Das Volk gegen die (liberale) Demokratie [1. ed.] 9783848745319, 9783845287843


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German Pages 332 [334] Year 2017

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Das Volk gegen die (liberale) Demokratie? Die Krise der Repräsentation und neue populistische Herausforderungen
I. Zur Ideengeschichte des Populismus
»Demos, ich bin dein Freund...« – Populismen in Antike und Gegenwart
Die aktuelle Krise der Demokratie und der populistische Schmerzensschrei
Die Kritik der liberalen Gesellschaft und die ambivalente Rolle des ›Volkes‹
II. Populismus als Revolte gegen die liberale Demokratie: Aktuelle Formen
Ungarns rechtsnationale Wende als reaktionäre Mitte-Utopie. Soziokultureller Wandel nach 1989 und die adaptive Politik des Fidesz
Attraktion und Repulsion. AnhängerInnen rechts- und linkspopulistischer Parteien im europäischen Vergleich
Entfremdung, Empörung, Ethnozentrismus. Was PEGIDA über den sich formierenden Rechtspopulismus verrät
III. Populismus als Krisensymptom: Politische Transformationen und gesellschaftliche Kontexte
Die rechtspopulistische Hydraulik der Sozialdemokratie. Zur politischen Soziologie alter und neuer Arbeiterparteien
Die gereizte Mitte. Soziale Verwerfungen und politische Artikulationen
Rechtspopulismus, Etablierte und Außenseiter. Emotionale Dynamiken sozialer Deklassierung
Populistische Popkultur – Warum die Band Frei.Wild ein Verunsicherungsphänomen darstellt
IV. Theorie des Populismus: Das Verhältnis zur Demokratie
Invocatio Populi. Autoritärer und demokratischer Populismus
»Heartland« oder: Die Kritik der infamen Bürger
Populismen in Europa: Nicht per-se antidemokratisch, sondern antiliberal
Zusammenfassungen und Summaries
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
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Das Volk gegen die (liberale) Demokratie [1. ed.]
 9783848745319, 9783845287843

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Dirk Jörke | Oliver Nachtwey [Hrsg.]

Das Volk gegen die (liberale) Demokratie Leviathan Sonderband 32 | 2017

Nomos

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-8487-4531-9 (Print) ISBN 978-3-8452-8784-3 (ePDF)

1. Auflage 2017 © Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2017. Gedruckt in Deutschland. Alle Rechte, auch die des Nachdrucks von Auszügen, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

Leviathan Jahrgang 45 · Sonderband 32 · 2017

Inhaltsübersicht Dirk Jörke und Oliver Nachtwey Das Volk gegen die (liberale) Demokratie? Die Krise der Repräsentation und neue populistische Herausforderungen ...................................................................

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I. Zur Ideengeschichte des Populismus Michael Sommer »Demos, ich bin dein Freund...« – Populismen in Antike und Gegenwart ................

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John P. McCormick Die aktuelle Krise der Demokratie und der populistische Schmerzensschrei ..............

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Tobias Müller Die Kritik der liberalen Gesellschaft und die ambivalente Rolle des ›Volkes‹ .............

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II. Populismus als Revolte gegen die liberale Demokratie: Aktuelle Formen Klaudia Hanisch Ungarns rechtsnationale Wende als reaktionäre Mitte-Utopie. Soziokultureller Wandel nach 1989 und die adaptive Politik des Fidesz ........................................

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Werner Krause, Marcus Spittler und Aiko Wagner Attraktion und Repulsion. AnhängerInnen rechts- und linkspopulistischer Parteien im europäischen Vergleich ............................................................................ 106 Hans Vorländer, Maik Herold und Steven Schäller Entfremdung, Empörung, Ethnozentrismus. Was PEGIDA über den sich formierenden Rechtspopulismus verrät ............................................................ 138

III. Populismus als Krisensymptom: Politische Transformationen und gesellschaftliche Kontexte Dirk Jörke und Oliver Nachtwey Die rechtspopulistische Hydraulik der Sozialdemokratie. Zur politischen Soziologie alter und neuer Arbeiterparteien .................................................................... 163

6 Heinz Bude und Philipp Staab Die gereizte Mitte. Soziale Verwerfungen und politische Artikulationen .................. 187 Cornelia Koppetsch Rechtspopulismus, Etablierte und Außenseiter. Emotionale Dynamiken sozialer Deklassierung............................................................................................ 208 Martin Seeliger Populistische Popkultur – Warum die Band Frei.Wild ein Verunsicherungsphänomen darstellt ................................................................................................... 233

IV. Theorie des Populismus: Das Verhältnis zur Demokratie Kolja Möller Invocatio Populi. Autoritärer und demokratischer Populismus .............................. 257 Olaf Jann »Heartland« oder: Die Kritik der infamen Bürger .............................................. 279 Claire Moulin-Doos Populismen in Europa: Nicht per-se antidemokratisch, sondern antiliberal .............. 303

Zusammenfassungen und Summaries .............................................................. 322 Verzeichnis der Autorinnen und Autoren ......................................................... 331

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Dirk Jörke und Oliver Nachtwey

Das Volk gegen die (liberale) Demokratie? Die Krise der Repräsentation und neue populistische Herausforderungen

War Populismus bis vor wenigen Jahren überwiegend ein Nischenthema innerhalb der Politikwissenschaft, so hat sich dies mittlerweile rapide verändert. Gerade in Deutschland gibt es eine Welle neuer Publikationen, und die betrifft sowohl den populärwissenschaftlichen Büchermarkt als auch sozialwissenschaftliche Texte. Dass nun auch in Deutschland mit der AfD eine als rechtspopulistisch einzuschätzende Partei in die Landtage und den Bundestag einziehen konnte und mit PEGIDA eine Form des Bürgerprotestes gegen »den Islam« und gegen »die Eliten« zu ihrer Hochphase Ende 2014/Anfang 2015 nicht nur bis zu 25.000 Menschen in Dresden mobilisieren konnte, sondern auch kurzfristig über Ableger in anderen Städten verfügte, hat viele Beobachter schockiert und bisweilen starke Reaktionen hervorgerufen. Der Aufstieg populistischer Politik ist jedoch nicht auf Deutschland beschränkt. Hinzu traten in jüngerer Zeit das erfolgreiche Referendum über den Brexit, die Wahl von Donald J. Trump, die Zuwächse rechtspopulistischer Parteien in West- und Nordeuropa sowie der zunehmende Autoritarismus in Polen und Ungarn. Und auch in Südeuropa konnten populistische Parteien in den vergangenen Jahren Erfolge erzielen, wobei es sich allerdings größtenteils nicht um einen rechten, sondern um einen linken Populismus handelt. Was motiviert immer mehr Menschen, diese Parteien, die sich gegen die liberale Demokratie richten, zu wählen? Um welche Menschen handelt es sich, die für populistische Mobilisierungen offen sind? Sind es die »Abgehängten« oder haben wir es mit einem »Populismus der Mitte« zu tun? Warum wenden sich Bürgerinnen und Bürger demokratischer Regime ausgerechnet jenen Parteien zu, deren Programmatik darin zu bestehen scheint, demokratische Institutionen und Werte außer Kraft zu setzen? Droht damit nicht ein erneuter Rückfall in den Faschismus, und wie ließe sich dem entgegenwirken? Inwieweit ist der Anspruch der Populisten, die »wahre« Stimme des Volkes und damit eine genuin demokratische Kraft zu sein, zurückzuweisen? Wie lässt sich überhaupt das Verhältnis von Demokratie und Populismus fassen? Ist es möglich, zwischen einem schlechten, weil antipluralistischen Rechtspopulismus und einem guten Linkspopulismus, der zu Recht Missstände eines übersteigerten Neoliberalismus anprangert, zu unterscheiden? Oder sind beide Ausprägungen gleichermaßen abzulehnen? Es sind diese Fragen, die nicht nur in den Sozialwissenschaften seit einiger Zeit intensiv diskutiert werden, sondern auch die breitere Öffentlichkeit beschäftigen, wie der Blick ins Feuilleton der Zeitungen oder auch der Zwischenstopp in einer Bahnhofsbuchhandlung eindrucksvoll belegen. Der vorliegende Sonderband wird es nicht bis in die Bahnhofsbuchhandlungen schaffen, doch wir hoffen, für die sozialwissenschaftliche Debatte neue Anstöße zu geben. Auch wenn hier – wie üblich bei Sammelbänden, die ihren eigenen ProLeviathan, 45. Jg., Sonderband 32/2017, S. 7 – 17

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duktionsgesetzen unterliegen – unterschiedliche Perspektiven und auch unterschiedliche normative Positionen versammelt sind, so ist der Anspruch doch der, dass es sich insgesamt um Beiträge handelt, die neue Akzente setzen, neue Perspektiven eröffnen und vielleicht auch gewohnte normative Standards herausfordern. Es handelt sich mithin um Beiträge, die bei dem einen oder der anderen Widerspruch hervorrufen (sollen), bei einigen vielleicht aber auch offene Türen einrennen. Denn die gesellschaftliche wie auch die sozialwissenschaftliche Debatte über den Populismus hat sich in der Entstehungszeit dieses Bandes deutlich weiterentwickelt. Waren vor zwei Jahren noch eindeutig jene Beiträge in der Überzahl, die mit einem moralisierenden Gestus auf den neuen Populismus reagierten, so mehren sich in jüngerer Zeit Stimmen, die darüber hinausführen und etwa auf Veränderung der tradierten Muster politischer Repräsentation oder auch auf eine Allianz von Neoliberalismus und vermeintlich linken Kräften im Rahmen eines »progressiven Neoliberalismus« verweisen.1 Dennoch bleiben aus unserer Sicht viele der sozialwissenschaftlichen Antworten auf die populistische Herausforderung in zweierlei Hinsicht weiterhin unbefriedigend. Wie erwähnt, existieren mittlerweile zwar zahlreiche Veröffentlichungen und Studien über populistische Parteien und Bewegungen,2 doch die Erforschung der gesellschaftlichen Ursachen für die Abwendung wachsender Bevölkerungsgruppen von den Institutionen, Praktiken und Werten der liberalen Demokratie auf der einen Seite und die Untersuchung der mangelnden Integrationskraft der ehemaligen Volksparteien auf der anderen Seite sind bislang nur in Ansätzen zusammengeführt worden.3 Zudem fehlt es immer noch an gesellschaftstheoretischen Reflexionen des Populismus, vorherrschend sind stattdessen ethnografische4 oder demokratietheoretische5 Studien. Auch die normativen Antworten auf den Populismus können nicht überzeugen. Zwar sind sich viele, wenn nicht gar die meisten sozialwissenschaftlichen Beobachter darin einig, dass der Populismus die liberale Demokratie bedroht, zugleich wird von ihnen in der Regel aber auch das Ideal der liberalen Demokratie als grundlegend angenommen. Das wiederholte Mantra, dass die liberale, repräsentative Demokratie allen anderen politischen Systemen vorzuziehen sei, vermag ideenpolitisch vielleicht sinnvoll sein, verstellt aber zugleich den Blick auf die normativen und vor allem realen Defizite des politischen Liberalismus.6 Der Liberalismus hat gerade dadurch selbst illiberale, ja zuweilen sogar autoritäre Züge angenommen, da er keine Alternativen, insbesondere in der Wirtschafts- und Sozialpolitik für denk- und durchführbar erklärt.

1 Eribon 2016; Fraser 2017. 2 Unter anderem Mudde, Kaltwasser 2012; Decker, Henningsen, Jakobsen 2015; Kriesi, Pappas 2015; Torre, Arnson 2013; Abromeit et al. 2016. 3 Für eine erste Synthese bezüglich einer Neukonfiguration gesellschaftlicher Konfliktlinien vgl. Merkel 2017. 4 Hochschild 2016; Cramer 2016. 5 Urbinati 2014; Müller 2016. 6 Michéa 2014.

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Postmarxistische Theorien des Populismus7 auf der anderen Seite des ideenpolitischen Spektrums werden nicht nur aus liberaler Perspektive kritisiert, sondern flüchten angesichts der rechtspopulistischen Revolte in eine naiv erscheinende Beschwörung einer diffus bleibenden linken Zivilgesellschaft.8 Auch kann ihnen ein Formalismus vorgeworfen werden, der letztlich die Antwort auf die Frage nach dem Kriterium der Unterscheidung zwischen einem befürworteten linken und einem abgelehnten rechten Populismus schuldig bleibt.9 Vor diesem Hintergrund verfolgt der Sonderband erstens das Ziel, eine Debatte weiterzuführen, die nach den politischen wie gesellschaftlichen Ursachen des Populismus fragt und sich zunächst einer moralischen Verurteilung enthält. Es geht darum, den Populismus aus politikwissenschaftlicher, soziologischer und historischer Perspektive zu verstehen. Wie die Beiträge in diesem Band zeigen, herrscht zu dieser Frage keineswegs Einigkeit, ebenso wenig wie über die Frage, wer die zentralen Trägergruppen des neuen Populismus sind. Jenseits der Kontroversen zum Verständnis des Populismus gilt: Auch wenn man davon überzeugt ist, dass der Populismus schädlich ist für Pluralismus, Rechtstaatlichkeit und Gewaltenteilung, so ist mit dieser Überzeugung das Phänomen selbst nicht aus der Welt geschafft. Um dem Populismus demokratiepolitisch begegnen zu können, muss erstens noch mehr erforscht werden, was der Populismus über den Zustand westlicher Demokratien aussagt. Zweitens ist eine Neubewertung des Populismus jenseits liberaler Kritik und postmarxistischer Affirmation erforderlich. Vielleicht zeigt sich in ihm ein als legitim einzuschätzender Protest gegen die Verteilung von Macht und Lebenschancen im globalen Kapitalismus. Vielleicht steckt im Populismus ja das Potenzial für eine paradoxe Folge. Proteste können nach Luhmann als Kommunikationsmedien gesellschaftlicher Dysfunktionalitäten zur Stabilisierung dynamischer Gesellschaften beitragen. Kurzum ließe sich fragen, ob die populistische Herausforderung als paradoxe Folge möglicherweise sogar eine Demokratisierung der Demokratie insofern vorantreiben könnte, als dadurch bestehende Herrschaftsallianzen und -strukturen herausgefordert werden? Übersicht über die Beiträge 1. Zur Ideengeschichte des Populismus Populismus ist ein Phänomen der modernen Demokratie. Im strengen Sinne kann es ihn nur dort geben, wo die Legitimität der Herrschaftsausübung auf das »Volk« zurückgeführt wird, und zwar als alleinige Quelle. Ursache für den Ausbruch populistischer Revolten ist in diesen politischen Ordnungen die Kritik an einer zu großen Kluft zwischen dem Versprechen der Volkssouveränität auf der einen Seite und der faktischen Privilegierung spezifischer Gruppen auf der ande-

7 Laclau 2005; Mouffe 2005; Mouffe, Errejón 2016. 8 Jörke 2014. 9 Priester 2014. Leviathan, 45. Jg., Sonderband 32/2017

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ren Seite.10 Darin unterscheiden sich moderne Demokratien auch von der antiken Demokratie in Athen. Denn dort herrschte der demos unmittelbar, wenn auch um den Preis, dass das aktive Bürgerrecht einer exklusiven Gruppe vorbehalten war. Wie Michael Sommer in seinem Beitrag zeigt, gab es in Athen zwar Demagogen, jedoch insofern keinen Populismus, als es dort die konstitutive Spaltung zwischen »einfachem Volk« und »politischer Elite« zumindest in dem Sinne nicht gab, dass die Elite – die Rhetoren bzw. Demagogen – auf die Zustimmung des demos angewiesen waren. Anders hingegen im republikanischen Rom: Dort war die plebs zwar formal gleichgestellt, doch de facto in hierarchischen Klientelstrukturen eingebunden, die ihren Ausdruck auch in der spezifischen institutionellen Ordnung hatten, welche sich in vielerlei Hinsicht von derjenigen Attikas unterschied. Die plebs war nur als Spielball widerstreitender Eliten ein politischer Faktor, und als solcher hat sie zum Ende der römischen Republik an Bedeutung erheblich gewonnen. Vor allem Cicero wendete sich gegen die Popularen, und dies mit einer Argumentationsstrategie, die Sommer zufolge auch heute wieder bei politischen Eliten beliebt ist: Der moralischen Diskreditierung der Widersacher und einer damit verbundenen Verdrängung der sozialen Verwerfungen, die von den Popularen artikuliert wurden. Sommer schließt seinen Beitrag mit einem Plädoyer zur Rückkehr von Rom nach Athen in dem Sinne, dass der demos sich durch institutionelle Reformen auch in der modernen Demokratie den politischen wie ökonomischen Eliten nicht unterordnen muss. John P. McCormick greift ebenfalls auf die Institutionen der attischen Demokratie zurück sowie auf deren Aktualisierung bei Machiavelli, die er der modernen, repräsentativen Demokratie gegenüberstellt, welche zwar mehr demos, aber weniger kratos aufweise. Wie Sommer zeigt er sich davon überzeugt, dass es dort, wo demokratische Institutionen bestehen, keinen Populismus gibt. In modernen Wahldemokratien, die McCormick zufolge wesentlich oligarchische Züge aufweisen – er hat dabei insbesondere die Realität der USA vor Augen –, ist der Populismus jedoch die Kehrseite der etablierten Politik, und zwar größtenteils in einem manipulativen Sinne. Deshalb besitze der Populismus dann Legitimität, wenn er für einen Abbau oligarchischer Strukturen kämpfe, und zwar sowohl mit Blick auf ökonomische als auch politische Strukturen. Vor diesem normativen Hintergrund setzt sich McCormick im zweiten Teil kritisch mit der einflussreichen liberalen Populismuskritik von Nadia Urbinati11 auseinander, für die jegliche Form des Populismus demokratiegefährdend ist. Laut McCormick idealisiere Urbinati die Realität westlicher Demokratie jedoch und verkenne in der Konsequenz die progressiven Potenziale eines »linken« Populismus. Tobias Müller richtet ebenfalls den Blick in die USA, allerdings nicht auf die Gegenwart, sondern auf das populist movement während der 1880er und 1890er Jahre, also jener Bewegung überschuldeter Kleinfarmer, die als erste genuin populistische Revolte in der modernen Demokratie angesehen werden kann. Müllers Ausgangspunkt ist eine kritische Auseinandersetzung mit Jean-Claude Michéas 10 Jörke, Selk 2017. 11 Urbinati 2014.

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Schrift »Das Reich des kleineren Übels«, in der dieser eine scharfe Liberalismuskritik formuliert. Er kritisiert an Michéa jedoch weniger seine Kritik des ökonomischen wie politischen Liberalismus als einen letztlich naiven Rückbezug auf den Frühsozialismus, dem Müller eine »genuin antipolitische Haltung« vorwirft. Müllers These ist nun doppelter Natur. Zum einen argumentiert er, dass Michéa im Republikanismus von Thomas Jefferson und in dessen Verherrlichung des Common Sense einen geeigneteren Gewährsmann für sein Konzept der »common decency« finden könne. Zum anderen zeigt Müller sich aber auch davon überzeugt, dass Jeffersons und in der Konsequenz auch Michéas Ideal in der modernen Industriegesellschaft wenig plausibel ist und man gerade deshalb in der Absicht, dem realen Liberalismus zu begegnen, auf eine Form der Herrschafts- und Ökonomiekritik zurückgreifen müsse, wie sie im populist movement exemplifiziert worden sei. 2. Populismus als Revolte gegen die liberale Demokratie: Aktuelle Formen Das zentrale Merkmal des Populismus besteht darin, dass er polar zwischen der sozialen, wirtschaftlichen und politischen Elite auf der einen Seite sowie zwischen »der« Mehrheit bzw. »dem« Volk auf der anderen Seite unterscheidet. In seinem Politikstil lebt der Populismus davon, dass er das Establishment als insgesamt korrupt und das einfache Volk als rechtschaffenes Opfer dieser Haltung stilisiert. Ferner ist der Populismus häufig antiinstitutionell, antielitär, antiliberal und antisystemisch. Den in Europa vorherrschenden Rechtspopulismus zeichnet zudem die Abwehr von Fremden bis hin zum offenen Rassismus aus. Entsprechend wurden als »populistisch« vor allem diejenigen Parteien in Europa bezeichnet, die ethnozentristische, wohlstandschauvinistische und xenophobische Positionen vertreten. Seit den Wahlerfolgen von Syriza in Griechenland und Podemos in Spanien wird der Begriff vermehrt auch auf linke Parteien angewendet. Zudem lassen sich »populistische« Merkmale auch bei den sozialen Protestphänomenen der letzten Jahre finden, die nicht mehr in das Muster der neuen sozialen Bewegungen passen. Occupy, die spanische M-15-Bewegung oder auch PEGIDA – sie alle setzen das »Volk«, die »99 Prozent« oder »die« Mehrheit gegen die Politik der Eliten. Einige Bewegungen, wie etwa MoVimento 5 Stelle in Italien, die sogar ein parlamentarischer Faktor geworden ist, lehnen parlamentarische Politik als Ganzes ab. Und schließlich gibt es mit Ungarn und Polen zwei Staaten innerhalb der Europäischen Union, die sich zunehmend zu autoritären Regimen entwickeln. Auch wenn es nicht das Ziel sein kann, all diese populistischen Bewegungen, Parteien und Regime abzubilden, so sollen doch anhand exemplarischer Fälle Strukturmerkmale und Besonderheiten des Populismus herausgearbeitet werden – insbesondere mit Blick auf den mittlerweile etablierten conventional wisdom in der Populismusforschung. Was rechtfertigt es eigentlich, so unterschiedlichen Phänomenen wie Occupy, Podemos, dem Front National, der SVP und PEGIDA das Etikett »populistisch« anzuheften? Ist es lediglich die gemeinsame Artikulation einer Kluft zwischen den »korrupten Eliten« und dem »ehrlichen Volk«? Wie stehen diese unterschiedlichen Bewegungen bzw. Parteien zu den zentralen Institutio-

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nen und Werten der liberalen Demokratie? Und inwiefern finden sich trotz der offensichtlichen inhaltlichen Unterschiede Gemeinsamkeiten, etwa hinsichtlich des Elektorats? In Deutschland wird die ungarische Fidesz-Regierung unter der Führung von Ministerpräsident Viktor Orbán insbesondere wegen ihrer restriktiven Flüchtlingspolitik sowie ihren Kontroversen mit der Europäischen Union kritisiert. In ihrem Beitrag rekonstruiert Klaudia Hanisch den Aufstieg der Fidesz, ihre soziale Basis und insbesondere ihre Wirtschafts- und Sozialpolitik. Anders als die herkömmliche Osteuropa-Forschung, die vor allem auf das Erbe des Ostblocks fokussiert, zeigt sie, dass die Fidesz-Regierung als Reaktion auf den Wirtschaftsliberalismus der 1990er sowie auf die europäische Integration und Globalisierung gesehen werden muss. Fidesz hat einen bemerkenswert autoritären Umbau des demokratischen Systems vollzogen, allerdings hat sie sich, anders als in der politikwissenschaftlichen Standardtheorie zum Populismus, nicht in der Regierung unter den Zwängen der Realpolitik entzaubert, sondern eine Reihe wirtschafts- und sozialpolitischer Reformen durchgeführt. Diese Reformen – unter anderem die Einführung der von Globalisierungskritikern seit Langem geforderten Devisentransaktionssteuer – hatten vor allem die Stabilisierung der Mittelschicht zum Ziel. Fidesz kombinierte schließlich Maßnahmen, die eher zu traditionellen sozialdemokratischen Politikvorstellungen gehören, mit Elementen eines Workfare-Ansatzes. Viele der gängigen Kritiken am Populismus sehen eine hohe Übereinstimmung von rechts- und linkspopulistischen Parteien. Auch deren Anhänger werden oft in einen Topf geworfen. Bei den Wählern von populistischen Parteien konstatiert man häufig ein aus einem irrationalen Affekt heraus wucherndes Ressentiment. In ihrem Beitrag haben Werner Krause, Marcus Spittler und Aiko Wagner Anhänger rechts- und linkspopulistischer Parteien in Europa vergleichend untersucht und kommen zu aufschlussreichen Ergebnissen: Anhänger von rechts- wie auch linkspopulistischen Parteien sehen sich gleichermaßen von den etablierten Parteien nicht mehr vertreten. Aber gerade in Sachfragen sind sie sehr klar zu unterscheiden: Während sich die Anhänger von linkspopulistischen Parteien mehr Umverteilung wünschen und vorwiegend liberale Positionen bezüglich gleichgeschlechtlichen Ehen und Migration haben, zeichnen sich die Anhänger der rechtspopulistischen Parteien insbesondere durch die Ablehnung von Einwanderung aus. Die links/rechts Unterscheidung scheint trotz gegenteiliger Behauptungen auch bei populistischen Parteien und ihren Anhängern nach wie vor sinnvoll zu sein. Dies zeigt sich nicht zuletzt bei den PEGIDA-Protesten. Anhand dieser Demonstrationen, die über lange Zeit in Dresden stattfanden und bundesweit für Aufsehen gesorgt haben, untersuchen Hans Vorländer, Maik Herold und Steven Schäller soziodemografische Merkmale, Motive, Einstellungen und Wahrnehmungen einer Bewegung, die trotz ihrer regionalen Bezüge exemplarischen Charakter für den europäischen Rechtspopulismus hat. PEGIDA stellt dabei funktional die komplementäre soziale Bewegung zur AfD dar. In ihrem Beitrag untersuchen die Autoren, wie die Entfremdung vom politischen System zu Prozessen der Enthemmung in Empörungsbewegungen führen kann. Insbesondere der Eindruck, von den ökonomischen und politischen Eliten verachtet zu werden, trägt hierzu bei.

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Aber auch ein verbreitetes Ohnmachtsgefühl angesichts der oftmals behaupteten »Alternativlosigkeit« politischer Entscheidungen sowie eine verbreitete Angst vor Abstieg führen zu einem Protest, der von Ressentiments getragen wird. PEGIDA stellt dabei eine Bewegung dar, die für einen »Ethnozentrismus der Mitte« steht, der insbesondere von der kleinbürgerlichen Mittelschicht getragen wird. Der Ethnozentrismus betont die eigene kulturell bestimmte Identität gegenüber allem Fremden – gegen die Heterogenität einer Einwanderungsgesellschaft wird die christlich-abendländische Tradition ins Feld geführt. Deshalb verwundert es auch nicht, dass PEGIDA bereits vor Beginn der Flüchtlingsbewegung im politischen Feld aufgetaucht ist. 3. Populismus als Krisensymptom: Politische Transformationen und gesellschaftliche Kontexte Der neue Populismus entsteht im Kontext eines langfristigen Wandels der Parteiensysteme und der politischen Repräsentation einerseits, grundlegender gesellschaftlicher Veränderungen andererseits. Spätestens mit der Einführung des allgemeinen Wahlrechts zu Anfang des 20. Jahrhunderts hatten sich die europäischen Parteiensysteme mit konservativen, konfessionellen, liberalen und sozialistischen Parteien in ihren nationalen Varianten ausgebildet. Ungeachtet verschiedener Schwankungen blieben die einmal etablierten Strukturen des Parteienwettbewerbs über viele Jahrzehnte hinweg relativ stabil. Eine Tatsache, die zu der bekannten Feststellung führte, dass die westeuropäischen Parteiensysteme in den 1960er Jahren im Wesentlichen die Strukturen der 1920er Jahre reflektierten.12 Seit den 1990er Jahren hat sich diese Konstellation jedoch grundlegend verändert. Die Verschmelzung von Interessen und Ideen, von Weltanschauungen und Gesellschaftsentwürfen wurde zugunsten eines entideologisierten Pragmatismus aufgegeben. Man repräsentierte nicht mehr die eigene Klientel, vertrat nicht mehr die Interessen der Mitglieder, sondern maximierte die Wählerstimmen. Parteien, die sich in der Mitte verorten, teilen sich die Macht mit den anderen Kartellparteien auf, indem sie ihre ganze Energie dafür aufwenden, konkurrierende Parteien – links, rechts und libertär – aus dem Parlament und vor allem den Regierungen herauszuhalten, um somit ihre eigene Position zu festigen.13 Doch der Wandel des Parteiensystems erfolgte nicht in einem gesellschaftlichen Vakuum. Vielmehr steht er in Zusammenhang mit tiefgreifenden gesellschaftlichen Veränderungen, die mit den Schlagworten Individualisierung, Pluralisierung, Globalisierung und Ökonomisierung hier freilich nur angedeutet werden können. Im Kontext dieser Veränderungen muss nun auch der Populismus der jüngeren Zeit gesehen werden – als Folge eines Prozesses, der häufig mit Colin Crouch als »Postdemokratisierung« bezeichnet wird. Populismus wäre vor diesem Hintergrund also auch als eine Reaktion auf jene gesellschaftlichen und institutionellen Veränderungen zu sehen,

12 Lipset, Rokkan 1967. 13 Mair 2013. Leviathan, 45. Jg., Sonderband 32/2017

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Dirk Jörke und Oliver Nachtwey

die die Grundlagen der liberalen Demokratie untergraben.14 In diesem Teil geht es mithin auf einer gesellschaftstheoretischen Ebene um die Frage, inwieweit sich der Populismus als Reaktion auf diese gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen deuten lässt bzw. inwieweit diese Entwicklungen zum Verständnis der gegenwärtigen Welle des Populismus beitragen können. Dirk Jörke und Oliver Nachtwey beantworten diese Frage mit Blick auf den Wandel sozialdemokratischer Parteien und diskutieren den Zusammenhang der parteipolitischen Artikulation der sozialen Frage mit dem Aufstieg des Rechtspopulismus. Sozialdemokratische Parteien haben sich seit den 1970er Jahren in zweifacher Weise transformiert: Im Zeichen des globalen Siegeszugs des Neoliberalismus scheiterten ihre Versuche, eine politische Ökonomie der Umverteilung durchzusetzen. Später verabschiedete man sich auch programmatisch von diesem Ziel und fokussierte insbesondere auf Themen der Gleichberechtigung, die auch im Kontext des Neoliberalismus als durchsetzbar erschienen. In diesem Prozess verloren sie sukzessive die Unterstützung ihrer traditionellen Anhängerinnen und Anhänger. Gleichzeitig wendeten sich traditionelle rechtspopulistische Parteien von neoliberalen wirtschaftspolitischen Vorstellungen ab und wurden – allerdings in sozialchauvinistischer Form – zu stärkeren Befürwortern wohlfahrtsstaatlicher Politik. Die rechtspopulistischen Parteien konnten so in einigen Fällen als neue Repräsentanten von vor allem linksautoritären Wählergruppen reüssieren. Während sozialdemokratische Parteien ihre Rolle als Repräsentanten der Arbeiterschaft einbüßten, wurden die rechtspopulistischen Parteien nun zu den »neuen Arbeiterparteien«. Ein populistisches Ferment auch in den eher modernen und bürgerlichen Teilen der gesamten Gesellschaft diagnostizieren Heinz Bude und Philipp Staab in ihrem Beitrag. Auf der Basis einer historischen Darstellung der politischen Mehrheitsrepräsentation der Mitte zeigen sie, dass in der Gegenwart die Statussorgen der Mitte eine Offenheit für populistische Politikformen hervorrufen. Die Mitte sei politisch immer weniger gebunden und gleichzeitig durch den ökonomischen und sozialen Wandel einem enormen mikrosoziologischen Statusstress unterworfen. Dafür entwickeln sie eine Heuristik, die den Zusammenhang von Sozialstruktur, Status, Lebensführung und Protest zusammendenkt. Die Artikulationen von Statussorgen in sozialen Protestbewegungen untersuchen sie in typologisch angelegten Fallstudien zu den Bewegungen gegen Stuttgart 21, der Energiewende und der Flüchtlingspolitik. In diesen Bewegungen finden sie Strategien der Statusbewahrung ebenso wie der Statuspanik und Abwehr sowie der Navigation. Cornelia Koppetsch fragt in einer ähnlichen Perspektive nach den Entstehungsbedingungen und emotionalen Dynamiken, die die Etablierung rechtspopulistischer Parteien und Bewegungen im europäischen und US-amerikanischen Kulturraum möglich gemacht haben, und entwickelt eine klassen- und konflikttheoretische Begründung dafür, dass sich zivilgesellschaftlicher Protest gegen die kulturelle Hegemonie des Liberalismus in der Gegenwartsgesellschaft zunehmend am rechten Rand des politischen Spektrums formiert. Angesichts fortschreitender 14 Crouch 2008.

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Globalisierung und Neoliberalisierung diagnostiziert sie eine sozialpolitische und weltanschauliche Polarisierung der gesellschaftlichen Mitte, die sich in ein aufwärtsstrebendes liberales Lager kosmopolitischen Bürgertums und ein dadurch bedrängtes rechtspopulistisches Lager derjenigen aufspaltet, die sich in ihrem Selbstverständnis als privilegierte Majorität zunehmend an den Rand gedrängt fühlen. Epizentrum dieser Auseinandersetzung scheint angesichts der vergleichbaren sozioökonomischen Merkmale beider Lager weniger eine ungerechte Güterverteilung als der Verlust lebensweltlicher Sicherheiten in traditionellen Milieus zu sein. Der Rechtspopulismus wird von Koppetsch als reaktionäre Bewältigungsstrategie dieser kulturellen Verwerfungen verstanden. Ähnlich argumentiert auch Martin Seeliger, wenn er die stärkere Präsenz populistischer Politikvertreter und Vertretungsstile auf anwachsende soziale Spannungen und Momente habitueller Verunsicherung zurückführt und eine popkulturelle Repräsentation dieser krisenhaften Transformationen – die Kontroverse um die vermeintlich rechtsradikale Band Frei.Wild – zum Gegenstand seiner Analyse macht. Für Seeliger ist Frei.Wild ein ernst zu nehmendes Krisenphänomen, das unter Bedingungen der Abstiegsgesellschaft ein kompensatorisches Angebot für eine dreifach verunsicherte und politisch unterrepräsentierte Zuhörerschaft hervorbringt, die in den rechtspopulistischen und reaktionären Sinngehalten die mangelnde Ressource individueller und kollektiver Identitätsbildung findet. Seine Analyse mündet in der Frage, warum es der politischen Linken – trotz ihres egalitären Selbstverständnisses – in Krisensituationen nicht in gleicher Weise gelingt, diejenigen, die sich benachteiligt fühlen, zu repräsentieren. Der Diskurs rund um Frei.Wild und deren Anhängerschaft ist laut Seeliger dafür insofern symptomatisch, als sich in ihm vor allem Verachtung und symbolische Exklusion derartiger Repräsentationsformen kundtut. Im Sinne einer emanzipatorischen Linken plädiert Seeliger demgegenüber dafür, die Verunsicherungen konstruktiv in das eigene politische Projekt aufzunehmen. 4. Theorie des Populismus: Das Verhältnis zur Demokratie Die jüngste Welle des Populismus hat eine intensive demokratietheoretische Debatte über das Verhältnis von Demokratie und Populismus hervorgerufen. Wie erwähnt, prägten dabei vor allem liberale und postmarxistische Ansätze den wissenschaftlichen wie öffentlichen Diskurs. Ziel des letzten Teils dieses Bandes ist es, über diese Frontstellung hinauszukommen. Gefragt werden soll insbesondere danach, ob sich aus politiktheoretischer Perspektive Antworten auf die populistische Herausforderung finden lassen, die nicht bei der Beschwörung der Überlegenheit der liberalen Demokratie oder der postmarxistischen Gleichsetzung von Populismus und Demokratie stehen bleiben. Ist der Populismus wirklich das Andere der Demokratie, ihre schmutzige Seite, oder werden im Populismus nicht vielmehr genuin demokratische Forderungen artikuliert, und könnte das vielleicht dazu motivieren, nicht immerfort den »demokratischen« Charakter westlicher politischer Systeme zu beschwören? Und ist es nicht gerade der Populismus, welcher die postdemokratische Konstellation an-

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Dirk Jörke und Oliver Nachtwey

prangert und dadurch vielleicht auch zu überwinden vermag? Oder muss doch der liberalen Kritik zugestimmt werden, dass sich im Populismus notwendig ein antipluralistisches und insofern höchst demokratiefeindliches Politikverständnis artikuliert? Die in diesem Teil versammelten Beiträge werden keine abschließenden Antworten auf diese Fragen liefern, aber vielleicht vermeintliche Gewissheiten in Frage stellen können. Vor dem Hintergrund des Aufkommens vielgestaltiger Populismen in den politischen Systemen der demokratischen Verfassungsstaaten und der damit einhergehenden Kontroverse über ihr Verhältnis zur Demokratie stellt Kolja Möller die Frage nach der spezifischen Funktions- und Konstitutionsweise populistischer Politikformen. Für Möller läuft die durch den politischen Liberalismus hervorgebrachte Pauschalkritik am Populismus in die Irre, da sie die negativ-kontestatorische Funktion derartiger Politikformen verkennt und die sich in ihnen artikulierende Entgegensetzung von »Volk« und »Elite« durch abstrakte Verfahren und Institutionen der Willensbildung zu ersetzen sucht. Einer solchen Lesart hält er ein postmarxistisches Populismusverständnis entgegen: Der Populismus sei seinem Potenzial nach eine der Demokratie immanente Artikulationsform der Machtunterworfenen, sich als Volk zu konstituieren und gegen immerwährende Machtkonzentration zu positionieren. Unter dem Gesichtspunkt der graduell variierenden Reflexivität und Ausprägung dieses Strukturmerkmals lassen sich für Möller demokratische und autoritäre Populismen – der Form und nicht der Sache nach – unterscheiden. Die öffentliche Debatte um den Populismus wird häufig in polemischer Form geführt. Gegen die öffentliche und wissenschaftliche Stigmatisierung jeglicher populistischen Artikulation schreibt Olaf Jann an. Mit Bezug auf die Arbeiten von Michel Foucault und Antonio Gramsci analysiert er die symbolische Ordnung des Diskurses um Populismus aus konflikt- und elitensoziologischer Perspektive. Es sei ein Konflikt um die Politik der Wahrheit: Der Diskurs um die Frage, was Populismus sei, ist demnach auch ein Konflikt um Hegemonie, bei dem sich die Eliten auf der einen Seite gegen rebellierend-demokratische Ansprüche der Bevölkerung immunisieren. Indem die gegenwärtigen Eliten – derzeit vor allem die liberalen und kosmopolitischen – ihre Position als einzig moralisch legitime darstellen, werden andere Sichtweisen aus dem Diskurs tendenziell ausgeschlossen, während zuweilen der ebenfalls populistische Charakter der Erzählung der Eliten verdeckt werde. Populismus ist für Jann daher keineswegs eine Pathologie demokratischer Systeme, sondern ein zentraler und beständiger Bestandteil ihrer politischen Praxis. Eine Kritik der Populismus-Kritiker formuliert auch Claire Moulin-Doos in ihrem Beitrag. Sie widerspricht insbesondere der Vorstellung, dass Populismus notwendigerweise auch antidemokratisch sein müsse. Populismus könne, müsse aber nicht antidemokratisch sein. Generisch sei er vor allem antiliberal. Populismus sei in erster Linie ein gegenhegemonialer Diskurs zur ökonomischen und moralischen Liberalisierung. Moulin-Doos kritisiert die europäische Konstellation als postdemokratisch und postpolitisch. Unter Rückgriff auf ideengeschichtliche Autoren begreift sie das aktuelle Herrschaftssystem nicht als Demokratie, sondern

Das Volk gegen die (liberale) Demokratie?

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als eine liberale Aristokratie. Dem politischen Liberalismus komme dabei die Funktion zu, dieses System zu legitimieren. Der im Populismus enthaltene kollektiv-politische Partikularismus sei als Teil des demokratischen Prozesses und Teil eines Konflikts um Alternativen zum moralischen Liberalismus zu verstehen. Um diese Position zu stützen, beruft sich Moulin-Doos auf Jacques Rancières Bekenntnis zur Gleichheit als »Axiom der Demokratie« und distanziert sich von Chantal Mouffe, der sie theoretische Inkonsistenzen vorwirft. Literatur Abromeit, John; Chesterton, Bridget M.; Marotta, Gary; Norman, York (Hrsg.) 2016. Transformations of Populism in Europe and the Americas. History and Recent Tendencies. New York: Bloomsbury. Cramer, Katherine J. 2016. The Politics of Resentment. Rural Consciousness in Wisconsin and the Rise of Scott Walker. Chicago, London: University of Chicago Press. Crouch, Colin 2008. Postdemokratie. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Decker, Frank; Henningsen, Bernd; Jakobsen, Kjetil (Hrsg.) 2015. Rechtspopulismus und Rechtsextremismus in Europa. Baden-Baden: Nomos. Eribon, Didier 2016. Rückkehr nach Reims. Berlin: Suhrkamp. Fraser, Nancy 2017. »Vom Regen des progressiven Neoliberalismus in die Traufe des reaktionären Populismus«, in Die große Regression. Eine internationale Debatte über die geistige Situation der Zeit, hrsg. v. Geiselberger, Heinrich, S. 77–91. Berlin: Suhrkamp. Hochschild, Arlie R. 2016. Strangers in their Own Land. Anger and Mourning on the American Right. A Journey to the Heart of Our Political Divide. New York, London: New Press. Jörke, Dirk 2014. »Die populistische Herausforderung der Demokratietheorie, oder unliebsame Gemeinsamkeiten zwischen deliberativen und agonistischen Modellen der Demokratie«, in Deliberative Demokratie in der Diskussion, hrsg. v. Landwehr, Claudia; SchmalzBruns, Rainer, S. 369-391. Baden-Baden: Nomos. Jörke, Dirk; Selk, Veith 2017. Theorien des Populismus – zur Einführung. Hamburg: Junius. Kriesi, Hanspeter; Pappas, Takis (Hrsg.) 2015. European Populism in the Shadow of the Great Recession. Colchester: ECPR Press. Laclau, Ernesto 2005. On Populist Reason. London: Verso. Lipset, Seymour M.; Stein, Rokkan 1967. Party Systems and Voter Alignments. Cross-National Perspectives. New York, London: The Free Press. Mair, Peter 2013. Ruling the Void. The Hollowing of Western Democracy. London: verso. Merkel, Wolfgang 2017. »Kosmopolitismus versus Kommunitarismus: Ein neuer Konflikt in der Demokratie«, in Parties, Governments and Elites. The Comparative Study of Democracy, hrsg. v. Harfst, Philipp; Kubbe, Ina; Poguntke, Thomas, S. 9-23. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. Michéa, Jean-Claude 2014. Das Reich des kleineren Übels. Über die liberale Gesellschaft. Berlin: Matthes & Seitz. Mouffe, Chantal 2005. »The ›End of Politics‹ and the Challenge of Right-wing Populism«, in Populism and the Mirror of Democracy, hrsg. v. Panizza, Francisco, S. 50-71. London: Verso. Mouffe, Chantal; Errejón, Īñigo 2016. Podemos. In the Name of the People. London: Lawrence & Wishart. Mudde, Cas; Kaltwasser, Cristóbal R. 2012. Populism in Europe and the Americas: Threat or Corrective for Democracy, Cambridge: Cambridge University Press. Müller, Jan-Werner 2016. Was ist Populismus? Berlin: Suhrkamp. Priester, Karin 2014. Mystik und Politik. Ernesto Laclau, Chantal Mouffe und die radikale Demokratie. Würzburg: Königshausen & Neumann. Torre, Carlos de la; Arnson, Cynthia C. (Hrsg.) 2013. Latin American Populism in the Twenty-First Century. Baltimore: Johns Hopkins University Press. Urbinati, Nadia 2014. Democracy Disfigured. Cambridge, London: Harvard University Press.

