Das Unrechtsbewusstsein von Wirtschafts- und Unternehmensstraftätern im Lichte der aktuellen Compliance-Diskussion [1 ed.] 9783428557691, 9783428157693

Mit wachsender Bedeutung des Wirtschaftsstrafrechts in der strafrechtlichen Praxis sowie in der Strafrechtswissenschaft

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German Pages 184 Year 2019

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Das Unrechtsbewusstsein von Wirtschafts- und Unternehmensstraftätern im Lichte der aktuellen Compliance-Diskussion [1 ed.]
 9783428557691, 9783428157693

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Schriften zum Strafrecht Band 345

Das Unrechtsbewusstsein von Wirtschaftsund Unternehmensstraftätern im Lichte der aktuellen Compliance-Diskussion

Von

Pedram Karami

Duncker & Humblot · Berlin

PEDRAM KARAMI

Das Unrechtsbewusstsein von Wirtschafts- und Unternehmensstraftätern im Lichte der aktuellen Compliance-Diskussion

Schriften zum Strafrecht Band 345

Das Unrechtsbewusstsein von Wirtschaftsund Unternehmensstraftätern im Lichte der aktuellen Compliance-Diskussion

Von

Pedram Karami

Duncker & Humblot · Berlin

Der Fachbereich Rechtswissenschaft der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main hat diese Arbeit im Jahre 2019 als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

D30 Alle Rechte vorbehalten © 2019 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Satz: Klaus-Dieter Voigt, Berlin Druck: CPI buchbücher.de gmbh, Birkach Printed in Germany ISSN 0558-9126 ISBN 978-3-428-15769-3 (Print) ISBN 978-3-428-55769-1 (E-Book) ISBN 978-3-428-85769-2 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Für Maman

Danksagung Die Entstehung dieser Arbeit haben mehrere Personen nachhaltig gefördert. Ich möchte mich auf diesem Wege dafür bedanken. Herzlicher Dank gebührt zunächst meinem verehrten Doktorvater und akademischen Lehrer Herrn Prof. Dr. Ulfrid Neumann. Seine Unterstützung, Diskussionsbereitschaft und Geduld haben einen entscheidenden Beitrag zu dieser Arbeit geleistet. Ebenfalls möchte ich mich bei Herrn Prof. Dr. Cornelius Prittwitz für die Fertigstellung des Zweitgutachtens sowie seine überaus hilfreichen Anmerkungen in diesem Zusammenhang bedanken. Größter Dank gebührt auch meinen langjährigen, besten Freunden, vornehmlich Herrn Mohamed Khayr und Herrn Rudolf Frank. Ohne ihre moralische Unterstützung hätte ich dieses Projekt kaum bewältigen können. Sicher ist zudem, dass meine Promotionszeit ohne den Rückhalt meiner Familie nicht möglich gewesen wäre. Zu tiefstem Dank verpflichtet bin ich meiner Freundin, Frau Diplom-Juristin und angehenden Rechtsanwältin Joline Kuhn, für manchen interdisziplinären Austausch und fachlichen Disput. Meinen älteren Geschwistern, Frau Dr. Nastaran Karami und Herrn Behnam Karami, danke ich für ihren unermüdlichen Zuspruch. Weiterhin möchte ich meinem akademischen Vorbild und großen Bruder Prof. Dr. Behzad Karami danken, der mich nie mein Ziel vor den Augen hat verlieren lassen. Meinem Vater, Herrn Ahmad Farrassati-Ghazvini, danke ich dafür, dass er mich bereits früh gelehrt hat, über den sprichwörtlichen Tellerrand hinaus zu schauen und damit einen erheblichen Beitrag zu meinem wissenschaftlichen Verständnis geleistet hat. Schließlich gebührt mein größter Dank meiner Mutter, Frau Parissa Adib. Ihre Liebe, ihr Zuspruch und ihr unermüdliches Bemühen, mich zu motivieren tragen bis zum heutigen Tag dazu bei, mich persönlich und fachlich weiter zu entwickeln. Die Dankbarkeit und Demut, die ich für meine Mutter empfinde, kann man nicht in Worte fassen. Ihr sei diese Arbeit gewidmet. Frankfurt am Main, im August 2019

Pedram Karami

Inhaltsverzeichnis A. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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B. Das Unrechtsbewusstsein als Kernelement der Schuld . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

16

I. Der Schuldbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Schuld als subjektives Element der Tathandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

16

2. Schuld als normatives Konstrukt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Schuld als Funktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

18 19

4. Schuld als gesellschaftlicher Diskurs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

19

5. Zusammenfassung und Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

20

II. Das Unrechtsbewusstsein als Gegenstand eines normativen Schuldverständnisses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

17

1. Historische Entwicklung des Verbotsirrtums in der Gesetzgebung . . . . . .

23 24

a) Die Entwicklung im römischen Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

25

b) Das Verständnis des Verbotsirrtums im Sinne der mittelalterlichen Stadtrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

27

c) Kodifikation der Unrechtskenntnis ab dem 19. Jahrhundert bis zum RStGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Zwischenergebnis und Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Entwicklung der Rechtsprechung seit 1871 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

28 29

a) Rechtsprechung des Reichsgerichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

30 30

b) Beschluss des Großen Senats des Bundesgerichtshofs vom 18.03.1952 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

32

3. Der Verbotsirrtum im Bereich der Rechtslehre – eine (dogmatische) Einordnung des Unrechtsbewusstseins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

33

a) Die Vorsatztheorie(n) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Schuldtheorie(n) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

33

c) Zusammenfassende Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

36

aa) Argumente gegen die Vorsatztheorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Argumente gegen die Schuldtheorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

37 38

35

cc) Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

39

4. Kodifikation des Verbotsirrtums i. S. v. § 17 StGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

40

5. Kritische Würdigung der reichsgerichtlichen Rechtsprechung vor dem Hintergrund außerkernstrafrechtlicher Bestimmungen . . . . . . . . . . . . . . . .

41

a) Ablehnung der Rechtsprechung des Reichsgerichts – Kohlrauschs Kritik am außerstrafrechtlichen Irrtum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

42

10

Inhaltsverzeichnis b) Die Befürworter der reichsgerichtlichen Rechtsprechung – die Diskussion des außerstrafrechtlichen Irrtums in neuem Gewand . . . . . . . . 43 aa) Ausgangspunkt E. Mezger (1951) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 bb) Die Einzelfallgerechtigkeit des Reichsgerichts nach H. Mayer (1952) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 cc) Außertatbestandliche Merkmale – Auffassungen vor dem Hintergrund normativer Tatbestandsmerkmale und institutioneller Tatsachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 (1) Herzberg und Blei im Anschluss an die reichsgerichtliche Irrtumsdisjunktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 (2) Burkhardt – institutionelle und natürliche Tatsachen . . . . . . . . 47 (3) Haft – gegenstands- und begriffsbezogener Irrtum . . . . . . . . . 49 (4) Schlüchter – teleologisch reduzierte Sachverhaltssicht . . . . . . 50 (5) Kuhlen (1987) – statische und dynamische Verweise . . . . . . . 51 (6) Kindhäuser – Sinn- und Wahrheitsirrtum . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 (7) Puppe – Irrtum über institutionelle Tatsachen . . . . . . . . . . . . . 55 (8) Herzbergs neue Konzeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 (9) Die Konzeption Toepels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 c) Kritik und Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 aa) Kritische Würdigung der Literaturansichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60 bb) Persönliche Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 III. Gegenstand des Unrechts(-bewusstseins) nach heutigem Verständnis . . . . . . 69 1. Sitten- und Moralvorstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 2. Sozialschädlichkeit der Handlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 3. Rechtliches Verbot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 a) Weiter Unrechtsbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74 b) Enger Unrechtsbegriff unter Rückgriff auf die Lehre Feuerbachs . . . . 75 c) Rechtsnatur der sanktionsbewehrten Norm im Rahmen des engen Unrechtsbegriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 d) Zusammenfassende Kritik und Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 e) Der enge Unrechtsbegriff als Synthese von Vorsatz- und Schuldtheorie

82

C. Das Unrechtsbewusstsein von Wirtschafts- und Unternehmensstraftätern – Ursachen und Behandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 I. Ursachen des defizitären Unrechtsbewusstseins von Wirtschaftsstraftätern im Lichte der Begriffstheorie und Kriminologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 1. Definitorische Schwierigkeiten des Wirtschaftsstrafrechts . . . . . . . . . . . . . 85 2. Unternehmenskriminalität – Erscheinung und Behandlung . . . . . . . . . . . . 87 3. Kriminologische Betrachtungsweise des Wirtschafts- und Unternehmensstrafrechttäters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 a) Sozialprofil des Wirtschaftsstraftäters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90

Inhaltsverzeichnis b) Phänomenologische Charakteristika von Wirtschaftsstraftaten . . . . . . c) Die Entwicklung eines defizitären (kriminalsoziologischen) Unrechtsbewusstseins im Lichte der Kriminalitätstheorien . . . . . . . . . . . . aa) Lerntheoretischer Ansatz der differenziellen Kontakte . . . . . . . . . bb) Sozialstruktureller Ansatz der Anomie-Theorie . . . . . . . . . . . . . . . cc) Subkulturtheorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Neutralisierungstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Konkrete kriminologische Erklärungsversuche der Wirtschaftsdelinquenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Die Fraud Triangle-Theorie („Betrugsdreieck“) . . . . . . . . . . . . . . . bb) Leipziger Verlaufsmodell der Wirtschaftskriminalität . . . . . . . . . . e) Zusammenfassung und Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Der Verbotsirrtum im Wirtschafts- und Nebenstrafrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Grundsätzliche Behandlung durch die Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . a) Die reichsgerichtliche Irrtumsdisjunktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die neuere Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Die Steuerspruchtheorie des Bundesgerichtshofs . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Differenzierte Behandlung durch die Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Vertreter der Schuldtheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Warda . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Jescheck/Weigend . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Meyer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Jakobs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Vertreter der Vorsatztheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Tiedemann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Puppe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Fakhouri Gómez . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Der Mittelweg der „weicheren Schuldtheorie“ nach Roxin . . . . . . . . . 3. Kritik und Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Würdigung der schuldtheoretischen Argumente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Würdigung der vorsatztheoretischen Argumente . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Persönliche Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Die Erziehung des Unrechtsbewusstseins durch unternehmerische Selbstregulierungsmechanismen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Corporate Compliance als unternehmerische Selbstregulierung de lege lata . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Der Einfluss von Compliance-Maßnahmen auf das Unrechtsbewusstsein a) Compliance-Kultur – Begriff und rechtliche Grundlagen . . . . . . . . . . . b) Der Einfluss auf subkulturell geprägte Wertvorstellungen und Auswirkungen auf das Unrechtsbewusstsein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

11 91 94 95 97 98 99 101 102 103 104 107 108 108 108 110 111 111 111 112 113 113 114 114 116 118 119 122 122 124 127 131 132 136 137 139

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Inhaltsverzeichnis 3. Die Umsetzung von Compliance-Mechanismen in der Praxis . . . . . . . . . . a) Grundelemente von Compliance-Systemen – ein Versuch der Standardisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) IDW PS 980 Prüfungsstandard . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) DIN ISO 19600:2014 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Zwischenfazit und Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Verrechtlichung von Compliance-Organisationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Große Lösung: Entwurf eines Gesetzes zur Einführung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit von Unternehmen und sonstigen Verbänden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Kleine Lösung: Berücksichtigung von Compliance-Bemühungen nach §§ 30, 130 OWiG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Parastrafrechtliche Bestrebungen: der Folgenverantwortungsdialog dd) Kritische Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Persönlicher Ansatz: Dialogisierte staatlich-regulierte Selbstregulierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Gesetzliche Verpflichtung zur Einführung von Compliance – Anreiz zur Selbstregulierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Schaffung retrospektiver und prospektiver Anreize . . . . . . . . . . . . (1) Retrospektive Komponente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) (Dialogisierte) Prospektive Komponente . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Inhaltliche Vorgaben an Selbstregulierung durch staatlich regulierten Rahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

141 142 143 144 145 147

147 149 152 154 156 157 158 158 159 162

D. Schlussbetrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183

A. Einleitung Kaum ein anderes Gebiet innerhalb der Strafrechtswissenschaft hat in den vergangenen Jahren so viel Aufmerksamkeit auf sich gezogen wie das Wirtschaftsstrafrecht. Neben den wirtschaftsstrafrechtlichen „Klassikern“, wie etwa der „Lederspray-“ 1 oder der „Holzschutzmittel-“ 2Entscheidung, sind spätestens seit den Korruptionsaffären um Siemens3 und Mannesmann4 sowie den jüngsten Vorwürfen einer Abgasmanipulation gegen die Volkswagen AG wirtschaftsstrafrechtliche Fragestellungen präsenter denn je. Sowohl die Politik, die Gesetzgebung als auch die Gesellschaft haben ein immenses Interesse an der Aufklärung derartiger wirtschaftsstrafrechtlicher (Straf-)Taten, sind doch die jährlichen Schäden, die durch diese verursacht werden, kaum zu beziffern.5 Im Mittelpunkt wirtschaftsstrafrechtlicher Prozesse stehen in der Regel die Verfehlungen einzelner Personen und/oder Leitungsorgane, sei es durch die Begehung einer Straftat bzw. Ordnungswidrigkeit oder infolge unterlassener Aufsichtsmaßnahmen. Doch was bewegt Wirtschaftsstraftäter zu delinquenten Handlungsweisen? Mit dieser Frage haben sich sowohl Kriminalitätstheorien als auch empirische Studien befasst. Dabei ergab eine international durchgeführte Studie der Wirtschaftsprüfergesellschaft PricewaterhouseCoopers aus dem Jahr 2005, dass eine der Hauptursachen für wirtschaftsdelinquente Handlungen ein defizitäres Unrechtsbewusstsein der Täter sei.6 Erstaunlich ist in diesem Zusammenhang, dass das „defizitäre Unrechtsbewusstsein von Wirtschaftsstraftätern“ als fester Parameter verwendet wird, ohne diesen näher zu untersuchen, und insbesondere, ohne dabei auf den Facettenreichtum des Unrechtsbegriffs näher einzugehen. 1

Vgl. BGHSt 37, 106. Vgl. BGHSt 41, 206. 3 Vgl. nur BGHSt 52, 323. 4 Vgl. BGHSt 50, 331. 5 Gemäß dem Bundeslagebild zur Wirtschaftskriminalität 2017 beliefen sich die Schäden in der Bundesrepublik, die durch Wirtschaftskriminalität verursacht wurden, auf ca. 3,7 Mrd. Euro, vgl. Bundeskriminalamt Wiesbaden, Wirtschaftskriminalität Bundeslagebild 2017, S. 4 f. Kudlich/Og˘lakcıog˘lu, Wirtschaftsstrafrecht, S. 2, schätzen die materiellen Schäden bezogen auf Hell- und Dunkelziffern zwischen 5 und 28 Mrd. Euro. Többens, Wirtschaftsstrafrecht, S. 1, schätzt die Schäden unter Berücksichtigung der Dunkelziffer auf 2 % und 10 % des Bruttoinlandsprodukts und kommt so für allein für das Jahr 2005 auf einen Schaden, der sich zwischen 44,94 und 224,74 Mrd. Euro bewegt. Vgl. zu den unterschiedlichen Schätzungsgrundlagen auch Schwind/Schwind, Kriminologie und Kriminalpolitik, § 21 Rn. 10; im Ergebnis auch Eisenberg/Kölbel, Kriminologie, § 47 Rn. 5. 6 PricewaterhouseCoopers, Wirtschaftskriminalität 2005, S. 26. 2

14

A. Einleitung

Denn anders als die Empirie und die Kriminologie anzunehmen scheinen, liegt dem Begriff des Unrechtsbewusstseins in der juristischen Diskussion eine weitaus komplexere Bedeutung zugrunde. § 17 StGB konstatiert in diesem Zusammenhang: „Fehlt dem Täter bei der Begehung der Tat die Einsicht, Unrecht zu tun, so handelt er ohne Schuld, wenn er diesen Irrtum nicht vermeiden konnte.“ Doch so einfach die Formel des § 17 StGB auch klingen mag, so abstrakt bleibt ihr Kerngehalt. Was ist konkret mit Unrecht gemeint? Bezieht sich der mehrdimensionale Unrechtsbegriff auf ein moralisches, ein sozialethisches oder ein rechtlich missbilligendes Verhalten? Einigkeit besteht wohl allein in dem Punkt, dass die Kenntnis der Strafbarkeit zugleich das Bewusstsein ihrer Widerrechtlichkeit beinhaltet. Unabhängig von der umstrittenen Frage, wie das Unrechtsbewusstsein juristisch zu definieren ist, ergeben sich mit Blick auf seine Handhabe vor dem Hintergrund wirtschaftsstrafrechtlicher Normen spezifische Besonderheiten, über die seit Mitte des 20. Jahrhunderts gestritten wird. Diesbezüglich bieten unter anderem Tiedemanns Erkenntnisse Grund zur Diskussion. Nach seiner Auffassung werde es dem Bürger aufgrund der zunehmenden Entwicklung einer technisierten und verrechtlichten Zivilisation erschwert, alle potenziell an ihn gerichteten Rechtsnormen zu kennen; vielmehr sei nur die Kenntnis des Kernbestandes von Rechtsnormen von dem Bürger zu erwarten.7 Tiedemanns These führt zu der Annahme, dass die mangelnde Kenntnis von Rechtsnormen – wie sie insbesondere auf dem „zerfaserten“ Gebiet des Neben- und Wirtschaftsstrafrechts üblich ist – zu einem mangelnden Unrechtsbewusstsein führt – ein Ergebnis, dem sich ein Großteil der juristischen Literatur anschließt. Die vorliegende Arbeit hat es sich deshalb zur Aufgabe gemacht, das Unrechtsbewusstsein von Wirtschafts- und Unternehmensdelinquenten zu analysieren, seine Erscheinungsformen zu konkretisieren und zugleich einen Beitrag zur bestehenden Diskussion eines fehlenden Unrechtsbewusstseins bei wirtschaftsstrafrechtlichen Tatbeständen zu leisten. Dabei wird zunächst ausgearbeitet, wie sich der Begriff des Unrechtsbewusstseins in das Verständnis eines normativen Schuldbegriffs einfügt. In diesem Zusammenhang wird auch erörtert, welche historische Prägung der Begriff des Unrechtsbewusstseins erlebt hat. Dabei wird der Zeitraum von der Antike bis zur Kodifikation des § 17 StGB im Jahre 1969 ins Auge gefasst. Im Anschluss gilt es – auch unter Heranziehung einer historischen Auslegung – den Begriff des Unrechtsbewusstseins nach heutigem Verständnis zu konturieren. Daran anschließend folgt die Ursachenanalyse des defizitären Unrechtsbewusstseins von Wirtschafts- und insbesondere von Unternehmensstraftätern im Lichte der Begriffstheorie und Kriminologie. Hierbei gilt es insbesondere das 7

Vgl. Tiedemann, FS Geerds, S. 95 (97).

A. Einleitung

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kriminalsoziologische respektive empirische Verständnis des Unrechtsbewusstseins von dem schuldrelevanten Unrechtsbewusstsein i. R. d. § 17 StGB abzugrenzen. Sind in der Folge die Ursachen des Unrechtsbewusstseins von Wirtschaftskriminellen geklärt, soll in dem sich anschließenden Kapitel erläutert werden, wie mit dem defizitären Unrechtsbewusstsein von Wirtschaftsstraftätern zu verfahren ist. Hierbei wird der Fokus auf den Irrtum über wirtschaftsstrafrechtliche Tatbestände unter Einbeziehung der Ansätze von Literatur und Rechtsprechung gelegt. Abschließend wird ein Ansatz dafür präsentiert, wie die juristische Praxis mit einem defizitären Unrechtsbewusstsein von Unternehmensstraftätern verfahren sollte. Der Schwerpunkt liegt hierbei auf einer Erörterung der aktuellen Compliance-Diskussion im Bereich des Unternehmensstrafrechts. Insbesondere soll bewiesen werden, dass eine (präventive) Erziehung des Unrechtsbewusstseins durch unternehmerische Compliance-Mechanismen nur dann erfolgversprechend ist, wenn diese einem dialogisierten staatlich-regulierten Selbstregulierungsmodell folgen.

B. Das Unrechtsbewusstsein als Kernelement der Schuld Prägendes Element des deutschen Strafrechts ist das Schuldprinzip.1 Insoweit gilt der ungeschriebene (Verfassungs-)Grundsatz „nulla poena sine culpa“.2 Das Bundesverfassungsgericht leitet das Schuldprinzip aus dem verfassungsrechtlich verankerten Rechtsstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 3 GG3 sowie der allgemeinen Handlungsfreiheit des Art. 2 Abs. 1 GG4 ab und spricht diesem zugleich eine Bindungswirkung mit Blick auf den in Art. 1 GG kodifizierten Wert- und Achtungsanspruch des verurteilten Straftäters zu.5 Damit gehört das Schuldprinzip aufgrund von Art. 79 Abs. 3 GG zur unverfügbaren Verfassungsidentität.6 Im Bereich des Kernstrafrechts ist das Schuldprinzip in § 46 Abs. 1, S. 1 StGB erwähnt. Danach ist „[d]ie Schuld des Täters (. . .) Grundlage für die Zumessung der Strafe“. Soweit Kernbestandteil dieser Arbeit das Unrechtsbewusstsein von Wirtschaftsdelinquenten ist, bedarf es daher zunächst einer Erörterung des strafrechtlichen Schuldprinzips. Dies gewährleistet, die Hintergründe des relevanten Schuldtatbestandes zu verstehen und einen definitorischen Rahmen zu schaffen, der dem weiteren Verlauf der Arbeit zugrunde zu legen ist.

I. Der Schuldbegriff Nach einhelliger Auffassung besteht die Funktion der Schuld einerseits in der Strafbegründung, und zwar aufgrund der persönlich vorwerfbaren Verwirklichung von Unrecht, die sich darin ausdrückt, dass sich der Täter gegen die geltende Rechtsordnung aufgelehnt hat.7 Andererseits dient sie der Limitierung der 1 Landau, ZStW 121 (2009), 965 (973), bezeichnet das Schuldprinzip als „Spezifikum des deutschen Rechts“. 2 Vgl. zur Begründung dieses Grundsatzes BVerfGE 20, 323 (331); Wolff, Ungeschriebenes Verfassungsrecht unter dem Grundgesetz, S. 219. 3 Vgl. zur verfassungsrechtlichen Verankerung des Schuldprinzips BVerfGE 20, 323, (331); 86, 288 [313]; 95, 96 [140]; 123, 267 (413). 4 Vgl. BVerfGE 25, 269 (285). 5 Vgl. BVerfGE 96, 245 (249); 90, 145 (173); 80, 367 (378); 57, 250 (275); 28, 386 (391); ebenso Radtke, in: Joecks/Mierbach, MüKo-StGB, Bd. 2, § 38 Rn. 14. 6 Vgl. BVerfGE 123, 267 (413). 7 Kindhäuser, Strafrecht Allgemeiner Teil, § 21 Rn. 5, beschreibt dies als „Schuld im formellen Sinne“. Vgl. ferner für das strafbegründende Element der Schuld Jescheck/ Weigend, Strafrecht Allgemeiner Teil, S. 404; Herzberg, GA 2015, 250 (252); Frister,

I. Der Schuldbegriff

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dem Täter auferlegten Strafe als strafbegrenzendes Verbrechensmerkmal und orientiert sich insoweit an der Schwere der Tat und dem vorwerfbaren Verschulden des Täters.8 Die Frage nach der eigentlichen Notwendigkeit von strafrechtlicher Schuld vermag das Schuldprinzip jedoch nicht zu beantworten. Soweit Kohlrausch konstatiert, es handele sich bei dem Schuldprinzip um eine „staatsnotwendige Fiktion“ 9, reduziert er die Funktion von Schuld auf ein strafbegründendes Minimum. Vor dem Hintergrund der Frage, warum sich der Täter normgemäß verhalten soll bzw. kann, haben sich seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert unterschiedliche Auffassungen eines materiellen Schuldbegriffs entwickelt. Diese gilt es mit Blick auf den Fortgang der Arbeit kurz zu erörtern. 1. Schuld als subjektives Element der Tathandlung Der psychologische Schuldbegriff findet seinen Ursprung in den Thesen Belings und von Liszts.10 Sowohl Beling als auch v. Liszt verstehen Schuld als Element der subjektiven Tatseite der Strafhandlung.11 Nach Beling ist Schuld „(. . .) die psychische Beziehung des Täters zu der Tat als einer tatbestandsmäßigen und rechtswidrigen Handlung“ 12. Belings Verständnis von Schuld als „psychische Fehlerhaftigkeit der Tat“ 13 erfasst nach der von ihm vertretenen Auffassung zugleich das „Bewusstsein der Rechtswidrigkeit“ 14 der Tat. Hiervon differenzierend gestaltet sich der Ansatz von Liszts. Nach seiner Auffassung sei das „Bewusstsein der Rechtswidrigkeit des Thuns (. . .) für die Annahme oder Nichtannahme der Schuld durchaus gleichgültig; Vorsatz ist anzunehmen, auch wenn dasselbe mangelt; Fahrlässigkeit auch dann, wenn der Mangel desselben nicht selbst durch Fahrlässigkeit verschuldet ist“ 15. Der von Schuldprinzip, S. 18; Radtke, in: Joecks/Mierbach, MüKo-StGB, Bd. 2, § 38 Rn. 14; Wessels/Beulke/Satzger, § 10 Rn. 398. Vgl. kritisch zu der Konzeption des Schuldprinzips Baurmann, in: Lüderssen/Sack, Seminar abweichendes Verhalten, Band IV, S. 196 ff. 8 Vgl. BVerfGE 50, 205 (215); 45, 187 (228); 28, 191 (197 f.); 25, 44 (54 f.); 6, 389 (439). 9 Vgl. Kohlrausch, FS Güterbock, S. 1 (26). Kohlrausch ist dabei der Auffassung, dass ein die individuelle Schuldzurechnung fingiert wird, da ein Schuldvorwurf anderenfalls nicht konstruierbar sei. 10 Vgl. Duru, ZJS 2012, 734 (736). 11 Vgl. Beling, Die Lehre vom Verbrechen, S. 178. Ebenso von Liszt, Lehrbuch des deutschen Strafrechts, 2. Auflage, S. 150, wenn er bei Schuld von „Vorsatz oder Fahrlässigkeit“ spricht. 12 Beling, Die Lehre vom Verbrechen, S. 180. 13 Beling, Die Lehre vom Verbrechen, S. 180. 14 Beling, Die Lehre vom Verbrechen, S. 185. 15 von Liszt, Lehrbuch des Deutschen Strafrechts, 2. Auflage, S. 151.

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B. Das Unrechtsbewusstsein als Kernelement der Schuld

Liszt’sche Schuldbegriff war im Laufe der Jahre dabei mehreren Wandlungen unterworfen.16 Zuletzt versteht von Liszt die Schuld als (innere) „rechtlich-soziale (. . .) Missbilligung der Tat und des Täters“ 17. Die von von Liszt auf diese Weise beschriebene innere Tatseite des Täters lässt sich als antisoziale Gesinnung des Täters mit Blick auf die Gemeinschädlichkeit seines Handelns zusammenfassen.18 Im Ergebnis beschränkt sich der Schuldbegriff nach Beling und von Liszt demnach auf den Vorsatz und die Fahrlässigkeit als Teil der Schuld –19 auch wenn letzterer seine Auffassung hierüber später geändert hat. 2. Schuld als normatives Konstrukt In der Rechtsprechung und Literatur ist der normative Schuldbegriff derweilen vorherrschend.20 Der normative Schuldbegriff geht insbesondere auf die Lehre Franks zurück, wonach Schuld mit dem Begriff der Vorwerfbarkeit gleichzusetzen ist: „Schuld ist Vorwerfbarkeit, {. . .} ein verbotenes Verhalten ist jemandem dann zur Schuld anzurechnen, wenn man ihm einen Vorwurf daraus machen kann, daß er es eingeschlagen hat.“ 21

Mit dieser grundlegenden Terminierung des Schuldbegriffs hat Frank den psychologischen Schuldbegriff abgelöst und neue Maßstäbe für die Rechtsprechung gesetzt.22 Der Bundesgerichtshof beschreibt das Merkmal der Vorwerfbarkeit seither als eine Negation des rechtlichen Sollens:23 „Mit dem Unwerturteil der Schuld wird dem Täter vorgeworfen, daß er sich nicht rechtmäßig verhalte, daß er sich für das Unrecht entschieden hat, obwohl er sich rechtmäßig verhalten, sich für das Recht hätte entscheiden können. Der innere Grund des Schuldvorwurfs liegt darin, daß der Mensch auf freie, verantwortliche, sittliche Selbstbestimmung angelegt und deshalb befähigt ist, sich für das Recht und gegen das Unrecht zu entscheiden (. . .) und das rechtlich Verbotene zu vermeiden (. . .).“ 24

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Vgl. hierfür Duru, ZJS 2012, 734 (736). von Liszt, Lehrbuch des deutschen Strafrechts, 10. Auflage, S. 136. 18 Vgl. von Liszt, Lehrbuch des Deutschen Strafrechts, 26. Auflage, S. 231. 19 Vgl. von Liszt, Lehrbuch des Deutschen Strafrechts, 2. Auflage, S. 150. Vgl. für dieses Ergebnis auch Safferling, Vorsatz und Schuld, S. 34; Duru, ZJS 2012, 734 (736). 20 Vgl. Radtke, in: Joecks/Mierbach, MüKo-StGB, Bd. 2, § 38 Rn. 22; Kindhäuser, Strafrecht Allgemeiner Teil, § 21 Rn. 7. 21 Frank, Über den Aufbau des Schuldbegriffs, S. 15. 22 Vgl. Achenbach, Historische und dogmatische Grundlagen der strafrechtssystematischen Schuldlehre, S. 101; zustimmend Kindhäuser, Strafrecht Allgemeiner Teil, § 21 Rn. 7; Fischer, StGB, Vor § 13 Rn. 47. Vgl. in diesem Zusammenhang BGHSt 2, 194. 23 Vgl. hierfür Paeffgen/Zabel, in: NK-StGB, Bd. 1, Vor § 32 Rn. 208. 24 BGHSt 2, 194 (200). 17

I. Der Schuldbegriff

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Eine Vorwerfbarkeit lässt sich mit dem normativen Schuldbegriff dann bejahen, wenn der Täter trotz der Erkenntnis(-möglichkeit) des begangenen Unrechts (kognitives Schuldelement) bei gleichzeitiger realer Steuerungsfähigkeit seines Verhaltens (voluntatives Schuldelement) gegen Strafnormen verstößt.25 3. Die Schuld als Funktion Der auf Jakobs zurückgehende funktionale Schuldbegriff verknüpft das Schuldprinzip mit einem übergeordneten Ziel zwecks Legitimation von Strafe.26 Nach Jakobs ist der Schuldbegriff ein funktionaler, „der eine Regelungsleistung nach einer bestimmten Regelungsmaxime (nach den Erfordernissen des Strafzwecks) für eine Gesellschaft bestimmter Verfassung erbringt“ 27. Die von der Strafe zu erfüllende Funktion liegt dabei in der positiven Generalprävention, die den Zweck der Strafe in der Einübung von Rechtstreue im Sinne einer allgemeinen Normanerkennung versteht.28 4. Schuld als gesellschaftlicher Diskurs Der auf Kindhäuser und Momsen zurückzuführende diskursive Schuldbegriff stellt eine Verbindung zwischen Schuld und der Legitimation von Strafnormen her.29 Laut Kindhäuser sei der Täter nicht nur Rechtsnormen unterworfen, sondern zugleich auch Autor der Rechtsnormen, an die er sich zu halten hat.30 In einer demokratisch verfassten Gesellschaft seien es nämlich gerade die autonomen Personen selbst, die Rechtsnormen als gerechten Ausgleich ihrer Interessen festlegen.31 Dementsprechend obliege es in einer pluralistischen demokratischen Gesellschaft auch dem Bürger, im Wege der Verständigung („diskursiv“) auf die Aufhebung oder Änderung von Rechtsnormen hinzuwirken.32 Bricht der Täter 25 So bereits RGSt, 73, 121 [122}; vgl. ferner Eisele, in: Schönke/Schröder, StGB, Vor § 13 Rn. 118. 26 Vgl. Jakobs, Das Schuldprinzip, S. 7; ders., Strafrecht Allgemeiner Teil, Abschn. 17 Rn. 22. 27 Jakobs, Strafrecht Allgemeiner Teil, Abschn. 17 Rn. 22. 28 Vgl. Jakobs, Strafrecht Allgemeiner Teil, Abschn. 17 Rn. 22; Joecks, in: Joecks/ Mierbach, MüKo-StGB, Bd. 1, Einleitung Rn. 74; Kindhäuser, Strafrecht Allgemeiner Teil, § 2 Rn. 14; Wessels/Beulke/Satzger, Strafrecht Allgemeiner Teil, § 13 Rn. 612a. 29 Vgl. Kindhäuser, Strafrecht Allgemeiner Teil, § 21 Rn. 9; Momsen, FS Jung, S. 569 ff. 30 Vgl. Kindhäuser, FS Hassemer, 761 (762); ders., Strafrecht Allgemeiner Teil, § 21 Rn. 9. 31 Vgl. Kindhäuser, Strafrecht Allgemeiner Teil, § 21 Rn. 9. Dem stimmt Momsen, FS Jung, S. 569 (574), zu, wenn er von der Unterwerfung des Einzelnen unter einen Gesellschaftsvertrag ausgeht. 32 Kindhäuser, FS Hassemer, S. 770 f.; ders., Strafrecht Allgemeiner Teil, § 21 Rn. 9.

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B. Das Unrechtsbewusstsein als Kernelement der Schuld

hingegen eine Norm, ohne sich vorher einer Verständigung über ihren Geltungsrahmen bemüht zu haben, so negiere er „die der Norm zugrunde liegende Verständigung“ 33 seiner Beteiligten. Sofern der Täter also eine Rechtsnorm bricht, geschieht ihm mit der Bestrafung kein Unrecht,34 da er sich eigenmächtig über die Interessen der am Diskurs Beteiligten hinweggesetzt hat.35 Dies begründe seine Schuld. 5. Zusammenfassung und Stellungnahme Die skizzierten Schuldbegriffe verfolgen unterschiedliche Ansätze. Keineswegs soll der Versuch unternommen werden, sich im Rahmen der vorliegenden Ausarbeitung auf die Richtigkeit der genannten Schuldbegriffe festzulegen. Dies ist bereits deshalb nicht möglich, weil die Begriffsansätze zum Teil korrelieren bzw. sich – nach hier vertretener Auffassung – sogar ergänzen. Dennoch sollen zumindest partiell Kritikpunkte der jeweiligen Schuldbegriffe aufgedeckt werden. Gegen den psychologischen Schuldbegriff spricht zunächst, dass er nur die subjektive Beziehung des Täters zur Tat zum Gegenstand hat – im Prinzip also nur den Vorsatz und die Fahrlässigkeit des begangenen Unrechts beschreibt.36 Der psychologische Schuldbegriff vermag keinen Aufschluss darüber zu geben, welche psychischen Beziehungen als strafrechtlich relevant anzusehen sind und warum sie Schuld begründen bzw. diese ausschließen sollen.37 Seine Schwäche liegt insbesondere darin, dass er im Falle einer fahrlässigen Handlung die mangelnde subjektive Einstellung des Täters zur Tat nicht zu erklären vermag.38 Auch bleibt ungeklärt, warum der vorsätzlich handelnde Täter, trotz evidenter psychischer Beziehung zur Tat, dann ohne Schuld handelt, wenn er geisteskrank ist (§ 20 StGB) oder sich im Notstand (§ 35 StGB) befindet.39 Ferner ist an dem psychologischen Schuldbegriff zu bemängeln, dass er Elemente des Vorsatzes und der Schuld vermengt, soweit gerade kognitive und voluntative Elemente den Schuldbegriff prägen. Zudem enthält der psychologische Schuldbegriff keine Be33 Kindhäuser, ZStW 107 (1995), 701 (725); ders., Strafrecht Allgemeiner Teil, § 21 Rn. 9. 34 Vgl. hierfür Momsen, FS Jung, S. 569 (574), wonach in diesem Fall der Grundsatz „volenti non fit iniuria“ Anwendung findet. 35 Vgl. zum Merkmal des gegenseitigen Interesses Kindhäuser, ZStW 107 (1995), 701 (725 f.), der das geschilderte Interesse mit dem Begriff einer gegenseitigen Loyalität der Normadressaten umschreibt. Sinn und Zweck der von einem Diskurs gesteuerten Normkonformität seien insbesondere die gegenseitige Wahrung und Achtung von Rechten und Rechtsgütern der Bevölkerung. 36 Vgl. Hirsch, ZStW 106 (1994), 746. 37 Vgl. Jakobs, Strafrecht Allgemeiner Teil, Abschn. 17 Rn. 6. 38 Vgl. Jakobs, Strafrecht Allgemeiner Teil, Abschn. 17 Rn. 7; zustimmend Rodenbeck, Die Berufung auf einen Verbotsirrtum als Schutzbehauptung, S. 25. 39 Vgl. Jescheck/Weigend, Strafrecht Allgemeiner Teil, S. 420.

I. Der Schuldbegriff

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gründung dafür, warum strafrechtlichen Normen Folge zu leisten ist.40 Gerade diese Begründung ist aber für die Konkretisierung der Zurechnungsregel sowie für Schuldausschließungs- und Entschuldigungsgründe von essentieller Bedeutung.41 Der (vorherrschende) normative Schuldbegriff löst die Schwächen des psychologischen Schuldbegriffs, indem er auf das menschliche Willenselement des Täters abstellt und den Schuldvorwurf damit begründet, dass der Täter zumindest hätte rechtskonform handeln können, dies im Ergebnis jedoch nicht wollte. Zudem führte der normative Schuldbegriff unter Ablösung des psychologischen Schuldbegriffs zu einer Ethisierung des Strafrechts,42 indem er dem starren Begriff der Schuld ein wertendes, an dem Gewissen des Täters orientiertes Moment einverleibt. Dabei erkennt der normative Schuldbegriff, dass Schuld auf gesellschaftlichen Ansichten über freies und verantwortliches Handeln beruht.43 Gegen den normativen Schuldbegriff könnten jedoch seinerseits (neue) Erkenntnisse der Hirnforschung sprechen. Soweit der normative Schuldbegriff die Schuld als Vorwerfbarkeit i. S. eines „Dafür-Könnens“ definiert,44 setzt dieser die Willensfreiheit des Täters voraus.45 Inwieweit natürliche Personen tatsächlich frei in ihrer Willensbildung sind, wird seit Mitte der 1980er Jahre von deterministischen Strömungen in Frage gestellt.46 Allerdings haben bislang weder der Standpunkt des Indeterminismus noch die Gegenposition des Determinismus einen wissenschaftlichen Beweis für die (mangelnde) Steuerungsfähigkeit menschlichen Verhaltens erbracht;47 für die weitere Diskussion ist daher die originäre Willensfreiheit des Täters zu unterstellen.48 40

Vgl. Kindhäuser, Strafrecht Allgemeiner Teil, § 21 Rn. 6. Vgl. Kindhäuser, Strafrecht Allgemeiner Teil, § 21 Rn. 6. 42 Vgl. Vormbaum, Einführung in die moderne Strafrechtsgeschichte, S. 1436. 43 Vgl. Kindhäuser, Strafrecht Allgemeiner Teil, § 21 Rn. 7. 44 Vgl. Jakobs, Strafrecht Allgemeiner Teil, Abschn. 17 Rn. 16. 45 Vgl. BGHSt 2, 194 (200); ebenso Fischer, StGB, Vor § 13 Rn. 8. 46 Vgl. Hirsch, ZStW 106 (1994), 746 (751 u. 763). Zu der Frage, ob menschliches Handeln willensgesteuert ist vgl. Jähnke, in: Jähnke/Laufhütte/Odersky, LK-StGB, Bd. 1, 11. Auflage, § 20 Rn. 7 f.; Jescheck, in: Jähnke/Laufhütte/Odersky, LK-StGB, Bd. 1, 11. Auflage, Vor § 13 Rn. 73. Zu den aktuellen Erkenntnissen der Hirnforschung und den hiermit verbundenen Einfluss auf den Schuldbegriff vgl. Fischer, StGB, Vor § 13 Rn. 9 f.; Spilgies, HRRS, 2005, S. 43; Hassemer, ZStW 121 (2009), 829 ff.; Seidel, NJOZ 2009, 2106 ff.; Krauß, FS Jung, S. 411 ff. Kritisch Baurmann, in: Lüderssen/ Sack, Seminar abweichendes Verhalten, Band IV, S. 196 (205). 47 Vgl. Wessels/Beulke/Satzger, Strafrecht Allgemeiner Teil, § 13 Rn. 615a; Jähnke, in: Jähnke/Laufhütte/Odersky, LK-StGB, Bd. 1, 11. Auflage, § 20 Rn. 8 f.; Joecks/Jäger, StGB-Studienkommentar, Vor § 13 Rn. 62; Reinelt, NJW 2004, 2792 (2793). 48 So auch Hillenkamp, JZ 2005, 313 (319), der dieses Ergebnis wie folgt zusammenfasst: „Dass es die Willensfreiheit nicht gibt, ist nicht erwiesen, dass es sie gibt, freilich ebenfalls nicht. Unter dem Dach eines solchen non liquet lebt das Strafrecht mit seiner Schuldtheorie schon lange.“ 41

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B. Das Unrechtsbewusstsein als Kernelement der Schuld

Dieser Zweifelssatz stellt zwar im Ergebnis die Rückkehr zur staatsnotwendigen Fiktion Kohlrauschs dar,49 da wissenschaftlich nicht belegbare Fakten suggeriert werden, um eine Strafbarkeit zu gewährleisten. Eine Abkehr von dem normativen Schuldbegriff ist jedoch mangels nachgewiesener neuro-wissenschaftlicher Erkenntnisse derzeit nicht notwendig. Es lässt sich jedoch mit Safferling zutreffend festhalten, dass über der Frage strafrechtlicher Schuld i. S. e. normativen Schuldbegriffs stets „das Damoklesschwert des endgültigen Beweises der Determiniertheit menschlichen Tuns“50 schwebe. Mit Blick auf den funktionalen und den diskursiven Schuldbegriff lassen sich ebenfalls kritische Einwände hervorbringen: So liegt die Schwäche des funktionalen Schuldbegriffs in seinem Formalismus.51 Soweit Jakobs im Rahmen der Schuld auf den Normbruch als solchen abstellt, werden die Normen des Strafrechts wie ein „Selbstzweck zu ihrem eigenen Bestand geschützt“ 52. Der Betrüger wird aber gerade nicht wegen des Verstoßes gegen die Vorschrift des § 263 StGB bestraft, sondern vielmehr, weil er das von der Rechtsordnung geschützte fremde Vermögen des Opfers nicht respektiert. Die von Jakobs geforderte Normtreue könnte dem Durchschnittsbürger die Pflicht auferlegen, auch solche Rechtsnormen zu befolgen, die den modernen demokratischen Rechtsstaat konterkarieren.53 Dies würde der Radbruch’schen Formel zuwiderlaufen, welcher sich auch das Bundesverfassungsgericht angeschlossen hat.54 Die bei Jakobs zu bemängelnde Normnaivität wird durch Kindhäusers Theorie der Diskursivität von Schuld überwunden. Für Kindhäuser stehen nämlich nicht die Norm und ihre positiv generalpräventive Funktion im Vordergrund, sondern 49

Ähnlich Joecks/Jäger, StGB-Studienkommentar, Vor § 13 Rn. 65. Safferling, Vorsatz und Schuld, S. 212. 51 Vgl. Hirsch, ZStW 106 (1994), 746 (753). 52 Hirsch, ZStW 106 (1994), 746 (753). 53 Ähnlich auch Rodenbeck, Die Berufung auf einen Verbotsirrtum als Schutzbehauptung, S. 27. 54 Nach Radbruch, SJZ 1946, 105 (107) muss „[d]er Konflikt zwischen der Gerechtigkeit und der Rechtssicherheit [. . .] dahin zu lösen sein, dass das positive, durch Satzung und Macht gesicherte Recht auch dann Vorrang hat, wenn es inhaltlich ungerecht und unzweckmäßig ist, es sei denn, dass der Widerspruch des positiven Gesetzes zur Gerechtigkeit ein so unerträgliches Maß erreicht, dass das Gesetz als unrichtiges Recht der Gerechtigkeit zu weichen hat. Es ist unmöglich, eine schärfere Linie zu ziehen zwischen den Fällen des gesetzlichen Unrechts und den trotz unrichtigen Inhalts dennoch geltenden Gesetzen; eine andere Grenzziehung aber kann mit aller Schärfe vorgenommen werden: wo Gerechtigkeit nicht einmal erstrebt wird, wo die Gleichheit, die den Kern der Gerechtigkeit ausmacht, bei der Setzung positiven Rechts bewusst verleugnet wurde, da ist das Gesetz nicht etwa nur ,unrichtiges‘ Recht, vielmehr entbehrt es überhaupt der Rechtsnatur. Denn man kann Recht, auch positives Recht, gar nicht anders definieren als eine Ordnung und Satzung, die ihrem Sinne nach bestimmt ist, der Gerechtigkeit zu dienen.“; im Anschluss daran auch BVerfGE 3, 225. Vgl. in diesem Zusammenhang auch Hirsch, ZStW 106 (1994), 746 (754). 50

II. Unrechtsbewusstsein als Gegenstand normativen Schuldverständnisses

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vielmehr die wechselseitige Loyalität ihrer Normanwender zur gesellschaftlichen Ordnung.55 Dieser – an das Naturrecht anknüpfende – Ansatz Kindhäusers ist durchaus geeignet, die Herleitung eines willensgesteuerten Schuldprinzips zu gewährleisten. Zudem gebietet ein diskursiver Schuldbegriff Kohlrauschs These von Schuld als staatsnotwendige Fiktion Einhalt, da sie das willensgesteuerte Verhalten der Normadressaten im Sinne einer „loyalen“ Anwendung des Rechts zu begründen vermag.56 Ferner schließen sich der diskursive und der normativer Schuldbegriff nicht gegenseitig aus, sondern erleben eine Synthese, wenn man davon ausgeht, dass die Willenssteuerung von der Befolgung gegenseitiger Interessen abhängig ist. Diese ergänzende Begründung zum derzeit vorherrschenden normativen Schuldbegriff bestätigt auch Kindhäuser, indem er konstatiert, dass die „wechselseitige Zuschreibung der Fähigkeit und des Willens, übernommene Bindungen einzuhalten und durchzuhalten, (. . .) das rechts- und kommunikationstheoretische Pendant zur metaphysischen Willensfreiheit“ 57 darstelle. Im Ergebnis lässt sich nach hier vertretener Auffassung ein modernes Schuldverständnis als vorwerfbare wissentliche und willentliche Verletzung von Rechten und Rechtsgütern der (Rechts-)Gemeinschaft verstehen, die durch einen gesellschaftlichen Diskurs an ihre Befolgung gebunden sind. Dabei muss der Täter das Unrecht seiner Tat erkannt und sich bewusst gegen die geltende Rechtsordnung aufgelehnt haben, obwohl ihm ein rechtmäßiges Alternativverhalten zumutbar gewesen wäre.58

II. Das Unrechtsbewusstsein als Gegenstand eines normativen Schuldverständnisses Unter Zugrundelegung des in der Rechtsprechung und Literatur vorherrschenden normativen Schuldbegriffs ergibt sich, dass Schuld mittels eines Wertungsaktes, nämlich durch das Merkmal der Vorwerfbarkeit, dem Täter zuzurechnen ist. Gleichwohl vermag das Element der Vorwerfbarkeit keine Konkretisierung dahingehend vorzunehmen, welche Voraussetzungen für die Verwirklichung der Tatschuld notwendig sind. Einigkeit besteht darin, dass Schuld zwei für sie wesentliche Voraussetzungen hat: die Möglichkeit der Unrechtseinsicht (intellektuelles Schuldelement) und die Möglichkeit des normkonformen Verhaltens (voluntatives Schuldelement).59 Diese Schuldelemente bilden im Grundsatz den 55

Vgl. Kindhäuser, ZStW 107 (1995), 701 (725 f.). Vgl. Kindhäuser, Strafrecht Allgemeiner Teil, § 21 Rn. 9. 57 Kindhäuser, ZStW 107 (1995), 701 (716). 58 Im Ergebnis ebenso Rodenbeck, Die Berufung auf einen Verbotsirrtum als Schutzbehauptung, S. 29. 59 Vgl. exemplarisch Hirsch, in: Jähnke/Laufhütte/Odersky, LK-StGB, Bd. 2, 11. Auflage, Vor § 32 Rn. 187; Paeffgen/Zabel, in: NK-StGB, Bd. 1, Vor § 32 Rn. 239; ähnlich Jakobs, Strafrecht Allgemeiner Teil, Abschn. 17 Rn. 44. Kritisch insoweit Frister, Die Struktur des „voluntativen Schuldelements“, S. 106 ff. 56

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B. Das Unrechtsbewusstsein als Kernelement der Schuld

Ausgangspunkt eines Schuldtatbestandes,60 der – neben der rechtswidrigen Erfüllung des gesetzlichen Tatbestandes – zu einer Bestrafung des Täters führt. Im Zentrum der Determinierung des Schuldtatbestandes stehen dabei die wechselseitigen Beziehungen der §§ 17, 19 bis 21 und 35 StGB, welche den Gegenstand des wissenschaftlichen Disputs über das Schuldprinzip und der praktischen Schuldzurechnung bilden.61 Aus dem Zusammenwirken dieser Vorschriften lässt sich ein aus drei Elementen bestehender Schuldbegriff entwickeln, der sich durch (1) die Schuldfähigkeit, (2) das Unrechtsbewusstsein und (3) die Zumutbarkeit rechtskonformen Handelns auszeichnet.62 Während die §§ 19–21, 35 StGB das voluntative Schuldelement erfassen, da sie dem Täter im Moment der Tatbegehung aufgrund einer individuellen geistigen Gefühlslage keine andere Wahl lassen, eine bestimmte Handlung zu begehen, soll es bei § 17 StGB um das intellektuelle Schuldelement gehen, da sich der Täter – vermeintlich – bewusst über ein gesetzliches Verbot hinwegsetzt. Die nachfolgenden Kapitel widmen sich dabei allein der Analyse des Unrechtsbewusstseins als einem der wichtigsten und wohl auch inhaltlich umstrittensten Elemente der Schuld. Eine Determinierung des Unrechtsbewusstseins soll für den weiteren Verlauf der Arbeit als Konstante dienen und das Verständnis für die Problematik einer defizitären Unrechtseinsicht von Wirtschaftsdelinquenten ermöglichen. Zunächst werden die historische Entwicklung und die gesetzliche Einführung des Verbotsirrtums in das Institut des Strafrechts erörtert. Im Anschluss daran wird die inhaltliche Ausprägung des Unrechtsbewusstseins – unter Bezugnahme auf seine historische Bedeutung und Entwicklung – erläutert. 1. Historische Entwicklung des Verbotsirrtums in der Gesetzgebung Die Historie des Verbotsirrtums und des damit verbundenen Unrechtsbewusstseins reicht bis in das Recht der Antike. Im Folgenden soll ein summarischer Überblick über jene Gesetze gewährt werden, die das Fehlen des Tatunrechts seither zum Gegenstand hatten. 60 Vgl. Jakobs, Strafrecht Allgemeiner Teil, Abschn. 17 Rn. 43, beschreibt den Schuldtatbestand als die „Zusammenfassung derjenigen Merkmale, die verwirklicht sein müssen, um Rechtsuntreue beim Täter ausmachen zu können, also die rechtlich fehlerhafte Motivation und die Zuständigkeit des Täters dafür (. . .).“ Vgl. ferner Jescheck, in: Jähnke/Laufhütte/Odersky, LK-StGB, Bd. 1, 11. Auflage, Vor § 13 Rn. 79; Hirsch, Die Lehre von den negativen Tatbestandsmerkmalen, S. 1 Fn. 1. Kritisch wohl Maurach/ Zipf, Strafrecht Allgemeiner Teil, Teilband 1, 8. Auflage, S. 333; sowie Paeffgen/Zabel, in: NK-StGB, Bd. 1, Vor § 32 Rn. 239. 61 Vgl. Safferling, Vorsatz und Schuld, S. 213. 62 Ähnlich Safferling, Vorsatz und Schuld, S. 213; allgemeiner Frister, JuS 2013, 1057 (1058); Kindhäuser, Strafrecht Allgemeiner Teil, § 21 Rn. 11 f.

II. Unrechtsbewusstsein als Gegenstand normativen Schuldverständnisses

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Die folgende Darstellung dient dabei vornehmlich dem Zweck, das Verständnis für eine theoretische Auseinandersetzung mit dem Begriff des Unrechtsbewusstseins zu erleichtern. Insbesondere dient ein historisches Verständnis dem noch zu erbringenden Nachweis, dass die Kenntnis einer sanktionsbewehrten Verbotsnorm den Gegenstand des Unrechtsbewusstseins bildet, wurde diese Sanktionskenntnis bereits von einigen historischen Gesetzgebern als Bedingung für die Strafbarkeit vorausgesetzt. a) Die Entwicklung im römischen Recht Bereits Aristoteles traf eine Unterscheidung zwischen dem Tatsachenirrtum („ignorantia facti“) und dem Irrtum über das Recht („ignorantia iuris“).63 Diese, der Antike entstammende Irrtumsunterscheidung setzte sich im gemeinen römischen Recht fort. Vor dem genannten Hintergrund unterschied das römische Zivilrecht zwischen beachtlichem Tatsachen- und unbeachtlichem Rechtsirrtum.64 Im Fall der Ersitzung („usucapio“) durften Rechtsirrtümer dem Irrenden nicht zum Vorteil gereichen. So heißt es exemplarisch in der Digesta 22.6.4 pr. (Pomponius im 13. Buch seines Sabinus-Kommentars): „Man sagt, daß Unkenntnis des Rechts bei der usucapio nichts nützt; daß Tatsachenirrtum nützt, steht jedoch fest.“ 65

In der Digesta 41.3.31 pr. (Pomponius im 32. Buch seines Sabinus-Kommentars) heißt es weiter: „Niemals gereicht in Fällen von usucapio ein Rechtsirrtum dem Besitzer zum Vorteil; und darum sagt Proculus, daß, wenn ein Vormund sich aus Irrtum zu Beginn eines Verkaufs oder lange Zeit nach dem Verkauf für den pupillus zum auctor gemacht hat, keine usucapio möglich ist, da ein Rechtsirrtum vorliegt.“ 66

Der Grundsatz error iuris nocet spiegelte sich auch im gemeinen Strafrecht wider.67 Denn was nach heutigem Verständnis unter das Strafrecht fällt, teilte 63 Vgl. hierfür die Darstellung bei Glandien, Der Verbotsirrtum im Ordnungswidrigkeitenrecht und Nebenstrafrecht, S. 13 m.w. N. 64 Heger, JJZG 2015, 189 (191). 65 Übersetzt nach Winkel, Error iuris nocet: Rechtsirrtum als Problem der Rechtsordnung, S. 91. Zum Original siehe D.22.6.4: „Iuris ignorantiam in usucapione negatur prodesse: facti vero ignorantiam prodesse constat.“, zitiert nach Mommsen/Krüger, Digesta Iustiniani Augusti, Band 1, S. 654. 66 Übersetzt nach Winkel, Error iuris nocet: Rechtsirrtum als Problem der Rechtsordnung, S. 93. Zum Original, siehe D.42.3.31:„Numquam in usucapionibus iuris error possessori prodest: et ideo Proculus ait, si per errorem initio venditionis tutor pupillo auctor factus sit vel post longum tempus venditionis peractum, usucapi non posse, quia iuris error est.“, zitiert nach Mommsen/Krüger, Digesta Iustiniani Augusti, Band 2, S. 522. Vgl. ausführlich zu den der Analyse von Rechtsirrtümern bei der „usucapio“ von Wächter, Die Bona Fides insbesondere bei der Ersitzung des Eigenthums, § 21 ff. 67 Heger, JJZG 2015, 189 (191).

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B. Das Unrechtsbewusstsein als Kernelement der Schuld

sich im römischen Strafrecht in ziviles Deliktsrecht einerseits und öffentliches Strafrecht andererseits.68 Zwar war im römischen öffentlichen Strafrecht nur der „dolus“ (Vorsatz) strafwürdig, jedoch stellte sich bereits damals die Frage, ob sich der Vorsatz zugleich auch auf die Widerrechtlichkeit der Tat beziehen müsse.69 Modestinus erklärt hierzu, dass derjenige, der vorsätzlich handelt, mit demjenigen, der aus Unkenntnis des Rechts ein Delikt begangen hat, gleichzusetzen sei.70 Im 6. Buch seiner Unterscheidung unter dem Titel „Über diejenigen, die wissen, und diejenigen, die nicht wissen“ bringt er dies zum Ausdruck: „Manchmal pflegt denjenigen Entschuldigung gewährt zu werden, die das ius civile durch Unkenntnis übertreten haben, vorausgesetzt, daß jemand die faktischen Umstände, nicht aber die Rechtslage nicht gekannt hat (. . .).“ 71

Auch Savignys – modernes – Verständnis des römischen Strafrechts bestätigt, dass der Grundsatz error iuris nocet seinen Ursprung im gemeinen (Straf-)Recht fand:72 „Dagegen gibt es aber Delikte, zu deren Begriff und Thatbestand der rechtswidrige Wille, also auch das Bewußtsein der Rechtsverletzung gehört, so daß in dessen Ermangelung gar kein Delict vorhanden ist. Bey diesen kann es nicht einmal einen Unterschied machen, ob der den Dolus ausschließende Irrtum durch die Umstände gerechtfertigt ist oder nicht, also auch ob er factisch oder ein Rechtsirrtum ist. (. . .) Wenn der Handelnde das Strafgesetz kennt, aber durch einen Rechtsirrtum über die strafbare Beschaffenheit seiner Handlung getäuscht wird, so ist der eben aufgestellte Satz allgemein wahr. Anders, was die Kenntnis des Strafgesetzes selbst betrifft. Diese wird bey jedem gefordert und vorausgesetzt, und ihr Mangel schließt den Dolus und die Strafbarkeit nicht aus. (. . .).“ 73

68 Winkel, Error iuris nocet: Rechtsirrtum als Problem der Rechtsordnung, S. 120. Vgl. auch die Paralleldarstellung bei Rodenbeck, Die Berufung auf einen Verbotsirrtum als Schutzbehauptung, S. 30, der hierbei zwischen „probra natura turpia“ und „probra civiliter turpia et quasi more civitatis“ unterscheidet. Während erstere natürliche Verbote seien, handele es sich bei letzteren um Normen, die einer ethischen Grundlage entbehren. 69 Vgl. Winkel, Error iuris nocet: Rechtsirrtum als Problem der Rechtsordnung, S. 120. 70 Zustimmend wohl Binding, Die Normen und ihre Übertretung, Bd. 2, S. 314 f.; a. A. Winkel, Error iuris nocet: Rechtsirrtum als Problem der Rechtsordnung, S. 122 unter Bezugnahme auf die Digesta 50,17,108 (Paulus im 4. Buch seines Ediktkommentars). 71 Zitiert und übersetzt nach Winkel, Error iuris nocet: Rechtsirrtum als Problem der Rechtsordnung, S. 121: „Nonnumquam per ignorantiam delinquentibus iuris civilis venia tribui solet, si modo rem facti quis, non iuris ignoret (. . .).“ 72 Vgl. Paralleldarstellung bei Glandien, Der Verbotsirrtum im Ordnungswidrigkeiten und Nebenstrafrecht, S. 14. 73 von Savigny, System des heutigen römischen Rechts, Bd. 3, S. 388.

II. Unrechtsbewusstsein als Gegenstand normativen Schuldverständnisses

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b) Das Verständnis des Verbotsirrtums im Sinne der mittelalterlichen Stadtrechte Wesentlich interessanter, weil differenzierter, gestaltet sich das Verständnis des Verbotsirrtums im deutschen Mittelalter. Einerseits setzte sich die These von der Unbeachtlichkeit des Rechtsirrtums in den Strafgesetzen des Mittelalters fort.74 Exemplarisch sei an dieser Stelle das Recht der freien Reichsstadt Speyer zu erwähnen, wonach die Unkenntnis von Rechtsnormen für eine Bestrafung unerheblich war: „Unkenntnis einer Rechtsnorm, die eine Handlung verbietet und mit Strafe bedroht, schloss in der Regel weder Schuld noch Strafe aus; pflegte ja doch der Rat jeglichen Gesetzgebungsakt (. . .) auf dem Ratshofe (. . .) bekannt zu geben. (. . .).“ 75

Andererseits verfolgten jedoch das Billwärder Recht sowie das Riepener Stadtrecht einen gänzlich anderen Ansatz, wonach es für eine Bestrafung gerade auf die bewusste Auflehnung gegen die geltenden Rechtsordnungen ankam. Fehlte eine bewusste Auflehnung gegen das geltende Recht infolge der Unkenntnis geltender Rechtsnormen, galt der Täter regelmäßig als entschuldigt.76 Besondere Beachtung ist in diesem Zusammenhang auch dem Nürnberger Kriminalrecht zu schenken. Dieses machte als eines der ersten mittelalterlichen Gesetzeswerke die Strafbarkeit des Täters von der Kenntnis einer Verbotsnorm im Zusammenhang mit ihrer Rechtsnatur abhängig. Das Nürnberger Kriminalrecht unterschied zwischen polizeilichen Geboten bzw. Verboten einerseits und „echten“ Verbrechen andererseits.77 Irrte sich der Täter über jene Umstände, die ein polizeiliches Ge- oder Verbot begründeten, führte dies zur Straffreiheit.78 Hingegen sollte dieser Einwand bei echten Verbrechen unbeachtlich sein.79

74 Vgl. für die Kodifikation des Verbotsirrtums im Mittelalter und der frühen Neuzeit die ausführliche Paralleldarstellungen bei Glandien, Der Verbotsirrtum im Ordnungswidrigkeitenrecht und Nebenstrafrecht, S. 15 ff.; sowie Rodenbeck, Die Berufung auf einen Verbotsirrtum als Schutzbehauptung, S. 32 ff. 75 Vgl. Harster, Das Strafrecht der freien Reichsstadt Speier, S. 39. 76 Vgl. herzu Paralleldarstellungen bei Glandien, Der Verbotsirrtum im Ordnungswidrigkeitenrecht und im Nebenstrafrecht, S. 15; sowie Rodenbeck, Die Berufung auf einen Verbotsirrtum als Schutzbehauptung, S. 32. 77 Vgl. Glandien, Der Verbotsirrtum im Ordnungswidrigkeitenrecht und Nebenstrafrecht, S. 16. 78 Vgl. Knapp, Das alte Nürnberger Kriminalrecht nach Ratsurkunden erläutert, A I 2, S. 15 f., zitiert nach Glandien, Der Verbotsirrtum im Ordnungswidrigkeitenrecht und im Nebenstrafrecht, S. 16. 79 Vgl. Knapp, Das alte Nürnberger Kriminalrecht nach Ratsurkunden erläutert, A I 2, S. 15 f., zitiert nach Glandien, Der Verbotsirrtum im Ordnungswidrigkeitenrecht und im Nebenstrafrecht, S. 16.

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B. Das Unrechtsbewusstsein als Kernelement der Schuld

Die hierbei vollzogene Unterscheidung bildet noch heute das Einfallstor für die Behandlung von Irrtümern im Bereich des Nebenstraf- und Ordnungswidrigkeitenrechts.80 c) Kodifikation der Unrechtskenntnis ab dem 19. Jahrhundert bis zum RStGB Auch die partikularistische (Straf-)Gesetzgebung des 19. Jahrhunderts behandelte die Frage uneinheitlich, inwieweit es für die Strafbarkeit auf die Kenntnis des verwirklichten Unrechts ankomme. Auf der einen Seite hatten nicht wenige Staaten des deutschen Bundes eine Vorschrift des Inhalts aufgenommen, wonach die Unkenntnis strafrechtlicher Vorschriften eine Strafbarkeit nicht ausschließe (so etwa Bayern i. d. F. von 1813 Art. 39, Sachsen 1855 Art. 95 Abs. 2; Großherzogtum Baden 1845 § 73, die Thüringischen Staaten 1852 Art. 63 Abs. 3; Sachsen-Altenburg 1841 Art. 68; Österreich 1852 § 3; Hessen 1841 Art. 41 sowie das württembergische Strafgesetzbuch).81 Auf der anderen Seite gab es Kodifikationen, die das Bewusstsein, eine unerlaubte Handlung zu begehen, als unentbehrliche Voraussetzung für die Strafbarkeit voraussetzten. So bestimmte Art. 41 des Kriminalgesetzbuches für das Königreich Hannover von 1840: „Rechtswidriger Vorsatz ist der Entschluß zu einer strafgesetzwidrigen Handlung mit dem Bewußtsein, daß die Tat unerlaubt sei. Dabei schließt weder der Wahn, was das Gesetz mit Strafe bedroht, sei nach dem Gewissen oder der Religion erlaubt gewesen, noch der Irrthum oder die Unwissenheit über die Art und Größe der Strafe, noch die Beschaffenheit des Beweggrundes oder des Endzwecks, welche den Entschluß zur That erzeugten, die Rechtswidrigkeit des Vorsatzes aus.“ 82

Auch behandelten die Entwürfe eines preußischen Strafgesetzbuches die Kenntnis über das Verbot einer Handlung uneinheitlich. Die Entwürfe bis 1843 gingen zwar einheitlich davon aus, dass mangelnde Kenntnis des Strafgesetzes die Strafbarkeit wegen eines Verbrechens niemals aufhebe,83 hingegen ergibt sich gerade aus den Abschnitten „Von dem Vorsatze und von der Fahrlässigkeit“ der Entwürfe keine entsprechende Irrtumsregelung. Allerdings sah der Entwurf von 1833 in § 103 eine Milderung der Strafe dann vor, „wenn der Verbrecher nach seinen Verhältnissen außer Stande gewesen sei, die gesetzliche Strafbarkeit seiner Handlungen kennen zu lernen (. . .)“ 84. Dies war nach 80

Vgl. hierzu ausführlicher Abschn. C.II. Vgl. BGHSt 2, 194 (199); sowie die Paralleldarstellung bei Glandien, Der Verbotsirrtum im Ordnungswidrigkeitenrecht und im Nebenstrafrecht, S. 31 ff. 82 Zitiert nach Stenglein, Sammlung der deutschen Strafgesetzbücher, Bd. 2, S. 29. 83 Vgl. Goltdammer, Die Materialien zum Strafgesetzbuche für die preußischen Staaten, Teil 1, S. 378, zitiert nach Glandien, Der Verbotsirrtum im Ordnungswidrigkeitenrecht und im Nebenstrafrecht, S. 35. 84 Zitiert nach Goltdammer, Die Materialien zum Strafgesetzbuche für die preußischen Staaten, Teil 1, S. 378. 81

II. Unrechtsbewusstsein als Gegenstand normativen Schuldverständnisses

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dem Entwurf insbesondere „ein Fall, der (. . .) bei Ausländern und unter Umständen auch bei Inländern eintreten könne“.85

Im Ergebnis enthielt jedoch das am 01. Juli 1851 in Kraft getretene Preußische Strafgesetzbuch (PStGB) keine Regelung, die den Rechtsirrtum behandelte, da der Gesetzgeber davon ausging, dass „die Gesetzeskraft nicht von der Wissenschaft Einzelner (. . .) abhänge“ 86. Das PStGB diente seinerseits als Vorlage für das Strafgesetzbuch des Norddeutschen Bundes.87 Insbesondere die territoriale Verbreitung des PStGB und die Kenntnis über seinen Inhalt unter Juristen und Laien gleichermaßen ließen einen Rückgriff auf andere Partikular-strafgesetzbücher vor dem Hintergrund einer gesamtdeutschen Lösung als weniger vorzugswürdige Lösung erscheinen.88 Da die Entwurfsverfasser so wenig wie nur möglich von dem PStGB aufgeben wollten,89 wurde der zuvor erörterte § 44 der Materialien zu einem preußischen Strafgesetzbuch zunächst in das Strafgesetzbuch für den Norddeutschen Bund transformiert. Mit dem Beitritt der süddeutschen Staaten und der Verabschiedung des Reichsstrafgesetzbuches von 1871 (RStGB),90 wurde endgültig eine Regelung über den Verbotsirrtum ausgeschlossen. Als einzige Irrtumsregelung nahm der Gesetzgeber § 59 RStGB auf: „Wenn Jemand bei Begehung einer strafbaren Handlung das Vorhandensein von Thatumständen nicht kannte, welche zum gesetzlichen Thatbestande gehören oder die Strafbarkeit erhöhen, so sind ihm diese Umstände nicht zuzurechnen. Bei der Bestrafung fahrlässig begangener Handlungen gilt diese Bestimmung nur insoweit, als die Unkenntniß selbst nicht durch Fahrlässigkeit verschuldet ist.“

d) Zwischenergebnis und Stellungnahme Der kurze historische Rückblick zeigt, dass bereits einige mittelalterliche Gesetzeswerke den Grundsatz error iurus nocet ablehnten. Insbesondere das Nürnberger Kriminalrecht nahm als eines der ersten Gesetzeswerke eine Unterscheidung zwischen polizeilichen Ge- und Verboten zu echten Verbrechen vor. Diese Unterscheidung stellt den Ausgangspunkt für die noch heute anhaltende Diskussion von Irrtümern im Nebenstraf- und Ordnungswidrigkeitenrecht dar.91 85 Zitiert nach Goltdammer, Die Materialien zum Strafgesetzbuche für die preußischen Staaten, Teil 1, S. 378. 86 Verhandlungen der ersten und zweiten Kammer über die Entwürfe des Strafgesetzbuchs für die Preußischen Staaten und des Gesetzes über die Einführung desselben, in: Schubert/Regge/Schmid/Schröder, Kodifikationsgeschichte Strafrecht, S. 455. 87 Vgl. Rüping/Jerouschek, Grundriss der Strafrechtsgeschichte, S. 84. 88 Vgl. Schubert/Regge/Schmid/Schröder, Entwurf eines Strafgesetzbuches für dem Norddeutschen Bund vom Juli 1869 und Motive zu diesem Entwurf, S. 122. 89 Vgl. Schubert, FS Gmür, S. 149 (157). 90 Rüping/Jerouschek, Grundriss der Strafrechtsgeschichte, S. 84. 91 Vgl. hierzu ausführlich Abschn. C.II.

