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German Pages 502 Year 2017
Andreas Englhart Das Theater des Anderen
Theater | Band 57
Für Bettina und Immanuel
Andreas Englhart (PD Dr.) lehrt Theaterwissenschaft am Department Kunstwissenschaften der Ludwig-Maximilians-Universität München. Seine Forschungsschwerpunkte sind Theorie und Praxis des Theaters und der anderen Medien vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart, insbesondere des deutschsprachigen Gegenwartstheaters.
Andreas Englhart
Das Theater des Anderen Theorie und Mediengeschichte einer existenziellen Gestalt von 1800 bis heute
Diese Veröffentlichung ist eine gekürzte und überarbeitete Version der Habilitationsschrift, die an der Fakultät für Geschichts- und Kunstwissenschaften der Ludwig-Maximilians-Universität München im Jahr 2008 angenommen wurde.
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Inhalt 1. Felder des Anderen. Der korrelationistische Zirkel | 9
1.1 Sich erkennen in einem Anderen | 9 1.2 Anthropisches Prinzip und Korrelationismus der Moderne | 12 1.3 Ethik in der Performance des Anderen | 19 1.4 Gewalt und Präsenz des Anderen | 27 1.5 Inszenierungen des Anderen | 40 1.6 Medien der Präsenz des Anderen | 43 1.7 Mimesis, mediales Bewusstsein und die aristotelische Tradition | 48 1.8 Theater im skopischen Regime | 52 1.9 Kultur als Zwischenwelt | 54 1.10 Erkennen/Verkennen des Anderen | 59 1.11 Menschenbilder und Anthropomorphisierungen | 62 1.12 Prägnanzen und Relevanzen | 69 1.13 Mimetische Differenz | 73 1.14 Dramaturgie des Konflikts und der Überschreitung | 75 2. Projektionen des Anderen | 85
2.1 2.2 2.3 2.4 2.5
Der imaginäre Ort der Seele des Anderen | 85 Energetische Performanz und das Andere der Vernunft | 95 Physiognomische Praxis und ästhetische Anmutung | 104 Der Besuch des Anderen | 131 Naturgeschichtliches Theater | 135
3. Topographien des Anderen | 155
3.1 Phrenologische Lokalisation des Anderen | 155 3.2 Systematische Essentialismen | 168 4. Gestalten des Anderen | 181
4.1 4.2 4.3 4.4 4.5 4.6
Die Anatomie des Anderen | 181 Darwins Imaginationen und präavantgardistische Gestaltungen | 201 Mediale Umrisse des Anderen | 207 Die Naturalisierung des anderen Geschlechts | 216 Die Attraktivität des Anderen | 220 Die Ökonomie des Anderen | 225
5. Hintergründe des Anderen | 239
5.1 5.2 5.3 5.4
Die Landschaft des Anderen | 239 Der Kosmos des Anderen | 244 Die Botanik des Anderen | 263 Die Kunst des Anderen | 274
6. Entlarvungen des Anderen | 279
6.1 Der Skandal des Anderen | 279 6.2 Das Verbrechen des Anderen | 298 7. Entdramatisierungen des Anderen | 307
7.1 Das Wissen des Anderen | 307 7.2 De-Glokalisierung des Anderen | 317 7.3 De-Konstruktion des Anderen | 323 8. Dramaturgien des Anderen I. Konflikt | 339
8.1 Das Drama des Dramas | 339 8.2 Der dramatische Raum des Anderen | 357 8.3 Die Reise im Anderen | 362 9. Dramaturgien des Anderen II. Überschreitung | 371
9.1 9.2 9.3 9.4 9.5 9.6 9.7 9.8
Präavantgarde | 371 Die Regie des Anderen | 378 Dramatische Projektion des Anderen | 383 Der Widerspruch des Anderen | 386 Neoavantgarde im Regietheater | 391 Der Rhythmus des Anderen | 400 Theater als Ritual, Theater der Wirksamkeit | 405 Postdramatisches Theater | 412
10. Ethik des Anderen. Postironisches Theater | 417
10.1 Politisches Theater und/oder Theater politisch machen | 417 10.2 Empathie mit dem Anderen | 429
10.3 Ontisch-ontologische Differenz des Anderen | 432 10.4 Die dramaturgische Oszillation des Anderen | 438 10.5 Der fremde Andere im transkulturellen Raum | 442 10.6 Postklassisches Theater heute: Präsenz oder/und Inszenierung des Anderen? | 447 Literatur | 459
1. Felder des Anderen. Der korrelationistische Zirkel
1.1 S ICH
ERKENNEN IN EINEM
A NDEREN
Theater ist in der Krise! Wie immer, könnte man sagen. Nur diesmal geht es ums Ganze. Ein Schauspieler könne „nicht so einfach ein anderer werden, aber er kann ein anderer sein!“, so Elfriede Jelinek. Doch er könne „nicht ganz der, den er darstellen“ solle, werden. Vielmehr wäre er derjenige, den er als Schauspieler erschaffe, den er, so die Autorin, aus dem „Bergenden seines Körpers“ hervorziehe, nichts „Halbes und auf keinen Fall, bitte!, schon gar nichts Ganzes“. Das Ganze wäre mit Theodor W. Adorno auf den Bühnen das Unwahre. Das dramatisch Apollinische sei nach Friedrich Nietzsche als Traumgestalt nur theatrale Projektion vor dem eigentlichen Leben des überindividuell-performativ Dionysischen. Traditionelles Rollenspiel verfehle die Wirklichkeit. Besser wäre, der Darsteller1 würde, so Jelinek weiter, im „Irgendwo hängenbleiben, aber keinen Hänger haben, an dem man ihn an die Wand hängen könnte, daß er einen festen Ort bekommt, von wo das Weiche seines Fleisches herabbaumelt“.2 So finde man posthegelianisch und theatralutopisch ein sich entziehend-klares Schau(spiel)bild. In Yael Ronens kollektiver Produktion Point Of No Return 2016 an den Münchner Kammerspielen stritten die Schauspielerin Wiebke Puls und der Performer Damien Rebgetz paradigmatisch darüber, welche ästhetische Form heute eher politisch sei: Acten oder Performen; während der Performer ein anrührendes, das Publikum betroffen machendes Dokument über schreckliche Gewalttaten vorlas, flossen der Schauspielerin authentisch gespielte, ‚echte’ Tränen aus den weinenden Augen.
1
Mit Nennung der männlichen Funktionsbezeichnung ist in diesem Buch, sofern nicht anders gekennzeichnet, immer auch die weibliche Form mitgemeint.
2
Elfriede Jelinek: „Sinn egal. Körper zwecklos“, in: Dies., Stecken, Stab und Stangl. Raststätte oder Sie machens alle. Wolken.Heim. Neue Theaterstücke, Reinbek 1997, S. 7-13., hier S. 12f.
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Allerortens stellen sich grundlegende Fragen über das Theater der Gegenwart, insbesondere die nach der Utopie und revolutionären Energie, der Suche nach dem Anderen mit Anderen. Diese Fragen sind keine aus dem Elfenbeinturm der Theaterwissenschaft, immerhin wird gegenwärtig die Zukunft des Theaters verhandelt. Bert Brecht wollte auf das „Theater den Satz anwenden, dass es nicht nur darauf ankommt, die Welt zu interpretieren, sondern sie zu verändern“.3 Zitiert wird revolutionär gestimmt die elfte These über Feuerbach von Karl Marx: „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretirt; es kömmt drauf an sie zu verändern“.4 Milo Rau präsentiert The Dark Ages und fordert in seiner Schrift Was tun? gar mit Lenin einen erneuten kommunistischen Anlauf, auch wenn es schon mal ganz schrecklich schief gelaufen sei.5 Philipp Ruch vom Zentrum für politische Schönheit plädiert für ein neues Bewusstsein für moralisch-ethische Universalideen, die unsere postmoderne Lethargie im wirtschaftlichen Überfluss und gleichzeitig globaler Not aufbrechen und neue Horizonte eröffnen.6 Ist Brechts Anspruch heute aktuell? Geht es im Theater noch um Etwas oder ist es ein selbstrefentielles System auf institutioneller, inhaltlicher und formaler Ebene geworden? Wie versucht man, das Andere zu erreichen: Politisches Theater machen oder politisch Theater machen, Konfliktmodell oder Überschreitungsmodell der Tragödie? Theater der Unterhaltung oder Theater der Wirksamkeit? Oder besser ein virtuoses Spiel mit beiden Perspektiven in einer Inszenierung? All diese Fragen und die immense Vielzahl der möglichen Antworten berührt unser Verhältnis zum Anderen, der oder das sich unterscheidet. Peter Handke titelt nicht von ungefähr theatral-situationistisch: Die Stunde da wir nichts voneinander wussten – aber: Mit dem Unterscheiden fängt für Georg W. F. Hegel das Denken überhaupt erst an. Es sei die Basis der normierten Gestalt, zeitigte aber immense Folgen für den Menschen in der Moderne: Die Hölle, das wären die Anderen, resümiert eine Figur in Jean-Paul Sartres Drama Die Eingeschlossenen. Der Blick des Anderen solle den ganz Anderen offenbaren, so Emmanuel Lévinas nach der Erfahrung der Auslöschung seiner Familie in nationalsozialistischen Vernichtungslagern. Beides, der Blick und die Anmutung radikaler Fremdheit des Anderen sind die Folie des ge-
3
Bertolt Brecht: „Katzgraben-Notate“, in: Ders., Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe. Band 25, hg. von Werner Hecht u.a. Berlin, Weimar, Frankfurt/M. 1994, S. 399-490, hier S. 401.
4
Karl Marx: „Exzerpte und Notizen Sommer 1844 bis Anfang 1847; Notizbuch aus den Jahren 1844-1847, 1) ad Feuerbach“, in: Karl Marx/Friedrich Engels Gesamtausgabe (Mega), Vierte Abteilung, Bd. 3, Berlin 1998, S. 19-21, hier S. 21.
5
Milo Rau: Was tun? Kritik der postmodernen Vernunft, Zürich 2013.
6
Philipp Ruch: Wenn nicht wir, wer dann? Ein politisches Manifest, München 2015.
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genwärtigen Theaters in seinen vielfältigsten Formen, aber auch die Gestalt und die mehr oder weniger dramatische Dramaturgie des Anderen. Das Verhältnis zum jeweils Anderen berührt Theatermacher und Zuschauer gleichermaßen, auch wenn es sich ästhetisch höchst unterschiedlich ausprägt. Denn bestimmte Bühnenästhetiken sind keineswegs mehr vorgeschrieben: Man sieht kreatives Regietheater, radikales Regisseurstheater, traditionelles Schauspielertheater und dem Autor verpflichtete Inszenierungen. Die Bühnen präsentieren Popästhetik und die Authentizität des Dokumentarischen, Theater der Erfahrung und Stilelemente neuer Bürgerlichkeit, Postdramatik, Performance und Installationen, VideoSpiele, Lesungen, Reenactments, Lectures, Slams, soziale Orte und armes Theater im leeren Raum. Erregte Diskussionen nach provozierenden Inszenierungen sind keine Seltenheit, insbesondere, wenn es um die ewige Frage nach dem Regietheater geht. Dabei ist bis heute kaum geklärt, was Regietheater überhaupt ist. Was unterscheidet es vom Autorentheater, vom Schauspielertheater, vom Regisseurstheater, von der Postdramatik oder der Performance? Obwohl über den Sinn und die gesellschaftliche Förderungswürdigkeit des Theaters seit Jahren gestritten wird, kann dennoch kaum behauptet werden, dass das Theater an Attraktivität verloren habe. Ganz im Gegenteil scheint es als Medium der Präsenz, Ereignishaftigkeit und Korporalität erst recht besucht zu werden. Seine Atmosphäre, die reale Anwesenheit des Anderen, von Schauspieler und Zuschauer, der direkte Blick des Anderen ist etwas Besonderes, das sich weiterhin gegen die flache Virtualität der medialen Bildwelten behauptet. Die Zukunft des Mediums Theater sichert dessen Liveness, die wiederum eine ständige Herausforderung für die Literatur im Theater ist, da sie das Spannungsfeld zwischen Theaterstück und Aufführung öffnet. Trotz starker Einflüsse der Performance Art auf die heutige Bühnenästhetik sind das Stück und die Literatur weiterhin der Ausgangspunkt der überwiegenden Mehrzahl der Inszenierungen, obwohl das Drama spätestens seit Beginn des 20. Jahrhunderts keineswegs als leitende Größe gelten kann. Man kann aus rein quantitativer Sicht sogar von einer Zunahme des dramatischen und damit auch literarischen Elements auf den Bühnen zwischen Berlin, Hamburg, Wien und München sprechen. Das Angebot der Theaterverlage im deutschsprachigen Raum ist kaum mehr zu überblicken und Klassiker – von den antiken Tragödien über Shakespeare und Weimar bis zur Moderne – bilden das Rückgrat jedes Spielplans. Der Quantität der Dramatik auf den heutigen Bühnen entspricht eine breite dramenästhetische Vielfalt. Diese lässt sich in den letzten Jahren keineswegs mehr von einer theoretischen Position aus einseitig in den Blick nehmen. Die Erklärungsversuche reichen von dem Überschreitungsansatz der Postdramatik oder dem nicht mehr dramatischen Theatertext bis zur Re-Dramatisierung als Konfliktansatz in dialogischen Theaterstücken und Inszenierungen.
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1.2 A NTHROPISCHES P RINZIP DER M ODERNE
UND
K ORRELATIONISMUS
Heutiges Regietheater bzw. avanciertes oder performatives Theater ist das Resultat einer genuin theaterhistorischen Entwicklung, für die die von Reinhart Koselleck beschriebene Sattelzeit des Übergangs vom 18. ins lange 19. Jahrhundert wichtig war. Insbesondere das theatral und medial ausgewiesene Verhältnis zum Anderen wurde in der Zeit der Transformation von der Ständeordnung zur modernen bürgerlichen Gesellschaft virulent. Paradigmatisch sind Zeilen Wilhelm von Humboldts um die Jahrhundertwende an Friedrich Schiller: „Des Menschen Wesen“ sei es, „sich erkennen in einem Anderen“, denn alle „unsre Endlichkeit rührt daher, daß wir uns nicht unmittelbar durch und an uns selbst, sondern nur in einem Entgegensetzen eines andren erkennen können.“7 Dies stellte Humboldt nicht zufälligerweise zu Beginn der Moderne fest; die eigenartige Konstellation des Ichs zum jeweils Anderen war um 1800 zum einen dialogisch-dramatisch und modernanthropozentrisch, zum anderen grundsätzlich auf Missverstehen gegründet. Der Mensch entwarf sich als homo humanus, übersah jedoch, dass er (auch) homo mundanus ist.8 Immerhin begründete sich bis heute mit Kant das Programm der Aufklärung als „Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“, wobei diese wiederum nach Kant das Unvermögen sein soll, sich „seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen“. Selbst verschuldet sei diese voraufklärerische Unmündigkeit, wenn deren Ursache nicht am „Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines andern zu bedienen.“9 Nicht nur aus dieser Emanzipation vom Anderen, wie man es auch immer verstehen mochte, resultierte eine prägnante Anthropomorphisierung der Welt, die über das Dialektisch-Konfliktdramatische der Iphigenie von Goethe über die Krise des damit verbundenen Dialogs und die daraus resultierende Episierung zur Auflösung des Dramatischen führte – was paradoxerweise den ständigen Entzug in der Anthropomorphisierung des Anderen begründete. Nachdem Denis Diderots Überlegungen ein anthropisches Prinzip begründet hatten, kreierte hierfür Kant die fast totalitäre epistemische Legitimation, welche
7
Wilhelm von Humboldt: „Brief an Schiller über Sprache und Dichtung“, in: Ders., Werke in fünf Bänden, Band V, Darmstadt 1981, S. 195-200, hier S. 197.
8
Vgl. Wolfgang Welsch: Homo mundanus. Jenseits der anthropischen Denkform der Moderne, Weilerswist 2015.
9
Immanuel Kant: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?, in: Berlinische Monatsschrift vom Dezember 1784, S. 481-494, hier S. 481.
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sich in der Postmoderne konstruktivistisch noch radikalisierte – für Jacques Lacan war das Reale per se unfass- und unbegreifbar. Mit Kant und ausgeprägter mit Johann Gottlieb Fichte wäre um 1800 ein Verhältnis bezeichnet, das in einen eigenartigen menschlichen Selbstbezug der Moderne, in die annähernde Gleichsetzung von Erkenntnistheorie und Ontologie, in die weitgehende Ontologisierung eines Zirkels als Bedingung der Wahrnehmung und zugleich Weltexistenz führt. Quentin Meillassoux hat – etwas übertreibend und vereinfachend, aber in der Typisierung brauchbar – für diese folgenreiche Konstellation auf der Basis eines spekulativen Realismus den heuristisch und philosophiegeschichtlich erhellenden Begriff des Korrelationismus vorgeschlagen.10 Die von Kant etablierte Relation zwischen dem nicht objektivierbaren Denken und dem nicht repräsentierbaren Sein11 wird von Meillassoux als korrelationaler Zirkel verstanden. Seither substituierte das Denken der Korrelation, vor allem in einem starken Konstruktivismus, das Denken der Substanz bzw. des metaphysischen Substrats, was für die Frage nach der Mimesis und Repräsentation in und außerhalb des Theaters immens relevant ist. Kant arbeitete sich am Ding an sich als Anderes ab, das bei Fichte erst mit dem Ich möglich wurde. Oder umgekehrt: Das Ich konnte für Fichte nur erscheinen, wenn es im Gegensatz zum Nicht-Ich stand. Dies begründete im Verhältnis zum Anderen und Fremden auf der Ebene des bewussten Denkens ein relationales Verhältnis, von dem in der Moderne immer unklar ist, ob es rein kulturell oder essentialistisch fundiert wäre. Zudem bliebe bis heute die Frage, ob das Ding an sich unabhängig von menschlicher Wahrnehmung erkenn-, begreif- oder gar definierbar sein könne. Hier stehen gegenwärtig postmodern-konstruktivistische gegen neorealistische Tendenzen, welche dem Denken und der Theaterästhetik seit Kant vorwerfen, den korrelationistischen Zirkel nicht verlassen zu können, ja gar nicht zu wollen. Diese Dichotomie beinflußt die Antwort auf die Frage nach einer der (Post-)Moderne adäquaten Dramaturgie. Für Richard Schechner differenzierte sich diesbezüglich das Theater seit den 1960er-Jahren in seinem Verhältnis zum Anderen klar: Theater als Ritual bringe das Andere hierher; Theater als, wie er es nennt, dramatische Unterhaltung versetze in das Andere.12 Nicht erst für Daniel Kahneman,13 sondern für die
10 Quentin Meillassoux: After Finitude: An Essay on the Necessity of Contingency, London 2010; ders.: Time Without Becoming, Mailand 2014; vgl. auch Armen Avanessian (Hg.): Realismus Jetzt. Spekulative Philosophie und Metaphysik für das 21. Jahrhundert, Berlin 2013. 11 Ray Brassier: Nihil Unbound. Enlightenment and Extinction, Basingstroke 2007, S. 50. 12 Richard Schechner: Essays on Performance Theory, N.Y. 1977. 13 Daniel Kahneman: Thinking, Fast and Slow, N.Y. 2011.
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Grundlagenpsychologie insgesamt gilt seit langem, dass es grundsätzlich zwei Wege der Verständigung gibt: Der Andere wird interpretiert/verstanden/kausal hergeleitet/be-griffen; und: Der Andere wird erfahren, begegnet als Anmutung, als Eigenart des Anderen. Theater sei der Ort, so Daniel Wetzel von Rimini Protokoll, die in den letzten Jahren vor allem mit sogenannten Experten des Alltags – Objets trouvés der Live Art – gearbeitet haben, an dem man Zeit mit dem verbringe, der „anderes macht. Womit verbringen wir diese gemeinsame Zeit und wie dicht können wir aneinander geraten im Vollbesitz unseres Bewusstseins, dass wir unseren eigenen Kopf haben“. Menschen müssten „immer wieder zusammen kommen“, um sich ihrer „Unterschiede gewahr zu werden“. Gelacht werde im Theater bemerkenswerterweise dann, „wenn es Gemeinsamkeiten“ gäbe.14 Diese verblüffenden situativ-performativen Déjà-vus verweisen auf Ähnlichkeiten in der kulturellen Zwischenwelt, wie sie René Pollesch in seine Theatertexten als Ausdruck bürgerlicher Zwangskultur diskursiv ausstellte, auf Stereotypen, auf Gestalten der symbolischen Ordnung. Die anschließende Frage wäre, ob der Andere als Rollenspiel, der Andere als Schauspieler mit seiner Eigenart in der Rolle, oder, vereinfacht, als derjenige erscheint, der er weitgehend auch im Alltag ist bzw. den er dort spielt. Hieran knüpfen sich unzählige Komplexitäten, Graubereiche und in einem weiten Feld Fragen nach der Rolle auf der Bühne wie im Alltag an. Die Latte für die Legitimation des dramatischen Schauspielens liegt heute verblüffend hoch, Theatertheorie und neostruktralistische Philosophie haben auf der Grundlage der Überlegungen von Friedrich Nietzsche, Richard Schechner und Andrzej Wirth ein überzeugendes Bündnis gebildet: Der Andere wäre letztendlich nur als ganz Anderer in der Überschreitung, dem das Individuelle aufhebenden Dionysischen, der Sprengung, der Infragestellung der symbolischen Ordnung weniger erkenn- als intuitiv erfahrbar. Genealogisch betrachtet: Nietzsche hörte und deutete Richard Wagner, nahm sich Schiller selektierend vor, befreite sich jedoch vom Idealistischen; Heidegger las Nietzsche, Artaud erfuhr ihn vor dem Hintergrund von Psychoanalyse und Surrealismus; Derrida eignete sich Artaud an und thematisierte die Gestalt als (un)vermeidbare Re-Präsentation, verhandelte das undarstellbare Leben und die Zeichen; es gehe um die „Frage nach dem Theater der Grausamkeit, seiner gegenwärtigen Insistenz und seiner unumgehbaren Notwendigkeit historische Bedeutung“. Diese Frage wäre „historisch in einer absoluten und radikalen Bedeutung. Sie kündigt die Grenze der Repräsentation an.“ Artauds Theater der Grausamkeit wäre für Derrida dementsprechend „keine Repräsentation. Es ist das Leben selbst in dem, was an ihm nicht darstellbar ist. Das
14 Interview mit Rimini Protokoll, Archiv der Berliner Festspiele 2006, http://archiv2. berlinerfestspiele.de/de_1/archiv/festivals2006/03_theatertreffen06/tt_06_forum/ tt_06_forumprogramm/tt_06_forumworkshop1.php
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Leben ist der nicht darstellbarer Ursprung der Repräsentation“.15 Letztlich läßt sich Gestalt als Repräsentation, als – mit Nietzsche gedacht – Traumfigur im apollinischen Sinne, nicht verhindern, aber vielfältig thematisieren und subvertieren. Die „‚Grammatik‘ des Theaters der Grausamkeit“, die für Artaud erst noch zu finden sei, würde „stets die unerreichbare Grenze einer Repräsentation sein, die keine Wiederholung ist, einer Re-Präsentation, die voller Fülle ist, die ihr Double nicht wie ihren Tod in sich trägt, einer Gegenwart, die sich nicht wiederholt, d.h. einer Gegenwart außerhalb der Zeit, einer Nicht-Gegenwart.“16 Damit hätte sich Artaud „in allernächster Nähe zur Grenze aufgehalten: der Möglichkeit und Unmöglichkeit des reinen Theaters. Die Präsenz hat immer schon damit begonnen sich zu repräsentieren (Gestalt zu bilden), um Präsenz und um Selbstpräsenz zu sein, sie ist immer schon angeschnitten.“17 Lyotards Theorie des Erhabenen seiner Affirmativen Ästhetik (1982) bemüht Vorstellungen der Anwesenheit ‚von Etwas‘, das nicht erfassbar ist, neben Auffassungen von sinnlicher Seinsfülle und Theorien einer ‚Anderen Szene‘ (der des Unbewussten).18 Dennoch: Weiterhin kommen wir um das Dramatische, um die aristotelischen Konstituentien nicht herum. Schon die Entwicklung von kleinen Kindern baut auf Nachahmungen von Gestaltungen und Gestalten, wie es in Aristoteles Poetik, in Gabriel Tardes Gesetzen der Nachahmung oder in den neuesten Forschungen zu Spiegelneuronen thematisiert wird. Menschliches Leben und Erleben als kulturelle und biologische Entwicklung besteht zum großen Teil daraus, in der Erkenntnis von Gemeinsamkeiten und zugleich von Differenzen, im ständigen dialektischen Spiel ihre Rolle und ihre Identität in den verschiedensten Gesellschaften und Gemeinschaften zu finden. Die Frage ist freilich, ob der Andere im Rahmen einer wie auch gearteten Mimesis wirklich, real, sinnvoll oder tatsächlich erkannt und erahnt, gedeutet und angemutet werden kann. Mimesis, verstanden als mehr oder weniger ausgeprägte Ähnlichkeit zwischen Urbild und Abbild, korreliert mit der Frage nach der Identifikation, mit dem Miterleben, dem Mitleiden und dem Mitleid. Umso fremder uns jemand erscheint, umso weniger Mitleid haben wir. Insofern stand vom 18. Jahrhundert bis heute die oft triviale, trügerische Sicherheit versprechende Sehnsucht nach einer möglichst dem eigenen, so wahrgenommenen Alltag entsprechenden, ‚natürlich‘ so seienden Ästhetiken im medialen Raum, die
15 Jacques Derrida: „Das Theater der Grausamkeit und die Geschlossenheit der Repräsentation“, in: Ders., Die Schrift und die Differenz, Frankfurt/M. 1972, S. 341-398, hier S. 353. 16 Ebd., S. 375f. 17 Ebd., S. 377. 18 Vgl. Helga Finter: Der subjektive Raum. Bd 2. „... der Ort, wo das Denken einen Körper finden soll“. Antonin Artaud und die Utopie des Theaters, Tübingen 1990.
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wiederum von verschiedensten Gegenästhetiken in avancierter Kunst in Frage gestellt wurden. Während auf der einen Seite der bürgerlichen Schauspielästhetik seit dem 18. Jahrhundert von Francesco Riccoboni über Gotthold Ephraim Lessing bis Konstantin Stanislawski und darüber hinaus, etwa im von Lee Strasberg gegründeten Actors Studio, eine große oder größere Ähnlichkeit im Schauspielstil entsprach, wurden auf der anderen Seite von der Theatralität der komischen Figur über Improvisationen Johann Nestroys bis zu den Avantgarden des 20. Jahrhunderts und Erwin Piscators sowie Brechts Episierungen diese Ähnlichkeiten und die einfache Identifikation programmatisch erschwert, kommentierend in Szene gesetzt oder gar rigoros verhindert. Letztlich war das größere Interesse für den Anderen mit der in der Moderne zunehmenden Wahrnehmung von Komplexität verbunden, wobei gerade diese die Erkennbarkeit des Anderen erschwert, was das Begehren im Einzelfall oder kollektiv erst recht anzufeuern schien. Nach 1800 versuchte man jedenfalls, die verschiedensten, konturierten und ausdifferenzierten Fremdräume, die man aus dem Unbekannten herausgearbeitet, -erforscht oder -selektiert hatte, dem Verstehen und der Anmutung zugänglich zu machen. Über die panoramatischen, an Reiseberichten orientierten Bühnenbilder Karl Friedrich Schinkels, die Kostümreform Carl von Brühls, den totalisierenden Blick Alexander von Humboldt bis zu den sich akribisch auf archäologische Funde stützenden Meiningern und dem milieu- und evolutionsgesetztlichen, positivistischen sowie vererbungsorientierten Bühnennaturalismus wurden eigene Räume kreiert, in die man wie ein Aquarium, wie in ein Puppenhaus durch ein Fenster blicken konnte, was heute noch in jedem x-beliebigen Fernsehkrimi, wie in einem Tatort, der Fall ist. A. v. Humboldts Kosmos versuchte auf naturgeschichtlicher Basis, was Wagners Gesamtkunstwerk auf theaterästhetischer Basis in Szene setzte. Erst Adolphe Appias Reformen mit der ästhetischen Atmosphäre an Stelle der ‚realistischen‘ bzw. Edward Gordon Craigs theaterutopische neoplatonisch-ideale Maske und Übermarionette liessen der Kunst vor dem Zwang der Repäsentation des Anderen wieder den Vortritt. Rückwirkend wurde die Romantik bedeutsam: Poetisierung und Universalpoesie als letzter, moderner Versuch eines Gesamtzusammenhangs in einer arbeitsteiligen Gesellschaft korrelierte nicht zufälligerweise mit A. v. Humboldts Kosmos, Goethes Suchbild einer Urpflanze und, kaum bekannt, mit dem sich über Carl von Linnés Taxonomien und GeorgesLouis Leclerc de Buffons Naturgeschichten entwickelnden überblickendüberzeugenden Modell von Charles Darwins Evolutionslehre; in einer dialektischen Entwicklung begegneten das Gesamtkunstwerk Wagners dem Naturalismus, der sich herausbildende unsichtbare Schnitt Hollywoods der assoziativen Montage des Surrealismus, heute die Ausläufer der Neoavantgarde und Postdramatik dem Neorealismus. Romantische Poetisierung paarte des weiteren die Brücke zum Anderen mit Niemand Anderem. Romantische Ironie als De-Konstruktion setzte
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dabei quasi den Kontrapunkt, als Divergenz von Gestaltsetzung/Entkomplexivierung des Unendlichen, Unverständlichen, Unbewussten und Unheimlichen und dem in der Ironie eingestandenen Wissen, dass jede Gestalt auch nach so motiviert-überzeugender Gestaltung eben nicht alles fassen, erkennbar machen oder begreifen könne. Die Lösung des Problems wäre, etwa mit Umberto Eco, ein Plädoyer für ein Dazwischen – zwischen unendlicher Semiose des Anderen und erkenntnistheoretischem Fundamentalismus in der Gestaltung des Anderen. Mit der Romantik beanspruchte der Idealismus nach Kant ein Mitspielrecht, im Hintergrund breitete sich ein erkenntnistheoretischer Skeptizismus mächtig aus, der sich in der Postmoderne zum ontologischen Skeptizismus transponierte. Man konnte auch von einer Ontologisierung des erkenntnistheoretischen korrelationistischen Zirkels sprechen.19 Diese beruhte theaterästhetisch und teils theaterpraktisch auf Wagners und Nietzsches Entwürfen, die entscheidend für eine ästhetische Präavantgarde plädierten. Hugo Ball subsumierte dialektisch die Entwicklung gegen den das 19. Jahrhundert noch bestimmenden Idealismus: „Kant – das ist der Erzfeind, auf den alles zurückgeht. Mit seiner Erkenntnistheorie hat er alle Gegenstände der sichtbaren Welt dem Verstande und der Beherrschung ausgeliefert.“20 In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts rückten prämodern unter anderem mit Kant die sinnlichindividuelle Wahrnehmung, Emotionen und Sinne, in den Vordergrund. Zugleich forderte die Aufklärung eine Gleichbehandlung des Anderen vor zunehmend (natur)wissenschaftlichem Hintergrund. Dies überführte sukzessive, aber zielstrebig die alte kulturelle, zumeist religiös legitimierte Unterscheidung des Anderen und Fremden in (angeblich) messbare, genau beobachtbare, letztlich biologisch, also natürlich fundierte Unterscheide, wobei sich die sicht-, vermess-, kategorisier- und einordbare Oberfläche essentiell mit einem bestimmten Charakter, Innenleben und generellen Vermögen verband. Heute werden intuitive und sinnliche Perspektiven wie selbstverständlich neben dem bewussten und rationalen Denken in kunsttheoretischen Ansätzen vereint, der Andere wird körperlich erkannt und erfahren. Woyzeck und der Prinz von Homburg weisen somit zumindest indirekt auf Zugänge zum Anderen und Fremden, die später mit Strindberg und dem Surrealismus, mit Anton Tschechow und Otto Brahm auf dramatischer Ebene eine Krise des Dialogs bedingten, der im 20. Jahrhundert mit Episierung oder gar Dekonstruktion zu begegnen
19 Der Denkfehler der Postmoderne ist, dem Problem der Erkenntnistheorie mit dem ‚Ding an sich‘ mit einer radikale Ontologisierung zu begegnen. Grundsätzlich sollte doch, etwa mit dem Neuen oder Spekulativen Realismus, davon ausgegangen werden, dass etwas existiert, obwohl es nicht angesehen bzw. beschrieben oder durch Gestaltsetzung wahrnehmbar wird. 20 Hugo Ball: Die Flucht aus der Zeit, München 1927, S. 21.
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wäre. Während, so Wolfgang Welsch, die Kunst der Moderne und Postmoderne zur „Wahrnehmungsschule der ‚Andersheit‘“ wurde und Handlungskompetenzen vermitteln sollte, ging es zugleich um die Modi der Begegnung mit der überwältigenden Unsicherheit, die den schwachen Menschen im Angesicht einer letztlich nur geistig-ideell in den Griff zu bekommenen Umwelt überkam; das Erhabene von Kant über Schiller bis zu Lyotard spielte in vielfältigen Transformationen eine bedeutende Rolle. Heinrich von Kleists Ästhetik und Nietzsches Geburt der Tragödie leiteten über zu einer Erfahrung des Anderen in der Dialektik von apollinisch/Gestalt/Traum und dionysisch/Überschreitung. Dies wies zum einen in Richtung Avantgarden, zum anderen zu einem Theater der Erfahrung, von Artaud über Jerzy Grotowski, das Living Theatre und Schechner bis zu Luk Perceval. Der Andere ist in der Gestalt erkennbar, die über die Erkennbarkeit etwas Gemeinsames als Stereotypes in der jeweiligen Kultur verankert. Das Eigene und das Fremde werden durch die Gestalt markiert bzw. bestimmt, während das Andere des Anderen nicht bestimmbar ist, vielleicht erahnt werden kann. Die Wahrheit des Anderen ist die Herausforderung eines Theaters der Erfahrung, das mit Grotowski die Alltagsmaske brechen mochte, um die Wahrheit des Anderen direkt erfahrbar zu machen. Ob das, was erfahren wird, wirklich die Wahrheit des Anderen ist, blieb weiterhin die Frage und die Herausforderung für die darstellenden sowie performativen Künste. Peter Brook scheiterte in den 1980er-Jahren mit der Entwicklung einer Weltsprache des Theaters. Vielleicht ist die Suche nach der Wahrheit des Anderen vor dem Hintergrund der von Richard Sennett vertretenden These der die Moderne grundierenden Tyrannei der Intimität etwas, was den Anderen schutzlos macht, bzw. machen würde, denn eigentlich entkommen wir dem korrelationistischen Zirkel nicht, was das postmoderne Denken als Konstruktivismus auslaufen lässt. Im Erkennen des Anderen als Anderen sind wir immer zugleich in unseren Schemata, Stereotypen und Projektionen gefangen. In der Erahnung des Anderen sind wir auf ein Bauchgefühl angewiesen, dessen Automatismus als Unbewusstes uns selbst unfrei erscheinen lässt. Zwischen durch die symbolische Ordnung bestimmten Stereotypen des Anderen und unbewussten Zuweisungen bei der Erfahrung des Anderen ist der Mensch auf strukturellkultureller wie auf biologischer Ebene nicht wirklich autonom, obwohl für die Moderne das Verhältnis eines starken Ichs in Differenzierung zu Anderen konstitutiv ist. Letztlich begründete sich das Ich in der Moderne weniger durch die Schemata der symbolischen Ordnung oder die unbewusste Anmutung des Anderen, sondern mehr durch die bis heute nicht verstandene Rekluse des Ichs, die mit dem korrelationalistischen Zirkel nach Kant relativ stabil konvergierte. Wir sind in uns ‚drin‘, erleben die Welt, in der wir uns verhalten, allein aus der Ich-Perspektive und werden diese eigene Position bis zu unserem Tod nicht verlassen. Damit begründet
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sich das Andere immer als das, was wir existenziell zu verstehen und zu erfahren haben, von dem wir aber nie wissen werden, wie es ‚wirklich‘ ist. Die Wirklichkeit des Anderen erreicht uns stetig als Herausforderung, Anziehung, Verstörung, als etwas, das uns neugierig macht, gerade weil wir es nicht ganz erfassen können, weil es sich als das von Lacan so genannte Reale entzieht. Dies um so mehr, als, wie Schechner bereits in den späten 1960er-Jahren festellte, die Spektakelgesellschaft als Inszenierungsgesellschaft zu verstehen sei, der nur mit performativen Aktionen wie die der Performance Group, die die Inszeniertheit des Alltags stören und bewußt machen, zu begegen wäre. Die Störung, die Verfehlung, der Entzug und der provozierte Fehler könnten eine Strategie eines zeitgemäßen Theaters sein, eines postdramatischen oder – da ja eventuell noch etwas Attraktives, Blendendes oder zu Gekonntes übrig wäre – gar postspektakulären Theaters.21 Die ästhetische Erfahrung liefe etwa in Self Unfinished von Xavier Le Roy, Jérome Bel von Jérome Bel oder Stifters Dinge von Heiner Goebbells im Genießen des Anderen aus.
