. Juli 1992 vorgelegen, der den Rücklauf über das Büro Staatssekretäre und MD Chrobog an MDg Schilling verfügte. Hat VLR I Reiche am 7. Juli 1992 vorgelegen. Hat Chrobog laut Vermerk erneut vorgelegen. Hat in Vertretung von Schilling VLR I Schmidt am 1. Juli 1992 erneut vorgelegen. 5 MDg Schilling unterrichtete über seine „VN-Konsultationen mit den USA (17.6.) und Kanada (11.6.92)“, wo er insbesondere auf die Frage eines ständigen Sitzes im VN-Sicherheitsrat für die Bundesrepublik angesprochen worden sei: „Nach meiner Einschätzung ist das japanische Drängen auf einen ständigen

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24. Juni 1992: Vorlage von Schilling

1) Nach Vereinigung der beiden deutschen Staaten werden auch im Bereich der Vereinten Nationen höhere Erwartungen an uns gerichtet. Wir haben erklärt, dass wir bereit sind, größere Verantwortung zu übernehmen. Wir ergreifen jedoch keine Initiative zu einer Erweiterung des Sicherheitsrates mit dem Ziel eines ständigen Sitzes für Deutschland. Die dafür notwendige Charta-Änderung7 erfordert die Zustimmung von zwei Dritteln der Mitgliedstaaten und die Ratifizierung durch zwei Drittel der Mitgliedstaaten einschließlich aller ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates. Frankreich und Großbritannien sind derzeit nicht bereit, ihre Vorrangstellung als ständige Mitglieder des Sicherheitsrates antasten zu lassen. Dies hat ihre Reaktion auf entsprechende Vorstöße, die 1990 von sowjetischer Seite kamen8, deutlich gezeigt. Noch kann uns auch entgegengehalten werden, dass wir uns nicht mit Bundeswehreinheiten am Kernbereich von friedenserhaltenden Maßnahmen beteiligen können. Unsere Haltung wurde von dem damaligen Bundesminister Genscher am 4. Januar d. J. wie folgt beschrieben: „Wir entwickeln eine gemeinsame Außenpolitik in der Europäischen Gemeinschaft. Und wenn die beiden Sicherheitsratsmitglieder der Europäischen Gemeinschaft – also Frankreich und England – diese Außenpolitik dort verwirklichen, glaube ich, fühlen wir uns auch mit unseren Interessen im Weltsicherheitsrat vertreten.“9 Der Bundeskanzler hat in einem Interview am 19. Januar 199210 zur Frage der ständigen Mitgliedschaft im Sicherheitsrat geäußert: „Das ist ein Thema, das mich überhaupt nicht bewegt. Wir haben Freunde und Partner im Weltsicherheitsrat, und vor allem jene aus der Atlantischen Allianz haben immer unsere Interessen mitvertreten.“11 6

2) Bei den Verhandlungen über die Europäische Union haben sich GB und F allerdings einer „Vergemeinschaftung“ ihrer Rolle im Sicherheitsrat widersetzt. Nur wo es gelingt, eine gemeinsame Aktion einzuleiten, sind die Beschlüsse der Union für die Mitgliedstaaten auch bei ihrer Aktivität im Sicherheitsrat bindend. Im Übrigen sind die EG-Mitglieder, die Fortsetzung Fußnote von Seite 763 Sitz im SR in Washington und in Ottawa nicht ohne Eindruck geblieben. Gleichwohl hat sich die amerikanische Regierung offensichtlich nicht auf eine konkrete Unterstützung Japans festgelegt, ihre Aussage ist kaum mehr als eine allgemeine Wohlwollenserklärung. Dennoch sollten wir darauf achten, dass unsere Haltung nicht als Desinteresse an einer Mitgliedschaft im Sicherheitsrat missdeutet wird.“ Trotz bestehender Schwierigkeiten und Rücksichtnahmen auf die Verbündeten müsse deutlich werden, „dass wir, falls es zu einer SR-Erweiterung kommen sollte, dabeisein müssen“. Vgl. B 30, ZA-Bd. 167279. 6 Für die Gespräche des BM Kinkel mit dem amerikanischen AM Baker am 30. Juni 1992 in Washington vgl. Dok. 196 und Dok. 197. 7 Für die VN-Charta vom 26. Juni 1945 vgl. BGBl. 1973, II, S. 432–503. 8 Referat 230 notierte im Herbst 1990: „Der Berater Falins in der ZK-Abteilung [der KPdSU] für internationale Beziehungen, Portugalow, hat sich in einem Interview der B[ild] am S[onntag] vom 16.9.[1990] auf eine gezielte Frage dafür ausgesprochen, ‚dass das vereinigte Deutschland auch in der Welt Verantwortung im Rahmen der UNO als sechstes ständiges Mitglied des SR einnimmt‘.“ Vgl. B 30, ZA-Bd. 167288. 9 Für das Interview des BM Genscher mit der Mitteldeutschen Zeitung vom 4. Januar 1992 vgl. Mitteilung für die Presse Nr. 1002/92 vom 3. Januar 1992; B 7, ZA-Bd. 179087. 10 Korrigiert aus: „9. Januar 1992“. 11 Für das Interview mit BK Kohl vgl. den Artikel „ ‚Ich will nicht in den Weltsicherheitsrat‘ “; FRANKFURTER ALLGEMEINE SONNTAGSZEITUNG vom 19. Januar 1992, S. 3.

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24. Juni 1992: Vorlage von Schilling

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dem Sicherheitsrat angehören, verpflichtet, sich untereinander abzustimmen und die übrigen Mitgliedstaaten zu unterrichten. Die Mitgliedstaaten, die ständige Mitglieder des Sicherheitsrates sind, sollen sich bei der Ausübung ihrer Funktionen für die Vertretung der Positionen und Interessen der Union einsetzen, unbeschadet der Verantwortung, die ihnen durch die Bestimmungen der VN-Charta zukommt. Solange die gemeinsame Außenpolitik durch die Mitgliedstaaten vertreten und durchgeführt wird, ist gerade im VN-Sicherheitsrat eine befriedigende Lösung nicht möglich. Die Präsidentschaft der Zwölf ist im Sicherheitsrat in der Regel nicht vertreten. Für sie einen besonderen Sitz einzurichten, wäre mit der in der Charta festgelegten Struktur des Sicherheitsrates nicht vereinbar. Sie wäre auch riskant, weil die Rotation des Sitzes die Effizienz des Sicherheitsrates vermindern müsste. Schließlich könnten auch andere regionale Organisationen einen zusätzlichen Sitz fordern. Es ist also damit zu rechnen, dass im Sicherheitsrat weiterhin die Einzelstaaten eine gewichtige und selbstständige Rolle spielen werden. 3) Inzwischen hat sich die Diskussion über die Zusammensetzung des Sicherheitsrates in den VN selbst und außerhalb belebt. Sie hat zwar bisher nicht zu greifbaren Ergebnissen geführt, wird aber aller Voraussicht nach fortgesetzt werden. Sie wird einerseits von Staaten der Dritten Welt in Gang gehalten, andererseits von Japan. Die Drittweltstaaten (vor allem Indien, Brasilien, Venezuela und Nigeria) argumentieren, die Zahl der VN-Mitglieder sei seit der letzten Erweiterung des Sicherheitsrates 196512 um etwa die Hälfte gewachsen. Der Sicherheitsrat müsse „demokratisiert“ werden. Der japanische Ministerpräsident13 hat in der Sondersitzung des Sicherheitsrates auf Ebene der Staats- und Regierungschefs am 31. Januar d. J.14 erklärt, die Zusammensetzung des Sicherheitsrates spiegele die Lage nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, nicht aber die heutige Lage wider. Japan argumentiert, dass es als zweitgrößter Beitragszahler in den VN ein größeres Mitspracherecht erhalten müsse („no taxation without representation“). Die Vorstellungen der Drittweltstaaten einerseits, Japans andererseits sind schwer auf einen Nenner zu bringen. Brasilien hat ein Modell entwickelt, das sowohl für die Drittweltstaaten wie auch für Japan interessant sein könnte. Es soll eine neue Kategorie von ständigen Sicherheitsratsmitgliedern ohne Vetorecht geschaffen werden. Jeder Kontinent soll ein neues ständiges Mitglied stellen, das nach den Kriterien der Wirtschaftskraft und der Bevölkerungszahl ausgewählt werden soll. 4) Bei uns hat die Diskussion über die Zusammensetzung des Sicherheitsrates ebenfalls eingesetzt. In dem Entschließungsentwurf der FDP-Fraktion zur VN-Reform heißt es dazu: „Mehr als vier Jahrzehnte nach Gründung der Vereinten Nationen spiegelt die Zusammensetzung des Sicherheitsrates die Realität der internationalen Staatengemeinschaft nur noch mangelhaft wider. Eine begrenzte Vergrößerung des Sicherheitsrates ohne Ausweitung der Zahlen der vetoberechtigten Mitglieder, eine Einschränkung bestehender Vetorechte und die Möglichkeit einer Mitgliedschaft regionaler staatlicher Zusammenschlüsse wie der 12 Zu dieser Erweiterung des VN-Sicherheitsrats vgl. Dok. 33, Anm. 14. 13 Kiichi Miyazawa. 14 Zur Sitzung des VN-Sicherheitsrats auf der Ebene der Staats- und Regierungschefs in New York vgl. Dok. 33, Anm. 6.

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24. Juni 1992: Vorlage von Schilling

EG sollten erwogen werden.“15 In dem CDU-Entwurf heißt es: „(Die Zusammensetzung des Sicherheitsrates) ignoriert z. B. den realen politischen und wirtschaftlichen Bedeutungsgewinn von Ländern wie Deutschland und Japan oder den Vertretungsanspruch bevölkerungsreicher Länder wie Indien, Brasilien, Nigeria und Indonesien. Die Bundesregierung wird daher aufgefordert, sich aktiv an der Diskussion um die Änderung der Zusammensetzung des Sicherheitsrates zu beteiligen.“16 In der neuesten Fassung des SPD-Entschließungsentwurfes zur VN-Reform17 heißt es: „Bis zur Wahrnehmung eines europäischen Sitzes im Sicherheitsrat erscheint eine deutsche Mitgliedschaft im Sicherheitsrat sinnvoll.“ 5) Die japanische Haltung ist für uns von besonderer Bedeutung. Wenn eine Satzungsänderung aktuell wird, die für Japan einen ständigen Sitz im Sicherheitsrat vorsieht, wird für uns der Zeitpunkt gekommen sein, auch unsere Interessen ins Spiel zu bringen. Eine solche Erweiterung des Sicherheitsrates muss auch Deutschland einbeziehen. Inzwischen haben die USA – wie bei den deutsch-amerikanischen VN-Konsultationen gegenüber Dg 2318 bestätigt wurde (siehe Vorlage vom 22.6.1992) – Japan die grundsätzliche Unterstützung für einen ständigen Sitz im Sicherheitsrat „zu gegebener Zeit“ zugesagt. Die USA würden angesichts des schwierigen Verfahrens einer VN-Charta-Änderung voraussichtlich bereit sein, „zu gegebener Zeit“ auch Deutschland mit einzubeziehen. Wir sollten allerdings darauf achten, dass unsere Haltung nicht als Desinteresse an einer ständigen Mitgliedschaft im Sicherheitsrat missdeutet wird. Es ist damit zu rechnen, dass Außenminister Baker Sie darauf ansprechen wird. In einem Brief, der am 24. April 1992 bei Bundesminister Genscher einging, hatte Baker geschrieben, die USA würden es sehr gerne sehen, dass Deutschland „eine stärkere Führungsrolle in den VN und anderswo übernimmt“. 6) Für das Gespräch mit AM Baker wird folgende Linie vorgeschlagen: – Wir begrüßen es, dass der Sicherheitsrat nach der Beendigung des Ost-West-Konfliktes so handlungs- und entscheidungsfähig geworden ist wie nie zuvor in der Geschichte der VN. Diese Handlungsfähigkeit sollte erhalten bleiben. – Wir sind bereit, auch in den VN größere Verantwortung zu übernehmen. Wir wollen jedoch keine Initiative zu einer Charta-Änderung mit dem Ziel eines ständigen Sitzes im Sicherheitsrat ergreifen. Wir erwarten allerdings von den USA wie auch von unseren Partnern in der EG, dass sie weiterhin auch auf den Gebieten eng mit uns zusammenarbeiten, die Gegenstand der Beratungen im Sicherheitsrat sind. – Eine neue Lage würde sich für uns ergeben, falls die Diskussion über eine ChartaÄnderung in ein konkretes Stadium tritt und wenn sich abzeichnet, dass vergleichbare 15 Für den Entwurf vom 11. Juni 1992 eines Antrags der FDP-Fraktion „Reform der Vereinten Nationen“ vgl. B 30, ZA-Bd. 167346. LR I Eichhorn vermerkte darauf handschriftlich: „Dieser Entwurf soll nach Vorstellung der FDP-Fraktion den umfangreicheren Entwurf der CDU/CSU-Fraktion (Abg. Ruck, Lamers) ersetzen. FDP-Fraktion beabsichtigt, CDU/CSU für diese kürzere Fassung zu gewinnen und strebt Verabschiedung durch beide Fraktionen am 23.6. an.“ 16 Für den undatierten Entwurf eines Antrags der CDU/CSU-Fraktion „Die Zukunft der Vereinten Nationen: Aktive deutsche Mitwirkung an Stärkung und Reform“ vgl. B 30, ZA-Bd. 167346. 17 Für den Antrag der SPD-Fraktion „Reform der Vereinten Nationen“ vom 4. Dezember 1991 vgl. BT DRUCKSACHEN, Nr. 12/1719. 18 Wolf-Dietrich Schilling.

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24. Juni 1992: Vermerk von Weil

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Staaten – wie Japan – einen ständigen Sitz im Sicherheitsrat erhalten sollen. Dann muss auch Deutschland einbezogen werden. Wir rechnen hierfür mit der Unterstützung unserer amerikanischen Freunde. Schilling B 30, ZA-Bd. 167349

188 Vermerk des Legationsrats I. Klasse Weil 201-300.16 Betr.:

24. Juni 19921

Sitzung des Verteidigungsausschusses am 24.6.1992; hier: TOP 2: Bericht des BMVg über die Aufgaben der Bundeswehr im Rahmen künftiger Sicherheitspolitik

BM Rühe führte in das Thema ein. Als Hauptaufgabe deutscher Sicherheitspolitik bezeichnete er die Einbettung Deutschlands in die europäische Integration und in das Atlantische Bündnis. In diesem Sinne führten die Erklärungen der NATO von Oslo2 und der WEU vom Petersberg3 das Konzept von Rom4 und Maastricht5 fort. Deutschland wolle keine Sonderrolle für sich in Anspruch nehmen, sondern sich in die Lage versetzen, alle Rechte und Pflichten in den Bündnissen und in der VN wahrnehmen zu können. Daher müssten Blauhelm-Einsätze schon im nächsten Jahr möglich sein; noch in diesem Jahr seien hierfür die politischen Voraussetzungen zu schaffen. Ihm sei klar, dass für friedensschaffende Maßnahmen heute kein politischer Konsens zu erreichen sei. Wir seien hierfür auch weder materiell noch psychologisch vorbereitet. Als langfristiges Ziel halte er jedoch hieran fest. Als unverzichtbare Kriterien für Friedensmissionen (unter VN- oder KSZE-Vorzeichen) nannte BM Rühe: – Jeder Einsatz müsse auf klarer verfassungsrechtlicher und völkerrechtlicher Grundlage erfolgen. – Die Bundeswehr würde nur auf Anforderung eingesetzt. Hier dürfe es keinen Automatismus geben, es sei von Fall zu Fall zu entscheiden. – Ein Einsatz komme nur in multilateralem Rahmen und bei klarem Mandat infrage. 1 Durchschlag als Konzept. Hat VLR I Bertram am 25. Juni 1992 vorgelegen. 2 Für die Schlussfolgerungen der außerordentlichen EG-Ministerratstagung am 4. Juni 1992 in Oslo vgl. BULLETIN 1992, S. 632. Zur Tagung vgl. Dok. 166. 3 Für die bei der WEU-Ministerratstagung am 19. Juni 1992 verabschiedete „Petersberg-Erklärung“ vgl. BULLETIN 1992, S. 649–653. Zur Tagung vgl. Dok. 162, Anm. 32. 4 Für das bei der NATO-Gipfelkonferenz am 7./8. November 1991 verabschiedete Strategiekonzept vgl. https://www.nato.int/cps/en/natohq/official_texts_23847.htm?selectedLocale=en. Für den deutschen Wortlaut vgl. BULLETIN 1991, S. 1039–1048. Zur Gipfelkonferenz vgl. AAPD 1991, II, Dok. 375 und Dok. 376. 5 Zum Vertragswerk von Maastricht vgl. Dok. 3, Anm. 8.

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24. Juni 1992: Vermerk von Weil

Zu den zukünftigen Aufgaben der Bundeswehr erklärte BM Rühe, dass die Landesverteidigung die Hauptaufgabe der Streitkräfte bleibe. Er legte aber Wert auf den Zusatz, dass in Zukunft die erweiterte Landesverteidigung größere politische Bedeutung erlangen werde. Hierunter verstehe er den Schutz der Territorien von Bündnispartnern. Wie unsere Partner in Zeiten der Konfrontation sich für die Verteidigung Deutschlands engagiert hätten, müsste nun allen Beteiligten bewusst werden, dass deutsche Streitkräfte Verantwortung „out of Germany“, aber „in area“6 zu übernehmen hätten. BM Rühe begrüßte, dass die SPD sich nun eindeutig zu Blauhelm-Einsätzen der Bundeswehr bekenne. Er werde seinerseits stets den Konsens mit der Opposition suchen, auch in Zukunft, wenn es darum gehe, die Voraussetzungen für friedensschaffende Maßnahmen zu legen. MdB Kolbow (SPD) würdigte die Kurskorrekturen von BM Rühe seit Beginn seiner Amtszeit. Er tadelte jedoch den „intergouvernementalen Stil“, der wichtige Weichenstellungen am Parlament vorbei getroffen habe. Der Verteidigungsausschuss hätte im Vorfeld der Tagungen von Oslo und vom Petersberg beteiligt werden sollen. Es gebe in diesen Fragen keine Rückkopplung zum Parlament. MdB Kolbow äußerte Unbehagen zur Vertragslage, die ihm unklar sei. Wie könnten in der Erklärung vom Petersberg Äußerungen zu „Out-of-area-Einsätzen“ gemacht werden, ohne dass die entsprechenden Vertragsgrundlagen geändert würden? MdB Breuer (CDU) unterstrich die integrative Rolle deutscher Sicherheitspolitik. Es dürfe keine Re-Nationalisierung geben. Zur Verfassungslage wiederholte er seine Auffassung, dass das Grundgesetz alle Arten von VN-Einsätzen zulasse. Er räume ein, dass verfassungspolitisch eine Klarstellung notwendig sei. Ihm sei jedoch lieber, es gebe keine Grundgesetzänderung als eine falsche, die der integrativen Rolle der Bundeswehr schaden würde. MdB Breuer hob den Konsens zur Wehrform hervor, trat aber dafür ein, die Frage der Freiwilligkeit des Einsatzes von Bundeswehrsoldaten außerhalb Deutschlands weiter zu diskutieren. MdB Hoyer (FDP) pflichtete MdB Kolbow in seiner Kritik betreffend die mangelnde Beteiligung des Parlaments bei. Im Übrigen befürchte er, dass sich die Bevölkerung Deutschland wohl als „große Schweiz“ wünsche. In diesem Zusammenhang regte er eine „Flurbereinigung“ der sicherheitspolitischen Institutionen an. In diesem „Wirrwarr“ seien Schnittstellen und Trennlinien der Institutionen (NATO, KSZE, WEU, VN) nicht zu erkennen. Was die erweiterte Landesverteidigung („out of Germany, in area“) betreffe, frage er sich, ob Deutschland psychologisch in der Lage sei, diese Bündnisverpflichtungen wahrzunehmen. MdB Wollenberger (Bündnis 90/Grüne) führte in einer bemerkenswerten Intervention aus, dass der Begriff der „erweiterten Landesverteidigung“ ausgefüllt werden müsse. Grundsätzlich bezweifle sie, ob die NATO und die WEU die geeigneten sicherheitspolitischen Instrumente für heute seien; sie sehe eine gewachsene Aufgabe für die KSZE, insb. was den Schutz von Minderheiten- und Menschenrechten anginge. Über solche Aufgaben müsse nachgedacht werden. Dem diene eine baldige Klausurtagung der Grünen zu Kampf6 Das Bündnisgebiet war in Artikel 6 des NATO-Vertrags vom 4. April 1949 festgelegt. Vgl. BGBl. 1955, II, S. 290.

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24. Juni 1992: Vermerk von Weil

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einsätzen. Diese Diskussion würde leichterfallen, wenn sie einherginge mit einer Grundsatzdiskussion über eine echte Strukturreform der Bundeswehr, die gut beraten wäre, kein diffuses Feindbild zu kreieren. Die Zeiten einer klassischen Angriffs- und Verteidigungsarmee seien vorbei. Aber auch die Zeit des klassischen Pazifismus sei abgelaufen: Der ewige Frieden sei nicht absehbar. Sie habe keine Angst vor der Integration der Bundeswehr, aber Angst vor Konfrontation in Europa. MdB Schulte (SPD) kritisierte heftig, wie die „peacekeeping“-Aussage in der Erklärung vom Petersberg ohne Beteiligung des Parlaments möglich gewesen sei. MdB Heistermann (SPD) schloss sich den Ausführungen von MdB Hoyer an: Wieviele „Hüte“ solle die Bundeswehr eigentlich noch tragen? Er habe den Eindruck, die Bundeswehr suche Aufträge, statt bestehende zu erfüllen. Dem pflichtete MdB Erler (SPD) insofern bei, als er eine „Interventionshysterie“ auf der Suche nach Kampfeinsätzen feststellte. MdB Steiner (SPD) bemerkte, dass der seit den fünfziger Jahren bestehende sicherheitspolitische Grundkonsens in Deutschland durch die Erklärung vom Petersberg gefährdet sein könnte. In einer energischen Replik nahm BM Rühe zu dieser Diskussion wie folgt Stellung: – Was die Informationspolitik der Bundesregierung betreffe, sei es ihm unmöglich, noch zu verhandelnde Texte in den Ausschuss zu geben. Er biete aber an, in Zukunft vor wichtigen internationalen Konferenzen für ein Gespräch im Ausschuss zur Verfügung zu stehen. – Die geordnete Welt der Konfrontation sei für immer vorbei. Die Welt ordne sich neu. Die 90er Jahre würden im ständigen Wandel begriffen sein. Er ziehe die Vielzahl der Institutionen einer sterilen Konfrontation vor. – Die Bundeswehr suche keine neuen Aufträge. Deutschland werde nur den Erwartungen gerecht, die an uns gestellt würden. Wir wären handlungsunfähig, wenn wir den deutschen Verfassungsvorbehalt, der im Übrigen in allen einschlägigen Dokumenten festgehalten sei, zum Nabel der Welt machten. – Aus den heutigen bewaffneten Konflikten in Europa könne man nur den Schluss ziehen, dass die Abschreckung in diesem Zusammenhang (noch) nicht funktioniere. Lediglich mit Blauhelm-Einsätzen könne sie nicht hergestellt werden. Wir müssten darauf achten, dass die von diesen Konflikten betroffenen kleinen Länder nicht zu dem Trugschluss gelangten, sich nur mit eigener Aufrüstung ausreichend schützen zu können. Weil7 B 28, ZA-Bd. 158657

7 Paraphe.

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25. Juni 1992: Vorlage von Zimprich

189 Vorlage des Vortragenden Legationsrats I. Klasse Zimprich für Bundesminister Kinkel 400-440.00

25. Juni 1992

Über Dg 401, D 42, Herrn Staatssekretär3 Herrn Bundesminister4 Betr.:

Deutsche Öffentliche Entwicklungshilfe (ODA)

Zweck der Vorlage: Zur Unterrichtung 1) Es wird einige Mühe bereiten, unsere Entwicklungshilfe im Ausland glaubwürdig darzustellen. Der Bundeskanzler hat bei UNCED in Rio5 von unserer Verantwortung für die Länder des Südens gesprochen und dabei geäußert: „Wir bekennen uns deshalb zur Verstärkung der Öffentlichen Entwicklungshilfe und bestätigen ausdrücklich das 0,7 %-Ziel. Wir wollen so bald wie möglich erreichen, dass hierfür 0,7 % des Bruttosozialprodukts eingesetzt werden.“6 In der Regierungserklärung vom 17. d. M.7 hat BK den Gedanken der entwicklungspartnerschaftlichen Solidarität noch unterstrichen. Die amerikanischen Medien haben in ihrer Rio-Berichterstattung unsere Bereitschaft zur Steigerung der Entwicklungshilfe und zur baldigen Erreichung des von den VN gesetzten 0,7 %-Ziels8 stark herausgestellt und von einer deutschen Führungsrolle gesprochen. Parallel dazu wies BM Spranger in einem Bonner Pressegespräch dagegen darauf hin, dass unser ODA/BSP-Verhältnis deutlich sinken wird. In der Tat sind wir nach der geltenden Finanzplanung dabei, uns weiter von dem 0,7 %-Ziel zu entfernen und unter den Durchschnitt der OECD-Geberländer von z. Zt. 0,34 % zurückzufallen. 2) 1991 waren wir mit DM 11,2 Mrd. in absoluten Zahlen nach den USA und Japan der Welt größter Geber. Gemessen am Bruttosozialprodukt nahmen wir mit 0,40 % (1990 noch 0,42 %) unter den Gebern den neunten Platz ein. 1 2 3 4

5 6 7 8

Hat in Vertretung des Botschafters Reichenbaum VLR I Zimprich am 25. Juni 1992 erneut vorgelegen. Hat MD Dieckmann am 25. Juni 1992 vorgelegen. Hat StS Lautenschlager am 25. Juni 1992 vorgelegen. Hat BM Kinkel am 27. Juni 1992 vorgelegen. Hat OAR Salzwedel am 29. Juni 1992 vorgelegen, der den Rücklauf über das Büro Staatssekretäre, MD Dieckmann und Botschafter Reichenbaum an Referat 400 verfügte. Hat StS Lautenschlager am 29. Juni 1992 erneut vorgelegen. Hat in Vertretung von Dieckmann MDg von Kyaw am 30. Juni 1992 vorgelegen. Hat Reichenbaum am 30. Juni 1992 vorgelegen. Zur VN-Konferenz über Umwelt und Entwicklung (UNCED) vom 3. bis 14. Juni 1992 vgl. Dok. 177. Für die Rede des BK Kohl am 12. Juni 1992 in Rio de Janeiro vgl. BULLETIN 1992, S. 634. Für die Regierungserklärung des BK Kohl vgl. BT STENOGRAPHISCHE BERICHTE, 12. WP, 97. Sitzung, S. 7955–7962. Mit Resolution Nr. 2626 vom 24. Oktober 1970 rief die VN-Generalversammlung die Zweite Entwicklungsdekade aus und legte u. a. fest, dass die Entwicklungshilfe der Industrieländer jeweils mindestens 0,7 % des Bruttosozialprodukts betragen solle. Vgl. UNITED NATIONS RESOLUTIONS, Serie I, Bd. XIII, S. 255–265.

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25. Juni 1992: Vorlage von Zimprich

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(Auf den ersten fünf Rängen liegen die nordischen Staaten und die Niederlande, die das 0,7 %-Ziel bereits deutlich überschritten haben, Frankreich folgt mit 0,56 % auf Platz 6. Die USA und Japan haben das 0,7 %-Ziel nie anerkannt; sie liegen mit 0,21 % bzw. 0,32 % deutlich hinter uns.) Für 1992 ist mit 0,32 %, für 1993 mit nur 0,30 % zu rechnen. Die Gründe für diese Entwicklung sind: – Entfallen der Sonderleistungen im Zusammenhang mit dem Golfkrieg – rd. DM 1 Mrd. – Aufgabe der sog. Mischfinanzierung durch einen Konsensus der OECD-Geber; er wird sich 1993 auswirken und unsere anrechenbaren ODA-Leistungen um rd. DM 1 Mrd. vermindern. (Mischung von FZ und KfW-Krediten zu kommerziellen Bedingungen mit einem für die ODA-Anrechenbarkeit erforderlichen Gesamtzuschusselement von 25 %.) – Zunahme des Bruttosozialproduktes durch die deutsche Vereinigung. (Deswegen verringerte sich die ODA/BSP-Relation schon 1991 von 0,42 % auf 0,40 %, obwohl unsere EZ um 9 % zugenommen hatte.) 3) Der Deutsche Bundestag hatte am 30.10.909 die Bundesregierung aufgefordert, „dafür zu sorgen, dass der deutsche ODA/BSP-Anteil bezogen auf das BSP eines Vereinten Deutschlands nicht absinkt, sondern zumindest den 1989 erreichten Anteil von 0,41 % beibehält“.10 Dieser Wert war bereits im Jahre dieser Aufforderung unterschritten. Um 0,40 % auch nur zu halten, wären zusätzliche Milliardenbeträge für den BMZHaushalt erforderlich, der mit 80 % zu unserer ODA beiträgt; 1992 + DM 1,3 Mrd. und 1993 + DM 2,4 Mrd., bereits unter Berücksichtigung einer überproportionalen Steigerung des EPl 23 von 3 % – in absoluten Zahlen: DM 313 Mio. und DM 248 Mio. für 1992 bzw. 1993 (Durchschnitt des Bundeshaushalts: 2,5 %). 4) Das Auswärtige Amt hat im Hinblick auf die Glaubwürdigkeit unserer Politik frühzeitig vor einem zu starken Absinken der ODA/BSP-Ziffer gewarnt, und die Haushaltswünsche des BMZ und vor allem auch deutsche Verschuldungsinitiativen für UNCED und den Münchner Wirtschaftsgipfel11 unterstützt. Der Erlass von – ohnehin nicht realisierbaren – öffentlichen Forderungen wird ebenfalls auf ODA angerechnet. Aber hiervon ist nennenswerte Entlastung nicht zu erwarten: – Von einem mit Blick auf UNCED vorgeschlagenen Teilerlass von Schuldendienstforderungen aus FZ-Krediten für zwölf hochverschuldete Niedrigeinkommensländer und Verwendung der verbleibenden Bedienungsforderungen für Umweltprojekte – zunächst in den Jahren 1992 und 1993, nominell jeweils rd. DM 220 Mio., sind nach dem Chefgespräch BMF/BMZ nur rd. DM 50 Mio. für das Haushaltsjahr 1993 übriggeblieben. – Auch hinsichtlich des von uns angestrebten Teilschuldenerlasses zugunsten von sieben hochverschuldeten „lower middle income countries“ (LMICs) (50 % oder 33 % Reduktion)12 für deren verbürgte Handels- und FZ-Schulden mit einem Gesamtaufwand bei 50 %igem 9 Korrigiert aus: „30.1.91“. 10 Vgl. die Beschlussempfehlung des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit vom 8. Oktober 1990; BT DRUCKSACHEN, Nr. 11/8082, S. 4. Diese wurde im Bundestag am 30. Oktober 1990 mit den Stimmen der Koalitionsparteien CDU, CSU und FDP „bei unterschiedlichem Stimmverhalten — Enthaltungen und Ablehnung — der PDS-Gruppe, bei Enthaltung der SPD-Fraktion und gegen die Stimmen der Grünen angenommen“. Vgl. BT STENOGRAPHISCHE BERICHTE, 11. WP, 233. Sitzung, S. 18535. 11 Zum Weltwirtschaftsgipfel vom 6. bis 8. Juli 1992 vgl. Dok. 225. 12 Korrigiert aus: „ ,lower middle income countriesʻ, (50 % oder 33 % Reduktion) LMICs,“.

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25. Juni 1992: Vorlage von Arnim

Schuldenerlass von rd. DM 2,4 Mrd. wird sich auf absehbare Zeit kaum etwas bewegen. BMF und BMWi können hier auf die Zurückhaltung auch anderer wichtiger Gläubigerländer (burden sharing!) verweisen. 5) Wir werden somit nach gegenwärtigem Stand allenfalls darauf verweisen können, dass wir durch die Vereinigung enorme zusätzliche Lasten schultern mussten und uns dennoch durch überproportionale Steigerung des BMZ-Haushalts13 sichtbare Mühe geben. Dies hat der BK in der Endphase von UNCED ’92 bereits getan. Auch wird es auf eine überzeugende Präsentation qualitativer Aspekte unserer Hilfe ankommen. Im Übrigen kann das Argument, wir müssten nun auch 0,4 % des BSP der NBL für Entwicklungshilfe vorsehen, angesichts deren desolaten wirtschaftlichen Zustandes nicht wirklich überzeugen. Zimprich B 58, ZA-Bd. 182298

190 Vorlage des Vortragenden Legationsrats I. Klasse von Arnim für Bundesminister Kinkel 411-423.00 USA

25. Juni 1992

Über Dg 411, D 42, Herrn Staatssekretär3 Herrn Bundesminister4 Betr.: Ihre Reise nach Washington am 29.6.19925; hier: Handelspolitische Probleme Zweck der Vorlage: Zur Unterrichtung Zur Einstimmung auf Ihre Reise wird im Folgenden eine Beschreibung der handelspolitischen Probleme zwischen den USA und D in ihrem gegenwärtigen wirtschaftspolitischen Umfeld vorgelegt. (Detaillierte Gesprächsunterlagen folgen wie üblich separat.) 1) Zwar gibt es erste Anzeichen einer konjunkturellen Belebung in den USA. Wirtschaftliche Hauptsorge der Administration im Wahlkampf6 ist aber, dass sie zu schwach ausfallen 13 An dieser Stelle wurde von StS Lautenschlager handschriftlich eingefügt: „im Vergleich zu anderen Ressorts u. der generellen Steigerung von 2,5 %“. 1 2 3 4

Hat MDg von Kyaw am 25. Juni 1992 vorgelegen. Hat MD Dieckmann am 25. Juni 1992 vorgelegen. Hat StS Lautenschlager am 25. Juni 1992 vorgelegen. Hat BM Kinkel am 27. Juni 1992 vorgelegen. Hat OAR Salzwedel am 29. Juni 1992 vorgelegen, der den Rücklauf über das Büro Staatssekretäre, MD Dieckmann und MDg von Kyaw an Referat 411 verfügte. Hat StS Lautenschlager am 29. Juni 1992 erneut vorgelegen. Hat Kyaw, auch in Vertretung von Dieckmann, am 30. Juni 1992 erneut vorgelegen. Hat VLR I von Arnim am 2. Juli 1992 erneut vorgelegen. 5 BM Kinkel hielt sich vom 29. Juni bis 1. Juli 1992 in den USA auf. Für seine Gespräche vgl. Dok. 196–199. 6 In den USA fanden am 3. November 1992 Präsidentschaftswahlen, Wahlen zum Repräsentantenhaus sowie Teilwahlen zum Senat und für die Gouverneursämter statt.

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25. Juni 1992: Vorlage von Arnim

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und zu spät kommen könnte. Traditionelle Bemühungen der Administration zur Exportsteigerung sind dadurch gegenwärtig zusätzlich konjunkturpolitisch und durch den Wahlkampf motiviert. 2) Grundproblem der amerikanischen Wirtschaftspolitik ist das seit Mitte der 80er Jahre jährlich zu verzeichnende Haushaltsdefizit. Es erreicht dieses Jahr, trotz Bemühungen der Administration zu seiner Kontrolle, nach Schätzungen des IWF eine Rekordhöhe von ca. 400 Mrd. $, insbesondere wegen des durch die Konjunkturschwäche mangelnden Einnahmezuwachses und weiterwachsender Ausgaben insbesondere für das Gesundheitswesen. Dieses Defizit macht 1992 nach Angaben des IWF etwa 6 % des BSP aus. (Es ist damit ausgesprochen hoch, wie ein Vergleich mit den Anforderungen der Maastrichter Kriterien für die Mitgliedschaft in der Europäischen Währungsunion7 zeigt: Danach sind 3 % das Maximum. Bei uns beträgt die Neuverschuldungsrate 1992 ca. 4,3 % des BSP. Wir begründen diese Überschreitung der Maastrichter Kriterien mit dem Sonderfaktor der Kosten der deutschen Einheit.) Dieses Defizit wirkt jedoch nicht – wie „deficit spending“ im herkömmlichen Sinne zur Stimulierung der Nachfrage – konjunkturbelebend, sondern hat wegen der zu seiner Finanzierung erforderlichen andauernden Belastung des Kapitalmarktes hohe reale Zinssätze und damit eine Bremsung insbesondere der privaten Investitionstätigkeit zur Folge. Auch die staatlichen Investitionen, insbesondere in die Infrastruktur und das Bildungswesen, kommen zu kurz. Die Stimmung der amerikanischen Öffentlichkeit und die Lage im Kongress versperren aber bisher den vernünftigen Ausweg, die Konsolidierung des Haushaltes durch Subventionskürzungen und Steuererhöhungen. Die Administration befindet sich so in einem Dilemma. Zum Erfolg braucht sie eine Konjunkturbelebung. Der beste Weg dazu ist aber, weil unpopulär, kaum gangbar. 3) Deshalb sucht die Administration den Ausweg insbesondere außenwirtschaftlich, indem sie ihre Partner im Ausland zur Marktöffnung für US-Exporte und zur Senkung der Zinsen auffordert. Ausländische Nachfrage soll die amerikanische Produktion stimulieren. Zinssenkungen, insbesondere in D (und damit in Europa) und in Japan, sollen Spielraum für Zinssenkungen in den USA schaffen. 4) Das trotz der Abwertung des Dollars insbesondere gegenüber dem Yen in den letzten Jahren andauernde Defizit der Handelsbilanz, das 1992 nach einer gewissen Besserung 1991 nach den letzten verfügbaren Zahlen wieder steigt, ist Ausdruck der amerikanischen Wettbewerbsschwächen insbesondere gegenüber Japan, mit dem die Masse dieses Defizits entsteht. Gegenüber der EG haben die USA seit zwei Jahren dagegen aufgrund besonderer Anstrengungen einen beachtlichen Überschuss von ca. 17 Mrd. $ (mit uns ein geringes Defizit). 5) Da die Bemühungen der USA gegenüber Japan durch Quotierung des Handels in den wesentlichen Sektoren (Autos, Halbleiter) kaum Aussicht auf rasche Besserung dieses Defizits bieten, richtet sich intensiver handelspolitischer Druck der USA auch auf die EG und hier insbesondere in den Sektoren, in denen die USA besonders wettbewerbsstark sind, d. h. in der Landwirtschaft und im Flugzeugbau. 7 Zu den Konvergenzkriterien vgl. das Protokoll über die Konvergenzkriterien nach Artikel 109 j des Vertrags über die Europäische Union vom 7. Februar 1992; BGBl. 1992, II, S. 1309 f. Vgl. auch AAPD 1991, II, Dok. 425.

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25. Juni 1992: Vorlage von Arnim

6) Dies prägt sich in der Uruguay-Runde8 aus, in der die USA versuchen, – insbesondere die EG-Getreideexporte zurückzudrängen – und die eigenen Exporte nicht Beschränkungen zu unterwerfen. 7) Dies zeigt sich insbesondere im Streit um die Ölsaaten-Politik der EG, die vom GATT in zwei Streitschlichtungsverfahren für GATT-widrig erklärt worden ist. Die USA beziffern den ihnen dadurch entstehenden Schaden auf etwa 1 Mrd. US-$/Jahr, da ihre traditionellen Exporte insbesondere von Soja durch die von der EG subventionierte Produktion von Ölsaaten (insbesondere Raps und Sonnenblumen) vom Markt verdrängt würden. 8) Nicht weniger wichtig ist der Streit der EG mit den USA über die Subventionen der Entwicklung des Airbus.9 Die USA (Boeing) schienen vor zehn Jahren kurz vor einem Weltmonopol für zivile Großflugzeuge. Inzwischen hat der Airbus einen Marktanteil von an die 30 %. Hier hat die EG zwar kürzlich ein Übereinkommen mit den USA ausgehandelt, durch das die direkten (europäischen) Subventionen und die indirekten (über die Rüstung in USA) Subventionen einer Begrenzung unterworfen werden.10 Dieses Abkommen ist aber noch nicht unterzeichnet und stößt auf beiden Seiten (bei uns Daimler-Benz, in den USA wohl Pentagon und NASA) auf Kritik. 9) Sie können dem begegnen durch: – Hinweis auf den Handelsbilanzüberschuss der USA gegenüber der EG. Die amerikanischen Probleme mit Japan dürften nicht auf dem Rücken der Europäer ausgetragen werden. – Hinweis auf unser Engagement für den Erfolg der UR, den wir mit einer Preissenkung von 29 % für Getreide im Rahmen der EG-Agrarreform11 unter Beweis gestellt haben. – Hinweis auf unseren Beschluss, die Haushaltsausgaben 1993 nur um maximal 2,5 % zu steigern, nachdem wir im Frühjahr beschlossen haben, die Mehrwertsteuer zu erhöhen12. Wir betreiben damit eine echte Haushaltskonsolidierungspolitik, die bereits heute dazu geführt hat, dass die langfristigen Zinsen bei uns niedriger als in den USA liegen. – Hinweis auf unseren Einsatz für eine GATT-konforme Regelung des Ölsaatenstreits durch das Angebot von Kompensationsverhandlungen. 8 Zu den GATT-Verhandlungen vgl. Dok. 185. 9 Zum Streit mit den USA über Subventionen für Airbus vgl. AAPD 1991, II, Dok. 218. 10 VLR I von Arnim legte am 8. April 1992 dar: „Am 31.3. haben die Unterhändler der EG-KOM und der USA ad referendum Einigung über den Entwurf einer Vereinbarung zwischen EG und USA über den Handel mit Zivilflugzeugen erzielt. Damit wird es wahrscheinlich gelingen, einen heftigen transatlantischen Streitfall (schon zwei GATT-Panel über Airbus-Subventionen) zu entschärfen und einen sicheren Rahmen für den zukünftigen Wettbewerb zwischen EG und USA beim Handel mit Zivilflugzeugen zu schaffen. […] Aus EG-Sicht wichtigstes Ergebnis des Vereinbarungsentwurfs ist das amerikanische Zugeständnis, erstmals auch indirekte Beihifen (aus dem Rüstungsbereich) in die Beihilfedisziplin einzubinden. Die EG hatte die Beihilfen an die europäische Luftfahrtindustrie stets auch mit den Vorteilen begündet, die die amerikanischen Konkurrenten aus den Militärflugzeugprogrammen erhalten. Die Begrenzung der Entwicklungsbeihilfen auf insgesamt 33 % ist vor dem Hintergrund der in der Startphase von Airbus 80 – 90 % betragenden Entwicklungsbeihilfen ein erheblicher Einschnitt. Angesichts der Tatsache, dass die Airbus-Familie inzwischen gut am Markt etabliert ist, war er jedoch unvermeidlich.“ Vgl. B 73, ZA-Bd. 163041. 11 Zur Reform der GAP vgl. Dok. 135, Anm. 5. 12 Zur Erhöhung des Mehrwertsteuersatzes von 14 auf 15 Prozent vgl. BGBl. 1992, I, S. 318 f.

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25. Juni 1992: Vorlage von Wrede

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– Hinweis auf unsere Bereitschaft, die Wechselkursabsicherung für die Airbus-Produktion zu beenden, obwohl wir die entsprechende GATT-Entscheidung für rechtlich unzutreffend halten. 10) Insgesamt findet Ihre Reise kurz vor dem WWG13 in einer Situation statt, in der wohl alle verantwortlichen Amerikaner über ihre andauernden Schwierigkeiten frustriert sind, wirtschaftspolitisch das eigene Haus in Ordnung zu bringen. Gleichzeitig fühlt man sich immer stärker auf wirtschaftspolitische Kooperation ausländischer Partner, und zwar insbesondere der EG und Japans, angewiesen, wobei untergründig eine Rolle spielt, dass damit die beiden Gegner im Zweiten Weltkrieg als die relativ Einflussreichsten erscheinen. Wir sind so in einer psychologischen Situation, in der die Risiken einer Eskalation wirtschafts- und handelspolitischer Auseinandersetzungen nicht unterschätzt werden dürfen. Referat 412 hat mitgewirkt und mitgezeichnet. v. Arnim B 221, ZA-Bd. 160626

191 Vorlage des Vortragenden Legationsrats Wrede für Bundesminister Kinkel 215-360.90 BOS

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Über Herrn D 22, Herrn Staatssekretär3 Herrn Bundesminister4 Betr.:

Militärische Schritte zur Freihaltung des Flughafens Sarajevo

Bezug: Ihre Weisung vom 24.6.92 Zweck der Vorlage: Zur Unterrichtung Die summarische Analyse der militärischen Lage um Sarajevo, der Haltung unserer Partner und unserer eigenen begrenzten Möglichkeiten ergibt, dass es sich nicht empfiehlt, von 13 Zum Weltwirtschaftsgipfel vom 6. bis 8. Juli 1992 in München vgl. Dok. 225. 1 Die Vorlage wurde von VLR Steiner konzipiert. 2 Hat MD Chrobog am 25. Juni 1992 vorgelegen. 3 Hat StS Kastrup am 29. Juni 1992 vorgelegen, der handschriftlich vermerkte: „Ich rate sehr zu einem behutsamen und zurückhaltenden Umgang.“ 4 Hat BM Kinkel am 25. Juni 1992 vorgelegen. Hat VLR Brose am 3. Juli 1992 vorgelegen, der den Rücklauf über das Büro Staatssekretäre, MD Chrobog und MDg von Studnitz an Referat 215 verfügte. Hat VLR I Reiche am 3. Juli 1992 vorgelegen, der handschriftlich vermerkte: „Referat 215 u. 230 haben Doppel des Rücklaufs vorab erhalten.“ Hat Chrobog am 3. Juli 1992 erneut vorgelegen. Hat Studnitz am 3. Juli 1992 vorgelegen. Hat VLR I Libal vorgelegen.

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25. Juni 1992: Vorlage von Wrede

unserer Seite die Initiative zur militärischen Freikämpfung des Flughafens zu ergreifen. Dies hindert uns jedoch nicht, uns für gemeinsame, vor allem humanitäre Maßnahmen unterhalb der militärischen Schwelle sowie für die Verstärkung des politischen und diplomatischen Drucks auf die serbische Führung einzusetzen: 1) Die humanitäre Lage der Menschen in Sarajevo wird immer verzweifelter – sie benötigen dringend Grundnahrungsmittel, Medikamente und med. Verbrauchsgüter. Es herrscht Hunger und Seuchengefahr. Allerdings würde eine Versorgung der Stadt über den Flughafen Sarajevo, ohne dass die hierfür vom VN-SR bisher vergeblich von den Betroffenen eingeforderten Sicherheitsvoraussetzungen erfüllt wären, nicht etwa eine begrenzte, sondern eine massive militärische Operation voraussetzen5: Das Gebiet um Sarajevo, einschließlich des zivilen Flughafens, liegt (wie etwa Stuttgart) in einem Talkessel, der von vier umgebenden Höhenzügen militärisch beherrscht werden kann. Die auf den Höhenzügen angelegten militärischen Stellungen, insbesondere für schwere Mörser und Artillerie, erschweren jede6 militärische Inbesitznahme des Flughafens und jeden Ansatz, die Hilfsgüter auf den insgesamt vier großen Zufahrtsstraßen in die Stadt zu transportieren. Die auf den Höhen eingesetzten Kräfte können – im Zusammenwirken mit den Irregulären und Freischärlern in der Stadt selbst – alle Aktivitäten auf dem Flughafen und auf den Zufahrtswegen völlig kontrollieren. Es ist also nicht damit getan, den Flughafen und dessen nähere Umgebung militärisch freizukämpfen, sondern es muss ein umfassender operativ-taktischer Ansatz aller Teilstreitkräfte verfolgt werden, also der Einsatz militärischer Landstreit- und Luftlandekräfte mit Unterstützung von Luftstreitkräften und Seeunterstützungskräften. Die hierfür vom SACEUR, General Galvin, kürzlich genannte Zahl von ca. 25 000 Soldaten dürfte die unterste Grenze sein, um das Gebiet um Sarajevo, einschließlich der Höhenketten, militärisch freizukämpfen. Diese Einschätzung deckt sich mit der Lagebeurteilung des BND, wie sie am 24.6.92 im Bundeskanzleramt vorgetragen wurde. Auch der VN-GS7 ging bereits in seinem Bericht vom 26.5. an den SR davon aus, dass ein massiver Truppeneinsatz unabdingbar wäre.8 Der partisanenartig geführte Kampf der Serben würde zudem den Einsatz insbesondere im Orts- und Partisanenkampf ausgebildeter, selbstständig operierender Truppen in überschaubaren Größenordnungen (Kompanie, höchstens Bataillon) verlangen. Besonders wichtig wäre schließlich eine vorhergehende, intrusive Aufklärung der Stellungen in den Bergen als Voraussetzung für einen möglichen Einsatz der Luftstreitkräfte mit dem Ziel, diese Stellungen frühzeitig auszuschalten. Fazit: Das Freikämpfen des Flughafens Sarajevo erfordert einen massiven Einsatz militärischer Kräfte und würde nicht ohne erhebliche Verluste an Soldaten und in der Zivilbevölkerung durchzuführen sein, ohne dass mit hinreichender Gewissheit der erwartete Erfolg eintritt. 5 Dieser Absatz wurde von BM Kinkel hervorgehoben. Dazu vermerkte er handschriftlich: „Die Medien führen es weltweit täglich vor Augen.“ 6 Dieses Wort wurde von MD Chrobog gestrichen. 7 Boutros Boutros-Ghali. 8 Vgl. den „Report of the Secretary-General pursuant to Security Council resolution 752 (1992) (S/24000)“ vom 26. Mai 1992; https://digitallibrary.un.org/record/144089.

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25. Juni 1992: Vorlage von Wrede

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Um ein sichtbares Signal der Hilfsbereitschaft zu setzen, böte sich aber eine gemeinsame humanitäre Aktion an, nämlich der Einsatz von militärischen Transportflugzeugen, von denen aus großen Höhen über Sarajevo lebenswichtige Güter abgesetzt werden könnten. Bei den nur geringen einsatzfähigen Luftstreitkräften und der nur unzulänglichen bodengestützten Luftverteidigung aufseiten der Serben bestünde zwar immer noch ein gewisses Risiko, allerdings keinesfalls vergleichbar mit dem Risiko eines massiven militärischen Kampfeinsatzes. Die JVA-Luftstreitkräfte werden gegenwärtig im Raum Sarajevo zwar nicht eingesetzt, stellen jedoch eine potenzielle Bedrohung dar. 2) Die Haltung unserer Partner zur Frage militärisch abgesicherter Versorgungsflüge via Flughafen Sarajevo ist unterschiedlich. F und KAN stehen einer Operation am aufgeschlossensten gegenüber, allerdings nur im Rahmen der VN. GB ist wesentlich zurückhaltender (in einen derartigen „Sumpf“ zu geraten, sei leicht, wieder herauszukommen, sei wesentlich schwieriger). Die USA haben zwar den militärischen Schutz humanitärer Konvois nicht ausgeschlossen (mit Bereitstellung von Lufttransportkapazität und – bei Hilfsaktionen – auch Bodenpersonal, wenn Sicherheitslage dies zulässt). Auch hat sich AM Baker am 23.6. im US-Senat für verstärkte koordinierte Maßnahmen zur Deblockade von Hilfslieferungen nach Sarajevo ausgesprochen. Allerdings hat er sich dabei ausdrücklich auf diplomatische und politische Schritte beschränkt („these are obviously diplomatic and political measures“). Wir können uns aus den bekannten historischen und verfassungsrechtlichen Gründen selbst nicht direkt militärisch engagieren. Wir müssen daher – auch angesichts der dargelegten Gefährlichkeit und Dimension einer Operation zur Freikämpfung des Flughafens und Sicherung der Zufahrt nach Sarajevo – den Eindruck vermeiden, dass wir andere ins Feuer schicken, uns aber selbst heraushalten wollen. Zur Vorsicht gemahnt uns zudem der Umstand, dass eine derartige militärische Aktion nach Kap. VII VN-Charta9 eines entsprechenden Beschlusses des VN-Sicherheitsrats bedürfte, in dem die erforderliche Mehrheit hierfür keineswegs gesichert ist. 3) Wir sollten daher bezügl. einer Initiative für eine militärische Operation zur Freikämpfung des Flughafens und zur Sicherung der Zufahrt nach Sarajevo unseren Partnern den Vortritt lassen, auch um kontraproduktive Wirkungen zu vermeiden. Dies hindert uns jedoch nicht daran, dass wir bei unseren Partnern – sei es im EG-Rahmen, sei es im Rahmen der WEU – anregen zu prüfen, ob wir nicht z. B. in einer gemeinsamen Aktion den Abwurf besonders dringend benötigter humanitärer Hilfsgüter über Sarajevo10 (und evtl. anderen ebenfalls eingeschlossenen Orten) aus Flugzeugen durchführen sollten. Hieran könnten wir uns durch Bereitstellung humanitärer Güter wie etwa von Impfstoffen etc. beteiligen. Eine derartige Aktion würde – auch wenn ein geringes Restrisiko nicht auszuschließen wäre – ein sichtbares Zeichen der humanitären Solidarität mit der bedrängten Bevölkerung Sarajevos darstellen. Zudem könnten wir uns bilateral gegenüber den USA dafür aussprechen, die 6. Flotte, einschließlich der beiden Flugzeugträger, gleichsam als „Drohgebärde“ in die Adria zu ent9 Für Kapitel VII der VN-Charta vom 26. Juni 1945 vgl. BGBl. 1973, II, S. 458–465. 10 Der Passus „Aktion den … über Sarajevo“ wurde von StS Kastrup hervorgehoben. Dazu vermerkte er handschriftlich: „Dann stellt sich zwangsläufig die Frage, ob wir uns mit Flugzeugen und Personal daran beteiligen.“

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senden. Die Moslems und Kroaten in Bosnien und Herzegowina würden dies besonders positiv aufnehmen. Über den Einsatz der Standing Naval Forces Mediterranean, an der deutsche Fregatten beteiligt sind, müsste auf jeden Fall der NATO-Militärausschuss (MC) entscheiden. (Sollten Seestreitkräfte eingesetzt werden, könnten sie sowohl Aktionen zu Lande von See her unterstützen, als auch eine möglicherweise notwendige Seeblockade vor der montenegrinischen Küste durchführen.) 4) Operative Folgerungen: Auf dem ER am 26./27.6.11 wird das Thema zur Sprache kommen müssen. Wir könnten es unseren Partnern in Frageform, unter Verweis auf die Glaubwürdigkeit der EG und mögliche negative Präzedenzwirkungen in der GUS, näherbringen und dabei auch die Prüfung einer gemeinsamen Aktion zum Abwurf humanitärer Güter aus Flugzeugen anregen. Am 26.6.1992 wird die WEU Ad-hoc-Gruppe in London ebenfalls mögliche Unterstützungsmaßnahmen erörtern. Bei Ihrem Gespräch mit AM Baker am 29./30.6. in Washington könnten Sie sich zudem für die o. a. Aktion der 6. Flotte aussprechen.12 Wie wir uns auf dem Weltwirtschaftsgipfel am 6./7.7.13 einlassen, sollte von der aktuellen Lage abhängig gemacht werden. Ausführungen zur militärischen Lage beruhen auf Beitrag von Stv. LPl.14 Wrede B 42, ZA-Bd. 183287

11 Zur Tagung des Europäischen Rats in Lissabon vgl. Dok. 201. 12 BM Kinkel hielt sich vom 29. Juni bis 1. Juli 1992 in den USA auf. Für seine Gespräche mit AM Baker vgl. Dok. 196 und Dok. 197. 13 Zum Weltwirtschaftsgipfel vom 6. bis 8. Juli 1992 in München vgl. Dok. 225. 14 Wolf-Eberhard von dem Hagen. An dieser Stelle fügte StS Kastrup handschriftlich ein: „(= d. h. einem gelernten Oberst)“.

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192 Vorlage des Vortragenden Legationsrats I. Klasse Bertram für Bundesminister Kinkel 201-363.07/1

26. Juni 19921

Über Dg 202, D 23, Herrn Staatssekretär4 Herrn Bundesminister5 Betr.:

Entwicklung des Atlantischen Bündnisses im Spannungsverhältnis USA – Frankreich

Zweck der Vorlage: Zur Unterrichtung und Billigung der in Ziff. 4 aufgezeigten Linie I. Zusammenfassung In der Atlantischen Allianz manifestieren sich zunehmend stärker belastende unterschiedliche Vorstellungen der USA und Frankreichs über weiteren Weg des Bündnisses mit dem Risiko unerwünschter Folgewirkungen in Bezug auf das künftige US-Engagement in und für Europa einerseits und die Rolle Frankreichs beim Aufbau der neuen europäischen Sicherheitsarchitektur andererseits. Dargestellt werden für den Nordatlantischen Kooperationsrat und das Engagement der NATO für friedenserhaltende Maßnahmen der KSZE die unterschiedlichen französischen und amerikanischen Vorstellungen, deren teilweise konträrer Ansatz bis hin zur Handlungsblockade im Bündnis führt. Wachsende Frustration im Bündnis über die weitverbreitete und auch von den USA so verstandene frz. Obstruktionspolitik verstärkt die Frage nach Sinn und Zweck der NATO im neuen sicherheitspolitischen Umfeld. Aufgezeigt werden schließlich die Gründe, die eine fortgesetzte politische Relevanz der NATO auch für die nächsten Jahre nahelegen (S. 6 f).6 Untersucht werden anschließend Handlungsmöglichkeiten mit dem Ziel, die neue Tagesordnung der Atlantischen Allianz in den konkret anstehenden Fragen voranzubringen. Dabei wird feststellbaren amerikanischen Tendenzen, eigentlich politische Fragen innerhalb der Allianz in die Gremien der integrierten Militärstruktur zu verlagern, um auf Frankreich keine Rücksicht mehr nehmen zu müssen, eine Absage erteilt. Empfohlen wird stattdessen für uns eine verstärkte Überzeugungsarbeit gegenüber Frankreich, die im Einzelnen näher ausgeführt wird, wobei für unsere stets bemühte Be1 2 3 4 5

Die Vorlage wurde von VLR Ulrich konzipiert. Hat MDg Hofstetter am 29. Juni 1992 vorgelegen. Hat MD Chrobog am 29. Juni 1992 vorgelegen. Hat StS Kastrup am 29. Juni 1992 vorgelegen. Hat BM Kinkel am 4. Juli 1992 vorgelegen, der handschriftlich vermerkte: „Sehr gute Vorlage!“ Hat OAR Salzwedel am 6. Juli 1992 vorgelegen, der den Rücklauf über das Büro Staatssekretäre, MD Chrobog und MDg Hofstetter an Referat 201 verfügte. Hat StS Kastrup am 14. Juli 1992 erneut vorgelegen. Hat Chrobog am 18. Juli 1992 erneut vorgelegen. Hat VLR I Bertram erneut vorgelegen. 6 Vgl. Anm. 17 und 19.

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reitschaft, Kompromisse zu suchen und zwischen F und USA zu vermitteln, gelegentlich auch ein eindeutiger Positionsbezug notwendig sein kann. Im Gespräch mit den USA sollten wir v. a. eine pragmatisch ausgerichtete Politik der kleinen Schritte anmahnen, um nicht ständig politische Grundsatzfragen des Bündnisses aufzuwerfen, und dazu raten, durch behutsame und von breitem Konsens getragene Maßnahmen den Beitrag der Allianz zum Aufbau der neuen europäischen Sicherheitsarchitektur sich entwickeln zu lassen. II. Langfassung 1) In der Atlantischen Allianz zeigen sich zunehmend stärker die Zusammenarbeit belastende unterschiedliche Vorstellungen v. a. zwischen USA und Frankreich über den weiteren Weg des Bündnisses. Beide Länder reagieren gereizt und nehmen fast jede Erörterung operativer Entscheidungen in Einzelfragen zum Anlass grundsätzlicher Positionsbestimmung. Darunter leidet nicht nur die Atmosphäre der politischen Arbeit in Brüssel. Es besteht auch zunehmend die Gefahr einer völlig unnötigen Verhärtung der Fronten in verschiedenen Sachfragen mit dem Risiko unerwünschter Folgewirkungen in Bezug auf das künftige US-Engagement in und für Europa einerseits und eine konstruktive Rolle Frankreichs beim Aufbau der neuen europäischen Sicherheitsarchitektur andererseits. 2) Frankreich hält an seinen Bemühungen fest, die NATO strikt auf ihre Funktion als Verteidigungsbündnis gegen Angriffe von außen zu beschränken. Darüber hinausgehende politische Aufgaben sollen allein der KSZE (bzw. anderen rein europäischen Organisationen wie der WEU) obliegen. Über die NATO wirken die USA an der Gestaltung der europäischen Politik mit. Um diesen aus französischer Sicht unerwünschten Einfluss in Schranken zu halten, ist Frankreich bemüht, die Funktion des Bündnisses möglichst eng zu definieren. 2.1) Diese französische Politik manifestiert sich einerseits in einer äußerst restriktiven Haltung zur Arbeit des (von Anbeginn nicht gut gelittenen) Nordatlantischen Kooperationsrates. So hat etwa Frankreich gegen den Wunsch der übrigen NATO-MS und der Kooperationspartner die Aufnahme mehrerer Themen und Projekte der Zusammenarbeit in den NAKR-Arbeitsplan vom 10. März des Jahres7 verhindert (z. B. Zivilverteidigung, Verifikation von Abrüstungsvereinbarungen). Auch auf AM-Ebene in Oslo8 lehnte Frankreich regelmäßige Kontakte des NATO-Ausschusses für Luftverkehrsfragen mit den NAKRPartnern ab, obwohl die Möglichkeit derartiger Begegnungen sowohl im Gipfeldokument von Rom9 als auch im ersten NAKR-Kommuniqué vom Dezember 199110 ausdrücklich vorgesehen ist. Am Treffen der Verteidigungsminister von NATO-MS und NAKR-Partnern 7 Für den auf der NAKR-Ministertagung in Brüssel verabschiedeten Arbeitsplan vgl. NATO FINAL COMMUNIQUÉS 1991–1995, S. 59–62. Zur Tagung vgl. Dok. 74. 8 In Oslo fanden am 4. Juni 1992 die NATO- bzw. die EG-Ministertagung statt, am Folgetag die NAKRTagung und die außerordentliche KSE-Konferenz. Vgl. Dok. 161, Dok. 166 und Dok. 170. 9 Für die „Erklärung von Rom über Frieden und Zusammenarbeit“ der NATO-Gipfelkonferenz am 7./8. November 1991 vgl. NATO FINAL COMMUNIQUÉS 1991–1995, S. 33–39. Für den deutschen Wortlaut vgl. BULLETIN 1991, S. 1033–1037. Zur Gipfelkonferenz vgl. AAPD 1991, II, Dok. 375 und Dok. 376. 10 Für das Kommuniqué der konstituierenden Tagung des NAKR am 20. Dezember 1991 in Brüssel vgl. NATO FINAL COMMUNIQUÉS 1991–1995, S. 54–56. Für den deutschen Wortlaut vgl. BULLETIN 1992, S. 8 f. Zur Tagung vgl. AAPD 1991, II, Dok. 439.

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am 1. April 199211 hat Frankreich als einziger Staat nicht teilgenommen (was frz. VM Joxe zu der Bemerkung veranlasste, er werde bald der einzige europäische Verteidigungsminister sein, der nicht an Begegnungen der NATO teilnehme). Mit gleicher Konsequenz wendet sich Frankreich gegen ein Engagement der NATO für friedenserhaltende Maßnahmen der KSZE. Zwar stimmte F in Oslo der KommuniquéPassage zu, wonach die NATO-AM Bereitschaft erklärten, von Fall zu Fall „in Übereinstimmung mit unserem eigenen Verfahren friedenserhaltende Maßnahmen unter der Verantwortung der KSZE einschl. der Bereitstellung von Ressourcen und Fachwissen des Bündnisses zu unterstützen“.12 Damit wurden jedoch nicht die französischen Forderungen überwunden, einen NATOBeitrag für friedenserhaltende Maßnahmen der KSZE nur in der Weise zu ermöglichen, dass die Initiative hierzu ausschließlich aus dem Kreise der NATO-MS kommen darf, und zwar nur von solchen NATO-MS, die im Einzelfall zur aktiven Mitwirkung an der KSZEAktion bereit sind. Ein NATO-Beitrag kommt aus frz. Sicht nur infrage, wenn sich die USA im Einzelfall mit eigenen Streitkräften an der Maßnahme beteiligen. Bei den in Helsinki laufenden Verhandlungen im Vorfeld des KSZE-Gipfels13 besteht Frankreich darauf, diese sehr einschränkende Position in den einschlägigen Dokumenten festzuschreiben, ohne Rücksicht darauf, dass einerseits andere KSZE-TNS in der Praxis kaum gehindert werden können, im Einzelfall eine an die NATO gerichtete Aufforderung der KSZE vorzuschlagen, und dass andererseits Frankreich in jedem Falle aufgrund des unbestrittenen Konsensprinzips sowohl innerhalb der KSZE als auch innerhalb der NATO eine einschlägige Beschlussfassung verhindern kann. 2.2) Für die USA verkörpern die Aktivitäten des Nordatlantischen Kooperationsrates und die Perspektive von NATO-Beiträgen zu friedenserhaltenden Maßnahmen der KSZE die neue politische Funktion der Allianz, der sie im veränderten sicherheitspolitischen Umfeld in Europa und im Hinblick auf die tendenziell abnehmende Bedeutung der traditionellen Verteidigungsfunktion des Bündnisses erhebliche Bedeutung beimessen, gerade auch unter Berücksichtigung der in Amerika zunehmenden kritischen Einstellung gegenüber einem fortgesetzten US-Engagement in Europa. Die USA werten diese in ihren Augen bis zur Obstruktion reichende (aber in Bezug auf KSZE und WEU durchaus offensive) frz. Politik als eindeutigen Versuch, die Allianz jeder politischen und damit in Zukunft einzig bedeutungsvollen Funktion zu berauben, um auf diesem Wege die Amerikaner von einer nennenswerten Mitsprache in europäischen Angelegenheiten auszuschließen. Die mit der aktiven frz. Mitarbeit an und Billigung der neuen Allianzstrategie von 199114 verbundenen Hoffnungen der USA auf die Entwicklung guter Arbeitsbeziehungen zwischen Frankreich und der NATO sind zwischenzeitlich dem großen Zweifel gewichen, innerhalb der Allianz und auch darüber hinaus im sicherheitspolitischen Bereich mit Frankreich konstruktiv zusammenarbeiten zu können. 11 Zum NAKR-Treffen auf der Ebene der Verteidigungsminister in Brüssel vgl. Dok. 97. 12 Vgl. Ziffer 11 des Kommuniqués der NATO-Ministerratstagung vom 4. Juni 1992; BULLETIN 1992, S. 615. 13 Zur KSZE-Gipfelkonferenz am 9./10. Juli 1992 vgl. Dok. 226. 14 Für das bei der NATO-Gipfelkonferenz am 7./8. November 1991 verabschiedete Strategiekonzept vgl. https://www.nato.int/cps/en/natohq/official_texts_23847.htm?selectedLocale=en. Für den deutschen Wortlaut vgl. BULLETIN 1991, S. 1039–1048. Zur Gipfelkonferenz vgl. AAPD 1991, II, Dok. 375 und Dok. 376.

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Andererseits tragen die Amerikaner auf ihre Weise dazu bei, den französischen Widerspruch herauszufordern, indem sie in dem Bemühen, die neue politische Funktion der Allianz herauszustreichen, keine Gelegenheit auslassen, die militärischen Fähigkeiten der Allianz über den reinen Verteidigungsauftrag hinaus in Europa zur Geltung zu bringen. Sie tendieren dazu, den komparativen Vorteil der Allianz gegenüber anderen Organisationen zu überzeichnen, um die NATO anzudienen und so ihre Unentbehrlichkeit zu demonstrieren. So haben etwa die USA auf der Sitzung der NATO-AM in Brüssel im Dezember 199115 gegen erheblichen Widerstand eine Kommuniqué-Passage durchgesetzt, wonach sich die NATO bereithält, bei der seinerzeit geplanten Winterhilfe für die UdSSR/GUS logistische Unterstützung zu leisten16, wofür es keine sachliche Notwendigkeit gab. Anschließend haben sie selbst die NATO gebeten, die Hilfsflüge der US-Luftwaffe in die Gebiete der ehemaligen SU zu koordinieren. Für die Erörterungen in Helsinki über den möglichen Beitrag internationaler Organisationen zu friedenserhaltenden Maßnahmen der KSZE wollten die USA eine Präsentation vortragen lassen, in der sämtliche militärischen Kapazitäten der Allianz für einen Beitrag zum Krisenmanagement einschließlich Schnellem Reaktionskorps und Ständiger Marineverbände geschildert sowie der Betrag des NATO-Apparates zu den 17alliierten Operationen während des Golfkrieges dargelegt wurden. Es wäre (wohl auch beabsichtigt) der Eindruck entstanden, die NATO wolle dieses gesamte Potenzial auch der KSZE zur Verfügung stellen. Die USA tendieren dazu, am guten Willen ihrer Partner zu zweifeln, wenn andere NATO-MS diesen weitgehenden Vorstellungen nicht folgen. 3) Das amerikanische – und auch anderer Bündnispartner – Gefühl einer gewissen Ohnmacht gegenüber der so empfundenen frz. Politik einer Aushöhlung der Atlantischen Allianz droht weiteres Engagement zu schwächen und führt deshalb v. a. in den USA, aber auch in den europäischen NATO-MS, zur prüfenden Frage nach Sinn und Zweck der NATO im neuen sicherheitspolitischen Umfeld in Europa. Es ist grundsätzlich unbestritten, dass nach dem Ende der Ost-West-Konfrontation die traditionelle Funktion der Allianz, nämlich Abschreckung bzw. Verteidigung gegen Angriffe von außen, zumindest in ihrem relativen Gewicht, abgenommen hat (obwohl sicherlich für Frankreich die militärische Rückversicherung gegen ein u. U. später akut werdendes Restrisiko insb. von russischer Seite größeren Stellenwert besitzt als für uns). Allgemein anerkannt ist auch der erweiterte Sicherheitsbegriff, der neben dem militärischen auch politische, wirtschaftliche, soziale und ökologische Aspekte einschließt. Dennoch gibt es überzeugende Gründe, die unter Berücksichtigung der Interessen Deutschlands, der USA und Frankreichs (sowie anderer Länder) eine fortgesetzte politische Relevanz der NATO auch für die nächsten Jahre nahelegen: – Die NATO sorgt für sicherheitspolitische Stabilität in Europa. Dafür ist allerdings ein unmissverständliches US-Engagement unverzichtbar. Diese Einschätzung gilt für das westliche wie das östliche Europa. Die NATO vermittelt ihren Mitgliedstaaten ein Gefühl selbstbewusster Sicherheit, verhindert so eine Renationalisierung der Sicherheitspolitik und ermöglicht eine überschaubare, verlässliche, auch in Krisenzeiten rational 15 Zur NATO-Ministerratstagung am 19. Dezember 1991 in Brüssel vgl. AAPD 1991, II, Dok. 437. 16 Vgl. Ziffer 5 des Kommuniqués der NATO-Ministerratstagung vom 19. Dezember 1991; NATO FINAL COMMUNIQUÉS 1991–1995, S. 49. Für den deutschen Wortlaut vgl. BULLETIN 1992, S. 6. 17 Beginn der Seite 6 der Vorlage. Vgl. Anm. 6.

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abwägende Sicherheitspolitik. Dies ist für Europa wichtig und liegt auch weiterhin im US-Interesse. – Die Stabilisierungsfunktion der NATO wirkt in Europa weit über den Kreis ihrer Mitglieder hinaus in den mittel- und osteuropäischen Raum. Auch hierfür ist US-Präsenz unerlässlich. Der Nordatlantische Kooperationsrat ist für die mittel- und osteuropäischen Staaten das Vehikel, sicherheitspolitisch den Anschluss an Europa und den Westen zu gewinnen und sich des sicherheitspolitischen und militärischen Sachverstandes der Allianz zu bedienen. Gerade in dieser Hinsicht ist die NATO auf absehbare Zeit weder durch andere Organisationen noch allein durch konzertiertes Handeln der jetzigen Mitgliedstaaten zu ersetzen. Der Nordatlantische Kooperationsrat bietet auch die Perspektive, die GUS-Republiken einzubinden in den Aufbau einer neuen, übergreifenden Sicherheitsarchitektur für Europa bzw. den KSZE-Raum und damit den Rückfall in die Renationalisierung der Sicherheitspolitik (z. B. Kaukasus, Moldawien) aufzuhalten bzw. umzukehren. – Eine Mitwirkung der NATO bei friedenserhaltenden Maßnahmen der KSZE würde Konfliktbewältigungspotenzial der KSZE stärken und damit vorbeugend zur erhöhten Sicherheit der NATO-MS beitragen. Die Bereitstellung der militärischen Ressourcen des Bündnisses für die Teilnahme an friedenserhaltenden Maßnahmen der KSZE könnte nicht nur für gesteigerte Effektivität des KSZE-Kriseninstrumentariums sorgen.18 Auch würde die (ohne die Atlantische Allianz kaum vorstellbare) Beteiligung der USA derartigen Maßnahmen größeren politischen Respekt verschaffen. Auch in dieser Beziehung wird die NATO einen vielleicht nicht unentbehrlichen, aber doch sehr nützlichen Beitrag zur europäischen Sicherheitsarchitektur leisten. (In diesem Sinne hat sich ausdrücklich auch das russische Außenministerium in Bemerkungen zur NAKR-Sitzung in Oslo geäußert.) 4) Für das weitere Vorgehen mit dem Ziel, die neue Tagesordnung der Atlantischen Allianz in den konkret anstehenden Fragen voranzubringen, bieten sich folgende Möglichkeiten an: 4.1) Die USA sehen derzeit kaum Hoffnung auf ein französisches Einlenken und tendieren deshalb dazu, innerhalb der Allianz19 eigentlich politische Fragen in die Gremien der integrierten Militärstruktur zu verlagern, um auf Frankreich keine Rücksicht mehr nehmen zu müssen. Die VM-Treffen mit den Liaison-Partnern werden ohne Frankreich abgehalten. Entsprechendes gilt für die einschlägige Arbeitsgruppe der Allianz. Die militärische Vorbereitung evtl. NATO-Beiträge für friedenserhaltende Maßnahmen der KSZE soll als Angelegenheit des Verteidigungsplanungsausschusses (und nicht des Rates) behandelt werden und operativ in einer bei SHAPE (also einem Kommando der integrierten Militärstruktur) angesiedelten Planungszelle erfolgen. Dies ist ein theoretisch gangbarer, jedoch politisch bedenklicher Weg. Die Beziehungen der Allianz zu den Kooperationspartnern im Osten und die Übernahme von Aufgaben für die KSZE sind eminent politische Fragen, nicht solche der militärischen Integration, die sich grundsätzlich auf Fragen der Organisation der Verteidigung des Bündnisgebietes20 18 Dieser Satz wurde von BM Kinkel durch Ausrufezeichen hervorgehoben. 19 Ende der Seite 7 der Vorlage. Vgl. Anm. 6. 20 Das Bündnisgebiet war in Artikel 6 des NATO-Vertrags vom 4. April 1949 festgelegt. Vgl. BGBl. 1955, II, S. 290.

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bezieht. Es wäre eine höchst fragwürdige Politik, einen Partner (und später vielleicht weitere?) von der Mitgestaltung dieser für die Zukunft der Allianz wichtigen Aufgaben auszuschließen, auch wenn er unbequem ist. Eine weitere institutionelle Isolierung innerhalb der Allianz würde im Übrigen die frz. Vorbehalte gegenüber dem Bündnis nur verfestigen. Eine weitere Alternative besteht für die USA offenbar darin, für die Durchführung sicherheitspolitisch/militärisch relevanter Maßnahmen in Europa zunehmend auf Ad-hocKoalitionen unter den NATO-MS zurückzugreifen. Zwar sollten grundsätzlich die NATOMS durchaus die Freiheit behalten, sicherheitspolitisch in Europa außerhalb des Bündnisgebietes aktiv zu werden, ohne dies notwendigerweise in den Allianzrahmen einzuordnen. Andererseits darf jedoch eine Zusammenarbeit wechselnder Koalitionen „à la carte“ in NATO-relevanten Sachverhalten nicht zur Regel werden. Damit würden die USA ihrerseits der Allianz ein Stück politischer Glaubwürdigkeit nehmen und ihre Befürchtungen über die schleichende Aushöhlung der NATO-Relevanz zu einer „self-fulfilling prophecy“ machen. 4.2) Wir sollten stattdessen unsere Überzeugungsarbeit gegenüber Frankreich verstärken, ohne uns dabei im Schaukelstuhl unserer Interessen zwischen USA und F zu schnell bereits im Ansatz auf die Kompromisssuche und -vermittlung festzulegen („sowohl als auch“). Das gegenwärtige Stadium der Auseinandersetzung kann durch offensichtlich nur überbrückende Kompromisse, die bei Aufbrechen die Haltung der einen oder anderen Seite weiter diskreditieren, nur zusätzlich belastet werden. Auch aus französischer Sicht ist eine fortgesetzte (auch militärische) US-Präsenz in Europa für die Stabilität des Alten Kontinents unverzichtbar. – Der Aspekt einer Rückversicherung gegen althergebrachte militärische Risiken reicht jedoch weder in den USA noch in Europa zur Begründung eines substanziellen USEngagements in Europa aus. – Wir müssen Frankreich das außerordentlich große Interesse der MOE-Staaten an der NATO und der damit verbundenen starken US-Präsenz in Europa gerade auch in Bezug auf Sicherheits- und Verteidigungspolitik verdeutlichen. Eine erfolgreiche Arbeit des Nordatlantischen Kooperationsrates mit greifbaren Gewinnen für die Kooperationspartner im Osten wäre der von uns allen angestrebten Integration der mittel- und osteuropäischen Staaten und der GUS-Republiken in übergreifende europäische Sicherheitsstrukturen sehr förderlich. Die östlichen Partner setzen große Erwartungen in den Nordatlantischen Kooperationsrat. Die KSZE allein oder die WEU (ohne USA) kann diese Erwartungen nicht erfüllen. (In diesem Zusammenhang würde sich auch anbieten, in unseren bilateralen Gesprächen mit den mittel- und osteuropäischen Staaten anzuregen, ihrerseits diesen Gesichtspunkt gegenüber Frankreich mit dem erforderlichen Nachdruck zur Geltung zu bringen.) – Die KSZE kann die auch von Deutschland und Frankreich in sie gesetzten, hochgesteckten Erwartungen für eine zentrale Rolle beim Aufbau der neuen gesamteuropäischen Architektur nur erfüllen, solange die USA für eine aktive Mitgestaltung gewonnen werden können. Dies ist auf absehbare Zeit zumindest für den sicherheitspolitischen Bereich ausschließlich auf dem Weg über eine funktionierende Atlantische Allianz vorstellbar. Die NATO stellt für die USA die Verkörperung ihres europäischen Engagements dar. (Auf dem KSZE-Gipfel in Helsinki bestehen insoweit möglicherweise bessere Chancen für ein Umdenken Frankreichs, da hier, anders als in Oslo, auch viele Nicht-Mitglieder der Allianz vertreten sind, die eine aktive Rolle der NATO in Europa im Sinne ihrer neuen politischen Funktion wünschen.) 784

26. Juni 1992: Vorlage von Bertram

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– Wir sollten Frankreich auch auf den Gesichtspunkt hinweisen, dass das Gewicht der europäischen Partner innerhalb der Allianz aktive Mitgestaltung (auch durch Frankreich) bei der Wahrnehmung neuer politischer und militärischer Aufgaben erfordert. Dies war bereits bei Ausarbeitung der neuen Allianzstrategie im Vorfeld des Gipfels von Rom (mit Beteiligung Frankreichs) deutlich spürbar. Dieser Aspekt wird mit Verminderung der amerikanischen Streitkräftepräsenz in Europa noch wesentlich stärker zur Geltung kommen. 4.3) In Gesprächen mit den USA sollten wir darauf hinwirken, die dort empfundene Verzweiflung über die frz. NATO-Politik nicht zum Anlass zu nehmen, Frankreich innerhalb der Allianz ausgrenzen zu wollen oder wichtige Sachverhalte aus der NATO heraus zu verlagern.21 Dies würde kontraproduktiv wirken und die von den USA befürchtete Aushöhlung der NATO-Relevanz für Europa beschleunigen.22 Die USA könnten ihrerseits zu einer Entspannung der gereizten Lage und damit zu pragmatischen Fortschritten im Interesse der Allianz beitragen: – Eine Politik der kleinen Schritte in Bezug auf die Übernahme neuer Aufgaben durch die Allianz hätte größere Aussicht auf Erfolg. Es wirkt wenig hilfreich, mit der erfolgreichen Umsetzung eines jeden Detailvorschlags das Prinzip des weiteren US-Engagements in Europa zu verbinden und damit Frankreich zu verleiten, seinerseits Grundfragen des transatlantischen Verhältnisses aufzuwerfen. So erscheint es etwa innerhalb des NAKR angebracht, sich für die nächste Zeit auf die Umsetzung des (mit frz. Zustimmung) beschlossenen Arbeitsplans zu konzentrieren und nicht einen Streit über die Aufnahme zusätzlicher (von anderen NATO-MS und NAKR-Partnern als nützlich bewerteter) Themen auszutragen. – Ein zu massives Auftreten der Allianz jenseits des Bündnisgebietes in Europa wird nicht nur bei Frankreich, sondern auch bei anderen KSZE-TNS außerhalb des Bündnisses auf Unbehagen stoßen. Zusammenarbeit im NAKR und Beiträge zu friedenserhaltenden Maßnahmen der KSZE sind neuartige Aufgaben der Allianz, deren Akzeptanz bei den übrigen KSZE-Staaten mit überzeugender, durch breiten Konsens getragene Arbeit verdient werden muss. Es wäre kontraproduktiv, die NATO im KSZE-Rahmen nach Umfang und Qualität so auftreten zu lassen, als handle es sich um die Verteidigung des Bündnisgebietes gegen einen äußeren Angriff. Der Aufbau der neuen gesamteuropäischen Architektur mit der NATO, insb. ihrer neuen politischen Funktionen als wichtiger Pfeiler, bedarf einer pragmatischen, Schritt für Schritt vorangetragenen Politik. 21 Botschafter von Ploetz, Brüssel (NATO), berichtete am 25. Juni 1992: „US-Regierung scheint den Druck auf Frankreich und dessen EG-Partner zu erhöhen, um im Zuge der Entwicklung der europäischen Sicherheits- und Verteidigungsidentität eine Revision der französischen Allianzposition zu erreichen, d. h. Frankreich zur Rückkehr in den Verteidigungsplanungs- und den Militärausschuss zu bewegen – und möglichst auch in die militärische Integration. Mit dieser – von Washington selbst als kurzfristig kaum realisierbar bezeichneten – Zielsetzung verbindet US-Administration das Nahziel, die übrigen Mitglieder der Europäischen Union, allen voran Deutschland, davon abzuhalten, sich auf den französischen Sonderweg in die Allianz zu begeben. Diese Länder werden ausdrücklich in die Pflicht genommen, die nach dem Ende des Kalten Krieges sehr viel negativer wirkende französische Sonderstellung im Bündnis zu erkennen und – als hohe Priorität – die sich hieraus für die Allianz ergebenden Probleme lösen zu helfen.“ Vgl. DB Nr. 1024; B 130, VS-Bd. 13046 (221), bzw. B 150, Aktenkopien 1992. 22 Dieser Satz wurde von BM Kinkel hervorgehoben. Dazu Ausrufezeichen.

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26. Juni 1992: Drahtbericht von Arnot

Die NATO hat weiterhin sehr wichtige politische Funktionen in Europa. Dazu gehört die Absicherung fortgesetzten US-Engagements in und für Europa. Eine Versteifung der jeweiligen Positionen der USA und Frankreichs liegt weder im Interesse des Bündnisses noch im Interesse seiner Mitgliedstaaten. Bertram B 14, ZA-Bd. 161244

193 Drahtbericht des Botschafters Arnot, Budapest Fernschreiben Nr. 587 Cito Betr.:

Aufgabe: 26. Juni 1992, 12.37 Uhr1 Ankunft: 26. Juni 1992, 13.44 Uhr

Deutsch-ungarische Beziehungen; hier: Lieferungen aus Beständen der ehemaligen NVA

I. 1) Ungarischer Verteidigungsminister Für empfing mich am 24.6. zu einem längeren Gespräch. Er erörterte mit mir Stand der militärischen Zusammenarbeit. Dabei brachte er einmal mehr die Bitte der ungarischen Regierung um Lieferung von Material aus den Beständen der ehemaligen NVA vor.2 Er legte dar, dass sich die Qualität des Materials der ungarischen Streitkräfte ständig verschlechtere. Das gelte insbesondere für Flugzeuge. Ihre Betriebszeit gehe zu Ende. Es sei jetzt schon lebensgefährlich, sie zu fliegen. In zwei Jahren werden sie vom Himmel fallen. Die MiG-21 seien früher in Leipzig gewartet worden. 1 Hat MDg von Kyaw am 29. Juni 1992 vorgelegen, der handschriftlich für Referat 424 vermerkte: „In heutiger D[irektoren]B[esprechung] schlug StS L[autenschlager] vor, dass Sie mit 216 versuchen sollten, eine ‚Doktrin‘ zu entwickeln.“ Hat VLR Petri am 29. Juni 1992 vorgelegen, der handschriftlich vermerkte: „RL 424 n[ach] R[ückkehr]“. Hat VLR I Ackermann am 30. Juni 1992 vorgelegen, der handschriftlich vermerkte: „1) 216 macht Vorlage zunächst nur für Ungarn und kommt auf uns zu. Tenor: Lieferung ja, aber nur mit Zeichnung des Endverbleibs und Sicherstellung, dass kein altes ungar[isches] Material dafür exportiert wird. 2) Ri[edel,] b[itte] mich in ca. drei Tagen wieder anrufen.“ Hat StS Lautenschlager vorgelegen, der den Passus „Ungarn und kommt […] aber nur mit“ in Ackermanns Vermerk hervorhob. Dazu handschriftlich Kreuz. Hat Ackermann am 3. Juli 1992 erneut vorgelegen, der handschriftlich notierte: „Vorl[age] v[on] 216 von RL mitgez[eichnet] – aber von StS L. angehalten.“ Ferner verfügte er die Weiterleitung an LS Riedel. 2 Zur Bitte Ungarns um Überlassung von NVA-Material vgl. AAPD 1990, II, Dok. 252. VLR I Lambach legte dar, das BMVg habe am 25. Juni 1991 „ohne vorherige Unterrichtung des AA“ mit Ungarn eine Abgabevereinbarung im Wert von 581,5 Mio. DM paraphiert. BM Genscher und Stoltenberg hätten jedoch am 4. Juli 1991 vereinbart, die Angelegenheit erneut zu prüfen. Am 28. Januar 1992 habe der BSR entschieden, NVA-Materiallieferungen an Ungarn „bis zu einer definitiven Beendigung der Kriegshandlungen in Jugoslawien zurückzustellen“. Vgl. den Vermerk vom 30. Juni 1992; B 70, ZA-Bd. 220794. Bei einem Telefongespräch mit BK Kohl am 27. Mai 1992 erinnerte der ungarische MP Antall an die „Bitte um Überlassung von NVA-Material an Ungarn. Der Bundeskanzler habe seinerzeit erklärt, er wolle im Juni hierüber wieder sprechen.“ Kohl regte daraufhin ein Gespräch von MD Hartmann, Bundeskanzleramt, mit Antall im Juli 1992 in Budapest an. Vgl. den Gesprächsvermerk; BArch, B 136, Bd. 59730.

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26. Juni 1992: Drahtbericht von Arnot

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90 Prozent des Rüstungsmaterials stammten aus der ehemaligen SU. Die ungarische Regierung stehe mit Russland in Kontakt und bemühe sich um Ersatzteillieferungen von dort. Vor wenigen Tagen seien in Budapest Gespräche mit einem stellvertretenden Verteidigungsminister aus Moskau geführt worden. Russland habe bei Ungarn Schulden aus dem beiderseitigen Handel. Ungarn wünsche, dass diese Guthaben mit Ersatzteillieferungen verrechnet werden. Man komme jedoch nicht weiter. Es bleibe unklar, wer in Russland die Entscheidungen treffe. Für sagte weiter, nach dem Wiener Vertrag3 sei das Rüstungsmaterial jedes Staates, auch Ungarns, begrenzt. Eine Rüstungsspirale könne also durch Lieferungen von Material ohnehin nicht in Gang gesetzt werden. Die Situation des Verteidigungshaushalts sei mehr als prekär. Ungarn könne es sich nicht leisten, Material zu kaufen. Es sei daher auf günstige Lieferungen aus Deutschland angewiesen. Die Auffassung, Ungarn würde ihm geliefertes Material an Kroatien weitergeben, sei „schlecht und falsch“. Sein eigenes Material werde immer weniger, die ungarische Verteidigungsfähigkeit vermindere sich. Wenn Deutschland Zweifel am Verbleib von ihm gelieferten Materials haben würde, sei es eingeladen, sich vor Ort in Ungarn zu überzeugen, was die ungarischen Streitkräfte damit machten. 2) Am Vortage hatte auch Ministerpräsident Antall im Gespräch mit dem persönlichen Beauftragten des Bundeskanzlers (StS Köhler, BMF) den ungarischen Wunsch nach Lieferung von NVA-Material zum Ausdruck gebracht. Er sagte dabei Folgendes: Ungarn wünsche nicht, die Grenzen zu seinen Nachbarn gewaltsam zu verändern. Es wünsche Stabilität und halte sich von jedem Abenteuer fern. „Uns verletzt es, wenn man uns zu einem Krisengebiet erklärt und uns nicht Material liefert.“ Ungarn müsse den Schutz seiner Grenzen stärken. Es brauche leichte Waffen, Hubschrauber und andere Mittel, die der Verteidigung dienten. Auch Deutschland verfüge über Daten bezüglich der Streitkräfte Jugoslawiens und Rumäniens. Rumänien habe Streitkräfte an die Grenze zu Ungarn verlegt. Tschechoslowakische Streitkräfte seien in der Slowakei disloziert. Wie solle man die Stabilität aufrechterhalten, wenn man Ungarn als Krisengebiet ansehe? 3) Am Rande des Besuchs des Inspekteurs des Heeres, Generalleutnant Hansen, war zu erfahren, dass Verteidigungsminister Für und die militärische Führung ein Schreiben des ungarischen Ministerpräsidenten an den Bundeskanzler vorbereitet haben, in dem die Bitte um Lieferung von Ersatzteilen und Reparatursätzen für defensive Waffensysteme aus Beständen der ehemaligen NVA konkretisiert werde. Es gehe in erster Linie um Luftverteidigung sowie um Panzerabwehr. Wie ich soeben von AL Kovács vom ungar. AM höre, ist dieses Schreiben bereits von MP Antall unterzeichnet und am 25.6. vom ungar. Geschäftsträger Erdödy mit nach Bonn genommen worden. II. 1) Ungarn trägt seit nunmehr fast zwei Jahren in immer wiederholten Anläufen seinen Wunsch nach Lieferungen von Material der ehemaligen NVA vor. 2) Der ursprüngliche Antrag sah sowohl die Lieferung von Waffensystemen als auch von Ersatzteilen sowie anderem Material vor. Nunmehr stellt sich Ungarn darauf ein, seine Bitte zunächst auf die Lieferung von Ersatzteilen zu beschränken. 3 Für den Vertrag vom 19. November 1990 über konventionelle Streitkräfte in Europa (KSE-Vertrag) und die zugehörigen Dokumente vgl. BGBl. 1991, II, S. 1155–1298. Vgl. ferner AAPD 1990, II, Dok. 385 und Dok. 390.

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3) Der ungarische Bedarf ist in zahlreichen Gesprächen begründet worden. Die Bundesregierung hat die sachliche Begründetheit dieser Bitte nie infrage gestellt. Sie hat nicht angezweifelt, dass die ungarische Verteidigungsfähigkeit durch den Umstand, dass das Material technisch immer weiter obsolet wird, drastisch zurückgeht und Ungarn sich dem Zustand der Verteidigungsunfähigkeit nähert. 4) Die Zurückhaltung der Bundesregierung beruhte auf der traditionellen Scheu, sich im Umkreis von Krisengebieten durch Lieferungen zu engagieren. Es dürfte Einvernehmen darüber bestehen, dass Ungarn selbst kein Krisengebiet ist. Ich gehe davon aus, dass auch die Auffassung geteilt wird, dass Staaten nicht deshalb ihre Verteidigungsfähigkeit verlieren müssen, weil sie an Krisengebiete grenzen. Ministerpräsident Antall und die ungarische Regierung sind irritiert darüber, dass nach deutscher Auffassung allein die ungarische Nähe zum Krisenherd Jugoslawien zu einer Verweigerung eines Beitrages zum legitimen Verteidigungsbedürfnis Ungarns führt. 5) Ein weiterer Grund für die Zurückhaltung Deutschlands gegenüber Ungarn bei der Lieferung von NVA-Material liegt im deutschen Misstrauen gegenüber der ungarischen Regierung. Es wird offenbar befürchtet, dass Ungarn Lieferungen aus Deutschland benutzen würde, um sie sogleich an Kroatien weiterzureichen. Verteidigungsminister Für hat uns im Gespräch mit mir angeboten, die Verwendung eventueller deutscher Lieferungen in Ungarn zu verifizieren. Ich schlage vor, dieses Angebot in unsere Erwägungen einzubeziehen. 6) Ich halte den Zeitpunkt für gekommen, unsere Auffassung zur Lieferung von NVAMaterial an Ungarn zu modifizieren. Dabei sollten wir uns von der Annahme leiten lassen, dass der Konflikt im ehemaligen Jugoslawien noch unvorhersehbar lange dauern und sich in dieser Zeit das ungarische Verteidigungspotenzial weiter dramatisch in seinem technischen Zustand verschlechtern, Ungarn aber andererseits nicht in der Lage sein wird, aus eigenen Haushaltsmitteln den erforderlichen Ersatz zu beschaffen. Bisher ist es Ungarn gelungen, sich ungeachtet der verheerenden Entwicklung im südlichen Nachbarland Jugoslawien und beunruhigender Tendenzen auch bei den nördlichen und östlichen Nachbarn Slowakei und Rumänien/Moldau zu einer Insel politischer und wirtschaftlicher Stabilität zu entwickeln. Deutschland hat alles Interesse daran, dass diese Stabilität erhalten und gesichert bleibt. Die Ungarn blicken in ihrer Not mit geradezu verzweifelter Hoffnung auf Deutschland. Nur aus Deutschland können sie Hilfe erwarten. Andere westl. Länder wären lieferbereit, aber nur zu Kosten, die Ungarn nicht aufbringen kann. In dieser Lage machen wir uns unglaubwürdig und rufen bei einem uns freundlich gesinnten Volk bittere Enttäuschung hervor, wenn wir uns weiter verweigern. Die seit September 19894 von allen deutschen Politikern stets von neuem betonte ewige Dankbarkeit Deutschlands gegenüber dem ung. Volk müsste von diesem als leeres Versprechen, wenn nicht als Hohn verstanden werden. [gez.] Arnot B 70, ZA-Bd. 220794 4 Die ungarische Regierung teilte der Bundesregierung am 7. September 1989 mit, ab 11. September 1989 dürften alle Ausreisewilligen aus der DDR Ungarn verlassen. Vgl. DIE EINHEIT, Dok. 4, DEUTSCHE EINHEIT, Dok. 40 und 41, sowie ÖSTERREICH UND DIE DEUTSCHE FRAGE, Dok. 53, Dok. 54 und Dok. 56.

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29. Juni 1992: Vorlage von Runge

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194 Vorlage des Vortragenden Legationsrats I. Klasse Runge für Referat 011 422-413 GA (A) RUS

29. Juni 19921

Über Dg 422, D 43 0114 Betr.:

Sitzung des Bundeskabinetts am 1.7.1992; hier: Tischvorlage des BMWi5 betreffend Ausfuhrgewährleistungen gegenüber den Staaten der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS)6

Anlg.: 17 1) BM Möllemann wird in der Kabinettssitzung am 1.7.92 die als Anlage beigefügte Tischvorlage zur Unterrichtung des Kabinetts über den Stand der Ausfuhrgewährleistungen gegenüber den Staaten der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) vorlegen. Die Tischvorlage ist zwischen BMWi, BMF und AA abgestimmt. Entscheidungen sind aus diesem Anlass nicht zu treffen. 2) Das Bundeskabinett hatte am 22.1.92 beschlossen, dass Bundesdeckungen für Ausfuhrgeschäfte mit den Staaten der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten im Rahmen eines Sonderplafonds von zunächst DM 5 Mrd. für das mittel- und langfristige Kreditgeschäft und mit einer Staatsgarantie des Empfängerlandes durchzuführen sind. Die Forderung nach einer Staatsgarantie führte zu einer Reihe von Problemen. Garantien in der von uns geforderten Form, d. h. mit Verzicht auf Immunität vor deutschen Gerichten, wurden zwischenzeitlich von der Ukraine, Weißrussland und Kasachstan abgegeben. Andere Staaten der GUS haben ihre grundsätzliche Bereitschaft hierzu erklärt. Mit Russland, das den Immunitätsverzicht völlig ablehnte, wurde nach schwierigen Verhandlungen eine Garantieerklärung ohne einen solchen Verzicht vereinbart. Trotz der nunmehr bestehenden grundsätzlichen Übereinstimmungen mit Russland gibt es in Detailfragen noch immer Probleme, die ein Wirksamwerden von endgültigen Deckungszusagen im Rahmen des DM 5 Mrd.-Plafonds für GUS-Geschäfte noch nicht zulassen. Es ist jedoch zu hoffen, dass diese Hindernisse kurzfristig beseitigt werden. Bei der Deckungspolitik gegenüber den Staaten der GUS spielen nicht nur die Fragen einer wirtschaftlichen Unterstützung dieser Nachfolgestaaten der Sowjetunion eine wichtige Rolle. Noch wichtiger aus unserer Sicht ist die Existenzsicherung von Unternehmen 1 2 3 4

Die Vorlage wurde von Referent Wothe konzipiert. Hat in Vertretung des MDg Schönfelder VLR I Göckel am 29. Juni 1992 vorgelegen. Hat in Vertretung des MD Dieckmann MDg von Kyaw am 29. Juni 1992 vorgelegen. Hat in Vertretung des VLR I Schlegel VLR Gnodtke am 30. Juni 1992 vorgelegen. Hat BM Kinkel am 1. Juli 1992 vorgelegen. Ferner Stempelvermerk vom 2. Juli 1992: „Vom Kabinett am 1. Juli 1992 beschlossen“. Hat VLR I Runge am 3. Juli 1992 erneut vorgelegen. 5 Für die Tischvorlage des BMWi vgl. B 55, ZA-Bd. 169861. 6 Vgl. den Kabinettsbeschluss vom 22. Januar 1992 zur Deckung für Ausfuhrgeschäfte mit GUS-Mitgliedstaaten; Dok. 24. 7 Dem Vorgang beigefügt. Vgl. Anm. 5.

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in den neuen Bundesländern, für die die Exporte in die Staaten der GUS vielfach eine Überlebensfrage darstellen. Sollten alle noch zu regelnden Formalien geklärt sein, so ist damit zu rechnen, dass der DM 5 Mrd.-Plafond – von dem bisher DM 454 Mio. verbraucht wurden – kurzfristig ausgeschöpft sein wird. Es ist daher nicht auszuschließen, dass BM Möllemann in seinen Erläuterungen der Tischvorlage die Forderung nach Einrichtung eines neuen Plafonds in gleicher Höhe aussprechen wird, da die bisher in Ansatz gebrachten DM 5 Mrd. unter dem Aspekt Sanierung der Unternehmen in den neuen Bundesländern keinesfalls ausreichen. Hier ist jedoch mit erheblichem Widerspruch von Finanzminister Waigel zu rechnen, da die ständig steigenden Zahlungsrückstände der GUS-Länder bereits jetzt die für 1992 getroffenen Haushaltsansätze infrage stellen und mit einem weiteren Anstieg der Überfälligkeiten im zweiten Halbjahr 1992 zu rechnen ist. 3) Unter diesen Umständen stellt sich die Frage, ob die Gewährung weiterer Ausfuhrbürgschaften nach den geltenden haushaltsrechtlichen Bestimmungen überhaupt noch zulässig ist oder ob nicht künftig andere geeignete Instrumente entwickelt werden müssen, um Unternehmen in den neuen Bundesländern bei der Umstrukturierung und den Neuen Unabhängigen Staaten beim Aufbau einer Marktwirtschaft zu helfen. Mehr und mehr verstärkt sich der Eindruck, dass die GUS-Staaten in den bundesgedeckten Krediten eine reine Hilfsmaßnahme sehen, die daraus resultierenden Zahlungsverpflichtungen jedoch nicht ernst nehmen. Diese Frage dürfte im Kabinett aber erst aufgegriffen werden, wenn sich der am 22.1.92 beschlossene DM 5 Mrd.-Plafond seiner Ausschöpfung nähert. Runge B 55, ZA-Bd. 169861

195 Drahtbericht des Botschafters Blech, Moskau Fernschreiben Nr. 2739 Citissime Betr.:

Aufgabe: 29. Juni 1992, 19.39 Uhr1 Ankunft: 29. Juni 1992, 18.18 Uhr

Bilaterale Beziehungen; hier: Gespräch mit russischem Verteidigungsminister Gratschow am 26.6.1992

Zur Unterrichtung I. Zusammenfassung Am 26. Juni habe ich ein gut einstündiges Gespräch mit dem russ. VgMin, Armeegeneral Pawel Gratschow, geführt. Hauptthemen waren die bilateralen militärpolitischen/militärischen Beziehungen, der Abzug der russischen Truppen aus Deutschland, das russisch1 Der Drahtbericht wurde von Brigadegeneral Scheffer, Moskau, konzipiert. Hat VLR I Lambach am 30. Juni 1992 vorgelegen.

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ukrainische Verhältnis, Fragen der Abrüstung und Rüstungskontrolle sowie die Lage im Kaukasus. II. Im Einzelnen 1) Das Gespräch kam auf meinen Wunsch nach Tour d’horizon bei erstem Besuch bei neuem Minister2 zustande. Auf russischer Seite nahmen zusätzlich Generalleutnant W. M. Schurbenko, im russischen VgMin zuständig für den Abzug der WGT, sowie Generalleutnant W. N. Pronin, Leiter der Verwaltung für auswärtige Beziehungen, teil. Ich wurde vom VgAtt3 begleitet. 2) Hinsichtlich der bilateralen militärpolitischen und militärischen Beziehungen bestand von vornherein Einvernehmen, dass die noch mit der Sowjetunion geschlossenen und durch das Oberkommando der Vereinigten Streitkräfte der GUS bestätigten Vereinbarungen mit Russland fortgeführt werden sollen. Gratschow betonte in diesem Zusammenhang die hohe Priorität, die Deutschland in der russischen Außen- und Sicherheitspolitik einnehme, die ihren Ausdruck auch in der (frühen) Deutschlandreise Jelzins4 gefunden habe. 3) Zum Abzug der WGT, dem Thema, das ihm offenbar besonders am Herzen lag, führte Gratschow aus: Man werde den Truppenabzug trotz der bekannten Probleme planmäßig fortsetzen. Russland stehe – auch was die Abzugsvereinbarungen anbetreffe – in der Rechtsnachfolge der Sowjetunion. Der Bundeskanzler habe diesen Status bestätigt. Präsident Jelzin habe daher festgelegt, dass die Truppenteile nach Russland und nicht in andere Republiken (Weißrussland, Ukraine) zurückgeführt würden. Ein Problem sei dadurch entstanden, dass die deutsche Seite von Russland eine Einverständniserklärung der Ukraine und Weißrusslands zur veränderten Abzugs- (und Wohnungsbau)planung fordere.5 Weshalb – so Gratschow – solle man in dieser Frage „fremde Staaten“ einbeziehen? Einfluss auf die Finanzierung von Wohnungen könne dies ohnehin nicht haben. Weißrussland habe mit seinem jetzigen Anteil an den Wohnungsbauvorhaben alles ihm Zustehende erhalten. Die Ukraine fordere – unter Hinweis auf in ihr Heimatland zurückkehrende ukrainische Offiziere – zusätzliche Mittel. Russische Auffassung sei, die Wohnungen seien dort zu bauen, wohin die Truppenteile verlegt würden. Er habe der Ukraine bei dem Treffen in Dagomys6 2 Pawel Sergejewitsch Gratschow wurde am 18. Mai 1992 vom russischen Präsidenten Jelzin zum Verteidigungsminister ernannt. 3 Wilfried-Otto Scheffer. 4 Der russische Präsident Jelzin hielt sich vom 21. bis 23. November 1991 in der Bundesrepublik auf. Vgl. AAPD 1991, II, Dok. 392, Dok. 393 und Dok. 398. 5 Zum Wohnungsbauprogramm im Zuge des Abzugs der WGT vgl. Dok. 280. 6 Die Präsidenten Jelzin (Russland) und Krawtschuk (Ukraine) führten am 23. Juni 1992 in Dagomys/Sotschi Gespräche. Botschafter Graf von Bassewitz, Kiew, teilte am 24. Juni 1992 mit, es sei eine Übereinkunft unterzeichnet worden, „in der beide Staaten als gleichberechtigte Partner ihre zwischenstaatlichen Beziehungen regeln, darunter: Beide Staaten werden einen Vertrag über gutnachbarliche und freundschaftliche Beziehungen schließen. […] Einigkeit über Einführung einer nationalen Währung der Ukraine. Zum Ausgleich passiver Salden gewähren beide einander Kredite zu Vorzugsbedingungen. Grenzen bleiben offen. Es wird keine Visa geben, lediglich Zollkontrollen. Vereinbarung der Zusammenarbeit zur Bekämpfung des grenzübergreifenden organisierten Verbrechens/Zollvergehen. Konsultationen zur Aufteilung der von Deutschland im Zusammenhang mit dem Abzug der Soldaten der WGT zur Verfügung gestellten Mittel. Einsetzung einer Kommission zur Auftteilung des Auslandsvermögens der ehem[aligen] SU. Aufteilung der Schwarzmeerflotte. Zwischenparlamentarische Beziehungen. Vereinbarung regelmäßiger

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immerhin angeboten, für ukrainische Offiziere, die nach Rückführung ihrer Truppenteile von Deutschland nach Russland aus den russischen Streitkräften ausscheiden und unter Beitritt zu den ukrainischen in die Ukraine übersiedeln wollten, gewisse Ausgleichszahlungen (Wohnungsbauzuschüsse o. ä.) auf individueller Basis zu leisten. Die ukrainische Führung denke z. Z. darüber nach. Gratschow bat mich, die russische Position gegenüber den zuständigen deutschen Regierungsstellen nochmals zu erläutern. Er betonte, dass Russland den Truppenabzug selbst für den Fall fortsetzen werde, dass Deutschland die Wohnungsbaumittel einfriere. Allerdings werde sich die Lage dann – auch für den Abzug der übrigen außerhalb Russlands stationierten Streitkräfte (baltische Staaten!) – weiter komplizieren. 4) Auf meine Frage nach dem russisch-ukrainischen Verhältnis nach dem Treffen von Dagomys führte Gratschow aus, für die Zukunft zeichne sich eine Verbesserung der Beziehungen ab. Beide Staaten seien noch im Werden begriffen; da würden zwangsläufig gegenseitige Ansprüche erhoben. Eine Konfrontation liege jedoch in niemandes Interesse. Russland könne für sich allein existieren; die anderen Nachfolgestaaten der Sowjetunion – auch die Ukraine – nicht. In Dagomys sei der Starrsinn beider Seiten gewichen, Verständigung zeichne sich auf nahezu allen Gebieten ab. Dies gelte auch für die Zukunft der Schwarzmeerflotte.7 Beide Seiten hätten Interessen und Rechte an der Schwarzmeerflotte. Dies sei in Dagomys anerkannt worden. Schließlich sei das Schwarze Meer ein russisch-ukrainisches Binnengewässer. Die konkrete Aufteilung der Flotte – wieviel Prozent an Russland bzw. an die Ukraine – sei noch nicht erfolgt. Hier dürfe man nichts übereilen; Arbeitsgruppen würden Vorschläge ausarbeiten. Auch müssten die übrigen GUS-Staaten konsultiert werden, da sie u. U. auch Ansprüche erheben könnten. Auch künftig werde die Schwarzmeerflotte (Schwarzmeerflotten?) in den Häfen stationiert sein, wo sie heute liege, und von den gleichen Stützpunkten geführt und versorgt werden. Der russische Anteil werde also nicht nur von der russischen Schwarzmeerküste aus operieren. Hierüber herrsche Einvernehmen mit der Ukraine. Umstritten sei noch der Küstenschutz. Nach russischer Auffassung müssten russische Flotteneinheiten von russischem Küstenschutz bewacht werden, unabhängig davon, auf wessen Territorium der Stützpunkt liege. Ein Einlenken der Ukraine in dieser Frage sei denkbar. Bis zur Einigung über die Zukunft der Schwarzmeerflotte im Einzelnen bleibe diese unter dem Kommando der Vereinigten Streitkräfte der GUS. Die Schiffsbesatzungen würden bis auf Weiteres gleichgewichtig aus Russen und Ukrainern zusammengesetzt werden, sodass es keine „russischen“ oder „ukrainischen“ Schiffe in der Flotte gebe. Gratschow kündigte an, dass Russland und die Ukraine ein grundsätzliches Abkommen über die verteidigungs-/sicherheitspolitischen Beziehungen schließen würden. Dies sei notwendig, da die Ukraine dem Taschkenter Abkommen8 ja nicht beigetreten sei. Russland und die Ukraine würden jedoch eigenständige Militärdoktrinen haben. Auf meine Frage, ob der Schutz russischer Volksgruppen außerhalb Russlands – etwa in der Ukraine – Teil einer russischen Militärdoktrin sei oder sein werde, ging Gratschow nicht ein. Fortsetzung Fußnote von Seite 791 Gipfeltreffen. Einsetzung einer Kommission zur Erarbeitung des bilateralen Vertrags.“ Vgl. DB Nr. 528; B 41, ZA-Bd. 184113. 7 Zur Frage der Aufteilung der Schwarzmeerflotte vgl. Dok. 105, Anm. 11. 8 Für den Vertrag über kollektive Sicherheit vom 15. Mai 1992 vgl. B 41, ZA-Bd. 158732.

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5) In Fragen der Abrüstung und Rüstungskontrolle äußerte sich Gratschow verhältnismäßig vage. Für die Umsetzung der Rahmenvereinbarungen von Washington9 gebe es keine konkreten Terminabsprachen. Zunächst werde jetzt im russischen Parlament die Ratifizierung von START und die grundsätzliche politische Zustimmung zu den Washingtoner Vereinbarungen in Gang gesetzt. Danach werde man die weiterführenden Abrüstungsverträge mit den USA strukturieren. Jelzin werde zum Thema Abrüstung Ende des Monats Juni eine Erklärung im Parlament abgeben. Er werde zudem einen zusätzlichen stv. VgMin mit dem Aufgabenbereich „strategische Abrüstung, Abzug der strat. Nuklearwaffen aus Kasachstan, der Ukraine und Weißrussland sowie Abzug russischer Truppen aus dem Ausland“ einsetzen. Hierzu werde Generaloberst B. W. Gromow (!) ernannt werden. (Hier warf Gratschow ein, dass „der andere“ Gromow, nämlich Admiral Felix N. Gromow, z. Z. Befehlshaber der Nordflotte, Nachfolger des „pensionsreifen“ Admiral der Flotte, W. N. Tschernawin, als russischer Flottenchef werde.) Auf meine Frage, wann in Russland und den übrigen betroffenen GUS-Staaten nunmehr (wenn schon nicht vor Helsinki10, wie es dringend sehr erforderlich wäre) mit einer Ratifizierung von KSE11 zu rechnen sei, nachdem in Taschkent mit der Einigung über die Quotierung der TLE12 die Tür hierzu geöffnet worden sei, meinte Gratschow, in der Tat seien durch Taschkent die Voraussetzungen für die Ratifizierung geschaffen, übrigens nicht zuletzt dadurch, dass er selbst einigen Druck gemacht habe, unter Hinweis darauf, dass höhere Kontingente gar nichts nützten, wenn die russischen Ersatzteillieferungen ausblieben. In einigen Staaten gebe es jedoch jetzt noch unnötigen Lärm. So würden sich die Staatsoberhäupter der GUS am 6. Juli in Moskau13 erneut mit der Frage befassen. Auf meine Frage: Natürlich werde es im Obersten Sowjet Widerstände gegen die Abmachungen von Washington geben, die Regierung werde aber ihre Position kämpferisch vertreten; „wir werden gewinnen“. (Die Ausführungen Gratschows zu KSE hinterließen den Eindruck, dass die Verzögerung der Ratifizierung bzw. bereits der Vorlage im Parlament nicht auf das VgMin zurückgeht; für ihn schien die Sache im Wesentlichen durch Taschkent erledigt und alles Weitere Sache der Politik.) 6) Zu den Lösungsmöglichkeiten im Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan äußerte sich Gratschow wenig optimistisch. Militärisch habe Aserbaidschan – auf sich gestellt – wenig in der Hand. Seine 200 Panzer seien – ohne russische Unterstützung – kurz über lang durch Verschleiß und unsachgemäße Verwendung nicht mehr einsatzbereit. (Aserbaidschan habe im Übrigen seine schweren Waffen unrechtmäßig in Besitz genommen. Die russischen Streitkräfte hätten dies verhindern können, hätten es aber vorgezogen, das Leben der Soldaten und ihrer Angehörigen zu schonen, da die Lebensdauer der Waffensysteme in aserbaidschanischer Hand ohnehin sehr begrenzt sei – s. o.) Die Armenier würden in dem Konflikt langfristig und strategisch denken, sie verhielten sich im Wesentlichen abkommenskonform, die Aserbaidschaner dagegen handelten spontan, von einem Tag auf den anderen, ohne strategische Linie. Er, 9 Zu den amerikanisch-russischen Abkommen, die beim Besuch des russischen Präsidenten Jelzin vom 15. bis 18. Juni 1992 in den USA abgeschlossen wurden, vgl. Dok. 186. 10 Zur KSZE-Gipfelkonferenz am 9./10. Juli 1992 vgl. Dok. 226. 11 Zur vorläufigen Anwendung des KSE-Vertrags vgl. Dok. 221. 12 Zur Gipfelkonferenz der GUS-Mitgliedstaaten am 15. Mai 1992 und der Einigung auf die Aufteilung der Rechte und Pflichten der ehemaligen UdSSR aus dem KSE-Vertrag vgl. Dok. 141. 13 Zur Gipfelkonferenz der GUS-Mitgliedstaaten vgl. Dok. 212, Anm. 9.

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30. Juni 1992: Gespräch zwischen Kinkel und Baker

Gratschow, könne eine Lösung aus der Region selbst heraus nicht erkennen. Als einzige Möglichkeit sehe er persönlich den Einsatz einer großen Anzahl von UN-Soldaten, die die Region Berg-Karabach abriegeln; Friedensverhandlungen vor UN und Weltöffentlichkeit mit dem Ziel der Feuereinstellung und der territorialen Entflechtung der Bürgerkriegsparteien; Durchsetzung dieses Konzepts durch die Völkergemeinschaft unter Androhung tiefgreifender wirtschaftlicher Sanktionen. 7) Das Gespräch fand in angenehmer geschäftsmäßiger Atmosphäre statt. Gratschow ließ sein Interesse an einem baldigen Treffen mit dem deutschen VgMin14 erkennen. (Ein Treffen noch in diesem Jahr in Russland würde die Kontinuität der Beziehungen über den Wechsel Sowjetunion – GUS – Russland hinweg unterstreichen.) Bei der Verabschiedung erwähnte Gratschow, dass er jetzt zu einem Treffen mit seinem ukrainischen Kollegen Morosow fliege, um über die Zukunft der 98. Luftlandedivision zu sprechen. [gez.] Blech B 38, ZA-Bd. 184714

196 Gespräch des Bundesministers Kinkel mit dem amerikanischen Außenminister Baker in Washington 30. Juni 19921 EG-Gipfel in Lissabon2 AM Baker begrüßte zunächst das Ergebnis des EG-Gipfels vom Wochenende3 und sagte, dies sei genau das, was die Amerikaner auch anstrebten. BM fragte, ob Baker es noch für notwendig halte, wegen dieses Themas nach Europa zu reisen. GATT – Uruguay-Runde Baker verneinte. Er fügte hinzu, dass er jedoch vielleicht wegen GATT nach Europa reisen werde. Dies hänge aber von dem Ergebnis der Telefongespräche ab, die der Bundeskanzler an diesem Dienstag führen wolle (Delors und andere). BM sagte, er habe das Gefühl, dass die Amerikaner und die Deutschen ein besonderes Interesse an einer Deblockierung der Uruguay-Runde hätten, insbesondere im Hin14 Volker Rühe. 1 Der Gesprächsvermerk wurde von einem Dolmetscher des Sprachendiensts, z. Z. Washington, am 1. Juli 1992 gefertigt. BM Kinkel hielt sich vom 29. Juni bis 1. Juli 1992 in den USA auf. Für seine Gespräche vgl. auch Dok. 197– 199. 2 Zur Tagung des Europäischen Rats am 26./27. Juni 1992 vgl. Dok. 201. 3 27./28. Juni 1992.

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30. Juni 1992: Gespräch zwischen Kinkel und Baker

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blick auf den amerikanischen Wahlkampf4 und den bevorstehenden Weltwirtschaftsgipfel5. Baker stimmte BM zu und hob hervor, dass die Positionen näher beieinanderlägen, als man glaube. BM bestätigte das. Baker berichtete, dass das Treffen mit Delors und Andriessen ein gutes Treffen gewesen sei.6 Die amerikanische Seite habe Andriessen einen neuen Vorschlag zur internen Stützung und zur Friedensklausel vorgelegt. Andriessen habe einen Vorschlag zum Thema Exportsubventionen unterbreitet, der nicht ausreichend gewesen sei. Seither habe man keinerlei Reaktion vonseiten der EG erhalten. Baker hob hervor, dass nicht nur der amerikanische Präsident, sondern auch PM Major und BK Kohl einen weiteren Versuch anstrebten, Bewegung in den Agrarstreit zu bringen. BM entgegnete, dass man bereits beim letzten Treffen der G 77 erklärt habe, die Verhandlungen zum Abschluss bringen zu wollen. Nun stehe der nächste Gipfel bevor, und zu Recht werde die Weltöffentlichkeit fragen, was aus diesem Beschluss geworden sei. Dies sei schlecht für alle Betroffenen. Baker erinnerte daran, dass dies eigentlich Themen seien, mit denen die Staats- und Regierungschefs sich nicht auf dem Weltwirtschaftsgipfel befassen sollten. BM erwiderte, er verstehe dies, man müsse aber auch verstehen, dass der Bundeskanzler den Gipfel zu einem Erfolg machen wolle. Im Übrigen habe er ihn gedrängt, sich noch einmal für eine Deblockierung einzusetzen. Baker würdigte den Einsatz des Bundeskanzlers und sagte, Kohl habe Außerordentliches getan. Er habe dem Bundeskanzler schon vor einem Jahr gesagt, dass der Schlüssel zur Lösung in deutscher Hand liege. Es müsse möglich sein, einen Weg zu finden. BM erwiderte, dass er Bewegung nur begrüßen könne. Amerikanisch-deutsche Beziehungen Baker: Zum Thema deutsch-amerikanische Beziehungen wolle er anmerken, dass sie nicht nur gut, sondern in den letzten vier Jahren sogar außerordentlich eng geworden seien. Dies gehe sogar so weit, dass seine britischen Freunde, die immer von einer besonderen amerikanisch-britischen Beziehung sprächen, etwas unruhig geworden seien. Baker erwähnte in diesem Zusammenhang die engen Beziehungen, die er zum BK und BM a. D.8 gehabt habe, und sagte, dass er den BK noch aus seiner Zeit als Finanzminister9 kenne. Auch im Prozess der deutschen Wiedervereinigung habe man eng zusammengearbeitet. In diesem Raum, in dem nun BM und er zusammensäßen, sei der 2+4-Prozess ins Leben 4 In den USA fanden am 3. November 1992 Präsidentschaftswahlen, Wahlen zum Repräsentantenhaus sowie Teilwahlen zum Senat und für die Gouverneursämter statt. 5 Zum Weltwirtschaftsgipfel vom 6. bis 8. Juli 1992 in München vgl. Dok. 225. 6 MDg Grünhage, Brüssel (EG), teilte am 17. Juni 1992 mit, die EG-Kommission habe bei der EG-Ratstagung auf der Ebene der Landwirtschaftsminister am 15./16. Juni 1992 über die Gespräche des Vizepräsidenten der EG-Kommission, Andriessen, mit der amerikanischen Seite über GATT-Fragen informiert: „In den für die Gemeinschaft wichtigen agrarpolitischen Punkten Greenbox, Rebalancing und Export habe es keine wesentlichen Fortschritte gegeben.“ Vgl. DB Nr. 1811; B 221, ZA-Bd. 166729. 7 Zum Weltwirtschaftsgipfel vom 15. bis 17. Juli 1991 in London vgl. AAPD 1991, II, Dok. 249. 8 Hans-Dietrich Genscher. 9 James A. Baker war von 1985 bis 1988 amerikanischer Finanzminister.

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30. Juni 1992: Gespräch zwischen Kinkel und Baker

gerufen worden. BM müsse wissen, dass einige befreundete Staaten nicht ganz so begeistert von der Idee der deutschen Wiedervereinigung gewesen seien. Die deutsch-amerikanischen Beziehungen seien außerordentlich gut, und er sähe keine ernsten Probleme. Was ihn anbetreffe, so sei er dafür, den Vorschlag von BM in die Tat umzusetzen. Er freue sich darüber, die Gelegenheit zu einem Gespräch zu haben, und betonte, dass es ihm sehr unangenehm gewesen wäre, wenn er den Besuch von BM Kinkel nicht hätte wahrnehmen können. Glücklicherweise habe er nun seine ursprünglichen Pläne nicht ändern müssen. Sollte es in der jüngsten Vergangenheit Divergenzen zwischen Amerikanern und Deutschen gegeben haben, so sei dies sicher nur darauf zurückzuführen, dass die Amerikaner ihren ehrlichen Ansichten Ausdruck gegeben hätten. Selbstverständlich verstehe man, dass in Deutschland eine natürliche Tendenz da sei, weiterhin enge Beziehungen zu Frankreich zu pflegen. Man verstehe, würdige und respektiere dies. Niemals würden die Amerikaner die Deutschen wegen ihres Einsatzes für das deutsch-französische Verhältnis rügen, noch zu beeinflussen suchen. Gleichzeitig dürfe man aber nicht vergessen, dass die Franzosen bei jedem Versuch, der zur Stärkung der NATO unternommen werde, sofort in Opposition träten. Dies mache es in Amerika schwieriger, eine fortgesetzte amerikanische Präsenz in Europa zu rechtfertigen. Er wiederholte, dass die Amerikaner die Deutschen niemals vor die Entscheidung stellen würden, zwischen Amerikanern und Franzosen wählen zu müssen. In dem Maße, in dem Deutschland daran interessiert sei, noch offene Fragen mit Frankreich zu diskutieren, sei es doch auch daran interessiert, sich den Herausforderungen im Osten zu stellen. Amerika habe die Absicht, weiterhin in Europa präsent zu bleiben, und wolle sich nicht zurückziehen, nur um später zum vierten Mal wieder zurückzukommen. Man wolle mit Deutschland zusammenarbeiten, schließlich sei Deutschland die Macht in Europa und die USA die Macht außerhalb Europas. Man solle also gemeinsam die Herausforderungen im Osten meistern. Vielleicht sei er nicht unvoreingenommen, wenn er nun sage, dass die Vereinigten Staaten dabei Deutschland hilfreicher sein könnten als Frankreich. BM und AM Baker sprachen danach noch ausführlicher über das Euro-Korps (BM versuchte, amerikanische Befürchtungen zu zerstreuen), amerikanisch-französische Gereiztheiten und die Querverbindungen Euro-Korps/NATO/WEU. Das Gespräch endete in der gemeinsamen Übereinstimmung, das Thema JUG zusammen mit den Mitarbeitern während des Arbeitsessens zu besprechen. B 1, ZA-Bd. 178945

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30. Juni 1992: Gespräch zwischen Kinkel und Baker

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197 Gespräch des Bundesministers Kinkel mit dem amerikanischen Außenminister Baker in Washington 204-321.11

30. Juni 19921

Arbeitsessen für BM, gegeben von AM Baker am 30.6.92 in Washington2 Teilnehmer: BM, Botschafter3, D 24, D 45, Ges. Pleuger, Leiter MB6, RL 0137, RL 2048. AM Baker, UStS Zoellick, UStS Kanter, UStS Bartholomew, Leiter Pl.-Stab Ross, Ass. Sec. Niles, Pressesprecherin Tutwiler. Im Mittelpunkt des Gesprächs stand die Lage im früheren Jugoslawien, insbesondere Bosnien-Herzegowina. Eine Reihe anderer Themen wurde kürzer behandelt (deutschamerikanisches Luftverkehrsabkommen, Sicherheit von Kernkraftwerken sowjetischer Bauart, Rückzug russischer Streitkräfte aus dem Baltikum, Solidaritätsfonds Polen, KSZENATO-Formel). Im Einzelnen ist Folgendes festzuhalten: 1) Bosnien-Herzegowina Auf Bitte Bakers führte BM einleitend zur Lage in Bosnien-Herzegowina und zu den Möglichkeiten einer deutschen Beteiligung an humanitären Hilfseinsätzen Folgendes aus: – Wirtschaftssanktionen9 greifen, sind jedoch allein nicht hinreichend wirksam. – Leiden der bosnischen Bevölkerung, insbesondere in Sarajevo, müssen endlich beendet werden. Wir dürfen nicht Zuschauer sein, sondern sind zum Handeln aufgefordert. – Wenn die derzeitige Öffnung des Flughafens Sarajevo – Lage ist immer noch prekär – gefährdet wird, muss der Einsatz militärischer Mittel zur Sicherung der humanitären Hilfstransporte ins Auge gefasst werden. – Grundlage für Militäreinsatz muss Beschluss des VN-Sicherheitsrats sein, der das Gewaltmonopol innehat. – Einsatz der Bundeswehr kann aus verfassungsrechtlichen, insbesondere aber historischen Gründen nicht infrage kommen. 1 Der Gesprächsvermerk wurde von VLR I Wagner am 2. Juli 1992 gefertigt und über MD Chrobog an das Ministerbüro geleitet „m[it] d[er] B[itte], Billigung des BM herbeizuführen“. Hat Chrobog am 2. Juli 1992 vorgelegen. Hat BM Kinkel am 2. Juli 1992 vorgelegen. 2 BM Kinkel hielt sich vom 29. Juni bis 1. Juli 1992 in den USA auf. Für seine Gespräche vgl. auch Dok. 196, Dok. 198 und Dok. 199. 3 Jürgen Ruhfus. 4 Jürgen Chrobog. 5 Heinrich-Dietrich Dieckmann. 6 Thomas Matussek. 7 Hanns Heinrich Schumacher. 8 Gerd Wagner. 9 Zu den Sanktionen gegen die Bundesrepublik Jugoslawien (Serbien/Montenegro) vgl. Dok. 159, Anm. 12, und Dok. 162, Anm. 7.

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– Unterhalb10 der militärischen Schwelle wollen wir zu internationalen Hilfsmaßnahmen nach Kräften beitragen. Baker erklärte, die amerikanische Einschätzung der Lage sei praktisch identisch. Das Gespräch mit BM in Lissabon11 und die danach folgenden Telefongespräche hätten immer wieder bekräftigt, dass Washington und Bonn auf derselben Wellenlinie seien. Die USPosition hinsichtlich Militäreinsatzes im Rahmen humanitärer Hilfeleistung habe sich inzwischen konsolidiert: Der Präsident habe entschieden, dass Einsatz amerikanischer Bodentruppen derzeit nicht infrage komme, dass die USA aber substanzielle Flugtransportkapazitäten, Fracht sowie Marine- und Luftunterstützung zur Verfügung stellen wollten. Dies werde auch die Botschaft Bushs auf dem Münchner Wirtschaftsgipfel12 sein. Noch zu klären sei die Frage, wer eine derart militärisch abgesicherte Hilfsaktion leiten sollte. Falls die Europäer dies in die Hand der NATO legen wollten, würden die USA gerne zustimmen. Baker griff Hinweis BM auf, dass das Eingreifen westlicher, insbesonderer amerikanischer Streitkräfte an sich schon ernüchternde Wirkung auf die Serben haben könne, und meinte, in Serbien gewinne die Erkenntnis an Boden, dass es der Westen nun wirklich ernst meine. Kanter wies auf zwei Einzelaspekte der humanitären Hilfsoperation hin: – Der Flughafen Sarajevo sei relativ klein und befinde sich im Spannungsgebiet serbischer und moslemischer Milizen. Wenn man wirklich substanzielle Hilfe leisten wolle, müsse man diese auch auf dem Straßenweg herbeischaffen, wobei es am sinnvollsten wäre, einen zu sichernden Korridor von Split (Hafen/Flughafen) nach Sarajevo zu schaffen. – Die Rolle der NATO sollte nicht auf das rein Militärische eingeschränkt werden. Logistische Erfahrung der NATO könne beispielsweise bei der Organisation von Lastwagenkonvois genutzt werden. Auch BM sprach sich dafür aus, NATO für humanitäre Hilfe heranzuziehen. Mit Zustimmung Bakers meinte er, dass Mitarbeiter (D 2 – Undersecretary of State Kanter) vor dem Gipfel noch über diese Fragen miteinander über B-H sprechen sollten. 2) Luftverkehrsabkommen13 BM legte deutsche Vorstellungen dar; Zoellick erläuterte auf Bitte Bakers US-Position. Gedankenaustausch wurde mit der Erklärung BM beendet, dass D und US weiterverhandeln 10 Korrigiert aus: „Unterhalt“. 11 Zum Gespräch des BM Kinkel mit dem amerikanischen AM Baker am 23. Mai 1992 vgl. Dok. 149. 12 Zum Weltwirtschaftsgipfel vom 6. bis 8. Juli 1992 vgl. Dok. 225. 13 Für das Abkommen vom 7. Juli 1955 über den Luftverkehr zwischen der Bundesrepublik und den USA vgl. BGBl. 1956, II, S. 404–410. VLR I Garbers notierte am 4. Juni 1992, deutsche Fluggesellschaften sähen sich „im Nordatlantikverkehr einem Verdrängungswettbewerb der großen, leistungsstarken US-Luftverkehrsgesellschaften“ ausgesetzt. Der Marktanteil von 37 % im bilateralen Luftverkehr nehme weiter ab: „Da das bestehende deutschamerikanische Luftverkehrsabkommen keine Kapazitätsbeschränkungen vorsieht, mit denen allein diese für die deutschen Gesellschaften negative Entwicklung angehalten werden könnte“, verhandele die Bundesrepublik über ein neues Abkommen. Das federführende BMV plädiere bei negativem Verlauf der nächsten Verhandlungsrunde für eine Kündigung des bilateralen Abkommens, wie das Frankreich im Mai 1992 gegenüber den USA praktiziert habe. Vgl. B 213, ZA-Bd. 190259. Am 15. Juni 1992 ergänzte Garbers, in der sechsten Verhandlungsrunde am 10./11. Juni 1992 hätten die USA eine zwei Jahre gültige Interimsregelung vorgeschlagen, um eine Kündigung des bestehenden Abkommens zu verhindern, „das den USA in D quasi unbeschränkte Lande- und Fünfte Freiheitsrechte

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müssten. Baker ergänzte, dass nächster Schritt eine deutsche Antwort auf das kürzliche US-Schreiben14 sein sollte. 3) Zusatzabkommen zum NATO-Truppenstatut15 Baker führte kurz aus, dass die USA bereit seien, die derzeit bestehenden deutschen Umweltgesetze zu respektieren, jedoch nicht die Verantwortung für nicht von amerikanischer Seite verursachte Umweltverschmutzung übernehmen könnten. Auf Frage der Einhaltung deutscher Sozialgesetze für deutsche Arbeitnehmer bei US-Streitkräften meinte Baker, es könne dem US-Wähler schwer vermittelt werden, dass deutschen Arbeitnehmern bessere Bedingungen zugestanden würden, als sie in den USA selbst üblich seien. BM äußerte sich insgesamt befriedigt über den bisherigen Verhandlungsfortschritt und sagte zu, dass wir versuchen würden, in den noch offenen Fragen hilfreich zu sein.16 4) Kernkraftwerke sowjetischer Bauart17 Kurzer Gedankenaustausch: Baker/Zoellick ließen erkennen, dass US-Bedenken gegen multilateralen Ansatz grundsätzlicher Art und nicht leicht zu überwinden seien (mangelnde nationale Kontrolle über multilaterale Mittelverwendung). 5) Sowjetische Truppen in den baltischen Staaten18 BM wies auf hohes Konfliktpotenzial hin und stellte Frage, wie wir auf das ständige baltische Drängen auf multilaterales Engagement reagieren sollten. Baker riet zur Vorsicht und meinte, wir sollten uns von den Balten nicht zu etwas drängen lassen, was weder richtig noch klug sei. Taktisch stelle sich die Frage, ob es sinnvoll sei, die Position Jelzins angesichts der vielen ethnischen Konflikte in Russland noch zu erschweren – in der Sache Fortsetzung Fußnote von Seite 798 (Weiterflugrechte in Drittstaaten) einräumt. Bis zum Übergang der Verhandlungskompetenz für Luftverkehrsabkommen der EG-MS mit Drittstaaten auf die EG-Kommission wollen die Amerikaner offensichtlich das geltende deutsch-amerikanische Luftverkehrsabkommen ‚am Leben erhalten‘, um sich gegenüber der EG darauf bei Verhandlungen berufen zu können.“ Vgl. B 213, ZA-Bd. 190259. 14 Mit Schreiben vom 23. Juni 1992 an BM Kinkel bat der amerikanische AM Baker darum, keine Entscheidung vor dem Gespräch am 30. Juni 1992 in Washington zu treffen: „The U. S. airlines reach cities such as Warsaw, Prague, Budapest, Bucharest, and Moscow through Frankfurt. In this regard it is critical that U. S. airlines maintain their ability to expand their services to these new partners.“ Vgl. B 57, ZA-Bd. 176507. Kinkel äußerte mit Schreiben vom 23. Juli 1992 die Erwartung, „dass die USA zu einer gleichberechtigten und ausgewogenen Luftverkehrsvereinbarung bereit sind, insbesondere zu einem Nachgeben in der Frage der für beide Seiten höchstzulässigen Flugfrequenzen“. Die Bundesrepublik wäre sonst schlechter gestellt als andere EG-Mitgliedstaaten wie Frankreich oder Großbritannien. Vgl. B 57, ZA-Bd. 176507. 15 Zu den Überprüfungsverhandlungen zum NATO-Truppenstatut und dessen Zusatzabkommen vgl. Dok. 9, Anm. 3. VLR Goetz notierte am 20. Mai 1992, am Ende der fünften Verhandlungsrunde vom 27. April bis 12. Mai 1992 gebe es zwar „ein gemeinsames Papier mit einigen eckigen Klammern“, doch bedürfe es zur Klärung offen gebliebener Fragen der Fortsetzung der Verhandlungen. Vgl. B 86, Bd. 2118. 16 Zu den Überprüfungsverhandlungen für das NATO-Truppenstatut und das Zusatzabkommen vgl. Dok. 276. 17 Zur Frage eines Aktionsprogramms zur Sicherheit von Kernkraftwerken in den Nachfolgestaaten der UdSSR sowie den MOE-Staaten vgl. Dok. 142, Anm. 18. Vgl. auch die in der IAEO laufenden Verhandlungen über eine Nukleare Sicherheitskonvention; Dok. 177, Anm. 23. 18 Zum Abzug vormals sowjetischer Truppen aus den baltischen Staaten vgl. Dok. 81, Anm. 8. Vgl. auch Dok. 172.

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sei fraglich, ob die Balten selbst hinsichtlich der Behandlung der Russen in ihren Ländern eine weiße Weste hätten. Ross ergänzte, dass den demokratischen Kräften in Russland am besten gedient sei, wenn der Westen sich nicht nur für nationale Minderheiten innerhalb Russlands, sondern auch für russische Minderheiten außerhalb Russlands einsetzen würde. Eine eventuelle Aussage des Münchner Gipfels zum Rückzug der russischen Truppen aus dem Baltikum könnte mit diesem Thema verbunden werden (Erwartung der G 7, dass KSZE-Normen überall beachtet werden). 6) Stabilitätsfonds für Polen19 Zoellick berichtete, dass aus polnischer Sicht der multinational gewährte Stabilitätsfonds in Höhe von 1 Mrd. $ zur Stützung der Währung nicht mehr gebraucht werde; Polen seien aber an anderweitiger Nutzung dieses Betrags interessiert. Für die USA sei eine derartige Änderung des Verwendungszwecks ihres Beitrags kein Problem, da sie ihn als Zuschuss geleistet hätten. Der deutsche Beitrag sei als Kreditfazilität gewährt worden und könne deswegen nicht so leicht umgewidmet werden; USA wären aber dennoch dankbar, wenn wir entsprechende Möglichkeiten prüfen könnten. 7) KSZE/NATO-Formel20 D 2 erläuterte Bemühungen verschiedener europäischer NATO-Staaten, eine für USA und F akzeptable Formulierung auszuarbeiten. US-Seite (Zoellick) meinte auf Frage, ob der unter niederländischer Federführung vorgelegte Formulierungsvorschlag für die USA akzeptabel sei, lediglich, Formulierung werde in Washington noch geprüft. B 32, ZA-Bd. 179525

19 Das BMF erläuterte am 25. März 1992: „Bei dem Stabilisierungsfonds, einer Absprache zwischen Polen und den Regierungen 17 westlicher Industrieländer, handelt es sich um eine am 1. Januar 1990 eingerichtete multilaterale Reservefazilität von insgesamt 1 Mrd. US-$ […]. Die Kreditlinie kann von Polen in Anspruch genommen werden, soweit dies zur Erhaltung der Anfang 1990 eingeführten begrenzten Konvertibilität der polnischen Währung notwendig ist.“ Nach nunmehr zwei Verlängerungen habe der Fonds eine Laufzeit bis zum 2. Januar 1993: „Generelle Voraussetzung für Ziehungen auf diesen Fonds ist die Einigung der polnischen Regierung mit dem IWF über ein geeignetes Programm.“ Da ein solches IWF-Programm nicht bestehe, stünden Polen die Mittel des Fonds derzeit nicht zur Verfügung. Vgl. B 52, ZA-Bd. 173903. 20 Zur möglichen Rolle der NATO bei friedenswahrenden Maßnahmen der KSZE vgl. Dok. 142, Anm. 14. Botschafter Höynck, Helsinki (KSZE-Delegation), teilte am 26. Juni 1992 zum Stand der Debatte innerhalb der NATO mit: „Die tiefe Verstimmung zwischen Washington und Paris ist hier jetzt voll durchgeschlagen. […] Eine Lösung ist, wenn Paris, wie zu erwarten weiterhin auf seinen negativen NATO-Positionen beharrt, wahrscheinlich erst ganz zum Ende der Verhandlungen zu finden. Dadurch wird eine Einigung der KSZE-Teilnehmerstaaten zu dem Gesamtkomplex Konfliktverhütung und friedenserhaltende Maßnahmen vorläufig unmöglich gemacht.“ Vgl. DB Nr. 531; B 28, ZA-Bd. 158708. VLR I Haak notierte am 30. Juni 1992, ein von der Bundesrepublik und den Niederlanden vorgelegter Formulierungsvorschlag habe die Zustimmung aller NATO-Mitgliedstaaten mit Ausnahme Frankreichs und Spaniens gefunden. Vgl. B 28, ZA-Bd. 158708.

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198 Gespräch des Bundesministers Kinkel mit dem amerikanischen Verteidigungsminister Cheney in Washington 30. Juni 19921 Im Mittelpunkt der Unterredung2 standen die Themen Jugoslawien und Euro-Korps. BM unterrichtete Cheney über den Europäischen Rat in Lissabon3. Auf deutschen Druck sei die Jugoslawien-Erklärung4 zustande gekommen. Er gehe davon aus, dass in München5 dieses Thema weiter behandelt werde. Die Wirtschaftssanktionen6 zeigten erste Wirkungen, aber noch habe man das Problem nicht im Griff. Am Ende seien wohl militärische Maßnahmen unausweichlich. Er denke in diesem Zusammenhang an eine militärische Aktion zur Sicherung des Flughafens in Sarajevo. Cheney begrüßte, dass der Flughafen nunmehr der UNO-Kontrolle unterstellt worden sei. Er stimmte mit BM darin überein, dass Skepsis angebracht sei, ob die MitterrandInitiative7 weit trage. Selbst wenn aber der Flughafen dauerhaft zur Verfügung stehe, so reichte seine Kapazität nicht aus, sodass man auf Straßentransporte angewiesen sein werde. Die Entfernung zwischen Split und Sarajevo betrage 240 km. Davon seien die letzten 30 km besonders gefährlich, zumal dort auf kleinere Lastwagen umgeladen werden müsse, da die Straßen für große Lastwagen nicht geeignet seien. Man habe auch immer wieder die Erfahrung gemacht, dass etwa ein Drittel aller Transporte durch Plünderungen verloren ginge. Insgesamt betrachte er die Situation in Sarajevo noch als unklar, sodass Prognosen schwierig seien. BM: Man müsse jetzt abwarten, ob es gelinge, den Flughafen offenzuhalten, und ob die Straße nach Sarajevo gesichert werden könne. Er selbst sei hier wenig zuversichtlich. Er regte an nachzudenken, welche militärischen Mittel notwendig sein könnten, um Versorgungstransporte sicherzustellen. Leider sei es Deutschland im Hinblick auf Verfassung und Geschichte verwehrt, sich an militärischen Aktionen zu beteiligen. Er bedaure dieses umso mehr, als es sich in erster Linie um ein europäisches Problem handelt, bei dem die Europäer gefordert seien. Das Gewaltenmonopol liege beim Sicherheitsrat der VN. Unter 1 Der Gesprächsvermerk wurde von MD Chrobog am 2. Juli 1992 gefertigt. Hat BM Kinkel am 2. Juli 1992 vorgelegen. 2 BM Kinkel hielt sich vom 29. Juni bis 1. Juli 1992 in den USA auf. Für seine Gespräche vgl. auch Dok. 196, Dok. 197 und Dok. 199. 3 Zur Tagung des Europäischen Rats am 26./27. Juni 1992 vgl. Dok. 201. 4 Zur „Erklärung zum ehemaligen Jugoslawien“ des Europäischen Rats vgl. BULLETIN 1992, S. 683. 5 Zum Weltwirtschaftsgipfel vom 6. bis 8. Juli 1992 vgl. Dok. 225. 6 Zu den Sanktionen gegen die Bundesrepublik Jugoslawien (Serbien/Montenegro) vgl. Dok. 159, Anm. 12, und Dok. 162, Anm. 7. 7 Ohne vorherige Unterrichtung der Verbündeten reiste der französische Staatspräsident Mitterrand am 27./28. Juni 1992 im Anschluss an die Tagung des Europäischen Rats in Lissabon nach Sarajevo und Split, wo er Gespräche mit dem Präsidenten von Bosnien-Herzegowina, Izetbegović, und den Vertretern der bosnischen Serben, Karadžić und Mladić, führte, um die Wiedereröffnung des Flughafens Sarajevo zu erwirken. Vgl. LA POLITIQUE ÉTRANGÈRE 1992 (Mai/Juni), S. 197.

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diesem Dach müssten alle Aktionen durchgeführt werden. Er sei der Meinung, dass insbesondere der NATO hier eine besondere Rolle zukommen müsse. Cheney: Sollte der Waffenstillstand eintreten, sei die Sache leicht abzuwickeln. Falls dieses nicht der Fall sei, seien die USA bereit, See- und Luftstreitkräfte einzusetzen, keinesfalls aber Bodentruppen. Letztere müssten von anderen Staaten gestellt werden. BM drückte sein Verständnis für diese Haltung aus und machte deutlich, dass eine militärische Abdeckung durch die USA notwendig sei, schon wegen der psychologischen Wirkung auf die serbische Armee. Er fragt in diesem Zusammenhang nach den Möglichkeiten einer verstärkten amerikanischen Drohgebärde, z. B. den Einsatz der 6. Flotte in der Adria, sowie der Möglichkeit verstärkter Flugbewegungen. Cheney: Dieses sei durchaus möglich. Er meine aber, dass derartige Drohungen wenig Sinn machten, wenn nicht gleichzeitig die Bereitschaft vorhanden sei, ggf. auch Militäraktionen folgen zu lassen. Erschwerend käme hinzu, dass es irreguläre Verbände gebe, die keinem Zentralkommando unterstehen und insofern auch nur schwer zu beeindrucken seien. BM fragte Cheney, ob geäußerte Vermutungen richtig seien, dass das Pentagon in Sachen Militäreinsatz zurückhaltender sei als das State Department. Cheney verwies auf seine Verantwortung für die Soldaten, betonte aber die Übereinstimmung in der Administration verbunden mit dem Hinweis, was der Präsident8 angeordnet habe, werde geschehen. BM wies darauf hin, dass je stärker der Druck werde, umso mehr Milošević selbst unter Druck gerate. Die totale Isolierung Serbiens führe möglicherweise auch zu innenpolitischen Veränderungen. Cheney betonte die Irrationalität auf serbischer Seite. Man könne nie vorher wissen, ob die Antwort völlig außerhalb jeder Logik ausfalle. BM betonte noch einmal, es könne nicht richtig sein, dass wir nicht in der Lage seien, den Flughafen freizuhalten. Dieses verstehe kein Mensch in Europa. BM erläuterte anschließend die bekannte deutsche Haltung zum Euro-Korps und wies darauf hin, dass dieses nicht gegen die NATO gerichtet, sondern komplementär dazu sei. Cheney bedankte sich für diese Ausführungen. Er verwies auf die derzeitigen Probleme mit Frankreich, das nicht einmal bereit gewesen sei, an dem VerteidigungsministerTreffen des NACC9 teilzunehmen. Noch seien die Beziehungen zwischen Euro-Korps und NATO nicht geklärt. Zukünftige Klarstellungen könnten für die amerikanische Seite hilfreich sein. Die Frage der militärischen Präsenz der USA in Europa sei ein wichtiger Teil der amerikanischen innenpolitischen Diskussion und damit auch die Frage des Euro-Korps. Insgesamt zeigte sich Cheney von den Ausführungen BM Kinkels zu diesem Thema nicht unbeeindruckt. B 32, ZA-Bd. 179525

8 George H. W. Bush. 9 Zum NAKR-Treffen auf der Ebene der Verteidigungsminister am 1. April 1992 in Brüssel vgl. Dok. 97.

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199 Gespräch des Bundesministers Kinkel mit dem amerikanischen Präsidenten Bush in Washington 30. Juni 19921 Präs. Bush begann das gut halbstündige Gespräch damit, dass er seiner Freude Ausdruck gab, den neuen deutschen Außenminister kennenzulernen. Er knüpfte an die gute Zusammenarbeit mit dem früheren AM Genscher an und fragte nach dessen Befinden. Präs. verwies auf den in den USA laufenden Wahlkampf2 und die Alternative, die die beiden Gegenkandidaten3 böten: Der eine beabsichtige, eine Rechnung über 50 Milliarden US-$ Stationierungskosten zu präsentieren, der andere spreche sich für den Abzug der amerikanischen Truppen aus und dränge auf Handelsrestriktionen gegen Europa. Dieses kennzeichne die merkwürdige Stimmung, die zurzeit im Lande herrsche. Er, Bush, sei der Meinung, die US-Truppen müssten in Europa bleiben, und zwar nicht nur im Interesse Europas, sondern ihre Anwesenheit dort diene auch amerikanischen Interessen. Die Grundlagen müssten jedoch klar sein. Wenn er in diesem Zusammenhang noch nicht über das deutsch-französische Korps gesprochen habe, so bedeute dieses nicht, dass er hier keine Zweifel habe. Dasselbe gelte für die Entwicklung der WEU. Die Lage in Europa sei zurzeit relativ unübersichtlich. Mitterrand sei allein nach Sarajevo gereist.4 Man frage sich in den USA, was geschehe, wenn aus seiner Reise Probleme erwüchsen, werde er dann amerikanische Hilfe anfordern? BM bedankte sich für den freundlichen Empfang. Er selbst sei ein Freund Amerikas aus Überzeugung und deshalb persönlich an der Vertiefung des deutsch-amerikanischen Verhältnisses interessiert. Unvergessen sei die amerikanische Hilfe in schwierigen Zeiten. Er wolle daher heute noch einmal ausdrücklich seinen Dank für die amerikanische Mitwirkung bei der deutschen Vereinigung aussprechen. In der Tat gebe es Turbulenzen. Er habe diese Themen bereits in seinen Gesprächen mit AM Baker und VM Cheney5 erörtert. Er wolle hier noch einmal ganz klarstellen, dass das Euro-Korps nicht gegen die NATO gerichtet sei. Die Fortexistenz der NATO sei wichtig, denn sie habe uns über Jahrzehnte Sicherheit beschert und eine entscheidende Rolle bei der Sicherung Berlins und auf dem Wege zur deutschen Vereinigung gespielt. Die USA hätten immer dafür plädiert, dass man in Europa komplementäre Organisationen aufbaue 1 Der Gesprächsvermerk wurde von MD Chrobog am 2. Juli 1992 gefertigt. Hat BM Kinkel am 2. Juli 1992 vorgelegen. Zum Gespräch vgl. PUBLIC PAPERS, BUSH 1992, S. 1053. 2 In den USA fanden am 3. November 1992 Präsidentschaftswahlen, Wahlen zum Repräsentantenhaus sowie Teilwahlen zum Senat und für die Gouverneursämter statt. 3 William Jefferson Clinton und Henry Ross Perot. 4 Zur Reise des französischen Präsidenten Mitterrand am 27./28. Juni 1992 nach Sarajevo vgl. Dok. 198, Anm. 7. 5 Für die Gespräche des BM Kinkel mit dem amerikanischen AM Baker und VM Cheney am 30. Juni 1992 in Washington vgl. Dok. 196–198.

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und eine eigene Verteidigungskomponente schaffe mit dem Ziel, die NATO zu stärken. In einem Verteidigungsfall stehe das Korps klar der NATO zur Verfügung. Er bedauere die zurzeit bestehenden Gereiztheiten im französisch-amerikanischen Verhältnis, die uns unangenehm seien. Leider sei gerade in diesem schwierigen Zeitpunkt die Idee des EuroKorps entwickelt worden. Wir würden alles dazu beitragen, dass die deutsch-amerikanischen Beziehungen durch diese Entwicklung nicht belastet würden. BM gratulierte Präs. Bush zu seinem Abkommen mit Jelzin6. Dieses sei von einer großen Bedeutung für die ganze Welt. Präs. nimmt die letzte Bemerkung erfreut zur Kenntnis. Kehrt dann jedoch wieder zu Euro-Korps zurück und bittet um Beispiele, wie dieses Korps eingesetzt werden könne. BM verweist auf das Beispiel JUG. Hier seien wir zwar aus verfassungsrechtlichen und historischen Gründen nicht in der Lage, militärisch aktiv zu werden, aber ließe man einmal diese Fragen beiseite, so könne hier ein derartiges Korps ggf. im Rahmen der WEU unter dem Dach des Sicherheitsrates der VN friedensichernd tätig werden. Das Korps sei der Nukleus einer europäischen Verteidigungskomponente. Er wolle noch einmal betonen, es sei nicht gegen die NATO gerichtet, sondern komplementär zu dieser. Seine persönliche Präferenz wäre allerdings, dass in einem Konflikt wie in Jugoslawien die NATO handeln müsse. Präs. verweist auf Fragen in der amerikanischen Öffentlichkeit, die in der Feststellung gipfelten, die Europäer wollten die Amerikaner nicht, und den Vorwurf enthielten, dass die amerikanische Regierung in diesem Punkt begriffsstutzig sei. Warum sollten die Amerikaner weiterhin Geld für die NATO ausgeben, wenn diese eigentlich nicht erwünscht sei? Am Sonntag werde er mit Präs. Mitterrand sprechen und ihm präzise Fragen in diesem Zusammenhang stellen.7 BM verweist auf mögliche Nuancen in deutschen und französischen Äußerungen und Erläuterungen zum Euro-Korps. Unsere Haltung sei jedoch völlig klar, und diese habe er auch gegenüber AM Baker eindeutig dargelegt. BM geht auf das Thema GATT ein und bittet den Präsidenten, dabei behilflich zu sein, dass dieses Thema noch vor dem Gipfel8 deblockiert werde. Für uns alle sei das G 7-Treffen wichtig. Eine Lösung des GATT-Problems wäre ein wichtiges Signal für die Weltwirtschaft. Der Bundeskanzler habe sich persönlich sehr für eine Lösung eingesetzt. Präs. erwidert, sein Freund, der Bundeskanzler, denke, der amerikanische Präsident sei in dieser Frage inflexibel. Die USA seien aber nicht in der Lage, sich weit vom Dunkel-Text9 zu entfernen. Dieses mache der Kongress nicht mit. Auch auf der anderen Seite müsse erst einmal ein Zeichen von Flexibilität erkennbar werden. AM Baker sei bereit, nach Europa zu reisen, aber nur, wenn auf europäischer Seite Flexibilität zu sehen sei. Anderenfalls mache eine derartige Reise keinen Sinn und wäre sogar ein Fehler. Die Amerikaner seien bereits in der Sprache zur Friedensklausel kompromissbereit gewesen. Ein wichtiges Thema sei das der Exportsubventionen. Hier müsse Kommissar Andriessen 6 Zu den amerikanisch-russischen Abkommen, die beim Besuch des russischen Präsidenten Jelzin vom 15. bis 18. Juni 1992 in den USA abgeschlossen wurden, vgl. Dok. 186. 7 Für das Gespräch der Präsidenten Bush (USA) und Mitterrand (Frankreich) am 5. Juli 1992 in München vgl. https://bush41library.tamu.edu/archives/memcons-telcons. 8 Zum Weltwirtschaftsgipfel vom 6. bis 8. Juli 1992 in München vgl. Dok. 225. 9 Zum „Dunkel-Papier“ vom 20. Dezember 1991 vgl. Dok. 6, Anm. 3.

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Bewegungen erkennen lassen. Erst dann könnte man vielleicht (!) amerikanischerseits noch etwas nachgeben. Das Gespräch, das in sehr herzlicher Atmosphäre geführt wurde, endete mit guten Wünschen des BM für den Wahlkampf des Präsidenten. B 32, ZA-Bd. 179525

200 Vorlage des Ministerialdirigenten Roßbach für Staatssekretär Kastrup 240-370.70 GUS 2

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Herrn Staatssekretär2 Betr.:

Mögliche deutsch-russische Zusammenarbeit bei der Beseitigung ehemals sowjetischer Nuklearwaffen; hier: Stand nach zweiter bilateraler Gesprächsrunde am 10./11.6.1992 in Moskau und weiteres Vorgehen

Bezug: Vorlage des Referats 240 an Herrn Bundesminister vom 5.6.1992 – 240-370.70 GUS3 Zweck der Vorlage: Zustimmende Kenntnisnahme I. 1) Am 10./11.6.1992 fand in Moskau die zweite deutsch-russische Gesprächsrunde über mögliche Unterstützungsmaßnahmen bei der Beseitigung ehemals sowjetischer Nuklearwaffen statt. Sie hat zur Konkretisierung russischer Wünsche an Deutschland in folgenden Bereichen geführt: – Gerät für nuklearen Unfallschutz, – Straßensicherungsfahrzeuge für den Transport spaltbaren Materials, – Konversion von waffengrädigem Spaltmaterial für friedliche Zwecke (sog. MOX-Verfahren4 zur Herstellung von Brennstäben für Kernkraftwerke). 1 Die Vorlage wurde von VLR I Boden konzipiert. 2 Hat StS Kastrup am 1. Juli 1992 vorgelegen, der handschriftlich vermerkte: „Mitzeichnung: RL 112“. Hat VLR I Beyer am 2. Juli 1992 vorgelegen, der handschriftlich vermerkte: „(Siehe Vermerk S. 4)“. Vgl. Anm. 13. Hat Kastrup am 2. Juli 1992 erneut vorgelegen. Hat VLR Ney am 2. Juli 1992 vorgelegen, der den Rücklauf über Botschafter Holik an Referat 240 verfügte. Hat in Vertretung von Holik MDg Roßbach am 3. Juli 1992 erneut vorgelegen, der die Weiterleitung an Holik „n[ach] R[ückkehr]“ verfügte. Hat VLR I Boden am 6. Juli 1992 erneut vorgelegen, der zur Weiterleitung an Holik handschriftlich vermerkte: „Hat Kenntnis“. Hat Holik am 18. Juli 1992 vorgelegen. 3 Korrigiert aus: „230-370.70 GUS“. VLR I Boden unterrichtete über mögliche Unterstützungsmaßnahmen zur Beseitigung ehemals sowjetischer Nuklearwaffen im Vorfeld der deutsch-russischen Gespräche am 10./11. Juni 1992 in Moskau. Vgl. B 43, ZA-Bd. 228393. 4 Mischoxid-Verfahren.

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2) Wir haben auch diesmal den exploratorischen Charakter der Gespräche unterstrichen, die in unserer Sicht dazu dienen sollen, die Voraussetzungen und den Rahmen für eine mögliche Zusammenarbeit zu klären. Mit dieser Zielsetzung ist nun der Austausch folgender Expertendelegationen vereinbart worden: – Einladung an zwei russische Delegationen im Umfang bis zu sechs bis sieben Personen zum Besuch deutscher Facheinrichtungen im Bereich des nuklearen Unfallschutzes sowie der Konversionsverfahren im Juli/August d. J. (zum Kerntechnischen Hilfsdienst GmbH nach Karlsruhe sowie dem Siemens-Brennelementewerk in Hanau). – Reise einer deutschen Expertendelegation nach Russland im September d. J. zu Fachgesprächen und Besichtigungen im Bereich Konversion (insbesondere Besuch der im Bau befindlichen Anlage von Tscheljabinsk 65). Die Einladungen für beide russischen Expertenreisen werden gegenwärtig durch unsere Botschaft Moskau übermittelt. Zur Finanzierung der Reise von Unfallschutzexperten hat sich das BMU bereit erklärt; es ist vorgesehen, die Kosten für die andere Expertenreise aus Mitteln des AA zu bestreiten (Titel 526 03-029).5 3) Wir sehen in der nach dem Zerfall der Sowjetunion eingeleiteten Beseitigung einer möglichst großen Anzahl ehemals sowjetischer Nuklearwaffen ein wichtiges neues Aufgabenfeld unserer Abrüstungs- und Rüstungskontrollpolitik. Dies ist Anfang des Jahres mit einer Initiative von BM Genscher, die auf die weltweite, nachprüfbare Beseitigung landgestützter nuklearer Kurzstreckenwaffen der ehemaligen SU sowie der USA zielt6, auch gegenüber der Öffentlichkeit unterstrichen worden. Wir lassen uns dabei von folgenden Überlegungen leiten: – Die aus der ehemals sowjetischen Nuklearrüstung herrührenden Probleme betreffen die Sicherheit aller Staaten. Sie erfordern daher Anstrengungen der gesamten Staatengemeinschaft, nicht nur der Kernwaffenmächte. Wir sollten uns dabei unter strikter Beachtung der uns durch den NV-Vertrag gesetzten Verpflichtungen beteiligen. – Russland wird weder technisch noch finanziell in der Lage sein, die vertraglich oder durch einseitige Erklärung übernommene Abrüstungsverpflichtungen (START-Vertrag, Erklärungen von Gorbatschow bzw. Jelzin vom 5.10.917 und 29.1.928, russisch-amerikanisches Rahmenabkommen vom 17.6.929) in den gesetzten Fristen zu erfüllen. Nach Angaben von MdB FDP Feldmann in dessen Bundestagsrede vom 24.6.10 geht es darum, in Russland innerhalb von zehn Jahren ca. 30 000 Gefechtsköpfe zu beseitigen, d. h. bis zu zehn pro Tag. Falls westliche Länder nicht helfen, bleiben auf Jahre erhebliche Sicherheitsrisiken bestehen. 5 Der Passus „es ist … 03-029)“ wurde von StS Kastrup hervorgehoben. VLR I Beyer vermerkte an dieser Stelle handschriftlich: „1“. Vgl. Anm. 13. 6 Zur SNF-Initiative der Bundesregierung vgl. Dok. 7 und Dok. 40. 7 Zur Initiative des sowjetischen Präsidenten Gorbatschow zum einseitigen Abbau sowjetischer SNF vgl. AAPD 1991, II, Dok. 339 und Dok. 408. 8 Korrigiert aus: „31.1.92“. Zur einseitigen nuklearen Abrüstungsinitiative des russischen Präsidenten Jelzin vom 29. Januar 1992 vgl. Dok. 96, Anm. 9. 9 Zu den amerikanisch-russischen Abkommen, die beim Besuch des russischen Präsidenten Jelzin vom 15. bis 18. Juni 1992 in den USA abgeschlossen wurden, vgl. Dok. 186. 10 Für die Rede des FDP-Abgeordneten Feldmann vgl. BT STENOGRAPHISCHE BERICHTE, 12. WP, 98. Sitzung, S. 8153–8155.

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– Künftige Unterstützung für die Eliminierung ex-sowjetischer Nuklearwaffen ist auch eine Frage der Solidarität innerhalb des westlichen Bündnisses: Sowohl US, UK und F als auch I führen Gespräche oder Verhandlungen mit Russland über konkrete Unterstützungsleistungen (Abschluss eines Rahmen- und dreier Ausführungsabkommen auf dem Washingtoner Gipfel vom 17.6. mit einem verfügbaren Finanzvolumen von insgesamt 400 Mio. Dollar; UK: 30 Mio. £). II. Die jetzt unmittelbar anfallenden Kosten für Delegationseinladungen können z. T. aus knappen eigenen Haushaltsmitteln, z. T. aus dem Haushalt anderer Ressorts gedeckt werden. Wir verfügen indes gegenwärtig nicht über die notwendigen haushaltsmäßigen Voraussetzungen, um Russland bei der Vernichtung seiner Nuklearwaffen durch Sachleistungen zu unterstützen.11 Es handelt sich hier um einen neuen Typus konkreter Abrüstungsimplementierung, für den die in bisherigen Haushaltsansätzen geltenden Zweckbestimmungen nicht vorgesehen sind. Die russische Seite rechnet mit unserer positiven Entscheidung und sieht in diesbezüglicher Zusammenarbeit mit uns ein aussichtsreiches Feld künftiger Zusammenarbeit. Wir sollten zur konkreten Frage deutsch-russischer Zusammenarbeit bei der Eliminierung der ex-sowjetischen Nuklearwaffen eine Entscheidung treffen, sobald als Ergebnis der drei Expertenreisen Ende September Art und Umfang eines möglichen Bedarfs genau bestimmt werden können. Es müssten dann gegebenenfalls noch für den Nachtragshaushalt 1993 entsprechende Anforderungen gestellt werden.12 In diesem Zusammenhang ist auch auf den vom Bundestag in seiner abrüstungspolitischen Debatte am 24.6. angenommenen Entschließungsantrag hinzuweisen, der die Bundesregierung auffordert, „im 13Rahmen ihrer bilateralen Zusammenarbeit mit den GUSStaaten konkrete Abrüstungs- und Rüstungskontrollhilfevereinbarungen anzustreben“14. Roßbach B 43, ZA-Bd. 228393 11 Dieser Satz wurde von StS Kastrup durch Unterstreichung hervorgehoben. VLR I Beyer vermerkte dazu handschriftlich: „2“. Vgl. Anm. 13. 12 Der Passus „als Ergebnis … gestellt werden“ wurde von StS Kastrup hervorgehoben. Die Wörter „Nachtragshaushalt 1993“ wurden von VLR I Beyer hervorgehoben. Dazu Fragezeichen. Vgl. Anm. 13. 13 Beginn der Seite 4 der Vorlage. Vgl. Anm. 2. Am Ende der Seite vermerkte VLR I Beyer am 2. Juli 1992 handschriftlich: „1) Nach dem Haushaltsvermerk bei Kap. 0502 Tit. 526 03 können aus dem dortigen Ansatz auch Reisekosten Dritter zur Erledigung von Aufträgen gezahlt werden, wobei es sich um Aufträge des AA (nicht anderer Ressorts) handeln muss. Ich weise allerdings darauf hin, dass der Ansatz in 1993 nur mit T[ausend]DM 255 ausgestattet ist (1992: 160 TDM). 2) Für die Vernichtung fremder Nuklearwaffen stehen in 1992 und auch im Haushalt 1993 im E[inzel]Pl[an] 05 in der Tat keine Mittel zur Verfügung. Falls das AA (und nicht etwa das BMVg oder das BMV) die Zuständigkeit für solche Maßnahmen erhalten sollte, müsste für 1993 haushaltsmäßige Vorsorge getroffen werden. Bis zur Bereinigung (5.11.) könnte noch im parlamentar[ischen] Verfahren ein neuer Titel in den EPl. 05 eingestellt werden. Später kommt nur noch eine a[ußer]pl[anmäßige] Ausgabe in Betracht, die im Grundsatz aus dem AA-Haushalt zu decken ist. Von einem Nachtragshaushalt 1993 kann überhaupt noch nicht gesprochen werden. Für das AA allein käme ein Nachtrag theoretisch infrage, wenn die Ausgabe mehr als 10 Mio. beträgt, doch wäre der wahrscheinlichere Fall, dass wir uns an einen Nachtraghaushalt anhängen, falls ein solcher vom BMF aufgelegt wird.“ Vgl. Anm. 5, 11 und 12. 14 Vgl. „Beschlussempfehlung und Bericht des Auswärtigen Ausschusses“ vom 24. Juni 1992, dem der Entschließungsantrag der Fraktionen von CDU/CSU und FDP „Rüstungskontrolle und Abrüstung nach Ende

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201 Runderlass des Vortragenden Legationsrats Koenig 012-9-312.74 VS-NfD Fernschreiben Nr. 36 Ortez

Aufgabe: 30. Juni 1992

Ortez zum ER Lissabon am 26./27.6.1992 ER Lissabon war Zwischenstation zwischen dem ER Maastricht1 und dem ER Edinburgh2 und ist dieser Aufgabe gerecht geworden. Er brachte Bestätigung des in Maastricht eingeschlagenen Wegs. Die Ratifizierung des Vertrags über die Europäische Union wird nach dem überzeugenden Referendum in Irland3 in elf MS wie vorgesehen fortgesetzt mit der Maßgabe, dass die Tür für DK offen bleibt, um letztlich noch ein Inkrafttreten für alle zwölf MS zu ermöglichen. Entsprechend den Vorgaben von Maastricht wurden die Weichen für den ER Edinburgh gestellt. Lissabon traf Zwischenentscheidungen zur Erweiterung und zum Delors II-Paket zur Finanzierung der Gemeinschaft4 und damit zusammenhängenden Fragen und bereitete das Terrain für die Entscheidung der offenen Sitzfragen5 vor. Diese drei Bereiche sollen in Edinburgh zum Abschluss gebracht werden. Der Europäische Rat einigte sich ferner auf eine zweijährige Verlängerung der Amtszeit von Präsident Delors. In den ausführlichen Schlussfolgerungen des ER, die im Bulletin abgedruckt werden6, sind diese Bereiche, die Sitzfragen ausgenommen, behandelt. Der ER traf ferner Aussagen zur Schaffung eines bürgernahen Europas, einschließlich der Beachtung des Subsidiaritätsprinzips, zur Vollendung des Binnenmarkts zum 31.12.92, zur Drogenbekämpfung, zu Europol. Er sprach einen Appell zur Umsetzung der Ergebnisse der Rio-Konferenz über Umwelt Fortsetzung Fußnote von Seite 807 des Ost-West-Konflikts“ vom 12. Februar 1992 (Drs. 12/2076) zugrunde lag; BT DRUCKSACHEN, Nr. 12/2905, S. 6. Die Beschlussempfehlung wurde am 24. Juni 1992 vom Bundestag „mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der PDS/Linke Liste bei Enthaltung der SPD angenommen“; BT STENOGRAPHISCHE BERICHTE, 12. WP, 98. Sitzung, S. 8172. 1 Zur Tagung des Europäischen Rats am 9./10. Dezember 1991 vgl. AAPD 1991, II, Dok. 425 und Dok. 431. 2 Zur Tagung des Europäischen Rats am 11./12. Dezember 1992 vgl. Dok. 421. 3 Zum irischen Referendum vom 18. Juni 1992 teilte BR I Zimmermann, Dublin, am 19. Juni 1992 mit, es zeichne sich ab, „dass irische Bevölkerung Maastricht-Referendum überzeugend mit Ja beantwortet hat. […] Angesichts der militanten Kampagne der Pro-Life-Bewegung, die zumindest indirekt von den katholischen Bischöfen unterstützt worden war, deutet das Ja für Maastricht auf eine fortschreitende Bewusstseinsänderung der irischen Gesellschaft hin“. Vgl. DB Nr. 119; B 210, ZA-Bd. 162211. Am 22. Juni 1992 übermittelte Zimmermann das amtliche Endergebnis: Bei einer Wahlbeteiligung von 57,25 % seien 69,05 % der gültigen Stimmen auf Ja, 30,95 % auf Nein entfallen. Vgl. DB Nr. 121; B 210, ZA-Bd. 162211. 4 Zum „Delors-Paket II“ vgl. Dok. 102, Anm. 13. 5 Zur Sitzfrage von Institutionen der Europäischen Gemeinschaft vgl. Dok. 158, Anm. 9. 6 Für die Schlussfolgerungen des Vorsitzes mit Anlagen vgl. BULLETIN 1992, S. 673–688.

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und Entwicklung7 aus. Aus seinen Aussagen im Bereich der Außenbeziehungen sind hervorzuheben die Teile der Schlussfolgerungen zu den MOE, insbesondere der Ausdruck der Erwartung einer friedlichen Regelung der innenpolitischen Entwicklung in der ČSFR8. Bei der Aussage zu GUS steht die Sorge über die Kämpfe in Georgien, Moldawien und Nagorny Karabach im Vordergrund. Die Gemeinschaft einigte sich auf eine neue Medikamentenhilfe aus noch verfügbaren Mitteln der NMH9 und auf eine Initiative zur Verbesserung der Sicherheit von Kernkraftwerken sowjetischer Bauart in Osteuropa10. Insoweit forderte der ER die Kommission zu gesteigerten Anstrengungen auf. Auf dem WWG in München11 sollen Japan und die USA gebeten werden, sich der Initiative anzuschließen. I. Im Einzelnen 1) Zur Ratifizierung des Vertrags über die Europäische Union Mit der Bestätigung der Schlussfolgerungen des Allgemeinen Rates vom 4.6. in Oslo12 brachte ER seine Entschlossenheit zum Ausdruck, den in Maastricht beschlossenen Weg konsequent weiterzugehen, den Vertrag über die Europäische Union zu verwirklichen und Neuverhandlungen eine Absage zu erteilen, d. h., der Europazug wird nicht gestoppt, sondern fährt beschleunigt weiter, wie BK vor der Presse ausführte.13 Gemeinsame Überzeugung war, dass die Gemeinschaft bürgernäher werden muss, damit sich die Bevölkerung in den MS mit Europa identifizieren kann. Die Subsidiarität, wozu sich Aussagen in den Schlussfolgerungen unter der Überschrift „eine bürgernahe Union“ finden, war ein wichtiges Thema. Das in den Vertrag von Maastricht – insbesondere auf unseren Wunsch – aufgenommene Subsidiaritätsprinzip soll bereits jetzt voll angewendet werden. Die Kommission und der Rat werden verstärkt hierauf achten. Ein Bericht hierüber wird dem ER Edinburgh vorgelegt werden. Die Kommission ist bereit, in ihren Vorschlägen jeweils eine Begründung dafür zu geben, warum eine bestimmte Maßnahme nicht auf der Ebene der Mitgliedstaaten, sondern auf Gemeinschaftsebene vorgeschlagen wird, in ähnlicher Weise wie in jedem Vorschlag eine Aussage zur Finanzierung enthalten sein muss. Die Teilnehmer waren sich bewusst, dass Pauschalurteile fehl am Platze wären und dass eine sorgfältige Abwägung zwischen erweiterten Kompetenzen der Gemeinschaft und einer Selbstbeschränkung auf Wesentliches bei der Ausübung der Kompetenzen geboten ist. 2) Zur Erweiterung und zu den Beziehungen zu den übrigen Nachbarstaaten Der ER bestätigte die Aussage von Maastricht, dass die Beitrittsverhandlungen auf der Grundlage des Vertrags von Maastricht nach dessen Ratifizierung und nach Herstellung des Einvernehmens über das Delors II-Paket unverzüglich eröffnet werden können. Auch ohne Festlegung eines festen Datums ist klar, dass – entsprechend unseren Vorstellungen – 7 Zur VN-Konferenz über Umwelt und Entwicklung (UNCED) vom 3. bis 14. Juni 1992 vgl. Dok. 177. 8 Zur Entwicklung in der ČSFR vgl. Dok. 216. 9 Nahrungsmittelhilfe. 10 Zur Frage eines Aktionsprogramms zur Sicherheit von Kernkraftwerken in den Nachfolgestaaten der UdSSR sowie den MOE-Staaten vgl. Dok. 142, Anm. 18. 11 Zum Weltwirtschaftsgipfel vom 6. bis 8. Juli 1992 vgl. Dok. 225. 12 Für die Schlussfolgerungen der außerordentlichen EG-Ministerratstagung vgl. BULLETIN 1992, S. 632. Zur Tagung vgl. Dok. 166. 13 Zur Stellungnahme des BK Kohl am 27. Juni 1992 in Lissabon vgl. den Artikel „Der Europäische Rat in Lissabon“; FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG vom 29. Juni 1992, S. 2.

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der Verhandlungsbeginn Anfang 1993 liegen soll.14 Dies ergibt sich daraus, dass der Kommission aufgegeben wurde, das Verhandlungsmandat rechtzeitig vor dem ER Edinburgh vorzulegen. Die Kandidaten, mit denen die Verhandlungen aufgenommen werden sollen, sind die EFTA-Länder, die die Mitgliedschaft in der Europäischen Union anstreben. Dies sind, auch wenn sie nicht ausdrücklich genannt sind, Österreich, Schweden, Finnland und die Schweiz, ferner Norwegen, sollte es sich noch rechtzeitig zu einem Beitrittsantrag entschließen15. In einem dem ER vorgelegten Bericht hat die Kommission die Notwendigkeit paralleler Fortschritte auch im institutionellen Bereich der Union dargelegt. Zu den übrigen Beitrittskandidaten Türkei, Zypern und Malta sowie zu den MOEStaaten und GUS-Republiken trifft der ER abgestufte Aussagen zur Entwicklung bzw. Intensivierung der Assoziations- und Kooperationsbeziehungen. Besonders hervorgehoben wird die gewachsene politische Bedeutung der Türkei in der gegenwärtigen politischen Situation. 3) Zum Delors II-Paket Der ER Lissabon hat Orientierungen für die weiteren Verhandlungen über die künftige Finanzierung der Gemeinschaft und die damit verbundenen Fragen gegeben, ohne Einzelposten des Delors II-Paketes in der einen oder anderen Weise zu präjudizieren. Dies entspricht unseren Wünschen. Der ER begrüßt zunächst die GAP-Reform16, die erwarten lässt, dass die Agrarausgaben sich innerhalb der bestehenden Agrarleitlinie halten lassen. Zum wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt bestätigt der ER die Vorgaben von Maastricht, sprach sich für eine Fortsetzung und angemessene Erhöhung der Strukturfonds aus, ohne sich im Sinne der von der Kommission verfolgten Verdoppelung der Mittel festzulegen. Eine Teilfestlegung ist dahin getroffen worden, die NBL einschließlich Ost-Berlins in gleicher Weise wie die ärmsten Regionen in der Gemeinschaft zu fördern. Klargestellt wurde auch, dass der neugeschaffene Kohäsionsfonds bereits ab Anfang 1993 über Mittel verfügen soll. Über die Höhe der Startmittel wird im normalen Haushaltsverfahren zu entscheiden sein. Der ER hat sich ferner für eine beträchtliche Aufstockung der für die Außenpolitik erforderlichen Finanzen ausgesprochen, ganz in unserem Sinne. Für die Überprüfung des GB-Ausgleichs hat sich die Kommission auf Vorlage eines Berichts im Juli festgelegt.17 Der ER hat schließlich bekräftigt, über das Delors-Paket insgesamt in Edinburgh zu entscheiden. Diese Ergebnisse, die zu weitgehende Präjudizierungen zu 14 Die EG nahm am 1. Februar 1993 Beitrittsverhandlungen mit Finnland, Österreich und Schweden auf. Die Beitrittsverhandlungen mit Norwegen begannen am 5. April 1993. Vgl. AAPD 1993. 15 Die norwegische Regierung übermittelte am 25. November 1992 einen Antrag auf EG-Mitgliedschaft. 16 Zur Reform der GAP vgl. Dok. 135, Anm. 5. 17 VLR Döring legte am 7. August 1992 zum britischen EG-Beitragsrabatt dar: „Die nur einstimmig zu ändernde Regelung wurde auf dem ER Fontainebleau 1984 zur Beilegung jahrelangen Haushaltsstreits mit GB (‚I want my money back‘) unbefristet getroffen. Sie sieht vor, dass GB zum Ausgleich für im Vergleich zu relativ geringen Rückflüssen (insbesondere wegen niedriger Agrarbeihilfen) als überhöht angesehene Leistungen zum EG-Haushalt 66 % des Nettosaldos auf der Basis seiner MWSt.-Abführungen zurückerhält. […] 1988 wurde dieser Ausgleich nach technisch schwierigen Anpassungen an die Ergebnisse des DelorsPakets I (Einführung der vierten Einnahmequelle) fortgeführt. Seine Berechnung – der Ausgleich erfolgt im jeweils aktuellen Haushalt für das zurückliegende Jahr – ist äußerst kompliziert und kaum mehr nachvollziehbar.“ Mit dem Bericht vom 22. Juli 1992 habe die EG-Kommission „lediglich Überlegungen

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Abb. 9: BK Kohl und BM Kinkel beim Europäischen Rat in Lissabon

unseren Lasten vermeiden, waren auch für die Kohäsionsländer akzeptabel und sollten sich in diesen Ländern positiv auf die Ratifizierung auswirken. II. EPZ-Themen und Außenbeziehungen 1) Die Jugoslawien-Erklärung des ER kam nach intensiver Diskussion mit einem Duktus zustande, für den wir schon in der Vorbereitung geworben hatten und den im ER insbesondere IT und überraschenderweise auch F unterstützten, nachdem F im PK noch erheblichen Widerstand geleistet hatte: In deutlicher Sprache Konzentration auf die aktuell operativen Punkte, insbesondere: Beendigung des Blutvergießens, Verantwortlichkeit der serbischen Regierung und Streitkräfte, Öffnung des Flughafens Sarajevo für humanitäre Hilfsflüge, hierfür Prüfung der Möglichkeit des Abwurfs von Hilfsgütern.18 Die Option des Einsatzes militärischer Mittel durch die VN wird ins Auge gefasst. Nachdrückliche Unterstützung der VN bei der Durchsetzung der Sanktionen19. Im Geiste des Vertrags von Maastricht Querverweis auf die Bemühungen der WEU zur Unterstützung der VN (PetersbergErklärung vom 19.6.20). Forderung der Suspendierung der Teilnahme „Jugoslawiens“ in der KSZE u. a. internationalen Organisationen. Verweigerung der Anerkennung SerbienFortsetzung Fußnote von Seite 810 für geringfügige Änderungen“ vorgelegt: „Diese Vorstellungen sind aus deutscher Sicht enttäuschend, während sie GB bereits zu weit gehen.“ Vgl. B 224, ZA-Bd. 187271. 18 Zu Optionen einer Öffnung des Flughafens Sarajevo für humanitäre Hilfe vgl. Dok. 191. 19 Zu den Sanktionen gegen die Bundesrepublik Jugoslawien (Serbien/Montenegro) vgl. Dok. 159, Anm. 12, und Dok. 162, Anm. 7. 20 Für die bei der WEU-Ministerratstagung am 19. Juni 1992 verabschiedete „Petersberg-Erklärung“ vgl. BULLETIN 1992, S. 649–653. Zur Tagung vgl. Dok. 162, Anm. 32.

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Montenegros als Nachfolgestaat. Verstärkung der Hilfe für Flüchtlinge, von der KOM im G 24-Rahmen zu koordinieren. Zu Mazedonien erklärt ER Bereitschaft zur Anerkennung, verbunden mit Grenzgarantie, nach griechischer Formel: Akzeptiert wird jeder Name, vorausgesetzt er enthält nicht den Begriff Mazedonien. Ausdruck der Sorge wegen der Spannungen im Kosovo, Bereitschaft der EG-MS, sich im Rahmen der KSZE an der Entsendung von Beobachtern zu beteiligen. 2) ER-Erklärung zum Friedensprozess im Nahen Osten: EG-MS betonen erneut ihren Willen, zum Friedensprozess beizutragen. Der ER äußert die Hoffnung, dass die neue israelische Regierung21 wie auch die arabischen Parteien die Gelegenheit wahrnehmen werden, einen umfassenden Frieden auszuhandeln. 3) Erklärung zum Maghreb: Besonderes Anliegen der südlichen MS. Wir haben hingewirkt auf deutliche Einordnung in den Rahmen der Gesamtbeziehungen zum MM-Raum, insbesondere der neuen MM-Politik der EG22. 4) Aussagen zu weiteren außenpolitischen Themen finden sich in den Schlussfolgerungen über die ER-Beratungen: 5)23 Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik: ER nahm Bericht der AM zur künftigen Entwicklung der GASP24 entgegen, in dem das in Maastricht beschlossene Konzept ausgeführt und als ein Beginn der Umsetzung vier Bereiche bezeichnet werden, die für das neue Verfahren der „gemeinsamen Aktion“ in Betracht kommen: GUS, MOE, einschl. JUG, Maghreb und Naher Osten. 6) Beziehungen EG-MS – Entwicklungsländer: Eine politische Aussage des ER Lissabon zum Nord-Süd-Verhältnis zu erreichen, war das besondere Anliegen der Präsidentschaft25. Wir und Mehrheit der Partner hielten die Zeit nicht reif für eine „Erklärung“, deren Inhalt jetzt zu den anstehenden konkreten Fragen nur vage sein konnte. Schlussfolgerungen heben Verbindung von Menschenrechten und Entwicklung hervor. 21 Am 23. Juni 1992 fanden in Israel Parlamentswahlen statt. Botschafter von der Gablentz, Tel Aviv, analysierte am 30. Juni 1992: „Mit knapper Mehrheit haben die israelischen Wähler Rabin eine zentrale Position bei der Regierungsbildung verschafft: Arbeitspartei, Meretz und arab[ische] Parteien erhalten 61 von 120 Knessetsitzen und können damit eine Likud-geführte Regierung verhindern. Rabin will bereits am 13. Juli der Knesset eine Koalitionsregierung mit Meretz, Tzomet und den ultraorthodoxen Parteien (zusammen 74 Sitze) vorstellen.“ Vgl. DB Nr. 640; B 36, ZA-Bd. 185341. 22 Zur Mittelmeerpolitik der EG vgl. Dok. 105, Anm. 41. 23 Korrigiert aus: „3)“. Die nachfolgende Nummerierung wurde durchgehend korrigiert. 24 Für den von der portugiesischen EG-Ratspräsidentschaft am 28. Juni 1992 übermittelten „Report to the European Council in Lisbon on the likely development of the Common Foreign and Security Policy (CSFP) with a view to identifying areas open to joint action vis-à-vis particular countries or groups of countries“ vgl. das FS Nr. 1264 aus Lissabon (Coreu); B 220, ZA-Bd. 165255. VLR Schulze teilte am 29. Juni 1992 mit: „Im Mittelpunkt des aufgrund eines Mandates vom ER Maastricht erstellten Papieres stehen Erläuterungen zu dem neuen Instrumentarium der gemeinsamen Aktionen und zwar insbes. ggü. einzelnen Staaten und Staatengruppen (Ziff. III). Die Beratungen zur Ausgestaltung der sicherheitspolitischen Zusammenarbeit (Ziff. IV) sollen unter brit. Präsidentschaft fortgesetzt und bis zum Inkrafttreten des Vertrages über die Europäische Union abgeschlossen sein.“ Vgl. RE Nr. 78; B 220, Bd. 165255. 25 Portugal hatte vom 1. Januar bis 30. Juni 1992 die EG-Ratspräsidentschaft inne.

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7) KSZE – KSE: Erwartung an den Helsinki-Gipfel26, insbesondere von Schritten, um die KSZE effizienter und operativer zu gestalten. Auf unseren Vorschlag appelliert der ER an alle Parteien des KSE-Vertrages, die noch ausstehenden Ratifizierungen zu beschleunigen. 8) ER unterstreicht Bedeutung der in der NV- und Waffenexportpolitik bisher erreichten Harmonisierungsschritte (NV: Einigung auf eine Liste der zu kontrollierenden Güter, konventioneller Waffenexport: Einigung auf ein „achtes Kriterium“). 9) Südliches Afrika: Unter Bezug auf jüngste Ereignisse in SUA27 kommt Engagement der künftigen britischen Präsidentschaft zum Ausdruck, der SUA-Reg. bei Überwindung der Gewalt zu helfen. Ankündigung eines AM-Troika-Besuches.28 Appell der Wiederaufnahme der CODESA-Verhandlungen.29 10) MOE: Bekräftigung der Unterstützung der Reformprozesse. Hoffnung auf einen friedlichen und konstruktiven Fortgang der Verhandlungen über die staatliche Zukunft der ČSFR. 11) GUS: Im Sinne der GUS-Hilfe-Konferenz von Lissabon (23./24.5.)30 Bekräftigung des europäischen Beitrags im Rahmen der KSZE. Appell an die Konfliktparteien in Georgien, Moldawien und Nagorny Karabach, die Gewaltanwendung zu beenden und den KSZERahmen für Friedensbemühungen zu nutzen. Koenig31 B 5, ZA-Bd. 161325

26 Zur KSZE-Gipfelkonferenz am 9./10. Juli 1992 vgl. Dok. 226. 27 Zur Entwicklung in Südafrika vgl. Dok. 230. 28 Zum Besuch der EG-Troika am 2./3. September 1992 in Südafrika vgl. Dok. 267, Anm. 16. 29 Zu den Gesprächen im Rahmen der Convention for a Democratic South Africa (CODESA II) vgl. Dok. 105, Anm. 46. 30 Zur Koordinierungskonferenz für humanitäre Hilfe an die GUS-Mitgliedstaaten sowie an Georgien vgl. Dok. 160. 31 Paraphe.

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202 Vorlage des Vortragenden Legationsrats I. Klasse Gruber für Bundesminister Kinkel 241-376.00 SB

1. Juli 19921

Über D 2 A i. V.2 Herrn Staatssekretär3 Herrn Bundesminister4 Betr.:

Abschließende Akte der Verhandlungen über Personalstärken konventioneller Streitkräfte in Europa (KSE I a-Abkommen); hier: Abschluss der Verhandlungen

Anlg.: 1) Text der „Abschließenden Akte“ 2) Übersicht der nationalen Personalhöchststärken5 Zweck der Vorlage: Zustimmung zu dem Vorgehen unter Ziffer I.2. I.1) Am 30. Juni wurden die Verhandlungen über die konventionellen Streitkräfte in Europa mit der Annahme des Entwurfs der „Abschließenden Akte der Verhandlungen über die Personalstärken konventioneller Streitkräfte in Europa“ formell beendet. Damit konnte in nur 20-monatigen Verhandlungen seit November 1990 ein Truppenbegrenzungsabkommen ausgehandelt werden, das die konventionellen Land-, Luft- und Luftverteidigungsstreitkräfte der KSE-Vertragsstaaten durch die Festlegung nationaler Personalhöchststärken begrenzt. 2) Der Abkommensentwurf wurde der Annahme in „Silence procedure“ bis zum 3. Juli unterworfen. Es ist beabsichtigt, die „Abschließende Akte“ am 6. Juli durch die Delegationsleiter in Wien zu paraphieren. Am Rande des KSZE-Gipfeltreffens in Helsinki am 9./10. Juli6 soll das Truppenbegrenzungsabkommen unterzeichnet werden.7 Noch zu entscheiden bleiben in Wien und Helsinki die Ebene und Modalitäten der Unterzeichnung. Der Vorschlag der Unterzeichnung auf Ebene der Regierungschefs gewinnt an Boden. Ungewiss ist, ob die übrigen Staaten zur Unterzeichnung durch Regierungschefs und Außenminister – wie wir vorgeschlagen hatten – bereit sein werden. 1 2 3 4

Die Vorlage wurde von LRin I Weil konzipiert. Hat MDg Roßbach am 1. Juli 1992 vorgelegen. Hat StS Kastrup am 2. Juli 1992 vorgelegen. Hat BM Kinkel am 4. Juli 1992 vorgelegen. Hat VLR Brose am 6. Juli 1992 vorgelegen, der den Rücklauf über das Büro Staatssekretäre, MD Chrobog und MDg Roßbach an Referat 241 verfügte und handschriftlich vermerkte: „Verf[asser]in telef[onisch] vorab unter[richtet]“. Hat VLR I Reiche am 6. Juli 1992 vorgelegen. Hat MDg Roßbach am 7. Juli 1992 erneut vorgelegen. Hat VLR I Gruber am 7. Juli 1992 erneut vorgelegen. 5 Dem Vorgang beigefügt. Für die „Abschließende Akte der Verhandlungen über Personalstärken der konventionellen Streitkräfte in Europa“ sowie für die Übersicht über die nationalen Personalhöchststärken vgl. B 43, ZA-Bd. 177820. Vgl. auch BULLETIN 1992, S. 753–758. 6 Zur KSZE-Gipfelkonferenz am 9./10. Juli 1992 vgl. Dok. 226. 7 Zur Unterzeichnung der „Abschließenden Akte“ vgl. Dok. 221.

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Es wird gebeten, der Annahme des ausgehandelten Abkommensentwurfs in dem vorgesehenen Verfahren zuzustimmen. II. Zu Inhalt und Bedeutung des Abkommens ist Folgendes festzuhalten: 1) Die „Abschließende Akte“ baut auf dem Vertrag vom 19. November 1990 über konventionelle Streitkräfte in Europa (KSE-Vertrag) auf, der die fünf wichtigsten Kategorien konventioneller Waffen begrenzt, aber keine Aussage zum Personal der Streitkräfte trifft. Die Vertragsstaaten hatten sich in dem KSE-Vertrag verpflichtet, auf der Grundlage des gleichen Mandats vom Januar 19898 die Verhandlungen mit dem Ziel fortzusetzen, ein Übereinkommen zur Begrenzung der Personalstärken der konventionellen Streitkräfte zu treffen. 2) Diese Vereinbarung ging in erster Linie auf das deutsche Interesse zurück, die im Zusammenhang mit der deutschen Einigung begründete völkerrechtliche Verpflichtung der Bundesrepublik, die Streitkräfte des vereinten Deutschlands auf eine Personalstärke von 370 000 Mann (davon 345 000 Mann Land- und Luftstreitkräfte) zu reduzieren9, in einen multilateralen Zusammenhang zu stellen, um einer Singularisierung Deutschlands entgegenzuwirken. 3) Die „Abschließende Akte“ trägt dem deutschen Hauptinteresse Rechnung. Sie wird die Form eines politisch bindenden Dokuments, nicht eines völkerrechtlichen Vertrags haben. Die „Abschließende Akte“ wird folglich nicht ratifizierungsbedürftig sein. Wir hatten uns ursprünglich für die völkervertragsrechtliche Form eingesetzt, doch wir können auch mit dem Erreichten zufrieden sein. Entscheidend ist für uns wie für die übrigen Teilnehmerstaaten die Begründung einer bindenden Vereinbarung. Der Ursprung der Bindungswirkung ist demgegenüber von sekundärer Bedeutung. Mit dieser Form werden wir die im Zusammenhang mit der KSE-Vertragsratifizierung in einer Reihe von Mitgliedstaaten aufgetauchten Probleme und das damit verbundene verzögerte Inkrafttreten vermeiden können. 4) Mit ihren Bestimmungen über nationale Personalobergrenzen, Informationsaustausch, stabilisierende Maßnahmen und Verifikation legt die „Abschließende Akte“ erstmals in der Geschichte der Abrüstung und Rüstungskontrolle Mechanismen der Transparenzbildung und Berechenbarkeit in Bezug auf das Personal konventioneller Streitkräfte fest. 5) Kernstück der „Abschließenden Akte“ bilden die nationalen Personalbegrenzungen. Sie gelten für das gesamte Personal der Land-, Luft- und Luftverteidigungsstreitkräfte sowie der landgestützten Marinestreitkräfte, soweit sie mit vom KSE-Vertrag erfassten konventionellen Waffen und Geräten ausgerüstet sind, der zentralen Stäbe und Einheiten. Ein Verhandlungserfolg ist, dass auch das Personal der Fern- und Transportfliegerkräfte sowie der bodengestützten Luftverteidigung, das RF lange ausschließen wollte, den Begrenzungen unterliegt. Personal der Reserve ist nur insoweit in die nationalen Obergrenzen einbezogen, als es länger als 90 Tage in Folge zum militärischen Dienst herangezogen wird. 8 Für das Mandat für Verhandlungen über konventionelle Streitkräfte in Europa und die zugehörigen Dokumente vgl. BULLETIN 1989, S. 96–99. Vgl. auch AAPD 1989, I, Dok. 13. 9 Am 30. August 1990 erklärte BM Genscher vor dem Plenum der KSE-Verhandlungen in Wien, dass sich die Bundesrepublik verpflichte, ihre Land- und Luftstreitkräfte auf 345 000 Mann zu reduzieren. Vgl. BULLETIN 1990, S. 1129–1131. Vgl. ferner AAPD 1990, II, Dok. 280, sowie DIE EINHEIT, Dok. 147. Die Erklärung wurde in Artikel 3 Absatz 2 des 2+4-Vertrags vom 12. September 1990 aufgenommen. Vgl. BGBl. 1990, II, S. 1322 f.

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6) Die festgelegten Obergrenzen gehen auf die von den Teilnehmerstaaten für sich eingebrachten Begrenzungszahlen zurück. Die nationalen Begrenzungszahlen waren nicht Gegenstand formeller Verhandlungen. Die vereinbarten Personalobergrenzen stellen insgesamt ein ausgewogenes Ergebnis dar (vgl. Anl. 2). Allgemeine Tendenz der nationalen Höchststärken ist eine leichte Reduzierung im Vergleich zu den im September 1991 ausgetauschten Ist-Zahlen. Den zahlenmäßig stärksten Reduzierungen unterwerfen wir uns (19 %), gefolgt von PL (18 %), BEL (15 %), ČSFR (14 %), F (10 %) und UNG (12 %). In Einzelfällen liegen die Begrenzungen über den Ist-Zahlen aus 1991 und über den für die Zukunft geplanten tatsächlichen Personalumfängen und beinhalten somit ein gewisses „Aufwuchspolster“ (UK, RUM, NWG und LUX). Die USA haben im Vergleich zu der geplanten tatsächlichen Stärke ihrer Truppen in Europa einen „Puffer“ von ca. 150 % eingeplant. Ihr Hauptinteresse liegt darin, ausreichende Flexibilität für die Möglichkeit, den Aufwuchs der US-Kräfte in Europa in Krisenlagen und von Einsätzen auch außerhalb des Anwendungsgebiets der „Abschließenden Akte“ zu erhalten10. Spanien, gefolgt von Portugal, macht regionale Spannungen mit Blick auf Nordafrika geltend, um die Überschreitung der Ist-Stärken aus 1991 um 42 bzw. 53 % zu rechtfertigen. Die relativ hohen Personal-Höchststärken der UKR (450 000), WEI (100 000) und der RF (1 450 000) dürften über den – insbesondere längerfristig – geplanten tatsächlichen Personalumfängen liegen. Insoweit ist wohl auch in den von den GUS-Staaten vorgelegten Begrenzungszahlen ein nationaler Planungsspielraum enthalten. Im Gesamtbild der Personalstärken im Vergleich der nationalen Streitkräfte liegen wir mit 345 000 Mann an der Spitze der Staaten in Mitteleuropa, gefolgt von F, I, SP, UK, US und PL. Nur RF, TUR und UKR haben höhere Obergrenzen als wir. 7) Die genannten Zahlen werden durch das vorliegende Dokument nicht ad infinitum festgelegt, sondern sie werden einem Revisionsmechanismus unterworfen, der bei entsprechender Notifizierung Änderungen nach unten und – unter engen Voraussetzungen nach abgestuftem Konsultationsverfahren – nach oben ermöglicht. Die „Abschließende Akte“ ist insofern ein lebendiges Abkommen, das auf die sich wandelnde politische und tatsächliche Lage flexibel antworten kann. 8) Von großer sicherheitspolitischer Bedeutung sind neben den nationalen Personalobergrenzen die Regelungen über den Informationsaustausch und die Stabilisierenden Maßnahmen, die der Erweiterung der militärischen Transparenz des Streitkräftepersonals dienen. Der Informationsaustausch, der über die Bestimmung des zu begrenzenden Personals hinaus auch die paramilitärischen und die den Vereinten Nationen unterstellten Kräfte sowie die im vergangenen Jahr zu Übungen einberufenen Reservisten umfasst, findet in jährlichem Turnus statt. Die zu liefernden Informationen werden hinsichtlich der großen Masse des Personals vom Inkrafttreten der „Abschließenden Akte“ bis zur Ebene des unabhängigen bzw. des separat dislozierten Bataillons aufgeschlüsselt. Für Verbände ohne vertraglich erfasstes Gerät werden nach Verbänden aufgeschlüsselte Zahlen bis zur Regiments-/Brigadeebene erst 40 Monate nach Inkrafttreten der „Abschließenden Akte“, d. h. ab dem Zeitpunkt notifiziert, ab dem die nationalen Obergrenzen gelten. Die vereinbarten Stabilisierenden Maßnahmen begründen Notifizierungsverpflichtungen im Falle der ständigen Erhöhung des Personalumfangs militärischer Verbände, der 10 So in der Vorlage.

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Einberufung von mehr als 35 000 Reservisten sowie des Wechsels der Unterstellung von Verbänden aus dem Bereich der Begrenzung in Bereiche, die nicht den Begrenzungen unterliegen. 9) Das Verifikationsregime der „Abschließenden Akte“ baut im Wesentlichen auf dem Inspektionsregime des KSE-Vertrags auf und trägt dem grundlegenden Rüstungskontrollprinzip Rechnung, wonach die Einhaltung von Begrenzungen überprüfbar sein muss. Aufgrund der bei den MBFR-Verhandlungen gemachten Erfahrungen verzichtet es auf den Anspruch, die Einhaltung der Begrenzungen durch Nachzählen der Kopfstärken im Rahmen der KSE-Inspektionen verifizieren zu wollen; es beschränkt sich auf die Möglichkeit von Stichproben im Rahmen der KSE-Inspektionen. 10) Der erfolgreiche Abschluss der Verhandlungen geht auf die konstruktive Haltung aller Beteiligten zurück. Die in die Verhandlungszeit fallende Auflösung der Sowjetunion und das Entstehen neuer unabhängiger Staaten in dem ehemals sowjetischen Anwendungsbereich des KSE-Vertrags machten die Integration dieser neuen Staaten in den Verhandlungsprozess erforderlich. Neben RF waren UKR und WEI an den Verhandlungen in Wien beteiligt. Die übrigen fünf betroffenen Nachfolgestaaten der Sowjetunion (MOL, GEO, ARM, ASE, KAS) waren in Wien nicht präsent. Von ASE, GEO und KAS ist zu hören, dass sie noch Begrenzungszahlen vorlegen und voraussichtlich in Helsinki unterschreiben werden. Ungewiss ist die Beteiligung von ARM und MOL. Die Abschlussphase der Verhandlungen wurde im Wesentlichen von Deutschland, den USA und Russland bestimmt. Das in hohem Zeitdruck und unter großem Einsatz der Verhandlungsführer ausgehandelte Dokument stellt eine Kompromisslösung zwischen diesen drei Staaten dar, der sich die übrigen Teilnehmerstaaten angeschlossen haben. Das erzielte Ergebnis steht nunmehr zur Bewährung im neuen europäischen Kräftespiel an. Gruber B 43, ZA-Bd. 177820

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203 Vorlage des Vortragenden Legationsrats Petri für Staatssekretär Lautenschlager 424-9-410.70

1. Juli 1992

Über RL 4241, Dg 422, D 43 Herrn Staatssekretär4 Betr.:

COCOM; hier: Sachstand

Bezug: Ihre Weisung in der Direktorenbesprechung am 30.6.1992 Anlg.: 55 Zweck der Vorlage: Zur Unterrichtung Der von Ihnen in der Direktorenbesprechung am 30.6.1992 im Zusammenhang mit DB 665 vom 27.6.1992 aus Paris (Anlage 16) erbetene Sachstand über die jüngste Entwicklung im COCOM ist folgender: 1) Ausgangspunkt ist der Brief vom 21.5.1992 von US-AM Baker an BM Dr. Kinkel, in dem er in Anlehnung an den NATO-Kooperationsrat die Einrichtung eines ähnlichen Gremiums auch im COCOM vorschlug. Ziel dieses Gremiums soll sein: – den MOEs bzw. den GUS-Staaten den Zugang zu kontrollierter Technologie zu erleichtern; – ihnen Technische Hilfe beim Aufbau COCOM-vergleichbarer Exportkontrollsysteme zu geben; – die Möglichkeit zur Diskussion „neuer strategischer Bedrohungen“ zu schaffen.7 In seiner Antwort vom 29.5.1992 bestätigte BM Dr. Kinkel, dass diese Vorstellungen weitgehend auch unseren Vorstellungen entsprechen. Besonders wichtig erscheine der Gedanke der Technischen Hilfe beim Aufbau von Exportkontrollsystemen in den bisherigen COCOM-Zielländern, weil dies eine wichtige Voraussetzung sowohl für den erleichterten 1 Hat VLR I Ackermann am 1. Juli 1992 vorgelegen. 2 Hat MDg Schönfelder am 1. Juli 1992 vorgelegen, der handschriftlich vermerkte: „Im Anschluss an das High Level Meeting am 1.6.92 habe ich bilateral mit den Franzosen über die Zukunft von COCOM gesprochen. Wir sind übereingekommen, die Möglichkeit einer französisch-deutschen Initiative zur weiteren Liberalisierung von COCOM zu prüfen und im Herbst weiter darüber zu sprechen.“ 3 Hat MD Dieckmann am 2. Juli 1992 vorgelegen. 4 Hat StS Lautenschlager am 3. Juli 1992 vorgelegen, der die Wörter „französisch-deutschen Initiative“ in der Bemerkung von MDg Schönfelder hervorhob und handschriftlich vermerkte: „r[ichtig]“. Hat in Vertretung des MD Dieckmann MDg von Kyaw am 6. Juli 1992 vorgelegen, der den Rücklauf über MDg Schönfelder an VLR I Ackermann verfügte. Hat Ackermann, auch in Vertretung von Schönfelder, am 7. Juli 1992 erneut vorgelegen. 5 Vgl. Anm. 6, 9, 10, 12 und 13. 6 Dem Vorgang beigefügt. BR Spengler, Paris, informierte über einen ersten Meinungsaustausch zur Reform des COCOM sowie zur Ausgestaltung des COCOM-Kooperationsforums (CCF) am 25./26. Juni 1992. Vgl. B 70, ZA-Bd. 220757. 7 Für das Schreiben des amerikanischen AM Baker vom 21. Mai 1992 an BM Kinkel vgl. B 70, ZA-Bd. 220757.

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Zugang zu sensitiven Technologien als auch für die Einbeziehung der östlichen Staaten in die Nichtverbreitungsbemühungen sei. BM Dr. Kinkel betonte aber auch, dass das neue Gremium unter keinen Umständen im Widerspruch zu dem Ziel der Stärkung der bestehenden Nichtverbreitungsregime stehen dürfe und dass zur Erfüllung der hohen Erwartungen, die sich an die Baker-Initiative knüpfen, eine grundlegende Vereinfachung und Liberalisierung der Entscheidungsmechanismen des COCOM unerlässlich sei.8 (Zum Briefwechsel siehe Anlage 2.9) 2) Auf dem COCOM High Level Meeting am 1. Juni 1992 wurde auf der Grundlage der Baker-Initiative im Grundsatz die Einrichtung eines „Informal COCOM Cooperation Forum on Export Controls“ beschlossen (vgl. Summary of Conclusions als Anlage 310). Die weiteren Einzelheiten sollen von einer Arbeitsgruppe erarbeitet werden.11 Mit unserer Vorstellung, die Baker-Initiative als Anlass für eine tiefgreifende Reform der COCOM-Entscheidungsmechanismen im Genehmigungsverfahren (d. h. Abkehr vom Konsensverfahren – General Exceptions – zur harmonisierten nationalen Entscheidung – Administrative Exceptions) schon zum jetzigen Zeitpunkt zu nutzen, konnten wir uns zwar nicht durchsetzen. Es gelang aber immerhin, im Mandat für das Kooperationsforum Formulierungen einzubringen, die klar in die Richtung auf dieses Ziel weisen (vgl. auch Schlussbericht – DB 1392 aus Paris vom 2.6.1992 – Anlage 412). 3) Die vom High Level Meeting am 1.6.1992 eingesetzte Arbeitsgruppe tagte zum ersten Mal am 25. und 26.6.1992. Für diese Sitzung hatten wir zuvor ein Memorandum eingereicht (Anlage 513), in dem wir unsere Vorstellungen über die Notwendigkeit einer tiefgreifenden Reform der COCOM-Entscheidungsstrukturen im Genehmigungsverfahren noch einmal präzisierten. Unser Vorschlag, das General Exceptions-Verfahren abzuschaffen, wurde zwar von F, I, E, NL, DK und B unterstützt. USA, GB und CND sehen einen solchen Schritt erst in einem späteren Stadium, nämlich nach nachweislichen Fortschritten der Zielländer beim Aufbau eigener Exportkontrollen, für gerechtfertigt. Obwohl die Arbeitsgruppe sich neben diesem Thema hauptsächlich erst einmal mit organisatorischen und technischen Einzelfragen befasste, bestätigte sich erneut unsere Befürchtung, dass die USA mit dem Kooperationsforum vor allem auch ihr Interesse verfolgen, ihren bisherigen dominierenden Einfluss im Exportkontrollbereich nicht nur fortzusetzen, sondern auch auf die bisherigen Zielländer des COCOM auszudehnen. Wir werden deshalb weiterhin an unserem Vorschlag festhalten und darauf drängen, das General Exceptions-Verfahren zum frühestmöglichen Zeitpunkt abzuschaffen und durch 8 Für das Schreiben des BM Kinkel vom 29. Mai 1992 an den amerikanischen AM Baker vgl. B 70, ZABd. 220757. 9 Dem Vorgang beigefügt. Vgl. Anm. 7 und 8. 10 Dem Vorgang beigefügt. Für das „Summary of Conclusions“ vgl. B 70, ZA-Bd. 220757. 11 Die erste Sitzung des COCOM-Kooperationsforums (CCF) fand am 23./24. November 1992 in Paris statt. Vgl. Dok. 394. 12 Dem Vorgang beigefügt. MDg Schönfelder, z. Z. Paris, berichtete zum „High Level Meeting“ am Vortag: „Die Reform von COCOM ist eingeleitet. Es bleibt gleichwohl zu überlegen, auf welche Weise wir den Prozess weiter beschleunigen können, um in die angestrebte Zusammenarbeit mit CIS ein kooperationsfreundlicheres COCOM einbringen zu können.“ Vgl. B 70, ZA-Bd. 220757. 13 Dem Vorgang beigefügt. Für das „Memorandum By The German Delegation On COCOM Cooperation Forum“ (COCOM Doc CCF (92) 1) vom 22. Juni 1992 vgl. B 70, ZA-Bd. 220757.

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ein System der Harmonisierung nationaler Genehmigungsentscheidungen bzw. Konsultationsverfahren bei besonders sensitiven Gütern, wie es auch in den anderen Exportkontrollregimen praktiziert wird, zu ersetzen. 4) Zweites wichtiges Thema des High Level Meeting am 1.6.1992 war der Bereich Telekom. Auch hier konnten wir uns zwar nicht mit der Überlegung durchsetzen, dass die BakerInitiative Anlass dafür sein sollte, von der mühsamen Diskussion über technische Kontrollparameter abzugehen und z. B. unseren ursprünglichen Vorschlag anzunehmen, alles freizugeben, was unter die Normen der International Telecommunication Union14 fällt. Andererseits gelang es aber in zähen Verhandlungen doch, den Amerikanern und vor allem auch Briten einen sehr viel weiteren Bereich für eine nationale Entscheidung abzukämpfen, als diese noch bis zur letzten Minute zu konzedieren bereit waren. Insbesondere ist es uns gelungen, ständig wiederholte Versuche der USA abzuwehren, Konsultationsklauseln so zu gestalten, dass sie am Ende doch wieder auf ein verschleiertes Konsensverfahren (= Vetorecht) hinauslaufen. Der am Ende erzielte Kompromiss reicht aus, unseren Forderungen gerecht zu werden, dass in die GUS-Staaten der Export moderner und kostengünstiger Telekom-Technologie in letztlich nationaler Entscheidung möglich sein muss. Gleichwohl werden wir uns auch hier zusätzlich zu unseren Bemühungen um eine allgemeine Liberalisierung der Genehmigungsverfahren auch in Zukunft für weitere Erleichterungen im Telekom-Bereich im Rahmen der fortlaufenden Listenrevision einsetzen. 5) Abgesehen von der Streichung Ungarns aus der Liste der Zielländer mit Wirkung vom 1.5.1992 haben sich in jüngerer Zeit keine weiteren Veränderungen im COCOM ergeben. Polen und die Tschechoslowakei haben noch nicht alle notwendigen Voraussetzungen für die Streichung von der Länderliste erfüllt. Es wird aber damit gerechnet, dass dies noch im Laufe dieses Jahres geschieht. Petri B 70, ZA-Bd. 220757

14 Korrigiert aus: „Internationalen Telegraphen Union“.

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2. Juli 1992: Gespräch zwischen Kastrup und Schönbohm

204 Gespräch des Staatssekretärs Kastrup mit Staatssekretär Schönbohm, Bundesministerium der Verteidigung 201-360.11

2. Juli 19921

StS-Gespräch im BMVg am 2.7.92 Anlg.: 1 1) Am 2.7. fand im BMVg auf Einladung von StS Schönbohm ein informelles Gespräch mit StS Kastrup statt. Weitere Teilnehmer aufseiten des BMVg: Dr. Weise, stellv. Leiter Planungsstab; Kpt. z. S. Feist (RL Fü S III 1); Oberstleutnant Kaschke, Adjutant StS; aufseiten des AA D 22; RL 2013; VLR Dr. Ney. Das Gespräch war vereinbart als Gedankenaustausch über anstehende Themen gemäß Absprache (vgl. Anlage). StS Kastrup dankte für die Gesprächsinitiative von StS Schönbohm. Beide Staatssekretäre unterstrichen die Bedeutung derartiger Treffen und ihre Bereitschaft, dies fortzusetzen. 2) StS Schönbohm unterrichtete über seinen anstehenden Besuch am 13.7. in Paris. Er werde dort Gespräche führen mit Verteidigungsminister Joxe sowie Vertretern des Élysée und des Quai.4 Das Eurokorps sowie amerikanische Kritik werde dabei sicher eine Rolle spielen. Gespräche mit Amerikanern – zuletzt Eagleburger – brächten keine Klarheit, ob die USA unsere Unterrichtungen zum Eurokorps nicht verstehen wollten oder wirklich nicht ver1 Der Gesprächsvermerk wurde von VLR I Bertram am 3. Juli 1992 gefertigt und über MD Chrobog an VLR Ney geleitet „mit der Bitte, Billigung durch Herrn StS einzuholen“. Hat Chrobog am 3. Juli 1992 vorgelegen. Hat Ney am 3. Juli 1992 vorgelegen, der die Weiterleitung an StS Kastrup „m[it] d[er] B[itte] um Billigung“ verfügte. Hat Kastrup am 3. Juli 1992 vorgelegen. Hat Ney am selben Tag erneut vorgelegen, der den Rücklauf an Bertram verfügte. Hat Bertram erneut vorgelegen. 2 Jürgen Chrobog. 3 Hans-Bodo Bertram. 4 StS Schönbohm, BMVg, hielt sich am 13./14. Juli 1992 in Frankreich auf. Oberst i. G. Speidel, Paris, berichtete am 16. Juli 1992: „In einem über einstündigen Vier-Augen-Gespräch mit VM Joxe war die Aufstellung des Eurokorps und die Einbeziehung weiterer Nationen ein zentrales Thema. […] Hier, wie bei den folgenden Begegnungen, machte StS Sch[önbohm] deutlich, dass es nun darauf ankomme, möglichst rasch eine Vereinbarung über die Beziehungen des Eurokorps zur Kommandostruktur der NATO zu treffen. Hierin müsse die angestrebte und angekündigte Stärkung der NATO zum Ausdruck kommen. Diese Vereinbarung würde es den interessierten WEU-Partnern erleichtern, sich am Eurokorps wirklich zu beteiligen. Die Gesprächspartner stimmten dieser Beurteilung grundsätzlich zu.“ Speidel berichtete weiter, Schönbohm habe außerdem Gespräche geführt mit Beratern des RPR-Vorsitzenden Chirac, dem GS des französischen Außenministeriums, Boidevaix, und Abteilungsleiter Dejammet, den Beratern von Staatspräsident Mitterrand, Quesnot und Vidal, sowie im französischen Verteidigungsministerium: „Die Bereitschaft, möglichst rasch zu einer Vereinbarung zwischen Eurokorps und NATO zu kommen, ist deutlich spürbar, auch wenn noch nicht überall (vor allem außerhalb des Verteidigungsministeriums) Vorbehalte gegen eine vermeintlich zu enge Anbindung an die NATO abgebaut sind.“ Vgl. DB Nr. 1808; B 14, ZA-Bd. 161177.

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stünden. Auch gebe es sowohl von französischer wie amerikanischer Seite Hinweise auf unterschiedliche Informationen. StS Kastrup und D 2 bestätigten den Eindruck, dass es hier unterschiedliche Interpretationen gäbe. Auch bestehe der Eindruck, dass die USA in ihrer Kritik überzögen und fast hysterisch reagierten. StS empfahl, eine klare Sprache sowohl gegenüber US als auch F zu führen und darauf zu achten, dass wir nicht zwischen die Stühle gerieten. StS erläuterte die Entstehungsgeschichte des Korps und die ursprünglichen Motive: Einbindung deutscher Truppen durch Integration mit französischen als „vertrauensbildende Maßnahme“ nach der Vereinigung D. Anschließend sei dieser Gedanke von der Vorbereitung für Maastricht5 eingeholt worden. F habe ihn erweitert als Nukleus für ein europäisches Korps. In der Entstehungsphase der Überlegungen seien die USA nicht darüber informiert gewesen, was wir im Verhältnis mit F wollten. Dies gelte allerdings nicht mehr für die späteren Phasen, in denen die USA über den Fortgang genau informiert worden seien. StS Schönbohm wies darauf hin, dass die Schlüsselfrage für die USA der Inhalt der Vereinbarungen über das Verhältnis des Eurokorps zur NATO sein werde. StS Kastrup und D 2 wiesen darauf hin, dass diese Frage ganz sicher von großer Bedeutung sei. Nicht übersehen werden dürfe jedoch, dass das Eurokorps in der amerikanischen Kritik teilweise vorgeschoben werde. Im Hintergrund stehe der amerikanisch-französische Gegensatz über die Zukunft der NATO. F wolle die USA aus Europa weitgehend heraushalten und die NATO auf den Kernbereich des Artikels 56 beschränken. Dies zeige sich auch bei dem F-Widerstand gegen Peacekeeping-Möglichkeiten der NATO im Rahmen der KSZE. Wir seien hingegen der Überzeugung, dass die NATO für Peacekeeping im Rahmen der KSZE genutzt werden könne und solle. Über diese Zielsetzung bestehe volle Übereinstimmung zwischen AA und BMVg. Das Eurokorps werde von US als ein weiteres Beispiel der F-Absicht gesehen und werde uns gegenüber kritisch instrumentalisiert. Es sei ein Symptom eines tieferliegenden Problems. StS K. empfahl, diese verschiedenen Aspekte des Problems zusammen zu sehen. Man müsse mit F sehr offen sprechen und dürfe sich nicht scheuen, klar zu sagen, wie weit wir mitgehen könnten und wo es nicht mehr gehe. Allerdings – und darauf verwies D 2 – werden wir uns auch nicht bei US von dem Eurokorps distanzieren. Die USA müssen akzeptieren, dass wir eine europäische Struktur aufbauen, einen Prozess, dessen Akzeptanz sie früher stets erklärt haben. StS Schönbohm hat aus seinen Gesprächen insb. mit Eagleburger den Eindruck, dass die USA keine konzeptionelle Vorstellung hätten, wie sie sich den Aufbau einer europäischen Sicherheits- und Verteidigungsidentität vorstellen sollten. Aus dieser Unsicherheit heraus neige man dann dazu, alles zu blockieren. Ein vertieftes Gespräch in dieser Sache sei allerdings erst nach den amerikanischen Präsidentschaftswahlen7 wieder möglich. Auf Frage nach den wahren Absichten F, insb. ob sie wirklich die USA aus Europa herausdrängen wollten, wies D 2 darauf hin, dass französische Gesprächspartner hierzu keine ehrliche Antwort geben würden. Derartige Absichten würden schlicht geleugnet. Bezeichnend für entsprechende Absichten sei aber beispielsweise das erste Memorandum, 5 Zur Tagung des Europäischen Rats am 9./10. Dezember 1991 vgl. AAPD 1991, II, Dok. 425 und Dok. 431. 6 Für Artikel 5 des NATO-Vertrags vom 4. April 1949 vgl. BGBl. 1955, II, S. 290. 7 In den USA fanden am 3. November 1992 Präsidentschaftswahlen, Wahlen zum Repräsentantenhaus sowie Teilwahlen zum Senat und für die Gouverneursämter statt.

