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German Pages 71 [72] Year 1999
Jan Assmann Das verschleierte Bild zu Sais Schillers Ballade und ihre griechischen und ägyptischen Hintergründe
Lectio Teubneriana VIII
Jan Assmann
Das verschleierte Bild zu Sais Schillers Ballade und ihre griechischen und ägyptischen Hintergründe
B. G. Teubner Stuttgart und Leipzig 1999
Vielleicht ist nie etwas Erhabeneres gesagt oder ein Gedanke erhabener ausgedrückt worden als in jener Aufschrift über dem Tempel der Isis (der Mutter Natur): »Ich bin alles was da ist, was da war und was da sein wird, und meinen Schleier hat kein Sterblicher aufgedeckt.« IMMANI'EL KANT
Lectio Teubneriana VIII Freitag, 26. März 1999, 19.30 Uhr Alte Börse am Naschmarkt in Leipzig
KM musiziert das
Leipziger Querflötenensemble Quintessenz Anna Garzuly — Ute Günther Gudrun Hinze-Honig-Thomas Reimann Christian Sprenger
Musikalische Begrüßung Antonio Vivaldi (1678-1741) Der Frühling
(Die vier Jahreszeiten) Allegro — Largo — Danza Pastorale
Lectio Teubneriana VIII
Jan Assmann Das verschleierte Bild zu Sais Schillers Ballade und ihre ägyptischen und griechischen Hintergründe
Die Lectiones Teubnerianae erscheinen in einer eigenen Verlagsreihe
Für Elke Blumenthal und Elisabeth Staehelin
Das verschleierte Bild zu Sais Schillers Ballade und ihre griechischen und ägyptischen Hintergründe
Diese Studie entstand in München während eines Forschungsstipendiums der C. F. v. Siemens-Stiftung.
Alles, was durch einen Schleier hindurch erscheint, zeigt die H ahrheit größer und erhabener Clemens rorc Alexandrien Hinter dem Schleier der fsis lauscht der Tod Ludwig Borne
Im Jahre 1795 veröffentlichte Friedrich Schiller die Ballade "Das verschleierte Bild zu Sais". Der Stoff spielt im alten Ägypten. Es geht um Mysterien, Einweihung, Erkenntnis. Ein Jüngling, vermutlich ein Grieche, ist nach Sais gereist, um sich in die "Geheime Weisheit" der ägyptischen Priester einweihen zu lassen. Er bringt es soweit, bis zu dem Bild der Wahrheit zugelassen zu werden, dessen Schleier, wie die Inschrift verkündet, keinem Sterblichen zu lüften erlaubt ist. Dieses Verbot kann er nicht begreifen. Es ist ihm unfaßlich, daß die Priester nicht längst den leichten Schleier aufgedeckt haben, der die Wahrheit verhüllt. Zumal das Schicksal, das den Ungehorsamen erwartet, in nichts anderem als in der Erfüllung seines leidenschaftlichen Verlangens besteht. Denn was geschieht mit ihm? "Der - spricht die Gottheit - 'Nun?' - der sieht die Wahrheit". "Ein seltsamer Orakelspruch", antwortet der Jüngling. "Du selbst - sagt er zum Priester - du hättest also niemals ihn gehoben"? "Ich? Wahrlich nicht! Und war auch nie dazu versucht." - Das faß ich nicht. Wenn von der Wahrheit Nur diese dünne Scheidewand mich trennte "Und ein Gesetz, fällt ihm sein Führer ein, Gewichtiger, mein Sohn, als du es meinst, Ist dieser dünne Flor - für deine Hand zwar leicht, doch zentnerschwer für dein Gewissen".
Der Priester spricht von Gesetz und Gewissen. Er ist an ein uraltes Herkommen gebunden, das seine INeugier und Schaulust in Schach hält. Der Jüngling dagegen will die Wahrheit 9
".. . schauen. Schauen! Gellt ihm ein langes Echo spottend nach."
Der Gegensatz von "Schauen" und "Gesetz", den Schiller hier aufbaut, mutet biblisch an. Man denkt an den Mythos vom Sündenfall, der Erkenntnis und Schuld verknüpft, und an das zweite Gebot - "Du sollst dir kein Bildnis machen" - das im 5. Buch Mose damit erklärt wird, daß Gott unsichtbar ist. "Keine Gestalt saht ihr, nur eine Stimme habt ihr' gehört!". Daher soll der Mensch nicht "schauen" wollen, sondern gehorchen und vertrauen. Das Thema "Schuld" wird dann in den letzten Versen der Ballade als der entscheidende Schlüsselbegriff herausgestellt: "Weh dem, der /u der Wahrheit geht durch Schuld, Sie wird ihm nimmermehr erfreulich sein."
Will Schillers Gedicht die Suche nach Wahrheit schuldig sprechen? Die Formel "Erkenntnis durch Schuld" mildert die Verdammung der Erkenntnis ein wenig ab. Nicht die Erkenntnis, des Wissens heißer Drang, sind als solche schon schuldhaft, sondern nur die Verletzung des Gesetzes. Um diese Nuance scheinen Schiller und Herder gestritten zu haben. Schiller hatte Herder im August 1795 eine Vorfassung der Ballade geschickt, die nicht erhalten ist. Damals sollte sie noch "das Bild zu Heliopolis" heißen. Erhalten hat sich Herders Antwort. Er mochte das Gedicht nicht: "Durst nach Wahrheit ist nie Schuld". Schiller scheint den Schluß daraufhin umgeschrieben zu haben, denn mit der Formel "Wissen durch Schuld" war Herder dann einverstanden. 1 Trotzdem bleibt ein Mißklang, irgendetwas in diesem Gedicht paßt nicht zusammen. Auf der einen Seite haben wir das religiöse Problem, daß die Gottheit ein Gesetz erläßt und der Mensch schuldig wird, wenn er dagegen verstößt, und auf der anderen Seile haben wir 10
das philosophische Problem, daß der sterbliche Mensch unfähig ist, die Wahrheit zu erkennen oder zu ertragen. Da geht es um eine erkenntnistheoretische Aporie. Der Mensch strebt nach einem Wissen, das ihm nicht zuträglich ist. Das ist ganz etwas anderes als schuldhafle Verfehlung und schwere Versündigung gegen den Willen Gottes. Die erkenntnislheoretische Aporie bezieht sich auf den Gegensatz von Sein und Schein, und nicht auf den von Gut und Böse oder Tugend und Laster. Hier geht es um die Unmöglichkeit absoluter, "ultimativer" Erkenntnis, die uns entzogen, aber nicht verboten ist. Das hat mit Gesetz und Gewissen nichts zu tun. Es sieht so aus, als würde Schillers Ballade bzw. die ihr zugrundeliegende Geschichte zwei ganz verschiedene Motive miteinander verbinden, das biblische von Gut und Böse und das klassisch-antike, genauer gesagt platonische von Sein und Schein. Und es kommt noch ein drittes hinzu, nämlich das Motiv von Einweihung und Mysterium. Die Geschichte spielt ja in einem Tempel und der Lehrer wird "Hierophant" genannt; das ist die Rolle des einweihenden Priesters, der den Novizen durch die Prüfungen geleitel. Außerdem läßt die Ballade offen, ob nicht die Wahrheit später, als Gnadenakt der sich offenbarenden Gottheit, doch einmal zu erkennen sein werde. Man darf nur nicht von sich aus und vor der Zeit den Schleier lüften, sondern muß warten, bis sich die Göttin von selbst zu erkennen gibt. Das ist weder biblisch noch platonisch, sondern anscheinend ägyptisch. Schiller, oder die Geschichte, die seiner Ballade zugrundeliegt, verknüpft in dieser Ballade offenkundig Stoffe ganz verschiedener Herkunft. Hier kommen platonische, ägyptische bzw. ägyptisierende und biblische Motive zusammen. Diesem Motivgeflecht möchte mein Vortrag nachgehen. Dabei gehe ich aus von der Frage, wo Schiller