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B. Das Unrechtsbewusstsein als Kernelement der Schuld

Bemerkenswert ist, dass das Nürnberger Kriminalrecht von der Überlegung der zunehmenden Anzahl neuer Rechtsnormen geprägt war. Die verstärkte Verrechtlichung von Ge- und Verboten führte ihrerseits zu einer schwer überschaubareren Normfülle. Diesem Umstand trug das Nürnberger Kriminalrecht mit einer (angemessenen) Irrtumsregelung Rechnung. Im Kontrast dazu stehen jene Gesetzeswerke, die eine solche Unterscheidung nicht vorsahen. Sofern einst noch Gesetzgebungsakte – wie im Fall Speyers – auf dem Ratshofe verkündet wurden, vermochte die Kenntnis strafrechtlich relevanter Handlungen vorausgesetzt werden. Allerdings erkannten nur wenige Gesetzgeber, dass dieser intellektuelle Anspruch an die Normadressaten mit Blick auf die zunehmende Normfülle nur schwerlich aufrechterhalten werden konnte. Denn ein bewusst rechtswidriges Handeln ist nur dort möglich, wo die Normkenntnis des Einzelnen ein solches Bewusstsein überhaupt zulässt – wo also die Kenntniserlangung über Strafvorschriften überhaupt möglich ist. Die hierbei aufgestellte These, dass die Fülle von Rechtsnormen eine rechtswidrige Gesetzesverletzung nur dann zulässt, wenn der Delinquente tatsächliche Kenntnis von der übertretenen Sanktionsnorm hat, wird gestützt von dem Entwurf des PStGB von 1833, wo eine Milderungsmöglichkeit dann zu erwarten sein sollte, „wenn der Verbrecher nach seinen Verhältnissen außer Stande gewesen sei, die gesetzliche Strafbarkeit seiner Handlungen kennen zu lernen“ 92. Nichtsdestotrotz entschied man sich bei der Verabschiedung des RStGB gegen die Normierung der Beachtlichkeit eines Verbotsirrtums, da der Gesetzgeber – für damalige Verhältnisse wohl zum Teil durchaus zutreffend – strafrechtliche Ge- und Verbote „für eine Selbstverständlichkeit hielt, deren Kenntnis bei jeder zu einer selbstverantwortlichen Entscheidung fähigen Person ohne Weiteres vorausgesetzt werden (. . .)“ 93 konnte. Diese Erkenntnis mag zwar zutreffend sein; vom heutigen Standpunkt aus betrachtet ist dies aber eine Frage der Vermeidbarkeit des Verbotsirrtums, nicht jedoch Gegenstand des Irrtums als solchen. 2. Die Entwicklung der Rechtsprechung seit 1871 a) Rechtsprechung des Reichsgerichts Die reichsgerichtliche Theorie zum Verbotsirrtum ist heute aufgegeben. Entgegen der Auffassung von Maurach/Zipf weckt sie jedoch nicht nur geschichtliches Interesse.94 Ihre Darstellung ist für den weiteren Gang der Arbeit von besonderer Relevanz, sodass sie hier – nicht nur der Vollständigkeit halber – zu erörtern ist. 92 Zitiert nach Goltdammer, Die Materialien zum Strafgesetzbuche für die preußischen Staaten, Teil 1, S. 378. 93 Frister, JuS 2013, 1057 (1061). 94 So Maurach/Zipf, Strafrecht Allgemeiner Teil, Teilband 1, 8. Auflage, S. 518.

II. Unrechtsbewusstsein als Gegenstand normativen Schuldverständnisses

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Das Reichsgericht unterschied bei der Behandlung des Irrtums zwischen Tatund Rechtsirrtum. Unter Tatirrtümer fasste das Reichsgericht den Irrtum über Tatumstände des gesetzlichen Tatbestandes sowie der rechtfertigenden Tatumstände zusammen, die tatsächlicher Natur waren.95 Den Rechtsirrtümern (sogenannter „strafrechtlicher Irrtum“ 96) unterfielen gemäß der reichsgerichtlichen Rechtsprechung Irrtümer über Rechtssätze.97 Der strafrechtliche Irrtum behandelte folgerichtig Fälle des Irrtums über das im Strafgesetz enthaltene Verbot, die irrige Annahme einer nicht bestehenden rechtfertigenden Norm oder den Irrtum über die rechtlichen Grenzen eines im Strafrecht geregelten Rechtfertigungsgrundes.98 Gemäß der Rechtsprechung des Reichsgerichts sollten Irrtümer über Tatsachen als vorsatzausschließende Tatirrtümer behandelt werden, wohingegen Rechtsirrtümer den Vorsatz unberührt ließen und zugleich unbeachtlich sein sollten.99 Grundlage dieser reichsgerichtlichen Rechtsprechung war auch hier der auf das gemeine Strafrecht zurückzuführende Grundsatz error iuris nocet,100 mit welchem das Reichsgericht das Erfordernis des Unrechtsbewusstseins im Rahmen der Schuld grundsätzlich verneinte.101 Eine weitere Differenzierung nahm das Reichsgericht inhaltlich für „außerstrafrechtliche“ Irrtümer vor. Zum außerstrafrechtlichen Irrtum zählte das Reichsgericht den Irrtum über diejenigen Tatumstände des gesetzlichen Tatbestandes, die in Rechtsbeziehungen und Rechtsverhältnissen außerhalb des Strafrechts bestanden.102 Hierbei handelt es sich um Rechtsmaterien, auf die das Strafrecht regelmäßig Bezug nimmt, so etwa bei dem Irrtum über die rechtlichen Grenzen eines außerhalb des Strafrechts geregelten Rechtfertigungsgrundes, dem Irrtum über normative Rechtsbegriffe oder dem Irrtum über Strafblankette ausfüllende Rechtsvorschriften.103 Bei der Behandlung des außerstrafrechtlichen Irr95

Vgl. BGHSt 2, 194 (197). Vgl. für die Begrifflichkeit BGHSt 2, 194 (198); Bülte, in: Adick/Bülte, Fiskalstrafrecht, 8. Kap. Rn. 58. 97 Vgl. BGHSt 2, 194 (197). 98 Vgl. BGHSt 2, 194 (198). 99 Vgl. Bülte, in: Adick/Bülte, Fiskalstrafrecht, 8. Kap. Rn. 58; ebenso Wessels/Beulke/Satzger, § 14 Rn. 689a; Maiwald, S. 8. Zur Unbeachtlichkeit von Rechtsirrtümern vgl. RGSt 1, 1 [2 f.]; 8, 104 (106); 12, 431 (432 f.); 23, 347 f.; 42, 26 (27), 137 (139). 100 Vgl. Tiedemann, Tatbestandsfunktionen im Nebenstrafrecht, S. 290. 101 Vgl. Kühl, in: Lackner/Kühl, StGB, § 15 Rn. 32. 102 Vgl. BGHSt 2, 194 (198). 103 Vgl. BGHSt 2, 194 (198); vertiefend hierzu Bülte, in: Adick/Bülte, Fiskalstrafrecht, 8. Kap. Rn. 58. Puppe, GA 1990, 145 (149), kritisiert und konkretisiert die getroffene Unterscheidung wie folgt: „In Wirklichkeit geht es um den Unterscheid zwischen einem Irrtum über die in Straftatbeständen enthaltenen Begriffe (sog. Strafrechtsirrtum) und einem Irrtum über die den Tatbestand erfüllenden Tatsachen, die auch durch Recht und Gesetz begründet sein können, sog. außerstrafrechtlicher Rechtsirrtum.“ 96

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B. Das Unrechtsbewusstsein als Kernelement der Schuld

tums wendete das Reichsgericht analog § 59 StGB a. F. zum Vorteil des Täters an und stellte diesen dem Tatumstandsirrtum gleich.104 Für den strafrechtlichen Irrtum verblieb es allerdings bei dem Grundsatz „error iuris criminalis nocet“ 105. Im Ergebnis lässt sich jedoch festhalten, dass die reichsgerichtliche Rechtsprechung zum außerstrafrechtlichen Irrtum erstmals den bis dahin unangefochtenen Grundsatz des error iuris nocet zumindest aufweichte. b) Beschluss des Großen Senats des Bundesgerichtshofs vom 18.03.1952 Erst der Große Senat des Bundesgerichtshofs erkannte mit der im Jahre 1952 ergangenen Grundsatzentscheidung an, dass auch schuldfähige Täter nicht notwendigerweise die Rechtswidrigkeit ihrer Handlung erkennen können und es dem Schuldprinzip zuwiderlaufe, einen Verbotsirrtum generell als unbeachtlich einzustufen.106 Der Bundesgerichtshof wandte sich mit seinem Beschluss endgültig von der vom Reichsgericht durchgeführten Differenzierung zwischen Tat- und Rechtsirrtum ab. Dabei setzt sich der Bundesgerichtshof in seiner Entscheidung mit den gegenläufigen Argumenten der Vorsatz- und Schuldtheorie auseinander und erkennt Letztere an. In der Sache schloss sich der Bundesgerichtshof der Vorinstanz des OLG Oldenburg an.107 Der Entscheidung lag folgender Sachverhalt zugrunde: Der Angeklagte, ein Rechtsanwalt, hatte, ohne ein bestimmtes Honorar zu vereinbaren, die Verteidigung einer Strafsache gegen Frau W. übernommen. In der ersten Verhandlungspause verlangte der Angeklagte von Frau W. Zahlung von 50 DM unter gleichzeitiger Androhung, die Verhandlung nicht weiter zu führen, sofern Frau W. nicht zahle. Nachdem Frau W. die Forderung des Angeklagten beglich, nötigte der Angeklagte Frau W. mit der gleichen Drohung am Folgetag, einen Honorarschein über 400 DM zu unterschreiben. Der Angeklagte ging dabei davon aus, zu diesem Vorgehen gegen Frau W. berechtigt zu sein. Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Nötigung in zwei Fällen verurteilt. In seiner Entscheidung stellte der Bundesgerichtshof zunächst fest, dass das Wort „rechtswidrig“ innerhalb des § 240 StGB nicht objektives Tatbestandsmerkmal, sondern allgemeines Verbrechensmerkmal ist. Der Bundesgerichtshof konstatierte mit Blick auf das Bewusstsein der Rechtswidrigkeit weiter: 104

Vgl. BGHSt 2, 194 (198). Tiedemann, Tatbestandsfunktionen im Nebenstrafrecht, S. 290. 106 Vgl. Frister, JuS 2013, 1057 (1061). 107 Vgl. OLG Oldenburg, NJW 1950, 795 f. In Anlehnung an die Theorien Dohnas, Hippels, Kohlrauschs, Maurachs, Webers, Welzels, Buschs und Bockelmanns, lehnt das OLG Oldenburg die bis dahin herrschende Vorsatztheorie ab und erkennt, dass „der Vorsatz nur die Kenntnis der tatsächlichen Tragweite, das Wissen und Wollen der Tat als solcher sein [kann] (. . .). Das Unrechtsbewusstsein ist nach richtiger Ansicht selbstständiges (psychologisches) Schuldelement neben dem Tatvorsatz.“ 105

II. Unrechtsbewusstsein als Gegenstand normativen Schuldverständnisses

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„Der Täter weiß, daß das, was er tut, rechtlich nicht erlaubt, sondern verboten ist. Es hat also nicht die Tatumstände, die zum gesetzlichen Tatbestand gehören, zum Gegenstand (. . .).“ 108

Der Bundesgerichtshof erklärt weiter, dass der Irrtum über das Verbot der Handlung den Irrtum über die Rechtswidrigkeit betreffe, der darauf beruhen kann, dass der Täter die Tat infolge der Nichtkenntnis oder des Verkennens der Verbotsnorm für schlechthin erlaubt oder zumindest für gerechtfertigt hielt.109 Dadurch gelangt der Bundesgerichtshof zu dem Ergebnis: „Der Irrtum über die Rechtswidrigkeit ist Verbotsirrtum.“ 110 Das Bewusstsein der Rechtswidrigkeit ist nach Auffassung des Bundesgerichtshof dabei ein „selbstständiges Schuldelement“ 111. Die Unbeachtlichkeit eines strafrechtlichen Irrtums wurde mit dieser Rechtsprechung beseitigt.112 3. Der Verbotsirrtum im Bereich der Rechtslehre – eine (dogmatische) Einordnung des Unrechtsbewusstseins Der Streit um die systematische Einordnung des Unrechtsbewusstseins gehörte auch nach der avantgardistischen Entscheidung des Bundesgerichtshofs zu den umstrittensten Fragen des Strafrechts.113 Die herrschende Literatur, die bereits vor der Plenarentscheidung die Relevanz eines Verbotsirrtums anerkannte, sah sich hierbei einer Aktualität ausgesetzt, die einen „erbitterte[n] Streit“ 114 zweier Theorien über die Einordnung des Unrechtsbewusstseins erneut entfachte – nämlich zwischen Vorsatz- und Schuldtheorie.115 a) Die Vorsatztheorie(n) Die Vorsatztheorie116 ordnet das Unrechtsbewusstsein dem Tatvorsatz zu.117 Begriffshistorisch geht die Vorsatztheorie auf das römische Recht zurück, wo108

BGHSt 2, 194, (196 f.). BGHSt 2, 194 (197). 110 BGHSt 2, 194 (197). 111 BGHSt 2, 194 (205). 112 Vgl. von Weber, JZ 1951, 260 f., mit Blick auf das Urteil des OLG Oldenburg, NJW 1950, 795 f. 113 Vgl. Maurach/Zipf, Strafrecht Allgemeiner Teil, Teilband 1, 8. Auflage, S. 516. 114 Tischler, Verbotsirrtum und Irrtum über normative Tatbestandsmerkmale, S. 108. 115 Vgl. Hruschka, FS Roxin, S. 441 (444). Vgl. zutreffend Schröder, MDR 1951, 387: „In dem Streit zwischen Vorsatz- und Schuldtheorie geht es im Letzten darum, wie und woraus sich ein persönlicher Schuldvorwurf gegen einen Menschen begründen lässt.“ 116 Die Vorsatztheorie wird auch heute noch von einer ernstzunehmenden Minderheit in der juristischen Literatur vertreten. Vgl. für entsprechende Nachweise Schmidhäuser, FS Mayer, S. 317. 117 Vgl. Schmidhäuser, FS Mayer, S. 317; Sauer, ZStW 69 (1957), 1 (11). 109

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B. Das Unrechtsbewusstsein als Kernelement der Schuld

nach der Begriff Vorsatz als „dolus“ und im Allgemeinen als „dolus malus“ (böser Vorsatz) übersetzt wurde.118 Die Vorsatztheorie gründet in der Überlegung, dass sich der Täter bewusst gegen eine Rechtsnorm auflehnt.119 Dabei handelt es sich um eine Rechtsauffassung, die Binding zum Ende des 19. Jahrhunderts – im Anschluss an Feuerbachs Theorie des psychologischen Zwanges120 – wie folgt konkretisierte: „Ohne Kenntnis des Strafgesetzes keine Schuld; ohne Bewusstsein von Art und Maass der Strafe kein Vorsatz.“ 121 Schröder vertritt in diesem Zusammenhang, dass „[e]rst die Verbindung mit dem Bewußtsein, Unrecht zu tun, (. . .) den Tatentschluss zum tauglichen Objekt eines Vorwurfs“ 122 mache. Die Vorsatztheorie entbehrt dabei jeder Unterscheidung zwischen Tat- und Rechts- bzw. zwischen Tatbestands- und Verbotsirrtum. Dabei wird die Vorsatztheorie insbesondere in zwei Spielarten unterteilt, namentlich in eine strenge und in eine eingeschränkte Vorsatztheorie. Die strenge Vorsatztheorie setzt ein aktuelles Unrechtsbewusstsein voraus, d.h. der Täter muss sich im Augenblick der Tatbegehung über die Rechtswidrigkeit seiner Handlung bewusst sein.123 Handelt der Täter ohne ein entsprechendes Wissen über die Widerrechtlichkeit seiner Tat, lässt dies den Vorsatz entfallen.124 Hingegen komme eine Strafbarkeit wegen fahrlässiger Begehungsweise in Betracht, wenn die Rechtsunkenntnis vermeidbar war und das Gesetz einen entsprechenden Fahrlässigkeitstatbestand besitzt.125 Die eingeschränkte Vorsatztheorie verlangt im Gegensatz zu ihrem „strengen“ Pendant kein aktuelles, sondern lediglich ein potenzielles Unrechtsbewusstsein.126 Danach genüge es für die Annahme eines (bösen) Vorsatzes, wenn der Täter das Bewusstsein über die Widerrechtlichkeit seiner Tat zumindest hätte haben können.127 War die potenzielle Rechtsunkenntnis vermeidbar, werde der Tä118

Vgl. Hruschka, FS Roxin, S. 441. Vgl. Krell, in: Adick/Bülte, Fiskalstrafrecht, 7. Kap. Rn. 85. 120 Hierzu ausführlicher Abschn. B.III.3.b). 121 Binding, Handbuch des Strafrechts, S. 21. 122 Schröder, MDR 1951, 387; ebenso Rittler, Lehrbuch des Österreichischen Strafrechts, Allgemeiner Teil, Bd. 1, S. 198. 123 Vgl. Maurach/Zipf, Strafrecht Allgemeiner Teil, Teilband 1, 8. Auflage, S. 520; Glandien, Der Verbotsirrtum in Ordnungswidrigkeitenrecht und Nebenstrafrecht, S. 51. Gemäß Schröder, MDR 1951, 387, stellt sich das Unrechtsbewusstseins als Teil des Vorsatzes wie folgt dar: „Wer nur vorsätzlich handelt, ohne das Bewußtsein des Verbotenseins zu haben, handelt letztlich ,blind‘; ebenso wie derjenige, der mit Sprengstoff hantiert, den er für Sägemehl hält.“ 124 Vgl. Wessels/Beulke/Satzger, Strafrecht Allgemeiner Teil, § 14 Rn. 695 f. 125 Vgl. Darstellung bei Maurach/Zipf, Strafrecht Allgemeiner Teil, Teilband 1, 8. Auflage, S. 520. 126 Vgl. Maurach/Zipf, Strafrecht Allgemeiner Teil, Teilband 1, 8. Auflage, S. 521. 119

II. Unrechtsbewusstsein als Gegenstand normativen Schuldverständnisses

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ter nach dieser Auffassung wegen vorsätzlicher Tatbegehung bestraft.128 Der einschränkende Charakter dieser Theorie zeichnet sich insbesondere dadurch aus, dass sie auf rechtsfeindliche Täter keine Anwendung findet. Nach Mezger liege eine rechtsfeindliche Gesinnung dann vor, wenn das „Fehlen des Vorsatzes im konkreten Fall ,auf einer in ihrem Ursprung falschen Auffassung über Recht und Unrecht beruht‘“ 129. b) Schuldtheorie(n) Die Schuldtheorie behandelt das Unrechtsbewusstsein als Element der Schuld und setzt sich damit in Widerspruch zu den zuvor erörterten Vorsatztheorien.130 Für den Schuldvorwurf genügt dabei – ähnlich der eingeschränkten Vorsatztheorie – ein potenzielles Unrechtsbewusstsein.131 Die Vertreter der Schuldtheorie gehen von dem Standpunkt aus, dass der Vorsatz letztlich als bloßer Handlungswille aufzufassen sei, der ausschließlich auf die Verwirklichung des objektiven Tatbestandes bezogen ist.132 Welzel meint im Anschluss an die finale Handlungslehre, dass ein Bewusstsein der Rechtswidrigkeit insbesondere bei Affekt- und Augenblicktaten ausgeschlossen sei.133 Hieraus wird geschlussfolgert, dass der Vorsatz lediglich steuernder Faktor der Handlung sei, folglich der Tatvorsatz nicht mit Wertungsmomenten im Sinne eines (potenziellen) Unrechtsbewusstseins oder sonstigen psychologischen Vorstellungen des Täters belastet werden dürfe.134 Tatsächlich spricht jedoch ein kriminalpolitisches Argument für die Schuldtheorie: Dem Straftäter soll es nicht zugutekommen, dass der Gesetzgeber im Falle eines im Sinne der Vorsatztheorie verwirklichten (Verbots-)Irrtums eine fahrlässigen Begehungsweise nicht unter Strafe gestellt hat.135 127 Vgl. Glandien, Der Verbotsirrtum im Ordnungswidrigkeitenrecht und Nebenstrafrecht, S. 53. 128 Vgl. Darstellung bei Maurach/Zipf, Strafrecht Allgemeiner Teil, Teilband 1, 8. Auflage, S. 520 f. 129 Mezger, Moderne Wege der Strafrechtsdogmatik, S. 45; ebenso ders., NJW 1951, 500 (502). 130 Vgl. Eisele, in: Baumann/Weber/Mitsch/Eisele, Strafrecht Allgemeiner Teil, S. 539; sowie Paralleldarstellung bei Maurach/Zipf, Strafrecht Allgemeiner Teil, Teilband 1, 8. Auflage, S. 522 f. 131 Vgl. Eisele, in: Baumann/Weber/Mitsch/Eisele, Strafrecht Allgemeiner Teil, S. 539. 132 Vgl. Schmidhäuser, JZ 1979, 361 (364). 133 Vgl. Welzel, Das Deutsche Strafrecht, S. 158. Die Argumentation Welzels ist vor dem Hintergrund der von ihm begründeten „finalen Handlungslehre“ konsequent, wonach die Handlung im strafrechtlichen Sinne ein vom Willen des Täters getragenes Verhalten darstellt, das einzig auf die Herbeiführung des Erfolges abzielt, vgl. hierfür ausführlich Welzel, Das Deutsche Strafrecht, S. 33 ff. 134 Vgl. Maurach/Zipf, Strafrecht Allgemeiner Teil, Teilband 1, 8. Auflage, S. 522. 135 Vgl. insoweit Tischler, Verbotsirrtum und Irrtum über normative Tatbestandsmerkmale, S. 108 m.w. N.; Maurach/Zipf, Strafrecht Allgemeiner Teil, Teilband 1, 8. Auflage, S. 522 f.

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B. Das Unrechtsbewusstsein als Kernelement der Schuld

Auch die Schuldtheorie wird in einer „eingeschränkten“ Spielart vertreten, wenn auch mit unterschiedlichen Formen und Begründungen.136 Im Ausgangspunkt stimmen die Verfechter der eingeschränkten Schuldtheorie(n) mit den Verfechtern der strengen Schuldtheorie dahingehend überein, dass das Unrechtsbewusstsein Element der Schuld und nicht des Vorsatzes sei.137 Die differierenden Auffassungen der eingeschränkten Schuldtheorie werden jedoch erst dann relevant, wenn es um die Behandlung verschiedener Irrtumskonstellationen geht.138 Unterliegt der Täter einem Verbotsirrtum139 (weiß also bspw. nicht um das Bestehen einer allgemeinen Verbotsnorm), führt dies wie bei der strengen Schuldtheorie im Falle eines mangelnden (potenziellen) Unrechtsbewusstseins zu seiner Straffreiheit.140 Selbiges Ergebnis gilt mit Blick auf einen vom Täter angenommen Erlaubnisirrtum141 (bspw. wenn der Täter die normativen Voraussetzungen eines Erlaubnissatzes verkennt).142 Der einzige Fall, in welchem die eingeschränkte Schuldtheorie von ihrem strengen Grundmodell abweicht, besteht in den Fällen des Erlaubnistatbestandsirrtums (also der irrigen Annahme einer objektiv nicht bestehenden Rechtfertigungslage),143 wobei die rechtsfolgenverweisende Variante der eingeschränkten Schuldtheorie infolge eines Ausschlusses der sogenannten „Vorsatzschuld“ als derzeit herrschend anzusehen ist.144 c) Zusammenfassende Kritik Eine umfassende kritische Würdigung der Vorsatz- und Schuldtheorien würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen und soll daher lediglich in überschaubarem Maße erfolgen. Unstreitig dürfte wohl sein, dass die Schuldtheorie in ihrer rechts136 Schmidhäuser, JZ 1979, 361 (364); Maurach/Zipf, Strafrecht Allgemeiner Teil, Teilband 1, 8. Auflage, S. 523. 137 Schmidhäuser, JZ 1979, 361 (364); Maurach/Zipf, Strafrecht Allgemeiner Teil, Teilband 1, 8. Auflage, S. 523. 138 Konkret geht es hierbei um die Unterscheidung zwischen Tatbestands-, Verbots-, Erlaubnis-, Erlaubnistatbestands- und Doppelirrtum. Vgl. für die verschiedenen Termini und ihre Voraussetzungen umfassend Schmidhäuser, JZ 1979, 361 (363) m.w. N. 139 Auch „direkter Verbotsirrtum“, vgl. ausführlich Wessels/Beulke/Satzger, § 14 Rn. 687 ff.; sowie Schmidhäuser, JZ 1979, 361 (363). 140 Vgl. Paralleldarstellung bei Maurach/Zipf, Strafrecht Allgemeiner Teil, Teilband 1, 8. Auflage, S. 523. 141 Auch „indirekter Verbotsirrtum“, vgl. ausführlich Wessels/Beulke/Satzger, § 14 Rn. 708 ff.; sowie Schmidhäuser, JZ 1979, 361 (363). 142 Vgl. Maurach/Zipf, Strafrecht Allgemeiner Teil, Teilband 1, 8. Auflage, S. 523. 143 Puppe, in: NK-StGB, Bd. 1, § 16 Rn. 124, definiert den Erlaubnistatbestandsirrtum als „eine positive Fehlvorstellung v. Vorhandensein der tatsächlichen Vorauss. eines Rechtfertigungsgrundes (. . .).“ 144 So bereits der BGH, NStZ 2012, 272 m. Anm. Engländer. Eine nähere Auseinandersetzung mit den Modellen der eingeschränkten Schuldtheorie soll im Rahmen der vorliegenden Ausarbeitung ausbleiben. Vgl. umfassend zu dem Meinungsstand bei einem Erlaubnistatbestandsirrtum Wessels/Beulke/Satzger, § 14 Rn. 694 ff.; sowie Heuchemer, JuS 2012, 795 ff. jeweils m.w. N.

II. Unrechtsbewusstsein als Gegenstand normativen Schuldverständnisses

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folgenverweisenden eingeschränkten Variante die derzeit – noch – herrschende Meinung bildet. Festzuhalten bleibt jedoch, dass trotz der Kodifizierung des § 17 StGB und der damit verbundenen gesetzgeberischen Anerkennung der Schuldtheorie145 der Streit um die Einordnung des Unrechtsbewusstseins keineswegs bloß historischer Natur ist. Die Relevanz der dogmatischen Einordnung des Unrechtsbewusstseins bleibt – wie im Verlaufe der Arbeit erörtert wird – insbesondere für die Bereiche des Neben- und Wirtschaftsstrafrechts relevant. Darüber hinaus ist die Darstellung der über die vergangenen Dekaden hervorgebrachten Argumente für ein zeitgemäßes Verständnis des Unrechtsbegriffs im Bereich des Kernstrafrechts notwendig. aa) Argumente gegen die Vorsatztheorien Die (vermeintliche) Abkehr von den Vorsatztheorien ist vornehmlich der wegweisenden Entscheidung des Bundesgerichtshofs zu verdanken, auf die bereits eingegangen wurde.146 Dabei wurden die entscheidenden Argumente, die den Anstoß zur Ablehnung der Vorsatztheorien gaben, bereits zuvor von der Literatur eingebracht. Eine bedeutende Kritik geht dabei zurück auf Welzel. Vor dem Hintergrund der von ihm begründeten finalen Handlungslehre verlange der Vorsatz stets ein aktuelles Tatbestandsbewusstsein, wohingegen für die Schuld Unrechtskenntnis genüge.147 Welzel konkretisiert seine These weiter, indem er eine Unterscheidung zwischen den Termini Bewusstsein und Wissen vornimmt: „Unser Wissen (unsere Kenntnis) umfaßt unvergleichlich viel mehr, als das, was sich augenblicklich in unserem aktuellen Bewußtseinsraum befindet. Wir ,kennen‘ die Regeln der Addition und Subtraktion auch dann, wenn wir nicht an sie denken. Zum Vorsatz aber genügt das Bewußtsein nur im strengen Sinne, d.h. die aktuelle Vorstellung oder Wahrnehmung des betreffenden Tatbestandselements.“ 148

Diesen Gedanken zugrunde gelegt, könne die Vorsatztheorie keine sachgerechten Ergebnisse erzielen, da der Täter bei Tatbegehung kein aktuelles Bewusstsein im Sinne einer Wahrnehmung der konkreten Tatbestandsmerkmale habe – dies gelte insbesondere für Rausch- und Affekttaten.149 145

Vgl. hierzu die Ausführungen Abschn. B.II.4. Vgl. hierfür ausführlich unter II.2.b). 147 Vgl. Welzel, MDR 1951, 65 (66). 148 Welzel, MDR 1951, 65 (66). Vgl. auch ders., Das Deutsche Strafrecht, S. 160. Kritisch hierzu Schröder, MDR 1951, 387 (388). 149 Vgl. Welzel, Das Deutsche Strafrecht, S. 159. Welzel schließt hierbei von den Fällen der Alltagskriminalität auf sämtliche in Betracht kommende Delikte, indem er auf die These de Boors Bezug nimmt und diese auf das gesamte Deliktssystem ausdehnt. Nach de Boor, Über motivisch unklare Delikte, S. 197, ließe „sich für die Fälle der Alltagskriminalität sagen, daß ein aktuelles Vorstellungsbild über Recht und Unrecht des Tatverhaltens im Augenblick seines Geschehens zu den ganz großen Seltenheiten gehört.“ 146

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B. Das Unrechtsbewusstsein als Kernelement der Schuld

Das wohl gewichtigste Argument gegen die (strenge) Vorsatztheorie ist jedoch ein kriminalpolitisches: Der vom Täter behauptete Einwand der Verbotsunkenntnis ließe sich oft nicht widerlegen, was weitgehende Freisprüche, die Lahmlegung der Rechtspflege oder – zu deren Vermeidung – ein unzulässiges Arbeiten mit Schuld- und Vorsatzvermutungen zur Folge hätte.150 Eine Bestrafung käme in diesen Fällen nur dann in Betracht, wenn das Delikt mit einer Fahrlässigkeitsstrafbarkeit bedroht ist.151 Auch die eingeschränkte Vorsatztheorie vermag den genannten Kritikpunkten nicht ausreichend Einhalt zu gebieten. Gegen sie kann zunächst eingewendet werden, dass der Tatbestandsvorsatz (das tatsächlich gegebene Unrechtsbewusstsein) und die Fahrlässigkeit (die Vermeidbarkeit des fehlenden Unrechtsbewusstseins) schlichtweg gleichgesetzt werden.152 Mezger versucht zwar, diesem naheliegenden Einwand dadurch entgegenzutreten, indem er eine Strafbarkeit rechtsfeindlich gesinnter Täter stets bejaht. Roxin kritisiert hieran jedoch zu Recht, dass der Bereich der Rechtsfeindlichkeit kaum zu erfassen sei.153 Ihre Unbestimmtheit mache diese Auffassung daher nicht praxistauglich. bb) Argumente gegen die Schuldtheorien Die Herangehensweise der strengen Schuldtheorie versagt hingegen bereits infolge einer einfachen Gegenüberlegung. Nach Welzel erfasse die strenge Schuldtheorie insbesondere Fälle, in denen der Täter die Verbotswidrigkeit der Handlung kannte, sich dieser jedoch zum Tatzeitpunkt nicht bewusst war. Zudem versagt die strenge Schuldtheorie auch in jenen Fällen, in denen der Täter vom Verbot seiner Handlung nichts wusste, jedoch darum hätte wissen können.154 Diese Schwächen der strengen Schultheorie korrigiert ihre eingeschränkte Spielart, der sich auch die Rechtsprechung seit BGHSt 2, 211 anschließt. Auch das kriminalpolitische Argument der strengen Schuldtheorie ist nicht stichhaltig, da ihre Heranziehung in diesem Zusammenhang rechtsstaatlich unzulässig ist und den Schuldgrundsatz unerlaubt einschränkt.155

150 Vgl. Sauer, ZStW 69 (1957), 1 (12); wohl auch Maurach/Zipf, Strafrecht Allgemeiner Teil, Teilband 1, 8. Auflage, S. 520. 151 Diesem Missstand wollte der „Gürtner-Entwurf“ durch die Einführung des Tatbestandes einer Rechtsfahrlässigkeit Einhalt gebieten, vgl. BGHSt 2, 194 (207). Vgl. auch Ansätze zur Einführung eines Fahrlässigkeitstatbestandes nach Fakhouri Gómez unter Abschn. C.II.2.b)cc). 152 Vgl. hierfür Maurach/Zipf, Strafrecht Allgemeiner Teil, Teilband 1, 8. Auflage, S. 521; ähnlich Roxin, Offene Tatbestände und Rechtspflichtmerkmale, S. 117. 153 Vgl. Roxin, Offene Tatbestände und Rechtspflichtmerkmale, S. 117. Zustimmend Maurach/Zipf, Strafrecht Allgemeiner Teil, Teilband 1, 8. Auflage, S. 521. 154 Vgl. Schröder, MDR 1951, 387 (388). 155 Vgl. Schmidhäuser, JZ 1979, 361 (367).

II. Unrechtsbewusstsein als Gegenstand normativen Schuldverständnisses

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Schmidhäuser stellt hier völlig zutreffend fest, dass kriminalpolitische Bedenken „nur dort mit Recht herangezogen [werden dürfen], wo es sich um die Auslegung eines Strafgesetzes im Rahmen des Schuldgrundsatzes handelt (. . .). Der als Verfassungssatz anerkannte Schuldgrundsatz selbst darf jedoch aufgrund kriminalpolitischer Überlegungen genauso wenig eingeschränkt werden wie andere Grundsätze gleichen Rangs (etwa der Satz ,nulla poena sine lege‘)“ 156. Ein weiterer gewichtiger Einwand gegen die strenge Schuldtheorie besteht darin, dass sie in den Fällen des Erlaubnistatbestandsirrtums zu unsachgemäßen Ergebnissen führt. Würde man der strengen Schuldtheorie in diesen Fällen folgen, würde der Irrtum über einen Lebenssachverhalt kurzerhand mit einem Irrtum über die Bewertung der gesamten Handlung gleichgestellt werden.157 Während es im ersten Fall um eine kognitive Fehleinschätzung eines Lebenssachverhalts geht, handelt es sich im zweiten Fall um eine sozialethische Falschbewertung;158 diese müssen differenziert behandelt werden. Auch hier führt die eingeschränkte Schuldtheorie in ihrer rechtsfolgenvereisenden Variante zu sachgerechteren Ergebnissen. Allerdings kann auch die eingeschränkte Schuldtheorie nicht kritiklos hingenommen werden. Sie vermag zwar auf den ersten Blick der unzulässigen Heranziehung kriminalpolitischer Bedenken Einhalt zu gebieten, indem sie unter Zugrundelegung eines sachgedanklichen Unrechtsbewusstseins dort zu Freisprüchen führt, wo diese sachlich geboten sind.159 Dabei wird jedoch verkannt, dass die hohen Anforderungen, die an eine Vermeidbarkeitsprüfung des potenziellen Unrechtsbewusstseins gestellt werden, diese „Errungenschaft“ sogleich wieder zunichtemachen.160 Folgerichtig ist auch die eingeschränkte Schuldtheorie in ihrer jetzigen Version Ausdruck eines „Angststrafrechts“. cc) Stellungnahme Sowohl Vorsatz- als auch Schuldtheorie beanspruchen stichhaltige Argumente, die es nur schwer möglich machen, sich einer der beiden Auffassungen vorbehaltlos anzuschließen. Nach Auffassung des Bundesgerichtshofs sei der Mensch „auf freie, sittliche Selbstbestimmung angelegt“ 161 und müsse daher eigenverantwortlich dafür Sorge 156

Schmidhäuser, JZ 1979, 361 (368). Vgl. Dreher, FS Heinitz, 207 (212). 158 Vgl. Dreher, FS Heinitz, 207 (212). 159 Vgl. Schmidhäuser, JZ 1979, 361 (367). 160 Ausgenommen hiervon sind freilich die Fälle des Erlaubnistatbestandsirrtums, wo es gerade zu keiner Vermeidbarkeitsprüfung kommt. 161 BGHSt 2, 194 (201). 157

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B. Das Unrechtsbewusstsein als Kernelement der Schuld

tragen, sich rechtmäßig zu verhalten. Erkennt man dieses vom Bundesgerichtshof verdeutlichte Verantwortungsprinzip als Prämisse der Strafbarkeit an, so liegt der Gedanke nahe – zumindest vor dem Hintergrund der strengen Vorsatztheorie –, das Kenntnisprinzip als Irrweg abzulehnen.162 Andererseits könne man sich jedoch auf den Standpunkt stellen, die Normkenntnis zum zentralen Gegenstand des Schuldvorwurfs zu machen. Ob dies tatsächlich zu den befürchteten Strafbarkeitslücken im Bereich des Kernstrafrechts führt, erscheint zumindest vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Sozialisation überaus zweifelhaft, erlangt doch der Einzelne im Rahmen seines Sozialisationsprozesses regelmäßig Kenntnis von gängigen gesetzlichen – konkreter: kernstrafrechtlichen – Ge- und Verboten. Diesen Ansatz zugrunde gelegt, wäre die eingeschränkte Schuldtheorie letztendlich nicht mehr als ein Ausdruck eines Angststrafrechts, welches sich tatsächlich nachteilig auf den Schuldgrundsatz auswirkt.163 Ein Rückgriff auf die Vorsatztheorie wäre in diesem Zusammenhang jedoch ebenfalls nicht praktikabel. In Betracht kommt allenfalls eine vermittelnde Auffassung, die die Prämissen beider Auffassungen einer Synthese zuführt. Diesem Anspruch versucht der weitere Verlauf der Arbeit im Rahmen eines weiterentwickelten engen Unrechtsbegriffs gerecht zu werden.164 4. Kodifikation des Verbotsirrtums i. S. v. § 17 StGB Die derzeit geltende Fassung des § 17 StGB geht auf eine Rechtsnorm des Kriegswirtschaftsrechts aus dem Jahre 1917 zurück. Wenige Tage nach Ausbruch des ersten Weltkriegs wurde ein Ermächtigungsgesetz erlassen, das den Bundesrat befähigte, während des Krieges gesetzliche Maßnahmen anzuordnen, die der wirtschaftlichen Schädigung des Bundesgebietes vorbeugen sollten.165 Hiervon ausgehend entstand das Kriegswirtschaftsrecht mit dem Ziel einer strafrechtlich gesicherten Wirtschaftssteuerung.166 Die Funktionalisierung des Strafrechts zum Zwecke der Wirtschaftspflege erwies sich dabei jedoch aus zweierlei Gründen als Herausforderung. Zum einen waren die bereits bestehenden Bewirtschaftungsgebote und -verbote mannigfaltig und daher für die Normadressaten nur schwer erkennbar.167 Zum anderen war die reichsgerichtliche Recht162 Vgl. für diese Auffassung Glandien, Der Verbotsirrtum im Ordnungswidrigkeitenrecht und Nebenstrafrecht, S. 71. 163 Im Ansatz ähnlich Schmidhäuser, JZ 1979, 361 (368). 164 Vgl. hierzu unten Abschn. B.III.3.e). 165 Vgl. Vormbaum, Einführung in die moderne Strafrechtsgeschichte, S. 147. 166 Vgl. Vormbaum, Einführung in die moderne Strafrechtsgeschichte, S. 147. 167 Heger, JJZG 2015, S. 189 (196); Vormbaum, Einführung in die moderne Strafrechtsgeschichte, S. 147.

II. Unrechtsbewusstsein als Gegenstand normativen Schuldverständnisses

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sprechung zum strafrechtlichen und außerstrafrechtlichen Rechtsirrtum zur Erfüllung des hiermit verfolgten Zwecks zu undurchschaubar.168 In der Konsequenz wurde im Januar 1917 eine Irrtumsverordnung erlassen, die für den Bereich des Kriegswirtschaftsrechts die Figur des Verbotsirrtums einführte169 und in ihrem Wortlaut dem seit dem 01.01.1975 geltenden § 17 StGB n. F. stark ähnelte.170 So lautete § 1 über die Verfolgung von Zuwiderhandlungen gegen Vorschriften über wirtschaftliche Maßnahmen: „Bei Zuwiderhandlungen gegen Vorschriften, die auf Grund (. . .) des Gesetzes (. . .) zu wirtschaftlichen Maßnahmen (. . .) ergangen sind oder noch ergehen, kann die Staatsanwaltschaft, solange die öffentliche Klage nicht erhoben ist, bei dem Gerichte die Einstellung des Verfahrens beantragen, wenn der Beschuldigte in unverschuldetem Irrtum über das Bestehen oder die Anwendbarkeit der übertretenen Vorschrift die Tat für erlaubt gehalten hat.“

Nach der wegweisenden Entscheidung des Bundesgerichtshofes am 18. März 1952 sah sich der Gesetzgeber zum Handeln gezwungen. Die von 1954 bis 1959 tagende Große Strafrechtskommission befasste sich intensiv mit der Reformierung der strafrechtlichen Irrtümer und sah sich dabei dem Streit zwischen Vorsatz- und Schuldtheorie ausgesetzt.171 In den Jahren 1962 und 1966 gab es zwei Entwürfe zwecks Kodifizierung des Verbotsirrtums; der im Jahre 1969 verabschiedete § 17 StGB entspricht diesen Entwürfen weitestgehend.172 5. Kritische Würdigung der reichsgerichtlichen Rechtsprechung vor dem Hintergrund außerkernstrafrechtlicher Bestimmungen Mit dem im Jahr 1952 gefassten Plenarbeschluss hat der Bundesgerichtshof die lange Zeit umstrittene Frage, wo das Unrechtsbewusstsein anzusiedeln sei, zu Gunsten der Schuldtheorie entschieden und dem Schuldbegriff einen normativen Wertgehalt beigemessen. Der Bundesgerichtshof hat sich dabei von den Vertretern der Vorsatztheorie abgewandt und gleichzeitig die – bereits aufgrund der für den Bereich des Kriegswirtschaftsrechts geltenden Irrtums-Verordnung bestandenen – Weichen zur Kodifizierung des Verbotsirrtums gelegt.173 Auch der Gesetzgeber hat sich 1969 mit der Kodifizierung des Verbotsirrtums in § 17 StGB der Schuldtheorie vollends angeschlossen, sodass der Streit zwi168

Ähnlich Heger, JJZG 2015, S. 189 (196). Heger, JJZG 2015, S. 189 (196). 170 RGBl. 1917, S. 58. 171 Vgl. Heger, JJZG 2015, 189 (198). 172 Vgl. Heger, JJZG 2015, 189 (198), wonach die Begrifflichkeit der „Vorwerfbarkeit“ in den vorausgegangenen Entwürfen durch den Terminus „Vermeidbarkeit“ substituiert wurde, weil dies dem Willen der Verfasser entsprach. 173 Vgl. hierzu Abschn. B.II.4. 169

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B. Das Unrechtsbewusstsein als Kernelement der Schuld

schen Vorsatz- und Schuldtheorie bei gleichzeitiger Aufgabe der reichsgerichtlichen Irrtumsrechtsprechung entschieden schien. Trotz der durchaus berechtigten Kritik an der reichsgerichtlichen Rechtsprechung geschieht ihr nach hier vertretener Auffassung Unrecht, wenn ihr auf Seiten des Bundesgerichtshofs der Vorwurf der „logischen Unmöglichkeit“ 174 gemacht wird. Die reichsgerichtliche Irrtumsdisjunktion wurde und wird auch Jahre nach dem Beschluss des Großen Senats vehement in der juristischen Literatur diskutiert. a) Ablehnung der Rechtsprechung des Reichsgerichts – Kohlrauschs Kritik am außerstrafrechtlichen Irrtum Die erste (und womöglich) gravierendste Kritik an der reichsgerichtlichen Irrtumsdisjunktion bestand darin, dass sie willkürlich sei und eine genuine Unterscheidung zwischen strafrechtlicher und außerstrafrechtlicher Materie kaum möglich mache. Es sei nur schwer erkennbar, ob der Irrtum auf einer Verkennung des Strafgesetzes oder auf der Nichtkenntnis außerstrafrechtlicher Rechtssätze beruhe.175 Kohlrausch, der dieses Problem in der Form als Erster diskutierte, erörtert die fehlende Durchführbarkeit der Theorie eines außerstrafrechtlichen Irrtums in seiner breit angelegten Kritik an der Rechtsprechung des Reichsgerichts.176 Kohlrausch ist der Auffassung, dass das Reichsgericht an der grundlegenden Bedeutung des Grundsatzes „error iuris nocet“ – wohl unnötigerweise – festhielt und sich deshalb gezwungen sah, „von diesem flachen Satze eine noch flachere Ausnahme dahin zu formulieren, dass ein nicht das Strafrecht betreffender Irrtum dem thatsächlichen Irrtum gleichzustellen sei. Irrtum über strafrechtliche Rechtssätze also wird nicht berücksichtigt, Irrtum über Sätze anderer Rechtsgebiete schließt den Dolus aus. (. . .) Trotz des Vorliegens von gegen hundert Entscheidungen fehlt bis jetzt nicht nur jede Begründung, sondern auch jeder Anhaltspunkt zu einer folgerichtigen, in sich widerspruchsfreien Anwendung des Satzes vom außerstrafrechtlichen Irrtum.“ 177

Nach einer umfassenden Analyse der reichsgerichtlichen Irrtumsrechtsprechung gelangt Kohlrausch zu dem Ergebnis, dass die Theorie des außerstrafrechtlichen Irrtums „(. . .) auf einer willkürlichen Generalisierung der im Einzelfalle übertretenen Norm, ohne einen einheitlichen Maßstab der Generalisierung anzuwenden“ 178, beruhe. 174

BGHSt 2, 194 (200). Vgl. hierzu BGHSt 2, 194 (200); Bülte, in: Adick/Bülte, Fiskalstrafrecht, 8. Kap. Rn. 58; Kuhlen, Die Unterscheidung von vorsatzausschließendem und nicht vorsatzausschließendem Irrtum, S. 361. 176 Vgl. Kohlrausch, Irrtum und Schuldbegriff im Strafrecht, S. 118 ff., 178 ff. 177 Kohlrausch, Irrtum und Schuldbegriff im Strafrecht, S. 119. 178 Kohlrausch, Irrtum und Schuldbegriff im Strafrecht, S. 178. 175

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Diesem Ergebnis schlossen sich zahlreiche Literaturstimmen an,179 was den Ausgangspunkt für die Verwerfung der Theorie eines außerstrafrechtlichen Irrtums bildete, der sich knapp 50 Jahre später auch der Bundesgerichtshof unter Berufung auf die Schuldtheorie anschloss. b) Die Befürworter der reichsgerichtlichen Rechtsprechung – die Diskussion des außerstrafrechtlichen Irrtums in neuem Gewand Trotz der ablehnenden Haltung an der Rechtsprechung des Reichsgerichts durch die Literatur und der Abkehr des Bundesgerichtshofs von dieser, erfuhr die Theorie des außerstrafrechtlichen Irrtums eine Renaissance,180 die ihren Ursprung in den frühen 1950er Jahren hatte.181 Während das Reichsgericht zwischen strafrechtlichen und außerstrafrechtlichen Irrtümern unterschied, wird die Rückkehr dieser Theorie vornehmlich vor dem Hintergrund eines Irrtums über das Vorliegen normativer Tatbestandsmerkmale182 sowie bei Blankettstrafgesetzen183 diskutiert.184 aa) Ausgangspunkt E. Mezger (1951) Mezger würdigte mit seinem Aufsatz über das „Unrechtsbewusstsein im Strafrecht“ zunächst die Entscheidung des OLG Oldenburg vom 20.06.1950,185 die BGHSt 2, 194 vorausgegangen war. Mezger befürwortet, dass die reichsgerichtliche Rechtsprechung von strafrechtlichem und außerstrafrechtlichem Rechtsirrtum durch das Urteil des OLG Oldenburg preisgegeben wurde und attestiert dem Oldenburger Urteil das „ehrliche Bestreben (. . .), in der alten Frage eine neue gerechte Entscheidung zu fin179 So exemplarisch Dohna, Recht und Irrtum, S. 26 f., der sich Kohlrausch anschließt und an der Rechtsprechung des Reichsgerichts kritisiert, „daß ,Tatbestand‘ und ,Verbotsirrtum‘ reziproke Begriffe sind, und ein Irrtum über das eine ebenso gut als Irrtum über das andere aufgefaßt werden kann und doch auch wieder nicht aufgefaßt zu werden braucht, so daß über die Einordnung in diese oder jene Kategorie letzten Endes das Taktgefühl des Richters entscheidet“. 180 Vgl. Tischler, Verbotsirrtum und Irrtum über normative Tatbestandsmerkmale, S. 321 ff.; ebenso Bettendorf, Der Irrtum bei den Urkundendelikten, S. 194 ff. 181 Auch die Kritiker der reichsgerichtlichen Rechtsprechung warnten davor, die Abkehr von dieser als gänzlich kritiklos hinzunehmen. So kritisierte Kaufmann, Das Unrechtsbewusstsein in der Schuldlehre des Strafrechts, S. 29, diesen Umstand wie folgt: „Über die Mängel dieser Rechtsprechung war man sich seit langem fast ausnahmslos einig, nicht aber ist man es heute über den neuen Weg.“ 182 Vgl. hierzu ausführlich Abschn. B.II.5. 183 Vgl. hierzu ausführlich Abschn. C.II. 184 Ähnlich Neumann, FS Puppe, S. 171 (181), der hierbei von der Diskussion über institutionelle Tatsachen spricht. 185 OLG Oldenburg, NJW 1950, 795 ff. Vgl. zum Inhalt unter Fn. 107.

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B. Das Unrechtsbewusstsein als Kernelement der Schuld

den“ 186. Dabei vertritt Mezger die Auffassung, dass das Urteil des OLG Oldenburg das Unrechtsbewusstsein fälschlicherweise als Schuldelement kategorisiere. Nach Mezger gehöre „dieses Unrechtsbewusstsein (. . .) zum Vorsatz“187. Das Urteil des OLG Oldenburg nahm die Literatur zum Anlass, die reichsgerichtliche Irrtumsdisjunktion in neuem Gewand – vornehmlich vor dem Hintergrund des Irrtums über normative Tatbestandsmerkmale – wieder zu aufleben zu lassen.188 bb) Die Einzelfallgerechtigkeit des Reichsgerichts nach H. Mayer (1952) Unmittelbar an die Leitentscheidung des Bundesgerichtshofs schließt sich eine kritische Würdigung Mayers aus demselben Jahr an, wonach der Bundesgerichtshof mit seinem Plenarbeschluss die reichsgerichtliche Rechtsprechung lediglich fortgeführt habe: „Der Beschluss bestätigt den Kernsatz der reichsgerichtlichen Rechtsprechung, daß der Verbotsirrtum den Vorsatz (oder auch die Schuld) nicht beseitigt. (. . .) [I]n Wahrheit hat das RG doch immer nur zwischen rechtlichem, auch strafrechtlichem Sachverhaltsirrtum einerseits und Verbotsirrtum andererseits korrekt unterschieden.“ 189

Nach Mayer tausche der Bundesgerichtshof lediglich die zuvor getroffene Unterscheidung zwischen strafrechtlichem Irrtum und außerstrafrechtlichem Irrtum mit den Begrifflichkeiten „rechtlicher Sachverhaltsirrtum“ und „Verbotsirrtum“ aus.190 Mayer lehnt eine Veränderung der Rechtsprechung daher ab und ist der Auffassung, dass die reichsgerichtliche Rechtsprechung in der Sache beibehalten werden müsse,191 sie müsse jedoch besser formuliert werden.192 Vor allem lehnt sich Mayer gegen Kohlrauschs Willkürvorwurf 193 gegenüber der reichsgerichtlichen Rechtsprechung auf. Gemäß Mayer habe sich die reichsgerichtliche Irrtumsrechtsprechung durch ihre korrekte Methodik ausgezeichnet, „indem sie jeweils den besonderen Sinn des einzelnen Tatbestandes zu ermitteln suchte“ 194, welcher 186

Mezger, NJW 1951, 500 (502). Mezger, NJW 1951, 500 (502). 188 Vgl. zu dem Streit zwischen Vorsatz- und Schuldtheorie ausführlicher Abschn. B.II.3. 189 Mayer, MDR 1952, 392. 190 Vgl. Mayer, MDR 1952, 392 (393). 191 Vgl. Mayer, MDR 1952, 392 (393). Dieser Kritik schloss sich G. Köhler, Gewissensirrtum und beachtlicher Verbotsirrtum unter besonderer Berücksichtigung der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes, S. 120, an, indem er ausführt, dass der Bundesgerichtshof „die Rechtsprechung des Reichsgerichts hinsichtlich der Unterscheidung von strafrechtlichem und außerstrafrechtlichem Rechtsirrtum der Sache nach fortgeführt und sie terminologisch weiter entwickelt“ habe. 192 Mayer, Strafrecht Allgemeiner Teil, S. 257. 193 Kohlrausch, Irrtum und Schuldbegriff im Strafrecht, S. 178. 194 Mayer, MDR 1952, 392 (394). 187

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seinerseits den eigentlichen strafrechtlichen Vorwurf rechtfertigte. Dass dies bei der Abgrenzung von Tatbestands- und Verbotsirrtum nicht anhand eines allgemein gültigen Kriteriums erfolgen konnte, sei Konsequenz dieser methodisch allein zulässigen Vorgehensweise des Reichsgerichts.195 cc) Außertatbestandliche Merkmale – Auffassungen vor dem Hintergrund normativer Tatbestandsmerkmale und institutioneller Tatsachen Während die Ansichten von Mayer und Mezger noch von dem Streit um die Vorsatz- und Schuldtheorie geprägt waren, haben sich in der Literatur Auffassungen gebildet, die den außerstrafrechtlichen Irrtum bei gleichzeitiger Anerkennung der Schuldtheorie zu erklären versuchten. Diesen ist gemeinsam, dass sie Irrtümer behandeln, die sich auf solche Tatbestandsmerkmale beziehen, die einer strafrechtrechtsfremden Wertung unterliegen. Bei diesen wertungsausfüllungsbedürftigen, normativen Tatbestandsmerkmalen 196 genügt es für die Annahme des tatbestandlichen Vorsatzes gemäß der herrschenden Rechtsprechung,197 wenn der Täter den rechtlich-sozialen Bedeutungsinhalt erfasst, mithin eine korrekte „Parallelwertung in der Laiensphäre“ 198 vornimmt. Den Ausgangspunkt für eine Wiederbelebung der reichsgerichtlichen Irrtumsrechtsprechung bildet dabei Tiedemanns Habilitationsschrift zu den „Tatbestandsfunktionen im Nebenstrafrecht“, welche die Unterscheidung zwischen strafrechtlichem und außerstrafrechtlichem Irrtum nach Jahren des Stillstandes wieder diskussionswürdig machte.199 Dies nahmen gewichtige Literaturstimmen 195 Vgl. für ein solches Verständnis die Paralleldarstellung bei Tischler, Verbotsirrtum und Irrtum über normative Tatbestandsmerkmale, S. 191. 196 Vgl. für eine umfassende Erörterung des Streitstandes über den Inhalt normativer Tatbestandsmerkmale Kuhlen, Die Unterscheidung von vorsatzausschließendem und nichtvorsatzausschließendem Irrtum, S. 183 ff. 197 Vgl. nur BVerfGE 113, 273 (302 f.); NJW 2011, 3020 (3022); BGHSt 3, 248 (255); 4, 347 (352); 40, 125 (137). 198 BGHSt 3, 248 hat die Lehre von der „Parallelwertung in der Laiensphäre“ erstmals rezipiert. Nach Roxin, Strafrecht Allgemeiner Teil, Bd. I, § 12 Rn. 101, bedeutet das geistige Verstehen, das den Vorsatz bezüglich normativer Tatbestandsmerkmale kennzeichnet, nicht eine exakte juristische Subsumtion unter die vom Gesetz beschriebenen Tatbestandsmerkmale. Ausreichend für den Vorsatz sei nach der Parallelwertungslehre vielmehr, dass sich der Bedeutungsgehalt des in dem normativen Tatbestandsmerkmal inkriminierten Vorgangs dem Täterverständnis zumindest erschließt. Vgl. hierzu auch Puppe, NK-StGB, Bd. 1, § 16 Rn. 45 m.w. N. 199 Insbesondere attestiert Tiedemann, Tatbestandfunktionen im Nebenstrafrecht, S. 297, der reichsgerichtlichen Irrtumsunterscheidung unter Bezugnahme auf Dohna, Recht und Irrtum, S. 26, einen „berechtigten Kern“. Danach komme es bei der Behandlung des Irrtums über normative Tatbestandsmerkmale allein darauf an, ob der gegenständliche Rechtssatz eine „imperativistische Wirkung“ entfalte. Normativen Tatbestandsmerkmalen werde hingegen eine solche Bestimmungsfunktion nicht zuteil; diese seien vielmehr beschreibend und entfalten daher dieselbe Wirkung wie Tatsachen. Im

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zum Anlass, den „berechtigten Kern“ 200 der reichsgerichtlichen Irrtumsdisjunktion zu belegen. (1) Herzberg und Blei im Anschluss an die reichsgerichtliche Irrtumsdisjunktion Als überzeugte Verfechter der reichsgerichtlichen Irrtumsrechtsprechung zeichnen sich Herzberg und Blei aus. Herzberg schließt sich mit der Überlegung, „daß eine so lang praktizierte Judikatur einen richtigen Kern gehabt haben muss“ 201, der Grundthese Tiedemanns und Dohnas an. Dabei haben Herzbergs und Bleis Ausführungen nicht die Unterscheidung zwischen Tatbestands- und Verbotsirrtum, sondern die Differenzierung zwischen untauglichem Versuch und Wahndelikt zum Gegenstand. Gleichwohl handelt es sich bei den Konstruktionen untauglicher Versuch und Tatbestandsirrtum einerseits sowie Wahndelikt und Verbotsirrtum andererseits um zwei Seiten derselben Medaille. Herzberg unterscheidet im Anschluss an Blei202 zwischen dem Rechtsirrtum über die Reichweite des Tatbestandes und einem solchen im Vorfeld des Tatbestandes.203 Der Rechtsirrtum über die Reichweite des Tatbestandes führe zur Annahme eines Wahndelikts204 – anders gewendet zu einem Verbotsirrtum – und sei nicht vorsatzrelevant. Hingegen betreffe der Irrtum im Vorfeld des Tatbestandes sogenannte Verweisungsbegriffe, welche ihrerseits an außerstrafrechtliches Recht anknüpfen.205 Als Beispiel für einen solchen Verweisungsbegriff führt Herzberg das Tatbestandsmerkmal Fremd in § 246 StGB an. Mit dem Merkmal Fremd binde der Gesetzgeber das (akzessorische) Strafrecht – bereits im Vorfeld – an außertatbestand-

Ergebnis will Tiedemann einen Verbotsirrtum nur im Falle des Irrtums über die „konkrete Sollensnorm“ annehmen und den Irrtum über „abstrakte Rechtssätze [. . .] sonstige Bewertungsmaßstäbe, aber auch die unrichtige Herstellung der notwendigen Verbindung derselben (,Subsumtion‘) zu dem konkreten Normbefehl“ als vorsatzausschließenden Irrtum behandeln. Siehe hierfür Tiedemann, Tatbestandsfunktionen im Nebenstrafrecht, S. 297 f., 328 sowie die ausführliche Paralleldarstellung bei Tischler, Verbotsirrtum und Irrtum über normative Tatbestandsmerkmale, S. 321 ff. Vgl. ferner zu Tiedemanns Auffassung über die Behandlung des Irrtums im Neben- und Wirtschaftsstrafrecht Abschn. C.II.2.b)aa). 200 Tiedemann, Tatbestandfunktionen im Nebenstrafrecht, S. 297, mit Bezug auf Dohna, Recht und Irrtum, S. 26. 201 Herzberg, JuS 1980, 469 (473). 202 Vgl. ausführlich zu der Auffassung von Blei, JA 1973, 601 (604). 203 Vgl. Herzberg, JuS 1980, 469 (472). 204 Vgl. Herzberg, JuS 1980, 469 (472). 205 Vgl. Herzberg, JuS 1980, 469 (472 f.).

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liches Recht,206 konkret an Vorschriften des bürgerlichen Rechts. Irrtümer in diesem Vorfeldbereich qualifiziert Herzberg als vorsatzrelevante Tatbestandsirrtümer: „Soweit der belastende Rechtsirrtum des Täters den Verweisungsbereich, das rechtliche Vorfeld, betrifft, begründet er den Vorsatz (. . .).“ 207

Die von Herzberg vertretene Theorie der Verweisungsbegriffe weist hierbei starke Ähnlichkeit zur reichsgerichtlichen Irrtumsrechtsprechung auf, welcher er sich im Ergebnis auch anschließt.208 (2) Burkhardt – institutionelle und natürliche Tatsachen Burkhardt verfolgt hingegen einen anderen Ansatz mit Blick auf die Behandlung von Irrtümern über normative Tatbestandsmerkmale. Nach seiner Konzeption sei ein Wahndelikt immer dann anzunehmen, wenn sich die Fehlvorstellung auf das Vorliegen institutioneller Tatsachen beziehe.209 Dabei bedient sich Burkhardt zwecks Determinierung des Begriffs der institutionellen Tatsachen der Definition von Searle.210 Um das Verständnis von Burkhardts Irrtumskonzeption besser nachvollziehen zu können, ist es zwingend, Searles Idee der institutionellen Tatsachen zu erörtern. Searle konstatiert in diesem Zusammenhang: „Institutionelle Tatsachen sind (. . .) im Regelfall objektive Fakten, doch (. . .) sind sie nur aufgrund menschlicher Zustimmung oder Akzeptierung Tatsachen.“ 211

Institutionelle Tatsachen bestehen nach Searle nur innerhalb menschlicher Institutionen212 und sind daher von sogenannten rohen Tatsachen zu unterscheiden.213 Die genannten menschlichen Institutionen werden durch ein System konstitutiver Regeln geschaffen, die ihrerseits institutionelle Tatsachen schaffen.214 Dies zugrunde gelegt begründe gemäß Burkhardt nur der umgekehrte Irrtum über natürliche Tatsachen – welcher mit dem Terminus der rohen Tatsachen iden206

Vgl. Herzberg, JuS 1980, 469 (472). Herzberg, JuS 1980, 469 (473). Kritisch hierzu Burkhardt, JZ 1981, 681 (687); sowie Schlüchter, JuS 1985, 527. 208 Vgl. Herzberg, JuS 1980, S. 469 (473): „Es ist nicht zu leugnen, daß die hier (. . .) gemachte Unterscheidung Ähnlichkeiten aufweist mit der des RG zwischen ,strafrechtlichem‘ und ,außerstrafrechtlichem‘ Rechtsirrtümern (. . .). Einen Einwand kann das nicht begründen (. . .).“ 209 Vgl. Burkhardt, JZ 1981, 681 (683). 210 Vgl. Burkhardt, JZ 1981, 681 (683) mit entsprechendem Verweis auf Fn. 32, 33. 211 Searle, Wie wir die soziale Welt machen, S. 23. 212 Vgl. Searle, Wie wir die soziale Welt machen, S. 23. 213 Vgl. Searle, Die Konstruktion der gesellschaftlichen Wirklichkeit, S. 37. 214 Vgl. Searle, Die Konstruktion der gesellschaftlichen Wirklichkeit, S. 38. 207

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tisch ist – einen untauglichen Versuch.215 Umgekehrt wirke sich ein (direkter) Irrtum über das Vorliegen natürlicher Tatsachen vorsatzausschließend aus. Im Gegensatz dazu solle nach Burkhardt die rechtsirrige Annahme über das Vorliegen institutioneller Tatsachen einen umgekehrten Bedeutungsirrtum darstellen und zu einem Wahndelikt führen.216 Stellt sich der Täter hingegen irrigerweise das Ausbleiben institutioneller Tatsachen vor, führe dies im Umkehrschluss stets zur Annahme eines Verbotsirrtums. Burkhardt begründet seine These damit, die gängigen „dogmatischen Konstruktionen zu unterminieren, die zur Begründung der Versuchsstrafbarkeit herangezogen werden (. . .)“.217 Dabei wendet er sich zunächst gegen die Umkehrung der Parallelwertungslehre. Burkhardt argumentiert, dass die Annahme einer Versuchsstrafbarkeit in den Fällen des umgekehrten Bedeutungsirrtums „in schwer eingrenzbarem Umfang“ 218 ausgedehnt würde. Zum einen würden für eine solche Strafbarkeitsausdehnung keine kriminalpolitischen Gründe sprechen, da dem Gesetzgeber nicht daran gelegen ist, die Versuchsstrafbarkeit auch auf solche Fälle zu erweitern, die nicht in den strafrechtlichen Schutzbereich fallen.219 Zum anderen wendet Burkhardt gegen die Umkehrung der Parallelwertungslehre ein, dass ein umgekehrter Bedeutungsirrtum stets mit einer subjektiven Überdehnung des strafrechtlichen Schutzbereichs verbunden sei.220 In der Folge sei auch das Täterverhalten nur auf ein vermeintliches, hingegen nicht auf ein originär rechtswidriges Verhalten gerichtet, welches gerade den typischen Fall des Wahndelikts darstelle.221 Hierzu führt Burkhardt aus, dass die Extension (der Begriffsumfang respektive Anwendungsbereich) normativer Tatbestandsmerkmale von den dafür konstitutiven Rechtsnormen abhänge.222 Ein Irrtum über die konstitutive Rechtsnorm betreffe somit unweigerlich die Extension normativer Tatbestandsmerkmale und in der Konsequenz auch den Anwendungsbereich des gesetzlichen Straftatbestandes.223 Ferner wendet Burkhardt gegen Herzbergs Theorie der Verweisungsbegriffe, die im Ergebnis auf die reichsgerichtliche Differenzierung von strafrechtlichem und außerstrafrechtlichem Irrtum hinausläuft, „das Argument der prinzipiellen

215 216 217 218 219 220 221 222 223

Vgl. Burkhardt, JZ 1981, 681 (683). Vgl. Burkhardt, JZ 1981, 681 (686). Burkhardt, JZ 1981, 681 (688). Burkhardt, JZ 1981, 681 (684). Vgl. Burkhardt, JZ 1981, 681 (685). Vgl. Burkhardt, JZ 1981, 681 (686). Vgl. Burkhardt, JZ 1981, 681 (686). Vgl. Burkhardt, JZ 1981, 681 (686). Vgl. Burkhardt, JZ 1981, 681 (686).