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mit dem F seine Überlegungen zu einem Sicherheitsvertrag im Rahmen der KSZE8 vorgelegt habe. Andererseits unterließen aber auch die USA nichts, um das gegenwärtig sehr gespannte Verhältnis zu F noch weiter zu belasten. RL Fü S III 1 und RL 201 wiesen darauf hin, dass die französische Absicht, die NATO auf ihren Verteidigungsaspekt zu beschränken, auch für die weitere Arbeit am Eurokorps relevant sei. F interpretiere den Auftrag des Korps für die NATO gemäß Artikel 5 NATOVertrag sehr restriktiv, d. h. Artikel 5 nur als Fall eines Angriffs auf das Bündnis. Ausgeschlossen seien damit Möglichkeiten des Peacekeeping sowie Maßnahmen im Rahmen des Krisenmanagements. Französische Seite verweise hierfür auf die Zuständigkeit der WEU. F möchte diese Interpretation über die mit der NATO abzuschließenden Vereinbarungen für die Anbindung des Korps festschreiben. Abzusehen sei, dass hier eine neue Konfliktursache mit den USA sich auftun werde. StS Kastrup stellte die Frage nach einem Zeitlimit für die Ausarbeitung dieser Vereinbarungen. Es gelte – so auch D 2 – zu überlegen, ob abhängig von dem Zustand der amerikanischen Administration im Herbst des Jahres es nicht angebracht sein könnte, die Arbeiten über diesen Zeitpunkt hinauszuschieben. D 2 würde begrüßen, wenn die amerikanische Administration über die dann mit F erarbeiteten Inhalte der Vereinbarung mit der NATO vorab informiert werden könnte, und zwar in gemeinsamem Auftreten mit F. 3) Zu TOP 3 StS Kastrup stellte zur Verteidigungshilfe die Frage nach dem weiteren Vorgehen, nachdem die beiden Minister Einvernehmen erzielt hätten, den Betrag zurückzufahren. Dies müsse prozentual auch für Portugal und Griechenland erfolgen.9 Man könne sich nicht nur auf die Türkei beschränken. Offen sei noch, ob der verbliebene Betrag wie bisher verwendet werde oder eine andere Verwendung finden solle. StS Schönbohm wies auf die Entscheidung von BM Rühe hin, dass Rüstungsgüter, die aus militärischen Hilfsprogrammen stammen und unter das Kriegswaffenkontrollgesetz10 fallen, erst nach Befassung der Parlamentsausschüsse im September geliefert werden könnten. StS Kastrup stellte klar, dass hier zu unterscheiden seien die Grundsatzfrage der Verteidigungshilfe für die Türkei 93 und 94 sowie die andere Frage, was mit den bis vor kurzem durch die Entscheidung der Parlamentsausschüsse gestoppten Hilfsprogrammen zu geschehen habe. StS Schönbohm verwies auf die Ministereinigung: Beträge zurückzufahren und Ausbildungshilfe dort zu gewähren, wo wir ein gutes Angebot hätten. Dies solle im Einzelnen mit dem AA besprochen werden. Auch müsse noch geklärt werden, inwieweit die Türken an einer derartigen neuen Möglichkeit interessiert seien. Man könne sich praktische Ausbildungshilfe vorstellen. Berücksichtigt werden müsse – so D 2 –, dass die Türkei kein Entwicklungsland sei und deshalb ein derartiges Angebot qualitativ hochwertig sein müsse (z. B. Führungsakademie). StS Kastrup verwies auf Schreiben von StS Sch. vom 9.6.92.11 AA greife den Vorschlag zur Einsetzung einer ressortübergreifenden Arbeitsgruppe gerne auf. AA (Bo[tschafter] 8 Zum französischen Vorschlag eines gesamteuropäischen Sicherheitsvertrags vgl. Dok. 87. 9 Zur Verteidigungshilfe für Griechenland, Portugal und die Türkei vgl. Dok. 115 und Dok. 333. 10 Für das Ausführungsgesetz zu Artikel 26 Absatz 2 GG (Gesetz über die Kontrolle von Kriegswaffen) vom 22. November 1990 vgl. BGBl. 1990, I, S. 2507–2519. Vgl. auch AAPD 1990, II, Dok. 312. 11 In dem Schreiben an StS Kastrup wies StS Schönbohm, BMVg, darauf hin, dass die Bundesregierung die Verteidigungs- und Rüstungssonderhilfe an die Türkei „hinsichtlich Art, Umfang und Zusammensetzung“

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Klaiber) werde zu einer Besprechung einladen.12 Sicher sei jedoch, dass wir weitgehende Hilfe des BMVg benötigen, um feststellen zu können, was militärisch machbar und sinnvoll sei. Die Besprechung solle Anfang September stattfinden. StS Schönbohm erklärte sich einverstanden, bat aber darum, dass das BMVg hier nicht präemptiv tätig werden könne. Außerdem brauche es Vorlauf für die Prüfung, was angeboten werden könne. Das Angebot müsse für die Türkei qualitativ gut sein. Einverständnis bestand, dass die erste Gesprächsrunde sich zunächst auf Vertreter des AA und des BMVg beschränken solle, um dann festzulegen, ob und welche weiteren Ressorts in einer nächsten Runde mit eingeladen werden sollten. StS Kastrup verwies auf den bevorstehenden Besuch von BM Kinkel in der Türkei.13 Dort bestehe der Eindruck, dass nach dem Briefwechsel14 alles wieder wie vorher laufen werde. Für die Gespräche von BM in der Türkei müsse jetzt eine Begründung gefunden werden, warum es dennoch langsamer gehe. Auch müsse – so D 2 – BM Kinkel während seines Besuchs zu Bestätigung in der Lage sein, dass Lieferungen stattfänden und die Türkei nicht diskriminiert werde. Allseits wurde festgestellt, dass hier der Hinweis auf die Fortsetzung von Kooperationen sowie kommerzieller Lieferungen schon eine gewisse Grundlage böte. StS Kastrup stellte Frage, was die Entscheidung von BM Rühe mit ihrer Terminierung auf September in der Praxis für die Türkei bedeute. Er bat BMVg um eine Aufstellung für BM Kinkel über Stand und Umfang der Lieferungen. StS Schönbohm sagte Aufstellung bis nächste Woche Donnerstag15 zu. Ohne Vollständigkeit wies er darauf hin, dass beispielsweise die Lieferung von Stinger-Raketen bereits wiederaufgenommen worden sei. D 2 sprach sich angesichts verschiedener Vorsprachen des türkischen Botschafters16 dafür aus, dass BMVg und AA auf der gleichen Linie argumentieren sollten. StS Kastrup bekräftigte dies. Es müsse vermieden werden, dass der türkische Botschafter uns auseinanderdividieren könne. Die Arbeitsebene AA und BMVg sollten sich auf eine Linie für Anfragen der Türkei abstimmen. Dies solle möglichst schriftlich erfolgen und ausgetauscht werden. StS Schönbohm stimmte zu und empfahl, auch das Kanzleramt miteinzubeziehen. Fortsetzung Fußnote von Seite 824 überprüfen müsse. Insbesondere im Bundestag bestehe die Neigung, diese Leistungen in andere Hilfsprogramme umzuwandeln: „Dabei sollte das Ziel verfolgt werden, dem Bündnispartner Türkei anstatt bisher überwiegend materieller militärischer Unterstützung Hilfe in anderen Bereichen – wie Ausbildung, Kultur und Wirtschaft – zu leisten.“ Schönbohm schlug die Bildung einer Arbeitsgruppe unter Federführung des Auswärtigen Amts vor. Vgl. B 14, ZA-Bd. 161164. 12 Auf Einladung des Auswärtigen Amts vom 17. September 1992 fand am 30. September 1992 eine Ressortbesprechung zur Umwandlung der Verteidigungshilfe für die Türkei in andere Hilfsprogramme statt. LRin Wolf vermerkte am 8. Oktober 1992, aufgrund finanzieller Engpässe seien kurzfristige Mittelneuzuweisungen nicht zu erwarten, ohne die jedoch „keine nennenswerten neuen Ansätze zur Unterstützung der Türkei realisiert werden“ könnten. Mögliche Unterstützungsfelder seien Umweltschutz, Erosionsschutz sowie die Zusammenarbeit mit den mittelasiatischen Republiken. Vgl. B 29, ZA-Bd. 213064. 13 BM Kinkel besuchte die Türkei am 12./13. Juli 1992. Vgl. Dok. 223. 14 Zum Briefwechsel zwischen BM Kinkel und dem türkischen AM Çetin vgl. Dok. 153, besonders Anm. 7. 15 9. Juli 1992. 16 Onur Öymen.

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Zu TOP 4 StS Sch. sprach Reisepläne von BM Rühe in die GUS an. Er äußerte Zweifel über Moskau als erste Station und fragte nach Prioritäten aus unserer Sicht. StS Kastrup widersprach. In Moskau liege das politische Schwergewicht: Truppenabzug aus Deutschland, PostHelsinki, Abzug russischer Truppen aus dem Baltikum etc. Er empfahl deshalb, mit Moskau anzufangen, und dann die weitere Reihenfolge zu überlegen, wahrscheinlich als nächstes Polen, mit dem es positive militärische Beziehungen gäbe. Anschließend vielleicht Prag und Kiew. Das müsse im Einzelnen geprüft werden. StS Schönbohm sprach dann das Drängen der baltischen Staaten auf Besuche und insb. auch Hilfe mit NVA-Material17 an. Gespräch ergab Einvernehmen über Zurückhaltung gegenüber diesen Wünschen. D 2 erwähnte aus Gesprächen mit US, dass wir zwar volles Verständnis für das Drängen der Balten auf einen raschen Rückzug der russischen Truppen hätten, zumindest müsse ein Zeitplan ausgehandelt werden. Andererseits müsse den Balten jedoch klar gesagt werden, dass sie gegenüber der russischen Bevölkerung ebenfalls die KSZE-Prinzipien einhalten müssten. Sie würden bislang diesen ihren KSZE-Verpflichtungen in keinster Weise gerecht (so insb. die amerikanische Argumentation). StS Schönbohm kam dann auf die Lieferung von NVA-Material zu sprechen, die von vielen Staaten erbeten werde. So dränge Ungarn sehr stark auf eine Antwort, die bereits seit langem überfällig sei.18 StS Kastrup wies darauf hin, dass die Meinungsbildung hierzu im AA noch nicht abgeschlossen sei. Es gebe unterschiedliche Auffassungen im Hause. BM Kinkel habe mit dieser Frage noch nicht befasst werden können. Seine (StS K.) Empfehlung sei, hier größte Zurückhaltung zu zeigen, ohne dass damit aber etwas entschieden sei. StS Schönbohm stimmte zu, dass seine Haltung sehr ähnlich sei. Zwar verwiesen die Ungarn auf sehr pragmatische Gesichtspunkte, wie insb. die unverfängliche Notwendigkeit der Lieferung von Ersatzteilen. Dennoch sei er, solange die Lage in Jugoslawien nicht geklärt sei, gegen die Lieferung von NVA-Material. Ungarn habe sich mit seiner Bitte schriftlich an den Kanzler gewandt. StS Kastrup wies darauf hin, dass auch Chef BK (Hartmann) diese Bitte für sehr bedenklich halte. Auch müsse man sehen, dass im Falle einer Lieferung an Ungarn dann Polen und die Tschechoslowakei folgen müssten. Im Falle der Tschechoslowakei sei die weitere Entwicklung jedoch völlig unübersichtlich.19 StS Schönbohm wies darauf hin, dass BM Rühe sich in seiner Ressortverantwortung gegen TLE-anrechenbare Waffenlieferungen in Nicht-NATO-Länder ausgesprochen habe. Er wolle lieber verschrotten, als in ein Pulverfass gezogen zu werden. Der Druck von Ungarn auf eine Antwort nehme allerdings zu. Eine Entscheidung könne jedoch nur im BSR erfolgen. D 2 stimmte zu, dass eine klare Antwort über kurz oder lang notwendig sei. 17 VLR I Lambach notierte am 6. Juli 1992: „Bezüglich der Abgabe von Rüstungsmaterial der ehemaligen NVA an die baltischen Staaten hatte der Bundessicherheitsrat am 25. Mai 1992 beschlossen, KSEvertragsbegrenztes Gerät nicht zu liefern, über die Abgabe sonstiger Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsmaterials jedoch im Einzelfall im Umlaufverfahren zu entscheiden.“ An der bisherigen „restriktiven Linie gegenüber den Lieferungswünschen der baltischen Staaten (und der anderen MOE-Staaten) sollte grundsätzlich festgehalten werden. Die im Baltikum bisher in vertragslosem Zustand stationierten ehemals sowjetischen Truppen bleiben vorerst ein Spannungsfaktor. In Estland und Lettland könnten außerdem die noch ungeklärten Minderheitenfragen zu einer Erhöhung der Spannungen beitragen.“ Vgl. B 70, ZA-Bd. 220710. 18 Zur Frage der Lieferung von Material der ehemaligen NVA nach Ungarn vgl. Dok. 193 und Dok. 326. 19 Zur Entwicklung in der ČSFR vgl. Dok. 216.

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StS Kastrup empfahl, dass beide Häuser versuchen sollten, die Frage an den jeweiligen Minister heranzubringen, um ein Gefühl für die Entscheidungspräferenz zu bekommen. Man solle sich dann im September nochmals zusammensetzen, um eine Linie vorzubereiten vor einer Vorlage an den BSR, die im Vorfeld abgeklärt werden sollte. Zu TOP 5 StS Kastrup erläuterte, dass wir im 2+4-Vertrag klare Verpflichtungen eingegangen seien. Ihm werde gesagt, dass im BMVg teilweise die Tendenz bestünde, mit Ausnahmeüberlegung bis an den Rand des Möglichen zu gehen. Er bat um eine klare Linie der Vertragstreue. Derartige Tendenzen seien wahrscheinlich bei UK und teilweise auch USA. Versuche schüfen nur unnötige Probleme. StS Schönbohm stimmte uneingeschränkt zu. Er sprach dann Kriterien für die Ausbildungshilfe an der Führungsakademie in Hamburg an. Hier gebe es teilweise Schwierigkeiten mit dem AA. Er nannte als Beispiel Indonesien. Wir lieferten zwar Schiffe, aber seien gegen die Teilnahme von Lehrgangsteilnehmern. Wünschenswert sei, dass Entscheidungen rechtzeitig vorher bekannt seien, damit etwa die Militärattachés in den jeweiligen Ländern Einladungen steuern könnten. StS Kastrup bestätigte, dass diese militärischen Ausbildungsprogramme im AA zunehmend aufmerksamer und teilweise kritisch beobachtet würden. Er sei im Parlament in verschiedenen Ausschüssen (Auswärtiger Ausschuss, Haushaltsausschuss, Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit) schon damit konfrontiert worden. Diese Programme liefen seit den 60er Jahren mit dem Ziel, vor Augen zu führen, wie eine Armee in einer Demokratie funktioniere. Dieser Ansatz sei voll zu bejahen. Jedoch sei der Einfluss dieser Lehrgangsteilnehmer zu Hause nicht immer so, wie wir ihn gewünscht hätten. In einigen dieser Länder spiele die Armee eine unrühmliche Rolle, z. B. Thailand. Hier seien dann sofort Anhaltspunkte zur Kritik gegeben. Der frühere Bundesaußenminister habe in diesen Fragen eine sehr rigide Haltung vertreten. Er stelle sich deshalb die Frage, ob diese Programme heute noch sinnvoll seien, oder ob es nicht vernünftiger sei, statt Militärhilfe Hilfe beim Aufbau demokratischer Strukturen zu leisten, z. B. Aufbau von Parteien, Wahlen.20 StS K. empfahl intensive Abstimmung mit AA. Es könne auch nicht im Sinne des BMVg und der Bundeswehr sein, wenn durch Lehrgangsteilnehmer später Misskredit entstehe. StS Schönbohm teilte Bewertung und sagte frühzeitige Abstimmung zu. StS Kastrup ergänzte, dass Entscheidungen dann auch den jeweiligen Gastländern in voller Wahrheit gesagt werden müssten. Zu TOP 621 StS K. verzichtet auf die von uns gewünschte Behandlung, da AA noch nicht so weit sei.22 StS Schönbohm erläuterte, dass im BMVg ein weit verbreiteter starker Drang zu einer Zusammenarbeit mit Israel bestehe. Dies habe eine lange Vorgeschichte. Die Zusammen20 Zum Demokratisierungshilfeprogramm vgl. Dok. 278. 21 In einer Vorlage vom 1. Juni 1992 für den BSR erläuterte BM Rühe, seit 1967 gebe es zwischen der Bundesrepublik und Israel eine „enge Zusammenarbeit in der technischen Auswertung fremden Wehrmaterials“, was im Einzelfall auch einschließe, „sich gegenseitig Gerät zu Auswertezwecken leihweise zur Verfügung zu stellen“. Hiervon sei die Bundesrepublik bis 1990 „fast ausschließlich Nutznießer“ gewesen und habe erst nach Übernahme der NVA im Oktober 1990 Israel in größerem Umfang „Wünsche nach leihweiser Überlassung moderner sowjetischer Waffensysteme“ erfüllen können. Im Oktober 1991 sei eine für Israel bestimmte Lieferung im Hamburger Hafen beschlagnahmt worden. Rühe schlug vor, der BSR möge die grundsätzliche Zusammenarbeit mit Israel auf dem Gebiet der technischen Aus-

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arbeit sei pragmatisch, effektiv und gut. Erforderlich sei für die Fortsetzung eine baldige Grundsatzentscheidung. 23 Staatssekretäre Kastrup und Schönbohm vereinbarten, vor der Behandlung im BSR24 noch einmal darüber zu sprechen. 22

4) StS Kastrup sprach im AA vorliegende Hinweise an, wonach UK nach Abzug der sowjetischen Truppen beabsichtige, später aus Berlin abzuziehen als vorgesehen.25 Dies gehe nicht. Er bat darum, dass BMVg (StS Sch.) dies auch auf entsprechender militärischer Schiene vermittele. StS Schönbohm stimmte uneingeschränkt zu, mit dem Hinweis, dass er hiervon heute erstmals höre. 5) Hilfsflüge Sarajevo26 D 2 wies auf Absprache der beiden Minister hin, wonach Hilfsflüge im Prinzip gebilligt seien. StS Schönbohm bestätigte dies und verwies auf eine Vorlage des BMVg, die Minister Rühe gebilligt habe: Unterhalb der militärischen Ebene sei BMVg bereit, sich an Marineüberwachung auf hoher See zu beteiligen27 sowie bei humanitärer Hilfe mitzuwirken (Lufttransporte). BMVg bereite sich darauf vor. D 2 wies darauf hin, dass für derartige Hilfsflüge ein gewisser Sicherheitsstandard erforderlich sei. Die Planung für die Hilfsmaßnahmen solle sehr schnell erfolgen. D sollte unter den ersten sein, die ihre entsprechende Bereitschaft erklären können. Geprüft werden müsse auch die Kostenfrage für den Transport. StS Kastrup regte an, dass das BMVg eine Koordinierung für die Prüfung der anstehenden Fragen sicherstelle, und bat StS Schönbohm, wegen der Kostenfrage StS Wichert anzusprechen. Das AA habe kein Geld für die Transportkosten. D 2 sprach abschließend die Frage der Unterstützungsleistungen für Übungstätigkeit der Luftwaffe in Beja an.28 Hier handele es sich um eine Frage des Anstandes gegenüber Fortsetzung Fußnote von Seite 827 wertung billigen und der Lieferung des beschlagnahmten Materials zustimmen. Vgl. B 70, ZA-Bd. 220888. Vgl. auch AAPD 1991, II, Dok. 380. 22 In einem Vermerk vom 2. Juli 1992 für BM Kinkel plädierte StS Lautenschlager dafür, die Frage der wehrtechnischen Zusammenarbeit mit Israel im Umlaufverfahren zu billigen, „weil ich finde, dass wir mit einer Verschiebung der Sache auf die nächste BSR-Sitzung am 1.9. m. E. nichts gewinnen, wir vielmehr einen unerwünschten Zusammenhang mit den Problemen des Rüstungsexports in den Nahen Osten herstellen, zu dem dieses Thema nicht gehört; weil schließlich ein Widerspruch auf der politischen Ebene, also von Ihnen, gegenüber BM Bohl und BM Rühe geäußert werden müsste, was eine inhaltlich unstreitige Sache m. E. unnötig politisieren könnte“. Vgl. B 70, ZA-Bd. 220888. 23 Am 8. Juli 1992 vermerkte VLR I Matussek, BM Kinkel sei „nunmehr einverstanden, dass wir heute die Einspruchsfrist verstreichen lassen“. Vgl. B 70, ZA-Bd. 220888. 24 Am 9. Juli 1992 teilte BM Bohl mit, der BSR habe im Umlaufverfahren „der grundsätzlichen Zusammenarbeit mit Israel auf dem Gebiet der technischen Auswertung fremden Wehrmaterials sowie der leihweisen Überlassung des in Hamburg eingelagerten NVA-Materials an Israel zu diesem Zweck zugestimmt“. Vgl. FS Nr. 745; B 70, ZA-Bd. 220888. 25 VLR I Lambach vermerkte am 12. Mai 1992, die britische Botschaft habe am 7. Mai 1992 über Überlegungen unterrichtet, die letzten Truppen im Januar 1995 aus Berlin abzuziehen. Lambach führte aus, gemäß Artikel 5 Absatz 2 des 2+4-Vertrags vom 12. September 1990 sei die Aufenthaltsdauer an die der sowjetischen Streitkräfte in Deutschland gebunden. Deren Aufenthalt ende gemäß Artikel 4 Absatz 1 des deutsch-sowjetischen Aufenthalts- und Abzugsvertrags vom 12. Oktober 1990 spätestens Ende 1994. Vgl. B 38, ZA-Bd. 184679. 26 Zur Beteiligung der Bundeswehr an einer internationalen Luftbrücke für Sarajevo vgl. Dok. 176. 27 Zum Beschluss der Bundesregierung vom 15. Juli 1992 vgl. Dok. 231, besonders Anm. 5. 28 Zur Luftwaffenbasis Beja vgl. Dok. 115, Anm. 12.

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Portugal für Verpflichtungen, die sich früher angedeutet hätten. BMF widersetze sich portugiesischen Wünschen, die von BMVg und AA befürwortet würden. Er bat das BMVg, erneut im Sinne einer positiven Lösung initiativ zu werden. StS Schönbohm war nicht unterrichtet und sagte zu, sich der Frage anzunehmen.29 StS Kastrup und StS Schönbohm vereinbarten Fortsetzung des Meinungsaustausches im September im Auswärtigen Amt.30 [Anlage 1] Besprechungspunkte TOP 1 Fortsetzung der deutsch-französischen Zusammenarbeit unter Berücksichtigung der transatlantischen Prioritäten TOP 2 Perspektiven für die europäische Sicherheits-und Verteidigungsidentität TOP 3 Neugestaltung der militärischen Hilfsprogramme TOP 4 Ansätze und Prioritäten für die Weiterentwicklung der Beziehungen zu MOE-/ SOE31-Staaten, GUS, N+N-Staaten TOP 5 Umsetzung des 2+4-Vertrages in den neuen Bundesländern TOP 6 Wehrtechnische Zusammenarbeit mit Israel TOP 7 Hilfsflüge für Sarajevo B 14, ZA-Bd. 161164

29 Am 16. Dezember 1992 vermerkte Referat 201: „Nach langwieriger und schwieriger Abstimmung mit BMVg und BMF konnten wir am 8. Dezember 1992 der portugiesischen Seite ein Angebot zur unentgeltlichen Abgabe von insgesamt 40 Alpha-Jets unterbreiten, und zwar unter der Bedingung, dass sämtliche finanzielle Forderungen Portugals in Bezug auf die Basis Beja damit erledigt seien und dass die aufgetretenen Probleme bei der Zuordnung von Vermögensgegenständen sowie bei den baulichen Maßnahmen befriedigend gelöst würden. Die portugiesische Seite stimmte diesem Angebot zu einer Paketlösung grundsätzlich zu und äußerte eine Reihe zusätzlicher Wünsche, die sich auf den zukünftigen Betrieb der Alpha-Jets durch Portugal beziehen.“ Eine weitere Verhandlungsrunde sei für den 15. Januar 1993 in Lissabon anberaumt. Vgl. B 14, ZA-Bd. 161172. 30 Ein weiteres Gespräch zwischen StS Kastrup und StS Schönbohm, BMVg, fand 16. September 1992 statt. VLR I Bertram vermerkte am 17. September 1992, erörtert worden seien der Jugoslawien-Konflikt, insbesondere die Durchsetzung des Embargos in der Adria, ferner das Eurokorps. Vgl. B 14, ZABd. 161164. 31 Südosteuropa.

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205 Vorlage des Vortragenden Legationsrats I. Klasse Neubert für Bundesminister Kinkel 213-321.00 GEO

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Über Dg 212, D 23, Herrn Staatssekretär4 Herrn Bundesminister5 Betr.: Deutsch-georgische Beziehungen; hier: Maßnahmen zur Stabilisierung der Regierung Schewardnadse Bezug: Ihre Weisung vom 27.6.1992 auf DB 87 aus Tiflis vom 22.6.1992 (Anlg. 2)6 Anlg.: 27 Zweck der Vorlage: Zur Unterrichtung Zusammenfassung Wir betreiben die Stabilisierung der Regierung Schewardnadse nach innen durch aktive Unterstützung seiner Bemühungen um Demokratisierung Georgiens (Beratungshilfe beim Aufbau von demokratisch-rechtsstaatlicher Polizei und legalem Militär, Beschleunigung der Lieferungen aus Nahrungsmittelkredit der EG, Entmilitarisierung der Gesellschaft) und nach außen (Beratungshilfe beim Aufenthalts- und Abzugsvertrag der russ. Streitkräfte, hochrangige Treffen mit führenden Politikern aus Deutschland, Unterstützung einer KSZEMission nach Südossetien8). Das Verhältnis Georgiens zu Russland hat sich mit Treffen Jelzin – Schewardnadse am 24.6.19929 weitgehend entspannt. Die Krise in Südossetien dauert – wenn auch unter 1 2 3 4 5 6 7 8

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Die Vorlage wurde von LR I Manig konzipiert. Hat MDg von Studnitz am 2. Juli 1992 vorgelegen. Hat MD Chrobog am 2. Juli 1992 vorgelegen. Hat StS Kastrup am 7. Juli 1992 vorgelegen. Hat BM Kinkel am 11. Juli 1992 vorgelegen. Hat OAR Salzwedel am 13. Juli 1992 vorgelegen, der den Rücklauf an Referat 213 verfügte. Dem Vorgang beigefügt. Vgl. B 41, ZA-Bd. 171739. Für den Drahtbericht des Botschafters Dahlhoff vgl. Dok. 183. Vgl. Anm. 6 und 12. Zur KSZE-Mission nach Südossetien vgl. Dok. 183, Anm. 10. Vom 25. bis 30. Juli 1992 führte eine erste „Fact-finding-Mission“ unter Leitung des ehemaligen belgischen AM Eyskens Gespräche mit allen Konfliktparteien. Gesandter Buerstedde, Brüssel, übermittelte am 7. August 1992 Informationen des belgischen Außenministeriums, wonach die Delegation den Eindruck gewonnen habe, „dass das Abkommen, das Jelzin und Schewardnadse am 24.6.92 in Sotschi unterzeichnet haben, eine Beruhigung der Lage erreicht hat. Die Kampfhandlungen seien eingestellt.“ In einem VierAugen-Gespräch zwischen Eyskens und dem Vorsitzenden des georgischen Staatsrats, Schewardnadse, habe dieser die Gewährung einer Autonomie an Südossetien „kategorisch“ ausgeschlossen, „nicht zuletzt im Hinblick auf die Signalwirkung, die ein solcher Schritt auf andere Minderheiten im Lande (Abchasien) oder in der Region ausüben würde“. Die Gespräche Eyskensʼ in Moskau hätten den Eindruck der russischen Entschlossenheit vermittelt, „den Konflikt – falls nötig auch unter Einsatz militärischer Mittel – im Sinne russischer Vorstellungen zu lösen“. Die Vertreter Südossetiens hätten jeden weiteren Verbleib im georgischen Staatsverband abgelehnt. Vgl. DB Nr. 362; B 28, ZA-Bd. 158694. Zum Treffen des russischen Präsidenten Jelzin mit dem Vorsitzenden des georgischen Staatsrats, Schewardnadse, in Sotschi vgl. Dok. 183, Anm. 5.

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vermindertem Waffengebrauch – an. Beide Entwicklungen und unsere Unterstützung sollten zu einer gewissen Stabilisierung der Regierung Schewardnadse beitragen. Im Einzelnen 1) Hochrangige Treffen Am 1. und 2. Juli 1992 bereist Staatsminister Schäfer im Auftrag des Bundeskanzlers zusammen mit einer großen Regierungsdelegation, der auch zahlreiche Wirtschaftsvertreter angehören, Georgien. Er trifft mit Präsident Schewardnadse zusammen.10 Der Herr Bundeskanzler ist bereit, Präsident Schewardnadse am Rande des KSZEGipfels in Helsinki zu einem bilateralen Gespräch zu treffen.11 2) Botschaft des Bundeskanzlers Der Herr Bundeskanzler hat durch StM Schäfer eine Botschaft an Präsident Schewardnadse überbringen lassen (s. Anlg. 112), in der er Schewardnadse ermutigt, den eingeschlagenen Weg der sozialen, wirtschaftlichen und politischen Reformen fortzusetzen. Das Eintreten Schewardnadses für eine friedliche Lösung des Konflikts um Südossetien und seine Aufrufe zur Mäßigung beider Seiten werden ausdrücklich hervorgehoben. 3) Beratungshilfe a) Polizei StS Kastrup hat sich in der vergangenen Woche an seinen Kollegen StS Neusel (BMI) mit der Bitte gewandt, Möglichkeiten einer Beratungshilfe für den Aufbau demokratischrechtsstaatlicher Polizeikräfte in Georgien zu prüfen, damit entsprechend vor- und ausgebildete Ordnungskräfte die Veranstaltungen für den Wahlkampf (Wahlen am 11.10.1992) schützen können. Eine Antwort liegt noch nicht vor.13 b) Militär Der NATO-Kooperationsrat führt am 1. bis 3. Juli 1992 in Brüssel ein Seminar durch, das der Schulung zum Aufbau demokratisch legitimierter Streitkräfte in den MOE- und Nachfolgestaaten der ehem. Sowjetunion dient. Vertreter Georgiens waren ebenfalls eingeladen. Die Entsendung eines Militärattachés aus Deutschland kommt indes erst dann in Betracht, wenn die „Privatarmeen“ des stv. Präsidenten Iosseliani und des Verteidigungsministers Kitowani aufgelöst und durch legale Streitkräfte ersetzt sein werden. 10 Im Gespräch zwischen StM Schäfer und dem Vorsitzenden des georgischen Staatsrats, Schewardnadse, am 2. Juli 1992 in Tiflis wurden die Lage in Georgien, die Südossetienfrage, die georgische Außenpolitik, der Abzug der russischen Streitkräfte und die bilateralen Beziehungen erörtert. Vgl. den Gesprächsvermerk; B 41, ZA-Bd. 171739. 11 In ihrem Gespräch am 10. Juli 1992 erörterten BK Kohl und der Vorsitzende des georgischen Staatsrats, Schewardnadse, die bilateralen Beziehungen, die Entwicklung in Georgien, die georgische Außenpolitik, insbesondere die Beziehungen zu Russland, sowie die Lage in der Kaukasus-Region, die Rolle des Irans sowie die Entwicklung in Russland. Vgl. den Gesprächsvermerk; BArch, B 136, Bd. 59736. 12 Dem Vorgang beigefügt. Für das Schreiben des BK Kohl vom 1. Juli 1992 vgl. B 41, ZA-Bd. 171739. 13 Referat 213 vermerkte am 14. August 1992 zur Frage der Polizeiausbildung: „Der BMI hat sich bereiterklärt, dass auch Ausbildungs- (nicht nur Ausstattungs) hilfe aus dem vorhandenen Titel gezahlt werden kann. Da eine generelle Reform der entsprechenden Richtlinien noch aussteht, soll noch im September eine Expertengruppe nach Georgien reisen, um Beratungshilfe zur Polizeiausbildung zu geben, aber auch eine Bedarfsanalyse für eine zukünftige Zusammenarbeit zu erstellen.“ Vgl. B 41, ZA-Bd. 171739.

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c) Politikberatung StM Schäfer wird bei seiner Begegnung mit Präsident Schewardnadse ankündigen, dass – vorbehaltlich einer Terminbestimmung – ein Beamter des Auswärtigen Amtes Beratungshilfe bei der Verhandlung eines Aufenthalts- und Abzugsvertrages (AAV) mit Russland für die noch in Georgien stationierten russischen Streitkräfte leisten wird. RL 21614, der auch den deutsch-sowjetischen AAV15 mit ausgehandelt hat, soll diese Aufgabe später im Jahr 1992 übernehmen. Georgien sind bereits die Texte des deutsch-sowjetischen AAV als Arbeitsgrundlage übermittelt worden. d) KSZE-Mission Die Bundesrepublik Deutschland unterstützt den Antrag Georgiens, eine KSZE-Mission nach Südossetien zu entsenden. Das Abflauen der Kämpfe nach einem zwischen den Präsidenten Jelzin und Schewardnadse ausgehandelten Waffenstillstand steigert die Realisierung der Mission. 4) Nahrungsmittelhilfe Die EG hat für die Nachfolgestaaten der ehem. Sowjetunion einen Kredit in Höhe von 1,25 Mrd. ECU bereitgestellt, mit dem Nahrungs- und Medizinimporte finanziert werden können. Auf Georgien entfallen 70 Mio. ECU. Das Auswärtige Amt drängt die EG-Kommission, den Kredit zu implementieren, damit möglichst noch vor den Wahlen im Oktober Nahrungsmittel in nennenswertem Umfang in Georgien verfügbar sind. 5) Beruhigung der außen- und innenpolitischen Lage Seit dem Bezugs-DB haben wichtige Ereignisse stattgefunden, die Auswirkungen auf die Stabilität der Regierung Schewardnadse hatten: – Am 24. Juni 1992 versuchten Anhänger des Ex-Präsidenten Gamsachurdia einen Putsch, der durch eine gemeinsame Aktion aller Sicherheitskräfte (Truppen des Innenministeriums und „Privatarmeen“) niedergeschlagen werden konnte. Vorangegangen war eine Verständigung zwischen Schewardnadse und VM Kitowani, die das gespannte persönliche Verhältnis der beiden Politiker entkrampfte. – Am 24. Juni 1992 trafen sich die Präsidenten Schewardnadse und Jelzin in Sotschi und am 25. Juni 1992 in Istanbul. Sie vereinbarten, zum 1. Juli 1992 normale diplomatische Beziehungen aufzunehmen, einen umfassenden Vertrag über die beiderseitigen Beziehungen abzuschließen und handelten einen Waffenstillstand für Südossetien einschließlich des weitgehenden Abzugs russischer Truppen aus diesem Gebiet aus (die russischen Depots wurden oft von den Konfliktparteien überfallen, um Waffen zu entwenden). Der Waffenstillstand trat am 29. Juni 1992 in Kraft. Wenn auch die Vertreter Nord- und Südossetiens bislang dem Abkommen nicht beigetreten sind, hat sich die militärische Lage in Südossetien entspannt. 6) Wertung Die Unterstützungsmaßnahmen seitens Deutschlands und die Entspannung des russischgeorgischen Verhältnisses haben zu einer Stabilisierung der innen- und außenpolitischen Lage geführt. Dadurch wird die Position Schewardnadses gestärkt. Uns kommt die grund14 Frank Lambach. 15 Für den Aufenthalts- und Abzugsvertrag vom 12. Oktober 1990 zwischen der Bundesrepublik und der UdSSR und die zugehörigen Dokumente vgl. BGBl. 1991, II, S. 258–290. Vgl. ferner AAPD 1990, II, Dok. 378, und DIE EINHEIT, Dok. 168.

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sätzlich freundliche Einstellung der Georgier zu Deutschland entgegen, dass unsere Maßnahmen dort auf Beachtung stoßen. Unsere praktische Unterstützung wird durch ein Kulturabkommen (Entwurf übergeben16) und eine für 1993 ins Auge gefasste Eröffnung eines Goethe-Instituts17 flankiert und untermauert. Neubert B 41, ZA-Bd. 171739

206 Vorlage des Vortragenden Legationsrats I. Klasse Barth für Bundesminister Kinkel 412-401.01 XVIII

3. Juli 1992

Bitte sofort vorlegen! Über Dg 411, D 42 Herrn Staatssekretär3 Herrn Bundesminister4 Betr.:

Wirtschaftsgipfel in München5; hier: Gedanke von Präs. Bush, eine „G 8“ mit RUS zu bilden

Bezug: Meldungen AFP/CNN, wiedergegeben im Nachrichtenspiegel Ausland (rot) Nr. 181 vom 3.7.1992 Zweck der Vorlage: Zur Unterrichtung 16 Für den Entwurf vom 20. Mai 1992 eines Kulturabkommens mit Georgien vgl. B 97, Bd. 1121. 17 MD Chrobog erläuterte am 13. Mai 1992, das Präsidium des Goethe-Instituts habe am 30. Januar 1992 für 1994/95 die Einrichtung von fünf neuen Instituten beschlossen. Tiflis liege dabei an letzter Stelle der Prioritätenreihenfolge: „Angesichts der neuen Lage in Georgien und der starken Tradition kultureller und politischer Ausrichtung auf Deutschland sollte das Auswärtige Amt auf das Goethe-Institut im Sinne einer Veränderung der Prioritätenreihenfolge zugunsten von Tiflis einwirken. Das heißt: Aufnahme von Tiflis in die Planung für 1994. Ein Vorziehen auf die Planung 1993 ist dagegen nicht mehr möglich.“ Vgl. B 41, ZA-Bd. 171739. VLR I Bald vermerkte am 5. August 1992, zwischen dem Auswärtigen Amt und dem Goethe-Institut bestehe Einigkeit, „dass Einrichtung eines Goethe-Instituts in Tiflis für HH-Jahr 1994 angestrebt werden soll. Entsprechende Anmeldungen von Personal- und Finanzmitteln werden in die Anfang 1993 beginnenden Haushaltsverhandlungen für 1994 eingebracht werden.“ Vgl. B 96, ZA-Bd. 197459. 1 Hat MDg von Kyaw am 3. Juli 1992 vorgelegen. 2 Hat MD Dieckmann am 3. Juli 1992 vorgelegen. 3 Hat StS Lautenschlager am 3. Juli 1992 vorgelegen, der handschriftlich vermerkte: „M. E. muss der BK vor Beginn des Gipfels mit Präs[ident] Bush sprechen, um ihn von seinen Überlegungen b[e]z[ü]gl[ich] ,G 8‘ abzubringen. Das Thema, wenn – wie abzusehen – kontrovers diskutiert (Japan!), könnte den Gipfel erheblich belasten!“ 4 Hat BM Kinkel am 4. Juli 1992 vorgelegen. Hat OAR Salzwedel an 6. Juli 1992 vorgelegen, der den Rücklauf über das Büro Staatssekretäre, MD Dieckmann und MDg von Kyaw an Referat 412 verfügte.

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3. Juli 1992: Vorlage von Barth

1) Im heutigen Nachrichtenspiegel Ausland (rot) des BPA ist auf S. 3 folgende Agenturmeldung wiedergegeben: „Präsident Bush will auf dem Weltwirtschaftsgipfel in München über eine mögliche Aufnahme Russlands in die Gruppe der G 7 sprechen. Trotz seiner Schwierigkeiten habe dieses Land aufgrund seiner Größe eine ,enorme Wirtschaft‘, sagte Bush in Washington.6 Er sei bereit, über die Bildung einer ,G 8‘ zu diskutieren. Das Thema werde mit Sicherheit auf der Tagesordnung stehen.“ 5

2) Erste Reaktionen von ChBK und BMF: – Dem BK wurde für München aufgeschrieben: „keine G 8“. – BK sei äußerst ungehalten, vor allem auch über die Art und Weise der Mitteilung. – Im G 7-Kreis sei eine Aufnahme von RUS nie thematisiert worden. Einem Überraschungscoup solle man mit Festigkeit begegnen.7 – Die Zusammenarbeit der G 7 bestehe nicht nur aus dem Wirtschaftsgipfel, sondern erstrecke sich vor allem auf die Zusammenarbeit der Finanzminister, Zentralbankpräsidenten und Wirtschaftsminister. Diese aber setze vergleichbaren wirtschaftlichen Entwicklungsstand, gleichgerichtete wirtschaftspolitische Interessen und ein funktionierendes geld- und währungspolitisches Instrumentarium voraus. – Von den fehlenden Voraussetzungen abgesehen, sei auf russischer Seite auch keine Bereitschaft zu einer alle Partner bindenden wirtschafts- und geldpolitischen Abstimmung mit „dem Westen“ erkennbar. Vielmehr handele es sich um ein Geber-/NehmerVerhältnis. 3) Stellungnahme Aus wirtschaftspolitischer Sicht sprechen alle Gründe gegen eine Erweiterung des G 7Kreises um ein Land vom Entwicklungsstand Russlands. Die informelle und vertrauensvolle, auf wirtschafts-, finanz- und währungspolitischer Gleichgesinntheit („likemindedness“) beruhende Zusammenarbeit würde zweifellos ihren Charakter wesentlich verändern. Außerdem würde es schwierig, bei Aufnahme Russlands etwa bedeutenden Schwellenländern wie BRA, MEX oder KOR oder anderen Ländern mit wirtschaftlichem Gewicht (China, Indien!) den Zugang zu verwehren, von kleineren Industrieländern wie AUS, SPA, SCN oder SCZ ganz abgesehen.8

Fortsetzung Fußnote von Seite 833 Hat StS Lautenschlager am 6. Juli 1992 erneut vorgelegen. Hat, auch in Vertretung von Dieckmann, Kyaw am 6. Juli 1992 erneut vorgelegen. Hat VLR I Barth am 9. Juli 1992 erneut vorgelegen, der die Weiterleitung an VLR Döring und LR I Gescher „z[ur] g[efälligen] K[enntnisnahme]“ sowie an Dieckmann „n[ach] R[ückkehr]“ und Kyaw verfügte. Hat Döring und Gescher vorgelegen. Hat Dieckmann am 13. Juli 1992 erneut vorgelegen. Hat Kyaw am 14. Juli 1992 erneut vorgelegen. 5 Zum Weltwirtschaftsgipfel vom 6. bis 8. Juli 1992 vgl. Dok. 225. 6 Für die Ausführungen des amerikanischen Präsidenten Bush auf einer Pressekonferenz am 2. Juli 1992 vgl. PUBLIC PAPERS, BUSH 1992-93, S. 1064. 7 Dieser Satz wurde von StS Lautenschlager hervorgehoben. Dazu vermerkte er handschriftlich: „r[ichtig]“. 8 An dieser Stelle vermerkte StS Lautenschlager handschriftlich: „Und den anderen GUS-Staaten und EGMitgliedstaaten!“

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5. Juli 1992: Gespräch zwischen Kohl und Amato

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Sollte die Bemerkung von Bush einer wirklichen Absicht des Präsidenten entsprechen und er damit nicht nur Goodwill bei Präsident Jelzin erzeugen wollen, so bringt er uns und andere G 7-Partner in eine schwierige Lage. Es erscheint nicht ausgeschlossen, dass Präsident Bush eine Sonderbeziehung zu RUS aufbauen will. In diesem Falle wäre es auch denkbar, dass er eine Verwässerung der Abstimmungsverfahren9 im G 7-Rahmen in Kauf nehmen würde. Es ist davon auszugehen, dass Präsident Jelzin sich sofort auf die Seite des USPräsidenten stellen wird, wenn dieser seinen Vorschlag in München vorbringt. Wenn wir uns dem „G 8“-Gedanken vollständig verschließen würden, müssten wir also gegen zwei Fronten kämpfen und würden zudem unsere Hilfeleistungen für RUS in den Augen der dortigen Öffentlichkeit (national-konservative Kreise!) weitgehend entwerten. Allerdings ist bisher nicht bekannt, ob Präsident Bush eine Einbeziehung von RUS in alle G 7-Verfahren oder nur eine stärkere Beteiligung von RUS bei künftigen10 Wirtschaftsgipfeln anstrebt.11 Als ein mittlerer Weg könnte sich anbieten, dass der Gipfel zunächst nicht mehr als einen Prüfungsauftrag erteilt, wie RUS an die G 7 herangeführt werden kann.12 Barth B 52, ZA-Bd. 174523

207 Gespräch des Bundeskanzlers Kohl mit dem italienischen Ministerpräsidenten Amato in München 5. Juli 19921 Vermerk über Gespräch des Bundeskanzlers (BK) in seiner Suite im Hotel „Vier Jahreszeiten“ in München am 5.7.1992, 16.00 – 17.00 Uhr2 Teilnehmer: Bundeskanzler, Bundesminister Kinkel, Ministerpräsident Amato, Außenminister Scotti, zwei Dolmetscher. 9 Die Wörter „Verwässerung der Abstimmungsverfahren“ wurden von StS Lautenschlager hervorgehoben. Dazu vermerkte er handschriftlich: „Es handelt sich um eine Änderung des Charakters der ,7er‘-Gipfel, nicht um eine bloße ,Verwässerung‘ von Abstimmungsverfahren.“ 10 Dieses Wort wurde von StS Lautenschlager hervorgehoben. Dazu vermerkte er handschriftlich: „Was lt. Presse-Meldungen z. B. Japan bereits abgelehnt hat.“ 11 Dieser Absatz wurde von StS Lautenschlager durch Fragezeichen hervorgehoben. 12 Zu diesem Absatz vermerkte StS Lautenschlager handschriftlich: „Nur als letzter ,prozeduraler Ausweg‘.“ 1 Kopie. Der Gesprächsvermerk wurde von MD Hartmann, Bundeskanzleramt, am 13. Juli 1992 gefertigt und am 16. Juli 1992 an VLR I Matussek übermittelt. Dazu teilte Hartmann mit: „Lieber Herr Matussek, anliegend übersende ich Ihnen Vermerk über das Gespräch des Herrn Bundeskanzlers mit Ministerpräsident Amato am 5. Juli 1992, den Herr Bundesminister Kinkel seinerzeit angefertigt hatte. Bundesminister Kinkel hatte

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BK: Begrüßung des Gastes. MP Amato: Was sind die Schwerpunkte des Gipfels nach des Bundeskanzlers Meinung? BK: Er wünsche sich, dass dieser Münchener Gipfel zu den ursprünglichen Intentionen zurückkehrt. Die Ursprungsidee sei in der letzten Zeit etwas verloren gegangen. Er wünsche sich, dass bei solchen Gipfelgesprächen mehr miteinander geredet werden könne. Es handele sich um einen Wirtschaftsgipfel; die Wirtschaft solle im Mittelpunkt stehen, und er wünsche nicht zu viele Texte. – Erster zentraler Punkt: Weltwirtschaft; Situation; Hinweis auf gemeinsame Verantwortung. Leider werde GATT auf dem Gipfel nicht deblockiert werden können. Es müsse aber definitiv vereinbart werden, dass in den nächsten Wochen3 intensiv weiter versucht werde, zu einem Ergebnis zu kommen. Man sei sehr nahe beisammen, dies wisse er auch aus seinen intensiven Bemühungen der letzten Tage. Es gäbe aber zwei Termine, die einer Lösung entgegenstünden: zum einen das Referendum in Frankreich4 und zum anderen die Wahl in den Vereinigten Staaten5. Bei den Verhandlungen seien auch Fehler durch die EG gemacht worden. Jetzt allerdings seien die Amerikaner sehr hart. Man habe sich etwas zu sehr die Verhandlungslinie der Amerikaner aufdrängen lassen. Dafür entstehe jetzt der Eindruck, als ob das Scheitern bei der EG bzw. den Franzosen liege. Er, der BK, sei der Meinung, Delors hätte sich früher einschalten müssen. Die Amerikaner beharrten zu stark auf dem Dunkel-Papier.6 – Zweiter zentraler Punkt: Was tun wir für die GUS-/MOE-Staaten? Hinweis auf seine Kontakte mit Krawtschuk.7 Hilfe könne nur Hilfe zur Selbsthilfe sein. 2

Fortsetzung Fußnote von Seite 835 mir das einzige Exemplar des Vermerks in München gegeben. Ich habe den teilweise handschriftlich korrigierten Vermerk noch einmal schreiben lassen.“ Hat Matussek am 17. Juli 1992 vorgelegen, der die Weiterleitung an VLR Brose „z[ur] w[eiteren] V[eranlassung]“ verfügte und handschriftlich vermerkte: „Braucht BM nicht erneut vorgelegt werden.“ Hat Brose vorgelegen, der die Weiterleitung von Kopien an das Büro Staatssekretäre sowie an MD Chrobog und MD Dieckmann verfügte. Hat VLR I Reiche am 20. Juli 1992 vorgelegen. Hat Chrobog laut Vermerk nach Rückkehr vorgelegen. Hat Dieckmann am 21. Juli 1992 vorgelegen, der die Weiterleitung an MDg von Kyaw verfügte. Hat Kyaw am 22. Juli 1992 vorgelegen. Hat VLR I Göckel am 22. Juli 1992 vorgelegen. Hat Botschafter Heinsberg am 24. Juli 1992 vorgelegen. Vgl. das Begleitschreiben; B 63, ZA-Bd. 170511. 2 BK Kohl und der italienische MP Amato hielten sich anlässlich des vom 6. bis 8. Juli 1992 stattfindenden Weltwirtschaftsgipfels in München auf. Zum Gipfel vgl. Dok. 225. 3 Die Wörter „in den nächsten Wochen“ wurden von MDg von Kyaw unterschlängelt. 4 In Frankreich fand am 20. September 1992 ein Referendum über das Vertragswerk von Maastricht statt. Vgl. Dok. 293 und Dok. 300. 5 In den USA fanden am 3. November 1992 Präsidentschaftswahlen, Wahlen zum Repräsentantenhaus sowie Teilwahlen zum Senat und für die Gouverneursämter statt. 6 Zum „Dunkel-Papier“ vom 20. Dezember 1991 vgl. Dok. 6, Anm. 3. 7 Für die Gespräche zwischen BK Kohl und dem ukrainischen Präsidenten Krawtschuk am 4. Februar bzw. 3. April 1992 vgl. Dok. 32 bzw. Dok. 98. Kohl und Krawtschuk trafen ferner am 9. Juli 1992 in Helsinki zusammen und erörterten die Ergebnisse des Weltwirtschaftsgipfels vom 6. bis 8. Juli 1992 in München, die wirtschaftliche Lage in der Ukraine,

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Er, der BK, sei dagegen, den Siebener-Gipfel mit Russland auf acht aufzustocken.8 Wie wolle man beispielsweise Indien, Brasilien antworten bei gleicher Anfrage? Zeitpunkt für Aufstockung sei zu früh, allerdings: Jelzin müsse wissen, was er bekommt. – Dritter zentraler Punkt: Kernkraftwerke sowjetischer Bauart: Mehr als 20 Kernkraftwerke sowjetischer Bauart seien schließungswürdig bzw. nachbesserungswürdig. Geplant sei von uns ein multilateraler Fonds.9 Japan und die Amerikaner seien eher nur für bilaterale Hilfe. Tschernobyl10 wäre vielleicht anders gelaufen, wenn man früher hätte eingreifen können. Was den deutschen Beitrag anbelangt, müsse er allerdings sagen, dass wir an der Obergrenze dessen angelangt sind, was wir finanziell leisten können. Insbesondere Japan müsse sich stärker engagieren, denn Russland stoße auch an die Grenze Japans. MP Amato: Er sei voll einverstanden. Er habe nur eine große Sorge: Die bisherigen und die geplanten Hilfen für die osteuropäischen Länder seien nicht langfristig angelegt. Notwendig seien aber robuste, langfristig wirkende Hilfen. BK: Er sei dankbar, wenn in Russland die Dinge einigermaßen weiterliefen. Zunächst müsse es aber um eine Stabilisierung gehen; manchmal sei es auch hilfreich, einfache Dinge zuwege zu bringen. Es sei unerträglich, wenn 40 % des Erdöls in Pipelines verloren gingen. Er habe schon im letzten Jahr angeboten, dass private Konsortien diese Pipelines reparieren könnten. Die Kosten könnten aus den Summen finanziert werden, die im Augenblick im Verlust liegen werden. Aber es sei halt schwierig, notwendige Zustimmung der Republiken zu gewinnen. Die Ukraine habe in diesem Jahr nur 40 % der potenziellen Anbaufläche bebaut. Nach seiner Meinung werde es noch schlimmer. Wir müssen uns gemeinsam schon jetzt auf Hilfe einstellen. Unsere Bevölkerungen verstehen dies aber alles nicht mehr, weil man nicht zu Unrecht sage, Russland und die Ukraine usw. müssten so langsam mindestens im landwirtschaftlichen Sektor wieder auf die Beine kommen. Außerdem wolle er darauf hinweisen, dass die bisherige Hilfe hauptsächlich von den Europäern getragen worden sei. MP Amato: Beim Sturz Gorbatschows sei den Europäern gesagt worden, man habe die Lage falsch eingeschätzt. Was passiert, wenn nun beispielsweise Jelzin gestürzt werde? Er sei der Meinung, der 24 Mrd.-Kredit11 müsse laufen. BK: Ja, aber man müsse alles mit Vorsicht tun. Nicht umsonst gäbe es im Deutschen die Redewendung vom „Fass ohne Boden“. MP Amato: Wir müssen es tun, damit uns nicht gesagt wird, wir hätten evtl. zum Sturz Jelzins beigetragen. Fortsetzung Fußnote von Seite 836 die Sicherheit der dortigen Kernkraftwerke, insbesondere die Stilllegung des Reaktors von Tschernobyl, die Beziehungen der Ukraine zu den übrigen GUS-Mitgliedstaaten sowie die in die Ukraine zurückkehrenden Einheiten der WGT. Vgl. den Gesprächsvermerk; BArch, B 136, Bd. 59736. 8 Zu amerikanischen Überlegungen zur Bildung einer „Gruppe der Acht“ (G 8) vgl. Dok. 206. 9 Zur Frage eines Aktionsprogramms zur Sicherheit von Kernkraftwerken in den Nachfolgestaaten der UdSSR sowie den MOE-Staaten vgl. Dok. 142, Anm. 18. 10 Zum Unfall im sowjetischen Reaktor Tschernobyl am 26. April 1986 vgl. Dok. 32, Anm. 3. 11 Zu den G 7-Hilfen für Russland vgl. Dok. 100, Anm. 7.

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BK: Ja, aber nicht alle denken so. Hinweis auf Wahlkampf USA, Hinweis auf Kurilen12, Intention der Japaner. Er habe früher mehrfach mit Gorbatschow über die Kurilen-Frage gesprochen13; Gorbatschow sei auf einem guten Weg gewesen. MP Amato: Kann man nicht den Japanern eine Übergangslösung à la Hongkong14 schmackhaft machen? BK: Er glaube es nicht, es gäbe viele Probleme an der russischen Westgrenze. Die Situation bliebe insoweit schwierig. Dasselbe gelte für das Thema Rio.15 Er wolle darauf aufmerksam machen, dass 120 Mio. Japaner so viel Tropenholz im Jahr verbrauchen würden wie 340 Mio. Europäer. So gehe es eben nicht. Er wolle noch ein anderes Thema anschneiden. Dies sei der erste Gipfel ohne Ost-WestBedrohung. Der Kalte Krieg sei vorbei. Man denke an die Situation Jugoslawiens: Zur Zeit der Ost-West-Gegensätze hätte es hier noch nach Weltkrieg gerochen. Er sei allerdings relativ glücklich über die eingetretene Weltlage. MP Amato: Deutschland habe bei der Wiedervereinigung Mut gezeigt. Die Wiedervereinigung sei vor allem die Leistung des Bundeskanzlers gewesen. BK: Jetzt sei die Stunde der Europäer gekommen. Der Ost-West-Gegensatz sei ja auch in gewissem Sinne ein Instrument der Disziplinierung gewesen. Jetzt ist in diesem Sinne die Angst weg. Suharto habe ihn kürzlich darauf hingewiesen, dass sein Land blockfrei sei.16 Er habe gefragt: Wieso blockfrei, es gibt keine Blöcke mehr? MP Amato: Er wolle fragen, ob man nicht wie früher auf die regelmäßigen Gipfeltreffen zurückkommen könne? Er wisse, der BK liebe Florenz, deshalb lade er nach Florenz ein. BK: Im Prinzip einverstanden, über den Termin müsste gesprochen werden.17 MP Amato: Schildert die Situation in Italien nach der Regierungsumbildung18 und spricht Währungsprobleme der italienischen Regierung an. Er habe heute Morgen eine Ministerbesprechung durchgeführt und Richtlinien beschlossen, die sofort nach seiner Rückkehr in Kraft treten sollten. Geplant sei eine Art Delegierungsgesetz (so Dolmetscherübersetzung), das eine mittelfristige Planung gegen die Inflation bedeute und kurzfristig in Kraft treten solle. Die Regierung konzentriere sich voll auf die Inflationsbekämpfung. Geplant seien ein Preisstopp, ein Lohnstopp und weitere einschneidende Maßnahmen. 12 Zur Kurilenfrage vgl. Dok. 13, Anm. 43. 13 BK Kohl und der sowjetische Präsident Gorbatschow erörterten die Kurilenfrage in Gesprächen am 9. November 1990 in Bonn sowie 5. Juli 1991 in Meschigorje. Vgl. AAPD 1990, II, Dok. 372, bzw. AAPD 1991, II, Dok. 235. 14 Zum Status von Hongkong vgl. Dok. 75, Anm. 20. 15 Zur VN-Konferenz über Umwelt und Entwicklung (UNCED) vom 3. bis 14. Juni 1992 vgl. Dok. 177. 16 BK Kohl und der indonesische Präsident Suharto trafen am 11. Juni 1992 in Rio de Janeiro zusammen. Themen waren die internationale Umweltpolitik, die bilateralen Beziehungen, die Entwicklung in der Volksrepublik China, auf der koreanischen Halbinsel und den Philippinen sowie die Lage in Indonesien. Vgl. den Gesprächsvermerk; BArch, B 136, Bd. 43298. 17 In Florenz fanden am 17./18. September 1992 die deutsch-italienischen Regierungskonsultationen statt. Vgl. Dok. 296. 18 Nach den Parlamentswahlen am 5./6. April 1992 in Italien trat MP Andreotti am 24. April 1992 zurück. Die neue Regierung unter MP Amato trat am 28. Juni 1992 ihr Amt an.

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Ziel: Die öffentliche Verschuldung müsse um 30 000 Mrd. Lire heruntergesetzt werden, was bedeuten würde, dass die staatliche Verschuldung unter 10 % gedrückt würde. Wichtig für ihn, Amato, sei, dass dieses italienische Vorhaben durch Europa, insbesondere natürlich durch die Bundesrepublik Deutschland, positiv bewertet werde, und zwar dann, wenn die italienische Regierung es bekannt gebe. Italien brauche eine Beruhigung auf den Märkten. Amato übergab sodann dem Bundeskanzler ein Kommuniqué, das auch einen Zeitplan für die Maßnahmen enthält.19 BK: Er werde das Papier mit seinen Finanzfachleuten besprechen. BK erteilte mir nach dem Gespräch den Auftrag, das Papier mit den zuständigen Herren, insbesondere auch mit Herrn Köhler zu besprechen, damit ihm heute Abend in der 19.30 Uhr-Besprechung ein Rat gegeben werden könne, wie er sich verhalten soll. BK: Wir leben in einer wichtigen Zeit. Wichtige Fragen stellen sich insbesondere an die Europäer. Bis Ende des Jahrhunderts muss die Union kommen. Dabei ist nicht nur die Wirtschaft zu berücksichtigen, sondern auch Geschichte, Tradition und Kultur. BK kam auf den Unfall seines Sohnes in Italien zu sprechen und bedankte sich in bewegten Worten bei der italienischen Seite für die Hilfe, die seiner Familie und seinem Sohn nach diesem Unfall gewährt worden sei.20 MP Amato dankt für die Worte des BK und fragt den BK abschließend, ob er nach der letzten Wahl daran geglaubt habe, dass nochmals ein Bündnis DC, PS usw. zustande kommen würde. BK: Ja, er habe daran geglaubt, aber er habe geahnt, dass es mit anderen Personen zustande kommen werde. B 63, ZA-Bd. 170511

19 Botschafter Seitz, Rom, teilte am 9. Juli 1992 mit, der italienische MP Amato habe sein Programm in einer Regierungserklärung vorgestellt: „Vorrangiges Ziel der Regierung ist es demzufolge, bis Ende 1993 die Einhaltung des mit der EG vereinbarten Konvergenzprogramms sicherzustellen.“ Es bestehe der Eindruck, „dass das wirtschafts- und finanzpolitische Grundsatzprogramm Amatos in enger Abstimmung mit der Banca d’Italia entstanden ist“. Das Hauptproblem werde darin bestehen, „die Akzeptanz der geplanten Konsolidierungsmaßnahmen bei der Bevölkerung sicherzustellen“. Vgl. SB Nr. 1175; B 224, ZA-Bd. 168547. 20 Peter Kohl wurde am 31. Oktober 1991 bei einem Autounfall in der Nähe von Monza schwer verletzt.

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208 Gespräch des Bundeskanzlers Kohl mit dem amerikanischen Präsidenten Bush in München 6. Juli 19921 Gespräch des Herrn Bundeskanzlers mit dem amerikanischen Präsidenten Bush im Rahmen eines Frühstücks im Hotel „Vier Jahreszeiten“ in München am Montag, den 6. Juli 19922 Teilnehmer: Auf amerikanischer Seite: Präsident Bush, Außenminister Baker, Finanzminister Brady, Sicherheitsberater Scowcroft. Auf deutscher Seite: Bundeskanzler Kohl, Bundesminister Kinkel, Bundesminister Waigel, MD Hartmann, MDg Neuer. Der Bundeskanzler heißt Präsident Bush herzlich willkommen. Er hoffe auf gute Gespräche bei dem bevorstehenden Gipfel. Es sei der erste G 7-Gipfel, der die dramatische Entwicklung in der Welt widerspiegle. In London3 habe noch Präsident Gorbatschow die Sowjetunion vertreten, die es inzwischen nicht mehr gebe. Wenn man in München sei, gingen die Gedanken auch zurück auf das Jahr 1938, den Vorabend des Zweiten Weltkrieges. Jetzt – 1992 – habe man gute Chancen, die Grundlagen für eine lange Periode des Friedens zu legen. Er hoffe, dass man sich bei diesem Gipfel vor allem auf die Gespräche konzentrieren könne und die Zahl der Papiere drastisch reduziere. Im Übrigen könne man in München nicht alle Probleme der Erde lösen. Ferner solle man dem Namen Rechnung tragen und Wirtschaftsfragen in den Mittelpunkt stellen. Die Weltwirtschaft befinde sich noch in einer Flaute, und es sei daher wichtig, darüber zu sprechen, was man tun könne, um die Weltwirtschaft wieder in Gang zu bringen. Das zweite wichtige Thema sei die Hilfe für die GUS und die MOE. In diesem Zusammenhang spiele die Sicherheit der Kernkraftwerke eine bedeutsame Rolle. Schließlich gehe es um die Dritte Welt, nicht zuletzt vor dem Hintergrund der Konferenz von Rio4. Im Zusammenhang mit der Politischen Erklärung5 solle man auch etwas Substanzielles zu Jugoslawien6 sagen. 1 Kopie. Der Gesprächsvermerk wurde von MD Hartmann, Bundeskanzleramt, am 13. Juli 1992 gefertigt und am selben Tag über BM Bohl an BK Kohl „mit der Bitte um Billigung“ geleitet. Ferner vermerkte Hartmann: „Ich schlage vor, den Vermerk Herrn Bundesminister Kinkel sowie Herrn Bundesminister Waigel, die beide an dem Frühstück teilgenommen haben, zur persönlichen Kenntnisnahme zuzuleiten.“ Vgl. den Begleitvermerk; BArch, B 136, Bd. 59736. Vgl. auch KOHL, Erinnerungen 1990–1994, S. 462–465. 2 BK Kohl und der amerikanische Präsident Bush hielten sich anlässlich des vom 6. bis 8. Juli 1992 stattfindenden Weltwirtschaftsgipfels in München auf. Zum Gipfel vgl. Dok. 225. 3 Zum Weltwirtschaftsgipfel vom 15. bis 17. Juli 1991 vgl. AAPD 1991, II, Dok. 249. 4 Zur VN-Konferenz über Umwelt und Entwicklung (UNCED) vom 3. bis 14. Juni 1992 vgl. Dok. 177. 5 Für die Erklärung „Die neue Partnerschaft gestalten“ vom 7. Juli 1992 vgl. BULLETIN 1992, S. 729–731. 6 Für die „Erklärung zum ehemaligen Jugoslawien“ vom 7. Juli 1992 der Teilnehmer des Weltwirtschaftsgipfels vgl. BULLETIN 1992, S. 731 f.

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Präsident Bush wirft die Frage auf, wie man das Thema GATT behandeln solle. Er glaube, man sei sich im Landwirtschaftsbereich inzwischen sehr nahe. Er habe hierüber gestern Abend mit Präsident Mitterrand gesprochen.7 Es gebe Erwartungen seitens der Presse, und man müsse daher in dieser Frage etwas tun. Der Bundeskanzler erklärt, die Lage sei schwierig. Man könne nicht einfach wie schon auf früheren Gipfeln wiederholen, dass GATT ein Erfolg werden müsse. Auch er sei der Meinung, dass man zu einem Abschluss kommen könne, wobei nicht nur der Landwirtschaftsbereich eine Rolle spiele. Er frage sich daher, ob man auf dem Gipfel nicht einen festen Termin nennen und eine Erklärung abgeben könne, wonach die Staats- und Regierungschefs erwarteten, dass bis zu diesem Termin die Sache abgeschlossen werde und dass sie alles tun würden, um dies sicherzustellen. Präsident Bush erklärt, er frage sich, warum man nicht heute hinter den Kulissen über den Landwirtschaftsbereich sprechen könne. Der Bundeskanzler fährt fort, er habe seinen Vorschlag, einen Termin festzulegen, vor allem mit Blick auf die Öffentlichkeit gemacht. Gleichzeitig würde eine Terminvorgabe auch großen psychologischen Druck auf jeden Beteiligten ausüben. Er würde gerne wissen, ob dieser Vorschlag vor dem Hintergrund der amerikanischen Wahlen8 akzeptabel sei. Präsident Bush erklärt: prinzipiell ja. Die amerikanische Seite habe eine gewisse Flexibilität, wenn auch nicht viel. Man könne daher mit der Europäischen Kommission hier in München einen Versuch machen. Natürlich wolle auch er nicht, dass diese Frage zum wichtigsten Tagesordnungspunkt des Gipfels werde und man dann scheitere. Der Bundeskanzler erklärt, er sei für alles offen, aber skeptisch, ob man hier in München Fortschritte machen könne. AM Baker erklärt, die amerikanische Seite glaube, dass es eine Chance gebe, im Landwirtschaftsbereich einen Kompromiss zu finden – nicht allerdings in den anderen Bereichen. Die Frage, ob man einen festen Termin setze, solle man prüfen. Die GAP-Reform9 habe Fortschritte ermöglicht, vorausgesetzt, die EG sei bereit, die GAP-Reform in Handelsvereinbarungen umzusetzen. Mitterrand habe angedeutet, dass dies einen Versuch wert sei. Der Bundeskanzler wirft die Frage ein, was Mitterrand genauer gesagt habe. AM Baker erwidert, Mitterrand habe die Auffassung vertreten, man solle einen Versuch machen. In der Frage der Getreideexporte habe Mitterrand ursprünglich auf 18 % bestanden, sei dann aber auf 20 % hochgegangen. Vielleicht sei aber noch Flexibilität drin. Die amerikanische Seite sei damit einverstanden, dass die internen Einkommenshilfen nicht gefährdet würden. Im Gegenzug müsse die EG der amerikanischen Seite bei den Exportsubventionen entgegenkommen. Ferner sei die amerikanische Seite mit der Friedensklausel einverstanden. Schließlich könne die amerikanische Seite eine kosmetische Formel in der Frage des „rebalancing“ anbieten, eine Frage, die im Übrigen mehr die Deutschen 7 Für das Gespräch des amerikanischen Präsidenten Bush mit dem französischen Staatspräsidenten Mitterrand am 5. Juli 1992 in München vgl. https://bush41library.tamu.edu/archives/memconstelcons. 8 In den USA fanden am 3. November 1992 Präsidentschaftswahlen, Wahlen zum Repräsentantenhaus sowie Teilwahlen zum Senat und für die Gouverneursämter statt. 9 Zur Reform der GAP vgl. Dok. 135, Anm. 5.

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als die anderen interessiere. In all diesen Fragen – einschließlich des Bananenproblems10 – könne man eine Übereinkunft erzielen. Der Bundeskanzler erklärt, die Frage sei nur, wann und von wem dies gemacht werden solle. AM Baker erwidert, man könne sich hier in München mit der Europäischen Kommission zusammensetzen. Dies gehe allerdings nur dann, wenn der Bundeskanzler wie auch Präsident Mitterrand mit dem grundsätzlichen Herangehen („approach“) einverstanden seien. Der Bundeskanzler erklärt, er werde die Angelegenheit mit Mitterrand aufnehmen.11 Es bleibe allerdings immer noch die Frage, was man tun soll, wenn Mitterrand nicht einverstanden sei. AM Baker erklärt, wenn es gelinge, hier in München Fortschritte im Landwirtschaftsbereich zu erreichen, werde das für alle ein riesiger Erfolg sein. Der Bundeskanzler erklärt, man sei in dieser Frage nicht weit auseinander. Er kenne aber seine Partner. Man müsse daher ein Szenario mit allen möglichen Alternativen haben, also auch für den Fall, dass in München nicht verhandelt werde. Er wiederhole daher seinen Vorschlag, dass man einen Termin nenne. Dies müsse nicht heute entschieden werden, aber er bäte doch darum, dass man sich diesen Punkt genau überlege. Präsident Bush erklärt, das Problem liege darin, dass man einen schweren Misserfolg riskiere, wenn dieser Termin nicht eingehalten werde. Der Bundeskanzler erklärt, man müsse weiter über diese Frage nachdenken. Auf keinen Fall könne der Gipfel die gleiche Botschaft aussenden wie vor zwei Jahren. Präsident Bush fährt fort, er habe mit Präsident Mitterrand auch ein gutes Gespräch über das Eurokorps gehabt. Leider habe man mit Frankreich in Sicherheitsfragen eine Reihe Differenzen. Mitterrand sei zwar der Meinung gewesen, die Amerikaner machten aus einer Mücke einen Elefanten. Er hoffe, dass man die Meinungsverschiedenheiten mit Frankreich überbrücken werde. Der Bundeskanzler erklärt, er wolle in aller Offenheit sagen, dass er den Eindruck habe, die Sache werde in Washington aufgebauscht. Er habe eine klare Position in dieser Frage. Deutschland sei Teil der NATO und brauche keinen diesbezüglichen Nachhilfeunterricht. Wir hätten unsere Treue zur NATO sowohl in Moskau als auch bei der Nachrüstung unter Beweis gestellt. Wir wünschten eine substanzielle militärische Präsenz der USA in Europa. Ebenso klar sei, dass wir die Europäische Union wollten. Beides sei kein Gegensatz. Im Rahmen der Europäischen Union müsse es auch eine europäische Sicherheitsidentität geben. Dies sei ohne Weiteres mit der NATO in Einklang zu bringen. Präsident Mitterrand wisse im Übrigen genau, dass mit Deutschland etwas Anderes nicht machbar sei. 10 Zur EG-Bananenmarktregelung vgl. Dok. 102, Anm. 8 und 9. MDg Grünhage, Brüssel (EG), berichtete am 14. Juli 1992, in der EG-Ratstagung auf der Ebene der Landwirtschaftsminister am 13./14. Juli 1992 habe BM Kiechle darauf hingewiesen, „dass die von der KOM beabsichtigte Importkontingentierung von Bananen lateinamerikanischer Provenienz (sog. Dollarbananen) den erfolgreichen Abschluss der Uruguay-Runde gefährden könnte. Die für die Einführung dieses restriktivsten Einfuhrschutzinstrumentes erforderliche Ausklammerung der Bananen aus dem GATTPaket würde auch andere Partner ermutigen, für ihre sensiblen Produkte Ausnahmen von den Abbauverpflichtungen zu fordern.“ Vgl. DB Nr. 2091; B 222, Bd. 187479. 11 Für das Gespräch des BK Kohl mit dem französischen Staatspräsidenten Mitterrand am 7. Juli 1992 in München vgl. Dok. 210.

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Präsident Bush erklärt, die deutsche Interpretation sei absolut in Ordnung. Leider sei die französische Interpretation davon etwas verschieden. Er habe dies Mitterrand auch deutlich gesagt, was diesem nicht gefallen habe. Frankreich nehme auch bei den Sicherheitsfragen, die in der KSZE behandelt würden, eine unterschiedliche Position ein. Wenn von Frankreich das Signal ausgehe, dass die amerikanische Präsenz in Europa nicht länger erwünscht sei, so schaffe dies – auch vor dem Hintergrund der amerikanischen Wahlen – ernste Probleme. Perot verkünde, dass die Deutschen 50 Mrd. Dollar zahlen sollten. Dies sei natürlich eine törichte Idee. Der Bundeskanzler wiederholt, mit uns gebe es in dieser Frage keine Probleme. Er sage das Gleiche in Washington wie in Paris und habe sich auch im Deutschen Bundestag immer wieder deutlich geäußert. Das Problem sei, dass sich auch für Frankreich die Welt verändert habe. Die Bedeutung der Nuklearwaffen nehme ab. Beispielsweise stelle sich die Frage nach der Rolle der Hades12. Präsident Bush erklärt, wir benötigten weiterhin verlässliche Sicherheitsstrukturen. Niemand wisse, was in der früheren Sowjetunion noch alles passiere. Er sei gestern in Polen gewesen, wo man sich große Sorgen über das mache, was in der Nachbarschaft vorgehe. Er habe Mitterrand ausdrücklich gefragt, ob er wünsche, dass die Amerikaner in Europa blieben. Mitterrand habe dies bejaht. Andererseits habe man immer wieder den Eindruck, dass die Botschaft laute, die USA sollten sich aus Europa zurückziehen. Der Bundeskanzler erklärt, dies sei nicht nur ein Problem Mitterrands. Es gebe auch andere Leute in Europa, die die Frage stellten, ob die USA tatsächlich in Europa bleiben wollten. Die Frage werde nicht mit Blick auf Präsident Bush gestellt. Präsident Bush erklärt, man wolle eben nicht, dass dies passiere. Deshalb dürfe es auch keine entsprechenden Signale aus Europa geben. Der Bundeskanzler wiederholt, er wolle, dass die Amerikaner in Europa blieben, und man solle auch niemandem einen Vorwand für den Abzug liefern. Dies sei die klare Meinung hier in Europa. Auch Mitterrand wolle nicht, dass die USA sich zurückzögen, denn er wolle nicht alleine mit den Deutschen sein. AM Baker erklärt, der Aufhänger für die amerikanische Präsenz in Europa („the ticket to Europe“) sei die NATO. Man habe die NATO an die veränderten Bedingungen angepasst. Hierbei hätten Deutschland und die USA eng zusammengearbeitet. Leider sei Frankreich nicht bereit, die Rolle der NATO zu erweitern. Dies mache es schwieriger, zu Hause die Unterstützung für die weitere amerikanische Präsenz in Europa zu erhalten. Als Beispiel verweise er auf die schwierigen Diskussionen im Zusammenhang mit der geplanten Peacekeeping-Rolle der NATO im Rahmen der KSZE. Frankreich betreibe in dieser Frage ständig Obstruktion – wie im Übrigen immer dann, wenn es darum gehe, die Rolle der NATO zu erweitern. Während Deutschland sage, dass die vorrangige Rolle des Eurokorps dessen Einsatz im Rahmen der NATO sei, erkläre Frankreich, dies müsse noch ausgehandelt werden, und beim Eurokorps handele es sich um eine von der NATO unabhängige militärische Kraft. Im Grunde genommen wolle Frankreich die NATO schwächen. 12 Zum französischen nuklearen Kurzstreckensystem Hades vgl. Dok. 222, Anm. 10.

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6. Juli 1992: Gespräch zwischen Kohl und Bush

Der Bundeskanzler erklärt, er sehe die Entwicklung in Europa anders, wobei Voraussetzung sei, dass der Vertrag von Maastricht ratifiziert werde, wovon er ausgehe. Ab Januar 1993 werde die EG in Beitrittsverhandlungen mit Österreich, Schweden, Finnland, der Schweiz und möglicherweise auch mit Norwegen eintreten. Das bedeute, dass 1995 diese Länder Mitglieder der EG sein würden. Schweden habe bereits erklärt, dass es seine Position gegenüber der NATO ändern werde. Das gleiche gelte für Finnland. Folglich werde die Europäische Union die NATO nicht schwächen, sondern stärken. Natürlich werde es eine andere NATO sein – aber dies wollten wir ja gemeinsam. AM Kinkel erklärt, ihm sei bewusst, dass Frankreich bremse, wenn es darum gehe, der NATO eine neue Funktion zuzuweisen. Dies zeige sich insbesondere in der Diskussion um die Rolle der NATO im Rahmen der KSZE. In dieser Frage seien wir klar an der Seite der Amerikaner. Andererseits solle man auch etwas Geduld haben. Er sei zuversichtlich, dass es gelingen werde, die Sache im amerikanischen Sinne zu lösen. Präsident Bush erklärt, er habe in diesem Punkt gewisse Zweifel. Er habe die Angelegenheit noch gestern mit Präsident Mitterrand erörtert und dabei die amerikanische Position unmissverständlich dargelegt. Präsident Mitterrand habe erklärt, sich die Sache anzuschauen. Der Bundeskanzler erklärt, in der NATO-Frage gebe es eine klare Haltung aller Europäer – bis auf Frankreich. Dies sei aber seit 30 Jahren so. Andererseits handele es sich nicht um eine Entwicklung, die ansteckend wirke. Er habe vor ein paar Monaten vor dem Nordischen Rat in Helsinki gesprochen13 und dort deutlich gemacht, dass es keine EG-Mitgliedschaft à la carte geben könne, wonach die einen für den Handel, die anderen für die Sicherheit zuständig seien. Sicherheit aber bedeute NATO. Man habe auf dem jüngsten ER in Lissabon14 mit den Iren gesprochen und ihnen klargemacht, dass sie nach der Ratifizierung des Maastrichter Vertrages auch ihre Sicherheitsposition überdenken müssten. Insgesamt veränderten sich daher die Dinge zum Positiven. Präsident Bush erklärt, den USA gehe es vor allem darum, eine self-fulfilling prophecy zu vermeiden, die besage, dass sich die USA aus Europa zurückziehen würden. Genau dies tue Präsident Mitterrand, der damit dem amerikanischen Volk die falsche Botschaft vermittle. Finanzminister Brady wirft ein, diese Botschaft sei Wasser auf die Mühlen von Perot. Der Bundeskanzler erklärt, er verstehe dieses Problem. Er selber habe kürzlich in New York15 die deutsche Position in dieser Frage unmissverständlich vertreten. Präsident Bush erklärt, mehr könne er von Deutschland nicht verlangen. AM Baker fügt hinzu, die amerikanische Seite unterstütze nachdrücklich eine europäische Verteidigungsidentität. Die entscheidende Frage sei, wie das Eurokorps mit der NATO verbunden werde. Wenn dem Eurokorps eine komplementäre Rolle zufalle, sei dies ok. Präsident Bush fährt fort, sein innenpolitisches Problem bestehe darin, dass es in den Vereinigten Staaten immer mehr Leute gebe, die der Meinung seien, man könne das Geld, 13 Für die Rede von BK Kohl am 5. März 1992 vgl. BULLETIN 1992, S. 253–256. 14 Zur Tagung des Europäischen Rats am 26./27. Juni 1992 vgl. Dok. 201. 15 Vgl. die Rede von BK Kohl anlässlich der Jahresversammlung der American Newspaper Publishers Association am 5. Mai 1992; BULLETIN 1992, S. 425–428.

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6. Juli 1992: Vorlage von Roßbach

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das die amerikanische Regierung zur Unterhaltung ihrer Streitkräfte im Ausland aufwende, besser zu Hause anlegen. Für ihn sei jedoch der entscheidende Punkt, dass die Vereinigten Staaten ein eigenes Interesse an der Truppenpräsenz in Europa hätten. Der Bundeskanzler wiederholt, er sei überzeugt, dass mit der Schaffung der Politischen Union die Dinge in zwei Jahren so laufen würden, wie er dies geschildert habe. AM Baker erklärt, entscheidend sei, dass man ein lebendiges und nicht in seiner Bedeutung abnehmendes Bündnis habe. Der Bundeskanzler stimmt dem zu. BArch, B 136, Bd. 59736

209 Vorlage des Ministerialdirigenten Roßbach für Bundesminister Kinkel 241-378.21

6. Juli 19921

Über Herrn Staatssekretär2 Herrn Bundesminister3 Betr.:

Mandat für das KSZE-Forum für Sicherheitskooperation

Anlg.: 14 Zweck der Vorlage: Zur Unterrichtung 1) Am 6.7.1992 wurden die Arbeiten des Helsinki-Folgetreffens an einem Mandat für das KSZE-Forum für Sicherheitskooperation (FSK) erfolgreich abgeschlossen. Der KSZEGipfel am 9./10. Juli in Helsinki5 wird dieses Mandat offiziell verabschieden6; das Forum soll seine Arbeit am 22. September 1992 aufnehmen.7 2) Das allen KSZE-Staaten offenstehende FSK wird auf das aufbauen können, was in den bislang bestehenden Foren für Rüstungskontrolle in Europa erreicht wurde. Im Unterschied zu den bisherigen Rüstungskontrollanstrengungen werden jedoch die im Rahmen des FSK aufzunehmenden Verhandlungen die ersten sein, die in einem nicht länger durch den Ost-West-Gegensatz geprägten Umfeld begonnen werden. Dies macht eine Umorien1 Die Vorlage wurde von VLR I Gruber und VLR Lüdeking konzipiert. 2 Hat StS Kastrup am 8. Juli 1992 vorgelegen. 3 Hat im Ministerbüro VLR I Gerdts am 8. Juli 1992 sowie VLR Brose vorgelegen, der handschriftlich vermerkte: „Ab Fax an BM.“ Hat Brose am 23. Juli 1992 erneut vorgelegen, der den Rücklauf an Referat 241 verfügte. Hat VLR I Gruber am 24. Juli 1992 erneut vorgelegen. 4 Dem Vorgang beigefügt war der Text des Mandats für das KSZE-Forum für Sicherheitskooperation. Vgl. B 43, ZA-Bd. 177892. 5 Zur KSZE-Gipfelkonferenz vgl. Dok. 226. 6 Für das Mandat des KSZE-Forums für Sicherheitskooperation (Abschnitt V der „Beschlüsse von Helsinki“) vgl. BULLETIN 1992, S. 790–793. 7 Für eine erste Bewertung der Tätigkeit des FSK vgl. Dok. 434.

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tierung notwendig: Ging es bisher vor allem um die Herstellung eines ausgeglichenen Kräfteverhältnisses zwischen Warschauer Pakt und NATO und um Vertrauensbildung, so stehen jetzt der Aufbau und die Gestaltung neuer, vor allem durch Zusammenarbeit geprägter Sicherheitsbeziehungen zwischen allen KSZE-Staaten im Vordergrund. Diese neue Leitvorstellung bedingt, dass das neue FSK nicht nur „traditionelle“ Rüstungskontrollaufgaben wahrnehmen wird. 3) Das Mandat, das auf der Grundlage eines im Rahmen der NATO abgestimmten und von uns wesentlich beeinflussten Textentwurfes erarbeitet wurde, definiert drei breit angelegte Aufgabenfelder für das FSK: a) Konkrete Maßnahmen der Rüstungskontrolle In einer ersten Phase wird das Schwergewicht bei der Harmonisierung bestehender Rüstungskontrollverpflichtungen liegen. Damit soll eine allen KSZE-Staaten gemeinsame Ausgangsbasis geschaffen werden, von der aus weitere Beschränkungen, Begrenzungen und Reduzierungen militärischer Potenziale vereinbart werden können. Wir messen der Harmonisierung auch eine große politische Bedeutung zu: Sie ist ein Mittel zur Schaffung eines „gemeinsamen Sicherheitsraumes“, in dem die KSZE-Staaten über gleiche Rechte und Pflichten verfügen. Neben der Harmonisierung soll auch das Instrumentarium Stabilisierender sowie Vertrauens- und Sicherheitsbildender Maßnahmen weiterentwickelt werden. b) Institutionalisierter, permanenter Sicherheitsdialog Neben der Führung eines intensiven Gedankenaustausches zu einem breiten Spektrum die Sicherheit aller oder einzelner KSZE-Staaten betreffender Fragen soll der Sicherheitsdialog auch die Grundlagen für weitergehende Verhandlungen über konkrete Rüstungskontrollmaßnahmen schaffen. In seinem Rahmen wird auch die Ausarbeitung des von uns gemeinsam mit Frankreich vorgeschlagenen Verhaltenskodexes im Bereich der Sicherheit8 sein. Ein wichtiges Aufgabenfeld dieses „Korbs“ des FSK soll die Zusammenarbeit bei der Stärkung bestehender Nichtverbreitungsregime und bei der Förderung einer verantwortungsbewussten Rüstungsexportpolitik bilden. c) Stärkung der Fähigkeiten zur Konfliktverhütung Im Rahmen des FSK wird das Konfliktverhütungszentrum wichtige, operative Aufgaben bei der Friedenserhaltung und dem Krisenmanagement übernehmen. Die steuernde Funktion verbleibt jedoch beim KSZE-Rat bzw. beim Ausschuss Hoher Beamter. 4) Das heikelste Problem der Mandatsverhandlungen war die Frage der Festlegung des Anwendungsgebietes für sog. „harte“ Rüstungskontrollmaßnahmen (Reduzierungen, Begrenzungen, Verifikation, Beschränkungen). Unter anderem wir hatten uns gegen Verfestigung der im Wesentlichen auf Europa begrenzten Anwendungsgebiete der bisherigen Rüstungskontrollforen (VKSE und VVSBM) gewandt und uns für eine Ausdehnung des Anwendungsgebietes auf russisches Territorium östlich des Urals bis zum 90. Längengrad eingesetzt, da die dort dislozierten Streitkräfte auch für die Sicherheit und Stabilität in Europa relevant sind. Aufgrund russischen Widerstands und der amerikanischen Sorge, dass mit einer Ausdehnung nach Westsibirien auch die Forderung nach Einbeziehung amerikanischen Territoriums gestellt werden könnte, ließ sich dieses Anliegen nicht durch8 Zum Vorschlag für einen KSZE-Verhaltenskodex vgl. Dok. 142, Anm. 9.

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setzen. Dennoch ist es gelungen, im Mandatstext die Option für künftige Ausdehnungsvereinbarungen im Prinzip offenzuhalten. Den Vorschlag, eine Perspektive der Weiterentwicklung des ins Auge gefassten Verhaltenskodexes zu einem europäischen Sicherheitsvertrag vorzusehen – auf den die französische Seite bis zuletzt beharrte und für den sie auch eine offene Konfrontation mit westlichen Bündnispartnern, insbesondere den USA, in den Mandatsverhandlungen in Kauf nahm –, konnte F nicht durchsetzen. Gleiches gilt auch für die nachhaltige Forderung Russlands nach konkreten Verhandlungen über qualitative Rüstungskontrolle. 5) Aus den Mandatsverhandlungen lassen sich für die Arbeiten des KSZE-Forums für Sicherheitskooperation wichtige Lehren ziehen: – Für den Erfolg der künftigen Arbeiten des FSK wird entscheidend sein, inwieweit die KSZE-Mitgliedstaaten das Forum als Chance für die Verhandlung weitreichender Rüstungskontrollmaßnahmen mit dem Ziel der Schaffung neuer kooperativer Sicherheitsbeziehungen begreifen. Obgleich die bewaffneten Konflikte in der ehemaligen Sowjetunion und im ehemaligen Jugoslawien das Fortbestehen von Sicherheits­ und Stabilitätsrisiken auf unserem Kontinent bewusst gemacht haben, so ist dennoch bei einigen gerade auch westlichen KSZE-Staaten die Tendenz spürbar, nach Überwindung der Ost­WestKonfrontation die Sicherheitsprobleme Europas nicht als eine Herausforderung für neue Rüstungskontroll-Anstrengungen zu betrachten. – Die Entwicklung neuer Stabilitätskonzepte und darauf aufbauend die zielgerichtete inhaltliche Ausfüllung des durch das Mandat vorgegebenen breiten Themenspektrums werden eine vorrangig zu leistende Aufgabe sein. – Aufgrund des Anstiegs der Zahl der Verhandlungsteilnehmer auf 52 und des Wegfalls festgefügter Bündniskonstellationen wird die Konsensbildung im FSK sich als schwierig und zeitraubend erweisen. Das westliche Bündnis hat bereits bei der Verhandlung des FSK-Mandates die konzeptionelle Führungsrolle übernommen. Es9 muss diese auch weiterhin ausüben, sollen die Arbeiten des FSK ziel- und erfolgsorientiert geführt werden. Roßbach B 43, ZA-Bd. 177892

9 Korrigiert aus: „Sie“.

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7. Juli 1992: Gespräch zwischen Kohl und Mitterrand

210 Gespräch des Bundeskanzlers Kohl mit dem französischen Staatspräsidenten Mitterrand in München 7. Juli 19921 Präsident Mitterrand äußert sich eingangs befriedigt über den Verlauf der bisherigen GipfelGespräche.2 Man müsse allerdings aufpassen, dass sich der Gipfel nicht zu sehr auf die GATT-Problematik einlasse. Er habe Präsident Bush gestern Abend gesagt, dass die EG mit der Verabschiedung der gemeinsamen GAP-Reform3 eine wichtige Geste gemacht habe. Eine weitere Geste sei sehr schwierig und auch nicht möglich, wenn die USA ihrerseits nicht bereit seien, Konzessionen zu machen. Frankreich habe jetzt schon erhebliche Probleme mit seinen Landwirten. Wenn man in den nächsten zwei Wochen etwas zu GATT erkläre, werde das weitere 200 000 Leute auf die Straße treiben. Er habe allerdings nichts dagegen, wenn die Fachleute die GATT-Problematik diskutierten. Er sei in dieser Frage nicht intransigent. Denn in der Tat würde ein Erfolg von GATT die Weltwirtschaft zum Vorteil aller stimulieren. Dies könne aber nicht auf Kosten der EG und Frankreichs geschehen. Die USA müssten flexibler sein. Präsident Bush würde gerne ein Ergebnis sehen, denn er benötige dringend einen Anstoß für die amerikanische Wirtschaft. Dafür nehme er möglicherweise eine gewisse Unzufriedenheit bei den Farmern im Mittelwesten in Kauf. Der sensibelste Punkt seien die Getreideexporte. Hier bestünden die Amerikaner auf einen Abbau um 24 %. Hinzu komme, dass die USA Millionen Tonnen von Substituten in der EG verkauften. Dies habe man 1969 den Amerikanern als Gegenleistung für europäische Disziplin in der Landwirtschaftspolitik zugestanden. Dies liege zwar 23 Jahre zurück, aber offenbar hätten die Amerikaner dieses Zugeständnis inzwischen vergessen und wollten zweimal bezahlt werden. Man müsse daher fordern, dass die Einfuhren von Substituten reduziert würden. Im Übrigen dürfe man nicht außer Acht lassen, dass aufgrund einer nationalen Bestimmung die amerikanische Regierung die Möglichkeit habe, internationale Abmachungen aus nationalen Gründen aufzuheben. Ein solches Risiko könne man nicht eingehen. Es könne nicht angehen, dass nationale gesetzliche Bestimmungen internationale Abkommen einfach aufhöben. Die Amerikaner seien eben doch Protektionisten. 1 Der Gesprächsvermerk wurde von MD Hartmann, Bundeskanzleramt, am 13. Juli 1992 gefertigt und am selben Tag über BM Bohl an BK Kohl „mit der Bitte um Billigung“ geleitet. Ferner vermerkte Hartmann: „Ich gehe davon aus, dass der Vermerk nicht weitergeleitet wird.“ Hat Bohl am 14. Juli 1992 vorgelegen. Hat Kohl am 15. Juli 1992 vorgelegen, der den Rücklauf an Hartmann verfügte und zu dessen Vermerk handschriftlich vermerkte: „Ja“. Hat Hartmann am 15. Juli 1992 erneut vorgelegen. Vgl. den Begleitvermerk; BArch, B 136, Bd. 34701. 2 BK Kohl und der französische Staatspräsident Mitterrand hielten sich anlässlich des vom 6. bis 8. Juli 1992 stattfindenden Weltwirtschaftsgipfels in München auf. Zum Gipfel vgl. Dok. 225. 3 Zur Reform der GAP vgl. Dok. 135, Anm. 5.

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Der Bundeskanzler erklärt, sein Eindruck sei, dass Präsident Bush die GATT-Frage gerne vor den Wahlen4 geregelt sähe. In der Tat stünden die USA – wie der Präsident schon gesagt habe – vor einer Güterabwägung zwischen den Interessen der amerikanischen Wirtschaft und denen der Farmer. Ein Erfolg bei GATT sei entscheidend für die Weltwirtschaft, nicht zuletzt im Blick auf die Dritte Welt. Er halte es für wenig wahrscheinlich, dass man in München zu einem Ergebnis in dieser Frage komme. Daher habe er schon vor dem Gipfel immer wieder deutlich gemacht, dass dies kein Thema für München sei. Allerdings benötige man eine Sprachregelung, um einen psychologischen Rückschlag zu vermeiden. Man könne nicht einfach erklären, dass wir für einen Erfolg bei GATT seien. Die Frage sei, ob man sich nicht ein Zeitziel setzen und gleichzeitig erklären solle, dass die Verhandlungen intensiv geführt würden. Präsident Mitterrand erklärt, dies sei ein sehr hochgestecktes Ziel. Er habe nicht das Gefühl, dass die USA bereit seien, wichtige Konzessionen zu machen, auch wenn Präsident Bush sich offensichtlich bewegen wolle. Der Bundeskanzler erklärt, Präsident Bush werde heute mit Präsident Delors zusammentreffen, und man solle das Ergebnis ihres Gespräches abwarten.5 Präsident Mitterrand wiederholt, er könne sich derzeit nicht erlauben, dass noch mehr Leute in Frankreich auf die Straße gingen. Der Bundeskanzler weist darauf hin, dass sein Zeitplan vorsehe, nicht jetzt eine Entscheidung herbeizuführen, sondern möglicherweise im Oktober. Präsident Mitterrand erklärt, es wäre schön, wenn dies erreicht werden könne. Andererseits solle man mit präzisen Daten vorsichtig sein. Er wiederhole, wenn man auf dem Gipfel zu viel Nachdruck auf die GATT-Frage lege, laufe man Gefahr, dass die Presse hinterher schreibe, der Gipfel sei an diesem Problem gescheitert. Er erkläre aber nochmals seine Bereitschaft, den Fachleuten den Auftrag zu geben, über entsprechende Formulierungen zu reden. Der Bundeskanzler erklärt, er wolle in der offiziellen Sitzung zu diesem Thema möglichst wenig sagen. Präsident Mitterrand stimmt dem nachdrücklich zu. Staatssekretär Köhler erklärt auf die entsprechende Frage des Bundeskanzlers, ein weiteres wichtiges Thema sei die Sicherheit der Kernkraftwerke. Die USA und Japan hätten ihre Zustimmung zu einem gemeinsamen Fonds6 noch immer nicht gegeben. Präsident Mitterrand erklärt, dies sei eine törichte Haltung. Wenn ein Kernkraftwerk hochgehe, werde dies das Drama des Jahrhunderts werden. Der Bundeskanzler wirft ein, wenn die USA und Japan nicht zustimmten, sollten die Europäer die Sache eben alleine machen. Präsident Mitterrand erklärt, die Japaner stellten bei Gipfeln immer wieder MilliardenProgramme in Aussicht. Es handele sich aber immer wieder um die gleichen Milliarden. 4 In den USA fanden am 3. November 1992 Präsidentschaftswahlen, Wahlen zum Repräsentantenhaus sowie Teilwahlen zum Senat und für die Gouverneursämter statt. 5 Für das Gespräch zwischen dem amerikanischen Präsidenten Bush und EG-Kommissionspräsident Delors am 7. Juli 1992 in München vgl. https://bush41library.tamu.edu/archives/memcons-telcons. 6 Zur Frage eines Aktionsprogramms zur Sicherheit von Kernkraftwerken in den Nachfolgestaaten der UdSSR sowie den MOE-Staaten vgl. Dok. 142, Anm. 18.

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Er habe allerdings den Eindruck, dass Ministerpräsident Miyazawa dem westlichen Denken näherstehe als seine Vorgänger. Der Bundeskanzler erklärt, in der Tat habe Miyazawa in dem gestrigen Gespräch hochinteressante Bemerkungen zur Entwicklung der japanischen Gesellschaft gemacht. Der Bundeskanzler stellt sodann die Frage, wie Präsident Mitterrand die Entwicklung in Israel7 beurteile. Präsident Mitterrand erwidert, er glaube nicht, dass sich viel ändern werde. Dies sei seine persönliche Ansicht. Er kenne Rabin seit 25 Jahren. Dieser sei ein intelligenter Mann, verfüge aber nur über begrenzten Spielraum. Die Begrenzung ergebe sich einmal aus seiner eigenen Vorstellungswelt, allerdings auch aus der Haltung der israelischen Öffentlichkeit. Er würde sich aber freuen, wenn er sich in dieser Frage täusche. Rabin werde sicherlich angenehmer sein als Schamir, aber er sei keine „Taube“. Bezeichnend sei, dass Rabin sofort erklärt habe, dass er mit der PLO nicht verhandeln werde. Auch seine Haltung in der Siedlungsfrage sei zweideutig. Insgesamt erwarte er daher nicht viel. Der Bundeskanzler erklärt, er teile die Auffassung des Präsidenten. Mit Peres wären die Aussichten vielleicht anders gewesen. Präsident Mitterrand stimmt zu und ergänzt, man dürfe nicht vergessen, dass Rabin ein Militär sei. Der Bundeskanzler fährt fort, die Israelis seien sich offenbar nicht im Klaren darüber, dass die gemäßigten politischen Führer in Ägypten oder auch Jordanien für sie eine große Chance bedeuteten. Sie müssten eigentlich sehen, dass die Entwicklung auch in eine andere Richtung gehen könne, denn die ganze Region befinde sich im Aufbruch. Sie könnten auch nicht daraufsetzen, dass die USA weiterhin bereit seien, alles mitzumachen. Präsident Mitterrand wirft ein, Außenminister Baker habe bewiesen, dass dem nicht so sei.8 Der Bundeskanzler wirft die Frage auf, wie man sich gegenüber der Formel einer G 8 verhalten solle.9 Präsident Mitterrand fragt zurück, ob Präsident Bush dies formell vorschlagen werde. Der Bundeskanzler erwidert, er glaube dies nicht. Er selber werde das Thema nicht aufrollen. Im Übrigen habe er die entsprechende Information der Zeitung entnommen. Präsident Mitterrand erklärt, für ihn entstehe ein Problem, wenn die Sache öffentlich gemacht werde. In diesem Fall könne er nur zustimmen. Dies werde dann für den Bundeskanzler schwierig. Frankreich könne aber nicht einfach Nein sagen, wenn die USA dies offiziell forderten. Es sei daher besser, das Thema nicht offiziell zu diskutieren. Der Bundeskanzler erklärt, wenn man Russland zulasse, stelle sich sofort die Frage nach der Beteiligung der Ukraine, Chinas oder Brasiliens. Präsident Mitterrand erklärt, dies sei logisch – wobei er feststelle, dass es inzwischen die Japaner und die Deutschen seien, die sich auf die cartesianische Logik beriefen. Die Amerikaner bildeten sich inzwischen ein, dass Russland bereits eine Kolonie sei – ähnlich wie Alaska. Der Bundeskanzler wirft ein, die USA täten sich in der Tat mit der neuen Lage schwer. 7 Zu den Parlamentswahlen am 23. Juni 1992 in Israel vgl. Dok. 201, Anm. 21. Die neue Regierung unter MP Rabin trat ihr Amt am 13. Juli 1992 an. 8 Zur Frage amerikanischer Kreditbürgschaften für Israel vgl. Dok. 80, Anm. 9. 9 Zu amerikanischen Überlegungen zur Bildung einer „Gruppe der Acht“ (G 8) vgl. Dok. 206.

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Präsident Mitterrand fährt fort, die USA seien inzwischen bereit, alle früheren kommunistischen Staaten in eine Organisation aufzunehmen, die von der NATO abhänge. Dies sei eine „phantastische Entwicklung“, denn damit habe die NATO praktisch alle Nuklearwaffen des früheren Gegners unter Kontrolle. Der Bundeskanzler erklärt, wenn man sich auf G 8 einlasse, seien die G 7 kaputt. Präsident Mitterrand erklärt, auch er sei nicht dafür, aber man dürfe die Sache nicht öffentlich diskutieren. Der Bundeskanzler erklärt, er sei insofern in einer guten Lage, als ihm niemand diesen Vorschlag unterbreitet habe. Präsident Mitterrand erklärt, für die Japaner sei das Weltproblem Nr. 1 die Frage der Kurilen.10 Sie träten ihm gegenüber in dieser Frage ziemlich massiv auf. Der Bundeskanzler erklärt, er habe MP Miyazawa erklärt, die japanische Seite gehe in dieser Frage nicht klug vor. Die Japaner hätten ihre Würde, aber die Russen auch. Er habe seinerzeit mit Gorbatschow über diese Frage gesprochen.11 Diese lasse sich nur in einem Prozess lösen und nicht wie ein Geschäft auf dem Wochenmarkt. Präsident Mitterrand erklärt, auch die Japaner müssen zur Entwicklung der Welt beitragen. Der Bundeskanzler erklärt, sie könnten in der Tat einen Beitrag leisten, beispielsweise bei UNCED. Präsident Mitterrand wirft ein, oder auch bei den Kernkraftwerken bzw. in der Frage der Automobilimporte. Staatssekretär Köhler erläutert noch einmal kurz die amerikanische und japanische Haltung in der Frage eines Fonds für die Kernkraftwerke und fügt hinzu, es sei wichtig, dass dieser Fonds in München zustande komme. Der Bundeskanzler erklärt, hierüber müsse man mit den Japanern und Amerikanern diskutieren. Präsident Mitterrand wirft ein, die entsprechenden Kernkraftwerke seien halt weit weg von Japan und den USA. Der Bundeskanzler erklärt, dies sei eine Täuschung, denn es gebe beispielsweise ein Kernkraftwerk in Wladiwostok. Wenn etwas in Bulgarien oder der Ukraine passiere, würden die Auswirkungen auch die USA erfassen. Im Übrigen nehme in den USA das Problembewusstsein in dieser Frage zu, wie er einem Gespräch mit dem amerikanischen Senator Gore am Rande des Gipfels in Rio12 entnommen habe. BArch, B 136, Bd. 34701

10 Zur Kurilenfrage vgl. Dok. 13, Anm. 43. 11 BK Kohl und der sowjetische Präsident Gorbatschow erörterten die Kurilenfrage in Gesprächen am 9. November 1990 in Bonn sowie 5. Juli 1991 in Meschigorje. Vgl. AAPD 1990, II, Dok. 372, bzw. AAPD 1991, II, Dok. 235. 12 Zur VN-Konferenz über Umwelt und Entwicklung (UNCED) vom 3. bis 14. Juni 1992 vgl. Dok. 177.

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7. Juli 1992: Vorlage von Neubert

211 Vorlage des Vortragenden Legationsrats I. Klasse Neubert für Bundesminister Kinkel 213-321.00 MOL

7. Juli 1992

Über Dg 211, D 22, Herrn Staatssekretär3 Herrn Bundesminister4 Betr.:

Moldau-Konflikt5

Anlg.: 26 Zweck der Vorlage: Zur Unterrichtung 1) Russischer Botschafter suchte am 2.7.1992 D 27 auf, um auf Weisung aus Moskau Sorgen russischer Seite über Entwicklung in Moldau-Konflikt vorzutragen. (Rohübersetzung der russ. Botschaft ist als Anlage 1 beigefügt.8) Terechow schilderte die besorgniserregenden Verluste an Leib und Leben und die beträchtlichen Zerstörungen von Städten und Dörfern, die Gefahr, dass die 14. russ. Armee in den Konflikt hineingezogen wird, das Ausmaß der Flüchtlingsbewegung aus Transnistrien nach Ukraine und Russland. Er beschuldigte (zu Recht, wie wir vom BND wissen) Rumänien, erhebliche Mengen Waffen an Moldau geliefert zu haben und politisch nicht auf Mäßigung der moldauischen Politik gedrängt zu haben. Er beschuldigte im übrigen Moldau und Rumänien, Überlegungen über eine politische Lösung, die nach Moskauer Auffassung einen Autonomiestatus für das Transnistriengebiet einschließen muss, ablehnend gegenüberzustehen und insbesondere einer Option auf Selbstbestimmung für Transnistrien für den Fall, dass Moldau sich mit Rumänien vereinigt. Terechow bat nur in allgemeiner Form (s. a. russisches Non-paper) um „Verständnis und Unterstützung“ durch die Bundesregierung. 1 2 3 4

5

6 7 8

Hat MDg von Studnitz am 7. Juli 1992 vorgelegen. Hat in Vertretung des MD Chrobog MDg Schilling am 8. Juli 1992 vorgelegen. Hat StS Kastrup am 9. Juli 1992 vorgelegen. Hat BM Kinkel am 11. Juli 1992 vorgelegen. Hat OAR Salzwedel am 13. Juli 1992 vorgelegen, der den Rücklauf an Referat 213 verfügte. Hat VLR I Neubert am 14. Juli 1992 erneut vorgelegen. VLR I Neubert erläuterte am 23. Juni 1992: „Der bislang noch nicht voll ausgebrochene Konflikt zwischen der moldauischen Regierung und der ,Dnjestr-Republik‘ im überwiegend slawisch besiedelten Transnistrien (Landstrich zwischen dem Dnjestr und der ukrainischen Grenze) ist in den letzten Tagen zu einer immer intensiveren bewaffneten Auseinandersetzung eskaliert. Auf eine militärische Offensive der moldauischen Regierung gegen die russophone Stadt Bendery hat Moskau erstmals mit einer russischen Intervention gedroht. […] Rumänien strebt längerfristig den Anschluss der Moldau einschließlich Transnistriens, nach Möglichkeit auch der 1944 verlorenen, heute zur Ukraine gehörenden Gebiete Nordbukowina und Südbessarabien an.“ Russland neige einer föderativen Lösung zu: „Eine Abspaltung Transnistriens kann Moskau mit Rücksicht auf Sezessionsbestrebungen im eigenen Land nur schwer unterstützen.“ Vgl. B 41, ZA-Bd. 184426. Vgl. Anm. 8 und 11. Jürgen Chrobog. Dem Vorgang beigefügt. Für das am 2. Juli 1992 übergebene russische Non-paper vgl. B 41, ZA-Bd. 184432.

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7. Juli 1992: Vorlage von Neubert

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Abb. 10: Konfliktregionen in Moldau

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7. Juli 1992: Vorlage von Neubert

Auf Frage D 2, in welcher Weise wir behilflich sein könnten, sagte Terechow, es gehe darum, dass die Vier jetzt die Vereinbarungen von Istanbul9 umsetzen und ggfs. hierzu Unterstützung seitens der VN und der KSZE erfahren. Er unterstrich des Weiteren, dass Russland zu Verhandlungen mit Moldau über den Status und späteren Abzug der 14. Armee bereit sei. 2) Unabhängig von russischer Demarche muss die weiterhin negative Entwicklung, auch nach den Gesprächen und Vereinbarungen von Istanbul unter den vier Hauptbeteiligten, Sorge erregen: Rumänien gewährt Moldau weiterhin militärische Unterstützung (Materiallieferungen, wenn auch in kleinem Umfang), eine Feuereinstellung seitens der moldauischen Kräfte ist nicht erfolgt, wobei unklar ist, ob dies mit oder gegen Direktiven der Regierung erfolgt. Besonders besorgniserregend ist Haltung der transnistrischen/russischen Autoritäten, die bereits jetzt einer Autonomieregelung nicht mehr zustimmen wollen und volle Unabhängigkeit oder Union mit Russland oder Ukraine verlangen. Damit vergrößert sich das Risiko einer Eskalation in zwei Richtungen: a) Weitere militärische Eskalation mit Verwicklung der russischen Streitkräfte auf dem linken und rechten Dnjestrufer mit entsprechenden militärischen, innen­ und außenpolitischen Konsequenzen. b) Eine Ausweitung der internationalen Dimension des Konflikts, da nicht nur die Grenzen zwischen Moldau und Rumänien, Moldau und Ukraine, der Status Transnistriens Streitgegenstand sein würden, sondern auch die Frage der territorialen Zugehörigkeit des Gebiets der Gagausen, der Nord-Bukowina und Bessarabiens aufgeworfen würde mit der Folge langwieriger und ernsthafter Territorialstreitigkeiten zwischen Ukraine, Russland, Rumänien und möglicherweise auch Ungarn. Es erscheint deshalb nötig, wirksame Schritte zur Begrenzung und Beilegung des Transnistrienkonflikts zu unternehmen. Hierzu wird die Staatengemeinschaft zwar auch in internationalen Foren Erklärungen abgeben müssen, um den Streitparteien zu signalisieren, dass ihr Verhalten aufmerksamer Beobachtung unterliegt und die Staatengemeinschaft Lösungen auf dem Verhandlungsweg von ihnen erwartet, gleichwohl darf dies nicht das einzige Instrument bleiben, da große Verhandlungsforen wie VN und KSZE nicht der günstigste Rahmen für Kompromisslösungen sind und öffentliche Kritik die Kompromissbereitschaft nicht fördert, sondern eher – aus innenpolitischen Gründen – zu verstärkter Intransigenz [führt]. Wir haben daher – nach Abstimmung mit britischer Präsidentschaft10 – ein Coreu unter den Zwölf zirkuliert, um eine Diskussion in Gang zu setzen mit dem Ziel einer gemeinsamen Zwölferhaltung (Anlage 211). In der Substanz bestand in EPZ-AG Osteuropa weitgehend Einvernehmen, dass die Zwölf auf dieser Grundlage vorgehen sollten, und zwar je nach Gelegenheit gemeinsam oder einzeln, d. h. 9 Referat 213 erläuterte am 13. Juli 1992: „Am 25. Juni beschlossen die Präsidenten der Moldau, Rumäniens, Russlands und der Ukraine am Randes des Istanbuler Schwarzmeergipfels, den Konflikt zu beenden, und forderten das moldauische Parlament zur Ausarbeitung einer Lösung für das Dnjestrgebiet auf.“ Vgl. B 41, ZA-Bd. 184426. 10 Großbritannien hatte seit dem 1. Juli 1992 die EG-Ratspräsidentschaft inne. 11 Dem Vorgang beigefügt. Für den RE vom 3. Juli 1992 über die Demarche des russischen Botschafters Terechow bei MD Chrobog am Vortag sowie das mögliche Vorgehen der EG-Mitgliedstaaten vgl. B 41, ZA-Bd. 184432.

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8. Juli 1992: Gespräch zwischen Kinkel und Kosyrew

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– gemeinsame Erklärung oder Initiative für Erklärungen in größeren Foren (KSZE), – Demarchen der Präsidentschaft in den vier Hauptstädten. Präsidentschaft bereitet jetzt Entwurf vor. – Nutzung der gemeinsamen Argumentationslinie in allfälligen bilateralen Kontakten, wo immer es zweckmäßig erscheint, um Überzeugungsarbeit zu leisten. Neubert B 41, ZA-Bd. 184432

212 Gespräch des Bundesministers Kinkel mit dem russischen Außenminister Kosyrew in München 8. Juli 19921 Kosyrew (K) fragt nach der Behandlung des Themas russische Auslandsschulden2 während des G 7-Gipfels.3 BM verweist auf das [zu] beschließende Maßnahmenpaket, mit dem die russische Seite zufrieden sein dürfte, macht jedoch im Hinblick auf die noch anstehende Beratung im Plenum keine Aussagen zu Einzelheiten.4 Kosyrew bittet um Erläuterung der Politischen Erklärung zu Jugoslawien5, insbesondere im Hinblick auf die dort angesprochene internationale Konferenz. BM verweist auf den Vorschlag Präsident Mitterrands, das Jugoslawien-Problem in einem breiter angelegten Rahmen zu behandeln.6 Hier handele es sich um ein Angebot der Sieben. Einzelheiten seien bisher nicht erörtert worden. Eine derartige Konferenz könne notwendig werden, auch um Russland mit einzubeziehen.7 1 Der Gesprächsvermerk wurde von MD Chrobog gefertigt. Hat BM Kinkel am 9. Juli 1992 vorgelegen. 2 Zur Frage der Altschulden der ehemaligen UdSSR vgl. Dok. 98, Anm. 4. VLR I Runge erläuterte am 24. Juni 1992, der Pariser Club habe sich mit den GUS-Mitgliedstaaten auf einen weiteren Zahlungsaufschub bis zum 30. September 1992 geeinigt. Ferner erwarteten die Gläubiger eine baldmögliche Einigung mit dem IWF über erforderliche Reformprogramme und gingen von einer Umschuldung noch vor Ende September 1992 aus. Vgl. B 52, ZA-Bd. 173907. 3 BM Kinkel und der russische AM Kosyrew hielten sich anlässlich des vom 6. bis 8. Juli 1992 stattfindenden Weltwirtschaftsgipfels in München auf. Zum Gipfel vgl. Dok. 225. 4 Zum Zehn-Punkte-Programm für Russland vgl. die Erklärung von BK Kohl in dessen Eigenschaft als G 7Vorsitzender vom 8. Juli 1992; BULLETIN 1992, S. 743 f. 5 Für die „Erklärung zum ehemaligen Jugoslawien“ vom 7. Juli 1992 der Teilnehmer des Weltwirtschaftsgipfels vgl. BULLETIN 1992, S. 731 f. 6 Vgl. die Ausführungen des französischen Staatspräsidenten Mitterrand in der Sitzung des Weltwirtschaftsgipfels am Morgen des 7. Juli 1992 in München; https://bush41library.tamu.edu/archives/memconstelcons. 7 Am 26./27. August 1992 fand in London die internationale Jugoslawien-Konferenz statt. Vgl. Dok. 269.

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8. Juli 1992: Gespräch zwischen Kinkel und Kosyrew

Kosyrew verweist darauf, dass die Erklärung neue Elemente enthalte, insbesondere härtere Aussagen zu Kroatien. Er sei besorgt, dass Kroatien den Weg beschreitet, den Serbien eingeschlagen habe, nämlich den der Gewalt. Russland sei beunruhigt über die Situation in der Region. Man müsse sich die Frage stellen, ob nicht auch Sanktionen gegen Kroatien beschlossen werden müssten. Es sei sein Eindruck, dass in Helsinki über die dort beschlossenen Instrumente zur Streitschlichtung8 ein weiteres stärkeres Instrumentarium geschaffen werden müsse. Er verweist auf den Vorschlag Jelzins und Krawtschuks, ein Sonder-KSZE-Außenministertreffen vorzusehen, um sich mit der Frage der Schaffung derartiger Instrumentarien zu befassen.9 BM verweist auf die klare Aussage zur überwiegenden Verantwortung Serbiens. Stimmt aber darin überein, dass auch andere Streitparteien an ihre Verantwortung erinnert werden müssten. Was das zu schaffende Instrumentarium angehe, so werde es in Helsinki noch keine entscheidenden Fortschritte in der von Kosyrew aufgezeichneten Richtung geben. Ihm sei der russische Vorschlag im Detail noch nicht bekannt. Er wolle aber die deutsche Bereitschaft unterstreichen, über diese Fragen nachzudenken und an der Lösung mitzuwirken. Kosyrew: Es gehe um eine Vervollständigung des KSZE-Instrumentariums, um eine direkte Einwirkung auf Konflikte nicht nur in Jugoslawien, sondern auch in Bereichen wie z. B. Transnistrien10, zu ermöglichen. Die VN schafften es nicht mehr, überall angemessen zu reagieren. Die KSZE sei das richtige Forum, sich diesen Herausforderungen zu stellen. Sie habe die Verantwortung in der europäischen Region. BM verweist auf die Umwandlung der KSZE in eine regionale Abmachung im Sinne von Kap. VIII der VN-Charta11 und stimmt darin überein, dass das Konfliktbewältigungsinstrumentarium weiter verstärkt werden müsse. Es gebe inzwischen Querverbindungen zwischen der KSZE und der NATO, die sich gemeinsam mit anderen in Konfliktfällen zur Verfügung stellen könne. Wir seien daran interessiert, dass gerade Russland in alle Überlegungen sofort einbezogen werde. Schließlich hätten wir ein gemeinsames Interesse an der Lösung regionaler Krisen. 8 Vgl. Abschnitt III der „Beschlüsse von Helsinki“ vom 10. Juli 1992; BULLETIN 1992, S. 785–788. 9 VLR Beuth erläuterte am 17. Juli 1992, anlässlich der Gipfelkonferenz der GUS-Mitgliedstaaten am 6. Juli 1992 in Moskau hätten die Präsidenten Jelzin (Russland) und Krawtschuk (Ukraine) vorgeschlagen, „dass bereits in Helsinki die Außenminister der KSZE-Teilnehmerstaaten einen Beschluss über ein außerordentliches Treffen des Rates der KSZE-AM ,unter Beteiligung von Vertretern der NATO und der WEU‘ fassen sollten, das der Vervollkommnung der Mechanismen für Vorbeugung und Regelung von Konflikten gewidmet sein soll“. Beuth erläuterte, der Vorschlag ziele vermutlich darauf, „der GUS einen ähnlichen Status wie EG, NATO und WEU zu geben“, und führte aus: „Aus unserer Sicht könnte ein Interesse daran bestehen, bei Konflikten, die zu KSZE-friedenserhaltenden Maßnahmen führen, auf das Potenzial an Personal und Material der GUS-Staaten zurückgreifen zu können, sowohl unter dem Gesichtspunkt der Kostenrelevanz wie unter dem Aspekt einer möglicherweise geringen Akzeptanz in der westlichen Öffentlichkeit, eigene Streitkräfte in geographisch entfernte und für uns politisch nachrangige Konfliktzonen zu entsenden. […] Allerdings darf eine solche Beauftragung durch die KSZE nicht dazu führen, dass Russland quasi durch die Hintertür wieder als Ordnungsmacht installiert wird.“ Ein Sondertreffen der Außenminister der KSZE-Mitgliedstaaten sei allerdings „im Augenblick weder zweckmäßig noch notwendig“. Vgl. B 28, ZA-Bd. 158721. 10 Zum Transnistrien-Konflikt in Moldau vgl. Dok. 211, besonders Anm. 5. 11 Vgl. Ziffer 25 der Gipfelerklärung bzw. Abschnitt III, Ziffer 19, sowie Abschnitt IV, Ziffer 2, der „Beschlüsse von Helsinki“ vom 10. Juli 1992; BULLETIN 1992, S. 780, 787 und 789.

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8. Juli 1992: Gespräch zwischen Kinkel und Kosyrew

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Kosyrew stimmt dem zu und verweist darauf, dass die zurzeit ausbrechenden Konflikte ihren Ursprung in historisch begründeten Ursprüngen haben.12 Es gehe heute nicht mehr um Auseinandersetzung zwischenstaatlicher oder ideologischer Art. Hier müsse rasch eine adäquate Antwort gefunden werden. Die KSZE könne selbstverständlich auch die Hilfe der NATO, anderer Staaten, z. B. der GUS, in Anspruch nehmen. Seit den beiden letzten GUS­Gipfeln sei die GUS bereit, sich aktiver an der Schlichtung bestehender Konflikte zu beteiligen. Gerade jetzt in Moskau sei eine enge Zusammenarbeit bei der Friedenssicherung unter den GUS-Staaten beschlossen worden. BM geht auf weitere Themen kurz ein: – Situation in der GUS sei ein zentrales Thema auf dem G 7-Gipfel gewesen. Offenkundig sei das Interesse aller an wirtschaftlicher Entwicklung und Stabilität in diesem Raum. – Beim heutigen G 7-Treffen sei noch kein Beschluss zu erwarten, dass das G 7-Treffen in Zukunft in ein G 8-Treffen umgewandelt werden solle.13 Auch die USA hätten sich hier in München etwas zurückhaltender geäußert als kürzlich in Washington. Allgemein sei aber das Interesse, Russland so eng wie möglich an die G 7 heranzuführen. – Der Kanzler bemühe sich sehr um eine Entscheidung zur Schaffung eines internationalen Fonds zur nuklearen Sicherheit in der GUS.14 – Was den Abzug sowjetischer Truppen aus den baltischen Staaten15 angehe, so seien uns die wirtschaftlichen Probleme in Russland bekannt. Er wolle aber darauf hinweisen, dass die baltischen Staaten hier sehr stark drängen – zuletzt beim WEU-Treffen in Bonn16. – Zur Kurilen-Frage17 verweist BM auf den Text der Politischen Erklärung18. – Den Fall Honecker19 wolle er hier kurz erwähnen, und er bäte noch einmal darum, bei der Lösung, die sich abzeichne, mitzuhelfen. – NS-Verfolgte: In dieser Frage stehe man kurz vor einer Vereinbarung.20 Einwurf Kosyrews: Wir warten jetzt allerdings auf die deutsche Antwort.21 12 So in der Vorlage. 13 Zu amerikanischen Überlegungen zur Bildung einer „Gruppe der Acht“ (G 8) vgl. Dok. 206. 14 Vgl. das Aktionsprogramm zur Sicherheit von Kernkraftwerken in den Nachfolgestaaten der UdSSR sowie den MOE-Staaten (Ziffer 42–48 der Wirtschaftserklärung vom 8. Juli 1992); BULLETIN 1992, S. 739 f. 15 Zum Abzug vormals sowjetischer Truppen aus den baltischen Staaten vgl. Dok. 81, Anm. 8. Vgl. auch Dok. 172. 16 Zur WEU-Ministerratstagung am 19. Juni 1992 auf dem Petersberg vgl. Dok. 162, Anm. 32. 17 Zur Kurilenfrage vgl. Dok. 13, Anm. 43. 18 Vgl. Ziffer 9 der „Politischen Erklärung“ vom 7. Juli 1992 der Teilnehmer des Weltwirtschaftsgipfels; BULLETIN 1992, S. 730. 19 Für das Szenario zur Überstellung Erich Honeckers in die Bundesrepublik vgl. Dok. 184. 20 Zur Frage einer Entschädigung für sowjetische Opfer des Nationalsozialismus vgl. Dok. 111. 21 Mit Schreiben vom 1. August 1992 an den russischen AM Kosyrew, das gleichlautend auch an die AM Krawtschenko (Belarus) und Slenko (Ukraine) ging, legte BM Kinkel dar, der Inhalt des Schreibens der drei AM vom 14. April 1992 sei „nochmals sehr sorgfältig und ernsthaft geprüft worden. Eine höhere Dotation der Stiftung liegt jedoch außerhalb unserer Möglichkeiten.“ Die Bundesregierung halte ihre im November 1991 in Moskau präzisierten Vorschläge für angemessen: „Vor allem im Interesse der betroffenen Menschen wäre es wünschenswert, auf der Basis des von deutscher Seite unterbreiteten, allerdings

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Kosyrew empfiehlt, sich in Zukunft mehr um die Lösung von Konflikten und die Behandlung von Menschenrechten in der ehemaligen UdSSR und in den baltischen Staaten zu bemühen. Russland sei willens, das Tempo des Truppenabzuges aus den baltischen Staaten zu beschleunigen. In der Tat gebe es aber erhebliche wirtschaftliche Probleme. Man sei in Russland bereit, auf ein internationales Hilfsprogramm in dieser Frage einzugehen. Die Menschenrechtssituation erfordere verstärkte Aktivitäten im Rahmen der KSZE, insbesondere gehe es um die Wahrung der Minderheitenrechte in den baltischen Staaten. Er verwies darauf, dass viele Konflikte sich aus der Lage der russischen Minderheiten außerhalb Russlands ergäben. Beide Minister vereinbarten als Termin für den BM-Besuch in Moskau den 7. Oktober.22 BM betonte sein Interesse, diesen Besuch mit der Eröffnung des Goethe-Instituts23 und der Öffnung der deutschen Botschaft zu verbinden. Die Politischen Direktoren sollen sich vorher in Moskau treffen, um die Einzelheiten vorzubereiten.24 Beide Minister beendeten das knapp einstündige Gespräch mit dem Wunsch, dieses in Helsinki am Rande der KSZE fortzusetzen.25 B 1, ZA-Bd. 178945

Fortsetzung Fußnote von Seite 857 auch abschließenden und nicht mehr verhandlungsfähigen Angebots die in Aussicht genommene Stiftung schnell zu errichten.“ Vgl. B 86, Bd. 2059. 22 BM Kinkel hielt sich am 6./7. Oktober 1992 in Russland auf. Vgl. Dok. 311, Dok. 314 und Dok. 315. 23 Zum Goethe-Institut in Moskau vgl. Dok. 13, Anm. 29. VLR I Bald teilte der Botschaft in Moskau am 9. Juli 1992 mit, das BMF habe bestimmten Baumaßnahmen am ehemaligen Kanzleigebäude der DDR nur zugestimmt, wenn das Goethe-Institut am eigentlich nur für die Zwischennutzung vorgesehen Standort bleibe. BM Kinkel plane, das Goethe-Institut am 8. Oktober 1992 zu eröffnen. Vgl. den DE; B 96, ZA-Bd. 197652. 24 Zu den deutsch-russischen Direktorenkonsultationen am 14./15. September 1992 in Moskau vgl. Dok. 275, Anm. 13. 25 In ihrem Gespräch am 9. Juli 1992 erörterten BM Kinkel und der russische AM Kosyrew die Frage einer erweiterten Jugoslawien-Konferenz, die Ergebnisse des Weltwirtschaftsgipfels vom 6. bis 8. Juli 1992 in München sowie die Frage der Abgeltung der Vermögenswerte der WGT und die Entschädigung für Opfer des Nationalsozialismus. Vgl. den Gesprächsvermerk; B 1, ZA-Bd. 178945.

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8. Juli 1992: Vorlage von Hilger

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213 Vorlage des Vortragenden Legationsrats I. Klasse Hilger für Bundesminister Kinkel 500-503.01/ADRIA

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Über Dg 50, D 51 Herrn Staatssekretär2 Herrn Bundesminister3 Betr.:

Auslandseinsatz der Bundeswehr; hier: Beteiligung der Bundeswehr an maritimen Überwachungsmaßnahmen der WEU in der Adria

Bezug: Aufzeichnung 202-369.43 vom 7. Juli 19924 Weisung an5 StS Dr. Kastrup vom 7. Juli 1992 Zweck der Vorlage: Zur Unterrichtung Weisungsgemäß werden nachfolgend die rechtlichen Gesichtspunkte, die bei einer möglichen Beteiligung der Bundeswehr an maritimen Überwachungsmaßnahmen der WEU im Mittelmeer zu berücksichtigen sind, kurz dargestellt: I. Charta der Vereinten Nationen 1) Der Sicherheitsrat hat im Rahmen des Kapitels VII der Charta6 („Maßnahmen bei Bedrohung oder Bruch des Friedens und bei Angriffshandlungen“) gegen Jugoslawien ein Waffenembargo (Resolution 7137) und gegen die Föderative Republik Jugoslawien (Serbien und Montenegro) die Unterbrechung der Wirtschaftsbeziehungen und des Luftverkehrs verhängt (Resolution 7578). Beide Maßnahmen sind getroffen worden aufgrund von Artikel 41 („Friedliche Sanktionsmaßnahmen“), das sind Maßnahmen unter Ausschluss von Waffengewalt. 1 Hat, auch in Vertretung des MDg Schürmann, MD Eitel am 8. Juli 1992 vorgelegen, der handschriftlich vermerkte: „Abstimmung mit BMI und BMJ dürfte noch länger dauern.“ 2 Hat StS Lautenschlager am 8. Juli 1992 vorgelegen, der die Weiterleitung an StS Kastrup verfügte und handschriftlich vermerkte: „Siehe meine Anmerkung Seite 3.“ Vgl. Anm. 12 und 13. Hat Kastrup am 8. Juli 1992 vorgelegen. 3 Hat im Ministerbüro VLR Wittig am 8. Juli 1992 vorgelegen, der handschriftlich vermerkte: „Per Fax an BM-Delegation.“ Hat Wittig am 13. Juli 1992 erneut vorgelegen, der den Rücklauf über MD Eitel und MDg Schürmann an Referat 500 verfügte und handschriftlich vermerkte: „Hat BM vorgelegen.“ Hat Eitel am 14. Juli 1992 erneut vorgelegen. Hat Schürmann am 14. Juli 1992 vorgelegen. 4 VLR Buchholz fasste die Ergebnisse einer Arbeitsgruppe der WEU zusammen, die mögliche Beiträge zur Umsetzung der Resolutionen des VN-Sicherheitsrats zu Jugoslawien untersuchte, wie etwa eine Marine-Operation zur Embargo-Überwachung oder humanitäre Hilfe. Vgl. B 29, ZA-Bd. 213139. 5 Dieses Wort wurde von MD Eitel gestrichen. Dafür fügte er handschriftlich ein: „über“. 6 Für Kapitel VII der VN-Charta vom 26. Juni 1945 vgl. BGBl. 1973, II, S. 458–465. 7 Für die Resolution Nr. 713 des VN-Sicherheitsrats vom 25. September 1991 vgl. RESOLUTIONS AND DECISIONS 1991, S. 42 f. Für den deutschen Wortlaut vgl. EUROPA-ARCHIV 1991, D 550–552. 8 Zur Resolution Nr. 757 des VN-Sicherheitsrats vom 30. Mai 1992 vgl. Dok. 159, Anm. 12.

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Im Rahmen des Artikels 41 der Charta ist es Mitgliedstaaten der VN oder, wie hier offenbar vorgesehen, auch einer Gruppierung von Mitgliedstaaten, nämlich der WEU (möglicherweise als „regionale Abmachung“ nach Kap. VIII der Charta9), unbenommen, sich Informationen darüber zu beschaffen, ob die vom Sicherheitsrat verfügten Maßnahmen eingehalten werden und Wirkung zeigen oder nicht. Solche Beobachtungs- und Aufklärungsmaßnahmen, die nicht mit der Ausübung von Zwang einhergehen, sind gegenwärtig ohne eine ausdrückliche weitere Ermächtigung des Sicherheitsrats möglich. Dagegen muss der Sicherheitsrat einen erneuten Beschluss fassen, wenn er zu der Auffassung gelangt, dass die in Artikel 41 vorgesehenen friedlichen Maßnahmen sich als unzulänglich erwiesen haben. Artikel 42 sieht dann militärische Sanktionsmaßnahmen vor, nämlich insbesondere den Einsatz von Luft-, See- und Landstreitkräften. Diese Maßnahmen könnten „Demonstrationen, Blockaden und sonstige Einsätze der Streitkräfte“ einschließen. Die Grenze zwischen intensiver militärischer Aufklärung zur See und aus der Luft und den in Artikel 42 genannten „Demonstrationen“ und sonstigen „Einsätzen der Streitkräfte“ könnte fließend werden. Deshalb wäre bei den hier angesprochenen Überwachungsmaßnahmen ggf. auf größte Zurückhaltung gegenüber den beobachteten Schiffen und Flugzeugen zu achten. II. Grundgesetz 1) Eine Beteiligung deutscher Schiffe und Flugzeuge an den vorgesehenen Maßnahmen der Westeuropäischen Union wirft aber innerstaatlich schwierige Abgrenzungsfragen auf, kann innenpolitische Kontroversen hervorrufen, ließe sich im Ergebnis allenfalls gemäß Ziffer 3 vertreten: Das gezielte Sammeln von Informationen im Zusammenwirken von See- und Luftstreitkräften ist eine militärische Tätigkeit („Aufklärung“) und fällt damit unter den Begriff des „Einsatzes“ im Sinne von Artikel 87 a Absatz 2 des Grundgesetzes10 (etwas anderes wäre die beiläufige Gewinnung von Informationen, etwa in dem Fall, wo die Besatzung eines Kriegsschiffes auf einer Reise Zeuge eines Seenotfalles oder einer Meeresverschmutzung wird). 2 a) Wird der Einsatz gemessen an der Staatspraxis der Bundesrepublik Deutschland, so handelt es sich (anders als die Hilfsflüge nach Sarajevo11) nicht um eine Tätigkeit im humanitären Bereich12, wie dies z. B. der Fall wäre, wenn die Bundesmarine ein Versorgungsschiff mit Hilfsgütern nach Split entsenden würde. b) Es handelt sich auch nicht um die Beteiligung an Friedenstruppen der Vereinten Nationen („Blauhelme“), denn die deutschen Schiffe und Flugzeuge werden nicht im Auftrag und mit dem Kennzeichen der Vereinten Nationen, vor allem nicht auf fremdem Staatsgebiet, sondern auf der Hohen See und im Küstenmeer des teilnehmenden Italien eingesetzt. 9 Für Kapitel VIII der VN-Charta vom 26. Juni 1945 vgl. BGBl. 1973, II, S. 466–469. 10 Für Artikel 87 a Absatz 2 GG vom 23. Mai 1949 in der Fassung vom 24. Juni 1968 vgl. BGBl. 1968, I, S. 711. 11 Zur Beteiligung der Bundeswehr an einer internationalen Luftbrücke für Sarajevo vgl. Dok. 176. 12 Die Wörter „humanitären Bereich“ wurden von StS Lautenschlager hervorgehoben. Dazu vermerkte er handschriftlich: „Den Minenräumeinsatz im Golf haben wir seinerzeit als humanitäre Aktion qualifiziert u. damit auch ,gerechtfertigt‘. Dennoch hat der jugoslawische ,Einsatz‘ auch gewisse Parallelen mit dem Minenräum-Einsatz im Golf.“ Vgl. Anm. 2. Zur Beteiligung der Bundeswehr an der Minenräumung im Persischen Golf vgl. AAPD 1991, I, Dok. 80.

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c) Es handelt sich schließlich auch nicht um einen Kampfeinsatz im Rahmen des Kapitels VII, denn dieser würde, wie oben dargestellt, nach Artikel 42 der Charta einen neuen Beschluss des Sicherheitsrats voraussetzen. 3) Es würde sich wohl vielmehr um eine bisher noch nicht diskutierte Art des Einsatzes handeln: Die fraglichen Einheiten würden sich zwar an militärischen Maßnahmen, aber unter Ausschluss von Waffengewalt beteiligen, die im Interesse der Durchsetzung von Resolutionen des Sicherheitsrats unter Kapitel VIII der Charta (und nach seiner Unterrichtung) ergriffen werden. Verfassungsrechtlich müsste sich die Argumentation besonders darauf stützen, dass die Ausübung von Zwang und der Einsatz von Waffen nicht geplant sind und mithin die Aktion von außen gesehen am ehesten mit einer militärischen Übung auf Hoher See verglichen13 werden könnte. 4) Die Bundesregierung wäre aber gut beraten, sich auf das Gegenargument der Opposition einzurichten, der beabsichtigte Einsatz sei nicht ausdrücklich von Artikel 87 a des Grundgesetzes gedeckt und damit verfassungswidrig. Außerdem könnte eingewandt werden, er diene dazu, sich über die Wirksamkeit einer Maßnahme nach Kapitel VII Gewissheit zu verschaffen, um so die Entscheidung vorzubereiten, ob militärische Sanktionsmaßnahmen, wie insbesondere eine Seeblockade, geboten erscheinen. Es wird auch die Frage gestellt werden, wie sich deutsche Kriegsschiffe und Aufklärungsflugzeuge verhalten sollen, wenn der Sicherheitsrat den Schritt von Artikel 41 nach Artikel 42 der Charta vollzieht.14 Es lässt sich voraussehen, dass die dann notwendige Beendigung des Auftrags der deutschen Kriegsschiffe und Flugzeuge (militärisch wohl „Rückzug“) politisch insbesondere von denen kritisiert werden wird, die schon heute die Ansicht vertreten, eine Beteiligung der Bundeswehr an allen Maßnahmen im Rahmen der Vereinten Nationen sei durch den Artikel 24 Absatz 2 der Verfassung15 gedeckt. Hilger B 80, Bd. 1413

13 Dieses Wort wurde von StS Lautenschlager hervorgehoben. Dazu vermerkte er handschriftlich: „Diese ,Übung‘ findet innerhalb des Vertragsgebiets der WEU (Mittelmeer) statt u. wäre insoweit zulässig. Zweifelhaft allerdings bleibt, ob man den vorgesehenen Einsatz wirklich mit einer mil[itärischen] Übung auf hoher See vergleichen kann.“ Vgl. Anm. 2. 14 An dieser Stelle vermerkte StS Lautenschlager handschriftlich: „Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund der Münchener Gipfel-Erklärung.“ 15 Für Artikel 24 Absatz 2 GG vom 23. Mai 1949 vgl. BGBl. 1949, S. 4.

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8. Juli 1992: Runderlass von Holl

214 Runderlass des Vortragenden Legationsrats I. Klasse Holl 340-322.00 AFG Fernschreiben Nr. 7507 Plurez Citissime Betr.:

Aufgabe: 8. Juli 19921

Künftige Zusammenarbeit mit Afghanistan; hier: Ressortbesprechung im AA am 7.7.1992

Bezug: DB 1999 vom 2.7.92 aus Washington2 DB 698 vom 6.7.92 aus Islamabad3 DB 557 vom 6.7.92 aus Teheran4 DB 1294 vom 6.7.92 aus London5 DB 1737 vom 6.7.92 aus Paris6 Enthält Weisung für Vertretungen New York und Genf, s. Ziff. 5 1 Der Runderlass wurde von LSin Kern konzipiert. Hat laut Vermerk MD Schlagintweit im Konzept zur Mitzeichnung vorgelegen. Ferner handschriftlicher Vermerk: „Kann abgehen.“ Hat Kern am 13. Juli 1992 erneut vorgelegen, die die Weiterleitung an MDg Zeller nach Rückkehr verfügte. Hat Zeller vorgelegen. 2 Gesandter Pleuger, Washington, berichtete über ein Gespräch mit dem amerikanischen Sonderbotschafter für Afghanistan, Tomsen. Erörtert worden seien die Lage in Afghanistan, die Notwendigkeit der Drogenbekämpfung und die zukünftige Hilfe. Als Schwerpunkte für Soforthilfe sähen die USA die Minenbeseitigung sowie Wiedereingliederungshilfen für Flüchtlinge. Vgl. B 37, ZA-Bd. 166177. 3 Botschafter Vestring, Islamabad, äußerte sich zur Lieferung von 1500 t Nahrungsmittelhilfe über das Welternährungsprogramm WEP nach Afghanistan und riet von einer Verteilung durch das Deutsche Afghanistan Komitee e. V. (DAK) ab. Dieses genieße in Pakistan aufgrund von Berichten über Missstände „keinen guten Ruf“. Vgl. B 37, ZA-Bd. 166177. 4 BR I Löschner, Teheran, gab folgende Einschätzung: „Die iranische Regierung wird offiziell keine Einwände dagegen erheben, dass die Bundesregierung Entwicklungshilfe und humanitäre Hilfe in AFG leistet. Allerdings wird IRN darauf achten, dass eine solche Hilfe nicht nach iranischer Auffassung missliebigen Gruppen zugutekommt, wie z. B. den Mudschahedin Hekmatyars. […] Iran wird deutsche oder internationale Hilfe an AFG sogar gutheißen, wenn sie in sein Konzept der Hilfe für einen islamischen Staat, in sein außenpolitisches Konzept der Ruhe und Stabilität an seinen Grenzen und zu seinem Ziel eines unabhängigen und in seinem Gebietsbestand sicheren AFG passen.“ Vgl. B 37, ZA-Bd. 284155. 5 Botschafter Freiherr von Richthofen, London, teilte nach einem Gespräch im britischen Außenministerium mit, wegen der negativen Einschätzung der Sicherheitslage werde es in absehbarer Zeit keine direkte bilaterale Entwicklungszusammenarbeit mit afghanischen Regierungsstellen geben. Großbritannien leiste über die VN humanitäre Hilfe in Höhe von umgerechnet 21 Mio. DM. Die britische Haltung sei „derzeit eindeutig abwartend“. Vgl. B 37, ZA-Bd. 284155. 6 Gesandter Junker, Paris, informierte, Frankreich leiste derzeit Nahrungsmittelhilfe sowie Unterstützungszahlungen für Nichtregierungsorganisationen, wolle aber auch mit Entwicklungsprojekten und kultureller Arbeit nach Afghanistan gehen, sobald es die Sicherheitslage erlaube. Es halte die Wiederaufnahme von Entwicklungszusammenarbeit für dringlich, „da extremistische Tendenzen zunähmen, denen der Westen nicht das Feld überlassen dürfe“. Dabei gebe es viel Raum für ein multilaterales Vorgehen. Vgl. B 37, ZA-Bd. 284155.

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Am 7.7. fand im AA eine Besprechung zwischen Vertretern des AA und des BMZ statt, die von D 37 geleitet wurde. 1) Zur politischen Lage stimmten Teilnehmer überein, dass sich das Land weiter in einer schwierigen Übergangsphase befindet, deren Dauer und Ausgang nicht vorhersehbar sind.8 Die jüngsten Raketenangriffe (4.7.92) haben Hoffnungen auf eine baldige Befriedung erschüttert. Allerdings scheint sich die anhaltende Auseinandersetzung zwischen Hekmatyar, Dostum und Massud auf Kabul und dessen Umfeld zu konzentrieren. In den Provinzen beginnt demgegenüber eine gewisse Normalisierung einzutreten. Bisher liegen uns keine verlässlichen Informationen darüber vor, wo Hilfe am nötigsten gebraucht wird, in Kabul oder in einzelnen Provinzen. Das Informationsbild ist noch vielfach von Zufälligkeiten abhängig. Auch wissen wir nicht genau, welche Art von Hilfe im Einzelfall erforderlich sei. Es bestand Übereinstimmung, dass – sobald Sicherheitslage es zulässt – eine Kontaktreise des AA, erste zusammen mit BMZ, sowie ggfs. Evaluierungsmissionen durchgeführt werden, nicht nur nach Kabul, sondern möglichst auch in befriedete Provinzen (Kandahar, Nangahar, Paktia). Zurzeit kann an eine solche Reise noch nicht konkret gedacht werden. D 3 wies auf politische Aspekte unserer humanitären und sonstigen Hilfe für Afghanistan hin. Solange die Zentralregierung nicht in der Lage ist, Kontrolle auch über Provinzen auszuüben, und dort Komitees herrschen, in denen unterschiedliche Gruppenkonstellationen vertreten sind, stehen wir vor der Frage, ob wir dennoch im Interesse der notleidenden Bevölkerung in eine wenn auch begrenzte Zusammenarbeit mit örtlichen „Behörden“ (Kommandanten, Schuras) oder Stammesgruppen eintreten sollen. 2) Uns liegen mehrere Anträge von in diesen Provinzen tätigen NROs vor. Wir müssen vermeiden, dass deutsche Hilfsleistungen an regionale Gruppen politisch missverstanden werden und einem Auseinanderbrechen Afghanistans Vorschub leisten. Vielmehr bleibt es unser Bemühen, die Einheit und territoriale Integrität des Landes zu unterstützen. Eine „klassische“, nur mit der Zentralregierung zu verhandelnde EZ ist derzeit nicht möglich. Gegen eine Rückkehr von Afghanen, die während der letzten Jahre (u. a. im Rahmen des Berufsförderungsprogramms der GTZ) in weiterführenden Berufen ausgebildet wurden, bestehen keine Bedenken. Im Gegenteil sollten sie möglichst rasch in ihre Heimat reisen, wo sie dringend gebraucht werden. 7 Reinhard Schlagintweit. 8 Zur Entwicklung in Afghanistan vgl. Dok. 130, besonders Anm. 4. Botschafter Vestring, Islamabad, berichtete am 7. Juli 1992, nach einem in Peschawar vereinbarten DreiStufen-Plan habe der bisherige afghanische Übergangspräsident Modschaddedi sein Amt an den Tadschiken Rabbani abgegeben: „Afghanistan schwankt zwischen dem Chaos und der schwachen Hoffnung, dass sich die um die Macht kämpfenden Führer am Ende doch noch arrangieren. Die Gefahr ist groß, dass sich die zentrifugalen Kräfte durchsetzen und Afghanistan zerfällt. […] Die politisch-militärischen Kräfte befinden sich im Patt. Von den drei stärksten Führern, Dostum, Massud und Hekmatyar, ist keiner stark genug, alleine zu herrschen, aber jeder ist in der Lage, eine Einigung der Gegenspieler zu torpedieren.“ Afghanistan leide an „zwei vorläufig nicht lösbaren Problemen, nämlich an seiner ethnischen Zersplitterung und an der Einmischung der Nachbarn Pakistan und Iran“. Pakistan fördere „wie früher vor allem den fundamentalistischen Paschtunen Hekmatyar. Hinter dieser Politik steht Saudi-Arabien. Iran fördert die ethnischen und religiösen Minderheiten und unterstützt massiv die Partei der Schiiten, Hizbi Wahdat. Weder Pakistan noch Iran haben ein Interesse an einer Aufsplitterung Afghanistans, ihre Politik aber könnte dahin führen.“ Vgl. DB Nr. 700; B 37, ZA-Bd. 166166.

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3) D 3 trug vor, dass in Afghanistan aufgrund der besonderen Situation internationale Organisationen, zumal die VN-Institutionen, die über große Erfahrung als Vermittler im afghanischen Friedensprozess verfügen, am besten die internationale Hilfe koordinieren könnten. Das AA trete daher dafür ein, dass auch unsere humanitäre und andere Hilfe bis auf Weiteres so weit wie irgend möglich über VN-Organisationen gehen wird. Andere Formen der Hilfe nach Afghanistan hinein könnten dagegen weder koordiniert noch, was wichtiger ist, kontrolliert werden. Auch GB und F konzentrierten ihre Hilfe auf die VN. Ref. 301 und BMZ bestätigten, dass Großteil der Afghanistan-Hilfe schon jetzt über intl. Organisationen (IKRK, UNHCR, WEP) geleitet wird. BMZ gab zu bedenken, dass sich die VN-Institutionen nach seiner Kenntnis im Wesentlichen auf Kabul konzentrieren und in den Provinzen kaum vertreten sind. Demgegenüber hätten NROs wie Help oder Afghanistan-Nothilfe in der Provinz gute Arbeit geleistet. – (Nach Angaben von Mohammed Gailani, Sohn von Pir G., mit dem AA am 8.7.92 sprach, sind bereits VN-Institutionen wie UNOCA, UNHCR, UNICEF in Kandahar und Dschalalabad im Einsatz.) 4) Die Ressortbesprechung war als Meinungsaustausch angelegt und sollte nicht primär der Entscheidungsfindung dienen. Allen Teilnehmern war bewusst, dass die Situation in Afghanistan weiterhin durch hohe Unsicherheit gekennzeichnet ist. Dies erschwert die Entscheidungsfindung. Der Meinungsaustausch soll in einigen Wochen fortgesetzt werden. 5) Zusatz für New York UNO und Genf: Vertretungen werden gebeten, bei VN-Stellen festzustellen, 1) inwieweit VN (UNOCA, UNDP usw.) über Kabul hinaus tatsächlich schon in einzelne Provinzen hineinwirken, 2) wie die Effektivität dieser Organisationen bei der Hilfe für Afghanistan bewertet wird, 3) welche Informationen über den Grad von Not und Bedürftigkeit in den einzelnen Provinzen bzw. in Kabul dort vorliegen, 4) auf welcher Grundlage die VN-Organisationen ihre Hilfe bemessen.9 Holl10 B 37, ZA-Bd. 166177

9 Botschafter Jelonek, Genf (Internationale Organisationen), gab am 21. Juli 1992 einen Überblick über Präsenz und Aktivitäten von UNHCR und UNOCA in Afghanistan. Vgl. DB Nr. 1518; B 37, ZABd. 166168. 10 Paraphe vom 9. Juli 1992.

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9. Juli 1992: Drahtbericht von Hellbeck

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215 Drahtbericht des Botschafters Hellbeck, Peking 13132/92 VS-vertraulich Fernschreiben Nr. 909 Betr.:

Aufgabe: 9. Juli 1992, 10.30 Uhr1 Ankunft: 9. Juli 1992, 05.07 Uhr

Frage eines BM-Besuchs in China

Bezug: DE 290 vom 6. Juli 1992 – 9/92 VS-v 1) Im Rahmen bilateraler Beziehungen wäre ein Signal angebracht, dass wir den Dialog mit China intensivieren wollen. Als Anknüpfungspunkt bietet sich der 20. Jahrestag der Aufnahme diplomatischer Beziehungen (11. Oktober)2 an, dem – sicher aus naheliegenden Gründen – von chinesischer Seite größere Bedeutung beigemessen wird als von uns. Wir sollten diese Gelegenheit gleichwohl nutzen, weil sie uns Gelegenheit bietet, einen gewissen Rückstand im Vergleich zu anderen westlichen Partnern aufzuholen. Wir müssen überdies damit rechnen, dass andere westliche Partner im Herbst ihre Kontakte mit China intensivieren werden. Das gilt sicherlich für die USA und GB, sehr wahrscheinlich aber auch für andere kleinere Partner. Lediglich F könnte vorerst so lange im Abseits bleiben, wie das Mirage-Geschäft mit Taiwan seine Beziehungen mit Peking belastet. Ich habe schon bei anderen Gelegenheiten darauf verwiesen, dass wir uns mit weiterer Zurückhaltung in eine singuläre Position begeben, die mit der Gesamtheit unserer außenpolitischen Interessen nicht vereinbar ist. Der 20. Jahrestag der diplomatischen Beziehungen könnte somit einen Anlass bieten, der auch unter innenpolitischen Gesichtspunkten zur Begründung dieses Besuchs herangezogen werden könnte. Nützlich wäre ein Besuch in diesem Herbst auch für unsere Wirtschaftsbeziehungen mit China. Der seit 1986 anhaltende Rückgang der deutschen Exporte scheint in diesem Jahr zum ersten Mal wieder einer leichten Aufwärtsbewegung Platz zu machen. Die deutschen Industrievertreter sind wieder etwas zuversichtlicher. Eine BDI-Delegation unter Leitung von Präsident Weiss reist im September nach China, um Möglichkeiten der Ausdehnung unserer Handelsbeziehungen zu erkunden.3 Es wäre sicher für diesen Bereich der 1 Hat VLR I Sommer am 9. Juli 1992 vorgelegen, der die Weiterleitung an MDg Zeller „z[ur] K[enntnisnahme]“ verfügte. Hat Zeller am 15. Juli 1992 vorgelegen. 2 Zur Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und der Volksrepublik China vgl. AAPD 1972, III, Dok. 328. 3 Die BDI-Delegation, die nach dem Rücktritt des BDI-Vorsitzenden Weiss am 31. August 1992 von Vizepräsident Becker geleitet wurde, hielt sich vom 7. bis 10. September 1992 in der Volksrepublik China auf. Botschafter Freitag, Peking, berichtete am 11. September 1992, außer mit MP Li Peng sei sie mit Vertretern verschiedener chinesischer Ministerien und Wirtschaftsorganisationen zusammengetroffen: „Tatsache, dass MP Li Peng sich eine Stunde für Empfang der Del[egation] Zeit nahm, persönlich Reformbestrebungen im Wi[rtschafts-]Bereich erläuterte und potenzielle Rolle deutscher Wirtschaft deutlich hervorhob, geht über allgemeines Interesse an Intensivierung der Beziehungen hinaus und kann als Signal und ernsthafte Einladung zu besonderem wirtschaftlichen Engagement gewertet werden.“ Der Besuch sei daher sowohl atmosphärisch als auch substanziell ein Erfolg gewesen. Vgl. DB Nr. 1230; B 37, ZA-Bd. 161908. Im Anschluss an die Gespräche vom 7. bis 9. September 1992 in Peking führte die Delegation am 9./10. September 1992 Gespräche in Schanghai. Oberregierungsrat Keßler, Schanghai, teilte am 14. September 1992 mit: „Eine sich seit 1989 angesichts zahlreicher Delegationsbesuche aus anderen Industrieländern in

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9. Juli 1992: Drahtbericht von Hellbeck

deutschen Interessen förderlich, wenn diesen Bemühungen durch einen Ministerbesuch zusätzlicher Auftrieb verliehen werden könnte. Es wäre sogar daran zu denken, ob wir nicht auch, wie das jedenfalls die Amerikaner mit Erfolg tun, durch den Minister bestimmten Exportwünschen besonderen Nachdruck verleihen könnten. Dies war letztmalig 1987 durch MP Strauß unternommen worden.4 2) Die chinesische Innenpolitik bewegt sich auf eine Beschleunigung und Intensivierung des Reformprozesses zu, der über kurz oder lang auch Fragen der politischen Reform in China aufwerfen wird. Zwar ist – nach dem gegenwärtigen Stand der Erkenntnisse – noch nicht abzusehen, ob der für diese Entwicklung wichtige 14. Parteikongress, wie bisher geplant, im November stattfindet oder bereits im September abgehalten wird.5 Noch weniger sicher ist, wie stark die Reformkräfte im neuen ZK vertreten sein werden. Es mehren sich aber die Einschätzungen, wonach der Reformprozess, der im Frühjahr durch Deng Xiaoping einen starken Impuls erhalten hatte6 und jetzt das beherrschende Thema der veröffentlichten Meinung geworden ist, seiner Natur nach unumkehrbar ist. Das Abtreten alter Reformgegner wie auch der Aufruf des greisen Deng für schnellere Reformen haben ganz offenbar zu neuen Verunsicherungen der Linken geführt, die seit der Kulturrevolution und dem Zusammenbruch des Kommunismus in den früheren „Bruderländern“ keinen festen Boden mehr unter den Füßen haben. Ein Besuchstermin vor dem Parteikongress bedeutete zwar, dass nicht mit letzter Sicherheit dessen Ergebnis vorausgesagt werden könnte. Doch liegt uns daran, den Reformflügel zu stärken, der allein China auf einen modernen und schließlich auch menschlicheren Weg bringen kann. Dazu würde der Besuch sicherlich beitragen. Ein retardierendes Moment könnte sich durch belastende Entwicklungen in der Menschenrechtsfrage ergeben. Wie hier gerüchtweise verlautet, soll schon in der nächsten Woche der Prozess gegen Bao Tong, den früheren Mitarbeiter Zhao Ziyangs, beginnen.7 Wird dieses Verfahren wiederum zur Generalprävention missbraucht und würden diesem Verfahren noch weitere gegen andere Abweichler folgen, müsste im Lichte der sich dann ergebenden Lage (Pressereaktion) geprüft werden, ob sich ein Besuch in diesem Herbst vertreten lässt.8 [gez.] Hellbeck B 37, ZA-Bd. 161889 Fortsetzung Fußnote von Seite 865 Schanghai abzeichnende deutsche Präsenzlücke dürfte wieder geschlossen sein. Dies auch, da bereits seit längerem angebahnte größere Projekte deutscher Großunternehmen in Schanghai (Siemens/Computertomographie, Hoechst/Pharmaprodukte, Bayer/Farbstoffeherstellung) nun zu konkreten Verhandlungen bzw. Abschlüssen fortschreiten.“ Vgl. SB Nr. 553; B 37, ZA-Bd. 161908. 4 Zum Besuch des bayerischen MP Strauß vom 12. bis 16. Oktober 1987 in der Volksrepublik China vgl. AAPD 1987, II, Dok. 288. 5 Der 14. Parteitag der KPCh fand vom 12. bis 18. Oktober 1992 in Peking statt. Vgl. Dok. 328. 6 Vgl. die Reise des ehemaligen Mitglieds des Politbüros des ZK der KPCh, Deng Xiaoping, vom 18. Januar bis 21. Februar 1992 in die südlichen Provinzen der Volksrepublik China; Dok. 73, Anm. 4. 7 Botschafter Hellbeck, Peking, berichtete am 21. Juli 1992, am selben Tag habe der Prozess gegen Bao Tong stattgefunden. Der ehemalige Sekretär des früheren GS des ZK der KPCh, Zhao Ziyang, sei zu sieben Jahren Gefängnis verurteilt worden wegen des „Verrats von Staatsgeheimnissen“ sowie „Anstiftung zu konterrevolutionärem Aufruhr“. Hellbeck führte aus: „Mit dem hohen Strafmaß ist den Konservativen ein Zugeständnis gemacht worden, bei der Verurteilung Baos stand unsichtbar auch Zhao Ziyang auf der Anklagebank“. Vgl. DB Nr. 964; B 37, ZA-Bd. 161920. 8 BM Kinkel hielt sich vom 31. Oktober bis 2. November 1992 in der Volksrepublik China auf. Vgl. Dok. 347–349.

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10. Juli 1992: Gespräch zwischen Kohl und Havel

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216 Gespräch des Bundeskanzlers Kohl mit dem tschechoslowakischen Präsidenten Havel in Helsinki 10. Juli 19921 Gespräch des Herrn Bundeskanzlers mit dem Präsidenten der ČSFR, Václav Havel, am Rande des KSZE-Gipfels in Helsinki am 10. Juli 19922 Der Bundeskanzler erklärt eingangs, er habe den Eindruck, dass die Dinge in der ČSFR sich dramatisch entwickelten. Präsident Havel erwidert, er sei dankbar für die Gelegenheit zu diesem Gespräch. Er sehe es als seine Pflicht an, den großen Nachbarn Deutschland über die Lage in der ČSFR zu unterrichten. Die Entwicklung habe sich aufgrund der jüngsten Wahlen3 sehr beschleunigt und werde wahrscheinlich dazu führen, dass die ČSFR in zwei Staaten zerfalle. In dieser Entwicklung spiegele sich vor allem das Emanzipationsbedürfnis des slowakischen Volkes wider. Es sehe so aus, als ob man sich zunächst trennen müsse, um sich später wieder zu vereinen. Wenn dies historisch notwendig sei, sei diese Entwicklung im Grunde genommen nichts Schlechtes. Aber es gebe andere Umstände, die ihm Sorge machten. Dazu gehöre insbesondere die Tatsache, dass in der Slowakei Kräfte an die Macht gekommen seien, die aus einem anderen Teig geknetet seien als er selber. Der Bundeskanzler wirft ein, dies sei in der Tat sichtbar. 1 Kopie. Der Gesprächsvermerk wurde von MD Hartmann, Bundeskanzleramt, am 15. Juli 1992 gefertigt und am folgenden Tag über MD Ackermann, Bundeskanzleramt, an BK Kohl „mit der Bitte um Billigung“ geleitet. Ferner vermerkte Hartmann: „Ich gehe davon aus, dass der Vermerk nicht weitergeleitet wird.“ Hat Ackermann am 16. Juli 1992 vorgelegen. Hat Kohl vorgelegen, der handschriftlich vermerkte „Ja“ und für Hartmann notierte: „Erl[edigen]“. Hat Hartmann am 21. Juli 1992 erneut vorgelegen. Vgl. den Begleitvermerk; BArch, B 136, Bd. 59736. 2 BK Kohl und der tschechoslowakische Präsident Havel hielten sich anlässlich der am 9./10. Juli 1992 stattfindenden KSZE-Gipfelkonferenz in Finnland auf. Zur KSZE-Gipfelkonferenz vgl. Dok. 226. 3 Am 5./6. Juni 1992 fanden in der ČSFR Parlamentswahlen statt. VLR Elfenkämpfer legte am 9. Juni 1992 dar, die Demokratische Bürgerpartei ODS (Občanská demokratická strana) habe 83 der 300 Sitze in der Föderalversammlung erhalten. Ihr Vorsitzender Klaus sei mit der Regierungsbildung beauftragt worden. Die Bewegung für eine demokratische Slowakei HZDS (Hnutie za demokratické Slovensko) unter ihrem Vorsitzenden Mečiar sei mit 57 Sitzen zweitstärkste Kraft. Somit stünden sich „auf Bundesebene zwei politische Gruppierungen gegenüber, die fundamentale politische Gegensätze verkörpern“, weshalb die „Regelung der nach wie vor ungelösten vordringlichen innenpolitischen Fragen (Nationalitätenkonflikt, künftige Verfassungsstruktur, Präsidentenwahl)“ mit diesem Wahlergebnis nicht leichter werde. Vgl. B 42, ZA-Bd. 156421. Am 3. Juli 1992 berichtete BR I Hiller, Prag: „Wie erwartet, ist StP Havel heute in erster und zweiter Wahlrunde an slowakischer Verweigerungshaltung gescheitert. Dritte Wahlrunde (mit neuen Kandidaten, ohne Havel) wird am 16.7.1992 stattfinden. Bis zur Wahl eines neuen Staatsoberhauptes bleibt StP Havel […] im Amt.“ Komme auch in der dritten Wahlrunde keine Mehrheit zustande, könne Václav Havel theoretisch wieder kandidieren. Vgl. DB Nr. 961; B 42, ZA-Bd. 156421.

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10. Juli 1992: Gespräch zwischen Kohl und Havel

Präsident Havel fährt fort, programmatisch verträten diese Kräfte zwar eine Linie, die insbesondere in der Außenpolitik dem entspreche, was auch die Tschechoslowakische Republik vertrete. In der Praxis sehe es allerdings anders aus. Seine Präsidentschaft sei vor einiger Zeit zu Ende gegangen. Insbesondere die Slowaken hätten sich seiner Wiederwahl widersetzt. Dabei habe es sich weniger um persönliche Feindschaft gehandelt als um die Absicht, ihn als Symbol der Föderation zu schwächen. Jetzt mehrten sich die Stimmen derjenigen, die ihn drängten, für das Amt des Präsidenten der Tschechischen Republik zu kandidieren. Dieses Drängen werde auch von der Bevölkerung unterstützt. Wenn die historische Notwendigkeit dies erfordere, sei er bereit, seine Kräfte dem Staat erneut zur Verfügung zu stellen. Es sehe so aus, dass der Prozess der Teilung der ČSFR in verfassungsmäßiger Weise vor sich gehen werde. Es drohten somit keine jugoslawischen Verhältnisse. Aber bekanntlich sei eine Scheidung immer eine schwierige Sache, die zu Komplikationen führen könne. Abschließend wolle er dem Bundeskanzler noch die Frage stellen, wie er die Perspektiven des deutsch-tschechoslowakischen Vertragssystems bei einer Teilung sehe. Er wolle insbesondere wissen, ob der deutsch-tschechoslowakische Vertrag4 wie auch der Assoziationsvertrag mit der Europäischen Gemeinschaft5 auf beide Staaten übertragen werden könne. Der Bundeskanzler erklärt, er könne dem Präsidenten in dieser Lage nur den Rat eines Freundes geben. Er habe es richtig gefunden, dass Präsident Havel kandidiert habe – auch auf die Gefahr hin, dass seine Kandidatur scheitere, denn der Präsident sei ein Symbol. Aus dem gleichen Grund solle Präsident Havel unbedingt für das Amt des Präsidenten der Tschechischen Republik kandidieren. Wenn er den Eindruck habe, dass er hierüber mit dem einen oder anderen sprechen solle, möge er ihn das wissen lassen. Er bedauere die eingetretene Entwicklung. Er glaube aber, dass sie jetzt unvermeidbar sei. Deswegen sei es wichtig, dass sich die Trennung in zivilisierter Form vollziehe, wie der Präsident gesagt habe. Denn das werde auch die spätere Entwicklung bestimmen. Es mache einen Unterschied, ob man in bitterer Feindschaft auseinandergehe oder weil man glaube, man verstehe sich nicht mehr. Er denke in dieser Frage weiter. In 10 bis 15 Jahren werde sich durch die Mitgliedschaft in der EG manches relativieren. Der Bundeskanzler verweist in diesem Zusammenhang auf das Beispiel der Benelux-Staaten. Er sei im Übrigen überzeugt, dass die Tschechische Republik bald auf die Beine kommen werde. Immerhin handele es sich um eines der begabtesten Völker Europas. Die Zeichen stünden auf Europa, und Prag mit seiner Geschichte und Kultur gehöre zu Europa. Wenn die Slowaken jetzt die Föderation verlassen wollten, werde sich bald die Frage stellen, an wen sie sich wenden würden. Sollten sie sich an Wien wenden, sei er jetzt schon auf die Antwort gespannt. Der Sturm und Drang werde sich legen, und die Praxis des Lebens werde sich einstellen. Deshalb rate er dazu, jetzt gelassen zu reagieren. Beispielsweise könne sich eines Tages die Frage stellen, dass die Tschechische Republik für den Beitritt zur EG reif sei, man jedoch in der Slowakei noch nicht so weit sei. 4 Für den deutsch-tschechoslowakischen Vertrag vom 27. Februar 1992 über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit vgl. BGBl. 1992, II, S. 463–473. Vgl. auch Dok. 64. 5 Zum Europa-Abkommen zur Gründung einer Assoziation zwischen der EG und der ČSFR vom 16. Dezember 1991 vgl. BULLETIN DER EG 12/1991, S. 97 f.

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10. Juli 1992: Vorlage von Matuschka

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Der Bundeskanzler versichert noch einmal, dass Präsident Havel auf seine persönliche Unterstützung zählen könne. Er werde die Frage der Verträge prüfen lassen (der Bundeskanzler gibt dem Unterzeichner6 den entsprechenden Auftrag). Präsident Havel dankt dem Bundeskanzler für seine Erläuterungen und fügt hinzu, er würde es begrüßen, wenn der Bundeskanzler das, was er gesagt habe, in geeigneter Weise auch nach außen deutlich mache. Er wolle abschließend noch folgende Bitte äußern: Kardinal Tomášek liege im Sterben. Es wäre eine große Geste, wenn der Bundeskanzler persönlich an dessen Begräbnis teilnehmen könne. Der Bundeskanzler sagt zu, dass er so weit wie möglich diesem Wunsch entsprechen werde.7 Präsident Havel weist abschließend noch einmal darauf hin, dass er mit Václav Klaus als künftigem Ministerpräsidenten der Tschechischen Republik gut zusammenarbeite. Auf die entsprechende Frage des Bundeskanzlers erklärt Präsident Havel, dass die Mehrheit im Parlament für seine Wahl zum Präsidenten der Tschechischen Republik ausreichend sei. BArch, B 136, Bd. 59736

217 Vorlage des Ministerialdirigenten Graf von Matuschka für Bundesminister Kinkel 431-464.75 VS-NfD

10. Juli 19921

Über Herrn D 4 i. V.2, Herrn Staatssekretär3 Herrn Bundesminister4 Betr.:

Trägertechnologiekontrollregime MTCR (Missile Technology Control Regime); hier: Ergebnisse des sechsten MTCR-Treffens in Oslo (29.6. – 2.7.1992)

1 Anlage5 Zweck der Vorlage: Zur Unterrichtung 6 Peter Hartmann. 7 BK Kohl nahm am 12. August 1992 in Prag an der Beisetzung des am 4. August 1992 verstorbenen ehemaligen Erzbischofs von Prag, Tomášek, teil. Vgl. den Artikel „Kardinal Tomasek im Veits-Dom zu Prag beigesetzt“; BERLINER ZEITUNG vom 13. August 1992, S. 7. 1 Die Vorlage wurde von VLR I Nocker und VLR Ziegler konzipiert. 2 Hat in Vertretung des MD Dieckmann MDg von Kyaw am 10. Juli 1992 vorgelegen. 3 Hat StS Lautenschlager am 10. Juli 1992 vorgelegen, der handschriftlich vermerkte: „Wertung Ziffer 4 – Seite 5.“ 4 Hat BM Kinkel am 10. Juli 1992 vorgelegen. Hat OAR Salzwedel am 13. Juli 1992 vorgelegen, der den Rücklauf an MDg Graf von Matuschka verfügte. Hat Matuschka am 14. Juli 1992 erneut vorgelegen. 5 Vgl. Anm. 7.

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10. Juli 1992: Vorlage von Matuschka

Vom 29. Juni bis 2. Juli 1992 fand in Oslo das sechste Treffen der (mittlerweile 22, d. h. OECD-MS ohne TUR und ISL) am MTCR teilnehmenden Regierungen statt. Das MTCR entstand 1987 aus einer Initiative der G 7 als Instrument der Exportkontrolle zur Verhinderung der Verbreitung nuklearwaffenfähiger Raketentechnologie.6 Vor dem Hintergrund der Erfahrungen des Irak-Krieges hatten wir im Frühjahr 1991 angeregt, das Regime durch Einbeziehung von B- und C-Gefechtsköpfen auf alle für Massenvernichtungswaffen geeignete Träger auszuweiten und die für „Reichweite und Nutzlast“ geltenden, die Kontrolle auslösenden Grenzwerte („Parameter“) zu senken, um auch leichtere Gefechtsköpfe der Kontrolle zu unterwerfen (Näheres im anliegenden Sachstand7). Gegen anfänglichen Widerstand der USA und GBs gelang es, weitgehend objektive Kriterien für international abgestimmte Exportkontrollen für Gegenstände zu erarbeiten, die nicht nur der Verbreitung nuklearwaffenfähiger Raketentechnologie dienen, sondern bei denen die Absicht unterstellt werden muss, dass sie zum Transport von Gefechtsköpfen aus dem B- und C-Waffenbereich verwendet werden. Zwar setzten wir in der Parameterfrage in Oslo noch keine Absenkung der Nutzlast oder Reichweite im höchstsensitiven Bereich („Kategorie I“: d. h. vor allem „vollständige Raketensysteme, die eine Nutzlast von mindestens 500 kg über eine Reichweite von mindestens 300 km tragen können“, und entsprechende Fertigungseinrichtungen) durch – hier wollen die USA und GB weiterhin möglichst freie Hand behalten. Wohl aber erreichten wir mit Hilfe von F bei sog. Kategorie IIItems die Übernahme vollständiger Raketensysteme mit Reichweite 300 km und jeglicher Nutzlast auch weit unter 500 kg in die Kontrollliste; auch diese Systeme – ebenso wie alle bereits in der Kontrollliste unter Kategorie II aufgeführten Gegenstände – unterliegen damit dem üblichen Informationsaustausch und der Pflicht, ablehnende Bescheide mit Bindungswirkung für die anderen Partner zu notifizieren. Ferner wurde zur Eindämmung der Verbreitung aller Massenvernichtungswaffen ein erweiterter Informationsaustausch vereinbart, der das Ermessen, ob und inwieweit die Partner sich gegenseitig über sich anbahnende Geschäfte unterrichten, deutlich einschränkt. Es bestand Einigkeit, dass die „Anwendung des neuen, auf Massenvernichtungswaffen bezogenen Standards auf Kategorie II eine bedeutsame Erweiterung der Kontrollen unter dem Regime bedeutet“ (schriftl. Zusammenfassung des norw. Vorsitzes). Im Einzelnen 1) Zielsetzung In mehreren Verhandlungsrunden (MTCR-Plenum in Washington, Nov. 918; AG-Sitzung auf Expertenebene in Rom, April 929; Treffen mit den wichtigsten MTCR-Partnern USA, GB, F, NL auf Expertenebene in Eschborn im Juni 9210) hatte sich deutlich gezeigt, dass für 6 7 8 9

Zur Gründung des MTCR vgl. AAPD 1987, I, Dok. 94. Dem Vorgang beigefügt. Für den Sachstand vom 9. Juli 1992 vgl. B 72, ZA-Bd. 264870. Zum fünften MTCR-Treffen vom 4. bis 7. November 1991 vgl. AAPD 1991, II, Dok. 390. Korrigiert aus: „März 92“. LRin I Müller-Holtkemper vermerkte am 14. April 1992 zur Sitzung der Gruppe technischer Experten vom 8. bis 10. April 1992, die Diskussion über die Parameter der erfassten Trägerraketen sei vor allem wegen der „totalen Verweigerungshaltung der USA“ ergebnislos geblieben. Vgl. B 72, ZA-Bd. 164385. 10 VLR Ziegler notierte am 15. Juni 1992 zu dem Treffen im Bundesausfuhramt (BAFA) am 11. Juni 1992, in der Parameterfrage habe sich gezeigt, dass bei keiner Delegation die Bereitschaft bestanden habe, „zu diesem Zeitpunkt wesentliche Änderungen der bisher bestehenden nationalen Positionen vorzunehmen“. Vgl. B 72, ZA-Bd. 164385.

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einige wichtige MTCR-Partner (insbesondere USA und GB) die Grenze für die Bereitschaft zu einer Verschärfung des Regimes dort liegt, wo die durch „Bündnisverpflichtungen legitimierte“ Exportpraxis hiervon betroffen wäre. Demgegenüber hatte sich neben uns weitgehend vor allem F im Interesse möglichst objektiver Kriterien bei der Anwendung der Exportkontrollen dafür eingesetzt, zusätzliche Raketensysteme mit abgesenkten Parametern (F: nur Nutzlast; D: Nutzlast und Reichweite) möglichst im Rahmen der Kategorie I höchstsensitiver Güter mit „starker Vermutung der Verweigerung“ der Exportgenehmigung zu erfassen. Weitere Aufgabe der Konferenz war die Abstimmung über Beitrittswünsche von Staaten jenseits des OECD-Kreises, insbesondere Argentiniens. Verhandlungslinie der deutschen Delegation (AA, BMWi, BMVg, BAFA11; Leitung: Dg 4312) war es daher, in enger Abstimmung mit F einen möglichst weit in unsere Richtung weisenden Konsens zu erzielen, keinesfalls aber den Weg für spätere, aus unserer Sicht notwendige oder wünschenswerte Nachbesserungen zu verbauen. 2) Wesentliche Ergebnisse a) Die MTCR-Richtlinien erhielten – neben der allgemeinen Anpassung des Wortlauts überall dort, wo „nuclear“ durch „Massenvernichtungswaffen“ zu ersetzen war – einen neuen, auf Massenvernichtungswaffen bezogenen Textteil, genannt „new WMD (= Weapons of Mass Destruction)-related standard“. Die entscheidende Aussage lautet (in eigener, inoffizieller Übersetzung): „Besondere Zurückhaltung wird auch bei der Prüfung der Weitergabe aller Gegenstände der Anlage oder aller Flugkörper – ob in der Anlage erwähnt oder nicht – geübt, wenn die Regierung auf der Grundlage aller erreichbaren und glaubwürdigen Informationen zu der Beurteilung gelangt (if the Government ,judges‘), dass die Absicht besteht, sie für den Transport (,delivery‘) von Massenvernichtungswaffen zu nutzen, und es ist stark zu vermuten, dass eine derartige Weitergabe verweigert wird.“ Dieser „neue Standard“ greift, anders als bei der durch die Parameter nach objektiven Kriterien zu beurteilenden Kategorie I, nicht generell, sondern, da jeder Antrag für sich zu betrachten ist und ein, wenn auch enger, Ermessensspielraum besteht, von Fall zu Fall. Er bezieht sich auf „individuelle Exporte aller Gegenstände der Anlage oder aller Raketen oder unbemannten Luftfahrzeug-Systeme (ob in der Anlage erwähnt oder nicht)“ (zit. nach Konsenspapier des Vorsitzenden13). Zur Durchsetzung dieses „Standards“ wurde ein erweiterter Informationsaustausch der Regierungen, auch über deren jeweils eigene Bewertungen, vereinbart. b) Der Richtlinien-Anhang erhielt ein neues „Item 19“, für das der neue Standard gilt, nämlich: „Komplette Raketensysteme (einschl. ballistischer Flugkörpersysteme, Weltraumträgerfahrzeuge und Höhenforschungsraketen), unbemannte Fluggerätesysteme (einschl. Marschflugkörpern, Zielortungsdrohnen und Aufklärungsdrohnen) nicht erfasst als Gegenstand 1 mit einer Reichweite von mindestens 300 km.“ 11 Bundesausfuhramt. 12 Mario Graf von Matuschka. 13 Für das undatierte Papier „MTCR Oslo Plenary 29 June – 2 July, 1992, Consensus Items“ vgl. die Anlage zum Schrifterlass des VLR Ziegler vom 7. Juli 1992; B 72, ZA-Bd. 164386.

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c) Es wurde beschlossen, dass auch Raketensysteme unterhalb einer Reichweite von 300 km ab sofort der Ablehnungsvermutung unterliegen, wenn sie als Träger für Massenvernichtungswaffen genutzt werden sollen. Da diese Systeme nicht eigens in die Technische Liste aufgenommen wurden, bleibt die Notifizierung von ablehnenden Bescheiden freiwillig. d) Die Frage der Absenkung der Parameter der Kategorie I bleibt – worüber wir zusammen mit den Befürwortern dieser Maßnahme Konsens herbeiführten – anhängig und wird beim nächsten MTCR-Plenum (Canberra, 8. – 11.3.1993) voraussichtlich wieder auf der TO stehen. In der schriftlichen Zusammenfassung stellte der Vorsitzende fest, die Einigung auf Parameter stelle einen Kompromiss dar, der nicht alle Aspekte der ursprünglichen Positionen der Partner zufriedenstelle; daher bleibe die Möglichkeit künftiger Überprüfung der Parameter offen. Bis spätestens zum nächsten Treffen werden sich die MTCR­Partner, was wir durchsetzten, auch über die Einbeziehung wichtiger Teilsysteme der neu in die Kontrollliste aufgenommenen Raketensysteme in das Kontrollregime einigen. 3) Beitrittsfragen Die von Argentinien im Hinblick auf einen MTCR-Beitritt unternommenen NV-politischen und exportkontrollrechtlichen Schritte wurden vom Plenum begrüßt. Unserem deutlich vorgetragenen und von AUS, B, F, SCZ und SPA unterstützten Petitum, das Plenum möge sich darüber hinaus zu einer „wohlwollenden“ Prüfung mit dem Ziel eines möglichst baldigen Beitritts Argentiniens bereitfinden, widersetzten sich insbesondere USA, aber auch GB, KAN und JAN mit der Forderung, Argentinien müsse erst den Verbleib von z. Zt. nicht auffindbaren Condor II-Komponenten (teilweise Kategorie I-gelistet) aufklären und diese und andere Raketenteile nachweislich vernichten. Für die Erklärung der grundsätzlichen Bereitschaft, den Beitritt zuzulassen, sei es zu früh. In der entsprechenden Erklärung des Plenums ist daher nur von einer „constructive consideration“ die Rede. 4) Wertung Es ist in Oslo gelungen, das durch den Irakkrieg geschärfte Problembewusstsein der MTCR-Teilnehmerstaaten zur Stärkung des Regimes zu nutzen. Der Konsultationsmechanismus ist wirksamer geworden, der Informationsaustauch wurde verbreitert und vertieft. Es war einerseits wichtig, potenzielle Beitrittsinteressenten (ARG, ISR, RUM) oder solche, welche die MTCR­Regeln anwenden wollen, ohne dem Regime jetzt beizutreten (CHN, RUS, SUA), nicht durch ein übermäßiges Hochziehen der Schwelle abzuschrecken (Anliegen der USA, neben ihren deutlichen, aber unausgesprochenen kommerziellen Interessen, sprich Lieferungen an ISR und Saudi-Arabien). Andererseits aber war darauf zu achten, dass das Regime glaubwürdig bleibt, also auch den seit 1987 eingeleiteten technologischen Fortschritt bei Nuklearsprengköpfen und die Einbeziehung der leichteren B­ und C-Gefechtsköpfe sichtbar zu machen (unser Anliegen). Das bis zuletzt ultimative Beharren der USDelegation auf dem von ihr seit dem letzten Treffen in Washington entwickelten „Standard of Belief“ (Auslösen des Konsultationsmechanismus mit Ablehnungsvermutung „if believed to be used for the delivery of WMD“) erschwerte unser Bemühen, die Konsultationspflicht an objektivere Kriterien zu binden. Das Verhandlungsergebnis, das im engsten Kreise erarbeitet wurde und nicht auf den „Glauben“ (und damit auch den Unglauben), sondern auf die sorgfältige Beurteilung aller greifbaren Informationen durch die verantwortliche Regierung abstellt, erwies sich als tragfähiger Kompromiss. Für uns bleibt bedeutsam, dass damit nicht das letzte Wort gesprochen ist. 872

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Zusammen mit der von BM Genscher initiierten NV-Erklärung des Weltsicherheitsrats vorn 31. Januar 199214, mit dem IAEO-Beschluss zur Aktivierung von Sonderinspektionen vom Februar 1992, mit der Verabschiedung des neuen internationalen Exportkontrollregimes für nukleare Mehrzweckgüter im April 199215 und mit der Verschärfung nun auch des MTCR-Regimes konnten wir im ersten Halbjahr 1992 wichtige Verbesserungen des nuklearen NV-Systems durchsetzen. Da D einer der ursprünglichen Regimegründer ist, der wohl zu Expertensitzungen, nicht aber zu Plenartreffen des MTCR eingeladen hat, werden wir voraussichtlich ein Folgetreffen nach Canberra, etwa im Frühjahr 1994, ausrichten müssen.16 Wenn diese Annahme sich erhärtet, werden die notwendigen Anträge zur Mittelbereitstellung rechtzeitig gestellt werden. Matuschka B 72, ZA-Bd. 264870

218 Runderlass des Vortragenden Legationsrats I. Klasse Bettzuege 012-9-312.74 VS-NfD Fernschreiben Nr. 39 Ortez

10. Juli 19921 Aufgabe: 12. Juli 1992

Zum Besuch der Palästinenser-Vertreterin Dr. Hanan Aschrawi (29.6. – 3.7.1992) 1) Frau Dr. Hanan Aschrawi, die offizielle Sprecherin der palästinensischen Delegation bei den bilateralen Friedensverhandlungen mit Israel, traf bei ihrem auf Einladung der Bundesregierung stattfindenden ersten Besuch in Bonn mit Staatsminister Schäfer, BM Möllemann2 und PStS Repnik3 (in Abwesenheit von BM Spranger) zusammen. An dem von StM Schäfer gegebenen Essen nahmen der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses 14 Vgl. die vom britischen PM Major im Anschluss an die Sitzung des VN-Sicherheitsrats auf der Ebene der Staats- und Regierungschefs am 31. Januar 1992 in New York abgegebene Schlusserklärung (S/23500); https://documents-dds-ny.un.org/doc/UNDOC/GEN/N92/043/34/pdf/N9204334.pdf. Für den deutschen Wortlaut vgl. EUROPA-ARCHIV 1992, D 365–368. 15 Zur Reform des nuklearen Nichtverbreitungssystems vgl. Dok. 104. 16 Die Bundesrepublik richtete das zehnte MTCR-Treffen vom 10. bis 12. Oktober 1995 in Bonn aus. 1 Der Runderlass wurde von VLR Kaul konzipiert. Hat MDg Bartels am 10. Juli 1992 zur Mitzeichnung vorgelegen. 2 Im Gespräch zwischen BM Möllemann und der Sprecherin der palästinensischen Delegation bei den Nahost-Verhandlungen, Aschrawi, am 30. Juni 1992 wurden der Friedensprozess im Nahen Osten sowie wirtschaftliche Hilfen für die Palästinenser erörtert. Vgl. den Gesprächsvermerk; B 36, ZA-Bd. 185408. 3 PStS Repnik, BMZ, und die Sprecherin der palästinensischen Delegation bei den Nahost-Verhandlungen, Aschrawi, sprachen am 1. Juli 1992 über den Friedensprozess im Nahen Osten sowie über Möglichkeiten der entwicklungspolitischen Zusammenarbeit in den besetzten Gebieten. Vgl. den Gesprächsvermerk; B 36, ZA-Bd. 185408.

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des Deutschen Bundestages, MdB Dr. Stercken, der außenpolitische Sprecher der SPDBundestagsfraktion, MdB Karsten Voigt, sowie weitere Abgeordnete der FDP und der PDS teil. Frau Dr. Aschrawi sprach darüber hinaus mit BM a. D. Genscher und hielt vor der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik einen Vortrag mit dem Thema „Die palästinensische Position im Nahost-Friedensprozess“. Frau Dr. Aschrawi wurde bei ihren Gesprächen in Bonn von Dr. Nabil Shaath, einem der Berater Arafats, und dem Leiter Informationsstelle Palästina, Abdallah Frangi, begleitet. Ein am 2. Juli vorgesehenes Gespräch von BM Kinkel mit Frau A. wurde von der palästinensischen Seite in letzter Minute „wegen einer leichten Erkrankung von Frau Dr. Aschrawi“ abgesagt. (Wir haben Grund zu der Annahme, dass der wirkliche Grund für die Absage die von uns nicht zugestandene Begleitung durch die PLO-Vertreter Dr. Shaath und Frangi war.) 2) Im Mittelpunkt des Gesprächs von StM Schäfer mit Frau A. stand der Fortgang der Nahost-Friedensgespräche. StM Schäfer und Frau Aschrawi stimmten darin überein, dass nach Bildung einer neuen israelischen Regierung4 mit einem zügigen Fortgang der Verhandlungen zu rechnen sei.5 Am Ende dieses Prozesses müsse eine dauerhafte Friedenslösung stehen. Diese sei Voraussetzung für eine Lösung der grundsätzlichen Fragen, die die ganze Region betreffen, wie wirtschaftliche Entwicklung, Sicherung der natürlichen Ressourcen und Abrüstung. Die deutsche Politik, so StM Schäfer, wolle alles in ihren Kräften Stehende dazu beitragen, um sowohl die Existenz Israels innerhalb anerkannter und garantierter Grenzen als auch das Recht der Palästinenser auf Selbstbestimmung zu sichern. Entscheidend komme es jetzt darauf an, dass auf Gewalt verzichtet werde und dass sowohl die neue israelische Regierung als auch die palästinensische Seite mutig und konsequent auf dem eingeschlagenen Weg vorangehen. 3) Im Hinblick auf die übrigen Gespräche sind vor allem folgende, von Frau Aschrawi immer wieder vorgetragenen Einschätzungen und Argumente festzuhalten: Israel habe durch seine Haltung bei den bilateralen Verhandlungen den Friedensprozess unterminiert. Die von der israelischen Seite unterbreiteten Vorstellungen für begrenzte Autonomie seien als bloße Verfestigung des Status quo in den besetzten Gebieten nicht akzeptabel. Es bestehe aber Zuversicht, dass nach dem Wahlsieg der Arbeiterpartei in Israel die Verhandlungen über die geplante mehrjährige Interim-Selbstverwaltung schneller vorankommen könnten, als dies mit der Schamir-Regierung möglich gewesen wäre. Frau A. unterstrich die palästinensische Bereitschaft, „möglichst bald, wenn nötig Tag und Nacht“ mit der Regierung von MP Rabin zu verhandeln und dabei die israelische Bereitschaft zu friedlichem Ausgleich gründlich zu testen. Wahlen in den besetzten Gebieten unter internationaler Kontrolle sollten möglichst schnell durchgeführt werden. Frau Aschrawi unterstrich immer wieder die palästinensische Bitte, die Europäer und die deutsche Seite sollten die Palästinenser in der nächsten Zeit verstärkt in der Form „hilfreichen Drucks auf Israel“, wo immer möglich, unterstützen. 4 Zu den Parlamentswahlen am 23. Juni 1992 in Israel vgl. Dok. 201, Anm. 21. Die neue Regierung unter MP Rabin trat ihr Amt am 13. Juli 1992 an. 5 Der erste Teil der sechsten Runde der bilateralen Nahost-Verhandlungen wurde vom 24. August bis 3. September 1992 in Washington abgehalten, der zweite Teil vom 14. bis 24. September 1992. Vgl. Dok. 282, Anm. 11.

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Als palästinensische Prioritäten für die nächste Zeit stellte Frau A. mehrfach folgende Punkte heraus: – ein sofortiger und vollständiger Stopp der israelischen Siedlungsaktivitäten (nicht nur der „politischen“ Siedlungen), – die Beachtung der IV. Genfer Konvention6 und der Menschenrechte der palästinensischen Bevölkerung der besetzten Gebiete, – Unterstützungsmaßnahmen zur Verbesserung der wirtschaftlichen und sozialen Lage der Palästinenser. Zu dem zuletzt genannten palästinensischen Anliegen unterstrich PStS Repnik die Dringlichkeit eines positiven Ausgangs des Nahost-Friedensprozesses auch für die Aufnahme normaler entwicklungspolitischer Beziehungen. Ein dauerhafter Frieden sei andererseits ohne Lösung der dringendsten wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Probleme der Menschen in den besetzten Gebieten kaum vorstellbar. Deutschland sei bereit, im Rahmen seiner finanziellen Möglichkeiten die Technische Hilfe in den Bereichen Umweltschutz, Wasser, Gesundheit sowie Aus- und Fortbildung in den besetzten Gebieten weiter zu intensivieren. 4) Der erste Besuch auf deutsche Einladung einer (eines) führenden Palästinenservertreterin (Vertreters) mit einem substanziellen Gesprächsprogramm auf so hoher Ebene ist aus unserer Sicht positiv und erfolgreich verlaufen. Wir haben unsere Zielsetzungen im Wesentlichen erreicht: – gegenüber den Palästinensern und den Konfliktparteien in der Region eine bedeutsame politische Geste der Sympathie und Unterstützung für die palästinensische Seite als schwächste Partei des Nahost­Friedensprozesses zu machen, – die palästinensische Seite zu ermutigen, trotz aller Schwierigkeiten und Frustrationen am Weg des Dialogs und von Verhandlungen festzuhalten, – der unter Druck von vielen Seiten stehenden palästinensischen Verhandlungsdelegation bei den bilateralen Verhandlungen sichtbar den Rücken zu stärken. Auch durch die überzeugende, zugleich gemäßigte Argumentation, mit der Frau Aschrawi öffentlich für palästinensische Anliegen warb, fand ihr Aufenthalt in Bonn in den Medien breite Beachtung. Unmittelbar vor ihrem Bonn-Aufenthalt war Frau Aschrawi am 18. Juni in Amman als Mitglied der palästinensischen Verhandlungsdelegation in einer „Demonstration der Zusammengehörigkeit“ mit der PLO-Führung unter Vorsitz von Yasser Arafat zusammengetroffen. Bei dieser Lage haben wir den Wunsch von Frau Aschrawi, bei ihren Gesprächen durch die PLO-Vertreter Dr. Shaath und Frangi begleitet zu werden, weitgehend berücksichtigt. Im Übrigen ist für unser Verhältnis zur PLO unverändert die Haltung entscheidend, welche die PLO selbst zum Nahost-Friedensprozess einnimmt. Bettzuege7 B 36, ZA-Bd. 185408

6 Für das Genfer Abkommen vom 12. August 1949 zum Schutze von Zivilpersonen in Kriegszeiten (IV. Genfer Konvention) vgl. BGBl. 1954, II, S. 917–976. 7 Paraphe.

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10. Juli 1992: Drahtbericht von Blech

219 Drahtbericht des Botschafters Blech, Moskau 13174/92 VS-vertraulich Fernschreiben Nr. 2952 Betr.:

Aufgabe: 10. Juli 1992, 17.23 Uhr1 Ankunft: 10. Juli 1992, 15.57 Uhr

Fall Honecker; hier: Vorsprache von Botschafter Holger

Zur Unterrichtung I. Botschafter Holger hat mich am Spätnachmittag des 9.7.1992 zu einem Gespräch aufgesucht. Er hatte kein besonderes Petitum, unterrichtete mich aber über die physische und psychische Verfassung des Ehepaares Honecker sowie über seine wachsenden Besorgnisse wegen der Sicherheitslage der Botschaft im Zusammenhang mit möglichen Befreiungs- bzw. Ausbruchsversuchen des Ehepaares H. Holger teilte mir mit, dass sich H. nach seinem Eindruck in vergleichsweise gutem physischen und psychischen Zustand befinde. Außer geringen altersbedingten und von einer Herzinsuffizienz herrührenden Beschwerden habe ein Arzt kürzlich nichts feststellen können, H. vielmehr bei befriedigender gesundheitlicher Verfassung gefunden. H. befinde sich z. Zt. ganz offenkundig in gehobener Stimmung („elated“). Grund dafür sei die unmittelbar bevorstehende Publikation seines Buches2 sowie ein sehr intensiver Briefverkehr mit Anhängern, Vertrauten und Freunden. Kürzlich habe vor der Botschaft eine Minidemonstration von ca. 40 weitgehend älteren Leuten stattgefunden mit Transparenten, die dazu aufforderten, Honecker ausreisen zu lassen. Er, Holger, habe das Gefühl, dass Honecker diese Aktivitäten sehr stark motivierten, er befinde sich absolut in „fighting spirits“. Der Umstand, dass er kämpfen wolle, lasse ihn, Holger, eigentlich nicht wirklich glauben, dass H. selbstmordgefährdet ist. Frau H. dagegen befinde sich im Zustand einer Depression, die, wie sie Holgers Frau bedeutet habe, damit zusammenhänge, dass sie sich hier festgesetzt fühle und ohne Aktionsradius, vor allem aber ohne ihre Kinder aufhalten müsse. Es sei ganz offenkundig, dass der lange Aufenthalt in der Sowjetunion, Russland bzw. jetzt in der chilenischen Botschaft in Moskau von Frau H. als schwere Belastung empfunden werde. Frau Holger gegenüber meinte sie, sie sei noch jung und wolle aktiv sein. Ihre Moskauer Aufenthaltserlaubnis ist abgelaufen. Sie verlässt deshalb das Botschaftsgelände nicht mehr. In dieser Situation nehmen Holgers Befürchtungen zu, es könne zu Versuchen kommen, das Ehepaar H. zu befreien, bzw. diese selber könnten versucht sein, in konspirativem Zusammenwirken mit Freunden den Versuch zu machen, unbemerkt das Botschaftsgelände zu verlassen, um sich entweder in Russland zu verbergen oder aber ins Ausland abzusetzen. Er habe den Eindruck, dass die im Auftrage der russischen Regierung das Gelände der Botschaft offiziell bewachenden Milizionäre korruptionsanfällig seien, wenn nicht überhaupt von der Mafia unterwandert. Er habe nach eigenem Augenschein nicht den Eindruck, dass die russische Seite mit gleicher Intensität wie zu früheren Zeiten das Gelände in einer 1 Der Drahtbericht wurde von BR I Stüdemann, Moskau, konzipiert. Hat StS Kastrup am 10. Juli 1992 vorgelegen. 2 Vgl. ERICH HONECKER, Erich Honecker zu dramatischen Ereignissen, Hamburg 1992.

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10. Juli 1992: Drahtbericht von Blech

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Art kontrolliere, dass ein unbemerktes Entkommen des Ehepaares H. unmöglich sei. Er hat die Absicht, unter Umständen auf Vertragsbasis mit einem Privatunternehmen die Botschaft zusätzlich bewachen zu lassen, in der Erwartung, dass bei guter Bezahlung die Korruptionsanfälligkeit geringer sei. Er äußerte mir gegenüber Besorgnis, dass mangels einer Entscheidung der russischen Seite, dem vereinbarten Szenario3 ihre Zustimmung zu geben, verbunden mit einer wachsenden Publizität über mögliche Veränderungen im Zusammenhang mit dem Aufenthalt des Ehepaares H., die bisher sporadischen und unkoordinierten Aktivitäten von Freunden und Parteigängern und Vertrauten nun orchestriert bis hin zu einer sich ausweitenden Solidaritätsbewegung gesteigert werden könnten. Er sieht darin eine Gefährdung für die Verwirklichung des vorgesehenen Szenarios, weil insbesondere die russische Seite hier unter Druck geraten könne. Die Meldungen über Äußerungen von Frau Honecker, man habe Pässe eines anderen Landes, bezeichnete Holger als Presseerfindung. Die Honeckers hätten ihm ihre Pässe gezeigt, er einen DDR-Diplomatenpass, sie den von uns ausgestellten, bis September geltenden Pass der Bundesrepublik Deutschland. Ferner erwähnte Holger zumindest ein Telefonat des nordkoreanischen Botschafters mit Honecker, der ganz auf seinen Wunsch nach Ausreise nach Nordkorea fixiert sei („er will Kim Il-sung sehen“). Schließlich verwies Holger auch auf die wachsende Beunruhigung Aylwins, mit dem er offenbar immer wieder telefoniert. Er wird seinen Gehilfen O’Ryan zur Berichterstattung bei Aylwin bei dessen Staatsbesuch nach Paris4 schicken. II. Ich verwies noch einmal darauf, dass sowohl in meinem letzten Gespräch mit Vizeaußenminister Kolokolow als auch in meinen früheren Kontakten zu Justizminister Fjodorow die russische Seite immer wieder deutlich gemacht habe, dass die Überwachung des chilenischen Botschaftsgeländes durch Spitzenpersonal absolut sichergestellt sei. Ich sagte ihm zu, dass ich bei dem informellen Erkundungsgespräch, um das ich bei Justizminister Fjodorow gebeten hatte, auf diese Frage noch einmal zurückkommen werde. Ich ließ dabei keinen Zweifel darüber aufkommen, dass der eigentliche Akteur in der Angelegenheit gegenwärtig Holger ist. Er hat um einen Termin bei Kolokolow nachgesucht, um von russischer Seite nun möglichst umgehend Klarheit darüber zu erhalten, ob und wann das vereinbarte Szenario ablaufen wird. Wir gingen in dem Gespräch beide davon aus, dass es vor München5 und Helsinki6 auf russischer Seite, insbesondere bei Präsident Jelzin selber, plausible Gründe gegeben haben mag, erst danach aktiv zu werden. Dann aber sei Eile geboten, weil wir die Dringlichkeit der Sache nicht durch unbegrenztes Zuwarten selbst infrage stellen dürfen und weil wir der wirklichen Formierung einer Pro-Honecker-Lobby zuvorkommen müssten. Ich habe trotz meines dringend vorgebrachten Wunsches bisher bei Fjodorow keinen Termin bekommen können. Ich gehe davon aus, dass auch er mich erst sehen wird, wenn sich die russische Seite endgültig entschieden hat. Sollte dies nicht spätestens am Montag7 der Fall sein, wäre zu überlegen, ob wir die chilenische Seite nicht bitten sollten, auf 3 4 5 6 7

Für das Szenario zur Überstellung Erich Honeckers in die Bundesrepublik vgl. Dok. 184. Der chilenische Präsident Aylwin hielt sich vom 12. bis 14. Juli 1992 in Frankreich auf. Zum Weltwirtschaftsgipfel vom 6. bis 8. Juli 1992 vgl. Dok. 225. Zur KSZE-Gipfelkonferenz am 9./10. Juli 1992 vgl. Dok. 226. 13. Juli 1992.

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höherer Ebene noch einmal an die russische Seite heranzutreten. Dies sollte mindestens Außenministerniveau sein. III. Holger rief mich soeben an, um mir mitzuteilen, dass er mit Vize-AM Kolokolow gesprochen habe. Dieser werde sich sofort um die Angelegenheit der Sicherung der Botschaft kümmern. Zur Sache selbst sei er eher ausweichend gewesen. Vor einer Rückkehr des Präsidenten sei mit einer Entscheidung nicht zu rechnen. Möglicherweise komme Anfang nächster Woche Bewegung in die Sache. [gez.] Blech B 130, VS-Bd. 15548 (216)

220 Drahtbericht des Botschafters von Ploetz, Brüssel (NATO) VS-NfD Fernschreiben Nr. 1101 Betr.:

Aufgabe: 10. Juli 1992, 22.10 Uhr1 Ankunft: 10. Juli 1992, 22.32 Uhr

WEU-/NATO-Beiträge zur Maritime-Überwachung des VN-Embargos gegen Serbien und Montenegro (VN-SR-Res. 7132 und 7573); hier: außerordentliches NATO-Ministertreffen am 10.7.92 am Rande des KSZEGipfeltreffens in Helsinki4

Bezug: DB 1096 vom 9.7.1992 – AZ. II-363.06 VS-NfD5 Zur Unterrichtung 1) Ergebnis und Bewertung Nachdem WEU-Ministerrat am frühen Morgen des 10.7. maritime Überwachungsmaßnahmen beschlossen hatte6, traten auch NATO-AMs zusammen. Sie folgten der Beschluss1 Hat VLR I Bertram am 13. Juli 1992 vorgelegen. 2 Für die Resolution Nr. 713 des VN-Sicherheitsrats vom 25. September 1991 vgl. RESOLUTIONS AND DECISIONS 1991, S. 42 f. Für den deutschen Wortlaut vgl. EUROPA-ARCHIV 1991, D 550–552. 3 Zur Resolution Nr. 757 des VN-Sicherheitsrats vom 30. Mai 1992 vgl. Dok. 159, Anm. 12. 4 Zur KSZE-Gipfelkonferenz am 9./10. Juli 1992 vgl. Dok. 226. 5 Gesandter Bächmann, Brüssel (NATO), berichtete, der Ständige NATO-Rat habe in der Frage eines möglichen NATO-Beitrags zur maritimen Überwachung der Einhaltung der Resolutionen Nr. 713 und Nr. 757 des VN-Sicherheitsrats eine Beschlussempfehlung für die Außenminister der NATOMitgliedstaaten verabschiedet: „Wesentlicher Gesichtspunkt mehrerer WEU-Partner (insbesondere I-WEU-Präsidentschaft und F) war Wahrung eigenständigen und sichtbaren ,Profils‘ der WEU.“ Vgl. B 14, ZA-Bd. 161169. 6 Der WEU-Ministerrat beschloss auf einer außerordentlichen Tagung am 10. Juli 1992 in Helsinki, die Überwachung der Einhaltung der Resolutionen Nr. 713 und 757 des VN-Sicherheitsrats „in internationalen Gewässern, im Otranto-Kanal und an anderen Punkten vor der jugoslawischen Küste, einschließlich der montenegrinischen Küste, nach Konsultationen mit UNPROFOR“ durchzuführen: „Die Teilnahme der

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empfehlung des Ständigen NATO-Rats vom 9.7. (vgl. Bezug). Beschluss wurde – wie schon zuvor der WEU-Beschluss – auf deutschen Antrag um einen Verfassungsvorbehalt ergänzt (Ziff. 1, 2. Satz).7 Beschluss ist in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert: a) Zum ersten Mal in der Geschichte der Allianz konnte Konsens dafür hergestellt werden, dass sie als solche konkret Maßnahmen der Vereinten Nationen zur Friedenserhaltung im europäischen Raum unterstützt. Damit wird bereits fünf Wochen nach der Ministertagung in Oslo8 eine konkrete Schlussfolgerung aus Ziff. 13 des NATO-Kommuniqués vom 4.6.19929 gezogen. b) Die Konsensbildung in der Allianz wurde erst möglich dadurch, dass zuvor eine WEUAktion beschlussfertig gemacht und ihre Integrität im Verhältnis zu einem Allianz-Beitrag durch intensive Konsultationen im NATO-Rat abgesichert worden war. Frankreich wollte die Beschlussfassung im Bündnis zunächst blockieren, lenkte aber schnell ein angesichts völliger Isolation. Unsere uneingeschränkte Unterstützung des auslösenden US-Vorschlags wurde von F zu Recht als Signal verstanden, dass unser stetes Bemühen um Verständnis für F keine Blankovollmacht für Blockadepolitik darstellt. c) USA griffen mit ihrem Vorschlag auf Nutzung des NATO-Flottenverbandes Mittelmeer (STANAVFORMED) eine mehrfach wiederholte Idee von NL auf, jedoch nach einigem Zögern, weil damit auch erstmals direkte US­Militärbeteiligung im JUG-Zusammenhang verbunden ist. US-Vorgehen ist unter drei Aspekten bedeutsam: – USA dokumentieren, militärischen Beitrag zur Wahrung oder Wiederherstellung von Frieden und Stabilität in Europa außerhalb des traditionellen Verteidigungsauftrags zu leisten. Dies ist ein mutiger Schritt angesichts der Malaisestimmung in den USA. – USA übernahmen politische Führung erst in Reaktion auf WEU-Vorgehen und weniger aus Gründen sachlicher Notwendigkeit denn aus Sorge, dass Handeln der WEU bei gleichzeitig passivem Verharren der NATO die Unterstützung in den USA für letztere weiter erodieren würde. – USA zogen Konsequenz aus der Tatsache, dass im neuen Sicherheitsumfeld bestimmende Mitsprache in der Beschlussfassung auch eigene sachliche Beiträge voraussetzt. Ihr Vorgehen ließ entschlossenes Bemühen deutlich werden, das Risiko so niedrig wie möglich zu halten, bei weiterer Zuspitzung der Lage mit Bodentruppen engagiert zu werden. Fortsetzung Fußnote von Seite 878 Mitgliedstaaten erfolgt nach Maßgabe ihrer jeweiligen Verfassung. Diese WEU-Operationen sind für die Teilnahme anderer Verbündeter offen und werden in Zusammenarbeit mit der NATO koordiniert.“ Ferner wurde ein Beschluss über humanitäre Hilfe gefasst. Dabei sollten „Optionen für einen Transport auf dem Landweg durch humanitäre Korridore“ sondiert werden. In Konsultationen mit der NATO sollte ferner geprüft werden, „ob Beiträge anderer Verbündeter erforderlich sind. Jegliche Operation, die die Einrichtung von humanitären Korridoren betrifft, müsste Teil weiterer Entscheidungen des Sicherheitsrats sein und mit den VN, insbesondere hinsichtlich der Schutzmaßnahmen, koordiniert werden.“ Vgl. BULLETIN 1992, S. 760. 7 Für den Beschluss vgl. NATO FINAL COMMUNIQUÉS 1991–1995, S. 81. 8 Zur NATO-Ministerratstagung am 4. Juni 1992 vgl. Dok. 170. 9 Für Ziffer 13 des Kommuniqués der NATO-Ministerratstagung in Oslo vgl. NATO FINAL COMMUNIQUÉS 1991–1995, S. 74. Für den deutschen Wortlaut vgl. BULLETIN 1992, S. 615.

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d) Für die WEU ist das parallele Engagement der Allianz vor allem für den Fall eine wirksame Rückversicherung, dass sich die militärische Situation bei Beteiligung an der Umsetzung möglicher VN-Anschlussresolutionen zuspitzt. e) Mit Blick auf das von beiderseitigem Misstrauen, besonders zwischen Frankreich und USA, geprägte Klima bei Umsetzung der in Kopenhagen10 und Rom11 durch die NATO und in Maastricht durch den Europäischen Rat12 und die WEU beschlossenen kooperativen Beziehung zwischen WEU als Ausdruck europäischer Sicherheits- und Verteidigungsidentität sowie NATO als Ausdruck des transatlantischen Sicherheitsverbundes stellen Inhalt der jetzigen Beschlüsse von WEU und NATO sowie das in ihrem Vorfeld beachtete Verfahren umfassender Transparenz und Konsultation sowie parallele Vorbereitung und Fassung von Beschlüssen ein Hoffnungszeichen dar: Die Absprachen wurden dem Inhalt wie dem Geist nach erfüllt, allerdings mit erheblichem Ächzen und intensiven bilateralen Kontakten hinter den Kulissen. f) Frankreich ordnete sich ohne innere Freude in den NATO-Konsens ein, nachdem die Integrität der WEU-Aktion ausreichend abgesichert erschien. Eine klare Prognose zur Entwicklung seines Verhältnisses zur NATO ist jedoch noch nicht möglich. Die Signale sind widersprüchlich: Einerseits will es im Zusammenhang mit den beschlossenen Maßnahmen voll im Militärausschuss mitwirken (dem es als Beobachter angehört), andererseits erwähnte Präsident Mitterrand in seiner KSZE-Rede13 zwar zahlreiche Elemente der europäischen Sicherheitsarchitektur, nicht jedoch die Allianz. Die Bestimmung des Verhältnisses des Euro-Korps zur integrierten Kommandostruktur ist der nächste konkrete Schritt, der Aufschlüsse darüber geben kann, ob ein sich bei der jetzigen kooperativen Maritime-Überwachungsaktion abzeichnendes konstruktives Miteinander das institutionelle Wettbewerbsdenken abbauen kann. g) Das außerordentliche NATO-Außenministertreffen gab der Allianz beim KSZE-Gipfel ein noch höheres Profil, als sie ohnehin schon hatte. Die finnische Staats- und Regierungsspitze, die noch vor wenigen Jahren ein Veto eingelegt hätte, hatte keine erkennbaren Bedenken und empfing NATO-GS Wörner offiziell. Die finnischen Medien erweckten insgesamt den Eindruck, als ob die KSZE abnehmende und die NATO deutlich zunehmende Bedeutung für die Sicherheit Europas hätten. Auch für die Staaten Mittel- und Osteuropas, die der Allianz im Nordatlantischen Kooperationsrat inzwischen partnerbis freundschaftlich verbunden sind, hatten mit den WEU- und Allianzbeschlüssen am Rande der KSZE-Konferenz keine Bedenken. Allerdings hatte Russland großen Wert darauf gelegt, neben EG, NATO und WEU auch die GUS in den KSZE-Dokumenten unter den Organisationen zu nennen, die friedenswahrende Maßnahmen der KSZE unterstützen könnten.14 10 Zur NATO-Ministerratstagung am 6./7. Juni 1991 vgl. AAPD 1991, I, Dok. 190. 11 Zur NATO-Gipfelkonferenz am 7./8. November 1991 vgl. AAPD 1991, II, Dok. 375 und Dok. 376. 12 Zur Tagung des Europäischen Rats am 9./10. Dezember 1991 vgl. AAPD 1991, II, Dok. 425 und Dok. 431. 13 Für die Rede des französischen Staatspräsidenten Mitterrand am 9. Juli 1992 in Helsinki vgl. LA POLITIQUE ÉTRANGÈRE 1992 (Juli/August), S. 33–35. 14 Vgl. Ziffer 20 der Gipfelerklärung bzw. Abschnitt III, Ziffer 52–56 der „Beschlüsse von Helsinki“ vom 10. Juli 1992; BULLETIN 1992, S. 779 bzw. S. 788.

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h) Zum Auftrag der NATO-Operation: Maritime Überwachung in internationalen Gewässern vor der Küste des früheren Jugoslawiens soll Einhaltung des VN-Embargos, insbesondere des Waffen-Embargos, sicherstellen. Wesentliche Elemente dieser Überwachung sind Präsenz, Beobachtung, Bewertung von evtl. Verstößen und Berichterstattung an die VN. Anwendung militärischer Zwangsmittel zur Durchsetzung des Embargos sind nicht Gegenstand des Auftrags. Seine Einzelheiten müssen im Rahmen der beschlossenen politischen Parameter noch zwischen Militärexperten von WEU und NATO entwickelt und von den politischen Gremien gebilligt werden. Um zu vermeiden, dass SHAPE mit seinen enormen Kapazitäten die erst im Anfangsstadium befindlichen Strukturen der WEU von vorneherein erdrückt, legte F Wert auf Koordinierung vor Ort mit der WEU-Präsidentschaft, d. h. in Italien. Hierzu gab es keinen Widerspruch. i) Mehrere WEU-Partner haben bereits ihren Beitrag identifiziert. Von den Nicht-WEUPartnern erklärte sich – trotz ausdrücklicher NL-Frage – kein Minister. j) Nachdem wir für die WEU-Aktion vier maritime Überwachungsflugzeuge in Aussicht genommen haben und an der STANAVFORMED mit einem Zerstörer (einem der größten Schiffe des Verbandes) beteiligt sind, kommt es auf zügigen Abschluss der Prüfung innerhalb der Bundesregierung und ihrer Beratungen mit den zu befassenden parlamentarischen Gremien an.15 Ein den Wünschen sowohl unserer WEU- wie auch der Allianz-Partner und den Erwartungen im KSZE-Rahmen widersprechendes Fernbleiben des souveränen Deutschland bei erstmaliger kollektiver Unterstützung durch WEU und NATO für friedenserhaltende Maßnahmen der Vereinten Nationen würde die Glaubwürdigkeit unserer Sicherheitspolitik mit gefährlichen Fragezeichen versehen. Außerdem würden auch Zweifel an unserer Integrations- und Bündnisfähigkeit im veränderten Sicherheitsumfeld aufgeworfen. Von Deutschland wird erwartet, dass es seinen Wunsch, ein „ganz normaler Staat“ zu sein, auch durch entsprechendes Verhalten dokumentiert. 2) Einzelpunkte a) I (als WEU-Präsidentschaft) konzentrierte einleitende Bemerkungen zum WEU-Beschluss darauf, sein Zustandekommen und das parallel laufende NATO­Beschlussverfahren als Umsetzung der Gipfelbeschlüsse beider Bündnisse zu bezeichnen, und ein derart balanciertes Vorgehen sei das einzige Mittel, um Sicherheit in einem sich dynamisch verändernden Europa zu gewährleisten. Zum WEU­Beschluss stellte I außerdem die politische Bedeutung für den Integrationsprozess heraus: Europa wolle seine Rolle spielen und anwesend sein, jedoch „unter Respektierung der vereinbarten Regeln“ mit der Allianz. b) F schloss sich dem an: Es sei wichtig, die Beziehungen zwischen NATO und WEU zu klären. Jetzt sei durch „eine Aktion in Zusammenarbeit“ die Absicht beider Seiten in guter Weise demonstriert worden. c) NL-Frage nach militärischen Beiträgen der Nicht-WEU­Partner, die ohne Antwort blieb, hatte konkreten Hintergrund: US hatten NL wissen lassen, man werde einen Beitrag nur leisten, „wenn man darum gebeten werde“. Dies könnte als Ausdruck der Sorge gewertet 15 Zur Erörterung in einer gemeinsamen Sitzung des Auswärtigen Ausschusses und des Verteidigungsausschusses des Bundestags am 16. Juli 1992 vgl. Dok. 231.

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werden, bei einem ersten Schritt militärischer Involvierung im Jugoslawien­Zusammenhang in eine Entwicklung zu geraten, deren Grenzen nicht mehr kontrolliert werden könnten. Andererseits kann aber, dies war Gomperts (NSC) erkennbar erstaunte Reaktion, das interne Verfahren von einer Anforderung durch SACEUR ausgehen. d) Andere Minister äußerten sich nicht. Beschluss der NATO kam also wesentlich schneller zustande als zuvor der WEU-Beschluss. GS Wörner, der wie Delors und Spitzenvertreter anderer Organisationen vom Gastgeber Finnland zum KSZE-Gipfel eingeladen war, führte den Vorsitz. [gez.] Ploetz Folgt Anhang: Die Minister sind sich einig, 1) über eine NATO-Seeoperation, unter Rückgriff auf STANAVFORMED und andere Mittel, soweit angezeigt, um die Einhaltung der VN-Sicherheitsrats-Resolutionen 713 und 757 in Abstimmung und Zusammenarbeit mit einer von der WEU durchzuführenden Operation ähnlichen Charakters zu überwachen. Die Teilnahme der Mitgliedstaaten steht unter dem Vorbehalt der Regelungen ihrer nationalen Verfassungen. 2) dass praktische Einzelheiten und Modalitäten zur Durchführung der Entscheidung der Minister von militärischen Gremien der NATO, in Abstimmung mit denen der WEU, zur Beschlussfassung durch die geeigneten Gremien ausgearbeitet werden sollen.16 B 14, ZA-Bd. 161180

16 Botschafter von Ploetz, Brüssel (NATO), teilte am 15. Juli 1992 ergänzend mit, der Ständige NATO-Rat habe zugestimmt, dass die NATO-Operation am 16. Juli 1992 um 8 Uhr Ortszeit beginnen solle. Das DPC habe Beschlüsse gefasst zu Einsatzleitung und -richtlinien, militärischem Auftrag, Operationsgebiet und Koordinierung mit der WEU: „GS bestätigte ausdrücklich begrenzten Auftrag der Marineoperation. Er unterstrich in diesem Zusammenhang, dass weitergehende Maßnahmen autorisierender Beschluss des VN-Sicherheitsrates neue Lage schaffen würde. Eine Beteiligung der NATO-Kräfte setze voraus, dass entsprechende neue Beschlüsse im Bündnis gefasst würden. Dies sei eine Selbstverständlichkeit.“ Vgl. DB Nr. 1115; B 14, ZA-Bd. 161180.

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10. Juli 1992: Drahtbericht von Bazing

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221 Drahtbericht des Botschafters Bazing, Helsinki Fernschreiben Nr. 636 Citissime

Aufgabe: 10. Juli 1992, 13.26 Uhr1 Ankunft: 11. Juli 1992, 15.58 Uhr

KSZE-Gipfeltreffen in Helsinki2; hier: KSE I a-Abkommen3 und Inkraftsetzung KSE-Vertrag Delegationsbericht Nr. 362 Zur Unterrichtung

Betr.:

1) Am Rande des KSZE-Gipfeltreffens haben die Staats- und Regierungschefs der 29 Staaten, die Vertragsparteien des KSE-Vertrags sind, die „Abschließende Akte“ zur Begrenzung der Personalstärken der konventionellen Streitkräfte in Europa unterzeichnet (KSE I aAbkommen). Auch die fünf Staaten, die bei den Wiener Verhandlungen nicht mit eigenen Delegationen vertreten waren, haben unterzeichnet, unter ihnen auch Moldau, Aserbaidschan und Armenien, allerdings ohne eine Begrenzungszahl anzugeben. Diese durch informelle Kontakte im Vorfeld mit den betroffenen Staaten abgesprochene unorthodoxe Lösung geht von dem Verständnis aus, dass sich diese drei Staaten durch ihre Unterschrift verpflichten, eine Begrenzungszahl so rasch wie möglich nachzuliefern. Dem Vernehmen nach denkt Moldau an eine Obergrenze von 20 000; der aserbaidschanische AM4 nannte – unter Berufung auf das Beispiel der Personalstärke der Streitkräfte Finnlands – 70 000 als die von Aserbaidschan ins Auge gefasste Obergrenze. Armenische Vertreter erklärten, in Eriwan müsse die eigene Begrenzungszahl noch geprüft werden – u. a. wohl im Licht der voraussichtlichen aserischen Obergrenze. 2) Anschließend an die Unterzeichnung des KSE I a-Abkommens fand unter französischem Vorsitz eine außerordentliche Konferenz der 29 KSE-Staaten statt. Auf ihr haben die Außenminister ein Abkommen zur vorläufigen Anwendung des KSE-Vertrags ab dem 17.7.1992 unterzeichnet.5 Durch diese Vereinbarung wird das Problem umgangen, dass der Vertrag an und für sich wegen der noch ausstehenden Ratifikationen durch Armenien und Weißrussland noch nicht in Kraft treten könnte. 3) Mit diesen beiden Dokumenten – und mit dem Mandat für ein neues KSZE-Forum für Sicherheitskooperation, das Teil der Gipfelbeschlüsse von Helsinki ist6, – werden die rüstungskontrollpolitischen Zielvorgaben der Charta von Paris für den KSZE-Gipfel in Helsinki erfüllt. Mit ihnen werden auch wichtige Anliegen deutscher Sicherheitspolitik erreicht. Für uns ist insbesondere bedeutsam, dass mit Unterzeichnung der „Abschließen1 Der Drahtbericht wurde von VLR I Gruber, z. Z. Helsinki, konzipiert. Hat VLR I Erck vorgelegen. 2 Zur KSZE-Gipfelkonferenz am 9./10. Juli 1992 vgl. Dok. 226. 3 Zur „Abschließenden Akte der Verhandlungen über Personalstärken der konventionellen Streitkräfte in Europa“ vgl. Dok. 202. 4 Tofig Gasimow. 5 Für das Abkommen zur vorläufigen Anwendung des Vertrags vom 19. November 1990 über Konventionelle Streitkräfte in Europa vgl. BULLETIN 1992, S. 759. 6 Zum Mandat für das KSZE-Forum für Sicherheitskooperation vgl. Dok. 209.

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11. Juli 1992: Drahtbericht von Sudhoff

den Akte“ sich nunmehr auch die übrigen KSE-Staaten zur Begrenzung des Personalumfangs ihrer Streitkräfte verpflichtet haben und damit dem Vorbild gefolgt sind, das Deutschland durch seine Selbstbindung im Zusammenhang mit der deutschen Einigung7 gegeben hatte. [gez.] Bazing B 29, ZA-Bd. 148826

222 Drahtbericht des Botschafters Sudhoff, Paris 13325/92 VS-vertraulich Fernschreiben Nr. 1823

Aufgabe: 11. Juli 1992, 10.46 Uhr1 Ankunft: 20. Juli 1992, 13.07 Uhr

Mögliche Europäisierung des frz. Nuklearpotenzials?2; hier: jüngste Äußerungen von AM Dumas im Spiegel-Interview3 Bezug: 1) DB Nr. 975 vom 14.4.92 – gl. AZ.4 2) DB Nr. 1225 vom 15.1.92 – gl. AZ.6 3) DB Nr. 81 vom 10.1.92 – gl. AZ. 7

Betr.:

7 Zur Truppenreduzierungsverpflichtung der Bundesrepublik vgl. Dok. 202, Anm. 9. 1 Der Drahtbericht wurde von Gesandtem Ischinger, Paris, konzipiert. Hat VLR I Bertram am 20. Juli 1992 vorgelegen. 2 Zu den Äußerungen des französischen Staatspräsidenten Mitterrand und anderer Politiker über eine Europäisierung der französischen Nuklearwaffen vgl. Dok. 22. 3 Für das Interview des französischen AM Dumas vgl. den Artikel „ ,Gut für Europa und Frankreich‘ “; DER SPIEGEL, Nr. 29 vom 12. Juli 1992, S. 133–136. 4 Botschafter Sudhoff, Paris, berichtete über ein Gespräch des Gesandten Ischinger mit einer informellen französischen sicherheitspolitischen Studiengruppe am 11. April 1992. Dort sei erklärt worden: „In F besteht der Eindruck, dass sich der Blick der Deutschen zu wenig auf die Frage nach Möglichkeit bzw. Notwendigkeit einer europäischen nuklearen Komponente richte. Die Proliferationserscheinungen im Osten zwängen doch zu intensivem Nachdenken gerade in diesem Bereich. Man fragt weiter, in welcher denkbaren Form D eines Tages ggf. eine europäische Nuklearkomponente mittragen könnte. Man verweist auf eine in D diagnostizierte Tendenz, eine de facto nuklearwaffenfreie Zone in und um D entstehen zu lassen. D wolle sich offenbar auf eine strategische Abschreckung verlassen, die die Dislozierung von N[uklear]-Waffen auf deutschem Territorium nicht mehr einschließe.“ Ischinger habe dargelegt: „Es sei nicht richtig, D mangelndes Interesse an der Frage der Aufrechterhaltung der nuklearen Abschreckung zu unterstellen. Es stelle sich aber die taktische Frage, ob es sinnvoll sei, die laufende Maastricht-Debatte mit einer öffentlichen Erörterung nuklearstrategischer Fragen zu belasten.“ Erst nach Ratifizierung des Vertragswerks von Maastricht böte sich für weiterführende Diskussionen „vielleicht eine sicherere Grundlage. Im Übrigen sollte das Gespräch über solche Fragen nicht von vornherein öffentlich geführt werden.“ Vgl. B 130, VS-Bd. 12233 (201), bzw. B 150, Aktenkopien 1992. 5 Korrigiert aus: „1222“. 6 Botschafter Sudhoff, Paris, übermittelte Hintergrundinformationen und französische Einschätzungen zu den Äußerungen von Staatspräsident Mitterrand vom 10. Januar 1992 zu einer möglichen Europäisierung des französischen Nuklearpotenzials. Vgl. B 14, ZA-Bd. 161176.