eigentlich diesen ägyptischen Mysterienstoff her hat und was er ihm bedeutet haben mag. Da ägyptische Stoffe sonst in Schillers Werk wie überhaupt in der Weimarer Klassik keine besondere Rolle spielen, da aber andererseits die goer Jahre des 18. Jahrhunderts den Höhepunkt der europäischen Ägyptenbegeisterung bilden - ich erinnere nur an die überall in dieser Zeit entstehenden Parkanlagen mit Pyramiden und Obelisken, Sphingen und Isisstatuen, an die Zauberflöte, die in diesen Jahren ihren Siegeszug durch Deutschland antrat, und an die napoleonische Expedition nach Ägypten vor 200 Jahren - liegt die Frage nahe, ob etwa auch Schiller mit diesem ägyptisierenden Stoff an der Ägyptomanie der Zeit teilhat und welche Bedeutung die Mysterien der Isis für ihn und allgemein für seine Zeit besessen haben. Bisher nahm man an, daß Schiller diese Geschichte einer gescheiterten Einweihung in antiken Quellen vorgefunden habe und verweist dafür auf Plutarch und Pausanias.2 Dort finden sich aber nur disparate Stellen, die nichts miteinander zu tun haben und keine zusammenhängende Erzählung ergeben. Bei Plutarch handelt es sich um eine Stelle im 9. Kapitel seiner Schrift De hide et Osiride. In diesem Kapitel behandelt Plutarch die Bedeutung von Geheimnis und Einweihung in der Religion der Ägypter und nennt drei Beispiele, wie die Ägypter dieses Prinzip zum Ausdruck bringen: i. durch die Sphingen vor den Tempeln, womit angezeigt wird, daß "ihre Theologie eine rätselvolle Weisheit enthält", 2. durch das verschleierte Bild zu Sais, und 5. durch den Gottesnamen Amun, der nach Manetho "das Verborgene" ( kekrymmenori) bedeuten soll, was übrigens fast korrekt ist.5 Manetho von Sebennytos war ein hochgebildeter und wohlinformierter ägyptischer Priester, der sein mehrbändiges Werk über Geschichte und 12
Kultur der alten Ägypter zur Zeit Ptolemaios II., in der i.Hälfte des 3. Jh. v.Chr. schrieb. Dai3 Plutarch ihn hier zitiert, zeigt, daß er sein Werk gekannt hat. Das giht seinem Text eine gewisse Autorität. Wir dürfen nicht vergessen, daß das Bild, das sich die Griechen von Ägypten machten und dem Abendland überlieferten, ja nicht nur auf Reiseberichten und Fremdenführer-Anekdoten beruhte. Es gab eine reiche, wohlfundierte Ägyptenliteratur, und diese war teilweise von Ägyptern selbst geschrieben. Deren Reflex haben wir bei Plutarch vor uns. Das verschleierte Bild zu Sais ist nach Plutarch ein Sitzbild der Athena-Isis mit der Aufschrift: "Ich bin alles was da war, ist und sein wird; kein Sterblicher hat meinen Mantel (peplos) gelüftet".4 Dieselbe Inschrift überliefert auch Proklos, und zwar mit drei sehr entscheidenden Änderungen. Statt "kein Sterblicher" heißt es bei ihm "niemand", was die Gölter einschließt. Statt "peplos" (ein wollenes Obergewand) heißt es - zweitens - "chiton" (ein feinleinenes Untergewand), was dem Akt des "Lüftens" (apokalypto) eine sexuelle Konnotation verleiht. Diese Konnotation wird - drittens durch den bei Plutarch fehlenden Zusatz verstärkt, der da lautet: "die Frucht meines Leibes ist die Sonne". Der Satz hat also, so ähnlich er klingt, bei Proklos eine ganz andere Bedeutung; er bezieht sich nicht auf eine erkenntnistheoretische Aporie - die schlechthinnige Entzogenheit der Wahrheit - sondern auf die Parthenogenese der Sonne aus dem Leib einer mütterlichen Urund Allgottheit. Proklos hat den Satz also gewiß nicht von Plutarch abgeschrieben, sondern benutzt unabhängig von Plutarch eine andere Quelle. Schiller wiederum folgt der Fassung von Plutarch, nimmt aber eine wichtige Änderung vor.5 Die Gottheit seines verschleierten
Bildes ist weder Athena, noch Isis, sondern die Wahrheit. Dieses Detail hat er, wenn nicht von J. B. Alxinger6, vielleicht Clemens von Alexandrien entnommen. Dieser schreibt nämlich: - "Die Ägypter kennzeichneten den wirklichen geheimen Logos, den sie im innersten Heiligtum der Wahrheit bewahrten, durch '"Adyta" (cl. h. durch absolut unbetretbare Räume). 7
Aber die verschleierte Wahrheit hat auch eine ikonographische Tradition, die Schiller vielleicht näher lag. In emblematischen Illustrationen der Maxime "Veritas filia temporis", die Zeit bringt die Wahrheit ans Licht, wird zuweilen die Entschleierung einer Frau durch Chronos/Kronos, den Gott der Zeit, dargestellt. Die verschleierte Wahrheit kommt sogar in einem antiken Text vor, in dem koptisch überlieferten Philippos-Evangelium. Dort heißt es: Die Wahrheit kam nicht nackt in die Well, sondern sie kam in den Sinnbildern und Abbildern. Die Welt wird sie auf keine andere Weise erhalten. 8
Doch diesen Texl konnle Schiller nicht gekannl haben, denn er wurde ersl 1947 in der gnostischen Bibliothek von Nag Hammadi entdeckt. Aber das Motiv der verhüllten Wahrheit, die nur in Fabeln und Allegorien angedeutet werden kann, ist in der platonisch-neuplatonischen Tradition ein Topos und so mag es für Schiller nahegelegen haben, Plutarchs Athene-Isis durch die Wahrheit zu ersetzen. Aber damit haben wir nur ein, wenn auch zentrales Motiv der Ballade vor uns, aber keine Geschichte, keinen narrativen Zusammenhang. Plutarch erzähll nichls von einem Jüngling, der es gewagt hat, den Schleier dennoch zu lüften. Hier greift Schiller offenbar auf eine 14
Abb. i Vater "7eit" entschleiert die Wahrheit. Fronlispi/ /u Peyrard, De la nature et de ses Lois, Paris, 1795.