1.3 E THIK
IN DER
P ERFORMANCE
DES
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Das Verhältnis von Ethik bzw. Moral und Theater ist seit jeher Diskussionsgegenstand und ungeklärt, von Schillers Schaubühne als moralische Anstalt bis Matthias Lilienthals Plattformtheater als sozialer Ort. Die Spannung spiegelt sich etwa in Fjodor Dostojewskijs Diktum „Wenn Gott nicht existiert, dann ist alles erlaubt“ und Tristan Tzaras Spruch „Moral ist die Infusion von Schokolade in die Venen der Menschheit“22 – beide Aussagen reflektieren ethisch-moralische Veränderungen und Grenzen der (Post)Moderne. Dostojewskijs moderne Perspektive des 19. Jahrhunderts eignete sich im 20. Jahrhunderts Jean-Paul Sartre an. Der berühmte Satz aus den Brüdern Karamasow wäre der „Ausgangspunkt des Existentialismus“.23 Lacan formulierte die entscheidende Umkehrung, deren Paradoxie für eine Ethik des Gegenwartstheaters das wohl allergrößte Problem darstellt: „Wenn Gott nicht existiert, ist überhaupt nichts mehr erlaubt. Die Neurotiker beweisen es mir Tag für Tag.“24 Die dadaistische Perspektive Tzaras in die Gegenwart transponiert, blieb die ethisch-moralische Frage mit dem Blick auf den ZeitRaum der Performance viru-
21 Vgl. André Eiermann: Postspektakuläres Theater: Die Alterität der Aufführung und die Entgrenzung der Künste, Bielefeld 2009. 22 Tristan Tzara: „Dada Manifest, 23. März 1918“, in: Sieben Dada-Manifeste, Hamburg 1998, S. 52. 23 Jean-Paul Sartre: Drei Essays, Frankfurt/M. 1986, S. 16. 24 Jacques Lacan: Das Seminar Buch VII. Die Ethik der Psychoanalyse, Weinheim 1996, S. 248.
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lent. Dabei geht es nicht nur um den eigentlichen Bereich der Performance als ästhetische Handlung und Erfahrung, der als Ort der Grenzüberschreitung in verstörender Beziehung zum Realen begriffen wird, sondern auch um das auf den Prozess der Performance irreduzible Medium der Bezeichnung selbst, von der Performancetheorie über Manifeste, Symposien bis zur Kulturkritik. So wurde das Paradox sichtbar, dass etwas verhandelt wird innerhalb einer symbolischen Ordnung, die im Ereignis der Performance prekär erschien. Ethisch und damit begrifflich fassbar waren primär die Aussagen über Performance, ihre institutionellen Rahmungen oder ihre medial vermittelten Eindrücke, denen durchaus ethisch-moralische Vorstellungswelten implizit waren, insbesondere wenn ihr allgemeiner Tenor mit dem Performancemerkmal Prozess eine positiv gewertete Befreiung, eine Infragestellung machtpolitisch vorgeschriebener Perspektiven und selbstverständlicher Natürlichkeiten assoziierte. Obwohl oder gerade weil das Ereignis der Performance als Prozess geschah, war es ein oft be-schriebenes Phänomen. Auf das experimentelle Theater seit den 1960er-Jahren bezogen, zeitigte der Begriff der Performance eine sich als strukturell erstaunlich stabil erweisende Gattungsdefinition, wobei eine umfassende historische Systematik schon aufgrund der Vielfalt, Entwicklungsdynamik und Offenheit des Phänomens ein Forschungsdesiderat, zudem gerade für das deutschsprachige Theater in seiner Überlagerung mit der Ästhetik des Regietheaters eigenartig diffus blieb.25 Bei aller Verschiedenheit der Ansätze ließen sich jedoch einige Entwicklungstrends formulieren: So motivierten die Performances der 1960er-Jahre, die sich parallel zu Impulsen der Entgrenzung innerhalb des klassischen Tafelbildes konstituieren, noch utopische Leitbilder, wohingegen sich diese in der Nachmoderne von den 1970er-Jahren bis heute paradigmatisch auflösten, was immensen Einfluss auf die Frage nach der ethischen Ästhetik im Gegenwartstheater hatte. Damit zerstreute sich die zuvor scheinbar eindeutig ausgerichtete utopische Energie innerhalb einer affirmativen Ästhetik in möglichst viele Richtungen: Nicht mehr die beste aller Welten lockte, sondern das Höchstmaß an potentieller Freiheit, die ihre Anziehungskraft in der Unkenntnis sowie der grundsätzlichen Undefinierbarkeit eines oder mehrerer Ziele hatte. Dies konnte als Befreiung aus repressiven Strukturen und als aggressiver, gesellschaftspolitischer, durchaus selbstbewusst-avantgardistischer Akt, als Therapie im spätfreudschen, lacanschen Sinne, als Selbstbehauptungsstrategie des Theaters gegenüber der Übermacht der Rollenspiele in einer Spektakeloder Inszenierungsgesellschaft, den neuen Medien oder auch – in Anlehnung an sozialwissenschaftlich-ethnologische Forschungsansätze – als affirmativ-kritikarmer Einübungsraum für eine nachmodern-fluide Zwischenzeit gesehen werden. Immer
25 Vgl. die seit den ausgehenden 1970er-Jahren meistzitierte Performancegeschichte von RoseLee Goldberg: Performance Art, London 2001.
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jedoch ging es vor allem in den 1980er- und 1990er-Jahren um eine Verschiebung der Dominanz vom Phänotext zum Genotext. Erreicht werden sollte durch die Performanz eine weitgehende Abkehr von der Dominanz des Artefaktes, um den Akt der poiesis bzw. den Prozess in den Vordergrund zu stellen.26 RoseLee Goldberg sah als Verbindungsglied zwischen historischer Avantgarde und Neoavantgarde den in seiner Zeit kaum beachteten untitled event 1952 am Black Mountain College,27 in dem sich der Transitraum mehrerer Entwicklungsspuren verwirklichte: einmal die von Goethes Weimarer Experimentierbühne, den Rhythmen Schillers, der romantischen Unbewusstheit Kleists, Nestroys Improvisationen, dem Symbolismus und den wagnerschen sowie nietzscheanischen Vorstellungen über die Avantgarde reichende Linie, welche über Paul Valéry und Artaud bzw. dessen Lektüre zu Schechner und den Neostrukturalisten weitergezogen werden kann. Damit wurde das Antireferentielle aufgrund der Ersetzung des transzendentalen Signifikats durch eine Leerstelle, die Betonung der reinen Bewegung, der Tanz um ein bedeutungsloses Zentrum zum Fluchtpunkt in doppeltem Wortsinn, der dessen Renaissancebild aufhob, entsprechende euklidische Räume einfaltete und den einwohnenden Humanismus den selbstverständlichen Boden entzog.28 Hinzu fügte sich die Tradition der historischen Avantgarde – die Emanzipation des Theaters als eigenständiges Kunstwerk, die Annäherung an den Tanz und die Betonung des Körpers – in neoavantgardistischen Aktionsformen der bildenden Kunst und des Theaters. Dies führte über die emigrierte europäische Avantgarde in den Vereinigten Staaten einerseits und als europäische Eigenbewegung und zugleich als Re-Import aus den USA seit den 1960er-Jahren andererseits zum Erscheinungsbild der Performance oder Live Art mitsamt den Subformen wie Action Painting, Happening, Fluxus, experimentellen Theaterformen wie das Living Theatre und Bread and Puppet Theatre, Body Art, Postmodern Dance, Videokunst etc. Die Konvergenz der Entwicklung des performativen Theaters und der Postdramatik wurde auf Seiten des Theaters durch die Episierung des Dramas vorbereitet und als Selbstreferentialität und -ausstellung des brechtschen Gestus verstärkt.29 Beide performativen Formen bewegten sich in ihren Grenzbereichen aufeinander zu
26 Vgl. Erika Fischer-Lichte: „Auf dem Weg zu einer performativen Kultur“, in: Paragrana 7 (1998), S. 13-29; Dieter Mersch: Ereignis und Aura. Untersuchungen zu einer Ästhetik des Performativen, Frankfurt/M. 2002. 27 R. Goldberg: Performance Art, S. 126ff. 28 Vgl. den Konnex zum Tanz als reine Bewegung Gabriele Brandstetter: „Intervalle. Raum, Zeit und Körper im Tanz des 20. Jahrhunderts“, in: Mertin Bergelt/Hortensia Völckers (Hg.), Zeit-Räume, München 1991, S. 225-270. 29 Vgl. Hans-Thies Lehmann: Postdramatisches Theater, Frankfurt/M., 1999, vor allem S. 241 ff.
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– Jackson Pollocks Aktion traf Heiner Müllers Bild-Be-Schreibung und wurde zu René Polleschs Jackson Pollesch –, kreuzten sich und bildeten über Schechners Postdramatic und Environmental Theatre Schnittmengen, die sich über die Stationen Andrzej Wirth und Hans-Thies-Lehmann auf dem Weg der kulturellen Mobilität verbreiteten und im zeitgenössischen Theater sowie in der Theatertheorie an Bedeutung gewannen. Mit der Einebnung der traditionellen Gattungsgrenzen wie etwa in der performativ-minimalistischen Supermarktoper Have a Good Day! von Vaiva Grainytė, Lina Lapelytė und Rugilė Barzdžiukaitė koinzidierte eine in der Avantgarde vorgedachte Durchlässigkeit der ästhetischen oder mimetischen Grenze zwischen Kunst und Leben. Goldberg interpretierte die Geschichte der Performance als „history of a permissive, open-ended medium with endless variables, executed by artists impatient with the limitations of more established forms, and determined to take their art directly to the public“. Daraus resultierte für das Theater der 1980er- und 1990er-Jahre eine Dominanzverschiebung vom inneren zum äußeren Kommunikationssystem, was sich bühnentrivial durch die Mode, zum Publikum hin- und nicht miteinander zu spielen, auf den Bühnen ausdrückte. Für die Analyse des Einflusses der Performance auf das Theater gilt ähnliches wie für die Ästhetik der Performance Art selbst, die „defies precise or easy definition beyond the simple declaration that it is live art by artists“.30 Polarisiert gesehen ergäben sich aus der Sicht der Zuschauer als Mit-Performer im Prozess der Performance Wahrnehmungskonturen in der individuellen Erfahrung der im ‚Real‘-Raum und in der ‚Real‘-Zeit zusammen – aber nicht kausal aufeinander bezogen – sich ereignenden, damit das räumlich und zeitlich Theatral-Fiktive negierenden, primär aber unabhängig produzierten Einzelaktionen. Als ‚reale Gegenwart ergäben sich Gestalten in der Gestaltung, Figuren in der Figuration zwischen dem erinnerten Schon-Geschehenen und dem Noch-nichtSeienden; mithin, wie schon durch Augustinus in seinem Zeit-Paradoxon vorgedacht, etwas, was sich immer in der eigenen Ausstreichung, in einem An/AbWesenden zeigt und zugleich verbirgt.31 Damit wurden theatrale Bedeutungselemente – seien es die schon angesprochenen Markierungen eines fiktiven ZeitRaums, seien es Rollenfiguren, die theatrale Handlung bzw. Dominanz der Sprache oder gar des Dialogs – als Grenz-Ziehungen im Performanceprozess tendenziell konstruiert und zugleich ausgestrichen. Das Präsentische unterlief die mimetische Fixierung, die Re-Präsentation, die feststehende Gestalt des Anderen und reduzierte im Theater der 1990er-Jahre zum Beispiel in den musikalischen Einrichtungen Christoph Marthalers, von denen heute noch Anne-Sophie Mahler und Thom Luz profitieren, die referentielle Funktion. So machte die Bewegung der Aktion als
30 Goldberg: Performance Art, S. 9. 31 Vgl. H.-T. Lehmann: Postdramatisches Theater, S. 259f.
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Richtung und Spur eines theatralen Elements und zugleich dessen Auslöschung die konstituierte und wieder ausgelöschte Grenze deutlich, die das fixierte Artefakt, die bewusste Gestalt und erkennbar-dramatische Dramaturgie darstellte und war. In der Interaktion zwischen Zuschauer und performativem Ereignis bedeutete dies, dass auch die Grenzen der individuellen Wahrnehmung und Bedeutungszuweisung kenntlich wurden, die diese erst möglich machten, bis hin zur Verweigerung des Einlasses wie in einer Prater-Produktion von Vinge und Müller. Der Beobachter beobachtete sich und Andere beim Beobachten als Aktion, erzeugt wurden Metaebenen, er wurde zum Beobachter zweiter oder gar höherer Ordnung.32 Wichtig wurden der anwesende Rest, das Materielle, die ausführenden, präsenten, sich bewegenden Körper im ‚Real-Raum als mediale Eigenart des Theaters und als AnWesenheit der ‚Realität‘ oder Einbruch des Realen, der das Treiben der Signifikanten, die anhaltend grenzüberschreitende Bewegung der Bedeutungserzeugung und zugleich -verweigerung am Laufen hielt und damit eine Aktivierung des Zuschauers zur bewussten Wahrnehmung und kreativen Bedeutungszuweisung, zur Entscheidung bewirkte. Bezüglich der (Wirkungs-)Möglichkeiten von ‚Authentizität‘, des wie und in welchem Grad auch immer ‚natürlichen‘ Körpers und des befreiten ‚Selbst‘ verzeichnete man kontroverse Diskussionen. Initiiert durch die Wiederentdeckung von Norbert Elias’ Über den Prozess der Zivilisation und entscheidend auf Diskurse verwiesen durch Michel Foucault in den 1970er-Jahren, sah man nach der butlerschen Wende Anfang der 1990er-Jahre eine Konstruktion des Körpers und der Identität in der prekären Stabilität der Wiederholung des performativen Aktes vor. Die Frage nach der Realität bzw. dem Realen, welche die Performance stellte, wurde vor dem Hintergrund der neostrukturalistischen Philosophie mit dem Verweis auf die unhintergehbare symbolische Ordnung beantwortet, sodass jeder Versuch, eine Natürlichkeit der Performance- oder Theaterelemente zu behaupten, auf den Bühnen der 1990-Jahre bis heute als naiv erscheinen musste. Das Wahrzunehmende, der Körper, die Bewegung etc., waren demnach nicht als natürlich zu bezeichnen, sondern als kulturell codiert zu begreifen. Gleichwohl wies die Bewegung der Bedeutungsverweigerung der Performance auf einen Widerstand, auf einen unbegreifbaren Überschuss, auf eine Eigen-Art des Sinnlich-Materiellen, auf den indirekten Eindruck des Realen, der sich bestenfalls als Spur bzw. Bruchstelle zwischen dem Montierten in Jelineks oder Rainald Goetz’ Texten bzw. Frank Castorfs oder Einar Schleefs Inszenierungen offenbarte. Ein Freiraum ergab sich in der Erfahrung der Ambivalenz zwischen materieller bzw. körperlicher ‚Realität‘ und Zeichenhaf-
32 Vgl. hierzu die auf den unendlichen Regress als Zentrum gründende Systemtheorie von Niklas Luhmann, die den theoretischen Hintergrund von Thomas Dreher bildet: Performance Art nach 1945, München 2001, S. 395ff.
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tigkeit, im die ästhetische Grenze übergreifenden Raum, der theatrale und ‚reale‘ ‚Fiktion‘ und ‚Realität‘ nicht oder kaum erkennbar mehr trennte. Summa summarum bot die Uneindeutigkeit, Rezeptionsfreiheit und Perspektivenrelativität in der ästhetischen Erfahrung der Performance als möglicher BegegnungsZeitRaum des Anderen Ansatzpunkte für eine Ethik der Performance und abgeleitet des performancenahen, postdramatischen Theaters, die sich einerseits auf der Ebene der Handlungsfreiheit und -motivation, andererseits im Bereich der Wahrnehmung manifestierten: Für die Handlung war relevant, dass der Zeitraum des PerformativTheatralen über De-Konstruktionen des Anderen einen Phantasie-Freiraum im Akt der Rezeption eröffnete, der dem Zuschauenden bzw. Performer/Schauspieler und potentiell Handelnden eine Vielzahl an Handlungsalternativen zugänglich machte. In dieser Lesart war das Performanceereignis oder Bühnengeschehen nicht per se ethisch bedeutsam, sondern fungierte auf der Grundlage einer vorgängigen Handlungsmöglichkeit des Subjekts als ethisch-moralisches Unterstützungsinstrument, wobei der Handelnde als Subjekt oft selbst zur Disposition stand.33 Das den Akt Betonende als Ereignis motivierte, selbst zu handeln, wobei das ‚Selbst‘ prekär, instabil und nur tangential berührbar war.34 Dies konnte als Überforderung wie auch als Befreiung von als repressiv wahrgenommenen Strukturen verstanden oder erlebt werden. Ob eine solche in einer das Reale als unbegreif- und unerreichbar entziehenden symbolischen Ordnung überhaupt möglich war oder ob es bei dekonstruktivistisch-solipsistischen Aktionen etwa von Marina Abramovic bleiben musste, wurde kontrovers diskutiert. Zumindest bot die Performanz des Theatralen eine Ausdrucks-Bühne für Minderheiten und Ausgeschlossenes, von Zadeks Othello bis zu den Dragqueens und neuen bayerischen Wilden als nach Innen gespiegelte Andersheit Calibans in Stefan Puchers Sturm. Der Akt der Wahrnehmung konnte ein Prozess der Bewusstmachung von zu kritisierenden Strukturen sein. Er versetzte den Anderen wie in Nicolas Stemanns performativen Produktionen in einem Irritationsmoment in den Status des Beobachters zweiter oder höherer Ordnung.35 Zuweilen diente er als imaginärer wie korporalmotorischer Übungsraum für eine nachmoderne Gesellschaft, in der die Rites de Passage im Modus ‚Krise ist immer’ auf eine mehr oder weniger ausgeprägte Dauer gestellt zu sein schienen, die Anti-Struktur sich auf Kosten der Struktur überweit ausdehnte, wobei Victor Turner eigentlich der liminalen Phase auf gesellschaftspolitischer Ebene dialektisch die Struktur gleichwertig gegenüberstellte, um totalitäre
33 Marcus Düwell: Ästhetische Erfahrung und Moral, München 1999. 34 Daniel Charles: Zeitspielräume, Berlin 1989, S. 28ff. 35 T. Dreher: Performance Art nach 1945, S. 395ff.
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Herrschaften zu verhindern.36 Ethisch-moralisch bedeutsam war das performativ sich entziehende Vor-Bild, das zur Anerkennung des Heterogenen und damit des Anderen führen sollte. Die oder der in der Lebenswelt Andere habe als das letztlich Fremde, Unbegriffene und damit Unverfügbare zu gelten.37 Im generalisierenden Überblick wurde eine mögliche Analogie der ästhetischen Erfahrung der theatralen Performanz als Prozess zur Bewegung der Dekonstruktion augenfällig,38 deren ethische Aufgabe nach Jacques Derrida darin besteht, „die Geschichte, den Ursprung, den Sinn, will sagen die Grenzen der Begriffe der Gerechtigkeit, des Gesetzes, des Rechts, und die Grenzen der Werte, der Normen, der Vorschriften ins Gedächtnis zurückzurufen: die Grenzen der Begriffe und der Werte, die (sich im Laufe der Geschichte) durchgesetzt und sedimentiert haben, die mehr oder weniger lesbar sind, die in höherem oder in geringerem Maße vorausgesetzt werden.“39 Und die dabei „in der Forderung nach einem Zuwachs an Gerechtigkeit, nach einem Gerechtigkeits-Supplement (also einzig in der Erfahrung einer Unangemessenheit, eines Sichnicht-Anpassens, einer unberechenbaren Disproportion) [ihren] Grund [hat] und
36 Victor Turner: The Ritual Process: Structure and Anti-Structure, Chicago 1969; „Liminal Acts […] appears, so Susan Broadhurst, „at times to be complicit with mainstream trends. […] Liminal Performances are hybridizided and intertextual, and share common quasigeneric aesthetic features, such as heterogeneity, indeterminacy, selfreflexiveness, eclecticism, fragmentation, a certain ‘shift-shape style‘ and a repetitiveness that produces not sameness but difference“, in: Liminal Acts, London 1999, S. 168f. Erika Fischer-Lichter argumentiert unter Bezug auf Turners Liminalitätszustand, der auf van Genneps Schwellen- bzw. Transformationsphase in Les rites de passage zurückzuführen ist, dass u.a. Performer „sich selbst und ihre Zuschauer einem Zustand des ‚betwixt and between‘“ aussetzen und sie so „in eine Krise“ stürzen; Erika Fischer-Lichte (Hg.): Ritualität und Grenze, Tübingen 2002, S. 5-17, hier S. 13. Für Doris Bachmann-Medick geht es im Theater (als Ritual) generell darum, dass in ihm „mit der Symbolik in einer provozierenden Weise, […] an der die Zuschauer ihre eigenen rituell-konventionellen Standards und Erwartungen messen können“, umgegangen wird; „Kulturelle Spielräume: Drama und Theater im Licht ethnologischer Ritualforschung“, in: Dies. (Hg.), Kultur als Text, Frankfurt/M. 1996, S. 98-121, hier S. 105. 37 Vgl. Wolfgang Welsch: „Ästhet/hik. Ethische Implikationen und Konsequenzen der Ästhetik“, in: Christoph Wulf/Dietmar Kamper/Hans Ulrich Gumbrecht (Hg.), Ethik der Ästhetik, Berlin 1994, S. 3-22. 38 So u.a. S. Broadhurst: Liminal Acts, S. 173: „Liminal Performance can also be seen as a critical practice of Derrida’s deconstructive postulations“. 39 Jacques Derrida: Gesetzeskraft. Der mystische Grund der Autorität, Frankfurt/M.1991, S. 40.
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den ih[r] eigenen Zug oder die ih[r] eigene Stoßkraft“ finde.40 Der Begriff der Gerechtigkeit wurde folgerichtig von Derrida in einer Annäherung an Emmanuel Lévinas’ Begriff notiert, „aufgrund der Unendlichkeit, die ihn auszeichnet, und des heteronomen Verhältnisses zum Anderen, zum Antlitz des Anderen, das mir befiehlt, dessen Unendlichkeit ich nicht thematisieren kann und dessen Geisel ich bin.“41 John Cages paradoxe Anordnungen im Untitled Event, sein Rekurs auf fernöstliche Mystik, sein Ansatz, das Zentrum des Performancezeitraums leer zu lassen, harmonierten nicht unerheblich mit kabbalistischen Traditionen im lacanschen oder derridaschen Denken. Nichthermeneutische Ansätze, die das Treiben der Signifikanten mit dem Prozess der Performance, die Verkennung des Ichs und des Anderen im performativen Modus ‚Ich ist ein Anderer’ mit der Verweigerung der Bedeutung einer Performance im Modus unendliche Semiose verbanden, leisteten wie etwa in Heiner Goebbels Schwarz auf Weiß durch die Hervorhebung des Projektionscharakters des begrifflichen Zugriffs auf den Anderen, durch die Bewusstmachung der kulturell-symbolischen Determination auch und gerade als natürlich ausgewiesener Differenzen und damit Identitäten, der mentalen Stereotype als Grundlage jedes möglichen Wahrnehmungsaktes im Akt der Dekonstruktion einen ethischmoralisch nicht zu unterschätzenden Dienst. Die Ent-Deckung des mystischen Grundes der Autorität und der Gesetze nach Derrida wurde, wenn es ästhetisch überzeugend gelang, wie in vielen Produktionen der Berliner Volksbühne der 1990er-Jahre, als Ethisches im Theatralen nicht nur hier politisch.42 Dieter Mersch argumentierte dementsprechend in seinen Thesen zu einer Ästhetik des Performativen für eine Ethik des Antwortens als eine „Ethik der Differenz, statt der Identität, Gleichheit oder Reziprozität“,43 die man auch durch ständige institutionell-persönliche Überforderung im laufenden Betrieb der castorfschen Volksbühne provozieren konnte. In der Transponierung des Bühnenspiels in einen performativen Akt war es nach Judith Butler aufgrund der „zeitliche[n] und kontingente[n] Grundlosigkeit“ eines „substantiellen Grundes der Identität“ möglich, in einer „De-Formation“ den „phantasmatischen Identitätseffekt“ als regulierende Fiktion kenntlich zu machen.44 Damit wären potentiell theatralutopische und vielleicht auch gesellschaftliche Veränderungen möglich, deren „Richtungen“ als „Auswahl“ jedoch durch den Akt der „De-Formation“ noch nicht bewertet wären. Deshalb müsste eigentlich die Frage folgen, an welchem Ort diese Bewertungen
40 Ebd., S. 42. 41 Ebd., S. 45; er rekurriert hier auf Emmanuel Lévinas: Totalität und Unendlichkeit. Versuch über die Exteriorität, Freiburg 1987. 42 Ebd. 43 D. Mersch: Ereignis und Aura, S. 294. 44 Judith Butler: Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt/M. 1991, S. 207.
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stattfinden sollten, und welche – auch ethische – Legitimation, welcher Grund hierbei von wem aufgrund welcher grundierenden Ordnung und Identität in Anschlag gebracht würde? Der Freiraum von Kunst, Performance und performativem Theater verdeckte eventuell den ideologisch determinierten Zugriff in der Entscheidung, die der Freiheit folgen musste, gerade Peter Stein in der Schaubühne und Castorf an der Volksbühne waren trotz aller Behauptung des Kollektiven nicht für ihren demokratischen Umgang mit ihren Mitarbeitern bekannt. Zudem wäre unklar, so die Kritik von Thomas Ostermeier oder Oliver Reese, ob im Aufbruch der Wahrnehmungsschemata nicht verhindert würde, gesellschaftliche, politische und soziale Probleme überhaupt erst in der Feststellung des Status Quo so zu erkennen, dass von dort ausgehend eine Verbesserung der Zustände angegangen werden könne.
1.4 G EWALT
UND
P RÄSENZ
DES
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„Alles, was Du siehst, gehört Dir“, so Peter Licht in einem bekannten Lied, dessen Titel den korrelationistischen Zirkel der Moderne und die Verführungskraft des Konstruktivismus auf den Punkt bringt. Der Andere und der Fremde werden nur sichtbar durch Stereotypen im Bewusstsein und in den Medien – eine Situation, die der der Existenz des Menschen eigenen Ambiguität von Setzung und Aussetzung, von Begehren und Verwundbarkeit, von Risikolust und ängstlicher Rahmensuche korrespondiert. Eine performative Öffnung erweitert in actu die Sensibilität und Verwundbarkeit des Subjekts nach Lévinas, sie zielt mehr auf das Lacansche Reale, auf den Einbruch des Realen, auf das, was Barthes mit Punctum oder Rauheit der Stimme streift. Sie tangiert Heiner Müllers mediale Spezifität des Todes im Theater, letztlich existenziell gesehen den Tod als radikal-unüberbietbare Aussetzung der Semiose. Setzung und Aussetzung bedeuten die offen gehaltene Dialektik im mehr oder weniger medial gegebenen Status des Probehandelns, das nicht mehr, wie bei Sigmund Freud, das Denken, sondern das Spiel bzw. die Vorstellung oder Darstellung meint. Die mediale Gestalt in der Wahrnehmung gibt Sicherheit und erlaubt Genuß, meist risikoärmer, aber doch niemals ganz risikolos. Gestaltziehung als Zu-Schreibung, Formung oder Gestaltung in der Wahrnehmung vermitteln das Begegnende, die Dinge, Welt. Alles, was uns gestalthaft betrifft, ist medial,45 so gesehen stellt Edmund Husserl eine Theorie der Bewusstseinsmedialität46 vor: Die phänomenologischen Einheitsmomente vermitteln zwischen der Differenz von Gegebenem, Ausdruck und Bedeutung; Manifestation im Bewusstsein wäre als Medialisierung zu begreifen. Dabei wird, wie so oft, die abendländisch
45 Vgl. Reiner Matzker: Ästhetik der Medialität, Reinbek 2009, S. 39. 46 Vgl. ebd., S. 18f.
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grundlegende Differenz zwischen Platon und Aristoteles vor dem Hintergrund der unterschiedlichen Vorstellung von Mimesis virulent. Medialisierung wäre, weitergedacht, bei Platon die Nach-Konstruktion, das Schaffen eines Nach-Bilds, eine nachträgliche Gestaltziehung als Wirklichkeit, die schon Urbild ist. Aristoteles perspektiviert Platon in der Aneignung anders, ihm wäre Medialisierung die Vermittlung einer bereits gegebenen Wirklichkeit.47 Dies ist und bleibt die herausfordernde Theorie und Praxis des Theaters, was die Medialisierung des Anderen in der Wahrnehmung betrifft. So wäre auch die Kunst nach Marcel Duchamp als Relevanzsetzung im Sinne einer Zuschreibung in der Wahrnehmung zu verstehen. Kunst wird Ereignis in der Performanz, die Relevanz begleitet die Prägnanz in der von Gernot Böhme umrissenen Atmosphäre der Gestalt des Anderen. Ähnlich die mimetische Grenze im Theater: Spätestens seit den revolutionären Forderungen Adolphe Appias wurde jedem bewusst, dass Theater nicht von den architektonischen Vorgaben des Proszeniums, der Guckkastenbühne begrenzt wird, sondern vom performativen Vorgang der Zuweisung und ästhetischen Rahmenfiguration, von der mimetischen Grenze, die im weiten Feld der Theatralität alle Grade von Deutlichkeit bis Undeutlichkeit annehmen kann. Theater wäre, so Novalis zu Beginn des 19. Jahrhunderts, die „tätige Reflexion des Menschen über sich selbst“, wobei noch modern-dramatisch eine Rahmensetzung dominiert, die insbesondere seit den 1960er-Jahren ständig nachmodernpostdramatisch durch eine Rahmenreflexion oder -dekonstruktion, wenn Mensch und Sebst prekär geworden zu sein scheinen, herausgefordert wird. Der Schaubühne komme es nach Schiller, wie die Kunst als „Tochter der Freiheit“ anthropologisch verstanden, noch zu, den Mächtigeren das zu zeigen, was ihnen entgeht: „Hier nur hören die Großen der Welt, was sie nie oder selten hören – Wahrheit; was sie nie oder selten sehen, sehen sie hier – den Menschen.“48 Im Gegensatz zu Schillers Anspruch, der im Regietheater Zadeks, Steins und Peymanns oder in aktueller Dramatik bei Lukas Bärfuss als idealistische Ästhetik des Theaters nachwirkt, wolle man, so Gerald Siegmund im Sinne einer postdramatischen Ästhetik nach Richard Schechner, über die Perspektive des Dispositivs zum einen die politisch-soziale und die theatrale Produktion von Subjekten zusammen reflektieren, zum anderen mit Adorno in der wiederholenden Reflexion, zuweilen im Reenactment dessen, was gesellschaftlich beobachtet wird, im Rollenspiel oder Spiel von mehr oder weniger geschulten oder professionellen Performern oder Schauspielern (die an Akademien und in der Berufspraxis erlernt haben, souverän im Dispositiv Theater zu ‚funktio-
47 Vgl. ebd., S. 11f. 48 Friedrich Schiller: „Die Schaubühne als eine moralische Anstalt betrachtet“, in: Ders., Vom Pathetischen und Erhabenen. Schriften zur Dramentheorie, hg. v. Klaus L. Berghahn, Stuttgart 1995, S. 3-13, hier S. 4.
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nieren‘) das Identische verweigern, also eine eigene theatrale Funktion behaupten.49 Damit wäre traditionelles Theater als dramatischer Teil der Bewusstseinsindustrie zu kritisieren – von der dramatischen, den Dialog betonten TV-Serie bis zum Film oder dramatischem Theater als eine imaginär-vorbereitende Einfügung in gesellschaftliche Rollen oder funktionierend-freie Subjekte, die im Zuschauakt imaginär (über Spiegelneuronen, in der Nachahmung, in der Identifikation) eingeübt werden. Dieser Projektion einer selbst-verständlichen Natürlichkeit/Authentizität wäre etwas Nicht-Identisches entgegenzusetzen. Der Gesellschaft des Spektakels (Debord), der Hyperrealität, der Pest der Phantasmen (Slavoj Zizek), dem fließenden Übergang von Imaginärem und Realem im Spiel, wie es Jelinek in der Tradition von Schiller bis Huizinga versteht, solle nicht zugearbeitet werden. Deren Rollenspiele, Werte, Zentren und Themen wäre durch Auf-Bruch, in der theatral-performativen Verweigerung von gesellschaftlichnormaler Erscheinung, von richtig-normalem Handeln zu begegnen, wie es etwa Nicolas Stemann oder Jossi Wieler vorführen. Das schillersche Spiel solle sich nun postmodern grundiert auf die Abwesenheiten, Zäsuren, Destruktionen der Palimpseste konzentrieren: Maria Stuart wird durch historisch-intertextuelle unreine Anreicherungen zu Ulrike Maria Stuart. Während Schiller das Spiel noch im Bereich des Idealen ansiedelt, wäre diese postdramatische Spielvariante über die dionysische Initialzündung Nietzsches als Theaterritual mit dem UnbewusstÜberindividuellen, Triebhaften verbunden, besonders offensichtlich in Jelineks/Stemanns Wut. Carl Hegemann, der sich auf Freud und Nietzsche bezieht, stellt den ständigen Gegensatz zwischen Begehren und gesellschaftlicher Normierung, der zum Unbehagen in der Kultur führe, als zentrale Motivation der Volksbühnenästhetik heraus.50 Bis ins Mark erschrocken über die Grausamkeiten der Französischen Revolution, wandte sich Schiller in seiner ästhetischen Theorie und Erziehung dem Spiel als individuelle Arbeit an der Verbesserung des Menschen zu, weil er das Triebhafte des Revolutionären, das über Artaud Peter Brook zu dessen Marat/Sade nach Peter Weiss 1967 anregte, in Weimar weder auf philosophischer noch auf politischer
49 Vgl. Gerald Siegmund: „Der Einsatz des Spiels. Theater als Dispositiv der Wahrnehmung“, in: Gerda Baumbach/Veronika Darian/Günther Heeg/Patrick Primavesi/Ingo Rekatzky (Hg.), Momentaufnahme Theaterwissenschaft: Leipziger Vorlesungen, Berlin 2014, S. 187-198. 50 Das Begehren des Anderen kann jedoch, auch bei performativen Produktionen, in eine selektive Bewertung des Anderen ausarten, wenn es etwa um die physische Attraktivität von Performern geht. In der aufregenden Produktion Warum tanzt ihr nicht des Kollektivs She She Pop war dies das nur halb ausge-sprochene, mehr erfahrene Thema, wobei gespielte und alltägliche Attraktivität oft ununterscheidbar ineinander übergingen.
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Ebene einbrechen lassen wollte. Der Terror unter Robespierre war bereits Georg Büchner Anlass zu skeptisch-dramatischem Blick. Max Horkheimers und Adornos Dialektik der Aufklärung finden nach den Verbrechen der Nationalsozialisten zu einer Kritik an Kapitalismus und Aufklärung, zu einer radikalen Neusichtung, die sich rückblickend im reflektierenden Theater mit futuristischen, dadaistischen, expressionistischen und surrealistischen Ästhetiken verbündet. So bemüht man sich im heutigen performativen, in der Tradition der Avantgarde stehenden Theater um die Befreiung vom Logos, von der abendländischdramatischen Kultur. Theater solle Medium der ver-störenden Präsenz und zugleich der Gestaltung, Interpretation und Bewertung des Anderen sein, was sich aus seiner mimetischen Differenz ergibt. Das Theater des Anderen versteht Bernhard Waldenfels als Ort des Fremden.51 Es wäre ein Theater der Erfahrungen, von Widerfahrnissen samt originärer Plötzlichkeit (Bohrer), Anmutung und intuitiv-vorkognitiver Wucht, die beim Rezipienten somatische, sprachliche oder performative Antworten provoziere. Das wäre theaterhistorisch und im Theater der Gegenwart jedoch nur eine Position eines weiten, komplexen Feldes.52 Eine andere wäre, Fremderfahrung dichotomisch als Lust/Angst in einer qua Identifikation sich ereignenden Reise in die Fremde zu verstehen, für die eher das Dramatische steht.53 Für Schiller sollte der Mensch, einst das „glücklichste und geistreichste aller Thiere“, Schöpfer seines Glücks werden. Die Vertreibung aus dem Paradies im Sinne eines Heraustretens aus der Natur, die „erste Aeußerung seiner Selbstthätigkeit“, ein erster gewagter performativer Akt mit extremen Folgen, wäre im Pflücken des Apfels vom Baum der Erkenntnis das erste „Wagestück seiner Vernunft, erster Anfang seines moralischen Daseyns“ im Sinne eines „Abfall[s] von seinem Instinkte“.54 Immerhin vermutete Schiller bereits in seiner Dissertation, dass „der Mensch […] Thier“ sein musste, „eh er wußte daß er ein Geist
51 Vgl. Bernhard Waldenfels: Sinne und Künste im Wechselspiel: Modi ästhetischer Erfahrung, Berlin 2010, 241. 52 Vgl. ebd.; ders.: Topographie des Fremden, Frankfurt/M. 1999. 53 Mutmaßlich ist der dramaturgische Rite de Passage in Theater und Film als Reise in die Fremde analog der für Menschen relevanten Dichotomie von Lust auf und Angst vor Grenzüberschreitung (so zumindest aus Sicht der Hirnforschung Gerhard Roth). Laut Bindungsforschung wäre schon bei Babys die Dichotomie von Bindungssystem (Flucht zur Mama und Festhalten bei Mama) und Erkundungssystem (eigene Erkundung der unbekannten Umwelt; Lernen) zu beobachten. 54 Friedrich Schiller: „Etwas über die erste Menschengesellschaft nach dem Leitfaden der mosaischen Urkunde“, in: Ders., Schillers Werke. Nationalausgabe, Band 17. Historische Schriften, hg. v. Karl-Heinz Hahn, Weimar 1970, S. 399-400, hier S. 399.