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Substituierbarkeit“ 224 ein. Nach Burkhardt könne man nämlich jene Tatbestandsmerkmale, die Herzberg als sogenannte Verweisungsbegriffe beschreibt, mittels enumerativer Aufzählung ersetzen.225 Als Beispiel nennt Burkhardt hierfür das Tatbestandsmerkmal „eine Sache, die dem Jagdrecht unterliegt“ i. S. v. § 292 Abs. 2 Nr. 2 StGB. Dieses ließe sich durch die in § 2 Bundesjagdgesetz aufgezählten Tierarten ersetzen, wodurch das außertatbestandliche Recht zu einem Recht innertatbestandlicher Art verkehrt würde.226 Weiterhin wendet Burkhardt gegen die Theorie Herzbergs ein, dass sie eine „bedenkliche Ausweitung der Strafbarkeit“ 227 zur Folge habe. Dies resultiere insbesondere aus dem Umstand, dass besonders komplizierte Regelungsmaterien im Verweisungsbereich für den Rechtslaien eine Versuchsfalle begründen würden.228 So beispielsweise in dem Falle des Täters, der irrigerweise annimmt, steuerlich erhebliche Tatsachen i. S. d. § 370 Abs. 1 Nr. 1 AO zu verschweigen, und sich deshalb wegen des Versuchs der Steuerhinterziehung strafbar macht. (3) Haft – gegenstands- und begriffsbezogener Irrtum Hafts Konzeption von „dem gegenstandsbezogenen und dem begriffsbezogenen Irrtum“ 229 stellte ebenfalls einen Versuch dar, die reichsgerichtliche Unterscheidung von außerstrafrechtlichem und strafrechtlichem Irrtum wieder aufleben zu lassen. Auch Haft attestiert der reichsgerichtlichen Irrtumsunterscheidung „einen richtigen Kern“ 230, hält jedoch die für ihren Zweck verwendete Terminologie für verfehlt.231 Haft differenziert ebenfalls zwischen dem außerstrafrechtlichen Irrtum einerseits und dem innerstrafrechtlichen Irrtum andererseits. Während ersterer den typischen Fall des § 16 StGB beschreibt (bspw. weil der Täter mangels Kenntnis der zivilrechtlichen Konzeption von Sicherungseigentum die Fremdheit der Sache verkennt), soll letzterer Fälle des § 17 erfassen (bspw. bei der irrigen Annahme, eine homosexuelle Handlung an einem Jugendlichen sei straflos).232 Hafts Verständnis vom Tatbestandsirrtum geht dahin, dass ein Irrtum über Tatumstände solche Umstände betreffe, die außerhalb des Tatbestandes lägen.233 Er 224 Burkhardt, JZ 1981, 681 (687). Der Substituierbarkeitseinwand geht zurück auf Kohlrausch, Irrtum und Schuldbegriff, S. 179 f., mit welcher er bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts die reichsgerichtliche Theorie des außerstrafrechtlichen Rechtsirrtums zu entkräften versuchte. 225 Vgl. Burkhardt, JZ 1981, 681 (687). 226 Vgl. Burkhardt, JZ 1981, 681 (687). 227 Burkhardt, JZ 1981, 681 (687). 228 Vgl. Burkhardt, JZ 1981, 681 (687). 229 Haft, JA 1981, 281. 230 Haft, JuS 1980, 588 (590). 231 Vgl. Haft, JuS 1980, 588 (591), ders., JA 1981, 281 (284). 232 Vgl. Haft, JA 1981, 281 (284). 233 Vgl. Haft, JA 1981, 281 (284).

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schlägt daher vor, den Terminus Tatbestandsirrtum durch die Begrifflichkeit eines „gegenstandsbezogenen Irrtums“ 234 zu ersetzen. Der Begriff „Gegenstand“ erfasse dabei neben Tatsachen auch geistige Werte, Normen sowie Rechtsverhältnisse.235 Hingegen verlangt Haft den Verbotsirrtum als „begriffsbezogenen Irrtum“ zu interpretieren, weil es sich beim Verbotsirrtum um einen innersprachlichen bzw. metasprachlichen Irrtum handele, der lediglich begriffsbezogener Natur sei.236 Bei der Behandlung von Irrtümern sei also insbesondere auf den Bezugspunkt des Irrtums zu achten. Liege dieser außerhalb des (Straf-)Gesetzes, komme ein gegenstandsbezogener Irrtum in Betracht, ganz gleich, ob dieser vorsprachlicher Natur oder sprachlicher Natur sei.237 Liege der Irrtum hingegen im (Straf-)Gesetz, handele es sich um einen Irrtum begriffsbezogener Art, unabhängig davon, ob dieser Irrtum ein einzelnes Merkmal oder das gesetzliche Verbot in seiner Gänze betreffe.238 Zusammenfassend kommt Haft vor dem Hintergrund der von ihm entwickelte Irrtumskonzeption und der Behandlung von gegenstands- und begriffsbezogenem Irrtum zu folgendem Ergebnis: „[D]er gegenstandsbezogene Irrtum spielt in der außerstrafrechtlichen Welt; ihn muß das Strafrecht hinnehmen. Der begriffsbezogene Irrtum spielt in der strafrechtlichen Welt; über ihn kann das Strafrecht verfügen.“ 239

(4) Schlüchter – teleologisch reduzierte Sachverhaltssicht Auch Schlüchter lehnt in ihrer Habilitationsschrift „Irrtum über normative Tatbestandsmerkmale im Strafrecht“ die Theorie von der Parallelwertung in der Laiensphäre zur Bejahung des tatbestandlichen Vorsatzes bei normativen Tatbestandsmerkmalen ab.240 Zur Bejahung des Vorsatzes plädiert Schlüchter für eine ganzeinheitliche Betrachtungsweise.241 Der Täter müsse nach ihrer Auffassung die Verletzungsbedeutung seines Verhaltens mit Blick auf den rechtsgutbezogenen Sinn des Tatbestandsmerkmals erfasst haben.242 Demnach stellt sich das kognitive Vorsatzmoment des Täters als ein Bewusstsein dar, die Rechtsgüter des

234

Vgl. Haft, JuS 1980, 588 (591); ders., JA 1981, 281 (284). Vgl. Haft, JuS 1980, 588 (591). 236 Vgl. Haft, JuS 1980, 588 (591); ders., JA 1981, 281 (284). 237 Vgl. Haft, JA 1981, 281 (284). 238 Vgl. Haft, JA 1981, 281 (284). 239 Haft, JA 1981, 281 (285). 240 Vgl. Schlüchter, Irrtum über normative Tatbestandsmerkmale im Strafrecht, S. 104. 241 Vgl. Schlüchter, Irrtum über normative Tatbestandsmerkmale im Strafrecht, S. 78. 242 Vgl. Schlüchter, Irrtum über normative Tatbestandsmerkmale im Strafrecht, S. 116. 235

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Opfers zu verletzen oder zumindest zu gefährden.243 Dabei legt Schlüchter ihrer These einen weiten Rechtsgutbegriff zugrunde, den sie „als ein jeder von der Rechtsordnung geschützter unverzichtbarer Lebenswert auch der Allgemeinheit (. . .)“ 244 definiert. Gemäß Schlüchters rechtsgutsbezogener Betrachtungsweise werde die mangelnde Kenntnis über das Vorliegen normativer Tatbestandsmerkmale durch das Bewusstsein der Rechtsgutbezogenheit kompensiert.245 Durch das Kriterium des rechtsgutbezogenen Sinns eines Tatbestandsmerkmals sieht Schlüchter zudem eine schärfere Abgrenzung gegenüber der Theorie von der Parallelwertung in der Laiensphäre mit Blick auf die Annahme eines Tatbestands- bzw. Verbotsirrtums.246 Bei gleichzeitiger Ablehnung der Parallelwertungslehre sei das Anliegen der teleologisch-reduzierten Sachverhaltssicht Schlüchters, „aus der ,sozialen Bedeutung‘ eines Tatbestandsmerkmals die auf den Rechtsgüterschutz bezogene Komponente herauszuziehen“ 247. Zwecks der Bejahung des Tatvorsatzes schließe sich die Frage an, „ob der Täter den von dem jeweiligen Tatbestandsmerkmal bestimmten Sachverhaltsausschnitt (also dessen Extension und damit den ,Umstand‘ im Sinne des § 16 Abs. 1 S. 1 StGB) auf die rechtsgutsbezogene Komponente hin strukturiert, d.h. so weit erfaßt hat, um sich der Verwirklichung dieser Komponente („mit-“) bewußt geworden zu sein“ 248. (5) Kuhlen (1987) – statische und dynamische Verweise Kuhlen hingegen verfolgt den Ansatz, dass zwischen der Irrtumsrechtsprechung des Reichsgerichts und der des Bundesgerichtshofs eine Kontinuität bestehe.249 Wie die reichsgerichtliche Rechtsprechung unterscheidet er dabei zwischen vorsatzausschließendem und nicht vorsatzausschließendem Irrtum. Er meint, die Unbeachtlichkeit des strafrechtlichen Irrtums nach der reichsgerichtlichen Rechtsprechung resultiere aus dem Umstand, dass diesem allgemeine In-

243 Vgl. Schlüchter, Irrtum über normative Tatbestandsmerkmale im Strafrecht, S. 106. 244 Schlüchter, Irrtum über normative Tatbestandsmerkmale im Strafrecht, S. 106. 245 Vgl. Schlüchter, Irrtum über normative Tatbestandsmerkmale im Strafrecht, S. 114. 246 Vgl. Schlüchter, Irrtum über normative Tatbestandsmerkmale im Strafrecht, S. 114. 247 Schlüchter, Irrtum über normative Tatbestandsmerkmale im Strafrecht, S. 109. 248 Schlüchter, Irrtum über normative Tatbestandsmerkmale im Strafrecht, S. 109. 249 Vgl. hierzu ausführlich Kuhlen, Die Unterscheidung von vorsatzausschließendem und nicht vorsatzausschließendem Irrtum, S. 161 ff.

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teressen der staatlichen Rechtsordnung entgegenstünden.250 Insbesondere dürften die individuellen strafrechtlichen Vorstellungen des Täters nicht stets zu einer Straflosigkeit führen, da sich anderenfalls der Täter zum Quasi-Gesetzgeber aufspielen würde.251 Nach Kuhlen dürfe das Interesse des Einzelnen nicht mit dem Allgemeinheitsanspruch der strafrechtlichen Definitionsmacht in Konflikt geraten.252 Vorsatzausschließend soll nach Kuhlen deshalb nur der Irrtum über Tatsachen sowie ein solcher im außerstrafrechtlichen Bereich sein. Denn mit dem Verweis auf außerstrafrechtliche Normen bzw. durch den Gebrauch von normativen Tatbestandsmerkmalen respektive Blankettgesetzen habe der Gesetzgeber von seiner strafrechtlichen Definitionsmacht bereits ausreichend Gebrauch gemacht, sodass in diesem Fall kein Anlass für die erweiterte Schutzwürdigkeit des Allgemeininteresses mit Blick auf das außerstrafrechtliche Recht bestehe.253 Im Bereich solcher Verweisungsnormen unterscheidet Kuhlen dabei zwischen statischen und dynamischen Normierungen nach dem Kriterium der Zeitstruktur.254 Im Falle einer statischen Normierung lege der Gesetzgeber die normativen Randbedingungen bereits zum Zeitpunkt der Normsetzung fest, sodass die im Zeitpunkt des Normerlasses geltenden inhaltlichen Bestimmungen der Norm unabhängig von der Veränderung der außerstrafrechtlichen Rechtslage mithin für die Zukunft gelten.255 Der Gesetzgeber habe im Falle statischer Verweise von seiner strafrechtlichen Definitionsmacht abschließend Gebrauch gemacht.256 Ein Irrtum in diesem Bereich sei stets strafrechtlicher Natur.257 Bei sogenannten dynamischen Normierungen stellt der Gesetzgeber hingegen nicht auf die zum Zeitpunkt der Normsetzung existenten, sondern vielmehr auf jene Beurteilungsmaßstäbe und Reglementierungen ab, die zum Zeitpunkt der zu

250 Vgl. Kuhlen, Die Unterscheidung von vorsatzausschließendem und nicht vorsatzausschließendem Irrtum, S. 336 f. 251 Siehe Kuhlen mit Verweis auf Oetker, Ueber den Einfluss des Rechtsirrthums im Strafrechte, S. 25. Oetker geht davon aus an, dass „der Irrtum des einzelnen (. . .) nicht Gesetzgeber“ sein könne. 252 Vgl. Kuhlen, Die Unterscheidung von vorsatzausschließendem und nicht vorsatzausschließendem Irrtum, S. 426. 253 Vgl. Kuhlen, Die Unterscheidung von vorsatzausschließendem und nicht vorsatzausschließendem Irrtum, S. 426. 254 Vgl. ausführlich Kuhlen, Die Unterscheidung von vorsatzausschließendem und nicht vorsatzausschließendem Irrtum, S. 370. 255 Vgl. ausführlich Kuhlen, Die Unterscheidung von vorsatzausschließendem und nicht vorsatzausschließendem Irrtum, S. 369. 256 Vgl. Kuhlen, Die Unterscheidung von vorsatzausschließendem und nicht vorsatzausschließendem Irrtum, S. 371, 425 f. 257 Vgl. Kuhlen, Die Unterscheidung von vorsatzausschließendem und nicht vorsatzausschließendem Irrtum, S. 371.

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beurteilenden – strafrechtlich relevanten – Handlung bestehen.258 Im Gegensatz zu statischen Normierungen habe der Gesetzgeber im Falle dynamischer Verweise nicht abschließend von seiner strafrechtlichen Definitionsmacht Gebrauch gemacht.259 Ein Irrtum in diesem – außerstrafrechtlichen Bereich – führe laut Kuhlen zu einem Vorsatzausschluss.260 Unter Rückgriff auf die Substituierbarkeitsthese Burkhardts hält Kuhlen diese für „nur teilweise haltbar“ 261. Mit Blick auf statische Normen sei sie durchaus berechtigt, da hierbei die Ausgangsnorm und die in Bezug genommene Ausfüllungs-/Konkretisierungsvorschrift die gleiche statische Zeitstruktur haben.262 Anders gestalte sich die Substituierbarkeit hingegen bei dynamischen Normen. Diese haben aufgrund der ihnen immanenten Variablen („zeitlicher Index“) eine andere Bedeutung, was zu extensionalen Differenzen führen könne.263 Sich wandelnde rechtliche Normen respektive Beurteilungsmaßstäbe seien zwar mit Blick auf statische Normierungen ohne Einfluss, hingegen verändern sie den Anwendungsbereich dynamischer Normierungen, weil dies die „zeitliche Indexikalität dynamischer Formulierungen“ 264 mit Blick auf ihre Unabgeschlossenheit verfehle. (6) Kindhäuser – Sinn- und Wahrheitsirrtum Kindhäuser unterscheidet Irrtümer, die sich auf den sprachlichen Sinn von Ausdrücken beziehen, von solchen, die auf ihre faktischen Voraussetzungen Bezug nehmen. Im ersten Fall handele es sich um einen schuldrelevanten Rechtsirrtum, wohingegen letzterer Fälle des vorsatzausschließenden Tatirrtums betreffe.265 Für die Annahme, ob ein vorsatzrelevanter Tatsachenirrtum (§ 16 StGB) oder ein schuldrelevanter Rechtsirrtum (§ 17 StGB) vorliegt, unterscheidet Kindhäuser

258 Vgl. Kuhlen, Die Unterscheidung von vorsatzausschließendem und nicht vorsatzausschließendem Irrtum, S. 369. 259 Vgl. Kuhlen, Die Unterscheidung von vorsatzausschließendem und nicht vorsatzausschließendem Irrtum, S. 426. 260 Vgl. Kuhlen, Die Unterscheidung von vorsatzausschließendem und nicht vorsatzausschließendem Irrtum, S. 426. 261 Vgl. Kuhlen, Die Unterscheidung von vorsatzausschließendem und nicht vorsatzausschließendem Irrtum, S. 369. 262 Vgl. Kuhlen, Die Unterscheidung von vorsatzausschließendem und nicht vorsatzausschließendem Irrtum, S. 369 f. 263 Vgl. Kuhlen, Die Unterscheidung von vorsatzausschließendem und nicht vorsatzausschließendem Irrtum, S. 369. 264 Kuhlen, Die Unterscheidung von vorsatzausschließendem und nicht vorsatzausschließendem Irrtum, S. 370. 265 Vgl. Kindhäuser, GA 1990, 407.

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zwischen einem Sinn- und einem Wahrheitsirrtum.266 Sinn eines Ausdrucks sei nach Kindhäuser die „Gesamtheit der Bestandteile, die als in ihm enthalten gedacht werden“, wohingegen die Wahrheit eines Satzes davon abhängig sei, ob „die durch ihn ausgedrückte Aussage zutrifft, der durch den Satz ausgedrückte Sachverhalt also besteht“ 267. Ein sprachbezogener Sinnirrtum sei daher ein Irrtum über die Umstände, die zum gesetzlichen Tatbestand gehören; in diesem Fall handele der Täter „mit einer begrifflichen Fehlvorstellung“ 268. Ein empirischer Irrtum über die Voraussetzungen der Wahrheit des Tatbestandes liege hingegen dann vor, wenn der Täter über die Umstände irrt, die den Deliktstatbestand verwirklichen.269 Dass der empirische Irrtum über die Wahrheit des tatbestandlichen Normsatzes vorsatzrelevant sei, steht für Kindhäuser außer Frage; der sprachbezogene Sinnirrtum sei hingegen als Rechtsirrtums zu behandeln.270 Für das vorsatzrelevante Tatwissen müsse der Täter die empirischen Voraussetzungen des gesollten Verhaltens kennen, er muss demnach das nötige Wissen besitzen, um die Norm befolgen zu können.271 Um sich rechtstreu verhalten, um also ein Vermeidemotiv bilden zu können, welches dem Normsinn respektive Deliktsbefehl entspricht, müsse der Täter hinreichende Faktenkenntnis besitzen.272 Die von Kindhäuser erörterten Prämissen zugrunde gelegt, komme es nicht auf die Unterscheidung zwischen deskriptiven und normativen Tatbestandsmerkmalen an.273 Auch bei dem Vorsatz bezüglich des Vorliegens normativer Tatbestandsmerkmale komme es für ihn einzig darauf an, dass der Täter die exakte Kenntnis des Normsinns hat, um eine entsprechende Schlussfolgerung auf die Voraussetzungen des konkret gesollten Verhaltens ziehen zu können.274 Vor diesem Hintergrund sei die Theorie von der Parallelwertung in der Laiensphäre für Kindhäuser nicht nur unzulässig, sondern auch unbrauchbar.275 Es müsse nur danach gefragt werden, ob der Täter den Sinn des Tatbestandes und auch der darin enthaltenen Prädikate richtig verstanden habe, wodurch er einem dem Normsinn immanenten Gebot bzw. Verbot (Normbefehl) hätte folgen können.276

266 267 268 269 270 271 272 273 274 275 276

Vgl. Kindhäuser, GA 1990, 407 (409). Kindhäuser, GA 1990, 407 (410). Vgl. Kindhäuser, GA 1990, 407 (412). Vgl. Kindhäuser, GA 1990, 407 (412). Vgl. Kindhäuser, GA 1990, 407 (413). Vgl. Kindhäuser, GA 1990, 407 (414). Vgl. Kindhäuser, GA 1990, 407 (415). Vgl. Kindhäuser, GA 1990, 407 (409). Vgl. Kindhäuser, GA 1990, 407 (417 f.). Vgl. Kindhäuser, GA 1990, 407 (417). Vgl. Kindhäuser, GA 1990, 407 (419).

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(7) Puppe – Irrtum über institutionelle Tatsachen Auch Puppe folgt im Ergebnis der reichsgerichtlichen Irrtumsrechtsprechung. Jedoch kritisiert sie die verwendete Terminologie für die Unterscheidung von strafrechtlichem und außerstrafrechtlichem Irrtum. Nach Puppes Verständnis gehe es nämlich bei dieser Differenzierung vielmehr „um den Unterschied zwischen einem Irrtum über die in Straftatbeständen enthaltenen Begriffe (sog. Strafrechtsirrtum) und einem Irrtum über die den Tatbestand erfüllenden Tatsachen, die auch durch Recht und Gesetz begründet sein können, sog. außerstrafrechtlicher Rechtsirrtum“ 277. Für Puppe ist der vom Reichsgericht bezeichnete außerstrafrechtliche Irrtum ein solcher über rechtlich-institutionelle Tatsachen.278 Begriffstheoretisch stützt sich Puppe hierbei – wie auch schon zuvor Burkhardt – auf die Definition von Searle.279 Dabei verdinglicht Puppe den Begriff der institutionellen Tatsachen insbesondere auf Rechte und Rechtsverhältnisse.280 Puppe meint jedoch, institutionelle Tatsachen würden fälschlicherweise mit dem Begriff der normativen Tatbestandsmerkmale gleichgesetzt. Dies sei insoweit irreführend, da unter normativen Merkmalen nicht nur Rechtsverhältnisse, sondern auch andere wertende Merkmale, wie beispielsweise „grob verkehrswidrig“ in § 315 c StGB, „pornographisch“ in § 184 StGB oder „grausame oder sonst unmenschliche Gewalttätigkeiten“ in § 131 StGB, zusammengefasst werden.281 Puppe meint, es handele sich bei dem vom Reichsgericht bezeichneten strafrechtlichen Irrtum vor allem um Fälle des Subsumtionsirrtums.282 Die von Puppe vollzogene Differenzierung geht dabei auf die Natur der Tatbestandsmerkmale einerseits sowie auf das von ihr vollzogene Vorsatzverständnis andererseits zurück. Tatsachen im Sinne des gesetzlichen Tatbestandes seien nicht die Extension (Anwendungsbereich), sondern die vollständige Intension (Sinn) des gesetzlichen Tatbestandes.283 In der Konsequenz sei ein vorsätzliches Handeln des Täters dann zu bejahen, wenn er tatsächliche Kenntnis von dem Sinngehalt des Tatbestandes hat.284 277

Puppe, GA 1990, 145 (159). Puppe, GA 1990, 145 (180). 279 Vgl. zu der Definition der institutionellen Tatsachen nach Searle bereits ausführlich unter Abschn. B.II.5.b)cc)(2). 280 Vgl. Puppe, in: NK-StGB, Bd. 1, § 16 Rn. 31; Neumann, FS Puppe, S. 171 (182). 281 Vgl. Puppe, in: NK-StGB, Bd. 1, § 16 Rn. 31. 282 Vgl. Puppe, GA 1990, 145 (180). 283 Vgl. Puppe, GA 1990, 145 (149). 284 Vgl. Puppe, GA 1990, 145, erklärt hierfür einleitend: „Was der Täter wissen muß, um vorsätzlich zu handeln, ist nicht mehr und nicht weniger als der Sinn des Tatbestandes.“ 278

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Hieraus leitet Puppe ab, für die Annahme des tatbestandlichen Vorsatzes sei – sowohl bei deskriptiven wie auch bei normativen Tatbestandsmerkmalen – ihr Sinnverständnis, mithin ein Akt des geistigen Verstehens, notwendig.285 Für die Erfassung des Sinngehalts sei nicht notwendig, dass der Täter den Sachverhalt mit den Worten des gesetzlichen Tatbestandes ausdrücke.286 Vielmehr genüge es, wenn der Täter den Sachverhalt mit anderen Worten wiedergibt, die dieselben Tatsachen bezeichnen oder zumindest implizieren287 (sogenannte L-Äquivalenz)288. Zugleich konkretisiert Puppe ihre Auffassung von der Notwendigkeit einer LImplikation289, indem sie die Frage nach dem Sinnverständnis von der Natur des jeweiligen Tatbestandsmerkmals abhängig macht. Konkret stellt Puppe unterschiedliche Maßstäbe an die Sinnkenntnis von (1) rechtlich institutionellen Tatsachen, (2) Blankettgesetzen/-merkmalen, (3) gesamttatbewertenden Merkmalen und (4) Wertprädikaten als Tatbestandsmerkmale. Mit Blick auf die an dieser Stelle relevanten rechtlich-institutionellen Tatsachen setzt Puppe voraus, dass der Täter diese schlichtweg kennen müsse, um vorsätzlich zu handeln.290 Insbesondere müsse der Täter nicht um den Inhalt und die Grenzen institutioneller Tatsachen wissen, da es für die Erfassung des Sinngehaltes genüge, wenn der Täter eine Sachverhaltsbeschreibung vor Augen hat, die einen Spezialfall eines solchen Rechtsverhältnisses darstellt, welcher seinerseits den allgemeinen Fall impliziert.291 Mit dieser Argumentation lehnt Puppe die Theorie von der Parallelwertung ab, indem sie zugleich unterstellt, dass jeder geschäftsfähige Bürger regelmäßig die erforderlichen Vorstellungen über diejenigen Rechte, Rechtsverhältnisse und Institutionen besitzt, mit welchen er (regelmäßig) zu tun habe.292 Die Lehre vom Sinngehalt entkräfte zugleich die von Burkhardt vertretene Substituierbarkeitsthese. Neben ihrer Unzweckmäßigkeit würde eine Substitution des gesetzlichen Tatbestandes den Sinn des Tatbestandes, mithin Inhalt der vorsatzbegründenden Tätervorstellung, verändern.293 Der Inhalt des tat-

285

Vgl. Puppe, GA 1990, 145 (149). Vgl. Puppe, in: NK-StGB, Bd. 1, § 16 Rn. 42. 287 Vgl. Puppe, in: NK-StGB, Bd. 1, § 16 Rn. 42. 288 Vgl. Puppe, GA 1990, 145 (150): „Zwei verschieden lautende Sätze stellen genau dann den gleichen Sachverhalt dar, wenn sie unter den gleichen Bedingungen wahr bzw. falsch sind (. . .). Die Sätze sind dann L-Äquivalent. (. . .) Um den Sachverhalt zu kennen, den der aus dem Tatbestand ableitbare Satz darstellt, muß der Täter also nicht diesen Satz vorstellen, sondern lediglich einen solchen, der mit diesem L-Äquivalent ist.“ 289 Vgl. hierzu ausführlicher Puppe, GA 1990, 145 (151 f.). 290 Vgl. Puppe, GA 1990, 145 (157); dies., in: NK-StGB, Bd. 1, § 16 Rn. 46. 291 Vgl. Puppe, NK-StGB, Bd. 1, § 16 Rn. 46; dies., FS Herzberg, 275 (296). 292 Vgl. Puppe, NK-StGB, Bd. 1, § 16 Rn. 48. 293 Vgl. Puppe. GA 1990, 145 (155); dies., in: NK-StGB, Bd. 1, § 16 Rn. 145. 286

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bestandsmäßigen Vorsatzes sei aber allein vom Gesetzgeber zu bestimmen, seine Sinnveränderung sei daher unzulässig.294 (8) Herzbergs neue Konzeption Puppes Abhandlung „Tatirrtum, Rechtsirrtum, Subsumtionsirrtum“ veranlasste Herzberg dazu, seine bisherige Auffassung über sogenannte Verweisungsbegriffe zu überdenken. Herzberg meint nunmehr, die Bejahung eines vorsatzrelevanten Irrtums hänge maßgeblich von der Annahme bzw. Ablehnung eines Verbotsirrtums im konkreten Fall ab: „Nur ein Verbotsirrtum liegt vor, wenn der Täter alle das Deliktsunrecht begründenden Umstände kennt bis auf die rechtliche Mißbilligung seines Tuns, so daß ihm an Kenntnis nichts fehlt außer der Einsicht, Unrecht zu tun.“ 295

Dabei nimmt er auf Puppes Beschreibung vom tatbestandlichen Sinnverständnis Bezug.296 Auch für Herzberg lautet die Antwort auf die Frage, welches Sinnverständnis der Täter haben muss, um vorsätzlich zu handeln: „[D]ie Umstände, die zum gesetzlichen Tatbestand gehören; daß das Recht die Tat als rechtswidrig abstempelt, ist kein solcher Umstand.“ 297

Deswegen sei es nach Herzberg für die Erfassung des tatbestandlichen Sinns auch unbedeutend, ob die Widerrechtlichkeit der Tat als Tatbestands- oder Rechtswidrigkeitsmerkmal eingestuft wird.298 Aus diesem Grund seien beispielsweise die Merkmale „Eindringen“ in § 123 StGB oder „unbefugt“ i. S. v. §§ 107, 132, 132a StGB solche, die die Widerrechtlichkeit der Tat beschreiben, und daher nicht Teil des vom Täter zu erfassenden Sinngehalts.299 Solche Merkmale können zudem ungeschrieben sein (bspw. Rechtswidrigkeit bei § 212 StGB), wörtlich im Gesetzestext stehen (bspw. §§ 303, 324, 356, 284, 327 StGB; § 17 TierSchG) oder auch erst in der Definition eines Merkmals, wie im Falle des § 123 StGB bei dem Merkmal des „Eindringens“, hervortreten.300 Ein Irrtum über diese Merkmale sei stets über § 17 StGB abzuhandeln.301 Denn die rechtsirrige Überdehnung der Rechtmäßigkeiten des Handelns stelle einen Verbotsirrtum dar.302 Und genau hier will Herzberg nunmehr die Grenze zwischen dem Verbotsirrtum und dem Tatbestandsirrtum ziehen. Liegt der Irrtum des Täters gerade nicht 294 295 296 297 298 299 300 301 302

Vgl. Puppe, GA 1990, 145 (157); dies., in: NK-StGB, Bd. 1, § 16 Rn. 145. Herzberg, GA 1993, 439. Vgl. Herzberg, GA 1993, 439 (442) mit Hinweis auf Puppe, GA 1990, 145 (182). Herzberg, GA 1993, 439 (441). Vgl. Herzberg, GA 1993, 439 (443). Vgl. Herzberg, GA 1993, 439 (444). Vgl. Herzberg, GA 1993, 439 (450). Vgl. Herzberg, GA 1993, 439 (444). Vgl. für dieses Ergebnis Herzberg, GA 1993, 439 (445 f.).

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darin verborgen, dass er die von ihm begangene Tat als widerrechtlich einstuft, obwohl er Kenntnis von den unrechtsrelevanten Umständen hat, liege ein Verbotsirrtum vor. Fehle dem Täter hingegen die Kenntnis von unrechtsrelevanten Umständen, geht er davon aus, dass er die Befugnis zu einem entsprechenden Handeln hätte.303 Einen solchen Irrtum, der nicht die Widerrechtlichkeit der Tat als solche betrifft, deklariert Herzberg als vorsatzausschließenden „Erlaubnissachverhaltsirrtum“ 304. (9) Die Konzeption Toepels Mit dem Aufsatz „Zur Abgrenzung von untauglichem Versuch und Wahndelikt“ beabsichtigt Toepel zwar an sich, eine saubere Trennung zwischen der Annahme eines untauglichen Versuchs und dem Wahndelikt zu etablieren, zugleich legt er jedoch hierbei Grundsätze fest, die einen direkten Bezug zur Abgrenzung von Tatbestands- und Verbotsirrtum aufweisen. Grundsätzlich lasse sich laut Toepel nichts Negatives gegen die Parallelwertungslehre einwenden.305 Lediglich dort, wo diese Theorie eine Umkehrung im Falle des untauglichen Versuchs erfahre, korrespondiert Toepel mit der Auffassung Herzbergs und meint, dass für eine derartige Anwendbarkeit kein Raum bestehe.306 Bei Irrtümern über normative Tatbestandsmerkmale unterscheidet Toepel zwischen solchen, „die etwas über einzelne vorhandene Erklärungen und Definitionen Hinausgehendes aussagen“ 307, und solchen, die „termini technici einer strengen Fachsprache darstellen und deshalb einen abschließenden Sinn besitzen“ 308. Zu der ersteren Fallgruppe zählt Toepel beispielsweise den Begriff der „Urkunde“ i. S. v. § 267 StGB, der in keinem Gesetz abschließend definiert sei.309 Zur Bejahung des Vorsatzes genüge es hierbei, wenn der Täter den Sinn des normativen Merkmals erfasst habe.310 Hingegen gehöre das Merkmal „Fremd“ zur Gruppe jener Tatbestandsmerkmale, die einen abschließenden Sinn besitzen, da das Bürgerliche Recht den Begriff des Eigentums abschließend regele.311 Toepel plädiert hierbei für eine strenge Akzessorietät zwischen Zivil- und Strafrecht. Insbesondere ist er der An303 304 305 306 307 308 309 310 311

Vgl. Herzberg, GA 1993, 439 (452). Herzberg, GA 1993, 439 (452). Vgl. Toepel, ZIS 2017, 606 (607). Vgl. Toepel, ZIS 2017, 606 (608). Toepel, ZIS 2017, 606 (609). Toepel, ZIS 2017, 606 (609). Vgl. Toepel, ZIS 2017, 606 (609). Vgl. Toepel, ZIS 2017, 606 (609). Vgl. Toepel, ZIS 2017, 606 (609).

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sicht, dass zwischen dem zivilrechtlichen Eigentumsbegriff und dem in § 242 StGB kodifizierten Merkmal der Fremdheit nicht unterschieden werden dürfe, da diese sich „durch bloßen logischen Schluss ineinander überführen lassen“ 312. Um den tatbestandlichen Vorsatz zu bejahen, verlangt Toepel, dass der Täter auch Kenntnis von den Entstehungsbedingungen des gegenständlichen Rechtsverhältnisses hat,313 mithin über die tatbestandlichen Voraussetzungen des Entstehens respektive Bestehens fremden Eigentums zumindest laienhaft weiß. Ferner setzt sich Toepel in Widerspruch zu Puppe, die Irrtümer über normative Merkmale wie die Fremdheit einer Sache mit dem Irrtum über Rechtsverhältnisse (institutionelle Tatsachen) gleichsetzt.314 Für die Annahme von Irrtümern sei entscheidend, woran das Verständnis des Täters scheitere, nämlich an der Verkennung von Rechtsregeln einerseits oder an der Verkennung des nicht rechtlichen, spezifischen Sachverhalts andererseits.315 Nur derjenige befinde sich in einem Tatbestandsirrtum, der die Rechtsregeln verstanden hat, aber über den Sachverhalt irrt, soweit dieser nicht rechtlicher Art ist, hingegen nicht schon derjenige, der im Zusammenhang mit normativen Tatbestandsmerkmalen über die Rechtsregeln irrt.316 c) Kritik und Stellungnahme Die reichsgerichtliche Unterscheidung von strafrechtlichem und außerstrafrechtlichem Irrtum war gerechtigkeitsorientiert und zugleich flexibel. Dass dieser Billigkeitsrechtsprechung dabei ein richtiger (rechtstheoretischer) Kern zugrunde lag, musste erst durch die juristische Literatur festgestellt werden. Keineswegs sollen an dieser Stelle die bereits behandelten Literaturauffassungen kritisch abgehandelt und zwecks der Präsentation eines eigenen Ansatzes widerlegt werden. Denn die Präsentation einer eigenen – vermeintlich richtigen – Lösung würde den nach wie vor „am wenigsten gelösten Problemen der Irrtumslehre“ 317 nur schwerlich gerecht werden. Allerdings lässt sich mit Recht behaupten, dass die angeführten Auffassungen einer Kritik nicht gänzlich unzugänglich sind. Aus diesem Grund soll in einem ersten Schritt der Versuch unternommen werden, die zumindest größten Angriffspunkte der dargestellten Literaturansichten aufzudecken. 312

Toepel, ZIS 2017, 606 (609). Toepel, ZIS 2017, 606 (609), konstatiert hierzu: „Bei derartigen Merkmalen ist die Trennung zwischen Entstehungsbedingungen des Rechtsverhältnisses und dem Rechtsverhältnis selbst nicht berechtigt, denn die Entstehungsbedingungen gehören zu den konstitutiven Merkmalen des Privateigentums dazu.“ 314 Vgl. Puppe, FS Herzberg, 275 (277). 315 Vgl. Toepel, ZIS 2017, 606 (609). 316 Vgl. Toepel, ZIS 2017, 606 (609). 317 Maurach/Zipf, Strafrecht Allgemeiner Teil, Teilband 1, 7. Auflage, § 37 Rn. 48. 313

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Hieran schließt sich eine persönliche Stellungnahme mit Blick auf die vorgestellten Literaturansichten an. Ziel ist es, die Gemeinsamkeiten der rechtstheoretischen Irrtumsdisjunktionen herauszuarbeiten und zu beweisen, dass sich die unterschiedlichen Konzeptionen in vielen Punkten ergänzen und sich oftmals nur nuanciert oder begrifflich von vermeintlich konträren Auffassungen unterscheiden. aa) Kritische Würdigung der Literaturansichten So lässt sich gegen Mezgers Thesen anführen, dass diese mit der herrschenden Schuldtheorie nicht in Einklang zu bringen sind. Insoweit „hinkt“ Mezgers Irrtumskonzeption in einem entscheidenden Kriterium jenen Auffassungen hinterher, welche die Vereinbarkeit der reichsgerichtlichen Rechtsprechung vor dem Hintergrund des Irrtums über normative Merkmale mit der Schuldtheorie verbinden. An der These Mayers – die der reichsgerichtlichen Rechtsprechung eine gewisse Kontinuität unterstellt318 – ist auszusetzen, dass sie kein allgemein taugliches Unterscheidungskriterium bei der Frage nach dem „Sinn des einzelnen Tatbestandes“ 319 liefert. Vielmehr möchte Mayer den Tatbestands- vom Verbotsirrtum von der positiv-rechtlichen Fassung eines jeden Tatbestandes, jedoch ohne ein entsprechendes Unterscheidungskriterium, abhängig machen. Mangels eines allgemeingültigen Kriteriums zur Unterscheidung des Tatbestandsirrtums vom Verbotsirrtum erweist sich diese Theorie als wenig brauchbar. Gegen die Lehre Herzbergs von den Verweisungsbegriffen ließe sich zunächst anführen, dass sie nur einen geringen Beitrag zu der bestehenden Diskussion leistete. Ihr Mehrwert bestand lediglich in einer veränderten Terminologie, indem sie die Begrifflichkeiten „strafrechtlicher/außerstrafrechtlicher Rechtsirrtum“ durch die Begriffe „tatbestandlicher/außertatbestandlicher Rechtsirrtum“ ersetzte.320 Ferner sind die Fallgruppen, in denen Herzberg zu unterschiedlichen Ergebnissen als das Reichsgericht kommt, sehr klein.321 Dieser Einwand lässt sich auch gegen Hafts Theorie vom gegenstands- und begriffsbezogenen Irrtum anführen. Insoweit sind Hafts und Herzbergs Theorien zwar terminologisch unterschiedlich, inhaltlich hingegen kongruent,322 soweit 318

Vgl. Mayer, MDR 1952, 392. Mayer, MDR 1952, S. 392 (394). 320 Vgl. Bettendorf, Der Irrtum bei den Urkundendelikten, S. 259. 321 So versteht Herzberg den Begriff der „rechtswidrigen Tat“ i. S. v. § 258 StGB als vorsatzbegründenden Vorfeldirrtum und gelangt dadurch in Übereinstimmung mit BGHSt 5, 10 ff. zu einer vom Reichsgericht abweichenden Rechtsprechung, vgl. Herzberg, JuS 1980, 469 (473). Ausführlicher dazu bereits Tischler, Verbotsirrtum und Irrtum über normative Tatbestandsmerkmale, S. 334; sowie Bettendorf, Der Irrtum bei den Urkundendelikten, S. 259. 322 Vgl. hierzu auch Paralleldarstellung bei Tischler, Verbotsirrtum und Irrtum über normative Tatbestandsmerkmale, S. 339. 319

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auch diese eine Fortführung der reichsgerichtlichen Rechtsprechung propagieren.323 Darüber hinaus macht sich Hafts Theorie aufgrund einer logischen Lücke angreifbar, die sich aus der von ihm gewählten Terminologie ergibt. Soweit Haft von einem begriffsbezogenen Irrtum spricht, handelt es sich hierbei um einen Irrtum strafrechtsbegriffsbezogener Art.324 Denn an und für sich ist auch der Irrtum über zivilrechtliche Begriffe ein begriffsbezogener Irrtum, der allerdings – nach Haft – als gegenstandsbezogener Irrtum, nämlich als Irrtum über Rechtsverhältnisse, behandelt wird.325 Ferner überzeugt auch Herzbergs spätere Irrtumskonzeption nicht. Bei der Abgrenzung von Verbots- und Erlaubnissachverhaltsirrtum stellt Herzberg zwar darauf ab, dass es für die Annahme des letzteren auf einen Irrtum über den tatbestandlichen Sinn ankomme. Allerdings lässt Herzberg gänzlich offen, welche Prämissen für die Ermittlung des tatbestandsrelevanten Sinns heranzuziehen sind,326 ist dies doch gerade entscheidend für die Frage, ob sich der Täter lediglich über die Widerrechtlichkeit oder doch über Umstände der Tat geirrt hat. Insbesondere muss der Täter nach der von Herzberg vorgenommenen Unterscheidung im Falle der Verneinung des Verbotsirrtums nicht zwangsweise einem Erlaubnissachverhaltsirrtum unterliegen; vielmehr besteht auch die Möglichkeit, dass in diesem Fall ein Subsumtionsirrtum des Täters zu bejahen ist.327 Gegen Burkhardts Thesen können sogleich mehrere Einwände vorgebracht werden. Soweit dieser annimmt, dass die rechtsirrige Annahme normativer Tatbestandsmerkmale einen umgekehrten Bedeutungsirrtum darstelle, der zu einem Wahndelikt führe, kann dies durchaus in Frage gestellt werden.328 Relevanter ist hingegen, dass Burkhardts Argument einer prinzipiellen Substituierbarkeit nicht geeignet ist, die herrschende Meinung, die im Fall des rechtsirrigen Ausbleibens normativer Tatbestandsmerkmale einen Vorsatzausschluss annimmt, zu entkräften. Burkhardt verkennt insoweit, dass derartige Verweisungstechniken auf eine Entscheidung des Gesetzgebers zurückzuführen sind. Einerseits wäre eine umfassende Substitution normativer Tatbestandsmerkmale mit den sie ausfüllenden

323

Vgl. Haft, JA 1981, 281; sowie Herzberg, JuS, 1980, 469 (473). Tischler, Verbotsirrtum und Irrtum über normative Tatbestandsmerkmale, S. 339 f. 325 Tischler, Verbotsirrtum und Irrtum über normative Tatbestandsmerkmale, S. 339 f. 326 Vgl. Bettendorf, Der Irrtum bei den Urkundendelikten, S. 263. 327 Vgl. i. E. auch Bettendorf, Der Irrtum bei den Urkundendelikten, S. 263. 328 Vgl. für eine umfassende und überzeugende Kritik hierzu Tischler, Verbotsirrtum und Irrtum über normative Tatbestandsmerkmale, S. 344, der davon ausgeht, dass Burkhardts fehlgeleitete Ideen auf einer Vermengung des umgekehrten Bedeutungsirrtums mit dem umgekehrten Subsumtionsirrtum beruhen. 324

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Begrifflichkeiten gänzlich impraktikabel329 – wie bereits der Urvater der Substituierbarkeitsthese Kohlrausch selbst erkannte.330 Andererseits würden sich mit einer enumerativen Substitution normativer Merkmale der Sinn des objektiven Tatbestandes, der Inhalt des tatbestandsmäßigen Vorsatzes und mithin auch der Anwendungsbereich des ganzen Tatbestandes verändern.331 Die gesetzgeberische Entscheidung für die Verwendung von Verweisungsmerkmalen und gegen eine abschließende Auflistung von Tatsachen dient in erster Linie dazu, das vom Täter verwirklichte Unrecht zu pönalisieren. Aus diesem Grund kann es für den Täter auch nicht relevant sein, ob er ein dem Jagdrecht unterliegendes Tier seiner Gattung nach richtig bestimmt332 oder ob er um die konkreten Entstehungsbedingungen des originären Eigentumserwerbs im Falle eines Diebstahls respektive einer Unterschlagung fremder Sachen weiß. Vielmehr genügt es, wenn der Täter Kenntnis davon hat, dass das von ihm erlegte Tier dem Jagdrecht unterliegt oder dass die von ihm entwendete Sache nicht in seinem (Allein-)Eigentum steht.333 Gegen Schlüchters rechtsgutorientierte Irrtumslehre lässt sich einwenden, dass der Rechtsgutbegriff trotz jahrhundertelanger Diskussionen nach wie vor ungeklärt ist,334 mithin kein einheitlicher Maßstab für Bewertung des Täterbewusstseins nachvollzogen werden kann. Zudem fällt die rechtsgutorientierte Irrtumslehre der verheerenden Kritik Kuhlens zum Opfer. Dieser kritisiert, dass der gewählte Abgrenzungsvorschlag Schlüchters nicht zwingend präziser sei als die Parallelwertungsformel.335 Konkret geht diese Kritik auf Schlüchters rechtsgutbezogenes Verständnis von Tatbestandsmerkmalen zurück. Schlüchter meint, den erforderlichen Vorsatzumfang nicht nur auf deckungsgleiche, sondern auch auf einschränkende Merkmale beziehen zu müssen.336 Der Täter müsse hiernach sowohl die strafbarkeitsbegründenden („deckungsgleichen“) sowie die strafbar329 Im Ansatz Puppe, GA 1990, 145 (155); deutlicher insoweit Fakhouri Gómez, GA 2010, 259 (264). 330 Nach Kohlrausch, Irrtum und Schuldbegriff im Strafrecht, S. 179, würde lediglich eine „hervorragende Unzweckmäßigkeit (. . .) im Wege stehen, etwa den § 242 St.G.B. in einem ganzen Gesetzbuch aufzulösen, in dem das Wort ,fremd‘ vermieden durch die Aufnahme der ganzen Eigentumslehre ersetzt wäre.“ 331 Vgl. Puppe, FS Herzberg, 276 (280); dies., GA 1990, 145 (155). Ebenso Fakhouri Gómez, GA 2010, 259 (264) m.w. N. Soweit es um die Ersetzung dynamischer Normen geht, vgl. zustimmend Kuhlen, Die Unterscheidung zwischen vorsatzausschließendem und nicht vorsatzausschließendem Irrtum, S. 369. 332 Vgl. Puppe, FS Herzberg, 276 (280 f.). 333 Vgl. Puppe, FS Herzberg, 267 (280 f.); dies., GA 1990, 145 (157). 334 Vgl. insoweit zurückhaltend Kuhlen, Die Unterscheidung von vorsatzausschließendem und nicht vorsatzausschließendem Irrtum, S. 435 f. Vgl. mit Blick auf die Unbestimmtheit des Rechtsgutbegriffs Rönnau, JuS 2009, 209 f. 335 Kuhlen, Die Unterscheidung von vorsatzausschließendem und nicht vorsatzausschließenden Irrtum, S. 438. 336 Vgl. Schlüchter, Irrtum über normative Tatbestandsmerkmale im Strafrecht, S. 109.

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keitsausschließenden („einschränkenden“) Merkmale erfassen, um den Vorsatz zu bejahen.337 Fehlt es dem Täter an einer dieser Komponenten, sei sein Vorsatz auszuschließen. Diesbezüglich kritisiert Kuhlen, dass eine solche Vorgehensweise die Frage aufwerfe, ob nicht doch sämtliche tatbestands- und rechtswidrigkeitsrelevanten gesamttatbewertenden Merkmale vom Vorsatz erfasst sein müssten.338 Insbesondere sei nicht ersichtlich, in welchem Umfang sich der Vorsatz auf derartige einschränkende gesamttatbewertende Merkmale erstrecken müsse.339 Der rechtsgutbezogene Ansatz Schlüchters macht zudem eine Grenzziehung zwischen Tatbestands- und Verbotsirrtum dann schwierig, wenn der Rechtsgüterschutz des Tatbestandes nicht offensichtlich ist. So kann im Falle des § 292 das geschützte Rechtsgut einerseits die Hege des Wildes, andererseits das Aneignungsrecht des Jagdausübungsberechtigten sein.340 Ob der Vorsatz des Täters im Falle der Tötung eines Wildes bejaht werden kann, hängt somit auch davon ab, welchen konkreten Schutz man der verletzten Rechtsnorm beimisst, und insbesondere, ob der Täter konkret diese rechtsgutbezogene Interpretation erkannt hat.341 Auch Kuhlens Unterscheidung zwischen statischen und dynamischen Normen ist kritikanfällig. Gegen sie ist einzuwenden, dass Kuhlen selbst keine allgemein gültigen Abgrenzungskriterien zur Differenzierung von dynamischen und statischen Normierungen präsentiert.342 Er meint, eine Differenzierung lasse sich nur anhand der jeweiligen Norm des Besonderen Teils des StGB bestimmen.343 Dadurch stellt er jedoch keine allgemein gütige Regel auf, sondern eröffnet seinerseits Spielräume für Ermessensund Willkürerscheinungen344 – ein Vorwurf, dem bereits Mayers Konzeption zum Opfer fiel. 337 Vgl. Schlüchter, Irrtum über normative Tatbestandsmerkmale im Strafrecht, S. 131. So sei das Merkmal rechtswidrige Tat i. S. v. § 258 StGB deckungsgleich mit dem Rechtsgut der staatlichen Rechtspflege. Zugleich komme diesem Merkmal auch ein einschränkender Charakter zu, wenn es ausschließlich Straftaten erfasse. Geht der Täter also davon aus, es handele sich bei der gegenständlichen Tat i. S. v. § 258 StGB um eine Ordnungswidrigkeit, handelt er im Falle der Strafvereitelung ohne Vorsatz. 338 Vgl. Kuhlen, Die Unterscheidung zwischen vorsatzausschließendem und nicht vorsatzausschließendem Irrtum, S. 437. 339 Vgl. Kuhlen, Die Unterscheidung zwischen vorsatzausschließendem und nicht vorsatzausschließendem Irrtum, S. 437. 340 Vgl. Schlüchter, Irrtum über normative Tatbestandsmerkmale im Strafrecht, S. 122. 341 Vgl. ausführlich zu diesem Fall Kuhlen, Die Unterscheidung zwischen vorsatzausschließendem und nicht vorsatzausschließendem Irrtum, S. 437. 342 Vgl. Bettendorf, Der Irrtum bei den Urkundendelikten, S. 222 m.w. N. 343 Vgl. Kuhlen, Die Unterscheidung zwischen vorsatzausschließendem und nicht vorsatzausschließendem Irrtum, S. 414. 344 Vgl. Bettendorf, Der Irrtum bei den Urkundendelikten, S. 225, 249.

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Diesen Willkürvorwurf möchte Kuhlen dabei mittels der von ihm entwickelten Argumentationslastregel lösen. Kuhlen meint, mit dieser nachweisen zu können, dass die Anknüpfung eines – normativen – Merkmals regelmäßig als dynamisch zu verstehen ist, wenn nicht besondere Anhaltspunkte gegen ihre Dynamik sprächen.345 Dieses Abgrenzungskriterium ist jedoch gänzlich ungeeignet, da er insoweit selbst keine Anhaltspunkte für eine Widerlegung dieser Regel gibt, sodass im Ergebnis sämtliche außerstrafrechtlichen Vorschriften als dynamisch zu behandeln sind.346 Zudem bleibt fraglich, ob der Nachweis einer statischen Norm regelmäßig überhaupt möglich sein wird respektive ob derartige Normen überhaupt existieren. Denn regelmäßig beziehen sich Verweisungsnormen auf die zum Zeitpunkt geltenden und nicht auf die zum Erlasszeitpunkt geltenden außerstrafrechtlichen Bestimmungen.347 Bettendorf fasst diesen Gedanken weiter und konstatiert, dass lediglich das Täterbewusstsein auf die zum Tatzeitpunkt geltenden Vorschriften bedacht sein wird, sodass aufgrund der Tätervorstellung ein Übergang von Dynamik zur Statik stattfinde.348 Indem der Täter gerade diese Zeitvariable – in Gestalt einer fiktiven Rückverlagerung der außerstrafrechtlichen Rechtslage – außer Betracht lasse, verliere Kuhlens Theorie zugleich an Trennschärfe.349 Gegen die These Kindhäusers ist zunächst ein praktischer Einwand zu erheben. Er bringt neue Begrifflichkeiten in die Diskussion um den Irrtum über normative Tatbestandsmerkmale ein, die ihrerseits nicht nötig sind und folgerichtig Verwirrung stiften. Soweit Kindhäuser von einem schuldrelevanten (sprachbezogenen) Sinnirrtum einerseits und von einem vorsatzrelevanten (empirischen) Wahrheitsirrtum andererseits spricht, untergräbt er damit die in der Literatur gängigen Begrifflichkeiten. Mit seinem sprachbezogenen Sinnirrtum meint Kindhäuser faktisch nichts anderes als den Irrtum über den dem Strafgesetz immanenten Normappell (= Vermeidemotiv). Mit dem Begriff des Irrtums über die Wahrheit bringt Kindhäuser hingegen eine Begrifflichkeit in die juristische Diskussion ein, die ein Zentralproblem der antiken wie der modernen Philosophie und Logik darstellt und von einer Vielzahl von Theorien uneinheitlich beantwortet wird.350 345 Vgl. Kuhlen, Die Unterscheidung zwischen vorsatzausschließendem und nicht vorsatzausschließendem Irrtum, S. 415. 346 Vgl. Bettendorf, Der Irrtum bei den Urkundendelikten, S. 236, 249. 347 Vgl. insoweit Puppe, ZStW 102 (1990), 892 (899), ebenso Herzberg, JZ 1993, 1017 (1021). 348 Vgl. Bettendorf, Der Irrtum bei den Urkundendelikten, S. 234. 349 Vgl. Bettendorf, Der Irrtum bei den Urkundendelikten, S. 235. 350 Kindhäuser, GA 1990, 407 (410) m.w. N., unterstellt einen Satz dann als wahr, „wenn die durch ihn ausgedrückte Aussage zutrifft, der durch den Satz ausgedrückte

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Ferner spricht gegen die Konzeption Kindhäusers, dass sie eine von der üblichen dreigliedrigen Deliktsprüfung abweichende Reihenfolge voraussetzt, die jedweder Dogmatik zuwiderläuft. Dies folgt aus dem Umstand, dass der Täter gemäß der von ihm vorgeschlagenen Theorie zunächst den Normsinn erfassen muss, sodass erst in einem nächsten Schritt festgestellt werden kann, ob er auch die tatsächliche Tatsachen- respektive Wahrheitskenntnis aufweist.351 Ein solches Vorgehen liefe auf eine vorgeschaltete „Introspektionsprüfung“ hinaus.352 Zudem bleibt auch fraglich, ob Kindhäusers Konzeption nicht eine Rückkehr zu der von ihm abgelehnten Parallelwertungslehre darstellt. Denn auch nach der von ihm vertretenen Auffassung muss der Täter normativen Merkmalen eine persönliche Sinngebung verleihen, um den tatsächlichen Sinngehalt des Merkmals respektive der Norm zu erfassen.353 Toepel ist entgegen zu halten, dass er eine Überdehnung der Zivilrechtsakzessorietät vornimmt. Insbesondere ist ihm zu widersprechen, wenn er im Rahmen des von ihm angeführten Beispiels dem Tatbestandsmerkmal „fremd“ i. S. d. §§ 242, 246 StGB einen abschließenden Sinn attestiert. Das Bürgerliche Gesetzbuch regelt nämlich für den Bereich des Strafrechts den Eigentumsbegriff gerade nicht abschließend. Als Argument sei exemplarisch die Rückwirkungsfiktion mit einer ex-tunc Änderung der dinglichen Rechtslage erwähnt, welche die Zivilrechtsakzessorietät bei der Bestimmung der Fremdheit vor dem Hintergrund des Koinzidenzprinzips einschränkt.354 Zuletzt ist der (r)evolutionären Ansatz Puppes kritisch zu hinterfragen. Ihrer Konzeption kann eine mangelnde praktische Durchsetzbarkeit im Rahmen von Strafverfahren entgegengehalten werden. Um festzustellen, ob sich der Täter tatsächlich den Sinn des Tatbestandes bei der Tatbegehung vorgestellt hat, schlägt Puppe ein Testverfahren vor. Nach diesem Testverfahren bietet der Richter dem Angeklagten mehrere Sätze an, die eine tatbestandsmäßige Sachverhaltsbeschreibung (L-)implizieren.355 Anhand dessen will Puppe festgestellt wissen, ob sich Sachverhalt also besteht. Das Bestehen dieses Sachverhalts, also die Verifikation des Satzes, wird empirisch festgestellt.“ Dabei erkennt Kindhäuser mit Verweis auf die von Habermas begründete Konsensustheorie der Wahrheit, dass sich diese von der von ihm vertretenen Korrespondenztheorie unterscheide, meint jedoch, dass dies für seinen Ansatz ohne Auswirkungen bleibe. 351 Vgl. Kindhäuser, GA 1990, 407 (418 f.). 352 Diesen Widerspruch erkennt wohl auch Kindhäuser, GA 1990, 407 (423): „Wählt man die Sinn-Variante, muß man tatbestandsbezogene begriffliche Fehlvorstellungen des Täters bereits beim Vorsatz berücksichtigen und schafft somit die Möglichkeit von Aporien.“ 353 Vgl. ausführlich hierzu das angeführte Evidenzbeispiel von Bettendorf, Der Irrtum bei den Urkundendelikten, S. 280 f. 354 Vgl. hierfür Kudlich/Noltensmeier, JA 2007, 863 (865 f.); Wohlers/Mühlbauer, in: Joecks/Mierbach, MüKo-StGB, Bd. 5, § 265 Rn. 13 m.w. N. 355 Vgl. Puppe, GA 1990, 145, 152.

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B. Das Unrechtsbewusstsein als Kernelement der Schuld

der Täter in einem Tatbestands- oder Subsumtionsirrtum befunden habe. Denn der Täter, der sich in einem Tatbestandsirrtum befand, wird regelmäßig die LImplikation des ihm vorgestellten Satzes nicht bestätigen können, es sei denn, dass er sich bei Bestätigung des Satzes in einem Irrtum über die verwendeten Begrifflichkeiten befand.356 Gegen dieses Testverfahren werden grundsätzlich zwei wesentliche Kritikpunkte eingewandt. Zum einen hänge der von Puppe vorgestellte Dialog von der Einlassungswilligkeit des Angeklagten ab,357 hat dieser doch gerade mit Blick auf den Nemo-Tenetur-Grundsatz ein berechtigtes Interesse, zwecks der tatrichterlichen Feststellung seines Vorsatzes nichts beizutragen.358 Zum anderen können sprachliche Missverständnisse zwischen dem Angeklagten und dem Richter dazu führen, dass dieser die vom Richter vorgestellte L-Implikation fälschlicherweise bejaht bzw. verneint, spricht doch der Richter im Strafverfahren regelmäßig eine andere Sprache als der Angeklagte,359 sodass es als problembehaftet erscheint, „dem Angeklagten intensionsäquivalente Implikate des Tatbestandes anzubieten“ 360. Im Zusammenhang mit dem Problem der Nachweisbarkeit des Tatvorsatzes erkennt Schroth einen weiteren Einwand gegen Puppes Konzeption. Schroth führt aus, dass Tatbestände regelmäßig aufgrund mehrerer Handlungsalternativen verwirklicht werden können.361 Stellt sich der Täter nun eine andere Tatbestandsalternative vor als er verwirklicht, geht er folgerichtig von einer anderen Intension aus, kann er nach Puppes Irrtumskonzeption nicht vorsätzlich handeln.362 bb) Persönliche Stellungnahme Trotz der angeführten Kritikpunkte weisen die vorgestellten Irrtumskonzeptionen wesentliche Gemeinsamkeiten auf, die der reichsgerichtlichen Irrtumsdisjunktion eine gewisse Legitimation verleihen. Im Folgenden soll der Versuch unternommen werden, die angeführten Theorien skizzenhaft – und soweit möglich – einer Synthese zuzuführen und zugleich 356

Vgl. Puppe, GA 1990, 145, 152. Vgl. Schroth, Vorsatz und Irrtum, S. 35; Bettendorf, Der Irrtum bei den Urkundendelikten, S. 275; Kindhäuser, GA 1990, 407 (413 unter Fn. 19). 358 Im Ansatz wohl auch Schroth, Vorsatz und Irrtum, S. 35. 359 Vgl. Schroth, Vorsatz und Irrtum, S. 35; ebenso Bettendorf, Der Irrtum bei den Urkundendelikten, S. 275 mit Verweis auf Kindhäuser, GA 1990, 407 ff. 360 Kindhäuser, GA 1990, 407 (412 unter Fn. 19). 361 Vgl. Schroth, Vorsatz und Irrtum, S. 36: Beispielsweise mit Blick auf § 308 StGB a. F., § 396 StGB n. F., wonach mehrere Tatobjekte bzw. bei § 274 StGB mehrere Tathandlungen in Betracht kommen. 362 Vgl. Schroth, Vorsatz und Irrtum, S. 36. Puppe hingegen will vor diesem Hintergrund die Tatbestandsalternativen zusammenfassen. 357

II. Unrechtsbewusstsein als Gegenstand normativen Schuldverständnisses

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eine rechtspolitische Erörterung für das Wideraufleben der Rechtsprechung des Reichsgerichts zum Irrtum über normative Tatbestandsmerkmale zu liefern. 1. Den angeführten Theorien ist zuzustimmen, dass die reichsgerichtliche Irrtumsdisjunktion einen durchaus berechtigten Kern hatte und auch bis heute für sich beansprucht. Soweit normative Tatbestandsmerkmale die Sphäre des Strafrechts verlassen363 und dabei eine Beziehung zu anderen Rechtsgebieten aufweisen, bedürfen sie einer gesonderten Berücksichtigung. Dabei kann dahinstehen, ob man hierbei mit Kuhlen364 von dynamischen Normen oder mit Herzberg365 von Verweisungsbegriffen im Vorfeld des Tatbestandes spricht. Zu berücksichtigen ist nämlich, dass normative Merkmale einer strafrechtlichen Definition respektive Interpretation teilweise entzogen sind.366 Dadurch weisen sie zu den sozialethisch farblosen Tatbeständen des Nebenstrafund Ordnungswidrigkeitenrechts zumindest eine gewisse Ähnlichkeit auf.367 Aufgrund ihrer (fortgeschrittenen) strafrechtlichen Neutralität sind sie auch der Impulslehre nicht ohne weiteres zugänglich, kann der Täter das von ihm verwirklichte Unrecht nicht ohne notwendige kognitive Leistung nachvollziehen. 2. Die Aufgabe der reichsgerichtlichen Irrtumsdisjunktion basiert vornehmlich auf der – rechtspolitischen – Entscheidung für die Schuldtheorie. Diese Entscheidung war insbesondere von kriminalpolitischen Erwägungen geleitet: Mit der Kodifizierung des § 17 StGB und den kaum überwindbaren Hürden einer Vermeidbarkeitsprüfung versuchte der Gesetzgeber ein „Angststrafrecht“ zu etablieren, das auf die zunehmende Normflut im Bereich des Wirtschafts- und Nebenstrafrechts zurückzuführen war – eine Erkenntnis, die der Gesetzgeber bereits für das Kriegswirtschaftsrecht aus dem Jahr 1917 für sich nutzte. Das Reservat eines außertatbestandlichen Irrtums barg dabei die Gefahr, dass sich im Bereich des Neben- und Wirtschaftsstrafrechts regelmäßig Irrtümer im außerstrafrechtlichen Bereich begründen ließen, sodass sich der Täter seiner strafrechtlichen Verantwortlichkeit entziehen konnte.368 Die auf die 363 Vgl. in diesem Zusammenhang Haft, JA 1981, 281 (285); sowie Kuhlen, Die Unterscheidung von vorsatzausschließendem und nicht vorsatzausschließendem Irrtum, S. 426, soweit er von einer „strafrechtlichen Definitionsmacht“ spricht. 364 Vgl. Kuhlen, Die Unterscheidung von vorsatzausschließendem und nicht vorsatzausschließendem Irrtum, S. 426. 365 Vgl. Herzberg, JuS 1980, 469 (472 f.). 366 Ähnlich Kuhlen, Die Unterscheidung von vorsatzausschließendem und nicht vorsatzausschließendem Irrtum, S. 426. 367 Vgl. diesbezüglich Neumann, in: NK-StGB, Bd. 1, § 17 Rn. 90. Vgl. für den Irrtum im Bereich des Nebenstrafrechts Abschn. C.II. 368 Vgl. insoweit Tischler, Verbotsirrtum und Irrtum über normative Tatbestandsmerkmale, S. 355.

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B. Das Unrechtsbewusstsein als Kernelement der Schuld

Schuldtheorie zurückzuführende Irrtumskonzeption des § 17 StGB bot hierbei die Möglichkeit, der Starrheit der reichsgerichtlichen Irrtumsdisjunktion zu entgehen und trotz eines Irrtums über den Inhalt einer strafrechtsfremden Norm dann zu einer Bestrafung zu kommen, wo das Gesetz eine Fahrlässigkeitsstrafe nicht vorsah.369 3. Gleichwohl war mit der Kodifizierung des Verbotsirrtums und der Aufgabe der Irrelevanz des strafrechtlichen Rechtsirrtums der Rückgriff auf die reichsgerichtliche Irrtumsdisjunktion nicht gänzlich versperrt. Ihre – vorübergehende – Aufgabe lag vielmehr darin begründet, dass ihre Gegner unter Berücksichtigung der Schuldtheorie stets bemüht waren, das rechtsgerichtliche Instrumentarium auszuschalten.370 Tischler ist zuzustimmen, wenn er meint, dass man anstellte der Unterscheidung von Verbots- und Tatbestandsirrtum weiterhin das Gegensatzpärchen des Reichsgerichts hätte verwenden können.371 Für diese These spricht vor allem folgende Überlegung, die sich an die Theorie Puppes anschließt: Der Täter kann nur dort das tatbestandliche Unrecht vorsätzlich verwirklichen, wenn er den Sinn des Tatbestandes vollkommen erfasst hat. Und Sinn meint in diesem Zusammenhang den tatbestandskonstruierenden Inhalt der Norm.372 Der mit dem Sinngehalt verbundene Vorwurf setzt denklogisch die Kenntnis von Fakten voraus. Zu dieser Faktenkenntnis gehören auch zwangsweise Rechtsverhältnisse und normative Merkmale,373 die ihren Ursprung außerhalb der strafrechtlichen Sphäre haben, da anderenfalls das vorsatzrelevante Erfassen des objektiven Tatbestandes im Sinne der – wenn auch vereinfachten – Formel „Wissen und Wollen der Tatbestandsverwirklichung“ 374 nicht möglich wäre. Ob man den hierbei geforderten Sinn mittels der Parallelwertungslehre oder der von Puppe begründeten Theorie der L-Implikation erfasst, kann dabei dahinstehen. 4. Dies zugrunde gelegt ist nicht ersichtlich, welchen konträren Standpunkt die Unterscheidung von außerstrafrechtlichem und strafrechtlichem Irrtum mit Blick auf die geltende Schuldtheorie haben sollte, fügt sich diese doch gerade 369 Vgl. zu dieser Erkenntnis Tischler, Verbotsirrtum und Irrtum über normative Tatbestandsmerkmale, S. 355 f., 360. 370 Vgl. Tischler, Verbotsirrtum und Irrtum über normative Tatbestandsmerkmale, S. 357 f. 371 Tischler, Verbotsirrtum und Irrtum über normative Tatbestandsmerkmale, S. 357. 372 Für ein solches Verständnis spricht sich i. E. auch Mayer, MDR 1952, 392 (394), aus, wenn er im Sinn des Tatbestandes den eigentlichen strafrechtlichen Vorwurf erkennt. 373 Vgl. Puppe, in: NK-StGB, Bd. 1, § 16 Rn. 46 m.w. N.; sowie Kindhäuser, GA 1990, 407 (415). 374 Vgl. für die vereinfachte Formel Rönnau, JuS 2010, 675 (676); sowie Kühl, in: Lackner/Kühl, § 15 Rn. 4 m.w. N.