Anekdote zurück, die Pausanias überliefert. Sie handelt von einem jungen Mann namens Eurypylos, der wahnsinnig wurde, als er die cista mystiea der Mysterien unerlaubt geöffnet hatte." Allerdings ist bei Pausanias nicht von Verwegenheit und vorwitziger Neugier die
Rede. Dieses Motiv stammt aus einer anderen Geschichte bei Pausanias, die ebenfalls mit Isis zusammenhängt. Ein Uneingeweihter habe einmal "aus Neugierde und Kühnheit" (hypo polypragmosynes te hoi tolmes) beim Isisfest bei Tithorea in der Phokis das Adyton betreten. Alles sei ihm dort voller Eidola (Götterbilder) erschienen. Als er nach seiner Rückkehr zuhause davon erzählte, sei er gestorben. Neugierde, Umtriebigkeit, Verwegenheit - das sind zweifellos Schlüsselbegriffe dieses Gedichts, und es sind zugleich auch Schlüsselbegriffe eines Diskurses griechischer Selbstkritik." Der Aristotelesschüler Theophrast zeichnet im 13. seiner Charakterbilder ein Porträt des "Umtriebigen" (perierges), in dem wir Schillers Jüngling leicht wiedererkennen. Seine Intentionen sind die besten, aber sein Fehler liegt in der Überstürzung. Er beschreitet nicht den langen Weg der Erfahrung, sondern sucht stets Abkürzungen, die ihn scheitern lassen. Plutarch hat der "neugierigen Betriebsamkeit" (polypragmosyne) einen seiner Essays gewidmet und sie als ein Laster gegeißelt. Hier sind durchaus böse Absichten mit im Spiel. Der Neugierige spioniert von Neid und Bosheit getrieben seine Nachbarn aus. Seine Indiskretion zerreißt die Schleier gegenseitiger Rücksichtnahme, auf denen das soziale Leben beruht. Außerdem ist er von Schaulust getrieben und könnte nie auf dem Lande leben, wo es kein Theater gibt. Jedes Geheimnis zieht ihn magisch an. Für Plutarch ist polypragmosyne eine Krankheit der Seele. Die Geschichte eines solchen Krankheitsfalles und einer wunderbaren Heilung erzählt Apuleius in seinem Roman Der Goldene Esel.'2 Auch hier kommen viele Motive von Schillers Ballade zusammen: die verwegene, schuldhafte Neugier (curiositas), für die Lucius zur Strafe in einen Esel verwandelt wird, die Sehnsucht 16
nach Einweihung in die Mysterien der Isis, und schließlich - hier geht die Geschichte gut aus - sein geduldiges Warten auf den Ruf der Göttin und seine endliche Erlösung von der Eselsgestalt und Einweihung. Die Erzählung von Amor und Psyche, die in diesen Roman eingebettet ist, kreist um das Thema der Neugier.'' Psyche erhält allnächtlich den Besuch Amors, ihres Geliebten, unter der Bedingung, daß sie darauf verzichtet, ihn jemals schauen zu wollen. Dieser Versuchung vermag sie auf die Dauer nicht zu widerstehen. Schließlich Augustin: seine Verdammung der curiositas als concupiscentia oculorum, Augensucht, ist der entscheidendste Beitrag zur Konstruktion der Schuld, die Schillers Ballade dem Jüngling und seinem überstürzten Schritt zur Wahrheit zuschreibt. "Weh dem, der zu der Wahrheit geht durch Schuld" - damit ist der Weg des Lucius gemeint, der Weg der curiositas improspera, der "unzeitigen Neugier" (Apul., Met. XI 15). Schillers Jüngling mit seinem heißen Wissensdurst und seiner überstürzten Verwegenheit entspricht so genau dem griechischen Typus des perierges (curiosus), daß es sich lohnt, diesem Motiv noch etwas nachzugehen. Es spielt nämlich in den hermetischen Schriften eine bedeutende Rolle, also in einer Literatur, die genau wie Schillers Ballade im Begegnungsraum zwischen griechischer Philosophie und ägyptischer Religion steht.' 4 Besonders einschlägig ist der hermetische Traktat Köre Kosrnou.'^ Dort geht es um die Erschaffung des Menschen. Gegen diesen Plan erhebt Momos, der Gott des Tadels, Einspruch, weil er vorhersieht, daß dieses Wesen mit seiner Neugier und Verwegenheit selbst vor den Geheimnissen der Götter nicht zurückschrecken wird. "Das ist ein gewagtes Unternehmen," sagt Momos, "den Menschen zu schaffen, dieses Wesen mit den neugierigen Augen und der schwatzhaften
Zunge, der hören wird, was ihn nichts angeht, mit dem schnüfFlerischem Geruchssinn, der seinen Tastsinn bis zum Exzeß mißbrauchen wird. Soll etwa dieser ohne Sorgen bleiben, um in seiner Skrupellosigkeil (lolmero.s) die schönen Geheimnisse der Natur betrachten zu können? Willst du ihn frei von Leid leben lassen, damit er seine Absichten bis ans Ende der Welt verfolgen kann? Die Menschen werden die Pflanzen ausreißen und die Beschaffenheit ihrer Säfte prüfen. Sie werden die Natur der Steine untersuchen und die vernunftlosen Lebewesen, ja sogar ihresgleichen aufschneiden, um herauszufinden, wie sie gebildet sind. Sie werden ihre skrupellosen Hände bis zum Meer ausstrecken und die Wälder abholzen, um sich von Ufer zu Ufer tragen zu lassen bis zu den Ländern jenseits des Meeres. Sie werden sogar untersuchen, was sich im unzugänglichen Allerheiligsten der Heiligtümer verbirgt. Auch in die Höhe werden sie ihre Forschungen treiben, weil sie beobachten wollen, in welcher Gesetzmäßigkeit sich der Himmel bewegt. Das ist noch wenig. Es bleibt nichts unerforscht bis auf das äußerste Ende der Welt, aber selbst von dort werden sie in die totale Nacht vorstoßen wollen. So soll es denn kein Hindernis für diese Leute geben, sondern sie sollen ohne den Zwang der Sorgen und den Stachel der Furcht in aller Arroganz ein unbeschwertes Leben genießen können! Werden sie aber dann, mit verwegener Neugier bewaffnet, vor dem Himmel haltmachen? Werden sich ihre bedenkenlosen Seelen nicht bis zu den Sternen ausstrecken? . .." Die Menschen werden in diesem Mythos durch periergia = "Umtriebigkeit", Neugier, Wissensdrang, Indiskretion charakterisiert. Sie schrecken vor nichts zurück, kein noch so heiliges Geheimnis ist vor ihnen sicher. Nur die bittere Erfahrung kann sie noch zügeln, 18
daß jeder Fehler sich rächt und alles Tun Folgen hat. Auch in diesem Mythos ist es zuletzt Isis, die die verwegene Neugier der Menschen bändigt und sie Kultur und Diskretion lehrt. Diesen Mythos kann Schiller in der deutschen Übersetzung des Corpus Ilermeticum von D. Tiedemann (1781) gekannt haben.' 6 Dieser Text wirft zusätzliches Licht auf die Atmosphäre der Geschichte, die Spannung zwischen Neugier und Geheimnis, die Schiller aufbaut und die er den verstreuten Motiven bei Plutarch und Pausanias entnimmt. Für diese Grundkonstellation also, die freche, unzeitige Neugier (der Griechen) auf der einen, und die andächtige Bewahrung des göttlichen Geheimnisses (durch die Ägypter) auf der anderen Seite finden sich in der antiken Literatur zahlreiche Stellen, die auf die Geschichte, die Schillers Ballade erzählt, Licht werfen. Was sich aber in der antiken Literatur nicht findet, ist die Geschichte selbst. Die hat Schiller vielmehr selbst erfunden. Darin liegt das eigentliche Interesse des Falls. Schiller kombiniert mit erstaunlicher, geradezu barocker Gelehrsamkeit einige weit entlegene Stellen antiker Schriftsteller und erfindet eine ägyptische Einweihungs-Story in der Art der Zauberflöte oder des Erfolgsromans Sethos des Abbe Terrasson von 1731 ' 7 , den Matthias Claudius ins Deutsche übersetzt hatte, d. h. er stimmt ein in den initiatorischen Ägyptendiskurs, der damals insbesondere in den Kreisen der Freimaurer, in denen ja die Zauberflöte verankert ist, in höchstem Schwange war. Das paßt eigentlich überhaupt nicht zu Schiller. Schiller war im Gegensatz zu Mozart und Schikaneder kein Freimaurer. 18 Er war auch kein Altphilologe. Die eigentliche Frage lautet daher: was interessierte Schiller an den ägyptischen Mysterien, was brachte ihm diesen Stoff nahe?