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war.“55 Das schillersche „Thier“ wird heute zur Anmutung, zur Erfahrung, zum Energetischen als Basis des Theatralen – Caliban überwindet Ariel und triumphiert über Prospero. Trotz der oft vereinheitlichenden Kritik am Regietheater entzieht sich das Gegenwartstheater weitgehend einfachen Systematisierungsversuchen, zwischen oder neben dem idealistisch grundierten, dramatischen Theater und dem energetischen Theater der Erfahrung baut sich ein weites Feld an Theaterformen wie -ästhetiken auf. Allen gemein ist, dass sich mit der Frage nach der Präsenz des Anderen die nach dem Tode des Anderen und der Gewalt gegenüber sich selbst und den Anderen verbindet. Die Präsenz des Anderen, der Tod und die Gewalt kommen auf der Bühne deshalb mit ins Spiel, weil das Theater paradoxerweise zugleich als Medium, in dem wir uns mit der eigenen medialen wie alltäglichen Gegenwart sowie Vergangenheit auseinandersetzen, wie auch als Struktur, an der sich die Welt und der Alltag heute selbst orientiert – Stichwort Theatralität –, fungiert. Jeder unvoreingenommene Blick offenbart die verschiedensten Formen der Gewalt in der menschlichen Existenz, bei denen man von anthropologischen Grundkonstanten ausgehen kann. Die Ursache von Gewalt eher im Unbewussten des Menschen zu suchen, ist kein esoterisches Unternehmen, unabhängig davon, ob dieses evolutionsbiologisch, hirnphysiologisch, strukturalistisch oder psychoanalytisch interpretiert wird. Kaum lässt sich Gewalt begreifen, immer jedoch erfahren. Damit ist das Theater als Medium der unmittelbaren Erfahrung besonders angesprochen, in der Erfahrung der Präsenz des Anderen, von dessen Anmutung und zugleich Bewertung in der Gestaltzuweisung. Shakespeare ist ein Meister der Darstellung von menschlicher Gewalt. In der Begegnung mit dem Anderen als Fremden wird Othello in Stefan Puchers Inszenierung am Schauspielhaus Hamburg als mit schwarzer Farbe bemalter Schauspieler präsentiert, der mit einer halbnackten Desdemona eine aggressive, zwischen Sexualakt und Gewalttat angesiedelte, fast abstrakte Choreographie aufführt, in der auf dem Körper Desdemonas die Berührungen Othellos aufgrund der löslichen schwarzen Farbe als ‚schmutzige‘ Abdrücke sichtbar werden. Zugleich bleiben die Schauspieler stumm, der Dialog von Othello und Desdemona wird über Lautsprecher als Aufnahme eingespielt. Die Szene und mit ihr die über die Lautsprecher hörbaren Dialoge enden abrupt und auf korporaler wie akustischer Ebene gewaltsam in dem Moment, in dem Othello seiner Frau kurzerhand das Genick bricht. Diese Szene einer Gewaltdarstellung ist typisch für die Ästhetik des Gegenwartstheaters. Zum einen ergibt sich die Darstellung der Gewalt auf der Bühne eher bewusst durch den Dialog, wie er wortwörtlich in Shakespeare
55 Friedrich Schiller: „Versuch über den Zusammenhang der thierischen Natur des Menschen mit seiner geistigen“, in: Ders., Schillers Werke. Nationalausgabe, Band 20. Philosophische Schriften, hg. v. Benno v. Wiese / Helmut Koopmann, Weimar 1962/2001, S. 37-75, hier S. 56.
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Theatertext nachlesbar ist. Othello wird durch den Intriganten Jago in eine maßlose Eifersucht getrieben, es kommt zum entscheidenden Konflikt, der bekanntermaßen tödlich endet. Die traditionelle Tragödie wird in der Handlungsentwicklung, im hörbaren Dialog und im Rollenspiel der Darsteller vollendet; der zwangsläufige und doch überraschend-plötzlich, tragisch fundierte Gewaltausbruch wird durch die Bühnendarstellung repräsentiert. Zum anderen sieht das gespannte Publikum, wie sich der Dialog eigentümlich von der Korporalität, der Präsenz und Materialität der anwesenden Schauspieler abhebt. Es stellt sich eine bestürzende, erregende und aufregende Atmosphäre ein, die sehr stark präsenten Körper wirken direkt von der Bühne in den Zuschauerraum. Diese Gewalt wird nicht repräsentiert, sondern emergiert in der Performanz der realen Anwesenheit der Schauspieler und in der gewaltschweren Atmosphäre, die im Moment Bühne und Zuschauerraum verbinden. Dabei erzeugt die Aufführung ein Spannungsfeld in der Ästhetik der Gewalt zwischen auf bewusster Ebene erkannter Repräsentation und unbewusst wirkender Präsenz. Zwischen Sarah Kanes Stück Zerbomt, in dem die Gewalt des Krieges in den angeblich zivilisierten Raum eines mitteleuropäischen Hotelzimmers einbricht, Edward Bonds Gerettet, in dem ein Baby gesteinigt wird, und William Shakespeares King Lear oder Coriolanus, in denen verstümmelt, verbrannt und geblendet wird, ist, was die Intensität in der Repräsentation der Gewalt betrifft, kein substantieller oder auch nur gradueller Unterschied festzustellen. Es gibt daher in der Dramengeschichte weder eine Zunahme noch eine Abnahme der Gewalt, feststellen kann man tatsächlich weder eine Verrohung noch eine Zivilisierung im Umgang der Figuren miteinander. Spannender wird die Frage nach der Gewalt, wenn man die Dimension des dramatischen Textes um die der konkreten Inszenierung und Aufführung erweitert. Thomas Ostermeiers inszenatorische Radikalisierung von Mark Ravenhills Shopping and Fucking 1998 in der Baracke des Deutschen Theaters Berlin ist hierfür ein gutes Beispiel: Während der dramatische Text die Vergewaltigung einer Figur mit einem Messer im After noch als sadomasochistische Phantasie vorstellt, konkretisiert die Aufführung diese minutenlang in einer möglichst realistischen, körperbetonenden Gewaltdarstellung mit meterweit spritzenden Blutfontänen. Den Zuschauern soll reihenweise schlecht geworden sein, viele mussten den engen Theaterraum verlassen, weil sie die sinnlich-gewalttätige Atmosphäre nicht mehr ausgehalten haben. Ähnliches wird berichtet von der Uraufführung von Schillers Die Räuber 1782 in Mannheim: „Das Theater glich einem Irrenhause, rollende Augen, geballte Fäuste, stampfende Füße, heisere Aufschreie im Zuschauerraume! Fremde Menschen fielen einander schluchzend in die Arme, Frauen wankten, einer Ohnmacht nahe, zur Türe. Es war eine allgemeine Auflösung wie im Chaos, aus
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dessen Nebeln eine neue Schöpfung bricht.“56 Schillers Stück strotzt vor Gewalt, man höre unter anderem nur genau hin, wenn der Räuber Spiegelberg über den „Spaß“ spricht, den er „im Cäcilienkloster angerichtet habe“: „Ich sage dir, ich hab aus dem Kloster mehr denn tausend Taler Werts geschleift, und den Spaß obendrein, und meine Kerls haben [den Nonnen] ein Andenken hinterlassen, sie werden ihre neun Monate daran zu schleppen haben.“57 Freilich war der Text drastischer als die Inszenierungspraxis. Von den Persern oder der Orestie bis heute war Gewalt als anthropologische Grundkonstante schon immer ein Thema des Theaters gewesen, nur hat sie ihren Schwerpunkt als alltägliche Wirklichkeit auf der Bühne von der Repräsentation zur Präsenz von Gewalt verlagert. Die Frage, die sich uns im Zusammenhang mit Gewalt auf der Bühne stellt, ist die nach der Aktualität der Tragödie und des Tragischen. Und dies umso mehr, weil die Konzeptionen des Tragischen mit der Form des dramatischen Textes und der Ästhetik der Inszenierung zusammenhängen. In der Moderne entsteht als Folge und in Opposition zum Idealismus eine Vorstellung vom Tragischen, für die die Philosophie Friedrich Nietzsches eine wichtige Folie liefert: Das Tragische infiziere, überlagere sich mit dem Dionysischen. Während für Schiller 1797 in einem Brief an Goethe Sophokles’ Ödipus „gleichsam nur eine tragische Analysis“ war, „alles ist schon da, und es wird nur herausgewickelt“,58 solle das „Sinnenwesen“ „tief und heftig leiden“ – im Pathos könne „das Vernunftwesen seine Unabhängigkeit kundtun und sich handelnd darstellen“.59 Für Nietzsche hingegen manifestiere sich im Leiden und im Schmerz die bedingungslose Bejahung des Lebens, das ohne Gewalt, aber auch Lust nicht denkbar ist. Die Tragödie finde ihre Form traumfolgend-apollinisch in der radikalen Erkenntnis der grausamlustvollen-überindividuellen Wahrheit des Dionysos, die einen ekstatischen Verlust des Selbst und eine Öffnung den Bewussten zum Unbewussten sowie des abgesicherten Lebens in das gefährlich-lustvolle Unbekannte bedeute. Um eine zeitgemäße Tragödie zu ermöglichen, dürfe sich die Kunst der dionysischen Erfahrung und kathartischen Wirkung nicht verschließen, eine Ästhetik der Überwältigung, die Nietzsche einige Zeit lang in Wagners Musiktheater verwirklicht sah. Im 20. Jahr-
56 Zitiert nach Christian Grawe: Erläuterungen und Dokumente zu Friedrich Schiller: Die Räuber, Stuttgart 2009, S. 146. 57 Friedrich Schiller: „Die Räuber“, in: Ders, Sämtliche Werke in fünf Bänden. Band I, hg. v. Albert Meier, München 1987, S.481-618, hier S. 537f. 58 Friedrich Schiller: „Brief Schillers an Goethe am 2.10.1797. Über Sophokles Ödipus“, in: Ders., Schillers Werke. Nationalausgabe. Band 29. Briefwechsel. Schillers Briefe. 1.11.1796–31.10.1798, hg. v. Norbert Oellers und Frithjof Stock, Weimar 1977, S. 141. 59 Friedrich Schiller: „Über das Pathetische“, in: Ders., Sämtliche Werke, Bd. 5, hg. v. Wolfgang Riedel, München 2004, S. 512-537, hier S. 512.
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hundert trug sie dann entscheidend zu den Versuchen der Avantgardisten bei, die Kluft zwischen Kunst und Leben radikal zu überwinden. Dabei sollte gerade das Publikum nicht ungeschoren davonkommen: Von den gemeinen Absichten der Futuristen, einzelne Sitzplätze an mehrere Zuschauer zu verkaufen oder Juckpulver auf die Sitze zu streuen, bis zum ohrenbetäubend-schmerzhaften Sound der Societa Raffaello Sanzio erhält sich die Tradition der Gewalt in der Avantgarde, in der es keine sicheren Rückzugsräume für alle am theatralen Ereignis Beteiligten mehr geben soll: Das Unbewusste solle nicht verdrängt und die Fiktionalität bzw. die Theatralität von Wahrheit, Rationalität und Sprache nicht übersehen werden. Die Erfahrung des Tragischen ereigne sich auf der Ebene der Grenzüberschreitung und EntSubjektivierung in der Ausschreitung, im Exzess, im Schmerz, in der Gewalt gegen sich und Andere sowie in der Todesnähe. Damit verbinden sich die Synthese des Idealismus und der Fokus auf die kausal begründete aristotelische Dramaturgie des traditionellen Dramas in einer konventionellen Bühneninszenierung. Nach dem Auseinanderbrechen einer totalisierenden, metaphysischen Ordnung in der Moderne werde das Tragische in der ästhetischen Grenzüberschreitung der Kunst bzw. im modernen Theater erfahrbar. Dialog, Konflikt, Hybris, Gewalterfahrung und Schicksal des Helden als konstitutive Elemente der Tragödie seien dementsprechend kaum mehr glaubwürdig, denn es fehle das übergeordnete Bezugssystem, das die Dramaturgie der Tragödie erst als tragische legitimiert. Tragische Erfahrung bedeutete in diesem Sinne die Aus-Setzung eines übergeordneten Sinns und einer zentralen Identität zugunsten einer ständigen, bezugslosen Differenz.60 Dass Nietzsche und Freud, dann der Surrealismus und Martin Heidegger die zentralen Gedanken für die Vorstellungswelt der Postmoderne formulierten, ist bekannt. Sie sind neben Brechts epischem Theater eine Basis der Auflösung der aristotelischen Handlungskausalität im nicht mehr dramatischen Regie- oder gar Regisseurstheater, in dem die Gewalt mehr auf unbewusster Ebene vermittelt wird. In der historischen Avantgarde und der Neoavantgarde, nach den Gewalterfahrungen des Ersten und Zweiten Weltkriegs und auf der Folie des psychoanalytischen Denkens, den erst romantischen, dann surrealistischen Expeditionen in das Reich des Unbewussten und der Performance – etwa der Futuristen – als Einbruch des Realen in den Kunstraum, wurde die Erfahrung des Extrems, die Nietzsche im Dionysischen verortet hat, in die Ästhetik kathartischer bzw. performativer Formen des Theaters integriert. Für den ausgestoßenen Surrealisten Artaud, für das arme Theater Jerzy Grotowskis und die Performance Group Schechners sollte das per-
60 Somit begründet sich die Ästhetik des postdramatischen Theaters aus dieser tragischen Erfahrung, die in der Traditionslinie von Nietzsche über Artaud zu Derrida und Heiner Müller steht, vgl. Hans-Thies Lehmann: „Erschütterte Ordnung – Das Modell Antigone“, in: Ders., Das Politische Schreiben, Berlin 2002, S. 22-39.
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formative Theater das auf Rationalität und Kausalität beruhende abendländische Wissen destruieren. Damit wurde die in sich logische und wahrscheinliche Dramaturgie, die der aristotelischen Forderung nach Kausalität, angemessener Größe und Abgeschlossenheit gehorcht, zer-setzt. In diesem Sinne überschritt etwa die berühmt gewordene Aufführung Dionysos in 69 der Performance Group 1968 in der New Yorker Performance Garage auf mehreren Ebenen die Grenzen des traditionellen Theaters. Als radikale Neueinrichtung der Bakchen des Euripides arbeitete sie das Dionysische auf der Ebene der Körper, der Atmosphäre und Präsenz des Ereignisses heraus und repräsentierte den Mythos weniger auf bewusst-rational-interpretatorischer Ebene, machte ihn vielmehr direkt als anwesende Wirklichkeit erlebbar, indem die Zuschauer in das bacchantische Treiben und die Rasereien integriert wurden, die Schauspieler weniger eine Rolle spielten, sondern sich ausagierten, während überhaupt die Grenze zwischen Kunst- und Realraum ständig unterminiert wurde. Erkenntnis, Wissen und die darauf aufbauende Macht, für die in den Bakchen die Figur des Pentheus steht, wurden im gesellschaftlichen wie politischen Raum als vorläufig und letztlich unlegitimiert ausgewiesen. So ging es im performativen Theater des 20. Jahrhunderts im Gegensatz zum bürgerlichen Trauerspiel der Aufklärung nicht so sehr um eine Identifikation oder um das Mitleid mit einer Figur, sondern ganz im Gegenteil um eine Theatererfahrung als Nicht-Wissen bzw. als Destruktion des Wissens und der aufklärerischen Rationalität. Die Akte des Begreifens, Interpretierens und Denkens sollten zugunsten einer irrationalen Wahrnehmung auf surreal-unbewusster Ebene unterbrochen werden. Natürlich konnte so eine Aus-Setzung des Sinns niemals ganz gelingen, denn Menschen können gar nicht anders als Wahrnehmen, Gestalten erkennen, Texte interpretieren und den Signifikanten Signifikate zuweisen. Der Kampf zwischen Pentheus als dem Vertreter der Rationalität und Dionysos als Vertreter des Unbewussten, des Rausches und der Grenzüberschreitung wird im Raum des performativen Theaters zur Opposition und zugleich Kohärenz zwischen der klaren Gestalt der abendländischen Vernunft und der körperbezogenen Triebhaftigkeit, Rohheit und latenten Gewalttätigkeit der dunklen, unbewussten Seite des Menschen. Damit wären die Aufgaben der Gewaltdarstellung im Theater des Unbehagens in der Kultur definiert: Zum einen auf der bewussten Ebene das Erkennen der Gewalt in der Repräsentation. Zum anderen auf der unbewussten Ebene die Erfahrung der Gewalt als kathartisches Erlebnis, das die Verdrängung aufhebt und – vielleicht, hoffentlich? – einem plötzlichen Ausbruch der Gewalt in der Zivilisation wie das Ventil eines Dampfkochtopfs vorbeugt. So wird die Ästhetik des Wiener Aktionismus und des Orgien Mysterien Theaters von Hermann Nitsch verständlich: „HYLDIS/CELOSIS: blutpanschen, wollüstig blutpanschen ALTARgeschlEchtsblut, überallblut, blut, blut. alles ist voller blut. der rituelle operationssaal im spital ist voller blut und eiter. blut der opfer. priester pumpen blut für sacharinorgeln. ver-
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stocktes blut wie fett. tröge mit blut. der aufgehackte rinderleib, stierwarme bauchinhalte. schleimweiche, kotvolle roseneitergelbe, fette, rohfeuchtnasse eingeweide, gedärmströme platschen auf den boden. blut überall hinverschmieren.“61 Apollinische Figuration, verständigender Dialog und die lineare Handlung der Tragödie traten im dionysisch grundierten performativen Theater zurück zugunsten des Dialogs zwischen Bühne und Zuschauerraum, der im extremsten Fall zur extremen Erfahrung des Anderen als radikal Fremden und zur auflösenden Grenzüberschreitung wurde. Diese näherte sich der Forderung Andre Bretons in seinem Zweiten Manifest aus dem Jahr 1929: „Die einfachste surrealistische Handlung besteht darin, mit Revolvern in den Fäusten auf die Straße zu gehen und blindlings soviel wie möglich in die Menge zu schießen.“ Schlingensief hat neben allen vordergründigen Darstellungen seiner Aktion als sozialer Ort mit diesem surrealistischen Statement seine Aktion Ausländer raus! (2000) kommentiert, um seiner Kunst der sozialen und politischen Verfügbarkeit zu entziehen, Christoph Menke spricht in diesem Zusammenhang von einer Kraft der Kunst, die eben nicht im Sozialen restlos aufgehen können und solle.62 Damit ist jedoch nicht die direkte Aufforderung zur verbrecherischen Tat gemeint, sondern die Eröffnung eines imaginären Raumes der befreienden Revolte. Die Tragödie wird daher nicht im aristotelischen Sinne durch eine sinn-volle Dramaturgie, in einem Dialog oder Konflikt repräsentiert, sondern entfaltet sich in der erfahrenen Präsenz und deren unbewussten Anmutung im Theater. Dasjenige, was wir heute unter einem avancierten, vielleicht auch avantgardistischen, nicht mehr dramatischen bzw. postdramatischen Theatertext verstehen, hat eigentlich keinen Ursprung, auch wenn immer wieder gerne ein Gründungsmythos konstruiert wird. Wenn man die gesamte Theatergeschichte als Dramengeschichte in den Blick nimmt, kann man generell behaupten, dass das Dramatische immer vom Postdramatischen oder vielleicht besser gesagt vom Nicht-Dramatischen begleitet wurde und immer noch wird, weil das Nicht-Dramatische als das Performative grundsätzlich Bestandteil jeder Aufführung ist. Dennoch initiierte die Entwicklung des Regietheaters seit den 1960er-Jahren so etwas wie eine Verschiebung der Bühnenästhetik in Richtung der Ästhetik der Performance. Dies erhöhte die Aufmerksamkeit auf die Eigenart und Präsenz der Schauspieler auf Kosten der von ihnen gespielten Rolle. Heiner Müller würde sagen, man könne die Menschen, also die lebendigen Darsteller, auf der Bühne sterben sehen: Der Schauspieler wird tatsächlich ein Stück älter und rückt dem Tod ohne Zweifel näher, während die Rolle, die er spielt, wie ein Geist oder Untoter unsterblich bleibt. Dies ist keineswegs dem performativen Theater vorbehalten, auch in der traditionellsten Aufführung ist die ständige Gefahr etwa eines Bühnenunfalls oder eines Herzinfarktes präsent. Was
61 Hermann Nitsch: O.M. Theater Lesebuch, Wien 1985, S. 225. 62 Christoph Menke: Die Kraft der Kunst, Berlin 2013.
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auf der Bühne langsam, aber sicher zugrunde geht, ist lebendig und erfährt zwangsläufig Gewalt. Vom Sterblich-Verletzlichen geht das Nicht-Dramatische, Performative aus, welches das Publikum mehr spürt als bewusst wahrnimmt. Theater als Medienerfahrung ist demnach generell mit einer Gewalterfahrung in dem Sinn verbunden, dass der Körper und damit die Verletzbarkeit sowie Sterblichkeit jedes Menschen in der Aufführung nicht ignoriert werden kann. Durch die Fokussierung auf die Präsenz des lebendigen Schauspielers wird die Grenze zwischen Rolle und Rollenspieler, die eigentlich Theater erst definiert, im Gegenwartstheater vermehrt in Frage gestellt. Zugleich wird die Grenze zwischen Kunst- und Realraum, zwischen Rollenspiel und Eigenart des Schauspielers oder Performers sukzessive unterminiert. Daher hat es zum Beispiel der Kritiker Gerhard Stadelmaier als eklatanten Übergriff und Gewalttat empfunden, als ihm der sehr körperzentrierte und seine physische Präsenz stark in den Vordergrund spielende Schauspieler Thomas Lawinky in der Premiere von Eugène Ionescos Stück Das große Massakerspiel körperlich auf den Leib rückte, ihm seinen Notizblock entriss und ihn mit den Worten vertrieb: „Hau ab, du Arsch, verpiss dich“! In diesem Moment bekam es der Kritiker mit der Angst zu tun, weil die schützende Grenze zwischen Bühne und Zuschauerraum aufgehoben schien und die schreibende Macht mit ihrem real anwesenden Körper relativ schutzlos dastand. Der Kritiker wurde zum unfreiwilligen Mitperformer und erfuhr die Verletzlichkeit und Sterblichkeit der Schauspieler in der Aufführung am eigenen Leibe. Dass Lawinky dem Kritiker gerade den Schreibblock entriss, mag kein Zufall sein und jeden Psychoanalytiker entzücken. Aber letztlich geht es in den Aufführungen des Gegenwartstheaters zwischen Regie- und Autorentheater generell um das Spannungsverhältnis von dramatischem Text und aktueller Aufführung, zwischen Wort-Drama und korporal-materiellem Schauspiel. Wenn der Schriftsteller Rainald Goetz sich 1983 während einer Lesung zum Ingeborg-Bachmann-Preis in Klagenfurt die Stirn aufschlitzte oder Chris Burden sich in Shoot 1971 mit einem Kleinkalibergewehr in den Arm schießen ließ, dann wurde die Gewalt des allgemeinen Lebensrisikos direkt erfahrbar. Im performativen oder postdramatischen Gegenwartstheater wurde ab den 1960er-Jahren mit der Annäherung an die Ästhetik der Performance etwas bezeichnet, das sich seit den 1980er-Jahren verstärkt als Bewegung vom Dialog zur Dialogizität und als Wandlung des Theaters im Umfeld der Medien zu einer Bevorzugung des Visuellen, Materiell-Korporalen und Ereignishaften vor dem bedeutungstragenden Sprachlichen ausprägte.63 Ein solches Ereignis stellte sich Jean-François Lyotard in seiner affirmativen Ästhetik als energe-
63 Vgl. Andrzej Wirth: „Realität auf dem Theater als ästhetische Utopie oder: Wandlungen des Theaters im Umfeld der Medien“, in: Gießener Universitätsblätter 2 (1987), S. 83-91.
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tisches Theater vor.64 Uninterpretierbar-Überwältigendes deutete er positiv im Sinne einer Nicht-Repräsentierbarkeit dessen, was die Vorstellungskraft des Betrachters überschreitet, im ästhetischen Grenzbegriff des Erhabenen.65 Intendiert war eine Wirkungsweise des begegnenden Anderen, die gänzlich auf kognitive Bedeutungszuweisung verzichtete und als Präsenz sinnlich überwältigte, wobei dieser Überwältigungsakt als Gewalt gegenüber dem Betrachter gewertet werden konnte. Übertragen auf das Theater ging es um eine gewalthaltige Theatererfahrung, die sich von der Vorherrschaft des Dramas befreit hatte, um ein Theater der Wirkung statt Unterhaltung, so Schechner, das eher Präsenz als Repräsentation, eher geteilte als mitgeteilte Erfahrung ist. Vordergründig wirkte eher der Prozess (Genotext) als das Resultat (Phänotext), eher die Energetik als der Sinn bzw. die Information. Hier differenzierte sich in der Tradition von Schechner und Wirth für Hans-Thies Lehmann das Drama im traditionellen Dialog wie auch Konflikt als Repräsentation der Gewalt von der nicht mehr dramatischen Performanz der Überschreitung als Präsenz und Erfahrung von Gewalt im Zuschauakt.66 Die Zuschauer wurden aktiv dabei gestört, in der Wahrnehmung die theatralen Mittel einer einheitlichen, sinntragenden mentalen Synthese zuzuführen, die Gewalt wurde als Theater der Grausamkeit im artaudschen Sinne eher spürbar als begriffen. Ein Theater der Präsenz wie La Fura dels Baus Suz/O/Suz initiierte statt einer botschaftstragenden Bedeutung und einer eindeutigen Rollenzuweisung und Figurencharakteristik eine nie an ein Ende kommenden performativen Akt der Bedeutungszuweisung, der gerade durch die Atmosphäre der Gewalt des Anderen auf der Bühne befeuert wurde. Es entstand der Eindruck der Polyvalenz und Uneindeutigkeit sowie der Simultaneität des Zeichengebrauchs. Orientieren konnten sich die Zuschauer in performativen Szenen des Gegenwartstheaters, die meist weiterhin in traditionell-lineare Dramaturgien eingebunden werden, etwa in Stefan Puchers Sturm nach Shakespeare 2007 an den Münchner Kammerspielen oder in Nicolas Stemanns Ulrike Maria Stuart 2006 nach Elfriede Jelinek am Hamburger Thalia Theater wie in der historischen Avantgarde an Rhythmen und assoziativen Feldern. Der Sinn des einstmals Dramatischen reduzierte sich zur dionysisch-unbewussten Erfahrung, die auf die sinn-lose Gewalt der menschlichen Existenz Lebens selbst verweisen sollte. Da das Leben jedoch trotz aller Grenzüberschreitungen, Auflösungen und Übergängen auf die haltende, leitende und Ausgleich sowie Verständigung bzw. Dialog ermöglichende Form angewiesen ist, musste in annähernd jeder
64 Jean-Francois Lyotard: „Der Zahn, die Hand“, in: Ders., Essays zu einer affirmativen Ästhetik, Berlin 1982, S. 11-23, hier S. 21. 65 Jean-Francois Lyotard: „Das Erhabene und die Avantgarde“, in: Merkur 38 (1984), S. 151-164, hier S. 152. 66 Vgl. u.a. H.T. Lehmann: Erschütterte Ordnung.
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Aufführung die Präsenz weiterhin durch Repräsentationen von menschlichen Gestalten – in welcher Ausprägung auch immer – konterkariert und zugleich stützend begleitet werden. Wenn Schiller die Tierexistenz der geistigen benachbart, worauf sich später absetzend Nietzsche mit seinem Dionysischen im Apollinischen stützen wird, dann forderte man eine Dialektik ein, deren Sinn heute oft übersehen wird. Damit folgte man mutmaßlich einer Polarisierung, die Barthes semiotisch verabsolutierend und polarisierend in seinen Mythen des Alltags anspricht: Es sei davon auszugehen, dass das Zeichen „sich nur in zwei extremen Formen geben“ sollte, „entweder eindeutig intellektuell, durch seinen Abstand reduziert wie eine Algebra (Mallarme etc.) ... oder als Signal eines Augenblicks (Ereignis, Präsenz, Performanz)“. Die von Barthes so genannten Zwischenzeichen einer realistischen Ästhetik wiesen jedoch „auf ein degradiertes Schauspiel, das ebenso die naive Wahrheit (Ereignis, Präsenz, Anwesenheit) fürchtet wie die totale Künstlichkeit (Mallarme etc.).“ Auch wenn es, so Barthes weiter, zu begrüßen wäre, dass „ein Schauspiel dazu geschaffen ist, die Welt klarer zu machen“, so bestehe doch eine „schuldhafte Duplizität (Re-Präsentation) darin, das Zeichen und das Bedeutete zu verwechseln. Das ist eine Duplizität (= Re-Präsentation), die dem bürgerlichen Schauspiel eigen“ wäre.67 Semiotisch begründete sich also die Kritik an einer realistischen Ästhetik, vielleicht unterliegt sie aber einem methodisch-blindem Fleck? Auch auf der Ebene der erkennbaren Figur, der Rolle und des Dialogs geht es um die Gewalt als Grunderfahrung des Lebens, nur wird sie hier repräsentiert. Das wäre nicht die Gewalt der Anmutung oder präsentischen Überwältigung, vor allem der Gewalt des Todes, welche die Semiose aussetzt. Sondern es wäre ganz im Gegenteil die Gewalt der Bewertung des Anderen etwa im Dialog – der Dialog hier als Dialog im inneren Kommunikationssystem, aber auch im äußeren (wie spielt der Schauspieler, welche Anmutung hat er, wie sieht er aus?). Ob man nun auf der Bühne des Gegenwartstheaters eher eine dramatisch-traditionelle oder postdramatische Inszenierung sieht, es gilt auf jeden Fall: Neben erkennbaren und bemitleidenswerten Figuren, neben Dialog, Handlung, Intrige und Konflikt als Repräsentation der Gewalt, neben dem theatral-dramatischen Rollenspiel des Schauspiels mittels dessen mimetischer Potenz funktioniert die Präsenz, reine Situation, Erfahrung und Atmosphäre von Gewalt als Entgrenzung und Überschreitung des Bewussten im Zuschauakt. Erst Anmutung und Interpretation zusammen ermöglichen das spannende Erlebnis, das man Theater nennt, es wäre ohne bewusst erkannte und unbewusst erfahrene Gewalt auf der Bühne kaum vorstellbar. Sie verbinden sich paradigmatisch im aktuellen deutschsprachigen Regietheater, das sowohl die Energie des Präsentischen als auch das traditionell-dramatische Rollenspiel gerade in ihrem dialektisch zu verstehenden Gegensatz dramaturgisch in einem postklassischen Theater pflegt.
67 Roland Barthes: Mythen des Alltags, Frankfurt/M. 1984, S. 46.
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1.5 I NSZENIERUNGEN
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Der Andere und Fremde werden nur sicht-, erkenn- und bewertbar durch Stereotypen, Hypothesen und Gestaltformen im Bewusstsein und in den Medien. Diese EinBildungen in der Imagination sind nicht allein von der einen Seite her als existenzielle Freiheit des Menschen zu verstehen, sondern von der anderen Seite her als strukturell zwingende Vor-Bilder, welche den Körper und die Identität des Einzelnen sowie des Anderen in ihre Bahn zwingen. In diesem Sinne sind Bilder oder mentale Stereotypen mit der Inszenierung auf der Bühne, in den Medien und als Theatralitätsphänomene mit dem Alltag verbunden. Insbesondere, so Peggy Phelan, das Verhältnis zwischen dem Ich und dem Anderen “as it is represented in photographs, paintings, films, theatre, political protests, and performance art” führt für die Untersuchung der “politics of the exchange of gaze across these diverse representational mediums“ zu einer „extended definition of the field of performance”.68 Dramaturgie und Inszenierungen hängen von Gestaltung und Rahmung ab, diese funktionieren als In-Szene-Setzen, als performativer Akt des Inszenierens – als eine eher bewusst eingeleitete Tätigkeit, eine Erzeugungsstrategie. Nach Martin Seel sind Inszenierungen „absichtsvoll eingeleitete oder ausgeführte sinnliche Prozesse, die vor einem Publikum dargeboten werden, und zwar so, dass sich eine auffällige spatiale und temporale Anordnung von Elementen ergibt, die auch ganz anders hätte ausfallen können.“69 Das immer auch ganz anders Mögliche hebt die Inszenierung aus den Zwängen des Alltags, erobert die Spielräume Schillers und Huizingas. Dabei will die Inszenierung etwas, will begehrt werden, will unsere Aufmerksamkeit, was ihre Prägnanz ausmacht, sogar wenn es sich nicht um eine stilbetonte Schillerinszenierung Goethes in Weimar, sondern um ein dokumentarisches Projekt von Lola Arias handelt. Ob sie diese durch auffällige Struktur, Schönheit, Bewegtheit oder einen emotionalen Inhalt erreicht, ist primär irrelevant. Für Seel soll durch Inszenierung Gegenwart bewusstgemacht werden, denn Inszenierung stellt Momente im öffentlichen Raum auffällig aus, beleuchtet das Geschehen, das Hier und Jetzt. Inszenierung entzieht sich in der Aus-Stellung zugleich der totalen Erfassung, weil sie Gegenwart ist.70 Diesen Entzug bestätigt W.J.T. Mitchell für das Bild mit dem Mangel, den das Bild herstellt vor dem Hintergrund der ontologischen, mimetischen und pikturalen
68 Peggy Phelan: Unmarked. The Politics of Performance, London, N.Y. 1993, S. 4. 69 Martin Seel: „Inszenieren als Erscheinenlassen. Thesen über die Reichweite eines Begriffes“, in: Josef Früchtl/Jörg Zimmermann (Hg.), Ästhetik der Inszenierung. Dimensionen eines künstlerischen, kulturellen und gesellschaftlichen Phänomens, Frankfurt/M. 2001, S. 48-62, hier S. 51. 70 Ebd., S. 53.
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Differenz. Das Geschehen, das Inszenierungen konstituiert, kommt in aktuellplötzlichen und simultanen Bezügen zum Vor-Schein.71 Die Bühne ist Medium, sie verweist als Rahmung auf die Vermitteltheit des Gezeigten. Sogar das Authentische bleibt wie Kaugummi an der Vermitteltheit hängen, was sich in einigen zeitgenössischen Produktionen etwa von Gob Squad oder Rimini Protokoll in einer Erfahrung der Abwesenheit bzw. des Scheiterns offenbart.72 Für die Kunst des 21. Jahrhunderts nach Duchamp gilt, dass für sie der Sockel, der Kontext, die Zuschreibung oder, wenn man es zuspitzt, der Rahmen medial bestimmend sind. Eine ästhetisierende Idee wirkt im Moment der Relevanz, der starken Anmutung und Prägnanz, wenn sich das Ding als ästhetisches in etwas Außerordentliches transponiert. Dies kann in der Moderne auf die ästhetische Grenze zwischen Kunst- und Realraum übertragen werden, wobei die Avantgarde, ein Theater als Ritual oder der Erfahrung diese Grenze in Frage stellt. Die ‚Verstellung‘ als ‚Als ob‘ geht ‚quer‘ durch die Bildproduktion und rezeption. Theater behauptet – wie das Bild bezüglich der von Gottfried Boehm im Rekurs auf Heideggers ontologischen Differenz erörterten pikturalen und ikonischen Differenz – zwischen dem erkenntnistheoretischen Fundamentalismus einer naturalistischen Mimesis und der unendlichen Semiose einer totalisierten Theatralität eine ‚mittlere‘ Position.73 Diese produziert im mehr oder weniger starken Modus des ‚Als ob‘ die mentalen und inszenierten ‚Schemata‘ als notwendige mimetische Komplexitätsreduzierung, die dennoch ihre Ähnlichkeit zur ‚Realität‘ behaupten. Dabei treten, auf die Situation der Zeit um 1800 und danach bezogen, das Sehen, die Sinne und vor allem die Einbildungskraft als relevante Aspekte der Subjektivierung in den Vordergrund - für Adam Johann Bergk übt, praktiziert und vervollkommt der Mensch durch die „Versinnlichung des Abwesenden und Vergangenen“ die Fantasie.74 Die populären Bühnen der Zeit erwiesen sich in diesem Zusammenhang als Heterotopie bzw. Xenotopie, auf denen in der Inszenierung verschiedene (Teil)Formen von Fremdheit und Andersheit als Ergebnis der anhaltenden Welter-
71 Ebd., S. 57. 72 Der authentische „‚Einbruch des Realen‘ in die inszenierte Situation“ wird in „vielen zeitgenössischen Produktionen“ gerade als „Scheitern“ bewusst inszeniert, so Annemarie Matzke: „Von echten Menschen und wahren Performern“, in: Erika Fischer-Lichte u.a. (Hg.), Wege der Wahrnehmung. Authentizität, Reflexivität und Aufmerksamkeit im zeitgenössischen Theater, Berlin 2006, S. 39-47, S. 43. 73 Vgl. hierzu Gottfried Boehm: „Die Wiederkehr der Bilder“, in: Ders. (Hg.), Was ist ein Bild?, München 1994, S. 11-38, hier v.a. S. 29ff. Bezüglich der Bedeutungszuweisung vertritt Umberto Eco eine mittlere Position, vgl. Ders: Die Grenzen der Interpretation, München 1995. 74 Adam Johann Bergk: Die Kunst, Bücher zu lesen, Jena 1799, S. 125.