III. Gegenstand des Unrechts(-bewusstseins) nach heutigem Verständnis

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in das Vorsatzverständnis des geltenden Rechts ein. Ein Irrtum über institutionelle Tatsachen außerhalb der Sphäre des Kernstrafrechts führt nach hier vertretener Auffassung daher zum Ausschluss des tatbestandlichen Vorsatzes.

III. Gegenstand des Unrechts(-bewusstseins) nach heutigem Verständnis Eine gesetzliche Definition des Unrechtsbewusstseins existiert de lege lata nicht und wird auch anderenorts vom Gesetzgeber nicht präsentiert.375 Der Gesetzgeber macht jedoch deutlich, dass ein fehlendes Unrechtsbewusstsein die Schuld des Täters entfallen lässt. Das Bewusstsein, Unrecht zu verwirklichen, ist damit konstitutiv und schuldbegrenzend zugleich.376 Im Falle eines fehlenden Unrechtsbewusstseins unterliegt der Täter einem Verbotsirrtum i. S. v. § 17 StGB. Neumann stellt hierbei zu Recht fest, dass sich die Begrifflichkeiten Unrechtsbewusstsein bzw. Verbotsirrtum ergänzen,377 mithin wechselseitig bedingen. Koriath beschreibt den Begriff des Unrechtsbewusstseins als „das Wissen, daß die Handlung (. . .) in der Rechtsordnung (. . .) verboten ist“ 378. Nach überwiegender Auffassung soll dabei ein potenzielles Unrechtsbewusstsein zur Bejahung der Schuld genügen.379 Das Wissen um das Unrecht der Tat sagt nichts über das Unrechtsbewusstsein als solches aus. Rechtfertigt sich der zur Verantwortung gezogene Täter gegenüber dem Richter mit der Behauptung, er habe nicht gewusst, dass die von ihm begangene Tat nicht rechtens sei, stellt dies womöglich die innere Tatseite des Täters dar. Diese könne vor dem Hintergrund des von der überwiegenden Auffassung verstandenen Unrechtsbegriffs des § 17 StGB nicht zum Anlass für die Annahme eines Verbotsirrtums genommen werden, da das Unrechtsbewusstsein nicht auf einer autonomen (moralischen) Wertung der Handlung durch den Täter beruhen kann.380 Eine vom Täter gelebte „Rechtsblindheit“ oder gar „Rechts375 Vgl. Joecks, in: Joecks/Mierbach, MüKo-StGB, Bd. 1, § 17 Rn. 9; Jescheck/Weigend, Lehrbuch des Strafrechts, S. 453. 376 Vgl. Safferling, Vorsatz und Schuld, S. 215; allgemeiner Kindhäuser, Strafrecht Allgemeiner Teil, § 21 Rn. 1. 377 Neumann, in: NK-StGB, Bd. 1, § 17 Rn. 11; Joecks, in: Joecks/Mierbach, MüKoStGB, Bd. 1, § 17 Rn. 9. 378 Koriath, Grundlagen strafrechtlicher Zurechnung, S. 587. 379 Nach höchstrichterlicher Rechtsprechung soll ein Verbotsirrtum dann nicht in Betracht kommen, wenn der Täter Zweifel an der Rechtmäßigkeit seiner Handlung hat und einen Rechtsverstoß billigend in Kauf nimmt bzw. sich mit der Unrechtmäßigkeit seines Handelns abfindet, vgl. BGH, Urt. v. 20.5.1952 – 1 StR 490/51, BeckRS 1952, 31195736; BGHSt 4, 1 (4); Urt. v. 23.8.1977 – 1 StR 159/77, BeckRS 1977, 31113598. A. A. Zabel, GA 2008, 33 (49). 380 Neumann, in: NK-StGB, Bd. 1, § 17 Rn. 12; ähnlich Müller-Dietz, Grenzen des Schuldgedankens im Strafrecht, S. 85.

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B. Das Unrechtsbewusstsein als Kernelement der Schuld

feindschaft“ 381 führt zu einer individuellen – kriminalpolitisch verheerenden – Disposition der Gesetze, die eine Bestrafung von Gewissens- und Überzeugungstätern unmöglich macht.382 Vor dem genannten Hintergrund bedarf es in diesem Zusammenhang einer Erörterung des Unrechtsbegriffs, da sich anderenfalls ein Normverständnis als nicht möglich erweist. Dabei wird bewusst partiell vom Unrecht und nicht vom Unrechtsbewusstsein gesprochen. Dies ist dem Umstand geschuldet, dass das objektive Unrecht, also das was von einem diskursiv geprägten Schuldbegriff als nichtrechtens erachtet wird, strikt von dem darauf bezogenen subjektiven Empfinden, also dem Bewusstsein, zu trennen ist. Denn das subjektive Bewusstseins des Rechtsanwenders muss sich auf ein objektiv-normatives Konstrukt – also das Unrecht – beziehen. Dieses Unrecht ist nach hier vertretener Auffassung nur ein Bezugspunkt des darauf gerichteten Bewusstseins. Bereits das umgängliche Sprachverständnis um den Begriff des Unrechts spiegelt seinen normativen Charakter wider, da sich die Begriffe „Recht“ und „Unrecht“ durch einer dem gesellschaftlichen und rechtlichen Wandel unterworfenen Wertung auszeichnen.383 Die Schlussfolgerung, der facettenreiche Unrechtsbegriff lasse mehrere Definitionsansätze zu,384 ist somit die Konsequenz dieser Wertung. Das von (Straf-) Tätern empfundene Unrechtsbewusstsein kann dabei moralischer, sittlicher, konventioneller, religiöser und nicht zuletzt (straf-)rechtlicher Natur sein.385 1. Sitten- und Moralvorstellung Soweit das Unrechtsbewusstsein gerade nicht durch die subjektive Vorstellung des Täters determiniert wird, können konsequenterweise auch Sitten- und Moralvorstellungen des Delinquenten bei der Frage nach dem Unrechtsbewusstsein gemäß der herrschenden Auffassung in der Rechtsprechung und Literatur keine Berücksichtigung finden.386 Diese Auffassung ist vor dem Hintergrund einer plura381 Vgl. für die Begrifflichkeiten der „Rechtsblindheit“ und „Rechtsfeindschaft“ Duttge, in: Dölling/Duttge/Rössner, Gesamtes Strafrecht, § 17 Rn. 1. 382 Für die Begrifflichkeiten „Gewissenstäter“ und „Überzeugungstäter“ vgl. ausführlicher unter Abschn. B.III.1. 383 Ähnlich Roxin, Strafrecht Allgemeiner Teil, Bd. I, § 21 Rn. 12. 384 Neumann, in: NK-StGB, Bd. 1, § 17 Rn. 11; Joecks, in: Joecks/Mierbach, MüKoStGB, Bd. 1, § 17 Rn. 10. 385 Vgl. Koriath, Grundlagen strafrechtlicher Zurechnung, S. 592; Neumann, in: NKStGB, Bd. 1, § 17 Rn. 11; Joecks, in: Joecks/Mierbach, MüKo-StGB, Bd. 1, § 17 Rn. 9. Zu Moral und Unrecht vgl. Momsen/Savic, in: von Heintschel-Heinegg, StGB, § 32 Rn. 4. 386 Vgl. BGH, NJW 1952, 593 (594); GA 1969, 61; Neumann, in: NK-StGB, Bd. 1, § 17 Rn. 13; Joecks, in: Joecks/Mierbach, MüKo-StGB, Bd. 1, § 17 Rn. 10; Duttge, in: Dölling/Duttge/Rössner, Gesamtes Strafrecht, § 17 Rn. 6; Stratenwerth/Kuhlen, Straf-

III. Gegenstand des Unrechts(-bewusstseins) nach heutigem Verständnis

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listischen Gesellschaft, die sich der Trennung von Moral und Recht hingegeben hat, nur konsequent.387 Sitten- und Moralvorstellungen weisen allenfalls eine vorrechtliche Natur auf, geben sie doch gerade nur einen Anstoß zur Schaffung von Straftatbeständen.388 Ferner unterliegen sittliche Normen und Moralvorstellungen regelmäßig einem gesellschaftlicher Prägungen unterworfenen Wandel, sodass sich bereits aus Gründen der Rechtssicherheit eine rechtliche Orientierung an ihren Grundsätzen verbietet. Dennoch spielen Sitten- und Moralvorstellungen auch für den wirtschaftlichen Verkehr im Bereich des Kernstrafrechts eine besondere Rolle. Als Beispiel seien hierfür die geschäftlichen Beziehungen deutscher Unternehmen mit iranischen Gesellschaften genannt. Möchte ein deutsches Versicherungsunternehmen iranische Öltanker versichern, gehört es zu den Gepflogenheiten des Nahoststaates, bereits beim ersten geschäftlichen Kontakt (kleinere und größere) Zuwendungen zu leisten, um die geschäftliche Beziehung zu dem jeweiligen Geschäftspartner zu stärken.389 Der Entscheidungsträger des deutschen Versicherungsgebers kann sich dabei gem. § 299 StGB wegen Bestechung bzw. Bestechlichkeit im geschäftlichen Verkehr strafbar machen, auch wenn ein solches Verhalten im Handel mit Nahostunternehmen eine gängige Praxis darstellt. Das genannte Beispiel verdeutlicht die von Stratenwerth und Kuhlen aufgestellte These, wonach „sittenwidriges Verhalten mit der Rechtsordnung häufig im Einklang, sittengemäßes zu ihr mitunter im Widerspruch“ 390 stehen kann. Etwas anderes vermag auch für den Gewissens- oder Überzeugungstäter nicht zu gelten.391 Bei der Fallgruppe Gewissens- und Überzeugungstäter handelt es recht Allgemeiner Teil, § 10 Rn. 59; Rogall, in: Wolter, Systematischer Kommentar zum Strafgesetzbuch, Bd. 1, § 17 Rn. 8; Roxin, Strafrecht Allgemeiner Teil, Bd. I, § 21 Rn. 12; Jescheck/Weigend, Lehrbuch des Strafrechts, S. 451; Sternberg-Lieben, in: Schönke/Schröder, StGB, § 17 Rn. 4; Momsen, in: Satzger/Schluckebier/Widmaier, StGB, § 17 Rn. 3; Schroeder, in: Jähnke/Laufhütte/Odersky, LK-StGB, Bd. 1, 11. Auflage, § 17 Rn. 5; Zabel, GA 2008, 33 (45). 387 Vgl. Duttge, in: Dölling/Duttge/Rössner, Gesamtes Strafrecht, § 17 Rn. 6; Neumann, in: NK-StGB, Bd. 1, § 17 Rn. 13. 388 Laubenthal/Baier, GA 2000, 205 (207). 389 Sofern der Täter der irrigen Annahme unterliegt, das deutsche Recht sei bei einer solchen Handlung nicht anwendbar, unterliegt er keinem Verbotsirrtum, vgl. BGH, StV 2000, 422 (423). 390 Stratenwerth/Kuhlen, Strafrecht Allgemeiner Teil, § 10 Rn. 59. 391 Der Überzeugungstäter handelt aufgrund seiner religiösen, sittlichen oder politischen Überzeugung und fühlt sich indes verpflichtet, zu diesem Zwecke – auch – rechtliche Normen zu übertreten, vgl. Stratenwerth/Kuhlen, Strafrecht Allgemeiner Teil, § 10 Rn. 60. Der Gewissenstäter handelt hingegen aufgrund einer an den Kategorien von „gut“ und „böse“ orientierten Entscheidung, die er in der bestimmten Lage als für sich bindend und unbedingt verpflichtend erfährt, sodass er gegen sie nicht ohne ernste Gewissensnot handeln könnte, vgl. BVerfGE 12, 45. Im Gegensatz zum Überzeugungstäter kann jedoch eine strafbare Handlung des Gewissenstäters aufgrund der verfassungs-

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B. Das Unrechtsbewusstsein als Kernelement der Schuld

sich weniger um eine Problematik des Unrechts, als vielmehr um eine Problematik des Bewusstseins hierüber. Der Täter setzt sich nämlich über die gesetzlichen Vorgaben der säkularen Rechtsordnung hinweg, obwohl er weiß, dass sein Verhalten missbilligt wird.392 Aufgrund kriminalpolitischer Erwägungen ist es dabei zwingend, einen Verbotsirrtum des Überzeugungs- und Gewissenstäters zu verneinen, da anderenfalls die Rechtsordnung suspendiert und der gezielte Angriff gegen ihre Werteordnung entlastend berücksichtigt würde.393 Unter Heranziehung des Schuldprinzips ließe sich dies wie folgt begründen: Versteht man das Unrechtsbewusstsein als Ergebnis einer kognitiven Leistung, weiß auch der aus Überzeugung handelnde Täter um das rechtliche Verbot seiner Handlung394 oder zumindest um die hiermit hervorgerufene soziale Störung im Verhältnis zu der (Rechts-)Ordnung.395 Der eigentliche Schuldvorwurf des Gewissens- und Überzeugungstäters liegt darin begründet, „daß er bewußt an die Stelle der Werteordnung der Gemeinschaft seine eigene setzt und von dieser her im Einzelfalle falsch wertet“ 396. Der von dieser Tätergruppe eingeschlagene Lebensweg stelle sich nach Auffassung des Bundesgerichtshofs somit als „Lebensführungsschuld“ 397 dar. 2. Sozialschädlichkeit der Handlung Entgegen der Auffassung Kaufmanns, der Unrechtsbewusstsein als „Bewußtsein der Sozialschädlichkeit“ 398 des Täterhandelns definiert, geht die überwiegende Auffassung davon aus, dass die bloße Sozialwidrigkeit der Tathandlung nichts über ihren Unrechtsgehalt zu sagen vermag.399 Der Umstand, dass das rechtlich garantierten Gewissensfreiheit des Art. 4 GG gerechtfertigt sein, vgl. ausführlich Radtke, GA 2000, 19 (21); Neumann, in: NK-StGB, Bd. 1, § 17 Rn. 42; ähnlich Stratenwerth/Kuhlen, Strafrecht Allgemeiner Teil, § 10 Rn. 60. 392 Duttge, in: Dölling/Duttge/Rössner, Gesamtes Strafrecht, § 17 Rn. 6; SternbergLieben, in: Schönke/Schröder, StGB, § 17 Rn. 7. 393 Vgl. Heuchemer, in: von Heintschel-Heinegg, StGB, § 17 Rn. 16.1. 394 Vgl. Neumann, in: NK-StGB, Bd. 1, § 17 Rn. 40; ähnlich Deckers, in: Bönner/ de Boor, Unrechtsbewusstsein aus Sicht des Täters, Aus Sicht des Richters, S. 63. 395 Vgl. Jakobs, Strafrecht Allgemeiner Teil, Abschn. 19 Rn. 24. 396 BGHSt 2, 194 (208). 397 Vgl. für die Begrifflichkeit BGHSt 2, 194 (209). 398 Kaufmann, Das Unrechtsbewusstsein in der Schuldlehre des Strafrechts, S. 142; ders., FS Lackner, S. 185 (188). Eine ähnliche Auffassung vertritt Schmidhäuser, FS Mayer, 317 (329), wenn er das Unrecht als eine bewusste Verletzung von Grundwerten des Zusammenlebens im staatlichen Gemeinwesen beschreibt. 399 Vgl. BGH, GA 1969, 61; Neumann, in: NK-StGB, Bd. 1, § 17 Rn. 15; Roxin, Strafrecht Allgemeiner Teil, Bd. I, § 21 Rn. 12; Joecks, in: Joecks/Mierbach, MüKoStGB, Bd. 1, § 17 Rn. 11; Duttge, in: Dölling/Duttge/Rössner, Gesamtes Strafrecht, § 17 Rn. 6; Momsen, in: Satzger/Schluckebier/Widmaier, StGB, § 17 Rn. 3. Sofern Heuchemer, in: von Heintschel-Heinegg, StGB, § 17 Rn. 7.1., in diesem Zusammenhang auf die Urteile BGHSt 11, 266; 15, 377 Bezug nimmt die Rechtsprechung als überholt dekla-

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Strafrecht sozialschädliches Verhalten zu untersagen versucht, kann – und soll – nicht bedeuten, dass das Strafrecht jegliche Erscheinung von sozialschädlichem Verhalten untersagen kann.400 Vielmehr gewährleistet das (Straf-)Recht ein „Minimum“ sozialkonformen Verhaltens, ohne dabei sämtliche sozialwidrigen Handlungsweisen zu pönalisieren. Sozialwidriges Verhalten kann über das gewährleistete Minimum der Sozialkonformität weit hinaus reichen, sodass sich ein gedanklicher Gleichlauf sozialschädlichen Handelns mit dem Unrechtsbewusstsein i. S. v. § 17 StGB verbietet.401 Als Beispiel ist in diesem Zusammenhand die Errichtung schwarzer Kassen zu nennen: Die X-AG ist ein Zulieferer der Automobilindustrie. T war als leitender Angestellter der X-AG unterhalb der Ebene des Zentralvorstandes mit der Akquisition neuer Kunden betraut und hatte zugleich dafür Sorge zu tragen, Rechtsverstöße innerhalb des Unternehmens sowie solche durch seine vertretungsberechtigten Organe zu unterbinden. In seiner leitenden Position war T autorisiert, Zahlungen in unbegrenzter Höhe anzuweisen. Um neue Kunden für das Unternehmen zu gewinnen, gewährte T Neukunden horrende Bonuszahlungen, die er nach Abschluss der jeweiligen Zuliefererverträge von einem eigens hierzu errichteten Nummernkonto in der Türkei vornahm. Zuvor setzte T den Zentralvorstand mittels einer internen Mitteilung über das bestehende Nummernkonto in Kenntnis, ohne dass hierauf eine Reaktion des Vorstandes folgte. Die Unterhaltung derartiger schwarzer Kassen zum Zwecke der Bestechung im geschäftlichen Verkehr birgt ein enormes Reputationsrisiko, das sich unternehmens- und mittelbar auch gesellschaftsschädigend auswirkt. Eine Strafbarkeit wegen Untreue scheidet jedoch aufgrund der internen Bekanntmachung gegenüber dem Vorstand aus, insbesondere, wenn dieser ein solches Vorgehen billigt.402 3. Rechtliches Verbot Soweit Gegenstand des Unrechts weder ein bewusster Verstoß gegen Sittenund Moralvorstellungen noch ein solcher gegen gesellschaftliche Grundwerte des staatlichen Gemeinwesens ist, kann Gegenstand des vom Täter verwirklichten riert, ist dieses Ergebnis nicht zutreffend. Wie Fischer, StGB, § 17 Rn. 4, zu Recht konstatiert, setzt der BGH in den genannten Urteilen die Erkenntnis einer spezifischen Rechtsgutverletzung mit dem Vorliegen von Unrechtsbewusstsein gleich (Teilbarkeit). Auf die Sozialwidrigkeit der Handlung nimmt der BGH gerade keinen Bezug, vgl. Fischer, StGB, § 17 Rn. 3. 400 Neumann, in: NK-StGB, Bd. 1, § 17 Rn. 15; Joecks, in: Joecks/Mierbach, MüKoStGB, Bd. 1, § 17 Rn. 11. 401 Ähnlich Neumann, in: NK-StGB, Bd. 1, § 17 Rn. 15; wohl zustimmend Pawlik, in: FS Schroeder, S. 357 (368). 402 Anders lag der Fall BGHSt, 52, 323 – „Siemens-KWU“, weil hier der Zentralvorstand keine Kenntnis von dem in Liechtenstein unterhaltenen Nummernkonto hatte, welches seinerseits eine schadensgleiche Vermögensgefährdung begründete.

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B. Das Unrechtsbewusstsein als Kernelement der Schuld

Unrechts nur eine Missbilligung oder Verletzung von geltenden Rechtsnormen sein. Gesetzliche Ge- und Verbote dienen somit als Bezugspunkt für das im Rahmen der Schuld relevante Unrechtsbewusstsein des Täters.403 Indes ist zwischen Teilen der Literatur und der Rechtsprechung umstritten, woran sich das materielle Unrecht orientiert, insbesondere, ob das Bewusstsein der Strafbarkeit für die Verbotskenntnis erforderlich ist oder nicht. a) Weiter Unrechtsbegriff Die Rechtsprechung und nicht unwesentliche Teile der Literatur legen dem Unrechtsbegriff in § 17 StGB ein weites Verständnis zugrunde. Danach genügt es für die Bejahung des Unrechtsbewusstseins, wenn der Täter einen (potenziell) bewussten Verstoß gegen die Gesamtrechtsordnung als solche begeht; insbesondere komme es nicht darauf an, ob der Täter zivil-, straf- oder öffentlich-rechtliche Vorschriften bewusst verletzt.404 Diesem Ansatz werden folgende Argumente zugrunde gelegt: Ein extensives Unrechtsverständnis, das keine Unterscheidung hinsichtlich der Rechtsnatur der verletzten Norm vornimmt, sei – bereits um der Einheit der Rechtsordnung Willen – notwendig.405 Dies werde auch durch den Wortlaut des Gesetzes bestätigt. Die Vorschrift des § 17 StGB beschreibt das Unrechtsbewusstsein als die „Einsicht, Unrecht zu tun“ und gerade nicht als die „Einsicht, strafbar zu handeln“.406 Ferner sprächen auch rechtspolitische Erwägungen, mitunter die sicherheitsfördernde Tendenz der Verbotsirrtumslehre,407 für eine extensive Auslegung des Unrechtsbegriffs. Insbesondere solle der Täter, der sehenden Auges die bestehende Rechtsordnung verletzt, sich nicht damit exkulpieren können, dass er das Ausmaß seiner Rechtsverletzung nicht hätte erkennen können.408 Die Be403

Roxin, Strafrecht Allgemeiner Teil, Bd. I, § 23 Rn. 12. Vgl. BGHSt 52, 227 (240); 52, 182 (190); 45, 97 (100 f.); 15, 377 (383); 10, 35 (41); 2, 194 (202); NStZ 1996, 236 (237); Roxin, Strafrecht Allgemeiner Teil, Bd. I, § 21 Rn. 13; Duttge, in: Dölling/Duttge/Rössner, Gesamtes Strafrecht, § 17 Rn. 5; Kaspar, in: Leitner/Rosenau, Wirtschafts- und Steuerstrafrecht, § 17 StGB Rn. 9; Sternberg-Lieben/Schuster, in: Schönke/Schröder, StGB, § 17 Rn. 5; Momsen, in: Satzger/ Schluckebier/Widmaier, StGB, § 17 Rn. 2; Frister, Strafrecht Allgemeiner Teil, 19. Kap. Rn. 3; Rogall, in: Wolter, Systematischer Kommentar zum Strafgesetzbuch, Bd. 1, § 17 Rn. 9; Fischer, StGB, § 17 Rn. 3; Kühl, in: Lackner/Kühl, StGB, § 17 Rn. 2; Gropp, Strafrecht Allgemeiner Teil, § 13 Rn. 77. 405 Müller-Dietz, Grenzen des Schuldgedankens im Strafrecht, S. 85. 406 Vgl. Roxin, Strafrecht Allgemeiner Teil, Bd. I, § 21 Rn. 13; zustimmend Duttge, in: Dölling/Duttge/Rössner, Gesamtes Strafrecht, § 17 Rn. 5. 407 Vgl. insoweit Naucke, FS Roxin, S. 503 (509). 408 Vgl. Kaspar, in: Leitner/Rosenau, Wirtschafts- und Steuerstrafrecht, § 17 StGB Rn. 9; Roxin, Strafrecht Allgemeiner Teil, Bd. I, § 21 Rn. 13. 404

III. Gegenstand des Unrechts(-bewusstseins) nach heutigem Verständnis

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rufung auf ein fehlendes Strafbarkeitsbewusstsein ist deshalb unbeachtlich, weil sich der Täter aufgrund der bewussten Auflehnung gegen die Wertentscheidung des Gesetzgebers zu einem rechtstreuen Verhalten hätte motivieren können.409 Der auf eine reine Strafbarkeitskenntnis bezogene Verbotsirrtum könne somit den (ahnungslosen) Täter in zu weitem Umfang von einer Strafbarkeit entlasten.410 Zudem wird argumentiert, dass der juristische Laie eine rechtliche Sanktionierbarkeit regelmäßig ohnehin als solche des Strafrechts begreife und sein normwidriges Verhalten daher mit einer Strafbarkeit verbinde.411 b) Enger Unrechtsbegriff unter Rückgriff auf die Lehre Feuerbachs Demgegenüber vertritt eine große Anhängerschaft der juristischen Literatur einen restriktiven Ansatz mit Blick auf das von § 17 StGB geforderte Unrechtsbewusstsein. Danach liegt beim Täter das für die Strafbarkeit erforderliche Unrechtsbewusstsein dann vor, wenn der Täter bewusst respektive wissentlich gegen ein sanktionsbewehrtes rechtliches Verbot verstößt.412 Eine solche Auslegung des Unrechtsbewusstseins geht dabei auf Feuerbachs Theorie des psychologischen Zwanges zurück.413 Nach Feuerbach setzte die „Bedingung der Imputativität (. . .) das Bewustseyn der Strafbarkeit der Handlung, welches a) die Vorstellung des Strafgesetzes selbst in dem Momente der Willensbestimmung, und b) die richtige Subsumtion der Handlung unter das Gesetz, (. . .)“ 414 voraus. 409 Vgl. Roxin, Strafrecht Allgemeiner Teil, Bd. I, § 21 Rn. 13; Zabel, GA 2008, 33 (45); Rogall, in: Wolter, Systematischer Kommentar zum Strafgesetzbuch, Bd. 1, § 17 Rn. 9 . 410 Vgl. Stratenwerth/Kuhlen, Strafrecht Allgemeiner Teil, Kap. 2 Rn. 63; Naucke, FS Roxin, S. 503 (509). 411 Roxin, Strafrecht Allgemeiner Teil, Bd. I, § 21 Rn. 13; Laubenthal/Baier, GA 2000, 205 (209); zustimmend Zabel, GA 2008, 33 (45). 412 Vgl. in diesem Zusammenhang Neumann, in: NK-StGB, Bd. 1, § 17 Rn. 22; Heuchemer, in: von Heintschel-Heinegg, StGB, § 17 Rn. 8; wohl auch Kaspar, in: Leitner/ Rosenau, Wirtschafts- und Steuerstrafrecht, § 17 StGB Rn. 9 f.; Joecks, in: Joecks/ Mierbach, MüKo-StGB, Bd. 1, § 17 Rn. 16; ders., StGB, § 17 Rn. 5; Müssig, NStZ 2009, 421 (425); Schroeder, in: Jähnke/Laufhütte/Odersky, LK-StGB, Bd. 1, 11. Auflage § 17 Rn. 7; wohl auch Vogel, in: Laufhütte/Rissing-van Saan/Tiedemann, § 17 Rn. 17; Köhler, Strafrecht Allgemeiner Teil, S. 403; Stratenwerth/Kuhlen, Strafrecht Allgemeiner Teil, Kap. 2 Rn. 63; Jakobs, Strafrecht Allgemeiner Teil, Abschn. 19 Rn. 23; Otto, JURA 1990, 645 (647); Laubenthal/Baier, GA 2000, 205 (207). Ähnlich wohl auch Kindhäuser, GA 1990, 407 (414), wenn er konstatiert: „Daher ist Tatbestandskenntnis Kenntnis des Normsinns; und ein Irrtum über den Sinn des Tatbestandes ist ein Gebots- oder Verbotsirrtum.“ 413 Neumann, in: NK-StGB, Bd. 1, § 17 Rn. 23, zustimmend Joecks, in: Joecks/Mierbach, MüKo-StGB, Bd. 1, § 17 Rn. 15. 414 Feuerbach, Lehrbuch des peinlichen Rechts, § 93. Später schränkte er diese Theorie jedoch durch eine prozessual widerlegbare Vermutung ein, vgl. insoweit Feuerbach, Lehrbuch des peinlichen Rechts, 14. Auflage, § 86: „Von jeder mit Verstand begabten Person wird im Allgemeinen als rechtlich gewiss angenommen, dass sie mit den

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B. Das Unrechtsbewusstsein als Kernelement der Schuld

Für den engen Unrechtsbegriff spreche zunächst, dass keine Identität zwischen der Kenntnis einer rechtlichen Korrigierbarkeit – wie sie bspw. bei Verstößen gegen zivilrechtliche Vorschriften zu erwarten ist – und der Kenntnis der rechtlichen Sanktionierbarkeit des Täterhandelns bestehe.415 Während die Rechtsordnung bei der Verletzung privatrechtlicher Vorschriften um eine angemessene Kompensation, beispielsweise in Gestalt von Schadensersatz, bemüht sei, spreche sie gegenüber dem Täter bei der Verletzung von Strafvorschriften ihre Missbilligung durch die Verhängung von Kriminalstrafe aus.416 Zudem streite für eine restriktive Auslegung des Unrechtsbegriffs, dass es sich bei dem Sprung von (gewöhnlichem) Unrecht zu strafbarem Unrecht um einen Quantensprung handele.417 Strafbares Unrecht sei qualitativ etwas Besonderes und weitaus schwerwiegender als der bloße Irrtum über die Höhe der zu verhängenden Kriminalstrafe, bei dem es auf die Quantität des Unrechts ankomme.418 Dem von der überwiegenden Auffassung angeführten Argument der ungerechtfertigten Strafbarkeitsentlastung sei entgegenzuhalten, dass das Täterwissen um die (vom Täter empfundene) Wertewidrigkeit der Handlung regelmäßig eine negative Vermeidbarkeitsprüfung nach sich ziehe, sodass eine Straffreiheit die absolute Ausnahme bleibe.419 Sofern die überwiegende Auffassung sich auf den Wortlaut des § 17 StGB berufe, der das Unrechtsbewusstsein gerade nicht als die „Einsicht, strafbar zu handeln“ beschreibt, hält Neumann diesem Argument die Gesetzgebungsgeschichte des § 17 StGB entgegen. Insbesondere gehe aus den Gesetzgebungsmaterialien nicht hervor, dass der Gesetzgeber gezielt eine verallgemeinernde Formulierung gewählt habe.420 Vielmehr sollte eine nähere Inhaltsbestimmung der Rechtsprechung und der Literatur überlassen werden.421

Strafgesetzen bekannt sei (. . .) so lange nicht aus besonderen Thatsachen das Gegenteil sich ergibt.“ 415 Müssig, NStZ 2009, 421 (425); Schroeder, in: Jähnke/Laufhütte/Odersky, LKStGB, Bd. 1, 11. Auflage, § 17 Rn. 7; Neumann, in: NK-StGB, Bd. 1, § 17 Rn. 21; ders., JuS 1993, 793 (795). 416 Vogel, in: Laufhütte/Rissing-van Saan/Tiedemann, § 17 Rn. 17; ähnlich Neumann, in: NK-StGB, Bd. 1, § 17 Rn. 21. 417 Walter, Der Kern des Strafrechts, S. 303. 418 Gemäß Walter, Der Kern des Strafrechts, S. 303, kann man daher den „Irrtum über die Strafbarkeit nicht abtun als quasi formal-juristische Fehlkalkulation bezüglich einer Rechtsfolge (. . .).“ 419 Joecks, in: Joecks/Mierbach, MüKo-StGB, Bd. 1, § 17 Rn. 16; ähnlich Schroeder, in: Jähnke/Laufhütte/Odersky, LK-StGB, Bd. 1, 11. Auflage, § 17 Rn. 7; und Vogel, in: Laufhütte/Rissing-van Saan/Tiedemann, LK-StGB, § 17 Rn. 17. 420 Neumann, in: NK-StGB, Bd. 1, § 17 Rn. 22 mit Bezugnahme auf die Protokolle des Sonderausschusses des Deutschen Bundestages für die Strafrechtsreform V/1787. 421 Neumann, in: NK-StGB, Bd. 1, § 17 Rn. 22 mit Bezugnahme auf die Protokolle des Sonderausschusses des Deutschen Bundestages für die Strafrechtsreform V/1786 f.

III. Gegenstand des Unrechts(-bewusstseins) nach heutigem Verständnis

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c) Rechtsnatur der sanktionsbewehrten Norm im Rahmen des engen Unrechtsbegriffs Innerhalb des engen Unrechtsbegriffs ist ferner streitig, welche Rechtsnatur der sanktionsbewehrten Norm zuteilwird. Teilweise solle die Kenntnis der sanktionsbewehrten Norm ausschließlich Straftatbestände betreffen.422 Nach dieser Auffassung solle ein Verbotsirrtum erst dann vorliegen, wenn dem Täter das Bewusstsein fehlt, „sich einem im Strafbarkeitsvorwurf liegenden Missbilligungsurteil auszusetzen, das schon per se (. . .) als Grundrechtseingriff zu qualifizieren ist“ 423. Nach der (differenzierenden) Auffassung Neumanns solle es für die Annahme des Unrechtsbewusstseins hingegen genügen, wenn der Täter die Einsicht habe, ordnungswidrig zu handeln.424 Soweit nämlich der Täter annehme, dass seine Handlung gegen eine Norm des Ordnungswidrigkeitenrechts verstoße, kenne er zugleich auch die in der Sanktionsandrohung manifestierte Missbilligung seiner Handlung.425 Zu beachten ist hierbei an der Auffassung Neumanns, dass er sich wohl nur auf Ordnungsverstöße mit Sanktionsandrohung beschränkt.426 d) Zusammenfassende Kritik und Stellungnahme Nach hier vertretener Auffassung ist dem engen Unrechtsbegriff zu folgen. Neben vorzugswürdigen Argumenten spricht insbesondere ein Vergleich zwischen Vorsatz- und Schuldtheorie für ein restriktives Unrechtsverständnis des § 17 StGB. Hierfür sprechen bereits historische Argumente, die aus dem Streit um den „error iuris nocet“ resultieren. Wie im Zusammenhang mit den Ausführungen zur Historie des Verbotsirrtums dargelegt, ist die Kenntnis von sanktionsbewehrten Normen als Voraussetzung für das Unrechtsbewusstsein keine neue Erkenntnis. Dies wird vor allem mit Blick auf das Nürnberger Kriminalrecht deutlich, dessen Unterscheidung zwischen außer(straf-)rechtlichen und kernstrafrechtlichen Verboten bis heute eine gewisse Relevanz besitzt. Ferner spricht für die hier vertretene Auffassung auch der Ansatz des Entwurfs zum PStGB von 1833, der gem. § 103 PStGB eine Strafmilderungsmöglichkeit im Falle der Unkenntnis von Strafvorschriften vorsah sowie das Kriminalgesetzbuch für das Königreich Han422 Vgl. Laubenthal/Baier, GA 2000, 205 f.; Schroeder, in: Jähnke/Laufhütte/ Odersky, LK-StGB, Bd. 1, 11. Auflage, § 17 Rn. 8. 423 Laubenthal/Baier, GA 2000, 205 (207) m.w. N. 424 Neumann, in: NK-StGB, Bd. 1, § 17 Rn. 28. 425 Neumann, in: NK-StGB, Bd. 1, § 17 Rn. 28. 426 Dies ergibt sich aus der von Neumann vorgenommenen Differenzierung zwischen Ordnungswidrigkeitenrecht und Disziplinarrecht, vgl. Neumann, in: NK-StGB, Bd. 1, § 17 Rn. 28 f.

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B. Das Unrechtsbewusstsein als Kernelement der Schuld

nover von 1940, das gem. Art. 41 das Bewusstsein, eine strafgesetzwidrige Handlung zu begehen, als unentbehrliche Voraussetzung für die Strafbarkeit ansah. Die Bildung einer die gesamte Rechtsordnung umfassenden Akzessorietät mit dem in § 17 StGB verankerten Unrechtsbegriff ist dabei Ausdruck eines Angststrafrechts, da sich Täter nur unter erschwerten Bedingungen auf einen (möglicherweise) strafbefreienden Irrtum berufen können. Die Rechtsprechung bedient sich bei der Begründung von Strafe der Steuerungsinstrumente des Zivil- und Verwaltungsrechts, obwohl diese vordergründig der Vermeidung von Strafe zu dienen bestimmt sind. Die Erweiterung des in § 17 StGB kodifizierten Unrechtsbegriffs auf die Gesamtrechtsordnung verkehrt damit die Funktionen zivil- und verwaltungsrechtlicher Vorschriften, da diese präventive Instrumentarien zur Wahrung des Rechtsfriedens darstellen, mithin einer Strafbarkeit Vorbeuge leisten und eine solche nicht schon begründen sollen. Ferner ist dem rechtspolitischen Argument einer unverhältnismäßigen Strafbarkeitsentlastung des „ahnungslosen Täters“ entgegenzuhalten, dass es regelmäßig an einer solchen Ahnungslosigkeit fehlen wird. Der Durchschnittsbürger weiß nämlich regelmäßig um die ihn betreffenden (Kern-)Verbote. Dies muss er auch, da für ihn anderenfalls die Teilnahme am täglichen Gesellschafts- und Geschäftsleben kaum möglich wäre. Dass dies mit Blick auf Strafnormen des Nebenstrafrechts anders zu bewerten ist, mag zwar dahinstehen, jedoch zumindest mit Blick auf die im Kernstrafrecht geltenden Rechtsvorschriften ist ein solches kriminalpolitisches Argument ein Mythos. Auch die zunehmende Digitalisierung und der damit verbundene Zugang zu Rechtsquellen rechtfertigen die Annahme, dass ein juristischer Laie durchaus strafrechtliche Verbote von solchen des Zivilrechts und öffentlichen Rechts differenzieren kann. Darüber hinaus muss auch der „ahnungslose Täter“ im Falle einer tatsächlichen Unkenntnis der Norm die Hürde einer Vermeidbarkeitsprüfung zwecks Straffreiheit überwinden, woran er jedoch regelmäßig scheitern wird. Kritisch anzumerken ist zudem, dass die vermeintlich herrschende Meinung eines extensiven Unrechtsverständnisses den Eindruck der Uneinheitlichkeit erweckt. Während der Bundesgerichtshof stringent an einer extensiven Auslegung des Unrechtsbegriffs festhält, finden sich bei den (vermeintlichen) Vertretern des weiten Unrechtsbegriffs Parallelen zu dem Erfordernis der Kenntnis der Strafbarkeit bzw. Sanktionierbarkeit der verwirklichten Handlung. So stellt sich Rudolphi einerseits auf den Standpunkt, dass es für die Bejahung des Unrechtsbewusstseins zwar unbeachtlich sei, ob der Täter die „von ihm verletzte Norm als strafrechtliche, zivilrechtliche oder verwaltungsrechtliche Norm qualifiziert, (. . .)“ 427. Zugleich gesteht er jedoch ein, „daß nur ein besonders 427 Rudolphi, Unrechtsbewusstsein, Verbotsirrtum und Vermeidbarkeit des Verbotsirrtums, S. 63.

III. Gegenstand des Unrechts(-bewusstseins) nach heutigem Verständnis

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gravierendes Unrecht Strafe nach sich zieht und der Täter sich gerade dieses Unrechts bewusst sein muss, um schuldhaft zu handeln“ 428. In einen noch deutlicheren Widerspruch zum weiten Unrechtsbegriff setzt sich eine Entscheidung des LG Mannheim. Nach diesem komme es gerade entscheidend auf die Kenntnis der Strafbarkeit der relevanten Handlung an. So etwa in einem Fall, in dem sich der aus Pakistan stämmige Täter weigerte, einer sich in einer Notsituation befindlichen Frau Hilfe zu leisten. Das LG Mannheim nahm für diesen Fall einen unvermeidbaren Verbotsirrtum mit folgender Begründung an: „Danach gibt es im pakistanischen StGB keinen Straftatbestand, der unserem Tatbestand des § 323c StGB gleicht. (. . .) Hinzu kommt, daß es sich bei § 323c StGB nicht um sog. Kernunrecht handelt, für welches der Satz gelten würde: Error juris nocet. Vielmehr ist dieser Tatbestand erst 1935 geschaffen und ins Reichsstrafgesetzbuch eingefügt worden.“ 429

Des Weiteren lässt sich in nachvollziehbarer Weise argumentieren, dass ein extensives Unrechtsverständnis mit der Annahme der Teilbarkeit des Unrechtsbewusstseins unvereinbar ist.430 Gemäß der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs liege die Unrechtseinsicht nur dann vor, wenn der Täter „die von dem in Betracht kommenden Tatbestand umfasste spezifische Rechtsgutverletzung als Unrecht erkennt“ 431. Geht man von der Teilbarkeit des Unrechtsbewusstseins432 aus, muss sich die Unrechtseinsicht auf die jeweilige tatbestandlich bestimmte Verbots- bzw. Gebotsmaterie beziehen.433 So ist es beim Zusammentreffen mehrerer Delikte mit gemeinsamem Grundtatbestand möglich, dass das erforderliche Unrechtsbewusstsein mit Blick auf die Verwirklichung eines Tatbestandes vorliegt, hingegen bezüglich des mit derselben Handlung verwirklichten qualifizierten Tatbestandes gleichermaßen fehlt.434 Bei konsequenter Anwendung des wei428 Rudolphi, Unrechtsbewusstsein, Verbotsirrtum und Vermeidbarkeit des Verbotsirrtums, S. 63. Vgl. für weitere Nachweise in diesem Zusammenhang Vogel, in: Laufhütte/Rissing-van Saan/Tiedemann, LK-StGB, Bd. 1, 12. Auflage, § 17 Rn. 17. 429 LG Mannheim, NJW 1990, 2212 (2213). 430 Insoweit a. A. Rodenbeck, Die Berufung auf einen Verbotsirrtum als Schutzbehauptung, S. 68 f. 431 BGHSt 15, 377 (383). 432 Vgl. BGHSt 10, 35 (40 f.); 22, 314 (318). Im Ergebnis wohl auch BGHSt 15, 377 (383); Sternberg-Lieben/Schröder, in: Schönke/Schröder, StGB, § 17 Rn. 8; Neumann, in: NK-StGB, Bd. 1, § 17 Rn. 26 und 35; Roxin, Strafrecht Allgemeiner Teil, Bd. I, § 21 Rn. 16; Schroeder, in: Jähnke/Laufhütte/Odersky, LK-StGB, Bd. 1, 11. Auflage, § 17 Rn.14; Vogel, in: Laufhütte/Rissing-van Saan/Tiedemann, LK-StGB, Bd. 1, 12. Auflage, § 17 Rn. 21 m.w. N. 433 Köhler, Strafrecht Allgemeiner Teil, S. 403. 434 Hat der Täter bspw. Unrechtsbewusstsein bzgl. der sexuellen Nötigung (§ 177 Abs. 1 StGB), muss ein solches nicht zwangsweise auch bzgl. der ebenfalls verwirklichten sexuellen Handlung an Schutzbefohlenen (§ 174 StGB) vorliegen, vgl. Joecks, in: Joecks/Mierbach, MüKo-StGB, Bd. 1, § 17 Rn. 17.

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B. Das Unrechtsbewusstsein als Kernelement der Schuld

ten Unrechtsbegriffs würde eine solche Teilbarkeit quasi unmöglich gemacht, verstößt der Täter doch gerade gegen die objektive Werteordnung des Rechts insgesamt,435 die bei konsequenter Anwendung des extensiven Unrechtsbegriffs die Bejahung des Unrechtsbewusstseins bezüglich aller verwirklichten Tatbestände zur Folge hätte. Auch sprechen strafzwecktheoretische Gründe gegen ein weites Unrechtsverständnis. Gegen den Täter, der sich unbewusst strafbar macht, ist die Verhängung von Kriminalstrafe vor dem Hintergrund der relativen Strafzwecktheorien bedeutungslos, sodass die strafzweckorientierte Schuldlehre nach den anerkannten Vereinigungstheorien zumindest partiell unterlaufen würde.436 Zudem legt eine systematische Auslegung das restriktive Verständnis des Unrechtsbegriffs nahe. Soweit die Unrechtseinsicht bei Begehung der „Tat“ vorliegen muss, kann es sich hierbei vor dem Hintergrund des § 11 Abs. 1 Nr. 5 StGB nur um eine solche handeln, die den Tatbestand eines Strafgesetzes verwirklicht.437 Neumann ist beizupflichten, dass auch ein Vergleich zwischen der Vorschrift des § 11 Abs. 2 OWiG und § 17 StGB dieses Argument stützt. Während § 11 Abs. 2 OWiG von der „Einsicht, etwas Unerlaubtes zu tun“ spricht, handelt es sich bei dem Begriff des Unrechts in § 17 StGB um ein tatbestandliches Mehr, das den Rückschluss auf die Notwendigkeit einer strafbaren Handlung zulässt.438 Mit Blick auf die geforderte Rechtsnatur der sanktionsbewehrten Norm bedarf es hingegen einer weitergehenden Betrachtung. Laubenthal und Baier ist beizupflichten, dass zwar bereits der sanktionslose Vorwurf einer Normübertretung stets einen Grundrechtseingriff darstellt.439 Dass die bewusste Übertretung sanktionsloser Rechtsnormen (wie bspw. die Verwarnung ohne Verwarngeld gem. § 56 Abs. 1 S. 2 OWiG oder die Rüge im Falle einer Dienstpflichtverletzung i. S. v. §§ 74 BRAO, 81 StBerG) für eine strafrechtliche Ahndung nicht genügt, ist vor dem Hintergrund des engen Unrechtsbegriffs unproblematisch.440 435 Vogel, in: Laufhütte/Rissing-van Saan/Tiedemann, LK-StGB, Bd. 1, 12. Auflage, § 17 Rn. 17; Laubenthal/Baier, GA 2000, 205 (207). 436 Vgl. Roxin, Kriminalpolitik und Strafrechtssystem, S. 33; zustimmend Schroeder, in: Jähnke/Laufhütte/Odersky, LK-StGB, Bd. 1, 11. Auflage, § 17 Rn. 7 und Vogel, in: Laufhütte/Rissing-van Saan/Tiedemann, LK-StGB, Bd. 1, 12. Auflage, § 17 Rn. 17. 437 Vgl. Vogel, in: Laufhütte/Rissing-van Saan/Tiedemann, LK-StGB, Bd. 1, 12. Auflage, § 17 Rn. 17 mit Bezugnahme auf die Rechtsprechung des OLG Stuttgart, NStZ 1993, 344 (345). 438 Vgl. insoweit Neumann, in: NK-StGB, Bd. 1, § 17 Rn. 24. 439 Vgl. Laubenthal/Baier, GA 2000, 205 (208). 440 Vgl. Laubenthal/Baier, GA 2000, 205 (208).

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Hingegen bedarf es für den Ansatz Neumanns, wonach sanktionsbewehrtes Ordnungswidrigkeitenunrecht und strafbares Unrecht gleichzusetzen seien,441 einer tiefergehenden Begründung. Insoweit ist nämlich streitig, ob die materiellrechtlichen und prozessualen Besonderheiten des Ordnungswidrigkeitenrechts quantitativen Unterschieden im Vergleich zu Straftatbeständen begegnen oder ob Ordnungswidrigkeiten ein qualitativ eigener Unrechtsgehalt zukommt. Die Auffassung Neumanns geht dabei zurück auf Jakobs. Dieser argumentiert, dass eine qualitative Differenz zwischen Straftaten und Ordnungswidrigkeiten nicht bestehe.442 Die Zuordnung einer Handlung als Ordnungswidrigkeit oder Straftat würde vom Gesetzgeber in der Weise bestimmt, wie die Handhabung der anfallenden Verfahren praktisch zu bewältigen sei, und danach, ob eine Sanktion in Gestalt der Geldbuße als ausreichend erachtet werde.443 Entscheidend für eine qualitative Gleichwertigkeit von Ordnungswidrigkeiten und Straftaten sprechen nach hier vertretener Ansicht die gesetzgeberischen Entwicklungen im Bereich des Ordnungswidrigkeitenrechts sowie die Sanktionierung von Unternehmen seit Mitte der 2000er Jahre: Mit Blick auf stetig ansteigende Bußgelder im Rahmen verwirklichter Verkehrsordnungswidrigkeiten ist die Annahme, dass Strafe stets eine stärkere Wirkung als eine geartete Geldbuße habe, überholt.444 Exemplarisch sei in diesem Zusammenhang das Beispiel der Trunkenheitsfahrt genannt: Hat der Täter eine solche gem. § 24a StVG begangen, sieht der Bußgeldkatalog in seiner für das Jahr 2017/2018 geltenden Fassung eine Geldbuße zwischen 500 und 1500 EUR vor. Im Vergleich dazu werden Verstöße von Ersttätern gegen § 316 StGB mit 30 bis 50 Tagessätzen geahndet (so beispielsweise in RheinlandPfalz und Saarbrücken).445 Im Ergebnis kann es für den Täter – unter Zugrundelegung einer niedrigen Tagessatzhöhe – günstiger sein, eine Straftat zu verwirklichen, als mit einer Geldbuße belegt zu werden. Ferner überzeugt für die Annahme einer Gleichstellung von Ordnungswidrigkeitenunrecht und strafbarem Unrecht die Gesetzeslage hinsichtlich der Sanktionierung juristischer Personen. Begeht der Repräsentant einer juristischen Person eine Straftat oder Ordnungswidrigkeit, kann der dahinterstehenden juristischen Person eine Unternehmensgeldbuße von bis zu 10 Mio. EUR auferlegt werden. 441

Vgl. Neumann, in: NK-StGB, Bd. 1, § 17 Rn. 28. Jakobs, Strafrecht Allgemeiner Teil, Abschn. 3 Rn. 8, verweist in diesem Zusammenhang exemplarisch auf das Straßenverkehrsrecht (§ 316 StGB als Straftat, § 24 StVG als Ordnungswidrigkeit), das Steuerrecht (§ 370 AO als Straftat, § 378 AO als Ordnungswidrigkeit), das Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen (§ 38 ff. GWB). 443 Vgl. ausführlicher Jakobs, Strafrecht Allgemeiner Teil, Abschn. 3 Rn. 8 ff. 444 Vgl. Schaller, in: Bachmeier/Müller/Starkgraff, Fachanwaltskommentar Verkehrsrecht, § 21 Zusammentreffen von Straftat und Ordnungswidrigkeit Rn. 1. 445 Gebhardt, Das verkehrsrechtliche Mandat, § 58 Rn. 21 f. 442

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Selbiges gilt, wenn die Unternehmensleitung Rechtsverstöße der Belegschaft mangels gehöriger Aufsicht nicht vermieden hat („Durchgriff auf Unternehmensverantwortliche“ 446). Ferner kann über § 17 Abs. 4 OWiG die Geldbuße derart erhöht werden, dass der Gewinn abzuschöpfen ist, der dem wirtschaftlichen Vorteil entspricht, der aus der Tat generiert wurde.447 Ein weiteres punitives Instrument im Zusammenhang mit Unternehmensstraftaten stellt die Einziehung von Taterträgen gem. §§ 73 ff. StGB bzw. 29a OWiG dar.448 Trotz der mangelnden Schuldfähigkeit juristischer Personen stellen die Rechtsfolgen, die Unternehmen in der Folge von Rechtsverstößen drohen, überaus empfindliche Sanktionen dar.449 Selbst wenn man vor dem Hintergrund der mangelnden Schuldfähigkeit juristischer Personen im Falle der Unternehmensgeldbuße und Einziehung nicht von einer Kriminalstrafe sprechen kann,450 erinnert das Korrelat der Sanktionsinstrumentarien doch stark an ein faktisches Unternehmensstrafrecht,451 das im internationalen Vergleich durchaus konkurrenzfähig ist. Vor dem genannten Hintergrund überzeugen die Argumente Neumanns dahingehend, als der rechtliche Wandel und die nur selten klare Trennung zwischen Ordnungswidrigkeiten- und strafbarem Unrecht den Unrechtsbegriff des § 17 StGB derart prägen, dass es für die Schuldfähigkeit des Täters keinen Unterschied machen kann, ob er bewusst gegen Straf- oder sanktionsbewehrtes Ordnungswidrigkeitenrecht verstößt. e) Der enge Unrechtsbegriff als Synthese von Vorsatz- und Schuldtheorie Das soeben aufgefundene Ergebnis ist insbesondere dann nachvollziehbar, wenn man sich das Unrechtsbewusstsein vor dem Hintergrund der Vorsatz- und Schuldtheorie vor Augen führt und sich bewusst macht, dass sich diese nur über 446

Bottmann, in: Park, Kapitalmarktstrafrecht, Kap. 2.1. Rn. 21. Vgl. Berndt, in: Berndt/Theile, Unternehmensstrafrecht und Unternehmensverteidigung, Teil 5 Rn. 470. 448 Die Vermögensabschöpfung wird dabei nach dem Bruttoprinzip durchgeführt. Das heißt, dass nicht nur die Tatgewinne, sondern der gesamte aus der Tat erlangte Vermögenzuwachs eingezogen wird, vgl. Meyberg, in: Graf, BeckOK-OWiG, § 29a Rn. 46. 449 Gemäß dem BVerfG hat der „Verfall“, der seit der Novellierung der StPO im Jahr 2017 unter der „Einziehung von Taterträgen bei Tätern und Teilnehmern“ geregelt ist, selbst bei Anwendung des Bruttoprinzips keinen mit der Kriminalstrafe gleichzusetzenden, strafähnlichen Charakter, vgl. BVerfG, NJW 2004, 2073 (2075 f.). 450 Mitsch, NZWiSt 2014, 1 (2); Schmoller, FS Otto, 2007, S. 453 (455) m.w. N. 451 Vgl. hierzu Kubiciel, in: FS Wessing, S. 69 (70) m.w. N. Wessing, ZHW 2012, 301 (304), kommt nach der Analyse und Auswertung der bestehenden Sanktionsinstrumentarien gegen Unternehmen zu dem Ergebnis, dass sich „[l]ängst (. . .) eine Art informelles Unternehmensstrafrecht entwickelt“ habe. Vgl. zu diesem Ergebnis auch SchmittLeonardy, in: Jahn/Schmitt-Leonardy/Schoop, Das Unternehmensstrafrecht und seine Alternativen, S. 251 (257); sowie Momsen/Grützner, CCZ 2017, 242 (243). 447

III. Gegenstand des Unrechts(-bewusstseins) nach heutigem Verständnis

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die systematische Verortung des Unrechtsbewusstseins uneins sind, ihr Verständnis von verwirklichtem Unrecht jedoch dasselbe ist. Wie bereits erörtert, weist der enge Unrechtsbegriff Parallelen zu Feuerbachs Lehre des psychologischen Zwanges auf. Zugleich fügt er sich in die herrschende (eingeschränkte) Schuldtheorie unter Ablehnung der Vorsatztheorien ein. Insoweit ist die Kenntnis der sanktionsbewehrten Norm keineswegs gleichzusetzen mit der Theorie des „dolus malus“, denn das schuldrelevante Unrechtsbewusstsein ist ein eigenständiges kognitives Element von Schuld. Dabei geht es über das bloße Bewusstsein, Unrecht zu verwirklichen, hinaus; es handelt sich, um ein „Rechtswidrigkeitsbewusstsein“ 452, das die Kenntnis der sanktionsbewehrten Norm voraussetzt. Im Folgenden wird der Begriff des Rechtswidrigkeitsbewusstseins aufgegriffen, um darzulegen, dass der im Rahmen der Schuldtheorie vertretene enge Unrechtsbegriff bei genauer Betrachtung wichtige und richtige Elemente der Vorsatztheorie enthält. Die Vorsatztheorie, die das Unrechtsbewusstsein im Tätervorsatz verortet, verkennt, dass zum Tatvorsatz nur „(. . .) die aktuelle Vorstellung oder Wahrnehmung des betreffenden Tatbestandselements(. . .)“ 453 gehört. Jedoch muss man sich bei Zugrundelegung der Vorsatztheorie stets vor Augen führen, dass der Täter bei Begehung der Tat auch immer das Bewusstsein hat, wider das Recht zu handeln und dabei insbesondere gegen einen sanktionsbewehrten Tatbestand zu verstoßen. Man kann also von einem „tatbestandsspezifischen Unrechtsbewusstsein“ sprechen.454 Genau hier liegt der Gleichlauf zwischen Schuld- und Vorsatztheorie, denn das tatbestandsspezifische Unrechtsbewusstsein ist nicht mehr und nicht weniger als die Kenntnis von der verletzten sanktionsbewehrten Norm. Einen ähnlichen Ansatz verfolgte Puppe, soweit sie davon ausging, dass der Verbots- und (Erlaubnis-)Tatbestandsirrtum zueinander in einem Spezialitätsverhältnis stehen.455 Hierzu führte sie aus: „Wer den tatbestandserfüllenden Sachverhalt ganz oder teilweise nicht kennt, kann auch das tatbestandsspezifische Unrechtsbewusstsein nicht haben.“ 456

Zwar hat Puppe ein derartiges Spezialitätsverhältnis zwischen den genannten Irrtumsarten mittlerweile aufgegeben,457 eine eindeutige Abkehr von dem Verständnis eines „tatbestandsspezifischen Unrechts“ stellt dies jedoch nicht dar. 452

Otto, JURA, 1990, 645 (647). Welzel, MDR 1951, 65 (66). Vgl. vertiefend hierzu ders., Das Deutsche Strafrecht, S. 160. Kritisch hierzu Schröder, MDR 1951, 387 (388). 454 Vgl. Puppe, in: NK-StGB, Bd. 1, 3. Auflage, § 16 Rn. 65; Neumann, FS Puppe, S. 171 (180). 455 Vgl. hierzu Neumann, FS Puppe, S. 171 (177). 456 Puppe, in: NK-StGB, Bd. 1, 3. Auflage, § 16 Rn. 65. 457 Vgl. Puppe, NK-StGB, Bd. 1, § 16 Rn. 127. 453

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B. Das Unrechtsbewusstsein als Kernelement der Schuld

Es ist also zutreffend, dass sich der vorsatztheoretische Ansatz der Normkenntnis in dem engen Unrechtsbegriff der Schuldtheorie widerspiegelt. Denn auch dieser setzt voraus, dass der Täter zumindest das potenzielle Bewusstsein hat, gegen eine strafbewehrte Norm des Straf- und/oder Ordnungswidrigkeitenrechts zu verstoßen. Dieses Ergebnis ist insbesondere dann zutreffend, wenn man das „tatbestandsspezifische Unrechtsbewusstsein“ nicht als ein vertyptes Unrechtsbewusstsein, sondern als ein solches auffasst, welches sich darauf beschränkt, wissentlich der Rechtsordnung zuwider gegen Tatbestandsmerkmale einer sanktionsbewehrten Norm zu verstoßen. Für ein solches Verständnis spricht sich auch Tischler aus, wenn er keine Antwort auf die Frage gefunden hat, „worin (. . .) die Differenz im Täterbewusstsein besteht zwischen der vollen Kenntnis aller Tatumstände einschließlich ihrer sozialen Bedeutung und dem Unrechtsbewusstsein“ 458. Auch Langer folgt dieser These, soweit sich sein Vorsatzverständnis darin erschöpft, dass „der Vorsatz (als reines Schuldmerkmal) mit dem Unrechtsbewußtsein identisch ist“ 459. Noch konkreter wird in diesem Zusammenhang Schroth: „Vorsatz ist im eigentlichen Sinne Element der Schuld. Das Schuldelement ,Vorsatz‘ ist jedoch im strafrechtlichen Bewertungssystem in den subjektiven Teil des Tatbestandes zu integrieren. Vorsätzlichkeit ist damit als Schuldelement uneigentliches Element des Unrechts. (. . .) Materiell ist der Vorsatz Schuldelement, funktional aber ist er dem Unrecht zugeordnet.“ 460

Eine ähnliche Auffassung haben auch Jescheck und Weigend, die dem Vorsatz eine Doppelstellung attestieren. Danach sei der Vorsatz als Steuerungsfaktor Kernbestandteil des Handlungsunrechts, als Element des zur Schuld gehörenden Willensbildungsprozesses des Täters zugleich aber auch Schuldbestandteil.461 Im Ergebnis haben also sowohl die Vorsatz- als auch die Schuldtheorie einen gemeinsamen Kern, nämlich ein gemeinsames Verständnis von objektivem Unrecht. Beiden ist der enge Unrechtsbegriff gemeinsam, auch wenn die Vorsatztheorie diesen an der falschen Stelle verortet. Mithin spricht auch die hier dargelegte Kongruenz von Vorsatz- und Schuldtheorie für einen restriktiven Unrechtsbegriff.

458 459 460 461

Tischler, Verbotsirrtum und Irrtum über normative Tatbestandsmerkmale, S. 353. Langer, GA 1976, 193 (208). Schroth, Vorsatz als Aneignung der unrechtskonstituierenden Merkmale, S. 36. Vgl. Jescheck/Weigend, Lehrbuch des Strafrechts, S. 243.

C. Das Unrechtsbewusstsein von Wirtschafts- und Unternehmensstraftätern – Ursachen und Behandlung I. Ursachen des defizitären Unrechtsbewusstseins von Wirtschaftsstraftätern im Lichte der Begriffstheorie und Kriminologie Zum Zwecke der Untersuchung des Unrechtsbewusstseins von Wirtschaftsdelinquenten bzw. Unternehmensstraftätern ist es unumgänglich, generelle Ausführungen zu den Grundstrukturen des Wirtschaftsstrafrechts und der Wirtschaftskriminalität zu machen. Erst ein grundlegendes Verständnis dieser Begriffe ermöglicht es, das Täterprofil im Bereich des Wirtschafts- und Unternehmensstrafrechts zu analysieren und die Ursachen wirtschaftsdelinquenten Verhaltens näher zu untersuchen. 1. Definitorische Schwierigkeiten des Wirtschaftsstrafrechts Das deutsche Strafrecht zeichnet sich dadurch aus, dass es keine einheitliche Definition für das Wirtschaftsstrafrecht bereit hält, insbesondere, weil die Tatbestände des Wirtschaftsstrafrechts nicht einheitlich zusammengefasst werden, sondern als Nebenstrafrecht innerhalb zivil- und öffentlich-rechtlicher Vorschriften platziert sind.1 Auch scheiterte der Versuch einer „quasi-Legaldefinition“ durch die Kodifizierung des Wirtschaftsstrafrechts innerhalb des „Gesetzes zur Vereinfachung des Wirtschaftsstrafrechts“ („Wirtschaftsstrafgesetz“) vom 26.07.1949 mangels erforderlicher Bestimmtheit.2 Zwecks der Abgrenzung einer Zuwiderhandlung als Wirtschaftsstraftat von der Ordnungswidrigkeit hieß es in § 6 Abs. 2 WiStG 1949: „Eine Zuwiderhandlung ist Wirtschaftsstraftat, wenn sie das Staatsinteresse an Bestand und Erhaltung der Wirtschaftsordnung im Ganzen oder in einzelnen Bereichen verletzt, indem entweder 1. die Zuwiderhandlung ihrem Umfange oder ihrer Auswirkung nach geeignet ist, die Leistungsfähigkeit der staatlich geschützten Wirtschaftsordnung zu beeinträchtigen, oder 2. der Täter mit der Zuwiderhandlung eine Einstellung bekundet, die die staatlich geschützte Wirtschaftsordnung (. . .) mißachtet, insbe1 Vgl. ausführlich hierzu Kudlich/Og ˘lakcıog˘lu, Wirtschaftsstrafrecht, S. 1; Többens, Wirtschaftsstrafrecht, S. 1; Lindemann, Voraussetzungen und Grenzen legitimen Wirtschaftsstrafrechts, S. 1; Zirpins/Terstegen, Wirtschaftskriminalität, S. 18 f. mit Definitionsansatz. Vgl. zu den unterschiedlichen Definitionsansätzen Fridrich, in: MüllerGugenberger, Wirtschaftsstrafrecht, § 2 Rn. 9 ff. 2 Vgl. Müller-Gugenberger, in: Müller-Gugenberger, Wirtschaftsstrafrecht, § 1 Rn. 86.

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C. Das Unrechtsbewusstsein von Wirtschafts- und Unternehmensstraftätern sondere dadurch, daß er gewerbsmäßig, aus verwerflichem Eigennutz oder sonst verantwortungslos gehandelt oder Zuwiderhandlungen hartnäckig wiederholt hat.“

Mangels einer hinreichenden Bestimmtheit des Wirtschaftsstrafrechts ist es zweckmäßig, auf den eigentlichen Ursprung von Wirtschaftskriminalität einzugehen, um auf diesem Wege den Begriff des Wirtschaftsstrafrechts zu konturieren. Den Ausgangspunkt bildet dabei der Vortrag von Edwin C. Hill über „Kriminelle Kapitalisten“ aus dem Jahr 1872.3 Hierbei machte Hill erstmals auf das Phänomen aufmerksam, bei dem sich „ehrliche Leute“ zwecks der Verfolgung krimineller Machenschaften Immobilien-Gesellschaften, Investoren und Handwerksunternehmen zu Nutze machen.4 Mit seinen Erkenntnissen stellte Hill die Weichen für eine der bis heute bedeutendsten materiellen Ausdeutungen des Begriffs der Wirtschaftskriminalität, die nachhaltig durch Sutherlands Studien über „white collar crimes“ 5 geprägt wurde: „The thesis of this book (. . .) is that persons oft the upper socio-economic class engage in much criminal behaviour; that this criminal behaviour differs from the criminal behaviour of the lower socio-economic class principally in the administrative procedures which are used in dealing with the offenders; and that variations in administrative procedures are not significant from the point of view of causation of crime. (. . .) This vialotiaons of law by persons in the upper socio-economic class are (. . .) called ,white collar crimes.‘ (. . .) White collar crime may be defined approximately as a crime committed by a person of respectability and high social status in the course of his occupation.“ 6

Entscheidend für diese Definition ist, dass Sutherland die Tätergruppe der Wirtschaftskriminellen von denen der „blue-collar worker“ (sinngemäß: Täter im Blaumann) abzugrenzen versucht und damit ein bis dato verschleiertes Phänomen der Rechtswissenschaft präsentierte.7 Auch in der Bundesrepublik wurde man seit den 1950ern auf das Phänomen der Wirtschaftskriminalität im Sutherland’schen Sinne aufmerksam.8 In der Folge wurden diverse Versuche unternommen, eine Begriffsbestimmung für das weite Feld der Wirtschaftskriminalität zu finden. Die heute gängigen Definitionsansätze gereichen hierbei unter anderem von einer strafprozessual-krimi3 Vgl. Morris, Changing concepts of crime, in: Branham/Kutash, S. 49 (51 f.), zitiert nach Otto, ZStW 96, 339 (340). 4 Vgl. Morris, Changing concepts of crime, in: Branham/Kutash, Encyclopedia of criminology, S. 49 (51 f.), zitiert nach Otto, ZStW 96, 339 (340). 5 Vgl. Sutherland, White collar crime, S. 9 ff. 6 Sutherland, White collar crime, S. 9. 7 Vgl. zu der Abgrenzung Schoop/Sidhu, in: Jahn/Schmitt-Leonardy/Schoop, Das Unternehmensstrafrecht und seine Alternativen, S. 137 (138). 8 Vgl. Zirpins/Terstegen, Wirtschaftskriminalität, S. 20 m.w. N. Vgl. vertiefend zu der Thematik Bundeskriminalamt Wiesbaden, Wirtschaftsdelikte (einschließlich der Korruption); Arbeitstagung im Bundeskriminalamt Wiesbaden vom 8. April bis 13. April 1957 über Bekämpfung der Wirtschaftsdelikte einschliesslich der Korruption.