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11. Juli 1992: Drahtbericht von Sudhoff

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L Pol8 hat den sicherheitspolitischen Berater des frz. Präsidenten, General Quesnot, bei aus anderem Anlass geführtem Gespräch gefragt, ob die ausweichenden Antworten von AM Dumas in dem kürzlichen Spiegel-Interview zu der Frage einer europ. nuklearen Komponente bedeuteten, dass die Äußerungen von Präsident Mitterrand vom Jan. 92 (vgl. BezugsDBs) relativiert würden. Q. verneinte dies mit großer Entschiedenheit. Der Präsident habe seine damalige Äußerung sehr bewusst gemacht. Sie behalte ihre Gültigkeit. Mitterrand habe damit nicht nur in die frz. Europadebatte den Hinweis eingebracht, dass die mit dem Vertrag von Maastricht eröffneten Perspektiven von langfristig sehr großer Tragweite seien. Diese Perspektiven dürften auch vor Bereichen nicht haltmachen, die bisher als Tabuzonen gegolten hätten. Mitterrand habe außerdem – und das sei von uns wohl nicht richtig erkannt worden – Bonn gegenüber andeuten wollen, dass er den Wert der Preisgabe der DM, die D in den europ. Prozess einbringe, wohl zu schätzen wisse und im Gegenzug jedenfalls grundsätzlich und langfristig nicht ausschließen wolle, dass F seinerseits das frz. Atout des Nuklearpotenzials nach Europa einbringen könne. Hier klinge also durchaus der Gedanke DM gegen Nuklearpotenzial an. In der Sache gehe es Mitterrand natürlich nicht um konkrete Schritte in kurzer Frist. In die gegenwärtige innerfranzösische Maastricht-Diskussion passe dieser Punkt auch nicht hinein, auch deshalb die zurückhaltende Äußerung von AM Dumas. Mittelfristig könne man sich jedoch durchaus vorstellen, in einem entsprechend vertraulichen Kreis zunächst grundsätzliche konzeptionelle Überlegungen anzustellen. Diese könnten sich auf Felder der Zusammenarbeit im zivilen Bereich (Sicherung der GUS-KKW bzw. Wiederaufbereitung früherer sowj. Nuklearsprengköpfe) erstrecken bzw. hier sogar ihren Anfang nehmen. L Pol verwies auf erhebliches Interesse der [deutschen] Seite gerade am letztgenannten Punkt und bat, das Élysée möge die Ressorts zu dt.-frz. Zusammenarbeit in diesem Bereich ermuntern. Es sei wichtig, Bonn Zeichen tatsächlicher Kooperationsbereitschaft zukommen zu lassen. Politisch habe das frz. Vorgehen bei der nuklearen Vierer-Initiative9 ebenso wie etwa beim Thema Hades10 auf Bonn eher ernüchternd gewirkt. Q. wollte nicht ausschließen, dass Präsident Mitterrand nach dem Maastricht-Referendum am 7

Fortsetzung Fußnote von Seite 884 7 Gesandter Ischinger, Paris, übermittelte erste Zitate aus einer Rede des französischen Staatspräsidenten Mitterrand am selben Tag zur Frage einer Europäisierung des französischen Nuklearpotenzials. Vgl. B 14, ZA-Bd. 161271. 8 Leiter der Politischen Abteilung der Botschaft in Paris war Wolfgang Ischinger. 9 Zum Vorschlag des französischen Staatspräsidenten Mitterrand vom 11. September 1991 für ein Treffen der vier in Europa präsenten Nuklearmächte vgl. Dok. 7, Anm. 15. 10 Zum französischen nuklearen Kurzstreckensystem Hades vgl. Dok. 82, Anm. 32. Am 16. Juni 1992 informierte Botschafter Sudhoff, Paris, nach Pressemeldungen über eine Einstellung des Hades-Programms sei die Botschaft im französischen Außenministerium vorstellig geworden und habe dabei „unser Erstaunen darüber zum Ausdruck gebracht, dass Bonn derartige Entscheidungen – falls sie tatsächlich getroffen worden seien – aus der Tagespresse erfahren müsse“. Bislang sei jedoch keine französische Antwort erfolgt. Weder im französischen Außenministerium noch im Generalstab habe „man sich im Stande gesehen, uns über den tatsächlichen Stand der Entscheidungsfindung des Präsidenten zu unterrichten“. Es sei erklärt worden, angesichts der präsidentiellen Prärogative im nuklearstrategischen Bereich verfügten die französischen Ministerien über keine präzisen Informationen. Vgl. DB Nr. 1540; B 14, ZA-Bd. 161176.

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13. Juli 1992: Gespräch zwischen Kinkel und Çetin

20.9.11 eine Gelegenheit finden werde, um auf seine Anregung vom Jan. 92 zurückzukommen. Es würde aber durchaus begrüßt werden, wenn unsererseits zu diesem Thema ein – vertrauliches – Signal des Interesses abgegeben werden könnte. [gez.] Sudhoff B 130, VS-Bd. 12233 (201)

223 Gespräch des Bundesministers Kinkel mit dem türkischen Außenminister Çetin in Ankara 206-321.11 TUR

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Von BM noch nicht gebilligt Besuch von BM Kinkel in der Türkei am 12. und 13. Juli 1992; hier: Gespräch mit dem türkischen AM Çetin am 13. Juli Das Gespräch, das über zweieinhalb Std. dauerte, wurde sehr offen und freundschaftlich geführt. Schwerpunkte waren die Menschenrechtsfrage im Zusammenhang mit der inneren Sicherheit der Türkei und dem Kurdenproblem, die Wiederaufnahme deutscher Waffenlieferungen an die Türkei und Rüstungskooperation sowie das Verhältnis Türkei/EG und Beitritt zur WEU. Daneben wurde eine Vielzahl bilateraler und multilateraler Themen angesprochen. Türkische Seite war sehr deutlich bemüht, Irritationen der vergangenen Monate auszuräumen und Interesse an Normalisierung und konstruktiver weiterer Zusammenarbeit zu bekunden. Auch die sehr deutlichen Worte von BM Kinkel zur Frage der Menschenrechte in der Türkei wurden akzeptiert und mit der Versicherung von AM Çetin beantwortet, energisch an der Beseitigung der Missstände zu arbeiten. AM Çetin dankte BM für sein rasches Bemühen um Normalisierung in den deutschtürkischen Beziehungen. Es gelte jetzt, den Blick in die Zukunft zu richten. Er wisse, dass man in beiden Ländern Rücksicht auf die öffentliche Meinung nehmen müsse. Im Einzelnen: 1) Menschenrechte und Kurdenproblem: BM Kinkel wies AM Çetin und andere Gesprächspartner2 in sehr deutlichen Worten auf Bedeutung der Beachtung der Menschenrechte in der Türkei für die deutsch-türkischen 11 Zum Referendum in Frankreich über das Vertragswerk von Maastricht vgl. Dok. 293 und Dok. 300. 1 Der Gesprächsvermerk wurde von VLR I Huber am 14. Juli 1992 gefertigt und über MD Chrobog an das Ministerbüro geleitet „mit der Bitte, die Billigung des Herrn Bundesministers herbeizuführen“. Ferner vermerkte Huber: „Referat 413 hat mitgezeichnet (Ziff. 3).“ Hat Chrobog am 16. Juli 1992 vorgelegen. Hat laut Stempelvermerk am 16. Juli 1992 im Ministerbüro vorgelegen. 2 BM Kinkel traf am 13. Juli 1992 in Ankara mit dem türkischen MP Demirel zusammen. Themen waren die bilateralen Beziehungen, die Zusammenarbeit in den GUS-Mitgliedstaaten, die türkische Außen-

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Beziehungen hin und forderte die Regierung auf, auch mit Blick auf die Vorwürfe im jüngsten AI-Jahresbericht3, die noch bestehenden Missstände und Menschenrechtsverletzungen zu beseitigen und die begonnenen Reformen zügig zu beenden. AM Çetin sagte, er habe Respekt vor der deutschen Haltung zu Menschenrechten. Es gebe aber auch in der Türkei Sensibilitäten in dieser Frage, insbesondere im Zusammenhang mit dem Terror, der viele zivile Opfer fordere und starke Emotionen in der Öffentlichkeit wecke. Die türkische Regierung nehme die in Angriff genommenen Reformen sehr ernst, benötige aber Zeit, um sie durchzusetzen. Vier Aspekte wolle er erwähnen: – Die Verfassungsänderung benötige Zweidrittelmehrheit im Parlament. Dazu brauche man die Opposition, mit der im Herbst d. J. zu sprechen sein werde. – Das juristische Reformpaket müsse wegen der Zurückweisung durch Präsident Özal erneut im Parlament beraten werden. Dort könne der Präsident überstimmt werden. – Wichtig sei eine bessere Ausbildung der Polizei, um dort das Problembewusstsein zu schaffen. Man rechne sehr mit intensiver Zusammenarbeit mit uns. – Wichtig sei der politische Wille, die Dinge zu ändern, an der Entschlossenheit der Regierungskoalition gebe es keinen Zweifel. Viel habe man bereinigt: Alle Parteien seien wieder zugelassen, Gewerkschaftsarbeit unter normalen Bedingungen möglich (nicht mehr auf der TO der ILO). Erste Priorität sei die Bekämpfung des Terrorismus (PKK und Dev-Sol4), der neben inneren Problemen auch die Integrität des türkischen Staates infrage stelle und dadurch zum Regionalproblem, vor allem im Verhältnis zum Irak, werde. Zur Kurdenfrage wolle er klarstellen, dass sie für die Türkei kein Minderheitenproblem sei, wie das von der negativen Propaganda vieler Medien im Ausland dargestellt werde. Die Kurden lebten über die ganze Türkei verstreut. Zurzeit habe die Wanderbewegung aus dem Südosten vor allem in andere Gebiete der Türkei (nur wenige gingen ins Ausland) als Ergebnis des Terrors und sozialer Probleme noch erheblich zugenommen. Gegen Kurden gebe es keine Diskriminierung. Sie seien türkeiweit in Regierung, Verwaltung und Wirtschaft bis in die höchsten Stellen aufgerückt (z. B. Bürgermeister von Ankara5, Istanbul6 und Izmir7). BM Kinkel dankte für die ausführliche Erläuterung. Er wolle sich nicht in die inneren Angelegenheiten der Türkei einmischen, aber begrüße die offene Aussprache zu Menschenrechtsfragen. Er sehe die Bemühungen und die bereits erzielten Fortschritte dieser Regierung, aber auch die noch bestehenden Schwierigkeiten, die es zu beseitigen gelte, um vor Fortsetzung Fußnote von Seite 886 politik, die Kurdenfrage, die Beziehungen der Türkei zu EG bzw. WEU sowie die Menschenrechtslage in der Türkei. Vgl. den Gesprächsvermerk; B 26, ZA-Bd. 183927. Ferner fand am selben Tag ein Gespräch Kinkels mit dem türkischen Präsidenten Özal statt. Botschafter Oesterhelt, Ankara, berichtete am 14. Juli 1992, erörtert worden seien neben den bilateralen Beziehungen die Rolle der Türkei in der Region, die Entwicklung im ehemaligen Jugoslawien, die wirtschaftliche Lage in den GUS-Mitgliedstaaten sowie die Beziehungen EG-Türkei. Vgl. DB Nr. 829; B 41, ZA-Bd. 158737. 3 Vgl. AMNESTY INTERNATIONAL, Jahresbericht 1992, Frankfurt am Main 1992, S. 483–489. 4 Devrimci Sol (Revolutionäre Linke). 5 Murat Karayalçın. 6 Nurettin Sözen. 7 Yüksel Çakmur.

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den Augen der Weltöffentlichkeit zu bestehen. Zwei Punkte spielten in der Diskussion der deutschen Öffentlichkeit eine besondere Rolle. Einmal der Jahresbericht von AI über die Menschenrechtsprobleme in der Türkei. Er sei von der Organisation gebeten worden, die türkische Regierung um Beseitigung der im Bericht kritisierten Missstände zu bitten, und habe das auch getan. Die Menschenrechte seien für ihn auch persönlich ein außerordentlich wichtiges Problem. Das Problem Türkei sei ihm im Gespräch mit dem Vorsitzenden der Menschenrechtsvereine, Helvacı,8 noch einmal sehr bewusst geworden. Die türkischen Schwierigkeiten mit der Kurdenfrage sehe er und habe auch Verständnis für den Zwang zur Bekämpfung des PKK-Terrorismus. Unsere Forderung sei allerdings, dass das mit rechtsstaatlichen Mitteln geschehen müsse. Er bäte auch, Informationen deutscher Journalisten nachzugehen, wonach im Südosten wieder deutsche Waffen zum Einsatz gekommen seien. Eine zweite Frage sei die Lage der christlichen Kirchen in der Türkei, auf die eine Sendung im deutschen Fernsehen aufmerksam gemacht habe, wonach vor allem in Istanbul die freie Betätigung der katholischen und evangelischen Kirchen behindert werde. Er bitte persönlich – und auch BK Kohl habe ihn gebeten, das zu tun –, den christlichen Kirchen freie Betätigung und Freizügigkeit zu ermöglichen. BK Kohl werde das Problem bei seinem kommenden Besuch9 selbst ansprechen. AM Çetin zeigte sich über diese Beschwerden verwundert, versprach aber, ihnen nachzugehen. BM versprach, über deutsche Botschaft in Ankara dazu weiteres Material vorzulegen.10 2) Deutsche Waffenlieferungen an die Türkei und militärische Zusammenarbeit: AM Çetin äußerte Befriedigung über Vereinbarung zur Wiederaufnahme der Waffenlieferungen11, d. h. da weiterzumachen, wo man Ende März unterbrochen habe12. Auch BK Kohl habe in Rio erklärt, die Sache sei geregelt. Trotzdem wolle er noch einmal unterstreichen, wie wichtig diese Frage für Türkei auch unter strategischen Aspekten sei. Früher eher Randgebiet der NATO, sei Türkei heute Zentrum schwieriger Regionen und ein Sicherheitsfaktor, der in europäische Sicherheitsinteressen übergreife. BM Kinkel antwortete, man solle einen Neuanfang machen, er befürworte voll die Unterstützung der NATO-Rolle der Türkei. Bundesregierung erwarte aber, dass im Briefwechsel 8 BM Kinkel traf am 13. Juli 1992 in Ankara mit dem Vorsitzenden des türkischen Menschenrechtsvereins, Helvacı, zusammen. VLR I Huber vermerkte am 14. Juli 1992, das Gespräch habe „ein deprimierendes Bild“ vermittelt, „aber auch den Eindruck, dass sich verstärkt innertürkischer Widerstand gegen Menschenrechtsverletzungen formiert. Im Südosten der Türkei ist die Lage besonders kompliziert, da hier die Brutalität der PKK-Terrorkommandos gegen Sicherheitskräfte und Polizisten zu Gegenaktionen herausfordert, bei denen menschenrechtliche Fragen leider wenig Beachtung finden.“ Vgl. B 26, ZA-Bd. 183927. 9 BK Kohl hielt sich vom 19. bis 21. Mai 1993 in der Türkei auf. Vgl. AAPD 1993. 10 VLR von Mettenheim vermerkte am 21. Dezember 1992, die Lage deutscher christlicher Gemeinden in der Türkei sei sowohl von StS Kastrup bei seinem Besuch am 27./28. Mai 1992 als auch von BM Kinkel gegenüber der türkischen Regierung angesprochen worden: „Das türkische Außenministerium hat mitgeteilt, eine daraufhin einberufene Ressortbesprechung habe ergeben, dass kein von einer deutschen christlichen Kirche eingereichter Antrag nicht bearbeitet oder abschlägig beschieden worden sei. Auch lägen keine Beschwerden vor. Die türkische Seite betrachtet die Angelegenheit als erledigt.“ Vgl. B 26, ZA-Bd. 181308. 11 Vgl. den Briefwechsel zwischen BM Kinkel und dem türkischen AM Çetin; Dok. 153, besonders Anm. 7. 12 Zum Lieferstopp von Rüstungsgütern in die Türkei vgl. Dok. 92, besonders Anm. 9.

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gegebenes Versprechen, deutsche Waffen nur in Zusammenhang mit NATO-Auftrag zu verwenden, respektiert werde. AM Çetin sagte dies zu. Zur Frage der Waffenlieferungen sei zu sagen, dass der Bereich kommerzielle Zusammenarbeit wieder voll normalisiert sei. Was die NATO-Verteidigungshilfe angehe, sei die Notwendigkeit der Kürzung der Tranchenhilfe erläutert worden.13 Er habe Verständnis für die türkischen Sorgen wegen der Auswirkungen auf die türkische Streitkräfteplanung. Darüber solle man sich im Fachkreis unterhalten. Mit einer restriktiven Politik unsererseits gegenüber der Türkei habe das aber überhaupt nicht zu tun. Zur Frage deutscher Materialhilfe sagte BM Kinkel, Bundesregierung werde sich an die Zusage von BK Kohl halten. 850 Mio. DM (aus Gesamtversprechen von 1,5 Mrd.14) seien abgewickelt, der Rest z. Zt. offen. Unsere Lage sei wie folgt: Der Lieferstopp von März d. J. sei vom Parlament bestätigt worden, daher bestehe jetzt Verpflichtung, bei Lieferungen von Gütern, die dem KWKG15 unterliegen, erneut Bundestagsausschüsse (Haushaltsausschuss) zu konsultieren. Das werde so bald wie möglich geschehen, er werde sich selbst dafür einsetzen, dass das schnell geschehe.16 Er habe auch Verständnis für türkischen Ärger, da Lieferungen an NATO-Partner normalerweise nicht unter das KWKG fielen, könne aber zurzeit nichts daran ändern. AM Çetin sagte, diese Frage sei für Türkei auch wichtig im Zusammenhang mit dem bevorstehenden Abschluss des Geschäfts zur Lieferung deutscher Fregatten.17 Der Vertrag solle in Kürze unterschrieben werden. Die Blockade der deutschen Materiallieferungen bringe Regierung allerdings in türkischer Öffentlichkeit in große Schwierigkeiten, da sie als Diskriminierung verstanden werde. Daher sei es wichtig, dieses Problem schnell zu 13 VLR I Huber vermerkte am 16. Juli 1992, vor dem Gespräch zwischen BM Kinkel und dem türkischen AM Çetin sei die Verteidigungshilfe zwischen MD Chrobog, dem türkischen Botschafter Öymen sowie Mitarbeitern des türkischen Außen- bzw. Verteidigungsministeriums erörtert worden: „Die türkische Seite wies eindringlich auf die Folgen der vorgesehenen Kürzungen unserer Tranchenhilfe für die bereits gebilligte Streitkräfte- und Verteidigungsplanung hin, betonte aber auch, dass für die deutsche Industrie viel auf dem Spiel stehe, da eine ganze Anzahl von deutsch-türkischen Gemeinschaftsprojekten Gefahr liefe, nicht mehr realisiert zu werden. […] Man müsse deutsche Entscheidung letztlich akzeptieren, aber es sei schwer, für Ausfälle Ersatz zu finden.“ Vgl. B 29, ZA-Bd. 213069. 14 Vortragender Legationsrat I. Klasse Erck vermerkte am 25. Oktober 1990, BK Kohl habe dem türkischen Präsidenten Özal am 28. September 1990 aufgrund der Golfkrise eine umfassende Materialhilfe als Sonderhilfe zugesagt. Der Gesamtwert aller Lieferungen betrage nach Angaben des BMVg mindestens 1,5 Mrd. DM. Vgl. B 14, ZA-Bd. 151191. 15 Für das Ausführungsgesetz zu Artikel 26 Absatz 2 GG (Gesetz über die Kontrolle von Kriegswaffen) vom 22. November 1990 vgl. BGBl. 1990, I, S. 2507–2519. Vgl. auch AAPD 1990, II, Dok. 312. 16 Referat 202 notierte am 13. Oktober 1992: „BM Rühe informierte den Verteidigungsausschuss am 23. September 1992 über eine Wiederaufnahme der Materialhilfe des BMVg in Form von ,Einzelpaketen‘. Zunächst werden 46 Phantom-Flugzeuge geliefert. Vor weiteren Materialhilfelieferungen wird der Verteidigungsausschuss wieder unterrichtet.“ Vgl. B 29, ZA-Bd. 213064. 17 VLR I Ackermann vermerkte am 29. Juli 1992, es liege eine Voranfrage der Firma Blohm + Voss vor, die zusammen mit ihrem Konsortialpartner Thyssen Rheinstahl zwei Mehrzweckfregatten des Typs MEKO 200 an die Türkei liefern wolle. Eine Fregatte solle in Hamburg, die andere in der Türkei gebaut werden. Der Auftrag habe einen Wert von ca. 900 Mio. DM. Ackermann schlug vor, die Voranfrage positiv zu beantworten, „da keine besonderen politischen Gründe ersichtlich sind, die eine Beschränkung gebieten“, und bei einer Verweigerung eine „ernsthafte Belastung“ der bilateralen Beziehungen zur Türkei zu erwarten sei. Über die von den Firmen gewünschte finanzielle Absicherung und Unterstützung des Projekts durch die Bundesregierung solle erst später entschieden werden. Vgl. B 70, ZA-Bd. 220590.

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lösen. BM Kinkel erklärte, der Vertrag über die Fregatten sollte möglichst termingerecht unterschrieben werden, da es sonst auch bei uns Rückwirkungen auf die Parlamentsausschüsse in der Frage Wiederaufnahme Materialhilfe haben könne. Çetin versicherte daraufhin, er werde sich persönlich dafür einsetzen, dass es zum Geschäft mit Deutschland komme.18 Çetin erklärte, die Türkei werde sich strikt an die Abmachungen halten, Waffen nur in NATO-Zusammenhang einzusetzen. Er wundere sich über Pressegerüchte, dass deutsche Waffen angeblich wieder im Osten benutzt werden sollten. Was seine Regierung zugesagt habe, werde auch eingehalten. Die Ereignisse im Osten seien allerdings, wie er schon gesagt habe, auch als Angriff auf die türkische staatliche Integrität zu sehen und daher nicht nur als innere Angelegenheit. Der PKK-Terrorismus sei eine Gefahr für die Integrität der Staaten der Region und stelle auch das Verhältnis zum Irak vor schwierige Probleme. Türkei habe irakischen Kurden großzügig Hilfe gewährt und erst kürzlich wieder unter großen Schwierigkeiten Mandat für die Stationierung ausländischer Streitkräfte zur Sicherung der Kurdengebiete verlängert. Man werde allerdings nicht Forderungen der irakischen Kurden auf Gründung eines eigenen Staates tolerieren können. 3) Verhältnis EG – Türkei: AM Çetin erklärte, die volle Mitgliedschaft in der EG bleibe Ziel der türkischen Politik.19 Türkei bedürfe als Faktor der Stabilisierung in einer unruhigen Region der Unterstützung durch die EG. Nur die Gewissheit, dass der Beitritt Ziel der Zusammenarbeit mit der EG sei, schaffe auch das notwendige Vertrauensklima für die wirtschaftliche Entwicklung des Landes und fördere den Zufluss von Investitionen. Gewissheit über die Möglichkeit des Beitritts fördere Hinwendung der Bevölkerung zu Europa und die Akzeptanz für eine solche Entscheidung. Man wisse, dass der Beitritt nicht kurzfristig erzwungen werden könne. Man denke nicht daran, die gegenwärtigen Probleme in die EG zu exportieren, sondern sie vor dem Beitritt auf ein Minimum abzubauen. Ohne konkrete Beitrittsaussicht werde es allerdings schwer, mit Problemen fertigzuwerden. Der Ausbau der Assoziierung, insbesondere die Umsetzung der Kommissionsvorschläge (Matutes-Paket20), seien wichtige Schritte auf diesem Wege. Aber auch die Ausweitung der Zusammenarbeit in anderen wesentlichen Bereichen sei notwendig. Es dürfe nicht der Eindruck entstehen, dass die Türkei in der EG nun nicht mehr gebraucht werde. BM Kinkel antwortete, wir seien uns bewusst, dass die Türkei EG-Vollmitgliedschaft anstrebe, und würden sie in diesem Ziel und auf dem Wege dahin unterstützen, allerdings 18 Am 20. August 1992 notierte VLR I Erck, das BMF sei „angesichts der prekären Wirtschaftslage der Türkei“ nicht bereit, „einer Indeckungnahme zu Kreditbedingungen“ zuzustimmen: „Die für Juli geplante Vertragsunterzeichnung über die beiden Fregatten ist inzwischen auf türkischen Wunsch auf unbestimmte Zeit verschoben worden. Offenbar will die türkische Regierung ihre Entscheidung bis nach der Befassung der Bundestagsausschüsse mit der weiteren Verteidigungshilfe und Materialhilfe vertagen.“ Vgl. B 70, ZA-Bd. 220590. 19 Die Türkei stellte am 14. April 1987 einen Antrag auf EG-Beitritt. Vgl. AAPD 1987, I, Dok. 93 und Dok. 136, sowie AAPD 1987, II, Dok. 218, und AAPD 1988, I, Dok. 74. 20 Referat 413 erläuterte am 16. Juli 1992, in einer Mitteilung von Anfang Juni 1990 („Matutes-Paket“) habe die EG-Kommission den Ausbau der 1963 begründeten Assoziation mit der Türkei in vier Bereichen vorgeschlagen: Vollendung der Zollunion bis Ende 1995; umfassende Zusammenarbeit und Technische Hilfe in der Wirtschafts- und Währungspolitik, Industrie, Landwirtschaft etc.; baldige Unterzeichnung und Inkraftsetzung des Vierten Finanzprotokolls; Anhebung des politischen Dialogs von der Direktorenebene auf die Ministerebene. Vgl. B 222, ZA-Bd. 175853.

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ohne das Versprechen, den Beitritt schon übermorgen zu ermöglichen. Der Eindruck, Türkei sei im Kreis der Zwölf nicht mehr erwünscht und sie werde in Nebenrolle abgedrängt, sei falsch. Das Ergebnis des Europäischen Rats in Lissabon21 sei ein positives Signal. Vor dem vollen Beitritt seien allerdings erhebliche Probleme zu beseitigen, wirtschaftliche, soziale u. a.; auch Menschenrechtsverletzungen seien ein Sperrriegel vor dem Beitritt. Aus deutscher Sicht sei auch das Problem der Freizügigkeit besonders schwierig. Zunächst gelte es, die Assoziierung als geeignetes Instrument auszubauen, um die Voraussetzungen zum vollen Beitritt zu schaffen. Die Bundesregierung werde sich dafür im Kreise der Partner einsetzen. 4) Zur Frage der WEU-Assoziierung22 erklärte Çetin, es entstehe der Eindruck, dass man Türkei auch im Verteidigungsbereich in Nebenrolle abdrängen wolle. Es gebe im Parlament wichtige Stimmen, die empfehlen, darüber überhaupt nicht zu verhandeln. Unter Umständen werde eine Erklärung hilfreich sein, dass man die Assoziierung nur als Übergang zur Vollmitgliedschaft (wie bei EG!) sehe. BM Kinkel verwies auf die PetersbergErklärung23 und empfahl dringend, die Verhandlungen am 16. Juli in Rom24 positiv anzugehen. Die vorgesehene Assoziierung komme in der Praxis der Vollmitgliedschaft sehr nahe und biete Türkei alle Möglichkeiten zur Mitarbeit. 5) AM Çetin kam immer wieder auf regionale Verantwortung der Türkei nach dem Zusammenbruch der kommunistischen Sowjetunion zu sprechen. Das Land habe Modellcharakter für die zentralasiatischen Republiken der ehemaligen Sowjetunion, wo die Einzigartigkeit des türkischen Modells als laizistisch-islamisch-demokratischer Staat anerkannt werde. Türkei akzeptiere die daraus resultierende Verantwortung, brauche aber den europäischen Rückhalt und sehe auch großes Interesse Europas, diese Rolle zu stärken. BM Kinkel sagte Türkei unsere Unterstützung zu. Er werde auch mit Wirtschaftsminister Möllemann über praktischen Vorschlag zur Zusammenarbeit sprechen. Von BM Kinkel nach der Rolle des Iran in der Region und der Entwicklung im Iran gefragt, meinte Çetin, dass versucht werde, islamisch-fundamentalistische Ideologie nach Zentralasien zu exportieren, allerdings ohne große Chancen gegen türkisches Modell. Rafsandschani sei gestärkt aus Wahlen hervorgegangen.25 Sein Machtzuwachs gegenüber Radikalen wirke sich mäßigend im Innern und nach außen aus. Im Allgemeinen habe man keine Probleme mit Iran, gute Wirtschaftsbeziehungen und den Eindruck, dass PKK zwar auch vom iranischen Gebiet aus operiere, allerdings ohne Unterstützung durch ira21 Zur Tagung des Europäischen Rats am 26./27. Juni 1992 vgl. Dok. 201. 22 Zu den Beziehungen zwischen der Türkei und der WEU vgl. Dok. 61, Anm. 13. 23 Zur WEU-Ministerratstagung am 19. Juni 1992 vgl. Dok. 162, Anm. 32. 24 Botschafter Seitz, Rom, berichtete am 17. Juli 1992: „Am 16. Juli 1992 wurden in Rom in feierlicher Form die Gespräche zwischen der WEU und den sechs Staaten aufgenommen, die in der WEU-Erklärung von Maastricht eingeladen wurden, Vollmitglieder, assoziierte Mitglieder oder Beobachter zu werden. Alle Kandidaten brachten ihre grundsätzliche Zustimmung zu den in Teil 3 der Petersberg-Erklärung definierten Konditionen zum Ausdruck.“ Die Türkei habe ihre Enttäuschung geäußert, „dass angeblich früher in Aussicht gestellte Vollmitgliedschaft nicht möglich sei“. Die neue europäische Sicherheitsarchitektur sei „unvollkommen ohne Einbeziehung TURs, die europäische Ziele und Wertvorstellungen teile. […] Assoziierte Mitgliedschaft verstehe TUR als Übergangslösung zur vollen Mitgliedschaft.“ Vgl. DB Nr. 681; B 29, ZA-Bd. 213093. 25 Zu den Parlamentswahlen am 10. April bzw. 8. Mai 1992 im Iran vgl. Dok. 148, Anm. 8.

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nische Regierung. BM Kinkel erwähnte das Verdienst Irans bei der jüngsten Befreiung deutscher Geiseln.26 Das Land sei politisch und wirtschaftlich für Deutschland interessant. Er habe allerdings auch harte Kritik an der Verletzung der Menschenrechte dort geübt, nachdem er sich auch persönlich von den Zuständen in einem Gefängnis habe überzeugen können.27 Zu der Entwicklung im Irak meinte AM Çetin, Saddams Stellung sei gegenüber dem vergangenen Jahr gefestigt. An die vielen Gerüchte über Attentatsversuche glaube er nicht so recht. Das wäre sehr schwierig. Er wisse, dass USA und GB nach wie vor jede Zusammenarbeit mit Saddam ablehnten, eine Haltung, die für die benachbarte Türkei sehr schwierig nachzuvollziehen sei. Saddam sei nach wie vor maßlos in seinen Handlungen. Die Wirtschaftslage des Landes, vor allem den ländlichen Regionen, sei schlecht. In Bagdad erreiche man mit Schmuggel eine bessere Lage. Für Türkei sei Irak nach wie vor ein wichtiger Nachbar. Die türkische Unterstützung der Kurden im Nordirak werde – wie er schon erwähnt habe – ihre Grenze bei Unabhängigkeitsbestrebungen finden. BM Kinkel und AM Çetin stimmten überein, dass eine Absetzung Saddams „aus dem Inneren“ wahrscheinlicher sei als durch sichtbare Einwirkungen von außen. Zur Lage in Jugoslawien äußerte sich Çetin ausgesprochen besorgt. Nicht nur Sarajevo sei bedroht, sondern auch andere Städte würden von Serben mit zum Teil massiver Panzerunterstützung blockiert. Die Serben fühlten sich offensichtlich wie im Zweiten Weltkrieg. Ihre Haltung sei eine Herausforderung an Helsinki, sie müssten gestoppt werden, bevor die Katastrophe auf Kosovo übergreifen könne. Er bot an, mit Bundesregierung laufend zu konsultieren. Zur Lage in Berg-Karabach erklärte Çetin, Türkei unterstütze nachdrücklich friedliche Lösung. Beide Streitparteien seien Mitglieder der KSZE und sollten keine territorialen Ansprüche stellen. Die Minsker Gespräche28 müssten zu einem Ende der Kampfhandlungen führen. Türkei habe immer mäßigenden Einfluss (auch gegen eigene öffentliche Meinung) geltend gemacht und habe den dringenden Wunsch, auch gute Beziehungen zu Armenien zu unterhalten. BM Kinkel äußerte sich anerkennend zu türkischem Verhalten. Auf die Bitte BM Kinkels, dass Türkei auf Erfolg der VN-Bemühungen um Lösung des Zypernproblems29 drängen solle, sagte AM Çetin, türkische Regierung habe von Anfang an 26 Zur Freilassung der beiden deutschen Geiseln Strübig und Kemptner am 17. Juni 1992 im Libanon vgl. Dok. 181. 27 Zum Besuch von BM Kinkel vom 28. bis 30. Januar 1992 im Iran vgl. Dok. 148, Anm. 10, Dok. 167, Anm. 8, sowie Dok. 227, Anm. 19 und 22. 28 Zur geplanten Konferenz über Nagorny Karabach im Rahmen der KSZE in Minsk vgl. Dok. 105, Anm. 14. Seit 1. Juni 1992 fanden in Rom Gespräche der sogenannten „Minsk-Gruppe“ statt, die die Konferenz vorbereiten sollte. Referat 212 vermerkte am 13. Juli 1992: „Die Entsendung einer großen KSZE-Beobachtermission, die Züge einer friedenserhaltenden Maßnahme tragen wird, ist im Prinzip beschlossen. Es fehlen die Voraussetzungen seitens der Konfliktparteien, nämlich ein umfassender Waffenstillstand.“ Über eine Voraus-Monitormission, die schrittweise in die Hauptmission übergehen soll, werde in Rom verhandelt. Die ursprünglich für Ende Juli 1992 geplante Minsker Konferenz sei jedoch bislang nicht zustande gekommen. Vgl. B 41, ZA-Bd. 171726. 29 Zu den Vermittlungsbemühungen der VN im Zypernkonflikt vgl. Dok. 10, Anm. 8. Vom 18. bis 23. Juni 1992 fanden in New York fünf getrennte Gesprächsrunden zwischen VN-GS BoutrosGhali, dem zyprischen Präsidenten Vassiliou und dem Sprecher der türkischen Volksgruppe auf Zypern, Denktasch, statt („proximity talks“). Botschafter Vergau, New York (VN), berichtete am 24. Juni 1992: „Der VN-GS ist weiterhin bemüht, den Druck auf die Verhandlungsparteien des Zypernkonflikts zu er-

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VN-Bemühungen unterstützt und sei bereit, realistische und gerechte Lösung zu akzeptieren. Sowohl griechische wie türkische Zyprioten hätten bei Aufrechterhaltung des Status quo nur Nachteile. Allerdings werde eine „künstliche“ Lösung nur neue Probleme schaffen. Man wirke auf Denktasch ein, eine gute Lösung zu akzeptieren, allerdings müsste auch griechische Seite einsehen, dass man nicht nur über Territorialprobleme sprechen könne, sondern zuvörderst über wichtige staats- und verfassungsrechtliche Fragen. BM Kinkel und AM Çetin vereinbarten jährliche bilaterale Konsultationen auf Ministerebene und Intensivierung der Konsultationen auf Abteilungsleiterebene. B 26, ZA-Bd. 183927

224 Vorlage des Ministerialdirektors Elbe für Bundesminister Kinkel 13. Juli 19921 Über Herrn Staatssekretär2 Herrn Bundesminister3 Zweck der Vorlage: Zur Unterrichtung Betr.:

Entwicklungsperspektiven des Königsberger Gebiets (Nord-Ostpreußen) als Bestandteil einer regionalen Friedensordnung des Ostseeraumes

I. Zusammenfassung Status und Rolle des Königsberger Gebietes stellen ein ungelöstes Problem dar. Streitigkeiten um den Status des Königsberger Gebietes könnten die Entwicklung einer stabilen Ordnung der Region ernsthaft belasten. Das Destabilisierungspotenzial Königsbergs strahlt nicht nur auf die baltischen Staaten aus, sondern auch auf das Verhältnis Russland – Polen und den gesamten Ostseeraum. Bleibt Königsberg ein russischer Stützpunkt zur Projektion militärischer Macht in den Ostseeraum, werden sich die übrigen Ostseeanrainer, Fortsetzung Fußnote von Seite 892 höhen. Bei seinen Gesprächen mit den Volksgruppen-Führern hat er die Drohung wiederholt, er werde bei einem erneuten Scheitern dieser Verhandlungsrunde seinen Vermittlungsauftrag an den SR zurückgeben und das Truppenkontingent der VN-Blauhelme noch stärker reduzieren.“ Vgl. DB Nr. 1576; B 26, ZA-Bd. 183976. 1 Die Vorlage wurde von VLR Adam konzipiert. 2 Hat StS Kastrup am 15. Juli 1992 vorgelegen. 3 Hat BM Kinkel am 18. Juli 1992 vorgelegen, der um Rücksprache bat. Hat OAR Rehlen am 20. Juli 1992 vorgelegen, der den Rücklauf an das Büro Staatssekretäre verfügte „für Rückspr[ache] StS bei BM“. Hat StS Kastrup am 29. Oktober 1992 erneut vorgelegen, der handschriftlich vermerkte: „Erl[edigt]. Z[u] d[en] A[kten].“ Hat VLR Ney vorgelegen, der den Rücklauf über VLR Adam an die Registratur des Planungsstabs verfügte. Hat Adam erneut vorgelegen.

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vor allem Balten und Polen, weiterhin bedroht fühlen. Als „unsinkbarer Flugzeugträger“ hätte Königsberg kaum Zukunftschancen. Bleibt es ökonomisch isoliert und vom gesamteuropäischen Kommunikationsnetz abgeschnitten, wird die Anbindung des Baltikums an Westeuropa empfindlich gestört. Deshalb ist ein Wandel im Status des Königsberger Gebietes und seine umfassende Einbeziehung in regionale Kooperationsstrukturen erforderlich. Andererseits besteht die Chance, das Königsberger Gebiet zum Nukleus für einen neuen Typ regionaler Kooperation zu machen, die Wirtschafts- und Sicherheitsaspekte miteinander verschmilzt. Der Baltische Kooperationsrat könnte hierfür wegweisend sein. Dafür kommt es darauf an, die bisherige russische Politik der Abgrenzung und Militarisierung Königsbergs behutsam aufzuweichen und die Bereitschaft für eine stärkere regionale Einbindung Königsbergs zu fördern. Der Küstenbereich zwischen Pillau und Wyborg muss wieder Anschluss an gesamteuropäische Entwicklungen finden, gerade auch im Interesse der baltischen Region. Deutschland hat zusammen mit den übrigen Ostseeanrainern objektiv das größte Interesse an einer stabilen Entwicklung des östlichen Ostseeraums. Gleichwohl erlegt uns die Geschichte hier besondere Zurückhaltung auf. Nach abschließender Klärung der deutschen Außengrenzen im 2+4-Vertrag und in Nachbarschaftsverträgen mit Polen4 und der ČSFR5 böte Königsberg den griffigsten Ansatzpunkt, um Deutschland weiterhin revisionistische, expansive Ambitionen zu unterstellen. Jede unilaterale Initiative unsererseits würde auf tiefes Misstrauen bei westlichen und östlichen Nachbarn stoßen. Auch bilaterale Initiativen könnten gefährlich werden, wenn sie von Dritten als gegen sich gerichtet aufgefasst werden könnten (Rapallo-Syndrom, Vorschlag Skubiszewskis für eine deutsch-polnische Initiative zu Königsberg im Dezember 1991). Wir sollten deshalb nicht gänzlich auf Initiativen verzichten, sie aber sorgfältig in einen westlichen Maßnahmen-Verbund einbetten und mit allen östlichen Partnern abstimmen. Wir sollten alles unterlassen, was nach Volkstumspolitik aussehen könnte. Nicht Renationalisierung oder Germanisierung, sondern die Einbindung Königsbergs in eine regionale und gesamteuropäische Kooperationsarchitektur sollte unsere Leitlinie sein. Dies gilt insbesondere für immer wieder auftauchende Pläne, Russlanddeutsche statt an der Wolga im Königsberger Raum anzusiedeln. Hier stehen die Ziele des Auswärtigen Amtes in Widerspruch zu der Politik des Innenministeriums, im Königsberger Gebiet exklusive Förderprogramme für deutschstämmige Bürger anzubieten. Eine stärkere Einbeziehung des Königsberger Gebietes in die europäische Kooperation wird nicht gegen, sondern nur mit Russland zu haben sein. Wenn Polen und eventuell auch Litauen eines Tages Vollmitglieder der EG werden, bildet Königsberg eine russische Enklave in der EG. Vorstellbar wäre dann eine Einbeziehung Königsbergs in den EGBinnenmarkt. Damit gewönne Russland einen Sonderstatus gegenüber der EG; es würde eng mit der EG über Teilmitgliedschaft verzahnt, bliebe aber von Vollmitgliedschaft aus4 Für den Vertrag vom 14. November 1990 zwischen der Bundesrepublik und Polen über die Bestätigung der zwischen ihnen bestehenden Grenze vgl. BGBl. 1991, II, S. 1329 f. Vgl. auch AAPD 1990, II, Dok. 384, sowie DIE EINHEIT, Dok. 169. Für den Vertrag vom 17. Juni 1991 über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit vgl. BGBl. 1991, II, S. 1315–1327. 5 Für den deutsch-tschechoslowakischen Vertrag vom 27. Februar 1992 über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit vgl. BGBl. 1992, II, S. 463–473. Vgl. auch Dok. 64.

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geschlossen. Königsberg könnte dann nach dem Modell der südchinesischen Wirtschaftssonderzonen zu einem Scharnier zwischen EG und östlichem Wirtschaftsraum Europas werden. II. Ausführung 1) Mit der Loslösung der drei baltischen Republiken aus dem Staatsverband der früheren SU verfügt Russland nur noch über zwei eigene Tore zum Westen: St. Petersburg und Königsberg. Die Bedeutung dieser beiden Städte steigt, wenn die Benutzung der baltischen Häfen und der im Baltikum errichteten strategischen Sicherheitsanlagen für Russland nicht mehr gesichert ist. Andererseits können sich Baltikum und Königsberger Gebiet nur entfalten, wenn sie volkswirtschaftlich und verkehrsmäßig voll in die Ostseeregion eingebunden sind. Dies wird nur gelingen, wenn diese Gebiete von den übrigen Ostseeanrainern nicht als Herd potenzieller Bedrohungen betrachtet werden. Um Sicherheit und Stabilität im Ostseeraum dauerhaft zu verankern, bedarf es eines mit allen Beteiligten abgestimmten regionalen Sicherheits- und Entwicklungskonzepts. Von vorrangiger Bedeutung ist dabei, dass zwischen baltischen Republiken, Polen, Weißrussland und Russland eine Verständigung über die jeweiligen Sicherheitsinteressen gelingt. Seitdem Litauens Unabhängigkeit international anerkannt ist, bildet das Königsberger Gebiet eine russische Exklave. Seit der formellen Unabhängigkeit auch Weißrusslands beläuft sich die Entfernung zum „Mutterland“ der Russischen Föderation auf etwa 300 km. Alternative Zugänge zum Königsberger Gebiet bestehen für Russland nur auf dem Luftweg, auf dem Seeweg über St. Petersburg oder auf dem Landweg über Weißrussland/Ukraine – Polen. Russland ist jetzt darauf angewiesen, den freien Zugang auf dem Landweg zu dieser Exklave im Wege entsprechender „Korridor-Arrangements“ mit den dazwischenliegenden Staaten zu regeln. Ein solches Arrangement besteht seit Sommer 1991 mit Litauen, mit Weißrussland besteht noch keine formelle Transitregelung. Zu dauerhaften Garantien für einen landgebundenen Militärtransit dürften Litauen, Polen und Ukraine (und später wohl auch Weißrussland) nur dann bereit sein, wenn Russland diese Länder an der Sicherheits- und Militärplanung für das Königsberger Gebiet beteiligt. Gegenwärtig wird das Militärpotenzial Königsbergs erhöht, weil Teile der aus Mittel- und Osteuropa abziehenden Truppen mitsamt ihrem Gerät dort untergebracht werden. Die mittelbaren und unmittelbaren Nachbarn Russlands haben derzeit keine Invasion zu befürchten, wohl aber eine fortbestehende Interventionsoption. Diese Option ist nicht nur gegeben, solange russisches Militär direkt in diesen Ländern stationiert ist. Eine starke grenznahe Dislozierung von zum Überraschungsangriff geeigneten Truppen (Luftlandetruppen) genügt hierfür angesichts der militärischen Hilflosigkeit der baltischen Republiken. Dabei kommt dem Königsberger Gebiet eine besondere strategische Bedeutung zu: Hier stationierte Streitkräfte können nicht nur das gesamte Baltikum, sondern auch Polen und mittelbar Schweden und Dänemark bedrohen. Im Zuge der Neuformulierung einer russischen Verteidigungsdoktrin und einer entsprechenden Stationierungsplanung muss rechtzeitig darauf hingewirkt werden, dass hier nicht massive Ungleichgewichte entstehen, die ein erneutes Bedrohungspotenzial darstellen und damit zu politischen Konfrontationen 895

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führen könnten. Hier könnte das Regime des KSE-Vertrages rasch durch regionale Sonderbestimmungen ergänzt werden („Regionaler Sondertisch“ als Bestandteil des weiteren KSZE­Prozesses). Solange die Abzugsverhandlungen zwischen baltischen Republiken und Russland blockiert bleiben6, ist ein sinnvoller Dialog über die strategische Zukunft des Königsberger Gebietes kaum möglich. Deshalb liegt es in unserem Interesse, dass die festgefahrenen Abzugsverhandlungen wieder in Schwung kommen. Das Gleiche gilt für umfassende Verträge über Grenzen und Minderheiten. Solange hier Ansprüche offenbleiben, bleibt die Interventionsgefahr bestehen. Entscheidend wird sein, innerhalb Russlands diejenigen Kräfte zu stärken, die wirklich eine Unabhängigkeit des Baltikums akzeptieren. Eine destabilisierende Entwicklung im Baltikum würde ausstrahlen auf die gesamte skandinavische und mittel- und osteuropäische Region. Deshalb liegt eine Stabilisierung der baltischen Region im Interesse aller Ostseeanrainer und grundsätzlich aller KSZEMitglieder. Der niemals explizit abschließend geregelte völkerrechtliche Status Königsbergs ließe sich gegen Russland politisch instrumentalisieren. In mancher Weise könnten die künftig absehbaren Probleme des Königsberger Gebietes den früheren Status-Problemen West-Berlins ähneln (Zugang, Ausübung von Hoheitsrechten, Bindungen an Russische Föderation). Ein solcher ständiger Reibungspunkt könnte erhebliche Spannungen verursachen. 2) Angesichts der tiefgreifenden Umgestaltungen in Mittel- und Osteuropa werden sich auch Status und Bedeutung des Königsberger Gebietes verändern. Bis zur Jahrhundertwende dürfte Polen einem EG-Beitritt sehr nahe sein. Die drei baltischen Republiken dürften dann eng mit der EG assoziiert sein. Unter Umständen sind sie selbst dann schon auf dem Weg zu einer Vollmitgliedschaft. In jedem Falle ist es wahrscheinlich, dass sie voll in den europäischen Binnenmarkt integriert sein werden. Das Königsberger Gebiet würde dann zu einer russischen Enklave innerhalb eines europäischen Binnenmarktes. Dabei ist klar, dass eine Anbindung des Baltikums an die Industriezentren Mittel­ und Westeuropas nicht um das Königsberger Gebiet herumgeführt werden kann: Dies gilt für eine zu planende Ostseeküstenautobahn von Lübeck bis St. Petersburg ebenso wie für die Neubelebung der alten Nord-Süd­Eisenbahnverbindung Berlin/Warschau-KönigsbergRiga-Tallinn sowie für die Wiederherstellung der alten Straßenverbindungen. Ein nachhaltiger wirtschaftspolitischer Aufschwung in den baltischen Republiken mit entsprechenden Auslandsinvestitionen ist schwer vorstellbar, wenn das Königsberger Gebiet geschlossen, übermilitarisiert und damit eine Quelle fortdauernder Interventionsdrohung bleibt. Dies bedeutet: Für den gesamten östlichen Ostseeraum muss ein umfassendes Kooperationskonzept entwickelt werden, das sowohl Sicherheits- wie auch Wirtschaftsaspekte umfasst. Königsberg sollte nicht singularisiert werden, sondern als integraler Teil in eine enger werdende regionale Kooperationsstruktur hineinwachsen. U. U. könnte der Baltische Kooperationsrat eine Keimzelle für solche Strukturen werden und damit Modellcharakter entwickeln. 3) Aus russischer Sicht stellt das Königsberger Gebiet die letzte sichtbare Trophäe des Sieges im Zweiten Weltkrieg dar, nachdem alle anderen Gewinne zerronnen sind. Dies 6 Zum Abzug vormals sowjetischer Truppen aus den baltischen Staaten vgl. Dok. 81, Anm. 8. Vgl. auch Dok. 172.

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begründet eine ganz besondere politische Empfindlichkeit, die es zu berücksichtigen gilt. Sowohl in Polen wie in Litauen bestehen politische Gruppierungen, die einen Anschluss des Königsberger Gebietes an das eigene Staatswesen bzw. eine einvernehmliche Aufteilung zwischen beiden anstreben. Bei Polen und Litauern sitzt die Angst tief, Deutschland und Russland könnten sich auf ihre Kosten über Königsberg bilateral verständigen. Sie wollen die russische Präsenz dort reduziert sehen. Aber sie wollen keinesfalls die militärische Dominanz Russlands durch einen wirtschaftlichen Primat Deutschlands ersetzt sehen. Dabei ist die Interessenlage Litauens mit der Polens im Einzelnen keineswegs kongruent. Die sich abzeichnenden Veränderungen im Status des Königsberger Gebiets müssen deshalb rechtzeitig vorbereitet und politisch abgesichert sein. 4) Unter den verschiedenen Zukunftsvarianten, die unter Wissenschaftlern für Königsberg vorgeschlagen worden sind, ist nur eine realistisch: – Beibehaltung der politischen Einordnung des Gebietes in den russischen Staatsverband, gleichzeitig jedoch Ausbau eines wirtschaftlichen und sicherheitspolitischen Sonderstatus, der sich in manchem an das Modell südchinesischer Wirtschaftszonen anlehnen könnte. Daneben gibt es weitere Vorschläge, die aber allesamt unrealistisch sind: (1) Internationalisierung des Gebietes mit entsprechenden Garantien der fünf ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates (v. a. in USA und GB favorisiert), (2) Europäisierung (d. h. Schaffung eines politischen Sonderstatus des Gebietes) mit direkten Garantien von GB, F, D, POL und RUS (von Westeuropäern ins Gespräch gebracht), (3) Aufteilung bzw. Angliederung an die Nachbarn Polen und/oder Litauen (v. a. von einzelnen Gruppen in beiden Ländern vorgeschlagen), (4) Bildung eines vierten gänzlich unabhängigen baltischen Staates (von skandinavischer Seite lanciert, teilweise innerhalb Königsbergs unterstützt). Die Umgestaltung Königsbergs wird nicht gegen, sondern nur mit Russland zu haben sein. 5) Wenn Königsberg in die allgemeine Entwicklung seiner umgebenden Region eingebunden werden soll, erfordert dies offene Grenzen und freien Kapital­ und Dienstleistungsverkehr. Königsberg könnte zu einer Schnittstelle zwischen West- und Mitteleuropa und Russland werden. Das Königsberger Gebiet ist überschaubar. Schon geringe Mittel können hier Demonstrations- und Lerneffekte auslösen, die dann auf Russland ausstrahlen. Die Defizite bei Infrastruktur und Rechtskultur ließen sich in einem überschaubaren Gebiet leichter und schneller überwinden, als wenn dies für das ganze Territorium des ausgedehntesten Staates der Welt versucht würde. Sichtbare Erfolge in einer Sonderzone wären auf russischer Seite ein unwiderlegbares Argument für die Beibehaltung des eingeschlagenen Reformkurses. Der zaghafte Ansatz, eine Sonderwirtschaftszone in Königsberg zu schaffen, sollte entschlossen vorangetrieben werden. Ähnlich wie die Sonderwirtschaftszonen in Südchina zu Motoren nicht nur einer ungeahnten Wachstumsdynamik geworden sind, sondern auch die reale Umsetzung von Wirtschaftsreformen vorantreiben, könnte das Königsberger Gebiet zu einem Motor der wirtschaftlichen Transformation Russlands werden. 897

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Es wäre relativ leicht, im Königsberger Gebiet mit Reformmodellen zu experimentieren. Die Isolation der Exklave vom restlichen Gebiet Russlands ließe es zu, mit radikalen Reformansätzen zu experimentieren. Ein missglücktes Experiment könnte rechtzeitig abgebrochen werden7, bevor es nicht mehr kontrollierbare Wirkungen entfaltet. Eine Sonderzone böte die Chance, versuchsweise mit wirtschaftspolitischen Instrumentarien zu operieren, die im Gastland nicht geläufig sind und mit flächendeckender Wirkung nicht ohne hohes Risiko politischen Widerstands und sozialer Spannungen eingesetzt werden könnten. Der Mangel an lokal verwurzelten Traditionen dürfte es leichter machen, z. B. Eigentumsverhältnisse und Handelsstrukturen neu zu ordnen, weil ohnehin das meiste auf diesen Sektoren nach 1950 quasi aus der Retorte entstanden ist. Königsberg könnte im Laufe der Zeit voll in den EG-Binnenmarkt einbezogen werden, so wie die DDR seinerzeit unbeschränkten Zugang zum Markt der EG besaß8 und damit zu einem Scharnier zwischen EG und dem russisch dominierten Wirtschaftsraum des RGW wurde. Über die Teilmitgliedschaft des Königsberger Gebietes im Binnenmarkt erhielte Russland einen assoziierten Sonderstatus gegenüber der EG, der ihm wiederholt zugesagt worden ist. 6) Das Königsberger Gebiet bietet allerdings nach dem 2+4-Vertrag und den Grenzverträgen mit Polen und der ČSFR den griffigsten Anknüpfungspunkt, um uns revisionistische Ambitionen zu unterstellen. Das schränkt unseren Spielraum ein. Unsere Versicherungen, dass wir keinerlei territoriale Ambitionen über die Grenzen von Bundesrepublik und DDR hinaus haben, stoßen immer wieder auf Skepsis. Alles, was danach aussieht, deutsche Präsenz im Königsberger Gebiet zu stärken, wird Misstrauen erregen, sofern es nicht vorab sorgfältig mit allen potenziell Betroffenen abgestimmt ist. Auch wenn wir keine nationalen Ziele in Königsberg verfolgen, kann uns die künftige sicherheitspolitische und wirtschaftliche Entwicklung der gesamten Region des östlichen Baltikums nicht gleichgültig sein. Wir sollten uns bei unseren Aktivitäten nicht von (nostalgischen) historischen Verpflichtungen, sondern von unserem gegenwärtigen (nüchternrationalen) Interesse an der Ausweitung friedlicher Kooperationsstrukturen auf regionaler und subregionaler Ebene leiten lassen und dies deutlich machen. Königsberg kann für uns kein Tabu sein. Wir sollten in Bezug auf Königsberg nicht auf Initiativen verzichten. Wir sollten sie aber nicht im Alleingang unternehmen. Pläne, Deutsche aus Kasachstan im Königsberger Gebiet anzusiedeln, stoßen bei allen Seiten auf größte Vorbehalte. Eine massive Ansiedlung von Deutschen dort würde über kurz oder lang unter dem Stichwort „Selbstbestimmung“ Spekulationen über eine Rückgliederung in den deutschen Wirtschafts- und Staatsverband auslösen. Eine solche Umsiedlungsaktion widerspräche jeder historischen Logik, da die deutsche Bevölkerung in Russland Bindungen an die Wolga, aber eben nicht an Königsberg hat. Eine „Germanisierung“ des Königsberger Gebietes würde kontraproduzent wirken. Wir sollten betonen, dass die 7 Korrigiert aus: „ abgebrochen werden, abzubrechen,“. 8 Durch das Protokoll vom 25. März 1957 über den Innerdeutschen Handel und die damit zusammenhängenden Fragen genoss der innerdeutsche Handel in der EWG einen besonderen Status. In Ziffer 1 des Protokolls, das gemäß Artikel 239 des EWG-Vertrags vom 25. März 1957 „Bestandteil dieses Vertrags“ war, wurde festgelegt, dass der Handel zwischen der Bundesrepublik und der DDR „Bestandteil des innerdeutschen Handels ist“. Daher erfordere die Anwendung des EWG-Vertrags „in Deutschland keinerlei Änderung des bestehenden Systems dieses Handels“. Vgl. BGBl. 1957, II, S. 900 und S. 984.

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Zukunft Königsbergs in zukünftige Friedens-, Sicherheits- und Kooperationsordnung für ganz Europa fest eingebunden sein sollte. Wir sollten insbesondere alles unterlassen, was auch nur von ferne so aussehen könnte wie eine gezielte Volkstumspolitik. Was wir an technischen und kulturellen Hilfsprojekten anbieten, sollte grundsätzlich integrierend wirken und Angehörigen aller Nationalitäten offenstehen. Eine Privilegierung deutscher Gruppen in dieser Region würde bei den Adressaten Erwartungen wecken, die wir nicht erfüllen können, bei unseren Partnern hingegen einen Argwohn hervorrufen, den wir nur schwer wieder beschwichtigen könnten. Ein solcher Ansatz würde überdies die ohnehin gespannten Beziehungen zwischen den ethnischen Gruppen innerhalb Russlands nur noch weiter verschärfen. Deutschland sollte gerade in diesem Gebiet deutsche Kulturpolitik und nicht Kulturpolitik für Deutsche betreiben. Königsberg hat einen deutschen Bevölkerungsanteil von nicht mehr als 1 bis 1,5 %. Dies erfordert ein klares außenpolitisches Konzept zu Königsberg. Es besteht die Gefahr, dass hier die Kontrolle über unsere außenpolitischen Maßnahmen dem Auswärtigen Amt zu entgleiten und zunehmend an das Innenministerium bzw. private Bürgerinitiativen zu fallen droht. Das Innenministerium verfolgt mehrere Förderprojekte, die exklusiv Russlanddeutschen im Königsberger Gebiet zugutekommen. Damit laufen wir Gefahr, dass wir uns doch dem Verdacht aussetzen, Volkstumspolitik zu betreiben und eben jene Germanisierung zu fördern, die wir gerade vermeiden sollten. Zum größten Teil sind deutsche Privatinitiativen gegenüber Königsberg zu begrüßen. Sie werden jedoch unweigerlich im Ausland der Bundesregierung zugerechnet. Hier besteht Bedarf an ständiger und wirksamer Koordinierung und Kontrolle. Frank Elbe B 9, ZA-Bd. 178534

225 Runderlass des Vortragenden Legationsrats Seebode 012-9-312.74 VS-NfD Fernschreiben Nr. 42 Ortez

Aufgabe: 13. Juli 19921

Betr.: Wirtschaftsgipfel in München, 6. bis 8.7.1992 1) Die Staats- und Regierungschefs der sieben wichtigsten Industrieländer (G 7) und der Präsident der EG-Kommission2 trafen sich vom 6. bis 8.7.1992 in der Münchener Residenz zum 18. Wirtschaftsgipfel.3 An dem Treffen nahmen auch die Außen- und die Finanzminister teil, von deutscher4 und japanischer5 Seite auch die Wirtschaftsminister, für die EG1 2 3 4 5

Das von VLR I Barth konzipierte Fernschreiben wurde in drei Teilen übermittelt. Vgl. Anm. 25 und 41. Jacques Delors. Für die amerikanischen Gesprächsprotokolle vgl. https://bush41library.tamu.edu/archives/memcons-telcons. Jürgen W. Möllemann. Kōzō Watanabe.

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Kommission außerdem die Vizepräsidenten Andriessen und Christophersen. Der Geschäftsführende Direktor des IWF, Camdessus, wohnte auf der Rückreise von seinen Verhandlungen in Moskau einer Sitzung der Finanzminister als Gast bei. Unmittelbar nach dem Gipfel trafen die Staats- und Regierungschefs mit Präsident Jelzin zu einem knapp dreistündigen Gespräch zusammen.6 2) Das Schwergewicht des Gipfels lag wie stets bei den wirtschaftlichen Themen, welche die Persönlichen Beauftragten (Sherpas) der Staats- bzw. Regierungschefs in fünf Tagungen unter dem Vorsitz des deutschen Sherpas, StS Dr. Köhler (BMF) – unterstützt von den beiden „Sous-Sherpas“, D 47 und MD Dr. Schomerus (BMWi) –, intensiv vorbereitet hatten. Zu den Wirtschaftsthemen verabschiedeten die Staats- und Regierungschefs eine Erklärung unter dem Leitmotto „Zusammenarbeit für Wachstum und eine sichere Welt“.8 Die vorangegangenen intensiven Gespräche waren, wie der BK in der PK9 unterstrich, geprägt von einer besonders freundschaftlichen Atmosphäre. Im Vordergrund standen dabei vor allem die Entwicklung der Weltwirtschaft einschließlich der Uruguay-Runde des GATT, die Unterstützung des Reformprozesses in den Neuen Unabhängigen Staaten (NUS) der früheren SU sowie die Lage in Mittel- und Osteuropa und in den Entwicklungsländern (einschließlich des Problems der Verschuldung), außerdem ein Aktionsprogramm zur Verbesserung der Sicherheit der Kernkraftwerke sowjetischer Bauart. Daneben gab die Würdigung der UNCED-Ergebnisse von Rio10 Gelegenheit, die dort erzielten Vereinbarungen zu bestätigen und insbesondere aktionsorientierte Signale in den Bereichen Ratifizierung, Implementierung, Finanzierung und Institutionen zu setzen. 3) Zum Thema Weltwirtschaft, bei dem dank der eingehenden Diskussionen im Rahmen der Vorbereitung keine wesentlichen Meinungsverschiedenheiten sichtbar wurden, richtet der Gipfel eine deutliche Wachstumsbotschaft an die Weltöffentlichkeit. Angesichts der bestehenden Unsicherheit über Stärke und Tragfähigkeit des bevorstehenden Aufschwungs war es wichtig, die Vertrauensgrundlage für ein dauerhaftes Wachstum zu verbessern, um insbesondere die Investitionstätigkeit zu stärken. Über die Dringlichkeit der Schaffung von Arbeitsplätzen bestand ebenfalls Einigkeit. Trotz z. T. unterschiedlicher Ausgangslage in den einzelnen Gipfelländern konnten sich alle Teilnehmer auf gemeinsame wirtschaftspolitische Leitlinien verständigen. Wir legten dabei, anders als die überwiegend an kurzfristigen Zielen orientierten USA, besonderen Wert auf eine stärker auf stabilitätsorientiertes, inflationsfreies Wachstum gerichtete Politik. Wir konnten uns mit unserer Auffassung durchsetzen, dass eine expansivere Geldpolitik die Eindämmung der Inflationsgefahr voraussetzt, und konnten damit auch Kritik an den hohen deutschen Zinsen auffangen. BK nutzte die Gelegenheit, die Gipfelpartner eingehend über die Aufbauleistung in den NBL zu unterrichten. Eine besondere Rolle spielte das Einzelthema Uruguay-Runde11, auch wenn von vornherein feststand, dass der Gipfel kein Verhandlungsort sein konnte. Dabei bestätigte sich, 6 Für das amerikanische Protokoll über das Gespräch am Nachmittag des 8. Juli 1992 vgl. https:// bush41library.tamu.edu/archives/memcons-telcons. 7 Heinrich-Dietrich Dieckmann. 8 Für die Erklärung vom 8. Juli 1992 vgl. BULLETIN 1992, S. 735–740. 9 Für die Ausführungen von BK Kohl am 8. Juli 1992 in München vgl. BULLETIN 1992, S. 740–742. 10 Zur VN-Konferenz über Umwelt und Entwicklung (UNCED) vom 3. bis 14. Juni 1992 vgl. Dok. 177. 11 Zu den GATT-Verhandlungen vgl. Dok. 185.

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dass die Positionen sich materiell angenähert haben. Präs. Bush trug die Feststellung im Gipfelkommuniqué mit, dass die von der EG verabschiedete GAP-Reform12 die Lösung noch ausstehender Fragen erleichtern dürfte. Trotz der innenpolitischen Terminlage (Maastricht-Referendum in Frankreich13, Präsidentschaftswahlkampf in USA14) bringen die Gipfelteilnehmer die Erwartung zum Ausdruck, dass ein Übereinkommen noch vor Jahresende erreicht werden kann. 4) Hinsichtlich der Entwicklungsländer bekannte sich der Gipfel angesichts der nur gemeinsam zu bewältigenden globalen Herausforderungen (Interdependenz) zu Dialog und Partnerschaft mit gemeinsamer Verantwortung auf der Basis eines wachsenden Konsenses über fundamentale politische und wirtschaftliche Prinzipien. Der Eigenverantwortung der EL (good governance) steht die besondere Verantwortung der IL für die gesamte Weltwirtschaft gegenüber. Gipfel nahm die sehr unterschiedlichen Entwicklungen in einzelnen Regionen zur Kenntnis. Die Gipfelteilnehmer werden sich nach Kräften bemühen, Quantität und Qualität ihrer ODA in Übereinstimmung mit den von ihnen übernommenen Verpflichtungen zu erhöhen und sie verstärkt den ärmsten Ländern zukommen lassen. Wohlhabendere EL sind aufgerufen, zur Hilfe beizutragen. Von operativer Bedeutung sind die Aufforderung zu einer substanziellen Wiederauffüllung der IDA-Mittel noch vor Ende 199215 und die Aufforderung an den IWF, auch weiterhin Finanzmittel zu Vorzugsbedingungen für die ärmsten Länder zur Verfügung zu stellen. Der Kommuniqué-Text zur Schuldenstrategie gegenüber den EL lässt die sich abzeichnende Bewegung nicht voll erkennen. Dies gilt vor allem für die Ermutigung des Pariser Clubs, im Einzelfall die besondere Lage einiger hochverschuldeter Länder mittleren Einkommens zu berücksichtigen (Text des Londoner Gipfels16 noch: „zu prüfen“). Dies bedeutet grundsätzliche Verständigung darüber, für (zunächst) einige wenige Länder Afrikas die12 Zur Reform der GAP vgl. Dok. 135, Anm. 5. 13 Zum Referendum am 20. September 1992 in Frankreich über das Vertragswerk von Maastricht vgl. Dok. 293 und Dok. 300. 14 In den USA fanden am 3. November 1992 Präsidentschaftswahlen, Wahlen zum Repräsentantenhaus sowie Teilwahlen zum Senat und für die Gouverneursämter statt. 15 Zur X. Wiederauffüllung der Mittel für die International Development Association (IDA) vgl. Dok. 177, Anm. 14. VLR Jacobs vermerkte am 21. Dezember 1992, die Verhandlungen seien am 15. Dezember 1992 in Bern abgeschlossen worden: „Die 34 Geberländer einigten sich für den Zeitraum 1.7.1993–30.6.1996 auf ein Auffüllungsvolumen von 13 Mrd. SZR.“ Die Bundesrepublik sei mit 11 % (ca. 3,222 Mrd. DM) der drittgrößte Beitragszahler hinter den USA (20,86 %) und Japan (20 %): „Der von der Umweltkonferenz von Rio empfohlene Umweltzuschlag (earth increment) kam mangels ausreichender Beteiligung nicht zustande. Zusammen mit der Mittelauffüllung beschlossen die Geberländer einen umfangreichen Katalog von Empfehlungen zur entwicklungspolitischen Ausgestaltung der Mittelvergabe, zur regionalen Verteilung der Mittel und zu den Zugangsanforderungen an die Empfängerländer im Hinblick auf Wirtschaftspolitik, Armuts- und Umweltpolitik sowie gute Regierungsführung.“ Wie schon bei IDA IX sollten 45 bis 50 % der Mittel an die Länder in Subsahara-Afrika vergeben werden. Der Anteil Asiens solle von bisher 40 % auf 30 bis 35 % sinken, was hauptsächlich zulasten der Volksrepublik China gehe. Dadurch sollten Mittel für neu zugangsberechtigte Staaten wie die neuen zentralasiatischen Republiken freigemacht werden. Vgl. B 58, ZA-Bd. 188493. 16 Vgl. Ziffer 43 der Wirtschaftserklärung vom 17. Juli 1991 des Weltwirtschaftsgipfels vom 15. bis 17. Juli 1991. Zum Weltwirtschaftsgipfel vgl. AAPD 1991, II, Dok. 249.

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ser Kategorie weitergehende Schuldenerleichterungen mit Optionenmenü, einschließlich langfristiger Umschuldung mit vielen Freijahren, ins Auge zu fassen. Von Bedeutung ist auch der Ansatz für einen Dialog zwischen der G 7 und der G 15, einer Gruppierung von 15 wichtigen EL mit nahezu 2 Mrd. Menschen17, wie er sich im Vorfeld des Gipfels abzeichnete. Nach Schreiben des Präsidenten des Senegal (G 15­Vorsitz) an die Gipfelteilnehmer18 hatte der AM des Senegal dem deutschen Sherpa Anfang Juni ein G 15-Dokument über die „Neue Weltordnung“19 erläutert20, in dem die Konvergenz der Grundansichten über die fundamentalen politischen und wirtschaftlichen Prinzipien bekräftigt wird. BK wies in der PK ausdrücklich auf diesen Dialog hin. Der G 15-Vorsitz wird von uns auch über die Gipfelergebnisse unterrichtet werden.21 5) Der Gipfel richtete ein starkes Signal der Ermutigung an die Länder Mittel- und Osteuropas, einschließlich der baltischen Staaten, ihre Anstrengungen zu wirtschaftlichen und sozialen Reformen mit Unterstützung der Gipfelländer energisch fortzusetzen. Er forderte die G 24 auf, ihre Koordinierungstätigkeit unter Anpassung an die differenzierten Erfordernisse in den einzelnen MOE-Staaten fortzusetzen. Im Falle Polens unterstützte der Gipfel eine Umwidmung von Mitteln des Złoty-Stabilisierungsfonds22 – nach Einigung auf ein IWF-Programm – zugunsten marktwirtschaftlicher Reformen. Eine wichtige Rolle maß er dem Ausbau der Wirtschafts- und Handelsbeziehungen der MOE-Länder auch untereinander und der Herstellung attraktiver Investitionsbedingungen für ausländisches Kapital bei. 6) Den Neuen Unabhängigen Staaten (NUS) der früheren SU reichte der Gipfel die Hand zu umfassender Zusammenarbeit im Rahmen der Hilfe zur Selbsthilfe. Das Maß der Zusammenarbeit wird sich jedoch nach den erreichten Reformfortschritten und dem auf internationaler Ebene gezeigten Verantwortungsbewusstsein richten. Die Gipfelteilnehmer ermutigten die NUS zu einer soliden Wirtschaftspolitik durch Begrenzung der Haushaltsdefizite und der Inflation, zu Privatisierung und Aufbau eines leistungsfähigen privaten Unternehmenssektors, zur Landreform, Förderung von Investition und Wettbewerb und zu angemessener sozialer Absicherung der Bevölkerung. Sie betonten die Notwendigkeit rascher Fortschritte vor allem in der Landwirtschaft und im Energiesektor, insbesondere 17 Zur „Gruppe der 15“ vgl. Dok. 145, Anm. 8. 18 Für das Schreiben des senegalesischen Präsidenten Diouf vom 14. Mai 1992 an BK Kohl in dessen Eigenschaft als G 7-Vorsitzender vgl. B 52, ZA-Bd. 174530. Vgl. auch das Schreiben von Diouf vom 26. Mai 1992 an die Staats- und Regierungschefs der G 7Staaten; B 52, ZA-Bd. 174530. 19 Für das Papier „Draft For Position Paper Of The Group Of Fifteen On The New World Order“ vgl. B 52, ZA-Bd. 174530. 20 StS Köhler, BMF, führte am 4. Juni 1992 ein Gespräch mit dem senegalesischen AM Kâ. Botschafter Reichenbaum vermerkte am 5. Juni 1992, Kâ habe „die wachsende Konvergenz der Auffassungen in Nord und Süd und die Bereitschaft zu umfassender Partnerschaft“ betont. Köhler habe erklärt: „Realismus, Nachdenklichkeit und Kooperationswillen des G 15-Dokuments stützten unsere Auffassung, dass der Dialog wichtig und im Interesse von Nord wie Süd sei. […] In der Sache gebe es immer noch unterschiedliche Positionen. Realismus hinsichtlich unserer Möglichkeiten sei geboten.“ Vgl. B 52, ZA-Bd. 174530. 21 StS Köhler, BMF, unterrichtete den senegalesischen Botschafter Touré am 16. Juli 1992 über die Ergebnisse des Weltwirtschaftsgipfels vom 6. bis 8. Juli 1992 in München. Vgl. den DE vom selben Tag an die Botschaft in Dakar; B 52, ZA-Bd. 174530. 22 Zum Stabilisierungsfonds für Polen vgl. Dok. 197, Anm. 19.

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im Hinblick auf die Verbesserung der Versorgungssituation und der Devisenlage. Die Teilnehmer des Gipfels unterstreichen die Bedeutung der Technischen Hilfe und der Marktöffnung. Sie erklärten sich insbesondere bereit, die NUS weiterhin bei der Nutzung ihres wissenschaftlichen und technologischen Potenzials für den Aufbau ihrer Volkswirtschaften zu unterstützen. Sie begrüßen die Mitgliedschaft der NUS in den internationalen Finanzinstitutionen. Eine Mittelauszahlung müsse aber an Reformfortschritte geknüpft bleiben. Nach der grundsätzlichen Einigung zwischen Russland und dem IWF über eine Mehrstufenstrategie (Besuch von IWF-Exekutivdirektor Camdessus in Moskau am 5.7.23) kann eine erste Kredittranche in den nächsten Wochen ausgezahlt werden. Ein umfassendes Reformprogramm werde den Weg für die volle Nutzung des im April angekündigten Unterstützungspakets von 24 Mrd. Dollar24 ebnen. Für die NUS sollen Länder-Konsultativgruppen gebildet werden, um eine enge Zusammenarbeit zwischen dem jeweiligen Staat, internationalen Institutionen und den Partnerländern zu fördern. Weitere Einzelheiten zu Russland siehe unter Ziffer 8. 257) Die Staats- und Regierungschefs vereinbarten ein Aktionsprogramm zur Sicherheit der KKW sowjetischer Bauart.26 Es soll Sofortmaßnahmen zur Erhöhung der Betriebssicher-

heit, kurzfristige technische Verbesserungen der KKW sowie die Stärkung der staatlichen Kontrolle umfassen. Es soll aber außerdem die Grundlage auch für längerfristige Verbesserungen der Sicherheit (Ersetzung unsicherer KKW durch Entwicklung von Energiealternativen, bei neueren KKW ggf. Nachrüstung) schaffen. Alle Gipfelteilnehmer erklärten ihre Bereitschaft zur Verstärkung ihrer bilateralen Hilfe unter dem Koordinierungsmandat der G 24. Sie traten zusätzlich, „soweit angebracht“, für einen „multilateralen Mechanismus“ (Fonds) ein, zu dem die Völkergemeinschaft beitragen soll. 8) Nach Abschluss des Wirtschaftsgipfels trafen die Staats- und Regierungschefs der G 7 und der Präsident der EG-Kommission mit dem russischen Präsidenten zusammen. Jelzin berichtete dabei u. a. über den Stand der russischen Wirtschaftsreformen und bekräftigte seine Entschlossenheit, den Reformkurs trotz Hemmnissen und Widerständen fortzusetzen. Die Gipfelländer unterstrichen ihre Bereitschaft, die russischen Eigenanstrengungen auf Basis des folgenden „Zehn-Punkte­Programms“ der „Hilfe zur Selbsthilfe“ umfassend zu unterstützen27: 23 Botschafter Blech, Moskau, berichtete am 5. Juli 1992, IWF-Exekutivdirektor Camdessus habe die Botschafter der G 7-Staaten über seine Gespräche mit der russischen Regierung informiert. Demnach habe er mit MP Gajdar eine Drei-Phasen-Strategie vereinbart, wonach „1) zunächst bis August ein Set von wirtschaftspolitischen Maßnahmen verabredet werde, womit die Auszahlung der ersten Tranche des Beistandskredits eröffnet werde […]. In den darauffolgenden zwei Monaten sollten insbesondere die zwischen den Staaten der Rubelzone entstandenen monetären Probleme bereinigt werden, sodass nach Evaluierung der ersten Phase durch IWF 2) im Oktober 1992 ein vollgültiges Standby-Agreement abgeschlossen werden könne, das umzusetzen sei, sobald eine relative Stabilität des Rubels hergestellt sei. 3) In der dritten Phase, für die C[amdessus] keinen zeitlichen Rahmen nannte, könne dann der Stabilisierungsfonds errichtet werden.“ Vgl. DB Nr. 2844; B 52, ZA-Bd. 173828. 24 Zu den G 7-Hilfen für Russland vgl. Dok. 100, Anm. 7. 25 Beginn des mit RE Nr. 43 übermittelten zweiten Teils des Fernschreibens. Vgl. Anm. 1. 26 Für das Aktionsprogramm zur Sicherheit von Kernkraftwerken in den Nachfolgestaaten der UdSSR sowie den MOE-Staaten vgl. Ziffer 42–48 der Wirtschaftserklärung vom 8. Juli 1992; BULLETIN 1992, S. 739 f. 27 Vgl. die Erklärung von BK Kohl in dessen Eigenschaft als G 7-Vorsitzender vom 8. Juli 1992; BULLETIN 1992, S. 743 f.

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– Zusammenarbeit Russlands mit dem IWF. – Die Vereinbarung über die erste IWF-Kredittranche [ist] wichtiger Schritt und Basis für die volle Ausschöpfung des 24 Mrd.­Dollar-Hilfspakets. – Baldige Gespräche über eine erweiterte Atempause bei den Auslandsschulden. – Die Gipfelländer werden alles daransetzen, die zugesagten Exportkredite verfügbar zu machen. – Die Gipfelländer werden weiterhin umfassende und praxisnahe Technische Hilfe für den marktwirtschaftlichen Aufbauprozess leisten. – Die G 7 unterstützt private Investitionen, speziell im Öl­ und Gassektor. Hierzu müssen von russischer Seite umgehend die notwendigen Rahmenbedingungen geschaffen werden. – Die G 7 wird Russland weitere Erleichterungen für seine Exporte einräumen. – Sie ruft Unternehmen und Banken, Wirtschaft und Wirtschaftsverbände dazu auf, Unternehmenspartnerschaften einzugehen bzw. zu vermitteln. – Bereitschaft der G 7 zu umfassender Zusammenarbeit in den Bereichen Raumfahrt, Rüstungskonversion, Kernkraftsicherheit, Energie und Umweltschutz. – Auf G 7-Initiative hin wird ein internationales Aktionsprogramm gestartet, um stufenweise die Sicherheit der Kernkraftwerke sowjetischen Bautyps zu verbessern. Dies schließt die Mobilisierung finanzieller Hilfen ein. – Einrichtung einer Konsultativgruppe, in der die russische Regierung, die G 7, andere interessierte Länder und internationale Institutionen zusammenkommen, Probleme identifizieren und konkrete Maßnahmen koordinieren und auf den Weg bringen. 9) Die Außenminister verabschiedeten zwei Erklärungen: die Politische Erklärung28 und eine Erklärung zum ehemaligen Jugoslawien29. BM trug darüber hinaus im Namen des BK die Erklärung des Vorsitzenden („Chairman’s Statement“)30 vor. Die Politische Erklärung beschränkt sich auf die drei Themen – mittel- und osteuropäische Länder und die neuen Staaten der früheren Sowjetunion, – Massenvernichtungswaffen und – Vereinte Nationen. Andere wichtige außenpolitische Themen oder Regionen, mit denen sich die Außenminister und Staats- und Regierungschefs befassten, wurden in das Chairman’s Statement aufgenommen. 10) Die Politische Erklärung trägt den Titel „Die neue Partnerschaft gestalten“ („Shaping the New Partnership“). Darin kommt das neue partnerschaftliche Verhältnis der G 7 zu den Demokratien Mittel- und Osteuropas, den neuen Staaten der früheren Sowjetunion und im weiteren Sinne auch den Entwicklungsländern zum Ausdruck. „Partnerschaft“ impliziert Gleichstellung und wechselseitiges Geben und Nehmen. „Gestalten“ steht für „auf dem Begonnenen aufbauen und ihm eine dauerhafte Struktur geben“. Der erste Teil der Erklärung zeigt die Widersprüchlichkeit der derzeitigen außenpolitischen Lage auf: Einerseits ist der Weg frei für eine neue Partnerschaft gemeinsamer Verantwortung. Andererseits bringt der wiederauflebende Nationalismus neue Gefahren und 28 Für die Erklärung „Die neue Partnerschaft gestalten“ vom 7. Juli 1992 vgl. BULLETIN 1992, S. 729–731. 29 Für die Erklärung vom 7. Juli 1992 vgl. BULLETIN 1992, S. 731 f. 30 Für die „Erklärung des Vorsitzes“ vom 7. Juli 1992 vgl. BULLETIN 1992, S. 732–734.

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Konflikte mit sich. Die gegenwärtigen Instabilitäten und Konflikte unterstreichen die Notwendigkeit internationaler Zusammenarbeit. In diesem Zusammenhang kommt der KSZE besondere Bedeutung zu. Die G 7 fordern die Teilnehmer des Gipfels in Helsinki31 auf, die Fähigkeit der KSZE zu stärken, Konflikte zu verhüten, Krisen zu bewältigen und Streitigkeiten friedlich beizulegen. Im zweiten Kapitel sprechen die G 7 die Gefahr der Verbreitung von Kernwaffen und anderen Massenvernichtungswaffen an, die nach dem Zerfall der Sowjetunion neue Aktualität gewonnen hat. Sie hoffen auf den baldigen Beitritt Weißrusslands, der Ukraine und Kasachstans sowie der anderen nicht­russischen Staaten der früheren Sowjetunion als Nichtkernwaffenstaaten zum Nichtverbreitungsvertrag. Sie werden ihre Bemühungen um die Verhinderung der Weitergabe von Know-how über Massenvernichtungswaffen fortsetzen. Sie unterstützen wirksame Kontrollen für den Export sensitiver Güter aus den neuen Staaten der früheren Sowjetunion. Auch in den Ländern der G 7 sollen Exportkontrollen für Waffen und andere sensitive Güter verbessert und der Waffenexport insgesamt eingeschränkt werden. Der Nichtverbreitungsvertrag muss auf der 1995 stattfindenden Überprüfungskonferenz32 auf unbegrenzte Zeit verlängert werden. Gleichzeitig muss der Prozess der nuklearen Rüstungskontrolle und -reduzierung fortgesetzt werden. Das dritte Kapitel der Erklärung befasst sich mit den Vereinten Nationen. Die G 7 begrüßen den Bericht des VN-Generalsekretärs zur Rolle der VN bei der vorbeugenden Diplomatie, Friedensstiftung und Friedenserhaltung.33 Sie unterstützen auch die vom VNGeneralsekretär bereits eingeleiteten Maßnahmen zur Reform der VN.34 11) In ihrer Erklärung zum ehemaligen Jugoslawien bringen die G 7 ihre tiefe Besorgnis über die anhaltende jugoslawische Krise zum Ausdruck. Nach ihrer Ansicht tragen die 31 Zur KSZE-Gipfelkonferenz am 9./10. Juli 1992 vgl. Dok. 226. 32 Die fünfte Überprüfungskonferenz zum Nichtverbreitungsvertrag vom 1. Juli 1968 fand vom 17. April bis 12. Mai 1995 in New York statt. 33 Für den am 17. Juni 1992 veröffentlichten Bericht „An Agenda for Peace. Preventive diplomacy, peacemaking and peace-keeping” von VN-GS Boutros-Ghali (A/47/277) vgl. https://www.un.org/ga/search/view_ doc.asp?symbol=A/47/277. Für den deutschen Wortlaut vgl. EUROPA-ARCHIV 1992, D 657–673 (Auszug). VLR I Schmidt legte am 23. Juni 1992 dar, die Empfehlungen Boutros-Ghalis gingen „weit über das hinaus, was ständige Mitglieder des Sicherheitsrates bisher zu akzeptieren bereit sind. Soweit diese Empfehlungen auf kurze Sicht nicht zu verwirklichen sind, werden sie jedenfalls die Diskussion anregen. […] Der Bericht kommt für uns zur rechten Zeit. Er kann als sachliche Grundlage für die Diskussion über unsere Beteiligung an friedenserhaltenden Maßnahmen und an Maßnahmen direkten Zwanges dienen.“ Vgl. B 30, ZA-Bd. 158176. 34 Referat 230 erläuterte am 26. August 1992, VN-GS Boutros-Ghali habe bereits kurz nach seinem Amtsantritt „durchgreifende Entscheidungen getroffen. Die Zahl der stellvertretenden Generalsekretäre (USG) wurde von 30 auf 16 vermindert, die Zahl der Hauptabteilungen im Sekretariat auf sieben reduziert.“ Bei dem Versuch, Tagesordnung und Zahl der Resolutionen der Generalversammlung zu reduzieren, seien bislang aber nur geringe Verbesserungen erreicht worden. Im Wirtschafts- und Sozialbereich seien „durch den Wildwuchs von immer neuen Gremien und Koordinierungsmängel zwischen den über 150 Unter- und Sonderorganisationen Effizienzdefizite entstanden. Es gibt eine Fülle von Reformvorschlägen, der umfassendste wurde von Nordischen Staaten eingebracht.“ Auf der VN-Konferenz über Umwelt und Entwicklung (UNCED) vom 3. bis 14. Juni 1992 sei Boutros-Ghali beauftragt worden, „die Koordinierung dieses Sektors innerhalb des VN-Systems zu verbessern“. Auch für den ECOSOC seien einige strukturelle Verbesserungen eingeleitet worden. Vgl. B 30, ZA-Bd. 167346.

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serbische Führung und die von ihr kontrollierten jugoslawischen Streitkräfte die Hauptverantwortung für die Entstehung dieser Lage. Sie unterstützen die EG-Konferenz über Jugoslawien unter dem Vorsitz von Lord Carrington als ein Schlüsselforum für eine Verhandlungslösung der offenen politischen Fragen, begrüßen die Konsultationen zwischen dieser Konferenz, der EG, den Vereinten Nationen und den anderen von der Jugoslawien-Krise betroffenen Parteien, die zur Einberufung einer umfassenderen internationalen Konferenz über ungelöste Fragen, einschließlich Fragen im Zusammenhang mit Minderheiten, führen könnten.35 Die G 7 unterstützen die von UNPROFOR zur Sicherung des Flughafens getroffenen Maßnahmen und danken allen an der Luftbrücke nach Sarajevo36 und an der Versorgung der Bevölkerung Beteiligten. Sollten diese humanitären Bemühungen an der mangelnden Bereitschaft der Betroffenen zur uneingeschränkten Zusammenarbeit mit den Vereinten Nationen scheitern, muss der Sicherheitsrat nach Auffassung der G 7 andere Maßnahmen zur Durchsetzung seiner humanitären Ziele in Erwägung ziehen, wobei militärische Mittel nicht ausgeschlossen werden. Die Luftbrücke nach Sarajevo kann nur der Anfang umfassenderer humanitärer Bemühungen sein. Sicherer Zugang auf dem Landweg nach Sarajevo wie auch zu anderen Teilen Bosnien-Herzegowinas, die sich in Not befinden, muss gewährleistet werden. 12) Im Chairman’s Statement nimmt der Vorsitzende zu folgenden von den Staats- und Regierungschefs und den Außenministern erörterten Themen Stellung: – Die G 7 bedauern die anhaltenden Kämpfe in Nagorny Karabach37 und in der Republik Moldau38. Sie begrüßen die weitgehende Einhaltung der Waffenruhe in Südossetien.39 Die G 7 rufen alle Konfliktparteien dazu auf, Feindseligkeiten sofort einzustellen und sich um eine friedliche Lösung der Konflikte auf der Grundlage der Prinzipien der KSZE zu bemühen. – Die G 7 setzen sich dafür ein, dass in den Verhandlungen der baltischen Staaten mit Russland bald eine Vereinbarung über den Abzug der ehemals sowjetischen Truppen erzielt wird.40 Dabei muss die Gleichbehandlung aller Minderheiten in den baltischen Staaten ein wesentliches Element von Frieden und Stabilität in der Region sein.41 – Die G 7 bekräftigen ihre uneingeschränkte Unterstützung für den Friedensprozess im Nahen Osten. 35 Am 26./27. August 1992 fand in London die internationale Jugoslawien-Konferenz statt. Vgl. Dok. 269. 36 Zur internationalen Luftbrücke nach Sarajevo vgl. Dok. 176. 37 Zum Konflikt um Nagorny Karabach vgl. Dok. 149, Anm. 12. 38 Zum Transnistrien-Konflikt in Moldau vgl. Dok. 211, besonders Anm. 5. BR Baas, Moskau, berichtete am 24. Juli 1992, am 21. Juli 1992 hätten die Präsidenten Jelzin (Russland) und Snegur (Moldau) ein Abkommen „über die friedliche Regelung des bewaffneten Konflikts in der Trans-Dnjestr-Region der Republik Moldau“ geschlossen. Kernpunkte seien „die Schaffung von dreiseitigen Friedenstruppen und der etappenweise Abzug der 14. Armee aus Transnistrien“. Inwieweit das Abkommen zur Befriedung des Konflikts beitragen werde, bleibe abzuwarten: „Am Dnjestr kommt es weiter zu Zwischenfällen mit Toten und Verletzten.“ Vgl. DB Nr. 3191; B 41, ZA-Bd. 184450. 39 Zum Konflikt in Südossetien vgl. Dok. 205, besonders Anm. 8. 40 Zum Abzug vormals sowjetischer Truppen aus den baltischen Staaten vgl. Dok. 81, Anm. 8. Vgl. auch Dok. 172. 41 Beginn des mit RE Nr. 44 übermittelten dritten Teils des Fernschreibens. Vgl. Anm. 1.

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– Die G 7 verurteilen die Weigerung Iraks, die Resolutionen des VN-Sicherheitsrats uneingeschränkt zu erfüllen. Sie verlangen die Beseitigung aller Massenvernichtungswaffen und Freilassung aller Gefangenen und warnen Irak vor repressiven Maßnahmen gegen die dort lebenden Völker. – Die G 7 begrüßen die Fortschritte im Dialog zwischen Nord- und Südkorea, sind aber besorgt wegen des vermuteten nordkoreanischen Nuklearwaffenprogramms. – Die Wirtschaftsreformen und die Öffnungspolitik der VR China sind ermutigende Fortschritte. Die G 7 erwarten jedoch weitere politische Reformen und eine wesentliche Verbesserung der Menschenrechtssituation. Sie begrüßen Chinas Beitritt zum Nichtverbreitungsvertrag.42 – Im Mittelmeerraum sind Dialog und gegenseitiges Verständnis erforderlich, um dem Trend zu ideologischer und politischer Konfrontation entgegenzuwirken. Die G 7 unterstützen die Bemühungen des VN-Generalsekretärs, den Zypernkonflikt zu lösen.43 – In Afrika gewinnen Respektierung der Menschenrechte, politischer Pluralismus und marktwirtschaftliche Wirtschaftsordnung an Boden. Die G 7 unterstützen diese Reformen. Die G 7 fordern alle Parteien in Südafrika auf, die Verhandlungen44 wiederaufzunehmen und verstärkt gegen Gewaltanwendung vorzugehen. Die von Krieg, Hunger und Elend betroffenen Menschen am Horn von Afrika verdienen besondere Unterstützung. – Die G 7 begrüßen Fortschritte bei der Festigung von Demokratie und Marktwirtschaft in Lateinamerika. Sie setzen sich dafür ein, dass Haiti45 und Peru46 zur verfassungsmäßigen Ordnung zurückfinden. Sie begrüßen die Unterzeichnung des Friedensabkommens für El Salvador47 ebenso wie die von Argentinien48 und Brasilien49 unternommenen Schritte zur Offenlegung ihrer zivilen Nuklearprogramme. 42 Die Volksrepublik China trat dem Nichtverbreitungsvertrag vom 1. Juli 1968 mit Wirkung vom 9. März 1992 bei. 43 Zu den Vermittlungsbemühungen der VN im Zypernkonflikt vgl. Dok. 223, Anm. 29. Botschafter Vergau, New York (VN), übermittelte am 23. Juli 1992 britische Informationen zum Stand der am 15. Juli 1992 wiederaufgenommenen Gespräche: „Während die amerikanische Delegation der Meinung ist, Denktasch sei dieses Mal soweit, nach angemessenem Vorspiel einzulenken, ist VN-GS völlig anderer Auffassung. In den Gesprächen mit ihm habe Denktasch eine Vielzahl bislang nicht herangezogener Argumente vorgetragen, die alle im Endeffekt auf die Beibehaltung des Status quo hinausliefen.“ Vgl. DB Nr. 1873; B 30, ZA-Bd. 167259. 44 Zum Abbruch des Friedensprozesses in Südafrika vgl. Dok. 230, besonders Anm. 6. 45 Nach einem Militärputsch am 30. September 1991 musste Präsident Aristide das Land verlassen. Eine Militärjunta unter Führung von General Cédras übernahm die Macht. 46 Zum Staatsstreich in Peru am 5. April 1992 vgl. Dok. 110. 47 Am 16. Januar 1992 wurde in Mexiko-Stadt ein Friedensabkommen zwischen der Regierung von El Salvador und der „Frente Farabundo Martí para la Liberación Nacional“ (FMLN) geschlossen. Vgl. https://peacemaker.un.org/elsalvador-chapultepec92. 48 Referat 431 vermerkte am 11. August 1992: „Mit ihrer gemeinsamen Erklärung von Foz do Iguaçu haben die Staatspräsidenten Brasiliens und Argentiniens am 28. November 1990 begonnen, ihre Nuklearpolitik vermehrter internationaler Kontrolle zu unterwerfen. Ein erster Schritt war der Vertrag von Guadalajara am 18.7.1991, der noch 1991 von BRA und ARG ratifiziert wurde.“ Er begründe ein gemeinsames System der Spaltmaterialkontrolle durch eine dafür zuständige Agentur. Zwischen dieser Agentur, der IAEO sowie Argentinien und Brasilien sei am 13. Dezember 1991 ein vierseitiges Sicherungsabkommen geschlossen worden: „Es vereinbart Sicherungsmaßnahmen für alle Nuklearmaterialien in allen Nuklearanlagen und gewährt der IAEO uneingeschränkten Zugriff auf alle Materialien und Betriebsdaten.“ Am

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– Die G 7 wollen ihre Anstrengungen für eine breite internationale Zusammenarbeit beim Kampf gegen die Drogen fortsetzen. Sie sehen dabei eine bedeutende Rolle für das Drogenprogramm der Vereinten Nationen. – Die G 7 verurteilen den Terrorismus in allen seinen Formen und bekräftigen ihre Entschlossenheit, bei seiner Bekämpfung zusammenzuarbeiten. Sie begrüßen die kürzliche Freilassung von zwei Geiseln im Libanon50 und fordern die Freilassung aller möglicherweise noch festgehaltenen Geiseln. Die G 7 rufen alle Staaten auf, die gegen Libyen verhängten Sanktionen51 strikt anzuwenden. 13) Bewertung Der Münchner Wirtschaftsgipfel war die erste Gipfelbegegnung der G 7 seit der deutschen Vereinigung auf deutschem Boden. Wie der BK in der abschließenden PK erklärte, gab er uns Gelegenheit zu zeigen, dass das vereinigte Deutschland in der Lage ist, seiner gewachsenen internationalen Verantwortung gerecht zu werden. Diese Tatsache fand Ausdruck sowohl in der Problemstellung und dem Ergebnis als auch in Form und Ablauf der Konferenz. Uns war es von Beginn der Vorbereitungsarbeiten [an] auf ein Ergebnis angekommen, das die dringendsten Probleme – trotz des informellen Charakters der Gipfelberatungen – einer Lösung näher führt. Der Konsens zu dauerhaftem inflationsfreien Wachstum und der Schaffung von Arbeitsplätzen setzt wichtige Akzente für die weitere Koordinierung der Wirtschafts- und Finanzpolitik unter den Industrieländern. Die intensive Diskussion der GATT-Probleme dürfte sich positiv auf die Bereitschaft der Hauptkontrahenten auswirken, die Uruguay-Runde tatsächlich bis zum Jahresende zum Abschluss zu bringen. Das vor allem auf uns zurückgehende Zehn-Punkte-Programm „Hilfe zur Selbsthilfe“ stellt das erste Angebot der Gipfelländer für eine umfassende Unterstützung der Reformen in Russland dar. Mit diesem Angebot und der Bekräftigung Präs. Jelzins, den eingeschlagenen Reformkurs unbeirrt fortzusetzen, wurde das Zusammentreffen mit Jelzin zu einem ersten Meilenstein auf dem Wege dauerhafter partnerschaftlicher Zusammenarbeit. Darüber wurden die Probleme der übrigen Republiken nicht vergessen. Ein besonderes Anliegen war es uns ferner, den Reformländern Mittel- und Osteuropas eine klare Botschaft anhaltender Solidarität und Zusammenarbeit zu übermitteln. Auch dieses ist gelungen. Das verabschiedete Aktionsprogramm zur Sicherheit der Kernkraftwerke in MOE und NUS geht auf eine deutsch-französische Initiative52 zurück. Angesichts der amerikanischen und japanischen Fortsetzung Fußnote von Seite 907 27. April 1992 habe der argentinische Präsident Menem zudem ein „Kontrollregime für Exporte sensitiver Technologien und Kriegsmaterialien“ verkündet. Vgl. B 72, ZA-Bd. 164323. 49 Am 25. Juni 1992 vermerkte Referat 431, Brasilien setze die Umorientierung der Nuklearpolitik auch gegen die Interessen des Militärs durch. Am 19. April 1992 sei ein Gesetzentwurf eingebracht worden, „der jegliche Nutzung der Kerntechnologie für militärische Anwendungen ausschließt“. Vgl. B 72, ZABd. 164324. 50 Zur Freilassung der beiden deutschen Geiseln Strübig und Kemptner am 17. Juni 1992 vgl. Dok. 181. 51 Zu den VN-Sanktionen gegen Libyen vgl. Dok. 95. 52 Bei den deutsch-französischen Konsultationen am 29./30. Mai 1991 in Lille wurde eine gemeinsame Erklärung von BM Töpfer und seinem französischen Amtskollegen Lalonde zur Sicherheit von Nuklearreaktoren in den MOE-Staaten verabschiedet. Diese sah eine bilaterale Arbeitsgruppe vor, die eine gemeinsame Initiative für eine internationale Hilfsaktion erarbeiten sollte. Vgl. RE Nr. 33 des VLR Trautwein vom 7. Juni 1991; B 24, ZA-Bd. 174765. Zu den deutsch-französischen Konsultationen vgl. AAPD 1991, I, Dok. 180. Vgl. auch Dok. 142, Anm. 18.

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Präferenz für bilaterale Unterstützungsmaßnahmen war es aber nicht möglich, für den multilateralen Fonds ein beziffertes Ziel zu nennen. Immerhin ist auch insoweit ein Anfang gemacht. Auf eine enge deutsch­französische Abstimmung in Vorbereitung des Gipfels gehen auch die Aussagen zu den EL zurück, insbesondere zur Schuldenfrage. Es war unerlässlich, den EL zu vermitteln, dass ihre Probleme über die gegenwärtig den Entwicklungen in NUS und MOE gezeigte53 Aufmerksamkeit nicht vergessen sind, dass die weltpolitischen Veränderungen vielmehr auch im Verhältnis zu ihnen zusätzliche Chancen für Dialog und Zusammenarbeit eröffnen. Die Behandlung der außenpolitischen Themen des MWG54 oblag wie immer den Außenministern. Hauptthema der Politischen Erklärung ist die Partnerschaft gemeinsamer Verantwortung mit den Ländern Mittel- und Osteuropas und den neuen Staaten der früheren Sowjetunion, aber auch mit den Entwicklungsländern. Dabei wurde herausgestellt, dass in diese Partnerschaft auch Japan als östlicher Nachbar der früheren Sowjetunion einbezogen ist. Der gleichberechtigte Charakter der neuen Partnerschaft wird dadurch unterstrichen, dass an die neuen Partner nicht Forderungen gerichtet werden, sondern das Gewicht auf die Hilfe bei den von den neuen Partnern selbst gesteckten Zielen politischer und wirtschaftlicher Freiheit gelegt wird. Über dieses zentrale Thema des MWG hinaus erwies sich das Zusammentreffen der G 7-Außenminister erneut als ein Forum, um auch zu transnationalen Fragen neue Aussagen zu machen und Akzente zu setzen. So bekannten sich die G 7 erstmals zu der Zielsetzung einer unbegrenzten Verlängerung des Nichtverbreitungsvertrages, nachdem in vergangenen Jahren eine weniger verbindliche Aussage getroffen worden war. Auch in der Frage der Nördlichen Territorien Japans55 geht die diesjährige Erklärung über die Aussage des Vorjahres56 hinaus. Die japanischrussische Annäherung in dieser Frage ermöglicht es den G 7 nun, sich für eine Normalisierung des russisch-japanischen Verhältnisses auf der Grundlage des russischen Bekenntnisses zu Recht und Gerechtigkeit einzusetzen. Besondere Beachtung fand die Erklärung der G 7 zu Jugoslawien, insbesondere die Hervorhebung der serbischen Hauptverantwortung für den Konflikt und die Bekräftigung des VN-Sicherheitsratsbeschlusses, die humanitären Ziele notfalls auch mit militärischen Mitteln durchzusetzen. Wichtig ist auch, dass humanitäre Aufgaben nicht nur in Sarajevo, sondern überall da, wo Not herrscht, durchgesetzt werden müssen. Einen weiteren Akzent setzte die Erklärung dadurch, dass sie ihre Unterstützung der EG-Konferenz unter Lord Carrington als Schlüsselforum mit der Eröffnung der Option einer umfassenden Konferenz verband. Das Chairman’s Statement hat mehr Gewicht als in den Vorjahren, da aufgrund der thematischen Konzentration der Politischen Erklärung eine Reihe wichtiger außenpolitischer Themen in das Chairman’s Statement aufgenommen wurde. Auch im Chairman’s Statement werden die globale Verantwortung der G 7 (Ferner Osten, Afrika, Lateinamerika) 53 Korrigiert aus: „gezielte“. 54 Münchener Wirtschaftsgipfel. 55 Zur Kurilenfrage vgl. Dok. 13, Anm. 43. 56 In Ziffer 5 des „Chairman’s Statement“, das der britische AM Hurd am 16. Juli 1991 in London vortrug, hieß es: „We hope that the new spirit of international cooperation will be as fully reflected in Asia as in Europe. The full normalization of Japan/Soviet relations, including resolution of the Northern Territories issue, would greatly contribute to this.“ Vgl. http://www.g8.utoronto.ca/summit/1991london/chairman. html.

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wie auch ihre kontinuierliche Behandlung transnationaler Themen (Drogen, Terrorismus) deutlich. Die Organisatoren des Gipfels – vor allem das Auswärtige Amt – erbrachten mit der Bewältigung des Ansturms von rd. 4000 Teilnehmern, davon die Hälfte Journalisten, eine beachtliche Leistung. München war eine gute Wahl. Der festliche und in sich geschlossene Rahmen der Münchener Residenz inmitten einer gastlichen und lebendigen Stadt wirkte sich atmosphärisch günstig auf den Erfolg der Konferenz aus. Die Bevölkerung nahm an dem Ereignis lebhaften Anteil, obwohl sie an den Konferenztagen erhebliche Beschränkungen ihrer Bewegungsfreiheit im unmittelbaren Umfeld des Gipfels hinnehmen musste und die erwarteten Gegendemonstrationen nicht ausblieben. Die polizeiliche Reaktion darauf wurde allerdings zum Gegenstand innenpolitischer Diskussion.57 Insgesamt war der Münchener Wirtschaftsgipfel 1992 in Ergebnis und Ablauf ein Erfolg, wie er nach der ungewissen Entwicklung bei den entscheidenden Sachfragen im Vorfeld nicht ohne Weiteres erwartet werden konnte. Seebode58 B 52, ZA-Bd. 174523

226 Drahtbericht des Botschafters Höynck, Helsinki (KSZE-Delegation) Fernschreiben Nr. 644 Citissime Betr.:

Aufgabe: 13. Juli 1992, 15.51 Uhr1 Ankunft: 15. Juli 1992, 15.31 Uhr

4. KSZE-Folgetreffen in Helsinki (24.3. bis 8.7.1992) und KSZE-Gipfeltreffen (9./10.7.92); hier: Abschlussbericht

Delegationsbericht Nr. 367 Zur Unterrichtung I. Im Zentrum des Helsinki-Folgetreffens (HFT) standen zwei untrennbar miteinander verbundene Problemkreise: – Die Ordnungsfrage: Wie erlangt Europa neue Stabilität? „Herausforderung des Wandels“! – Die Machtfrage: Welchen Platz erhalten die europäischen Mächte (einschließlich Russlands) und die USA/Kanada in einer neuen europäischen Ordnung)? 57 Bei der Eröffnung des Weltwirtschaftsgipfels kam es am 6. Juli 1992 in München zu einer Demonstration, in deren Folge ca. 480 Personen verhaftet wurden, die zuvor von der Polizei in der Nähe des Rathauses eingekesselt worden waren. Vgl. den Artikel „Polizei kesselt Demonstranten ein“; SÜDDEUTSCHE ZEITUNG vom 7. Juli 1992, S. 1. 58 Paraphe. 1 Das Fernschreiben wurde in zwei Teilen übermittelt. Vgl. Anm. 7. Hat VLR I von Neubronner am 16. Juli 1992 vorgelegen.

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Beide Fragen stellten sich in Helsinki nicht nur konzeptionell im Hinblick auf die Konferenzmaterie, sondern gleichzeitig konkret im Hinblick auf die Regionalkonflikte. Fragen, mit denen sich der Ausschuss Hoher Beamter nahezu fortlaufend parallel zur Konferenz zu befassen hatte: Krieg in Bosnien-Herzegowina; verschärfte Krisen in Serbien (Kosovo, Wojwodina); Dnjestr-Konflikt2; Georgien (Südossetien3). Angesichts dieser zweifachen Herausforderung des HFT kam ČSFR-Botschafter Janouch (Gründungsmitglied der Prager Helsinki-Gruppen) zu dem auch aus meiner Sicht zutreffenden Gesamturteil: Wir haben eine Menge erreicht; aber angesichts der Herausforderungen ist es nicht genug. II. In mehrfacher Hinsicht bestätigt das Helsinki-Dokument4 „die zentrale Rolle“ der KSZE für die Gestaltung des Wandels (Ziff. 19 Satz 1 der Gipfelerklärung): 1.1) Nach Wegfall der Konfrontation, in der Osteuropa zur Geschlossenheit gezwungen wurde und der Westen darauf nur mit Geschlossenheit reagieren konnte, wirken nunmehr auf den gesamten transatlantisch europäisch-eurasischen Raum starke zentrifugale Kräfte ein. Die KSZE ist herausgefordert, jetzt einen Rahmen zu bieten für den zur Stabilität notwendigen Zusammenhalt der Staaten von Vancouver bis Wladiwostok auf der Grundlage gemeinsamer Interessen und gemeinsamer Wertvorstellungen. Dieser Zusammenhalt bedarf der Manifestation durch eine organisatorische Struktur mit einem Mindestmaß von Handlungsfähigkeit, das jetzt durch Teil I bis III der Entscheidungen (Institutionen und Strukturen; Hoher Kommissar für Minderheiten; Konfliktverhütung und Krisenbewältigung) geschaffen wurde. 1.2) Nur in einem durch alle Teilnehmerstaaten mitbestimmten KSZE-Rahmen können die anderen europäischen und transatlantischen Institutionen mit starken politischen, wirtschaftlichen und militärischen Möglichkeiten als „sich gegenseitig stärkende Institutionen“ (Ziff. 24 Satz 2 Gipfelerklärung) immer enger zusammenarbeiten, um sich den vor uns liegenden Herausforderungen zu stellen und ein festes Fundament für Frieden und Wohlstand zu schaffen (Ziff. 10 Satz 2 Gipfelerklärung). Durch die Bereitschaft der (in Ziff. 10 der Gipfelerklärung) im Einzelnen aufgeführten Institutionen und Organisationen (EG, NATO, WEU, Europarat, G 7, G 24, OECD, ECE, EBRD und GUS) zur Zusammenarbeit untereinander und mit der KSZE ordnen sie sich in den KSZE-Rahmen ein und gewinnen dadurch für alle KSZE-Teilnehmerstaaten Legitimität in der sich bildenden neuen europäischen Ordnung. Dazu gehört als wesentlicher Teilaspekt die Zusammenarbeit bei der Durchführung friedenserhaltender Maßnahmen zwischen der KSZE und der EG, der NATO, der WEU sowie, davon deutlich abgesetzt, der GUS (Ziff. 20 Abs. 2 der Gipfelerklärung sowie Teil III Ziff. 52 der Entscheidungen). 1.3) Auch angesichts seines „umfassenden Sicherheitskonzeptes“ (Ziffer 21 Gipfelerklärung) bleibt eine Einbindung der gewaltigen Militärpotenziale eine Hauptaufgabe bei der Suche nach neuer Stabilität. Das Mandat für das KSZE-Forum für Sicherheitskooperation5 ordnet 2 Zum Transnistrien-Konflikt in Moldau vgl. Dok. 225, Anm. 38. 3 Zum Konflikt in Südossetien vgl. Dok. 205, besonders Anm. 8. 4 Für das „Helsinki-Dokument 1992“ („Herausforderung des Wandels“), das aus einer 47 Punkte umfassenden Gipfelerklärung sowie aus den zwölf Abschnitten umfassenden „Beschlüssen von Helsinki“ bestand, vgl. BULLETIN 1992, S. 777–804. 5 Zum Mandat für das KSZE-Forum für Sicherheitskooperation vgl. Dok. 209.

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erstmalig die militärischen Aspekte umfassend und mit operativen und konzeptionellen Aspekten in den KSZE-Rahmen ein. 1.4) Angesichts der Strukturfragen der KSZE über das gesamte Spektrum ihrer Aufgaben trat der normative Bereich, in der Helsinki-Schlussakte grundgelegt und seitdem systematisch – mit wichtigen neuen Elementen seit der Charta von Paris – fortentwickelt, deutlich in den Hintergrund. Das gleiche gilt für den Bereich der wirtschaftlichen Zusammenarbeit. Beachtliche Aussagen enthält der relativ kurze Text zu Umweltfragen. III. 1) Die Verbindlichkeit und innere Stärke des KSZE-Rahmens beruht letztlich auf dem Konsensprinzip. Deswegen war für das HFT entscheidend, dass trotz aller Probleme in Einzelfragen auch bei 52 Teilnehmerstaaten der sich in den Ergebnissen niederschlagende Konsens möglich war. Dazu mag beigetragen haben, dass die Mehrzahl der neuen Teilnehmerstaaten sich (noch) mitziehen ließ, ohne die eigenen Interessen deutlich zu formulieren. Der Druck auf einzelne Teilnehmerstaaten, zur Wahrung ausschließlich nationaler Sonderinteressen den Konsens nicht zu verweigern, ist erheblich. Dies zeigte sich im Hinblick auf Russland insbesondere angesichts der Behandlung der JUG­Frage, zu der Russland letztlich bereit war, Kompromisslösungen zuzustimmen, die im Widerspruch zu den nationalen Interessen an der Aufrechterhaltung enger russisch-serbischer Beziehungen stehen. Auf der anderen Seite bietet der Nagorny-Karabach-Konflikt ein Gegenbeispiel: Insbesondere Armenien, aber auch Aserbaidschan, hielten und halten auch starkem Druck auf Konsensentscheidungen stand, wobei sie allerdings nicht isoliert waren, sondern in USA, F (mit Bezug auf Armenien) und in der TUR (mit Bezug auf Aserbaidschan) starke, sie unterstützende Fürsprecher hatten. 2) Die Bereitschaft, KSZE-Verpflichtungen einzuhalten, kann auf Dauer nicht nur auf dem Konsenscharakter der zugrundeliegenden Verpflichtungen beruhen. Stärker als bisher muss in Zukunft der Anspruch auf Mitwirkung und Zusammenarbeit in der KSZE bedingt sein durch die Bereitschaft zur Einhaltung der KSZE-Verpflichtungen, wie dies in Ziff. 6 Satz 3 der Gipfelerklärung ausdrücklich festgelegt ist. Auch den Anspruch auf „Unterstützung und Solidarität“ (Ziff. 9 Satz 2 Gipfelerklärung) kann nur geltend machen, wer die KSZEVerpflichtungen einhält. Der Ausschluss des früheren JUG von der Teilnahme an KSZE­ Veranstaltungen einschließlich des Gipfeltreffens6 hat hier ein notwendiges Exempel statuiert, das erst durch die Einführung des Konsens-minus-eins-Grundsatzes möglich wurde. IV. 1) Nach Wegfall der Konfrontation stellt sich für nahezu alle Teilnehmerstaaten die Frage ihres Platzes in der sich bildenden neuen europäischen Ordnung. EG/EPZ haben die große Chance nicht genutzt, das Vakuum zu füllen, das sich nach Wegfall des Gruppensystems West/Ost/Neutrale und Nichtgebundene bot. Unzulängliche Vorbereitung innerhalb der EPZ, eine in der ersten Jahreshälfte völlig überforderte portugiesische Präsidentschaft und in vielen Einzelfragen spürbar mangelnder Wille der Zwölf 6 Botschafter Höynck, Helsinki (KSZE-Delegation), teilte am 8. Juli 1992 mit: „Am Morgen des 8.7., vor Beginn der letzten Plenarsitzung des KSZE-Folgetreffens, entschied der Ausschuss Hoher Beamter (AHB), dass ,JUG‘ beim KSZE-Gipfel in Helsinki und allen nachfolgenden KSZE-Treffen bis zum 14. Oktober 92 nicht anwesend sein wird. Das Namensschild ,Jugoslawien‘ bleibt vorläufig stehen. Diese Entscheidung wird vom AHB bis spätestens 13. Oktober im Lichte der Erfüllung der Prinzipien und Verpflichtungen der KSZE durch ,JUG‘ überprüft.“ Vgl. DB Nr. 627; B 21, ZA-Bd. 161024.

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zur Gemeinsamkeit haben dazu geführt, dass EG/EPZ das Profil der Ergebnisse weniger als möglich und nötig geprägt haben. 7Auseinandersetzungen und Meinungsverschiedenheiten innerhalb der westlichen Staaten haben über weite Strecken das Konferenzgeschehen geprägt. Insbesondere die Auseinandersetzungen zwischen USA und F in Kernfragen der Konferenzmaterie (Verhältnis KSZE zur NATO bei friedenserhaltenden Maßnahmen; Vertragsperspektive für einen Verhaltenskodex8 im Rahmen des Mandats des Forums für Sicherheitskooperation) unterstrichen, in welchem Maße auch unter den westlichen Staaten zentrifugale Kräfte wirksam sind. Die Auseinandersetzungen zwischen USA und F im Hinblick auf eine NATO-Beteiligung an friedenserhaltenden Maßnahmen der KSZE überdeckten die auch bei anderen Teilnehmerstaaten bestehende Sorge, durch das unvergleichliche Potenzial der NATO an den Rand gedrückt zu werden und die Mitbestimmungs­ und Mitwirkungsmöglichkeit bei friedenserhaltenden Maßnahmen der KSZE zu verlieren. Insbesondere IRL und SCZ bestanden auf mehrfacher Absicherung der Führungsfunktion der KSZE auch in solchen Fällen, in denen die NATO ihre Unterstützung anbietet. Schließlich verfocht die russische Delegation mit großem Nachdruck die Erwähnung der GUS, aber auch MOE-Staaten wie POL bei der Erwähnung anderer „europäischer und transatlantischer Institutionen und Organisationen sowohl im Hinblick auf die Zusammenarbeit im Allgemeinen als auch insbesondere die Zusammenarbeit im Rahmen von friedenserhaltenden Maßnahmen“. Die anderen Teilnehmerstaaten der GUS haben dies hingenommen, ließen im bilateralen Kontakt aber ihre Sorge erkennen, dass dies letztlich nur auf eine russische Machtprojektion hinauslaufe. 2) Die Rolle der USA war in vielen Fragen beherrschend, bisweilen in schwer erträglicher Weise herrisch. Im Hinblick auf die Haltung der USA wird besonders deutlich die Vermischung von Ordnungs- und Machtfragen erkennbar. Der vehemente Einsatz der USA für das Wirtschaftsforum der KSZE wurde mit dem Anspruch vorgetragen, dieses Forum sei als Ordnungsfaktor erforderlich; eher verständlich wird das amerikanische Insistieren jedoch unter dem Gesichtspunkt, dass die USA eine zusätzliche Mitsprachemöglichkeit für die wirtschaftliche Entwicklung in Europa gewinnen wollten. Außer Russland hat bei dem gesamten Konferenzgeschehen keiner der Nachfolgestaaten eine Rolle gespielt. Ein großer Teil der zentralasiatischen Staaten ließ sich erst im letzten Konferenzdrittel und dann nur sporadisch vertreten. Die mitteleuropäischen Staaten gewannen durch den Visegrád­Verbund beachtliches Profil, zumal POL, ČSFR und UNG durch sehr aktive Delegationen vertreten waren. 3) Von unseren EPZ-Partnern hat F am deutlichsten eigenes Profil gesucht. Der Erfolg muss aus F-Sicht sowohl unter strategischen, aber auch unter taktischen Gesichtspunkten zu denken geben: Keines der besonderen französischen Konferenzziele wurde erreicht. In den beiden Projekten, die wir mitgetragen haben (Verhaltenskodex und Badinter-Projekt9), wurden wenigstens weiterführende Kompromisse erreicht. GB hat vor allem die wenigen Tage britischer EPZ­Präsidentschaft genutzt, um vorzuführen, dass auch bei schwieriger interner Lage der Zwölf hohes Profil und Meinungsführung möglich sind. 7 Beginn des mit DB Nr. 652 übermittelten zweiten Teils des Fernschreibens. Vgl. Anm. 1. 8 Zum Vorschlag für einen KSZE-Verhaltenskodex vgl. Dok. 142, Anm. 9. 9 Zur deutsch-französischen Initiative für eine Gesamteuropäische Schiedsinstanz vgl. Dok. 105, Anm. 27.

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Sehr aktiv war NL sowohl im Hinblick auf Hochkommissar für Minderheiten10 als auch in der Auseinandersetzung mit F über KSZE – NATO. Auch die Rolle der deutschen Delegation hat sich verändert. Die behagliche Einbettung in gemeinsame westliche Interessen ist so nicht mehr möglich. Wir sind da, wo unsere Interessen klare Positionen erforderten, z. B. Verhältnis KSZE – NATO bei friedenserhaltenden Maßnahmen; KSZE als regionale Abmachung im Sinne von Kapitel VIII der VNCharta11, deutlich und erfolgreich aufgetreten. Wir haben uns im Übrigen in vielen Fällen bemüht, vermittelnd zu wirken, sowohl unter unseren westlichen Partnern als auch bei Fragen, die im Gesamtkontext der Teilnehmerstaaten streitig waren. Das über eng definierte nationale Interessen weit hinausgehende deutsche Engagement für die KSZE auf dem Wege von einer Konferenz zu einer Organisation ist deutlich geworden. V. 1) Mit dem neuen Instrumentarium zur Konfliktverhütung und Krisenbewältigung hat die KSZE eine Chance, in diesem für die weitere Entwicklung Europas zentralen Bereich eine Rolle zu spielen. Angesichts der trotz aller Veränderungen nach wie vor schwach entwickelten organisatorischen Struktur der KSZE, insbesondere der Abneigung zahlreicher Teilnehmerstaaten, Aufgaben und Entscheidungen an KSZE­Organe zu delegieren, sowie angesichts eines letztlich noch nicht in seiner Tragfähigkeit geprüften KSZE-Fundaments bleibt abzuwarten, ob die KSZE diesen Herausforderungen gerecht werden kann. [2)] Die Belastung des KSZE-Vorsitzes als zentrales Steuerungsorgan der KSZE mit operativer Verantwortlichkeit ist auf Dauer nicht tragbar. Insoweit weist der von PM Major gemachte Vorschlag eines Generalsekretärs in die richtige Richtung. Auch der Hochkommissar für Minderheitenrechte ist eine Chance, deren Verwirklichung noch nicht abzusehen ist. Es wird jetzt darauf ankommen, für die erste Besetzung den richtigen Mann oder die richtige Frau zu finden. Noch nicht ganz absehbar ist die Bedeutung der von Präsident Jelzin und Krawtschuk kurz vor dem Gipfeltreffen ergriffenen Initiative im Hinblick auf weitere Erörterungen der Strukturen für friedenserhaltende Maßnahmen im Rahmen der KSZE.12 Aus der Sicht Jelzins dürfte es hier wohl in erster Linie um eine Rolle für die GUS-Streitkräfte gehen. Bei richtiger Handhabung ergibt sich die Chance einer gewissen Einbindung der GUSStreitkräfte, die sorgfältig geprüft werden sollte. Ein Sondertreffen der KSZE-Minister ist jedoch aus hiesiger Sicht weder zweckmäßig noch notwendig. Möglich wäre, diese Initiative im AHB zunächst weiter vorzubereiten und sie dann zu einem oder dem zentralen Thema des nächsten KSZE-Rates in Stockholm13 zu machen. VI. Das Gipfeltreffen selbst wurde geprägt durch die teilweise erstmaligen Auftritte der Staats- und Regierungschefs der neuen Teilnehmerstaaten, durch eine Vielzahl bilateraler Begegnungen, durch die Tagung des WEU-Rates14 und die Tagung des NATO-Rates15. Die Nichtteilnahme des früheren Jugoslawien erschien fast selbstverständlich. 10 Zum niederländischen Vorschlag vom 30. Januar 1992 vgl. Dok. 48, Anm. 19. 11 Für Kapitel VIII der VN-Charta vom 26. Juni 1945 vgl. BGBl. 1973, II, S. 466–469. 12 Zum Vorschlag der Präsidenten Jelzin (Russland) und Krawtschuk (Ukraine) vom 6. Juli 1992 vgl. Dok. 212, Anm. 9. 13 Die dritte Sitzung des KSZE-Außenministerrats fand am 14./15. Dezember 1992 statt. Vgl. Dok. 418 und Dok. 423. 14 Zur außerordentlichen WEU-Ministerratstagung am 10. Juli 1992 in Helsinki vgl. Dok. 220, Anm. 6. 15 Zur außerordentlichen NATO-Ministerratstagung am 10. Juli 1992 in Helsinki vgl. Dok. 220.

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Die Interventionen von 51 Staats- und Regierungschefs hatten ganz überwiegend eher bestätigenden als konzeptionell zukunftsweisenden Inhalt. Trotzdem sollte an den Gipfeltreffen festgehalten werden. Für die Staats- und Regierungschefs der großen Länder ist es zweifellos eine erhebliche zusätzliche Belastung. Für die mittleren und kleineren KSZE-Teilnehmerstaaten ist es jedoch der notwendige, sichtbare Ausdruck der Tatsache, dass sie am KSZE-Prozess gleichberechtigt beteiligt sind und über das Schicksal der Völkergemeinschaft von Vancouver bis Wladiwostok mitbestimmen dürfen. (In welcher Weise der Nachfolgestaat der SFRJ an die Ergebnisse des Helsinki-Gipfels gebunden ist, bedarf noch der Prüfung. „Jugoslawien“ war bei der abschließenden Plenarsitzung des HFT am 8.7.92, bei der dem Gipfel die Annahme der Ergebnisse empfohlen wurde, noch anwesend.) VII. Die deutsche KSZE-Delegation wird mit dem 14.7.1992 aufgelöst. Wir danken dem Auswärtigen Amt, den Ressorts, zahlreichen Botschaften und Vertretungen für die gute Zusammenarbeit und die für die Delegation sehr wichtige fortlaufende Unterrichtung. [gez.] Höynck B 21, ZA-Bd. 161024

227 Gespräche des Bundesministers Kinkel mit dem iranischen Außenminister Velayati 14./15. Juli 19921 Besuch des iranischen Außenministers Dr. Ali Akbar Velayati vom 14.–16. Juli 1992; hier: Gespräche mit BM am 14.7.1992 (311) und am 15.7.1992 (Dg 312) BM gratuliert Dr. Velayati zu seiner Wiederernennung als Außenminister und spricht ihm persönlich und der iranischen Regierung Dank für das iranische Engagement bei der Befreiung der deutschen Geiseln Strübig und Kemptner3 aus. BM dankt AM besonders auch dafür, dass er eigens eine gefahrvolle Reise in den Libanon unternommen habe, um die Geiselfrage zu lösen.4 Die iranische Hilfe stelle einen starken Impuls für eine weitere Vertiefung der bilateralen Beziehungen dar. 1 Kopie. Der Gesprächsvermerk wurde von VLR I von Dassel am 28. Juli 1992 gefertigt. Ferner Vermerk: „Von BM noch nicht gebilligt.“ Hat VLR Brose am 29. Juli 1992 vorgelegen. 2 Herwig Bartels. 3 Zur Freilassung der beiden deutschen Geiseln Strübig und Kemptner am 17. Juni 1992 im Libanon vgl. Dok. 181. 4 Zum Besuch des iranischen AM Velayati Anfang Juni 1992 im Libanon vgl. Dok. 167.

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AM gratuliert seinerseits BM zur Amtsübernahme und spricht ebenfalls Hoffnung auf weiteren Ausbau der traditionell guten Beziehungen zwischen beiden Ländern aus. Auch Iran freue sich über die Befreiung der deutschen Geiseln, die der iranischen Regierung besonders am Herzen gelegen habe. BM spricht sein Bedauern aus über den Überfall auf die iranische Botschaft in Bonn.5 Wir würden uns bemühen, den Schaden wiedergutzumachen, und Maßnahmen ergreifen, um eine Wiederholung derartiger Vorfälle zu verhindern. Er habe wohl vermerkt, dass iranische Regierung alles getan habe, um im Zusammenhang mit dem Vorfall eine Trübung des bilateralen Verhältnisses zu vermeiden. Täter seien bekanntlich keine Deutschen, sondern irregeleitete Iraner gewesen. Dennoch oblag uns die Schutzpflicht. Zur Reihenfolge der Besprechungsthemen einigten sich die beiden Minister darauf, zunächst bilaterale und anschließend regionale und internationale Fragen zu erörtern. AM trägt zunächst eine Liste von in Aussicht genommenen bilateralen Begegnungen vor: – Reise des Koordinators für MR-Fragen, MDg Schilling, nach Iran 12. – 16.7.926; – Besuch von StS Kastrup in Iran zu politischen Konsultationen auf StS-Ebene7; – Reise Leiter Politische Abteilung West des iranischen Außenministeriums, Asefi, nach Deutschland8; – Reise D 39 nach Iran; – Gegenbesuch des Auswärtigen Ausschusses des iranischen Parlaments in Deutschland; – erste gemeinsame Sitzung der beiden bilateralen Parlamentariergruppen in Deutschland oder Iran; – Reise des Vizepräsidenten des Deutschen Bundestages, Hans Klein, nach Iran; – Sitzung der bilateralen Arbeitsgruppe Technologietransfer 28./29.7.92 in Bonn10; – Reise von BM Töpfer nach Iran 1. – 5.10.199211; 5 Zu den Ausschreitungen gegen iranische Vertretungen am 5. April 1992 vgl. Dok. 103. 6 MDg Schilling führte am 17. Juli 1992 zu seinem Besuch im Iran aus: „Die in weiten Passagen schwierigen Gespräche wurden in großer Offenheit und trotz oft unterschiedlicher Auffassungen in freundschaftlicher Atmosphäre geführt. Die iranische Seite selbst sah sich genötigt, ihre eigenen Positionen zu verteidigen, weitere Bemühungen um Verbesserungen der Menschenrechtslage sowie die Fortsetzung der internationalen Zusammenarbeit in Aussicht zu stellen. Wir können uns hierauf berufen, wenn auch künftig die Einhaltung der Menschenrechte im Iran angemahnt werden muss. Aus meiner Sicht sprechen die Besuchsergebnisse dafür, den kritischen Dialog mit dem Iran zu Menschenrechtsfragen fortzusetzen.“ Vgl. B 45, ZA-Bd. 175388. 7 StS Kastrup besuchte den Iran am 23./24. Juni 1993. 8 Der Abteilungsleiter im iranischen Außenministerium, Asefi, hielt sich vom 16. bis 18. Dezember 1992 in der Bundesrepublik auf. 9 Reinhard Schlagintweit. 10 Das BMWi vermerkte am 30. Juli 1992 zur Sitzung der deutsch-iranischen Arbeitsgruppe „Kooperation“, die iranische Seite habe ausgeführt, Ziel sei es, „eine ,strategische Übereinkunft‘ zu erreichen, um die technologische Zusammenarbeit zu intensivieren“, und zwar auf den Gebieten Maschinenbau, Telekommunikation, Metallurgie und Hüttentechnik, Bergbau, Energie sowie Umweltschutz. Vgl. B 36, ZA-Bd. 170185. 11 BM Töpfer besuchte den Iran vom 2. bis 5. Oktober 1992. BR Ranner, Teheran, teilte am 12. Oktober 1992 mit: „Großes iranisches Interesse an konkreter Zusammenarbeit trat bei allen Gesprächen deutlich hervor. Fülle iranischer Umweltprobleme und vergleichsweise mit Europa offenbar geringere Priorität des Umweltbereiches für iranische Politik sind jedoch weiterhin bestehende Faktoren.“ Vgl. DB Nr. 867; B 36, ZA-Bd. 170183.

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Besuch des iranischen Landwirtschaftsministers nach Deutschland 5. – 10.10.9212; Sitzung der Gemeinsamen Wirtschaftskommission Anfang 1993 in Deutschland; Sitzung der deutsch-iranischen Kulturkommission im November 1992 in Teheran; MR-Seminar bei Orient-Institut in Hamburg13; Deutsche Kulturwoche in Teheran Anfang 1993; Besuch des Intendanten des ZDF14 in Iran; Besuch des iranischen Justizministers in Deutschland im November 199215.

AM spricht Hoffnung auf baldigen Besuch des Bundeskanzlers in Iran aus und lädt BM für das kommende Jahr zu einem offiziellen Besuch in Iran ein. BM nimmt die Einladung an und merkt an, dass der Umfang der in Aussicht genommenen bilateralen Begegnungen die Breite der bilateralen Beziehungen zwischen beiden Ländern unterstreiche. AM merkt kritisch an, dass es eine Reihe von Fragen im bilateralen Bereich gebe, die Zweifel an der Verlässlichkeit der deutschen Seite aufkommen ließen bzw. den Eindruck erweckten, man drehe sich im Kreise, statt sich um rasche Problemlösung zu bemühen. Größtes Problem sei das Ungleichgewicht in der deutsch-iranischen Handelsbilanz. In einem kürzlichen Telefongespräch hätten Bundeskanzler Kohl und Staatspräsident Rafsandschani vereinbart, dieses Ungleichgewicht zu reduzieren. Die deutschen Ausfuhren nach Iran beliefen sich auf das Fünffache der deutschen Einfuhren aus Iran. Die deutschen Erdöleinfuhren aus Iran gingen immer weiter zurück. Sogar das Erdölland Großbritannien kaufe doppelt so viel Erdöl wie Deutschland in Iran. BM und D 416 weisen auf Dispositionsfreiheit deutscher Erdölwirtschaft und auf privatwirtschaftliche Preis-/Kostenüberlegungen (u. a. hohe Transportkosten und zusätzliche Raffinierungskosten wegen schwerer Erdölqualitäten) hin. Deutschland sei im Übrigen größter Abnehmer Irans für Nichterdölprodukte. AM weist auf umfangreiche iranische Lager von Erdgas hin. (Botschafter Freitag erwähnt in diesem Zusammenhang eine kürzliche Fact-finding-Mission von Ruhrgas.) Iran sehe auch Expansionsmöglichkeiten bezüglich der Ausfuhr von 12 Zum Besuch des iranischen Landwirtschaftsministers Kalantari vermerkte das BML am 15. Oktober 1992, erörtert worden seien die Arbeitsfelder Agrartechnik, Agro-Industrie, Agrarforschung und -ausbildung sowie Agrarhandel. Vgl. B 36, ZA-Bd. 170184. 13 Das Seminar „Die Menschenrechte zwischen Universalitätsanspruch und kultureller Bedingtheit“ fand vom 22. bis 24. September 1992 statt. VLR I Truhart vermerkte am 29. September 1992, es sei zu einer „offenen Aussprache über sensible Fragestellungen“ gekommen: „Auffällig war die Tendenz in nahezu allen iranischen Beiträgen, Gemeinsamkeiten oder wenigstens die Nähe islamischer Vorstellungen zur Respektierung von Würde und Rechten des Menschen sowie der Gedanken von Demokratie und Volkssouveränität zu westlichen Positionen herauszuarbeiten.“ Lautstarke Demonstrationen iranischer Oppositioneller vor dem Tagungszentrum hätten jedoch zu Irritationen geführt. Einem Demonstranten sei es gelungen, in das Auditorium vorzudringen und dort Stinkbomben zu werfen. Dies habe iranische Demarchen in Bonn und Teheran ausgelöst. Die iranischen Seminarteilnehmer hätten die Veranstaltung dennoch „ausdrücklich als erfolgreich und ergiebig“ gewürdigt. Vgl. B 36, ZA-Bd. 170190. 14 Dieter Stolte. 15 VLR I Dassel vermerkte am 27. Oktober 1992, der angekündigte Besuch des iranischen Justizministers Schuschtari finde nicht statt. Es reise eine iranische Justizdelegation auf Staatssekretärsebene an. Ein für den 3. November 1992 vorgesehenes Gespräch mit BM Kinkel solle daher nicht stattfinden. Vgl. B 36, ZA-Bd. 170184. 16 Heinrich-Dietrich Dieckmann.

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– landwirtschaftlichen Produkten (Blumen, Obst), – chemischen Produkten und – Bodenschätzen. AM äußert sich kritisch zum Angebotsverhalten deutscher Unternehmen (ABB und Siemens) am Beispiel der Ausschreibung für den U-Bahnbau in Teheran. Die genannten Firmen hätten Angebote für U-Bahnwagen abgegeben, die teilweise preislich das Mehrfache von Konkurrenzangeboten (China, Südkorea, Argentinien, Brasilien, Österreich, Russland) betragen hätten. Diese Preise seien dann in späteren Verhandlungen um nahezu 50 % reduziert worden. Dies hinterlasse schlechten Eindruck über Geschäftsgebaren dieser Unternehmen. BM weist auf freien Wettbewerb hin, sagt jedoch zu, gegenüber den Vorständen der genannten Unternehmen die Angelegenheit zur Sprache zu bringen. AM bedauert Einführung eines Plafonds von 1 Mrd. DM bis Ende dieses Jahres für Hermesbürgschaften bei mittelfristigen Krediten.17 Dies behindere den Handel erheblich. In dem Fall Al Mahdi-Aluminiumwerk sei ein Projekt im Umfang von 1 1/2 Mrd. DM, das bereits angelaufen sei, durch die neue Regelung gefährdet.18 D 4 weist daraufhin, dass Deutschland gegenüber Iran sehr großzügige Hermesdeckungspolitik betreibe. Seit Juli 91 seien Kredite über insgesamt 12 Mrd. DM in Deckung genommen worden. Iran liege weltweit an der Spitze bei den Hermesgarantien. Kurzfristige Kredite fielen ohnehin nicht unter den neuen Plafonds. Außerdem habe man Ausnahmeregelungen aufgrund von Einzelfallprüfungen zusätzlich vorgesehen. BM sagt zu, auch die Hermesproblematik mit seinen zuständigen Kabinettskollegen zu erörtern. AM erwähnt, dass im Gegensatz zu Deutschland Japan „soft loans“ mit 2,5 % Verzinsung und einer Laufzeit von 25 Jahren gewähre (Staudammprojekt Karun/Chuzestan) und damit Iran Wiederaufbauhilfe leiste. Kritisch merkt AM darüber hinaus Schwierigkeiten bei der Kreditgewährung für ein von Siemens geplantes Kraftwerk auf der Insel Qashan an. In diesem Fall verlange Siemens eine Garantie der iranischen Zentralbank, nachdem man zunächst mit einer Garantie des Bergbauministeriums einverstanden gewesen sei. BM sagt erneut zu, die Firmen auf die angesprochenen Probleme aufmerksam zu machen. Deutschland habe sehr hohes Lohn- und Lohnnebenkostenniveau. Das Investitions17 Referent Wothe teilte der Botschaft in Teheran am 12. Mai 1992 mit, der Interministerielle Ausfuhrgarantieausschuss (IMA) habe am 23. April 1992 beschlossen, „bei der Indeckungnahme von Geschäften mit iranischen Bestellern, die deutlich über der Orientierungsgröße von 50 Mio. DM (pro Einzelgeschäft) liegen, eine Garantie der Bank Markazi oder des iranischen Wirtschafts- und Finanzministeriums zu verlangen.“ Vgl. DE Nr. 204; B 55, ZA-Bd. 170133. Am 4. Juni 1992 informierte Wothe, der IMA habe 2. Juni 1992 „für den Rest des Jahres einen Jahresplafonds 1992 für Kreditgeschäfte mit Iran in Höhe von DM 1 Mrd. beschlossen“. Vgl. DE Nr. 239; B 55, ZA-Bd. 170133. 18 VLR I Runge erläuterte am 15. Juli 1992: „Bundesregierung steht der Indeckungnahme der Großprojekte Kraftwerk Karun III, Aluminiumhütte Al Mahdi und Zinkanlage grundsätzlich positiv gegenüber. Mit der Verbürgung der drei Geschäfte in Höhe von insgesamt DM 1,2 Mrd. würden wir allerdings an die Grenze der in diesem Jahr für Iran bestehenden Deckungsmöglichkeiten stoßen.“ Während diese drei Projekte „akut, aber noch nicht endgültig entschieden“ seien, lägen bereits Anträge für weitere Projekte in Höhe von rund 2 Mrd. DM vor, darunter für das Vorhaben „Metro Teheran“. Vgl. B 55, ZA-Bd. 170133.

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und Marktverhalten der deutschen Unternehmen folge den Grundsätzen einer freien Wirtschaft. Wir hätten großes Interesse daran, unsere Wirtschaftsbeziehungen mit Iran auszubauen. Wir könnten jedoch in unserem marktwirtschaftlichen System die Unternehmen nicht dirigieren. BM geht auf MR-Fragen ein, erinnert an seine Gespräche zu diesem Thema im Frühjahr in Teheran19 und dankt für die Aufnahme von Dg 2320 und Ermöglichung zahlreicher guter Gespräche. Wir begrüßten auch Verbesserungen der iranischen MR-Lage. Auch die Reise des iranischen Justizministers nach Deutschland sei u. a. der Erwähnung der21 MR-Fragen gewidmet. Er würde sich freuen, bei dieser Gelegenheit mit seinem ehemaligen Kollegen zusammenzutreffen. AM: Sein Land beachte die Menschenrechte. Die Menschenrechtsfrage werde aber durch das Ausland instrumentalisiert. Wenn BM der Ansicht sei, dass eine Erörterung der Menschenrechte im Iran innenpolitisch notwendig sei, sei er dazu bereit. BM weist auf sein persönliches Engagement für eine Verbesserung der MR-Bedingungen hin. Es gehöre zu unseren Grundsätzen, Religion und Rechtssystem eines anderen Landes zu achten, aber jedes Land müsse sich mit seinem System an Grundvoraussetzungen bezüglich der Menschenrechte messen lassen. Die hohe Zahl von Hinrichtungen löse in Deutschland Protest aus. BM bittet AM, im Fall Szimkus22 bald zu einer befriedigenden Lösung zu kommen. AM sagt dies grundsätzlich zu, Szimkus habe bereits Hafterleichterungen erhalten. AM sei sehr interessiert, dass dieser Fall nicht zu einer Belastung der Beziehungen führt. 19 BM Kinkel hielt sich vom 28. bis 30. Januar 1992 im Iran auf. Vgl. bereits Dok. 148, Anm. 10, und Dok. 167, Anm. 8. Botschafter Freitag, Teheran, berichtete am 3. Februar 1992, Kinkel habe zum Thema Menschenrechte in allen Gesprächen „sehr deutlich“ gemacht, „dass sich für einige Verhältnisse und Vorkommnisse im Iran kein Verständnis in Europa findet. Er riet dringend, dass Iran sich in der MR-Frage weiter öffne und mit Europa und der internationalen Gemeinschaft zusammenarbeite mit dem Ziel, Abhilfe zu schaffen.“ Die iranischen Gesprächspartner hätten die Auffassung vertreten, „dass die MR eine zentrale Stellung im Islam einnähmen. […] Die ständigen Behauptungen von MR-Verletzungen in Iran träfen nicht zu.“ Die iranische Seite habe sich dem Vorschlag engerer Zusammenarbeit gegenüber allerdings aufgeschlossen gezeigt. Vgl. DB Nr. 106; B 36, ZA-Bd. 170183. 20 Wolf-Dietrich Schilling. 21 Korrigiert aus: „von den“. 22 Referat 511 erläuterte am 23. Januar 1992, der deutsche Staatsangehörige Helmut Szimkus sei seit Januar 1989 im Iran unter dem Vorwurf der Spionage für den Irak inhaftiert und im Januar 1992 zum Tode verurteilt worden. Erst ein Jahr nach der Verhaftung habe die Botschaft in Teheran Kenntnis erhalten, bekomme seitdem jedoch nur eingeschränkt die Möglichkeit zu Konsularbesuchen. Eigenen Angaben zufolge sei Szimkus gefoltert worden. Vgl. B 36, ZA-Bd. 170191. Während seines Besuchs vom 28. bis 30. Januar 1992 im Iran traf BM Kinkel am 29. Januar 1992 im Evin-Gefängnis in Teheran mit Szimkus zusammen. Mit Schreiben vom 10. Februar 1992 an BM Genscher übermittelte Kinkel einen Vermerk über das Gespräch. Dazu teilte Kinkel mit, er habe noch am selben Tag gegenüber der iranischen Regierung erklärt, „dass eine Exekution von S[zimkus] von der Bundesregierung als schwerste Belastung des bilateralen Verhältnisses angesehen würde, dass ich bäte, sofort in Untersuchungen über Folterungen usw. einzutreten und alles zu tun, um Gleiches oder Ähnliches bei Herrn S. und anderen zu verhindern. Ich habe keine offizielle Zusage erhalten, dass eine Exekution nicht stattfinde, wohl aber haben der Justizminister und der Botschafter mir gegenüber bedeutet, wir sollten uns keine Sorgen machen; was immer das bedeutet.“ Vgl. das Schreiben sowie den Vermerk des MDg Stein, BMJ, vom 31. Januar 1992; B 36, ZA-Bd. 170191.

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BM unterrichtet AM über Ergebnisse des Weltwirtschaftsgipfels23 und KSZE-Gipfels24 sowie die deutsche Einschätzung der Entwicklung in Russland und in Jugoslawien. AM nimmt auf Bitten von BM zur Lage in Irak Stellung: Zukunft Iraks werde immer unübersichtlicher. Lage werde noch komplizierter nach den Wahlen in den Kurdengebieten25 durch zunehmende Sezessionstendenzen. Eine Desintegration Iraks hätte erhebliche Auswirkungen auf die Entwicklung in der Türkei. Dort lebten 15 Mio. Kurden und 20 Mio. Alawiten, auf die die Entwicklung übergreifen könnte. Die Türken seien im eigenen Land in der Minderheit. Einige westliche Länder, die die Unabhängigkeit der irakischen Kurden unterstützten, spielten mit dem Feuer. Deutlich wurden dahinter die eigenen iranischen Befürchtungen in der Kurdenfrage. Die irakische Opposition sei bis auf Kurden und Schiiten wenig wirksam. Unverständlich sei, warum v. a. die USA und GB die beiden großen Gruppen vernachlässigten und sich auf die kleineren zersplitterten Oppositionsgruppen konzentrierten, aber auf der anderen Seite nichts gegen Saddam Hussein unternähmen. BM fragt, ob die irakische Opposition überhaupt eine Chance gegen Saddam Hussein habe. AM bejaht dies. Die Opposition, insbesondere die großen Gruppen, würde jedoch vom Westen nicht ausreichend unterstützt. BM räumt ein, dass die westlichen Länder gegenseitig gegen Saddam Hussein keine überzeugende Strategie haben.26 D 3 ergänzt, es sei bisher unser Ziel gewesen, eine erneute Fluchtbewegung der Kurden zu verhindern. Nach unserer Überzeugung dürfe die staatliche Integrität Iraks nicht angetastet werden. Es ginge aber darum, die Autonomie der Kurden innerhalb Iraks, wie bereits 1970 geplant, herzustellen. Wir hätten deshalb keine formellen Kontakte mit den Kurden in angrenzenden Gebieten aufgenommen. AM äußert die Meinung, dass jede Veränderung des Status der Kurden im Irak regional zu folgenschweren Konsequenzen führen würde. Bei ihrem Zusammentreffen während eines Mittagessens nahm BM die von AM angeschnittenen Wirtschaftsfragen wieder auf. Er referierte die inzwischen eingeholte Stellungnahme zu unseren Erdölbezügen, schlug dann jedoch vor, dass Botschafter Mussawian diejenigen Wirtschaftsprobleme auflistet, die einer Reaktion von deutscher Seite bedürfen. AM war mit diesem Vorschlag einverstanden. Darüber hinaus schlug er vor, eingehend auf eine angebliche Anregung des Bundeskanzlers, einen besonderen institutionalisierten Mechanismus zu schaffen, um die bilateralen Beziehungen intensiver fördern zu können. BM sprach sich gegen zu viele Kommissionen aus. Deren Arbeit führe nur zur Unübersichtlichkeit. Er betonte nachdrücklich seinen Willen, dass die deutsch-iranischen Beziehungen vorankämen. Dafür bedürfe es praktischer Maßnahmen. Sein konkreter Vorschlag laute: Beide Seiten sollten die Punkte auflisten, die der Verbesserung der Beziehungen 23 Zum Weltwirtschaftsgipfel vom 6. bis 8. Juli 1992 vgl. Dok. 225. 24 Zur KSZE-Gipfelkonferenz am 9./10. Juli 1992 in Helsinki vgl. Dok. 226. 25 Botschafter Eickhoff, Ankara, teilte am 26. Mai 1992 mit: „Die Wahlen im Nordirak (19. Mai 1992) haben im Parlament jeder der beiden großen, nach Stammessolidarität ausgerichteten Parteien K[urdische]D[emokratische]P[artei] (Barzani) und P[atriotische]U[nion]K[urdistans] (Talabani) 50 von 105 Abgeordneten (5 für Syrianis freigehalten) gebracht. […] Bei den Präsidentenwahlen hat Barzani etwa 48 Prozent und Talabani etwa 44 Prozent bekommen. Eine Stichwahl ist erforderlich.“ Vgl. DB Nr. 654; B 36, ZA-Bd. 170172. 26 So in der Vorlage.

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dienen könnten, um sie der anderen Seite über den jeweiligen Botschafter zukommen zu lassen. Dann sei zu bestimmen, wer sich welcher Fragen annehme. AM stimmte auch diesem Vorschlag zu. Er schloss das Gespräch ab mit dem Appell, das vereinigte Deutschland möge seine gewachsene Verantwortung erkennen und auch wahrnehmen und sich nicht mehr erpressen lassen. BM stimmte zu, dass unser historisches Erbe nicht dazu führen dürfe, in Demut zu verharren. Gerade die Beziehungen zu Polen und zu Israel zeigten, wie schwierig es sei, die richtige Balance, das Mittelmaß zu finden. Hiermit Herrn Bundesminister mit der Bitte um Genehmigung vorgelegt. Die Frage der Freilassung des israelischen Piloten Arad27 wurde vom Persönlichen Referenten des BM28 eingehend mit Botschafter Mussawian erörtert. B 1, ZA-Bd. 178945

228 Vorlage des Vortragenden Legationsrats I. Klasse Brümmer für Bundesminister Kinkel 214-321.00 POL

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Über Herrn Dg 212, Herrn D 23, Herrn Staatssekretär4 Herrn Bundesminister5 Betr.:

Lage in Polen und deutsch-polnisches Verhältnis

Zweck der Vorlage: Zur Unterrichtung im Hinblick auf Ihren bevorstehenden Besuch in Polen6 27 VLR Kaul informierte am 9. Juli 1992, die israelische Botschaft habe darum gebeten, BM Kinkel möge sich gegenüber dem iranischen AM Velayati für den israelischen Flugnavigator Ron Arad einsetzen, der im Oktober 1986 im Libanon in Gefangenschaft geraten und offenbar 1989 an iranische Revolutionswächter übergeben worden sei. Israel halte daher den Iran für Arads Schicksal verantwortlich, habe jedoch trotz intensiver vertraulicher Gespräche keine weiteren Informationen erlangen können. Viele Beobachter, darunter der Sonderbeauftragte des VN-GS, Picco, gingen davon aus, dass Arad tot sei. Vgl. B 36, ZA-Bd. 196639. 28 Michael Gerdts. 1 2 3 4 5

Die Vorlage wurde von VLR Elfenkämper konzipiert. Hat in Vertretung des MDg von Studnitz VLR I Libal am 16. Juli 1992 vorgelegen. Hat MD Chrobog am 16. Juli 1992 vorgelegen. Hat StS Kastrup am 19. Juli 1992 vorgelegen. Hat BM Kinkel am 24. Juli 1992 vorgelegen, der handschriftlich vermerkte: „Gute Aufz[eichnung]. Nach Polen mitgeben!“ Hat OAR Rehlen am 27. Juli 1992 vorgelegen, der den Rücklauf über das Büro Staatssekretäre an Referat 214 verfügte und handschriftlich vermerkte: „S[iehe] Weisung BM.“ Hat VLR I Reiche am 7. August 1992 vorgelegen. 6 BM Kinkel hielt sich am 29./30. Juli 1992 in Polen auf. Vgl. Dok. 242.

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I. Kurzfassung Mit der Bildung der Regierung Suchocka7 verbindet sich die Hoffnung auf eine Phase relativer Stabilität und Handlungsfähigkeit für das nach anfänglich forcierter Reform inzwischen deutlich hinter Ungarn und die ČSFR zurückgefallene Polen. Die neue Regierung dürfte sich deutlich auf eine intensivere Zusammenarbeit mit dem Westen, darunter auch D, orientieren, dabei aber auch Erwartungen an den Westen wieder deutlicher artikulieren. Das deutsch-polnische Verhältnis befindet sich in einer Phase breit angelegten Ausbaus und fortschreitender Normalisierung, leidet allerdings fortgesetzt am starken Gefälle in der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung zwischen D und PL sowie alten und neuen Negativ-Wahrnehmungen der Bevölkerung auf beiden Seiten. Die Lage der deutschen Minderheit in PL bleibt auf absehbare Zeit ein wichtiger Einflussfaktor für das bilaterale Verhältnis. Außenpolitisch ist PL zunehmend klarer nach Westen ausgerichtet, Führungskonflikte wie mit großen westlichen Partnern und Nachbarn dürften von Polen nicht ausgehen. Die Zielvorgabe der Schaffung eines deutsch-polnischen Verhältnisses nach dem deutschfranzösischen Vorbild erfordert breit angelegte Bemühungen um eine Verankerung der Beziehungen in der Öffentlichkeit, um die Störanfälligkeit des Verhältnisses zu mildern. Dies gilt umso mehr, als im Zuge der weiteren Annäherung PLs an die EG noch größere Interessenkonflikte bevorstehen und unser Spielraum für eine umfangreiche direkte materielle Unterstützung PLs enger werden dürfte. II. Im Einzelnen 1) Mit der Bildung der Regierung Suchocka verbindet sich für Polen nach einer seit fast einem Jahr andauernden innenpolitischen Stagnation die Hoffnung auf die Wiedergewinnung einer gewissen innenpolitischen Stabilität und damit der Fortsetzung der ins Stocken geratenen Reformen von Wirtschaft und Gesellschaft. Für den aus der Solidarität hervorgegangenen Teil der neuen politischen Klasse Polens bedeutet der Start der neuen Regierung eine zweite Chance, nachdem die langandauernden internen Auseinandersetzungen in der Bewegung selbst und später im parlamentarischen Bereich seit längerem zu ihrem dramatischen Ansehensverfall in der Öffentlichkeit und zu politischer Apathie weiter Bevölkerungskreise (Wahlbeteiligung an der Parlamentswahl vom Oktober 19918 unter 50 %) geführt hatten. Im regionalen Vergleich ist das zunächst besonders reformmutige, dann sehr schnell politisch wie ökonomisch instabile Polen bedeutend hinter die beiden Visegrád-Partner 7 Nach dem Rücktritt des polnischen MP Pawlak am 8. Juli 1992 wurde am 10. Juli 1992 die Juristin Hanna Suchocka von der Demokratischen Union zu seiner Nachfolgerin gewählt. Botschafter Bertele, Warschau, führte am 14. Juli 1992 aus, während insgesamt „verschiedene Anzeichen auf eine relative Stabilität der neuen Regierung hindeuten, bleibt die Frage offen, wie erfolgreich sie bei der Durchführung der wirtschaftlich-sozialen Anpassungsmaßnahmen sein wird, die gerade im Hinblick auf die beginnende Integration Polens mit der EG notwendig werden“. Vgl. DB Nr. 1076; B 42, ZABd. 176785. 8 Die Wahlen zum polnischen Parlament fanden am 27. Oktober 1991 statt. Im Parlament waren künftig 16 Parteien und Wahlbündnisse vertreten. Der für die Zentrumsallianz (Porozumienie Centrum), die mit 8,7 % der Stimmen viertstärkste Partei geworden war, angetretene Jan Olszewski bildete am 23. Dezember 1991 eine von fünf Parteien getragene Regierung.

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ČSFR und Ungarn zurückgefallen. Dies spiegelt sich z. B. auch in einer anhaltend geringen Investitionsbereitschaft westlicher Investoren in PL wider. Die Zwischenbilanz der maßgeblich von den Regierungen Mazowiecki und Bielecki unter der Federführung von Finanzminister Balcerowicz vorangetriebenen und seither stagnierenden Reform bietet ein gemischtes Bild: einerseits starkes Wachstum des privaten Sektors, erfolgreiche Inflationsbekämpfung und Erfolge im Außenhandel, andererseits hohe soziale Kosten, hohe Arbeitslosigkeit, das praktisch ungelöste Problem der Privatisierung der staatlichen Großbetriebe und strukturelle Haushaltsdefizite. Die Stimmung in der Bevölkerung scheint dessen ungeachtet insgesamt besser, als es angesichts der spürbaren Konsequenzen der Reform für den Einzelnen (Kaufkraftverlust, Arbeitslosigkeit) zu erwarten wäre. Grund dafür mag sein, dass in Polen seit jeher Mechanismen der Parallelwirtschaft gut funktionieren und die offizielle Statistik nicht das volle Bild wiedergibt. Die neueste makroökonomische Entwicklung lässt aber auch gewisse Anzeichen für eine Erholung der Wirtschaft erkennen: kein weiterer Rückgang der Industrieproduktion, Überschuss im Außenhandel und entgegen manchen Erwartungen kein neuer inflationärer Schub. Die weiterhin ungelösten Probleme wirtschaftlicher Restrukturierung und daneben insbesondere das Problem eines besonders ineffizienten und unzureichend motivierten und in Teilen auch korrupten Staatsapparats erfordern jedoch weiterhin energisches Regierungshandeln, für das sich die neue Regierung vor denselben Zielkonflikt gestellt sieht wie ihre Vorgänger: Erfüllung der international gestellten Auflagen hinsichtlich der Staatsverschuldung und Einlösung der Möglichkeit einer 50-prozentigen Entschuldung im Außenverhältnis durch den Pariser Club in Verbindung mit einem entsprechenden Arrangement mit den nach wie vor zögernden privaten Bankgläubigern im Rahmen des Londoner Clubs einerseits und Milderung der sozialen Kosten der Reform andererseits. Personelle Zusammensetzung der neuen Regierung und der sie tragenden (wenn auch knappen) parlamentarischen Mehrheit lässt ein zügiges Handeln, dabei eine deutlichere Orientierung auf eine Zusammenarbeit mit dem Westen und darunter mit D als dem wichtigsten westlichen Partner erwarten als bei der wenig handlungsfähigen Regierung Olszewski, die in den sechs Monaten ihres Bestehens mit Rücksicht auf die sie tragenden neonationalistischen Kräfte Zurückhaltung im Verhältnis zu D erkennen ließ. Es ist allerdings nicht auszuschließen, dass von der neuen Regierung auch wieder ein stärkerer Erwartungsdruck auf die westlichen Partner, darunter auf uns, ausgeht. 2) Das bilaterale deutsch-polnische Verhältnis hat sich in den drei Jahren seit der Bildung der ersten demokratischen Regierung in PL und insbesondere seit der deutschen Vereinigung grundlegend verbessert und befindet sich in einem Prozess fortschreitender Normalisierung. Die Arbeitsbeziehungen auf Regierungsebene werden kontinuierlich ausgeweitet und erfassen eine Vielzahl von Ressorts. Die deutsch-polnische Regionalkommission fördert – unter Vorsitz AA und Einbeziehung der Länder und Woiwodschaften – die regionale Zusammenarbeit vor allem in der Grenzregion in allen Sachbereichen, mit den Schwerpunkten Wirtschaftsförderung und Lage an den Grenzübergängen. Große Bereiche der in der Folge der deutschen Vereinigung neu zu regelnden oder anzupassenden Vertragsmaterie sind bearbeitet oder stehen vor einer vertraglichen (Neu-) Regelung. Hinsichtlich der Qualität der Zusammenarbeit bietet sich ein gemischtes Bild: einerseits z. B. durchaus zukunftsweisendes Zusammengehen in der Frage der seerechtlichen Ausgestal923

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tung der Verhältnisse in der Stettiner Bucht9, andererseits schleppender Fortgang der mit den Neuregelungen an der Grenze (Abfertigung, Verträge über neue Grenzübergänge) zusammenhängenden Fragen10, schließlich harte polnische Verhandlungsführung in Fragen des aus der deutschen Vereinigung herrührenden sog. Transferrubelsaldos im Außenhandel.11 3) Die Zielvorgaben für die langfristige Ausgestaltung unseres Verhältnisses zu diesem nach Frankreich wichtigsten unmittelbaren geographischen Nachbarn liegen durch die Perspektive einer künftigen Mitgliedschaft Polens in der Europäischen Gemeinschaft einerseits, durch die Programmatik unserer bilateralen Vertragspolitik mit Polen andererseits (Überwindung der Vergangenheit, gute Nachbarschaft, regionale Zusammenarbeit, Hilfe bei der Annäherung Polens an die EG), grundsätzlich fest. Hinsichtlich der angestrebten Qualität der bilateralen Beziehungen hat der Bundeskanzler wiederholt auf das in 35 Jahren erreichte deutsch-französische Verhältnis als Modellfall für die deutsch-polnischen Beziehungen hingewiesen. 4) Auf dem Wege zu diesem Ziel sind auf absehbare Zeit eine Reihe von Störfaktoren in Rechnung zu stellen, die weniger in der Sphäre der Regierungszusammenarbeit als in ungünstigen Rahmenbedingungen und im Verhältnis der beiden Völker zueinander liegen. Sie 9 Vom 4. bis 8. Mai 1992 fand in Warschau eine erste Verhandlungsrunde über ein Abkommen über die Durchfahrt von Schiffen durch die inneren Gewässer im Bereich der Insel Usedom statt. MD Hinz, BMV, z. Z. Warschau, teilte am 12. Mai 1992 mit, Ausgangspunkt seien die totale Sperrung der Schifffahrt seit Oktober 1991 und das Fehlen völkerrechtlicher Ansprüche der Bundesrepublik gewesen. Nunmehr sei in dem vereinbarten Entwurf die wechselseitige Einräumung von Zugangsrechten erreicht worden: „Im Verlauf Verhandlungen wurde erkennbar, dass die Kräfte der Verständigung und des Ausgleichs sich gegenüber alten Denkmustern durchzusetzen beginnen, allerdings noch stark auf vielfältige, eventuell divergierende politische Strömungen Rücksicht nehmen müssen.“ Vgl. DB Nr. 724; B 80, Bd. 1446. Das Abkommen wurde am 17. Februar 1993 unterzeichnet. Vgl. BGBl. 1993, II, S. 1207–1209. 10 GK von Berg, z. Z. Bonn, legte am 3. Juli 1992 dar, Verzögerungen bei der Einrichtung von Grenzübergängen seien „vor allem auf das Verhalten der polnischen Seite zurückzuführen. Sie hat sich offenbar nicht bzw. ohne greifbaren Erfolg um die Finanzierung des Ausbaus von Grenzübergängen eingesetzt. Hinsichtlich der Verwendung der PHARE-Mittel, die […] auch für den Ausbau der Grenzübergänge an der Westgrenze Polens eingesetzt werden sollten, hat sich die polnische Regierung für eine Verwendung dieser Mittel zum Ausbau von polnisch-litauischen bzw. polnisch-ukrainischen Grenzübergängen entschieden.“ Die polnische Regierung habe sich bislang vergeblich bei der Weltbank um die Finanzierung von Grenzübergängen an der Westgrenze bemüht. Vgl. B 82, ZA-Bd. 253581. 11 Die Bundesrepublik und Polen nahmen am 8./9. April 1992 Verhandlungen über die Regulierung des aufgelaufenen Transferrubelsaldos auf. Botschafter Bertele, Warschau, berichtete am 8. Juli 1992, die zweite Verhandlungsrunde am 6./7. Juli 1992 habe keine Fortschritte erbracht: „Die eindringlichen Bemühungen der deutschen Delegation, die polnische Seite dazu zu bewegen, an der Erarbeitung eines konstruktiven Verhandlungsergebnisses mitzuwirken, blieben erfolglos. Die polnische Seite beharrte darauf, dass der von ihr in der Substanz anerkannte Saldo zugunsten Deutschlands in Höhe von ca. 850 Mio. Transferrubel durch von Deutschland verursachte ,Schädigungen‘ der Wirtschaft Polens im Zuge der deutschen Währungsunion und des Vereinigungsprozesses mehr als ausgeglichen sei. […] Die ursprüngliche Absicht, die Positionen beider Seiten in einem gemeinsamen Gesprächsprotokoll festzuhalten, ließ sich nicht erreichen, weil das polnische Papier an mehreren Stellen in einer sowohl im Stil wie in der Sache völlig unannehmbaren Weise Vorwürfe bzw. Unterstellungen an die Adresse Deutschlands enthielt, Polen aktiv und bewusst im Zuge des Vereinigungsprozesses hohe finanzielle und wirtschaftliche Schäden zugefügt zu haben.“ Vgl. DB Nr. 1053; B 52, ZA-Bd. 173940.

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machen das deutsch-polnische Verhältnis zu einem auf Dauer besonders pflegebedürftigen Teil unserer Außenbeziehungen. Zu nennen sind insbesondere – das starke ökonomische und politische Entwicklungsgefälle zwischen den beiden Ländern. Dies gilt zum einen für den materiellen Lebensstandard im engeren Sinne, als dessen Folge in jüngster Zeit eine Reihe von Störungen im deutsch-polnischen Verhältnis verstärkt aufgetreten sind, die sich auf das Bild der Nachbarvölker voneinander auswirken (extreme Formen des Einkaufstourismus in beiden Richtungen, Schmuggel, Schwarzarbeit, organisierte Kriminalität auf polnischer Seite, Brutalität gegen polnische Besucher auf deutscher Seite); – in Polen eine diffuse Furcht vor wirtschaftlicher Dominanz Deutschlands in breiten Kreisen der Bevölkerung, aber auch der politischen Klasse; – in D das Bild Polens als eines schlechten Schuldners, bei dem deutscherseits geleistete erhebliche finanzielle Hilfen nichts ausrichten. Die o. g. Erscheinungen und gegenseitigen Wahrnehmungen verhindern eine rasche Verbesserung des Meinungsbildes der beiden Völker voneinander: D als Land und die Deutschen als Volk stehen in Polen traditionell im unteren Bereich der Meinungsskala, auch wenn sich die Umfragewerte in den letzten 20 Jahren leicht verbessert haben. Das Gleiche gilt für das Bild Polens in D, bei dem traditionelle deutsche Stereotype über den polnischen Nachbarn mit den o. g. Einflusselementen ineinanderfließen. 5) Das gegenüber Polen vorherrschende Meinungsbild in D dürfte angesichts einer voraussichtlich weiter anhaltenden relativen politischen Instabilität in Polen in Zukunft weitere finanzielle deutsche Hilfen in größerem Umfang für das Nachbarland weiter erschweren. Hier dürfte der Bundesregierung paradoxerweise der Umstand zu Hilfe kommen, dass die deutlich gewordenen Schwierigkeiten der wirtschaftlichen und sozialen Bewältigung der Vereinigung Deutschlands, denen sich die Bundesregierung gegenübersieht, in Polen besonders aufmerksam registriert werden und polnischerseits den Blick nicht nur für die finanziellen Möglichkeiten, sondern auch für die Grenzen des deutschen Nachbarn geschärft haben dürften. Insgesamt stellen die kurz angesprochenen Probleme die Regierungen beider Länder auf absehbare Zeit vor Aufgaben der positiven Beeinflussung der öffentlichen Meinung, erforderlichenfalls ihrer Beschwichtigung einerseits, andererseits der Förderung der Begegnung zwischen Deutschen und Polen auf breiter Basis. Ziel muss eine breitere Verankerung der seit der Wende in Polen begonnenen engeren Zusammenarbeit zwischen den beiden Ländern in der Öffentlichkeit beider Länder sein, wie sie mit Frankreich bereits erreicht worden ist. Dies gilt umso mehr, als mit Polen in absehbarer Zeit im Zuge der weiteren EG-Annäherung erhebliche Interessenkonflikte auszutragen sein werden (verbesserter Marktzugang für Polen in die EG, Freizügigkeit in beiden Richtungen), deren absehbare Auswirkungen auf die öffentliche Meinung abgefangen werden müssen. 6) In den Kontext störanfälliger Einzelfragen gehört auch die weitere Entwicklung der Lage der deutschen Minderheit in Polen, insbesondere in Oberschlesien, wo 90 % der Deutschen wohnen. Für eine abschließende Prognose über ihre weitere Entwicklung ist es noch zu früh. Einerseits haben die Deutschen in Polen eine respektable politische Vertretung im Sejm erlangt und damit ihre Stellung konsolidiert. Andererseits sind das Entstehen neonationalistischer, offen deutschfeindlicher Gruppierungen in Polen und anhaltende große Strukturprobleme, insbesondere in Oberschlesien, in Rechnung zu stellen. 925

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Es bleibt abzuwarten, ob sich mit der neuen Regierung, die von einer ausgewiesenen Minderheitenrechtlerin geführt wird, die Chancen für die Verabschiedung eines speziellen Minderheitengesetzes verbessern, das die deutsche Minderheit wünscht. Für die Bundesregierung wird es darauf ankommen, die deutsche Minderheit weiterhin im Sinne ihrer Integration in den polnischen Staat zu beeinflussen, die keineswegs als vollzogen gelten kann. Andererseits müssen wir auch gegenüber der polnischen Seite klarmachen, dass wir bei viel Verständnis für die Anlaufschwierigkeiten, die sich aus der für das polnische Umfeld völlig neuen Situation der faktischen und rechtlichen Anerkennung einer deutschen Minderheit ergeben haben, langfristig auf der Verwirklichung eines Minderheitenstandards bestehen müssen, wie er in anderen Teilen Europas längst selbstverständlich ist. Es ist zu hoffen, dass im Zusammenhang mit der sich in PL sichtbar vollziehenden Entwicklung eines Rechtsstaats und eines funktionierenden Pressewesens viele der sich im Kontext der deutschen Minderheit stellenden Fragen regeln werden, ohne dass es einer Einflussnahme durch die Bundesregierung bedarf. 7) Den angeschnittenen Problemen für die Gestaltung eines gutnachbarlichen Verhältnisses zu Polen steht als erleichterndes Element gegenüber, dass sich Polen außenpolitisch rasch zu einem Partner mit vielfach gleichgerichteten Interessen entwickelt hat, auch wenn wir aus wohlerwogenen Gründen bisher gezögert haben, den von AM Skubiszewski geprägten Begriff einer Interessengemeinschaft zum Leitmotiv unserer Beziehungen zu Polen zu machen. Die polnische öffentliche Meinung und politische Führung haben das unter dem Eindruck der schnellen Vereinigung Deutschlands entstandene Trauma, einem im machtpolitisch­ militärischen Sinne unberechenbaren großen Nachbarn gegenüberzustehen, weitgehend hinter sich gelassen, auch wenn die Sorge vor wirtschaftlicher Dominanz (s. o.) bleibt. Mit dem Zerfall der SU ist auch die weitere polnische Sorge, zwischen D und der SU eingeklemmt und zum Opfer der Kollusion dieser beiden europäischen Mächte zu werden, in den Hintergrund gerückt. PL hat sein Verhältnis zu seinen neuen östlichen Nachbarn überraschend schnell geregelt und hierbei insbesondere auch die in den Interessengegensätzen zwischen den großen Nachfolgestaaten der SU liegenden Chancen für die Minderung des Drucks an seinen östlichen Grenzen ins Kalkül zu ziehen gewusst. Dabei hat es gleichwohl Äquidistanzüberlegungen zwischen Ost und West schnell überwunden und befindet sich gegenwärtig auf einem Kurs klarer Westorientierung, nicht nur in wirtschaftlicher, sondern auch in sicherheitspolitischer Hinsicht. Daneben versucht es gleichzeitig, seine Position als eine Brücke des Westens nach Osten politisch, aber längerfristig auch wirtschaftlich zur Geltung zu bringen. Probleme, die sich aus (echten oder imaginären) Führungsansprüchen außenpolitischer Art ergeben, wie sie im Verhältnis zu Frankreich an der Tagesordnung sind, sind von Polen nicht zu gewärtigen, wohl aber die Erwartung, stets als voll gleichberechtigter Partner behandelt zu werden. In diesem Zusammenhang kommt der Einbeziehung Polens in das spezielle Verhältnis zu Frankreich im Rahmen der von BM Genscher ins Leben gerufenen Dreier-Kooperation D – F – PL seit dem Weimarer Treffen der drei AM vom August 199112 besondere Bedeutung zu. Diese sichtbare Gleichbehandlung wird in Polen 12 Die AM Dumas (Frankreich), Genscher (Bundesrepublik) und Skubiszewski (Polen) trafen am 28. August 1991 in Weimar zu einem Gespräch zusammen. Vgl. die Gemeinsame Erklärung vom 29. August 1991; BULLETIN 1991, S. 734 f.

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hochgeschätzt und sollte fortgesetzt werden. PL sucht darüber hinaus die ihm aus dem deutsch-französischen Verhältnis bekannt gewordenen institutionellen Regelungen auch im Rahmen des Möglichen für den Ausbau des deutsch-polnischen Verhältnisses zu nutzen (Jugendwerk, besonders enge Kulturbeziehungen). Wir sollten derartigen polnischen Aspirationen, sofern sie nicht ohnehin unseren eigenen sachlichen Anliegen entsprechen, im Rahmen des Möglichen entgegenkommen. III. Insgesamt sind die Entwicklungsperspektiven im deutsch­polnischen Verhältnis nicht schlecht. Die für die grundsätzliche Kursbestimmung dieses Verhältnisses nötigen Grundsatzentscheidungen sind vollzogen, es gibt zu ihnen keine erkennbare Alternative. Die Realisierung der darin enthaltenen Vorgaben erfordert vor allem ständige Pflege, Geduld, die Bereitschaft zum Ausgleich auch bei absehbaren und möglicherweise schwierigen Interessenkonflikten. Eine so verstandene partnerschaftliche Politik mit Polen wird umso wichtiger, als unsere Möglichkeiten, Polen in großem Umfang materiell unter die Arme zu greifen, wegen der finanziellen und innenpolitischen Entwicklung in D selbst tendenziell weiter abnehmen dürften. Referat 420 hat mitgezeichnet. Brümmer B 42, ZA-Bd. 171224

229 Gespräch des Bundeskanzlers Kohl mit der norwegischen Ministerpräsidentin Brundtland in Oslo 16. Juli 19921 Besuch des Bundeskanzlers in Norwegen2; hier: Delegationsgespräch im erweiterten Kreis am 16.7.92 Im Anschluss an ein eineinhalbstündiges Gespräch des Bundeskanzlers mit der Ministerpräsidentin, an dem im Übrigen nur die Dolmetscherin beteiligt war, fand das Delegationsgespräch im erweiterten Kreis statt. Hierzu erschien auf norwegischer Seite auch Außenminister Stoltenberg. Die Ministerpräsidentin stellte einleitend kurz den Inhalt des vorangegangenen Gesprächs dar. Es sei um die Lage in Norwegen und insbesondere um die Probleme gegangen, die sich voraussichtlich bei eventuellen Beitrittsverhandlungen mit der Europäischen Gemein1 Kopie. Der Gesprächsvermerk wurde von VLR I von Arnim am 17. Juli 1992 gefertigt. Hat MDg von Kyaw am 20. Juli 1992 vorgelegen, der die Weiterleitung an VLR I Kaufmann-Bühler verfügte. Hat Kaufmann-Bühler am 20. Juli 1992 vorgelegen. 2 BK Kohl hielt sich am 16./17. Juli 1992 in Norwegen auf.

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schaft stellen und in Norwegen die relativ größte innenpolitische Bedeutung haben würden. Dies seien – die Probleme der kleinen Bauern in Nordnorwegen, – die Fischerei, dies sei vielleicht sogar das wichtigste aller Probleme, – die Öl- und Erdgasfragen. Es sei zu hören, dass die EG-Kommission in Brüssel eine neue Richtlinie vorbereite, die sich mit der Konzessionsvergabe befasse.3 Dies könne sich nach Lage der Dinge nur auf Norwegen beziehen. Dies schaffe für die Opposition im Parlament, geführt von Frau Lahnstein von der Zentrumspartei, eine wunderbare Gelegenheit, die Beitrittspolitik anzugreifen. Man müsse von vorneherein wissen, dass die Probleme der Fischerei und des Öls beide ausreichen könnten, um zu einem negativen Ausgang des schließlich notwendig werdenden Referendums über den Beitritt zu führen. Norwegen habe eine gemeinsame Grenze zu Russland. Es habe deshalb besondere Möglichkeiten, sich um eine Stabilisierung in Nordosteuropa zu bemühen, insbesondere durch Entwicklung einer regionalen Kooperation zwischen Norwegen, Schweden, Finnland und Russland. Dies gelte auch für den Ostseeraum, an dem, wie sie wisse, der Bundeskanzler sehr interessiert sei. Noch nicht erörtert worden seien die Themen der – Sicherheitspolitik, – der KSZE und – der NATO/WEU. Norwegen habe im Rahmen der NATO seit langem eine sehr enge Kooperation mit D. Es sei auch von D bei der Entwicklung seines Verhältnisses zur WEU4 unterstützt worden. Das Ergebnis sei jedoch insofern paradox, als nunmehr Dänemark von der WEU relativ weiter entfernt sein werde5 als Norwegen, obwohl Dänemark der EG angehöre. 3 VLR I von Arnim vermerkte am 23. Juli 1992, die EG-Kommission habe dem EG-Ministerrat den Vorschlag für eine Richtlinie vorgelegt, durch die „gemeinsame Regeln für die Erteilung und Ausübung von Genehmigungen zur Prospektion, Exploration und Förderung von Kohlenwasserstoffen eingeführt werden sollen. Dazu sollen die Lizenzen in offenen Verfahren unter Sicherstellung von Transparenz und Nichtdiskriminierung vergeben werden.“ Hintergrund sei die britische Praxis, die auf eine Bevorzugung der britischen Wirtschaft ausgerichtet sei. Aber auch im Falle Norwegens begünstige die bisherige Praxis das norwegische Staatsunternehmen Statoil. Arnim führte aus: „Aus der Sicht von Ref. 411 ist die Vergemeinschaftung der Verfügungsmöglichkeit über nationale Ressourcen, die durch die Richtlinie in gewissem Umfang eintreten wird, das eigentlich im Verhältnis zu Norwegen schwierige Problem.“ Angesichts der Bedeutung von Erdöl und Erdgas für Norwegen könne „die Prognose von Ministerpräsidentin Brundtland kaum bestritten werden, dass der norwegische Beitritt an der Erdöl- und Erdgasrichtlinie scheitern könnte“. Vgl. B 221, ZA-Bd. 177677. 4 Referat 202 vermerkte am 1. Juli 1992, Norwegen habe mit Schreiben von AM Stoltenberg vom 10. Januar 1992 an BM Genscher in dessen Eigenschaft als amtierender WEU-Ratspräsident sein Interesse an einer Assoziierung an die WEU mitgeteilt: „Der WEU-Rat hat in seiner ,Petersberg-Erklärung‘ vom 19.6.1992 den neuen Status eines assoziierten Mitglieds definiert und die Aufnahme von Verhandlungen mit Kandidaten genehmigt. Grundsätzlich sollen die Assoziierten an den Aktivitäten der WEU voll teilnehmen können, wobei die Möglichkeit gegeben bleibt, diese unter bestimmten Bedingungen auf Vollmitglieder zu beschränken. Wie von Norwegen selbst gewünscht, werden die Assoziierten kein Stimmrecht haben und sind nicht verpflichtet, an WEU-Aktivitäten teilzunehmen oder Beschlüsse umzusetzen.“ Vgl. B 29, ZA-Bd. 213091. 5 Referat 202 legte am 17. August 1992 dar, Dänemark habe die Möglichkeit, „Vollmitglied oder Beobachter der WEU zu werden, sofern es Mitglied der EU wird. Durch den negativen Ausgang des dänischen

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Sie habe am Tag zuvor zusammen mit dem Außenminister entschieden, dass Norwegen öffentlich seine Bereitschaft signalisieren wolle, in Zukunft auch ein norwegisches Schiff für eine Beteiligung an dem Adria-Einsatz von WEU/NATO6 zur Verfügung zu stellen. Wenn dort ein Schiff abgelöst werde, dann werde Norwegen nicht Nein sagen, wenn es aufgefordert werde. Der BK erwiderte, er wolle auch für die Mitarbeiter der Ministerpräsidentin seine Sicht der Lage beschreiben. Wir befänden uns derzeit in einem besonders dramatischen Moment der Geschichte. Wie dramatisch er sei, werde von vielen Leuten nicht verstanden. Sie hätten 40 Jahre in einer bequemen Lage gelebt. Da sei die Mauer gewesen, die NATO und der Warschauer Pakt. Alle hätten gesagt, dies müsse weg, aber nie geglaubt, dies werde irgendwann sein. Die Deutschen hätten gesagt, sie wollten die Einheit, aber nicht an sie für morgen geglaubt, sondern für ihre Enkel. Die Europäer hätten zur deutschen Einheit Ja gesagt, da alle ihre Prinzipien dafürsprächen, sich aber dieses Ergebnis nicht so schnell gewünscht. Deshalb schimpfe er auch nicht auf Margaret Thatcher. Was sie gesagt habe, hätten die meisten gedacht. Jetzt gebe es wieder Petersburg, Russland, die baltischen Staaten und die deutsche Einheit. Alle alten Bilder stimmten nicht mehr. Er habe auf dem Rio­Gipfel7 ein Gespräch mit Präsident Suharto8 geführt, der ihm mit Stolz berichtet habe, er sei zum Vorsitzenden der Blockfreien gewählt worden. Er habe gefragt, blockfrei wovon? Der österreichische Bundeskanzler Vranitzky spreche immer wieder von der österreichischen Neutralität. Es sei zu fragen, neutral gegenüber wem?9 Und in Deutschland gäbe es Leute, die sich in Brandenburg mit Blick nach Königsberg und Preußen aufstellten. Dies zeige alles, wie falsch die Bilder alle noch seien. Er sei zutiefst davon überzeugt, dass die Chance, die sich gegenwärtig den Europäern biete, nicht so schnell wiederkomme. Adenauer habe bei einem Treffen europäischer Regierungschefs 1954 eine Woche vor der Abstimmung in der französischen Kammer über die EVG10 gesagt, dass, wenn dieses Projekt scheitere, man mindestens 25 Jahre werde warten müssen, um einen erneuten Versuch unternehmen zu können.11 Keiner von den Anwesenden werde dies noch erleben. Adenauer habe recht gehabt, alle Teilnehmer jenes Gesprächs Fortsetzung Fußnote von Seite 928 Referendums zur Europäischen Union vom 2. Juni 1992 befindet sich Dänemark in einer ungeklärten Situation gegenüber der WEU. […] Es wäre wenig sinnvoll, jetzt auf eine Klärung des dänischen Verhältnisses zur WEU zu drängen. Dieses ist eine Konsequenz des Verhältnisses Dänemarks zur Europäischen Union, dessen Entwicklung abgewartet werden muss.“ Vgl. B 29, ZA-Bd. 213090. 6 Zu den Überwachungsmaßnahmen von NATO und WEU in der Adria vgl. Dok. 220. 7 Zur VN-Konferenz über Umwelt und Entwicklung (UNCED) vom 3. bis 14. Juni 1992 vgl. Dok. 177. 8 Zum Gespräch des BK Kohl mit dem indonesischen Präsidenten Suharto am 11. Juni 1992 vgl. Dok. 207, Anm. 16. 9 Der Passus „Vranitzky spreche … gegenüber wem?“ wurde von VLR I Kaufmann-Bühler hervorgehoben. Dazu Fragezeichen. 10 Die französische Nationalversammlung beschloss am 30. August 1954 nach zweitägiger Debatte die Absetzung des am 27. Mai 1952 unterzeichneten EVG-Vertrags von der Tagesordnung, was der Ablehnung der Ratifizierung gleichkam und das Scheitern der EVG bedeutete. Vgl. JOURNAL OFFICIEL, ASSEMBLÉE NATIONALE 1954, S. 4379–4474. Vgl. auch DzD II/4, S. 56–63. 11 Vgl. die Äußerungen von BK Adenauer auf der Außenministerkonferenz der sechs Unterzeichnerstaaten des EVG-Vertrags vom 19. bis 22. August 1954 in Brüssel; DDF 1954, ANNEXES, PROBLÈMES EUROPÉENS, S. 49–52, besonders S. 51. Zur Konferenz vgl. AAPD 1954, II, Dok. 272 und Dok. 279.

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seien inzwischen tot; bis Maastricht12 habe es fast 40 Jahre gedauert. Wenn Maastricht scheitere, dann werde es nicht 25 Jahre, sondern sehr viel länger dauern. Der Unterschied zwischen der Lage von 1954 und 1990 sei, dass damals der Ost-West-Gegensatz die Europäer zusammengedrückt habe. Dieser Effekt sei weggefallen, an allen Ecken kämen alte Nationalismen wieder hoch. Wenn man nicht zur Politischen Union komme – er wisse, dass das Wort Union in Norwegen nicht beliebt sei, man könne auch sagen Politische Gemeinschaft –, wenn man dazu nicht komme, dann werde die EG nicht halten. Da täusche sich Mrs. Thatcher. Eine Wirtschaftsunion werde ohne politischen Rahmen nicht halten. Winston Churchill habe 1946 von den Vereinigten Staaten von Europa als Ziel gesprochen.13 Dies heute wieder zu tun, wäre irreführend und nicht nützlich, da der Vergleich mit den USA nicht stimme. Die USA seien ein Bundesstaat, die EG eine politische Gemeinschaft. Sie könne kein Bundesstaat sein, wir blieben Deutsche, die Norweger Norweger. Man brauche aber ein festes europäisches Dach, unter dem die nationalen Identitäten und Charaktere erhalten blieben, keinen europäischen Zentralstaat. Dies sei mit dem Begriff der Subsidiarität gemeint. Wir nennten das Föderalismus, das sei das Gegenteil von Zentralismus. Da gebe es allerdings auch in Deutschland eine gewisse Heuchelei. Alle Ministerpräsidenten der Bundesländer seien Föderalisten, jedoch Zentralisten gegenüber den Gemeinden. Das beste Beispiel dafür sei Bayern14. Europa müsse entsprechend dem Subsidiaritätsprinzip gebaut werden, deshalb würden die Regionen darin eine große Rolle spielen. Die grenzüberschreitende regionale Zusammenarbeit habe eine große Zukunft. Viele hätten dies noch nicht verstanden. Norwegen habe vor allen Dingen das Meer als Grenze, bei uns mitten auf dem europäischen Kontinent mit überwiegend Landgrenzen spiele dies eine riesige Rolle. Es werde gefragt, wie es nun weitergehen solle. Bis Dezember/Januar würden elf Länder Maastricht ratifizieren. Es sei zurzeit nicht zu sagen, was DK mache.15 Wir wollten, dass DK in der Gemeinschaft bleibt. Wir wollten dies erleichtern, wo es gehe, aber es gebe Grenzen. Es werde keine neuen Verhandlungen geben, kein neues Maastricht, keine Sonderbedingungen für DK, die für neue Mitglieder unerträglich werden könnten. Es werde in DK erhebliche innenpolitische Probleme geben. Die Debatte dort fange erst an. Dabei werde sich zeigen, dass DK den größten Vorteil an der EG habe, pro Kopf gerechnet, und nicht etwa Portugal oder Griechenland, insbesondere, wenn man an die Bauern denke. Dabei habe er den deutschen Bauern in den GATT-Verhandlungen sehr viel zumuten müssen. Er bitte, nicht falsch verstanden zu werden. Ökonomisch habe D die größten Vorteile in der EG. 55 % seiner Ausfuhren gingen in die Gemeinschaft. Wenn die EFTA hinzukomme, seien es sogar 61 %. Im Unterschied zu seinem Vorgänger16 halte er die Behauptung für Unsinn, Deutschland sei der Zahlmeister Europas, denn man müsse den gesamten Nutzen in Betracht ziehen. 12 Zum Vertragswerk von Maastricht vgl. Dok. 3, Anm. 8. 13 Für die Rede des Vorsitzenden der britischen Konservativen und Unionistischen Partei, Churchill, am 19. September 1946 in Zürich vgl. THE COLLECTED WORKS OF SIR WINSTON CHURCHILL. Centenary Limited Edition, Bd. XXVIII: Post-War Speeches, Bd. 1, Teil 1: The Sinews of Peace, [London] 1975, S. 165 f. 14 Dieses Wort wurde von VLR I Kaufmann-Bühler hervorgehoben. Dazu Ausrufezeichen. 15 Vgl. das Referendum am 2. Juni 1992 in Dänemark; Dok. 166, Anm. 2. 16 Helmut Schmidt.

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Man werde auf dem Europäischen Rat in Edinburgh17 über das Mandat für die Erweiterungsverhandlungen sprechen. Wenn Norwegen dann seine Entscheidung getroffen habe, werde das Mandat heißen, dass die Verhandlungen unmittelbar Anfang 1993 und individuell mit Schweden, Österreich, Finnland, der Schweiz und Norwegen begonnen würden.18 Es sei sein Ziel, wie wohl das Ziel der Mehrheit der Mitgliedstaaten, den Beitritt 1995 zu vollziehen. Wir würden Norwegen in den Verhandlungen unterstützen. Man kenne die Probleme Norwegens schon aus den 70er Jahren.19 Man dürfe die Fehler von damals nicht wiederholen. Es sei die Entscheidung Norwegens, ob es Mitglied werden wolle. Er wolle aber seine Meinung dazu sagen, da er gefragt werde. Dies sei keine Einmischung. Die gegenwärtige Gemeinschaft sei ein Torso. Er habe sich aus dem gleichen Grund 1984 gegen alle Widerstände für die Aufnahme Spaniens und Portugals eingesetzt. Die europäische Statik sei aber auch ohne den Norden nicht in Ordnung. Einige in Dänemark sagten, sie verträten Nordeuropa. Diese Meinung könne er nicht teilen. Man müsse darüber hinaus klarmachen, dass es eine zweite, erweiterte Runde geben werde. Niemand könne genau sagen wann, vielleicht in zehn Jahren. Sie werde Polen, die Tschechoslowakei und die baltischen Staaten erfassen.20 Dann müsse gesagt werden, was diejenigen wollen, die darüber noch hinausgehen wollten. Sie wollten eine Freihandelszone, aber keine politische Einigung. Dies sei zwar geographisch nicht das ganze Europa, jedoch müsse man darüber hinaus nicht an Mitgliedschaft, sondern Assoziationen denken, z. B. mit Russland oder der Ukraine, aber auch der Türkei. Von dort komme massiver Druck auf Vollmitgliedschaft. Wir seien dagegen. Obwohl dies für uns schwer sei z. B. angesichts der großen Zahl an Gastarbeitern in Deutschland. Die Türkei sei ein Land der Zukunft. Sie könne aber nicht Mitglied werden. Sie gehöre in eine andere Dimension. Die Gemeinschaft werde solche Verträge auch mit anderen Ländern am Südrand des Mittelmeers schließen. Das Verhältnis zu diesen Assoziationspartnern sei aber nicht das gleiche wie zu denen, die Vollmitglied werden könnten.21 Die Gemeinschaft müsse die Kompetenzen bekommen, die sie brauche, nicht mehr, aber auch nicht weniger. Nationale und regionale Kompetenzen würden bleiben. Dieses Europa müsse eine eigene Sicherheitsidentität haben. Da gebe es zurzeit ein seltsames Spiel, obwohl die Diskussion seit de Gaulle bekannt sei. Wir spielten da aber nicht mit. Für uns sei es existenziell, uns sowohl die transatlantische wie die europäische Bindung gleichwertig zu erhalten. Es gehe nicht um entweder/oder, sondern um sowohl/als auch. Wir brauchten die WEU als europäische Identität. Die amerikanischen Freunde müssten zur Kenntnis nehmen, dass die Welt sich verändert habe. Es sei einfacher gewesen mit zwei Weltmächten. Wir wollten Partnerschaft, wir wollten mitbestim17 Zur Tagung des Europäischen Rats am 11./12. Dezember 1992 vgl. Dok. 421. 18 Die EG nahm am 1. Februar 1993 Beitrittsverhandlungen mit Finnland, Österreich und Schweden auf. Die Beitrittsverhandlungen mit Norwegen begannen am 5. April 1993. Vgl. AAPD 1993. 19 Norwegen unterzeichnete am 22. Januar 1972 den Vertrag über einen EG-Beitritt mit Wirkung vom 1. Januar 1973. Am 25./26. September 1972 sprachen sich bei einer Volksabstimmung 54 % der Abstimmenden gegen und 46 % für einen Beitritt aus. Vgl. AAPD 1972, II, Dok. 295. 20 Dieser Satz wurde von VLR I Kaufmann-Bühler durch Fragezeichen hervorgehoben. 21 Dieser Absatz wurde von MDg von Kyaw hervorgehoben. Dazu Ausrufezeichen.

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men. Er habe keine anti-amerikanischen Komplexe, wir verdankten ihnen unsere Freiheit. Er sei völlig unfähig zu anti-amerikanischen Gefühlen. In acht Jahren schreibe man aber das Jahr 2000, dann werde es in der Welt drei ökonomische Schwerpunkte geben, die USA und Kanada, evtl. zusammen mit Mexiko, zweitens Japan, Korea im Fernen Osten und schließlich Europa. Davon seien wir ein Teil, dementsprechend müssten wir unsere Rolle übernehmen. Dies sei eine europäische Rolle, da man gegen niemand gerichtet sei. Aus deutscher Sicht brauchten alle Europa, aber die Deutschen mehr als andere. Er wolle sagen, worüber Deutschlands Nachbarn nachdächten, aber nicht redeten. Europa brauche ein festes Dach, auch wegen Deutschland mit seinen 80 Millionen Einwohnern, mit seiner stärksten Wirtschaft und seinen tüchtigen, aber nicht unbedingt beliebtesten Menschen und seiner ganz ungünstigen geopolitischen Lage. Wir lägen in der Mitte und beeinflussten von daher alles. Die Schrecken der Vergangenheit seien noch bewusst, auch in Norwegen. Es gebe Ängste, echte und erfundene, aber auch Neid. Wenn man die Lage so dahintreiben lasse, wenn man kein Dach baue, dann fange alles wieder an, das Spiel der Koalitionen, bei dem dieser mit jenem zusammengehe. Mrs. Thatcher habe es in ihrer Rede im House of Lords gesagt.22 In Europa müsse aber in Zukunft nicht das Prinzip der Quantität, sondern das der Qualität bestimmen. Dann könne man auch streiten, bleibe dabei aber in zivilisierten Formen. Er wolle es ganz hart sagen. Es sei für Deutschland besser, u. U. in der EG überstimmt zu werden, als wieder in Bündnisse gedrückt zu werden. Man müsse aus der Geschichte lernen. Viele seien nun beunruhigt, weil ihr gewohnt friedliches Leben mit z. B. 30 Tagen Urlaub im Jahr gestört werde, in dem es vorwiegend darum gegangen sei, ob der Urlaub in Afrika oder in Nepal verbracht werden solle. So sei die D-Mark bei uns gewissermaßen eine heilige Kuh. Auch wenn er sich ironisch ausdrücke, so wolle er nur betonen, dass die eigentlichen Probleme beim Bau Europas lägen, nicht bei der Entwicklung der neuen Bundesländer, denn dabei gehe es um die gemeinsame Zukunft. Die Ministerpräsidentin erwiderte, diese allgemeine Beschreibung der Notwendigkeiten der europäischen Politik sei sehr parallel zur norwegischen. Deshalb habe man so viele gemeinsame Auffassungen mit D. Deshalb sei es wichtig, den Norwegern zu erklären, dass es jetzt möglich sei, Teil Europas zu werden, eben jetzt. Norwegen habe immer enge Beziehungen politischer, wirtschaftlicher und kultureller Art mit England und Deutschland gehabt. Wenn man die Gesamtdimension der Probleme berücksichtige, dann könnten die mehr trivialen Probleme nicht wirklich schaden. Wenn die politische Führung im Kabinett aber nicht ausreiche, dann könne viel im bürokratischen Kampf verloren gehen. Dies habe man in den EWR-Verhandlungen23 gesehen. Da sei die Tagesordnung der Außenminister oft zu voll gewesen, mit dem Ergebnis, dass zu viele wichtige Probleme den Ressorts und den Bürokraten überlassen geblieben seien. Sie würden immer weiterkämpfen, wenn man die Probleme nicht politisch aufgreife und entscheide. Man müsse also das politische Verständnis für Integration entwickeln, um die Sachprobleme zu lösen. Man sehe, dass in den EG-Fragen die Ministerien zu sehr für sich selbst arbeiteten. Sie als Ministerpräsidentin und der Bundeskanzler müssten die Dinge zusammenhalten. Das Brüsseler 22 Für die Rede der ehemaligen britischen PM Thatcher am 2. Juli 1992 vgl. HANSARD, Lords, 1992, Bd. 538, Spalte 897–903. 23 Zur Unterzeichnung des EWR-Vertrags am 2. Mai 1992 in Porto vgl. Dok. 126.

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System habe zu zuviel Machtverteilung geführt mit dem Ergebnis, dass die Ministerien zu stark würden. So seien die Außenminister von Deutschland und Spanien in der Vergangenheit z. B. nicht bereit gewesen, sich die Fischereiproblematik anzuschauen, bevor sie in Norwegen politisch übermächtig geworden sei. Dies müsse in der Zukunft unbedingt vermieden werden. Der BK antwortete, er sei dennoch optimistisch. Wenn Maastricht zustande komme, dann werde auch besseres Personal nach Brüssel gehen24. Der Posten eines Kommissars werde dann z. B. nicht weniger bedeutsam als der eines Kabinettsmitglieds sein. Auch die Personalpolitik der Ministerien werde sich verändern. Er wolle aber auch darauf hinweisen, dass sich bereits jetzt in den Räten eine unglaubliche Kooperation entwickelt habe. Dies gelte insbesondere für den Außenministerrat, der ja sozusagen unmittelbar nach dem lieben Gott komme, aber auch z. B. für die Umweltminister. Er beobachte z. B. zunehmend, dass der deutsche Umweltminister25, wenn er im Bundeskabinett nicht weiterkomme, sich zunächst mit den Länderministern und jetzt mehr und mehr mit seinen europäischen Kollegen zusammentue, die dann ganz zufällig den im Kabinett abgelehnten Antrag stellten. Auch im Europäischen Rat kenne man sich inzwischen doch sehr gut. Es sei auch phänomenal, wie sehr man sich im Straßburger Parlament aufeinander zubewege. Man kenne eben die gegenseitigen Interessen und könne sich dementsprechend zusammenschließen. So seien die Probleme der Bergbauern im Allgäu denen der Bauern in Norwegen wohl sehr viel ähnlicher als denen der Landwirte in Mittelengland, was sich alleine schon aus der Betriebsgröße und der Bodenqualität ergebe. Die Ministerpräsidentin wies darauf hin, dass man in der folgenden Pressekonferenz26 mit Fragen nach den voraussichtlichen Zinsentscheidungen der Bundesbank27 rechnen müsse. Der Bundeskanzler erwiderte, er wisse nicht, wie die Bundesbank entscheiden werde. Es gebe eine Diskussion über eine Zinserhöhung. Er sei strikt dagegen. Das Problem werde aber übertrieben, auch von den USA. Sie sagten, sie machten eine Niedrigzinspolitik. Die mittel- und langfristigen Zinsen lägen aber kaum niedriger als bei uns. Die Ministerpräsidentin wies abschließend darauf hin, dass die Journalisten sicherlich auch nach der deutschen Haltung zur norwegischen Entscheidung fragen würden, in begrenztem Umfang wieder mit dem Walfang zu beginnen. Der BK erwiderte, er habe die norwegische Haltung so verstanden, dass auch sie für die Erhaltung des Gleichgewichts im Naturhaushalt eintrete. Wenn es da bei einer besonderen Walart Probleme gebe, dann müsse man nach Kompromissen suchen. 24 Die Wörter „besseres Personal nach Brüssel gehen“ wurden von VLR I Kaufmann-Bühler hervorgehoben. Dazu Fragezeichen. 25 Klaus Töpfer. 26 Für die gemeinsame Pressekonferenz des BK Kohl und der norwegischen MP Brundtland am 16. Juli 1992 in Oslo vgl. das unkorrigierte Manuskript; B 221, ZA-Bd. 177677. 27 VLR Döring notierte am 20. Juli 1992, der Zentralbankrat der Bundesbank habe am 16. Juli 1992 mit Wirkung vom Folgetag eine Erhöhung des Diskontsatzes von 8 % auf 8,75 % bei einem unveränderten Lombardsatz von 9,75 % beschlossen. Zwar seien geldpolitische Maßnahmen erwartet worden, die „relativ starke Erhöhung des Diskontsatzes hat jedoch im In- und Ausland überrascht. Sie wird als deutliches Signal der Bundesbank bewertet, strikt an ihrem binnenwirtschaftlichen Stabilitätsauftrag festzuhalten.“ Der Beschluss sei „international heftig und überwiegend kritisch kommentiert worden. Angesichts andersgearteter konjunkturpolitischer Ausgangs- und Interessenlage ist besonders in Frankreich und den USA Kritik geübt worden.“ Vgl. B 52, ZA-Bd. 173718.

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Die Ministerpräsidentin warf ein, EG-Vizepräsident Marín habe angekündigt, dass die Beschlüsse der Internationalen Walfangkommission als EG-Recht auch für Norwegen verbindlich werden würden, wenn es der Gemeinschaft beitrete. Der BK erwiderte, man dürfe nicht jede Äußerung eines Kommissars auf die Goldwaage legen. B 221, ZA-Bd. 177677

230 Vorlage des Vortragenden Legationsrats I. Klasse Daerr für Bundesminister Kinkel 320-320.10 SUA

17. Juli 1992

Aktualisierte Fassung der Vorlage vom 10.7.19921 Über Dg 322, D 33, Herrn Staatssekretär4 Herrn Bundesminister5 Betr.:

Beitrag zur Überwindung der Krise des südafrikanischen Reformprozesses

Bezug: BM-Vorlage vom 25.6.1992 – 320-320.10 SUA6 Anlg.: 1 (Bezugsvorlage)7 Zweck der Vorlage: Kenntnisnahme und Billigung der operativen Vorschläge unter I. 1 Für die Vorlage des VLR I Daerr vom 10. Juli 1992, die auf Weisung des StS Kastrup überarbeitet werden sollte, vgl. B 34, ZA-Bd. 155792. 2 Hat MDg Sulimma am 17. Juli 1992 vorgelegen. 3 Hat MD Schlagintweit am 17. Juli 1992 vorgelegen. 4 Hat StS Kastrup am 17. Juli 1992 vorgelegen. 5 Hat BM Kinkel am 20. Juli 1992 vorgelegen. Hat OAR Rehlen am 27. Juli 1992 vorgelegen, der den Rücklauf über das Büro Staatssekretäre, MD Schlagintweit und MDg Sulimma an Referat 320 verfügte. Hat VLR I Reiche am 27. Juli 1992 vorgelegen. Hat in Vertretung von Schlagintweit MDg Henze am 27. Juli 1992 vorgelegen. Hat in Vertretung von Sulimma VLRin I Gräfin Strachwitz am 28. Juli 1992 vorgelegen. Hat VLR I Daerr am 28. Juli 1992 erneut vorgelegen. 6 VLR I Daerr erläuterte die Lage in Südafrika nach Abbruch des Friedensprozesses durch den ANC am 23. Juni 1992 infolge eines Massakers in der Township Boipatong am 17. Juni 1992. In der Erklärung habe der ANC betont, „dass er weiterhin einer Verhandlungslösung verpflichtet bleibt. Er kombiniert in dieser Erklärung die politischen Grundsatzforderungen nach einem demokratischen Verfassungsgebungsverfahren und einer Übergangsregierung mit der Forderung nach einer Reihe von Maßnahmen gegen politisch motivierte Gewalt (Verhinderung künftiger und Ahndung vergangener Gewalttaten). Zur Vorbedingung für die Wiederaufnahme der Verhandlungen wird aber nur Letzteres gemacht.“ Vgl. B 34, ZA-Bd. 155790. 7 Dem Vorgang beigefügt. Vgl. Anm. 6.

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I. Zusammenfassung der Vorschläge 1) EG-Angebot der Entsendung von Beobachtern als konkreter Beitrag zur Eindämmung der politisch motivierten Gewalt in Südafrika und damit zur Überwindung des Stillstands der CODESA-Verhandlungen8. 2) Beantwortung des Schreibens AM Bothas an Sie vom 26.6.19929 im Lichte der für den 20. Juli vorgesehenen Telefonate des Bundeskanzlers mit Nelson Mandela und mit Präsident de Klerk.10 II. Lageentwicklung in Südafrika 1) Trotz erster Zeichen des Einlenkens auf beiden Seiten und Einschaltung des VN-Sicherheitsrates kann aus dem Stillstand des Verhandlungsprozesses in Südafrika noch immer eine gefährliche Krise werden. Zwar wissen die Hauptakteure Regierung und ANC­ Führung, dass es zur Wiederaufnahme der Verhandlungen keine vernünftige Alternative gibt, aber das Risiko einer Entgleisung des Prozesses ist angesichts von Polemik und Schuldzuweisungen auf beiden Seiten sowie des Massenaktionsprogramms des ANC zurzeit hoch. Die internationale Gemeinschaft muss das ihr Mögliche zur Entschärfung der Situation beitragen, wobei es wichtig ist, dass keiner der Kontrahenten das Gesicht und damit den Rückhalt seines Lagers verliert. 2) Auch wenn die Gewalteskalation (Boipatong-Massaker) nicht der einzige Grund für die Suspendierung der Verhandlungen durch den ANC war, so ist die Eindämmung der Gewalt – aus der Sache selbst und im Lichte des ANC-Memorandums – doch der Hauptschlüssel zum Wiedereinstieg in den CODESA-Prozess. De Klerk hat als Reaktion auf das ANCMemorandum und vor der VN-Sicherheitsratssitzung vom 15./16.7.199211 sowohl bezüglich der Verhandlungssubstanz als auch bezüglich der Gewalteindämmung Angebote gemacht. Während konkrete Vermittlungsvorschläge der internationalen Gemeinschaft in Sachen Verfassung und Interimsregierung schwer vorstellbar sind, gibt es in der Gewaltfrage durchaus Ansatzpunkte für mehr als rhetorisches Engagement. Damit würde wiederum die Glaubwürdigkeit der internationalen Aufrufe zu Mäßigung, Weiterverhandeln und Kompromissbereitschaft erhöht. 3) Für uns bedeutet dies, dass wir im Dialog mit den CODESA-Parteien weiter unseren Einfluss in Richtung Wiederaufnahme der Verhandlungen und baldigen Abschluss geltend machen, uns aber gleichzeitig auch um einen konkreten Beitrag zur Gewalteindämmung bemühen. 8 Zu den Gesprächen im Rahmen der Convention for a Democratic South Africa (CODESA II) vgl. Dok. 105, Anm. 46. 9 In dem Schreiben legte der südafrikanische AM Botha die Haltung seiner Regierung zum Abbruch des Friedensprozesses durch den ANC am 23. Juni 1992 dar. Vgl. B 34, ZA-Bd. 155796. 10 An dieser Stelle vermerkte VLR I Daerr handschriftlich: „Anruf Kanzleramt: BK wird nicht telefonieren, sondern zwei Briefe schreiben.“ BK Kohl wandte sich am 20. Juli 1992 brieflich an den südafrikanischen Präsidenten de Klerk bzw. an den ANC-Vorsitzenden Mandela. In den Schreiben äußerte er Besorgnis über den Stillstand des Friedensprozesses in Südafrika und rief zu einer Eindämmung der politischen Gewalt auf. Ferner begrüßte er die Ernennung eines Sonderbeauftragten des VN-Generalsekretärs. Für die Schreiben vgl. B 34, ZA-Bd. 155796. 11 Für die Sitzungen des VN-Sicherheitsrats am 15. und 16. Juli 1992 in New York über die Entwicklung in Südafrika vgl. https://undocs.org/en/S/PV.3095 bzw. https://undocs.org/en/S/PV.3096.

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III. Appelle zur Fortsetzung des CODESA-Prozesses 1) Nach Ihrer Presseerklärung vom 23.6.199212, der Südafrika-Erklärung des Lissabonner EG-Gipfels13, der Behandlung des Themas durch den Weltwirtschaftsgipfel14, der Einbestellung des südafrikanischen Botschafters in Bonn am 9.7.15 und der deutschen Erklärung in der VN-Sicherheitsratssitzung am 16.7.199216 ist die nächste Gelegenheit zu einem Appell an die Hauptkontrahenten der CODESA das von Nelson Mandela erbetene Telefongespräch mit dem Bundeskanzler, dem ein Gespräch mit Präsident de Klerk folgen soll. Beide sind nun für den 20. Juli geplant. 2) Wie für das Mandela-Telefonat bereits geschehen, wird AA auch für das mit de Klerk Gesprächselemente übermitteln. Dabei sollten die Konzessionen de Klerks in Sachen Verhandlungslinie und Gewalteindämmung lobend erwähnt werden. Gleichzeitig sollte aber auch deutlich gemacht werden, dass wir viele der ANC-Forderungen in der Gewaltfrage, die übrigens auch von der von de Klerk eingesetzten Goldstone-Kommission17 und dem World Council of Churches geltend gemacht werden, für berechtigt halten. De Klerk sollte aufgefordert werden, die angekündigten Maßnahmen nunmehr zu implementieren und weitere zu prüfen. IV. EG-Beobachter als konkreter Beitrag zur Gewalteindämmung 1) Die ANC-Forderung nach internationaler Untersuchung des Boipatong-Massakers hat die südafrikanische Regierung durch Hinzuziehung ausländischer Experten zumindest teilweise erfüllt. Am 15./16.7. hat sich der VN-Sicherheitsrat mit Südafrika befasst und den VN-Generalsekretär18 aufgefordert, einen Sonderbeauftragten nach Südafrika zu entsenden.19 Damit sind auch die VN in der Gewaltfrage engagiert, und die Regierung hat dies in Abweichung von ihrer bisherigen Linie akzeptiert. Der Sonderbeauftragte – gedacht ist an Cyrus Vance – wird mit allen Parteien Maßnahmen der Gewalteindämmung diskutieren und so die Rolle eines internationalen Ombudsmanns abdecken. Neue internationale „fact finding missions“, die Südafrika binnen kurzer Zeit nach Produktion eines weiteren Berichts wieder verlassen, versprechen keinen großen Nutzen. 2) Zusätzlich von Nutzen sein könnte dagegen die Entsendung ausländischer Beobachter für einen längeren Zeitraum, die durch ihre Präsenz Druck auf die Sicherheitsorgane aus12 Für die Erklärung von BM Kinkel vgl. die Pressemitteilung Nr. 195/92; B 7, ZA-Bd. 178990. 13 Vgl. Ziffer 16 der „Schlussfolgerungen des Vorsitzes der Tagung des Europäischen Rats am 26./27. Juni 1992; BULLETIN 1992, S. 679. Zur Tagung vgl. Dok. 201. 14 Vgl. Ziffer 8 der „Erklärung des Vorsitzes“ vom 7. Juli 1992; BULLETIN 1992, S. 733 f. Zum Weltwirtschaftsgipfel vom 6. bis 8. Juli 1992 in München vgl. Dok. 225. 15 In dem Gespräch zwischen MDg Sulimma und dem südafrikanischen Botschafter van Niekerk wurde der weitere Fortgang des Friedensprozesses in Südafrika erörtert. Sulimma appellierte an die südafrikanische Regierung, „mehr zu tun, um die Gewalt unter Kontrolle zu bringen“. Van Niekerk forderte „die Europäer und uns nachdrücklich auf, sich stärker zu engagieren“. Vgl. B 34, ZA-Bd. 155796. 16 Für die Ausführungen von Botschafter Graf zu Rantzau, New York (VN), vgl. https://undocs.org/en/ S/PV.3096, S. 100–103. 17 Zur Goldstone-Kommission vgl. Dok. 125, Anm. 22. 18 Boutros Boutros-Ghali. 19 Vgl. die Resolution Nr. 765 des VN-Sicherheitsrats vom 16. Juli 1992; RESOLUTIONS AND DECISIONS 1992, S. 104 f.

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üben, allen Parteien als Ansprechpartner zur Verfügung stehen und deren Zeugnis nach innen wie nach außen Glaubwürdigkeit beanspruchen kann. Sie könnten dadurch die Position Mandelas, aber auch die de Klerks stärken. Australien und Kanada haben sich zugunsten einer internationalen Beobachtermission ausgesprochen, ohne dabei konkrete Aussagen über die entsendenden Länder oder Institutionen und den organisatorischen Rahmen gemacht zu haben. Das Commonwealth­ Sekretariat arbeitet an einem eigenen Vorschlag. Als Träger der Beobachtergruppe – bisherige Aussagen zur Größenordnung reichen von 12 bis 150 Mann – kämen außer den VN und dem Commonwealth noch die EG und die OAE infrage. Die südafrikanische Regierung hat inzwischen eine internationale Beobachterrolle grundsätzlich akzeptiert, dürfte aber eine Präferenz für das Commonwealth oder die EG haben. 3) Wir hatten die Entsendung von EG-Beobachtern als Idee bereits in die deutsch-britischen Afrika-Konsultationen am 25.6.1992 eingebracht und sind dort auf positive Resonanz gestoßen. Zusammen mit UK haben wir den Gedanken in der EPZ-AG Afrika in Brüssel am 1.7.1992 zur Diskussion gestellt, wo die ersten Reaktionen überwiegend zögerlich waren. Auch im PK am 14./15.7. gab es noch Bedenken gegen zu viel Engagement in der Gewaltfrage (IT) bzw. Überbetonung dieses Problems im Rahmen des Verhandlungsprozesses (F, DK, E), aber schließlich fand der Vorschlag der Präsidentschaft allgemeine Unterstützung. UK wurde um weitere Konkretisierung gebeten. Die Akzeptanz auf südafrikanischer Seite wird die AM-Troika bei ihrem Besuch sondieren.20 4) Nach britischen Vorstellungen sollten etwa 25 bis 30 EG-Beobachter den Regionalausschüssen des Friedensabkommens vom September 199121 zugeordnet werden. Damit würden sie in einem von allen relevanten politischen Gruppierungen akzeptierten Rahmen tätig, wären zwar nicht flächendeckend, aber doch im Prinzip landesweit präsent und würden neben der oben skizzierten Beobachterrolle auch zur Implementierung des Friedensabkommens beitragen. Diese Argumente sprechen dafür, die Realisierungschancen des von der Präsidentschaft entwickelten EG-Beobachterkonzepts auszuloten. Beim britischen Auftritt im Sicherheitsrat rangierte die EG als Träger einer Beobachterfunktion allerdings hinter Commonwealth und OAE, sodass fraglich ist, mit welcher Intensivität die Präsidentschaft um ein EG-Engagement bemüht sein wird. 5) Im Allgemeinen Rat am 20. Juli, wo zu diesem Thema eine Orientierungsdebatte der Minister beim Mittagessen vorgesehen ist, sollten wir für die baldige Entsendung europäischer Beobachter nach Südafrika eintreten.22 Wir sollten dabei an die britischen Vorschläge anknüpfen, aber auch für andere Konstruktionen offenbleiben. Der VN-Generalsekretär 20 Zum Besuch der EG-Troika am 2./3. September 1992 in Südafrika vgl. Dok. 267, Anm. 16. 21 Referat 320 erläuterte am 15. Juni 1992: „Zur Eindämmung der Gewalt haben sich 24 Parteien und Organisationen – darunter die südafrikanische Regierung, ANC und Inkatha – am 14.9.1991 auf den Abschluss eines Friedensabkommens (,National Peace Accord‘) geeinigt, das bisher jedoch nahezu wirkungslos geblieben ist.“ Vgl. B 34, ZA-Bd. 155790. 22 Botschafter Trumpf, Brüssel (EG), berichtete am 21. Juli 1992, die Außenminister der EG-Mitgliedstaaten hätten während eines Mittagessens am Vortag die Entsendung der EG-Troika auf Ministerebene beschlossen: „Genaues Datum für die Mission soll noch festgelegt werden. Als mögliches Element einer Gem[einschafts-]Politik gegenüber Südafrika wurde auch die Entsendung einer Beobachtermission genannt.“ Vgl. DB Nr. 2179; B 210, ZA-Bd. 162279.

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20. Juli 1992: Vermerk von Bertram

hat angeblich, so Berichterstattung der Botschaft London, UK um Koordinierung der Aktivitäten von VN, EG und Commonwealth gebeten. Die AM-Troika wird Südafrika voraussichtlich erst Anfang September besuchen. Damit die EG mit ihrem Beobachter-Engagement nicht zu spät kommt, sollte das Projekt bis dahin so weit wie möglich konkretisiert sein. Entgegensteuern sollten wir der in EPZ-AG und PK erkennbaren britischen Tendenz, das EG-Engagement von einem Ersuchen aller Parteien des Nationalen Friedensabkommens abhängig zu machen. EG-Beobachter müssten von allen akzeptiert werden, aber wenn wir von ihrem Nutzen überzeugt sind, sollten wir sie von uns aus anbieten. Daerr B 34, ZA-Bd. 155790

231 Vermerk des Vortragenden Legationsrats I. Klasse Bertram 201-360.90 SO JUG Betr.:

20. Juli 1992

Beteiligung der Bundeswehr an Überwachungsmaßnahmen von WEU und NATO an der Adria1; hier: Gemeinsame Sitzung des Auswärtigen und des Verteidigungsausschusses am 16. Juli 1992

Anlg.: 32 Am 16. Juli 1992 erörterten Auswärtiger und Verteidigungsausschuss des Deutschen Bundestages in gemeinsamer Sitzung eingehend o. a. Angelegenheit auf der Grundlage einleitender Erklärungen der Bundesminister Kinkel und Rühe. Am Ende der Sitzung wurde der von der SPD eingereichte Antrag (Anlage 13) abgelehnt, der Antrag der CDU/CSUFraktion (Anlage 24), mit dem die Entscheidung der Bundesregierung vom 15. Juli 19925 gebilligt und ausdrücklich für grundgesetzkonform erklärt wird, mit den Stimmen der Regierungsparteien angenommen. 1 2 3 4

Zu den Überwachungsmaßnahmen von NATO und WEU in der Adria vgl. Dok. 220. Vgl. Anm. 3, 4 und 6. Dem Vorgang beigefügt. Für den Antrag der SPD vgl. B 14, ZA-Bd. 161180. Dem Vorgang beigefügt. Für den Antrag der Fraktionen von CDU/CSU und FDP vgl. B 14, ZABd. 161180. 5 Das Kabinett beschloss am 15. Juli 1992, dass „1) die Bundesrepublik Deutschland sich mit eigenen Beiträgen an der Durchführung der Beschlüsse von WEU und NATO vom 10. Juli 1992 auf der Grundlage der VN-Resolutionen Nr. 713 und 757 zu Überwachungsmaßnahmen im Mittelmeer beteiligen wird und 2) die Bundesmarine hierfür drei Seeraumüberwachungsflugzeuge der Marinefliegerkräfte sowie die derzeit am Ständigen Einsatzverband Mittelmeer der NATO teilnehmende Schiffseinheit, den Zerstörer Bayern, der am 30./31. Juli durch die Fregatte Niedersachen abgelöst werden soll, bereitstellen wird.“ Vgl. den Sprechzettel für BM Kinkel vom 15. Juli 1992; B 14, ZA-Bd. 161180.

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1) BM trug einleitend zur Entscheidung der Bundesregierung auf der Grundlage des revidierten Kabinettsprechzettels (Anlage 36) zum Sachverhalt, zur rechtlichen und zur politischen Bewertung vor. BM Rühe wies in ergänzenden Ausführungen zunächst darauf hin, dass es bei Durchführung der Operationen von WEU und NATO keinerlei Sonderregelung für deutsche Schiffe gebe. Sie bewegten sich, wie die Schiffe der übrigen Verbündeten, mindestens 15 Seemeilen von der ehemals jugoslawischen Küste entfernt. Die Operationsbedingungen würden erlauben, sich Handelsschiffen bis auf 450 m zu nähern; Flugzeuge dürften nicht näher [als] 150 m an die beobachteten Schiffe heran. Deutscher NATO-Beitrag sei der Zerstörer „Bayern“, der normal bewaffnet sei. Der WEU stellt die Bundesmarine drei Seeraumüberwachungsflugzeuge vom Typ Breguet Atlantic (unbewaffnet) zur Verfügung. Ein Flugzeug sei bereits nach Italien unterwegs, die beiden übrigen würden am nächsten Tag folgen. Die Schiffe hätten das übliche Recht zur Selbstverteidigung; das potenzielle Risiko einer Verwicklung in Auseinandersetzungen sei durch den gemeinsamen Einsatz mit NATO bzw. WEU beherrschbar. Auf der „Bayern“ täten 96 Wehrpflichtige Dienst; auf der „Niedersachsen“, die Ende Juli die „Bayern“ ersetzen werde, seien es 41 Wehrpflichtige. Für den Einsatz von Wehrpflichtigen sei kein Problem zu erwarten. Der Schiffskommandant habe im Übrigen die Möglichkeit, flexibel zu reagieren. Er, BM Rühe, warne jedenfalls dringend vor einer Zweiteilung der Armee in Zeit- und Berufssoldaten auf der einen und Wehrpflichtige auf der anderen Seite. Wie schon für die Tätigkeit der Sanitätssoldaten im Kambodscha7 sei für die soziale Absicherung alles getan worden. Sollte es Schwierigkeiten geben, z. B. im Hinblick auf die Kriegsklausel der Versicherungen, so werde der BMVg eintreten. 2) MdB Klose (SPD) führte für die Opposition in die Debatte ein. Man sei sich sicherlich mit der Regierung darin einig, dass die Lage in Jugoslawien entsetzlich sei. Die Frage sei, wie man helfen könne. Hier gehe es um humanitäre Hilfe und um die Behandlung der Flüchtlinge. Für die Beteiligung der Bundeswehr an der Luftbrücke nach Sarajevo8 habe man mit der Zustimmung nicht gezögert, aber die jetzige Aktion im Mittelmeer sei nicht geeignet zu helfen. Die Lieferungen unter Umgehung des VN-Embargos9 erfolgten auf dem Landwege, u. a. aus Griechenland. Bei der Aktion von WEU und NATO stehe nicht die Hilfe im Vordergrund, sondern die Erfüllung neu definierter Bündnispflichten. Es seien noch lange nicht alle politischen Möglichkeiten ausgeschöpft. Er habe auch Zweifel, ob die Bündnispartner sich bei der Bewertung der Lage einig seien. Er teile die Auffassung, dass man in Jugoslawien einen Völkermord beobachte; die Bundesregierung solle eine entsprechende formelle Feststellung durch die Vereinten Nationen erwirken. Zu der Überwachungsoperation in der Adria selbst trug MdB Klose vor, es handele sich nicht etwa um eine militärische Übung, sondern um Maßnahmen auf der Grundlage von Beschlüssen der WEU und der NATO. Es gehe zweifelsfrei um militärische Maßnah6 Dem Vorgang beigefügt. Für den Sprechzettel für BM Kinkel vgl. B 14, ZA-Bd. 161180. 7 Zum Verlauf des Friedensprozesses in Kambodscha und zur Beteiligung der Bundesrepublik an UNTAC vgl. Dok. 305. 8 Zur internationalen Luftbrücke nach Sarajevo vgl. Dok. 176. 9 Vgl. die Resolution Nr. 713 des VN-Sicherheitsrats vom 25. September 1991; RESOLUTIONS AND DECISIONS 1991, S. 42 f. Für den deutschen Wortlaut vgl. EUROPA-ARCHIV 1991, D 550–552. Vgl. auch die Resolution Nr. 757 des VN-Sicherheitsrats vom 30. Mai 1992; Dok. 159, Anm. 12.