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schließung und gleichzeitig als Möglichkeit eines imaginären Entwurfs ins Unerschlossene vermittelt wurden.75 Ob die Inszenierung des Anderen eine theatrale im engeren Sinne ist, entschied der Kontext: Institutionen, Räume, Architekturen und Diskurse transportierten Konventionen, die auch durch den Blick auf den Anderen vermittelt werden. Der ‚natürliche‘ Ausdruck des Anderen differenzierte sich je nach Medium und Situation. In seinem Spätwerk, der Anthropologie in pragmatischer Hinsicht von 1798, behauptete Kant, die „Menschen“ seien „insgesamt, je zivilisierter, desto mehr Schauspieler: sie nehmen den Schein der Zuneigung, der Achtung vor anderen, der Sittsamkeit, der Uneigennützigkeit an, ohne irgendjemand dadurch zu betrügen; weil ein jeder andere, dass es hiermit eben nicht herzlich gemeint sei, damit einverständig ist, und es ist auch sehr gut, dass es so in der Welt zugeht.“76 Der Schauspieler und der Alltagsakteur ließen sich scheinbar durch den Blick auf den Anderen unterscheiden, Karl Philipp Moritz’ Anton Reiser verglich sich in diesem Sinne mit August Wilhelm Iffland, wobei das vermutete Verhältnis zwischen sichtbarer Oberfläche und ‚Innenleben‘ ausschlaggebend war. Da Reiser über Iffland als den aufmerksam beobachteten Anderen letztlich auch nur spekulieren konnte, was dessen Innenleben, Seele und Charakter betraf, wurde die Unstetigkeit der von Iffland zum Ausdruck gebrachten Affekte zum Indiz für eine nur dem ‚unehrlichen‘ Schauspieler eigenen Virtuosität und Oberflächlichkeit: „Von zehn bis elf Uhr gab der Konrektor noch eine Privatstunde im deutschen Deklamieren und im deutschen Stil“. Neben Reiser hätte allein noch einer an der Übung im Deklamieren Gefallen gefunden: Iffland. Immerhin übertraf der Schauspieler Reiser an „lebhaftem Ausdruck der Empfindung – Reiser aber empfand tiefer“. Iffland war professionell im Stande, „lebhaft durch etwas gerührt werden“, er „konnte sehr leicht und wie im Fluge etwas fassen, aber es entwischte ihm gemeiniglich ebenso schnell wieder“. Iffland besaß unzweifelhaft eine immense schauspielerische Begabung, er „hatte schon als Knabe von zwölf Jahren alle seinen Mienen und Bewegungen in seiner Gewalt – und konnte alle Arten von Lächerlichkeiten in der vollkommensten Nachahmung darstellen.“77 Diese Nachahmung bezog sich jedoch wenig oder gar nicht auf das Innenleben des Schauspielers, sondern auf das irgendwelcher Anderer. Hier wies der geschickte Schauspieler Iffland auf den Nachahmungstrieb als anthropologische Konstante. Der sich im alltäglichen Leben zivilisiert gebende Je-
75 Zum Begriff der Heterotopie vgl. Michel Foucault: „Andere Räume“, in: Karlheinz Barck (Hg.), Aisthesis, Leipzig 1992, S. 3-10. 76 Immanuel Kant: „Anthropologie in pragmatischer Hinsicht“, in: Ders., Werke in zehn Bänden, hg. v. Wilhelm Weischedel, Bd. 10, Darmstadt 1983, S. 67. 77 Karl Philipp Moritz: Anton Reiser. Ein psychologischer Roman, München 1961, S. 117f.
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dermann und der begabte Schauspieler sind, dieser Verdacht ließ sich nicht ausräumen, vielleicht nicht grundlegend, sondern nur graduell voneinander geschieden, wenn es um die Frage nach dem ‚wahren‘ Charakter des Anderen geht. Dies hat auch mit dem momentanen Bewusstsein des Angeblickten zu tun. Kant nahm ähnlich wie Kleist an, dass der „Mensch, der es bemerkt, dass man ihn beobachtet und zu erforschen sucht“, seine ‚Natürlichkeit‘, Anmut oder Grazie verliere. Er „wird entweder verlegen (geniert) erscheinen, und da kann er sich nicht zeigen, wie er ist; oder er verstellt sich, und da will er nicht gekannt sein, wie er ist.“78 Der Mensch ist ein Schauspieler, das bemerkte schon Lichtenberg und das wird später Friedrich Nietzsche noch stärker betonen, nicht nur mehr oder weniger in Abhängigkeit von seiner Begabung, sondern auch von der Situation und dem Bewusstsein, dem Blick des Anderen ausgesetzt zu sein. Diese Überlegung eröffnete die gesellschaftliche Dimension der erst mal exklusiv sich ereignenden, plötzlichen Erscheinung des Bildes des Anderen. Insofern begegnete der seit der Romantik fortschreitenden Entlegitimierung von Logik, Zurechenbarkeit und Linearität in der – soweit wie natürlich möglich – notwendigen, gerne auch taktischen wie strategischen Inszenierung der eigenen Erscheinung ein grund-legender, oft dramatischer Ausdruck, der weit über die oft konstatierte Plötzlichkeit (Karl Heinz Bohrer) in der Moderne hinausging und mit dem bis heute zu rechnen ist.
1.6 M EDIEN
DER
P RÄSENZ
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Mit dem Inszenierungs- und Theatralitätsbegriff, einem relationalen Fremdheitsbegriff und einer Sicht auf den Körper, die diesen nicht als ‚natürlich‘, sondern als Resultat einer performativen Praxis und Zuschreibung begreift, können die erkenntnistheoretisch-methodischen Folgen eines korrelationistischen Zirkels vom Idealismus über den Linguistic bis zum Performative turn79 als theoretische Basis heutiger Kunst- und Theatertheorie angenommen werden, welcher strukturell und formal Ähnlichkeiten mit der ständig sich verschiebenden Differenz, oder wie Derrida sagen würde, Differänz der ontologischen Differenz von Sein und Seiendem ähnelt. Die auf der Vorstellung der „Welt als Text“ und „Welt als Performance“ gründenden (neo-)strukturalistischen, semiotischen bzw. diskursanalytischen Ansätze wurden in zwei Richtungen weiterentwickelt. Für diese Richtungen stehen in der kulturwissenschaftlichen Forschung die Ober- oder Sammelbegriffe performative, spatial und iconic turn. Die kulturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Bild
78 I. Kant: Anthropologie, S. 401. 79 Vgl. Richard M. Rorty: The Linguistic Turn: Recent Essays in Philosophical Method, Chicago 1967.
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des Anderen hat ihren Grund hauptsächlich in der Erkenntnis der methodischen Defizite des textbasierenden Paradigmas: „It is the realization that spectatorship (the look, the gaze, the glance, the practices of observation, surveillance, and visual pleasure) may be as deep a problem as various forms of reading (decipherment, decoding, interpretation, etc.) and that visual experience or ‘visual literacy‘ might not be fully explicable on the model of textuality.“80 Nachdem die Thematik des Bildes ins wissenschaftliche Problembewusstsein rückte, sprach man vom „iconic turn“81, „imagic turn“ oder auch „pictoral turn“82. Insgesamt fügte sich dieser in ein sich stetig ausdifferenzierendes und interdisziplinär ausweisendes wissenschaftliches Feld der „visual studies“83. Diese den Eigenwert des bildhaft Anderen nicht unterschlagende Perspektive offenbart im Blick auf die Medienentwicklung vom 19. bis zum 21. Jahrhundert, dass man dieses auch als Zeitalter der optischen Massenmedien, der Spektakelgesellschaft (Debord), des Konsums als idealistische Praxis (Baudrillard) sowie der symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien (Luhmann) bezeichnen kann. Dabei stehen zwei dominierende diskursive Strategien, die bereits das 19. Jahrhundert durchziehen, zur Diskussion: auf der einen Seite die Zirkulationen als Umläufe in schnellen Genres (wie Zeitungen etc.), die zunehmende Distanz der Dinge von ihrem Gebrauchswert, gar ihrem symbolischen und konkreten Bezug zum Menschen; auf der anderen Seite, begrüßt von einer Kritik am sogenannten Charakterlosen, Entkörperlichten, Flüchtigen, die Medien der Präsenz.84 Zu diesen gehören das Ereignishafte, Anwesende genauso wie das Bildhafte und Performative – insgesamt sollte es um das Entschleunigen der substanzlosen Zirkulation gehen. In dieser Dichotomie spiegelte sich die Frage nach der Art der jeweiligen Medien, dem Ereignishaften, nach Korporalität und Bewegung in Zeit und Raum, insgesamt also die Frage nach dem Performativen neben den Artefakten, den Dingen neben den Zeichen sowie die Frage nach der Eigenart und -gesetzlichkeit der Körper, Bewegungen, Bilder und Räume. Performativität verweist hierbei auf die Iterabilität jeder Aufführung, wie das Reenactment etwa bei Milo Rau als künstlerisches Tun, Wir-
80 W. J. T. Mitchell: „The Pictoral Turn“, in: Ders., Picture Theory. Essays on Verbal and Visual Representation, Chicago 1994, S. 11-34, hier S. 16. 81 G. Boehm: Die Wiederkehr der Bilder, S. 12. 82 W. J. T. Mitchell: The Pictoral Turn, S. 11-34. 83 Vgl. Nicholas Mirzoeff (Hg.): The Visual Culture Reader, London 1999; Caroline A. Jones/Peter Galison (Hg.): Picturing Science, Producing Art, London 1998; Jonathan Crary: Techniques of the Observer. On Vision and Modernity in the Nineteenth Century, Cambridge/Mass. 1990. 84 Vgl. Jürgen Fohrmann/Andrea Schütte/Wilhelm Voßkamp (Hg.): Medien der Präsenz. Museum, Bildung und Wissenschaft im 19. Jahrhundert, Köln 2001.
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ken und Bewegung der historischen Verortung zeigt. Es bedeutet eine nachträgliche Sedimentierung semiotischer Regeln, eine Fixierung der Gestalten im Phänotext durch Repetition, welcher eine grundsätzliche Möglichkeit zur Kontext- und Bedeutungsverschiebung innewohnt, die wiederum historisch wirkungsvoll gewordenen, auch verbrecherisch ausufernden Essentialismen wie Biologismen und Wesenheiten im Nationalsozialismus den Boden entziehen könne. Sybille Krämer schreibt dem Aufführungscharakter expliziter Performativität eine iterative Qualität zu, das Medium sei die Nahtstelle, an dem Sinn aus Nicht-Sinn entsteht.85 Durch wiederholt zitierendes Handeln würden gemeinschaftsbildende Kräfte und kulturelle Rahmenbedingungen allererst etabliert. Eine „Anthropologie der Sinne“, die damit verbundene „exzentrische Positionalität“ (Plessner) und Bild-Anthropologie (Belting) wäre im Prozess fortschreitender Biologisierung und Anthropologisierung sozialer Prozesse, der mit der Moderne verbundenen Beschleunigung, Visualisierung und Medialisierung auf breiter Front und dem damit gesteigerten Verlust der Referentialität mit dem Konzept der Cultural performances zu verbinden, in denen die Kulturen ihre Selbstbilder und komplexe wie entkomplexivierte, verdichtete Selbstbeschreibungen für sich und den jeweils Anderen oder die Anderen ausprägten. Vor diesem medialen Hintergrund wäre das Theater eine mediale Institution, in der sich Theatralität als ein anthropologisches Phänomen symbolisiert. Dabei werden Regeln des Alltags, der Theatralität des Alltags im Theater-Spiel, semiotisch gesehen im Modus Zeichen von Zeichen, neu verhandelbar, es findet so etwas wie ein theatrales Probehandeln statt. So wären enge Verbindungen zwischen den Fragekomplexen und Objektfeststellungen, die unter den jeweiligen Begriffen Theatralität, Inszenierung, Medien, Bild und Performativität inklusive Korporalität und Bewegung abgehandelt werden, zu konstatieren. Medien der Präsenz des Anderen verwiesen über das Körperliche und die Betonung der Materialität, die Präsenz im Ereignis, das Prozesshafte und die Bewegung auf ihr performatives Potential.86 Die Vorstellung einer ‚Natürlichkeit‘ und ‚Authentizität‘ des Körpers ist dann nicht mehr haltbar, wenn Körper nicht nur als Ergebnis diskursiver Einschreibun-
85 Sybille Krämer: „Erfüllen Medien eine Konstitutionsleistung? Thesen über die Rolle medientheoretischer Erwägungen beim Philosophieren“, in: Stefan Münker et al. (Hg.), Medienphilosophie: Beiträge zur Klärung eines Begriffs, Frankfurt/M. 2003, S. 78-90, hier S. 89. 86 Vgl. Erving Goffman: The Presentation of Self in Everyday Life, N.Y. 1999; Milton Singer (Hg.): Traditional India. Structure and Change, Philadelphia 1959, Richard Schechner: Between Theatre and Anthropology, Philadelphia 1985; Victor Turner: Vom Ritual zum Theater, Frankfurt/M. 1989; J. Butler: Das Unbehagen der Geschlechter, D. Mersch: Ereignis und Aura.
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gen, sondern als in der Wiederholung stabilisiert und generiert angenommen werden, obwohl die kaum nachvollzieh- und markierbare Grenzlinie zwischen verschiedenen Modi des Anderen, zwischen Zeichenhaftigkeit und undeutbarer Eigenart des Körpers anhaltend Anlass zur Diskussion bietet. Bewegungen des Anderen sind nicht von Körpern zu trennen, wenn performative Akte den Anderen essentiell fundieren. Unwidersprochen bleibt in jedem Fall, dass die Präsenz der Körper perpetuierend die Bedeutungszuweisung unterläuft, stört, aufbricht. Kaum erkannt ist die Herrschaft des unbewusst Körperlichen, etwa des Dopamins als biologischunbewusste Herrschaftsinstanz.87 Insoweit stellten Medien der Präsenz eine grundlegende Herausforderung an begrifflich aufschlüsselnde Wahrnehmungs- und Interpretationspraktiken dar. Das gilt insbesondere für ihre visuelle, auditive oder taktile Komponente und Wirkung der Anmutung. Als Aufführung oder Bild des Anderen fügt sie sich ein in eine abendländische Kulturgeschichte: vom kultischen, magisch besetzten Objekt über den funktionalen Gebrauch88 und die Frage nach Mimesis und Re-Präsentation zum romantischen Bild-Verweis auf das Transzendente und anschließend zur Auflösung der realistischen Ansprüche zugunsten von Abstraktion und reiner Materialität des Anderen. Die kantsche Tradition der Wahrnehmungsphilosophien samt den nachfolgenden theoretischen Problematisierungen der Mimesisansprüche bis hin zu konstruktivistischen Vorstellungen89 und die gesellschaftliche Entwicklung zu industriellen und elektronisch-medialen Bilderwelten führten zu einer Krise der Repräsentation des Anderen.90 Seither gelingt es weder der Philosophie noch der Kunst- oder Theatertheorie, den korrelationistischen Zirkel zu verlassen, wenn man von aktuellen Ansätzen des neuen oder spekulativen Realismus absieht.91 Klar wurde, dass Repräsentation nicht ohne ihre pragmatische und performative Dimension zu definieren ist, es folglich weniger auf die Referentialität, sondern mehr auf die funktionale Einbindung des Anderen in den diskursiven Kontext ankommt, auch wenn das Reale des Anderen als wirkungsvoll-dunkler Untergrund, als dunkle Materie indirekt, unbewusst, intuitiv begehrt, fast lauernd als Fremdes anwesend zu sein scheint. Hilfreich blieb trotzdem in der Untersuchung der visuel-
87 David J. Linden: The Compass of Pleasure, N.Y. 2011. 88 Hans Belting: Bild und Kult. Eine Geschichte des Bildes vor dem Zeitalter der Kunst, München 1990. 89 Klaus Sachs-Hombach (Hg.): Bilder im Geiste. Zur kognitiven und erkenntnistheoretischen Funktion piktorialer Repräsentationen, Amsterdam 1995. 90 Gottfried Böhm: „Die Krise der Repräsentation – Die Kunstgeschichte und die moderne Kunst“, in: Lorenz Dittmann (Hg.), Kategorien und Methoden der deutschen Kunstgeschichte 1900 – 1930, Stuttgart 1985, S. 113-128, hier S. 113. 91 Vgl. Maurizio Ferraris: Introduction to New Realism, London 2015; für das Theater Bernd Stegemann: Lob des Realismus, Berlin 2015.
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len Medien weiter die Ikonologie in der Tradition von Aby Warburg92 und Erwin Panofsky93, wobei über die Untersuchung der historisch bedingten symbolischen Formen mit Pierre Bourdieu die sogenannte natürliche Wahrnehmung als kulturelle Machtpraxis ausgewiesen werden konnte.94 Wahrnehmung von Medien der Präsenz und von referenzlosen oder -armen Bildern beinhaltet immer auch ein spezifisches Verhältnis von Bild und Medium des Anderen.95 Obwohl dem Medienbegriff eine gravierende Unschärfe eigen ist,96 wären einerseits ein engerer Medienbegriff, der sich auf das Kommunikationsmittel bezieht – wie Museum, Theater, Bilderbogen, Photographie etc. –, in Anschlag zu bringen; andererseits wäre das Medium zugleich als Dispositiv, somit als mediale Anordnung, in der der Rezipient als Teil eines psychologischen Prozesses in einen umfassenden Gesamtkontext integriert erscheint, zu betrachten. Medienästhetik als je medienspezifische Form der Wahrnehmung erweist sich hierbei als Teil einer gesellschaftlichen Praxis. Damit ist der Zusammenhang zwischen gesellschaftlicher
92 Aby Warburg: Werke, hg. v. Sigrid Weigel u.a., Berlin 2010; In Warburgs Überlegungen zur Pathosformel wird bereits das Problem der Visualisierung von Bewegung thematisiert. 93 Erwin Panofsky: „Ikonographie und Ikonologie: Eine Einführung in die Kunst der Renaissance“, in: Ders., Sinn und Deutung in der bildenden Kunst, Köln 1978, S. 36-67. 94 Pierre Bourdieu: „Elemente zu einer soziologischen Theorie der Kunstwahrnehmung“, in: Ders., Zur Soziologie der symbolischen Formen, Frankfurt/M. 1970, S. 159-202. 95 Wobei festgestellt werde muss, dass dieses nicht eindeutig geklärt ist. So sind immer noch folgende Fragen offen: Ist ein Bild ein Medium? Wie beeinflussen sich Bild und Medium gegenseitig? Setzt ein Bild ein Medium voraus? Vgl. hierzu u.a.: G. Boehm: Was ist ein Bild? 96 Medien wären kurz als Formen von Kommunikations- und Rezeptionsmittel einschließlich ihrer technischen und sozialen Grundlagen definiert. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich, dass sich der Medienbegriff selbst durch eine eigentümliche Unschärfe auszeichnet, die mit seiner erhöhten Anschlussfähigkeit und seiner Prominenz in den Kulturwissenschaften seit Mitte der 1980er-Jahre positiv korreliert. Seine Entwicklung und Ausdifferenzierung umfasst den ursprünglichen Medienbegriff als magische Vermittlungsinstanz, den Medienbegriff der Kommunikationstheorie, der Medium als Kanal zwischen Sender und Empfänger definiert, wobei, wie bei Marshall McLuhan, das Medium selbst zur Botschaft verabsolutiert werden kann, den Begriff des poststrukturalistischen Mediums als Dispositiv und den systemtheoretischen und konstruktivistischen als Sozialsystem, welches mit anderen Sozialsystemen als Umwelt interagiert. Vgl. Marshall McLuhan: Die Gutenberg Galaxis. Das Ende des Buchzeitalters, Düsseldorf 1968; S.J. Schmidt: Die Welten der Medien, Braunschweig 1996; Helmut Schanze (Hg.): Handbuch der Mediengeschichte, Stuttgart 2001.
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Entwicklung und Wahrnehmungsformen des Anderen gegeben, der nicht unbedingt die technische Erfindung an den Anfang setzt, sondern diese als Folge einer vorgängigen Veränderung der Wahrnehmungsmodi versteht. Eine Mediengeschichte des Anderen wäre als Geschichte der Erfindung bzw. Einführung von Medien und als Geschichte der Veränderung der Wahrnehmungsmuster und der Wahrnehmung des Anderen selbst gleichermaßen zu begreifen.
1.7 M IMESIS ,
MEDIALES B EWUSSTSEIN UND DIE ARISTOTELISCHE T RADITION
Hierbei war in der Zeit um 1800 von einer besonderen Veränderung in den Wahrnehmungsmustern des Anderen auszugehen. Mimesis eröffnete den Anschluss an die Dramaturgie in der Tradition des Aristoteles. Für diesen waren Ideen als Wesenheiten der Dinge nicht von diesen zu differenzieren, sie wurden nicht ontologisch der sinnlichen Welt im Voraus gegeben. Letztlich seien Ideen Resultate des Geistes.97 In der abendländischen Tradition war die Nachahmung des Anderen eine der Hauptmotivationen der Arbeit der Künstler. Nur ging es der Kunst vor dem Hintergrund einer Metaphysik des Schönen nicht um die faktische Welt als Welt der Immanenz, sondern um die der Transzendenz. Nach Alexander Gottlieb Baumgarten bemühte sich Kunst weiterhin um eine metaphysische Ausrichtung, nicht bloß um Nachahmung, sondern um Vollendung der Natur. Der Künstler als Genie besäße eine außerordentliche Verbindung zum Wesen der existenziell gegebenen Welt als das Andere, das „sich im ‚schönen Ideal‘ auffinden lässt, anders gesagt: im ‚medialen‘ Ideal.“98 In der direkten Anmutung von gegebener Schönheit schien der Sinn einer höheren Wirklichkeit auf. So eröffne das Schöne „medial den Zugang zu einer höheren Sphäre, der Sphäre des Ethischen.“99 Dies erlaubte der Systematisierung der Physiognomik bei Lavater vermeintlich sowohl einen theologischen wie auch ästhetischen Zugang zum Anderen. Das gitterstrukturierte und -strukturierende Velum zur Fixierung und Erschließung des Bildausschnittes, Camera obscura, Camera lucida, Daguerreographie und Photographie waren technisch-mediale Antworten im Dispositiv, auf die mediale Konstellation zum schönen Ideal – nicht zuletzt auch der panoramatische Blick in A. v. Humboldts Kosmos, der mit seinen idealistischen Aufzeichnungsrastern noch Darwin beeinflussen wird. Bei dieser Abfolge der technischen Erfindungen und Entwicklungen wurden Schnittmengen zwischen dem optischen Wissen der Wis-
97 R. Matzker: Ästhetik der Medialität. 98 Ebd., S. 30. 99 Ebd.
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senschaftler und den Erkundungs- und Wahrnehmungserfahrungen der Künstler fruchtbar. Meilensteine waren Johannes Keplers 1604 erschienene Paralipomena und Isaak Newtons Optik aus dem Jahr 1704. Berkley, Hume und Kant reflektierten Wahrnehmungsbedingungen und Kausalitätszuschreibungen, machten sich Gedanken über Perzeption, Apperzeption und Reflexion. In der Moderne relativierte die ästhetische Subjektivierung die Relevanz der Mimesis, auch wenn der zunehmende Positivismus eine neue Form des Weltzugangs forcierte, der insbesondere den Naturalismus prägen wird. Subjektivität auf der einen Seite bis hin zum Persönlichsten, der auf der anderen Seite das Empirische entgegenarbeitete, amalgamierte zunehmend mit der künstlerischen Arbeit, leitend blieb Rousseaus Forderung nach der Naturwahrheit. Der Beobachtung des Anderen konnte, mit Luhmann, nur die Beobachtung der Interaktion der Anderen als Beobachtung 2. oder höherer Ordnung beigesellt werden, was die Moderne prägende Paradoxa provozierte, etwa in der Beobachtung bürgerlicher Liebe. Zugleich führte die moderne Konstellation zur ontologischen, pikturalen und mimetischen Differenz und zu differenten medialen Spezifitäten des Mediums in der Geschichte. In der synchronen Perspektive stellt sich die Frage nach den komplexen Verhältnissen, Positionsbestimmungen und Interaktionen innerhalb der Medienkonstellationen bzw. des Dispositivs als Modell der Komplexität der Medien und der angeschlossenen Wahrnehmungsmuster des Anderen und nach den Wirkungen auf die Struktur der Öffentlichkeit.100 Wie McLuhan zeigen konnte, bedingten Veränderungen in der Medienlandschaft einer Gesellschaft Veränderungen in der Wahrnehmung, somit haben Medien einen entscheidenden Einfluss auf die Wahrnehmung und Inszenierung von Wirklichkeit. Hierzu wären Bildmedien untereinander zu kontextualisieren.101 Inszenierte Ereignisse erwiesen sich oft als plurimediale Ereignisse, sodass neben einer Theorie der Medien auch eine der Intermedialität eingeführt werden musste.102 Als Hybridisierung bezeichnet man hierbei die Interaktion textueller, visueller und akustischer Medienformen103, die man in einem engeren, sozusagen ereignisbezogenen, oder einem weiteren Verhältnis (d.h. wenn dem Austausch bzw. der Zirkulation von Zeichen die Interaktion von verschiedenen Medien-
100 Einführend wäre hier zu nennen Jürgen Habermas: Strukturwandel der Öffentlichkeit, Frankfurt/M. 1983. 101 So dienten Fotografien von fremden Kulturen als Vorlagen für Holzschnitte, Stahlstiche und Lithographien, die ihrerseits Bildwelten schufen, die mit performativen Elementen anderer Medien der Präsenz in einem Austausch der Zeichen standen. 102 Vgl. Irina O. Rajewsky: Intermedialität, Tübingen 2002. 103 Irmela Schneider/Christian W. Thomsen (Hg.): Hybridkultur: Medien, Netze, Künste, Köln 1997; Avtar Brah/Annie Coombes: Hybridity and its Discontents. Politics, Science, Culture, London 2000.
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formen in einem gesellschaftlichen, mentalitätsprägenden Vorstellungshorizont korreliert) feststellen und untersuchen kann.104 Das 19. Jahrhundert erwies sich als historische Zeit des Übergangs von Individual- zu Gruppen- und schließlich Massenmedien bzw. symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien des Anderen, in ihm wurden neben den technischen auch die wirtschaftspolitischen und gesellschaftlichen Voraussetzungen für eine medienbezogene Öffentlichkeit geschaffen.105 Zunehmend sprach man von populären Medien, sie können als Vorlauf aller heutigen Medienformen gelten, von den medialen Erscheinungen der Massenkultur bis zur Orientierung an der Quote, Ranglisten differenter Kauf-, Wahl-und Zugriffsakte wie Likes, Bestsellerlisten, Charts, Wahlergebnisse, Börsenkurse, Meinungsumfragen, wissenschaftliche Paradigmen und sogar moralische Entscheidungen.106 Insbesondere für diesen Zeitraum ist von einem gewissen Grad der Medialisierung des Anderen und – damit zusammenhängend – den Veränderungen von Wahrnehmungsperspektiven und -arten, von Inhalten, aber auch Formen, inklusive Zeitund Raumvorstellungen, auszugehen – Stichworte wären hier Vervielfältigung, Entzeitlichung und Enträumlichung, Bewegung und Beschleunigung. In Anlehnung an Walter Benjamin, der den Film als Korrelat der Wahrnehmungsveränderungen aufgrund von beschleunigten Wahrnehmungserfahrungen im Alltag zu Beginn des 20. Jahrhunderts verstand, und McLuhan, der einen frühen Beschleunigungsimpuls mit Buchdruck und Alphabetisierung erkannte, wären beschleunigte Bewegungsmuster und deren Auswirkungen im Alltag auf die Wahrnehmung seit dem 19. Jahrhundert anzunehmen.107
104 Vgl. Roland Barthes: „Rhetorik der Bilder“, in: Ders., Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn. Kritische Essays III, Frankfurt 1990, S. 28-46. Obwohl Barthes früh das Bild als code-lose Botschaft bezeichnet, als reines Analogon – „Die Fotografie als Botschaft“, in: Ders., Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn. Kritische Essays III (1961), Frankfurt 1990, S. 11-27 –, geht er in seiner letzten Arbeit – Die helle Kammer. Bemerkung zur Photographie, Frankfurt/M. 1985 – von einer eigentümlichen Faszination der Fotografie aus, von einem Dabeigewesensein, und differenziert das Konventionalisierte als Studium von einem Moment der Referentialität, dem Punctum. 105 Geklärt werden muss, ob sich eine medial inszenierte Öffentlichkeit im 19. Jahrhundert soweit geschlossen hat, dass es den Medien zukommt, allen gesellschaftlichen „Funktionssystemen eine gesellschaftsweit akzeptierte, auch den Individuen bekannte Gegenwart“ zu garantieren, „von der sie ausgehen können“, so Niklas Luhmann: Die Realität der Massenmedien, Opladen 1996, S. 176. 106 Thomas Hecken: Populäre Kultur, Bochum 2006. 107 Klaus Beck: Medien und die soziale Konstruktion von Zeit. Über die Vermittlung von gesellschaftlicher Zeitordnung und sozialem Zeitbewusstsein, Opladen 1994; Kay
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Performative und bildwissenschaftliche Ansätze bewährten sich im ethnologischen Untersuchungsfeld. In Umkehrung des ethnologischen Blicks auf schriftlose bzw. schriftarme Kulturen, deren Events (Feste, Umzüge, Wettkämpfe etc.) von Milton Singer als Cultural Performances108 bezeichnet wurden, vom Fremden auf das Eigene geht es um eigene und fremde kulturelle Identität in der Untersuchung der Medien der Präsenz seit dem 19. Jahrhundert. Dabei ergeben sich für den ethnologischen Blick nach Außen und nach Innen sowohl bezüglich der visuellen als auch der medialen Komponente aufschlussreiche Beobachtungsfelder, die Thema der visuellen Anthropologie109 und der Cultural Studies110 sind. Diese wiederum bilden eine ergebnisträchtige Schnittmenge, wenn performative Darstellungen des Körpers und der Bewegung aus kulturwissenschaftlicher Perspektive untersucht werden.
Kirchmann: Verdichtung, Weltverlust und Zeitdruck. Grundzüge einer Theorie der Interdependenzen von Medien, Zeit und Geschwindigkeit im neuzeitlichen Zivilisationsprozess, Opladen 1998. 108 M. Singer (Hg.): Traditional India. 109 Auch in der visuellen Anthropologie tritt der Bereich Körper und Bewegung als zu untersuchendes Problemfeld in den Vordergrund. Denn der Einsatz von technischen Medien wie Fotografie und Film in der Untersuchung von kulturellen Aspekten, die sich dem bloßen Blick des Forschers, der unmittelbaren Wahrnehmung ohne technische Hilfsmittel entziehen, galt auch oder gerade den kinetischen und proxemischen Elementen des ‚fremden‘ Verhaltens. So initiierten Arbeiten wie die von Gregory Bateson und Margaret Mead: Balinese Charakter. A Photographic Analysis, London 1942, ein neues Untersuchungsfeld. Spontanes körperliches Verhalten wurde hier durch technische Medien erst spezifisch sichtbar, sodass in den 1960er-Jahren die Reflexion über diese Methode in der Kulturanthropologie begann und diese die Anfänge der visuellen Anthropologie begründete. Der Verdienst der visuellen Anthropologie lag unter anderem darin, neben der Schrift das Bild, später die Performanz als nicht zu unterschätzenden Teil der Aneignungsmuster bezüglich des Fremden kenntlich zu machen, vgl. John und Malcolm Collier: Visual Anthropology. Photography as a Research Method, N.Y. 1967. 110 Hier wäre unter anderem John Fiske zu nennen, der mit seinen Populärkulturanalysen eine prominente Position innerhalb der Cultural Studies einnimmt. Ihm geht es um die alltäglichen Praktiken der Populärkultur, deren Teilnehmer ihr Erfahrungs-, Sinn- und Identitäts-Ziel im Konsum von populären Vergnügen finden. Dabei treten jenseits eines üblichen High/Low-Schemas und über die rein soziologischen Kategorien wie Klassenzugehörigkeit hinaus aktive Prozesse des populären Vergnügens in den Vordergrund, deren Ereignischaraktere Anschlüsse an den Performativitätsgedanken zeitigen; John Fiske: Understanding Popular Culture, London 1989; ders.: Media Matters, London 1994. Vgl. dazu auch Gerhard Schulze: Die Erlebnisgesellschaft, Frankfurt/M. 2000.
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Hierbei werden die Dinge im Wahrnehmungsakt innerhalb des korrelationalistischen Zirkels, wird das uns Begegnende als das Andere medial. Phänomenologisch gesehen könne man die Tradition von Husserl bis zur aktuellen Wahrnehmungspsychologie als Wahrnehmungsmedialität verstehen, da erst die Bedeutungszuweisungspotenz des Erkenntnisapparats zwischen Sinn und Nichtsinn, Relevantem und Nichtrelevantem, Gestalt und Hintergrund, Anderem und ganz Anderem differenziert. Ähnlich argumentiert heutige Hirnforschung, Sehen gilt als performativer Akt aktiver Informationsbeschaffung. Gestalt, Bewegung und Stimme des Anderen werden durchaus analog der medialen Spezifitäten ästhetischer Medien wie Theater, Film und Photographie vom Gehirn auf der Basis der von den Sinnesorganen gelieferten Informationen interpretiert und konstruiert, Shea spricht sogar von einem cineastischen Bewusstsein der visuellen Welt.111 Im Anschluss an eine Hypothesentheorie der Wahrnehmung könnte man dies als theatrales Bewusstsein des Anderen bezeichnen, dem darüber hinaus eine bedeutende intuitive Basis des Unbewussten unterlegt ist. An die Erscheinung des Anderen werden Gestalten, auch Stereotypen, und Erfahrungen herangetragen, die zusammen mit den bereits selektierten Informationen, deren Relevanz und Prägnanz, die Wahrnehmung prägen.
1.8 T HEATER
IM SKOPISCHEN
R EGIME
Das Theater war als eines der wirkungsmächtigsten Massenmedien der damaligen Zeit ein Teil des seine bis heute anhaltende Herrschaft einrichtenden skopischen
111 Michael O’Shea: Das Gehirn, Stuttgart 2008, S. 100: „Die Augen werden durch das Gehirn gesteuert und bewegen sich rastlos in alle möglichen Richtungen. Scharfes Sehen ist wie bereits erläutert nur möglich, wenn das Licht eines Gesichtsfeldbereichs, der genauer betrachtet werden soll, direkt auf die Fovea fällt. Dieser Bereich gibt nur einen sehr kleinen Ausschnitt wieder, in dem wir scharf sehen können. Um also eine zusammenhängende Wahrnehmungsfolge (einen Film im Kopf) zu erzeugen, müssen die Augen ständig bewegt werden. Die Augen betrachten in rascher Folge stets neue Sehfeldausschnitte, auf die sie sich jeweils kurzzeitig konzentrieren. Auf diese Weise ermöglichen sie es dem Gehirn, einen ‚Schnappschuss‘ mit hoher Auflösung aufzunehmen. Aus einer Reihe dieser aufeinander folgenden Aufnahmen erstellt das Gehirn dann jenes Bild der Außenwelt, das in unserem Bewusstsein auftaucht.“ Mehrere „Hirnareale müssen also zusammenarbeiten, um sämtliche Berechnungen durchzuführen, die erforderlich sind, die von den Augen gelieferten Informationen in die Wahrnehmungsfülle zu verwandeln, aus der unser cinematisches Bewusstsein der visuellen Welt besteht.“
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Regimes.112 Seinem visuellen oder bildlichen Anteil kommt eine besondere Bedeutung zu, wiewohl es heute im europäischen Raum primär zum Kunstmedium zwischen Theater der Erfahrung und hermeneutisch grundiertem Regietheater geworden ist. Mit dem Rekurs auf das Bild des Anderen im ‚Rahmen‘ des Theaters und damit auch auf das Theaterbild ist die Frage nach der Funktion des Bildes im Theater angesprochen. Schon seit einiger Zeit wird der Performanz und dem visuellen Charakter eines theatralen Ereignisses113 eine erhöhte Aufmerksamkeit zuteil.114 Zwar sprach man schon zuvor von einem Theater des Rituals115 bzw. einem Theater der Erfahrung bzw. der Bilder116 und mit der „Erfindung der Bildersprache für das Theater“ sollte bereits in den 1970er-Jahren die „Herstellung einer neuen Sinnlichkeit“ verbunden sein.117 Robert Wilsons einflussreiche Inszenierungen wurden viel-
112 So war nach Alois Eder das Wiener Volkstheater generell das „damals bestfunktionierende Massenmedium der Stadt“. Vgl. ders.: „Die geistige Kraft der Gemeinheit. Zur Sozialgeschichte der Rezeption Nestroys“, in: Jürgen Hein (Hg.), Theater und Gesellschaft. Das Volksstück im 19. und 20. Jahrhundert, Düsseldorf 1973, S. 133-153, hier S. 135. 113 Vgl. u.a. Christopher Balme: „Stages of Vision. Bild, Körper und Medium im Theater“, in: Ders./Erika Fischer-Lichte/Stephan Grätzel (Hg.), Theater als Paradigma der Moderne?, Tübingen 2003, S. 49-68; Günther Heeg: „Die Sinnlichkeit der Bilder. Racine – Diderot – Wilson – Brecht – Müller“, in: Ders., Klopfzeichen aus dem Mausoleum, Berlin 2000, S. 39-66. 114 Dies korreliert mit einer allgemeinen gesellschaftlichen Reflexion und Kritik der Bilderwelt: „Die Menschen leben heute nicht in der Welt. Sie leben nicht einmal in der Sprache. Sie leben vielmehr in ihren Bildern, in den Bildern, die sie sich von der Welt, von sich selbst und von den anderen Menschen gemacht haben, die man ihnen von sich selbst, von der Welt und von den anderen Menschen gemacht hat. Und sie leben eher schlecht als recht in dieser imaginären Immanenz. Sie sterben daran. Es gibt beim Höchststand der Bildproduktion massive Störungen.“ Daher „wäre es an der Zeit, aus der selbstproduzierten Bilderhöhle, die dabei ist, sich zu verschließen, auszubrechen.“ Somit „wäre der entgegengesetzte Weg der übertriebenen Ekstase angezeigt. Man sucht den Ausgang durch die Bilder hindurch. Man sucht ein Jenseits der Bilder in den Bildern selbst aufzufinden“; Christoph Wulf (Hg.): Vom Menschen, Weinheim 1997, S.591. 115 Richard Schechner: The Future of Ritual, N.Y. 1993. 116 Vgl. Peter Simhandl: Bildertheater. Bildende Künstler des 20. Jahrhunderts als Theaterreformer, Berlin 1993. 117 Günther Rühle: Theater in unserer Zeit, Frankfurt/M. 1980, S. 224. Wiederabdruck von: Ders.: „Die Erfindung der Bildersprache für das Theater. Die Herstellung neuer Sinnlichkeit“, in: FAZ vom 30.9.1972, S. 15.