Leviathan, 45. Jg., Sonderband 32/2017

I. Zur Ideengeschichte des Populismus

Michael Sommer

»Demos, ich bin dein Freund...« – Populismen in Antike und Gegenwart1

Der ›Demagoge‹ ist seit dem Verfassungsstaat und vollends seit der Demokratie der Typus des führenden Politikers im Okzident. (Max Weber, Politik als Beruf, MWG I/17, S. 191)

Deutschland im Jahr 2017. Wer politisch satisfaktionsfähig sein will, hat Antipopulist zu sein. Der proklamierte Antipopulismus ist sozusagen zum kleinsten gemeinsamen Nenner des Berliner Verfassungsbogens geworden. Um Antipopulist sein zu können, braucht der Antipopulist den Populisten. Der Populist, so sieht es der Antipopulist, wirft wahlweise mit leeren Versprechungen um sich oder macht sich diffuse Angstgefühle zunutze, indem er Gefahrenszenarien dramatisiert und andere, vorzugsweise Randgruppen und Minderheiten, diabolisiert. Während international vom Mainstream als populistisch eingestufte Bewegungen im politischen Spektrum durchaus auch links stehen (Syriza in Griechenland, Podemos in Spanien, Smer-SD in der Slowakei, Sozialdemokraten in Tschechien, SP in den Niederlanden) oder politisch weitgehend amorph sein (MoVimento 5 Stelle in Italien) können, hat in Deutschland der Populismus vermeintlich nur ein Gesicht.2 Dementsprechend sind die quasi-kanonischen Epitheta, die für den Populisten in den politischen Sprachgebrauch eingesickert sind: Meist erscheint das Wort Populismus mit der Vorsilbe »Rechts-«,3 der Rechtspopulismus ist »unverantwortlich«, »menschenverachtend«, »widerwärtig«, gerne auch »zynisch«; bevorzugt garniert das Adjektiv »rechtspopulistisch« Wörter wie »Hetze«, »Stimmungsmache« oder gar »Gegeifer«. Ähnlich stigmatisierend ist auch das semantische Feld, mit dem man Zielgruppe und Auditorium der tatsächlichen oder vermeintlichen Rechtspopulisten beschreibt: »Abgehängte« oder »Wutbürger« sind noch die am meisten um Neutralität bemühten Wortschöpfungen. Wer es deftiger mag, greift gleich zu »Pack«. 1 Der Verfasser dankt den Herausgebern dieses Sonderbandes, die zu der historischen Tiefenbohrung angeregt haben. Er dankt ferner dem anonymen peer reviewer sowie seinen Althistorikerkollegen David Engels, Christian Meier und Uwe Walter, die alle wertvolle Denkanstöße gegeben und den Verfasser vor voreiligen Schlüssen bewahrt haben. 2 Die Linke in Deutschland hat, obwohl in ihren Methoden, wie mehrfach gezeigt worden ist, ihren rechten Gegenparts durchaus vergleichbar, in der Öffentlichkeit den Populismusvorwurf erstaunlich erfolgreich abstreifen können. Vgl. Dahrendorf 2003, S. 159; Franz Walter in SPON, 31. Mai 2006. http://www.spiegel.de/politik/deutschland/linksp opulismus-vergreisung-als-chance-a-418695.html, Linkspopulismus. Vergreisung als Chance (Zugriff vom 21.12.2016). Selbst die SPD mit ihrem neuen Vorsitzenden und Kanzlerkandidaten Martin Schulz spielt mit ihrer Agenda-2010-Kritik und dem Lavieren zwischen Regierungs- und Oppositionsrolle virtuos die Karte des Populismus. 3 Dahrendorf 2003, S. 157. Leviathan, 45. Jg., Sonderband 32/2017, S. 21 – 40

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Indes: Was gestern noch menschenverachtend war und das Fantasiegespinst gewissenloser Rechtspopulisten, kann heute schon politischer Mainstream sein. Als Deutschland sich 2015 im Taumel seines Flüchtlings-Sommermärchens befand, war die unkontrollierte Einreise Hunderttausender »alternativlos«. Wer sich dieser Logik verweigerte, lebte in einer Republik, die, wie die Kanzlerin formulierte, nicht mehr »mein Land« war. Noch einige Monate später galt die Forderung, die EU-Außengrenzen wirksam zu kontrollieren, als populistische Parole, die sich selbst »entlarvt«. Mit dem gleichen Verweis auf populistische Umtriebe wurde die CSU-Forderung nach einer »Obergrenze« abgebügelt.4 Abermals ein paar Monate später ist das Dublin-II-Abkommen wieder voll in Kraft, die Bundesregierung hat sich von der Doktrin der offenen Grenzen verabschiedet, die Kanzlerin öffentlich erklärt, »2015« werde »sich nicht wiederholen«. Positionen, die in Presse und regierungsamtlichen Verlautbarungen vor Jahresfrist als populistisch stigmatisiert waren, sind in der Mitte der Gesellschaft und damit im politischen Handeln der Antipopulisten angekommen. Welche Politikinhalte jeweils als populistisch gelten und welche nicht, ist zeit-, umstände- und konstellationsabhängig. Auf dieser Ebene ist »Populismus« nicht eine Vokabel der politischen Analyse, sondern des politischen Kampfes: Populist ist stets der Andere. Vorsicht ist also angebracht. Auch Ralf Dahrendorf warnte: »Der Populismus-Vorwurf kann selbst populistisch sein, ein demagogischer Ersatz für Argumente.«5 Wer über hinreichend politisch-publizistische Meinungsmacht verfügt, hat auch die Deutungshoheit darüber, welche Politik jeweils das populistische Stigma verdient. Als Begriff des politischen Kampfes taugt Populismus für parteipolitische und notfalls noch für journalistische, keinesfalls aber für wissenschaftliche Diskurse. Wenn es also nicht die Inhalte sind, die den Populisten zum Populisten machen, was dann? Den Weg weist abermals Ralf Dahrendorf in seinem nur wenige Seiten langen Aufsatz: »Populismus beruht auf dem bewussten Versuch der Vereinfachung von Problemen.«6 Damit ist dem Begriff die polemische Spitze genommen, er ist zum Idealtypus mutiert, der als solcher analysetauglich ist. Vor allem bezieht Dahrendorf Populismus nicht auf bestimmte Inhalte von Politik, wie die teilweise hysterische Debatte der Gegenwart, sondern auf eine Methode. Der Populist bedient sich der Vereinfachung als Instrument zum Machterwerb: »Darin liegt sein Reiz und sein Erfolgsrezept.«7 Lassen wir also als Arbeitshypothese stehen: Der Populist bedient sich bewusster Vereinfachung, um Zustimmung zu generieren, der Nichtpopulist verzichtet darauf.

4 Ludwig Greven in ZEIT online, 1. Februar 2016. http://www.zeit.de/politik/deutschland /2016-02/afd-populismus-andere-parteien/komplettansicht (Zugriff vom 21.12.2016). 5 Dahrendorf 2003, S. 156. 6 Ebd., S. 159. 7 Ebd.

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1. Athen 424 v. Chr.: Demagogen Will man die Populismus-Debatte versachlichen, hilft zum Einstieg ein Blick auf die Etymologie. Populismus kommt von lateinisch populus, was mit deutsch »Volk« nur höchst unzureichend wiedergegeben ist. Die Vielschichtigkeit des Begriffs führt uns geradewegs in die komplizierte politische Wirklichkeit klassischantiker Gesellschaften. Schon Machiavelli wusste ja, dass die römische Republik ein faszinierendes Laboratorium war, in dem sich im Experiment die vielfältigsten politischen Problemlagen durchspielen ließen.8 So will es auch dieser Aufsatz halten: Die Antike soll ihm als Fundus für Idealtypen dienen, mit deren Hilfe sich die Begriffe der Gegenwart, losgelöst vom Pulverdampf der Wortgefechte, klären und schärfen lassen. Der römische populus war die Gesamtheit aller römischen Bürger. Das griechische Gegenstück dazu war der demos. Hier zuerst nahmen Bürger das politische Schicksal ihrer Gemeinde in die eigenen Hände: Sie trafen sich regelmäßig zur Volksversammlung, um zu beraten und, vor allem, abzustimmen, über Sachfragen und über Ämter. Der Bürgerstatus war strikt exklusiv: Ausländer und Sklaven standen außerhalb des Bürgerverbands, Frauen waren zwar Bürgerinnen, von der politischen Teilhabe aber ausgeschlossen. Das Recht des Bürgers ist die bahnbrechende politische Innovation der klassischen Antike, womöglich ist es der wichtigste Meilenstein in der politischen Institutionengeschichte der Menschheit. Der Gedanke, dass die Bewohner einer Stadt keine Untertanen waren, sondern politische Gestalter und Gesetzgeber, Schicksalsgenossen und Teilhaber an ihrem Wohlstand – kurz: dass sie in ihrer Summe der Souverän waren –, war zuerst den Griechen um 700 v. Chr. gekommen.9 Zu dieser Zeit begannen zwei die griechische Geschichte prägende Grunderfahrungen ihre Dynamik zu entfalten. Gemeinsame Ursache beider Entwicklungen war, dass es den Griechen in ihrem relativ kleinen und recht kargen Land zu eng wurde. Erste Folge der Überbevölkerung war, dass sich Konflikte häuften. Zunächst gingen Banden von Bessergestellten aufeinander los, um sich gegenseitig Land, Vieh und sonstiges Beutegut abspenstig zu machen. Doch darüber, dass sich aus vielen verstreuten Dörfern allmählich Städte formten, wurde der Krieg zu einem Geschäft, an dem sich breite Bevölkerungsschichten beteiligten. Ausrüstung und Training der Soldaten wurden normiert, aus undisziplinierten Haufen entstand die Hoplitenphalanx, die in Schlachtreihen kämpfte und deren Erfolg von unbedingter Disziplin abhing. Jeder Hoplit schützte seinen Nachbarn, nicht sich selbst, mit dem Schild, den er in der linken Hand trug, während die Rechte die 8 Machiavelli, Discorsi 1, »Introduzione«: »E tanto più, quanto io veggo nelle diferenzie che intra cittadini civilmente nascano, o nelle malattie nelle quali li uomini incorrono, essersi sempre ricorso a quelli iudizii o a quelli remedii che dagli antichi sono stati iudicati o ordinati [...].« Die untergehende Republik hat unlängst wieder David Engels als Idealtypenfundus für Analogien zum Europa der Gegenwart entdeckt: Seiner Studie verdankt auch dieser Essay so manches (Engels 2014). 9 An einführender Literatur herrscht kein Mangel. Besonders empfehlenswert: Meier 1994; 2001; 2009; Murray 1982; Osborne 2009; Snodgrass 1980; Walter 1993. Leviathan, 45. Jg., Sonderband 32/2017

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Lanze führte. So entstand eine revolutionäre Idee: die von Solidarität zusammengehaltene Gemeinde, deren gleichberechtigtes Glied jeder Einzelne war.10 Vermutlich hätte der Wandel der Kampftechnik allein den Innovationsschub des Bürgerrechts nicht herbeigeführt. Wirksam werden konnte sie erst durch das Hinzutreten einer zweiten Folge des demografischen Drucks ab dem 8. Jahrhundert v. Chr.: Ihren Bevölkerungsüberschuss nämlich exportierten die Griechen über See in andere, dünner besiedelte Landstriche: nach Unteritalien, Sizilien, Nordafrika und an die Küsten des Schwarzen Meeres. Sie legten hier, die meist nicht sehr zahlreichen Einheimischen teils verdrängend, teils assimilierend, neue Städte auf jungfräulichem Boden an. In der Fremde war alles neu: Nachbarn, Naturraum, Risiken, Chancen. Gewissermaßen über Nacht mussten Gebäude aus dem Boden gestampft werden: Wohnhäuser, Wirtschaftsgebäude, Marktplätze, öffentliche Bauten. Vor allem musste das Zusammenleben zwischen den oft bunt zusammengewürfelten Siedlern geregelt werden, deren Stadt von der ersten Sekunde ihrer Gründung an – materiell und ideell – unabhängig war von der Mutterstadt, die das Unternehmen angeführt hatte. Vor die Herausforderung gestellt, eine Gesellschaft aus dem Nichts heraus zu erschaffen, begriffen die Siedler, dass die Regeln für das Miteinander nicht irgendwo im Himmel gemacht wurden, sondern dass ganz allein ihnen selbst diese Rolle zufiel. Die Gründung von rund 500 sogenannten Kolonien zwischen ca. 750 und 500 v. Chr. führte den Griechen unmissverständlich vor Augen, dass Gesetze kein wie auch immer gearteter göttlicher Wille, sondern das Ergebnis von Aushandlungen unter Menschen waren.11 Die Menschen entwickelten »Könnensbewusstsein«,12 dessen Träger der Bürger war. Die Menschen, die in den Volksversammlungen über Krieg und Frieden, über Recht und Gerechtigkeit, über Macht und Ohnmacht debattierten, nannten sich politeis (Singular: polites) – »Bürger«, ihre Stadt hieß polis (Plural: poleis) und die Gesamtheit der politeis einer polis demos. Der demos war damit das Gegenstück zum römischen populus. Auch in Hellas schließt die Begrifflichkeit viel mehr in sich ein als die relativ blassen deutschen Übersetzungen ahnen lassen. Der polites partizipierte nicht lediglich an der polis, er war die polis, die nicht anders gedacht werden konnte denn als Summe ihrer Bürger. Athen als politisches Subjekt war nicht schlicht Athen (das war die physische Siedlung), sondern hoi Athenaioi – »die Athener«. Wenn eine hypothetische polis tausend Bürger beherbergte, dann war jeder dieser Bürger das Äquivalent eines Tausendstels der polis. Das griechische Konzept des Bürgers läuft strenggenommen auf viel mehr als auf Partizipation hinaus, nämlich auf Identität.13

10 Raaflaub 1999; 1997; Rausch 2007. Allgemein zum Thema Krieg Hanson 2001. 11 Zur griechischen Kolonisation Dunbabin 1948; Graham 1983; Musti 1988; Oliva 1982; Osborne 2005. 12 Lesenswert dazu Christian Meiers Abschiedsvorlesung: Meier 2014, S. 21. 13 Für Aristoteles (Politik 3, 1275 a) besteht bekanntlich die Tugend des Bürgers darin, gut zu regieren und gut regiert zu werden; »politische Herrschaft« bedeute, dass Herrschende und Beherrschte identisch seien.

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Diese Identität trug totale, ja geradezu totalitäre Züge. Der Bürger hatte nicht nur das Recht zum politischen Gestalten, ihm wurde die förmliche Pflicht zum Gestalten abverlangt. Er hatte als Gesetzgeber, Ratsherr, Richter, Soldat zu dienen – allesamt Tätigkeiten, die mit seinem alltäglichen Broterwerb konkurrierten. War er wirtschaftlich potent, hatte er obendrein für die polis finanzielle Lasten in nicht selten schwindelnder Höhe zu tragen: Gebäude zu unterhalten, religiöse Feiern zu finanzieren, Schiffe auszurüsten. Die Gemeinschaft war gern übergriffig, forderte den polites mit seiner ganzen Person. Urlaub vom Bürgersein wurde nicht gewährt, Rückzugsmöglichkeiten gab es keine.14 Besonders in Athen nahm dieser Druck stetig zu, während die politischen Vorrechte von Bessergestellten, den Aristokraten, Zug um Zug reduziert wurden. Der »Trend« (Christian Meier) mündete erst in die Isonomie, die formale Rechtsgleichheit aller Bürger, und schließlich in die Demokratie, die durch Kleisthenes 508/07 v. Chr. konzipierte und durch Ephialtes 462/61 v. Chr. realisierte unumschränkte Herrschaft des demos in allen Belangen.15 Die aus diesem Prozess sich kristallisierenden Strukturprinzipien der Entscheidungsfindung waren, zumindest der Theorie nach, absolute Gleichheit aller Mitglieder des demos und radikale Individualisierung der politischen Willensbildung. Auf die Spitze getrieben wurde das Prinzip der Gleichheit noch dadurch, dass die meisten Amtsträger im Los-, nicht im Wahlverfahren bestimmt wurden.16 Die attische Demokratie war der äußerste Extremfall einer pluralistischen Gesellschaft: Theoretisch gab es so viele maßgebende Meinungen, wie der demos Mitglieder hatte. Weil so selbstverständlich die polis unregierbar gewesen wäre, stellte sich – wie in allen pluralistischen Gesellschaften – das Problem, wie die politische Meinung zu organisieren, wie das Staatsschiff auf Kurs zu bringen war: Der demos war der Herrscher, doch wer beherrschte den demos? Alle antiken Gesellschaften, Griechenland wie Rom, waren eminent rhetorisch.17 Von der Redebegabung hing im Leben eines Menschen viel ab. Auf der politischen Bühne und im Gerichtssaal war eine Silberzunge der Schlüssel zum Erfolg. Wer seine Mitmenschen durch Reden auf seine Seite zog, hatte praktisch schon gewonnen. Nun war rhetorisches Talent natürlich nicht gleich unter allen Bürgern verteilt, auch nicht im demokratischen Athen. Es war vor allem nicht nur – und nicht einmal in erster Linie – die Frucht natürlicher Begabung, sondern eine in harter Schulung erworbene Fähigkeit. Ein Gutteil der griechischen Bildung, paideia, war auf die Vermittlung rhetorischer Fertigkeiten abgestellt; doch der Zugang dazu war den besseren Kreisen vorbehalten. Wer aufgrund seiner Bildung 14 Bleicken 1986, S. 297-309. 15 Am besten nachzulesen in der unübertroffenen Darstellung bei Meier 1994, S. 108-181; 182-218; 285-353. 16 Unter den wichtigen Führungsämtern bildete lediglich die Strategie, das militärische Oberamt, eine Ausnahme – kaum überraschend, weil von der militärischen Qualifikation des Amtsinhabers für die polis im Zweifel alles abhing. Vgl. Bleicken 1986, S. 217-225. 17 Vidal 2015. Leviathan, 45. Jg., Sonderband 32/2017

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und angeborenen Begabung dazu befähigt war, viele Menschen in seinen Bann zu ziehen, der war zu einer führenden Rolle im demokratischen Politikbetrieb prädestiniert.18 Das klassische Athen schuf für solche Männer den Begriff des »Volksführers« (demagogos). Demagoge zu sein, war nichts Ehrenrühriges, im Gegenteil: Indem sie den vielstimmigen Chor der Volksversammlung vor klare Alternativen stellten, machten sie »Regierungshandeln« überhaupt erst möglich. Der Einfluss des Demagogen beruhte nicht so sehr auf Ämtern, die er auch innehaben konnte, als vielmehr auf den »Gnadengaben« des charismatischen Herrschers Weberscher Prägung. Herrschaftssoziologisch lief also in Athen die sukzessive Beseitigung traditionaler Residuen à la longue auf eine immer stärkere Charismatisierung des Politikbetriebs hinaus.19 Ein Perikles war stolz auf sein effizientes Demagogentum. Er machte sich seinen Namen durch ein Gesetz, mit dem er, mehr oder weniger im Alleingang, den attischen Bürgerverband durch Ausschluss all derer, die nicht väter- wie mütterlicherseits von Bürgern abstammten, säuberte. Von da ab empfahl er sich den einfachen Bürgern als ein Mann der Tat, bei dem ihre Interessen bestens aufgehoben waren. So gab es auch keinen Widerstand, als er Athen auf Kriegskurs gegen die mächtigste Rivalin, Sparta, trimmen ließ. 431 v. Chr. brach so der Peloponnesische Krieg aus, Griechenlands fast 30-jähriger Weltkrieg, den Athen schließlich verlor. Vermutlich auch deshalb, weil er die stets eskalierende Wirkung des Demagogentums in der langen Dauer überblickte, stand Thukyidides, der große Chronist des Krieges und überragende politische Analytiker, dem Phänomen weit kritischer gegenüber: Die Demagogen, kritisiert der Historiker, hätten nicht das Wohl der Allgemeinheit im Auge gehabt, sondern ihre jeweils ganz und gar private Agenda.20 Perikles sei noch weise und unbestechlich gewesen: »Die Späteren, einer ziemlich wie der andere und jeder nur bemüht, der Erste zu werden, sanken so tief, den Launen des demos sogar in der Staatsführung nachzugeben.«21 Hier wird das Demagogentum in seiner ganzen Abgründigkeit vorgeführt: Der Demagoge redet dem demos schamlos nach dem Mund, um seine Sucht nach Macht und Prestige zu stillen. Ins Groteske übersteigert die Demagogenkritik der Dichter Aristophanes in seiner 424 v. Chr. uraufgeführten Komödie Hippeis (Die Ritter): Der »Paphlagonier«, ein Sklave, hat seinen Herrn Demos, einen senilen 18 Die Meinungsführer in der Volksversammlung waren dennoch – oder gerade deswegen – peinlich darauf bedacht, soziale Privilegien (Reichtum, Bildung, Netzwerke) nicht explizit werden zu lassen. Für jene, die doch damit hausieren gingen, hielt die athenische Verfassung die politische Praxis des Ostrakismos bereit: Alle Jahre wieder zwang die Polis per Abstimmung in der Volksversammlung den Bürger ins Exil, der die meisten Stimmen auf sich vereinte – und das war in der Regel der Zweitmächtigste und damit gefährlichste Rivale des Mächtigsten. Vgl. Lehmann 1987. 19 Dazu ausführlich Mann 2007. 20 Thukydides 2, 65, 7: »Sie betrieben von Staats wegen alles Mögliche, was mit dem Krieg augenscheinlich nichts zu tun hatte, aus persönlichem Ehrgeiz und persönlicher Gewinnsucht, doch zum Nachteil Athens und der Verbündeten.«. 21 Ebd., S. 159.

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Tattergreis, durch Schmeichelei und miese Tricks völlig von sich abhängig gemacht, als plötzlich ein noch gewiefterer Verführer, der »Wursthändler«, die Bühne betritt. Prompt liefern sich die Protagonisten – zuerst mit Worten, dann mit Fresskörben, die sie dem Demos vorsetzen – einen erbarmungslosen Wettstreit um die Gunst des Demos, den schließlich der Wursthändler für sich entscheiden kann. Die Komödie kann man als bitterböse Parabel auf die Wirklichkeit der Demokratie lesen, wie sie der Dichter gesehen haben mag. Den Demagogen traut man alles, der politischen Urteilskraft des »Herrn« demos rein gar nichts zu. Die Satire zielt auf Kleon, den zu jener Zeit dominierenden Akteur in der athenischen Politik. Begnadeter Redner und sozialer Aufsteiger, war es Kleon, der dem von Aristophanes ersehnten Frieden mit Sparta im Wege stand. Schonungslos rechnet die Komödie mit der Leichtgläubigkeit des demos ab: »Wenn einer in der Volksversammlung sprach: / ›Demos, ich bin dein Freund, ich liebe dich, / Ich bin der einz’ge, der dich hegt und pflegt.’ – / Wenn einer so begann, dann warfst du gleich / Den Kopf empor und schlugst die Flügel.«22 2. Rom 133 v. Chr.: Popularen Athen und Rom gingen ähnliche Wege. Beide betraten die Bühne der Weltgeschichte als Städte mit integriertem Landgebiet, als sogenannte »Stadtstaaten«. Beide Städte streiften ein sehr (Athen) bzw. relativ (Rom) schwaches Königtum ziemlich schnell ab. In beiden Städten forcierte die militärische Entwicklung die Formierung bürgerschaftlicher Identität, in beiden zunächst auf der Grundlage einer zensusbasierten Dienstpflicht, an die das Wahlrecht in der Volksversammlung gekoppelt war. Hier wie dort verloren sich auf ihr Geburtsrecht berufende Eliten – in Athen die Aristokraten, in Rom das Patriziat – erst ihre politische Monopolstellung und dann (nahezu) jede gesellschaftliche Bevorrechtigung.23 Hier jedoch enden die Parallelen. Rom wurde zur Keimzelle eines Imperiums, Athen blieb, wenn auch eine überproportional mächtige, so doch eine polis. Seine stupende Befähigung zur Expansion vom mittelitalischen Staatstaat zur Weltmacht in gerade 200 Jahren macht Rom zu einem Paradigma globaler Politikgeschichte, bis auf den heutigen Tag.24 Hier jedoch interessiert ein anderes Merkmal, das Rom von Athen unterschied: Die Mechanismen politischer Willensbildung und Entscheidungsfindung funktionierten am Tiber fundamental anders als zu Füßen der Akropolis. Wir haben gesehen: Im Athen des 5. Jahrhunderts v. Chr. war der politische Entscheidungsprozess auf die denkbar radikalste Weise individualisiert. Jeder Bürger hatte genau eine Stimme, und mit ihr konnte er in der Volksversammlung 22 Aristophanes, Hippeis, 1340-1343. 23 Keiner hat die parallelen Institutionengeschichten Athens und Roms besser auf wenigen Seiten auf den Punkt gebracht als Max Weber in seinem Fragment »Die Stadt« (MWG I/22,5). 24 Zum Beispiel Doyle 1988; Münkler 2005. Leviathan, 45. Jg., Sonderband 32/2017

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Sach- und (in beschränktem Umfang) Personalfragen mitentscheiden. Eine eigentliche politische Elite gab es nicht, Meinungsführerschaft in der Volksversammlung war an bestimmte politische Fertigkeiten geknüpft. Das war in Rom völlig anders. Hier schälte sich aus der alten Elite des Patriziats unverzüglich eine neue heraus, die »Nobilität«. Vieles am Konzept der Nobilität ist problematisch. Das fängt damit an, dass der Terminus in der prägnanten Bedeutung nicht aus der Antike stammt, sondern eine Schöpfung der modernen Wissenschaft ist: Er geht auf Theodor Mommsen zurück und wurde 1912 durch Matthias Gelzer wesentlich mit Inhalt gefüllt.25 Seit rund 30 Jahren debattiert die Alte Geschichte deshalb mit viel Engagement und einiger Schärfe über die Frage, ob es eine Nobilität im republikanischen Rom überhaupt gegeben hat.26 Dennoch sind aus Sicht des Verfassers viele innere Entwicklungen der res publica nur so zu erklären, dass politische Entscheidungen in hohem Maß von einer sozialen Elite monopolisiert wurden, die sich personell fast hermetisch nach unten abgeschlossen hatte – ob wir diese Elite nun Nobilität nennen mögen oder nicht. Die exklusive Stellung des römischen Patriziats erodierte ab ca. 500 v. Chr. in einem knapp 200-jährigen Prozess, den wir als Ständekämpfe bezeichnen. An deren Ende stand die vollständige politische Gleichberechtigung der plebs, die den gesamten nicht dem Geburtsadel zuzurechnenden populus umfasste. Diese plebs freilich war heterogen und schloss in sich das gesamte soziale Spektrum ein. Führende Plebejer traten in den Wahlämtern der Republik Zug um Zug neben die Patrizier, bis sich die Unterschiede vollständig verwischten. Prinzipiell stand ab den leges Liciniae Sextiae (367 v. Chr.) jedem römischen Bürger selbst das höchste Amt offen, der Konsulat.27 Allerdings klaffte, wie sich an den Konsulatslisten der Republik in aller wünschenswerten Klarheit ablesen lässt, zwischen Theorie und Praxis eine eklatante Lücke: Es waren nämlich immer dieselben Familien, die ihre Vertreter zu Konsuln oder, so hieß das zweithöchste Amt der römischen Karriereleiter, Prätoren wählen ließen. Nur alle Jubeljahre gelang es einem Außenseiter, einem homo novus, eines der begehrten Spitzenämter zu ergattern. Die Magistraturen, die Ehrenämter waren und als kollegiale Wahlämter jeweils auf ein Jahr ausgeübt wurden, gaben ihren Inhabern nicht nur die Zügel der Tagespolitik in die Hand. Sie eröffneten auch den Zugang zum Senat, in den Magistrate einzogen, die ihr Amtsjahr absolviert hatten, und wo die entscheidenden Weichenstellungen für politisches Handeln vorgenommen wurden. Im Senat war aber nicht jeder gleich. Gleichheit hätte völlig gegen die ehernen Grundsätze des römischen Welt- und Menschenbildes 25 Gelzer 1962; Mommsen 1887, Bd. 3, S. 461-465. 26 Die Einzelheiten dieser Debatte tun hier nichts zur Sache. Gegen das Nobilitätsmodell und für die Verankerung demokratischer Prinzipien in der römischen Republik hat argumentiert Millar 1984; 1986; 1989. Hingegen hat die deutsche Forschung das Konzept vor allem modifiziert und weiterentwickelt: Beck 2008; Bleicken 1981; Goldmann 2002; Hölkeskamp 1987; 1996; 2010. Zur Orientierung auch die Beiträge in Jehne 1995 sowie Sommer 2016, S. 162-166. 27 Develin 2005; Momigliano 1967; Ungern-Sternberg 2006.

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verstoßen. Die Autorität des einzelnen Senators war säuberlich nach dem Amt gestaffelt, das er als letztes innegehabt hatte. Zu den nobiles, denen, die »kenntlich« waren, gehörten im strengen Sinn nur jene, die zuvor den Konsulat oder die Prätur und damit die beiden höchsten Ämter der vierstufigen Laufbahn versehen hatten.28 Man hat deshalb die Nobilität auch als »Amtsadel« bezeichnet, weil Ämter die formale Eintrittskarte in ihren Zirkel bildeten. Doch ist das nur die halbe Wahrheit. Die Ämter waren zwar Wahlämter, und wählbar war im Prinzip jeder Bürger. Tatsächlich bestimmten aber soziale, gleichsam auf einer subkonstitutionellen Ebene wirksame Kräfte, wer Chancen hatte und wer nicht. Die römische Gesellschaft durchzogen nämlich Loyalitäten, die im öffentlichen Recht der Republik in keiner Weise abgebildet waren. Die Mächtigen pflegten untereinander Verhältnisse von Freundschaft (amicitia) oder Abneigung (inimicitia), die ausgesprochen langlebig sein konnten. Freundschaft setzte unbedingte Solidarität voraus, auch und gerade in politischen Angelegenheiten. Wer als amicus den amicus im Stich ließ, wenn der sich um ein Amt bewarb, verstieß eklatant gegen den Komment der besseren Gesellschaft.29 Zusätzliche Brisanz erhielten die symmetrischen Allianzen unter Mächtigen dadurch, dass zugleich asymmetrische Schutz- und Treueverhältnisse die Vertreter der Elite mit »Klienten« verbanden: normalen Bürgern, deren Schicksal auf vielfältige Weise mit demjenigen ihrer »Patrone« verwoben war. Der Klient konnte auf die Unterstützung des Patrons zählen, wenn er in eine Notlage geriet oder Beistand vor Gericht brauchte. Dafür schuldete er seinem Patron absolute Loyalität – und das galt, selbstverständlich, wieder zuvorderst in politicis. Im Klartext bedeutete dies, dass der Patron über das Abstimmungsverhalten seiner Klienten in der Volksversammlung entschied.30 Die patrocinium genannte Patronage multiplizierte also den Mobilisierungseffekt auf das Elektorat der Volksversammlung, den individuelle nobiles durch das Instrument der politischen Freundschaft erzielten – in vielen Fällen um einen mindestens vierstelligen Faktor. Hieran wird deutlich, wie sehr sich die politische Wirklichkeit im republikanischen Rom, trotz vergleichbarer Ausgangslage, von der des demokratischen Athen unterschied. Die entscheidende Frage stellt Christian Meier: »Denn wie kann ein Volk souverän sein, das tief von mannigfaltigen Verpflichtungsverhältnissen durchwaltet ist?«31 Verstärkt wurden die an mafiöse Strukturen gemahnenden Abhängigkeiten noch durch ein Spezifikum des Wahlverfahrens, das bei den wichtigsten Abstimmungen zur Anwendung gelangte. Wenn gewählt wurde, hatte die Volksversammlung, je nachdem, was auf der Tagesordnung stand, in unterschiedlichen Gliederungen abzustimmen. Die den politischen Kurs der Republik festlegenden Entscheidungen – vor allem die Wahl der höchsten Magistrate – wurden den comitia centuriata vorgelegt, zu denen der populus nach »Hundertschaften« (Zenturien) 28 29 30 31

Grundlegend Beck 2005. Hutter 1978. Deniaux 2007. Meier 1966, S. 117.

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gegliedert antrat. Nicht die einzelnen Bürger gaben ihre Stimme ab, sondern die Zenturien. Die wiederum setzten sich nach Einkommensklassen zusammen: Ähnlich wie beim preußischen Dreiklassenwahlrecht bildeten wenige finanziell am besten Gestellte die obersten Zenturien, in den unteren sammelte sich die breite Masse der Habenichtse. Als wäre dies nicht genug, schritten nun auch noch die oberen Zenturien zuerst zur Abstimmung. Wenn unter ihnen Konsens bestand, brauchten die unteren, die überwältigende Mehrheit der Bürger repräsentierenden Hundertschaften überhaupt nicht mehr zur Stimmabgabe anzutreten. Der Mobilisierungseffekt durch die Nahverhältnisse von amicitia und patrocinium wurde durch das Wahlverfahren bei fast allen Entscheidungen, an denen das Schicksal des Staates hing, noch einmal potenziert.32 Die comitia centuriata waren nicht die einzige Form der Volksversammlung. Es gab außer ihnen noch drei weitere Gliederungen, in denen das Volk zur Abstimmung schritt. So wurden die Volkstribunen, denen in der Spätphase der Republik so große Bedeutung zukommen sollte, von einer nach »Stämmen« (tribus) gegliederten Versammlung (concilium plebis) gewählt, zu der nur Plebejer Zutritt hatten. Evidentermaßen bringt ein von so vielen Hierarchien, Loyalitäten und Abhängigkeiten durchwobener politischer Raum seine eigenen Formen der Kommunikation hervor. Dass sie anders waren als in der vergleichbaren Strukturen ledigen athenischen Volksversammlung, kann nicht überraschen. »Gehorsam gibt es nicht gratis«, hat der Historiker Egon Flaig mit Blick auf das angepasste Wohlverhalten der Bevölkerungsschichten formuliert, die das Spiel der Nobilität mitzuspielen hatten, damit es aufgehen konnte.33 Was also bot die Nobilität ihnen im Gegenzug? Die Münze, mit der zurückgezahlt wurde, wäre in einer Demokratie wertlos gewesen, aber in den hierarchischen Strukturen der notorisch statusfixierten Republik war sie mit Gold nicht aufzuwiegen. Die Eliten unterbreiteten den einfachen Bürgern ein »Jovialitätsangebot«, indem sie sie respektvoll behandelten, bei jeder Gelegenheit die »Würde« (maiestas) des römischen Volkes herausstrichen und jedes Explizitmachen des steilen Statusgefälles zwischen Elite und Nichtelite peinlichst unterließen. Die Nobilität tat so, als spreche sie mit dem einfachen Volk auf Augenhöhe.34 Während in der politischen Debatte pausenlos von Würde, Ehre, persönlichen Verdiensten, von den Vorfahren und ihren Sitten, von Angemessenheit und Rechtschaffenheit die Rede war, fehlte ein aus heutiger Sicht konstitutives Element völlig: politische Sachthemen. Wer als politisch modern sozialisierter Mensch, sagen wir, im frühen 2. Jahrhundert v. Chr. eine römische Volksversammlung besucht hätte, hätte sich verwundert die Augen gerieben. Gab es wirklich keine Themen, mit denen sich die Tausenden, die auf dem comitium im Herzen der Stadt versammelt waren, in Wallung versetzen ließen? War ihnen das Schicksal ihrer Republik

32 Als ausführlichste Studie Yaʿaqovsôn 1999, S. 20-64. 33 Flaig 2003, S. 13. 34 Jehne 2000.

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so ganz und gar gleichgültig? Nicht einmal im Wahlkampf schienen politische Inhalte eine nennenswerte Rolle zu spielen.35 Wer jetzt versucht ist, den Gallier Obelix zu zitieren, sei beruhigt: Natürlich gab es für politische Fragen einen Raum, doch der war nicht der öffentliche Raum des comitium, wo die Volksversammlung tagte, sondern lag hinter verschlossenen Türen in der curia, in die sich der Senat zu seinen Sitzungen zurückzog. Hier wurden über Sachthemen die Klingen gekreuzt, hier fielen Entscheidungen über Krieg und Frieden, über Finanzfragen, über Gesetze, über personelle Weichenstellungen. Der Volksversammlung fiel hernach die Rolle zu, abzunicken, was der Senat entschieden hatte. Diese Arbeitsteilung konnte funktionieren, weil in der Nobilität, bei allem individuellen Ehrgeiz, der römischen Politikern natürlich nicht abging, bei allem inhaltlichen Dissens, der selbstverständlich herrschte, bei allen Feindschaften, die trennten, über die Frage des politischen Verfahrens Konsens bestand. Kern der Spielregeln, die in keiner Verfassung standen, war die Festlegung darauf, dass eine Politisierung der Volksversammlung unter allen Umständen zu vermeiden war. Um keinen Preis der Welt durfte die Debatte, die den Senat beherrschte, nach außen ins comitium getragen werden. Dort nämlich präsentierte sich die Nobilität, zerstritten und zerrissen, wie sie in vielen Fragen war, als harmonische Front, zwischen deren Vertreter kein Blatt Papyrus passte. Die Nobilität war ein Kartell.36 Zusammengehalten wurden das Kartell und der es stützende Konsens durch die unnachsichtige Sanktionierung jedes Fehltritts durch eines seiner Mitglieder. Wer es wagte, aus der Reihe zu treten und aus dem Konsens auszuscheren, brauchte nicht darauf zu hoffen, jemals wieder Einfluss im Senat auszuüben oder ein Amt zu erringen. Selbst von Männern, die sich als militärische Befehlshaber in den wahrlich nicht wenigen Kriegen, welche die Republik führte, mit Ruhm bekleckert hatten, wurde erwartet, dass sie nach Ablauf ihres Amtsjahres ins Glied der übrigen nobiles zurücktraten. Sie durften sich in einem prächtigen Triumphzug durch die Hauptstadt feiern lassen, ihre Stimme im Senat fand Gehör – zu einer auf Dauer herausgehobenen Position verhalf ihnen all ihr Ruhm nicht. Dass der die Nobilität tragende Konsens schließlich zerfiel, verdankt sich trotz eines längeren Vorspiels in letzter Konsequenz einem eher zufälligen Zusammentreffen. 137 v. Chr. verdüsterte sich für einen hoffnungsvollen Jungpolitiker unversehens die Zukunft, als das römische Heer, in dessen Stab er diente, vor der spanischen Stadt Numantia eine krachende Niederlage erlitt. Politische Karrieren hatten in Rom schon aus viel nichtigeren Gründen eine Wendung zum Schlechteren 35 Ein Schlüsseltext ist das vermutlich (allerdings nicht sicher) von Quintus Tullius Cicero an seinen Bruder Marcus gerichtete Commentariolum petitionis, eine Schrift mit Ratschlägen zur erfolgreichen Bewerbung um den Konsulat. Sie rät dringend vom Bezug auf politische Themen ab. Vgl. Yaʿaqovsôn 1999, S. 153-178. 36 Einen Raum, in dem auch einfache Bürger politische Fragen diskutierten, gab es durchaus, nur eben nicht im Zusammenhang mit Abstimmungen und Wahlen. Diesen Raum boten die contiones, informelle Versammlungen, die von Magistraten einberufen wurden. Inwieweit contiones zur politischen Willensbildung beitrugen, ist in der Forschung umstritten. Pro: Flaig 2003, S. 155-180; contra: Mouritsen 2001, S. 38-62. Leviathan, 45. Jg., Sonderband 32/2017

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genommen. Tiberius Gracchus, so hieß der junge Mann, entstammte bestem Haus. Um höchstens zwei Ecken war er mit den politisch führenden Männern jener Jahre verwandt. Nach römischen Ehrbegriffen wäre es einer persönlichen Bankrotterklärung gleichgekommen, unter diesen Umständen nicht wenigstens den Konsulat zu erreichen. Tiberius befand sich in einer Zwangslage. Er hatte gerade einmal die erste Stufe der Ämterhierarchie erklommen, die Quästur. Ob es ihm gelang, seine Karriere wieder flottzumachen, hing entscheidend davon ab, wie schnell er die nächste Hürde nehmen konnte. Der aufgeweckte Mittzwanziger hatte auf seiner Reise nach Spanien bemerkt, dass in vielen Teilen des italienischen Stiefels die Höfe brachlagen, das Land unbestellt war. Eine Krise hatte sich des ländlichen Italiens bemächtigt, die viele Menschen in Armut und Verzweiflung sowie von ihren Feldern in die Städte, vor allem nach Rom, getrieben hatte. Dort stießen sie zum Heer anderer Abgehängter, die ihr Leben am Rand des Existenzminimums fristeten. Tiberius begriff, welch einmalige Chance sich ihm mit der Not der Massen bot. Er bewarb sich um den Volkstribunat, ein eigentlich anachronistisches Amt, das seinem Inhaber aber weitreichende Möglichkeiten der Gesetzesinitiative und Agitation bot. Und er hatte, als erster römischer Politiker überhaupt, eine politische Agenda.37 Die zu verkünden wurde er nicht müde, sobald er am 10. Dezember 134 v. Chr. sein Amt als Volkstribun angetreten hatte: »Herren der Welt« nenne man die Römer, empörte er sich, »doch in Wahrheit gehört ihnen nicht eine einzige Ackerscholle«.38 Tiberius warb um seine Gesetze: Die Großgrundbesitzer sollten widerrechtlich von ihnen okkupiertes Land abgeben, auf dem Land sollten besitzlose Familien angesiedelt werden, eine Ackerkommission sollte darüber wachen, dass alles nach Recht und Gesetz vonstatten ging. Eigentlich waren das alles maßvolle Forderungen, nicht Fantasien eines politischen Hitzkopfs. Dennoch ging manchem Großgrundbesitzer unter den Senatoren schon dieses Projekt eines Ackergesetzes zu weit. Die Mehrheit allerdings störte sich gar nicht am Inhalt von Tiberius’ Gesetz. Ihnen war das Verfahren ein Dorn im Auge. Ein Nachwuchspolitiker, der sich erdreistete, mit politischen Themen an die Öffentlichkeit zu gehen, war ein Unding! Er musste gestoppt werden, mit allen Mitteln. In der Wahl dieser Mittel war die Senatsmehrheit nicht zimperlich. Als es nicht half, einen Kollegen des Tiberius sein Veto einlegen zu lassen, und der Volkstribun sogar seine Wiederwahl für das Folgejahr anstrebte, zog man die Notbremse: Tiberius wurde von einem Senatorenmob auf dem comitium erschlagen, den Publius Cornelius Scipio Nasica Serapio anführte, der als Vertreter einer der führenden patrizischen Familien zum concilium plebis von Rechts wegen keinen Zutritt gehabt hätte. Der Tote hatte, so sahen es die Senatoren und so kann man es aus der Rückschau sehen, die Büchse der Pandora geöffnet. Er hatte durch seinen wohlkalkulierten Tabubruch gezeigt, dass man Politik in Rom auch anders machen konnte als im Konsenskartell der Nobilität. Er hatte dafür den Preis bezahlt, den die 37 Sommer 2016, S. 242-248. 38 Plutarch, Tiberius Gracchus, 9, 4 f.