Der Schlüssel liegt in dem 1790 veröffentlichten Essay "Die Sendung Moses", den Schiller im Jahre 1789 in Jena als Vorlesung gehalten hatte.' 9 Hier geht es, kurz gesagt, um ein Kapitel der Philologie und Religionsgeschichte. Schillers These lautet, daß der von Mose instituierte Monotheismus sich fast vollkommen mit dem deckt, was wir von den ägyptischen Mysterien wissen. Mose war ja nach Auskunft (oder vielmehr allerknappsten Andeutungen) der Bibel am ägyptischen Hof aufgewachsen und in allen Weisheiten der Ägypter unterrichtet. Schiller stellte das so dar, daß Mose alle Grade der ägyptischen Einweihungen durchlief und bis zur letzten Stufe, der "Epoptie" oder "Schau" vordrang, um dann zu seinem Volk zurückzukehren und ihm den Gott der Mysterien zu verkünden. Davon steht zwar nichts in der Bibel, und doch hat sich Schiller diese Geschichte nicht ausgedacht, diese fand er vor, und sie hat eine lange Geschichte. Man kann genau angeben, wie er auf diesen Stoff gestoßen ist, und die spätere Ballade wiederum zeigt, was ihn daran faszinierte. Es geht, um es auf eine kurze Formel zu bringen, um die Beziehung zwischen der Verhüllung oder Entzogenheit der Wahrheit und dem Erhabenen. Zunächst wollen wir uns der Frage zu wenden, wie Schiller an diesen Stoff kam. Im Jahre 1787 lernte er den jungen Philosophen Karl Leonhard Reinhold kennen, der gerade in die Schiller befreundete Familie Wieland eingeheiratet hatte.20 Reinhold hatte mit seinen knapp 30 Jahren bereits ein ziemlich bewegtes Leben hinter sich, auf das wir einen kurzen Blick werfen müssen, weil sich hier interessante Bezüge auftun. Österreicher, 1757 oder 58 geboren, war er anfänglich Jesuit gewesen (Pater Don Pius Reinhold), wurde dann Freimaurer und zugleich Illuminat (Bruder Decius). 20
1783 trat er der Wiener Loge Zur Wahren Eintracht bei und durchlief alle drei Grade in nur fünf Monaten. Meister vom Stuhl war der Bergbau-Ingenieur und Mineraloge Ignaz von Born, eine der führenden Figuren der josephinischen Aufklärung^' und wie Reinhold zugleich Illuminat. Ignaz von Born organisierte seine Loge als "Forschungsloge", eine Art Akademie der Wissenschaften, deren Mitglieder sich allwöchentlich gelehrte Vorträge hielten. Das zentrale Projekt war die Erforschung der antiken Mysterienreligionen, v. Born machte selbst den Anfang mit einer langen Abhandlung über die Ägyptischen Mysterien." Darin zitiert er übrigens auch das verschleierte Bild zu Sais und zieht eine ausdrückliche Parallele sowohl zur Freimaurerei als auch zu seinem eigenen Metier, der Naturwissenschaft: Die Kenntnii;) der Natur ist der End/week unsrer Anwendung. Diese Zeugerinn, Näherinn und Erhalterinn aller Geschöpfe verehren wir unter dem Bilde der Isis. - Nur jener deckt ihren Schleier ungestraft auf, der ihre ganze Macht und Kraft kennet. 25
Diese Deutung des verschleierten Bildes zu Sais als Allegorie der Naturwissenschaft hat übrigens eine lange ikonographische Geschichte, die zumindest bis ins 17. Jahrhundert zurückgeht. Die Darstellung der entschleierten Isis ist ein beliebtes Motiv auf Titelblättern naturkundlicher Werke. Wir werden darauf im Zusammenhang mit Kant und seiner Deutung des Motivs zurückkommen. In diesen Mysterien erblickten die Freimaurer ihr großes Vorbild; das von Ignaz v. Born eröffnete Forschungsprogramm wurde von vielen gelehrten Logenbrüdern mit den Mysterien von Samothrake, den eleusinischen, orphischen und anderen Mysterien fortgesetzt.24 Reinhold steuerte eine Studie über die kabirischen Mysterien bei, mußte aber schon 21
im November 1785 nach dem Verbot des Illuminatenordens aus Wien nach Leipzig fliehen. 1784 trat er, durch v. Born und v. Sonnenfels mit Empfehlungsschreiben ausgerüstet, an Wieland heran, der mit der Wiener Loge Zur Wahren Eintracht in enger Verbindung stand, auch wenn er selbst erst 1808 Freimaurer wurde. Bald darauf heiratete Reinhold Wielands Tochter Sophie und wurde sein Mitherausgeber beim Teitlschen Merkur. Darin veröffentlichte er in acht Folgen seine "Briefe über die Kantische Philosophie", die ihn sofort berühmt machten und ihm 1787 den Ruf nach Jena einbrachten. So brauchte er in Leipzig nicht mehr zu promovieren und die geplante Dissertation über Spinoza blieb ungeschrieben. Stall dessen schrieb er nebenher weiler für v. Borns Mysterienprojekt, für das er nach den kabirischen Mysterien eine große Überraschung plante: Eine Schrift über die Hebräischen Mysterien, in der er auch den biblischen Monotheismus als Mysterienreligion darstellen wollte, und nicht nur das, sondern als "die älteste Freymaurerey der Welt". Diese Abhandlung erschien bereits 1786 in zwei Ausgaben des von Born herausgegebenen Journals für Freimaurer. Im selben Jahr wurde aber die Loge geschlossen, und die Zeitschrift verlor einen großen Teil ihrer Leserschaft. Reinhold, der von seinem Text mit Recht eine hohe Meinung hatte·*5 und eine breitere Leserschaft erreichen wollte, suchte einen anderen Ort, um seine Beiträge als Buch herauszubringen, und fand ihn in dem bekannten Verlag Göschen in Leipzig, wo seine Studie 1787 erschien.26 Reinhold interessierte sich lebhaft für Schiller. Er lud ihn 1787 nach Jena ein und arbeitete auf Schillers Berufung auf einen Lehrstuhl für Geschichte hin, die dann 1789 auch zustande kam. Er muß ihm wohl gleich nach Erscheinen sein Buch über die hebräischen
Mysterien geschenkt haben, denn Schiller /itiert es dankbar, wenn auch recht beiläufig am Ende seines Essays, der in der Tat kaum mehr als eine Kurzfassung der Reinholdschen A b h a n d l u n g darstellt. Reinholds eigentliches Verdienst um Schiller und um die deutsche Geistesgeschichte aber besieht darin, daß er ihn nachdrücklich auf Kant hinwies. Er war nicht nur leidenschaftlicher Kantianer, sondern verstand es auch meisterhaft, die Thesen dieses schwierigen Autors seinen Zeitgenossen nahe zu bringen. Bei Schiller ließ er nicht locker. Und Schiller ließ, wie man weiß, wiederum bei Goethe nicht locker. Durch diese intensive Auseinandersetzung mit Kant ist die Weimarer Klassik um eine Dimension bereichert worden. Jn Schillers Essay gehen die beiden Welten, die Moses-Welt und die Kant-Welt eine eigentümliche Verbindung ein und treffen sich in der Kategorie des Erhabenen. Daraus geht dann auch die Ballade hervor. Bevor ich jedoch darauf näher eingehe, möchte ich noch einen Blick in Reinholds Buch über die Hebräischen Mysterien werfen. Reinholds Buchfassung der zwei Wiener Logen-Vorträge ist, bei aller Eleganz und Beredsamkeit, ein gelehrtes Werk. Anders als Schillers Essay weist er in Eußnoten auf seine Vorredner hin und läßt die Tradition seines Themas sichtbar w r erden. Diese Tradition ist erstaunlich: sie führt bis ins Mitlelalter zurück. Die drei wichtigsten Autoritäten, auf die Reinhold sich beruft, sind der jüdische Philosoph Rabbi Moshe ben Maimon (Maimonides, 1135-1204), der englische Bibel-Gelehrte John Spencer (1650-1693) und der im 18. Jh. hochberühmte William Warburton (1698-1778), Bischof von Gloucester, der neben seiner Ausgabe der Werke Shakespeares auch ein dreibändiges Werk über die Göttliche Sendung Moses verfaßt hatte. Auf sie beruft er