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fach als Bildertheater begriffen und einem größeren Teil des avancierten, experimentellen Theaters der Gegenwart wird eine Dominanz der Bildsprache nachgesagt. Aber erst seit einiger Zeit wird in Betracht gezogen, die Theaterwissenschaft ebenfalls als Bild-Wissenschaft zu verstehen. Da immer dann, wenn etwas mehr in den Vordergrund gerät, anderes zurücktreten muss, ist nicht auszuschließen, dass das Interesse für das Bild in mancher Hinsicht der Marginalisierung, wenn nicht oft Diskriminierung des dramatischen Textes in der Theaterwissenschaft sowie der forcierten Analyse des medialen bzw. intermedialen Systems eines theatralen Ereignisses geschuldet ist. Hinzu kommt eine mit der Medialisierung und Computerisierung der globalisierten Welt seit Mitte der 1980er-Jahre einhergehende, heute nicht mehr so apodiktisch vertretene These, dass sich die Schrift- tendenziell oder ganz in eine Bildkommunikation transponieren wird. Vilém Flusser als der prominenteste Apologet dieses Paradigmenwechsels referierte die Folge eines Universums der technischen Bilder: „Wenn Texte von Bildern verdrängt werden, dann erleben, erkennen und werten wir die Welt und uns selbst anders als vorher: nicht mehr eindimensional, linear, prozessual, historisch, sondern zweidimensional, als Fläche, Kontext, als Szene. Und wir handeln auch anders als vorher: nicht mehr dramatisch, sondern in Beziehungsfelder eingebettet.“118 An dieser Aussage, welche die seit dem Ende der 1970er-Jahre virulente postmoderne Vorstellungswelt reflektiert, wird der Zusammenhang zwischen performativen Theaterformen und der zunehmenden Bedeutung bildlicher Strukturen deutlich. Obwohl demnach zumindest in performativen Theaterformen das Visuell-Bildliche so deutlich in den Vordergrund tritt, dass das Bild als Rahmen-Bild des Anderen verschwinden mag, muss man sich trotzdem die Frage stellen, ob der visuelle Anteil im Theater wirklich gestiegen ist oder ob er in der Vergangenheit nicht einfach generell zu wenig beachtet wurde. Anstatt eines zyklischen Hervortretens und eines völligen Verschwindens des Bildes auf der Bühne der Theatergeschichte ist eher ein immerwährendes Spannungs- und Komplementärverhältnis zwischen Bild- und anderen Elementen des Theaters anzunehmen. Das Bildlich-Visuelle des Anderen wird zwar im jeweiligen theatralen Ereignis graduell mehr oder weniger stark betont, bleibt jedoch in jeder historischen und zeitgenössischen Theaterform ein unabdingbarer Teil des Ganzen, folglich ein Grundkonstituens des Theaters.
1.9 K ULTUR
ALS
Z WISCHENWELT
Wenn Sigmund Freud feststellt, dass an der Interaktion zweier Individuen vier ‚Personen‘ beteiligt sind, nämlich die Vorstellung des einen von sich und dem Anderen
118 Vilém Flusser: Ins Universum der technischen Bilder, Göttingen 1985, S. 9.
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und die Vorstellung des Anderen von sich und dem Anderen,119 dann geht es nicht nur um eine persönliche Begegnung, sondern auch um eine gesellschaftsbildende und -erklärende Grundkonstellation, wie sie Simmel als Ambivalenz des sozialen Gewebes ausmacht: Einerseits funktioniert die Kultur als Instrument zur Verbindung von Subjekt und Objekt sowie zur Herstellung des Weges der Seele über das unhintergehbare, determinierte Muster der Werke der Kultur zu sich selbst als individuelle Bedeutung des Subjekts. Andererseits ist der Preis für das Individuum die Annahme der Normen der Kultur. Die Simmelsche Tragödie der Kultur als Folge der das Subjekt zwar konstituierenden, aber zugleich von sich selbst abspaltenden Souveränität des objektiven, fixierenden Geistes, der Paul Valéry mit seinem Mr. Teste ein literarisches Denkmal gesetzt hat, bedingt, dass sich zwischen die Individuen etwas schiebt, was man eine Wand, einen Schirm, einen Diskurs oder ein Geflecht nennen mag – theatral fokussiert das, was Artaud als das Logozentrische im Theater stört.120 Das Subjekt nimmt das Ich und den Anderen als spezielle mediale Ausprägung des Kulturtextes wahr. Generell: Es geht immer um Ich und den Anderen als Projektion, um den Schirm bzw. Text dazwischen und die Gestalt bzw. Gestaltung zwischen Geno- und Phänotext. Mit John Berger ist das Ich nicht mehr der „Urheber der Bilder – sondern des Bildausschnittes, des Kontextes“. Hierfür werden die Bildwelten und die entsprechend-moderne Modalität des Sehens in der Zeit der Spätaufklärung, der Romantik und im langen 19. Jahrhundert angelegt. Insbesondere mit der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert entsteht eine panoramatische Sehweise, die den „simulatorisch-mimetischen Auftakt einer Visualisierung auf breiter Front, einer neuen Vorherrschaft der visuellen Verzeichnung der Welt“ markiert.121 Die von Norbert Elias untersuchte Zivilisationsentwicklung122 als
119 Sigmund Freud: Briefe an Wilhelm Fließ 1887-1904, Frankfurt/M. 1986. 120 Man kann den kulturellen Schirm in den Cultural Performances phänomenologisch mit Merleau-Ponty, psychoanalytisch mit Freud und Lacan, ontologisch mit Heidegger, systemtheoretisch mit Luhmann, evolutionsbiologisch mit Eibl, medientheoretisch, wahrnehmungspsychologisch oder hirnphysiologisch verstehen, immer geht es um den Blick des Individuums, das zugleich ein Angeblicktsein bedeutet, das wiederum durch den Blick bestimmt wird. Dabei bleibt die Frage nach der Akteur/Struktur- bzw. Akteur/Schirm-Dichotomie weiterhin virulent, analog zur nicht aufzulösenden Ambivalenz zwischen einer Phänomenologie der Erfahrung auf der einen und so etwas wie die Determination durch ein kulturelles Geflecht, einer blickbestimmenden Struktur aus dem kulturellen Gedächtnis, einer unendlichen Bibliothek auf der anderen Seite. 121 Götz Großklaus: Medien-Zeit. Medien-Raum. Zum Wandel der raumzeitlichen Wahrnehmung in der Moderne, Frankfurt/M. 1997, S. 115. 122 Norbert Elias: Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und phylogenetische Untersuchungen, 2 Bd., Frankfurt/M. 1978.
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Anstieg der Sensibilität korreliert nach Simmel mit dem Individualisierungszwang des modernen Menschen samt gewachsener Personalität, Autonomie und Freiheit in der Auswahl seiner Bindungen: „Mit seiner teils unmittelbar sensuellen, teils ästhetischen Reaktionsweise“ könne sich der moderne Mensch „nicht mehr ohne Weiteres in traditionelle Einengungen, in enge Bindungen begeben, in denen nach seinem persönlichen Geschmack, nach seiner persönlichen Empfindlichkeit nicht gefragt wird. Und unvermeidlich bringt dies eine größere Isolierung, eine schärfere Umgrenzung der personalen Sphäre mit sich.“123 Zwischen das Individuum und die Umwelt des 19. Jahrhunderts schiebt sich nach Walter Benjamin und Richard Sennett die Distanz des bürgerlichen Blicks, der sich beobachtet fühlt und der selbst alles Andere beobachtet, aber nichts berührt.124 Die gesehenen Bilder des Anderen werden immer mehr zu einer virtuellen Welt, nachdem Panorama und Diorama, der Bilderbogen, die Fotografie, der Film und später die elektronischen Medien das Bild der Welt durch Medienbilder substituieren. Sukzessive scheinen die Zeichen arbiträrer und die Referenten prekärer zu werden. Dies wäre der mediale Kontext, welcher Jacques Lacan zur Vorstellung motivierte, dass der zwischen dem Ich und dem Anderen aufgespannte Schirm, der das eigene Sehen und den Blick des Anderen sowohl ermöglicht als auch grundsätzlich trennt, immer undurchdringlicher zu werden scheint. Zugleich gewinnt der von der Naturgeschichte eröffnete und von der Biologie weiterentwickelte Wahrnehmungshorizont an qualitativer wie quantitativer Entfaltungsmöglichkeit: Auf der einen Seite sieht man den „Mensch(en) als nicht festgestelltes Tier“ (Nietzsche), dieser gestaltet mit Macht das Bild des Anderen, auf der anderen Seite grundieren Prädarwinismus, Biologismus, Darwinismus und Sozialdarwinismus einen Essentialismus oder Substanzialismus, der in einem totalitären Herrschaftsdiskurs bis zum dunkelsten Punkt der Menschheitsgeschichte in den Bloodlands auswächst.125 Dramatische Medien, theatrale Darstellungen, aber auch Dinge, Netzschemata oder Werkzeuge vermitteln dem Menschen nun seine ‚Wirklichkeit‘. Paradoxerweise sind es diese Medien, die uns den Anderen und uns selbst als Anderen zugänglich machen, währenddessen sie den direkten unmittelbaren Zugang verhindern. Mit Nietzsche, Artaud, Grotowski, Schechner, Pollesch, Jelinek
123 Georg Simmel: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung. Gesamtausgabe Bd. 11, Frankfurt/M. 1992, S. 734. Vgl. hierzu auch: Gunter Gebauer/Christoph Wulf: Spiel-Ritual-Geste. Mimetisches Handeln in der sozialen Welt, Reinbek 1998, S. 270. 124 Vgl. hierzu Walter Benjamin: Das Passagen-Werk, Frankfurt/M. 1992; Richard Sennett: Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. Die Tyrannei der Intimität, Frankfurt/M. 1983. 125 Vgl. Timothy Snyder: Bloodlands. Europe Between Hitler and Stalin, N.Y. 2010.
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und Perceval sucht man nach der Unähnlichkeit, weil die Ähnlichkeit des Anderen in den Alltagsmasken dramatisch totalitär wäre. Byung-Chul Han spricht mit Baudrillard von der Hölle des Gleichen, die Wahrnehmung des Anderen würde so eingerichtet, dass eine Erfahrung des Anderen kaum mehr möglich sei. In der ambitionierten TV-Serie, der sogenannten Qualitäts- oder Autorenserie als für einige momentan avancierteste Erzählform hingegen wird, von The Wire über True Detectives bis Gomorrah, ein dramatisch-realistisches Angebot gemacht, das die dramatische Tradition von Shakespeare über den Sturm und Drang, Büchner, Otto Brahm bis zu Stanislawski aktualisiert, um den Krisen der Gegenwart adäquat zu begegnen. Dies alles vor dem Hintergrund der Annahme, dass sich, so Han, das narzisstische Ego nun vollends totalisiert habe; von Kants Rückzug auf das erkennende Subjekt bis zur Eigenpräsenz der heutigen Performer – nun gefangen im korrelationistischen Zirkel. Das hegelsche Ganze ist schon lange nicht mehr das Wahre. Adorno und Horkheimer entlarvten in ihrer Dialektik der Aufklärung die Kulturindustrie als Hort der Anti-Aufklärung: „Kultur schlägt heute alles mit Ähnlichkeit“.126 Standardisierung, Serienproduktion und Trivialisierung führten vor allem seit der Einführung des Fernsehens zu einem internationalen Klima des Anti-Intellektualismus. Adorno bezeichnete in Noten zur Literatur die Kunst als das widerständig Andere (Kafka, Beckett), als das Nicht-Identische; Gilles Deleuze verstand Kunst/Idee als das, was sich der Vernetzung entziehe. In Sein und Zeit arbeitete Heidegger heraus, wie sich der „‚Subjektcharakter‘ des eigenen Daseins und der Anderen“ existenzial bestimme, das bedeute, „aus gewissen Weisen zu sein. Im umweltlich Besorgten begegnen die Anderen als das, was sie sind; sie sind das, was sie betreiben.“ Dieses Betreiben kann mit dem dramatischen Tun, in der Begegnung mit dem Anderen mit dem Dialog oder Konflikt verstanden werden: „Im Besorgen dessen, was man mit, für und gegen die Anderen ergriffen hat, ruht ständig die Sorge um einen Unterschied gegen die Anderen, sei es auch nur, um den Unterschied gegen sie auszugleichen, sei es, daß das eigene Dasein – gegen die Anderen zurückbleibend – im Verhältnis zu ihnen aufholen will, sei es, daß das Dasein im Vorrang über die Anderen darauf aus ist, sie niederzuhalten. Existenzial ausgedrückt, es hat den Charakter der Abständigkeit.“ Das hat Folgen für das Leben in Gesellschaft der Anderen, für Heidegger steht das Dasein als „alltägliches Miteinandersein in der Botmäßigkeit der Anderen. Nicht es selbst ist, die Anderen haben ihm das Sein abgenommen. Das Belieben der Anderen verfügt über die alltäglichen Seinsmöglichkeiten des Daseins“. Damit wären die Anderen keineswegs „bestimmte Andere. Im Gegenteil, jeder Andere kann sie vertreten. Entscheidend ist nur die unauffällige, vom Dasein als Mitsein unver-
126 Max Horkheimer/Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung, Frankfurt/M. 1980, S. 228.
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sehens schon übernommene Herrschaft der Anderen. Man selbst gehört zu den Anderen und verfestigt ihre Macht. ‚Die Anderen‘, die man so nennt, um die eigene wesenhafte Zugehörigkeit zu ihnen zu verdecken, sind die, die im alltäglichen Miteinandersein zunächst und zumeist ‚da sind‘. Das Wer ist nicht dieser und nicht jener, nicht man selbst und nicht einige und die Summe Aller. Das ‚Wer‘ ist das Neutrum, das Man.“127 Auf dieser Ableitung des Man aus dem Anderen bzw. des Anderen aus dem Man baut die intellektuelle Entwicklungslinie von Sartre, Lacan, Foucault bis Butler, auch Jelinek auf. Hinzu kommt die Vorstellung der in der ständig offen gehaltenen Frage liegenden Performativität des Denkens, des heideggerschen Denkens als Vollzug, als Geno- und nicht als Phänotext. „Abständigkeit, Durchschnittlichkeit, Einebnung konstituieren als Seinsweisen des Man das, was wir als ‚die Öffentlichkeit‘ kennen.“128 Heidegger denkt Kristeva – Ich ist ein Anderer wird zu Fremde sind wir uns selbst129 – und Baudrillard früh voraus: „Jeder ist der Andere und Keiner er selbst. Das Man, mit dem sich die Frage nach dem Wer des alltäglichen Daseins beantwortet, ist das Niemand, dem alles Dasein im Untereinandersein sich je schon ausgeliefert hat.“130 Das heideggersche Man ist in diesem Sinne eine ständige Herausforderung für ein performatives Theater der Erfahrung gerade vor dem Hintergrund einer Phänomenologie der Erfahrung. Erkennen/Verkennen ereignet sich auf der Basis der ontologischen Differenz zwischen Sein und Seiendem, die Hypothesentheorie der Wahrnehmung eröffnet den Closed Circuit des korrelationistischen Zirkels, das Man wird zum Geflecht oder zum Schirm. Die im kybernetischen Kreislauf persistierenden mentalen Stereotypen füttern den foucaultschen ortlosen Blick. Eine radikale Säkularisation der göttlichen Allschau, die Jeremy Bentham um 1790 mit seinem Panopticum zitierte,131 drückt sich im öffentlichen Theater aus. Die bekannte Einrichtung des Strafvollzugs als Modell aus Foucaults Überwachen und Strafen sollte ihre Hauptwirkung in der „Schaffung eines bewußten und permanenten Sichtbarkeitszustandes beim Gefangenen, der das automatische Funktionieren der Macht sicherstellt“ haben.132 Damit initiierte Foucault ein Modell von Gesellschaft, das nicht mehr eine des Schauspiels ist, sondern eine Gesellschaft der Überwachung des Anderen. Das bürgerliche Individuum wäre „nicht auf der Bühne und nicht auf den Rängen. Son-
127 Martin Heidegger: Sein und Zeit, Tübingen 2001. 128 Ebd., S. 127. 129 Julia Kristeva: Fremde sind wir uns selbst, Frankfurt/M. 1990. 130 M. Heidegger: Sein und Zeit, S. 128. 131 Vgl. auch Stefan Oettermann: Das Panorama. Geschichte eines Massenmediums, Frankfurt 1980, S. 35. 132 Michel Foucault: Überwachen und Strafen, Frankfurt/M. 1994, S. 258.
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dern eingeschlossen in das Räderwerk der panoptischen Maschine, das wir selber in Gang halten – jeder ein Rädchen.“133 Somit ist das Individuum dem ortlosen Blick des Anderen unterworfen, dem wir aber niemals begegnen, geschweige denn, den wir erwidern können, weil sich dieser keinem Subjekt zuordnen lässt. Das wahre Subjekt begegnet uns allein im Blick des Anderen als ganz Anderen. Der Mensch ist, (evolutions-)biologisch oder genetisch verstanden, dem anderen Menschen dabei dennoch außerordentlich ähnlich. Vor etwa 40 000 Jahren transformierte sich die Entwicklung von der biologischen zur kulturellen. Annähernd exponentiell stiegen infolgedessen die Differenzierungen zwischen den Menschen in einer unglaublichen kulturellen Evolution. Erzeugt wurden Konflikte und Dialoge, eine Dialektik als Motiv und Motor der rasanten Entwicklung, die in der Moderne dann noch einmal zusätzlich an Fahrt gewonnen hat. Dieses prägte sich bis heute im traditionellen Drama und Theater des Konflikts aus, das sich jedoch in der immer schneller werdenden Entwicklung in der Dekonstruktion selbst zu überholen bzw. im unendlichen Regress auszulaufen droht – erst recht im Theater bzw. in Medien der Erfahrung des Anderen, welche die Grenzen der Repräsentation zu sprengen suchen. Es theatralisiert oder ereignet sich in der richtungslosen Freisetzung des Unbewussten, von der reinen surrealistischen Tat über die assoziative Montage des surrealen Films und Polleschs Dramaturgie bis zu Jelineks Aussage, sie wäre eine Triebtäterin.
1.10 E RKENNEN /V ERKENNEN
DES
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Insbesondere in der Zeit um und nach 1800, als die alte Subjekt-Objekt-Verbindung seit René Descartes in die Dichotomie einer isolierten Subjektivität und einer isoliert materiellen Verfügung über alle Gegenstandsbereiche zerfiel und in welcher in der gesellschaftlichen und ästhetischen Orientierung die ‚künstlichen‘ Zeichen den ‚natürlichen‘ wichen, stellte sich vermehrt die Frage nach dem ‚wahren‘ Charakter des Anderen und Fremden in der Begegnung. Dessen Erscheinung, Gestalt und Verhalten forderten nun ständig zur Interpretation heraus, die Moderne besitzt daher einen mehr oder weniger latent absurden Boden des stetig sich wiederholenden Erkennens/Verkennens in der ontologischen Differenz zwischen Sein und Seiendem.134 Schon im Jahr der Französischen Revolution gab Johann Heinrich Campe seiner Tochter den folgenden mahnenden Hinweis mit auf ihren Lebensweg: „So wie es nun unmöglich ist, dass ein anderer Mensch mit dir zugleich auf einem und
133 Ebd., S. 278f. 134 Was treibt uns im Spiel Erkennen = Verkennen an? Das, was Heidegger Lichtung nennt.
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eben demselben Fleck stehe, durch deine Augen gucke, mit deinen Vorurtheilen und in deiner Seelenstimmung wahrnehme: so ist es auch durchaus unmöglich, dass ein anderer gerade eben das zu sehen bekomme, was du siehst, und gerade eben das dabei empfinde, was du dabei empfindest.“135 Dass in dieser Zeit die Anthropologie, die Physiognomik und die Phrenologie entstanden und als Angebote im weiten Feld zwischen ernsthafter Wissenschaft und populärer Medienvermarktung bis hin zur Scharlatanerie zur Anwendung kamen, zur Mode wurden und eine mehr oder weniger große Anhängerschaft gewannen, erstaunt daher nicht. Für Johann Georg Zimmermann galt gerade die Physiognomik als eine der Disziplinen, welche die Anthropologie weiterentwickeln konnten.136 Mit der visuell-theatralen Kultur verhält es sich dementsprechend ähnlich wie mit dem literarischen Text, wenn das Ich dem Anderen begegnet. Kunsttheoretisch dominiert seit Heidegger das Erklärungsmodell der ontologischen Differenz zwischen dem Sein und dem Seienden im ständig paradoxen Verhältnis im Sein des Seienden, was sich auf das Bild als ikonische bzw. pikturale Differenz und auf das Theater als mimetische Differenz projizieren lässt. Über das paradoxe Verhältnis von Erkennung, die zugleich Verkennung ist, schreibt Maurice Blanchot: „Im gleichen Raum Ahab und den Wal, die Sirenen und Odysseus zu vereinigen: das ist der geheime Wunsch, der aus Odysseus Homer, Ahab Melville werden lässt, und aus der Welt, die dieser Vereinigung entspringt, die furchtbarste und schönste aller möglichen Welten, ein Buch, leider nur, nichts als ein Buch.“137 Den Übergang von der Auffassung der Welt als Text zu der Vorstellung der Welt als Bild des Anderen spiegelt sich bei Lacan wider, wenn er den Raum zwischen dem Subjekt und dem Anderen ikonisch deutet: Auf „dem Felde des Sehens ist der Blick draußen, ich werde erblickt, das heißt ich bin Bild/tableau. […] Von Grund auf bestimmt mich der Blick, der im Außen ist.“138 Zwischen sich und dem Anderen schiebt sich der Schirm als „Ort der Vermittlung“,139 ein „Flechtwerk/entrelacs“, wie es MerleauPonty in „Das Sichtbare und das Unsichtbare“ beschreibt.140 Subjekt und Objekt sind bei Merleau-Ponty in der Begegnung des Anderen nicht mehr cartesianisch differenziert, wenn das Bewusstsein dem (körperlichen)
135 Johann Heinrich Campe: Väterlicher Rat für meine Tochter, Braunschweig 1789, S. 284. 136 Vgl. hierzu auch Johann Christian August Grohmann: Ideen zu einer physiognomischen Anthropologie, Leipzig 1791. 137 Maurice Blanchot: Der Gesang der Sirenen, München 1962. 138 Jacques Lacan: Was ist ein Bild/Tableau, in: Gottfried Boehm (Hg.): Was ist ein Bild?, München 1994, S. 76-89, hier S. 76. 139 Ebd., S. 77. 140 Maurice Merleau-Ponty: Das Sichtbare und das Unsichtbare, München 1994.
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Akt der Wahrnehmung nachgeordnet ist, das „Subjekt ist gleichsam eine fortwährende Geburt; es ist dasjenige Subjekt, dem eine körperliche und geschichtliche Situation zur Bewältigung aufgegeben wurde – und es muss sie jederzeit bewältigen können.“141 In seinem Spätwerk nähert er sich mit seinem als Fleisch bezeichneten Raum zwischen Subjekt und Objekt der neostrukturalistischen Vorstellung von Erkennen/Verkennen so weit, das man sie mit der derridaschen Différance gleichsetzen kann: Es ist die Sphäre der Interdependenz zwischen dem Auge und dem Blick des Anderen. Beschrieben werden kann es als ständig Differenzen produzierendes Verhältnis von Sichtbarem und Unsichtbarem, welches das Sichtbare konstituiert.142 Den anderen Körper, die andere Gestalt, die Um-welt als das Andere sehen bedeutet demnach, dass man etwas nicht sieht, das ausgeschlossen ist. Im Umkehrschluss ist der Blick des Anderen wie auch der Blick eines Bildes als Verweis auf das fundamental vom eigenen Sehen als Unsichtbares Ausgeschlossene zu verstehen. Damit wird in dieser Lesart kein eigentlicher Unterschied gemacht zwischen der Wahrnehmung des Dinges und der Wahrnehmung des Bildes bzw. der Inszenierung des Dinges, denn in jedem Fall gibt es einen Hinweis auf das Unsichtbare, welches das eigene Sehen für das Subjekt als ungenügend markiert, die Notwendigkeit des Anderen akzentuiert und die interdependente Abhängigkeit des Subjekts von den Anderen und – im Ganzen – von der gesellschaftlichen Struktur bzw. dem Man betont. Auf das eigene und das andere Gesicht bezogen geht es auch um die Abbildung des Gesichtes als Bild, das sich in einem sichtbaren Feld als (Teil-)Projektion zeigt. Diese Projektion kann als Maske, als medial produziertes Gesicht und als „natürliches Zeichen“143 bzw. Ausdruck des Innerseelischen gelesen werden. Das Feld markiert historisch den konfliktreichen Raum zwischen Wahrheit und Täuschung, zwischen Schauspieler und Falschspieler (Klaus Lazarowicz), zwischen Tyrannei der Intimität (Sennett) und öffentlicher Sphäre, zwischen Physiognomik und ‚natürlicher‘ Physiologie. Sowohl Bildwahrnehmende als auch Bildherstellende erweisen sich als Medien des Anderen in zweifachem Sinne, als Medien imaginärer Bilder und als Medien äußerer Körper-Bilder, wobei individuelle Bilder mit kollektiven Bildern in einem direkten und indirekten Zusammenhang stehen.144
141 Maurice Merleau-Ponty: „Schrift für die Kandidatur am Collège de France“, in: Ders., Das Auge und der Geist. Philosophische Essays, Hamburg 2003, S. 99-110, hier S. 103. 142 M. Merleau-Ponty: Das Sichtbare und das Unsichtbare. 143 Das man auch als Phantasma begreifen kann, vgl. Günther Heeg: Das Phantasma der natürlichen Gestalt. Körper, Sprache und Bild im Theater des 18. Jahrhunderts, Frankfurt/M. 2000. 144 Vgl. hierzu u.a. Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 1992. Aus der Interaktion zwischen
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Phänomene im Bild und in der Wahrnehmung konvergieren und divergieren im Leib und im Körper des Betrachters, wobei sich Bilder von der wahrgenommenen Wirklichkeit dadurch unterscheiden, dass sie in erhöhtem Maße etwas zeigen, was sie selbst nicht sind. Da das Sehen nicht als rein physiologische Funktion wahrgenommen werden kann, sondern immer Teil eines vorgängigen Diskurses ist, gilt, dass „unser ‚theoretisches Verständnis‘ der Bildlichkeit in kulturellen und sozialen Praktiken verankert“ und es in „einer für unser Verstehen – nicht nur des Wesens der Bilder, sondern auch der jetzigen und künftigen Kultur des Menschen – grundlegenden Geschichte“ fundiert ist. In diesem Sinne sind Bilder eben nicht allein semiotisch zu interpretieren, sie sind nicht allein eine spezielle Art von Zeichen, sondern agieren, so W.J.T. Mitchell, ähnlich wie ein „Schauspieler auf der Bühne der Geschichte oder ein Charakter von legendärem Status in einem historischen Zusammenhang, der den Geschichten entspricht und an ihnen beteiligt ist, die wir uns über den Gang der Dinge erzählen: eine Entwicklung von Geschöpfen, die ‚nach dem Bilde‘ eines Schöpfers geschaffen sind, zu Wesen, die sich selbst und ihre Welt nach ihrem eigenen Bilde schaffen.“145 Wenn zur Welt, die der weltbildende Mensch sich schafft, auch das Theater und der dramatische Text gehören, dann könnte in diesem allgemeinen Sinne auch diese als Bild des Menschen von sich selbst als Andere bezeichnet werden.
1.11 M ENSCHENBILDER
UND
A NTHROPOMORPHISIERUNGEN
Theater und Drama präsentieren Menschenbilder, die im 19. Jahrhundert immer mehr als historisch kontingente Versuche, Figurationen, Gestalten, Typen und Formen des Eigenen, Anderen und Fremden festzustellen, verstanden wurden. Sie wurden im Theater, in visuellen Medien und in soziologischen Rollenspielen inszeniert und prägten zugleich innerhalb der jeweiligen Medienkonstellationen als mentale Bilder und visuelle Stereotype die Vorstellungswelt der Rezipienten?146 Das Menschenbild, nach Grimms Deutschem Wörterbuch von 1854ff. die „gestalt des menschen und mensch selbst nach seiner gestalt“, wurde sowohl als Basis der Erwartungen an Andere und Fremde als auch der Erwartungen an sich selbst gesehen,
Imagination und Bild-Technologie resultiert ein Verhältnis des Menschen zu den Bildern und damit zu sich selbst, das Hans Belting in einer Bild-Anthropologie untersucht. Vgl. ders.: Bild-Anthropologie. Entwürfe für eine Bildwissenschaft, München 2001. 145 W.J.T. Mitchell: „Was ist ein Bild?“, in: Volker Bohn (Hg.), Bildlichkeit, Frankfurt/M. 1990, S. 17-68, hier S. 18f. 146 Vgl. Achim Barsch/Peter M. Hejl (Hg.): Menschenbilder. Zur Pluralisierung der Vorstellung von der menschlichen Natur (1850-1914), Frankfurt/M. 2000.
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es bestimmte die menschliche Vorstellung der eigenen fundamentalen Eigenschaften. Letztendlich ging es um die Bestimmung der charakteristischen Merkmale der eigenen und fremden Identität, wobei der Verdacht einer Projektion – in welchem Maße auch immer – auf den Schirm zwischen ‚Ich‘ und dem Anderen nicht von der Hand zu weisen war. Diese Frage nach dem Anderen und die Unsicherheit, was den Anderen hinter der Physiognomie als Erscheinung betraf, wurde zu Beginn der Moderne ganz besonders zu einem Thema der medialen Reflexion, zumal die Menschenbilder sich zunehmend pluralisierten.147 Durch den Verlust der gewohnten Vorstellungen und Bindungen wurde das Imaginäre nun zusätzlich wichtig für die Selbst-Bestimmung des Menschen. Hier spielten die ästhetischen Medien eine große Rolle. Denn für die Entwicklung von Individualität und Kultur, so Christoph Wulf, kommt der „spielerischen Erzeugung ästhetischer, nicht auf die Bewältigung des alltäglichen Lebens bezogener Welten sowie der Freude und Lust an diesen ästhetischen Produkten“ eine nicht zu unterschätzende Bedeutung zu. In der „Welt des Imaginären treten die Menschen zu sich selbst in Beziehung. In diesem Selbstbezug wachsen die Möglichkeiten der Erzeugung kultureller Vielfalt. Im Zusammenspiel von Tod und Ritus, ästhetischer und mythischer Produktion, Sprache und Magie entwickelt sich das Imaginäre und mit ihm Kultur als Möglichkeit des Menschen, sich in der Welt zu verorten.“148 Die Verortung in der sich verändernden Welt ist somit eine grundlegende existenzielle Aufgabe des Menschen, wobei das Verhältnis zum Anderen und Fremden umso wichtiger wird, je weniger Verlass auf traditionelle Bilder und Strukturen ist. Das Menschenbild erfuhr in der Moderne eine ausgeprägte Bedeutungsverschiebung. So verband Kant das Bild von sich und dem Anderen noch mit der Idee der Menschenwürde als „Zweck an sich selbst“149 und der Aufforderung, den Aus-
147 Achim Barsch und Peter M. Hejl vertreten die These, dass sich im langen 19. Jahrhundert das Menschenbild zum einen einschneidend veränderte, zum anderen Grundpositionen ausbildeten, die auch heute noch relevant sind, obgleich sich einige von ihnen in ihrer Bedeutung selbstverständlich verschoben haben. Die wichtigsten Gründe für die Veränderungen waren: „(1) Die alten Vorstellungen verloren für breite Bevölkerungsschichten an Überzeugungskraft. (2) Es entstanden neue Konzepte, die als relevant für das Verständnis des Menschen angesehen wurden. (3) Die Gesellschaft differenzierte sich so, dass die Gemeinsamkeit der Vorstellungen vom Menschen nicht aufrechterhalten werden konnte“; Achim Barsch/Peter M. Heijl: Zur Verweltlichung und Pluralisierung des Menschenbildes im 19. Jahrhundert, Einleitung in: Ebd., S. 2-34, hier S. 5. 148 Christoph Wulf: Anthropologie. Geschichte, Kultur, Philosophie, Reinbek 2004, S. 252. 149 Kant stellt der naturwissenschaftlichen Diskussion der Anthropologie, die als „physiologische Menschenkenntnis“ die „Erforschung dessen“ angeht, „was die Natur aus dem
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gang aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit zu suchen. In Charles Darwins materiell fundiertem Natur-Raum erschien der Mensch nur noch als Teil eines biologischen Großprozesses, was Freud bekanntlich als eine der drei großen Kränkungen des Menschen bezeichnete. Das Bild des Menschen ließ von der Aufklärung bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts – zwischen Freiheit und Determination oszillierend – einen steten Trend zur materiellen Anthropologie nicht nur in ideen- und wissenschaftsgeschichtlicher Perspektive, sondern auch in den untersuchten theatralen, dramatischen und sonstigen ästhetisch-visuellen Artefakten erkennen.150 Insbesondere für die virulenter werdende korporale ‚Verankerung‘ der visuellen Differenzmerkmale des Anderen und Fremden wurde wichtig, dass Wissenschaft und Kunst bzw. Ästhetik oft Schnittmengen bildeten, die mit der jeweiligen Eigenart der kursierenden mentalen Bilder, Stereotypen und Menschenbilder interagierten. Zugleich verschob sich die noch im 18. Jahrhundert dem Bereich des Irrationalen wie der Theosophie als Korrespondenz zwischen Mikro- und Makrokosmos verpflichtete Physiognomik aus dem Feld der wissenschaftlichen Methode in den populären Diskurs. Maßgeblich wurde der akademische Standort Göttingen, hier entwickelte und kommunizierte man in Netzwerken wie in die Öffentlichkeit die neue Wissenschaft vom Menschen. Das bisher herrschende theologische Menschenbild wurde durch die zunehmende Flut an Nachrichten aus den neuen und exotischen Welten in Frage gestellt, zugleich war man vor dem Hintergrund der Aufklärung offen für neue Erklärungsmodelle. Die heilsgeschichtlich fundierte Universalgeschichte mit ihrem hierarchisch gegliederten Kosmos und der von der Bibel her abgeleiteten Zeitrechnung wurde zum einen von der Naturgeschichte, zu anderen von der Kulturgeschichte etwa bei Johann Gottfried Herder abgelöst. Das Menschenbild des Anderen löste sich aus dem theologischen Kontext und nahm andere Gestalten an. Gezeichnet wurde es in einer gewissen Prägnanz, die dem Typus und der Karikatur
Menschen macht“, eine Lehre vom Menschen in „pragmatischer Hinsicht“ gegenüber. Der Mensch, bei Kant ein „freihandelndes Wesen“, von dem zu eruieren sei, was es „aus sich selber macht oder machen kann und soll“, markiert seine Differenz zum Tier als „lernfähiges“, „steigerbares Wesen“. Kant argumentiert hier gegen die empirische Sichtweise, sieht vielmehr im Ethischen, Normativen die Richtung von Optionen des Verhaltens. Es geht ihm nicht um die anthropologische Deskription, sondern in pragmatischer Hinsicht um Prinzipien. I. Kant: Anthropologie, S. 399. Vgl. Jakob Tanner: Historische Anthropologie, Hamburg 2004, S. 44ff., hier S. 44. 150 Für Walter Brednow hat es „wohl kaum eine Wegstrecke der Wissenschaftsgeschichte vom Menschen gegeben, die sich so intensiv und auch so kampfbereit mit dem Wesen des Menschen beschäftigt hat wie die mit den Namen Lavater und Darwin gekennzeichnete.“ Walter Brednow: Von Lavater zu Darwin, Berlin 1969, S. 3.
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eigen ist, künftig wirkungsvoll wurden mehr oder weniger scharfe Umrisse des kursierenden Menschenbildes von Lavater über Camper bis zu Veit Harlan. Wie ist nun der Schirm zwischen dem Ich und dem Anderen beschaffen, wenn wir von der Wahrnehmung des Anderen und damit vom Wahrnehmungsbild ausgehen? Wir wissen nicht wirklich, was den aufrechten Gang des Menschen initiiert hat, die Hitze der hochstehenden Sonne oder potentielle Beute wie Fressfeinde in der Savanne, vielleicht das notwendige Waten im Wasser einer weitgehend überflutenden Umwelt. Das Gesicht des Anderen scheint seiner Primatenherkunft geschuldet zu sein: Für die Bewegung in den Bäumen benötigte man dreidimensionales Sehen, hierzu mussten die Augen im Spiel der Mutation, Selektion und Adaptation nach vorne wandern, sodass unser sich deutlich von anderen Tieren unterscheidbares Gesicht entstand. Für Blumenberg war die frühmenschliche anatomische Selbstaufrichtung des Menschen im Übertritt in die Savanne entscheidend.151 Natürlich konnte der nun besser Sehende auch besser gesehen werden, Sartres Hölle des Anderen hätte hier einen frühen evolutionsgeschichtlichen Ursprung. Aus anthropologischer Sicht ergäben sich für die Begegnung des Ich mit dem Anderen und Fremden sowohl im Alltag als auch in der medialen Konstellation jeweils Wahrnehmungen, die durch Stereotypisierungen geprägt wurden. Diese haben ihre Basis im kulturellen Gedächtnis,152 in den an die jeweilige Situation herangetragenen Erwartungen, in einem oft unbewussten Priming und in der mentalen Disposition des Einzelnen.153 Roland Barthes spricht in diesem Zusammenhang von einem sich ausprägenden Bildrepertoire,154 dem mentale Stereotypen inhärent sind. Lacan deutet auf das Imaginäre neben dem Symbolischen und Realen. Für Hans Belting erscheint im anthropologischen Blick der Mensch keineswegs als Souverän seiner Bilder, sondern als Ort der Bilder, wobei die Bilder seinen Körper „besetzen“.155 Vor diesem Hintergrund wäre zu diskutieren, ob es, wie traditionell angenommen, tatsächlich die Sprache ist, die den Menschen von der Tierwelt separiert. Hierbei ergäbe sich, und
151 Vgl. Kurt Bayertz: Der aufrechte Gang. Eine Geschichte des anthropologischen Denkens, München 2012, S. 252. 152 Vgl. Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis, München 1992. 153 Vgl. zur Bildanthropologie Hans Belting: Bild-Anthropologie, München 2001, S. 11: Der „Doppelsinn innerer und äußerer Bilder“ wäre vom „Bildbegriff nicht zu trennen und verrät dadurch dessen anthropologische Fundierung.“ Somit wäre ein Bild „mehr als ein Produkt von Wahrnehmung“, denn es „entsteht als das Resultat einer persönlichen oder kollektiven Symbolisierung“. 154 Roland Barthes: Das semiologische Abenteuer, Frankfurt/M. 1988, S. 134. 155 Der Mensch „ist den selbst erzeugten Bildern ausgeliefert, auch wenn er sie immer wieder zu beherrschen versucht“; H. Belting: Bild-Anthropologie, S. 12.