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Mehrheit der Nobilität für angemessen hielt. Freilich: Die Nobilität konnte einen Gracchus in seine Schranken weisen, denunzieren und umbringen; von der Nachahmung abzuschrecken vermochte sie nicht. Zehn Jahre nach Tiberius trat Gaius Gracchus in die Fußstapfen seines Bruders. Mit den Namen Marius, Saturninus und Cinna sind weitere demagogische Experimente verbunden, die jeweils harsche Reaktionen des Kartells provozierten und schließlich fehlschlugen. Die Methoden blieben immer die gleichen: Die Volksfreunde warben mit wohlfeilen Versprechungen, mit Getreiderationen und Verteilungsgerechtigkeit, mit einem New Deal bei den Grundbesitzverhältnissen. Die Nobilität hielt mit drastischen Disziplinierungsmaßnahmen, mit Staatsnotstand, Rufschädigung und systematischer Obstruktion dagegen. Manchmal kopierten ihre Vertreter sogar die Methoden ihrer Gegner, machten sich deren programmatische Forderungen zu eigen und agitierten für noch weiter reichende Sozialprogramme – das alles in dem Bestreben, ihnen den Wind aus den Segeln zu nehmen. Lehrreich ist ein Blick auf die Debattenkultur, die in jenen Jahren innerhalb der Nobilität herrschte. Die am Konsenskartell festhaltende Mehrheit war sich nicht zu schade, den Dissens über die Formen der politischen Auseinandersetzung zu einem epischen Ringen zwischen Gut und Böse zu stilisieren. Die dichotomische Sprache ihres intellektuellen Frontmanns Cicero spricht Bände: hier die Gralshüter senatorischen Konsenses, von Cicero wahlweise »die Guten« (boni), »die Hervorragenden« (optimi) oder, daran angelehnt, Optimaten genannt; dort Volksverführer, Rattenfänger: »Was immer sie sagen und was immer sie tun, soll der breiten Masse gefallen.«39 Bei Cicero heißen sie populares, Männer des Volkes. In der Verteidigungsrede für seinen amicus Publius Sestius entwirft Cicero, der als homo novus bezeichnenderweise selbst Außenseiter im Kreis der Nobilität war, diese schlichte Typologie des römischen Politikers, die – wen kann es überraschen? – in kräftigstem Schwarz-Weiß gezeichnet ist. Auch an anderer Stelle teilt Cicero heftig gegen die Popularen aus. Während sie kurzsichtig auf Stimmenmaximierung in der Volksversammlung schielten, ruinierten sie »die Grundfesten des Staates«, indem sie das Füllhorn materieller Segnungen über Habenichtse und Schuldner ausschütteten. So zerrütteten sie nicht nur die öffentlichen Finanzen, sondern trügen, was schwerer wiege, zur Spaltung der Gesellschaft bei.40 Vertreter der Volkspartei belegt Cicero durchgängig in seinem Werk mit negativ eingefärbten Attributen wie seditiosus (»aufrührerisch«), furiosus (»leidenschaftlich«, aber auch »jähzornig«), inutilis (»Taugenichts«). Für ganz besonders gewissenlose Exemplare der Gattung popularis wie Publius Clodius, der während des Gallischen Krieges Caesars Sachwalter in Rom war, aber auch für Caesar selbst und seinen Gefolgsmann Marcus Antonius hält Cicero noch giftigere Pfeile im Köcher verbaler Injurien bereit: Audaces seien sie, »verwegen«, und sie gebärdeten sich wie latrones, »gemeine Straßenräuber«. So suggeriert der Redner und politische Publizist Cicero seinen Zuhörern und Lesern, der Popular bediene sich nicht einfach einer radikalen, mit römischen Traditionen und römi39 Cicero, Pro Sestio, 96. 40 Cicero, De officiis, 2, 78. Leviathan, 45. Jg., Sonderband 32/2017

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schem Politikverständnis unvereinbaren Methode des Machterwerbs. Vielmehr sei der Demagoge charakterlich defizitär: unfähig zu Selbstbeherrschung und Mäßigung, dafür aber egoistisch, intrigant und stets va banque spielend. In seiner Schrift über die Pflichten äußert sich Cicero vorsichtig optimistisch, dass alle Versuche der Popularen, sich beim Wahlvolk beliebt zu machen, fruchtlos bleiben würden: Politiker könnten »das Wohlwollen der Menge« am ehesten durch Tugenden wie »Uneigennützigkeit« (abstinentia) und »Selbstbeherrschung« (continentia) gewinnen.41 Cicero sollte nicht recht behalten: Aufhalten nämlich ließ sich der Zerfall der Nobilität nicht. Das Kartell verlor an Integrationskraft, weil die Chancen für Einzelne wuchsen, mit Verstößen gegen die Spielregeln durchzukommen.42 Daran war die Nobilität selbst schuld. Sie war so sehr mit sich selbst und den Abweichlern in ihren eigenen Reihen beschäftigt, dass sie darüber die drängenden Fragen der Zeit gänzlich vergaß: wie mit den Bewohnern des unterworfenen Italien und der Provinzen umzugehen war und welche Rolle sie in dem wachsenden, von Rom beherrschten Imperium spielen sollten; womit Veteranen nach ihrer zwanzigjährigen Dienstzeit abgefunden werden sollten; wie Korruption aus der Welt zu schaffen und wie das Problem der Verelendung breiter Bevölkerungsschichten zu lösen war. Hier versagte die Nobilität kläglich, die Rom doch zur Hegemonialmacht im Mittelmeer gemacht hatte. Und zwar so kläglich, dass 60 v. Chr. drei Männer, Pompeius, Caesar und Crassus, die Regeln des Kartells außer Kraft setzen und beschließen konnten, im Staat »solle nichts geschehen, was einem von ihnen dreien missfalle«.43 Die konsensuelle Nobilitätsherrschaft war in die QuasiDiktatur dreier Männer umgeschlagen, deren wichtigste Ressourcen Geld und Kriegsruhm waren – und ein unerschöpfliches Reservoir an Popularität, das sie ihrem Image als Problemlöser und Interessenvertreter der kleinen Leute verdankten. Am Ende hatte nicht nur Roms Elite abgewirtschaftet, sondern die gesamte Republik: Den Totenschein stellte ihr im Januar 27 v. Chr. Oktavian aus, der sich jetzt Augustus nannte und auf das Kartell der Nobilität keine Rücksicht mehr zu nehmen brauchte. 3. Berlin 2017: Populisten? Deutschland im Jahr 2017. Ist die Bundesrepublik ein modernes Athen? Oder doch eher das Rom des 21. Jahrhunderts, in dem sich die etablierten Parteien zum Kartell, zu einer Art Nobilität des Computerzeitalters, formiert haben? Keine Frage: Als gute Demokraten möchten wir in Athen leben, doch halten unsere Wunschvorstellungen dem Faktencheck stand? Athen und Rom stehen, bei allen Parallelen, für zwei grundverschiedene politische Systeme mit zwei Varianten politischer Willensbildung, die unterschiedlicher 41 Ebd., S. 77. 42 Meier 1966, S. 301-306. 43 Sueton, Divus Iulius, 19, 2.

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nicht sein könnten. Jede bildet den Rahmen wiederum für ein spezifisches Modell politischer Kommunikation und politischen Handelns. In der hochgradig individualisierten Arena der attischen Volksversammlung fiel Demagogen die Rolle zu, die Vielstimmigkeit der politischen Debatte zu kanalisieren und auf ein erträgliches Maß zu reduzieren. Sie bedienten sich dazu ihrer persönlichen Überzeugungskraft, zu der auch gehören konnte, dass sie dem demos nach dem Mund redeten. Im politischen Raum der attischen Demokratie gilt Max Webers Wort vom Demagogen als dem »führenden Typus« des Politikers in besonderer Weise: Politikersein und Demagogesein ist im Grunde dasselbe, denn wer sich demagogischer Methoden enthält, hat in der attischen Volksversammlung nicht den Hauch einer Chance, etwas zu bewegen. Der politische Wettbewerb funktioniert hier nach den Regeln des reinen Marktes, auf dem Nachfrager (der demos) sich für die Angebote ganz unterschiedlicher Anbieter (der Demagogen) entscheiden können. »Führerschaft und Gefolgschaft« sind auf diesem Markt, um abermals Weber zu zitieren, »aktive Elemente freier Werbung«.44 Bezogen auf die Methode des Machterwerbs oder -erhalts ist »Populismus« als Kategorie für ein solches System ohne Signifikanz, weil notwendig alle Politik populistisch ist. Um zu Dahrendorf und unserer Hypothese am Eingang zurückzukehren: Alle Politiker sind Vereinfacher. Darin, zu vereinfachen, überbordende Komplexität auf ein erträgliches Maß zu reduzieren und so das System funktionsfähig zu erhalten, besteht geradezu der verfassungsmäßige Auftrag von Politik, nicht nur in Athen, sondern auch in der Bundesrepublik. Man darf mit guten Gründen annehmen, dass genau das die Väter des Grundgesetzes im Sinn hatten, wenn sie in Artikel 21 etwas vieldeutig formulierten: »Die Parteien wirken bei der politischen Willensbildung des Volkes mit.« Zwar geht alle Souveränität vom Volke aus, doch ist ihre faktische Ausübung durch das Volk in der Massendemokratie nicht praxistauglich. Die Parteien leisten – über die unterschiedlichsten Wege – »strukturierte Kommunikation«, sie geben ein »strukturiertes Angebot politischer Offerten« und spüren zugleich politischen Bedürfnislagen und Interessen nach.45 Sie sind damit im Demokratiemodell des Grundgesetzes das exakte Analogon zu den Demagogen bei Aristophanes. Auch der Paphlagonier und der Wursthändler liefern sich ja ihren Wettstreit um die Gunst des Herrn Demos, indem sie dessen Wünsche antizipieren und ihm in Form fertig zubereiteter Speisen strukturierte Angebote auftischen. Ob der Paphlagonier den Mindestlohn oder der Wursthändler die Schließung der Grenzen verspricht, ist aus Sicht des Grundgesetzes völlig gleichgültig. So weit die Theorie. Die Frage ist aber, ob das Demokratiemodell des Grundgesetzes, 1948/49 formuliert, im Jahr 2017 nicht längst von innen ausgehöhlt worden ist. Die Formen der politischen Auseinandersetzung lassen genau das vermuten. Die Vertreter der Berliner Bundestagsparteien verhalten sich nämlich nicht wie Anbieter auf einem freien Markt, die sich mit symmetrischen Waffen Absatz-

44 Weber, Politik als Beruf, MWG I/17, S. 197. 45 Oberreuter 1990, S. 30. Leviathan, 45. Jg., Sonderband 32/2017

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chancen für ihre Produkte erkämpfen, sondern eher wie die Mehrheitsvertreter der Nobilität im Angesicht der Bedrohung ihres Kartells durch die Popularen. Die Symptome sind vielfältig: Erstens verlagert sich bereits seit Jahrzehnten die politische Debatte aus der Öffentlichkeit von Parlamenten in die Hinterzimmer von Parteigremien und Koalitionsrunden, während die Surrogatöffentlichkeit von Talkshows und sozialen Medien noch mehr als früher zur Bühne inszenierter Schaukämpfe wird. Zweitens entziehen die Protagonisten der Berliner Parteien ihr Handeln jeder Debatte, indem sie es entweder für »alternativlos« erklären oder per Basta-Politik handstreichartig unter Umgehung demokratisch gewählter Organe durchsetzen. Dass die Parteien ihre Bodenhaftung in der Gesellschaft verloren, zugleich aber die politische Entscheidungsfindung monopolisiert haben, hat bereits vor über 30 Jahren Wilhelm Hennis kritisiert. 46 Drittens gewinnen in der Außendarstellung von Parteien wie im medialen Echo wirkliche oder – eher – medial inszenierte Charaktereigenschaften von Vertretern des politischen Personals immer mehr an Bedeutung, während ihre politischen Konturen zusehends verschwimmen. Die Kommunikation der politischen Funktionseliten erinnert frappierend an das »Jovialitätsangebot«, das römische Wahlbürger von ihren nobiles erwarteten. Der politische Gegner wird, wie einst bei Cicero, charakterlich disqualifiziert und per diffamierender Begrifflichkeit (»Pack«, »menschenverachtend«, »Gutmenschen«, »rechts«, »faschistisch«) aus der Konsensgemeinschaft der Demokraten ausgegrenzt. Wenn Politiker nach Wahlen erklären, sie würden »mit allen demokratischen Parteien« Gespräche aufnehmen, maßen sie sich, auch hier genau wie Cicero, die Definitionshoheit darüber an, wer zu den boni gehört und wer in der Schmuddelecke des Populisten zu stehen hat. Besonders perfide wird das Spiel, wenn die selbsterklärten Demokraten den higher moral ground durch scheinbar willkürliche Ausmünzung oder Vereinnahmung infantiler, aber diffus positiv besetzter Kunstbegriffe (»Vielfalt«, »bunt«, »weltoffen«, »Willkommenskultur«, »längeres gemeinsames Lernen«) reklamieren. Das bipolare FreundFeind-Schema des Jahres 2016 erinnert zusehends an die politische Diktion eines Cicero, der nur Retter und Zugrunderichter der Republik kannte. Symptom Nummer vier schließlich ist die geradezu surreale Verdrängung von Fakten aus der politischen Debatte. Auch darin waren die Vertreter der Nobilität wahre Meister: Massenarmut, metastasierende Korruption, außenpolitische Misserfolge, Hader um den Zugang zum römischen Bürgerrecht – die lange Liste der Gravamina, unter denen die Menschen der untergehenden Republik litten, konnte sie nicht wirklich erschüttern. Wenn bloß die grassierende Unzufriedenheit im Pöbel nicht den Popularen in die Hände spielte! Ganz ähnlich ist der Wahrnehmungsmodus moderner Kartellpolitiker: Sorgen der Bevölkerung vor finanzieller Überforderung, vor steigender Kriminalität, vor Terror, Staatsversagen, Kontrollverlust, Verlust der Identität, Parallelgesellschaften, ja, horribile dictu, auch Überfremdung? Welche Probleme? Die durch die Bank als irrational abgetanen Ängste seien das eigentliche Problem, werden sie nicht müde zu betonen, denn die könnten schließlich den Populisten Auftrieb geben. So werden Sorgen, die Bürger das 46 Hennis 1983.

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selbstverständliche Recht haben zu äußern, zu Phobien pathologisiert. Auch wenn sich hin und wieder ein Vertreter des Establishments in therapeutischer Mission als Versteher der von irrationalen Ängsten gepeinigten Wutbürger gibt, ist es allgemein der ganz große pädagogische Gestus, mit dem man die Öffentlichkeit vor sich selbst schützen möchte, sei es, dass man, wie im Fall der Silvesternacht 2015/16, mit Informationen hinter dem Berg hält, sei es, dass man Fake News unter Strafe stellen oder Hasskommentare aus sozialen Medien löschen will. Die Tragik besteht darin, dass die politische Elite, die das Land so dringend braucht, mit diesem Reden und diesem Tun im Begriff steht, jegliches politisches Vertrauen ein für alle Mal zu verspielen. Wer, wenn nicht sie soll denn in Zukunft Politik gestalten? Die Berliner Parteien sitzen einer grandiosen Fehleinschätzung auf, wenn sie glauben, all jene, die ihrem Kartell den Rücken gekehrt haben, seien Dumpfbacken und Abgehängte. Im Gegenteil: Der Protestwähler erweitert auf einem Markt, auf dem die Parteien durch den unseligen Diskurs der Alternativlosigkeit dramatisch die Wahlmöglichkeiten verengt haben, seine Optionen. Wer als Kunde der Monopolmacht eines Kartells und schlafmützigen Wettbewerbshütern ausgeliefert ist, geht bei Anbietern shoppen, die das Monopol unterlaufen. Das ist auf dem bundesdeutschen Energiemarkt geschehen, wo den Multis die Kunden in Scharen davongelaufen sind, warum sollten ausgerechnet die politischen Parteien verschont bleiben? Befriedigend ist das nicht. Es könnte uns auf den Weg führen, den Rom gegangen ist, wobei das, unter den gegebenen Umständen, noch nicht einmal der schlechteste war. Was der römischen Republik fehlte und woran es auch heute wieder mangelt, sind effiziente Instrumente der Elitenkontrolle. Das klassische Athen war hier wegweisend: Anders als die oligarchische Republik Rom war es eine im besten Sinn populäre Demokratie, die ihre Wirtschaftselite durch künstliche Sprengung gewachsener Personenverbände – der Phylen durch die kleisthenische Phylenordnung –, durch Entlohnung politischer Tätigkeit und durch Anwendung des Losverfahrens bei der Besetzung der meisten politischen Ämter einhegte.47 Wir sollten daher den Weg zurück von Rom nach Athen wagen. Einen möglichen Korridor dahin könnte der Begriff des Bürgers weisen, das älteste politische Erbe unserer preziösen Demokratie aus der klassischen Antike. Er ist Souverän, nicht Untertan, und er ist Teilhaber der polis, die nicht mehr ist als die Summe ihrer einzelnen Glieder. Der Gedanke des Bürgers stellt vielfältige Anforderungen an den Einzelnen. Gewiss nicht so extreme wie im alten Griechenland, aber ohne ein Mindestmaß an Identifikation mit der gemeinsamen Sache, ein Quantum Solidarität, Anstand und, vor allem und immer wieder, Bildung, wird der Weg nicht zu bewältigen sein. Es gilt, etliche Ketten zu sprengen, vor allem Apathie und Phlegma zu überwinden. Es gilt auch, Klarheit darüber zu gewinnen, wer Bürger sein soll und wer nicht, wo Grenzen zu ziehen sind und wo nicht, bis wohin wir 47 Die Typologie stammt von McCormick 2006, S. 155-158, der ebenfalls für Losverfahren und »affirmative actions« zugunsten von Nichtelitenangehörigen plädiert. Mit Verve für die Ablösung von Wahl- durch Losselektion hat unlängst auch Reybrouck 2016 argumentiert. Leviathan, 45. Jg., Sonderband 32/2017

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deutsche und ab wo wir europäische Bürger sein wollen und können. Darüber haben sich freie, souveräne Bürger ohne Gängelung und Bevormundung zu verständigen. Literatur Beck, Hans 2005. Karriere und Hierarchie. Die römische Aristokratie und die Anfänge des »cursus honorum« in der mittleren Republik. Berlin: Akademie Verlag. Beck, Hans 2008. »Prominenz und aristokratische Herrschaft in der römischen Republik«, in Die Macht der Wenigen. Aristokratische Herrschaftspraxis, Kommunikation und ›edler’ Lebensstil in Antike und Früher Neuzeit, hrsg. v. Beck, Hans; Scholz, Peter; Walter, Uwe, S. 101-123. München: Oldenbourg. Bleicken, Jochen 1981. »Die Nobilität der römischen Republik«, in Gymnasium 88, S. 236-283. Bleicken, Jochen 1986. Die athenische Demokratie. Paderborn: Ferdinand Schöningh. Dahrendorf, Ralf 2003. »Acht Anmerkungen zum Populismus«, in Transit 25, S. 156-163. Deniaux, Elizabeth 2007. »Patronage«, in A Companion to the Roman Republic, hrsg. v. Rosenstein, Nathan; Morstein-Marx, Robert, S. 401–420. Malden (MA): Blackwell. Develin, Robert 2005. »The Integration of the Plebeians into the Political Order after 366 B. C.«, in Social Struggles in Archaic Rome. New Perspectives on the Conflict of the Orders, hrsg. v. Raaflaub, Kurt, S. 293-311. Oxford: Blackwell. Doyle, Michael W. 1988. Empires. 2. Auflage Ithaca: Cornell University Press. Dunbabin, Thomas James 1948. The Western Greeks. The History of Sicily and South Italy from the Foundation of the Greek Colonies to 480 B. C. Oxford: Oxford University Press. Engels, David 2014. Auf dem Weg ins Imperium. Die Krise der Europäischen Union und der Untergang der römischen Republik – historische Parallelen. Berlin: Europa Verlag. Flaig, Egon 2003. Ritualisierte Politik. Zeichen, Gesten und Herrschaft im Alten Rom. Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht. Gelzer, Matthias 1962 [1912]. Die Nobilität der römischen Republik, in Kleine Schriften, hrsg. v. Strasburger, Hermann; Meier, Christian, Bd. 1, S. 17-135. Wiesbaden: Franz Steiner. Goldmann, Frank 2002. »Nobilitas als Status und Gruppe. Überlegungen zum Nobilitätsbegriff der römischen Republik«, in Res publica reperta. Zur Verfassung und Gesellschaft der römischen Republik und des frühen Prinzipats. Festschrift für Jochen Bleicken zum 75. Geburtstag, hrsg. v. Spielvogel, Jörg, S. 45-66. Stuttgart: Franz Steiner. Graham, Alexander John 1983. Colony and Mother City in Ancient Greece. 2. Auflage. Chicago/Ill.: Ares Publishers. Hanson, Victor Davis 2001. Der Krieg in der griechischen Antike. Berlin: Brandenburgisches Verlagshaus. Hennis, Wilhelm 1983. »Überdehnt und abgekoppelt. An den Grenzen des Parteienstaates«, in Brauchen wir ein neues Parteiensystem?, hrsg. v. Krockow, Christian Graf von, S. 28-46. Frankfurt a. M.: S. Fischer. Hölkeskamp, Karl-Joachim 1987. Die Entstehung der Nobilität. Studien zur sozialen und politischen Geschichte der Römischen Republik im 4. Jhdt. v. Chr. Stuttgart: Franz Steiner. Hölkeskamp, Karl-Joachim 1996. »Exempla und mos maiorum. Überlegungen zum kollektiven Gedächtnis der Nobilität«, in Vergangenheit und Lebenswelt. Soziale Kommunikation, Traditionsbildung und historisches Bewußtsein, hrsg. v. Gehrke, Hans-Joachim; Möller, Astrid, S. 301-338. Tübingen: Gunter Narr. Hölkeskamp, Karl-Joachim 2010. Reconstructing the Roman Republic. An Ancient Political Culture and Modern Research. Princeton: Princeton University Press. Hutter, Horst 1978. Politics as Friendship. The Origins of Class. Notions of Politics in the Theory and Practice of Friendship. Waterloo/Ontario: Laurier. Jehne, Martin (Hrsg.) 1995. Demokratie in Rom? Die Rolle des Volkes in der Politik der römischen Republik. Stuttgart: Franz Steiner Verlag.

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Die aktuelle Krise der Demokratie und der populistische Schmerzensschrei

Die Demokratie leidet heute unter einer Krise der politischen Verantwortlichkeit. Mittlerweile ist für alle Beteiligten offensichtlich geworden, dass selbst »freie und faire« Wahlen kein Personal mehr ins Amt bringen, das für die politischen Ziele und Erwartungen seiner Wähler besonders aufgeschlossen wäre. Außerdem scheinen demokratische Regierungen immer weniger verhindern zu können, dass die reichsten Mitglieder der Gesellschaft unverhältnismäßig viel Einfluss auf Politik und Gesetzgebung nehmen. Man hat fast den Eindruck, Wahldemokratien seien nicht so sehr dafür gemacht, die Volksherrschaft zu ermöglichen als den politischen und ökonomischen Eliten zu erlauben, ja sie geradewegs zu animieren, sich auf öffentliche Kosten zu bereichern und so die Freiheit der Normalbürger zu beeinträchtigen.1 Dass Bürger heutzutage weder in der Lage sind, das Verhalten der Staatsdiener zu kontrollieren, noch der Macht und den Vorrechten der Reichen irgendetwas entgegenzusetzen, beeinträchtigt die Qualität der politischen Repräsentation ganz erheblich; für die Republiken unserer Tage bedeutet dies eine gefährliche Schwächung der Bedingungen von Freiheit und Gleichheit. Aus diesem Grund plädiere ich für radikale institutionelle Reformen der existierenden Demokratien. In Anlehnung an Niccolò Machiavelli, den scharfsinnigsten Analytiker der Volksregierungen früherer Zeitalter, habe ich bestimmte konstitutionelle Maßnahmen und institutionelle Techniken vorgeschlagen, mit denen die Republiken in Zeiten vormoderner Demokratien ihre politischen und ökonomischen Eliten überwachten und kontrollierten. Um der Gefahr zu begegnen, die diese Eliten für ihre Freiheit und Gleichheit darstellten, konnten einfache Bürger in den traditionellen Republiken Untersuchungsmaßnahmen (accountability measures) beantragen und oft auch durchsetzen, die weit über den Mechanismus des Wahlwettbewerbs hinausgingen. Aus den Schriften Machiavellis habe ich folgende Elemente herausdestilliert, die sich zu einem robusten Modell der Volksherrschaft jenseits von Wahlen verbinden: öffentliche Ämter oder Versammlungen, für die die reichsten Bürger nicht kandidieren dürfen; Ernennungsverfahren für hohe Staatsämter, die Losentscheid und Wahlprinzip kombinieren; und politische Strafprozesse, bei denen in letzter Instanz die gesamte Bevölkerung oder zumindest ein Großteil der Bevölkerung über die Verfolgung politischer Straftaten wie der Korruption entscheidet. Den Typus von Volksherrschaft, der mit solchen Institutionen ausgestattet ist, habe ich als »machiavellistische Demokratie« bezeichnet.2 Machiavelli glaubte, dass sich eine Volksherrschaft nur dann verwirklichen lässt, wenn die ökonomische Elite zumindest teilweise vom Regierungsgeschäft ausge1 Vgl. Bartels 2008; Winters 2011; Gilens 2012; Piketty 2014 [2013]. 2 McCormick 2011. Leviathan, 45. Jg., Sonderband 32/2017, S. 41 – 54

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schlossen und das Volk unmittelbar autorisiert ist, Gesetze zu erlassen und über politische Straftaten zu richten. Er war auch der Überzeugung, dass die Bürger nie in den uneingeschränkten Genuss ihrer Freiheit kommen, wenn die Eliten nicht in gewissem Maße um ihr Leben fürchten. Doch der Wunsch nach institutionellen Veränderungen wirft eine durchaus schwierige Frage auf: Wie lassen sie sich, ausgehend von unserer gegenwärtigen Situation, in die Tat umsetzen? Um wirklich etwas zu verändern, braucht man Massenbewegungen. Nur sie können den nötigen Druck auf die politisch und ökonomisch herrschenden Eliten ausüben, damit sich erstere gezwungen sehen, grundlegende institutionelle Veränderungen zu beschließen, und letztere, diese auch zu akzeptieren. Die Frage nach den Mitteln zur Umsetzung institutioneller Veränderungen ist eng mit dem schwierigen Verhältnis von Demokratie und Populismus verknüpft. Diesem Problem ist der vorliegende Aufsatz gewidmet. Einerseits scheint der Populismus für eine effektive Reform der heutigen Demokratie unerlässlich zu sein; andererseits ist er ein Mittel, das sich am Ende genau gegen das Ziel kehren kann, das durch seine Mobilisierung der Massen vielleicht überhaupt erst greifbar wird: eine robuste Form der Demokratie. Émile Durkheim nannte den Sozialismus einmal den »Schmerzensschrei« der modernen Gesellschaft.3 Der Sozialismus war für ihn der Aufschrei jener Menschen, die im eisernen Griff der modernen, säkularen Warengesellschaft bitter unter Entfremdung, Ausbeutung und Desillusionierung litten. Man hatte den modernen Individuen Freiheit, Sicherheit und Glück in einem bis dahin ungekannten Maße versprochen, doch was sie erlebten, war etwas ganz anderes, nämlich die Leiden der Anomie, gegen die der Sozialismus viele wirksame Rezepte parat zu haben schien. Anknüpfend an Durkheim, möchte ich nun die These vertreten, dass der Populismus der »Schmerzensschrei« der modernen repräsentativen Demokratie ist. Er wird sich unweigerlich in Regimen zu Gehör bringen, in denen zwar demokratische Prinzipien gelten, das Volk aber de facto nicht herrscht. Populistische Politiker prangern die herabwürdigenden und verletzenden Auswirkungen eines politischen – insbesondere des repräsentativen – Systems an, das zwar in gewisser Weise verspricht, die Mehrheit regieren zu lassen, aber nicht im entferntesten eine Volksherrschaft im substanziellen Sinne ermöglicht. In repräsentativen Staatsformen herrschen nicht die demokratischen Mehrheiten; diese dürfen lediglich darüber entscheiden, von welchen Eliten sie sich für einen begrenzten Zeitraum regieren lassen. In den meisten Fällen darf man wohl davon ausgehen, dass die Eliten beim Regieren eher ihre eigenen Interessen oder die Interessen mächtiger dritter Parteien verfolgen als die der Mehrheiten, von denen sie gewählt werden. Auch wenn es gute Gründe gibt – auf die ich noch eingehen werde –, sich nicht den Alarmismus zu eigen zu machen, den linke Intellektuelle gerne kultivieren, so ist der Populismus doch fraglos ein zweischneidiges Schwert.4 Als eine besonders unattraktive Eigenschaft des Populismus betrachte ich den Umstand, dass er ten3 Zitiert nach: Durkheim 1986, S. 99. 4 Vgl. Urbinati 2014; etwas prägnanter hierzu: Müller 2014.

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denziell viele Fehler der repräsentativen Demokratie oder Wahldemokratie wiederholt: Wie diese autorisiert er andere (beispielsweise charismatische Führungsgestalten oder eine Außenseiterpartei), im Namen des Volkes zu handeln – ein Szenario, das immer im Widerspruch zu den Prinzipien und Praktiken der Demokratie steht. Und so stellt eine populistische Politik die Bürger in modernen Demokratien vor ein seltsames Dilemma: Während sie eine Politik fordern, die ihre Präferenzen und Interessen getreuer abbildet und durchsetzt als die aus den Wahlinstitutionen hervorgehende Politik, vertraut doch auch der Populismus diese Wünsche des Volkes einzelnen Menschen oder Parteien an, die das Volk ihrerseits, nicht viel anders als die Wahlinstitutionen, lediglich »repräsentieren«; und auch die populistischen Führer und Parteien repräsentieren das Volk auf höchst fragwürdige Weise. Deshalb steht es völlig in den Sternen, ob sich das Los der einfachen Bürger durch die Politik der populistischen Führer und Parteien tatsächlich verbessert; das hängt gänzlich von den Fähigkeiten bzw. dem guten Willen der populistischen Eliten ab (die sich viel zu häufig als heillos inkompetent oder egoistisch erweisen). Außerdem lehrt die Geschichte, dass der Populismus keinesfalls ein Garant für Gesetze, eine Politik oder für Institutionen ist, die das Volk mit einem umfassenderen und direkteren Regierungsmandat ausstatten. Oftmals setzt sich eine Partei oder ein Führer einfach an die Stelle der Wahlinstitutionen, die im Namen des Volkes regieren sollen, statt dem Volk selbst die Ausübung dieser Funktion zu gestatten. Und so kann es durchaus sein, dass der Populismus gerade die Art von robuster Demokratie untergräbt, die heute doch nur durch das populistische Mittel der Massenmobilisierung in greifbare Nähe zu rücken scheint. Trotz allem ist dies kein Grund, den Populismus rundweg abzulehnen, denn es lässt sich sehr wohl zwischen progressiven und reaktionären populistischen Bewegungen unterscheiden. Dafür muss man prüfen, ob eine solche Bewegung institutionelle Reformen anstrebt, die den Bürgern den Weg zur Selbstregierung ebnen, oder nicht. So gesehen kann der Populismus kein Selbstzweck sein, und zwar gerade dann nicht, wenn er die Herrschaft parlamentarischer, juristischer oder bürokratischer Eliten einfach nur durch charismatische Herrschaft oder Parteienherrschaft ersetzen will. Wenn er hingegen Verfahren und Praktiken zu etablieren versucht, die das Volk ermächtigen, sich besser und direkter selbst zu regieren, dann kann er sehr wohl demokratischen Zwecken dienen. Während also eine Demokratie, in der das Volk tatsächlich selbst regiert, den meisten Formen von Populismus entschieden vorzuziehen ist, bedarf man doch einer bestimmten Form von Populismus, um moderne Wahldemokratien im emphatischen Sinne des Wortes demokratischer zu machen. Damit befinden wir uns heutzutage in der paradoxen Situation, auf eine politische Bewegung angewiesen zu sein, in der das Volk nicht herrscht, um politische Systeme reformieren oder erzeugen zu können, in denen es tatsächlich einmal herrschen wird. Deshalb möchte ich, obwohl mir viele Spielarten des Populismus natürlich sehr suspekt sind, vor einer Dämonisierung des Populismus warnen, wie sie im inner- und außerakademischen Diskurs über Populismus und Demokratie heute üblich ist. Ich werde an späterer Stelle noch darauf zurückkommen. Leviathan, 45. Jg., Sonderband 32/2017

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Die Demokratie unterscheidet sich, wie wir sehen werden, grundlegend vom Populismus. In einer Demokratie herrscht das Volk. Wer ist »das Volk«? Unter »dem Volk« versteht man eine Bürgerschaft, zu der nicht zuletzt genügend Individuen und Gesellschaftsgruppen zählen, die man im engeren Sinne als arm bezeichnen kann. (Aus diesem Grund wurde die Demokratie in früheren Zeiten auch von manchem ihrer Kritiker als wenig wünschenswerte, gar empörende oder schreckliche »Herrschaft der Armen« verhöhnt.) Was ist »Herrschaft«? In einer echten Demokratie »herrscht« das Volk durch: (1) gesetzgebende Versammlungen, die allen Bürgern offenstehen; nicht nur durch Versammlungen, die sich ausschließlich aus den Eliten rekrutieren; (2) öffentliche Ämter, die per Losverfahren, nicht per Wahl vergeben werden – d. h., Mitglieder aller Bevölkerungsgruppen können nach einem Zufallsprinzip in öffentliche Ämter gelangen; und (3) politische Gerichte, die aus großen Gruppen zufällig ausgewählter Bürger bestehen, nicht durch Gerichte, die sich aus professionellen Juristen zusammensetzen – das Volk selbst entscheidet, was als politisches Verbrechen gelten soll und welche Strafe für dieses Verbrechen angemessen ist. Jeder Bürger und jede Bürgerin hat in demokratischen Versammlungen das Recht, eine Gesetzesvorlage einzubringen oder über ein Gesetz zu beraten, und die Entscheidungen werden am Ende mit einfacher Mehrheit getroffen, nicht wie heute üblich auf dem Umweg über Zweikammersysteme oder qualifizierte Mehrheiten. In einer Demokratie können alle Bürger, die willens und fähig sind, sich um ein Amt bewerben, indem sie sich in einen Pool von Namen aufnehmen lassen, aus dem die Staatsbediensteten ausgelost werden. Und schließlich können ehemalige Staatsbedienstete und überhaupt jeder Bürger von jedem anderen Bürger angeklagt und vor den großen Bürgerjurys (citizens juries) für Delikte verurteilt werden, die die Demokratie gefährden oder untergraben. Diese stilisierte Beschreibung der Demokratie ist natürlich an die Verfassungen der antiken griechischen Demokratien, insbesondere der athenischen, angelehnt.5 Eine Regierungsform ist meines Erachtens umso weniger demokratisch, je weiter sie sich vom athenischen Modell der direkten Volksgesetzgebung und der per Losverfahren an Bürger übertragenen exekutiven und juristischen Gewalt entfernt.6 In einer wesentlichen Hinsicht sind die modernen repräsentativen Demokratien oder Wahldemokratien vielleicht »demokratischer« als die antiken: Sie haben den Status des Bürgers so erweitert, dass er immer mehr Arme umfasst; sie haben (spät) Frauen die vollen Bürgerrechte gewährt; und sie haben (am Ende) die Sklaverei abgeschafft.7 Doch moderne Demokratien sind insofern viel weniger demokratisch, als sie die direkte Herrschaft durch Repräsentation und das Losverfahren durch Wahlen ersetzt haben; und statt politische Laien aus der Bürgerschaft mit der Aufgabe zu betrauen, Amtsträger für politische Verbrechen zu bestrafen,

5 Vgl. Hansen 1991. 6 Vgl. Finley 1985. 7 Vgl. Dahl 1989.

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übertragen sie diese Aufgabe professionellen Richtern oder anderen Amtsträgern.8 Eine moderne Demokratie weist somit wesentlich mehr »Demos«, aber viel weniger »Kratos« auf als ihr antikes Pendant; zwar bezieht sie einen größeren Teil der Bevölkerung als Bürger mit ein, doch gibt sie natürlich diesen Bürgern kein so robustes Mandat wie die athenische Demokratie. So steht es um die Demokratie; und was ist mit dem Populismus? Noch einmal: Der Begriff des Populismus bezieht sich auf eine durch Mobilisierung des Volkes gekennzeichnete Bewegung, die allerdings nicht unbedingt die Volksherrschaft zum Ziel haben muss. Normalerweise tritt der Populismus außerhalb staatlicher Institutionen in Erscheinung: in Gestalt zivilgesellschaftlicher Vereinigungen, sozialer Organisationen und Massendemonstrationen. Seinem Ursprung und seinen Absichten nach ist er »volkstümlich bzw. populär«: Eine große Menge von Personen und gesellschaftlichen Gruppen (allerdings nicht immer die Bevölkerungsmehrheit) vereinigen sich unter dem Banner eines Themas oder eines Programms, dessen Ziel immer als vorteilhaft für die Mehrheit der Bürger dargestellt wird. Als wesentlichen Unterschied zwischen dem heutigen Populismus und der traditionellen Demokratie können wir mithin festhalten: Der Populismus beauftragt letztlich einen einzelnen Führer oder eine politische Partei mit der konkreten Umsetzung der politischen Ziele, die sich die Bewegung auf die Fahnen geschrieben hat. In einer Demokratie hingegen entscheidet immer das Volk. Wenn Kritiker also behaupten, dass »Demagogie« gleichermaßen für den Populismus wie für die Demokratie eine intrinsische Gefahr darstelle, dann verwechseln sie zwei Dinge. Der erfolgreiche populistische Demagoge wird das Amt entweder selbst übernehmen und die von den Mitgliedern seiner Bewegung getragenen politischen Programme persönlich in die Tat umsetzen (so wie beispielsweise Mussolini oder Lenin); oder er wird sein Ansehen und sein politisches Kapital darauf verwenden, Amtsträger, die nicht Teil der Bewegung sind, so zu beeinflussen, dass sie dies im Namen seiner Bewegung tun (wie zum Beispiel Martin Luther King oder Gandhi). Der demokratische Demagoge hingegen wird versuchen, das formal versammelte Volk zur Verabschiedung einer Politik zu bewegen, von der angeblich das Volk profitiert (ich denke hier an Perikles, Alkibiades oder Cleon). Das heißt, in einer Demokratie liegt die Verantwortung für eine Politik oder ein Gesetz letzten Endes beim Volk, während Entscheidungen im Populismus eher von Eliten getroffen werden, die (in zweiter oder dritter Instanz) im Namen und/ oder im Interesse des Volkes handeln. In diesem Sinne gab es in den Demokratien und demokratischen Republiken der Antike keinen »Populismus«. Tiberius Gracchus mag im alten Rom weitreichende Reformen zum Zwecke der ökonomischen Umverteilung angestrengt haben; dem populus Romanus aber oblag es, eine solche Gesetzgebung zu beschließen. Die »Plebejer« oder der »Demos« moderner Republiken vertrauen hingegen vollkommen darauf, dass Mittler eine Politik für sie aushandeln, die für mehr Gleichheit sorgen soll (in den westlichen Demokratien etwa Mittler wie die Gewerkschaften); oder sie verlassen sich darauf, dass Mittler die bestehende institutionelle 8 Vgl. Manin 1997. Leviathan, 45. Jg., Sonderband 32/2017

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Ordnung zerstören und eine andere errichten, um eine neugeborene Form von Gleichheit zu verwirklichen (wie beispielsweise die kommunistischen Parteien des 20. Jahrhunderts in Russland und China). Zu den namhaften Beispielen für populistische Bewegungen gehören nach dieser Definition: das Jakobinertum im revolutionären Frankreich; die Chartisten-Bewegung im England des 19. Jahrhunderts; der russische Bolschewismus und der italienische Faschismus des 20. Jahrhunderts sowie die People’s Party (auch Populist Party) in den USA der 1890er Jahre.9 Heutzutage gebraucht man den Begriff typischerweise für den Chavismus in Venezuela, rechtsextreme Parteien in Europa, die US-amerikanische Tea Party und den Wahlkampf, den Donald Trump um den Einzug ins Weiße Haus geführt hat. In Wahldemokratien ist der Populismus also, wie schon gesagt, die Kehrseite der normalen Politik, denn in dieser kommen immer nur Kandidaten an die Macht, die es billigen oder gar fördern, dass die politische Gleichheit durch sozioökonomische Ungleichheit untergraben wird. Da der Wahlprozess nämlich entweder Personen in öffentliche Ämter bringt, die selbst extrem reich sind, oder solche, die wegen der enormen Summen an Spendengeldern, die sie für einen erfolgreichen Wahlkampf eintreiben mussten, nach ihrer Wahl (egal, ob sie selbst reich sind oder nicht) den Interessen des Kapitals verpflichtet sind, werden Wahldemokratien nicht zu Unrecht oft als Oligarchien beschrieben. Das unterscheidet den Wahlprozess von traditionellen demokratischen Praktiken. Die antiken Demokratien vertrauten auf eine Art inoffiziellen Waffenstillstand zwischen armen und reichen Bürgern, der darin bestand, dass der Demos von einer unmäßigen »Enteignung der Reichen« absah, solange die Reichen nicht missbräuchlich ihre unermesslichen finanziellen Ressourcen und ihr öffentliches Gewicht dafür einsetzten, die politische Gleichheit zu untergraben und die demokratischen Institutionen zu korrumpieren.10 Der Waffenstillstand hingegen, den Wahldemokratien strukturell erzwingen, läuft auf eine eklatante Bevorzugung reicher Bürger hinaus, was sowohl die soziopolitische Ungleichheit verschärft als auch die demokratischen Institutionen aushöhlt.11 So erklärt sich die Entstehung des Populismus in modernen Demokratien. Wenn die ärmeren Bürger moderner Wahldemokratien die ökonomischen Vorteile der Reichen als Bedrohung wahrnehmen, dann schließen sie sich einem linken Populismus an, um Einfluss auf die Ergebnisse des politischen Räderwerks zu nehmen, dessen unmittelbare Kontrolle ihnen entzogen bleibt. Ist es dem Populismus gelungen, eine relative sozioökonomische Gleichheit zu bewahren oder zu befördern (wie etwa in Westeuropa nach den beiden Weltkriegen), dann versuchen die sozioökonomischen Eliten als Reaktion darauf häufig, eine rechte populistische Bewegung loszutreten, die den Zuwachs an Gleichheit in Grenzen halten oder möglichst wieder rückgängig machen soll. Derartige populistische Bewegungen von 9 Vgl. Maloy 2013, S. 145-187. 10 Vgl. Ober 1991. 11 Vgl. Winters 2011.