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men, auch wenn bislang keine Gewaltanwendung vorgesehen sei. Auf jeden Fall bewege sich die Aktion jenseits des Verteidigungsauftrags im WEU- bzw. NATO-Vertrag. Es sei zwar keine „out of area“-Aktivität, aber wohl eine Aktivität „out of treaty“. Mit dem Beschluss zur Teilnahme der Bundesmarine weiche die jetzige Bundesregierung von der ständigen Verfassungsinterpretation aller bisherigen Bundesregierungen ab. Zur politischen Bewertung sei Folgendes zu sagen: Eine nachfolgende Option (zwangsweise Durchsetzung des Embargos) sei keineswegs ausgeschlossen. Schließlich gebe es bereits einen Untersuchungsauftrag an die Ad-hocGruppe der WEU. Es seien offenbar weitere Maßnahmen geplant, und die Bundesregierung werde da wohl auch folgen. Man stehe vor einer völlig neuen Weichenstellung in der Außen­ und Sicherheitspolitik, die nicht am Parlament vorbei erfolgen dürfe. Die SPD sehe darin eine Methode der Bundesregierung. Die Entscheidung über die Entsendung der Sanitätssoldaten nach Kambodscha sei unmittelbar vor der Osterpause des Bundestages erfolgt. Die Entscheidung, um die es heute gehe, falle zu Beginn der Sommerpause. Es sei für die SPD nicht akzeptabel, dass diese Operation noch vor ihrer Erörterung in der heutigen Ausschusssitzung begonnen habe. Darin stecke ein Verstoß gegen die Grundregeln der parlamentarischen Demokratie. SPD fordere, Debatte und Entscheidung ins Parlament zurückzuverlegen. Man werde sich überlegen, für die kommende Woche eine Sondersitzung des Bundestages zu beantragen.10 3) MdB Lamers (CDU) entgegnete im Namen der CDU/CSU-Fraktion auf MdB Klose. Die Lage in Jugoslawien sei in der Tat entsetzlich, darüber bestehe kein Streit. Er müsse allerdings hinzufügen, dass die heutige Ausschusssitzung wesentlich das Ergebnis interner Auseinandersetzungen in der SPD sei; viele Äußerungen zeigten, dass innerhalb der Partei die bisherige Position nicht mehr für richtig gehalten werde. Er gehe davon aus, dass die SPD Klage beim Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe einreichen werde.11 Dies wäre logisch und werde helfen, den internen Klärungsprozess in der SPD voranzutreiben. Für seine Fraktion stelle er fest, dass die Position unverändert sei: – Eine Verfassungsänderung werde für wünschenswert gehalten. – Verfassungsrechtlich habe man keine Bedenken, erst recht nicht bei einer Aktion dieser Art (WEU und NATO). Der Hinweis von MdB Klose auf die Verfassungsinterpretation aller Bundesregierungen sei nicht korrekt. Anfang der 60er Jahre habe niemand von verfassungsrechtlichen Bedenken in solchen Fallgestaltungen gesprochen. Artikel 87 a GG12 in der heute zitierten Form habe bis 1968 gar nicht bestanden. In den Materialien zum Artikel 87 a GG finde sich kein Hinweis. Seine Fraktion habe also, wie die Bundesregierung, keine verfassungsrechtlichen Bedenken gegen die beschlossene Maßnahme. Zur politischen Bewertung: Die SPD schlage in ihrem Antrag vor, das VN-Embargo zu verstärken, die Tatsache des Völkermordes festzustellen und zusätzliche humanitäre Hilfe 10 Der Bundestag trat am 22. Juli 1992 auf Antrag der SPD zu einer Sondersitzung zur Entwicklung im ehemaligen Jugoslawien zusammen. Vgl. BT STENOGRAPHISCHE BERICHTE, 12. WP, 101. Sitzung, S. 8608–8655. 11 Die SPD-Fraktion leitete am 7. August 1992 ein Organstreitverfahren gegen die Bundesregierung vor dem Bundesverfassungsgericht ein (2 BvE 3/92). Für die Antragsschrift vgl. Klaus DAU, Gotthard WÖHRMANN (Hg.), Der Auslandseinsatz deutscher Streitkräfte: Eine Dokumentation des AWACS-, des Somalia- und des Adria-Verfahrens vor dem Bundesverfassungsgericht, Heidelberg 1996, S. 377–404. 12 Für Artikel 87 a GG vom 23. Mai 1949 in der Fassung vom 24. Juni 1968 vgl. BGBl. 1968, I, S. 711.

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zu leisten. Die Wirklichkeit zeige allerdings, dass alle politischen Lösungsversuche wirkungslos seien. Sie reichten einfach nicht bei diesem Ausmaß von Wut und Hass im ehemaligen Jugoslawien. Der Einsatz militärischer Mittel in dieser Region sei nicht nur politisch bedenklich, sondern habe auch kaum Aussicht auf Erfolg. Er sei für WEU und NATO gar kein Diskussionspunkt. Im Übrigen sei auch völlig klar, dass deutsche Soldaten aus historischen Gründen auf dem Gebiet des früheren Jugoslawiens nicht eingesetzt werden dürften. Dennoch müsse man sich die Frage stellen, ob Deutschland sich ganz heraushalten könne. Es könne nicht. Die Entscheidung der Bundesregierung sei selbstverständlich; sie sei überfällig. Die Maßnahme stelle einen sehr bescheidenen, vorsichtig dosierten Beitrag dar. Die Verfassung sei nicht eigentlich das Problem. Nur der politische Streit über den Beschluss der Bundesregierung sei wirklich legitim. Man unterstütze die Bundesregierung. In Zukunft solle allerdings die Regierung die parlamentarischen Gremien vor anstehenden Entscheidungen informieren. Allerdings wolle er ausdrücklich BM Kinkel für intensive Unterrichtung der Parlamentarier im Vorfeld der Kabinettsentscheidung danken. 4) MdB Irmer (FDP) brachte die Unterstützung der FDP-Fraktion für die Bundesregierung zum Ausdruck, verschwieg allerdings nicht die gegenteilige Auffassung einiger FDPAbgeordneter. Das Stichwort „out of area“ sei ein falscher Begriff, er betreffe nur den WEU-/NATOVertrag. Die von [der] Bundesregierung beschlossene Aktion sei richtig und verfassungsrechtlich zulässig. Artikel 87 a GG sei erst mit der Notstandsgesetzgebung in das Grundgesetz aufgenommen worden. Die Bestimmung diene also der Begrenzung der Kompetenzen der Bundeswehr für innere Einsätze im Notstandsfall. Es gebe keinen Zusammenhang mit einem Einsatz der Streitkräfte außerhalb des NATO-Gebietes. Eine Verfassungsänderung sei dafür nicht erforderlich. MdB Irmer nahm anschließend BM Kinkel ausdrücklich und ausführlich gegen den Vorwurf in Schutz, am Parlament vorbei gehandelt zu haben. Von einer verfassungsrechtlichen Grauzone könne nur insoweit gesprochen werden, als die SPD sich einer verfassungsrechtlichen Klarstellung verweigere. Eine Beschränkung auf Blauhelmmissionen sei nicht akzeptabel. Damit könne nicht argumentiert werden, Deutschland seiner internationalen Verantwortung zu entziehen. Der Einsatz von Streitkräften sei kein Ersatz für Politik, könne aber als Ultima Ratio durchaus erforderlich sein. In der Zukunft sollte der Einsatz der Bundeswehr außerhalb des Bündnisgebietes an die Zustimmung des Bundestages gebunden werden. Diejenigen, die stets eine Beschränkung der Funktion der Streitkräfte auf die Landesverteidigung forderten, nähmen für sich stets ein moralisches Argument in Anspruch. Er frage, ob die Nothilfe moralisch weniger wert sei als Notwehr. Es könne nicht verwerflich sein, dem Aggressor in den Arm zu fallen. Im Übrigen könne man aus der totalitären Geschichte Deutschlands nicht herleiten, dass wir uns grundsätzlich zurückzuhalten und nur mit dem Scheckbuch Diplomatie zu gestalten hätten. Ganz im Gegenteil, Deutschland müsse sich deshalb besonders einsetzen für die Durchsetzung der Menschenrechte im internationalen Rahmen. Dabei müsse selbstverständlich der Einsatz von Streitkräften stets durch ein VN-Mandat oder ein KSZE-Mandat als regionale Abmachung im Sinne der VN­Charta13 gedeckt sein. WEU und NATO würden nicht aus eigener Machtvollkommenheit handeln. 13 Vgl. Kapitel VIII der VN-Charta vom 26. Juni 1945; BGBl. 1973, II, S. 466–469.

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Die Debatte um den Einsatz von Wehrpflichtigen betrachte er als „Nebenkriegsschauplatz“. Es gebe keinen Grund, Wehrpflichtige anders als Berufssoldaten zu behandeln. Es sei nicht anders als im Verteidigungsfall, da alle gemeinsam eingesetzt würden. 5) In der anschließenden Aussprache auf der Grundlage von Rückmeldungen ging es wesentlich immer wieder um die verfassungsrechtliche Argumentation im Hinblick auf Artikel 87 a und Artikel 24 GG14. Die Abgeordneten der SPD (insbesondere die MdB Gansel, Verheugen, Kolbow), aber auch einige Mitglieder der FDP-Fraktion (MdB Hirsch und Koppelin) vertraten die einschränkende Auslegung des Artikels 87 a GG, wonach ein Einsatz der Streitkräfte außer zur Verteidigung nur in den im Grundgesetz ausdrücklich erwähnten Fällen zulässig sei. Bei der Aktion in der Adria gehe es weder um den Verteidigungsfall noch um einen darüber hinaus ausdrücklich zugelassenen Fall. Auch Artikel 24 könne nicht weiterhelfen, da die Beschlüsse von WEU und NATO vom 10. Juli 1992 vom jeweiligen Vertrag dieser beiden Organisationen nicht gedeckt würden („out-of­treaty“). Auch wiesen einige Sprecher der SPD darauf hin, dass WEU und NATO sich keineswegs auf ein VN-Mandat berufen könnten. In den VN-SR-Resolutionen 713 und 757 würden ausschließlich Einzelstaaten angesprochen, nicht internationale Organisationen. Demgegenüber wiesen die Abgeordneten der Regierungsparteien die einschränkende Auslegung von Artikel 87 a GG zurück. Der Wortlaut, die Stellung dieser Bestimmung in der Verfassung sowie die Verhandlungsgeschichte (Zusammenhang mit Notstandsgesetzgebung) ließen eindeutig erkennen, dass sich diese Vorschrift ausschließlich mit den Kompetenzen der Bundeswehr im Inneren des Landes befasse. Aus dieser Bestimmung lasse sich keine Beschränkung für den Einsatz der Streitkräfte im Ausland herleiten. Aus diesem Grunde sei auch die von der SPD vorgeschlagene Verfassungsänderung mit ihrer ausdrücklichen Beschränkung auf sogenannte Blauhelmmissionen völlig inakzeptabel, weil sie (so insbesondere MdB Schäuble) nicht etwa eine Klarstellung der Verfassungslage bringe, sondern im Gegenteil eine Einschränkung der geltenden verfassungsrechtlichen Lage. Darüber hinaus wiesen die Vertreter der Koalitionsfraktionen darauf hin, dass es sich bei der Teilnahme der Bundesmarine an den Aktionen von WEU und NATO in der Adria nicht um einen „Einsatz“ im Sinne des Artikel 87 a GG handle. Mit diesem Begriff sei die hoheitliche Funktion der Streitkräfte als Waffenträger angesprochen. Es gehe aber nicht um eine Durchsetzung des Embargos mit Zwangsmitteln, sondern ausschließlich um Maßnahmen der Beobachtung und Berichterstattung auf Hoher See. Die beschlossene Maßnahme liege eindeutig unterhalb der Schwelle von Blauhelmeinsätzen, die angeblich für die SPD die Schmerzgrenze darstelle. Mehrere Sprecher der Koalitionsfraktionen empfahlen der SPD ausdrücklich, den verfassungsrechtlichen Streit durch eine Klage beim Bundesverfassungsgericht klären zu lassen. Zur völkerrechtlichen Lage wiesen einzelne Sprecher darauf hin, dass NATO und WEU in Ausführung eines VN-Beschlusses handelten. Es stehe den VN-Mitgliedstaaten [zu], Erkenntnisse über die Einhaltung der Embargobeschlüsse gegen das ehemalige Jugoslawien einzeln oder gemeinschaftlich mit anderen Staaten zu sammeln. 6) Im Rahmen des Austausches politischer Gesichtspunkte stellten mehrere Sprecher der SPD die Opportunität des Einsatzes von Wehrpflichtigen für derartige Operationen infrage. Der Auftrag von Wehrpflichtigen beziehe sich auf die Landesverteidigung. MdB Verheugen 14 Für Artikel 24 GG vom 23. Mai 1949 vgl. BGBl. 1949, S. 4.

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berief sich auf Theodor Heuss und Thomas Dehler: Demokratische Legitimation der Wehrpflicht sei die Landesverteidigung. Wenn der Wehrpflichtige seinen Dienst antrete, müsse er nur die Mission der Verteidigung des Landes bzw. von Bündnispartnern gegen militärische Angriffe einkalkulieren, nicht aber darüber hinausgehende Einsätze. Darüber hinaus stellten mehrere Sprecher der SPD die Frage nach der Tauglichkeit der Beschlüsse von WEU und NATO für den angeblich angestrebten Zweck, nämlich den Menschen in Jugoslawien zu helfen. Das Embargo werde weniger auf dem Seewege als vielmehr auf dem Landwege, vor allem über Rumänien und den Bündnispartner (!) Griechenland unterlaufen. Im Übrigen könne die Bewegung von Schiffen in der Adria auch sehr gut mit anderen Mitteln festgestellt werden, nämlich (so ausdrücklich MdB Verheugen und Opel) mit der Beobachtung durch Satelliten oder durch nachrichtendienstliche Mittel. Gefragt sei nicht der Einsatz von Streitkräften, sondern das ernsthafte Bemühen um politische Lösungen. MdB Kolbow forderte eine große Jugoslawien-Konferenz. MdB Däubler-Gmelin erklärte, die Menschen würden erwarten, dass wir den Flüchtlingen helfen. In dieser Beziehung lasse das Handeln der Bundesregierung viel zu wünschen übrig. Im ehemaligen Jugoslawien seien etwa so viele Menschen auf der Flucht wie Palästinaflüchtlinge im Nahen Osten. Die Menschen würden nicht verstehen, wieso die EG diesen Krieg nicht habe verhindern können. MdB Gansel reduzierte die beschlossenen Aktionen auf ihre europapolitische Bedeutung. Hier werde ein Streit zwischen WEU und NATO ausgetragen, der entscheidend von den Antagonisten Frankreich und USA vorangetrieben werde. Mehrere Sprecher warfen der Bundesregierung vor, mit ihrem forschen Handeln bei unseren Bündnispartnern überzogene Erwartungen über die politische Handlungsfähigkeit zu wecken. Die Debatte zeige im Übrigen, dass die Sprecher der Koalitionsfraktionen bereits etwas begründet hätten, was die Bundesregierung nach eigenem Bekunden noch gar nicht geplant habe (nämlich einen möglichen Kampfeinsatz der Bundeswehr im Ausland). Die Bundesregierung verlasse mit ihrer Entscheidung vom 15. Juli den sicherheitspolitischen Grundkonsens mit der Opposition und leite eine grundlegend neue Außen- und Sicherheitspolitik ein (so etwa MdB Scheer). Das Grundgesetz werde als eine Last betrachtet, und mit der Taktik der scheibchenweisen Gewöhnung der Bevölkerung an die neue Politik sei die Bundesregierung dabei, die Partner eher zu animieren und zu ermuntern, als zur Zurückhaltung zu mahnen. Nach MdB Duve (SPD) begegne man international dem Völkerchaos mit einem Chaos der internationalen Instrumente. Die NATO sei als Feuerwehr nicht geeignet. Internationale Instrumente der Friedenssicherung dürften nicht von nationalen Interessen bestimmt werden, wie dies heute noch der Fall sei. Bei kollektiven Maßnahmen sei größte Behutsamkeit angebracht. MdB Wieczorek­Zeul (SPD) hält die gegenwärtige Phase für eine Zwischenstufe. Angepeilt sei ein weltweiter Einsatz deutscher Soldaten. Dies gehe auch aus der Petersberger Erklärung der WEU15 hervor. Die Bevölkerung soll jetzt schon einmal daran gewöhnt werden. Die Abgeordneten der Koalitionsfraktionen hielten demgegenüber die Kabinettsentscheidung vom Vortage für völlig angemessen. Die Bundesregierung trage mit dieser Entscheidung den radikal veränderten Gegebenheiten der internationalen Politik Rechnung. Das vereinte Deutschland müsse größere Verantwortung tragen, insbesondere (so etwa 15 Zur WEU-Ministerratstagung am 19. Juni 1992 vgl. Dok. 162, Anm. 32.

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MdB Köhler, CDU) als Mitgliedstaat der Vereinten Nationen. MdB Lamers wies die Klagen der SPD über neue Rolle von NATO und WEU zurück. Die SPD habe doch eben dieses immer gefordert. NATO und WEU seien die einzigen funktionierenden Organisationen, die geeignete Instrumente an der Hand hätten. Zur Debatte stehe nicht nur die Bündnisfähigkeit (so MdB Lamers), sondern auch die Europafähigkeit der Bundesrepublik Deutschland. Innerhalb der sich herausbildenden Politischen Union könne nicht ein Staat eine grundsätzlich andere sicherheitspolitische Position beziehen als alle anderen Partner. Es stehe der Bundesrepublik Deutschland wohl gut an, beim Einsatz militärischer Mittel stets zur äußersten Zurückhaltung zu mahnen. Sie dürfe sich dabei aber nicht grundsätzlich von vornherein abseits stellen. Im Übrigen sei in der deutschen Bevölkerung ein breiter Konsens dafür festzustellen, dass in Jugoslawien endlich gehandelt werden müsse. Die Maßnahmen von WEU und NATO seien schließlich ein bescheidener Beitrag. 7) BM ging in seiner Antwort auf die Fragen der Abgeordneten ausführlich darauf ein, ob die beschlossenen Maßnahmen sinnvoll seien und den Menschen helfen würden. Man dürfe diese Maßnahmen nicht isoliert betrachten, sondern im Gesamtkontext. Die Völkergemeinschaft habe es trotz aller Bemühungen leider nicht geschafft, den Krieg zu beenden. Er sei nur schwer in den Griff zu bekommen. Es ergebe sich folgende Situation: Nach Beseitigung des Ost-West-Konfliktes sei die Eisdecke des Kommunismus über den verschiedenen Konfliktursachen zusammengeschmolzen, und nun würden alle Konflikte wieder aufflammen. Jugoslawien sei nur ein solcher Konflikt, es gebe auch Nagorny Karabach und Moldawien. Die Konflikte hätten sich schneller entwickelt, als die Politik neue Instrumente zu ihrer Bewältigung schaffen könne. Dies habe sich auf den Debatten sowohl beim KSZEGipfel16 als auch innerhalb von WEU und NATO gezeigt. Die Auseinandersetzung in Jugoslawien werde nicht mehr die Gefahr eines Weltkrieges beinhalten. Auch Russland sei außerordentlich stark daran interessiert, den Konflikt gemeinsam mit den anderen KSZE­ Staaten einzudämmen. Die Fülle dessen, was international in dieser Richtung versucht werde, sei ungeheuerlich. Es gebe ständig mindestens eine Konferenz zu allen diesen Themen. Er weise hin auf die Bemühungen von EG, VN, WEU, NATO, KSZE und G 7. Es laufe die Konferenz unter Vorsitz von Lord Carrington. Die Welt scheue sich, militärisch innerhalb Jugoslawiens einzugreifen. Er, BM, wolle in diesem Zusammenhang noch einmal ausdrücklich klarstellen, dass aus den bekannten historischen Gründen ein Einsatz der Bundeswehr mit Landstreitkräften in Jugoslawien unter gar keinen Umständen in Betracht komme. An Frau MdB Däubler-Gmelin gewandt, bemerkte BM, in Bezug auf die humanitäre Hilfe für Jugoslawien habe sich die Bundesrepublik Deutschland nichts vorzuwerfen. Deutschland sei mit politischen und humanitären Initiativen geradezu vor der Front marschiert. Er legte die deutschen humanitären Hilfeleistungen im Einzelnen dar und wies darauf hin, dass Deutschland hierbei absolut an der Spitze stehe. Man könne sicherlich immer noch mehr tun, aber [es] bestehe kein Anlass für unberechtigte Vorwürfe. Er müsse feststellen, dass natürlich die Überwachungsmaßnahmen von WEU und NATO allein den Menschen in Bosnien nicht helfen würden. Sie trügen aber dazu bei, dass die Luft für die 16 Zur KSZE-Gipfelkonferenz am 9./10. Juli 1992 in Helsinki vgl. Dok. 226.

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serbische Führung und für die serbische Armee dünner werde. Auch sei nicht die Einwirkung auf die innenpolitischen Strömungen in Serbien zu unterschätzen. Zum Vorwurf „out of treaty“ wies BM auf Artikel VIII des WEU­Vertrages17 und auf die Artikel 2 und 4 des NATO-Vertrages18 mit den dort vorgesehenen Konsultationen hin. Im Übrigen stehe in beiden Verträgen nichts, was die am 10. Juli19 beschlossenen Maßnahmen in irgendeiner Weise ausschließen könnte. In Bezug auf Griechenland und Rumänien seien in der Tat Vorwürfe geäußert worden, dass von dort aus Waren an Jugoslawien unter Umgehung des Embargos geliefert würden. Er selbst habe diesen Verdacht während des KSZE-Gipfels in Helsinki aufgegriffen, was den rumänischen Außenminister20 veranlasst habe, feierlich zu erklären, dass Rumänien nichts zur Umgehung des Embargos tue und bereit sei, dies von internationalen Beobachtern im Lande überprüfen zu lassen. BM führte noch einmal zur verfassungsrechtlichen Würdigung des Kabinettsbeschlusses aus: Artikel 87 a GG spreche von der Verteidigung, also von der Abwehr eines militärischen Angriffs. Die Teilnahme an den Operationen von WEU und NATO diene nicht zur Verteidigung. Aber Artikel 87 a spreche von „Einsatz“. Dabei handle es sich um eine Verwendung der Streitkräfte als Waffenträger in Kriegshandlungen. Beobachtungsmaßnahmen stellten keinen „Einsatz“ dar; insoweit enthalte Artikel 87 a keine Beschränkung. Wenn Artikel 87 a die Verwendung von Streitkräften auf Verteidigungszwecke beschränke, müsse man konsequenterweise auch humanitäre Einsätze als verboten betrachten. Im Übrigen sei auf den Querverweis über Artikel 24 GG zu den kollektiven Sicherheitssystemen WEU und NATO hinzuweisen. Letztlich sei auch das Friedensgebot der Präambel des GG21 heranzuziehen. Was das Gewaltmonopol der Vereinten Nationen anbetreffe, so sei festzustellen, dass der VN-SR sich der Sache angenommen habe. BM Rühe verwahrte sich noch einmal gegen den Vorwurf, das Parlament umgangen zu haben. Zur Tauglichkeit der beschlossenen Maßnahmen sei festzustellen, dass es sich um einen bescheidenen Beitrag mit politischer Wirkung handele. Die Frage nach der Tauglichkeit sei eigentlich auch nur legitim für jemanden, der härtere Mittel als die der beschlossenen Art fordere. Zum Argument der Neuorientierung der Außenpolitik sei darauf hinzuweisen, dass die Welt sich verändere. Die KSZE habe die NATO gefragt, ob sie bereit sei, an KSZE-Blauhelmmissionen teilzunehmen. Aufgabe der Politik sei es, sich um die Schaffung eines internationalen Konsenses zur Bewältigung neuer Aufgaben zu bemühen, nicht am Status quo zu verharren. Die Bundesregierung müsse international handeln. Der Zerstörer „Bayern“ sei dem Ständigen Einsatzverband Mittelmeer der NATO zugeteilt. Er, BM Rühe, frage MdB Klose, ob der den Befehl geben würde, das deutsche Schiff aus diesem Verband abzuziehen. Auf Bitte von BM Rühe stellte Generalinspekteur Naumann einige Überlegungen zur Einschätzung des Risikos für die beteiligten Bundeswehrsoldaten vor. Es gebe einige Schiffe 17 Für Artikel VIII des WEU-Vertrags vom 23. Oktober 1954 vgl. BGBl. 1955, II, S. 286 f. 18 Für Artikel 2 und Artikel 4 des NATO-Vertrags vom 4. April 1949 vgl. BGBl. 1955, II, S. 289 f. 19 Korrigiert aus: „10. Juni“. 20 Adrian Năstase. 21 Für die Präambel des Grundgesetzes vom 23. Mai 1949 vgl. BGBl. 1949, S. 1.

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der ehemals jugoslawischen Marine einschließlich einiger U-Boote. Die Küstenartillerie reiche allerdings nicht über die Entfernung des Küstenmeeres hinaus, sodass die auf Hoher See operierenden Schiffe davon nicht getroffen werden könnten. Der Einsatz von Minen durch die ehemals jugoslawischen Streitkräfte sei wenig wahrscheinlich, da davon auch solche Handelsschiffe getroffen würden, die Waren in ehemals jugoslawische Häfen bringen wollten. Darüber hinaus sei auf die guten technischen Abwehrmöglichkeiten der NATO- und WEU-Schiffe hinzuweisen. Zusammenfassend lasse sich feststellen, dass ein militärisches Risiko nicht völlig ausgeschlossen werden könne, aber insgesamt wenig wahrscheinlich sei. BM Rühe wies, wie schon zuvor der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses22, auf eine Nachricht hin, wonach der Wehrbeauftragte des Bundestages23 mit einigen Soldaten auf dem Zerstörer „Bayern“ gesprochen habe. Er habe dabei den Eindruck gewonnen, dass es insbesondere auch mit den Wehrpflichtigen keine Probleme an Bord gebe. BK Kinkel ging im Übrigen auf eine Frage MdB Gansels ein, ob die Bundesregierung bereit sei, im Rahmen der Hilfsflüge mit BW-Maschinen nach Sarajevo auf dem Rückweg kriegsverwundete Kinder aus Sarajevo mitzunehmen. Er, MdB Gansel, habe gehört, dass die UNO dies nicht zulasse. BM Kinkel teilte mit, dass BK Kohl und er selbst schon vorher von anderen Stellen auf diesen Sachverhalt angesprochen worden seien. BK und BM hätten spontan zugesagt, selbstverständlich verwundete Kinder mit den Maschinen aus Sarajevo ausfliegen zu wollen. In der Tat habe dann allerdings der VN-Kommandant des Flughafens Sarajevo diesem Projekt nicht zugestimmt. Aufgrund der Stellung der Vereinten Nationen in Sarajevo habe die Bundesregierung sich darüber nicht hinwegsetzen können. Er sage allerdings ausdrücklich zu, hierüber noch einmal mit den Vereinten Nationen zu sprechen mit dem Ziel, die Kinder doch ausfliegen zu können. Bertram24 B 14, ZA-Bd. 161180

232 Runderlass des Vortragenden Legationsrats I. Klasse Libal 215-350 JUG VS-NfD Fernschreiben Nr. 89 Plurez Citissime Betr.:

Aufgabe: 21. Juli 19921

Krise im ehemaligen Jugoslawien; hier: Allgemeiner Rat vom 20.7.1992 in Brüssel

Zur dortigen Unterrichtung 22 Hans Stercken. 23 Alfred Biehle. 24 Paraphe vom 23. Juli 1992. 1 Hat Referat 200 laut handschriftlichem Vermerk des VLR I Libal vor Abgang zur Mitzeichnung vorgelegen.

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21. Juli 1992: Runderlass von Libal

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1) Allgemeiner Rat befasste sich ausführlich mit der Entwicklung im ehemaligen Jugoslawien. Zu Beginn der Sitzung berichtete AM Hurd über seine jüngste Reise in die Krisenregion.2 Er zeigte sich beeindruckt von der dramatischen Flüchtlingslage in Kroatien. Aus seinem Gespräch mit Präsident Tudjman berichtete er von einer kroatischen Bereitschaft zur Entmilitarisierung der Halbinsel Prevlaka, die die Einfahrt zum einzigen Serbien und Montenegro noch verbleibenden Kriegshafen kontrolliert. Dies könnte Bedeutung für eine Beruhigung der Lage um Dubrovnik haben. Aus Serbien berichtete Hurd, dass niemand dort glaube, dass der neue Ministerpräsident Panić wirklich die Hebel der Macht kontrolliere. AM Hurd forderte die Serben energisch dazu auf, die Serben in Bosnien-Herzegowina wirksam zu beeinflussen und dem Kosovo eine Autonomie entsprechend den Vorstellungen von Lord Carrington einzuräumen. 2) Die Außenminister verabschiedeten eine zuvor von den Politischen Direktoren ausgearbeitete Erklärung (wird parallel übermittelt).3 Obwohl ihr nicht sehr energischer Duktus uns nicht voll befriedigt, enthält sie dennoch einige politisch bedeutsame Punkte, auf deren Grundlage wir weiter aufbauen können. Besonders gemischt ist die Bilanz in der Flüchtlingsfrage (Abs. 4). Wir sind zufrieden mit der Bereitstellung erheblicher zusätzlicher Finanzmittel, und zwar nicht nur für Nahrungsmittel, sondern – auf unsere Anregung hin – auch für die Bezahlung von Unterkünften. Damit soll den Menschen in erster Linie dort geholfen werden, wo sie, möglichst nahe an ihren ursprünglichen Wohnorten, vorübergehend untergebracht werden. Es ist uns jedoch trotz mehrerer sehr energischer Interventionen des BM nicht gelungen, unsere Partner zur Aufnahme von Flüchtlingen über den Kreis der bisherigen Aufnahmeländer Österreich, Italien und Deutschland hinaus im Rahmen einer Kontingentvereinbarung zu verpflichten. Das Maximum, was erreicht werden konnte, ist der ausdrückliche Hinweis auf dieses Problem sowie die Ankündigung, dass die Zwölf ihre Verantwortlichkeit wahrnehmen wollen und dass sie ihre Innen- und Justizminister bitten werden, sich der Sache dringend anzunehmen. Immerhin bietet dies einen Ansatzpunkt, um den Druck auf unsere Partner aufrechtzuerhalten. 3) Der politisch bedeutsamste Teil der Erklärung befasst sich mit den Konsequenzen, die aus dem jüngsten Gutachten der Schiedskommission der EG-Konferenz4 (der sog. BadinterKommission) zu ziehen sind. Hier haben wir uns mit unserer Auffassung durchsetzen können: Die Zwölf werden sich nunmehr aktiv dafür einsetzen, dass den Delegationen der 2 Der britische AM Hurd hielt sich am 16. Juli 1992 in Kroatien und Slowenien, am 17. Juli in BosnienHerzegowina, am 18. Juli in Serbien und am 18./19. Juli in Mazedonien auf sowie am 19. Juli 1992 in Albanien. 3 Für die Erklärung der Außenminister der EG-Mitgliedstaaten zu Jugoslawien vom 20. Juli 1992 vgl. BULLETIN DER EG 7-8/1992, S. 112 f. 4 Am 4. Juli 1992 veröffentlichte die Schlichtungskommission der EG für Jugoslawien weitere Gutachten. In ihrem Gutachten Nr. 8 stellte sie fest, „that the process of dissolution of the SFRY referred to in Opinion No. 1 of 29 November 1991 is now complete and that the SFRY no longer exists“. Im Gutachten Nr. 9 wurde erklärt, the SFRYs membership of international organizations must be terminated according to their statutes and that none of the successor states may thereupon claim for itself alone the membership rights previously enjoyed by the former SFRY. Im Gutachten Nr. 10 wurde ausgeführt, die am 27. April 1992 ausgerufene Bundesrepublik Jugoslawien (Serbien/Montenegro) sei a new state which cannot be considered the sole successor to the SFRY. Eine Anerkennung durch die EG-Mitgliedstaaten sei möglich, wenn sie die von der EG am 16. Dezember 1991 formulierten Kriterien erfülle. Vgl. ILM, Vol. 31 (1992), S. 1523, S. 1525 und S. 1526.

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21. Juli 1992: Runderlass von Koenig

neuen „Bundesrepublik Jugoslawien“ in den Vereinten Nationen und in anderen internationalen Organisationen das Recht entzogen wird, den bisherigen Sitz des ehemaligen Jugoslawien in diesen Organisationen einzunehmen. Dies ist ein wichtiger Schritt auf dem Wege zur weiteren politischen Isolierung Serbiens parallel zu den von den Vereinten Nationen verhängten Sanktionen5, den auch die USA mit Entschiedenheit verfolgen. 4) Für die Zukunft ist auch ein weiterer Punkt nicht ohne Bedeutung: Die Erklärung beschränkt sich nicht nur auf eine Verurteilung der serbischen Angriffe auf die Zivilbevölkerung. Auf griechische Initiative kündigen die Zwölf auch an, dass sie die Möglichkeit einer Entsendung von Kommissionen zur Untersuchung solcher Angriffe verfolgen werden. Damit eröffnet sich eine Chance, den verschiedenen Hinweisen auf Kriegsverbrechen nachzugehen, auch im Hinblick auf eine mögliche spätere Verfolgung der Verantwortlichen. 5) Auf französische Bitte hin ist auch die Möglichkeit einer Ausweitung der EG-Konferenz über Jugoslawien in die Erklärung aufgenommen worden. Es bestand jedoch Einigkeit, dass Lord Carrington weiterhin das Vertrauen der Zwölf genießt und dass die bisherige Arbeit der Konferenz nicht infrage gestellt werden darf.6 Libal7 B 42, ZA-Bd. 183642

233 Runderlass des Vortragenden Legationsrats Koenig 012-9-312.74 VS-NfD Fernschreiben Nr. 46 Ortez Betr.:

Aufgabe: 21. Juli 19921

Einführung einer nationalen Anti-Boykott-Regelung2; hier: Sprachregelung

Enthält Weisung 5 Vgl. die Resolution Nr. 713 des VN-Sicherheitsrats vom 25. September 1991; RESOLUTIONS AND DECISIONS 1991, S. 42 f. Für den deutschen Wortlaut vgl. EUROPA-ARCHIV 1991, D 550–552. Vgl. auch die Resolution Nr. 757 des VN-Sicherheitsrats vom 30. Mai 1992; Dok. 159, Anm. 12. 6 Am 26./27. August 1992 fand in London die internationale Jugoslawien-Konferenz statt. Vgl. Dok. 269. 7 Paraphe. 1 Der Runderlass wurde von VLR I van Edig konzipiert und mit Begleitvermerk vom 21. Juli 1992 über MDg von Kyaw und MD Dieckmann an Referat 012-9 geleitet. Dazu vermerkte van Edig: „Als Anlage wird ein Ortez zur Einführung einer nationalen Anti-Boykott-Regelung, das gleichzeitig auch eine Sprachregelung enthält, mit der Bitte um möglichst baldige Übermittlung an die Auslandsvertretungen übersandt. Wegen der notwendigen detaillierten Argumentation ist die Länge des Ortez unvermeidlich. BMWi ist mit dem Text einverstanden. BM Möllemann hatte zusätzlich gewünscht, dass der Kabinettsbeschluss in den Staaten der Arabischen Liga aktiv bei den Gastregierungen angesprochen wird. Ref. 310 hat im Entwurf mitgezeichnet.“ Hat Kyaw und Dieckmann am 21. Juli 1992 vorgelegen. Vgl. B 5, ZA-Bd. 161325. 2 Zu den Bemühungen um Maßnahmen gegen den Israel-Boykott arabischer Staaten vgl. AAPD 1991, I, Dok. 152 und Dok. 207.

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1) Das Bundeskabinett hat am 21.7.1992 die 24. Verordnung zur Änderung der Außenwirtschaftsverordnung beschlossen, mit der ein Verbot von Boykott-Erklärungen im Außenwirtschaftsverkehr erlassen wird.3 Die Vertretungen in den Mitgliedstaaten der Arabischen Liga und nach dortigem Ermessen auch die anderen Vertretungen werden gebeten, die Gastregierungen auf der Grundlage der nachfolgenden Sprachregelung zu unterrichten und – soweit sich die Gastregierungen am Boykott beteiligen – unseren Wunsch zum Ausdruck zu bringen, dass sich die bilateralen Wirtschaftsbeziehungen weiterhin im Interesse beider Seiten positiv entwickeln. Wir haben allerdings kein Interesse daran, dass eine politische Grundsatzdiskussion in Gang gesetzt wird, da auch die arabische Seite in der Handhabung des Boykotts einen gewissen Pragmatismus gezeigt hat, der durch eine Grundsatzdiskussion gefährdet werden könnte. 2) Der neue § 4 a der Außenwirtschaftsverordnung wird wie folgt lauten: „Die Abgabe einer Erklärung im Außenwirtschaftsverkehr, durch die sich ein Gebietsansässiger an einem Boykott gegen einen anderen Staat beteiligt (Boykott-Erklärung), ist verboten.“ Nach ihrem Art. 2 ist die Verordnung auf Erklärungen zur Abwicklung von Verträgen, die vor ihrem Inkrafttreten geschlossen worden sind, nicht anzuwenden. Die Verordnung soll am ersten Tag des auf die Verkündung folgenden vierten Kalendermonats in Kraft treten. Zuwiderhandlungen können als Ordnungswidrigkeit mit einer Geldbuße bis zu einer Million DM geahndet werden. Unter den Begriff „Staat“ im Sinne der Regelung fallen auch Staatsangehörige dieses Staates und Unternehmen, die dort ihren Sitz haben. Dem Tatbestand liegen „Erklärungen“ zugrunde. Eine Erweiterung auch auf „Handlungen“ erschien aus rechtspolitischen Gründen nicht opportun und hätte keine große praktische Bedeutung gehabt. Eine Meldepflicht, wie sie das niederländische Recht kennt, ist nicht erforderlich, da das Verbot über eine reine Meldepflicht hinausgeht. 3) Die neue Anti-Boykott-Regelung gilt generell. Sie betrifft nicht nur den arabischen Boykott Israels. Nicht betroffen sind Erklärungen im Rahmen eines Embargos, an dem sich Deutschland beteiligt. 4) Die deutsche Verordnung folgt dem Beispiel anderer Länder, die die Befolgung eines Boykotts oder diskriminierendes Verhalten im Wirtschaftsverkehr zum Teil in der Außenwirtschafts- und Steuergesetzgebung (USA), zum Teil im Strafrecht (Frankreich, Belgien, Luxemburg) verboten haben. 5) Nicht zuletzt im Hinblick auf den EG-Binnenmarkt 1993 und die Wirksamkeit des Vorgehens gegen einen Boykott hält die Bundesregierung es weiterhin für wichtig, dass die EG-MS eine einheitliche Haltung gegenüber Boykott-Maßnahmen einnehmen. Sie hat deshalb entsprechende Initiativen in die EG eingebracht und würde es begrüßen, wenn die deutsche Regelung einen weiteren Anstoß für einen Konsens innerhalb der EG geben könnte. Der Europäische Rat vom 26./27.6.1992 hat an die Mitglieder der Arabischen Liga appelliert, den Handelsboykott gegen Israel, der mit dem Geist des Friedensprozesses un3 Für die Verordnung vgl. BUNDESANZEIGER 1992, S. 6141.

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vereinbar ist, aufzuheben. Gleichzeitig erwartet der ER eine Einstellung der völkerrechtswidrigen Errichtung und Erweiterung von israelischen Siedlungen in den besetzten Gebieten einschließlich Ost-Jerusalems.4 6) Bei der Unterrichtung der Gastregierung könnte auf folgender Linie argumentiert werden: a) Wirtschafts- und handelspolitische Gründe für eine Anti­Boykott-Regelung: – Als exportabhängiges Land ist Deutschland auf das reibungslose Funktionieren der Außenwirtschaftsbeziehungen angewiesen. – Ziel der Anti-Boykott-Regelung ist es, die Freiheit des Außenwirtschaftsverkehrs zu sichern. Boykott-Maßnahmen führen zu Beschränkungen im Waren-, Dienstleistungs­, Kapital-, Zahlungs- und sonstigem Wirtschaftsverkehr und zu einer Umlenkung des Handelsverkehrs aus politischen Gründen. Wettbewerbsverzerrungen sind eine weitere Folge des Boykotts. – Boykottmaßnahmen widersprechen unserem grundsätzlichen Eintreten für freien, multilateralen Handel, den wir auch als Ergebnis der Uruguay-Runde5 wünschen. – Der Rat der EG hat im Zusammenhang mit den Verhandlungen über ein EG-Freihandelsabkommen mit den Staaten des Golfkooperationsrates6 festgestellt, dass der Boykott im Prinzip mit der Errichtung einer Freihandelszone unvereinbar sei (allerdings keine formelle Verknüpfung mit den Verhandlungen). b) Stellungnahme zu möglichen politischen Argumenten: – Die Staaten der Arabischen Liga werden die deutsche Regelung als gegen den arabischen Boykott Israels gerichtet ansehen und im Hinblick auf die laufenden NahostFriedensverhandlungen den Zeitpunkt der Einführung kritisieren, insbesondere nachdem von arabischer Seite die Einstellung des Boykotts mit einer Einstellung der israelischen Siedlungspolitik in Verbindung gebracht wurde. Im Hinblick auf die harte israelische Haltung im Nahost-Friedensprozess sei eine solche Maßnahme jetzt nicht opportun. Die arabische Seite wird weiter darauf verweisen, dass Deutschland fast 40 Jahre lang keine Maßnahmen gegen den Boykott ergriffen hat und jetzt in einer wichtigen Phase des Nahost-Friedensprozesses mit seiner Anti-Boykott-Regelung vorangeht. – In diesem Zusammenhang ist zunächst darauf hinzuweisen, dass die neue Anti-BoykottRegelung generell gilt. Sie betrifft nicht nur den arabischen Boykott Israels. Auch Erklärungen im Rahmen des US-Boykotts gegen Kuba fallen z. B. unter die Regelung. – Durch den Golfkrieg und den Nahost-Friedensprozess wurde eine neue Situation geschaffen, in der 40 Jahre alte Verhaltensmuster keine Gültigkeit mehr haben können. Einerseits können wir nicht mit Rücksicht auf den ohnehin langwierigen NahostFriedensprozess, dessen Ende nicht absehbar ist, mit einer Anti-Boykott-Regelung weiter zuwarten, andererseits wäre es mit unserem Einsatz bei der Unterstützung regionaler Wirtschaftsbeziehungen im multilateralen Friedensprozess nicht in Einklang zu bringen, wenn wir jetzt noch überlebte Handelshemmnisse wie den arabischen Israel-Boykott hinnähmen. 4 Vgl. die Anlage III zu den Schlussfolgerungen des Vorsitzes im Anschluss an die Tagung des Europäischen Rats am 26./27. Juni 1992 in Lissabon; BULLETIN DER EG 6/1992, S. 23 f. Zur Tagung vgl. Dok. 201. 5 Zu den GATT-Verhandlungen vgl. Dok. 185. 6 Zu den Verhandlungen zwischen der EG und dem GCC vgl. Dok. 69, Anm. 3.

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– Die arabische Seite selbst hat die Einstellung des Boykotts als mögliche vertrauensbildende Maßnahme bezeichnet, allerdings in enger Verbindung mit der Einstellung der israelischen Siedlungspolitik in den besetzten Gebieten, für die die Bildung einer neuen israelischen Regierung nach den Wahlen7 neue Aussichten eröffnet. – In diesem Zusammenhang ist hervorzuheben, dass sich die Bundesregierung mit ihren EG-Partnern wiederholt gegen die israelische Siedlungspolitik ausgesprochen hat. (s. Stellungnahme des ER von Lissabon). Der Auswärtige Ausschuss des Deutschen Bundestages hat in einer Beschlussempfehlung vom 22.1.1992 in gleichem Sinne votiert. (Ziff.4: „Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf, im Rahmen der Europäischen Politischen Zusammenarbeit und begleitend in direktem Kontakt mit der israelischen Regierung auf eine Einstellung der israelischen Siedlungsaktivitäten hinzuwirken“.8) – Im Übrigen ist von unserer Seite darauf hinzuweisen, dass der arabische Israel-Boykott in der Praxis nur noch beschränkte Wirksamkeit und Bedeutung hat. Eine Reihe von MS der Arabischen Liga beteiligt sich nicht mehr. Offizielle Ausnahmen betreffen den Verkehr mit Ölgesellschaften, internationalen Banken und Fluggesellschaften. Umgehungen werden häufig gestattet oder stillschweigend geduldet, wenn sie im „Staatsinteresse“ liegen. Unter diesen Umständen kann auch von Deutschland nicht mehr erwartet werden, dass es die erzwungene Beteiligung seiner Bürger und Unternehmen an dem Boykott duldet. – Deutschland handelt nicht isoliert. Andere Industriestaaten (so z. B. USA, Frankreich, Benelux) verbieten seit langem die Befolgung eines Boykotts oder diskriminierendes Verhalten im Wirtschaftsverkehr. Wir verstehen unsere Maßnahmen als ersten Schritt zu einer international konzertierten Aktion, wie wir sie bereits in der EG angeregt haben. – Letztlich bedeutet Boykott auch einen Eingriff in die Souveränität des Landes, dessen Staatsangehörige durch Behörden eines fremden Staates zur Abgabe von Boykott­ Erklärungen gezwungen werden. c) Durchführungsmodalitäten und weitere Entwicklung der Wirtschaftsbeziehungen: – Die Bundesregierung war bei der Einführung der Anti­Boykott-Regelung bemüht, allen Beteiligten die Umstellung zu erleichtern. In diesem Zusammenhang kann darauf hingewiesen werden, dass Altverträge von der Regelung ausgenommen sind und dass eine ausreichend bemessene Anpassungsfrist eingeräumt wird. – Es ist unser Wunsch, dass sich die bilateralen Wirtschaftsbeziehungen weiterhin im Interesse aller Beteiligten positiv entwickeln. 7) Bo[tschaft] London und StV EG-Brüssel werden gebeten, bei Kontakten mit der britischen Präsidentschaft und der EG­Kommission unser Interesse an einer weiteren Behandlung des Themas mit dem Ziel einer gemeinsamen EG-Haltung zu Anti­Boykott-Regelungen zu verdeutlichen. 8) Es ist beabsichtigt, neben dem Sprechzettel für den Regierungssprecher die nachstehend unter 9) wiedergegebene Information von AA und BMWi u. a. für die betroffenen Wirtschaftskreise bereitzuhalten. 7 Zu den Parlamentswahlen am 23. Juni 1992 in Israel vgl. Dok. 201, Anm. 21. Die neue Regierung unter MP Rabin trat ihr Amt am 13. Juli 1992 an. 8 Für die am 22. Januar 1992 im Auswärtigen Ausschuss beratene und verabschiedete Beschlussempfehlung vom 30. März 1992 vgl. BT DRUCKSACHEN, Nr. 12/2425 vom 2. April 1992, S. 2.

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9) „Mit der 24. Verordnung zur Änderung der Außenwirtschaftsverordnung wird ein Verbot von Boykott-Erklärungen im Außenwirtschaftsverkehr erlassen. In fremden Wirtschaftsgebieten verhängte Boykott-Maßnahmen gegen andere Staaten können den nach § 1 des Außenwirtschaftsgesetzes9 grundsätzlich freien Außenwirtschaftsverkehr erheblich beeinträchtigen und zu einer aus politischen Gründen erfolgenden Umlenkung von Handelsbeziehungen führen. Dies widerspricht unserer Wirtschaftsordnung und kann zu erheblichen Störungen der auswärtigen Beziehungen der Bundesrepublik Deutschland mit den Staaten führen, die vom Boykott betroffen sind. Diese erhebliche Störung der auswärtigen Beziehungen kann nur durch ein an die Unternehmen gerichtetes Verbot, sich an Boykott-Maßnahmen zu beteiligen, vermieden werden. Mit der jetzt beschlossenen Regelung folgt die BR Deutschland dem Beispiel der USA, Frankreichs, Belgiens und Luxemburgs, deren Rechtsordnungen seit langem die Befolgung eines Boykotts oder diskriminierendes Verhalten im Wirtschaftsverkehr verbieten. Als exportabhängiges Land ist Deutschland auf das reibungslose Funktionieren der Außenwirtschaftsbeziehungen angewiesen. Behinderungen durch einen Boykott sind umso weniger zeitgemäß, als sie dem Ziel eines Ausbaus des freien und multilateralen Welthandels widersprechen, das in der laufenden Runde der multilateralen Verhandlungen im GATT angestrebt wird. Das Verbot gilt generell und richtet sich nicht gegen einen bestimmten Boykott. Die BR Deutschland schützt mit einem Verbot die Interessen ihrer Staatsbürger und wahrt damit gleichzeitig ihre eigene Souveränität. Die Anti-Boykott-Regelung bedeutet somit nicht, dass die BR Deutschland in Auseinandersetzungen zwischen dritten Staaten Partei ergreift. Die Regelung ist so gefasst, dass der Übergang auf den Rechtszustand so weit wie möglich erleichtert wird. Um den zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des Verbots in Abwicklung befindlichen Exportgeschäften Rechnung zu tragen, ist vorgesehen, dass die Verordnung auf Altverträge nicht anwendbar ist. Für das Inkrafttreten wird eine gut dreimonatige Frist nach Verkündigung festgesetzt. Die Bundesregierung hofft zuversichtlich, dass die von ihr beschlossene Regelung einen Anstoß zur Aufhebung noch bestehender Boykott-Maßnahmen gibt, die im Interesse einer positiven Entwicklung der internationalen Wirtschaftsbeziehungen liegen würde.“ Koenig B 5, ZA-Bd. 161325

9 Für § 1 des AWG vom 28. April 1961 vgl. BGBl. 1961, I, S. 482.

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234 Runderlass des Vortragenden Legationsrats Koenig 012-9-312.74 VS-NfD Fernschreiben Nr. 47 Ortez Betr.:

21. Juli 19921 Aufgabe: 22. Juli 1992

Beschluss des Bundeskabinetts am Dienstag, 21.7.92, über Zustimmungsgesetz zum Vertrag über die Europäische Union

Das Bundeskabinett hat am 21.7. dem Entwurf eines Gesetzes zum Vertrag über die Europäische Union zugestimmt.2 Zugleich hat es seine Zustimmung zu dem Entwurf des BMI für ein verfassungsänderndes Gesetz betr. Art. 28 GG (Kommunalwahlrecht), Art. 88 GG (Europäische Zentralbank) und Art. 23 GG (Europaartikel) erteilt.3 I. Mit dem Beschluss gibt Bundeskabinett formell den Startschuss zum Beginn des Ratifikationsverfahrens für den am 7.2. in Maastricht unterzeichneten Vertrag. Der Vertrag über die Europäische Union ist die wichtigste Fortentwicklung der europäischen Integration seit Unterzeichnung der Römischen Verträge 19574. Eintritt in Ratifikationsverfahren ist wichtige Weichenstellung nicht nur für Gesetzgebungsprozess, sondern auch ein Signal an die Bürger für Fortgang europäischen Einigungsprozesses. Die Kabinettsentscheidung entspricht dem Beschluss der EG­Außenminister in Oslo am 4.6.5, bekräftigt durch Staats­ und Regierungschefs auf dem Europäischen Rat Lissabon am 26./27.6.6, den Ratifikationsprozess in D wie auch in den anderen MS – auch nach dem negativen Referendum in DK – zügig fortzusetzen. (Hinweis: Eindeutiges Votum der irischen Wähler am 18.6.: 69 % Ja.7 Luxemburgisches Parlament hat am 2.7. mit 51:6 Stimmen als erstes Weg für Ratifikation freigemacht, auch belgische Abgeordnetenkammer hat zugestimmt (146:33 Stimmen), griechisches Parlament am 21.7.; Fortschritte auch in F durch Beschlussfassung über Verfassungsänderungen am 23.6. im Kongress (Nationalversammlung und Senat) zu Kommunalwahlrecht, WWU und Visapolitik sowie Ansetzung eines Referendums auf 20.9.8) Bundestag und Ausschüsse haben sich bereits mehrfach mit Vertrag von Maastricht befasst. Gesetzgebende Körperschaften können dies nunmehr im Einzelnen aufgrund 1 Der Runderlass wurde von VLR Cuntz konzipiert. 2 Für den Entwurf eines Gesetzes zum Vertrag vom 7. Februar 1992 über die Europäische Union sowie für die zugehörige Denkschrift der Bundesregierung vgl. BR DRUCKSACHEN, Nr. 500/92 vom 14. August 1992, S. 5 bzw. S. 81–115. 3 Für den Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes vgl. BR DRUCKSACHEN, Nr. 501/92 vom 14. August 1992, S. 1–3. 4 Für die Römischen Verträge vom 25. März 1957 vgl. BGBl. 1957, II, S. 756–1223. 5 Zum außerordentlichen Treffen der Außenminister der EG-Mitgliedstaaten anlässlich des gescheiterten dänischen Referendums vom 2. Juni 1992 vgl. Dok. 166. 6 Zur Tagung des Europäischen Rats am 26./27. Juni 1992 vgl. Dok. 201. 7 Zum irischen Referendum über das Vertragswerk von Maastricht vgl. Dok. 201, Anm. 3. 8 Zum Referendum am 20. September 1992 in Frankreich über das Vertragswerk von Maastricht vgl. Dok. 293 und Dok. 300.

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der Denkschrift tun, mit der die Bundesregierung die notwendigen Erläuterungen bereitstellt. Bundesregierung begrüßt es, wenn sich gesetzgebende Körperschaften – entsprechend Bedeutung des Vertrags – Zeit zu eingehender Prüfung nehmen. Durch Erklärung der Vorlage als „eilbedürftig“ ist Möglichkeit eröffnet, dass BR und BT sich frühzeitig mit Vorlage befassen und erste Lesung im September/Oktober durchführen (BR am 25.9. und BT evtl. erste Oktoberwoche). Nach Ausschussberatungen und zweiter/dritter Lesung im BT9 ist Abschluss der Ratifikation nach zweitem Durchgang im BR vor Jahresende möglich. Entsprechendes Zeitziel besteht für die ebenfalls heute vom Kabinett auf den Weg gebrachte Grundgesetzänderung. Positiv, dass breiter Konsens unter demokratischen Parteien einschließlich SPD und mit Ländern besteht. Kritische Stimmung in der Öffentlichkeit muss ernstgenommen werden, darf jedoch nicht zu Nachlassen deutscher Bemühungen um europäische Integration führen. Aufgabe aller Politiker, dem Bürger konkrete Vorteile europäischer Einigung nahezubringen. II. Wesentliche Inhalte des Vertrags, durch den die Europäische Union begründet, wenn auch noch nicht vollendet wird, sind: Stufenweiser Prozess zur WWU mit stabiler Währung und unabhängiger Zentralbank in Endphase der WWU; Ausbau der demokratischen Rechte des EP (Mitentscheidung bei der Rechtssatzung in einer Reihe von Bereichen, in denen letztes Wort künftig nicht mehr beim Rat liegt; bei Einsetzung der Kommission ist ab 95 Zustimmung des EP erforderlich, zugleich Anpassung Amtsperiode KOM an Wahlperiode EP). Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP): Neues Instrument „Gemeinsame Aktion“ mit höherem Maß an Verbindlichkeit. Neu ist auch Verteidigungsperspektive der GASP mit WEU zunächst als Verteidigungskomponente (Petersberg­Treffen 19.6.10) und Verlegung der WEU von London nach Brüssel. Jugoslawien-Konflikt zeigt Dringlichkeit gemeinsamer europäischer Außen- und Sicherheitspolitik. Innen- und Justizpolitik: Bis Ende 92 „Europäische Gemeinsame Aktion“ auf einem Teilgebiet der Asylpolitik. Bis Ende 93 Prüfung der Überführung der Asylfragen in Gemeinschaftszuständigkeit; Errichtung von EUROPOL zur Bekämpfung von Terrorismus, organisiertem internationalen Verbrechen und Drogenhandel. Rechte der Bürger: Bindung der Gemeinschaftsorgane an die Grund- und Menschenrechte; Unionsbürgerschaft mit vertraglich verankertem Aufenthaltsrecht, Wahlrecht am Wohnsitz zum EP und bei Kommunalwahlen; Bürgerbeauftragter des EP (Ombudsmann), Petitionsrecht. Föderaler, bürgernaher Aufbau der EU: Von uns in Vertrag gebrachtes Subsidiaritätsprinzip muss gemäß Auftrag ER Lissabon konkret zur Anwendung kommen; Erledigung von Aufgaben weitestgehend auf Ebene 9 Zur Zustimmung des Bundestags zum Vertragswerk von Maastricht am 2. Dezember 1992 vgl. Dok. 400. 10 Zur WEU-Ministerratstagung vgl. Dok. 162, Anm. 32.

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unterer Verantwortungsträger vorzusehen; Regionalausschuss soll von Anfang an beratend mitwirken können. – Bis Ende 92 sind vom ER Edinburgh11 noch folgende Fragen zu regeln: – Sitz der EZB; ER Lissabon war Lösung schon relativ nahe, Gesamtregelung aller offenen Sitzfragen wurde aber doch zurückgestellt. – Zusammensetzung EP, d. h. Festlegung der Gesamtzahl12 auch unter Berücksichtigung künftiger EG-Erweiterung, und Erhöhung der Zahl der deutschen Abgeordneten um 18 für die NBL. III. Entscheidend wird sein, dass die Gemeinschaft und insbesondere auch das EP die Fortschritte im Vertrag und die darin angelegten Entwicklungschancen im Interesse der Europäischen Union wie auch im Sinne der Akzeptanz durch die Bevölkerungen in den Mitgliedstaaten optimal nutzen. Revisionskonferenz 9613 bietet noch vor dritter Stufe WWU weitere Möglichkeiten zur Fortentwicklung, insbesondere für Rechte des EP, verteidigungspolitische Perspektive, Inneres und Justiz. Vertiefung und Erweiterung der EG müssen Hand in Hand gehen. Nach Ratifizierung und Abschluss Delors II können Anfang nächsten Jahres Beitrittsverhandlungen mit Österreich, Schweden und auch Schweiz sowie ggf. Norwegen auf Grundlage Maastricht beginnen.14 EFTA-Länder, traditionell eng mit D verbunden, werden Bereicherung für die Europäische Union sein. IV. Eintritt in die dritte Stufe der WWU Vor Entscheidung über Eintritt in die dritte Stufe WWU werden BT und BR Gelegenheit haben, sich mit diesem wichtigen Thema erneut zu befassen. Dies wurde auch in der Denkschrift zum Vertrag festgehalten. Grundlage wird dabei die vertragliche Verpflichtung zum unwiderruflichen Eintritt in die dritte Stufe der WWU bei denjenigen Mitgliedstaaten sein, die die erforderlichen strikten Konvergenz- und Stabilitätsbedingungen erfüllen. Der Eintritt in die Endstufe der WWU und der damit verbundene Übergang zu einheitlicher europäischer Währung ist einer der Hauptgegenstände der öffentlichen Diskussion in der Bundesrepublik Deutschland. Sie ist Ausdruck der Sorge in der Bevölkerung um die Stabilität des Geldes. Deshalb misst die Bundesregierung der Einhaltung der Konvergenzkriterien15 und der Befassung von Bundestag und Bundesrat besondere Aufmerksamkeit zu. Dabei legt sie großen Wert darauf, dass damit kein Vorbehalt gegenüber dem Eintritt in die Endstufe der WWU entsteht, der die Unumkehrbarkeit des Prozesses infrage stellen würde und unserem eigenen Interesse an konsequenten Konvergenz­ und stabilitätspolitischen Maßnahmen der anderen MS zuwiderliefe. 11 Zur Tagung des Europäischen Rats am 11./12. Dezember 1992 vgl. Dok. 421. 12 Zur Frage der Erhöhung der Zahl der Mitglieder des Europäischen Parlaments vgl. Dok. 162, Anm. 36. 13 Zur Überprüfungskonferenz für das Vertragswerk von Maastricht vgl. Dok. 86, Anm. 21. 14 Die EG nahm am 1. Februar 1993 Beitrittsverhandlungen mit Finnland, Österreich und Schweden auf. Die Beitrittsverhandlungen mit Norwegen begannen am 5. April 1993. Vgl. AAPD 1993. 15 Zu den Konvergenzkriterien vgl. das Protokoll über die Konvergenzkriterien nach Artikel 109 j des Vertrags über die Europäische Union vom 7. Februar 1992; BGBl. 1992, II, S. 1309 f. Vgl. auch AAPD 1991, II, Dok. 425.

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V. Zu verfassungsänderndem Gesetz Die Bundesregierung ist bereit, im Rahmen eines eigenen Europa-Artikels im Grundgesetz das Staatsziel Europäische Union zu verankern und die Beteiligungsrechte der Länder zu erweitern und in Verfassungsrang anzuheben. Handlungsfähigkeit von D und Funktionsfähigkeit der EG müssen – auch im Hinblick auf Sprecherrolle im Rat (Art. 146 EG-V neu16) – gewahrt bleiben. Die Bundesregierung hat den von der Gemeinsamen Verfassungskommission von Bundestag und Bundesrat17 ausgearbeiteten Text zunächst tel quel übernommen, um den Gesetzgebungsprozess einzuleiten. Sie ist sich aber der Problematik des darin vorgesehenen Länderbeteiligungsverfahrens bewusst. Im Lauf des Gesetzgebungsverfahrens ist mit Änderungswünschen zu rechnen18, insbesondere betr. – Verhältnis Bundesregierung/Bundesrat; maßgebliche Bestimmung der deutschen Haltung durch Länder hinsichtlich der Anknüpfung an die Gesetzgebungszuständigkeiten wie auch an die Verwaltungszuständigkeiten der Länder. – Beteiligung des Bundestags in Angelegenheit der Europäischen Union, die in vorliegendem Gesetzentwurf zwar dem Grundsatz nach enthalten, jedoch nicht ausformuliert ist. VI. Die Botschaften in den EG-MS und EG-Vertretung Brüssel erhalten die Texte der vom Kabinett verabschiedeten Gesetzentwürfe mit Begründung gesondert. Für die übrigen Vertretungen stehen die Texte auf Anfrage zur Verfügung. Koenig B 5, ZA-Bd. 161325

235 Drahtbericht des Botschafters Blech, Moskau, an Staatssekretär Kastrup 13388/92 VS-vertraulich Fernschreiben Nr. 3147 Citissime nachts

Aufgabe: 22. Juli 1992, 21.20 Uhr1 Ankunft: 22. Juli 1992, 19.50 Uhr

Für StS Dr. Kastrup persönlich (ausschließlich in einem Exemplar) Betr.: Fall Honecker; hier: Übergabe unseres Ersuchens auf Überstellung Honeckers an Fokin (22.7. – 18.15 Uhr, Moskauer Zeit) Bezug: DE Nr. 1098 vom 25.6.92 – 014-StS-436/92 VS-v2 16 Für die Neufassung von Artikel 146 des EWG-Vertrags vgl. BGBl. 1992, II, S. 1273. 17 Zur Gemeinsamen Verfassungskommission vgl. Dok. 107, Anm. 10. 18 Korrigiert aus: „zu rechnen werden“. 1 Der Drahtbericht wurde von LR I Freytag von Loringhoven, Moskau, konzipiert. Hat StS Kastrup vorgelegen. 2 StS Kastrup informierte Botschafter Blech, Moskau, über die mit dem chilenischen Sonderbotschafter Holger erzielte Einigung über ein Szenario zur Überstellung von Erich Honecker in die Bundesrepublik.

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22. Juli 1992: Drahtbericht von Blech

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1) Am 22.7. (18.15 Uhr – Moskauer Zeit) habe ich nach Absprache mit Holger Fokin im RAM aufgesucht und ihm das Ersuchen der Bundesregierung auf Überstellung Honeckers3 in Form einer Verbalnote übergeben. Dabei trug ich die in Bezugs-DE aufgeführte Sprachregelung mündlich vor. Wir gingen davon aus, dass russische Seite nunmehr Überstellungsersuchen innerhalb der verabredeten Frist prüfen und darüber befinden werde. Anschließend erwarteten wir eine schriftliche Mitteilung über die Entscheidung der russischen Regierung. 2) Fokin nahm unsere Note ausdrücklich an. Ohne im Einzelnen zu ihr Stellung zu nehmen, zur Darlegung unserer völkerrechtlichen Position, sagte er: „Ich nehme diese als Konstatierung der deutschen Position an.“ Er stellte bereits für morgen eine russische Antwort auf unsere Note in Aussicht und ließ keinen Zweifel daran, dass diese positiv ausfallen werde. Es gebe keinen Grund, den Ukas vom vergangenen Dezember4 zu revidieren, auf den sich die Antwort beziehen werde. Unmittelbar im Anschluss an die Übergabe der Note an uns werde er der chilenischen Botschaft eine Verbalnote übermitteln, zusammen mit einer Kopie unseres Ersuchens und der russischen Antwortnote auf sie. Dann sei chilenische Seite am Zuge. Fokin unterstrich, dass die Gewährung der 48Stunden-Frist für eine Stellungnahme Honeckers aus russischer Sicht kontraproduzent sei. Doch Holger habe hierauf bestanden. Holger und Fokin seien sich darüber einig geworden, dass die chilenische Seite im Falle einer unvorhergesehenen Entwicklung infolge dieses zeitlichen Spielraums die volle Verantwortung hierfür trage. Hinsichtlich der praktischen Modalitäten der Entfernung Honeckers aus der chilenischen Botschaft habe es heute ein Treffen Holgers mit Vertretern des russischen Innenministeriums gegeben, in dem beide Seiten volle Übereinstimmung erzielt hätten. Falls Honecker auf eine Stellungnahme verzichte, erwarte Fokin ein rasches Signal Holgers, in dem dieser mitteile, zu welchem genauen Zeitpunkt Honecker Persona non grata für die Chilenen sei. Fokin äußerte, alle technischen Vorbereitungen für die Überstellung Honeckers seien getroffen. Es könne also jederzeit losgehen. Fortsetzung Fußnote von Seite 956 Bei Übergabe des Ersuchens an die russische Regierung solle erklärt werden, dass „a) Chile der Bundesregierung die Zusicherung gegeben hat, dass Erich Honecker die Botschaft in Moskau gegebenenfalls auch gegen seinen Willen verlassen wird. Chile wird der russischen Regierung die gleiche Zusicherung geben; und b) es für die Regierung von Chile von Bedeutung ist, dass die russischen Behörden die Entscheidung über das Rücküberstellungsersuchen der Bundesrepublik Deutschland schriftlich notifizieren.“ Vgl. B 130, VS-Bd. 15548 (216), bzw. B 150, Aktenkopien 1992. 3 Das Überstellungsersuchen der Bundesregierung an die russische Regierung lautete: „Die Regierung der Bundesrepublik Deutschland ersucht die russische Regierung unter Bezugnahme auf die zahlreichen Gespräche und wiederholten Zusicherungen der russischen Seite, ihr zu bestätigen, dass Herr Honecker nach Deutschland zurücküberstellt wird, damit er sich vor der deutschen Justiz verantworten kann. Gegen Herrn Honecker ist Anfang Juni 1992 von der Staatsanwaltschaft bei dem Kammergericht Berlin Anklage wegen gemeinschaftlichen Totschlages in 49 Fällen und versuchten gemeinschaftlichen Totschlages in 25 Fällen erhoben worden. Nach Auffassung der deutschen Regierung verstößt die widerrechtliche Verbringung von Herrn Honecker nach Moskau gegen den ,Vertrag über die Bedingungen des befristeten Aufenthalts und die Modalitäten des planmäßigen Abzugs der sowjetischen Truppen aus dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland‘ und gegen allgemeines Völkerrecht, weil sie dazu diente, eine wegen Anstiftung zur mehrfachen vorsätzlichen Tötung durch Haftbefehl gesuchte Person der Strafverfolgung zu entziehen. Nur durch eine Rücküberstellung kann die erfolgte Verletzung des Völkerrechts wiedergutgemacht werden.“ Vgl. den DE des StS Kastrup vom 26. Juni 1992 an Botschafter Blech, Moskau; B 130, VS-Bd. 15548 (216), bzw. B 150, Aktenkopien 1992. 4 Zur Ausreiseaufforderung der russischen Regierung vom 10. Dezember 1991 vgl. Dok. 29, Anm. 2.

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22. Juli 1992: Drahtbericht von Blech

Auf meine Frage, was geschehe, wenn Honecker eine Stellungnahme abgebe, erwiderte Fokin: Honecker habe sieben Monate gehabt, um sich zu äußern. Hiermit wollte er offensichtlich deutlich machen, dass russische Seite in jedem Fall, d. h., wie auch immer sich Honecker äußere, zu einem positiven Bescheid unseres Ersuchens, also der Ablehnung von Honeckers Einwendungen, gelangen werde. Die Entscheidung der russischen Regierung werde Holger „fast gleichzeitig“ mit der Antwort an die deutsche Seite schriftlich mitgeteilt werden. Russische Seite sei zu praktischen Schritten für die Entfernung Honeckers aus der chilenischen Botschaft nur dann bereit, wenn chilenische Seite ihr nicht nur ihren zeitweiligen Verzicht auf Exterritorialität schriftlich bestätige, sondern auch klar darlege, weshalb Santiago zu diesem Schritt bereit sei. Dies sei für die RF sehr wichtig. Honecker solle nach der Fahrt zum Flughafen Wnukowo II mit einer zivilen Sondermaschine nach Berlin geflogen werden. Vertreter des russischen Justiz-, Innen- und (allerdings ohne offiziellen Status) Außenministeriums sowie ein Arzt sollen ihn begleiten. Militärs sind also nicht mit von der Partie. Als Zielflughafen stelle sich Fokin einen von uns zu benennenden, deutschen zivilen Berliner Flughafen vor. Er wolle nicht, dass in dem nun folgenden Notenwechsel das Flugziel schriftlich benannt werde. Allerdings sei es üblich, dass der Zielort eines zivilen Flugzeugs im Ausland vorab dem Gastland notifiziert werde. Um dies zu umgehen, bat er um unsere Hilfe: Vielleicht könnten wir rechtzeitig die technischen Daten (Kennwort des Flugzeugs, Radiosignale, etc.) nach Berlin übermitteln, um hierdurch die Überfluggenehmigung anzufordern. Ich sagte dies zu. Hier werde man sicher eine Lösung finden. Fokin will uns wahrscheinlich schon morgen die relevanten technischen Details zukommen lassen. Ergänzend bemerkte Fokin, er vermute, dass Margot Honecker freiwillig mitreisen werde. Ich erklärte, von uns aus gäbe es gegen eine Mitreise von Frau Honecker keine Bedenken. Gegen sie liege nichts vor. (Ich meine, dass man sich darauf vorbereiten sollte. Man kann natürlich nach der wohl unvermeidlichen Trennung auf ein Taxi verweisen, muss dann aber eine eher unangenehme Publizität in Kauf nehmen, die auch in zustimmender Häme bestehen kann.) Wir werden mit der für die Russen ja innenpolitisch keineswegs unproblematischen Durchsetzung unseres Anspruchs auf Rechtsstaatlichkeit hier umso mehr positiven Eindruck machen, je weniger sich die Perzeption von Schikanen und Triumphalismus ins Bild mischen. Fokin schloss mit der Bemerkung, das RAM werde nach der Mitteilung, dass das Flugzeug in Berlin gelandet sei, in einem Pressebriefing eine kurze Mitteilung veröffentlichen, nach der Honecker die chilenische Botschaft verlassen habe und „überstellt“ (woswraschtschon) worden sei. 3) Ich wies in meiner Replik auf möglichen Publicity-Effekt hin, falls Honecker auf einem zivilen Flughafen in Berlin lande. Dies sei u. U. nicht ohne Delikatesse für das deutschrussische Verhältnis. Fokin zeigte sich von diesem Argument ganz offensichtlich beeindruckt und wolle die Frage der Wahl des Flughafens5 mit den zuständigen russischen Stellen noch einmal aufgreifen.6 [gez.] Blech B 130, VS-Bd. 15548 (216) 5 Korrigiert aus: „die Wahl des Flughafens Frage“.

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23. Juli 1992: Gespräch zwischen Kinkel und Rugova

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236 Gespräch des Bundesministers Kinkel mit dem Vertreter der Kosovo-Albaner, Rugova 215-320.15 Kosovo VS-NfD

23. Juli 19921

Gespräch BM mit dem führenden albanischen Politiker des Kosovo, Dr. Ibrahim Rugova, am 23.7.1992 um 14.00 Uhr Rugova wurde von dem sog. „Ministerpräsidenten“ des Kosovo, Dr. Bukoshi, und von dem Führer der Liberalen Partei des Kosovo, Bakalli, begleitet. Wie abgesprochen, wurde das Treffen nicht der Presse bekannt gegeben. Nach einigen einleitenden Worten des Dankes bat Dr. Rugova Dr. Bukoshi, die Lage im Kosovo aus albanischer Sicht zu schildern. Bukoshi bezeichnete die Lage der Albaner als außerordentlich schlecht. Das Leben sei unerträglich geworden. Es gebe massenhafte Menschenrechtsverletzungen. Das Kosovo sei praktisch umzingelt. Während die Albaner selbst wehrlos seien, gebe es auf serbischer Seite fünf bewaffnete Gruppierungen: Die jugoslawische Armee, die serbische Miliz (sehr konzentriert), paramilitärische Verbände der Serben sowie bewaffnete serbische und montenegrinische Zivilisten, die völlig aufgehetzt seien. Jeden Augenblick sei eine Explosion möglich. Täglich komme es zu Misshandlungen und zu Durchsuchungen, zur nächtlichen Umzingelung von Dörfern und zu Plünderungen. Das ganze Leben sei außerordentlich reduziert. Keine Institution funktioniere mehr. In allen Unternehmen gebe es Zwangsmaßnahmen. Die Wirtschaft sei ruiniert. Mehr als 100 000 Albanern sei gekündigt worden. Die Albaner seien vom wirtschaftlichen, sozialen und politischen Leben völlig ausgeschlossen. Sie lebten von der Hilfe der Gastarbeiter. Seit Neuestem werde jedoch das Geld von der serbischen Polizei zurückbehalten, die keinen Lohn bekomme, sondern ermutigt werde, auf diese Weise selbst finanziell zurechtzukommen. Die Serben ließen auch keine humanitären Lieferungen mehr durch. Fortsetzung Fußnote von Seite 958 6 Am 23. Juli 1992 teilte Botschafter Blech, Moskau, mit, der Abteilungsleiter im russischen Außenministerium, Fokin, habe ihm um 12 Uhr Ortszeit die Antwortnote der russischen Regierung übergeben. Vgl. DB Nr. 3157; B 130, VS-Bd. 15548 (216), bzw. B 150, Aktenkopien 1992. Am 28. Juli 1992 berichtete Gesandter Heyken, Moskau, Fokin habe zum Ablauf soeben erklärt, die „Operation“ werde am 29. Juli um 17 Uhr Moskauer Zeit beginnen: „Um 17.30 h werde die Fahrt von der chilenischen Botschaft zum Flugplatz Wnukowo beginnen. Auf dem Flugplatz werde für das Ehepaar Honecker eine kurze Pause eingelegt. Dann werde in der Zeit zwischen 18.30 h und 19.00 h das Flugzeug nach Berlin starten.“ Vgl. DB Nr. 3236; B 130, VS-Bd. 15548 (216), bzw. B 150, Aktenkopien 1992. Erich Honecker landete am 29. Juli 1992 gegen 20 Uhr mit einer russischen Sondermaschine auf dem Flughafen Berlin-Tegel und wurde in die Untersuchungshaftanstalt nach Berlin-Moabit gebracht. Margot Honecker blieb zunächst in Moskau. Vgl. den Artikel „Erich Honecker zurück in Deutschland“; BERLINER ZEITUNG vom 30. Juli 1992, S. 1. 1 Der Gesprächsvermerk wurde von VLR I Libal am 30. Juli 1992 gefertigt und mit der Bitte, „Zustimmung des BM herbeizuführen“, an das Ministerbüro geleitet. Hat VLR Brose am 31. Juli 1992 vorgelegen, der den Rücklauf an Referat 215 verfügte und handschriftlich vermerkte: „Kann mit V[ermerk]: ,Von BM noch nicht gebilligt‘ verteilt werden.“

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23. Juli 1992: Gespräch zwischen Kinkel und Rugova

Die Menschen fühlten sich bedroht. Schon seien über 200 000 Albaner geflohen, vor allem junge Leute. Vermutlich würden die Serben im Falle einer militärischen Niederlage in Bosnien-Herzegowina ihre Wut an den Albanern auslassen. Man bitte darum, das Kosovo­Problem ins Zentrum der internationalen Aufmerksamkeit zu rücken. Man brauche dringend Beobachter und einen stärkeren Druck auf Serbien. Hinsichtlich der Zukunftsvorstellungen der Albaner bestätigten Rugova und Bukoshi kurz zuvor gegenüber Lord Carrington in London geäußerte Bereitschaft, im Rahmen der Jugoslawien-Konferenz mit den Serben zu verhandeln. Zugleich bekräftigten sie aber auch die bekannte Forderung nach einem eigenen Staat für das Kosovo. Eine Vereinigung mit Albanien werde nicht angestrebt. Man sei bereit, den Serben im Kosovo weitgehende Rechte einzuräumen. Man wolle jedoch nicht mehr unter serbischer Herrschaft leben. Das Kosovo sei sehr reich, vor allem an Bodenschätzen wie Gold, Silber und Kohle. BM erläuterte unsere Haltung in der Kosovo-Frage: Die Serben müssten veranlasst werden, die Albaner wieder in den Genuss sämtlicher Menschen- und Bürgerrechte kommen zu lassen. Wir unterstützten die Bemühungen der EG-Konferenz über Jugoslawien, eine Lösung auf der Grundlage von Kap. II des sogenannten Carrington-Entwurfs2 zu finden. Das dort festgeschriebene Konzept einer Regionalautonomie würde faktisch zu einer Wiederherstellung der Autonomie des Kosovo3 führen, wie sie bis Ende der 80er Jahre bestand. Ein unabhängiges Kosovo sei jedoch nicht möglich, da dies eine Grenzänderung implizieren würde. B 42, ZA-Bd. 183583

2 Für das Dokument „Treaty Provisions for the Convention“ vom 4. November 1991 („Carrington-Plan“) vgl. B 42, ZA-Bd. 175713. 3 Zur Frage der Autonomie des Kosovo vgl. AAPD 1989, I, Dok. 79.

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23. Juli 1992: Vorlage von Butler

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237 Vorlage des Vortragenden Legationsrats I. Klasse von Butler für Bundesminister Kinkel 242-370.45

23. Juli 1992

Über D 2 A1, Herrn Staatssekretär2 Herrn Bundesminister3 Betr.:

Schlussphase Genfer CW-Verhandlungen; hier: flankierende Unterstützung des Konventionsentwurfs4 durch Reisen D 2 A5 nach Asien und Nahost Juni/Juli 1992

Bezug: 1) StS-Vorlagen 242-370.45 vom 24.4.19926 und 12.6.19927 2) Ministervorlage mit Ministerbrief 242-370.45 vom 16.6.19928 3) DE über Gespräch D 2 A/ägypt. AM vom 20.7.9 Anlg.: 3 (Anlagen 1 und 2 nur bei Original)10 Zweck der Vorlage: Zur Unterrichtung I. 1) Bei den Verhandlungen über ein globales Chemiewaffen-Verbot in der Genfer Abrüstungskonferenz (CD) haben am 20.7. die entscheidenden letzten drei Wochen begonnen. 1 Hat Botschafter Holik am 23. Juli 1992 vorgelegen. 2 Hat StS Kastrup am 24. Juli 1992 vorgelegen. 3 Hat BM Kinkel am 25. Juli 1992 vorgelegen. Hat OAR Rehlen am 27. Juli 1992 vorgelegen, der den Rücklauf über das Büro Staatssekretäre und Botschafter Holik an Referat 242 verfügte. Hat VLR I Reiche am 27. Juli 1992 vorgelegen. Hat Holik am 28. Juli 1992 erneut vorgelegen. Hat VLR I von Butler am 28. Juli 1992 erneut vorgelegen. 4 Für das am 22. Juni 1992 vorgelegte Papier „Draft Convention on the Prohibition of the Development, Production, Stockpiling and Use of Chemical Weapons and on their Destruction“ (CD/CW/WP.400/Rev. 1) vgl. https://documents-dds-ny.un.org/doc/UNDOC/GEN/G92/619/73/pdf/G9261973.pdf. 5 Josef Holik. 6 VLR I von Butler skizzierte den weiteren Fahrplan für den Abschluss der Genfer CW-Verhandlungen und schlug vor, Botschafter Holik solle in verschiedene Schlüsselstaaten reisen, um dort den bis dahin vorgelegten Entwurf einer CW-Verbotskonvention zu erläutern und um Zustimmung zu werben. Vgl. B 43, ZA-Bd. 166093. 7 VLR I von Butler bat StS Kastrup um Zustimmung zu einer Reise von Botschafter Holik nach Ägypten, in den Iran und nach Israel, um dort für Zustimmung zur CW-Verbotskonvention zu werben. Vgl. B 43, ZA-Bd. 166092. 8 Botschafter Holik informierte BM Kinkel über den Stand der Genfer CW-Verhandlungen und schlug ihm vor, einen Brief an die Außenminister der an den Verhandlungen teilnehmenden Staaten zu richten. Vgl. B 43, ZA-Bd. 166093. Für das Schreiben von Kinkel vgl. RE Nr. 6717 von Holik vom 22. Juni 1992; B 43, ZA-Bd. 166092. 9 Botschafter Holik teilte mit, der ägyptische AM Moussa habe in dem Gespräch in Brüssel erklärt, dass Ägypten „grundsätzliche Ziele der CWC billige […] und CWC grundsätzlich auch beitreten wolle, wenn hierdurch strategisches Gleichgewicht der Region nicht zu Ungunsten Ägyptens zementiert werde“. Vgl. DE Nr. 7958 an die Botschaft in Kairo; B 43, ZA-Bd. 166093. 10 Dem Vorgang teilweise beigefügt. Vgl. Anm. 6–9.

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23. Juli 1992: Vorlage von Butler

Deutscher Vorsitz strebt Konsens über den CW-Konventionsentwurf bis 7.8.1992 an. Text soll Anfang September an VN-GV zur Billigung überwiesen und Ende des Jahres auf einer Außenministerkonferenz in Paris von möglichst vielen VN-Mitgliedstaaten gezeichnet werden. Abschluss einer CW-Konvention nach mehr als neunjährigen Verhandlungen wäre ein großer, uns von allen Beteiligten zuerkannter Erfolg deutscher Außenpolitik. 2) Verhandlungserfolg ist noch nicht garantiert. Unserer CD-Delegation war es nach monatelangem intensivem Arbeitseinsatz gelungen, am 22.6.11 einen „Chairman’s draft“ als Kompromisstext in Genf vorzulegen, der inzwischen von allen westlichen Partnern unter Zurückstellung von Bedenken akzeptiert wird. Annahme durch östliche Staaten ist wahrscheinlich. Bei einer Reihe von Drittweltstaaten, insbesondere Iran, Pakistan und China, bestehen teilweise noch schwerwiegende inhaltliche Probleme mit einzelnen Substanzpunkten des Entwurfs, wenn nicht sogar generelle politische Vorbehalte. 3) Um Zustimmung schwierigster Verhandlungspartner zu gewinnen, hat D 2 A zwischen 25.6. und 16.7., begleitet von RL 24212 bzw. stv. RL 24213, nach Ankündigung durch BMBrief vom 22.6. zwei Reisen nach Asien/Nahost unternommen. Bei den hochrangigen Gesprächen in acht Hauptstädten (Washington, Tokio, Peking, Islamabad, Teheran, Neu Delhi, Tel Aviv, Kairo) wurden Substanzfragen des CW-Konventionsentwurfs besprochen, vor allem aber politische Argumente angeführt. II. Ergebnisse der Reise lassen sich wie folgt zusammenfassen: 1) Faire und erfolgreiche Arbeit deutschen Verhandlungsvorsitzes in Genf wurde ausnahmslos gewürdigt. In teilweise mehrstündigen Gesprächen mit Ministern, Staatssekretären und Abteilungsleitern konnte zur Klärung inhaltlicher Fragen des CWC-Textes beigetragen und politisches Gewicht der CWC verdeutlicht werden. Darüber hinaus wurde das Problembewusstsein in Hauptstädten erhöht, was angesichts teilweise sehr eigenständigen Verhaltens der Genfer Delegationsleiter wichtig war. In vielen Fällen hinterließen die Gespräche ein positiveres Bild, als dies Äußerungen der Vertreter dieser Staaten in Genf vermittelten. Obwohl besuchte Drittweltländer – Israel ausgenommen – zusammen mit sieben anderen Staaten in Genf eine Auflistung von 20 Kritikpunkten am „Chairman’s draft“ vorgelegt hatten, konnten als vitale Substanzanliegen nur jeweils ein oder zwei Konventionsbestimmungen identifiziert werden. In einigen Hauptstädten (Tokio, Neu Delhi, Kairo) könnten die Gespräche bereits den Ausschlag für positives Votum in Genf gegeben haben. 2) Gesprächseindrücke in einzelnen Hauptstädten: – Washington: Trotz schwerwiegender Bedenken in Pentagon und ACDA zu einigen wichtigen Verifikationsfragen waren Gespräche mit StS Bartholomew und General Scowcroft (Weißes Haus) ermutigend. Inzwischen hat USA dem Entwurf als erster zugestimmt. – Tokio: Grundsätzliche Zustimmung im Gespräch mit StS im AM14. Sorge der Arbeitsebene, dass Konvention Japan einseitig die Verantwortung für umfangreiche in China 11 Korrigiert aus: „22.7.“ 12 Peter von Butler. 13 Klaus-Peter Gottwald. 14 Hisashi Owada.

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23. Juli 1992: Vorlage von Butler













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zurückgelassene CW­Bestände aufbürdet, wurde zurückgestellt; doch Hoffnung auf Anpassungen in Absprachen mit China. Peking: Im Gespräch mit Vize-AM15, AL16 und Minister beim Staatsrat17 grundsätzliche Bereitschaft zum Konventionsbeitritt 1992. Jedoch offensichtlich Schwierigkeiten mit inneren Behörden (Verteidigung, Industrie) wegen breiter Erfassung Tausender von Industrieanlagen, Schutz für sensitive Einrichtungen vor Verdachtskontrollen. Islamabad: Große Aufgeschlossenheit für Konvention in Gesprächen mit Generalsekretär im AM und zuständigem Abteilungsleiter; vitales Anliegen jedoch Schutz sensitiver Nukleareinrichtungen vor Verdachtskontrollen. Teheran: Im Gespräch mit Vize-AM18 und zuständigem Generaldirektor19 Zweifel an Dringlichkeit Konventionsabschluss 1992. Sichtlich Schwierigkeiten mit internen Stellen (Militär, Industrie) wegen Schutz vor zu weitgehender Verdachtskontrolle und Beeinträchtigung chemischer Industrie. Neu Delhi: Staatssekretär20 und zuständiger Abteilungsleiter21 vermittelten klaren Eindruck politischen Interesses an Konventionszeichnung 1992. Sorgen vor allem im Bereich fortgeltender Exportkontrollbestimmungen. Tel Aviv: Grundsätzliche Bereitschaft, der Konvention beizutreten (Israel ist kein Verhandlungsteilnehmer, aber für Haltung der Araber wichtig). Im Gespräch mit Staatssekretär22 und Abteilungsleiter im AM23 war Hauptanliegen, dass alle Länder der Region beitreten und Konventionsverpflichtungen strikt einhalten. Im Verteidigungsministerium bestand Sorge um Schutz sensitiver Anlagen. Kairo: AM Moussa sowie Präsidentenberater24 und zuständiger AL25 versicherten ägypt. Interesse an Konventionsabschluss 1992. Voraussetzung sei israelischer Beitritt und Perspektive des NVV-Beitritts Israels. Moussa sagte aber zu, Konsens in Genf nicht zu blockieren. Artikulierung der Vorbehalte u. U. später.

III. Weiteres Vorgehen: In den nächsten Wochen wird es entscheidend auf die Verhandlungsführung durch Botschafter von Wagner in Genf ankommen. Zur Unterstützung der Bemühungen in Genf sollten – alle Gespräche und Konsultationen mit Drittwelt-CD-Mitgliedern genutzt werden, um für Konventionstext zu werben; – andere Partner unseren Einsatz unterstützen und ergänzen. US, NL, F, GB haben dies bereits zugesagt und Schritte unternommen. Australien ist besonders aktiv engagiert; 15 Jiang Enzhu. 16 Qin Huasun. 17 Qi Huaiyuan. 18 Manutschehr Mottaki. 19 Mohammed-Mehdi Akhounzadeh Basti. 20 Krishnan Srinivasan. 21 Chandrashekhar Das Gupta. 22 Joseph Hadas. 23 Yehiel Yativ. 24 Osama el-Baz. 25 Reha Shehata.

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24. Juli 1992: Gespräch zwischen Kinkel, Schrempp und Dersch

– Gespräche von Industrie zu Industrie angeboten werden, um Verständnislücken bei Industrieverifikation zu füllen; Verband Chemischer Industrie ist dazu bereit. Butler B 43, ZA-Bd. 166093

238 Gespräch des Bundesministers Kinkel mit dem Vorstandsvorsitzenden der DASA, Schrempp, und Vorstandsmitglied Dersch 24. Juli 19921 Von BM noch nicht genehmigt BM begrüßte Gelegenheit zu offenem Gedankenaustausch und äußerte sich zu einigen anstehenden Anliegen der DASA. Die Herren Schrempp und Dersch bedankten sich für die Gesprächsgelegenheit. Auch ihnen komme es auf einen offenen Austausch an. Vor allem gehe es um die von der Bundesregierung beim Export von Waffen und Dual-use-Gütern verfolgte Politik. Sie wollten daher den BM auch nicht mit Einzelfällen belästigen. Positiv hoben sie eingangs den Abschluss ihrer Verhandlungen mit Fokker2 hervor, mit denen sich der Umsatz des Unternehmens von gegenwärtig 16 Mrd. auf ca. 19 Mrd. DM und die Zahl der Mitarbeiter von 80 000 auf ca. 92 000 erhöhe. Im Bereich der Exportkontrollpolitik vermissten Schrempp und Dersch Folgerichtigkeit. So seien Exporte von Tornado-Flugzeugen nach Südkorea genehmigt worden, nicht hingegen der Export von Hubschraubern. Auch führten die stringenten deutschen Regeln zu Problemen bei Kooperationsvorhaben im europäischen und im NATO-Bereich. Hier bestehe die ernste Gefahr, dass deutsche Firmen die Kooperationsfähigkeit verlören, auf die sie in Zukunft vermehrt angewiesen seien. Dabei wiesen sie auf die sehr viel liberalere Exportpolitik von Frankreich und Großbritannien hin. In diesen Bereich gehörten auch Dienst-, Garantie- und Wartungsleistungen, ohne deren Zusage Exporte komplizierter Systeme nicht möglich seien. Schließlich bedürfe der Dual-use­Bereich dringend internatio1 Kopie. Der Gesprächsvermerk wurde von MD Dieckmann gefertigt und an BM Kinkel „m[it] d[er] B[itte] um Genehmigung“ geleitet. 2 Am 25. Juli 1992 wurde berichtet, zwischen der Deutschen Aerospace AG (DASA), der niederländischen Fokker NV und dem niederländischen Wirtschaftsministerium sei eine Einigung über die Übernahme von 51 % der Fokker-Anteile durch die DASA erzielt worden. Umstritten sei aber noch, wie lange der niederländische Staat an der neuen Holding beteiligt bleiben könne. Am 27. Juli 1992 hieß es ergänzend, die niederländische Regierung habe nunmehr der erzielten Grundsatzvereinbarung zugestimmt. Der endgültige Vertrag müsse noch ausgehandelt werden. Auch der Kaufpreis stehe noch nicht fest. Vgl. die Artikel „Dasa: Etwa eine Milliarde für Fokker“ sowie „Den Haag gibt grünes Licht für die Flugzeugehe“; SÜDDEUTSCHE ZEITUNG vom 25./26. Juli 1992, S. 39, bzw. 27. Juli 1992, S. 18.

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24. Juli 1992: Gespräch zwischen Kinkel, Schrempp und Dersch

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naler Harmonisierung. Zur Gesamtproblematik würden sie ein Gespräch auf Beamtenebene begrüßen. BM Kinkel zeigte Verständnis für den Wunsch nach mehr Transparenz und die Notwendigkeit auch einer gewissen Berechenbarkeit der Entscheidungsprozesse. Die Begründungen müssten in der Tat nachvollziehbar sein. Auch sei verständlich, dass man eine Beschleunigung der Entscheidungsprozesse wünsche. Die Industrie müsse sich andererseits aber auch bewusst sein, dass die Prozesse häufig komplex und schwierig seien. Die Industrie müsse davon ausgehen, dass auch er ablehnende Entscheidungen treffen werde. Jeder Einzelfall bedürfe sorgfältiger Abwägung. Zu einmal getroffenen Entscheidungen werde er stehen. Zum Gedanken eines Gesprächs auf Beamtenebene, ggfs. auch unter Beteiligung anderer Ressorts, äußerte sich BM positiv. Schrempp und Dersch wollen sich dazu mit D 43 in Verbindung setzen. D 4 erläuterte Politik gegenüber Kooperationsvorhaben auf Basis der politischen Grundsätze vom April 19824. Er räumte ein, dass im Bereich der Kooperation durch die Genehmigungspflicht für Dienstleistungen im Ausland (§ 45 b AWV5) sich neue Probleme ergeben hätten. Aus der Genehmigung einer bestimmten Waffengattung (z. B. Tornado) könne nicht automatisch auf die Genehmigung weniger komplexer Waffensysteme (z. B. Hubschrauber) geschlossen werden. Die Bundesregierung sei im Übrigen international (G 7, EG) um Harmonisierung bei Dual-use-Exporten bemüht. Dabei zeigten sich erste Erfolge. Schrempp und Dersch unterrichteten den Bundesminister von ihren Bemühungen, auf Basis der Vorarbeiten eine Alternative zum Jäger 906 zu entwickeln. Diese werde sich im Rahmen der Vorgaben aus den Regierungsfraktionen halten. Man werde den Stückpreis unter 100 Mio. DM drücken können durch gewisse qualitative Abstriche. Sie baten um Gelegenheit, den Bundesminister zu gegebener Zeit über das Ergebnis unterrichten zu dürfen. BM Kinkel sagte dieses zu. B 1, ZA-Bd. 178913

3 Heinrich-Dietrich Dieckmann. 4 Für die „Politischen Grundsätzen der Bundesregierung für den Export von Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern“ vom 28. April 1982 vgl. BULLETIN 1982, S. 309–311. Vgl. auch AAPD 1982, I, Dok. 126. 5 Für §45 b der AWV in der Fassung der Bekanntmachung vom 22. November 1993 vgl. BGBl. 1993, I, S. 1957. 6 Zum europäischen Kampfflugzeug („Jäger 90“) vgl. Dok. 162, Anm. 41. Am 1. Juli 1992 wurde in der Presse berichtet, nach Beratungen von CDU/CSU und FPD seien die Regierungspartner zu der Auffassung gekommen, den „Jäger 90“ nicht zu bauen. BM Rühe habe erklärt, angesichts eines „Systempreises“ von 200 Mio. DM sei das Projekt nicht zu finanzieren und passe politisch nicht mehr in die Zeit. Rühe sei aufgefordert worden, mit den Vertragspartnern Großbritannien, Italien und Spanien sowie möglicherweise auch Frankreich über eine billigere Alternative („Jäger light“) zu sprechen. Vgl. den Artikel „Nein der Koalition zum Jäger 90“; SÜDDEUTSCHE ZEITUNG vom 1. Juli 1992, S. 1. Bei einem Treffen zwischen Rühe und seinen Amtskollegen Andò (Italien), García (Spanien) und Rifkind (Großbritannien) am 4. August 1992 in Madrid wurde beschlossen, das Programm „abzubremsen“ und bis zum 30. Oktober 1992 „die taktisch-militärischen Anforderungen an ein neues Jagdflugzeug für die Zeit nach der Jahrtausendwende“ neu zu bewerten. Für den November 1992 sei ein weiteres Treffen geplant, „um die Entscheidung über ein neues europäisches Jagdflugzeug-Programm“ zu treffen. Ferner wurde berichtet, lediglich Großbritannien plädiere noch für eine Beibehaltung des Programms in einer reduzierten Form. Vgl. den Artikel „Rühe: Der ,Jäger 90‘ ist tot“; SÜDDEUTSCHE ZEITUNG vom 5. August 1992, S. 6.

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24. Juli 1992: Runderlass von Chrobog

239 Runderlass des Ministerialdirektors Chrobog 230-381.42/1 Fernschreiben Nr. 8118 Plurez Betr.:

24. Juli 19921 Aufgabe: 27. Juli 1992

Mögliche Erweiterung des VN-Sicherheitsrats (SR)

Wir haben Hinweise darauf, dass andere Staaten – etwa Japan – konkrete Schritte mit dem Ziel einer Erweiterung des Sicherheitsrats in Aussicht nehmen. Zugleich scheint bei einigen, vor allem selbst interessierten Ländern der unzutreffende Eindruck entstanden zu sein, unsere Haltung, keine Initiative zur Erlangung eines ständigen Sitzes im SR zu ergreifen, sei Ausdruck unseres Desinteresses an einer Mitgliedschaft im SR. Angesichts dieser Entwicklung kann es geboten sein, unsere Haltung zu erläutern. Die Empfänger dieses DE werden gebeten, dies auf Anfrage unter Verwendung der nachstehenden Sprachregelung zu tun. Wir behalten uns vor, die Erläuterung auch in anderen Ländern vorzunehmen. Wir werden die bevorstehenden bilateralen VN-Konsultationen auf Ebene der VN-Direktoren (Dg 232) mit F (30.7.3), GB (9.9.)4, USA (September)5, RUS (September) nutzen, um unsere Haltung ausführlich darzulegen. 1 Der Runderlass wurde von MDg Schilling und VLR Freiherr von Stackelberg konzipiert. Hat StS Kastrup am 27. Juli 1992 vorgelegen. 2 Wolf-Dietrich Schilling. 3 Korrigiert aus: „30.8.“ VLR Freiherr von Stackelberg teilte am 3. August 1992 mit, MDg Schilling habe am 30. Juli 1992 gegenüber dem zuständigen Unterabteilungsleiter im französischen Außenministerium, Lafon, die Haltung der Bundesregierung erläutert und klargestellt: „Für uns sei eine SR-Erweiterung, die nicht auch D einschließe, nicht akzeptabel. F wie den anderen P[ermanent]5 komme in dieser Frage eine Schlüsselrolle zu. […] Wir vertrauten darauf, dass F, wenn einmal die Frage einer SR-Erweiterung zur konkreten Entscheidung anstehen sollte, nur dann einer Erweiterung zustimmen werde, wenn sie auch D umfasse.“ Lafon habe entgegnet, „dass entsprechend den vorliegenden Weisungen (die Frage ist Chefsache der höchsten Ebene) F keine Charta-Änderung in Aussicht nehme“. Vgl. RE Nr. 8359; B 30, ZA-Bd. 167349. 4 VLR Freiherr von Stackelberg informierte am 10. September 1992, bei den VN-politischen Konsultationen am Vortag in London habe MDg Schilling die Haltung der Bundesregierung zu einem ständigen Sitz im VN-Sicherheitsrat erläutert: „Die Reaktion der britischen Seite machte deutlich, dass diese Frage auch in GB Chefsache der höchsten Ebene ist. Sie beschränkte sich deshalb formell auf eine Kenntnisnahme der Darlegungen von Dg 23. Sie ließ jedoch zugleich erkennen, dass sie unsere Argumentation und Haltung für angemessen und für die britische Regierung für akzeptabel hielt. VN-Direktor Bone fügte hinzu, dass nach britischer Auffassung die neugewonnene Autorität und Handlungsfähigkeit des VN-SR nicht durch in der Sache wenig förderliche Reformdebatte gefährdet werden dürfe.“ Vgl. RE Nr. 9963/9964; B 30, ZA-Bd. 167279. 5 MDg Schilling, z. Z. New York, berichtete am 25. September 1992, er habe die Frage einer Reform des VN-Sicherheitsrats mit dem Abteilungsleiter im amerikanischen Außenministerium, Bolton, erörtert. Dieser habe erklärt: „USA befürworteten zwar Aufnahme von Deutschland und Japan in den SR. Keine Erweiterung des SR solle ohne diese beiden Staaten stattfinden. Allerdings werde eine Erweiterung im Zuge einer SR-Reform nicht auf diese beiden beschränkt bleiben können. Indien, Brasilien und Nigeria und möglicherweise andere würden in den SR drängen. Es könnte dadurch zu einer Erweiterung kommen,

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24. Juli 1992: Runderlass von Chrobog

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Folgt Sprachregelung: 1) Wir begrüßen es, dass der Sicherheitsrat nach der Beendigung des Ost-West-Konfliktes so handlungs- und entscheidungsfähig geworden ist wie nie zuvor in der Geschichte der VN. Diese Handlungsfähigkeit muss erhalten bleiben. 2) Wir sind bereit, in den VN größere Verantwortung zu übernehmen. Wir haben bisher keine Initiative zu einer Charta-Änderung mit dem Ziel eines ständigen Sitzes im Sicherheitsrat ergriffen. Wir haben auch jetzt nicht die Absicht, dies zu tun. Solange wir nicht Mitglied des Sicherheitsrats sind, nehmen wir an seiner Arbeit aktiv teil, sowohl direkt durch Teilnahme an Sicherheitsratssitzungen im Rahmen der geltenden Verfahrensregeln als auch über unsere Partner im Sicherheitsrat. Wir erwarten von unseren Partnern, insbesondere den EG-Mitgliedern, dass sie auch auf den Gebieten eng mit uns zusammenarbeiten, die Gegenstand der Beratungen im Sicherheitsrat sind. 3) Wir beteiligen uns auch in wachsendem Maße an Maßnahmen zur Durchführung und Unterstützung von Resolutionen des Sicherheitsrats. So haben wir für UNTAC (Kambodscha) ein medizinisches Kontingent von etwa 150 Mann sowie 75 Polizei-Monitoren zur Verfügung gestellt.6 An der gemeinsamen Aktion von WEU und NATO zur Überwachung des Embargos gegen Serbien und Montenegro7 beteiligen wir uns mit einem Zerstörer und drei Aufklärungsflugzeugen.8 4) Es gibt Hinweise darauf, dass andere Staaten – etwa Japan – konkrete Schritte mit dem Ziel einer Erweiterung des Sicherheitsrats in Aussicht nehmen. Eine Erweiterung wäre nur im Wege einer Charta-Änderung möglich und müsste deshalb von einer Mehrheit von Zweidritteln der VN-Mitglieder beschlossen sowie von Zweidritteln der Mitglieder, einschließlich aller ständigen Mitglieder des SR, ratifiziert werden. Wir behalten uns eine Beteiligung an solcher, von anderer Seite eingeleiteter Initiative zur Erweiterung des SR vor. Unsere Haltung, nicht selbst eine solche Initiative zu ergreifen, darf jedoch nicht als Desinteresse an einem ständigen Sitz im SR missverstanden werden. Sie beruht vor allem auf der Erwägung, dass Vorschläge zur Erweiterung des SR weitere, dem VN-System abträgliche Forderungen nach sich ziehen könnten (Pandora-Büchsen-Effekt). Sie berücksichtigt zugleich die Tatsache, dass wir auch als Nichtmitglied insbesondere über unsere EGPartner F und GB auf Entscheidungen des SR einwirken können (s. Ziff. 2). Wenn die Diskussion über eine Charta-Änderung jedoch in ein konkretes Stadium tritt und wenn sich abzeichnet, dass vergleichbare Staaten – wie Japan – einen ständigen Sitz im Sicherheitsrat erhalten sollen, muss auch Deutschland einbezogen werden. Wir rechnen hierfür dann mit der Unterstützung unserer Partner. Chrobog9 B 30, ZA-Bd. 167349 Fortsetzung Fußnote von Seite 966 die über das für die Effizienz erträgliche Maß hinausgehen würde. Das Problem werde durch die Positionen von UK und F nicht erleichtert.“ Vgl. DB Nr. 2472; B 30, ZA-Bd. 248885. 6 Zum Verlauf des Friedensprozesses in Kambodscha und zur Beteiligung der Bundesrepublik an UNTAC vgl. Dok. 305. 7 Zu den Überwachungsmaßnahmen von NATO und WEU in der Adria vgl. Dok. 220. 8 Zum Beschluss der Bundesregierung vom 15. Juli 1992 vgl. Dok. 231, besonders Anm. 5. 9 Paraphe.

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27. Juli 1992: Vorlage von Ahrens

240 Vorlage des Vortragenden Legationsrats I. Klasse Ahrens für Bundesminister Kinkel 215-350.00/2 VS-NfD

27. Juli 19921

Über Dg 21 i. V.2, D 2 i. V.3, Herrn Staatssekretär4 Herrn Bundesminister5 Betr.:

Friedensbemühungen im ehemaligen Jugoslawien

Zweck der Vorlage: Zur Unterrichtung Seit einem Jahr bin ich als Vermittler der Europäischen Gemeinschaft in dem ehemaligen Jugoslawien tätig. Ich reise viel in dem Land und treffe sowohl mit den Hauptprotagonisten wie mit sonstigen Akteuren und Opfern zusammen. Diese Erfahrung veranlasst mich zu folgender, wenig ermutigender persönlicher Einschätzung: 1) Schon im Sommer 1991 wurde klar, dass es in Jugoslawien noch viel schlimmer kommen musste, bevor es besser werden konnte. Die entscheidenden Politiker in dem Land waren erkennbar der historischen Herausforderung in dem säkularen Konflikt nicht gewachsen und agierten nach Art von Zauberlehrlingen. Leider ist dies heute weitgehend noch immer der Fall. Auch unter den neuen Gestalten in der Belgrader Führung und Opposition wird das serbische Volk seinen Messias nicht finden. In Kroatien werden die Wahlen vom 2. August 1992 möglicherweise den schon jetzt zu einflussreichen Ultra-Nationalisten weiteren Auftrieb geben, auch wenn sich der ohnehin etwas zweideutige Präsident Tudjman hält.6 Präsident lzetbegović von Bosnien-Herzegowina setzt seine letzte Hoffnung auf eine auswärtige Militärintervention, während die Warlords aller drei Parteien in seinem Lande Amok laufen. Von den immer mehr abdriftenden Slowenen einmal abgesehen, ist kühle Vernunft am ehesten noch in dem von der EG so arg gebeutelten Mazedonien zu finden. 2) 1991/92 hat sich, von der Weltöffentlichkeit viel zu spät und eigentlich bis heute noch immer nicht wirklich beachtet, die ethnische Landkarte in dem jugoslawischen Raum dramatisch verändert. Bei der Volkszählung 1991 hatten sich 576 000 Bürger Kroatiens als Serben bekannt, das waren 12 % der Bevölkerung. Heute sind nach serbischen Quellen 1 2 3 4 5

Hat VLR I Libal zur Mitzeichnung vorgelegen. Hat in Vertretung des MDg von Studnitz VLR I Lambach am 27. Juli 1992 vorgelegen. Hat in Vertretung des MD Chrobog MDg Schilling am 27. Juli 1992 vorgelegen. Hat StS Kastrup am 27. Juli 1992 vorgelegen. Hat BM Kinkel am 28. Juli 1992 vorgelegen. Hat OAR Rehlen am 28. Juli 1992 vorgelegen, der den Rücklauf über das Büro Staatssekretäre, MD Chrobog und MDg von Studnitz an Referat 215 verfügte. Hat VLR I Libal am 28. Juli 1992 erneut vorgelegen, der handschriftlich vermerkte: „Bo[tschafter] Ahrens teleph[onisch] verständigt.“ 6 Botschafter Weisel, Zagreb, teilte am 4. August 1992 mit, bei den Wahlen am 2. August 1992 in Kroatien sei Präsident Tudjman mit knapp 56 % der Stimmen wiedergewählt worden. Die regierende HDZ (Hrvatska demokratska zajednica/Kroatische Demokratische Union) habe die absolute Mehrheit der Parlamentssitze errungen und werde weiterhin allein regieren können. Vgl. DB Nr. 490; B 42, ZA-Bd. 175598.

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nur noch 5 % der Bürger Kroatiens Serben. Dies ergäbe eine starke Abwanderung oder Vertreibung von Serben – natürlich nur aus den nicht von den Serben eroberten Gebieten, die ihrerseits heute so gut wie ohne Kroaten sind. In Bosnien-Herzegowina sollen mittlerweile 2 Mio. Menschen, zumeist Moslems, auf der Flucht, genauer gesagt, vertrieben worden sein. Da es 1991 in der gesamten Republik nur 1,9 Mio. Moslems (von 4,35 Mio. Einwohnern) gegeben hatte, bedeutet dies, dass die ethnische Landkarte auch dort heute völlig verändert ist. Über die Vertreibung der Kroaten, Ungarn und Slowaken aus der serbischen Wojwodina und der Moslems aus dem serbisch-montenegrinischen Sandžak liegen kaum Zahlen, dafür aber teilweise erschütternde Berichte vor. Manche „Realpolitiker“ meinen, diese Völkerwanderung werde die jugoslawischen Probleme in der Tat lösen, vielleicht sogar einvernehmlich. Das mag auf lange Sicht sogar richtig sein. Abgesehen jedoch von der Frage, Einvernehmen zwischen wem denn herzustellen wäre, kann und will die westliche Politik die Vertreibungen nicht hinnehmen. Sie darf dann aber auch nicht die enormen politischen, wirtschaftlichen, technischen und vor allem psychologischen Probleme der Rückführung nach den hemmungslosen Kämpfen ignorieren. 3) Die vielgescholtene EG-Jugoslawien-Konferenz kann nicht einiger und stärker sein als die zwölf Regierungen, die hinter ihr stehen. Lord Carrington hätte persönlich zeitweilig mehr Einsatz zeigen und einen Rosstäuscher wie Milošević mit weniger diplomatischer Vorsicht behandeln sollen, konnte aber die von ihm erwartete Gesamtlösung des Konflikts gar nicht erbringen. Er selbst führt dies jedoch noch heute auf die nach seiner Auffassung verfrühte Anerkennung von Slowenien und Kroatien7 zurück. Diese Anerkennung habe ihn jeder Druckmöglichkeiten beraubt. Dies ist insofern eine bemerkenswerte Fehleinschätzung, als es um die Jahreswende 1991/92 nicht des Druckes auf Kroatien und Slowenien, sondern des Druckes auf Serbien bedurft hätte. Serbien blockierte jeden Verhandlungsfortschritt und hätte, wäre Lord Carrington gefolgt worden, de facto ein VetoRecht erworben. Die jetzt für August vorgesehene Sitzung einer erweiterten Konferenz8 kann hilfreich sein, wenn sie zu verstärkter Einflussnahme der Amerikaner führt. Sie wäre aber schädlich, wenn sie die Konfliktlösung stärker den Vereinten Nationen übertragen würde. Diese haben bisher in Kroatien und auch in Bosnien eine eher enttäuschende Vorstellung geboten. Ursache ist weniger ein Versagen der Militärs als vielmehr eine schwer verständliche serbophile Tendenz der politischen Akteure wie Vance, Goulding oder Thornberry. Die serbischen Hauptverantwortlichen schöpfen in diesem Zusammenhang erkennbar neue Hoffnung auf Zeitgewinn und auf größere Nachsicht im Kreis der fünf ständigen Sicherheitsratsmitglieder. Sie haben in der vorigen Woche in Brüssel bereits die Legitimität von Arbeitsgruppensitzungen der Carrington-Konferenz unter Hinweis auf „Präsident Mitterrands Vorschlag“ einer anderen Konferenz in Zweifel gezogen. 4) Den gesamtjugoslawischen Raum betreffende Verhandlungen führt die Konferenz nur noch bei dem Thema Staaten-Sukzession. Diese Verhandlungen sind mühsam, führen aber möglicherweise doch noch zu mindestens teilweisem Einvernehmen bei den Scheidungsfolgen. Der ganz unerlässliche Aufbau neuer Kooperationsstrukturen – ob unter den fünf 7 Zur Frage der Anerkennung von Kroatien und Slowenien vgl. Dok. 11, Anm. 4. 8 Am 26./27. August 1992 fand in London die internationale Jugoslawien-Konferenz statt. Vgl. Dok. 269.

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Nachfolgestaaten oder parallel auf die heute wenig bereite EG hin – wird sich wohl erst in Angriff nehmen lassen, wenn die Catch-as-catch-can-Phase des Konflikts vorüber ist und Sachzwänge sichtbar werden, wenn die teilweise kaum lebensfähigen Kleinstaaten ihre wirtschaftliche und politische Impotenz bemerken, wenn die Bevölkerung feststellt, wie klein ihr Land geworden ist. Das kann lange dauern, macht sich in Einzelfällen aber schon heute verhandlungsfördernd bemerkbar. 5) Im Übrigen ist die Konferenz heute weitgehend fragmentiert. Sie befasst sich, abgesehen von der Sukzession, mit drei Haupt- und drei Nebenschauplätzen, die ihre Kräfte voll beanspruchen. 5.1) In dem bosnischen Konflikt, in dem neben Cutileiro nunmehr auch Lord Carrington selbst aktiver geworden ist, wird derzeit versucht, für eine Republik zustande zu bringen, was jedermann für Gesamt-Jugoslawien als unmöglich ansah: weiteres gedeihliches Zusammenleben von Serben, Kroaten und Moslems. Dies wird, wenn überhaupt, wohl nur noch der äußeren Form nach gelingen. Serben und Kroaten können sich auf ihren Nationalstaat abstützen, die Moslems sind dagegen in ihrer Existenz bedroht. In den serbischen „Kantonen“ werden sie, wenn man sie denn zurückkehren lässt, eine unterdrückte Minderheit wie im Sandžak bilden. In den übrigen Gebieten werden sie bestenfalls Juniorpartner der Kroaten sein. 5.2) Im Kosovo stößt der feste Wille der ganz überwiegend albanischen Bevölkerung, nie wieder unter serbischer Herrschaft zu leben, auf einen serbischen Nationalismus, der gerade an dieses Gebiet seine Geschichtsmythen knüpft. Die Kosovo-Verhandlungen sind völlig festgefahren, nachdem Milošević wie der neue jugoslawische Präsident Ćosić sich jede ausländische Einmischung verbeten haben. Albaner-Führer Rugova hatte nach langen und schwierigen Gesprächen mit der EG das bedeutende Zugeständnis gemacht, mit den Serben ohne Vorbedingung verhandeln zu wollen, hatte aber auf Teilnahme [an] der Jugoslawien-Konferenz bestanden. 5.3) Auch in den von den Serben eroberten Gebieten in Kroatien – Stichwort „Krajina“ – stehen sich kroatischer Nationalismus und serbischer Separatismus unversöhnlich gegenüber. Immerhin habe ich in der vergangenen Woche mit Kroaten und lokalen Serbenführern eine Einigung auf proximity talks ohne Vorbedingung und so bald möglich herbeiführen können, denen Gespräche um denselben Tisch folgen sollen. Es ist vorgesehen, diese Gespräche durch den Konferenz-Vizevorsitzenden de Beaucé unter Beteiligung der VN am 19.8.1992 in Zagreb und in Knin eröffnen zu lassen. Ein gewisses Zeichen der Hoffnung liegt darin, dass die Serben sich von mir das kroatische Autonomiegesetz haben geben lassen. Sie stehen unter erkennbarem wirtschaftlichem Druck, der umso größer sein wird, je weniger es den Serben in dem benachbarten Bosnien gelingt, einen sicheren Korridor nach dem hunderte Kilometer von Serbien entfernten Gebiet zu schaffen. 5.4) Für die „Nebenschauplätze“ Wojwodina und den Sandžak gilt, was über den Kosovo gesagt worden ist. Wegen der serbischen Weigerung internationaler Beteiligung wird es allenfalls proximity talks geben. Die Aussichten auf Erfolg sind gering, obwohl insbesondere die Ungarn in der Wojwodina keine Abspaltung von Serbien fordern. Ich habe den Eindruck, dass die gegenwärtige serbische Führung den Vertreibungsdruck nicht mindern will. 5.5) Ein Lichtblick ist dagegen der dritte Nebenschauplatz. Bisher vier Verhandlungsrunden zwischen der mazedonischen Regierung und ihrer albanischen Minderheit, die in dieser 970

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Woche mit einer fünften Runde fortgesetzt werden, erwecken Hoffnung, dass die gefährliche Konfrontation so weit abgebaut werden kann, dass eine zufriedenstellende Endregelung möglich wird. Vorsicht ist auch hier am Platze. In Südtirol hat die Lösung von dem GruberDe-Gasperi-Abkommen9 bis zu der jüngsten Erledigungerklärung durch Rom und Wien10 46 Jahre gebraucht. 6) Ausblick: Eine einvernehmliche Lösung zwischen den Serben einerseits und allen anderen andererseits (die Montenegriner sind praktisch Serben) zeichnet sich nicht ab. Eine von außen aufgezwungene militärische Lösung ist kaum möglich. Es bleiben daher nur einschneidende und sich steigernde Sanktionen bei gleichzeitigem geduldigem Weiterverhandeln und schließlichem Oktroi einer Friedenslösung. Bisher wird mangels internationaler Einigkeit nicht klar genug gesagt, was von Belgrad erwartet wird, damit es die Sanktionen11 loswird, und was alle anderen zu unterlassen haben, um nicht ihrerseits mit Sanktionen belegt zu werden. Die Sanktionen müssen erzwingen – volle Beachtung der bestehenden Waffenstillstandsvereinbarungen in Kroatien und Bosnien-Herzegowina. Die Warlords sind kontrollierbar. – Gegenseitige Anerkennung der Nachfolgestaaten einschließlich ihrer Grenzen und Bonafide-Sukzessionsverhandlungen. – Einführung von Autonomieregelungen nach Kapitel II der Treaty Provisions der Jugoslawien-Konferenz12 für die Krajina, den Kosovo, die Muslime im Sandžak, die Ungarn und Slowaken in der Wojwodina und die Albaner in Mazedonien sowie Minderheitenschutz in allen sechs Republiken mit den in Kapitel II vorgesehenen internationalen Beobachtern und einer Individual-Rechtsbeschwerde an ein Gericht mit nicht „jugoslawischer“ Mehrheit. – Rückkehr der Flüchtlinge. Davon abgesehen, muss unbedingt stabilisiert werden, was sich stabilisieren lässt: Slowenien durch Zusammenarbeit mit der EG und Mazedonien durch Anerkennung und Hilfe. Ahrens B 42, ZA-Bd. 175713

9 Am 5. September 1946 schlossen der österreichische AM Gruber und der italienische AM de Gasperi ein Abkommen, das als Anlage IV Bestandteil des Friedensvertrags mit Italien vom 10. Februar 1947 wurde und den deutschsprachigen Einwohnern der Provinz Bozen und der benachbarten zweisprachigen Ortschaften der Provinz Trient einen Autonomiestatus einräumen sollte. Vgl. UNTS, Bd. 49, S. 184 f. 10 VLR I Huber vermerkte am 16. Juni 1992: „Am 11.6.1992 fand ein seit langem im Herzen Europas schwelender Minderheitenkonflikt um das Schicksal der deutschsprachigen Südtiroler, der das österreichischitalienische Verhältnis ständig belastete, ein friedliches Ende. An diesem Tag erkannte Österreich in einer offiziellen Note gegenüber der italienischen Regierung an, dass Italien die 1969 auf Vermittlung der Vereinten Nationen ausgehandelten Autonomiebestimmungen für Südtirol nun erfüllt habe. Die formelle Streitbeilegungserklärung soll noch in der kommenden Woche der UNO in New York übergeben werden, die bereits 1960 durch Österreich mit dem Südtirol-Problem befasst wurde.“ Vgl. B 26, ZABd. 173558. 11 Zu den Sanktionen gegen die Bundesrepublik Jugoslawien (Serbien/Montenegro) vgl. Dok. 159, Anm. 12, und Dok. 162, Anm. 7. 12 Für das Dokument „Treaty Provisions for the Convention“ vom 4. November 1991 („Carrington-Plan“) vgl. B 42, ZA-Bd. 175713.

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27. Juli 1992: Drahtbericht von Ploetz

241 Drahtbericht des Botschafters von Ploetz, Brüssel (NATO) Fernschreiben Nr. 1155 Betr.:

Aufgabe: 27. Juli 1992, 17.34 Uhr1 Ankunft: 27. Juli 1992, 18.22 Uhr

Russische Vorstellungen im NATO-Rahmen zur europäischen Sicherheitsarchitektur nach den Gipfeln von München2 und Helsinki3

Bezug: 1) DB Nr. 1078 vom 3.7.92 – I-340.15 KR/24 2) DB Nr. 1053 vom 1.7.92 – I-340.15 KR/05 Zur Unterrichtung I. Zusammenfassung Aus mehreren Gesprächen mit hiesigem russischem Botschafter Afanassjewskij (A.) halte ich zusammenfassend den Eindruck fest, dass Russland aus kurz- wie aus längerfristigen Überlegungen auf den ihm gebührenden Platz in der entstehenden neuen Ordnung in Europa Wert legt, den A. als „Mitgliedschaft im Club mit gleichen Rechten und Risiken“ charakterisierte. Im Mittelpunkt der kurzfristigen Überlegungen zur „neuen Qualität der Beziehungen in Europa“ stehen Sicherung und Konsolidierung der Reform in Russland. Auf längere Sicht geht es um „Anerkennung wahrer Partnerschaft“ im Sinne einer echten Zweibahnstraße. II. Im Einzelnen und ergänzend 1) Allgemeines a) A. betonte russische Sorgen, dass im KSZE- und besonders im NAKR-Zusammenhang zwar die Entwicklungen in der GUS ausführlich erörtert werden, Russland aber bei echten sicherheitspolitischen Konsultationen, die auch westliche Partner direkt berühren und in praktische Maßnahmen – etwa Friedenswahrung – einmünden, nicht oder nicht angemessen beteiligt wird. 1 Der Drahtbericht wurde von Botschafter von Ploetz und BR Scharinger, beide Brüssel (NATO), konzipiert. Hat VLR Ulrich am 28. Juli 1992 vorgelegen, der die Weiterleitung an LR I Weil und VLR Schumacher verfügte. Hat Weil vorgelegen. Hat Schumacher am 28. Juli 1992 vorgelegen. 2 Zum Weltwirtschaftsgipfel vom 6. bis 8. Juli 1992 vgl. Dok. 225. 3 Zur KSZE-Gipfelkonferenz am 9./10. Juli 1992 vgl. Dok. 226. 4 Botschafter von Ploetz, Brüssel (NATO), berichtete über eine Sitzung des Ständigen NATO-Rats mit Vertretern der Partner im NAKR. Erörtert worden seien das Treffen der Präsidenten Bush (USA) und Jelzin (Russland) am 16./17. Juni 1992 in Washington, der Abzug vormals sowjetischer Truppen aus den baltischen Staaten, die Übernahme friedenserhaltender Maßnahmen durch die KSZE, Fragen der Rüstungskontrolle, verschiedene Regionalkonflikte sowie die Entwicklung in der ČSFR. Vgl. DB Nr. 1078/1079; B 14, ZA-Bd. 161244. 5 Botschafter von Ploetz, Brüssel (NATO), informierte, der russische Botschafter Afanassjewskij habe gegenüber NATO-Mitarbeitern den Wunsch nach „Verdichtung des Kooperationsprozesses“ vorgebracht und u. a. die Einrichtung eines NAKR-Sekretariats vorgeschlagen. Vgl. B 14, ZA-Bd. 161244.

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Bei insgesamt positiver Bewertung der Fortschritte beim NAKR in Oslo6, dem G 7Treffen in München und beim KSZE­Gipfel in Helsinki klang in A.s Ausführungen ein hohes Maß an Frustration und Zweifel daran mit, ob der Westen es mit Russland ehrlich meint. Hier blieb A. einer auch im sowjetischen Regime gern praktizierten Methode treu, Gesprächspartner in die Defensive zu bringen: Moskau anerkenne durchaus die großen Leistungen Deutschlands, müsse aber mit Bedauern registrieren, dass nur die USA eine gewisse „Sponsorenrolle“ für Russland übernommen hätten, die sich naturgemäß institutionell nur in Bezug auf die Allianz, nicht jedoch die EG auswirken könne. Die Gespräche mit A. fanden unter vier Augen, bei einem der regelmäßigen deutschrussischen Mittagessen (unter Teilnahme von Beamten und Soldaten auf beiden Seiten) und in größerem Kreise, u. a. bei einem Abendessen mit Professor Stürmer, statt. A. sprach mit gewohnter Autorität und Präzision, berief sich jedoch nie auf Weisungen oder bestimmte Moskauer Stellen. Eine Bewertung seiner Aussagen muss dies berücksichtigen. b) Wie ein roter Faden zog sich durch die Argumentation, NAKR-Mitgliedschaft sei im Vergleich zur NATO-Mitgliedschaft „zweitrangig“. Russland bleibe nur der „Notsitz“, es werde aus Europa ausgegrenzt und von der gleichberechtigten Teilnahme an der weiteren europäischen Entwicklung abgeschnitten. Es sei Geburtsfehler des NAKR, keine eigene Struktur zu besitzen, seine Finalität sei unklar. A. forderte daher, den NAKR zum „Sicherheitskorb“ der KSZE zu entwickeln („wenn diese es selbst nicht schafft“), d. h. für umfassende Konsultationen über Fragen der Sicherheit, der Rüstungskontrolle und Abrüstung sowie von Lösungsmöglichkeiten für die zahlreichen lokalen Krisen (in der GUS) zu nutzen. Er begründete die Forderung nach einem solchen Instrument des permanenten Dialogs und der Transparenz in Europa nicht nur aus dem Interesse an Stabilität in Europa, sondern stellte – etwas dramatisierend – auch Zusammenhang zur weiteren innenpolitischen Entwicklung in RUS her: Der Gefahr eines konservativen Rückschlages in RUS könne auch dadurch vorgebeugt werden, dass der NAKR einen „offenen Kanal und Zugang für Russland nach Europa“ darstelle. c) Zunehmend deutlich wird russische Ungeduld mit der Entwicklung des NAKR: Für den geringen Preis einer Öffnung nach Osten (ohne sicherheitspolitische Verpflichtungen) könne der Westen in ihm Sicherheitspetita (bisher: KSE­Implementierung, Verhinderung der Proliferation von Nuklearwaffen) durchsetzen, Dritte – etwa die baltischen Staaten – nutzen ihn als multilaterale Bühne, um RUS auf die Anklagebank zu setzen. Die „Gegenleistung“ bliebe jedoch aus. RUS möchte, dies wurde sehr deutlich, NAKR im Rahmen eines „do ut des“ auch für Realisierung eigener sicherheitspolitischer Interessen heranziehen, wobei GUS-interne Aspekte kurzfristig Vorrang haben. Unverkennbar und langfristig angelegt ist das Bemühen um gleichberechtigten Status mit den USA: Dies wurde greifbar deutlich, als USA dem russischen Botschafter die Federführung für die NAKR-Unterrichtung über das jüngste Gipfeltreffen7 überließ, obwohl es in Washington stattgefunden hatte. Aus derselben Motivlage verlangte A. eigene NAKRStrukturen und nimmt billigend in Kauf, dass hieraus eine Schwächung der 16er-Strukturen der NATO folgen könnte. 6 Zur NAKR-Ministertagung am 5. Juni 1992 vgl. Dok. 170. 7 Zum Treffen der Präsidenten Bush (USA) und Jelzin (Russland) am 16./17. Juni 1992 vgl. Dok. 186.

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2) Verhältnis NAKR – NATO A. bewertete bisherige NAKR-Aktivitäten als insgesamt nützlich (z. B. Einigung im KSE-Bereich), ließ jedoch auch deutlich Enttäuschung über Form und Substanz der Zusammenarbeit erkennen und begründete diese Frustration mit einer angeblich anders verstandenen Raison d’être und Finalität des NAKR selbst. Bei Fortsetzung der bisherigen NAKR-Arbeit im Seminarformat drohe „Leerlauf“. Nötig seien konkretere Kontakte, sonst gerate NAKR in eine Krise. Wie so oft blieb A. auch diesmal konkrete Antworten schuldig, in welchen Bereichen eine Intensivierung/Konkretisierung der Zusammenarbeit angestrebt wird. A. beklagte vielmehr Einseitigkeit des bisherigen Dialogs: RUS habe Gefühl, dass es noch als Risiko, nicht jedoch als echter Partner betrachtet werde. A. tat sich schwer einzusehen, dass die 16 ihre unterschiedlichen Positionen und den mühsamen Prozess der Entscheidungsfindung nicht im NAKR-Rahmen ausbreiten und damit RUS Gelegenheit zur Einflussnahme geben wollen. 3) Verhältnis NAKR – KSZE Als mögliches Thema, zu dem NAKR künftig konkrete Beratungen führen könnte, nannte A. Unterstützung der KSZE bei friedenserhaltenden Maßnahmen in Krisensituationen. Arbeit im NAKR-Rahmen werde nützlich sein für allianzinterne Erörterungen. A. äußerte sich auch hier enttäuscht über bisherige Praxis: Wunsch der Kooperationspartner, wenigstens durch Unterrichtung über gegenwärtigen Beratungsstand in der Allianz zu friedenserhaltenden KSZE­Massnahmen beteiligt zu werden, sei mit Hinweis auf noch nicht abgeschlossene Überlegungen abgelehnt worden. A. verband diese Ausführungen mit der Warnung, wenn NATO „geschlossener Club“ bleibe, könne sie keine Rolle in der KSZE spielen. Schaffung anderer regionaler Institutionen könne die Konsequenz sein. A. warb in diesem Zusammenhang erneut für russischen Vorschlag, GUS-Streitkräfte für friedenswahrende Operationen unter KSZE-Mandat einzusetzen8 (und so für friedenserhaltende GUS-Operationen etwa in Moldau oder Georgien zu legitimieren). Ich habe für Verständnis geworben, dass NATO bei Betreten von sicherheitspolitischem Neuland zunächst intern nachdenken müsse, was eine Allianzrolle angehe. Das Thema selbst sei aber Gegenstand vielfältiger Beratungen von VN über KSZE bis hin zu verschiedenen bi- und multilateralen Foren. Hier spiele Russland eine aktive und gleichberechtigte Rolle. 4) Verhältnis RUS – WEU A. ließ bei diesem Thema Skepsis verlauten, die mit dem Ausschluss vom PetersbergKreis9 zu tun haben könnte. Ich habe Rationale erläutert, was A. mit zwei Anmerkungen kommentierte: Russland wolle und könne nicht Mitglied der EG werden. Insofern Verständnis. Man habe jedoch WEU-GS van Eekelen nach Moskau eingeladen. Was könne RUS von WEU erwarten: einen weiteren „geschlossenen Club“, nur noch beschränkter als die NATO? Insofern erneut Widerspruch in der russischen Position. III. Bewertung An den Äußerungen A.s fiel auf, dass sie auf Teilaspekte der europäischen Sicherheitsarchitektur, besonders NATO und NAKR, beschränkt waren. Die beachtlichen Positions8 Vgl. den Vorschlag der Präsidenten Jelzin (Russland) und Krawtschuk (Ukraine) vom 6. Juli 1992; Dok. 212, Anm. 9. 9 Zur WEU-Ministerratstagung am 19. Juni 1992 vgl. Dok. 162, Anm. 32.

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gewinne Jelzins beim G 7-Gipfel in München und die zukunftsweisenden Beschlüsse von Helsinki berücksichtigte er erst auf Gegenvorstellungen unsererseits. Die russische Sorge vor einer Ritualisierung der NAKR-Aktivitäten ist jedoch nicht ganz unbegründet: So wird den Partnern jeweils ein Kommuniquéentwurf des 16er-Kreises vorgelegt. Ergänzungs- und Änderungsvorschläge werden nur berücksichtigt, wenn sie im 16er-Rahmen Konsens finden. Interne Beratungen der 16, besonders warum Änderungsvorschläge keinen Konsens fanden, werden nicht erläutert. Das macht den Mangel an Symmetrie aus, auf den es den Russen gerade in der jetzigen Phase des Übergangs sowohl im Verhältnis zu den USA wie auch – bezogen auf Friedenswahrung im KSZE-Rahmen – zwischen NATO und GUS ankommt. Den Russen geht es um mehr, als nur auf einem weiteren internationalen Treffen gesehen zu werden. Die bisherige Reserve einiger europäischer NATO-Partner (darunter auch Frankreich, aber auch mehrere andere) erschwert es außerdem, den NAKR zu instrumentalisieren für das Bemühen der Moskauer Reformkräfte, den russischen Verteidigungsapparat politisch­ziviler Kontrolle zu unterstellen. Eine solche Instrumentalisierung setzt voraus, dass im NAKRRahmen sicherheitsrelevante Fragen unter voller Einbeziehung der NAKR-Partner behandelt und nicht einzelne Bereiche ausgeblendet werden. Wir registrieren, dass USA diese Diagnose im Wesentlichen teilen, während F und GB aus unterschiedlichen Gründen sehr viel zugeknöpfter sind. [gez.] Ploetz B 14, ZA-Bd. 161234

242 Gespräch des Bundesministers Kinkel mit der polnischen Ministerpräsidentin Suchocka in Warschau 214-322.00 POL

29. Juli 19921

BM Kinkel (BM) in Warschau, 29.7.19922; hier: Gespräch mit Ministerpräsidentin Suchocka (MP) Teilnehmer auf deutscher Seite: BM Kinkel, Bo[tschafter] Bertele, Bo. Höynck, VLR I Schumacher (013), VLR I Brümmer (214), VLR I Gerdts (010), Frau Domke (Dolm[etscherin]). MP würdigt die Tatsache, dass BM der erste offizielle Gast der neuen Regierung3 sei. Es sei ein gutes Zeichen und wichtig für die deutsch-polnischen Beziehungen. Bevor sie auf Einzelfragen dieser Beziehungen eingehe, wolle sie etwas zur wirtschaftlichen Lage Polens sagen. Entgegen manchen Pressestimmen sei Polen stabil. Auch die derzeitigen 1 Kopie. Der Gesprächsvermerk wurde von VLR I Brümmer am 4. August 1992 gefertigt. 2 BM Kinkel hielt sich am 29./30. Juli 1992 in Polen auf. 3 Zur Regierungsbildung in Polen vgl. Dok. 228, Anm. 7.

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Streiks würden den Staat nicht destabilisieren. Streiks seien normal für einen demokratischen Staat. Die Regierungskoalition bestehe aus sehr unterschiedlichen Parteien. Mancher frage sich vielleicht, ob die Beteiligung der Rechts-Nationalen sich nicht negativ auf die polnischen Außenbeziehungen auswirken werde. Dies sei nicht der Fall; durch ihre Beteiligung sei die Christlich Nationale Partei in die gemeinsame Verantwortung eingebunden. Sie wolle das polnische Interesse an der Integration in der EG unterstreichen und hoffe sehr auf entsprechende Unterstützung aus Deutschland. Die polnisch-deutschen Beziehungen seien gut entwickelt und stellten ein wichtiges Element der polnischen Außenbeziehungen dar. Polen verfolge ein ehrgeiziges Regierungsprogramm, das hoffentlich auch Anreiz für deutsche Investitionen in Polen sein werde. BM dankt für freundliche Aufnahme und entrichtet Grüße des Bundeskanzlers. In Deutschland verfolge man mit großer Aufmerksamkeit den Weg Polens und seiner neuen Regierung. Wir wollten dabei helfen, wo immer wir dazu in der Lage seien. Auch er selbst sei neu im Amt und in den ersten zwei Monaten von einem Terminkarussell überwältigt worden. Umso wichtiger sei es für ihn gewesen, sein AM Skubiszewski gegebenes Versprechen eines Besuches in Polen noch vor der Sommerpause4 einzulösen. Unsere Beziehungen seien aus schwierigem Fahrwasser in ruhigere Gewässer übergegangen. Dies sei Anlass zur Freude. Polen habe ihn immer besonders interessiert, und er wolle einen persönlichen Beitrag zur weiteren Verbesserung der Beziehungen leisten. Wie gut diese Beziehungen bereits seien, zeige, dass die beiden Außenminister heute keine besonders große bilaterale Tagesordnung abzuhandeln gehabt hätten5 (Hinweis auf die drei gezeichneten Verträge6). Die MPin habe Europa angesprochen: Wir unterstützten Polen auf dem Weg in die volle Mitgliedschaft und bei der jetzt zunächst anstehenden Vertiefung der Assoziierung. Auf diesem Weg hätten Rechtsangleichung und wirtschaftliche Entwicklung erste Priorität. 4 In ihrem Gespräch am 10. Juli 1992 in Helsinki einigten sich BM Kinkel und der polnische AM Skubiszewski „auf einen Termin Ende Juli“ für einen Besuch von Kinkel in Polen. Vgl. B 42, ZA-Bd. 171225. 5 Im Gespräch zwischen BM Kinkel und dem polnischen AM Skubiszewski am 29. Juli 1992 in Warschau wurden Konsulatsfälle und die bilaterale Zusammenarbeit der Innen- und Verteidigungsministerien erörtert, ferner der polnische Wunsch nach Lieferung von NVA-Material, die Beziehungen EG – Polen, die Ratifizierung des Vertragswerks von Maastricht in verschiedenen Staaten, die Lage der deutschen Minderheit in Polen sowie der Polen in der Bundesrepublik sowie Fragen der Staatsangehörigkeit. Vgl. den Gesprächsvermerk; B 1, ZA-Bd. 178945. 6 Am 29. Juli 1992 unterzeichneten BM Kinkel und der polnische AM Skubiszewski einen Vertrag über die Zusammenarbeit und die gegenseitige Unterstützung der Zollverwaltungen. Vgl. BGBl. 1994, II, S. 94–99. Vgl. auch das Abkommen vom 29. Juli 1992 über den Autobahnzusammenschluss und den Bau von Grenzabfertigungsanlagen für den neuen Grenzübergang im Raum Görlitz und Zgorzelec nebst Protokoll; BGBl. 1994, II, S. 68–73. Vgl. außerdem das Abkommen vom 29. Juli 1992 über Erleichterung der Grenzabfertigung; BGBl. 1994, II, S. 266–273. Am 29. Juli 1992 wurde ferner durch Notenwechsel eine Vereinbarung über die Satzung des Komitees für die Verleihung des Deutsch-Polnischen Preises geschlossen. Vgl. das Schreiben von Kinkel an Skubiszewski; BGBl. 1992, II, S. 743.

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MP dankt für die wichtige und klare Aussage. Sie sei völlig einverstanden mit dem Status eines assoziierten Landes. Als solches habe Polen allerdings keinen Zugang zu den Finanzmitteln der EG. Im Hinblick auf die wichtige regionale Grenzzusammenarbeit frage sie sich, ob es nicht (doch) Wege gebe, Polen am EG-Regionalfonds zu beteiligen. Polen habe Grenzprobleme auch nach Osten und müsse auf eine gewisse Symmetrie achten. Die Verträge, die Polen mit Weißrussland7, der Ukraine8 und anderen abgeschlossen habe, seien bedeutend für ganz Europa. Zur Frage der Rechte für die deutsche Minderheit in Polen wolle sie einen persönlichen Akzent setzen: Sie habe sich beruflich – auch in internationalen Gremien – mit Minderheitenproblemen befasst und kenne alle internationalen Standards auf diesem Gebiet. So habe sie persönlich zum Zustandekommen und zur endgültigen Gestalt der Europäischen Konvention für Minderheitenrechte beigetragen. Zwar sei diese Konvention noch nicht verabschiedet, doch dies werde hoffentlich bald geschehen. In Kürze werde die Charta für die Rechte regionaler Sprachen unterzeichnet.9 Die deutsche Minderheit habe ihre Vertretung im Parlament, und obwohl sie nicht der Koalition angehöre, unterstütze sie die Regierung. Sie unterstütze auch die polnische Außenpolitik. In diesem insgesamt positiven Bild gebe es allerdings auch eine bittere Pille (Hinweis auf die auch schon von AM Skubiszewski angesprochenen angeblichen Steuerverfehlungen von Vertretern der deutschen Minderheit, die Zuwendungen aus Deutschland erhielten). BM repliziert zu dem zuletzt genannten Punkt wie gegenüber AM Skubiszewski (keine Anhaltspunkte für Stichhaltigkeit der polnischen Sorgen; Bitte, ggf. Ross und Reiter zu nennen). Für das bisher (für die deutsche Minderheit) Geleistete wolle er sich bedanken. Die Einbindung der Minderheit in Polen müsse weitergehen. Er bitte die Ministerpräsidentin, auch persönlich zu helfen, dass in D mit Recht gesagt werden könne, in Polen gingen die Dinge weiter aufwärts. Zur Frage des Zugangs zu EG-Mitteln: Der Regionalfonds komme in der Tat nicht infrage, aber es gebe andere Möglichkeiten. Wir würden uns dafür einsetzen, dass Polen, wo immer möglich, geholfen werde (auch im eigenen Interesse). MP: „Wir können unsere Zusammenarbeit offensichtlich sehr optimistisch einschätzen.“ Eine weitere wichtige Frage: Welche Entwicklung sei bei den deutschen Investitionen (in Polen) zu erwarten? BM: Er sei zu wenig Wirtschaftsfachmann, um die Frage erschöpfend beantworten zu können. Die Botschafter10 sollten prüfen und aufschreiben, woran es bei den Investitionen noch hake. Geld sei scheu und brauche lange zur Entwicklung von Vertrauen. Die deutsche 7 Polen und Belarus schlossen am 23. Juni 1992 ein Abkommen über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit. Vgl. https://treaties.un.org/doc/Publication/UNTS/No%20Volume/54547/Part/ I-54547-08000002804ae653.pdf. 8 Polen und die Ukraine unterzeichneten am 18. Mai 1992 einen Vertrag über gute Nachbarschaft, freundschaftliche Beziehungen und Zusammenarbeit. Vgl. https://treaties.un.org/doc/Publication/UNTS/ No%20Volume/56629/Part/I-56629-080000028048b98c.pdf. 9 Für die Europäische Charta der Regional- oder Minderheitensprachen vom 5. November 1992 vgl. BGBl. 1998, II, S. 1315–1333. 10 Franz Bertele (Bundesrepublik) und Janusz Reiter (Polen).

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29. Juli 1992: Gespräch zwischen Kinkel und Suchocka

Wirtschaft könne auch nicht nach Polen geprügelt werden. Voraussetzung sei die Schaffung vertrauensvoller Verhältnisse in Polen. Immerhin habe die Financial Times kürzlich bei der Beurteilung von Investitions- und Gewinnchancen in den MOE-Ländern Polen an die erste Stelle gesetzt. Er wolle auch gern BM Möllemann einmal ansprechen. Auch in der Türkei, die er gerade besucht habe11, gebe es eine bemerkenswerte Entwicklung: starke Zunahme französischer und Abnahme deutscher Investitionen. Bo. Bertele nennt vor allem drei Gründe für noch zögernde deutsche Investitionsneigung in Polen: Unsicherheiten über – Besteuerung, – Grundstückserwerb, – Entwicklung der Wirtschaftslage. MP: Andererseits seien deutsche Kreditgarantien (zu) teuer. Abschließend: Sie habe schon einen Brief an Bundeskanzler Kohl mit einer Einladung nach Polen vorbereitet. Zwischen ihr und BM Kinkel gebe es gewisse Ähnlichkeiten auf dem Weg in die Ämter, die sie beide jetzt innehätten. Zudem seien sie beide Vertreter einer neuen Generation und deshalb auch zu ganz neuen Wegen („ohne Vorurteile, ganz frei“) in der Lage. BM: Dreierlei zum Schluss: 1) Er bedanke sich herzlich für dieses offene und freundschaftliche Gespräch und wünsche ihr und ihrer Regierung alles Gute. 2) Er sei es seinem Botschafter schuldig, die dringende Bitte um ein Grundstücksangebot für Kanzlei und Residenz zu unterstreichen: Die räumlichen Verhältnisse unserer Vertretung seien Stand und Bedeutung unserer Beziehungen nicht angemessen. 3) Er werde mit dem Bundeskanzler Kontakt aufnehmen und die erwähnte Einladung ankündigen.12 Der Bundeskanzler werde sie sicher mit Freude annehmen, wenn dies auch kaum kurzfristig – etwa noch in diesem Jahr – möglich sein dürfte. Vielleicht sei es deshalb sinnvoll, ein relativ kurzfristig realisierbares Arbeitstreffen in Bonn vorweg anzustreben.13 Er werde sich für eine solche Lösung einsetzen. B 1, ZA-Bd. 178945

11 BM Kinkel besuchte die Türkei am 12./13. Juli 1992. Vgl. Dok. 223. 12 Vgl. das Schreiben des BM Kinkel vom 8. August 1992; Dok. 258, Anm. 17. 13 Die polnische MPin Suchocka hielt sich am 5./6. November 1992 in der Bundesrepublik auf. Für ihr Gespräch mit BK Kohl am 5. November 1992 vgl. Dok. 356.

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30. Juli 1992: Vorlage von Brümmer

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243 Vorlage des Vortragenden Legationsrats I. Klasse Brümmer für Staatssekretär Kastrup 214-320.10 TSE

30. Juli 19921

Über Dg 212 D 23 Herrn Staatssekretär4 Betr.:

Lage und Entwicklung in der ČSFR nach dem Rücktritt StP Havels am 20.7.1992

Zweck der Vorlage: Zur Unterrichtung und zur Billigung des Vorschlags unter Ziffer II. I. 1) Der Rücktritt StP Havels steht in zeitlichem und ursächlichem Zusammenhang mit den Regierungsprogrammen der tschechischen und slowakischen Regierungen sowie der Souveränitätserklärung des slowakischen Nationalrats vom 17.7.1992. 2) In der Tschechischen Republik (ČR) wird das Wirtschaftsreformprogramm von MP Klaus verstärkt weitergeführt. Außenpolitisch sollen tschechische Interessen vertreten werden. Das lässt u. a. auf eine harte Haltung gegenüber sudetendeutschen Vermögensansprüchen schließen. Nach der Trennung von der Slowakischen Republik (SR), die so schnell und so gründlich wie möglich durchgeführt werden soll, wird die ČR versuchen, so schnell wie möglich den EG-Beitritt zu erreichen. Auch zu diesem Zweck ist die ČR bereit, Nachfolgerin der ČSFR unter Übernahme ihrer Verpflichtungen zu werden. Die Zusammenarbeit in der Visegrád-Gruppe schätzt Klaus nicht sehr hoch ein. 3) In der SR wird deutlich, dass MP Mečiar gegenüber MP Klaus zu hoch gepokert hat. Slowakische Ernüchterung und Irritierung über die tschechische „Alles oder Nichts-Haltung“ äußern sich in zum Teil unseriösen Vermutungen über Geheimpläne der ČR oder der ungarischen Minderheit. In der an sich inkonsequenten Haltung Mečiars ist als ein roter Faden die aggressive Haltung gegenüber dieser Minderheit zu spüren. Mit der Souveränitätserklärung der Slowakei durch den Nationalrat vom 17. Juli wollte Mečiar ein politisches Zeichen setzen. Damit seien keine rechtlichen Konsequenzen verbunden, sie sei lediglich Ausdruck des Willens der Slowakei zur Eigenständigkeit. 4) Die Rücktrittserklärung StP Havels unmittelbar darauf ist als Beitrag zur Verkürzung der Trennungsagonie zu verstehen. Aus Anlass der Souveränitätserklärung gibt er als das letzte Symbol der tschechoslowakischen Föderation zu verstehen, dass er nicht mehr an ihre Aufrechterhaltung glaubt und an ihrem Ende nicht teilhaben will. Mit diesem Be1 2 3 4

Die Vorlage wurde von LR I Busch konzipiert. Hat in Vertretung des MDg von Studnitz VLR I Brümmer am 31. Juli 1992 erneut vorgelegen. Hat in Vertretung des MD Chrobog MDg Schilling am 31. Juli 1992 vorgelegen. Hat StS Kastrup am 31. Juli 1992 vorgelegen, der handschriftlich vermerkte: „Wie soll der Gedanke einer Sondierungsmission weiterverfolgt werden? Was soll ihr Auftrag sein?“ Hat VLR Ney am 31. Juli 1992 vorgelegen, der den Rücklauf an MD Chrobog verfügte. Hat in Vertretung von Chrobog MDg Schilling erneut vorgelegen, der die Weiterleitung an „Dg 21 i. V.“ verfügte. Hat in Vertretung des MDg von Studnitz VLR I Libal vorgelegen.

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30. Juli 1992: Vorlage von Brümmer

freiungsakt eröffnet sich Havel auch bessere Möglichkeiten, sich auf das noch in einer zukünftigen Verfassung zu verankernde Amt des tschechischen Präsidenten vorzubereiten. Aufgrund unterschiedlicher Vorstellungen über die Ausgestaltung dieses Amts wird es wohl noch Auseinandersetzungen zwischen Havel und Klaus geben, der ihm rein repräsentative Aufgaben zuordnen will. 5) In ihren Gesprächen vom 22. Juli vereinbarten Klaus und Mečiar entscheidende Schritte auf dem Weg zur Trennung der beiden Republiken. Ihre Parteien (ODS5/HZDS6) werden dem Föderalparlament ein Gesetz über die Auflösung der Föderation und die Aufteilung des Staatsvermögens vorlegen. In den Nationalräten sollen Verfassungen verabschiedet werden, wonach Vertragsverhandlungen zwischen den Republiken aufgenommen werden. Dies soll vor dem 30. September geschehen. Neben dieser von beiden favorisierten Lösung sind offensichtlich auch andere Lösungen im Gespräch, wie zum Beispiel der von Havel immer wieder geforderte Volksentscheid. Das Gesprächsergebnis lässt den Schluss zu, dass Klaus sich gegenüber Mečiar durchgesetzt hat, vor allem, was die Zeitvorgabe anbelangt. Auch hat er durchgesetzt, dass der Haushalt 1992 der letzte Bundeshaushalt ist. Die von Mečiar angestrebte Aufteilung der staatlichen Medien wurde im Klausschen Sinn umgewandelt. Rundfunk, Fernsehen und Nachrichtenagentur sollen privatisiert werden. Ungeklärt ist weiterhin die Frage einer gemeinsamen Währung. Einig waren sich beide in ihrem Willen zu einer friedlichen Trennung. Eine enge Zusammenarbeit wird in den Bereichen Wirtschaft (Zollunion, Freihandelszone), Außen- und Verteidigungspolitik angestrebt. II. 1) Die in der tschechoslowakischen Bevölkerung immer noch weitverbreitete Stimmung für den Erhalt des Bundesstaates hat mit Havel ihre bekannteste Stimme verloren. Klaus und Mečiar betreiben die Trennung der Republiken weitgehend im Klausschen Sinn („so schnell und so gründlich wie möglich“). Wir können wohl trotz aller Rhetorik von einer friedlichen Trennung ausgehen. Wichtig wird sein, Klaus deutlich zu machen, dass die ČR nach der Trennung keine größeren Aussichten auf einen EG-Beitritt hat, als die ČSFR sie besaß, sowie dass wir anstreben, dass die EG zur ČR und zur SR gleichwertige Beziehungen nach dem Muster der Assoziationsabkommen mit Polen und Ungarn7 entwickelt. Es wäre sinnvoll, wenn die Visegrád-Zusammenarbeit fortgesetzt würde und als EG-Partner erhalten bliebe. Gegenüber der SR müssen wir unser Interesse an einer Einbindung der Slowakei in den westeuropäischen Raum zum Ausdruck bringen. Es ist zu erwarten, dass die Auflösung der Föderation die SR wirtschaftlich wesentlich härter treffen wird als die ČR. Damit erhöht sich in der SR die Gefahr der bereits zu beobachtenden Tendenzen, die marktwirtschaftlichen Reformen durch dirigistische Maßnahmen zu verwässern. Wir müssen daher unser Interesse an der Fortsetzung des Reformkurses und am Ausbau der Wirtschaftsbeziehungen zur Slowakei zum Ausdruck bringen. Wir sollten daher das von slowakischer Seite verschiedentlich vorgebrachte Interesse an der Entsendung einer Sondierungsmission, an der auch deutsche Wirtschaftsvertreter und Vertreter der verfassten Wirtschaft teilnehmen sollten, positiv aufgreifen. 5 Občanská demokratická strana (Demokratische Bürgerpartei). 6 Hnutie za demokratické Slovensko (Bewegung für eine demokratische Slowakei). 7 Die EG schloss am 16. Dezember 1991 Europa-Abkommen zur Gründung einer Assoziation mit Polen bzw. Ungarn. Vgl. BGBl. 1993, II, S. 1317–1471 bzw. S. 1473–1714. Vgl. auch AAPD 1991, II, Dok. 407.

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30. Juli 1992: Drahtbericht von Ruhfus

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Es muss der slowakischen Regierung angesichts der Versuchung, die ungarische Minderheit zum Sündenbock für zu erwartende Schwierigkeiten aufzubauen, immer wieder deutlich gesagt werden, dass der Weg nach Europa nur über die Einhaltung der KSZEStandards für Minderheiten führen kann. 2) Im Hinblick auf die Schnelligkeit der Teilung der ČSFR muss damit gerechnet werden, dass das GK Pressburg bald in eine Botschaft umgewandelt werden muss. Schon jetzt sind die räumlichen und personellen Voraussetzungen der politischen Bedeutung und dem Arbeitsanfall der Vertretung nicht mehr angemessen. Referate 411 und 420 haben mitgewirkt. Brümmer B 42, ZA-Bd. 156421

244 Drahtbericht des Botschafters Ruhfus, Washington 13591/92 VS-vertraulich Fernschreiben Nr. 2218 Citissime Betr.:

Aufgabe: 30. Juli 1992, 11.28 Uhr1 Ankunft: 30. Juli 1992, 20.39 Uhr

Künftiges Holocaust-Museum in Washington2; hier: deutscher Beitrag

Bezug: 1) DB Nr. 2071 vom 10.7.92 – Pol 320.15/83 2) DB Nr. 2197 vom 27.7.92 – AZ.4, Tgb.-Nr. 63/925 Zur Unterrichtung 1) Der US Holocaust Memorial Council hat es abgelehnt, in das in Washington entstehende Holocaust-Museum auch Ausstellungselemente mitaufzunehmen, die die Verände1 Der Drahtbericht wurde von BR I Calebow, Washington, konzipiert. Hat VLR I Wagner am 31. Juli 1992 vorgelegen. 2 Zur Errichtung des United States Holocaust Memorial Museum in Washington vgl. zuletzt AAPD 1991, I, Dok. 60. 3 Botschafter Ruhfus, Washington, informierte, „dass die als Diskussionsgrundlage über einen zusätzlichen Ausstellungsteil über die Bundesrepublik Deutschland gedachte Fotosammlung dem Council durch den Ansprechpartner unseres Vertrauensmannes inzwischen vorgelegt worden ist“. Über eine eventuelle Verwendung werde innerhalb des US Holocaust Memorial Council noch entschieden. Vgl. B 32, ZA-Bd. 179514. 4 Auslassung in der Vorlage. 5 Botschafter Ruhfus, Washington, legte dar, die Bundesregierung werde sich weiterhin „mit Nachdruck bemühen müssen, die großen jüdischen Organisationen davon zu überzeugen, dass die Erfüllung unserer Anliegen langfristig auch in ihrem eigenen Interesse liegt. Hierfür wäre es aus hiesiger Sicht von allererster Bedeutung, wenn wir die israelische Regierung dafür gewinnen, dass sie den dichten Stand der deutsch-israelischen Beziehungen und das hohe Niveau der deutschen Leistungen für Israel nicht nur in D, sondern auch für die übrige Welt einschließlich der USA unüberhörbar zum Ausdruck bringt.“ Vgl. B 130, VS-Bd. 13046 (221), bzw. B 150, Aktenkopien 1992.

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30. Juli 1992: Drahtbericht von Ruhfus

rungen in Deutschland nach 1945 – dabei insbesondere auch die Entwicklung unseres Verhältnisses zu Israel – widerspiegeln. Der Gesprächspartner des Armonk Institute im Council, Lowenberg, hat Trosten darüber unterrichtet, dass die von uns angestrebte Ergänzung nicht möglich sei. Sie passe nicht in den Kontext der künftigen Ausstellungen und entspreche auch nicht dem dem Council erteilten Auftrag, den Holocaust in dem zeitlichen Rahmen von 1933 – 1945 darzustellen. Auf das Bemerken Trostens, dass das Museum in einem Ausblick auch die Gründung des Staates Israel behandeln werde, habe Lowenberg bemerkt, dass das eine andere Sache sei. Lowenberg kündigte an, die diesem im Rahmen des vertraulichen Gesprächskontaktes übergebene Fotosammlung zurückzugeben. 2) Die Entscheidung des Council ist für uns sehr enttäuschend. Sie zeigt, dass die im Council vertretenen „Wahrer des Erbes des Holocaust“ die Tür in Richtung auf eine Versöhnung mit Deutschland nach wie vor nicht um einen Spalt zu öffnen bereit sind. Dahinter steht die hier bei Gesprächen immer wieder deutlich gewordene Vorstellung, dass der Hinweis auf Veränderungen in Deutschland nach 1945 im Blick auf die durch den Holocaust geschlagenen Wunden auch als „heilend“ empfunden werden und damit die vom Wachhalten der Erinnerung an den Holocaust von vielen auch angestrebte politische Wirkung beeinträchtigen.6 3) Trosten hat die bereits im Bezugsbericht 2) zum Ausdruck gebrachte Auffassung, dass ein deutlicher Hinweis von geeigneter Stelle in Israel an die Spitze des Council dessen Haltung im Sinne unseres Anliegens durchaus noch verändern könnte. Sein Vorschlag, dass wir darüber das Gespräch mit der israelischen Seite suchen sollten, erscheint jetzt umso mehr prüfenswert. Trosten geht davon aus, dass der Council sich nicht taub stellen würde, wenn er von israelischer Seite hören würde, dass das künftige Museum in der bisher geplanten Art für die Deutschen zu einem so großen Problem werden könnte, dass davon nicht nur das deutsch-jüdische, sondern auch das deutsch-israelische Verhältnis berührt und auf Dauer u. U. sogar beeinträchtigt werden könnte. Dieses mit der israelischen Seite in dem Sinne aufzunehmen, dass wir eine derartige Beeinträchtigung nicht wünschten, diese für uns vielmehr Grund zur Besorgnis wäre, sollte jetzt ernsthaft in Erwägung gezogen werden.7 4) Unabhängig davon wird die Botschaft sich bemühen, mit der Spitze des Council trotz der Urlaubszeit noch einmal ein Gespräch zu führen. 5) Ich rege an, auch diesen Bericht – wie Bezugsbericht 2) – dem StS8 sowie dem Koordinator9 vorzulegen. [gez.] Ruhfus B 130, VS-Bd. 13046 (221)

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Unvollständiger Satz in der Vorlage. Für eine Stellungnahme der Botschaft in Tel Aviv zu diesem Vorschlag vgl. Dok. 249. Dieter Kastrup. Werner Weidenfeld.

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31. Juli 1992: Vorlage von Elbe

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245 Vorlage des Ministerialdirektors Elbe für Bundesminister Kinkel 31. Juli 19921 Über Herrn Staatssekretär2 Herrn Bundesminister3 Zweck der Vorlage: Zur Unterrichtung4 Betr.:

Überlegungen zur Zukunft des Auswärtigen Dienstes5

Anlage: 16 Jede Überlegung zur Zukunft des Auswärtigen Dienstes (AD) muss zunächst bei den Aufgaben ansetzen, die auf ihn zukommen werden. Mit dem Wandel seiner Aufgaben und neuen Vorgaben aus seinem politischen und gesellschaftlichen Umfeld verändert sich der AD auch als Beruf.7 I. Konsequenzen der Globalisierung: Aufgabenzuwachs und neue Schwerpunkte Der Herwarth-Bericht zur Reform des AD8 hat bereits 1971 gefordert, dass Arbeitsbedingungen und innere Struktur des AD den qualitativen und quantitativen Veränderungen außenpolitischer Tätigkeit ebenso wie dem Wandel diplomatischer Methoden entsprechen müssten. Dies gilt heute mehr denn je. In der zusammenwachsenden Welt multiplizieren sich die außenpolitischen Bezüge staatlichen Handelns. Der eigenständige Bewegungsspielraum nationaler Politik verengt sich zusehends. Wirtschaftliche Arbeitsteilung und technischer Fortschritt, aber auch die 1 Die Vorlage wurde von VLR Graf konzipiert. 2 Hat StS Kastrup am 4. August 1992 vorgelegen. Hat StS Lautenschlager am 13. August 1992 vorgelegen, der handschriftlich für BM Kinkel vermerkte: „Im Prinzip sicher eine gute Idee. Ich finde nur, dass vor Einsetzung der auf Seite 12 vorgeschlagenen Arb[eits-]Gruppe ein Gespräch bei Ihnen stattfinden müsste, um die ,Vorgaben‘ für diese Arb.gruppe zu erörtern bzw. festzulegen. (Teilnehmer: StSe, D 1, L Pl, Pers[onal-]Rat.“ Vgl. Anm. 10. 3 Hat BM Kinkel am 18. August 1992 vorgelegen, der handschriftlich vermerkte: „1) Gute Vorlage; 2) Zunächst: Bespr[echung]“. Hat OAR Salzwedel am 21. August 1992 vorgelegen, der den Rücklauf über das Büro Staatssekretäre an den Planungsstab verfügte. Hat StS Lautenschlager am 21. August 1992 erneut vorgelegen. 4 An dieser Stelle wurde von StS Lautenschlager handschriftlich eingefügt: „u. offenbar auch Entscheidung über die Einsetzung einer Arbeitsgruppe.“ 5 An dieser Stelle wurde von StS Lautenschlager handschriftlich eingefügt: „u. der Vorschlag zur Gründung einer Arbeitsgruppe“. 6 Dem Vorgang beigefügt. Für das Schreiben des VLR Horsten in seiner Eigenschaft als Personalratsvorsitzender des Auswärtigen Amts vom 27. Januar 1992 an MD Elbe vgl. B 9, ZA-Bd. 178534. 7 An dieser Stelle Fußnote in der Vorlage: „Der Vorsitzende des Personalrats des Auswärtigen Amts hat mit beigefügtem Schreiben vom 27.1.1992 den Planungsstab gebeten, Überlegungen zur Zukunft des Auswärtigen Dienstes anzustellen. BM Genscher hatte diese Bitte unterstützt.“ 8 Im Herbst 1968 berief BM Brandt eine Kommission für die Reform des Auswärtigen Dienstes ein unter Leitung des Botschafters Herwarth von Bittenfeld. Die Kommission legte im Frühjahr 1971 ihren Bericht vor. Vgl. BERICHT DER KOMMISSION FÜR DIE REFORM DES AUSWÄRTIGEN DIENSTES, vorgelegt dem Herrn Bundesminister des Auswärtigen, Bonn, März 1971.

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31. Juli 1992: Vorlage von Elbe

Zunahme grenzüberschreitender Risiken erzeugen ein komplexes Netz internationaler Interdependenzen und führen damit zu breiteren und neuen Aktivitätsfeldern der Außenpolitik. Außenpolitik wird immer mehr zu „Weltinnenpolitik“. Das Tempo politischer, wirtschaftlicher, gesellschaftlicher und technischer Entwicklungen, die auf die auswärtigen Beziehungen durchschlagen, hat gerade in den letzten Jahren beträchtlich zugenommen: – Globalisierung der Märkte: Die fortschreitende Arbeitsteilung führt zu einem Ausbau der Wirtschaftsbeziehungen zwischen den Staaten. Ihre gegenseitigen Berührungspunkte vermehren sich. – Entstehen einer „Weltkultur“: Die modernen Medien öffnen die nationalen Kulturen gegenüber Einflüssen von außen. Soziale und kulturelle Verhaltensweisen nähern sich einander an. Dies führt in der Tendenz auch zu einem internationalen Grundkonsens über Demokratie und Menschenrechte, der zunehmende außenpolitische Implikationen hat. – Die Entstehung transnationaler Strukturen: Staatliche Souveränität wird zunehmend auf transnationale Institutionen übertragen; die Sicherheit in Europa wird künftig durch ein hochkomplexes System internationaler Strukturen organisiert werden. – Neue Überlebensfragen: Der Sicherheitsbegriff wird neu und umfassender definiert. Neben die – bisher im Vordergrund stehende – militärische Sicherheit treten neue Elemente: Umwelt, wirtschaftliche und soziale Stabilität, Migration, internationale Kriminalität u. a. In Afrika und Südasien wird AIDS immer stärker zur Überlebensfrage. – Dritte industrielle Revolution: Der industrielle Wandel der Gegenwart führt zu einer Neuverteilung der Gewichte in der Welt, so wie dies schon bei früheren industriellen Revolutionen der Fall war. Wissenschaft und Technologie sind heute keine freien Güter mehr, sondern strategische Rohstoffe, die über die Wettbewerbsfähigkeit der Volkswirtschaften entscheiden. Sie sind auch außenpolitische Faktoren. Diese Entwicklungen erfordern von der Außenpolitik nicht nur eine höhere Reaktionsgeschwindigkeit, sondern verstärken auch die Notwendigkeit frühzeitiger Analyse und neuer Lösungsansätze. Mit Inhalten und Prioritäten wandeln sich aber auch die Form und Rahmenbedingungen der Außenpolitik. Der klassische Bilateralismus wird immer stärker von einer Multilateralisierung der auswärtigen Beziehungen und der überstaatlichen Integration von Interessen (EG) überlagert. Globale Präsenz der Medien und eigene Anschauung durch Reiseverkehr erhöhen Interesse und kritisches Bewusstsein der Öffentlichkeit gegenüber dem Ausland und setzen die Außenpolitik damit einem verstärkten Hinterfragungsdruck aus. Außenpolitik wird zunehmend auch zum Thema der innenpolitischen Diskussion. Für den AD bedeuten Zuwachs und Strukturwandel der Aufgaben im auswärtigen Bereich nicht nur ein internes Organisationsproblem. Sie berühren auch sein Verhältnis zu anderen außenpolitisch relevanten Entscheidungsträgern. Die Kompetenzkonkurrenz im auswärtigen Bereich verschärft sich; gleichzeitig relativiert die zunehmende Pluralisierung unserer Gesellschaftsordnung den Vertretungsanspruch des AD für die Gesamtheit der auswärtigen Beziehungen. – Die Bundesländer sind de facto bereits außenpolitische Kompetenzträger. Für den EGBereich streben sie eine Formalisierung ihrer Beteiligung an Willensbildung und Beschlussfassung an (Art. 24 GG9); 9 Für Artikel 24 GG vom 23. Mai 1949 vgl. BGBl. 1949, S. 4.

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– Eine Reihe von Bundesressorts beansprucht – weniger in der Theorie als durch ihr praktisches Verhalten – außenpolitische Mitwirkung. Der AD kann die auswärtigen Angelegenheiten angesichts dieser Trends weniger denn je für sich monopolisieren. Er wird immer mehr zu einem Generalunternehmen, das die Interessen und Aktivitäten der verschiedenen Akteure koordiniert und in einer einheitlichen außenpolitischen Linie zusammenfasst. – So hat z. B. die internationale Umweltpolitik Aspekte der Entwicklungspolitik (BMZ), Verschuldungsproblematik (BMF), Wirtschaftsbeziehungen (BMWi), Technologie (BMFT), Ökologie (BMU) und Außenpolitik (AA). II. Wandel im Verhältnis von Zentrale und Auslandsvertretungen Der AD unterscheidet sich nicht nur durch seine spezifischen Aufgaben von anderen Bereichen der öffentlichen Verwaltung, sondern auch durch seine interne Gliederung in Zentrale und Auslandsvertretungen (AV). Strukturwandel der auswärtigen Beziehungen und Fortschritt der Informationstechnik haben tiefgreifende Auswirkungen auf die Funktionsverteilung zwischen Zentrale und AV: – Die thematische Spezialisierung der auswärtigen Beziehungen ist nur noch in der Zentrale vollständig erfassbar. – Beispiele: Abrüstung, Technologie. – Die Multilateralisierung der auswärtigen Beziehungen („Konferenzdiplomatie“) entzieht den AV bisherige (bilaterale) Betätigungsfelder. – Der Ausbau internationaler Verkehrsverbindungen reduziert den zeitlichen und finanziellen Aufwand von Sondermissionen; verbesserte Telekommunikationsmöglichkeiten bewirken eine Zunahme der Direktkontakte zwischen den außenpolitischen Zentralen. Als Ergebnis vergrößern sich deren unmittelbare Einwirkungsmöglichkeiten. Innerhalb der Zentrale verlagern sie sich aus gleichen Gründen stärker an die Amtsspitze. Die Gesamtheit dieser Entwicklungen stärkt die von den AV abgekoppelte Sachkompetenz der Zentrale und lockert ihre Abhängigkeit von der Zuarbeit der AV. Sie verschiebt damit die Gewichte zugunsten der Zentrale. Dem sich andeutenden Rückgang konkreter politisch-operativer Tätigkeiten der AV steht ein Zuwachs ihrer allgemeinen Dienstleistungs-, Repräsentations- und Vermittlungsaufgaben gegenüber: – Zunehmende internationale Bezüge in Wirtschafts- und Rechtsfragen machen die AV immer stärker zur Anlaufstelle für die Beratung sowohl von eigenen Staatsbürgern als auch von Angehörigen des Gastlandes. – Mit dem Anstieg des internationalen Tourismus und der zunehmenden Zahl im Ausland ansässiger Staatsbürger verstärkt sich auch der konsularische Dienstleistungsbedarf. Die Zunahme zwischenstaatlicher Wanderungsbewegungen führt zu steigender Inanspruchnahme der AV (Asylproblematik, Sichtvermerke). – In der zusammenwachsenden Welt wird das politische Gewicht eines Landes nicht nur durch seine wirtschaftliche und militärische Stärke, sondern auch durch gesellschaftliche und kulturelle Standards – auch die der innenpolitischen Konfliktlösung – bestimmt, die im Gastland zu vermitteln sind. Die dadurch erforderlich werdende Verstärkung der werbenden Öffentlichkeitsarbeit der AV muss breit angelegt sein und über die bloße Beeinflussung politischer und bürokratischer Eliten hinausgehen. 985

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Aus der Pluralisierung der Außenpolitik ergeben sich stärkere Koordinierungsfunktionen nicht nur für die Zentrale, sondern auch vor Ort. Ein großer Teil von Entscheidungsträgern mit internationalen Aktivitäten (Bundesländer, Wirtschaftsverbände, Mittlerorganisationen der Kultur- und Entwicklungspolitik, NROs) unterhält bzw. strebt eine institutionalisierte Präsenz im Ausland an, deren Vielfalt durch die AV integriert und dem Gastland gegenüber so widerspruchsfrei wie möglich vertreten werden muss. Das Fortschreiten der europäischen Integration wird für die AV in Europa einen Funktionswandel bedeuten. Traditionelle diplomatische Aufgaben werden dort verstärkt europäischen Mittleraufgaben weichen. Wo Europa besonders schnell zusammenwächst (wie z. B. im Wirtschaftsbereich), wird die Geschäftsgrundlage der entsprechenden Arbeitseinheiten neu zu überdenken sein. Die Herausbildung einer gemeinsamen politischen Identität Europas wird früher oder später die teilweise oder vollständige Zusammenfassung der AV der EG-Mitgliedsländer in solchen (kleineren) Drittländern ermöglichen, denen gegenüber Eigeninteressen relativ gering ausgeprägt sind. Kostenerwägungen werden in die gleiche Richtung wirken. Das Netz der AV muss flexibel auf neue Prioritäten unserer Außenpolitik reagieren. Gleiches gilt für Zahl und Arbeitsbereiche der an ihnen eingesetzten Mitarbeiter. III. Auswirkungen auf Hierarchie und Bürokratie 1) Abbau von Hierarchie durch Spezialisierung und Informationstechnik Die von der Außenpolitik künftig geforderte höhere Reaktionsgeschwindigkeit bleibt nicht ohne Auswirkung auf die Hierarchie im AD. Hierarchie vermindert durch eingebaute Kontrollinstanzen zwar das Risiko einer falschen Entscheidung, führt aber andererseits zu Zeitverlusten. Die Spezialisierung der außenpolitischen Themen stärkt notwendigerweise die Entscheidungskompetenz des einzelnen Mitarbeiters, der immer mehr Exklusivwissen akkumuliert. Sie schafft wechselseitige Abhängigkeiten, die tendenziell einen kooperativen Arbeitsstil fördern und hierarchische Elemente zurückdrängen. Die informationstechnische Vernetzung zwischen den Arbeitseinheiten innerhalb der Zentrale sowie zwischen der Zentrale und den AV erhöht die Möglichkeiten zeitgleicher Kommunikation, wodurch noch bestehende hierarchische Strukturen im Informationstransfer durchlöchert werden. Zusammengenommen werden diese Entwicklungen die Eigenverantwortung des einzelnen Mitarbeiters vergrößern und damit seine Motivation und Leistungsfähigkeit stärken. 2) Flexibilität der Strukturen in der Zentrale Starre Organisationsstrukturen sind immer auch Reflex einer als stabil und damit als vorhersehbar eingeschätzten Außenwelt. Hiervon kann in Zukunft weniger denn je ausgegangen werden. Bereits in den letzten Jahren war – im Unterschied zu anderen Ressorts – eine Zunahme von Ad-hoc-Aufgaben festzustellen, für deren Bewältigung vorübergehend neue Arbeitseinheiten zu schaffen waren („Task Forces“, Krisenstäbe). Die Referats-/Unterabteilungs-/Abteilungsstruktur in der Zentrale kann nur dann neue Impulse ohne Reibungsverluste aufnehmen und verarbeiten, wenn von der bestehenden Möglichkeit einer an aktuellen „Brennpunkten“ orientierten zeitweiligen elastischen Personalumschichtung häufiger Gebrauch gemacht wird. Gerade dies setzt die Schaffung der seit Jahren geforderten Personalreserve voraus. In diesen Zusammenhang gehört auch der weitere Ausbau 986

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der Möglichkeiten, zur Bewältigung von Sonderaufgaben befristet auf Fachleute von außen (z.B. Justiz, Militär, Wirtschaft) zurückzugreifen. Insgesamt wäre für die Zentrale – analog zu den Inspektionen der AV – das bereits bestehende Verfahren des Monitoring weiter zu verstärken, das die Optimierung des Personaleinsatzes in Bezug auf die außenpolitischen Prioritäten kontrolliert. 3) Rationalisierung der Verfahren Auch der AD unterliegt – wie die öffentliche Verwaltung insgesamt – angesichts knapper Ressourcen einem chronischen Rationalisierungsdruck. Abbau von Bürokratie, Transparenz und Vereinfachung von Verfahren (z. B. weitere Pauschalisierung im Bereich ADspezifischer Kosten wie Reise- und Versetzungskosten) senken die „Selbstverwaltungskosten“ des AD und setzen sachliche Mittel und Personal für eine „produktivere“ Verwendung frei. Dabei sind allerdings haushaltsrechtliche Vorgaben zu beachten (bzw. wäre die Frage zu stellen, inwieweit diese auf moderne Erfordernisse ausgerichtet werden können). Bisher sind weitere Pauschalierungen vom BMF blockiert worden. Beispiel: Das bestehende Regelwerk für die finanziellen Ansprüche der Bediensteten (Besoldung, Auslandstrennungsgeld, Schulbeihilfen, Umzugskosten usw.) könnte in einer einzigen, übersichtlichen Broschüre zusammengefasst werden, die eine grundlegende Unterrichtung über alle wesentlichen Fragen ermöglicht. IV. Ein neues Berufsbild für den Auswärtigen Dienst Der AD wird durch die künftigen Aufgaben der Außenpolitik sachlich neuartig gefordert werden. Seine Leistungsfähigkeit wird deshalb in Zukunft noch stärker als bisher von der Qualifikation und Motivation seiner Bediensteten abhängen. Dies hat wichtige Konsequenzen für den Personalbereich: – Die sich vertiefende thematische Spezialisierung wird die Herausbildung von Spezialisten auf Kosten des bisher vorherrschenden Prinzips des allseitig verwendbaren Generalisten fördern. Die Notwendigkeit, den Beamten vor seiner Spezialisierung möglichst breit an die Aufgaben des AD heranzuführen, bleibt dabei erhalten. – Die sachlichen Anforderungsprofile der Tätigkeiten in Zentrale und AV werden durch den Strukturwandel der Außenpolitik in Zukunft stärker divergieren als bisher. – Führungsqualitäten und die Fähigkeit zur Zusammenarbeit im Team werden zunehmend wichtiger; rein intellektuelle Fähigkeiten verlieren an Verwertbarkeit. – Neue Tätigkeitsbereiche entstehen, wie z. B. der Einsatz bei Beobachter-, Berichterstatterund Inspektionsmissionen (EG, KSZE, VN, Menschenrechts- und Wahlbeobachtung). Im Hinblick auf die mit diesen Aufgaben verbundenen besonderen Gefährdungspotenziale und auf die vom bisherigen Berufsbild abweichenden Tätigkeitsmerkmale ist die Frage zu beantworten, ob die Ausdehnung dieser Tätigkeiten auf den AD überhaupt wünschenswert sein sollte. Falls dies bejaht wird, sind ggfs. spezifische Vorbereitungsund Ausbildungsmaßnahmen erforderlich. Gleichzeitig muss die Attraktivität des von alternierenden In­ und Auslandsverwendungen geprägten AD auf dem Arbeitsmarkt gegen eine steigende Zahl finanziell oft interessanterer Berufsalternativen behauptet werden, die neben beruflichen Realisierungschancen für den Ehepartner auch den Vorteil größerer Vorhersehbarkeit haben. Je höher die Anforderungen an den AD werden und je stärker der gesellschaftliche Wandel die Erwartung des Bediensteten an den AD prägt, umso größer werden seine be987

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rechtigten Ansprüche an die Beweglichkeit der Personalpolitik, aber auch an Führungsstil und Betriebskultur: – Höhere Spezialisierung der Anforderungen erfordert vermehrte Investitionen in Ausund Fortbildung und deren verstärkte Verlagerung nach außen. Der hierdurch zunehmende zeitweilige Ausfall „produktiver“ Bediensteter kann nur durch entsprechende Personalreserven ausgeglichen werden. – Die Schaffung von Einsatzmöglichkeiten von Bediensteten in anderen Behörden und Organisationen (auch internationale) hat nicht nur Qualifizierungs- und Fortbildungseffekte; sie kann auch die Koordinierungskompetenz des AD gegenüber diesen Stellen stärken und die Bandbreite der vom Mitarbeiter auch in der Perspektive des Ehepartners angestrebten Einsatzmöglichkeiten erweitern. Ein Personalausgleich kann hierbei durch befristete Übernahme von Vertretern dieser Stellen in den AD erfolgen, die die Kohärenz der auswärtigen Interessen zusätzlich stärkt. – Intensivere Sprachausbildung und gründlichere Vorbereitung auf eine neue Verwendung vermindern die chronischen subjektiven Anlaufprobleme und objektiven Sickerverluste bei Versetzungen. Auch hierfür ist eine größere Personalreserve erforderlich. – Verminderung der Probleme bei Rückversetzungen in die Zentrale durch Ausbau der entsprechenden Hilfestellungen (Wohnungsfürsorge, Arbeitsmöglichkeiten für Ehepartner usw.). – Eine größere Verstetigung der Laufbahnplanung über den bisherigen Versetzungsrhythmus hinaus gibt eine klarere Perspektive für die eigene (und familiäre) Lebensplanung und macht damit den AD attraktiver. – Verstärkung der kooperativen Mitarbeiterführung durch alle Laufbahnen hindurch ist ein entscheidendes Element der Motivation. Der Führungsstil von Vorgesetzten sollte noch stärker als bisher ein wesentliches Beförderungs­ und Versetzungskriterium sein. Beispiele für Defizite: – Die bestehende Aufgabenverteilung unter den verschiedenen Laufbahnen führt zu einer im Vergleich mit anderen Ressorts deutlichen Unterforderung des Gehobenen Dienstes. Dies wirkt sich ungünstig auf dessen Motivation und den Teamgeist im AD insgesamt aus. – Im Verhältnis der verschiedenen Laufbahnen untereinander bestehen im außerdienstlichen Bereich an ausländischen Dienstorten gelegentliche Überreste hierarchischen Denkens, die angesichts unserer gesamtgesellschaftlichen Entwicklung überholt sind (Beispiel: Hierarchie im Verhältnis der jeweiligen Ehepartner). – Modernisierung des äußeren Erscheinungsbildes der Arbeitsumwelt. – Das äußere Bild zahlreicher Vertretungen im Ausland (von „Paradepferden“ abgesehen) sowie vieler Arbeitseinheiten im Auswärtigen Amt entspricht weder dem Selbstverständnis des Auswärtigen Dienstes noch den Erwartungen der Öffentlichkeit (auch im Gastland), häufig nicht einmal dem eines mittleren Industrieunternehmens (oder eines GTZ-Büros im Ausland). – Der AD hat im Vergleich zu anderen Ressorts eine erhöhte Fürsorgepflicht gegenüber seinen Bediensteten, die sich aus den Besonderheiten der Auslandsverwendung ergibt. Diese Fürsorgepflicht wird in Zukunft noch weiter zunehmen müssen (steigende Belastungen der Bediensteten durch Unruhen, Bürgerkrieg, Umweltprobleme, mangelnde Versorgung usw. an vielen, insbesondere neuen Dienstorten, besondere Risiken bei Sondereinsätzen wie Beobachtermissionen). 988

31. Juli 1992: Vorlage von Elbe

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– Der Auswärtige Dienst hat sich traditionell immer auch als Verantwortungselite verstanden. Aus diesem Bewusstsein ist ein hohes Maß an Loyalität und Einsatzbereitschaft erwachsen, wie es in anderen Ministerien nicht immer angetroffen wird. Der im Auswärtigen Dienst vorhandene umfassende Konsens über die grundlegenden Ziele unserer Außenpolitik ist ein Garant für Kontinuität auch bei politischem Wechsel. Dieses Selbstverständnis des AD, zu dem auch ganz wesentlich seine Professionalität (politische Ernennungen als Ausnahme) gehört, sollte bewahrt werden. Es wird sich in Zukunft allerdings weniger denn je von alleine tragen, sondern auch von seiner Anerkennung durch die Gesellschaft und den äußeren Bedingungen, in denen der AD tätig ist, abhängen. V. Schlussfolgerung Der AD wird nur mit einer ausreichenden Personalreserve in der Lage sein, den Wandel und die Zunahme seiner Aufgaben zu bewältigen und dabei gleichzeitig auch als Beruf attraktiv zu bleiben. Gegenüber der Öffentlichkeit sollte dieser Zusammenhang nach wie vor weiter aktiv vertreten werden, auch mit dem Hinweis darauf, dass unsere außenpolitische Verantwortung beträchtlich zugenommen hat und der AD das Instrument der Wahrnehmung dieser Verantwortung ist. 10Politischer, wirtschaftlicher, technologischer und gesellschaftlicher Wandel werden den Auswärtigen Dienst vor eine Fülle von Herausforderungen stellen, auf die er bereits jetzt Antworten suchen muss. Der Planungsstab regt deshalb die Gründung einer Arbeitsgruppe aus Abteilung 1, Personalrat und weiteren Arbeitseinheiten11 des Hauses an, deren Ziel es sein sollte, einen internen Grundkonsens über die Zukunft des AD zu erarbeiten und evtl. ein Kolloquium zu dieser Frage vorzubereiten. Ein solches Kolloquium12 mit Fachleuten aus Unternehmensberatung und Wissenschaft13 böte zudem Gelegenheit, gegenüber der Öffentlichkeit wirksam darzustellen, dass der AD auch organisatorisch in die Zukunft blickt. Frank Elbe B 9, ZA-Bd. 178534

10 Beginn der Seite 12 der Vorlage. Vgl. Anm. 2. 11 Dieses Wort wurde von StS Lautenschlager hervorgehoben. Dazu vermerkte er handschriftlich: „Besser: bestimmte, besonders ausgewiesene Personen.“ 12 An dieser Stelle vermerkte StS Lautenschlager handschriftlich: „Über die konkrete Zusammensetzung müsste später entschieden werden.“ 13 Dieses Wort wurde von StS Lautenschlager hervorgehoben. Dazu Fragezeichen.

989

246

4. August 1992: Vorlage von Ackermann

246 Vorlage des Vortragenden Legationsrats I. Klasse Ackermann für Bundesminister Kinkel 424-411.10/08 FRA

4. August 19921

Über Dg 42 i. V.2, D 43 Herrn Staatssekretär4 Herrn Bundesminister5 Betr.:

Ausfuhr von Dieselmotoren für den Kampfpanzer Leclerc

Bezug: Schreiben der Deutschen Aerospace AG vom 27. Juli 1992 Anlg.: 26 Zweck der Vorlage: Zustimmung zu IV. und Zeichnung des anliegenden Briefentwurfs I. 1) Die Deutsche Aerospace AG hat Ihnen mit Schreiben vom 27. Juli 1992 (Anlage 17) „Informationen zum Projekt ,Motorisierung des Kampfpanzers Leclerc‘ “ übermittelt und gebeten, diese bei der (im BSR) anstehenden Entscheidung zu berücksichtigen. 2) Bei dem Projekt „Motorisierung des Kampfpanzers Leclerc“ handelt es sich um die Zulieferung deutscher Triebwerksblöcke durch die MTU Friedrichshafen an das französische Rüstungsunternehmen GIAT zum Einbau in den Kampfpanzer Leclerc (nicht­regierungsamtliche Kooperation). Die Deutsche Aerospace stellt die Vorgeschichte des Projekts dar und betont, dass Genehmigungsprobleme ursprünglich nicht erwartet wurden, da davon ausgegangen wurde, dass der Einbau in die französischen Panzer einen neuen Warenursprung begründen würde, sodass spätere Ausfuhren des Panzers als französische Exporte gelten würden. Zudem hatte sich GIAT verpflichtet, den Kampfpanzer nicht nach Iran, Irak, Libyen, Myanmar, Südafrika und Syrien zu exportieren. MTU beabsichtigt nun, Ende 1992/Anfang 1993 fünf Triebwerksblöcke zur Erprobung an die GIAT zu liefern, die ihrerseits plant, zwei der Kampfpanzer vorübergehend in die Vereinigten Arabischen Emirate zu Demonstrationszwecken zu verbringen. 3) Eine Entscheidung der Bundesregierung über diese geplante vorübergehende Ausfuhr steht an, und die Deutsche Aerospace bittet darum, Folgendes zu berücksichtigen: – Das Projekt eröffne die Chance für die Realisierung eines gemeinsamen europäischen Triebwerksblocks und für eine Standardisierung des Antriebs künftiger gepanzerter Fahrzeuge. Diesen Aspekt werte das BMVg sehr positiv. 1 2 3 4 5 6 7

Die Vorlage wurde von LRin I Dettmann konzipiert. Hat in Vertretung des MDg Schönfelder VLR I Ackermann am 5. August 1992 erneut vorgelegen. Hat MD Dieckmann am 6. August 1992 vorgelegen. Hat StS Lautenschlager am 11. August 1992 vorgelegen. Hat BM Kinkel am 13. August 1992 vorgelegen. Vgl. Anm. 7 und 16. Dem Vorgang beigefügt. Für das Schreiben des Vorstandsmitglieds der DASA, Dersch, an BM Kinkel vgl. B 70, ZA-Bd. 341021.

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4. August 1992: Vorlage von Ackermann

246

– Eine Ablehnung des Vorhabens (von der Deutschen Aerospace als „long arm policy“ charakterisiert) würde die deutsche Kooperationsfähigkeit mit NATO-Staaten und insbesondere mit Frankreich im Bereich der Rüstungszusammenarbeit langfristig auf das Schwerste schädigen. II. Der Hintergrund des Falls stellt sich wie folgt dar: 1) Der Bundessicherheitsrat hat in seiner Sitzung am 28. Januar 1992 entschieden, der Lieferung von Motoren und Getrieben für den Kampfpanzer Leclerc zuzustimmen, soweit sichergestellt ist, dass die damit ausgerüsteten Panzer im Bereich der NATO bzw. der NATO gleichgestellten Länder verbleiben. In Übereinstimmung mit diesem Beschluss hat das Auswärtige Amt zu einem Antrag der Firma MTU auf Ausfuhrgenehmigung für Panzermotoren nebst Zubehör und Ersatzteilen nach Frankreich (Endverbleibsland) für Prototypen des Kampfpanzers Leclerc, deren vorübergehende Ausfuhr nach Schweden, Kanada, Saudi­Arabien, Katar und die Vereinigten Arabischen Emirate geplant ist, wie folgt Stellung genommen: – Keine außenpolitischen Bedenken gegen die Ausfuhr nach Frankreich, dabei Ausschluss einer Präzedenzwirkung für spätere Ausfuhren mit Endverbleib in Drittländern. – Keine außenpolitischen Bedenken gegen die vorübergehende Ausfuhr nach Schweden und Kanada. – Erfordernis einer vorherigen Zustimmung der Bundesregierung (also BSR) bei vorübergehender Ausfuhr nach Saudi-Arabien, Katar und die Vereinigten Arabischen Emirate. 2) Das BMWi teilte daraufhin mit, dass aus seiner Sicht eine Befassung des BSR bei der geplanten vorübergehenden Ausfuhr in die genannten Nicht-NATO-Staaten entbehrlich sei. Da das Auswärtige Amt diese Auffassung nicht teilt, wird das federführende BMWi den Bundessicherheitsrat in seiner kommenden Sitzung (vorgesehen für den 1. September 1992) mit der vorübergehenden Ausfuhr der Kampfpanzer Leclerc in den Vereinigten Arabischen Emiraten befassen.8 III. 1) Bei der geplanten Zulieferung handelt es sich um sonstige Rüstungsgüter i. S. der Liste A, Teil I der Ausfuhrliste (Anlage AL zur Außenwirtschaftsverordnung9). Das Unternehmen hat damit einen Anspruch auf Erteilung der Genehmigung (§ 3 AWG10). Diese kann gemäß § 7 Abs. 1 AWG verweigert werden, um – die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland zu gewährleisten, – eine Störung des friedlichen Zusammenlebens der Völker zu verhüten, oder – zu verhüten, dass die auswärtigen Beziehungen der Bundesrepublik Deutschland erheblich gestört werden.11 8 VLR I Ackermann vermerkte am 25. September 1992 zur Vorführung von Kampfpanzern des Typs „Leclerc“ in den Vereinigten Arabischen Emiraten als Prototypen für einen möglichen Verkauf, der BSR habe den Fall in seiner Sitzung am 1. September 1992 wegen des Einspruchs von BM Kinkel nicht entschieden. Laut offiziellem Sitzungsprotokoll habe BK Kohl entschieden, das Vorhaben im Umlaufverfahren weiter zu behandeln. Das BMWi beharre auf seiner Position, dass ein Export möglich sei. Vgl. B 70, ZA-Bd. 341021. 9 Für Teil I Abschnitt A (Liste für Waffen, Munition und Rüstungsmaterial) in der Fassung der Siebenundsiebzigsten Verordnung zur Änderung der Ausfuhrliste – Anlage AL zur Außenwirtschaftsverordnung – vom 24. Oktober 1991 vgl. BUNDESANZEIGER, Beilagen, Nr. 222 a vom 30. November 1991, S. 4–16. 10 Für § 3 des AWG vom 28. April 1961 vgl. BGBl. 1961, I, S. 482 f. 11 Für § 7 Absatz 1 des AWG vom 28. April 1961 vgl. BGBl. 1961, I, S. 484.

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4. August 1992: Vorlage von Ackermann

Die „Politischen Grundsätze der Bundesregierung für den Export von Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern“ vom 28. April 1982 führen in Ziffer 7 aus, dass Zulieferungen zu privaten Kooperationen in NATO-Ländern grundsätzlich nicht zu beschränken sind.12 Dies gilt aber nur vorbehaltlich des Prinzips der Einzelfallprüfung, die zu dem Ergebnis führen kann, dass außenpolitische Bedenken einem Exportvorhaben entgegenstehen. 2) Im vorliegenden Fall sollte das Auswärtige Amt Bedenken gegen die Erteilung der von MTU beantragten Ausfuhrgenehmigung aus folgenden Gründen erheben: – Zwar handelt es sich nicht um Direktlieferungen in die Vereinigten Arabischen Emirate, auch ist nur [an] eine vorübergehende Ausfuhr der französischen Kampfpanzer gedacht. Dies ändert jedoch nichts an der Tatsache, dass hier wesentliche Bestandteile von Kampfpanzern in die Nahost-Region verbracht werden. Der BSR hat in seiner Sitzung vom 24. Januar 1990 festgestellt, dass wesentliche Komponenten eines Panzers ausfuhrrechtlich nicht anders zu behandeln sind als die Panzer selbst. Damit wird sichergestellt, dass die Bestimmungen des Kriegswaffenkontrollgesetzes13 nicht durch Genehmigungen im AWG-Bereich unterlaufen werden. Die infrage stehenden Motoren sind wesentliche Bestandteile i. S. der BSR-Entscheidung. Die Ausfuhr von Kampfpanzern in den Nahen Osten entspricht nicht dem vom BSR in seiner Sitzung vom 28. Januar 1992 gefassten Beschluss. – Die von den Staatssekretären derzeit auf Weisung BK erarbeiteten Genehmigungsrichtlinien für Rüstungsexporte in die Nah- und Mittelost-Region stufen Kampfpanzer ebenfalls als nicht genehmigungsfähig ein. – Die oben zitierte Ziffer 7 der rüstungsexportpolitischen Grundsätze der Bundesregierung dient bündnispolitischen Zwecken. Sie ist nicht für Zulieferungen gedacht, die lediglich Ausfuhren in ein Drittland ermöglichen sollen. – Die von der Deutschen Aerospace beschworene Kooperationsfähigkeit der deutschen Industrie darf nicht zur Aufgabe der wohlerwogenen Grundsätze der deutschen Rüstungsexportpolitik führen. – Das daneben von der Deutschen Aerospace vorgebrachte Argument der hohen Bedeutung des Leclerc-Projekts für die europäische Rüstungsindustrie entkräftet die Bedenken des Auswärtigen Amts nicht. Der Aufbau einer Rüstungsindustrie, die nicht ohne Exporte in sensitive Länder der „Dritten Welt“ bestehen kann, ist im Übrigen nicht im deutschen Interesse.14 IV. Es wird daher um Zustimmung gebeten, dass das Auswärtige Amt seine Bedenken gegen die Erteilung einer Ausfuhrgenehmigung für MTU-Panzermotoren nach Frankreich für den Prototyp des Leclerc-Kampfpanzers, der in den Vereinigten Arabischen Emiraten vorgeführt werden soll, erhebt, über die im BSR zu entscheiden sein wird. 12 Für Ziffer 7 der „Politischen Grundsätze der Bundesregierung für den Export von Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern“ vom 28. April 1982 vgl. BULLETIN 1982, S. 310. Vgl. auch AAPD 1982, I, Dok. 126. 13 Für das Ausführungsgesetz zu Artikel 26 Absatz 2 GG (Gesetz über die Kontrolle von Kriegswaffen) in der Fassung vom 11. November 1990 vgl. BGBl. 1990, I, S. 2507–2519. Vgl. auch AAPD 1990, II, Dok. 312. 14 Dieser Satz wurde von StS Lautenschlager hervorgehoben. Dazu vermerkte er handschriftlich: „r[ichtig]“.

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5. August 1992: Vorlage von Hilger

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Es wird ferner vorgeschlagen, den in Anlage 2 beigefügten Briefentwurf15 – der sich einer Aussage zur Sache enthält – an die Deutsche Aerospace AG zu zeichnen.16 Referat 203 und D 317 haben mitgezeichnet. Ackermann B 70, ZA-Bd. 341021

247 Vorlage des Vortragenden Legationsrats I. Klasse Hilger für Bundesminister Kinkel 500-500.34/10

5. August 19921

Über Dg 502, D 53, Herrn Staatssekretär4 Herrn Bundesminister5 Betr.: Internationales Strafgericht; hier: Bericht der Völkerrechtskommission zum Draft Code of Crimes against the Peace and Security of Mankind vom 17. Juli 1992, hier eingegangen am 28. Juli 19926 Bezug: Vorlage von Referat 500 vom 27.7.19927 Zweck der Vorlage: Zur Unterrichtung und mit der Bitte um Billigung des Vorschlags in Ziff. IV. 2 und 3 15 An dieser Stelle vermerkte StS Lautenschlager handschriftlich: „mit handschriftl[ichen] Änderungen“. 16 Dem Vorgang beigefügt. BM Kinkel teilte dem Vorstandsmitglied der DASA, Dersch, am 13. August 1992 zum Exportgenehmigungsantrag mit: „Der eingeleitete Prozess der Meinungsbildung innerhalb der Bundesregierung ist noch nicht abgeschlossen. Ich möchte der abschließenden Entscheidung auch nicht vorgreifen, darf Ihnen aber versichern, dass Sie unverzüglich unterrichtet werden, sobald der Prozess der Meinungsbildung abgeschlossen ist.“ Vgl. B 70, ZA-Bd. 341021. 17 Reinhard Schlagintweit. 1 2 3 4 5

Die Vorlage wurde von LR Fitschen konzipiert. Hat MDg Schürmann am 6. August 1992 vorgelegen. Hat MD Eitel am 6. August 1992 vorgelegen. Hat StS Kastrup am 6. August 1992 vorgelegen. Hat BM Kinkel am 7. August 1992 vorgelegen, der handschriftlich vermerkte: „Ja.“ Hat OAR Salzwedel am 10. August 1992 vorgelegen, der den Rücklauf über das Büro Staatssekretäre an Referat 500 verfügte. Hat StS Lautenschlager am 11. August 1992 vorgelegen. Hat VLR I Hilger am 11. August 1992 erneut vorgelegen, der handschriftlich für LR Fitschen vermerkte: „Bitte verteilen.“ Hat Fitschen am 12. August 1992 erneut vorgelegen, der handschriftlich vermerkte: „Erl[edigt].“ 6 Für den am 24. Juli 1992 veröffentlichten Bericht (A/CN.4/L.475/Rev. 1) vgl. https://documents-ddsny.un.org/doc/UNDOC/LTD/G92/624/46/img/G9262446.pdf. 7 VLR Scharioth behandelte die in der Entschließung des Bundestags vom 22. Juli 1992 aufgeworfene Frage, „in welcher Form die zuständigen Organe der VN damit befasst werden können, gemäß der Charta diejenigen Maßnahmen zu ergreifen, die sie für die Verhütung und Bekämpfung von Völkermordhandlungen für geeignet erachten“. Hintergrund seien die Gewalthandlungen der serbischen Seite gegen die Bevölkerung in Bosnien-Herzegowina. Scharioth resümierte: „Am ehesten wäre zu denken an

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5. August 1992: Vorlage von Hilger

I. Einführung Die gegenwärtigen Ereignisse im Jugoslawien-Konflikt lassen – wie schon im Fall Saddam Hussein – die Frage eines strafgerichtlichen Verfahrens zur Verfolgung bestimmter internationaler Verbrechen erneut aktuell werden. Eine internationale strafrechtliche Verfolgung der Täter von Verbrechen, wie sie etwa nach der Völkermord­Konvention von 19488 vorgesehen und in der Entschließung des Bundestages vom 22.7.9 sowie in dem Beschluss des SPD-Präsidiums vom 4. August 199210 gefordert wird, ist bislang deshalb unmöglich, weil ein internationales Strafgericht nicht existiert. Die Forderung nach einem Internationalen Strafgerichtshof wird daher von uns schon seit Jahren erhoben. Die Völkerrechtskommission der Vereinten Nationen (ILC) untersucht seit einiger Zeit die damit verbundenen Rechtsfragen. Eine Arbeitsgruppe der ILC, die diese während ihrer 44.11 Tagung vom 4. Mai bis 24. Juli 1992 zu diesem Zweck eingesetzt hat, hat nunmehr in einem Bericht, der am 28. Juli 1992 hier eingegangen ist, unterschiedliche Optionen auf ihre Realisierungsmöglichkeiten hin geprüft und erstmals die konkreten Voraussetzungen benannt, unter denen sie eine entsprechende Vereinbarung für möglich hält. II. Die Problematik internationaler Strafgerichtsbarkeit in der Arbeit der ILC 1) Die Forderung nach Schaffung eines Internationalen Strafgerichtshofs zielt darauf ab, einen überstaatlichen Mechanismus zur Ergreifung und Aburteilung der Verantwortlichen für bestimmte völkerrechtliche Delikte zu etablieren. In der Sache geht es darum, schwerste völkerrechtliche Delikte, die bislang nur dem Staat als solchem zuzurechnen waren, auch als persönliches Unrecht der dafür Verantwortlichen zu ahnden und diese selbst zur – völkerrechtlichen – Verantwortung zu ziehen. Entsprechende Forderungen werden seit den früheren 50er Jahren diskutiert. In der Praxis sind die Kriegsverbrecherprozesse nach dem Zweiten Weltkrieg – trotz der danach erfolgten Ausarbeitung von „Principles of International Law Recognized in the Charter of the Nürnberg Tribunal and in the Judgement of the Tribunal“12 – jedoch Einzelfälle geblieben. Fortsetzung Fußnote von Seite 993 die Intensivierung der bisher ergebnislos von BM Genscher unternommenen Bemühungen zur Errichtung eines Internationalen Strafgerichtshofes. […] Denkbar wäre daneben ein Vorschlag zur Beschlussfassung der Generalversammlung, wodurch den VN erlaubt würde, Informationen zu sammeln, die später Grundlage für ein Strafverfahren gegen Tatverdächtige sein könnten“. Vgl. B 80, Bd. 1451. 8 Für die Konvention vom 9. Dezember 1948 über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes vgl. BGBl. 1954, II, S. 730–739. 9 Am 22. Juli 1992 brachten die Fraktionen von CDU/CSU und FDP einen Entschließungsantrag ein zur „Lage und Entwicklung im ehemaligen Jugoslawien und Entscheidung der Bundesregierung über die Beteiligung der Bundeswehr an Überwachungsmaßnahmen von WEU und NATO zur Unterstützung der VN-Resolutionen 713 und 757“. Vgl. BT DRUCKSACHEN, Nr. 12/3073. Der Antrag wurde am selben Tag angenommen. Vgl. BT STENOGRAPHISCHE BERICHTE, 12. WP, 101. Sitzung, S. 8655. 10 Im Beschluss hieß es, die serbische Seite praktiziere im Kriegsgebiet eine Politik der „ethnischen Säuberungen“: „Diese Gewalthandlungen erfüllen den Tatbestand des versuchten Völkermords nach der UNO-Konvention vom 9. Dezember 1948. Wir fordern daher die Bundesregierung auf, gegenüber dem UNO-Generalsekretär und dem Sicherheitsrat entsprechend tätig zu werden, damit Schritte zur Strafverfolgung gem[äß] der Völkermord-Konvention eingeleitet werden.“ Vgl. B 80, Bd. 1451. 11 Durchgehend korrigiert aus: „43.“ 12 Für die „Principles of International Law Recognized in the Charter and the Judgement of the Nürnberg Tribunal“ vom 29. Juli 1950 vgl. YEARBOOK OF THE INTERNATIONAL LAW COMMISSION 1950, II, S. 191–195.

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5. August 1992: Vorlage von Hilger

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2) Die Völkerrechtskommission der Vereinten Nationen arbeitet seit 1982 an dem „Draft Code of Crimes against the Peace and Security of Mankind“, der sowohl die materiellen Straftatbestände von Verbrechen gegen die Menschheit als auch einen Mechanismus zur Durchsetzung dieser Strafnormen enthalten soll. Die Erarbeitung materieller Straftatbestände ist inzwischen in erster Lesung abgeschlossen und liegt den Staaten zur Stellungnahme bis zum 1.1.1993 vor. Vorarbeiten für die Schaffung eines internationalen Strafmechanismus wurden 1989 auf Anregung der Generalversammlung wiederaufgenommen. Nachdem der Sonderberichterstatter der ILC in mehreren Berichten konzeptionelle Vorfragen untersucht hatte, beauftragte die Generalversammlung die ILC in Resolution 46/54 vom 9.12.199113, die Frage einer internationalen Strafgerichtsbarkeit weiter zu untersuchen und die Generalversammlung zu unterrichten. 3) Die ILC hat in diesem Auftrag noch kein konkretes Mandat für die Ausarbeitung der Rechtsgrundlagen eines Strafmechanismus gesehen. Sie hat auf ihrer 44. Tagung 1992 eine Arbeitsgruppe eingesetzt, die nochmals die grundsätzliche Problematik diskutiert hat. Mitglieder der Arbeitsgruppe (AG) waren u. a. die ILC-Mitglieder Crawford (Australien), Pellet (Frankreich), Rosenstock (USA), Wereschetin (Russland), Arangio-Ruiz (Italien), Mikulka (ČSFR) und Prof. Tomuschat. Die Arbeitsgruppe kommt in ihrem Bericht zu dem Ergebnis, dass – unter bestimmten, in dem Bericht aufgeführten Bedingungen – die Schaffung eines internationalen Strafgerichts rechtlich möglich ist. Bevor die ILC die Arbeit daran aufnehmen könne, bedürfe es jedoch eines klaren politischen Auftrags hierzu durch die Generalversammlung. III. Die Empfehlungen der ILC im Einzelnen 1) Die AG hat verschiedene Modelle möglicher Mechanismen diskutiert, wobei mehrere Mitglieder zunächst starke Zweifel daran äußerten, ob ein internationaler Strafmechanismus überhaupt rechtlich realisierbar sei. Denkbare und von der AG untersuchte Varianten reichen von der bloßen Beobachtung der weiter den nationalen Gerichten überlassenen Strafverfahren bis hin zu einem zwingenden Gerichtshof mit ausschließlicher Kompetenz zur Verfolgung bestimmter Straftaten. 2) Ausgehend von der Beobachtung, dass der Hauptmangel des gegenwärtigen Systems darin liege, dass es gerade bei Verbrechen, hinter denen in der einen oder anderen Weise der Staat selbst steht, meist gar nicht erst zu einem Strafverfahren vor nationalen Gerichten kommt, wurde die erste Variante als nicht ausreichend verworfen. Auch die am oberen Ende der Möglichkeiten angesiedelte zweite Variante wurde angesichts der großen Bedenken vieler Staaten von vornherein als nicht realisierbar eingeschätzt. 3) Für möglich hält die Arbeitsgruppe – zumindest in der Anfangsphase – nur einen Mechanismus, der nicht über die folgenden Strukturelemente hinausgeht: a) Die Schaffung eines Gerichtes kann nur durch einen völkerrechtlichen Vertrag erfolgen, dem die Staaten, die seine Gerichtsbarkeit anerkennen wollen, beitreten müssen. 13 Korrigiert aus: „27.1.1992“. Für die Resolution Nr. 46/54 der VN-Generalversammlung vom 9. Dezember 1991 vgl. RESOLUTIONS AND DECISIONS, GENERAL ASSEMBLY, 46th session, S. 286 f.

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5. August 1992: Vorlage von Hilger

b) Das Gericht sollte nicht unter Verdrängung evtl. Gerichtsbarkeit nationaler Gerichte ausschließlich, sondern nur zusätzlich zuständig sein. c) Die Zuständigkeit des Gerichts sollte sich auf Verbrechen internationalen Charakters beschränken, die in geltenden völkerrechtlichen Verträgen niedergelegt sind (das schließt z. B. die Völkermord-Konvention und die Genfer Konventionen über das Kriegsrecht14 ein); sie sollte die Tatbestände des geplanten „Kodex der Verbrechen gegen die Menschheit“ umfassen, aber nicht auf diese beschränkt sein. d) Die Zuständigkeit des Gerichts sollte sich auf die Verfolgung einzelner Privatpersonen beschränken – also keine Verfolgung von Staaten oder Regierungen als solchen. e) Das Gericht sollte vorerst nicht als stehende Einrichtung errichtet werden, sondern als etablierter Mechanismus, der bei Bedarf ad hoc aktiviert werden kann. f) Das Verfahren muss alle rechtsstaatlichen Verfahrensgarantien zum Schutze der Angeklagten (Unabhängigkeit des Gerichts, Beweiserhebung, Recht auf Gehör/kein Verfahren in Abwesenheit des Angeklagten etc.).15 4) Die weiteren technischen Einzelheiten, denen die AG längere Diskussionen gewidmet hat, können hier vorerst außer Betracht bleiben. Eine Struktur des Gerichts entlang dieser Leitgedanken hält die AG für rechtlich möglich. Darüber hinausgehende Forderungen hält sie auf internationaler Ebene nicht für realisierbar. IV. Wertung und Schlussfolgerungen 1) Die klaren Aussagen der Arbeitsgruppe zu den Bedingungen, unter denen die Erarbeitung eines völkerrechtlichen Instruments über die Errichtung eines internationalen Strafgerichts rechtlich möglich erscheine, sind ein deutlicher Fortschritt in der seit Jahren äußerst zäh verlaufenden Diskussion. Angesichts der großen Skepsis auch aufseiten der USA ist es wichtig, dass die Feststellungen von dem amerikanischen ILC-Mitglied mitgetragen werden. Angesichts dieser Situation sowie im Hinblick auf das große Ansehen und die alle Staaten einbeziehende Arbeitsweise der ILC hält es Referat 500 für ausgeschlossen, dass irgendein anderes Verfahren – außerhalb der ILC oder über das von der Arbeitsgruppe Empfohlene hinausgehend – die geringste Chance auf Realisierung hätte. 2) Unsere seit vielen Jahren vorgetragene abstrakte Forderung nach Schaffung eines Strafgerichtshofs sollte daher jetzt die Vorschläge der ILC aufgreifen. Damit würde auch der Entschließung des Bundestages vom 22.7.1992 entsprochen. Um das Projekt aus der Vorprüfungsphase zu führen, ist es entscheidend, die Generalversammlung zur Erteilung des von der ILC verlangten konkreten Auftrags zur Ausarbeitung eines Statuts zu bewegen. Hierfür wäre es wichtig, eine geschlossene Haltung der Zwölf herbeizuführen. Zu beachten ist jedoch, dass grundsätzliche Bedenken auch noch im Kreis der westlichen Partner bestehen. Deren Unterstützung wäre am ehesten dann zu erreichen, wenn wir nicht ver14 Für die Genfer Abkommen vom 12. August 1949 zur Verbesserung des Loses der Verwundeten und Kranken der Streitkräfte im Felde, zur Verbesserung des Loses der Verwundeten, Kranken und Schiffbrüchigen der Streitkräfte zur See, über die Behandlung der Kriegsgefangenen sowie zum Schutze von Zivilpersonen in Kriegszeiten vgl. BGBl. 1954, II, S. 783–986. Für die am 8. Juni 1977 verabschiedeten Zusatzprotokolle einschließlich der dazu abgegebenen Erklärungen und Vorbehalte vgl. BGBl. 1990, II, S. 1551–1649. Vgl. ferner AAPD 1990, II, Dok. 377. 15 Unvollständiger Satz in der Vorlage.

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6. August 1992: Vorlage von Strachwitz

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suchen, die Zwölf bereits jetzt politisch auf unser Endziel der Errichtung eines Strafgerichtshofs festzulegen, sondern zunächst allein darauf hinwirken, dass die ILC einen entsprechenden Arbeitsauftrag bekommt. Die Arbeitsphase der ILC wird wegen der komplexen rechtlichen Probleme realistischerweise mit mehreren Jahren zu veranschlagen sein. 3) Sollte es gelingen, dass die Präsidentschaft16 bereits in der Generalversammlung im Namen der Zwölf ein Votum für die Beauftragung der ILC abgeben kann, könnten Sie dies in Ihrer Rede vor der Generalversammlung17 unterstützen. Eine solche direkte Unterstützung für die Arbeit der ILC würde auch die Position von Prof. Tomuschat stärken, der in diesem Jahr den Vorsitz der Kommission innehat. In jedem Falle würde unsere Stellungnahme im Rechtsausschuss der Generalversammlung zum Jahresbericht der ILC unser Anliegen aufgreifen. Dg 2318 und Referat 511 haben mitgezeichnet.19 Hilger B 80, Bd. 1396

248 Vorlage der Vortragenden Legationsrätin I. Klasse Gräfin Strachwitz für Bundesminister Kinkel 322-320.10 SOM

6. August 19921

Über Herrn D 32, Herrn Staatssekretär3 Herrn Bundesminister4 Betr.: Hilfe der Bundesregierung für Somalia; hier: politische Lagebewertung Bezug: Ihre Weisung auf Vorlage vom 3. August 1992 – 301-350.90 SOM5 16 Vom 1. Juli bis 31. Dezember 1992 hatte Großbritannien die EG-Ratspräsidentschaft inne. 17 Für die Rede des BM Kinkel am 23. September 1992 vor der VN-Generalversammlung in New York vgl. BULLETIN 1992, S. 949–953. 18 Wolf-Dietrich Schilling. 19 Abschnitt IV wurde von BM Kinkel hervorgehoben. Dazu Häkchen. 1 2 3 4

Die Vorlage wurde von VLR Bolewski konzipiert. Hat MD Schlagintweit am 7. August 1992 vorgelegen. Hat StS Lautenschlager am 10. August 1992 vorgelegen. Hat BM Kinkel am 11. August 1991 vorgelegen. Hat OAR Salzwedel am 13. August 1992 vorgelegen, der die Weiterleitung über das Büro Staatssekretäre und MD Schlagintweit an MDg Sulimma verfügte. Hat in Vertretung von Sulimma VLRin I Gräfin Strachwitz erneut vorgelegen, die die Weiterleitung an VLR Bolewski verfügte und handschriftlich vermerkte: „B[itte] zu V[or]g[ang].“ 5 Auf der Vorlage des VLR Freiherr von Stenglin zum Stand der humanitären Hilfe der Bundesrepublik für Somalia vermerkte BM Kinkel am folgenden Tag handschriftlich: „1) Erb[itte] neuen Bericht unserer Botschaft (besetzt?) mit polit[ischer] Lagebewertung. 2) Was könnte man denn zusätzlich tun? Das ist ein schreckliches Elend. Man kann die Menschen doch nicht einfach so sterben lassen.“ Vgl. B 34, ZABd. 153656.

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6. August 1992: Vorlage von Strachwitz

Anlg.: 16 Zweck der Vorlage: Zur Unterrichtung und mit der Bitte um Billigung der vorgeschlagenen Haltung.7 1) Nach dem Sturz des Diktators Siad Barre im Januar 1991 droht Somalia trotz ethnischer, religiöser und sprachlicher Homogenität seiner Bevölkerung in Bürgerkrieg, Anarchie und Chaos zu versinken. Das Land am Horn von Afrika ist der Selbstauflösung und einer unvorstellbaren Verwüstung anheimgefallen. Unsere Botschaft in Mogadischu musste (wie die Botschaften aller anderen Staaten) wegen der unmittelbaren Gefahr für Leib und Leben der Botschaftsangehörigen geschlossen werden (für ergänzende Informationen siehe Sachstand als Anlage8). In Somalia gibt es keine effektive Regierung mehr. Eine Vielzahl politischer Gruppierungen, Familienclans und Banden beherrscht das Land. Ihre gewaltsamen Machtkämpfe tragen sie mit großer Grausamkeit aus. Angesichts der erheblichen, überwiegend aus früheren sowjetischen und amerikanischen Lieferungen stammenden Waffenbestände in Somalia und in der Region zeigt das am 23.1.1992 verhängte VN-Waffenembargo9 keine Wirkung. Opfer der allgegenwärtigen Gewalt ist die somalische Bevölkerung. Nach Angaben der Vereinten Nationen sind 1,5 Mio. Menschen unmittelbar vom Hungertod bedroht, weitere 3,5 Mio. Menschen befinden sich in akuter Notlage. Alle Bemühungen der internationalen Gebergemeinschaft, die Not durch großzügige Lieferungen von Nahrungsmitteln und anderen Hilfsgütern zu lindern, scheiterten immer wieder an der Gewalt, von der auch Hilfstransporte nicht verschont werden. Wiederholt mussten die internationalen Hilfsorganisationen ihre Aktivitäten einstellen, weil die Helfer vor Ort in Lebensgefahr gerieten. Mehrere Mitarbeiter von Hilfsorganisationen wurden getötet. Nur wenn es bald gelingt, wenigstens die Versorgungswege für die Hilfsgüter zu sichern, wird es möglich sein, die Bevölkerung Somalias vor dem Hungertod zu retten. Nachdem zahlreiche bilaterale und regionale Vermittlungsbemühungen gescheitert sind, richten sich jetzt alle Hoffnungen auf den Erfolg der Friedensmission der Vereinten Nationen. Der VN-Sicherheitsrat hat in mehreren Resolutionen eine VN­Friedensmission für Somalia (UNOSOM) beschlossen.10 Dazu gehören Bemühungen um Waffenstillstand (inklusive 6 Vgl. Anm. 8. 7 An dieser Stelle vermerkte StS Lautenschlager handschriftlich: „Ziffer 2 Seite 3.“ Vgl. Anm. 12. 8 Dem Vorgang beigefügt. Für den Sachstand des Referats 322 vom 6. August 1992 zur Lage in Somalia vgl. B 34, ZA-Bd. 153656. 9 Vgl. die Resolution Nr. 733 des VN-Sicherheitsrats; RESOLUTIONS AND DECISIONS 1992, S. 55 f. 10 Referat 322 vermerkte am 6. August 1992, der VN-Sicherheitsrat habe mit Resolution Nr. 751 vom 24. April 1992 die Einrichtung einer VN-Friedensmission für Somalia beschlossen: „Entsendung einer 50 Mann starken unbewaffneten Waffenstillstandsbeobachtergruppe nach Mogadischu (inzwischen eingetroffen). Grundsätzliche Einigung über baldmöglichen Einsatz von einem 500 Mann starken bewaffneten Militärbataillon zur Sicherung von Hilfsmaßnahmen.“ Mit Resolution Nr. 767 des Sicherheitsrats vom 27. Juli 1992 sei beschlossen worden: „Einteilung Somalias in vier Operationszonen zur Erfüllung der UNOSOMAufgaben (humanitäre Hilfe, Waffenstillstandsüberwachung, Entwaffnung, Friedensstiftung); Aufruf an alle somalischen Konfliktparteien, bei der Stationierung von VN-Sicherheitspersonal zu kooperieren […]; Entsendung eines technischen Teams zur Prüfung der Durchführbarkeit der VN-Hilfsaktionen; Einrichtung einer Luftbrücke zur Versorgung der Bevölkerung.“ Vgl. B 34, ZA-Bd. 153656. Für die Resolutionen Nr. 751 und 767 vgl. RESOLUTIONS AND DECISIONS 1992, S. 57 f. und S. 59 f. Für den deutschen Wortlaut von Resolution Nr. 767 vgl. EUROPA-ARCHIV 1993, D 182–184.