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das wird in heutigen performativen Formen des Theaters besonders deutlich, eine nicht aufzufüllende oder zu umgehende Kluft zwischen den Bildern, den Texten und die Präsenz wie auch Materialität der Körper. Dennoch scheinen wir Menschen – etwa mit Tomasello, den Habermas aufgreift – nur dann eine halbwegs stabile Identität, Verbindung zum Anderen und Erinnerung in den ersten Lebensjahren ausbilden zu können, wenn wir uns der Worte, Sprache, Grammatik und eines Bewusstseins einer Vergangenheit, einer Gegenwart und einer Zukunft bemächtigt haben. So gesehen könnte überspitzt die These vertreten werden, dass eine Totalität eines performativen Theaters bzw. eines Theaters der Erfahrung eine kulturelle Amnesie zur Folge hätte – vielleicht der wahre Traum der Futuristen –, die unsere Kultur und Identität von innen her völlig auflösen würde. Dass der Mensch überhaupt Bilder und Geschichten benötigt, liegt an seiner Bestimmung, aufgrund seiner „exzentrischen Positionalität“ und „natürlichen Künstlichkeit“ (Helmuth Plessner) die Welt, sich und den Anderen als „Mängelwesen“, welches sich mittels Kultur eine zweite Natur kreiert, um seine Defizite zu kompensieren (Arnold Gehlen), als „nicht festgestelltes Tier“ (Friedrich Nietzsche) ständig befragen und entwerfen zu müssen. Was Hannah Arendt für das Verstehen reklamiert, gilt auch für die Generierung und Wahrnehmung der inneren und äußeren Bilder und mehr oder weniger linear-kausalen Dramaturgien: Das Verstehen des Anderen mag „am Ende“ nicht mehr zu tun, als „das zu artikulieren und zu bestätigen, was das vorgängige Verstehen, das bewusst oder unbewusst immer am Handeln beteiligt ist, schon anfänglich begriffen hatte“, es wird „im Prozeß selbst den Zirkel, den die Logiker ‚circulus vitiosus‘ nennen, nicht meiden und in dieser Hinsicht vielleicht sogar der Philosophie ähneln, deren große Gedanken sich immer in Kreisen drehen, den menschlichen Geist mit nichts anderem befassen als einem unendlichen Dialog zwischen sich und dem Wesen all dessen, was ist.“156 Die Ursache
156 Hannah Arendt: Übungen im politischen Denken, München 1994, S. 54. Ähnlich argumentiert Martin Heidegger: „Und so bewegen wir uns hier ständig im Kreise. Das ist das Zeichen, dass wir im Bereich der Philosophie uns bewegen. Überall ein Kreisen. Dieses im Kreise sich bewegen der Philosophie ist wieder etwas, was dem vulgären Verstande zuwider ist. Er will ans Ziel kommen, wie man der Dinge im Handgriff habhaft wird“; Martin Heidegger: Die Grundbegriffe der Metaphysik, Frankfurt/M. 2004, S. 67. Später wird Hannah Arendt die Konstruktion einer linearen Entwicklung in der ‚Natur‘ für den Totalitarismus verantwortlich machen. Sie schreibt in „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“ (München 1986, S. 708): „Dem Glauben der Nazis an Rassegesetze lag die darwinsche Vorstellung vom Menschen als einem eigentlich zufälligen Resultat der Naturentwicklung zugrunde, die nicht notwendig mit dem Menschen an ihr Ende gekommen zu sein braucht. [...] Darwins Einführung des Begriffs der Entwicklung in die Natur, seine biologischen Konstruktionen, die alle darauf hinauslaufen,
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für den Zirkel ist die menschliche „Weltoffenheit“ (Max Scheler), auch als Protest gegen die reine Wirklichkeit, ist nach Giorgio Agamben, dass zwar jedes Lebewesen im Offenen sei, aber nur der Mensch bemüht ist, „sich diese Offenheit an[zu]eignen, die eigene Erscheinung, das eigene Offenkundig-Sein [zu] begreifen“. Hierbei fungiere die Sprache als Aneignung, bei der Natur als Umwelt in das „Angesicht“ transformiert werde. Was sich in der Erscheinung zeigt, ist somit ständig die Bühne einer Auseinandersetzung um die Wahrheit.157 Das Angesicht Agambens ist ein gesellschaftspolitischer Aspekt der Öffentlichkeit und der öffentlichen Interdependenz, es ist das nicht zu umgehende „Ausgestelltsein“ des Menschen und zugleich sein „Verborgenbleiben gerade in dieser Offenheit.“158 Damit erlangen die Natur und mit ihr die Gestalt des Anderen und deren Hintergrund etwa als Landschaft oder Natur-Raum dort ein „Angesicht“, wo sie sich von der Sprache geoffenbart sehen.159 Sprache, Interpretation, Gestaltung und Dramaturgie erkennt und verkennt den Anderen, die Situation und die Welt. Im Gegensatz zum Tier interessiert sich der Mensch für die Spiegel, für das Bild als Bild, für seine Handlung als Dramaturgie. Im Willen, sich zu erkennen und sich dabei seine eigene Erscheinung anzueignen, hebt er die Bilder, Gestalten und Dramaturgien von den Dingen ab und weist ihnen Begriffe, Symbole, Zeichen oder Namen zu. Das Offene wird in eine Welt transformiert, das bedeutet für Agamben, in „das Feld eines politischen Kampfes ohne Gnade. Dieser Kampf, dessen Gegenstand die Wahrheit ist, heißt Geschichte.“160 In dem Moment, in dem vom weltbildenden Menschen nach Martin Heidegger die Welt als Bild des Anderen begriffen wird,161 in dem der vorstellend-herstellende Mensch (als Subjekt) sich müht, das „Vorhandene“ der Welt als „ein Entgegenste-
dass die Bewegung der Natur, nämlich ihre Entwicklung, nicht kreisförmig, sondern geradlinig verläuft in einer eindeutig angebbaren, fortschreitenden Richtung, besagt schließlich nichts anderes, als das der moderne Geschichtsbegriff sich auch der Naturwissenschaften bemächtigt hat und dass der Bereich der Natur von dem Bereich des Geschichtlichen überwältigt wurde“. 157 Giorgio Agamben: „Das Angesicht“, in: Ders., Mittel ohne Zweck. Noten zur Politik, Berlin 2001, S. 89-102, hier S. 89. 158 Ebd. 159 Ebd., S. 90. 160 Ebd. 161 Martin Heidegger: „Die Zeit des Weltbildes“, in: Ders., Holzwege, Frankfurt/M. 1977, S. 89. In Heideggers Anthropologie aus seiner Vorlesung Die Grundbegriffe der Metaphysik, S. 273, aus dem Jahr 1929/30 liest man: „Der Stein ist weltlos, das Tier ist weltarm, der Mensch ist weltbildend.“
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hendes“ (als Objekt) „vor sich zu bringen“,162 tritt er zugleich in eine mediale Ordnung des Anderen, die mehr oder weniger dramatisch konstituiert ist. Infolgedessen sind Bilder nicht ewig gültig, leblos und unveränderlich, nur der Wandel ist (auf lange Sicht) beständig. Dennoch verlangt die Ungewissheit des Menschen über sich selbst nach gültigen Bildern des Selbst und Dramaturgien der Handlung, so entsteht die „Neigung, sich als Anderen und im Bild zu sehen“,163 auch wenn der Mensch einen absurden Weg des unaufhaltsamen Kreislaufes beschreiten wird. Die Interpretation der Erscheinung des Anderen bedeutet, dass er in seiner Gestalt vor einem diese Gestalt definierenden Hintergrund als Um-‚Welt‘ gesehen wird. Die dem Individuum begegnende Welt wird als Gesamtbild von Gestalt und Hintergrund gelesen.164 Daher ist es nur konsequent, wenn Hans Blumenberg in seiner Arbeit über die Lesbarkeit der Welt ausgiebig über die Physiognomik und die Anthropomorphisierung referiert.165 Generell ist für ihn die Welt deshalb als zu interpretierende aufgegeben, weil diese dem Menschen zu einem großen Teil als unbekannte begegnet bzw. weil sie von ihm im Laufe des Lebens immer wieder neu wahrgenommen oder, wenn man so will, erobert werden muss. In diesem Sinne findet Blumenberg für den Mythos, wenn man die Vorstellungen von Ursprung und Ursprünglichkeit des Mythos klassifizieren mag, die beiden antithetischen Begriffe der Poesie und des Schreckens. Am Anfang verhindere die „imaginative Ausschweifung anthropomorpher Aneignung der Welt und theomorpher Steigerung“ des sich von den Tieren aufgrund seiner Kulturfähigkeit unterscheidenden Menschen, dass dieser dem „nackte[n] Ausbruch der Passivität von Angst und Grauen, von dämonischer Gebanntheit, magischer Hilflosigkeit, schlechthinniger Abhängigkeit“ ausgeliefert sei.166
162 Ebd., S. 91. 163 H. Belting: Bild-Anthropologie, S. 12. Vgl. auch Christoph Wulf, für den die „Vielgestaltigkeit der inneren Bilderwelt“ ein „Ausdruck der menschlichen Plastizität“ darstellt. Sie wäre „eine Folge der alle Formen menschlicher Lebenspraxis umspielenden Phantasie, sei es, dass es sich um Wahrnehmen oder Empfinden, sei es, dass es sich um Denken oder Tun handelt. Auch die menschliche Exzentrizität ist der Phantasie geschuldet, ist sie doch die Fähigkeit, sich in eine Position außerhalb seiner selbst hineinzubegeben und sich von dieser aus zu sich selbst zu verhalten.“ Christoph Wulf: „Bild und Phantasie. Zur historischen Anthropologie des Bildes“, in: Alexander Honold/Manuela Köppen (Hg.), Die andere Stimme. Das Fremde in der Kultur der Moderne, Köln 1999, S. 261- 273, hier S. 272. 164 Vgl. u.a. Rudolf Arnheim: Art and Visual Perception. A Psychology of the Creative Eye, Berkeley 1969. 165 Hans Blumenberg: Die Lesbarkeit der Welt, Frankfurt/M. 1986. 166 Vgl. Hans Blumenberg: Arbeit am Mythos, Frankfurt/M. 1996, S. 68.
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Uns interessiert insbesondere die anthropomorphe Aneignung der Welt, denn diese weist bereits auf den Einfluss der Projektion der eigenen wahrnehmungsdeterminierenden Hypothesen, Ideen, Erwartungen, Stereotype und Vorurteile hin, die in der Begegnung mit dem Anderen und Fremden im performativen Akt der Wahrnehmung wirksam werden. Blumenberg bezieht sich auf Rudolf Otto, für den das Heilige als die Qualität des Numinosen in der Ansicht des Anderen dasjenige bedeutet, was als „mysterium tremendum“ erscheint.167 Als Säkularisat wäre daher jeder Akt der Grenzüberschreitung auch ein lustmotivierter, den zugleich die Angst vor dem Unbekannten begleitet. Diese jedes Menschenleben ständig anhängenden und ihn essenziell prägenden Grenzüberschreitungen suchen, seit der Mensch mit dem ersten Strich auf den Felsen und den ersten abbildenden Gestalten an der Wand die Kunst als Möglichkeit zur Lebensbewältigung eingeführt hat, immer neue Medien des Ausdrucks. Insbesondere populär-öffentliche Medien wie das Theater bieten in einem gewissen stabilisierenden Rahmen des Mediums selbst kontrollierte Grenzüberschreitungen an. Damit antworten sie einer menschlichen, die individuelle wie auch kulturelle Entwicklung vorantreibenden Anlage, Grenzüberschreitungen zugleich so ersehnen wie zu fürchten. Gerhard Roth hat aus der Sicht der Gehirnforschung diese Anlage als Notwendigkeit für die menschliche Entwicklung bezeichnet, während Ernst Pöppel den „Rahmen“ als ordnungseinrichtendes Prinzip im Sinne eines Phänotextes, dem das originär nichtlineare Denken vorausgehe, vorstellte.168
1.12 P RÄGNANZEN
UND
R ELEVANZEN
Weitgehend konstant blieb in der Moderne und darüber hinaus das Bemühen, im prägnanten Bild, im Um- bzw. im Schattenriss, in der Silhouette und Dramaturgie des Anderen und Fremden die relevanten Merkmale ausgedrückt zu finden. Allgemein gesagt, rekurriert die Lesbarkeit des Anderen in der Wahrnehmung auf Hypothesen und Wahrnehmungsschemata, die dem Wahrnehmungsbild des Anderen eine mehr oder weniger große Relevanz verleihen. Zudem lassen sie sich von der Prägnanz des Wahrnehmungsbildes und der Handlungsdramaturgie leiten. So bildet insbesondere der Andere im Umriss bzw. in seiner Topografie, die sich im Bild mehr oder weniger scharf vom Hintergrund abhebt, eine Figur höchster Prägnanz. Der Umriss der Figuren wird im dramatischen Text, in der Inszenierung und in der Auf-
167 Ebd., S. 72. 168 Gerhard Roth: Das Gehirn und seine Wirklichkeit. Kognitive Neurobiologie und ihre philosophischen Konsequenzen, Frankfurt/M. 1997; Ernst Pöppel: Der Rahmen. Der Blick unser Gehirn auf unser Ich, München 2006.
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führung zusätzlich deutlich, da diese auf die Prägnanz ihres Rezeptionsangebotes angewiesen sind. Das Spiel von Erkennen/Verkennen, die ontologische Differenz von Sein und Seiendem korreliert in der Figuration mit dem prekären Verhältnis von Figur und Grund, mit der sich unbewusst ausdrückenden Energie, von dargestellter Handlung und als unwichtig Ausgeschiedenem. Hierbei kann man dasjenige, was im Dienst der prägnanten Gestalt im Moment in den Hintergrund tritt, als Leerform bezeichnen, wobei im Verhältnis von Figur und Grund die Leer- als Negativform in die Positivform und umgekehrt umschlagen kann. Generell können Bilder des Anderen unentschieden sein, als Kippbilder fungieren oder Inversionen geradezu herausfordern, was auf dramaturgischer Ebene mit Dekonstruktionen, Uneindeutigkeiten und Subvertierungen einhergeht. In der Performanz innerhalb der Sukzession der Zeit kann die Leerform performativ in den Hintergrund rücken, dabei an Bedeutung verlieren, während die prägnante Gestalt in den Vordergrund tritt und so zunehmend oder auch plötzlich an Bedeutung gewinnt. Jeder Aufmerksamkeitsakt (de)konstruiert die Differenz zwischen Form und Hintergrund. Hierbei muss unterschieden werden zwischen dem, was Umberto Eco mittels der beiden extremen Pole erkenntnistheoretischer Fundamentalismus und unendliche Semiose von zwei Seiten her in den Blick genommen hat. Auf der einen Seite geriete das Bild dann zu einem Mythos des Alltags, einer ungeschichtlich, unveränderbar auftretenden Figur vor Grund. Das andere Extrem wäre zumindest als Phänotext das ‚leere Bild‘, als Genotext das Spiel der sich gegenseitig in Frage stellenden Signifikate, eines springenden Figur-Hintergrundmodells. Die Wahrheit ist wohl in der unscharfen und sich bewegenden Mitte zu suchen, aber sowohl auf theoretischer wie auch praktischer Ebene schwer festzumachen. Der Umriss der Figuren korreliert mehr oder weniger mit dem dramatischen Text in der Inszenierung und in der Aufführung, da diese auf die Prägnanz ihres Rezeptionsangebotes angewiesen sind. Arthur Schopenhauer forderte 1819 vom Dichter, dass er nicht nur „bedeutsame Charaktere wahr und treu, wie die Natur selbst“ vorzuführen habe, sondern diese dem Publikum auch kenntlich machen müsse. Dies erreiche er, indem er sie in dramatische Situationen bringe, in denen ihre Eigentümlichkeiten sich „gänzlich entfalten“ und sich „deutlich, in scharfen Umrissen“ darstellten.169 Diese Eigentümlichkeiten seien dem „Widerstreit des Willens mit sich selbst“ geschuldet, das Leiden ging für Schopenhauer aus dem Menschen durch die „sich kreuzenden Willensbestrebungen der Individuen, durch die Bosheit und Verkehrtheit der meisten“ selbst hervor. Personenkonstellationen und dramatische Dialoge überlagern sich durch den Willen. Der Dialog als theatraler Agon, der schon die Grundlage des Dramatischen seit jeher bilde, wäre nur durch Erkenntnis
169 Arthur Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung. Band 1, Berlin 1819, S. 59.
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der Täuschung durch den „Schleier der Maja“ zu ‚entschärfen‘ bzw. zu mildern. Ansonsten gelte, dass es ein und derselbe Wille wäre, der in ihnen allen „lebt und erscheint“, dessen Erscheinungen sich jedoch selbst „bekämpfen“ und „zerfleischen“,170 was zu einer theatralen Dialektik des Herr-Knecht-Verhältnisses führen wird, surreal gleich-gültig die Postmoderne, das ewige beckettsche Spiel zwischen Lucky und Pozzo und die Dialogizität des nicht mehr dramatischen Theatertextes Rainald Goetz’ grundierend. Dies wird eine Basis der surrealistischen Grundstimmung in der Theaterkunst des 20. Jahrhunderts bilden und noch Frank Castorfs Triebfreilegungen an der Volksbühne unterfüttern. Dabei legte Schopenhauer, der hier früh das unbewusste Programm der (Prä-)Avantgarde formulierte, besonderen Wert auf die Feststellung, dass es bei der Strafe für die Helden des Trauerspiels keineswegs um die Schuld eines Einzelnen im Sinne einer Abbüßung einer „Partikularsünde“ geht, sondern um die „Erbsünde, d.h. die Schuld des Daseins selbst“. So blieben dem Dichter verschiedene Wege, dies im Drama explizit zu machen, die sich für Schopenhauer aber unter drei Artbegriffe subsumieren ließen: Erstens man denke an Jago, Richard III, Franz Moor etc. – durch eine an die „äußersten Grenzen der Möglichkeit streifende Bosheit eines Charakters, welcher der Urheber des Unglücks“ würde. In Sophokles Ödipus, generell in den meisten griechischen Tragödien, aber etwa auch in Romeo und Julia sehe man die zweite Art, das blinde Schicksal, am Werk. Sowohl der außerordentliche Bösewicht als auch das sehr harte Schicksal sind für Schopenhauer eher lebensweltliche Ausnahmen. Deshalb zieht er die dritte Art vor, die den gewöhnlichen Zuschauer berührt, weil sie ihm nahe ist: Das größte Unglück würde durch das Verhalten und den Charakter der Menschen herbeigeführt, und zwar allein aufgrund der bloßen Stellung der Personen zu- bzw. gegeneinander. Der Andere sei nicht monströs, sondern in moralischer Hinsicht gewöhnlich. Unter ganz allgemeinen, häufig auftretenden Umständen seien Menschen so gegeneinandergestellt, dass ihre Lage sie zwinge, sich „gegenseitig, wissend und sehend, das größte Unheil zu bereiten, ohne dass dabei das Unrecht auf irgendeiner Seite ganz allein“ sei.171 Während die letzte Absicht des Trauerspiels für Schopenhauer die Hinwendung zur Resignation und die Verneinung des Willens zum Leben sei, es also meist so ende, dass nichts nachkomme, sei es im Lustspiel gerade umgekehrt: Man könne die „Aufforderung zur fortgesetzten Bejahung des Willens“ sofort erkennen. Für Schopenhauer müsse man nur genauer hinsehen, um dann doch zu erkennen, dass das, was das Lustspiel darstelle, etwas sei, was eigentlich besser nicht sei. Denn die auf der Bühne erscheinende burleske Seite des Lebens, also die „naiven Äußerungen und Gebarden“, die „kleinliche Verlegenheit“, die „persönliche Furcht“, der Zorn des Augenblicks, der versteckte Neid und die
170 Ebd. 171 Ebd.
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„vielen ähnlichen Affekte“, den die „vom Typus der Schönheit beträchtlich abweichenden Gestalten der sich hier spiegelnden Wirklichkeit aufdrücken“, bewiesen nur, dass das Dasein und das Handeln solcher Figuren niemals selbst Zweck sein dürfe.172 Die Gestalten des Lustspiels seien das Resultat ihre negativ bewerteten Affekte und Charaktereigenschaften und sowohl aus moralisch-ethischer als auch ästhetischer Perspektive hässliche Gestalten. Dramatische Situation, Figurencharakter und -konstellation drückten sich in ihrer je eigenen Assemblage in der hässlichen, wenn nicht karikierten Physiognomie, also in der Über-Zeichnung des negativen, tierischen oder fremden Charakters des Anderen nicht nur im Verhalten der Figuren in bestimmten Situationen, sondern auch in der äußeren Erscheinung aus. Dabei paarte sich in der schärfer gezogenen Linie des Umrisses der Gestalten idealiter die Prägnanz mit der kulturell und individuell wahrgenommenen Relevanz, wobei der weite Bogen von Johann Joachim Winckelmann bis zum Positivismus, von neoplatonischen Vorstellungswelten bis zu mathematischen Vermessungen der ‚Topographie‘ des Fremden gezogen wurde. Schiller sekundierte, dass die Basis aller Schönheit die Simplizität sei und alle Umrisse „Kühnheit und Leichtigkeit zeigen“ sollten,173 während Nietzsche später in den „rohen, unnatürlichen Simplification“ bzw. in den starken, gerne wiederholten Zügen die Grundlage der Verfälschung sah.174 Die Simplifikationen erleichterten Versuche, den Anderen und Fremden in der Über-Zeichnung der seinen Charakter vorgeblich ausdrückenden Gestalt wahrzunehmen. Der Eigenart des Anderen und Fremden, auch reflektiert im Typus, sollte unter größtmöglicher Unterdrückung störender Komplexität und Redundanz auf die erst ideale, dann allgemeingültige und materiell grundierte Spur gekommen werden. In Wirklichkeit wurde die Eigenart dadurch jedoch meist übergangen: Der Andere und der Fremde wurden das Ziel intensiver Zu-Schreibungen und Aneignungen, letztlich also von Projektionen der Einbildungskraft innerhalb einer medialen und kulturellen Konstellation.
172 Arthur Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung. Band 2, Berlin 1844, S. 115. 173 Friedrich Schiller: „Über die objektiven Bedingungen der Schönheit“, in: Ders., Sämtliche Werke in 5 Bänden, Band V, hg. v. Wolfgang Riedel, München 2004, S. 10351040, hier S. 1036f. 174 Friedrich Nietzsche: Menschliches, Allzumenschliches, Viertes Hauptstück: Aus der Seele der Künstler und Schriftsteller 160, hg. v. Giorgio Colli und Mazzino Montinari, München 1999, S. 132.
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1.13 M IMETISCHE D IFFERENZ Der Bühnenrahmen organisiert nicht nur den Rite de Passage als ästhetische Erfahrung175, sondern auch als Reise oder Blick in die Fremde.176 Für die Handlung, die Dramaturgie und das theatrale Erlebnis gilt gleichermaßen, dass aufgrund der medialen Konstellation oder institutionellen Anordnung von einer mehr oder weniger großen Distanz der Zuschauer zum Bühnengeschehen auszugehen wäre. Die theatrale Wirkung sollte vom 18. Jahrhundert ausgehend über die Rührung auf das Mitleid mit dem Anderen zielen. So könnte man auch danach fragen, ob der Bühnenrahmen nicht einerseits zwar die Fremderfahrung ermöglichte, andererseits aber die mit dem heterotopischen Charakter der Bühne verbundene Angst zugleich soweit herabmilderte, dass sich im Publikum ein mittlerer Erregungsgrad einstellte. In diesem Klima war es besser möglich, dass der dargestellte Andere gut zur Illusionierung wie zur Einfühlen taugte, zu der auch die Aneignung des Anderen mittels Bildern aus der eigenen Imagination beitrug. Das bürgerliche Theater als Medium wäre damit ein Spielraum des weitgehend gefahrlosen Probehandelns und damit bereits lange vor Brechts epischem Theater ein gesellschaftlicher Ort des sozialen Experiments gewesen, wiewohl ihm eine andere Motivation eignete. Die immer wieder für das bürgerliche Theater bzw. vor allem für das Rührstück geforderte Einfühlung besaß im medialen Rahmen des Gebotenen eine entscheidende, distanzierende ästhetische Grenze. Das galt auch für andere visuelle Medien zu Beginn der Moderne wie für das Panorama und A. v. Humboldts großen Werkentwurf des Kosmos. Das Problem mit diesem Einübungsort in der medialen Anordnung war jedoch die Möglichkeit der Einprägung oder Stabilisierung auch negativer Stereotype in der Performanz des Zuschauvorganges. Die prägnanten mentalen Stereotype konnten bei jeder Gelegenheit einer wirklichen Reise in die Fremde als psychologische Nachbilder lange wirken und als mental-stereotype Anleitungen für die Besetzung und Unterdrückung des fremden Anderen dienen.177 Für das deutschsprachige Theater und die visuellen Medien der Zeit waren daher erst mal, etwa im Vergleich zu England und Frankreich, nicht so sehr direkte Kontakte mit dem Anderen und Fremden relevant, wenn man von ‚inneren Fremden‘ wie den Juden absieht. Wich-
175 Erika Fischer-Lichte: „Rite de Passage im Spiel der Blicke“, in: Kerstin Gernig (Hg.), Fremde Körper. Zur Konstruktion des anderen im europäischen Diskurs, Berlin 2001, S. 297-315. 176 Vgl. hierzu für den Film: Michaela Krützen: Dramaturgie des Films, Frankfurt/M. 2004. Krützen bezieht sich auf das Strukturmodell von Joseph Campbell: The Hero with a Thousand Faces, N.Y. 1949. 177 Vgl. hierzu Edward W. Said: Kultur und Imperialismus. Einbildungskraft und Politik im Zeitalter der Macht, Frankfurt/M. 1994, S. 173.
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tig waren vielmehr die performative Ausbreitung und Verfestigung von Stereotypen, die spätestens im ideologischen 20. Jahrhundert zu den bekannten Verbrechen an der Menschheit führten. Die Probleme, die sich bei der Interpretation des Anderen und Fremden unter dem Einfluss wahrnehmungsprägender, mental-stereotyper Muster ergeben, werden schnell deutlich. Erstens ist der Andere in seiner genuinen Fremdheit im Sinne seiner unendlichen Andersheit nicht entschlüsselbar, das Geheimnis bleibt. Zwar steht dem Ich die Erfahrung von Andersheit entgegen, und die Wirklichkeit außerhalb der ontologischen Gewalt des Ichs erscheint als etwas, das in der abendländischen Kulturgeschichte zur Disposition steht. Doch ist – zweitens – dem eigenen, potenziell grenzenlosen Ich als Rekluse nicht zu entkommen. Drittens erweist sich die Notwendigkeit der sprachlichen als möglichst vernünftige und der bildlichen Kommunikation in der Verantwortung gegenüber dem Anderen und dem Dritten als Mittel, das zwar die Verständigung ermöglicht, zugleich aber grundsätzlich vereitelt. Letztlich ist mit der (medialen) Kommunikation qua Sprache und Bild das Einlasstor für alle weiteren gewaltsamen Übergriffe gegenüber dem Anderen und Fremden angelegt. Stereotype theatrale wie auch mediale Bilder als Träger prägnanter Differenzmerkmale dienen schnell zur Ausschließung des dabei oft erst konstituierten Anderen und Fremden bzw. A-Normalen. Dabei betrifft der ‚Schirm‘ zwischen Ich und dem Anderen nicht nur die korporale Gestalt des Anderen, sondern auch den Hintergrund als Landschaft und Atmosphäre des Raums oder der Natur, was schon in der Ästhetik über die Erhabenheit der Natur und im Bühnenbild seinen Ausdruck findet. Grundsätzlich erhöhte sich im 19. Jahrhundert das Bedürfnis nach Wirklichkeitstreue, während zugleich das Angebot an realitätsersetzenden Texten und Medienbildern zunahm. Die Suche nach Wirklichkeit als Suche nach dem immer mehr aus dem Blick geratenen Referenten erhöht das Interesse an Landschaftsdarstellungen. Medien wie das Panorama oder Diorama, der Bilderbogen, die Daguerreotypien sowie die frühen Fotografien bedienen das Bedürfnis nach Bildern des Anderen. Zunehmend stand die historische Richtigkeit in der Wiedergabe von Schauplätzen und Architekturen im Vordergrund. In Berlin waren Karl Friedrich Schinkel und Carl Graf v. Brühl führend im Bemühen, das Charakteristische als Form im Bild der Bühne einzufügen.178 Was sich schon bei Schinkel im Zuge einer Zunahme an Wirklichkeitstreue andeutete, wobei auch dort plastische Elemente vermehrt zum Einsatz kamen, wurde bei Carl Carl im Wiener Vorstadttheater vor dem Hintergrund eines vermehrten Interesses an Landschaftsdarstellungen weiter naturalisiert. Mit „meh-
178 Vgl. Hans-Peter Bayerdörfer/Andreas Englhart: „Ausstattungstheater und mise en scène im frühen 19. Jahrhundert“, in: Ders./Eckhart Hellmuth (Hg.), Exotica. Konsum und Inszenierung des Fremden, Münster 2003, S. 45-79.
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rern Gärten“ und „Waldpartien“ wurde über einen panoramatischen Blick in die Natur ein annähernd ‚naturalistischer‘ Eindruck erzeugt – nicht erst mit dem Naturalismus wurden plastische, dreidimensionale Ausstellungsteile wichtig. Der panoramatische Blick bestimmte nicht allein wissenschaftliche Darstellungen wie die A. v. Humboldts, sondern auch die Bühnenbilder. Letztlich hat sich der physiognomische Blick auf die Bühne, wie man beispielhaft in Nestroy Haus der Temperamente sehen kann, als frühe Regie von der Bühne distanziert und über die Strukturen des typisierten Anderen zum präavantgardistischen und gar zum präepischen Theater entwickelt. Leitend war eine Physiognomik der Landschaft, die von A. v. Humboldt als Physiognomik der Gewächse vorbereitet und heute von Böhme mittels seines Begriffs von Atmosphäre theoretisch aufgearbeitet wird, wobei schon Rudolf Kassner auf eine Physiognomik der Welt verwies, der sich die Gestalt des Anderen einfügte.179 Der panoramatische Blick durchzog die zeitgenössischen Texte Johann Wolfgang v. Goethes oder Heinrich Heines, bestimmte zudem die Malerei, z.B. Caspar David Friedrichs Bild Wanderer über dem Nebelmeer von 1818 oder Georg Friedrich Kerstings Stickerin von 1817. Dieser Ausblick in die Natur wurde in Charlotte Birch-Pfeiffers populären Stücken ins Biedermeierlich-Einfache transformiert und bekam einen essenziellen ‚Grund‘ zugewiesen.180
1.14 D RAMATURGIE DES K ONFLIKTS DER Ü BERSCHREITUNG
UND
Schiller beschrieb durch die Figur des Mortimer in seiner Maria Stuart treffend die übermächtige Wirkung einer eigenartigen Begegnung: „Eines Tags,/Als ich mich umsah in des Bischofs Wohnung,/Fiel mir ein weiblich Bildniß in die Augen,/Von rührend wundersamen Reiz, gewaltig/ergriff es mich in meiner tiefsten Seele,/Und des Gefühls nicht mächtig stand ich da.“181 Fast magisch angezogen kann sich der Eintretende eines direkten Eindrucks, einer überwältigenden Erfahrung nicht er-
179 Gernot Böhme: Atmosphäre. Essays zur neuen Ästhetik, Frankfurt/M. 1995, S. 132ff.; Rudolf Kassner: Die Grundlagen der Physiognomik, Leipzig 1922, S. 55: Für Kassner gilt generell, dass es für den, „der das Typische erfasst hat“, nichts gibt, „das oberflächlich wäre“. 180 Vgl. Karlheinz Barck: „Umwandlung des Ohrs zum Auge. Teleskopisches Sehen und ästhetische Beschreibung bei Alexander von Humboldt“, in: Bernhard J. Dotzler/Ernst Müller (Hg.), Wahrnehmung und Geschichte. Markierungen zur Aisthesis materialis, Berlin 1995, S. 27-42. 181 Friedrich Schiller: „Maria Stuart“, in: Ders., Schillers Werke. Nationalausgabe. Band 9. Maria Stuart, hg. v. Nikolas Immer, Weimar 2010, S. 21f.
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wehren. Warum geschieht uns das? Weshalb betrachten wir etwas, ein Bild der Dinge oder ein Theaterbild? Wieso suchen wir dem Eindruck nachfolgend Halt, fanden nach kausalen Strukturen, finden wiederkehrende Handlungsmuster und spannende Dramaturgien? Wie die Wahrnehmungspsychologie nachweist, richtet man die Aufmerksamkeit nur auf einen minimalen Bruchteil der angebotenen Reizmenge, des potenziellen Inputs an physikalischer Wirklichkeit. Das Wahrgenommene und damit das rezipierte Bild, die sicherstellende Kausalität und mental leitende Handlung entsteht im Kopf des Betrachters als Konstrukt im Sinne einer Funktion aus im Inneren gebildeten Hypothesen und den die Sinnesorgane anregenden physikalischen Reizen.182 Sehr vereinfacht kann man sagen, dass das beachtet wird, was erstens relevant oder zweitens prägnant für den Betrachter erscheint. Relevant sind Wahrnehmungen, die von persönlichem Interesse sind;183 prägnant sind Gestalten, die sich als einfache, ‚gute‘ Gestalten deutlich vom Grund abheben.184 Prägnante Formen können durch Farbe, Struktur, Aufbau, Komposition, jedoch auch durch Bewegung, insbesondere durch die Bewegung einer deutlich konturierten Figur auf der Bühne, gegeben sein. Aufmerksam wird der Betrachter bzw. Zuschauer demzufolge auf Reize, deren Anziehung als Wirkung im Betrachter durch semiotische Methoden nicht erklärt werden können. Die Psychologie spricht hier von Anmutungen, welche mit der kognitiven Verarbeitung konvergieren, im gemeinsamen Wirkungsverhältnis aber generell den stärkeren Part übernehmen.185 Michail A. Čechov, der Stanislawskijschüler und weithin unterschätzte Schauspielertheoretiker, hat bereits in den 1930er-Jahren postuliert, dass Schauspieler eine Atmosphäre als gemeinsame Sphäre zwischen Bühne und Zuschauerraum herstellen.186
182 Vgl. u.a. Wolf Singer: „Wahrnehmen ist Überprüfen von Hypothesen“, in: Ders., Der Beobachter im Gehirn. Essays zur Hirnforschung, Frankfurt/M. 2002, S. 108. Gerade das Tafelbild ist im besonderen Maße auf den, wie es Gombrich nennt, „Anteil des Beschauers angewiesen“, vgl. Ernst H. Gombrich: Kunst und Illusion. Zur Psychologie der bildlichen Darstellung, Köln 1967, v.a. S. 209ff. 183 „Die Objektwahrnehmung wird nicht nur durch die Elemente bestimmt, aus denen ein Gegenstand besteht, sondern auch durch das Wissen des Beobachters über die Bedeutung des Gegenstandes.“ E. Bruce Goldstein: Wahrnehmungspsychologie, Heidelberg 2002, S. 212. 184 Ebd., S. 192. 185 Vgl. die Forschungen der Leipziger Schule der Ganzheitspsychologie in den 1920erund 1930er Jahren, insbes. Felix Krueger: Das Wesen der Gefühle, Leipzig 1928. 186 Michail A. Čechov: Die Kunst des Schauspielers. Moskauer Ausgabe, Stuttgart 1998, S. 25ff.
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Den Begriff der Atmosphäre eignete sich Böhme an, um die Anmutung durch prägnante Reize begrifflich zu markieren. Obwohl er leider neben der Prägnanz die Wirkung der individuellen Relevanz unterschlägt, macht Böhme auf ein Phänomen aufmerksam, das die Wirkung des theatralen Ereignisses auf den Zuschauer bestimmt. Bert O. States subsumierte diese Wirkung der phänomenologischen Anschauung, nicht der Zeichenhaftigkeit des Ereignisses.187 Barthes machte bereits 1970 für das Bild auf den dritten Sinn neben der Ebene der Kommunikation und der Symbolik aufmerksam: Auf der „Ebene der Signifikanz“ ein „stumpfer Sinn“, der „eine gewisse Emotion mit sich bringt“, der „einfach bezeichnet, was man liebt, was man verteidigen möchte“ und letztendlich „eine Wert-Emotion, eine Bewertung“188 ist. Eben nicht „struktural angesiedelt“, würde ein Semantologe ihm „keine objektive Existenz zuschreiben (aber was ist eine objektive Lektüre?).“189 Der dritte Sinn, den man „theoretisch situieren, aber nicht beschreiben kann, erscheint somit als Übergang von der Sprache zur Signifikanz“190, er wäre ein Signifikant ohne Signifikat,191 er bilde nichts nach und stelle nichts dar, als Betonung kennzeichne er „nicht einmal ein Anderswo des Sinns“, vielmehr durchkreuze er „ihn – untergräbt nicht den Inhalt, sondern die gesamte Praxis des Sinns.“192. Das bedeutet, dass der dritte Sinn „außerhalb der (gegliederten) Sprache, aber dafür innerhalb der Gesprächssituation liegt.“ Nur wenn man Bilder betrachte, könne man „diesen Sinn sehen: Wir können uns beiläufig oder ‚auf dem Rücken‘ der gegliederten Sprache über ihn verständigen: dank des Bildes […], weit mehr: dank dessen, was im Bild nichts als Bild […] ist, kommen wir ohne das Wort aus, ohne dass unsere Verständigung aussetzt.“193 Vor diesem Hintergrund zeitigen Bild, Performanz und Präsenz des Anderen im Theater eine Eigen-art, die sich der sprachlichen Analyse, folglich auch der klassischen Aufführungsanalyse entzieht, obwohl sie vermutlich den stärksten Anteil an der Wirkung des theatralen Ereignisses auf den Zuschauer hat. Diese Eigen-art des Bildes des Anderen wirkt intensiviert im Vergleich zur reinen Wahrnehmung der Dinge durch den Verweis des anwesenden Bildes auf etwas Abwesendes: Jedes Bild, in dem „Wirklichkeit gesteigert/entschiedener/prägnanter,
187 Vgl. die Forderung nach einer Ergänzung der semiotischen durch eine phänomenologische Perspektive von Bert O. States: Great Reckonings in Little Rooms: On the Phenomenology of Theatre, Berkeley 1985. 188 Roland Barthes: „Der dritte Sinn“, in: Ders., Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn. Kritische Essays III, Frankfurt/M. 1990, S. 47-66, hier S. 56. 189 Ebd., S. 59. 190 Ebd., S. 63. 191 Ebd., S. 60. 192 Ebd., S. 61. 193 Ebd., S. 60.