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rechts mobilisieren religiöse, ethnische oder kulturelle Aspekte der nationalen Identität; sie beschwören damit bestimmte Überzeugungen der ärmeren Bevölkerung, die oft im Widerspruch zu ihrem Wunsch nach sozioökonomischer Gleichheit stehen. Die Prinzipien von »Freiheit« und »Gleichheit« werden unter diesen Umständen nicht so sehr politisch als vielmehr kulturell gedeutet. Die Eliten appellieren an die nichtökonomischen, affektiven oder emotionalen Bindungen der Bürger oder an ihre Angst vor »fremden Bedrohungen«, um die nationale Solidarität auf einer anderen Grundlage zu rekonstruieren als auf der Basis sozioökonomischer Gleichheit. Deshalb machen Kritiker immer wieder darauf aufmerksam, dass die amerikanische Tea Party keine echte »Graswurzel«-Bewegung ist12 und dass der Faschismus genau wie jüngere rechtsextreme Bewegungen in Europa, weit mehr als die europäische Sozialdemokratie oder sogar der Kommunismus (für die dies selbstverständlich auch in hohem Maße gilt), ein von Eliten betriebenes Projekt war bzw. ist.13 Die rechtspopulistischen Beispiele lassen vermuten, dass politische Feindschaft eher durch populistische Bewegungen als durch genuin demokratische Formen der Politik erzeugt wird. Der Demos im antiken Athen begegnete den Oligarchen genau so, wie auch die Plebejer im alten Rom ihre patrizischen Mitbürger betrachteten: nämlich mit intensivem Misstrauen. Man überwachte ihr Verhalten mit größter Strenge und bestrafte ihre politischen Verfehlungen mit äußerster Härte. Doch die Bürger der Antike hatten offenbar nicht das Bedürfnis, ihre Gegner deshalb gleich als Feinde abzustempeln, wie es die Mitglieder populistischer Bewegungen so oft machen. Das lag möglicherweise daran, dass sie direkten Zugang zu den Herrschaftsmechanismen besaßen. Man denke in diesem Zusammenhang etwa an die folgenden Gegenpole: Jakobiner versus »Aristokraten« oder »Emigrierte«; Kommunisten und Faschisten versus »Bourgeoisie«; Nationalsozialisten versus »Juden« und »Bolschewisten«; und in den USA bezeichnen die Tea Party und Trump ihre Feinde entweder als »illegale Einwanderer« oder als eine amorph gefasste »elitäre« oder »liberale« politische Klasse – am liebsten natürlich als beides zusammen. Die zweifelhafte Intensität der politischen Auseinandersetzung mag der natürlichen Frustration geschuldet sein, die Bürger in reinen Wahldemokratien empfinden – da hier, wie James Madison stolz verkündete, »das Volk in seiner Eigenschaft als Kollektiv von jedem Anteil an der Regierung ausgeschlossen ist«.14 Doch selbst in großen Territorialstaaten hätte man die einfachen Bürger vielleicht nicht so drastisch vom modernen System demokratischer Herrschaft ausschließen müssen. So war Machiavelli der Ansicht, dass der Vorwurf des Extremismus und der Sprunghaftigkeit, der von Seiten aristokratischer Kritiker schon immer gegen das Volk vorgebracht wurde, in dem Maße seine Stichhaltigkeit verliert, wie man 12 Vgl. Skocpol, Williamson 2012. 13 Vgl. Mason 1995. 14 Madison 1993 [1788] (Nr. 63), S. 381. Leviathan, 45. Jg., Sonderband 32/2017

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das Volk in die Lage versetzt, selbst zu urteilen und konkret über politische Fragen zu entscheiden. Er hielt es für möglich, dass das Volk zwar alle möglichen haarsträubenden Dinge (wie etwa die Liquidierung aller Aristokraten oder die vollständige Zerstörung feindlicher Städte) forderte, solange es vom Regierungsgeschäft ausgeschlossen blieb; doch glaubte er, es würde angemessen und verantwortungsbewusst urteilen, sobald man ihm Entscheidungskompetenz gäbe – zumindest angemessener und verantwortungsbewusster als die entsprechend entscheidungsbefugten Eliten.15 Im Bereich der großen Theorie sind wahrscheinlich Carl Schmitt und Wladimir Iljitsch Lenin die wichtigsten geistigen Anwälte des Populismus, wie ich ihn verstehe.16 Schmitt befand, dass ein plebiszitär gewählter Regierungschef (z. B. der Reichspräsident der Weimarer Republik) oder ein vom Volk »bejubelter« Parteiführer, der das ganze deutsche Volk [deutsch im Original] erfolgreich »homogenisierte« (d. h. Adolf Hitler), den Volkswillen am besten verwirklichten. Auf ähnliche Weise legitimierte Lenins »demokratischer Zentralismus« den Herrschaftsanspruch der Kommunistischen Partei im Namen des russischen Proletariats. Interessant ist, dass die fortschrittlichen Formen von Populismus wie die populistische Bewegung in den USA zur Jahrhundertwende oder die westeuropäische Gewerkschaftsbewegung im 20. Jahrhundert keine solchen »Meisterdenker« hervorgebracht haben. Möglicherweise fand die antike Demokratie aus ähnlichen Gründen unter Philosophen und Historikern nur wenige Fürsprecher. Aristoteles gilt als der größte »objektive« Theoretiker der antiken Demokratie, und Machiavelli – und nicht etwa Jean-Jacques Rousseau!17 – ist meines Erachtens, wie schon gesagt, der nachdrücklichste Fürsprecher von Institutionen und Praktiken, die der antiken Demokratie nahekommen.18 Machiavelli plädierte für große Versammlungen, in denen alle Bürger ungeachtet ihres Standes oder Wohlstands sowohl Gesetze einbringen, diskutieren und beschließen als auch Urteile über das Schicksal politischer Vergehen angeklagter Mitglieder der Elite fällen konnten. Außerdem sprach er sich für Ämter wie das Volkstribunat aus, in die sich wohlhabende und prominente Bürger nicht wählen lassen konnten – die Volkstribune waren politische Amtsträger, die in der Römischen Republik wichtige gesetzgebende, richterliche und Vetorechte besaßen. Auch wenn mit diesen klassenspezifischen Magistraten keine so weite Verbreitung von Ämtern unter einfachen Bürgern verbunden war wie mit dem politischen Losverfahren im alten Athen, so sorgten sie doch gewiss für einen weiteren Zugang zu politischen Ämtern, als es die allgemeinen Wahlen in modernen repräsentativen Demokratien tun. 15 Vgl. Machiavelli 1966 [1531], I.7-8, 47, 58. 16 Vgl. Schmitt 1928; 1932; 1931; 1934. Lenin 1987. 17 Es gibt keinen schärferen Kritiker der athenischen Demokratie als Rousseau, der in großen Republiken für eine gewichtete Abstimmung zugunsten reicher Bürger plädierte: vgl. Rousseau 1977 [1762]; hier: Viertes Buch, 4. Von den römischen Comitien, S. 120-132. Vgl. auch McCormick 2007. 18 Vgl. McCormick 2011.

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Eine besonders beeindruckende und temperamentvolle wissenschaftliche Gegnerin des Populismus ist Nadia Urbinati. In ihrem kürzlich erschienenen Buch Democracy Disfigured verteidigt sie die heutige Form der repräsentativen Herrschaft vehement gegen populistische Anfeindungen.19 Doch mit ihrer begeisterten Lobrede auf die repräsentative Demokratie und ihrer massiven Abwehr des Populismus ist die Gefahr einer gewissen Selbstgefälligkeit verbunden, die den Blick auf die gegenwärtige Krise der Demokratie und die Notwendigkeit bestimmter Reformen unserer heutigen demokratischen Praxis zu versperren droht.20 Urbinatis der Geistesgeschichte und der empirischen Realität entnommene Rekonstruktion der repräsentativen Herrschaftsform schafft keinen Ausblick auf eine fortschrittliche Reform der gegenwärtigen Demokratie. Ihre Darstellung der repräsentativen Demokratie spielt die strukturellen Ungleichgewichte, die Wahlkämpfe heutzutage zugunsten gewisser mächtiger, etablierter Minderheiten verzerren, dramatisch herunter. Durch ihre Widerstände gegen alle Formen von Populismus beraubt sie sich jeder Möglichkeit, das akute Problem der ökonomischen und damit auch politischen Ungleichheit in den heutigen Demokratien zu adressieren. Im Hinblick auf die Frage populistischer Politik verfolgt Urbinati zwei Strategien: Einerseits behauptet sie, der Begriff des Populismus sei zu schwammig, um überhaupt irgendeine Bedeutung zu besitzen; andererseits stellt sie ihn zugleich als einen entscheidenden Schritt hin zu den schändlichsten Formen eines autoritären Extremismus dar.21 Vertreter des Populismus werden in ihrem Buch Democracy Disfigured folglich abwechselnd als begriffsverwirrte Naivlinge oder als Proto-Cäsaren porträtiert. Urbinati liefert viele Belege für die Zweischneidigkeit des Populismus; sie bemerkt zu Recht, dass dieses Phänomen der Demokratie unter gewissen Umständen22 (wie beispielsweise in den Vereinigten Staaten im 19. Jahrhundert und in bestimmten latein- und südamerikanischen Staaten im 20. Jahrhundert)23 förderlich war. Deshalb ist es umso weniger nachvollziehbar, wie Urbinati zu der Überzeugung kommt, der Populismus sei generell ein rechtes Phänomen; mit ihm sieht sie unweigerlich die Gefahr verbunden, dass demokratieförderliche Verfassungsprinzipien ausgehebelt und Minderheitenrechte beschnitten werden.24 Populismusfreundlichen Demokraten wirft Urbinati vor, sich den Populismus nach Gutdünken zurechtzulegen und auf seine fortschrittlichsten historischen Erscheinungsformen zu reduzieren. Warum man ihn aber prinzipiell mit seinen reaktionärsten Versionen identifizieren sollte, begründet sie in keiner Weise.

19 Urbinati 2014. 20 Einige dieser Fragen habe ich mit Urbinati in einer Reihe von Postings in dem von Lorenzo del Savio und Matteo Mameli initiierten Blog Il Rasoio di Occam (Ockhams Rasiermesser) diskutiert (Februar bis Dezember 2014). 21 Urbinati 2014, S. 4 f., 7 ff., 11 f., 128 f., 231 f., 134, 152-158. 22 Ebd., S. 145-149, 232. 23 Vgl. Maloy 2013, bes. S. 145-187. 24 Urbinati 2014, S. 131-142, 145 f., 166 f. Leviathan, 45. Jg., Sonderband 32/2017

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Praktisch alle Anklagepunkte, die Urbinati gegen den Populismus auflistet – insbesondere die Schreckensvisionen ungewisser Ergebnisse und größtmöglichen Machtmissbrauchs –, ließen sich ganz genauso gegen den Status quo der repräsentativen Demokratie – so wie sie ihn definiert – vorbringen. Urbinati befürchtet, dass in die Logik des Populismus keinerlei Verantwortlichkeitsmechanismus eingeschrieben ist, so dass sich die Vielen – oder wahrscheinlich eher die Demagogen, von denen sie sich verführen lassen – auf die existenzielle Legitimität »des Volkes« berufen werden, um demokratische Verfassungsprinzipien über Bord zu werfen.25 Doch das ist eine Übertreibung. Urbinati übersieht geflissentlich, dass die Interaktionen zwischen sozialen Bewegungen, politischen Parteien und staatlichen Institutionen doch meist hohe Hürden gegen einen hemmungslosen Cäsarismus errichten – egal ob die Gefahr nun Berlusconi, Le Pen oder Trump heißt; und nicht einen Augenblick zieht sie in Erwägung, wie stark derartige Interaktionen genau die Art von öffentlicher Debatte befördern, die zu einer gesunden öffentlichen Meinungsbildung beiträgt; stattdessen schreibt sie diese ausschließlich dem Status quo der repräsentativen Demokratie zu. Dabei kann nun wirklich keine Rede davon sein, dass es in den repräsentativen Demokratien unserer Tage ein Übermaß an starker Rechenschaftspflicht gäbe; dieser Umstand ist ja viel eher eine Erklärung dafür, warum die verschiedenen Spielarten des Populismus heute so durchschlagenden politischen Erfolg haben. Den genannten politischen Zusammenhängen trägt das etwas abgehobene Modell Urbinatis nicht genügend Rechnung. Was sie uns als repräsentative Demokratie vorstellt, ist in gewissem Sinne ein idealisiertes Amalgam aus dem Pluralismus Hannah Arendts und der deliberativen Demokratie John Stuart Mills. Die so geschaffene Idealvorstellung, dass aus den Interaktionen zwischen Gesellschaft und Staat eine solide repräsentative öffentliche Meinung hervorgeht, und zwar auf eine Art und Weise, die alle Bürger nicht nur als Zuschauer, sondern tatsächlich als Akteure impliziert, ist zweifellos überaus attraktiv.26 Urbinatis Idealisierungen laufen allerdings Gefahr, die politische Wirklichkeit der heutigen repräsentativen Demokratien kritiklos zu legitimieren. Den einzigen Makel, den Urbinati hier erkennen möchte, ist die Rolle, die das Geld heutzutage in der Politik spielt. Dieses Problem ließe sich aber ihres Erachtens durch eine solide Reform der Wahlkampffinanzierung unschwer beseitigen.27 Und natürlich könnte man in einer so idealen Demokratie, wie Urbinati sie konstruiert, eine Wahlfinanzierungsreform auch erfolgreich durchsetzen. Doch wenn wir uns das Fehlen wirksamer Mechanismen der Verantwortlichkeit (accountability mechanisms) vor Augen halten, das die real existierende Welt unserer repräsentativen Demokratien kennzeichnet, dann erscheint es doch mehr als unwahrscheinlich, dass sich die notwendigen Reformen in einem System verwirklichen lassen, in dem die für die Reformen Zuständigen am meisten von deren Sabotage profitie25 Ebd., S. 137-143. 26 Ebd., S. 3 f., 45, 77 f., 171. 27 Ebd., S. 54-68.

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ren. Um derartige Reformen auf den Weg zu bringen, ist nach meiner Einschätzung eine populistische soziale Bewegung unerlässlich. Angeblich ist die athenische Demokratie für Urbinati das geistig-politische Maß aller Dinge: Sie betont den formal egalitären Charakter der Isonomie und die positiven Effekte des Prinzips der Isegorie auf die Redefreiheit, dass nämlich jeder, der in einer Versammlung das Wort ergreifen möchte, auch die Freiheit hat, dies zu tun.28 Doch Urbinati übersieht das entscheidende in Athen praktizierte demokratische Prinzip des ho boulómenos, das jedem Bürger (»jedem, der will«) erlaubte, bei den Losentscheiden für die Besetzung eines politischen Richteramts seinen Hut in den Ring zu werfen. Dank dieses Prinzips hatte tatsächlich jeder Bürger von Athen, der wollte, eine echte Chance, ein Amt zu bekleiden – weitgehend unabhängig von den Auswirkungen des sozioökonomischen Machtgefälles in der Stadt. Diesen wichtigen Bestandteil der politischen Praxis im alten Athen können die repräsentativen Demokratien von heute ihren Bürgern nicht anbieten, nicht einmal in der maximal idealisierten Version Urbinatis; die allgemeine Möglichkeit der Ausübung direkter politischer Macht durch beliebige dazu gewillte Bürger bleibt mithin ausgeschlossen. Selbst in repräsentativen Demokratien, in denen Wahlkämpfe durch öffentliche Gelder subventioniert werden, ist die Ausübung eines politischen Amtes aufgrund der immensen materiellen und anderweitigen Kosten von Wahlkampagnen für den Normalbürger eigentlich ein Ding der Unmöglichkeit. Zumindest aber sieht sich der Normalbürger, der um ein politisches Amt kämpft, in einer Wahldemokratie dazu gezwungen, zum Klienten jener Personen und Gruppen zu werden, die seine Kampagne finanzieren. Nach meinem Geschmack viel zu beiläufig schließt Urbinati aus, dass sich die athenische Praxis des Losentscheids wirksam auf die heutigen Verhältnisse anwenden ließe.29 Das mag ja stimmen; es könnte aber genauso gut falsch sein. Solange es der repräsentativen Demokratie jedenfalls nicht gelingt, wenigstens in minimalem Sinne für eine gleiche Verteilung und Ausübung der politischen Macht unter den Bürgern zu sorgen, werden populistische Bewegungen immer legitime Gründe finden, um sie in Frage zu stellen – und zwar in radikalerer und in meinen Augen berechtigterer Form, als Urbinati es akzeptieren würde. Urbinatis Schmähschrift gegen den Populismus blendet vollkommen jene Populisten aus, die ein politisches System demokratischer und majoritärer machen wollen, das grundsätzlich repräsentativ, wahl- und parteienbasiert bliebe – und das dennoch die Gewaltenteilung bewahren und den Primat persönlicher Rechte beibehalten könnte.30 Viele Populisten fragen sich heute schließlich sehr ernsthaft: Wie können wir Gesetzesreferenden, Losentscheide und Bürgerrichter für politische Strafprozesse in das bestehende System der repräsentativen Demokratie integrieren? Das antike Athen lässt sich nicht wieder zum Leben erwecken, befindet 28 Ebd., S. 62, 163. 29 Ebd. S. 12. 30 Vgl. Dowlen 2008; Smith 2009; Stone 2011; Goodin 2012. Leviathan, 45. Jg., Sonderband 32/2017

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Urbinati. Doch wer würde das Gegenteil behaupten? Die Frage ist, ob man die repräsentative Demokratie von heute auf eine »athenischere« Weise korrigieren kann, als antipopulistische Demokraten es sich vorzustellen vermögen. Kurzum: Populistische Sehnsüchte können dazu beitragen, dass sich Bürger für politische Institutionen engagieren, die die repräsentative Herrschaft demokratischer machen. Wir müssen dem populistischen Schmerzensschrei, der jüngst in den Demokratien auf der ganzen Welt eine Welle von Vorschlägen und Initiativen ausgelöst hat, mehr Aufmerksamkeit und mehr Sympathie entgegenbringen. Viele Politikwissenschaftler und politische Aktivisten haben erkannt, dass die maßgeblichen Institutionen der repräsentativen Wahldemokratien weder gewährleisten, dass die Regierenden die Interessen der normalen Bürger respektieren, noch, dass sie sich diesen gegenüber verantworten müssen. Ihnen ist im Wesentlichen klar, dass wenige Privilegierte – Interessenlobbys, Wirtschaftseliten, reiche Privatpersonen – einen übermäßig großen Einfluss auf die öffentliche Politik besitzen und dass sie in Wirklichkeit über die Köpfe einer überwältigenden Mehrheit der Bürger – zumal über die der Mittelklasse, der Arbeiterklasse und der Armen – hinweg regieren. Viele dieser Reformvorschläge erscheinen dem wissenschaftlichen Mainstream, für den Urbinati steht, »utopisch«, weil sie Kernprinzipien und -praktiken unserer repräsentativen Demokratien anzweifeln. Diese Vorschläge zielen darauf ab, die Funktionsweise antiker Volksregierungen sehr weitgehend zu imitieren, wenn nicht gar zu kopieren. An die Stelle der Zustimmung des Volkes zu den Herrschenden versuchen sie, tatsächlich wieder eine Volksherrschaft zu setzen. Man ist genauer gesagt bestrebt, in Gesetzgebung und Politik direkte Volksentscheide zu erleichtern, und bemüht sich, mehr normale Bürger in politische Ämter zu bringen, als das bei allgemeinen Wahlen geschieht. Daraus erklärt sich auch die zentrale Bedeutung, die in diesem Zusammenhang weltweit Gesetzesreferenden und Bürger-Losentscheiden zugeschrieben wird.31 Die genannten Elemente sind dabei so konzipiert, dass sie Urbinatis eng gefasster Kritik an Plebisziten entgehen und ihre wenig fundierte Ablehnung des Losverfahrens in Frage stellen.32 Da diese jüngste Welle institutioneller Reformbemühungen gewissermaßen eher athenischer und römischer als philadelphischer oder Pariser Prägung ist, unterscheidet sie sich auch qualitativ von früheren Reformwellen. So wollten beispielsweise die englischen Reformer des 19. Jahrhunderts das Wahlrecht auf die Arbeiterklasse ausdehnen, und ihre amerikanischen Pendants im 19. und 20. Jahrhundert konnten die folgenden Veränderungen durchsetzen: das Frauenwahlrecht, die direkte Wahl der Senatoren sowie die innerparteilichen Vorwahlen (primaries), bei denen gewöhnliche Parteimitglieder ihre jeweiligen Präsidentschaftskandidaten bestimmten. Bei diesen früheren Reformen der demokratischen Institutionen ging es darum, den Kreis der Wahlberechtigten zu erweitern und den Geltungsbereich der Wahlinstitutionen zu vergrößern. Doch – und das ist entscheidend – sie stellten das Konzept der Wahldemokratie selbst nicht in Frage; sie versuchten mit an31 Vgl. Dowlen 2008; Stone 2011; Goodin 2012. 32 Urbinati 2014, S. 12, 176-180, 217-225.

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deren Worten nicht, den normalen Bürgern zu einer unmittelbareren und umfassenderen Teilhabe an der Herrschaft zu verhelfen. Demokratiefreundliche Theoretiker und Aktivisten des Populismus weisen zu Recht darauf hin, dass die Institutionen der repräsentativen Demokratie geduldet (oder zumindest nichts dagegen unternommen) haben, dass die ökonomische Ungleichheit in kapitalistischen Demokratien im Laufe der letzten fünfzig Jahre in astronomische Höhen geschnellt ist. Und diese Institutionen sehen auch immer wieder wohlwollend zu, wie sich Regierungen vor den Karren einzelner privilegierter Minderheiten spannen lassen. Aus diesen Gründen fordern Reformbewegungen parteiungebundene oder außerparteiliche Institutionen, die einerseits für eine direkte Bürgerbeteiligung an der Gesetzgebung und andererseits für eine Vergabe wichtiger öffentlicher Ämter nach dem Zufallsprinzip sorgen. Ich fasse zusammen: Die Institutionen der repräsentativen Wahldemokratie haben sich in ihrer gegenwärtigen Form überlebt; und den Populismus darf man nicht als Ziel an sich betrachten. Doch in der Phase demokratischer Erneuerung, in der wir uns augenblicklich befinden, kann und muss der Populismus eine Funktion für die Verwirklichung der damit einhergehenden Ziele übernehmen: Wir leben in einer Zeit, in der die Kratos-Komponente der Demokratie radikal wiederbelebt und gestärkt wird; in einem historischen Moment, in dem das Volk seinen Herrschaftsanspruch erneuert. Aus dem Amerikanischen von Bettina Engels Literatur Bartels, Larry M. 2008. Unequal Democracy: The Political Economy of the New Gilded Age. Princeton, NJ: Princeton University Press. Dahl, Robert Alan 1989. Democracy and Its Critics. New Haven, CT: Yale University Press. Del Savio, Lorenzo; Mameli, Matteo 2014. Il Rasoio di Occam. http://ilrasoiodioccam-microm ega.blogautore.espresso.repubblica.it (Zugriff vom 25.8.2017). Dowlen, Oliver 2008. The Political Potential of Sortition: A Study of the Random Selection of Citizens for Public Office. Exeter: Imprint Academic. Durkheim, Émile 1986. Durkheim on Politics and the State, hrsg. v. Anthony Giddens. Stanford, CA: Stanford University Press. Finley, Moses I. 1985. Democracy Ancient and Modern. New Brunswick, NJ: Rutgers University Press. Gilens, Martin 2012. Affluence and Influence: Economic Inequality and Political Power in America. Princeton, NJ: Princeton University Press. Goodin, Robert E. 2012. Innovating Democracy: Democratic Theory and Practice After the Deliberative Turn. Oxford: Oxford University Press. Hansen, Mogens H. 1991. The Athenian Democracy in the Age of Demosthenes: Structure, Principles, and Ideology. Norman, OK: Oklahoma University Press. Lenin, Vladimir I. 1987. What Is to Be Done? and Other Writings, hrsg. v. Christman, Henry M. Mineola, NY: Courier Dover Publications. Machiavelli, Niccolò 1966 [1531]. Discorsi. Gedanken über Politik und Staatsführung, übers., eingel. und erl. von Zorn, Rudolf. Stuttgart: Kröner. Madison, James 1993 [1788]. «Federalist Paper Nr. 63«, in Hamilton, Alexander; Madison, James; Jay, John. Die Federalist Papers, hrsg. und übers. von Zehnpfennig, Barbara. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. Maloy, J. S. 2013. Democratic Statecraft: Political Realism and Popular Power. Cambridge: Cambridge University Press.

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Die Kritik der liberalen Gesellschaft und die ambivalente Rolle des ›Volkes‹1

Einleitung Erst kürzlich wurde der Liberalismus als hegemonial innerhalb der Politischen Theorie und Philosophie der vergangenen rund fünfzig Jahre beschrieben.2 Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass auch die Kritik des Liberalismus und der liberalen politischen Theorie im gleichen Zeitraum beinahe zu einem eigenen Genre innerhalb der Politischen Theorie geworden ist und auch im vorwissenschaftlichen politischen Denken liberale Grundsätze immer wieder in Frage gestellt werden. Gegenwärtig weht der kritische Wind in Europa und den USA vornehmlich aus der rechten Ecke, was eine nicht aus diesem Lager formulierte Liberalismuskritik, die nicht weniger als einen »emanzipatorischen Populismus«3 fordert, zu einem umso faszinierenderen Gegenstand der akademischen und publizistischen Auseinandersetzung macht. Vorgebracht wurde eine solche vom französischen Sozialphilosophen Jean-Claude Michéa, und Wellen geschlagen hat sie insbesondere aufgrund falsch ausgelegter Aussagen Marine Le Pens, die den Anschein erweckten, Michéa schwinge sich zum Hausphilosophen des Front National auf und nehme eine Rolle ein, die hierzulande etwa Marc Jongen für die Alternative für Deutschland spielt. Weder jedoch war dies von Michéa intendiert,4 noch spielt er den Rechtspopulisten mit seinem Das Reich des kleineren Übels in die Karten.

1 Für hilfreiche Anmerkungen und Korrekturen zu dieser und früheren Versionen des Textes danke ich den Herausgebern, den Gutachtern, den Teilnehmern und Teilnehmerinnen am Autoren-Workshop in Darmstadt sowie Rieke Trimcev, Tobias Bartels und Steffi Krohn. 2 Nonhoff 2016. 3 Jener treffende Begriff findet sich auf dem Buchrücken der bei Matthes & Seitz erschienenen deutschen Übersetzung von Michéas Essay, der bereits 2007 im französischen Original erschienen war. 4 Michéa lässt sich im politischen Spektrum vergleichsweise schwer verorten, der Nouvel Observateur bezeichnete ihn jüngst als »philosophe inclassable« (http://bibliobs.nouvelo bs.com/essais/20110922.OBS0908/pour-un-anarchisme-conservateur.html; Zugriff vom 31.08.2017), was sicherlich auch auf die vergleichsweise tiefen politischen Gräben zurückzuführen ist, die sich innerhalb der intellektuellen Elite Frankreichs seit jeher auftun und die zu einer ›Entweder-für-oder-gegen-uns’-Mentalität beitragen, die die Verortung von Querdenkern zusätzlich erschwert. Am ehesten ließe sich Michéa vermutlich als unorthodoxer Linker bezeichnen. Im hiesigen Kontext wird es mir darüber hinaus um den Nachweis eines republikanischen Einschlages seines Denkens gehen. Vgl. zur Debatte um Michéa und den FN Paoli 2015, S. 43. Leviathan, 45. Jg., Sonderband 32/2017, S. 55 – 77

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Ich möchte mich Michéas Argumentation im Folgenden aus einer ideengeschichtlichen Perspektive annehmen und sie kritisch diskutieren. So bemerkenswert und in Teilen scharfsinnig mir Michéas Diagnose und Kritik der liberalen Gesellschaft erscheinen, so problematisch empfinde ich die von ihm skizzierte Lösungsstrategie. Ich möchte angesichts dessen den Nachweis erbringen, dass die von Michéa ins Feld geführten Auswege aus der liberalen Malaise zum einen wohlbekannt sind und zum anderen von mangelhaftem Erfolg gekrönt wurden, weil sie entweder die dem Liberalismus eigenen Freiheitspotenziale vollständig außer Acht gelassen haben oder aber so sehr in vormodernen Denkmustern verharrten, dass sie in der politischen Moderne keine Anwendung mehr finden konnten. Das Argument soll im Rahmen einer Auseinandersetzung mit dem politischen Denken der US-amerikanischen Gründerzeit und dem kontinentaleuropäischen Frühsozialismus einerseits und der Vorstellungswelt des populist movement in den USA des ausgehenden 19. Jahrhunderts andererseits entfaltet werden. Meine These ist hierbei, dass Michéas Ruf nach einem »emanzipatorischen Populismus«, der sich auf der Orwell’schen »common decency«5 des ›gewöhnlichen Volkes‹ und Anleihen bei frühsozialistischen Denkern6 stützt, letztlich hinter die Liberalismuskritik der US-amerikanischen Populisten in den 1890er Jahren zurückfällt, was im Wesentlichen auf von Michéa nicht reflektierte sozialtheoretische Grundlagen zurückzuführen ist. Aufgrund dessen verharrt die von ihm skizzierte und auf dem Anstand des gewöhnlichen Volkes gründende Alternative zum gegenwärtigen Liberalismus unmerklich in der Vorstellungswelt des frühen 19. Jahrhunderts. Der Artikel gliedert sich in vier Teile: Zunächst werde ich Michéas Thesen erläutern und seine ideengeschichtlichen Anknüpfungen herausarbeiten (1). In einem zweiten Schritt möchte ich mich dem von ihm aufgegriffenen Denken der Frühsozialisten zuwenden (2), um hiernach Thomas Jefferson als passenderen ideengeschichtlichen Gewährsmann Michéas vorzustellen (3). Abschließend möchte ich unter Rückgriff auf die US-amerikanischen Populisten des ausgehenden 19. Jahrhunderts zeigen, was der Ruf nach einem »emanzipatorischen Populismus« ideengeschichtlich bedeutete und weshalb Michéas Vorschlag angesichts dessen zu kurz greift (4). 1. Das Reich des kleineren Übels – Michéas Kritik der liberalen Gesellschaft Michéas Liberalismuskritik ist eine zweiseitige, was sie sowohl für das linke wie für das rechte Lager zu einem vergleichsweise schwer handhabbaren Gegenstand macht. Zweiseitig ist Michéas Kritik aufgrund deswegen, weil sie sich nicht mit 5 Der Begriff wird von Michéa vergleichsweise vage definiert. Am treffendsten lässt er sich wohl mit »alltäglicher Anständigkeit« übersetzen. Im Anschluss an Orwell werden »die menschlichen Grundtugenden« unter dieses »bewusst unbestimmte und ungenaue Konzept« subsumiert, die sich lebensweltlich als eine »psychologische und kulturelle Disposition zur Großzügigkeit und Loyalität« im sozialen Miteinander ausdrücken. Michéa 2014, S. 126. 6 Ebd., S. 150.

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der wohlfeilen Trennung zwischen einem guten kulturellen Liberalismus auf der einen und einem schlechten ökonomischen (Neo-)Liberalismus auf der anderen Seite begnügt, sondern beide Phänomene als inhärent zusammengehörig begreift. »Das«, so Michéa, »bedeutet, dass die seelenlose Welt des zeitgenössischen Kapitalismus die einzige historische Gestalt ist, zu der sich die ursprüngliche liberale Doktrin konkret entwickeln konnte. Sie ist, mit anderen Worten, der real existierende Liberalismus. Und zwar […] sowohl in ihrer ökonomischen Variante (die traditionell eher von der politischen ›Rechten‹ bevorzugt wird) als auch in ihrer kulturellen und politischen Variante (deren Verteidigung zur Spezialität der zeitgenössischen ›Linken‹ geworden ist, namentlich der ›radikalen Linken‹, der vollmundigsten Fraktion des modernen Spektakels).«7

Dass der kulturelle bzw. politische und der ökonomische Liberalismus letztlich untrennbar miteinander verbunden sind, hängt für Michéa mit der Problemlage zusammen, auf die ersterer zur Zeit seines Entstehens zu reagieren versucht hat. Sich konventionellen Darstellungen anschließend, lässt Michéa das liberale Zeitalter im 17. Jahrhundert vor dem Hintergrund der ›ideologischen Bürgerkriege‹ beginnen, deren Folgen derart verheerend gewesen seien, dass von nun an die Frage nach der Möglichkeit des dauerhaften friedlichen Zusammenlebens eine neue Dringlichkeit erfahren hätte. Da sich der Liberalismus zur Lösung jenes Rätsels keiner philosophischen Traditionslinien mehr bedienen konnte, weil diese entweder selbst Teil der ideologischen Kriegsführung geworden waren oder aber auf anthropologischen Annahmen beruhten, die angesichts des ideologisch motivierten Mordens in Europa nicht länger aufrechtzuerhalten waren, müsse man ihn »als die moderne Ideologie par excellence auffassen«.8 Was der Liberalismus zu finden beabsichtigte, waren folgerichtig »die Mechanismen […], die von sich aus die gesamte politische Ordnung und Harmonie zu tragen [vermochten], ohne dass je wieder an die Tugend der Subjekte appelliert werden musste«.9 Diese Mechanismen, so Michéa, seien von nun an das Recht (politischer Liberalismus) und der Markt (ökonomischer Liberalismus) gewesen. Das Problem, das Michéa zufolge aus einer solchen Konzeption erwächst, liegt in der Grenzenlosigkeit eines derart ethisch entleerten Projektes. Da der Vorrang des universell Rechten vor dem partikular Guten für den Liberalismus konstitutiv sei, sich die Sitten und Lebensentwürfe gegenwärtig jedoch in stetigem Wandel befänden, müsse sich der liberale Rechtsstaat gegenüber einer schier unüberschaubaren Vielfalt des partikular Guten neutral verhalten. Dies, so Michéas Pointe, führe in der Konsequenz zum Beginn des liberalen Projektes zurück, zur fragmentierten Gesellschaft und in letzter Konsequenz zum Krieg aller gegen alle.10 Der ›Deux ex machina‹ sei angesichts jener »Aporien des Rechts« der Mechanismus des Marktes. In der berühmten Wendung Bernard de Mandevilles schickt sich dieser bekanntlich an, »private vices« in »public benefits« zu transformieren 7 8 9 10

Michéa 2014, S. 14. Ebd., S. 19. Ebd., S. 32. Ebd., S. 37.

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und auf diese Weise das Problem des Krieges aller gegen alle in den Griff zu bekommen, ohne hierfür eine potenziell totalitäre gesamtgesellschaftliche Umerziehung in Angriff nehmen zu müssen, die den ›neuen Menschen‹ hervorzubringen vorgibt, der nicht mehr länger nur nach dem für ihn Besten strebt.11 Der Markt könne mit dem sündigen Menschen umgehen und müsse sich um dessen moralische Integrität nicht sorgen; alles, was benötigt werde, um das Wohl aller zu fördern, sei die unsichtbare Hand: »Es galt anzuerkennen«, so Michéa, »dass die umfassende Befreiung des wirtschaftlichen Tausches […], indem sie die gerechte Gesellschaft in die Hände der Gesetze von Angebot und Nachfrage gibt, von ganz alleine, gleichsam rein mechanisch« den dauerhaften Frieden stifte, der im Zuge der ideologischen Bürgerkriege abhandengekommen sei und der vor dem Hintergrund gegenwärtig zu beobachtender Fragmentierungstendenzen wieder porös zu werden scheine.12 Der ökonomische Liberalismus wird so zur logischen Antwort auf jene Problemlage, der sich der politische Liberalismus ursprünglich annehmen wollte. »Mit dem politischen Liberalismus Benjamin Constants ist es nicht getan. Mit ihm kehren wir immer zu Adam Smith zurück, ob man will oder nicht.«13 Warum ist all dies für Michéa problematisch? Verkürzt könnte man sagen, dass die skizzierten zwei Seiten des Liberalismus die Gesellschaft zwar oberflächlich befrieden, den Schaden dafür jedoch im Inneren jedes Einzelnen erzeugen. Die Zwänge des Marktes, der gleichzeitig zum einzig möglichen Steuerungsmechanismus der modernen Welt gemacht worden war, erzeugten »permanente psychische Leiden« als Folge einer dem modernen Kapitalismus inhärenten Steigerungs- und Optimierungslogik. Weil der Liberalismus den Menschen infolge einer bestimmten historischen Konstellation als moralisch fragwürdige und radikal individualistische Figur porträtiert, müssen fortan all jene Züge einer ursprünglichen Sozietät unbefriedigt bleiben und als diffuses Unbehagen im Unbewussten wirken, um den Menschen von Zeit zu Zeit zu piesacken. Demgegenüber plädiert Michéa für eine Rückkehr zur »common decency«, jener im gewöhnlichen Volk verankerten vorpolitischen Anständigkeit, die aufgrund ihrer ethischen Substanz aus dem neutralen öffentlichen Raum verbannt worden war. Michéa zufolge ist dies umso verstörender, als selbst moderne, von Markt und Recht zusammengehaltene Gesellschaften nicht umhinkönnen, auf die im Zuge der primären Sozialisierung eingeübten ›anständigen‹ Verhaltensweisen und moralischen Ressourcen zurückzugreifen, um dauerhaft zu funktionieren. »Die einfache praktische Möglichkeit des wirtschaftlichen Austauschs oder der Ausarbeitung juristischer Verträge […] erfordert von den an solchen Beziehungen betei11 Interessanterweise begreift Michéa Liberalismus und Totalitarismus jedoch nichtsdestoweniger insofern als verwandt, als beide auf die gleiche Problemlage zu reagieren versuchen, und zwar auf den gefallenen, nicht länger tugendhaften Menschen. Wo Ersterer den skizzierten Weg der neutralen Steuerungsmechanismen beschreitet, versucht Letzterer den Menschen angesichts des zu errichtenden »Reichs des Guten« umzuerziehen. Ebd., S. 148 f. 12 Ebd., S. 46. 13 Ebd., S. 53.

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ligten Individuen ein gewisses Maß an Vorschussvertrauen und von den verschiedenen Partnern das minimale Vorhandensein psychologischer und kultureller Dispositionen zur Loyalität.«14 Aufgrund der oben skizzierten grenzenlosen Dynamik des liberalen Projektes werde dieses mit der Zeit seine eigenen Grundlagen gefährden.15 Notwendig sei angesichts dessen der Rekurs auf ein weniger pessimistisches, jedoch weit realistischeres Menschenbild. Anders als die liberale Theorie dies annehme, sei egoistisches und rücksichtsloses Verhalten nämlich weniger die Regel als vielmehr die Ausnahme, so dass die Institutionen des Marktes und des Rechts, die den individuellen Nutzenmaximierer voraussetzen, letztlich zutiefst inhuman seien, da sie die primären intersubjektiven Bindungskräfte systematisch zersetzten und somit gegen die menschliche Natur operierten.16 Entweder dieser Weg werde beschritten, bis der Mensch nicht mehr existiere; oder die Tugendhaftigkeit des Einzelnen werde wieder ernst genommen und Markt und Recht nicht länger als die einzig möglichen Steuerungsmechanismen gegenwärtiger Gesellschaften begriffen. Ideengeschichtlich schließt Michéa hiermit nach eigener Aussage an frühsozialistische Denker des ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts an.17 Hiermit, so meine These, handelt sich Michéa jedoch theoretische Folgeprobleme ein, die er vor dem Hintergrund der von ihm beschworenen »common decency« nicht beabsichtigen kann. Ein passenderer Gewährsmann für Michéas Überlegungen hätte sich meines Erachtens in Thomas Jefferson finden lassen. Vor diesem Hintergrund werde ich mich in den nächsten beiden Abschnitten zunächst den Frühsozialisten und hiernach Thomas Jefferson zuwenden, um Michéas nur angedeutete Institutionalisierung der »common decency« unter Rückgriff auf ideengeschichtliche Vorläufer zu rekonstruieren. 2. Frühsozialismus Über den Frühsozialismus18 zu sprechen ist ein vergleichsweise heikles Unterfangen. Die Unterschiede zwischen den länderspezifischen Ausprägungen des frühso14 Ebd., S. 123. 15 Dieses Paradox wurde im deutschsprachigen Raum von Ernst-Wolfgang Böckenförde formuliert und ist seither als Böckenförde-Diktum bekannt. Kern des Diktums ist der oft zitierte Umstand, dem zufolge »[d]er freiheitliche, säkularisierte Staat […] von Voraussetzungen [lebt], die er selbst nicht garantieren kann«, ohne seine freiheitliche Grundordnung aufzugeben, indem er seine Bürger und Bürgerinnen mittels rechtlichen Zwangs zu moralischem Verhalten nötigt. Böckenförde 1976, S. 60. 16 Michéa belegt jene Thesen nicht systematisch. Man könnte jedoch zur Frage der primären Sozialisierung beispielsweise auf Michael Tomasellos Arbeiten verweisen. Vgl. Tomasello 2010. 17 Michéa 2014, S. 46, 52 und 140. Vgl. Paoli 2015, S. 43. 18 Michéa macht leider nicht deutlich, wen genau er unter »den ersten Sozialisten« (S. 42) bzw. dem Begriff des »ursprünglichen Sozialismus« (S. 52) subsumiert. Die hier vorgenommene Auswahl liegt jedoch insofern auf einer Linie mit Michéas Plädoyer für einen Leviathan, 45. Jg., Sonderband 32/2017

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zialistischen Denkens wiegen teilweise schwer, und auch innerhalb Frankreichs, Englands und Deutschlands, in denen der Frühsozialismus in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts seine Wurzeln schlug, lässt sich nur schwerlich von einer einheitlichen Theorieströmung sprechen.19 Am lebendigsten blieb der Frühsozialismus in Frankreich, wohl vor allem aufgrund der Tatsache, dass der ›wissenschaftliche Sozialismus’ Karl Marx’ und Friedrich Engels’20 sich hier weit weniger einheitlich durchsetzen konnte als beispielsweise in Deutschland.21 Dies mag auch Michéas Anknüpfen an frühsozialistische Ideen erklären.22 Mit Blick auf Frankreich gehören Henri de Saint-Simon und Charles Fourier zweifelsfrei zu den wirkmächtigsten Protagonisten des frühsozialistischen Denkens. Folglich sollen deren Überlegungen im Zentrum der folgenden Ausführungen stehen. Weder Saint-Simon noch Fourier waren im engeren Sinne politische Denker.23 Trotz der geschichtlichen Zentralstellung der Französischen Revolution waren beide weniger mit Fragen einer Neuordnung des politischen Raumes befasst, beispielsweise jener nach der angemessenen Umsetzung des Prinzips der Volkssouveränität, als mit solchen einer gesamtgesellschaftlichen Neuordnung, in deren Zentrum die soziale Interaktion im vorpolitischen Raum stehen sollte. Fourier beispielsweise war – von einer kurzen Phase der Politisierung im Zuge des Revolutionsjahres 1848 abgesehen – der Auffassung, dass sich die politischen Systeme mittelfristig ohnehin zugunsten freiwilliger Assoziationen auflösen würden.24 Und Saint-Simon hing zeitlebens der Überzeugung an, dass die effizienteste gesamtgesellschaftliche Verwaltungsform eine technokratische sei, in der die Lenkung der Geschicke in die Hände einer aus »Industriellen« zusammengesetzten Führungsschicht übergehen sollte.25 Über etwaige Vor- und Nachteile politischer Herrschaftsformen blieb angesichts jener Überzeugung nicht viel zu sagen.26

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»emanzipatorischen Populismus«, dass vor allem Fourier die anthropologischen Überzeugungen des von Michéa skizzierten Liberalismus nicht teilt, auf die Michéas Kritik wesentlich abzielt. Vgl. überblicksartig Ramm 1956; Göhler, Klein 1991, S. 470-507; Vester 1970; ders. 1971 und Honneth 2015. Zum Unterschied zwischen dem von Engels so bezeichneten »utopischen« zum »wissenschaftlichen Sozialismus« vgl. Engels 1976 [1880]. Ramm 1956, S. XXXI. Gegenwärtig scheinen sich frühsozialistische Ideen jedoch in Deutschland wieder größerer Beliebtheit zu erfreuen. Das prominenteste Beispiel ist in diesem Zusammenhang sicherlich Axel Honneths Die Idee des Sozialismus, in der Honneth für ein Wiederanknüpfen an den Frühsozialismus plädiert, um einige der Fallstricke des Marxismus umgehen zu können. Vgl. Honneth 2015. Vgl. zum teilweise apolitischen Charakter der Frühsozialisten Claeys 2011, S. 523. Vester 1970, S. 237. Saint-Simon, in Ramm 1956. So wirft Saint-Simon den Revolutionsführern von 1789 vor, einen »ungeheuren politischen Fehler« begangen zu haben: »sie alle suchten die Regierung zu vervollkommnen,

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Im Zentrum des Denkens Saint-Simons stand vielmehr die Ausschöpfung des gesellschaftlichen Potenzials durch Freisetzung der angesammelten Wissensbestände in Form einer planmäßigen Verwaltung ebendieser. Die fähigsten Bevölkerungsteile zur gemeinwohldienlichen Lenkung des »Nationalinteresses«, so SaintSimon, seien »die Gelehrten, die Künstler und die Unternehmer«.27Den Künstlern falle es hierbei zu, »den poetischen Teil des neuen Systems« zu entwickeln, indem sie der breiten Masse der Bevölkerung über künstliche Erzeugnisse die Wohltaten vor Augen führten, in deren Genuss diese kommen würden. Die Gelehrten entwürfen sodann Projekte, die »den Wohlstand aller Gesellschaftsklassen« zu steigern imstande wären, bevor die Industriellen prüften, »welche allgemein nützlichen Vorhaben, die von Gelehrten und Künstlern gemeinsam entworfen und ausgearbeitet wurden, sofort zur Verwirklichung gelangen könn[t]en«.28 Saint-Simon richtet sich mit diesem Entwurf gegen die seiner Ansicht nach überkommenen Strukturen des »theologischen und feudalen Regierungssystems«.29 Der Vetternwirtschaft am königlichen Hofe, für die die Öffentlichkeit zahle, müsse ein Ende bereitet werden, indem die haltlose Behauptung der Adligen, »sie seien zum Regieren geboren«, kraft der Leistungsfähigkeit des neuartigen Verwaltungssystems entkräftet würde.30 Über die für Michéa so zentrale Beschaffenheit des Volkes sagt Saint-Simon vergleichsweise wenig. Er hebt lediglich die moralische Reife der Menschen hervor, die dazu führe, dass sie »nicht mehr einer besonderen Überwachung bedürf[t]en« und »sich ohne weiteres ein Gesellschaftssystem bilden [könne]«, das alle Menschen als »gleichberechtigte Mitglieder anerkennt«.31 Als Beweis dient ihm das Beispiel der Provinz Cateau-Cambrésis, nachdem der dortige Grundbesitz verkauft worden war. Statt sich einem destruktiven Konkurrenzkampf hinzugeben, hätten sich die Bewohner zusammengeschlossen, das Land gemeinschaftlich erworben und so aufgeteilt, dass »ein ziemlich großer Teil der Bevölkerung plötzlich aus der Klasse der Proletarier in die der Grundbesitzer aufstieg«, ohne dass dies die »geringste Unordnung bei der Bestellung« des Bodens mit sich gebracht hätte.32 Hieraus leitet Saint-Simon ab, dass es keiner repressiven Regierung mehr bedürfe, um die egoistischen Exzesse der Einzelnen im Zaum zu halten, sondern lediglich der oben skizzierten Verwaltung zur Beförderung des Gemeinwohls. In jedem Fall, und dies deckt sich mit Michéas vagen Ausführungen zur »common decency«, stellt auch Saint-Simon den Einzelnen nicht als rücksichtslosen Interessenmaximierer vor, sondern als kooperationsfähiges und -williges Wesen, dessen

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während sie doch diese unterordnen und die Verwaltung als oberste Tätigkeit begründen [hätten sollen]«. Ebd., S. 41. Ebd. Ebd., S. 46. Ebd., S. 49. Ebd. Ebd., S. 34. Ebd., S. 35.