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6. August 1992: Vorlage von Strachwitz

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Entsendung von fünfzig unbewaffneten VN-Beobachtern) und humanitäre Hilfe. Auch diese Initiativen wurden bisher durch die „Warlords“ behindert bzw. unmöglich gemacht. Die vom Sicherheitsrat im April 1992 prinzipiell beschlossene Entsendung von 500 bewaffneten VN-Militärs zur Sicherung von Hilfsmaßnahmen stieß zunächst auf eine zögerliche Haltung der USA. Erst das persönliche Engagement des VN-GS Boutros-Ghali für Somalia und der von ihm erhobene Vorwurf des Eurozentrismus des Sicherheitsrats (angebliches Überengagement im früheren Jugoslawien als „Krieg der Reichen“) haben die Bereitschaft der amerikanischen Regierung zum Einlenken in der Frage eines Engagements der Vereinten Nationen zum Schutz der humanitären Lieferungen in Somalia gefördert. Die Wirksamkeit umfassender Hilfsmaßnahmen in Somalia hängt wegen der katastrophalen Sicherheitslage und der allgemeinen Plünderungsgefahr von der Realisierung des VN-SR-Grundsatzbeschlusses vom 24. April 1992 über die Entsendung von VN­Sicherheitspersonal ab, das den Transport und die Verteilung der Hilfsgüter schützen soll. Zu den prioritären Aufgaben dieser VN-Mission soll auch die Durchführung eines landesweiten Nahrungs- und Entwaffnungsplans („Arms for Food“) gehören. Angesichts der bisherigen Nichteinhaltung des Waffenstillstands durch die Konfliktparteien ist mit ihrer Kooperation bei den VN-Hilfsaktionen nicht zu rechnen. Daher müsste ein von Sicherheitskräften geschütztes humanitäres Engagement der VN auch ohne bzw. gegen den Willen der Konfliktparteien erfolgen. Wir sollten ein solches Engagement der VN in Somalia politisch und im Rahmen des Möglichen finanziell unterstützen und zu den VN- und IKRK-Hilfsprogrammen für Somalia beitragen. Die Aktivitäten deutscher Hilfsorganisationen in Somalia sollten wir nach Kräften fördern. In die Bemühungen der Vereinten Nationen für Somalia sollten verstärkt die wohlhabenden arabischen Länder eingebunden werden. Sie tragen auch nach Auffassung des VN-Generalsekretärs als Regionalstaaten besondere Verantwortung für das Schicksal Somalias, das Mitglied der Arabischen Liga und der Organisation für die Islamische Konferenz ist. 2) Referat 301 bereitet eine Vorlage zu den Möglichkeiten eines verstärkten finanziellen deutschen Engagements für Hilfsaktionen in Somalia vor.11 Zu diesem Zweck hat das Auswärtige Amt für den 13. August 1992 eine Besprechung mit den zuständigen Ressorts und den in Somalia engagierten deutschen Nicht-Regierungsorganisationen sowie dem IKRK einberufen.12 Dg 3113 sowie die Referate 301 und 230 haben mitgezeichnet.14 Strachwitz B 34, ZA-Bd. 153656 11 Referat 301 vermerkte am 11. August 1992: „Dem Auswärtigen Amt stehen bis Ende 1992 weltweit nur noch 8 Mio. DM für humanitäre Hilfe zur Verfügung. Umfangreiche deutsche Hilfsmaßnahmen in Somalia sind nur bei Bewilligung zusätzlicher Mittel möglich.“ Vgl. B 34, ZA-Bd. 153656. 12 Die Wörter „verstärkten finanziellen deutschen Engagements“ und „13. August“ wurden von StS Lautenschlager hervorgehoben. Dazu vermerkte er handschriftlich: „In heutiger Dir[ektoren]b[e]spr[echung] besprochen. Je nach Ausgang der Bspr. soll Ihnen ggf. ein Brief an BM Waigel zur Erlangung zusätzl[icher] Mittel vorgeschlagen werden.“ Vgl. Anm. 7. 13 Herwig Bartels. 14 Referat 301 vermerkte am 4. September 1992: „Auf Antrag von BM Kinkel in der Kabinettsitzung vom 12.8.1992 ist vom BMF am 26.8.1992 eine Erhöhung der humanitären Hilfe für Somalia um 20 Mio. DM zugesagt worden. Zwei Transall-Flugzeuge der Bundeswehr sind am 21.8.1992 nach Mombasa entsandt

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6. August 1992: Drahtbericht von Gablentz

249 Drahtbericht des Botschafters von der Gablentz, Tel Aviv VS-NfD Fernschreiben Nr. 823

Aufgabe: 6. August 1992, 15.11 Uhr1 Ankunft: 6. August 1992, 15.05 Uhr

Betr.:

Deutsch-jüdisches Verhältnis zu den USA; hier: Frage der Einbeziehung der israelischen Seite2 Bezug: DB 554 vom 13.6.19913 und DB 195 vom 18.2.19924 – Pol 320.15/23 VS-NfD Plurez 8203 vom 29.7.92 – 204-320.15 USA5 und 8421 vom 4.8.92 – 204-320.15 USA 126/92 VS-v6 Auf Weisung Trotz des erfreulichen Klimawechsels im deutsch-israelischen Verhältnis seit den Wahlen vom 23. Juni 19927, der sich auch in einer deutlichen Entspannung bei den schwierigen Fortsetzung Fußnote von Seite 999 worden, um von dort aus Hilfsgüter nach Somalia zu fliegen. Die Kosten für einen zwölfwöchigen Einsatz der Maschinen betragen 7,2 Mio. DM.“ Vgl. B 34, ZA-Bd. 153656. 1 Hat VLR I Wagner am 6. August 1992 vorgelegen, der die Weiterleitung u. a. an VLR Freiherr von Kittlitz „n[ach] R[ückkehr]“ verfügte. Hat Kittlitz am 18. August 1992 vorgelegen, der handschriftlich vermerkte: „Ein vorzüglicher und überzeugender Bericht. Fazit: Wir sollten nicht versuchen, die Kreise des Holocaust-Museums in Washington zu stören.“ 2 Zum Vorschlag des Botschafters Ruhfus, Washington, vgl. Dok. 244. 3 Botschafter von der Gablentz, Tel Aviv, teilte mit, er müsse „zu größter Vorsicht raten gegenüber jedem Versuch, israelische Regierung in Bemühungen um Verbesserungen des deutsch-jüdischen Verhältnisses in den USA einzuschalten. Jeder Eindruck eines konzertierten Vorgehens Deutscher mit Organisationen jüdischer Diaspora in den USA sollte vermieden werden, da er die Gefahr birgt, dass amerikanische Diaspora und Deutschland dann systematisch von den Israelis auseinanderdividiert werden.“ Vgl. AV Neues Amt, Bd. 25998. 4 Botschafter von der Gablentz, Tel Aviv, berichtete: „In der gegenwärtigen komplizierten psychologischen Lage im deutsch-israelischen Verhältnis sowie im Verhältnis der Israelis zur amerikanischen Diaspora rege ich an, die Frage einer behutsamen Normalisierung des deutsch-israelischen Sonderverhältnisses mit dem Armonk Institute zu besprechen, es aber nicht zu ermutigen, in diesem Sinne gegenüber den Israelis tätig zu werden.“ Vgl. AV Neues Amt, Bd. 25998. 5 Botschafter Ruhfus, z. Z. Bonn, teilte mit, er habe am 21. Juli 1992 ein Gespräch mit Vertretern des Armonk Institute geführt. Als Fazit hielt er fest, die Bundesregierung werde sich weiterhin mit Nachdruck bemühen müssen, die großen jüdischen Organisationen in den USA davon zu überzeugen, „dass die Erfüllung unserer Anliegen langfristig auch in ihrem eigenen Interesse liegt. Hierfür wäre es aus hiesiger Sicht von allererster Bedeutung, wenn wir die israelische Regierung dafür gewinnen, dass sie den dichten Stand der deutsch-israelischen Beziehungen und das hohe Niveau der deutschen Leistungen für Israel nicht nur in D, sondern auch für die übrige Welt, einschließlich der USA, unüberhörbar zum Ausdruck bringt.“ Vgl. AV Neues Amt, Bd. 25998. 6 VLR I Wagner bat die Botschaft in Tel Aviv um Stellungnahme zur Frage der Einbeziehung der israelischen Seite bei der Darstellung der deutsch-israelischen Beziehungen im künftigen Holocaust-Museum bzw. zur Frage, ob „entsprechendes israelisches Einwirken“ auf den United States Holocaust Memorial Council in Washington nahezulegen sei. Vgl. B 130, VS-Bd. 13046 (221), bzw. B 150, Aktenkopien 1992. 7 Zu den Parlamentswahlen am 23. Juni 1992 in Israel vgl. Dok. 201, Anm. 21. Die neue Regierung unter MP Rabin trat ihr Amt am 13. Juli 1992 an.

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vergangenheitsbezogenen Themen niederschlägt, muss ich aus hiesiger Sicht davon abraten, die Israelis in unsere Bemühungen um ein besseres Deutschlandbild bei den amerikanischen Juden oder gar zur Beeinflussung des „Holocaust Memorial Council“ einzubeziehen. Zur Begründung verweise ich auf folgende Probleme: 1) Ich teile einen großen Teil der Überlegungen der Botschaft Washington und des Armonk Instituts. Auch in Israel haben wir inzwischen eine Dichte der Zusammenarbeit und auch einen Grad des gegenseitigen Vertrauens erreicht, der – jedenfalls mit einem Teil der betroffenen Israelis und Institutionen – einen Dialog über „die Zukunft der Vergangenheit“ möglich macht. Der Dialog wird von uns mit großer Offenheit und ohne falsche Scheu geführt, wenn auch natürlich mit Rücksicht auf die persönlichen Gefühle der Betroffenen. Mit den meisten Gesprächspartnern besteht volle Übereinkunft, dass der Holocaust nicht das Ende der Geschichte ist und das Verhältnis zur Vergangenheit in einer Weise definiert werden muss, die weder die künftige Entwicklung Deutschlands noch Israels noch das Verhältnis zwischen Israelis und Deutschen stagnieren lässt. Aber dahinter steht ein ungemein komplexes Bündel von kollektiven und individuellen Erfahrungen, von israelischem Nationalgefühl und jüdischer Identitätswahrung, von politischem Kalkül und tiefen Emotionen, die auch das Denken und Fühlen der Enkel-Generation noch bestimmen. Bemühungen einer israelischen Regierung um Verbesserung des Deutschlandbildes der amerikanischen Juden, die natürlich nicht verborgen bleiben würden, würden hierzulande diejenigen Kräfte neu beleben, die an einer Mythologisierung des Holocaust zur Identitätsstiftung Israels interessiert sind. Gerade die Kräfte wollen8 aber die jetzige Regierung und die sie tragenden politischen Kräfte in der Knesset vorsichtig zurückdrängen. 2) Jede Bemühung, die israelische Regierung für ein besseres Deutschlandbild der amerikanischen Juden zu gewinnen, ist aus hiesiger Sicht auch wegen des spannungsreichen Verhältnisses zwischen Israel und den amerikanischen Juden kontraproduzent. In den letzten Jahren zeichnet sich deutlich ein neues Verhältnis zwischen zwei eigenständigen und legitimen jüdischen Lebenswelten ab und nicht mehr das Verhältnis von Stammland und Diaspora. Daraus ergeben sich tiefe Spannungen, die auf beiden Seiten in weiten Kreisen auch das Bedürfnis nach Stärkung der Gemeinsamkeit, die eine Mythologisierung des Holocaust bieten kann, steigen lässt. Jede deutsche Bemühung, die als Einmischung in dieses spannungsreiche Verhältnis interpretiert werden kann (und mit Sicherheit von weiten Kreisen interpretiert wird), kann nur zur stärkeren Betonung von identitätsstiftenden Feindbildern führen. 3) Nach den hiesigen Erfahrungen würde ich auch mit allen Versuchen vorsichtig sein, das Gedenken an den Holocaust mit der Darstellung der neuen deutschen Demokratie zu verbinden. Der Holocaust spielt – auch wenn das von liberalen Juden mit guten Gründen immer wieder scharf kritisiert wird – seit Jahrzehnten eine zentrale Rolle für die in der modernen Welt immer schwieriger werdende Wahrung der Identität des Judentums.9 Israelis und Juden in aller Welt wollen daher – wie sie glauben um ihres Überlebens Willen – allein und ohne fremde Einflüsse entscheiden, wie das Gedenken an den Holocaust gestaltet wird. Diese Haltung zeigt sich in der Entscheidung des „Holocaust Memorial Council“ 8 Korrigiert aus: „will“. 9 Der Passus „Nach den … des Judentums“ wurde von VLR Freiherr von Kittlitz hervorgehoben. Dazu Ausrufezeichen.

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6. August 1992: Drahtbericht von Gablentz

ebenso wie in der Haltung der Juden gegenüber Auschwitz-Gedenkstätten. Bemühungen, Holocaust-Gedenkstätten mit positiven Lehren zu verbinden, die wir erfolgreich daraus gezogen haben, stoßen daher an Grenzen. Sie können als Relativierung der Einzigartigkeit des Holocaust missverstanden werden und rühren damit an das in der modernen Gesellschaft immer gravierender werdende Dilemma: Wahrung jüdische Identität oder Assimilierung. 4) Nach meinen hiesigen Erfahrungen sollten wir uns davor hüten, die gemeinsamen Vorstellungen mit aufgeklärten westlichen jüdischen Kreisen in Amerika auf die sehr viel kompliziertere Gesamtproblematik des Verhältnisses Deutscher und Juden, des Holocaust und der Realitäten des modernen Lebens zu übertragen. Wir haben, wie die Erfahrung zeigt, hervorragende Chancen, durch Tatsachen (Stabilität deutscher Demokratie, konstruktive Rolle Deutschlands bei der politischen und wirtschaftlichen Neuordnung Europas, verständnisvolle und hilfsbereite Partnerschaft mit Israel) zu überzeugen. In der gegenwärtigen israelischen Regierung werden wir voraussichtlich einen besonders aufgeschlossenen Partner finden. Gleichzeitig sollten wir in allen unseren Bemühungen fortfahren, um unser selbst und der Zukunft Willen10 ein ehrliches Verhältnis zu dem düsteren Kapitel der deutschen Vergangenheit zu suchen und zu erhalten (in Erziehung und Forschung, in der Pflege des jüdischen Erbes in unserer Kultur, in der Politik der besonderen Verantwortlichkeit gegenüber Israel). Wir sollten es aber vermeiden, uns in die schwierigen und oft traumatischen Prozesse einzumischen, in denen die Juden in aller Welt sich bemühen, mit ihrer eigenen besonderen Vergangenheit fertigzuwerden und sie mit den – meist mit ihren Traditionen im Widerspruch stehenden – Realitäten der modernen Welt zu versöhnen. Wir können diese Bemühungen letzten Endes nur mit viel Verständnis und Einfühlungsvermögen begleiten. Ein gutes Beispiel hierfür ist das in den letzten Jahren wesentlich verbesserte Verhältnis zur nationalen jüdischen Gedenkstätte Yad Vashem. [gez.] Gablentz B 32, ZA-Bd. 179508

10 Der Passus „um unser … Zukunft Willen“ wurde von VLR Freiherr von Kittlitz hervorgehoben. Dazu Ausrufezeichen.

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14. August 1992: Vorlage von Lambach und Heinsberg

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250 Vorlage des Vortragenden Legationsrats I. Klasse Lambach und des Botschafters Heinsberg für Staatssekretär Lautenschlager 216-554.01 VS-NfD 421-401.01 VS-NfD

14. August 1992

Über Dg 21 i. V.1, Dg 422, D 2 i. V.3, D 44 Herrn Staatssekretär5 Betr.:

Absicht des Herrn Bundeskanzlers, mit BM und BM Waigel nach der Sommerpause über die von Präsident Jelzin aufgeworfene Frage der Behandlung sowjetischer Vermögenswerte an von der WGT genutzten Liegenschaften zu sprechen.

Bezug: Weisung BM vom 4.8.92 auf Schreiben des Bundeskanzleramts vom 31.7.92 (Anlage) Anlg.: 26 Zweck der Vorlage: Zur Unterrichtung und mit der Bitte um Zustimmung I. 1) ChBK hat mit Schreiben vom 31.7.1992 (Anlg. 17) mitgeteilt, dass der Bundeskanzler in der Frage der Behandlung sowjetischer Vermögenswerte an den von der WGT genutzten Liegenschaften unmittelbar nach der Sommerpause ein Gespräch mit BM Kinkel und BM Waigel führen möchte. Präsident Jelzin hatte mit Schreiben an den Bundeskanzler vom 13.5.19928 für die Immobilien der Westgruppe der Streitkräfte eine Pauschalzahlung in Höhe von 6 – 8 Mrd. DM vorgeschlagen. ChBK hatte mit Ressortschreiben vom 15.7.1992 mitgeteilt, der Bundeskanzler habe entschieden, den Brief von Präsident Jelzin nicht mehr vor der Sommerpause zu beantworten, und AA, BMF und BMWi aufgefordert, bis Ende August 1992 „Überlegungen 1 2 3 4 5

Hat in Vertretung des MDg von Studnitz VLR I Lambach am 14. August 1992 erneut vorgelegen. Hat MDg Schönfelder am 17. August 1992 vorgelegen. Hat in Vertretung des MD Chrobog MDg von Studnitz am 17. August 1992 vorgelegen. Hat MD Dieckmann am 17. August 1992 vorgelegen. Hat StS Lautenschlager am 19. August 1992 vorgelegen, der handschriftlich für MD Dieckmann und MDg von Studnitz vermerkte: „Wie b[e]spr[ochen] – bitte zunächst auf Dg-Ebene versuchen, ein gemeinsames Papier mit BMF + ChBK zu formulieren (Beteiligung BMU? BMWi?). Dabei kann diese Aufz[eichnung] mit als Grundlage dienen. Ob u. inwieweit die Transferrubelproblematik mitbehandelt werden sollte, sollte im Ressortgespräch geklärt werden. Abt[ei]l[un]g 5 müsste sich zum letzten Absatz des ChBK-Schreibens vom 15.7. äußern.“ Vgl. Anm. 9. Hat Studnitz am 19. August 1992 erneut vorgelegen, der den Rücklauf an Referat 216 verfügte. Hat VLR Achenbach am 28. August 1992 vorgelegen, der die Weiterleitung an VLR I Lambach „n[ach R[ückkehr]“ verfügte und handschriftlich vermerkte: „Meinungsbildung im BMF noch im Fluss. Bislang keine Ressortbespr[echung] anberaumt.“ Hat Lambach am 7. September 1992 erneut vorgelegen. 6 Vgl. Anm. 7 und 9. 7 Dem Vorgang beigefügt. Für das Schreiben des MD Hartmann, Bundeskanzleramt, an StS Kastrup vgl. B 38, ZA-Bd. 184715. BM Kinkel notierte am 4. August 1992: „Bitte vorbereiten.“ Vgl. B 38, ZA-Bd. 184715. 8 Für das Schreiben des russischen Präsidenten Jelzin an BK Kohl vgl. B 38, ZA-Bd. 184715.

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für eine ‚Pauschalregelung‘ (einschl. Alternativen) zu entwickeln, in die auch andere offene Finanzfragen im Verhältnis zu Russland einbezogen werden sollten (z. B. Transferrubelsaldo). Diese Überlegungen sollten Grundlage für eine politische Entscheidung sein“ (Anl. 29). 2) BM hat Weisung erteilt, das Gespräch beim Bundeskanzler vorzubereiten. Nach unseren bisherigen Informationen ist der Meinungsbildungsprozess auf Arbeitsebene im BMF noch im Fluss und wird bei StS Köhler zusammenlaufen. Es wird angeregt, dass Sie in der Angelegenheit mit StS Köhler mit dem Ziel Kontakt aufnehmen, die Vorstellungen des BMF vor dem Gespräch beim Bundeskanzler näher in Erfahrung zu bringen. Der gegenwärtige Stand unserer Überlegungen wird im Folgenden dargelegt: II. – Über den Vorschlag von Präsident Jelzin, die Vermögenswerte an der WGT überlassenen Liegenschaften pauschal mit einem Betrag von 6 – 8 Mrd. DM abzugelten, sollte nur im Gesamtzusammenhang bestehender Forderungen entschieden werden. – Eine Pauschallösung mit einem Netto-Transfer an die russische Seite auf der Basis dieser Vermögenswerte erscheint weder machbar noch zweckmäßig. Erstrebenswert ist eine Null-Lösung. – Wenn der BMF zusätzliche Leistungen erbringen will (Einzelheiten sind AA bisher nicht bekannt), kann dies sicher dazu beitragen, die russische Regierung bei der Schaffung von Wohnraum für die WGT noch stärker als durch unsere diesbezüglichen bisherigen Leistungen zu entlasten. Als Gegenleistung sollte dann eine Beschleunigung des Abzugs der GUS-Truppen verlangt werden. – Verhandlungen mit dieser Zielsetzung müssen das zeitliche Element berücksichtigen. III. 1) Jelzin verlangt 6 – 8 Mrd. DM für die Vermögenswerte an den von der Westgruppe genutzten Liegenschaften. Er fordert eine Pauschallösung mit dem Hinweis, dass die Unterbringung der abzuziehenden Truppen „an Schärfe gewinnt“. Jelzin weist darauf hin, dass „wir bei der Ausarbeitung der Programme der Unterbringung und Einrichtung der aus Deutschland abziehenden Truppen auf wesentliche Deviseneinnahmen aus der Veräußerung der Immobilien der Westgruppe der Streitkräfte gezählt haben“. Der genannten Summe liegt eine russische Wertschätzung in Höhe von 10,5 Mrd. DM zugrunde, von der dann 2,5 bis 4,5 Mrd. DM als Kompensation für deutsche Forderungen aus Umweltschäden auf den Liegenschaften abgezogen werden. Im BMF schätzt man die Vermögenswerte auf etwa 10 % des Betrags der russischen Schätzung. Die deutschen Gegenforderungen aus Umweltschäden auf diesen Liegenschaften belaufen sich nach Schätzungen des BMF auf einen Betrag zwischen 25 und 60 Mrd. DM. Die Verwertung der mit sowjetischen Mitteln errichteten Gebäude und Anlagen (Vermögenswerte) stagniert, weil die russische Seite nicht bereit ist, der in Art. 7 des Überleitungsabkommens vom 9.10.1990 (ÜLA)10 vereinbarten Verwertung zu Marktbedingungen 9 Dem Vorgang beigefügt. Für das Schreiben des MR Stark, Bundeskanzleramt, an MDg Gerlach, BMWi, MDg Pieske, BMF, und MDg Schönfelder vgl. B 38, ZA-Bd. 184715. Der letzte Absatz lautete: „Das Auswärtige Amt wird gebeten, vor dem Hintergrund der russischen Forderung im Zusammenhang mit der Verwertung der WGT-Liegenschaften die völkerrechtliche Frage der Rechtsnachfolge der ehemaligen Sowjetunion zu prüfen.“ Vgl. Anm. 5. 10 Für das Abkommen vom 9. Oktober 1990 zwischen der Bundesrepublik und der UdSSR über einige überleitende Maßnahmen (Überleitungsabkommen) vgl. BGBl. 1990, II, S. 1655–1659. Vgl. ferner AAPD 1990, II, Dok. 334, und DIE EINHEIT, Dok. 156.

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zuzustimmen. Russland hält stattdessen an Wertvorstellungen fest, die den Verkehrswert unberücksichtigt lassen. Ebenso erkennt die russische Seite bisher spezifische Schadensersatzforderungen der deutschen Seite nicht an. Ein Kompromissangebot der deutschen Seite, die Verwertung der Vermögenswerte dadurch in Gang zu setzen, dass zunächst für ein Jahr 50 % der Verwertungserlöse der russischen Seite zur freien Verfügung überlassen und die restlichen 50 % zur Aufrechnung mit Gegenforderungen zurückbehalten werden, ist russischerseits in der Hoffnung auf eine Pauschallösung bisher nicht akzeptiert worden. 2) Die Transferrubelguthaben der Bundesrepublik Deutschland gegenüber der ehemaligen Sowjetunion, die insbesondere aus der Fortführung des Transferrubelverrechnungsverkehrs im zweiten Halbjahr 1990 entstanden sind, belaufen sich nach neuesten Berechnungen des BMF auf rd. 6,5 Mrd. Transferrubel oder umgerechnet (mit dem internen Umrechnungskoeffizienten 1 Transferrubel = 2,34 DM) rd. 15,3 Mrd. DM (frühere Berechnung: 7,5 Mrd. TR = 17,56 Mrd. DM). Art. 6 ÜLA sieht vor, dass nach Feststellung des Saldos bis zum 30. Juni 1991 ein Verfahren für dessen Umbewertung in DM oder eine andere konvertible Währung vereinbart wird und anschließend Verhandlungen über eine Schuldenregelung dahingehend beginnen, dass daraus in den kommenden fünf Jahren der sowjetischen Seite keine übermäßigen zusätzlichen finanziellen und wirtschaftlichen Belastungen entstehen, sowie darüber, wie diese Schuld nach Ablauf dieser Frist getilgt wird. Solche Verhandlungen wurden Mitte 1991 geführt. Die Höhe des Saldos in Transferrubeln wurde von der damaligen sowjetischen Seite anerkannt, nicht jedoch dessen Bewertung in DM. Ebenso kam keine Schuldenregelung zustande. 3) Gemäß Art. 1 (3) ÜLA hat die deutsche Seite zur Deckung der Aufwendungen in DM, die die sowjetische Seite im Zusammenhang mit dem Unterhalt ihrer Truppen selbst trägt, einen zinslosen Finanzkredit i. H. v. 3 Mrd. DM geleistet. Die Tilgung der in zwei Tranchen geleisteten Beträge soll nach Ablauf von fünf Jahren seit Inanspruchnahme erfolgen. Auf der Ebene der WGT wird schon jetzt geltend gemacht, dass die von deutscher Seite eingeräumten Beiträge für den Aufenthalt und Abzug der Truppen wegen der allgemeinen Anhebung des Preisniveaus zu knapp bemessen wurden. Die deutsche Seite hat entsprechende Forderungen zurückgewiesen. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass die russische Seite deshalb und wegen ihrer allgemeinen Finanzlage bei der Tilgung des 3 Mrd.-DMKredits Schwierigkeiten machen wird. 4) Was die jeweiligen Forderungen aus dem ÜLA anbelangt, ist die Gesamtlage also so, dass die Bilanzierung dieser Forderungen mit Abstand zugunsten Deutschlands ausfällt. Derzeit muss bei realistischer Einschätzung davon ausgegangen werden, dass unsere Forderungen zumindest aus dem Transferrubelguthaben (Art. 6 ÜLA) und aus Schäden an den Liegenschaften (Art. 7 ÜLA) schwerlich erfüllt werden und schon allein die Frage ist, ob wir mit der russischen Seite Einvernehmen über den Umfang dieser Forderungen und ihre Bewertung in DM erzielen können. IV. 1) Der Abzug der GUS-Truppen verläuft planmäßig. Bis Ende Juli 1992 waren 50 % des Personals und des Materials abgezogen. Die weitere Planung sieht bisher vor, dass in der zweiten Jahreshälfte 1992 weitere 10 %, 1993 weitere 30 % und 1994 die verbleibenden 10 % der Truppen und des Materials abgezogen werden. Es hat Andeutungen aus der WGT 1005

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gegeben, dass diese ihren Abzug 1993 verringern könnte, sodass sich 1994 der Restabzug erhöhen würde. Unvorhersehbarkeiten können nicht ausgeschlossen werden; jedoch sollten wir immer davon ausgehen, dass sich die russische Seite an die geschlossenen Verträge, die sie nach dem Untergang der Sowjetunion weiterführt, halten will. Das Problem der Aufrechterhaltung der inneren Stabilität der WGT spricht dafür, dass die Leitung der WGT an einem zügigen Abzug interessiert ist. Das Problem der Wohnungsraumbeschaffung für die heimkehrenden Offiziere und Unteroffiziere läuft dem entgegen. Mit der Zusage der Finanzierung von etwa 36 000 Wohnungen und vier Hausbaukombinaten (7,8 Mrd. DM) hat die deutsche Seite einen entscheidenden Beitrag geleistet. 2) Unser Interesse an einem beschleunigten Abzug der GUS-Truppen liegt auf der Hand. 2+4-Vertrag (parallele deutsche Reduzierungsverpflichtung) und Aufenthalts- und Abzugsvertrag stehen einer Beschleunigung des Abzugs, zumindest einer Verlegung von Ende 1994 auf Anfang 1994, nicht entgegen. Die bisherige russische Abzugsplanung kommt dem entgegen. Die russische Seite spart außerdem Geld, wenn sie früher abzieht, weil die gewährten Beiträge so oder so zu zahlen sind. 3) Die Gesamtplanung für den Abzug im Jahre 1993 wird im Herbst 1992 zwischen der russischen und der deutschen Seite abgestimmt. Änderungen der Abzugsplanung sind danach erfahrungsgemäß schwierig. V. 1) Falls BMF sich in der Lage sähe, weitere finanzielle Zusagen an die russische Seite zu machen, sollten diese – nicht in den Zusammenhang mit den Vermögenswerten an Liegenschaften gebracht werden, da unsere Gegenforderungen sehr viel höher sind; – auch deshalb nicht in diesen Zusammenhang gestellt werden, weil sonst völkerrechtliche Ansprüche anderer GUS-Staaten geltend gemacht werden könnten. Demgegenüber sollte für die Aufrechnung von Vermögenswerten und Schäden an Liegenschaften eine Null-Lösung angestrebt werden. 2) Die Verwertungsverfahren nach Art. 7 ÜLA sind langwierig und kompliziert. Der Verzicht auf jeweilige Forderungen aus Verwertung der Vermögenswerte und Umweltschäden läge auch im außenpolitischen Interesse. Die Beziehungen würden entlastet. Ansatzmöglichkeiten für den verlängerten Aufenthalt von mit Abwicklungsgeschäften befassten Personenkreisen und damit zusammenhängende Schwierigkeiten (auch sicherheitspolitischer Art) würden entfallen. Möglicherweise hätte eine solche Regelung auch positive Auswirkungen auf die Verhandlungen der baltischen Staaten mit Russland11. Demgegenüber würde eine rein politisch zu rechtfertigende Pauschalierung mit Positivsaldo zugunsten Russlands einen Präzedenzfall setzen. Das Verhältnis zu den Alliierten, die ebenfalls über Vermögenswerte mit der Bundesregierung verhandeln12, würde durch eine NullLösung nicht belastet. Deren baldige Herbeiführung könnte vermeiden, dass Russland auf den Alliierten gezahlte Summen hinweist. 3) Wegen der Ungewissheit, ob die Forderungen aus Art. 6 ÜLA (Transferrubel) von der anderen Seite jemals honoriert werden, stellt sich die Frage, inwieweit ein Verzicht auf 11 Zum Abzug vormals sowjetischer Truppen aus den baltischen Staaten vgl. Dok. 81, Anm. 8. Vgl. auch Dok. 172. 12 Vgl. die Verhandlungen zur Überprüfung des Zusatzabkommens zum NATO-Truppenstatut; Dok. 276.

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diese deutschen Forderungen nicht geeignet wäre, eine Null-Lösung für die Forderungen aus Art. 7 ÜLA (Vermögenswerte) zu erreichen und so die russischen Nachforderungen abzuwehren oder doch auf ein Minimum zu reduzieren. Bei einem Verzicht auf die Transferrubelforderungen ist allerdings zu beachten, dass hierdurch ein Präzedenzfall im Verhältnis zu anderen Staaten geschaffen würde. Allerdings haben wir mit anderen Staaten keine dem Art. 6 ÜLA entsprechende Regelung getroffen. Zur Frage der Transferrubelproblematik insgesamt legt Ref. 422 gesonderte Aufzeichnung vor.13 4) Nach hiesiger Einschätzung wird sich Präsident Jelzin auf eine Null-Lösung für die Forderungen aus Art. 7 ÜLA auch bei Verrechnung mit Forderungen aus Art. 6 ÜLA innenpolitisch schwer einlassen können. Das Verteidigungsministerium verlangt zusätzliche Mittel für den Wohnungsbau, die es in den Vermögenswerten an den Liegenschaften sieht. Hinzu kommt, dass es bei einer solchen Lösung kein „frisches Geld“ gibt. Inwieweit der BMF in dieser Perspektive weitere Zusagen, sei es im Zusammenhang mit der Tilgung des 3 Mrd.-DM-Kredits aus Art. 1 (3) ÜLA, sei es durch Einräumung eines zusätzlichen Wohnungsbaukredits, vorsieht, ist hier derzeit nicht bekannt. Überlegungen in dieser Richtung werden im BMF vereinzelt angestellt. Außenpolitische Bedenken gegen weitere Zusagen bestünden nicht. VI. Bei der insgesamt gleitenden innenpolitischen Entwicklung in Russland wäre es insgesamt außenpolitisch wünschenswert, wenn alle finanziellen Fragen, die sich aus dem ÜLA ergeben, abschließend und, im Falle einer vom BMF beabsichtigten weiteren deutschen Leistung, verbunden mit einer verbindlichen Festlegung des WGT-Abzugs bis Anfang 1994 in den kommenden Monaten geregelt würden. Die Referate 213 und 422 und 500 haben mitgewirkt und mitgezeichnet. Die Aufzeichnung hat Botschafter Duisberg vorgelegen. Lambach Heinsberg B 38, ZA-Bd. 184715

13 VLR I Runge vermerkte am 13. August 1992: „Die Bundesrepublik Deutschland hat Guthaben in Höhe von rd. 11,8 Mrd. Transferrubeln (TR); diese sind aus Handels- und Zahlungsvereinbarungen der DDR sowie dem lt. Einigungsvertrag bis Ende 1990 fortgeführten Waren- und Dienstleistungsverkehr der neuen Bundesländer mit den ehemaligen RGW-Ländern entstanden.“ Die Guthaben entsprächen rund 27,6 Mrd. DM: „Das TR-Guthaben hat allenfalls Buch- und Verhandlungswert, sein realer Wert ist – angesichts der geringen Aussichten auf Bedienung dieser Forderungen – marginal. Demnach kann es sich nur darum handeln, unsere Rechtspositionen zu wahren und zu Verhandlungslösungen zu kommen. […] Wir sollten in keinem Falle drängen. Solange die Verhandlungen mit den Großschuldnern, vorrangig Russland bzw. SU-Nachfolgestaaten, nicht vorankommen, sollten sonstige bilaterale Verhandlungen nicht forciert werden.“ Vgl. B 52, ZA-Bd. 173941.

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14. August 1992: Drahtbericht von Heinichen

251 Drahtbericht des Gesandten Heinichen, Paris VS-NfD Fernschreiben Nr. 2018 Citissime Betr.:

Aufgabe: 14. August 1992, 17.57 Uhr1 Ankunft: 14. August 1992, 17.38 Uhr

Diskussion über einen militärischen Einsatz in Jugoslawien; hier: Französische Kritik an Verbündeten, vor allem D

Bezug: DB Nr. 1965 vom 5.8.92 – Pol 321.00 JUG2 1) Gesprächspartner im Quai verfolgen mit zunehmender Verstimmung die in Deutschland geführte Diskussion über den Einsatz militärischer Gewalt in Bosnien-Herzegowina. Im Quai hat man zwar Verständnis dafür, dass sich D aus verfassungsrechtlichen und historischen Gründen an militärischen Aktionen nicht mit Personal beteiligen kann. Deutlich verärgert wird uns jedoch vorgehalten, mit welcher Selbstverständlichkeit Politiker und Medien in D erwarten und sogar fordern, dass andere Staaten sich in diesem Konflikt militärisch engagieren. Ein Gesprächspartner im Quai merkte sarkastisch an, „D sei dezidiert für einen Kampfeinsatz – bis zum letzten französischen Soldaten“. AM Dumas, der in einem kürzlichen Radio-Interview unterstrichen habe, dass es für ein militärisches Vorgehen „nicht allzu viele Freiwillige“ gebe, habe mit seinen kritischen Äußerungen durchaus auch die als anmaßend empfundenen „militärischen“ Ratschläge aus Bonn im Blick gehabt. Auch die von General Maurice Schmitt (einer der Kommandeure im Golfkrieg) in einem Zeitungsartikel geäußerte Erwartung, dass sich an einem evtl. Interventionskontingent möglichst viele Nationen beteiligten und „keine sich hinter der Verfassung verbarrikadiere“, möge man nicht auf die leichte Schulter nehmen, zumal General Schmitt uns Deutschen ansonsten wohlgesonnen sei. Gesprächspartner räumte ein, dass von offizieller Bonner Regierungsseite versucht werde, die in D geführte Diskussion in die richtige Richtung zu lenken. Mit besonderer Genugtuung habe man die Äußerung des BK registriert, es sei auf Dauer nicht möglich, dass D sagt: Andere gehen – dort, wo in irgendeinem Teil der Erde etwas Schreckliches sich ereignet, – aktiv in die Gestaltung der Friedenssicherung, und D zahlt in barer DM. 2) Hiesige Gesprächspartner machen auch aus ihrer Verärgerung gegenüber dem zögerlichen Verhalten der US-Regierung, das im deutlichen Gegensatz zu manchen säbelrasselnden Reden stünde, keinen Hehl. Bedauert wird ebenfalls, dass GB – anders als F – nicht bereit scheint, ein stärkeres, auch personelles Engagement einzugehen. Allerdings hat man hier nicht den Eindruck, dass sich britische öffentliche Meinung und Politiker auf Kosten anderer Staaten für einen Kampfeinsatz in Bosnien-Herzegowina stark machen. 1 Der Drahtbericht wurde von BR I Göbel, Paris, konzipiert. Hat VLR I Libal am 17. August 1992 vorgelegen. 2 Gesandter Ischinger, Paris, berichtete, die französische Jugoslawien-Politik setze auf den „Dialog mit allen in Frage kommenden Parteien“. Dies sei für Frankreich „nicht nur politisch ratsam“, sondern es sei „angesichts der Verantwortung für die frz. Soldaten vor Ort auch notwendig, jeden denkbaren Gesprächskanal zu nutzen“. Vor diesem Hintergrund werde die „Aufrechterhaltung des Gesprächsfadens nicht nur mit den Serben, sondern auch mit der Regierung Panić, vielleicht leichter verständlich“. Vgl. B 42, ZA-Bd. 175651.

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Frz. Kritik richtet sich wohl in erster Linie gegen die einen Militärschlag befürwortenden dt. Stimmen, von denen sich Paris unter Druck gesetzt fühlt. Verstimmung hierüber ist nicht zuletzt deshalb so groß, weil auch in der innerfranzösischen Diskussion der Ruf nach einer rein militärischen Intervention trotz der ablehnenden Stellungnahme des Präsidenten3 nicht verstummt. [gez.] Heinichen B 42, ZA-Bd. 175651

252 Schriftbericht des Botschaftsrats Schaller, Pjöngjang (Schutzmachtvertretung für deutsche Interessen) Schriftbericht Nr. 253

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Betr.:

Deutsch-nordkoreanische Beziehungen; Außenpolitik der DVRK; hier: Gespräche mit dem Leiter der Westeuropa-Abteilung des Außenministeriums, Herrn Kim Hung-rim, am 7./8. August 1992 Bezug: ohne 2 Doppel Zur Unterrichtung Für den 7./8.8.1992 lud mich Herr Kim in ein Gästehaus des Außenministeriums ein. Das Haus liegt an einem Stausee etwa 90 km südöstlich von Pjöngjang. Die Tatsache der Einladung, die keine Standardveranstaltung darstellt, zeigt, dass die nordkoreanische Seite weiterhin auf den Dialog mit uns Wert legt. Herr Kim stellte die Begegnung unter das Motto, dass man in informeller Umgebung offen reden wolle. Aus dem Gespräch halte ich Folgendes fest: 1) Bilaterales Verhältnis Kim führte aus, NK habe mittlerweile eingesehen und akzeptiert, dass es mit der Aufnahme diplomatischer Beziehungen noch dauern werde.2 Man habe Verständnis für die 3 François Mitterrand. 1 Hat LR I Wolff am 21. August 1992 vorgelegen, der die Weiterleitung an MDg Zeller, VLR I Sommer „n[ach] R[ückkehr]“, VLR Zimmermann und AR Ebel „n[ach] E[rmessen]“ verfügte. Hat Zeller vorgelegen, der handschriftlich vermerkte: „Ein sehr gutes Gespräch – sehr guter Bericht. Dies bitte H. Schaller sagen.“ Für Sommer vermerkte er: „Bitte S[eite] 2 richtigstellen.“ Vgl. Anm. 5 und 6. Hat Zimmermann vorgelegen. Hat Ebel am 26. August 1992 vorgelegen. Hat Sommer am 30. August 1992 vorgelegen. 2 Zur Frage der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und Nordkorea vgl. Dok. 127, Anm. 17.

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deutsche Situation (z. B. Rücksicht auf Südkorea – Stichwort Schnellbahn3 –, EG und USA) und werde nicht mehr auf Aufnahme drängen.4 Ich erwiderte, ich freute mich, das zu hören, und empfahl, sich auf das unterhalb dieser Ebene Mögliche zu konzentrieren. Dies sei immer schon unsere Linie gewesen. Meines Erachtens habe NK bisher die Chancen nicht genutzt. Man habe einiges angekündigt, aber nichts durchgeführt. Ein Beispiel sei das Informationsbüro in Brüssel5, wo wir unsere Unterstützung zugesagt hatten. Bisher sei außer Gesprächen in Bonn und Pjöngjang nichts weiter geschehen.6 Auch die Eröffnung eines Büros des staatlichen Reisebüros Ryohaengsa in Berlin sei nicht vorangekommen, trotz vieler Gespräche und auch konkreter Hilfestellung der Vertretung durch Beschaffung von Informationen. Dies nahm Herr Kim zur Kenntnis. Ich fuhr fort, besonders im wirtschaftlichen Bereich nutze NK nicht das Potenzial. Dies liege hauptsächlich an dem Schuldenproblem, wo NK keine ernsthaften Lösungsvorschläge mache bzw. mit Einzelfirmen getroffene Vereinbarungen über Schuldentilgung nicht erfülle. Die deutsche Wirtschaft habe kein Vertrauen in NK. Kim: Man sei sich im Klaren, dass man die Schulden zurückzahlen müsse. Das sei keine Frage und anerkannt. Nur ginge dies zurzeit nicht. NK habe leere Taschen. Wo nichts sei, könne man auch nichts bezahlen. Deshalb wolle NK das Problem auch in der Form von Kooperation lösen: Man wolle gemeinsam mit ausländischen Partnern produzieren, um dann mit den Produkten die Schulden zurückzuzahlen. Als Beispiel nannte er eine im Frühjahr mit Finnland abgeschlossene Vereinbarung im Textilbereich (Anm.: diese soll, soweit bekannt, nicht funktionieren) und Verhandlungen mit Norwegen über den Bau von Schiffen in NK (Anm.: hier sind noch keine Abschlüsse bekannt). NK wolle in Zukunft auf dieser Linie das Problem angehen. Ich meinte, niemand erwarte, dass NK seine Schulden auf einen Schlag zurückzahle. Wichtig sei nur, dass man den ernsthaften Willen der Gegenseite verspüre, das Problem zu lösen. Dieser Wille sei aber nicht erkennbar. Deutsche Firmen seien z. B. auch bereit, Barter zu betreiben. Aber selbst da funktioniere es nicht richtig. Die deutsche Industrie sei immer bereit, bei realistischen Projekten mitzumachen. NK müsse aber entsprechende Vorschläge machen. Ich könnte im Übrigen NK schlecht abnehmen, dass überhaupt kein Geld da sei. M. E. sei dies stark eine Frage der Konzentration der Mittel. Wenn wir NK so wichtig seien, wie es von seiner Regierung immer wieder betont werde, sollte man sich in der Schuldenfrage auf uns konzentrieren. Die deutsche Industrie würde ein konstruktives Vorgehen Nordkoreas in diesem Bereich honorieren. Dass z. B. das OAV7-Büro bisher 3 Zum südkoreanischen Schnellbahnprojekt vgl. Dok. 127, Anm. 7. 4 Der Passus „werde … drängen“ wurde von MDg Zeller hervorgehoben. Dazu Ausrufezeichen. 5 Die Wörter „Informationsbüro in Brüssel“ wurden von LR I Wolff hervorgehoben. Dazu Fragezeichen und handschriftlicher Vermerk: „So nicht.“ Vgl. Anm. 1. 6 Zu diesem Absatz vermerkte MDg Zeller handschriftlich: „Wir haben dies mehrfach in den EG angesprochen.“ VLR Zimmermann teilte BR Schaller, Pjöngjang (Schutzmachtvertretung für deutsche Interessen), am 25. August 1992 mit: „Wir haben dieses Thema mehrfach im Rahmen der EPZ mit den übrigen Europäern angesprochen. Im Unterschied zu dem von Pjöngjang gewünschten, bei der EG zu akkreditierenden Büro […] haben wir in der Eröffnung einer Art Informations- und Reisebüro nie ein größeres Problem gesehen. Unsere europäischen Partner sahen dies allerdings anders als wir.“ Vgl. das Schreiben; B 37, ZA-Bd. 162031. Vgl. Anm. 1. 7 Ostasiatischer Verein.

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noch nicht eröffnet sei, liege allein an den schlechten Erfahrungen und dem mangelnden Vertrauen der dt. Wirtschaft. Ich würde mich in diesem Zusammenhang auch fragen, was die Handels- und Wirtschaftsräte der Interessenvertretung in Berlin eigentlich machten. Mein Eindruck aus Kontakten mit deutschen Firmen sei, dass die Interessenvertretung bei allen Problemfällen im Verhältnis deutscher und nordkoreanischer Firmen wenig Engagement zeige. Herr Kim erwiderte, die Genannten seien hauptsächlich für den Einkauf von Gütern zuständig. Der verstorbene Leiter der IV8 habe sich ihm zu sehr auf die politischen Fragen konzentriert und den Wirtschaftsbereich weniger betont. NK suche jetzt einen Repräsentanten, der sich stärker um mögliche Kooperationsprojekte mit Deutschland bemühen solle. (Anm.: Es blieb unklar, was sich NK-Seite unter einem derartigen Repräsentanten vorstellt.) Ein neuer Leiter der IV sei noch nicht bestimmt, erklärte Kim auf entsprechende Frage.9 Herr Kim wiederholte die nordkoreanische Einladung an Dg 34. Herr Zeller sei jederzeit willkommen, natürlich als Gast des Außenministeriums. Nordkorea sei nicht erfreut gewesen über die Erklärung des Bundeskanzlers während des G 7-Treffens.10 Er frage sich, was nach bilateralen Inspektionen und der Raketenforderung an weiteren Forderungen komme. Deutschlands Haltung habe sich geändert. Die bilateralen Inspektionen seien eine innerkoreanische Angelegenheit. Ich erwiderte, es handle sich nicht um eine Erklärung des BK, sondern um die gemeinsame aller Teilnehmer, also z. B. auch Japans und der USA. Die Erklärung sei letztlich eine Aufforderung an beide Staaten, auf dem Weg der Entspannung voranzugehen. NK habe es in der Hand, die Weltöffentlichkeit davon zu überzeugen, dass die Befürchtungen nicht zutreffen. Auf meine Frage, wie es sich denn mit Raketenlieferungen verhalte, antwortete Kim unklar, indem er auf die Klassifizierung nach der 600 km-Reichweite hinwies. Auf den bevorstehenden BK-Besuch in Südkorea11 anspielend, meinte Kim, er fände es nicht gut, wenn der BK dort einseitig Partei ergreifen würde. Ob ich etwas über eine geplante Erklärung des BK, etwa im Sinne der G 7-Erklärung, wüsste? Ich erwiderte, ich sei über die Einzelheiten der Besuchsplanung nicht informiert, könnte mir aber vorstellen, dass der BK bei passender Gelegenheit etwas zur Lage auf der koreanischen Halbinsel sagen wird. 8 Shin Tae-in. 9 BR Schaller, Pjöngjang (Schutzmachtvertretung für deutsche Interessen), berichtete am 5. November 1992, der stellvertretende Abteilungsleiter im nordkoreanischen Außenministerium, Kim Ha-won, sei als kommissarischer Leiter der Interessenvertretung ernannt worden. Die Ernennung eines neuen Leiters werde sich „noch hinziehen“. Vgl. DB Nr. 191; B 37, ZA-Bd. 162031. 10 In der „Erklärung des Vorsitzes“ des Weltwirtschaftsgipfels vom 6. bis 8. Juli 1992 in München hieß es: „Wir sind besorgt über das vermutete Kernwaffenprogramm Nordkoreas. Das IAEO-Sicherungsabkommen muss uneingeschränkt durchgeführt und ein wirksames bilaterales Inspektionsregime in die Praxis umgesetzt werden.“ Vgl. BULLETIN 1992, S. 733. Zum Gipfel vgl. Dok. 225. 11 Für den Oktober 1992 war eine Reise von BK Kohl nach Indien (8./9. Oktober), Singapur (9. bis 11. Oktober), Indonesien (11. bis 13. Oktober), Südkorea (13./14. Oktober) sowie Japan (14.–17. Oktober) vorgesehen. Diese wurde jedoch mit Blick auf die Sondertagung des Europäischen Rats am 16. Oktober 1992 in Birmingham kurzfristig verschoben. Der Besuch in Südkorea fand schließlich vom 1. bis 3. März 1993 statt. Vgl. AAPD 1993.

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Kim: Seine Regierung unterstütze die deutsche Bewerbung für die Verlagerung von UN-Organisationen nach Bonn (Nord-Süd-Zentrum12). Koreas Unterstützung sei zwar nicht entscheidend, aber man halte eine Verlagerung für wichtig. Deutschland sei die Führungsmacht Europas, und NK wünsche sich eine stärkere Rolle Deutschlands. Die Konzentration der VN in den USA widerspiegele nicht mehr die aktuelle Weltlage. (Anm.: Ich sehe diese Aussage als offizielle Unterstützungszusage.) Weiterer Verlauf des Gesprächs zeigte, dass NK-AM uns immer stärker weltpolitisch in die Rolle eines Gegengewichts, wenn nicht sogar Gegenspielers der USA hineinwachsen sieht, als Einzelstaat wie auch über unsere Rolle innerhalb der EG. In diesem Sinne interpretiert NK z. B. auch die Rolle der deutsch-französischen Brigade. Dies ist ein Punkt, der uns für NK, unabhängig von der Enttäuschung über die bisher noch nicht hergestellten diplomatischen Beziehungen, weiterhin attraktiv macht. Ich folgte bei meinen Entgegnungen der Linie, dass ich die herausragende Bedeutung unserer Partnerschaft mit den USA betonte. Nordkorea sei schlecht beraten, wenn es glaube, vermutete oder eventuell vorhandene Differenzen Deutschlands mit den USA ausnutzen zu können. Ich sprach dann, bezugnehmend auf den Besuch von Vizepremier Kim Dal-hyon in Südkorea13, die Möglichkeit der Entsendung einer Delegation der deutsch-südkoreanischen Handelskammer nach Pjöngjang an, was NK Anfang d. J. abgelehnt hatte. Hierzu folgt gesonderter Drahtbericht.14 2) Verhältnis zu Westeuropa/EG Kim: Er denke oft darüber nach, wie NK das Verhältnis zu Westeuropa/EG verbessern könne. Welchen Rat ich dazu geben könne? Ich erwiderte, unmittelbar ginge es um die bekannten Forderungen, wie sie z. B. auch in der EPZ-Erklärung genannt seien.15 Es gebe aber ein tieferes Problem. Man habe nicht den Eindruck, dass NK wirklich an echter Zusammenarbeit interessiert sei. Das fange schon bei der Informationspolitik an. Niemand wisse verlässlich, was im Lande vorgehe. Die Informationen, die wir von unseren Gesprächspartnern in Pjöngjang erhielten, seien nichts weiter als Paraphrasierungen der ohnehin dürftigen Meldungen des Nachrichtenbulletins oder der Parteizeitung. Warum könne AM nicht nach bestimmten Ereignissen (Beispiel: Besuch des Vize-Premiers Kim Dal-hyon in SK) ein Briefing geben, das diesen Namen wirklich verdient? In Tokio und Seoul sei dies, etwa im Verhältnis der dortigen AM zu den EG-Botschaften, der Standard. Wenn NK dies tue, sei das eine nicht zu unterschätzende „vertrauensbildende Maßnahme“. Eine vernünftige Informationspolitik müsse auch im Interesse der DVRK liegen, schon um 12 Zur Frage der Einrichtung eines Nord-Süd-Zentrums vgl. Dok. 129, Anm. 12. 13 Der stellvertretende nordkoreanische MP Kim Dal-hyon hielt sich vom 19. bis 25. Juli 1992 in Südkorea auf. 14 BR Schaller, Pjöngjang (Schutzmachtvertretung für deutsche Interessen), berichtete am 17. August 1992 über sein Gespräch mit dem Abteilungsleiter im nordkoreanischen Außenministerium, Kim Hung-rim, am 8. August 1992: „Gesprächspartner wandte sich Thema nur zögerlich zu.“ Kim habe dann bemerkt, dass ein solcher Besuch unter gewissen Voraussetzungen möglich sein könnte. Dafür sollte die Delegation „nicht als Delegation der IHK Seoul, sondern allgemein als ,deutsche‘ Wirtschaftsdelegation bezeichnet werden“ und unter der Leitung eines Deutschen stehen. Vgl. DB Nr. 108; B 37, ZA-Bd. 162034. 15 Für die Erklärung der EG-Mitgliedstaaten vom 29. Juni 1992 vgl. BULLETIN DER EG 6/1992, S. 116.

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zu vermeiden, dass wir uns einseitig auf der Grundlage von Informationen anderer Seite ein Urteil bildeten. Hinzu komme, dass das politisch-gesellschaftliche System der DVRK in ganz Westeuropa nicht besonders populär sei. Wir könnten und wollten NK nicht zwingen, sein Gesellschaftssystem aufzugeben. Westeuropa könne aber nach den Erfahrungen mit sozialistischen Regimen keine Sympathien mehr für eine derartige Wirtschafts- und Gesellschaftskonzeption aufbringen (speziell wir Deutschen nicht), und es sei auch kein Geheimnis, dass man im Falle Nordkoreas tiefgreifende Reformen für erforderlich halte. Für einen Normaleuropäer sei zudem die ideologisierte Weltsicht und Sprache, wie ich sie täglich in den hiesigen Medien fände und die ein wichtiges Indiz sei, kaum erträglich. Wir könnten mit diesen Phrasen nicht viel anfangen. Sie würden den Dialog nicht fördern. Kim bedankte sich für den Rat. Insbesondere über den Informationsaspekt wolle er nachdenken. Kim, der im Mai verschiedene westeuropäische Länder (GB, Benelux, I) besucht hatte, beklagte sich über die englische Haltung gegenüber NK. Bei seinen Gesprächen im Foreign Office habe England neben [der] Nuklear- und Raketenfrage auch Terrorismus und Menschenrechte ins Gespräch gebracht. Eigentlich hätte er, Kim, das Gespräch abbrechen können, denn was wolle man dann noch erwarten? Allerdings müsse man berücksichtigen, dass es die erste offizielle Begegnung gewesen sei. Das Verhältnis mit England sei schwierig. England sei auch Initiator der EPZ-Erklärung zu Nordkorea.16 Auf unsere Haltung zur Aufnahme diplomatischer Beziehungen innerhalb der EG anspielend, meinte Kim, Deutschland wolle wie im Geleitzug dem langsamsten Schiff (Anm.: offensichtlich England) folgen (Anm.: ein alter NK-Vorwurf). 3) Nord-Süd-Verhältnis Anm.: Hier ging es mir um den Besuch von Vizepremier Kim Dal-hyon in Südkorea. Kim übernahm das Briefing, das ich beim eigentlich zuständigen Außenwirtschaftsministerium beantragt hatte. Gesprächspartner stellte vier Aspekte heraus: – Besuch sei auf südkoreanische Einladung erfolgt. – Innerkoreanische Wirtschaftsbeziehungen seien keine Hilfe des Südens an den Norden. Sie erfolgten zum beiderseitigen Vorteil und unter Ausnutzung komplementärer Ressourcen. – Südkorea ziehe nicht wirklich mit. Auf SK-Seite gebe es eine Diskrepanz zwischen Worten und Taten. Dies zeige sich darin, dass SK die Nuklearfrage als Vorbedingung aufstelle, was nichts mit dem Handel zu tun habe. – NK sei, das müsse betont werden, an wirtschaftlicher Kooperation interessiert. Man könne aber auch ohne Südkorea überleben. 4) IAEO-Inspektionen Die zweite Inspektion sei erfolgreich verlaufen.17 Sie habe gezeigt, dass DVRK Nuklearenergie nur zu friedlichen Zwecken nutze. Die IAEO sei zufrieden. NK werde alles zeigen, 16 Dieser Satz wurde von MDg Zeller hervorgehoben. Dazu vermerkte er handschriftlich: „r[ichtig]“. 17 BR Schaller, Pjöngjang (Schutzmachtvertretung für deutsche Interessen), berichtete am 27. Juli 1992 über ein Gespräch mit dem Abteilungsleiter im nordkoreanischen Außenministerium, Kim Hung-rim, am

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was IAEO sehen wolle. Zu D: Es sei auffällig, dass D vorher nur die IAEO-Inspektion gefordert habe. Jetzt verlange man auch bilaterale Inspektionen. Welche Forderung komme danach? Ich meinte, Forderung nach bilateralen Inspektionen sei logisch, da sich NK dazu verpflichtet habe. Wir hätten den Eindruck, dass diese Sache nicht vorankomme. Kim verwies auf die Arbeit der bilateralen Nuklearkommission. Das Problem, das man mit SK in diesem Zusammenhang habe, bestehe darin, dass SK sich für die US-Atomwaffen für unzuständig erkläre. Dies stimme ja auch, da die Gegenseite nicht über diese Waffen verfügen könne. Deshalb habe NK vorgeschlagen, dass beide korean. Staaten mit den USA gemeinsam über dieses Problem sprechen. 5) Verhältnis zu den USA Kim: Er könne nicht alles sagen, aber im Verhältnis zu den USA sei mehr im Gange, als man meine (Anm.: Anspielung auf Carter-Besuch?18). Es gebe viele Kontakte und Besucher. Ich erwiderte, meines Wissens habe bisher kein amerikanischer Besucher in NK im Auftrage der US-Regierung gesprochen (was Kim bestätigte). 6) Verhältnis zu Japan Kim: Verhandlungsprozess mit Japan sei schwierig und langwierig. Man erwarte keine schnelle Lösung. Kernprobleme seien Frage der Entschuldigung für koloniale Vergangenheit und Entschädigung. Schaller B 37, ZA-Bd. 162031

Fortsetzung Fußnote von Seite 1013 23. Juli 1992. Kim habe dargelegt, der zweiten IAEO-Inspektion würden drei weitere folgen: „Ich äußerte die Hoffnung, von NK-Seite etwas über die Ergebnisse der Inspektion zu hören. Das Team sei bereits vor drei Tagen abgereist, und außer Ankunfts- und Abflugdatum sei nichts von NK gesagt worden. Kim erwiderte, wir würden bald etwas hören.“ Vgl. DB Nr. 90; B 37, ZA-Bd. 162031. 18 BR Schaller, Pjöngjang (Schutzmachtvertretung für deutsche Interessen), berichtete am 29. Juli 1992, er habe am 24. Juli 1992 mit Vertretern des Carter Center of Emory University, Atlanta, gesprochen. Sie hätten mitgeteilt, der ehemalige amerikanische Präsident Carter sei von der nordkoreanischen Regierung zu einem Besuch eingeladen worden. Ob und wann die Reise stattfinde, sei noch nicht entschieden. Vgl. DB Nr. 94; B 37, ZA-Bd. 162033. Carter besuchte Nordkorea vom 15. bis 18. Juni 1994.

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253 Gespräch des Bundesministers Kinkel mit dem italienischen Außenminister Colombo in Stuttgart 206-321.11 ITA

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Über Herrn Dg 202 an Ref. 010 m. d. B., die Billigung des Herrn Bundesministers herbeizuführen Treffen von BM Kinkel mit dem italienischen Außenminister Colombo am 18.8.923; hier: Ergebnis Schwerpunktthemen des Gesprächs beim ersten Treffen von BM Kinkel mit AM Colombo waren die Jugoslawien-Krise, der Vertrag über die Europäische Union und Fragen der Erweiterung der EG. Die Minister waren sich einig, dass die bevorstehende Londoner Konferenz über Jugoslawien4 Erfolg haben muss. Hauptziel müsse eine gemeinsame bindende Verpflichtung zum Frieden aller Nachfolgestaaten Jugoslawiens sein. Die Bereitschaft zu militärischem Einschreiten zur Lösung des bewaffneten Konflikts habe in letzter Zeit ständig abgenommen. Umso verpflichtender sei jetzt verstärktes Engagement zu friedlichen Lösungen. Die Minister waren sich einig, dass auf der Londoner Konferenz der Ausschluss von Rest-Jugoslawien aus den internationalen Organisationen und Gremien beschlossen werden sollte. 1) Jugoslawien BM Kinkel nannte außer der Verpflichtung zum Frieden und dem Ausschluss RestJugoslawiens aus internationalen Organisationen fünf weitere Themen für die Londoner Konferenz: – Einhaltung und Überwachung des Embargos5, – humanitäre Hilfe unter Beachtung der relevanten VN-Beschlüsse, – Kontrolle schwerer Waffen, – das Flüchtlingsproblem, – Zugang zu den Internierungslagern6. BM Kinkel fügte erläuternd hinzu, der Vorwurf, die Bemühungen um eine Lösung der Jugoslawien-Krise hätten bisher nichts erbracht, sei in dieser Form nicht berechtigt. Trotz 1 Der Gesprächsvermerk wurde von VLR I Huber am 19. August 1992 gefertigt, der handschriftlich vermerkte: „Von BM noch nicht gebilligt.“ 2 Hat in Vertretung des MDg Hofstetter MDg von Studnitz am 19. August 1992 vorgelegen. 3 BM Kinkel und der italienische AM Colombo kamen am 18. August 1992 in Stuttgart auch zu einem Vier-Augen-Gespräch zusammen. Themen waren die Verlängerung der Amtszeit von NATO-GS Wörner, der Sitz der Europäischen Zentralbank, das Delors-Paket II sowie die Rolle Italiens als Partner der Bundesrepublik. Vgl. den Vermerk des VLR Wittig vom 20. August 1992; B 1, ZA-Bd. 178945. 4 Zur internationalen Jugoslawien-Konferenz am 26./27. August 1992 vgl. Dok. 269. 5 Vgl. die Resolution Nr. 713 des VN-Sicherheitsrats vom 25. September 1991; RESOLUTIONS AND DECISIONS 1991, S. 42 f. Für den deutschen Wortlaut vgl. EUROPA-ARCHIV 1991, D 550–552. Vgl. auch die Resolution Nr. 757 des VN-Sicherheitsrats vom 30. Mai 1992; Dok. 159, Anm. 12. 6 Vgl. die KSZE-Berichterstattermission; Dok. 274, Anm. 15.

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intensiver Bemühungen aller sei leider ein durchschlagender Erfolg ausgeblieben. Deshalb müsse die Londoner Konferenz ein Erfolg werden. Die Embargofrage, d. h. die Überwachung des Embargos, sei ein schwieriges, aber drängendes Thema. Deutschland sei bereit, in den Grenzen seiner verfassungsrechtlichen Möglichkeiten (keine Bundeswehr) hier logistische Hilfe zu leisten. Dasselbe gelte für die Sicherung der Abwicklung humanitärer Hilfe. Das Thema „Kontrolle schwerer Waffen“ sei ein wichtiger Punkt (KSZE – WEU – NATO), mit dem sich die Konferenz in London beschäftigen müsse, ebenso die Flüchtlingsfrage. Die Bundesregierung sei sehr enttäuscht über die Haltung mancher anderer Staaten, werde aber das Thema auch in London weiterverfolgen und darauf drängen, dass über Kontingente die Hauptlast gerecht verteilt werden müsse. Zusätzlich zu den für die Konferenz von London genannten Themen werde die Bundesregierung im Zusammenhang mit den Ereignissen in Jugoslawien die Themen „Völkermord“ und „Internationaler Strafgerichtshof“7 aufgreifen, die in allen ihren Konsequenzen behandelt werden müssten. In der Frage „Internierungslager“ habe die Sitzung der MRK in Genf8 schon gewisse Fortschritte gebracht (Beauftragter, Register). BM Kinkel stimmte mit AM Colombo auch darin überein, dass es keine Anerkennung gewaltsam veränderter Grenzen durch die Völkergemeinschaft geben darf – keine Kantonalisierung. Auf der Londoner Konferenz müsse auch starker Druck auf Russland ausgeübt werden, seine schützende Hand von Serbien zurückzuziehen. Zwar sei keine der Konfliktparteien ganz schuldlos, aber Serbien sei wohl doch der Hauptschuldige, dass bisher keine friedliche Lösung erreicht werden konnte, und das nicht zuletzt deshalb, weil es sich von Russland gedeckt fühle (russische Haltung bei der KSZE!). In Russland gebe es gegensätzliche Auffassungen zu dieser Haltung, und man müsse die richtige Partei unterstützen, ggf. auch das Mittel westlicher Hilfe an Russland in geeigneter Weise einsetzen. Die russische Regierung müsste in dieser Frage bei der Londoner Konferenz gezwungen werden, Farbe zu bekennen. AM Colombo war sich mit BM Kinkel in der Beurteilung der Lage in Jugoslawien und im Hinblick auf die Londoner Konferenz weitgehend einig. Die unglaublichen Ereignisse in Jugoslawien zwängen jetzt zum entschlossenen Handeln. Zusätzlich zum Schwerpunktthema „Friedensplan“ sähe er zwei Themen als vordringlich an, nämlich – die Sicherung der Abwicklung humanitärer Hilfe und – die Kontrolle schwerer Waffen. Er sähe vor allem beim zweiten Thema schwerwiegende Probleme, halte aber eine Umsetzung unter dem Schirm der VN-Beschlüsse durchaus für möglich. Die italienische Regierung sei als WEU-Präsidentschaft bereit, alle erforderlichen Beschlüsse zu fassen und ge7 Zur Frage der Einrichtung eines Internationalen Strafgerichtshofs vgl. Dok. 247. 8 VLR I Gerz notierte am 18. August 1992: „Am 13. u. 14.8.1992 haben sich in Genf die 53 Mitgliedstaaten der MRK in einer Sondersitzung mit der Menschenrechtssituation im ehemaligen Jugoslawien befasst. Die MRK-Sondersitzung war die erste ihrer Art in der 46-jährigen Geschichte der MRK. […] Im Ergebnis wurde eine Resolution im Konsens verabschiedet, die u. a.: alle MR-Verletzungen im ehemaligen Jugoslawien und insbesondere in Bosnien-Herzegowina nachdrücklich verurteilt und ihre sofortige Einstellung fordert; mit besonderem Nachdruck die Beendigung der sog. ethnischen Säuberung fordert; die Ernennung eines Sonderberichterstatters (SBE) verlangt, der u. a. vor Ort im ehemaligen Jugoslawien recherchieren und anschließend berichten soll […]; vor allem dem SBE das Mandat zur Sammlung von Informationen über MR-Verletzungen einschl[ießlich] Kriegsverbrechen erteilt (,Register‘), die später bei einer Strafverfolgung die Beweisführung erleichtern sollen.“ Vgl. B 30, ZA-Bd. 175406.

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meinsame Aktionen mitzutragen, und erwarte von den Partnern – unter Berücksichtigung ihrer nationalen Rechtslage – das Gleiche. Er rege WEU-Ministerrat möglichst noch vor London an. BM Kinkel akzeptierte Notwendigkeit enger WEU-Koordinierung, wies aber auf Terminschwierigkeiten hin und schlug vor, wenn erforderlich, WEU-Tagung am Rande der Londoner Konferenz nach Bedarf einzuberufen.9 Colombo meinte, es sei wichtig, sich zu den von BM Kinkel genannten Themen im WEU- und NATO-Kreis rechtzeitig abzustimmen, sowohl was die Beurteilung der Sachlage als auch die Umsetzung operativer Vorschläge angehe. Von einem militärischen Eingreifen halte er aus vielerlei Gründen nichts. 2) Europa Die Minister waren sich einig, dass das Ziel die Ratifizierung der Verträge von Maastricht und darauf aufbauend die konsequente Weiterentwicklung der Europäischen Union sein muss. Sie äußerten die Hoffnung, dass in Dänemark doch noch rechtzeitig eine Zustimmung zu erreichen sein werde.10 AM Colombo sieht in Italien keine Schwierigkeiten für die Ratifizierung durch das Parlament. BM Kinkel sagte, die Ratifizierung in Deutschland sei trotz kritischer werdender Diskussion in der Bevölkerung nicht in Gefahr. Bei der Diskussion in der Frage um die Erweiterung der Gemeinschaft meinte AM Colombo, dies sei die Schlüsselfrage für die Zukunft der Gemeinschaft überhaupt. Die Konsequenzen der Aufnahme immer neuer Mitglieder, auch über den EFTA-Rahmen hinaus, seien politisch überhaupt noch nicht durchdacht. Fragen wie, ob dann ein politisches Europa – wenn auch nur auf der Basis von Maastricht – überhaupt noch machbar sei, wie entscheidungsfähige Strukturen geschaffen werden könnten u. a. m., müssten zufriedenstellend geklärt werden. Seine Skepsis, ob ein politisches Europa auf föderaler Grundlage über den Rahmen der ursprünglichen Sechs hinaus überhaupt realisierbar sein wird, war unüberhörbar. BM Kinkel antwortete, eine gesunde Skepsis sei in der Tat angebracht, aber andererseits sei der Drang der Bewerber nach Europa doch erfreulich und spreche für die Qualität der Gemeinschaft. Allerdings sei Vorsicht am Platze bei dem, was ab jetzt zu geschehen habe. Was die EFTA angehe, dürfe man nicht den Eindruck erwecken, dass retardierende Elemente der Unsicherheit über die eigene Existenz der Gemeinschaft entsprängen. Das Momentum der europäischen Einigungsbewegung müsse erhalten bleiben. 3) Die Gespräche fanden in freundschaftlicher und sehr offener Atmosphäre statt. Beide Minister waren sich einig, dass die Intensität der bilateralen Konsultationen zu allen wichtigen bilateralen und multilateralen Fragen im Interesse beider Staaten beibehalten werden sollte. B 26, ZA-Bd. 173589

9 Zur außerordentlichen WEU-Ministerratstagung am 28. August 1992 in London vgl. Dok. 267, Anm. 10. 10 Vgl. das Referendum am 2. Juni 1992 in Dänemark; Dok. 166, Anm. 2.

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19. August 1992: Vorlage von Bertram

254 Vorlage des Vortragenden Legationsrats I. Klasse Bertram für Bundesminister Kinkel 201-360.90/SO JUG

19. August 1992

Über Dg 201, D 22, Herrn Staatssekretär3 Herrn Bundesminister4 Betr.:

Bündnisoptionen zum weiteren Vorgehen im Jugoslawien-Konflikt

Zweck der Vorlage: Zur Unterrichtung 1) Seit 16. Juli 1992 läuft – soweit es im NATO-Rahmen erfolgt – die maritime Überwachung des VN-Embargos gegen Serbien und Montenegro (VN-Res. 7135 und 7576) durch die STANAVFORMED. An der Überwachung beteiligt sich D durch Beschluss der Bundesregierung vom 15.7.92 mit einer Schiffseinheit.7 Vor dem Hintergrund der sich verschärfenden Situation im ehemaligen JUG sowie der laufenden Diskussionen im Rahmen der VN und des Briefs des VN-Generalsekretärs an den Vorsitzenden des Ministerrats der KSZE vom 31. Juli 1992, mit dem er die KSZE als regionale Abmachung der VN um Prüfung bittet, ob und in welchem Umfang die KSZE unter Einschluss anderer europäischer Organisationen mehr Verantwortung bei der Durchführung friedenserhaltender Maßnahmen im Konflikt im ehemaligen Jugoslawien übernehmen kann, wobei er im konkreten Fall die Überwachung schwerer Waffen ansprach8, hat der NATO-Rat am 10. August 1992 den Militärausschuss (MC) mit der Prüfung folgender Handlungsoptionen beauftragt: – Durchsetzung des VN-Embargos gegen Serbien und Montenegro gemäß VN-SR-Res. 713 und 757; – Beitrag zur Überwachung der schweren Waffensysteme in Bosnien-Herzegowina gemäß dem Ersuchen des VN-GS an die KSZE und europäische Organisationen; – Unterstützungsmaßnahmen für humanitäre Hilfeleistungen, insb. Landkorridor für humanitäre Hilfe. 1 Hat in Vertretung des MDg Hofstetter MDg von Studnitz am 19. August 1992 vorgelegen. 2 Hat in Vertretung des MD Chrobog MDg Schilling am 19. August 1992 vorgelegen. 3 Hat StS Lautenschlager am 20. August 1992 vorgelegen, der handschriftlich vermerkte: „M. E. eine fundierte und nachdenkliche Aufzeichnung!“ 4 Hat BM Kinkel am 21. August 1992 vorgelegen. Das Ministerbüro veranlasste den Rücklauf über das Büro Staatssekretäre, MD Chrobog und MDg Hofstetter an Referat 201. Hat StS Lautenschlager am 21. August 1992 erneut vorgelegen. Hat Chrobog vorgelegen. Hat VLR Schumacher vorgelegen. 5 Für die Resolution Nr. 713 des VN-Sicherheitsrats vom 25. September 1991 vgl. RESOLUTIONS AND DECISIONS 1991, S. 42 f. Für den deutschen Wortlaut vgl. EUROPA-ARCHIV 1991, D 550–552. 6 Zur Resolution Nr. 757 des VN-Sicherheitsrats vom 30. Mai 1992 vgl. Dok. 159, Anm. 12. 7 Zum Beschluss der Bundesregierung vgl. Dok. 231, besonders Anm. 5. 8 Für das Schreiben des VN-GS Boutros-Ghali an den tschechoslowakischen AM Moravčík in dessen Eigenschaft als KSZE-Ratsvorsitzender vgl. B 28, ZA-Bd. 158672.

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19. August 1992: Vorlage von Bertram

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Das MC hat den Prüfungsauftrag an SACEUR weitergeleitet und das Prüfungsergebnis nach Diskussion im MC (13.8.92) am 14.8.92 dem NATO-Rat als „Chairman’s Note“ zur Beratung vorgestellt. Der NATO-Rat traf in seiner Sitzung am 14.8. keine Beschlüsse oder Vorentscheidungen, sondern verwies den Bericht des Vorsitzenden des Militärausschusses an das MC mit folgendem Auftrag zurück: – weitere Prüfung der drei o. a. Optionen; Schwerpunkt: militärischer Schutz humanitärer Hilfeleistungen; – Erweiterung der Prüfung auf das gesamte Spektrum der VN-SR-Res. 7709; – insb. Ermittlung von Handlungsmöglichkeiten im „niedrigen Spektrum“ (bisher enthält der Bericht nur Einsatzformen mit sehr großem Kräfteeinsatz); – Auflagen: a) Vorlage des Berichts am 24.8.92 zeitgleich mit Prüfungsergebnis der WEU-Planungsgruppe, b) Vorlage des Berichts als MC-Dokument. Die weitere Befassung des Rates ist noch nicht terminiert.10 Das am 24.8. vorliegende MC-Dokument wird voraussichtlich zunächst in den Politischen Ausschüssen (SPC, PC) beraten werden. 2) Die bisherigen Beratungen zeigen deutlich, dass ein militärischer Einsatz im ehemaligen Jugoslawien, auch zur Unterstützung humanitärer Hilfeleistung, im Bündnis weiter skeptisch bewertet wird. Konsens besteht darüber, dass der politische Gesamtzusammenhang gewahrt werden muss: Politische Verantwortung und Handlungsinitiative sollten unverändert bei den VN (ggf. bei KSZE) liegen. Die europäische Sicherheitsarchitektur steht vor ihrer ersten Bewährungsprobe. Die Organisationen mit sicherheitspolitischer Relevanz bemühen sich um einen wirksamen Zugang zur Hilfeleistung und Problemlösung. Der Brief des GS der VN zeigt deutlich, dass die VN von der KSZE als einer regionalen Abmachung im Sinne des Kapitels VIII der VN-Charta11 eine erhebliche Entlastung der VN, insb. bei der Regelung der Konflikte im ehemaligen Jugoslawien, erhoffen. Die KSZE in ihrer neuen Verantwortung „nach Helsinki12“ soll in die Pflicht genommen werden. Es wurde vonseiten der VN ein hoher Erwartungsdruck erzeugt, eine positive Antwort der KSZE auf die gestellten Fragen zu erhalten. Deutlich wurde das u. a. durch den Hinweis, dass Europa die Region der Erde mit dem dichtesten Netz kooperativer Sicherheitsstrukturen und funktionsfähiger Organisationen mit sicherheitspolitischer Relevanz sei. 9 Mit Resolution Nr. 770 vom 13. August 1992 forderte der VN-Sicherheitsrat sämtliche Staaten auf, auf nationaler Ebene oder über regionale Organisationen oder Abmachungen alle erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, um die Auslieferung humanitärer Hilfsgüter in Sarajevo und allen anderen Teilen BosnienHerzegowinas zu erleichtern. Zudem verlangte er, dass dem IKRK und anderen humanitären Organisationen sofort ungehinderter und dauernder Zugang zu allen Lagern, Gefängnissen und Internierungszentren gewährt werde. Vgl. RESOLUTIONS AND DECISIONS 1992, S. 24 f. Für den deutschen Wortlaut vgl. EUROPA-ARCHIV 1992, D 581 f. 10 Dieser Satz wurde von StS Lautenschlager hervorgehoben. Dazu vermerkte er handschriftlich: „Hängt auch mit der Londoner Konferenz zusammen.“ 11 Für Kapitel VIII der VN-Charta vom 26. Juni 1945 vgl. BGBl. 1973, II, S. 466–469. 12 Vom 24. März bis 8. Juli 1992 fand in Helsinki die vierte KSZE-Folgekonferenz statt, an die sich am 9./10. Juli 1992 eine Gipfelkonferenz anschloss. Vgl. Dok. 226.

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19. August 1992: Vorlage von Bertram

Will die KSZE die ihr in Helsinki neu eingeräumte Stellung wahren, wäre sie im Handlungszwang, die „Minimalerwartung“ des GS der VN zu erfüllen: Koordination der Beiträge europäischer Länder zu den friedenserhaltenden Maßnahmen unter Leitung der VN. Mit der Einberufung einer Sondersitzung des AHB zu Jugoslawien am 13./14.8. hat die KSZE gezeigt, dass sie bei der Behandlung der Jugoslawien-Krise auch weiterhin einen relevanten Beitrag leisten möchte. Sie hat gegenüber dem VN-GS ihre Bereitschaft gezeigt, dass sie bei der Krisenbewältigung einen Beitrag leisten will und bereit ist, bei der Kontrolle schwerer Waffen die von der UNO erhoffte Rolle zu spielen.13 Eingesetzt wurde eine besondere Ad-hoc-Gruppe, die die notwendigen Konsultationen mit den relevanten Organisationen, insb. mit WEU und NATO, führen soll. Zu erwarten ist, dass die KSZE sich demnächst an ihre Mitgliedstaaten sowie insb. an die NATO und die WEU wenden wird, um deren Unterstützungs- und Leistungsbereitschaft zu ermitteln. 3) Für das Bündnis (und die WEU) wird sich nach entsprechendem Ersuchen die Frage stellen, ob es sich als Organisation auf dem Territorium des ehemaligen Jugoslawien bei friedenserhaltenden Maßnahmen engagieren will oder es bei der bisherigen Embargo-Überwachung außerhalb des Territoriums belässt, obwohl es über weitergehende Möglichkeiten verfügt.14 Bei Zusage zu Übernahme und Durchführung friedenserhaltender Maßnahmen wäre die NATO im besonderen Maße gefordert, weil ihre Strukturen weiter entwickelt sind als die der WEU. Bei einer unkonditionierten Zusage der Allianz bestünde die Gefahr der tiefen Verstrickung des Bündnisses in eine kriegerische Auseinandersetzung, die sowohl die Kennzeichen eines Bürgerkrieges unterschiedlicher Volksgruppen als auch eines einseitigen Eroberungsfeldzuges seitens Serbiens trägt. Die Allianz würde dann aufgrund ihrer militärischen Kompetenz unter besonderem Erfolgszwang stehen. Es ist jedoch völlig offen, ob die Durchführung friedenserhaltender Maßnahmen durch die NATO wirkungsvoller sein könnte als die VN. Es besteht die Gefahr der weiteren Eskalation zu einer „Erzwingung des Erfolges“. Das trifft v. a. dann zu, wenn weiter wie bisher keine weitreichende politische Zielsetzung für die bisher ergriffenen und künftigen Maßnahmen definiert wird, sondern politische Gremien mit Entscheidungen zur Durchführung von Einzelmaßnahmen befasst sind. Eine Konfliktbeendigung ist dadurch nicht zu erwarten. Darüber hinaus würde sich die Allianz bzw. jede im Kriegsgebiet auftretende Organisation rasch den Anforderungen einer Ordnungsmacht auch in der politischen Dimension 13 Botschafter z. b. V. Klaiber, z. Z. Prag, berichtete am 15. August 1992 über die AHB-Sitzung: „Kurz vor dem Abschluss der Textarbeiten, in deren Verlauf sie weitgehend geschwiegen hatte, sorgte die russische Delegation für einen Eklat. Unter Berufung auf eine Weisung von höchster Stelle in Moskau stellte sie das politische Dokument und den Beschluss über die Menschenrechtslage als unausgewogen unter pauschalen Vorbehalt. […] Unter dem Eindruck der totalen Isolierung begnügte sich die russ[ische] Delegation schließlich mit verhältnismäßig geringfügigen kosmetischen Textänderungen, durch die die Kritik am serbischen Verhalten etwas abgeschwächt, aber in der Substanz nicht angetastet wurde.“ Die Frage, „ob die KSZE künftig bei friedenserhaltenden Aktivitäten einen eigenen Beitrag leisten kann, muss offenbleiben. Hierfür müssten die operativen Möglichkeiten auch tatsächlich weiter verbessert werden“. Vgl. DB 1148; B 28, ZA-Bd. 158672. 14 Zu diesem Absatz vermerkte StS Lautenschlager handschriftlich: „Mittelfristig kann sich hier (rechtlich gesehen) die Frage des ,out of treaty‘ stellen.“

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20. August 1992: Gespräch zwischen Kinkel und Dumas

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gegenübersehen. Ob die NATO in ihrer jetzigen Struktur dafür geeignet ist, erscheint zweifelhaft. Wir sollten weiterhin bestrebt sein, gemeinsam mit unseren Partnern nur solche NATOMaßnahmen vorzusehen, die für alle Beteiligten den Zwang zu politischen Lösungen erhöhen und gleichzeitig eine Tendenz zu immer stärkerem militärischen Engagement vermeiden. Es dürfte schwierig sein, schon unter den gegenwärtigen Umständen den kritischen Punkt zu definieren, ab dem militärisches Engagement politische Lösungen behindert bzw. unmöglich macht. Alle Staaten in Europa und insbesondere die NATO als Sicherheitsorganisation haben ein gemeinsames Interesse, dass dieser Punkt nicht erreicht wird. Referate 202 und 212 haben mitgezeichnet. Bertram B 14, ZA-Bd. 161181

255 Gespräch des Bundesministers Kinkel mit dem französischen Außenminister Dumas in Hechingen 20. August 19921 Gespräch BM/AM Dumas am 20. August 1992, 12.00 – 13.30 in Hechingen2 Teilnehmer: BM; AM Dumas; Gesandter Chassard, frz. Botschaft; H. Tribolet, Pressereferent, frz. Botschaft; RL 0133; RL 0104; Frau Siebourg, Dolmetscherin. Im Rahmen eines breiteren Meinungsaustausches über Jugoslawien fragte BM Dumas, was er mit seinen Äußerungen vor der Presse gemeint habe, man müsse in London5 vorrangig über Grenzänderungen sprechen. Dumas präzisierte, es müsse noch einmal festgehalten werden, dass Grenzänderungen durch Gewalt nicht anerkannt werden könnten. Möglich seien Grenzänderungen, jedoch als Ergebnis von Verhandlungen. BM bekräftigte, dass gewaltsamer Gebietserwerb von der Völkergemeinschaft niemals akzeptiert werden dürfe. Insgesamt, so BM, könne man von London keine Wunder erwarten. Die Londoner Konferenz solle vor allem eine Bündelung aller Anstrengungen ergeben, die in den verschiedensten Foren bisher unternommen worden seien, um das Problem einer Lösung zuzuführen. In London könnten alle Beteiligten auch gemeinsam nachdenken, was noch zusätzlich geschehen könne. 1 Der Gesprächsvermerk wurde von VLR I Matussek am 21. August 1992 gefertigt. Hat BM Kinkel am 21. August 1992 vorgelegen. Hat Matussek am 24. August 1992 erneut vorgelegen. 2 Der französische AM Dumas hielt sich am 19./20. August 1992 in der Bundesrepublik auf. 3 Hanns Heinrich Schumacher. 4 Thomas Matussek. 5 Zur internationalen Jugoslawien-Konferenz am 26./27. August 1992 vgl. Dok. 269.

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20. August 1992: Gespräch zwischen Kinkel und Dumas

Dumas teilte diese Einschätzung. Er habe vor der Presse gesagt, er verbinde Hoffnungen mit der Londoner Konferenz, es sei jedoch illusorisch, Ergebnisse schon in den nächsten Tagen zu erwarten. An zusätzlichen Maßnahmen seien noch möglich eine striktere Durchsetzung des Embargos6 zu Lande und auf der Donau. Insbesondere könne man eine Art Inventar aufstellen, was die Europäer noch zusätzlich unternehmen könnten, um das Embargo wirksam durchzusetzen. Beide Minister unterstützten die italienische Initiative zu einem WEU-AM-Treffen in London.7 Nach den Worten von BM müsse London die Handlungsfähigkeit der Europäer unter Beweis stellen. Dies sei vor allem vor dem Hintergrund der öffentlichen Diskussion in den EG-Mitgliedstaaten über Maastricht8 wichtig. Dumas wünschte sich für London eine feierliche Erklärung zur Frage der Lager. Hier müsse man den serbischen Vorschlag aufgreifen, die Lager zu schließen, und die Gemeinschaft müsse bereit sein, die Flüchtlinge aufzunehmen. BM unterstützt dies nachdrücklich. Auch D sei bereit, zusätzliche Flüchtlinge aufzunehmen. Dies sei auch deswegen wichtig, da wir Deutschen aus verfassungsrechtlichen Gründen uns militärisch an keiner Aktion beteiligen könnten. Auf Hinweis von Dumas, dass das Grundgesetz uns doch die Möglichkeit lasse, im Rahmen der UNO zu handeln, erläutert BM, dass bei militärischen Aktionen, selbst bei Blauhelm-Einsätzen, ein Handeln der Bundeswehr von der derzeitigen Verfassungslage nicht gedeckt ist. Beide Minister stimmten darin überein, dass es keine wirklichen Probleme im bilateralen Verhältnis gebe. Dumas wies darauf hin, dass nach dem turnusmäßigen Wechsel der deutsch-französischen Botschafterkonferenzen nunmehr F an der Reihe sei.9 Das Treffen in Blois habe wegen des Ministerwechsels nicht stattfinden können. Er erneuert die Einladung nach Blois (Partnerstadt Weimars, Bürgermeister Jack Lang). Ein Datum muss noch festgesetzt werden.10 Das nächste Dreier-Treffen der AM von D, F und POL solle in Polen stattfinden.11 BM berichtete von seinem jüngsten Polen-Besuch12, dass AM Skubiszewski hieran sehr interessiert sei. Er erteilte Weisung, die polnische Regierung auf diplomatischen Kanälen zu einer baldigen Einladung zu ermutigen. Auf Bitte von BM erläuterte RL 010 den Stand der Vorbereitungen zur Feier des Jubiläums des Élysée-Vertrages13. 6 Vgl. die Resolution Nr. 713 des VN-Sicherheitsrats vom 25. September 1991; RESOLUTIONS AND DECISIONS 1991, S. 42 f. Für den deutschen Wortlaut vgl. EUROPA-ARCHIV 1991, D 550–552. Vgl. auch die Resolution Nr. 757 des VN-Sicherheitsrats vom 30. Mai 1992; Dok. 159, Anm. 12. 7 Zur außerordentlichen WEU-Ministerratstagung am 28. August 1992 in London vgl. Dok. 267, Anm. 10. 8 Zum Vertragswerk von Maastricht vgl. Dok. 3, Anm. 8. 9 Die erste deutsch-französische Botschafterkonferenz fand am 16./17. Mai 1991 in Weimar statt. Vgl. AAPD 1991, I, Dok. 165–167. 10 Die nächste deutsch-französische Botschafterkonferenz wurde am 19./20. September 1994 in Paris abgehalten. 11 Die Gespräche der AM Juppé (Frankreich), Kinkel (Bundesrepublik) und Olechowski (Polen) fanden am 11./12. November 1993 in Warschau statt. 12 BM Kinkel besuchte Polen am 29./30. Juli 1992. Vgl. Dok. 242. 13 Für den deutsch-französischen Vertrag vom 22. Januar 1963 vgl. BGBl. 1963, II, S. 706–710. Vgl. auch AAPD 1963, I, Dok. 44.

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20. August 1992: Gespräch zwischen Kinkel und Dumas

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Dumas zeigte sich über die Anfang September in Paris stattfindenden Beamtengespräche nicht informiert. Er wird Kontakt mit dem Élysée aufnehmen. BM wies auf Treffen BK/Präsident Mitterrand in Borkum hin.14 BK habe ihm gesagt, dass man im Wesentlichen über europäische Fragen reden würde. Es folgte ein kurzer Meinungsaustausch über die Lage in Somalia.15 Dumas bezeichnete hier eine europäische Gemeinschaftsaktion zur Lösung des gesamten Problems als notwendig. Es sei eine schreckliche Perspektive, dass eineinhalb Millionen Menschen vom Hungertod bedroht seien. BM stimmt dem ausdrücklich zu. Beide Minister vereinbarten, gemeinsam eine Initiative der Europäer vorzuschlagen. Zurückkommend zur Londoner Konferenz, nannte BM als weiteres wichtiges Konferenzziel, Russland stärker an seine Verantwortung zu erinnern. Er habe den Eindruck, dass die russische Regierung nach wie vor ihre schützende Hand über Serbien halte. Dumas wies demgegenüber darauf hin, dass Russland die Resolution 77016 mittrage und dass es weniger eine Frage des guten Willens der russischen Regierung als vielmehr der chaotischen Zustände innerhalb der russischen Administration sei. In London müsse aber weiter auf Russland eingewirkt werden. BM wiederholte, was er schon Kosyrew bei den letzten Treffen gesagt habe, dass nämlich nach dem Wegfall des Ost-West-Gegensatzes Russland stärker in die Völkergemeinschaft eingebunden und hier auch seiner gewachsenen Verantwortung gerecht werden müsse. Nach Dumas werde sich Russland, wenn es vor die Wahl zwischen seiner Freundschaft zu den Serben und einer stärkeren Anbindung an den Westen gestellt würde, eindeutig zugunsten der letzteren Alternative entscheiden. Beide Minister stimmten in der Bewertung überein, dass Kosyrew das Problem verstehe, aber seine Stellung in Moskau nicht einfach sei. Vielleicht werde er nicht mehr lange AM sein. Auf Frage von BM nach der Stimmung in Frankreich vor dem Maastricht-Referendum17 sagte Dumas: Noch hätten die Maastricht-Befürworter die Mehrheit, aber die negativen Stimmen nähmen zu. Dies sei auf eine intensive Kampagne der Nein-Sager zurückzuführen. Die Befürworter hätten sich noch nicht alle aktiv geäußert (Ausnahmen z. B. Giscard und Barre). Chirac habe sich offiziell noch nicht festgelegt, werde jedoch wohl positiv votieren. Giscard dränge ja dazu. Anfang September werde das Lager der Befürworter wieder leicht anwachsen. Er erwartet eine knappe Mehrheit (50 – 55 % der Ja-Stimmen). BM sprach das Problem der Hausmüll-Exporte an.18 Die Außenminister hätten hier keine eigenen Instrumentarien. 14 BK Kohl und der französische Staatspräsident Mitterrand trafen am 26. August 1992 zusammen. In der Presse wurde berichtet: „Im Mittelpunkt der Gespräche standen dem Vernehmen nach der BalkanKonflikt und eine schärfere Kontrolle des Handelsembargos gegen Serbien. Ein weiteres Thema war das bevorstehende Referendum in Frankreich zu den Verträgen von Maastricht.“ Vgl. den Artikel „Kohl und Mitterrand treffen sich auf Borkum“; FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG vom 27. August 1992, S. 1. 15 Zur Lage in Somalia vgl. Dok. 248. 16 Zur Resolution Nr. 770 des VN-Sicherheitsrats vom 13. August 1992 vgl. Dok. 254, Anm. 9. 17 Zum Referendum am 20. September 1992 in Frankreich vgl. Dok. 293 und Dok. 300. 18 Referat 203 legte am 19. August 1992 dar: „In der vergangenen Woche wurden mehrere deutsche LKWs in Frankreich bei dem Versuch gestellt, fälschlich als Hausmüll deklarierten Sondermüll auf französische Hausmülldeponien zu verbringen. Die Affäre hat in der französischen und deutschen Presse weite

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Dumas bezeichnete es als vordringlich, europäische Lösungen zu finden. Nach den Worten von BM ist es eine groteske Vorstellung, dass, nachdem die Müllexporte in die Dritte Welt gestoppt seien, man nunmehr den Müll vor der Haustür des europäischen Nachbarn ablade. BM unterrichtete Dumas über den Jugoslawien-Brief von AM Hurd.19 Beide Minister waren sich einig, dass das Umschwenken der britischen Haltung zu Militäreinsätzen und zur Ankündigung, dass nunmehr 1800 Mann zur Verfügung gestellt würden, auf den Druck der öffentlichen Meinung und nicht zuletzt auch auf Politiker wie Margaret Thatcher zurückzuführen sei. BM meinte außerdem, dass das französische Beispiel seinen Eindruck auf GB wohl nicht verfehlt habe. BM äußerte sich unzufrieden, dass D angesichts seiner Verfassungslage hier im Augenblick noch nicht mehr tun könne. Dumas wies darauf hin, dass auch die öffentliche Meinung in den Partnerländern hierfür zunehmend weniger Verständnis zeige. BM sieht in dieser Frage ein Umdenken in der SPD. Er berichtete über sein Telefonat mit BMin Leutheusser-Schnarrenberger. Er habe mit ihr Formulierungen zu einer Verfassungsänderung, die Blauhelm-Einsätze und militärische Einsätze unter dem Dach der VN nach einer erneuten Befassung des Bundestages zuließen, verabredet. Auf Frage, welcher seiner EG-Kollegen ihn denn besonders dränge, habe er immer geantwortet, dass er zwar nicht bedrängt würde, aber ständig die hohe Erwartungshaltung der Partner spüre. B 1, ZA-Bd. 178945

256 Vorlage des Vortragenden Legationsrats I. Klasse Bertram für Bundesminister Kinkel 201-360.20

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Über Dg 202, D 23, Herrn Staatssekretär4 Herrn Bundesminister5 Betr.:

Zur Diskussion um eine „neue Sicherheitspolitik“ aus bündnispolitischer Sicht

Zweck der Vorlage: Zur Unterrichtung Fortsetzung Fußnote von Seite 1023 Beachtung gefunden. Die illegalen Exporte sind sowohl von Umweltministerin Royal wie auch von BM Töpfer scharf verurteilt worden.“ Vgl. B 24, ZA-Bd. 265998. 19 Mit Schreiben vom 19. August 1992 an BM Kinkel informierte der britische AM Hurd über den Stand der Vorbereitungen und die Themen sowie das Begleitprogramm der internationalen JugoslawienKonferenz am 26./27. August 1992 in London. Vgl. B 42, ZA-Bd. 175655. 1 2 3 4

Die Vorlage wurde von VLR Weil konzipiert. Hat in Vertretung des MDg Hofstetter MDg von Studnitz am 21. August 1992 vorgelegen. Hat MD Chrobog am 24. August 1992 vorgelegen. Hat StS Lautenschlager am 25. August 1992 vorgelegen.

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21. August 1992: Vorlage von Bertram

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Von der Opposition und Teilen der Medien wurde im Zusammenhang mit der Beteiligung deutscher Streitkräfte an den Aktionen der WEU und der NATO in der Adria6 der Bundesregierung vorgehalten, „scheibchenweise eine fundamentale Veränderung der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik vorzunehmen“ (Hans-Ulrich Klose in der Sondersitzung des Deutschen Bundestags am 22.7.19927) und die Streitkräfte der NATO „als weltweit operierende Ordnungsmacht“ einzusetzen (MdB Däubler-Gmelin gegenüber der Presse am 11.8.19928). Als neu kritisiert wird eine interventionistische Sicherheitspolitik (MdB Erler, SPD, am 24.6.1992 im Verteidigungsausschuss: „Interventionshysterie“9). Als Beweise für Absicht und Wandel genannt werden Planungen für – Out-of-area-Einsätze, – Schaffung von Krisenreaktionskräften und – Peacekeeping-Einsätze der Bundeswehr. 5

Zu fragen ist jedoch, ob diese Vorwürfe zutreffen, d. h., ob die festgestellten „Verstöße“ Zeichen einer fundamental neuen Sicherheitspolitik sind oder ob sie nicht nur ein neues Instrumentarium zur Umsetzung des bisherigen Sicherheitskonzepts bedeuten. Seit ihrem Beitritt zum Nordatlantischen Bündnis10 verfolgt die Bundesrepublik Deutschland eine Sicherheitspolitik, die dem Friedensgebot des Grundgesetzes11 und dem Völkerrecht der Charta der VN12 mit dem umfassenden Gewaltverbot und dem Recht auf Selbstverteidigung verpflichtet ist. Sie verfolgt ihre Außen- und Sicherheitspolitik in Westeuropa, im transatlantischen Kontext, im gesamteuropäischen Prozess und im weltweiten Rahmen. Charakterisiert und festgelegt sind damit die Aktionsfelder unserer Sicherheitspolitik. Kritiker dieser Politik müssen diesen Bezugsrahmen miteinbeziehen. Mit der engen Einbettung Ds in das Atlantische Bündnis und seine Strukturen hat D im hohen Maße bewusst darauf verzichtet, eine vom Bündnis abweichende nationale Sicherheitspolitik zu definieren. Dasselbe gilt für konzeptionelle Anpassungen nationaler PositioFortsetzung Fußnote von Seite 1024 5 Hat BM Kinkel am 27. August 1992 vorgelegen. Hat OAR Salzwedel am 31. August 1992 vorgelegen, der den Rücklauf über das Büro Staatssekretäre, MD Chrobog und MDg Hofstetter an Referat 201 verfügte. Hat VLR I Reiche am 31. August 1992 vorgelegen. Hat Chrobog am 1. September 1992 erneut vorgelegen. Hat in Vertretung Hofstetters MDg von Studnitz am 1. September 1992 erneut vorgelegen. Hat VLR Ulrich am 2. September 1992 vorgelegen. 6 Zu den Überwachungsmaßnahmen von NATO und WEU in der Adria vgl. Dok. 220. 7 Vgl. BT STENOGRAPHISCHE BERICHTE, 12. WP, 101. Sitzung, S. 8618. 8 In der Presse wurde berichtet, die SPD habe am 11. August 1992 den Text ihrer Organklage gegen die Bundesregierung veröffentlicht. Diese richte sich u. a. gegen die Beteiligung von Marineeinheiten an der Überwachung des VN-Embargos in der Adria. Die stellvertretende SPD-Vorsitzende Däubler-Gmelin habe den Adria-Einsatz der NATO als Teil des Bestrebens gewertet, „die Streitkräfte des NATO-Bündnisses ,als weltweit operierende Ordnungsmacht‘ einzusetzen“. Vgl. den Artikel „Organklage der SPD veröffentlicht“; FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG vom 12. August 1992, S. 2. 9 Zur Sitzung des Verteidigungsausschusses vgl. Dok. 188. 10 Der NATO-Vertrag vom 4. April 1949 in der Fassung vom 17. Oktober 1951 trat für die Bundesrepublik am 6. Mai 1955 in Kraft. Vgl. BGBl. 1955, II, S. 630. 11 Für das Grundgesetz vom 23. Mai 1949 vgl. BGBl. 1949, S. 1–19. 12 Für die VN-Charta vom 26. Juni 1945 vgl. BGBl. 1973, II, S. 432–503.

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nen, die sich aus der vertragsnotwendigen Umsetzung von Verpflichtungen und Entscheidungen im Rahmen des Aufbaus einer europäischen Sicherheits- und Verteidigungsidentität ergeben, da D auch diesen Zielen völkerrechtlich verpflichtet ist. 1) Plant, probt und bereitet sich die Bundeswehr vor auf Out-of-area-Einsätze? In der Zeit der Konfrontation der Blöcke war die Hauptaufgabe der Bundeswehr evident: Im Rahmen der „forward defence“ hatte sie primär den Verteidigungsauftrag an der innerdeutschen Grenze zu erfüllen. Die Bundeswehr agierte – wie das gesamte Bündnis – blockbezogen. Aufgrund der militärpolitischen Gegebenheiten des Kalten Kriegs war die blockbezogene Erfüllung des Bündnisauftrags für die Bundeswehr identisch mit der Erfüllung des ihr vom Grundgesetz zugewiesenen Auftrags zur Landesverteidigung. (In einer ähnlichen Position befanden sich nur Norwegen und die Türkei.) Der deutschen Öffentlichkeit war zwar der Charakter der Bundeswehr als Bündnisarmee bewusst, ja die Einbindung der Bundeswehr in die multilateralen Strukturen der Allianz und die damit auch gewollte politische Mitbestimmung über ihren Einsatz galten (auch in Deutschland) als wünschenswerte Vorkehr gegen „deutsche Sonderwege“. Dass sich jedoch der Bündnisauftrag der Bundeswehr nicht mit dem koinzidenten Auftrag zur Landesverteidigung erschöpfte, sondern seit dem Beitritt der Bundesrepublik Deutschland zur NATO vertragsgemäß die Verteidigung des gesamten Bündnisgebiets mit umfasste, ist im Laufe von über vierzig Jahren Fixierung auf die Blockkonfrontation und damit auf einen nur auf deutschen Boden begrenzten Einsatz der Bundeswehr im politischen Bewusstsein in den Hintergrund getreten. Mit dem Wegfall der Blockbezogenheit als „raison d’être“ des Bündnisses steht die deutsche Öffentlichkeit vor der durch Gewöhnung eingetretenen, auch psychologisch wirksamen Barriere, den verbliebenen und aktualisierten Bündnisauftrag der Bundeswehr angemessen zu würdigen. Eine solche Würdigung muss Art. 5 des NATO-Vertrags13 in den Mittelpunkt stellen. Diese Bestimmung verpflichtet weiterhin alle Mitgliedstaaten zum Schutz des gesamten Bündnisgebiets. Es ist ein Gebot der Solidarität gerade für Deutschland, das als exponierter Mitgliedstaat über einen langen Zeitraum den kollektiven Schutz des Bündnisses erfahren hat, in einer gewandelten Bedrohungslage den heute exponierteren Flankenstaaten der Allianz zur Seite zu stehen. Wir waren in den vergangenen Jahrzehnten darauf angewiesen, dass sich unsere Partner zur Begründung ihrer Präsenz in Deutschland zu dem NATO-immanenten „Prinzip der erweiterten Landesverteidigung“ bekannten. Es ist daher bündnispolitisch schlüssig und nicht Ausdruck eines weiter ausgreifenden neuen sicherheitspolitischen Ansatzes der Bundesregierung, wenn BM Rühe (zuletzt in der Sondersitzung des Bundestags am 22.7.1992) diesen Begriff auf die heutigen Aufgaben der Bundeswehr überträgt: „Die erweiterte Landesverteidigung ist die Bündnisverteidigung.“14 Es geht dabei ausdrücklich nicht um „Out-of-area“-Einsätze der Bundeswehr, sondern um ihre Verwendung „in area, but out of Germany“. 2) Verfolgt die Bundeswehr mit dem Aufbau von Krisenreaktionskräften interventionistisch und weltweit orientierte Absichten? 13 Für Artikel 5 des NATO-Vertrags vom 4. April 1949 vgl. BGBl. 1955, II, S. 290. 14 Vgl. BT STENOGRAPHISCHE BERICHTE, 12. WP, 101. Sitzung, S. 8640.

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Das auf dem Gipfeltreffen von Rom im November 1991 verabschiedete „Neue Strategische Konzept“15 konstatiert multiple Risiken und macht sich einen erweiterten Sicherheitsbegriff zu eigen, der die Konsequenzen aus der Beseitigung der massiven Bedrohung mit kurzen Vorwarnzeiten in der Zentralregion zieht. Eine prägnante Umsetzung der neuen Strategie erfolgte auf der militärpolitischen Ebene mit der von den Verteidigungsministern des Bündnisses im Dezember 1991 gebilligten neuen Streitkräftestruktur (MC 31716), die für die nahe Zukunft die Dreiteilung der Streitkräfte in – Krisenreaktionskräfte, – Hauptverteidigungskräfte und – Verstärkungskräfte vorsieht. Im Streitkräftedispositiv der Allianz kommt dabei den bis 1995 verfügbaren präsenten, mobilen, flexiblen und multinationalen Krisenreaktionskräften die prominenteste Rolle zu, um das Bündnisgebiet „mit weniger Kräften ... schützen zu können und die konzeptionelle und strukturelle Krisenreaktionsfähigkeit zu optimieren“ (so die Rahmenrichtlinie des BMVg für die weitere Ausgestaltung der Krisenreaktionskräfte). Auch die Bundeswehr wird auf absehbare Zeit den Schwerpunkt auf die Entwicklung und Gestaltung der Krisenreaktionskräfte legen. Der Vorwurf, die Bundeswehr schaffe sich damit ein Interventionsinstrument für „Out-of-area“-Einsätze, geht ins Leere. Die einschlägigen Planungen der Bundeswehr sind vielmehr auf das Engste verknüpft mit den Vorbereitungen der Allianz für die Aufstellung dieser multinationalen Verbände zur bündnisweiten Krisenreaktion. Die Krisenreaktionskräfte in der verbindlichen Bündnisplanung sind nicht Ausdruck einer neuen Strategie, um geänderte sicherheitspolitische Ziele zu verfolgen. Hier handelt es sich um eine notwendige Anpassung der Mittel, um das gleich gebliebene Ziel zu erreichen. Mit dem Zusammenbruch des früheren sowjetischen Imperiums entfiel der Bedrohungsschwerpunkt in der Zentralregion in Europa. Neue Risiken sind nicht länger eindeutig zu lokalisieren, wobei jedoch wie in der Vergangenheit die Flankenpartner des Bündnisses stärker exponiert sind. Der Grundsatz des Bündnisses, gleiche Sicherheit für alle, muss dem Umstand Rechnung tragen, dass das Bündnis über weniger Streitkräfte und Finanzen verfügt, mit diesen aber den Schutz des Bündnisgebietes in der gleichen Effizienz wie früher gewährleisten soll. Unausweichlich ist deshalb, dass die geschrumpften Kräfte durch höhere Flexibilität und Mobilität in der Lage sein müssen, den gesamten Bündnisbereich verteidigen zu können. Krisenreaktionskräfte sind damit keine Interventionskräfte. Die Unterstellung, sie sollten über die Bündnisgrenzen hinaus eingesetzt werden, geht an den Tatsachen vorbei. Derartige Absichten haben bei der Neuformulierung der Strategie nie eine Rolle gespielt. Sie widersprechen dem eindeutigen Bündniskonsens für Begründung und Einsatz der Krisenreaktionskräfte. 15 Für das bei der NATO-Gipfelkonferenz am 7./8. November 1991 verabschiedete Strategiekonzept vgl. https://www.nato.int/cps/en/natohq/official_texts_23847.htm?selectedLocale=en. Für den deutschen Wortlaut vgl. BULLETIN 1991, S. 1039–1048. Zur Gipfelkonferenz vgl. AAPD 1991, II, Dok. 375 und Dok. 376. 16 Das Dokument „NATO Force Structures for the Mid-1990s and Beyond“ (MC 317) vom 15. November 1991 wurde bei der Ministersitzung des DPC am 12./13. Dezember 1991 in Brüssel verabschiedet. Für das Dokument vgl. B 130, VS-Bd. 15104 (201). Zur Sitzung vgl. AAPD 1991, II, Dok. 428.

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21. August 1992: Vorlage von Bertram

3) Sprengen „Peacekeeping-Einsätze“ den Rahmen unserer bisherigen Sicherheitspolitik? Friedensmissionen der Bundeswehr bedeuten konzeptionell in der Tat eine Neuorientierung. Fraglich ist, ob es sich hier ebenfalls auch nur um eine Änderung der Mittel bei der Verfolgung eines gleich gebliebenen sicherheitspolitischen Zieles handelt (eine andere, hier nicht zu untersuchende Frage ist, ob und welche verfassungsrechtlichen Schranken es für uns bei Peacekeeping-Möglichkeiten gibt). Eine der Grundentscheidungen der Sicherheitspolitik der Bundesrepublik Deutschland ist der Verzicht auf eigenständige nationale Lösungswege. Dies ist das Rationale für unsere Bündniszugehörigkeit im atlantischen und europäischen Rahmen und gilt auch für unsere aktive Mitgliedschaft in den Vereinten Nationen. Durch Unterstützung ihrer friedensgestaltenden Möglichkeiten entsprechen wir dem Auftrag unseres Grundgesetzes, Frieden zu schaffen. Historische Gründe, die Teilung Deutschlands und die weltweite Blockkonfrontation haben bisher verhindert, dass wir diesem – von uns seit jeher mitgetragenen – Ziel im Rahmen der VN mit deutschen Beiträgen zu Peacekeeping-Operationen dienen konnten. Nun aktualisieren sich unsere Verpflichtungen, die sich aus unserer Zugehörigkeit zum System der Völkergemeinschaft ergeben und von uns durch unseren Beitritt zu den VN17 akzeptiert wurden. Dies hat zur Folge, dass unser Peacekeeping-Instrumentarium aktiviert werden sollte. Dies zu tun, ist auch von Bedeutung unter bündnispolitischen Gesichtspunkten. Bei allem Verständnis, auf das wir bei den Verbündeten für unsere Verfassungslage rechnen dürfen, sind doch Zweifel angebracht, wie lange sich Deutschland noch auf die „Kultur der Zurückhaltung“ (BM Rühe im Bundestag am 22.7.199218) zurückziehen kann, ohne dass unsere Glaubwürdigkeit in der Allianz leidet. Wenn das Bündnis im Konsens seiner Mitglieder unter dem Mandat der KSZE oder der VN neue sicherheitspolitische Aufgaben wahrnimmt, würde Deutschland, verhielte es sich abstinent, einen „Sonderweg“ betreten, der unsere Mitgestaltung der Bündnispolitik erschweren würde. Es fragt sich, ob unsere verfassungspolitischen und historischen Argumente die gleiche Autorität besitzen wie etwa das Ersuchen des GS der VN19 an die NATO, sich an Peacekeeping-Maßnahmen zu beteiligen. Das Letztere beruht auf dem erweiterten Handlungsspielraum und der vergrößerten Legitimität der VN nach dem Kalten Krieg und reflektiert die neuen Möglichkeiten der VN, ihre satzungsmäßigen Aufgaben wahrzunehmen – Aufgaben, die sich nun auch für uns aus unserer VN-Mitgliedschaft aktualisieren. Mit der von uns im Bereich des „Peacekeeping“ in Anspruch genommenen „Kultur der Zurückhaltung“ schaffen wir im Übrigen eine Berufungsgrundlage, die uns in anderen Bündnisfragen entgegengehalten werden kann. Der historische Erfolg der Allianz beruht zu einem guten Teil auf der Einsicht ihrer Mitglieder, dass der Anspruch auf gleiche Sicherheit für alle auch die uneingeschränkte Mitwirkung an ihrer Gewährleistung erfordert. Dieses Grundverständnis ist eine tragende Säule der gemeinsamen Bündnispolitik. 4) Festzuhalten bleibt: a) Der Kern der Sicherheitspolitik der Allianz, die kollektive Selbstverteidigung gem. Art. 5 des NATO-Vertrags, gilt unverändert. Dass der NATO-konforme Einsatz der Bundeswehr 17 Die Bundesrepublik trat den VN am 18. September 1973 bei. Vgl. AAPD 1973, III, Dok. 310. 18 Vgl. BT STENOGRAPHISCHE BERICHTE, 12. WP, 101. Sitzung, S. 8640. 19 Boutros Boutros-Ghali.

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21. August 1992: Vorlage von Neubert

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in anderen Bündnisstaaten faktisch möglich geworden ist, ist keine Folge einer fundamental neuen deutschen Sicherheitspolitik, sondern der solidarische Reflex auf die militärische Entspannung in der Zentralregion. b) Die Mitwirkung Deutschlands an den Aufgaben der gewandelten Allianz ist Ausdruck unseres Bündniswillens und unserer Bündnisfähigkeit. Sie ist die Voraussetzung für die Fortsetzung der gemeinsamen Sicherheitspolitik der NATO. c) Generell gilt, dass die Bundesregierung den bisherigen sicherheitspolitischen Zielen mit dem Friedensgebot als oberster Maxime verpflichtet bleibt, ohne den Rahmen (NATO, KSZE, VN) und das Ziel (die vom Grundgesetz vorgegebene Aufgabe, eine Friedensordnung in Europa zu schaffen und zur Stabilität weltweit beizutragen) zu ändern. Geändert hat sich das internationale und auch nationale sicherheitspolitische Umfeld, dem die Bundesrepublik Deutschland durch Beteiligung am neuen Instrumentarium Rechnung trägt. Insofern ist sie aufgerufen, ihre sicherheitspolitischen Aktionsfelder im Zusammenwirken mit ihren Bündnispartnern den neuen internationalen Herausforderungen anzupassen. Bertram B 14, ZA-Bd. 161169

257 Vorlage des Vortragenden Legationsrats I. Klasse Neubert für Bundesminister Kinkel 213-320.10 RUS

21. August 1992

Über Dg 211, D 22, Herrn Staatssekretär3 Herrn Bundesminister4 Betr.:

Bleibt Russland auf Kurs?5

Zweck der Vorlage: Zur Unterrichtung 1) Die innenpolitische Entwicklung der letzten drei Monate in Russland hat sowohl in den Medien wie bei befreundeten Regierungen die Frage aufkommen lassen, ob der Westen einen politischen Kurswechsel Moskaus ernsthaft in Betracht ziehen muss. 1 2 3 4

Hat MDg von Studnitz am 21. August 1992 vorgelegen. Hat MD Chrobog am 24. August 1992 vorgelegen. Hat StS Lautenschlager am 24. August 1992 vorgelegen. Hat BM Kinkel am 27. August 1992 vorgelegen, der handschriftlich vermerkte: „Gute Vorlage!“ Hat OAR Salzwedel am 31. August 1992 vorgelegen, der den Rücklauf über das Büro Staatssekretäre, MD Chrobog und MDg von Studnitz an Referat 213 verfügte. Hat VLR I Reiche am 31. August 1992 vorgelegen. Hat Chrobog am 1. September 1992 erneut vorgelegen. Hat in Vertretung von Studnitz VLR I Lambach am 1. September 1992 vorgelegen. 5 Für Auszüge aus der Vorlage vgl. den Artikel „ ,Jelzins Sturz ist unwahrscheinlich‘. Analyse Bonner Diplomaten zur Entwicklung Rußlands“; SÜDDEUTSCHE ZEITUNG vom 7. September 1992.

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21. August 1992: Vorlage von Neubert

a) Die Fakten: – Die wirtschaftliche Produktion sinkt weiter, die Inflation steigt, die Kritik an der Wirtschaftspolitik von MP Gajdar ist intensiv und anhaltend. – Als eine Folge davon hat Präsident Jelzin zwei neue stellv. Ministerpräsidenten ernannt, die zwar als Befürworter einer vorsichtigen Wirtschaftsreform, aber auch als Exponenten der Schwer- und Rüstungsindustrie gelten.6 – Seit Monaten ist Außenminister Kosyrew Ziel intensiver Kritik aus verschiedenen Richtungen; ihm wird eine allgemein konzeptionslose und zu pro-westliche Außenpolitik vorgeworfen, aber insbesondere ein mangelndes Eintreten für den Schutz der Rechte der Russen in den anderen Staaten der GUS. Letzter Punkt ein Dauerthema von Vizepräsident Ruzkoj. – Mit der Gründung der sog. „Bürgerunion“ durch den Chef der Demokratischen Partei, Trawkin, Vizepräsident Ruzkoj selbst und den einflussreichen Vorsitzenden des sog. Unternehmerverbandes (Zusammenschluss der traditionellen Schwer- und Rüstungsindustrie), Arkadij Wolskij, ist die bisher erste und einzige ernstzunehmende politische Gruppierung, die über ein Mindestmaß an Mitgliedern, organisatorischen Strukturen und politischem Zusammenhalt verfügt, entstanden, die wirksam Opposition gegen Jelzins Kurs betreiben könnte, auch wenn nicht erwiesen ist, dass dieser Zusammenschluss dauert und handlungsfähig ist. b) Die Reaktionen: – London fragt sich in einer Analyse von Ende Juli, ob der Westen in absehbarer Zeit (sechs bis zwölf Monate) mit einem einschneidenden innenpolitischen Kurswechsel in Moskau rechnen muss, der dann auch außenpolitische Konsequenzen für das Verhältnis des Westens zu Russland haben könnte, bis hin zu der Fragestellung, ob wir – erneut – mit einer „feindseligen“ Großmacht im Osten rechnen müssen. London hat verschiedene Partner um Kommentare gebeten. Die Studie kommt zu dem Schluss, dass eine Kurskorrektur zu einer vorsichtigeren, „konservativen“ Wirtschaftspolitik sehr wahrscheinlich ist, dass ein Übergang zu einer aggressiven, feindseligen Außenpolitik dem Westen gegenüber sehr unwahrscheinlich [ist], dass wir aber wohl mit einer härteren Vertretung russischer Interessen in der internationalen Politik rechnen müssten, was z. B. Auswirkungen auf die Zusammenarbeit mit Russland in den VN bezüglich der verschiedenen Krisenherde auf der Welt haben könnte. – Wie wir aus Washington hören, sehen die Amerikaner die Lage sehr viel gelassener. Sie erkennen an, dass Russland vor enormen wirtschaftlichen und sozialen Problemen steht, sie sehen auch, dass gewisse Kurskorrekturen angebracht worden sind, halten diese jedoch angesichts dieser Probleme für durchaus vernünftig und rechnen nicht mit einer wesentlichen Veränderung der russischen Außenpolitik in einem für den Westen ungünstigen Sinne. Sie behalten sich allerdings eine weitere Meinungsbildung vor, da sie ihre eigenen Analysen noch nicht abgeschlossen haben. 6 Zur Regierungsumbildung in Russland vgl. Dok. 175, Anm. 7. Botschafter Blech, Moskau, berichtete am 9. Juni 1992, in der russischen Regierung sei erneut eine Reihe von Schlüsselpositionen neu besetzt worden. Für die Verschiebung der Gewichte stünden beispielhaft „die Ernennung des Leningrader Vertreters des militärisch-industriellen Komplexes, Chischa, zum Vizeminister[präsidenten] sowie die Auswechslung des Vertrauten Gajdars, Lopuchin, gegen Tschernomyrdin, einen Vertreter des alten sowjetischen Energie-Establishments“. Vgl. DB Nr. 2470/2471; B 41, ZA-Bd. 221582.

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21. August 1992: Vorlage von Neubert

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– Künftige Entwicklung in Russland besorgt auch die Niederländer, die Thema in Kürze auf Botschafterkonferenz erörtern werden, ganz offenkundig über britische Haltung informiert sind und bei uns vorsprachen. 2) Elemente der Lagebewertung Wir sehen, wie unsere britischen Partner, die buchstäblich enormen Risiken, welche die wirtschaftliche und soziale Lage in Russland für die innenpolitische und naturgemäß auch außenpolitische Entwicklung in sich birgt. Wir sehen jedoch demgegenüber auch einige positive Elemente und – vor allem – bisher keine gravierenden Tatsachen, die eine Sorge vor einem einschneidenden Kurswechsel belegen. a) Risikoelemente – Die Industrieproduktion sinkt weiter, nach offiziellen russischen Angaben ca. –15 %, Entwicklung in Landwirtschaft nicht wesentlich besser, inoffizielle Angaben sprechen von –30 % in beiden Wirtschaftsbereichen. – Die Inflation bleibt hoch, die Staatsausgaben in Form von Subventionen, Gehältern etc. laufen weiter, die Steuereinnahmen bleiben zurück. Das Defizit des Staatshaushaltes war in diesem Jahr im ersten Halbjahr aber geringer als im vergangenen, etwas über 5 % statt gute 20 %. Die Arbeitslosigkeit steigt, sie wird noch weiter steigen, wenn die Regierung mit ihrer Politik des knappen Geldes weiter ernst macht. Auch wenn sie der Großindustrie Konzessionen macht in Form weiterer Subsidien, wird ansteigende Arbeitslosigkeit nicht vermieden werden können. – Die lange Durststrecke, bis die Reform den Niedergang der Wirtschaft aufhalten und einen Aufschwung einleiten kann, zehrt sichtlich an der Popularität der Reformpolitiker. Umfragen wollen einen geringen, aber spürbaren Popularitätsverlust von Präsident Jelzin erkennen, verbunden mit einem Popularitätszuwachs des populistisch-nationalistisch argumentierenden Vizepräsidenten Ruzkoj. – Die ethnischen Konflikte, in die Russen in den anderen GUS-Staaten einbezogen werden, bilden einen gefährlichen Ansatzpunkt für nationalistische Kräfte, die – sei es von rechts oder links – die Reformpolitik Jelzins auch aus anderen Motiven ablehnen. – Es trifft zu, dass Jelzin keine festgefügte parlamentarische Basis hat, das Parlament der Regierung zunehmend kritisch gegenübersteht und die Verbindung von Trawkin, Ruzkoj und Wolskij in der „Bürgerunion“ einen potenziell mächtigen und insoweit auch gefährlichen Gegner für Jelzin darstellt. Es trifft zu, dass die Kritik an PM Gajdar und an AM Kosyrew in letzter Zeit stärker geworden ist und auch eine Reihe prominenter Reformpolitiker in diesen kritischen Chor eingestimmt hat, wie etwa Rumjantsew und Ambartsumow. b) Diesen unbestreitbaren Risikofaktoren stehen jedoch auch positive Entwicklungen und Entscheidungen gegenüber: – Die russische Regierung hat mit dem IWF ein Länderprogramm vereinbart, ist in die IFIen aufgenommen worden, und – das Wichtigste – der IWF hat, obwohl Russland nicht alle Zuteilungskriterien erfüllt hatte, Anfang August der Freigabe der ersten Tranche von einer Milliarde Dollar eines IWF-Kredits zugestimmt. Damit können die Reformpolitiker nicht nur einen beträchtlichen politischen und konzeptionellen Durchbruch verbuchen, sondern auch Geld für den Import von dringend benötigten Gütern, d. h. einen spürbaren materiellen Erfolg. 1031

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21. August 1992: Vorlage von Neubert

– Der russischen Führung ist es gelungen, im Parlament eine eindrucksvolle und saubere Mehrheit für die Ratifikation des KSE-Vertrages7 zusammenzubringen, was selbst prominente russische Politiker noch zwei Tage vor der Abstimmung bezweifelten. Mit der KSE-Vertrags-Ratifikation, dem Protokoll über die Inkraftsetzung des START-Vertrages8 und den weitergehenden Abmachungen Bush – Jelzin über die Fortsetzung der nuklearen Abrüstung9 hat die Regierung sich auch in diesem sensitiven Bereich der Politik eindrucksvoll durchgesetzt. – Jelzin hat den Dauerkonflikt mit der Ukraine auf ein Niveau heruntergeschraubt, der die noch offenen Fragen handhabbar macht. Der von Ruzkoj hochstilisierte Konflikt um die Krim ist mit großem Geschick seitens der Ukrainer und einer vernünftigen Haltung seitens der Russen bereinigt worden.10 Das heikle Problem der Schwarzmeerflotte ist durch eine provisorische Regelung abgekühlt und durch die dreijährige Frist zur Ausarbeitung einer endgültigen Lösung ebenfalls politisch handhabbar gemacht worden.11 7 BR I Stüdemann, Moskau, berichtete am 8. Juli 1992: „Der KSE-Vertrag einschließlich des Übereinkommens über Prinzipien und Verfahren für seine Inkraftsetzung wurde heute (8.7.) vom russischen Obersten Sowjet mit 169 Ja-Stimmen bei zehn Enthaltungen und nur vier Gegenstimmen ratifiziert. Das gute Ergebnis hat selbst im RAM überrascht. Einen großen Anteil daran hatte sicherlich das positive Votum, mit dem das Präsidium des OS und damit die Stimme von Parlamentspräsident Chasbulatow ins Gewicht fiel“. Vgl. DB Nr. 2904; B 43, ZA-Bd. 177847. 8 Botschafter von Ploetz, Brüssel (NATO), berichtete am 29. Mai 1992: „StV USA unterrichtete NATO-Rat am 29.5. über das am 23.5. in Lissabon zwischen den USA, RF, WEI, UKR und KAS unterzeichnete Protokoll zum START-Vertrag […]. Durch [das] Protokoll würden alle vier Nachfolgestaaten der SU zu STARTVertragsparteien und übernähmen daraus resultierende Rechte und Pflichten. In Begleitbriefen verpflichteten sich UKR, KAS und WEI, dem NPT als Nicht-Nuklearstaaten so bald wie möglich beizutreten und alle strategischen Nuklearwaffen auf ihrem Territorium innerhalb der siebenjährigen Reduzierungsperiode des Vertrags zu vernichten bzw. zu transferieren. Dadurch sei nun auch der Weg offen zur Ratifizierung des Vertrags durch die USA“. Vgl. DB Nr. 877; B 43, ZA-Bd. 228436. Für das Protokoll und die zugehörigen Dokumente vgl. https://2009-2017.state.gov/documents/organization/ 27389.pdf. 9 Zu den Abrüstungsvereinbarungen der Präsidenten Bush (USA) und Jelzin (Russland) vom 16./17. Juni 1992 vgl. Dok. 186. 10 Das BMVg teilte am 1. Juli 1992 mit: „Das Parlament der Ukraine hat der Krim einen weitgehenden Autonomiestatus gewährt. Damit bleibt die Halbinsel Bestandteil der Ukraine und untersteht deren Gesetzen. Der Anschluss an ein anderes Land bedarf der Zustimmung beider Parlamente in Kiew und Simferopol. […] Die Ukraine hat die brisante Territorialfrage in ihrem Sinn zunächst gelöst und damit Russland ihre unmissverständliche Haltung verdeutlicht. Mit dem Beschluss dürften die Interessen der 27-prozentigen ukrainischen Krim-Bevölkerung weitgehend gewahrt sein. […] Es ist nicht zu erwarten, dass damit die Krim-Problematik endgültig und für alle Seiten verbindlich geregelt ist. Nationalistische Kreise in Russland werden die Rechte der russischen Bürger auf der Basis des russischen Parlamentsbeschlusses einklagen, nach dem die Zugehörigkeit der Krim zur Ukraine grundsätzlich als unrechtmäßig angesehen wird.“ Vgl. FS Nr. 1317; B 41, ZA-Bd. 184025. 11 Zur Frage der Aufteilung der Schwarzmeerflotte vgl. Dok. 195. Gesandter Heyken, Moskau, berichtete am 4. August 1992: „Der russisch-ukrainische Gipfel in Muchalatka (Vorort von Jalta) am 3. August ist mit einem unerwarteten, aber doch bemerkenswerten Kompromiss zu Ende gegangen: Krawtschuk und Jelzin einigten sich nach den bislang hier vorliegenden Meldungen darauf, die Schwarzmeerflotte dem Oberkommando der Vereinigten Streitkräfte der GUS zu entziehen und für eine Übergangsperiode von drei Jahren einem gemeinsamen russisch-ukrainischen Kommando zu unterstellen. Es sollen zwei Flottenoberkommandierende von den beiden Präsidenten ernannt werden und auch nur von diesen abgesetzt werden können. Über die Aufteilung der Flotte soll

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– Mit der Übernahme des größten Teils der Streitkräfte (Ausnahme: die zahlenmäßig geringen strategischen Nuklearkräfte i. e. S.) in jeweils nationale Verantwortung der neuen Staaten ist die zivile politische Kontrolle über das Militär wiederhergestellt worden, gleichzeitig haben die Truppen einen politisch Verantwortlichen für ihre sozialen Sorgen und berechtigten Forderungen. Gleichzeitig wird die Militärreform mit hohem Druck weiterbetrieben, weniger aus Idealismus als unter dem Druck der veränderten politischen, geographischen und finanziellen Gegebenheiten, wobei die Sachzwänge einen zuverlässigeren Wegweiser darstellen als „neue Konzeptionen“, die auch verworfen werden könnten. – Mit der Dämpfung der bürgerkriegsähnlichen Entwicklungen in Transnistrien12 und Südossetien13 hat die russische Führung Verantwortungsbewusstsein, politische Fantasie und Durchsetzungsfähigkeit bewiesen. Ruzkoj war zwar bei den Fotos der einschlägigen Treffen immer im Vordergrund, aber in der Sache hat sich nicht seine nationalistischaggressive Linie durchgesetzt, sondern die Lösungen für Moldau und Georgien entsprechen der Linie Kosyrews. Kosyrews Unauffälligkeit sollte nicht mit mangelndem Durchsetzungsvermögen verwechselt werden, sein öffentlicher Gegenangriff auf Ruzkoj und die russische, wenn nicht „Kriegs-“, so doch „Konfliktpartei“ belegt dies. – Die Ankündigung Jelzins, bei dem Japanbesuch14 eine Demilitarisierung der Kurilen15 bis 1995 in Aussicht zu stellen, wäre – wenn dies verwirklicht wird – ein weiterer Erfolg der Linie Kosyrews. – Desgleichen hat es Kosyrew geschafft, die praktisch seit den Souveränitätserklärungen der baltischen Staaten 199016 von Russland nur zum Schein geführten Verhandlungen über die Neuregelung des Verhältnisses, insbesondere über den Abzug der russischen Truppen17, vom Nullpunkt wegzubewegen und einen vernünftigen Abzugs-Abschlusstermin, Ende 1994, in der öffentlichen Diskussion festzuklopfen. Die Balten sagen es nicht öffentlich, aber sie sind mit dieser Entwicklung nicht unzufrieden. Desgleichen haben die Balten auch erkannt, in der Frage der rechtlichen Behandlung der russischen Bevölkerungsminderheiten ihre nationalistische Linie, die zum Teil an die Rhetorik von 1920/1930 erinnerte, fallenzulassen und sich an KSZE-Standards zu orientieren, wie es Russland – nicht zu Unrecht – fordert. Erste Schritte der Balten in diese Richtung sind auch ein Erfolg für Kosyrew, und den Ruzkojs in Russland wird ein wenig Wind aus den Segeln genommen. – Wie wir von den westlichen Botschaften in Moskau und aus St. Petersburg hören, trifft es nicht zu, dass sich die Versorgungssituation verschlechtert habe, im Gegenteil. In den Geschäften der Städte scheint sie sich in den letzten Monaten sogar verbessert zu haben, auch wenn der Preisanstieg anhält. Fortsetzung Fußnote von Seite 1032 erst nach Ablauf der Übergangsperiode von drei Jahren entschieden werden.“ Vgl. DB Nr. 3329; B 41, ZA-Bd. 221886. 12 Zum Transnistrien-Konflikt in Moldau vgl. Dok. 225, Anm. 38. 13 Zum Konflikt in Südossetien vgl. Dok. 205, besonders Anm. 8. 14 Zum geplanten Besuch des russischen Präsidenten Jelzin in Japan vgl. Dok. 302, Anm. 10. 15 Zur Kurilenfrage vgl. Dok. 13, Anm. 43. 16 Zu den Unabhängigkeitsbestrebungen der baltischen Staaten vgl. AAPD 1990, I, Dok. 68 und Dok. 134, besonders Anm. 9. 17 Zum Abzug vormals sowjetischer Truppen aus den baltischen Staaten vgl. Dok. 81, Anm. 8. Vgl. auch Dok. 172.

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– Nach jüngsten Informationen scheint die Getreideernte d. J. besser zu werden (ca. 180 Mio. t) im Gegensatz zu der katastrophalen Missernte des vergangenen Jahres (155 Mio. t), auch wenn dies weit entfernt von den Rekordernten früherer Jahre ist, die bei 210 Mio. t maximal lagen. Damit ist freilich die Frage nicht gelöst, ob „das Land“ liefert, wenn „die Stadt“ keine Waren in umgekehrter Richtung zu bieten hat. Auch das Verteilungsproblem ist nicht gelöst, nur: Eine durchaus mögliche weitere Belastung der Lage durch eine zweite Missernte ist offenbar nicht zu befürchten. 3) Präsident Jelzin hat am 19.8. aus Anlass des missglückten Staatsstreichs von 199118 eine nüchterne Rede19 ohne Schnörkel, ohne Ideologie, weder alte noch neue, gehalten, in der er an die Zähigkeit und Beharrlichkeit seiner Landsleute appelliert, sie für ihre Geduld und ihr Stehvermögen lobt, die Schwierigkeiten der Gegenwart ohne Umschweife anerkennt, aber auch daran erinnert, dass die Entwicklung wesentlich besser verlaufen ist, als man vor einem Jahr hätte befürchten müssen, und dass insbesondere die Zeiten vorbei sind, wo die russische Nation sich an das Gängelband von Ideologen oder Rattenfängern nehmen lässt oder gar sich verleiten lässt, den Weg der Gewalt zu beschreiten. Damit dürfte er die Tonlage seiner Russen gut getroffen haben, er hat gleichzeitig aufs Neue sehr deutlich gemacht, dass er die Reformen fortsetzen wird, und ein weitreichendes Privatisierungskonzept für die russische Industrie (nach einem ähnlichen Konzept wie in der ČSFR) angekündigt (sachliche Bewertung bleibt Abt. 4 vorbehalten). Damit dürfte zwar die Großindustrie nicht tatsächlich privatisiert werden, da diese Riesenkombinate von einer Größe und in einem Zustand sind, wo kein „Käufer“ in Sicht ist, wohl aber dürfte die Fortsetzung der Reformpolitik hin zur Anwendung marktwirtschaftlicher Prinzipien auch für diese Industrie (Umwandlung in Aktiengesellschaften) führen, bei De-facto-Verbleib des Eigentums in „öffentlicher Hand“. (Aber dies ist auch in westlichen Staaten lange Zeit nach 1945 der Fall gewesen: Montan-Industrie in Frankreich und England, die IRI20 in Italien, diverse Großunternehmen in Deutschland.) Aus der Gegenüberstellung der negativen und positiven Elemente in Ziffer 2 a) und b) wird deutlich, dass es insbesondere die russische Führung selbst ist, die in den letzten Monaten positive Akzente setzen konnte. Dieses ist ein entscheidender Unterschied zu der Niedergangsperiode der SU im letzten Jahre Gorbatschows, wo die Berufung in die Regierung von ausgesprochenen Dunkelmännern wie Pawlow, Pugo und Krjutschkow zeigte, dass Gorbatschow in entscheidenden Personalfragen nachgab. Jelzin hat lediglich kleinere Korrekturen angebracht (bisher). Unter Gorbatschow konnte die „Konfliktpartei“ ungestraft ihr Experiment mit einer Politik der harten Hand im Baltikum Anfang 199121 18 Vom 19. bis 21. August 1991 kam es in der UdSSR zum Putschversuch durch ein „Staatskomitee für den Ausnahmezustand“. Vgl. AAPD 1991, II, Dok. 266–269, Dok. 271, Dok. 272, Dok. 274–276 und Dok. 284. 19 Gesandter Heyken, Moskau, berichtete am 21. August 1992: „Jelzin beschwor in seiner TV-Rede noch einmal das Gemeinschaftsgefühl jener drei Augusttage und rief dazu auf, die Erinnerung daran – auch an die Opfer – wachzuhalten.“ Der russische Präsident habe betont, „dass die Reformen erfolgreich sein werden, das Land mit vereinten Kräften geheilt werden könne und eine Zukunft habe“. Heyken resümierte, der Grundtenor erscheine „zu positiv“. Das politische System sei noch „weit von einer Stabilisierung entfernt“, und die politische Führung sehe sich „einem großen Defizit an Vertrauen breiter Bevölkerungsteile gegenüber“. Vgl. DB Nr. 3598; B 41, ZA-Bd. 221581. 20 Istituto per la Ricostruzione Industriale. 21 Zu den Ereignissen in Lettland und Litauen im Januar 1991 vgl. AAPD 1991, I, Dok. 8, Dok. 19 und Dok. 26.

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ausprobieren. Jelzin hat in der Frage der Krim, der Schwarzmeerflotte, Transnistriens und Ossetiens aktiv Hand angelegt, dass genau dies nicht mehr möglich war. Er hat damit auch gezeigt, dass er in der Sache die Linie Kosyrews für richtig hält und sie unterstützt, auch wenn richtig bleibt, dass Kosyrew keine große eigene Hausmacht hat und als Technokrat von Jelzin solange geschätzt wird, solange seine Argumente überzeugen und seine Politik Erfolge produziert. Schließlich zeigte sich im Wirtschaftsbereich, dass auch der IWF offenbar sieht, dass eine monetaristische Politik nicht ohne jegliche Rücksichtnahme auf die sozialen Konsequenzen durchgesetzt werden kann, und [er] hat die erste Kredittranche vernünftigerweise freigegeben, um die Einbindung Russlands in die Sachkenntnis und die Anbindung an die Ressourcen der IFI sicherzustellen, womit langfristig dem Erfolg der Reformen in Russland mehr gedient sein dürfte, als wenn der IWF auf der punktgenauen Erfüllung bestimmter Konditionen bestanden hätte. Die Lage in Russland ist sicher kein Anlass, um den Russen zu signalisieren, dass die IWF-Therapie nun nach Belieben verwässert werden kann. Im Gegenteil: Russland muss weiter zu einer möglichst wirkungsvollen Finanz- und Haushaltsdisziplin angehalten werden, aber wir sollten nicht gleich eine Rückkehr zur BreschnewÄra an die Wand malen, wenn Jelzin Korrekturen anbringt, die er nach Lage der Dinge für die Stabilität des Landes und die Fortführbarkeit der Reformen für unerlässlich hält. 4) Für die Zukunft müssen wir in Rechnung stellen, dass die Risiken der Entwicklung in Russland groß bleiben: – Die Entwicklung von Wirtschaft und Staatsfinanzen wird wahrscheinlich einige Jahre brauchen, bis erste Zeichen spürbarer Besserung, auch für die russische Bevölkerung, messbar werden. Die Versorgungsprobleme und die soziale Lage insgesamt werden ebenfalls über mehrere Jahre große sachliche und innenpolitische Schwierigkeiten bereiten. – Die Ausarbeitung einer neuen Verfassung und ihre Umsetzung in die Wirklichkeit, die Herausbildung von Parteien, die nicht nur dem Namen nach demokratisch sind, der öffentliche Diskurs über die Zukunft Russlands werden Zeit brauchen, bis sowohl eine programmatische Klärung erfolgt, als auch eine neue Generation von Politikern in die Parlamente gewählt wird und die Qualität gesetzgeberischer Arbeit sich so verbessert, dass der Reformprozess beschleunigt werden kann. – Das Verhältnis der ethnischen Gruppen bleibt ein Risikofaktor. Dennoch können wir uns bei einer vorsichtig positiven Prognose der Entwicklung auf eine Reihe von Grundlagen stützen: – Der Grundkonsens der Reformer von 1985, dass wirtschaftliche Reform mit politischer Reform Hand in Hand gehen muss, anders als in China, ist heute in Russland wiederhergestellt (im Gegensatz zum August 1991). – Die Abneigung der Russen gegen Gewalt und Blutvergießen nach den Erfahrungen von 1917 und denen der 20er und 30er Jahre ist ein starker Faktor, der nicht zu unterschätzen ist. Er hat in der Entwicklung seit 1985 eine nicht zu leugnende Rolle gespielt. – Die wirtschaftliche Lage Russlands erlaubt keine Extravaganzen, die Rückkehr zu einer aggressiven Großmachtpolitik im Stile der Breschnew-Ära ist finanziell nicht möglich, dies wissen nicht nur die Politiker, sondern auch die neue Generation junger Militärführer, denen allen der Afghanistankrieg eine gemeinsame Erfahrungsgrundlage ist. – Im politischen Spektrum sind derzeit keine ernstzunehmenden Rivalen für Jelzin selbst sichtbar, es gibt keine der Gorbatschow-Zeit vergleichbare Koalition von ausgewiesenen 1035

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21. August 1992: Vorlage von Neubert

Dunkelmännern in seiner Umgebung, Wolskij ist viel zu intelligent, um zu glauben, dass man die Probleme des Landes politisch mit Gewalt und Repression und wirtschaftlich mit den Methoden von gestern lösen kann, gleiches gilt für Trawkin. Der einzige personelle Risikofaktor ist Vizepräsident Ruzkoj mit seiner Vorliebe für national-chauvinistische und aggressive Parolen, seine Einflussmöglichkeiten liegen jedoch allenfalls in der Suche nach Verbündeten. Er selbst hat keinen Machtapparat; Jelzin hat dafür gesorgt. Und: Trawkin und Wolskij sind nicht Gefolgsleute Ruzkojs, eher umgekehrt, er ist auf deren Machtbasis angewiesen. Insgesamt: Nach den bisher bekannten Fakten und den bisher von Jelzin getroffenen Grundsatzentscheidungen in einer Reihe wichtiger Fragen gibt es keine Anzeichen, dass er einen radikalen Kurswechsel beabsichtigt. Nach der Kräfteordnung in Russland ist auch unwahrscheinlich, dass Gruppen, die nicht zu Jelzins Team gehören, ihn entweder aus dem Amt entfernen könnten, oder ihn zur Gallionsfigur degradieren. Insofern erscheint es höchst unwahrscheinlich, dass ein einschneidender Kurswechsel Russlands bis hin zur „feindseligen“ Macht im Osten bevorsteht. Worauf wir uns wahrscheinlich einstellen müssen, werden Kurskorrekturen bei der Wirtschaftsreform sein, die aber ohnehin nicht auf die Sekunde genau „nach Fahrplan“ ablaufen dürfte, und akzentuiertere Stellungnahmen Russlands im internationalen Geschehen mit Rücksicht auf eine innenpolitische Landschaft, die um höherer Zwecke willen, nämlich der politischen und wirtschaftlichen Reformen, der innenpolitischen Stimmung hier und da Konzessionen machen wird. Das bisherige Verhalten Jelzins zeigt allerdings, dass diese nach seinem Willen jedenfalls nicht zu weit die Substanz angreifen dürfen. So hat Russland in der Frage der Sanktionsresolutionen gegen Serbien22 gezögert, aber letztlich doch den Weg freigemacht. In diesem Bereich liegen noch am ehesten Ungewissheiten, aber im Fall Serbien ist ja Russland nicht das einzige Land mit besonderen Problemen. Die Japanreise wird uns weitere Indizien liefern. Die bevorstehende Debatte über die Verfassungsreform und die Auseinandersetzung mit dem konservativen Volksdeputiertenkongress23 sind die nächsten Wegmarken, wo wir Jelzin sehr genau beobachten werden. Neubert B 41, ZA-Bd. 221581

22 Vgl. die Resolution Nr. 713 des VN-Sicherheitsrats vom 25. September 1991; RESOLUTIONS AND DECISIONS 1991, S. 42 f. Für den deutschen Wortlaut vgl. EUROPA-ARCHIV 1991, D 550–552. Vgl. auch die Resolution Nr. 757 des VN-Sicherheitsrats vom 30. Mai 1992; Dok. 159, Anm. 12. 23 Der Kongress der Volksdeputierten war für die Zeit vom 1. bis 9. Dezember 1992 in Moskau geplant. Vgl. Dok. 419.

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24. August 1992: Vermerk von Kinkel

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258 Vermerk des Bundesministers Kinkel 24. August 19921 1) Vermerk Gespräch mit dem Herrn Bundeskanzler am Montag, dem 24. August 1992, 13.00 Uhr bis 15.15 Uhr Teilnehmer: Bundeskanzler, BM Bohl, BM Rühe, MD Hartmann, Kinkel. a) Donnerstag, 8.10.1992, 9.30 Uhr Kabinett. b) Luftverkehrsabkommen USA BK sprach von sich aus das Problem an; erörtert wurde die aus der Sicht der Lufthansa dringend notwendige Kündigung; ich habe über meine Gespräche mit AM Baker2 und den letzten Schriftwechsel3 berichtet; BK hat entschieden, dass die Angelegenheit in der nächsten Kabinettssitzung unter „Verschiedenes“ angesprochen werden soll. Federführung: BMV4; bitte für unser Haus entsprechende Vorlage für das Kabinett fertigen.5 c) Deutsch-Französischer Koordinator BK bat mich, darüber nachzudenken, ob BM a. D. Stoltenberg nicht der richtige Mann sei; er wies darauf hin, dass diese Funktion der CDU/CSU zustehe, insbesondere nachdem Frau Schmalz-Jacobsen Ausländerbeauftragte geworden sei und Herr Baum Menschenrechtsbeauftragter sei. Ich erklärte, dass ich die Angelegenheit innerhalb der F.D.P. besprechen wolle. d) Ungarn/Waffenlieferungen aus früherem NVA-Material Der BK erklärte, dass ihn MP Antall auf Material der früheren NVA angesprochen habe.6 Er, BK, habe erklärt, dass dies zurzeit nicht laufen könne. Dies insbesondere im Hinblick auf die Situation im früheren Jugoslawien. 1 Kopie. Hat BM Kinkel am 6. September 1992 erneut vorgelegen, der handschriftlich für VLR I Matussek vermerkte: „Z[u] d[en] A[kten] in Sonderakte im Büro.“ 2 Für das Gespräch des BM Kinkel mit dem amerikanischen AM Baker am 30. Juni 1992 in Washington bzw. zum deutsch-amerikanischen Luftverkehrsabkommen vgl. Dok. 197, besonders Anm. 13. 3 Zum Schreiben des amerikanischen AM Baker vom 23. Juni 1992 an BM Kinkel bzw. zu dessen Antwortschreiben vom 23. Juli 1992 vgl. Dok. 197, Anm. 14. 4 Korrigiert aus: „BMF“. 5 In einer Vorlage vom 26. August 1992 für StM Schäfer für die Kabinettssitzung am folgenden Tag legte MD Dieckmann zum deutsch-amerikanischen Luftverkehrsabkommen vom 7. Juli 1955 dar: „In der Sache sollten wir für das Kündigungsdrängen der LH und den Wunsch des BMV nach möglichst baldiger Kündigung des Abkommens Verständnis zeigen und uns einer Kündigung nicht widersetzen, allerdings darauf bestehen, dass vor Übermittlung einer Kündigungsnote der Bundesminister des Auswärtigen seinem amerikanischen Kollegen die Kündigung brieflich ankündigt.“ Vgl. B 57, ZA-Bd. 176507. Am 7. September 1992 teilte BM Kinkel dem Vorsitzenden des Gesamtbetriebsrats der Lufthansa, Hagge, mit, dass eine Kündigung des Abkommens weiter geprüft werde. Vgl. B 57, ZA-Bd. 176507. 6 Zur Frage der Lieferung von NVA-Material an Ungarn vgl. Dok. 193.

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24. August 1992: Vermerk von Kinkel

BK bat jedoch, in den außenpolitischen Beziehungen Ungarn, dem wir in besonderer Weise verpflichtet seien, freundlich zu behandeln. Es könne auch mal die Zeit kommen, in der man über Waffenlieferungen nachdenken könne. Dies sei aber noch nicht soweit. e) Schiffseinsatz Adria7 BM Rühe schilderte die Situation und die Notwendigkeit, einen Schiffstausch auf deutscher Seite vorzunehmen. Mit dem BK wurde vereinbart, dass Herr Rühe und ich die Obleute und zuständigen Damen und Herren in den Fraktionen unterrichten. Aus dem AA bitte ich um Vorbereitung von Briefen an die zuständigen Damen und Herren des Auswärtigen Ausschusses, der Fraktion der F.D.P., usw. f) Innere Wiedervereinigung/DDR Es wurde erörtert, dass der BK sich dieses Themas mit Nachdruck annehmen sollte und wolle. g) Auschwitz-Komitee/Dahlhaus/Westphal BK ist damit einverstanden, dass an die Stelle von Herrn Dahlhaus Herr Westphal tritt.8 h) Grundgesetzänderung Out-of-Area-Einsatz/UNO Ausführliche Erörterung des Themas. Hinweis von mir, dass seitens der F.D.P. nicht beabsichtigt sei, durch die heutige Formulierung Schwierigkeiten in die Koalition zu tragen. Erörterung vor allem des Fragenkreises, ob WEU „regionale Abmachung“ im Sinne der UN-Charta9 ist; Erörterung des Gewaltenmonopolbegriffs. BK wies BM Bohl an, mit Herrn Lamers zu sprechen. i) BM Waigel/Vorbereitung Russland-Reise Ich erklärte, dass ich am 6./7.10. nach Russland reisen würde10, u. a. zwecks Einweihung Botschaft und Goethe-Institut; auf dieser Reise würde ich auch den Besuch des BK vom November11 vorbereiten. Insofern könne ich nicht ganz verstehen, wieso Herr Waigel mit der Vorbereitung der Kanzler-Reise beauftragt sei. BK erklärte, so sei das nicht zu verstehen; selbstverständlich würde ich seine Reise vorbereiten; es stünden aber eine Fülle von Finanzfragen an, und deshalb möge ich mich mit Herrn Waigel abstimmen, der auch nach Moskau fahren solle.12 7 Zu den Überwachungsmaßnahmen von NATO und WEU in der Adria vgl. Dok. 220. 8 MDg Schirmer vermerkte am 10. Juli 1992: „Die polnische Seite bittet uns seit längerem, ein deutsches Mitglied im Internationalen Museumsrat des ehemaligen KZ Auschwitz-Birkenau zu benennen. […] Ich schlage vor, dem Museumsrat Herrn Horst Dahlhaus (Direktor der Bundeszentrale für Politische Bildung) zu benennen. […] Der Rat besteht aus 24 Vertretern u. a. aus Polen, USA, GB, F, Belgien, Israel, Österreich und Kanada.“ Vgl. B 95, ZA-Bd. 201288. MD Wittmann notierte am 26. August 1992: „Sie hatten am 17.8.1992 entschieden, dass der polnischen Regierung als deutsches Mitglied […] Bundesminister a. D. Heinz Westphal vorzuschlagen ist. ChBK wurde hiervon unterrichtet und hat sein Einverständnis mitgeteilt.“ Vgl. B 95, ZA-Bd. 201288. 9 Vgl. Kapitel VIII der VN-Charta vom 26. Juni 1945; BGBl. 1973, II, S. 466–469. 10 Zum Besuch des BM Kinkel in Russland vgl. Dok. 311, Dok. 314 und Dok. 315. 11 BK Kohl besuchte Russland am 15./16. Dezember 1992. Vgl. Dok. 419 und Dok. 420. 12 Der für die Zeit vom 10. bis 12. November 1992 geplante Besuch des BM Waigel in Russland wurde abgesagt. Vgl. den Vermerk des VLR I Göckel vom 5. November 1992; B 38, ZA-Bd. 184715.

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BM Rühe erklärte, er werde auch gedrängt. BK erwiderte, BM Rühe möge mit seiner Reise noch eine Zeitlang warten. j) Gespräch mit AM Colombo13 Ich erläuterte dem BK, dass der neue italienische AM Colombo mir von sich aus erklärt habe, Italien unterstütze die Bundesrepublik in dem Wunsch nach dem Sitz der Europäischen Bank; man erwarte als Gegenleistung eine Unterstützung Italiens für die Umweltagentur. Außerdem sei Italien mit der Verlängerung von NATO-GS Wörner einverstanden.14 k) Polen Ich berichtete über meine Polen-Reise15 und wies darauf hin, dass aus meiner Sicht dringend notwendig sei, dass der BK die neue Ministerpräsidentin16 empfange, um die neue Regierung zu unterstützen. Ich verwies dabei auf meinen Brief.17 BK war informiert und sagte zu, möglichst schnell einem Besuch zuzustimmen.18 l) ČSFR BK erklärte, die Teilung sei wohl beschlossen. Die Tschechen wollten in besonderer Weise ein gutes Verhältnis zukünftig mit uns. Es solle darüber nachgedacht werden, wie die Verträge im Hinblick auf die neu eintretende Situation umgeschichtet werden könnten. Insoweit bitte ich um Vorlage. m) Slowakei BK erklärte, Slowakei werde wohl der schwächere (vor allem wirtschaftlich) Teil werden. Deshalb müsse versucht werden, gerade die Slowakei stärker an uns ran zu ziehen. n) Situation Moskau – Situation in der Regierung BK erklärte, er halte Jelzin für nicht ungefährdet. Ihn würde es nicht wundern, wenn demnächst Ruzkoj Regierungschef sei. Aus der Sicht Jelzins seien im Augenblick zwei Punkte interessant: aa) Landwirtschaftspolitik: Hier könnten wir helfen. bb) Ansiedlung der Deutschen: Bleibe ein problematisches Thema. 13 Für das Gespräch des BM Kinkel mit dem italienischen AM Colombo am 18. August 1992 in Stuttgart vgl. Dok. 253. 14 Zur Verlängerung der Amtszeit des seit 1988 amtierenden NATO-GS Wörner vgl. Dok. 152, Anm. 10. 15 BM Kinkel besuchte Polen am 29./30. Juli 1992. Vgl. Dok. 242. 16 Hanna Suchocka. 17 BM Kinkel teilte BK Kohl am 8. August 1992 mit: „Bei meinem Polen-Besuch am 29./30. Juli 1992 hatte ich Gelegenheit, die neue polnische Ministerpräsidentin, Frau Hanna Suchocka, kennenzulernen. Sie ist Juristin, ausgewiesene Expertin für Minderheitenrechte, spricht fließend Deutsch (Studium u. a. in Heidelberg) und vertritt überzeugend und dynamisch einen klar nach Westen ausgerichteten Reformkurs. […] Da unsere finanziellen Möglichkeiten erschöpft sind […], kommt politischen Zeichen und Gesten umso größere Bedeutung zu. Ich habe deshalb die Ankündigung von Frau Ministerpräsidentin Suchocka, Sie, Herr Bundeskanzler, zu einem baldigen Besuch nach Polen einladen zu wollen, begrüßt. Da ein solcher Besuch aber kaum vor 1993 in Frage kommen dürfte, hielte ich es für sinnvoll und nützlich, wenn Frau Suchocka vorher, d. h. möglichst bald nach der Sommerpause, Gelegenheit zu einem kurzen informellen Besuch in Bonn gegeben werden könnte.“ Vgl. B 1, ZA-Bd. 366026. 18 Für das Gespräch des BK Kohl mit der polnischen MP Suchocka am 5. November 1992 vgl. Dok. 356.

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o) Berlin/Olympiade 2000 Ich erklärte, dass ich der Meinung sei, dass es nicht angehe, Berlin in der OlympiaBewerbung für 2000 alleinzulassen und zu erklären, dass kein Geld aus dem Bundeshaushalt fließe. Meines Erachtens sei [es] schon aus Gründen der notwendigen Schaffung einer Verkehrsinfrastruktur in Berlin notwendig, die Olympiade 2000 nach Berlin zu bringen. BK erwähnte, ich hätte mich ja massiv für Berlin eingesetzt; er ließ durchblicken, dass er persönlich auch für eine Unterstützung Berlins sei. p) Grundstück/Neubau AA Berlin Ich erklärte dem BK, dass ich letzte Woche mir die Grundstückssituation in Berlin angesehen und Gespräche mit dem Regierenden Bürgermeister und dem Bausenator Hassemer geführt hätte. Frau Schwaetzer und Herr Diepgen hätten mir erklärt, dass für das AA das frühere Reichsbankgebäude infrage komme mit eventuellen Neu- und Anbauten. Ich erklärte, dies würde ich kategorisch ablehnen. Ich hätte in meinen Berliner Gesprächen vielmehr zum Ausdruck gebracht, dass das AA, das in Bonn besonders mies untergebracht sei, nicht in das frühere Reichsbankgebäude einziehen wolle, das nach Vorstellungen von Frau Schwaetzer und der Berliner Verwaltung die richtige Unterkunft wäre. Ich sei der Meinung, dass das dem Bund gehörende Gelände der Ministergärten schon wegen der früheren Wilhelmstraße die richtige Unterkunft sei. Der BK erklärte, er sei anderer Meinung. Ihm sei nicht bekannt (und er unterstütze das auch nicht!), dass das AA zukünftig in das frühere Reichsbankgebäude einziehen solle. Er sei der Meinung, dass das AA zusammen mit dem Bundespräsidialamt und dem Bundesministerium des Innern in Berlin-Mitte in einem absoluten Neubau untergebracht werden solle. Dazu solle u. a. das frühere AA der DDR abgerissen werden. Die Ministergärten könnten nur mit Flachbungalows bebaut werden; außerdem denke er dort an eine Begegnungshalle für größere Anlässe. Ich erwiderte, dass man die Ministergärten auch für das AA mit Flachdachgebäuden umgebungsgerecht bebauen könne. So hätte ich es auch mit Herrn Diepgen und Herrn Hassemer besprochen. Im Übrigen sei ein Auftrag an das Wohnungsbauministerium und an die Berlin-Bau-Verwaltung ergangen, dies zu prüfen. Der BK erklärte erneut, dagegen sei er. Er wolle einen absoluten Neubau des AA, aber in Berlin-Mitte in der Nähe des Kronprinzenpalais. Im Übrigen wolle er dies in den nächsten Tagen alles nochmals mit dem Regierenden Bürgermeister besprechen. Berlin wisse nicht richtig, was es wolle. q) Jugoslawien aa) BK erklärte, dass für ihn der humanitäre Teil der Gesamtfrage von außerordentlicher Bedeutung sei. Er sehe den Winter nahen, und die Fernsehnachrichten würden mit Sicherheit über die Not im früheren Jugoslawien berichten. Deshalb müsse das Hauptaugenmerk auf diesen Fragenkreis gelegt werden, zumal wir auch dabei die größten Möglichkeiten hätten. Nach seiner Meinung sei es nicht damit getan, nur Finanzen zur Verfügung zu stellen, sondern es müsse auch geregelt werden, wer was wann wo und wie mache. Insoweit bitte er um weitere Vorbereitungen. 1040

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Ich wies darauf hin, dass wir – was die humanitären Leistungen anbelange – uns wahrhaftig mit unseren Leistungen sehen lassen könnten. Hier seien wir absolut an der Spitze, und dies werde auch überall so gesehen. Der BK beharrte darauf, dass wir hier in noch stärkere konkrete Planung der Unterbringungsmöglichkeiten einsteigen möchten. Ich bitte insoweit um Vorbereitung eines Schreibens von mir an den BK, in dem unsere humanitären Leistungen dargestellt werden.19 bb) Sodann erläuterte ich unsere Vorüberlegungen zur Londoner Konferenz.20 – Sicherung des UN-Embargos21 (Kontrolle der Schifffahrt auf der Donau, Landtransporte). BK erklärte sich bereit, alle notwendigen logistischen und auch personellen Unterstützungsmaßnahmen (Zöllner, Privatpersonen usw.) zu unterstützen. – Kontrolle schwerer Waffen; ich wies auf die praktischen Schwierigkeiten hin. – Militärische Absicherung humanitärer Hilfsleistungen. Breite Diskussion. Warnende Hinweise von BM Rühe, wie in der letzten Kabinettssitzung. Feststellung, dass die Bereitschaft zu militärischem Einsatz für humanitäre Hilfsleistung relativ gering ist. WEU- und NATO-Diskussion darüber, ob man Einzeltransporte absichern könne und solle. – Internierungslager/Menschenrechte: Einverständnis beim BK, dass wir massiv die Auflösung aller Lager fordern und unsere Bereitschaft zur zusätzlichen Aufnahme von Lagerinsassen kundtun. – Völkermord/Internationaler Gerichtshof22: Alle Unterstützung des BK für Haltung des AA. – Flüchtlingspolitik: Völlige Unterstützung des BK für unsere Haltung. – Ausschluss Jugoslawiens aus internationalen Organisationen: Volle Unterstützung unserer Haltung. Einbindung Russland: BK wird auf meinen Vorschlag Brief an Präsident Jelzin senden. 2) Herrn Staatssekretär Dr. Lautenschlager persönlich zur Kenntnisnahme zuzuleiten mit der Bitte um weitere Veranlassung, soweit erforderlich. 3) Wiedervorlage sofort bei mir. Kinkel B 1, ZA-Bd. 178913 19 BM Kinkel teilte BK Kohl am 16. September 1992 mit: „Die direkte Hilfe der Bundesregierung beläuft sich z. Zt. auf insgesamt 112,8 Mio. DM. Hinzu kommt der deutsche Anteil an der umfangreichen EGHilfe, der mit 88,9 Mio. DM zu beziffern ist. Infolgedessen hat die gesamte deutsche Hilfe inzwischen die 200 Mio.-DM-Marke überschritten. Deutschland steht nach der EG-Kommission an der Spitze aller Geber.“ Vgl. B 1, ZA-Bd. 366026. 20 Zur internationalen Jugoslawien-Konferenz am 26./27. August 1992 vgl. Dok. 269. 21 Vgl. die Resolution Nr. 713 des VN-Sicherheitsrats vom 25. September 1991; RESOLUTIONS AND DECISIONS 1991, S. 42 f. Für den deutschen Wortlaut vgl. EUROPA-ARCHIV 1991, D 550–552. Vgl. auch die Resolution Nr. 757 des VN-Sicherheitsrats vom 30. Mai 1992; Dok. 159, Anm. 12. 22 Zur Frage der Einrichtung eines Internationalen Strafgerichtshofs vgl. Dok. 247.

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24. August 1992: Vorlage von Höynck

259 Vorlage des Botschafters z. b. V. Höynck für Bundesminister Kinkel VS-NfD

24. August 1992

Über Herrn Staatssekretär1 Herrn Bundesminister2 Betr.:

Reise des tschechoslowakischen Außenministers Moravčík3 in das frühere Jugoslawien (19. bis 21.8.1992); hier: Zusammenfassung; meine Eindrücke und Schlussfolgerungen

Zur Unterrichtung I. 1) Zusammen mit dem Leiter der Unterabteilung Osteuropa im schwedischen Außenministerium habe ich den tschechoslowakischen Außenminister bei seiner Reise nach Belgrad, Skopje, Laibach, Zagreb, Sarajevo begleitet. Die Delegation führte Gespräche mit den wichtigsten direkt oder indirekt am Konflikt Beteiligten, außerdem mit UNPROFORBefehlshaber (General Nambiar), MRK-Sonderberichterstatter Mazowiecki und der EGMonitormission. Die Reise war durch die tschechoslowakischen Botschaften vor Ort gut vorbereitet; die Zusammenarbeit innerhalb der Delegation war sehr gut. 2) Die Ziele der Reise formulierte der tschechoslowakische Außenminister wie folgt: – Zustimmung (Belgrad) bzw. erneute Unterstützung für drei konkrete KSZE-Initiativen (vom Ausschuss der Hohen Beamten (AHB) am 14.8.1992 beschlossen4): – Langzeitmissionen Kosovo, Wojwodina, Sandžak; – Berichterstattermission Menschenrechte, insbesondere Internierungslager (detention camps); – Beobachtermission Mazedonien; – Unterrichtung über Haltung der Gesprächspartner zur Londoner Konferenz5. 3) Die konkreten Ergebnisse der Reise: – Die Berichterstattermission Menschenrechte/Internierungslager (Leitung durch britischen Diplomaten Thomson6) wurde von allen Gesprächspartnern begrüßt (Serben Bosnien-Herzegowinas: im Prinzip); von den betroffenen Regierungen wurde Unterstützung zugesagt. 1 Hat StS Lautenschlager am 24. August 1992 vorgelegen, der handschriftlich vermerkte: „Eilt. Vorlage vor Gespräch beim BK.“ Zum Gespräch bei BK Kohl am selben Tag vgl. Dok. 258. 2 Hat BM Kinkel am 27. August 1992 vorgelegen. Hat VLR I Matussek am 28. August 1992 vorgelegen, der den Rücklauf über das Büro Staatssekretäre an Botschafter z. b. V. Höynck verfügte. Hat VLR I Reiche am 31. August 1992 vorgelegen. Hat Höynck am 31. August 1992 erneut vorgelegen. 3 Der tschechoslowakische AM Moravčík war amtierender KSZE-Ratsvorsitzender. 4 Zur AHB-Sitzung am 13./14. August 1992 vgl. Dok. 254, Anm. 13. 5 Zur internationalen Jugoslawien-Konferenz am 26./27. August 1992 vgl. Dok. 269. 6 Zur KSZE-Berichterstattermission vgl. Dok. 274, Anm. 15.

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24. August 1992: Vorlage von Höynck

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– Präsident Gligorov (Skopje) stimmte der Entsendung (nach Verhandlungen über ein Memorandum of Understanding) von Beobachtern nach Mazedonien zu – entsprechend den EG-Beobachtern für Ungarn, Bulgarien, Albanien. – Milošević (uneingeschränkt), Ćosić und Panić (beide zögernd und mit Vorbehalten) akzeptierten „im Prinzip“ die Langzeitmissionen; über Einzelheiten soll unverzüglich vorläufiger Leiter dieser Mission (schwedischer Botschafter in Den Haag7) Gespräche mit Außenministerium in Belgrad aufnehmen. II. 1) Meine wichtigsten Reiseeindrücke waren: – Die Lage in Sarajevo (Freitag 21.8.92) ist schlimmer, als Fernsehbilder wiedergeben können. Häuser weitgehend unbewohnbar; nichts funktioniert mehr; eine Stadt im Belagerungszustand. (Ohne erhebliche Verstärkung der Hilfsmaßnahmen (wobei der Status quo der Hilfe nicht gesichert ist) und Einstellung des Artilleriebeschusses ist die Stadt m. E. über den Winter nicht zu halten.) – UNPROFOR und UNHCR arbeiten am Flughafen in Sarajevo gut und effektiv als „VN-Aktion“ zusammen; (Flüge der Delegation von und nach Sarajevo mit jeweils einer der beiden Transall der Luftwaffe, die in VN-Aktion „integriert“ erscheint; Soldaten der Luftwaffe machten ausgezeichneten Eindruck: effektiv, aufgeschlossen und freundlich). – Die innere Lage in Serbien/FRJ8 scheint in Bewegung zu geraten; Panić, zwar eine sehr schillernde Persönlichkeit, aber möglicherweise ein Katalysator; sein Verhältnis mit Milošević ist getrübt. – Zur Londoner Konferenz besteht (auch außerhalb Belgrads) ein breites, nur in wenigen Punkten übereinstimmendes, überwiegend skeptisches Meinungsspektrum. 2) Angesichts der überaus komplexen Jugoslawien-Problematik kann ich Schlussfolgerungen nur mit dem nachdrücklichen Vorbehalt ziehen, dass diese im Wesentlichen auf den punktuellen Eindrücken der kurzen Reise beruhen und weiterer Prüfung bedürfen. Zusammenfassend: Es gibt keine Möglichkeit, diesen Krieg kurzfristig zu beenden. Aber: Vieles kann und muss unverzüglich solidarisch getan werden: zur Linderung der Not; als Hinführung zu einer schrittweisen Lösung; zur Verhinderung einer Ausweitung. Hierzu im Einzelnen: 2.1) Es gibt weder einfache noch schnelle Lösungen. Die Verantwortlichen in Belgrad, aber auch in Sarajevo und Zagreb, sind noch nicht „reif“ für eine dauerhafte Gesamtlösung. 2.2) Es kann und muss jedoch mehr geschehen in den drei Bereichen, die durch VN-, EGund KSZE-Beschlüsse vorgezeichnet sind: – Schritte in Richtung auf eine Lösung durch u. a.: – Einwirkung insbesondere auf Serben (politische Isolierung; Durchsetzung der Sanktionen9), aber auch auf Kroaten und Moslems; – Überwachung (Monitoring) der schweren Waffen. 7 Jan af Sillén. 8 Föderative Republik Jugoslawien. 9 Vgl. die Resolution Nr. 713 des VN-Sicherheitsrats vom 25. September 1991; RESOLUTIONS AND DECISIONS 1991, S. 42 f. Für den deutschen Wortlaut vgl. EUROPA-ARCHIV 1991, D 550–552. Vgl. auch die Resolution Nr. 757 des VN-Sicherheitsrats vom 30. Mai 1992; Dok. 159, Anm. 12.

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24. August 1992: Vorlage von Höynck

– Linderung der Not durch u. a.: – Hilfe für das belagerte Sarajevo und andere Notstandsgebiete durch Ausweitung der „VN-Aktionen“ (Fortsetzung UNHCR-Hilfe für Sarajevo und Aufnahme geschützter Konvois); – Inspektion aller Arten von „Lagern“ und Auflösung der Lager, die verbürgten Menschenrechten widersprechen; – Flüchtlingshilfe (das Konzept der „safe havens“ (Sicherheitszonen) bedarf der Konkretisierung, um keine „Palästinenser“-Lager zu schaffen (so der kroatische Plan) ). – Vorbeugung gegen drohende Ausweitung des Konflikts durch u. a.: – KSZE-Langzeitmissionen nach Kosovo, Wojwodina, Sandžak; – Mazedonien-Problem. 3) Die Aktionen der Völkergemeinschaft durch die verschiedenen internationalen Gremien bedürfen dringend (noch) besserer Koordinierung. Auch darüber muss in London gesprochen werden. Beispiel: Vier Missionen zur Aufhellung der Situation in den Internierungslagern (IKRK, MRK (Mazowiecki), KSZE (aufgrund AHB-Beschluss), KSZE (aufgrund „Moskauer Menschenrechtsmechanismus“10)) bedürfen dringend der Koordination und Arbeitsteilung. So auch die dezidierte Meinung von Mazowiecki bei Gespräch mit Delegation in Zagreb. 4) Bedenkenswert erscheint mir, was Izetbegović der Delegation im Regierungsgebäude Bosnien-Herzegowinas (gezeichnet durch frische Artillerie-Einschläge und Fenster ohne Scheiben) als wirklichen „Notruf“ sagte: Die internationale Gemeinschaft muss endlich handeln! Wir brauchen keine neuen Beschlüsse, wenn nur die bereits getroffenen Beschlüsse durchgeführt würden! Izetbegovićs auf Nachfrage ausdrücklich bestätigtes Hauptanliegen: Kontrolle der schweren Waffen. Höynck B 28, ZA-Bd. 158644

10 Zur KSZE-Konferenz über die Menschliche Dimension vom 10. September bis 4. Oktober 1991 vgl. AAPD 1991, II, Dok. 333.

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24. August 1992: Vorlage von Bertram

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260 Vorlage des Vortragenden Legationsrats I. Klasse Bertram für Bundesminister Kinkel 201-363.26

24. August 19921

Über Dg 202, D 23, Herrn Staatssekretär4 Herrn Bundesminister5 Betr.:

US-Pläne für globales Raketenabwehrsystem (Global Protection System = GPS)

Bezug: BM-Vorlage vom 14. April 19926 Zweck der Vorlage: Zur Unterrichtung und Billigung der unter Ziffer 6 vorgeschlagenen Linie 1) GPS ist seit dem amerikanisch-russischen Gipfel Mitte Juni 1992 in Washington7 die Sammelbezeichnung für die US-Überlegungen zum Aufbau eines auf internationaler Zusammenarbeit beruhenden weltweit wirkenden Frühwarn- und Abwehrsystems gegen ballistische Raketen, das die USA für sich mit dem GPALS-Konzept (Global Protection Against Limited Strikes) verwirklichen wollen. Mit dieser neuen Bezeichnung verbinden die USA insbesondere eine Verlegung des Schwerpunktes der Debatte auf operative Bemühungen um die Errichtung eines internationalen Früherkennungs- und Frühwarnzentrums als erste Phase eines globalen Schutzsystems. GPALS wurde Anfang 1991 aus der Strategischen Verteidigungsinitiative (SDI) entwickelt.8 Die Bundesregierung ist unter drei Gesichtspunkten aufgerufen, bis zum Herbst d. J. eine Position über die weitere Marschroute in Bezug auf die zunehmende Verbreitung ballistischer Raketen und evtl. Bemühungen zum Aufbau einer Abwehrkapazität zu entwickeln: 1 2 3 4 5

Die Vorlage wurde von VLR Ulrich konzipiert. Hat in Vertretung des MDg Hofstetter MDg von Studnitz am 24. August 1992 vorgelegen. Hat MD Chrobog am 25. August 1992 vorgelegen. Hat StS Kastrup am 31. August 1992 vorgelegen. Hat BM Kinkel am 1. September 1992 vorgelegen. Hat OAR Salzwedel am 2. September 1992 vorgelegen, der den Rücklauf über das Büro Staatssekretäre, MD Chrobog und MDg Hofstetter an Referat 201 verfügte und handschriftlich vermerkte: „S[iehe] Bem[erkung] BM (letzte Seite).“ Vgl. Anm. 15. Hat StS Kastrup am 2. September 1992 erneut vorgelegen. Hat in Vertretung von Chrobog und Hofstetter MDg von Studnitz am 3. September 1992 erneut vorgelegen. Hat VLR Ulrich am 3. September 1992 erneut vorgelegen, der die Weiterleitung an VLR I Bertram „n[ach] R[ückkehr]“ und VLR Schumacher verfügte. Hat Schumacher am 3. September 1992 vorgelegen. Hat Bertram erneut vorgelegen. 6 Für die Vorlage des VLR I Bertram für BM Genscher, mit der die amerikanischen Pläne für ein globales Raketenabwehrsystem (GPALS) skizziert und bewertet wurden, vgl. B 14, ZA-Bd. 161268. 7 Zum Besuch des russischen Präsidenten Jelzin vom 15. bis 18. Juni 1992 in den USA vgl. Dok. 186. 8 Zu den amerikanischen Plänen für ein globales Raketenabwehrsystem (GPALS) vgl. AAPD 1991, I, Dok. 125.

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– Ab September 1992 werden die USA – nach Abschluss der bisherigen Phase der Unterrichtung der Bündnispartner – sowohl bilateral als auch innerhalb der NATO darauf drängen, substanzielle Konsultationen über ihre Vorstellungen zum Aufbau eines globalen Schutzsystems einzuleiten, wobei operativ für sie zunächst die Zusammenarbeit zum Aufbau eines Frühwarnzentrums im Vordergrund stehen dürfte. – Der Deutsche Bundestag erwartet von der Bundesregierung eine politisch-konzeptionelle Reaktion auf die GPALS-Pläne der USA. Der Unterausschuss für Abrüstung und Rüstungskontrolle hat angekündigt, dieses Thema bereits für September erneut auf die Tagesordnung zu setzen. – Innerhalb der Bundeswehr läuft die Planung für die Entwicklung neuer Luftverteidigungskonzepte (mit der Definition technisch-operativer Anforderungen). Eine (begrenzte) Fähigkeit zur Abwehr ballistischer Raketen müsste ggf. frühzeitig berücksichtigt werden. 2) In den vergangenen achtzehn Monaten haben die USA den Bündnispartnern (und anderen befreundeten Ländern wie Japan, Australien, Südkorea, Israel) das von ihnen aus der ursprünglichen SDI fortentwickelte GPALS-Konzept vorgestellt. Im Unterschied zur SDI zielt GPALS nicht darauf ab, das US-Territorium gegen strategische Angriffe unverwundbar zu machen. GPALS soll vielmehr die Abwehr von begrenzten Angriffen mit (strategischen und anderen) Raketen ermöglichen. Das System soll folgende Aufgaben erfüllen: – Schutz des US-Territoriums (gegen strategische Raketen); – Schutz von US-Streitkräften im Ausland (forward-based); – Schutz von Bündnispartnern (v. a. „strategische“ Partner). GPALS soll dabei über folgende Elemente verfügen: – sechs landgestützte, fest installierte Raketenabwehrsysteme in den USA; – bodengestützte, mobile Abfangsysteme für Einsatz außerhalb der USA; – weltraumgestützte Einheiten von Abfangsystemen (Brilliant Pebbles) zum Schutz gegen taktische Raketen größerer Reichweite und gegen strategische Raketen; – Radar- und Sensorsysteme im Weltraum (Brilliant Eyes) zur Frühwarnung vor Angriffen und zur Führung und Steuerung von (boden- wie weltraumgestützten) Abwehrflugkörpern. Der US-Kongress hat 1991 die US-Administration per Gesetz aufgefordert, bis spätestens 1996 in den USA ein landgestütztes System von Abwehrflugkörpern samt der zugehörigen Radaranlage zu errichten und die Forschungsarbeiten für ein umfassenderes Abwehrsystem unter Einschluss mehrerer landgestützter Abwehrsysteme in den USA und raumgestützter Sensoren voranzutreiben. Dies alles müsse in Übereinstimmung mit der geltenden Fassung des ABM-Vertrages von 19729 geschehen. Bei Forschung und Entwicklung einzelner GPALS-Komponenten sind in den letzten Monaten immer wieder technische Probleme bekannt geworden. Inzwischen räumt auch der Leiter des SDI-Projektes10 ein, dass man möglicherweise Schwierigkeiten haben werde, 9 Für den amerikanisch-sowjetischen Vertrag vom 26. Mai 1972 über die Begrenzung der Raketenabwehrsysteme (ABM-Vertrag) vgl. UNTS, Bd. 944, S. 14–22. Für den deutschen Wortlaut vgl. EUROPA-ARCHIV 1972, D 392–395. Vgl. ferner das Protokoll vom 3. Juli 1974 zum ABM-Vertrag; DEPARTMENT OF STATE BULLETIN, Bd. 71 (1974), S. 216 f. Für den deutschen Wortlaut vgl. EUROPA-ARCHIV 1974, D 363 f. 10 Henry F. Cooper.

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den vom Kongress gesetzten Termin zur Errichtung einer ersten Raketenabwehranlage bis 1996 einzuhalten. Der demokratische Senator Nunn wirft der SDI-Organisation vor, sich zu sehr auf die Entwicklung raumgestützter Elemente von GPALS zu konzentrieren und damit den Aufbau des vorgesehenen bodengestützten Abwehrsystems zu vernachlässigen. 3) Mit GPS verfolgt die US-Administration keinen grundsätzlich neuen Ansatz. Sie hat jedoch erkennbar den Schwerpunkt ihrer Bemühungen verschoben in Richtung auf eine weltweit wirkende Kooperation mit besonderem Interesse auf dem „Nahziel“ der Errichtung eines int. Frühwarnzentrums (in zwei bis drei Jahren). Bereits im Laufe dieses Frühjahrs präsentierten die USA ihr GPALS-Konzept zunehmend als US-Beitrag zu einem nicht nur geographisch, sondern auch politisch global ausgerichteten System zur Eindämmung des aus der Verbreitung ballistischer Raketen erwachsenden neuartigen Risikos. Es geht, so betonen die USA, um eine parallele Strategie zur Verhinderung weiterer Proliferation und der politischen Risikovorsorge einerseits sowie des Aufbaus militärischer Abwehrkapazitäten andererseits. Die Bündnispartner könnten sich ggf. an einzelnen, voneinander abtrennbaren Komponenten von GPALS beteiligen (z. B. ihre Teilnahme auf mobile, bodengestützte Abwehrsysteme beschränken) oder eigene Entwicklungen verwirklichen und (soweit kompatibel) in das Gesamtsystem einbringen. Die USA seien entschlossen, nach und nach (gemäß technologischem Fortschritt und Stand einvernehmlicher Anpassung des ABM-Vertrages) ihr GPALS-Konzept umzusetzen, auch wenn sich keiner der Verbündeten daran beteilige. 4) Dieser Ansatz der Kooperation wurde erstmals auf dem amerikanisch-russischen Gipfel in Washington am 17. Juni 1992 mit dem Begriff „Global Protection System“ bezeichnet. Auf diesem Gipfel stellten die Präsidenten Bush und Jelzin in einer gesonderten Erklärung11 fest, die Rolle einer Verteidigung gegen begrenzte Raketenangriffe untersuchen zu wollen. Beide Länder sollten mit Verbündeten und anderen interessierten Staaten zusammenarbeiten, um solch ein Abwehrsystem als Teil einer Gesamtstrategie zur Nichtverbreitung ballistischer Raketen und Massenvernichtungswaffen zu entwickeln. Eine hochrangige Arbeitsgruppe solle sich vorrangig folgenden Fragen widmen: – Errichtung eines Frühwarnzentrums, – Zusammenarbeit bei Entwicklung eines Raketenabwehrsystems, – Rechtsfragen einschließlich der Anpassung bestehender Verträge. Diese Gespräche wurden Mitte Juli 1992 in Moskau aufgenommen. Die anschließende US-Unterrichtung im Bündnis bestätigte das russische Interesse an einem globalen Raketenabwehrsystem.12 Möglicherweise betont Russland noch stärker als die USA den weltweiten Ansatz. Übereinstimmung scheint zu bestehen, dass das Schutzsystem durch Verknüpfung sachlicher Beiträge gebildet werden sollte. 11 Für die Erklärung der Präsidenten Bush (USA) und Jelzin (Russland) vom 17. Juni 1992 über ein globales Schutzsystem (Global Protection System) vgl. DEPARTMENT OF STATE DISPATCH 1992, S. 493 f. 12 Die Ständige Vertretung bei der NATO in Brüssel berichtete am 15. Juli 1992, die USA hätten den NATORat am Vortag über die amerikanisch-russischen Gespräche am 13./14. Juli 1992 in Moskau informiert. Die amerikanischen Gesprächspartner hätten das „hohe Interesse“ der russischen Seite an einer Zusammenarbeit beim Aufbau eines globalen Schutzsystems betont: „Russische Gesprächspartner seien stark an einer Multilateralisierung, vor allem einer Einbeziehung der anderen GUS-Staaten, interessiert. Die russische Seite teile die amerikanische Einschätzung künftiger Risiken, die sich z. B. aus dem unbeabsichtigten Abschuss ballistischer Raketen“ ergeben könnten. Vgl. DB Nr. 1118; B 14, ZA-Bd. 161268.

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Deshalb hat auch Russland besonderes Interesse am gemeinsamen Betrieb eines Frühwarnzentrums sowie an einer Zusammenarbeit in Bezug auf die Abwehr taktischer Raketen geäußert (da Russland in dieser Beziehung besondere Risiken sehe). Auf die amerikanischen Vorstellungen für eine Anpassung des ABM-Vertrages hätten die russischen Gesprächspartner allerdings mit Zurückhaltung reagiert. In der jetzigen Phase sei eine Zusammenarbeit in Bezug auf GPS ohne Änderung des Vertrages möglich. Was eine spätere Umsetzung von GPS anbetreffe, so werde man die Notwendigkeit vertraglicher Änderungen prüfen. Die USA sehen einen Anpassungsbedarf unter folgenden Aspekten: – Anzahl der landgestützten Abwehrsysteme (gegen strategische Raketen), – Testen neuartiger Abfangsysteme, – neue Radaranlagen und Sensoren (auch im Weltraum). 5) Die Haltung westlicher Verbündeter zu den US-Vorstellungen ist bislang eher verhalten. Frankreich hat sich uns gegenüber kritisch bis ablehnend geäußert. Phänomen der Verbreitung ballistischer Raketen müsse politisch angegangen werden, nicht militärischtechnisch. Die Substanz des ABM-Vertrages müsse erhalten bleiben, da er für strategische Stabilität sorge und einer unerwünschten Militarisierung des Weltraums einen Riegel vorschiebe. Diese Äußerungen kontrastieren allerdings teilweise mit Gesprächen im militärischen Bereich, aus denen eine differenziertere und in Teilaspekten sogar positive Betrachtungsweise deutlich wird. Auch Großbritannien hat bislang große Zurückhaltung gegenüber GPS/GPALS erkennen lassen, wobei allerdings nach Pressemeldungen auch in der englischen Position eine differenzierende Betrachtungsweise an Boden zu gewinnen scheint. Beide Staaten befürchten (für GB wird dies im Verteidigungsweißbuch 1992 deutlich ausgesprochen), dass mit Errichtung eines umfassenden Raketenabwehrsystems die im Umfang vergleichsweise bescheidenen strategischen Arsenale von GB und F erheblich an Bedeutung verlieren. 6) Position der Bundesrepublik Deutschland Die BReg wird – neben der vertieften Erörterung nachstehender Fragenkomplexe – eine Position v. a. zu zwei Fragen entwickeln müssen: – eventuelle Beteiligung an einem internationalen Frühwarnzentrum sowie – eventuelle (ggf. auf Teilbereiche beschränkte) Beteiligung an einem Waffensystem zur Raketenabwehr. 6.1) Die US-Überlegungen zum Aufbau eines globalen Schutzsystems werfen aus unserer Sicht Fragen zu mehreren Gesichtspunkten auf: – Risikoanalyse: Mit der zunehmenden Verbreitung ballistischer Raketen in einer Vielzahl von Staaten, gerade auch in politisch instabilen Regionen, wächst generell das Risiko eines Angriffs mit ballistischen Raketen. Allerdings liegt die Bundesrepublik Deutschland derzeit noch nicht in der Reichweite der hier angesprochenen Flugkörper. Die NATO-MS an der Südflanke des Bündnisses sehen sich möglicherweise in einer anderen Lage. Wir werden insoweit den wichtigen Gesichtspunkt der Unteilbarkeit der Sicherheit im gesamten Bündnisgebiet in Rechnung zu stellen haben. Zu bedenken wäre auch die vom Aufbau eines Abwehrsystems zum Schutz des „Nordens“ gegenüber dem „Süden“ möglicherweise ausgehende polarisierende Wirkung zwischen IL und EL. – Tragweite des kooperativen Ansatzes der USA bedarf der Klärung. Dies gilt auch im Hinblick auf die evtl. Bereitschaft der USA zu arbeitsteiliger Entwicklung und zu um1048

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fassendem Technologietransfer. Klärungsbedürftig ist auch die bislang in Einzelheiten nicht erkennbare Idee von Jelzin nach einem globalen VN-Sicherheitssystem. Dieser Grundansatz würde kontrastieren mit dem US-Ansatz, der die Kooperation eher über die Verknüpfung weitestgehend unter nationaler Kontrolle verbleibender Beiträge realisieren will. – Eine „Militarisierung des Weltraums“ ist allerdings auch mit ABM-Vertrag in der geltenden Fassung nicht aufzuhalten. Militärisch genutzte Aufklärungssatelliten kreisen seit vielen Jahren in großer Zahl im Weltraum. Die Verifikation wichtiger Abrüstungsvereinbarungen ist ohne sie nicht vorstellbar. Auch im Bereich der Proliferation ballistischer Raketen und Massenvernichtungswaffen sind Satelliten zur Aufklärung unentbehrlich. Die politischen Bemühungen zur Stärkung der Nichtverbreitung könnten einen Rückschlag erleiden, wenn aus der Realisierung des eher militärisch-technischen Ansatzes von GPS auf ein nachlassendes Interesse oder gar mangelndes Vertrauen der beteiligten Länder in die politischen Instrumente (Verlängerung NVV13, Missile Technology Control Regime (MTCR14) und anderer Vereinbarungen zur Beschränkung des Waffenund Technologietransfers, Stärkung VN-SR) geschlossen würde. Insbesondere Schwellenländer mit beschränkten Möglichkeiten könnten aber gerade auch durch ein wirksames Abwehrsystem das Interesse am Erwerb oder Aufbau von ballistischen Angriffssystemen verlieren. Im Ergebnis würden dadurch unsere Bemühungen zur Stärkung der Nichtverbreitung unterstützt werden. – Unter rüstungskontrollpolitischen Gesichtspunkten wirft GPS bisher ungelöste Fragen in mehrerer Hinsicht auf: – Generell ist zu bedenken, dass Bedrohungsperzeptionen, wie sie bei GPS zugrunde gelegt werden, geeignet sind, unsere Handlungsspielräume bei der Abrüstungs- und Rüstungskontrollpolitik einzuschränken. Dies gilt insbesondere für die Nichtverbreitung von Massenvernichtungswaffen und Trägertechnologie. Die politischen Bemühungen zur Stärkung der Nichtverbreitung könnten einen Rückschlag erleiden, wenn aus der Realisierung des eher militär-technischen Ansatzes von GPS auf ein nachlassendes Interesse an Verlängerung des NV-Vertrages, Missile Technology Control Regime (MTCR) und anderen Vereinbarungen zur Beschränkung des Waffenund Technologietransfers geschlossen würde. Der GPS zugrunde zu legende breite kooperative Ansatz sollte daher unsere abrüstungs- und rüstungskontrollpolitischen Belange deutlich berücksichtigen. – Weitere Bedenken gelten dem Schicksal des ABM-Vertrages. Obwohl zwischen den beiden damaligen Supermächten abgeschlossen, ist er nach überwiegender Ansicht nicht nur für die Vertragsparteien bzw. deren Rechtsnachfolger, sondern für alle Staaten von Bedeutung. Er bildet über seine ursprüngliche Funktion hinaus (Beitrag zur strategischen Stabilität zwischen den beiden Supermächten) eine Barriere gegen weiteres Wettrüsten bei Offensivsystemen. Insbesondere hat der ABM-Vertrag in der Vergangenheit wesentlich dazu beigetragen, die militärische Nutzung des Weltraums einzuschränken. Zwar werden im Weltraum heute zahlreiche Aufklärungssatel13 Vgl. Artikel X Absatz 2 des Nichtverbreitungsvertrags vom 1. Juli 1968; BGBl. 1974, II, S. 792. 14 Vgl. das MTCR-Treffen vom 29. Juni bis 2. Juli 1992 in Oslo; Dok. 217.

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liten zu militärischen Zwecken eingesetzt, doch erfüllen diese bezogen auf Verifikation von Abrüstungsvereinbarungen zum Teil auch eine stabilisierende und vielfach auch vertrauensbildende Funktion. Eine Realisierung des GPS-Konzepts würde darüber weit hinausführen, wenn Waffen in Gestalt von raumgestützten Abfangsystemen (Brilliant Pebbles) im Weltraum stationiert würden. Wir sollten darauf hinwirken, dass bei der vorgesehenen Anpassung des ABM-Vertrags die rüstungskontrollpolitische Substanz erhalten bleibt. 6.2) Im Unterausschuss Abrüstung und Rüstungskontrolle des Deutschen Bundestages wurde Mitte Juni 1992 grundsätzliche Kritik an den US-Überlegungen zum Aufbau eines globalen Abwehrsystems vorgetragen. Nicht nur Vertreter der Opposition, sondern auch Abgeordnete der Koalitionsfraktionen stellten die Notwendigkeit eines globalen Abwehrsystems für Deutschland und Europa pauschal infrage. Derzeitige Überlegungen im BMVg (die noch der Zustimmung der Leitungsebene bedürfen) laufen im Ergebnis auf eine Minimalbeteiligung an GPS hinaus. Für Deutschland und Europa wird keine Notwendigkeit gesehen, sich in irgendeiner Form an weltraumgestützten Waffensystemen zu beteiligen. Nützlich sei vor allem die Teilnahme an den Bemühungen zur Einrichtung eines (kooperativ angelegten) internationalen Frühwarnzentrums. Darüber hinaus wird daran gedacht, im Rahmen des derzeit bereits vorgesehenen Ausbaus traditioneller Luftverteidigungskonzepte eine begrenzte Abwehrkapazität gegen taktische Raketen über die NATO-Luftverteidigung in die Kooperation einzubringen. In Betracht kommen hier technologische Aufwertung von Patriot („Kampfwertsteigerung“) sowie Auslegung des (noch in der Definitionsphase befindlichen) neuen „Taktischen Luftverteidigungssystems“ (TLVS) auf eine Abwehrkapazität sowohl gegen Flugzeuge und Cruise Missiles als auch gegen taktische Raketen. 6.3) Für den weiteren Kurs der Bundesregierung zur Behandlung des Themas GPS in den nächsten Monaten wird folgendes (noch mit BMVg abzustimmendes) Vorgehen vorgeschlagen: – In den anstehenden Konsultationen mit den USA, die vor allem im Bündnisrahmen geführt werden sollten, werden die unter Ziff. 6.1) [dargestellten] Gesichtspunkte vertieft erörtert. – Auch mit den europäischen Bündnispartnern, insb. F und GB, werden die mit GPS zusammenhängenden politischen und militärischen Fragen eng konsultiert. – In diesen Gesprächen mit USA und anderen Bündnispartnern bringen wir zum Ausdruck, dass wir – der Erhaltung der rüstungskontrollpolitischen Substanz des ABM-Vertrages große Bedeutung beimessen; – einer Mitarbeit/Beteiligung an weltraumgestützten Abfangsystemen negativ gegenüberstehen; – die Möglichkeit einer Beteiligung an einem Frühwarnzentrum mit Entwicklung der dazugehörigen Aufklärungstechnologie auch unter dem Aspekt der Proliferationsverhinderung aufgeschlossen prüfen wollen; – bezüglich einer begrenzten, bodengestützten Abwehrkapazität daran denken, durch technologischen Ausbau unserer Luftverteidigungssysteme einen Beitrag zu GPS im Wege internationaler Zusammenarbeit zu leisten. 1050

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Aus dem BMVg hören wir, dass dort überlegt wird, die deutsche Position zum weiteren Vorgehen in den bilateralen und multilateralen Konsultationen sowie im nationalen Bereich (Parlament) im BSR zu behandeln.15 Die Referate 240 und 430 haben mitgezeichnet. Bertram B 14, ZA-Bd. 161268

261 Drahtbericht des Botschafters Hellbeck, Peking Fernschreiben Nr. 1130 Betr.:

Aufgabe: 25. August 1992, 10.21 Uhr1 Ankunft: 25. August 1992, 05.57 Uhr

China im Sommer 1992; hier: Resümee nach fünfeinhalb Jahren in Peking

1) Blickt man auf eine Periode von über fünf Jahren in China zurück, so treten die Konstanten und Charakteristika dieses Landes deutlicher hervor als bei kurzfristigen Analysen. Wer nur die negativen Ereignisse im Auge hat, lässt sich den Blick verstellen auf eine erstaunliche Evolution, die sich seit 1978 in diesem Lande vollzogen hat. Zwar mit 100 Jahren Verspätung im Vergleich zu Japan, aber doch mit großer Ausdauer und beachtlicher Dynamik, haben sich die Chinesen daran gemacht, das Tor zu einer moderneren Zukunft zu öffnen. Die Konzentration auf den wirtschaftlichen Fortschritt ist dabei einem Volk immer wichtiger geblieben, das Jahrtausende nie etwas von persönlicher oder politischer Freiheit gelernt hatte. Der wirtschaftliche Fortschritt fällt auch jetzt, bei einem Vergleich von 1978 mit 1992, besonders ins Auge. Dies hat auch beachtliche soziale Veränderungen mit sich gebracht, die nur dem auffallen, der länger im Lande lebt. Retardierende Momente, die wie der 4. Juni 19892 im wirtschaftlichen Bereich ohnehin nur eine untergeordnete Rolle gespielt haben, haben die gesellschaftlichen Veränderungen eher noch beschleunigt. Die Mentalität der heutigen Bevölkerung lässt dies erkennen: Konsumdenken und Wohlstandsmaximierung treten auf der einen Seite immer stärker hervor, die Loslösung vom kommunistischen Dogma und das Wissen um die Endlichkeit der sozialistischen Systeme haben andererseits zu einem 15 An dieser Stelle vermerkte MD Chrobog handschriftlich: „Diese Angelegenheit sollte im Hinblick auf die US-Wahlen möglichst dilatorisch behandelt werden.“ Dazu vermerkte BM Kinkel handschriftlich: „r[ichtig]“. Vgl. Anm. 5. 1 Das Fernschreiben wurde in zwei Teilen übermittelt. Vgl. Anm. 4. Hat VLR Zimmermann am 26. August 1992 vorgelegen, der die Weiterleitung an VLR I Sommer „n[ach] R[ückkehr]“ verfügte. Hat Sommer am 30. August 1992 vorgelegen. 2 Zur Niederschlagung der Demokratiebewegung in der Volksrepublik China vgl. Dok. 66, Anm. 5.

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Bewusstsein geführt, in dem sich der Fortschrittsglaube und die Hoffnung auf mehr Wohlstand mit traditionellen Elementen wie Dynamik, Pragmatismus und Korruption, aber auch mit Zynismus mischen. Immer deutlicher wird auch, dass die Hoffnung auf Veränderung von der historischen Erfahrung lebt, dass die Evolution sich zuerst in den Köpfen zu vollziehen hat und sich in der gesellschaftlichen Wirklichkeit nur langsam umsetzt. Das ist der Boden, auf dem ein seinem Ende zugehendes kommunistisches Regime den Weg in die Zukunft bahnen will. 2) Welchen Weg China gehen wird, in ein Chaos wie in der früheren Sowjetunion oder in eine neue, vor allem marktwirtschaftlich und vielleicht letztlich auch demokratisch orientierte Zukunft, ist durch den seit 1978 erreichten Reformacquis schon heute sehr weitgehend determiniert. Die seitdem eingetretene Umgestaltung des Landes, Hochbauten und Industrie, der Aufschwung der Landwirtschaft, das kaum noch Lücken lassende Konsumgüterangebot, die beginnende Veränderung der sozialwirtschaftlichen Infrastruktur von der Sozialversicherung über die Mietreform bis zum Arbeitsrecht und der Betriebsverfassung haben ein Fundament geschaffen, das eine beachtliche Widerstandsfähigkeit gegen konjunkturelle und politische Einbrüche aufweisen dürfte. Wenn heute unter dem Schlagwort „sozialistische Marktwirtschaft“ 70 v. H. der Wirtschaft nach marktwirtschaftlichen Regeln ablaufen, dann bildet sich damit das Fundament heraus, auf dem auch eine Demokratie aufgebaut werden kann. Freunde haben uns gesagt, dass die gegenwärtige Führung seit 1990 den zwangsläufigen Übergang auch Chinas zu einer modernen Gesellschaftsform nicht mehr ausschließt. In China wird derzeit erprobt, ob der schrittweise Übergang von einer staatlichen Planwirtschaft zur Marktwirtschaft als Alternative zur Schocktherapie möglich ist. Diese hatte Milton Friedman 1988 empfohlen, doch glauben die Chinesen keine andere Wahl als den Gradualismus zu haben. Die Erfahrungen der Sowjetunion und Polens schrecken, und das deutsche Beispiel ist auf China nicht anwendbar, weil niemand da ist, der die Arbeitslosen bezahlen könnte. Allerdings müssen die schwierigsten Reformprojekte, die Betriebs- und Preisreform, erst noch angegangen werden. Zu lange ist bereits darüber geredet worden, und es kann sein, dass der günstigste Zeitraum dafür schon verstrichen ist. Angesichts steigender Defizite der Staatsunternehmen und damit der Subventionen, aber auch im Hinblick auf eine so oder so drohende Arbeitslosigkeit spielt der Zeitfaktor eine immer größere Rolle. Vor diesem Hintergrund ist die Forderung Deng Xiaopings nach beschleunigtem Wirtschaftswachstum und schnelleren Reformen zu sehen – was andererseits nicht nur ausländische Beobachter an fatale Perioden der neueren chinesischen Geschichte erinnert. Zwar wird seit anderthalb Jahren die Wirtschaftsreform wieder umfassend betrieben, auch sind wichtige Fortschritte bereits erzielt. Doch gibt es auch starke gegenläufige Tendenzen. Die Fesseln des überkommenen Sozialsystems, das alle sozialen Privilegien an den Betrieb bindet und den Arbeitsplatzwechsel verhindert, hemmen die entschlossene Umsetzung der Reformmaßnahmen. Aber auch die Arbeiter drohen aus Angst vor einer Beeinträchtigung des Besitzstandes zu Reformgegnern zu werden. Auf der anderen Seite kann ein3 konjunktureller Rückschlag, hervorgerufen durch eine unzureichende makroökonomische Steuerung, sehr bald wieder zu Inflation und Stagnation führen und damit die weitere Reform mindestens aufhalten. Wenn Kreditausweitung und Geldmengenaufblä3 Korrigiert aus: „kann bald ein“.

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hung in Dimensionen, die uns Angst und Schrecken einflößen, wenn das Anwachsen der staatlichen Subventionen und eine dramatische Erhöhung unverkaufbarer Lagerbestände noch weiter anhalten, dann kann die gerade wieder angelaufene Reform durch Finanzierungsprobleme aufgehalten werden und schließlich in den Strudel der Auseinandersetzungen um die politische Nachfolge geraten. Aber es sind nicht nur konjunkturelle Probleme, die der weiteren Wirtschaftsreform im Wege stehen. Auch die zu lösenden strukturellen Probleme weisen ungeheure Ausmaße auf. Allein das Ernährungsproblem entzieht sich angesichts des immer noch zu hohen Bevölkerungswachstums einer dauerhaften Lösung. China ist immer noch Nettoimporteur von Getreide und wird in einigen Jahren Mühe haben, seine Bevölkerung zu ernähren. Noch bedrohlicher ist im Grunde der Erziehungsrückstand – es fehlt an Lehrern, Professoren, Facharbeitern und Ingenieuren, und weil nicht genug Geld da ist, hinkt der Erziehungssektor hinter der allgemeinen Entwicklung her. Ähnliches gilt für das Verhältnis zwischen Stadt und Land. In den Städten wachsen die Einkommen viermal so schnell wie auf dem Land, und dies mag eines Tages zu größeren Reibungen führen. Dass die Küstenregionen sich schneller entwickeln als die Inlandsprovinzen, weiß jeder China-Reisende, und auch diesem Phänomen steht der Staat im Grunde ratlos gegenüber. Schließlich leidet auch die staatliche Organisation an traditionellen Mängeln. Da in China seit alters her mehr durch Verhandlungen als durch Gesetze regiert wird, was insbesondere im Verhältnis der Zentrale zu den Provinzen auch heute noch gilt, wird es immer schwerer, das Land nach einheitlichen Grundsätzen zu regieren. 43) Die gegenwärtige Führung glaubt, dass sie erst wirtschaftliche Stabilität schaffen

muss, bevor an politische Reformen gedacht werden kann. Mit dieser Begründung vertagt sie politische Reformen in eine fernere Zukunft, weil niemand zu sagen vermag, wann jene wirtschaftliche Stabilität erreicht ist, die den Übergang zur nächsten Periode ermöglicht. Sie kann dies umso leichter tun, als der Wunsch nach politischer Reform immer wieder gedämpft wird durch eine für uns erstaunliche Bereitschaft der Menschen zur Anpassung an die gegebenen Verhältnisse, die auf der jahrtausendealten Erfahrung eines großen Volkes beruht, dass sich in diesem Riesenreich Veränderungen nur ganz allmählich vollziehen können. Heute hoffen wohl die meisten auf einen ruhigen Übergang in die Post-Deng-Periode der Entideologisierung, und sie fühlen sich darin gerechtfertigt, weil sie wissen, dass der Reformprozess jetzt unumkehrbar geworden ist. Immerhin haben sich in diesem Jahr erste Regungen eines erwachenden Pluralismus gezeigt. Die Diskussionen über die Reformanstöße von Deng Xiaoping lassen erkennen, dass es mit dem monolithischen System vorbei ist, auch wenn sie sicher noch keinen Beweis für eine in China eingekehrte Meinungsfreiheit darstellen. Eine Periode, in der eine begrenzte Diskussion zwischen den Fraktionen möglich wird, deutet sich aber an. Die vonseiten des Westens monierten Defizite im Bereich von Menschenrechten, Grundrechten, Demokratie und Rechtssystem sind weiter gewaltig. Hier werden Reformen noch gar nicht anvisiert. Die seit über zwölf Jahren eingeleitete Öffnung des Landes konfrontiert jetzt aber das traditionelle China der „gelben Kultur“ (des Gelben Flusses) mit den moralischen und politischen Herausforderungen der erfolgreichen und überlegenen „blauen Kultur“ des den Pazifik beherrschenden Amerikas und damit der westlichen Welt. 4 Beginn des mit DB Nr. 1131 übermittelten zweiten Teils des Fernschreibens. Vgl. Anm. 1.

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Das Land hat Jahrtausende nach dem Law-and-Order-Konzept des Konfuzius gelebt. Während das Christentum mit seinen Begriffen von Gnade, Mitleid und Nächstenliebe ihm genauso unbekannt geblieben ist wie das Corpus Juris, wuchs das Volk in dem Bewusstsein auf, dass die Wahrung des sozialen Friedens ein höheres Gut ist als die Durchsetzung individueller Gerechtigkeit. Es verwundert deshalb aus dieser Perspektive nicht, dass die christliche Mission in China scheitern musste. Die erneute große Auseinandersetzung mit der westlichen Vorstellungswelt über die Frage, wie die menschliche Gesellschaft zu organisieren ist, kann nach Lage der Dinge selbst dann nicht zu schnellen Veränderungen führen, wenn die jüngere Generation sich in naher Zukunft – was zu erwarten ist – nachdrücklicher für moderne westliche Gesellschaftsvorstellungen einsetzen wird. Die Tatsache, dass es in diesem Land, das im Gegensatz zu Russland nie einen Alexander Herzen hervorgebracht hat und das – mit Ausnahme von zwei Jahrzehnten am Anfang dieses Jahrhunderts – nie eine Diskussion über alternative politische Theorien gekannt hat, verweist es, wie der Mai 1989 zeigte, auf eine noch primitive Stufe der politischen Evolution. Wenn sich der Westen auf die universale Geltung von VN-Dokumenten beruft, kontern die Chinesen mit dem Argument, auch in Europa (und besonders in Deutschland) habe die Herausbildung demokratischer Gesellschaften Jahrhunderte beansprucht. Vor dem Hintergrund aller dieser Fragen lässt sich nur schwer voraussagen, wie stabil die Zukunft sein kann. Schon kleine Anlässe, wie kürzlich der Run auf die begehrten Aktien in der Sonderwirtschaftszone Shenzhen, können zu Zusammenstößen führen.5 Der 4. Juni 1989 ist bei der jungen Generation nicht vergessen, und Konfliktpotenzial wird es sowohl im sozialen wie wirtschaftlichen Bereich in der Zukunft genug geben. Nur die Zukunft kann erweisen, ob das traditionelle Beharrungsvermögen und die Anpassungsbereitschaft stärker bleiben als der Wunsch nach Veränderung. Doch sind die bis heute geschaffenen Strukturen sicherlich sehr viel haltbarer als in anderen vergleichbaren Ländern. Das erleichtert China den Übergang in die moderne Zeit. 4) Wie angesichts der geschilderten Belastungen die Einheit des Landes weiterbestehen kann, ist eine schwer zu beantwortende Frage. Die zentrifugalen Tendenzen, denkt man nur an die Küstenprovinzen, sind in der Tat stark. Es ist zu erwarten, dass von den Küsten her ein größeres Maß wirtschaftlicher und vielleicht auch politischer Autonomie gefordert werden wird. Andererseits geht – anders als in der früheren Sowjetunion – von den Minderheiten (nur 8 v. H. im Gegensatz zu knapp 30 v. H. in der SU) kein sprengender Druck auf die Reichseinheit aus – sie bewohnen die unfruchtbare westliche Reichshälfte. Das Bewusstsein der nationalen Identität der Han-Chinesen ist überdies außerordentlich stark entwickelt, und der Prozess der zunehmenden wirtschaftlichen Differenzierung und Verflechtung stärkt gleichfalls den Zusammenhalt des Landes. Gelegentlich auftauchende 5 In der Presse wurde berichtet: „Rioting in the southern city of Shenzhen by people eager to buy new stock offerings appeared to have ended today, but the clashes on Monday presented a challenge to officials who are trying to push for more rapid economic change in China. The police were reported to have fired tear gas and shots into the air to disperse crowds of rioters Monday night, in the worst civil unrest reported in China since the Tiananmen Square protests in Beijing in 1989.“ Vgl. den Artikel „Rioting Over Stock Issues Poses Challenge for Chinese“; THE NEW YORK TIMES vom 12. August 1992, S. D 14.

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Spekulationen, dass China in das Zeitalter der sogenannten Warlords zurückfallen könnte, sind daher wohl nicht begründet. Doch ist nicht auszuschließen, dass die Armee oder Teile davon eines Tages aktiv in die Politik eingreifen – ohne allerdings die anstehenden Probleme zu lösen, ohne auch sich dem Bazillus der inneren Erosion des Landes entziehen zu können. Nach allem kann niemand erwarten, dass diesem Land eine geradlinige Entwicklung zu einem modernen Staat beschieden sein kann. Doch geht das Land weiter auf dieses Ziel zu, weil ökonomische und soziale Zwänge dahin drängen und weil die Bindungen an das Ausland nie so eng waren wie heute. Aber es wird auf diesem Weg weitere Rückschläge geben. Für uns bedeutet das, dass wir trotz allem die sich bietenden Chancen in und mit diesem Riesenreich wahrnehmen sollen, ja müssen. Gewiss sollten wir uns nicht, wie Ende der siebziger und dann wieder Mitte der achtziger Jahre, zu Euphorie hinreißen lassen. Doch dürfen wir nicht die Gelegenheiten verpassen. China wird ein Großstaat sein, der regional, im Pazifik, gegenüber Japan und vor allem auch Amerika, eine immer gewichtigere Rolle spielt und global im Sicherheitsrat mitbestimmt. Auch wenn die wirtschaftliche Potenz dieses Landes nicht mit fantastischen Zuwachsraten, von denen neuerdings wieder die Rede ist, weiterwachsen wird, so bleibt China nicht nur ein Absatzmarkt für unseren Export, sondern vor allem ein zunehmend interessanter Partner für gemeinsame Investitionen. Niemand aber darf glauben, dass es in China über Nacht zu dauerhaften neuen Strukturen kommen kann. Wir müssen uns vielmehr darauf einstellen, dass sich – ungeachtet temporärer Einbrüche – alles nur langsam vollzieht. Die Entwicklung wird umso nachhaltiger verlaufen, wenn wir sie unterstützen. Wir tun auch im eigenen Interesse gut daran, dieses Land mit Geduld, aber auch mit Zielstrebigkeit zu begleiten. In jedem Fall aber wird das größte Land der Welt in jeder Gestalt, die es annimmt, für uns eine Herausforderung darstellen, der wir uns nicht entziehen können. [gez.] Hellbeck B 37, ZA-Bd. 161887

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262 Drahtbericht des Botschafters Huber, Prag VS-NfD Fernschreiben Nr. 1183 Citissime Betr.:

Aufgabe: 25. August 1992, 15.14 Uhr1 Ankunft: 25. August 1992, 16.21 Uhr

Bilaterale Beziehungen; hier: Strafrechtliche Verfolgungen von Vertreibungsverbrechen an Deutschen aufgrund von Ersuchen zur Übernahme der Strafverfolgung durch die tsl. Justiz

Bezug: Plurez Nr. 8513 vom 6.8.92 – Az. 5112-544.10/23 Übersicht Ungeachtet sehr schwieriger Abwägungsfragen ist die Empfehlung der Botschaft unter außen- und nachbarschaftspolitischen Gesichtspunkten eindeutig: Sie rät, von einzelnen Ausnahmen vielleicht abgesehen, davon ab, in gegenwärtigem Zeitpunkt die Justiz des Gastlandes in einer generalisierten Praxis um Übernahme der Verfolgung von Vertreibungsverbrechen zu ersuchen. Das letztlich ausschlaggebende Argument für diese Bewertung liegt darin, dass die Zukunft der Nachbarschaftsbeziehungen stärker in die außenpolitische Waagschale fallen sollte als eine von außen angestoßene Aufarbeitung der schwierigen deutsch-tschechischen Vergangenheit mit strafrechtlichen Mitteln. Im Einzelnen 1) Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass Vertreibungsverbrechen – jedenfalls theoretisch – in der demokratisch erneuerten ČSFR (analog wahrscheinlich auch in ihren Nachfolgestaaten) als strafwürdiges Unrecht angesehen und durch die Justiz verfolgt werden können. In diesem Zusammenhang darf allerdings nicht übersehen werden, dass die Straftatbestände „Mord“ und „Totschlag“ in der Tschechoslowakei nach 20 Jahren verjähren. Lediglich „Kriegsverbrechen“ bzw. „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ unterliegen keiner Verjährungsfrist. 2) Bei der juristisch schwierigen Abgrenzung dieser Tatbestandsbereiche kann nicht ausgeschlossen werden, dass Übernahmeersuchen überwiegend oder sogar generell von den 1 Das von BR I Hiller, Prag, konzipierte Fernschreiben war an Referat 214 gerichtet. Hat StS Lautenschlager vorgelegen, der die Angabe „214“ mit Fragezeichen hervorhob und handschriftlich vermerkte: „D[irektoren]B[esprechung].“ Hat MDg Hillgenberg am 26. August 1992 vorgelegen, der handschriftlich für Referat 511 vermerkte: „StS L[autenschlager] hat Abt[eilung] 2 darauf hingewiesen, dass Botschaft bei Beantwortung Weisung anfragendem Referat antworten sollte. Was geschieht nun auf Grund dieser St[ellung]N[ahme]?“ Hat OAR Schregle am 4. September 1992 vorgelegen, der handschriftlich vermerkte: „Durch R[ücksprache] erl[edigt].“ 2 Die Angabe „Az. 511“ wurde von StS Lautenschlager hervorgehoben. 3 MDg Hillgenberg teilte den Botschaften in Prag und Warschau mit: „Zur Vorbereitung BM-Vorlage werden Vertretungen bis spätestens 31.8.1992 um ausführliche politische Wertung der Frage gebeten, welche Auswirkungen deutsche Ersuchen um Übernahme der Strafverfolgung auf die bilateralen Beziehungen hätten.“ Die Botschaft in Prag wurde zudem gebeten, „über etwaige Strafverfahren wegen Vertreibungsverbrechen ergänzend zu berichten“. Vgl. B 83, Bd. 2061.

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hiesigen Justizbehörden mit Hinweis auf eingetretene Verjährung abgewendet oder eingeleitete Verfahren eingestellt werden. Der Generalstaatsanwalt der ČSFR hat in einem Schreiben an die Botschaft – es handelte sich um eine frühere, einschlägige Einzelanfrage, bei der die Ermittlungen wegen Verjährung eingestellt wurden – Folgendes ausgeführt: „... mit Bedauern muss ich feststellen, dass die Bemühungen zur Überprüfung von ähnlichen Vorgängen grundsätzlich nur zur historischen Feststellung ohne größere Hoffnung auf Einleitung der Strafverfolgung der Täter führen ...“.4 3) Bei dieser Sachlage muss man sich wohl darauf einstellen, dass der mit eventuellen Ersuchen verfolgte Zweck nicht erreicht würde, während andererseits aufgrund der großen und mit Sicherheit ambivalenten Publizität, die Übernahmeersuche in Medien und politischer Öffentlichkeit hätten, nachbarschaftspolitisch negative Auswirkungen – anti-deutsche Stimmungsmache, Aufrechnungen gegen NS-Verbrechen etc. – voll zum Tragen kämen. Gegenreaktionen in Deutschland mit vergleichbar negativen außenpolitischen Folgen wären ebenfalls vorhersehbar. 4) Gleichwohl bleibt hinsichtlich der hier in Rede stehenden Grundproblematik zunächst festzustellen: Mit der (wahrscheinlich) zu erwartenden großen Zahl von Übernahmeersuchen würde moralisch berechtigten Individualansprüchen von Betroffenen (Opfern bzw. Angehörigen) entsprochen. Die an ihnen begangenen Vertreibungsverbrechen könnten im Rahmen von Strafverfahren als kriminelles Unrecht qualifiziert und durch die ordentlichen Gerichte strafrechtlich gesühnt werden. Neben dem Sühnegedanken wären Strafverfahren bei Vertreibungsverbrechen grundsätzlich auch geeignet, ein schwieriges Kapitel der dt.-tsl. Geschichte öffentlich aufzuarbeiten. Damit könnte ein positiver und wünschenswerter Beitrag für die Nachbarschaftsbeziehungen geleistet werden, die – ohne Bekenntnis zur geschichtlichen Wahrheit auf beiden Seiten – unterschwellig belastet bleiben müssen. Man müsste soweit gehen und sagen, dass man mit der Herbeiführung von „Vertreibungsprozessen“ der Tschechoslowakei einen wichtigen Dienst leistet, weil damit die längst überfällige Diskussion dieser Fragen in Gang gesetzt würde. 5) Dieser rechtsethisch-historisch richtige Ansatz geht aber leider heute noch an den politischen und gesellschaftlichen Realitäten in der Tschechoslowakei vorbei. Breite Bevölkerungsschichten sind auf eine strafrechtliche Aufarbeitung der Vergangenheit – insbesondere, wenn sie durch Übernahmeersuchen deutscher Justizbehörden initiiert würde – nach Wissensstand, vor allem aber emotional und psychologisch nicht vorbereitet. Diesen Tatbestand – auch bona fide – nicht in Rechnung zu stellen, bedeutet, radikalen Gruppierungen auf beiden Seiten des politischen Spektrums ungewollt, aber wirksam in die Hände zu arbeiten. Sie würden sich sofort dieses Themas bemächtigen und es für ihre Zwecke instrumentalisieren, was leicht dazu führen könnte, dass die gemäßigten und auf Ausgleich bedachten Kräfte entweder auf entsprechende Kampagnen aufspringen oder spürbare politische Sympathieverluste hinnehmen müssten. 6) Zum Hintergrund: – Vertreibungsverbrechen an Deutschen sind nach 1945 in der ČSFR systematisch verdrängt und von der kommunistischen Propaganda entweder grob wahrheitswidrig bestritten oder als periphere Randerscheinungen im Vergleich zu NS-Verbrechen bagatellisiert bzw. als verständliche Gegenreaktionen hierauf entschuldigt oder sogar gerecht4 Für das Schreiben vom 11. Juli 1992 vgl. B 83, Bd. 2061.

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fertigt worden. Natürlich haben viele Angehörige der Zeitzeugen-Generation gewusst, dass die kommunistischen Geschichtsdarstellungen falsch waren. Denn Vertreibung und Vertreibungsverbrechen haben 1945/46 in der Tschechoslowakei nicht hinter verschlossenen Türen, sondern in voller Öffentlichkeit stattgefunden. Viele Angehörige dieser Generation sind den kommunistischen Geschichtsklitterungen mit ihrem einseitigen Feindbild und dem „bequemen“ Verdrängen eigener Schuld nur zu bereitwillig gefolgt. Nur wenige Intellektuelle, vor allem aus den Reihen der Bürgerrechtsbewegung, haben sich in ihrer Untergrundliteratur hiermit kritisch auseinandergesetzt. Die große Mehrheit der jüngeren Tschechoslowaken sind in den vergangenen Jahrzehnten Opfer der kommunistischen Geschichtsfälschungen geworden: Sie haben weder „Fragen gehört noch Fragen gestellt“. – Erst nach 1989 bestand in der demokratisch erneuerten ČSFR die Möglichkeit, sich mit den dunklen Kapiteln der eigenen Geschichte öffentlich und unvoreingenommen auseinanderzusetzen. Viele der ehemaligen Dissidenten – Präsident Havel ist nur ein Beispiel – haben sie von Anfang an entschlossen genutzt. Damit wurde zwar ein Nachdenkprozess angestoßen, aber keine breite Aufarbeitungsdiskussion in Gang gesetzt. Die Nachwirkungen der kommunistischen Gehirnwäsche und Rechtfertigungspropaganda waren und sind noch nicht aus der Welt. Sie sind präsent und überall spürbar. Zu befürchten wäre, dass eine von deutschen Übernahmeersuchen ausgelöste Medienkampagne den von Havel und anderen öffentlich angemahnten Aufarbeitungsprozess erschweren und vielleicht sogar für längere Zeit wieder verschütten könnte. 7) Bei der anstehenden Entscheidung hinsichtlich Übernahmeersuchen zum gegenwärtigen Zeitpunkt sollte sich die Meinungsbildung nicht eindimensional nur an der eigentlichen Sachproblematik orientieren, sondern auch den allgemeinen Bewusstseinszustand der tschechoslowakischen Gesellschaft mitberücksichtigen. Weite Teile der Bevölkerung sind nach 40 Jahren Diktatur, nach den fundamentalen Veränderungen der politischen Wende von 1989 und angesichts des Trennungstraumas verunsichert, desorientiert und auch desillusioniert. In einer Situation, in der sich ungelöste politische, wirtschaftliche und nationale Probleme für den Einzelnen wie für die Gesellschaft auftürmen, sind erfahrungsgemäß „ablenkende Ventile“ immer willkommen. Vertreibung und Vertreibungsverbrechen sind in der heutigen Tschechoslowakei immer noch höchst sensible und emotionell aufgeladene Bereiche. Sie eignen sich daher aus der Sicht interessierter Kreise hervorragend für ablenkende Ventilfunktionen. Daran, dass sie ohne Rücksicht auf nachbarschaftspolitischen Schaden genutzt würden, besteht wenig Zweifel. 8) Wir sind hinsichtlich der hier zu bewertenden Fragen nicht nur auf hypothetische Überlegungen angewiesen, sondern können durchaus auf einschlägige Erfahrungen zurückgreifen. Die Verhandlungen über den Nachbarschaftsvertrag5 waren von Anfang an von hysterischen anti-deutschen Stimmungen in Medien und Öffentlichkeit begleitet. Polemik und Irrationalität standen dabei zumindest zeitweise eindeutig im Vordergrund. Das Gleiche gilt für die „Germanisierungs-Kampagne“, mit der deutsche Investitionen, auf die die ČSFR dringend angewiesen ist, zum Teil sogar von führenden Politikern kritisiert wurden. Im Nachhinein verwundert es eigentlich, dass der Begriff „Vertreibung“ in der Präambel des 5 Für den deutsch-tschechoslowakischen Vertrag vom 27. Februar 1992 über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit vgl. BGBl. 1992, II, S. 463–473. Vgl. auch Dok. 64, Dok. 116 und Dok. 271.