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erst etwas Be-Stimmtes“194 wird, erzeugt aufgrund der Auslassungen das Begehren nach einem weiteren Bild – letztendlich das Begehren nach Wirklichkeit als das Reale. Mit Merleau-Ponty gedacht, sieht uns das Bild an und betrifft uns, indem es individuelle Wahrnehmung als Akt des reinen Sehens der Dinge zu überschreiten, dabei in Frage zu stellen und folglich zu verändern bewirkt. Dem Verdacht und der Neugier der bildlichen Erscheinung des Körpers und des Gesichts gegenüber, ab dem späten 18. Jahrhundert ein Motiv der Physiognomik, korrespondiert eine oberflächliche Wirkung der Erscheinung des Anderen, die im Theater anzieht. In diesem Sinne argumentiert Böhme, wenn er feststellt, dass das Theater ein Bild produziert, eine Physiognomik der Szene, die als bestimmte Atmosphäre wahrgenommen wird.195 Das Bild des Theaters als Spur des Realen, als System von ikonische „Zeichen, [die] in einer Ähnlichkeitsbeziehung zu den Dingen“196 stehen, rückt somit perpetuierend etwas in die Ferne, was nah erscheint, und umgekehrt, sodass eine Anziehungskraft der Bühne erzeugt wird, welche die einer reinen Sichtbarkeit der Dinge überschreitet. Der blinde Fleck, auf den das Bild dadurch verweist, dass es dem Betrachter signalisiert, sein Auge sehe nicht alles bzw. könne nur deshalb sehen, weil es das Unsichtbare gibt, wird im Akt der Anschauung indirekt erkannt – womit eine Ethik des Bildes als Kunstwerk bzw. der Erscheinung des Anderen im Theater in der experimentalen Öffnung der Wahrnehmung des Betrachters zu fundieren wäre. Andererseits verdeutlicht der Blick des Betrachters auf das Bild bzw. die Bühne, dass diese ebenfalls jeweils dem blinden Fleck unterliegen, da sie niemals die Welt, auch nicht als Ausschnitt, vollständig abbilden können. Angesichts dessen wäre eine Differenz zwischen Bild und Wahrnehmungsbild im und außerhalb des Theaters schon deshalb wichtig, da das Bild gegenüber der Wahrnehmung als komplexitätsreduzierendes Medium in höherem Maße auf den blinden Fleck jeder Wahrnehmung des Anderen verweist, als dies die ‚natürliche Wahrnehmung‘ zu bewirken imstande ist. Dies gilt analog für die mehr oder weniger dramatische Dramaturgie: Ein perfekter Naturalismus, der im Extrem der Performance als pure Live Art deshalb ähnlich, wenn nicht gleich ist, weil er kein Bild abgibt, sondern nur ‚ist‘, wäre daher kein ideales Mittel, um eine Öffnung im Sinne einer ethischen Erweiterung des Wirklichkeits- durch den Möglichkeitssinn zu erlangen. In diesem Sinne ist der Übergang vom Werk Schillers und Kotzebues zu dem von Charlotte Birch-Pfeiffer bezeichnend, denn bei der Erfolgsdramatikerin wird das Bild der Natur im wahrsten Sinne des Wortes ‚ein-deutiger‘. Über die Avantgarden des 20. Jahrhunderts verläuft der Weg, wenn man den Hyperrealismus
194 Gernot Böhme: Theorie des Bildes, München 1999, S. 92ff. 195 Ebd., S. 128. 196 Umberto Eco: Zeichen. Einführung in einen Begriff und seine Geschichte, Frankfurt/M. 1977, S. 138.
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etwa eines Alvis Hermanis oder einer Katie Mitchell ausblendet, in die entgegengesetzte Richtung. Vor diesem theaterhistorischen Hintergrund könne man, so Lehmann, bei den „Wegen, sich der Frage nach der Tragödie und den Tragischen in der Gegenwart zu nähern, vergröbernd zwei Hauptlinien unterscheiden“: das Konfliktmodell und das Überschreitungsmodell. Das Tragische heute wäre die Rekluse der zur Erkenntnis notwendigen Repräsentation. „In diesem Sinne“ stelle „postdramatisches Theater die Frage nach der Tragödie, indem es ‚Tragödie des Spiels nicht nur zeigt, sondern ist.“197 Forciert werde der Einbruch des Realen, der das Tragische in einer Kultur des Spiels, der Ubiquität der Ironie, der allumfassenden Theatralität, der Inszenierung und der Undenkbarkeit von ‚Authentizität‘ zeitgemäß als unaufhebbaren Widerspruch zwischen Anderem und ganz Anderem sicht- und spürbar macht. Das Reale wäre in der Begegnung des Menschen auf der Bühne und im Alltag mit der Umwelt oder dem Anderen das im performativen Wissens- und Machtakt Ausgeschlossene, verdrängte Andere, das umso mehr zurückschlägt bzw. anhaltend widerborstig bleibt. Aber nicht wie in Sophokles’ Tragödientext an der Stelle, an der Anagnorisis und Peripetie zusammentreffen, sondern ständig, im Moment, in jedem Akt, dessen Ausdehnung gegen Null tendiert, wie es etwa Dimiter Gotscheff in seiner Inszenierung von Sophokles’ Ödipus Tyrann nach Hölderlin und Heiner Müller einrichtete. Im bürgerlichen Trauerspiel und in seinen trivialen epigonalen Rührstücken verlagert sich die Handlung vom öffentlichen, gesellschaftspolitischen Leben in die familiär-häusliche Welt, während paradoxerweise die Diskussion darüber in der gerade entstehenden bürgerlichen Öffentlichkeit der Lesezirkel, der Salons, des zunehmenden Buchmarktes und des sich dem bürgerlichen Publikum öffnenden stehenden Theaters stattfand.198 Mit dem Wandel der dramatischen Form veränderte sich der Begriff des Tragischen. War es bis dahin so, dass der Held in der klassischen Tragödie ein grausames Schicksal erlitt, das sich weitgehend seinem Einfluss entzog, so wurde der bürgerliche Held und infolgedessen auch der Zuschauer nun zunehmend damit konfrontiert, dass ein ungünstiges Schicksal auf den eigenen Charakter und dessen eigenes Verhalten zurückzuführen war. Das bedeutete für den Bürger bzw. das vereinzelte Subjekt eine wachsende Zuschreibung an Eigenverantwortlichkeit, was heute etwa Thomas Ostermeier in seiner Inszenierung von Ibsens Volksfeind kritisiert. Damit ging eine sich verstärkende Idiosynkrasie nicht nur gegenüber eigenen inneren Zu-
197 Hans-Thies Lehmann: „Tragödie und postdramatisches Theater“, in: Bettine Menke/Christoph Menke (Hg.), Tragödie – Trauerspiel – Spektakel, Berlin 2007, S. 213227, hier S. 226. 198 J. Habermas: Strukturwandel der Öffentlichkeit; Jürgen Schiewe: Öffentlichkeit. Entstehung und Wandel in Deutschland, Paderborn 2004.
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ständen, sondern auch für den mehr oder weniger verborgenen Charakter des Anderen einher. Man interessierte sich überwiegend für das Innerseelische und die Motive des Anderen.199 Diesem indiskreten Blick hatte insbesondere das Theater und Drama der Zeit zu entsprechen, so wie es Schiller in seiner Vorrede zu den Räubern als Anspruch formulierte, dass es ein „Vorteil der dramatischen Methode“ sei, die „Seele gleichsam bei ihren geheimsten Operationen zu ertappen“.200 Für Gustav Freytag war in der Mitte des 19. Jahrhunderts die Handlung eines Dramas die „nach einer Idee angeordnete Begebenheit, deren Inhalt durch die Charaktere vorgeführt“ würde. Sie wäre aus „vielen Einzelheiten zusammengesetzt“ und bestünde aus „einer Anzahl dramatischer Momente, die nacheinander in gesetzlicher Gliederung wirksam“ würden. Die Idee des Dramas wäre die Einheit in einem Zusammenhang von Ursache und Wirkung. Das Drama gestalte sich in der Seele des Dichters „allmählich aus dem rohen Stoff, dem Bericht über irgendetwas Geschehenes“. Dabei tritt für den Dichter, systemtheoretisch betrachtet, aus dem ‚unmarked space‘ des chaotischen Geschehens die notwendige Form wie eine Linie, ein Umriss oder eine Gestalt vor einem Hintergrund hervor.201 Vordrängen mögen sich einzelne, die Aufmerksamkeit auf sich ziehende Momente wie „innerer Kampf und Entschluss eines Menschen, eine folgenschwere Tat, Zusammenstoß zweier Charaktere“ oder der „Gegensatz eines Helden gegen seine Umgebung“. Diese Momente erscheinen prägnant, sie träten so „lebhaft aus dem Zusammenhang mit anderen Ereignissen heraus, dass sie Veranlassung zur Umbildung des Stoffs“ würden. Diese Umbildung geht so vor sich, dass die „lebhaft empfundene Hauptsache in ihrer die Menschenseele fesselnden, rührenden und erschütternden Bedeutung aufgefasst, von allem zufällig daran Hängenden losgelöst und mit einzelnen ergänzenden Erfindungen in einen einheitlichen Zusammenhang von Ursache und Wirkung gebracht“ würde.202 Hervortreten will auf der Folie des aristotelischen Handlungsbegriffes das Relevante und Prägnante, während das zufällig ‚daran Hängende‘ abgelöst wird. Die Charaktere wiederum führen den Inhalt der Begebenheit vor. In diesem Moment, den Jacques Derrida als Ereignis (un)kenntlich
199 Vgl. Rainer Ruppert: Labor der Seele und der Emotionen. Funktionen des Theaters im 18. und frühen 19. Jahrhundert, Berlin 1995; Erika Fischer-Lichte/Jörg Schönert (Hg.): Theater im Kulturwandel des 18. Jahrhunderts. Inszenierung und Wahrnehmung von Körper – Musik – Sprache, Göttingen 1999. 200 Friedrich Schiller: „Vorrede (zur ersten Auflage) der Räuber“, in: Ders., Sämtliche Werke in 5 Bänden, Band I, hg. v. Albert Meier, München 2004, S. 484-488, hier S. 484. 201 Vgl. etwa Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft. Zweiter Teilband, Frankfurt/M. 1997, S. 1109. 202 Gustav Freytag: Die Technik des Dramas, Berlin 2003, S. 15.
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macht203 und der der eigentliche Moment des Erkennens und Verkennens zugleich ist, ergibt sich die Situation, die entscheidend ist, also im wahrsten Sinne des Wortes eine Entscheidungssituation, in der dem tragischen Konflikt zwischen der Gestaltung und der Energie des Anderen nicht zu entkommen ist. Auf die intratheatrale Kommunikation bezogen funktioniert die Bühne als Medium des Probehandelns. Dabei gilt für Freytag, dass im modernen Drama die „Einwirkung des Charakters auf das Gefüge der Handlung stärker als auf der Bühne des Altertums“ wäre, für die Aristoteles noch den starken Primat der Handlung forderte. Die Aufgabe wäre nun, mit „größerer Freiheit die innerlich zusammenhängende einheitliche Handlung durch Charaktereigentümlichkeiten der Helden erklären“ zu dürfen.204 Dieser Charakter offenbare sich im Handeln innerhalb von Situationen, zudem sollte er aber auch schnell über das Äußere erkennbar sein. Gerade für das populäre Theater der Zeit sollten sich äußere Gestalt und das Handeln in dramatischen Situationen in der Regel nicht widersprechen. Dieser Zwang zur Kohärenz, der bis zur heutigen Ästhetik der TV-Serie besteht, korrelierte mit einer Tendenz zur Typisierung im Aussehen und im Rollenverhalten. Damit gilt für das Theater und andere visuelle Medien, dass sie in der Situation das Paradox des Erkennens/Verkennens zwischen dem Ich und dem Anderen weitgehend in ein reibungsloses Erkennen zu überführen suchen, wenn es nicht um eine Intrige bzw. eine dramaturgisch motivierte vorübergehende Täuschung im Sinne eines unzuverlässigen Erzählens gehen soll. Ein Großteil der Anziehungskraft der populären Medien bis heute liegt mutmaßlich in diesen Effekten der schon von Nietzsche festgestellten Entkomplexivierung des unendlich chaotischen Lebens, die orientierend und psychisch entspannend wirken. Die unangenehme Nebenwirkung einer Reduktion der kognitiven Dissonanz liegt jedoch in der Stereotypisierung der Gestalt und in der Verschleierung der Agonalität und Widersprüchlichkeit in der Beschreibung des Anderen. Diese Gefahr scheint vom Idealismus her zu bestehen und kaum bemerkt zu werden, obgleich Nietzsche skeptischer Blick das Problem erkennt. Für ihn kreieren Dramatiker und Künstler keineswegs, wie gerne behauptet wird, „wirklich Charaktere“, vielmehr sei dies „schöne Täuschung“ und „Uebertreibung“. Eigentlich verstehe der Mensch von einem „wirklichen lebendigen Menschen“ nicht viel und generalisiere sehr „oberflächlich“, wenn er dem Anderen „diesen und jenen Charakter“ zuschreibe. Da nun der Dichter ebenfalls ein Mensch sei, könne er nur „ebenso oberflächliche Entwürfe zu Menschen“ machen, da generell die „Erkenntniss[e] der
203 Jacques Derrida: Die gewisse unmögliche Möglichkeit, vom Ereignis zu sprechen, Berlin 2003. Derrida bezieht sich hier auf den heideggerschen Ereignisbegriff, den dieser in seinem Spätwerk an die Stelle der ontologischen Differenz setzte. 204 G. Freytag: Technik des Dramas, S. 39.
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Menschen oberflächlich“ seien. Man darf also bei dramatischen Figuren nicht von „leibhaftigen Naturproducte[n]“ ausgehen, als Bild seien sie wie die „gemalten Menschen ein Wenig allzu dünn“, sie vertrügen den „Anblick aus der Nähe“ nicht. Daran anschließend wandte sich Nietzsche gegen eine neuplatonische, wenn nicht theosophische Sicht und gegen den immer noch virulenten Idealismus in der Kunst: „Gar wenn man sagt, der Charakter des gewöhnlichen lebendigen Menschen widerspreche sich häufig, der vom Dramatiker geschaffene sei das Urbild, welches der Natur vorgeschwebt habe, so ist diess ganz falsch.“ Das „Nothwendige“, das der Mensch für Nietzsche durchaus sei, werde jedoch nicht immer erkannt. Und zwar sowohl in der Kunst wie im richtigen Leben, da der Beobachter bzw. das Publikum mit starken Vereinfachungen vollauf zufrieden seien: „Der erdichtete Mensch, das Phantasma, will etwas Nothwendiges bedeuten, doch nur vor Solchen, welche auch einen wirklichen Menschen nur in einer rohen, unnatürlichen Simplification verstehen: sodass ein paar starke, oft wiederholte Züge, mit sehr viel Licht darauf und sehr viel Schatten und Halbdunkel herum, ihren Ansprüchen vollständig genügen.“ Die imaginäre Beleuchtung des Anderen erzeuge übertriebene Züge, deren Resultat eine Projektion ist, die dem Schattenriss entspricht: „Sie sind also leicht bereit, das Phantasma als wirklichen, nothwendigen Menschen zu behandeln, weil sie gewöhnt sind, beim wirklichen Menschen ein Phantasma, einen Schattenriss, eine willkürliche Abbreviatur für das Ganze zu nehmen.“ Nietzsche kommt zum Schluss, dass die Behauptung, der „Maler und der Bildhauer“ drücke „die Idee des Menschen“ aus, „eitel Phantasterei und Sinnentrug“ sei, denn „man wird vom Auge tyrannisirt, wenn man so Etwas sagt, da dieses vom menschlichen Leibe selbst nur die Oberfläche, die Haut sieht; der innere Leib gehört aber ebenso sehr zur Idee.“ Noch mal seine Überlegungen zusammenfassend, bezieht sich Nietzsche auf die äußere Erscheinung des Menschen in der Kunst, die aber aufgrund ihrer medialen Spezifizität das Eigentliche verfehlen muss: „Die bildende Kunst will Charaktere auf der Haut sichtbar werden lassen; die redende Kunst nimmt das Wort zu demselben Zwecke, sie bildet den Charakter im Laute ab. Die Kunst geht von der natürlichen Unwissenheit des Menschen über sein Inneres (in Leib und Charakter) aus: sie ist nicht für Physiker und Philosophen da.“205 Insofern sind auch das Drama und die Aufführung nur dazu geeignet, Schattenrisse zu präsentieren, die man als „theatralische Physiognomie“206 bezeichnen kann, die aber in ihrem Ausdruck das ganze Leben immer vereinfachen und daher die Unwahrheit in der apollinischen Projektion darstellen.
205 F. Nietzsche: Menschliches, Allzumenschliches, S. 132. 206 Rudolf Stamm versteht darunter ohne weitergehende Diskussion den szenischen wie auch handlungsorientierten Aufbau von Dramentexten, vgl. „Die theatralische Physiognomie der Haupt- und Nebenszenen in Shakespeares Richard II“, in: Shakespeare Jahrbuch 119 (1983), S. 89-98.
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Kant, der, ausgehend von den englischen Ästhetikern, darauf verwies, dass dem ästhetischen kein vernünftiges Urteil vorangehen müsse, denn letztlich gehe es um die Lust oder Unlust bzw. sinnliche Affiziertheit des Menschen, differenzierte das Ästhetische als Schönes und Erhabenes vom Moralischen als Gutes und Böses,207 wobei er mit der Ansicht von Karl Rosenkranz und mit einigen in den populären Theaterstücken virulenten Typisierungen dezidiert in Konflikt geriet. Die Modernität von Kants Ästhetik ist evident. Sie lässt sich zum Teil in manchen populären Dramentexten wie denen von Kotzebue oder Nestroy nachweisen, womit die Antinomie in der populärtheatralen Ästhetik der Zeit aufscheint. Und sie bindet noch unsere heutigen nachmodernen ästhetischen Vorstellungen, welche die Ethik in der Ästhetik auflösen, was uns etwas blind für die medienphysiognomischen Zwänge und Gefahren als mehr oder weniger unbewusste Wirkungen macht. Das Ästhetische dominiert als Oberfläche oder Präsenzwirkung, ohne dass es durch eine wie auch immer geartete Ethik im Rahmen gehalten wird. In diesem Sinne wäre die Differenz zwischen Ethik und Ästhetik unaufhebbar.208 Diese philosophische Tradition wäre über Nietzsche bis zu Lichtenberg rückzuverfolgen, der die essentialistische Haltung Lavaters als höchst gefährlich für das soziale Zusammenleben, insbesondere für einige betroffene, nicht der idealen Norm entsprechende Individuen erkannte. Das Schöne verband sich um 1800 mit dem Subjektiven, was sich in den in der vorliegenden Arbeit diskutierten Theatertexten nachweisen lässt. Wilhelm von Humboldt formulierte als Zeitzeuge, wenn für ihn alles Schöne „allein subjektiv“ ist und die „Schönheit bloß in uns, und das Wesentliche derselben eine moralische, d. i. unsinnliche Idee sinnlich dargestellt.“ Konkret konnte für ihn also die Schönheit in „nichts Anderem bestehen, als darin, dass es gewisse Formen gebe, bei welchen in der Seele die Vorstellung jener unsinnlichen Idee, als hier sinnlich dargestellt, entstehe.“209 Das galt auch für die Natur: Eine Landschaft, ein Berg oder eine Blume wären deshalb schön, weil sie einem Subjekt gefielen, das sich gerne der Zustimmung der Anderen versicherte. Das einzelne Geschmacksurteil wäre eben kein „Erkenntnisurteil, mithin nicht logisch, sondern ästhetisch.“210 Denn es bewerte einzig die Relation, in der sich das Subjekt in Bezug zum Gegenstand befinde. Dies leitet eine Richtung ein, die bei entsprechender Neigung bis zum postmodernen Antiessenzialismus verfolgt werden kann, indem die Aufmerksamkeit auf die relatio-
207 Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft, Wiesbaden 2003, S. 136. 208 Vgl. u.a. Zygmunt Baumann: Postmoderne Ethik, Hamburg 1995; Christoph Wulf/Dietmar Kamper/Hans Ulrich Gumbrecht (Hg.): Ethik der Ästhetik, Berlin 1994. 209 Wilhelm von Humboldt: „Brief an Christian Gottfried Körner vom 15. Januar 1794“, in: Ders., Ansichten über Ästhetik und Literatur, hg. v. Ferdinand Jonas, Berlin 1880, S. 17f. 210 I. Kant: Kritik der Urteilskraft, S. 115.
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nalen Beziehungen gelenkt wird. Damit gilt mit Umbertos Eco allein der Name der Rose und mit Gertrude Stein: „A rose is a rose is a rose“, auch wenn Eco selbst postmodern übertriebenen Konstruktivismen äußerst kritisch begegnete. Für den dramatischen Text bedeutet dies, dass er sich vermehrt an der Oberfläche orientierte und dort auch ausbreitete. Denn ohne gültigen Referenten im Inneren oder Äußeren des Individuums verlor sich der dramatische Text wie die Gestalt vor dem Hintergrund in der Landschaft. Das Theater wurde postdramatisch oder performativ, für Heiner Goebbels repräsentiere es „nichts mehr. Bedeutung wird hier nicht durch den Verweis auf eine andere Wirklichkeit geschaffen, das Theater produziert und reflektiert seine eigene.“211 Hier deutete sich das grundlegende Problem der Erscheinung des Anderen, sei es auf der Bühne, sei es im Alltag, an. Der frühe ‚Konstruktivismus‘ Kants fundierte nicht nur die Subjektivierung des Ästhetischen, sondern verband die Ästhetik mit dem Gedanken der Zweckmäßigkeit. Das ästhetische Urteil des interesselosen Wohlgefallens war zwar subjektiv, behauptete jedoch einen Anspruch auf eine gewisse Allgemeinheit. So reduzierte es die Norm, entband sukzessive von allen Ansprüchen gesellschaftspolitischer oder gar moralischethischer Art, wusste aber doch von seiner wenn auch schwer fassbaren Verwurzelung im Allgemeinen. Bezogen auf das Bild vom Anderen bedeutete dies, dass stereotype Muster, seien sie als hässlich oder als attraktiv bewertet, mit dem Allgemeinen verbunden sind und nicht ohne Widerstand relativiert werden können. Zugleich sind sie ungebunden genug, um keinen Beweis dafür führen und keine Verantwortung mehr tragen zu müssen und auf keinen Schuldigen verweisen zu können. Eine Rose ist genauso eine Rose wie etwas hässlich ist, weil es eben hässlich ist. Damit wäre auch die Physiognomie des Anderen hässlich, weil es eben so ist, bzw. weil die Mehrheit oder die dominierende Struktur es so vor-schreibt. Die begründungs- und referenzlose Tautologie immunisierte weitgehend gegen Kritik und ist besonders gut anschlussfähig an den Closed-Circuit des Zuschauaktes und den der Interpretation bzw. der Lesbarkeit des Anderen. Sie koagierte mit dem Menschenbild der jeweiligen Zeit, das im Kreislauf der Produktion und Rezeption der Medienbilder des Anderen als prägnantes Bild performativ tradiert und zuweilen subvertiert wird. Für unseren Untersuchungszeitraum von 1800 bis heute ergibt sich also das doppelte Problem, dass einerseits der herrschende Diskurs die Normen für die ästhetische Bewertung und Erfahrung vorgab, während andererseits die Performanz, Relationalität und Relativität dieser Normen nur zum Teil bewusst waren oder zur Sprache kamen.
211 Heiner Goebbels: Ästhetik der Abwesenheit, Berlin 2012, S. 80.
2. Projektionen des Anderen
2.1 D ER
IMAGINÄRE
O RT
DER
S EELE
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Das 19. Jahrhundert eröffnete eine prägnante Dichotomie von subjektivem Erleben und materiell determiniertem Handeln. Diese Fliehkräfte werden die Ursache der Krise des dramakonstituierenden Dialogs sein.1 Auch die Theatergeschichte begegnet dem Auslauf der Erfahrungen in modernen Zeiten mit einer analogen Polarisierung sowie differenten Wahrnehmung der Figuren im Symbolismus oder Naturalismus. Schon mit Georg Büchner beginnt die Erschütterung des Dramatischen: In seinem Lustspiel Leonce und Lena erkunden der Prinz als Herr und sein Diener die Welt als Ausschnittfiguren der unsicheren Zeit. Leonce und Valerio, der im komisch ausgespielten Verhältnis zwischen Herr und Knecht den schweren Sack trägt, erscheinen auf der Bühne: „Valerio (keuchend): Auf Ehre, Prinz, die Welt ist doch ein ungeheuer weitläufiges Gebäude. Leonce: Nicht doch! Nicht doch! Ich wage kaum die Hände auszustrecken wie in einem engen Spiegelzimmer, aus Furcht, überall anzustoßen, dass die schönen Figuren in Scherben auf dem Boden lägen und ich vor einer kahlen nackten Wand stünde.“2 Büchner demonstriert im Dialog die Welt als Objekt der Anschauung und der Materie, sodass die eigene Existenz zwischen Ich-Erleben und Aufgehen in der Materie, zwischen Leib-Sein und KörperHaben uneindeutig bleibt: „Leonce: Du verflüchtigst dich ganz an der Sonne. Siehst du die schöne Wolke da oben? Sie ist wenigstens ein Viertel von dir. Sie sieht ganz wohlbehaglich auf deine gröberen materiellen Stoffe herab.“3 Bereits Herder war der Ansicht, die Erkenntnis der Innenwelt sowie des Außenliegenden gelinge dem Menschen allein im „beständigen Horizont seines Körpers“, womit er unbewusst die imaginär-visuelle Strecke zwischen Betrachter und Hori-
1
Vgl. Peter Szondi: Theorie des modernen Dramas, Frankfurt/M. 1963.
2
Georg Büchner: Leonce und Lena, Stuttgart 1981, S. 44.
3
Ebd., S. 45.
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zont eines Panoramas entwarf.4 Kant zielte 1796 in einem Nachwort der Abhandlung Über das Organ der Seele von Samuel Thomas Soemmerring, welche ihm persönlich vom Autor gewidmet wurde, auf das Problem, den Ort einer menschlichen Seele und damit seines „absoluten Selbst´s irgendwo im Raume anschaulich“ zu machen. Man müsse sich „selbst durch eben demselben Sinne wahrnehmen, wodurch“ man die „zunächst umgebende Materie wahrnehme; so wie dieses geschieht, wenn ich meinen Ort in der Welt als Mensch bestimmen will, nämlich dass ich meinen Körper im Verhältnis auf andere Körper außer mir betrachten muss.“ Dies eröffne eine eigenartige Imagination, die wiederum, vor allem im Austausch mit anderen Individuen, aber auch in der Selbstvergewisserung und in der Extension des eigenen Gedächtnisses, auf Medien angewiesen ist. Im Menschen überlagerte sich das Innere und Äußere und provozierte die Frage nach der Beziehung zwischen äußerer Erscheinung und innerer ‚Wahrheit‘. Kant selbst entbarg die eigentümliche Antinomie, die, was den dramatischen Text betraf, für den Dialog während des 19. Jahrhunderts zum Problem werden und heute von René Pollesch postdramatisch karikiert wird: Die Seele könne sich nur durch „den inneren Sinn, den Körper aber (es sei inwendig und äußerlich) nur durch äußere Sinne wahrnehmen, mithin sich selbst schlechterdings keinen Ort bestimmen, weil sie sich zu diesem Behuf zum Gegenstand ihrer eignen äußeren Anschauung machen und sich außer sich selbst versetzen müsste, welches sich widerspricht.“5 Es blieb nur, der Seele einen imaginären Ort zu schaffen – als Projektion des ‚Selbst‘. Vorderhin drohte nun das Resultat eines unendlichen Regresses als Beobachter x-ter Ordnung, der den Ort der ‚Seele‘ in der Bestimmung zugleich ständig entzog. Infolgedessen suchte der Blick des Ichs in der Begegnung mit dem Anderen oder Fremden am weniger formbaren Schädel und die dahinter vermutete physikalische Masse des Gehirns Halt, über die man im Zweifel materiell verfügen, die man wiegen, bestimmen und ausmessen konnte. Und er blieb auf Artefakte wie den dramatischen Text und die zeitgenössische Bühne angewiesen, die nicht nur das Ich und den Anderen, sondern auch das Verhältnis ‚zwischen‘ dem Ich und dem Anderen bestimmten. Paradoxien dieser Art waren in einer Zeit der Subjektivierung, welche mit dem popularisierten Fichte ihren philosophischen Höhepunkt erreichte, unausweichlich;
4
Johann Gottfried Herder: „Uebers Erkennen und Empfinden in der menschlichen Seele“, in: Ders., Sämtliche Werke. Bd. 8, hg. v. Bernhard Suphan, Hildesheim 1967, S. 236-262, hier S. 251.
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Immanuel Kant in Samuel Thomas Soemmerring: Über das Organ der Seele, Königsberg 1796, S. 86. Soemmerring begriff die Seele als Fluidum ohne Ort, Albrecht von Haller hingegen hat sich der Diskussion entzogen. Vgl. Olaf Breidbach: Die Materialisierung des Ichs. Zur Geschichte der Hirnforschung im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt/M. 1997, S. 46 und S. 149.
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der Dialog von Leonce und Valerio thematisiert die Leib-Seele-Problematik, welcher als abendländisches Fundament Descartes’ Trennung von Geist (res cogitans) und Körper (res extensa)6 im Sinne einer erkenntnistheoretischen Differenzierung von Subjekt als der Geist, der erkennt, und Objekt als das Ding, das erkannt wird, zugrunde liegt. Diese Differenzierung erlaubte erst die Methode der sich herausbildenden Naturwissenschaften. Was das Verhältnis vom Ich zum Anderen vor dem Hintergrund einer gesamteuropäischen Tendenz zum rationalistischen und sensualistischen Subjektivismus betraf, so bildete sich die Vorstellung eines freien autonomen Individuums heraus, über die sich der philosophierende Arzt Büchner amüsierte und die heute nur über Hilfskonstruktionen wie etwa der Autorin als „Triebtäterin“ (Elfriede Jelinek) gelingt. Im Spiel der Beobachtungen ist das Individuum abhängig vom Blick, vom (Vor)-Urteil, der Typisierungsenergie und der Einbildungskraft des Anderen. Das galt für die Theatralität des Alltags und mehr noch für das Verhältnis zwischen Zuschauer und Schauspieler auf der Theaterbühne. In der Zeitspanne des Übergangs zwischen dem 18. und dem frühen 19. Jahrhundert wurden in der Kunst das Subjektive und Relative, die Einbildungskraft und die inneren Bilder zu relevanten Aspekten, die mit den in den Wissenschaften reüssierenden rationalistischen Perspektiven scheinbar im Widerspruch standen. Für Evreinov ging es ein Jahrhundert später vor dem Hintergrund seines Theatralitätsparadigmas um das Begehren des Menschen, „seine Erfahrungswelt gemäß den (Wunsch-)Bildern seiner Vorstellung wahrzunehmen und die diesen anzupassen.“7 Das Bewusstsein lebt in potentiell unendlich vielen, einge-bildeten Welten. Kinder und Künstler erlauben sich dabei mehr, Kunst wäre für Evreinov die einzige Art, die Welt zu verstehen, sie wäre „der Ort, an dem sich die Imaginationen treffen.“8 Schon Vico behauptete, Erwachsene könnten sich aufgrund ihres Übermaßes an abstraktem Denken nicht mehr wie Kinder und Wilde, die sogar Dinge anthropomorphisieren, eine empfindende Natur imaginieren. Die Lesbarkeit des Anderen wurde innerhalb der Spätaufklärung als einer Zeit virulent, die vermehrt auf die Einbildungskraft rekurrierte, wenn es um das Bild des Anderen ging. Dabei wären die Einbildungskraft bzw. das Imaginäre keine Gegen-
6
Für René Descartes werden die Menschen „ – wie wir – aus einer Seele und einem Körper zusammengesetzt sein.“ Er stellte sich vor, dass der „Körper nichts anderes sei als eine Statue oder Maschine aus Erde, die Gott gänzlich in der Absicht formt, sie uns so ähnlich wie möglich zu machen“; ders.: Über den Menschen/Beschreibung des menschlichen Körpers, hg. v. Karl E. Rothschuh, Heidelberg 1969, S. 43-45.
7
Harald Xander: „Theatralität im vorrevolutionären russischen Theater“, in: Erika FischerLichte/Wolfgang Greissenegger/Hans-Thies Lehmann (Hg.), Arbeitsfelder der Theaterwissenschaft, Tübingen 1994, S. 111-124, hier S. 113.
8
Interview von Anke Sterneborg mit Marjane Satrapi, in: SZ vom 5./6.1. 2012, S. 12.
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begriffe zum Realen, sondern mit Cornelius Castoriadis eine innovative, poietische Kraft.9 Imagination wäre dementsprechend nicht allein die menschliche Fähigkeit zur Einbildung von etwas, das keinen Referenten hat bzw. vorweisen muss, sondern vielmehr wie die Inszenierung von etwas, das durch etwas anderes gestaltet, geformt oder kreiert wird.10 Das Imaginäre entspräche nicht einem Bild, sondern dezidiert einem Werk, einer Kreation oder Schöpfung von Gestalten, Formen, mentalen Formen und Räumen, welche – nicht nur als Metapher im engeren Sinne – jeden Text, jeden Begriff oder jedes Wort von etwas fundieren.11 Ende des 18. Jahrhunderts wurde unter Einbildungskraft seit Leibniz, Wolff und Kant das Vermögen verstanden, die Elemente der Resultate sinnlicher Wahrnehmung, darunter des Sehens, so anzuordnen bzw. zu formen, dass sich voneinander zu differenzierende Gestalten, Typen, ‚Dinge‘ und Einheiten bilden, die auch ohne direkten sowie aktuellen Bezug zur realen Anwesenheit vorstellend im ‚Innen‘ – erst noch in der Seele, später dann im Bewusstsein eines Subjekts – repräsentiert werden können. Goethe zweifelte medienadäquat 1771 “keinen Augenblick, dem regelmäßigen Theater zu entsagen. Es schien mir die Einheit des Orts so kerkermäßig ängstlich, die Einheit der Handlung und der Zeit lästige Fesseln unserer Einbildungskraft.“12 Lessing meinte mit Blick auf Aristoteles, dass es die Aufgabe des Dichters sei, so lebhafte Imaginationen beim Leser oder Zuschauer zu erzeugen, dass „wir in der Geschwindigkeit die wahren sinnlichen Eindrücke ihrer Gegenstände zu empfinden glauben, und in diesem Augenblicke der Täuschung, uns der Mittel, die er dazu anwendet, seiner Worte bewußt zu sein, aufhören.“13 Dies hatte medienästhetisch bis heute Folgen, etwa in der Bevorzugung des Dramatischen vor dem Performativen, dem filmischen Bewegungs- vor dem Zeitbild, dem politisches Theater vor Theater politisch Machen. Erkenntnistheoretisch argumentierend sollte die Einbildungskraft bei Aristoteles im Feld zwischen Wahrnehmung und Denken, bei Kant zwischen Sinnlichkeit und Verstand zu lokalisieren sein. Fichte argumentierte ähnlich wie Kant, er wies darauf hin, dass man sich der Performanz der Einbildungskraft kaum oder gar nicht be-
9
Vgl. Andreas Hetzel: Zwischen Poiesis und Praxis, Würzburg 2001, S. 224.
10 In diesem Sinne „Nicht-Seiendes in Seiendem ‚sehen‘ zu können, etwas durch etwas anderes anwesend oder gegenwärtig sein zu lassen“, Cornelius Castoriadis: Das Imaginäre als gesellschaftliche Institution, Frankfurt/M. 1984, S. 423. 11 Ebd., S. 12. 12 Johann Wolfgang Goethe: „Zum Shakespears Tag“, in: Ders., Sämtliche Werke, Bd. 18, Weimar 1998, S. 9-12, S. 10. 13 Gotthold Ephraim Lessing: „Laokoon Oder über die Grenzen der Malerei und Poesie“, Berlin 2016, S. 99.