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Wohlergehen aufgrund dessen auch ohne Umgehung seines Wesenskernes gesteigert werden könne. Deutlich eindrücklicher setzt sich demgegenüber Charles Fourier mit der menschlichen Natur auseinander, auf deren Grundlage er sein Phalansterium33 ersinnt. Im Zentrum der Überlegungen Fouriers stehen die menschlichen Leidenschaften. Allerdings seien diese nicht, wie bisher angenommen, zu unterdrücken oder so zu instrumentalisieren, dass sie keinen größeren Schaden anrichteten – beispielsweise durch die unsichtbare Hand des Marktes, der die privaten Laster in öffentliche Wohltaten transformiert. Die Leidenschaften seien, in den Worten Iring Fetschers, vielmehr allesamt »heilsam und nützlich«, wenn sie nur »richtig gegeneinander ausbalanciert würden«.34 Das Problem seien nicht die menschlichen Leidenschaften, sondern eine Gesellschaftsordnung, die diesen widerstrebe und die somit als unnatürlich bezeichnet werden müsse.35 Im Einzelnen unterscheidet Fourier zwölf Grundleidenschaften, aus denen sich je nach Kombination 810 verschiedene Charaktere ergäben, sodass in einem Phalansterium 1620 Personen zusammenkommen müssten – je ein Mann und eine Frau pro Charakter – um 33 Das System der Phalansterien bezeichnet Fourier recht allgemein als »genossenschaftliche Ordnung«. Fourier in Vester 1970, S. 177. Es handelt sich, etwas spezifischer, um eine vorwiegend agrarische Produktionsgenossenschaft. Den großen Vorteil genossenschaftlicher Vereinigungen erblickt Fourier in ihrer Eigentümerstruktur, die die gemeinschaftliche Harmonie trotz sozioökonomischer Differenzen befördern soll. »Eins der mächtigsten Hilfsmittel«, so Fourier, »um den Armen und den Reichen zu versöhnen, ist der sozietäre oder veredelte Eigentumsgeist. Besäße der Arme in der Harmonie nur einen kleinen Teil, nur ein Zwanzigstel einer Aktie, so wäre er teilhabender Besitzer des ganzen Kantons. […] In der Harmonie, wo die Interessen miteinander verknüpft sind und wo jeder, wäre er auch nur in Hinsicht auf den der Arbeit zukommenden Gewinn, Mitteilhaber ist, wünschen alle beständig das Gedeihen des ganzen Kantons.« Ebd., S. 191. 34 Fetscher 1991, S. 64. Fourier sollte aufgrund dessen auch nicht vorschnell in die protoliberale Ecke gestellt werden. Zwar redet er der freiheitlichen Entfaltung des Einzelnen das Wort; diese Freiheit ist jedoch verglichen mit der klassisch liberalen Konzeption der persönlichen Freiheit, die bis zur Freiheit der Mitmenschen reicht, deutlich anspruchsvoller. 35 »Die Moralisten«, so Fourier, »wollen diesen [den menschlichen] Leidenschaften eine Richtung geben, die nicht in ihrer Natur liegt.« Fourier in Vester 1970, S. 178. Auch mit Blick auf die Forderung der Emanzipation der Frau, die Fourier für einige zum Vordenker des Feminismus macht (vgl. Thiessen 2008, S. 37), betont das Problem unnatürlicher Sozialordnungen. »Die Frauen könnten den Philosophen antworten: eure Zivilisation verfolgt uns, sobald wir der Natur gehorchen, man zwingt uns einen künstlichen Charakter auf, und wir sollen Antrieben folgen, die unseren Wünschen widersprechen. […] Wenn die Philosophie über die Fehler der Frauen spottet, so kritisiert sie sich nur selbst. Sie ist es, die diese Fehler durch ein gesellschaftliches System erzeugt, das die Frauen zur Verstellung zwingt.« Fourier in Vester 1970, S. 182. Um ebenjene unnatürlichen Verhältnisse scheint es auch Michéa zu gehen, dessen prognostizierte innerpsychische Schäden für die Bewohner und Bewohnerinnen der modernen liberalen Welt wesentlich darauf zurückzuführen sind, dass die Menschen sich entmenschlichen müssen, um in dieser zu bestehen.

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die für alle befriedigende gegenseitige Anziehung der Leidenschaftstypen gewährleisten zu können. Innerhalb der Phalansterien soll ein ausgefeiltes System der Arbeitsteilung, das jedweder Monotonie vorbeugen soll, die Arbeit attraktiv, ja sogar zu einem Vergnügen machen, statt wie bisher zu einer reinen Notwendigkeit. Dies, so Fouriers Annahme, würde gleichzeitig die Produktivität steigern und die Phalansterien zu einer auch materiell lohnenswerten Einrichtung machen. Aufgrund dessen, so der weitere Gedankengang, würden sie bald Schule machen und schließlich zur alleinigen menschlichen Organisationsform werden. Föderalistisch aufgebaut, wäre am Ende die ganze Erde in exakt 2985 Phalansterien aufgeteilt. Es wäre nun ein leichtes, in Marx’ und Engels’ Gelächter über die Träumereien der Frühsozialisten einzufallen und Michéas Ausführungen vor diesem Hintergrund abzutun. Ich möchte demgegenüber einen anderen Weg einschlagen und Michéas Liberalismuskritik ebenso ernst nehmen wie seinen Rückgriff auf die Frühsozialisten. Die Kehrseite dieses Unterfangens ist dann jedoch der Verweis auf die Fallstricke, die sich aus einer Besinnung auf den Frühsozialismus ergeben. Für den heutigen Betrachter auffällig ist die genuin antipolitische Haltung der Frühsozialisten, die sich meines Erachtens wesentlich aus einem rationalistischen Aufklärungsoptimismus speist,36 dem zufolge Gesellschaften in Analogie zu naturwissenschaftlichen Gesetzmäßigkeiten planmäßig so ausgestaltet werden könnten, dass sich dies zum Wohle aller Beteiligten auswirken werde. Anders als die gegenwärtige Rede von alternativlosen Wegen, die jenseits der demokratischen Selbstverständigung beschritten werden müssten, und zwar ungeachtet der Tatsache, dass dies kurzfristig zulasten bestimmter gesellschaftlicher Gruppen gehen könne, beschworen Saint-Simon und Fourier die planmäßige Vereinbarkeit der diversen Einzelinteressen zum unmittelbaren Wohle aller. Mir scheint dies der entscheidende Aspekt zu sein. Zwar waren sich die Frühsozialisten in vielerlei Hinsicht einig in ihrer Kritik am liberalen System und dessen fehlerhafter atomistischer Konzeption des Einzelnen. Sie setzen dem jedoch, anders als Michéa, nicht einfach einen geselligen und anständigen Menschen entgegen, der durch die liberalen Ausgleichsmechanismen unterdrückt worden sei. Vielmehr muss die menschliche Sozialität sowohl bei Fourier als auch bei Saint-Simon durch teilweise minutiöse Regelungen von außen erst wieder hergestellt werden – über die quasi-naturwissenschaftlichen Erkenntnissen37 entsprechende Anordnung von Personengruppen in Fouriers Phalansterien oder aber über die elitäre Weitsicht der Industriellen bei Saint-Simon.38 Die für den ökonomischen Liberalismus konstitutive individuelle Handlungsfreiheit innerhalb eines bereits ausdifferenzierten Wirtschaftssystems 36 So auch Honneth 2015, S. 74, und Claeys 2011, S. 524 f. 37 Fourier begreift seine »Gesetze der leidenschaftlichen Anziehungskraft in allen Punkten mit denen der körperlichen Anziehungskraft übereinstimmen[d], wie sie Newton und Leibniz erklärt haben«. Fourier in Vester 1970, S. 177. 38 Gregory Claeys fasst dies mit Blick auf Fourier treffend zusammen: »Early convinced of the essential dishonesty of the commercial system, he [Fourier] became persuaded that a new system that encouraged honesty, economy and association in line with human instincts needed to be designed.« Claeys 2011, S. 533; Hervorh. T. M. Leviathan, 45. Jg., Sonderband 32/2017

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sollte durch Verwaltungsakte ersetzt bzw. in nach Leidenschaftssystemen eingerichteten Gemeinschaften kanalisiert werden. Hiermit wird freilich der liberale Grundsatz der individuellen Freiheit unterlaufen, wenn auch auf Grundlage der Überzeugung, dass sich hiermit das Wohlergehen aller steigern lasse (Saint-Simon) bzw. die eigentlichen Bedürfnisse oder Leidenschaften der Menschen sich endlich entfalten könnten (Fourier). Das kann jedoch schlechterdings nicht im Sinne Michéas sein, wenn er die auch jenseits der vermeintlich notwendigen Behelfsmittel des Rechts und des Marktes mögliche gesellschaftliche Integration auf der Basis der »common decency« beschwört. Einen ideengeschichtlich passenderen Gewährsmann, so die im Folgenden zu explizierende These, hätte Michéa auf der anderen Seite des Atlantiks gefunden, die in seiner Darstellung jedoch allgemein recht unterbelichtet bleibt – trotz der Zentralstellung, die den USA für die Entwicklung des liberalen Projektes zukommt. Kaum ein politischer Denker des ausgehenden 18. und frühen 19. Jahrhunderts hatte ein derart uneingeschränktes Vertrauen in die Selbstregierungsfähigkeit des gewöhnlichen Volkes wie Thomas Jefferson. Er hätte Michéas Beschwörung des Alltagsanstandes ohne Zweifel gutgeheißen. Mit Blick auf Jeffersons »politische Vorstellungswelt«39 wird jedoch auch deutlich, warum uns Michéas Programm gegenwärtig kaum aus der liberalen Malaise – so sie denn existiert – wird herausführen können. 3. Jeffersons Republikanismus Ein gewisser Exzeptionalismus gehört seit den ersten Besiedlungen Nordamerikas zum US-amerikanischen Selbstbild. Von der »City upon a Hill«, die John Winthrop in der neuen Welt errichten wollte, über den Vorbildcharakter des US-amerikanischen Verfassungsentwurfes für die Freiheit in der Welt, die Alexander Hamilton im ersten Artikel der Federalist Papers betonte, bis hin zur durch die vermeintliche »manifest destiny« legitimierte Westexpansion in den 1840er Jahren – immer wieder wurde für die USA bzw. die nordamerikanischen Kolonien eine Sonderstellung reklamiert. Als ebenso außergewöhnlich begriffen sich die Nordamerikaner mit Blick auf die Werte und Ideen der Aufklärung. Niemand, so der Tenor im ausgehenden 18. Jahrhundert, sei so aufgeklärt wie man selbst.40 Unter anderem dies prädestinierte die nordamerikanischen Kolonien dazu, den überzeitlichen Konflikt zwischen der korrumpierbaren Macht (power) und der im Volk verankerten Freiheit (liberty) zugunsten Letzterer zu entscheiden.41 Ungleich wichtiger für die Errichtung einer freiheitlichen republikanischen Ordnung war 39 Heun 1994. 40 Wood 2006, S. 274. 41 Der Gegensatz zwischen Macht und Freiheit und ihre Verankerung in der Regierung bzw. dem Volk ist ideengeschichtlich auf den klassischen Republikanismus zurückzuführen, der den einzelnen Gesellschaftssegmenten jeweils spezifische Werte zuschrieb. Die Zentralstellung jenes Gegensatzes zwischen liberty und power für das Denken der nordamerikanischen Revolutionäre wurde von Bernard Bailyn (1992) und vor allem

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freilich der Charakter der Kolonisten. »Republicanism«, so Gordon S. Wood, »meant more for Americans than simply the elimination of a king and the institution of an elective system. It added a moral dimension, a utopian depth, to the political separation from England – a depth that involved the very character of their society.«42 Diese republikanische Tugendhaftigkeit betonte kaum ein politischer Denker in den Kolonien nachdrücklicher als Thomas Jefferson, der seither als »Ahnherr« der US-amerikanischen Demokratie gilt.43 Für Jefferson zeichnet sich der Mensch zunächst durch einen ihm eigenen »moral sense« aus. Diese Annahme leitet sein politisches Denken von Anbeginn.44 Der »moral sense« muss in diesem Zusammenhang als anthropologische Konstante begriffen werden, wenngleich seine Kultivierung kontextabhängig ist, wie ich weiter unten zeigen werde. Trotz jener Kontextgebundenheit scheint mir eine der wirkmächtigsten Lesarten45 als zu verengt, der zufolge die Tugend an eine bestimmte sozioökonomische Position gebunden und lediglich den Grund bestellenden Bauern zukommt, die Jefferson bekanntermaßen als »the chosen people of God«46 bezeichnet hatte. Tatsächlich geht Jeffersons optimistisches Menschenbild weit über jenen Lobgesang auf den »Yeoman« hinaus, wie ein Blick auf seine Ausführungen zu den nordamerikanischen Ureinwohnern zeigt, die sich in einem Briefwechsel mit Thomas Law und den Notes on the State of Virginia finden.47 Mit Blick auf die Indianerstämme bemerkt Jefferson zunächst, dass diese zu den Gesellschaften ohne staatliche Herrschaftsstrukturen gehörten. Die Organisation der Gemeinschaft kommt demnach ohne eine übergeordnete, weisungs- und zwangsbefugte Instanz aus; wesentlicher Antrieb für die individuelle Pflichterfüllung sei vielmehr gegenseitige Überzeugung. »[T]his practice«, so Jefferson, »results from the circumstance of their having never submitted themselves to any laws, any coercive power, any shadow of government. Their only controuls are their manners, and that moral sense of right and wrong, which, like the sense of tasting and feeling, in every man makes part of his nature.«48 Der Gerechtigkeits-

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von Gordon S. Wood (1998) herausgearbeitet. Letzterer spricht in diesem Zusammenhang von einer »Whig Science of Politics«. Wood 1998, S. 3. Zum republikanischen Paradigma in der US-amerikanischen Historiographie vgl. Rodgers 1992; zum Republikanismus in der Ideengeschichte Hölzing 2014 a; 2014 b. Wood 1998, S. 47. Dietze 1992, S. 25. Jean M. Yarbrough betitelte eine der letzten umfassenden Studien über das politische Denken Jefferson demgemäß treffend mit American Virtues. Thomas Jefferson on the Character of a Free People (1998). Vgl. Matthews 1984. Vgl. hierzu u. a. Quinn 1940; Appleby 1982. Jefferson 2006 [1782], S. 132. Unklar wird das gezeichnete Bild lediglich mit Blick auf die Afroamerikaner. Zwar attestiert Jefferson auch diesen einen »moral sense«, hält sie abgesehen davon aber für »inferior to the whites in the endowment both of body and mind«. Ebd., S. 119 f. Ebd., S. 93, Hervorh. T. M.

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sinn bzw. die Fähigkeit, moralisch zu handeln, wohne demnach allen Menschen inne, nicht lediglich einer bestimmten sozialen Schicht, einem Personenkreis, der einer bestimmten Tätigkeit nachgeht oder spezifische geschlechtliche bzw. ethnische Merkmale aufweist.49 Nach Ansicht eines der renommiertesten JeffersonForscher waren die Indianerstämme für Jefferson in ihrer Naturbelassenheit »natural republicans who showed that society did not depend on submission to the authority of a governing class but was instead the spontaneous expression of man’s sociable nature«.50 Sie boten aufgrund dessen einen schlagenden Beweis dafür, dass der Mensch zur unvermittelten Selbstregierung fähig sei, eine Überzeugung, die Jefferson zeit seines Lebens nicht aufgeben sollte. Vor diesem Hintergrund muss Jeffersons Ausspruch, dem zufolge die Yeoman Farmer »the chosen people of God« seien, relativiert werden. Die Bauern zeichnen sich weniger durch herausragende naturgegebene Fähigkeiten aus als vielmehr durch eine besondere Kultivierung des menschlichen Gerechtigkeitssinnes. Dieser muss Jefferson zufolge bereits aufgrund dessen jedem Menschen innewohnen, da dieser ein Gemeinschaftswesen sei und andernfalls überhaupt nicht dazu in der Lage wäre, dauerhaft zu überleben: »Man was destined for society. His morality therefore was to be formed to this object. He was endowed with a sense of right and wrong merely relative to this. This sense is as much a part of his nature as the sense of hearing, seeing, feeling; it is the true foundation of morality[.]«51

Der Mensch, so Jefferson an anderer Stelle, »was created for social intercourse; but social intercourse cannot be maintained without a sense of justice; then man must have been created with a sense of justice«.52 Die einzigen Ausnahmen von dieser Regel stellen die politischen Eliten bzw. die Herrschenden dar. Gemäß des 49 Deutlich wird dies auch in einem Brief an Thomas Law vom 13. Juni 1814. Dort heißt es hinsichtlich des Fundaments des »moral sense«: »Some have made the love of God the Foundation of morality […] [but] [i]f we did a good act merely from the love of God and a belief that it is pleasing Him, whence arises the morality of the Atheist? […] I have observed, indeed, generally, that while in Protestant countries the defections from the Platonic Christianity of the priests is to Deism, in Catholic countries they are to Atheism. Diderot, D’Alembert, D’Holbach, Condorcet, are known to have been among the most virtuous of men. Their virtue, then, must have had some other foundation than the love of God.« Jefferson geht schlicht davon aus, dass »nature hath implanted in our breasts a love of others, a sense of duty to them, a moral instinct, in short«. 50 Onuf 1999, S. 104. Jene Position, der gemäß die Gesellschaft Resultat der menschlichen Sozialität sei, ähnelt derjenigen, die Thomas Paine zu Beginn seines einflussreichen Common Sense dargelegt hatte. Paine 2003 [1776], S. 4 f. Vgl. zu den Gemeinsamkeiten zwischen Paine und Jefferson auch Wood 2011, S. 213-231. 51 Brief an Peter Carr vom 10. August 1787. 52 Brief an Thomas Law vom 13. Juni 1814. Auch in Jeffersons viel zitierter Gegenüberstellung von »head« und »heart«, die sich in einem Briefwechsel mit seiner amourösen Bekanntschaft aus Pariser Tagen, Maria Cosway, findet, betont Jefferson die naturgegebene Empathie gegenüber der zufällig verteilten analytischen Rationalität. Unter anderem heißt es hier: »Morals were too essential to the happiness of man to be risked

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immer schwelenden Konfliktes zwischen power und liberty geht auch für Jefferson von den Regierenden stets eine potenzielle Gefahr aus. Die Eliten sind demnach »unanständig« bzw. »korrupt«, was nichts anderes bedeutet, als dass sie die Durchsetzung ihrer Einzelinteressen vor die Förderung des Gemeinwohles stellen: »I own, I am not a friend to a very energetic government. It is always oppressive. It places the governors indeed more at their ease, at the expense of the people.«53 Allerdings belässt es Jefferson nicht bei einer kontextunabhängigen Kontrastierung des anständigen Volkes und den korrupten Eliten. Zwar sind Letztere immer korrumpierbar, Ersteres aber nicht immer anständig bzw. tugendhaft. Die Forderung nach staatlicher Zurückhaltung in kulturpolitischen54 und ordnungspolitischen Fragen, die Jefferson gefordert, zeit seines Lebens beibehalten und die ihn auch für das liberale politische Denken anschlussfähig gemacht hat,55 ist wesentlich an eine bestimmte gesellschaftliche Entwicklungsstufe gebunden. Wie Drew R. McCoy in seiner Studie zur Political Economy in Jeffersonian America56 (1980) herausgearbeitet hat, spielte für das politökonomische Denken Jeffersons die Geschichtstheorie der schottischen Aufklärer und namentlich Adam Smith’ eine wesentliche Rolle.57 Gemäß dieser ließ sich die gesellschaftliche Entwicklung anhand eines Vierstufenschemas darstellen. Die erste Stufe war demzufolge durch eine noch unorganisierte Produktionsweise gekennzeichnet, in der die Subsistenz phasenweise täglich von Neuem sichergestellt werden musste. Auf der zweiten, ebenfalls durch Nichtsesshaftigkeit gekennzeichneten Stufe hätten sich die einzelnen Jäger und Sammler in von Ort zu Ort ziehenden Stämmen vergemeinschaftet, jedoch nach wie vor ohne eine auf Dauer gestellte Organisation der Produktion. Sesshaft wurde die Menschheit diesem Schema folgend erst auf der dritten, landwirtschaftlichen Stufe. Hier seien die eigenen Lebensgrundlagen perspektivisch

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on the incertain combinations of the head. She laid their foundation therefore in sentiment, not in science. That she gave to all, as necessary to all: this to a few only, as sufficing with a few.« Brief an Maria Cosway vom 12. Oktober 1786. Vgl. zur Anthropologie Jeffersons auch Boyd 1948, S. 238. Brief an James Madison vom 20. Dezember 1787. Jeffersons kulturpolitische Position wird vor allem mit Blick auf die von ihm propagierte Trennung von Kirche und Staat deutlich. Diese lässt sich am eindrücklichsten mit Blick auf seine Weigerung nachvollziehen, einen theologischen Lehrstuhl an der Universität von Virginia einzurichten. Jefferson lehnte dieses Vorgehen ab, da hierdurch der Eindruck hätte entstehen können, dass nur eine religiöse Meinung als über jeden Zweifel erhaben angesehen werden könnte. Demgegenüber war Jefferson, in den Worten Garrett Ward Sheldons, der Auffassung, dass »[t]he presence of all religious denominations within the walls of the public university would give students the opportunity to be exposed to all dogmas, from which […] they might distill that which was common to them all – the basic ethical teachings of Jesus – to the benefit of the virtuous American republic«. Sheldon 1991, S. 110. Vgl. beispielsweise Bassani 2010. So der Untertitel seines The Elusive Republic. Smith’ Modell hatte Jefferson bereits während seines Studiums am William and Mary College in Virginia kennengelernt. Dorfman 1940, S. 101 f.

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produziert worden, freilich ohne darüber hinausgehend – sei es qualitativer (Luxusgüter) oder quantitativer Art (Überschüsse) – zu wirtschaften. Der Übergang zur vierten Stufe vollzieht sich in den Worten Drew McCoys folgendermaßen: Erst indem »men advanced beyond this intermediate agricultural stage toward the highest, most complex levels of civilization, they eventually entered the fourth, or commercial stage«. Diese finale Entwicklungsstufe »was characterized by an advanced division of labor in the production process and the ›polish‹ or ›luxury‹ of a people of greatly refined manners and habits«.58 Aufgrund der besonderen Kultivierung des »moral sense« durch landwirtschaftliche Tätigkeit und eine subsistenzwirtschaftliche Grundausrichtung der Produktion59 verwundert es nicht, dass Jefferson die junge Republik auf der dritten Entwicklungsstufe zu halten beabsichtigte. Lapidar bemerkt er: »[F]or the general operations of manufacture, let our work-shops remain in Europe. It is better to carry provisions and materials to workmen there, than bring them to the provisions and materials, and with them their manners and principles. […] It is the manners and spirit of a people which preserve a republic in vigour. A degeneracy in these is a canker which soon eats to the heart of its laws and constitution.«60

Der für die sich selbst organisierende Republik unabdingbare »moral sense«, die gemeinwohlbezogene Tugendhaftigkeit des Einzelnen, gedeiht für Jefferson demnach in einer noch nicht arbeitsteilig organisierten, vormodernen Wirtschaft, deren Akteure sich vornehmlich der eigenen Bedürfnisbefriedigung zuwenden. Auf dieser Entwicklungsstufe bedarf es folglich keiner anonymen Regulierungen der wirtschaftlichen Aktivitäten. Statt durch unpersönliche Markt- und Rechtsmechanismen integriert sich die Gemeinschaft über gemeinsame Sitten und Moralvorstellungen. Vor diesem Hintergrund müssen Jeffersons auf den ersten Blick liberal anmutende Ausführungen zur ordnungspolitischen Funktion übergeordneter Weisungsinstanzen gelesen werden. So heißt es beispielsweise bezüglich einer etwaigen progressiven Besteuerung: »To take from one, because it is thought that his own industry and that of his fathers has acquired too much, in order to spare to others, who, or whose fathers have not exercised equal industry and skill, is to violate arbitrarily the first principle of association, ›the guarantee to every one of a free exercise of his industry, and the fruits acquired by it.‹«61 Wenn die Grundlagen einer republikanischen Wirtschaftsordnung intakt waren, gab es für Jefferson keinerlei 58 McCoy 1980, S. 19 f. 59 Dies war insofern von herausragender Bedeutung, als eine Produktion für einen überregionalen Absatzmarkt die geistige Unabhängigkeit der Produzenten beeinträchtigt hätte. Statt sich an den eigenen Bedürfnissen zu orientieren, wären sie in Abhängigkeit von »the casualties and caprice of customers« geraten. Jefferson 2006 [1782], S. 132. Charles Sellers hat diese politökonomische Ausrichtung als die des »Landes« (land) gegenüber der in den 1810er Jahren dominant werdenden des »Marktes« (market) bezeichnet. Sellers 1991, S. 4. 60 Jefferson 2006 [1782], S. 133. 61 Brief an Joseph Milligan vom 6. April 1816. Für den politökonomischen Diskurs in den USA war diese Position bis in die 1880er Jahre leitend, wie James L. Huston in

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Notwendigkeit, deren Resultate künstlich zu verzerren. Waren sie dies jedoch nicht, so war die Republik schlechterdings verloren, konnte doch aus Jeffersons Perspektive von einer »always oppressive« Regierung keine Linderung erwartet werden. Es ist angesichts dieser Ausführungen durchaus möglich, Jefferson zum »Ahnherrn« der US-amerikanischen Demokratie auszurufen, seine Wertschätzung des einfachen Volkes zu betonen und ihn aufgrund dessen vor den progressiven Karren zu spannen; allerdings sollte man sich des vormodernen Weltbildes gewahr sein, dem Jefferson anhing und in dem seine für damalige Verhältnisse fortschrittlichen Ansichten zu verorten sind. Aufgrund eines angenommenen überzeitlichen Konfliktes zwischen einer stets korrumpierbaren und auf die Ausweitung der eigenen Macht bedachten Zentralgewalt einerseits und einer freiheitsliebenden Gesellschaft andererseits war Jefferson der Gedanke innergesellschaftlicher Machtkonzentrationen, die zur Beschneidung allgemeiner Freiheiten führen könnten, fremd. Gegenwärtig formulierte Forderungen nach staatlicher Regulierung einzelner Wirtschaftssektoren oder nach weitreichenden Umverteilungsprogrammen lassen sich mit Rückgriff auf Jefferson kaum rechtfertigen.62 Die hier unternommene Rekonstruktion der tatsächlichen bzw. möglichen ideengeschichtlichen Bezugspunkte Michéas zeigt deutlich die Fallstricke auf, in die sich dieser mit Blick auf gegenwärtige liberale Gesellschaften begibt. Die Frühsozialisten betonen zwar ebenfalls die soziale Natur des Menschen, gehen in der Folge aber gänzlich über den liberalen Rahmen hinaus, indem sie die Handlungsfreiheit des Einzelnen zugunsten planmäßiger Verwaltung fallen lassen. Dies lässt sich mit Michéas Verweis auf die natürlich sich entfaltende Mitmenschlichkeit jedoch kaum zur Deckung bringen. Es kann ihm nämlich nicht daran gelegen sein, das eine Korsett (Recht und Markt) gegen ein anderes (Verwaltung und Planung) zu tauschen, würde dies doch die innerpsychischen Leiden des modernen Menschen kaum zu kurieren helfen. Demgegenüber denkt Thomas Jefferson die Entfaltung der individuellen Freiheit zwar konsequenter zu Ende als nach ihm die Frühsozialisten; seine ideale Republik fußt jedoch auf gesellschaftstheoretischen Prämissen, die als vormodern bezeichnet werden müssen und eine zukunftsorientierte Kritik des gegenwärtigen Liberalismus nicht ohne Weiteres werden anleiten können. Demgegenüber möchte ich abschließend und im Anschluss an den von Michéa geforderten »emanzipatorischen Populismus« auf die US-amerikanischen Populisten im ausgehenden 19. Jahrhundert eingehen, die uns meines Erachtens

»The American Revolutionaries, the Political Economy of Aristocracy, and the American Concept of the Distribution of Wealth, 1765-1900« herausgestellt hat. Gerade aufgrund des republikanischen Erbes und des angenommenen Antagonismus zwischen power und liberty seien die politökonomischen Denkansätze in den ersten hundert Jahren der USA von einer grundlegenden Skepsis gegenüber weitreichenden Staatsinterventionen geprägt gewesen. »The assumption on which the whole of the political economy of aristocracy had been founded was that the agent producing inequalities and aristocracies was politics.« Huston 1993, S. 1104. 62 Zu einem Versuch, Jefferson in diese Richtung zu interpretieren vgl. Hardt 2007. Leviathan, 45. Jg., Sonderband 32/2017

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ein realistischeres Bild dessen geben, was heute unter einem »emanzipatorischen Populismus« verstanden werden könnte. 4. US-amerikanischer Populismus im ausgehenden 19. Jahrhundert Ebenso wie dies mit Blick auf die Frühsozialisten der Fall ist, suggeriert auch die Rede von den Populisten eine programmatische Einheitlichkeit, die sich schwerlich nachweisen lässt. Zu divers waren die Einzelinteressen innerhalb jener breiten sozialen Protestbewegung. Die Südstaatenpopulisten waren von anderen Widrigkeiten geplagt als die Populisten im Westen des Landes, und der Westen ließ sich noch einmal in jene Staaten unterteilen, in denen ein vornehmliches Interesse an der währungspolitischen Silberfrage existierte, gegenüber jenen, denen es nicht primär um die Wiedereinführung der Silberwährung ging, sondern in erster Linie um die Reduzierung der Schuldenlast – auf welchem Wege auch immer. Gleichwohl lässt sich im Denken der Populisten über das je regional Spezifische hinausgehend eine einheitliche Skepsis gegenüber der Entwicklung erkennen, die die Vereinigten Staaten in den ersten rund hundert Jahren ihres Bestehens genommen hatten. Der ›Beschwerdekatalog‹ reichte hierbei von im engeren Sinne ökonomischen über politische bis hin zu soziokulturellen Themen.63 Im Zusammenhang des vorliegenden Beitrags interessieren mich insbesondere die soziokulturellen Fehlentwicklungen, die die Populisten meinten erkennen zu können, und die vor allem (sozial)politischen Reformvorschläge, die sie zur Einhegung Ersterer ausarbeiteten. In bemerkenswerter Klarheit wird eines der aus populistischer Perspektive drängendsten Probleme des ausgehenden 19. Jahrhunderts in einem anonym verfassten Beitrag für die in Lincoln ansässige Zeitung Farmers’ Alliance genannt. In diesem heißt es, dass »[t]he plutocracy of to-day is the logical result of the individual freedom which we have always considered the pride of our system. The theory of our government has been and is that the individual should possess the very greatest degree of liberty consistent, not with the greatest good of the greatest number, but with the very least legal restraint compatible with law and order.«64 Hier schlägt sich in aller Deutlichkeit eine Skepsis gegenüber jener moralischen Güte des gewöhnlichen Bürgers Bahn, die noch für Jefferson und den Republikanismus der Gründerzeit außer Frage stand. Für Jefferson stellte sich die im zitierten Ausspruch genannte Dichotomie zwischen einer individuellen Freiheit einerseits, die aufgrund der natürlichen Tugendhaftigkeit des Einzelnen automatisch dem Wohle aller dient, und einer solchen persönlichen Freiheit andererseits, die lediglich den Rechts- und Ordnungsrahmen nicht überschreitet, überhaupt nicht. Für ihn war die möglichst unbehelligte Selbstentfaltung – also jene »liberty consistent […] with law and order« – gleichbedeutend mit der Freiheit, »consistent […] with the 63 Vgl. hierzu Schimmer 1997; Hicks 1961, Kap. III. 64 Farmer’s Alliance 1891, zit. in Pollack 1967, S. 18 f., Hervorh. T. M. Vgl. hierzu Pollack 1987, S. 174.

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greatest good of the greatest number«. Wie oben dargelegt, war die zurückhaltende staatliche Rahmensetzung die unabdingbare Voraussetzung für die Kultivierung der bürgerschaftlichen Tugend, da die power schlechterdings nicht zur Steigerung der liberty verwendet werden konnte.65 Jenes vormoderne, antipluralistische Politikverständnis, dem gemäß »the people, especially when set against their rulers, were a homogenous body whose ›interests when candidly considered are one‹«,66 war für die Populisten mehr als fraglich geworden. Die entscheidenden Konfliktlinien verliefen ihrer Ansicht nach innerhalb des vom Gründungsrepublikanismus als einheitliches Ganzes wahrgenommenen Volkes bzw. der Gesellschaft in Abgrenzung zur Regierung. Die überbordenden Vermögen der großen Industriellen, der nicht nur von den Populisten so genannten »robber barons«, waren zum Symbol für die freiheitsgefährdende innergesellschaftliche Machtkonzentration geworden, die nicht mehr vordergründig auf begünstigendes Regierungshandeln zurückgeführt, sondern zum strukturellen Problem der bestehenden ökonomischen Ordnung erklärt wurde. Seit den 1880er Jahren brach sich, in den Worten James L. Hustons, die Überzeugung Bahn, »that capitalism produces inequality and a skewed distribution of wealth that only politics can rectify«.67 Der republikanische Optimismus der Gründerzeit wich also einer erfahrungsgesättigten Skepsis. Die Liberalisierung der ökonomischen Sphäre, die bezeichnenderweise durch die Jacksonian Democrats, die sich unmissverständlich auf das Erbe Jeffersons beriefen, vorangetrieben wurde,68 brachte aus populistischer Perspektive gerade nicht die Tugendhaftigkeit des Einzelnen zum Vorschein, sondern bisweilen dessen antisozialen Egoismus. Deutlich wird dies unter anderem in den (literarischen) Schriften Ignatius Donnellys und den (journalistischen) Arbeiten Henry D. Lloyds. Donnelly, eine der prägenden Figuren der populistischen Bewegung und Verfasser der Omaha Platform, die als zentrales programmatisches Dokument der populistischen People’s Party angesehen wird, wirkte in den frühen 1890er Jahren vor allem als Schriftsteller und verfasste innerhalb von nur drei Jahren drei Romane, von denen Caesar’s Column die größte Leserschaft gewinnen konnte.69 Der wenig komplexe Plot ist schnell erzählt: Die von Donnelly verfasste Dystopie versetzt den Leser in das New York des Jahres 1980, also hundert Jahre in die Zukunft.70 Dort folgt er dem Protagonisten Gabriel Weltstein, der im Zuge seines Streifzuges durch die Stadt auf Maximilian trifft, der einem revolutionären Geheimbund anhängt, welcher es sich zum Ziel gesetzt hat, die bestehenden pluto65 66 67 68 69

Hierzu auch Young 1996, S. 82. Wood 1998, S. 58. Huston 1993, S. 1103. Hierzu Hofstadter 1989, S. 57-87. Bei den beiden anderen Romanen handelte es sich um The Golden Bottle und Dr. Huguet. 70 Selbstredend sieht Donnelly die Probleme, die er für die Zukunft skizziert, bereits in seiner Gegenwart wuchern. Vgl. Baker 1973, S. 69. Leviathan, 45. Jg., Sonderband 32/2017

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kratischen Herrschaftsstrukturen aufzubrechen, um eine gerechtere Ordnung zu institutionalisieren. Tatsächlich gelingt es der »Brotherhood of Destruction« mit Hilfe eines abtrünnigen Generals, die Regierung zu stürzen – die Folgen jenes Putsches sind jedoch verheerend. Statt der erhofften Verbesserung der Lage werden die bis dato Unterdrückten ihrerseits zu Unterdrückern, und zwar nicht lediglich deren Anführer, sondern insbesondere die Massen. Nachdem die verhasste Oligarchie gestürzt wurde, wenden sie sich gegen Caesar, den Vorsitzenden der Bruderschaft, und ermorden diesen. Donnellys Schluss ist an dieser Stelle von herausragender Bedeutung: »They [the masses; T. M.] do not mean to destroy the world; they will reform it – redeem it. They will make it a world where there shall be neither toil nor oppression. But poor fellows! Their arms are more potent for evil than their brains for good. They are omnipotent to destroy; they are powerless to create.«71 Die Massen – man könnte hier auch vom gewöhnlichen Volk sprechen, denn der Ausdruck wird nicht pejorativ verwendet – sind demnach nicht einfach das unbescholtene Andere einer korrupten Elite, sondern Teil eines allgemeinen Verfallsprozesses.72 Eine einfache ›Rückgabe‹ der Macht an das Volk wird demnach mitnichten direkte Verbesserungen der Gesamtsituation mit sich bringen. Was Donnelly stattdessen fordert, ist eine Politik des sozialen Ausgleichs. Wirtschaftspolitisch steht diesbezüglich die Befreiung von der erdrückenden Last privater Schulden im Vordergrund. Sozialpolitisch plädiert Donnelly für eine Ausweitung des staatlichen Bildungssystems, die Förderung des Eigenheimerwerbes und die Versorgung mit existenzsichernden materiellen Gütern. Zu diesem Zweck scheut Donnelly auch nicht die Steigerung der Staatseinnahmen, wie ein Blick auf die von ihm mit verfasste Omaha Platform von 1892 belegt.73 Diese Maßnahmen sind nötig, um die asozialen, egoistischen Anteile des Einzelnen nicht zulasten der Gemeinschaft gehen zu lassen. Denn wenngleich das Volk für Donnelly vor der vollständigen Korruption bewahrt werden kann – zur Masse republikanischer Heiliger wird es aufgrund dessen noch lange nicht. Man fühlt sich beinahe an Ja-

71 Donnelly 1890, S. 258. 72 An anderer Stelle heißt es entsprechend: »The rich, as a rule, despise the poor; and the poor are coming to hate the rich. The face of labor grows sullen; the old tender Christian love is gone; standing armies are formed on one side, and great communistic organizations on the other; society divides itself into two hostile camps; no white flags pass from the one to the other. They wait only for the drum-beat and the trumpet to summon them to armed conflict.« Donnelly 1890, S. 9. Auch wird offenbar, dass Donnelly nicht von einer Unversehrtheit des ›gewöhnlichen Volkes’ ausgeht, dessen umstandslose Aufwertung demnach auch nicht die Lösung des skizzierten Problems sein kann. Vgl. hierzu auch Norman Pollacks The Populist Response to Industrial America (1962, S. 25). Pollack zufolge kritisierten die Populisten die Verhältnisse ihrer Zeit nicht nur aufgrund eines Anstiegs der Armut, sondern vor allem aufgrund dessen, dass sie den Menschen verändert, ja entfremdet hatten. 73 Dort wird eine »graduated income tax« gefordert.

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mes Madison erinnert,74 wenn Donnelly die beiden zentralen Protagonisten in Caesar’s Column folgendes Gespräch führen lässt: »Men differ in every detail. Some have more industry, or more strenghth, or more cunning, or more foresight, or more acquisitiveness than others. How are you to prevent these men from becoming richer than the rest?« »I should not try to. These differences in men are fundamental, and not to be abolished by legislation; neither are the instincts you speak of in themselves injurious. Civilization, in fact, rests upon them. It is only in their excess that they become destructive.«75

Die Vermeidung ebenjener Exzesse kann für Donnelly nicht den freien Kräften des Marktes überantwortet werden. Zwar mag dessen Interessenmaximierung legitim, vielleicht sogar natürlich sein, ihr übergeordnet bleibt das Gemeinwohl, dem die Regierung als gesamtgesellschaftliche Agentur verpflichtet ist:76 »[G]overnment – national, state and municipal – is the key to the future of the human race.«77 An der überzeitlichen moralischen Güte des »common man« hat auch Henry D. Lloyd in seinem seinerzeit viel beachteten Wealth against Commonwealth Zweifel geäußert. In diesem unterscheidet er zwischen einem »old« und einem »new selfinterest«. Ersteres ist Ausdruck der von ihm rekonstruierten hegemonialen Werte seiner Zeit, allen voran einem radikalen Individualismus und einem das »survival of the fittest« propagierenden Sozialdarwinismus.78 Letzteres drückt sich demgegenüber in einer humanistischen Sorge um den Nächsten aus. Entscheidend ist in diesem Zusammenhang erneut, dass Lloyd das Ideal des »new self-interest« als lediglich im Rahmen neuer Institutionen potenziell zu verwirklichendes begreift: »›Regenerate the individual’ is a half-truth; the reorganization of the society which he makes and which makes him is the other half. Man alone cannot be a Christian. Institutions are applied beliefs.«79 Im Gegensatz zu Michéa scheinen demnach weder Donnelly noch Lloyd davon auszugehen, dass die zwischenmenschliche Brüderlichkeit eine durchweg existie74 Dieser hatte bekanntlich im 10. Artikel der Federalist Papers mit dem bis dahin dominanten Bild des in sich homogenen Volkes als unabdingbarer Voraussetzung für republikanische Ordnungen gebrochen und demgegenüber dem gesellschaftlichen Pluralismus das Wort geredet. Der Vereinheitlichung der unterschiedlichen gesellschaftlichen Interessen stehen Madison zufolge in erster Linie die unterschiedlichen Fähigkeiten der Menschen gegenüber, deren Schutz »das oberste Ziel der Regierung« sein müsse. Statt sie zu unterdrücken, obliege es dem Gesetzgeber, »[d]iese vielfältigen und einander widersprechenden Interessen zu regulieren«. Hamilton/Madison/Jay 2007 [1787/88], S. 95. 75 Donnelly 1890, S. 119. 76 Norman Pollack fasst jenes hierarchische Verhältnis folgendermaßen zusammen: »Although the state would safeguard the right of property, the human right, because it was affirmed largely in a social or community setting, effectively readjusted Lockean postulates: Political sovereignty was freed from the traditional constraints of an anterior property right and could address the general welfare.« Pollack 1987, S. 228 f. 77 Donnelly 1890, S. 129. 78 Zu diesen im Gilded Age prominenten sozialtheoretischen Konzepten vgl. Young 1996, S. 127-137. 79 Lloyd 1894 in Pollack 1967, S. 523. Leviathan, 45. Jg., Sonderband 32/2017

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rende Konstante des menschlichen Wesens ist, die bei Beseitigung störender Wertvorstellungen wieder zum Vorschein kommen würde; sie sind vielmehr der Auffassung, dass die Güte ebenso variabel ist wie die Verderbtheit, es also institutioneller Arrangements bedürfe, um sie dauerhaft reproduzieren zu können. In erster Linie bezieht sich Lloyd in diesem Zusammenhang auf die Mehrung kooperativer Formen des Wirtschaftens, Lernens und Lebens, die er in den Bereichen des Postwesens und der öffentlichen Schulen bereits verwirklicht sieht.80 Nur wo derartige Formen auf Dauer gestellt werden, ist demnach die Chance einer anhaltenden Transformation des alten Selbstinteresses gegeben. Deutlich wird an dieser Stelle auch, dass es den Populisten mitnichten lediglich um die Wiederkehr eines vermeintlich besseren Vergangenen ging.81 Anders als Jefferson, dessen geschichtstheoretische Überzeugungen ihn zu einem bedingungslosen Eintreten für die Agrarrepublik bewogen hatten, stellten die Populisten die ausdifferenzierte und arbeitsteilig organisierte Wirtschaft ihrer Zeit nicht grundsätzlich in Frage. Lohnarbeit wurde nicht per se abgelehnt, lediglich die Ausbeutung der Arbeiterschaft unter dem Deckmantel der Vertragsfreiheit kritisiert.82 Nicht die moderne Technik und die zentralisierte Produktion waren das Ziel der Kritik, sondern deren Verharren in privatem Besitz.83 Anders als Jefferson war ihnen der gesellschaftliche Fortschritt nicht als solcher suspekt, er sollte lediglich bewusst vollzogen werden. 5. Schluss Michéas Rekurs auf die im Volk verankerte »common decency«, so zeigt ein Rückgriff auf die von ihm gelegte ideengeschichtliche Fährte, verkennt deren Kontextgebundenheit und setzt stattdessen einen Alltagsanstand als überzeitliche Konstante. Der moderne Liberalismus und insbesondere seine gegenwärtig dominante neoliberale Spielart können sicherlich mit guten Gründen als ein problembeladenes und reformbedürftiges Gebilde angesehen werden, Michéas ideengeschichtliche Referenzen eignen sich zu diesem Zweck jedoch nur in sehr bedingtem Maße. So wird der Liberalismus im frühsozialistischen Denken von außerhalb kritisiert, was in der Folge dazu führt, dass jegliche Vorzüge des liberalen Modells von vornherein fallen gelassen werden. Aufgrund eines Glaubens an eine prinzipiell 80 Ebd., S. 524. 81 Die Debatte um die Modernität der Populisten schwelt seit über einem halben Jahrhundert. Ausgelöst durch Richard Hofstadters The Age of Reform (1955), der die Rückwärtsgewandtheit der Populisten betonte, wurde jene Frage in regelmäßigen Abständen wieder aufgenommen. Einen vorläufigen Schlusspunkt setzte Charles Postels The Populist Vision (2009), der die Bewegung als genuin modern begreift. Ein guter Überblick findet sich bei Schimmer 1997, S. 87-111. 82 Donnelly spricht in diesem Zusammenhang vom »iron law of wages«, dem zufolge die nicht reglementierte Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt zu einem Lohnverfall auf Höhe des Existenzminimums führe. Donnelly 1890, S. 46. Vgl. Pollack 1962, S. 28-30. 83 Vgl. Postel 2009, Kap. 4; Pollack 1987, S. 233.