I. Ursachen des defizitären Unrechtsbewusstseins von Wirtschaftsstraftätern

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naltaktisch orientierten Begriffsbildung unter Einbeziehung des § 74c GVG, über einen sozialschädlich- bis hin zu einem Rechtsgüterschutz-orientierten Ansatz.9 Trotz dieser durchaus fundierten Definitionsansätze hat sich bis heute keine gefestigte Definition des Wirtschaftsstrafrechts etabliert. Gerade das breite Deliktsspektrum, das von Bilanz- und Buchhaltungsdelikten, Steuerhinterziehung und Korruption bis hin zu grenzüberschreitenden Wirtschaftsdelikten unter Einsatz moderner Informations- und Kommunikationsmedien reicht,10 macht es kaum möglich, dieses umfangreiche und weitläufige Deliktsfeld mittels einer Definition begrifflich einzuschränken. Diese Rechtsunsicherheit führt – vornehmlich mit Blick auf das zu untersuchende Unrechtsbewusstsein von Wirtschafts- respektive Unternehmensdelinquenten – zu folgender Annahme: Weder dem Gesetzgeber noch der juristischen Literatur ist es seit Hills Vortrag aus dem Jahre 1872 gelungen, eine einheitliche Begriffsbestimmung für das Gebiet des Wirtschaftsstrafrechts verbindlich festzulegen. Diese Unsicherheit führt im Rahmen der auf diesem Gebiet vorherrschenden Blankettsystematik dazu, dass sich der Bürger Ge- und Verbote aus den oftmals weit verstreuten Spezialvorschriften selbst zusammensuchen muss, wobei wirtschaftsstrafrechtliche Bestimmungen regelmäßig vom Wertebewusstsein der Allgemeinheit losgelöst sind.11 Dass sich dieser Umstand mit Blick auf ein mögliches defizitäres Unrechtsbewusstsein – welches sich teilweise in der mangelnden Kenntnis sanktionsbewehrter Vorschriften widerspiegelt – als prekär herausstellt, kann wohl kaum bestritten werden. Unabhängig von der Deliktstruktur und Systematik des Wirtschaftsstrafrechts muss konstatiert werden, dass der mangelnde definitorische Rahmen dieses Gebiets den Täter zu einem autodidaktischen Studium sanktionsbewehrter Normen zwingt. Wie mit diesem Umstand umzugehen ist, wird im weiteren Verlauf näher erörtert. 2. Unternehmenskriminalität – Erscheinung und Behandlung Die Erweiterung der kriminalsoziologischen Betrachtungsweise Sutherlands, der das Wirtschaftsstrafrecht am Täterkreis festmacht,12 auf das Tätigkeitfeld des Täters, ermöglicht es, eine Subkategorie des Wirtschaftsstrafrechts näher zu be9 Vgl. für die unterschiedlichen Definitionsversuche nur Dannecker/Bülte, in: Wabnitz/Janovsky, Handbuch des Wirtschafts- und Steuerstrafrechts, S. 17 ff. m.w. N.; sowie Kudlich/Og˘lakcıog˘lu, Wirtschaftsstrafrecht, S. 2 ff. Vgl. zudem für einen an der positiven Generalprävention orientierten Begriffsansatz der Wirtschaftskriminalität Lindemann, Voraussetzungen und Grenzen legitimen Wirtschaftsstrafrechts, S. 4 f. Ebenfalls ausführlich zur Terminologie und Herleitung Otto, ZStW 96, 339 (349 ff.). 10 Vgl. Lindemann, Voraussetzungen und Grenzen legitimen Wirtschaftsstrafrechts, S. 2. 11 Vgl. Puppe, FS Herzberg, 275 (292). 12 Vgl. Kudlich/Og ˘lakcıog˘lu, Wirtschaftsstrafrecht, S. 3; ebenso Otto, ZStW, 96, 399 (341).

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C. Das Unrechtsbewusstsein von Wirtschafts- und Unternehmensstraftätern

leuchten, die in den vergangenen Jahren zunehmend in den Fokus der Strafrechtswissenschaft geriet – gemeint ist das Feld der Unternehmenskriminalität. 13 Weil Unternehmenskriminalität „nicht nur den praktisch wichtigsten, sondern auch in strafrechtstheoretischer und kriminalpolitischer Hinsicht bedeutsamsten Teil der Wirtschaftskriminalität ausmacht“ 14, gilt es diesem Bereich im Verlauf der weiteren Bearbeitung besondere Beachtung zu schenken. Bei der Erscheinungsform der Unternehmenskriminalität handelt es sich um die im internationalen Vergleich am weitesten verbreitete Arbeitsgrundlage für wirtschaftsstrafrechtliche Untersuchungen.15 Die US-Kriminologen Clinard und Quinney fassen die Erscheinungsformen der Unternehmenskriminalität als „Occupational Criminal behaviour“ respektive „Corporate Criminal Behaviour“ zusammen: „Occupational Criminal behaviour (. . .) The offenders violate the law in course of their occupational activity. They are able to rationalize their conduct. Some occupations, or groups within the occupation, tolerate or even support these offenses. The behaviour corresponds to the pursual of business activity. (. . .) Corporate Criminal Behaviour (. . .) Criminal laws and administrative regulations have been established to regulate the restraint of trade, false advertising, misuse of trademarks, (. . .). The laws serve to protect the corporations themselves and to secure a capitalist economy. The criminal behaviours are an integral part of corporate business operations.“ 16

Die Thesen Clinards und Quinneys zugrunde gelegt, lässt sich schlussfolgern, dass sich Corporate Crime aus Sicht des Täters durch eine altruistische Handlungsweise zu Gunsten des Unternehmens auszeichnet, wohingegen Occupational Crime als egoistische Handlung des Täters zu beurteilen ist.17 Eine solche Unterscheidung ist dem deutschen Recht fremd, nicht zuletzt deshalb, weil es in Deutschland derzeit (noch) kein Unternehmensstrafrecht gibt; dem Unternehmen kommt anders als im US-amerikanischen Rechtssystem keine Täterrolle zu, sondern allenfalls den für sie handelnden Führungskräften bzw. der Belegschaft.18 13 Auch Schwind/Schwind, Kriminologie und Kriminalpolitik, S. 472, konstatieren, dass „es sich bei der Wirtschaftskriminalität vorwiegend um Verbandsdelinquenz“ handele. 14 Schünemann, wistra 1982, 41. 15 Vgl. ausführlicher hierzu Schneider, NStZ 2007, 555 (556) m.w. N. Kritisch zu dem Begriff der Unternehmenskriminalität als Gegenstand einer tiefergehenden Untersuchung Fridrich, in: Müller-Gugenberger, Wirtschaftsstrafrecht, § 2 Rn. 4. 16 Clinard/Quinney, Criminal Behaviour Systems, S. 17 ff. 17 Vgl. Schneider, in: Jahn/Schmitt-Leonardy/Schoop, Das Unternehmensstrafrecht und seine Alternativen, S. 25 (27). 18 Vgl. hierzu auch Berckhauer, Wirtschaftskriminalität und Staatsanwaltschaft, S. 50; Schneider, in: Jahn/Schmitt-Leonardy/Schoop, Das Unternehmensstrafrecht und seine Alternativen, S. 25 (27).

I. Ursachen des defizitären Unrechtsbewusstseins von Wirtschaftsstraftätern

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Für das in Deutschland vorherrschende Verständnis von Unternehmenskriminalität eignet sich daher die Definition von Schmitt-Leonardy: „[D]er Begriff Unternehmenskriminalität [bezeichnet] individuell abweichendes Verhalten, das in funktionellem Zusammenhang zum Unternehmen erfolgt, um dessen Passiva zu vermindern bzw. Aktiva zu erhöhen und/oder um im Rahmen der wirtschaftlichen Tätigkeit eingegangene Verpflichtungen nicht einzuhalten, und einen strafrechtlich relevanten Erfolg verursacht, für den das Unternehmen conditio sine qua non war. Von dieser deskriptiven Perspektive aus, ist mit Unternehmenskriminalität also sowohl punktuelle und habituelle Normabweichung der Unternehmensmitarbeiter, die kriminologisch auf das Unternehmen als Lern-, Neutralisierungs- und Gelegenheitskontext zurückzuführen ist, gemeint als auch Kriminalität des ,Unternehmens an sich‘.“ 19

3. Kriminologische Betrachtungsweise des Wirtschafts- und Unternehmensstrafrechttäters Ist nunmehr der Begriff der Wirtschaftskriminalität entsprechend dem definitorischen Rahmen von Schmitt-Leonardy festgelegt, gilt es nunmehr, die Entstehungszusammenhänge wirtschaftsdelinquenter Handlungsweisen nachzuvollziehen. In diesem Zusammenhang ist es nutzbringend, die Einbettung des Täters in die unternehmerischen Strukturen sowie die Auswirkungen dieser auf die Motivbildung des Täters näher zu analysieren. Daher werden zunächst das Sozialprofil von Wirtschaftskriminellen sowie typische Charakteristika von Wirtschaftsstraftaten herausgearbeitet. Im Anschluss daran werden unter Zuhilfenahme von Kriminalitätstheorien die Motive wirtschaftsdelinquenter Handlungsweisen nachvollzogen. Der Fokus wird hierbei auf kriminalsoziologische Erklärungsansätze gelegt, da bei diesen das phänomenologische Erscheinungsbild der Unternehmensdelinquenz in besonderem Maße Berücksichtigung findet. Folgende Annahme gilt es dabei zu belegen: Das Sozialprofil des Täters sowie die spezifischen Merkmale von Wirtschaftsstraftaten lassen einen Rückschluss auf das Gebiet des Wirtschaftsstrafrechts dergestalt zu, dass Unternehmensstrukturen ein geeignetes Habitat zur Entfaltung wirtschaftsdelinquenter Handlungsweisen bieten.20 Unter Zugrundelegung eines restriktiven Unrechtsbegriffs wird dabei das defizitäre Unrechtsbewusstsein von Wirtschaftsdelinquenten aufgrund ihrer sozialen und unternehmerischen Verflechtungen zunehmend gefördert.

19 Schmitt-Leonardy, in: Jahn/Schmitt-Leonardy/Schoop, Das Unternehmensstrafrecht und seine Alternativen, S. 251 (253 f.). 20 Ähnlich auch PricewaterhouseCoopers, Wirtschaftskriminalität: Eine Analyse der Motivstrukturen, S. 30; auch Beale, ZStW 2014, 27 (39).

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C. Das Unrechtsbewusstsein von Wirtschafts- und Unternehmensstraftätern

a) Sozialprofil des Wirtschaftsstraftäters Ein relevantes Forschungsfeld des Wirtschaftsstrafrechts beschäftigt sich mit der Analyse der Täterprofile. Dabei wird die Persönlichkeit des Wirtschaftskriminellen in einem kriminologischen Rahmen phänomenologisch eingegrenzt.21 Mit der Determinierung der Sozialprofile lassen sich unter anderem Rückschlüsse auf Motive und kognitive Fähigkeiten von Wirtschaftsdelinquenten ziehen. Gemäß den bereits von Sutherland ausgearbeiteten Thesen handelt es sich bei Wirtschaftskriminellen regelmäßig um Personen mit hohem sozialem Status, die ein Verbrechen im Rahmen ihres Berufs ausüben.22 Wirtschaftsstraftäter sind in der Regel männlich, haben bereits das 30. Lebensjahr deutlich überschritten und gehören der sozialen Mittel- und Oberschicht an.23 Zudem sind sie regelmäßig strafrechtlich nicht in Erscheinung getreten und in sozialen Belangen in die Gesellschaft hinreichend integriert.24 Sowohl im nationalen als auch im internationalen Vergleich stammt über die Hälfte der Wirtschaftsstraftäter aus dem Bereich des Topmanagements.25 Darüber hinaus lassen sich weitere demographische Daten von Wirtschaftskriminellen wie folgt festhalten: Wirtschaftsstraftäter sind meist verheiratet, genossen eine überdurchschnittliche Ausbildung (31 % Hochschul- oder FH-Abschluss; 32 % Abitur bzw. berufsbildender Abschluss), sind aufstiegsorientiert, durchsetzungsstark, risikobereit und arbeiten in der Regel mindestens zehn Jahre in dem Betrieb, in welchem sie auch kriminell auffällig werden.26

21

Vgl. Mergen, in: Baer, Wirtschaftskriminalität S. 27. Vgl. Sutherland, White collar crime, S. 9, sowie ausführlich bereits unter Abschn. C.I.1. 23 Vgl. Kudlich/Og ˘lakcıog˘lu, Wirtschaftsstrafrecht, S. 6; Bussmann/Salvenmoser, NStZ 2006, 203 (206); Schoop/Sidhu, in: Jahn/Schmitt-Leonardy/Schoop, Das Unternehmensstrafrecht und seine Alternativen, S. 137 (138). Differenzierend zur Schichtzugehörigkeit von Wirtschaftskriminellen vgl. Schäfer, Zur Täterpersönlichkeit des Wirtschaftsstraftäters, S. 117 (122 ff.). 24 Vgl. Schoop/Sidhu, in: Jahn/Schmitt-Leonardy/Schoop, Das Unternehmensstrafrecht und seine Alternativen, S. 137 (138); vgl. zur sozialen Integration von Wirtschaftsstraftätern Schneider, NStZ 2007, 555 ( 559). 25 Vgl. Bussmann/Salvenmoser, NStZ 2006, 203 (206) m.w. N. Siehe hierzu auch Hlavica/Thormann/Martenstein, in: Hlavica/Hülsberg/Klapproth, Tax Fraud & Forensic Accounting, S. 69. Vgl. auch die empirische Untersuchung von Pricewaterhouse Coopers, Wirtschaftskriminalität: Eine Analyse der Motivstrukturen, S. 32, die ergab, dass etwa 70 % der verurteilten Straftäter Mitglieder im Vorstand oder der Geschäftsführung waren. 26 Vgl. für diese Zusammenfassung Schwind/Schwind, Kriminologie und Kriminalpolitik, S. 478 m.w. N. Vgl. in diesem Zusammenhang auch Dannecker/Bülte, in: Wabnitz/Janovsky, Handbuch des Wirtschafts- und Steuerstrafrechts, S. 23; sowie Schneider, NStZ 2007, 555 (557). 22

I. Ursachen des defizitären Unrechtsbewusstseins von Wirtschaftsstraftätern

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Mit Blick auf wirtschaftskriminelle Tatmotive haben sich zunehmend neuere Differenzierungen entwickelt, die das Täterfeld näher zu bestimmen versuchen. Schoop und Sidhu beschreiben den Wirtschaftsstraftäter unter anderem als „Gelegenheitssucher, Gelegenheitsergreifer, Täter mit wirtschaftlichem Belastungssyndrom, Krisentäter, (. . .) Naive, (. . .) Egozentrierte, (. . .) Narzisstische, (. . .) Abhängige (. . .)“ 27. Dabei muss betont werden, dass die genannten Eigenschaften nicht auf sämtliche Wirtschaftsstraftäter übertragbar, mithin die gewonnenen Erkenntnisse nicht abschließend sind. Denn vor dem Hintergrund wirtschaftskrimineller Dunkelfelder sind die auf diesem Gebiet gewonnenen empirischen Erkenntnisse nicht endgültig.28 Dies wird deutlicher, wenn man Bagatell-Unternehmenskriminalität in die Betrachtung mit einbezieht. So unterfällt auch der einfache Lagerangestellte, der regelmäßig betriebseigene Produkte bzw. Materien entwendet und diese auf eigene Rechnung weiter veräußert, um sich zu bereichern, dem Bereich des Unternehmens- und somit des Wirtschaftsstrafrechts. Dass die zuvor genannten demographischen Daten keineswegs auf ihn zutreffen müssen, verdeutlicht zugleich die Schwäche der vorgenommenen Determinierung von Täterprofilen.29 Ergänzend stellt auch eine strafrechtsdogmatische Perspektive die Brauchbarkeit der aufgefundenen Ergebnisse in Frage, soweit das moderne Strafrecht tat- und gerade nicht täterorientierter Natur ist.30 b) Phänomenologische Charakteristika von Wirtschaftsstraftaten Wirtschaftsstrafrechtliche Rechtsverstöße weisen spezifische Charakteristika auf. Besonders kennzeichnend für Wirtschaftsstraftaten sind nur schwer zu durchdringende Sachverhalte, die sich aus den ihr zugrunde liegenden unternehmerischen Verflechtungen und (internationalen) Firmenstrukturen ergeben können.31 Dabei fördern und fordern der gesellschaftliche Wandel sowie technische

27 Schoop/Sidhu, in: Jahn/Schmitt-Leonardy/Schoop, Das Unternehmensstrafrecht und seine Alternativen, S. 137 (139). Zu einer ausführlichen Differenzierung und Motivation der angeführten Tätertypen vgl. PricewaterhouseCoopers, Wirtschaftskriminalität: Eine Analyse der Motivstrukturen, S. 25 ff. 28 Vgl. insoweit zutreffend Schwind/Schwind, Kriminologie, S. 478. Zu der Entstehung von Dunkelziffern im Bereich des Wirtschaftsstrafrechts, vgl. Fridrich, in: MüllerGugenberger, Wirtschaftsstrafrecht, § 2 Rn. 33 f. 29 Vgl. für einen ähnlichen Ansatz Dannecker/Bülte, in: Wabnitz/Janovsky, Handbuch des Wirtschafts- und Steuerstrafrechts, S. 16. 30 Vgl. Wittig, Wirtschaftsstrafrecht, § 2 Rn. 11, Dannecker/Bülte, in: Wabnitz/Janovsky, Handbuch des Wirtschafts- und Steuerstrafrechts, S. 16. 31 Vgl. Kudlich/Og ˘lakcıog˘lu, Wirtschaftsstrafrecht, S. 7; Schneider, in: Brettel/ Schneider, Wirtschaftsstrafrecht, S. 61.

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C. Das Unrechtsbewusstsein von Wirtschafts- und Unternehmensstraftätern

Innovationen Wirtschaftskriminalität. 32 Zudem stößt das staatliche Strafverfolgungsbedürfnis in diesem überaus komplexen und empfindlichen Bereich – man denke nur an die Gefahr der Offenlegung von Geschäfts- und Betriebsgeheimnissen – regelmäßig dort an seine Grenzen, wo die Prozessmaximen der Strafprozessordnung die Ermittlungen erschweren.33 Die firmenstrukturelle Komplexität führt im Bereich des Unternehmenskriminalität zur Anonymität der Täter sowie zu einer personalen Distanz zu den Opfern von Wirtschaftsdelikten,34 ist es den Tätern gerade möglich, sich durch arbeitsteiliges Zusammenwirken sowie die Delegation von Aufgabenbereichen hinter verworrenen Unternehmensstrukturen verdeckt zu halten.35 Auch Informationsdefizite und Unregelmäßigkeiten in der Rechnungslegung bieten vielversprechende Rahmenbedingungen für delinquente Handlungsweisen.36 Zudem führen die hohe Anonymität und die oftmals mangelnde Kenntnis der Opfer über ihre Betroffenheit dazu, dass Wirtschaftsstraftaten häufig unentdeckt bleiben.37 Auch das Anzeigeverhalten der Geschädigten spielt eine entscheidende Rolle, da Geschädigte oftmals auf das Stellen von Strafanzeigen verzichten. Das Absehen von Strafanzeigen kann dabei mehrere Ursachen haben. Zu nennen sind neben der Furcht vor Spott, als Betrogener oder Denunziant klassifiziert zu werden, insbesondere die Angst vor gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Folgen sowie selbst ins Blickfeld der Strafverfolgungsbehörden oder des Arbeitgebers zu geraten.38 Auch das Anzeigeverhalten von geschädigten Unternehmen ist unterschiedlich ausgeprägt. So ist es nicht selten, dass die geschädigte juristische Person von einer Strafanzeige absieht, um Reputationsschäden vorzubeugen.39 Da32 Vgl. Bussmann, Wirtschaftskriminologie I, S. 22; Eisenberg/Kölbel, Kriminologie, § 47 Rn. 17. 33 Vgl. Lindemann, Voraussetzungen und Grenzen des legitimen Wirtschaftsstrafrechts, S. 11; vgl. zu der Problematik der Einleitung eines Ermittlungsverfahrens Schmid, Probleme der Untersuchungsführung, in: Baer, Wirtschaftskriminalität, S. 53 (55). 34 Vgl. Dannecker/Bülte, in: Wabnitz/Janovsky, Handbuch des Wirtschafts- und Steuerstrafrechts, S. 25. 35 Vgl. Hefendehl, MSchrKrim 2003, 27 (29); Dannecker/Bülte, in: Wabnitz/Janovsky, Handbuch des Wirtschafts- und Steuerstrafrechts, S. 26. 36 Hlavica/Thormann/Martenstein, in: Hlavica/Hülsberg/Klapproth, Tax Fraud & Forensic Accounting, S. 68. Vgl. weiterhin zu der Unübersichtlichkeit von Unternehmens- und Organisationsstrukturen die empirischen Ergebnisse von PricewaterhouseCoopers, Wirtschaftskriminalität: Eine Analyse der Motivstrukturen, S. 31 f. 37 Vgl. Bundeskriminalamt Wiesbaden, Wirtschaftskriminalität Bundeslagebild 2016, S. 2. Dannecker/Bülte, in: Wabnitz/Janovsky, Handbuch des Wirtschafts- und Steuerstrafrechts, S. 25, gehen davon aus, dass lediglich sieben Prozent aller Wirtschaftsstraftaten zur Anzeige gebracht werden. 38 Vgl. zu diesen Motiven ausführlich Egli, Grundformen der Wirtschaftskriminalität, S. 24 ff. 39 Vgl. Bundeskriminalamt Wiesbaden, Wirtschaftskriminalität Bundeslagebild 2016, S. 10.

I. Ursachen des defizitären Unrechtsbewusstseins von Wirtschaftsstraftätern

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rüber hinaus ist es nicht unüblich, unter Berufung auf Reziprozität von einer Strafanzeige Abstand zu nehmen,40 hat doch der Täter vermeintlich „sonst immer gute Arbeit geleistet“ bzw. „nur zum Wohle des Unternehmens gehandelt“ 41. Ferner ergaben Fallanalysen, dass auch die Unkenntnis von Strafvorschriften seitens der Geschädigten zum Ausbleiben von Strafanzeigen führen kann.42 Insbesondere die scheinbar legalen Handlungsweisen, die mit der Berufsausübung regelmäßig einhergehen, erschweren den Blick für die strafrechtlich relevante Gesamthandlung des Schädigers.43 Mit Blick auf die Geschädigten von Wirtschaftsstraftaten lässt sich festhalten, dass nur der geringe Teil natürlicher Personen unmittelbares Opfer von Wirtschaftsdelikten wird. Bei dem überwiegenden Teil der Opfer handelt es sich um Kollektivopfer, so etwa bei Straftaten gegen den Fiskus oder soziale Einrichtungen.44 Einen weiteren Großteil der Opfer machen Unternehmen und Verbände aus.45 Relevantes Merkmal von Wirtschaftsdelinquenz ist zudem die von ihr ausgehende Sog- und Spiralwirkung. Während erstere Konkurrenten dazu anhält, wirtschaftskriminelle Handlungen nachzuahmen – etwa um konkurrenzfähig zu bleiben –, begründet letztere den infektiösen Ausgangspunkt zur Begehung weiterer Straftaten.46 Sutherland stellte bereits in den 1940er Jahren hierzu folgendes fest: „Business firms have the objective of maximum profits. When one firm devises a method of increasing profits, other firms become aware of the method and adopt it (. . .). The diffusion of illegal practices which increase profits is facilitated by the 40

Vgl. Schneider, NStZ 2007, 555 (561 f.); ebenso Hefendehl, MSchrKrim 2003, 27

(29). 41 Vgl. vor dem genannten Hintergrund auch Schneider, in: Brettel/Schneider, Wirtschaftsstrafrecht, S. 67. 42 Vgl. Egli, Grundformen der Wirtschaftskriminalität, S. 27. 43 Dannecker/Bülte, in: Wabnitz/Janovsky, Handbuch des Wirtschafts- und Steuerstrafrechts, S. 26. 44 Vgl. Dannecker/Bülte, in: Wabnitz/Janovsky, Handbuch des Wirtschafts- und Steuerstrafrechts, S. 25. 45 Eine aktuelle Studie der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft KPMG ergab, dass in den Jahren 2014 bis 2016 etwa 36 % der in Deutschland ansässigen Unternehmen Opfer von Wirtschaftsstraftaten waren. Bei Großunternehmen geht man davon aus, dass ca. 45 % der in Deutschland ansässigen Unternehmen Objekt wirtschaftskrimineller Machenschaften waren, vgl. KPMG, Wirtschaftskriminalität in Deutschland Studie 2016, S. 10. Laut Bussmann/Salvenmoser, NStZ 2006, 203 f. m.w. N., ist in den Jahren 2004 bis 2006 sowohl auf internationaler als auch auf nationaler Ebene etwa jedes zweite Unternehmen Opfer von Wirtschaftsstraftaten geworden. 46 Vgl. Dannecker/Bülte, in: Wabnitz/Janovsky, Handbuch des Wirtschafts- und Steuerstrafrechts, S. 25 mit Verweis auf die Theorien Sutherlands. Vgl. zur Sogwirkung und dem Phänomen der Begleitkriminalität auch Schwind/Schwind, Kriminologie und Kriminalpolitik, S. 474.

94

C. Das Unrechtsbewusstsein von Wirtschafts- und Unternehmensstraftätern trend toward cetralization of the control of industry by investment banks and by the conferences of business concern in trade association.“ 47

c) Die Entwicklung eines defizitären (kriminalsoziologischen) Unrechtsbewusstseins im Lichte der Kriminalitätstheorien Über die Ursachenzusammenhänge von Wirtschaftskriminalität ist – trotz diverser empirischer Untersuchungen durch Wirtschaftsprüfungsgesellschaften – nach wie vor wenig bekannt.48 Dies liegt insbesondere daran, dass es sich bei Wirtschaftskriminalität um einen „,nicht-klassischen‘ Kriminalitätsbereich“ 49 handelt. Daher hat es sich die (Wirtschafts-)Kriminologie zur Aufgabe gemacht, die Ursachenzusammenhänge wirtschaftskrimineller Handlungsweisen näher zu untersuchen. Im Folgenden sollen unter Zuhilfenahme von soziologisch geprägten Kriminalitätstheorien Erklärungsansätze für Wirtschaftsdelinquenz geliefert werden. Dabei ist zu beachten, dass auch die kriminologischen Ansätze von einem defizitären Unrechtsbewusstsein von Wirtschafts- und Unternehmensstraftätern ausgehen.50 Bussmann und Salvenmoser erachten sogar, dass ein „mangelndes Unrechtsbewusstsein eine der Hauptursachen für Wirtschaftsstraftaten ist“ 51. Hierbei gilt es jedoch einen entscheidenden Faktor zu berücksichtigen, der in der anhaltenden Diskussion gänzlich untergegangen ist: Der von der (Wirtschafts-)Kriminologie in diesem Zusammenhang verwendete Begriff des Unrechtsbewusstseins muss strikt von dem schuldrelevanten Unrechtsbegriff des materiellen Rechts unterschieden werden. Während Unrechtsbewusstseins vor dem Hintergrund der Schuld und des kodifizierten § 17 StGB insbesondere die Kenntnis einer sanktionsbewehrten Norm umschreibt,52 verfolgt der von der Kriminalsoziologie geprägte Unrechtsbegriff einen anderen Ansatz. Bei diesem „kriminologischen Unrechtsbewusstsein“ handelt es sich nach vorliegendem Verständnis um eine „individuelle Vorstellung von Legalität“ 53, die sich durch ein „verzerrtes und subjektives Rechtsempfinden“ 54 auszeichnet.55 Dabei 47

Sutherland, White collar crime, S. 241. Schwind/Schwind, Kriminologie und Kriminalpolitik, S. 477; PricewaterhouseCoopers, Wirtschaftskriminalität: Eine Analyse der Motivstrukturen, S. 14. 49 Vgl. Dannecker/Bülte, in: Wabnitz/Janovsky, Handbuch des Wirtschafts- und Steuerstrafrechts, S. 14. 50 Vgl. PricewaterhouseCoopers, Wirtschaftskriminalität: Eine Analyse der Motivstrukturen, S. 16; Bussmann/Salvenmoser, NStZ 2006, 203 (207). 51 Bussmann/Salvenmoser, NStZ 2006, 203 (207). 52 Vgl. hierzu ausführlich unter Abschn. B.III.3.b). 53 Vgl. Hlavica/Thormann/Martenstein, in: Hlavica/Hülsberg/Klapproth, Tax Fraud & Forensic Accounting, S.67. 54 PricewaterhouseCoopers, Wirtschaftskriminalität: Eine Analyse der Motivstrukturen, S. 24. 48

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orientiert sich der anhand empirischer Befunde klassifizierte kriminologische Unrechtsbegriff zwar ebenfalls an der materiellen Werteordnung des (Straf-) Rechts, diese Werteordnung ist jedoch nur subjektiver Natur und daher nicht repräsentativ im Sinne einer strafrechtlichen Schuld. Teilweise werden die kriminologischen Befunde im Zusammenhang mit wirtschaftsdelinquenten Handlungsweisen mit einem defizitären „subjektiven Unrechtsbewusstsein“ 56 der Täter begründet. Diese terminologische Ungenauigkeit führt indes zu Verwirrung und muss daher stringent entsprechend der angeführten Termini differenziert betrachtet werden. Trotz dieser überaus wichtigen graduellen Unterscheidung zwischen dem schuldrelevanten und dem (wirtschafts-)kriminologisch geprägten Begriff des Unrechtsbewusstseins kann es zwischen diesen beiden zu Überschneidungen kommen. Diese resultieren dabei aus der partiellen Konkordanz zwischen subjektiven Vorstellungen des Täters und den objektiven Ge- und Verboten des materiellen Rechts. Die nachfolgend vorgestellten Kriminalitätstheorien sollen dazu dienen, die relevanten Schnittstellen aus subjektivem Rechtsempfinden (kriminologisches Unrechtsbewusstsein) und schuldrelevantem Unrechtsbewusstsein von Wirtschaftsstraftätern herauszuarbeiten. Dabei wird sich nur auf jene kriminologischen Ansätze konzentriert, die dazu geeignet sind, eine verminderte Unrechtseinsicht vor dem Hintergrund von Umweltfaktoren und der Bildung spezifischer Motive zu erklären. aa) Lerntheoretischer Ansatz der differenziellen Kontakte Die sozialpsychologisch orientierten Lerntheorien suchen den Grund für kriminelles Verhaltens in der Lebenswelt des Täters. Dabei konzentriert sich der lerntheoretische Ansatz auf den integrativen Prozess des Individuums in die Gesellschaft.57 Einen bedeutenden Beitrag zu den Ursachen wirtschaftsdelinquenten Verhaltens leistete in diesem Zusammenhang Sutherlands kriminalsoziologische Theorie der differenziellen Kontakte. Die Theorie Sutherlands umfasst dabei neun Thesen,58 die sich wie folgt zusammenfassen lassen: 55 Vgl. in diesem Zusammenhang die empirische Untersuchung von PricewaterhouseCoopers, Wirtschaftskriminalität: Eine Analyse der Motivstrukturen, S. 25 ff., welche die Unterschiede des subjektiven Rechtsbewusstseins bei unterschiedlichen Täterprofilen und Persönlichkeitsstrukturen analysiert. 56 Ähnlich auch PricewaterhouseCoopers, Wirtschaftskriminalität: Eine Analyse der Motivstrukturen, S. 29. 57 Vgl. hierzu ausführlicher Albrecht, Kriminologie, S. 31 f. m.w. N. 58 Vgl. zu den aufgestellten Thesen ausführlich Sutherland, Theorie der differentiellen Kontakte, in: Sack/König, Kriminalsoziologie, S. 395 (396 ff.).

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C. Das Unrechtsbewusstsein von Wirtschafts- und Unternehmensstraftätern

Kriminelles Verhalten – und somit auch Wirtschaftsdelinquenz – werde gelernt wie jedes andere Verhalten, nämlich durch Interaktion mit anderen Personen in einem Kommunikationsprozess.59 Das Lernumfeld stelle sich hierbei als intime und persönliche Gruppe dar, sodass öffentliche Medien keine wichtige Rolle bei der Entstehung devianter Verhaltensweisen spielen.60 Dieser Lernprozess schließe dabei zweierlei ein, nämlich das Erlernen der Techniken zur Ausführung des Verbrechens sowie das Erlernen der hinter der Tat stehenden Motive, Triebe, Rationalisierungen und Attitüden. Dabei spiele das Umfeld des Individuums die entscheidende Rolle mit Blick darauf, welche Richtung die Motive und Triebe nehmen, ob das Individuum also zu konformem bzw. delinquentem Verhalten veranlasst wird.61 Führt man Sutherlands Theorie und die zuvor gefundenen empirischen Befunde zur Wirtschaftskriminalität zusammen, ergibt sich hierbei folgendes Gesamtbild: Soweit sich (wirtschafts-)kriminelles Verhalten durch einen (längeren) Lernprozesses angeeignet wird, vermag dies zugleich eine Erklärung dafür zu liefern, weshalb Wirtschaftsdelinquente erst nach langjähriger Unternehmenszugehörigkeit kriminell auffällig werden – sie gelten insoweit als „latecomer to crime“ 62. Der kommunikative Austausch mit kriminellen Kollegen und Konkurrenten, die innerhalb des Unternehmens respektive des Berufszweigs den eigentlichen intimen und persönlichen Kontakt darstellen, fördert das Erlernen krimineller Techniken sowie der dazu gehörigen Motive und Triebe. Insbesondere mit Blick auf letztere stellen die Schichtzugehörigkeit, der stetige Wettbewerbsdruck sowie das Streben nach wirtschaftlichem und gesellschaftlichem Aufstieg den entscheidenden Aspekt bezüglich der kriminellen Handlungen dar.63 Kriminelles Verhalten wird demnach zur Sitte und Wirtschaftskriminelle werden in dieses Verhaltenssystem genau wie in jede andere Sitte eingeführt.64 Zugleich beschränkt Sutherland seine Thesen, indem er verdeutlicht, dass das Erlernen krimineller Handlungen durch die Einbindung in einer verhaltenskonformen Gemeinde unterbunden werden kann. Danach kulminieren differentielle 59 Vgl. Sutherland, White-collar Kriminalität, in: Sack/König, Kriminalsoziologie, S. 187 (198); ders., Theorie der differentiellen Kontakte, in: Sack/König, Kriminalsoziologie, S. 395 (396). 60 Vgl. Sutherland, Theorie der differentiellen Kontakte, in: Sack/König, Kriminalsoziologie, S. 395 (396). 61 Vgl. Sutherland, Theorie der differentiellen Kontakte, in: Sack/König, Kriminalsoziologie, S. 395 (396 ff.). 62 Vgl. Schneider, NStZ 2007, 555 (557) m.w. N. 63 Vgl. zu den Sozialprofilen und Motiven u. a. Schwind/Schwind, Kriminologie und Kriminalpolitik, S. 478; sowie Schneider, NStZ 2007, 555 (559). 64 Vgl. hierfür Sutherland, White-collar Kriminalität, in: Sack/König, Kriminalsoziologie, S. 187 (199).

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Kontakte vornehmlich dann in Verbrechen, wenn die Gemeinde, in die der Täter eingebunden ist, nicht fest gegen die kriminelle Verhaltensform organisiert ist (sogenannte „soziale Desorganisation“).65 bb) Sozialstruktureller Ansatz der Anomie-Theorie Die von Merton entwickelte Anomie-Theorie erklärt die Entstehung von Kriminalität, indem sie die Gesamtgesellschaft in die Kriminalitätserklärung einbezieht.66 Mit dem Begriff der Anomie verbindet Merton einen Zustand relativer Normlosigkeit in einer Gesellschaft oder Gruppe.67 Mertons zentrale These lautet in diesem Zusammenhang, „daß abweichendes Verhalten als Symptom für das Auseinanderklaffen von kulturell vorgegebenen Zielen und von sozial strukturierten Wegen, auf denen diese Ziele zu erreichen sind, betrachtet werden kann“ 68.

Als gesellschaftlich bzw. kulturell erstrebtes Ziel beschreibt Merton dabei den finanziellen Erfolg.69 Ist dieses Ziel mit den gesellschaftlich bereitgestellten institutionellen Mitteln (legale Handlungsweisen wie bspw. Arbeit) nicht zu erreichen, stellt dies den Hauptgrund für delinquentes Verhalten dar.70 Führt man nun den Gedanken vom Zusammenbruch einer auf Legalität basierenden gesellschaftskulturellen Struktur, der durch die Diskrepanz zwischen gesellschaftlich anerkannten kulturellen Normen einerseits und erstrebten Zielen andererseits entsteht, mit empirischen Befunden des Wirtschaftsstrafrechts zusammen, kommt man zu folgendem Ergebnis: Auch der Wirtschaftsstraftäter verschafft sich illegal, was für ihn legal unerreichbar ist. Die für ihn erstrebenswerten Ziele werden dabei von einem kulturellen Gefüge innerhalb seines Unternehmens bzw. Berufszweiges festgelegt. Zugleich wird auch der institutionelle Rahmen der ihn zur Zweckerreichung befähigenden Mittel festgelegt. Besteht zwischen ersterem (finanzieller Erfolg für sich oder das Unternehmen; erhöhtes Ansehen innerhalb der Firma) und letzterem (mangelnder lukrativer Geschäftsabschluss; schlechte Aufstiegsmöglichkeiten innerhalb des 65 Vgl. hierfür Sutherland, White-collar Kriminalität, in: Sack/König, Kriminalsoziologie, S. 187 (199 f.); ders., Theorie der differentiellen Kontakte, in: Sack/König, Kriminalsoziologie, S. 395 (399). 66 Vgl. Albrecht, Kriminologie, S. 33. 67 Vgl. Merton, Sozialstruktur und Anomie, in: Sack/König, Kriminalsoziologie, S. 283 (291). 68 Merton, Sozialstruktur und Anomie, in: Sack/König, Kriminalsoziologie, S. 283 (289). 69 Vgl. Merton, Sozialstruktur und Anomie, in: Sack/König, Kriminalsoziologie, S. 283 (289 dort Fn. 6). 70 Vgl. Merton, Sozialstruktur und Anomie, in: Sack/König, Kriminalsoziologie, S. 283 (289 f.).

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C. Das Unrechtsbewusstsein von Wirtschafts- und Unternehmensstraftätern

Unternehmens) eine Diskrepanz, veranlasst dieses Missverhältnis zwischen Mittel und Ziel Unternehmensmitglieder zu kriminellen Handlungsweisen. cc) Subkulturtheorien Einen der entschiedensten Beiträge zur Erklärung wirtschaftskrimineller Handlungsweisen und zum defizitären (kriminalsoziologischen) Unrechtsbewusstsein leisten die Subkulturtheorien. Dabei geht die von der Kulturanthropologie aufgestellte These der Relativität der Kultur davon aus, dass es über den westlichabendländischen Raum hinaus weitere kulturelle Strömungen gibt.71 Die unterschiedlichen Ansätze der Subkulturtheorien haben dabei dieselbe Grundthese, dass sich nämlich innerhalb einer kulturellen Strömung eine Teil- respektive Subkultur abspaltet, in der partiell abweichende Werte und Normen gelten, wodurch Straftaten begünstigt werden.72 Inhaltlich besteht zwischen dem subkulturellen Ansatz Cohens und dem Millers ein Dissens. Beide Theorien beziehen sich auf die Analyse krimineller Handlungen Jugendlicher. Im Rahmen seiner Analyse über „Delinquent Boys“ (1955) stellt Cohen die These auf, ausschlaggebend für abweichendes Verhalten Jugendlicher sei die Statussuche innerhalb der Gruppe.73 Zugleich geht der Ansatz Cohens davon aus, dass kriminelles Verhalten Jugendlicher nicht zwingend zum Zwecke der Erlangung eines Vorteils,74 sondern eher als Zeichen der Ablehnung gesellschaftlicher Mittelschichtstandards zu interpretieren sei.75 Cohen umschreibt die Subkultur als „nicht-utilitaristisch, bösartig, negativistisch“ 76. Die sich innerhalb einer Gemeinschaft entwickelnde Subkultur werde geprägt durch „kurzfristigen Hedonismus und Gruppenautonomie“ 77. Miller hingegen verfolgt einen anderen Ansatz. Er geht davon aus, dass das Verhalten krimineller Jugendlicher Ausdruck einer autonomen Kultur sei; die Verletzung von Mittelschichtstandards sei zwar ein Nebenprodukt, nicht hingegen die wesentliche Motivationskomponente subkulturell geprägter krimineller

71

Vgl. Albrecht, Kriminologie, S. 34. Vgl. Bock, Kriminologie, S. 60; Albrecht, Kriminologie, S. 35. 73 Vgl. Cohen, Delinquent Boys, S. 27. 74 Vgl. hierzu Cohen, Delinquent Boys, S. 25 f., und das dort angeführte Beispiel. 75 Cohen, Delinquent Boys, S. 28, konstatiert diesbezüglich: „The delinquent’s conduct is right, by the standards of his subculture, precisely because it is wrong by the norm of the larger culture.“ Vgl. zudem Paralleldarstellung bei Albrecht, Kriminologie, S. 35; sowie Bock, Kriminologie, S. 61. 76 Cohen/Short, Zur Erforschung delinquenter Subkulturen, in: Sack/König, Kriminalsoziologie, S. 372 (378). 77 Cohen/Short, Zur Erforschung delinquenter Subkulturen, in: Sack/König, Kriminalsoziologie, S. 372 (378). 72

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Handlungsweisen.78 Zugleich gesteht Miller jedoch ein, dass auch die Mitglieder dieser Gruppen Aspekte wie Status, Zugehörigkeit oder Härte für sich bzw. ihr subkulturelles Gefüge als bindend anerkennen und kriminelle Handlungen vornehmen, um diese Merkmale zu erfüllen.79 Die genannten kriminologischen Ansätze zur Erklärung von Jugendkriminalität können zwar nicht unmittelbar auf das Feld der Wirtschaftskriminalität übertragen werden, sind doch bereits die untersuchten Gruppierungen – sozialschwache Jugendliche in US-amerikanischen Großstädten einerseits und Personen von hohem sozialen Status andererseits – nur schwer miteinander vergleichbar. Dennoch können aus den Thesen Cohens und Millers Schlussfolgerungen mit Blick auf deviantes Verhalten von Unternehmensangehörigen gezogen werden.80 Hierfür lässt sich mit Blick auf die Untersuchungen von Clinard und Quinney schlussfolgern, dass sich innerhalb von Unternehmensstrukturen subkulturelle Strömungen entwickeln, die bestimmte kriminelle Handlungsweisen dulden oder gar fördern („work group subculture“ 81). Die Entstehung arbeitsplatzbezogener Subkulturen („work-related subcultures“ 82) kann dabei insbesondere auf die zeitliche Verschiebung des Tagesablaufs, namentlich eine Verschmelzung des Leistungs- und Freizeitbereichs, sowie durch die Auswahl und Beschränkung der vor diesem Hintergrund geknüpften Kontakte erklärt werden.83 dd) Neutralisierungstheorie Für die – insbesondere nach den Subkulturtheorien – beschriebene Auslösung bzw. Stabilisierung kriminellen Verhaltens gibt es diverse emotionale respektive situative Faktoren und Bedingungen, die durch das Individuum mittels eines Selbststeuerungsprozesses verarbeitet werden.84 Die von Sykes und Matza entwickelte „Technik der Neutralisierung“ versucht hierauf eine Antwort zu finden, 78 Miller, Die Kultur der Unterschicht als ein Entstehungsmilieu für Bandendelinquenz, in: Sack/König, Kriminalsoziologie, S. 339 (359). 79 Vgl. Miller, Die Kultur der Unterschicht als ein Entstehungsmilieu für Bandendelinquenz, in: Sack/König, Kriminalsoziologie, S. 339 (353 ff.). 80 Mit Blick auf das Wirtschaftsstrafrecht ist dem Ansatz Millers Vorzug zu gewähren, da arbeitsplatzbezogene Subkulturen selten die Ablehnung anerkannter gesellschaftlicher Mittelschichtstandards zum Gegenstand haben. Vielmehr geht es Wirtschaftsstraftätern gerade darum, die von der Gesellschaft als erstrebenswert erachteten Ziele mittels krimineller Handlungen zu erreichen. 81 Clinard/Quinney, Criminal Behaviour Systems, S. 194. 82 Vgl. zu der Begrifflichkeit und ihren Entstehungsgründen die grundlegende Arbeit von Coleman, American Journal of Sociology 1987, 406 (422). 83 Vgl. Schneider, NStZ 2007, 555 (559); Schneider, in: Brettel/Schneider, Wirtschaftsstrafrecht, S. 65. Grundlegend dazu bereits Coleman, American Journal of Sociology 1987, 406 (422). 84 Vgl. Bock, Kriminologie, S. 54.

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C. Das Unrechtsbewusstsein von Wirtschafts- und Unternehmensstraftätern

indem sie an Sutherlands Theorie der differenziellen Kontakte anknüpft und dabei das delinquente Verhalten straffälliger Jugendlicher durch das Erlernen subjektiver Rechtfertigungsmechanismen zu erklären versucht.85 Ihrer These liegt dabei der Gedanke zugrunde, dass auch der jugendliche Delinquent grundsätzlich die herrschende soziale Ordnung anerkennt, dabei jedoch die durch seine Handlung verursachte soziale und rechtliche Missbilligung mittels erlernter Rechtfertigungsmomente neutralisiert.86 Im Einzelnen unterscheiden Sykes und Matza zwischen fünf Neutralisierungsstrategien:87 (1) Ablehnung der Verantwortung (der Täter sieht sich in eine hilflose Situation getrieben und kann daher nur kriminell handeln); (2) Verneinung des Unrechts (der Täter geht davon aus, dass er keinen wirklichen Schaden anrichtet); (3) Ablehnung des Opfers (es handelt sich bei dem Opfer um eine Person, die das ihr zugefügte Unrecht verdient hat); (4) Verdammung des Verdammenden (die Personen, die das kriminelle Verhalten missbilligen, seien Heuchler oder selbst Abweichler); (5) Berufung auf höhere Instanzen (der Täter orientiert sich an anderen Normen, die als dringlicher oder wertvoller angesehen werden). Die von Sykes und Matza begründeten Neutralisierungstechniken werden hierbei als Anlass genommen, nicht nur Jugenddelinquenz, sondern auch Wirtschaftsdelinquenz zu erklären. Coleman wandte die Theorie auf das Gebiet des Wirtschaftsstrafrechts an und ergänzte diese um solche Rechtfertigungsstrategien88, die gerade im Bereich der Wirtschaftskriminalität häufig angewandt werden:89 Diese werden wie folgt zusammengefasst: Ablehnung des Schadens („It’s not really hurting anybody – the store can afford it“ 90); Verneinung von Strafnormen („I did what is business. If I bent the rules, who doesn’t?“ 91); Berufung auf Reziprozität („I felt I deserved to get 85 Vgl. Sykes/Matza, Techniken der Neutralisierung: Eine Theorie der Delinquenz, in: Sack/König, Kriminalsoziologie, S. 360 (366). 86 Vgl. Sykes/Matza, Techniken der Neutralisierung: Eine Theorie der Delinquenz, in: Sack/König, Kriminalsoziologie, S. 360 (364 ff.). 87 Vgl. Sykes/Matza, Techniken der Neutralisierung: Eine Theorie der Delinquenz, in: Sack/König, Kriminalsoziologie, S. 360 (366 ff.). 88 Häufig werden Neutralisierungs- und Rechtfertigungsstrategien synonym verwendet, vgl. exemplarisch Hefendehl, MSchrKrim 2003, 27 (32). Zutreffend ist jedoch, dass Neutralisierungstechniken der Handlung vorgelagert sind, wohingegen Rechtfertigungsstrategien durch den Täter erst nach Abschluss der delinquenten Handlung zwecks subjektiver Rechtfertigung einer Straftat angewandt werden, vgl. PricewaterhouseCoopers, Wirtschaftskriminalität: Eine Analyse der Motivstrukturen, S. 33. 89 Vgl. hierzu bereits Schneider, NStZ 2007, 555 (558) mit Bezugnahme auf Coleman, American Journal of Sociology 1987, 406 ff.; zu weiteren Rechtfertigungsstrategien siehe Hlavica/Thormann/Martenstein, in: Hlavica/Hülsberg/Klapproth, Tax Fraud & Forensic Accounting, S. 65 f. 90 Zitiert nach Coleman, American Journal of Sociology 1987, 406 (411). 91 Zitiert nach Coleman, American Journal of Sociology 1987, 406 (413).

I. Ursachen des defizitären Unrechtsbewusstseins von Wirtschaftsstraftätern 101

something additional for my work [. . .]“ 92); Übertragung der Verantwortlichkeit auf eine große Gruppe („[. . .] everyone in the real estate business has to do that. We didn’t do anything that they all don’t do“ 93); Berufung auf Ausweglosigkeit bzw. Notwendigkeit („I am by nature a wheeler-dealer. How else can you be a successful politician . . .?“ 94). Als weitere Neutralisierungstechniken Wirtschaftskrimineller können zudem die individuelle Fungibilität innerhalb der Organisation („Wenn ich es nicht mache, macht es halt ein anderer“) sowie die Rechtsguts- und Opferferne („Eigentlich kommt ja niemand zu Schaden“) als gruppenbedingte Rechtfertigungsstrategien ausgemacht werden.95 Die Besonderheit der angewandten Rechtfertigungsstrategien besteht darin, dass sie bereits integraler Bestandteil der Willensbildung sind und zugleich eine wichtige Rolle bei der Abwägung der für den Delinquenten bestehenden Risiken spielen.96 Die eingesetzten Neutralisierungsstrategien bilden zugleich den Schwerpunkt des eingangs beschriebenen subjektiven (kriminalsoziologischen) Unrechtsbewusstseins. Mit dieser subjektiven Neutralisierung des Unrechts versucht der Täter, die Tat sowie die damit verbundenen Risiken emotional zu bewältigen zu.97 Neutralisierungs- und Rechtfertigungsstrategien sind somit Causa und definitorisches Element des kriminalsoziologischen Unrechtsverständnisses. d) Konkrete kriminologische Erklärungsversuche der Wirtschaftsdelinquenz Die Entstehungszusammenhänge von Wirtschaftskriminalität eigenen sich unter Zuhilfenahme soziologischer Erkenntnisse und allgemeiner Kriminalitätstheorien dazu, Teilbereiche von Wirtschaftsdelinquenz zu erklären. Allerdings fehlte es bislang an einer spezifischen Kriminalitätstheorie der Wirtschaftsdelinquenz.98 Unter Zugrundelegung der dargestellten soziologisch geprägten Kriminalitätstheorien wurden Versuche unternommen, eine Theorie der Wirtschaftsdelinquenz zu etablieren. Diese werden im Folgenden überblicksartig vorgestellt. 92

Zitiert nach Coleman, American Journal of Sociology 1987, 406 (414). Zitiert nach Coleman, American Journal of Sociology 1987, 406 (413). 94 Zitiert nach Coleman, American Journal of Sociology 1987, 406 (412). 95 Vgl. Hefendehl, MSchrKrim 2003, 27 (33). Vgl. zudem für die angeführten Rechtfertigungsstrategien umfassend PricewaterhouseCoopers, Wirtschaftskriminalität: Eine Analyse der Motivstrukturen, S. 32 ff. sowie Hlavica/Thormann/Martenstein, in: Hlavica/Hülsberg/Klapproth, Tax Fraud & Forensic Accounting, S. 65. 96 Vgl. Schneider, NStZ 2007, 555 (558). 97 Vgl. PricewaterhouseCoopers, Wirtschaftskriminalität: Eine Analyse der Motivstrukturen, S. 29. 98 Vgl. zu dieser Erkenntnis Hefendehl, MSchrKrim 2003, 27 (30). 93

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C. Das Unrechtsbewusstsein von Wirtschafts- und Unternehmensstraftätern

aa) Die Fraud Triangle-Theorie („Betrugsdreieck“) Das sogenannte Fraud Triangle stellt verschiedene Phänomene von Wirtschaftskriminalität dar und gilt als eines der ersten Modelle, die das Phänomen der Unternehmensdelinquenz kriminologisch zu erklären versuchten.99 Die Theorie geht zurück auf die Arbeiten Cresseys, der zwecks Aufdeckung der Veruntreuung von Unternehmensgeldern 200 Strafgefangene im Mittleren Westen der USA befragte.100 Mit Blick auf die Vertrauensbrüchigkeit von Unternehmensangehörigen stellte Cressey folgendes fest: „Trusted persons become trust violators when they conceive of themselves as having a financial problem which is non-sharable, are aware that this problem can be secretly resolved by violation of the position of financial trust, and are able to apply to their own conduct in that situation verbalizations which enable them to adjust their conceptions of themselves as trusted persons with their conceptions of themselves as users of the entrusted funds or property.“ 101

Gemäß Cresseys These müssen demnach drei Voraussetzungen erfüllt sein, damit ein Unternehmensangehöriger vertrauensbrüchig wird:102 (1) A non-sharable problem (Situation mit einem nicht anders abwendbaren finanziellen Problem103); (2) Knowledge that the problem can be resolved by violation of trust (Bewusstsein darüber, dass sich das finanzielle Problem durch Verletzung einer finanziellen Vertrauensposition lösen lässt104); (3) Verbalizations/Rationalizations (Rationalisierung des eigenen Verhaltens/ Rechtfertigung105). Neben der Motivation (erste Stufe) und Gelegenheit (zweite Stufe), vertrauensbrüchig zu werden, ist die dritte Stufe der Rationalisierung von besonderer Bedeutung. Bei dieser stark subjektiven Komponente handelt es sich um einen Rückgriff auf Neutralisierungsstrategien, die es dem Täter ermöglichen, die Tat 99 Vgl. Hlavica/Thormann/Martenstein, in: Hlavica/Hülsberg/Klapproth, Tax Fraud & Forensic Accounting, S. 63; Padgett, Profiling the fraudster, Kap. 6, Fig. 6.1. 100 Vgl. Singleton, Fraud auditing and forensic accounting, S. 44; Hlavica/Thormann/ Martenstein, in: Hlavica/Hülsberg/Klapproth, Tax Fraud & Forensic Accounting, S. 63. 101 Cressey, Other Peoples’s Money, S. 30. 102 Vgl. ausführlich zu Cresseys Drei-Stufen-Modell unter anderem PricewaterhouseCoopers, Wirtschaftskriminalität: Eine Analyse der Motivstrukturen, S. 30. 103 Vgl. Singleton, Fraud auditing and forensic accounting, S. 44; Hlavica/Thormann/ Martenstein, in: Hlavica/Hülsberg/Klapproth, Tax Fraud & Forensic Accounting, S. 63. 104 Vgl. Singleton, Fraud auditing and forensic accounting, S. 46 f.; Hlavica/Thormann/Martenstein, in: Hlavica/Hülsberg/Klapproth, Tax Fraud & Forensic Accounting, S. 63. 105 Vgl. Singleton, Fraud auditing and forensic accounting, S. 45 f.; Hlavica/Thormann/Martenstein, in: Hlavica/Hülsberg/Klapproth, Tax Fraud & Forensic Accounting, S. 63.

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vor sich selbst zu rechtfertigen106 und sein subjektives (kriminologisches) Unrechtsbewusstseins zu überwinden. bb) Leipziger Verlaufsmodell der Wirtschaftskriminalität Schneider benennt und systematisiert mit dem „Leipziger Verlaufsmodell wirtschaftskriminellen Handelns“ die personalen und situativen Risikofaktoren von Wirtschaftskriminalität und bezieht diese auf die Ebenen der Wahrnehmung einer kriminogenen Situation.107 Diese Theorie folgt ebenfalls einem dreistufigen Verlaufsmodell: Ausgangspunkt (erste Stufe) für die Begehung einer Straftat ist das Erkennen einer kriminogenen Situation, was regelmäßig erst langjährigen Unternehmensangehörigen, die genaue Kenntnis von den Arbeitsabläufen haben, möglich ist.108 Auf der zweiten Stufe bewertet der Handelnde die konkrete Tatsituation unter Berücksichtigung personaler Risikofaktoren. Hierbei unterscheidet Schneider zwischen einer kriminogenen und einer kriminoresistenten Ebene.109 Bei der Bewertung der Tat spielen unter anderem Neutralisierungsstrategien eine gewichtige Rolle, da der Täter diese regelmäßig als wichtigen Bewertungsfaktor für seine delinquente Handlung ausnutzt.110 Als weitere personale Risikofaktoren mit Kriminovalenz beschreibt Schneider negative Gefühlslagen (bspw. Frustration, Zurückweisung, Kränkung am Arbeitsplatz).111 Kriminovalenz könne des Weiteren einerseits durch ein inadäquates Anspruchsniveau und andererseits durch ein unrealistisches Verhältnis zu Geld und Eigentum begünstigt werden.112 Mitunter spricht Schneider arbeitsplatzbezogenen Subkulturen113 eine kriminovalente Be106 Vgl. ausführlich zu den Rechtsfertigungsstrategien innerhalb des Fraud Triangle Hlavica/Thormann/Martenstein, in: Hlavica/Hülsberg/Klapproth, Tax Fraud & Forensic Accounting, S. 65 ff. 107 Vgl. Schneider, in: Brettel/Schneider, Wirtschaftskriminalität, S. 63; ders., in: Rölfs WP Partner AG, Der Wirtschaftsstraftäter in seinen sozialen Bezügen, S. 5. Vgl. auch die in diesem Zusammenhang erzielten empirischen Ergebnisse von Schneider/ John, in: Bannenberg/Jehle, Wirtschaftskriminalität, S. 159 ff. 108 Vgl. Schneider, NStZ 2007, 555 (560), wobei der Täter, der überwiegend von puristischen Werten geprägt ist, eine solche Gelegenheit regelmäßig übersieht. 109 Vgl. Schneider, NStZ 2007, 555 (559). Zu den individuellen Risikofaktoren nochmals Schneider, in: Brettel/Schneider, Wirtschaftsstrafrecht, S. 65. 110 Vgl. Schneider, NStZ 2007, 555 (558). 111 Vgl. Schneider, NStZ 2007, 555 (559), der in diesem Zusammenhang als kriminoresistente Faktoren durch positive Gefühlslagen (bspw. Zufriedenheit und Ausgeglichenheit am Arbeitsplatz) beschreibt; ders., in: Rölfs WP Partner AG, Der Wirtschaftsstraftäter in seinen sozialen Bezügen, S. 5. 112 Vgl. Schneider, NStZ 2007, 555 (559), der in diesem Zusammenhang als kriminoresistente Faktoren beispielsweise adäquates Anspruchsniveau und realistisches Verhältnis zu Geld und Eigentum beschreibt; ders., in: Rölfs WP Partner AG, Der Wirtschaftsstraftäter in seinen sozialen Bezügen, S. 6. 113 Vgl. hierzu bereits Abschn. C.I.3.c)cc).

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C. Das Unrechtsbewusstsein von Wirtschafts- und Unternehmensstraftätern

deutung zu, wohingegen die Existenz tragender Bindungen (bspw. zur Herkunftsfamilie) kriminoresistente Wirkung entfaltet.114 Auch moderne materialistische Werte (bspw. hoher Lebensstandard, Hedonismus, Macht und Einfluss) können als kriminovalentes personales Risikokriterium eingestuft werden.115 Ob der Täter auf dritter Stufe eine delinquente Handlung tatsächlich vornimmt oder sich diese nur vorstellt, hängt maßgeblich nur noch von der Kumulation und Intensitätssteigerung der genannten personalen Risiken ab.116 e) Zusammenfassung und Stellungnahme Sutherlands Theorie von white collar crime zählt bis heute zu den bahnbrechendsten Feststellungen des Wirtschaftsstrafrechts. Die Befunde Sutherlands sind dabei von einer derart tragenden Bedeutung, dass sie auch heute noch als klassische Definition des Wirtschaftsstrafrechts herangezogen werden.117 Zwar ist die täterorientierte, kriminologisch geprägte Definition des Wirtschaftsstrafrechts verfassungsrechtlich bedenklich, da nicht die Täterdefinition sondern die gesetzliche Umschreibung der Tat vor dem Hintergrund des Bestimmtheitsgebots (Art. 103 Abs. 2 GG) maßgeblich ist.118 Dennoch bilden die Erkenntnisse Sutherlands bis heute den Ausgangspunkt wirtschaftsstrafrechtlicher Untersuchungen und Begriffsansätze. Das Zusammenführen von Sutherlands Erkenntnissen mit kriminalsoziologischen Erkenntnissen und den in diesem Zusammenhang durchgeführten empirischen Studien ermöglichen es, das Phänomen der Wirtschafts- und Unternehmensdelinquenz besser nachvollziehen zu können. Dabei ist jedoch zu konstatieren, dass es sich bei den angeführten Kriminalitätstheorien nicht um einen Meinungsstreit im klassischen Sinne handelt, sondern um ein perspektivbedingtes Nebeneinander von Erklärungsversuchen. So lässt sich aus der Synthese von Subkulturtheorie und der These von differentiellen Kontakten unweigerlich schlussfolgern, dass Wirtschaftskriminalität unter anderem als Resultat von Lernprozessen innerhalb arbeitsplatzbezogener

114 Vgl. Schneider, NStZ 2007, 555 (559 f.); ders., in: Rölfs WP Partner AG, Der Wirtschaftsstraftäter in seinen sozialen Bezügen, S. 6. 115 Vgl. Schneider, NStZ 2007, 555 (560), der als kriminoresistentes Gegenstück die Orientierung an traditionellen Werten beschreibt. 116 Vgl. Schneider, NStZ 2007, 555 (561); ders., in: Rölfs WP Partner AG, Der Wirtschaftsstraftäter in seinen sozialen Bezügen, S. 6. 117 Vgl. Dannecker/Bülte, in: Wabnitz/Janovsky, Handbuch des Wirtschafts- und Steuerstrafrechts, S. 15; ähnlich Kudlich/Og˘lakcıog˘lu, Wirtschaftsstrafrecht, S. 3. 118 Vgl. Dannecker/Bülte, in: Wabnitz/Janovsky, Handbuch des Wirtschafts- und Steuerstrafrechts, S. 15, der hier einen Verstoß gegen Art. 103 Abs. 2 GG sieht. Hierzu auch Kudlich/Og˘lakcıog˘lu, S. 3.

I. Ursachen des defizitären Unrechtsbewusstseins von Wirtschaftsstraftätern 105

Subkulturen aufgrund von Wiederholungs- und Nachahmungseffekten entsteht.119 Dieses Ergebnis wird durch empirische Untersuchungen belegt, wirken sich doch gerade unternehmensspezifische Faktoren begünstigend auf die Begehung von Wirtschaftsstraftaten aus.120 Neben den Tatgelegenheiten, die sich unter anderem durch die personale Distanz zwischen Täter und Opfer, die schwer zu durchdringenden unternehmerischen Verflechtungen oder die technischen Innovationen und damit verbundenen Tatmöglichkeiten auszeichnen, sind vor allem erlernte und im Unternehmen gelebte kriminelle Handlungen die Hauptursache für delinquentes Verhalten. Diese sowie weitere Erkenntnisse machen sich die Fraud-Triangle-Theorie sowie das Leipziger Verlaufsmodell der Wirtschaftskriminalität zunutze, indem sie die kriminalsoziologisch geprägten Theorien auswerten und diese in einem dreistufigen Modell der Unternehmensdelinquenz vereinen. Dabei ist beachtlich, dass Schneiders Theorie seine Grundlage in dem von Cressey begründeten „Betrugsdreieck“ findet und zum Gegenstand seines Leipziger Verlaufsmodels macht. Die wichtigste Erkenntnis des Leipziger Verlaufsmodells liegt hierbei in der Bewertung kriminogener und kriminoresistenter Aspekte durch den Täter – eine Erkenntnis, deren Weichen bereits Sutherland mit seiner Hypothese über „soziale Desorganisation“ legte.121 Dabei bedient sich das Verlaufsmodell zur Bestimmung kriminogener Motive kriminologischer Begründungsansätze, wie etwa der Anomie-Theorie Mertons oder des rational-choice-Ansatzes 122, und berücksichtigt auf diese Weise sämtliche Einflussfaktoren wirtschaftsdelinquenter Motive. Mit Blick auf das Unrechtsbewusstsein von Wirtschaftsstraftätern führen die im Rahmen der Ausarbeitung gewonnenen Erkenntnisse zu folgenden Ergebnissen, die sich thesenartig zusammenfassen lassen: 1. Es besteht ein gradueller Unterschied zwischen dem von der Kriminalsoziologie verwendeten Begriff des Unrechtsbewusstsein und dem schuldrelevanten Unrechtsbewusstsein i. S. v. § 17 StGB. Während das kriminologisch geprägte Unrechtsbewusstsein das verzerrte subjektive Rechtsempfinden des Täters zum Gegenstand seines Tatentschlusses macht, geht es bei dem schuldrelevanten Unrechtsbewusstsein um das Fehlen der Unrechtseinsicht in Er119 Vgl. Schneider, in: Brettel/Schneider, Wirtschaftsstrafrecht, S. 62; ebenso Hefendehl, MschKrim 2003, 27 (31). 120 Vgl. dazu ausführlich auch PricewaterhouseCoopers, Wirtschaftskriminalität: Eine Analyse der Motivstrukturen, S. 30. 121 Vgl. hierfür Sutherland, White-collar Kriminalität, in: Sack/König, Kriminalsoziologie, S. 187 (199 f.); ders., Theorie der differentiellen Kontakte, in: Sack/König, Kriminalsoziologie, S. 395 (399). 122 Vgl. zur ökonomischen Kriminalitätstheorie des rational-choice Ansatz Bock, Kriminologie, S. 71. Diese Theorie geht davon aus, dass der Täter seine Handlungsalternativen nach Kosten, Nutzen und der Wahrscheinlichkeit ihres Eintritts bewertet und sein Verhalten entsprechend der besten Handlungsoption ausrichtet.