sich für seine These, daß Mose nichts anderes tat als die ägyptischen Mysterien, deren höchste Einweihnungsstufe er erklommen hatte, ins Hebräische und für die Fassungskraft des hebräischen Volkes zu übersetzen. Der Monotheismus stammt aus Ägypten, das ist seine These, und seinen höchsten Ausdruck findet er in dem Verschleierten Bild zu Sais. "Wem aus uns, meine Brüder!" ruft er aus, sind endlich die alten ägyptischen Inschriften unbekannt; die eine auf der Pyramide zu Sais: Ich bin alles, was ist, war und seyn wird, meinen Schleyer hat kein Sterblicher aufgehoben; und jene unter der Bildsäule der Isis: Ich bin, was da ist? Wer aus uns, meine Brüder! versteht nicht den Sinn dieser Wrorte so gut, als ihn vormals der ägyptische Eingeweyhte verstehen mußte, und weiß nicht, daß damit das wesentliche Daseyn, die Bedeutung des Namens Jehovah, beynahe wörtlich ausgedrückt ist? 27 Von solchen ketzerischen Ideen war natürlich der jüdische Philosoph Maimonides weit entfernt. Was er zu diesen Gedankengängen beigetragen hatte, war die Idee einer Historisierung der Offenbarung. In seinem "Führer der Verirrten" wollte Maimonides eine Erklärung für die zahllosen, offenbar vollkommen irrationalen Gesetze geben, die sich in der Tora auf Opfer, Zeremonien, Tempelausstattung und Dietätetik beziehen und die in der jüdischen Orthodoxie als grundlos gelten, weshalb die Suche nach Gründen für diese Gesetze auch verboten ist.i8 Maimonides gesteht die Abwesenheit vernünftiger Gründe zu, aber nicht die völlige Grundlosigkeit, weil eine solche Annahme der Güte Gottes widersprechen würde. Daher führt er die Kategorie des historischen Grundes ein. Was seine Begründung nicht in der Vernunft findet, muß sich historisch begründen lassen. Die Erklärung, die Maimonides anbietet, läuft ungefähr so: Als Gott seinem
Volk durch Mose seine Gesetze gab, sah er wohl, daß die Welt bereits voller Gesetze, Riten und Bräuche war. Gottes Güte und feine Rücksichtnahme auf die Gewohnheiten und die Fassungskraft seines Volkes ließ ihn davon Abstand nehmen, ihm die wahre Religion in ihrer ganzen abstrakten Reinheit zu offenbaren. Vielmehr paßte er die Wahrheit den historischen Umständen an und übermittelte sie seinem Volk in Formen, die sich nur aus diesen Umständen heraus erklären und darauf angelegt waren, erst im Zuge eines jahrtausendelangen Entwicklungsprozesses einer geläuterteren Gotteserkenntnis zum Durchbruch zu verhelfen. Gott hat, mit anderen Worten, seine Wahrheit in den Schleier der geschichtlichen Formen gehüllt, mit denen das Volk vertraut war. Diese Formen waren die Riten der "Sabier", einer versunkenen heidnischen Kultur, die Maimonides aus versprengten Notizen wiederentdeckte und als historischen Kontext der biblischen Ritualgesetze rekonstruierte. John Spencer nun, der 500 Jahre nach Maimonides dessen Projekt einer historischen Erklärung der mosaischen Ritualgesetze wiederaufnahm, identifizierte die Sabier mit den Ägyptern/9 Das war ein entscheidender Fortschritt, denn während man über die Sabier so gut wie nichts wußte, so daß Maimonides ihre Religion und Kultur frei als eine Gegenwelt zur Bibel rekonstruieren konnte, gab es zu Ägypten eine reiche Dokumentation in griechischen und lateinischen Quellen. Diese Quellen zeichneten nun aber ein Bild der ägyptischen Kultur, das genau nach dem Prinzip der von Maimonides Gott unterstellten strategischen Weisheit organisiert war. Auch die Ägypter hüllten die Wahrheit in den Schleier ihrer Mysterien. Aus genau diesem Grunde hat Gott die Israeliten nach Ägypten geführt und einen in aller Weisheit der Ägypter erzogenen Mann zu ihrem
Führer erwählt. Gott wollte, wie Spencer sagt, bestimmte heiligere Wahrheiten (sacratiora quaedam] im Gesetz unter dem Schleier von Symbolen und Zeichen (symbolorum et typorum velis obducta) verhüllen. Darin gibt er Maimonides vollkommen recht. Das Gesetz hat einen doppelten Sinn. Dieses Prinzip einer doppelten Kodierung steht aber nicht im Gegensalz zur heidnischen Religion, sondern wird ganz im Gegenteil von dieser übernommen. Genau dies ist, was die Hebräer und was Mose von den Ägyptern lernen und übernehmen sollten. Die jüdische Offenbarungsreligion ist also genauso eine Geheimnisreligion wie die ägyptische. Hier spricht Spencer ständig von "Schleier", sowohl mit Bezug auf die Hieroglyphen und Mysterien, als auch auf die Mosaischen Gesetze. Sie sind dazu bestimmt, die heiligen Geheimnisse sub veto (unter einem Schleier), sub cortice (unter einer Schale) oder sub involucro (unter einer Hülle) zu verbergen. Er zitiert auch jene Stelle, in der Clemens Alexandrinus vom "innersten Tempel der Wahrheit" spricht, in dessen "Adyton" die Ägypter den wahrhaft geheimen Logos eingeschlossen hätten. Diese Stelle ist für Spencer deshalb bedeutsam, weil Clemens hier einen Vergleich zieht mit dem Vorhang im Tempel bei den Juden. "Vorhang" heißt ja im Lateinischen velum, "Schleier". Spencer wollte damit seine These belegen, daß die Juden auch dieses Prinzip aus Ägypten übernommen hätten. Daher setzt er noch eine andere Stelle aus Clemens hinzu, wo dieser sagt: "Was daher die Verheimlichung angeht, sind die Geheimnisse [ainiginata] der Hebräer und der Ägypter einander sehr ähnlich." 50 in genau derselben Kombination erscheint das Clemens-Zitat bei Reinhold, der es also aus Spencer hat. Spencer war an der Struktur der Geheimnisreligion interessiert. Er wollte beweisen, daß es diese Struktur 26
war, die der hebräische Monotheismus aus Ägypten übernommen hat. Auch die geoffenbarten Gesetze sind ein Schleier, der die Wahrheit verhüllt. Was Spencer nicht interessierte, war die Frage nach dem Inhalt. Was waren das für Geheimnisse, die die Ägypter mit dem Schleier der Hieroglyphen verhüllten? Dieser von Spencer nicht gestellten Frage ging sein Kollege nach, der ebenfalls in Cambridge Hebräisch lehrte, Ralph Cudworth. Cudworth war ein prominenter Vertreter der Cambridge Platonists, also ein Neuplatoniker und Hermetiker. In seinem Werk The True Intellectual System of the Universe (1678)'' wollte er die Theologie des Henkai-Pan, des All-Einen Gottes, die in den Texten des Corpus Hermeticum die zentrale Holle spielt, als die uralte Geheimtheologie (theologia aporrhetos) der Ägypter ausweisen. Da aber das Corpus Hermeticum unlängst mit guten Gründen ins 3. Jh. n. Chr. datiert und geradezu als christliche Fälschung denunziert worden war52, mußte er sich nach unverdächtigeren Zeugnissen umsehen. Da stieß er auf das verschleierte Bild zu Sais und ersetzte Hermes Trismegistos durch Isis. Denn die von Plutarch überlieferte Inschrift war ja ein Bekenntnis zur All-Einheit: "Ich bin alles, was da war, ist und sein wird." Dazu stellte Cudworth einen von Athanasius Kircher veröffentlichten Sockel aus Capua mit der Inschrift, TE TIBI, UNA QUAK ES , DEA ISIS: "dich weihe ich dir, du eine die du alles bist, Göttin Isis"." Mit einer unglaublichen Fülle äußerst eindrucksvoller Zitate rekonstruierte Cudworth den Inhalt der ägyptischen Geheimlehren, der Arcane Theology, als einen Pantheismus. Aber ebensowenig wie Spencer für diesen Inhalt, interessierte sich Cudworth für die Form dieser Theologie, ihren Geheimnischarakter, die Hieroglyphen und Riten, die sie verhüllen. Spencer, so könnte man sagen, erforschte den Schleier, Cudworth 27