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Nachbarschaftsvertrages6 von tschechoslowakischer Seite akzeptiert und – wenn auch mit nicht überzeugenden Mehrheiten – von der Föderalversammlung ratifiziert wurde. Der von der Regierung vorgelegte „Motiv-Bericht“ unterstreicht allerdings, dass auch viele derjenigen, die letztlich wohl aus pragmatischen Gründen für den Vertrag gestimmt haben, die Vertreibungsproblematik und damit die ganze für die Tschechoslowakei schmerzliche, geschichtliche Wahrheit nicht zur Kenntnis nehmen wollen. Schlussbemerkung Die Botschaft ist sich selbstverständlich bewusst, dass der Umgang mit der Vertreibungsproblematik viele Facetten hat und haben muss, die nicht nur das Gastland, sondern im gleichen Maße auch deutsche Interessen berühren. Die eingangs getroffene Wertung bezieht sich – entsprechend den Vorgaben des Bezugserlasses – ausdrücklich auf die „außen- und nachbarschaftspolitischen“ Gesichtspunkte dieser schwierigen Fragestellung. [gez.] Huber B 83, Bd. 2061

263 Gespräch des Bundesministers Kinkel mit dem Präsidenten von Bosnien-Herzegowina, Izetbegović, und Außenminister Silajdžić in London 215-321.11 BOS

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Beziehungen zu Bosnien-Herzegowina; hier: Gespräch BM Kinkel mit Präsident Izetbegović und AM Silajdžić am Rande der Londoner Konferenz2 am 27.8.1992, 14.00 Uhr3 Vermerk Präsident Izetbegović sprach zunächst seinen Dank für die Haltung Deutschlands aus. Er bat sodann um Unterstützung bei seinen Versuchen, das Konferenzdokument über BosnienHerzegowina durch Hinweis auf die dort stattfindende Aggression und durch namentliche Erwähnung der VN-SR-Resolutionen 7524 und 7575 abzuändern. (Anmerkung: Die bosni6 Korrigiert aus: „NV-Vertrages“. 1 Der Gesprächsvermerk wurde von VLR I Libal am 29. August 1992 gefertigt und an das Ministerbüro mit der Bitte geleitet, „Genehmigung durch BM herbeizuführen“. Hat VLR Brose am 31. August 1992 vorgelegen, der den Rücklauf an Referat 215 verfügte und handschriftlich vermerkte: „Kann mit V[ermerk] ,von BM noch nicht gebilligt‘ verteilt werden.“ 2 Zur internationalen Jugoslawien-Konferenz am 26./27. August 1992 vgl. Dok. 269. 3 BM Kinkel hielt sich anlässlich der internationalen Jugoslawien-Konferenz in London vom 25. bis 28. August 1992 in Großbritannien auf. Vgl. auch Dok. 264 und Dok. 266. 4 Für die Resolution Nr. 752 des VN-Sicherheitsrats vom 15. Mai 1992 vgl. RESOLUTIONS AND DECISIONS 1992, S. 12 f. 5 Zur Resolution Nr. 757 des VN-Sicherheitsrats vom 30. Mai 1992 vgl. Dok. 159, Anm. 12.

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schen Vorbehalte wurden kurze Zeit später, nach der Aufnahme bestimmter Zusagen der Serbenführer in das Konferenzdokument, zurückgezogen.) Iz. erläuterte sodann die Politik der Kroaten in Bosnien-Herzegowina. Hier gebe es zwei Strömungen: Ein Teil der Kroaten unterstütze die offizielle Politik der bosnischen Regierung. Daneben gebe es eine extremere Strömung, die für die Schaffung eines kroatischen Staates in BosnienHerzegowina eintrete. Sie werde, allerdings nicht öffentlich, von Tudjman unterstützt. Man bitte die deutsche Seite, den Kroaten nahezulegen, dies nicht mehr zu tun. BM äußerte hierzu, man werde Kroatien nicht unterstützen, wenn es unakzeptable Dinge tue. Izetbegović ergänzte, es sei die Haltung der Kroaten in der Frage der Kantonalisierung gewesen, die zu Problemen geführt habe, da in den Verhandlungen ein Verhältnis von zwei zu eins (Serben und Kroaten gegen die Regierung in Sarajevo) entstanden sei. Die Kroaten beabsichtigten, durch die Kantonalisierung ein unabhängiges kroatisches Gebilde zu schaffen, das sich später lösen könne. Es bestünde die Gefahr einer Absprache zwischen Tudjman und Milošević zur Teilung von Bosnien-Herzegowina. Die Mehrheit der kroatischen Bevölkerung in Bosnien-Herzegowina denke jedoch anders. Vor allem die katholische Kirche lehne eine Politik der Teilung ab, desgleichen die städtischen Elemente. Die extreme Strömung werde in erster Linie von der Landbevölkerung in der westlichen Herzegowina unterstützt. Die bosnische Regierung ziele darauf, eine örtliche Selbstverwaltung mit sieben bis zehn Regionen zu schaffen. RL 2156 verwies auf ständige Warnungen unsererseits an die kroatische Seite, sich auf Teilungspläne einzulassen, und erläuterte unsere Vorstellungen von einer echten Kantonalisierung durch Schaffung einer Vielzahl lokaler Einheiten, ohne Infragestellung des staatlichen Zusammenhalts und ohne die Ermutigung von Bevölkerungstransfers. Auf Frage BM nach der Haltung Russlands antwortete Izetbegović, die Russen seien über die Lage nicht gut unterrichtet und gäben das weiter, was man in Belgrad sage, z. B. die These von den drei konstituierenden Völkern. Mit AM Kosyrew gebe es keine Probleme, aber er stehe unter dem Druck der ultranationalistischen Opposition im russischen Parlament. Man solle darauf hinarbeiten, dass die Russen sich mit dem deutschen Konzept für eine politische Lösung einverstanden erklärten. Am besten solle man überhaupt den Begriff „Kantonalisierung“ fallenlassen. Zur Flüchtlingsproblematik sagte Iz., möglichst wenige Flüchtlinge sollten BosnienHerzegowina verlassen. Man sollte eine Vereinbarung treffen, dass sie nach einem Jahr zurückgehen müssten. BM verwies auf die Asylproblematik. Es sei sein Ziel, einen Sonderstatus für Kriegsflüchtlinge zu schaffen. Diese würden ein Bleiberecht für ein halbes Jahr erhalten und müssten dann zurückkehren. AM Silajdžić ergänzte, es sei wichtig, dass die Flüchtlinge nur als zeitweilige Flüchtlinge behandelt würden und dann zurückkehrten. Man beabsichtige, mit ausländischer Hilfe Häuser zu errichten, und habe hierzu schon eine Zusage der USA. BM verwies auf den Kabinettsbeschluss über die zusätzliche Bereitstellung von 50 Mio. DM zur Errichtung von Unterkünften. AM Silajdžić meinte, dies müsse internationalisiert werden. BM stellte fest, es bestehe ein gemeinsames Interesse, die Menschen in Bosnien-Herzegowina zu halten. Allerdings könne die deutsche Seite Züge mit Frauen, Kindern und alten Menschen nicht zurückschicken. Izetbegović sprach noch einmal den Wunsch nach Einwirkung auf die kroatische Seite 6 Michael Libal.

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an. BM sagte zu, dies tun zu wollen. Auf eine Frage von BM zur Beurteilung von MP Panić antwortete Izetbegović, es handele sich um eine „pittoreske“ Persönlichkeit, die keine Macht habe und mit der zu sprechen nutzlos sei. B 42, ZA-Bd. 183113

264 Gespräch des Bundesministers Kinkel mit dem russischen Außenminister Kosyrew in London 27. August 19921 Gespräch BM mit russischem AM Kosyrew in London am 27.8.92 am Rande der Jugoslawien-Konferenz2 BM dankte rus. AM für rus. Unterstützung bei Londoner Konferenz, die mehr noch unter psychologischen als praktischen Gesichtspunkten von außerordentlicher Bedeutung sei. Sie mache sichtbar, dass Russland europäischen Interessen Rechnung trage. BM bat um K.s Unterstützung bei Überwindung der Widerstände in Moskau gegen Annahme der CW-Konvention.3 Deutsche Seite habe durch Botschafter von Wagner in Genf sich besonders engagiert und letztlich den lang erwarteten Durchbruch erzielt. Das Ergebnis dürfe jetzt durch rus. Zögern nicht infrage gestellt werden. Kosyrew erwiderte, Problem liege nicht beim militärisch-industriellen Komplex, sondern sei finanzieller Art. Rus. Seite sei jetzt erst deutlich geworden, dass CW-Überwachung und -Vernichtung sehr viel Geld koste. Angesichts allgemeiner finanzieller Zwangslage in Russland sei man ratlos, wie dies zu bewältigen sei. Die zusätzlichen Verifikationen, die Expertenbesuche, verursachten Kosten in Höhe von derzeit geschätzten 450 Mio. Rubel. Die habe niemand. Deshalb müsse man nachdenken, wie dabei auch eventuell bilateral geholfen werden könne. Rus. Seite habe keineswegs die Absicht, an der Konvention etwas zu ändern. BM äußerte Zufriedenheit, dass es jedenfalls keine militärisch begründeten Einwände gebe. BM dankte rus. Regierung und AM Kosyrew persönlich ganz ausdrücklich für deren Haltung in Sachen Honecker.4 Dessen Überstellung sei für die Bundesregierung wie auch für ihn selbst außerordentlich bedeutsam. Rus. Seite habe durch ihre Behandlung der Sache eindrucksvoll ihr Vertrauen in rechtsstaatliche Verfahren unter Beweis gestellt. BM bitte 1 Der Gesprächsvermerk wurde von MDg von Studnitz am 28. August 1992 gefertigt und „mit der Bitte um Genehmigung“ an BM Kinkel geleitet. Hat Kinkel am 28. August 1992 vorgelegen. 2 BM Kinkel hielt sich anlässlich der internationalen Jugoslawien-Konferenz in London vom 25. bis 28. August 1992 in Großbritannien auf. Vgl. auch Dok. 263 und Dok. 266. Zur Konferenz am 26./27. August 1992 vgl. Dok. 269. 3 Zum Abschluss der Genfer CW-Verhandlungen vgl. Dok. 277. 4 Zum Fall Honecker vgl. Dok. 235.

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K., Justizminister Fjodorow ebenfalls ausdrücklichen Dank zu übermitteln. Durch rus. Verhalten sei der deutschen Öffentlichkeit deutlich gemacht worden, dass sich Russland wie ein Rechtsstaat verhalte. Von mancher Seite sei bezweifelt worden, dass Russland Deutschland hier helfen werde. Umso wichtiger sei es deshalb, dass dies doch geschehen sei. Er sage in aller Offenheit, dass Honecker für uns jetzt ein größeres Problem sein werde als für Russland. Wir wollten uns nicht an Honecker rächen, aus rechtsstaatlichen Gründen sei allein entscheidend, dass ein unabhängiger Richter sage, ob Honecker verantwortlich sei oder nicht. Stelle der Richter fest, dass Honecker nicht verhandlungsfähig sei, so werde das auch akzeptiert werden. Er persönlich halte Honecker für eine tragische Figur, der als Antifaschist begonnen habe und in einem Unrechtsstaat geendet habe. Kosyrew entgegnete, er sei an dem persönlichen Schicksal Honeckers nicht interessiert. Er wisse, dass mit ihm rechtsstaatlich verfahren werde. Die deutsche Verfassungsordnung sei für Russland eine ausreichende Garantie. BM sprach das Problem der Kantonalisierung in Bosnien-Herzegowina an. Nach deutscher Auffassung dürfe das nicht zu einer Dreiteilung des Landes führen, sondern müsse im schweizerischen Sinne als eine Einteilung in zahlreiche Kantone verstanden werden. Hierfür bitte er Russland um Unterstützung. Kosyrew sagte, er habe das ausführlich mit Panić, Milošević und Izetbegović diskutiert. Er teile BMs Auffassung ohne Einschränkung. BM sprach sodann Russlands Haltung zu Serbien an. Wir verstünden die traditionellen Beziehungen und beobachten rus. Verhalten sehr genau. In der Koalition, in der Bundesregierung und auch im Bundestag spiele es eine große Rolle, wie Russland sich in der Jugoslawien-Krise verhalte. Auch in der langen Besprechung beim Bundeskanzler am 24.8. sei dies ein maßgeblicher Punkt gewesen.5 Russland trage hier eine Verantwortung, die größer sei als die anderer Staaten. BM bat K., sich weiter auf dem richtigen Wege zu bewegen. Kosyrew bemerkte, dieses koste ihn einiges in den innenpolitischen Auseinandersetzungen zuhause. BM versicherte K., man werde ihm helfen, soweit wir das könnten. Wir hätten auch überlegt, ob der Bundeskanzler noch einmal an Jelzin schreiben sollte, davon aber abgesehen, als Wandel rus. Haltung sichtbar geworden sei. Kosyrew betonte, Russland betreibe keine anti- oder pro-serbische Politik. Es gehe allein darum, was in Serbiens bestem Interesse liege. Das seien die Herstellung demokratischer Verhältnisse und Friede mit den Nachbarn. Das Stützen der militanten Kräfte in Serbien sei anti-serbisch. BM äußerte Zweifel an Panićs Ernsthaftigkeit. K. antwortete, es gebe niemand besseren als Panić. Man höre seine Worte, habe aber Zweifel, ob er entsprechend handeln könne. Auch er habe den Eindruck, Panić werde von Milošević als Puppe benutzt. Zugleich habe er aber auch den Eindruck, dass Panić versuche, internationale Unterstützung für seinen Kampf mit Milošević zu gewinnen. In dieser Situation müsse die Londoner Konferenz zwei klare Signale geben: – Wenn sich Milošević durchsetze, bedeute das verschärfte Sanktionen. – Serben müssten eine offene Tür sehen: Beschritten sie einen positiven Weg, so bringe dieses auch Vorteile. BM äußerte Einverständnis zur Bewertung der Rolle von Milošević, bezeichnete es zugleich als tragisch, dass die Welt von Panić nicht überzeugt sei. Es wäre zu wünschen, 5 Zum Gespräch bei BK Kohl vgl. Dok. 258.

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jemand anderen, überzeugenderen an der Spitze Serbiens zu sehen. Panić habe Gespräch mit dem Bundeskanzler erbeten.6 Er habe dem Bundeskanzler jedoch abgeraten, weil Panićs Pressekonferenz im Anschluss daran vorherzusehen sei, die den Bundeskanzler unglaubwürdig mache. Kosyrew bemerkte, aus gleichem Grunde habe er Jelzin ebenfalls abgeraten, Panić zu sehen. Diese Situation führe Russland dazu, die Serbien-Frage nicht als personelle Alternative anzusehen, sondern als eine Alternative zwischen einem richtigen und falschen Weg. Panić sei kein Engel und Milošević kein Teufel. M. sei intelligent, und man könne mit ihm argumentieren. Er verstehe die Sachen, was man von manchen der Generäle in Belgrad nicht behaupten könne. Deshalb unterstütze Russland diejenigen, die den rechten Weg gingen. Wer den falschen Weg gehe, müsse mit weiteren Sanktionen rechnen. BM hob sehr nachdrücklich hervor, die Serben müssten wissen, keine Wiederaufbauhilfe für die von ihnen selbst ruinierte Wirtschaft zu erhalten. Besonders der Bundeskanzler habe dies sehr stark ausgesprochen. Vielleicht stimme diese Warnung die Verantwortlichen in Belgrad nachdenklich. Die Serben hätten sich auch von einem anderen Argument beeindruckt gezeigt, das er jüngst vermehrt in die internationale Diskussion eingeführt habe, dass nämlich ihr Verhalten als Völkermord angeprangert werden müsse und alle Anstrengungen unternommen werden müssten, um einen Internationalen Strafgerichtshof zu schaffen7. Die Sorge, möglicherweise persönlich zur Verantwortung gezogen zu werden, zeige augenscheinlich Wirkung. Dieser Druck müsse erhalten werden. Er verkenne nicht die Schwierigkeiten, die einer Verwirklichung dieses Gedankens entgegenstünden, aber die psychologische Wirkung sei bereits eingetreten. Kosyrew bemerkte, aus diesem Grunde habe er diesen Vorschlag des BM in der Konferenz unterstützt. Zur Entschärfung der militärischen Lage habe er Milošević auch gedrängt, internationale Beobachter in den militärischen Einheiten zu gestatten. Dadurch werde die Militärmaschine gelähmt. Darauf komme es an. BM bezeichnete dies als guten Gedanken, den er unterstützen werde. Kosyrew sprach seinerseits die Entschädigungsfrage für NS-Opfer an. Er mahnte die Antwort auf entsprechendes Schreiben der rus., weißrus. und ukrain. AM an.8 Nach rus. Auffassung müsse die Entschädigungssumme in einem vertretbaren Verhältnis zu der Entschädigung stehen, die sehr viel kleinere Staaten wie Polen9 und Frankreich10 mit einer 6 Für das Gespräch des BK Kohl mit dem jugoslawischen MP Panić am 26. November 1992 vgl. Dok. 387. 7 Zur Frage der Einrichtung eines Internationalen Strafgerichtshofs vgl. Dok. 247. 8 Zum Schreiben der AM Kosyrew (Russland), Krawtschenko (Belarus) und Slenko (Ukraine) vom 14. April 1992 an BM Genscher vgl. Dok. 111. Zum Antwortschreiben von BM Kinkel vom 1. August 1992 vgl. Dok. 212, Anm. 21. 9 Am 7./8. Juli 1972 einigten sich die Bundesrepublik und Polen in Genf auf eine Vereinbarung über die Entschädigung für Opfer pseudomedizinischer Versuche in der Zeit des Nationalsozialismus. Darin verpflichtete sich die Bundesrepublik zur Zahlung von 100 Mio. DM als Entschädigungsleistung und 3 Mio. DM als Verwaltungskosten an das polnische Gesundheitsministerium. Die Unterzeichnung erfolgte am 16. November 1972. Für die Vereinbarung vgl. B 86, Bd. 1337. Vgl. ferner BULLETIN 1972, S. 1920. Zu den weiteren Entschädigungszahlungen an polnische Opfer des Nationalsozialismus vgl. Dok. 4, Anm. 12. 10 Vgl. den Vertrag vom 15. Juli 1960 zwischen der Bundesrepublik und Frankreich über Leistungen zu-

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sehr viel geringeren Bevölkerung als in Russland, Weißrussland und Ukraine erhalten hätten. Lege man die 650 Mio. DM für Polen zugrunde, so müssten die drei slawischen Staaten etwa fünfmal so viel erhalten. Dg 2111 erläuterte, dass das Angebot des Bundeskanzlers in Höhe von 1 Mrd. DM von den Kaukasus-Gesprächen im Sommer 199012 in dem Gesamtzusammenhang der damals in Aussicht gestellten finanziellen Leistungen an die Sowjetunion gesehen werden müsse. Wir stünden zu dem, was damals in Aussicht gestellt worden sei. Nach den auch in der Folgezeit erbrachten erheblichen Leistungen an Russland seien wir nun finanziell an unsere Grenzen gestoßen. Daher könnten wir über das ursprüngliche Angebot nicht hinausgehen. K. entgegnete, rus. Seite sehe dieses anders. Für sie sei dies eine sehr emotionale Frage, die sehr leicht zu Missverständnissen führen könne. Die Leiden der Menschen in der ehemaligen Sowjetunion dürften nicht als weniger wert angesehen werden als diejenigen etwa der Menschen in Frankreich. Er bitte zu überlegen, ob nicht eventuell erhöhte Leistungen zeitlich gestreckt werden könnten. BM erwiderte, er werde diese Gedanken dem Bundeskanzler vortragen. Sein eigener für den 7. und 8. Okt. vorgesehener Besuch13 und derjenige von BM Waigel etwa drei Wochen später14 dienten der Vorbereitung des für Ende des Jahres vorgesehenen Besuchs des Bundeskanzlers15. Diese bevorstehenden Gespräche sollten zur abschließenden Regelung der schwierigen Frage genutzt werden. Dg 21 wies noch einmal auf den Gesamtzusammenhang der deutschen Finanzleistungen hin. Die rus. Seite dürfe sich nicht von dem Eindruck leiten lassen, ihre Opfer würden gering bewertet. Deutschlands Haltung gegenüber den rus. Menschen sei in den letzten drei Jahren nachdrücklich durch die große Hilfsbereitschaft zur Linderung der Not in Russland dokumentiert worden. Der Gesamtumfang aller Leistungen von etwa 75 Mrd. DM spreche für sich selbst. Hieraus könne nicht der Eindruck entstehen, wir achteten die Leiden der Nazi-Opfer gering. Die angebotene 1 Mrd. DM solle dazu dienen, den Menschen, die persönlich und gesundheitlich besondere Opfer erbracht hätten und darunter heute noch litten, zu helfen. BM äußerte abschließend Verständnis für K.s Ausführungen. Er bemerkte zusammenfassend, die bilateralen Beziehungen zu Russland seien von außerordentlicher Wichtigkeit. Er persönlich sei sehr daran interessiert, diese weiter zu vertiefen. B 1, ZA-Bd. 178945 Fortsetzung Fußnote von Seite 1063 gunsten französischer Staatsangehöriger, die von nationalsozialistischen Verfolgungsmaßnahmen betroffen worden sind; BGBl. 1961, II, S. 1030–1033. Mit Abkommen vom 31. März 1981 zwischen der Bundesrepublik und Frankreich wurde geregelt, dass die Stiftung „Deutsch-Französische Verständigung“ von der Bundesrepublik einen Beitrag von 250 Millionen DM erhalten sollte, um Härtefälle aus dem Kreis der zur Wehrmacht zwangsrekrutierten Elsässer und Lothringer zu lindern. Vgl. BGBl. 1984, II, S. 609. Vgl. ferner AAPD 1981, I, Dok. 31 und Dok. 74. 11 Ernst-Jörg von Studnitz. 12 BK Kohl und die BM Genscher und Waigel hielten sich vom 14. bis 16. Juli 1990 in Moskau und Archys (Bezirk Stawropol) auf. Vgl. AAPD 1990, II, Dok. 217–219 und Dok. 221. 13 BM Kinkel hielt sich am 6./7. Oktober 1992 in Russland auf. Vgl. Dok. 311, Dok. 314 und Dok. 315. 14 Der für die Zeit vom 10. bis 12. November 1992 geplante Besuch des BM Waigel in Russland wurde abgesagt. Vgl. den Vermerk des VLR I Göckel vom 5. November 1992; B 38, ZA-Bd. 184715. 15 BK Kohl besuchte Russland am 15./16. Dezember 1992. Vgl. Dok. 419 und Dok. 420.

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27. August 1992: Drahtbericht von Heyken

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265 Drahtbericht des Gesandten Heyken, Moskau, an Bundesminister Kinkel 14103/92 geheim Fernschreiben Nr. 3687 Citissime

Aufgabe: 27. August 1992, 19.16 Uhr1 Ankunft: 27. August 1992, 18.11 Uhr

Für Herrn Bundesminister persönlich (ausschließlich in einem Exemplar) Betr.:

Gespräch StM Schmidbauer mit Präsident Jelzin am 26.8.19922

1) Am 26.8.1992 wurde Staatsminister Schmidbauer von Präsident Jelzin zu einem Gespräch empfangen, das 45 Minuten dauerte. Teilnehmer waren außer zwei Dolmetschern auf russischer Seite der Minister für Sicherheit, W. P. Barannikow, und der Direktor des Auslandsaufklärungsdienstes, J. M. Primakow, auf deutscher Seite begleitete ich3. Präsident Jelzin war von Anfang an sehr freundlich. Er wirkte entspannt und gesundheitlich in guter Form. Er hörte aufmerksam zu und machte seine Ausführungen sachlich und präsent. Auf Bitte von StM Schmidbauer berichte ich über das Gespräch ausschließlich an den Herrn Bundesminister: 2) StM übermittelte einleitend die Grüße des Bundeskanzlers und teilte mit, dass der Bundeskanzler am Besuchsplan für dieses Jahr festhalte, nach seiner Vorstellung sollte der Besuch im November stattfinden.4 Der Präsident erkundigte sich in gelockerter Stimmung danach, ob der Bundeskanzler am selben Ort wie im Vorjahr Urlaub mache, und erinnerte mit Wärme an den Telefonanruf des Bundeskanzlers aus diesem Urlaubsort während der Putschtage 1991.5 StM nahm Bezug auf die zwischen dem BK und dem Präsidenten gewechselten Briefe, sprach von den hervorragenden Beziehungen zwischen beiden Staaten sowie den Staatschefs persönlich und betonte, angesichts dessen müsse eine neue Grundlage in den Beziehungen zwischen den Diensten hergestellt werden. Man solle durch offizielle Vertreter in den Hauptstädten vertreten sein und einen Dialog führen. Die Probleme der Vergangenheit solle man möglichst ohne Öffentlichkeit lösen. Mit Blick auf die Gespräche, die während seines Besuchs zwischen ihm, den Präsidenten Porzner und Werthebach und MD Dolzer einerseits, Primakow, Barannikow sowie dem GRU6-Chef Ladygin andererseits geführt 1 Hat VLR Wittig am 28. August 1992 vorgelegen, der handschriftlich vermerkte: „Ex[emplar] 1 an 014 m[it] d[er] B[itte], D 2 u. ChBK zu unterrichten.“ 2 StM Schmidbauer hielt sich vom 24. bis 27. August 1992 in Russland auf. Vgl. auch Dok. 270. 3 Eberhard Heyken. 4 BK Kohl besuchte Russland am 15./16. Dezember 1992. Vgl. Dok. 419 und Dok. 420. 5 Vom 19. bis 21. August 1991 kam es in der UdSSR zum Putschversuch durch ein „Staatskomitee für den Ausnahmezustand“. Vgl. AAPD 1991, II, Dok. 266–269, Dok. 271, Dok. 272, Dok. 274–276 und Dok. 284. BK Kohl und der russische Präsident Jelzin führten am 21. August 1991 ein Telefongespräch. Vgl. die Regierungserklärung Kohls vom 4. September 1991; BT STENOGRAPHISCHE BERICHTE, 12. WP, 37. Sitzung, S. 3015. 6 Glawnoje Raswedywatelnoje Uprawlenije (Hauptverwaltung für Aufklärung).

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wurden, unterstrich StM die Offenheit der Unterredungen und die Ernsthaftigkeit, mit welcher die russische Seite die deutschen Sorgen aufgenommen, die deutsche Seite ihrerseits aber auch russische Anliegen zur Kenntnis genommen habe. 3) Sodann trug StM folgende Gravamina vor: 3.1) Die große Zahl der Vertreter der russischen Dienste in Deutschland müsse reduziert werden. Es müsse ein vernünftiges Maß gefunden werden. Dies sei auch der Wunsch des Bundeskanzlers. 3.2) Der GRU entfalte eine ziemlich hohe Aktivität. Die russische Seite müsse darauf achten, dass im Rahmen des Abzugs der Truppen der Westtruppe alles in Ordnung gebracht werde. 3.3) Der Bundeskanzler sehe mit Sorge, dass sich in der Westtruppe Waffenhandel, Schmuggel mit Zigaretten, Treibstoff usw. ausbreiteten. Zwar seien deutsche Bürger beteiligt. Aber wir hofften, dass diese Probleme in Ordnung gebracht würden. 3.4) Im Fall Scherdew7 setze sich der Bundeskanzler persönlich ein. Er bemühe sich darum, dass Scherdew bald nach Beendigung des Prozesses nach Russland zurückkehren könne, die Frage solle möglichst ohne Beteiligung der Öffentlichkeit gelöst werden. StM betonte, dass, wenn sich freundschaftliche Beziehungen zwischen beiden Ländern anbahnten, diese Entwicklung nicht durch kontraproduzente Zwischenfälle gestört werden dürfe. 3.5) Der Bundeskanzler habe ihn gebeten, den Moskaubesuch von BM Waigel8 noch vor seiner eigenen Reise anzukündigen. 3.6) Der letzte, besonders wichtige Punkt stehe im Zusammenhang mit der Wiedervereinigung und dem Erbe, welches die Arbeit des früheren MfS beinhalte. In der Bundesregierung säßen noch viele unerkannte Agenten des MfS. Wir wüssten, dass in großen Mengen Material des MfS nach Moskau gebracht worden sei. Im Namen des Bundeskanzlers bitte er den Präsidenten, dabei mitzuwirken, dass dieses Problem gelöst werde. Uns sei bekannt, dass es sich um eine sensible Angelegenheit handele und nicht alles machbar sei. Wir wollten nichts Unmögliches erbitten, nichts was die russischen Interessen tatsächlich berühre. Aber sicherlich lasse sich in diesem oder jenem Fall eine Lösung finden. Hierfür werde die persönliche Unterstützung des Präsidenten benötigt. 4) Der Präsident dankte für die konzentrierte Information. Er freue sich über die Übereinstimmung in vielen Fragen. Die Beziehungen zwischen beiden Staaten, beiden Staatschefs und den Völkern in beiden Ländern hätten sich in der Tat heute, nach Ende des Kalten 7 In der Presse wurde berichtet: „Das Berliner Kammergericht hat den russischen Oberst Scherdew am Donnerstag wegen geheimdienstlicher Agententätigkeit und Bestechung zu drei Jahren Gefängnis verurteilt. Der Erste Strafsenat sah es als erwiesen an, dass Scherdew von 1980 bis zu seiner Festnahme 1991 bei einem konspirativen Treffen im Harz für den Militärischen Geheimdienst (GRU) der früheren Sowjetunion gegen die Bundesrepublik und ihre Partner in der Nato gearbeitet habe. Zuletzt sei Scherdew Chef des GRU-Stützpunktes in Magdeburg gewesen, von wo aus er ein Agentennetz leitete. Seine Agenten sollen laut dem Urteil ,flächendeckend‘ Militärobjekte, Truppenbewegungen, Raketenstützpunkte ausspähen. […] Als Bestechung wertete das Gericht die Geldzuwendungen im Auftrag von Scherdew an einen Polizeioberkommissar aus dem Raum Wernigerode für die Lieferung von Material aus dessen Dienststelle.“ Vgl. den Artikel „Agent in Berlin zu drei Jahren Haft verurteilt“; FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG vom 4. September 1992, S. 4. 8 Der für die Zeit vom 10. bis 12. November 1992 geplante Besuch des BM Waigel in Russland wurde abgesagt. Vgl. den Vermerk des VLR I Göckel vom 5. November 1992; B 38, ZA-Bd. 184715.

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Krieges, grundsätzlich geändert. Sie würden und sollten aufgebaut werden auf der Grundlage des Vertrauens, eines Abbaus der Konfrontation und einer Verringerung der Präsenz dessen, worüber der StM gesprochen habe. Das sage er, obwohl wir sicher noch nicht den Stand erreicht hätten, wo wir die Auslandsaufklärung völlig abschaffen könnten. Zu den einzelnen Fragen wolle er Folgendes sagen: 4.1) Russland schlage einen völlig neuen Weg ein, indem es Vereinbarungen zwischen dem Sicherheitsministerium und den Diensten anderer Länder abschließe. Dasselbe geschehe mit den übrigen Staaten innerhalb der GUS. Er begrüße es, dass der Bundeskanzler den Staatsminister als „Profi“ und engen Mitarbeiter nach Moskau geschickt habe, um direkte Kontakte herzustellen. Die russische Regierung benutze diesen Weg ebenfalls, indem Primakow und Barannikow zu ausländischen Staatschefs zu Konsultationen reisten. Er sei einverstanden, wenn die russischen Dienste mit den deutschen Diensten Vereinbarungen über die Regeln des Verhaltens abschließen würden. Bezüglich der Reduzierung der Mitarbeiterzahl wolle er jetzt folgende Entscheidung treffen: Jetzt werde die Zahl um 30 Prozent gesenkt werden; die russische Seite sei bereit, gegen Jahresende die Zahl auf 50 Prozent herunterzuführen. Im laufenden Jahr könne also halbiert werden. Das Jahr 1993 werde eine Fortsetzung des Prozesses zeigen. 4.2) Die Westtruppe werde abgezogen, deshalb sollte es keine GRU-Vertreter geben. Er werde diese Linie gegenüber dem Verteidigungsministerium durchsetzen. Man werde das Potenzial des GRU auch durch finanzielle Kürzungen reduzieren, gegenwärtig um 30 Prozent. 4.3) Er sei für das persönliche Engagement des Bundeskanzlers im Fall Scherdew dankbar. Er verstehe, dass der Bundeskanzler während des Prozesses keinen direkten Einfluss nehmen könne. Aber er hoffe, dass Scherdew danach freigesetzt werde, dies wäre ein Schritt für die neue Ebene der Beziehungen. 4.4) Er bitte um Gegenseitigkeit in dem Sinne, dass, wenn die russischen Dienste in Deutschland ihre Präsenz verkleinerten, die Bundesregierung ihrerseits eine Reduzierung ihrer Dienste in Russland vornehme. Er verstehe die Sorgen der Dienste, dass in Russland Veränderungen eintreten könnten, dass es eine Rückkehr zur Vergangenheit gebe. Aber, so wörtlich, „das ist völlig ausgeschlossen“. Dies könne er als freigewählter Präsident mit Sicherheit sagen. In der letzten Zeit seien viele Vermutungen wegen eines zweiten Putschversuches angestellt worden, aber in Wirklichkeit sei wenig geschehen, es habe während des Jahrestages keine gegen die Regierung gerichtete Kundgebung gegeben, nur drei Prozent der Bevölkerung unterstützten die Kommunisten. Auch mit verfassungsmäßigen Mitteln sei der Präsident nicht abzuschaffen, jedenfalls bis zu den Neuwahlen für das Präsidentenamt 1996 nicht. 4.5) Der letzte Punkt des StM beinhalte zwei Unterfragen: Der StM verstehe als Fachmann sicherlich, wie heikel die Frage mit dem MfS sei: Die russische Seite könne nicht alle Archive für uns öffnen. Er habe nicht ganz begriffen, warum im Fall Honecker9 auf deutscher Seite die Rolle der Dienste und seine eigene nicht genügend eingeschätzt worden sei. Die russische Seite 9 Zum Fall Honecker vgl. Dok. 235.

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habe ihre Zusagen eingehalten, dies trotz harter Kritik, selbst vom früheren Präsidenten10, der von einer unmoralischen Haltung gesprochen habe. Aber diese Bemerkung mache er nebenbei. Er müsse sie dem Bundeskanzler (er nannte den Vornamen) nicht weitergeben. Der StM replizierte mit der Feststellung: Er wisse ganz genau, dass der Bundeskanzler stets voller Zuversicht gewesen sei, dass die Absprache eingehalten werden würde. Er sei über die Lösung des Falles sehr zufrieden gewesen. Darauf der Präsident: Sehr gut. Der Präsident machte sodann Ausführungen, die erkennen ließen, dass er glaubte, der StM fordere die Enttarnung von russischen Agenten. Primakow klärte ihn auf, worauf der Präsident bemerkte: Im Prozess der Zusammenarbeit könnten nach und nach Namen offengelegt werden. Im Austausch für Scherdew würde die deutsche Seite „einige Dutzend“ bekommen. StM betonte, er wolle nur erreichen, dass die deutsche Seite das Problem mit beiden russischen Diensten vertrauensvoll lösen könne. Beide Dienste wiesen darauf hin, dass der Präsident die Entscheidung zu treffen habe. Jelzin erwiderte scherzhaft, dass bei ihm Ordnung herrsche, und fuhr fort: Dies sei ein guter Weg, man werde auf der Grundlage der Gegenseitigkeit vorgehen. So könne die deutsche Seite der russischen bei der Aufarbeitung der Archive der DDR Informationen geben. 4.6) Der Präsident kam schließlich, ausdrücklich außerhalb des Protokolls, auf folgende, von ihm als sehr vertraulich bezeichnete Sache zu sprechen: Die russische Seite verfüge über Informationen darüber, dass die deutschen Dienste über die baltischen Staaten ihre Aktivitäten gegenüber Russland intensivierten. Hier werde ein sehr empfindlicher Punkt berührt. Er wolle darauf hinweisen, dass dies zu Gegenmaßnahmen führen könne. Er wolle nicht, dass die Deutschen und die Russen einen Krieg der Aufklärer im Baltikum führten. (Er verwandte das Bild von den Scharfschützen und machte entsprechende Gesten.) Der StM antwortete, er werde den Bundeskanzler informieren, spätestens bei dessen Besuch werde der Präsident eine ehrliche Antwort erhalten. Er wolle aber betonen, dass unter seiner Leitung keine aggressiven ND-Aktivitäten gegen Russland durchgeführt würden, auch nicht aus dem Baltikum heraus. Wir hätten unsere Lektion gelernt. 5) Der Präsident äußerte abschließend seine große Zufriedenheit über das Gespräch. Er bat darum, „meinem Freund Helmut“ den Dank dafür zu übermitteln, dass er ihn, den StM, geschickt habe, und dass die Gespräche gut gewesen seien. Was den offiziellen Besuch des Bundeskanzlers anbelange, so sei er mit dem Zeitpunkt im November einverstanden. Das Datum solle über die diplomatischen Kanäle festgelegt werden. Er dankte noch einmal für die Gastfreundschaft in München11 und bat um einen Gruß an den Kanzler. [gez.] Heyken B 130, VS-Bd. 14154 (010) 10 Michail Sergejewitsch Gorbatschow. 11 Der russische Präsident Jelzin traf am 8. Juli 1992 in München am Rande des Weltwirtschaftsgipfels mit den Staats- und Regierungschefs der G 7-Staaten sowie EG-Kommissionspräsident Delors zusammen. Vgl. Dok. 225.

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266 Gespräch des Bundesministers Kinkel mit dem Ko-Vorsitzenden der Jugoslawien-Konferenz, Lord Owen, in London 28. August 19921 Gespräch Bundesminister Kinkel am Rande der Londoner Jugoslawien-Konferenz2 am 28.8.1992 mit Lord David Owen, dem Nachfolger von Lord Carrington in der JugoslawienKonferenz3 BM sagte Owen Unterstützung für dessen schwierige Aufgabe zu und übermittelte auch Grüße und gute Wünsche von BM a. D. Genscher. Owen dankte und erwiderte diese Grüße. Es sei eine große Hilfe, dass er mit Vance zusammenarbeiten könne, den er aus der Namibia-Zusammenarbeit kenne. Als erstes wolle er am 31.8./1.9.1992 nach Paris fahren, was BM als besonders wichtig bezeichnete. Danach würde er gerne bald nach Bonn kommen. Beide verständigten sich, entweder am 1.9.1992 nachmittags oder am 2.9.1992 nach einem geeigneten Termin zu suchen.4 Owen unterstrich, wie wichtig es ihm sei, über deutsche Vorstellungen genau unterrichtet zu sein. Deutschland spiele eine wesentliche Rolle in den Jugoslawien-Fragen. Er begrüße die feste deutsche Haltung, die in der Rede des BM in der Londoner Konferenz5 zum Ausdruck gekommen sei, ausdrücklich. Das ermögliche es ihm, etwas flexibler aufzutreten. Er fragte BM weiter um Rat, welche Hauptstädte er vor Annahme seiner Tätigkeit noch sehen sollte. BM hielt vor allem Gespräche mit den Niederländern, die eine ähnlich feste Haltung wie Deutschland und jetzt auch Großbritannien einnehmen, für sehr wichtig. Im Übrigen plane er, am 3.9. in Athen zu sein, da Griechenland als erstes der Nachbarländer im Lenkungsausschuss der Londoner Konferenz vertreten sein werde. 1 Der Gesprächsvermerk wurde von MDg von Studnitz am 31. August 1992 gefertigt. Hat BM Kinkel am 2. September 1992 vorgelegen. Hat OAR Salzwedel am 3. September 1992 vorgelegen, der den Rücklauf an Studnitz verfügte. Hat in Vertretung von Studnitz VLR I Lambach am 3. September 1992 vorgelegen, der die Weiterleitung an Referat 215 „m[it] d[er] B[itte] um Verteilung“ verfügte. Hat VLR Steiner vorgelegen, der handschriftlich vermerkte: „Erl[edigt].“ 2 Zur internationalen Jugoslawien-Konferenz am 26./27. August 1992 vgl. Dok. 269. 3 BM Kinkel hielt sich anlässlich der internationalen Jugoslawien-Konferenz in London vom 25. bis 28. August 1992 in Großbritannien auf. Vgl. auch Dok. 263. 4 BM Kinkel und der Ko-Vorsitzende der Jugoslawien-Konferenz, Lord Owen, trafen am 1. September 1992 zusammen: „Owen wies zu Beginn des Gesprächs im Zusammenhang mit der Überwachung schwerer Waffen im UNPROFOR-Rahmen auf das Finanzierungsproblem hin. VN-GS wolle zunächst Finanzierung sichergestellt sehen. Er, Owen, hoffe, dass D hier finanziell helfen werde“. Kinkel antwortete, dass die Bundesrepublik „im Rahmen eines angemessenen Proporzes“ zu finanzieller Hilfe bereit sei. Kinkel führte weiter aus, „er frage sich, ob bislang genug getan worden sei, die Opposition in Serbien als echte Führungsalternative zu stärken. […] Owen meinte, entscheidend sei der geschlossene und entschiedene Druck der EG vor allem im wirtschaftlichen Bereich.“ Vgl. den Gesprächsvermerk; B 42, ZABd. 183679. 5 Zur Rede des BM Kinkel vom 26. August 1992 vgl. Dok. 269, Anm. 3.

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BM wies in diesem Zusammenhang auch auf die besonderen griechischen Schwierigkeiten mit Mazedonien und der Türkei hin. Die wachsende Rolle der Türkei in Zentralasien, aber auch auf dem Balkan, bereite Griechenland Schwierigkeiten. Es habe Sorge wegen der von der Türkei angestrebten Vorreiterrolle für die islamischen Länder. Andererseits sei nicht zu verkennen, dass sich die Türken teilweise berechtigte Sorgen um das Schicksal der Moslems in Europa machten. BM unterstrich die wichtige Rolle der Verstärkung des Embargos6, wobei Griechenland, Rumänien und Ungarn als unmittelbare Nachbarn Serbiens eine herausgehobene Rolle spielten. In bilateralen Gesprächen mit dem griechischen7 und dem rumänischen Außenminister8 habe er deren Verantwortung sehr deutlich gemacht. Selbst wenn es immer wieder praktische Probleme bei der konsequenten Durchsetzung des Embargos geben werde, dürfe man die enorme psychologische Bedeutung nicht unterschätzen. Die Fernsehberichterstattung über Durchbrechung des Embargos habe sehr negativ gewirkt. BM betonte des Weiteren die wesentliche Rolle, die Russland in der Serbien-Problematik spiele. Der russische Einfluss sei sehr groß, wie sich auch auf der Londoner Konferenz wieder gezeigt habe. Er habe lange mit AM Kosyrew gesprochen9, der sehr aufgeschlossen sei, aber innenpolitisch nicht unbeträchtliche Probleme habe. Er brauche und verdiene Unterstützung. Deshalb halte er es für wichtig, wenn Owen auch bald mit Kosyrew spreche. Owen stimmte zu. Er werde sich bemühen, mit Vance zusammen bald einen Besuch in Moskau durchzuführen. BM unterstrich nochmals, eine wie große Rolle die Jugoslawien-Frage in Deutschland spiele und wie stark er persönlich, aber auch der Bundeskanzler, in dieser Angelegenheit engagiert seien. Schon lange sei die deutsche Politik zu dem Schluss gekommen, dass die Serben nur eine harte Sprache verstünden, und die Londoner Konferenz habe ihn erneut in diesem Eindruck bestärkt. Owen stimmte dem zu, bemerkte aber zugleich, dieses müssten andere sagen, er als künftiger Konferenzvorsitzender müsse sich zurückhalten. BM äußerte sich kritisch zu Carringtons anfänglicher Umarmungspolitik, die von einer eher weichen britischen Linie unterstützt worden sei. Jetzt aber nähmen PM Major und AM Hurd eine deutlichere, unserer Linie entsprechende Haltung ein. Was die Beteiligung an militärischen Aufgaben angehe, bleibe das Problem mit dem Grundgesetz. Dort gebe es zwar jetzt Zeichen für eine Änderung auch bei der SPD. Diese Beschränkungen deutscher Handlungsmöglichkeit seien ärgerlich. Man brauche noch einige Zeit, um zur Verfassungs6 Vgl. die Resolution Nr. 713 des VN-Sicherheitsrats vom 25. September 1991; RESOLUTIONS AND DECISIONS 1991, S. 42 f. Für den deutschen Wortlaut vgl. EUROPA-ARCHIV 1991, D 550–552. Vgl. auch die Resolution Nr. 757 des VN-Sicherheitsrats vom 30. Mai 1992; Dok. 159, Anm. 12. 7 Michalis Papakonstantinou. 8 Im Gespräch mit dem rumänischen AM Năstase am 26. August 1992 erkundigte sich BM Kinkel nach dem „Wahrheitsgehalt der Berichte über rumänische Verletzungen des Jugoslawien-Embargos“. Năstase legte dar: „Das Problem sei, dass die Donau eine internationale Wasserstraße sei. Er würde es daher begrüßen, wenn der UNO-Sicherheitsrat, der ja die Embargo-Resolution verabschiedet habe, eine interpretative Erklärung abgeben würde. Auch die Bundesrepublik Deutschland solle Beobachter schicken.“ Vgl. den Gesprächsvermerk; B 1, ZA-Bd. 178945. 9 Für das Gespräch des BM Kinkel mit dem russischen AM Kosyrew am 27. August 1992 in London vgl. Dok. 264.

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änderung zu kommen. Letztlich werde sie aber im Jugoslawien-Konflikt nicht helfen, da die historischen Hemmnisse fortbestünden. Diese müsse Deutschland beachten. Owen äußerte die Hoffnung, dass die Verfassungsänderung gelinge. Er selbst habe die Wiedervereinigung stark unterstützt und habe volles Vertrauen zu der Demokratie in Deutschland. Er halte es für erforderlich, dass die politische Erfahrung Deutschlands und sein wirtschaftliches Gewicht international voll genutzt werden können. Deshalb müsse Deutschland auch in den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen. Er selbst sei bereit, wenn dies als nützlich angesehen werde, in diesem Sinne auch einmal mit der SPD zu sprechen. Das Gespräch wurde beendet mit dem beiderseitigen Wunsch, einen schnellen Termin für ein Gespräch in Bonn zu suchen. B 42, ZA-Bd. 183678

267 Gespräch des Bundesministers Kinkel mit dem dänischen Außenminister Ellemann-Jensen 205-321.11

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Von BM noch nicht gebilligt. Der Bundesminister (BM) traf am 28.8. in Bonn mit seinem dän. Kollegen, Uffe EllemannJensen (AM), zusammen. Weitere Teilnehmer auf dän. Seite: Botschafter Tygesen; Gesandter Vissing; Leiter dän. MB, Arne Petersen. Auf deutscher Seite: StS Lautenschlager; D 42; Leiter MB3; RL 2054; LR I Pfeifer (013). Aus dem in sehr offener und freundschaftlicher Atmosphäre geführten 1 1/2 Std.Gespräch sind folgende Schwerpunkte festzuhalten: 1) Vertrag über Europäische Union BM leitete Gespräch mit Pressemeldungen über jüngste besorgniserregende Meinungsumfragen in Frankreich zum Ausgang des Maastricht-Referendums am 20.9.5 ein und plädierte, zumindest gedanklich, schon heute auch ein negatives Ergebnis ins Kalkül zu ziehen. StS ergänzte, dass man sich dazu verschiedene Optionen vorstellen könne, warnte jedoch davor, dies schriftlich zu tun. Die Minister waren sich einig, dass in diesem Falle ein sofortiges Treffen der Außenminister der Zwölf geboten wäre, die sich um diese Zeit 1 Kopie. Der Gesprächsvermerk wurde von VLR I Graf Leutrum am 31. August 1992 gefertigt und über StS Lautenschlager an das Ministerbüro geleitet mit der Bitte, „Billigung des Herrn BM herbeizuführen“. Hat Lautenschlager am 31. August 1992 vorgelegen. 2 Heinrich-Dietrich Dieckmann. 3 Thomas Matussek. 4 Norwin Graf Leutrum von Ertingen. 5 Zum Referendum in Frankreich vgl. Dok. 293 und Dok. 300.

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28. August 1992: Gespräch zwischen Kinkel und Ellemann-Jensen

ohnehin in der Mehrzahl in New York aufhalten werden. Ein sofortiges Zusammentreffen der Regierungschefs der Gemeinschaft hielt dän. AM für verfrüht, wohingegen er dies für die um diese Zeit in Washington tagenden Finanzminister der Zwölf6 wegen möglicher Auswirkungen auf die Finanzmärkte für notwendig erachtete. Auf Frage des BM nach Überlegungen der dän. Regierung im Hinblick auf das Referendum vom 2. Juni7 führte der AM aus: Seine Regierung gehe in ihrer Planung bisher von einem positiven Ausgang des französischen Referendums aus und beabsichtige, Anfang Oktober ein Weißbuch mit einer analytischen Darstellung herauszugeben als Grundlage für innerdänische Diskussion, insbesondere unter den politischen Parteien. Wie er es der britischen Präsidentschaft schon erläutert habe, interpretiere man das dän. Referendum in EG-Partnerstaaten nicht richtig, wenn man glaube, mit einigen Anpassungen und Erläuterungen zum Vertrag von Maastricht ein neues dänisches Votum zu erhalten. Ein zweites Referendum wäre in DK nur auf einer neuen Grundlage vorstellbar und in diesem Jahr ohnehin nicht möglich. Nach der Abstimmung im Folketing pro Maastricht und in der dän. Bevölkerung kontra Maastricht habe man es in seinem Land mit einem Glaubwürdigkeitskonflikt zwischen Gewählten und Wählern zu tun, was die Lage besonders kompliziert mache. BM erläuterte die deutsche Haltung zum dän. Referendum, die ein Neuverhandeln von Maastricht ausschließe, auch im Hinblick auf das innerdeutsche Ratifikationsverfahren und das Bund-Länder-Verhältnis. Die Tür für DK bleibe allerdings offen. Auf Rückfrage des StS, ob sich kommende EG-Präsidentschaft DKs8 auf Situation hilfreich auswirken könne, meinte AM, dass seine Regierung zwischen den Aufgaben des Vorsitzes und ihren nationalen Interessen wohl zu unterscheiden wisse. Bevor dän. Regierung ihre Haltung zu Maastricht festlege, wolle man gerne mit dem deutschen Bundeskanzler und Außenminister zusammenkommen. BM erwiderte, er nehme dieses Angebot mit Freude an. 2) Verhältnis DK – WEU9 AM erläuterte, dass Frage, in welcher Form DK künftig an der WEU teilnehme, in der Opposition und auch bei konservativer Partei umstritten sei und noch diskutiert werde. Er plädiere für Beobachterstatus, weiter gehen könne man gegenwärtig nicht, sondern sollte weitere Schritte bis zur nächsten Regierungskonferenz aufschieben. BM erklärte unser Interesse an voller Mitgliedschaft DKs in der WEU; wir verstünden allerdings dän. Haltung, die mit jener zur Europäischen Union zusammenhänge. 3) Lage im ehemaligen Jugoslawien BM erläuterte die vom WEU-Ministerrat am selben Tag in London beschlossenen Maßnahmen10, wobei auch die innerdeutsche Parteiendiskussion und Verfassungslage 6 In Washington fand vom 22. bis 24. September 1992 die Jahrestagung von IWF und Weltbank statt. 7 Zum Referendum in Dänemark vgl. Dok. 166, Anm. 2. 8 Dänemark hatte die EG-Ratspräsidentschaft vom 1. Januar bis 30. Juni 1993 inne. 9 Zu einer Mitgliedschaft Dänemarks in der WEU vgl. Dok. 229, Anm. 5. 10 Am 28. August 1992 fand in London eine außerordentliche WEU-Ministerratstagung statt. Im Kommuniqué hieß es: „Ministers approved the planning carried out by WEU experts covering the protection of humanitarian convoys by military escorts. They welcomed the willingness of the UN Secretary-General to recommend to the Security Council that UNPROFOR operations in Bosnia-Herzegovina be enhanced to provide such escorts […]. They underlined the collective will of the member States of WEU to contribute to such operations by military, logistic, financial and other means“. Außerdem brachten die Außen- und

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beleuchtet wurden. AM erwähnte dän. Beitrag, der im Rahmen der VN und NATO geleistet werde (tausend dän. Blauhelme im Einsatz und Bereitschaft, weitere Spezialeinheiten in das ehem. Jugoslawien zu schicken). DK sei besorgt wegen möglicher Duplizierung der Maßnahmen von NATO und WEU und plädiere nicht zuletzt im Hinblick auf die Wichtigkeit der transatlantischen Beziehungen für eine möglichst enge Koordinierung. BM versicherte seinem Gast, dass die Bundesregierung wie auch der italienische Vorsitz11 bestrebt seien, zwischen NATO und WEU eine möglichst enge Abstimmung in diesen Fragen zu erreichen. Er nutzte Gelegenheit, AM ausdrücklich für seine Unterstützung auf der Londoner Konferenz für den deutschen Vorschlag zur Einsetzung eines Internationalen Strafgerichtshofs zu danken.12 Auf Frage des BM, was dän. Regierung von einem Ausschluss Serbiens – das i. Ü. nur auf Härte reagiere – aus internationalen Organisationen halte, stimmte AM der deutschen Einschätzung zu. Die Frage nach einer Herunterstufung der diplomatischen Beziehungen der Zwölf zu Belgrad habe DK auf pragmatische Weise geregelt. Diplomatische Beziehungen seien nicht abgebrochen, sondern hätten zwischen DK und Belgrad aufgehört zu bestehen; man habe dort nicht einmal einen Chargé d’affaires. Ein echtes Problem verspreche die Mazedonien-Frage zu werden. BM gab zu bedenken, dass das Schicksal der aktuellen griechischen Regierung von dieser Frage abhänge und man insofern unter gewissem Druck der griechischen Seite stehe. AM bemerkte, dass auch AM Hurd bei seinem bevorstehenden Besuch in Athen feststellen werde, dass man mit der Lissaboner Formel13 nicht mehr weiterkomme. Man könne ggfs. eine Anerkennung Mazedoniens unter einem anderen Namen erwägen. 4) Somalia-Hilfe14 BM berichtete, dass er in London vom belgischen Kollegen15 um weitere Unterstützungsmaßnahmen für Somalia gebeten wurde. Belgien wäre bereit, weitere Blauhelme in Somalia einzusetzen, um die Verteilung der humanitären Hilfsgüter sicherzustellen. Appell an die europäischen Partner, dafür weitere finanzielle Mittel in Höhe von 15 Mio. USDollar bereitzustellen. Bundesregierung sei bereit, dazu Beitrag zu leisten. Dän. AM berichtete, seine Regierung habe Unterstützung i. H. von 1 Mio. US-Dollar zugesagt, die nordischen Staaten übernähmen 4 – 5 Mio. US-Dollar. Er beabsichtigte, auf Rückreise der Troika in der nächsten Woche von SA mit seinen Kollegen in Mogadischu einen Stopp einzulegen, um sich vor Ort ein Bild von der aktuellen Lage zu machen.16 Fortsetzung Fußnote von Seite 1072 Verteidigungsminister ihren Willen zum Ausdruck, sich an Maßnahmen zur Kontrolle schwerer Waffen unter der Gesamtverantwortung der VN zu beteiligen sowie an allen Maßnahmen zur Durchführung der Embargobeschlüsse. Vgl. B 29, ZA-Bd. 213138. Für den deutschen Wortlaut des Kommuniqués vgl. BULLETIN 1992, S. 873 f. 11 Italien hatte die WEU-Präsidentschaft vom 1. Juli 1992 bis 30. Juni 1993 inne. 12 Zur Frage der Einrichtung eines Internationalen Strafgerichtshofs vgl. Dok. 247. Zur internationalen Jugoslawien-Konferenz am 26./27. August 1992 vgl. Dok. 269. 13 Zum Beschluss des Europäischen Rats am 26./27. Juni 1992 in Lissabon, Mazedonien nur unter der Voraussetzung eines anderen Namens anzuerkennen, vgl. Dok. 201. 14 Zur Lage in Somalia und zur humanitären Hilfe vgl. Dok. 248. 15 Willy Claes. 16 In einem Vermerk des Referats 320 vom 8. September 1992 wurde dargelegt: „Am 2./3.9.1992 besuchte die Außenminister-Troika Südafrika. Ergebnis war, dass die südafrikanischen Parteien die Entsendung […] einer EG-Mission von 15 Beobachtern (in Zusammenarbeit mit den VN-Beobachtern), von fünf internatio-

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5) Aufnahme von GUS in die DAC-Liste Auf dän. Rückfrage nach Aufnahme von GUS-Staaten in die DAC-Liste erläuterte StS, dass Bundesregierung Aufnahme der fünf zentralasiatischen GUS-Republiken unterstütze. Dem Aufnahmeantrag Rumäniens stünden wir allerdings zurückhaltender gegenüber. 6) Baltikum Dän. AM schnitt Lage im Baltikum an und fragte, was von uns in der Truppenabzugsfrage getan werden könne, nachdem dän. Vorschlag, Programme zur Förderung des Wohnungsbaus für aus dem Baltikum abziehende Truppen einzurichten, keine Unterstützung gefunden hätte. BM erläuterte, dass uns das Problem bekannt sei, wir die russ. Seite auch zu Verhandlungen mit den baltischen Regierungen gedrängt hätten, was Jelzin zugesagt habe. Nachdem Deutschland für das Wohnungsbauprogramm17 für die aus den NBL abziehenden russ. Truppen bereits 7,8 Mrd. bezahle, seien unsere Möglichkeiten in dieser Beziehung erschöpft. 7) Reform der VN BM schilderte, dass in Deutschland die Diskussion über eine Reform der VN zunehme. Wir seien wie bisher an einer Stärkung der VN interessiert, ein ständiger Sitz im Sicherheitsrat sei für uns nicht prioritär. Überlegungen der Japaner, die demnächst als nichtständiges Mitglied in den Sicherheitsrat kämen und dort bleiben wollten, könnten von uns nicht übersehen werden. Wir seien der drittgrößte Beitragszahler und wollten als vereinigtes Land, in voller Kenntnis unserer Vergangenheit und mit der nötigen Bescheidenheit, aktiv an den Überlegungen zur Reform der VN und des Sicherheitsrates teilnehmen. Dän. AM stimmte zu, dass Stärkung der VN nötig sei und auch Reform des Sicherheitsrates, der in seiner gegenwärtigen Zusammensetzung der aktuellen Weltlage nicht mehr in ausreichendem Maße Rechnung trage. 8) Wegen Zeitablaufs konnten die folgenden Themen nur noch kursorisch behandelt werden: – DK unterstützt den EP-Vorschlag, der eine Erhöhung der deutschen Mandate vorsieht.18 – DK unterstützt Bundesregierung in der Sitzfrage für EZB19, wenn wir dän. Regierung bei entsprechendem Anliegen für Sitz einer EG-Institution in DK unterstützen. – StS erläuterte deutsches Interesse an FAO-GD-Posten und stellte deutschen Kandidaten vor.20 – Bei Frage einer künftigen Regelung des EG-Bananenmarktes wird DK auch weiterhin eine liberale Einfuhrregelung und die Bananen-Erzeugerländer unterstützen.21 – Ratifizierung des EG-Assoziierungsabkommens mit ČSFR22 ist ein Problem geworden Fortsetzung Fußnote von Seite 1073 nalen Experten für Unterausschüsse der Goldstone-Kommission sowie Hilfe bei der Polizeiausbildung akzeptiert haben.“ Vgl. B 31, ZA-Bd. 178328. Vgl. ferner BULLETIN DER EG 9/1992, S. 64 f. Am 4. September 1992 hielten sich die AM Ellemann-Jensen (Dänemark), Hurd (Großbritannien) und Pinheiro (Portugal) in Somalia auf. Vgl. BULLETIN DER EG 9/1992, S. 68. 17 Zum Stand des Wohnungsbauprogramms vgl. Dok. 280. 18 Zur Frage der Erhöhung der Zahl der Mitglieder des Europäischen Parlaments vgl. Dok. 162, Anm. 36. 19 Zur Kandidatur von Frankfurt am Main als Sitz der Europäischen Zentralbank vgl. Dok. 52. 20 Zur Wahl des FAO-GD vgl. Dok. 301, Anm. 19. 21 Zur geplanten EG-Bananenmarktregelung vgl. Dok. 208, Anm. 11. 22 Die EG schloss am 16. Dezember 1991 ein Europa-Abkommen zur Gründung einer Assoziation mit der ČSFR. Vgl. BULLETIN DER EG 12/1991, S. 97 f.

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angesichts bevorstehender Teilung des Landes. Mehrheit der EG-Partner will weitermachen wie auch wir, GB und das EP haben unterbrochen. BM bedankte sich abschließend für das konstruktive Gespräch und sprach Hoffnung aus, dass sich die guten persönlichen Beziehungen zwischen BM Genscher und dem dän. Gast auch mit ihm fortsetzen werden. Er beabsichtige nach wie vor, zum Fußball-Länderspiel Anfang September nach Kopenhagen zu kommen.23 B 1, ZA-Bd. 178945

268 Schreiben des Bundesministers Kinkel an Bundesministerin Merkel 108-103.40/4

28. August 19921

Sehr geehrte Frau Kollegin, liebe Frau Merkel! Vielen Dank für Ihr Schreiben vom 30. Juli 19922, in dem Sie mich bitten, mich dafür einzusetzen, dass Frauen in Zukunft in angemessenem Umfang bei der Besetzung von Gremien im Einflussbereich des Bundes berücksichtigt werden. Das Thema einer verstärkten Repräsentanz von Frauen in Gremien im Einflussbereich des Bundes wurde im Auswärtigen Amt nie kontrovers behandelt. Der gegenwärtig erarbeitete Entwurf eines entsprechenden Bundesgremiengesetzes3, dessen Ziel es ist, den Frauenanteil in diesem Bereich zu erhöhen, wurde deshalb auch von Anfang an vom Auswärtigen Amt unterstützt. 23 Am 9. September 1992 fand in Kopenhagen ein Freundschaftsspiel zwischen Dänemark und Deutschland statt, das 1 : 2 endete. BM Kinkel hielt sich an diesem Tag in Dänemark auf. 1 Kopie. 2 BMin Merkel teilte BM Kinkel mit: „Ende 1990 wurde der Bericht der Bundesregierung über die Frauenrepräsentanz in Gremien, Ämtern und Funktionen, auf deren Besetzung die Bundesregierung Einfluss hat, vorgelegt. Seit Erstellung des Berichtes haben sich hinsichtlich der Besetzung dieser Gremien in 67 Fällen, betreffend 162 Einzelmitglieder, Änderungen ergeben. Unter diesen 162 neuberufenen Mitgliedern befinden sich 150 Männer und lediglich zwölf Frauen, der Frauenanteil an den Berufungen liegt damit bei 7,4 %. Zusätzlich wurden seit Januar 1991 fünf neue Gremien gebildet. Der Frauenanteil in diesen fünf Gremien beträgt 13,3 % (insg[esamt] 30 Mitglieder, davon vier Frauen).“ Hinsichtlich der geringen Repräsentanz von Frauen hätten sich „keine wesentlichen Änderungen“ ergeben: „Ich wende mich deshalb auf diesem Wege mit der Bitte an Sie, sich dafür einzusetzen, dass in Zukunft Frauen in angemessenem Umfang bei der Besetzung von Gremien berücksichtigt werden. […] Ich habe mich mit gleicher Post an alle Kolleginnen und Kollegen mit der Bitte gewandt, auf eine Besserung der Situation hinzuwirken.“ Vgl. B 107, ZA-Bd. 208575. 3 Das Gesetz über die Berufung und Entsendung von Frauen und Männern in Gremien im Einflussbereich des Bundes (Bundesgremienbesetzungsgesetz) wurde mit Artikel 11 des Gesetzes vom 24. Juni 1994 zur Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern (Zweites Gleichberechtigungsgesetz) verkündet. Vgl. BGBl. 1994, I, S. 1413 f.

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Selbstverständlich ist mir – gerade als ehemaliger Bundesminister der Justiz – auch daran gelegen, dass das Bundesgremiengesetz nach seinem Inkrafttreten im Auswärtigen Amt voll umgesetzt wird. Auch die mit Frauenförderung befassten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Auswärtigen Amtes widmen dem Gesetzesentwurf unter diesem Aspekt ihre volle Aufmerksamkeit. Darüber hinaus will auch die neue Frauenbeauftragte des Auswärtigen Amtes4, die ihren Dienst am 17.8. d. J. angetreten hat, auf eine angemessene Repräsentanz von Frauen in Gremien ihr besonderes Augenmerk richten. Mit Genugtuung kann ich feststellen, dass das Auswärtige Amt und das BMFJ sich bereits in der Vergangenheit gemeinsam bemüht haben, den Frauenanteil in Gremien im Einflussbereich des Bundes zu erhöhen. So haben sich beide 1991, als die Nachbesetzung einer Vertreterin/Vertreter der Jugendverbände sowie einer freien Persönlichkeit im DeutschAmerikanischen Rat für den Jugendaustausch anstand, dafür eingesetzt, dass jeweils eine Frau vorgeschlagen werden sollte. Diese Bemühungen waren erfolgreich: Das AA konnte für die Jugendverbände und als freie Persönlichkeit jeweils eine Frau als Mitglied des Deutsch-Amerikanischen Jugendrats ernennen. Inzwischen wird – wie Sie wissen – deutscherseits auch der Vorsitz im Rat durch eine Frau eingenommen, nämlich durch die Parlamentarische Staatssekretärin in Ihrem Hause, Frau Cornelia Yzer. Die Amtszeit der jetzigen Mitglieder endet im November 1993. Das Auswärtige Amt wird sich dann erneut dafür einsetzen, dass bei den dann anstehenden Neuernennungen die Frauen in angemessenem Umfang berücksichtigt werden. Es hofft, dass die gemeinsamen Bemühungen von AA und BMFJ, die bei der Zusammensetzung des jetzigen Rats nicht ohne Erfolg waren, 1993 dazu führen, den Frauenanteil weiter zu erhöhen. Im Bereich der Petersberg GmbH, für die das Auswärtige Amt federführend zuständig ist, ist zwar der Frauenanteil noch nicht so hoch, wie dies vom Bundesgremiengesetz angestrebt wird. Allerdings haben bei der Petersberg GmbH auch noch andere Institutionen ein Berufungsrecht. Insofern kann das Auswärtige Amt nicht allein über die personelle Besetzung dort entscheiden. Ich bin aber sicher, dass die volle Umsetzung des Bundesgremiengesetzes auch hier zukünftig zu einer Verbesserung des Frauenanteils führen wird. Was schließlich das „Haus der Kulturen der Welt“ GmbH betrifft, hat sich der Vertreter des Auswärtigen Amts im Aufsichtsrat der GmbH mit Erfolg für die einzige weibliche Auswahlkandidatin eingesetzt. Um in Zukunft Frauen in angemessenem Umfang bei der Besetzung von Gremien zu berücksichtigen, kann es durchaus zweckmäßig sein – hierin stimme ich Ihnen zu –, wenn das BMFJ frühzeitig beteiligt wird, wie dies bei der Besetzung des Deutsch-Amerikanischen Jugendrats mit Erfolg geschehen ist. Mit freundlichen Grüßen Klaus Kinkel B 1, ZA-Bd. 366026

4 Doretta Maria Loschelder.

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269 Drahtbericht des Vortragenden Legationsrats I. Klasse Libal, z. Z. London Fernschreiben Nr. 1672 Citissime nachts Betr.:

Aufgabe: 28. August 1992, 11.39 Uhr1 Ankunft: 28. August 1992, 13.40 Uhr

Londoner Konferenz2; hier: Abschlussbericht

Bezug: DB Nr. 1665 vom 27.8.923 I. Zusammenfassung und Bewertung 1) Zweitägige Konferenz endete gestern Abend nach Verabschiedung Arbeitsprogramm für Fortsetzung der Konferenz, Papier zu Bosnien-Herzegowina und Papier zu konkreten Beschlüssen. Erklärung zu Serbien/Montenegro wurde vorgelegt und ohne Aussprache oder Widerspruch zur Kenntnis genommen. (Texte liegen bereits per Fax vor.4) Konferenz hat damit im Konsens Gesamtpaket geschnürt, das schrittweise Maßnahmen zur Befriedung B-Hs mit der Fortsetzung der Suche nach einer umfassenden politischen Lösung im Rahmen der erweiterten Konferenz und einem Aktionsprogramm vorwiegend im humanitären Bereich, aber auch im Hinblick auf ein strafferes Sanktionenregime verknüpft. Statt erneutem – zu oft gescheitertem – Versuch zu sofortigem Waffenstillstand hat Konferenz schrittweisen und umfassenden Ansatz gewählt. Die Schritte: – Als Voraussetzung für eine sofortige Wiederaufnahme der Verhandlungen über B-H haben bosnische Serben zugestimmt, ihre schweren Waffen zu konzentrieren und internationaler Kontrolle zu unterstellen und grundsätzliche Bereitschaft zum Rückzug aus einem erheblichen Teil des von ihnen kontrollierten Territoriums erklärt. – Konferenz bleibt Dauereinrichtung und kann jederzeit wieder einberufen werden. Sie richtet sofort Lenkungsausschuss unter Ägide der EG und VN, Arbeitsgruppen und Se1 Das von LRin I Sparwasser-Speller, London, und VLR I Libal, z. Z. London, konzipierte Fernschreiben wurde in drei Teilen übermittelt. Vgl. Anm. 7 und 10. Hat VLR Steiner am 28. August 1992 vorgelegen. 2 Die internationale Jugoslawien-Konferenz fand am 26./27. August 1992 statt. 3 VLR I Libal, z. Z. London, berichtete über den ersten Konferenztag am 26. August 1992: „Zu Beginn der Nachmittagssitzung gab BM Kinkel vielbeachtete und nachdrücklich an serbische Adresse gerichtete Erklärung ab. Serbische Führer müssten nun entscheiden zwischen Selbstisolierung und Verarmung oder Rückweg in Staatengemeinschaft. Von Belgrad aus in Gang gesetzter Krieg für ein ethnisch möglichst reines Großserbien sei Hauptursache von Terror und Vertreibung. Bei dessen Fortsetzung könne Serbien für den Wiederaufbau keine Hilfe erwarten. BM forderte dauerhaften Waffenstillstand unter internationaler Kontrolle schwerer Waffen, Verhandlungen über politische Lösung auf Basis des Abkommensentwurfs vom 4. November 1991, bessere Kontrolle der VN-Sanktionen, Auflösung der Internierungslager und Bestrafung von Verantwortlichen an Menschenrechtsverletzungen.“ Vgl. B 42, ZA-Bd. 183678. 4 Für die am 28. August 1992 übermittelten Texte „Statement of Principles“, „Specific Decisions by the London Conference“, „Work Programme“, „Statement on Bosnia“, „Agreement with Doctor Karadzic: 27 August“, „Paper on Serbia and Montenegro“ vgl. B 42, ZA-Bd. 183678. Vgl. auch EUROPA-ARCHIV 1992, D 584–590.

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kretariat zur Weiterverfolgung der Friedensbemühungen ein, die so lange arbeiten, bis dauerhafte Lösung erreicht ist. – Humanitäre Hilfe wird ausgebaut und stärker gesichert, Internierungslager werden aufgelöst, Unterstützung für Rückkehr der Flüchtlinge in ihre Heimat wird gewährt. – Mit Ausnahme Serbiens und Montenegros beschlossen Teilnehmer, Sanktionsimplementierung zu verbessern. Papier über Serbien enthält Drohung, ggf. Sanktionen weiter zu verschärfen. 2) Deutsche Positionen sind in Konferenzbeschlüssen weitgehend reflektiert. Dies gilt v. a. für unsere Anliegen im humanitären Bereich und im Hinblick auf eine verbesserte Einhaltung der Sanktionen. Auch die von uns gewünschte Drohung, jegliche Hilfe beim Wiederaufbau der serbischen Wirtschaft zu verweigern, hat Aufnahme in das Dokument über die Entscheidungen gefunden. Unsere Forderung nach Einrichtung eines Internationalen Strafgerichtshofs5 wurde weitgehend unterstützt und gilt als Bestandteil der Konferenzbeschlüsse. Wir sind durch Botschafter Ahrens als Vorsitzender der Arbeitsgruppe zu nationalen Gemeinschaften und Minderheiten im Lenkungsausschuss vertreten. 3) Bewertung Dank straffer und effizienter Konferenzleitung können Briten das Ergebnis als Erfolg verbuchen, auch wenn tatsächlicher Einfluss auf die Geschehnisse vor Ort noch nicht abzuschätzen ist. Konferenz war von vorneherein als Konferenz mit Serbien angelegt und konnte sich daher nicht zu einem Tribunal über Serbien entwickeln. Dennoch ist Ausmaß der Isolierung Serbiens überaus deutlich geworden. Daran konnte auch die Friedensrhetorik von MP Panić nichts ändern. Der Druck auf Serbien hat zugenommen: Es wird in Zukunft bei der Verwirklichung der in London eingegangenen Verpflichtungen ständig von den Konferenzorganen überwacht werden und wird es insofern schwieriger als bisher haben, sich diesen Verpflichtungen zu entziehen. Zugleich werden die Sanktionen verdichtet und damit in ihrer Wirkung verschärft werden. Der Erfolg der Konferenz als Dauereinrichtung wird im Wesentlichen von der Zusammenarbeit zwischen VN und EG und damit auch von gewissen personellen Konstellationen (VN-GS6, Vance) abhängen, was sich bereits in diesen Tagen gezeigt hat. Immerhin besteht die Chance, dass nunmehr alle internationalen Bemühungen um Jugoslawien in einem festen Handlungsstrang zusammengefasst werden. 7II. Im Einzelnen

1) Verlauf zweiter Konferenztag Nach Abgabe aller Delegationserklärungen am Vortag war zweiter Tag von kurzen Plenumsdebatten zur Verabschiedung der Konferenzdokumente und langen Phasen informeller Konsultationen gekennzeichnet. Problempunkte waren besonders: (1) Arbeitsprogramm der Konferenz: Albanien widersetzte sich zunächst der Einordnung einer gesonderten, immerhin namentlich aufgeführten Arbeitsgruppe Kosovo in die Gruppe „Ethnische und nationale Gemeinschaften und Minderheiten“. Dies führte zu einer bemer5 Zur Frage der Einrichtung eines Internationalen Strafgerichtshofs vgl. Dok. 247. 6 Boutros Boutros-Ghali. 7 Beginn des mit DB Nr. 1673 übermittelten zweiten Teils des Fernschreibens. Vgl. Anm. 1.

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kenswerten, offenen Kontroverse zwischen Panić und Milošević: Während ersterer seine Bereitschaft erklärte, die Frage bilateral mit Albanien zu lösen, beharrte Milošević in einer unerwarteten Wortmeldung darauf, die Kosovo-Frage sei eine rein interne Angelegenheit Serbiens, und forderte, die namentliche Erwähnung überhaupt zu streichen. Dies wiederum bewog Panić zu der Bitte an den Vorsitzenden, ihm künftig als Leiter der jugoslawischen Delegation allein das Wort zu erteilen, womit er sich allerdings nicht durchsetzen konnte. Ebenso scheiterte ein Versuch von Panić, die Schiedskommission8 in ihrer gegenwärtigen Funktion und Besetzung infrage zu stellen. I blockierte zunächst Konsensus über die Zusammensetzung des Lenkungsausschusses, konnte aber durch Aufnahme darin als Nachbarstaat zufriedengestellt werden. (2) Dokument zu Bosnien wurde zunächst durch die bosnische Delegation selbst blockiert, die eine klare Nennung des Aggressors forderte und deutlich ihr Zögern zu erkennen gab, ohne Garantien für eine Verbesserung der Lage vor Ort in Verhandlungen einzutreten. Dies führte zu längeren Konsultationen mit den bosnischen Konfliktparteien, als deren Ergebnis eine von Karadžić und Koljević unterschriebene Erklärung dem Dokument beigefügt wurde. Darin verpflichten sich die Serben zu Folgendem: – Notifizierung binnen 96 Stunden der Positionen aller schweren Waffen um Sarajevo, Bihać, Goražde und Jajce, in denen diese Waffen binnen sieben Tagen konzentriert werden sollen; – fortgesetzte Überwachung der konzentrierten Waffen durch ständige VN-Beobachter; – entsprechendes Vorgehen der bosnischen Regierung wird erwartet, ist aber keine Vorbedingung; – sofortige Verpflichtung, das Feuer nicht von sich aus mit diesen schweren Waffen zu eröffnen; – Ankündigung, bei den Verhandlungen einem Rückzug aus einem erheblichen Teil des jetzt von Serben kontrollierten Territoriums zuzustimmen. (3) Dokument zu Serbien/Montenegro war Gegenstand langwieriger Konsultationen. Es war in Verhandlungen auf Beamtenebene gegenüber der ursprünglichen EG-Version bereits abgeschwächt worden. Dennoch wurde es vom VN-GS als Ko-Vorsitzenden abgelehnt, weil Serbien angeblich gedroht hatte, im Falle der Annahme die weitere Konferenzarbeit zu boykottieren. Auf der anderen Seite bestanden v. a. bei NL und uns erhebliche Bedenken gegen einen Verzicht auf dieses Dokument. Schließlich wurde folgende Lösung gefunden: Das Dokument wurde verteilt. PM Major wies in seinem Schlusswort ausdrücklich darauf hin als „reflecting views expressed in this conference“, zitierte wörtlich den letzten Absatz mit der Androhung verschärfter Sanktionen und fügte hinzu, die Entscheidung liege nunmehr bei Serbien. Noch bevor irgendjemand die Möglichkeit zu einer Stellungnahme hatte, schloss er, etwas abrupt, die Arbeiten der Konferenz. Damit wurde der Text als Konferenzdokument eingeführt, sein genauer Status jedoch bewusst im Unklaren gelassen. Faktisch handelt es sich um eine Art „Konsens-minus-eins“-Entscheidung. 2) Die Konferenzdokumente im Einzelnen: (1) Der bereits am ersten Tag verabschiedete Prinzipienkatalog stellt in seinem ersten Teil eine Fortschreibung bereits früher formulierter Grundsätze dar (Unverletzlichkeit der Gren8 Zur Schlichtungskommission der EG für Jugoslawien vgl. Dok. 10, Anm. 4.

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zen, Ablehnung gewaltsamer Faits accomplis, Menschen- und Minderheitenrechte). Er enthält darüber hinaus auch einige operativer gehaltene Abschnitte, u. a.: – Verpflichtung zur Befolgung aller VN-SR-Resolutionen (d. h. auch der Sanktionen9); – Notwendigkeit humanitärer Hilfe; – Verpflichtung zur Zusammenarbeit bei Maßnahmen zur Überwachung, Friedenserhaltung und Waffenkontrolle; – internationale Garantien für alle Vereinbarungen im Rahmen der Konferenz. (2) Das Arbeitsprogramm der Konferenz legt Folgendes fest: – Permanenz der Konferenz bis zu einer abschließenden Lösung. – Lenkungsausschuss unter Beteiligung der Ko-Vorsitzenden (dies werden David Owen und Cyrus Vance sein), der EG-Troika, der KSZE-Troika, der ständigen SR-Mitglieder, der OIC, zweier Vertreter der Nachbarstaaten und Lord Carringtons. – Unterstützung der Ko-Vorsitzenden durch die Vorsitzenden der Arbeitsgruppen. Dieses Gremium wird ständig in Genf tätig sein. Wir gehen davon aus, dass die Vorsitzenden der Arbeitsgruppen auch an den Sitzungen des Lenkungsausschusses teilnehmen. – Sechs (statt wie bisher drei) Arbeitsgruppen: Bosnien-Herzegowina, humanitäre Fragen, ethnische und nationale Gemeinschaften und Minderheiten, Nachfolgefragen, Wirtschaftsfragen, vertrauens- und sicherheitsbildende und Verifikations-Maßnahmen. Bei der Erläuterung des Papiers erwähnte der VN-GS ausdrücklich Botschafter Ahrens als Vorsitzenden der dritten AG. – Weitere Unterstützung der Konferenz durch die Schiedskommission. – Schaffung eines kleinen Sekretariats im Büro der VN in Genf. – Übernahme der Kosten durch die Konferenzteilnehmer entsprechend einer durch den Lenkungsausschuss zu entscheidenden Aufteilung. (3) Die Erklärung über Bosnien legt die Grundsätze für die Einstellung der Feindseligkeiten und die politischen Verhandlungen fest. Zu den wichtigsten operativen Punkten gehören: – die Konzentrierung schwerer Waffen unter internationaler Kontrolle; – die Demilitarisierung der größeren Städte unter internationaler Überwachung; – die Schaffung von Zentren für Flüchtlinge und für Hilfsleistungen; – die Ausweitung humanitärer Hilfe auf ganz B-H; – die mögliche Schaffung einer internationalen Friedenstruppe der VN; – die Ankündigung eines internationalen Wiederaufbauprogramms im Falle einer politischen Lösung. Der Kern des politischen Teils ist der Aufruf zu sofortigen und bedingungslosen Verhandlungen über die künftige Verfassungsordnung, der politisch im engsten Zusammenhang mit der Erklärung der Serben-Führer gesehen werden muss. Siehe hierzu Punkt 1. (2). Es fällt auf, dass weder von einer „Kantonalisierung“ noch von den „drei konstituierenden Nationen“ die Rede ist, was zweifellos den von uns unterstützten Vorbehalten der Moslems gegen eine faktische Dreiteilung des Landes entgegenkommt. 10(4) Das Dokument „Spezifische Entscheidungen“ der Londoner Konferenz ist das für uns wichtigste Ergebnis, denn es enthält eine Liste operativer Maßnahmen, auf die sich 9 Vgl. die Resolution Nr. 713 des VN-Sicherheitsrats vom 25. September 1991; RESOLUTIONS AND DECISIONS 1991, S. 42 f. Für den deutschen Wortlaut vgl. EUROPA-ARCHIV 1991, D 550–552. Vgl. auch die Resolution Nr. 757 des VN-Sicherheitsrats vom 30. Mai 1992; Dok. 159, Anm. 12. 10 Beginn des mit DB Nr. 1674 übermittelten dritten Teils des Fernschreibens. Vgl. Anm. 1.

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alle Teilnehmer der Konferenz verpflichtet haben. Hierin sind auch die Ergebnisse von Beratungen einzelner Kontaktgruppen zu den verschiedenen Sachbereichen eingeflossen. Die Kernpunkte des Dokuments lassen sich wie folgt zusammenfassen: a) Einstellung der Feindseligkeiten: Dieser Abschnitt muss im Zusammenhang mit der Erklärung über B-H gelesen werden. Er sieht u. a. vor: – baldiges Ende der Belagerung von Städten in B-H; – Meldung der Positionen von schweren Waffen innerhalb von 96 Stunden als erster Schritt zu ihrer Herausnahme aus dem Konflikt; – internationale Überwachung dieser Waffen; – Verbot militärischer Flüge über B-H; – VN-GS soll dem VN-SR rasche Entsendung von VN-Beobachtern an die Grenzen zwischen B-H und Serbien bzw. Montenegro empfehlen. b) Humanitäre Fragen: – etappenweiser Ausbau der Hilfsmissionen und Hilfskonvois in allen Gegenden von B-H, wo Hilfe notwendig ist; – bedingungslose Freilassung aller zivilen Gefangenen, sofortiger Zugang für internationale Beobachter in Gefangenenlager und deren umgehende Schließung; – schrittweise Repatriierung der Flüchtlinge und Versorgung entsprechend der von den VN festgestellten Bedürfnisse; – Prüfung der Option von Sicherheitszonen. c) Verletzungen des humanitären Völkerrechts: – Schaffung eines Registers (wie besonders von uns gewünscht); – rechtliche Verfolgung aller hierfür Verantwortlichen. Als in der Diskussion die breite Unterstützung unseres Vorschlags eines Internationalen Strafgerichtshofes deutlich wurde, stellte PM Major fest, dass dieser Vorschlag als Teil der Entscheidungen zu betrachten sei und operativ in entsprechenden internationalen Gremien (VN-GV) behandelt werden solle. d) Sanktionen: – bessere Kontrolle der Sanktionsimplementierung, auch auf Donau; – Hilfe bei der Sanktionskontrolle in Nachbarländern des ehemaligen Jug., u. a. durch Entsendung von Experten; – Koordinierung dieser Hilfe durch EG und KSZE. (5) Papier zu Serbien und Montenegro Dieses Dokument legt Serbien und Montenegro auf die in den anderen Dokumenten eingegangenen Verpflichtungen fest und ergänzt und präzisiert diese, u. a. durch folgende Forderungen: – Beendigung der Einmischung über die Grenzen mit B-H und Kroatien hinweg; – Bemühen darum, die bosnischen Serben von Eroberung und Vertreibung abzuhalten; – Einwirkung auf bosnische Serben zugunsten Schließung ihrer Lager und Einhaltung des humanitären Völkerrechts; – Wiederherstellung der bürgerlichen und Verfassungs-Rechte der Bewohner des Kosovo und der Wojwodina und Sicherstellung der Bürgerrechte der Einwohner des Sandžak; – Garantie der Rechte der ethnischen und nationalen Gemeinschaften und Minderheiten in 1081

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Übereinstimmung auch mit dem Abkommensentwurf der EG-Konferenz über Jugoslawien11; – Einsatz zugunsten der Implementierung des Vance-Planes12 und zugunsten einer Annahme des Sonderstatus durch die Serben in der Krajina. Der Schlussabsatz verweist auf die von Panić in seinem Brief an den Vorsitzenden des VN-SR eingegangenen Verpflichtungen und droht bei Nichteinhaltung mit der Anwendung scharfer Sanktionen, die zur völligen internationalen Isolierung Serbiens und Montenegros führen würden. [gez.] Libal B 42, ZA-Bd. 183678

270 Drahtbericht des Gesandten Heyken, Moskau, an Staatssekretär Kastrup 14152/92 VS-vertraulich Fernschreiben Nr. 3721

Aufgabe: 31. August 1992, 16.42 Uhr1 Ankunft: 31. August 1992, 15.43 Uhr

Für StS Dr. Kastrup persönlich (ausschließlich in einem Exemplar) Betr.:

Moskau-Reise von StM Schmidbauer, 24. – 27.8.1992

1) StM Schmidbauer besuchte vom 24. – 27.8.1992 Moskau, er war begleitet u. a. von BNDPräsident Porzner, BfV-Präsident Dr. Werthebach, Professor Dr. Dolzer (Abteilungsleiter BK-Amt), Herrn Foertsch (Abteilungsleiter BND), Dr. Kretschmann (BND). Die Delegation führte Gespräche mit: – Direktor des Auslandsaufklärungsdienstes, Primakow; – Minister für Sicherheit, Barannikow; – Leiter des Militärischen Nachrichtendienstes (GRU2), General Ladygin. Am 26.8. empfing Präsident Jelzin StM Schmidbauer zu einem 45-minütigen Gespräch (hierzu wurde gesondert berichtet3). 11 Für das Dokument „Treaty Provisions for the Convention“ vom 4. November 1991 („Carrington-Plan“) vgl. B 42, ZA-Bd. 175713. 12 Zum Plan des Sonderbeauftragten des VN-GS für Jugoslawien, Vance, vgl. Dok. 2, Anm. 6. 1 Das Fernschreiben wurde in zwei Teilen übermittelt. Vgl. Anm. 5. Hat VLR I Reiche am 31. August 1991 vorgelegen, der handschriftlich vermerkte: „1) DB hat StS Kastrup vorgelegen. 2) Herrn Staatssekretär Lautenschlager vorzulegen. 3) Abl[ichtung] Herrn MD Dr. Hartmann, ChBK.“ Ferner verfügte er die Weiterleitung von Kopien an MD Chrobog und VLR I Matussek. Hat BM Kinkel am 3. September 1991 vorgelegen. 2 Glawnoje Raswedywatelnoje Uprawlenije (Hauptverwaltung für Aufklärung). 3 Vgl. Dok. 265.

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Außerdem fanden mehrere Einzelgespräche statt, sei es in Untergruppen, sei es unter vier Augen. Primakow gab in Anwesenheit von Barannikow ein Abendessen. Die Delegation war in einem Gästehaus untergebracht und wurde von den Gastgebern, als solcher fungierten Primakow und sein Stab, aufmerksam betreut. Beide Seiten waren sich über die Bedeutung dieser ersten großen, offiziellen Begegnung zwischen den deutschen und russischen Nachrichtendiensten im Klaren. Die Gesprächsatmosphäre war sachlich, in vieler Hinsicht offen; die russischen Gesprächspartner bemühten sich sehr, die Botschaft zu vermitteln, dass Inhalt, Methode und Form ihrer Dienste sich gewandelt haben. Besonders Primakow und Barannikow waren Gesprächspartner, die als Persönlichkeiten überzeugten. Die deutsche Seite hat eine verbindliche, aber in der Sache feste Sprache geführt und in den Einzelgesprächen mit zahlreichen Fakten aufgewartet. Auf diese Weise stellten sich gegenseitiger Respekt und persönliche Anerkennung ein, sodass die Bereitschaft beider Seiten zur Fortsetzung des Dialogs, zur Zusammenarbeit auf verschiedenen Gebieten, aber auch zur Aufarbeitung von Problemen aus Vergangenheit und Gegenwart auf einen ermutigenden Anfang gegründet sind. Allerdings wird die deutsche Seite das Eigenleben der Apparate der russischen Dienste in Rechnung zu stellen haben, d. h., dass die Erfüllung gemachter Zusagen wahrscheinlich mit Beharrlichkeit eingefordert werden muss. Während des Aufenthaltes der Delegation in Moskau blieben für die Botschaft relativ wenig organisatorische Aufgaben. Das Pressereferat war von StM Schmidbauer ermächtigt worden, die Reise als solche zu bestätigen, insgesamt war das Öffentlichkeitsprofil des Besuchs gering, auch auf russischer Seite. Ich habe die Delegation zu den oben genannten vier Gesprächen begleitet und am 26.8. zum Abschluss der Reise für beide Seiten ein Mittagessen gegeben, das sehr gut besucht war. 2) Gespräch mit Primakow Nach kurzem Überblick über die politische Lage betonte Primakow die neue Rolle der Nachrichtendienste. Zwar habe es immer und werde es auch in Zukunft die Nachrichtendienste geben, sie stellten eine Funktion staatlicher Tätigkeit dar. Aber Akzente, Methoden und Aufgaben wandelten sich. Früher seien die russischen Nachrichtendienste Ausfluss der Konfrontation gewesen, früher hätten sie sich in die Innenpolitik eingemischt, zum Beispiel durch Diskreditierung, aber dies gehöre der Vergangenheit an. Heute könne man im Verhältnis zum Ausland von Feldern gleicher Interessen sprechen: Nonproliferation von A-Waffen, Antiterrorismus, Beobachtung potenzieller Krisenherde und neuer Waffentechnologie. In der Wirtschaftsaufklärung hätten sich ebenfalls neue Akzente herausgebildet: Mafia, organisierte Kriminalität, Gesetzesumgehung durch illegale Firmengründungen usw. Primakow wies darauf hin, dass die gegenseitigen Interessen vielleicht nicht voll übereinstimmten. Man habe indessen eine Zusammenarbeit mit den amerikanischen Kollegen (Mr. Gates) etabliert, man sei sich einig, dass die technische Aufklärung allein nicht ausreiche und dass der menschliche Faktor nach wie vor bedeutsam sei. 2.1) Primakow sprach den Wunsch nach Intensivierung der gegenseitigen Beziehungen aus, man sei interessiert an einem Informationsaustausch auf Expertenebene. Man könne die Nachrichtendienste zur Umsetzung internationaler Abkommen einsetzen. Die Kontakte der russischen Dienste zu vielen ausländischen Diensten entwickelten sich erfolgreich, es gebe auch Vertreter, die vor Ort tätig seien. Er bezeichnete eine solche Verbindung als guten Kanal für die operativen Fragen und als zuverlässige Stütze für die politischen Kontakte. 1083

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2.2) StM Schmidbauer stimmte zu, machte aber klar, es gehe nicht nur um Worte, sondern auch um Taten. Er sehe verschiedene Stufen. Über einige Themen könne man sich schnell einigen, z. B. über den Kampf gegen den Terrorismus, Drogensucht, organisierte Kriminalität, Informationsaustausch über Krisenherde, z. B. Naher Osten und Mittlerer Osten, Dritte Welt. Hier sei ein breites Feld gegeben, in welchem unsere Fachleute im Dialog stünden. Dieser Prozess könne auf absehbare Zeit gut funktionieren. Aber man müsse auch feststellen, dass für schwierige Fragen Verständnis auf beiden Seiten erforderlich sei. Wir müssten Altlasten aufarbeiten. Wenn wir uns über die Entsendung von Repräsentanten der Nachrichtendienste einigten, bräuchten wir hierfür eine neue Basis. Wir beobachteten noch Reste der alten Methoden in großem Umfang. Wir seien bemüht, diese Probleme in der Stille aufzuarbeiten, aber sie würden ein wichtiges Gesprächsthema sein. Bisher arbeiteten bei uns zu viele illegale Vertreter der russischen Dienste. Ein zweites Problem hänge mit der Lage in Deutschland nach der Wiedervereinigung zusammen. Es handele sich um die Tätigkeit des ehemaligen MfS in den alten Bundesländern, hieraus seien in Deutschland viele zwischenmenschliche Probleme entstanden. Wir brauchten die Gewissheit, dass diese Arbeit nicht fortgesetzt werde, es dürfe keine Abwerbung geben. Große Sorge machten uns die vielen Tätigkeiten eines russischen Nachrichtendienstes, einige Vertreter dieses Nachrichtendienstes seien verhaftet worden. Wir wollten die Fälle nicht hochspielen, wir könnten darüber sprechen. Die deutsche Seite sei zu konkreten Vereinbarungen bereit, da wir einen solchen Ansatz zur Aktivierung der bilateralen Beziehungen für wichtig hielten. 2.3) Primakow erwiderte, was die Abwerbung von Leuten des früheren MfS anbelange: Die Zentrale habe dies eindeutig verboten. Eine Abwerbung sei zu gefährlich, da alle früheren Stasi-Mitarbeiter sich gewissermaßen unter der Glocke bewegten. Viele Stasi-Mitarbeiter aus der mittleren Ebene verfügten noch über Kontakte zu den deutschen Nachrichtendiensten, dies wisse die russische Seite. Mit dem einen sehr aktiven russischen Sicherheitsdienst sei sicher der GRU gemeint. StM Schmidbauer werde am folgenden Tag mit General Ladygin sprechen können, gestern sei der Erlass unterzeichnet worden, mit dem dieser zum Vorsitzenden ernannt worden sei. Primakow wies darauf hin, dass das Auslandspersonal der Sicherheitsdienste um 50 Prozent gekürzt würde. Roschkow, Stellvertreter Primakows, erklärte, man könne ernsthafte Überprüfungen vornehmen, man sei zur Erörterung konkreter Tatsachen bereit. StM Schmidbauer sagte, man müsse auch über die Archive des früheren MfS sprechen, von denen ein großer Teil nach Moskau gebracht worden sei. Wir wären dankbar, wenn wir mit russischer Hilfe einige konkrete Fälle aufklären könnten. Primakow sagte Prüfung zu. Im Bereich der Terrorismusaufklärung könne die deutsche Seite sämtliche Unterlagen erhalten. Primakow ergänzte, der Abbau von Personal hinge auch mit den veränderten Aufgaben der russischen Nachrichtendienste zusammen. Er betonte: Die russische Seite wolle im Rahmen des Möglichen das Maximum an Zusammenarbeit erreichen. 2.4) Über die Einrichtung von Legalresidenturen einigten sich beide Seiten rasch. Auf Frage Roschkows, was die deutsche Seite unter Legalresidenturen verstünde, wurde geantwortet: ein offizieller Vertreter, der in der Botschaft eingesetzt und bei der russischen Seite akkredi1084

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tiert werde. Dr. Kretschmann (er war Mitglied der Delegation) und ein weiterer Mitarbeiter seien hierfür vorgesehen. Roschkow vertrat die Auffassung, dies sei nicht so sehr eine Legalresidentur, sondern eine „Vertretung“. Primakow warf ein, die russische Seite entsende üblicherweise einen Leiter und einen Gehilfen, man könne also mit zwei Leuten anfangen. Die deutsche Seite könnte aber auch zwanzig benennen. Präsident Werthebach stellte die Frage, ob alle Dienste abgedeckt seien. Primakow gab zur Antwort, dass üblicherweise die Auslandsverbindungen über seinen Dienst gingen, deshalb könnte er die Verbindungen herstellen. Roschkow präzisierte: Da Deutschland wegen der vielen Russen einen Sonderfall darstelle, sollte man Barannikow einschalten. StM Schmidbauer erklärte, dies könne nur bis 1994 gelten.4 Er nehme zur Kenntnis, dass alle Kontakte über die Organisation Primakows liefen. Primakow schränkte ein: üblicherweise. Wenn Barannikow eigene Vertreter schicken wolle, habe er nichts dagegen. 3) Gespräch mit Barannikow 3.1) Barannikow erläuterte, dass im Januar eine Umstrukturierung des KGB durchgeführt worden sei. Es gäbe keine Telefonüberwachung mehr, es würde keine Aufklärung mehr vorgenommen (gemeint wohl: im Inland). Die Grenztruppen gehörten nicht mehr in die Zuständigkeit seines Dienstes. In der letzten Zeit seien die ersten Gesetze innerhalb der 74-jährigen Geschichte der Nachrichtendienste erlassen worden, z. B. ein Sicherheitsgesetz, ein Gesetz über die operative Tätigkeit der Nachrichtendienste und ein Gesetz über die Bundesorgane der Sicherheitsdienste. Sein Ministerium habe zwei Hauptaufgaben: Schutz der Staatssicherheit Russlands und Schutz der russischen Bürger. Barannikow wies darauf hin, dass mit allen anderen GUS-Staaten bilaterale Abkommen geschlossen worden seien, und betonte die Notwendigkeit der internationalen Zusammenarbeit, also mit dem weiteren Ausland, u. a. wegen der Migrationsprozesse. 53.2) StM Schmidbauer unterstrich den Wunsch nach guter Zusammenarbeit, Präsident

Werthebach habe im März mit Minister Barannikow bereits Gespräche geführt, sodass der erste Kontakt schon gegeben sei. Beide Seiten wollten offizielle Vertreter austauschen (Dr. Kretschmann wurde vorgestellt), beide Seiten sollten sich auf allen Gebieten unterstützen: Rauschgift, Terrorismus, organisierte Kriminalität, Proliferationsfragen etc. Die deutschen Gesetze ließen vertragliche Vereinbarungen für die Zusammenarbeit zu. Die deutschen Dienste hätten ein „partnerschaftliches Verhältnis“ mit vielen Ländern und wollten es auch mit der russischen Seite aufbauen. Allerdings sei nach wie vor eine außerordentlich hohe ND-Tätigkeit der russischen Dienste aus der Zeit des Kalten Krieges zu verzeichnen. In Deutschland betätige sich eine unverhältnismäßig hohe Zahl von russischen ND-Leuten, ca. zehnmal so viel wie von anderen Ländern. Die Vorkommnisse der letzten Monate hätten uns gezeigt, dass die Entwicklung so nicht weitergehen könne. Es seien einige Gerichtsverfahren in Gang gesetzt worden, es gäbe aktuelle Festnahmen. Die deutsche Öffentlichkeit reagiere sehr empfindlich auf all diese Beweise dafür, dass von russischer Seite noch eine starke ND-Tätigkeit ausgehe. Vor allem aus der Westgruppe heraus würde eine intensive ND-Tätigkeit beobach4 Artikel 4 des Aufenthalts- und Abzugsvertrags vom 12. Oktober 1990 zwischen der Bundesrepublik und der UdSSR sah den etappenweisen Abzug der sowjetischen Truppen aus Deutschland spätestens bis Ende 1994 vor. Vgl. BGBl. 1991, II, S. 261. 5 Beginn des mit DB Nr. 3722 übermittelten zweiten Teils des Fernschreibens. Vgl. Anm. 1.

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tet; sie sei bei Weitem zu umfangreich und nicht mehr notwendig. Ferner müsse er auf die Altlasten des MfS hinweisen, auf die Leute, die teilweise übernommen worden seien. Zusammenarbeit könnte nur in Formen wirklicher Partnerschaft praktiziert werden. 3.3) Barannikow wies in seiner Erwiderung darauf hin, dass in Deutschland eine kleine Gruppe unter Leitung von General Oleinikow arbeite, die eine begrenzte Aufgabe im Zusammenhang mit dem Abzug wahrnehme. Barannikow bat zu überlegen, ob diese Aufgabe durch Kooperation erleichtert werden könne. Er sei bereit, eine ähnliche Gruppe hier aufzunehmen: einen Offizier oder eine kleine Gruppe, Derartiges würde mit verschiedenen Ländern praktiziert. Barannikow regte die Gründung einer Arbeitsgruppe an zur Erörterung bestimmter Fragen und zur Ausarbeitung eines Dokuments. Er betonte, dass die russischen Nachrichtendienste die Kompetenz zum Abschluss von solchen Dokumenten besäßen. Was die russische ND-Tätigkeit in Deutschland anbelange, könne er zum Zahlenverhältnis nichts sagen. Eine der Hauptrichtungen bestehe darin, dass nicht gegen die Bevölkerung des anderen Landes gearbeitet werden dürfe. Die Westgruppe beunruhige ihn ebenfalls außerordentlich. Er verfüge über konkrete Vorgänge von ND-Tätigkeit gegen die russischen Offiziere sowie von kriminellen Vorgängen. Beide Seiten müssten ohne großen Lärm zu einem gegenseitigen Einverständnis gelangen. Aus Russland seien zwölf Leute nach Deutschland entsandt worden zur Verhinderung von Straftaten, und die Staatsanwaltschaft stelle Ermittlungen an bezüglich Schwarzhandel und ähnlichen Delikten. Barannikow bat um deutsche Mitwirkung. Vor einigen Tagen habe die russische Seite einen Oberst festgenommen, der wohl angeworben worden sei. Zum MfS wolle er sagen, dass es praktisch keine Unterlagen im Sicherheitsministerium gebe. Im engsten Kreise sollten aber noch einige Punkte angesprochen werden. 3.4) StM Sch. erwiderte, dass die Gespräche mit dem Oberkommando der Westgruppe sehr positiv verlaufen seien und der Dialog sich problemlos anlasse, aber dies reiche wohl nicht aus. Es träten zahlreiche Verstöße auf, z. B. Waffenschmuggel, Handel mit Treibstoff, Zigaretten usw. Natürlich registriere man auch einige Standortprobleme, insgesamt gestalte sich aber das Zusammenleben erträglich, viel besser, als ursprünglich erwartet worden sei. Uns störe die Agentenführung aus der Westgruppe heraus, und zwar, dass sie nicht nur nicht nachgelassen habe, sondern eine hohe Aktivität entwickele. Die deutsche Bevölkerung habe hierfür kein Verständnis. Wir hätten nichts gegen ein angemessenes Schutzbedürfnis, aber vieles sei von vorgestern. Barannikow stimmte zu. Schmidbauer fuhr fort: Sie reden von Anwerbungen, bitte nennen Sie Namen. Die deutsche Seite arbeite nicht mehr so, das sei klar. Sie arbeite heute nach anderen Prinzipien. Er wiederholte: Die Altlasten stellten ein innenpolitisches Problem dar. Viele alte Mitarbeiter des MfS hätten noch keinen Anschluss gefunden, aber wir würden diese Probleme allein lösen. Der zweite Aspekt jedoch sei die HVA6, die zielgerichtet7 gegen die BR Deutschland gearbeitet habe. Er rede nicht von den Agenten, sondern von den noch bestehenden Zentralen, und bitte uns, die Akten zur Verfügung zu stellen, damit diese Agentenringe aufgedeckt werden könnten. Es sei ein Faktum, dass diese Zentralen arbeiteten. 6 Hauptverwaltung Aufklärung. 7 Korrigiert aus: „jedoch sei der HVA, der zielgerichtet“.

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Barannikow erklärte dazu: Wenn jetzt über Zusammenarbeit gesprochen werde, dann könne man vielleicht auch diese Fragen behandeln. Aber er wolle doch gerne wissen, warum die Amerikaner gegen die Westgruppe aktiv geworden seien. Die russische Seite verfüge auch über gewisse Altlasten; die jetzigen Dienste müssten den Brei auslöffeln, den der frühere KGB eingebrockt habe. In diesem Zusammenhang wies Barannikow auf den Fall Honecker8 hin und hob hervor, dass sein Ministerium alles getan habe zur Erfüllung der Absprache. 3.5) Präsident Porzner führte aus, er sei genauso wie StM Schmidbauer lange Jahre Abgeordneter gewesen und habe deshalb ein besonderes Ohr für die Fragen der Öffentlichkeit. Die Zukunft könne nur gestaltet werden, wenn beide Völker eine gute Zusammenarbeit praktizierten, was enge politische und wirtschaftliche Kooperation bedeute. Es sei richtig, dass das MfS-Thema in den deutschen Behörden keine Frage der deutsch-russischen Beziehungen sei. Aber die Agenten des früheren MfS seien erpressbar. Im Übrigen bitte er, sich klarzumachen, dass die deutsche Öffentlichkeit frage, warum Deutschland so viele wirtschaftliche Leistungen an Russland erbringe, während gleichzeitig der russische Staat uns Informationen vorenthalte. Barannikow replizierte, man müsse darüber sprechen. Die Fragen der deutschen Bevölkerung seien verständlich, unsere gegenwärtigen Gespräche stellten einen guten Anfang dar. Barannikow wies noch auf die zwei Millionen Deutschen im Lande hin. Man wolle eine Stabilisierung der Migration. Vielleicht könne Deutschland alle Sowjetdeutschen aufnehmen, aber er trete für ein Ende der Ausreise ein und weise auf ein entsprechendes Programm hin. Er habe Jelzin an die Wolga, nach Saratow9 usw. begleitet; diese Frage beunruhige ihn. 3.6) Abschließend erklärte Barannikow, es habe sich um ein historisches Treffen gehandelt, die Begegnung habe im historischen Rahmen stattgefunden: Dies sei das Arbeitszimmer von Dserschinski und von Andropow gewesen. (Im Hintergrund stand noch die Büste von Dserschinski, was einige in der Delegation mit sehr gemischten Gefühlen registrierten. Es war das erste Mal, dass wir die Lubjanka betreten haben.) 4) Gespräch mit Ladygin StM Schmidbauer betonte, uns irritiere beim GRU, dass er aus der WGT eine viel zu starke Tätigkeit entwickele. Ladygin führte hingegen aus, dass es Aufklärung in der Vergangenheit gegeben habe, das werde auch in der Zukunft so sein, Aufklärung sei ein zusätzlicher Garant für die Sicherheit. Mit Entschiedenheit wolle er sagen, dass bei der Westgruppe keine Aufklärungstruppenteile existieren, die zur Verfügung der Hauptabteilung (GRU) stünden. StM Schmidbauer vertrat die Auffassung, natürlich müsse es zur Gewährung von Sicherheit Aufklärung geben, aber hier gehe es um die Methode der Aufklärung und um die Frage, ob man nicht besser zusammenarbeite. Partner und Freunde würden anders aufgeklärt als Gegner. Präsident Werthebach ging detailliert auf den Fall Oberst Scherdew10 und andere Fakten ein. Er betonte, dass die Aktivität aus Karlshorst heraus nach der Wiedervereinigung fast 8 Zum Fall Honecker vgl. Dok. 235. 9 Vgl. die Äußerungen des russischen Präsidenten Jelzin vom 8. Januar 1992; Dok. 20, Anm. 6. 10 Korrigiert aus: „Schertjew“. Zum Fall Scherdew vgl. Dok. 265, Anm. 7.

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unverändert fortgesetzt worden sei. Er bitte darum, die Zahl der Agenten nachdrücklich zu verringern. Ladygin wiederholte, es gebe keine Truppe, die der Hauptabteilung unterstellt sei. General Markow vom Generalstab setzte sich im Einzelnen mit den Vorhaltungen Dr. Werthebachs auseinander und behauptete, dass die Aktivitäten schon erheblich reduziert worden seien. Werthebach erwiderte, zwar sei die Spionage reduziert, aber noch nicht eingestellt. Eine solche aggressive Tätigkeit sei politisch nicht mehr erlaubt. StM Sch. beendete das Gespräch mit der Bemerkung, dass, wenn eine Zusammenarbeit mit den zivilen Diensten möglich sei, sie auch mit den militärischen Diensten ermöglicht werden müsse. Ladygin verwies auf die Kontakte zwischen dem BK und Jelzin. [gez.] Heyken B 130, VS-Bd. 14154 (010)

271 Vorlage des Vortragenden Legationsrats I. Klasse Brümmer für Bundesminister Kinkel 214-321.05 TSE

1. September 19921

Über Herrn Dg 21 i. V.2, Herrn D 23, Herrn Staatssekretär4 Herrn Bundesminister5 Betr.:

Deutsch-tschechoslowakischer Nachbarschaftsvertrag6

Bezug: Weisung von StS Kastrup vom 31.8.1992 Anlg.: 1) Aufzeichnung des Referats 503 zum aktuellen Stand der Überlegungen bezüglich einer Stiftung für ČSFR-NS-Opfer7 2) DB 1145 der Botschaft Prag vom 14.8.1992 –Az. Pol 312.01 VS-NfD8 3) DB 1188 der Botschaft Prag vom 26.8.1992 –Az. Pol 312.01 VS-NfD9 Zweck der Vorlage: Zustimmung zum Vorschlag unter Ziffer 6 1 2 3 4 5

Die Vorlage wurde von LR I Busch konzipiert. Hat in Vertretung des MDg von Studnitz VLR I Lambach am 1. September 1992 vorgelegen. Hat MD Chrobog am 1. September 1992 vorgelegen. Hat StS Kastrup am 1. September 1992 vorgelegen. Hat BM Kinkel am 2. September 1992 vorgelegen. Hat OAR Salzwedel am 3. September 1992 vorgelegen, der den Rücklauf über das Büro Staatssekretäre, MD Chrobog und „Dg 21 i. V.“ an Referat 214 verfügte. Hat VLR Ney am 3. September 1992 vorgelegen, der die Weiterleitung an StS Kastrup verfügte und handschriftlich vermerkte: „(Rücklauf) Termin vereinbaren?“ Hat Kastrup laut Vermerk erneut vorgelegen. Hat Chrobog am 7. September 1992 erneut vorgelegen. Hat in Vertretung des MDg von Studnitz VLR I Neubert vorgelegen. 6 Für den deutsch-tschechoslowakischen Vertrag vom 27. Februar 1992 über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit vgl. BGBl. 1992, II, S. 463–473. Vgl. auch Dok. 64.

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1) Laut Artikel 35 des Nachbarschaftsvertrags tritt der Vertrag mit dem Tag des Austauschs der Ratifikationsurkunden in Kraft. Dazu liegen deutscherseits alle Voraussetzungen vor. Staatspräsident Havel hatte die tschechoslowakische Ratifikationsurkunde nicht mehr gezeichnet. Dies obliegt nunmehr MP Stráský. Über die Botschaft Prag und die ČSFR-Botschaft hier in Bonn hatten wir der TSE-Seite einen baldigen Austausch der Ratifikationsurkunden vorgeschlagen. 789

2) Aus den Bezugsberichten der Botschaft Prag ergibt sich, dass das ČSFR-AM neuerdings ein Junktim zwischen der Zeichnung der Ratifikationsurkunden durch MP Stráský und Fortschritten bei der von TSE-Seite angestrebten Entschädigungsregelung für NS­Opfer (in Form einer Stiftungslösung nach deutsch-polnischem Vorbild10) herstellt. Die jetzt vonseiten des TSE-AM erhobene Forderung findet in den bislang mit der TSE-Seite geführten Gesprächen keine Grundlage. Die föderale (Caretaker-) Regierung dürfte damit auch ihre in den Koalitionsvereinbarungen zwischen den MPs Klaus und Mečiar festgelegten Kompetenzen überschreiten. 3) Botschafter Gruša hatte den ČSFR-Wunsch nach einer Regelung Anfang August telefonisch gegenüber StS Kastrup angesprochen. Er ist auch bei MDg Kaestner im Bundeskanzleramt vorstellig geworden. Dabei berief er sich auf angebliche Zusagen des Bundeskanzlers gegenüber StP Havel u. a., dass eine Stiftung für NS­Opfer geschaffen werden könne. Laut Bundeskanzleramt hat der Bundeskanzler derartige Zusagen nicht gegeben, auch nicht bei dem letzten Treffen mit StP Havel am Rande der KSZE-Konferenz in Helsinki11. Dies hat MDg Kaestner (ChBK) gegenüber StS Kastrup bestätigt. Eine Stiftung nach dem Polen-Muster hat der Bundeskanzler gegenüber dem damaligen MP Čalfa am 27.2.199212 ausdrücklich abgelehnt.13 Fortsetzung Fußnote von Seite 1088 7 Dem Vorgang beigefügt. Referat 503 erläuterte am 7. August 1992, bei einer möglichen Stiftungslösung seien Zahlungen von ca. 70 Mio. DM zu erwarten. Eine solche Vereinbarung würde vermutlich in Ungarn, Rumänien, den baltischen Staaten sowie in westeuropäischen Staaten Forderungen nach einer ähnlichen Regelung auslösen. In Gesprächen mit der tschechoslowakischen Seite solle vielmehr erklärt werden, „dass eine zukunftsgerichtete Lösung der Frage gesucht werden sollte“. Vgl. B 42, ZABd. 156433. 8 Dem Vorgang beigefügt. BR I Hiller, Prag, berichtete, im tschechoslowakischen Außenministerium sei ihm unter Verweis auf entsprechenden Druck seitens der Interessenverbände von Opfern des Nationalsozialismus „ausdrücklich bestätigt“ worden, dass die tschechoslowakische Regierung „den Austausch der Ratifikationsurkunden als letzten Schritt zur Finalisierung des Nachbarschaftsvertrages nur vornehmen wolle, wenn sie zuvor entsprechende verbindliche Zusicherungen […] von deutscher Seite erhalte, dass die Stiftungsangelegenheit [substanziiert] (Art und Höhe) und in übersehbarem Zeitrahmen (möglichst schnell) geregelt würde“. Vgl. B 42, ZA-Bd. 156433. 9 Dem Vorgang beigefügt. Botschafter Huber, Prag, teilte mit, BR I Hiller sei erneut ins tschechoslowakische Außenministerium gebeten worden, ohne dass sich neue Erkenntnisse ergeben hätten. Dies zeige, dass die Nervosität auf tschechoslowakischer Seite steige und das Außenministerium sich „sehr wohl bewusst ist, politisch auf schmalem Grat zu wandeln. […] Unklar blieb bei Gespräch letztlich wieder, wer eigentlich hinter dieser höchst ungewöhnlichen ,Initiative‘ steckt und welche Ziele im Ergebnis damit verfolgt werden.“ Vgl. B 42, ZA-Bd. 156433. 10 Zur „Stiftung Deutsch-Polnische Aussöhnung“ vgl. Dok. 4, Anm. 12. 11 Für das Gespräch am 10. Juli 1992 vgl. Dok. 216. 12 Für das Gespräch in Prag vgl. B 42, ZA-Bd. 156434. Zum Besuch von BK Kohl und BM Genscher am 27./28. Februar 1992 in der ČSFR vgl. Dok. 64.

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(Zur Erinnerung: Mit Polen ist am 16.10.1991 in einem Notenwechsel die Leistung eines einmaligen Beitrags in Höhe von 500 Mio. DM auf der Grundlage humanitärer Überlegungen vereinbart worden. Die ersten beiden Raten dieser Summe (250 Mio. im Dezember 1991 und 150 Mio. im Juni 1992) sind an die zu diesem Zweck gegründete „Stiftung DeutschPolnische Aussöhnung“ überwiesen worden. Die grundsätzliche Einigung über diese Lösung wurde zwischen dem Bundeskanzler und dem damaligen MP Bielecki bei dessen Besuch in Bonn14 aus Anlass der Unterzeichnung des Nachbarschaftsvertrages15 (17.6.1991) erzielt. Die Vornahme des Notenwechsels am 16.10.1991 stand in engem zeitlichen Zusammenhang mit der abschließenden Lesung des Nachbarschaftsvertrages im polnischen Senat und den polnischen Parlamentswahlen vom 27.10.199116, in deren Vorfeld die Organisationen der NS-Opfer den Druck in der polnischen Öffentlichkeit erheblich erhöht hatten.) 4) Der von der ČSFR-Regierung angegebene innenpolitische Druck scheint auch nach Aussagen der Botschaft Prag ein vorgeschobener Grund zu sein. Das Thema der Entschädigung der NS-Opfer ist in der ČSFR erheblich weniger virulent als in Polen. Der Verband der ehemaligen Zwangsarbeiter in der TSE hat angeregt, über eine Wiedergutmachung nach der Ratifizierung des Vertrags nachzudenken. 5) Im Nachbarschaftsvertrag wird die Frage der Entschädigung für NS-Opfer nicht berührt. Der Vertrag weist in die Zukunft. Die Bereinigung eines Problems der Vergangenheit nachträglich zur Voraussetzung seiner Gültigkeit zu erklären, widerspricht dem Geist des Vertrages. 6) Es wird vorgeschlagen, dass StS Kastrup den Botschafter der ČSFR einbestellt und ihm unsere Linie wie folgt darlegt: – Zur Frage der Entschädigung der NS-Opfer sind wir gesprächsbereit17. Die ČSFR ist nach der Ablehnung unserer Vorschläge von alternativen Projekten (Autobahn, Pipeline) und der Anregung des BK, es sollten Maßnahmen zugunsten Jugendlicher geprüft werden, mit konkreten Vorschlägen am Zug. – Die Herstellung eines Junktims zwischen dem Austausch der Ratifikationsurkunden des Nachbarschaftsvertrags und der Entschädigung der NS-Opfer ist nicht akzeptabel. Sie verstößt gegen den Briefwechsel vom 27.2.1992, der Bestandteil des Vertrages ist, in dem beide Seiten erklärten, dass der Vertrag sich nicht mit Vermögensfragen befasst. Hierin könnte ein Verstoß gegen Artikel 18 des Wiener Übereinkommens über das Recht der Verträge18 gesehen werden. Danach ist die ČSFR verpflichtet, sich nach der Unterzeichnung des Vertrags aller Handlungen zu enthalten, die seinem Ziel und Zweck zuwiderlaufen. Fortsetzung Fußnote von Seite 1089 13 Dieser Satz wurde von StS Kastrup hervorgehoben. Dazu vermerkte er handschriftlich: „Das ist immer meine Auffassung gewesen.“ 14 Zum Besuch des polnischen MP Bielecki am 16./17. Juni 1991 in der Bundesrepublik vgl. AAPD 1991, I, Dok. 202. 15 Für den deutsch-polnischen Vertrag vom 17. Juni 1991 über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit vgl. BGBl. 1991, II, S. 1315–1327. 16 Zu den Wahlen zum polnischen Parlament vgl. Dok. 228, Anm. 8. 17 Die Wörter „sind wir gesprächsbereit“ wurden von StS Kastrup gestrichen. Dafür fügte er handschriftlich ein: „ist der ČSFR unsere Haltung seit langem bekannt.“ 18 Für Artikel 18 des Wiener Übereinkommens vom 23. Mai 1969 über das Recht der Verträge vgl. BGBl. 1985, II, S. 933 f.

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– Es entstünde sonst die Gefahr, dass auch auf deutscher Seite Nachbesserungen, vor allem im Bereich der Vermögensansprüche der Sudetendeutschen, verlangt werden könnten.19 – Wenn der Nachbarschaftsvertrag vor der Auflösung der ČSFR in Kraft tritt, wachsen die sich aus ihm ergebenden Rechte und Pflichten den Nachfolgestaaten zu. Sollte es nicht zum Austausch der Ratifikationsurkunden kommen, müsste das Ratifikationsverfahren in den Nachfolgestaaten der ČSFR und möglicherweise auch in Deutschland nachgeholt bzw. wiederholt werden. Es ist nicht auszuschließen, dass das gesamte Vertragswerk dabei infrage gestellt werden könnte oder in Teilen neu verhandelt werden müsste. In beiderseitigem Interesse sollte eine solche Entwicklung unbedingt vermieden werden. – Wir erwarten daher, dass die Föderalregierung der ČSFR die Voraussetzungen schafft, um den von allen beteiligten Volksvertretungen gebilligten Vertrag kurzfristig in Kraft treten zu lassen.20 Referat 501 hat mitgewirkt. Brümmer B 42, ZA-Bd. 156433

272 Vorlage des Vortragenden Legationsrats I. Klasse Barth für Bundesminister Kinkel 412-401.00

1. September 19921

Über Dg 41, D 4 i. V.2, Herrn Staatssekretär3 Herrn Bundesminister4 Betr.: Einfluss der Dollarkursentwicklung auf das Europäische Währungssystem (EWS) Bezug: Mündliche Weisung von Herrn Staatssekretär Anlg.: 1 Zweck der Vorlage: Zur Unterrichtung 19 Dieser Satz wurde von StS Kastrup gestrichen. 20 Im Gespräch mit StS Kastrup am 7. September 1992 erklärte der tschechoslowakische Botschafter Gruša: „Man wolle eine Neu- oder Nachverhandlung des Vertrages unbedingt vermeiden, wie sie von gewissen nationalistischen Kreisen betrieben werde. […] Der Vertrag müsse so schnell wie möglich in Kraft treten.“ Dem stimmte Kastrup zu und führte aus, „dass die genannten Kreise in Prag gegen ihre eigenen Interessen handelten“. Vgl. den Gesprächsvermerk; B 42, ZA-Bd. 156433. Der deutsch-tschechoslowakische Vertrag vom 27. Februar 1992 über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit trat mit dem Austausch der Ratifikationsurkunden am 14. September 1992 in Kraft. Vgl. die Bekanntmachung vom 30. September 1992; BGBl. 1992, II, S. 1099. 1 Die Vorlage wurde von LR I Ganter konzipiert. 2 Hat, auch in Vertretung des MD Dieckmann, MDg von Kyaw am 1. September 1992 vorgelegen, der handschriftlich vermerkte: „Die – unvermeidlich lange – Aufzeichnung gibt einen guten Einblick in die dem EWS im Falle eines Scheiterns von Maastricht nach dem 20. September drohenden Verwerfungen!“ 3 Hat StS Lautenschlager am 2. September 1992 vorgelegen, der handschriftlich für BM Kinkel zur Bemerkung von MDg von Kyaw vermerkte: „Hierauf hat auch der dänische Außenminister in dem Gespräch mit Ihnen hingewiesen!“

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Hiermit wird eine Ausarbeitung des Referats über die Zusammenhänge zwischen der jüngsten Dollarkursentwicklung und den aktuellen Spannungen im EWS vorgelegt. 4

Barth [Anlage] Zinssätze, Wechselkurse und das Europäische Währungssystem – Erläuterungen zu den aktuellen Vorgängen – I. (Kurzfassung) In den letzten Tagen hat der Dollar gegenüber der DM einen absoluten Tiefststand von unter 1,40 DM erreicht. Auch das britische Pfund und die italienische Lira leiden an anhaltender Schwäche. Die Gründe für die Talfahrt können sowohl realwirtschaftlich als auch – die andere Seite der Medaille – monetär erklärt werden. Starke Verschiebungen des Wechselkurses einer bedeutenden Drittwährung zu einer einzelnen wichtigen Währung im EWS erzeugen zwangsläufig Spannungen innerhalb dieses Systems, weil die relative Stärke dieser Währung, z. B. der DM, auch gegenüber den EWS­Partnerwährungen zu Kursverschiebungen führt. Im Extremfall reicht dann das im EWS-Verbund vereinbarte Wechselkursband nicht mehr aus: Die schwächsten Währungen geraten an ihren „unteren Interventionspunkt“. Sie müssen dann gestützt werden, wenn die Partnerregierungen es nicht vorziehen bzw. auf die Dauer dazu gezwungen werden, in einem „Realignment“ die Kursrelationen im EWS neu zu ordnen oder mit geldpolitischen Mitteln (Leitzinssätze) gegenzusteuern. II. Die realwirtschaftliche Seite 1) Die Wirtschaftslage in den USA Der Übergang von der Rezession zu einem nachhaltigen Aufschwung ist noch nicht gelungen. Im zweiten Vierteljahr 1992 betrug das jährliche Wirtschaftswachstum lediglich 1,5 %. Das Handelsbilanzdefizit hat sich weiter erhöht. In den ersten fünf Monaten dieses Jahres belief es sich auf 29 Mrd. Dollar, davon 7 Mrd. Dollar allein im Mai. Ein Handelsbilanzdefizit, also ein Überschuss an Einfuhren, muss in der Regel in ausländischer Währung bezahlt werden. Die Überschussnachfrage nach ausländischer Währung lässt deren Wert steigen und den der eigenen Währung (Dollar) fallen. Dies gilt auf die Dauer auch in dem Ausnahmefall der USA, die zumindest einen Teil ihrer Importe auch mit eigener Währung bezahlen können. 2) Die Wirtschaftslage in GB Auch in GB haben sich die Aussichten auf eine konjunkturelle Erholung nicht verbessert. Auftragseingänge und Produktion sind auch im zweiten Quartal zurückgegangen. Damit erstreckt sich die Rezession jetzt über acht Quartale. Das Defizit in der Handelsbilanz belief sich im ersten Halbjahr 1992 auf 6,2 Mrd. Pfund. Während die Importe spürbar anFortsetzung Fußnote von Seite 1091 4 Hat BM Kinkel am 3. September 1992 vorgelegen. Hat OAR Salzwedel am 3. September 1992 vorgelegen, der den Rücklauf über das Büro Staatssekretäre, „D 4 i. V.“ und MDg von Kyaw an Referat 412 verfügte. Hat VLR I Reiche am 4. September 1992 vorgelegen. Hat, auch in Vertretung des MD Dieckmann, Kyaw am 4. September 1992 erneut vorgelegen. Hat VLR I Barth erneut vorgelegen.

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stiegen, blieben die Exporte relativ niedrig. Beim gegebenen Pfund-Kurs ist also die britische Wirtschaft auf dem Weltmarkt nicht ausreichend wettbewerbsfähig. 3) Die Wirtschaftslage in Italien Der leichte Erholungsprozess des ersten Quartals 1992 ist wieder ins Stocken geraten. Mit einer deutlichen Belebung der wirtschaftlichen Aktivität wird erst 1993 gerechnet. Das Defizit in der Handelsbilanz erreichte in den ersten fünf Monaten 1992 12,6 Bio. Lire. Das Staatsdefizit ist 1991 auf den Rekordwert von 152 Bio. Lire (200 Mrd. DM) gestiegen. 4) Die Wirtschaftslage in Deutschland Nach dem kräftigen Anstieg im ersten Jahresviertel hat sich die gesamtwirtschaftliche Wertschöpfung im zweiten Quartal dieses Jahres deutlich abgeschwächt. Das reale BIP unterschritt das Ergebnis des Vorquartals um 1 %. Die reale Warenausfuhr ist im zweiten Quartal 1992 saisonbereinigt deutlich zurückgegangen. Damit ist der seit Mitte des Vorjahres andauernde Exportaufschwung ebenso abrupt beendet worden, wie er begonnen hatte. Der Preisindex für die Lebenshaltung lag im August um 3,5 % über dem des entsprechenden Vorjahresmonats. III. Die monetäre Seite In den USA ist die Zentralbank schon seit dem Herbst 1990 bemüht, die binnenwirtschaftliche Nachfrage durch fortgesetzte Zinssenkungen anzuregen. Die Geldmarktzinsen sind innerhalb von zwei Jahren um fünf Prozentpunkte zurückgegangen. Mit nunmehr 3 % liegt der Diskontsatz auf dem niedrigsten Stand seit 1963. Die Geldmenge (in enger Abgrenzung) expandiert schon seit dem Frühjahr 1991 kräftig. In der geldpolitischen Ausrichtung bestehen ausgeprägte Unterschiede zwischen den Industrieländern. Die Deutsche Bundesbank betreibt wegen interner Gefährdungen der Preisniveaustabilität eine restriktive Geldpolitik (Diskontsatz seit 17.7.92 8,75 %5; 1. Hj. 88 noch 2,5 %!). Andere westeuropäische Zentralbanken sehen sich deshalb gezwungen, auch ihrerseits an höheren als binnenwirtschaftlich angezeigten Zinssätzen festzuhalten, um eine Kapitalabwanderung nach Deutschland zu verhindern. Gegenwärtig ist ferner zu berücksichtigen, dass die Kapitalanleger von einer dauerhaften Divergenz zwischen der vergleichsweise expansiven amerikanischen Geldpolitik und dem energischen Restriktionskurs der Bundesbank ausgehen. Eine Senkung der Leitzinsen in Deutschland, die anderen westeuropäischen Zentralbanken einen Spielraum für eine spürbare Lockerung der Geldpolitik gäbe, wird in der Tat wohl erst erfolgen, wenn die Bundesbank die Inflationsgefahren deutlich geringer einschätzt als gegenwärtig. Als Folge dieser Situation liegen die Zinsen für deutsche dreimonatige Verbindlichkeiten am Euro-Markt um gut sechs Prozentpunkte über den Renditen vergleichbarer US-Papiere. Die Nachfrage internationaler Kapitalanleger nach DM (zur Anlage in auf DM lautende Wertpapiere) führt zu einem Steigen des Preises, also des Wechselkurses, der DM gegenüber anderen Währungen. IV. Seit es keine festen Wechselkurse mehr gibt, hat die Bedeutung von sogenannten Referenzraten zugenommen, deren wichtigste die von Dollar und DM ist. Die DM/DollarRate hat sich in der Vergangenheit als überaus reagibel erwiesen. Die Bundesbank hat diese Fluktuationen stets aufmerksam beobachtet und versucht, die größten Kursausschläge 5 Zur Erhöhung des Diskontsatzes vgl. Dok. 229, Anm. 27.

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zu mildern. Begründet wird diese Wechselkurspolitik mit den weitreichenden Folgen, die sich sonst für die Entwicklung in unserer offenen Volkswirtschaft ergeben können: – Massive Abwertungen der DM führen zu einem beträchtlichen Inflationsimpuls über importierte Güter, die in der aufgewerteten Partnerwährung fakturiert und damit teurer werden (Verschlechterung der Terms of Trade). – Massive Aufwertungen der DM beeinträchtigen die deutsche Wettbewerbsposition auf den Weltmärkten, weil deutsche Güter bei gleichbleibendem Inlandspreis in der dann schwächeren ausländischen Währung teurer werden. Besonders gefährlich sind beide Kursvariationen selbst bei nur beschränkter zeitlicher Dauer wegen der Rigidität einmal ausgelöster Anpassungsprozesse. Ein bereits eroberter Exportmarkt kann nicht kurzfristig aufgegeben werden; fällt aber die Entscheidung zum (zwangsweisen) Rückzug, ist er später meist nur sehr schwer wiederzugewinnen. V. Spannungen innerhalb des EWS können u. a. dadurch ausgelöst werden, dass Zuflüsse von kurzfristigem Kapital (in Dollar), das eine Anlage in europäischen Währungen sucht, oder umgekehrt Abflüsse von Dollar-Anlagen die verschiedenen europäischen Währungen nicht in gleichem Maße betreffen. Im Allgemeinen wird hierbei die DM bevorzugt, und sei es nur deswegen, weil es in New York einen aktiven Markt für diese Währung gibt. Investoren, die aus dem Dollar gehen, um in Europa zu investieren, beschränken sich häufig auf die Anlage in einer europäischen Währung. Davon hat die vergleichsweise wertstabile DM etwa gegenüber Franc und Lira profitiert. Die DM ist daher schon zu „normalen“ Zeiten potenziell eine „Aufwertungswährung“. Die relative Stärke der deutschen Währung erhöht nun zusätzlich den Abwertungsdruck auf die übrigen EWS-Währungen. Vor allem die Lira rutschte bis nahe an den unteren Interventionspunkt ihres Zielkorridors im EWS ab. Auch dem Pfund, dem Franc, der Peseta und dem Escudo machte die von der Dollarschwäche ausgelöste Kursfestigung der DM zu schaffen. Eine Fortdauer der Dollarschwäche kann den Druck auf die europäischen Währungen verstärken und der Spekulation um Zinserhöhungen in unseren EWS-Partnerländern oder ein Realignment (Neufestsetzung der Leitkurse im EWS) weiteren Auftrieb geben. VI. Der Wechselkurs- und Interventionsmechanismus des EWS verpflichtet die teilnehmenden Notenbanken, die vereinbarten bilateralen Leitkurse innerhalb der geltenden Schwankungsmargen zu verteidigen. Mit solchen Interventionen müssen die Zentralbanken immer dann in das Marktgeschehen eingreifen, wenn ihre Währungen gegenüber einer Partnerwährung den oberen bzw. unteren Interventionspunkt erreichen. Diese „obligatorischen“ Interventionen werden grundsätzlich in Teilnehmerwährungen vorgenommen. Dabei kauft die Zentralbank der starken Währung an ihrem Markt die ihr angebotene schwache Währung, während die Notenbank der Währung, die am unteren Interventionspunkt notiert, die nachgefragte starke Währung an ihrem heimischen Devisenmarkt verkauft. Der Anstoß zu obligatorischen Interventionen geht dabei also nicht von den Notenbanken, sondern vom Markt aus. Dagegen ergreifen z. B. europäische Zentralbanken die Initiative zur Stützung einer Drittwährung wie des Dollars von sich aus oder aufgrund von Absprachen, z. B. im Kreis der G 7. Erfahrungsgemäß kommen Interventionen als Mittel der Wechselkursstabilisierung nur jeweils als erste, kurzfristige Maßnahme in Betracht, mit der Notenbanken reagieren, 1094

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wenn ihre Währungen unter Kursdruck stehen oder zu geraten drohen. (In der vergangenen Woche haben die europäischen Zentralbanken daher offenbar nur an einzelnen Tagen und mit begrenzten Mitteln zugunsten des Dollar interveniert.) Abgesehen davon, dass solche Interventionen auf die Dauer außerordentlich teuer werden, lassen sich dauerhafte und zuverlässige Wirkungen in aller Regel nur erzielen, wenn der Wille zur Verteidigung eines bestimmten Leitkurses auch auf andere Weise nachdrücklich zur Geltung gebracht wird. Dabei steht die Geldpolitik im Vordergrund. Diese bedient sich zur Grobsteuerung insbesondere des Instruments der Leitzinsänderung (Lombardsatz, Diskontsatz). Der Geldpolitik kommt bei der Wechselkurssteuerung auch deshalb zentrale Bedeutung zu, weil Interventionen in der Regel beträchtliche Liquiditätswirkungen haben. Diese betreffen normalerweise nicht nur die Geldversorgung in demjenigen Land, dessen Wechselkurs unter Druck steht, sondern wirken gleichzeitig auch auf die monetäre Situation des Landes zurück, dessen Währung zur Kursstützung verwendet wird. Die Kursstützung des Dollar durch die Bundesbank beispielsweise bewirkt nämlich eine monetäre Expansion in Deutschland, die eine Gefahr für das hiesige Preisniveau darstellt. Durch die Veränderung der Geldmenge hat es aber jede Notenbank in der Hand, den nominellen Kurs der eigenen Währung zu beeinflussen. Wächst beispielsweise die Geldmenge in den USA schneller als in Deutschland, dann muss unter sonst unveränderten Bedingungen der Dollar gegenüber der DM an Wert verlieren. Vor diesem Hintergrund wird klar, dass Interventionspolitik immer nur Symptomtherapie sein kann. Daraus ergibt sich: Interventionspolitik ist kein Ersatz für Stabilitätspolitik. VII. Abgesehen von der kurzfristig gegebenen Möglichkeit von Interventionen auf den Devisenmärkten, spitzt sich also bei anhaltendem Dollar-Zustrom die Alternative im EWS sehr rasch auf zwei Optionen zu: – Realignment im EWS, d. h. Verschiebung der Leitkurse und der Korridore, innerhalb derer sich die einzelnen Wechselkursrelationen im Währungsmechanismus je nach Marktlage frei bewegen dürfen, nach oben oder unten in dem Umfang, dass auf absehbare Zeit nicht mehr damit gerechnet werden muss, dass neue Interventionen erforderlich werden. (Eine Auf- oder Abwertung im klassischen Sinne findet im EWS nicht statt, denn hier gibt es ja keine festen Kursrelationen wie im alten Bretton-Woods-System; vielmehr schafft ein Realignment durch Verschieben der „Kurskorridore“ lediglich die Möglichkeit zu einer neuen Kursbildung entsprechend den Marktkräften.) – Erhöhung der Liquidität durch Zinssenkung im Land mit der starken Währung (hier: Deutschland), Einengung der Liquidität durch Zinsanhebung in den Ländern mit den schwachen Währungen (z. B. Italien, GB, Frankreich). Nun fand das letzte Realignment im EWS vor nicht weniger als fünf Jahren (am 12.1.1987) statt.6 Für die Väter der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion (EWWU) war diese Stabilität im EWS der Beweis für den erreichten Grad wirtschaftlicher Konvergenz in der EG und ein wichtiger Baustein des Fundaments, auf dem das Vertragswerk von Maastricht errichtet werden konnte. Würde diese Stabilität kurz vor Abschluss des Rati6 Am 12. Januar 1987 wurde eine Anpassung der Währungsparitäten innerhalb des EWS vorgenommen. Dabei wurde die DM u. a. um jeweils 3 % gegenüber dem französischen Franc, der italienischen Lira sowie der dänischen Krone aufgewertet. Vgl. MONATSBERICHTE DER DEUTSCHEN BUNDESBANK JANUAR 1987; https://www.bundesbank.de/resource/blob/691132/bef3e65d02418327c095bef8ee74d5c4/mL/1987-01monatsbericht-data.pdf, S. 15 f. Vgl. ferner BULLETIN DER EG 1/1987, S. 20 f.

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fikationsprozesses durch ein Wechselkursrevirement im EWS sinnfällig infrage gestellt, so müsste dies vor allem in Frankreich so kurz vor dem Referendum (20.9.)7, aber nicht zuletzt auch bei uns, die Gegner der EWWU auf den Plan rufen. Der EG-Währungsausschuss (Zentralbankpräsidenten und Finanz­Staatssekretäre) hat deshalb am 28.8. ein Realignment zu diesem Zeitpunkt eindeutig ausgeschlossen.8 Scheidet aber das Währungsinstrument aus politischen Gründen aus, so bleibt nur die Option, den Spannungen im europäischen Währungsgefüge mit der Zinspolitik zu begegnen. In der Tat ist zu befürchten, dass in einigen Ländern konjunkturbelastende Zinserhöhungen zur Stützung der heimischen Währung unumgänglich werden könnten. Eine Verschlechterung des Zinsumfeldes wäre aber vor allem in Frankreich politisch kaum weniger schädlich als eine „Abwertung“ im Rahmen des EWS. Sie könnte das ohnehin größer werdende Lager der Ablehnungsfront gegen Maastricht gerade über die kritische Schwelle hinaus verstärken. Ein „Nein“ der Franzosen zu Maastricht wäre sehr wahrscheinlich mit einer weiteren Stärkung der DM verbunden, da diese dann als Anker- und Fluchtwährung weiter starker Nachfrage in Europa unterläge. Bei uns scheitert eine Senkung der Leitzinssätze vorerst weiter am Widerstand der Bundesbank, für die das Stabilitätsziel höchste Priorität hat. Europapolitisch wäre indessen ein geldpolitisches Signal an die USA und unsere EG-Partner wahrscheinlich ein nicht zu teuer bezahlter Befreiungsschlag, und gesamtpolitisch wäre ein solcher Sprung über den eigenen Schatten vermutlich das geringste aller denkbaren Übel. VIII. Ausblick Nach der Errichtung der EWWU mit einer einheitlichen Währung werden Wechselkursänderungen innerhalb der EWWU weder erforderlich noch möglich sein. Dollarkursänderungen zum ECU werden dann keine geld- oder währungspolitischen Spannungen wie im EWS mehr auslösen können. Spannungen und Diskrepanzen zwischen den Mitgliedstaaten können sich nur noch im realwirtschaftlichen Bereich ergeben und müssen dort gelöst werden, z. B. durch Ressourcentransfer in Regionen mit geringerem Wachstum. Im Außenverhältnis wird das Gleichgewicht über den frei floatenden Wechselkurs des ECU hergestellt. Solange aber noch unterschiedliche Währungen in der Gemeinschaft bestehen, bleibt das europäische Währungsgefüge auch anfällig für Erschütterungen von innen und außen. Eine nicht ungefährliche Belastungs- und Bewährungsprobe würde z. B. bei einem negativen Ausgang des Maastricht-Referendums in Frankreich auf das EWS zukommen. Die schwindende Aussicht auf eine starke gemeinsame Währung könnte in denjenigen Mitgliedstaaten des Systems, deren Währung gegenüber der DM verhältnismäßig schwach ist, eine starke Nachfrage nach der DM als „safe haven“ auslösen. Die Kursdifferenzen im EWS würden dann rasch so stark werden, dass ein fundamentales Realignment auch nicht mehr mit den Mitteln der Zinspolitik abgewendet werden könnte. Möglicherweise würde ein einziges Realignment gar nicht ausreichen, um die Währungsbeziehungen zwischen den Mitgliedern des Systems unter der neuen, von der Unsicherheit der Anleger gekennzeichneten Lage wieder in Ordnung zu bringen. Das Ergebnis wäre voraussichtlich eine säkulare Überbewertung der DM ähnlich der des Dollars in den vergangenen Jahrzehnten, mit schmerzhaften Folgen für die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Exportwirtschaft. 7 Zum Referendum in Frankreich über das Vertragswerk von Maastricht vgl. Dok. 293 und Dok. 300. 8 Am 13. September 1992 fand eine Wechselkursanpassung im EWS statt. Vgl. Dok. 283.

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Was das Schicksal des EWS bei einem Scheitern des französischen Referendums angeht, so sind manche Beobachter der Meinung, dass die zu erwartenden Spannungen im europäischen Währungsgefüge so stark sein werden, dass sie das EWS letztlich sprengen könnten. Europa würde dann, wie die übrige Welt auch, zu freien Wechselkursen zurückkehren. Selbst wenn man diesen Pessimismus nicht teilt, wird man jedenfalls davon ausgehen müssen, dass die Situation des EWS vor 1987 mit mehr oder weniger regelmäßigen Kursanpassungen das bestmögliche Resultat sein dürfte, das bei einem Scheitern des Referendums für die nächsten Jahre in Europa auf dem Währungsgebiet noch erreichbar sein wird. B 52, ZA-Bd. 173699

273 Vorlage der Vortragenden Legationsrätin I. Klasse Gräfin Strachwitz für Bundesminister Kinkel 322-320.20 Allg.

3. September 1992

Über Herrn Dg 321, Herrn D 32, Herrn Staatssekretär3 Herrn Bundesminister4 Betr.:

Deutsche Afrika-Politik; hier: Verstärktes Engagement Deutschlands bei der Lösung innerafrikanischer Konflikte

Anlg.: 15 Zweck der Vorlage: Unterrichtung und Bitte um Zustimmung zu Ziffer 2 Absatz 3 1) Deutschland hat als Folge der Wiedervereinigung auch in Afrika erheblich an politischem Gewicht gewonnen. Man erwartet, dass wir jetzt – wie in Europa – auch in Afrika eine stärkere Rolle übernehmen. Dabei geht es weniger um unsere entwicklungspolitsche Zusammenarbeit mit den Staaten Schwarzafrikas. Hier hat Deutschland schon immer eine hervorragende Rolle gespielt, 1 Hat MDg Sulimma am 4. September 1992 vorgelegen. 2 Hat MD Schlagintweit am 4. September 1992 vorgelegen. 3 Hat StS Kastrup am 8. September 1992 vorgelegen, der handschriftlich vermerkte: „Wir sollten für nächstes Jahr eine Botschafterkonferenz Afrika ins Auge fassen, um konzeptionelle Vorstellungen im Sinne dieser Aufzeichnung zu entwickeln.“ 4 Hat BM Kinkel vorgelegen, der zur Bemerkung von StS Kastrup handschriftlich vermerkte: „Ja.“ Hat OAR Salzwedel am 9. September 1992 vorgelegen, der den Rücklauf über das Büro Staatssekretäre, MD Schlagintweit und MDg Sulimma an Referat 322 verfügte. Hat VLR I Reiche am 9. September 1992 vorgelegen. Hat Schlagintweit erneut vorgelegen. Hat Sulimma am 10. September 1992 erneut vorgelegen. Hat VLRin I Gräfin Strachwitz am 10. September 1992 erneut vorgelegen. 5 Dem Vorgang nicht beigefügt.

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3. September 1992: Vorlage von Strachwitz

und die afrikanischen Regierungen verstehen sehr wohl, dass die Kosten der deutschen Vereinigung und unser Engagement in Osteuropa derzeit eine Erhöhung unserer ohnehin vergleichsweise hohen Entwicklungsleistungen nicht zulassen. Dies schließt nicht aus, dass in Zukunft auch in diesem Bereich noch mehr von uns erhofft wird. Unsere Hinweise auf eine mögliche „Friedensdividende“ sind nicht vergessen. Jetzt erwarten die Afrikaner von uns ein stärkeres politisches Engagement auf dem afrikanischen Kontinent als bisher. Richteten sich Bitten auf Mitwirkung an Versöhnungsprozessen bei inneren oder äußeren afrikanischen Konflikten durch Übernahme von Beobachter- oder Vermittlungsaufgaben bisher ganz überwiegend an die einstigen Kolonialmächte oder an die USA und vor ihrem Zusammenbruch auch an die UdSSR, so werden derartige Bitten jetzt zunehmend auch an uns herangetragen. In Afrika gilt Deutschland, das anders als Großbritannien, Frankreich oder Belgien nur eine marginale koloniale Rolle auf dem afrikanischen Kontinent gespielt hat, als besonders verlässlicher, durch koloniale Vergangenheit nicht geprägter oder belasteter westlicher Partner. Afrikanische Regierungen und Oppositionen halten uns deswegen für eine Neutralität voraussetzende Beobachterrolle für besonders geeignet. Auch ist man überzeugt, dass Deutschland einen entscheidenden Einfluss auf die Haltung der übrigen Europäer hat. 2) Im inneräthiopischen Bemühen um friedliche Lösungen der bestehenden tiefgreifenden ethnischen Konflikte6 sind wir im August dieses Jahres vom Präsidenten der äthiopischen Übergangsregierung7 und von der Führung der bewaffneten Opposition gebeten worden, gemeinsam mit den USA, Großbritannien, Kanada und Schweden eine sog. Kontaktgruppe der westlichen Botschafter zu bilden. Diese Botschaftergruppe hat die Aufgabe übernommen, zwischen der Übergangsregierung und der Opposition Kontakte zu etablieren und beide Seiten zu beraten. Wir haben diese Einladung angenommen und unseren Botschafter in Addis Abeba8 beauftragt, in dieser Kontaktgruppe nach Kräften mitzuwirken. Die Regierung Ruandas und die bewaffnete ruandische Opposition haben sich bei ihren kürzlichen Gesprächen über friedliche Lösungen des Bürgerkriegs in Ruanda9 darauf 6 Referat 322 vermerkte am 19. August 1992, nach dem Ende des äthiopischen Bürgerkriegs im Mai 1991 habe zum einen der Prozess einer Abspaltung der Nordprovinz Eritrea von Äthiopien begonnen. Zum anderen bestehe ein Konflikt zwischen der Ethiopian Peopleʼs Revolutionary Democratic Front (EPRDF) und der Oromo Liberation Front (OLF), der den von Präsident Meles Zenawi eingeleiteten Demokratisierungsprozess erschwere. Es gebe gewaltsame ethnische Auseinandersetzungen im Osten, Süden und Westen sowie Bandenüberfälle auf internationale Hilfsgüter. Ein für April 1993 anberaumtes Referendum in Eritrea werde aller Wahrscheinlichkeit nach ein klares Votum für die Unabhängigkeit ergeben. Vgl. B 34, ZA-Bd. 153584. 7 Meles Zenawi. 8 Horst Winkelmann. 9 VLRin I Gräfin Strachwitz vermerkte am 24. August 1992, der ruandische Präsident Habyarimana führe einen für Afrika beispielhaften Demokratisierungsprozess durch: „Ruanda ist es gelungen, die Grundlagen für eine endgültige politische Lösung des im Oktober 1990 ausgebrochenen bewaffneten Konflikts zwischen Regierung und den Rebellen der ,Front Patriotique Rwandais‘ (FPR) zu schaffen. Nach einem Waffenstillstandsabkommen im Juli 1992 wurde am 18. August 1992 ein Abkommen zur Beendigung der ersten Phase der politischen Verhandlungen mit dem Ziel eines Friedensvertrages zwischen den beiden Parteien abgeschlossen. Dieses Abkommen enthält die Verpflichtung, in Ruanda ein demokratisches politisches System nach westlichem Vorbild aufzubauen, die Menschenrechte zu achten sowie für die Repatriierung der ruandischen Flüchtlinge Sorge zu tragen.“ Vgl. B 34, ZA-Bd. 153642.

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3. September 1992: Vorlage von Strachwitz

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geeinigt, neben Frankreich, Belgien und den USA auch Deutschland einzuladen, als Beobachter an den bevorstehenden langwierigen Verhandlungen zum Friedensprozess in diesem Land teilzunehmen. Neben der Übernahme der Beobachterfunktion im Ruanda-Konflikt wird von uns auch erwartet, dass wir uns an den Sachleistungen für eine gemischte militärische Waffenstillstands-Beobachtermission beteiligen, die unter Leitung der Organisation für Afrikanische Einheit (OAE) eingerichtet wird. Wir werden für einen Betrag von DM 300 000,-- 16 gebrauchte Jeeps „Iltis“ aus Bundeswehrbeständen zur Verfügung stellen. Ich bitte um Zustimmung, dass wir die von uns erbetene Rolle eines politischen Beobachters am ruandischen Friedensprozess übernehmen.10 3) In anderen Fällen, wie bei den Verhandlungen über eine Friedensregelung in Mosambik11, haben wir auf eine vorsichtige Anfrage des Erzbischofs von Beira12, ob wir bereit wären, eine Vermittlerrolle zu übernehmen, zurückhaltend reagiert. Da Italien hier bereits eine aktive Rolle spielte, sahen wir für uns keinen eigenständigen zusätzlichen Beitrag. Auf eine ähnliche Sondierung des Premierministers von Niger13 im Tuareg-Konflikt14 sind wir nicht eingegangen, weil Frankreich und Algerien diese Rolle bereits übernommen haben. Im Übrigen war die gegen Frankreich gerichtete Tendenz des Vorschlags unübersehbar. 4) Eine deutsche Teilnahme an friedensfördernden Vermittlungsaufgaben entspricht nicht nur unserer Selbstverpflichtung zur Übernahme von mehr Verantwortung. Sie ist auch eine willkommene Möglichkeit, gemeinsam mit unseren westlichen Partnern in Afrika politisch zu handeln. Eine aktive Mitwirkung Deutschlands an Friedensbemühungen in Afrika ist eine außenpolitische Aufgabe, der wir uns stellen sollten. Dies gibt uns Gelegenheit, deutlich zu machen, dass wir nicht nur der hochgeschätzte Partner bei Entwicklungsaufgaben oder im humanitären Bereich sein wollen, sondern bereit sind, auch politische Aufgaben verstärkt zu übernehmen. Im Übrigen erfordert dies keineswegs stets eine Verstärkung unserer personellen Ausstattung an den Auslandsvertretungen oder in der Zentrale. 10 Dieser Satz sowie die Wörter „Rolle eines politischen Beobachters“ wurden von StS Kastrup hervorgehoben. VLRin I Gräfin Strachwitz vermerkte am 13. November 1992 ergänzend, bislang beschränke sich die Rolle der Bundesrepublik beim Friedensprozess in Ruanda auf die „rein politischen Aspekte der Verhandlungen. Großes Gewicht haben jedoch auch die Beratungen über militärische Fachfragen (Truppenentflechtung, Einrichtung von Korridoren, Ausdünnung von punktuellen Truppenkonzentrationen entlang der Frontlinie etc.).“ Strachwitz schlug vor, nunmehr auch einen Experten aus dem Bereich des BMVg zur Teilnahme an militärischen Beratungen zu entsenden. Vgl. B 34, ZA-Bd. 153644. 11 Zum Friedensprozess in Mosambik vgl. Dok. 322. 12 Jaime Pedro Gonçalves. 13 Amadou Cheiffou. 14 Im Politischen Halbjahresbericht Niger mit Stand vom 1. Juli 1992, der mit SB Nr. 335 der Botschaft Niamey vom 29. Juni 1992 übermittelt wurde, hieß es zu den Aufständen der Tuareg: „Politisch geht es um mehr Selbstbestimmung und mehr Zugang zu Lebenschancen […]. Sozial geht es um die gerechtere Allokation von Ressourcen, also um die Verbesserung der Lebensbedingungen von nomadischen Völkern […]. Gesellschaftlich geht es um das Modernitätsproblem, wie Gruppen mit autochthoner Lebensweise und entsprechenden traditionellem Sozialgefüge Platz finden in einer sich entwickelnden Gesellschaft.“ Vgl. B 34, ZA-Bd. 159338.

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7. September 1992: Vorlage von Steiner

Unsere afrikanischen Partner erwarten von dem vereinigten Deutschland ein entschiedeneres politisches Engagement auch in Afrika. Dies gilt für eine Intensivierung unseres politischen Dialogs ebenso wie für unsere Mitwirkung an Friedensprozessen. Eine baldige Reise des Bundesministers nach Afrika und eine dadurch deutlich werdende Unterstützung unserer diplomatischen Bemühungen um die schwarzafrikanischen Länder wären von großem Wert.15 Strachwitz B 34, ZA-Bd. 157204

274 Vorlage des Vortragenden Legationsrats Steiner für Bundesminister Kinkel 215-350.00/3

7. September 1992

Über Herrn D 21, Herrn Staatssekretär2 Herrn Bundesminister3 Betr.:

„Internationale Konferenz über das ehem. Jugoslawien“4; hier: Operative Leitlinie, Umsetzung der Londoner Ergebnisse

Anlg.: Konferenzdokumente von London5 Zweck der Vorlage: Zur Unterrichtung und Billigung 1) Zusammenfassung Die Londoner Konferenz erbrachte zwei Aufgabenkategorien: einmal die längerfristige Aufgabe der Ausarbeitung der letztlichen Lösungen für die verschiedenen Gebiete des ehem. JUG. Hier müssen die Arbeiten durch die Konferenz mit Ausdauer und Beharrlichkeit in 15 BM Kinkel hielt sich vom 17. bis 21. Mai 1993 in der Elfenbeinküste und Ghana auf und leitete vom 18. bis 20. Mai 1993 eine Botschafterkonferenz in Accra. Zur Botschafterkonferenz vgl. AAPD 1993. 1 Hat MD Chrobog am 7. September 1992 vorgelegen. 2 Hat StS Kastrup am 7. September 1992 vorgelegen. 3 Hat BM Kinkel am 8. September 1992 vorgelegen, der handschriftlich vermerkte: „Gute Vorlage! So verfolgen!“ Hat VLR Brose am 8. September 1992 vorgelegen, der den Rücklauf über das Büro Staatssekretäre, MD Chrobog und „Dg 21 i. V.“ an Referat 215 verfügte. Hat VLR I Reiche am 8. September 1992 vorgelegen. Hat in Vertretung von Chrobog MDg Klaiber am 9. September 1992 vorgelegen. Hat Chrobog am 10. September 1992 erneut vorgelegen. Hat in Vertretung des MDg von Studnitz VLR I Neubert vorgelegen. Hat VLR Steiner am 11. September 1992 erneut vorgelegen. 4 Zur internationalen Jugoslawien-Konferenz am 26./27. August 1992 vgl. Dok. 269. 5 Dem Vorgang nicht beigefügt. Für die bei der internationalen Jugoslawien-Konferenz verabschiedeten Dokumente vgl. EUROPA-ARCHIV 1992, D 584–590.

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7. September 1992: Vorlage von Steiner

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Ruhe durchgeführt werden können. Zum anderen die unmittelbar operativen Maßnahmen zur Verstärkung des Drucks auf die Serben und der humanitären Versorgung der Notleidenden. Diese Maßnahmen, bei denen es auf rasches Vorgehen ankommt, sollten nach Möglichkeit nicht von der etwas schwerfälligen Konferenz selbst, sondern in „Auftragsverwaltung“ für diese jeweils von der Organisation durchgeführt werden, die hierfür am besten geeignet ist (Subsidiaritätsprinzip). Hinsichtlich der einzelnen operativen Punkte ergab die heutige Hausbesprechung unter der Leitung von D 2, dass neben der Frage unserer personellen bzw. logistischen Beteiligung an den verschiedenen Aufgaben vor allem eine Reihe von erheblichen finanziellen Mehraufwendungen auf uns zukommen wird, die wir ohne den Preis eines beträchtlichen politischen Schadens nicht werden vermeiden können. Sie sollten im Kabinett, in Ihren bevorstehenden Gesprächen mit den Parteien und in der Haushaltsdebatte im Bundestag6 offensiv darauf hinweisen, dass wir bereits in den nächsten Monaten und voraussichtlich für längere Zeit erhebliche Mittel benötigen werden. 2) Im Einzelnen Die Londoner Konferenz vom 26./27.8.1992 hat ein sehr heterogenes Bündel von Positionsfestlegungen, Forderungen und Beschlüssen erbracht, das sich grob in folgende zwei Kategorien aufteilen lässt, die auf unterschiedlichen Handlungsebenen und Zeitschienen zu realisieren sind: – einmal die Prinzipien, Verhandlungsaufträge etc., bei denen es um die Ausgestaltung der letztlichen Lösungen in allen ihren Aspekten für die verschiedenen Gebiete des ehem. JUG geht. Realistischerweise wird man sich hier bis zu einer tatsächlichen endgültigen Friedensregelung auf einen größeren Zeitraum einzustellen haben. Daher war auch das gemeinsame Verständnis im Lenkungsausschuss am 3.9.1992 in Genf, dass die Konferenzarbeit solide und langfristig angelegt werden müsse. – Zum anderen operative Maßnahmen, die, wie etwa die Sanktionssicherung, dazu dienen, den Druck auf die serbische Seite zu verstärken oder, wie etwa die Konvoi-Sicherung, den notleidenden Menschen zu helfen. Bei diesen Maßnahmen kommt es auf möglichst rasches Handeln an, das gerade auch wir hier immer wieder einfordern. Die Zähigkeit und Ausdauer erfordernde Arbeit im Bereich der erstgenannten „langfristigen Kategorie“ sollte von den entsprechenden Arbeitsgruppen der Konferenz in Ruhe durchgeführt werden können. Hier ist zwar eine ständige wachsame Begleitung in der EPZ nötig, damit der Acquis Carringtons erhalten bleibt und die Lösungsmodelle nicht auf eine „schiefe Bahn“ geraten. Allerdings könnten hier lfd. kurzfristige Interventionen den Prozess nur stören und die Autorität der Konferenz untergraben. Hinsichtlich der zweiten, „kurzfristigen Kategorie“ ist dagegen zu sehen, dass sich trotz der großen Einsatzbereitschaft von Lord Owen bereits auf der konstituierenden Sitzung des Lenkungsausschusses am 3.9.1992 unser Eindruck bestätigte, dass der Konferenz aufgrund ihrer Teilnehmerzahl und Struktur als nunmehr kooperatives EG-VN-Unternehmen ein gewisses Trägheitsmoment inhärent ist. Dies legt nahe, operative Maßnahmen, die rasch umgesetzt werden müssen, unter dem Dach der Konferenz und unter deren Koordinierung („Clearing-house“-Funktion), wo dies 6 Die Haushaltsdebatte des Bundestags begann am 8. September 1992. BM Kinkel sprach am 9. September 1992. Vgl. BT STENOGRAPHISCHE BERICHTE, 12. WP, 103. Sitzung, S. 8762–8766.

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7. September 1992: Vorlage von Steiner

möglich ist, gleichsam im Wege der Auftragsverwaltung jeweils von der Organisation durchführen zu lassen, die hierfür am besten in der Lage ist. Hier sollte also ein Subsidiaritätsprinzip zur Anwendung kommen, zumal wenn es sich um Maßnahmen handelt, die klar gegen eine Partei (Serbien) gerichtet sind und sich daher kaum für den eher konsensorientierten Beschlussfassungsmodus einer Konferenz eignen, deren Teilnehmer von China bis zu den Niederlanden reichen. Auf der Basis dieser generellen Leitlinien ergaben sich in der heutigen Hausbesprechung unter Leitung von D 2 bei den wichtigsten operativen Punkten folgende Konsequenzen: 3) Operative Punkte (1) Sanktionssicherung Diesen zentralen Aufgabenkomplex sollte die EG im Wege der „Auftragsverwaltung“ für die Konferenz übernehmen. Dabei geht es einmal um ein EG-Lizenzsystem für Warenexporte in die jug. Nachbarstaaten von Serbien/Montenegro (also KRO, MAK, B+H). Hier wurde am 3.9.1992 in Brüssel Einigung über eine entsprechende Verordnung erzielt (Ausfuhr nur bei Vorliegen von Importlizenz und anschließender Ankunftsbestätigung). Zum andern muss der Transit durch Serbien/Montenegro stärker kontrolliert werden. Auch hierzu wurde in Brüssel am 3.9.1992 Einigung über einen ersten Schritt erzielt (Beschränkung des Warenverkehrs gem. Carnet-TIR7-Regime = u. a. Verplombung). Schließlich soll aufgrund der Berichte der EG-Expertenmissionen in sämtlichen Nachbarstaaten Serbien/Montenegros eine Verstärkung der Sanktionskontrolle durchgeführt werden. Wir sind zur personellen Mitarbeit bei (EG-) Zoll-Monitormissionen in den nichtjugoslawischen Nachbarstaaten Serbien/Montenegros bereit (BMF aufgeschlossen). Dabei empfiehlt sich, diese Zoll-Monitormissionen (an denen wir uns ggf. insbes. mit Zöllnern beteiligen würden) nicht mit den bereits existierenden EG-Monitormissionen zu verquicken, die ein anders geartetes Mandat haben (zur unabdingbaren Verstärkung der personellen dt. Beteiligung auch in diesem Bereich folgt ges. Vorlage). Operativ: a) Wir müssen zunächst gemeinsam mit BMF, ferner BMI, den evtl. dt. personellen Beitrag (meistens Zöllner, Größenordnung: 50–100 Mann) weiter konkretisieren. b) Dies wird auch Geld kosten, wobei wir es vorzögen, wenn BMF durch direkte Entsendung auch die Personalkosten tragen würde. c) Wir verwenden uns im EG-Rahmen dafür, dass zunächst als erster Schritt rasch Missionen zu den „Schwachstellen“ Donau/Rumänien und Mazedonien entsandt werden. d) Sanktionsumgehungen im Transit über Serbien/Montenegro sollten weiter erschwert werden, wofür wir uns ebenfalls im EG­Rahmen einsetzen. Nötigenfalls müssen darüber hinaus die Sanktionen8 mit neuer SR­Resolution verschärft werden. (2) Überwachung schwerer Waffen NATO und WEU haben ihre bisherigen Planungen den VN (und der KSZE) übermittelt. Uns schwebt vor, dass die Überwachung schwerer Waffen durch NATO-Verbündete unter 7 Transports Internationaux Routiers. 8 Vgl. die Resolution Nr. 713 des VN-Sicherheitsrats vom 25. September 1991; RESOLUTIONS AND DECISIONS 1991, S. 42 f. Für den deutschen Wortlaut vgl. EUROPA-ARCHIV 1991, D 550–552. Vgl. auch die Resolution Nr. 757 des VN-Sicherheitsrats vom 30. Mai 1992; Dok. 159, Anm. 12.

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politischer Verantwortung und militärischer Führung der VN durchgeführt werden könnte, wenn diese hierfür mangels ausreichender eigener logistischer Kapazitäten und Expertise einen Bedarf sehen (Arbeitsteilung mit WEU, die die Sicherung humanitärer Hilfskonvois unter VN übernehmen könnte, unten Ziff. 4). Allerdings besteht hierüber noch kein Konsens in NATO und WEU, zudem ergaben unsere jüngsten Gespräche, dass einige Partner, insbes. auch GB, einer weiteren Involvierung der NATO skeptisch gegenüberstehen und die Behandlung dieser Frage in New York konzentriert sehen wollen, zumal UNPROFOR vor Ort mit der Frage der Notifizierung schwerer Waffen bereits befasst ist. Operativ: a) Wir sollten so rasch wie möglich unseren evtl. logistischen Beitrag konkretisieren, um zu vermeiden, dass wir – wie im Falle des Golfkriegs – erst unter Druck geraten und dann letztlich mehr leisten müssen. Hier ist zunächst das BMVg gefordert. Unser konkretes logistisches Beitragsangebot wollen wir dann umgehend auch nach außen sichtbar machen. b) Dennoch werden wir nicht umhinkönnen, auch einen beträchtlichen finanziellen Beitrag zu leisten. Der VN-GS9 hat deutlich gemacht, dass von den VN (über normalen Beitragsschlüssel) kein Geld zu erwarten ist. Unsere Partner, dies zeichnet sich bereits ab, werden von uns als Ausgleich für unsere personelle Nichtbeteiligung einen höheren finanziellen Anteil einfordern. Sie sollten bei Ihren Gesprächen mit den Parteien, im Bundestag und im Kabinett deutlich machen, dass hier unvermeidlich erhebliche (vorerst aber noch nicht quantifizierbare) Ausgaben auf uns zukommen werden (dies gilt auch für weitere unten genannte Punkte, siehe dort). (3) Absicherung humanitärer Hilfskonvois NATO und WEU haben ihre bisherigen Planungen den VN (und der KSZE) übermittelt. Im Wege der Arbeitsteilung könnte die WEU bei der militärischen Eskortierung der humanitären Hilfslieferungen die VN (UNPROFOR) auf deren Wunsch unterstützen, wobei auch hier die politische Verantwortung und militärische Führung bei den VN liegen sollte. Gegen ein derartiges WEU-Engagement gibt es jedoch Widerstand insbes. der USA; GB würde auch hier eine – möglichst ausschließliche – Behandlung in New York vorziehen. Operativ: a) Wie bei den schweren Waffen sollten wir hier so weit wie möglich unseren evtl. logistischen Beitrag konkretisieren. BMVg hat hierzu inzwischen (noch nicht gebilligte) Vorlage über umfängliche Unterstützungsmaßnahmen erarbeitet. Wir sollten möglichst rasch unser konkretes Unterstützungsangebot sichtbar machen können. b) Auch hier wird aber darüber hinaus eine erhebliche finanzielle Belastung auf uns zukommen, die Sie gegenüber den Parteien und im Bundestag offensiv ansprechen sollten. (4) Verbot militärischer Flüge über Bosnien-Herzegowina (B + H) Bei diesem neuen operativen Punkt wird an ein schrittweises Vorgehen – zunächst Beobachtung der Implementierung, dann ggf. Anprangern des Bruchs der Londoner Vereinbarung, schließlich Sperrung des Luftraums – gedacht. Noch ist nicht klar, in welchem Rahmen diese Maßnahme durchgeführt werden soll. Owen hatte Ihnen gegenüber am 1.9.199210 hierzu gesagt, dass evtl. die NATO die Fakten liefern könnte (AWACS?). 9 Boutros Boutros-Ghali. 10 Zum Gespräch zwischen BM Kinkel und dem Ko-Vorsitzenden der Jugoslawien-Konferenz, Lord Owen, vgl. Dok. 266, Anm. 4.

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7. September 1992: Vorlage von Steiner

Operativ ist von uns zunächst nichts zu veranlassen, allerdings könnten auch hier von unserer Seite logistische Unterstützung und ein finanzieller Beitrag erforderlich werden. (5) Menschenrechte/„Register“/Internationaler Strafgerichtshof Hier kommt es vor allem auf eine Unterstützung des MRK-Sonderberichterstatters Mazowiecki und seiner Empfehlungen vom 28.8.199211 an, vor allem Koordinierung der vielfältigen menschenrechtlichen Aktivitäten (dies sollte nach unserer Auffassung durch den Lenkungsausschuss der erweiterten Konferenz geschehen) sowie Schaffung einer Kommission zur Auswertung von konkreten Einzelfällen, in denen Strafverfahren eingeleitet werden sollten. Wir werden auch national Informationen über Menschenrechtsverletzungen sammeln und wollen Mazowiecki die Befragung von Flüchtlingen in Deutschland vorschlagen. Unsere Forderung nach einem Internationalen Strafgerichtshof12 fand in der Form Aufnahme in Ziffer 8 des Londoner Hauptdokuments „spezifische Entscheidungen“, dass die Ko-Vorsitzenden eine Untersuchung über die Schaffung eines Strafgerichtshofs voranbringen sollen. Wir streben darüber hinaus eine Resolution der kommenden VN-Generalversammlung an, mit der die VN-Völkerrechtskommission beauftragt wird, das Statut eines Internationalen Strafgerichtshofs auszuarbeiten.13 Operativ: a) Wir haben BMI, BND und unsere Botschaften um Mitteilungen über Menschenrechtsverletzungen sowie BMI um die Ermöglichung der Befragung durch Mazowiecki gebeten und werden hier weiter auf konkrete Ergebnisse drängen. b) Wir werden im Kreis der Zwölf vorschlagen, die Mazowiecki-Empfehlung einer Kommission zur Auswertung von Einzelfällen – die also faktisch das „Register“ führen würde – zu unterstützen. c) Was die Ihnen von Owen unterbreitete Idee einer „schwarzen Liste“ angeht, so sollten wir wegen der offenbar besonders von der britischen Präsidentschaft14 befürchteten rechtsstaatlichen Problematik und der Duplizität zu dem Vorschlag Mazowieckis zunächst eine Abstimmung mit diesem und evtl. Konkretisierung seitens der Konferenz abwarten. d) Hinsichtlich des Int. Strafgerichtshofs werden wir uns im Kreis der Zwölf dafür einsetzen, dass die EG­Missionen in New York jetzt als erstes einen Resolutionsentwurf erarbeiten. (6) Internierungslager Mazowiecki hatte in seinem Bericht keinen Zweifel an den grauenhaften Zuständen in den Internierungslagern gelassen. In Abstimmung mit ihm und dem IKRK untersucht gegenwärtig unter Leitung von Sir John Thomson eine KSZE-Berichterstatter-Mission die Lager und wird hierüber voraussichtlich Ende dieser Woche berichten.15 11 Vgl. den Bericht des Sonderberichterstatters der VN-Menschenrechtskommission, Mazowiecki, (E/CN.4/ 1992/S-1/9); https://digitallibrary.un.org/record/149074. 12 Zur Frage der Einrichtung eines Internationalen Strafgerichtshofs vgl. Dok. 247. 13 Zur Erteilung des Mandats zur Ausarbeitung eines Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs vgl. Dok. 382. 14 Großbritannien hatte vom 1. Juli bis 31. Dezember 1992 die EG-Ratspräsidentschaft inne. 15 Für den „Report of CSCE mission to inspect places of detention in Bosnia-Hercegovina 29 August–4 September 1992“ vgl. B 28, ZA-Bd. 158660. Vgl. auch die zusammenfassenden Ausführungen des amerikanischen Delegationsmitglieds Blackwell

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Operativ: Auf der Basis des Berichts der Thomson-Mission sollten wir mit unseren Partnern weitere Schritte – vor allem zur Realisierung unserer Hauptforderung, der sofortigen Schließung der Lager – besprechen. (7) KSZE-Aktivitäten Die KSZE sollte sich in Zukunft im Wege der Auftragsverwaltung für die Konferenz operativ auf den Bereich der präventiven Diplomatie konzentrieren. Hierfür dienen insbes. die geplanten vier Langzeit-Missionen in das Kosovo, den Sandžak und die Wojwodina unter schwedischer Leitung (Aufgabe: Schutz der Minderheiten und Nationalitäten, Verhinderung ethnischer Säuberungen) sowie nach Mazedonien (Leitung US-Botschafter Frowick, Aufgabe: Verhinderung eines Übergreifens des Konflikts). Operativ: a) Da wir uns an den Missionen personell beteiligen wollen, bemühen wir uns gegenwärtig um die Gewinnung geeigneter orts- und sprachkundiger Personen (außerhalb AA) und haben bereits eine Kandidatenliste. b) Diese neuen Aktivitäten der KSZE werden zu einer erheblichen Ausweitung ihres bisherigen finanziellen Rahmens führen. Wir werden also auch hier mit wesentlich höheren Beiträgen als bisher rechnen müssen. (8) Finanzielle Hilfe vor Ort/Flüchtlinge Angesichts des nahenden Winters und der sich verschärfenden Lage vor Ort ist schon jetzt absehbar, dass die humanitäre Hilfe weiter verstärkt werden muss. Die operative Durchführung sollte wie bisher beim UNHCR, der „lead agency“ vor Ort und am besten hierfür geeigneten Organisation, konzentriert werden, zumal der UNHCR ohnehin einen neuerlichen Hilfsaufruf in Höhe von mehr als 400 Mio. $ plant. Operativ: a) Für die bilaterale und multilaterale humanitäre Hilfe werden wir über die bereits geleisteten 200 Mio. DM hinaus voraussichtlich weitere Gelder zur Verfügung stellen müssen. Allerdings sollten wir auch verstärkt die Solidarität insbesondere unserer EG-Partner sowie der anderen Konferenzteilnehmer einfordern. b) Wir werden weitere Flüchtlinge aufnehmen müssen. Aber auch hier sollten wir unsere Partner nicht aus der europäischen Pflicht entlassen (Kontingentvereinbarungen). (9) Mitgliedschaft „Jugoslawiens“ in internat. Organisationen In London wurde das Thema zwar nicht vertieft, gleichwohl bleibt es wichtig, dass zunächst in den VN festgestellt wird, dass die Mitgliedschaft „Jugoslawiens“ erloschen ist. Operativ: Wir werden uns weiterhin um eine geschlossene Haltung der Zwölf bemühen, wonach der VN-Sicherheitsrat so rasch wie möglich eine Empfehlung an die Generalversammlung abgibt, die im Ergebnis zum Erlöschen der Mitgliedschaft führt, und die USA in dieser Linie unterstützen. (10) Sekretariat der Konferenz Für die Konferenz ist ein zunächst kleines Sekretariat in Genf unter VN-Leitung geFortsetzung Fußnote von Seite 1104 bei der Präsentation des Berichts vor dem AHB am 15. September 1992 in Prag; DEPARTMENT OF STATE DISPATCH 1992, S. 717 f. Referat 203-9 erläuterte am 10. September 1992: „Mission hat 22 Internierungslager beider Seiten in Bosnien besucht und unterstreicht angesichts dortiger Umstände dringenden Handlungsbedarf. Bericht gibt detaillierten Überblick und kann dazu beitragen, von Gerüchten beider Seiten zu realistischem Lagebild und Schwerpunktsetzung überzugehen.“ Vgl. B 28, ZA-Bd. 158660.

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schaffen worden. Dieses Sekretariat wird naturgemäß eine informatorische Schlüsselstellung einnehmen und wohl noch ausgebaut werden. Wir haben ein offensichtliches Interesse daran, in dem Sekretariat personell vertreten zu sein, zumal wir ab 1.1.93 nicht mehr Mitglied der KSZE-Troika und damit – abgesehen von dem in die Konferenzhierarchie eingebetteten Botschafter Ahrens – auch nicht mehr Mitglied des Lenkungsausschusses sein werden. Operativ: Trotz unserer angespannten Personallage sollten wir uns darum bemühen, einen AA-Angehörigen in dem Sekretariat unterzubringen. (11) Im AA selbst wird die Gesamt-„Koordination multilateraler Friedensbemühungen“ weiterhin durch Ref. 215-9 erfolgen, wobei die einzelnen operativen Punkte von den jeweils fachlich zuständigen Referaten in enger Abstimmung mit diesem betreut werden sollten. (12) Wie sich oben im Einzelnen ergibt, stellen die beträchtlichen finanziellen Belastungen, die im Zusammenhang mit den Friedensbemühungen im ehem. JUG unvermeidlich und voraussichtlich auf längere Zeit auf die Bundesregierung zukommen werden, eines der drängendsten Probleme dar. Dies gilt besonders für die EG-Zoll-Monitormissionen, die Überwachung schwerer Waffen, die Absicherung humanitärer Hilfskonvois, die Ausdehnung der KSZE-Aktivitäten und die humanitäre Hilfe vor Ort. Sie sollten daher das Kabinett, das Parlament in der Haushaltsdebatte und die Parteien in Ihren bevorstehenden Gesprächen bereits in dieser Woche vorwarnen. Steiner B 42, ZA-Bd. 183679

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275 Vorlage des Vortragenden Legationsrats I. Klasse Neubert für Bundesminister Kinkel 213-321.20 RUS

9. September 19921

Über Dg 212, D 23, Herrn Staatssekretär4 Herrn Bundesminister5 Betr.:

Ihr Moskau-Besuch am 8. und 9. Oktober 19926; hier: Konzeption

Bezug: Ihre Weisung vom 4.9.1992 (Anlage 1)7 Anlg.: 2 (nur beim Original)8 Zweck der Vorlage: Zur Unterrichtung und Billigung der Besuchsziele 1) Grundlage Grundlage der deutsch-russischen Beziehungen ist die beim Besuch des russischen Präsidenten Jelzin am 21.11.19919 unterzeichnete Gemeinsame Erklärung (vgl. Anlage 210), die die gesamte Breite der politischen, wirtschaftlichen, wissenschaftlichen und kulturellen Beziehungen zwischen Russland und Deutschland erfasst. Die Gemeinsame Erklärung gibt als Ziel für die Entwicklung der bilateralen Beziehungen vor: „Freundschaft, gute Nachbarschaft und Zusammenarbeit“. Auch wenn völkerrechtlich die Russische Föderation die frühere Sowjetunion seit deren Auflösung am 21.12.1991 fortsetzt, stellen die deutsch-russischen Beziehungen keine unveränderte Fortführung der früheren deutsch-sowjetischen Beziehungen dar. 1 2 3 4 5

Die Vorlage wurde von VLR Mülmenstädt konzipiert. Hat MDg von Studnitz am 10. September 1992 vorgelegen. Hat MD Chrobog am 10. September 1992 vorgelegen. Hat StS Kastrup am 10. September 1992 vorgelegen. Hat BM Kinkel am 14. September 1992 vorgelegen. Hat OAR Salzwedel am 15. September 1992 vorgelegen, der den Rücklauf über das Büro Staatssekretäre, MD Chrobog und MDg von Studnitz an Referat 213 verfügte. Hat StS Kastrup am 15. September 1992 erneut vorgelegen. Hat Chrobog am 16. September 1992 erneut vorgelegen. Hat Studnitz am 17. September 1992 erneut vorgelegen. Hat VLR Mülmenstädt erneut vorgelegen. 6 BM Kinkel hielt sich am 6./7. Oktober 1992 in Russland auf. Vgl. Dok. 311, Dok. 314 und Dok. 315. 7 Dem Vorgang beigefügt. In einem Gespräch mit Botschafter Blech, z. Z. Bonn, am 4. September 1992 erklärte BM Kinkel, er wünsche „möglichst bald (nächste Woche), dass Philosophie des Besuchs aufgeschrieben wird“. Ferner erteilte er Weisung, „die einzelnen Problemfelder des Besuchs bereits jetzt aufzulisten und aufzuarbeiten“. Vgl. den Gesprächsvermerk; B 41, ZA-Bd. 221692. 8 Vgl. Anm. 7 und 10. 9 Der russische Präsident Jelzin hielt sich vom 21. bis 23. November 1991 in der Bundesrepublik auf. Vgl. AAPD 1991, II, Dok. 392, Dok. 393 und Dok. 398. 10 Dem Vorgang nicht beigefügt. Für die Gemeinsame Erklärung des BK Kohl und des russischen Präsidenten Jelzin vom 21. November 1991 vgl. BULLETIN 1991, S. 1081–1083.

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– Zum einen hat die Russische Föderation trotz Status einer Nuklearmacht die Stellung einer Weltmacht mit globaler Machtprojektion verloren. Sie ist vom Antagonisten zum Mitspieler des Westens und Juniorpartner der USA geworden: Eine Studie des nichtstaatlichen Rates für Außen- und Verteidigungspolitik, dem namhafte Politiker angehören, wie der Präsident des Industriellenverbandes, Wolskij, der Vorsitzende des außenpolitischen Ausschusses des Obersten Sowjet, Ambartsumow, der Erste Stv. Verteidigungsminister Kokoschin und der Erste Stv. Generalstabschef Kolesnikow, kommt sogar zu der Schlussfolgerung, dass die Russische Föderation eine Mittelmacht geworden sei, die, abgesehen von ihrer Nuklearmacht, in Europa an die Seite Frankreichs, Englands oder Italiens zu stellen sei.11 Diesem Positionsverlust steht das gewachsene Gewicht des vereinten Deutschlands gegenüber. – Zum anderen hört man im russischen Moskau nicht gerne, wenn auf die früheren Beziehungen zur SU Bezug genommen wird. So unstrittig die Fortgeltung der Mehrzahl der Verträge und Abkommen juristisch ist, so ungern haben es – politisch und psychologisch – die neuen Verantwortlichen, wenn sie mit der Vokabel „sowjetisch“ konfrontiert werden. – Im Gegensatz zu dem deutsch-sowjetischen Verhältnis sind die Beziehungen zu Russland frei von säkularen Antagonismen. Andererseits fehlen auch die großen Themen der früheren Zeit, wie Entmilitarisierung des Ost-West-Gegensatzes durch kooperative Rüstungskontrollpolitik. Normalität ist somit charakteristisch für die gegenwärtigen bilateralen Beziehungen. Auch wenn ihr Alltag manchmal grau ist, so ist es gleichwohl positiv zu werten, dass dieser Zustand erreicht werden konnte. – Schließlich ist zu berücksichtigen, dass die Einheit Deutschlands noch im Einvernehmen mit der SU und mit dem Beifall Jelzins vollzogen wurde, dass aber Russland mit der neugewonnenen Souveränität des größeren Deutschlands politisch ins Reine kommen und gleichzeitig den Machtverfall von der alten, großen SU zum neuen, kleinen Russland innerlich verkraften muss. 2) Umfeld und Rahmen Trotz der Normalität der Beziehungen ist Ihr Besuch mit einigen Besonderheiten verbunden: – Es ist der erste Besuch eines deutschen Außenministers in Russland seit dem Untergang der Sowjetunion. – Zum ersten Mal werden die im Protokoll vom 21.11.1991 vorgesehenen deutsch-russischen AM-Konsultationen durchgeführt. – Die Eröffnung der Botschaft und des Goethe-Instituts12 wird ein öffentlichkeitswirksames Ereignis sein. 11 Gesandter Heyken, Moskau, berichtete am 1. September 1992, das am 19. August 1992 in der Tageszeitung „Nesawissimaja Gaseta“ erschienene Thesenpapier sei „der erste systematische Versuch, ein umfassendes Konzept und klare Definitionen“ zur russischen Außenpolitik zu entwickeln. U. a. werde empfohlen: „Unbedingt notwendig Neuaktivierung der bislang vernachlässigten Ausrichtung russischer Politik auf Deutschland. Aus dem russischen Anteil an der deutschen Vereinigung sei kein Profit mehr zu schlagen. Von besonderen Beziehungen könne schon nicht mehr die Rede sein. Aber Deutschland als wirtschaftlicher Führer in Europa sowie als Staat, der am meisten an stabiler russischer Entwicklung interessiert sei, deswegen besonders wichtiger Partner. Von russisch-deutscher Zusammenwirkung hänge entscheidend die Möglichkeit Russlands zur Regulierung seiner Beziehungen zu den europäischen Staaten der früheren SU ab.“ Vgl. DB Nr. 3727/3728; B 41, ZA-Bd. 221844. 12 Zum Goethe-Institut in Moskau vgl. Dok. 212, Anm. 23.

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Ihr Besuch ist der erste eines amerikanischen oder westeuropäischen Außenministers seit dem April (ein Zeichen für den gesunkenen Stellenwert der Russischen Föderation im Vergleich zur Sowjetunion). Im Zeichen der Öffnung nach außen und der Reformen nach innen gehen viele Bereiche aus den bilateralen Beziehungen, insbesondere auf wirtschaftlichem und sicherheitspolitischem Gebiet, in Formen der multilateralen Zusammenarbeit über (Internationaler Währungsfonds, KSZE). Schließlich findet die Ausgestaltung unserer Beziehungen zu Russland zu einer Zeit statt, da Russland dabei ist, sein Verhältnis zu den GUS-Staaten zu ordnen. Dieses neue Umfeld der bilateralen Beziehungen bedeutet für uns: – Bereitschaft, unsere Beziehungen in einem Maße zu entwickeln, das dem politischen Gewicht Russlands angemessen ist; – aber keine Einräumung eines formell privilegierten Status, da die Ukraine und die größeren zentralasiatischen Staaten darin eine Unterstützung russischer Dominanz-Bestrebungen sehen würden. 3) Gegenwärtiger Stand der bilateralen Beziehungen Im bilateralen Bereich gibt es z. Zt. zwar keine tiefgreifenden Kontroversen, aber eine Reihe irritierender Fragen, wie die Vermögenswerte der WGT, Russlanddeutsche, Ausgleichsregelung für NS-Unrecht, Rückführung verschollener Kulturgüter, weiterhin starke nachrichtendienstliche Aktivitäten und die Aufteilung des RGW-Vermögens, die sich in ihrem Zusammenwirken zu einer Belastung des bilateralen Verhältnisses auswachsen könnten. Hierüber wird Ihnen weisungsgemäß eine gesonderte Aufzeichnung nach Abschluss der Direktorenkonsultationen (14. und 15.9.92 in Moskau13) vorgelegt. Das Tagesgeschäft ist hiervon weitgehend unberührt, wie nicht zuletzt die mittlerweile 23 völkerrechtlichen Abkommen zeigen, die wir mit Russland abgeschlossen haben bzw. über die gegenwärtig verhandelt wird. Der insgesamt nicht befriedigende Stand der bilateralen Beziehungen kontrastiert stark zu einer von Jelzin und Kosyrew geführten europäischen und globalen Außenpolitik, die in positiver Weise unsere Interessen berücksichtigt: KSE-Vertrag, START-Abkommen, Haltung zu Jugoslawien, Einigung mit Litauen über den Abzug russischer Truppen bis zum August 199314, Konfliktbegrenzung in GUS. Aus diesen positiven Aktivitäten ist eine wichtige Schlussfolgerung zu ziehen. Die russische Führung hat ihre Außenpolitik (Serbien, Baltikum, VN-Sanktionen) gegen nicht unerhebliche innerrussische Widerstände vollzogen, nachdem diese Fragen in multilateralen Foren wie KSZE und NAKR thematisiert wurden. Die Vereinbarung mit Litauen ist das jüngste Beispiel hierfür. Erst als diese Thematik während des Helsinki-Folgetref13 Im bilateralen Teil der deutsch-russischen Direktorenkonsultationen wurden folgende Themen erörtert: Russlanddeutsche, die Rehabilitierung von Kriegsgefangenen, die Entschädigung für Opfer des Nationalsozialismus, die Immobilien der WGT, die Transferrubelfrage, das RGW-Vermögen sowie die RussischOrthodoxe Kirche. Vgl. den Gesprächsvermerk; B 41, ZA-Bd. 221692. 14 Gesandter Heyken, Moskau, berichtete am 11. September 1992: „Die Verteidigungsminister Russlands und Litauens unterzeichneten am 8.9. drei Dokumente. Das erste beinhaltet einen Zeitplan für den Abzug der russischen Truppen aus Litauen bis zum 31.8.1993. Die beiden anderen sind Protokolle betreffend die organisatorischen Probleme des Abzugs sowie über den Status der Truppen bis zu ihrem Abzug.“ Vgl. DB Nr. 3885; B 41, ZA-Bd. 221883.

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fens15 in der KSZE erörtert wurde, zeigte sich Bewegung auf russischer Seite, nachdem sie – nicht zuletzt unter dem Druck innenpolitischer Kritiker – lange Zeit sich intransigent verhalten hat. Diese europäische Geschlossenheit dürfte auch weiterhin als Flankenschutz für Jelzin und Kosyrew notwendig sein, um in der russischen Innenpolitik strittige Themen, wie beispielsweise noch die Rückgabe der Kurileninseln16, durchsetzen zu können. Gegenwärtig wird der Ausbau der bilateralen Beziehungen durch folgende Faktoren gehemmt: – Die Russische Föderation ist auf der Suche nach ihrer Identität. – Die Russische Föderation ist erst dabei, eine außenpolitische Konzeption zu entwickeln. – Das russische Außenministerium ist nur an der Spitze der Pyramide neu besetzt, die breite Basis (Arbeitsebene) noch sehr den alten Vorstellungen verhaftet. – Schaffung neuer Rahmen für neuartige Handelsbeziehungen und ausländische Investitionen. Im speziellen Falle Deutschlands kommt hinzu, dass der Apparat im russischen Außenministerium wie auch der Vertreter Russlands in Bonn17 dem alten Denken besonders stark verhaftet sind und bis heute nicht überwunden haben, dass aus einem Objekt, dem man gelegentlich Daumenschrauben anlegen konnte, ein Subjekt geworden ist, mit dem nicht nach Belieben umgesprungen werden kann. Diese alten Kräfte, die vor allem im bilateralen Bereich hervortreten, scheinen die Auffassung zu vertreten, dass man von den Deutschen ohne Gegenleistung fast alles verlangen kann, weil wir uns wegen der Wiedervereinigung zu allem verpflichtet fühlen müssten. Vor diesem Hintergrund sind auch die mit großer Hartnäckigkeit vorgebrachten finanziellen Forderungen im Zusammenhang mit Entschädigung für NS-Opfer und die Verwertung der WGT-Liegenschaften zu sehen. Im Übrigen gilt: Völliges Unverständnis von Marktwirtschaft, Finanz- und Haushaltswesen in einer westlichen Demokratie, Trennung von Staat und privater Wirtschaft, schließlich das Wesen (echten) Geldes führen fast zwangsläufig zu völlig realitätsfernen Vorstellungen über das Leistungsvermögen westlicher öffentlicher Haushalte. Diese Stimmungslage steht im Widerspruch zu den erklärten Absichten Jelzins und Kosyrews, die Russische Föderation in den Kreis der großen demokratischen Industrienationen zu integrieren. Ihnen ist bewusst, dass sie hierbei vor allem auf deutsche Partnerschaft angewiesen sind. Bei seiner Pressekonferenz nach Abschluss des Münchener Wirtschaftsgipfels18 hat Jelzin dies auch deutlich artikuliert: „Ich möchte außerdem hervorheben, dass Deutschland wohl eher als alle anderen Länder der G 7 begreift, wie schwer es für Russland [ist] und welche Schwierigkeiten dieser Reformweg derzeit für die Russen bedeutet. ... Warum begreift Deutschland dies besser als andere Länder? Deutschland hat bis heute mit den neuen Ländern, die sich früher DDR nannten, zu tun.“ 15 Zur vierten KSZE-Folgekonferenz vom 24. März bis 8. Juli 1992 sowie zur Gipfelkonferenz am 9./10. Juli 1992 vgl. Dok. 226. 16 Zur Kurilenfrage vgl. Dok. 13, Anm. 43. 17 Wladislaw Petrowitsch Terechow. 18 Zum Weltwirtschaftsgipfel vom 6. bis 8. Juli 1992 vgl. Dok. 225.

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4) Besuchsziele In der jetzigen Phase geht es in allgemeiner Hinsicht um Folgendes: – Für das deutsche Engagement zugunsten gleichberechtigter Partnerschaft mit Russland muss in Moskau das Widerlager gefunden werden, damit hieraus die notwendige Brücke entstehen kann. – Behutsame Förderung der Einsicht in die wohlverstandenen Eigeninteressen Russlands an einer echten Partnerschaft mit uns. Russland ist gegenwärtig schwach und – widerwillig – hilfsbedürftig. Es ist aber nicht so schwach, dass es nicht gelegentliche Erinnerungen verkraften könnte, wo die Gewichte liegen und wo auch für uns die Grenze finanzieller Belastbarkeit erreicht ist. Folgende konkrete Ergebnisse sollten angestrebt werden: – Unveränderte Bereitschaft, beim Aufbau von Demokratie und Marktwirtschaft unseren Beitrag zu leisten, insbesondere im Rahmen multilateraler Anstrengungen. – Regelung der o. g. brisanten Themen, damit der für Dezember 1992 geplante Besuch des BK19 nicht belastet wird. – Gemeinsame Hervorhebung, dass Russland und Deutschland wichtige Partner beim Bau des neuen Europas sind, und Bereitschaft zur aktiven Zusammenarbeit in den Institutionen der europäischen Architektur. – Einbindung der Russischen Föderation in Bemühungen um eine Lösung für den Jugoslawien-Konflikt (und Ordnen internationaler Fragen). Dadurch würden wir unsere Unterstützung des Jelzin/Kosyrew-Kurses der Integration Russlands in die Staatengemeinschaft unterstützen. Dies wäre ein wichtiger Beitrag gegen stärker werdende nationalistische Stimmen, die einen Sonderweg für Russland als euroasiatische Macht mit einem eigenem Interessen- und Wertekodex propagieren. Neubert B 41, ZA-Bd. 221692

19 BK Kohl hielt sich am 15./16. Dezember 1992 in Russland auf. Vgl. Dok. 419 und Dok. 420.

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276 Vorlage des Vortragenden Legationsrats I. Klasse Lincke für Bundesminister Kinkel 503-554.80

9. September 19921

Über Dg 502, Herrn Staatssekretär3 Herrn Bundesminister4 Betr.:

Verhandlungen zur Überprüfung des Zusatzabkommens zum NATOTruppenstatut5

Bezug: Ministervorlage vom 29.7.926 Anlg.: 8 (sechs Briefentwürfe7; Papier über den Verhandlungsstand, Anlg. 78; Entwurf der deutschen Delegation über Brief zur Gegenseitigkeit, Anlg. 89) Zweck der Vorlage: Unterrichtung; Billigung der Vorschläge unter B. III. sowie der beigefügten Briefentwürfe an die Außenminister von B, F, GB, KAN, NL und USA A. Überblick (Kurzfassung) Sachstand Nach einjährigen Verhandlungen auf Beamtenebene ist über einen Großteil der vielschichtigen Materie Einigung erzielt. Es bleiben einige wenige eingegrenzte Schwerpunkte, in denen die Positionen der Bundesrepublik Deutschland und einiger Entsendestaaten, insbesondere der USA, aber auch von GB und NL, keinen Raum für Kompromisse mehr bieten. Die fachlich zuständigen Bundesressorts in der deutschen Delegation sind durch die Weisungen auf Leitungsebene gebunden, ebenso z. T. die beteiligten Bundesländer. Auch aufseiten der Entsendestaaten, besonders der USA, bestehen feste Weisungen, die keine 1 Die Vorlage wurde von LR Zimmer konzipiert. 2 Hat MDg Schürmann am 10. September 1992 vorgelegen. 3 Hat StS Lautenschlager am 10. September 1992 vorgelegen, der handschriftlich vermerkte: „Das vorgeschlagene Verfahren war Gegenstand mehrfacher Gespräche bei mir. Die Briefe an die sechs Außenminister sollten geschrieben werden, obwohl die Erfolgsaussichten begrenzt sind. Weitere Schritte innerhalb der Bu[ndes]reg[ierung] bzw. der Koalition, gegenüber den Ländern u. parlamentarischen Gremien nach Eingang der Stellungnahmen der Alliierten. Am Ende stehen wir vor der Frage, ein Abkommen mit großen Fortschritten, aber gewissen Mängeln abzuschließen oder weiter mit dem Status quo leben zu wollen oder gar mit der pol[itischen] Frage der Kündigung des NATO-Truppenstatuts konfrontiert zu sein.“ 4 Hat BM Kinkel am 11. September 1992 vorgelegen. Hat VLR I Lincke am 14. September 1992 erneut vorgelegen, der handschriftlich für LS Klinger vermerkte: „Weiteres Procedere wie bespr[ochen]“. 5 Zu den Überprüfungsverhandlungen zum NATO-Truppenstatut und dessen Zusatzabkommen vgl. Dok. 197, Anm. 15. 6 Für die Vorlage des VLR I Lincke und des VLR Scharioth vgl. B 86, Bd. 2119. 7 Dem Vorgang beigefügt. Für die Entwürfe von Schreiben des BM Kinkel an die AM van den Broek (Niederlande), Claes (Belgien), Dumas (Frankreich), Hurd (Großbritannien), die kanadische AMin McDougall sowie den amtierenden amerikanischen AM Eagleburger, die am 11. September 1992 übermittelt wurden, vgl. B 86, Bd. 2120. 8 Dem Vorgang nicht beigefügt. 9 Dem Vorgang nicht beigefügt.

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Bewegung mehr zulassen und die durch politische Entscheidungen zurückgenommen oder gelockert werden müssen. Die strittigen Punkte sind: – völlige Einführung der Mitbestimmung des Bundespersonalvertretungsgesetzes10 für die deutschen Zivilbediensteten (über 26 Mitbestimmungstatbestände wurde Einigung erzielt, bei sechs sträuben sich insbesondere die USA), – feste Zusagen, einen hohen Beschäftigungsstand für deutsche Zivilbedienstete aufrechtzuerhalten, – Verpflichtung der Entsendestaaten, die Kosten der von ihrer Truppe verursachten Umweltschäden zu tragen (hier möchten insbesondere die USA den Vorbehalt der Verfügbarkeit von Haushaltsmitteln einfügen), – Beachtung grundlegender deutscher Sicherheitsvorschriften bei der Ausrüstung von Fahrzeugen der Streitkräfte (Problem für USA und Kanada, nicht für die Europäer wegen vereinheitlichter EG-Vorschriften), – Gegenseitigkeit für den Status deutscher Soldaten in den Partnerländern grundsätzlich zugestanden, bisher aber nicht für deutsche Truppe als Institution (abgelehnt von USA, KAN, NL). Schwierigkeiten bestehen auch noch bei den vorgesehenen bilateralen Verwaltungsabkommen über Truppenübungsplätze und Schießplätze (insbesondere Problem Schießlärm), über die das BMVg mit den Entsendestaaten verhandelt. Wir wollen diese Verwaltungsabkommen auch formell im Zusatzabkommen verankern. Alle offenen Fragen berühren innenpolitisch sensible Themen. Weiteres Vorgehen: – Schreiben des BM an die Außenminister der Entsendestaaten (Briefentwürfe Anlagen 1 – 6), um Weisungen an ihre Delegationen zu einem Entgegenkommen zu erreichen, – danach, soweit erforderlich, Gespräche mit einzelnen Außenministern, – Vorlage des Ergebnisses zur Billigung im Bundeskabinett oder Koalitionsgespräch, um festzustellen, ob wir selbst Raum für Entgegenkommen haben oder nicht, – Unterrichtung der Vorsitzenden der Bundestagsausschüsse für Auswärtiges11, Verteidigung12, Recht13 (falls sie dies wünschen, Heranziehung der Fraktionen), – Unterrichtung des Vorsitzenden der Ministerpräsidentenkonferenz, Ministerpräsident Eichel, und, falls gewünscht, anderer betroffener und interessierter Länderregierungschefs, sobald Überblick über das Verhandlungsergebnis gegeben ist. B. Gesamtdarstellung I. Sachstand 1) Am 26. August 1992 fand die vorerst letzte Arbeitsgruppensitzung mit den Entsendestaaten statt. Ein großer Teil der vielschichtigen Materie ist abgehandelt. Das Ergebnis ist in Anlage 7 enthalten. Die wichtigsten Fortschritte aus unserer Sicht sind: – Zustimmungsbedürftigkeit aller Land- und Luftübungen der Entsendestaaten; – grundsätzliche Geltung des deutschen Rechts auch auf den Liegenschaften, die den Streitkräften der Entsendestaaten zur ausschließlichen Benutzung überlassen sind; 10 Für das Bundespersonalvertretungsgesetz vom 15. März 1974 vgl. BGBl. 1974, I, S. 693–717. 11 Hans Stercken. 12 Fritz Wittmann. 13 Horst Eylmann.

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– Lösung für die Todesstrafenproblematik; – Aufnahme einer eigenständigen Kündigungsklausel für das Zusatzabkommen (bisher nur über die politisch weitreichende Kündigung des NATO-Truppenstatuts). 2) Ein wichtiger Bereich wird mit den Entsendestaaten noch auf Arbeitsebene besprochen: Das BMVg verhandelt mit ihnen über bilaterale Verwaltungsabkommen, die Einzelheiten des Betriebs auf Truppenübungsplätzen und Standortschießplätzen regeln sollen. Dabei geht es u. a. um eine Reduzierung des Schießlärms – ein Thema, das die deutsche Öffentlichkeit, besonders in den betroffenen Regionen, stark bewegt. Wir wünschen, dass diese Verwaltungsabkommen im Zusatzabkommen verankert werden. Die Entsendestaaten legen darauf keinen Wert und sind erst bereit, über eine solche Bestimmung zu sprechen, wenn die Verwaltungsabkommen ausgehandelt sind. 3) Bei einigen inzwischen stark eingegrenzten, aber wesentlichen Fragen ist gegenwärtig eine Einigung auf Beamtenebene nicht zu erreichen, – da auf deutscher Seite die fachlich zuständigen Bundesressorts aufgrund von Weisungen ihrer Leitungsebene keinen Raum für weitere Zugeständnisse haben und die deutschen Positionen für unverzichtbar erklären (ebenso z. T. die Vertreter von Bayern, BadenWürttemberg, Niedersachsen und Rheinland-Pfalz, die in der deutschen Delegation die Interessen der Bundesländer wahrnehmen), – weil die Delegationen der Entsendestaaten, insbesondere der USA, sich aufgrund ihrer Weisungslage nicht bewegen können und ihre Positionen für unverzichtbar erklären, z. T. unter Hinweis auf erhebliche Kosten, die ihnen durch eine Neuregelung entstehen würden. Im Einzelnen handelt es sich um folgende Fragen: a) Arbeitsrecht aa) Die Entsendestaaten leisteten unserer Forderung auf volle Einführung des deutschen Mitbestimmungsrechts für die deutschen Zivilbediensteten anstelle des bisher geltenden bloßen Mitwirkungsverfahrens lange Widerstand. Inzwischen haben sie insgesamt 26 Tatbestände akzeptiert (zwei davon galten schon bisher). Wir haben unsererseits einer generellen Einschränkung bei Gefährdung besonders schutzwürdiger militärischer Interessen, mit einem Bestätigungsverfahren in Zweifelsfällen, zugestimmt. Sechs Tatbestände der Mitbestimmung bleiben umstritten: Einstellung von Arbeitnehmern, Umstufung, Erstellung eines Sozialplans, Bestellung von Vertrauens- und Betriebsärzten, ebenso Maßnahmen zur Hebung der Arbeitsleistung und Einführung grundlegender neuer Arbeitsmethoden. Nachdem die Befürchtungen der Entsendestaaten wegen der militärischen Sicherheit ausgeräumt wurden, machen sie jetzt vor allem finanzielle Einwände geltend, mit besonderer Entschiedenheit die USA. F hat seine Bedenken aufgegeben. Das BMA ist unter Berufung auf Weisungen seiner Leitungsebene zu keinen weiteren Zugeständnissen in der Lage. bb) Wir haben ferner Zusagen der Entsendestaaten gefordert, dass sie einen hohen Beschäftigungsstand deutscher Zivilbediensteter aufrechterhalten. Auch hier stoßen wir bei den Verhandlungspartnern auf starke Bedenken: Die USA stellen auf finanzielle Auswirkungen ab, die Europäer bringen den Einwand, dass Staatsangehörige anderer EG-Staaten gegenüber Deutschen nach EG-Recht nicht diskriminiert werden dürfen. Wegen der unterschiedlichen Rechtslage und der großen Zahl der deutschen Zivilbediensteten ist diese Frage vor allem für USA, in geringerem Maße für GB von Bedeutung. 1114

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Die Haltung des BMA ist hier ebenfalls festgelegt. Es wird darin besonders durch Rheinland-Pfalz bestärkt, das engen Kontakt zur ÖTV unterhält. b) Umweltrecht Hier geht es noch um die Kosten aus der Erfassung und Beseitigung von Umweltschäden, die eine fremde Truppe verursacht hat. Die Entsendestaaten möchten die bereits bestehende Verpflichtung zur Zahlung dieser Kosten relativieren und von der Verfügbarkeit finanzieller Mittel abhängig machen. Die härteste Position nehmen die USA ein. Die übrigen Entsendestaaten haben sich zurückgehalten. Wir können diesen Vorschlag nicht akzeptieren. Das BMU befürchtet, dass dadurch die Beseitigung der Schäden unterbleibt oder verzögert wird; das BMF möchte verhindern, dass zusätzliche finanzielle Lasten für die deutsche Seite entstehen. c) Verkehr Bei dem umfangreichen Komplex besteht noch eine Divergenz hinsichtlich der Ausrüstung von Kraftfahrzeugen, Binnenschiffen und Luftfahrzeugen der Streitkräfte der Entsendestaaten. Die USA und Kanada wollen sich hier nicht auf die von uns geforderte „Beachtung grundlegender deutscher Sicherheitsvorschriften“ einlassen, sondern nur von „Berücksichtigung“ sprechen. Der Grund sind ihre andersartigen technischen Standards und die hohen Kosten, die angeblich durch die Umrüstung solcher Fahrzeuge entstehen würden. Die europäischen Entsendestaaten haben wegen der Vereinheitlichung der Standards in der EG diese Probleme nicht. Sie könnten unserem Vorschlag, der für uns eine Mindestvoraussetzung ist, zustimmen. d) Gegenseitigkeit Wir haben im Zusammenhang mit dem Vertrag einen Brief über die Herstellung der Gegenseitigkeit für deutsche Soldaten in den Partnerländern vorgeschlagen (Anlage 8). Darin ist auch ein Satz enthalten, dass die Institution deutsche Truppe und ziviles Gefolge nicht schlechtergestellt werden darf als ihre einzelnen Mitglieder. Dieser Satz entspricht einem Petitum des BMVg und wird von diesem aufgrund praktischer Erfahrungen als unerlässlich angesehen. Diesen letzten Punkt lehnen die USA und Kanada ab (gerade sie sind wegen des Umfangs der dort befindlichen und übenden deutschen Einheiten besonders wichtig), ferner NL. II. Innenpolitische Auswirkungen Die unter I. 2) und 3) aufgeführten Fragen können innenpolitisch erhebliche Bedeutung erlangen. Die Themen Schießlärm, Arbeitsplätze und Mitbestimmung werden von der Opposition, den Gewerkschaften, aber auch Politikern der CDU immer wieder aufgegriffen, teilweise im Hinblick auf die besondere Situation in ihren Wahlkreisen. Wie schon die Große Anfrage der SPD im Bundestag („Gleichberechtigte Partnerschaft im Bündnis“) vom 9.3.198914 zeigte, finden im Parlament alle Aspekte der deutschen Souveränität Aufmerksamkeit (relevant für die Beachtung des deutschen Rechts bei der Ausrüstung von Fahrzeugen der Streitkräfte sowie für die Gegenseitigkeit). Starkes Interesse 14 Korrigiert aus: „18.3.1989“. Für die Große Anfrage „Gleichberechtigte Partnerschaft im Bündnis“ der SPD-Fraktion vgl. BT DRUCKSACHEN, Nr. 11/4158 vom 9. März 1989.

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dürfte in der Öffentlichkeit auch der Beseitigung von Umweltschäden gelten, insbesondere, wenn zusätzlich die Frage zu diskutieren ist, wer hierfür die Kosten trägt. III. Weiteres Vorgehen 1) Es wird vorgeschlagen, dass Sie die beigefügten Briefentwürfe an die Außenminister der Entsendestaaten (Anlagen 1 – 6) zeichnen, damit die Minister – soweit nötig – ihren Delegationen in den letzten noch offenen Fragen Weisungen für ein Entgegenkommen geben. Entscheidend wird die Reaktion der USA sein. Gegenüber F haben wir nur das Petitum, uns weiterhin so wirksam zu unterstützen wie bisher. Die Schreiben sind auf die Haltung des jeweiligen Vertragspartners abgestellt. Sie sollten gleichzeitig abgehen, um zu unterstreichen, dass keiner übergangen wird. (Höflichkeitsübersetzungen werden nach Zeichnung erstellt und beigefügt.) 2) Die Briefe werden uns die Möglichkeit geben, bei Fragen in Parlament und Öffentlichkeit darauf zu verweisen, dass die noch offenen Punkte auf Ministerebene aufgegriffen sind. 3) Aus den Reaktionen der Außenminister der Entsendestaaten dürfte ersichtlich werden, ob eine Wiederaufnahme der Verhandlungen auf Beamtenebene zu einem abschließenden Ergebnis führen kann oder ob vorher noch ein Gespräch auf Ministerebene stattfinden muss, etwa mit den USA, möglicherweise auch mit GB und NL. (B, F und KAN dürften uns kaum noch Steine in den Weg legen.) 4) Wenn auf Außenministerebene ein abschließendes Ergebnis gefunden werden kann, sollten die Länder entsprechend der Lindauer Absprache15 unterrichtet werden; das abschließende Ergebnis wäre dann dem Bundeskabinett zur Billigung vorzulegen. Wenn jedoch ein abschließendes Ergebnis auf Außenministerebene nicht zu erreichen ist, sollte die Problematik zum Thema eines Koalitionsgesprächs gemacht werden, um dabei festzustellen, ob wir selbst Raum für Entgegenkommen haben oder nicht, insbesondere auf den delikaten Gebieten des Arbeitsrechts. 5) Ferner wird vorgeschlagen, dass das Auswärtige Amt die Vorsitzenden der Ausschüsse für Auswärtiges, Verteidigung und Recht des Bundestags unterrichtet, sobald wir einen vollständigen Überblick über das Verhandlungsergebnis haben. Auf diese Weise soll Diskussionen vorgebeugt werden, die unsere Verhandlungsposition erschweren könnten. 6) Unterrichtung der Länder auf politischer Ebene: Sie hatten dem Vorsitzenden der Ministerpräsidentenkonferenz, Ministerpräsident Eichel, mit Antwortschreiben vom 4.8.1992 auf seinen Wunsch „ein Gespräch auf politischer Ebene“ zugesagt, „sobald wir einen vollständigen Überblick über das Verhandlungsergebnis haben“16. Hierfür bleibt vor allem abzuwarten, wieweit uns die USA in den Fragen Mitbestimmung und Erhaltung der Arbeitsplätze der deutschen Zivilbediensteten entgegenkommen, da dieser Punkt für die Länder besonders sensibel ist. Dann könnten Sie im unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang mit 15 Die Verständigung vom 14. November 1957 zwischen der Bundesregierung und den Staatskanzleien der Länder über das Vertragsschließungsrecht des Bundes („Lindauer Abkommen“ bzw. „Lindauer Absprache“) regelte die Zuständigkeiten des Bundes beim Abschluss völkerrechtlicher Verträge, in denen die Gesetzgebungskompetenzen der Länder berührt sein könnten. Vgl. BT DRUCKSACHEN, Nr. 7/5924 vom 9. Dezember 1976, S. 236. 16 Für das Schreiben vgl. B 86, Bd. 2119.

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der Kabinettsverhandlung Ministerpräsident Eichel ein Gespräch anbieten. Ob andere Regierungschefs der alten Bundesländer (die vom Truppenstatut betroffen sind) hinzukommen sollten, sollte ihm als Vorsitzendem der MP-Konferenz überlassen bleiben. Referat 011 hat mitgezeichnet. Lincke B 86, Bd. 2120

277 Runderlass des Vortragenden Legationsrats Koenig 012-9-312.74 Fernschreiben Nr. 55 Ortez Betr.:

Aufgabe: 9. September 19921

Abschluss der Genfer Chemiewaffen-Verhandlungen am 3.9.1992 und weiteres Vorgehen

Text ist in zwei Teile geteilt Auf Weisungsankündigung in Ziffer 2 wird hingewiesen Chemiewaffen-Verbotskonvention ausgehandelt2 – Zeichnungskonferenz in Reichweite; Abschluss der Genfer Chemiewaffen-Verhandlungen am 3.9.92 1) Nach über neunjähriger Verhandlungsdauer einigten sich die 39 Mitgliedstaaten der Genfer Abrüstungskonferenz am 3. September 1992 auf die Übermittlung eines Konventionstextes zum Chemiewaffen-Verbot an die diesjährige VN­Generalversammlung. Damit endet ein ausgesprochen langwieriger Verhandlungsprozess mit einem von vielen nicht mehr für möglich gehaltenen Ergebnis: dem ausgewogenen Kompromisstext einer ChemiewaffenVerbotskonvention, die nicht nur die vollständige Beseitigung aller bestehenden Arsenale, sondern auch die zukünftige Nichtproduktion von chemischen Waffen unter internationaler Kontrolle sicherstellen soll. Es handelt sich um das erste weltweite Rüstungskontrollabkommen, durch das eine gesamte Waffenkategorie zuverlässig verifizierbar verboten werden soll. Die Vereinbarung des Konventionsentwurfes ist ein großer Erfolg unserer Politik. Sie konnte unter dem diesjährigen Vorsitz des deutschen Delegationsleiters Botschafter von Wagner in extrem schwierigen Verhandlungen erreicht werden. Dieses Ergebnis wäre ohne umfangreiche flankierende Maßnahmen nicht möglich gewesen. D 2 A hat auf Reisen in wichtige Schlüsselstaaten für Unterstützung der Konvention gewor1 Das von VLR I von Butler konzipierte Fernschreiben wurde in zwei Teilen übermittelt. Vgl. Anm. 8. Ferner Vermerk: „D 2 A hat vor Abgang telefonisch mitgezeichnet.“ 2 Für das Übereinkommen vom 13. Januar 1993 über das Verbot der Entwicklung, Herstellung, Lagerung und des Einsatzes chemischer Waffen und über die Vernichtung solcher Waffen und die zugehörigen Dokumente vgl. BGBl. 1994, II, S. 807–969. Das Chemiewaffen-Übereinkommen trat für die Bundesrepublik und zahlreiche weitere Staaten am 29. April 1997 in Kraft. Vgl. BGBl. 1996, II, S. 2618 f.

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ben.3 Unsere Vertretungen in den Mitgliedstaaten der Genfer Abrüstungskonferenz haben durch vielfältige Demarchen und hilfreiche Berichterstattung wesentlich zum Erfolg beigetragen. Enge Abstimmung und Unterstützung westlicher Partner war Voraussetzung für das Gelingen. 2) Weiteres Verfahren in den Vereinten Nationen In der VN-Generalversammlung muss jetzt durch eine unterstützende Resolution die breite Mehrheit der Mitgliedstaaten für Zustimmung und Zeichnung der Konvention gewonnen werden. Diese Resolution wollen wir zusammen mit den traditionellen Einbringern der jährlichen Chemiewaffen-Resolution Kanada und Polen als „original co-sponsors“ einbringen.4 Damit übernehmen wir unmittelbar im Anschluss an unsere Vorsitzrolle im Genfer CW-Verhandlungsausschuss wichtige Mitverantwortung für Zustimmung in den Vereinten Nationen. Ein entsprechender Resolutionstext wird gegenwärtig in Genf abgestimmt. Er soll zum frühestmöglichen Zeitpunkt nach Eröffnung der diesjährigen VN-GV (ca. 18.9.) eingebracht werden. Es wird daher in den nächsten Wochen darauf ankommen, möglichst viele Miteinbringer aus dem Kreise der VN-Mitgliedstaaten aller Regionen zu werben. Hierzu ergeht an ausgewählte Vertretungen in Kürze noch besonderer Erlass, zu dem dieses Ortez als Material hinzugezogen werden sollte. 3) Zeichnungskonferenz und Vorbereitungskommission Nach der Verabschiedung VN-Resolution und Designierung des VN-Generalsekretärs als Depositar der Konvention ist eine Zeichnungskonferenz geplant, für die Frankreich die Gastgeberrolle übernommen hat. Die Konferenz wird voraussichtlich im Januar 1993 in Paris stattfinden.5 Nach Hinterlegung von 50 Zeichnungsurkunden wird eine Vorbereitungskommission („preparatory commission“) eingesetzt, die die organisatorische Umsetzung der Konvention in die künftige Chemiewaffen-Verbotsorganisation vorbereiten und technische Details zu den Konventionsbestimmungen ausarbeiten wird. Diese Vorbereitungskommission, an der sich alle Zeichnerstaaten beteiligen können, wird ihre Arbeit am künftigen Sitz der „Organisation für das Verbot chemischer Waffen“ in Den Haag 30 Tage nach Erreichen von 50 Zeichnungen aufnehmen. 4) Inkrafttreten der Konvention Die Konvention tritt 180 Tage nach Hinterlegung der 65. Ratifikationsurkunde, frühestens aber zwei Jahre nach Auflegung zur Zeichnung in Kraft. Gelingt es, die erforderliche Anzahl von Ratifikationen frühzeitig herbeizuführen, so könnte die Konvention und mit ihr die Organisation zum Verbot chemischer Waffen (OPCW) ihre Arbeit im Frühjahr 1995 aufnehmen.

3 Zu den Ergebnissen der Reisen von Botschafter Holik vgl. Dok. 237. 4 Am 7. Oktober 1992 brachte die Bundesrepublik mit zahlreichen weiteren Staaten den Entwurf einer Resolution ein (A/C.1/47/L.1), der am 29. Oktober 1992 in einer revidierten Form erneut eingebracht wurde (A/C.1/47/L.1/Rev.1). Der am 10. November 1992 vorgelegte dritte Entwurf (A/C.1/47/L.1/Rev.2) wurde von der VN-Generalversammlung am 30. November 1992 mit Resolution Nr. 47/39 angenommen. Vgl. RESOLUTIONS AND DECISIONS, GENERAL ASSEMBLY, 47th session, S. 54 f. 5 Die Zeichnungskonferenz fand vom 13. bis 15. Januar 1993 statt. Vgl. AAPD 1993.