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prästabilierte Interessenharmonie meinen Fourier und Saint-Simon, das Chaos nichtkoordinierter individueller Handlungsfreiheiten mit Hilfe einer zentralen Planung im Sinne der Förderung des Gemeinwohls auflösen zu können. Hiermit werden dann jedoch die individuellen Freiheitsgrade nicht nur beschnitten, sondern in letzter Konsequenz vollständig kassiert. Das kann von Michéa jedoch insofern nicht intendiert gewesen sein, als er doch gerade die unnatürlichen und somit freiheitsbeschneidenden Einrichtungen des Marktes und des Rechts kritisiert. Mit den Frühsozialisten lässt sich jedoch lediglich der Übergang von einem Korsett in ein anderes nachvollziehen. Ein von Michéa nicht genannter ideengeschichtlicher Strang, der auf die andere Seite des Atlantiks führt, hätte in diesem Zusammenhang von größerem Nutzen sein können. So zeichnet sich Thomas Jeffersons politisches Denken wesentlich durch einen ungebrochenen Glauben an die moralischen Fähigkeiten der Menschen aus, die Michéas »common decency« sehr ähnlich sind. Ein Blick auf Jefferson zeigt jedoch auch, dass ein solcher Glaube den sozioökonomischen Realitäten der US-amerikanischen Gründerzeit entstammt, ja diese voraussetzt und aufgrund dessen nicht ohne Weiteres auf moderne Gesellschaften übertragen werden kann. Wenngleich sich deren Steuerungsmechanismen des Marktes und des Rechts aus vielerlei Richtungen kritisieren lassen, so ist die ihnen eigene Steigerung individueller Handlungsfreiheiten doch so gewichtig, dass eine Rückkehr in vormoderne Zeiten ein wenig wünschenswertes Unterfangen zu sein scheint. Vor diesem Hintergrund habe ich unter Rückgriff auf die US-amerikanischen Populisten im ausgehenden 19. Jahrhundert zu zeigen versucht, dass die vielversprechendste Strategie zur Bekämpfung negativer Auswirkungen des modernen Liberalismus in der vergleichsweise wenig aufregenden Reformstrategie liegt. Den Populisten, die die verheerenden Auswirkungen eines sich radikalisierenden Marktkapitalismus am eigenen Leib erfahren hatten, war nichtsdestoweniger nicht daran gelegen, die Geschichte einfach zurückzudrehen. Vielmehr ging es ihnen darum, die Verwerfungen, die ein radikalindividualistisches Konkurrenzsystem mit sich gebracht hatte, durch politische Rahmensetzungen so abzufedern, dass die Freiheiten einer marktwirtschaftlich organisierten Wirtschaft und eines modernen Rechtsstaates tatsächlich für eine möglichst große Zahl der Bürgerinnen und Bürger nutzbar gemacht werden könnten. Hiermit wird die Ineinssetzung von Markt und Recht, die Michéa vornimmt, insofern aufgelöst, als der Markt und die persönlichen Freiheitsrechte die individuelle Handlungsfreiheit gewährleisten sollen, das Recht darüber hinaus jedoch als Mittel der kollektiven Willensäußerung verstanden wird, das die Ersteren beschränken helfen soll. Literatur Appleby, Joyce O. 1982. »Commercial Farming and the Agrarian Myth in the Early Republic«, in The Journal of American History 68, 4, S. 833-849. Bailyn, Bernard 1992. The Ideological Origins of the American Revolution. Enlarged Edition. Cambridge/Mass.: Belknap Press of Harvard University Press. Baker, J. Wayne 1973. »Populist Themes in the Fiction of Ignatius Donnelly«, in American Studies 14, 2, S. 65-83.

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II. Populismus als Revolte gegen die liberale Demokratie: Aktuelle Formen

Klaudia Hanisch

Ungarns rechtsnationale Wende als reaktionäre Mitte-Utopie. Soziokultureller Wandel nach 1989 und die adaptive Politik des Fidesz

»Wir hatten genug von einer Politik, die fortwährend darauf bedacht war, wie wir den Westen, die Banken, das Großkapital und die ausländische Presse zufriedenstellen können [...]. Vor vier Jahren haben wir [...] diese dienerische Mentalität überwunden. Ungarn wird sich nicht mehr kleinmachen.« (Viktor Orbán: Rede zur Lage der Nation 2014)

1. Einleitung Trotz vieler aktueller Beispiele erfolgreicher populistischer Bewegungen in Europa können sich diese nirgendwo nur annähernd auf ein dermaßen starkes politisches Mandat stützen wie der Ungarische Bürgerbund – Fidesz in Ungarn. Von 2010 bis 20151 verfügte die Partei zusammen mit ihrem deutlich kleineren Bündnispartner, der Christlich-Demokratischen Volkspartei (KDNP), über eine verfassungsgebende Mehrheit im Parlament. Sie gilt seitdem als Paradebeispiel für eine rechtskonservative, populistische Partei in Regierungsverantwortung, was die in der Politikwissenschaft verbreiteten Thesen der Temporalität und prinzipiellen Regierungsunfähigkeit von Populisten in Frage stellt. Auch die bisherigen politikwissenschaftlichen Befunde, dass populistische Parteien ab dem Moment des Machtantritts unter den realpolitischen Zwängen ihre sozialprotektionistischen Versprechen nicht halten könnten, was zwangsläufig zu einer Entzauberung der Populisten führe, haben sich in der Regierungspraxis des Fidesz nur bedingt bewahrheitet.2 Als wichtiger politischer Schritt galt die Entlastung der tief verschuldeten ungarischen Mittelschicht, die wegen Währungsschwankungen seit der Finanz- und Schuldenkrise nicht mehr in der Lage war, ihre Devisenkredite abzubezahlen.3 Im Jahr 2010 führte die Regierung Orbán eine Bankensteuer sowie eine Sondersteuer für die Bereiche Energie, Telekommunikation und Einzelhandel ein; ausländische Unternehmen würden nun, so das Argument, nach Jahren satter Gewinne durch Sondersteuern belastet. 2012 ordnete die Regierung die Rückverstaatlichung strategischer Betriebe in der Energieversorgung an. Seit dem 1. Januar 2014 dürfen höchstens 49,9 Prozent der kommunalen Versorger für Wasser, Abwasser- und Abfallwirtschaft in privatem Eigentum bleiben. 2013 führte die ungarische Regierung als erste in Europa zudem eine Finanztransaktionssteuer von 0,3 Prozent ein.

1 Bei den Nachwahlen im Februar 2015 in Veszprém verlor Fidesz einen Sitz an den parteilosen Kandidaten der Opposition Zoltán Kész. 2 Vgl. Krastev 2007. Zur Kritik und Analyse des Populismus an der Macht siehe Müller 2016; Enyedi 2016; Batory 2015. 3 Becker 2015, S. 71. Leviathan, 45. Jg., Sonderband 32/2017, S. 81 – 105

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2015 brachte sie die 1994 privatisierte MKB, eine der größten ungarischen Banken, in Staatsbesitz zurück. Die Familienpolitik ist hauptsächlich ausgelegt auf Förderung durch Steuervergünstigungen, vergünstigte Kredite für Immobilien sowie das Wohnungsbauförderungsprogramm Családi Otthonteremtési Kedvezmény (CSOK), das kreditwürdige Familien ab drei Kindern mit bis zu 10 Millionen Forint (33.000 Euro) an staatlichen Zuwendungen unterstützt, welche nicht zurückgezahlt werden müssen.4 Der durch den Ministerpräsidenten Viktor Orbán geführten Regierung ist es in nur wenigen Jahren gelungen, den ungarischen Staat und die Gesellschaft im Sinne des 2010 vorgestellten »Systems der nationalen Zusammenarbeit«5 grundlegend umzubauen. Orbáns Markenzeichen blieb auch in seiner dritten Amtszeit seit 2014 die sogenannte »Holzhammerpolitik«, in der die Output-Legitimität und ein gezieltes Umwerben breiter Teile der ungarischen mittleren Schichten höchste Priorität genossen. Der Aufbau von Patronage- und Klientelnetzwerken6 ging einher mit einem systematischen Elitenaustausch in den Bereichen der Medien, Verwaltung und Gerichtsbarkeit und einer Aushebelung des Systems der checks and balances.7 Mittlerweile sprechen Politikwissenschaftler bezüglich Ungarn von einer defekten, potemkinschen8 oder simulierten Demokratie.9 Ungarn-Experten verweisen darauf, dass Viktor Orbán durch die Betonung einer Dichotomie zwischen einer korrupten politischen Elite und dem einfachen Volk keineswegs nur Machtpolitik betreibe. Orbáns selbsterkärte historische Mission der Herbeiführung einer politischen und moralischen Wende (megújulás) unter dem Vorzeichen einer erneuerten nationalen Mittelschicht als nächster Phase der Europäisierung Ungarns nach dem Scheitern des Liberalismus sollte man keineswegs als pure Rhetorik abtun.10 Hinter den politischen und wirtschaftlichen Veränderungen der letzten Jahre stehe eine Agenda mit einer langfristig angelegten Zielsetzung, die auf einer spezifischen Deutung der Prozesse der Systemtransformation in Ungarn nach 1989 fuße. In diesem Kontext sollten auch die Abkehr vom orthodoxen Wirtschaftssystem und der Aufbau eines heterodoxen »selektiven Wirtschaftsnationalismus«11 interpretiert werden. Von der ungarischen Bevölkerung erhält die Politik des Fidesz auch 2017 enormen Zuspruch. Nach einer Umfrage des Meinungsinstituts Medián vom Juni 2017 würden sich 53 Prozent jener, die angeben, sicher wählen zu gehen, für Fidesz entscheiden. Dieser Wert liegt seit dem Sommer 2015 und der sogenannten 4 Győri, Bíró-Nagy, Pogátsa 2017, S. 16 f. 5 Siehe Programme of National Cooperation 2010. http://www.parlament.hu/irom39/00 047/00047_e.pdf (Zugriff vom 20.09.2016). 6 Starken Anklang gewann die These von Bálint Magyar vom ungarischen Mafia-Staat. 7 Genauere Betrachtung und Kritik siehe Magyar 2016; Bozóki 2012; Müller 2016. 8 Ágh 2015; zum Konzept der defekten Demokratie siehe Merkel 2010. 9 Lengyel, Ilonszki 2012. 10 Lang 2015; Tóth 2014. 11 Tóth 2014.

Ungarns rechtsnationale Wende als reaktionäre Mitte-Utopie

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Flüchtlingskrise konstant bei über fünfzig Prozent.12 Breite Teile der mittleren Schichten der Gesellschaft, aber insbesondere das untere Management und die Selbstständigen unterstützen den nationalkonservativen Kurs Orbáns.13 Als mittlere Schichten werden die Teile der Bevölkerung bezeichnet, die bei sozioökonomischen Parametern wie Besitz und Einkommen im nationalen mittleren Bereich liegen (zwischen 60 und 200 Prozent des Medianeinkommens).14 Erweiterte Definitionen berücksichtigen zusätzlich Konsummuster bzw. das kulturelle und soziale Kapital.15 Obwohl die Begriffsbestimmung auch in der sozialwissenschaftlichen Forschung mit fast jeder Studie variiert und somit einen heterogenen und unübersichtlichen Charakter behält, wird im Folgenden versucht, auf deren ungarische Spezifika im europäischen Vergleich näher einzugehen. Das Ziel des Aufsatzes ist, die Agenda des Fidesz im Zeitverlauf und die Quelle ihrer Legitimierung in diesen mittleren Schichten der Gesellschaft zu erörtern. Vieles deutet auf eine neue Spielart des Populismus der Mitte in Ostmitteleuropa hin. Bisher wurden dieser Kategorie für Ostmitteleuropa dezidierte neoliberale und neokonservative Parteien und Bewegungen zugerechnet.16 Orbáns Vision eines bürgerlichen Ungarns fußt jedoch nicht mehr auf den marktliberalen Maximen der Anfangsphase der Systemtransformation, dem Diktat der ökonomischen Rationalität des geistigen Vaters der ungarischen Reformen 1995-1996 und Finanzminister unter der sozialliberalen Koalition MSZP-SZDSZ, Lajos Bokros.17 Vielmehr erinnert sie an eine ungarische Utopie aus der Horthy-Ära: die Utopie vom »Gartenland« der volkstümlichen Bewegung (népi mozgalom), die nur mit Hilfe eines stark gestaltenden Nationalstaats zu verwirklichen sei.18 Einige Forscher ziehen daher dem Begriff des Rechtspopulismus im Fall von Fidesz den des Nationalpopulismus vor. Letzterer trägt der Tatsache Rechnung, dass die Mobilisierung gegen die »da oben« und »die da draußen« mit traditionell links konnotierten Positionen – wie etwa der Forderung nach einem starken Staat und dessen Interventionen in den Wirtschaftsprozess – einhergeht.19 In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, warum sich in Ostmitteleuropa diese neue Form von Populismus besonders deutlich herausbilden konnte und weshalb sie derart erfolgreich ist. Gerade im Hinblick auf Ostmitteleuropa besteht das Risiko einer Vereinfachung bloßer Defizitgeschichten mit tautologischen Re12 http://hvg.hu/itthon/201726_medianfelmeres_tobb_apart_nelkuli (Zugriff vom 01.07.2017). 13 Enyedi, Fábián und Tardos 2014, S. 553. 14 Szivós, Tóth 2015; KSH 2015 b. 15 Péter 2014. 16 Lang 2009. 17 Vgl. Korkut 2012, S. 153. 18 Den ideologischen Grundstein dafür legte unter anderen der Schriftsteller Dezső Szabó in der Artikelreihe »Auf dem Weg zur neuen ungarischen Ideologie«, siehe Bozóki 2015. 19 Vgl. Frölich-Steffen, Rensamnn 2005, S. 7 f. Leviathan, 45. Jg., Sonderband 32/2017

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sümees. Die demokratischen Defizite werden oft mit dem Erbe des Staatssozialismus erklärt: mit dem Fehlen einer starken Zivilgesellschaft und historisch gewachsener demokratischer Traditionen.20 Sicherlich spielen autoritäre Hinterlassenschaften, der gesellschaftlich weitverbreitete Antisemitismus21 sowie der historische Revanchismus, der unter dem Stichwort Trianon-Trauma22 verhandelt wird, eine enorm wichtige Rolle in Ungarn.23 Zusätzlich muss jedoch berücksichtigt werden, dass auch der soziale und kulturelle Wandel nach 1989 verantwortlich ist für die spezifischen Konfliktdimensionen und Akteurskonstellationen der ostmitteleuropäischen politischen Systeme, die zur Entstehung der charakteristischen Merkmale des ostmitteleuropäischen Populismus beitragen haben. Die Vertrauenskrise und Entfremdung der mittleren Schichten von der Idee des politischen Pluralismus und der Marktwirtschaft seit Anfang der 1990er Jahre ist wenige Jahre nach dem EU-Beitritt so eklatant, dass sie ohne analytische Einbeziehung der soziokulturellen Wandlungsprozesse der ungarischen Gesellschaft seit 1989 nicht zu verstehen ist. So befragte das Pew Research Center 1991 und 2009 Bürger ehemaliger Ostblockstaaten, wie sie das Mehrparteiensystem und die Marktwirtschaft bewerteten. Im Jahr 1991 erachteten noch 74 Prozent der Ungarn das Mehrparteiensystem als wünschenswert, 2009 waren es nurmehr 56 Prozent. Das kapitalistische System wurde 1991 von 80 Prozent der Bevölkerung befürwortet, 2009 lediglich noch von 46 Prozent. Zudem konstatierten mittlerweile 72 Prozent, sie hätten im Staatssozialismus besser gelebt.24 Die zwei Transformationsdekaden müssen als eine Arena betrachtet werden, in welcher sich Kräfte und Ziele ausbildeten sowie Lernprozesse stattfanden, welche die Agenda des Fidesz ermöglicht und geformt haben. Der Fidesz hat seit seiner Gründung 1988 einen enormen Wandel vollzogen: von der liberalen Generationenpartei des antikommunistischen Widerstandes über die nationalliberale Yuppie-Partei bis zur Hegemonialpartei mit nationalkonservativen und kapitalismuskritischen Positionen.25 Mit diesem ideologischen Wandel hat auch die Fähigkeit der Massenmobilisierung auf den Straßen und an den Wahlurnen sukzessive zuge20 Offe 1991; Bönker, Beichelt und Wielgohs 2004; Holmes 1997; Segert 2014. 21 2015 stimmten vierzig Prozent der ungarischen Bürger antisemitischen Aussagen zu. Siehe die aktuelle internationale Studie der Anti-Defamation League 2015. http://globa l100.adl.org/public/ADL-Global-100-Executive-Summary2015.pdf (Zugriff vom 20.09.2016), vgl. Marszovsky 2013. 22 In Ungarn ist die Überzeugung relativ weit verbreitet, dass der Friedensschluss nach dem Ersten Weltkrieg (Vertrag von Trianon) vom Juni 1920 ungerecht war. Infolge des Vertrags wurde das ungarische Territorium auf ein Drittel der ehemaligen Fläche reduziert. 23 Decker 2006, S. 14. 24 Pew Research Center 2010. Hungary Dissatisfied with Democracy, but Not Its Ideals. http://www.pewglobal.org/2010/04/07/hungary-dissatisfied-with-democracy-but-not-it s-ideals/ (Zugriff vom 20.09.2016). 25 Vgl. Oltay 2012, S. 36 ff.; Lang 2015.

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nommen. Im Folgenden werden die spezifischen Prägungen der Systemtransformationszeit sowie die krisenhafte soziale Entwicklung nach 1989, die Ágy in seinen Analysen als »dreifache Krise« (triple crisis) tituliert,26 nachgezeichnet und zum ideologischen Wandel des Fidesz und seinen Wahlerfolgen 2010 und 2014 in Beziehung gesetzt; zudem wird erörtert, inwieweit diese als eine Antwort auf die sozialen und ideologischen Veränderungen der Mitte der ungarischen Gesellschaft und als Kontrastfolie zu den gescheiterten Reformbemühungen der sozialliberalen Koalitionen verstanden werden können. 2. Soziokultureller Wandel und die spezifischen Prägungen der Transformationszeit Die Einführung des Kapitalismus bei starker Berücksichtigung der Vorgaben des »Washington Consensus« mit dem Schwerpunkt auf schnelle Privatisierung, Deregulierung der Arbeitsmärkte und drastischem Zurückfahren der Staatsausgaben hat die Volkswirtschaften und das soziale Gefüge in Ostmitteleuropa maßgeblich geprägt.27 Dabei hatte sich die Regierung Ungarns unter dem konservativen Ministerpräsidenten József Antall, anders als in Polen, anfangs nicht für eine Schocktherapie, sondern vielmehr für eine graduelle Strategie des wirtschaftlichen Umbaus entschlossen. In den ersten Jahren der Systemtransformation zeichnete sich Ungarn dadurch aus, dass es im Vergleich zu anderen ostmitteleuropäischen Staaten geringere soziale Kosten28 zu verzeichnen hatte. Erst mit der Transformationskrise und dem Amtsantritt der sozialliberalen Koalition MSZP-SZDSZ wurde seit 1995 eine Austeritätspolitik betrieben. Doch auch in Ungarn war der Liberalismus unmittelbar nach dem Zusammenbruch des Staatssozialismus zum unhinterfragten gesamtgesellschaftlichen Leitkonzept geworden, das kaum jemand genauer kannte und präzise verstand, das »in den sozioökonomischen Verhältnissen keinerlei Grundlage hatte und sich an eine nicht vorhandene ›Mittelschicht’ wandte, also an alle und niemanden zugleich«29. Paradoxerweise war aber gerade das auch die Stärke des Konzepts. Es war ein Liberalismus für jedermann, was dadurch begünstigt wurde, dass die mehr als vier Jahrzehnte Staatssozialismus zwar keine egalitäre, aber doch eine relativ homogene, nach unten nivellierte Gesellschaft hervorgebracht hatten. Die Transformation der Wirtschaft sollte nun eine Gesellschaft der polgár (Bürger) entstehen lassen. Das Ideal aus Strebsamkeit, Fleiß und Flexibilität avancierte zur

26 Ágh 2013. 27 Unter dem »Washington Consensus« wird eine Politik der internationalen Finanzinstitutionen Internationaler Währungsfond (IMF) und Weltbank gegenüber Osteuropa verstanden. Kritik wurde daran verstärkt seit der Asienkrise Ende der 1990er Jahre geübt, u. a. von Josef Stiglitz. 28 Zur Konzept und Problematik der »sozialen Kosten der Transformation« siehe Offe 1994, S. 95. 29 Szacki 2003; vgl. Bozóki 2015. Leviathan, 45. Jg., Sonderband 32/2017

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Leitfigur der neuen Gesellschaft. Dies führte auch zum gesellschaftlichen Topos der individuellen Selbsttransformation. Die zweite Stärke des Liberalismus bestand darin, wie der Warschauer Professor für Ideengeschichte Jerzy Szacki ausführt, »dass er sich als Negation dessen darstellte, was der Kommunismus gebracht hatte, von dem fast alle die Nase voll hatten, sowohl wegen der unzähligen Beschränkungen, die der Kommunismus den Bürgern auferlegte, als auch wegen der Mängel der Wirtschaft«30. Mit dem wirtschaftlichen Liberalismus verbanden die ostmitteleuropäischen Gesellschaften die Hoffnung, dass es in Kürze so sein würde »wie im Westen«. Denn zunächst, so schien es, standen die Tore zum sozialen Aufstieg für jeden offen, die Chancen waren gleich, weil – wie man glaubte – die Aufstiegsbedingungen gleich waren. Jeder, der sich anstrenge und diszipliniert arbeite, könne auch erfolgreich werden; und wenn man es trotzdem nicht schaffe, dann sei man eben selbst für sein negatives Schicksal verantwortlich – so lautete die Devise, an der niemand zu zweifeln wagte. Die flexible und hart arbeitende Mittelschicht wurde dabei im Geiste des »producerism« zum ultimativen gesellschaftlichen Leitbild.31 Das Spannungsverhältnis zwischen denjenigen, die sich schnell an die neuen Rahmenbedingungen anpassen konnten und von der hinzugewonnen Freiheiten profitierten, und den sogenannten Transformationsverlierern wird heute von Soziologen als eins der zentralen Probleme der gesellschaftlichen und politischen Entwicklung in Osteuropa nach 1989 gesehen.32 Oft werden jedoch nur wenige ausgewählte Gruppen dazu gezählt: Rentner sowie die Abgehängten und die wenig qualifizierten Arbeiter, die in der Anfangsphase besonders stark von den Fabrikschließungen betroffen waren und die auf dem neuen Markt keine Chance auf eine Einstellung hatten. Sie wurden in Ungarn in großem Stil in Frührente geschickt, sogar Vierzigjährige traf diese Maßnahme.33 Dies verschleiert jedoch die Dimension, die die Armut in Ungarn angenommen hat. Für das Jahr 2010 zählte das Zentrale Amt für Statistik (KSH) vier Millionen Menschen zur Kategorie der Armen.34 Vier der sieben ungarischen Regionen gehörten 2014 zu den zwanzig

30 Szacki 2003, S. 335. Zu den utopischen Erwartungen und zur typischen Verklärung von Demokratie und Marktwirtschaft in Ostmitteleuropa siehe auch Kornai 2006: »Rightful hopes were intermingled with misconceptions and false illusions. Expressions like the ›West‹, the ›market‹, ›competition‹ and ›democracy‹ resulted in mythical images that promised light without shade.«. 31 Zur Kritik am Leitbild der Meritokratie in Westeuropa siehe Marg, Walter 2012. Zum »producerism« als zentralem Punkt von populistischen Parteien siehe Priester 2007, S. 46 f. 32 Klingman, Szelényi 2002; Segert 2014. 33 Ágh 2013, S. 7. 34 Anders als Eurostat, das die Armutsgrenze bei weniger als sechzig Prozent des Durchschnittslohns festlegt, berechnet der KSH das Existenzminimum anhand eines Warenkorbes mit Grundversorgungsmitteln; bei Eurostat lag die Zahl der Armen in Ungarn bei 12 Prozent. Daten von Ágh 2013 übernommen.

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ärmsten Regionen in der EU.35 Während in der Hauptstadt lediglich ein Zehntel der Menschen als arm bezeichnet werden, gelten auf dem Land zwei Drittel der Privathaushalte als arm. In den Städten außerhalb von Budapest ist nahezu jeder zweite Haushalt besitzlos.36 Allerdings ist auch eine für Transformationsländer spezifische Mittelschicht entstanden, die bereits Mitte der 1990er Jahre mit der ersten Transformationskrise in einen relativ kargen Lebensstandard getrieben wurde37 und auch gegenwärtig, abgesehen von Wohnimmobilien, kaum über Vermögenswerte verfügt, so einer der Befunde des Haushalts-Monitors des Tárki-Instituts für das Jahr 2014. Unverhoffte Ausgaben stellen 92 Prozent der unteren Mittelschicht, 75 Prozent der mittleren und immer noch 56 Prozent der oberen Mittelschicht vor finanzielle Schwierigkeiten, da sie über keine Reserven verfügen. 20 Prozent der unteren Mittelschicht haben Schwierigkeiten mit der Begleichung von Wohnnebenkostenabrechnungen.38 Der Soziologe István György Tóth verweist auf die vielfältigen Deprivationserscheinungen innerhalb der ungarischen mittleren Einkommensschichten: Dass auch einer großen Zahl derjenigen, die 60 bis 200 Prozent des Durchschnittseinkommens verdienen, mehrere zentrale Eigenschaften westeuropäischer Mittelschichten fehlen – wie etwa Ersparnisse, Vermögen oder typische Lebensstilund Konsummuster. 39 Während sich die absoluten Lebenshaltungskosten langsam auf ein europäisches Niveau einpendeln, hinkt das Einkommensniveau in Ungarn dem westeuropäischen weiterhin stark hinterher.40 Die ungarische Mittelschicht sieht sich somit nur sehr begrenzt als Nutznießer von 27 Jahren Systemtransformation. Vielmehr ist die bittere Einsicht präsent, dass das einstige Alleinstellungsmerkmal gegenüber anderen ostmitteleuropäischen Staaten aus der Zeit des sogenannten Gulaschkommunismus – den bescheidenen Vorsprung in der Versorgung und der Lebensqualität von breiten Gesellschaftsschichten – von den politischen und wirtschaftlichen Eliten verspielt wurde.41 Zusätzlich ist es erforderlich, die spezifischen Erfahrungen der Transformationsjahre nachzuvollziehen. Nach 1989 wurden die Ungarn mit einem System konfrontiert, das von den Individuen wesentlich mehr Engagement und Selbstinitiative verlangte, gleichzeitig aber weniger Sicherheit bot. Die im Kalten Krieg relativ stabilen Lebensplanungen wurden plötzlich in Frage gestellt. Viele Formen des Wissens, persönliche Überlebensstrategien sowie kulturelle und soziale Kapitalres35 http://hungarytoday.hu/news/eurostat-four-hungarian-regions-among-eus-underdevelo ped-90875 (Zugriff vom 25.09.2016). 36 Kolasi, Tóth 2016; vgl. Péter 2014. 37 Das Sinken des Lebensstandardniveaus für Ungarn und andere ostmitteleuropäische Staaten in den 1990er Jahren lässt sich u. a. an den sinkenden durchschnittlichen Reallöhnen ablesen. Siehe dazu Juchler 1994, S. 99; Utasi 1998, S. 178 f. 38 Szivós, Tóth 2015; vgl. Tóth 2015 b. 39 Tóth 2015 b. 40 Ebd. 41 Vgl. Utasi 1998, S. 171 f. Leviathan, 45. Jg., Sonderband 32/2017

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sourcen, die in der Prätransformationsphase bestimmend waren, wurden durch den Systemwechsel entwertet.42 Unter anderem fand die Stabilität der Beschäftigungsverhältnisse ein Ende und die Beschäftigungsrate sank von 1990 bis 1996 um 9 Prozent. Dies spiegelte sich lediglich aufgrund der massenhaften Frühverrentungen in der Arbeitslosenstatistik weniger dramatisch wider als in anderen Ländern Ostmitteleuropas.43 Zwar kam es in den Anfangsjahren der Transformation zu einer starken sozialen Mobilität, diese schwächte sich jedoch bis Ende der 1990er enorm ab. Und obgleich es 1997 wieder zu einer wirtschaftlichen Erholung kam, so konnten vom Wirtschaftswachstum fast ausschließlich die am besten verdienenden Teile der Bevölkerung profitieren, welche nicht selten der ehemaligen kommunistischen Nomenklatura angehört hatten. Aufgrund ihrer guten persönlichen Beziehungen zur postkommunistischen Verwaltung hatten sie es oft einfacher, aus der Privatisierungswelle Nutzen zu ziehen.44 Korruptionsaffären führten die entstandene Kluft zwischen der Mehrheit der Bevölkerung und den neuen Elite, die von vielen Menschen als die alte kommunistische Elite in neuem kapitalistischem Gewand gesehen wurde, immer wieder neu vor Augen. Ágh macht für Ungarn nach 1989 drei sozioökonomische Krisen aus: die Transformationskrise Anfang der 1990er Jahre, die Post-Beitrittskrise um das Jahr 2006 sowie die globale Finanz- und Wirtschaftskrise seit 2008.45 Seit der ersten Transformationskrise und dem relativen Niedergang der Löhne und Gehälter sprechen Soziologen und Politikwissenschaftler von der »sozialen Geduld« der osteuropäischen mittleren Schichten – dem sogenannten Transformations- und EU-Beitrittskonsens, der sich in Form einer stillschweigenden Akzeptanz sozialökonomischer Umbau- und Anpassungsleistungen geäußert hat.46 Wie in anderen ostmitteleuropäischen Ländern kam es hier nur begrenzt zu sozialem Aufbegehren und Protesten, was sicherlich auch daran lag, dass Reformgegner jenseits der großen Städte kaum Möglichkeiten hatten, Widerstand zu organisieren.47 Unter diesen Bedingungen kamen die ersten geburtenstarken Jahrgänge auf den Arbeitsmarkt, die größtenteils während der Transformation sozialisiert worden waren. Sie sind im Durchschnitt besser ausgebildet, flexibler und dynamischer als ihre Eltern. Die Soziologin Ágnes Utasi macht auf das verstärkte Streben dieser Jahrgänge nach dem Mittelschichtsstatus aufmerksam, welches mit der Expansion der höheren Bildung nach 1989 einherging. Trotz der materiellen Schwierigkeiten 42 43 44 45 46 47

Korkut 2007, S. 6. Utasi 1998, S. 179 f. Tóth 2004; vgl. ders. 2015 b. Ágh 2013. Vgl. ebd., S. 9; Lang 2009. Größere Proteste gab es vor allem in Bereichen, in denen Gewerkschaften auch im Staatssozialismus traditionell stark waren, etwa im Gesundheitswesen oder im Bergbau. Eine bemerkenswerte Ausnahme stellten die in Ausmaß ihrer Radikalität unterschiedlichen polnischen und ungarischen Bauernproteste sowie die ungarischen Taxifahrerproteste dar; vgl. Segert 2014, S. 171.

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und eines faktischen Schrumpfens der Mittelschicht hat die Selbsteinordnung in die Mittelschicht aufgrund des Bildungsstatus von 42,9 Prozent im Jahr 1991 auf 47,7 Prozent im Jahr 1996 zugenommen.48 Die heute 33- bis 47-Jährigen hatten auf längere Sicht die typischen materiellen Erwartungen der traditionellen Mittelschicht – ein Haus mit Garten, Familie, ein stabiles Arbeitsverhältnis –, fanden aber in Ungarn der Transformationszeit keine günstigen Bedingungen für deren Realisierung. Vor allem die besser Gebildeten entscheiden sich daher oft für die Arbeitsmigration in den Westen Europas. Während nur 19 Prozent der in Ungarn lebenden Menschen einen universitären Bildungsabschluss haben, verfügen 32 Prozent der emigrierten Ungarn über ein akademisches Examen.49 Die Dagebliebenen, so eine Studie des Tárki-Instituts, sind im Vergleich zu anderen Kohorten die vehementesten Fidesz-Unterstützer geworden.50 Mit der sogenannten Post-Beitrittskrise um 2006 änderte sich die politische Situation in Ungarn grundlegend: Um den EU-Konvergenzkriterien nach dem Vertrag von Maastricht zu genügen und auf Druck der Europäischen Kommission leitete das Kabinett der Koalition aus Ungarischer Sozialistischer Partei (Magyar Szocialista Párt, MSZP) und dem Bund Freier Demokraten (Szabad Demokraták Szövetsége,– SZDSZ) einen radikalen Sparkurs ein. Die postkommunistische sozialdemokratische Partei MSZP erlebte in dieser Zeit einen radikalen inneren Reformprozess. Der erfolgreiche Unternehmer Ferenc Gyurcsány schwor die Partei nach dem Vorbild der britischen Labour Party und der deutschen SPD auf einen Kurs der »neuen Mitte« ein, ohne jedoch eine gründliche Analyse der Verfasstheit der ungarischen Mittelschichten mit ihren spezifischen Transformationserfahrungen miteinzubeziehen. Das Ergebnis war die generelle Präferenz eines Typus von Wachstum, der der sozialen Absicherung der Mehrheit einen deutlich geringeren Stellenwert zuweist.51 Schwere Korruptionsvorwürfe und eine fatale politische Kommunikation ließen Gyurcsánys Regierung zusätzlich in der Gunst der Bevölkerung sinken. In Budapest und anderen größeren Städten kam es nach dem Bekanntwerden einer nichtöffentlichen Rede des Ministerpräsidenten vor dem Führungskreis der Sozialistischen Partei, der sogenannten »Lügenrede«,52 zu tagelangen Ausschreitungen. Das Rundfunkgebäude wurde besetzt und es kam zu harten Polizeieinsätzen, in deren Verlauf mehrere Hundert Menschen verletzt wurden.53

48 Utasi 1998, S. 178 f. 49 Blaskó, Ligeti und Sik 2015. 50 2013-2014 äußerten 54,7 % der 30- bis 44-Jährigen eine Wahlpräferenz für Fidesz. Entsprechend unter den 18- bis 29-Jährigen 45,9 %, den 45- bis 59-Jährigen 46,7 %, und unter den über 60-Jährigen 49 %. Siehe Enyedi, Fábián, Tardos 2014, S. 552. 51 Segert 2008, S. 119 ff.; vgl. Szolomayer 2015, S. 73 ff. 52 Teile der Rede sind nachzulesen unter http://news.bbc.co.uk/2/hi/europe/5359546.stm (Zugriff vom 04.12.2016). 53 Mehr zu den Umständen und Folgen der sogenannten Lügenrede siehe Bos 2011, S. 48 f. Leviathan, 45. Jg., Sonderband 32/2017

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2008 stand Ungarn am Rande eines Staatsbankrotts. Ein internationaler Notkredit von IWF, Weltbank und EU verhinderte schließlich die Zahlungsunfähigkeit des Landes. Ein anderes brennendes Problem war die hohe Verschuldung der privaten Haushalte, die im Zuge der Finanzkrise besonders harte Auswirkungen auf die ungarische Mittelschicht hatte. Knapp eine Million Ungarn nahmen in den 2000er Jahren Kredite auf, um sich den Traum vom eigenen Haus oder der eigenen Wohnung zu erfüllen – wegen der besonders günstigen Zinsen zumeist in Euro oder Schweizer Franken. Mit dem starken Verfall des Forint wurde dies zur Existenzbedrohung.54 Die ungarische Wirtschaft schrumpfte im Jahr 2009 um 6,8 Prozent. Das Scheitern der sozialliberalen Politik wurde mit der Banken- und Finanzkrise manifest.55 Zwar mündete diese in vielen Staaten Europas in einer Rezession, doch deren Ausmaß und die sozialen Kosten waren in Ungarn besonders gravierend. Im März 2009 erreichte das Stimmungsbarometer in Ungarn seinen negativen Rekordwert.56 Für viele Menschen wurde offensichtlich, dass sie trotz EUMitgliedschaft vom westlichen Wohlstandsniveau weit entfernt waren und dies auch noch sehr lange bleiben würden. Die Zahlen der Haushalts-Monitore des Tárki-Instituts wie auch die Studie des Zentralen Statistischen Amtes (KSH) zur Bevölkerungsschichtung für den Zeitraum 2001-2011 belegen ein Schrumpfen der mittleren Schichten und eine Ausweitung der Unterschicht.57 Während die postkommunistische technokratische Expertenregierung versuchte, die Bevölkerung auf künftige Etappenziele wie die Euro-Übernahme zu verpflichten und auf neue fiskalische Härten einzustellen, forderte die schrumpfende und verhinderte Mitte »die Reformdividende der rauen Jahre des Wandels ein«.58 2009 verabschiedete die Regierung unter Ministerpräsident Gordon Bajnai, einem früheren Investmentbanker, ein nächstes rigoroses Sparpaket, das für die ungarischen Mittelschichten weitere tiefe Einschnitte bedeutete. Es beinhaltete unter anderem eine dreißigprozentige Erhöhung der Energiepreise, einen Anstieg der Krankenkassenbeiträge, die Einführung von Studiengebühren sowie eine fünfprozentige Erhöhung der Mehrwertsteuer auf Lebensmittel und den öffentlichen Verkehr.59 Der Ruf nach Staatsprotektionismus wurde immer lauter, die großen Erwartungen gegenüber dem Staat, die nach 1989 paradoxerweise in einer positiven Einstellung zu der radikalen Systemtransformation resultierten, mündeten nach 2006

54 Ágh 2013, S. 16. 55 Ebd., S. 8; Bozóki 2012, S. 7 f. 56 Vgl. die Umfrageergebnisse vom 27. März 2009 des Meinungsforschungsinstitutes Forense. Dieses berichtete über einen Rekord der negativen Stimmungswerte, wonach 82 Prozent der Bevölkerung pessimistisch in die Zukunft blickten. http://szazadveg.hu/kut atas (Zugriff vom 24.09.2016); vgl. Ágh 2013, S. 8; Bozóki 2012, S. 7 f. 57 Tóth 2015 b, S. 35; KSH 2015 b. 58 Lang 2009, S. 243. 59 http://derstandard.at/1237230129288/Massives-Sparpaket-trifft-Beamte-Bahn-und-Pen sionisten (Zugriff vom 14.09.2016).