das Bild, aber die beiden Aspekte fügten sich noch nicht zusammen zur Figur des verschleierten Bildes. Erst Warburton führte 60 Jahre später beide Stränge zusammen in seinem großen Werk über die Göttliche Sendung Moses.54 Warburton ist in die Wissenschaftsgeschichte eingegangen und heute noch berühmt für seine Theorie der ägyptischen Hieroglyphen.55 Er hat sie zwar nicht entziffert, ist aber doch erstmals der bis dahin einhellig und zuletzt noch von Athanasius Kircher mit großer Vehemenz vertretenen Ansicht entgegengetreten, es handle sich dabei um die Kryptographie, die eigens zum Zwecke der Geheimüberlieferung der hermetischen Lehren erfunden worden sei. Das wies W^arburton energisch zurück. Daher hält man ihn für einen nüchternen Aufklärer, der den profanen und normalen Charakter der ägyptischen Hieroglyphenschrift klargestellt und mit der Geheimniskrämerei des 15.-i7. Jahrhunderts endgültig aufgeräumt habe. Damit tut man ihm aber Unrecht bzw. zuviel Ehre an. Ganz im Gegenteil hat Warburton mit diesem Werk die Hochkonjunktur des Mysterienthemas im 18. Jahrhundert begründet und die Mysterienforschung der Freimaurer basiert auf seinem Ansatz. Warburton sagt nämlich nur, daß die Hieroglyphenschrift auf keinen Fall zum Zwecke der Geheimhaltung, als Kryptographie erfunden worden sein kann, weil das keine ursprüngliche Schrillfunktion ist. Schriften werden zum Zweck der Speicherung und der Kommunikation erfunden. Damit hat er natürlich völlig recht. Er schließt aber keineswegs aus, daß die Hieroglyphen nicht später zu diesem Zweck der Geheimüberlieferung verwendet und verändert worden seien. Im Gegenteil, das ist die Hauptthese seines Buchs. Worum es ihm geht, ist die Mehrzahl und Mehrfunktionalität der ägyptischen Schriftsysteme, von denen er nicht 28
weniger als vier unterscheidet. Eine davon ist die priesterliche Symbolschrift, eine kryptographische Variante der Hieroglyphen. Er kann sie sogar datieren: sie muß /u Josephs Zeiten schon so stark in Gehrauch gewesen sein, daß sich die ägyptischen Priester als professionelle Traumdeuter etablieren konnten. Denn was befähigt besser zur Traumdeutung als die ständige Verwendung einer ikonischen Rätselschrift. Warburton hat in seinem mehrbändigen Moses-Werk aber nicht nur den ägyptischen Hieroglyphen ein Buch gewidmet, sondern auch den Mysterien. Das ist das Buch, auf dem Reinhold, Schiller und alle anderen basieren, die sich im 18. Jahrhundert für Mysterien interessieren. Warburton gründet seine Rekonstruktion der ägyptischen Mysterien auf Clemens von Alexandrien, der zwischen kleinen und großen Mysterien unterscheidet. Die kleinen Mysterien sind hieroglyphische Riten; diesen Begriff übernimmt Warburton von Spencer. Dieser hatte dafür auf die sogenannten Pythagoräischen Symbole verwiesen, rätselhafte Vorschriften wie "nicht auf dem Wagen essen, nicht mit dem Schwert das Feuer schüren, keine Palmen pflanzen" in deren Sinne auch die mosaischen Vorschriften wie "nicht das Böcklein in der Milch seiner Mutler kochen" verstanden wurden; so etwas nannte man im 17. und 18. Jahrhundert alles "Hieroglyphen". Diese Hieroglyphen hatten vielfältige Bedeutungen moralischer Art, die auf die Unsterblichkeit der Seele und eine jenseitige Vergeltung bezogen waren. Das sind staatstragende Ideen, die man natürlich nicht geheimhalten, sondern im Gegenteil stark machen und verbreiten wollte, indem man sie mit dem Nimbus des Geheimnisses umgab. Die kleinen Mysterien sind mysteriös, nicht weil sie geheim sind, sondern weil sie eine tiefere Bedeutung haben, die sich nur dem Nachdenklichen und Eingeweihten erschließt.
Die großen Mysterien aber waren ganz und gar geheim und hatten keine exoterischen Aspekle. Sie waren nämlich in keiner Weise staatstragend, sondern konnten, wenn sie in falsche Hände gerieten, durchaus subversiv wirken. Zu ihnen wurden daher auch nur die allerstärksten, edelsten und begabtesten Naturen zugelassen und zwar diejenigen, die zum Herrscheramt ausersehen waren. So steht es bei Clemens: "Die Ägypter offenbaren ihre religiösen Mysterien nicht unterschiedslos allen, noch teilen sie das Wissen um die göttlichen Dinge den Profanen mit, sondern nur denen, die zur Nachfolge im Königtum ausersehen sind und zu solchen von den Priestern, die dazu aufgrund ihrer Gehurt und Erziehung am besten qualifiziert sind.""1"
Davon weiß auch Plutarch. In seiner Schrift über Isis und Osiris schreibt er "Wenn unter den Ägyptern ein König aus dem Militärstand gewählt wird, bringt man ihn von Stund an zu den Priestern und unterrichtet ihn in jener Arkanphilosophie, die geheimnisvolle Wahrheiten unter obskuren Fabeln und Allegorien verbirgt." 57
Diesen Wenigen, so stellt sich Warburton das vor, denn davon steht bei den Alten kein Wort, wird nun der Schock einer völligen Desillusionierung zugemutet. Ihnen wird gesagt, daß die Religion eine Fiktion ist, und daß es nur eine einzige All-Eine Gottheit gibt, über die gar nichts gelehrt werden kann. "Die großen Mysterien" so heißt es bei Clemens, "beziehen sich dagegen auf das Ganze (ta sympanta), von dem nichts zu lernen übrig bleibt, sondern nur zu schauen (epopteuein) und die Natur und die Handlungen (pragmatä) mit der Vernunft zu erkennen (perinoeiri)" Warburtons für die Zeitgenossen maßgebliche Übersetzung dieser Stelle arbeitet den entscheidenden Punkt der sprachlosen, mystischen Schau noch dramatischer heraus: "The doc-
trines delivered in the Greater Mysteries concern the universe. Here all instruction ends. Things are seen as they are; and Nature, and the workings of Nature, are to he seen and comprehended.'" 58 Das ist das "Schauen", um das es in den Mysterien und in Schillers Ballade geht, die "epopteia", die in einem geistigen Erkennen (perinoein) und nicht etwa nur in einem rein sinnlichen Betrachten besteht. Dieses geistige Schauen wird nur dem Auserwählten in der höchsten Stufe der Einweihung zuteil, und nicht dem Ungeweihten, der sich voreilig dem sinnlichen Anblick aussetzt. Aber die Epoptie übersteigt nicht nur die Sinne, sondern auch die Sprache. So verstand man im 18. Jahrhundert Clemens' Bemerkung, daß hier "nichts mehr zu lernen übrig bleibt". Diese Idee einer sprachlosen oder besser alles Sprachliche und Begriffliche transzendierenden Konfrontation mit der Wahrheit, und zwar einer weitgehend negativen Wahrheit, wird für Schiller zentral werden. liier wird er seinen Begriff des Erhabenen zum Tragen bringen. Daher ist es wichtig, auf diesen Punkt bei Warburton etwas näher einzugehen. Seine Idee der Desillusionierung des Neophyten entnimmt Warburton einem orphischen Hymnus, den er als die letzte Ansprache des Hierophanten deutet, bevor dieser den Initianden der sprachlosen Schau überläßt. Dieser schon im Altertum berühmte, oft zitierte Text wird durch Warburtons Interpretation zu einem Schlüsseltexl des 18. Jahrhunderts. Er lautet in einer modernen Übersetzung: Ich werde zu jenen sprechen, die befugt sind. Die Türen aber schließt, ihr Uneingeweihten, alle zugleich! Du aber höre, Sproß der lichtbringenclen Mondgötlin, Musaios, denn Wahres werde ich verkünden. Nicht soll dich, was
früher in der Brust gut schien, des lieben Lebens berauben] Auf das göttliche Wort blicke! Diesem widme dich, den geistigen Nachen des Herzens steuernd. Gut beschreite den Pfad! Schau einzig auf den Herrscher der Welt, den Unsterblichen! Ein altes Wort kündet leuchtend von diesem: Einer ist er, aus sich selbst geworden. Aus Einem ist alles entsprungen. Unter ihnen geht er umher, doch keiner der Sterblichen erblickt ihn, er hingegen sieht alle.™
"Nicht soll dich das, was früher in der Brust gut schien, des lieben Lebens berauben!" - dieser Satz stellt für Warburton die Abschwörung der vertrauten Religion dar. An deren Stelle tritt nun der All-Eine: heis est' autogenes, henos ekgonos panla tetyktai, in Warburtons Übersetzung: HK is ONE, AND OK HIMSELF ALONE; AND THAT ONK ALL THINGS OWE THEIR BEING.