106

C. Das Unrechtsbewusstsein von Wirtschafts- und Unternehmensstraftätern

mangelung der Kenntnis sanktionsbewehrter Straf- und Ordnungswidrigkeitenvorschriften. 2. Ein defizitäres schuldrelevantes Unrechtsbewusstsein kann aus den spezifischen Eigenarten des Wirtschafts- und Nebenstrafrechts resultieren. Der Täter kann Strafgesetze übertreten, weil er die Komplexität wirtschaftsstrafrechtlicher Sachverhalte nicht durchblickt und sich eines Unrechts deshalb nicht bewusst ist.123 Dabei haben die in diesem Zusammenhang auftretenden Defizite im Orientierungswissen negative Auswirkungen auf die Normanerkennung und den Legitimitätsglauben des Täters (fehlende Kenntnis[-möglichkeit] der sanktionsbewehrten Norm).124 3. Der von der Kriminalsoziologie verwendete Begriff des Unrechtsbewusstseins beschreibt hingegen das subjektive Rechtsbewusstsein von Wirtschaftsdelinquenten im Zusammenhang mit dem Erlernen von Neutralisierungs- und Rechtfertigungsstrategien. Neutralisierungs- und Rechtfertigungsstrategien sind dabei integraler Bestandteil der Willensbildung und dienen zugleich als Abwägungskriterium bei der Risikoabschätzung zwecks Tatbegehung. Die von Wirtschaftsstraftätern eingesetzten Neutralisierungstechniken dienen in erster Linie dazu, die mit der Tat verbundenen Risiken emotional bewältigen zu können und verbleibende Skrupel zu überwinden. Zwar sei einer der Hauptgründe für Wirtschaftsdelinquenz ein mangelndes Unrechtsbewusstsein der Täter;125 das auf kriminalsoziologischen Erkenntnissen basierende Verständnis des Unrechtsbewusstseins hat jedoch in erster Linie keine Auswirkung auf die Schuldfrage von Wirtschaftsdelinquenten. 4. Zwischen dem schuldrelevanten Unrechtsbewusstsein i. S. v. § 17 StGB einerseits und dem von der Kriminalsoziologie geprägten Begriff des Unrechtsbewusstseins andererseits herrschen jedoch Überschneidungen. Diese liegen insbesondere dann vor, wenn eine Kenntnis sanktionsbewehrter Normen infolge Neutralisierungstechniken und gelebter arbeitsplatzbezogener Subkulturen erschwert wird. Kriminelle unternehmerische Strukturen können dergestalt mit Wertvorstellungen der Unternehmensangehörigen verzahnt sein, dass eine Orientierung an den materiell-rechtlichen Ge- und Verboten kaum noch möglich ist. Die hieraus resultierende Normignoranz ist für die Entwicklung eines (schuldrelevanten) Rechtsbewusstseins hinderlich, begründet sie auf Seiten des Täters geradezu eine Haltung der Rechtsgleichgültigkeit. Dies verhindert die Sensibilisierung des Täters für die Kenntnis sanktionsbewehrter Normen. 123 Vgl. in diesem Zusammenhang Schneider, in: Brettel/Schneider, Wirtschaftsstrafrecht, S. 59 ff. 124 Vgl. Schneider, in: Brettel/Schneider, Wirtschaftsstrafrecht, S. 60. 125 Vgl. PricewaterhouseCoopers, Wirtschaftskriminalität: Eine Analyse der Motivstrukturen, S. 16; Bussmann/Salvenmoser, NStZ 2006, 203 (207).

II. Der Verbotsirrtum im Wirtschafts- und Nebenstrafrecht

107

II. Der Verbotsirrtum im Wirtschaftsund Nebenstrafrecht Sind nunmehr die Hauptursachen für das defizitäre Unrechtsbewusstsein von Wirtschafts- respektive Unternehmensstraftätern geklärt, stellt sich die Frage, wie ein solches de lege lata zu behandeln ist. Dabei geht es weniger um den Täter, als vielmehr um den Deliktstypus, den Wirtschafts- und Unternehmensstraftäter regelmäßig verwirklichen. Denn anders als kernstrafrechtliche Bestimmungen – welche freilich auch Gegenstand von Wirtschafts- und Unternehmensstraftaten sein können126 – handelt es sich bei neben- und insbesondere wirtschaftsstrafrechtlichen Verboten um solche, die sich dem Täter nicht mittels ethisch-moralischer Überlegungen erschließen.127 Insoweit hat es sich etabliert, mit Neumann von „sozial ethisch farblose[n] Tatbeständen[n]“ 128 zu sprechen. Handelt es sich bei Tatbeständen des Kernstrafrechts vornehmlich um delicta per se, bedürfen die zahlreichen delicta mere prohibita des Wirtschaftsstrafrechts einer anderen Behandlung.129 Als Grund für den rechtspositivistischen Einschlag wirtschaftsstrafrechtlicher Bestimmungen lässt sich die Wandelbarkeit des Wirtschaftslebens anführen, die regelmäßig einer raschen gesetzgeberischen Reaktion bedarf, nämlich durch die Anpassung von Blankettvorschriften.130 Das Versagen der Appellfunktion im Bereich des Wirtschaftsstrafrechts führt seinerseits zu der These, für dieses Gebiet vorsätzliches Handeln nur bei Verbotskenntnis anzunehmen, also insoweit der Vorsatztheorie zu folgen.131 Diese Auffassung hält sich mit einer kaum vergleichbaren Hartnäckigkeit und das, obwohl § 11 OWiG nahezu identisch ist mit den §§ 16, 17 StGB, die nach § 1 EGStGB auch für das Nebenstrafrecht Geltung beanspruchen.132 Wie mit dieser Problematik zu verfahren ist und ob es eine sachgerechte Lösung für den Irrtum im Bereich des Wirtschaftsstrafrechts gibt, ist Gegenstand dieses Kapitels.

126 Man denke hierbei allein an die Tatbestände des Betrugs, der Untreue sowie an Korruptionsdelikte und Kartellverstöße, vgl. dazu Eidam, ZStW 127, 120. 127 Vgl. hierfür Neumann, in: NK-StGB, Bd. 1, § 17 Rn. 90. Zu einem anderen Ergebnis gelangt Glandien, der Verbotsirrtum um Ordnungswidrigkeiten und im Nebenstrafrecht, S. 297 ff., bezüglich der Vorschriften des Nebenstrafrechts, insbesondere mit Blick auf das Wehrstrafgesetz; das Bundesjagdgesetz; das Lebensmittel-, Bedarfsgegenstände und Futtermittelgesetzbuch; das Weingesetz sowie das Betäubungsmittelgesetzbuch. 128 Neumann, in: NK-StGB, Bd. 1, § 17 Rn. 90. 129 Vgl. Krell, in: Adick/Bülte, Fiskalstrafrecht, 7. Kap. Rn. 24. 130 Vgl. Krell, in: Adick/Bülte, Fiskalstrafrecht, 7. Kap. Rn. 23 m.w. N. 131 Vgl. Krell, in: Adick/Bülte, Fiskalstrafrecht, 7. Kap. Rn. 23; Neumann, in: NKStGB, Bd. 1, § 17 Rn. 92 m.w. N. 132 Vgl. Tiedemann, FS Geerds, S. 95 (97).

108

C. Das Unrechtsbewusstsein von Wirtschafts- und Unternehmensstraftätern

1. Grundsätzliche Behandlung durch die Rechtsprechung Die Rechtsprechung behandelt den Irrtum über die Existenz von Blankettmerkmalen unterschiedlich. Dabei sind partielle Gemeinsamkeiten zwischen der reichsgerichtlichen Irrtumsdisjunktion und der heutigen Rechtsprechung für den Bereich des Nebenstrafrechts kaum zu leugnen. a) Die reichsgerichtliche Irrtumsdisjunktion Auch beim Irrtum über die Gültigkeit und Existenz von blankettausfüllenden Vorschriften folgte das Reichsgericht konsequent seiner Unterscheidung zwischen strafrechtlichem und außerstrafrechtlichem Irrtum. So konstatiert RGSt 52, 99 (100) exemplarisch: „Wenn in der Rechtsprechung angenommen ist, daß bei Vergehen gegen (. . .) Blankettstrafgesetze die Unkenntnis der gesetzlichen oder behördlichen Anordnungen, deren Übertretung im Strafgesetz bedroht ist, den Vorsatz ausschließt (. . .), so beruht das darauf, daß die außerhalb des Strafgesetzes liegenden öffentlichrechtlichen Anordnungen als Tatumstände gelten, weil sie nicht selbst das Strafgesetz darstellen.“ 133

Zugleich ergänzte das Reichsgericht seine Begründung zu seiner Irrtumskonzeption im Zusammenhang mit Blankettstrafgesetzen. Insbesondere sah das Reichsgericht die blankettausfüllende Norm nicht als Bestandteil des Strafgesetzes, sondern setzte diese für ihre Anwendbarkeit voraus. „Denn es handelt sich hierbei nicht um das Strafgesetz selbst, sondern nur um öffentlichrechtliche Anordnungen, die nicht einen Bestandteil des Strafgesetzes, sondern die Voraussetzung seiner Anwendbarkeit bilden. Sie sind daher als Tatumstände im Sinn des § 59 StGB zu bewerten.“ 134

b) Die neuere Rechtsprechung Grundsätzlich behandelt die heutige Rechtsprechung einen Irrtum über die Existenz einer Rechtsnorm im Nebenstrafrecht genauso wie im Bereich des Kernstrafrechts, nämlich über § 17 StGB.135 Selbiges gilt regelmäßig auch mit Blick auf einen Irrtum über Blankettstrafgesetze. Blankettstraftatbestände werden dadurch gebildet, dass man den Tatbestand der blankettausfüllenden Norm in den Tatbestand des Blankettstrafgesetzes hinein- bzw. zusammenliest.136 133 Vgl. für ähnliche Beispiele RGSt 72, 329 (338); 66, 251 (252); 56, 337 (339); 36, 359 (362). 134 RGSt 56, 337 (339). 135 Vgl. exemplarisch BGHSt 3, 400; 20, 177; NStZ 1993, 594 m. Anm. Puppe; 2007, 644; NStZ-RR 1996, 24. 136 Vgl. Anm. Puppe, NStZ 1993, 594 (596) m.w. N.; Fakhouri Gómez, GA 2010, 259 (263).

II. Der Verbotsirrtum im Wirtschafts- und Nebenstrafrecht

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Dabei gilt es zu unterscheiden, ob ein Blankettmerkmal in einem Straftatbestand auf ein anderes allgemeines Gesetz (bspw. § 58 Abs. 1 Nr. 18 LFGB) oder auf eine Einzelanordnung (bspw. in den Fällen der §§ 145a, 145 c, § 184a, § 325 Abs. 2 i.V. m. Abs. 4, 327 StGB) verweist. Bei Letzteren besteht zwischen der Rechtsprechung und der Literatur Einigkeit darüber, dass der Täter neben dem Tatbestand der Einzelanordnung auch um ihren Erlass und ihre Wirksamkeit wissen muss, um vorsätzlich zu handeln.137 Hingegen lehnt die Rechtsprechung die Kenntnis um die Existenz und die Wirksamkeit der blankettausfüllenden Norm als vorsatzrelevant ab, soweit es sich hierbei um ein allgemeines Gesetz handelt.138 Ob die Unkenntnis über die Existenz und die Wirksamkeit einer blankettausfüllenden Norm zum Tatbestands- oder Verbotsirrtum führe, müsse laut Bundesgerichtshof „differenzierend nach dem jeweilig in Betracht kommenden gesetzlichen Tatbestand entschieden werden.“ 139 Bis auf wenige Ausnahmefälle – beispielsweise im Bereich des Steuerstrafrechts140 oder bei dem Bedürfnis nach einer behördlichen Erlaubnis – nimmt der Bundesgerichtshof in den Fällen der Unkenntnis über die Existenz und Wirksamkeit der Ausfüllungsnorm regelmäßig einen Verbotsirrtum an. Im Falle des Erfordernisses einer behördlichen Erlaubnis differenziert die Rechtsprechung wie folgt: Stellt dieses ein präventives Verbot mit Erlaubnisvorbehalt dar, handele es sich bei diesem Merkmal um ein Tatbestandsmerkmal, welches der Irrtumsregelung des § 16 StGB unterfällt.141 Handelt es sich hingegen bei der behördlichen Erlaubnis um ein repressives Verbot mit Befreiungsvorbehalt, stuft die Rechtsprechung die tatbestandliche Handlung regelmäßig als besonders sozialschädlich ein, sodass ein Irrtum nur bei überwiegenden Gegeninteressen relevant ist; ein Irrtum über das Erfordernis der behördlichen Erlaubnis stellt in diesen Fällen einen Verbotsirrtum nach § 17 StGB dar.142 137 Vgl. bspw. BayObLGSt 1999, 136 (137 f.); OLG Braunschweig, NStZ-RR 1998, 175 (177). Insoweit korrespondiert die Literatur mit dieser Auffassung, vgl. exemplarisch Puppe, in: NK-StGB, Bd. 1, § 16 Rn. 63; sowie Sternberg-Lieben, in: Schönke/ Schröder, StGB, § 15 Rn. 102. 138 Vgl. hierzu die Leitentscheidung des BGH, NJW 1953, 472 (473). Ebenso BGH, NStZ 1993, 594 (595) m. Anm. Puppe, NStZ-RR 1996, 24 (25). Dieser Auffassung haben sich große Teile der Literatur angeschlossen, vgl. hierfür u. a. Backes, StuW 1982, 253 (254); Sternberg-Lieben, in: Schönke/Schröder, StGB, § 15 Rn. 99; Böse, FS Puppe, 1353 (1358). Ehemals auch Roxin, Strafrecht Allgemeiner Teil, Bd. I, § 12 Rn. 99, der mittlerweile diese Auffassung unter Anwendung der „weicheren Schuldtheorie“ aufgegeben hat, vgl. hierzu Abschn. C.II.2.c). 139 BGH, NStZ 1993, 594 (595). 140 Vgl. Zur Steuerspruchtheorie Abschn. C.II.1.c). 141 Vgl. OLG Frankfurt am Main, NStZ-RR 2006, 353; LG Ravensburg, NStZ-RR 2007, 354. 142 Vgl. Neumann, in: NK-StGB, Bd. 1, § 17 Rn. 95 unter Bezugnahme auf BGH, NStZ 1993, 595; NStZ-RR 2003, 55; NStZ 2011, 461.

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C. Das Unrechtsbewusstsein von Wirtschafts- und Unternehmensstraftätern

Die Rechtsprechung begründet ihre Auffassung mit der gesetzgeberischen Entscheidung für die Schuldtheorie, mithin der Kodifizierung des § 17 StGB. Mit der Abkehr von der Vorsatztheorie folge zugleich, dass der Normbefehl der Vorschrift, auf die sich ein Blankett bezieht, Gegenstand der Schuld sei; der Normbefehl, auf den durch das Blankett verwiesen wird, stehe dabei außerhalb des Tatbestands.143 Insoweit bleibe es dabei, dass der Irrtum über den Inhalt respektive die Gültigkeit des Verbots als solchem ein Verbotsirrtum bleibe.144 c) Die Steuerspruchtheorie des Bundesgerichtshofs Kommt die Rechtsprechung in den Fällen eines Irrtums über die Existenz der blankettausfüllenden Norm regelmäßig zum Verbotsirrtum nach § 17 StGB, hält sie jedoch zugleich die Übertragbarkeit dieser Irrtumslehre auf das Steuerstrafrecht, insbesondere auf den Fall der Steuerhinterziehung, nicht für geboten. Die Judikatur geht davon aus, dass das Tatbestandsmerkmal „Steuern verkürzt“ in § 370 AO ein Blankettmerkmal sei.145 Mit seiner wegeweisenden „Kakaobutter“Entscheidung behandelt der Bundesgerichtshof allerdings den Irrtum über die Existenz der blankettausfüllenden Steuervorschrift als Tatbestandsirrtum:146 „Bei natürlicher Betrachtung des § 396 RAbgO – wie er in ständiger und zutreffender Rechtsprechung bisher ausgelegt wurde – ist nun aber Gegenstand der Verkürzungshandlung nicht die tatsächliche Steuereinnahme, sondern der bestehende Steueranspruch. Zum Inhalt des Vorsatzes der Steuerhinterziehung gehört mithin auch, daß der Täter den bestehenden bestimmten Steueranspruch kennt und ihn trotz dieser Kenntnis gegenüber der Steuerbehörde verkürzen will. (. . .) Durch ihren Irrtum über die einschlägige zollrechtliche Vorschrift ist der Beschwerdeführerin mithin das Bestehen des Steueranspruchs, also eines ,Tatumstandes‘ verschleiert worden.“ 147

Bei der Behandlung von Irrtümern im Bereich des Steuerrechts handelt es sich – wie auch der Bundesgerichtshof wohl offen zugibt – um den Anschluss an die reichsgerichtliche Irrtumsdisjunktion von strafrechtlichem und außerstrafrechtlichem Irrtum.148 Dabei widerspricht der Bundesgerichtshof ganz offensichtlich seiner sonstigen „Irrtumslinie“ für den Bereich des Blankettstrafrechts.149

143

Vgl. Bülte, NStZ 2013, 65 (67). Vgl. BGHSt 3, 400 (403), zitiert nach Puppe, in: NK-StGB, Bd. 1, § 16 Rn. 64. 145 Vgl. allein BGHSt 40, 195 (196). 146 Vgl. hierfür BGHSt 5, 90 (92); 24, 178 (183); 34, 272 (282); 40, 195 (196). Mittlerweile mit differenzierender Betrachtung BGH, NStZ 2012, 160 (161). 147 Vgl. BGHSt 5, 90 (92). 148 Vgl. Vgl. hierfür RGSt 61, 259 (263): „Denn der Irrtum über das Bestehen der Steuerpflicht enthält einen Irrtum über ,Tatumstände‘, der als solcher, wenn er unverschuldet ist, aufgrund von § 59 StGB in Verb. mit § 355 RAbgO auch im Steuerstrafrecht die Bestrafung wegen eines Fahrlässigkeitsvergehens ohne Weiteres ausschließt (. . .).“ Zutreffend gewürdigt von Bülte, NStZ 2013, 65 (68). 149 Insoweit zustimmend Adick/Bülte, Fiskalstrafrecht, 8. Kap. Rn. 74. 144

II. Der Verbotsirrtum im Wirtschafts- und Nebenstrafrecht

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2. Differenzierte Behandlung durch die Literatur Die Behandlung des defizitären Unrechtsbewusstseins ist auch lange nach der Abkehr von der reichsgerichtlichen Irrtumskonzeption umstritten. Besonders für den Bereich des Nebenstraf- und Ordnungswidrigkeitenrechts wird der Streit um Vorsatz- und Schuldtheorie mit hoher Aktualität geführt, wobei eine Lösung dieses Problems – zumindest auf den ersten Blick – nach wie vor nicht greifbar erscheint. a) Vertreter der Schuldtheorie Die Vertreter der Schuldtheorie argumentieren regelmäßig neben rechtsdogmatischen überwiegend mit kriminalpolitischen Argumenten. Die folgende Darstellung dient dazu, einen Überblick über die gängigen Begründungsansätze für die Schuldtheorie im Bereich des Wirtschafts- und Nebenstrafrechts zu liefern. aa) Warda Einen wichtigen Beitrag zu der Diskussion über den Irrtum bezüglich der Wirksamkeit und Existenz blankettausfüllender Vorschriften leistete Warda. Nach seiner Auffassung bestünden Blankettstrafgesetze aus unvollständigen Tatbeständen.150 Durch das Zusammenfügen von Blankettnorm und Ausfüllungsvorschrift ergebe sich der vollständige Tatbestand des Blankettstrafgesetzes.151 Nach dem Zusammenlesen von Verweisungs- und Ausfüllungsnorm seien die allgemeinen Regeln über die Irrtumsunterscheidung anzuwenden; in der Konsequenz verlangt Warda: „Weiß der Täter nicht, daß er die (durch die Ausfüllungsnorm ergänzten) Tatbestandsmerkmale verwirklicht, so liegt ein nach § 59 StGB vorsatzausschließender Tatbestandsirrtum vor. Hat er dagegen den (ergänzten) Tatbestand vorsätzlich verwirklicht, so ist die Unkenntnis der Verbotenheit der tatbestandsmäßigen Handlung ein Verbotsirrtum.“ 152

Ergänzte Tatbestandsmerkmale seien nur die einzelnen Merkmale der Ausfüllungsnorm, hingegen nicht die Ausfüllungsnorm als solche.153 Soweit Dohna konstatiert, „daß das Verbotensein nicht Merkmal des Tatbestandes sein kann, weil ja doch gerade die Verwirklichung des Tatbestandes Gegenstand des Ver-

150 Vgl. Warda, Die Abgrenzung von Tatbestands- und Verbotsirrtum bei Blankettstrafgesetzen, S. 36. 151 Vgl. Warda, Die Abgrenzung von Tatbestands- und Verbotsirrtum bei Blankettstrafgesetzen, S. 36. 152 Warda, Die Abgrenzung von Tatbestands- und Verbotsirrtum bei Blankettstrafgesetzen, S. 36. 153 Vgl. Warda, Die Abgrenzung von Tatbestands- und Verbotsirrtum bei Blankettstrafgesetzen, S. 37.

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C. Das Unrechtsbewusstsein von Wirtschafts- und Unternehmensstraftätern

botes ist“ 154, will Warda dies auch auf Blankettstrafgesetze übertragen.155 Aus diesem Grund brauche der Vorsatz auch die Verbotskenntnis nicht zu umfassen; es genüge das Wissen um die Verwirklichung ihrer einzelnen Merkmale.156 Sofern das ausfüllende Verbot kein Tatbestandsmerkmal darstelle, könne die Unwissenheit hierüber lediglich einen Verbots- und keinen Tatbestandsirrtum begründen.157 bb) Jescheck/Weigend Jescheck und Weigend argumentieren für die Anwendbarkeit der Schuldtheorie im Nebenstraf- und Ordnungswidrigkeitenrecht mit dem Erzielen sachgerechter Ergebnisse über den Bereich des Kernstrafrechts hinaus.158 Gegen die Notwendigkeit der Rückkehr zur Vorsatztheorie führen sie hierbei drei konkrete Argumente an: (1) Durch Auslegung des gesetzlichen Tatbestandes ließe sich teilweise der Schluss ziehen, dass der Gesetzgeber bei einzelnen Vorschriften die Anwendung des Vorsatztatbestandes auf Fälle positiver Verbotskenntnis beschränken wollte (bspw. sei das Fehlen der behördlichen Erlaubnis regelmäßig als Tatbestandsmerkmal zu verstehen).159 (2) Die Adressaten von Vorschriften des Steuer- und Nebenstrafrechts wissen regelmäßig um die sie betreffenden Ge- und Verbote, sodass kein Anlass dafür bestehe, diese im Falle der Unkenntnis des Gesetzes zu privilegieren.160 (3) Wenn man der teilweise vertretenen Auffassung der Doppelstellung des Vorsatzes161 folgt, ließe sich eine überstrenge Verurteilung wegen einer Vorsatztat dann vermeiden, wenn der eigentliche Vorwurf auf der Verletzung einer Erkundigungspflicht beruht.162

154 Dohna, Aufbau der Verbrechenslehre, S. 49, zitiert nach Warda, Die Abgrenzung von Tatbestands- und Verbotsirrtum bei Blankettstrafgesetzen, S. 28. 155 Vgl. Warda, Die Abgrenzung von Tatbestands- und Verbotsirrtum bei Blankettstrafgesetzen, S. 28, 37. 156 Vgl. Warda, Die Abgrenzung von Tatbestands- und Verbotsirrtum bei Blankettstrafgesetzen, S. 37. 157 Vgl. Warda, Die Abgrenzung von Tatbestands- und Verbotsirrtum bei Blankettstrafgesetzen, S. 37. 158 Vgl. Jescheck/Weigend, Lehrbuch des Strafrechts, S. 459. 159 Vgl. Jescheck/Weigend, Lehrbuch des Strafrechts, S. 459 f. 160 Vgl. Jescheck/Weigend, Lehrbuch des Strafrechts, S. 460. 161 Vgl. Jescheck/Weigend, Lehrbuch des Strafrechts, S. 243; sowie Eisele, in: Schönke/Schröder, StGB, Vorb. § 13 Rn. 120/121 m.w. N.: Danach ist der Vorsatz sowohl Steuerungsfaktor des Verhaltens als auch Element der Schuld. 162 Vgl. Jescheck/Weigend, Lehrbuch des Strafrechts, S. 460. Eisele, in: Schönke/ Schröder, StGB, Vorb. § 13 Rn. 120/121, will in diesen Fällen die Vorsatzschuld entfallen lassen.

II. Der Verbotsirrtum im Wirtschafts- und Nebenstrafrecht

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cc) Meyer Auch Meyer unterstützt die Auffassung der Rechtsprechung und bestärkt diese mit dem Argument der rein quantitativen Differenz zwischen Verwaltungs- und Kriminalunrecht. Er verwirft die bis in die 1960er Jahre vorherrschende aliudTheorie, die einen qualitativen – das heißt wesensmäßigen – Unterschied zwischen Verwaltungsunrecht und Kriminalunrecht zugrunde legte.163 Demgegenüber setze sich in der modernen Lehre eine quantitative Betrachtungsweise durch, bei der sich das Verwaltungs- vom Kriminalunrecht lediglich durch einen graduell geringeren Unrechtsgehalt unterscheide.164 Hierfür spreche auch die gesetzgeberische Entwicklung der 1960er und 1970er Jahre, die sich in der Annäherung von Straf- und Bußgeldverfahren widerspiegelt. Aus diesem Grund könne aus der Entscheidung des Gesetzgebers, entweder eine Geldbuße (dann Veraltungsunrecht) oder Strafe (dann Kriminalunrecht) zu verhängen, kein Rückschluss auf die unterschiedliche Unrechtsqualität gezogen werden.165 Und genau hieraus zieht Meyer die Konsequenz einer universellen Anwendbarkeit der Schuldtheorie: „Die Einsicht, daß Ordnungsrecht und Kriminalunrecht sich nicht wesensmäßig, sondern nur graduell unterscheiden, ist die wesentliche Begründung für Anerkennung der Schuldtheorie (auch durch das Ordnungswidrigkeitengesetz. Daraus folgt aber auch, daß für die Behandlung von Verbotsirrtumsfällen nach dem Ordnungswidrigkeitengesetz auch die Rechtsprechung und Literatur zu § 17 StGB mitherangezogen werden kann (. . .).“ 166

Aus den Ausführungen Meyers zum Ordnungswidrigkeitenrecht lässt sich somit der Schluss auf eine endgültige Verneinung der Vorsatztheorie ziehen. Zugleich will Meyer – wie auch schon der Bundesgerichtshof – einen Vorsatzausschluss dann bejahen, wenn es sich bei der Ausfüllungsnorm um ein präventives Verbot mit Erlaubnisvorbehalt handelt.167 dd) Jakobs Jakobs meint, die Rückkehr zur Vorsatztheorie im Bereich des Nebenstrafrechts verbiete sich allein schon deshalb, weil eine Grenzziehung zum Kernstrafrecht faktisch nicht sauber zu leisten sei.168 Nicht alle außerhalb des StGB positivierten Normen seien verfügbar; umgekehrt führen personell-relative Grundlagen 163

Vgl. Meyer, JuS 1983, 513. Vgl. Meyer, JuS 1983, 513 (514). 165 Vgl. Meyer, JuS 1983, 513 (514). 166 Meyer, JuS 1983, 513 (514). 167 Vgl. hierzu die entsprechenden Ausführungen bei Meyer, JuS 1983, 513 (515), mit Blick auf das von ihm besprochene Urteil des OLG Düsseldorf, NStZ 1981, 444. 168 Vgl. Jakobs, Strafrecht Allgemeiner Teil, Abschn. 19 Rn. 19. 164

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C. Das Unrechtsbewusstsein von Wirtschafts- und Unternehmensstraftätern

zu einer Verbotskenntnis auch im Bereich des Nebenstrafrechts.169 So müsse beispielsweise für Gastwirte das Verbot des Ausschanks alkoholischer Getränke an erkennbar Betrunkene gem. § 20 Nr. 2 GastG zu den Grundlagen gehören.170 Ferner meint Jakobs, dass die sozialethisch farblosen Tatbestände des Nebenstrafrechts eine zunehmend „sozialethische Färbung“ erhalten.171 Dies sei bei jenen Strafblanketten der Fall, die den Bestand des Regelungseffekts der Ausfüllungsnorm schützen, weil dieser Regelungseffekt dem Tatbestand zugeordnet werde. Vornehmlich gehe es hierbei um Normen, die das Eigentum, Pfandrechte, Aneignungsrechte, Beschlagnahmen etc. schützen.172 Zudem sei der Schuldtheorie im Bereich des Nebenstrafrechts zugute zu halten, dass sie den Rechtsgleichgültigen nicht milder behandelt als denjenigen, der sich um das Recht sorgt.173 b) Vertreter der Vorsatztheorie Im Gegensatz zu den Vertretern der Schuldtheorie beschränken sich die vorsatztheoretischen Auffassungen im Bereich des Wirtschafts- und Nebenstrafrechts nicht allein darauf, die kriminalpolitischen Argumente der Rechtsprechung und Literatur zu entkräften. Den Vertretern der Vorsatztheorie ist dabei gemeinsam, dass sie als Besonderheit des Neben- und Wirtschaftsstrafrechts eine besondere kognitive Leistung des Täters fordern, welche nur mit der Vorsatztheorie zu lösen sei. aa) Tiedemann Tiedemann attestiert der reichsgerichtlichen Irrtumsunterscheidung unter Bezugnahme auf Dohna einen „berechtigten Kern“ 174 und spricht sich im Ergebnis für die vom Reichsgericht vollzogene Irrtumsunterscheidung im Bereich des Wirtschafts- und Nebenstrafrechts aus. Tiedemann ist der Meinung, dass die von Roxin erörterte Divergenz „zwischen ,moralischem‘ und ,intellektuellem‘ Irrtum“ 175 eine andere Einschätzung ver169

Vgl. Jakobs, Strafrecht Allgemeiner Teil, Abschn. 19 Rn. 19. Vgl. Jakobs, Strafrecht Allgemeiner Teil, Abschn. 19 Rn. 19; insoweit wohl übereinstimmend mit Jescheck/Weigend, Lehrbuch des Strafrechts, S. 460. 171 Vgl. Jakobs, Strafrecht Allgemeiner Teil, Abschn. 19 Rn. 20. 172 Vgl. Jakobs, Strafrecht Allgemeiner Teil, Abschn. 19 Rn. 20. 173 Vgl. Jakobs, Strafrecht Allgemeiner Teil, Abschn. 19 Rn. 21. 174 Tiedemann, Tatbestandfunktionen im Nebenstrafrecht, S. 297. Nach Dohna, Recht und Irrtum, S. 26, habe die reichsgerichtliche Rechtsprechung einen Versuch unternommen „die Merkmale des Tatbestandes von den Voraussetzungen der Rechtswidrigkeit seiner Verwirklichung zu trennen. (. . .) Deshalb ist auch der Theorie des Reichsgerichts gegenüber jede Überheblichkeit schlecht angebracht.“ 175 Roxin, ZStW 76, 582 (604). 170

II. Der Verbotsirrtum im Wirtschafts- und Nebenstrafrecht

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diene.176 Er kommt zu dem Ergebnis, „daß das abstrakte Verbot oder Gebot dort zum Tatbestand (und folglich seine Kenntnis zum Vorsatz) gehört, wo der Tatbestand ohne diesen Normbezug unrechtsneutral ist“ 177. Folglich meint Tiedemann, dass der Verbotsirrtum im Nebenstrafrecht – mithin ein mangelndes Unrechtsbewusstsein – eine intellektuelle Fehlleistung darstelle,178 sodass Irrtümer über Tatbestände außerhalb kernstrafrechtlicher Regelungen stets zu einem Vorsatzausschluss führen müssten. Unter Bezugnahme auf Kuhlens Theorie der dynamischen Verweisungsnormen179 stellt Tiedemann folgende These auf: „Wo der Straftatbestand auf untergesetzliche Normen oder Einzelakte verweist, gehört die Existenz dieser Normen und Akte zum Straftatbestand selbst und muß daher vom Vorsatz umfaßt sein.“ 180

Tiedemann stützt seine These unter anderem auf die Tatbestandsgarantie des Art. 103 II GG. Der Gesetzgeber verlange, dass mit handlungsbeschreibenden Tatbeständen Unrecht typisiert werde.181 Diese Unrechtstypisierung sei jedoch nur dann gegeben, wenn bei unrechtsneutralen respektive unrechtsfernen Straftatbeständen Existenz und Inhalt der in Bezug genommenen Ausfüllungsnorm zum Straftatbestand zähle, wenn gerade dieser Umstand die Unrechtstypisierung erfülle und den intendierten Vorsatzappel vermitteln soll.182 Daher spricht sich Tiedemann auch bei Blankettstrafgesetzen für die Anwendbarkeit der Vorsatztheorie – bzw. einer gespaltenen Schuldtheorie – aus.183 Argumentativ nimmt er auf unterschiedliche europäische Gesetzgebungen Bezug. So sei das italienische Beispiel, welches von der Irrtumsdisjunktion des Reichsgerichts geprägt sei, zu einem der heutigen deutschen Lehre entsprechenden Stand gelangt.184 Ferner bezieht sich Tiedemann auf Art. 9 des portugiesischen Gesetzesdekrets 433/82, wonach die Verbotskenntnis zum Vorsatz gerech-

176

Vgl. Tiedemann, FS Geerds, 95 (103). Vgl. Tiedemann, FS Geerds, 95 (99). 178 Vgl. Tiedemann, FS Geerds, 95 (103). 179 Vgl. ausführlich Abschn. B.II.5.b)cc)(5). 180 Tiedemann, FS Geerds, 95 (106). 181 Vgl. Tiedemann, FS Geerds, 95 (99). 182 Vgl. Tiedemann, FS Geerds, 95 (106). 183 Vgl. Tiedemann, FS Geerds, 95 (106). 184 Vgl. Tiedemann, Tatbestandsfunktionen im Nebenstrafrecht, S. 297. Das italienische Strafgesetzbuch hat die Unterscheidung von strafrechtlichem und außerstrafrechtlichem Irrtum in den Gesetzestext übernommen, vgl. hierfür Ausführungen bei Tiedemann, FS Geerds, 95 (98). 177

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C. Das Unrechtsbewusstsein von Wirtschafts- und Unternehmensstraftätern

net wird.185 Auch Art. 16 des portugiesischen Strafgesetzbuches von 1982, bei dem die Kenntnis vom Verbot unerlässlich ist, um das notwendige Unrechtsbewusstsein zu haben,186 unterstütze die von ihm aufgestellte These. Tiedemann pflichtet dem portugiesischen Strafgesetzgeber bei, soweit dieser den „Tatbestandsirrtum [einem] Irrtum über das (abstrakte) Verbot dann gleichstellt, wenn die Verbotskenntnis ,vernüftigerweise‘ unerlässlich ist, um dem Täter das (konkrete) Unrecht seines Verhaltens bewußt zu machen.“ 187 Dem Hauptargument der Rechtsprechung und Literatur, wonach die Entscheidung für die Schuldtheorie gem. § 1 EGStGB respektive § 11 Abs. 2 OWiG auch für das Nebenstrafrecht gelte, kritisiert Tiedemann als nicht sachgerecht. Insbesondere müssten die Sachbesonderheiten des Nebenstrafrechts, auch vor dem Hintergrund strafrechtlicher Vereinheitlichungsbestrebungen, ausreichend berücksichtigt werden.188 Die Orientierung an kernstrafrechtlichen Grundsätzen, namentlich an der dort geltenden Schuldtheorie, sei daher verfehlt.189 bb) Puppe Bei der Behandlung von Blankettstrafgesetzen schließt sich Puppe einem Großteil der juristischen Literatur an, wenn sie davon ausgeht, dass der Täter den Tatbestand der blankettausfüllenden Norm kennen müsse, um vorsätzlich zu handeln.190 Für die Bejahung des Vorsatzes verlangt Puppe daher – wie im Falle blankettausfüllender Einzelfallanordnungen191 –, dass der Täter Kenntnis von Inhalt und Gültigkeit der (allgemeinen formulierten) blankettausfüllenden Norm hat, da er anderenfalls nicht wisse, dass eine Rechtspflicht für ihn bestehe.192 Puppe betrachtet das Argument, die Entscheidung für die Schuldtheorie habe zur Konsequenz, dass sich der Täter gerade nicht auf die Unkenntnis von Verhaltensnormen berufen könne, da diese den gemeinsamen Konsens der gesellschaftlichen Rechtsüberzeugung bilden,193 differenziert. Sie erkennt dieses Argument mit Blick auf Vorschriften des Kernstrafrechts an, lehnt die Kenntnis dieser Verhaltensnormen als Voraussetzung der gesellschaftlichen Sozialisation des Einzelnen mit Blick auf Vorschriften des Umwelt-, Steuer- und Wirtschaftsstrafrechts 185

Vgl. Tiedemann, FS Geerds, 95 (97). Vgl. Tiedemann, FS Geerds, 95 (97). 187 Tiedemann, FS Geerds, 95 (109). 188 Vgl. Tiedemann, ZStW 81, 869 (884). 189 Vgl. Tiedemann, ZStW 81 (1969), 869 (884). 190 Vgl. Puppe, NK-StGB, Bd. 1, § 16 Rn. 60 f., wonach selbiges auch mit Blick auf Teilblankette gelte; dies., GA 1990, 145 (162) m.w. N. 191 Vgl. hierzu näher Puppe, NK-StGB, Bd. 1, § 16 Rn. 63. 192 Puppe, NK-StGB, Bd. 1, § 16 Rn. 67; dies., GA 1990, 145 (166). 193 Vgl. statt vieler Sternberg-Lieben/Schuster, in: Schönke/Schröder, StGB, § 15 Rn. 99 m.w. N. 186

II. Der Verbotsirrtum im Wirtschafts- und Nebenstrafrecht

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hingegen ab.194 Denn anders als bei rein deskriptiven respektive hinreichend ausformulierten Tatbeständen des Kernstrafrechts gehören blankettausfüllende Normen, die Teil des Blanketttatbestands sind, gerade nicht zu den „elementaren rechtsethischen Regeln unserer Gesellschaft“ 195. Zudem bleibt Puppe auch mit Blick auf Blankettstrafgesetze ihrer These vom „Sinn des Tatbestandes“ treu und erklärt hierzu: „Dem Grundsatz der Verbindlichkeit des Sinns des Tatbestandes für die vorsatzbegründende Vorstellung kann nur noch dadurch Rechnung getragen werden, daß neben dem Tatbestand der blankettausfüllenden außerstrafrechtlichen Normen auch das Blankettmerkmal selbst als Bestandteil des notwendigen Vorsatzwissens anerkannt wird. Das bedeutet, daß der Täter neben den Tatbeständen der blankettausfüllenden Normen auch deren Gültigkeit kennen muss.“ 196

Puppe meint, Blankettstrafgesetze und Teilblankettstrafgesetze enthalten selbst die Gültigkeit der blankettausfüllenden Normen als Tatbestandsmerkmale. 197 Daher würde auch in diesem Fall die Substitution des auf ein allgemeines Gesetz verweisenden Merkmals durch den Tatbestand dieser Norm den Sinn des Tatbestandes verkürzen.198 Im Übrigen grenzt Puppe normative Tatbestandsmerkmale und Blankettstrafgesetze von gesamtbewertenden Merkmalen sowie von Wertprädikaten wie folgt ab: Gesamttatbewertende Merkmale seien, ähnlich wie Blankettstrafgesetze, tautologisch, unterscheiden sich aber dadurch, dass sie nicht auf anderweitig kodifiziertes positives Recht verweisen, sondern vielmehr auf allgemein anerkannte ungeschriebene Rechtsnormen Bezug nehmen (bspw. das Merkmal der Verwerflichkeit i. R. d. § 240 StGB ).199 Den Irrtum über das Vorliegen eines gesamttatbewertenden Merkmals behandelt Puppe in Übereinstimmung mit der herrschenden Lehre über § 17 StGB. Sie ist der Auffassung, dass ungeschriebene gesamttatbewertende Merkmale den Bestandteil des elementaren Minimalkonsens der Rechtsgemeinschaft betreffen, der bei einem sozialisierten Bürger vorausgesetzt werden müsse.200 Nach Puppe sind auch Wertprädikate, also Tatbestandsmerkmale, die ein negatives Werturteil ausdrücken (bspw. „beschimpfen“ i. S. v. § 166 StGB oder „grausam“ i. S. v. § 211 StGB),201 genauso zu behandeln wie gesamttatbewertende 194

Vgl. Puppe, GA 1990, 145 (167). Puppe, NK-StGB, Bd. 1, § 16 Rn. 66. 196 Vgl. Puppe, GA 1990, 145 (166); dazu dies., NK-StGB, Bd. 1, § 16 Rn. 67. Vgl. ferner zu dem „Sinn des Tatbestandes“ bereits unter Abschn. B.II.5.b)cc)(7). 197 Vgl. Puppe, NK-StGB, Bd. 1, § 16 Rn. 67. 198 Vgl. Puppe, NK-StGB, Bd. 1, § 16 Rn. 67, dies., GA 1990, 145 (157). 199 Vgl. Puppe, GA 1990, 145 (171). 200 Vgl. Puppe, GA 1990, 145 (172). 201 Vgl. Puppe, GA 1990, 145 (172 f.). 195

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C. Das Unrechtsbewusstsein von Wirtschafts- und Unternehmensstraftätern

Merkmale. Es sei ausreichend, wenn der Täter ihre tatsächliche Grundlage kenne, da beide Merkmalsarten wesentliche Gemeinsamkeiten aufweisen.202 So werde die Interpretation beider mittels ungeschriebener Rechtsnormen bestimmt, indem sich der Täter auf sein eigenes Wertempfinden besinne und auf das, was er im Rahmen seiner Sozialisation gelernt habe.203 Der Irrtum über im Tatbestand ausgedrückte Wertungen könne kein Bestandteil des Vorsatzes sein, weil es nicht auf die Wertung des Täters, sondern auf die der Rechtsgemeinschaft ankomme,204 sodass dieser stets über § 17 StGB zu behandeln sei. cc) Fakhouri Gómez Fakhouri Gómez greift mit Blick auf Blankettstrafgesetze ebenfalls auf die Vorsatztheorie zurück. Auch sie meint – wie Puppe –, dass das Zusammenlesen von Blanketttatbestand und Ausfüllungsnorm eine Verfälschung des tatbestandlichen Sinns zur Folge habe.205 Insbesondere würde durch die Ersetzung faktischer Umstände der vom Gesetzgeber intendierte normative Einschlag des Blankettmerkmals verloren gehen.206 Hierzu führt sie zutreffend aus: „Wird erkannt, dass es sich nicht um einen rein ,technischen‘ Vorgang handelt, sondern dass der normative Bezug bei dieser Ersetzung verloren geht, müssen Irrtümer auch über diese Verweisungen wie Irrtümer über normative Tatbestandsmerkmale behandelt werden.“ 207

Fakhouri Gómez plädiert für eine parallele Behandlung von normativen Tatbestandsmerkmalen und blankettausfüllenden Normen.208 Dabei meint sie, die Kenntnis respektive das Verständnis von institutionellen Tatsachen führe innerhalb des Tatbestands zu einem Zusammenfallen von Tatumstands- und Verbotskenntnis. Das grundsätzliche Zusammenfallen der Kenntnis von Tatumständen mit der Verbotskenntnis erlebe allerdings im Nebenstrafrecht sowie bei einigen abstrakten Gefährdungsdelikten eine Ausnahme. Vor diesem Hintergrund kommt Fakhouri Gómez zu folgender These: „Bei Tatbeständen, bei denen die Kenntnis der Tatbestandsmerkmale nicht mit der Kenntnis des Verbots verbunden ist, wäre also (. . .) für die Bejahung des Vorsatzes zu verlangen, dass der Täter die Tatbestandsmerkmale kennt (dolus naturalis) und zusätzlich Kenntnis vom Verbot der Tat hat (dolus malus).“ 209 202 203 204 205 206 207 208 209

Vgl. Puppe, GA 1990, 145 (177). Vgl. Puppe, GA 1990, 145 (177). Vgl. Puppe, GA 1990, 145 (181). Vgl. Fakhouri Gómez, GA 2010, 259 (264) m.w. N. Vgl. Fakhouri Gómez, GA 2010, 259 (264) m.w. N. Vgl. Fakhouri Gómez, GA 2010, 259 (264). Vgl. Fakhouri Gómez, GA 2010, 259 (267). Fakhouri Gómez, GA 2010, 259 (269).

II. Der Verbotsirrtum im Wirtschafts- und Nebenstrafrecht

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Unter Rückgriff auf die Theorie des dolus malus meint sie, dass ein Irrtum über faktische Umstände (bspw. Verwechseln eines fremden Buchs mit dem eigenen) sowie der Irrtum über die juristische Wertung der Tat (bspw. Unkenntnis der Schon- bzw. Jagdzeiten respektive entsprechender Grenzen) stets zum Vorsatzausschluss führen.210 Die Einwände gegen die Vorsatztheorie versucht Fakhouri Gómez mit – mehr oder weniger neuen – Argumenten zu entkräften. Gegen das Argument, dass eine Orientierung zur Vorsatztheorie den in Unkenntnis über den Tatbestand handelnden Täter privilegiere und dort zu Strafbarkeitslücken führe, wo ein entsprechendes Verhalten nicht mit einer Fahrlässigkeitsstrafbarkeit pönalisiert werde, will sie diese Lücken durch gesetzgeberische Bemühungen, insbesondere durch die Einführung neuer Fahrlässigkeitstatbestände respektive einer allgemeinen Fahrlässigkeitsklausel, schließen.211 Zudem bietet Fakhouri Gómez gegen den Einwand der Privilegierung des rechtsgleichgütig Handelnden212 zwei Lösungsmöglichkeiten an, die zugleich im Einklang mit der Vorsatztheorie stehen: Eine Straflosigkeit bzw. als ungerecht empfundene Strafmilderung wegen einer Fahrlässigkeitstat könne zum einen dadurch korrigiert werden, dass man den Gedanken der actio libera in causa anwendet. Der Täter sei dann wegen einer Vorsatztat zu bestrafen, wenn er sich vorsätzlich einer Kenntnismöglichkeit verschließt, respektive aus dem Fahrlässigkeitstatbestand zu bestrafen, wenn er bezüglich des Kenntnismangels fahrlässig handelt.213 Ferner schlägt Fakhouri Gómez unter Bezugnahme auf die Theorien Jakobs und Ragués i Vallès vor, den Täter selbst dann wegen eines vorsätzlichen Delikts zu bestrafen, wenn er aus Eigeninteresse handelt und sich deshalb der Strafbarkeit seines Verhaltens verschließt (bspw. wenn der Täter eine Straßensperre durchbricht, um einer Polizeikontrolle zu entgehen, ohne dabei zu bedenken, dass er den diensthabenden Polizisten überfahren und töten könnte).214 c) Der Mittelweg der „weicheren Schuldtheorie“ nach Roxin Roxins Auffassung bildet das theoretische Grundgerüst für Tiedemanns Rezeption. Beide sind sich einig, dass eine intellektuelle Fehlleistung des Täters stets eine andere Behandlung verdiene als die Verkennung ethisch-moralischer Grund210

Vgl. Fakhouri Gómez, GA 2010, 259 (270). Vgl. Fakhouri Gómez, GA 2010, 259 (272). Hierbei nimmt sie Bezug auf die von Walter präferierte allgemeine Irrtumsfahrlässigkeit, vgl. hierzu ausführlich Walter, Der Kern des Strafrechts, S. 408 ff. 212 Vgl. hierfür bereits Jakobs, Strafrecht Allgemeiner Teil, Abschn. 19 Rn. 21. 213 Vgl. Fakhouri Gómez, GA 2010, 259 (272). 214 Vgl. Fakhouri Gómez, GA 2010, 259 (272 f.). 211

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C. Das Unrechtsbewusstsein von Wirtschafts- und Unternehmensstraftätern

entscheidungen des Gesetzgebers.215 Nach Roxin stelle eine vorwerfbare ethischmoralische Fehleinschätzung des Täters gegenüber dem Mangel an Aufmerksamkeit ein Mehr an Schuld dar.216 Daher sei „die Entscheidung des Gesetzgebers, ein solches Verhalten im Bereiche des Kriminalstrafrechts vorsätzlich zu nennen und einem höheren Strafrahmen zu unterwerfen, sachlich legitimiert.“ 217 Auch Roxin geht davon aus, dass die in § 16 c des portugiesischen Strafgesetzbuches positivierte Irrtumskonzeption richtig sei,218 und führt hierzu aus: „Den Vorwurf, ein vorsätzlicher Krimineller zu sein, verdient nur der, dessen Werthaltung von denjenigen des Gesetzgebers abweicht, bei dem wir (. . .) eine vorwerfbar-unzulängliche rechtsethische Gewissensbildung feststellen können, nicht schon der, der bei rechtstreuer Persönlichkeitsartung nur im Bereich der äußeren Wahrnehmung oder der intellektuellen Kenntnis irrt.“ 219

Bei der Frage nach der Anwendbarkeit der Vorsatztheorie unterscheidet Roxin – ähnlich wie Puppe – nach der Natur des jeweiligen Tatbestandsmerkmals und kommt dabei zu den folgenden Ergebnissen: Bei Tatbeständen, die eine soziale und rechtliche Missbilligung eines Verhaltens durch außertatbestandliche Pflichten mit Strafe bedrohen, setzt Roxin die Kenntnis der außertatbestandlichen Pflichten für die Annahme des tatbestandlichen Vorsatzes voraus – derartige Tatbestände seien insbesondere im Nebenstraf- und Ordnungswidrigkeitenrecht besonders häufig anzutreffen.220 Selbiges gelte mit Blick auf Tatbestände, die auf rechtlich-institutionelle Tatsachen Bezug nehmen. Auch hier setzt Roxin die tatsächliche Kenntnis über das Vorliegen von rechtlich-institutionellen Tatsachen zur Bejahung des Vorsatzes voraus.221 Mit Blick auf Blankettstrafgesetze verlangt Roxin ebenfalls die Kenntnis von Inhalt und Existenz der blankettausfüllenden Rechtsnorm und schließt sich damit im Ergebnis Tiedemann und Puppe an.222 215

Vgl. Tiedemann, FS Geerds, 95 (96) mit Hinweis auf Roxin, ZStW 76, 582, (604). Vgl. Roxin, ZStW 76, 582, (604). 217 Roxin, ZStW 76, 582, (604). 218 Vgl. Roxin, FS Tiedemann, S. 375 (376). 219 Roxin, FS Tiedemann, 375 (376). 220 Vgl. Roxin, FS Tiedemann, 375 (378 f.) m.w. N. Als Beispiele führt er hierbei die Tatbestände der §§ 370, 372 AO, § 170 StGB an. 221 Zugleich lehnt Roxin, FS Tiedemann, 375 (380), die Lehre von der Parallelwertungslehre ab: „Hier (. . .) ist mit der vielberufenen ,Parallelwertung in der Laiensphäre‘ (. . .) nichts anzufangen. Denn Pflichten und Rechte dieser Art lassen sich nur juristisch und nicht in laienhafter Form verstehen.“ 222 Vgl. Roxin, FS Tiedemann, 375 (381). Dabei gibt Roxin ausdrücklich seine bisher vertretene Auffassung auf, wonach ein Irrtum über die Existenz der blankettausfüllen216

II. Der Verbotsirrtum im Wirtschafts- und Nebenstrafrecht

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Auch mit Blick auf das Vorliegen sozialethischer Wertprädikate schließt sich Roxin der Meinung Puppes an. Ein Irrtum über das Vorliegen solcher Wertprädikate führe stet zum Verbotsirrtum, da es im Bereich allgemein bekannter sozialethischer Werte sowie unter dem Aspekt des staatlichen Strafbedürfnisses nicht auf die Bewertung des Einzelnen ankommen könne.223 Bei straftatbestandlichen Rechtsbegriffen, also solchen, die nicht auf außertatbestandliche Rechtsregeln Bezug nehmen, sondern vom Straftatbestand selbst erfasst sind,224 hält Roxin die Argumente der Vorsatztheorie für durchaus nachvollziehbar. Bei derartigen straftatbestandlichen Rechtsbegriffen komme es für die Annahme des Vorsatzes insbesondere darauf an, dass der Täter die „tatsächliche soziale ,Bedeutungskenntnis‘“ 225 erfasse. Die erforderliche Bedeutungskenntnis setzt Roxin dabei unter anderem mit den Begriffen des Sinnverständnisses (Puppe) bzw. konkreter Sollensnorm (Tiedemann) gleich.226 Ein entscheidender Unterschied zu Tiedemanns Irrtumskonzeption stellt sich für Roxin hingegen bei der Behandlung von Tatbeständen ohne hinreichenden normativen Bezug dar. Dabei handelt es sich um Tatbestände bzw. Tatbestandsmerkmale, bei denen der Täter zwar alle Sachgegebenheiten kennt, daraus aber dennoch nicht den Schluss auf die Rechts- und Sozialwidrigkeit seines Verhaltens zieht.227 Vor dem Hintergrund des eindeutigen Wortlauts von § 16 Abs. 1 StGB, wonach der Vorsatz nur dann auszuschließen sei, wenn der Täter einen Umstand nicht kennt, der zum gesetzlichen Tatbestand gehört, kommt Roxin zu dem Ergebnis, dass es auf eine erkennbare Sozialschädlichkeit durch den Täter zur Bejahung des Vorsatzes nicht ankommen könne.228 Hierbei lehnt Roxin auch das von Tiedemann angeführte Argument der verfassungsrechtlich durch Art. 103 Abs. 2 GG geforderten Unrechtsvertypung ab, hat der Gesetzgeber in diesen Fällen doch gerade alle Umstände, die das Unrecht oder zumindest das Bewusstsein hierfür begründen, in ausreichendem Maße durch deskriptive Merkmale beschrieben.229 Diese unterschiedlichen Maßstäbe zugrunde gelegt, weigert sich Roxin auch nur ansatzweise zur Vorsatztheorie zurückzukehren, sondern möchte sämtliche

den Norm zu einem Verbotsirrtum führen sollte, vgl. Roxin, Strafrecht Allgemeiner Teil, Bd. I, § 12 Rn. 99. 223 Vgl. Roxin, FS Tiedemann, 375 (383). 224 Als Beispiele führt Roxin den Begriff der „Urkunde“ i. S. v. § 267 StGB bzw. „Vermögen“ i. S. v. § 263 StGB an. 225 Roxin, FS Tiedemann, 375 (384). 226 Vgl. Roxin, FS Tiedemann, 375 (384). 227 Vgl. Roxin, FS Tiedemann, 375 (386) für entsprechende Beispiele. 228 Vgl. Roxin, FS Tiedemann, 375 (387). 229 Vgl. Roxin, FS Tiedemann, 375 (387).

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C. Das Unrechtsbewusstsein von Wirtschafts- und Unternehmensstraftätern

Irrtümer im Bereich des Normativen respektive Wertenden mit Hilfe einer „weicheren Schuldtheorie“ 230 lösen. Zur Begründung dieser Theorie beruft er sich auf Art. 20 des schweizerischen StGB a. F., wonach der Richter die Strafe nach freiem Ermessen mildern oder ganz von einer solchen absehen kann, „wenn der Täter aus ,unzureichenden Gründen‘ angenommen hat, er ,sei zur Tat berechtigt‘“ 231. Roxin sieht eine Vereinbarkeit mit § 17 StGB dahingehend, dass man dem Täter, der zureichende Gründe für die Annahme der Rechtmäßigkeit seiner Handlung hatte, einen unvermeidbaren Verbotsirrtum zugutehält.232 Die Unvermeidbarkeit des Irrtums solle dann vorliegen, „wenn der Glaube des Täters an die Erlaubtheit seines Verhaltens nachvollziehbar ist und seine Rechtstreue auch in den Augen eines objektiven Beurteilers nicht in Frage [gestellt wird], sodass sowohl unter präventiven Gesichtspunkten als auch im Hinblick auf die sehr geringe Schuld Nachsicht geübt und auf eine Bestrafung verzichtet werden kann“ 233. 3. Kritik und Stellungnahme Die dargestellten Auffassungen verdeutlichen, dass der Streit zwischen Vorsatz- und Schuldtheorie im Bereich des Wirtschafts- und Nebenstrafrechts keineswegs entschieden ist. An dieser Stelle sollen zunächst die dargestellten Argumente beider Theorien kritisch gewürdigt werden. Anschließend wird die eigene Lösung präsentiert, die sich weitestgehend mit der (eingeschränkten) Schuldtheorie deckt. a) Würdigung der schuldtheoretischen Argumente Zunächst ist dem kriminalpolitisch orientierten Ansatz der Schuldtheorie zugute zu halten, dass dieser das nur schwer zu entkräftende Argument der Erstreckung der Schuldtheorie auch auf das Gebiet des Neben- und Ordnungswidrigkeitenrechts gem. § 1 EGStGB respektive § 11 Abs. 2 OWiG für sich beansprucht.234 Dennoch darf die vom Gesetzgeber positivierte und vom Bundesverfassungsgericht235 bestätigte Schuldtheorie nicht allein aufgrund ihrer gesetzlich Kodifikation ohne weiteres Geltung beanspruchen dürfen, sondern muss von der Rechtswissenschaft zum Objekt ihrer Analyse gemacht werden.236 230 231 232 233 234 235 236

Vgl. Roxin, FS Tiedemann, 375 (388). Vgl. Roxin, FS Tiedemann, 375 (389). Vgl. Roxin, FS Tiedemann, 375 (389). Roxin, FS Tiedemann, 375 (389). Vgl. hierzu kritisch Tiedemann, ZStW 81, 869 (884). Vgl. BVerfGE 41, 121. Vgl. hierzu ausführlich Langer, GA 1976, 193 (197).

II. Der Verbotsirrtum im Wirtschafts- und Nebenstrafrecht

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Diese Prämisse zugrunde gelegt, lässt sich der Argumentation von Jescheck und Weigend folgendes entgegen: Mit Blick auf das Erfordernis einer behördlichen Erlaubnis berücksichtigen Jescheck und Weigend nicht, dass die Rechtsprechung bereits eine differenzierte Behandlung von Tatbestandsmerkmalen außerhalb des Kernstrafrechts vornimmt, und zwar abhängig davon, ob es sich um ein präventives Verbot mit Erlaubnisvorbehalt oder um ein repressives Verbot mit Befreiungsvorbehalt handelt. Diese Unterscheidung ist freilich willkürlich und abhängig von der Unrechtsintensität der verletzten Rechtsnorm, sodass eine stringente Abgrenzung zwischen Tatbestands- und Verbotsirrtum in den Fällen fehlender Kenntnis vom Erfordernis einer behördlichen Erlaubnis kaum durchführbar ist. Auch das – unter anderem von Jakobs vertretene – Argument, der Normadressat von Wirtschaftsstraftaten wisse regelmäßig um die ihn betreffenden Ge- und Verbote, ist bei näherer Betrachtung zumindest fraglich. Bereits die unüberschaubare Normfülle nebenstrafrechtlicher Vorschriften237 und die ihr innewohnende Wandelbarkeit durch die Anpassung von blankettausfüllenden Normen erschweren es auch dem gewissenhaft seiner Erkundigungspflicht nachkommenden Adressaten stets, „auf dem neuesten Stand“ zu bleiben. Hingegen beansprucht das Argument der „Doppelstellung des Vorsatzes“ eine gewisse Richtigkeit. Wenn Jescheck und Weigend den Vorsatz als Schuldbestandteil infolge des der Handlung vorausgegangen Willensbildungsprozesses begreifen, entspricht dies im Ergebnis der zuvor aufgestellten These von der Synthese aus Vorsatz- und Schuldtheorie. Begreift man nämlich den Vorsatz als „tatbestandsspezifisches Unrechtsbewusstsein“, führt ein Irrtum über die Existenz und die Wirksamkeit der Ausfüllungsvorschrift zu einem Ausschluss dieses tatbestandsspezifischen Unrechtsbewusstseins als abstrahiertes Element der Schuld. Sofern Meyer die aliud-Theorie verwirft, ist dem nichts entgegen zu halten. Wie bereits festgestellt,238 besteht lediglich ein quantitativer und gerade kein qualitativer Unterschied zwischen strafbarem Unrecht und Ordnungswidrigkeitenunrecht.239 Dennoch sollte die Erstreckung der Schuldtheorie auf das gesamte Wirtschaftsstrafrecht mit Vorsicht behandelt werden. Der stetige Wandel und die anhaltende Flexibilität wirtschaftsstrafrechtlicher Vorschriften könnten eine von den kernstrafrechtlichen Bestimmungen separate Handhabe rechtfertigen. Es ist zumindest nicht auszuschließen, dass die delicta mere prohibita des Wirtschaftsstrafrechts einer anderen Beurteilung bedürfen, zumal nach den Feststellungen Tiedemanns das Nebenstrafrecht bei der Reform des Ordnungswidrigkeitenrechts 237 Tiedemann, FS Geerds, 95 (96), geht davon aus, dass das Nebenstrafrecht „in Deutschland heute aus annähernd 1.000 Gesetzen gebildet wird (. . .).“ 238 Vgl. oben unter B.III.3.d) zu dem quantitativen Unterschied zwischen Strafe und Geldbuße nach dem OWiG. 239 Vgl. hierzu insbesondere die Argumentation unter Abschn. B.III.3.c).

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C. Das Unrechtsbewusstsein von Wirtschafts- und Unternehmensstraftätern

überhaupt nicht zur Rede stand und auch bei der Beratung zu § 17 StGB unter Hinweis auf eben dieses reformierte OWiG gänzlich unbeachtet blieb.240 Das Argument Jakobs, wirtschaftsstrafrechtliche Tatbestände würden zunehmend eine soziale Färbung erhalten, ist durchaus plausibel, bedarf jedoch einer Erörterung. Bei den von Jakobs in diesem Zusammenhang angeführten Beispielen241 handelt es sich viel weniger um Blankettstrafgesetze als um Tatbestände mit normativem Bezug respektive um institutionelle Tatsachen. Nach hier vertretener Auffassung bedürfen diese Merkmale zwar einer differenzierten Behandlung im Falle eines Irrtums. Diese resultiert allerdings aus dem Umstand, dass von institutionellen Tatsachen ein eigener, selbstständiger Regelungseffekt ausgeht, wohingegen dieser Regelungseffekt bei Blanketttatbeständen erst aus dem Zusammenlesen von Verweisungs- und Ausfüllungsnorm hervorgeht.242 b) Würdigung der vorsatztheoretischen Argumente Auch die Vorsatztheorie kann nicht kritiklos hingenommen werden. Gegen Tiedemanns Argument der gem. Art. 103 II GG verfassungsrechtlich geforderten Unrechtstypisierung lässt sich anführen, dass eine solche in den Fällen von Blankettstrafgesetzen keineswegs fehlt. Roxin stellt in diesem Zusammenhang zu Recht fest: „Alle Umstände, die das Unrecht begründen, sind mit hinreichender Bestimmtheit und sogar durch weitgehend deskriptive Merkmale beschrieben. Ob der Täter daraus den Schluss auf die Sozialwidrigkeit seines Verhaltens gezogen haben muss, ist eine Frage der Irrtumsregelung und hat mit dem Bestimmtheitsgrundsatz unmittelbar nichts zu tun.“ 243

Eine besondere Schwäche von Puppes Konzeption – und wohlgemerkt einer Vielzahl von Vertretern der Vorsatztheorie – liegt in der fehlenden Unterscheidung zwischen normativen Tatbestandsmerkmalen einerseits und blankettausfüllenden Normen andererseits. Puppe setzt sich für eine Gleichbehandlung dieser Merkmale innerhalb des gesetzlichen Tatbestandes ein,244 um hieraus eine einheitliche Behandlung des Tatbestandsirrtums zu konstruieren. Gleichwohl verkennt diese Auffassung, dass ein gewichtiger qualitativer Unterschied zwischen normativen Tatbestandsmerkmalen – korrekter: institutionellen Tatsachen – ei-

240

Vgl. Tiedemann, ZStW 81, 869 (878). Vgl. Jakobs, Strafrecht Allgemeiner Teil, 19. Abschnitt Rn. 20 mit Bezug auf 8. Abschnitt Rn. 55 f. 242 Vgl. Sternberg-Lieben/Schuster, in: Schönke/Schröder, StGB, § 15 Rn. 103. 243 Roxin, FS Tiedemann, 375 (388). 244 Vgl. Puppe, GA 1990, 145 (168). So auch schon Tiedemann, Tatbestandsfunktionen im Nebenstrafrecht, S. 388, wenn er sich dafür einsetzt, „daß Strafblankett und unechte normative Tatbestandsmerkmale für die Irrtumsfrage gänzlich gleich zu behandeln sind.“ Vgl. für dasselbe Ergebnis auch Herzberg, FS Otto, 265 (283). 241

II. Der Verbotsirrtum im Wirtschafts- und Nebenstrafrecht

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nerseits und blankettausfüllenden Merkmalen andererseits besteht. Sternberg-Lieben und Schuster fassen dies zutreffend zusammen: „Während bei Blanketten das Zusammenlesen mit der ausfüllenden Norm dazu führt, dass der Normadressat den vorgefundenen Lebenssachverhalt unter den Gesamttatbestand subsumieren muss, geht es bei Tatbeständen, soweit sie normative Tatbestandsmerkmale enthalten, um die bewusste Missachtung eines Regelungseffekts (Fremdheit der Sache, die Tatsache, dass ein Tier dem Jagdrecht unterliegt, dass eine Sache gepfändet oder beschlagnahmt worden ist), welcher in der sozialen Wirklichkeit ein eigenständiges Dasein führt.“ 245

Diese – überwiegend von der Rechtsprechung – vorgenommene Differenzierung von Blankett- und normativen Merkmalen lässt keinen Raum für die von Puppe vorgeschlagene Irrtumskonzeption mit Blick auf den Irrtum über die Existenz und Wirksamkeit einer blankettausfüllenden Norm. Denn anders als bei institutionellen Tatsachen wird Ausfüllungsnormen kein eigenständiger Regelungseffekt zuteil.246 Ein solcher Regelungseffekt entsteht, wie erörtert, erst aus dem Zusammenlesen von Blankett- und Ausfüllungsvorschrift, weil erst die Übertretung der (zusammengelesenen) Gesamtnorm eine Auflehnung gegen die Rechtsordnung möglich macht. Anders ist die Situation bei institutionellen Tatsachen. Diese haben regelmäßig einen eigenständigen Regelungseffekt. Als Beispiel ist hier das Tatbestandsmerkmal „Fremd“ in § 242 StGB zu nennen. Dieses schützt den Bestand und den Umfang des zivilrechtlich (institutionalisierten) Eigentumsrechts. Dem Täter muss in diesem Fall die Fremdheit der Sache zumindest sinngemäß bekannt sein; eine Voraussetzung, die mit Blick auf die regelungsneutrale Ausfüllungsvorschrift nicht erfüllt sein muss. Dieses Argument ist insbesondere dann konsequent, wenn man sich die Natur von staatlichen Einzelanordnungen vor Augen führt. Auch von diesen geht regelmäßig ein eigener Regelungseffekt aus, der es rechtfertigt, sie im Falle einer Verweisung wie normative Tatbestandsmerkmale zu behandeln. Zuletzt ist auf Fakhouri Gómez Argumentation einzugehen. Auch sie verkennt, genauso wie Puppe, dass zwischen normativen und blankettausfüllenden Merkmalen ein qualitativer Unterschied herrscht. Zudem sind auch die von ihr präferierten Lösungsvorschläge für eine bedenkenlose kriminalpolitische Anwendbarkeit der Vorsatztheorie abzulehnen: Gegen die Einführung zusätzlicher Fahrlässigkeitstatbestände könnte die Gefahr einer Übernormierung im Bereich des Wirtschafts- und Nebenstrafrechts 245 Sternberg-Lieben/Schuster, in: Schönke/Schröder, StGB, § 15 Rn. 103. Freilich gilt diese Differenzierung nur, soweit auf ein anderes allgemeines Gesetz verwiesen wird. Tatbestände, die auf staatliche Einzelanordnungen verweisen, werden nach h. M. wie normative Tatbestandsmerkmale, mithin nach § 16 StGB behandelt. Vgl. für a. A. Neumann, NK-StGB, Bd. 1, § 17 Rn. 95a. 246 Zu der Lehre vom Regelungseffekt vgl. Jakobs, Strafrecht Allgemeiner Teil, Abschn. 8 Rn. 47.