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in eine »illiberale Wende« und einen immensen Popularitätsgewinn des Fidesz.60 Vieles deutet darauf hin, dass die autoritäre politische Kultur in Ungarn durch die Frustrationen, die aus dem Widerspruch zwischen den Erwartungen der Bevölkerung an die Transformation und den Ergebnissen resultierten, zusätzlich genährt wurde. Im Rahmen der Studie von Rathkolb und Ogris wurden Ende 2007 Menschen in mehreren mitteleuropäischen Ländern nach autoritären Einstellungen befragt. Autoritäre Einstellungen lassen sich nicht nur in der Aggressions-Unterwerfungs-Dimension verorten, sondern auch in einer Form von »Anomie«, d.h. von Orientierungslosigkeit, sowie in einem Gefühl politischer Machtlosigkeit. Leo Srole konnte nachweisen, dass Anomie nicht nur signifikant höher mit der Fremdgruppenabwertung korreliert als Autoritarismus, sondern dass Anomie neben einem direkten auch einen indirekten, über Autoritarismus vermittelten Effekt auf die Abwertung von Fremdgruppen hat.61 Diejenigen, die sich orientierungs- und machtlos fühlen, suchen Sündenböcke für ihre Situation. Sie finden diese beispielsweise in Minderheiten, deren Rechte ihrer Meinung nach eingeschränkt werden sollten. Diese Minderheitenfeindlichkeit beschränkt sich dabei nicht auf ethnische oder religiöse Minderheiten wie Roma, Juden oder muslimische Flüchtlinge, sondern betrifft auch soziale Randgruppen wie Homosexuelle, Drogenabhängige oder psychisch Kranke. Besonders für Ungarn fanden die Forscher um Rothkolb und Ogris hohe Anomie-Werte.62 Als eine Folge der Strapazen des sozialen Aufstiegs lässt sich die Praxis der sozialen Schließung und Stigmatisierung deuten, die die Armen grundsätzlich als erfolglos und den sozialen Wohlfahrtsstaat als Kern der Korruption betrachtet. Die Konkurrenz der Lebensstile äußert sich, wie so oft, bei den Überlegenen in der Verteidigung des erworbenen Status und bei den Unterlegenen in sozialer Scham.63 Das Tárki-Institut fand 2009 heraus, dass die Bereitschaft der ungarischen Bevölkerung, Bedürftigen zu helfen, die geringste in ganz Europa war.64 Die Modernisierungsströme der letzten Jahrzehnte haben in der ungarischen Gesellschaft also nicht – wie nach 1989 angenommen – nur links-libertäre Wertemuster begünstigt, sondern zum großen Teil auch reaktive Einstellungswelten produziert. In dieser großen gesellschaftlichen Teilwelt der Mitte herrscht Verdrossenheit über den Staat bei gleichzeitig hohen Erwartungen an ihn; erst recht aber herrschen Verdruss über die dekadenten linksliberalen und kosmopolitischen Milieus, die Sparpolitik der Koalition von MSZP und SZDSZ sowie den Druck der Brüsseler Bürokraten bei gleichzeitigem Ärger über hohe Abgabenlasten, Wut über den zu teuren Wohlfahrtsstaat, Misstrauen gegenüber schlecht ausgebildeten 60 Ungarn vor den Wahlen: Ein fluides System im Zeichen der Doppelkrise 2010. http://li brary.fes.de/pdf-files/bueros/budapest/07135.pdf (Zugriff vom 25.09.2016); vgl. Bayer 2013, S. 99. 61 Srole 1956. 62 Rathkolb, Ogris 2010. 63 Vgl. Neckel 1989. 64 Giczi, Sik 2009. Leviathan, 45. Jg., Sonderband 32/2017

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und »arbeitsunwilligen« Roma65 und insgesamt eine eher kalte Verächtlichkeit gegenüber dem unteren Drittel der Gesellschaft. 3. Der Wandel des Fidesz als Abbild der Transformation der ungarischen Mitte Der ungarische Parteienforscher Zsolt Enyedi macht darauf aufmerksam, dass im Verlauf der politischen Willensbildung ein Aushandlungsprozess zwischen einer Partei und gesellschaftlichen Schichten stattfinden kann, in dessen Folge die Partei ihre politische und ideologische Agenda ändert. Folgend könnte man den zunehmenden Staatsinterventionismus und Viktor Orbáns Leitbild des illiberalen Staates als Folge eines postliberalen Lernprozesses der Partei auffassen. Unter den spezifischen Bedingungen der zwei Transformationsdekaden standen politische Parteien nicht nur unter dem externen Druck internationaler Bezugssysteme wie der EU oder des IWF, sondern waren auch mit endogenen Reize und Akteuren konfrontiert.66 Helmut Dubiel zufolge sind historische Konstellationen, in denen populistische Bewegungen günstige Entstehungsbedingungen vorfinden, dadurch charakterisiert, dass »infolge eines abrupten technologischen und ökologischen Modernisierungsschubs die jeweils etablierte Balance von wirtschaftlichen Notwendigkeiten, sozialstrukturellen Machtverteilungen und kulturellen Bewusstseinsformen in Bewegung gerät und ganze Bevölkerungsteile in dieser erdbebenartig sich entladenden Strukturspannung gesellschaftlich obdachlos werden«.67

Der Fidesz zeigte sich in dieser Hinsicht seit seiner Entstehung als besonders anpassungsfähig. Bereits während der Kádár-Ära im Jahr 1988 gelang es 37 jungen, vornehmlich aus der Provinz stammenden Intellektuellen, eine liberale antikommunistische Generationspartei (die Mitglieder mussten anfangs jünger als 35 Jahre sein) zu formieren – den Fiatal Demokraták Szövetsége (Bund Junger Demokraten), kurz: Fidesz. Sie bezeichneten sich als »radikal, liberal und alternativ«.68 Die gesamte sechsköpfige Fidesz-Führung studierte an demselben Elite-Kolleg Bibó István in Budapest, was die subversiven politischen Aktivitäten der Gruppe erheblich erleichterte. Es entwickelten sich sehr enge Beziehungen, die bis heute bestehen und nach wie vor die Einigung in strategischen Fragen erleichtern.69 Ein Jahr später, am 16. Juni 1989, gewann der aus dem Kleinbürgertum aufgestiegene Jurastudent Viktor Orbán an Berühmtheit, als er als Erster seit dem gescheiterten Aufstand 65 Laut einer Umfrage des Progressive Instituts ist die Feindschaft gegenüber Roma in Vergleich zu anderen Minderheiten in Ungarn am stärksten verbreitet. 2009 meinten 84 Prozent der Ungarn, die Sorgen der Roma könnten gelöst werden, wenn sie endlich anfangen würden zu arbeiten, wozu ihnen jedoch der Wille fehle. Zitiert nach Barlei, Hartleb 2010. 66 Enyedi 2005. 67 Dubiel 1986, S. 47. 68 Oltay 2012, S. 36 f. 69 Vgl. Oltay 2014, S. 182.

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1956 vor 150.000 Menschen öffentlich den Abzug der sowjetischen Truppen aus Ungarn forderte.70 Bei den ersten freien Wahlen 1990 versprachen die inzwischen längst in den Kultstatus erhobenen Wahlplakate des Fidesz frischen Wind, indem sie den innigen Kuss zwischen Breschnew und Honecker mit einem sich küssenden jungen, attraktiven Paar neben dem Fidesz-Logo kontrastierten. Versehen war dies mit der ironischen Botschaft »Bitte wählen!« Die Partei sprach sich gegen staatliche Interventionen in der Wirtschaftspolitik und für den Schutz von Minderheiten aus. 1992 wurde der Fidesz Mitglied der Liberalen Internationale. Einer seiner engsten Kooperationspartner in Westeuropa war die linksliberale D’66 in den Niederlanden.71 Als der Fidesz 1998 erstmalig die Regierung stellte, hatte die Partei bereits einen Wandel vollzogen. Schon 1993 hatte es einen Richtungsstreit zwischen den Anhängern von Viktor Orbán und Gábor Fodor gegeben, den Orbán zu seinen Gunsten entschied. Nach dem Tod des konservativen politischen Patriarchen József Antall ließ er die Partei einen nationalliberalen Kurs einschlagen: Der Fidesz definierte sich fortan als eine Gruppe der »liberalen Mitte« und deklarierte den Aufbau der Mittelschicht zu seinem Hauptziel. Mit dem zentralen Begriff des Bürgers (polgár) unterstrich Fidesz den eigenen Antikommunismus und Konservatismus und versuchte gleichzeitig, die eigene Position vom Elitismus des sozialliberalen Lagers abzugrenzen.72 Fidesz benannte sich 1995 um in »Fidesz – Ungarische Bürgerliche Partei« (Fidesz – Magyar Polgári Párt, Fidesz – MPP)73 und veröffentlichte eine Programmschrift mit dem Titel »Für ein bürgerliches Ungarn«.74 Im Jahr 2000 schließlich wechselte Fidesz von der Liberalen Internationale zur Europäischen Volkspartei (EVP); auf europäischem Parkett näherte er sich den Parteien CSU und Forza Italia an. Doch trotz des konservativen Kurswechsels führte die erste Regierung Fidesz 1998-2002 erfolgreiche Beitrittsverhandlungen mit der EU. Die Europäisierung war zu dieser Zeit auch für den Fidesz das ultimative Leitbild für die zukünftige Entwicklung Ungarns. Nach der Wiedererlangung der nationalen Souveränität sollte mit dem EU-Beitritt die lang ersehnte »Rückkehr nach Europa« vollendet werden.75 Währenddessen gewann die Partei die Unterstützung der Kirchen, konservativer Forschungsinstitute, Thinktanks und Verlage. Ab 2003 konnten politische Parteien Stiftungen gründen, was Fidesz als erste ungarische Partei mit der Gründung der Polgári Magyarországért Alapítvány (Stiftung für ein Bürgerliches Ungarn) umsetzte. 2006 gründete Fidesz mit dem Nézőpont Intézet (Perspektiv-Institut) 70 71 72 73

Oltay 2012, S. 40. Enyedi 2005, S. 705. Oltay 2012, S, 97; vgl. Korkut 2012. 2003 kam es zu einer erneuten Umbenennung der Partei in Fidesz – Ungarischer Bürgerbund (Fidesz – Magyar Polgári Szövetség.). 74 Modor, Laczik 2013, S. 83. 75 Segert 2014. Leviathan, 45. Jg., Sonderband 32/2017

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seinen eigenen Thinktank, der politische Analysen erstellt und Meinungsumfragen durchführt.76 Nach der überraschenden Wahlniederlage 2002 rief Orbán mit dem Aufruf »Hajrá, magyarok!« (Vorwärts, Ungarn!) zu Demonstrationen und zur Gründung von »bürgerlichen Kreisen« (polgári körök) auf. Die Bewegung sollte, ähnlich wie die CSU unter Franz Josef Strauß, das gesamte Mitte-rechts-Spektrum vereinen.77 Hunderttausende Menschen nahmen an den Demonstrationen teil, und innerhalb weniger Monate wurden 10.000 bürgerliche Kreise mit über 100.000 Teilnehmern gegründet.78 Vor den Wahlen zum Europäischen Parlament im Jahr 2004 startete Fidesz eine nationale Petition, die von mindestens einer Million Menschen unterschrieben wurde. Die Petition forderte unter anderem das Ende der Privatisierung, den Schutz von Arbeitsplätzen und höhere Zuschüsse für die ungarische Landwirtschaft. So gelang es Fidesz, eine Datenbasis zu erstellen, auf die bei zukünftigen Kampagnen zurückgegriffen werden konnte. Die Strategie der direkten Kontaktaufnahme mit den Wählern wurde auch bei den nächsten Wahlen beibehalten. Vor den Wahlen 2006 schickte Fidesz Meinungsumfragen an alle Bürger, um herauszufinden, was die Menschen von der Politik erwarteten. 2006 schickten 3,2 Millionen Menschen die Fragebögen zurück, die während des Wahlkampfes und für die zukünftige politische Aufstellung eine wichtige Informationsbasis darstellten.79 Dennoch verlor die Partei in jenem Jahr die Wahl. Wie schon 2002 streute die Partei auch 2006 Gerüchte über eine Wahlfälschung.80 Es kam zu einer zunehmenden Polarisierung des ungarischen Parteiensystems, die sich in andauernder medialer Konfrontation sowie gegenseitiger Hasspolemik der beiden Großparteien entlud. In diesem Gefüge akzeptierte »die Linke« grundsätzlich das Primat der Marktliberalisierung, was in Zeiten des Wahlkampfes durch kleinere sozialpolitische Geschenke an strategisch wichtige Gruppen flankiert wurde; »die Rechte« reagierte mit einer kulturkämpferischen Gegenoffensive: Der freien Marktwirtschaft und dem gesellschaftspolitischen Liberalismus wurden nationale Identität und ein interventionistischer Obrigkeitsstaat entgegengesetzt, »und zwar im Zeichen antikommunistischer Ressentiments, die paradoxerweise mit nostalgischen Wünschen für die spätkommunistische soziale Sicherheit verbunden sind«.81 Die Politik der Polarisierung wurde spätestens seit der Post-Beitrittskrise um 2006 von Intellektuellen und einem beträchtlichen Teil der ungarischen Gesell76 Oltay 2014, S. 185. 77 Diese sollten der Diskussion einer zukünftigen konservativen Politik dienen. Dabei wurden auch rechtsextremistische Kreise gebildet. Mitglied in dem von Orbán gegründeten Kreis war etwa der Parteimitbegründer und jetzige Vorsitzende der Jobbik, Gábor Vona. Siehe auch bei Barlei, Hertleb 2010. 78 Enyedi 2005, S. 709. 79 Oltay 2014, S. 191. 80 Barlei, Hartleb, 2010. 81 Márkus 2009; vgl. Segert 2008.

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schaft zunehmend abgelehnt, was auch einem Demokratieverständnis geschuldet war, das gerade für osteuropäische Transformationsgesellschaften typisch ist. Für viele Menschen im ehemaligen Ostblock ist Demokratie identisch mit der Durchsetzung eines nicht näher definierten gemeinen Volkswillens. Somit werden die soziale Ausdifferenzierung der Gesellschaft und die damit verbundene Entstehung von sozialen Gruppen mit zum Teil entgegengesetzten Interessen grundsätzlich abgelehnt. Das beinhaltet die im Pluralismus übliche Organisation und Vertretung von Interessen. Besonders seit den mannigfaltigen Krisenerfahrungen seit dem EUBeitritt wurde das bipolare ungarische Parteiensystem, das seit den 1990er Jahren maßgeblich durch den Konflikt zwischen den beiden Lagern geprägt war, stark kritisiert.82 Die Fokussierung auf eine bipolare politische und gesellschaftliche Konfrontation stamme aus dem Verständnis des Kampfes zwischen einer totalitären Staatspartei und einer unterdrückten Opposition, so die Kritik, und sei angesichts neuer Herausforderungen obsolet geworden. Zwar kann man die entstandene Konfliktlinienstruktur tatsächlich als eine große Mystifikation der ungarischen Politik nach 1989 bezeichnen, da sie die rasch zunehmenden neuen Konflikte und Dilemmata mit Symbolpolitik verschleierte;83 doch statt einer differenzierten und interessengeleiteten Neustrukturierung kam es zur Forderung nach einer Kooperation der beiden Großparteien in Rahmen eines nationalen Konsenses. Die Überwindung der Spaltung wurde zum zentralen Postulat.84 Dass die Stabilität der Lager ein Ende finden sollte, zeigten letztendlich die Wählerströme bei den Parlamentswahlen 2010. Lediglich 53 Prozent derjenigen, die bei den Wahlen 2006 die Sozialisten (MSZP) gewählt hatten, gaben ihre Stimme erneut für sie ab. Ihr Koalitionspartner, die SZDSZ, scheiterte sogar an der Sperrklausel. 11 Prozent der ehemaligen MSZP-Wähler entschieden sich, für Fidesz zu stimmen, 8 Prozent für Jobbik.85 Von dieser Niederlage konnten sich MSZP und SZDSZ bis heute nicht erholen. Die populäre Forderung nach der Überwindung der Spaltung in zwei Lager nahm Orbán seit seinem Wahlsieg 2010 zum Anlass für eine Politik der quasi-revolutionären Transformation des Landes im Sinne einer Utopie der nationalen Mitte. In der »Erklärung zur Nationalen Zusammenarbeit« war die Rede von einer Revolution an den Urnen, die die Phase der Entwicklung seit 1944 endgültig abschließen solle. Die Broschüre, die in allen öffentlichen Einrichtungen auslag, fasste zusammen, wie die Dritte Ungarische Republik auf dem Weg zum System der nationalen Zusammenarbeit umgebaut werden müsse. Die Regierung präsentierte sich als eine »Regierung der Einheit«, die den Aufbau eines neuen starken Ungarns auf den Pfeilern Arbeit, »Zuhause/ Heimat, Familie, Gesundheit und Ordnung« voranbringen wolle.86 82 83 84 85 86

Körösényi 2013, S. 3 ff.; Bayer 2013, S. 98; Bozóki 2011, S. 69. Vgl. Szacki 2003, S. 343. Bayer 2013, S. 98. Szabó 2015, S. 299. Programme of National Cooperation,2010. http://www.parlament.hu/irom39/00047/0 0047_e.pdf (Zugriff vom 20.09.2016).

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Der Wahlsieg wurde dabei als Wiedererlangung der nationalen Selbstbestimmung dargestellt: »At the end of the first decade of the 21st century, after fortysix years of occupation, dictatorship, and two ambiguous decades of transition, Hungary has regained its right to and capability of self-determination.«87 Der Weg zu einem »neuen politisch-wirtschaftlichen System« führte zunächst über eine Reorganisation und Machtfokussierung in der Exekutive, anschließend wurde ein systematischer Elitenwechsel vorgenommen – die Macht exkommunistischer Seilschaften sowie einflussreicher Oligarchen sollte zurückgedrängt werden, um Platz für eine neue patriotische bürgerliche Elite zu schaffen. Zum Zweck der Auswechslung der Staatsangestellten – einschließlich der JournalistInnen in Fernsehen und Rundfunk – kam es zu außerordentlichen Kündigungen. Durch die so entstandene Atmosphäre der Einschüchterung ist seitdem Selbstzensur zugunsten der Regierung weit verbreitet.88 Das Verfassungsgericht, die Justiz und die Nationalbank wurden in ihrer Autonomie und in ihren Befugnissen eingeschränkt. Des Weiteren wurden umfangreiche Reformen des Rechts-, Renten-, Bildungs- und Gesundheitssystem auf den Weg gebracht. Dabei bezog die Regierung nur marginal die Zivilgesellschaft und die Opposition mit ein. Vor allem im Zuge der Ausarbeitung einer neuen Verfassung wurde dies von Verfassungsrechtlern scharf kritisiert.89 Die Machtkonzentration und Entwicklung der Fidesz zu einer Hegemonialpartei sind zum erklärten Ziel der Regierung Orbán geworden. Kurz nach dem Wahlsieg verkündete der Ministerpräsident vor Fidesz-nahen Intellektuellen: »Until recently, Hungarian politics had been characterized by a dual field of force. In these days this duality of the system seems to cease, and a central political field of force is in the making […] a big governing party comes into being, a central political powerfield, which persists and will be able to restate the national cause – and all this not through continuous debates, but representing this through its own natural weight. Either we try to build up a system of government, which minimizes the chance to restore the dual field of force, being able to arrange the political issues, or we prepare for a counter-government, but then the dual field of force will be reestablished. It is my conviction that we should not pursue a counter-government, but that we should establish a government of a national cause«90.

Während seiner alljährlichen Rede im rumänischen Băile Tuşnad/Tusnádfürdő91 2014 sprach sich Orbán dafür aus, nach dem vermeintlichen Scheitern des Liberalismus, der vor allem die Starken gegenüber den Schwachen bevorzuge, einen illi-

87 Ebd. 88 Segert 2014, S. 242. 89 Siehe Tóth 2013. Mehr zum Umbau des politischen Systems siehe auch Bos 2011, S. 51 ff. 90 Zitiert nach Bayer 2013, S. 101. 91 Im rumänischen Kurort Băile Tuşnad/Tusnádfürdő findet alljährlich im Sommer die vom Fidesz unterstützte Freie Jugenduniversität statt. Dies ist ein beliebter Treffpunkt für konservative ungarische Politiker und Intellektuelle. Die Bewohner der Stadt sind zu 95 Prozent Szekler, eine den ungarischen Szekler-Dialekt sprechende Bevölkerungsgruppe.

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beralen Staat zu errichten.92 Die Wirtschaftskrise markierte den Beginn einer neuen Phase der ungarischen Geschichte. »What we should [...] view as our starting point is the great redistribution of global financial, economic, commercial, political and military power that became obvious in 2008.« Als Ideenstifter des illiberalen Staates gilt der Soziologe Gyula Tellér, der seit 1994 persönlicher Berater von Viktor Orbán ist.93 In seinen Aufsätzen beschreibt Tellér ein »System des Systemwechsels«, das durch ein nationales System mit einer Gemeinschaftsorientierung unter völkischen Vorzeichen ersetzt werden müsse. Die Gesellschaft sei nicht nur eine »Menge aus Individuen, sondern eine Gemeinschaft, eine organische Struktur«.94 4. Wirtschafts- und Sozialpolitik als Ausprägung der Utopie der Mitte Fidesz leitet seinen transformatorischen Auftrag aus einem demokratischen Mehrheitsmandat und der in Ungarn weitverbreiteten vernichtenden Bilanz der Entwicklung von Staat, Gesellschaft und Wirtschaft seit 1989 ab. Die eigentlichen Ziele des demokratischen Umbruchs, etwa allgemeiner Wohlstand, seien nicht erreicht worden. Ursache für die regressive Modernisierung in Ungarn sei ein intransparenter Übergang vom Kommunismus zu einer neuen Herrschaftsform, in der sich exkommunistische Seilschaften, Oligarchen und liberal-kosmopolitische Kreise gemeinsam des Staates, der Wirtschaft und der Medien bemächtigt hätten. Entstanden sei somit ein deep state, in dessen Grauzonen intransparente, undemokratische und für die nationale Volkswirtschaft destruktive Beziehungen zwischen Politik, Verwaltung, Finanzwelt und Großunternehmen herrschten.95 Die Wirtschaftskrise seit 2008 hat die Länder in der europäischen Semiperipherie, also in Süd- und Osteuropa, aufgrund ihrer starken Abhängigkeit von der weltwirtschaftlichen Lage und der hohen internen Devisenkredite verhältnismäßig früh und stärker getroffen als die meisten alten EU-Staaten. Ungarn war das erste EU-Land, das bereits im Herbst 2008 einen IWF-Stützungskredit beantragte. An dem Kredit beteiligten sich auch die EU und die Weltbank. Er war mit den Auflagen einer typisch orthodoxen Sparpolitik verbunden.96 Angelehnt ist diese Analyse der Problemlagen des ungarischen Wirtschaftssystems an die Arbeit der Soziologen King und Szelényi. Sie beschrieben für Ungarn 92 Siehe Prime Minister Viktor Orbán’s Speech at the 25th Bálványos Summer Free University and Student Camp 2014. http://www.kormany.hu/en/the-prime-minister/the-pri me-minister-s-speeches/prime-minister-viktor-orban-s-speech-at-the-25th-balvanyos-su mmer-free-university-and-student-camp (Zugriff vom 23.09.2016); vgl. Csillag, Szelényi 2015, S. 23 f. 93 1990 war er von der liberalen SZDSZ entsandter Abgeordneter des ungarischen Parlaments. Vgl. Enyedi 2016. 94 Tellér 2009. 95 Lang 2016, S. 63. 96 Segert 2014, S. 208 f.; vgl. Becker 2015, S. 70. Leviathan, 45. Jg., Sonderband 32/2017

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und Polen die Entstehung eines Kapitalismus ohne Kapitalisten – des »Kapitalismus von außen«. Diesen Systemtypus zeichnet vor allem eine nach dem Systemwechsel rasch erfolgte Transnationalisierung von Schlüsselbranchen aus, was den positiven Effekt vergleichsweise hoher Investitionsraten mit sich brachte.97 Andere Autoren sprechen im ungarischen Fall auch vom »foreign led capitalism« oder vom »dependent capitalism«.98 Angesichts des Fehlens einheimischen ökonomischen Kapitals hatte das hohe Tempo der Privatisierung zu einer Übernahme der Staatsbetriebe durch westliche Investoren geführt. So entstand eine Dominanz westlicher Investoren über Großunternehmen und Schlüsselbranchen, welche die Aktivitäten der einheimischen Privatunternehmer auf die Sektoren der Klein- und Mittelbetriebe begrenzte. In den Ländern des Kapitalismus von außen blieb der politische Einfluss der Nationalregierungen auf die Ökonomie gering. Die multinationalen Konzerne sind häufig die einzigen relevanten Arbeitgeber; oft existieren keine Gewerkschaften.99 Das Wahlprogramm des Fidesz von 2010 enthielt vier zentrale Versprechen: die Schaffung einer Million neuer Arbeitsplätze in zehn Jahren, den Umbau des öffentlichen Dienstes, den Kampf gegen die Korruption und Steuererleichterungen für die Mittelschicht. Doch hinter dieser Agenda stand eine viel umfassendere Zielsetzung: Ungarns Reindustrialisierung und somit die Ausrichtung an einer produktions- und arbeitsbasierten Volkswirtschaft sollten das Land international konkurrenzfähig machen. Um ungarische Interessen zu schützen, müsse man jedoch erst einen »wirtschaftlichen Freiheitskampf« (gazdasági szabadságharc) führen.100 Zudem wird angestrebt, Eigentumsverhältnisse zugunsten einheimischer Eigentümer zu verschieben, vor allem im Bankensektor, wo die Regierung den einheimischen Anteil auf über fünfzig Prozent erhöhen will. Und in der Tat sank der Anteil ausländischer Banken gemessen an den Aktiva von 69 Prozent im Jahr 2010 auf 59 Prozent im Jahr 2014.101 Von großer Bedeutung für die Konstitution des Fidesz als Mitte-Partei war die am Anfang der zweiten Regierungszeit von Viktor Orbán vorgenommene Umschuldung der Schuldenlast privater Haushalte von Fremdwährung in Landeswährung. Die Ungarische Nationalbank verständigte sich mit dem ungarischen Bankenverband auf eine Konversion der Devisen- in Forint-Kredite. Die Zinssätze für die Forint-Kredite durften dabei die ursprünglichen Zinssätze für die Devisenkredite nicht übersteigen. Die ungarische Zentralbank stellte insgesamt neun Milliarden Euro für die Abdeckung der offenen Devisenpositionen der Banken bereit.102 Mit dem Inkrafttreten des Gesetzes mussten die Kreditinstitute auch überhöhte Zinsen und Gebühren zurückzahlen.

97 98 99 100 101 102

King, Szelényi 2005, S. 210. Vliegenthart 2010. King, Szelényi 2005. Vgl. Lang 2015. Becker 2015, S. 71. Ebd.

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Trotz einer Anti-Establishment-Haltung und einiger Sozialmaßnahmen wie etwa der Deckelung der Wohnnebenkosten und neu angelegter günstiger Wohnparks ist der Fidesz keine Partei der Armen, der Arbeiter oder der Arbeitslosen. Während die polnische nationalkonservative Partei Prawo i Sprawiedliwość (PiS) mit den Schlagwörtern eines »sozialen« oder »solidarischen« Polens deutlich Transformationsverlierer anspricht, betreibe der Fidesz nach eigenen Aussagen keine klassische Wohlfahrtspolitik, sondern eine konsequente »Politik zur Stärkung des nationalen Mittelstandes«. Auch wenn gewisse Elemente des Sozialstaats zeitweise bejaht werden, geschieht dies nur mit der Absicht, sie wieder zu überwinden.103 Während Gewerkschafts- und Arbeiterrechte eingeschränkt wurden, fand ein Übergang zu einem Workfare-Regime statt, welches sich manifest von der »dekadenten« Sozialstaatsauffassung in Westeuropa absetzt. Die Sozialhilfe wurde unter Fidesz von sechs auf drei Monate beschränkt, nur Mütter, die zu Hause bleiben, bekommen eine höhere Unterstützung. Empfänger von Sozialtransfers werden verstärkt der Disziplinierung und sozialstaatlichen Kontrolle ausgesetzt. Die Utopie der Mitte, so zeigt dies, geht einher mit der populistischen Identität des »producerism« und somit mit der Abgrenzung nach oben von den liberalen Eliten im In- und Ausland und nach unten von den sozial Schwächsten.104 In diesem Geiste wurde auch die sogenannte Flat-Tax eingeführt – ein Einheitssteuersatz von 16 Prozent (bzw. seit 2016 15 Prozent), der die ungarische Mittelschicht begünstigen soll. Zuvor war ein progressives Steuersystem mit Spitzensteuersätzen von bis zu 32 Prozent üblich. Kai-Olaf Lang zufolge handelt es sich um »ein Wirtschaftsmodell, das sich vom Neoliberalismus und Kasinokapitalismus abgrenzt, das fiskalpolitisch und marktwirtschaftsorientiert ist, zugleich aber etatistisch und internationalisierungskritisch, und das letztlich an eine national-konservative Agenda angebunden bleibt«.105 Ökonomen sprechen auch vom neuen »unorthodoxen System« oder einem »selektiven Wirtschaftsnationalismus«. Charakteristisch für diesen sei, dass er sich auf bestimmte Dienstleistungssektoren wie Banken oder Handel beziehe, die nach 1989 stark durch Auslandskapital dominiert waren. Einige Ökonomen ziehen eine recht positive Bilanz der wirtschaftspolitischen Bestrebungen und verweisen etwa auf die leichte Einhegung des Haushaltsdefizits, ein Wirtschaftswachstum für 2015 von 2,9 Prozent sowie die Senkung der Arbeitslosenquote.106 Vor allem im Bereich des Bankenwesens und Energiesektors hat die Regierung Orbán eine Politik des begrenzten Konflikts mit bestimmten Fraktionen des Auslandskapitals und der EU verfolgt. Der relative Erfolg dieser Politik gilt als ein wichtiges Indiz dafür, dass die Gestaltungsspielräume der nationalen Politik größer sind als allgemein angenommen. Die Regierung selbst betreibt derzeit über 103 104 105 106

Zu einem ausführlicheren Vergleich zwischen PiS und Fidesz siehe Lang 2016. Priester 2007, S. 46 f.; Bozóki 2015. Lang 2015, S. 2. Vgl. KSH (Zentrales Amt für Statistik) 2015 a. http://www.ksh.hu/docs/hun/xftp/idos zaki/evkonyv/evkonyv_2014.pdf (Zugriff vom 07.08.2016).

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Broschüren, Internetseiten, Fernseh- und Hörfunkspots die Kampagne »A magyar reformok működnek!«(»Die ungarischen Reformen greifen!«), in der sie sich ihrer sozial- und wirtschaftspolitischen Maßnahmen rühmt. Darin angeführt werden unter anderem die Steigerung des Familiengeldes, die Senkung der Steuern beim Wohnungsbau sowie staatliche Kredithilfen für Familien mit drei Kindern. 5. Fazit Die Gegenüberstellung des soziokulturellen Wandels der ungarischen Gesellschaft mit der Politik des Fidesz zeigt, dass Letztere in weiten Teilen das innere Selbstverständnis der breiten Mitte der ungarischen Gesellschaft seit der Wirtschaftskrise widerspiegelt. Der selektive Wirtschaftsnationalismus und Orbáns wirtschaftlicher Befreiungskrieg sind ebenso ein Ausdruck der neuen reaktionären Utopie der verhinderten Mitte in der Semiperipherie wie der soziale Kahlschlag, das WorkfareRegime und die gesellschaftliche Stigmatisierung der Armut. Nach 1989 wurde der politische und wirtschaftliche Liberalismus in Ungarn zur unhinterfragbaren, wenn auch recht vagen Leitidee. Mit dem Systemwechsel verband man gesellschaftliche Freiheiten, aber vor allem die Hoffnung, dass es in Ungarn in Kürze so sein würde »wie im Westen«. Trotz Phasen der Rezession und einer neuen Armut galt der sogenannte Transformations- und EU-Beitrittskonsens, der sich in der Form einer stillschweigenden Akzeptanz von sozialen Härten durch sozialökonomische Umbau- und Anpassungsleistungen äußerte. Die Versprechen von Wohlstand wurden jedoch auch nach über 25 Jahren nur für wenige Ungarn erfüllt. Die Enttäuschung der verhinderten und vom Abstieg bedrohten Mitte über die Bilanz der Systemtransformation und die EU-Mitgliedschaft hatten den Resonanzboden für reaktionäre Sehnsüchte vergrößert. Die Modernisierungsströme der letzten Jahrzehnte haben in der ungarischen Gesellschaft also nicht – wie nach 1989 angenommen – nur links-libertäre Wertemuster begünstigt, sondern zum großen Teil auch reaktionäre Einstellungswelten produziert. In der großen gesellschaftlichen Teilwelt der Mitte herrscht Verdrossenheit über den Staat bei gleichzeitig hohen Erwartungen an ihn. Der Anpassungskonsens vor der Zeit des EU-Beitritts funktioniert spätestens seit der schweren Rezession 2008 nicht mehr. In den Worten von Kai-Olaf Lang kann man den Wahlerfolg des Fidesz als Folge einer »Rebellion der Ungeduldigen«107 deuten. Der Fidesz orientierte sich an den protektionistischen Sehnsüchten der ungarischen mittleren Schichten und konnte auf den Straßen und an den Wahlurnen breite gesellschaftliche Gruppen mobilisieren, indem er sich im Namen der schweigenden Mehrheit der vom Abstieg bedrohten oder verhinderten Mitte gegen die liberalen Eliten im Inland und der EU positionierte.108 Trotz des ambivalenten Verhältnisses zum Wohlfahrtsstaat lässt sich die Wende in der Politik des Fidesz auch als Antwort auf das immer stärkere Zurückbleiben Ungarns hinter 107 Lang 2009. 108 Vgl. Canovan 1999, S. 4 f.

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den Staaten des westlichen Wohlfahrtskapitalismus und die Existenz von linken Parteien, die nicht in der Lage sind, eine Politik des sozialen Ausgleichs und der Chancengleichheit zu entwickeln, interpretieren. Während sozialdemokratische Reformdiskurse in Ungarn seit Mitte der 1990er Jahre davon ausgingen, dass in Anbetracht der Herausforderungen der Globalisierung der Nationalstaat immer weniger als gesellschafts- und wirtschaftspolitischer Horizont wirken könnte und die Antworten darauf Deregulierung und Privatisierung sein müssten, wählte der Fidesz einen riskanten und atypischen Weg aus der Wirtschaftskrise. Folglich handelt es sich dabei nicht allein um einen Versuch, die soziale Kluft zwischen der wirtschaftlichen Elite und den verhinderten Mittelschichten auf symbolischem Wege durch nationalistische Rhetorik zu überbrücken, wie die Transformationsforschung das Phänomen des Rechtspopulismus bis heute zu deuten beliebt, sondern um im europäischen Kontext regulative Präzedenzfälle in der Wirtschaftsund Sozialpolitik.Seit dem Regierungsantritt Orbáns 2010 lässt sich eine Entwicklung hin zu einer steuernden und gestaltenden Wirtschaftspolitik feststellen. Das erklärte Leitbild ist eine produktions- und mittelstandsbasierte Gemeinwohlökonomie. Die Gestalt der Politik des Fidesz ist ohne Zweifel ein Produkt der soziokulturellen Prägungen der Transformationszeit, wie etwa des neuen Arbeitsethos, des Gebots der individuellen Strebsamkeit und des Erfolgs, verbunden mit der Abgrenzung gegenüber liberalen Eliten und der Stigmatisierung des unteren Drittels der Gesellschaft im Geiste des »producerism«. Auch der Antipluralismus durch Zurückdrängung von politischen Gegnern mit demokratisch zweifelhaften Mitteln im Sinne des Systems der nationalen Zusammenarbeit steht in direktem Zusammenhang mit dem populistischen Demokratieverständnis der Wendezeit. Zudem wurden später mit der Politik der Alternativlosigkeit der sozialliberalen Koalitionen die soziale Ausdifferenzierung der Gesellschaft und die damit verbundene Entstehung von sozialen Gruppen sowie deren organisierte Interessenvertretung grundsätzlich abgelehnt. Für eine politikwissenschaftliche Analyse der Systemtransformation in Ostmitteleuropa wird deutlich, dass eine theoretische Perspektive, die die Bedeutung der Hinterlassenschaften des Staatssozialismus für die politische Kultur überbetont, nicht ausreichen kann. Ebenfalls erfasst werden müssten die subjektiven Dimensionen des Politischen. Spezifische Erwartungen an Demokratie und Marktwirtschaft, neue Alltagsstrategien, Frustrations- und Erfolgserfahrungen unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen sowie grundlegende Akteurskonstellationen der zwei Transformationsdekaden müssen in der politikwissenschaftlichen Forschung zu Ostmitteleuropa stärker und systematischer berücksichtigt werden. Literatur Ágh, Attila 2013. »The Triple Crisis in Hungary: The ,Backsliding‹ of Hungarian Democracy after Twenty Years«, in Romanian Journal of Political Science 13, 1, S. 25-51. Ágh, Attila 2015. »De-Europeanization and De-Democratization Trends in Ece: From the Potemkin Democracy to the Elected Autocracy in Hungary«, in Journal of Comparative Politics 8, 2, S. 4-26.

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Werner Krause, Marcus Spittler und Aiko Wagner

Attraktion und Repulsion. AnhängerInnen rechts- und linkspopulistischer Parteien im europäischen Vergleich

1. Einleitung Populismus stellt eines der meistdiskutierten Phänomene nicht nur in der gegenwärtigen Politikwissenschaft, sondern auch in der politischen Öffentlichkeit dar. Angetrieben von einer zunehmenden Anzahl an Wahlerfolgen populistischer Parteien hat sich die Forschung speziell der Angebotsseite des politischen Wettbewerbs zugewandt. Dementsprechend existiert ein umfangreiches Korpus von Arbeiten, die sich mit der Definition und Klassifizierung von populistischen Parteien,1 der Messung populistischer Rhetorik auf der Parteienebene2 oder der Veränderung des Parteienwettbewerbs durch das Erstarken populistischer Parteien3 beschäftigen. Dieses hohe Interesse an populistischen Parteien und Programmatiken ist zuvorderst auf die Vielzahl neuer Parteien zurückzuführen, die in den vergangenen Jahrzehnten an elektoraler Relevanz gewinnen konnten. Einerseits sind Parteien am rechten Ende des Parteienspektrums – wie die Dansk Folkeparti, die Schweizerische Volkspartei oder der französische Front National – infolge kontinuierlicher Wahlerfolge als feste Bestandteile der jeweiligen nationalen Parteiensysteme zu betrachten. Auf der anderen Seite ist insbesondere seit dem Beginn der europäischen Finanz- und Schuldenkrise eine wachsende Bedeutung neuer, sich links von traditionellen sozialdemokratischen Parteien verortender Parteien zu beobachten. Neben seit längerer Zeit etablierten Parteien wie der deutschen Partei Die Linke oder der niederländischen Socialistische Partij werden auch jüngere Wahlerfolge von Parteien wie Syriza oder Podemos als Konstituierung einer linken Spielart europäischer populistischer Parteien gedeutet. Aufbauend auf diesen Beobachtungen wird in zunehmendem Maße ein populistischer Zeitgeist diagnostiziert. Gemeint ist hiermit ein Erstarken populistischer Parteien auf der linken und rechten Seite des Parteienspektrums, das auch Mainstreamparteien veranlasst, häufiger Gebrauch von populistischer Rhetorik zu machen.4 Während die Frage, ob Populismus lediglich als ein Phänomen der politischen Ränder oder als eine das gesamte Parteiensystem erfassende Tendenz zu begreifen ist, andauert,5 existieren lediglich geringe Kenntnisse hinsichtlich der Be1 Ionescu, Gellner 1969; Taggart 2000; Albertazzi, McDonnell 2008; Hawkins 2009; Mudde, Rovira Kaltwasser 2013. 2 Jagers, Walgrave 2007; Hawkins 2009; Rooduijn, Pauwels 2011. 3 Rydgren 2005; Immerzeel, Pickup 2015. 4 Mudde 2004. 5 Rooduijn, de Lange, van der Brug 2014; Rooduijn, Akkerman 2017. https://doi.org/10.5771/9783845287843

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deutung populistischer Einstellungen auf der Nachfrageseite des politischen Wettbewerbs. Im Anschluss an die dargestellte Diskussion um das Aufkommen eines populistischen Zeitgeistes lässt sich die Frage stellen, ob populistische Einstellungen bedeutende Determinanten der Parteienpräferenz darstellen und in welchem Maße diese sowohl für rechts- als auch für linkspopulistische Parteien identifiziert werden können. Im vorliegenden Beitrag fragen wir daher, in welchen Bereichen sich die AnhängerInnen links- und rechtspopulistischer Parteien voneinander sowie von jenen etablierter Mainstreamparteien unterscheiden. Diese Frage ist einerseits von besonderem Interesse, da Analysen der Determinanten rechtspopulistischer Wahlerfolge mehrheitlich angedeutet haben, dass eben nicht populistische Motive und damit Abstoßungsfaktoren gegenüber etablierten Parteien allein, sondern die Übereinstimmung mit den inhaltlichen Politikpräferenzen und somit Attraktionseffekte dieser neuen Rechten relevante Prädiktoren darstellen.6 Andererseits ist nur wenig über die Einstellungen und Motive der AnhängerInnen linkspopulistischer Parteien bekannt. Sofern das Urteil eines gleichzeitigen Erstarkens populistischer Einstellungen an den Rändern des politischen Spektrums zutreffend ist, müssten populistische Wahlmotive sowohl ausschlaggebend für den Wahlerfolg von links- als auch von rechtspopulistischen Parteien sein. Diese Frage wird aus einer komparativen Perspektive mit Daten der European Election Study7 für 21 Mitgliedsstaaten der Europäischen Union beantwortet. Dabei wird der Einfluss populistischer Einstellungen bzw. repulsiv wirkender Faktoren auf Parteipräferenzen regressionsanalytisch untersucht und unter Kontrolle alternativer Erklärungsfaktoren ins Verhältnis zur Bedeutung von Positionen in konkreten Sachfragen, die auf BürgerInnen mit entsprechenden Politikpräferenzen anziehend wirken können, gesetzt. Dieser Beitrag ist wie folgt strukturiert: Zu Beginn wird ein Überblick über Populismus als Phänomen des rechten und linken Rands gegeben (Kapitel 2). Dieser Abschnitt wird insbesondere derzeit bestehende Forschungsdesiderate hervorheben. Hierauf aufbauend werden im folgenden Abschnitt Hypothesen für die empirische Analyse formuliert (Kapitel 3). Nachdem wir auf die Datenlage, Operationalisierung und Analysemethode eingegangen sind (Kapitel 4), werden die Ergebnisse der empirischen Analyse präsentiert (Kapitel 5). Ein abschließendes Fazit fasst die Resultate zusammen und bettet diese in die Frage ein, inwieweit sich rechts- und linkspopulistische AnhängerInnen voneinander und von denjenigen etablierter Parteien unterscheiden (Kapitel 6).

6 Vgl. bspw. Kitschelt 1995; van der Brug, Fennema, Tillie 2000 und 2005; Ivarsflaten 2008; Wagner, Lewandowsky, Giebler 2015. 7 Schmitt et al. 2015. Leviathan, 45. Jg., Sonderband 32/2017

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2. Populismus: Die dünne Ideologie Populismus galt lange Zeit als unterspezifizierter Begriff, dessen Verwendung aufgrund der Diversität an Anwendungsfeldern zumeist unsystematisch und uneinheitlich erfolgte. Die Formulierung einer allgemeinen Definition wurde insbesondere durch das Fehlen eines einigenden Politikstils oder einer gemeinsamen Organisationsform populistischer AkteurInnen erschwert.8 So wurde diesem Phänomen in der Vergangenheit von den einen der Status einer eigenständigen Ideologie zugeschrieben,9 während andere es allein als rhetorisches Mittel der WählerInnenmobilisierung betrachteten.10 Trotz eines fortbestehenden Dissenses in dieser Frage scheint sich die Forschung insbesondere in den vergangenen zehn Jahren zunehmend auf eine Minimaldefinition dieses Konzeptes geeinigt zu haben.11 Im Anschluss an Mudde gilt Populismus als eine dünne Ideologie, deren Kernbestand in der Teilung der Gesellschaft in zwei homogene, sich diametral gegenüberstehende Gruppen – Volk und Elite – zu sehen ist.12 Populistische Parteien stellen sich daher als selbsterklärte Repräsentanten der Interessen des »kleinen Mannes« dar, die eine (Wieder-)Herstellung der missbrauchten Volkssouveränität proklamieren.13 Im Vordergrund steht in dieser Gesellschaftssicht eine dominante vertikale Trennung zwischen Volk und Elite unter Vernachlässigung möglicher horizontaler Spaltungen.14 Diese Definition von Populismus als dünner Ideologie weist zugleich auf die dem Begriff eigene substanzielle Unbestimmtheit hin. Beide Seiten des Begriffspaars Volk–Elite stellen leere Signifikanten dar, die ausschließlich im Anschluss an eine Kernideologie ihre Bestimmung finden.15 Populismus beschreibt somit ein sekundäres ideologisches Charakteristikum, da die konkrete Bestimmung dieser zwei Begriffe nur in Abhängigkeit von einer »vollen« Ideologie (wie bspw. Nationalismus oder Sozialismus) erfolgen kann. Canovan hat in diesem Zusammenhang auf die Flexibilität der »Ausfüllung« des Volksbegriffs in historischer Perspektive hingewiesen.16 So bezog sich dieser teils auf die Bauernschaft, die Arbeiterklasse oder die Nation. Im gleichen Maße kann sich der Elitenbegriff auf eine existente oder fiktive politische, ökonomische oder kulturelle Gruppe beziehen.17 8 Rooduijn, de Lange, van der Brug 2014; Bakker, Rooduijn, Schumacher 2016. 9 MacRae 1969. 10 Jagers, Walgrave 2007; Moffitt, Tormey 2014; siehe bspw. Pauwels 2014 mit einer umfassenderen Übersicht. 11 Siehe bspw. Canovan 2004; Abts, Rummens 2007; Albertazzi, McDonnell 2008; March 2011; Akkerman, Mudde, Zaslove 2014. 12 Mudde 2004, S. 543. 13 Canovan 1999, S. 2; siehe auch Stanley 2008. 14 Deegan-Krause, Haughton 2009, S. 824; Pauwels 2014, S. 20. 15 Mény, Surel 2002; Mudde, Rovira Kaltwasser 2013. 16 Canovan 1981. 17 Vgl. auch Taggart 2000.