Den staatstragenden Polytheismus deutet Warburton aber nicht als Priesterbetrug, sondern als eine unabdingbare und daher legitime Fiktion. Ohne die Annahme nationaler Gottheiten, die über die Einhaltung der Gesetze wachen, wäre seiner Meinung nach eine zivile Gesellschaft nicht aufrechtzuerhalten. Nur Moses war dieser Fiktionen enthoben, weil er auf die göttliche Vorsehung vertrauen konnte; die heidnischen Gesellschaften dagegen brauchten zum Schutz der zivilen Ordnung Götter und griffen dafür auf vergöttlichte Könige und Kulturbringer zurück. Die Grenze zwischen Fiktion und Wahrheit, Götzendienst und Offenbarung, verläuft also für Warburton nicht mehr zwischen Ägypten und Israel, sie verläuft innerhalb Ägyptens selbst, und zwar zwischen Mysterien- und Volksreligion. Zwischen dem Geheimnis der Mysterien und den Inszenierungen des offiziellen Kults aber liegt für Warburlon der Abgrund, der die Wahrheit vom Aberglauben und
die Offenbarung vom Heidentum trennt. An die Stelle der Offenbarung tritt die Initiation. Die Initiation befreit von den Täuschungen der Idolatrie und führt endlich zur Schau der Wahrheit, einer Wahrheit freilich, deren Schleier kein Sterblicher je gelüftet hat. Die letzte und höchste Schau ist die Erkenntnis der unerkennbaren, abgründig verborgenen All-Einheit des Göttlichen, des einzig aus sich selbst heraus Seienden, dem alles Seiende sein Dasein schuldet. Warburtons Mysterienbegriff zeigte die ägyptische Religion in einer neuen Perspektive, die sie in Vordergrund und Hintergrund gliederte. So wie er verschiedene Schriftsysteme unterscheidet, gliedert er auch die ägyptische Religion in verschiedene, ja geradezu entgegengesetzte Wahrheitssysteme. Diese sich gegenseitig ausschließenden und daher auf Geheimnis angewiesenen Religionsformen basieren auf einer exoterischen politischen Theologie einerseits und einer esoterischen natürlichen oder kosmischen mono- bzw. pantheistischen Theologie andererseits. Bis zu diesem Punkt folgten Reinhold und Schiller eng den Spuren Warburtons. Mit dem nächsten Schritt aber gingen sie über Warburton hinaus: sie setzten den esoterischen Monotheismus der Ägypter und den offenbarten Monotheismus des Mose hinsichtlich ihres Gottesbegriffs gleich. Reinhold ließ keinen Unterschied zwischen der ägyptischen oder hermetischen Idee des All-Einen und dem biblischen Monotheismus gelten. Für ihn glaubte auch Mose an den All-Einen und kleidete diesen Glauben in die Form einer neuen Mysterienreligion, die als die älteste Freimaurerei bezeichnet werden kann. Schiller, dem barocke Gelehrsamkeit fern lag, und der sich kaum mit Maimonides, Spencer und Cudworth, ja vermutlich nicht einmal mit Warburton näher 35
beschäftigt haben dürfte, traten diese ja durchaus brisanten Ideen in Gestalt von Reinholds Buch entgegen, das ihn fasziniert haben muß, da er ja alsbald mit seinem Essay darauf reagierte. Was ihn ansprach, war der aller Sprache, Vorstellung und Anschauung entzogene Gottesbegriff der ägyptischen Mysterien, denn was die wenigen zur höchsten "Epoptie" gelangten Mysten endlich schauten, war der Schleier, der die Wahrheit verhüllt. Hier fand er den Inbegriff einer ästhetischen Idee, die ihn in diesen Jahren stark beschäftigte, der Idee des Erhabenen. Der Begriff des Erhabenen ist das einzige, was Schiller von sich aus zur Mose-Frage beiträgt; in allen anderen Punkten ist sein Essay ein Referat des Reinholdschen Buches. An Reinholds Darstellung der ägyptischen Mysterien begeisterte Schiller vor allem die Anonymität der ägyptischen Gottesidee: abstrakt, geistig, anonym, unsichtbar und fast außerhalb der Reichweite menschlicher Vernunft. Wie Reinhold verstand auch Schiller die Saitische Formel "Ich bin alles, was da war, was da ist, und was da sein wird" als die Vorenthallung oder Negation eines Namens und die Proklamation eines namenlosen Gottes. Diese Namenlosigkeit brachte Schiller mit dem Begriff des Erhabenen in Verbindung. Schiller und Reinhold zitieren eine Passage aus dem hermetischen Traktat Asclepius, die Laktanz überliefert hat, die bei Nicolaus von Kues eine große Rolle spielt, und die in moderner Übersetzung lautet: "Der Schöpfer ist namenlos oder trägt jeden Namen, weil er ja einer und alles ist, so daß man entweder alles mit seinem Namen oder ihn selbst mit den Namen von allem benennen muß." "Nichts ist erhabener, schreibt Schiller, als die einfache Größe, mit der sie von dem Weltschöpfer sprachen. Um ihn auf eine recht entscheidende Art auszuzeichnen, gaben sie ihm gar keinen Namen.1"40 34
Schiller und Reinhold zitieren die Passage nach Laktanz: "Er (Trismegistus) schrieb Bücher - viele, in der Tat, die sich auf das Wissen der göttlichen Dinge beziehen - in denen er für die Majestät des Höchsten und Ein/igen Gottes eintritt, und er nennt ihn mit denselben Namen, die auch wir verwenden: Herr und Vater. Damit nicht einer seinen Namen erfrage, sagt er, daß er namenlos ist, da er der besonderen Bezeichnung durch einen Namen nicht bedarf, weil er nur Einer ist, gewissermassen. Das sind seine Worte: "Gott ist Einer; der Eine aber braucht keinen Namen; er ist der namenlose Seiende", (ho de tfieos heis: ho de heis onomatos ou prodeilal; esti gar ho on anonymos) Daher hat Gott keinen .Namen, weil er der Einzige ist und weil es keine Notwendigkeit für eine besondere Bezeichnung gibt außer wenn im Fall einer Vielheit eine Distinktion gemacht werden muß um ein jedes Individuum durch seine spezifische Kennzeichnung und Benennung zu bezeichnen. Für Gott aber, weil er immer der Eine ist, ist Gott die rechte Bezeichnung."4' Diese Stelle steht im § 20 des lateinisch überlieferten Traktats Asclepius. Korrekter als Laktanz zitiert Nikolaus von Rues diesen Satz des Hermes Trismegistos. Da der Gedanke der Namenlosigkeit Gottes für Reinhold und Schiller so bedeutsam ist, lohnt es sich, auch auf diesen Text aus dem 15. Jahrhundert einen Blick zu werfen. In De Docta Ignorantia heißt es: Es ist ja einleuchtend, daß kein Name eigentlich dem Größten angemessen sein kann, da es das schlechthin Größte ist, zu dem nichts in Gegensat/ tritt. Alle Namen sind nämlich aufgrund einer gewissen Besonderheit in der verstandesmäßigen Erfassung den Dingen zugelegt, auf der die Unterscheidung des einen vom anderen beruht. Wo jedoch alles eines ist, da kann es keinen besonderen Namen geben. Hermes Trismegistus sagt darum mit Recht: 'Da Gott die Gesamtheit der Dinge ist (universitas rerurn), so gibt es keinen ihm eigenen Namen, müßte doch Gott sonst mit jegli35