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5) Nachstehend erfolgt ein Überblick über die wichtigsten Bestimmungen der Konvention, die 24 Artikel und drei umfangreiche Annexe auf insgesamt 190 Seiten umfasst. Artikel I und II: Jeder Vertragsstaat verpflichtet sich, unter keinen Umständen jemals chemische Waffen zu entwickeln, herzustellen, auf andere Weise zu erwerben, zu lagern oder zurückzubehalten, weiterzugeben oder einzusetzen und alle unter seiner Hoheitsgewalt befindlichen chemischen Waffen zu vernichten (CW-Definition umfasst auch Munitionsvorrichtungen und Ausrüstungen, die eigens für CW-Einsatz entworfen wurden). Artikel IV und V: Regeln die Vernichtung von CW und CW-Produktionsstätten im Detail. Vernichtungsfrist zehn Jahre ab Inkrafttreten der Konvention. Aufgrund der besonderen Probleme Russlands, die großen sowjetischen CW-Bestände (ca. 40 000 t; USA zum Vergleich: 25 000 t) zu vernichten, ist eine Verlängerung um bis zu fünf Jahre auf Antrag möglich. Artikel VI – Industrieverifikation: Ein umfassendes und abgestuftes Regime von Meldepflichten und Inspektionen gliedert toxische Chemikalien in drei Listen nach ihren Verwendungsmöglichkeiten als chemische Waffen oder deren Vorprodukte. Im Rahmen der Überprüfung der an die internationale CW-Organisation zu meldenden Daten sind Inspektionen im größten Teil der chemischen Industrie möglich. Die umfassende Unterwerfung eines wichtigen Industriezweiges unter Bestimmungen eines Rüstungskontrollabkommens stellt eine völlig neue Stufe der Vertrauensbildung dar, die weit über den unmittelbaren Zweck des Abkommens hinaus von Bedeutung sein kann. Die Verifikationsbestimmungen für die chemische Industrie erforderten eine sorgfältige Abwägung zwischen Überprüfungsbedarf, erforderlichem Aufwand und zumutbarer Beeinträchtigung der zivilen chemischen Industrie. Bei der Erarbeitung der entsprechenden Bestimmungen gab es eine enge Zusammenarbeit mit den Verbänden der chemischen Industrie, die sich uneingeschränkt6 positiv zu den Zielen der Konvention geäußert hat und in konstruktiver Weise an ihrer Erarbeitung mitwirkte. Artikel IX – Verdachtskontrollen: Jeder Mitgliedstaat ist berechtigt, bei Zweifeln an der Vertragstreue eines anderen Staates eine Verdachtskontrolle durch das Inspektorat der internationalen CW-Organisation vornehmen zu lassen. Diese Maßnahme wird als „Rückgrat“ und schärfste Verifikationsmaßnahme der Konvention erachtet. Bei der Formulierung der entsprechenden Bestimmungen gelang es erst nach langwierigen Verhandlungen, einen Kompromiss zwischen den gegensätzlichen Zielen der Abschreckung vor Konventionsverstoß und vollständiger Aufklärung und der Gefahr des Missbrauchs und der Ausspähung nationaler sensitiver Anlagen zu erreichen. Artikel XI – Wirtschaftliche und technologische Entwicklung: Ziel ist die Förderung der internationalen Handels- und technologischen Austauschbeziehungen und der Zusammenarbeit im chemischen Bereich. Hier galt es, einen Konflikt zu lösen, der zwischen Exportkontrollmaßnahmen der Industriestaaten und den Erwartungen der Dritten Welt bestand. Mitgliedschaft in der Konvention soll auch Chemie6 Korrigiert aus: „ungeschränkt“.

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handel und wirtschaftliche Entwicklung fördern. Als Lösung wurde fortschreitende Überprüfung – und ggf. Abbau – bestehender Exportkontrollmaßnahmen abhängig von Vertrauensbildung und Wirksamkeit der Konvention vorgesehen. Von besonderer Bedeutung hierbei war eine begleitende Absichtserklärung der sogenannten „Australischen Gruppe“7 (lockerer Verbindung von Industriestaaten zur Koordinierung von chemischen Exportkontrollmaßnahmen). Artikel X – Hilfeleistung und Schutz gegen chemische Waffen: Die vereinbarten Bestimmungen sollen den Mitgliedstaaten Schutz im hypothetischen Falle von CW-Angriffen bieten. U. a. ist die Schaffung eines freiwilligen Fonds für entsprechende Maßnahmen und Hilfe durch die CW-Organisation auf Antrag vorgesehen. 8Artikel XII – Sanktionen:

Verstößt ein Staat gegen die Konventionsbestimmungen, kann eine Reihe von Sanktionen ergriffen werden. Beeinträchtigt solches Verhalten internationalen Frieden und Sicherheit, können entsprechende Fälle dem Sicherheitsrat der Vereinten Nationen für mögliche dortige Maßnahme übermittelt werden. Artikel VII – nationale Implementierung: Eine nationale Behörde (durch AA wahrgenommen) fungiert als „national focal point“ gegenüber der internationalen Organisation. Dort werden die nationalen Aufgaben (Meldepflichten, nationale Begleitung bei Verifikationen etc.) koordiniert. Die Übernahme der umfangreichen Aufgaben aus der Konvention, insbesondere im Rahmen der Industrieverifikation, wird in Abstimmung mit den betroffenen Ressorts (insbesondere BMWi) durchgeführt. Artikel VIII – die Organisation: Zur Umsetzung der Konvention wird die „Organisation zum Verbot chemischer Waffen“ in Den Haag errichtet. Ihre Organe sind die Staatenkonferenz aller Mitgliedstaaten, der Exekutivrat mit 41 Mitgliedern aus allen Regionen, die teilweise auf Rotationsbasis und teilweise nach der Bedeutung ihrer chemischen Industrie bestimmt werden (es ist davon auszugehen, dass Deutschland zu den Staaten mit quasiständigem Sitz im Exekutivrat gehören wird). Die Durchführung der Aufgaben der Konvention wird einem technischen Sekretariat übertragen, das unter der Leitung eines Generaldirektors steht. Diesem untersteht u. a. das Internationale Inspektorat, das für die Durchführung der Verifikationsbestimmungen verantwortlich ist. Koenig9 B 5, ZA-Bd. 161325

7 Seit 1984 bemühten sich die Teilnehmerstaaten der „Australischen Gruppe“ bei informellen Treffen um Exportkontrollen für Substanzen, die zur Herstellung von Chemiewaffen geeignet sind. Vgl. AAPD 1987, I, Dok. 45, und AAPD 1987, II, Dok. 272. 8 Beginn des mit RE Nr. 56 übermittelten zweiten Teils des Fernschreibens. Vgl. Anm. 1. 9 Paraphe.

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10. September 1992: Vorlage von Wokalek

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278 Vorlage des Vortragenden Legationsrats Wokalek für Bundesminister Kinkel 300-440.70/0

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Über D 3 i. V.1, Herrn Staatssekretär2 Herrn Bundesminister3 Betr.:

Demokratisierungshilfeprogramm des Auswärtigen Amtes, Haushaltstitel 0502 686-23

Bezug: Anforderung, übermittelt durch Referat 011 vom 8.9.92 Anlg.: 24 Zweck der Vorlage: Zur Unterrichtung 1) Das Auswärtige Amt hat 1992 zum ersten Mal Mittel für Demokratisierungshilfe (DH) aufgelegt. Ziel der DH ist es, Demokratisierungsprozesse in Ländern der Dritten Welt zu fördern. Die hierfür benötigten Mittel werden aus dem Titel der Ausstattungshilfe entnommen. Der Haushalts- und der Auswärtige Ausschuss des Bundestages haben das Programm der DH nachdrücklich begrüßt und der Verwendung von Mitteln der Ausstattungshilfe hierfür ausdrücklich zugestimmt. Hintergrund ist das Bemühen, die Ausstattungshilfe für ausländische Streitkräfte zu reduzieren und hierdurch freiwerdende Mittel entsprechend für die DH zu verwenden. Dieses Vorgehen hat die Unterstützung aller Fraktionen erhalten. DH wird in der Regel im Einverständnis mit der im Amt befindlichen Regierung gewährt. Sie soll Demokratisierungsprozesse erleichtern, sie kann sie nicht ermöglichen. Mit der DH unterstützen wir Eigenanstrengungen der betroffenen Länder. Die DH darf sich nicht in innenpolitische Auseinandersetzungen einmischen, eine Parteinahme muss vermieden werden. Bei der Unterstützung von Wahlen und Abstimmungen sollte erkennbar sein, dass sie den Wählern echte Alternativen und eine freie Wahl ermöglichen, bei der nicht zu befürchten ist, dass die Ergebnisse manipuliert werden (vergleiche auch anliegenden Runderlass vom 31. Januar 19925). 1 Hat in Vertretung des MD Schlagintweit MDg Sulimma am 10. September 1992 vorgelegen. 2 Hat StS Kastrup am 11. September 1992 vorgelegen. 3 Hat BM Kinkel am 17. September 1992 vorgelegen, der handschriftlich vermerkte: „Erb[itte] BriefE[ntwurf] an Fr. MdB Walz/FDP. Sie hatte mich darauf angesprochen.“ Hat OAR Salzwedel am 18. September 1992 vorgelegen, der den Rücklauf über das Büro Staatssekretäre und MD Schlagintweit an Referat 300 verfügte und handschriftlich vermerkte: „B[it]t[e] Briefentwurf f. BM an Fr. MdB Walz/FDP, die BM darauf angesprochen hatte.“ Hat VLR I Reiche am 21. September 1992 vorgelegen. Hat in Vertretung von Schlagintweit MDg Zeller am 22. September 1992 vorgelegen. 4 Vgl. Anm. 5 und 7. 5 Dem Vorgang beigefügt. MD Schlagintweit informierte über die Einführung der Demokratisierungshilfe und legte deren Ziele, Inhalte, Durchführung, Fragen der Abstimmung sowie die vorgesehenen Verfahren dar. Vgl. B 46, ZA-Bd. 218878.

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2) Anlass für die Einrichtung des DH-Fonds ist die Ausweitung der Demokratisierungsbewegung in der Dritten Welt, insbesondere in Afrika, gewesen. Eine Reihe afrikanischer Staaten, die sich eine pluralistisch demokratische Verfassung geben und freie Wahlen abhalten wollen, sind an uns mit der Bitte herangetreten, ihnen bei der technischen Durchführung von Wahlen zu helfen. Infrage kommt dabei die Aufstellung von Wählerverzeichnis, der Druck von Wahlausweisen und -zetteln, die Einrichtung von Wahllokalen, Anschaffung von Wahlurnen und Transportmitteln für die Verteilung des Materials, Hilfe bei der Schulung von Wahlleitern und Wahlbeobachtern. In Betracht kommen auch Kurzmaßnahmen der Schulung und Beratung bei der Vorbereitung von Wahlen und bei entsprechenden Verfassungsfragen und Verbesserung der Arbeit der Parlamente, insbesondere durch Tagungen und Kurzlehrgänge in Partnerländern oder in Deutschland. Andere Maßnahmen können bei entsprechendem Bedarf aus Mitteln der Demokratisierungshilfe finanziert werden, wenn sie in das Grundmuster der DH, in erster Linie die „technische Vorbereitung und Durchführung von Wahlen“, passen. 3) Die DH wird in der Regel über unsere Botschaften abgewickelt. Diese sollen die Umsetzung unserer Hilfe in der Hand behalten, sie bedienen sich gegebenenfalls einer Durchführungsorganisation. Dies können eine nationale Wahlkommission oder sonstige seriöse nationale und internationale Institutionen sein. Im Einzelfall wird auch auf die Hilfe der deutschen politischen Stiftungen zurückgegriffen. Die Durchführung der Seminare, Beratungen und anderer Aus- und Fortbildungsvorhaben sollen vor allem durch die politischen Stiftungen, die Deutsche Stiftung für Entwicklungsländer6 und verwandte Institutionen durchgeführt werden. Die politische Verantwortung verbleibt beim Auswärtigen Amt. 4) Die deutsche DH soll im Einklang mit gleichartigen Maßnahmen anderer Geberländer gewährt werden und mit ihnen abgestimmt werden. Dies ist in erster Linie Aufgabe unserer Botschaften. DH geben vor allem die USA (1992 207,5 Mio. US-$), GB (1991 50 Mio. £) und Schweden (1991 198 Mio. DM) sowie hauptsächlich auch Kanada, Norwegen, Dänemark, Finnland und die Niederlande. 5) Die Vereinten Nationen und insbesondere deren Menschenrechtszentrum in Genf sind daran interessiert, mit bilateralen Gebern bei der DH zusammenzuarbeiten, insbesondere von ihnen freiwillige Beiträge zu erhalten. Eine solche Zusammenarbeit wird von unserer Seite begrüßt, soweit damit konkrete Beiträge zu einzelnen demokratischen Prozessen geleistet werden können. Unsere DH sollte jedoch in erster Linie eine bilaterale Hilfe sein. 6) Das BMZ hat schon bisher in Zusammenarbeit mit politischen Stiftungen und der Deutschen Stiftung für Entwicklungsländer Aus- und Fortbildungsveranstaltungen zur Förderung des demokratischen Gedankens durchgeführt. Deshalb unterrichten sich das AA und das BMZ über geplante Maßnahmen der Demokratisierungshilfe. Längerfristige Maßnahmen der DH, insbesondere im Hinblick auf eine Verbesserung des demokratischen Umfelds, werden auch weiterhin grundsätzlich durch das BMZ durchgeführt. Bei kurzfristigen Maßnahmen stimmen sich beide Häuser zur Vermeidung von Überschneidungen und Doppelfinanzierungen ab. [7)] Unsere Demokratisierungshilfe kommt gut an und wird stark nachgefragt. Von den in 1992 verfügbaren 5 320 000 DM (1993 7 980 000,30 DM, 1994 5 320 000 DM) sind bis zum 6 Deutsche Stiftung für internationale Entwicklung.

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9.9.1992 3 304 608,62 DM abgeflossen. Zugesagt sind bisher DM 2 115 000. Damit sind die für 1992 vorgesehenen Mittel bereits um DM 99 000,- überzogen. Durch Umwidmung von nicht benötigten Mitteln der Ausstattungshilfe ist jedoch noch ein Spielraum vorhanden. 8) Getrennt von der DH des Auswärtigen Amtes unterstützt der Deutsche Bundestag – jedoch in Abstimmung mit dem AA – Maßnahmen zur Hilfe für Parlamente in neuen oder wiederhergestellten Demokratien im Rahmen einer Parlamentshilfe. Hierfür steht dem Bundestag aus dem AA-Titel der Ausstattungshilfe ein Betrag in Höhe von DM 500 000,zur Verfügung. Bisher sind Anträge von Nicaragua, Sambia, Estland und Litauen in Bearbeitung. Hinsichtlich der Durchführung der Parlamentshilfe ist festzuhalten, dass ein an den Deutschen Bundestag gerichteter Antrag eines ausländischen Parlaments dem Auswärtigen Amt zur Stellungnahme übermittelt wird. Die jeweilige Auslandsvertretung wird zu dem jeweiligen Projekt gehört und die Maßnahmen zwischen dem Haushaltsreferat des Bundestages und des Auswärtigen Amtes abgestimmt und gemeinsam beschlossen. Die Umsetzung erfolgt über die jeweilige Botschaft vor Ort, es sei denn, dass anlässlich einer geplanten Parlamentarierreise eine Übergabe durch die Mitglieder des Bundestags selbst möglich ist. 9) Nach den bisherigen Erfahrungen mit der Demokratisierungshilfe ist abzusehen, dass die Anforderungen an uns steigen werden. Mit einem Betrag von ca. 5 Mio. pro Jahr ist unsere DH im Vergleich zu den anderen Gebern eher bescheiden, auch wenn man in Betracht zieht, dass langfristig Demokratisierungsmaßnahmen, insbesondere die Unterstützung beim Aufbau eines demokratischen Umfelds, bereits seit langem schon durch die politischen Stiftungen und das BMZ durchgeführt werden. Eine Mittelerhöhung wird in Zukunft notwendig sein. Zurzeit ist durch Umwidmung von Mitteln der Ausstattungshilfe für ausländische Streitkräfte (aufgrund der instabilen innenpolitischen Lage und des Auftretens von Menschenrechtsverletzungen ist die Ausstattungshilfe für Dschibuti und Burundi in Höhe von insgesamt 9 Mio. DM für den Zeitraum 92 – 94 mit Zustimmung der zuständigen Bundestagsausschüsse eingestellt worden) noch ein gewisser Spielraum vorhanden. Die Demokratisierungshilfe hat sich als ein wesentlicher Bestandteil unserer neuen Politik, die Herstellung demokratischer und rechtsstaatlicher Ordnung in den Ländern der Dritten Welt zu unterstützen, bewährt. Als Anlage ist eine Übersicht über die bisher durchgeführten DH-Maßnahmen beigefügt.7 Wokalek B 46, ZA-Bd. 218878

7 Dem Vorgang beigefügt. Für den Überblick über bisher durchgeführte Maßnahmen der Demokratisierungshilfe sowie zugesagte Maßnahmen und Mittelreservierungen vgl. B 46, ZA-Bd. 218878.

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11. September 1992: Vorlage von Schlagintweit

279 Vorlage des Ministerialdirektors Schlagintweit für Bundesminister Kinkel 322-321.32 SOM

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Über Herrn Staatssekretär1 Herrn Bundesminister2 Betr.: Reise von Staatsminister Schäfer nach Somalia3 1) Im Hinblick auf Ihr informelles Zusammentreffen mit Ihren EG-AußenministerKollegen4 lege ich Ihnen vorab eine Zusammenfassung der Erkenntnisse und Ergebnisse der Reise von Staatsminister Schäfer nach Somalia vor. Diese Zusammenfassung hat StM Schäfer nicht vorgelegen. Der Inhalt wurde mit ihm besprochen. Eine mehr ins Einzelne gehende Vorlage des Ref. 301 mit Vorschlägen folgt.5 2) Die Reise von StM Schäfer hat ein differenzierteres Bild der Verhältnisse und Erkenntnisse gebracht, die auch operativ von Bedeutung sind: – Eine politische Lösung ist nicht in Sicht. Die Staatengemeinschaft wird sich noch auf lange Zeit um Somalia kümmern müssen. Dabei darf sie aber andere Krisen- und Notstandsgebiete wie den Süden Sudans6 und Äthiopien7 nicht vernachlässigen. 1 Hat StS Kastrup am 11. September 1992 vorgelegen. 2 Hat BM Kinkel am 11. September 1992 vorgelegen. Hat OAR Salzwedel am 14. September 1992 vorgelegen, der den Rücklauf über das Büro Staatssekretäre an MD Schlagintweit verfügte. Hat im Büro Staatssekretäre am 14. September 1992 vorgelegen. Hat Schlagintweit am 15. September 1992 erneut vorgelegen, der die Weiterleitung an MDg Sulimma verfügte. Hat Sulimma am 15. September 1992 vorgelegen, der die Weiterleitung an Referat 322 verfügte. Hat VLRin I Gräfin Strachwitz am 16. September 1992 vorgelegen. 3 StM Schäfer hielt sich am 8./9. September 1992 in Somalia auf. 4 Die Außenminister der EG-Mitgliedstaaten trafen am 12./13. September 1992 zu einem informellen Treffen im Rahmen der EPZ in Brocket Hall zusammen. Für die am 13. September 1992 veröffentlichte Erklärung zu Somalia vgl. BULLETIN DER EG 9/1992, S. 78. 5 VLR I Holderbaum gab am 26. September 1992 einen Überblick über die Gespräche von StM Schäfer am 8./9. September 1992 in Somalia, die dortige Lage, die entwicklungspolitischen Maßnahmen sowie die Durchführung und Koordinierung der Hilfe durch die Bundesrepublik und unterbreitete Vorschläge für das weitere Vorgehen im politischen Bereich, bei Entwicklungszusammenarbeit und humanitärer Hilfe sowie für die Zusammenarbeit mit der Bundeswehr. Vgl. B 45, ZA-Bd. 192026. 6 VLR I von Hoessle legte am 14. August 1992 zur Lage im Sudan dar: „Seit 1983 herrscht im Sudan (erneut) Bürgerkrieg zwischen dem islamischen, arabisierten Norden unter der Regierung in Khartoum und dem sich Schwarzafrika zugehörig fühlenden Süden des Landes. Bei diesem Bürgerkrieg überlagern sich ethnische und religiöse Komponenten, wobei der Religionsaspekt […] zunehmend an Bedeutung gewinnt.“ Obwohl der Krieg auch nach Aussage des sudanesischen Staatspräsidenten al-Baschir militärisch nicht zu gewinnen sei, lehne die Regierung einen Waffenstillstand ab und habe den Krieg gegen die Sudanesische Volksbefreiungsbewegung SPLM [Sudan People’s Liberation Movement] und ihren militärischen Flügel SPLA [Sudan People’s Liberation Army] zum Dschihad erklärt. Der Krieg, „verbunden mit klimatisch bedingten Missernten und einer im höchsten Grade inkompetenten Wirtschaftspolitik“, habe den Sudan nahezu ruiniert. Von den Konfliktparteien werde Hunger als Waffe eingesetzt; Hilfsorganisationen würden häufig behindert. Die Menschenrechtslage könne nur als erschreckend bezeichnet

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– Die Ernährungslage in Somalia hat sich durch die massive internationale Hilfsaktion entspannt. Die deutsche Hilfe hat, wie allgemein anerkannt wird, wesentlich hierzu beigetragen; die deutsche Luftbrücke8 kann in einigen Monaten auslaufen. – Internationale Hilfe muss auf längere Zeit weiterlaufen. Sie sollte sich möglichst rasch umstellen auf die Wiederherstellung der Lebensbasis der Bevölkerung: Wasserversorgung, Land- und Viehwirtschaft, basis-medizinische Versorgung, Sicherheit, Entfernung der Minen. Das BMZ sollte hierzu beitragen. – Die VN müssen die Zusammenarbeit der internationalen Organisationen und der bilateralen Geber besser koordinieren. 3) Die Reise diente auch dazu, den VN (in der Person des Sonderbeauftragten Sahnoun), den verschiedenen UN-Organisationen sowie Kenia als wichtigem Aufnahmeland somalischer Flüchtlinge Charakter und Umfang unseres Engagements deutlich zu machen. Zusammen mit den EG und den USA sind wir bei Weitem größter Helfer. Herr Sahnoun betonte, unsere Hilfe habe die Lage sehr verbessert. Unsere Spenden und die deutsche und die amerikanische Luftbrücke hätten einen wesentlichen Beitrag erbracht. Der Augenschein bestätigte, dass die Not in Hoddur, dem Ort, der unserer Luftbrücke (und einem Teil der amerikanischen) als Landeplatz zugewiesen wurde, nicht so groß ist, wie es die Medien vermuten lassen. Es gibt viele Tausende von Hilfsempfängern, die mager, aber nicht am Verhungern sind. Die Not in dieser Region (wie auch in anderen Gebieten) ist weniger dem Bürgerkrieg als der großen Dürre und dem Fehlen staatlicher Ordnung und Fürsorge zuzuschreiben. Immerhin nehmen diese Menschen eine lange Wanderung unter großen Entbehrungen in Kauf, um an der Hilfe teilzuhaben. Der Zustand der Bewohner von Hoddur schien befriedigend. Erheblich schlechter ist die Lage in anderen Zentren wie Baidoa und Bardera, wo mehr Flüchtlinge zusammengekommen sind und noch zuströmen. Hier soll nicht nur der Hunger größer sein, sondern auch die Zahl der Verletzten. Besser scheint die Lage im Norden zu sein sowie in den Flüchtlingslagern in Kenia, die inzwischen von den internationalen Organisationen und über die USA-Luftbrücke gut versorgt werden. Sahnoun meint, dass unsere Luftbrücke „in a couple of months“ beendet werden könne. Gegenwärtig werde sie noch benötigt, um die Zeit bis zur nächsten Ernte und der Anlieferung auf dem See- und Landweg zu überbrücken; die jetzt eintreffenden bewaffneten VN-Soldaten9 sollen Zentren, Lagerplätze und Häfen so sichern, dass auf den Lufttransport verzichtet werden kann. Dies würde auch die Kosten senken. In Mogadischu sollen etwa drei Viertel, in Orten wie Hoddur die Hälfte der Hilfslieferungen an örtliche Sicherheitsdienste, Gouverneure etc. abgeliefert werden müssen. Dazu kommen Verluste wegen Raubes. 4) Die Bitte Sahnouns und anderer UNO-Vertreter geht dahin, den Schwerpunkt der Hilfe möglichst bald von rein humanitärer auf Entwicklungshilfe im weitesten Sinne des Wortes zu verlegen. Fortsetzung Fußnote von Seite 1124 werden. Seit August 1991 würde zunehmend die Forderung nach einem unabhängigen Südsudan erhoben. Vgl. B 36, ZA-Bd. 196345. 7 Zur Entwicklung in Äthiopien vgl. Dok. 273, Anm. 6. 8 Zu den Hilfsflügen der Bundeswehr vgl. Dok. 248, Anm. 14. 9 Zur Einrichtung von UNOSOM vgl. Dok. 248, besonders Anm. 10.

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Humanitäre Hungerbekämpfung dürfe nicht zu dauernder Abhängigkeit führen. Sie müsse abgelöst werden von Maßnahmen, die es der Bevölkerung erlauben, in ihre Heimat zurückzukehren und ihrer Arbeit nachzugehen. Ein großer Teil der ländlichen Bevölkerung sei gezwungen, seine10 Vorräte an Saatgut aufzuessen. Das Gleiche gelte für die Herden; sie würden viele Jahre brauchen, um wieder zu regenerieren. Hilfe in Form von Saatgut, beim Aufbau eines Veterinärwesens, eines Basis-Gesundheitsdienstes und einer örtlichen Polizei sowie bei der Beseitigung von Minen seien eine wesentliche Voraussetzung für die Rückkehr von Flüchtlingen und damit für die Wiederherstellung politischer Stabilität. Während einer Übergangszeit, die „zwei bis drei Ernten“ dauern könnte, wird es auch für nötig gehalten, Angestellte und Lehrer zu bezahlen. Die VN-Organisationen appellieren insbesondere an uns, da wir vor Ausbruch des Bürgerkrieges auf vielen Gebieten, besonders auch bei Landwirtschaft und Sicherheit, breite Hilfe geleistet hätten.11 Es ist allerdings fraglich, ob das BMZ zu eigenen Programmen bereit ist, bevor wieder Sicherheit und eine geordnete Verwaltung hergestellt sind. Solange dies nicht der Fall ist, können wir versuchen, uns auf andere Weise an den Rehabilitationsprogrammen der VN zu beteiligen, etwa durch finanzielle Leistungen und Experten bei UNDP, UNICEF oder deutschen Nichtregierungsorganisationen. TZ-Mittel für Somalia sind im BMZ noch vorhanden. 5) Die politische Lage schilderte Sahnoun in düsteren Farben. Zwar halte eine Art Waffenstillstand zwischen den Hauptgegnern Aidid und Ali Mahdi. Es zeige sich aber kein Zeichen dafür, dass sie bereit seien, sich politisch zu einigen. Für die Einberufung einer breiten Friedenskonferenz sei es zu früh, denn an einer solchen würde ein Drittel bis die Hälfte aller bewaffneten Gruppen nicht teilnehmen. In der Zwischenzeit herrsche ein rücksichtsloser Kampf aller gegen alle, unabhängig von Clan- oder Familienzugehörigkeit. Dies gelte zunehmend auch für den Norden des Landes, der bis vor wenigen Monaten noch relativ ruhig war und wo auch die Not nicht so groß ist wie im Süden. Die Bemühungen des VN-Beauftragten konzentrieren sich daher darauf, beschränkte Gebiete zu beruhigen, zu sichern und dort einen wirtschaftlichen Aufbau zu ermöglichen. Der Vorwurf, StM Schäfer habe sich nicht um einen Beitrag zur politischen Lösung der Somalia-Frage bemüht, geht daher ins Leere. Es wurde bewusst davon abgesehen, sich um Kontakte zu den Streitkräften zu bemühen, da von vornherein klar war, dass angesichts der ergebnislosen Bemühungen des UN-GS12 sowie der Gespräche, die die EG-Troika13 und der italienische Außenminister14 erst vor wenigen Tagen geführt haben, ein deutscher Versuch sinnlos gewesen wäre. Die Aussage Sahnouns hat dies bestätigt. Selbstver10 Korrigiert aus: „ihre“. 11 Zur Entwicklung der Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und Somalia vgl. AAPD 1978, I, Dok. 1, Dok. 192 und Dok. 194, AAPD 1979, I, Dok. 77, AAPD 1980, I, Dok. 18, sowie AAPD 1982, I, Dok. 94. 12 Boutros Boutros-Ghali. 13 Am 4. September 1992 hielten sich die AM Ellemann-Jensen (Dänemark), Hurd (Großbritannien) und Pinheiro (Portugal) in Somalia auf. Vgl. BULLETIN DER EG 9/1992, S. 68. 14 Der italienische AM Colombo besuchte Somalia am 7./8. September 1992.

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11. September 1992: Vorlage von Schlagintweit

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Abb. 11: StM Schäfer mit dem Sonderbeauftragten des VN-GS für Somalia, Sahnoun

ständlich werden wir alle Bemühungen, vor allem der VN, Italiens und Ägyptens voll unterstützen. 6) StM Schäfer und seine Begleitung wurden schon in Nairobi auf Koordinationsdefizite innerhalb der VN-Familie und bei der Zusammenarbeit mit den anderen Gebern angesprochen. Dieses Thema haben wir daher sowohl gegenüber Sahnoun wie gegenüber den in Nairobi ansässigen Vertretern der großen VN-Organisationen deutlich ins Gespräch gebracht. Wir betonten, eine befriedigende Koordination sei eine wichtige Voraussetzung für den Erfolg der Programme und damit auch unserer eigenen Hilfsbereitschaft. Sahnoun gab die Verbesserungsbedürftigkeit zu; er wolle dieses Thema mit dem am nächsten Tag eintreffenden Katastrophen-Koordinator der VN, Jan Eliasson, erörtern. Sie sollten es bei Ihrem Gespräch mit dem VN-GS15 aufnehmen. StM Schäfer betonte insbesondere die Notwendigkeit, ein Flugsicherungssystem über Somalia einzurichten, damit gerade während der jetzt beginnenden Regenzeit Zwischenfälle unter den Hilfsflugzeugen vermieden würden. Sahnoun und seine Mitarbeiter sagten zu, sich hierum beschleunigt zu kümmern. 15 Im Gespräch mit VN-GS Boutros-Ghali am 22. September 1992 in New York unterstrich BM Kinkel „unser großes Interesse an effizienter Koordinierung der Maßnahmen im Rahmen der humanitären Hilfe. GS wies darauf hin, dass es sich in diesem Bereich um eine neue Erfahrung handele, und erläuterte kurz die in jüngster Zeit durchgeführten Maßnahmen.“ Vgl. den mit DB Nr. 4 des MDg Schilling, z. Z. New York, am selben Tag übermittelten Gesprächsvermerk; B 1, ZA-Bd. 178945.

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7) Die Vertreter der in Nairobi ansässigen VN- und humanitären Organisationen baten, über Somalia nicht die Lage in Äthiopien und im Süden des Sudans zu vergessen, wo Bürgerkrieg und Dürre mindestens ebenso große Not hervorgerufen hätten, um die sich aber Medien und Geber kaum kümmerten. Schlagintweit B 34, ZA-Bd. 153664

280 Vorlage des Vortragenden Legationsrats I. Klasse Göckel für Bundesminister Kinkel 421-340.25/20 SB 3B

11. September 19921

Über Dg 422, D 4 i. V.3, Herrn Staatssekretär4 Herrn Bundesminister5 Betr.:

Abzug der Westgruppe der russischen Truppen aus den neuen Bundesländern und Berlin; hier: Wohnungsbauprogramm

Zweck der Vorlage: Zur Unterrichtung 1) Mit dem Abkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der UdSSR vom 9. Oktober 1990 über einige überleitende Maßnahmen6 (finanzielle Begleitung und Unterstützung des Truppenabzuges) hat sich Deutschland u. a. verpflichtet, bei der Durchführung eines Zivilwohnungsbauprogramms über 4 Mio. qm Wohnfläche für die aus dem Gebiet der ehemaligen DDR zurückkehrenden sowjetischen Soldaten zu helfen, und hierfür Mittel in Höhe von 7,8 Mrd. DM zugesagt. Mit diesem Betrag sollen im europäischen Teil der ehemaligen UdSSR vorrangig 2 Mio. qm Wohnfläche oder rund 36 000 Wohnungen und vier Wohnungsbaukombinate mit einer Jahreskapazität von je 100 000 qm finanziert werden. Darüber hinaus werden Fabrikationseinrichtungen für den Ausbau von Wohnungen finanziert. Federführendes Ministerium auf deutscher Seite ist das BMWi. 2) Programmabwicklung Die Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) steuert und überwacht als Treuhänder des Bundes die Durchführung des Wohnungsbauprogramms. 1 2 3 4 5

Die Vorlage wurde von VLR Mertens konzipiert. Hat MDg Schönfelder am 11. September 1992 vorgelegen. Hat in Vertretung des MD Dieckmann MDg Graf von Matuschka am 14. September 1992 vorgelegen. Hat StS Lautenschlager am 14. September 1992 vorgelegen. Hat BM Kinkel am 15. September 1992 vorgelegen. Hat OAR Salzwedel am 16. September 1992 vorgelegen, der den Rücklauf an Referat 421 verfügte. 6 Für das Abkommen vom 9. Oktober 1990 zwischen der Bundesrepublik und der UdSSR über einige überleitende Maßnahmen (Überleitungsabkommen) vgl. BGBl. 1990, II, S. 1655–1659. Vgl. ferner AAPD 1990, II, Dok. 334.

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11. September 1992: Vorlage von Göckel

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Bei der Projektplanung wirkt ein deutsch-russisches Planungsbüro mit. Ein deutsches Consulting-Konsortium (unter Federführung der Dorsch Consult) erstellt die gesamten Ausschreibungsunterlagen, wickelt die Ausschreibungen selbst ab, erarbeitet die Vergabevorschläge und führt die Bauüberwachung und Bauabnahme durch. Der Bau der Wohnungen wird international ausgeschrieben. Mit der damaligen sowjetischen Seite wurde jedoch vereinbart, dass die Bauarbeiten im Rahmen des Programms überwiegend von deutschen Unternehmen durchgeführt werden. Dabei muss eine Beteiligung von Firmen aus den neuen Bundesländern – als Konsortialpartner, Unterauftragnehmer oder Lieferant – in einem Umfang von mindestens 20 % des Auftragswertes je Standort vorgesehen werden. Um dieses Ziel zu erreichen, erfahren deutsche Unternehmen bei den Ausschreibungen in gewissem Umfang eine präferentielle Behandlung. Etwa 50 % des bisher vergebenen Bauvolumens sind an deutsche Unternehmen gegangen, davon der überwiegende Teil an Unternehmen aus den neuen Bundesländern. Daneben haben sich bislang türkische und finnische Unternehmen durchsetzen können. 3) Stand der Programmumsetzung Ursprünglich war die Aufteilung der Standorte und Wohneinheiten wie folgt vorgesehen: Russland sollte acht Standorte (28 % der Wohneinheiten), die Ukraine 17 Standorte (52 %) und Weißrussland acht Standorte (20 %) erhalten. Davon sind bisher für Russland vier Standorte, für die Ukraine zwei Standorte und für Weißrussland sieben Standorte vergeben worden. Damit sind insgesamt 13 532 Wohneinheiten bzw. 38 % der geplanten 36 000 Wohneinheiten in 13 Standorten vergeben. An diesen 13 Standorten sind die Bauarbeiten in Gange bzw. bereits abgeschlossen. Etwa 3500 Wohnungen sind jetzt bezugsfertig, bis zum Jahresende werden es etwa 10 000 Wohnungen sein. Die Ausschreibung für vier weitere Standorte in Russland mit zusammen 5050 Wohneinheiten soll in den nächsten Tagen erfolgen. Bislang hat es noch keine wesentlichen Abweichungen von dem ursprünglich aufgestellten Zeitplan für die Abwicklung gegeben. Das Ziel, die Wohnungen bis Ende 1994 fertigzustellen, ist aus jetziger Sicht noch nicht unmittelbar gefährdet. 3.1) Probleme bei der Programmumsetzung Nachdem das Wohnungsbauprogramm in der Anfangsphase trotz der tiefgreifenden Umwälzungen in der ehemaligen UdSSR überraschend zügig umgesetzt werden konnte, hat es in den letzten Monaten Verzögerungen gegeben. Bereits erstellte Planungen mussten häufig überarbeitet oder sogar zurückgenommen werden. Hiervon waren insbesondere ukrainische Standorte betroffen. Der Hintergrund dieser Entwicklung ist folgender: Nach den ursprünglichen Planungen sollten 17 der insgesamt 33 Wohnungsbaustandorte auf dem Territorium der Ukraine errichtet werden. Zwei dieser Standorte sind bereits fertiggestellt (Kriwoi-Rog) bzw. im Bau (Starakonstantinov). Nach dem Auseinanderbrechen der Sowjetunion beansprucht die Russische Föderation nunmehr sämtliche zukünftig noch zu errichtenden Wohnungsbaustandorte für ihr Territorium, da die aus Deutschland noch abzuziehenden Angehörigen der Westgruppe nach russischer Darstellung ausschließlich auf russisches Territorium abgezogen würden. Dies wird jedoch von der Ukraine bestritten, die auf der Ausführung der ursprünglich vorgesehenen 17 Standorte beharrt. Faktisch wird der Truppenabzug jetzt jedoch ausschließlich in die Russische Föderation, unter deren alleiniger Jurisdiktion die WGT steht, durchgeführt. Die Ukraine hat 1129

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7 % der aktiven Offiziere übernommen und erhielte bei zwei Standorten ca. 8 % der Wohnungen. Die Bundesregierung drängt die Russische Föderation und die Ukraine, sich über ihre Ansprüche aus dem Programm möglichst umgehend zu einigen. Eine solche Einigung ist jedoch bislang nicht erfolgt. Um durch diese Situation keine wesentlichen Verzögerungen bei der Abwicklung des Programms eintreten zu lassen, werden gegenwärtig primär die zwischen den Republiken unstreitigen Projekte und die bereits begonnenen Vorhaben fortgeführt. Zusätzlich wurde mit der russischen Seite vereinbart (ohne Grundsatzentscheidung), jeweils schrittweise neue Baustandorte in der RF in Angriff zu nehmen, auch über die ursprünglich für die RF vorgesehenen acht Standorte hinaus. Letztlich werden die Wohnungen entsprechend dem Sinn des Überleitungsabkommens dort gebaut werden müssen, wohin die aktiven Offiziere abziehen, d. h. nach Russland. Nach herrschender Auffassung sind Russland und die übrigen Nachfolgestaaten gemeinsam Schuldner der Abzugsverpflichtung sowie auch Gesamtgläubiger für unsere Leistungen aus dem Überleitungsvertrag. Daraus folgt, dass Deutschland an einen Gläubiger (die RF) mit befreiender Wirkung leisten kann. Eine eventuelle Kompensation für die Ukraine stellt dann ein internes Problem zwischen der RF und der Ukraine dar. Sollte die russische Seite ihre Vorstellungen gegenüber der Ukraine voll durchsetzen können oder wir bei Nichtzustandekommen einer Einigung im oben beschriebenen Sinne prozedieren, würde sich die endgültige Standortverteilung wie folgt darstellen: Russland 24 Standorte (76 % der Wohneinheiten), Ukraine zwei Standorte (8 %) und Weißrussland mit sieben Standorten (16 %). Weißrussland erhebt keine weiteren Ansprüche auf Bauleistungen aus dem Programm. Angesichts der schwierigen Umstände in der ehemaligen UdSSR ist das bislang bei der Programmumsetzung erreichte Ergebnis als zufriedenstellend zu bewerten. Selbst im Vergleich mit Großprojekten in Deutschland ist das Ergebnis vorzeigbar. Dass das Programm soweit vorangebracht werden konnte, ist nicht zuletzt auf das umsichtige Handeln der KfW und des deutschen Consulting-Konsortiums zurückzuführen. Die ständige enge politische Begleitung des Programms durch das AA erwies sich als notwendig und sollte angesichts der weiter bestehenden Probleme beibehalten werden.7 Göckel B 63, ZA-Bd. 163561

7 BR I Boomgaarden, Moskau, berichtete am 29. Dezember 1992, nach Auskunft des russischen Außenministeriums hätten sich Russland und die Ukraine in einem Übereinkommen vom 22. Dezember 1992 wie folgt geeinigt: „Für die Durchführung des Programmes auf dem Territorium der Ukraine sollen insgesamt 755 Mio. DM zur Verfügung gestellt werden. Der darin enthaltene Anteil für den reinen Wohnungsbau entspreche 7,4 Prozent des Gesamtvolumens (7,8 Mrd. DM). Dies korrespondiere mit dem Anteil der in die Ukraine abgezogenen Truppen am Gesamtkontingent.“ Vgl. DB Nr. 5771; B 63, ZA-Bd. 163562.

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11. September 1992: Vorlage von Petri

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281 Vorlage des Vortragenden Legationsrats Petri für Staatssekretär Lautenschlager 424-9-464.75 ISR

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Über Dg 422, D 4 i. V.3 Herrn Staatssekretär4 Betr.:

Trägertechnologie-Kontrollregime MTCR; hier: Ausfuhrantrag der Fa. Dornier betreffend die Lieferung eines Untersystems zu dem israelischen Kommunikationssatelliten AMOS5

Bezug: Vorlage vom 24.7.1992 – 424-9-464.75 ISR6 Anlg.: 2 (Bezugsvorlage7 sowie amerikanisches Non-paper vom 8.9.19928) Zweck der Vorlage: Zur Unterrichtung 1) Nach Befassung der Amtsleitung (Anlage 1) hatte die Bundesregierung das nach MTCR-Richtlinien für die Ausfuhr eines Kategorie-I-Gegenstandes erforderliche Konsultationsverfahren im Kreise der MTCR-Partner eingeleitet. Gegen diese geplante Ausfuhr erhoben Bedenken bzw. baten um „reconsideration“: – Großbritannien – Irland – Japan – Kanada, Einspruch legten ein: – USA. 1 2 3 4

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Die Vorlage wurde von LRin I Zimmermann von Siefart konzipiert. Hat MDg Schönfelder am 11. September 1992 vorgelegen. Hat in Vertretung des MD Dieckmann MDg von Kyaw am 11. September 1992 vorgelegen. Hat StS Lautschlager am 14. September 1992 vorgelegen, der handschriftlich vermerkte: „Ich unterstreiche Ziffer 6c! Wir können hier nur im Einvernehmen mit unseren Partnern handeln. Ich hoffe, dass dieses innerhalb der gesetzten Fristen erreicht werden kann.“ Hat LRin I Zimmermann von Siefart am 15. September 1992 erneut vorgelegen, die die Weiterleitung an VLR Petri „z[ur] g[efälligen] K[enntnisnahme]“ verfügte und handschriftlich vermerkte: „Laut Auskunft v. Dr. Hachmeier (BMWi) beabsichtigt Fa. Dornier, bis 16.9. konkreten Vorschlag zu unterbreiten.“ Hat Petri am 15. September 1992 erneut vorgelegen. Affordable Modular Optimized Satellite. VLR I Ackermann informierte über einen Antrag der Firma Dornier auf Ausfuhrgenehmigung für Systeme für den israelischen Kommunikationssatelliten AMOS im Wert von 96 Mio. DM und plädierte dafür, „dem BMWi mitzuteilen, dass das AA keine außenpolitischen Bedenken gegen die Erteilung der Ausfuhrgenehmigung erhebt“. Die infrage stehende Ausfuhr stehe im Zusammenhang mit ESA-Vorhaben: „Eine Ablehnung des Ausfuhrantrags würde den Ausschluss der deutschen Industrie von einem durch die ESA geförderten Projekt bedeuten.“ Vgl. B 70, ZA-Bd. 220601. Dem Vorgang beigefügt. Vgl. Anm. 6. Korrigiert aus: „11.9.1992“. Dem Vorgang beigefügt. Für das am 8. September 1992 übergebene amerikanische Non-paper vgl. B 70, ZA-Bd. 220601.

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11. September 1992: Vorlage von Petri

2) Die Bedenken unserer Partner richten sich nicht gegen das Projekt an sich, sondern nur auf die damit verbundene Verbringung des Apogäumsmotors nach Israel, das als „country of proliferation concern“ eingestuft ist. Ihre Hauptargumente zielen dabei auf: – eine mögliche Schwächung des MTCR-Regimes und die Gefahr einer Präzedenzwirkung. Bei Gegenständen der Kategorie I haben MTCR-Partner eine strong presumption of denial im Falle von Ausfuhren in Nicht-MTCR-Länder vereinbart. Eine Durchbrechung dieses Grundsatzes im Falle eines so sensiblen Gegenstandes (Apogäumsmotor) habe über die konkrete Ausfuhr hinaus eine negative Präzedenzwirkung; – den israelischen Empfänger, Israel Aircraft Industries, der auch Bezieher von Rüstungsgütern in großem Umfang ist. Die Endverwendungserklärung ist unseren Partnern nicht Absicherung genug. (Japan verweist darauf, dass es schon Gegenstände der Kategorie II – weniger sensible Gegenstände – nicht an Israel Aircraft Industries liefern würde); – einen mit einer Ausfuhr nach Israel verbundenen etwaigen Technologietransfer. MTCRPartner, v. a. USA und GB, sehen auch bei einer nur vorübergehenden Verbringung des Motors nach Israel diese Gefahr. 3) Unsere ursprüngliche nationale Entscheidung für die Genehmigung dieser Ausfuhr (vorbehaltlich des Ergebnisses der MTCR-Konsultationen) gründete sich auf die Tatsache, dass der infrage stehende Motor fest in einem Satelliten eingebaut wird, der mit Ariane IV gestartet werden soll, und dass seine technischen Kenndaten nur 0,2 % über der MTCRKontrollschwelle liegen. Eine andere als die angegebene Verwendung ist daher praktisch auszuschließen. Da es sich um einen reinen Kommunikationssatelliten handelt, scheint auch eine Besorgnis, die sich auf den israelischen Empfänger richtet, in diesem Falle unangebracht. 4) Die MTCR-Partner, die Bedenken geäußert hatten, wurden in bilateralen Demarchen über unsere Beweggründe unterrichtet. Auf eine volle zweite Konsultationsrunde im MTCRKreis musste aus Zeitgründen verzichtet werden, da Israeli Aircraft Industries (bereits nach mehrmaligem Terminaufschub) eine Frist bis 10.9. gesetzt hatte9. Diese ist jetzt, nach einer Demarche der Botschaft Tel Aviv, bis zum 30.9. verlängert worden, um zum einen den Druck von der Fa. Dornier zu nehmen und ggf. zu einer Kompromisslösung zu gelangen. 5) Eine solche scheint sich dahingehend abzuzeichnen, dass der Motor außerhalb Israels (beispielsweise in Frankreich oder am Startplatz in Guayana) eingebaut wird. Die Amerikaner haben hierzu bereits ihr Einverständnis zu erkennen gegeben (Anlage 2). Die Fa. Dornier wurde über den derzeitigen Stand der Angelegenheit unterrichtet und prüft die technische Durchführbarkeit eines Einbaus des Motors außerhalb Israels. Ihr wurde – nach Abstimmung mit BMWi – auch deutlich gemacht, dass sie anderenfalls nicht mit einer Ausfuhrgenehmigung rechnen könne. Ferner wird das BMWi angesichts der eingetretenen Reaktionen der MTCR-Partner vom BAFA nunmehr auch die Kategorie-II-Gegenstände, die in dem Satelliten-Subsystem enthalten sind, noch einmal genauer im Hinblick auf die Gefahr eines unerwünschten Trägertechnologietransfers überprüfen lassen. 6) Es besteht Einvernehmen mit dem BMWi, dass eine Ausfuhrgenehmigung nur erteilt wird10, wenn 9 Die Wörter „10.9. gesetzt hatte“ wurden von StS Lautenschlager hervorgehoben. Dazu Ausrufezeichen. 10 Die Wörter „Ausfuhrgenehmigung nur erteilt wird“ wurden von StS Lautenschlager hervorgehoben.

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14. September 1992: Gespräch zwischen Kohl und Rabin

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a) der Motor außerhalb Israels eingebaut wird, b) auch bei den Kategorie-II-Gegenständen ein unerwünschter Technologietransfer ausgeschlossen werden kann, c) die MTCR-Partner, die Bedenken/Einspruch erhoben haben, ihr Einverständnis zu dem skizzierten Verfahren geben.11 Zunächst ist abzuwarten, welche konkreten Vorschläge der Antragsteller nunmehr für die Abwicklung des Geschäfts in diesem Sinne macht.12 Referat 431 hat mitgezeichnet. Petri B 70, ZA-Bd. 220601

282 Gespräch des Bundeskanzlers Kohl mit dem israelischen Ministerpräsidenten Rabin 21-30 132 I 9-Is 3/1/92 VS-vertraulich

14. September 19921

Der Bundeskanzler heißt PM Rabin herzlich willkommen.2 Er freue sich über die Gelegenheit zu einem intensiven Gespräch. Wir lebten in einer komplizierten Zeit. Wenn man aber das Richtige mache, könne es eine gute Zeit werden. Das gelte nicht nur für Europa, sondern auch für andere Regionen. Er habe die Hoffnung, dass dieses Jahrhundert, das so viel Leid gesehen habe, am Ende etwas Gutes hervorbringe. Er, der Bundeskanzler, habe die Wahl von MP Rabin3 mit großer Hoffnung gesehen. Was in Israel geschehe, berühre uns unmittelbar. Wenn man nicht aufpasse, kämen alle bösen Geister wieder. Es sei leider nicht so, dass die Völker automatisch klüger würden. Er biete MP Rabin eine direkte, offene und gute Zusammenarbeit an. MP Rabin bedankt sich für den Empfang und fügt hinzu, er sei sehr daran interessiert gewesen, mit dem Bundeskanzler zusammenzutreffen. Er sei nach seinem Amtsantritt zu11 Dieser Absatz wurde von StS Lautenschlager hervorgehoben. Dazu vermerkte er handschriftlich: „r[ichtig]“. Vgl. Anm. 4. 12 VLR Petri teilte dem BMWi am 28. September 1992 mit, das Auswärtige Amt erhebe keine Bedenken gegen die Ausfuhr eines Untersystems zum israelischen Kommunikationssatelliten AMOS, „sofern der Motor nicht außerhalb von MTCR-Ländern gebracht wird, sondern, wie vorgesehen, in Frankreich in den Satelliten eingebaut und von dort zum Standort der Ariane-Trägerrakete nach Kourou (Frz. Guayana) befördert wird. Die Genehmigung ist mit der Auflage zu versehen, dass der israelische Zugang zur MTCR-relevanten Technologie während des Einbaus, der Testphase und des Abschusses des Satelliten so gering wie möglich gehalten wird.“ Vgl. B 70, ZA-Bd. 220601. 1 Der Gesprächsvermerk wurde von MD Hartmann, Bundeskanzleramt, gefertigt. 2 Der israelische MP Rabin hielt sich vom 14. bis 16. September 1992 in der Bundesrepublik auf. 3 Zu den Parlamentswahlen am 23. Juni 1992 in Israel vgl. Dok. 201, Anm. 21. Die neue Regierung unter MP Rabin trat ihr Amt am 13. Juli 1992 an.

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nächst in die USA gefahren4, da ihm sehr daran lag, alles zu tun, um die Beziehungen zu verbessern und Vertrauen wiederherzustellen. Israel habe besonders gute Beziehungen zu den USA, und zwar sowohl im militärischen als auch im wirtschaftlichen Bereich. Ihm sei vor allem daran gelegen gewesen, in der Frage der Kreditbürgschaften5 zu einer Übereinkunft zu kommen. Dabei sei es für Israel sehr wichtig, dass die entsprechende Gesetzgebung mit keinerlei politischen Bedingungen verknüpft sei. Er habe die Hoffnung, dass ab Oktober die erste Rate in Höhe von 2 Mrd. US-Dollar gezahlt werde. Er habe in Washington noch andere für Israel wichtige Themen erörtert, darunter insbesondere die Weiterentwicklung des Nahost-Friedensprozesses. Man habe nicht in allen Punkten Einvernehmen erzielt, aber sei sich einig gewesen, dass dieser Prozess weitergehen müsse. Dies sei möglich, weil er die israelische Politik geändert habe. Seine Regierung habe den Friedensverhandlungen neuen Inhalt gegeben. Obschon dies innenpolitische Probleme schaffe, habe er sich gegenüber Syrien zur Anwendung der Resolutionen 2426 und 3387 bereit erklärt. Das bedeute, dass man jetzt ernsthafte Gespräche über die territorialen Fragen führe. Diese israelische Wendung habe Syrien überrascht, das jetzt seinerseits gezwungen sei, sich der Realität zu stellen. Die Frage des Bundeskanzlers, ob er Assad persönlich kenne, verneint MP Rabin und ergänzt, Assad habe immer eine Führungsrolle in der arabischen Welt angestrebt und den Traum eines Großsyrien verfolgt, wozu nicht nur die Kontrolle über den Libanon und Jordanien gehöre, sondern auch der entscheidende Einfluss auf die Palästinenser. Andererseits habe sich Assad in der arabischen Welt dadurch isoliert, dass er den Iran während des Krieges mit dem Irak8 unterstützt habe. Seither seien Assad und Saddam Hussein Erzfeinde. Die eigentliche Wende für Assad sei mit dem Zusammenbruch der früheren Sowjetunion und dem Ende des Kalten Krieges gekommen. Nach dem Wegfall der wirtschaftlichen und militärischen Hilfe durch die Sowjetunion habe Assad politisch „nackt“ dagestanden. Da er ein außerordentlich durchtriebener Politiker sei, habe er sich zu einem Wechsel entschlossen und insbesondere versucht, das Verhältnis zu den USA zu verbessern. Allerdings wisse er nicht, inwieweit Assad bereit sei, auch die Beziehungen zu Israel zu nor4 Der israelische MP Rabin hielt sich vom 10. bis 13. August 1992 in den USA auf. 5 Zur Frage amerikanischer Kreditbürgschaften für Israel vgl. Dok. 80, Anm. 9. Im Anschluss an ihre Gespräche am 10./11. August 1992 in Kennebunkport (Maine) gaben der amerikanische Präsident Bush und der israelische MP Rabin ihre Einigung über die Grundprinzipien der Gewährung von bis zu 10 Mrd. US-Dollar amerikanischer Kreditgarantien an Israel bekannt, die mit jährlich bis zu 2 Mrd. US-Dollar über einen Zeitraum von fünf Jahren gegeben werden sollten. Gesandter von Nordenskjöld, Washington, legte am 12. August 1992 dar, allerdings seien „wesentliche Einzelheiten der Kreditgarantie und ihrer politischen Bedingungen offenbar ungeklärt“ geblieben. Vgl. DB Nr. 2325/2326; B 36, ZA-Bd. 185344. 6 Für die Resolution Nr. 242 des VN-Sicherheitsrats vom 22. November 1967 vgl. UNITED NATIONS RESOLUTIONS, Serie II, Bd. VI, S. 42 f. Für den deutschen Wortlaut vgl. EUROPA-ARCHIV 1969, D 578 f. 7 Für die Resolution Nr. 338 des VN-Sicherheitsrats vom 22. Oktober 1973 vgl. UNITED NATIONS RESOLUTIONS, Serie II, Bd. IX, S. 44. Für den deutschen Wortlaut vgl. EUROPA-ARCHIV 1974, D 313. 8 Seit 22. September 1980 befanden sich der Irak und der Iran im Kriegszustand. Vgl. AAPD 1980, II, Dok. 286. Nachdem beide Kriegsparteien die Resolution Nr. 598 des VN-Sicherheitsrats vom 20. Juli 1987 anerkannt hatten, die zu einem sofortigen Waffenstillstand, dem Rückzug der Truppen hinter die anerkannten Grenzen und zum Austausch der Kriegsgefangenen aufforderte, wurden die Kampfhandlungen offiziell am 20. August 1988 eingestellt.

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Abb. 12: BK Kohl und der israelische MP Rabin

malisieren. Der Entschluss Assads zur Teilnahme an der Nahost-Konferenz gehe in erster Linie auf das syrische Interesse an besseren Beziehungen zu den USA und Europa zurück. Auf die Frage des Bundeskanzlers nach einem möglichen Arrangement zwischen Syrien und dem Irak erklärt MP Rabin, ein stillschweigendes Einvernehmen sei zwar denkbar, aber er glaube nicht an eine dauerhafte Verständigung, da die Feindschaft zwischen Syrien und dem Irak fortbestehe. Der Bundeskanzler erklärt, auch wenn das Referendum in Frankreich9 – dessen Durchführung ein großer Fehler sei – scheitere, werde die politische Integration in der EG weiter vorankommen. Er selber werde dann einen neuen Vorstoß machen, denn diese Frage sei für Deutschland existenziell. Wenn aber die politische Integration vorankomme, stelle sich auch die Frage nach den Beziehungen zu Israel. So liege eine Assoziierung (mit der EG) praktisch in der Luft, die auch im Interesse Israels sei. Wenn man dies anstrebe, müsse man sich allerdings gleichzeitig überlegen, was man mit den arabischen Ländern mache. MP Rabin kommt auf die Rolle Assads zurück und erklärt, wenn Assad einmal ein Abkommen unterzeichne, halte er sich auch daran, zumindest so lange, als er wisse, dass eine Verletzung ihn teuer zu stehen komme. MP Rabin verweist als Beispiel auf das Entflechtungsabkommen über den Golan10, das seinerzeit von einem ägyptischen General im Auftrag Syriens unterzeichnet worden sei. 9 Zum Referendum am 20. September 1992 in Frankreich über das Vertragswerk von Maastricht vgl. Dok. 293 und Dok. 300. 10 Am 31. Mai 1974 unterzeichneten Israel und Syrien in Genf eine Vereinbarung über Truppenentflechtung. Für die Vereinbarung und das zugehörige Protokoll vgl. https://www.gov.il/en/Departments/General/

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Dieses inzwischen 18 Jahre alte Abkommen werde von Syrien strikt eingehalten. Richtig sei allerdings, dass Syrien gleichzeitig den Libanon als Hintertür für bestimmte Aktivitäten benutze. Auch Kissinger habe ihm bestätigt, dass Assad vertragstreu sei. Heute beginne die zweite Verhandlungsrunde in Washington.11 Dort werde man feststellen, bis zu welchem Grad Syrien bereit sei, wie Ägypten mit Israel12 einen Friedensvertrag abzuschließen. Natürlich bedeute dies nicht, dass sich hieraus „Liebe“ entwickele, sondern es gehe um die Herstellung normaler Beziehungen. Des Weiteren gehe es darum festzustellen, wieweit man einen solchen Vertrag – unabhängig von den Beziehungen zu den anderen Nachbarn – auf eine eigene Grundlage stellen könne. Deshalb sei er sich im Klaren darüber, dass Israel für den Frieden auch einen Preis bei den territorialen Fragen zu stellen habe. Schwieriger sei das Problem mit den Palästinensern. Auf die entsprechende Frage des Bundeskanzlers erwidert MP Rabin, mit Jordanien könne man erst dann einen Friedensvertrag abschließen, wenn das Palästinenserproblem gelöst sei. Natürlich sei Israel daran interessiert, dass die Haschemiten an der Macht blieben, aber man könne mit Jordanien nicht in Verhandlungen eintreten, bevor sich nicht zumindest eine Lösung für das Palästinenserproblem abzeichne. Dabei zeige sich, dass die Palästinenserführer, die in den besetzten Gebieten lebten, sich pragmatischer verhielten als Arafat und seine Leute. Arafat habe von den tatsächlichen Problemen vor Ort, um deren Lösung es gehe, keine Ahnung. In der ersten Phase gehe es um eine Übergangsregelung für eine Interimsregierung. In der Übergangszeit, für die man fünf Jahre veranschlage, könne man dann weiter über die endgültige Lösung verhandeln. Damit bewege man sich auf der Grundlage des Camp-DavidAbkommens. Auf die Frage des Bundeskanzlers, wie Arafat sich dazu stelle, erwidert MP Rabin, Israel orientiere sich an der Haltung der Palästinenser in den besetzten Gebieten. Diese seien der Partner, mit dem man verhandele und die das Abkommen auch umsetzen müssten. Mit Fortsetzung Fußnote von Seite 1135 israel-syria-separation-of-forces-agreement-1974. Für den deutschen Wortlaut vgl. EUROPA-ARCHIV 1974, D 329 f. 11 Der erste Teil der sechsten Runde der bilateralen Nahost-Verhandlungen wurde vom 24. August bis 3. September 1992 in Washington abgehalten, der zweite Teil vom 14. bis 24. September 1992. Botschafter Stabreit, Washington, teilte am 25. September 1992 mit, eine gemeinsame israelisch-syrische Erklärung sei zwar nicht zustande gekommen, trotz weiter bestehender sachlicher Differenzen lägen die grundsätzlichen Positionen beider Seiten jedoch nicht zu weit auseinander: „Die wichtigste Frage, nämlich das ,Was‘, ist immerhin unumstritten: Frieden gegen Land. […] Das gegenwärtige Ringen im Verhandlungsraum dreht sich um das ,Wie‘, ,Wann‘ und ,Wieviel‘. Diese Fragen zu lösen, wird schwierig sein, aber keinesfalls unmöglich.“ Vgl. DB Nr. 2810/2811; B 36, ZA-Bd. 196082. 12 Der israelische MP Begin, der amerikanische Präsident Carter und der ägyptische Präsident Sadat trafen vom 5. bis 17. September 1978 in Camp David, dem Landsitz des amerikanischen Präsidenten, zusammen, um eine Friedensregelung auszuarbeiten. Für die am 17. September 1978 in Washington unterzeichneten Rahmenwerke für den Frieden im Nahen Osten und für den Abschluss eines Friedensvertrags zwischen Ägypten und Israel vgl. DEPARTMENT OF STATE BULLETIN, Bd. 78 (1978), Heft 2019, S. 7–11. Für den deutschen Wortlaut vgl. EUROPA-ARCHIV 1979, D 47–54. Vgl. ferner AAPD 1978, II, Dok. 271, Dok. 278, Dok. 281 und Dok. 282. Der darauf basierende ägyptisch-israelische Friedensvertrag wurde am 26. März 1979 in Washington unterzeichnet. Vgl. UNTS, Bd. 1136, S. 100–235. Für den deutschen Wortlaut vgl. EUROPA-ARCHIV 1979, D 235–252. Vgl. ferner AAPD 1979, I, Dok. 86 und Dok. 98, sowie FRUS 1977–1980, IX.

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wem diese Palästinenser ihrerseits sprächen, sei ihre Sache. Wenn sie sich mit Arafat rückkoppeln wollten, sollten sie es tun. Er glaube nicht, dass Arafat wirklich zum Fortgang des Friedensprozesses beitragen wolle. Vielmehr schaffe er ständig Hindernisse, u. a., weil er befürchte, dass die örtlichen Palästinenserführer stärker werden. Der Bundeskanzler wirft ein, es gebe neben Arafat natürlich noch radikalere Kräfte. MP Rabin bejaht dies und fügt hinzu, es sei bezeichnend, dass in den letzten Jahren 54 Araber bei internen Auseinandersetzungen umgebracht worden seien, während nur sechs Araber in Auseinandersetzungen mit den israelischen Streitkräften ihr Leben gelassen hätten. Diese Morde innerhalb der arabischen Gruppen schafften natürlich eine Atmosphäre der Angst und des Terrors. Er habe den Palästinenserführern angeboten, dass sie 1993 einen Rat wählen sollten, der die besetzten Gebiete verwalte. Es handele sich nicht um ein gesetzgebendes Organ, sondern um ein Exekutivorgan, das die Aufgabe habe, die inneren Angelegenheiten zu verwalten, wozu u. a. auch eine eigene Polizei gehören werde. Die Sicherheitsangelegenheiten insgesamt blieben, ebenso wie außenpolitische Zuständigkeiten, weiterhin bei der israelischen Regierung. Der Bundeskanzler stellt die Frage, ob Israel davon ausgehe, dass sich Leute für diese Aufgabe fänden. MP Rabin erwidert, dies hänge von den Palästinensern selbst ab; was Israel angehe, sei er bereit, bereits Anfang Dezember zu einer grundsätzlichen Übereinkunft über Wahlen zu kommen und im Februar eine Übereinkunft über die Kompetenzen des Exekutivorgans abzuschließen. Auf die Frage des Bundeskanzlers nach der Haltung von König Hussein von Jordanien erklärt MP Rabin, es gehe um unterschiedliche Verhandlungsstränge. Zum einen würden über das jordanische Problem Verhandlungen geführt, wobei man einer Delegation bestehend aus neun Jordaniern und zwei Palästinensern gegenübersitze. Zum anderen spreche man über das Palästinenserproblem mit einer Delegation, die sich aus neun Palästinensern und zwei Jordaniern zusammensetze. Man verhandele natürlich auch mit dem Libanon. Diese Verhandlungen stellten einerseits ein weniger großes Problem dar, da Israel mit dem Libanon eine international anerkannte Grenze habe und niemand daran denke, diese auch nur um einen Millimeter zu verschieben. Hauptproblem sei aber die Sicherheit im Libanon, wo es keine Regierung gebe, die wirklich in der Lage sei, das Land zu kontrollieren und Terrorgruppen von Angriffen auf Israel abzuhalten. Praktisch sei der Libanon heute ein syrisches Protektorat, und infolgedessen komme es auch hier wieder darauf an, zunächst mit Syrien Fortschritte zu erzielen. Der Bundeskanzler stellt die Frage, ob nicht die Gefahr bestehe, dass Syrien zweigleisig fahre und sozusagen auf zwei Schachbrettern spiele, indem es beispielsweise ein Abkommen über den Golan abschließe, aber gleichzeitig im Libanon weiterhin Schwierigkeiten mache. MP Rabin erwidert, diese Fragen würden in der Tat mit zwei unterschiedlichen Delegationen verhandelt, aber die Syrer wollten auch nicht als diejenigen erscheinen, die in Sachen Libanon das Sagen hätten. Israel akzeptiere die Rolle Syriens im Libanon als ein Faktum. Andererseits sehe er aber deutlich eine Änderung in der Haltung Syriens; er sei daher überzeugt, dass man eine Chance habe. Man werde in zwei Jahren sehen, wie die Dinge sich wirklich entwickelten. Man brauche jetzt eine Atmosphäre, die alle Seiten er1137

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mutige. Natürlich schafften ihm gerade die Gespräche mit Syrien über den Golan zu Hause Probleme, und dies nicht nur bei den Rechtsextremen und den Siedlern, sondern auch in seiner eigenen Partei. Der Bundeskanzler stellt die Frage nach der Rolle von Präsident Mubarak. MP Rabin erwidert, er sei auch mit Mubarak bereits zusammengetroffen13, den er schon vorher gekannt habe. Mubarak sei kein Intellektueller, sondern stehe mit beiden Beinen auf dem Boden. Allerdings sei Mubarak auch frustriert, weil ihm die anderen Araber nicht die Rolle spielen ließen, die er gerne spielen würde. Der Bundeskanzler wirft ein, Ägypten sei geographisch und politisch ein wichtiger Faktor. MP Rabin bejaht dies und fügt hinzu: Mubarak habe ihm gesagt, er habe Assad seinerzeit darauf hingewiesen, dass ihm der Friede mit Israel letztlich Wirtschaftshilfe in Höhe von 50 Mrd. $ eingebracht habe. Ohne diesen Frieden wäre er nicht in der Lage gewesen, sein Land mit dem rasanten Bevölkerungswachstum zu stabilisieren. Assad habe daraufhin Mubarak erklärt, dass die Bevölkerung in Syrien hierfür noch nicht reif sei, was Mubarak seinerseits mit der Bemerkung quittiert habe, wenn Assad wolle, wären die Syrer auch bereit. Im Mittleren Osten habe man es mit einem merkwürdigen Widerspruch zu tun. Auf der einen Seite sehe jeder, dass sich die internationale Szene grundlegend wandele, was auch den Willen, es zum Krieg kommen zu lassen, dämpfe. Andererseits habe man es mit einem beschleunigten Wettrüsten zu tun. Syrien beziehe beispielsweise weiterhin Waffen aus Russland und auch der Slowakei. Mit Hilfe Nordkoreas sei Syrien derzeit dabei, eine Produktion von Scud-Raketen aufzubauen. Der Irak sei kurz davor gewesen, nukleare Waffen bauen zu können. Auch nach der Inspektion durch die Vereinten Nationen gebe es nach wie vor genug irakische Spezialisten, die in der Lage seien, in fünf bis sechs Jahren eine nukleare Fähigkeit zu entwickeln, wenn die irakische Regierung die entsprechenden Mittel bereitstelle. Dann gebe es noch den Iran, der auf nuklearem Gebiet mit China eng zusammenarbeite. Die Iraner hätten gerade ein großes Waffengeschäft mit Russland über 3 – 5 Mrd. US-$ abgeschlossen, wobei es vor allem um den Kauf von Flugzeugen gehe. Die USA wiederum lieferten Waffen an Israel, aber hätten jetzt auch ein großes Waffengeschäft mit SaudiArabien abgeschlossen, was für Israel ein Problem darstelle. Der Bundeskanzler stellt die Frage, wie stabil Saudi-Arabien nach Einschätzung des Ministerpräsidenten sei. MP Rabin erwidert, die Saudis seien nie an einem anderen Krieg gegen Israel beteiligt gewesen. Was die Stabilität dort angehe, könne er dies nicht beurteilen, aber das Haus Saud werde wahrscheinlich nicht für immer bleiben. Der Bundeskanzler wirft ein, Präsident Mubarak habe in diesem Punkt ein noch skeptischeres Urteil. MP Rabin erklärt, Mubarak sei ein stolzer Ägypter, den es wurme, dass er von saudiarabischen Zahlungen abhänge. Dies schaffe keine große Zuneigung. Aus seiner Sicht habe Israel in den nächsten zwei bis fünf Jahren ein „Window of Opportunity“. In diesem Zeitraum habe er drei Ziele: 13 Der israelische MP Rabin hielt sich am 21. Juli 1992 in Ägypten auf.

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– den Friedensprozess voranzubringen; – mehr als eine halbe Million Juden aus der früheren Sowjetunion einzugliedern, was kurzfristig wegen der damit verbundenen wirtschaftlichen Schwierigkeit eine erhebliche Bürde darstelle, aber langfristig sehr wichtig für Israel sei; – die israelische Wirtschaft zu stärken und das Bildungsniveau zu heben, wobei man sehen müsse, dass die israelische Gesellschaft in sich nicht wirklich integriert sei, sondern nach wie vor eine zerbrechliche Struktur habe. Wenn man in zwei bis fünf Jahren diese Ziele nicht erreiche, seien Zweifel angebracht, ob man überhaupt noch dahin komme, denn man wisse nicht, wieviel Macht beispielsweise der islamische Fundamentalismus noch entfalte. Der Bundeskanzler erklärt, aus seiner Sicht komme dem Iran bei der weiteren Entwicklung eine Schlüsselposition zu. Dies werde beispielsweise deutlich an dem iranischen Versuch, auf die Entwicklung in den islamischen Republiken der früheren Sowjetunion Einfluss [zu] nehmen. Ebenso dürfe man die Rolle der Türkei nicht aus den Augen verlieren. Er habe den Eindruck, dass seine Kollegen in Europa die Lage in Bosnien-Herzegowina noch nicht in ihrem vollen Ernst erkennen wollten. Die Serben machten eine Politik wie 1914. Er schließe nicht aus, dass sie unter der Hand ein Arrangement mit Kroatien treffen und beide ihrerseits ein Fait accompli schaffen wollen, in der Annahme, die Sache sei damit gelaufen. Tatsächlich könne aber in Bosnien-Herzegowina der Islam eine Schlüsselrolle spielen. Er glaube nicht, dass die islamische Welt bereit sei, ein solches Fait accompli durch Serben und möglicherweise Kroaten zu akzeptieren. Er erwähne diese Entwicklung, weil das Konzept, das MP Rabin entwickelt habe, aus seiner Sicht nur gelingen könne, wenn nicht an einem anderen Punkt eine Krise entstehe. Er denke aber auch an die Entwicklung in der Türkei. MP Demirel stelle sich zwar entschieden gegen den Fundamentalismus. Bei Präsident Özal sei er sich nicht sicher, was dieser noch tun werde. Beispielsweise sehe er mit Unbehagen, dass sich in der Türkei Freiwillige für den Kampf in Bosnien-Herzegowina anmeldeten. MP Rabin erklärt, er sei der Meinung, dass die islamischen Länder gegenüber BosnienHerzegowina nur Lippenbekenntnisse ablegten. Aber Israel sei sich durchaus des Problems bewusst. Man sei deshalb auch in den islamischen Republiken der früheren Sowjetunion sehr aktiv, beispielsweise in Kasachstan. Die Türkei sei in der Tat sehr beunruhigt über die Versuche des Iran, in die fünf islamischen Republiken der früheren Sowjetunion stärker vorzudringen. Die Türkei sehe darin eine Bedrohung und sei daher sogar bereit, mit Israel Projekte zu koordinieren. So gebe es beispielsweise gemeinsame Landwirtschaftsprojekte in Kasachstan. Der Bundeskanzler erklärt, dies sei für ihn außerordentlich interessant, zumal die islamischen Republiken der früheren Sowjetunion auch sehr an einer Zusammenarbeit mit Deutschland interessiert seien. Er sei bereit, hier etwas zu tun. Der Bundeskanzler stellt die Frage, ob nach Einschätzung von MP Rabin Rafsandschani seine Politik ändern werde. MP Rabin erwidert, man habe nach dem Tod Khomeinis14 große Hoffnung auf Rafsandschani gesetzt, aber bisher noch keine greifbaren Ergebnisse gesehen. Er habe sowohl Bush als auch Baker die Frage gestellt, ob die USA bereit seien, die Beziehungen zum Iran 14 Ayatollah Khomeini verstarb am 3. Juni 1989. Vgl. AAPD 1989, I, Dok. 167.

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zu verbessern. Baker habe erwidert, die USA seien hierzu bereit, wenn der Iran mit den Terroraktionen aufhöre. Dies habe er – Baker – AM Velayati durch die Blume zu verstehen gegeben. Daraufhin habe dieser abgewunken. Der Bundeskanzler erklärt, Deutschland habe uralte Beziehungen zum Iran, nicht zuletzt auf kulturellem Gebiet. Wir hätten 1982 unser Wirtschaftsengagement im Iran stark reduziert. Nunmehr beobachte er mit einem gewissen Interesse, dass Rafsandschani sich in Richtung Deutschland in Bewegung setze. Er telefoniere häufiger mit Rafsandschani und sage ihm dabei auch sehr offen, dass der Iran aus seiner Isolierung heraus und beispielsweise die Beziehungen zu den USA verbessern müsse. Rafsandschani behaupte dann immer, dass die USA dies nicht wollten. In seinen Gesprächen mit Bush und Baker wiederum höre er, dass die Sache genau umgekehrt sei. Er frage sich trotzdem, ob man nicht hier noch einmal einen Versuch unternehmen solle. Der Iran sei nun einmal eine Realität und eine der stärksten regionalen Mächte. Die Frage des Bundeskanzlers, ob Israel zum Iran diplomatische Beziehungen unterhalte, verneint MP Rabin und erklärt, allerdings hätten die Iraner während des Golfkrieges versucht, von Israel Waffen zu erhalten; jetzt wiederum unterstützten sie die Hisbollah im Libanon, die gegen Israel arbeite. Im Übrigen wolle er in diesem Zusammenhang seine Dankbarkeit dafür bekunden, dass die Bundesregierung in der Frage des israelischen Piloten15 so hilfreich gewesen sei. MP Rabin wiederholt, man habe jetzt ein „Window of Opportunity“. Er habe die israelische Position grundlegend verändert. Er habe des Weiteren die Beziehungen zu den USA verbessert und die Kreditbürgschaften durchgesetzt, die man vor allem brauche, um die Infrastruktur zu verbessern und die Industrialisierung Israels voranzubringen. Er wolle noch ein Wort zur Sicherheitslage hinzufügen. Im Nahen Osten sei die militärische Stärke die einzige Garantie dafür, dass man wirklich Frieden erreichen werde. Assad verhandele nur, wenn er wisse, dass er Israel militärisch nicht überwältigen könne. Israel erhalte jedes Jahr von den USA 3 Mrd. $, davon 1,2 Mrd. $ Wirtschaftshilfe und 1,8 Mrd. $ Militärhilfe. Ferner hätten die USA rd. 500 Mio. $ für ein taktisches Raketensystem bereitgestellt. Für Israel sei es lebenswichtig, sich weiterhin gegen Scud-Raketen zu schützen. 9 bis 10 % des israelischen BSP werde für Verteidigung ausgegeben. Auch die Europäer sollten Israel zu helfen.16 Allerdings spielten die Europäer in den Nahost-Verhandlungen keine große Rolle. Man versuche im Übrigen, zusätzlich zu den bilateralen Verhandlungen auch über regionale Kooperation zu sprechen, zumindest gelte es, jetzt den Boden hierfür zu bereiten. Ein wichtiger Punkt für Israel sei die Integration der Neuankömmlinge aus der früheren Sowjetunion. Er habe erhebliche finanzielle Probleme dadurch, dass er die Fehler der früheren Regierung ausbügeln müsse. Die Regierung Schamir habe Unsummen für Siedlungen in den besetzten Gebieten bereitgestellt. Diese Mittel habe er drastisch reduziert, auch zum Teil unsinnige Bauprogramme in Israel selbst habe er gestoppt. Die Einwanderer aus der früheren Sowjetunion müssten größtenteils umgeschult werden. Unter ihnen befänden sich alleine 12 000 Ärzte und 35 000 Ingenieure, darunter 4000 Bergbauingenieure, die Israel nicht brauchen könne. 15 Zum Fall Ron Arad vgl. Dok. 227, Anm. 27. 16 So in der Vorlage.

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Der Vorstandsvorsitzende von Daimler-Benz, Reuter, sei vor wenigen Tagen bei ihm gewesen und habe die Möglichkeiten einer engeren Zusammenarbeit erörtert. Für Israel sei es wichtig, auch mit Deutschland nach Wegen und Möglichkeiten zu suchen, bei der Integration der Neueinwanderer behilflich zu sein. In diesem Zusammenhange wolle er dem Bundeskanzler noch einmal ausführlich für die großzügige deutsche Hilfe im Golfkrieg danken. MP Rabin erwähnt ausdrücklich die U-Boote und die Patriot-Raketen.17 Er wisse, dass diese Hilfe vor allem auf das persönliche Engagement des Bundeskanzlers zurückgehe; dies sei im Übrigen auch der israelischen Öffentlichkeit bewusst. Er wolle ausdrücklich sagen, dass Israel von Deutschland keine Kreditgarantien wolle.18 Möglicherweise könne man aber über Mittel sprechen, die der Wiedereingliederung der Neuankömmlinge dienten. Es gebe bereits einen deutsch-israelischen Fonds für Wissenschaftler, der sehr gut funktioniere. Es gehe nicht um Milliardenbeträge. Der Bundeskanzler erklärt, er wolle diese Frage bei dem Gespräch heute Abend vertiefen und im Übrigen noch einmal seine grundsätzliche Position deutlich machen. Für ihn sei selbstverständlich, dass wir gute und vertrauensvolle Beziehungen zwischen Deutschland in Israel brauchten. Das Experiment von MP Rabin müsse gelingen. Dies sei entscheidend für den Frieden in der gesamten Region. Er hoffe also, dass es in den nächsten vier Jahren keine Wahlen gebe. Der Bundeskanzler wiederholt, er wolle, dass das Experiment von MP Rabin gelinge, weil dies auch über den Tag hinaus wichtig sei. Wenn Israel aus dem derzeitigen Tal heraus sei, werde es eines der wichtigsten Länder sein, denn es werde dann über mehr Innovationskraft verfügen als andere. Dies sei die große Chance. Es liege daher nahe, dass auch die Deutschen dies erkennten. Aus diesem Grunde habe er Edzard Reuter sehr ermutigt, die Reise nach Israel zu machen. Das Gespräch wird beim Abendessen fortgesetzt. Der Bundeskanzler erklärt, er sei sehr befriedigt über die gute Zusammenarbeit zwischen den Diensten. Er wolle dem Ministerpräsidenten versichern, dass wir an einer Fortsetzung dieser Zusammenarbeit großes Interesse hätten. Er sähe mit Sorge, dass die früheren sowjetischen Dienste bei uns weiterarbeiteten. Dies sei vor allem im Hinblick auf die Öffentlichkeit unangenehm. MP Rabin stimmt dem Bundeskanzler ausdrücklich zu, dass die enge Zusammenarbeit in diesem Bereich fortgeführt werden soll. MP Rabin fährt fort, man werde mit dem Friedensprozess im Nahen Osten nur vorankommen, wenn es gelinge, die wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen in Israel zu verbessern. Die Menschen seien bereit zum Frieden und auch bereit, Opfer für den Frieden zu bringen, wenn sie sähen, dass der Frieden ihnen auch einen entsprechenden Lebensstandard bringe. Umgekehrt gelte, dass wachsende wirtschaftliche und soziale Probleme den Prozess unterminieren könnten. Er freue sich, dass Präsident Bush dies verstanden habe. Israel benötige aber auch das Verständnis Europas. Deutschland habe eine Schlüsselrolle in Europa inne, und er hoffe 17 Zu den Unterstützungsleistungen der Bundesrepublik für Israel während des Golfkriegs vgl. AAPD 1991, I, Dok. 35. 18 Zu den deutsch-israelischen Finanzbeziehungen vgl. Dok. 108.

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daher, dass Europa und Deutschland bereit seien, die Probleme Israels zu verstehen und zu helfen. Vor allem müsse Israel Maßnahmen gegen die steigende Arbeitslosigkeit ergreifen. Er sei sich bewusst, dass Deutschland vor einem ähnlichen Problem, vor allem im Osten, stehe. Zurzeit seien mehr als 30 % der Einwanderer aus der früheren Sowjetunion arbeitslos. Hinzu käme die hohe Arbeitslosigkeit unter der arabischen Bevölkerung. Deutsche Unterstützung sei daher insbesondere bei der Integration der Einwanderer aus der früheren Sowjetunion wichtig. Hierbei gehe es vor allem um umfassende Umschulungsprogramme. Des Weiteren müsse Israel seine technologischen Fähigkeiten weiter verbessern. Es gebe bereits einen gemeinsamen Fonds für Wissenschaft und Technologie, in den Deutschland bisher 50 Mio. US-$ und Israel 20 Mio. US-$ eingezahlt hätten. Möglicherweise könne man diesen Fonds verdoppeln. Ferner habe Israel großes Interesse an industrieller Kooperation, auch unter Einbeziehung deutscher Firmen. Als besonders interessante Großprojekte nennt MP Rabin die Autobahn nach Jerusalem und die Modernisierung der Eisenbahnen. Im letzteren Bereich gebe es bereits starkes französisches Interesse. Er habe über dieses Projekt auch mit dem Vorstandsvorsitzenden von Daimler-Benz, Reuter, gesprochen, der sich sehr interessiert gezeigt habe. Mitterrand habe im Prinzip französische Unterstützung zugesagt. Eine weitere Möglichkeit der Hilfe sei die Absicherung von gemeinsamen Kooperationsprojekten in den islamischen Republiken der bisherigen Sowjetunion durch HermesGarantien. Er verstehe, dass Deutschland zurückhaltend sei bei Rüstungsexporten. Es komme aber immer wieder zu unnötigen Verzögerungen bei der Erteilung von Exportlizenzen. MP Rabin nennt als Beispiel die Ersatzteillieferung für den Spürpanzer „Fuchs“ sowie die Probleme, die sich bei der Entwicklung eines Stör- und Täuschsenders (Cerberus)19 für den deutschen Tornado stellten. Er habe beides auch gegenüber AM Kinkel angesprochen.20 19 VLR I Ackermann erläuterte am 4. August 1992, das BMVg wünsche im BSR die Zustimmung „zu dem vorübergehenden Export eines Hochfrequenz-Simulators einschließlich des Transfers der für Testaufbau und Testdurchführung erforderlichen Kenntnisse durch die Firma MBB“. Der Simulator werde für das Programm „Tornado Self Protection Jammer“ (TSPJ) benötigt: „Im Rahmen dieses Programmes (,Cerberus‘), für das der BMVg mit Israel ein Regierungsabkommen geschlossen hat, ist die Lieferung von Baugruppen für einen Störsender für das Kampfflugzeug Tornado aus Israel nach Deutschland vorgesehen.“ Mit dem Simulator solle die Wirksamkeit der in Israel entwickelten Baugruppen nachgewiesen werden. Bei Versagen der Ausfuhrgenehmigung müsse Israel auf Kosten des BMVg einen entsprechenden Simulator in den USA mieten: „Es besteht kein Grund, der Ausfuhr des Hochfrequenzsimulators zu widersprechen. Die Zustimmung des BSR sollte jedoch erst nach der grundsätzlichen Erörterung der wehrtechnischen Zusammenarbeit mit Israel im BSR erfolgen, um eine Präzedenzwirkung zu vermeiden.“ Vgl. B 70, ZA-Bd. 220557. 20 Im Gespräch mit BM Kinkel am 14. September 1992 kritisierte der israelische MP Rabin, dass Israel auf der „Länderliste H“ zur Außenwirtschaftsverordnung stehe: „Zwar schätze Israel die Verschärfung der deutschen Rüstungsexportkontrollen. Die Frage sei jedoch, gegen wen sich dies richte; man finde es merkwürdig, dass Israel nunmehr das ,Opfer‘ derjenigen arabischen Staaten und ihrer Helfershelfer unter den deutschen Firmen werde, welche durch ihre Vergehen diese Verschärfung verursacht hätten.“ Kinkel entgegnete: „Zur Frage der H-Liste wolle er ganz offen sagen, dass er keine Lösungsmöglichkeit sehe; allerdings gehe es nicht um die Verhinderung, sondern um die Genehmigung von Exporten. Persönlich wolle er sich dafür einsetzen, dass bei den Genehmigungen die israelischen Interessen berücksichtigt würden.“ Vgl. den Gesprächsvermerk; B 1, ZA-Bd. 178945.

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Er sei sich bewusst, dass Deutschland gegenüber Israel während des Golfkrieges sehr großzügig gewesen sei. Er habe auch nichts gegen einen Schuldenerlass gegenüber Ägypten.21 Auch wolle Israel keine Verteidigungshilfe von Deutschland haben. Obwohl ihm das immer wieder angeraten werde, wolle er auch nicht die Frage der Wiedergutmachung aufwerfen. Der Bundeskanzler erklärt, er habe dem Ministerpräsidenten bereits bei dem ersten Gespräch seine prinzipielle Position erläutert. Er sei überzeugt, dass Israel ebenso wie Deutschland seine Schwierigkeiten meistern werde, wobei er wisse, was es heiße, 500 000 Flüchtlinge zu integrieren. Deshalb wolle er dem Ministerpräsidenten im Rahmen unserer Möglichkeiten helfen. Das Problem sei allerdings, dass wir finanziell an der Obergrenze angelangt seien. Wir trügen die Hauptbürde für die Entwicklung in Mittel-, Ost- und Südosteuropa. Er bedauere sagen zu müssen, dass unsere EG-Partner uns in dieser Frage weitgehend alleinließen. Zusätzlich gebe es Ärger mit den USA, die jetzt bei der Frage der Umschuldung gegenüber Russland22 rücksichtslos ihre Interessen durchzusetzen versuchten. Er werde über die vom Ministerpräsidenten gemachten Vorschläge rasch innerhalb der Bundesregierung sprechen23 und hoffe im Übrigen auf einen regelmäßigen Kontakt mit MP Rabin. Der Bundeskanzler stellt die Frage, was Umschulung im Einzelnen bedeute. MP Rabin erwidert, Israel müsse Ärzte, Lehrer etc. auf neue Berufe hin orientieren und stelle hierfür jedes Jahr 100 Mio. US-$ bereit. Auf die entsprechende Gegenfrage des Bundeskanzlers erklärt MP Rabin, er wünsche hierfür von Deutschland finanzielle Unterstützung. Der Bundeskanzler erklärt, die Vorschläge zu einer verbreiterten Zusammenarbeit von Wissenschaft und Technologie halte er für eine gute Idee. Er sei auch zu einer Verdoppelung bereit, wolle die Frage aber noch im Detail mit den zuständigen Ministerien besprechen. MP Rabin erklärt, man habe gerade mit Frankreich einen entsprechenden Fonds über 250 Mio. US-$ vereinbart. Der Bundeskanzler fährt fort, was die industrielle Kooperation angehe, werde er möglicherweise mit Herrn Reuter und anderen Leuten aus der Industrie sprechen, um zu sehen, was man hier tun könne. Dazu gehöre auch das Eisenbahnprojekt. Auch die Frage von Hermes-Garantien für eine evtl. Kooperation in den Nachfolgerepubliken der früheren Sowjetunion werde er prüfen. Botschafter Navon wirft die Frage auf, ob man für einen gemeinsamen Fonds nicht den Nettorückfluss aus der Entwicklungshilfe nutzen könne. MP Rabin wirft an dieser Stelle ein, Israel sei bereit zurückzuzahlen, was Deutschland an Krediten zur Verfügung gestellt habe. Der Bundeskanzler erklärt, das Hauptproblem in dieser Frage sei der Präzedenzfall. Botschafter Navon wirft noch einmal die Frage nach den Ersatzteillieferungen für „Fuchs“ auf. Dabei gehe es vor allem darum, dass die Lieferungen schnell erfolgen müssten. Der Bundeskanzler erklärt, wir wollten grundsätzlich nicht der Waffenexporteur Nr. 1 sein. Er verfolge daher prinzipiell eine mittlere Linie. Aber auch hierbei treffe er immer auf Schwierigkeiten mit der Opposition. 21 Zum Schuldenerlass der Bundesrepublik für Ägypten vgl. Dok. 169, Anm. 15. 22 Zur Frage der Altschulden der ehemaligen UdSSR vgl. Dok. 321. 23 Zur Umsetzung der Ergebnisse des Besuchs des israelischen MP Rabin vom 14. bis 16. September 1992 vgl. Dok. 337.

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14. September 1992: Gespräch zwischen Kohl und Rabin

Botschafter Navon wirft die Frage eines dritten U-Bootes auf und weist darauf hin, dass am 1. Juli 1993 die Option für ein drittes U-Boot auslaufe. Der Bundeskanzler erklärt, man werde im April 1993 auf die Frage zurückkommen. Der Bundeskanzler sagt erneut Prüfung der israelischen Vorschläge zu und fügt hinzu, er werde möglicherweise auch einen Beauftragten nach Israel schicken, um die Anträge weiter zu besprechen. Der Bundeskanzler wirft sodann die Frage des Antiboykottgesetzes24 auf und erklärt, leider habe man hier innerhalb der Bundesregierung übersehen, dass durch den jetzt vorgesehenen Termin erhebliche Regressforderungen auf die Bundesregierung zukommen könnten.25 Er schlage vor, dass die Frage im Detail zwischen dem Auswärtigen Amt und dem Botschafter besprochen werde.26 Er wolle nur noch einmal klarstellen, dass es nicht um eine prinzipielle Änderung gehe. Das Ganze sei für ihn eine sehr ärgerliche Sache. MP Rabin erklärt, für ihn wäre es ein großes politisches Problem, wenn eine solche Änderung mit seinem Besuch in Bonn in Zusammenhang gebracht werde. Er bitte daher darum, eine Entscheidung über den Termin von seinem Besuch zeitlich abzukoppeln. Natürlich sei er darüber hinaus über die Sache als solche sehr unglücklich. Edzard Reuter habe ihm gesagt, die neue Regelung bedeute für die deutsche Industrie kein Problem. Der Bundeskanzler sagt zu, dass die Angelegenheit zeitlich unabhängig von dem Besuch von MP Rabin geregelt werde.27 MP Rabin stellt die Frage, wie es in Europa weitergehe.

24 Zur Einführung einer nationalen Anti-Boykott-Regelung vgl. Dok. 233. 25 MDg von Kyaw legte am 4. September 1992 dar, das BMWi habe mit „Rücksicht auf die Interessenlage der deutschen Exportwirtschaft“ vorgeschlagen, „die Frist bis zum Inkrafttreten der Anti-BoykottVerordnung, die nach jetziger Rechtslage am 1.11.1992 wirksam werden soll, um sechs Monate zu verlängern“. Gegenüber Israel könne ein solcher Schritt damit begründet werden, „dass die ursprünglich vorgesehene Frist bis zum Inkrafttreten der VO zu kurz bemessen sei, um den Unternehmen eine wirtschaftlich vertretbare und zumutbare Umstellung auf die neue Rechtslage zu erlauben. […] Das Auswärtige Amt sollte gegenüber dem BMWi aber ganz deutlich machen, dass eine weitere Fristverlängerung außenpolitisch nicht mehr hingenommen werden kann.“ Vgl. B 222, ZA-Bd. 175834. 26 Am 17. September 1992 fand ein Gespräch zwischen StS Kastrup und dem israelischen Botschafter Navon statt, in dem Kastrup die Gründe erläuterte, weshalb die am 21. Juli 1992 beschlossene Anti-BoykottVerordnung erst zum 30. April 1993 in Kraft treten solle. Die Bundesregierung wolle die Änderung der Verordnung „geräuschlos und zeitlich deutlich abgesetzt von dem Besuch vornehmen“. Navon zeigte sich enttäuscht und schlug „Sondergenehmigungen“ für betroffene Firmen vor. Kastrup machte „unmissverständlich deutlich, dass die Entscheidung über die Fristverlängerung mit Rücksicht auf die besonders betroffenen Branchen (insbesondere Maschinen- und Anlagenbau) in der Sache praktisch gefallen sei. […] Israel solle doch auch bedenken, dass sich die Bundesregierung gegen erheblichen innenpolitischen Widerstand in dieser Frage durchgesetzt habe. Nach vierzig Jahren Praxis in der Frage sollte eine Fristverlängerung von sechs Monaten nicht dramatisiert werden.“ Vgl. B 222, ZA-Bd. 175834. 27 Referat 413 vermerkte am 20. Oktober 1992, mit Kabinettsbeschluss vom 7. Oktober 1992 sei das Inkrafttreten der Anti-Boykott-Verordnung auf den 1. Mai 1993 festgesetzt worden. Vgl. B 222, ZABd. 175834.

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14. September 1992: Vorlage von Barth

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Der Bundeskanzler erwidert, wenn das französische Referendum positiv ausgehe, werde man weiter vorankommen. Bei einem negativen Ausgang werde er von sich aus eine Initiative ergreifen. MP Rabin erklärt, viele Leute fragten sich, wie es denn tatsächlich möglich sein werde, eine europäische Außenpolitik zu betreiben, wenn man betrachte, wie Europa sich im Fall Jugoslawien verhalten habe. Der Bundeskanzler erwidert, dies sei genau der Beweis für seine These, dass wir eine Politische Union brauchten. MP Rabin teilt mit, dass der französische Präsident Mitterrand Ende November Israel einen Besuch abstatte.28 Unter Hinweis auf sein bevorstehendes Gespräch mit Verteidigungsminister Rühe erklärt MP Rabin, wenn die deutschen Streitkräfte zu viele Lastwagen hätten, wäre Israel sehr interessiert. MP Rabin erklärt abschließend, er wolle den Bundeskanzler offiziell zu einem Besuch in Israel einladen. Den Zeitpunkt könne er selbst bestimmen. Der Bundeskanzler erklärt, er nehme diese Einladung sehr gerne an.29 BArch, B 136, Bd. 59736

283 Vorlage des Vortragenden Legationsrats I. Klasse Barth für Bundesminister Kinkel 412-401.00/10

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Über Dg 41, D 42, Herrn Staatssekretär3 Herrn Bundesminister4 Betr.: Wechselkursanpassung im EWS und Senkung der Leitzinsen durch die Deutsche Bundesbank Zweck der Vorlage: Zur Unterrichtung Die EG-Finanzminister und -Notenbankgouverneure haben gestern Abend (13.9.) gemäß dem im EWS vereinbarten Verfahren auf Antrag Italiens und Deutschlands ein Realignment mit sofortiger Wirkung beschlossen. Die italienische Lira wurde im Ergebnis um 7 % abgewertet („technisch“ wurde sie gegenüber dem bisherigen Leitkurs um 3,5 % abgewertet, während alle anderen teilnehmenden Währungen um 3,5 % aufgewertet wurden). 28 Der französische Staatspräsident Mitterrand besuchte Israel vom 25. bis 27. November 1992. 29 BK Kohl hielt sich vom 5. bis 8. Juni 1995 in Israel auf. 1 2 3 4

Die Vorlage wurde von VLR Döring konzipiert. Hat, auch in Vertretung des MD Dieckmann, MDg von Kyaw am 14. September 1992 vorgelegen. Hat StS Lautenschlager am 14. September 1992 vorgelegen. Hat BM Kinkel am 14. September 1992 vorgelegen. Hat OAR Salzwedel am 15. September 1992 vorgelegen, der den Rücklauf an Referat 412 verfügte. Hat VLR I Barth am 16. September 1992 erneut vorgelegen.

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14. September 1992: Vorlage von Barth

Diese seit Januar 19875 erste Wechselkursanpassung im EWS wurde trotz aller Dementis (z. B. noch beim informellen Finanzministertreffen vor einer Woche in Bath6) erforderlich, da sich die Spannungen im System in den vergangenen Tagen derart verstärkt hatten, dass sich auch mit umfangreichen Interventionen gegen die Marktkräfte nichts mehr ausrichten ließ. Noch am Freitag7 hatten Bundesbank und italienische Zentralbank vergeblich versucht, der Flucht aus der Lira durch deren Ankauf in Höhe von mehreren Milliarden DM entgegenzutreten. Die Bundesbank hat das Realignment mitermöglicht durch ihre Zusage, heute die deutschen Leitzinsen zu senken. Der Zentralbankrat fasste dementsprechend heute Morgen folgende Beschlüsse: Der Lombard wird um 0,25 Prozentpunkte auf 9,5 % und der Diskont um 0,5 Prozentpunkte auf 8,25 % gesenkt. Außerdem wird der Wertpapierpensionssatz im Rahmen eines Mengentenders auf 9,2 % festgesetzt. Bisher hatte dieser Satz bei 9,7 % nahe am Lombardsatz gelegen. Die Bundesbank hat damit ihre Diskonterhöhung vom 16.7. (von 8 % auf 8,75 %)8 weitgehend revidiert und den als Steuerungsinstrument für den Geldmarkt wichtigen Lombardsatz, der seit Dezember 1991 bei 9,75 % lag, leicht zurückgenommen. Zusätzlich machte sie mit der Senkung des Wertpapierpensionssatzes im Rahmen ihrer Offenmarktpolitik deutlich, dass sie den Geldmarktzins wieder deutlich unter den Lombardsatz zurückführen will. BM Waigel hat sich befriedigt über die Wechselkursanpassung geäußert (Funktionsfähigkeit des Systems, Überwindung von Spannungen) und sie als Voraussetzung für die von der Bundesbank zu beschließende Leitzinssenkung gewertet. Beides zusammen sei ein wichtiges positives Signal für die Konjunktur in Deutschland, Europa und der Welt. Die Bundesbank hat ihre heutige Entscheidung nur knapp als Reaktion auf ein durch das Realignment verändertes Umfeld bezeichnet. Wertung: Aus europa- und währungspolitischer Sicht sind die gestrigen und heutigen Beschlüsse außerordentlich zu begrüßen. Sie haben zu einem günstigen Zeitpunkt (französisches Referendum9) Spannungen beseitigt oder zumindest gemildert, die das EWS und damit die europapolitische Diskussion zunehmend belastet haben. PM Bérégovoy hat noch mit Schreiben vom 10.9.1992 an BK Kohl auf die dramatische währungspolitische Situation und ihre gefährlichen Folgen für die wirtschaftliche Entwicklung in Europa aufmerksam gemacht. Er warb bei voller Respektierung der Unabhängigkeit der Bundesbank um eine 5 Zur Anpassung der Wechselkurse am 12. Januar 1987 vgl. Dok. 272, Anm. 6. 6 Im Anschluss an ein informelles Treffen der Finanzminister und Notenbankpräsidenten der EGMitgliedstaaten am 5. September 1992 erklärte der britische FM Lamont in seiner Eigenschaft als amtierender EG-Ratspräsident in einer Pressekonferenz, es sei eine entsprechende Entscheidung vom 28. August 1992 bekräftigt worden, keine Wechselkursanpassung im EWS vorzunehmen. Auf eine Frage des Journalisten Boris Johnson (Daily Telegraph), „to reaffirm the declaration of 7 days ago not to realign, did any delegation, and I am thinking particularly of the German Minister, speak in favour of a realignment in any sense at all“, führte Lamont aus: „No, we are not in favour of altering exchange rate parities and indeed I think it is a very important part of the whole process of monetary cooperation that we should see greater stability within the EMS, all governments in recent years have expressed themselves in favour of stability within the EMS and the governments today confirmed that.“ Vgl. die Anlage zu SB Nr. 2993 des Bundesbankoberrats Bengs, London, vom 8. September 1992; B 223, Bd. 171983. 7 11. September 1992. 8 Zur Erhöhung des Diskontsatzes vgl. Dok. 229, Anm. 27. 9 Zum Referendum am 20. September 1992 in Frankreich über das Vertragswerk von Maastricht vgl. Dok. 293 und Dok. 300.

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14. September 1992: Vorlage von Barth

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koordinierte Zinssenkungsaktion. In Italien wurden – allerdings zu Unrecht – einseitig die hohen deutschen Leitzinsen für den Vertrauensverlust der Lira verantwortlich gemacht. Der jetzige, beträchtliche Abwertungsschritt dürfte der italienischen Regierung, deren Reformprogramm10 auf Hindernisse stößt, politisch nur in Verbindung mit der Bundesbankzusage möglich gewesen sein. Dementsprechend stellt das Kommuniqué des Währungsausschusses11 den Zusammenhang zwischen italienischen Reformzusagen und deutscher Zinssenkung heraus. Bedenklich an der Entscheidung könnte im Hinblick auf die WWU einmal sein, dass nun doch ein Realignment unumgänglich wurde, nachdem die fünfjährige Ruhe auch als Beweis für die verbesserte Konvergenz der europäischen Volkswirtschaften und damit deren Reife für die WWU herangezogen wurde. Allerdings ist eine weitere Wechselkursanpassung bis zum Eintritt in die dritte Stufe nie ausgeschlossen worden. Dies gilt insbesondere für Mitgliedstaaten wie Italien, die noch weit von der erforderlichen Konvergenz entfernt sind. Auch wenn Italien die Entscheidung politisch schwergefallen sein mag, ist sie sachlich voll gerechtfertigt und beweist auch, wie ernst die Verpflichtung zur wirtschaftlichen Konvergenz im Hinblick auf die WWU genommen wird.12 Bemerkenswert ist andererseits die Rolle der Bundesbank. Sie hat in dieser Situation übergeordnete politische Gesichtspunkte nicht nur zur Kenntnis nehmen, sondern auch berücksichtigen müssen. Während sie ihre Zinsentscheidung im Juli noch (fast) ausschließlich im Rahmen ihres binnenwirtschaftlichen Stabilitätsauftrags getroffen hat, musste sie nun auch dem europa- und währungspolitischen Umfeld Rechnung tragen. Dies als „Kniefall“ zu bezeichnen, dürfte zu weit gehen und in niemandes Interesse liegen. Ihre knappe Stellungnahme spricht allerdings nicht dafür, dass sie die Entscheidung aus Überzeugung getroffen hat. Eine wesentliche Beeinträchtigung ihrer Reputation als unabhängige Hüterin der Geldwertstabilität und damit als Modell für die Europäische Zentralbank dürfte angesichts des allgemeinen Rufs nach Zinserleichterungen kaum zu befürchten sein. Vielmehr zeigt der Vorgang die gewachsene Interdependenz der europäischen Volkswirtschaften, der sich auch die Bundesbank nicht auf Dauer unter ständigem Hinweis auf ihre Rolle als Hüterin der deutschen Geldwertstabilität entziehen kann. Insofern hat das EWS in einer kritischen Situation erneut seine Funktionsfähigkeit bewiesen. Die EWS-Wechselkursanpassung sollte ausreichen, die erforderliche Stabilität im System auf mittlere Sicht vorerst wiederherzustellen, vorausgesetzt, dass das französische Referendum zugunsten von Maastricht ausgeht. Dass andere Währungen durch das Realignment, die, wie das britische Pfund, zuletzt ebenfalls Schwächeneigung zeigten, formal unberührt blieben, ist i. S. einer „Schadensbegrenzung“ positiv zu werten. Das britische Pfund dürfte sich angesichts der Entschlossenheit der britischen Regierung, vor allem aber der jüngsten Wirtschaftsdaten (z. B. niedrige Inflationsrate), wieder stabilisieren.13 Barth B 52, ZA-Bd. 173718 10 Zum Reformprogramm der italienischen Regierung vgl. Dok. 207, Anm. 19. 11 Für das Kommuniqué vom 13. September 1992 vgl. BULLETIN DER EG 9/1992, S. 12. 12 Die italienische Lira schied am 17. September 1992 aus dem EWS aus. Vgl. den Artikel „Schwerste EGGeldkrise seit 1979“; BERLINER ZEITUNG vom 18. September 1992, S. 1. 13 Zur Suspendierung der Mitgliedschaft des britischen Pfunds im EWS am 16. September 1992 vgl. Dok. 290.

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14. September 1992: Vorlage von Mülmenstädt

284 Vorlage des Vortragender Legationsrats Mülmenstädt für Bundesminister Kinkel 213-321.39 KAS

14. September 19921

Über Dg 212, D 23, Herrn Staatssekretär4 Herrn Bundesminister5 Betr.:

Deutsche in Kasachstan und Kirgistan; hier: Ergebnisse der Reise von PStS Dr. Waffenschmidt nach Kasachstan und Kirgistan, 3.–8.9.92

Zweck der Vorlage: Zur Unterrichtung 1) PStS Dr. Waffenschmidt besuchte auf Bitten des AA mit einer umfangreichen Delegation aus Vertretern der Ressorts, der deutschen Wirtschaft und einiger Hilfsorganisationen Kasachstan und Kirgistan, um sich über die Lage der Deutschen in beiden Ländern (KAS: mindestens 1 Mio., KIR: mindestens 75 000) ein genaues Bild zu machen. In beiden Staaten wurden Gespräche mit den Präsidenten und mit Vertretern der Deutschen geführt sowie konstituierende Sitzungen der jeweiligen Regierungskommissionen zur deutschen Minderheit abgehalten. Der Erfolg der Reise von PStS Waffenschmidt besteht vor allem darin, dass in Kasachstan erstmals auf das eigentliche – psychologische – Problem der Deutschen und auf ihren Stellenwert für die bilateralen Beziehungen hingewiesen wurde. Das Echo in Kasachstan und Kirgistan auf diese Botschaft fiel völlig unterschiedlich aus. 2) Sowohl der kasachische Präsident Nasarbajew als auch der kirgisische Präsident Akajew haben zugesagt, mit der Bundesregierung ein Gleichberechtigungsabkommen für die Deutschen zu schließen, um damit ihre rechtliche und kulturelle Stellung im Lande zu festigen. Den Deutschen sollen darüber hinaus mehr Möglichkeiten für den Deutschunterricht, deutsche Schulen, deutsche Fernseh- und Radiosendungen eingeräumt sowie Existenzgründungen erleichtert werden. Bei seinem Besuch in Bonn vom 21.9. bis 23.9.1992 will Präsident Nasarbajew mit Bundeskanzler Helmut Kohl in einer Erklärung dieses Gleichberechtigungsabkommen ankündigen.6 1 2 3 4 5

Die Vorlage wurde von LR I Foth konzipiert. Hat MDg von Studnitz am 15. September 1992 vorgelegen. Hat in Vertretung des MD Chrobog MDg Schilling am 15. September 1992 vorgelegen. Hat StS Kastrup am 15. September 1992 vorgelegen. Hat BM Kinkel am 17. September 1992 vorgelegen. Hat OAR Salzwedel am 18. September 1992 vorgelegen, der den Rücklauf über das Büro Staatssekretäre, MD Chrobog und MDg von Studnitz an Referat 213 verfügte. Hat VLR I Reiche am 21. September 1992 vorgelegen. Hat, auch in Vertretung von Chrobog, Studnitz am 21. September 1992 erneut vorgelegen. 6 Vgl. die Erklärung von BK Kohl am 22. September 1992 anlässlich der Unterzeichnung der deutschkasachischen Gemeinsamen Erklärung; BULLETIN 1992, S. 942. Zum Besuch des kasachischen Präsidenten Nasarbajew vom 21. bis 23. September 1992 vgl. Dok. 297.

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14. September 1992: Vorlage von Mülmenstädt

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Präsident Nasarbajew hat außerdem zugesagt, vor dem für Oktober 1992 geplanten Kongress der Kasachstan-Deutschen in Alma Ata seine Politik zu den Deutschen in Kasachstan zu erläutern. (Dieser wird nach hiesiger Einschätzung wohl nicht stattfinden, da die Deutschen Kasachstans bisher nicht in der Lage waren, sich selbst zu organisieren und der Kongress schon einmal verlegt wurde.)7 Kasachstan hat, anders als andere Republiken der ehemaligen UdSSR (Russland, Ukraine, Kirgistan), bislang für seine deutschen Mitbürger fast nichts getan. Nasarbajew koppelt Maßnahmen für die Deutschen überdies an wirtschaftlich-finanzielle Zugeständnisse der BReg (gleicher Anteil an dem 5 Mrd.-HermesPlafond für die ehemalige UdSSR8 wie Russland und die Ukraine, günstige Kredite, Technische Hilfe, Expertenunterstützung bei Privatisierung).9 Präsident Akajew, der aktiv und glaubwürdig für eine Politik der Verständigung und des Ausgleiches zwischen den Nationalitäten eintritt, zeigte sich im Gespräch mit PStS Waffenschmidt sehr viel konzilianter und sagte Folgendes zu: – Sicherung der deutschen Umgangs- und Amtssprache in kompakten Siedlungsgebieten. – Eine deutsche Abteilung an der neuen Management-Hochschule Bischkek. – Ausbau der beiden deutschen Kulturbezirke mit schulischen und kulturellen Einrichtungen. – Erhebung der Kulturbezirke zu nationalen Rayons mit territorialer Selbstverwaltung, wenn Deutschland in größerem Umfang Präsenz in Kirgistan zeigt, sodass im Vielvölkerstaat einseitige Maßnahmen zugunsten der Deutschen durchsetzbar sind (Akajew: Dann wird er den „Mut“ zu diesem Schritt haben). 3) In vielen Treffen mit Deutschen beider Länder bestätigte sich die Einschätzung des AA, dass offenbar der weitaus größte Teil jegliches Vertrauen in eine Zukunft in Gemeinschaft mit der jeweiligen Titularnation, von deren Nationalismus man sich verdrängt fühlt, und auf den Willen der Führung, dem entgegenzuwirken, verloren hat und daher nach Deutschland ausreisen möchte. Andere Ansiedlungsgebiete innerhalb der ehemaligen UdSSR 7 Der Kongress der deutschen Minderheit in Kasachstan fand am 29./30. Oktober 1992 statt. BR Weishaupt, Alma Ata, berichtete am 2. November 1992, der kasachische MP Tereschtschenko habe eine Grußbotschaft von Präsident Nasarbajew vorgelesen, der sich in der Türkei aufgehalten habe. Außerdem sei ein „Unionsrat der Deutschen“ gebildet worden. Ferner sei Kritik geäußert worden am nach Ansicht der Teilnehmer „etwas zu populistischen Stil“ des Beauftragten der Bundesregierung für Aussiedlerfragen, PStS Waffenschmidt, BMI. Vgl. SB Nr. 141; B 41, ZA-Bd. 171756. 8 Zum Kabinettsbeschluss vom 22. Januar 1992 zur Deckung für Ausfuhrgeschäfte mit GUS-Mitgliedstaaten vgl. Dok. 24. 9 MDg von Studnitz teilte der Botschaft in Alma Ata am 15. September 1992 mit: „Im Nachgang zu der Absprache PStS Waffenschmidt – Präs[ident] Nasarbajew über ein zu schließendes bilaterales Abkommen zu den Deutschen hat kas[achische] Vorabdelegation hier ein Memorandum übergeben […] als Entwurf für den o. g. Vertrag. Junktim zwischen kas. Maßnahmen zugunsten der Deutschen und deutscher finanzieller Leistung wurde wiederholt (im Memorandum ist von DM 1 Mrd. die Rede).“ Studnitz wies die Botschaft an, gegenüber der kasachischen Seite zu erklären, dass die Bundesregierung „jegliche Verknüpfung der Frage der Deutschen mit der Höhe von Transferleistungen an Kasachstan“ zurückweise. Ferner führte er aus: „Hier besteht darüber hinaus der Eindruck, dass sich Kasachstan bei der Vergabe von Hermes-Deckungen im Verhältnis zu Russland und der Ukraine diskriminiert fühlt. Hierfür besteht kein Grund, da es keine fixe Länder-Zuteilung innerhalb des 5 Mrd.-Plafonds gibt. Kasachstan nutzt bereits das Instrumentarium in Höhe von DM 270 Mio. Gegenwärtig stattfindende Gespräche zielen darauf ab, die Hermes-Deckungen an Kasachstan auf über DM 400 Mio. anzuheben.“ Vgl. DE Nr. 196; B 41, ZA-Bd. 171756.

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14. September 1992: Vorlage von Mülmenstädt

werden mit der gleichen Begründung zurückgewiesen („und selbst, wenn Jelzin es ernst meinen sollte mit der Wolga-Republik10, wer weiß, was nach ihm kommt“). Die Deutschen brachten ihrerseits folgende Anliegen vor: – deutsche kulturelle und wirtschaftliche Hilfe in ihren heutigen Siedlungsschwerpunkten, – aus prinzipiellen Erwägungen Einsatz der BReg für die Wolga-Republik als Symbol der Wiedergutmachung für die Russlanddeutschen, auch wenn ihr Territorium kleiner ausfalle als früher und man selbst nicht hinziehe, – Offenhalten der Ausreisemöglichkeiten nach Deutschland. 4) PStS Waffenschmidt erwartet von den deutschen Botschaften Alma Ata und Bischkek die Einrichtung einer ständigen „Kultur- und Wirtschaftskonferenz“ bzw. einer „Entwicklungskonferenz“ zur Förderung der Zusammenarbeit zwischen kasachischen bzw. kirgisischen und deutschen Organisationen im Interesse der Deutschen. Darüber hinaus wird er Sie bei Gelegenheit auf den Einsatz von speziellen Minderheitenreferenten in den Botschaften Alma Ata und Bischkek ansprechen (nach dem Modell Moskau).11 Die BReg wird neben einem Konzept für allgemeine Hilfen (was von ChBK vom BMI angefordert worden ist) auch eines zur Informationspolitik gegenüber den Deutschen entwickeln müssen, die in keiner Weise über unsere Politik und Hilfen bzw. über das, was sie in Deutschland wirklich erwartet, im Bilde sind. PStS Waffenschmidt reduziert die Ausreisewünsche der Deutschen auf Informationsmangel. Er will nicht sehen, dass die Deutschen letztlich trotz aller (angesichts leerer Kassen notwendigerweise begrenzten) Bemühungen der BReg überwiegend ausreisen werden. Eine Umfrage unter den Deutschen, die diese Einschätzung des AA bestätigen würde, lehnte PStS Waffenschmidt auf der Reise explizit ab: Das Ergebnis würde die Ausreisetendenz nur weiter verstärken. (AA hat sich in einer von ChBK angeforderten Analyse zur Lage der Deutschen im August12 für eine solche Umfrage ausgesprochen.) Es wird darauf ankommen, bei dem bevorstehenden Besuch von Präsident Nasarbajew bei einem unter den gegenwärtigen Umständen maximalen Engagement der BReg für die Deutschen und für Kasachstan im Allgemeinen auf den Eigenanteil Kasachstans an einer Politik der Ausreiseverhinderung zu bestehen und jegliches Junktim mit anderen Bereichen zurückzuweisen. Mülmenstädt B 41, ZA-Bd. 171756

10 Zur Frage der Errichtung einer „Wolga-Republik“ vgl. Dok. 117. 11 Vgl. den Bericht des Beauftragten der Bundesregierung für Aussiedlerfragen, PStS Waffenschmidt, BMI, vom 9. September 1992 über seinen Besuch vom 3. bis 8. September 1992 in Kasachstan und Kirgisistan, der einem Schreiben vom selben Tag an BM Kinkel beigefügt war; B 63, ZA-Bd. 170560. 12 Für den Vermerk von Referat 213 vom 11. August 1992 zur Lage der Deutschen in der ehemaligen UdSSR vgl. B 41, ZA-Bd. 158741.

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15. September 1992: Vermerk von Mettenheim

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285 Vermerk des Vortragenden Legationsrats von Mettenheim 223 (206)-321.10 SPA

15. September 19921

Von BM noch nicht gebilligt! Betr.:

Deutsch-spanische Konsultationen auf Sylt am 13./14.9.1992; hier: Ergebnisvermerk, politische Fragen

Deutsche Gesprächspartner hoben die herausragende Rolle Spaniens bei der europäischen Einigung hervor. Bundeskanzler verband dies mit einem Dank an Spanien, das die deutsche Einigung „wie kein anderes Land der EG“ unterstützt habe. Diskussionen waren durch die Abwesenheit bilateraler Probleme gekennzeichnet. MP González stimmte zu, dass Ziel der bilateralen Konsultationen eine Verstärkung der Zusammenarbeit mit dem Zweck, die europäische Einigung voranzutreiben, sein müsse. BM Kinkel führte am Nachmittag des 13.9.1992 mit AM Solana ein Vier-Augen-Gespräch. Gleichzeitig konferierte StMin Seiler-Albring mit ihrem spanischen Amtskollegen Westendorp (hierzu gesonderter Vermerk von Referat 4162). Aus dem Bericht des BM an das Plenum der deutsch-spanischen Konsultationssitzung am 14.9.1992 wird festgehalten: 1) BM Kinkel berichtete vor allem über Ergebnisse des informellen AM-Treffens in Brocket Hall3: Jugoslawien: Der Owen-Bericht4 sei Anlass zu bescheidener Hoffnung; immerhin sei ein Teil der schweren Waffen unter Kontrolle. Jetzt ginge es darum, die Londoner Beschlüsse5 schnell 1 VLR von Mettenheim verfügte die Weiterleitung an das Ministerbüro „m[it] d[er] B[itte], Billigung des BM herbeizuführen“. Ferner verfügte er die Weiterleitung an VLR I Huber und LR I König „z[ur] K[enntnisnahme]“. Hat Huber und König am 29. September 1992 vorgelegen. 2 VLR I Jess vermerkte am 15. September 1992, in dem Gespräch zwischen StMin Seiler-Albring und dem StS im spanischen Außenministerium, Westendorp, seien folgende Themen erörtert worden: die Ratifikation des Vertragswerks von Maastricht, das französische Referendum am 20. September 1992, die EGErweiterung, das „Delors-Paket II“, die Vollendung des Europäischen Binnenmarkts, das EG-Bananenregime, die GATT-Verhandlungen, der Sitz der Europäischen Zentralbank, die Erhöhung der Zahl der Abgeordneten des Europäischen Parlaments sowie Fragen der Subsidiarität. Vgl. B 26, ZA-Bd. 173496. 3 Zum informellen Treffen der Außenminister der EG-Mitgliedstaaten im Rahmen der EPZ am 12./13. September 1992 vgl. BULLETIN DER EG 9/1992, S. 78. 4 Botschafter Jelonek, Genf (Internationale Organisationen), informierte am 15. September 1992, die beiden Ko-Vorsitzenden der Jugoslawien-Konferenz, Lord Owen und Vance, hätten die Botschafter der EGMitgliedstaaten am selben Tag über ihre Gespräche in Zagreb, Sarajevo und Belgrad vom 9. bis 11. September 1992 informiert: „Zur Kontrolle schwerer Waffen äußerte sich Lord Owen optimistisch. Er rechnet zwar nicht damit, dass bereits an diesem Freitag alle drei Konfliktparteien definitiv diese Waffen den VN unterstellen würden, dass es aber doch innerhalb kürzester Frist (ca. 14 Tage) dazu kommen werde, und zwar schrittweise, damit die Beteiligten ihr Gesicht gegenüber ihren eigenen Leuten wahren könnten.“ Auf die Frage nach einer Prozedur zur Kontrolle habe Owen erklärt: „Eine Durchsetzung der Kontrolle gegen den Willen der Parteien könne man nur als Alptraum bezeichnen. Diese Frage müsse vielmehr in

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und vollständig durchzusetzen. Besonders Maßnahmen der humanitären Hilfe müssten jetzt schnell umgesetzt werden. Ein effizientes Überflugverbot müsse im Rahmen der VN verwirklicht werden. BM wies darauf hin, dass das Embargo in der Adria6 immerhin teilweise erfolgreich sei. Der kommerzielle Schiffsverkehr habe sich um 2/3 verringert. Der absolute Ausschluss von Ex-Jugoslawien aus den VN habe im Zwölferrahmen keinen Konsens gefunden. Kompromiss liefe auf zeitweise Nichtteilnahme hinaus. Zwölf hätten die „leicht veränderte Rolle von Panić“ gewürdigt. Er habe, zusammen mit anderen, aber noch erhebliche Zweifel. Insgesamt seien in der Jugoslawien-Politik der Gemeinschaft noch keine durchschlagenden Erfolge, aber eine Verbesserung der Koordinierung erreicht worden. (BMVg Rühe berichtete aus seinem Gespräch mit dem spanischen Amtskollegen, man sei sich darüber einig gewesen, dass ein militärischer Einsatz in Jugoslawien hohe Risiken berge, und zu dem Schluss gekommen, dass eine militärische Lösung nicht möglich sei. Verteidigungsminister beider Länder hielten es daher für angebracht, politischen und wirtschaftlichen Druck zur Durchsetzung der gemeinsam festgelegten allgemeinen Grundsätze unserer Jugoslawien-Politik zu verstärken. Verteidigungsminister Vargas ergänzte hierzu, fremde Soldaten im ehemaligen Jugoslawien seien letztlich nichts anderes als Geiseln. Die öffentliche Meinung, die sich jetzt für eine Entsendung stark machte, würde, nachdem es erste Opfer gegeben habe, umschlagen.) Somalia: Stärkere Koordinierung der Bemühungen vor Ort, direkt durch Vertreter der EG-Kommission selbst, werde angestrebt. In diesem Zusammenhang würde insbesondere die belgische Initiative (Entsendung von 500 Mann) begrüßt. Diskussion sei sehr hilfreich gewesen. Beziehungen EG – Türkei: Auf der Grundlage der Beschlüsse von ER Lissabon7 hätten alle Zwölf die regionale Rolle von TUR und ihre Brückenfunktion zu Europa und der islamischen Staatenwelt gewürdigt. Gewisse Widerstände Griechenlands gegen volle Durchsetzung der LissabonBeschlüsse könnten eingeebnet werden. Migration: 17 Mio. Menschen seien weltweit von dem Problem betroffen. Für uns sei Aussiedlerproblematik zentral. Allgemeine Erkenntnis, dass nicht nationale Lösungen, sondern europäische, wenn nicht weltweite Ansätze gefordert sind. Die Belastung, die D mit der Aufnahme von Bürgerkriegsflüchtlingen aus JUG auf sich genommen hat, sei anerkannt worden, ebenfalls die Tatsache, dass dies Stabilitätsprobleme nicht nur für D, sondern auch für Europa insgesamt mit sich bringe. Darüber hinaus seien in Brocket Hall Fragen der europäischen Einigung, die Zukunft in GUS, der Trennungsprozess in der ČSFR sowie auf Grundlage eines spanischen Berichts Situation in Maghreb (Marokko/Algerien) und die Lage in Lateinamerika erörtert worden. Fortsetzung Fußnote von Seite 1151 der Substanz und in der Definition politisch angegangen werden. Auf politischem Weg müsse erreicht werden, dass die Artillerie-Angriffe auf Sarajevo vor dem Winter eingestellt würden.“ Vgl. DB 1848/1849; B 42, Bd. 183680. 5 Zur internationalen Jugoslawien-Konferenz am 26./27. August 1992 vgl. Dok. 269. 6 Zu den Überwachungsmaßnahmen von NATO und WEU in der Adria vgl. Dok. 220. 7 Zur Tagung des Europäischen Rats am 26./27. Juni 1992 vgl. Dok. 201.

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16. September 1992: Vorlage von Elbe

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2) BM Kinkel legte mit der Bitte um spanische Unterstützung zu gegebener Zeit unsere Haltung zur Erweiterung des Sicherheitsrats der VN dar. Wir wollten von uns aus nicht initiativ werden, meldeten jedoch, wenn Diskussion über Charta-Änderung in ein konkretes Stadium tritt, unsere Ansprüche „vorsichtig und zurückhaltend, aber deutlich und klar“ an. Ein „Sitz der Europäer“ sei ebenfalls ein denkbares Modell. 3) Spanien kündigte Entsendung militärischen Beobachters zum Eurokorps an. Deutsche Seite begrüßte diese Entscheidung. 4) AM Solana hob in seiner Erwiderung den hohen Grad an Übereinstimmung zwischen deutschen und spanischen Auffassungen bei allen erörterten Fragen hervor. Mettenheim B 26, ZA-Bd. 173496

286 Vorlage des Ministerialdirektors Elbe für Bundesminister Kinkel 16. September 19921 Über Herrn Staatsekretär2 Herrn Bundesminister3 Betr.:

Universalität der Menschenrechte

I. Der Grundsatz der Universalität der Menschenrechte wird inzwischen weltweit auch von der Dritten Welt akzeptiert. Ihre Achtung und Verwirklichung sind integraler Bestandteil der internationalen Zusammenarbeit geworden. Die Dritte Welt wendet sich aber gegen eine, wie sie es sieht, Instrumentalisierung der Menschenrechtsfrage und macht Fortschritte von einer Verbesserung ihrer Wirtschaftslage abhängig. Wir müssen an unserer Menschenrechtspolitik der differenzierten Reaktionen und Maßnahmen festhalten und dabei problematische Staaten ausdrücklich in die Menschenrechtsdiskussion einbeziehen. II. Als die Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen erstmals darangingen, die in der Charta enthaltenen Bestimmungen zum internationalen Menschenrechtsschutz mit Leben zu füllen, überschrieben sie das Ergebnis anspruchsvoll „Universal Declaration of Human Rights“4, auch wenn bei der Abstimmung in der Generalversammlung sich dann SaudiArabien, Südafrika und sechs sozialistische Staaten der Stimme enthielten. 1 Die Vorlage wurde von VLR Berg konzipiert. 2 Hat StS Kastrup am 2. Oktober 1992 vorgelegen, der handschriftlich vermerkte: „Die Grundaussage trifft allenfalls verbal zu. Die Praxis sieht leider oft anders aus.“ 3 Hat BM Kinkel am 10. Oktober 1992 vorgelegen, der handschriftlich vermerkte: „1) Gute Ausarbeitung. 2) Abl[ichtung] zu uns[eren] Akten. 3) Abl. Erath, Kindermann.“ Hat OAR Salzwedel am 12. Oktober 1992 vorgelegen, der den Rücklauf über das Büro Staatssekretäre an den Planungsstab verfügte. 4 Für die „Allgemeine Erklärung der Menschenrechte“ vom 10. Dezember 1948, die mit Resolution Nr. 217 (III) A der VN-Generalversammlung angenommen wurde, vgl. UNITED NATIONS RESOLUTIONS, Serie I, Bd. II, S. 135–141. Für den deutschen Wortlaut vgl. MENSCHENRECHTE, S. 54–59.

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16. September 1992: Vorlage von Elbe

Inzwischen ist die Allgemeine Erklärung zum wohl meistzitierten Menschenrechtsdokument geworden und das Bekenntnis zu den Menschenrechten, wie u. a. die Charta von Paris und das Abschlussdokument des letzten Blockfreien-Gipfels5 belegen, weltweit. Dennoch kommt gerade von der Dritten Welt Widerstand, wenn es um die praktische Umsetzung und Kontrolle der Einhaltung der Menschenrechte geht.6 Hier gibt es zunächst eine psychologische Komponente. Während bislang die Menschenrechtsdiskussion fast ganz im Zeichen des Ost-West-Konflikts stand, sind sich jetzt die alten Kontrahenten bei der Anwendung und Auslegung der verschiedenen Menschenrechtsinstrumente weitgehend einig und zu einer offenen Kooperation übergegangen. Dies wird von der Dritten Welt als Bevormundung und als Bedrohung empfunden, der sie vor allem das Verbot der Einmischung in innere Angelegenheiten entgegenhält. Hinzu kommt, dass sich die Dritte Welt zunehmend auf ihre eigenen Ursprünge und Werte besinnt und unter Hinweis auf die angeblich rein westlich geprägten Menschenrechtsinstrumente das Prinzip der Universalität infrage stellt. So heißt es z. B. im Abschlusskommuniqué des Außenministertreffens der ASEAN-Staaten vom Juli dieses Jahres, dass Menschenrechte, auch wenn sie universellen Charakter haben, von unterschiedlichen kulturellen, historischen und sozio-ökonomischen Bedingungen im jeweiligen Land geprägt sind und dass ihre Ausformung und Anwendung allein in die Zuständigkeit und Verantwortlichkeit des jeweiligen Landes fallen.7 III. In der Menschenrechtsdiskussion muss zwischen zwei Fragen unterschieden werden: Gehen wir alle vom gleichen Menschenrechtsverständnis aus? Und: Wie arbeiten wir bei der Implementierung der Menschenrechte zusammen, welche Möglichkeiten, welche Grenzen gibt es? 1) Ein Blick auf die verschiedenen Kulturen zeigt, dass wir heute trotz unterschiedlicher Prägungen von einem einheitlichen Menschenrechtsbild ausgehen können8, das uns in die Lage versetzen sollte, auf einer gemeinsamen Basis die internationale Zusammenarbeit zu verstärken. Ein erster, allerdings nur begrenzt tauglicher Hinweis mag sein, dass die beiden wichtigsten Menschenrechtsabkommen, der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte und der Internationale Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte9, von Staaten aus allen Teilen der Welt ratifiziert worden sind. Es kann sich also 5 Die Gipfelkonferenz der Bewegung blockfreier Staaten fand vom 1. bis 6. September 1992 in Jakarta statt. Für die dort verabschiedeten Dokumente vgl. das Schreiben des indonesischen VN-Botschafters Wisnumurti vom 18. November 1992 an VN-GS Boutros-Ghali (A/47/675 bzw. S/24816); https://documentsdds-ny.un.org/doc/UNDOC/GEN/N92/729/01/img/N9272901.pdf. 6 Dieser Satz wurde von StS Kastrup hervorgehoben. Dazu vermerkte er handschriftlich: „Eben!“ 7 Vgl. Ziffer 18 des Kommuniqués der Konferenz der Außenminister der ASEAN-Mitgliedstaaten am 21./22. Juli 1992 in Manila; B 37, ZA-Bd. 164180. 8 Der Passus „von einem … ausgehen können“ wurde von StS Kastrup hervorgehoben. Dazu vermerkte er handschriftlich: „Das kann man in dieser Allgemeinheit kaum sagen.“ 9 Für die Internationalen Pakte über bürgerliche und politische Rechte sowie über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte vom 19. Dezember 1966 vgl. BGBl. 1973, II, S. 1534–1555 bzw. S. 1570–1582. Für das am 19. Dezember 1966 von der VN-Generalversammlung verabschiedete und am 23. März 1976 in Kraft getretene Fakultativprotokoll zum Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte vgl. BGBl. 1992, II, S. 1247–1250. Für das Zweite Fakultativprotokoll vom 15. Dezember 1989 zum Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte zur Abschaffung der Todesstrafe vgl. BGBl. 1992, II, S. 391–394. Vgl. auch AAPD 1989, II, Dok. 413.

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nicht um rein westlich geprägte Dokumente handeln. Abgeschwächt wird das Argument allerdings durch die Tatsache, dass bislang nur rund die Hälfte der Staaten sich gebunden hat. Was die Regionen im Einzelnen betrifft, so ergibt sich folgendes Bild: a) Lateinamerika teilt umfassend das sogenannte westliche Konzept der Menschenrechte. Es hat sich 1969 zusammen mit den beiden nordamerikanischen Staaten eine Amerikanische Menschenrechtskonvention10 gegeben, deren Einhaltung durch eine Kommission und einen Gerichtshof überwacht wird. Die lateinamerikanischen Staaten waren auch schon an der Ausarbeitung der Allgemeinen Erklärung von 1948 beteiligt und konnten damit ihre Position unmittelbar einbringen. Eine regionale Abweichung von den universalen Menschenrechtsstandards wird weder beansprucht noch zur Rechtfertigung von Menschenrechtsverstößen herangezogen. b) Auch der afrikanische Kontinent steht der westlichen Menschenrechtsidee keineswegs so distanziert gegenüber, wie man auf den ersten Blick glauben könnte. Dabei muss man sich noch nicht mal auf die verschiedenen nationalen Verfassungen berufen, die im Gefolge der Entkolonialisierung etwa auf die französische Menschenrechtsdeklaration11 oder die Allgemeine Erklärung von 1948 Bezug nehmen. Verschiedene Untersuchungen zeigen, dass eine Reihe unserem Menschenrechtsverständnis zugrundeliegender Vorstellungen sich selbst im vorkolonialen Afrika wiederfindet, etwa der Grundsatz der Gleichberechtigung oder Schutz vor Machtmissbrauch. Obwohl 1948 bei der Verabschiedung der Allgemeinen Erklärung nur vier afrikanische Staaten dabei waren – Äthiopien, Liberia, Ägypten und Südafrika –, hat sie durch die Erwähnung in der Charta der OAE12 für alle Staaten Afrikas Gültigkeit bekommen. 1981 wurde auf dem OAE-Gipfel in Nairobi die Afrikanische Charta über Rechte der Menschen und Völker verabschiedet13, die neben einer besonderen Hervorhebung der Rechte der Völker oder Gruppenrechte auch ausführlich auf die individuellen Menschenrechte eingeht, die unmittelbar den Grundrechten und Freiheiten in den nationalen Verfassungen und internationalen Menschenrechtsinstrumenten entsprechen. Wiederholt ist auf die jüngsten Demokratisierungstendenzen in einer Reihe afrikanischer Staaten hingewiesen worden. Ein anschauliches Beispiel ist die vielbeachtete Rede des Präsidenten von Sambia vor dem OAE-Gipfel im Juni dieses Jahres, in der er sich engagiert für Demokratie – keine Domäne des Westens, sondern Grundbedürfnis der Menschheit – und Menschenrechte einsetzte und sogar ein kollektives Interventionsrecht befürwortete.14 10 Für die Amerikanische Menschenrechtskonvention vom 22. November 1969 vgl. UNTS, Bd. 1144, S. 124– 212. Für den deutschen Wortlaut vgl. MENSCHENRECHTE, S. 500–523. 11 Für die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte vom 26. August 1789 vgl. DÉCLARATIONS, S. 11–13. Für den deutschen Wortlaut vgl. REVOLUTION, S. 37–39. 12 Für die OAE-Charta vom 25. Mai 1963 vgl. UNTS, Bd. 479, S. 41–89. Für den deutschen Wortlaut vgl. EUROPA-ARCHIV 1963, D 314–320. 13 Für die Afrikanische Charta der Menschenrechte und Rechte der Völker vom 27. Juni 1981 (Banjul-Charta) vgl. UNTS, Bd. 1520, S. 218–292. Für den deutschen Wortlaut vgl. MENSCHENRECHTE, S. 532–545. 14 Für die Rede des sambischen Präsidenten Chiluba am 30. Juni 1992 in Dakar während der OAEGipfelkonferenz vom 29. Juni bis 1. Juli 1992 vgl. B 34, ZA-Bd. 157222.

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c) So wie es in Asien insgesamt an einer übergreifenden regionalen Struktur fehlt, so besteht auch in der Frage der Menschenrechte ein uneinheitliches Bild. Jede Betrachtung der Menschenrechtssituation in Indien muss sich an der dem Gleichheitssatz fundamental widersprechenden Kastenordnung stören, die nach wie vor zentraler Baustein der Gesellschaftsordnung ist. Dennoch wäre es unzulässig, hierin einen Widerspruch oder Relativierung zu den verfassungsrechtlich garantierten Grundrechten zu sehen, die schon frühzeitig von den Kolonialherren eingefordert wurden und zu denen sich Indien auch durch den Beitritt zu den beiden Pakten bekannt hat. Im Falle Chinas ist es sicher hilfreich, sich zunächst den Unterschied zwischen den spezifischen kulturellen Traditionen und der sozialistischen Staatsverfassung bewusst zu machen, auch wenn beide durchaus Berührungspunkte besitzen. Nach den in China tief verwurzelten Normen des Konfuzianismus ist das Individuum – im Streben nach Konformität und Harmonie – verpflichtet, sich sozial, aber auch politisch der Gesellschaft und der Staatsordnung zu unterwerfen. Die Schriftzeichen für Menschenrechte und Freiheit entstanden bezeichnenderweise erst im 19. Jahrhundert. Auch für Sun Yatsen, den Vater der chinesischen Republik, ging es nicht um die Freiheit des Individuums, sondern um die Stellung der chinesischen Nation. Die relativ wenigen Freiheitsrechte, die sich heute in der chinesischen Verfassung finden, stehen unter dem – sozialistischen – Vorbehalt, dass die Rechte des Einzelnen nicht mit dem Interesse des Staates und der Gesellschaft kollidieren dürfen. Es mag zutreffen, dass aufgrund konfuzianischer Tradition und nicht zu bestreitender Leistungen des Sozialismus für eine soziale Grundversorgung die umfassende Verwirklichung der Menschenrechte in den Augen der chinesischen Bevölkerung keine politische Priorität besitzt. Aber nicht erst seit Tiananmen15 ist deutlich der Drang nach mehr Freiheit und Menschenrechten zu erkennen, der im Zuge der weiteren – wirtschaftlichen – Öffnung zunehmen wird. d) Grundsätzlich erscheint es unmöglich, im Islam Konzepte eines westlich geprägten Menschenrechtsverständnisses zu finden. Sei es das Verhältnis zu anderen Religionen oder die absolute Unterordnung unter den göttlichen Willen, all dies ist mit unseren Vorstellungen nur schwer vereinbar. Zwar hat es Versuche gegeben, den Menschenrechten einen angestammten Platz im islamischen Staatsdenken einzuräumen – bis hin zu einer „Universellen Islamischen Menschenrechtserklärung“16. Dabei kann es aber höchstens um Rechte, die allein den Muslimen zuerkannt werden, oder um sehr restriktive Toleranzregeln gegenüber Nicht-Muslimen gehen. Dennoch mögen diese Überlegungen Ansatzpunkte für eine Diskussion mit islamischen Staaten über Menschenrechte bilden. Die Praxis zeigt aber, dass auch von islamischen Gesellschaften ein Bekenntnis zu internationalen Menschenrechten möglich ist, zumal von Staaten, denen säkulare Konzepte zugrunde liegen. Der Islam-Experte Professor Steinbach weist z. B. darauf hin, dass auch in islamischen intellektuellen Kreisen das Denken von dem Drang nach mehr Demokratie 15 Zur Niederschlagung der Demokratiebewegung in der Volksrepublik China am 3./4. Juni 1989 vgl. Dok. 66, Anm. 5. 16 Vgl. die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte im Islam vom 19. September 1981; in: MENSCHENRECHTE, S. 546–562. Vgl. ferner die Kairoer Erklärung über Menschenrechte im Islam vom 5. August 1990; in: HUMAN RIGHTS, II, S. 478–484. Für den deutschen Wortlaut vgl. MENSCHENRECHTE, S. 562–567.

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und Menschenrechten bestimmt wird. Und selbst der Iran, der Prototyp für islamischen Fundamentalismus, hat sich in bilateralen Kontakten mit uns an einem Menschenrechtsdialog interessiert gezeigt.17 Staaten aus dem islamischen Raum haben sich bereits in der Vergangenheit aktiv an der Menschenrechtsdiskussion beteiligt, insbesondere mit Zielrichtung Israel. Die jüngsten Erfahrungen im Falle des ehemaligen Jugoslawiens können dazu beitragen, ihnen die Notwendigkeit eines internationalen Menschenrechtsschutzes noch stärker vor Augen zu halten. e) Auch wenn in den einzelnen Regionen unterschiedliche Schwerpunkte in der Menschenrechtsfrage gesetzt werden, reichen diese letztlich nicht aus, eine Universalität der Menschenrechtsidee ernsthaft infrage zu stellen. So hat sich auch der Blockfreien-Gipfel in seinem Abschlussdokument – mit einer spürbaren Differenz zu dem ASEAN­Papier – ohne Einschränkungen zu den „universell gültigen Menschenrechten und Grundfreiheiten, die als gemeinsamer Standard für die Achtung vor der Würde und Integrität des Menschen dienen“, bekannt. Die Ausführungen zu den Menschenrechten in dem Dokument waren im Übrigen so ausführlich wie niemals zuvor. Bemerkenswert ist auch, dass die Blockfreien nicht die Zulässigkeit einer internationalen Erörterung von Menschenrechtsfragen leugnen, vielmehr unterstreichen, dass die Charta der Vereinten Nationen die Achtung und Förderung der Menschenrechte „in den Zusammenhang der internationalen Zusammenarbeit“ gestellt hat. 2) Das Dokument macht aber auch deutlich, wo die wesentlichen Unterschiede zu den Staaten des Nordens zu finden sind: Die Dritte Welt ist nicht bereit, sich von diesen in irgendeiner Form bevormunden zu lassen. Das Menschenrechtsverständnis mag das gleiche sein, die Frage der Implementierung muss aber nach ihrer Ansicht auf die unterschiedlichen „historischen, politischen, wirtschaftlichen, sozialen, religiösen und kulturellen Realitäten“ Rücksicht nehmen. Kein Land oder keine Gruppe sollte sich zum Richter über andere aufspielen, heißt es. Und Menschenrechte dürften nicht als Instrumente des politischen Drucks missbraucht werden. Solche Äußerungen sind Zeichen einer Empfindlichkeit, die mit dem Ende des Ost-WestKonflikts zugenommen hat. Die Dritte Welt ist nicht bereit, ständig und allein an den Pranger gestellt zu werden, wenn es um die Einhaltung der Menschenrechte geht. Die koloniale Vergangenheit ist noch nicht lange genug vorbei und im Übrigen am besten geeignet, die historische Relativität der Menschenrechtsidee zu demonstrieren. Hauptargument der Dritten Welt ist das in der Charta der Vereinten Nationen verankerte Verbot der Einmischung in innere Angelegenheiten. Da hiervon auch der Bereich des Umweltschutzes und der Abrüstungs- und Rüstungskontrollbemühungen betroffen ist, messen die Entwicklungsländer diesem Verbot grundsätzliche Bedeutung bei. Was die besonderen Rahmenbedingungen betrifft, so spielt die Frage der wirtschaftlichen Entwicklung die wichtigste Rolle. Die Dritte Welt sieht die Erreichung eines ausreichenden Entwicklungsniveaus als Voraussetzung für die umfassende Umsetzung von Menschenrechten und Demokratie. Sie kann dabei auf Staaten wie Südkorea oder Singapur verweisen, die mit relativ autoritären und undemokratischen Systemen den wirtschaftlichen Sprung nach vorne geschafft haben. 17 Vgl. zuletzt die Gespräche des BM Kinkel mit dem iranischen AM Velayati am 14./15. Juli 1992; Dok. 227.

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Diese Auffassung fließt auch ein in das von der Dritten Welt erneut in den Vordergrund gestellte Recht auf Entwicklung, dem sie für die bevorstehende Menschenrechtsweltkonferenz18 besondere Bedeutung beimessen. Zwar ist der Begriff „Recht auf Entwicklung“ noch weitgehend ungeklärt. (Jeder Staat hat das Recht, sich eigenständig zu entwickeln; Entwicklungsländer haben das Recht, Hilfe zu ihrer Entwicklung zu fordern.) Wir können aber, da er von den Entwicklungsländern als integrales Menschenrecht bezeichnet wird, um eine19 Auseinandersetzung nicht herumkommen. IV. Nach der von uns konsequent vertretenen Politik haben die Menschenrechte universelle Gültigkeit. Menschenrechtsverletzungen können unserer Auffassung nach weder in besonderen kulturellen Traditionen noch im ideologischen Überbau eine Rechtfertigung finden. Ausgangspunkt ist das im Grundgesetz niedergelegte Bekenntnis „zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt“.20 Dabei geht es zunächst um den Menschen, dessen Würde für uns naturrechtlichen Schutz genießt. Es werden aber auch die destabilisierenden und friedensgefährdenden Wirkungen gesehen, die von den Staaten und Regimen ausgehen, in denen Menschen unterdrückt und Grundrechte missachtet werden. Dieser Zusammenhang ist durch den Nationalsozialismus besonders deutlich geworden und kommt auch gelegentlich in der Beratung menschenrechtlicher Themen im Sicherheitsrat zum Ausdruck. Für uns stellt die Verletzung von Menschenrechten keine innere Angelegenheit eines Staates dar, sie betrifft die Staatengemeinschaft als Ganzes. Von daher kann auch kein Staat sich der Diskussion über die Zustände in seinem Land verweigern. Wir halten die internationale Zusammenarbeit in Menschenrechtsfragen mit ihren zahlreichen Möglichkeiten, die von Dialog und Beratung bis zu Verurteilung und Sanktionen reichen, als einen notwendigen Garanten für die Einhaltung in den jeweiligen Staaten. Wir haben die besten Erfahrungen mit einer regionalen Zusammenarbeit gemacht. Der Europarat bietet ein umfassendes System, das sowohl dem Einzelnen als auch der Gemeinschaft der Vertragsstaaten Kontrollrechte einräumt. Die Charta von Paris sollte in Sachen Demokratie, Menschenrechte und Rechtsstaat Vorbildcharakter auch für andere Regionen haben. Auch wenn das grundgesetzliche Bekenntnis zu den Menschenrechten ohne jede Einschränkung erfolgt, kann das nicht bedeuten, dass wir in unserer Menschenrechtspolitik nicht den Realitäten Rechnung tragen. Uns ist bewusst, dass die verschiedenen Menschenrechtsinstrumente Ergebnis langwieriger Verhandlungen sind und Kompromisscharakter haben. Sie enthalten selbst immer wieder ausdrückliche oder stillschweigende Vorbehalte und Einschränkungen, wie „öffentlicher Notstand“ oder „das allgemeine Wohl in einer demokratischen Gesellschaft“. Der Internationale Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte ist ohnehin mehr als Programm denn als strikt einzuhaltender Menschenrechtskatalog zu verstehen. So kann man etwa von China kaum fordern, dass es seinen Bürgern völlige Bewegungsfreiheit oder freie Wahl des Wohnsitzes gewährt, da sonst das gesamte Bevölkerungsgefüge 18 Die Weltkonferenz über Menschenrechte fand vom 14. bis 25. Juni 1993 in Wien statt. Vgl. AAPD 1993. 19 Korrigiert aus: „an einer“. 20 Vgl. Artikel 1 Absatz 2 GG vom 23. Mai 1949; BGBl. 1949, S. 1.

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auseinanderbrechen würde. Entsprechend können nach dem Menschenrechtspakt diese Freiheiten eingeschränkt werden, wenn dies gesetzlich vorgesehen und zum Schutz u. a. der öffentlichen Ordnung notwendig ist. Auch würde es wenig Sinn machen, von Staaten der Dritten Welt jetzt die Schaffung gerechter und günstiger Arbeitsbedingungen zu verlangen, wenn sie nach dem Sozialpakt verpflichtet sind, „unter Ausschöpfung all ihrer Möglichkeiten“ Maßnahmen zu treffen, „um nach und nach mit allen geeigneten Mitteln die volle Verwirklichung dieses Rechts“ zu erreichen. Wir müssen aber dort eine Grenze ziehen, wo zulässige Vorbehalte und Einschränkungen missbraucht werden. Wir können und dürfen nicht schweigen, wenn in massiver und grober Weise Menschenrechte verletzt und mit dem Hinweis auf kulturelle Traditionen oder andere Sonderverhältnisse gerechtfertigt werden. Dies gilt in besonderem Maße für die Inanspruchnahme des Entwicklungsstandes. Überspitzt kann man sagen: „Wer hungert, muss nicht auch noch gefoltert werden!“ Das Eingehen auf vorgebliche Sonderverhältnisse, die eine unterschiedliche Verwirklichung der Menschenrechte rechtfertigen, birgt auch eine große Gefahr in sich: Wenn wir Menschenrechtsverletzungen in einem Fall tolerieren, wird dies uns von dem nächsten, den wir kritisieren, – zu Recht – entgegengehalten. Diese Politik des doppelten Standards muss vermieden werden. Allerdings haben wir die Möglichkeit, unsere Kritik zu differenzieren. V. Was berechtigt uns nun zur Kritik, wenn Menschenrechte in anderen Teilen der Welt verletzt werden? Die Gründe sind zum Teil bereits benannt. Unser Menschenrechtsverständnis, das von der Gleichheit aller Menschen, unabhängig von Geschlecht, Rasse, Religion, Herkunft usw., ausgeht, verpflichtet uns, weltweit für diese Ziele einzutreten. Die destabilisierenden und friedensgefährdenden Wirkungen, die von Menschenrechtsverletzungen ausgehen, betreffen uns unmittelbar. Flüchtlingsströme, die durch undemokratische Zustände ausgelöst werden, sind ein eindringliches Beispiel. Aus unserer Geschichte leiten wir zu Recht eine besondere moralische Verpflichtung ab. Dabei brauchen wir keine Glaubwürdigkeitsdiskussion zu fürchten, da wir uns zu unserer Schuld, die wir im Nationalsozialismus auf uns geladen haben, immer bekannt haben. Und wir sind dabei, die unter dem DDR-Regime begangenen Untaten aufzudecken und zu bestrafen. Wir haben im Gegensatz zu Frankreich und England den Vorteil, von der Dritten Welt nicht mit kolonialen Vorzeichen gesehen zu werden. Und uns werden nicht wie den beiden Supermächten hegemoniale Tendenzen unterstellt. Wir werden in der Dritten Welt, aber auch in Europa, als vermittelnder Partner gesehen, der den Ausgleich sucht. Dies gibt uns eine gute Ausgangsposition, auch in Menschenrechtskonflikten gehört zu werden. Hierauf sollten wir unsere internationale Menschenrechtspolitik aufbauen. Es gibt auch einen rechtlichen Ansatz für unsere Kritik: Verletzt nach unserer Auffassung ein Staat in grober Weise Bestimmungen der von ihm ratifizierten Internationalen Pakte oder sonstiger Spezialabkommen, so können wir diesem Staat diesen Vertragsbruch vorhalten. Hier kann das Argument der Einmischung in innere Angelegenheiten nicht greifen. Problematischer ist es, wo keine vertragliche Bindung des die Menschenrechte verletzenden Staates vorliegt. Es ist jedoch heute anerkannt, dass wesentliche Teile der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948, die lediglich als nichtbindende Reso1159

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lution verabschiedet wurde, Gewohnheitsrecht geworden sind. Die wiederholte und unwidersprochene Bezugnahme auf die Erklärung in zahlreichen Dokumenten und Verträgen, verbunden mit der in der Charta enthaltenen generellen Verpflichtung zur Einhaltung der Menschenrechte, sprechen für eine Bindungswirkung, die auf Praxis und Überzeugung der Staatenwelt beruht. Dies gilt in jedem Fall für Völkermord, Sklaverei und Sklavenhandel, die willkürliche Tötung oder das Verschwindenlassen von einzelnen Personen, die Folter oder andere unmenschliche und herabwürdigende Behandlung und Bestrafung, für21 willkürlichen Freiheitsentzug, systematische rassistische Diskriminierung oder [wo es] um beständige Anhäufung gravierender Verletzungen international anerkannter Menschenrechte geht. Hierauf sollte sich unsere Kritik aber nicht beschränken. Neben der Berechtigung stellt sich die Frage des Ausmaßes der Kritik. Wie weit können wir, wie weit dürfen wir gehen? Die Erörterung menschenrechtlicher Angelegenheiten als unterste Stufe kann heute nicht mehr mit dem Argument der Einmischung zurückgewiesen werden. Die Erfahrungen mit der Behandlung schwerer Menschenrechtsverletzungen in multilateralen Organen wie der Menschenrechtskommission haben gezeigt, dass dort ein öffentlicher Druck hergestellt werden kann, der die Staaten zumindest zu einer Überprüfung ihrer Politik veranlassen kann und in einigen Fällen konkrete Veränderungen hervorgebracht hat. Auch die Entsendung von Beobachtermissionen, denen die betroffenen Staaten allerdings zustimmen müssen, kann eine Grundlage schaffen, die zu einem hilfreichen Dialog führt. Berechtigt uns die Kritik an Menschenrechtsverletzungen aber auch, die Entwicklungshilfe einzustellen? Oder müssen wir den Vorwurf der Erpressung fürchten, wie er von der Dritten Welt gebraucht wird? Kriterium muss sein, dass sich an den jeweiligen Zuständen etwas ändert. Wenn wir mit der Drohung, keine Hilfe zu leisten, etwas erreichen, sollten wir dieses Mittel nicht fürchten. Wenn der Erfolg allerdings fraglich erscheint, spricht immer noch einiges dafür – zumindest mit reduzierten und gezielten Mitteln –, durch Zusammenarbeit und Dialog auf eine Veränderung hinzuwirken. Insgesamt sollten wir – wie auch in der Vergangenheit – neben unserer Kritik auf die Zusammenarbeit setzen. Wir können nicht nur in zwischenstaatlichen Konflikten, sondern auch im Bereich des Menschenrechtsschutzes präventiv tätig sein. Dazu gehört u. a. das auch von uns in den Vordergrund gestellte Programm der beim Menschenrechtszentrum geführten „Beratenden Dienste“ für Länder der Dritten Welt offenbar eine rege Nachfrage, die im Gegensatz zu der ansonsten vorgebrachten Kritik an Bevormundung oder Konditionalisierung steht.22 Es ist auch zu überlegen, stärker als bisher die regionalen Menschenrechtssysteme zu fördern oder neue vorzuschlagen. Ein Teil der Skepsis der Dritten Welt dürfte entfallen, wenn sie den Menschenrechtsschutz in regionaler Eigenverantwortung umsetzen und kontrollieren würde. Dies darf aber nicht dazu führen, dass andere Gremien, wie etwa die VN, für unzuständig erklärt werden. Voraussetzung wäre auch, dass es sich um effektive und umfassende Instrumente handelt. Frank Elbe B 9, ZA-Bd. 178534 21 Korrigiert aus: „um“. 22 So in der Vorlage.

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287 Vorlage des Vortragenden Legationsrats I. Klasse Lincke für Bundesminister Kinkel 503-553.32/1 ISR VS-NfD

16. September 19921

Über Dg 50, D 52, Herrn Staatssekretär3 Herrn Bundesminister4 Betr.:

Vorläufiger Abschluss der Verhandlungen des BMF mit der Jewish Claims Conference gemäß Art. 2 der Vereinbarung vom 18.9.1990 zum Einigungsvertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik5

Zweck der Vorlage: Zur Unterrichtung 1) Die Bundesrepublik Deutschland hat sich in Art. 2 der Vereinbarung zum Einigungsvertrag vom 18. September 1990 verpflichtet, „Vereinbarungen über eine zusätzliche Fondslösung zu treffen, um Härteleistungen an die Verfolgten vorzusehen, die nach den gesetzlichen Vorschriften der Bundesrepublik Deutschland bisher keine oder nur geringfügige Entschädigungen erhalten haben.“ (Zum Kreis der potenziell Begünstigten gehören bei Vorliegen schwerer Verfolgungskriterien und nur teilweisen Entschädigungen oder Einmal-Beihilfen alle bisher bereits Wiedergutmachungsberechtigten.) Bei den vom BMF 1991 aufgenommenen Verhandlungen mit der Jewish Claims Conference, die angesichts der Bedeutung der Angelegenheit in der Schlussphase auf höchster6 Ebene geführt wurden (Leitung auf deutscher Seite: Parlamentarischer Staatssekretär Dr. Carstens), konnte in der letzten, soeben abgeschlossenen Runde Einigkeit über die wichtigsten Punkte erzielt werden. Der BMF wird die in den Verhandlungen erreichte Übereinkunft über die Eckdaten nunmehr in Vertragsform kleiden. Dieser Text soll dann zunächst auf Arbeitsebene endgültig abgestimmt werden. 2) Unsere Leistungen sehen Hilfe an die NS-Opfer in verschiedenen Formen vor, wobei über die bisher als Eckdaten vereinbarten Zahlen zwischen BMF und Claims Conference absolutes Stillschweigen vereinbart wurde. Die Claims Conference wird diese Zahlen auch 1 Die Vorlage wurde von VLR Goetz konzipiert. 2 Hat, auch in Vertretung des MD Eitel, MDg Schürmann am 16. September 1992 vorgelegen. 3 Hat StS Lautenschlager am 16. September 1992 vorgelegen, der handschriftlich vermerkte: „Unter Verschluss.“ 4 Hat BM Kinkel am 17. September 1992 vorgelegen. Hat VLR Wittig am 17. September 1992 vorgelegen, der den Rücklauf an Referat 503 verfügte. Hat VLR I Lincke am 18. September 1992 erneut vorgelegen, der die Weiterleitung an VLR Goetz „z[ur] g[efälligen] K[enntnisnahme]“ verfügte. Hat Goetz am 18. September 1992 erneut vorgelegen. 5 Für Artikel 2 der Vereinbarung vom 18. September 1990 zwischen der Bundesrepublik und der DDR zur Durchführung und Auslegung des am 31. August 1990 in Berlin unterzeichneten Vertrages zwischen der Bundesrepublik und der DDR über die Herstellung der Einheit Deutschlands (Einigungsvertrag) vgl. BGBl. 1990, II, S. 1239. 6 Dieses Wort wurde von StS Lautenschlager gestrichen. Dafür fügte er handschriftlich ein: „hoher“.

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nach dem noch ausstehenden endgültigen Abschluss der Verhandlungen nicht bekannt geben. Die Zahlen wurden uns vom BMF vertraulich mitgeteilt. a) Im Einzelnen sind folgende Leistungen vorgesehen: – Einmalbeihilfen in Höhe von insgesamt 200 Mio. DM – Überbrückungsbeihilfen für die Geschädigten, die ab 1995 laufende Beihilfen erhalten werden, kalkuliert bei 31 000 Berechtigten mit einem Durchschnittssatz von 7 500 DM jährlich 217 Mio. DM – laufende Beihilfen in Höhe von 500 DM monatlich ab 1995 für 25 000 Berechtigte bis 1999 525 Mio. DM – Förderung von Alten- und Pflegeheimen 33 Mio. DM Insgesamt 975 Mio. DM. b) Wir sind bei diesen Verhandlungen (gerade in Anbetracht unserer haushaltsmäßigen Schwierigkeiten) der Claims Conference ein erhebliches Stück entgegengekommen. Die Verhandlungen waren mit einem Angebot unsererseits in Höhe von 300 Mio. DM und Forderungen der Claims Conference in Höhe von 3,6 Mrd. DM eröffnet worden. Ein insgesamt 970 Mio. DM umfassendes Angebot war von uns zwar bereits im April abgegeben, von der Claims Conference aber zurückgewiesen worden. Die neuen Eckdaten mit insgesamt 975 Mio. DM lassen erst bei genauerer Prüfung erkennen, dass weitere wesentliche Zugeständnisse gemacht wurden: – Die ursprünglich bis auf das Jahr 2000 angelegte Laufzeit und Berechnung wurde um ein Jahr verkürzt, wodurch die von uns zu erbringenden Zahlungsströme erheblich an Dynamik gewonnen haben. – Über die ursprünglich bereits zugestandene Revisionsklausel im Jahre 1998 hinaus (betreffend die Fortsetzung der Leistungen nach dem Jahr 1999/2000) wurde eine weitere Revisionsklausel vorgesehen, wonach die Zahl der ab 1995 für laufende Beihilfen Berechtigten (bisher geschätzt 25 000) im Jahre 1994 erneut ermittelt und neu festgesetzt werden kann. Auch diese Klausel birgt das Potenzial erheblicher zusätzlicher Verpflichtungen in sich.7 Lincke B 86, Bd. 2026

7 VLR I Bettzuege teilte den Auslandsvertretungen am 10. November 1992 mit, die Verhandlungen zwischen dem BMF und der Jewish Claims Conference seien im Oktober 1992 abgeschlossen worden: „Die Leistungen für diesen Fonds sind für schwerstverfolgte jüdische Opfer, vornehmlich mit langer Inhaftierung im KZ oder Ghetto-Haft, vorgesehen. Weitere Auskünfte über die Leistungsvoraussetzungen im Einzelnen, das einzuhaltende Verfahren usw. sind direkt bei den Stellen der Claims Conference zu erfragen. Nur zur internen Unterrichtung: Der in Pressemeldungen vom Wochenende teilweise enthaltene Hinweis, dass sich die Regelung im Wesentlichen auf Nazi-Opfer aus den Ländern des ehemaligen Ostblocks beziehe, ist falsch. Die Vereinbarungen des BMF mit der Jewish Claims Conference für jüdische Verfolgte jüdischen Glaubens (wie sie bereits bei der Errichtung des Härtefonds von 1980 getroffen wurden) knüpfen stets an die im deutschen Wiedergutmachungsrecht enthaltenen Wohnsitzvoraussetzungen an, d. h. der Verfolgte muss ins westliche Ausland übergewechselt sein. Die Vertretungen sollten in ihren Auskünften auf diesen Punkt jedoch in keinem Fall näher eingehen, sondern für Details der Regelungen an die Claims Conference weiterverweisen.“ Vgl. RE Nr. 69; B 5, ZA-Bd. 161325.

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16. September 1992: Drahtbericht von Sudhoff

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288 Drahtbericht des Botschafters Sudhoff, Paris VS-NfD Fernschreiben Nr. 2265 Citissime Betr.:

Aufgabe: 16. September 1992, 10.10 Uhr Ankunft: 17. September 1992, 11.43 Uhr

Konsultationen zwischen Bundeskanzleramt und Élysée am 16.9.1992

1) MD Dr. Hartmann, ChBK, hielt sich, begleitet von VLR I Bitterlich, am 16.9. zu dreieinhalbstündigen Konsultationen über bilaterale und aktuelle internationale Fragen im Élysée auf. 2) Trotz mehrfach geäußerter Bitte der Botschaft bestand ChBK darauf, die Gespräche ohne Teilnahme der Botschaft zu führen. Zur Begründung wurde auf eine angebliche Absprache zwischen ChBK und AA über die Nicht-Beteiligung des AA verwiesen. Der Vorgang ist für mich nicht akzeptabel. Er wirft grundsätzliche Fragen nach der Rolle des AA und der Botschaft Paris auf, zumal an den Konsultationen, wie ich im Nachhinein erfahre, auf frz. Seite auch der Quai d’Orsay, und zwar Generalsekretär Boidevaix persönlich, beteiligt war. Es würde mich auch interessieren, ob das AA seiner eigenen Ausschaltung in einer so entscheidenden Periode der europäischen Politik zugestimmt hat.1 Ich bitte um Befassung des Staatssekretärs2. [gez.] Sudhoff B 24, ZA-Bd. 265982

1 VLR Geier vermerkte am 16. September 1992, Gesandter Ischinger, Paris, habe ihn telefonisch über den Vorfall informiert und ebenfalls auf eine angebliche Absprache zwischen Bundeskanzleramt und Auswärtigem Amt hingewiesen. Geier vermerkte: „Ich habe Herrn Ischinger gesagt, dass mir eine derartige Absprache nicht bekannt sei, ich sie aber auch für unwahrscheinlich halte. MD Dr. Hartmann und VLR I Bitterlich haben Gesandtem Ischinger zugesagt, ihn heute Abend über den Inhalt ihrer Gespräche im Élysée zu informieren.“ Auf diesem Vermerk notierte MD Chrobog handschriftlich auf entsprechende Frage von VLR I Nestroy, dass ihm eine solche Absprache nicht bekannt sei. Vgl. B 24, ZABd. 265982. Am 2. Oktober 1992 übermittelte MD Hartmann, Bundeskanzleramt, StS Kastrup, einen Vermerk von VLR I Bitterlich, Bundeskanzleramt, vom 29. September 1992 über die Gespräche. Dazu teilte Hartmann mit: „Leider sind wir erst in den letzten Tagen dazu gekommen, die Niederschrift über das Gespräch im Élysée vom 16. September 1992 zur Lage und Entwicklung im früheren Jugoslawien zu fertigen. Entsprechend meiner Zusage gegenüber Bundesminister Kinkel wie gegenüber Ihnen übersende ich Ihnen anliegend diese Niederschrift zur persönlichen Kenntnisnahme.“ Vgl. B 42, ZA-Bd. 175651. 2 Dieter Kastrup.

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17. September 1992: Vorlage von Schumacher

289 Vorlage des Vortragenden Legationsrats Schumacher für Bundesminister Kinkel 201-360.90/SO JUG

17. September 19921

Über Dg 202, D 23, Herrn Staatssekretär4 Herrn Bundesminister5 Betr.:

Eventueller Beschluss der NATO zu verschärften Maßnahmen der Durchsetzung des VN-Embargos in der Adria6; hier: Deutsche Haltung

Bezug: Vorlagen 201 vom 13. und 17.7.19927, Az.: 201-360.90/SO JUG Zweck der Vorlage: Mit der Bitte um Billigung zu Punkt 8 1) Im Kreis unserer westlichen Partner setzt sich die Erkenntnis durch, dass allenfalls eine festere Haltung der internationalen Gemeinschaft gegenüber den Konfliktparteien dazu beitragen kann, die politischen und militärischen Voraussetzungen für eine Lösung zu schaffen. Dies gilt vor allem für eine schärfere Durchsetzung der Sanktionsmaßnahmen der VN. Angesichts der zunehmenden Meldungen über ein Unterlaufen des Embargos durch Waffenlieferungen an einzelne Konfliktparteien schlägt GB vor, die ergriffenen Maßnahmen zur Durchsetzung des VN-Embargos in der Adria zu verschärfen. Nach Auffassung GB bestehen drei Stufen: (1) Beobachtung und Überwachung (Monitoring and Surveillance); (2) Anhalten und Durchsuchen (Stop and Search), ohne Gewaltanwendung; (3) Gewaltanwendung (Use of Force). 1 2 3 4

Kopie. Hat MDg Klaiber am 17. September 1992 vorgelegen. Hat MD Chrobog am 17. September 1992 vorgelegen. Hat VLR Ney am 17. September 1992 vorgelegen, der die Weiterleitung an das Ministerbüro verfügte und handschriftlich vermerkte: „Auf Weisung StS K[astrup] vorab als Sachverhalt für Herrn BM; Vorlage ist von StS K. noch nicht gebilligt.“ 5 Hat BM Kinkel am 17. September 1992 vorgelegen, der handschriftlich vermerkte: „1) Habe Ang[elegenheit] mit BK + BM Rühe besprochen. 2) Wir können + dürfen Entscheidung pro nicht aufhalten. 3) Trotzdem: Ich will über jede Einzelheit und über jeden Schritt, inbes[ondere] jede Zustimmung auf Arb[eits]Ebene, vorher unterrichtet werden u. behalte mir alle Entscheidungen vor.“ Hat OAR Salzwedel am 18. September 1992 vorgelegen, der den Rücklauf über das Büro Staatssekretäre, MD Chrobog und MDg Klaiber an Referat 201 verfügte und handschriftlich vermerkte: „s[iehe] Weisungen BM.“ Hat VLR I Reiche am 21. September 1992 vorgelegen. Hat in Vertretung von Chrobog MDg von Studnitz am 21. September 1992 vorgelegen. Hat Klaiber am 22. September 1992 erneut vorgelegen. Hat VLR Schumacher erneut vorgelegen. 6 Zu den Überwachungsmaßnahmen von NATO und WEU in der Adria vgl. Dok. 220. 7 VLR I Bertram legte einen Entwurf für Gliederung und Struktur der Rede von BM Kinkel in der Sondersitzung des Bundestags am 22. Juli 1992 zum Jugoslawien-Konflikt vor. Vgl. B 14, ZA-Bd. 161180.

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Nach dem Recht der VN-Charta besteht allerdings zwischen den Stufen 2 und 3 kein Unterschied. Beide müssen als militärische Sanktionsmaßnahmen nach Art. 428 angesehen werden. 2) Hierbei wird an die seit Juli d. J. durchgeführten Überwachungsmaßnahmen im Mittelmeer gedacht, an denen wir im Rahmen der NATO (Ständiger Einsatzverband Mittelmeer) mit einer Fregatte und im Rahmen der WEU mit drei Seeaufklärungsflugzeugen beteiligt sind.9 NATO- und WEU-Einheiten haben sich bisher auf die Überwachung des Schiffsverkehrs nach JUG beschränkt, ohne Anwendung irgendwelcher Zwangsmaßnahmen. In Aussicht genommen wird jetzt – so der Vorschlag von GB als EG-Präsidentschaft –, dass die JUG anfahrenden Schiffe angehalten und erforderlichenfalls durchsucht werden sollen („Stop and Search“). 3) In einem Gespräch mit D 2 am 16.9.199210 wies GB-Botschafter Mallaby darauf hin, dass für eine Verschärfung der Maßnahmen von „Beobachtung und Überwachung“ auf „Anhalten und Durchsuchen“ eine neue Resolution des Sicherheitsrates erforderlich sei. Allerdings stelle dieses verschärfte Vorgehen nach britischer Auffassung keine Gewaltanwendung dar. Mallaby äußerte deshalb die Hoffnung und Überzeugung, dass wir an dieser Aktion teilnehmen könnten. GB beabsichtigt, in Kürze eine entsprechende Sicherheitsratsresolution zu erwirken und dann weitere Foren (EPZ, NATO, WEU) zu befassen. 4) Im Falle einer Verschärfung der vom Bündnis in der Adria durchgeführten Embargomaßnahmen – aufgrund eines neuen Beschlusses des Sicherheitsrats – ergeben sich damit für uns folgende theoretische Handlungsoptionen: a) Zustimmung zu einem Beschluss in der NATO (und in der WEU) über verschärfte Maßnahmen (Anhalten und Durchsuchen) und deutsche Beteiligung hieran. b) Zustimmung wie vorher, jedoch deutsche Beteiligung nur im bisherigen Umfang, d. h. ausschließlich Überwachung, kein Anhalten und Durchsuchen. c) Zustimmung zum Beschluss und Einstellung jeder weiteren deutschen Beteiligung an Embargomaßnahmen. d) Ablehnung des NATO-Beschlusses. 5) Eine Änderung des Mandats für die Verbände in der Adria von bloßen Überwachungsmaßnahmen („monitoring“) auf Kontroll- und Zwangsmaßnahmen („stop and search“) ist völkerrechtlich erst nach einem neuen Beschluss des Sicherheitsrats möglich; die Beteiligung deutscher Schiffe und Flugzeuge begegnet unabhängig davon jedoch verfassungsrechtlichen Bedenken. a) Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen hat auf der Grundlage von Art. 41 der VNCharta11 gegen Jugoslawien ein Waffenembargo (SR-Resolution 71312) und gegen die 8 Für Artikel 42 der VN-Charta vom 26. Juni 1945 vgl. BGBl. 1973, II, S. 461. 9 Vgl. den Beschluss der Bundesregierung vom 15. Juli 1992; Dok. 231, besonders Anm. 5. 10 Für das Gespräch zwischen MD Chrobog und dem britischen Botschafter Mallaby vgl. den Gesprächsvermerk; B 14, ZA-Bd. 161181. 11 Für Artikel 41 der VN-Charta vom 26. Juni 1945 vgl. BGBl. 1973, II, S. 459. 12 Für die Resolution Nr. 713 des VN-Sicherheitsrats vom 25. September 1991 vgl. RESOLUTIONS AND DECISIONS 1991, S. 42 f. Für den deutschen Wortlaut vgl. EUROPA-ARCHIV 1991, D 550–552.

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„Föderative Republik Jugoslawien“ (Serbien und Montenegro) die Unterbrechung der Wirtschaftsbeziehungen und des Luftverkehrs verhängt (SR-Resolution 75713). In SR-Resolution 757 wird außerdem dazu aufgerufen, den Vereinten Nationen Erkenntnisse zur Einhaltung bzw. Nichteinhaltung des Embargos zu übermitteln. Damit sind die derzeitigen Überwachungsmaßnahmen gedeckt. Einen weitergehenden Beschluss des Sicherheitsrates, der auch militärische Sanktionsmaßnahmen, d. h. die Anwendung von Zwang oder Waffengewalt, vorsähe, gibt es allerdings bisher nicht. Der Einsatz von Luft- oder Seestreitkräften zur Kontrolle, d. h. zum Stoppen und Durchsuchen von Schiffen, wäre aber eine Ausübung von Zwang und damit eine militärische Sanktionsmaßnahme i. S. des Art. 42 der VN­ Charta. Hierzu wäre ein neuer Beschluss des Sicherheitsrats notwendig, der auch zu militärischen Sanktionsmaßnahmen ermächtigt. Auch GB vertritt die Auffassung, dass eine weitere Sicherheitsratsresolution erforderlich ist. b) Unabhängig von einer Ermächtigung des Sicherheitsrates bestehen aber gegen die Beteiligung deutscher Schiffe und Flugzeuge an derartigen Kontroll- und Zwangsmaßnahmen (die nicht der kollektiven oder individuellen Verteidigung dienen würden) erhebliche verfassungsrechtliche Bedenken. Die deutsche Teilnahme an Überwachungsmaßnahmen haben wir verfassungsrechtlich darauf gestützt, dass weder die Ausübung von Zwang noch die Anwendung von Waffengewalt geplant waren und deswegen kein „Einsatz“ i. S. des Art. 87 a GG14 vorliegt. Sobald Schiffe gestoppt und durchsucht werden sollen, wird notwendigerweise Zwang ausgeübt, sodass die Schwelle des „Einsatzes“ i. S. des Art. 87 a GG überschritten wird (Inanspruchnahme von Zwangs- und Eingriffsbefugnissen). 6) Sie haben am 16. Juli 1992 im Auswärtigen Ausschuss erklärt15: „Sowohl die WEU als auch die NATO beschränken sich ausdrücklich auf die Überwachung der Embargobeschlüsse der Vereinten Nationen. Die Marineverbände werden Erkenntnisse über den Schiffsverkehr von und nach dem ehemaligen Jugoslawien sammeln und sie gegebenenfalls an den VN­Sicherheitsrat weiterleiten. Weitergehende Maßnahmen, insbesondere zur Durchsetzung des VN-Embargos, sind ausgeschlossen. Sie bedürfen einer neuen Entscheidung des Sicherheitsrates und auch gegebenenfalls einer erneuten Beratung und Beschlussfassung in WEU und NATO.“ Eine deutsche Beteiligung an Kontroll- und Zwangsmaßnahmen dürfte die SPD mit Sicherheit dazu veranlassen, unverzüglich eine einstweilige Anordnung in dem derzeit anhängigen Organstreitverfahren vor dem Bundesverfassungsgericht16 zu beantragen. Darüber hinaus würden sich die Aussichten der Bundesregierung, in dem Verfahren zu obsiegen, deutlich verringern. Auch eine Verhärtung der Position der SPD in der Frage einer Grundgesetzänderung wäre nicht auszuschließen. 13 Zur Resolution Nr. 757 des VN-Sicherheitsrats vom 30. Mai 1992 vgl. Dok. 159, Anm. 12. 14 Für Artikel 87 a GG vom 23. Mai 1949 in der Fassung vom 24. Juni 1968 vgl. BGBl. 1968, I, S. 711. 15 Zur gemeinsamen Sitzung des Auswärtigen Ausschusses und des Verteidigungsausschusses am 16. Juli 1992 vgl. Dok. 231. 16 Die SPD-Fraktion leitete am 7. August 1992 ein Organstreitverfahren gegen die Bundesregierung vor dem Bundesverfassungsgericht ein (2 BvE 3/92). Für die Antragsschrift vgl. Klaus DAU, Gotthard WÖHRMANN (Hg.), Der Auslandseinsatz deutscher Streitkräfte: Eine Dokumentation des AWACS-, des Somaliaund des Adria-Verfahrens vor dem Bundesverfassungsgericht, Heidelberg 1996, S. 377–404.

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7) Im Rahmen der Diskussion um die Organklage vor dem Bundesverfassungsgericht wird von Teilen der Opposition die Auffassung vertreten, dass die Bundesregierung aufgrund der Verfassungslage auch einen Beschluss der NATO bzw. WEU zur Durchsetzung einer diesbezüglichen neuen Sicherheitsratsresolution nicht mittragen könne, weil dies nicht durch die respektiven Verträge17 gedeckt sei. Es sprechen jedoch hiesigen Erachtens schwerwiegende außenpolitische Gründe dafür, sich einem Konsens aller übrigen Bündnispartner nicht zu verschließen. Schließlich würden wir bündnispolitisch völlig unglaubwürdig, wenn wir die Umsetzung dieser Entscheidung, die von den VN getroffen worden ist – und die wir politisch immer gewollt haben –, in NATO und WEU blockierten. Es ist daher aus außenpolitischen Erwägungen notwendig, die Beschlüsse von NATO und WEU zur Umsetzung einer neuen VN­Resolution zur Sanktionsverschärfung mitzutragen, gleichzeitig aber mitzuteilen, dass wir ihn aus verfassungsrechtlichen Gründen nicht mitdurchzusetzen in der Lage sind und uns deshalb aus dem Sanktionsverbund NATO/WEU in der Adria zurückziehen müssen. Eine weitere Präsenz mit unseren Kräften (eine Fregatte (NATO), drei Seeaufklärungsflugzeuge (WEU) ) auf der bisherigen Grundlage, d. h. ausschließlich zur Überwachung, würde unter Umständen zwar der Verfassungslage entsprechen, würde uns jedoch als mittelbare Beteiligung an einer verfassungsrechtlich nicht gedeckten Operation ausgelegt werden können. 8) Fazit Wir sollten daher die Beschlüsse in NATO und WEU politisch mittragen, verbunden mit einem Rückzug aus den in der Adria eingesetzten NATO- bzw. WEU-Verbänden. Diese Haltung würde innenpolitisch unsere Verfassungstreue dokumentieren, der Opposition aber gleichzeitig vor Augen führen, wie dringlich die Änderung des Grundgesetzes ist. Es ist nicht auszuschließen, dass künftig im Falle einer weiteren Verschärfung der Situation im ehem. JUG die VN auch die Sanktionsmaßnahmen zur Durchsetzung des Embargos auf die Stufe 3 (Gewaltanwendung/Use of Force) anheben. Eine deutsche Beteiligung an Stufe 2 (Anhalten und Durchsuchen) würde uns neben sofortigem innenpolitischem Ärger voraussichtlich den Zwang, dann bei der nächsten Stufe auszusteigen, nicht ersparen. Auch insofern erscheint es ratsam – auch unter dem Gesichtspunkt der Verfassungslage – schon ab Stufe 2 keine weitere deutsche Beteiligung vorzusehen.18 Ref. 500 hat mitgewirkt und mitgezeichnet. Schumacher B 14, ZA-Bd. 161181

17 Für den NATO-Vertrag vom 4. April 1949 vgl. BGBl. 1955, II, S. 289–292. Für den WEU-Vertrag vom 23. Oktober 1954 vgl. BGBl. 1955, II, S. 283–288. 18 Referat 201 legte am 27. Oktober 1992 dar: „Trotz wiederholter Ankündigungen hat GB bislang keine überzeugenden Beweise für gravierende Verletzungen des Embargos von der Seeseite her vorgelegt. Die Forderung nach einer Steigerung der Überwachungsmaßnahmen durch ,Stop and Search‘ wird daher nicht mehr so nachdrücklich vorgetragen wie noch vor einigen Wochen.“ Vgl. B 14, ZA-Bd. 161181. Zur weiteren Entwicklung vgl. Dok. 372.

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290 Drahtbericht des Botschafters Freiherr von Richthofen, London Fernschreiben Nr. 1804 Citissime Betr.:

Aufgabe: 17. September 1992, 17.22 Uhr1 Ankunft: 17. September 1992, 20.14 Uhr

Krise des britischen Pfundes; hier: Lageanalyse nach Suspendierung der Mitgliedschaft des Pfundes im EWS2

Bezug: DB vom 15.9.1992 – Wi 424.023; Telefonat Botschafter – StS Dr. Kastrup v. 17.9.92 Zur Unterrichtung 1) Am 16.9.1992 ist die bisherige Wirtschafts-, Fiskal- und Geldpolitik der Regierung Major durch den massiven Druck der internationalen Finanzmärkte auf das Pfund zusammengebrochen. Noch am Wochenende zuvor hatte die britische Regierung ihre Politik verteidigt, den im EWS festgesetzten Leitkurs des Pfundes von 2,95 DM nicht durch Abwertung zu verändern. In der Sitzung des europäischen Währungsausschusses vom 13.9.19924 hatte sie, obwohl das Pfund nur knapp über dem unteren Interventionspunkt lag, eine Abwertung als eigenen Beitrag zum Abbau der Disparitäten im EWS abgelehnt und stattdessen die Senkung der deutschen Eckzinsen verlangt. Bei dem nach der EWS-Suspendierung jetzt frei schwankenden Wechselkurs ist ein erheblicher Rückgang des Außenwerts des Pfundes gegenüber dem EWS-Leitkurs um zurzeit zehn Prozent zu verzeichnen. Obwohl damit die Wirkung einer Abwertung eingetreten ist, hat die britische Regierung auch in der jetzigen Krise eine förmliche Abwertung des Pfundes im Europäischen Währungssystem nicht eingestanden und damit eine formelle Kehrtwendung von ihrem währungspolitischen Credo vermieden. Doch wird die Regierung spätestens bei einem Wiedereintritt in das EWS einer Senkung des Leitkurses und damit einer förmlichen Abwertung zustimmen müssen. 2) Nach den dramatischen Ereignissen des gestrigen Tages gilt das Hauptaugenmerk der weiteren Entwicklung im EWS sowie den politischen Konsequenzen für das Scheitern der wirtschafts- und wechselkurspolitischen Strategie für die Regierung Major. Die gestern entbrannte innenpolitische Debatte über die Ursachen der Krise hat sich – nicht über1 Der Drahtbericht wurde von Bundesbankoberrat Bengs und BR I Westphal, beide London, konzipiert. Hat VLR Döring am 18. September 1992 vorgelegen. 2 Nach schweren Kursverlusten des Pfunds beschloss die britische Regierung am Abend des 16. September 1992 die Aussetzung der Mitgliedschaft im EWS und verzichtete auf eine bereits vorgesehene Erhöhung der Leitzinsen von zwölf auf 15 Prozent. Vgl. den Artikel „Britische Regierung setzt Mitgliedschaft im EWS aus“; SÜDDEUTSCHE ZEITUNG vom 17. September 1992, S. 21. 3 Bundesbankoberrat Bengs, London, berichtete über die Reaktionen in Großbritannien auf die Senkung der Leitzinsen durch die Bundesbank am Vortag: „Insgesamt besteht der zunehmende Eindruck, dass die zunächst als persönlicher Sieg von Schatzkanzler Lamont dargestellten Entwicklungen am Wochenende (Zinssenkung der Bundesbank, keine Abwertung des Pfundes) zunehmend von einer nüchternen Bewertung abgelöst werden. Es wächst vielmehr wieder die Nervosität an den Märkten.“ Es werde bezweifelt, „ob das Pfund mögliche größere Turbulenzen im EWS überstehen wird“. Vgl. DB Nr. 1781; B 224, ZA-Bd. 187240. 4 Zur Sitzung des europäischen Währungsausschusses vgl. Dok. 283.

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raschend – auf exogene Faktoren konzentriert, von denen zwei im Vordergrund stehen: die Verunsicherung der internationalen Finanzmärkte durch das französische Referendum5 und die Informationspolitik der Bundesbank und der Bundesregierung, durch die das Standing des Pfundes auf den Märkten unterminiert worden sei. Downing Street hat in einer spektakulären Aktion gegenüber der Presse ausgeführt, dass Auslöser für die akute Pfundkrise die Äußerungen aus der Deutschen Bundesbank seien.6 Gesprächsteilnehmer in der City, aber auch Teile der Medien und der Bevölkerung, durchschauen dieses Manöver jedoch als Versuch, die Schuld für den völligen Zusammenbruch von der Regierung abzulenken. Nach Ansicht maßgeblicher City-Analysten seien die Ursachen für die schwere Krise primär in Fehlern und Fehleinschätzungen der britischen Regierung zu suchen. So habe die britische Regierung eine Reihe schwerwiegender taktischer Fehler begangen. Die Zinsen seien nicht frühzeitig zur Stützung des Pfundes angehoben worden, die Regierung habe damit selbst die Regeln des Wechselkursmechanismus missachtet, die bei Erreichen des Abweichungsindikators von minus 75 Prozent einen Handlungsbedarf induzieren. Erst Montag dieser Woche7 wurde ein erneuter Fehler darin begangen, dass eine Zinssenkung in Aussicht gestellt worden ist, obwohl das Pfund bereits seit dem 4. Juni 1992 nahezu permanent die schwächste Währung im EWS war und bereits im Januar 1992 eine akute Schwächephase erlebt hatte. Das Pfund gilt in der Analyse von Marktbeobachtern bereits seit langem als bis zu 15 Prozent überbewertet. Die aus politischen oder PrestigeÜberlegungen verhinderte Anwendung der Vertragsregelung des EWS (Abwertung) ist als weiterer wichtiger Faktor für die derzeitigen Turbulenzen mitverantwortlich zu machen. Auch Altbundeskanzler Schmidt wies in seiner Rede am 16.9. vor britischen Geschäftsleuten in London darauf hin, dass eine Kernursache für die derzeitige Krise in der mangelnden Bereitschaft der EWS­Mitgliedsländer zu suchen sei, die vertraglich vorgesehene Möglichkeit von Wechselkursanpassungen zu nutzen. Die britischen Wirtschaftsprobleme sind zu einem ganz erheblichen Teil hausgemachten Faktoren zuzuschreiben, die durch ungünstige exogene Faktoren verstärkt wurden. Der im Lawson-Boom aufgebaute Schuldenberg, den auch PM Major in seiner Rede am vergangenen Freitag8 eingestanden hatte, ist ebenso wie der überhöhte Beitrittskurs zum EWS und das strukturelle Außenwirtschaftsdefizit (wachsendes Leistungsbilanzdefizit trotz der längsten Rezession nach dem Zweiten Weltkrieg) sowie die wachsenden Haushaltsdefizite für die fundamentalen Wirtschaftsprobleme Großbritanniens verantwortlich. 5 Zum Referendum am 20. September 1992 in Frankreich über das Vertragswerk von Maastricht vgl. Dok. 293 und Dok. 300. 6 In der Presse wurde berichtet: „Der Generalsekretär der britischen Konservativen, Norman Fowler, beklagte das ,lose Gerede deutscher Bankiers‘, das die Briten zum EWS-Austritt gezwungen hätte. Ein Sprecher der britischen Regierung warf Bundesbank-Präsident Schlesinger vor, er habe sich für eine Abwertung des britischen Pfunds ausgesprochen und diese mit seiner Hochzinspolitik erreicht.“ Vgl. den Artikel „Schwerste EG-Geldkrise seit 1979“; BERLINER ZEITUNG vom 18. September 1992, S. 1. 7 14. September 1992. 8 11. September 1992. Bundesbankoberrat Bengs, London, berichtete am 11. September 1992 über eine Rede des britischen PM Major vor dem schottischen Unternehmerverband am Vortag in Glasgow. Vgl. DB Nr. 1761; B 224, Bd. 187240. Für die Rede Majors am 10. September 1992 vgl. https://johnmajorarchive.org.uk/1992/09/10/mr-majorsspeech-to-the-scottish-cbi-10-september-1992/.

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Obwohl die deutsche Wirtschafts- und Währungspolitik das Vorbild für PM Major bei seinem Dienstantritt im Herbst 1990 war, hat er es unterlassen, seine auf Europa ausgerichtete Währungspolitik durch eine entsprechende Wirtschaftspolitik im Innern zu untermauern. Im Kern hat er seinen Mitteleinsatz auf die EWS-Mitgliedschaft des Pfundes und auf eine Rückführung der Leitzinsen von 15 auf zehn Prozent beschränkt. Damit allein konnte kein Weg aus der Rezession herausgefunden werden, zumal der hohe Leitkurs des Pfundes im EWS von 2,95 DM die in der Rezession befindliche britische Wirtschaft seit dem Beitritt zum EWS9 zusätzlich belastet. Auch in seiner Haushaltspolitik hat PM Major Umstrukturierungen in Richtung auf investive Ausgaben bisher vermieden. 3) Nach der Rücknahme der Zinserhöhungen des gestrigen Tages und dem Kursrückgang des Pfundes auf unter 2,65 DM werden die weiteren Aussichten für die britische Wirtschaft unterschiedlich bewertet: So könnte einerseits die Gefahr bestehen, dass die britische Wirtschaftspolitik wieder zu den alten schlechten Gewohnheiten zurückkehre und eine primär (wahl-) politisch orientierte Wirtschaftspolitik betrieben würde, die auf den stop-and-go-cycle der früheren Jahre hinauslaufen würde, mit höheren Inflationsraten, notwendigen monetären Bremsmanövern und weiteren Pfundkrisen. Als positiv sei jedoch zu sehen, dass mit dem Ausscheiden aus dem Wechselkursmechanismus nun größerer wirtschaftspolitischer Spielraum bestünde. Ein Problem wird allerdings sein, an welchem Orientierungsanker sich die britische Wirtschaftspolitik künftig ausrichten wird, nachdem der Wechselkursmechanismus des EWS als Anker suspendiert ist. 4) Offen muss zurzeit die Frage nach der politischen Zukunft von Schatzkanzler Lamont und PM Major bleiben. Die Labour-Opposition hat sich noch nicht auf eine Strategie für die für den 24.9.92 anberaumte Sondersitzung des Parlaments10 festgelegt. Es zeichnet sich aber ab, dass die Opposition direkt auf PM Major als den eigentlichen Architekten des gescheiterten Wechselkursexperiments zielt. Die Presse sieht den Rücktritt von Lamont als sicher voraus. Bei den Wettbüros stehen die Wetten für die Nachfolge im Amt des Schatzkanzlers am höchsten für Heseltine, Innenminister Clarke, Finanzstaatssekretär Portillo, den Vorsitzenden des Auswärtigen Ausschusses, David Howell, und AM Douglas Hurd. Entscheidungen werden voraussichtlich aber erst nach dem französischen Referendum getroffen werden. Geht von dem Ergebnis eine neue Belastung des EWS durch Kursverfall der Währungen weiterer Mitglieder (F, SP) aus, würde die Pfundkrise ihren Ausnahmecharakter verlieren und der Eindruck des Versagens der britischen Wirtschaftspolitik würde relativiert. Auch zum Verhalten der Regierung bei der Ratifizierung des Maastricht-Vertrages durch das Parlament sind Prognosen im Vorfeld des französischen Referendums verfrüht. Man kann unter dem Eindruck der Suspendierung der britischen EWS-Mitgliedschaft wie der frühere Schatzkanzler Lord Healey argumentieren, dass es nicht vorstellbar sei, dass Währungen schwacher Volkswirtschaften wie GB, I, P und GR jemals in der Lage sein werden, in einer Währungsunion zusammen mit der DM zu sein. GB sei schon wirtschaftlich kein Kandidat für die WWU. 9 Die britische Regierung gab am 5. Oktober 1990 bekannt, dass das Pfund Sterling mit Wirkung vom 8. Oktober 1990 am Wechselkursmechanismus des EWS teilnehmen werde. Vgl. BULLETIN DER EG 10/1990, S. 24. 10 Für die Debatte des britischen Unterhauses vgl. HANSARD, Commons, 1992, Bd. 212, Spalte 2–108.

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Sollte die Suspendierung der EWS-Mitgliedschaft des Pfundes mehrere Monate dauern, wäre eine aktive Ratifizierungspolitik der Regierung Major auch bei einem französischen Ja wenig wahrscheinlich. 5) Durch die Überzeugung bei der britischen Regierung, dass Bundesregierung und Bundesbank gegenüber dem Pfund unsolidarisch gehandelt und dadurch maßgeblich zu dem willkürlichen Kurseinbruch auf den Finanzmärkten beigetragen haben, ist das deutschbritische Verhältnis ohne Zweifel belastet. Da die Vorwürfe an die deutsche Adresse sachlich nicht stimmen, sollten wir ihnen durch eigene Argumentation gegenüber der Regierung, wie sie oben zusammengestellt ist, entgegentreten. Unter europäischen Partnern sollte es nicht üblich werden, für hausgemachte Schwierigkeiten zur eigenen Entlastung öffentlich die Regierung des Nachbarn verantwortlich zu machen. Wir sollten aber auch aus dem Vorfall die Lehre ziehen, dass die Ankerrolle der DM im EWS uns besondere, zusätzliche Verpflichtungen auferlegt. Nationale Maßnahmen in der deutschen Fiskal- und Währungspolitik wirken sich in unvergleichlich größerem Ausmaß auf die übrigen Volkswirtschaften aus als Maßnahmen unserer Partner auf unsere Wirtschaft. Der Hinweis, dass eine disinflationäre Politik in Deutschland auch den nationalen Interessen unserer Partner dient, ist nicht ausreichend. Wir müssen jeweils konkret unser eigenes Opfer und unseren eigenen Beitrag zur europäischen Volkswirtschaft plausibel machen können. Ein solches glaubwürdiges Opfer ist z. B. auch eine weitere deutsche Zinssenkung, nachdem die Hochzinspolitik für deflationäre Tendenzen in ganz Westeuropa verantwortlich gemacht wird. Der Solidarcharakter in der europäischen Wirtschafts- und Währungspolitik könnte auch durch einen Erfolg der Uruguay-Runde von GATT noch vor Jahresende betont werden. Auch bei diesem Thema stehen wir – neben F – unter dem Vorwurf, dass wir unserem Eigeninteresse Vorrang vor dem europäischen „Gemeinwohl“ einräumen. [gez.] Richthofen B 224, ZA-Bd. 187240

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18. September 1992: Vorlage von Dassel

291 Vorlage des Vortragenden Legationsrats I. Klasse Dassel für Staatssekretär Kastrup 18. September 19921 Über Dg 31 i. V.2, D 33 Herrn Staatssekretär4 Betr.:

Attentat gegen iranische Oppositionelle in Berlin-Wilmersdorf am 17.9.1992

Bezug: ohne Zweck der Vorlage: Zur Billigung des Vorschlages unter Ziffer II I. Nach telefonischer Auskunft des Polizeipräsidenten von Berlin (Abteilung Staatsschutz) hat sich Folgendes ereignet: Im Hinterzimmer des Restaurants „Mykonos“ in Berlin-Wilmersdorf seien acht Personen mit dem Wirt versammelt gewesen. Sie hätten der Iranischen Demokratischen Partei Kurdistans, der Republikanischen Partei Irans sowie den Volksmudschahedin angehört. Anmerkung: Auch die beiden erstgenannten Gruppierungen dürften wie die Volksmudschahedin iranische Oppositionelle sein. Drei Männer hätten das Restaurant betreten, einer habe an der Tür Wache gehalten, die zwei anderen seien in das Hinterzimmer gestürzt und hätten mit einer Maschinenpistole und einer Faustfeuerwaffe das Feuer eröffnet. Überlebende Zeugen hätten übereinstimmend ausgesagt, dass die Täter die Opfer auf Farsi mit „Hurensöhne“ beschimpft hätten. Drei Personen seien sofort tot gewesen, einer sei später im Krankenhaus gestorben, ein weiterer ringe mit dem Tode. Vier Personen hätten unverletzt überlebt. Bei den Opfern handele es sich um Sadik Scherefkendi, Generalsekretär der Iranischen Demokratischen Partei Kurdistans (Scherefkendi ist nach einer AFP-Meldung Nachfolger von Abdul Rahman Ghassemlou, der im Juli 1989 in Wien einem Attentat zum Opfer gefallen ist), seinen Vertreter Abduli (AFP: Fatah Abuli) sowie Herrn Ardalan, den Repräsentanten der Partei in Deutschland. Die Identität der weiteren Opfer ist zur Stunde noch nicht geklärt. II. Es ist davon auszugehen, dass iranische Oppositionelle Teheran für die Tat verantwortlich zu machen suchen. Unter diesem Gesichtspunkt sind Racheakte gegen iranische Einrichtungen in der Bundesrepublik Deutschland denkbar. Vorsorgliche zusätzliche Schutzmaßnahmen für iranische Auslandsvertretungen und sonstige Einrichtungen scheinen uns daher zu diesem Zeitpunkt notwendig zu sein. Für eine weitere Beurteilung des Falles und eventuelle Konsequenzen liegen zurzeit noch keine ausreichenden Informationen vor. Es wird jedoch vorgeschlagen, dass der Sprecher des AA5 die nachstehende Erklärung abgibt: 1 2 3 4

Die Vorlage wurde von VLR Blaas konzipiert. Hat in Vertretung des MDg Bartels VLR I Dassel am 18. September 1992 erneut vorgelegen. Hat MD Schlagintweit am 18. September 1992 vorgelegen. Hat StS Kastrup am 18. September 1992 vorgelegen, der handschriftlich vermerkte: „RL 311 wie besprochen: keine Erklärung, Hinweis an BMI.“ 5 Hanns Heinrich Schumacher.

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18. September 1992: Drahtbericht von Weisel

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Die Bundesregierung hat mit tiefer Bestürzung von dem Mordanschlag gegen iranische Kurden in Berlin Kenntnis genommen. Sie verurteilt mit Nachdruck diese feige Bluttat. Sie spricht den Angehörigen der Opfer ihr tiefes Mitgefühl aus. Die Strafverfolgungsbehörden haben die notwendigen Ermittlungs- und Fahndungsmaßnahmen eingeleitet. Dassel B 36, ZA-Bd. 170192

292 Drahtbericht des Botschafters Weisel, Zagreb Fernschreiben Nr. 629 Citissime Betr.:

Aufgabe: 18. September 1992, 16.30 Uhr1 Ankunft: 18. September 1992, 17.35 Uhr

Gespräch mit Präsident Tudjman

Bezug: DE Nr. 149 vom 17.9.2 1) Ich habe heute Präsident Tudjman die mündliche Botschaft des BM weisungsgemäß übermittelt. T. erwiderte stellenweise sehr emotional. 1 Hat VLR Steiner am 20. September 1992 vorgelegen. 2 VLR Steiner teilte der Botschaft in dem am 16. September konzipierten und am 17. September 1992 übermittelten DE mit: „Nach Londoner Konferenz verbreitet sich Eindruck – wie auch von Botschaft berichtet –, dass Tudjman der Auffassung ist, eine Lösung in seinem Sinne einseitig vorantreiben zu können. Zwei Felder geben Anlass zur Besorgnis: einerseits das Verhältnis zu bosnischen Moslems, dessen Verschlechterung erneut auf Teilungsabsichten hinweist; andererseits Aussagen, nach denen das Mandat von UNPROFOR nicht verlängert werden kann bzw. die Aufgabe der VN-Truppe notfalls in die eigenen Hände genommen werden soll.“ Die Botschaft wurde gebeten, dem kroatischen Präsidenten Tudjman folgende Botschaft von BM Kinkel „umgehend“ zu übermitteln: Kinkel sei besorgt über die Verschlechterung des Verhältnisses zwischen Kroaten und Muslimen in Bosnien-Herzegowina. Dies erschwere eine Lösung der Krise, „die aus unserer Sicht weiterhin nur in einem multinationalen Staat in den bisherigen Republikgrenzen bestehen kann. BM ersucht Präs[ident] Tudjman, Einfluss auf Kroaten in B.-H. im Sinne dieser Lösung geltend zu machen. BM ist sich sicher, weiter von bisherigem Einverständnis mit Präs. Tudjman ausgehen zu können, dass territoriale Integrität der ehem[aligen] jug[oslawischen] Republiken erhalten bleiben muss. Dies schon deshalb, weil jede Infragestellung der bosnischen Grenzen auch unweigerlich Forderungen gegenüber KRO massiv verstärken würde.“ Kinkel sei besorgt über kroatische Äußerungen, einer Verlängerung des Mandats von UNPROFOR im März 1993 nicht zustimmen zu wollen: „Damit würde KRO den Serben einen Vorwand liefern, sich der Verpflichtung zur Entwaffnung und Verringerung der Polizeikräfte/Milizen zu entziehen; zusätzlich wird KRO internationalen Druck auf sich ziehen, der davon ablenkt, wer die vollständige Mandatserfüllung behindert hat. BM rät deshalb eindringlich und als Freund Kroatiens, weiterhin offene Kooperationsbereitschaft gegenüber den Bemühungen der Staatengemeinschaft um Lösung der Krise, von denen UNPROFOR ein essenzieller Anteil ist, zu zeigen. Auch bisher sei Kroatien mit einer Befolgung dieser Linie gut beraten gewesen.“ Vgl. B 42, ZA-Bd. 175612.

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B+H T. sagte, KRO habe B + H völkerrechtlich anerkannt. Gerade habe es einen Botschafter in Sarajevo ernannt. Wie könne bei dieser eindeutigen Politik jemand glauben, KRO oder die Kroaten stellten die territoriale Integrität B + Hs infrage? Was die Grenzen Kroatiens betreffe, so sei Kroatien mit seinen Grenzen international anerkannt. Er, T., lasse es nicht zu, dass überhaupt in irgendeinem Zusammenhang über die kroatische territoriale Integrität gesprochen werde. KRO habe geopolitisch ein vitales Interesse an B + H. Es sei nicht für die Zerschlagung des Nachbarlandes. B + H sei eine Art Puffer für Kroatien. Zwischen B + H und KRO bestehe eine enge wirtschaftliche Verflechtung. Wenn die Kroaten in B + H nicht gekämpft hätten, dann gehörte heute ganz B + H zur „Bundesrepublik Jugoslawien“. Die Regierung in Sarajevo habe den Kroaten in B + H dafür keinen einzigen Dinar, keine einzige Tasse Tee gegeben. Er, T., habe die Kroaten in B + H mit Mühe davon abgebracht, den Anschluss der kroatischen Siedlungsgebiete an Kroatien zu fordern. Was die aktuelle Situation angehe, so sei es so, dass die Muslime die Fortsetzung des Krieges wünschten. Sie wollten zuerst mit den Serben abrechnen, dann mit den Kroaten und anschließend einen islamischen Staat errichten. Sie hofften, dieses Ziel mit Hilfe ihrer islamischen Glaubensbrüder in aller Welt zu erreichen. Gestern Abend habe er ein Treffen mit kroatischen Notabeln aus B + H gehabt. Sie hätten gesagt, dass die Kroaten das Schlimmste von den Muslimen befürchteten. Kroaten der Selbstverteidigungsorganisation hätten kroatische Dörfer befreit. Anschließend seien muslimische Flüchtlinge in diese Dörfer gekommen, sodass heute eine Mehrheit von Muslimen dort bestehe. Diese Überfremdung sei nicht wegen der Notsituation der Muslime geschehen, sondern in Verfolgung des politischen Ziels der Muslime. 1300 Mudschahedin aus islamischen Ländern kämpften in B + H. Es gebe Freiwillige und Spenden vom Iran bis zum Sudan. Ziel sei die Ansiedlung von 1,5 Mio. Türken bosnischer Abstammung, die nach dem Ersten und nach dem Zweiten Weltkrieg in die Türkei gegangen seien. Außerdem sollten die Muslime aus dem Sandžak aufgenommen werden. Es solle ein islamischer Staat mit 4 Mio. muslimischer Einwohner geschaffen werden. Die Regierung in Sarajevo versuche, Kroatien international zu diffamieren. Deshalb habe sie z. B. auch die rechtsextremen HOS3-Truppen in B + H gefördert. Ich sagte, meines Wissens sehe niemand sonst eine Gefahr der Schaffung eines islamischen Staates in B + H. Die Muslime in B + H seien doch zum größten Teil deislamisiert, und was die von T. befürchteten gewaltigen Einwandererströme betreffe, so könne eine solche Einwanderung doch nicht ohne Zustimmung der beiden anderen Völker in B + H, der Kroaten und der Serben, geschehen. Wenn tatsächlich die Kroaten in B + H aus Angst vor einem islamischen Staat handelten, wie sie handeln, warum werde dies dann nicht artikuliert? Es gebe doch viele Gelegenheiten, dies zu tun, auch gegenüber internationalen Gesprächspartnern. T. antwortete, das sei doch ganz einfach: Wenn die Kroaten ihre Angst äußerten, würden sie sofort von aller Welt als anti-islamisch diffamiert. Ich sagte weiter, wenn B + H auch nach kroatischer Ansicht nicht zerschlagen werden solle, dann müssten doch auch die Kroaten in B + H alle Anstrengungen machen, um zu einer Verständigung mit den Muslimen über die dauerhafte Gestaltung des gemeinsamen 3 Hrvatske obrambene snage (Kroatische Verteidigungskräfte).

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18. September 1992: Drahtbericht von Weisel

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Staates zu kommen. Das Kantonskonzept vom 18. März4 sei inzwischen ja fortentwickelt worden. Wie stünden die Kroaten in B + H dazu, dass es nicht nur drei, sondern eine größere Anzahl von Kantonen geben solle? T. antwortete, Axiom jeder Regelung in B + H sei die Anerkennung der Existenz dreier konstitutiver Völker. Entscheidend sei, dass die Souveränität der Kroaten – T. gebrauchte tatsächlich diesen Ausdruck – gewahrt bleibe. Ihre kulturellen und wirtschaftlichen Rechte müssten auch in den Orten und Gebieten gewährleistet sein, in denen sie nicht die Mehrheit hätten. Das Frustrierende bei den Muslimen als Verhandlungspartnern sei, dass sie nicht Wort hielten. Izetbegović habe doch gerade wieder ein schönes Beispiel davon gegeben, als er Vance und Owen zusagte, nach Genf zu gehen. Kurz nachdem diese Sarajevo verlassen hätten, habe er mitteilen lassen, dass B + H nicht teilnehmen werde. Dann habe er eine neue Wendung gemacht und die Teilnahme doch bestätigt.5 Ich sagte, an der Einigung der drei Volksgruppen in B + H führe kein Weg vorbei, und deshalb seien die Kroaten gut beraten, sich mit den Muslimen zu verständigen, auch wenn dies noch so schwerfalle. UNPROFOR T. gab zu, dass gerade in der letzten Zeit UNPROFOR Fortschritte gemacht habe. UNPROFOR habe sich dazu aber erst unter dem Druck der kroatischen Bevölkerung und Regierung aufgerafft. Hauptaufgaben seien noch zu lösen, nämlich die Öffnung der Verkehrswege und die Rückkehr der Flüchtlinge und natürlich auch die von mir genannte Schaffung der personellen Polizeistruktur entsprechend der ursprünglichen ethnischen Zusammensetzung. Ich sagte, dass von der Beendigung des UNPROFOR-Mandats am besten gar nicht gesprochen werde.6 Diese Zurückhaltung werde sich auszahlen, da den militanten Serben ein Vorwand fehle, sich der Entwaffnung durch UNPROFOR zu widersetzen. Auch der Dialog mit den Krajina-Serben, der nötig sei, werde erleichtert. T. bemerkte, nur zehn Prozent der serbischen Bevölkerung in der Krajina stünden hinter den Extremisten. Er wiederholte nicht, dass das UNPROFOR-Mandat im März auslaufen müsse. 2) Während T. bei früheren Gesprächen immer vom Auseinanderfallen B + Hs gesprochen hat – beim letzten Gespräch Anfang September7 allerdings nicht mehr –, hat er diesmal 4 Zur Prinzipienerklärung vom 18. März 1992 vgl. Dok. 94, Anm. 15. 5 Botschafter Jelonek, Genf (Internationale Organisationen), informierte am 15. September 1992, die beiden Ko-Vorsitzenden der Jugoslawien-Konferenz, Lord Owen und Vance, hätten die Botschafter der EGMitgliedstaaten am selben Tag über ihre Gespräche in Zagreb, Sarajevo und Belgrad vom 9. bis 11. September 1992 informiert: „Lord Owen teilte mit, dass Präsident Izetbegović seine in Sarajevo gegebene Zusage, am 18.9.1992 in Genf an der Fortsetzung der Jugoslawienkonferenz teilzunehmen, zurückgenommen habe. Er und Vance hätten daraufhin in einem äußerst massiven Brief die bosnische Seite aufgefordert, hochrangig an den Verhandlungen teilzunehmen. […] Als Ergebnis dieses Briefes sei jetzt die Teilnahme von AM Silajdžić zugesagt.“ Vgl. DB Nr. 1848/1849; B 42, Bd. 183680. 6 Botschafter Weisel, Zagreb, informierte am 2. September 1992, der kroatische Präsident Tudjman habe auf einer Pressekonferenz am Vortag erklärt: „Kroatien werde einer Verlängerung des UNPROFORMandats nach Ablauf der einjährigen Mandatsfrist im März kommenden Jahres nicht zustimmen.“ Vgl. DB Nr. 572; B 42, ZA-Bd. 175617. 7 Botschafter Weisel, Zagreb, berichtete am 3. September 1992 über ein Gespräch mit dem kroatischen

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die Existenz B + Hs nicht nur klar anerkannt, sondern auch im Interesse KROs liegend dargestellt. Er hat aber auch noch nie so deutlich sein abgrundtiefes Misstrauen gegenüber den Muslimen geäußert und noch nie so eindringlich von der Gefahr eines islamischen Staates gesprochen. T. bäumt sich dagegen auf, von seiner Vorstellung Abschied zu nehmen, B + H werde ehestens auseinanderfallen, und dann werde der zu schaffende eine kroatische Kanton an Kroatien kommen. Es fällt ihm schwer, eine andere Vorstellung, also etwa ein vielkantoniges B + H, zu akzeptieren. Da er Kräfte und Gegenkräfte meist richtig einschätzt, sieht er, dass die stärkeren Kräfte gegen seinen Plan stehen. Besonders erregt ihn, dass die katholische Kirche und wohl erhebliche Teile der Kroaten in B + H zu diesen Gegenkräften zählen. T. kann sich deshalb zu diesem Thema gegenwärtig wohl nur emotional äußern. Was UNPROFOR betrifft, so ist T. jetzt wohl zur Zurückhaltung bereit, nachdem bei der Verwirklichung des Vance-Plans8 in letzter Zeit Fortschritte gemacht worden sind. Er wird sich sagen, dass er sein Ziel erreicht hat, mit der Ankündigung der Beendigung des UNPROFOR-Mandats in Kroatien UNPROFOR „Beine gemacht“ zu haben. [gez.] Weisel B 42, ZA-Bd. 175606

Fortsetzung Fußnote von Seite 1175 Präsidenten am selben Tag: „T[udjman] sagte, UNPROFOR habe noch sieben Monate Zeit, um die nach dem Vance-Plan gestellten Aufgaben zu erfüllen. Dann müsse UNPROFOR das Land verlassen. […] Ich fragte, was denn geschehe, wenn UNPROFOR bis Ende März die serbischen Freischärler in den UNPAs nicht entwaffnet habe und trotzdem abziehe. Dann könne es doch zur Wiederaufnahme des Krieges kommen. T. antwortete, dies sei richtig. Der Krieg werde dann aber kurz sein.“ Bezüglich BosnienHerzegowinas sei Tudjman „offenbar bereit, sich weiterhin flexibel zu verhalten und eigene Positionen aufzugeben, wenn dies im Interesse der kroatischen Stellung in der Staatengemeinschaft erforderlich erscheint. T. äußerte sich hinsichtlich B + Hs viel zurückhaltender als bei früheren Gesprächen, wo er nie versäumte, seiner Meinung Ausdruck zu geben, B + H werde keinen Bestand haben.“ Vgl. DB Nr. 575; B 42, ZA-Bd. 175606. 8 Zum Plan des Sonderbeauftragten des VN-GS für Jugoslawien, Vance, vgl. Dok. 2, Anm. 6.

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18. September 1992: Drahtbericht von Sudhoff

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293 Drahtbericht des Botschafters Sudhoff, Paris VS-NfD Fernschreiben Nr. 2286 Citissime nachts Betr.:

Aufgabe: 18. September 1992, 18.30 Uhr1 Ankunft: 18. September 1992, 17.52 Uhr

Frankreich vor dem Referendum über den Vertrag zur Europäischen Union (Maastricht)2

Bezug: DB Nr. 2211 vom 11. September 1992 – gl[eiches] Az.3 I. 1) F sieht dem Ausgang des Referendums am 20.9. mit Spannung und Ungewissheit entgegen. Aus vertraulichen Unterrichtungen wissen wir, dass Umfrageergebnisse aus dieser Woche (die nicht mehr veröffentlicht werden dürfen), allerdings vor den Währungsturbulenzen4, zwischen 50 und 55 Prozent für das Ja zu Maastricht ergeben haben. Angesichts der statistischen Fehlerquote von drei Prozent bleibt die Aussagekraft solcher Prognosen unsicher. Unsere frz. Gesprächspartner rechnen weiterhin mit einem knappen Ausgang, aber meist zugunsten des Ja. Viele Franzosen würden sich tatsächlich erst am Sonntag endgültig festlegen. Immerhin zeigt sich heute generell eine leicht optimistischere Einschätzung der Lage als Anfang September. Die Botschaft will sich trotz aller Imponderabilien nicht vor einer abschließenden Prognose drücken: Wir erwarten ein Ja. II. Im Einzelnen 1) Die Wahlkampagne für das Referendum ging am 18.9. zu Ende. Noch bis in die letzten Tage wurden alle Kräfte und alle Argumente pro und kontra eingesetzt. Dennoch hat kein Lager einen offensichtlichen Punktevorsprung erringen können, auch wenn sich insgesamt wieder eine etwas stärkere Zuversicht zugunsten des Ja abzeichnet. Genauso spekulativ wie die Prognosen zum Ergebnis sind die Meinungen zu den möglichen (innen)politischen Konsequenzen. Einigkeit besteht lediglich insoweit, als bei einem Nein mit erheblichen innenpolitischen Verwerfungen zu rechnen wäre, die u. U. auch vor der Person des Präsidenten nicht haltmachen. 2) Bei allen Risiken, die der Präsident mit dem Referendum eingegangen ist, ist ein Ergebnis unbestreitbar: Die Kampagne hat zu einer bislang beispiellosen europapolitischen Mobilisierung des frz. Wählers geführt. Dies wird sich auch in einer hohen Wahlbeteiligung niederschlagen. Sie hat das Bild der Gemeinschaft aus der Indifferenz und Schemen1 Der Drahtbericht wurde von Gesandtem Ischinger und BR Bauer, beide Paris, konzipiert. Hat VLR Cuntz vorgelegen. 2 Zum Referendum am 20. September 1992 in Frankreich über das Vertragswerk von Maastricht vgl. auch Dok. 300. 3 Botschafter Sudhoff, Paris, berichtete über jüngste Meinungsumfragen zum Referendum am 20. September 1992 in Frankreich und stellte fest: „Wir müssen von einem Kopf-an-Kopf-Rennen ausgehen.“ Vgl. B 210, ZA-Bd. 162210. 4 Zur Krise im EWS vgl. Dok. 283 und Dok. 290.

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haftigkeit herausgeführt, die sie für viele Franzosen bislang hatte. Ein Berater von Mitterrand sprach uns gegenüber von der notwendigen „Katharsis“ Frankreichs. Kommt es zu einem Ja, kann Frankreich auf eine vom Volk legitimierte Europapolitik pochen, die die Partner Frankreichs noch stärker als bisher zu beachten haben werden. Diese Gemeinschaftspolitik, auch dieses hat der Wahlkampf gezeigt, ist eine der nationalen Identität verpflichtete Politik, die „echten“ Souveränitätsverzichten Widerstand entgegensetzen wird. Weitergehende Integrationskonzepte, wie wir sie definieren und für die Gemeinschaft verfolgen, werden mehr denn je auf den Widerstand Frankreichs treffen. 3) Gleichzeitig hat sich gezeigt, wie stark sich in Frankreich Tradition und Zukunft noch immer reiben. Der Schatten de Gaulles war sichtbar. Diesem Zwiespalt haben sich letztlich auch die Befürworter von Maastricht unterworfen, wenn sie einerseits feststellten, dass es zu Maastricht keine Alternative gäbe, der Vertrag andererseits jedoch (vom Währungsbereich abgesehen) keine Einbußen in der nationalen Entscheidungsfreiheit bringe. 4) Der Eindruck, dass das Referendum F in zwei Lager gespalten habe, trifft deshalb nur dem ersten Anschein nach zu. Die Debatten haben keinen unversöhnlichen ideologischen Gegensatz, wie z. B. in der Algerienfrage, hinterlassen. Beide, Befürworter und Gegner, haben letztlich um das Wohl Frankreichs gestritten. Die Europa-Konzeptionen beider Lager sind so offengeblieben, dass innerfranzösische Kompromisse nach dem Referendum überall möglich scheinen. 5) PM Bérégovoy hat zu Recht festgestellt, dass die Kampagne zu sehr mit der Angst gearbeitet habe. In der Tat haben über weite Strecken die „peur d’Allemagne“, die Angst vor der Öffnung der Grenzen, vor dem Verlust der währungspolitischen Autonomie usw. eine größere Rolle in den Debatten gespielt als die neuen Möglichkeiten Frankreichs in einer dynamischen Europäischen Gemeinschaft. In der frz. Bevölkerung ist so der (negative) Eindruck entstanden, für ein Ja unter Druck gesetzt zu werden. Glücklicherweise haben einsichtige Politiker wie Giscard, aber auch Mitterrand selbst, die hierin liegende Gefahr erkannt. Ob ihre offensiv vorgetragenen Gegenargumente wirklich verfangen haben, wird sich zeigen. 6)5 Die Eruptionen im Europ. Währungssystem kommen zum denkbar schlechtesten6 Zeitpunkt. Politiker wie Giscard, Fabius, Balladur oder Barrot haben zwar gerade mit dem Hinweis auf die Verwerfungen im EWS nochmals die Notwendigkeit der Währungsunion begründet. Séguin seinerseits hat die 3 Mio. Arbeitslosen und die budgetären Probleme Frankreichs im Auge gehabt, als er sagte, dass die Währungskrise zeige, wie anachronistisch Maastricht sei, indem es die Wirtschaft der Währung unterwerfe. III. Die Botschaft erwartet ein Ja. In diese Richtung weisen auch alle letzten – nicht veröffentlichten – Meinungsumfragen ebenso wie Einschätzungen unserer Gesprächspartner. Zu unserem – vorsichtigen – Optimismus tragen die folgenden Punkte bei: 1) Erstens die relativ hohe Anzahl der Franzosen (66 Prozent), die ein Ja erwarten. Da die Nein-Stimmen demgegenüber bei den Umfragen bei bzw. unter 50 Prozent liegen, indiziert diese Differenz ein Potenzial zugunsten des Ja bei den noch Unentschiedenen. 5 Korrigiert aus: „5)“. 6 Korrigiert aus: „schlechteren“.

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2) Zweitens das überzeugende Auftreten von Politikern der Opposition. Vor allem Giscard d’Estaing hat in seinen letzten Wahlveranstaltungen in eindringlicher Weise die Folgen eines Nein beleuchtet und hierbei insbesondere vier Punkte herausgestellt: – Ein Nein wäre das Ende von Maastricht und des Ratifikationsprozesses in GB und D. Neuverhandlungen wird es nicht geben. – Ein Nein bedeutete auch die Absage an eine einheitliche europ. Währung. – D würde F und Europa den Rücken kehren, eine Argumentation, die mir weniger gefällt. – Ein Nein unterstütze die Bemühungen derjenigen Länder, die für eine europ. Freihandelszone plädieren. 3) Drittens die hohe Zustimmung der frz. Jugend zu Maastricht, wie sie sich in den Umfragen niederschlägt und wie es auch unserer eigenen Beobachtung entspricht. Die größten Sorgen macht die unkalkulierbare „frz. Volksseele“, die immer wieder versucht ist, wie sich auch in früheren Referenden gezeigt hat, es „denen“ in Paris zu zeigen. Wenn das Ja siegt, wird es ein Sieg des Verstandes über das Herz sein. Mir wäre zwar lieber, beide – Verstand und Herz – würden für Europa sprechen und schlagen, aber ein Ja ist ein Ja. Darauf können wir dann aufbauen. [gez.] Sudhoff B 210, ZA-Bd. 162210

294 Drahtbericht des Gesandten Rosengarten, Genf (Internationale Organisationen) Fernschreiben Nr. 1911 Citissime Betr.:

Aufgabe: 20. September 1992, 10.00 Uhr1 Ankunft: 20. September 1992, 10.53 Uhr

Serbische Vorstellungen für eine Friedensregelung in BuH („neues Camp David“2); hier: Gespräch mit dem bosnischen Serbenführer Karadžić am 19.9.

Bezug: Telefongespräch Ges[andter]/Dg 213 vom 18.9. Zur Unterrichtung und Weisung zu Ziff. 8 I. Zusammenfassung In einem einstündigen Gespräch erläuterten Karadžić und sein „Außenminister“ Buha ihre Vorstellungen für ein Ende des Krieges in BuH. Der einzige Schlüssel dafür sei die Lösung aller Territorialfragen zwischen den Serben und Kroaten im gesamten Gebiet des früheren Jugoslawiens. Für BuH selbst komme nur eine Aufteilung in serbische und kroa1 Der Drahtbericht wurde von BR I Daum, Genf (Internationale Organisationen), konzipiert. Hat VLR Brandenburg am 21. September 1992 vorgelegen. 2 Zum Camp-David-Prozess vgl. Dok. 282, Anm. 12. 3 Ernst-Jörg von Studnitz.