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Diese Flexibilität populistischer Inhalte hat zwei wesentliche Konsequenzen für die Analyse eines populistischen Zeitgeistes. Erstens ist Populismus per definitionem weder extrem noch moderat, weder progressiv noch konservativ. Stattdessen sind populistische Inhalte und Rhetorik sowohl für linke als auch für rechte Positionen anschlussfähig.18 Zweitens folgt hieraus, dass Populismus nicht notwendigerweise ein Phänomen der Ränder des politischen Links-rechts-Spektrums ist. Vielmehr können die skizzierten elitenkritischen Einstellungen auch in der »etablierten Mitte« vorkommen.19 Während die ursprüngliche Diagnose einer um sich greifenden populistischen Rhetorik sich auf das gesamte Parteienspektrum inklusive etablierter Mainstreamparteien bezog,20 konstatieren jüngere Arbeiten, dass eine Zunahme populistischer Elemente insbesondere von den Rändern des politischen Links-rechts-Spektrums ausgehe.21 Zwar betteten links- und rechtspopulistische Parteien die von ihnen artikulierte Elitenkritik in den Rahmen unterschiedlicher Kernideologien (Nativismus und demokratischer Sozialismus) ein. Allerdings sei beiden Parteifamilien gemein, dass sie eine Glorifizierung des Volkes mit einer tiefgreifenden Kritik der politischen und ökonomischen Eliten kombinierten. Rooduijn und Akkerman22 argumentieren in diesem Zusammenhang, dass die Lage dieser Akteure an den Enden des politischen Spektrums die Zuwendung zu populistischer Rhetorik und Programmatik erkläre. Da antidemokratische Inhalte im Westeuropa der Nachkriegszeit nur geringe elektorale Unterstützung versprachen, wandten sich Parteien sowohl des rechten wie auch des linken Randes populistischen Inhalten zu. Dies ermöglichte weiterhin eine radikale Kritik an der bestehenden Machtelite.23 In einem ähnlichen Zusammenhang haben auch Katz und Mair die Mitte der 1990er Jahre berühmt gewordene Kartellparteienhypothese reformuliert.24 Die Autoren räumten ein, dass nicht alle gegenwärtigen Parteien Teil der von ihnen identifizierten Kartellbildungen innerhalb der europäischen Parteiensysteme seien. Vielmehr erlebten die europäischen Demokratien ein Erstarken von populistischen Anti-System-Parteien. Hierauf aufbauend formulierte Mair später die Hypothese, dass es populistische Parteien seien, welche eine neue Opposition in den etablierten Parteiensystemen Westeuropas darstellten.25 Deren Erstarken – so Mair – sortiere den politischen Wettbewerb in Europa neu. Auf der einen Seite befänden sich Mainstreamparteien, die in regelmäßigen Abständen in (einer zunehmend depolitisierten) Regierungsverantwortung stünden und infolgedessen nur im begrenzten Maße ihrer Funktion als »Repräsentanten des Volkswillens« nachkämen. Auf der anderen Seite stünden ebenjene populistischen Parteien 18 19 20 21 22 23 24 25

Moffitt, Tormey 2014; Pollock, Brock, Ellison 2015. Deegan-Krause, Haughton 2009; Rooduijn, de Lange, van der Brug 2014. Mudde 2004. Rooduijn, de Lange, van der Brug 2014. Rooduijn, Akkerman 2017. Ebd., S. 3. Vgl. Katz, Mair 1995; Katz, Mair 2009. Mair 2011.

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als prädestinierte Oppositionsparteien, deren Funktion primär in der Artikulation der »Interessen des Volkes« unabhängig von möglichen Implikationen für das Regierungshandeln zu suchen sei. Der politische Wettbewerb sei somit geteilt in solche Parteien, die regierten aber nicht repräsentierten, und jene, die repräsentierten jedoch nicht regierten.26 Zwar nehmen unterschiedliche Arbeiten die zunehmende Bedeutung einer linken und rechten Spielart »populistischer Opposition« an,27 allerdings werden Wahlentscheidungen für populistische Parteien oftmals primär als Protestwahlverhalten und somit als Resultat populistischer, negativistischer und ablehnender Einstellungen interpretiert: »populism is hardly ever considered to be a positive voting choice«.28 Die Bedeutung elitenkritischer Einstellungen auf der Nachfrageseite des politischen Wettbewerbs für den Wahlerfolg populistischer Parteien wurde in empirisch vergleichenden Arbeiten oftmals separat jeweils für das rechte und linke Parteienspektrum getestet. Zwar fragten jüngere Studien auch nach der Vergleichbarkeit der Wahlmotive links- und rechtspopulistischer WählerInnen.29 Allerdings blieben diese Arbeiten aufgrund ihrer begrenzten Fallzahl wie auch infolge unterschiedlicher Operationalisierungsstrategien eine generalisierbare Antwort auf diese Frage schuldig. Forschungsbeiträge, die sich ausschließlich mit den Determinanten rechtspopulistischen Wahlverhaltens befassten, haben im Gegensatz hierzu ein weiteres Länderset untersucht.30 Ein Großteil dieser Studien bestätigt den durch Kitschelt in Bezug auf sogenannte »new radical right parties« formulierten Befund,31 dass zuvorderst ideologische Faktoren den Wahlerfolg rechtspopulistischer Parteien länderübergreifend erklärten.32 Insbesondere negative Einstellungen gegenüber Migration und Integration stellten hierbei die zentralen Determinanten des Wahlverhaltens dar. Im Gegensatz hierzu hatten Einstellungen gegenüber der Europäischen Union oder nationalen politischen Institutionen und AkteurInnen nur eine geringe Erklärungskraft.33 Zugleich weisen andere Studien auf weitere Erfolgsfaktoren rechtspopulistischer Parteien hin, welche die Relevanz elitenkritischer Einstellungsmerkmale als Erklärungsfaktoren andeuten. So identifizieren bspw. sowohl Scheepers und Lubbers als auch Zhirkov neben antimigrantischen 26 27 28 29 30

31 32 33

Ebd., S. 14; siehe mit einer kritischen Rezeption dieser These auch Kriesi 2014. Decker 2006; Kriesi 2014. Hooghe, Oser 2015, S. 27. Vgl. bspw. Schumacher, Rooduijn 2013; Pauwels 2014; Akkerman, Mudde, Zaslove 2014; Bakker, Rooduijn, Schumacher 2016. Während in der Forschung Rechtsextremismus, Rechtsradikalismus und Rechtspopulismus teils getrennt diskutiert werden, bezieht sich ein Großteil der empirischen Arbeiten zu diesen Parteigruppierungen auf ein identisches europäisches Parteiensample. Dies ist nicht zuletzt auf den Umstand zurückzuzuführen, dass nahezu alle rechtsradikalen Parteien Europas (im Gegensatz zu linksradikalen Parteien) populistisch argumentieren, vgl. Mudde 2007; Rooduijn, Akkerman 2017. Kitschelt 1995. Van der Brug, Fennema, Tillie 2000 und 2005; Ivarsflaten 2008. Vgl. auch Rydgren 2008; zur AfD Schwarzbözl, Fatke 2016.

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Einstellungen ebenso niedriges Vertrauen in nationale politische Institutionen und (zu einem geringeren Grad) antieuropäische Einstellungen als die Wahlentscheidung beeinflussende Faktoren.34 Im Falle von linkspopulistischen Parteien existieren keine empirischen Studien, die sich aus einer komparativen Perspektive mit deren AnhängerInnenschaft beschäftigen.35 Beiträge von March und Rommerskirchen sowie Ramiro tragen nur begrenzt zur Beantwortung der Frage nach der Wahlmotivation linkspopulistischer WählerInnen bei, da sie sich mit dem größeren Sample der linksradikalen Parteien auseinandersetzen.36 Zwar zeigen beide Beiträge auf, dass die Wahl linksradikaler Parteien in Westeuropa neben inhaltlichen Motiven auch durch europaskeptische Positionen determiniert ist. Allerdings nehmen diese Analysen weder Bezug auf elitenkritische Einstellungen als Determinante der Wahlentscheidung, noch beziehen sie die Besonderheit linkspopulistischer Parteien in ihre Betrachtungen ein. Beide Arbeiten nehmen somit nicht nur auf linkspopulistische Parteien Bezug, sondern betrachten bspw. ebenso traditionelle kommunistische Parteien. Obwohl diese Arbeiten somit wichtige Einblicke in ein nur wenig beachtetes Forschungsfeld geben, bleibt die Frage nach den Erfolgsfaktoren spezifisch linkspopulistischer Parteien unbeantwortet. Die vorstehenden Absätze haben die weitgehende Uneinigkeit innerhalb der Forschungslandschaft in Bezug auf die Determinanten rechts- und linkspopulistischer Wahlerfolge angezeigt. Wir tragen zu dieser Literatur bei durch eine Analyse der AnhängerInnenschaften populistischer Parteien auf einer breiten, 21 europäische Länder umfassenden Datenbasis. Zugleich prüfen wir die Erklärungskraft von Policy-Positionen als Faktoren, die BürgerInnen zu den populistischen Parteien hinziehen können (pull), wie auch Protestwahlfaktoren, die die BürgerInnen lediglich von den etablierten Parteien wegschieben (push). Somit werden Anziehungs- und Abstoßungseffekte auf ihren relativen Erklärungsgehalt hin untersucht. 3. Determinanten rechts- und linkspopulistischer Parteipräferenz Wie im vorhergehenden Abschnitt bereits erläutert, stellt eine radikale programmatische und rhetorische Elitenkritik das vereinigende Element populistischer Parteien dar. PopulistInnen gerieren sich somit als vermeintliche »Sprachrohre der Unzufriedenheit«37 und wenden sich gegen eine vermeintliche Vernachlässigung der Interessen der sogenannten einfachen Leute durch eine als korrupt und unresponsiv dargestellte Elite: »despite the different ways in which the radical right

34 Werts, Scheepers, Lubbers 2013; Zhirkov 2014; vgl. auch Rydgren 2004 und 2007; Ford, Goodwin, Cutts 2012. 35 Vgl. Bowyer, Vail 2011 mit einer Fallstudie der deutschen Die Linke, sowie Hooghe, Oser 2015 zum italienischen Movimento 5 Stelle. 36 March, Rommerskirchen 2015; Ramiro 2016. 37 van Kessel 2015. Leviathan, 45. Jg., Sonderband 32/2017

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and the radical left color their anti-elitism, the general message is the same: corrupt elites neglect the interests of the people«.38 Ein bedeutender Grund dafür, populistischen Parteien auf der linken wie der rechten Seite des Parteienspektrums anzuhängen, sollte somit in Anti-Establishment- und antielitistischen Einstellungen zu finden sein.39 Diese können sich auf unterschiedliche Weise äußern. Insbesondere niedriges Vertrauen in politische Institutionen und AkteurInnen gilt als Indikator einer pauschalen Ablehnung der politischen Eliten.40 Das als »Schwatzbude« verunglimpfte Parlament mit seinen langwierigen Deliberations- und Entscheidungsprozessen steht im Mittelpunkt der Ablehnung von PopulistInnen. Zugleich, und damit verbunden, entzündet sich die Kritik an den Parteien, der wahrgenommenen fehlenden Responsivität und angeblicher programmatischer Ununterscheidbarkeit.41 Zusammengenommen bilden sie die Kritik an intermediären Instanzen, die den vermeintlichen Volkswillen nicht getreu repräsentierten und nicht empfänglich für Beeinflussungsversuche durch die BürgerInnen seien. Eine solche Wahrnehmung führt zu Abstoßungseffekten von etablierten Parteien, die genau diese Eliten darstellen bzw. die erwähnten Arenen bespielen. Daher sollten diese Faktoren der niedrigen externen efficacy erklären helfen können, warum Personen populistischen Parteien anhängen. Hypothese 1: Je niedriger die externe efficacy der Befragten ist, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, AnhängerIn einer populistischen Partei zu sein. Dieser kritische Impetus der negativen Bewertung der Funktionalität des Parlaments und der Responsivität von Parteien muss jedoch nicht allein als negativ angesehen werden. Gerade die Literatur zu critical citizens hat gezeigt, dass eine kritische Beurteilung zusammen mit dem Willen, diese auch zu artikulieren, eine Ressource für die Erneuerungsfähigkeit von Demokratien darstellt.42 Die Zunahme von politisch selbstbewussten BürgerInnen und der Rückgang von stets loyal und folgsamen BürgerInnen – der Trend »from allegiant to assertive citizens«43 wie Dalton und Welzel dies nennen – korreliert mit erhöhter Bereitschaft zu politischer Partizipation, einem stärkeren Eintreten für Menschenrechte, abnehmendem Militarismus und gesellschaftspolitischer Liberalität.44 Der entscheidende Unterschied zwischen PopulistInnen und kritischen BügerInnen läge demnach nicht in ihren kritischen Einstellungen gegenüber Eliten, sondern in ihrem politischen Selbstbewusstsein bzw. ihrer selbst wahrgenommenen politischen Kompetenz und Wirksamkeitserwartung (interne efficacy). Demnach hingen gerade Personen mit dem Gefühl, von der Komplexität der politischen Welt überfordert zu sein, popu38 39 40 41 42 43 44

Rooduijn, Akkerman 2017, S. 196. Betz 1994; Swyngedouw 2001; Bélanger, Aarts 2006; Treib 2014. Schumacher, Rooduijn 2013. Pauwels 2014. Siehe bspw. Norris 1999; Klingemann 2014. Dalton, Welzel 2014. Welzel, Dalton 2014.

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listischen Parteien an. Auch hierbei handelt es sich nicht um Faktoren, die dazu führten, dass diese BürgerInnen von populistischen Parteien angezogen würden. Vielmehr lägen wiederum Repulsionseffekte vor, die Personen von Mainstreamparteien wegschöben. Hypothese 2: Je geringer die interne efficacy bei den Befragten, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, AnhängerIn einer populistischen Partei zu sein. Die Finanzkrise von 2008 war für populistische Parteien in mehrerlei Hinsicht relevant. Mit dem Konkurs von Lehman Brothers und der sich anschließenden Rettung von US-amerikanischen und europäischen Großbanken auf Kosten nationaler Staatshaushalte entstand ein Momentum, in dem es diesen Parteien gelang, die politischen Eliten als korrupt und von eigenen Machtinteressen getrieben erscheinen zu lassen. Antielitäre Einstellungen konnten nun gezielt angesprochen werden, da die »Reichen und Mächtigen«, in der Rhetorik der PopulistInnen, sich nun ganz offensichtlich gegenüber dem Volk versündigt hatten.45 Zusätzlich zur Abgrenzung nach oben nutzten populistische Parteien die Finanzkrise aber auch zu einer Abgrenzung nach außen. So fand etwa die Alternative für Deutschland (AfD) ihre ersten AnhängerInnen bei denjenigen, die in der Finanzkrise das wichtigste Sachfragenproblem sahen.46 Die AfD und andere populistische Parteien in den nordeuropäischen Ländern traten für eine strikte Austeritätspolitik ein und urteilten über die Kreditnehmer der Eurokrise, sie seien »selber schuld« an ihrer Misere.47 Dieses Moralisieren, aber auch das Bedienen von wirtschaftlichen Zukunftsängsten durch PopulistInnen lassen vermuten, dass eine negative Bewertung der nationalen wirtschaftlichen Lage und Zukunft mit einer erhöhten Wahrscheinlichkeit einhergeht, AnhängerIn einer populistischen Partei zu sein. Die darin zum Ausdruck kommende Ablehnung regierender Parteien erstreckt sich jedoch ebenfalls auf eine Reihe von etablierten Oppositionsparteien, die als für die Politik im Vorfeld und während der Krise mitverantwortlich erachtet werden. Hypothese 3: Je negativer die Bewertung der Wirtschaft, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, AnhängerIn einer populistischen Partei zu sein. Die durch populistische Parteien artikulierte Elitenkritik sollte jedoch nicht nur in Bezug auf nationale Eliten zu beobachten sein. Obwohl populistische Parteien je nach Land in ihrem Grad des Euroskeptizismus variieren,48 steht die Europäische Union stets im Fokus der Kritik. Aufgrund der technokratischen Kultur sowie der schwachen accountability der europäischen Institutionen kritisieren populistische Parteien einen mit der Europäisierung einhergehenden Entfremdungsprozess zwischen den Interessen der nationalstaatlichen Bevölkerungen und den Entscheidungen der europäischen politischen Eliten. Eine solche Unzufriedenheit hat sich 45 46 47 48

Kriesi, Pappas, 2015, S. 9. Schmitt-Beck 2014. Müller 2016, S. 116. Arzheimer 2015, S. 537.

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jüngst im Rahmen der europäischen Finanzkrise sowie im Kontext der im Jahr 2015 angestiegenen Flüchtlingszahlen gezeigt. Während sich im Verlauf der seit 2008 wirkenden Finanzkrise insbesondere in den südeuropäischen Mitgliedsländern ein wachsender Unmut gegenüber den von der Europäischen Union koordinierten Sparprogrammen und Reformmaßnahmen äußerte, haben sich eine Vielzahl von Staaten einer einheitlichen europäischen Regelung in Fragen der Immigration verweigert. In beiden Fällen haben sich populistische Parteien in besonderem Maße als Triebkräfte antieuropäischer Einstellungen präsentiert. Zudem steht die prinzipielle Nichtfinalität der Europäischen Einigungsidee gemeinsam mit dem auf langwierige Aushandlungsprozesse und Kompromissfindungen ausgelegten institutionellen Gefüge der EU der populistischen Idee von Politik als Exekutierung des vermeintlich eindeutigen Volkswillens diametral gegenüber. Ein weiteres populistisches Motiv kann somit in einer Ablehnung oder negativen Evaluation der europäischen Institutionen vermutet werden.49 Hypothese 4: Je negativer die Einstellungen der Befragten gegenüber der Europäischen Union, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, AnhängerIn einer populistischen Partei zu sein. Nun ist zwar zu erwarten, dass BürgerInnen mit einer Neigung zu populistischen Parteien die EU negativ evaluieren, aber es gilt nicht notwendigerweise der Umkehrschluss: Nicht jede Person, die die EU kritisch bewertet, tut dies aus populistischen Motiven. Ebenso kann sich die Kritik an der EU aus nichtpopulistischen, sachorientierten Gründen speisen. Aber gerade deshalb ist es unerlässlich, auf Einstellungen gegenüber der EU hin zu kontrollieren. Entsprechend fungiert Hypothese 4 als Kontrollhypothese, ohne dass damit insinuiert würde, EU-Kritik sei per se ein populistisches Motiv. 3.1 Rechtspopulistische Parteien Wie oben bereits angemerkt, sind kritische Einstellungen gegenüber nationalen Eliten und der Europäischen Union nicht die einzigen Faktoren für die Wahl einer populistischen Partei. Sie sind vielmehr Faktoren, die BürgerInnen von den etablierten Parteien wegtreiben, aber noch nicht notwendigerweise zu den populistischen Parteien hin. Populistische Wahlprogramme sind, wie oben dargelegt, stets durch die Verknüpfung mit einer Kernideologie bestimmt. Erst eine ideologische Kopplung der thematisierten Elitenkritik erlaubt es, das antithetische Begriffspaar Volk–Elite inhaltlich zu füllen. In diesem Zusammenhang basieren die Argumentationsmuster von Links- und RechtspopulistInnen auf differenten Kernideologien. Während Erstere ihre Kritik an das Ideal der sozialen Gleichheit knüpfen, wird die Elitenkritik von RechtspopulistInnen von einem auf ethnischer und/oder kultureller Homogenität fußenden Diskurs gerahmt (Nativismus), der mit einer Ablehnung multikultureller Gesellschaftsentwürfe einhergeht.50 Hierbei verfolgt 49 Taggart 1998; Hooghe, Marks, Wilson 2002; de Vries, Edwards 2009. 50 March 2007; Mudde 2007.

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die Mehrzahl der gegenwärtigen rechtspopulistischen Parteien – im Gegensatz zu älteren rechtsradikalen Parteien – keine genuin rassistischen, auf eine Hierarchisierung von ethnischen Gruppen abzielende Programmatik. Stattdessen bilden ethnopluralistische Inhalte den Grundbestand dieser neuen Rechten. Aus dieser Perspektive gelten nichtnative Gruppen aufgrund kultureller Unterschiede als unvereinbar mit den Wert- und Normvorstellungen der Mehrheitsgesellschaft. In letzter Konsequenz wird Migration als eine Bedrohung für das gesellschaftliche Leben und die kulturelle Integrität konstruiert.51 Rechtspopulistische Parteien profitieren somit von einer steigenden Politisierung der Politikfelder Migration und Integration und haben in den Augen einiger ForscherInnen zur Etablierung einer neuen kulturellen Konfliktlinie beigetragen.52 Der Begriff des Volkes wird hier unter Referenz auf nationale Werte und Kultur bestimmt und einer Elite gegenübergestellt, welche die Interessen des Volkes zugunsten von MigrantInnen und anderer nichtnativer Personen (z. B. Homosexueller) ignoriere. In den Augen vieler BeobachterInnen entstammen insbesondere die jüngeren Wahlerfolge dieser Parteifamilie einer Mobilisierung von sogenannten ModernisierungsverliererInnen, wie niedrig gebildeten Bevölkerungsschichten, Arbeitslosen oder ArbeiterInnen, die sich in zunehmendem Maße in Konkurrenz zu MigrantInnen sehen und negative Einstellungen gegenüber diesen vertreten.53 Damit können solche Einstellungen gegenüber MigrantInnen und Homosexuellen als Attraktionsfaktoren, die Personen zu spezifischen rechtspopulistischen Parteien hinziehen, gelten. Hypothese 5: Je negativer die Einstellungen der Befragten gegenüber Themen der Immigration, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, AnhängerIn einer rechtspopulistischen Partei zu sein. Hypothese 6: Je ablehnender die Position der Befragten gegenüber gleichgeschlechtlichen Eheschließungen, desto wahrscheinlicher ist es, AnhängerIn einer rechtspopulistischen Partei zu sein. 3.2 Linkspopulistische Parteien Ursprünglich auf Lateinamerika beschränkt, hat der Linkspopulismus auch in Europa einen Bedeutungszuwachs erfahren. Obwohl die frühe wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Phänomen des Populismus eine enge Beziehung zwischen diesem und sozialistischen Ideen sah,54 galten die deutsche Linke sowie die niederländische Socialistische Partij für lange Zeit als alleinige Vertreterinnen einer populistischen Orientierung innerhalb eines diversen linken Parteienspektrums in Europa.55 Allerdings scheinen linke Orientierungen spätestens mit den jüngsten 51 52 53 54 55

Betz, Johnson 2004, S. 318. Siehe bspw. Kitschelt 1995; Pellikaan, de Lange, van der Meer 2007. Siehe bspw. Lubbers, Gijsberts, Scheepers 2002; Kriesi et al. 2008; Spier 2010. Laclau 1979; Kazin 1998. March 2011; Schumacher, Rooduijn 2013.

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Wahlerfolgen linkssozialistischer Parteien wie Syriza in Griechenland, Podemos in Spanien und zum Teil der Movimento 5 Stelle in Italien, die sich gegen ein vermeintlich geschlossenes, dem Volkswillen entferntes politisches und ökonomisches Establishment wenden, schließlich in der europäischen Parteienlandschaft angekommen zu sein.56 Linkspopulistische Parteien lassen sich hinsichtlich ihrer ideologischen Grundparadigmen als eine alternative Variante eines demokratischen Sozialismus zwischen dem Third Way der sozialdemokratischen Parteien Europas und den traditionell kommunistischen Parteien des Kalten Krieges beschreiben. Während revolutionäre Ideen nicht Bestandteil ihres Programms sind und die Idee der parlamentarischen Demokratie nicht Gegenstand ihrer Kritik ist, sind sie doch Bestandteil der radikalen Linken, da sie eine systemische Transformation auf der Basis einer Ablehnung von exzessivem Kapitalismus und Neoliberalismus anstreben.57 Zuweilen können sie mit ihren polaren linken Positionen eine Lücke im programmatischen Parteienangebot füllen, die eine in den letzten Jahrzehnten unter den Slogans von New Labour und Neuer Mitte stärker ins Zentrum gerückte Sozialdemokratie eröffnet zu haben scheint. Im Gegensatz zu ihren Gegenspielern am rechten Rand des Parteienspektrums stehen sozioökonomische Themen im Zentrum linkspopulistischer Argumentationsmuster.58 Aus dieser Perspektive gelten nationale wie transnationale Eliten als Verantwortungsträger ökonomischer und politischer Ungleichheiten. Das Volk – hier die lohnarbeitende Bevölkerung – gilt als durch eine Politik und Ressourcen kontrollierende Minderheit unterdrückte Gruppe.59 Linkspopulistische Parteien betten ihre Elitenkritik somit in eine Bestärkung von Egalitarismus sowie von kollektiven sozialen und ökonomischen Rechten ein. Personen mit dezidiert linken Einstellungen würden daher vom linkspopulistischen Parteienangebot angezogen. Hypothese 7: Je positiver die Einstellung der Befragten gegenüber Umverteilungsfragen, desto wahrscheinlicher ist es, AnhängerIn einer linkspopulistischen Partei zu sein. Hypothese 8: Je positiver die Einstellung der Befragten gegenüber Steuererhöhungen, desto wahrscheinlicher ist es, AnhängerIn einer linkspopulistischen Partei zu sein. Während links- und rechtspopulistische Parteien antielitistische Inhalte in ihren Programmen unterstreichen, unterscheiden sie sich nicht nur in Bezug auf ihre Kernideologien. Darüber hinaus streiten beide Parteifamilien auf unterschiedlichen gesellschaftlichen Konfliktlinien. Kitschelt hat am nachdrücklichsten auf die Transformation des politischen Raums hingewiesen, der sich spätestens seit den

56 57 58 59

Kioupkiolis 2016. March, Mudde 2005, S. 24 und 34. March 2007. Stavrakakis, Katsambekis 2014.

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1980er Jahren als zweidimensional verstehen lässt.60 Infolge von Säkularisierung, ansteigender Bildungsniveaus, einer fortschreitenden Tertiärisierung der Wirtschaft und eines hiermit einhergehenden Wertewandels in der Bevölkerung gewannen kulturelle Themen seit den 1960er Jahren an Bedeutung. Dieser Wandel unterminierte nicht nur das Gewicht sozioökonomischer Themen im politischen Wettbewerb, sondern führte ebenso zur Herausbildung einer kulturellen bzw. gesellschaftspolitischen Konfliktdimension auf der sich liberale und traditionalistische, autoritäre Wertvorstellungen gegenüberstehen. Während rechtspopulistische Parteien sich wesentlich durch klare Positionierungen auf der neuen, kulturell definierten Dimension bestimmen lassen, streiten Linkspopulisten (im Gegensatz zu den Vertretern neuer sozialer, ökologischer Bewegungen) zuvorderst auf der traditionellen, sozioökonomischen Dimension. Außerdem stehen sich die artikulierten Grundwerte beider Parteifamilien gegenüber. Während die Kernideologie rechtspopulistischer Parteien auf Ausgrenzung und Exklusivität fußt, artikulieren Linkspopulisten zuvorderst Inklusivität und Gleichheit als Grundwerte ihrer Politikinhalte. Für Rechtspopulisten ist Gleichheit – wenn überhaupt – im wohlfahrtschauvinistischen Sinn für die teils ethnisch, teils kulturell definierte Ingroup ein erstrebenswertes Ziel. Die folgende Analyse wird zeigen, ob diese zwei differenten Parteifamilien tatsächlich aus einem gemeinsamen Pool unzufriedener BürgerInnen schöpfen können bzw. inwiefern sich die AnhängerInnen unterscheiden. 4. Methodisches Vorgehen Um die zentrale Fragestellung nach den Erklärungsfaktoren der AnhängerInnenschaft einer links- oder rechtspopulistischen Partei in Abgrenzung zu Mainstreamparteien zu erklären, findet im Folgenden ein multinominales logistisches Regressionsmodell Verwendung. Die im vorangegangenen Abschnitt formulierten Hypothesen werden auf der Basis der WählerInnenbefragung bei der Europawahl 2014 geprüft.61 In diesen Querschnitts-Nachwahlbefragungen wurden politische Einstellungen und politisches Verhalten sowie eine Reihe soziodemografischer Kennzahlen von ca. 1.100 Befragten je EU-Land erfasst. Dadurch sind wir in der Lage, die Unterstützung populistischer Parteien über ein größeres Ländersample vergleichend mit einem einheitlichen Messinstrument zu untersuchen. Da der bereitgestellte Datensatz eine Verbindung aus mehreren Länderstichproben darstellt, sind die Daten auf dieser Ebene bereits vorstrukturiert, wodurch das Problem idiosynkratischer Fehlerkorrelationen62 besteht. Diesem begegnen wir, indem wir in die Regression Dummy-Variablen für die Länder aufnehmen sowie Cluster-korrigierte Standardfehler berechnen. Die abhängige Variable, die AnhängerInnenschaft zu einer Partei der links- oder rechtspopulistischen oder der Mainstreamparteienfamilie, wurde auf der Basis der 60 Kitschelt 1994. 61 Schmitt et al. 2015. 62 Beck, Katz 1995. Leviathan, 45. Jg., Sonderband 32/2017

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Frage nach der subjektiven Wahlneigung einer Partei erstellt. Wir haben uns damit gegen die Verwendung der Wahlentscheidung als Grundlage der Kodierung einer Person als rechts- oder linkspopulistisch entschieden. Der Hauptgrund dafür ist, dass die verwendeten Daten im Rahmen einer Europawahl erhoben wurden, weshalb mit Second-Order-Wahlverhalten, das systematische Abweichungen hinsichtlich der Wahlentscheidung gerade für populistische Parteien aufweist, zu rechnen ist.63 So verlieren zumeist Parteien der politischen Mitte, größere und Regierungsparteien, wohingegen polare, populistische, kleine und Oppositionsparteien hinzugewinnen. Zudem ist die Wahlbeteiligung deutlich geringer als in nationalen Wahlen.64 Zur Erfassung der Wahlneigung wurden die Teilnehmenden zu bis zu acht relevanten Parteien in ihrem Land befragt: »Wenn Sie an ›Partei‹ denken, welcher Wert von 0 bis 10 beschreibt am besten, wie wahrscheinlich es ist, dass Sie jemals diese Partei wählen werden?«, wobei 0 bedeutete, dass die Wahl dieser Partei überhaupt nicht wahrscheinlich, und 10, dass die Wahl sehr wahrscheinlich ist. Im Einklang mit Tillie wurden jene Befragten als ParteianhängerInnen kodiert, die für eine Partei einen Wert über der Mittelkategorie angaben.65 Anhand der höchsten Ausprägung dieser subjektiven Wahlneigungen haben wir diese ParteianhängerInnen den entsprechenden Parteifamilien zugeordnet, wobei auch eine AnhängerInnenschaft zu zwei oder mehr Parteien einer Parteifamilie möglich war. So wurde etwa eine Befragte in Deutschland, die sowohl für Die Grünen als auch für die SPD als subjektive Wahlwahrscheinlichkeit eine 8 angab, als Anhängerin der Mainstreamparteienfamilie kodiert. In jenen Fällen, in denen die ParteianhängerInnenschaft uneindeutig war, wurde der oder die Befragte als AnhängerIn des Mainstreamlagers kodiert, wodurch wir für unsere Fragestellung eine eher konservative Schätzung formulieren, da die Varianz innerhalb der Referenzkategorie – Unterstützung einer Mainstreampartei – erhöht wurde. Links- und rechtspopulistische Parteien identifizieren wir anhand der Systematik von van Kessel, der populistische Parteien mit Hilfe einer Sekundäranalyse und Experteninterviews klassifiziert.66 Links- und rechtspopulistische Parteien un-

63 Vgl. bspw. Giebler, Wagner 2015. 64 Falls Befragte aufgrund des Europawahlkontextes angäben, AnhängerInnen einer populistischen Partei zu sein, würde gelten, dass wir Personen als AnhängerInnen dieser Parteien klassifizieren, die es »in Wirklichkeit« nicht sind. Damit würde sich die Heterogenität dieser Gruppe erhöhen, d. h. die Streuung hinsichtlich der betrachteten Parameter (z. B. Sachfrageneinstellung, Selbstwirksamkeitserwartung). Dies wiederum führte zu größeren Standardfehlern bei der Regressionsschätzung und in der Folge zu einer geringeren Wahrscheinlichkeit von statistisch signifikanten Ergebnissen (Alpha-Fehler). Somit sind in dem Ausmaß, wie diese Vermutung über Unterschiede in der AnhängerInnenschaft zwischen Europawahl- und nationalen Wahlbefragungen zutrifft, unsere Schätzungen konservativer und damit verlässlicher. 65 Tillie 1995, S. 45. 66 van Kessel 2015. Zusätzlich zur Einteilung von van Kessel haben wir für Spanien Podemos und die Niederlande die Socialistische Partij als linkspopulistische und für Großbritannien Ukip als rechtspopulistische Parteien kodiert.

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terscheiden wir nach ihrer jeweiligen Verbindung mit einer der beiden Kernideologien. Alle übrigen Parteien wurden hier als Mainstreamparteien kodiert.67 Da sowohl in Ungarn als auch in der Slowakei zum Zeitpunkt der Europawahl 2014 populistische Parteien die Regierung bildeten, wurden die beiden Länder aus der Analyse ausgeschlossen.68 Wir folgen damit jenem Teil der Literatur, der davon ausgeht, dass populistische Parteien sich als Teil der Regierung substanziell verändern und sich sowohl in der Tonlage ihrer Kommunikation als auch programmatisch den Mainstreamparteien annähern.69 Dies mündet meist in einer Form des Massenklientelismus.70 Dementsprechend gehen wir davon aus, dass sich die Motive für die AnhängerInnenschaft zu populistischen Parteien in der Regierung grundsätzlich ändern, was den Ausschluss von Ungarn und der Slowakei rechtfertigt. Darüber hinaus haben wir jene Länder aus dem Sample entfernt, bei denen weder eine relevante links- noch rechtspopulistische Partei zur Wahl stand.71 Insgesamt gehen damit 21 europäische Länder (davon 14 west- und 7 osteuropäische), in denen wir 33 populistische Parteien identifizieren, in die Analyse ein. Den überwiegenden Teil der populistischen Parteien in Europa machen Rechtspopulisten aus (23), wobei in 11 Ländern nur dieser Parteitypus auftaucht, in 8 weiteren Ländern konkurrieren Rechtspopulisten auch mit linkspopulistischen Parteien. Länder, in denen nur Linkpopulisten identifiziert werden konnten, sind Irland (Sinn Fein) und Spanien (Podemos).72 Als mögliche Erklärungsfaktoren für die AnhängerInnenschaft zu populistischen Parteien haben wir im vorangegangenen Abschnitt vor allem Antiestablishmentund antielitistische Einstellungen als Abstoßungs-, aber auch die Sachfragen-Übereinstimmung mit den Kernideologien als Anziehungseffekte identifiziert. Die populistischen Einstellungsmuster bzw. Push-Faktoren (Hypothesen 1, 2 und 3) der ParteianhängerInnen messen wir über interne und externe efficacy sowie über die Einschätzung der nationalen Wirtschaftslage. Als externe efficacy verstehen wir hier die subjektiv wahrgenommene Responsivität des politischen Systems, die wir zum einen über das Vertrauen in das nationale Parlament sowie mit der Frage, ob das Parlament die Sorgen und Nöte der Bürger ernst nimmt, messen. Aus beiden Items (bivariate Korrelation r=0,71) bilden wir über eine Faktorenanalyse eine la67 Nichtpopulistische Parteien, die der links- oder rechtsradikalen Parteienfamilie angehören, wurden von den Berechnungen ausgeschlossen. Hierzu gehören bspw. die finnische Left Alliance, die dänische Red-Green Alliance oder Golden Dawn. 68 Dies sind in Ungarn die rechtspopulistische Fidesz-Partei in Koalition mit der konservativen KDNP und in der Slowakei die linkspopulistische Smer-SD. 69 Rooduijn, de Lange, van der Brug 2014. 70 Barr 2009, S. 42; Priester 2012, S. 119. 71 Zusätzlich begreifen wir die Parteiensysteme in den beiden belgischen Landesteilen als so unterschiedlich, dass wir Flandern und die Wallonische Region getrennt in die Analyse aufnehmen. 72 Eine vollständige Auflistung aller Parteien und Länder findet sich im Anhang dieses Artikels. Leviathan, 45. Jg., Sonderband 32/2017

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tente Variable, die in das Regressionsmodell eingeht. Interne efficacy messen wir über die Selbsteinschätzung, inwiefern Politik und Regierungsarbeit den Befragten als zu kompliziert erscheinen. Weiter nutzen wir die subjektive Einschätzung der Entwicklung der Wirtschaftslage im Land der befragten Person. Die Antworten gehen auf einer dreistufigen Skala in die Analyse ein, von »wesentlich besser« über »gleich geblieben« bis »wesentlich schlechter«, wobei die Befragten sowohl nach ihrer retrospektiven als auch nach ihrer prospektiven Einschätzung gefragt werden. Inwiefern die Unterstützung einer populistischen Partei von inhaltlichen Motiven und somit Pull-Faktoren getragen wird (Hypothesen 5 bis 8), soll mit Hilfe von Einstellungsvariablen zu Issue-Positionen gemessen werden. Von besonderem Interesse ist für uns hier, inwieweit die AnhängerInnenschaft von Sachfrageneinstellungen der Befragten erklärt wird, die über das Angebot der konkurrierenden Mainstreamparteien hinausgehen. Welche Issues dabei für die AnhängerInnenschaft zu einer populistischen Partei relevant sind, hängt von der verknüpften Kernideologie ab. Für LinkspopulistInnen sind dies die Zustimmung zu mehr Umverteilung sowie zu höheren Steuern. RechtspopulistInnen mobilisieren dagegen entlang der kulturellen Konfliktlinie, weshalb wir hier die Sachfrageneinstellungen der Befragten bezüglich der Befürwortung einer restriktiven Immigrationspolitik sowie der Ablehnung gleichgeschlechtlicher Ehen nutzen. Die Sachfrageneinstellungen werden auf einer 11-stufigen Skala gemessen, deren Pole jeweils absolute Zustimmung bzw. absolute Ablehnung zu einer spezifischen Sachfrage bezeichnen. Diese Messung der Sachfrageneinstellungen betrachten wir als metrisch, wodurch wir zum einen in der Lage sind, Mittelwerte für die Positionierung nach Parteien zu berechnen, zum anderen, Aussagen über deren Abstände zu treffen. Dies machen wir uns zunutze, indem wir Distanzmaße für die Issuekongruenz der Befragten mit dem Angebot einer Mainstreampartei berechnen. Wir fragen beispielsweise, ob die AnhängerInnenschaft zu einer rechtspopulistischen Partei von einer restriktiveren Einstellung eines Befragten zur Immigrationspolitik im Vergleich zum Angebot der konservativen Mainstreampartei erklärt wird. Für die für linkspopulistische Parteien relevanten Issues nutzen wir die Distanz zu sozialdemokratischen Konkurrenzparteien in einem Land, für Rechtspopulisten die Distanz zu christdemokratischen oder konservativen Parteien. Die Issue-Positionierung der Mainstreamparteien messen wir über das Mittel der Positionierung aller AnhängerInnen dieser Parteien, welches wir von den individuellen Issue-Positionen der Befragten subtrahieren.73 Für die Einstellungen der Befragten zur Europäischen Union nutzen wir zwei Items. Das ist zum einen die Bewertung der EU-Mitgliedschaft eines Landes im Allgemeinen, die dreistufig auf einer Skala von »gut« über »neutral« bis »schlecht« gemessen wurde. Zum zweiten nutzen wir die Einstellungen der Be73 Ein positiver Wert in der Umverteilungsfrage zeigt damit beispielsweise an, dass die befragte Person eine Umverteilung von Vermögen stärker befürwortet als der Durchschnitt der sozialdemokratischen AnhängerInnen. Negative Werte implizieren, dass die Befragten dieser Idee weniger zustimmen.

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fragten zum gewünschten Einfluss der EU auf die nationalen Haushalte. Dieser Einfluss wurde auf einer Skala von 0 (»Die EU sollte mehr Einfluss auf die Wirtschafts- und Haushaltspolitik der EU-Mitgliedsstaaten haben«) bis 10 (»›Land des Befragten‹ sollte die vollständige Kontrolle über seine Wirtschafts- und Haushaltspolitik behalten«) bewertet. Einstellungen zur EU können sowohl Abstoßungseffekte – weg von den für die europäische Einigung verantwortlichen Parteien – als auch Anziehungsgründe – hin zu den gegen die EU-Integration argumentierenden populistischen Parteien – haben. Daher ordnen wir sie nicht eindeutig einem der beiden Variablenbündel zu. Zur besseren Vergleichbarkeit wurden alle erklärenden unabhängigen Variablen für die Regressionsanalyse auf ihren Mittelwert zentriert und standardisiert. In Tabelle 1 sind die erklärenden Variablen sowie die erwarteten Zusammenhänge mit der AnhängerInnenschaft zu links- und rechtspopulistischen Parteien zusammenfassend aufgeführt. Zusätzlich gingen in die Analyse als Kontrollvariablen das Alter (in Lebensjahren), das Geschlecht, die Bildung (als Alter bei höchstem Abschluss, vierstufig klassiert) sowie der Erwerbsstatus (arbeitslos vs. erwerbstätig zum Zeitpunkt der Befragung) ein. Tabelle 1: Erwartete Zusammenhänge zwischen Einstellungsvariablen und AnhängerInnenschaft Linkspopulistische AnhängerInnen

Rechtspopulistische AnhängerInnen

Externe efficacy

-

-

Interne efficacy

-

-

AWL retrospektiv

-

-

AWL prospektiv

-

-

Negative Bewertung EU-Mitgliedschaft

+

+

Ablehnung: Mehr Macht für EU

+

+

Abstoßungseffekte/Populistische Einstellungen

Europäische Union

Anziehungseffekte/Sachfrageneinstellungen Befürwortung: Umverteilung

+

Befürwortung: Höhere Steuern

+

Ablehnung: Gleichgeschlechtliche Ehen

+

Befürwortung: Restriktive Immigrationspolitik

+

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5. Ergebnisse Tabelle 2: Resultate – Multinomiale Logistische Regression

Abstoßungseffekte/Populistische Einstellungen Externe efficacy Interne efficacy AWL retrospektiv [0 = schlechter] [1 = identisch] [2 = besser] AWL prospektiv [0 = schlechter] [1 = identisch] [2 = besser] Europäische Union Negative Bewertung EU-Mitgliedschaft [1 = Ja; 0 = Nein] Ablehnung: Mehr Macht für EU Anziehungseffekte/Sachfrageneinstellungen Befürwortung: Umverteilung Befürwortung: Höhere Steuern Ablehnung: Gleichgeschlechtliche Ehen Befürwortung: Restriktive Immigrationspolitik Soziodemografie Alter Geschlecht [1 = Weibl.; 0 = Männl.] Bildung [0 = in Ausbildung] [1 = bis 16. Lebensjahr] [2 = zwischen 17. und 20. Lebensjahr] [3 = höher als 21. Lebensjahr] Arbeitslos [1 = Ja; 0 = Nein] Konstante N Nagelkerkes R2

Linkspopulistische AnhängerInnen

Rechtspopulistische AnhängerInnen

-0.502*** (0.058) -0.029 (0.036)

-0.425*** (0.117) -0.132*** (0.044)

-0.248 (0.162) -0.328*** (0.123)

-0.108 (0.172) 0.053 (0.192)

0.011 (0.148) -0.472** (0.217)

-0.021 (0.133) -0.376*** (0.125)

0.304*** (0.064) 0.040 (0.061)

0.493*** (0.057) 0.313*** (0.030)

0.356* (0.205) 0.143*** (0.029) -0.106* (0.061) -0.062 (0.063)

-0.035 (0.088) -0.056 (0.048) 0.155** (0.076) 0.381*** (0.092)

-0.010 (0.010) -0.339*** (0.104)

-0.014*** (0.003) -0.349 (0.240)

-0.422 (0.430) -0.314 (0.265) -0.231 (0.226) -0.023 (0.218) -19.090*** (1.182)

0.013 (0.486) 0.359 (0.310) 0.167 (0.165) 0.347* (0.209) -1.901*** (0.285) 10493 0.520

*p