chem Namen benannt werden oder alles mit seinem Namen. Er umgreift ja in seiner Einfachheit die Gesamtheit aller Dinge.' 4J
So verstehen Reinhold und Schiller auch die saitische Formel. Isis sagt nicht "Ich bin Isis", sondern "ich bin alles", und in ihrer Allheit liegt der Grund ihrer Namenlosigkeit und Verborgenheit. Die saitische Inschrift gibt dieser allumfassenden, namenlosen Gottesidee den erhabensten Ausdruck, denn sie betont nicht nur die namenlose All-Einheit der Gottheit, sondern auch das Geheimnis, den Schauder eines unüberschreitbaren Tabus. Längst, schon bei Marsilio Ficino4\ war aus dem peplos des Plutarchschen bzw. chiton des Proklosschen Textes ein "Schleier" geworden. "Kein Sterblicher hat meinen Schleier gelüftet", darin las man "hat mein Geheimnis ergründet". Unter dem Erhabenen verstand man im 18. Jh. eine die Fassungskraft übersteigende und dadurch Schauer, Schrecken, Sprachlosigkeit einflößende Erfahrung. Das Erhabene ist das Unnennbare, Unaussprechliche, Sprach- und Begrifftranszendente. Nach Kant, dessen Kritik der Urteilskraß im gleichen Jahre wie Schillers Aufsatz erschien (1790), gibt es nichts Erhabeneres im Mosaischen Gesetz als das 2. Gebot: "Du sollst dir kein Bildnis machen". Kant widmet einen langen Abschnitt seiner dritten Kritik der "Analytik des Erhabenen". Das Erhabene ist das schlechthin Überwältigende, dem jedoch die menschliche Natur standzuhalten vermag. Kants Beispiele für die Erfahrung des Erhabenen sind meist der Natur entnommen.44 Er erwähnt aber neben Bergen und Gewitter auch die ägyptischen Pyramiden und den Petersdom als Beispiele für das Erhabene 45 , ebenso wie das zweite Gebot: "Vielleicht gibt es keine erhabenere Stelle im Gesetzbuche der Juden, als das Gebot: Du sollst dir kein Bildnis machen, noch irgend-
ein Gleichnis, weder dessen was im Himmel, noch auf der Erde, noch unter der Erden ist usw. Dieses Gebot allein kann den Enthusiasm erklären, den das jüdische Volk in seiner gesitteten Epoche für seine Religion fühlte, oder auch denjenigen Stolz, den der Mohammedanism einflößt." 46 Das Erhabene widersteht menschlicher Darstellbarkeit, Verstehbarkeit und Mitteilbarkeit, aber ein starkes Selbst widersteht dem Erhabenen. Es ist möglich, Gott zu denken, ohne ihn auf ein Bild und Gleichnis zu reduzieren. Das Bilderverbot bedeutet für Kant nicht nur ikonisches, sondern allgemein symbolisches, schlechthinniges Verstummen. 47 So wie der bildlose Gott ist auch die verschleierte Isis den menschlichen Begriffen und dem Vorstellungsvermögen entzogen. Und doch ist diese Entzogenheit ein Easzinosum, das uns fesselt durch den heiligen Schauer, den das Entzogene und Geheimnisvolle einflößt. Gott ist bildlos, weil er alles ist, und weil kein Name und kein Bild seine Größe fassen kann. Ebenso ist Isis notwendig verschleiert, weil sie alles ist, alles was da war, was da ist und was da sein wird. Nicht weil sie unsichtbar ist, sondern weil sie alles ist, entzieht sie sich unseren Blicken. Das Erhabene ist unabbildbar, unbenennbar und unentschleierbar. Daher wendet Kant dieselbe Formel "Nichts ist erhabener als" in einer berühmten Fußnote derselben Kritik auch auf Schillers Beispiel, das verschleierte Bild zu Sais an:48 Vielleicht ist nie etwas Erhabeneres gesagt oder ein Gedanke erhabener ausgedrückt worden als in jener Aufschrift über dem Tempel der Isis (der Mutter Natur) 49 : "Ich bin alles was da ist, was da war und was da sein wird, und meinen Schleier hat kein Sterblicher aufgedeckt".
Zur Illustration verweist Kant auf ein zeitgenössisches naturkundliches Werk, dem, wie er meint, eine Dar37
Stellung des verschleierten Bildes zu Sais als Frontispiz vorangestellt ist: Segner benutzte diese Idee, durch eine sinnreiche, seiner Naturlehre vorgesetzte Vignette, um seinen Lehrling, den er in diesen Tempel einzuführen bereit war, vorher mit dem heiligen Schauer zu erfüllen, der das Gemüth zu feierlicher Aufmerksamkeit stimmen soll.50
Auf dem Frontispiz zu Segners Naturlehre sind die Adepten der Natur als Putten dargestellt, die mit Zirkel und Zollstock ihre Fußspuren vermessen. Das hat allerdings mit dem verschleierten Bild zu Sais nicht unmittelbar zu tun, sondern folgt einer anderen Tradition, die noch älter zu sein scheint. So hatte schon der Rosenkreuzer Michael Maier in seiner Atalanta Fugiens aus dem Anfang des 17. Jhs. die Allegorie der Naturforschung dargestellt. Auf seinem Stich sieht man die Göttin der Natur, unverschleiert und frei ausschreitend, und hinter ihr in weitem Abstand einen Philosophen, der mit der Laterne in der Hand ihre Fußspuren studiert. Und so hatte schon Philo von Alexandrien den Vers in Exodus 33:23 gedeutet "Du sollst meinen Rücken sehen, aber mein Gesicht sollst du nicht sehen": es ist genug für den Weisen, Gott a posteriori oder aus seinen Werken zu kennen; wer immer aber glaubt das unverhüllte Wesen der Gottheit zu schauen, wird geblendet werden von der transzendenten Ausstrahlung der Gottheit und dem Glanz ihrer Strahlen. 5 '
Immerhin befinden wir uns hier in enger gedanklicher Nachbarschaft des verschleierten Bildes zu Sais. Es gibt aber auch sehr viel unmittelbarere Darstellungen dieses Motivs. Pierre Iladot hat dem Motiv des verschleierten Bildes der Isis und seiner Beziehung zur Idee der "Naturgeheimnisse" eine großartige Studie gewidmet.1·'
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