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tische Gebiete in Betracht, mit einem vollständig von Kroaten und Serben umgebenen kleinen muslimischen Territorium. Nur dadurch lasse sich die Gefahr eines islamischen Gottesstaates von Europa abwenden. Der territoriale Ausgleich zwischen Serben und Kroaten müsse aber auch die umstrittenen Gebiete in Kroatien umfassen. Bevölkerungsaustausch (z. B. Knin!) und Arrondierung der Grenzen lägen auch im kroatischen Interesse. Sollte Kroatien nach Abzug von UNPROFOR in der Krajina eine militärische Lösung suchen, würden alle Serben eingreifen müssen. Der große kroatisch-serbische Ausgleich könne nur in einer Art neuem „Camp David“ gefunden werden, bei dem Kohl, Mitterrand, Major allein oder mit Bush starken Druck auf die beiden beteiligten Völker und ihre Repräsentanten ausüben müssten. Alle offenen territorialen Fragen könnten durch einige Wochen Geheimverhandlungen gelöst und dann in einer eigentlichen „Camp David Sitzung“ feierlich geregelt werden. Die Muslims kommen in Karadžićs Vorstellung nicht vor. Es fiel auch auf, dass er Krieg als eine Art nationales Naturereignis sieht und Fragen nach Schuld, Verantwortung oder Vorsorge sich nicht einmal selber stellt. II. Im Einzelnen 1) Der Genfer Vertreter der bosnischen Serben hatte mich kurzfristig für heute (19.9.92) zu einem Gespräch mit der bosnisch-serbischen Delegation bei den Genfer Friedensgesprächen gebeten. In dem teilweise auf Deutsch und teilweise auf Englisch geführten einstündigen Gespräch erläuterten Karadžić und seine Mitarbeiter („Außenminister“ Buha, ehemals Philosophie-Professor an Universität Sarajevo, und Anglistik-Dozent Koljević) ihre Vorstellungen zur Lösung des Konflikts nicht nur in BuH, sondern für das gesamte ehemalige Jugoslawien. Ich verhielt mich rezeptiv und trug lediglich am Ende einige kurze Sachpunkte zu unserer Haltung vor. Außer mit uns hatte Karadžić anschließend noch Termine mit dem britischen4, französischen5 und russischen Botschafter6 vereinbart. 2) Karadžić (Dr.) wirkte in dem Gespräch keineswegs eifernd und, abgesehen davon, dass ihm die Brüchigkeit seiner Argumente im heutigen Europa offenbar überhaupt nicht zu Bewusstsein kam, rational. Er erwähnte, dass Vuk Karadžić, einer der Begründer der serbischen Volksfindung (Freund Jacob Grimms, mit ihm 1849 Mitbegründer der serbischen Akademie, und auf Grimms Anregung 1853 Sammler der „serbischen Märchen“, mit Goethe zusammengetroffen) sein direkter Vorfahre sei. Auch vom äußeren Zuschnitt her als Intellektuelle wirkten Prof. Koljević (Shakespeare-Forscher) und der „AM“ Prof. Buha. Buha stellte sich mit den Worten vor, die deutsche Tradition, und hier besonders der deutsche Idealismus, sei auch seine eigene erste Tradition. Serbien und Deutschland hätten in der Geschichte vielfältige Beziehungen und Berührungspunkte gehabt, besonders kulturell und zivilisatorisch seien die Verbindungen stets eng gewesen (Hinweis auf Vuk Karadžić). Es sollte im Interesse Deutschlands liegen, nicht nur mit SLO und KRO gute Beziehungen zu haben, sondern die alten kulturellen Bindungen mit den Serben wieder zu beleben, und darauf dann auch erneut wirtschaftliche Beziehungen aufzubauen. Die Serben wüssten, dass D ein großes Interesse an geordneten Verhältnissen auf dem Balkan habe. 4 Martin R. Morland. 5 Bernard Miyet. 6 Jewgenij Nikolajewitsch Makejew.

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3) Den Hauptteil des Gesprächs bestritt Karadžić. Der Krieg mit SLO sei vergleichsweise harmlos gewesen, weil es keine territorialen Ansprüche gegeben habe. Der Krieg in KRO sei sehr grausam geführt worden, doch in BuH sei er besonders schrecklich. In BuH herrsche nicht bloß Krieg, sondern Chaos. Keine Gruppe könne der anderen trauen, der Krieg sei ein Krieg der Religionen. Er hoffe, dieser Krieg könne bald beendet werden. Dies sei den Konfliktparteien aus eigener Kraft nicht möglich. Auch das VN-Format der Genfer Jugoslawien-Konferenz reiche dazu nicht aus (u. a., weil keinerlei Druck auf die Muslims ausgeübt werde). Eine Dauerlösung sei nur durch eine Art „Camp David“ möglich, bei dem einflussreiche Vermittler (er nannte Kohl, Mitterrand, Major und Bush) mit den Konfliktparteien eine umfassende Lösung (über BuH hinaus) suchten. Ohne eine solche Lösung würde der Krieg noch 30 Jahre dauern, käme es dagegen zu einer Lösung, könne er in 30 Tagen beendet sein. 4) Der einzige Schlüssel zum Frieden sei die Lösung der territorialen Fragen. Er, Karadžić, (und, so deutete er an, auch Belgrad) erkenne das Prinzip an, dass Grenzen nicht mit Gewalt verändert werden dürften. Umgekehrt bedeute dies aber auch, dass Grenzen durch Vereinbarung beider Seiten geändert werden könnten. Eine Lösung der territorialen Fragen mit Beteiligung und unter dem Druck der wichtigsten europäischen Führer (evtl. einschließlich Präs. Bushs, der, wenn ihm der Friede in Jugoslawien gelinge, einen wichtigen Trumpf für seine Wiederwahl7 gewinne) würde den Krieg innerhalb eines Monates beenden. Deutschland sei wegen seines Einflusses auf SLO und KRO und wegen der Nähe zur Region unerlässlicher Partner für eine derartige Friedenskonferenz. 5) Voraussetzung dafür sei, dass Europa die Realität der gegenwärtigen Situation erkenne. BuH existiere nicht mehr. Stattdessen gebe es jetzt serbische und kroatische Gebiete sowie einige Territorien, wo Muslims lebten. Serben und Kroaten würden einen Einheitsstaat BuH nie akzeptieren. In ihm würden in einigen Jahren über 50 Prozent Muslims (die voraussichtlich auch Muslims aus Serbien und Montenegro einladen würden, sich in BuH anzusiedeln) leben und dort mitten in Europa eine islamische Theokratie begründen. Buha und Karadžić präzisierten dies dahingehend, dass man (und hier insbesondere D) den Serben und Kroaten helfen müsse, ihre gegenseitigen Gebietsansprüche durch Austausch und Arrondierung zu lösen. Dann könne auch ein kleines muslimisches Rest-Territorium in Zentralbosnien ohne Gefahr für Europa akzeptiert werden, weil es von serbischen und kroatischen Gebieten umgeben sei. So sei sichergestellt, dass sich hier kein gefährlicher islamischer Extremismus entwickeln könne. Der Gebietsaustausch zwischen Serben und Kroaten könne aber nicht auf BuH beschränkt bleiben. An dem neuen Camp David müssten Boban und er, Tudjman und Milošević sowie (für die Serben in KRO) Hadzić eingeladen werden. So können auch die Probleme der serbischen Gebiete in KRO gelöst werden. Karadžić deutete an, dass Serbien beispielsweise mit einer Aussiedelung der Knin-Serben einverstanden sein könne. Nur durch einen weiträumigen Gebietsaustausch zwischen Serben und Kroaten sei es möglich, einzelnen Gruppen der beiden Völker verständlich zu machen, dass sie ihr traditionelles Siedlungsgebiet räumen müssten, dass aber ihr Volk an anderer Stelle gewinnen werde. 7 In den USA fanden am 3. November 1992 Präsidentschaftswahlen, Wahlen zum Repräsentantenhaus sowie Teilwahlen zum Senat und für die Gouverneursämter statt.

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Auch für Kroatien (die Serben verstünden sich durchaus mit den Kroaten, zu Tudjman sei der Gesprächsfaden nie abgerissen) sei diese Lösung von Vorteil, Kroatien werde ein kompaktes und abgerundetes Territorium gewinnen. 6) Sollte eine solche Lösung nicht verwirklicht werden, drohe eine Ausweitung des Krieges. Es sei klar, dass Tudjman nach Abzug der UNPROFOR eine militärische Lösung für die Krajina suchen wolle. Dies würde unweigerlich zur Folge haben, dass 700 000 serbische Kämpfer die Krajina-Serben unterstützen würden. Kein serbischer Führer werde sie zurückhalten können. Wenn es jedoch zu einer serbisch­kroatischen Einigung komme, könne er (Karadžić) beispielsweise auch Belgrad empfehlen, den Albanern im Kosovo entgegenzukommen. So wie die Anerkennung von BuH zu blutigem Krieg geführt habe, könne er durch formelle Rücknahme der Anerkennung („de-recognition“) und die Aufteilung auf Kroatien und Serbien wieder beendet werden. Überhaupt habe die vorschnelle Anerkennung von SLO, KRO und BuH jeweils zum Krieg geführt. Er warne deshalb davor, Mazedonien anzuerkennen, da es dann dort zu einem weiteren Krieg mit Eingreifen Albaniens kommen werde. 7) Während im Hauptteil der Ausführungen Karadžićs die Muslims gar nicht vorkamen, nahmen Buha, Koljević und mit gelegentlichen Einwürfen auch Karadžić sodann doch noch dazu Stellung. Die Muslims würden mehr und mehr durch Freiwillige aus islamischen Ländern unterstützt. 25 000 seien bereit, in Kürze zu kommen. Izetbegović wolle ganz BuH beherrschen (was Kroaten und Serben nie akzeptieren könnten) und hier mitten in Europa einen islamischen Staat einrichten. Es sei klar, dass Europa und Deutschland, in dem sich bereits auch islamische Minderheiten bildeten, dies nicht wünschen könnten. 8) Auf kroatischer Seite habe es auch einige Söldner gegeben. Die bosnischen Serben hätten einige Franzosen und Deutsche sowie einen Amerikaner gefangengenommen. Auf meine Nachfrage präzisierte Karadžić, dass er noch zwei Deutsche in Gewahrsam habe, einer sei derzeit zur Behandlung in einem Krankenhaus, gegen den anderen laufe ein Gerichtsverfahren. Der deutsche Konsul in Belgrad habe Buha wegen der beiden Fälle bereits aufgesucht. Er, Buha, habe ihn dabei aufgefordert, sich schriftlich an ihn zu wenden. Buha bat um Auskunft, ob es in D Strafvorschriften gegen Söldner gebe (um Weisung hierzu wird, auch für Belgrad, gebeten, damit die Frage bei einem evtl. nächsten Zusammentreffen mit den bosnischen Serben beantwortet werden kann). Abschließend äußerten die Gesprächspartner ihren Dank für humanitäre Hilfe von NROs aus Deutschland, z. B. Arzneimittel. Trotz der logistischen Schwierigkeiten zeige sich hier, dass die beiden Völker sich nicht als Feinde betrachteten. Schließlich trug Karadžić vor, dass er gerne, „wenn nötig und möglich“, nach Bonn reisen würde, um mit BM oder dem BK zusammenzutreffen. Auch hierzu wird um kurzfristige orientierende Weisung gebeten. 9) In meiner Antwort betonte ich, dass das deutsche Volk keinerlei negative Gefühle gegenüber dem serbischen Volk hege, dass wir die langen kulturellen Traditionen und wirtschaftlichen Bindungen kennten und schätzten. Wir sprächen mit allen Konfliktparteien in BuH und rieten allen zu Mäßigung und Vernunft. Nur so könne der schreckliche Krieg in BuH beendet werden. Ich wies (im Hinblick auf den Vorschlag, die Anerkennung zurückzunehmen) darauf hin, dass alle Zwölf BuH anerkannt hätten.8 Entsprechend einer Bitte 8 Die Anerkennung Bosnien-Herzegowinas durch die EG-Mitgliedstaaten erfolgte am 6. April 1992.

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meines britischen Kollegen trug ich unter Hinweis auf die entsprechende britische Demarche vom 18.9. vor, die bosnischen Serben sollten die Praxis des Shadowing in den Luftkorridoren (Kampfflugzeuge fliegen im Radarschatten von Hilfsflugzeugen) und die Luftbombardierungen einstellen. In Vertretung [gez.] Rosengarten B 28, ZA-Bd. 158644

295 Schreiben des Bundeskanzlers Kohl an den russischen Präsidenten Jelzin 21. September 19921 Herr Präsident! Ich habe mich sehr gefreut, von Ihnen in unserem Telefongespräch am 16. September 1992 zu hören, dass die in Ihrem Lande eingeleiteten Reformen Fortschritte machen und Sie fest entschlossen sind, diesen Kurs fortzusetzen. In dieser Absicht möchte ich Sie bestärken. Bei allen Schwierigkeiten, die im Zusammenhang mit der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Umgestaltung Ihres Landes auftreten, gibt es auch aus unserer Sicht grundsätzlich keine Alternative zu dem eingeschlagenen Weg. Danken möchte ich Ihnen für die anerkennenden Worte über die deutsche humanitäre und finanzielle Hilfe zur Unterstützung der Reformen in Ihrem Lande. Diese Hilfe ist Ausdruck unserer traditionell guten Beziehungen auf vielen Feldern, nicht zuletzt im wirtschaftlichen Bereich. Gerade hier bestehen lange Bindungen zwischen Unternehmen auf beiden Seiten. Wir sollten bestrebt sein, diese Beziehungen zum gegenseitigen Nutzen unserer Völker zu intensivieren und auszubauen. In unserem Telefongespräch habe ich meine große Sorge über den derzeitigen Stand unserer bilateralen wirtschaftlichen und finanziellen Beziehungen zum Ausdruck gebracht. Ich glaube feststellen zu können, dass die hier bestehenden Probleme sich in den letzten Wochen und Monaten vergrößert haben. So verlaufen die Gespräche zwischen unseren Regierungen über die Handelsbeziehungen ostdeutscher Firmen mit russischen Partnern äußerst schleppend. In den seit langem andauernden Verhandlungen über Besicherungsfragen ist man in der Sache nicht vorangekommen, weil russische Regierungsvertreter nach bereits getroffenen Entscheidungen immer wieder neue Überlegungen ins Spiel brachten. 1 Kopie. Das Schreiben wurde von VLR I Reiche mit Begleitvermerk vom 23. September 1992 an die Botschaft in Moskau übermittelt „mit der Bitte um Weiterleitung an den russischen Präsidenten“. Ferner vermerkte Reiche: „Wie das Bundeskanzleramt mitteilt, ist der Text dieses Schreibens ausnahmsweise – wegen Eilbedürftigkeit – vorab als Fernkopie auf der direkten Leitung zwischen Bundeskanzleramt und dem Amt des russischen Präsidenten übermittelt worden. Kopien des Originalschreibens sowie der Höflichkeitsübersetzung für die dortigen Akten liegen bei.“ Vgl. B 38, ZA-Bd. 184715.

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21. September 1992: Kohl an Jelzin

Wie ich Ihnen in unserem Telefonat schon sagte, ist für mich die Entwicklung unserer wirtschaftlichen und finanziellen Zusammenarbeit sehr wichtig. Ich halte daran fest, dass Russland und Deutschland größten Nutzen davon hätten, wenn diese Zusammenarbeit auf Vertrauen aufgebaut, breit angelegt und auf Dauer ausgerichtet ist. Sehr geehrter Herr Präsident: Ich teile Ihnen dies auch deshalb mit, weil es für meine Regierung innenpolitisch immer schwieriger wird, verständlich zu machen, dass Deutschland im Vergleich zu anderen großen westlichen Ländern bei der humanitären und finanziellen Hilfe für Russland mit weitem Abstand an erster Stelle liegt, aber die wirtschaftliche Zusammenarbeit stagniert oder sogar rückläufig ist. Ich möchte nicht verhehlen, dass sich in der deutschen Wirtschaft mit Blick auf Russland eine gewisse Enttäuschung breitmacht. Dies ist nicht zuletzt Folge der Zahlungsrückstände gegenüber vielen traditionellen Russland-Lieferanten im mittelständischen Bereich. Viele Unternehmen sind aber auch verunsichert über die Möglichkeiten eines Engagements in Russland. Sie stellen fest, dass Firmen aus anderen Ländern bei konkreten Projekten der Vorzug gegeben wird. Beispielsweise sind deutsche Unternehmen bisher bei Energie- und Rohstoffprojekten kaum beteiligt worden. Ich wäre Ihnen deshalb sehr dankbar, wenn Sie sich persönlich für die Intensivierung der wirtschaftlichen Beziehungen zwischen unseren beiden Ländern einsetzen würden. Insbesondere sind die Möglichkeiten der Zusammenarbeit zwischen ostdeutschen und russischen Unternehmen noch längst nicht ausgeschöpft. Die Modernisierung und Neustrukturierung von Unternehmen, die in Ostdeutschland und Russland gleichermaßen dringlich ist, bietet vielfältige Chancen direkter Unternehmenszusammenarbeit. Ich habe Bundesminister Möllemann gebeten, dieses Thema bereits anlässlich des Deutsch-Russischen Kooperationsrates in der nächsten Woche in Moskau mit Vorrang anzusprechen.2 Wenn es uns auf beiden Seiten sinnvoll erscheint, könnte jeder von uns eine erfahrene Persönlichkeit aus der Wirtschaft bestimmen, die sich dieser Frage entschlossen annimmt. In unserem Telefongespräch haben Sie vor allem das Problem der sowjetischen Altschulden3 angesprochen. Ich verstehe, dass diese Frage für Sie von großer Bedeutung ist. In München haben wir vereinbart, Ihrem Land eine erweiterte Atempause bei den Auslandsschulden zu gewähren.4 Dazu stehe ich. Ich bitte aber auch das Folgende zu bedenken: Mein Land hat für den Reformprozess mit Abstand die größte finanzielle Unterstützung aller G 7-Länder geleistet, allein bei den öffentlich garantierten Krediten seit 1989 über 40 Mrd. DM. Damit entfallen auf Deutschland etwa 40 Prozent aller im Pariser Club zur Diskussion stehenden Forderungen. 2 Am Rande der Tagung des deutsch-russischen Kooperationsrats am 29./30. September 1992 in Moskau fand ein Gespräch zwischen BM Möllemann und dem stellvertretenden russischen MP Tschernomyrdin statt. Botschafter Blech, Moskau, berichtete am 2. Oktober 1992, Möllemann habe sich erkundigt „nach der russischen Haltung zu einer devisenfreien Gestaltung eines Teils des Handelsverkehrs z. B. mit den neuen Bundesländern. Gibt es ein Interesse z. B. an Verrechnungsabkommen Öl/Gas gegen Produkte aus den neuen Bundesländern?“ Tschernomyrdin habe erklärt: „Er sei dafür, für die Übergangszeit bei traditionellen Ausrüstungslieferungen auch einem valutafreien Austausch zuzustimmen. […] BM Möllemann begrüßte das Interesse an Erhaltung von Lieferungen aus Ostdeutschland und wies auf die Sonderkonditionen von Hermes für die neuen Bundesländer hin.“ Vgl. DB Nr. 4178; B 52, ZA-Bd. 173701. 3 Zur Frage der Altschulden der ehemaligen UdSSR vgl. Dok. 321. 4 Vgl. die Erklärung von BK Kohl in dessen Eigenschaft als G 7-Vorsitzender vom 8. Juli 1992; BULLETIN 1992, S. 743 f. Zum Weltwirtschaftsgipfel vom 6. bis 8. Juli 1992 vgl. Dok. 225.

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21. September 1992: Kohl an Jelzin

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Eine Verschiebung des Stichtages für Schuldenerleichterungen auf Ende 1991 würde bedeuten, dass allein in den nächsten beiden Jahren Forderungen von über 8 Mrd. DM zulasten des deutschen Steuerzahlers aus dem Bundeshaushalt entschädigt werden müssen. Die anderen G 7-Länder wären hiervon deutlich weniger, zum Teil gar nicht betroffen. Dies ist für meine Regierung nicht annehmbar. Sorge bereitet mir im Übrigen, dass bei der aktuellen Bedienung der öffentlichen Schulden eine Bevorzugung bestimmter Gläubigerländer beobachtet werden kann. Ich darf Ihnen versichern, dass meine Regierung zu einer pragmatischen Lösung bereit ist, die der gegenwärtig begrenzten Zahlungskapazität Russlands Rechnung trägt. Diese Lösung muss aber auch für Deutschland politisch und finanziell tragbar sein. Ich begrüße sehr, dass der stellvertretende Ministerpräsident A. N. Schochin und Minister P. O. Awen über diese Fragen in Washington ein erstes Gespräch mit Staatssekretär Dr. Köhler geführt haben.5 Ich möchte ein weiteres Problem ansprechen. Es handelt sich um den Ausgleich des Transferrubelsaldos, der im Handel zwischen der ehemaligen DDR und der damaligen Sowjetunion und bei dessen Fortsetzung bis Ende 1990 aufgelaufen ist. Aus diesem Saldo erwachsen dem deutschen Staat jährliche Zinskosten von etwa 1,5 Mrd. DM. In den bisherigen Verhandlungen wurde in dieser Frage keine Annäherung erzielt. Ihrerseits haben Sie in Ihrem Schreiben vom 13. Mai 19926 die Frage der Verwertung der Liegenschaften in Ostdeutschland angesprochen.7 Ich halte es für zweckmäßig, über diese offenen Fragen im deutsch-russischen Verhältnis im Gesamtzusammenhang zu sprechen und nach Lösungen zu suchen. Ich schlage vor, dass Staatssekretär Dr. Köhler nach Moskau kommt, um über die angesprochenen Fragen zu sprechen.8 Ich freue mich auf das verabredete ausführliche Telefonat in der zweiten Wochenhälfte. Mit freundlichen Grüßen Ihr Helmut Kohl B 38, ZA-Bd. 184715

5 Referat 421 notierte am 2. Oktober 1992, nach Auskunft des BMF sei das Gespräch zwischen StS Köhler, BMF, und dem stellvertretenden russischen MP Schochin sowie Außenwirtschaftsminister Awen „sehr kurz gewesen (max. eine halbe Stunde). StS Köhler habe das Gespräch genutzt, um eine politische Message zur Verschuldung und den Gesprächen im Pariser Club anzubringen. Er habe auf die Haltung der USA und GB hingewiesen, die nicht unserer Auffassung entspreche als größter Gläubiger gegenüber der Russischen Föderation.“ Vgl. B 63, ZA-Bd. 171160. 6 Für das Schreiben des russischen Präsidenten Jelzin an BK Kohl vgl. B 38, ZA-Bd. 184715. 7 Zu den bisherigen Gesprächen über das Transferrubelguthaben sowie zur Frage der Liegenschaften der WGT vgl. Dok. 250. 8 Zum Besuch von StS Köhler, BMF, am 16. Oktober 1992 in Russland vgl. Dok. 329.

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21. September 1992: Vermerk von Jess

296 Vermerk des Vortragenden Legationsrats I. Klasse Jess 416-410.20 ITA Betr.:

21. September 19921

Gespräch BM Kinkel/AM Colombo im Rahmen der deutsch-italienischen Regierungskonsultationen am 17./18.9.1992 in Florenz2; hier: Europa- und wirtschaftspolitische Themen

I. Zusammenfassung Die Konsultationen fanden vor dem Hintergrund des bevorstehenden MaastrichtReferendums in Frankreich3 und vorangegangener währungspolitischer Turbulenzen4 statt, deren Auswirkungen insbesondere die italienische Regierung in ernsthafte Bedrängnis geraten ließen. Das Gespräch konzentrierte sich infolgedessen auf die hiermit im Zusammenhang stehende Thematik und war von Bemühungen geprägt, gemeinsame Ansätze zur Bewältigung der bestehenden Probleme zu finden. Im Hinblick auf das französische Referendum über den Maastrichter Vertrag und als Fazit ihrer Gespräche bekräftigten beide Minister ihren Willen, dass der europäische Einigungsprozess, der im Vertrag von Maastricht seinen Niederschlag gefunden hat, unter Wahrung des bisher Erreichten mit Entschlossenheit weiterverfolgt werden müsse. Mit großem Nachdruck setzten sie sich dafür ein, dass die Fortführung des europäischen Aufbauwerks die in Europa gewachsene kulturelle Vielfalt bewahren müsse und dies in Zukunft verstärkt deutlich zu machen sei. II. Im Einzelnen 1) AM Colombo referierte ausführlich über die währungs- und wirtschaftspolitischen Schwierigkeiten, denen sich ITA gegenübersehe und die sich neben anderen Faktoren aus der Zinspolitik der Bundesbank ergeben hätten. Er verglich die eingetretene Lage mit einem Trümmerfeld, bei dem es nun darauf ankomme, die Trümmer zu beseitigen. Nachdrücklich artikulierte er die Forderung nach einer stärkeren politischen Einflussnahme in Währungsangelegenheiten und stellte in logischer Konsequenz die Frage nach dem Gremium, das dazu berufen wäre. Er betonte allerdings auch, dass es wesentlich auf die eigenen Anstren1 VLR I Jess leitete den Vermerk über MDg von Kyaw an das Ministerbüro „mit der Bitte, die Billigung von Herrn BM herbeizuführen“. Hat Kyaw am 21. September 1992 vorgelegen. Hat VLR Brose am 22. September 1992 vorgelegen, der den Rücklauf an Referat 416 verfügte und handschriftlich vermerkte: „Kann mit Vermerk ,Von BM noch nicht gebilligt‘ verteilt werden.“ Hat OAR Küster vorgelegen, der die Weiterleitung an Jess „n[ach] R[ückkehr]“ verfügte. Hat Jess am 24. September 1992 erneut vorgelegen. 2 VLR I Huber fasste am 21. September 1992 zusammen, bei den deutsch-italienischen Regierungskonsultationen am 17./18. September 1992 in Florenz seien neben bilateralen Fragen der Jugoslawien-Konflikt, die Zusammenarbeit im Verteidigungsbereich sowie die Wissenschaftszusammenarbeit erörtert worden. Vgl. B 223, ZA-Bd. 171868. 3 Zum Referendum am 20. September 1992 in Frankreich über das Vertragswerk von Maastricht vgl. Dok. 293 und Dok. 300. 4 Zur Krise im EWS vgl. Dok. 283 und Dok. 290.

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gungen der italienischen Regierung ankomme sowie auf deren politischen Willen, die eingeleiteten Maßnahmen zur Haushaltssanierung und die strukturellen Reformen5 umzusetzen. Er verband damit einen Appell zur kollegialen Behandlung der Probleme und bezeichnete in diesem Zusammenhang die Senkung des Diskontsatzes der Bundesbank um 0,5 % als hilfreich. BM Kinkel würdigte die Anstrengungen der italienischen Regierung als einen wichtigen Beitrag zur Wiederherstellung der notwendigen Stabilität im EWS und verwies auf die eigenen Bemühungen, durch eine restriktive Haushaltspolitik auch unsererseits Voraussetzungen für weitere Zinssenkungen zu schaffen. Er wies darauf hin, dass die Belastungen im eigenen Land es allerdings nur im begrenzten Umfang zuließen, zusätzliche Lasten zu übernehmen. 2) In der Diskussion um die möglichen Auswirkungen des franz. Referendums brachten beide Minister den gemeinsamen Willen zum Ausdruck, dass der „Zug nach Europa“ jetzt nicht gestoppt werden dürfe, sondern der Integrationsprozess beharrlich fortgesetzt werden müsse. Gerade die Turbulenzen der letzten Tage seien Beleg für die Notwendigkeit der Schaffung einer Wirtschafts- und Währungsunion, wie sie im Maastrichter Vertrag vorgesehen sei. Sie waren sich einig über die Bedeutung einer Stärkung der bilateralen Beziehungen als einem wichtigen Element für den weiteren Aufbau Europas. 3) Die italienische Seite sagte Bemühung um Beschleunigung des Ratifizierungsprozesses beim deutsch-italienischen Doppelbesteuerungsabkommen6 zu. 4) Beide Delegationen erörterten Möglichkeiten eines Ausbaus der wirtschaftlichen und technologischen Zusammenarbeit in den Bereichen industrielle Kooperation, Investitionen in den NBL und Beteiligung an den zur Privatisierung anstehenden italienischen Staatsunternehmen. Jess B 223, ZA-Bd. 171868

5 Zum Reformprogramm der italienischen Regierung vgl. Dok. 207, Anm. 19. 6 Für das Abkommen vom 18. Oktober 1989 zwischen der Bundesrepublik und Italien zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen und zur Verhinderung der Steuerverkürzung und das zugehörige Protokoll vgl. BGBl. 1990, II, S. 743–765. Nach dem Austausch der Ratifikationsurkunden am 27. November 1992 trat das Abkommen am 27. Dezember 1992 in Kraft. Vgl. die Bekanntmachung vom 3. Dezember 1992; BGBl. 1993, II, S. 59.

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22. September 1992: Gespräch zwischen Kohl und Nasarbajew

297 Gespräch des Bundeskanzlers Kohl mit dem kasachischen Präsidenten Nasarbajew 22. September 19921 Der Bundeskanzler heißt Präsident Nasarbajew herzlich willkommen.2 Er habe gestern Abend mit dem früheren Präsidenten Gorbatschow ausführlich gesprochen.3 G. spreche nicht über alle gleich freundlich, aber den Präsidenten habe er mit sehr freundlichen Worten bedacht. G. habe die große Sorge, dass die Entwicklung schließlich dazu führe, dass es überhaupt „kein Dach“ mehr gebe. Präsident Nasarbajew erklärt, er habe mit Blick auf das nächste GUS-Treffen fünf Vorschläge gemacht und auch den Entwurf entsprechender Abkommen vorbereitet. Der erste Vorschlag betreffe die Einrichtung eines zwischenstaatlichen Bankvereins, dem alle beitreten könnten, die wollten, auch diejenigen, die bereits eine eigene Währung hätten. Der Bankverein werde u. a. gemeinsam den Umfang der Geldemission abstimmen und für die monetäre Disziplin verantwortlich sein. Sogar Litauen und Estland hätten Interesse. Allerdings versuche die Ukraine, eine eigene Währung einzuführen, sei damit allerdings bisher nicht weitergekommen. Auch Kasachstan sei in der Lage, eine eigene Währung zu schaffen, die konvertibel sein würde. Er wolle aber eine enge Zusammenarbeit. Im Prinzip wolle man das gleiche wie die EG, die auch eine gemeinsame Währung anstrebe, was er unterstütze. Der Bundeskanzler erklärt, er habe volles Verständnis für das Souveränitätsstreben der Nachfolgerepubliken. Die Souveränität könne aber auch im Rahmen eines Staatenbundes gewahrt bleiben. Der Bundeskanzler erkundigt sich dann nach der Reaktion der anderen, insbesondere von Präsident Jelzin, auf diese Überlegungen. Präsident Nasarbajew erwidert, er sei noch am vergangenen Sonnabend4 mit Präsident Jelzin zusammengetroffen. Man sei sich einig gewesen, dass es für den Kern eines solchen Währungsverbundes ausreichend sei, wenn Kasachstan, Russland, Weißrussland und Usbekistan zusammenarbeiteten. Möglicherweise seien aber auch Litauen und Estland interessiert. 1 Der Gesprächsvermerk wurde von MD Hartmann, Bundeskanzleramt, am 24. September 1992 gefertigt und am 28. September 1992 über BM Bohl an BK Kohl „mit der Bitte um Billigung“ geleitet. Dazu vermerkte Hartmann: „Ich gehe davon aus, dass der Vermerk nicht weitergeleitet wird, jedoch bitte ich um Zustimmung, die Staatssekretäre Dr. Kastrup (AA) und Dr. Köhler (BMF) über die relevanten Passagen mündlich zu unterrichten.“ Hat Bohl am 28. September 1992 vorgelegen. Hat Kohl vorgelegen, der handschriftlich vermerkte: „I[n] O[rdnung]“. Vgl. den Begleitvermerk; BArch, B 136, Bd. 42632. 2 Der kasachische Präsident Nasarbajew hielt sich vom 21. bis 23. September 1992 in der Bundesrepublik auf. 3 Der ehemalige sowjetische Präsident Gorbatschow hielt sich vom 16. bis 22. September 1992 in der Bundesrepublik auf. 4 19. September 1992.

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Auf die Frage des Bundeskanzlers nach der Haltung der Ukraine erklärt Präsident Nasarbajew, die Ukraine solle machen, was sie wolle. Sie würden sehen, wohin sie kämen, wenn man den Bankverein gegründet habe. Der Bundeskanzler erklärt, er wünsche Präsident Nasarbajew bei der Umsetzung seiner Ideen viel Erfolg. Was sich jetzt entwickele, sei von größter weltpolitischer Bedeutung. Unser deutsches Interesse sei nicht die Destabilisierung der früheren Sowjetunion. Dies wäre eine idiotische Politik, die nur die Gefahren erhöhe und am Ende mehr Geld koste als eine Politik des Aufbaus. Deswegen hoffe er, dass den Plänen von Präsident Nasarbajew Erfolg beschieden sei. Allerdings setzten die Pläne auch eine vergleichbare Wirtschaftspolitik der Beteiligten voraus. Präsident Nasarbajew stimmt zu und erklärt, dies sei in der Tat eine entscheidende Frage. Deshalb betreibe er auch die Bildung eines Koordinierungsorgans, das entsprechende Kontrollbefugnisse habe. Dabei gehe es nicht nur um eine gemeinsame Außenhandelspolitik, sondern auch um eine Koordinierung der Außen- und Militärpolitik. Der Bundeskanzler wirft ein, dies bedeute mithin die Schaffung eines Staatenbundes. Präsident Nasarbajew fährt fort, wie man das Gebilde auch immer nenne, niemand beabsichtige, die Souveränität der Mitgliedstaaten einzuschränken. Ein dritter Vorschlag betreffe die Einsetzung eines Wirtschaftsgerichts, das Sanktionen gegen die Verletzung der gemeinsamen Regeln verhänge. Ein vierter Vorschlag ziele auf die Einrichtung einer zwischenparlamentarischen Versammlung, wobei es auch darum gehe, die Gesetzgebung zu vereinheitlichen. Insgesamt sei er davon überzeugt, dass eine Zusammenarbeit in dem oben skizzierten Rahmen die Lage in der GUS stabilisieren werde. Er hoffe, dass er sich mit seinen Vorschlägen durchsetzen könne. Bisher sei nur Krawtschuk dagegen. Allerdings werde auch Krawtschuk bald feststellen, dass eine Wirtschaft ohne Zusammenarbeit nicht funktionieren könne. Der Bundeskanzler wirft ein, es sei möglicherweise nur eine Frage der Zeit, dass sich auch die Ukraine anschließe. Präsident Nasarbajew erwidert, hiervon sei er auch überzeugt. Das Wichtigste für ihn sei, dass Russland sich richtig verhalte. Auf die entsprechende Frage des Bundeskanzlers erklärt Präsident Nasarbajew, die innere Lage Russlands sei äußerst schwierig. Jelzin habe die extreme Rechte und die extreme Linke gegen sich. Er sei dennoch nachdrücklich der Meinung, dass man Jelzin ungeachtet der Fehler, die er mache, unterstützen solle. Der Bundeskanzler wirft ein, dies täten wir, denn wir bräuchten Stabilität in Russland. Präsident Nasarbajew fährt fort, man dürfe in der Tat nicht zulassen, dass Chauvinisten in Russland an die Macht kämen, was zwangsläufig zu weiterem Zerfall und möglicherweise zu Krieg führen würde. Obwohl er mit Jelzin befreundet sei, gebe es auch für ihn immer wieder Anlass zur Kritik an Jelzin. Er bäte allerdings den Bundeskanzler, in der Frage der Schulden Russlands5 auf eine Verschiebung hinzuwirken. Auf die entsprechende Frage des Bundeskanzlers ergänzt Präsident Nasarbajew, es handele sich um das derzeitig im Pariser Club anhängige Schuldenproblem. 5 Zur Frage der Altschulden der ehemaligen UdSSR vgl. Dok. 321.

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Der Bundeskanzler erklärt, wir wollten nicht schlechter behandelt werden als die anderen Gläubiger der früheren Sowjetunion, denn schließlich hätten wir mehr als andere geholfen. Dies habe er auch Präsident Jelzin deutlich gemacht.6 Er könne nicht akzeptieren, dass bei der Schuldenbedienung beispielsweise die USA besser behandelt würden als wir, obschon sie nicht viel getan hätten. Präsident Nasarbajew stimmt dem zu. Der Bundeskanzler fährt fort, die Frage habe für ihn auch eine innenpolitische Dimension. Wir müssten nicht nur viel Geld in die neuen Bundesländer stecken, sondern hätten gleichzeitig auch mehr als andere für die Ex-Sowjetunion getan. Auch bei der humanitären Hilfe für Jugoslawien stünden wir an der Spitze. Viele im Westen täten so, als ginge sie dieses Problem nichts an. In Deutschland werde daher die Frage gestellt, warum nur immer wir zahlten. Ihm gehe es darum, dass wir fair behandelt würden. Präsident Nasarbajew erwidert, er stimme dem Bundeskanzler voll und ganz zu. Er habe hierüber auch mit dem Vorsitzenden der Deutschen Bank7 gesprochen. Kasachstan habe Schulden in Höhe von 3 Mrd. US-Dollar auf sich genommen. Jetzt versuche Russland, ihn zu überreden, diese Schulden an Russland abzutreten. Dazu sei er nicht bereit, vielmehr wolle Kasachstan als souveräner Staat seine Schulden bezahlen. Er habe daher auch dem Vorsitzenden der Deutschen Bank erklärt, man wolle beides, Passiva und Aktiva, übernehmen. Der Bundeskanzler erklärt, ein zentrales Problem sei für uns die Lage der Deutschen in Kasachstan. Er wolle gute Beziehungen mit Kasachstan und sich nicht nur auf Russland in der Nachfolge der Sowjetunion festlegen. Präsident Nasarbajew wirft ein, dies zu hören, sei für ihn sehr angenehm. Der Bundeskanzler fährt fort, wir hätten in dieser Frage auch ein Eigeninteresse. Kasachstan sei ein wichtiges Land in einer wichtigen Region. Natürlich habe Kasachstan Schwierigkeiten. Diese würden aber nicht auf Dauer bleiben. Seine Prognose laute, dass Kasachstan nicht unter den Letzten sein werde, wenn man die Entwicklung der GUS-Staaten in den nächsten Jahren ins Auge fasse. Eine wichtige Frage sei, wie man die wirtschaftliche Zusammenarbeit verstärken könne. Kasachstan verfüge über bedeutende Rohstoffvorkommen. Man werde heute einen Vertrag über die Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Wirtschaft sowie ein Investitionsabkommen unterzeichnen.8 Ferner gebe es bald in Kasachstan ein Delegationsbüro der deutschen Wirtschaft. Bei alledem dürfe man nicht vergessen, dass die europäische Integration weiter vorankomme. Demnächst gebe es einen Markt mit 380 Millionen Menschen, und Deutschland werde darin eine gewisse Bedeutung zukommen. Viele Länder versuchten, ihre Kontakte zur EG über Deutschland zu intensivieren. Dies könne auch für Kasachstan interessant sein. Präsident Nasarbajew stimmt dem nachdrücklich zu. 6 Vgl. das Schreiben des BK Kohl vom 21. September 1992 an den russischen Präsidenten Jelzin; Dok. 295. 7 Hilmar Kopper. 8 Für den deutsch-kasachischen Vertrag vom 22. September 1992 über die Förderung und den gegenseitigen Schutz von Kapitalanlagen und die zugehörigen Dokumente vgl. BGBl. 1994, II, S. 3731–3740. Für den deutsch-kasachischen Vertrag vom 22. September 1992 über die Entwicklung einer umfassenden Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Wirtschaft, Industrie, Wissenschaft und Technik vgl. BGBl. 1995, II, S. 276–282.

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Der Bundeskanzler fährt fort, wir hätten großes Interesse, dass der Reformprozess in Kasachstan erfolgreich sei. Hierfür seien u. a. Ausbildungs- und Fortbildungsprogramme wichtig. Wir seien auf diesem Gebiet – ebenso wie in anderen Bereichen der Wirtschaft – zu guter Zusammenarbeit bereit. Er wiederhole aber, dass auch die psychologischen Bedingungen stimmen müssten, und damit sei man wieder bei den 900 000 Deutschstämmigen in Kasachstan. Präsident Nasarbajew erklärt, hierüber habe er mit dem Bundeskanzler schon in Helsinki gesprochen.9 Seitdem seien auch BM Möllemann und PStS Waffenschmidt10 bei ihm gewesen und hätten diese Frage erörtert. Er selber habe vor seiner Reise nach Deutschland mit Vertretern der deutschstämmigen Bevölkerung in Kasachstan gesprochen. Seiner Meinung nach hänge die verstärkte Auswanderung in erster Linie damit zusammen, dass die kasachischen Gesetze dies erlaubten. Natürlich gebe es auch Unsicherheit, ja Angst wegen der allgemeinen Entwicklung in der GUS – nicht zuletzt würden die Deutschstämmigen von dem verständlichen Wunsch nach einem besseren Leben angetrieben. Andererseits müsse man auch sagen, dass viele dieser Deutschstämmigen schon in der dritten Generation in Kasachstan lebten und dort ihre historische Heimat hätten. Auch seien sie in einer anderen psychologischen Verfassung als die Deutschen hier; gerade auch auf letzteren Punkt weise er immer wieder hin. Niemand könne behaupten, dass die Deutschen in Kasachstan in ihren Rechten beschränkt seien. Aus seiner Sicht sei es wichtig, durch Einrichtung einer regelmäßigen Luftverbindung mit Deutschland die Möglichkeit zu reisen zu verbessern. Ferner sei es wichtig, deutsche Schulen weiter auszubauen. Möglicherweise könne man auch eine deutsch-kasachische Universität gründen. Hilfreich könnten auch mehr Fernsehprogramme in deutscher Sprache sein. Auch könne man die Voraussetzung für ein deutschsprachiges Fernsehprogramm in Kasachstan per Satellit schaffen. Möglich wäre schließlich die Einrichtung eines Kulturzentrums der Deutschen in Kasachstan – ein wichtiger Schritt, der es ihnen erlaube, ihre Identität zu bewahren. All dies seien Fragen, die man im Rahmen der gemeinsamen Kommission lösen könne. Hauptziel müsse sein, die Reformpolitik seiner Regierung zu unterstützen. Damit werde auch der Lebensstandard für alle angehoben, obschon er betonen wolle, dass die Deutschstämmigen bereits jetzt besser lebten als die übrige Bevölkerung. Der Bundeskanzler erklärt, er wolle noch einmal seine prinzipielle Position darlegen: Unser Interesse sei nicht, alle Deutschen in der Welt nach Deutschland zu holen. Wir wollten vielmehr, dass die Deutschen dort glücklich würden, wo sie teilweise bereits seit Generationen ansässig seien. Natürlich müsse man verstehen, dass viele vor der Entwicklung Angst hätten, wenn man beispielsweise an das Vordringen des Islam denke. Es liege im gemeinsamen Interesse, alles zu tun, damit die Deutschstämmigen in Kasachstan bleiben könnten. 9 BK Kohl und der kasachische Präsident Nasarbajew trafen am 10. Juli 1992 am Rande der KSZEGipfelkonferenz zusammen und erörterten neben den bilateralen Beziehungen die wirtschaftliche Lage in Kasachstan, die Situation der Deutschstämmigen sowie die politische und wirtschaftliche Entwicklung in Russland. Vgl. den Gesprächsvermerk; B 41, ZA-Bd. 171760. 10 Zum Besuch des Beauftragten der Bundesregierung für Aussiedlerfragen, PStS Waffenschmidt, BMI, vom 3. bis 8. September 1992 in Kasachstan und Kirgisistan vgl. Dok. 284.

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Präsident Nasarbajew stimmt dem nachdrücklich zu. Der Bundeskanzler fährt fort, wichtig sei allerdings auch, dass die Deutschstämmigen die Sicherheit hätten, nicht verfolgt zu werden, um ihre Kultur, ihre Sprache, ihre Schulen etc. bewahren zu können. Ferner könnten sie zugleich eine Brücke nach Deutschland bilden. Der Verbleib der Deutschen in Kasachstan sei nicht zuletzt wichtig im Hinblick auf die Investitionen deutscher Firmen. Auch der Vorschlag des Präsidenten, eine regelmäßige Flugverbindung einzurichten, sei zu begrüßen. Dies könne psychologisch sehr wichtig sein. Präsident Nasarbajew erklärt, man habe jetzt die gemeinsame Regierungskommission gebildet, die sich vor allem mit der Frage der Ansiedlung mittlerer und kleinerer Betriebe befassen solle. In diesem Zusammenhang könne man möglicherweise Betriebseinrichtungen aus der früheren DDR nach Kasachstan bringen. Man habe ihn vor Antritt der Reise gefragt, ob er in Deutschland um Kredite nachsuchen werde. Er wolle klarstellen, dass dies nicht seine Absicht sei. Ihm gehe es in erster Linie darum, den Bundeskanzler zu informieren. Er frage sich allerdings, warum beispielsweise Weißrussland einen Kredit in Höhe von 1 Mrd. DM erhalte, nicht aber Kasachstan. Der Bundeskanzler erwidert, dies sei aus seiner Sicht nicht der Fall. Kasachstan werde nicht schlechter behandelt als andere. Präsident Nasarbajew schlägt sodann vor, die Gemeinsame Erklärung11 um einen Zusatz zu ergänzen, wonach sich die Bundesregierung zur Finanzierung bestimmter Hilfsprojekte bereit erkläre. Hierbei denke er vor allem an Projekte, die den Deutschstämmigen in Kasachstan zugutekämen. Der Bundeskanzler erklärt, er halte es nicht für möglich, die Gemeinsame Erklärung jetzt noch zu ergänzen, wobei man sich in der Sache einig sei. Er schlage vor, dass Präsident Nasarbajew ihm in einem Schreiben noch einmal die einzelnen Punkte aufliste, von denen er wünsche, dass sie in der deutsch-kasachischen Kommission behandelt werden. Er werde dann auf dieses Schreiben umgehend antworten. Er wolle zugleich deutlich machen, dass wir zu materieller Unterstützung bereit seien. Präsident Nasarbajew erklärt sich hiermit einverstanden. Der Bundeskanzler stellt anheim, diese Übereinkunft auch bekanntzugeben.12 Präsident Nasarbajew erklärt, der Bundeskanzler habe die strategische Lage Kasachstans in Zentralasien angesprochen. Er wolle daher offen die Frage einer Zusammenarbeit im militärischen Bereich ansprechen. Auf die entsprechende Frage des Bundeskanzlers stellt Präsident Nasarbajew klar, dass er vor allem an Hilfe bei der Ausbildung von Offizieren denke. Der Bundeskanzler erwidert, das sei eine ungewöhnliche Bitte, aber er wolle nicht von vornherein abschlägig reagieren. Der Präsident müsse jedoch verstehen, dass die Deutschen auf diesem Gebiet besonders vorsichtig sein müssten. Präsident Nasarbajew erklärt, er verstehe dies. Der Bundeskanzler fährt fort, er werde möglicherweise einen Mitarbeiter zu ihm schicken, mit dem er die Angelegenheit näher besprechen könne. 11 Für die Gemeinsame Erklärung vom 22. September 1992 von BK Kohl und dem kasachischen Präsidenten Nasarbajew über die Grundlagen der Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und Kasachstan vgl. BULLETIN 1992, S. 975 f. 12 Vgl. die Erklärung des Beauftragten der Bundesregierung für Aussiedlerfragen, PStS Waffenschmidt, BMI, vom 22. September 1992; BULLETIN 1992, S. 944.

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Präsident Nasarbajew erwähnt, man müsse verstehen, dass der Islam, der aus dem Süden vordringe, letztlich nur von Kasachstan aufgehalten werden könne. Der Bundeskanzler erwidert, er verstehe die Lage. Das Gespräch wird beim Mittagessen fortgesetzt. Der Bundeskanzler fasst eingangs das Ergebnis des bisherigen Gesprächs zusammen. StS von Würzen weist auf die entsprechende Frage des Bundeskanzlers darauf hin, dass der deutsch-kasachische Kooperationsrat voraussichtlich Ende des Jahres erneut zusammentreffen werde.13 Der Bundeskanzler wiederholt, unser Bestreben sei es, die Beziehungen zu allen Nachbarstaaten der früheren Sowjetunion, und nicht ausschließlich zu Russland, auszubauen. Wir wollten einen direkten Draht nach Alma Ata, und nicht über Moskau. Der Bundeskanzler weist darauf hin, dass er mit dem Präsidenten insbesondere darüber gesprochen habe, wie man den Deutschen in Kasachstan helfen könne, damit sie in ihrer Heimat blieben. Er habe deshalb mit dem Präsidenten vereinbart, dass dieser ihm hierzu einen Brief schreibe, den er bald beantworten werde und in dem er sich zu Fragen der Unterstützung entsprechender Projekte äußern werde. Der Bundeskanzler fasst sodann die Überlegungen von Präsident Nasarbajew zur wirtschaftlichen Zusammenarbeit im Rahmen der GUS zusammen und bittet Präsident Nasarbajew um eine Einschätzung der Lage in der Nachbarschaft. Präsident Nasarbajew erwidert, Kasachstan gehöre zur islamischen Kultur. Allerdings sei die religiöse Lage in seinem Land völlig verschieden von der in anderen zentralasiatischen Republiken. Der Iran unterstütze mit viel Geld Parteien in Tadschikistan. Dabei müsse man sich im Klaren darüber sein, dass ein islamisiertes Tadschikistan territoriale Forderungen an seine Nachbarstaaten, bspw. Usbekistan, stellen werde. Dies wäre mit Sicherheit ein Faktor der Destabilisierung. Turkmenistan habe eine 800 km lange Grenze mit dem Iran und überdies visafreien Reiseverkehr. Kasachstan habe andererseits eine offene Grenze zu Turkmenistan, die auch von Iranern unkontrolliert überschritten werden könne. Nach Tadschikistan schickten die Iraner nicht nur Lebensmittel, sondern auch Waffen. Auf die entsprechende Frage des Bundeskanzlers stellte Präsident Nasarbajew klar, dass es vor allem der Iran sei, der um starken Einfluss bemüht sei. Die Türkei sei zwar in dem armenisch-aserbaidschanischen Konflikt involviert, aber Demirel habe ihm ausdrücklich versichert, dass die Türkei sich nicht in die inneren Angelegenheiten der zentralasiatischen Republiken einmischen wolle. Kasachstan wolle sich weder an den Panislamismus noch an den Pantürkismus anlehnen. Dies sage er auch den Iranern sehr offen. Auf die entsprechende Frage des Bundeskanzlers erklärt Präsident Nasarbajew, die Japaner hätten ihre wirtschaftlichen Aktivitäten verstärkt, nachdem sie von seiner Absicht gehört hatten, nach Deutschland zu reisen. 13 Nach einer ersten Tagung des deutsch-kasachischen Kooperationsrats fand eine zweite Sitzung am 5. November 1992 in Alma Ata statt mit Tagungen von Arbeitsgruppen zu Rohstoffen und Energieträgern, Maschinen- und Fahrzeugbau, Infrastruktur und Telekommunikation, wirtschaftlicher Beratung sowie zu den wirtschaftlichen Belangen der deutschstämmigen Minderheit. Vgl. die gemeinsame Erklärung; B 63, ZA-Bd. 171166.

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22. September 1992: Gespräch zwischen Kohl und Nasarbajew

PStS Waffenschmidt greift noch einmal die Lage der Deutschen in Kasachstan auf und berichtet, dass er bei seinem jüngsten Besuch sowohl einen katholischen als auch einen lutheranischen Gottesdienst besucht habe. Er würde es sehr begrüßen, wenn der Präsident sich dafür einsetze, dass für die Deutschstämmigen die Voraussetzungen für eine freie Religionsausübung geschaffen würden. Hier gebe es Ängste. Präsident Nasarbajew erwidert, dies sei bereits der Fall. Der Bundeskanzler stellt die Frage, ob die Japaner bereit seien, in Infrastrukturmaßnahmen zu investieren. Präsident Nasarbajew bejaht dies und weist darauf hin, dass er zu einem Arbeitsbesuch nach Japan eingeladen sei. Der Bundeskanzler stellt die Frage nach Beziehungen zur VR China. Präsident Nasarbajew erklärt, die Beziehungen zwischen Kasachstan und China seien positiv. Er selber sei in China gewesen. Sein Außenminister14 bereite den Abschluss eines Vertrages über Freundschaft und Zusammenarbeit mit China vor. Der Bundeskanzler erkundigt sich nach der Einschätzung der Lage in China. Präsident Nasarbajew erklärt, sein Land habe hier ein besonderes Interesse wegen der in China lebenden eine Million Kasaken. Im Augenblick bereite sich die KP auf den Parteitag vor.15 Der Bundeskanzler wirft ein, es gebe Stimmen, wonach dieser Parteitag verschoben werden solle. Präsident Nasarbajew erklärt, er wisse nur, dass er noch in diesem Jahr stattfinden solle. Im Übrigen sei Deng Xiaoping im Kampf zwischen Konservativen und Reformern stark engagiert. Er glaube allerdings nicht, dass es ernsthafte Veränderungen geben werde. Trotz der wirtschaftlichen Entwicklung gebe es immer noch einen großen Teil der politischen Führung, der an den Ideen des Sozialismus festhalte. Der Bundeskanzler stellt die Frage, ob Präsident Nasarbajew glaube, dass der frühere Ministerpräsident16 zurückkomme. Präsident Nasarbajew erwidert, er sei dafür, dass Li Peng bleibe; sonst gebe es weitere Schwierigkeiten seitens der Konservativen. Diese seien über die Vorgänge in der ehemaligen Sowjetunion äußerst verunsichert. Man müsse auch sehen, dass bei 1,2 Mrd. Menschen ein demokratisches Chaos unberechenbar sei. Man habe ihm von chinesischer Seite gesagt, die Welt solle dankbar sein, dass man ein Viertel der Menschheit kleide, beköstige und ruhig halte. Der Bundeskanzler erklärt, diese Formel sei ihm zu simpel. Andere dächten hierüber nuancierter, beispielsweise der frühere Ministerpräsident. Er sehe die Hauptgefahr darin, dass es Kräfte gebe, die die Zentrale sprengten. Dieses Phänomen habe man in der chinesischen Geschichte immer wieder beobachten können. Es sei ungewöhnlich, dass ein so großes Land als Zentralstaat erhalten bleiben könne. Schon jetzt könne man beobachten, dass es an den Rändern große Probleme gebe. Präsident Nasarbajew erklärt, er sei gestern und heute mit Vertretern der deutschen Wirtschaft zusammengetroffen. Er habe bei dieser Gelegenheit darauf hingewiesen, dass Kasachstan über beachtliche Rohstoffvorkommen verfüge. Er nenne insbesondere Erdöl, 14 Töleutai Ysqaquly Süleimenow. 15 Der 14. Parteitag der KPCh fand vom 12. bis 18. Oktober 1992 in Peking statt. Vgl. Dok. 328. 16 Zhao Ziyang.

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22. September 1992: Gespräch zwischen Schlagintweit und Gailani

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Gas, Kohle und NE-Metalle17. Wenn man sich bei der Erschließung dieser Rohstoffe zusammentue, könne das für beide Seiten äußerst nützlich sein. Im Übrigen werde man damit auch der deutschen Bevölkerung in Kasachstan helfen. Der Bundeskanzler stimmt zu und erklärt, eine Schlüsselfrage bleibe die Lage der Deutschen in Kasachstan. Wenn man jetzt das tue, was er mit dem Präsidenten besprochen habe, werde dies sich auch auf die Lage der Deutschen günstig auswirken. Auf entsprechende Fragen erläutert Präsident Nasarbajew, dass bei der Ausbeutung von Erdöl vor allem amerikanische Firmen und bei Gas vor allem britische Firmen zum Zuge kämen. Der Bundeskanzler stellt die Frage, welche deutschen Firmen sich in Kasachstan engagierten. Präsident Nasarbajew nennt die Firmen Siemens, Mercedes-Benz, Krupp, Mannesmann etc. StS von Würzen weist darauf hin, dass deutsche Firmen vor allem bei der Ausbeutung von NE-Metallen beteiligt seien. Präsident Nasarbajew erklärt, die Abkommen, die man heute unterzeichne, böten große Möglichkeiten. Der Bundeskanzler erklärt, es komme jetzt darauf an, dass dies nicht auf dem Papier bleibe. Vielmehr müsse man die Abkommen mit Leben erfüllen. Er wolle noch einmal wiederholen, dass Deutschland ein elementares Interesse daran habe, dass es in der früheren Sowjetunion nicht zu einer Destabilisierung komme. Kasachstan spiele in seiner Region eine wichtige Rolle. Dies beschränke sich nicht auf die Wirtschaft, sondern betreffe auch die Gesamtstrategie. BArch, B 136, Bd. 42632

298 Gespräch des Ministerialdirektors Schlagintweit mit dem afghanischen Außenminister Gailani in New York 22. September 19921 I. D 3 führte am Rande der VN-Generalversammlung am 22.9.1992 ein Gespräch mit dem afghanischen Außenminister Sayed Suleiman Gailani. Der AM ist ein Neffe von Pir Ahmed Gailani. Er wurde begleitet und in seinen Ausführungen unterstützt vom englischsprechenden Vize-AM Hamid Karzai sowie von Mohammad Sadiq Saljooqe, der sich als designierter afghanischer Botschafter in Kairo vorstellte. Die afghanische Delegation trug als Hauptanliegen wie erwartet die Bitte um Wiederaufnahme von Entwicklungshilfe vor. D 3 erläuterte, dass die deutsche Regierung damit 17 Nichteisen-Metalle. 1 Der von LR I Schäfer gefertigte Gesprächsvermerk wurde von Botschafter Graf zu Rantzau, beide New York (VN), mit DB Nr. 2434 vom 23. September 1992 an das Auswärtige Amt übermittelt. Hat VLR Freiherr von Stackelberg am 24. September 1992 vorgelegen.

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22. September 1992: Gespräch zwischen Schlagintweit und Gailani

Schwierigkeiten habe, solange noch keine Sicherheit herrsche und nicht eine ausreichend legitimierte Regierung in Kabul bestehe. Die deutsche Regierung wolle nicht durch Vergabe von Wirtschaftshilfen an einzelne Gruppen Partei in den innerafghanischen Machtkämpfen ergreifen und Unabhängigkeitstendenzen von Provinzen fördern. Die Äußerungen der afghanischen Delegation konnten die Zweifel hinsichtlich der Beschränktheit ihrer politischen Basis nicht wirklich ausräumen. [II.] Im Einzelnen 1) D 3 drückte einleitend die Hoffnung aus, dass die Sicherheitslage in Kabul es bald erlauben werde, zunächst eine Mission nach Kabul zu entsenden und später die deutsche Botschaft zu eröffnen. Er fragte, wie sich Gailani den Fortgang des nationalen Versöhnungsprozesses nach dem 26. Oktober, dem Ende des vorläufigen Mandats von Präsident Rabbani2, vorstelle. Gailani wies auf die zwischen den Peschawar-Parteien getroffene Abmachung hin, wonach nach dem Ende der Amtszeit Rabbanis eine „Loja Dschirga“ zusammentreten und eine Übergangsregierung für zwei Jahre einsetzen solle. Diese Regierung solle eine Verfassung ausarbeiten, nach der zum Ablauf der zwei Jahre Wahlen für eine legitime Regierung abgehalten werden sollen. D 3 fragte, ob die bis zum 26. Oktober noch verbleibende kurze Zeit zur Vorbereitung und Einberufung einer Loja Dschirga ausreiche. Karzai antwortete, dass der Führungsrat des Widerstands wohl erneut eine Interimsregierung beauftragen werde, falls es nicht schon am 27./28.10. zu einer Loja Dschirga kommen sollte. Karzai gab zu, selbst Zweifel an der Durchführbarkeit einer Loja Dschirga zum 28.10. zu haben. Doch könne der Führungsrat nicht unbegrenzt amtieren. Karzai betonte, dass eine Loja Dschirga unumgänglich sei, da nur sie das notwendige Minimum an Legitimität verleihen könne.3 2) Karzai trug dann als eigentliches Anliegen der afghanischen Seite die Bitte um Wiederaufbau- und Wirtschaftshilfe durch die deutsche Regierung vor. Gailani und er bedankten sich ausdrücklich für die auch während der Kriegsjahre fortgesetzte humanitäre Hilfe aus Deutschland. Karzai sagte, er sei sich bewusst, dass die Wiederaufnahme von Entwicklungshilfe von der Wiederherstellung eines gewissen Maßes an Stabilität in Afghanistan abhänge. Doch bedürfe andererseits der Kampf der derzeitigen afghanischen Regierung um Stabilität auch der Unterstützung von außen. D 3 antwortete, dass Deutschland bereit sei, Afghanistan so bald wie möglich mit Entwicklungshilfe zur Seite zu stehen. Wir wüssten um die dringende Notwendigkeit, die Rückkehr der Flüchtlinge durch Saatgut und Infrastrukturmaßnahmen zu unterstützen. Im Gegensatz zur humanitären Hilfe könne die deutsche Regierung Entwicklungshilfe jedoch nur mit einer afghanischen Regierung vereinbaren und abwickeln. Sie benötige dazu folgende Grundlagen: 2 Zur Entwicklung in Afghanistan vgl. Dok. 214, besonders Anm. 8. 3 Am 10. November 1992 teilte BR I Schröder, Islamabad, mit, am 31. Oktober 1992 sei die Amtszeit des afghanischen Übergangspräsidenten Rabbani um 45 Tage verlängert worden. Die Modalitäten zur Auswahl von Delegierten für eine Stammesversammlung (Loja Dschirga) seien weiter offen: „Afghanistan driftet gegenwärtig in eine unübersichtliche Zukunft, in der selbst das Peschawar-Abkommen, so fadenscheinig es sowieso schon war, kaum noch Orientierung bietet.“ Vgl. DB Nr. 1169; B 37, ZABd. 166166.

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22. September 1992: Gespräch zwischen Schlagintweit und Gailani

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– ausreichende Sicherheit in Kabul, – eine Verwaltungsstruktur in Afghanistan, die in gewissem Ausmaß das gesamte Land umspanne und auf dem Volkswillen beruhe, – deutsche Entwicklungshilfe müsse die Einheit, nicht die Zersplitterung Afghanistans fördern. Deshalb stünden wir separaten EH-Absprachen mit einzelnen Provinzen ablehnend gegenüber. Solche Einzelabsprachen würden ein negatives Signal in Bezug auf den Erhalt der Einheit Afghanistans geben. Wir hätten es in den Jahren unserer entschiedenen Unterstützung des afghanischen Widerstandes bewusst vermieden, für eine der Widerstandsgruppen einseitig Partei zu ergreifen. Jetzt gelte dies umso mehr. Dagegen könne humanitäre Hilfe auch an einzelne befriedete Gebiete geliefert werden. Dies geschehe laufend. Karzai und Saljooqe sagten, sie stimmten, ebenso wie der Minister, unseren Prämissen voll zu. Sie betonten aber, dass Afghanistan immer noch das Opfer ausländischer Intervention sei. Einzelne radikale Gruppen, insbesondere Hekmatyar, würden nach wie vor von ideologisch motivierten Gruppen in Pakistan, Iran und Saudi-Arabien unterstützt. Sie kämpften gegen die Gemäßigten, die wie Gailani für den Aufbau eines nicht-fundamentalistischen und geeinigten Afghanistan arbeiteten. Hekmatyar sei es auch, der die ethnischen Trennlinien verschärfe, denn er spiele sich dank seiner militärischen Macht als Vertreter der Paschtunen gegen die anderen afghanischen Stämme auf und grabe dadurch den Bemühungen der gemäßigten Paschtunen das Wasser ab. Es gelte, mit gezielter Wiederaufbauhilfe die gemäßigten, auf Einheit ausgerichteten Kräfte zu unterstützen. Es müsse diesen gemäßigten Kräften auch materiell die Möglichkeit gegeben werden, ein Gegengewicht zu Hekmatyar und schiitischen Extremisten zu bilden. Dieser Argumentation hätten Vertreter der türkischen und französischen Regierung, die der AM besucht habe, großes Verständnis entgegengebracht. Sie hätten ihre Bereitschaft zur Leistung von Entwicklungshilfe an die derzeitige Regierung Afghanistans bekundet, allerdings unter der Voraussetzung, dass auch die britische und deutsche Regierung dafür gewonnen werden können. D 3 appellierte noch einmal an die Gesprächspartner, dass die Afghanen selbst die Voraussetzungen für die Wiederaufnahme von Entwicklungshilfe schaffen müssten, indem sie für die Errichtung einer möglichst alle Kräfte umspannenden und breit legitimierten Regierung sorgten. Seine Frage nach dem Verhältnis zu einzelnen Kommandanten, etwa dem kürzlich von D 3 empfangenen Kommandanten von Dschallalabad4, wurde von K. und S. mit großer Zurückhaltung beantwortet. Dieser Kommandant sei, so Saljooqe, „kein schlechter Mann“, doch neige er zum Fundamentalismus. D 3 betonte, dass die Probleme Afghanistans nicht nur durch Einmischung von außen entstünden, sondern auch durch mangelnde Einigungsbereitschaft unter den Afghanen selbst. 3) D 3 teilte mit, dass eine Reise nach Kabul geplant sei, sobald die Sicherheitslage dies wieder zulasse. Die afghanische Delegation kündigte an, nach dem 30. September in Bonn 4 MD Schlagintweit führte am 18. September 1992 ein Gespräch mit dem Gouverneur der afghanischen Provinz Nangahar, deren Hauptstadt Dschalalabad war, Haji Abdul Qadir. Themen waren die Entwicklung in Afghanistan, insbesondere die Bemühungen um Abhaltung einer Stammesversammlung (Loja Dschirga), sowie die bilateralen Beziehungen, v. a. die entwicklungspolitische Zusammenarbeit. Vgl. den Gesprächsvermerk; B 37, ZA-Bd. 166171.

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22. September 1992: Vorlage von Arnim

Gespräche führen zu wollen.5 Sie könne dabei konkrete Projektvorschläge machen. D 3 ermutigte dazu, die Gelegenheit zu Gesprächen im BMZ zu nutzen, wo man besten Willens sei, aber auch die erwähnten Schwierigkeiten sehe. B 30, ZA-Bd. 180335

299 Vorlage des Vortragenden Legationsrats I. Klasse von Arnim für Bundesminister Kinkel 411-423.00 MOE

22. September 1992

Über Dg 41, D 4 i. V.1, Herrn Staatssekretär2 Herrn Bundesminister3 Betr.:

Beziehungen EG – MOE; hier: Protektionistische Tendenzen bei den Ressorts

Zweck der Vorlage: Zur Unterrichtung Grundgedanke unserer Politik zur Stabilisierung der Reformprozesse in den MOE ist die Öffnung der Märkte der EG für diese Staaten. Sie sollen auf diese Weise durch Handel die für ihren Aufbau erforderlichen Devisen verdienen, auch weil die westlichen Staatshaushalte nicht entfernt in der Lage sind, die notwendigen Mittel in Form von Krediten oder Zuschüssen aufzubringen. Diese Politik, zu der sich verbal alle MS der EG bekennen, hatte ihren ersten bedeutenden Erfolg mit den Assoziationsabkommen mit Polen, der ČSFR und Ungarn4. Er konnte aber erst gesichert werden, nachdem sich F mit seiner Ablehnung von KOM-Vorschlägen 5 Am 29. September 1992 fand ein Gespräch zwischen MD Schlagintweit und dem stellvertretenden afghanischen AM Shams teil. Themen waren die Entwicklung in Afghanistan, ein mögliches Übergreifen der Kämpfe auf Tadschikistan, die Rolle der VN im Afghanistan-Konflikt und die bilateralen Beziehungen. Vgl. den Gesprächsvermerk; B 37, ZA-Bd. 166177. Am 30. September 1992 führte Schlagintweit ein Gespräch mit dem Mitglied der „National Islamic Front of Afghanistan“, Ishaq Gailani. Erörtert wurden die Entwicklung in Afghanistan, eine mögliche Rolle des früheren Königs Mohammed Zahir Schah und der VN sowie Unterstützung durch die Bundesrepublik. Vgl. den Gesprächsvermerk; B 37, ZA-Bd. 166177. 1 Hat, auch in Vertretung des MD Dieckmann, MDg von Kyaw am 22. September 1992 vorgelegen. 2 Hat StS Lautenschlager am 22. September 1992 vorgelegen. 3 Hat BM Kinkel am 26. September 1992 vorgelegen. Hat OAR Salzwedel am 28. September 1992 vorgelegen, der den Rücklauf über das Büro Staatssekretäre, MD Dieckmann und MDg von Kyaw an Referat 411 verfügte. Hat VLR I von Arnim am 29. September 1992 erneut vorgelegen. 4 Die EG schloss am 16. Dezember 1991 Europa-Abkommen zur Gründung einer Assoziation mit Polen bzw. Ungarn. Vgl. BGBl. 1993, II, S. 1317–1471 bzw. S. 1473–1714. Vgl. auch AAPD 1991, II, Dok. 407. Ebenso wurde ein entsprechendes Abkommen mit der ČSFR geschlossen. Vgl. BULLETIN DER EG 12/1991, S. 97 f.

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22. September 1992: Vorlage von Arnim

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zur teilweisen Marktöffnung auch im Agrarbereich zunächst international isoliert hatte, zur Verteidigung der Glaubwürdigkeit seiner Osteuropa-Politik dann aber einer derartigen Marktöffnung doch noch zustimmte. Das AA steht derzeit in einem schwierigen Kampf mit dem BML und dem BMWi, in dem es um die Fortsetzung dieser Marktöffnungspolitik geht und in dem nunmehr die deutsche Glaubwürdigkeit in Brüssel auf dem Spiel steht. Operativer Anlass dazu sind die laufenden Verhandlungen der EG über die Assoziationsabkommen mit Rumänien5 und Bulgarien6, in denen das BML eine ganze Reihe von Produkten (Rumänien: Sauerkirschen, Pflaumen, Erdbeeren, Apfelsaft, Schweinefleisch, Weizen; Bulgarien: Sauerkirschen, Kirschkonserven, Kartoffeln/Frühkartoffeln, Apfel/Mostäpfel, Pflaumen, Essiggurken/Cornichons) von der Liberalisierung ausnehmen will, die Polen, Ungarn und der ČSFR zugestanden wurde und die die EG­KOM erneut vorgeschlagen hat. Daneben laufen in Brüssel die Vorbereitungen für das EG-AM-Treffen mit den VisegrádStaaten am 5.10.7, für das der Vorsitz die Diskussion weiterer, über die Assoziationsabkommen hinausgehender Liberalisierungsmaßnahmen vorschlägt, um entsprechend dem Papier der EG-KOM zur Erweiterung8 durch eine strukturierte Gestaltung des Assoziationsprozesses die Beitrittsperspektive der MOE-Staaten zu untermauern. Dabei zeigt sich ein zunehmender Widerstand sowohl des BMWi – wegen Stahl- und Textilexporten der MOE – als auch des BML, insbesondere wegen Sauerkirschen. Dabei taktieren beide Ressorts so, dass sie nicht nur weitere Liberalisierungen durch Beseitigung weiterer mengenmäßiger Beschränkungen für „sensible“ Produkte verweigern, sondern (z. B. bei Stahl) zunehmend sogar von der EG-KOM verlangen, Schutzmaßnahmen gegen nach den Assoziationsabkommen grundsätzlich bereits heute zulässige Exporte mit der Begründung der „Marktstörung“ zu verhängen9. 5 Zu den Beziehungen zwischen der EG und Rumänien vgl. Dok. 140, Anm. 7. LR I Klöckner legte am 29. September 1992 dar, am 14./15. September 1992 habe in Brüssel die vierte Verhandlungsrunde stattgefunden: „Während die Verhandlungen über den Vertragstext selbst so gut wie abgeschlossen sind, gibt es zur Zeit keinen Fortschritt bei den sog. ,Listen‘, d. h. der Marktöffnung für bestimmte Produkte, insbesondere solche aus dem Agrarbereich.“ Da Rumänien aufgrund der Uneinigkeit der EG-Mitgliedstaaten in dieser Frage kein Angebot gemacht werden könne, sei die für den 1./2. Oktober 1992 anberaumte fünfte Verhandlungsrunde zunächst abgesagt worden. Dennoch sei mit einem Abschluss bis Ende des Jahres zu rechnen. Vgl. B 221, ZA-Bd. 166662. 6 Zu den Beziehungen zwischen der EG und Bulgarien vgl. Dok. 140, Anm. 6. VLR Schmidt legte am 15. Oktober 1992 dar, die Verhandlungen schritten zügig voran; ihr Abschluss bis Jahresende sei geplant. Allerdings gebe es im Agrarbereich „noch das EG-interne Problem, sich auf eine Verhandlungsposition zu einigen“. Vgl. B 221, ZA-Bd. 166628. 7 Botschafter Trumpf, Brüssel (EG), berichtete am 7. Oktober 1992 zur EG-Ministerratstagung am 5./6. Oktober 1992 in Brüssel: „AM verabschiedeten beim M[ittag]e[ssen] mit den Visegrád-Ländern gemeinsame Erklärung über den Ausbau der Zusammenarbeit, die im Wesentlichen bereits in den Europa-Abkommen vereinbarte Elemente wiedergibt. Die von den Visegrád-Staaten gewünschte stärkere Betonung der Beitrittsperspektive als gemeinsames Ziel und nicht wie in den Europa-Abkommen einseitige Absichtserklärung der Visegrád-Staaten wurde nicht aufgenommen. In einem politischen Meinungsaustausch behandelten die AM ausführlich die Entwicklung in Jugoslawien, in der GUS und den KSZE-Prozess.“ Vgl. DB Nr. 2647/2648; B 210, ZA-Bd. 162279. 8 Für den Bericht der EG-Kommission „Die Erweiterung Europas: eine neue Herausforderung“, der für die Tagung des Europäischen Rats am 26./27. Juni 1992 in Lissabon vorgelegt wurde, vgl. BULLETIN DER EG, Beilage 3/92, S. 9–20. 9 Korrigiert aus: „ ,Marktstörung‘ verlangen“.

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22. September 1992: Drahtbericht von Dieckmann

Grundsätzlich ist den Ressorts nicht zu bestreiten, dass die Marktöffnung für die MOE zu Veränderungen der Konkurrenzbelastungen gerade auch auf den deutschen Märkten führt, durch die deutsche Anbieter, auch aus den NBL, unter Druck geraten. Die deutschen Verbände wehren sich gegen diesen neuen Konkurrenzdruck aus den MOE mit großer Hartnäckigkeit gegenüber den verantwortlichen Ressorts. Das AA muss aber, auch um uns als führende Wirtschaftsnation nicht international der gleich scharfen Kritik auszusetzen, der im vorigen Jahr F ausgesetzt war, gegenüber den Ressorts auf die Erhaltung der Glaubwürdigkeit unserer Marktöffnungspolitik achten. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Zustimmung des BML in den Verhandlungen mit Polen, Ungarn und der ČSFR nur auf Ministerebene erreichbar war. Zunächst ist jedoch, für den Fall weiterer Hartnäckigkeit von BML und BMWi, vorgesehen, die erforderliche Klärung auf Ebene der Europa-Staatssekretäre zu erreichen.10 von Arnim B 221, ZA-Bd. 160625

300 Drahtbericht des Ministerialdirektors Dieckmann, z. Z. BM-Delegation Fernschreiben Nr. 2 Citissime Betr.:

Aufgabe: 22. September 1992, 07.32 Uhr1 Ankunft: 22. September 1992, 08.07 Uhr

Außerordentlicher Rat der EG (Allg. Angelegenheiten) in New York, 21.9.19922

Zur Unterrichtung Einziger TOP des kurzfristig einberufenen Rats war die Lage nach dem Referendum in Frankreich.3 Die Minister beschlossen eine Erklärung des Rats (Text per Fax4), in der dieser 10 LR I Klöckner notierte am 9. Oktober 1992, auf Intervention des Auswärtigen Amts und des BMWi habe das BML seine protektionistischen Forderungen im Agrarbereich zurückgestellt: „Die Präsidentschaft hat schließlich einen Kompromissvorschlag für den Agrar- wie Textilbereich vorgelegt, der vom All[gemeinen] Rat am 5.10.92 einstimmig gebilligt wurde. Mit dem Ratsergebnis bestehen jetzt gute Aussichten auf baldigen erfolgreichen Abschluss der Verhandlungen.“ Vgl. B 221, ZA-Bd. 160625. 1 Der Drahtbericht wurde von VLR I von Jagow, z. Z. BM-Delegation, konzipiert. Hat VLR Ring am 22. September 1992 vorgelegen, der die Weiterleitung an VLR I Jess „n[ach] R[ückkehr]“ verfügte. Hat Jess am 23. September 1992 vorgelegen. 2 BM Kinkel hielt sich anlässlich der VN-Generalversammlung vom 19. bis 25. September 1992 in den USA auf. 3 Zum Referendum am 20. September 1992 in Frankreich über das Vertragswerk von Maastricht vgl. auch Dok. 293. Botschafter Sudhoff, Paris, berichtete am 21. September 1992, laut dem um Mitternacht veröffentlichten vorläufigen Ergebnis der Auszählungen des französischen Innenministeriums hätten 50,68 % der Abstimmenden mit Ja gestimmt und 49,32 % mit Nein bei einer Wahlbeteiligung von ca. 70 %. Sudhoff führte aus:

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22. September 1992: Drahtbericht von Dieckmann

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– das Ergebnis des Referendums begrüßt, – dem Ziel eines baldigen Abschlusses des Ratifizierungsverfahrens in allen MS – ohne Neuverhandlung des Vertrags und im Einklang mit dessen Terminvorgabe (Art. R5) – Nachdruck verleiht, – die Erklärung der Finanzminister von Washington 20.9. mit Erwartung einer Beruhigung der Finanzmärkte infolge des Referendums und Bekenntnis zum EWS begrüßt, – die öffentliche europapolitische Debatte der letzten Monate begrüßt und Entschlossenheit ausdrückt, den Besorgnissen, die darin zum Ausdruck kamen, Rechnung zu tragen, – der Entscheidung des Vorsitzes zustimmt, bald einen Europäischen Rat einzuberufen (Vorsitz plant 16.10.6), – die Entschlossenheit des Vorsitzes zu Fortschritten in dringenden Fragen auf der Agenda der EG begrüßt wie Vollendung des Binnenmarkts7 und Delors II-Paket8. Es bedurfte eines nachdrücklichen Einsatzes von BM und anderer Partner, um Vorsitz in der Zusammenfassung zu einer festen Sprache und annehmbaren Gewichtung zu bewegen. GB-Delegation suchte insbesondere Festlegung auf Termine für Ratifizierung mit Blick auf innenpolitische Schwierigkeiten zu vermeiden. Alle Partner beglückwünschten AM Dumas persönlich zum Ergebnis des Referendums. Im Einzelnen 1) AM Hurd verwies einleitend auf in der Debatte in den Mitgliedstaaten deutlich gewordenes verbreitetes Unbehagen der Bevölkerung an vielen Entwicklungen und die sich daraus ergebende Notwendigkeit, diese den Menschen besser zu erklären. Das sei auch von BK Kohl in seiner Reaktion auf das französische Referendum zum Ausdruck gebracht worden.9 Fortsetzung Fußnote von Seite 1200 „Das Ergebnis ist kein strahlender Sieg. Nur einer von drei Franzosen hat dem Vertrag zugestimmt. Die frz. Europapolitik wird sich wandeln. F wird weiteren Kompetenzübertragungen an die Gemeinschaft zulasten der Mitgliedstaaten kritischer als bisher gegenüberstehen. […] Von Europa und von den dt.-frz. Beziehungen ist Schaden abgewendet, den ein Nein mit Sicherheit zur Folge gehabt hätte.“ Der französische Staatspräsident Mitterrand, „der ein erhebliches Risiko eingegangen ist, ist mit einem blauen Auge davongekommen“. Vgl. DB Nr. 2290; B 210, ZA-Bd. 162210. 4 Für FK Nr. 2 des VLR I von Jagow, z. Z. New York, vom 21. September 1992 vgl. B 223, ZA-Bd. 171970. Für die Erklärung der Außenminister der EG-Mitgliedstaaten vgl. BULLETIN DER EG 9/1992, S. 10 f. 5 Laut Artikel R Ziffer 2 des Vertrags vom 7. Februar 1992 über die Europäische Union sollte dieser am 1. Januar 1993 in Kraft treten, „sofern alle Ratifikationsurkunden hinterlegt worden sind, oder andernfalls am ersten Tag des auf die Hinterlegung der letzten Ratifikationsurkunde folgenden Monats“. Vgl. BGBl. 1992, II, S. 1295. 6 Zur Sondertagung des Europäischen Rats in Birmingham vgl. Dok. 334. 7 VLR I Jess vermerkte am 16. September 1992: „Dreieinhalb Monate vor dem Zieldatum 31.12.1992 fehlt – quantitativ gesehen – nur noch wenig zur Vollendung des Europäischen Binnenmarktes: Über 90 % der Binnenmarktvorhaben sind vom Rat beschlossen gegenüber 75 % ein Jahr zuvor. Aber auch in qualitativer Hinsicht ist die Bilanz insgesamt befriedigend, da die meisten wichtigen, für das Funktionieren des Binnenmarktes unabdingbaren Vorhaben verabschiedet sind. […] Nach dem gegenwärtigen Stand besteht eine große Wahrscheinlichkeit dafür, dass drei der vier Freiheiten des Binnenmarktes – der freie Verkehr von Waren, Dienstleistungen und Kapital – fristgerecht bis Jahresende erreicht werden, der freie Verkehr von Personen zunächst aber durch weiterbestehende Kontrollen an den Binnengrenzen behindert wird.“ Vgl. B 223, ZA-Bd. 172003. 8 Zum „Delors-Paket II“ vgl. Dok. 313. 9 Vgl. die Erklärung von BK Kohl; BULLETIN 1992, S. 929 f.

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Kompliziert worden seien die Dinge durch die Währungsturbulenzen in der vergangenen Woche.10 Auch daraus ergebe sich Notwendigkeit einer Sondersitzung des Europäischen Rats. Hurd verwies auf die auf der TO der Gemeinschaft stehenden sonstigen Fragen wie Binnenmarkt, Delors II, deren sach- und zeitgerechte Lösung dem verbreiteten Unbehagen entgegenwirken würde. AM Dumas hob hervor, dass die durch Referendum entstandene Grundsatzdebatte das allgemeine Europa-Bewusstsein gestärkt habe. Beachtenswert sei die regionale Verteilung der Stimmen einerseits und die vertikale Verteilung in der Gesellschaft andererseits. Es sei deutlich, dass die Jugend und die dynamischen Teile der Wählerschaft mit großer Mehrheit zugestimmt, die sozial Schwächeren – er nannte die Arbeiter und Bauern – aber eher dagegen gestimmt haben. Dieser Aspekt sei bei der weiteren Europa-Politik zu berücksichtigen. AM Dumas drängte auf klare Schlussfolgerungen des Rates, den Ratifizierungsprozess wie vorgesehen so schnell wie möglich und innerhalb des vorgesehenen Zeitrahmens zum Abschluss zu bringen. Portugiesischer AM Pinheiro hob hervor, die Europa-Debatte habe gezeigt, dass es nicht um die Grundsatzfragen der Europa-Politik, sondern um ihre Modalitäten gehe. Pinheiro sprach von Notwendigkeit größerer Transparenz, einer stärkeren Beteiligung der Parlamente, einer verständlicheren Sprache und der sozialen Dimension. Von der Ratstagung müsse eine positive Botschaft ausgehen. Auch luxemburgischer AM Poos betonte Notwendigkeit, Ratifizierungsprozess voranzutreiben. Der Rat müsse auf der Linie der Ergebnisse von Oslo11 und Lissabon12 eine zukunftsorientierte Botschaft geben. Eine Neuverhandlung verbiete sich schon aus Rücksicht auf die MS, die bereits, wie L13, ratifiziert haben. Die demokratische Komponente der Gemeinschaft müsse gestärkt werden. Der vorgesehene ER bedürfe guter Vorbereitung. NL-AM van den Broek warnte davor, mit einem neuen Impuls für den Ratifizierungsprozess bis zum ER zu warten. Die Ergebnisse von Oslo sollten bekräftigt werden. Der Vertrag müsse so, wie er ausgehandelt sei, erhalten werden. Eine positive Botschaft von der Ratstagung sei auch geboten, um zur Beruhigung der Finanzmärkte beizutragen. Irischer Europa-Minister Kitt verwies auf positiven Ausgang des Referendums in Irland.14 In Irland sei Weg für Ratifizierung bis zum Jahresende frei. Auch er betonte, dass es im Hinblick auf abgeschlossenes Referendum nicht zu Neuverhandlungen kommen dürfe. AM Colombo (IT) unterstrich die außerordentliche politische Bedeutung des Referendums angesichts der traditionellen Stellung Frankreichs in Europa. Von der heutigen Ratstagung müsse Zuversicht ausgehen15. Die für den Ratifizierungsprozess gesetzten Fristen müssten beachtet werden. Auch von dem vorgesehenen Europäischen Rat dürfe kein Schatten auf die weitere Entwicklung fallen. Jede Verzögerung des Ratifizierungsprozesses sei gefährlich. 10 Zur Krise im EWS vgl. Dok. 283 und Dok. 290. 11 Zur außerordentlichen EG-Ministerratstagung am 4. Juni 1992 vgl. Dok. 166. 12 Zur Tagung des Europäischen Rats am 26./27. Juni 1992 vgl. Dok. 201. 13 Das luxemburgische Parlament stimmte am 2. Juli 1992 mit 51 zu sechs Stimmen dem Vertragswerk von Maastricht zu. 14 Zum irischen Referendum vom 18. Juni 1992 über das Vertragswerk von Maastricht vgl. Dok. 201, Anm. 3. 15 Korrigiert aus: „aussehen“.

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Spanischer AM Solana begrüßte besonders, dass die Jugend sich so eindeutig für Maastricht ausgesprochen habe. Alle Anstrengungen müssten unternommen werden, um die Ratifizierungsprozesse bis zum Jahresende abzuschließen. Auf keinen Fall dürfe es zu Neuverhandlungen kommen. BM Kinkel drückte die Hoffnung aus, dass das positive französische Votum auch den Dänen helfe. Das Ergebnis vom Sonntag sei ein positives Zeichen für die Fortentwicklung der europäischen Integration. Das rasche Zusammentreten der Außen- und Finanzminister sei zu begrüßen, ebenso wie der vorgesehene Europäische Rat, der allerdings guter Vorbereitung bedürfe. Der Ratifizierungsprozess müsse im vorgesehenen Zeitplan abgeschlossen werden. Neben der Vertiefung müsse es auch bei den vorgesehenen Prozeduren für die Erweiterungsverhandlungen bleiben. Angesichts der in den letzten Wochen zum Ausdruck gekommenen Besorgnisse sei nachzudenken darüber, was bei der Entwicklung der Union ohne Vertragsänderung verbessert werden könne. Die Europa-Debatte müsse sorgfältig verarbeitet werden. Es gelte insbesondere, den Besorgnissen der Bürger Rechnung zu tragen, Europa könne sich zu einem Zentralstaat entwickeln und nationale Identitäten und die Rolle der Regionen könnten ausgehöhlt werden. Den Menschen müsse verdeutlicht werden, dass sie auch künftig ihrer eigenen Geschichte und Kultur treu bleiben können: „Einheit in Vielfalt“. Im Übrigen verwahrte sich BM Kinkel „in aller Freundschaft“ gegen Vorwürfe, die in der letzten Woche gegen D und die Bundesbank erhoben worden seien. In der Diskussion über Währungsfragen müsse man nach den wirklichen Ursachen forschen und dürfe die Schuld nicht zuerst auf andere abladen wollen. BM mahnte, die Zwölf dürfen sich jetzt nicht auseinanderdividieren lassen. Die Ereignisse hätten im Übrigen gezeigt, wie wichtig das Ziel der WWU unverändert sei. Gäbe es sie schon, wäre es zu den Ereignissen der vergangenen Woche nicht gekommen. Im Übrigen erweise sich auch – mit Blick auf das ehemalige Jugoslawien – die Bedeutung der Politischen Union. Aus allen diesen Gründen müsse von dem heutigen Treffen eine kräftige und positive Botschaft ausgehen. Griechischer AM16 erklärte, die Gemeinschaft müsse jetzt entschlossen voranschreiten. Er unterstrich die Bedeutung der sozialen Komponente der Gemeinschaftspolitik. Belgischer AM Claes setzte sich für Verstärkung der öffentlichen Diskussion über Europa-Fragen ein. Es gelte, die Befürchtungen wegen Zentralisierung und Überbürokratisierung zu entkräften. Entscheidend sei, dass der Wille zu demokratischen Entscheidungsabläufen deutlich werde. Der Ratifizierungsprozess müsse fortgesetzt werden. B tue alles, um DK zu helfen. Es dürfe aber im Ergebnis nicht zu einem Europa „à la carte“ kommen. Zum ER komme es auf gute Vorbereitung an. Die Hoffnungen dürften nicht enttäuscht werden. AM Claes unterstützte nachdrücklich BM Kinkel in der Zurückweisung der währungspolitischen Vorwürfe gegen D. Die Entwicklung zeige, wie wichtig es sei, eine Zwölfer-Einrichtung als Währungsinstitution zu schaffen. Jetzt komme es auf die Bekräftigung des Vertrauens und der europapolitischen Entschlossenheit an. Dieses sei das beste Signal, das jetzt an die Finanzmärkte gegeben werden könne. DK-AM Ellemann-Jensen bekräftigte die in Oslo und Lissabon eingenommene Haltung. Die dänische Regierung arbeite bekanntlich an Vorschlägen, wie das dänische (und europäische) Problem gelöst werden könne.17 Inzwischen werde man die Ratifizierungs16 Michalis Papakonstantinou. 17 Zu den dänischen Vorschlägen vgl. Dok. 352.

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22. September 1992: Drahtbericht von Dieckmann

debatten in den anderen MS aufmerksam beobachten, das gelte insbesondere auch für D und GB. Man müsse auf die öffentlichen Diskussionen reagieren. Die Lage habe sich seit Lissabon gewandelt. Es bedürfe größerer Offenheit und vermehrter Demokratisierung. Der Europäische Rat müsse gut vorbereitet werden. Britische Delegation (Garel-Jones) stellte Knappheit des Ergebnisses des Referendums heraus. Dieses müsse für alle eine Warnung sein. Man dürfe sich vom Volk nicht zu weit entfernen. GB sei dem Vertrag von Maastricht verpflichtet als einer guten Basis für die Zukunft. Der Ratifizierungsprozess in GB sei aber nicht einfach und durch die Währungsturbulenzen weiter kompliziert worden.18 Die jüngsten Entwicklungen bedürften allerhöchster Aufmerksamkeit, daraus sei die Idee eines Sondertreffens des ER geboren worden. ER müsse sich auch dem Problem der Geldmärkte zuwenden und hier richtungsweisend wirken. KOM-Präs. Delors betonte, dass man die Besorgnisse der Öffentlichkeit in Rechnung stellen müsse. Ein Europäischer Rat könne helfen. Es gehe darum, den Abstand zwischen Regierungen und Regierten zu verringern, der in der Europa-Debatte sichtbar geworden sei. Dem europäischen Bürger müsse bewusst werden, dass er Bürgerrechte der Union erwerben und dennoch zugleich Däne, Deutscher oder Engländer bleiben könne. Das Subsidiaritätsprinzip bedürfe der Verdeutlichung. Über die Rolle der nationalen Parlamente müsse weiter nachgedacht werden. Große Besorgnis errege die Entwicklung auf den Finanzmärkten. 2)19 Erhebliche Debatten löste Zusammenfassung der Aussprache durch die Präsidentschaft aus. Die Bedeutung der Ratifizierung des Maastricht-Vertrages kam in der Gesamtgewichtung des Textes nicht gebührend zum Ausdruck. Dieses löste Widerspruch und Kritik von NL, Portugal und v. a. des BM aus, unterstützt von weiteren Partnern. Nach intensiver Textarbeit der Minister, auf die insbesondere BM drängte, wurde schließlich Einvernehmen über den eingangs zitierten Text erzielt. BM bestand auch darauf, diesen nicht, wie vorgeschlagen, als Schlussfolgerung der Präsidentschaft, sondern als Erklärung des Rats der Öffentlichkeit zu präsentieren. [gez.] Dieckmann B 223, ZA-Bd. 171970 18 Botschafter Freiherr von Richthofen, London, berichtete am 21. September 1992, die britische Reaktion auf das Referendum am Vortag in Frankreich sei gekennzeichnet „von großer Skepsis und Zuwarten“: „PM Major begrüßte Ergebnis des Referendums, wies allerdings gleich auf die jetzt zu vollendenden wichtigen Aufgaben wie dänische Maßnahmen zur Überwindung des dortigen Ratifikationsproblems, Lösung der Probleme bei EWS und der aus britischer Sicht vorhandenen ,shortcomings‘ des EWS sowie Rücksicht auf die öffentliche Auseinandersetzung zu Maastricht in allen MS hin.“ Das knappe Ergebnis, so Richthofen, habe der britischen Regierung „nicht geholfen, die Gegner des Vertrages in eigenen Reihen und bei Opposition zum Schweigen zu bringen. […] Ratifizierung in GB wird dadurch erheblich schwieriger, wenn nicht sogar unmöglich.“ Die britische Regierung könne eine Wiederaufnahme der Ratifizierungsdebatte im Unterhaus zurzeit nicht riskieren: „AM Hurd machte heute im Interview nochmals klar, dass das House of Commons nicht wieder in die Ausschussberatungen eintreten werde, solange man nicht über die dänischen Absichten Bescheid wisse, wobei für ihn rechtliche Anpassungen von DK an den Vertrag nicht ausreichend wären. Die Besorgnisse (anxieties) der britischen Bevölkerung müssten berücksichtigt werden. […] AM Hurd wiederholte erneut Absage an Referendum, da UK parlamentarische Tradition habe.“ Vgl. DB Nr. 1823; B 210, ZA-Bd. 162212. 19 Korrigiert aus: „3)“.

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23. September 1992: Gespräch zwischen Kinkel und Moussa

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301 Gespräch des Bundesministers Kinkel mit dem ägyptischen Außenminister Moussa in New York VS-NfD

23. September 19921

Der BM führte heute ein einstündiges Gespräch mit dem ägyptischen AM.2 Der BM erklärte, wegen vordringlicher innenpolitischer Gründe sei es ihm leider nicht möglich, anlässlich der Feiern in El Alamein3 nach Ägypten zu kommen.4 Er werde möglichst rasch einen neuen Terminvorschlag machen und wolle wirklich bald Ägypten besuchen.5 Er bat den AM um seine Einschätzung des Friedensprozesses.6 Der AM erwiderte, der Prozess hätte sich einer Lösung noch nicht wirklich genähert, aber er sei jetzt auf einem besseren Weg. Rabin habe mehr die Atmosphäre als die Substanz verbessert. Ägypten versuche, auf Syrien Einfluss zu nehmen, aber auch auf Israel einzuwirken. Aber auch Rabin müsse sich bewegen. Es gehe in Wirklichkeit um zwei Fragen, einmal den eigentlichen Frieden, sodann um eine neue Ordnung im Mittleren Osten. Für Letztere seien Anstrengungen auf dem Gebiet der Abrüstung unerlässlich. Israel habe sich noch nicht bewegt. Das nukleare Arsenal Israels sei bisher noch nicht angesprochen worden. Die CD-Konvention7 sei an und für sich in Ordnung. Sie müsse aber gesehen werden im Zusammenhang mit dem israelischen Nuklearpotenzial. Ägypten wolle eine von Massenvernichtungswaffen freie Zone. Es betrachte Israel nicht als seinen Gegner, aber es könne nicht dulden, dass unmittelbar an seinen Grenzen so gefährliche Waffen gehortet würden. Außerdem müsse in den Friedensverhandlungen auch über Jerusalem gesprochen werden. Geschehe dies nicht, so hieße das, dass Israel Jerusalem annektiere. Daher müsse 1 Der Gesprächsvermerk wurde von MD Schlagintweit, z. Z. BM-Delegation, gefertigt und mit DB Nr. 5 vom 23. September 1992 an das Auswärtige Amt übermittelt. Hat VLR Wittig am 23. September 1992 vorgelegen. 2 BM Kinkel hielt sich anlässlich der VN-Generalversammlung vom 19. bis 25. September 1992 in den USA auf. 3 VLR Kaul erläuterte am 24. August 1992, an den Gedenkfeiern zur Erinnerung an die Schlacht von El Alamein vom 23. Oktober bis 4. November 1942 nähmen in diesem Jahr neben dem britischen PM Major weitere hochrangige Vertreter der damals beteiligten Staaten teil. Kaul schlug BM Kinkel vor, mit BK Kohl und BM Rühe über eine Teilnahme zu sprechen. Vgl. B 36, ZA-Bd. 196839. Auf einem Begleitvermerk von VLR Wittig vom 8. September 1992 notierte BM Kinkel am 9. September 1992 handschriftlich: „1) Mit BK besprochen. BM Rühe oder ich sollen hinfahren. BM R[ühe] kann nicht (Parteitag). 2) Prüfen, ob ich könnte. Sonst müssen wir einen anderen Min[ister] suchen.“ Vgl. B 36, ZABd. 196839. 4 Die internationalen Gedenkfeierlichkeiten zum 50. Jahrestag der Schlacht von El Alamein fanden am 25. Oktober 1992 statt. Botschafter Fiedler, Kairo, berichtete am 30. Oktober 1992, die Bundesregierung sei durch BM Riesenhuber und PStS Wilz, BMVg, vertreten worden. Vgl. DB Nr. 1373/1374; B 36, ZABd. 196839. 5 BM Kinkel hielt sich am 5./6. Mai 1993 in Ägypten auf. Vgl. AAPD 1993. 6 Zu den bilateralen Nahost-Verhandlungen vgl. Dok. 282, Anm. 11. 7 Zum Abschluss der Genfer CW-Verhandlungen vgl. Dok. 277.

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Jerusalem auch schon im Rahmen einer Übergangsregelung für die besetzten Gebiete erörtert werden. Der BM erkannte die wichtige und verantwortungsbewusste Rolle Ägyptens im Friedensprozess an und bat den AM, in diesem Sinne weiterzumachen. Aus verschiedenen Gesprächen schließe er, dass der Friedensprozess langsam vorankomme, die Lage nicht mehr hoffnungslos sei. Wie beurteile der AM die Haltung Assads? Der AM erwiderte, Assad meine es jetzt ernst. Er wolle in Verhandlungen eintreten. Das gehe auch aus dem Papier hervor, das Syrien Israel übergeben habe.8 Allerdings hätte Israel nur vom Rückzug bzw. der Pacht von Teilen des Golans gesprochen, nicht jedoch von einer Änderung der Siedlungspolitik wie in den besetzten Gebieten. Israel habe also noch nicht genug geliefert, um wirklich Frieden verlangen zu können. Auf Frage von D 39 sagte der AM, er sei sicher, dass Syrien zu territorialen Kompromissen auf dem Golan nicht bereit sei, die Grenzen Syriens lägen fest und ließen sich nicht verändern. Allenfalls könne man über eine Entmilitarisierung des Golan sprechen. Der AM erkundigte sich, ob auch Deutschland Israel Kreditgarantien oder andere Hilfsgelder zugesichert hätte.10 Der BM antwortete, solche Zusicherungen seien nicht gegeben worden. Auf Bitte des BM erläuterte D 2 A11 nochmals unsere Haltung in der Frage der CDKonvention. Auch wir wollten, dass Israel keinerlei Massenvernichtungswaffen behalte, aber Ägypten dürfe auch nicht die CD-Konvention als Geisel hierfür nehmen und eine Alles-oder-nichts-Politik betreiben. Es sei wichtig, mit der Unterzeichnung, möglicherweise auch der Miteinbringerschaft der CD-Konvention, einen ersten Schritt zu tun. Wir würden uns dafür einsetzen, dass weitere folgen. Der AM erwiderte, die CD-Konvention sei unser „gemeinsames Werk“. Aber die Zukunft des Mittleren Ostens hinge davon ab, dass alle Staaten der Region frei von Massenvernichtungswaffen seien. Würde Ägypten die Konvention unterzeichnen, so hätte es eine große Anzahl von Verpflichtungen auf sich genommen. Israel fast keine. Israel habe bereits abgelehnt, über sein Nuklearpotenzial zu sprechen oder es auch nur auf die TO der multilateralen Arbeitsgruppe Abrüstung12 zu setzen. Daher hätten alle Araber sich darauf 8 Botschafter Stabreit, Washington, teilte am 3. September 1992 mit, die syrische Delegation bei den bilateralen Gesprächen mit Israel habe am Vortag ein Papier vorgelegt, über dessen Inhalt nach israelischer Aussage jedoch Stillschweigen vereinbart worden sei. Vgl. DB Nr. 2555; B 36, ZA-Bd. 196082. Botschafter Schlingensiepen, Damaskus, berichtete am 29. September 1992, während des Besuchs von StM Schäfer von 26. bis 28. September 1992 in Syrien habe MDg Bartels den Pressesprecher des syrischen Präsidenten Assad nach dem Inhalt gefragt: „Syrien, so die Antwort Kouriehs, habe in diesem Papier seine auf den Resolutionen 242 und 338 beruhende Position erläutert: vollständige Rückgabe besetzten Gebietes gegen eine Friedensregelung, die beiden Seiten sichere Grenzen garantiere. Syrien sei also bereit, die Grenzen Israels anzuerkennen, und darin liege die Bedeutung dieses Papiers. Über darüber hinausgehende Aspekte des Friedens nehme das Non-paper keine Stellung, da dieses verfrüht sei. Erst wenn 242 und 338 implementiert seien, könnten Details der Friedensregelung ausgehandelt werden.“ Vgl. DB Nr. 1345/1346; B 36, ZA-Bd. 196471. 9 Reinhard Schlagintweit. 10 Zu den deutsch-israelischen Finanzbeziehungen vgl. Dok. 108. 11 Josef Holik. 12 Vom 15. bis 17. September 1992 fand in Moskau die zweite Sitzung der AG Rüstungskontrolle und Regionale Sicherheit der multilateralen Nahost-Verhandlungen statt. Botschafter Blech, Moskau, berichtete am 21. September 1992: „Insbesondere im Vergleich zur im Januar abgehaltenen multilateralen Nahost-

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geeinigt, die CD-Konventionen so lange nicht zu zeichnen, bis Israel in der Frage der Atomwaffen entgegengekommen sei. Der BM zeigt Verständnis, sagte aber, es sei psychologisch wichtig, einen ersten Schritt zu tun. Auch Israel habe sich bewegt. Der AM bat dann um eine Erläuterung der Lage in Europa nach den Währungsproblemen13 und dem Maastricht-Referendum14. BM erläuterte unsere Sicht. Er sprach dann das Thema Sicherheitsrat an.15 Wir wollten die Erweiterung des Sicherheitsrats nicht betreiben. Würden aber Länder der Dritten Welt und Japan aufgenommen, so würden auch wir unseren Anspruch geltend machen. Der AM sagte, er verstehe das. Ägypten könne uns auch in der Frage der Menschenrechtskommission16, im ACABQ17 und in der Frage des Nord-Süd-Zentrums18 unterstützen. Bei der FAO19 hätten die afrikanischen Staaten beschlossen, gemeinsam Senegal zu unterstützen. B 1, ZA-Bd. 178945 Fortsetzung Fußnote von Seite 1206 Konferenz fiel die betont gute Atmosphäre in der AG auf. […] Die Parteien aus der Region bekundeten ihre Bereitschaft zu weiterer Kooperation. Insofern dürfte das Treffen auch trotz des Fehlens Syriens an dem Seminar als Erfolg zu werten sein.“ Vgl. DB Nr. 4011; B 36, ZA-Bd. 196094. 13 Zur Krise im EWS vgl. Dok. 283 und Dok. 290. 14 In Frankreich fand am 20. September 1992 ein Referendum über das Vertragswerk von Maastricht statt. Vgl. Dok. 293 und Dok. 300. 15 Zu einer möglichen Erweiterung des VN-Sicherheitsrats vgl. Dok. 239. 16 Referat 231 erläuterte am 17. September 1992, die Bundesrepublik, die der VN-Menschenrechtskommission, einer Unterorganisation des ECOSOC, seit 1979 angehöre, kandidiere bei der Organisationssitzung des ECOSOC am 29./30. April 1993 erneut für eine Mitgliedschaft für den Zeitraum Januar 1994 bis Dezember 1996. Es sei allerdings damit zu rechnen, dass es mehr europäische Kandidaten als die vier vorhandenen Plätze geben werde. BM Kinkel solle daher bei seinen Gesprächen am Rande der VN-Generalversammlung um Unterstützung für die Wiederwahl werben. Vgl. B 45, ZA-Bd. 168124. Die Bundesrepublik wurde am 29. April 1993 erneut in die VN-Menschenrechtskommission gewählt. Vgl. die Rubrik „Kleine Meldungen“; FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG vom 2. Mai 1993, S. 2. 17 Botschafter Vergau, New York (VN), berichtete am 8. September 1992 zur Besetzung des Advisory Committee on Administrative and Budgetary Questions: „Im ACABQ sind wir bis zum 31.12.1992 durch RD Dr. Wolfgang Münch (Finanzreferent der StV) vertreten. ACABQ hat die Aufgabe, die Haushalte der Vereinten Nationen und der VN-Sonderorganisationen zu prüfen, dem Fünften Ausschuss (Haushalts- und Finanzausschuss) der VN und der Generalversammlung zu berichten und beide in Haushalts-, Finanz- und Verwaltungsfragen zu beraten. Wir sind – als viertgrößter Beitragszahler der VN – sehr daran interessiert, diesem angesehensten und einflussreichsten Gremium im Verwaltungs- und Finanzbereich der VN weiterhin anzugehören. Allerdings ist unsere Wettbewerbssituation äußerst schwierig, da für zwei freiwerdende Plätze (Deutschland, Finnland) neben uns auch Belgien, Kanada und Frankreich fachlich hervorragende und im VN-Bereich angesehene und anerkannte Fachleute als Kandidaten angemeldet haben. Zudem streben wir eine Wiederwahl an, die wegen des hier bevorzugten Rotationsprinzips immer problematisch ist.“ Vgl. DB Nr. 2262; B 30, ZA-Bd. 167252. Botschafter Graf zu Rantzau, New York (VN), teilte am 3. November 1992 mit, RD Münch sei hinter dem französischen Kandidaten auf den zweiten Platz gekommen und somit für drei Jahre, beginnend ab dem 1. Januar 1993, in das ACABQ gewählt worden. Vgl. DB Nr. 3179; B 30, ZA-Bd. 167252. 18 Zur Frage der Einrichtung eines Nord-Süd-Zentrums vgl. Dok. 129, Anm. 12. 19 Botschafter Vergau, New York (VN), erläuterte am 8. September 1992: „Mit Dr. Christian Bonte-Friedheim bewirbt sich erstmals ein Deutscher in ein Spitzenamt einer Organisation der VN. Deutschland ist seit

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302 Gespräch der Außenminister der G 7 in New York 23. September 19921 Von BM noch nicht gebilligt Abendessen der G 7-Außenminister am 23.9.1992 in New York2 Teilnehmer: BM (Gastgeber), AM Frankreichs3, Italiens4, Japans5, Kanadas6, der USA7, EG-Kommission8; jeweils begleitet von ihren Politischen Direktoren; der britische Pol. Direktor Appleyard in Vertretung von AM Hurd. 1) Erstes Gesprächsthema war Russland. BM führte einleitend aus, dass die Frage, ob der Demokratisierungs- und Öffnungsprozess in Russland anhalte, wesentlich von der wirtschaftlichen Entwicklung abhänge. Deutschland habe umfangreiche Hilfe geleistet, stehe aber wie andere Geberländer vor dem Problem, dass organisatorische Mängel in Russland eine effektive Nutzung der Hilfe verhinderten. Gleichwohl sei Fortsetzung der Hilfe durch die Industrieländer notwendig, wenngleich wir uns der Gefahr bewusst sein müssten, dass sich Russland als Fass ohne Boden erweisen könne. Noch immer sei das Land nicht in der Lage, seine reichen Ressourcen zu nutzen. Japan äußerte sich auf Bitte BM zu den japan.-russ. Beziehungen. Zentrale Frage sei nach wie vor die Rückgabe der nördlichen Territorien.9 Japan habe 40 Jahre lang die Position vertreten, dass diese vier Inseln ein integraler Teil Japans seien und zurückgegeben werden müssten. Die in den letzten beiden Jahren deutlich gewordene größere russische Flexibilität, Fortsetzung Fußnote von Seite 1207 1950 Mitglied der FAO und drittgrößter Beitragszahler nach den USA und Japan.“ Bonte-Friedheim, „ein ausgewiesener Agrarfachmann und Experte der wirtschaftlichen Zusammenarbeit im Agrarbereich“, sei bereits seit über 20 Jahren in verschiedenen Funktionen für die FAO tätig: „Hauptkonkurrent dürfte Botschafter Jacques Diouf, Senegal, sein, der bereits durch die OAU für den Posten des Generaldirektors indossiert worden ist. Daneben gibt es noch Bewerber bzw. Interessenten aus Argentinien, Peru, Irland und den Niederlanden.“ Vgl. DB Nr. 2262; B 30, ZA-Bd. 167252. Die Mitgliederkonferenz der FAO wählte am 8. November 1993 in Rom den senegalesischen VNBotschafter Diouf zum FAO-GD. Vgl. den Artikel „Jacques Diouf neuer FAO-Generaldirektor“; FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG vom 10. November 1993, S. 3. 1 Kopie. Der Gesprächsvermerk wurde von VLR I Wagner, z. Z. New York, gefertigt und über MD Chrobog an das Ministerbüro geleitet mit der Bitte, „Billigung des BM herbeizuführen“. 2 BM Kinkel hielt sich anlässlich der VN-Generalversammlung vom 19. bis 25. September 1992 in den USA auf. 3 Roland Dumas. 4 Emilio Colombo. 5 Michio Watanabe. 6 Barbara McDougall. 7 Amtierender amerikanischer AM war Lawrence S. Eagleburger. 8 Frans Andriessen. 9 Zur Kurilenfrage vgl. Dok. 13, Anm. 43.

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insbesondere die Aussage, Außenpolitik auf der Grundlage von „Gesetz und Recht“ (law and justice) zu betreiben, habe auch Japan zu flexiblerem Vorgehen veranlasst. Japan habe Russland mitgeteilt, dass unter der Voraussetzung der Anerkennung des Prinzips japanischer Souveränität der Inseln Zeitpunkt und Bedingungen der Rückgabe verhandelbar seien und dass auch über die Zukunft der russischen Bewohner verhandelt werden könne. Leider habe sich Jelzin aus innenpolitischen Gründen nicht in der Lage gesehen, seinen vorgesehenen Japan-Besuch durchzuführen.10 Japan sehe dies aber nicht als Anlass für Kurswechsel, sondern verfolge weiter eine Politik der Kooperation mit Russland: In diesen Tagen habe es Russland einen Bankkredit über 100 Mio. Dollar sowie einen Exportkredit über 700 Mio. Dollar gewährt. Das heutige Gespräch mit Kosyrew habe den Willen beider Seiten bestätigt, die kooperative Politik fortzuführen. Verhandlungen über die nördlichen Territorien gingen auf Arbeitsebene weiter. Kanada wies darauf hin, dass die für Russland genannten wirtschaftlichen Schwierigkeiten auch für die anderen Neuen Unabhängigen Staaten gelten. Hilfe durch die Industrieländer sei nach wie vor unerlässlich, um die weitere Demokratisierung zu unterstützen. EG führte zur wirtschaftlichen Zusammenarbeit mit Russland Folgendes aus: – Die Konferenz von Tokio11 werde ihre Bedeutung vor allen Dingen in der Koordinierung der Hilfe und in einer Diskussion der effizientesten Formen von Hilfeleistung haben. Für zusätzliche Finanzhilfe gebe es keine Hinweise. – Überlegungen über weitere finanzielle Hilfe stünden vor dem Problem, dass Russland seinen Schuldendienst12 nicht adäquat leiste. – Konkret gehe es für die EG darum, wie sie sich gegenüber den aus Russland kommenden Bitten um weitere Hilfe verhalten solle. Kredite seien als Instrument wegen der immer deutlicher werdenden russischen Unfähigkeit zu einem geordneten Schuldendienst zunehmend fragwürdig. Japan stimmte zu: Nach Deutschland und Frankreich sei JAP mit 6,1 Mrd. Dollar der größte Gläubiger Russlands. Es sei schwierig, dieses Kreditvolumen weiter auszudehnen. US äußerte sich zu wirtschaftlichen Fragen und zur politischen Lage in Russland: 10 Gesandter Heyken, Moskau, berichtete am 10. September 1992, der russische Präsident Jelzin habe am Vorabend und damit vier Tage vor dem geplanten Reiseantritt seinen Besuch in Japan abgesagt. Jelzin habe sich „durch wachsenden innenpolitischen Druck, abhängig von wechselnden politischen Mehrheiten (heißer Herbst!), und steigende japanische Intransigenz in der Territorialfrage“ in die Enge gedrängt gesehen: „Jelzin war zu Konzessionen in der Lage, nicht aber zur Anerkennung der japanischen Souveränität über alle vier Inseln. Dies hätten z. B. auch liberale Deputierte nicht akzeptiert. Japan seinerseits hat den Besuch auf die Lösung der Kurilenfrage eingeengt.“ Vgl. DB Nr. 3871; B 32, ZA-Bd. 179576. 11 Am 29./30. Oktober 1992 fand in Tokio die dritte Koordinierungskonferenz für Hilfe an die GUS-Mitgliedstaaten sowie an Georgien statt. MDg Schönfelder, z. Z. Tokio, berichtete am 31. Oktober 1992, es sei Einigung erzielt worden, „dass in Zukunft die Koordinierung in Länder-Konsultativgruppen unter Vorsitz der Weltbank erfolgen wird“. Aus Sicht der Bundesregierung sei das Konferenzergebnis positiv zu werten. Es sei deutlich geworden, dass „internationaler Konsens über die Notwendigkeit einer umfassenden Unterstützung der Reform hin zu Demokratie und Marktwirtschaft besteht“. Außerdem habe sich zunehmend die Erkenntnis durchgesetzt, „dass es sich dabei primär nicht um eine humanitäre Aufgabe handelt, dass vielmehr langfristige Unterstützung nötig ist. […] Unserem Hauptziel, ein gerechteres ,Burden sharing‘ zu erreichen, sind wir vor allem durch das starke Engagement von EG, IWF und Weltbank, aber auch durch größere Leistungen von Ländern wie Türkei, USA, Japan etwas näher gekommen.“ Vgl. DB Nr. 2334; B 63, ZA-Bd. 163539. 12 Zur Frage der Altschulden der ehemaligen UdSSR vgl. Dok. 321.

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– Was den Schuldendienst angehe, habe Russland die Weizenlieferungen bisher bezahlt, da ein US-Gesetz weitere Lieferungen bei Nichtzahlung automatisch aussetze. Nun sei aber Russland offenbar nicht einmal mehr in der Lage, für den amerikanischen Weizen zu bezahlen. – Erfreulich sei, dass das amerikanische Auslandshilfegesetz, das auch den IMF-Beitrag von 12 Mrd. Dollar umfasse, soeben die Kongressausschüsse passiert habe und damit auch Weichen für eine Billigung durch den Kongress insgesamt gestellt seien. – Die Meldungen über einen baldigen Rücktritt Gajdars verdichteten sich. Er selbst habe dies gegenüber amerikanischen Gesprächspartnern bestätigt. Aus amerikanischer Sicht sei es bedenklich, da Gajdar als positiver Faktor angesehen werde. Insgesamt wachse die innerrussische Opposition gegen Reformpolitik und die kooperative Außenpolitik Kosyrews. – Sehr kritisch sei die Lage in Georgien, dessen Weizenvorräte innerhalb der nächsten Wochen aufgebraucht würden. Die USA seien dabei, ihre Lieferungen zu beschleunigen, und würden entsprechendes Handeln der anderen G 7-Länder begrüßen. – Das Wiedererstarken der alten Bürokratie zeige sich auch darin, dass sie Jelzin im Rüstungskontrollbereich nicht die Wahrheit sage. US seien insbesondere wegen einer Verschleierungstaktik im Bereich der biologischen Kampfmittel13 besorgt. – Die Tokio-Konferenz sei daher von großer Bedeutung. Ein mageres Ergebnis würde mehr Schaden als Nutzen anrichten. GB schloss sich der amerikanischen Analyse an. Die wachsende Opposition gegen Jelzin gefährde nicht nur die Position Gajdars, sondern auch diejenige Kosyrews. Es bestehe die Gefahr, dass die derzeitige günstige, international und kooperativ ausgerichtete Phase der russischen Außenpolitik von einem Trend zur Renationalisierung und zum zaristischen Denken abgelöst werde. Im Rüstungskontrollbereich bestehe Aufklärungsbedarf nicht nur im Bereich der biologischen Waffen, sondern auch bei den chemischen Waffen. Was die russisch-japanischen Beziehungen angehe, verfolge Japan eine verantwortungsbewusste Linie. Die Stellungnahme der G 7 zu den nördlichen Territorien in ihrer Politischen Erklärung von München14 habe sich als richtig erwiesen. BM fasste Diskussion wie folgt zusammen: – Russland sei für die G 7 allein schon wegen seiner Größe ein Partner von besonderer Bedeutung. Die Einladungen zur Gipfelteilnahme an Gorbatschow15 und Jelzin16 seien richtig gewesen. 13 Botschafter von Ploetz, Brüssel (NATO), berichtete am 2. September 1992, Großbritannien und die USA hätten den Ständigen NATO-Rat am selben Tag über ihre Bemühungen unterrichtet, die UdSSR bzw. Russland zur Einstellung des dortigen B-Waffen-Programms zu bewegen: „US und GB hätten seit längerem Erkenntnisse über das BW-Abkommen von 1972 verletzendes geheimes BW-Programm der SU.“ Dies sei gegenüber der UdSSR bzw. Russland angesprochen worden, wobei detaillierte Beweise vorgelegt worden seien: „Im Gegensatz zu SU-Regierung habe Jelzin nach Amtsantritt Existenz des bis dahin geheimen BW-Programms zugegeben, Einstellung zugesichert und entsprechendes Dekret erlassen. Es sei jedoch unklar, ob das Programm wirklich eingestellt worden sei.“ Vgl. DB Nr. 1297; B 130, VS-Bd. 15531 (213), bzw. B 150, Aktenkopien 1992. 14 Vgl. Ziffer 9 der „Politischen Erklärung“ vom 7. Juli 1992 der Teilnehmer des Weltwirtschaftsgipfels; BULLETIN 1992, S. 730. 15 Im Anschluss an den Weltwirtschaftsgipfel vom 15. bis 17. Juli 1991 in London traf sich der sowjetische Präsident Gorbatschow, der sich vom 17. bis 19. Juli 1991 in Großbritannien aufhielt, mit den Staatsund Regierungschefs der G 7-Staaten. Zum Weltwirtschaftsgipfel vgl. AAPD 1991, II, Dok. 249.

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– Der Demokratisierungsprozess in Russland sei nicht ungefährdet. Jelzin und seine wichtigsten Mitarbeiter seien nicht fest im Sattel. – Die Konferenz von Tokio sei daher von großer Bedeutung. Wir stünden vor dem Dilemma, dass der Erfolg dieser Konferenz an der Zusage neuer Finanzhilfe gemessen werde, Russland sich aber andererseits immer mehr als Fass ohne Boden erweise. 2) Das Thema „Vereinte Nationen“ wurde ebenfalls ausführlich diskutiert, insbes. hinsichtlich der VN-Aktivität im früheren Jugoslawien. Kanada bekräftigte zunächst seine Unterstützung für die Errichtung eines Internationalen Strafgerichtshofs.17 Um die Bemühungen der Vereinten Nationen zu unterstützen, werde Kanada zu einem baldigen internationalen Expertentreffen einladen. Teilnahme von Vertretern der G 7-Länder sei sehr wünschenswert. Kanada setze sich auch dafür ein, dass Experten im humanitären Völkerrecht den Peacekeeping-Truppen in Jugoslawien angegliedert würden. BM dankte Kanada für seine Unterstützung unserer Initiative zu einem Internationalen Strafgerichtshof und begrüßte Einladung zu Expertentreffen in Kanada. Auf Bitte BMs äußerte sich Kanada zur Frage der Finanzierung von PeacekeepingAktivitäten. Dies sei eine Angelegenheit von enormer Bedeutung. Kanada sei besorgt, dass der VN-Generalsekretär an der À-la-carte-Finanzierung der Peacekeeping-Operationen in Jugoslawien Gefallen finde und dieser Form der Finanzierung durch die beteiligten Länder Modellcharakter geben könne. Kanada halte dies für eine bedenkliche Entwicklung, da die Bereitschaft zur Teilnahme an Peacekeeping-Operationen erheblich abnehmen könne, wenn die beteiligten Länder nicht nur Truppen stellen, sondern auch die Finanzierung leisten müssten. US stimmte zu und meinten, dass der bisherige Finanzierungsschlüssel für Peacekeeping-Operationen mit einem 30 %igen amerikanischen Anteil für die USA künftig nicht mehr akzeptabel sei. Aus amerikanischer Sicht sei ein grundsätzlich neuer Ansatz der VN zu ihren Peacekeeping-Aufgaben angebracht. Präsident Bush habe hierzu in seiner VNRede18 Vorschläge gemacht. GB wies darauf hin, dass es von dem Modell der Finanzierung von PeacekeepingOperationen durch die beteiligten Länder doppelt betroffen sei (Zypern und Jugoslawien); als Prinzip sei dies für Großbritannien nicht akzeptabel. Was die Peacekeeping-Kapazitäten der VN angehe, so sei Großbritannien nicht in der Lage, Einheiten auf Dauer hierfür zur Verfügung zu stellen, es unterstütze aber den Gedanken, die nationalen Streitkräfte in größerem Umfange auf Peacekeeping-Operationen auszurichten. Kanada wies zum Abschluss dieses Themas darauf hin, dass die abstinente Haltung des IKRK in Jugoslawien hinsichtlich der Aufdeckung von Menschenrechtsverstößen Fortsetzung Fußnote von Seite 1210 Für das Gespräch mit Gorbatschow vgl. das amerikanische Gesprächsprotokoll; https://bush41library.tamu. edu/archives/memcons-telcons. Für die russischen Gesprächsvermerke vgl. GORBATSCHOW, Sobranie, Bd. 27, S. 13–92. 16 Zum Weltwirtschaftsgipfel vom 6. bis 8. Juli 1992, zu dem der russische Präsident Jelzin am 8. Juli 1992 hinzugezogen wurde, vgl. Dok. 225. 17 Zur Frage der Einrichtung eines Internationalen Strafgerichtshofs vgl. Dok. 247. 18 Für die Rede des amerikanischen Präsidenten Bush vor der VN-Generalversammlung am 21. September 1992 in New York vgl. PUBLIC PAPERS, BUSH 1992-93, S. 1598–1603. Für den deutschen Wortlaut vgl. EUROPA-ARCHIV 1992, D 591–597.

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inakzeptabel sei. Es sei wichtig, auf das IKRK einzuwirken, damit es künftig seinen Beitrag zur Aufklärung dieser Verbrechen leiste. 3) BM griff abschließend das Thema der Strukturierung der G 7­Gipfeltreffen auf und bat Japan, über seine Vorstellung für den Gipfel in Tokio 199319 zu berichten. Japan stellte fest, dass über Möglichkeiten, den Gipfel etwas bescheidener zu gestalten, nachgedacht werde. An der existierenden Struktur des Gipfels (Begleitung der Staats- und Regierungschefs durch ihre Außen- und Finanzminister) wolle Japan jedoch festhalten. BM begrüßte dies und stellte einvernehmliche Zustimmung aller G 7-Außenminister hierzu fest. B 32, ZA-Bd. 179576

303 Gespräch des Bundesministers Kinkel mit dem israelischen Außenminister Peres in New York 310-321.11 ISR VS-NfD

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Von BM noch nicht gebilligt. Der BM führte am 24.9. am Rande der VN-Vollversammlung2 ein einstündiges Gespräch mit dem Außenminister Israels. 1.1) Eingangs unterrichtete der AM den BM über den Stand der Friedensgespräche.3 Syrien warte noch mit einer Entscheidung bis nach den amerikanischen Wahlen4. Es wolle den „ägyptischen Preis“, ohne den „ägyptischen Charme“ und die ägyptischen Leistungen zu erbringen. Israel glaube nicht, dass Syrien wirklich zum Frieden bereit sei. Mit den Palästinensern sei das Hauptproblem die mangelnde Führungskraft. Die Führung sei geteilt zwischen Tunis und den besetzten Gebieten. Israel habe einseitig den Siedlungsbau eingestellt. Es schlage eine Autonomieregelung vor, die folgende Elemente enthalte: (1) Autonomie – nicht Unabhängigkeit, (2) daher bewusst keine volle Klarheit über den Charakter, (3) Beschränkung der Autonomie auf fünf Jahre. In der Zwischenzeit müsse in dieser bewussten Unklarheit die Zukunft geschmiedet werden. 1.2) Während es bei den bilateralen Verhandlungen um die „Lösung der Vergangenheit'' gehe, müsse in den multilateralen Verhandlungen „Zukunft gebaut“ werden. Europa solle 19 Vom 7. bis 9. Juli 1993 fand in Tokio der Weltwirtschaftsgipfel statt. Vgl. AAPD 1993. 1 2 3 4

Der Gesprächsvermerk wurde von MD Schlagintweit am 28. September 1992 gefertigt. BM Kinkel hielt sich vom 19. bis 25. September 1992 in den USA auf. Zu den bilateralen Nahost-Verhandlungen vgl. Dok. 282, Anm. 11. In den USA fanden am 3. November 1992 Präsidentschaftswahlen, Wahlen zum Repräsentantenhaus sowie Teilwahlen zum Senat und für die Gouverneursämter statt.

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hier eine aktive Rolle spielen. Europa sei aber zu wenig organisiert, und die Verhandlungen ähnelten mehr Seminaren als Lösungsfragen. Aus diesem Grunde schlage Israel vor, – die Verhandlungen entsprechend den KSZE-Verhandlungen zu organisieren, – das Steuerungskomitee aus den Außenministern zu bilden, – möglichst bald greifbare Projekte zu erörtern. Dazu gehöre eine Mittelost-Entwicklungsbank; hierzu seien Mitterrand und Major bereit. Er hoffe, dass auch die Deutschen helfen würden. Ein weiteres Projekt sei die Entwicklung eines Transportsystems für den Mittleren Osten. Hierüber sei mit Herrn Reuter von Daimler-Benz und der französischen Firma Alsthom gesprochen worden. Schließlich gäbe es Pläne für ein Wasserentsalzungprojekt. Israel wolle in wirtschaftlichen Fragen dem europäischen Beispiel folgen. In einigen Jahren hätte man es mit einer Wirtschaftsregion von 500 Millionen Menschen zu tun. 1.3) Dazu müsse eine ideologische Komponente kommen. Wie beim Helsinki-Prozess müssten die Menschenrechte eine wichtige Rolle spielen. Die Führer des Mittleren Ostens müssten wissen, dass Generäle, Könige und Geld keine Lösungen bringen würden. Neben marktwirtschaftlichen Ordnungen müsse es pluralistische Systeme und Menschenrechte geben. Man wolle die Geschäftswelt ermutigen, die Friedensverhandlungen zu begleiten. UNESCO solle Verbindungen zwischen den großen Religionen herstellen. Die Stabilität der Region könne nicht durch Waffen geschützt werden, sondern nur durch wirtschaftliche Stabilität. Die Lieferung weiterer Waffen, solange Menschen hungerten, sei eine Form der Korruption. 1.4) Der BM antwortete, wir beobachteten den Verhandlungsprozess mit großer Aufmerksamkeit, seien aber nur im beschränkten Maße in der Lage zu helfen. Er begrüße es, dass Israel eine visionäre Konzeption entwickle, die die Chancen und Möglichkeiten der Region selbst einbeziehe. Die Bundesregierung werde dies unterstützen, aber nur im Rahmen der Möglichkeiten, über die sie verfüge. D habe gegenüber Israel besondere Verpflichtungen. Er sehe die besondere Verantwortung Deutschlands. Aber unsere Lage sei durch die Vereinigung und durch die Umbrüche in Mittel­ und Osteuropa sowohl finanziell als auch sonst sehr angespannt. Wir seien aber zu sehr auf unsere Probleme fokussiert. Wir müssen weltoffen bleiben, insbesondere auch für die Nahost-Region. 1.5) Der BM fragte nach der Haltung Assads zur Golan-Frage. Der AM sagte, Israel wolle einen politischen Rahmen, nicht nur einen territorialen Handel. Es denke an ein Vorgehen in Phasen. Diese Phasen müssten auch im Hinblick auf die öffentliche Meinung sorgfältig geplant werden. Israel habe 2425 anerkannt. Das bedeute Rückzug, aber nicht Rückzug von allen Gebieten. Israel biete konkrete Ware, werde dafür aber ungreifbare Ware bekommen. Daher müsse Syrien erst einmal genau sagen, was es unter Frieden verstehe. Jordanien wolle keine Konzessionen machen, sondern diese den Palästinensern überlassen. Aber es habe auch Angst, dass die Verhandlungen über Jordanien hinweggehen könnten. 2.1) Zum bilateralen Verhältnis sagte der AM, Israel wolle eine Korrektur der Beziehungen zum Gemeinsamen Markt. Es brauche einen Platz im europäischen Entwicklungsraum. Es 5 Für die Resolution Nr. 242 des VN-Sicherheitsrats vom 22. November 1967 vgl. UNITED NATIONS RESOLUTIONS, Serie II, Bd. VI, S. 42 f. Für den deutschen Wortlaut vgl. EUROPA-ARCHIV 1969, D 578 f.

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glaube, dass es ein Recht auf einen gerechten Platz habe, denn es zahle einen hohen Preis für die Sicherheit. Konkret wünsche es eine Erweiterung („deviation“) des Abkommens von 19756 und eine Mitgliedschaft im Europäischen Währungsraum. Der BM sagte, darüber habe man in Brocket Hall unter positiven Vorzeichen gesprochen7, und verwies auf die Reise Rhein nach Israel.8 2.2) Der AM: Rabin und Kohl9 hätten über die Erweiterung des Forschungsfonds gesprochen. BM: Wir werden diesen Punkt prüfen.10 2.3) AM: Ein weiterer Punkt sei Hilfe bei der Ausbildung von Einwanderern. Wann sei mit einer Antwort zu rechnen? BM: Er werde darauf dringen, dass auf diese Frage bald eine Antwort erfolge. 2.4) AM sprach die Frage der H-Liste an.11 BM: Es werde schwierig sein, hier den israelischen Wünschen zu entsprechen. Er werde sich aber dafür einsetzen, dass durch die Liste H keine Verzögerungen für Lieferungen an Israel einträten. 2.5) AM: Ein weiteres Problem seien Garantien für Investitionen. BM: Auch dies würde im Lichte der Gespräche zwischen MP und BK im positiven Geiste geprüft. Der MP habe nicht um eine größere Summe gebeten. Wir wollten, dass Israel verstünde, dass wir uns auch hier gegenüber Israel positiv verhielten. 6 Die EWG und Israel unterzeichneten am 11. Mai 1975 ein Kooperationsabkommen, das die schrittweise Einführung einer Freihandelszone im gewerblichen Bereich sowie abgestufte Zollpräferenzen im Agrarbereich vorsah. Vgl. AMTSBLATT DER EUROPÄISCHEN GEMEINSCHAFTEN, Nr. L 136 vom 28. Mai 1975, S. 1–190. Referat 413 erläuterte am 8. September 1992, die EG sei der wichtigste Handelspartner Israels. Seit 1975 seien zudem vier Finanzprotokolle geschlossen worden. Das Protokoll für 1991 bis 1996 umfasse 82 Mio. ECU EIB-Darlehen: „Zur Minderung der Lasten Israels aus der Golfkrise hat die EG Israel eine Sonderhilfe in Form einer Zahlungsbilanzhilfe gewährt. Der Kredit in Höhe von 160 Mio. ECU ist verbunden mit einer Zinsbonifikation in Höhe von 27,5 Mio. ECU. Darüber hinaus wird Israel auch aus den Mitteln für die Unterstützung von Strukturanpassungsprogrammen (300 Mio. ECU) und aus den Mitteln der Gemeinschaft für Maßnahmen von regionaler Bedeutung (230 Mio. ECU Haushaltsmitteln, bis zu 1800 Mio. ECU EIB-Darlehen) profitieren können.“ Vgl. B 222, ZA-Bd. 175830. 7 Referat 413 vermerkte am 17. September 1992 zum informellen Treffen der Außenminister der EGMitgliedstaaten im Rahmen der EPZ am 12./13. September 1992: „In Brocket Hall bestand Übereinstimmung aller Partner, dass angesichts der positiven Schritte Israels im Nahost-Friedensprozess eine Intensivierung der Beziehungen Israels mit der EG auf der Grundlage der bestehenden Kooperationsverhältnisse wohlwollend ins Auge gefasst werden sollte. […] In Brocket Hall waren sich die Partner auch darin einig, dass eine Einbeziehung Israels in den EWR nicht infrage kommen kann.“ Vgl. B 222, ZABd. 175830. 8 Botschafter von der Gablentz, Tel Aviv, berichtete am 18. September 1992: „Mittelmeer- und NahostDirektor Eberhard Rhein unterrichtete am 17.9. hiesige EG-Botschafter über seinen ersten bilateralen Israel-Besuch in acht Jahren. Er unterstrich nachdrücklich den tiefgreifenden Wandel israelischer Haltung gegenüber der EG unter der neuen Regierung Rabin und setzte sich dafür ein, dass die EG alle Möglichkeiten für eine positive politische und sachliche Antwort auf die neue Offenheit der israelischen Regierung prüft.“ Vgl. DB Nr. 993; B 36, ZA-Bd. 185350. 9 Für das Gespräch zwischen BK Kohl und dem israelischen MP Rabin am 14. September 1992 vgl. Dok. 282. 10 Zur Umsetzung der Ergebnisse des Besuchs des israelischen MP Rabin vom 14. bis 16. September 1992 vgl. Dok. 337. 11 Zu Rüstungsexporten nach Israel vgl. Dok. 282, Anm. 20.

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2.6) Der BM sprach die deutsche Anti-Boykottregelung12 an und schilderte seine und des Bundeskanzlers Gespräche mit dem Ministerpräsidenten zu dieser Frage. Nachdem man so lange mit dem Boykott gelebt habe, könne es nicht auf ein paar Monate ankommen. AM: Wir können Ihre Position nicht akzeptieren, aber man hoffe auf einen Erfolg. 2.7) Der AM kam dann auf das Problem WEOG13 zu sprechen. Israel habe keinen Platz in den VN. Es habe große Risiken für die Stabilität der Region zu tragen. Daran sei auch Europa interessiert. D habe für den Golfkrieg 10 Mrd. $ bezahlt. Wenn dieses Geld in die Wirtschaft gesteuert worden wäre, gäbe es eine bessere Lage. Der BM antwortete, unsere damaligen Leistungen müssten auch im Zusammenhang mit der amerikanischen Haltung in der Vereinigungsfrage gesehen werden. 3) Der BM sprach dann die fremdenfeindlichen Ausschreitungen in D an.14 Er wolle offen sagen, dass er sich dafür schäme. Er verstehe israelische Sorgen. Er sei aber als AM tief überzeugt, dass diese Ausschreitungen nicht ideologisch bedingt seien, sondern eine Auswirkung der Vereinigungsproblematik darstellen. D habe die Probleme noch nicht voll im Griff. Der AM erwiderte, man könne D dafür nicht anklagen. Man beurteile D danach, welche Maßnahmen die Regierung ergreife, um solche Vorkommnisse zu stoppen. 4) Der BM fügte dann noch einige Worte über seine persönlichen und familiären Beziehungen zu Israel hinzu. Der AM dankte und lud ihn zu einem baldigen Besuch Israels ein.15 Man wisse in Israel, dass er ebenso wie BM a. D. Genscher warme Gefühle für Israel hege und seine Einstellung auch durch Taten erwiesen habe. Dafür sei man in Israel dankbar. B 36, ZA-Bd. 185343 12 Zur Anti-Boykott-Regelung vgl. Dok. 282, Anm. 25–27. 13 VLR I Altenburg erläuterte am 18. September 1992 zum israelischen Wunsch nach Aufnahme in die westliche Regionalgruppe WEOG bei den VN: „Wir haben gegenwärtig noch keine endgültige Haltung festgelegt, da eine so wichtige Frage mit den übrigen WEOG-Mitgliedstaaten und insbesondere mit den europäischen Partnern abgestimmt werden muss.“ Zwar sei der Wunsch insbesondere vor dem Hintergrund verständlich, „dass die eigentlich ,zuständige‘ asiatische Regionalgruppe Israel die Mitgliedschaft und Zusammenarbeit von jeher verweigert“. Allerdings könne eine Aufnahme dazu führen, „dass vor allem die arabischen Nachbarstaaten Israels die WEOG nicht mehr als unabhängigen ,ehrlichen Makler‘ betrachten“. Zudem hätten verschiedene osteuropäische Staaten den Wunsch nach Beitritt geäußert, was die Repräsentanz Westeuropas in den VN beeinträchtigen würde, weshalb es schwierig würde, „den OstEuropäern zu erklären, dass sie der WEOG nicht angehören sollen, wenn wir Israel aufnehmen“. Vgl. B 36, ZA-Bd. 185345. 14 Zu fremdenfeindlichen Gewalttaten in der Bundesrepublik vgl. AAPD 1991, I, Dok. 170, und AAPD 1991, II, Dok. 344. Zwischen dem 22. und 25. August 1992 wurde die Zentrale Aufnahmestelle für Asylbewerber in RostockLichtenhagen von hunderten Personen angegriffen, die von mehr als 1000 Schaulustigen angefeuert wurden. Die schweren Krawalle und gewaltsamen Auseinandersetzungen mit der Polizei hielten auch nach einer Umquartierung von ca. 200 Asylbewerbern an. Zudem wurde am Abend des 24. August 1992 ein Wohnhochhaus in Brand gesetzt, in dem sich zu diesem Zeitpunkt etwa 150 vietnamesische Staatsbürger aufhielten. Erst nach zwei Stunden räumte die Polizei die Feuerwehrzufahrt; das brennende Gebäude wurde erst in den frühen Morgenstunden des 25. August 1992 evakuiert. Vgl. den Artikel „Der Verlauf der Ereignisse in Rostock“; BERLINER ZEITUNG vom 26. August 1992, S. 3. 15 BM Kinkel hielt sich vom 17. bis 19. November 1992 in Israel auf. Vgl. Dok. 364 und Dok. 378.

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304 Vermerk des Ministerialdirektors Chrobog, z. Z. New York 24. September 1992 Von BM noch nicht gebilligt Betr.:

Gespräch mit dem bosnischen Präsidenten Izetbegović in New York am 22. September1

Izetbegović (I.) beklagte sich über die Nicht-Implementierung wesentlicher Entscheidungen der Londoner Konferenz.2 Einige dort gefasste Beschlüsse seien schlicht aufgegeben worden, z. B. die Einrichtung einer No-fly-zone. Die jugoslawische Luftwaffe sei außerordentlich aktiv. Die Bombardements bosnischer Städte aus der Luft hielten an. Es sei wichtig, endlich eine Entscheidung über ein allgemeines Flugverbot zu treffen. Er richtete die Bitte an uns, in dieser Frage Druck zu machen. Was die Zusammenfassung schwerer Waffen angehe, so sei dies nur sporadisch und mit vielen Ausnahmen erfolgt. Bisher sei auch dieser Beschluss nicht deutlich und ausreichend umgesetzt worden. I. unterstützte unseren Vorschlag, ein Internationales Strafgericht zur Ahndung von Kriegsverbrechen einzuführen3, und sagte zu, auch bei anderen für dieses Thema zu werben. BM verwies auf die Notwendigkeit einer Sicherheitsrats-Resolution, um das Flugverbot über Bosnien durchzusetzen. Ein derartiges Verbot setze allerdings auch den Willen derjenigen voraus, die zur Implementierung eines derartigen Verbotes aus der Luft oder zu Lande in der Lage seien. Er verwies auf unser Verfassungsproblem und darauf, dass wir in dieser Frage weniger stark drängen könnten als andere, da wir nicht zu einer Beteiligung in der Lage seien. In einem anschließenden Vier-Augen-Gespräch bat I. den Minister, gemeinsam mit ihm Tudjman zu treffen. Die Kroaten seien immer dabei, eine unabhängige Miliz in Bosnien zu schaffen, die sich zunehmend verselbstständige. Dem müsse dringend ein Riegel vorgeschoben werden. Hier brauche er unsere Unterstützung. Er wäre dankbar, wenn in einem gemeinsamen Gespräch mit Tudjman diese Frage aufgenommen werden könnte, und versprach, in dieser Sache wieder auf uns zuzukommen. Gespräch mit Präsident Izetbegović und Präsident Tudjman in New York am 23. September Wie von Izetbegović erbeten, kam es zu einem gemeinsamen Gespräch, das von Präs. Izetbegović mit der Bitte an den Minister eröffnet wurde, zwischen ihm und Tudjman zu vermitteln. Es gehe dabei um folgende Frage: Nach der ständigen Konfrontation mit den Tschetniks, die man in Zusammenarbeit zwischen Kroaten und Moslems in Bosnien durchzustehen versuche, gebe es nunmehr gewisse Probleme mit den bosnischen Kroaten. Versorgungskonvois, die Medikamente, Nahrungsmittel und Waffen transportierten, würden von lokalen kroatischen bewaffneten Kräften blockiert, zurückgehalten und meistens kon1 BM Kinkel hielt sich anlässlich der VN-Generalversammlung vom 19. bis 25. September 1992 in den USA auf. 2 Zur internationalen Jugoslawien-Konferenz am 26./27. August 1992 vgl. Dok. 269. 3 Zur Frage der Einrichtung eines Internationalen Strafgerichtshofs vgl. Dok. 247.

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fisziert. Diese Ereignisse spielten sich insbesondere an der Grenze zwischen Westbosnien und Kroatien ab. Insbesondere Boban, der unter dem Einfluss Zagrebs stehe, führe diese Blockaden durch. Die Situation in Bosnien werde dadurch immer kritischer. Deutschland als bester Freund beider Seiten möge bitte alles tun, um in diesem Streit zu vermitteln. Am 21. Juli habe man ein Freundschafts- und Kooperationsabkommen zwischen Bosnien und Kroatien geschlossen, aber auch die Unterschrift unter dieses Dokument habe die Lage nicht verbessert. Auf Bitten des BM nahm Präs. Tudjman das Wort. Er ging jedoch auf die konkreten Vorwürfe nicht ein, sondern machte einen langen Exkurs über die Geschichte des Konfliktes in Jugoslawien seit dem Beginn. Nach seiner Auffassung sei es zu dem Konflikt in Bosnien nur durch die Verweigerungshaltung Izetbegovićs gekommen, dennoch habe man von kroatischer Seite aus die Moslems in Bosnien unterstützt. In der Praxis habe man von Zagreb aus keinen Einfluss auf die Kroaten in Bosnien. Diese ständen zum Teil im Widerspruch zur Regierung in Sarajevo. In dem Vertrag vom 21. Juli sei von bosnischer Seite aus eine engere Anbindung an Kroatien verweigert worden. Izetbegović habe versucht, die kroatischen Verbände der Regierung in Sarajevo unterzuordnen, was von den meist freiwilligen Kroaten nicht akzeptiert worden sei. Er sei auch nicht bereit, einer Aufteilung Bosniens in drei Kantone zuzustimmen. Kroatien und die Kroaten in Bosnien wollten eine friedliche Lösung und nicht einen permanenten Krieg im Gegensatz zu Izetbegović. Als diese Ausführungen immer länger wurden und immer weniger auf das eigentliche Thema eingingen, unterbrach BM den Redefluss Tudjmans und machte darauf aufmerksam, dass Deutschland sich mit umfangreicher Hilfe und politischer Unterstützung für Kroatien eingesetzt habe. Er warnte davor, Schritte zu unternehmen, die auf eine Teilung Bosniens hinausliefen. Wir hätten uns immer für die Integrität Bosniens eingesetzt und würden dieses auch in Zukunft tun. Izetbegović nahm diesen Gedanken auf und erklärte seine volle Bereitschaft zur Zusammenarbeit zwischen Moslems und Kroaten. Das Einzige, was er nicht akzeptieren könne, sei der Versuch der Kroaten in Bosnien, einen Staat im Staate zu begründen. Es ginge inzwischen soweit, dass die Kroaten Zollstellen etabliert hätten, Straßen sperrten und sich von dem moslemischen Teil Bosniens abkapselten. Alle Probleme könnten gelöst werden. Die Kroaten sollten gleiche Rechte erhalten. Er sei auch bereit, in der Regierung einen gleichen Anteil an Ämtern zur Verfügung zu stellen, obwohl die Moslems 50 %, die Kroaten nur 17 % der Bevölkerung stellten. Nicht könne er allerdings den Versuch akzeptieren, einen Staat im Staate zu begründen. Aus Zeitgründen musste das Gespräch unterbrochen werden. Immerhin führte die sehr klare Sprache von BM dazu, dass sich beide Seiten bereit erklärten, das Gespräch zwischen ihnen unmittelbar fortzusetzen. Chrobog B 1, ZA-Bd. 178945

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24. September 1992: Vorlage von Staks

305 Vorlage des Vortragenden Legationsrats I. Klasse Staks für Staatssekretär Kastrup 342-322.00 KAB

24. September 19921

Über Dg 342, D 33 Herrn Staatssekretär4 Betr.:

Stand des Friedensprozesses in Kambodscha5; hier: Dienstreise vom 2. – 6.9.92 (EZ-Konsultationen)

Zweck der Vorlage: Zur Unterrichtung Kurzfassung Bei einer Dienstreise nach Kambodscha zu EZ-Konsultationen ergab sich die Gelegenheit zu zahlreichen Gesprächen und einer Reise ins Landesinnere. Die dabei gewonnenen Eindrücke bestätigen das Bild einer insgesamt positiven Zwischenbilanz der – in der VNGeschichte umfangreichsten – friedenserhaltenden Mission UNTAC (United Nations Transitional Authority in Cambodia). Besonders erfolgreich verläuft – entgegen allen Befürchtungen – die Rückführung der kambodschanischen Flüchtlinge aus Thailand. Überraschend auch, dass UNTACs Tätigkeit schon jetzt fühlbar – besonders außerhalb der Hauptstadt – dazu beiträgt, dass sich die Kambodschaner sicherer fühlen und Verletzungen von Menschenrechten zurückgehen. Die Vorbereitung der – für April/Mai 1993 geplanten – Wahlen6 geht zügig voran. Das gute Leistungsbild von UNTAC wird getrübt durch geringe Fortschritte bei der Minenräumung und Probleme bei der Entwaffnung und Demobilisierung der Bürgerkriegsarmeen aufgrund der Verweigerungshaltung der Roten Khmer. Es gibt jedoch Anzeichen, dass deren militärische und politische Position schwächer ist als vielfach angenommen. Nicht zuletzt aufgrund des Drucks von Thailand und China lassen sie jetzt wieder Kompromissbereitschaft erkennen. Problem ist die alte Führungsriege unter Pol Pot und die bisher nicht erfolgte Umwandlung von einer militärischen in eine politische Organisation. UNTAC scheint entschlossen, den Friedensprozess beharrlich – notfalls auch ohne Entwaffnung der Roten Khmer – vorantreiben zu wollen. Wir sind mit unserer Vertretung in Phnom Penh, dem medizinischen Team der Bundeswehr und den BGS-Beamten deutlich sichtbar präsent. Der eingeleitete Prozess bietet die einzige Chance, Kambodscha zu befrieden. Wir werden ihn weiterhin unterstützen. 1 2 3 4

Die Vorlage wurde von VLR Knieß konzipiert. Hat MDg Zeller am 24. September 1992 vorgelegen. Hat in Vertretung des MD Schlagintweit MDg Sulimma am 24. September 1992 vorgelegen. Hat StS Kastrup am 25. September 1992 vorgelegen. Hat VLR Ney am 25. September 1992 vorgelegen, der den Rücklauf an VLR I Staks verfügte. Hat Staks am 28. September 1992 erneut vorgelegen. 5 Zu den am 23. Oktober 1991 in Paris unterzeichneten Übereinkommen zur Regelung des KambodschaKonflikts vgl. Dok. 68. 6 Vom 23. bis 28. Mai 1993 fanden in Kambodscha Wahlen für eine Verfassunggebende Versammlung statt.

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Langfassung I. Ergebnis der EZ-Konsultationen vom 2. – 6.9.92, an denen ich für das AA teilnahm: Bei der Kambodscha-Wiederaufbaukonferenz im Juni 19927 hatte die Bundesregierung EZ­Mittel in Höhe von DM 21,7 Mio für 1992 angekündigt. Es werden jetzt sektorbezogene Warenhilfe (Landwirtschaft, Gesundheit), die Einrichtung von Studienfonds und eines Fonds für Selbsthilfeprojekte in Zusammenarbeit mit NGOs geplant. Konkrete Zusagen sollen zum Jahresende an den Obersten Nationalrat von Kambodscha (SNC8), zu dem wir seit Februar d. J. offizielle Beziehungen unterhalten9, erfolgen. Außerhalb der Konsultationen ergab sich Gelegenheit zu Gesprächen mit dem stellvertretenden UNTAC-Chef Sadri, Vertretern der Konfliktparteien einschließlich der Roten Khmer, NGOs, dem IKRK sowie den Leitern der BGS- und Bundeswehrteams. II. Zwischenbilanz nach sechs Monaten UNTAC 1) Phnom Penh ist – zumindest äußerlich – auf gutem Weg zu südostasiatischer Normalität hinsichtlich Verkehr, Lärm und Geschäftigkeit. Fahrräder sind weitgehend durch Mopeds und Autos ersetzt, Staus und Verkehrsunfälle sind Alltagsphänomene geworden. Der Bausektor boomt, und das Dienstleistungsgewerbe blüht im weitesten Sinne: wilder Osten in Kambodscha. Diese Entwicklung wird beschleunigt von der Anwesenheit und der Kaufkraft von rd. 20 000 Angehörigen der VN-Übergangsverwaltung UNTAC im ganzen Land. 2) UNTACs Auftrag kommt in vielem einer „Mission impossible“ gleich. Zur Zerstrittenheit der kambodschanischen Konfliktparteien kommt das interne Managementproblem des Einsatzes von rd. 20 000 Angehörigen der verschiedensten Nationalitäten. Der Aufgabenbereich ist deutlich umfangreicher als bei den Befriedungsaktionen in Namibia, Nicaragua etc. Neben der üblichen Entwaffnung der Bürgerkriegsarmeen und der Durchführung von freien Wahlen geht es um die Rückführung von Flüchtlingen, Minenräumung, Sicherung von Menschenrechten und weitgehende Eingriffe in eine bestehende Zivilverwaltung. Vom Gelingen der Kambodscha-Operation hängt daher die Glaubwürdigkeit der VN bei zukünftigen friedenserhaltenden Missionen ab. UNTAC hat nach einem knappen halben Jahr die Realität in Kambodscha verändert. Dies gilt für die Hauptstadt, wo die VN-Angehörigen und ihre weißen Toyota-Geländewagen omnipräsent sind; dies gilt in noch stärkerem Maße für die Provinz – mit Ausnahme 7 Korrigiert aus: „Mai 1992“. Vom 20. bis 22. Juni 1992 fand in Tokio die „Konferenz über Rehabilitation und Wiederaufbau von Kambodscha“ statt. MDg Preuss, BMZ, z. Z. Tokio, teilte am 23. Juni 1992 mit, neben einer Erklärung zum kambodschanischen Friedensprozess sei eine Erklärung zum Wiederaufbau verabschiedet worden: „Sie enthält die auf der Konferenz gemachten Neuzusagen bzw. Inaussicht-Stellung von rd. 880 [Mio.] US-Dollar, davon 625 Mio. US-Dollar als bilaterale Hilfe, der Rest von multilateralen Institutionen wie Weltbank, ADB, EG sowie UN-Organisationen. Damit liegt der Betrag deutlich über der vom VN-GS geforderten Neuzusage von 595 Mio. US-Dollar. Größte Geber sind Japan mit 150 bis 200 Mio. USDollar sowie die USA, die für 1992/93 135 Mio. US-Dollar in Aussicht stellten. Die deutsche Delegation sagte einen Betrag von rd. 22 Mio. DM zu. Zur künftigen Mobilisierung und Koordinierung der internationalen Hilfe wurde ein ,Internationales Komitee für den Wiederaufbau von Kambodscha‘ (ICORC) unter Vorsitz Japans geschaffen.“ Vgl. DB Nr. 1385; B 37, ZA-Bd. 164226. 8 Supreme National Council. 9 Die Bundesrepublik und Kambodscha nahmen mit der Akkreditierung eines Ständigen Vertreters am 14. Februar 1992 offizielle Beziehungen auf. Vgl. BULLETIN 1992, S. 316.

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der von den RK10 kontrollierten Gebiete. UNTAC schafft vor allem Transparenz und kontrolliert das bisher willkürliche Treiben von Provinzfürsten und lokalen Militärkommandanten. Gefangene ohne Anklage wurden entlassen, geheime Gefängnisse aufgespürt und aufgelöst, die Menschen fühlen sich zunehmend sicherer. Großes Lob erhält die Zivilpolizeikomponente von UNTAC, an der auch 75 BGS-Beamte beteiligt sind. Polizei und ziviles UNTAC-Personal in den Schlüsselbereichen (Finanzen, Inneres, Information, Verteidigung und Äußeres) tragen bereits jetzt deutlich spürbar zum gewünschten „neutralen politischen Klima“ für die Wahlen im Mai 1993 bei und bescheren den Kambodschanern eine erste Ahnung von politischen Freiheiten und Rechtsstaatlichkeit. Bereits am 1.10.92 soll die Wahlkomponente von UNTAC mit der Wählerregistrierung beginnen. Am Wahltermin April/Mai 1993 wird noch festgehalten. Probleme gibt es weiterhin mit den politischen Freiheiten. Die Phnom Penher Regierung behindert die Errichtung von Parteibüros auf Provinzebene und versucht, ihre Stellung als Einheitspartei zu halten. 3) Entgegen allen Erwartungen verspricht die Rückführung der Flüchtlinge eine Erfolgsgeschichte zu werden. Bis Anfang September 1992 waren bereits 100 000 Kambodschaner aus den Flüchtlingslagern in Thailand vom UNHCR repatriiert worden. Da die bisherige Zahl von 380 000 aufgrund von Doppelmeldungen um etwa 20 % zu hoch lag, dürfte die komplette Rückführung bis zum Februar 1993, vielleicht schon zur Jahreswende gelingen. Der UNHCR in Phnom Penh rechnet mit einer Zunahme der Zahl der spontanen Rückkehrer. Zum günstigen Verlauf trägt bei, dass die Regenzeit später und weniger intensiv als sonst eingesetzt hat. Da die große Mehrheit der Flüchtlinge zunächst zu Verwandten in Kambodscha zieht, besteht geringer Bedarf an neuem – von Minen geräumtem – Siedlungsland. Bisher gab es nur ein Minenopfer. 4) Generell liegt allerdings die Zahl der Minenopfer weiterhin erschreckend hoch – bei 300 im Monat. Die Minenräumung ist – dies gibt auch die UNTAC-Spitze zu – eine der Schwachstellen des VN-Programms. Bisher wurden nur wenige Hundert Kambodschaner in Minenräumung ausgebildet. 5) Geringer Erfolg ist bisher auch der militärischen Komponente von UNTAC beschieden, die die im Friedensplan vorgesehene Kantonierung, Entwaffnung und Demobilisierung von 70 % der Streitkräfte der Bürgerkriegsparteien (sogenannte Phase 2) nicht abschließen kann, weil die RK ihre Mitarbeit verweigern. Knapp 16 000 UNO-Soldaten verharren überwiegend in ihren Standorten, ohne ihren Auftrag voll erfüllen zu können. Verständlich sind daher die Rufe nach militärischem Vorgehen gegen die RK, das die UNTAC-Spitze jedoch als mit den Pariser Verträgen nicht vereinbar zurückweist. III. Die Positionen der Konfliktparteien 1) UNTACs Präsenz macht auch die relativ schwache Position der Roten Khmer (RK) deutlich. Diese kontrollieren nur dünnbesiedelte Gebietsabschnitte mit ca. 2 % der kambodschanischen Bevölkerung (knapp 200 000). Ihre militärische Stärke wird durch anhaltende Desertionen und – gegenüber UNTAC – erklärte Kriegsmüdigkeit zahlreicher Einheiten reduziert. Die Zahl der politischen Anhänger im ganzen Land dürfte gering sein. Im Gespräch mit RK-Vertretern wird die Sorge um das Überleben ihrer Organisation deutlich. Der Widerstand gegen die Entwaffnung wird damit begründet, dass die Phase des Rückzugs ausländischer (sprich vietnamesischer) Streitkräfte noch nicht hinreichend verifiziert sei. 10 Rote Khmer.

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Allerdings, so ein RK-Vertreter im Gespräch, stelle man nunmehr nur noch eine Vorbedingung für die Teilnahme der RK an den Wahlen: die Einrichtung von paritätisch besetzten Beratungsgremien (consultative committees), die der Stärkung des SNC dienen und die Transparenz der Aktivitäten der Hun-Sen-Regierung herstellen sollen. Nach Auffassung vieler Beobachter in Phnom Penh mehren sich die Zeichen für zunehmende Kompromissbereitschaft seitens der RK: Sie halten verbal am Friedensplan fest, sie haben ihre Forderung zur Auflösung der Hun-Sen-Regierung fallengelassen, es finden kaum noch Kämpfe statt, UNTAC-Angehörige und -Einrichtungen werden nicht angegriffen. Grund für ein solches Einlenken könnte die drohende außenpolitische Isolierung sein: Selbst die alten Verbündeten Thailand und China haben sich jetzt mit Japan zusammengetan, um nachhaltigen Druck auszuüben. Außerdem sollen die Edelsteinvorkommen in Pailin, deren Ausbeutung eine erhebliche Einkommensquelle für die RK darstellt, nahezu erschöpft sein. Ähnliches gilt für den Export von Edelhölzern nach Thailand, der durch zunehmende UNTAC-Kontrollen erschwert wird. Nach dem Sieg der pro-demokratischen Parteien bei den September-Wahlen in Thailand11 dürfte der Rückhalt der RK dort weiter abnehmen. Die RK sind eine militärische Organisation, die immer noch von der Führungsriege der 70er Jahre zentralistisch und im Stil eines Geheimbunds beherrscht wird. Überlegungen über ihr zukünftiges Verhalten müssen daher Spekulation bleiben. Sie militärisch ausschalten zu wollen, wäre riskant und würde den Rahmen der Pariser Verträge sprengen. Die Drohung mit militärischen Sanktionen dürfte die RK daher kaum beeindrucken. Andererseits kann UNTAC vor ihrer Obstruktionspolitik nicht kapitulieren. UNTACs Strategie ist daher – nach meinem Eindruck – die Fortsetzung des Prozesses ohne große Rücksichtnahme auf die RK, ohne aber auch die Tür zuzuschlagen. Zwar ist es unwahrscheinlich, dass sich die RK jetzt entwaffnen lassen, aber wenn sie sich ruhig verhalten – was sie derzeit tun – oder gar selektiven Zugang zu ihren Gebieten ermöglichen, kann der Prozess weitergehen. Immerhin haben sie erklärt, die Wahl Sihanouks zum Staatspräsidenten unterstützen zu wollen. Es bleibt die Hoffnung, dass die Dynamik des Friedensprozesses in 85 % des kambodschanischen Territoriums und der einsetzende Wiederaufbau den RK ihre letzte vermeintliche Legitimität entziehen und sie als „rebels without a cause“ erscheinen lassen, deren einzige Überlebenschance die Umwandlung in eine politische Organisation und Teilhabe am politischen Prozess ist. 2) UNTAC hatte sich in einer ersten Phase seiner Präsenz in Kambodscha stark auf die vorhandenen administrativen Strukturen der Hun-Sen-Regierung abgestützt und sich den Vorwurf der Parteilichkeit zugezogen. UNTAC steht jedoch jetzt auf eigenen Füßen und ist mit der zunehmenden Kontrolle der Aktivitäten der Regierung in einen gewissen Gegensatz zu dieser geraten. 11 VLR I Staks vermerkte am 16. September 1992: „Bei den Parlamentswahlen vom 13.9.92, den zweiten Wahlen in Thailand in diesem Jahr, haben die pro-demokratischen Parteien, die bisher die Opposition bildeten, gesiegt. Bei den letzten Parlamentswahlen im März 1992 hatten die pro-militärischen Parteien noch eine knappe Mehrheit im Abgeordnetenhaus errungen. Stärkste Partei sind jetzt die Demokraten (79 von insgesamt 360 Sitzen) unter ihrem Vorsitzenden Chuan Leekpai, der seinen Anspruch auf das Amt des Ministerpräsidenten geltend gemacht hat.“ Nach der blutigen Niederschlagung der Demonstrationen für mehr Demokratie im Mai bedeute das Wahlergebnis einen „qualitativen Sprung“ im Demokratisierungsprozess. Zu erwarten seien eine Fortsetzung der Liberalisierung und Entmilitarisierung der Wirtschaft, eine führende thailändische Rolle in der ASEAN sowie Kontinuität in der Außenpolitik, insbesondere durch weiteren Druck auf die Roten Khmer in Kambodscha. Vgl. B 37, ZA-Bd. 164269.

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Die Hun-Sen-Regierung hatte zunächst von der Anwesenheit von UNTAC profitiert und politische Aufwertung erfahren. Allerdings sind auch ihre Schwachstellen zutage getreten: Korruption und mangelnde Kompetenz, besonders in der Wirtschaftspolitik. Die Regierung hat kaum eigene Staatseinnahmen (bis 1990 wurde sie von der Sowjetunion und den RGW-Staaten alimentiert). Die staatlichen Unternehmen sind inzwischen weitgehend privatisiert und die Erlöse in die Schatullen von Ministern und Beamten geflossen. Es fehlt an Geld zur Bezahlung von Gehältern für Beamte und Soldaten. Letztere beschaffen sich daher ihren Lebensunterhalt durch Überfälle. Die Inflation galoppiert. Die Popularität der Hun-Sen-Regierung in der Bevölkerung ist auf einem Tiefpunkt, auch weil vielfach vermutet wird, dass der Wandel der Regierungspartei vom demokratischen Zentralismus zu Demokratie und Marktwirtschaft nur oberflächlich vollzogen wurde. 3) Die anderen Konfliktparteien, die Sihanoukisten und die KPNLF12 von Son Sann, spielen militärisch keine Rolle mehr und kontrollieren nur kleine Gebiete. Die KPNLF verfügt kaum über Anhängerschaft im Lande. Die Sihanoukisten hingegen rechnen sich wegen der Berufung auf Sihanouk, der weiterhin sehr populär ist, gute Wahlchancen aus. 4) Zentrales Thema in der innenpolitischen Diskussion ist das Verhältnis zu Vietnam. In der Bevölkerung herrscht eine weitverbreitete antivietnamesische Stimmung. Dazu trägt nicht nur die vietnamesische Besatzungszeit von 1979 – 1989 bei, sondern auch die historische Erfahrung, dass das Khmer-Reich, das zu seiner Blütezeit im 13. Jahrhundert große Teile Südostasiens beherrschte, im Zuge seines Niedergangs große Gebiete an Vietnam (und auch Thailand) abtreten musste. Zurzeit ist die Erfahrung der starken Präsenz von Vietnamesen in Kambodscha vorherrschend; Schätzungen gehen bis zu einer Million (bei einer Einwohnerzahl von 8 Mio.). Eine Rolle spielen auch die von Vietnam in den 80er Jahren zu seinen Gunsten vorgenommenen Grenzveränderungen. Das Vietnam-Thema wird von allen drei Widerstandsfraktionen im Vorgriff auf den Wahlkampf besetzt. IV. Deutschland ist in Kambodscha mittlerweile deutlich sichtbar präsent. Unsere Vertretung ist bekannt und hat ein hohes Profil. Sie nimmt an den Sitzungen des SNC und der P 513 expanded teil. UNTAC und viele Kambodschaner betrachten uns als unparteiisch und ohne Eigeninteressen. UNTAC hat uns mit dieser Begründung angeboten, mit einem EZProjekt zur Stärkung des SNC-Sekretariats beizutragen. Dies sollte zügig umgesetzt werden. Das von dem medizinischen Team der Bundeswehr in Phnom Penh betriebene UNTAC­ Krankenhaus ist weithin bekannt und sichtbares Zeichen deutscher Präsenz. In medizinischer Hinsicht genießt es einen ausgezeichneten Ruf. Die Kontroverse mit UNTAC vom Juli des Jahres wegen der Behandlung von kambodschanischen Staatsangehörigen14 scheint 12 Khmer Peopleʼs National Liberation Front. 13 Permanent 5 (Frankreich, Großbritannien, UdSSR, USA, Volksrepublik China). 14 Botschafter Graf zu Rantzau, New York (VN), berichtete am 23. Juli 1992, im VN-Sekretariat bestehe Unmut über Berichte, „nach denen sich die Sanitätstruppen nicht im Wesentlichen auf die Versorgung von UNTAC-Angehörigen beschränken, sondern vielmehr in erheblichem Umfang Einheimische versorgten. Hier werden sowohl praktische wie politische Gesichtspunkte geltend gemacht. Einmal könnte eine Bettenbelegung durch Einheimische dazu führen, dass verletzte UNTAC-Angehörige in Phnom Penh nicht in angemessener Weise betreut werden können. Zum anderen wirft die Betreuung von Einheimischen erhebliche politische Probleme auf. Insbesondere wird befürchtet, dass die Roten Khmer Vorwände finden könnten, die Aufnahmepraktiken des Feldlazaretts für ihre Zwecke zu nutzen und UNTAC parteiisches Verhalten vorzuwerfen.“ Vgl. DB Nr. 1867; B 37, ZA-Bd. 164224.

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inzwischen beigelegt zu sein.15 Kambodschaner werden weiterhin stationär behandelt, wobei es sich hauptsächlich um Opfer von Verkehrsunfällen handelt, deren Unfallgegner im Übrigen meist UNTAC-Angehörige sind. Während das Bundeswehrteam ausschließlich in der Hauptstadt eingesetzt ist, tun die 75 BGS-Beamten unter schwierigen Umständen im ganzen Land Dienst. Probleme sind die hygienischen Umstände auf entlegenen Posten und die hohe Zahl von MalariaErkrankungen. Wir haben uns mit der Entsendung des medizinischen Teams der Bundeswehr und der BGS-Beamten für eine kräftige Beteiligung an der UNTAC-Mission entschieden. Wir werden als Pflichtbeitrag (8,93 %) mehrere 100 Mio. DM zu der knapp 2 Mrd. US-$ teuren Aktion beisteuern und außerdem EZ-Wiederaufbauhilfe leisten. An der Wiederherstellung politischer Stabilität in einer der am schnellsten wachsenden Wirtschaftsregionen, mit der wir in besonderer Weise (ASEAN) verbunden sind, muss uns gelegen sein. Es liegt daher in unserem Interesse, dass der Friedensprozess in Kambodscha einen möglichst günstigen Verlauf nimmt. Der eingeschlagene Weg bietet weiterhin die einzige Chance, Kambodscha zum Frieden zu führen. Dies bedeutet die Fortsetzung unserer Unterstützung für UNTAC und Prinz Sihanouk als SNC-Vorsitzenden. Wir werden uns wie bisher aktiv an den diplomatischen Bemühungen, insbesondere den Beratungen der ZehnerGruppe in New York16 und der P 5 expanded, beteiligen. Unserem Engagement wird mit dem für Oktober d. J. vorgesehenen Beitritt zu den Pariser Verträgen (Kabinettsvorlage folgt17) erneut Nachdruck verliehen. Referat 230 hat mitgezeichnet. Staks B 37, ZA-Bd. 164221 15 MDg Schilling teilte der Ständigen Vertretung bei den VN in New York am 17. September 1992 mit: „Bundesregierung beabsichtigt, im Feldlazarett, das vom BW-Sanitätskontingent betrieben wird, über die vorhandenen 60 Betten hinaus 20 weitere Betten für Behandlung von schwerverletzten Zivilisten (z. B. Minenverletzungen) auf nationale Kosten bereitzustellen.“ Damit werde gewährleistet, dass die Behandlung von schwerverletzten Zivilisten nur im Rahmen freier Kapazitäten erfolge und der eigentliche Auftrag nicht beeinträchtigt werde. Vgl. den DE; B 37, ZA-Bd. 164224. 16 Am 7./8. Oktober 1992 fanden in New York Kambodscha-Konsultationen zwischen den fünf ständigen Mitgliedern den VN-Sicherheitsrats sowie Australien, der Bundesrepublik, Indonesien, Japan und Thailand statt. Botschafter Vergau, New York (VN), berichtete am 9. Oktober 1992, im Zentrum habe das weitere Vorgehen gegenüber den Roten Khmer gestanden: „Die asiatischen Delegationen mahnten ein geduldiges und gelassenes Vorgehen an mit dem zweifellos korrekten Hinweis, die von den Roten Khmer kontrollierten Gebiete würden zu Unruheherden in Kambodscha, wenn sie nicht in den Friedensprozess eingebunden werden könnten. […] Die westlichen Delegationen lehnten politischen Druck nicht ab und waren bereit, Friedensoperation notfalls ohne die R[oten]K[hmer] fortzuführen. Entscheidung hierzu sollte unmittelbar nach den letzten Verhandlungsversuchen mit zeitlicher Frist bis ca. Mitte November getroffen werden.“ Vgl. DB Nr. 2739; B 30, ZA-Bd. 158189. 17 Für die von MD Schlagintweit am 13. November 1992 vorgelegte Kabinettvorlage, die BM Kinkel am 16. November 1992 zeichnete, vgl. B 37, ZA-Bd. 175202. Vgl. das Gesetz vom 28. April 1994 über den Beitritt der Bundesrepublik zu den Übereinkommen vom 23. Oktober 1991 über Kambodscha; BGBl. 1994, II, S. 542. Das Vertragswerk trat für die Bundesrepublik am 1. Juli 1994 in Kraft. Vgl. die Bekanntmachung vom 20. Juli 1994; BGBl. 1994, II, S. 1317.

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28. September 1992: Drahtbericht von Bartels

306 Drahtbericht des Ministerialdirigenten Bartels, z. Z. Djidda Fernschreiben Nr. 124 Citissime Betr.:

Aufgabe: 28. September 1992, 18.55 Uhr Ankunft: 28. September 1992, 18.49 Uhr

Besuch StM Schäfer in Syrien (26.9. – 28.9.1992); hier: Gespräch mit Staatspräsident Assad

1) Präsident Assad empfing StM Schäfer und ihn begleitende Delegation kurz vor Weiterflug nach Saudi-Arabien1 zu knapp zweistündigem Gespräch, aus dem ich Folgendes festhalte: Präsident Assad (A.) erkundigte sich zunächst nach den vorigen Gesprächen StM Schäfers (S.)2, über die er noch nicht unterrichtet sei, die aber eingehend erörtert würden, da die Maxime gelte: Die Beziehungen zu Deutschland sind gute Beziehungen. A. kam dann auf den Friedensprozess3 zu sprechen, das ausschließliche Thema des gesamten Gesprächs. Syrien sei ernsthaft in den Friedensprozess eingetreten. Israel bediene sich lediglich eines neuen Vokabulars, ohne dem neue Taten folgen zu lassen. Der bisher einzige Unterschied zwischen Likud und Labour bestehe im Ton. Dennoch hoffe Syrien weiterhin auf neue israelische Positionen. Neben der israelischen Haltung sei größtes Hindernis für erfolgreichen Friedensprozess die unverhältnismäßig große Hilfe, die Israel von außen erhalte. Offenbar glaube der Westen, dass die arabischen Länder zum Frieden durch Druck zu zwingen seien, Israel hingegen durch Erfüllung seiner Wünsche veranlasst werde. Allein von den USA erhalte jeder Israeli an Hilfe das Vierfache des Durchschnittsverdienstes eines Angehörigen der Dritten Welt. Hilfe komme jedoch nicht nur aus den USA, sondern auch aus Europa und insbesondere aus Deutschland, worum sich MP Rabin kürzlich bemüht habe.4 1 StM Schäfer hielt sich vom 28. September bis 1. Oktober 1992 in Saudi-Arabien auf. Botschafter Bente, Riad, berichtete am 2. Oktober 1992 zusammenfassend, Schäfer sei mit Kronprinz Abdullah ibn Abdul Aziz, dem amtierenden AM Mansouri, Wirtschafts- und Finanzminister Aba al-Khail und Ölminister Nazer zusammengetroffen: „Die Gespräche haben keine grundsätzlich neuen Erkenntnisse gebracht. Bemerkenswert ist allerdings die zunehmende Furcht vor einer expansiven Politik Irans, die mehr und mehr in den Vordergrund tritt, während die Sorge vor Irak sich eher vermindert.“ Ferner seien der Friedensprozess im Nahen Osten, fremdenfeindliche Gewalttaten in der Bundesrepublik, Hilfe für Flüchtlinge aus Bosnien-Herzegowina und wirtschaftliche Fragen erörtert worden. Vgl. DB Nr. 510; B 36, ZA-Bd. 170212. 2 Während seines Besuchs vom 26. bis 28. September 1992 in Syrien traf StM Schäfer mit dem StM für auswärtige Angelegenheiten, Qaddour, Vizepräsident Khaddam sowie Planungsminister Subay’i zusammen. Botschafter Schlingensiepen, Damaskus, berichtete am 29. September 1992, erörtert worden seien der Friedensprozess im Nahen Osten, die Entwicklung im Libanon, die Beziehungen Syriens zum Irak und zum Iran, Anti-Boykott-Regelungen sowie die bilateralen Wirtschaftsbeziehungen. Er bilanzierte: „Der Besuch war ein voller Erfolg, nicht zuletzt wegen der intimen NO-Kenntnisse des Besuchers, die es ihm ermöglichten, Antworten auf heikle Darlegungen zwar deutlich zu geben, aber in einer der arabischen Psyche angepassten Weise.“ Vgl. DB Nr. 1345/1346; B 36, ZA-Bd. 196471. 3 Zu den bilateralen Nahost-Verhandlungen vgl. Dok. 282, Anm. 11. 4 Der israelische MP Rabin hielt sich vom 14. bis 16. September 1992 in der Bundesrepublik auf. Vgl. Dok. 282.

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28. September 1992: Drahtbericht von Bartels

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S. stellte klar, dass Rabin die Frage von Kreditgarantien in Bonn nicht angesprochen habe, und erläuterte unsere Haltung, dass für derartige israelische Wünsche die legale Basis und auch die Mittel fehlten. A. schloss das Thema ab mit der Bemerkung: Wer an einem erfolgreichen Abschluss des Friedensprozesses interessiert sei, dürfe nicht einseitig unterstützen. Syrien werde auf dem Weg zum Frieden fortfahren, bis Israel klarmache, dass es nicht weitergehe. Israel habe immer behauptet, die Araber wollten keinen Frieden und auch keine Verhandlungen, jetzt beweise Syrien das Gegenteil. Doch auch die syrische Friedensabsicht werde von der israelischen Propaganda entstellt. Während Eagleburger das kürzlich übergebene Nonpaper mit den syrischen Prinzipien für eine Friedenslösung5 als historisch bezeichnete, habe die israelische Reaktion darin bestanden, dass es keine positive Bewertung zulasse. Dabei sei in diesem Papier der syrische Wunsch nach einem Friedensvertrag (peace agreement) explizit festgehalten. Die Israelis, so A., wollten jetzt wissen, worin die syrischen Vorstellungen eines Friedens beständen, und hätten die ihrigen präsentiert: volle Normalisierungen der Beziehungen. Dies, so A., sei jedoch nicht die Basis des Friedens, diese sei vielmehr die Rückgabe des Landes, das Israel besetzt halte. Alles Weitere folge, wenn die Zeit dafür reif sei. S. sprach A. auf seine kürzliche Rede an, die wegen seiner Forderung „Mut zum Frieden“6 international sehr aufmerksam registriert worden sei. Die deutsche Erfahrung zeige, dass „Land“ nicht alles sei, sodass auch für Syrien Sicherheitsgarantien für den Golan wichtiger sein könnten als vollständige Rückgabe. A. bestätigte, dass Sicherheitsgarantien bedeutsam seien, aber gleichgewichtet sein müssten. Die im Westen weidlich verkannten geographischen und topographischen Aspekte der Golan-Frage dürften nicht im Vordergrund stehen, Syrien fühle sich vielmehr von den Höhen Galiläas aus bedroht. Im Übrigen wisse jeder Artillerist, dass sich von der Ebene besser zielen lasse als von der Höhe. Schließlich seien die israelischen Sicherheitsargumente insofern unglaubwürdig, als die Siedlungen auf dem Golan bis auf einen Kilometer an syrisches Gebiet herangeschoben worden seien. Und zuletzt: Die Breite des Golan von 18 bis 20 km sei selbst für Artillerie kein Hindernis mehr. S. plädierte für vertrauensvolle Maßnahmen wie im KSZE-Prozess. Deshalb unterstützten wir im Rahmen unserer Möglichkeiten die multilaterale Phase des Friedensprozesses. A. bekräftigte die syrische Haltung, solange an den multilateralen Verhandlungen nicht teilzunehmen, wie Israel einen Teil des Landes besetzt halte. Nach einem kurzen Hinweis auf die guten deutsch-syrischen Beziehungen, die nur gelegentlich getrübt würden (Anspielung auf den Panzertransport7), sprach A. die falschen, gegen Deutschland wegen Waffenlieferungen nach Irak gerichteten Anschuldigungen an. S. erläuterte unsere restriktive Waffenexportpolitik, über die sich auch Israel nachhaltig beschwere. A. endete mit einem historischen Exkurs, dem er das Motto voranstellte: Die deutsche Politik solle den Nahen Osten nicht unter deutsch-israelischen, sondern unter deutsch5 Zu dem am 2. September 1992 bei den bilateralen Nahost-Verhandlungen in Washington übergebenen syrischen Papier vgl. Dok. 301, Anm. 8. 6 In der Presse wurde berichtet: „Mr. Assad has already taken a hopeful, if hesitant, step by telling Syrians, that he seeks ,the peace of the brave‘ with Israel. He used that phrase this week at a meeting with a delegation of Druse elders who now live under Israeli rule in the northern Golan.“ Vgl. den Artikel „The Syrian Peace Shock“; THE NEW YORK TIMES vom 12. September 1992, S. 20. 7 Zum Fall „Godewind“ vgl. Dok. 53, Anm. 10.

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arabischen Aspekten sehen. Durch seine Rolle im Ersten Weltkrieg trage Deutschland Mitverantwortung für die gegenwärtige verfahrene Lage im NO. Nach letzten Untersuchungen sei die Judenverfolgung in Deutschland nicht so abgelaufen, wie von Israel behauptet. Doch wie dem auch sei, Deutschland dürfe seine Probleme aus der Vergangenheit nicht zulasten anderer lösen. Er pflichtete S. bei, dass die neue Generation in Deutschland die politische Lage im NO nicht mit Schuldgefühlen, sondern mit einem gewandelten Bewusstsein zur Kenntnis nehme, in dem die Belange Israels wie der Palästinenser ausgewogen berücksichtigt würden. A. schloss das Gespräch, indem er beste Grüße an BM Kinkel, über dessen Besuch in Damaskus er sich freuen würde8, und an BM a. D. Genscher richtete, mit dem ihn eine besonders gute und langjährige Beziehung verbinde, die er mit dem Nachfolger gerne fortsetzen würde. 2) Bewertung Präsident A. empfing die Delegation im kolossalen, mit großem Aufwand errichteten „Volkspalast“ auf der Kuppe einer der strategischen Anhöhen um Damaskus. Der Blick aus den großen Fenstern ging über ganz Damaskus und seine immer stärker verstädterte Oase. Deutlicher ließ sich Unmittelbarkeit der Macht nicht sichtbar machen. Zugleich erweckte A. den Eindruck der Distanz zur politischen Wirklichkeit in seinem Lande. In seiner Herausgehobenheit erinnerte er an den legendären „alten Mann in den Bergen“, den mittelalterlichen Assassinen-Führer, der zurückgezogen in die nordsyrische Berglandschaft und unbeeindruckt vom Treiben in der Ebene seine Entscheidungen traf. A., mir aus eigener Tätigkeit in Damaskus (1973 – 1977) nicht unvertraut, wirkte vergeistigt bis hin zur physischen Transparenz: Er war locker, lachte und scherzte mit seinen Mitarbeitern, die ihn nicht Präsident, sondern, wie beim jordanischen König üblich, „Sidi“ (Sire) ansprachen. Sie zollten ihm Respekt, Verehrung, Devotion. Die intellektuelle und charismatische Ausstrahlung Assads ist in den gar 20 und mehr Jahren, die er an der Macht ist, eher noch beeindruckender geworden. Er war nie impulsiv, sondern immer der sorgsam abwägende, kühl berechnende Politiker, der brillanteste im Nahen Osten. Wie alle seine politischen Schritte – und er allein entscheidet – wird er auch die syrische Haltung im Friedensprozess festlegen: nach sehr reiflicher Überlegung, die Figuren im machtpolitischen Spiel sorgsam setzend. A. ließ das Gespräch durch seinen Presseberater und Vertrauten seit 20 Jahren, Elias, übersetzen. Ob in die Welt dieser sichtbar gealterten Männer aber auch genug von jenen Gegebenheiten dringt, die heute zu den entscheidenden politischen Faktoren gehören, nämlich die physische und psychische Verfassung von Gesellschaften und Nationen, erschien mir zweifelhaft. So wirkte A. wie einer der letzten Vertreter jenes Typus von Politikern, die in europäischer Kabinettspolitik brillierten, die aber mit der Bewältigung der Probleme des ausgehenden 20. Jahrhunderts große Schwierigkeiten hätten. [gez.] Bartels B 36, ZA-Bd. 196471

8 BM Kinkel hielt sich am 4./5. Mai 1993 in Syrien auf. Vgl. AAPD 1993.

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30. September 1992: Gespräch zwischen Kinkel und Hurd

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307 Gespräch des Bundesministers Kinkel mit dem britischen Außenminister Hurd 30. September 19921 Gespräch BM mit AM Hurd am 30. September 1992, 14.00 Uhr Das Gespräch fand unter vier Augen statt und dauerte ca. eine Stunde. Es wurde unterbrochen von zwei Telefonaten. Hauptthema des Gesprächs waren die deutsch-britischen Beziehungen in der gegenwärtigen Lage2 und das Vorantreiben der Ratifikation des Maastrichter Vertrages. BM begrüßte den britischen Außenminister und bedankte sich, dass dieser Zeit gefunden habe zu einem Besuch. Die zur Verfügung stehende Zeit sei knapp, deshalb schlage er vor, dass man sich auf die wesentlichen Punkte konzentriere. Ein kurzes Pressegespräch sei im Anschluss vorgesehen.3 BM fasste eingangs die deutsche Position nach dem französischen Referendum4 zusammen. Entscheidend sei, an Maastricht festzuhalten, das gelte für die inhaltliche Seite wie auch für den Zeitplan. Auch am EWS wolle man festhalten. Man sei sich der Schwierigkeiten, die Großbritannien in diesem Zusammenhang habe, durchaus bewusst.5 BM betonte, 1 Der Gesprächsvermerk wurde von Dolmetscherin Notbohm-Ruh gefertigt. Hat BM Kinkel am 30. September 1992 vorgelegen. 2 Am Morgen des 30. September 1992 teilte Botschafter Freiherr von Richthofen, London, mit: „Aufgrund der Vorwürfe aus Kreisen der britischen Regierung gegen die Bundesbank hat das Ansehen der Bundesbank in GB gelitten. Die eingehende Zurückweisung dieser Vorwürfe durch Bundesbank-Präsident Dr. Schlesinger, die ich am 28.9. dem StS im FCO, Sir David Gillmore, mit der Bitte um Unterrichtung der zuständigen Stellen übergeben habe, hat bislang nicht dazu geführt, dass die unzutreffenden Behauptungen und [un]gerechtfertigten Vorwürfe von Regierungsseite zurückgenommen oder richtiggestellt worden wären.“ Die Botschaft werde im Einvernehmen mit der Bundesbank die Fakten einem ausgesuchten Wirtschafts-Journalisten erläutern, „um zu verhindern, dass sich ein derart falsches Bild von der Bundesbank hier dauerhaft in das britische Bewusstsein einprägt“. Mit Blick auf die „Schürung antideutscher Gefühle durch die hiesige Regenbogen-Presse“ legte Richthofen dar: „Die britische Regierung und namentlich das FCO haben bisher sichtbar nichts unternommen, um die deutsch-britischen Beziehungen vor Schaden zu bewahren. Hierum sollte AM Hurd gebeten werden.“ Vgl. DB Nr. 1897; B 31, Bd. 178054. 3 Zu den Äußerungen des BK Kinkel und des britischen AM Hurd gegenüber der Presse am 30. September 1992 vgl. den Artikel „Major gains assurance on EC treaty“; THE GUARDIAN vom 1. Oktober 1992, S. 22. 4 Zum Referendum am 20. September 1992 in Frankreich über das Vertragswerk von Maastricht vgl. Dok. 293 und Dok. 300. 5 Zur Suspendierung der Mitgliedschaft des britischen Pfunds im EWS am 16. September 1992 vgl. Dok. 290. Zur Frage einer Ratifizierung des Vertragswerks von Maastricht in Großbritannien vgl. Dok. 300, Anm. 18. Botschafter Freiherr von Richthofen, London, berichtete am 29. September 1992, in der Unterhausfraktion der Konservativen Partei mache „der harte Kern der Maastricht-Gegner 40 bis 70 Abgeordnete aus. Wie viele davon letztendlich PM Major die Gefolgschaft versagen würden, lässt sich nicht eindeutig bestimmen. […] Schwierigkeiten von PM Major sind größer als bisher angenommen. Er wird politisch wahrscheinlich nur überleben können, wenn er zu einem späteren Zeitpunkt ratifiziert und den Maastricht-Vertrag mit einer interpretativen Erklärung zur Subsidiarität verbindet. Nur so wird er den starken

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30. September 1992: Gespräch zwischen Kinkel und Hurd

dass er Verständnis für die britische Position habe; entscheidend sei aber, dass man sich nicht auseinanderdividieren lasse. Deutschland und Großbritannien müssten gemeinsam versuchen, diese Schwierigkeiten zu bewältigen und eine Antwort auf die durchaus berechtigten Ängste und Befürchtungen der Menschen in Europa zu finden. Für Deutschland heiße dies aber, eine Lösung müsse unterhalb einer Vertragsänderung gefunden werden. Der BK habe um 11.00 Uhr mit dem britischen Premierminister ein einstündiges Telefonat geführt, und auch er selber habe gestern Abend bis lange nach Mitternacht mit dem BK über dieses Thema gesprochen. BM berichtete kurz über das Telefonat des BK mit John Major. Diskutiert worden sei der Entwurf einer gemeinsamen Erklärung, deren Hauptelemente BM Douglas Hurd kurz darlegte. BM unterstrich, dass seiner Meinung nach nun eine Begegnung zwischen dem BK und dem britischen Premierminister – noch vor dem EG-Sondergipfel in Birmingham6 – dringend geboten sei. Der BK habe dies auch dem britischen Premierminister vorgeschlagen, doch sei bis zum Schluss nicht klar zu erkennen gewesen, ob der britische Premierminister zu einem Besuch bereit sei. Der BK könne jedenfalls zu diesem Zeitpunkt nicht nach London reisen. Deshalb bat BM den britischen Außenminister, seinen Einfluss auf John Major geltend zu machen und ihn von der Dringlichkeit einer solchen Begegnung zu überzeugen. AM Hurd stimmte BM in seiner Einschätzung der Dringlichkeit eines Besuches zu und versprach, auf John Major dahingehend einzuwirken. BM bedankte sich. Er erwähnte in diesem Zusammenhang, dass der BK sehr verärgert gewesen sei über die eigenmächtige Entscheidung der britischen Seite, auch die Finanzminister zum EG-Sondertreffen nach Birmingham einzuladen, ohne die übrigen Mitgliedstaaten vorher zu konsultieren. Er betonte, dass die deutsche Seite befürchte, dass Birmingham zu einem katastrophalen Finanz- und EWS-Gipfel werden könne. In der gegenwärtigen Situation könne man zwar nicht verfahren nach dem Motto „business as usual“, aber an die Entscheidungen, die die EG in New York getroffen habe, wolle man sich dennoch halten. Das heiße, man erkenne an, dass Großbritannien Probleme habe, aber der Zug fahre weiter. Den berechtigten Ängsten der Menschen in Europa müsse man Rechnung tragen. Deshalb sei er sehr froh, dass AM Hurd nach Bonn gekommen sei. BM hob in diesem Zusammenhang noch einmal hervor, wie wichtig es für ihn sei, dass die persönlichen Beziehungen zwischen seinem britischen Kollegen und ihm selbst von diesen Ereignissen nicht beeinträchtigt würden. Nach außen müsse man unbedingt sagen, dass es keinen Bruch in den deutsch-britischen Beziehungen gegeben habe. Wichtig sei nun zunächst, die Wogen zu glätten. Deshalb wiederholte BM, dass eine Begegnung zwischen BK und PM Major vor Birmingham dringend sei. Das Gespräch wurde unterbrochen, da der britische AM7 ein Telefongespräch des britischen Finanzministers Lamont entgegennahm. AM Hurd berichtete BM über das Telefongespräch mit Lamont, das ihn sehr beunruhigte. Lamont habe ihm mitgeteilt, dass der deutsche Botschafter in London gestern mit Fortsetzung Fußnote von Seite 1227 Widerstand der Maastricht-Gegner brechen und die von ihm geeinte Partei zusammenhalten können. Das Risiko, sich dann aber von einigen Hardlinern aus der eigenen Fraktion zu trennen, scheint er eingehen zu wollen.“ Vgl. DB Nr. 1893; B 210, ZA-Bd. 162212. 6 Zur Sondertagung des Europäischen Rats am 16. Oktober 1992 vgl. Dok. 334. 7 Korrigiert aus: „PM“.

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dem Staatssekretär im Außenministerium8, Gillmore, ein Gespräch geführt habe, in dessen Verlauf er ihm einen vertraulichen Brief des Präsidenten der Deutschen Bundesbank, Schlesinger, übergab.9 Dieser Brief bezog sich auf ein Interview von Schlesinger mit dem Handelsblatt. Nun habe ihm Lamont mitgeteilt, dass der deutsche Botschafter diesen Brief heute an die Presse weitergegeben habe. Dies beunruhige nicht nur den Finanzminister, sondern auch ihn selbst, und man befürchte, dass dies zu einer Zuspitzung der Diskussion über das deutsch-britische Verhältnis führen könne. Er bat BM, der Sache nachzugehen. BM stellte fest, dass ihm dieses Papier bereits übergeben worden war – gestern Abend von Schlesinger selbst –, er habe jedoch noch keine Zeit gehabt, den Brief zu lesen. BM nahm sofort telefonische Verbindung zu Botschafter von Richthofen auf und bat ihn, zu erklären, was in dieser Angelegenheit wirklich geschehen sei. Herr von Richthofen hatte in der Tat Staatssekretär Gillmore gestern einen Brief überreicht, dabei aber darauf hingewiesen, dass der Brief Zahlen enthalte, die vertraulich seien. Der Staatssekretär habe daraufhin entgegnet, man werde den ganzen Brief als vertraulich behandeln. Der deutsche Botschafter stimmte dem zu. Auf dringenden Wunsch der Deutschen Bundesbank habe Herr von Richthofen jedoch heute zwar nicht den Brief, aber eine abgespeckte Version (ohne die vertraulichen Zahlen) des Briefes an einen Pressevertreter, nämlich Peter Norman von der Financial Times, übergeben.10 BM sagte, dass er von dem deutschen Botschafter noch einen Bericht zu dieser Angelegenheit erhalten werde. Sollte er feststellen, dass darin Dinge enthalten seien, die nicht mit dem übereinstimmten, was Herr von Richthofen ihm am Telefon erzählt habe, so werde er unverzüglich Verbindung zu AM Hurd aufnehmen. BM bat AM Hurd um Verständnis dafür, dass Schlesinger sehr verletzt worden sei durch das, was in den britischen Zeitungen über die Deutsche Bundesbank geschrieben worden sei. Dazu seien dann noch die Bemerkungen des britischen Schatzkanzlers gekommen.11 8 Korrigiert aus: „Finanzministerium“. 9 Botschafter Freiherr von Richthofen, London, berichtete am 28. September 1992, er habe auf Bitte von Bundesbankpräsident Schlesinger „die mir aus Frankfurt übermittelten Klarstellungen am 28.9. Staatssekretär Sir David Gillmore im FCO übergeben und erläutert. […] StS Gillmore hat zugesagt, die Klarstellungen von Dr. Schlesinger unter Wahrung der gebotenen Vertraulichkeit (klassifiziertes Schriftstück) an die zuständigen Regierungsstellen, darunter insbesondere das Finanzministerium, weiterzuleiten. In einer ersten Erwiderung wies Sir David darauf hin, dass die britische Regierung eine unterschiedliche Perzeption der Rolle der Bundesbank in den währungspolitischen Ereignissen der letzten Wochen habe. Die verschiedenen Äußerungen aus der Bundesbank hätten die Devisenmärkte zu den Reaktionen gegen das Pfund ermutigt. Auch habe sich in der Regierung der Eindruck verfestigt, dass die Bundesbank bei der Stützung des Franc engagierter und variantenreicher vorgegangen sei als für das Sterling eine Woche zuvor.“ Vgl. DB Nr. 1877; B 52, ZA-Bd. 173736. 10 Mit Schreiben vom 29. September 1992 an Botschafter Freiherr von Richthofen, London, übermittelte Bundesbankpräsident Schlesinger „die erbetene neue Fassung der Stellungnahme zu Vorwürfen aus Kreisen der britischen Regierung, welche ich Ihnen am 25. September übersandt habe. Die neue Fassung kann von Ihnen und Ihren Mitarbeitern in Gesprächen mit der britischen Presse verwendet werden.“ Vgl. B 52, ZA-Bd. 173736. 11 Botschafter Freiherr von Richthofen, London, berichtete am 25. September 1992, in der Debatte des britischen Unterhauses am Vortag habe der britische FM Lamont „in polemischen und ehrverletzenden Worten Bundesbankpräsident Schlesinger die Hauptschuld für die schwere Pfundkrise“ gegeben und ihn für die Krise im EWS verantwortlich gemacht: „Anders als PM Major hat Schatzkanzler Lamont seine politische Überlebensstrategie auf eine gehässige Verleumdung des Präsidenten der Bundesbank,

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Der deutsche Botschafter sei vom Bundesbankpräsidenten geradezu gedrängt worden, seine Gegendarstellung in Großbritannien öffentlich zu machen. Schlesinger habe die gegen ihn gerichteten Angriffe nicht unbeantwortet lassen wollen. Die in Großbritannien zunächst bekannt gewordene Fassung des Schlesinger-Interviews mit dem Handelsblatt sei eine nicht freigegebene Fassung gewesen. In ihr fehlten wichtige Teile des OriginalInterviews. Das habe zu einem verzerrten Eindruck dessen geführt, was der Bundesbankpräsident tatsächlich gesagt habe. AM Hurd hob noch einmal hervor, wie gefährlich es zu diesem Zeitpunkt sei, die Stimmung noch weiter aufzuheizen. BM bestätigte, dass man alles unternehmen müsse, um die Dinge wieder auf das Normalmaß zurückzuführen.12 BM und AM Hurd einigten sich darauf, in dem nachfolgenden Pressegespräch nicht zu erwähnen, dass man sich ausschließlich mit dem Thema Europa und den deutschbritischen Beziehungen befasst habe. Aus psychologischen Gründen sei es ratsam, dies nur als einen Tagesordnungspunkt zu nennen. Beide einigten sich darauf, der Presse zu sagen, dass man außerdem über das Thema Jugoslawien und die GATT-Runde gesprochen habe. Das Gespräch endete um 15.05 Uhr. B 1, ZA-Bd. 178945

Fortsetzung Fußnote von Seite 1229 Dr. Schlesinger, aufgebaut, ,dessen Presseäußerungen, die nie glaubwürdig dementiert worden seien, den letzten, unwiderstehlichen Angriff der Devisenmärkte ausgelöst hätten‘. Seine Angriffe gegen die Bundesbank in einer Sitzung des Plenums des Unterhauses belasten das britisch-deutsche Verhältnis. […] Lamont sieht seine Überlebenschance offensichtlich am ehesten im Lager der Euroskeptiker gesichert.“ Vgl. DB Nr. 1871/1872; B 224, ZA-Bd. 187240. 12 Am 2. Oktober 1992 teilte Botschafter Freiherr von Richthofen, London, mit: „Nach Gesprächen am 30.9. mit BK Kohl, Präsident Mitterrand und Min[ister]präs[ident] Schlüter ist PM Major gestern innenpolitisch wieder in die Offensive gegangen. Nach mehrstündiger Kabinettsitzung am 1.10.1992 hat die Regierung ihren eindeutigen Willen bekundet, Maastricht-Ratifizierung voranzutreiben, möglichst noch vor Weihnachten Ausschussverfahren im Unterhaus wiederaufzunehmen, ohne auf Klärung der Ratifizierungsfrage durch Dänemark zu warten.“ Damit stelle der britische PM Major seine europapolitisch gespaltene Partei vor die Alternative „back me or sack me“. Letztlich führe er „den Tories damit Abgrund vor Augen, in den eine Desavouierung der europapolitischen Regierungslinie sie stürzen könne. Er baut darauf, dass sich Konservative nicht wie Lemminge verhalten werden.“ Eine offene Wunde bleibe allerdings das EWS. Major und AM Hurd „wissen, dass die neue Entschiedenheit zur Ratifizierung von Maastricht wenig überzeugend wirkt“, wenn die Abstinenz vom EWS „zum festen Bestandteil einer neuen ,britischen‘ Wirtschafts- und Währungspolitik erklärt würde“. Vgl. DB Nr. 1928; B 210, ZA-Bd. 162212.

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30. September 1992: Runderlass von Referat 221

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308 Runderlass des Referats 221 221-321.15/1 Fernschreiben Nr. 757 Plurez Betr.:

Aufgabe: 30. September 19921

Behandlung des Holocaust-Themas in den USA; hier: Ressortbesprechung unter Leitung StS Dr. Kastrup am 22.9.1992 im Auswärtigen Amt

Nachfolgend wird von StS gebilligter Vermerk über o. g. Ressortbesprechung übermittelt. Folgt Anlage Vermerk 1) Hintergrund der Besprechung ist die zunehmende Beschäftigung mit dem Holocaust in den USA: – Im April 1993 wird das Holocaust Memorial Museum (HMM) in Washington eröffnet.2 Unsere Bemühungen, das Museumskonzept durch eine Darstellung der deutschen Nachkriegsgeschichte zu ergänzen, sind erfolglos geblieben.3 – In einigen Städten ist die Einrichtung von Holocaust­Gedenkstätten geplant; immer mehr Bundesstaaten machen Holocaust-Unterricht zum Pflichtfach in den Schulen. – Die beiden „Maus“-Cartoons von Art Spiegelman4, in denen das Leben einer jüdischen Familie in Polen während des Nationalsozialismus dargestellt wird, standen monatelang auf der Bestsellerliste der New York Times. Vor diesem Hintergrund diente die Besprechung der Frage, wie wir uns gegenüber den Auswirkungen verhalten, die diese intensive Auseinandersetzung mit dem Holocaust in der gesamten US-Gesellschaft zeitigen wird. Ziel war ein erster Gedankenaustausch, nicht das Entwickeln fertiger Konzepte. 2) Folgende Punkte können als Ergebnis der Besprechung festgehalten werden: a) Die Arbeiten am Konzept des HMM sind beendet. Wir haben uns bemüht, unsere Position einzubringen, sind aber gescheitert. Weitere Versuche, auf die Gestaltung der Gedenkstätte Einfluss zu nehmen, sollten nicht unternommen werden. Es ist auch nicht sinnvoll, die Frage mit der israelischen Regierung aufzunehmen.5 Es wurde grundsätzlich zu erwägen gegeben, ob wir nicht jeglichen Versuch, unser Anliegen in die jüdischen Gedenkstätten einzubringen, unterlassen sollten. Es bestand jedenfalls Einvernehmen, dass wir in Zukunft eine Beteiligung nur dann in Betracht ziehen sollten, wenn wir dazu eingeladen werden. 1 Der Runderlass wurde von LRin I Sräga-König konzipiert. Hat VLR I Wagner am 30. September 1992 vorgelegen. 2 Zur Frage einer Teilnahme der Bundesregierung an der Eröffnung vgl. Dok. 363. 3 Zu einer möglichen Beteiligung an der Ausstellungsgestaltung vgl. Dok. 244. 4 Vgl. Art SPIEGELMAN: Maus: A survivor’s tale: My father bleeds history, New York 1986, sowie DERS.: Maus II : A survivorʼs tale : And here my troubles began, New York 1991. 5 Zur Frage einer Einschaltung der israelischen Regierung vgl. Dok. 249.

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30. September 1992: Runderlass von Referat 221

b) Das Thema Holocaust Memorial Center Detroit6 (finanzielle Förderung durch die Bundesregierung für einen Anbau, in dem unser Anliegen berücksichtigt wird) wurde zunächst zurückgestellt. Es handelt sich hierbei um einen Sonderfall, da der Anstoß von den Betreibern des Museums ausgegangen ist. c) Der Entwicklung, die durch das HMM ausgelöst wird, sollten wir jedoch nicht tatenlos zusehen. Unsere PÖA und kulturpolitische Programmarbeit muss das Ziel verfolgen, diese verengte Darstellung der deutschen Geschichte zu ergänzen durch ein breites Angebot zur Beschäftigung mit der deutschen Nachkriegsgeschichte. Solange allerdings unsere innenpolitische Realität den Eindruck vermittelt, dass wir nicht in der Lage sind, Ausländer gegen Angriffe rechtsradikaler Jugendlicher zu schützen7, wird es uns nicht leichtfallen, die Darstellung des Holocaust in den USA durch Hinweise auf die Realitäten in Nachkriegsdeutschland positiv zu ergänzen. d) Unsere PÖA-Aktivitäten dürfen nicht als Gegenreaktion auf das HMM erscheinen. Der Eindruck muss vermieden werden, wir wollten den Holocaust relativieren. e) Der Schwerpunkt muss auf einer langfristig angelegten Informationsarbeit liegen, die insbesondere auf Jugendliche ausgerichtet sein sollte. Positiv gewürdigt wurden dabei die bereits bestehenden Ansätze wie die Erarbeitung von ergänzenden Unterrichtsmaterialien zum Holocaust-Unterricht und die Einladungen an Holocaust­Lehrer nach Deutschland. Diese Instrumente sollen weiter eingesetzt und ausgebaut werden. Wichtig ist jedoch auch, andere vorhandene Instrumente unserer Öffentlichkeitsarbeit zu überprüfen, damit sie unserem Anliegen besser gerecht werden (Arbeit der Mittlerorganisationen und andere Programme, die die Bundesregierung in den USA fördert, wie GAPP8, American Institute for Contemporary German Studies, Polit. Stiftungen). f) Es sollten auch Überlegungen darüber angestellt werden, wie wir die meinungsbildenden Eliten informieren können (engere Zusammenarbeit mit jüdischen Organisationen, z. B. American Jewish Committee, finanzielle Zuschüsse für seriöse US-Fernsehprogramme, Pressegespräche). 3) Zum weiteren Vorgehen wurde beschlossen: – Ref. 221 und 012 (im Zusammenwirken mit BPA) entwickeln auf Grundlage der Besprechungsergebnisse einen Vorschlag, der auch an Politiker (ggf. für Diskussion im Auswärtigen Ausschuss) herangetragen werden kann. – Konsularkonferenz in Washington Ende Oktober soll das Thema aufnehmen. – Ein nächstes Treffen wird nach der Konsularkonferenz stattfinden. B 32, ZA-Bd. 179508 6 VLR I Wagner vermerkte am 10. September 1992: „Die Organisatoren des Holocaust Memorial Center in Detroit hatten in Aussicht gestellt, unser Anliegen einer Ergänzung der Ausstellung um eine Darstellung der deutschen Nachkriegsgeschichte in einem als Institute of the Righteous geplanten Anbau zum Museum zu berücksichtigen. Dazu wurde ein Antrag auf finanzielle Unterstützung durch die Bundesregierung gestellt. Das AA hat für die Haushaltsverhandlungen 1993 einen einmaligen Zuschuss von 4 Mio. DM beantragt. In den Verhandlungen mit dem BMF wurde der Antrag zugunsten anderer Projekte (Auschwitz) zurückgezogen.“ Es stelle sich die Frage, ob versucht werden solle, in den Haushaltsverhandlungen 1994 erneut einen Zuwendungsbetrag für das Museum einzubringen. Vgl. B 32, ZA-Bd. 179508. 7 Zu fremdenfeindlichen Gewalttaten in der Bundesrepublik vgl. Dok. 303, Anm. 14. 8 German American Partnership Program.

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1. Oktober 1992: Gespräch zwischen Kohl und Menem

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309 Gespräch des Bundeskanzlers Kohl mit dem argentinischen Präsidenten Menem 1. Oktober 19921 Der Bundeskanzler heißt Präsident Menem herzlich willkommen.2 Er freue sich über den politischen Erfolg des Präsidenten. In der Nachbarschaft Argentiniens sei die Sache allerdings eher dramatisch. Präsident Menem bejaht dies und fügt hinzu, Brasilien sei ein Land mit einem großen Potenzial, politisch stünden die Dinge nicht gut. Man müsse allerdings zugeben, dass die derzeitige Entwicklung sich im konstitutionellen Rahmen vollziehe.3 Früher hätte dies zu einem Staatsstreich geführt. Für ihn sei es eine große Freude, in Deutschland zu sein. Er sei jetzt schon zum dritten Male hier.4 Er wolle die Gelegenheit benutzen, um dem Bundeskanzler auch im Namen des argentinischen Volkes herzlich zu seinen erfolgreichen zehn Amtsjahren zu gratulieren. Der Bundeskanzler bedankt sich und erklärt, wir durchlebten eine dramatische Zeit der Veränderungen. In den letzten Jahren sei in Europa und in Deutschland mehr passiert als sonst in einem ganzen Jahrhundert. Zudem habe es den Anschein, dass in der europäischen Politik am Ende dieses Jahrhunderts endlich die Vernunft Oberhand gewinne. Präsident Menem stimmt dem zu und erklärt, auch in Lateinamerika änderten sich die Dinge schnell. Dort bereite man sich – ähnlich wie in Europa – auf einen Prozess der Integration vor, und zwar nicht nur zwischen den Regierungen, sondern auch zwischen den Völkern. Die Lage in Argentinien sei heute stabil. Er glaube auch nicht, dass die Schaffung des „Mercosur“5 von den Ereignissen in Brasilien beeinträchtigt werde, denn hinter dieser Entwicklung stünden die Völker der beteiligten Länder. 1 Kopie. Der Gesprächsvermerk wurde von MD Hartmann, Bundeskanzleramt, am 8. Oktober 1992 gefertigt und über BM Bohl an BK Kohl geleitet. Dazu vermerkte er: „Ich gehe davon aus, dass der Vermerk nicht weitergeleitet wird.“ Hat Bohl am 9. Oktober 1992 vorgelegen. Hat Kohl vorgelegen, der den Rücklauf an Hartmann verfügte und handschriftlich vermerkte: „Ja.“ Ferner notierte er: „I[n] O[rdnung].“ Hat Hartmann am 13. Oktober 1992 erneut vorgelegen. Vgl. den Begleitvermerk; BArch, B 136, Bd. 59736. 2 Der argentinische Präsident Menem hielt sich vom 30. September bis 3. Oktober 1992 in der Bundesrepublik auf. 3 Botschafter Wallau, Brasilia, berichtete am 2. Oktober 1992, der brasilianische Präsident Collor de Mello habe am selben Tag das vom Präsidenten des Senats und vom Präsidenten des Obersten Gerichtshofs unterzeichnete Dokument entgegengenommen, „das ihn wegen des gegen ihn im Senat eingeleiteten Verfahrens wegen Amtsvergehens des Amtes enthebt“. Vizepräsident Franco habe als amtierender Präsident die Staatsgeschäfte übernommen. Vgl. DB Nr. 760; B 33, ZA-Bd. 159120. 4 Referat 330 notierte am 4. April 1991: „BK traf mit Menem, seinerzeit noch Präsidentschaftskandidat, kurz am 7.11.1988 im Anschluss an dessen Gespräch mit Chef BK zusammen.“ Vgl. B 33, ZA-Bd. 159067. Als Präsident besuchte Menem die Bundesrepublik vom 8. bis 12. April 1991. 5 Am 26. März 1991 beschlossen Argentinien, Brasilien, Paraguay und Uruguay mit dem Vertrag von Asunción die Schaffung eines gemeinsamen Marktes (Mercado Común del Sur, Mercosur). Für den Vertrag einschließlich der zugehörigen Dokumente vgl. UNTS, Bd. 2140, S. 257–359.

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Der Bundeskanzler erklärt, wir unterstützten nachdrücklich die Bemühungen um eine stärkere wirtschaftliche Integration im Rahmen des Mercosur. Er sei überzeugt, dass diese Entwicklung in naher Zukunft Früchte tragen werde. Er wolle kurz ein paar Bemerkungen zur Entwicklung in Europa machen. Er habe gerade dem französischen Präsidenten Mitterrand am Telefon gesagt, dass der europäische Zug weiterfahren werde und niemand ihn aufhalten könne. Wir wollten aber weder Großbritannien noch Dänemark aus der Gemeinschaft hinausdrängen. Auch der Zeitplan sei nicht das eigentliche Problem, vorausgesetzt, es gehe um Monate und nicht um Jahre. Die Welt gehe nicht unter, wenn der Maastrichter Vertrag später als vorgesehen in Kraft trete.6 Der Binnenmarkt könne allerdings nur dann funktionieren, wenn die Wirtschaftsunion durch eine Politische Union ergänzt werde. Ab Januar 1993 werde die EG in Beitrittsverhandlungen mit Österreich, Schweden und Finnland und je nach der dortigen Entscheidung auch mit Norwegen und der Schweiz eintreten.7 Der Beitritt könne dann möglicherweise 1995 erfolgen. Diese Entwicklung sei auch für Lateinamerika und Argentinien wichtig, und er empfehle nachdrücklich, die Beziehungen zur EG zu intensivieren und auch auf eine engere Beziehung zwischen der EG und dem Mercosur hinzuarbeiten. Präsident Menem stimmt lebhaft zu und erklärt, er habe heute in einem Gespräch mit Vertretern des DIHT Argentinien als Eingangstor für den Mercosur empfohlen, und in der Tat sei es sehr wichtig, die Beziehungen zwischen EG und Mercosur zu entwickeln. Dies könne unbeschadet der weiteren Entwicklung der bilateralen Beziehungen, beispielsweise zwischen Deutschland und Argentinien, geschehen. Die Beziehungen von Region zu Region seien zukunftsträchtig. Der Bundeskanzler stimmt zu und erklärt, er habe immer diese Auffassung vertreten. Vor zehn Jahren sei eine solche Entwicklung noch nicht möglich gewesen, zum einem wegen der Lage in Argentinien, zum anderen, weil eine Reihe Mitgliedstaaten der EG besondere koloniale Beziehungen, beispielsweise nach Afrika, gepflegt hätte. Inzwischen habe sich durch den Beitritt Portugals und Spaniens8 das Bild geändert. Hinzu komme die gewaltige positive Veränderung in Lateinamerika. Präsident Menem erklärt, bei der Entwicklung des Mercosur orientiere man sich stark an den bisherigen europäischen Erfahrungen. Lateinamerika habe gegenüber Europa den großen Vorteil, dass es keine kriegerische Vergangenheit habe und es außerdem keine wesentlichen sprachlichen und religiösen Verschiedenheiten gebe. Lateinamerika habe auch nicht das Problem massiver Einwanderungen, dem sich Europa derzeit gegenübersehe. Man habe zwar offene Grenzen, aber sei von den Unruheherden in Mittel- und Osteuropa weit entfernt. Natürlich habe man nach wie vor mit Schwierigkeiten zu kämpfen. So fühle sich Argentinien durch die Agrarpolitik der USA und der EG und die damit verbundenen Subventionen beschwert. Der Wunsch Argentiniens sei, dass man seitens der EG jetzt die Wirtschaftspolitik der Liberalisierung und Deregulierung honoriere. Er hoffe vor allem, dass die noch bestehenden Schwierigkeiten im GATT ausgeräumt würden. 6 Zum Inkrafttreten des Vertrags vom 7. Februar 1992 über die Europäische Union vgl. Dok. 300, Anm. 5. 7 Die EG nahm am 1. Februar 1993 Beitrittsverhandlungen mit Finnland, Österreich und Schweden auf. Die Beitrittsverhandlungen mit Norwegen begannen am 5. April 1993. Vgl. AAPD 1993. 8 Der EG-Beitritt Portugals und Spaniens erfolgte am 1. Januar 1986.

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Der Bundeskanzler erklärt, er habe über diese Frage sowohl mit Präsident Bush als auch mit Präsident Delors gesprochen.9 Nach seinem Eindruck wolle Präsident Bush noch vor den Wahlen10 einen Durchbruch schaffen. Weitere Gespräche sollten schon in Kürze stattfinden. Er dränge gegenüber Brüssel auf einen Kompromiss, allerdings müssten sich auch die Amerikaner bewegen. Seines Erachtens sei es ein Fehler gewesen, die GATTVerhandlungen nicht schon früher abzuschließen. Präsident Menem stellt die Frage, wann mit einem Abschluss zu rechnen sei. Der Bundeskanzler erwidert, wenn beide Seiten tatsächlich wollten, könne man sich noch im Oktober in den Grundsatzfragen einigen. Die dann noch zu klärenden technischen Fragen könne man allerdings nicht so rasch lösen. Jetzt brauche man einen politischen Durchbruch. Zu einem Ergebnis bei GATT gebe es keine Alternative. Alle brauchten einen Durchbruch im GATT – die Industrieländer wie die Länder der Dritten Welt. Es hätte schon in München11 zu einem Abschluss kommen können. Dies sei aber wegen des Referendums in Frankreich12 nicht möglich gewesen. Die Reform der Agrarpolitik in der Gemeinschaft13 habe auch für Deutschland erhebliche Probleme mit sich gebracht. Wir würden aber noch größere Probleme haben, wenn die Weltwirtschaft nicht wieder anspringe. Präsident Menem erklärt, auch er habe mit Bush, Mitterrand und Delors über GATT gesprochen.14 Argentinien habe wichtige Vorleistungen erbracht. Er wolle nur an das Nichtverbreitungsabkommen über C-Waffen15 und an die Vereinbarung mit der IAEO16 erinnern. Jetzt erwarte man von den Industriestaaten eine konstruktive Antwort bei GATT. Der Bundeskanzler erklärt, der Präsident könne davon ausgehen, dass er alles versuchen werde, um bei GATT zu einem Ergebnis zu kommen. Er werde Präsident Menem über den aktuellen Stand der GATT-Verhandlungen unterrichten, wenn die Dinge nach vorne kämen. Präsident Menem erklärt, er würde es sehr begrüßen, wenn der Bundeskanzler ihn in diesem Schreiben auch wissen ließe, was Argentinien und der Mercosur tun könnten, um die Dinge voranzubringen. Der Bundeskanzler erklärt, man müsse jetzt weit in die Zukunft schauen. Dies gelte auch für Deutschland, wo wir schwierige Probleme zu bewältigen hätten. Dabei seien die 9 Vgl. das Telefongespräch des BK Kohl mit EG-Kommissionspräsident Delors am 22. Juni 1992; Dok. 185. Vgl. ferner das Gespräch Kohls mit dem amerikanischen Präsidenten Bush am 6. Juli 1992 in München; Dok. 208. 10 In den USA fanden am 3. November 1992 Präsidentschaftswahlen, Wahlen zum Repräsentantenhaus sowie Teilwahlen zum Senat und für die Gouverneursämter statt. 11 Zum Weltwirtschaftsgipfel vom 6. bis 8. Juli 1992 vgl. Dok. 225. 12 Zum Referendum am 20. September 1992 in Frankreich vgl. Dok. 293 und Dok. 300. 13 Zur Reform der GAP vgl. Dok. 135, Anm. 5. 14 Vom 13. bis 19. November 1991 hielt sich der argentinische Präsident Menem in den USA auf. Für sein Gespräch mit Präsident Bush am 14. November 1991 in Washington vgl. https://bush41library.tamu. edu/archives/memcons-telcons. Vom 14. bis 16. Februar 1992 besuchte Menem Belgien und die EG-Kommission. Vom 17. bis 19. Februar 1992 hielt er sich in Frankreich auf. 15 Zur Aushandlung einer CW-Verbotskonvention, an der auch Argentinien beteiligt war, vgl. Dok. 277. 16 Zum vierseitigen Sicherungsabkommen vom 13. Dezember 1991 vgl. Dok. 225, Anm. 48.

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1. Oktober 1992: Gespräch zwischen Kohl und Menem

Probleme in Ostdeutschland nicht in erster Linie ökonomischer, sondern vor allem psychologischer Natur. Präsident Menem erklärt, auch in Argentinien sei es so, dass die Veränderungen nicht auf jedermanns Beifall träfen. Aber er sei überzeugt, dass sich die Argentinier den Veränderungen anpassten. Der Bundeskanzler fragt nach der Stellung des argentinischen Militärs. Präsident Menem erwidert, es gebe in diesem Bereich keine Probleme mehr. Die Streitkräfte seien voll in den demokratischen Prozess integriert. Sie hätten auch akzeptiert, dass er die Zahl der Generäle und Offiziere drastisch reduziert habe. Auch habe er die den Militärs unterstehenden Unternehmungen privatisiert. Es sei ein großer Erfolg für ihn, dass die Militärs hierbei mitgemacht hätten. Argentinien habe Truppen in den Golf entsandt. Derzeit stünden 1000 Offiziere und Soldaten – alles Freiwillige – in Kroatien. Der Bundeskanzler erkundigt sich nach dem Schicksal der früheren Juntamitglieder Videla und Massera. Präsident Menem erwidert, beide seien jetzt im Zivilleben. Er habe beide wie auch andere Offiziere begnadigt und aus den Streitkräften entlassen. Damit habe man eine innere Befriedigung in Argentinien erreicht. Der Bundeskanzler erklärt, dies sei eine große Leistung. Eines unserer Probleme in Ostdeutschland betreffe die früheren Stasi-Angehörigen und sonstige Spitzenfunktionäre der SED. Hier müsse man zum inneren Frieden finden. Aber dies brauche Zeit. Der Bundeskanzler spricht abschließend die Frage einer engeren Zusammenarbeit der Peronistischen Partei mit der Christdemokratischen Internationalen an. Er habe hierüber kürzlich mit Eduardo Frei gesprochen und wolle Präsident Menem ausdrücklich sagen, dass er eine solche Zusammenarbeit unterstütze, falls der Präsident dies wünsche. Präsident Menem erklärt, die Idee hierzu stamme von ihm persönlich. Er habe bereits enge Kontakte zu christdemokratischen Führungspersönlichkeiten in Lateinamerika hergestellt. Er habe über die Frage auch mit Frei und Aylwin gesprochen und werde heute Nachmittag dieses Thema auch in der Konrad-Adenauer-Stiftung behandeln. Er und seine Partei seien an einer solchen Zusammenarbeit sehr interessiert. Der Bundeskanzler wiederholt seine Bereitschaft, dies nach Kräften zu unterstützen. BArch, B 136, Bd. 59736

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1. Oktober 1992: Vermerk von Chrobog und Wagner

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310 Vermerk des Ministerialdirektors Chrobog und des Vortragenden Legationsrats I. Klasse Wagner 221-321.15-223/92 VS-vertraulich Betr.:

1. Oktober 19921

Treffen der Politischen Direktoren2 im kleinen Kreis am 25.9.1992 in New York

Vermerk Hauptthemen des Treffens der vier Politischen Direktoren am 25.9.1992 in New York waren – das frühere Jugoslawien, – das Verhältnis NATO/WEU, – Russland und die anderen Neuen Unabhängigen Staaten. Daneben wurden folgende Themen behandelt: – das CW-Verbotsabkommen, – Türkei, – Fragen der Vereinten Nationen, – KSZE-Fragen, – Irak. Chrobog 1) Früheres Jugoslawien a) US führte zu Bosnien-Herzegowina Folgendes aus: – Humanitäre Hilfe muss angesichts