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C. Das Unrechtsbewusstsein von Wirtschafts- und Unternehmensstraftätern

sprechen. Bereits jetzt herrscht im Bereich des Wirtschaftsstrafrechts ein kaum überschaubares Maß an Regularien. Das zusätzliche „Aufplustern“ dieses Bereichs mit einer unbestimmten Anzahl von Fahrlässigkeitstatbeständen würde einen weiteren Beitrag zu der ohnehin bestehenden Rechtsunsicherheit leisten. Auch ist die Idee eines generalklauselartigen Fahrlässigkeitstatbestandes der deutschen Gesetzgebung nicht neu. Bereits die StGB-Entwürfe von 1922 respektive 1936 hatten eine solche Regelung zum Gegenstand.247 Neben dem Einwand der (möglichen) Unbestimmtheit spricht gegen einen solchen Tatbestandes auch, dass eine mangelnde Rechtserkundigung des Täters unter Strafe gestellt wird, die weder einen Bezug zur konkreten Tat aufweist noch die schwere der verwirklichten Schuld – die sich nach der konkreten Einsichtsfähigkeit des Täters und gerade nicht nach einer mangelnden Rechtserkundigungspflicht bestimmt – berücksichtigt.248 In diesem Zusammenhang meint Fakhouri Gómez, eine graduelle Strafschärfung/-milderung dann vornehmen zu können, wenn sich der Täter in vorwerfbarer Weise einer Kenntnisnahme der geltenden Rechtslage verschließt. Hiergegen ist jedoch einzuwenden, dass es in der Praxis kaum möglich sein wird, dem Täter eine derartige Rechtsgleichgültigkeit nachzuweisen. Im Ergebnis läuft dies nämlich auf eine positive Vermeidbarkeitsprüfung hinaus, die sich in Widerspruch zu dem bestehenden – insoweit kriminalpolitisch günstiger formulierten – Pendant des § 17 StGB setzt. Außerdem ließen sich neben den bereits angeführten weitere kriminalpolitische Argumente gegen die Vorsatztheorie auflisten, die Papathanasiou wie folgt zusammenfasst: (1) So kann die Vorsatztheorie zu ungerechten Ergebnissen führen, wenn es um die Teilnehmerstrafbarkeit geht. Weiß der Täter beispielsweise nicht um die Existenz oder die Gültigkeit der blankettausfüllenden Vorschrift, scheidet seine Strafbarkeit sowie die des Teilnehmenden mangels des Bestehens einer teilnahmefähigen vorsätzlichen Haupttat aus.249 247 Vgl. für den StGB-Entwurf von 1922 Beck, Das Unrechtsbewußtsein in den deutschen Strafgesetzentwürfen, S. 28: „Ein Irrtum, der den Täter das Unerlaubte seiner Tat nicht erkennen läßt, schließt die Bestrafung wegen vorsätzlicher Begehung aus. Beruht der Irrtum auf Fahrlässigkeit, so finden die Vorschriften über fahrlässige Handlung Anwendung.“ In § 18 Abs. 3 des StGB-Entwurf von 1936 heißt es: „Fahrlässig handelt auch, wer aus demselben Grunde nicht erkennt, daß er gegen ein Gesetz verstößt oder sonst Unrecht tut. Ist fahrlässiges Handeln nicht mit Strafe bedroht, so wird der Täter mit Gefängnis bis zu zwei Jahren oder mit Haft bestraft. Die Strafe darf jedoch nach Art und Maß nicht schwerer sein als die für die vorsätzliche Begehung der Tat angedrohte Strafe (. . .)“, zitiert nach Regge/Schubert, Quellen zur Reform des Straf- und Strafprozeßrechts, Abt. 2, Bd. 1, S. 217. 248 Vgl. Glandien, Der Verbotsirrtum im Ordnungswidrigkeitenrecht und im Nebenstrafrecht, S. 290 f. 249 Vgl. hierfür Papathanasiou, Irrtum über normative Tatbestandsmerkmale, S. 194.

II. Der Verbotsirrtum im Wirtschafts- und Nebenstrafrecht

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(2) Eine weitere Strafbarkeitslücke könnte sich mit Blick auf eine Versuchsstrafbarkeit ergeben. Denn dort, wo es dem Täter infolge eines Irrtums regelmäßig am Vorsatz fehlt, ermangelt es ihm auch zugleich an dem nötigen Tatentschluss nach § 22 StGB.250 (3) Zuletzt macht Papathanasiou geltend, dass der Vorsatztheorie der in dubio pro reo-Grundsatz zugutekommt, es sich mithin als nur schwer überwindbare prozessuale Hürde erweist, dem Täter das Bewusstsein der Rechtswidrigkeit nachzuweisen.251 c) Persönliche Stellungnahme Joecks ist vollends zuzustimmen, wenn er die Vorsatztheorie verwirft und unter Bezugnahme auf die gesetzgeberische Grundentscheidung der Art. 1 EGStGB, § 11 Abs. 2 OWiG erkennt: „Wichtiger ist es, über die Interpretation des § 17 Lösungen zu suchen, die auch für das Nebenstrafrecht und das Ordnungswidrigkeitenrecht zu sachgerechten Ergebnissen führen.“ 252

Deshalb ist nach hier vertretener Auffassung die Vorsatztheorie weder im Bereich des Kern- noch in den Bereichen des Ordnungswidrigkeiten- und Nebenstrafrechts anwendbar. Maßgeblich ist allein, dass der Täter Kenntnis von der sanktionsbewehrten (Gesamt-)Norm hat. Diese Auffassung ist dabei vor dem Hintergrund eines engen Unrechtsverständnisses konsequent. Im Ergebnis handelt es sich bei dem Irrtum über die Existenz der blankettausfüllenden Vorschrift als Teil der sanktionsbewehrten Gesamtnorm um einen Verbotsirrtum, den es im Wege der „weicheren Schuldtheorie“ zu behandeln gilt. Diese These wird auch durch die kriminologischen Hintergründe von Wirtschaftskriminalität unterstützt, wonach Wirtschaftskriminalität regelmäßig Ausfluss von Lern- und Neutralisierungsprozessen ist. Lang erkennt diesbezüglich zutreffend: „Während der Irrtum über Tatumstände im allgemeinen eine mehr akute, auf den Einzelfall beschränkte Erscheinung sein wird, kann (. . .) der Irrtum über das Verbotensein häufig eine andere Natur haben. Im Gegensatz zum mehr einmaligen sozusagen ,zufälligen‘ Tatbestandsirrtum wird beim Verbotsirrtum oft die Gefahr der Reproduktion des gleichen oder ähnlicher Irrtümer gegeben sein, und zwar deshalb, weil er nicht selten Ausfluss einer bestimmten generellen – rechtsindifferenten, rechtsabgewandten oder allgemein fehlorientierten – Einstellung des Täters sein wird, also eine Persönlichkeitsadäquanz solcher Irrtümer gegeben sein wird.“ 253 250 Vgl. Papathanasiou, Irrtum über normative Tatbestandsmerkmale, S. 194. Zu den Voraussetzungen des Tatentschlusses siehe nur Schmitz/Bürger, in: Flore/Tsambikakis, Steuerstrafrecht, § 22 Rn. 6. 251 Papathanasiou, Irrtum über normative Tatbestandsmerkmale, S. 194. 252 Joecks, in: Joecks/Mierbach, MüKo-StGB, Bd. 1, § 17 Rn. 91. 253 Lang, ZStW 63 (1951), 332 (342).

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C. Das Unrechtsbewusstsein von Wirtschafts- und Unternehmensstraftätern

Die folgende Zusammenfassung dient als theoretischer Rahmen dieses Ergebnisses: 1. (Blankett-)Straftatbestände des Neben- und Wirtschaftsstrafrechts sind regelmäßig frei von sozialethischen Wertungen und verdienen daher zu Recht den Vorwurf einer sozialethischen Farblosigkeit.254 Als delicta mere prohibita fällt bei ihnen regelmäßig die Kenntnis der Tatbestandsmerkmale von der Kenntnis des ihr immanenten (strafrechtlichen) Verbots auseinander. Tiedemann beschreibt diese Besonderheit des Wirtschaftsstrafrechts zutreffend, wenn er konstatiert: „Die nebenstrafrechtlichen Tatbestände behandeln dagegen ganz überwiegend überhaupt keine schwerwiegend aus der sozialen Ordnung herausfallenden Handlungen, sondern (. . .) Tätigkeiten innerhalb oder am Rande dieser Ordnung, nämlich innerhalb der sozialen, pflichtgebundenen Handlungsfreiheit. (. . .) Anders als bei den verhältnismäßig ,isolierten für sich stehenden Tathandlungen‘ des Kernstrafrechts handelt es sich im wirtschaftsstrafrechtlichen Bereich um ein ,kontinuierlich verlaufendes wirtschaftliches Geschehen‘, in welchem (. . .) abgegrenzte Konturen des strafrechtlich Unrechtmäßigen fehlen.“ 255

2. Dass die genannten Besonderheiten des Wirtschaftsstrafrechts oftmals zum Versagen der Impulslehre führen,256 lässt sich kaum bestreiten. Hingegen lässt sich nicht nachvollziehen, weshalb ein mangelnder tatbestandlicher Impuls zum Anlass genommen wird, der Vorsatztheorie Vorschub zu leisten. Wie Roxin bereits festgestellt hat, gibt es nämlich auch im Bereich des Kernstrafrechts Tatbestände ohne hinreichenden normativen Bezug, die dem Täter trotz der Kenntnis aller Tatumstände die Rechts- bzw. Sozialwidrigkeit seines Verhaltens nicht vermitteln.257 In diesen Fällen hallt der „Schrei nach der Vorsatztheorie“ jedoch nicht einmal halb so laut. Dass ein mangelnder sozialethischer Bezug im Nebenstrafrecht einer anderen Bewertung unterfallen soll, leuchtet somit nicht ein. 3. Bezüglich der im Nebenstrafrecht allseits präsenten Blankettstraftatbestände schadet die mangelnde Kenntnis von der Existenz und Wirksamkeit der Ausfüllungsvorschrift vor dem Hintergrund der These Roxins, wonach auch im Nebenstrafrecht „[a]lle Umstände, die das Unrecht begründen, (. . .) mit hinreichender Bestimmtheit und sogar durch weitgehend deskriptive Merkmale beschrieben“ 258 sind, gerade nicht. Soweit dies mit Blick auf normative Tatbestandsmerkmale anders gewertet wird, ist dem nichts entgegenzusetzen, 254

Vgl. Neumann, NK-StGB, Bd. 1, § 17 Rn. 90. Tiedemann, Tatbestandsfunktionen im Nebenstrafrecht, S. 329 f. 256 Vgl. hierfür Tischler, Verbotsirrtum und Irrtum über normative Tatbestandsmerkmale, S. 352 m.w. N. 257 Vgl. Roxin, FS Tiedemann, S. 375 (385 f.), der die Tatbestände der §§ 123, 201, 179, 132a StGB als Beispiele anführt. 258 Roxin, FS Tiedemann, 375 (387). 255

II. Der Verbotsirrtum im Wirtschafts- und Nebenstrafrecht

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da es bei diesen – wie bereits ausführlich erörtert – auf die Erfassung des eigentlichen Sinnes des jeweiligen Tatbestands(-merkmals) ankommt. Mangels eigenständigen Regelungseffekts von Ausfüllungsvorschriften sind diese zudem nicht mit normativen Tatbestandsmerkmalen zu vergleichen.259 Aus diesem Grund besteht nach hier vertretener Ansicht auch kein Einwand gegen die Theorie des Zusammenlesens von Strafblankett und Ausfüllungsnorm, insbesondere, weil der – regelungsneutrale – Charakter der isolierten Ausfüllungsnorm nicht zu einer Verfälschung des tatbestandlichen Sinns führen kann.260 4. Dabei wird nicht bestritten, dass die Kenntnis des Verbots Voraussetzung für die Strafbarkeit sein muss. Nur handelt es sich dabei nicht um eine Frage des tatbestandlichen Vorsatzes, sondern um eine Schuldfrage. Denn das Unrechtsbewusstseins, um das es bei der gesamten Diskussion geht, ist nach den bisherigen Feststellungen unwiderlegbar Gegenstand der Schuld. Und wie bereits dargelegt, kann das Unrechtsbewusstsein nur vorliegen, wenn der rechtsuntreue Täter Kenntnis von dem Bestehen einer sanktionsbewehrten Norm hat.261 5. Und genau hierin münden die vorherigen Überlegungen: Die von der herrschenden Auffassung verwendete Technik des „Zusammenlesens“ von Verweisungs- und Ausfüllungsnorm führt letzten Endes zu der Annahme eines Gesamtunrechtstatbestandes.262 Und diesen Gesamtstraftatbestand muss der Täter kennen, auf ihn muss sich das Unrechtsbewusstsein beziehen. Die Kenntnis von der sanktionsbewehrten (Gesamt-)Norm, mithin die Schuld, ist bereits dann zu bejahen, wenn der Täter Kenntnis von der Existenz des (Gesamt-)Straftatbestandes hat. Das hierbei geforderte Wissen umfasst dabei lediglich die Kenntnis, dass es sich bei der verletzten Vorschrift um eine solche mit Blankettverweisung handelt. Denn die Verweisungsvorschrift bildet die Grundlage der sanktionsbewehrten (Gesamt-)Norm; sie ist Grundbestandteil des rechtlichen Verbotes. Nach den bisherigen Feststellungen zum vorzugswürdigen Konstrukt eines restriktiven Unrechtsbewusstsein genügt es demnach, wenn der Täter weiß, dass er gegen eine sanktionsbewehrte Grundnorm verstößt; auf ihre inhaltliche Ausprägung, insbesondere auf die eventuelle Wirksamkeit von Ausfüllungsvorschriften, kommt es dann nicht mehr an. 6. Das hier zugrunde gelegte Verständnis vom Unrechtsbewusstsein im Bereich der Blankettstrafgesetzgebung wird insbesondere durch die Annahme bestä259 Vgl. Sternberg-Lieben/Schuster, in: Schönke/Schröder, StGB, § 15 Rn. 103. Vgl. für a. A. Neumann, NK-StGB, Bd. 1, § 17 Rn. 95a. 260 Vgl. dazu ausführlicher Kudlich, in: von Heintschel-Heinegg, StGB, § 16 Rn. 16. Gegen die Technik des Zusammenlesens vgl. Puppe, GA 1990, 145 (155 f.); sowie Fakhouri Gómez, GA 2010, 259 (264) m.w. N. 261 Vgl. hierzu ausführlich unter Abschn. B.III.3.d). 262 Vgl. dazu ausführlicher Kudlich, in: von Heintschel-Heinegg, StGB, § 16 Rn. 16.

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C. Das Unrechtsbewusstsein von Wirtschafts- und Unternehmensstraftätern

tigt, dass sich Vorsatz- und Schuldtheorie nur über die systematische Verortung des Unrechtsbewusstseins uneins sind, ihr (restriktives) Verständnis von Unrecht jedoch dasselbe ist. Diesen Grundgedanken bejaht auch Roxin, wenn er für das Nebenstrafrecht feststellt, „dass die Unterschiede zwischen Vorsatz- und Schuldtheorie bei sachgerechter Auslegung nicht so groß sind, wie ursprünglich vielfach (. . .) angenommen worden ist“ 263. Denn auch in diesem Fall greift das Argument, dass durch das Zusammenlesen von Blankettvorschrift und Ausfüllungsnorm ein Tatbestand entsteht, auf welchen sich ein tatbestandsspezifisches Unrechtsbewusstsein264 beziehen muss. Dieses tatbestandsspezifische Unrechtsbewusstsein ist jedoch bereits dann zu bejahen, wenn der Täter wissentlich gegen eine sanktionsbewehrte Verweisungsvorschrift verstößt, ohne dass er sich über die Existenz und Wirksamkeit der Ausfüllungsvorschrift bewusst sein muss. Denn bereits mit der Kenntnis über das Bestehen einer Verweisungsnorm und der damit einhergehenden Strafandrohung weiß der Täter, dass er gegen eine Rechtsnorm verstößt, die eine Sanktionierung zur Folge hat. Wenn sich der Täter trotz der Kenntnis der Verweisungsnorm keine Gedanken über die Wirksamkeit oder Existenz der sie ausfüllenden Vorschriften gemacht hat, stellt der Irrtum über die (Teil-)Existenz dieses Tatbestandes nur einen Verbotsirrtum dar. 7. Steht nunmehr fest, wonach sich das Unrechtsbewusstsein im Bereich des Wirtschafts- und Nebenstrafrechts mit Blick auf Blanketttatbestände bezieht, gilt es nunmehr die Besonderheiten eben dieser speziellen Felder des Kriminalstrafrechts zu berücksichtigen. Denn die Kenntnis der sanktionsbewehrten Norm gestaltet sich – insbesondere aufgrund der kriminologischen Erwägungen – gerade im Bereich des Wirtschaftsstrafrechts bzw. Unternehmensstrafrechts als eine nur schwer zu bewältigende Herausforderung. Während die abzulehnende Vorsatztheorie diese Schwierigkeiten mittels Straffreiheit oder einer Bestrafung aus häufig anzutreffenden Fahrlässigkeitstatbeständen zu lösen versucht, gelingt es der von Roxin begründeten „weicheren Schuldtheorie“, dieses Problem auf Ebene der Strafzumessung zu lösen, indem er für eine Strafmilderung bzw. einen Straferlass plädiert, wenn gegenüber dem an sich rechtstreuen Täter sowohl unter präventiven Gesichtspunkten als auch im Hinblick auf seine geringe Schuld die Auferlegung einer hohen Kriminalstrafe als unverhältnismäßig erscheint.265 263 Roxin, FS Tiedemann, 375 (382). Hingegen kommt Roxin zu der gegenteiligen Schlussfolgerung, indem er weiter ausführt: „Denn in den überaus zahlreichen Fällen, in denen ein Tatbestand andere Rechtsvorschriften oder rechtliche Anordnungen integriert, gehört deren Kenntnis zum Vorsatz, was im Ergebnis mit der Vorsatztheorie übereinstimmt.“ 264 Vgl. zu der genannten These bereits unter Abschn. B.III.3.e). 265 Vgl. der weicheren Schuldtheorie zustimmend Papathanasiou, Irrtum über normative Tatbestandsmerkmale, 192 f. Interessant insoweit auch der Ansatz von Schlüchter,

III. Erziehung durch unternehmerische Selbstregulierungsmechanismen

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Bei Zugrundelegung eines engen Unrechtsbegriffs wird deutlich, dass es keines Rückgriffs auf theoretische Konzeptionen der Vorsatztheorie bedarf. Denn es gelingt der weicheren Schuldtheorie, die von dem Gesetzgeber erwogenen kriminalpolitischen Zwecke einerseits sowie das rechtstheoretische Bedürfnis nach einer Kriminalstrafe nur bei gleichzeitiger Kenntnis des strafrechtlichen Verbots andererseits zu vereinen. Neumann, der für das Unrechtsbewusstsein die Kenntnis einer sanktionsbewehrten Verbotsnorm voraussetzt,266 liefert damit zugleich die Antwort zu einer der umstrittensten Fragen des Strafrechts.267 Unter Berücksichtigung des hier aufgefundenen Ergebnisses besteht auch für die „Steuerspruchtheorie“ des Bundesgerichtshofs kein Raum mehr. Es handelt sich bei dem Irrtum über das Bestehen eines Steueranspruchs nach hier vertretener Auffassung um einen Verbotsirrtum.

III. Die Erziehung des Unrechtsbewusstseins durch unternehmerische Selbstregulierungsmechanismen Die Politik reagiert auf das Phänomen der Wirtschaftskriminalität mit unterschiedlichen Maßnahmen. Die gesetzgeberischen Bemühungen, Wirtschaftsdelinquenz zu bekämpfen, spiegelten sich unter anderem in der Reformierung materiell-rechtlicher Bestimmungen wider, wie beispielsweise den Wirtschaftsstrafgesetzen von 1949268 und 1954269, den Gesetzen zur Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität 270 oder dem Korruptionsbekämpfungsgesetz von 1997 271.272 Die Exekutive hingegen begegnet Wirtschaftsdelinquenz mit der Errichtung von Schwerpunktstaatsanwaltschaften, wobei diese regelmäßig durch die Ermittlungen von fachkundigen (Wirtschafts-)Kommissariaten unterstützt werden.273 JuS 1993, 14 (19 f.), die im Falle eines solchen Irrtums für eine Verfahrenseinstellung nach § 153 StPO plädiert. 266 Vgl. Neumann, in: NK-StGB, Bd. 1, § 17 Rn. 21. 267 Vgl. Neumann, in: NK-StGB, Bd. 1, § 17 Rn. 20 ff. 268 Vgl. WiGBl. 1949, S.193. 269 Vgl. BGBl. 1954, S. 175; zuletzt geändert 2017 durch das „Gesetz zur Reform der strafrechtlichen Vermögensabschöpfung“, vgl. BGBl. 2017, S. 872. 270 Die Gesetze zur Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität von 1976 (BGBl. 1976, S. 2034) und 1986 (BGBl. 1986, S. 721) führten unter anderem die Straftatbestände des Subventions-, Kredit- und Kapitalanlagebetruges sowie neue Tatbestände zwecks der Bekämpfung von Computerkriminalität ein. 271 Vgl. BGBl. 1997, 2038. 272 Vgl. für weiterführende Aufzählung in diesem Zusammenhang Schwind/Schwind, Kriminologie, S. 480. 273 Vgl. Rettenemaier, in: Adick/Bülte, Fiskalstrafrecht, 3. Kap. Rn. 16; Greeve, in: Hauschka/Moosmayer/Lösler, Corporate Compliance, § 25 Rn. 1; Schwind/Schwind, Kriminologie, S. 481.

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C. Das Unrechtsbewusstsein von Wirtschafts- und Unternehmensstraftätern

Zudem wird versucht, Wirtschaftskriminalität durch administrative Maßnahmen, wie beispielsweise mit der Schaffung eines bundesweiten Wettbewerbsregisters, Einhalt zu gebieten.274 Gleichwohl bleibt zweifelhaft, ob die genannten kriminalpolitischen Bemühungen einen strafpräventiven Einfluss auf das Rechtsbewusstsein von Wirtschaftsstraftätern haben. Die vorstehenden Ausführungen haben gezeigt, dass das defizitäre Unrechtsbewusstsein Wirtschaftskrimineller ein präsentes, umstrittenes und zugleich terminologisch facettenreiches Phänomen darstellt. Zum einen resultieren das fehlende Unrechtsbewusstsein und ein damit einhergehendes wirtschaftskriminelles Verhalten aus der Normunkenntnis der Täter, welche wiederum ihre Causa in der kaum zu bewältigenden Normfülle spezieller Wirtschaftsstraftatbeständen hat. Zum anderen prägen subkulturell-orientierte Verhaltensweisen das Verhalten Wirtschaftsdelinquenter, entwickeln diese mit zunehmender Unternehmensseniorität eine individuelle Vorstellung von Legalität, die sich in einem verzerrten und subjektiven Rechtsempfinden ausdrückt. Steht fest, dass das mangelnde Unrechtsbewusstsein auf einer intellektuellen Nicht- bzw. Fehlinterpretation von sanktionsbewehrten Normen sowie auf den Verfall gesellschaftlicher Vorstellungen von Legalität basiert, stellt sich die Frage, wie man diese Missstände beseitigt. Repressive Maßnahmen setzen insoweit zu spät an, denn Tatgelegenheiten unterliegen, wie zuvor geschildert, einem durch Werte und Normen gefilterten Wahrnehmungsprozess des Delinquenten.275 Das Vermitteln von Rechtswissen und die Integration gesellschaftlicher Legalitäts- und Wertevorstellungen in das Täterbewusstsein müssen daher bereits präventiv hergestellt werden. Diese Aufgabe kann nach hier vertretener Auffassung durch unternehmerische Selbstregulierungsmechanismen nachhaltig gewährleistet werden. 1. Corporate Compliance als unternehmerische Selbstregulierung de lege lata Corporate Compliance (im Folgenden: „Compliance“) lässt sich als die Einhaltung, Befolgung und Übereinstimmung sämtlicher für ein Unternehmen maßgeblicher Rechtsvorschriften definieren.276 Hinter dieser einfachen Definition ver274 Vgl. in diesem Zusammenhang Bundesministerium für Wirtschaft und Energie, Wettbewerbsregister, abrufbar: unter https://www.bmwi.de/Redaktion/DE/Artikel/Wirt schaft/wettbewerbsregister.html, Stand: 11.07.2018. Bislang durchgeführte Abfragen aus den Landeskorruptionsregistern und dem Gewerbezentralregister wurden mit der Einführung des bundesweiten Wettbewerbsregisters ersetzt. 275 Vgl. dazu auch Hlavica/Thormann/Martenstein, in: Hlavica/Hülsberg/Klapproth, Tax Fraud & Forensic Accounting, S. 70. 276 Vgl. Vogt, NJW 2009, 3755; Kort, NZG 2008, 81; Campos Nave, Rechtsstaatliche Regeltreue, S. 91. Die nachfolgenden Ausführungen beziehen sich insbesondere auf un-

III. Erziehung durch unternehmerische Selbstregulierungsmechanismen

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birgt sich eine Diskussion um unternehmerische Selbstregulierungsmechanismen, die ihren Ursprung im US-amerikanischen Recht, vornehmlich im Zusammenhang mit gerichtlichen Strafzumessungsrichtlinien („Federal Sentencing Guidelines Manual“), hat.277 Spätestens seit der Siemens-Affäre278 im Jahr 2006 ist die Compliance-Diskussion auch in Deutschland angekommen und hat seitdem an Aktualität kaum eingebüßt.279 Die Schnelllebigkeit sowie die rasche Entwicklung von Compliance ermöglichen es kaum, ihren Anwendungsbereich abschließend zu definieren.280 Nach heutigem Verständnis umfassen Compliance-Maßnahmen überwiegend Vorkehrungen innerhalb eines unternehmerischen Gesamtsystems, um ein rechtmäßiges Verhalten aller Organmitglieder und Mitarbeiter mit Blick auf sämtliche gesetzlichen Ge- und Verbote zu gewährleisten.281 Neben der Vermeidung von Sanktionen haben Compliance-Maßnahmen spezial- als auch generalpräventive Zielsetzungen zum Gegenstand, indem sie Mitarbeiter vor delinquenten Handlungen abschrecken und diesen zugleich ein antiwirtschaftskriminelles Bewusstsein vermitteln.282 Unternehmerische Compliance-Management-Systeme („CMS“) umfassen zu diesem Zwecke – je nach Unternehmensgröße, Komplexität der Arbeitsabläufe und Gefahrenpotenzialen – verschiedene Maßnahmen und Instrumentarien.283 Exemplarisch sind hierbei zu nennen: die Formulierung bindender Verhaltensternehmerische Rechtsverstöße gegen Vorschriften des Straf- und Ordnungswidrigkeitenrechts. In diesem Zusammenhang wird auch der Begriff „Criminal Compliance“ verwendet, vgl. Rotsch, in: Achenbach/Ransiek/Rönnau, Handbuch Wirtschaftsstrafrecht, 4. Kap. Rn. 7: „Geht es bei Compliance in einem ganz grundsätzlichen Sinne also um Regelkonformität (. . .), so hat ,Criminal Compliance‘ als ,kriminalitätsbezogene Compliance‘ in grundlegender Hinsicht zunächst einmal die Einhaltung strafrechtlich relevanter Regeln zum Gegenstand.“ Ebenso Alexander/Winkelbauer, in: Müller-Gugenberger, Wirtschaftsstrafrecht, § 31 Rn. 6. 277 Sofern Unternehmen adäquate Compliance-Maßnahmen zur Vermeidung von Zuwiderhandlungen ergriffen haben, gewährt das Federal Sentencing Guidelines Manual im Falle eines Gesetzesverstoßes grundsätzlich einen Bußgeldnachlass, vgl. Eufinger, CCZ 2016, 209 (211). Es handelt sich bei diesen Strafzumessungsrichtlinien gemäß Engelhart, NZG 2011, 126 (127), um „unverbindliche Leitlinien“ für die Gerichte. Vgl. Bürkle, BB 2005, 565. 278 Vgl. dazu Leyendecker, „Das ist wie bei der Mafia“, in: Süddeutsche Zeitung vom 14.01.2011. 279 Vgl. zum US-amerikanischen Ursprung und der Entwicklung von Corporate Compliance in Deutschland, Alexander/Winkelbauer, in: Müller-Gugenberger, Wirtschaftsstrafrecht, § 31 Rn. 3 ff. 280 Vgl. Rotsch, in: Rotsch, Criminal Compliance vor den Aufgaben der Zukunft, S. 4; ebenso Hilgendorf, in: Rotsch, Criminal Compliance vor den Aufgaben der Zukunft, S. 19 f. 281 Vgl. Alexander/Winkelbauer, in: Müller-Gugenberger, Wirtschaftsstrafrecht, § 31 Rn. 3 ff.; Bock, ZIS 2009, 68. 282 Alexander/Winkelbauer, in: Müller-Gugenberger, Wirtschaftsstrafrecht, § 31 Rn. 7. 283 Vgl. Hauschka, NJW 2004, 257 (259).

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C. Das Unrechtsbewusstsein von Wirtschafts- und Unternehmensstraftätern

kodizes für Mitarbeiter und Leitungsorgane;284 die Kommunikation und Vermittlung von Unternehmensrichtlinien und Unternehmensethik; Mitarbeiterschulungen; kontinuierliche Beratungstätigkeiten durch die Verantwortlichen;285 regelmäßige Kontrollen zwecks Einhaltung der kommunizierten Verhaltensweisen;286 Durchführung interner Untersuchungen zum Zwecke der Erforschung (straf-) rechtlich- respektive Compliance-relevanter Sachverhalte;287 Errichtung von Hinweisgebersystemen in Form einer Beratungsstelle oder eines Informationskanals („Whistleblowing“);288 Einstellung eines Compliance-Beauftragten 289 und/oder Ombudsmannes290. Da es sich bei Compliance um unternehmerische Selbstregulierungsmechanismen handelt, ist die Verpflichtung zur Errichtung einer Compliance-Organisation nur partiell gesetzlich vorgeschrieben. Neben ihrer Erwähnung in Ziff. 4.1.3 des Deutschen Corporate Governance Kodex, der ein unverbindliches Regelwerk für börsennotierte Unternehmen mit Empfehlungen und Anregungen bereithält,291 gibt es vereinzelt gesetzliche Verpflichtungen, aus denen sich eine Pflicht zur Errichtung von Compliance-Mechanismen ableiten lässt. Mit Blick auf regulierte Unternehmen lassen sich verschiedene gesetzliche Grundlagen heranziehen: Kredit- und Finanzdienstleistungsinstitute sind gem. § 25a Abs. 1 KWG verpflichtet, über eine „ordnungsgemäße Geschäftsorganisation [zu] verfügen, die die Einhaltung der vom Institut zu beachtenden gesetzlichen Bestimmungen (. . .)“ gewährleistet. Dabei muss die ordnungsgemäße Ge284 Kernelement jeder Compliance-Organisation ist der sogenannte „Code of Conduct“ bzw. „Codes of Ethics“, die von den Unternehmensangehörigen einzuhalten sind. Sinn und Zweck der Verhaltenskodizes ist die Sensibilisierung von Mitarbeitern und Führungskräften, insbesondere wenn es sich um Fragen und Probleme rechtlicher Grauzonen handelt. Vgl. hierzu ausführlich Alexander/Winkelbauer, in: Müller-Gugenberger, Wirtschaftsstrafrecht, § 31 Rn. 22; Dendorfer-Ditges, in: Moll, Münchener Anwaltshandbuch Arbeitsrecht, § 35 Rn. 29; Bock, ZIS 2009, 68 (77). 285 Vgl. Campos Nave, Rechtsstaatliche Regeltreue, S. 107 f.; Alexander/Winkelbauer, in: Müller-Gugenberger, Wirtschaftsstrafrecht, § 31 Rn. 24. 286 Vgl. hierzu ausführlich Alexander/Winkelbauer, in: Müller-Gugenberger, Wirtschaftsstrafrecht, § 31 Rn. 27 ff.; sowie Campos Nave, Rechtsstaatliche Regeltreue, S. 108. 287 Vgl. Weiß, CCZ 2014, 136; Fuhrmann, NZA 2016, 881 (882). 288 Vgl. dazu ausführlich Schulz, BB 2017, 1475 (1480 f.) m.w. N. 289 Der Compliance-Officer ist ein Kernbestandteil der Compliance-Abteilung; mitunter ist er für die Abhandlung und Befolgung der Compliance-Maßnahmen verantwortlich. Gemäß BGHSt 54, 44 (49 f.) erstreckt sich sein Aufgabengebiet auf „die Verhinderung von Rechtsverstößen, insbesondere auch von Straftaten, die aus dem Unternehmen heraus begangen werden und diesem erhebliche Nachteile durch Haftungsrisiken oder Ansehensverlust bringen können.“ 290 In Großunternehmen werden dem Compliance-Beauftragten ein bzw. mehrere Ombudsmänner – aufgeteilt nach Risikobereichen – zwecks arbeitsteiliger Mitwirkung unterstellt, vgl. Alexander/Winkelbauer, in: Müller-Gugenberger, Wirtschaftsstrafrecht, § 31 Rn. 34. 291 Vgl. Rotsch, in: Rotsch, Criminal Compliance Handbuch, § 1 Rn. 22.

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schäftsorganisation insbesondere ein angemessenes und wirksames Risikomanagement umfassen. Hierunter fällt gem. § 25 Abs. 1 Nr. 3 c KWG „die Einrichtung interner Kontrollverfahren mit einem internen Kontrollsystem und einer Internen Revision, wobei das interne Kontrollsystem insbesondere eine RisikocontrollingFunktion und eine Compliance-Funktion umfasst (. . .).“ Den gesetzlichen Regelungsrahmen für die Ausgestaltung des CMS legt hierbei die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungen („BaFin“) in ihren Rundschreiben fest.292 So bestimmt Abschnitt AT.4.4.2. der „Mindestanforderungen an das Risikomanagement“ („MaRisk“) die Anforderungen für Compliance-Systeme. Ihrer Rechtsnatur nach handelt es sich hierbei um norminterpretierende Verwaltungsvorschriften293 ohne Außenwirkung. Auch § 29 Abs. 1 VAG sieht – hinreichend bestimmte – gesetzliche Verpflichtung zur Implementierung eines internen Kontrollsystems zwecks der Erfüllung und Überwachung der Compliance-Funktion vor.294 Grundlage für diese nationalen Regelungen sind die europäischen Richtlinien RL/2009/138/EG („Solvency II“) sowie RL 2014/65/EU („MIFID“).295 Über § 80 WpHG findet § 25a KWG auch auf Wertpapierdienstleistungsunternehmen Anwendung. Hierfür legt die BaFin in den „Mindestanforderungen an die Compliance-Funktion und weitere Verhaltens-, Organisations- und Transparenzpflichten“ („MaComp“) ebenfalls die organisatorischen Anforderungen an die Compliance-Funktion nach § 80 Abs. 1 WpHG fest. Von besonderer Bedeutung ist zudem, dass die Vorschriften der MaComp auch für andere Industrien und Branchen zum Zwecke der Auslegung herangezogen werden, unabhängig davon, ob diese den Regularien der BaFin unterfallen oder nicht.296 Zudem gibt es gesetzliche Compliance-Pflichten für nicht regulierte Unternehmen. Gemäß § 91 Abs. 2 AktG297 muss der Vorstand zum Zwecke der Gefahrenabwehr ein Kontrollsystem einrichten. Hierzu zählt die Errichtung eines Frühwarn- und Überwachungssystems.298 Außerdem gibt es im Bereich der Pharma292 Vgl. ausführlicher dazu Bottmann, in: Park, Kapitalmarktstrafrecht, Kap. 2.1. Rn. 15. 293 Vgl. Ketessidis, BaFinJournal, 10/07, S. 11 (13). 294 Ausführlich dazu Michael/Kübler, in: Gebert/Erdmann/Schradin, BeckOK-VAG, § 29 Rn. 3 f. 295 Vgl. Sonnenberg, JuS 2017, 917 (918). 296 Vgl. Grützner/Jakob, Compliance von A–Z, unter „MaComp“. 297 Zum Teil wird eine entsprechende Pflicht auch aus § 76 Abs. 1 AktG oder § 91 Abs. 2 AktG abgeleitet, vgl. Sonnenberg, JuS 2017, 917; offengelassen bei LG München I, NZG 2014, 345 (346). 298 Vgl. hierzu ausführlich Knierim, in: Wabnitz/Janovsky, Handbuch des Wirtschafts- und Steuerstrafrechts, S. 343. Bei der Errichtung des Überwachungssystems wird dem Vorstand ein unternehmerisches Ermessen zuteil, weil es sich bei § 93 Abs. 1 S. 2 AktG um eine gesetzliche Ausprägung der business judgement rule handelt; hierzu ausführlich Spindler, in: Goette/Habersack/Kalss, MüKo-AktG, § 93 Rn. 36 f.

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und Medizinproduktunternehmen unternehmensübergreifende und branchenspezifische Verbandsrichtlinien, in welchen sich diese Unternehmen (freiwillig) zur Errichtung von Compliance-Organisationen verpflichten.299 Auch die neuere Entwicklung in der Rechtsprechung neigt zu einer Verrechtlichung von Compliance-Vorgaben. So hat das LG München I in seinem „Compliance-Urteil“ 300 entschieden, dass die Errichtung eines funktionierenden Compliance-Programms zu der Gesamtverantwortung des Vorstandes gehört. Diesbezüglich stellte das Gericht fest: „Im Rahmen dieser Legalitätspflicht darf ein Vorstandsmitglied somit zum einen bereits keine Gesetzesverstöße anordnen. Zum anderen muss ein Vorstandsmitglied aber auch dafür Sorge tragen, dass das Unternehmen so organisiert und beaufsichtigt wird, dass keine derartigen Gesetzesverletzungen stattfinden. Diese Überwachungspflicht wird namentlich durch § 91 II AktG dadurch konkretisiert, dass ein Überwachungssystem installiert wird, das geeignet ist, bestandsgefährdende Entwicklungen frühzeitig zu erkennen, wovon auch Verstöße gegen gesetzliche Vorschriften umfasst sind (. . .). Einer derartigen Organisationspflicht genügt der Vorstand bei entsprechender Gefährdungslage nur dann, wenn er eine auf Schadensprävention und Risikokontrolle angelegte Compliance-Organisation einrichtet (. . .).“ 301

Zudem fanden unternehmerische Compliance-Maßnahmen auch jüngst in der höchstrichterlichen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs Berücksichtigung. Dieser entschied im Zusammenhang mit der Auferlegung einer Geldbuße nach § 30 OWiG: „Für die Bemessung der Geldbuße ist zudem von Bedeutung, inwieweit die Nebenbeteiligte ihrer Pflicht, Rechtsverletzungen aus der Sphäre des Unternehmens zu unterbinden, genügt und ein effizientes Compliance-Management installiert hat, das auf die Vermeidung von Rechtsverstößen ausgelegt sein muss.“ 302

2. Der Einfluss von Compliance-Maßnahmen auf das Unrechtsbewusstsein Die Implementierung von CMS wird regelmäßig als alternative Präventivmaßnahme bei der Bekämpfung von Wirtschaftskriminalität vorgestellt. Neben den einschlägigen Instrumentarien (Compliance-Beauftragter, Whistleblower-Hotline, Interne Revision, Schulungen und Workshops) ist die Errichtung einer unternehmerischen „Compliance-Kultur“ einer der wichtigsten und nach299 Vgl. unter anderem § 28 Abs. I FSA-Kodex Fachkreise und § 26 VDGH-Kodex. Ausführlich hierzu Knierim, in: Wabnitz/Janovsky, Handbuch des Wirtschafts- und Steuerstrafrechts, S. 350 m.w. N. 300 Vgl. LG München I, NZG 2014, 345 ff. 301 LG München I, NZG 2014, 346. 302 BGH, StV 2018, 36 (37). Vgl. ausführlich zu der Berücksichtigung von Compliance-Maßnahmen bei der Bemessung von Unternehmensgeldbußen unter Abschn. C. III.3.b)bb).

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haltigsten Aspekte für die Vermittlung eines antiwirtschaftskriminellen (Rechts-) Bewusstseins303 von Mitarbeitern und Führungspersonen. Die Etablierung einer Compliance-Kultur erfüllt ihrerseits den Zweck, das durch arbeitsplatzbezogene Subkulturen entstehende defizitäre (subjektiv geprägte) Rechtsbewusstsein der Unternehmensdelinquenten und das damit verbundene Risiko strafbarer Handlungen mittels normativer Orientierungsmuster in der unternehmensinternen Kommunikation zu minimieren.304 Zugleich soll eine etablierte Compliance-Kultur dazu dienen, die Belegschaft mit Blick auf (straf-) rechtlich relevante Handlungsweisen zu sensibilisieren und Mitarbeiter dahingehend bilden, strafrechtlich relevantes Verhalten – insbesondere mit Blick auf den im Wirtschaftsstrafrecht häufig nicht eindeutigen Normappell – zu antizipieren.305 Ob und inwieweit eine unternehmensinterne Compliance-Kultur dazu geeignet ist, die genannten Ziele zu erreichen, soll im Folgenden näher erörtert werden. a) Compliance-Kultur – Begriff und rechtliche Grundlagen Dass eine umfassende Compliance-Kultur mehr als nur ein „leere Hülse“ 306 in der Compliance-Diskussion darstellt, verdeutlicht der Blick auf nationale und internationale Regelwerke. So heißt es im BaFin Rundschreiben 09/2017 (BA) – MaRisk: „Alle Geschäftsleiter (§ 1 Abs. 2 KWG) sind, unabhängig von der internen Zuständigkeitsregelung, für die ordnungsgemäße Geschäftsorganisation und deren Weiterentwicklung verantwortlich. (. . .). Hierzu zählt auch die Entwicklung, Förderung und Integration einer angemessenen Risikokultur innerhalb des Instituts und der Gruppe.“ 307

Ähnliche Anforderungen stellt die BaFin in dem Rundschreiben 05/2018 (WA) – MaComp an Wertpapierdienstleistungsunternehmen: „Das Wertpapierdienstleistungsunternehmen fördert und bestärkt eine unternehmensweite ,Compliance-Kultur‘, durch die Rahmenbedingungen für eine Förderung des Anlegerschutzes durch die Mitarbeiter und eine angemessene Wahrnehmung von Compliance-Angelegenheiten geschaffen werden.“ 308 303

Vgl. Alexander/Winkelbauer, in: Müller-Gugenberger, Wirtschaftsstrafrecht, § 31

Rn. 7. 304 Vgl. Schilling, in: Hlavica/Hülsberg/Klapproth, Tax Fraud & Forensic Accounting, S. 239; Rotsch, in: Rotsch, Criminal Compliance Handbuch, § 34A Rn. 50. 305 Vgl. allgemein in diesem Zusammenhang Rotsch, in: Rotsch, Criminal Compliance Handbuch, § 1 Rn. 14. 306 Vgl. für eine ähnliche Auffassung im Zusammenhang mit der Etablierung von Verhaltenskodizes Schneider, NStZ 2007, 555 (562). 307 BaFin, Rundschreiben 09/2017 (BA) Mindestanforderungen an das Risikomanagement – MaRisk, Abschn. AT 3.1.

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Zudem sieht der vom Institut deutscher Wirtschaftsprüfer („IDW“) veröffentlichte Prüfungsstandard zu den Grundsätzen ordnungsmäßiger Prüfung von CMS („IDW PS 980“) eine funktionierende und gelebte Compliance-Kultur als wesentlichen Bestandteil eines funktionierenden Compliance-Managements an: „Die Compliance-Kultur stellt die Grundlage für die Angemessenheit und Wirksamkeit des CMS dar. Sie wird vor allem geprägt durch die Grundeinstellungen und Verhaltensweisen des Managements sowie durch die Rolle des Aufsichtsorgans („tone at the top“). Die Compliance-Kultur beeinflusst die Bedeutung, welche die Mitarbeiter des Unternehmens der Beachtung von Regeln beimessen und damit die Bereitschaft zu regelkonformem Verhalten.“ 309

Auch der internationale Vergleich zeigt, welches Gewicht einer ausgereiften Compliance-Kultur beigemessen wird. Der Resource Guide zum Foreign Corrupt Practices Act („FCPA“) aus dem Jahr 1977 erklärt hierzu: „An effective compliance program promotes an organizational culture that encourages ethical conduct and a commitment to compliance with the law. (. . .) A strong ethical culture directly supports a strong compliance program.“ 310

In den US-amerikanischen Strafzumessungsrichtlinien („Federal Sentencing Guidelines Manual“) heißt es unter § 8 B2.1. Effective Compliance and Ethics Program: „(a) To have an effective compliance and ethics program (. . .) an organization shall (. . .) promote an organizational culture that encourages ethical conduct and a commitment to compliance with the law. Such compliance and ethics program shall be reasonably designed, implemented, and enforced so that the program is generally effective in preventing and detecting criminal conduct.“ 311

Der vom britischen Justizministerium veröffentlichte Leitfaden zum UK Bribery Act aus dem Jahr 2010 sieht vor: „The top-level management of a commercial organisation (be it a board of directors, the owners or any other equivalent body or person) (. . .) foster a culture within the organisation in which bribery is never acceptable.“ 312

Erwähnenswert sind in diesem Zusammenhang auch der konsolidierte Kodex der Internationalen Handelskammer (International Chamber of Commerce – „ICC“) zur Praxis der Werbe- und Marketingkommunikation sowie die Leitlinien der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (Organization for Economic Co-operation and Development – „OECD“), die ebenfalls 308 BaFin, Rundschreiben 05/18 (WA), Mindestanforderungen an die ComplianceFunktion und weitere Verhaltens-, Organisations- und Transparenzpflichten – MaComp, Abschn. BT 1.1. Nr. 5. 309 IDW, IDW PS 980, Tz. 23. 310 U.S. Department of Justice/U.S. Securities and Exchange Commission, A Resource Guide to the U.S. Foreign Corrupt Practices Act, S. 56 f. 311 United States Sentencing Commission, Guidelines Manual 2016, S. 533. 312 Ministry of Justice UK, The Bribery Act 2010 Guidance, S. 23.

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die Förderung einer Compliance-Kultur ihren Regelwerken – wenn auch nur beiläufig und im Ansatz – zugrunde legen.313 Trotz der Erwähnung einer Compliance-Kultur innerhalb (inter-)nationaler Regelwerke fehlt es an einer Konturierung dieser Begrifflichkeit. Aus dem von der Internationalen Organisation für Normung („ISO“) erlassenen und von dem Deutschen Institut für Normierung („DIN“) übersetzten „ISO Standard 19600:2014 Compliance Management Systems“ ergibt sich mit Blick auf die Determinierung einer Compliance-Kultur folgende Begriffsbeschreibung: „Compliance-Kultur ethische Werte und Überzeugungen, die in einer Organisation (. . .) durchgehend bestehen und im Zusammenspiel mit den Strukturen und Kontrollmechanismen einer Organisation einen Verhaltensstandard schaffen, der die Compliance (. . .) fördert“.314

Diesem Ergebnis schließt sich auch Wendt an, wenn er unter Heranziehung der Definitionsansätze von Schein, Luhmann und Hofstede konstatiert: „Compliance-Kultur kann somit als eine das Compliance-konforme Verhalten der Mitarbeiter fördernde Unternehmenskultur definiert werden.“ 315

Mithin lässt sich festhalten, dass eine unternehmerisch ausgeprägte Compliance-Kultur das Herzstück eines jeden CMS darstellt, ohne welches sämtliche organisatorischen Compliance-Bestrebungen faktisch ins Leere liefen. b) Der Einfluss auf subkulturell geprägte Wertvorstellungen und Auswirkungen auf das Unrechtsbewusstsein Eine im Unternehmen gelebte Compliance-Kultur hat einen prägenden Charakter auf subjektive Wertvorstellungen und das Unrechtsbewusstsein der Unternehmensangehörigen, denn die Bereitschaft, sich rechtskonform zu verhalten, resultiert insbesondere aus der konkreten Umsetzung normativer Orientierungsmuster. Dabei ist zu beachten, dass ein unternehmerisches kulturelles Gefüge nicht mittels kurzfristiger Veränderungen herbeigeführt werden kann,316 da die (gesellschaftliche) Akzeptanz von Regelsystemen und Gewohnheiten eine Etablierungsphase in Anspruch nimmt. Mit Blick auf die Konzeptualisierung einer Compliance-Kultur muss folgenden Aspekten besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden:

313 Vgl. ICC, ICC-Kodex, S. 53; sowie OECD, G20/OECD-Grundsätze der Corporate Governance, S. 64. 314 DIN, ISO 19600:2014, S. 9. Vgl. ausführlich zur ISO 19600:2014 unter Abschn. C. III.3.a)bb). 315 Wendt, in: Hauschka/Moosmayer/Lösler, Corporate Compliance, § 9 Rn. 65. 316 Vgl. Wendt, in: Hauschka/Moosmayer/Lösler, Corporate Compliance, § 9 Rn. 67.

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Compliance-Kulturen werden durch organisatorische Steuerungsprozesse geprägt, die mittels unbewusster individueller und kollektiver Akzeptanz sowie Einstellungen und Verhaltensmuster der Belegschaft wahrgenommen und verarbeitet werden.317 Die sich entwickelnde Compliance-Kultur ist das Ergebnis eines fortlaufenden Kommunikationsprozesses der Organisationsmitglieder.318 Beachtlich ist dabei, dass über die Entwicklung der Compliance-Kultur nicht direkt entschieden werden kann; vielmehr ist diese eine Reaktion auf die von CMS umgesetzten kulturorientierten Maßnahmen.319 Dies zugrunde gelegt, ist eine Sensibilisierung der Belegschaft zu einer auf rechtmäßiges Handeln orientierten Unternehmenskultur nur schrittweise und mittels einer „Compliance bezogenen Kommunikation“ 320 zu erreichen. Eine solche Kommunikation lässt sich einerseits durch regelmäßige Kulturmaßnahmen (Workshops, Schulungen, Mitarbeiterbefragungen) erreichen. Andererseits ist es wichtig, dass sich die Geschäftsleitung des Verbandes nicht mittels einer einmaligen Verkündungsaktion ihrer Compliance-Verpflichtung entledigt, sondern sich innerhalb des Unternehmens für eine nachhaltige Einhaltung von Compliance einsetzt („Tone from the top“).321 Auch die mittlere Unternehmensführung muss gegenüber der Belegschaft die Bedeutung und Gewichtung der unternehmerischen Compliance-Strukturen betonen („Tone from the Middle“).322 Die Vermittlung einer ethisch-moralischen Führerschaft („Ethical Leadership“ 323) fördert antikriminelles Verhalten und die Akzeptanz eines ComplianceProgramms, was sich seinerseits unmittelbar auf das Unrechtsbewusstsein von Wirtschaftsdelinquenten auswirkt, wie folgende Überlegung verdeutlichen soll: Wiederholung und Übung von Kulturmaßnahmen fördern die Kenntnis sanktionsbewehrter (Blankett-)Normen und der damit verbotenen Handlungsweisen. Insbesondere branchenspezifische Schulungen der Belegschaft sind dazu geeignet, die – sozialethisch farblosen – Tatbestände des Wirtschafts- und Nebenstrafrechts kennenzulernen und Unternehmensangehörige mit Blick auf verbotene Handlungsweisen zu sensibilisieren. Auf diese Weise wird einem defizitären (schuldrelevanten) Unrechtsbewusstsein Einhalt geboten, da der Täter regelmäßig Kenntnis von den für ihn relevanten sanktionsbewehrten Normen erlangen 317

Vgl. Wendt, in: Hauschka/Moosmayer/Lösler, Corporate Compliance, § 9 Rn. 67. Vgl. Wendt, in: Hauschka/Moosmayer/Lösler, Corporate Compliance, § 9 Rn. 67. 319 Vgl. Wendt, in: Hauschka/Moosmayer/Lösler, Corporate Compliance, § 9 Rn. 68. 320 Wendt, in: Hauschka/Moosmayer/Lösler, Corporate Compliance, § 9 Rn. 68. 321 Vgl. Moosmayer, Compliance Praxisleitfaden für Unternehmen, Rn. 144; ebenso Schlierenkämper, in: Bürkle, Compliance in Versicherungsunternehmen, Rn. 152; Sonnenberg, JuS 2017, 917 (918). 322 Vgl. Moosmayer, Compliance Praxisleitfaden für Unternehmen, Rn. 144; Sonnenberg, JuS 2017, 917 (918). 323 Vgl. PricewaterhouseCoopers, Wirtschaftskriminalität und Unternehmenskultur 2013, S. 5. 318

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wird. Ferner führt der Nachweis über ein unternehmerisch ausgeprägtes CMS und die mit diesen einhergehenden Schulungsmaßnahmen regelmäßig dazu, eine Straffreiheit des Delinquenten infolge der Vermeidbarkeit des Verbotsirrtums abzulehnen, da ein solcher Irrtum für den Täter durch die Wahrnehmung(-smöglichkeit) angebotener Compliance-Schulungen vermeidbar gewesen wäre. Derartige Präventivmaßnahmen relativieren zugleich die von den Vertretern der Vorsatztheorie hervorgebrachten kriminalpolitischen Bedenken gegen die Anwendbarkeit der Schuldtheorie für den Bereich des Wirtschaftsstrafrechts. Zudem führt eine ausgeprägte Compliance-Kultur zu einer systematischen Bekämpfung delinquenter arbeitsplatzbezogener Subkulturen. Wie bereits erörtert, ist Wirtschaftsdelinquenz das Resultat von Lernprozessen innerhalb unternehmerisch gelebter Wertvorstellungen, die insbesondere durch Wiederholungs- und Nachahmungseffekte gefördert werden. Dabei bieten kriminogene Aspekte, insbesondere Neutralisierungs- und Rechtfertigungsstrategien, einen entscheidenden Bewertungsfaktor für die Tatbegehung.324 Die Sensibilisierung der Belegschaft für kriminelles Handeln mittels einer gelebten kriminoresistenten Unternehmenskultur minimiert nachhaltig die Wahrscheinlichkeit der Begehung wirtschaftsdelinquenter Handlungen. Neben der Vermittlung von Normkenntnis dient eine ausgeprägte und gelebte ComplianceKultur vornehmlich dazu, das subjektive Rechtsbewusstsein zu stärken sowie individuelle (Fehl-)Vorstellung von Legalität zu beseitigen und ein verzerrtes bzw. subjektives Rechtsempfinden des Täters dem (naturalistischen) Rechtsbewusstsein der Allgemeinheit anzunähern. 3. Die Umsetzung von Compliance-Mechanismen in der Praxis Trotz der präventiven Auswirkungen von Compliance liegt ein wesentliches Problem ihrer Umsetzung darin, dass es keine konkreten gesetzlichen Vorgaben für die Ausgestaltung von CMS gibt. Dieser Missstand hängt unter anderem mit zwei wesentlichen Faktoren zusammen: (1) Compliance-Maßnahmen zeichnen sich dadurch aus, dass mit der strafrechtlichen Beurteilung von Sachverhalten ein Perspektivwechsel einhergeht. Soweit es um die Verhängung von Strafe respektive einer Unternehmensgeldbuße geht, bewertet das Gericht aus einer ex post Perspektive die Strafwürdigkeit bestimmter Verhaltensweisen bzw. unternehmerischer Aufsichtspflichtverletzungen. Compliance-Maßnahmen sind hingegen stets aus einer ex ante Perspektive zu beurteilen.325 Dabei gestaltet sich das Antizipieren verbotener Handlungsweisen mit Blick auf rechtliche Graubereiche des Wirtschaftsund Unternehmensstrafrechts als eine besondere Herausforderung. Nachtei324 325

Vgl. hierzu ausführlich unter Abschn. C.I.3. Vgl. Bürkle, BB 2018, 525 (528).

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lige Folge dieser Rechtsunsicherheit ist, dass Unternehmen vermindert risikofreudig sind und dadurch ihr Umsatzpotenzial aus Sorge vor Rechtsverstößen nicht ausschöpfen,326 zumal sie das Wagnis nicht eingehen werden, „sich selbst auf dem Altar der Rechtsfortbildung zu opfern“ 327. Eine staatliche (Über-)Regulierung zwecks Vereinheitlichung und Verpflichtung zur Implementierung von CMS würde daher einerseits zwar zu Rechtssicherheit beitragen, andererseits jedoch zu einer unverhältnismäßigen Beschränkung der unternehmerischen Entscheidungsfreiheit führen. (2) Daneben besteht auch eine weitere Hürde für eine gesetzliche Vereinheitlichung von Compliance-Maßnahmen. Die Etablierung eines standardisierten Pflichtenkatalogs scheitert nämlich regelmäßig daran, dass sich ein CMS an der Größe und Struktur des Unternehmens orientieren und zugleich berücksichtigen muss, welche branchenspezifischen Risikofaktoren für das Unternehmen bestehen.328 Dem hierbei – erneut – zum Ausdruck kommenden Konflikt zwischen Flexibilität der freien unternehmerischen Entscheidungsfindung einerseits und Rechtssicherheit andererseits muss durch Standardisierung rechtlich anerkannter und zugleich anpassungsfähiger ComplianceVorgaben Rechnung getragen werden.329 Die nachfolgenden Überlegungen sollen einen Lösungsansatz für die genannten Problemfelder bieten. a) Grundelemente von Compliance-Systemen – ein Versuch der Standardisierung Ungeachtet der fehlenden rechtlichen Grundlagen haben sich in den vergangenen Jahren Systemstandards herausgebildet, die die Grundlage einer (hinreichenden) Compliance-Organisation bilden.330 Neben der Etablierung einer Compliance-Kultur durch wiederholte und nachhaltige Kommunikationsprozesse zeichnet sich eine intakte Unternehmenskultur der Rechtskonformität insbesondere durch kulturorientierter Maßnahmen (bspw. Schulungen und Workshops) sowie durch die Implementierung weiterer Compliance-Instrumentarien aus (bspw. umfassende und nachhaltige Analyse von Unternehmensrisiken; Bestellung eines Compliance-Officers und/oder Ombudsmannes; Prüfung von Geschäftspartnern mit Blick auf eventuelle Korruptionsrisiken; Errichtung eines WhistleblowingSystems sowie eines Compliance Help Desks331). 326

Vgl. Bürkle, BB 2018, 525 (528). Bock, ZIS 2009, 68 (73). 328 Vgl. Sonnenberg, JuS 2017, 917 (918). 329 Vgl. Bock, ZIS 2009, 68 (73). 330 Vgl. Sonnenberg, JuS 2017, 917 (918 ff.). 331 Vgl. zu diesen Compliance-Standards ausführlich Sonnenberg, JuS 2017, 917 (918 ff.) sowie bereits unter Abschn. C.III.1. 327

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Zwecks Standardisierung der genannten Compliance-Mechanismen haben sich in den vergangenen Jahren zwei untergesetzliche Regelwerke herausgebildet, die bei dem Versuch der Etablierung einheitlicher Compliance-Vorgaben besonders hervorstechen.332 aa) IDW PS 980 Prüfungsstandard Das Institut der Wirtschaftsprüfer in Deutschland („IDW“) veröffentlichte im Jahr 2011 den Prüfungsstandard „Grundsätze ordnungsgemäßer Prüfung von Compliance Management Systemen“ („IDW PS 980“). Der Prüfungsstandard stellt eines der ersten standardisierten Rahmenwerke von CMS in Deutschland dar, mit welchen sich Unternehmen die Angemessenheit und Wirksamkeit ihrer CMS zertifizieren lassen können. Der Prüfungsstandard dient vornehmlich als Grundlage für die Überprüfung von CMS in Unternehmen.333 Das IDW differenziert bei der Überprüfung von CMS zwischen einer Konzeptions-, Angemessenheit- und Wirksamkeitsprüfung.334 Zu diesem Zweck legt das IDW sieben Grundelemente eines CMS fest, wobei die konkrete Ausgestaltung dieser von den festgesetzten Compliance-Zielen, der Größe des Unternehmens sowie Art und Umfang der Geschäftstätigkeit des Unternehmens abhängt.335 Zu den grundsätzlichen Bestandteilen eines CMS zählen laut dem IDW: (1) Compliance-Kultur; (2) Compliance-Ziele; (3) Compliance-Risiken; (4) Compliance-Programm; (5) Compliance-Organisation; (6) Compliance-Kommunikation; (7) Compliance-Überwachung/Verbesserung.336 Der Prüfungsstandard trägt in diesem Zusammenhang erheblich zur Rechtssicherheit für betroffene Unternehmen bei, indem er die genannten Grundelemente konkretisiert. Zu diesem Zweck listet der Prüfungsstandard unter „6. Anwendungshinweise und Erläuterungen“ zu jedem der genannten Grundelemente ein Konglomerat von Regelbeispielen auf,337 die für Unternehmen und Wirtschaftsprüfer gleichermaßen Transparenz schaffen. Die inhaltliche Ausgestaltung des Prüfungsstandards erinnert hierbei stark an das von der United States Sentencing Comission erlassene Federal Sentencing Guidelines Manual. Auch dieses erfasst 332 Erwähnenswert sind in diesem Zusammenhang internationale Standardwerke, wie der FCPA-Guide, der UK-Bribery-Act-Leitfaden und die Bestrebungen des ICC-Kodex sowie des OECD-Leitfadens, vgl. zu diesen Regelwerken auch Abschn. C.III.2.a). 333 Vgl. IDW, IDW PS 980, Tz. 1. Das IDW stellt zugleich fest, dass der Prüfungsstandard auch auf Vereine, Gesellschaften bürgerlichen Rechts, Gebietskörperschaften, Anstalten des öffentlichen Rechts oder nicht rechtlich selbstständige wirtschaftliche Vereine Anwendung findet. 334 Vgl. ausführlich hierzu IDW, IDW PS 980, Tz. 12 ff. 335 Vgl. IDW, IDW PS 980, Tz. 23. 336 Vgl. IDW, IDW PS 980, Tz. 23. 337 Vgl. hierzu ausführlich IDW, IDW PS 980, Tz. A14 ff.

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sieben Punkte für ein effektives Compliance-Programm, welche mit dem IDW PS 980 inhaltlich weitestgehend korrespondieren.338 Diese – wohlbemerkt nicht abschließende – Aufzählung von Compliance-Standards ermöglicht es den Aufsichtspersonen des Unternehmens, anhand einer „flexiblen Checkliste“ den Umfang und den Grad des zu implementierenden bzw. errichteten CMS besser auszugestalten. bb) DIN ISO 19600:2014 Im Jahre 2014 erließ die Internationale Organisation für Normung („ISO“) einen ersten globalen Leitfaden zur Schaffung, Unterhaltung, Entwicklung, Verwirklichung, Bewertung und Verbesserung von CMS.339 Die ISO stellt das internationale Pendant zum DIN dar;340 letztere hat den ISO-Standard in die deutsche Sprache übersetzt. Auch bei den ISO-Regularien handelt es sich nicht um rechtsverbindliche Normen, sondern vielmehr um einen „flexiblen Leitfaden“ 341, der sich am weltweit vorherrschenden Kenntnisstand von CMS orientiert und dessen praktische Umsetzung im freien Belieben des Unternehmens steht.342 Dies stellt zugleich einen der wesentlichen Unterschiede zum IDW PS 980 dar, wurde dieser gerade für die Prüfung von CMS zwecks Zertifizierung ihrer wirksamen Einhaltung erlassen.343 Die ISO 19600:2014 ist in zehn Abschnitte unterteilt. Neben einem umfassenden Begriffskatalog verfügt die Handlungsempfehlung über ein Verzeichnis organisatorischer und konzeptioneller Maßnahmen. Besonders hervorzuheben ist, dass die ISO 19600:2014 ausgeprägte inhaltliche Leitlinien zur Ausbildung eines CMS liefert. Die in diesem Zusammenhang getroffenen Handlungsempfehlungen umfassen: Die Organisation von CMS (Ziff. 4); die Rolle der Unternehmensführung im Rahmen von CMS (Ziff. 5); die Planung des CMS (Ziff. 6); die Unterstützung von CMS (Ziff. 7) – insbesondere durch ausreichende Ressourcen, Schulungsmaßnahmen, die nachhaltige Förderung einer Compliance-Kultur, die Kommunikation mit Blick auf das CMS sowie dokumentierte Informationen; die betrieb-

338 Vgl. United States Sentencing Commission, Guidelines Manual 2016, S. 533 ff. Siehe hierzu auch Hopson/Koehler, CCZ 2008, 208 ff. 339 Vgl. DIN, ISO 19600:2014, S. 12; dazu Bartosz/Wüstemann, BB 2015, 1195. 340 Vgl. Fissenewert, CB 2016, 89 (90); ders., NZG 2015, 1009 (1011). 341 Fissenewert, NZG 2015, 1009 (1010). 342 Dass es sich hierbei um Handlungsempfehlungen respektive Leitlinien und gerade nicht um Anforderungen handelt, wird zudem an mehreren Stellen des Textes hervorgehoben, vgl. DIN, ISO 19600, S. 4, 7, 14. Vgl. ferner Bartosz/Wüstemann, BB 2015, 1195; Fissenewert, NZG 2015, 1009 (1010); Withus/Kunz, BB 2015, 685 (686). 343 Vgl. ausführlicher dazu Withus/Kunz, BB 2015, 685 f.

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liche Planung und Steuerung von CMS (Ziff. 8); die Bewertung, Überwachung und Analyse von CMS; sowie die (fortlaufende) Verbesserung von CMS (Ziff. 9). Jeder der genannten Punkte umfasst mehrere Unterpunkte, die ihrerseits mit inhaltlichen – wohl nicht abschließenden – Empfehlungen und Beispielen konkretisiert werden. Die umfassenden inhaltlichen Ausführungen und Beispiele unterstützen hierbei das Hauptanliegen, Compliance-Standards auch für mittelständische Unternehmen zu gewährleisten. Diese sind mangels organisatorischer und finanzieller Ressourcen im Vergleich zu den „Big Playern“ regelmäßig benachteiligt.344 Als umfassendes Regel- respektive Leitwerk zur Vereinheitlichung von CMS gilt die ISO 19600:2014 nämlich „für alle Formen von Organisationen“ 345. In der Konsequenz obliegt der Umfang der Empfehlungsumsetzung den Unternehmen, wobei maßgebliche Indikatoren Größe, Struktur, Art und Komplexität der Organisation sind.346 Dabei unterstützen die umfassenden Handlungs- und Gestaltungsempfehlungen sowie die enthaltenen Beispiele insbesondere kleinere und mittelständische Unternehmen, die nur ein geringes Know-how mit Blick auf CMS aufweisen. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die ISO 19600:2014 einen hinreichend normierten – wenn auch nicht gänzlich abgeschlossenen – Rahmen zwecks Errichtung flexibler Compliance-Standards für (inter-)national tätige Unternehmen bietet.347 cc) Zwischenfazit und Stellungnahme Die Standardisierung von Compliance-Maßnahmen trägt ungemein zur Rechtssicherheit bei. Dem Risiko einer staatlichen Überregulierung wird de lege lata dadurch Rechnung getragen, dass es sich bei den Werken zur Standardisierung von CMS um untergesetzliche Normen handelt. Weder der IDW PS 980 noch die ISO 19600:2014 beanspruchen Gesetzesqualität, sondern dienen Unternehmen lediglich als Leitfaden bei der Umsetzung angemessener Compliance-Standards. Zu berücksichtigen ist zudem, dass sich die ISO 19600:2014 und der IDW PS 980 nicht widersprechen, sondern sich gegenseitig ergänzen.348 Die inhaltlichen Vorgaben der ISO-Guidelines gehen auf alle sieben vom IDW PS 980 betonten Grundelemente eines CMS ein und füllen diese mit den aufgelisteten Handlungs-

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Vgl. Fissenewert, NZG 2015, 1009 (1010). DIN, ISO 19600:2014, S. 7. 346 Die hierbei hervorgehobene Flexibilität bei der Ausgestaltung von CMS bringt die Empfehlung an mehreren Stellen zum Ausdruck, vgl. DIN, ISO 19600:2014, S. 7, 13, 16, 18, 22, 27, 31. 347 Vgl. Fissenewert, CB 2016, 89. 348 IDW, Berichterstattung über Sitzung, S. 1. 345

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empfehlungen konkret aus.349 In der Konsequenz stellt die ISO 29600:2014 ein angemessenes Rahmenkonzept für CMS dar und hält auch einer am IDW PS 980 orientierten Prüfung regelmäßig stand.350 Positiv anzumerken ist ferner, dass die ISO 19600:2014 mit Blick auf die Darstellung von Systemkomponenten und Begrifflichkeiten den wohl derzeit umfangreichsten internationalen Standard für CMS bildet.351 Dadurch hat die ISO 19600:2014 eine Zwitterstellung: Einerseits kann sie als Grundlage für branchenspezifische Compliance-Konzepte dienen,352 andererseits kann sie als internationaler Standard oder zumindest als „nützliches Nachschlagewerk“ 353 für sämtliche Branchen genutzt werden. Ob sich die ISO-Guidelines in der Praxis durchsetzen werden, bleibt vor dem Hintergrund ihres untergesetzlichen Charakters zwar zweifelhaft. Zumindest für kleine und mittelständische Unternehmen wäre ein generischer Standard jedoch vorzugswürdig, berücksichtigt dieser gerade die dürftigen Ressourcen des Mittelstandes und ermöglicht so eine flexible Handhabe.354 Auch international agierende Großkonzerne werden einen einheitlichen Standard bevorzugen, da dieser eine vergleichbare Ausgestaltung von CMS in den weltweit verteilten Konzerngesellschaften vereinfacht.355 Gleichwohl können die erörterten Rahmenkonzepte nicht kritiklos anerkannt werden. So wird mit Blick auf die inhaltliche Ausgestaltung der ISO 19600:2014 exemplarisch ihre Vereinbarkeit mit Grundsätzen des deutschen Gesellschaftsrechts kritisiert.356 Gravierender ist jedoch, dass es sich bei den Regelwerken um die von eingetragenen Vereinen des Privatrechts kodifizierte Standards handelt, die nicht ex349 Vgl. hierzu ausführlich Withus/Kunz, BB 2015, 685 (687); zustimmend Sünner, CCZ 2015, 2 (4). 350 Vgl. hierzu IDW, Berichterstattung über Sitzung, S. 1; ausführlich auch Withus/ Kunz, BB 2015, 685 (688). 351 Vgl. Fissenewert, CB 2016, 89 (90); Withus/Kunz, BB 2015, 685 (688). 352 Derzeit bestehen unter anderem für die Immobilienwirtschaft sowie für die Vertriebsorganisation von Versicherungsunternehmen spezifische Rahmenkonzepte, vgl. hierzu Withus/Kunz, BB 2015, 685 (688 m.w. N.). 353 Insoweit kritische Anmerkung von Sünner, CCZ 2015, 2 (6). Ebenfalls kritisch in diesem Zusammenhang Hauschka, CCZ 2015, 1. 354 Vgl. zu den Vorteilen für den Mittelstand Fissenewert, NZG 2015, 1009 (1010); ders., CB 2016, 89 (92). 355 Withus/Kunz, BB 2015, 685 (689). 356 Vgl. Sünner, CCZ 2015, 2 (4), der hier insbesondere kritisiert, dass sich die ISOGuideline an dem angelsächsischen One Board System orientiert, der eine klare „Aufgabenteilung zwischen Aufsichtsrat und Vorstand einer deutschen Aktiengesellschaft fremd ist.“ Gegen diese Kritik wenden Marcowicz/Wüstemann, BB 2015, 1195 (1198), jedoch zutreffend ein, dass man bei der Kollision von Empfehlungen mit nationalen Rechtsvorschriften von der Anwendung der Ersteren schlichtweg absieht.

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pressis verbis mit der Erarbeitung und Veröffentlichung von gesellschaftsrechtlichen Standards (staatlich) betraut sind.357 Insbesondere der Prozess zur Verabschiedung von ISO-Normen ist überaus intransparent und sieht keine Möglichkeit zur Stellungnahme durch fachlich qualifizierte Personen und Kreise vor.358 Der untergesetzliche Charakter der genannten Compliance-Leitfäden führt zu einem Grundproblem, das Hassemer – unter Berücksichtigung des „Lederspray“Urteils359 – erörtert hat. Dieser stellt zutreffend fest, dass Unternehmen „auf verlässliche normative Vorgaben unbedingt angewiesen“ 360 sind. Unternehmen brauchen harte Vorgaben und verlässliche Maßstäbe, um betriebswirtschaftliche Risiken einkalkulieren zu können.361 Diese Voraussetzungen erfüllen untergesetzliche Compliance-Vorgaben jedoch nicht, mögen sie inhaltlich noch so ausgereift sein. Eine (staatlich-regulierte) Selbstregulierung kann nach hier vertretener Auffassung nur dann erfolgreich sein, wenn zum Zwecke ihrer Befolgung gesetzliche Anreize und ein gefestigter normativer Rahmen geschaffen werden.362 Compliance-Vorgaben müssen daher einerseits hinreichend bestimmt und zugleich rechtlich verankert sein. Dies zu gewährleisten stellt sich als größte gesetzgeberische Herausforderung dar. b) Verrechtlichung von Compliance-Organisationen Der von Selbstregulierungsinstrumentarien ausgehende präventive Nutzen war und ist Gegenstand gesetzgeberischer Diskussionen. Maßgeblich ist hierbei, dass Anreize geschaffen werden, die der Implementierung von CMS im Unternehmen dienlich sind. Der in diesem Zusammenhang erfolgversprechendste Ansatz geht dahin, juristische Personen für ihre Compliance-Bemühungen zu „honorieren“. Hierzu werden unterschiedliche Gesetzesentwürfe vorgestellt: aa) Große Lösung: Entwurf eines Gesetzes zur Einführung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit von Unternehmen und sonstigen Verbänden Auf Bestrebungen des nordrhein-westfälischen Justizministeriums wurde im Jahr 2013 der Entwurf eines Gesetzes zur Einführung der strafrechtlichen Ver357

Vgl. Sünner, CCZ 2015, 2 (3). Vgl. Withus/Kunz, BB 2015, 685 (687). 359 Vgl. BGHSt 37, 106. 360 Hassemer, Produktverantwortung im modernen Strafrecht, S. 55. 361 Vgl. Bock, ZIS 2009, 68 (73). 362 Ähnlich Entwurf eines Gesetzes zur Einführung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit von Unternehmen und sonstigen Verbänden („VerbStrG-E“), S. 22 m.w. N., abrufbar unter https://www.justiz.nrw.de/JM/jumiko/beschluesse/2013/herbstkonferenz 13/TOP_II_5_Gesetzentwurf.pdf, Stand: 11.07.2018. 358

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antwortlichkeit von Unternehmen und sonstigen Verbänden („VerbStrG-E“) der Justizministerkonferenz der Länder vorgelegt. Dabei betont der Entwurf, dass Anreizmechanismen zur Einführung von Compliance-Systemen geschaffen werden müssen.363 Diesem Bestreben kommt der VerbStrG-E an unterschiedlichen Stellen nach, indem er die Auswirkungen von Compliance-Maßnahmen bei der Sanktionierung von Unternehmen berücksichtigen will. In Anlehnung an den anglo-amerikanischen Rechtskreis, insbesondere an das Federal Sentencing Guidelines Manual sowie den UK Bribery Act,364 lautet § 5 Abs. 1 und 2 VerbStrG-E: „(1) Das Gericht kann von einer Verbandssanktion absehen, wenn der Verband ausreichende organisatorische oder personelle Maßnahmen getroffen hat, um vergleichbare Verbandsstraftaten in Zukunft zu vermeiden und wenn ein bedeutender Schaden nicht entstanden oder dieser zum überwiegenden Teil wieder gut gemacht ist. (2) Hat der Verband durch freiwilliges Offenbaren wesentlich dazu beigetragen, dass eine Verbandsstraftat aufgedeckt werden konnte und den Ermittlungsbehörden Beweismittel zur Verfügung gestellt, die geeignet sind, die Tat nachzuweisen, so kann das Gericht von Strafe absehen, wenn der Verband ausreichende organisatorische und personelle Maßnahmen getroffen hat, vergleichbare Verbandsstraftaten in Zukunft zu vermeiden.“

In § 6 Abs. 3 VerbStrG-E heißt es weiter: „Bei der Zumessung wägt das Gericht die Umstände, die für und gegen den Verband sprechen, gegeneinander ab. Dabei kommen namentlich in Betracht das Gewicht und die Auswirkungen der verbandsbezogenen Zuwiderhandlung, Art, Schwere und Dauer des Organisationsmangels im Verband, etwaige Vorkehrungen des Verbandes zur Vermeidung vergleichbarer Taten, die Gefahr der Wiederholung sowie sein Verhalten nach der Tat, besonders sein Bemühen, den Schaden wiedergutzumachen.“

Mit Blick auf die nachträgliche Implementierung eines CMS konkretisiert § 8 Abs. 2 VerbStrG-E sogar verpflichtende Maßnahmen: „Das Gericht kann den verwarnten Verband anweisen, (. . .), 3. organisatorische oder personelle Maßnahmen zu treffen, um vergleichbare Verbandsstraftaten in Zukunft zu vermeiden und dem Gericht oder einem vom Gericht zu bestimmenden Sachverständigen in regelmäßigen Abständen über diese Maßnahmen zu berichten.“

Bei den vom VerbStrG-E gesetzten Compliance-Anreizen handelt es sich um eine Synthese konzeptioneller Ansätze unterschiedlicher Organisationen des anglo-amerikanischen Rechtsraumes bezüglich der Milderung einer Unternehmensgeldbuße im Falle bestehender oder nachträglich implementierter ComplianceVorkehrungen.365

363

VerbStrG-E, S. 2. Vgl. VerbStrG-E, S. 53, wonach bei der Sanktionierung des Unternehmens auf Ebene der Strafzumessung Compliance-Bemühungen der Unternehmensleitung Berücksichtigung finden. 365 Vgl. zu diesem Ergebnis Kubiciel, FS Wessing, 69 (74 f.). 364

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bb) Kleine Lösung: Berücksichtigung von Compliance-Bemühungen nach §§ 30, 130 OWiG De lege lata könnte über das Einfallstor der § 30, 130 OWiG die Möglichkeiten wahrgenommen werden, Compliance-Bemühungen bei der Verhängung von Sanktionen gegen ein Unternehmen zu berücksichtigen.366 Bestehende unternehmerische Compliance-Mechanismen könnten sich mit Blick auf den ahndenden Teil der Geldbuße sanktionsausschließend oder zumindest bußgeldmildernd auswirken.367 Zentraler Anknüpfungspunkt für eine Berücksichtigung von Compliance-Bemühungen ist § 130 OWiG, mithin das (vorsätzliche oder fahrlässige) Unterlassen von Aufsichtsmaßnahmen, welche eine Zuwiderhandlung erschwert oder gar verhindert hätten.368 Richtig dürfte sein, einen Sanktionsausschluss bzw. eine Bußgeldmilderung auch dann vornehmen zu können, wenn trotz ausreichender Compliance-Bemühungen eine Zuwiderhandlung eines Unternehmensvertreters gem. § 30 OWiG vorliegt.369 Zu der Frage der konkreten konzeptionellen Umsetzung liegen diverse Vorschläge verschiedener Organisationen vor.370 So hat sich der Deutsche Anwaltsverein („DAV“) bereits 2012 dafür ausgesprochen, § 30 OWiG dahingehend zu ändern, von der Festsetzung einer Geldbuße abzusehen, wenn das Unternehmen angemessene Compliance-Strukturen zur Verhinderung von Zuwiderhandlungen errichtet hat.371 Dabei orientiert sich der DAV an Section 7 (2) des UK Bribery Acts.372 § 30 OWiG solle gemäß dem DAV-Entwurf wie folgt ergänzt werden: „Von der Festsetzung einer Geldbuße soll abgesehen werden, wenn die juristische Person oder die Personenvereinigung vor Tatentdeckung angemessene Verfahren ein-

366

Vgl. ausführlich hierzu Kämpfer, FS Wessing, 55 (58). Vgl. hierzu Kämpfer, FS Wessing, 55 (58 f.); Engelhart, Sanktionierung von Unternehmen und Compliance, S. 440. 368 Vgl. hierfür Bock, ZIS 2009, 68 (70); Kubiciel, FS Wessing, S. 69 (70). 369 Vgl. hierfür Engelhart, Sanktionierung von Unternehmen und Compliance, S. 440 f.; zustimmend Kämpfer, FS Wessing, 55 (58 f.). Zu der restriktiven verfassungsrechtlichen Auslegung des § 30 OWiG in diesem Kontext vgl. Kubiciel, FS Wessing, 69 (71 f.). 370 Vgl. hierfür unter anderem Paralleldarstellung bei Kubiciel, FS Wessing, S. 69 (73 f.). 371 Vgl. hierfür Paralleldarstellung bei Kubiciel, FS Wessing, S. 69 (73). 372 Vgl. DAV, Stellungnahme des Deutschen Anwaltvereins durch den Strafrechtsausschuss zum Entwurf eines Gesetzes über Ordnungswidrigkeiten (Diskussionsentwurf zur Regelung der Rechtsnachfolge bei Bußgeldverfahren gegen juristische Personen und Personenvereinigungen und zur Anhebung des Bußgeldrahmens für juristische Personen (§§ 30, 130 OWiG, Bearbeitungsstand 29.02.2012)) und zu Art. 1 Nr. 38 des Entwurfs eines Achten Gesetzes zur Änderung des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen (8. GWB-ÄndG), Einfügung eines § 81a GWB, Nr. 75/2012, S. 6. 367

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gerichtet hatte, Straftaten oder Ordnungswidrigkeiten von Personen im Sinne des § 30 Abs. 1 Nr. 5 OWiG vorzubeugen oder zu vermeiden.“ 373

Eine Besonderheit der hier vorgeschlagen Konzeption liegt darin, dass der DAV-Entwurf Compliance-Programme sowie die Aufdeckung von Straftaten bereits auf Tatbestandsebene und nicht erst im Rahmen der Strafzumessung berücksichtigt.374 Einen weiteren Ansatz verfolgt das Deutsche Institut für Compliance e. V. („DICO“) mit dem „Entwurf eines Gesetzes zur Schaffung von Anreizen für Compliance-Maßnahmen in Betrieben und Unternehmen (Compliance-AnreizGesetz, CompAG)“, welcher sich ebenfalls für eine Reformierung des §§ 30, 130 OWiG einsetzt: „§ 30 Absatz 2 OWiG: ,Die Geldbuße beträgt 1. im Falle einer vorsätzlichen Straftat bis zu zehn Millionen Euro, 2. im Falle einer fahrlässigen Straftat bis zu fünf Millionen Euro. Im Falle einer Ordnungswidrigkeit bestimmt sich das Höchstmaß der Geldbuße nach dem für die Ordnungswidrigkeit angedrohten Höchstmaß der Geldbuße. Verweist das Gesetz auf diese Vorschrift, so verzehnfacht sich das Höchstmaß der Geldbuße nach Satz 2 für die im Gesetz bezeichneten Tatbestände. Satz 2 gilt auch im Falle einer Tat, die gleichzeitig Straftat und Ordnungswidrigkeit ist, wenn das für die Ordnungswidrigkeit angedrohte Höchstmaß der Geldbuße das Höchstmaß nach Satz 1 übersteigt. Die Geldbuße kann gemindert oder von ihr abgesehen werden, wenn im Zeitpunkt der Zuwiderhandlung Maßnahmen im Sinne von § 130 Absatz 1 Satz 2 bestanden oder unverzüglich getroffen wurden.‘ § 130 Absatz 1 OWiG: ,Wer als Inhaber eines Betriebes oder Unternehmens vorsätzlich oder fahrlässig die Aufsichtsmaßnahmen unterlässt, die erforderlich sind, um in dem Betrieb oder Unternehmen Zuwiderhandlungen gegen Pflichten zu verhindern, die den Inhaber treffen und deren Verletzung mit Strafe oder Geldbuße bedroht ist, handelt ordnungswidrig, wenn eine solche Zuwiderhandlung begangen wird, die durch gehörige Aufsicht verhindert oder wesentlich erschwert worden wäre. Zu den erforderlichen Aufsichtsmaßnahmen gehören insbesondere die Bestellung, sorgfältige Auswahl und Überwachung von Aufsichtspersonen sowie die Einführung, sorgfältige Ausgestaltung und Überwachung ausreichender Maßnahmen zur Verhinderung von Straftaten und Ordnungswidrigkeiten im Betrieb oder Unternehmen.‘ § 130 Absatz 3 OWiG: ,Die Ordnungswidrigkeit kann, wenn die Pflichtverletzung mit Strafe bedroht ist, mit einer Geldbuße bis zu einer Million Euro geahndet werden. 373 Vgl. DAV, Stellungnahme des Deutschen Anwaltvereins durch den Strafrechtsausschuss zum Entwurf eines Gesetzes über Ordnungswidrigkeiten (Diskussionsentwurf zur Regelung der Rechtsnachfolge bei Bußgeldverfahren gegen juristische Personen und Personenvereinigungen und zur Anhebung des Bußgeldrahmens für juristische Personen (§§ 30, 130 OWiG, Bearbeitungsstand 29.02.2012)) und zu Art. 1 Nr. 38 des Entwurfs eines Achten Gesetzes zur Änderung des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen (8. GWB-ÄndG), Einfügung eines § 81a GWB, Nr. 75/2012, S. 6. 374 Vgl. DAV, Stellungnahme des Deutschen Anwaltvereins durch den Ausschuss Strafrecht zum Entwurf eines Gesetzes zur Einführung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit von Unternehmen und sonstigen Verbänden des Landes Nordrhein-Westfalen, Nr. 54/2013, S. 27.

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§ 30 Absatz 2 Satz 3 ist anzuwenden. Ist die Pflichtverletzung mit Geldbuße bedroht, so bestimmt sich das Höchstmaß der Geldbuße wegen der Aufsichtspflichtverletzung nach dem für die Pflichtverletzung angedrohten Höchstmaß der Geldbuße. Satz 3 gilt auch im Falle einer Pflichtverletzung, die gleichzeitig mit Strafe und Geldbuße bedroht ist, wenn das für die Pflichtverletzung angedrohte Höchstmaß der Geldbuße das Höchstmaß nach Satz 1 übersteigt. § 30 Absatz 2 Satz 4 gilt entsprechend.‘“ 375

Auch hier liegt die Besonderheit des Entwurfs darin, dass nicht lediglich das Bestehen von CMS im Wege einer Sanktionsmilderung honoriert wird, sondern sich auch eine prospektive Nachbesserung von CMS bei der Bemessung von Bußgeldern mildernd auswirken soll.376 Im Übrigen sieht auch der von dem Bundesverband der Unternehmensjuristen („BUJ“) unterbreitete Vorschlag zur Reformierung der §§ 30, 130 OWiG eine Sanktionsmilderung respektive einen Sanktionsausschluss im Falle unternehmensbezogener Zuwiderhandlungen vor. § 30 OWiG solle gemäß dem BUJ wie folgt ergänzt werden: „Bei der Zumessung der Geldbuße ist mildernd zu berücksichtigen, dass die Zuwiderhandlung im Sinne des Absatzes 1 begangen wurde, obgleich die betroffene juristische Person oder Personenvereinigung die in § 130 Abs. 1 festgelegte Pflicht erfüllt hat. Gleiches gilt, sofern sie geeignete und angemessene organisatorische oder personelle Maßnahmen ergreift, um vergleichbare Zuwiderhandlungen künftig zu verhindern. Auf Verlangen hat die juristische Person oder Personenvereinigung darzulegen und glaubhaft zu machen, welche Maßnahmen sie zur Erfüllung der Voraussetzungen gem. Satz 1 oder Satz 2 ergriffen hat beziehungsweise ergreift. Sind die Voraussetzungen des Satzes 1 oder 2 gegeben und ist infolge der Zuwiderhandlung kein bedeutender Schaden eingetreten oder wurde dieser zum überwiegenden Teil wiedergutgemacht, kann von der Festsetzung einer Geldbuße gegen die juristische Person oder Personenvereinigung abgesehen werden. Auch die Anordnung des Verfalls nach den §§ 73 oder 73a des Strafgesetzbuchs oder nach § 29a OWiG scheidet dann aus.“ 377

Auch der BUJ-Vorschlag spricht sich für eine Sanktionsmilderung aus, wenn das Unternehmen nachträglich Compliance-Instrumentarien implementiert, selbst dann, wenn solche vorher nicht bestanden haben. Ferner sieht der Entwurf weitere Möglichkeiten vor, von der Festsetzung einer Geldbuße gänzlich abzusehen. So heißt es in dem Reformvorschlag zu § 30 OWiG weiter: „Die Festsetzung einer Geldbuße gegen die juristische Person oder Personenvereinigung wegen anderer als der in § 81 GWB genannten Ordnungswidrigkeiten unterbleibt, wenn 1. diese der zuständigen Behörde die Zuwiderhandlung im Sinne des

375

DICO, CompAG, S. 3. Vgl. DICO, CompAG, S. 2, 7, 8, 9. Kritisch hierzu Paralleldarstellung bei Kubiciel, FS Wessing, S. 69 (72). 377 Vgl. hierfür BUJ, Gesetzgebungsvorschlag für eine Änderung der §§ 30, 130 des Ordnungswidrigkeitengesetzes (OWiG), S. 8. 376

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Absatzes 1 umfassend angezeigt und eine rechtlich gebotene Handlung unverzüglich nachgeholt hat, 2. diese geeignete und angemessene Maßnahmen zur Verhinderung einer Zuwiderhandlung aus gleichem Grund ergreift, wobei sie die Maßnahmen auf Verlangen darzulegen und glaubhaft zu machen hat, und 3. die zuständige Behörde im Zeitpunkt der Anzeigeerstattung gegenüber der juristischen Person oder Personenvereinigung die Einleitung von Ermittlungen wegen der angezeigten Zuwiderhandlung noch nicht bekannt gegeben hat. Eine wirksame Selbstanzeige gemäß S. 1 schließt die Anordnung des Verfalls nach den §§ 73, 73a StGB, § 29a OWiG aus.“ 378

Innovativ ist zudem, dass die Bestrebung des BUJ zur Reform des § 130 Abs. 1 OWiG konkrete Compliance-Maßnahmen auflistet: „(1) Der Inhaber eines Betriebes oder Unternehmens ist verpflichtet, Maßnahmen zu ergreifen, die geeignet sind, Zuwiderhandlungen gegen ihn treffende straf- oder bußgeldbewehrte Pflichten zu verhindern. Die Maßnahmen müssen in angemessenem Verhältnis zur Größe des Betriebes oder Unternehmens und den von ihm ausgehenden Gefahren stehen. Geeignete Maßnahmen im Sinne des Satzes 1 sind insbesondere: 1. die sorgfältige Auswahl und Instruktion sowie Überwachung und Kontrolle von Mitarbeitern und Aufsichtspersonen, 2. die regelmäßige Ermittlung und Bewertung der vom Betrieb oder Unternehmen ausgehenden Gefahren der Begehung von Straftaten und Ordnungswidrigkeiten, 3. der Erlass von Weisungen und die Schulung der Mitarbeiter zwecks Verhinderung von Straftaten und Ordnungswidrigkeiten, die im Zusammenhang mit dem Geschäftsbetrieb stehen, 4. ein Verfahren, das es den Mitarbeitern unter Wahrung der Vertraulichkeit ermöglicht, Hinweise auf mögliche Straftaten oder Ordnungswidrigkeiten, die im Zusammenhang mit dem Geschäftsbetrieb stehen, an eine geeignete Stelle zu geben sowie 5. die Aufklärung von Verdachtsmomenten, welche auf Straftaten oder Ordnungswidrigkeiten im Zusammenhang mit dem Geschäftsbetrieb hindeuten, sowie die Ahndung entsprechenden Fehlverhaltens.“ 379

cc) Parastrafrechtliche Bestrebungen: der Folgenverantwortungsdialog Weitere Anreize zur Errichtung von Compliance-Systemen leistet die Forschungsgruppe um die „Frankfurter Thesen“. Die hierbei aufgestellten Lehrsätze zum Zwecke der Verhängung von Verbandssanktionen verfolgen ein parastrafrechtliches Konzept bei gleichzeitiger Modifizierung der zuvor vorgestellten Reformansätze.380 Im Zentrum des sogenannten Folgenverantwortungsdialogs steht hierbei eine zweistufige Prüfung, mit welcher eine vom Unternehmen zu verantwortende Rechtsgutsverletzung gemessen an der Pflichtwidrigkeit und organi-

378 BUJ, Gesetzgebungsvorschlag für eine Änderung der §§ 30, 130 des Ordnungswidrigkeitengesetzes (OWiG), S. 8. 379 BUJ, Gesetzgebungsvorschlag für eine Änderung der §§ 30, 130 des Ordnungswidrigkeitengesetzes (OWiG), S. 9. 380 Vgl. hierzu ausführlich Schmitt-Leonardy, in: Jahn/Schmitt-Leonardy/Schoop, Das Unternehmensstrafrecht und seine Alternativen, S. 251 (257); dies., Unternehmenskriminalität ohne Strafrecht?, S. 481.

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satorischen Intendiertheit dem Unternehmen zugerechnet wird.381 Auf der ersten Stufe geht es um die Ermittlung der Schadenseintrittswahrscheinlichkeit durch implementierte bzw. unterlassene Präventivmaßnahmen des Unternehmens.382 Die vom Unternehmen zu tragende Folgenverantwortung bemisst sich mithin daran, ob Maßnahmen ergriffen wurden, die das Risiko des Eintritts eines strafrechtlich relevanten Erfolges signifikant gesenkt hätten383 – maßgeblich ist also die Frage, ob das Unternehmen hätte anders handeln können.384 Im Umkehrschluss kann sich das Unternehmen aber bereits auf der Ebene dieses Konstruktionsvorwurfs – also des parastrafrechtlich konstruierten Tatbestandes – vollkommen exkulpieren.385 Auf der zweiten Stufe befindet sich der Folgenverantwortungsdialog dann, wenn das Unternehmen Kenntnis respektive Rückmeldung über einen Rechtsverstoß (sogenannte signifikante Irritation) erhalten hat, woraus sich schließen lässt, dass die eingerichteten Compliance-Mechanismen unzureichend sind.386 Ab diesem Zeitpunkt „relevanter kritischer Rückmeldung“ 387 muss das Unternehmen eine Kurskorrektur vornehmen und zureichende Präventivmaßnahmen schaffen; unterlässt das Unternehmen dies, trägt es die volle Verantwortung für die begangene Rechtsgutsverletzung.388 Der von Schmitt-Leonardy begründete Folgenverantwortungsdialog basiert auf der Idee einer kooperativen und arbeitsteiligen Zusammenarbeit zwischen Unternehmen und Strafverfolgungsbehörden bei gleichzeitiger Bestärkung unternehmerischer Verfahrensrechte.389 Der Folgenverantwortungsdialog orientiert sich dabei an dem US-amerikanischen Leitbild der Non-Prosecution Agreements („NPA“) respektive Deferred Prosecution Agreements („DPA“).390 381 Vgl. Jahn/Schmitt-Leonardy/Schoop, wistra 2018, 27 (29); dies., Unternehmen an die Leine?, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 09.05.2018, S. 7. 382 Vgl. Jahn/Schmitt-Leonardy/Schoop, wistra 2018, 27 (29); dies., Unternehmen an die Leine?, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 09.05.2018, S. 7. 383 Vgl. Jahn/Schmitt-Leonardy/Schoop, wistra 2018, 27 (29); dies., Unternehmen an die Leine?, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 09.05.2018, S. 7. 384 Schmitt-Leonardy, in: Jahn/Schmitt-Leonardy/Schoop, Das Unternehmensstrafrecht und seine Alternativen, S. 251 (283). 385 Vgl. Jahn/Schmitt-Leonardy/Schoop, wistra 2018, 27 (29 f.); dies., Unternehmen an die Leine?, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 09.05.2018, S. 7. 386 Vgl. Jahn/Schmitt-Leonardy/Schoop, wistra 2018, 27 (30); dies., Unternehmen an die Leine?, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 09.05.2018, S. 7. Schmitt-Leonardy, in: Jahn/Schmitt-Leonardy/Schoop, Das Unternehmensstrafrecht und seine Alternativen, S. 251 (283 f.). 387 Schmitt-Leonardy, in: Jahn/Schmitt-Leonardy/Schoop, Das Unternehmensstrafrecht und seine Alternativen, S. 251 (283 f.). 388 Vgl. Jahn/Schmitt-Leonardy/Schoop, wistra 2018, 27 (30); dies., Unternehmen an die Leine?, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 09.05.2018, S. 7. 389 Vgl. ausführlich zu dieser Grundkonzeption Schmitt-Leonardy, in: Jahn/SchmittLeonardy/Schoop, Das Unternehmensstrafrecht und seine Alternativen, S. 251 (265 ff.). 390 Vgl. hierzu Wessing/Dann, Deutsch-Amerikanische Korruptionsverfahren, § 5 Rn. 22.

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Gegenstand dieser Vereinbarungen ist regelmäßig ein kooperatives Zusammenwirken von Unternehmen und (Straf-)Verfolgungsbehörden zum Zwecke der einvernehmlichen Erledigung von Vorwürfen wegen unternehmerischen Fehlverhaltens.391 Unternehmen verpflichten sich regelmäßig dazu, ihre Geschäftspraktiken und ihre interne Praxis zu ändern sowie Überwachungsmaßnahmen zur Sicherung und Einhaltung ihrer gesetzlichen Verpflichtungen einzuführen; im Gegenzug setzen die Strafverfolgungsbehörden die Strafverfolgung – regelmäßig unter Auferlegung einer geringer bemessenen isolierten Geldbuße – aus (DPA)392 bzw. beenden diese (NPA)393. dd) Kritische Stellungnahme Die vorgestellten Entwürfe präsentieren Möglichkeiten einer Verrechtlichung von CMS. Inwieweit sie jedoch tatsächlich ausreichende Anreize für Unternehmen schaffen, soll anhand einer kritischen Analyse näher beleuchtet werden. Wie bereits erörtert, handelt es sich bei den vom VerbStrG-E vorgeschlagenen Compliance-Verpflichtungen um eine Mixtur unterschiedlicher Reformbestrebungen.394 Unabhängig von der konkreten Umsetzung erstrebter Compliance-Anreize ist jedoch die Umsetzung eines Verbandsstrafgesetzbuches mit grundlegenden Einwänden belastet. Gegen die Verabschiedung eines solchen Regelwerks spricht zunächst der Grundsatz „societas deliquere non potest“ 395. Bereits von Savigny396 und Feuerbach397 kritisierten die Handlungsfähigkeit juristischer Personen; ein Einwand, der auch heute noch Geltung beansprucht.398 Zum einen ist die Vereinbarkeit eines Unternehmensstrafrechts mit dem Schuldgrundsatz in besonderem Maße umstritten,399 zum anderen wird eingewendet, dass der ultimaratio-Grundsatz eine Bestrafung von Unternehmen verbiete, solange die wirk-

391

Vgl. Beale, ZStW 126, 27 (28). Vgl. Beale, ZStW 126, 27 (28); Wessing/Dann, Deutsch-Amerikanische Korruptionsverfahren, § 5 Rn. 23. 393 Vgl. Wessing/Dann, Deutsch-Amerikanische Korruptionsverfahren, § 5 Rn. 22. 394 Vgl. Kubiciel, FS Wessing, 69 (74). 395 Meyberg, in: Graf, BeckOK-OWiG, § 30 Rn. 1 mit Verweis auf BGHSt 5, 28. 396 Vgl. von Savigny, System des heutigen römischen Rechts, Bd. 2, § 94. 397 Bei Feuerbach, Lehrbuch des gemeinen in Deutschland gültigen Rechts, § 28 S. 1, heißt es: „Nur ein Individuum ist mögliches Subject eines Verbrechens; nie eine moralische Person (Gesellschaft, unversitas oder Collegium).“ 398 Vgl. statt vieler Jäger, in: FS Imme Roxin, S. 43 (45) m.w. N. 399 Vgl. hierzu bereits BDI, Stellungnahme zum Entwurf eines Gesetzes zur Einführung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit von Unternehmen und sonstigen Verbänden, S. 2; Beisheim/Jung, CCZ 2018, 63 (64); Mitsch, NZWiSt 2014, 1 (2). Zu unterschiedlichen Zurechnungsmodellen vgl. Streitstand bei Schünemann, in: Laufhütte/Rissing-van Saan/Tiedemann, LK-StGB, Bd. 1, 12. Auflage, Vor § 25 Rn. 22 ff. Besonders kritisch gegen die vorgebrachten Einwände Jahn, in: Jahn/Schmitt-Leonardy/Schoop, Das Unternehmensstrafrecht und seine Alternativen, 53 (63 ff.). 392

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same Bekämpfung von Wirtschaftskriminalität auch über die zu Verfügung stehenden Instrumentarien des OWiG herbeigeführt werden kann.400 Mit Blick auf unterschiedlichen Konzeptionen der „kleinen Lösung“ bedarf es einer differenzierten Betrachtung. So lässt sich gegen den vom DAV präsentierten Vorschlag einwenden, dass dieser selbst dann ein Absehen von Sanktionen ermöglicht, wenn das implementierte CMS keinerlei – auch nur erschwerende – Wirkung mit Blick auf Begehung von Zuwiderhandlungen entfaltet.401 Der hiermit verfolgte Anreiz-Effekt würde durch die vom DAV gewählte Formulierung somit gänzlich unterlaufen. Auch das vom DICO entworfene CompAG überzeugt nicht ohne Weiteres. Das CompAG läuft nämlich Gefahr, Unternehmen mit kostenträchtigen und umfassenden CMS gegenüber solchen zu benachteiligen, die vergleichsweise geringe Compliance-Anstrengungen unternommen haben.402 Unternehmen werden nämlich gut damit bedient sein, zwecks beabsichtigter Bußgeldminderung Compliance-Maßnahmen erst dann zu ergreifen, wenn die Zuwiderhandlung durch die Verfolgungsbehörde bereits entdeckt wurde. Die genannten Kritikpunkte lassen sich spiegelbildlich gegen den BUJ-Entwurf einwenden. Auch dieser ermöglicht eine Sanktionsmilderung, wenn „es trotz entsprechender Compliance-Maßnahmen zu Fehlverhalten im Unternehmen gekommen ist oder die Unternehmensleitung als Reaktion auf eine unternehmensbezogene Zuwiderhandlung (weitere) geeignete Maßnahmen im Sinn einer ,Selbstreinigung‘ (. . .) ergreift“ 403. Eine solche Milderungsmöglichkeit eröffnet Tür und Tor für ein rechtsmissbräuchliches Verhalten der Unternehmensleitung, da diese regelmäßig erst dann Compliance-Maßnahmen ergreifen wird, wenn die Zuwiderhandlung bereits aufgedeckt wurde. Das parastrafrechtliche Modell um die Frankfurter Thesen stellt hingegen einen innovativen Ansatz bei der Bekämpfung von Unternehmenskriminalität dar. Fraglich ist allerdings, ob sich ein solches Modell in der Praxis durchsetzen kann. Insbesondere im internationalen Vergleich, vor allem mit Blick auf eine gesamteuropäische Lösung, stellt sich die Frage, ob die Etablierung einer „dritten Spur“ durchsetzungsfähig ist. Eine Alternative zum (Verbands-)Strafrecht läuft nämlich der gegenwärtigen und grundlegenden Entwicklung des Strafrechts zuwider, die auf eine Verrechtlichung und Pönalisierung von (sozialethischen) Un-

400 401 402 403

Vgl. hierfür ausführlicher Beulke/Moosmayer, CCZ 2014, 146 (147). Vgl. Kubiciel, FS Wessing, S. 69 (73). Vgl. Kubiciel, FS Wessing, S. 69 (74). Beulke/Moosmayer, CCZ 2014, 146 (147).

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werturteilen bedacht ist.404 Die fortschreitende europäische Entwicklung, die mit dem „Corpus Juris der strafrechtlichen Regelungen zum Schutz der finanziellen der europäischen Union“ mittlerweile sogar die „leichtfertige“ Betrugsbegehung kriminalisiert,405 lässt an der Praktikabilität einer solchen „dritten Spur“ zweifeln. Zuletzt ist gegen sämtliche vorgestellten Konzeptionen einzuwenden, dass sie unzureichende bis gar keine (gesetzlichen) Vorgaben für die Umsetzung von CMS vorschlagen. Diesbezüglich ist der BUJ-Vorschlag noch am weitreichendsten, stellt der Entwurf zu § 130 Abs. 1 OWiG eine – wenn auch rudimentäre – Auflistung von verpflichtenden Compliance-Maßnahmen bereit. Wünschenswert ist ein gesetzliches „Compliance-Korsett“, das Größe, Struktur, Art und Komplexität von Unternehmen berücksichtigt. Die hinreichende Bestimmtheit derartiger Vorgaben trägt nämlich immens zur Rechtssicherheit bei und ermöglicht es Unternehmen, gesetzte Anreize praktikabel umzusetzen. c) Persönlicher Ansatz: Dialogisierte staatlich-regulierte Selbstregulierung Die Erziehung des (Un-)Rechtsbewusstseins von Unternehmensdelinquenten stellt sich als eine schwer zu bewältigende Herausforderung dar. Die Sensibilisierung der Belegschaft für sozialethisch farblose Tatbestände sowie die Bekämpfung kriminogener arbeitsplatzbezogener Subkulturen ist und muss dabei Kernelement von Präventivmaßnahmen sein. Die Implementierung von CMS eignet sich dabei besonders gut, um eine Kultur der Normkenntnis sowie -anerkennung zu schaffen und Wirtschaftskriminalität Einhalt zu gebieten. Dies erkennen auch Wissenschaft und Gesetzgebung, versuchen sie durch unterschiedliche Ansätze Anreize zu schaffen, um juristische Personen dazu zu bewegen, selbstregulierend eine Kultur der Rechtskonformität zu schaffen. Die Frage nach einer gesetzlichen Verpflichtung zur Errichtung von Compliance-Maßnahmen stellt sich dabei unabhängig davon, ob der Gesetzgeber eine Reformierung der §§ 30, 130 OWiG („kleine Lösung“) oder die Einführung eines Verbandsstrafgesetzbuches („große Lösung“) anstrebt. Im Ergebnis bieten nämlich beide Konzeptionen eine hinreichende Grundlage für die Verrechtlichung von Compliance. Die eigentliche Herausforderung liegt jedoch in ihrer inhaltlichen Ausgestaltung und nicht in der ihr zugrundeliegenden gesetzlichen Grundlage. 404 Vgl. hierzu grundlegend Neumann, in: Neumann/Prittwitz, Kritik und Rechtfertigung des Strafrechts, S. 89 f. 405 Vgl. Neumann, in: Neumann/Prittwitz, Kritik und Rechtfertigung des Strafrechts, S. 89 mit Verweis auf Art. 1 Abs. 1 Corpus Juris der strafrechtlichen Regelungen zum Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Union.

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Die nachfolgenden Überlegungen sollen unter Einbeziehung der Vorschläge einer „kleinen“ und „großen“ Lösung den Ansatz für die gesetzlichen Grundlagen einer „dialogisierten staatlich-regulierten Selbstregulierung“ bilden und dabei die Schwächen der großen und kleinen Lösung relativieren. aa) Gesetzliche Verpflichtung zur Einführung von Compliance – Anreiz zur Selbstregulierung Nach hier vertretener Auffassung bilden die §§ 30, 130 OWiG de lege lata eine ausreichende – wenn auch in ihrem Wortlaut teilweise zu ergänzende – Grundlage, um CMS zu verrechtlichen. Soweit es sich bei Compliance nach wie vor um einen unternehmerischen Selbstregulierungsmechanismus handelt, kann eine solche Regelung freilich nicht als verpflichtende Rechtsnorm formuliert werden. Vielmehr müssen von einer solchen Vorschrift Anreize ausgehen, zwecks derer sich Unternehmen angehalten sehen, entsprechende Compliance-Vorkehrung zu treffen. Folgt man der aktuellen höchstrichterlichen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, werden diese Anreize insbesondere durch die Berücksichtigung von Compliance-Bemühungen bei der Bemessung einer Unternehmensgeldbuße geschaffen: „Für die Bemessung der Geldbuße ist zudem von Bedeutung, inwieweit die Nebenbeteiligte ihrer Pflicht, Rechtsverletzungen aus der Sphäre des Unternehmens zu unterbinden, genügt und ein effizientes Compliance-Management installiert hat, das auf die Vermeidung von Rechtsverstößen ausgelegt sein muss (. . .). Dabei kann auch eine Rolle spielen, ob die Nebenbeteiligte in der Folge dieses Verfahrens entsprechende Regelungen optimiert und ihre betriebsinternen Abläufe so gestaltet hat, dass vergleichbare Normverletzungen zukünftig jedenfalls deutlich erschwert werden.“ 406

Dieses Urteil ist als deutliches Signal an den Gesetzgeber zu werten, eine entsprechende rechtliche Regelung für die Anerkennung einer „Compliance-Defence“ 407 aufzunehmen. Dabei kann dahingestellt bleiben, ob die §§ 30, 130 OWiG entsprechend ergänzt werden oder ob eine eigenständige Normierung im Rahmen eines Verbandsstrafgesetzbuches eingeführt wird. Entscheidend ist vielmehr, dass der Bundesgerichtshof einen sowohl retrospektiven als auch prospektiven Ansatz für die Implementierung von CMS im Blick hat. Mit diesem „Fingerzeig“ hat der Bundesgerichtshof die bis dato bestehenden Rechtsunsicherheiten bezüglich einer Sanktionsmilderung relativiert.408 Eine konkrete Umsetzung ist und bleibt jedoch Aufgabe des Gesetzgebers. 406

BGH, wistra 2017, 390 (399). Eufinger, CCZ 2016, 209. 408 Vgl. hierzu Jenne/Mertens, CCZ 2017, 285 (286 f.) m.w. N. Diese Rechtsunsicherheit wird durch die sich gegen Sanktionsmilderung aussprechenden Entscheidungen der EU-Kommission sowie des EuG bei Wettbewerbsverstößen bestärkt, vgl. ausführlich Eufinger, CCZ 2016, 209. 407

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Darüber hinaus spricht auch folgende kriminaltaktische Überlegung für die Berücksichtigung von Compliance-Maßnahmen bei der Bemessung der Unternehmensgeldbuße: Ein unternehmerisch ausgeprägtes CMS und die mit diesem regelmäßig einhergehenden Schulungsmaßnahmen führen dazu, eine Straffreiheit des Delinquenten infolge der Unkenntnis von sanktionsbewehrten Normen abzulehnen, da ein Verbotsirrtum für ihn durch die Wahrnehmung von Compliance-Schulungen zumindest vermeidbar war. Compliance-Maßnahmen bilden also den Nährboden für das (Un-)Rechtsbewusstsein des Täters. Damit erhöht das Unternehmen das Risiko der Nachweisbarkeit einer schuldhaften Straftat – etwa i. R. d. § 30 OWiG. Dieser Umstand darf dem Unternehmen nicht zum Nachteil gereichen, sondern muss sich konsequenterweise sanktionsbegünstigend auswirken. Anderenfalls wäre es für betroffene Unternehmen vorteilhaft, auf derartige Maßnahmen gänzlich zu verzichten, um sich im Rahmen eines möglichen Bußgeldverfahrens gegen den Vorwurf einer schuldhaften Straftat i. S. v. § 30 Abs. 1 OWiG verteidigen zu können. bb) Schaffung retrospektiver und prospektiver Anreize Der Bundesgerichtshof hat sich mit seiner Grundsatzentscheidung zwar ausdrücklich für eine Sanktionsmilderung im Falle bestehender CMS ausgesprochen. Dies entspricht auch den Vorgaben internationaler Jurisdiktionen, die eine sanktionsmildernde Berücksichtigung von Compliance-Maßnahmen explizit normieren respektive empfehlen.409 Ungeklärt bleibt jedoch, wie diese Anforderungen umzusetzen sind, insbesondere, ob die Existenz von CMS per se zur Sanktionsmilderung führt oder ob diese spezifische Effizienz-Standards erfüllen müssen; ob sich nachträgliche Compliance-Bemühungen sanktionsbegünstigend auswirken oder ob gar ein genereller Sanktionsausschluss bei bestehendem CMS in Betracht kommt. Diese grundsätzlichen Fragen gilt es – losgelöst von einer „großen“ oder „kleinen“ Lösung – zumindest im Ansatz zu klären: (1) Retrospektive Komponente Eine gesetzlich verankerte obligatorische Sanktionsmilderung erfordert, dass implementierte Compliance-Organisationen zumindest geeignet sind, Rechtsverstöße der Belegschaft zu vermeiden. Anderenfalls können sich Unternehmen durch rein formelle Compliance-Maßnahmen eine Sanktionsmilderung „erschleichen“. Dabei muss das Gericht unter Berücksichtigung gängiger Com409 Vgl. hierzu Jenne/Henning, CCZ 2017, 285 (286), die in diesem Zusammenhang auf Sec. 7 des U. K. Bribery Act 2010; in Italien das Decreto Legislativo n. 231/2001; in Brasilien Art. 7 VIII Clean Company Act, Gesetz Nr. 12.846; sowie auf Kap. 8 Federal Sentencing Guidelines Manual und den FCPA Resource Guide verweisen.

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pliance-Standards und mit Blick auf die Unternehmensgröße, die Komplexität der Arbeitsabläufe und die Gefahrenpotenziale der juristischen Person oder Vereinigung prüfen, ob die implementierte Compliance-Organisation bestehende Effizienz-Standards erfüllt. Empfehlenswert ist daher ein normativer Katalog anerkannter Compliance-Maßnahmen, welcher im Rahmen einer Geeignetheitsprüfung der bestehenden Compliance-Regularien als Orientierungshilfe dient.410 Erst wenn das Gericht die Geeignetheit des implementierten CMS bejaht, kann im nächsten Schritt über die konkrete Höhe der Sanktion(-smilderung) entschieden werden. Bei der Entscheidung über die Höhe der zu verhängenden Sanktion muss dem Gericht allerdings auch die Möglichkeit eingeräumt werden, gänzlich von einer solchen abzusehen. Dabei ist dem innovativen Gesetzesvorschlag des BUJ zuzustimmen. Insbesondere bei überobligatorischen Compliance-Bemühungen ist die Straftat einer Einzelperson kein Nachweis dafür, dass das Unternehmen seine Belegschaft nicht ausreichend gewissenhaft ausgesucht und kontrolliert hat.411 Hingegen ist dem Ansatz, wonach auch nachträgliche Compliance-Bemühungen eine Sanktionsmilderung per se rechtfertigen, eine klare Absage zu erteilen. Zwar kann man Compliance-Maßnahmen durchaus eine Tatbestandsrelevanz zusprechen, wenn man ein Verbandsschuldmodell verfolgt412 (bspw. bei § 5 VerbStrG-E oder BUJ-Entwurf zu § 30 OWiG). Entscheidend gegen einen Tatbestandsausschluss sprechen jedoch kriminalpolitische Erwägungen. Wie Kubiciel zu Recht feststellt, eröffnet eine Sanktionsmilderung für nachträglich eingeführte bzw. korrigierte CMS das Risiko rückständiger Compliance-Organisationen.413 Dies stellt zudem eine Benachteiligung gegenüber solchen Unternehmen dar, die bereits im Vorfeld kostenträchtigere Aufwendungen mit Blick auf ihr Compliance-Management vorgenommen haben.414 (2) (Dialogisierte) Prospektive Komponente Trotz der genannten Gegenargumente sollten nachträgliche Compliance-Bemühungen nicht völlig unberücksichtigt bleiben. Einer Nachjustierung von CMS kann nach hier vertretener Auffassung insbesondere eine verfahrensbeendigende Wirkung zukommen. Die Auferlegung eines Compliance-Programms als gerichtliche Sanktion oder Auflage ist dem deutschen Recht zwar fremd,415 in Betracht kommt jedoch eine Maßnahme, nach der die Verfolgungsbehörde ein Bußgeld410

Vgl. dazu ausführlicher unter Abschn. C.III.3.c)cc). Vgl. hierfür zutreffend Kubiciel, in: FS Wessing, 69 (77). 412 Vgl. Kubiciel, in: FS Wessing, 69 (77) mit Verweis auf Böse, FS Jakobs, 15 (20 ff.). 413 Vgl. Kubiciel, in: FS Wessing, 69 (74). 414 Vgl. Kubiciel, in: FS Wessing, 69 (74). 415 Vgl. Engelhart, NZG 2011, 126 (129). 411

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verfahren gegen die Implementierung respektive Verbesserung eines Compliance-Programms (vorläufig) einstellen kann. Dabei macht sich dieses Konstrukt die Grundüberlegungen von Schmitt-Leonardy zum Folgenverantwortungsdialog zunutze, welcher einen Dialog zwischen dem betroffenen Unternehmen und der (Straf-)Verfolgungsbehörde zwecks einer Nachjustierung von CMS vorsieht („signifikante Irritation“ 416). Als Vorbild dienen hierbei die im US-amerikanischen Recht praktizierten Deferred Prosecution Agreements („DPA“),417 die eine (vorübergehende) Zurückstellung der (Straf-)Verfolgung durch eine Vereinbarung zwischen Verfolgungsbehörde und betroffenen Unternehmen vorsehen. Dabei kann sich das Unternehmen unter anderem verpflichten, eine Compliance-Organisation herzustellen bzw. eine bestehende Compliance-Organisation zu verbessern. Im Gegenzug verpflichtet sich die Verfolgungsbehörde, das Strafverfahren gegen das Unternehmen zurückzustellen. Die Rechtsgrundlage für DPAs findet sich in dem vom USamerikanische Bundesjustizministerium (U.S. Departement of Justice – „DOJ“) erlassenen U.S. Attorneys’ Manual („USAM“).418 Unter Titel 9-28 sind Principles of Federal Prosecution of Business Organizations aufgelistet, die den Bundesstaatsanwälten Hinweise zur Ausübung des Verfolgungsermessens bei Zuwiderhandlungen eines Unternehmens geben.419 Mit Blick auf die strafrechtliche Verfolgung von Unternehmen listen diese Strafverfolgungsrichtlinien Kriterien auf, die bei der Entscheidung über den Abschluss von DPAs zu berücksichtigen sind, nämlich unter anderem: „– die Art und Schwere der Straftat und die Gefahr für die Öffentlichkeit; – vorhandene Prioritäten bezüglich der Verfolgung bestimmter Arten von Straftaten; – die Verbreitung von Verstößen innerhalb des Unternehmens sowie die Beteiligung oder Duldung der Verstöße durch die Unternehmensleitung; – frühere ähnliche Verstöße innerhalb des Unternehmens sowie strafrechtliche, zivilrechtliche und verwaltungsrechtliche Maßnahmen, die deshalb getroffen wurden; – die rechtzeitige und freiwillige Information über Verstöße durch das Unternehmen sowie dessen Bereitschaft, bei den Ermittlungen gegen seine Repräsentanten und Mitarbeiter zu kooperieren; – das Vorhandensein und die Effektivität von Compliance-Programmen in dem Unternehmen; – Verbesserungen im Unternehmen, z. B. die Einrichtung effektiver Compliance-Programme oder die Verbesserung existierender Programme, der Austausch von Führungskräften, die Entlassung oder disziplinarische Bestrafung von Tätern, die Zahlung von Wiedergutmachung und die Zusammenarbeit mit den zuständigen staatlichen Behörden; – Nebenfolgen, wie etwa unverhältnismäßige Verluste für Aktionäre, Pensionsberechtigte, Mitarbeiter und andere Personen ohne nachweisbare

416 Vgl. Jahn/Schmitt-Leonardy/Schoop, wistra 2018, 27 (30); dies., Unternehmen an die Leine?, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 09.05.2018, S. 7. 417 Vgl. zu DPAs unter Abschn. C.III.3.b)cc). 418 Vgl. Beale, ZStW 2014, 27 (44); das USAM ist abrufbar unter: https://www. justice.gov/usam/usam-9-27000-principles-federal-prosecution, Stand: 11.07.2018. 419 Vgl. Beale, ZStW 2014, 27 (44).

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Schuld, sowie die Auswirkungen der Strafverfolgung auf die Öffentlichkeit; – die Frage, ob die Strafverfolgung der für die Unternehmensverfehlung verantwortlichen natürlichen Personen genügt; – das Ausreichen zivilrechtlicher oder verwaltungsrechtlicher Durchsetzungsmaßnahmen“ 420.

Übertragen auf das deutsche Ordnungswidrigkeitenrecht würde ein solches Vorgehen wie folgt aussehen: Der Verfolgungsbehörde (§ 47 Abs. 1 OWiG) wird die Möglichkeit eingeräumt, die Verfolgung der Tat zurückzustellen. Vor dem Hintergrund einer pflichtgemäßen Ermessensentscheidung hat sich die Behörde von sachgerechten Erwägungen leiten zu lassen – hierbei bietet sich eine Orientierung an den USAM-Kriterien an. Im Gegenzug verpflichtet sich das betroffene Unternehmen, Überwachungsmaßnahmen zur Sicherung und Einhaltung seiner Verpflichtungen einzuführen bzw. bestehende Maßnahmen zu evaluieren und zu verbessern. Ein solches Vorgehen verstößt dabei nicht gegen § 47 Abs. 3 OWiG.421 Ferner kann – je nach Schwere der Zuwiderhandlung – über die genannte Auflage hinaus auch eine (geringer bemessene) Geldbuße im selbstständigen Verfahren verhängt werden; § 30 Abs. 4 OWiG schließt ein solches Vorgehen nicht aus.422 Mit Blick auf die Einstellung des Verfahrens gegen Compliance-Auflage kann die Verfolgungsbehörde gemeinsam mit dem betroffenen Unternehmen eine Vereinbarung aufsetzen, die der Unternehmensgröße, Komplexität der Arbeitsabläufe und dem Gefahrenpotenzial der juristischen Person entspricht. Der Vorteil einer solchen „dialogisierten“ Vereinbarung liegt darin, dass die Verfolgungsbehörde nicht einseitig Auflagen verlangen kann und es zu keiner Kollision mit wirtschaftsaufsichtsrechtlichen Aufgaben kommt.423 Ferner kann durch eine Zusammenarbeit von beschuldigten Unternehmen und Verfolgungsbehörden eine effiziente und zugleich interessengerechte Compliance-Organisation errichtet werden. Zwecks Bindungswirkung für die weisungsgebundenen Bediensteten der Justizverwaltung – vornehmlich der Staatsanwaltschaft – bietet sich eine entsprechende Regelung über die Rückstellung des Verfahrens gegen Compliance-Auflagen innerhalb der Richtlinien für das Strafverfahren und das Bußgeldverfahren („RistBV“) an. Eine solche müsste ergänzend in Abschnitt 180a RistBV wie folgt aufgenommen werden: „Wird das Verfahren gegen die juristische Person oder Personenvereinigung eingestellt, kann die juristische Person oder Personenvereinigung verpflichten werden, ein 420 Übersetzt nach Beale, ZStW 2014, 27 (44); vgl. für die Originalfassung Titel 928.300 USAM, abrufbar unter: https://www.justice.gov/usam/usam-9-27000-principlesfederal-prosecution, Stand: 11.07.2018. 421 Vgl. Engelhart, Sanktionierung von Unternehmen und Compliance, S. 464. 422 Rogall, in: Mitsch, KK-OWiG, § 30 Rn. 173. 423 Vgl. hierzu insbesondere kritisch Engelhart, Sanktionierung von Unternehmen und Compliance, S. 464 f.

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Compliance-Programm zu entwickeln oder ein bereits bestehendes zu verbessern, um das in der Anknüpfungstat zutage getretene Unrechtsklima zu beheben. Die Verfolgungsbehörde hat hierbei mitwirkend Vorgaben für ein Compliance-Programm oder Teile eines solchen Programms zu machen. Die Verfolgungsbehörde kann Anordnungen zur Umsetzung der Compliance-Auflagen treffen. Sie kann insbesondere Berichts- und Prüfungspflichten auferlegen. Sofern die juristische Person oder Personenvereinigung der Compliance-Auflage nicht nachkommt, hat die Verfolgungsbehörde das Verfahren gegen diese wieder aufzunehmen.“ 424

cc) Inhaltliche Vorgaben an Selbstregulierung durch staatlich regulierten Rahmen Die von einer entsprechenden Normierung ausgehende Anreizwirkung genügt jedoch nicht, um die Etablierung von Compliance nachhaltig zu fördern. Erforderlich ist vielmehr ein staatlich normierter Rahmen, in dem sich ComplianceBemühungen zu bewegen haben. Ökonomen benötigen Orientierungshilfen, um rationale Entscheidungen auf Grundlage einer Wirtschaftlichkeitsprognose treffen zu können.425 Ein auf Rechtsunsicherheit und Mutmaßungen basierendes CMS läuft dabei Gefahr, nicht oder lediglich mangelhaft umgesetzt zu werden. Das bloße „Ob“ von Compliance-Verpflichtungen muss daher durch einen staatliche katalogisiertes „Wie“ ergänzt werden. Wünschenswert sind daher einheitliche Compliance-Vorgaben, die für Unternehmen und Verbände gleichermaßen gelten und zugleich Flexibilität mit Blick auf Unternehmensgröße, Komplexität der Arbeitsabläufe und Gefahrenpotenziale der juristischen Person gewährleisten. Sowohl der IDW PS 980 als auch die DIN ISO 19600:2014 liefern hierfür einen umfassenden und zugleich flexiblen Rahmen. Problematisch ist indes, dass es sich bei diesen Vorschriften um untergesetzliche Regelwerke handelt, die mangels Bindungswirkung für die Normanwender respektive Rechtsprechung den andauernden Zustand der Rechtsunsicherheit nicht beseitigen. Zwecks einer für Normanwender, Verfolgungsbehörden und Rechtsprechung zu gewährleistenden Rechtssicherheit bietet es sich an, Compliance-Vorgaben durch Sanktionszumessungsempfehlungen für juristische Personen und Personenvereinigungen zu verrechtlichen. Die Federal Sentencing Guidelines Manuals liefern hierfür ein gutes – wenn auch in ihrer Ausprägung zurückhaltendes – Vorbild. Die US-amerikanischen Strafzumessungsrichtlinien enthalten in § 8 B2.1. inhaltliche Vorgaben für ein effektives Compliance- und Ethik-Programm.426 Im 424 Der hier vorgestellte Entwurf basiert auf der Vorlage einer „Compliance-Strafe“ von Engelhart, Sanktionierung von Unternehmen und Compliance, S. 725, und wurde zum Zweck der Implementierung in die RistBV entsprechend modifiziert. 425 Vgl. Bock, ZIS 2009, 68 (73). 426 Vgl. United States Sentencing Commission, Guidelines Manuals 2016, S. 533 ff.

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Gegensatz zum IDW PS 980 bzw. DIN ISO 19600:2014 mangelt es diesen USamerikanischen Strafzumessungsrichtlinien jedoch an Regelbeispielen, um die Compliance-Maßnahmen konkretisieren. Deutsche Sanktionszumessungsempfehlungen sollten daher mit Blick auf ein mögliches Compliance-Programm von Regelbeispielen, wie sie im IDW PS 980 sowie in der DIN ISO 19600:2014 erfasst sind, Gebrauch machen. Durch einen bestimmbaren Katalog von ComplianceEmpfehlungen wird einerseits Rechtssicherheit geschaffen, andererseits wird hinreichend Rücksicht auf die durch Art. 103 Abs. 2 GG geschützte richterliche Unabhängigkeit genommen. Insbesondere können Gerichte im Rahmen ihrer Entscheidungsfindung von den Empfehlungen abweichen, eine fortwährende Aktualisierung der empfohlenen Straftaxen vornehmen und auf diesem Wege zu einzelfallgerechten Entscheidungen kommen. Zudem ist de lege lata die Bemessung von Unternehmensgeldbußen – anders als bei der Strafzumessung nach § 46 StGB – an keine formalen Regeln geknüpft;427 die Beseitigung dieses nachteiligen Rechtszustandes durch einen hinreichend bestimmten Katalog ist ein positiver Nebeneffekt derartiger Sanktionszumessungsempfehlungen. Auch die von der Literatur hervorgebrachten Einwände gegen Sanktionszumessungsrichtlinien laufen vor dem Hintergrund ihres bloßen Empfehlungscharakters ins Leere. Zum einen handelt es sich bei Sanktionszumessungsempfehlungen nicht um verbindliche Richtlinien und somit auch nicht um einen Eingriff in die richterliche Unabhängigkeit,428 zum anderen gelten die hier vorgeschlagenen Sanktionszumessungsempfehlungen ausschließlich für den Bereich der Unternehmensrechtsverstöße. Eine befürchtete Simplifizierung respektive Mathematisierung des Sanktionsspektrums429 droht bereits deshalb nicht, weil Gerichte bei der Bemessung von Geldbußen stets die Intensität und Geeignetheit eines CMS einzelfallabhängig beurteilen müssen. Die hier genannten Sanktionszumessungsempfehlungen schaffen zudem eine gute Orientierungshilfe im Falle der Verfahrenseinstellung gegen ComplianceAuflagen durch die Verfolgungsbehörde. Von diesen Sanktionszumessungsempfehlungen geht nämlich ein „Ankereffekt“ 430 aus, welcher der Verfolgungsbehörde und dem betroffenen Unternehmen einen obligatorischen Rahmen bei der Verhängung einer Compliance-Auflage gibt. Konkret orientiert sich das hier vorgestellte Modell einer Sanktionszumessungsempfehlung an mehreren Parametern. Für jeden Parameter werden Sanktionspunkte vergeben, die in der Summe einem bestimmten Betrag der zu verhängenden Geldbuße zugerechnet werden. 427

Momsen/Grützner, CCZ 2017, 242 (252). Vgl. für diesen Einwand Kaspar, NJW-Beilage 2018, 37 (39) m.w. N. 429 Vgl. Kaspar, NJW-Beilage 2018, 37 (39) m.w. N.; ebenso Streng, in: NK-StGB, Bd. 1, § 46 Rn. 199. 430 Vgl. hierzu Kaspar, NJW-Beilage 2018, 37 (39). 428

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Bei den zugrunde gelegten Parametern handelt es sich um: Unternehmensgröße/Umsatzstärke; Komplexität der Arbeitsabläufe; die Gefahrenspezifizität der betroffenen Branche; Art und Schwere der begangenen Straftat; frühere ähnliche Verstöße; Kooperationsbereitschaft des Unternehmens bei der Sachverhaltsaufklärung; Art und Maß der Schadenswiedergutmachung sowie Art und Umfang der bestehenden Compliance-Organisation. Besonderes Gewicht ist bei der Bemessung der Geldbuße der Compliance-Organisation des Unternehmens beizumessen. Je mehr sich diese an den Compliance-Vorgaben der Sanktionszumessungsempfehlungen orientiert, umso weniger Sanktionspunkte werden vergeben, wodurch sich eine geartete Unternehmensgeldbuße im Ergebnis verringert.

D. Schlussbetrachtung Unabhängig von seinem wirtschafts- und unternehmensstrafrechtlichen Kontext stellt sich das Unrechtsbewusstsein als ein facettenreiches und problembehaftetes Phänomen für die juristische Lehre und Praxis dar. Der historische Rückblick und die Auswertung der Literaturmeinungen haben gezeigt, dass das Unrechtsbewusstsein stets als Element der Schuld anzusehen ist und insbesondere dann vorliegt, wenn der Täter Kenntnis von der sanktionsbewehrten (Verweisungs-)Rechtsnorm hatte, gegen die er – mithin bewusst – verstößt. Zugleich wurde aufgedeckt, dass das Unrechtsbewusstsein auch einer Konturierung durch die Empirie und Kriminalsoziologie unterliegt. Gegenstand dieses Verständnisses eines kriminellen Unrechtsbewusstseins sind dabei jedoch nur die inneren Beweggründe des Täters, insbesondere seine infolge von Neutralisierungsstrategien hervorgerufenen Tatmotive. Mit Blick auf das mangelnde (schuldrelevante) Unrechtsbewusstsein von Wirtschaftsstraftätern schließt sich die vorliegende Arbeit im Falle der umstrittenen Problematik des Verbotsirrtums der Rechtsprechung an und folgt dabei der („eingeschränkten“) Schuldtheorie. Dies ist nur konsequent, wenn man das von der Schuld- und Vorsatztheorie gleichermaßen zugrunde gelegte Verständnis eines restriktiven Unrechtsbegriffs ernst nimmt. Sobald der Täter nämlich Kenntnis von der sanktionsbewehrten Blankettvorschrift hat und weiß, dass seine Handlung eine Sanktionsverhängung nach sich ziehen könnte (bedingtes Unrechtsbewusstsein), sind Existenz und Wirksamkeit der blankettausfüllenden Norm für die Bejahung seines Unrechtsbewusstseins nur mit Blick auf einen möglichen Verbotsirrtum relevant. Die Praxis versucht derweilen, die genannten Problemkreise um das Unrechtsbewusstsein von Wirtschaftskriminellen mittels präventiver und restriktiver Lösungsansätze zu beseitigen. Unabhängig von der Frage einer „großen“ oder „kleinen“ Lösung sind sämtliche Ansätze gut damit bedient, Anreize für die Implementierung selbstregulierender Präventivmaßnahmen in Form von unternehmerischen Compliance-Strukturen zu schaffen. Trotz der positiven Seiten, die die unterschiedlichen Lösungsansätze für sich beanspruchen, begegnen sie – wie aufgezeigt – straftheoretischen und kriminalpraktischen Bedenken. Diese Hindernisse werden nach hier vertretener Auffassung dann überwunden, wenn man im Ansatz der „kleinen Lösung“ Vorschub leistet und diese um ein dialogisiertes staatlich-reguliertes Selbstregulierungsmodell ergänzt.

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Sachverzeichnis Anomie-Theorie 7 f. Blankettstrafgesetz 43, 56, 108 ff. CMS siehe Compliance-Management Compliance 132 f. – Kultur 136 ff. – Management 133, 135 ff., 141 ff. – Urteil 136 Deferred Prosecution Agreement 153 f., 160 Differenzielle Kontakte 95 f., 100 Fahrlässigkeitstatbestand 119, 125 Folgenverantwortungsdialog 152 f., 160 Fraud Triangle 102 f., 105 Institutionelle Tatsachen 45, 47 f., 55, 59, 69, 118, 124 f. Irrtum – Außerstrafrechtlicher 31 f., 41 – Begriffsbezogener 49 f. – Gegenstandsbezogener 50 – Rechtsirrtum 25 ff., 32, 41, 47 – Sinnirrtum 53 f., 64 – Tatbestandsirrtum 46 f., 59 f., 83, 110 – Tatumstandsirrtum 32 – Verbotsirrtum 25 ff., 31 ff., 40 ff., 44 ff., 69 ff., 77 ff., 107 ff. – Wahrheitsirrtum 53 f., 64 Neutralisierungstechniken 100 f., 106 Non-Prosecution Agreement 153 f. Normative Tatbestandsmerkmale 44, 47, 50, 58, 64, 67, 117 f., 125 Reichsstrafgesetzbuch 28 ff.

Sanktionszumessungsempfehlung 162 ff. Schuldbegriff – diskursiv 19 f. – funktional 19 – normativ 18 Schuldtheorie 35 f., 38 f. – weichere 119 f., 122, 127, 131 Selbstregulierung 132 ff. – staatlich-regulierte 147, 157, 165 Sentencing Guidelines 133, 138, 143, 148, 162 Stadtrecht 27 Steuerspruchtheorie 110, 131 Strafblankett siehe Blankettstrafgesetz Subkulturtheorie 98 f., 103, 106, 137 Unrechtsbegriff – eng 75 ff. – weit 74 ff. Unrechtsbewusstsein 16 – kriminologisch 94 f. – potenziell 34 f., 69 – schuldrelevant 106 – Sitte- und Moral 70 f. – Sozialschädlichkeit 72 f. Unternehmenskriminalität 87 ff., 91 f., 155 Verbandsstrafgesetzbuch 148 f. – große Lösung 147, 156 – kleine Lösung 147, 149 Verlaufsmodell 103 ff. Verweise – dynamisch 51 ff., 63, 67, 115 – statisch 52 f., 63 f. Vorsatztheorie 33 ff., 37 f.