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wusst werde.14 Für Hume war die Imagination so etwas wie ein magisches Vermögen der Seele, das unbezweifelbar wichtig sei, das man jedoch nicht erklären könne.15 Ein genauerer Blick auf das Phänomen der Einbildungskraft in der Moderne vor dem Hintergrund des korrelationistischen Zirkels zeigt, dass man es hier mit Dimensionen der Suche nach der nicht mehr durch die göttliche Ordnung strukturierten und damit nicht mehr durch einen Punkt außerhalb der Geschichte bzw. durch ein transzendentales Signifikat legitimierten Wirklichkeit zu tun hat.16 Der spezifische Blick der Moderne bedeutet für das autonome und auf sich gestellte Subjekt den Versuch, seine eigene Identität zu ermitteln, zu fixieren und mitteilbar zu machen, und zwar für sich wie auch für die Anderen. Im Akt des Mitteilbarmachens hat sich die Imagination einer Identität durch das Nadelöhr der Typisierung zu zwängen.17 Die dringende Frage, die sich dem vereinzelten Individuum stellte, war nun, was ihm durch welches Medium dargestellt wurde, und in welchem Ähnlichkeitsverhältnis sich das Gezeigte mit den Referenten, das Abbild mit dem Urbild befand – es ging um die Frage nach der Mimesis in der Begegnung mit dem Anderen. Um 1800 erlosch die rhetorische Tradition, und mit ihr verblassten die alten Mimesisvorstellungen; kein Kanon besaß mehr die Autorität, die Kodifizierung regeln zu können.18 An ihre Stelle traten Körper, Anwesenheiten, Performanzen, Gestalten und Bilder, die sinnlichen Repräsentationen der Wirklichkeit bzw. der Einbildung; deren Rehabilitierung war ein Symptom der Veränderungen um die Jahrhundertwende. Für Platon noch gefährlich, da sie ihm für eine funktionierende soziale Ordnung aufgrund ihrer potenzierten Indirektheit in der Mimesis zwischen Urbild und Abbild wie die Poesie untauglich schienen, begannen Performanzen, Dramaturgien und Bilder seit der Renaissance eine zunehmend seriös-zentrale Rolle zu
14 Johann Gottlieb Fichte: Gesamtausgabe II, I, hg. v. Reinhard Lauch, Stuttgart 1962, S. 308. 15 David Hume: Ein Traktat über die menschliche Natur I, Leipzig 1904, S. 38ff. 16 Vgl. auch das sogenannte Zwischenspiel „Das Unbehagen im Korrelationismus“ von Slavoj Zizek, in: Ders., Weniger als nichts: Hegel und der Schatten des dialektischen Materialismus, Frankfurt/M. 2014, S. 850-881. 17 Eine moderne Identität durch den „Blick in den Spiegel, der den eigenen Blick narzisstisch überhöhen kann oder aber erschreckt“, so Thomas Kleinspehn: Der flüchtige Blick. Sehen und Identität in der Kultur der Neuzeit, Reinbek 1985, S.163f. und S. 186; schon um 1727 bemerkte Pierre Carlet de Marivaux: „Ich betrachte mich, wie man ein Bild betrachtet“; Pierre Carlet de Marivaux: Betrachtende Prosa, Frankfurt/M. 1988, S. 198. 18 So Gunter Gebauer/Christoph Wulf: Mimesis. Kultur–Kunst–Gesellschaft, Reinbek 1992, S. 304.
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spielen, in ihrer wie auch immer prekären Gestaltung wurden das Ich, der Kosmos, die umgebende Welt und die Körper einander als das jeweils Andere zugeordnet. Im 18. Jahrhundert veränderten sich Gestalten und Gestaltungen des Anderen, sie wurden neu gelesen, wie man an der großen Resonanz, auf die die Physiognomik stieß, erkennen kann.19 Der natürliche Schauspielstil setzte sich durch – von Riccoboni und d’Alambert über Diderot und Lessing zu Schröder und Iffland – und die Physiognomik eroberte großflächig das Gebiet der Ausdruckskunde und erkundungen, welche die sichtbare Existenz und das Verhalten des Menschen als Ausdruck in den Blick nahmen. Ausdruck bezeichnete bei Gottfried Wilhelm Leibniz, auf den der Begriff zurückgeht, die Mittel sowie die Art und Weise dessen, was auf das Vorgehen in der Seele schließen lässt. Gestalten des Ausdrucks lassen zum einen eine gewisse Dauer erkennen, zum anderen bilden sie sich in wissenschaftlich weit schwieriger, wenn nicht unmöglich zu systematisierenden Bewegungen. Erstere sind das primäre Objekt der Physiognomik bzw. der späteren Phrenologie als statische, letztere das der Pathognomik sowie der Mimik bzw. Proxemik als dynamische Ausdruckskunde. Das Interesse für den Ausdruck des Anderen entwickelte sich weitgehend parallel zur Psychologie, indem man von einer ganzheitlichen Betrachtungsweise ausging; im Theater ersetzte das ‚natürliche‘ das ‚künstliche‘ Zeichen. Die relevanten Zeichen waren nun auf die Gesamtheit der Persönlichkeit des Anderen bezogen. Das einzelne korporalmotorische Merkmal oder präsentische Inszenierungsdetail stand nicht mehr im Zentrum der Aufmerksamkeit. Indem sie Bilder des sozialen Lebens entwarf, die wichtige Rollen in der kulturellen Basis der modernen Gesellschaft spielten, markierte die alltägliche Gebrauchsphysiognomik den jeweils bestimmenden Platz eines Bürgers im gesellschaftlichen Feld. Ohne sichere Anzeichen einer Ständezugehörigkeit bestimmte sich der soziale Rang des Individuums in der bürgerlichen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts explizit aus dessen Darstellung oder Erscheinung. Der Andere wurde, wie es theaterwirksam Eugène Labiche in seinen Boulevardkomödien, etwa in Die Affäre Rue de Lourcine (1857), demonstrierte, weit durchdringender betrachtet oder geprüft und dabei missverstanden sowie ständig falsch bewertet. Ohne festgelegte Standeszeichen des Anderen hatte man auf möglichst wenig verräterische Anzeichen einer dunklen Charakterseite zu achten, überhaupt jedes Missverstehen im Keim zu ersticken. Nicht erst Lillos The London Merchant verlangte Ehrbarkeit, von Männern im Geschäftlichen, von Frauen im Moralischen, die nicht durch ‚falsche‘ Zeichen in Frage gestellt werden durfte. Äußere Merkmale, die an der Ehrbarkeit zweifeln ließen, wie die der ohne Schwierigkeiten als Femme fatale entlarvbaren Lady Milford (bei Lillo Marwood), korrelierten mit dem Konflikt im bür-
19 Ebd.; für Wulf und Gebauer sind sie gar eine wissenschaftlich-mystische Dechiffrierung der korporalen Oberfläche.
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gerlichen Trauerspiel, in Weimarer Modellinszenierungen wie im trivialen Rührstück, in den Spektakeln des Wiener Vorstadttheaters wie im Bühnennaturalismus. Schon mit Shakespeare, dem zukünftigen dritten ‚deutschen‘ Klassiker, nun fokussiert mit Goethe und Schiller, Kotzebue, Iffland oder Birch-Pfeiffer eröffnete sich im Theater ein weites Feld der Erkundung der bürgerlichen Fauna, des verdächtigenden und mit Lust verurteilenden Blicks. Das deutschsprachige Theater stand dem französischen Roman, etwa dem Honoré de Balzacs, in nichts nach, wenn es um das Erscheinungsspiel der Akteure im sozialen Feld ging. Soziale Interaktion in gesellschaftlichen Institutionen, soziales Handeln und sichtbare Entscheidungen im sozialen Kontext generierten an der Oberfläche neue Kodes, welche als durchaus festgelegte Indizes das Innere der Personen auszudrücken schienen.20 Auf das Theater, die bildende Kunst und die Literatur bezogen öffnete sich so der Zugang über das äußere Bild in das Innere der Gesellschaft, deren Institutionen und Spiele der Akteure im sozialen Feld. Nur war dieses Bild – sei es literarisch, graphisch oder theatral – medial vermittelt und zeitigte eine jeweilige mediale Spezifität. Um 1800 erlebte man im Zerbrechen der Feudalordnung fundamentale Krisen. Diese führten neben der Ausweitung der Suche nach empirischer, positivistischer Wirklichkeit zur Reduktion der existenziellen Rekluse auf das Ich, wie man sie auch in heutigen performativen Praxen beobachten kann.21 Einerseits gab es den Versuch, diese Krise als Chance zu verstehen und neue Energien zu entwickeln, andererseits herrschten massive Ängste vor dem Zerfall der Sicherungen. Imaginiert und kritisiert wurde ein Abstieg, an dessen Ende ein universales, kaltes Diesseits stehen könnte. Entsprechend klagt die Figur der Großmutter in Büchners Woyzeck, dass „alles tot“, gar „niemand mehr auf der Welt“ sei.22 Büchners Text deutete auf das säkulare Schicksal des abendländischen Menschen in der Moderne.23 Die Welt war plötzlich ‚leer‘, die Hoffnung gebenden Bilder der Einbildungskraft erwiesen sich bei näherem Hinsehen, insbesondere in der philosophischen Reflexion und im Ergebnis der wissenschaftlich-empirischen Untersuchung, als materielle Wüste. Im Wald der Begriffe, anatomischen Zergliederungen und Messergebnisse stützenden Zahlen schien die ganzheitliche Anschauung verloren gegangen zu sein.
20 Ebd., S. 305. 21 Vgl. Karl Eibl: „In Zeiten starken sozialen und geistigen Wandels wird die Ich-Funktion zum Beispiel stärker in Anspruch genommen und thematisiert als in Zeiten relativer Stabilität. Es sind die Zeiten, für die man immer wieder einmal das ‚Erwachen‘ der Individualität beobachtet hat“; ders.: Kultur als Zwischenwelt. Eine evolutionsbiologische Perspektive, Berlin 2009, S. 183. 22 Georg Büchner: Woyzeck. Studienausgabe, Szene 18 der Lese- und Bühnenfassung, Stuttgart 1999, S. 6-40, hier S. 35. 23 So Dietmar Kamper: Geschichte der Einbildungskraft, München 1981, S. 161.
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Die Physiognomik und die bedeutende Dramaturgie des Anderen wären die Methoden der Zeit gewesen, die Möglichkeit einer ganzheitlichen Anschauung noch ins Auge zu fassen. Ein physiognomischer Blick prominierte mehr die Anschauung und weniger den Begriff, mehr das Gesicht und weniger die Zahl, mehr die Anmutung und weniger die Ratio, mehr die Atmosphäre und weniger die Analyse. Als Transformation der Welt der Zahlen, Begriffe, Differenzierungen und Analysen in das Universum der Bilder, Figuren und Gestalten des Anderen wäre die Physiognomik ein so eleganter wie zukunftsweisender Weg, den Folgen der RealAbstraktion und empirisch zu ermittelnden Determination des Menschen zu entkommen.24 Eine physiognomische Methode würde sich der Systematik verweigern, sie würde weniger den Phänotext, sondern mehr den Genotext als Performanz der Einbildungskraft unterstützen. Sie interagierte mit der Einbildungskraft, könnte als Morphologie einer ein-gebildeten Welt mit Gestaltcharakter verstanden werden, welche Philosophie, Kunst und Wissenschaft gleichermaßen zu umfassen suchte.25 Die von Kant beschriebene, moderne Ortlosigkeit der Seele provozierte den Versuch, Innen und Außen im Verhältnis des Ichs zum Anderen durch die Physiognomik zusammen zu denken, in der Gestalt und damit der Typisierung zusammenzufassen, die andere und fremde Welt als physiognomische Landschaft aus panoramatischer Mitte in den wissenschaftlichen Blick zu nehmen.26 Die Menschensowie Landschaftsgestalten sollten in ihrer Ähnlichkeit und Deckungsgleichheit die in der Aufklärung verlorenen Verbindungen zwischen den verschiedenen Ebenen, Sphären und Milieus des Kosmos oder des individuellen Daseins wieder sichtbar machen. Ob dies, etwa im Sinne Kants und Hegels, auf systematische Weise möglich war, mochte bezweifelt werden, tatsächlich wäre in einem performativen Sinne von einem Drama zwischen Gesicht und Zahl, oder – anders gesehen – zwischen Geist und Verstand auszugehen.27 So fällt das Verhältnis zwischen Ich und dem Anderen wie im transitorischen Medium Theater, wie im Ereignis der Aufführung eigentlich jedesmal einzigartig und unwiederholbar aus. Die dem Menschen eigene Differenz zwischen Gesicht
24 Ebd., S. 170, mit Rückgriff auf R. Kassner: Grundlagen der Physiognomik. 25 So Kassner, ebd., S. 99. 26 Die Ansicht der Welt als Typus und die Ansicht der Welt als Individuum kann für Kassner nur der Physiognomiker zusammenfassen, der den Blick in eine Welt richtet, in welcher das „Abbild so wirklich ist wie das Urbild und das Urbild so ein-gebildet wie das Abbild“, ebd., S. 98 und 100. 27 Für Kamper stehen die führende Begriffe Kassners wie Identität, Maske, Zahl, Gesicht, Individualität, Rhythmus, Steigerung, Spiegel usw. keineswegs in einem festen Ordnungsrahmen, sondern handeln wie Personen eines Theaterstücks in einem dramatischen Kontext; D. Kamper: Geschichte der Einbildungskraft, S. 170f.
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und Zahl, zwischen Geist und Verstand bildet die Lücke, die Theater und Theatralität ermöglicht und ausfüllt. Die Bühne ist einerseits auf die Materialität der Dinge, die sich wiederholt und in der Zahl manifestiert, und andererseits auf den sich im Moment ergebenden Sinn sowie die Bedeutung im Imaginären angewiesen, wobei Strukturen, Begriffe, Worte und Rollen oder Typisierungen wiederum eine Gestaltpersistenz vorgaukeln, welche die ständig verändernde Umwelt nicht zulassen würde. Ohne ständige Gestalterkennung und Bedeutungszuweisung als Hypothesenbildung wäre Wahrnehmung unmöglich; ohne die irritierende Anwesenheit des kantschen ‚Dings an sich‘, oder, wie Wolfgang Metzger es phänomenologisch ausdrückt, der Wirklichkeit erster Ordnung,28 also der physikalischen Wirklichkeit im Gegensatz zur imaginären, würde die Grenzenlosigkeit und somit Haltlosigkeit der Gedanken sowie Assoziationen zur (romantischen) Verrücktheit führen, der Hegel gerade noch dialektisch zu entkommen meinte – wobei ausgerechnet der Idealismus dem bis heute dominierenden korrelationistischen Zirkel den Boden bereiten wird. Das absolute Drama (im szondischen Sinne), die Natürlichkeit in Gestalt sowie Gestaltung samt Schauspielstil und die Physiognomik waren zu Beginn des 19. Jahrhunderts mediale Methoden, welche die bei Büchner angesprochene Dichotomie zwischen isolierter Subjektivität und isolierter materieller Verfügung über alle Gegenstandsbereiche zu überbrücken schien; dies freilich unter den bereits wegbrechenden Bedingungen einer Vorstellungswelt, in der eine Verbindung von Mikround Makrokosmos, wie sie etwa die Theosophie Swedenborgs propagierte, noch angenommen werden konnte. Zugleich schob sich an die Stelle des Gesichts, der Gestalt und der Erscheinung des Anderen neben der intuitiv wahrzunehmenden Atmosphäre und Eigenart des Anderen der Kulturtext, der den Anderen und Fremden erkennen und zugleich verkennen lässt. Gefährlich wurde es, als Natur und Kultur ineinander übergingen, sich die Gestalt und Gestaltung des Anderen biologistisch essentialisierte. Anthropologie, Naturgeschichte und Präevolutionslehre kulminierten in einem auch auf den Bühnen repräsentierten Monismus, der Descartes’ (und noch Kants) Trennung von Geist (res cogitans) und Körper (res extensa) tendenziell aufhob. Im propagierten und leider zu oft vorausgesetzten Zusammenfall von Symbolischem, Imaginärem und Realem begründeten sich Biologismus und Rassismus auf biologischer Basis.29
28 Vgl. u.a. Wolfgang Metzger: Gesetze des Sehens, Frankfurt/M. 1975. 29 „Rassismus war immer schon kulturalistisch und nie nur biologistisch, und die philosophische Grundlage, schon im 18./19. Jahrhundert bei Herder, Lavater, Carus u.a. zu finden, liegt in der Gleichsetzung von Naturgeschichte und Menschheitsgeschichte, von Natur und Kultur. Sie liegt, mit anderen Worten, im Monismus und der Abkehr von Descar-
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Perfektion finden wir nur im ganz Anderen. Erkennen und Verstehen des Anderen im Diesseits verlangen grundlegende Differenzen und damit Selektionen, Abund Ausgrenzungen. Im Hier und Jetzt muss der Mensch entscheiden, bewusst oder unbewusst – ob er das so will oder nicht. Der Konflikt ist nicht aus der Welt zu schaffen, denn begrenzte Ressourcen, Opportunitätskosten und der Kampf um die Macht verlangen jeweils Entscheidungen für dies oder jenes, für Dich oder den jeweils Anderen. Die Anderen richten wir ein, so wie sie uns einrichten – in der theatralen Interaktion liege, wie es der einflussreiche Schauspiellehrer Sanford Meisner betonte, die existenzielle ‚Wahrheit‘. Dabei betrifft uns die Physiognomik auch heute noch, wenn auch nicht ernsthaft als Wissenschaft, so doch bewusst und unbewusst im Alltag und in den populären Medien. Figurenzeichnungen, entsprechende Dramaturgien und Konstellationen richten sich nach stereotypen Vorgaben des kollektiven Imaginären aus. Es lohnt sich, den Ursprüngen der bürgerlichen Physiognomik im 18. und beginnenden 19. Jahrhundert auf den ‚natürlichen‘ Grund zu gehen, eine Analyse und Reflexion der sogenannten Beredsamkeit des Leibes zu verfolgen, auf theoretischer Ebene in zeitgenössischen theoretischen Diskursen, etwa bei Lavater, Lichtenberg und Engel, oder in den performativen Praxen, in den Texten und Bühnenaktionen vom bürgerlichen Trauerspiel bis zum sogenannten Trivialtheater, von Lillo über Lessing bis zu Schiller. Dass nicht nur das ehrgeizige, aber höchst gefährliche Projekt Lavaters als späte Ausprägung des abendländischen Sokratismus scheitern musste, liegt an der nie ganz gelingenden Übersetzbarkeit von Sprache und abstrahierendem Zugang zum eher intuitiv aufzufassenden Anderen als Körper, Gesicht und Performanz. Insofern bleiben Zuschreibungen eines Inneren, eines Charakters oder einer Wahrheit hinter der Gestalt nur Versuche, die durch die Präsenz des Anderen subvertiert, gestört oder ganz ausgesetzt werden. Dennoch erschien im Zentrum einer bildlichen Darstellung und gestaltgebenden Ordnung die sichtbare Körperlichkeit, Wahrnehmung und Anwesenheit des Anderen. Diese wurde zu Beginn der Moderne noch von der Oberfläche her in den wissenschaftlichen Blick genommen, erst Georges Cuvier löste 1817 in Paris die Charakterisierung nach ihren äußeren Merkmalen durch ein Procedere ab, das unter die Oberfläche des Sichtbaren vorzudringen und die verborgene innere Struktur freizulegen schien.
tes’ (und Kants) Trennung der beiden Sphären.“ Karin Priester: Rassismus. Eine Sozialgeschichte, Leipzig 2003, S. 251.
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2.2 E NERGETISCHE P ERFORMANZ DER V ERNUNFT
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Die unbewusste, verdrängte Seite der Aufklärung ist ihre mystische, sie mäandert hin zu John Cage und Jacques Derrida. Atmosphäre, das Charisma als soziale Ansteckung und Intuition bildeten Teilmengen mit übertriebener Einbildungskraft und esoterischer Spekulation. Beispielhaft für die dunkle Seite der an sich hellen Aufklärung waren die Schriften Swedenborgs. In der Mitte des 18. Jahrhunderts suchte und konstruierte er Verbindungen zwischen Mikro- und Makrokosmos. Geistige Welt war für ihn im Allgemeinen wie auch im existenziellen Detail mit natürlicher gleichzusetzen. Entsprechend stünde die Beziehung zwischen dem inneren Gemüt und dem äußeren Körper in einem direkten Korrespondenzverhältnis. Der Mensch sei „ein Himmel“ und „eine Welt in kleinster Gestalt“ nach dem „Bilde des Größten“, bei ihm fände sich die geistige wie die natürliche Welt. Das Geistige ordne sich den Bereichen des Inneren zu, welche „zu seinem Gemüt gehören und sich auf Verstand und Wille beziehen“. Das Natürliche wäre äußerlich, wäre Teil seines Körpers und beziehe sich auf dessen Sinne und Handlungen. Folglich könne man das Wesen der Entsprechung beim Menschen an seinem Angesicht erkennen. Alles, was im „Körper vorgeht, sei es im Gesicht, sei es in der Rede, sei es in den Gebärden“, wäre Entsprechendes.30 Damit reihte sich Swedenborg in eine abendländische Tradition seit Platon ein, die etwa Jakob Böhme oder Paracelsus als seine theosophischen Vorbilder auswies. Gottesweisheit war für Theosophen wie Swedenborg das Wissen um das Göttliche durch unmittelbares Erkennen; der junge Schiller war fasziniert, kaum überraschend ist die Erkenntnis struktureller Äquivalenzen mit dem späteren Idealismus und der Avantgarde von Malewitsch bis Craig. Die Wirkung des seine hellseherischen Fähigkeiten öffentlich inszenierenden Swedenborgs auf das zeitgenössische Publikum, insbesondere auf junge Gebildete, war ein Symptom für das zunehmende Gefühl der Unsicherheit im Zeitalter des anschwellend erlebten Verlusts einer göttlichen Ordnung. Swedenborgs Imaginationen schienen Abhilfe zu versprechen. In der Realität des Diesseits konnte es ähnlich wie 1916 in der erlebten Welt Hugo Balls so chaotisch und unbeherrschbar zugehen, wie es wollte: Die Theosophie verwies auf eine tief liegende Ordnung und einen verborgenen Sinn. Swedenborg markierte mit seinen Visionen eine auch heute noch kaum bekannte, da irrationale Seite des Zeitalters der Aufklärung, die man als Antwort auf eine originäre Krisenerfahrung be-
30 Emanuel Swedenborg: Himmel und Hölle, Zürich 1977, S. 69 und S. 47ff.: Für Swedenborg stand der Großhimmelsmensch für die Erkenntnis, dass der „Himmel in seinem Gesamtumfang einen einzigen Menschen darstellt“.
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greifen muss.31 Phänomene aus dem übersinnlichen Bereich waren durchaus Diskussionsstoff für aufgeklärte, intellektuelle Geister. So konnte sich der junge Schiller der Faszination von mysteriösen Phänomenen und Praktiken, die der Scharlatanerie, den Geheimbünden und Freimaurerlogen zugeschrieben wurden, nicht entziehen. Als 27-Jähriger verfasste er den Roman Die Geisterseher32, den er später als schwärmerische Jugendsünde abtat. Wenn heute Antu Romero Nunes seinen Weg als junger Regisseur von der Schauspielschule ausgerechnet mit einer szenischen Einrichtung der Geisterseher in die immer noch postmodern grundierte Praxis sucht, ist das kein Zufall. In Schillers Text führt die an Cagliostro angelehnte Figur des „Maltesers“ durch die dunklen Räume Venedigs. Cagliostro war generell eine beliebte Projektionsfigur für die im Licht der Aufklärung an den Rand gedrängten Wünsche nach dem Über-Sinnlichen. Sogar Goethe machte den ‚Magier‘ in seinem 1792 erschienen Lustspiel Der Groß-Cophta, das den 1785 in Europa öffentlich diskutierten Halsband-Prozess in Frankreich zum Vorbild nahm, zur Hauptfigur – freilich in der Absicht, diese Art von Scharlatanerie ironisch zu demaskieren. Im populär-trivialen Lustspiel Die Schädellehre von Karl Loose spielte die Figur des ‚Magiers‘ zwischen ‚Wissenschaft‘ und Scharlatanerie dann ebenfalls eine zentrale Rolle. Reflektierende Aufklärer bekämpften engagiert den Aberglauben, der ein Teil der anderen, gern verdrängten Seite der Erhellung war. Swedenborg besaß zwar unter den Vertretern des schwärmerischen Pietismus wie Friedrich Christoph Oetinger und Johann Albrecht Bengel einige Anhänger. Seine Visionen galten jedoch als Paradebeispiele für den zu überwindenden Unsinn, dem Denis Diderot und Jean Le Rond d’Alembert in der Enzyklopädie oder etwa Lichtenberg aggressiv die Herrschaft der Vernunft entgegensetzten. Jahrzehnte später noch hallte dies in Nestroys Stück Der Affe und der Bräutigam, in welchem man dem Anderen böse Zauberei unterstellt, dramenmächtig nach. Das Denken des Menschen würde, so Swedenborg, einem inneren Sehen entsprechen,33 für die Philosophie der Aufklärung war hingegen die sinnliche Erfahrung im Sinne einer definitiven Gestalterkennung des Anderen primär entscheidend. Nur durch diese wäre es möglich, philosophische Erkenntnis und künstlerische
31 Alexander Kupfer sieht die Schuld der Vernachlässigung der irrationalen Seite bei der Germanistik, die „bis in die 60er Jahre des 20. Jahrhunderts durch die Epochenbezeichnung ‚Deutsche Klassik‘ auch häufig den Eindruck erwecken wollte, als seien die letzten zwei Jahrzehnte des 18. Jahrhunderts ganz von griechischer Vollkommenheit durchdrungen gewesen“; ders.: Die künstlichen Paradiese, Stuttgart 2006, S. 96. 32 Friedrich Schiller: „Der Geisterseher. Aus den Memoires des Grafen von O**“, in: Ders., Werke. Bd. I, hg. v. Herbert G. Göpfert, München S. 591-693, hier S. 602ff. 33 E. Swedenborg: Himmel und Hölle, S. 396.
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Weltzugänge wie wissenschaftliche Ergebnisse in eine rationale Systematik zu integrieren. Swedenborgs Schwärmerei erzeugte mit ihrem inneren Sehen vor dem für ihn allzu beschränkten Hintergrund der Vorstellungswelt der Aufklärer einen visionären Überschuss, der den Zugang zu grundlegenderen Zügen des Daseins eröffnen sollte. Dieser Überschuss sowie der Verweis auf das ganz Andere grundierten die Romantik, erzwangen bei Richard Wagner und Nietzsche aufregende Durchbrüche, motivierten die (Neo-)Avantgarde und legitimieren heute das postdramatische Theater eines Jan Fabre.34 Der bekannteste Gegner Swedenborgs war Kant. In dessen 1766 erschienener Schrift Träume eines Geistersehers, erläutert durch Träume der Metaphysik35 bemerkte er, man könne nicht über Dinge urteilen, die man als Mensch nicht ‚vernünftig‘, also vermittels überprüfbarer, begriffsunterstützter Prozeduren, erfahre. In seiner 1798 publiziertes Anthropologie in pragmatischer Hinsicht bezeichnete Kant die autoritäre Interpretation der „wirklichen, den Sinnen vorliegenden Welterscheinungen (mit Swedenborg) für bloßes Symbol einer im Rückhalt verborgenen intelligiblen Welt“ als Schwärmerei. Mit Aufklärung hätte dies nichts gemein. Wenn man Schwärmerei und Aufklärung in ein Schnittmengenverhältnis brächte, dann würde ein „Ideal (der rein praktischen Vernunft) gegen ein Idol vertauscht und der Endzweck verfehlt“ werden.36 Das, was später den Logozentrismus der abendländischen Kultur kritisierende Künstler wie Antonin Artaud interessierte, war für Kant ein kulturell-philosophischer Kasus Belli. Kant setzte jede Kommunikation auf rein symbolischer Ebene mit einer niedrigen Kulturstufe gleich, sie benutze noch keine „Begriffe des Verstandes, und das oft Bewunderte der lebhaften Darstellung, welche die Wilden (bisweilen auch die vermeinten Weisen in einem noch rohen Volk) in ihren Reden hören lassen, ist nichts als Armut an Begriffen und daher auch an Wörtern, sie auszudrücken“ – für die Avantgarde des 20. Jahrhunderts verhielt sich das programmatisch umgekehrt. Die Imagination der Dichtung besaß gerade in ih-
34 Vgl. Werner Keil: Dissonanz und Harmonie in Romantik und Moderne, München 2012, der die These vertritt, dass erst seit der Romantik die Musik nicht der Mathematik, sondern den Künsten zugeordnet werde. Damit wäre ihre Aufgabe primär, Gefühle auszudrücken und nicht überindividuell-platonisch eine Ordnung des Kosmos abzubilden. Dies führte letztlich zum Aufstieg der Popmusik als Medium des allgemeinen Gefühls und zur „Emanzipation der Dissonanz“ (Schönberg), dialektisch beantwortet durch die Hinwendung vieler Avantgardisten zu esoterisch-gnostischen Vorstellungswelten wie die Theosophie. 35 Immanuel Kant: „Träume eines Geistersehers, erläutert durch Träume der Metaphysik“, in: Ders., Werke. Bd. 2, hg. v. Wilhelm Weischedel, Frankfurt/M. 1968, S. 921-989, hier S. 924. 36 I. Kant: Anthropologie, S. 92.
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rem Reichtum an bildhaften Vergleichen für Kant eine verdächtige Nähe zum ‚Wilden‘: „z.B. wenn der amerikanische Wilde sagt: ‚Wir wollen die Streitaxt begraben‘, so heißt das so viel als: Wir wollen Frieden machen; und in der Tat haben die alten Gesänge von Homer an bis zum Ossian, oder von einem Orpheus bis zu den Propheten das Glänzende ihres Vortrags bloß dem Mangel an Mitteln, ihre Begriffe auszudrücken, zu verdanken.“37 Eine Metaphysik dürfte sich für Kant nur bis an die Grenzen der Vernunft bewegen und diese keineswegs zum jenseitigen Bereich hin überschreiten. Schuld sei, so Kant, letztlich die Einbildungskraft. Auch wenn diese der Reproduktion diente, sollte sie sich auf die empirische Anschauung stützen. Dasjenige, was die Einbildungskraft produziere, sei immer ein Bild bzw. eine immer nur vorläufige Dramaturgie: „Weil aber jede Erscheinung ein Mannigfaltiges enthält, mithin verschiedene Wahrnehmungen im Gemüte an sich zerstreuet und einzeln angetroffen werden, so ist eine Verbindung derselben nötig, welche sie in dem Sinne selbst nicht haben könne. Es ist also in uns ein tätiges Vermögen der Synthesis dieses Mannigfaltigen, welches wir Einbildungskraft nennen“.38 Aus psychologischer Sicht waren die Verhältnisse im Imaginären nicht einfach, für Karl Philipp Moritz’ Anton Reiser lag die Fantasie mit der „Denkkraft im Kampfe; sie wollte bei jeder Gelegenheit in das Gebiet derselben eingreifen und die allerabstraktesten Begriffe wieder in Bilder hüllen.“39 Kant dachte sich die Einbildungskraft als Verbindung zwischen Erkenntnis und Sinnlichkeit. Schöpferisch wäre nicht allein die Einbildungskraft, bliebe sie doch auf die Sinne angewiesen.40 Zudem wäre Erkenntnis erst möglich, wenn der Verstand beteiligt wäre: „Durch das Verhältnis des Mannigfaltigen aber zur Einheit der Apperzeption werden Begriffe, welche dem Verstande angehören, aber nur vermittels der Einbildungskraft in Beziehung auf die sinnliche Anschauung zu Stande kommen können.“41 Prinzipiell plädierte Kant für die Herrschaft des Verstandes, damit nicht sogenannte Phantasten oder Geisterseher in den Vordergrund drängten, die sich an Vorstellungen hielten, „die ihrer Natur nach fremd, und mit denen im leiblichen Zustande die Menschen fremd sind.“42 Während sich Kant vehement gegen Swedenborgs Thesen aussprach, bezeichnete er sich 1763 in seiner Untersuchung über die Deutlichkeit der Grundsätze der natürlichen Theologie und Moral als Schuldner des „berühmten (Christian August)
37 Ebd., S. 92. In diesem Sinne folgerichtig ist Kants Feststellung, dass „alle Völker mit [der] Vertauschung [von Ideal und Idol] angefangen haben.“ 38 I. Kant: Kritik der reinen Vernunft, S. 176. 39 K.P. Moritz: Anton Reiser, S. 224. 40 I. Kant: Anthropologie, S. 94. 41 I. Kant: Kritik der reinen Vernunft, S.178f. 42 I. Kant: Träume eines Geistessehers erläutert durch Träume der Metaphysik, S. 37.
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Crusius“. In dessen 1745 erschienenem Entwurf der nothwendigen VernunftWahrheiten, wiefern sie den zufälligen entgegen gesetzet werden, stellte der heute weitgehend unbekannte Crusius die rhetorische Frage, „wie man zu einem deutlichen Begriffe von der Existenz gelanget“. Das Problem sei generell, das „Notwendige“ vom „Zufälligen“ zu unterscheiden, etwas, was mit Aristoteles gedacht, heutige postdramatischen Dramaturgien und Ästhetiken entgegensteht. Für Crusius waren die „ersten Gedanken“ des Individuums „Empfindungen, und also Gedanken von existierenden Dingen. Wir haben demnach in der Ontologie nur zu zeigen, wie wir aus denselben den Begriff der Existenz und des Wesens abstrahieren, und was für die Existenz übrig bleibet, nachdem dasjenige abgesondert worden, was zu dem Wesen gehöret.“ Existenz stellte sich Crusius als „dasjenige Prädikat eines Dinges“ vor, „vermöge dessen es auch außerhalb der Gedanke irgendwo und zu irgendeiner Zeit anzutreffen ist.“ Genau dies, so Kant, könne die Schwärmerei eben nicht garantieren, obwohl dann ausgerechnet Kant für die Moderne am prominentesten die Grundlage des korrelationistischen Zirkels schuf. Natürlich könne man, mit Hume, die durch sinnliche Eindrücke hervorgerufenen Vorstellungen gut so assoziieren, dass die Realität in Frage gestellt werde. Aber eine reine Ähnlichkeit der Vorstellungen in der Imagination legitimiere noch keine gültige Aussage über die Existenz, ein imaginärer Fluchtpunkt, an dem sich die theatrale Dekonstruktion gegenwärtig noch ausrichtet. Crusius machte sich vor Kant seine Gedanken über das Verhältnis zu dem, was Kant später das ‚Ding an sich‘ nannte: „Wenn wir sagen, eine Substanz existiere: so meinen wir, sie befinde sich unmittelbar in einem gewissen Irgendwo, oder Raume, und irgend zu einer Zeit. Und wenn wir sagen, dass eine Eigenschaft existiere: so meinen wir, sie befinde sich irgendeinmal in einem existierenden Subjekte, da sie denn ebenfalls ihr Irgendwo, aber mittelbar hat.“43 Schon bei Crusius war daher die für das 19. Jahrhundert so folgenreiche Trennung zwischen Substanz und Eigenschaft, zwischen ‚Irgendwo‘ und Subjekt dezidiert ausgesprochen, er begründete so den korrelationistischen Zirkel, aus dem wir bis heute nicht wirklich mehr rausgekommen sind. Wenn sich Kant aber darüber hinaus gegen die bildhaften Vergleiche aussprach, dann müsste ihm genau das weitgehend entgangen sein, was wir, von Roland Barthes Rauheit der Stimme ausgehend, als „Erotik der Signifikanten“ bezeichnen, was als Atmosphäre wirkt und was mutmaßlich nur durch die Metapher oder den bildhaften Vergleich in den Griff zu bekommen ist. Von der entgegengesetzten Seite her gesehen machte Kant deutlich, dass die Physiognomik auf der ästhetischen Ebene operiere und eher eine Kunst als eine Wissenschaft sei. Im Zuge einer Subjektivierung der Ästhetik durch Kant wäre sie dementsprechend eine Me-
43 Christian August Crusius: Entwurf der nothwendigen Vernunft-Wahrheiten, wiefern sie den zufälligen entgegen gesetzet werden, Hildesheim 1964, S. 73f.
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thode, die ihren Gegenstand bzw. dessen Schönheit nur ohne Interesse und ohne Begriff ‚behandeln‘ könne. Bezugspunkt sei ‚notwendiges‘ Wohlgefallen, wobei die Notwendigkeit dem ‚sensus communis aestheticus‘ geschuldet sei – was dieser sei, wird heute noch diskutiert, wiewohl nach der im 19 Jahrhundert erkannten Ästhetik des Hässlichen auf die Frage nach der Definition von Kunst entweder mit Duchamps Akt der Setzung durch ein Ready Made oder etwas mutiger mit Niklas Luhmanns ‚Stimmigkeit‘ geantwortet wird. Die strikte Trennung und vor allem die Subjektivierung der Ästhetik wurden im deutschen Idealismus radikalisiert, Swedenborgs Vorstellungen des verlorenen ‚goldenen Zeitalters‘, in dem die Menschen noch mit den Engeln reden konnten, mündeten in das ideale Reich des Schönen ein, das, von Schiller gefördert („Schöne Welt, wo bist du? Kehre wieder“44), später autonom wurde und für Jean Paul „engelgleich“ zwischen Himmel und Erde schwebte. Die von Kant in diesem Sinne projektierte Vernunft wurde von ihm als „kleines“ und damit als eng um-„grenztes“ Land vorgestellt, das erst gesichert werden musste, bevor man ins ‚Umland‘ vorstoßen durfte; die Metaphysik hätte zwei Vorteile für sich: Erstens tat sie den „Aufgaben ein Genüge“, die das „forschende Gemüt aufwirft, wenn es verborgenern Eigenschaften der Dinge durch Vernunft nachspäht. Aber hier täuscht der Ausgang nur gar zu oft die Hoffnung.“ Zweitens erlaubte sie, „einzusehen, ob die Aufgabe aus demjenigen, was man wissen kann, auch bestimmt sei und welches Verhältnis die Frage zu denen Erfahrungsbegriffen habe, darauf sich alle unsre Urteile jederzeit stützen müssen.“ Insofern bestimmte Kant die Metaphysik als eine Wissenschaft von den „Grenzen der menschlichen Vernunft, und da ein kleines Land jederzeit viel Grenze hat, überhaupt auch mehr daran liegt, seine Besitzungen wohl zu kennen und zu behaupten, als blindlings auf Eroberungen auszugehen, so ist dieser Nutze der erwähnten Wissenschaft der unbekannteste und zugleich der wichtigste, wie er dann auch nur ziemlich spät und nach langer Erfahrung erreichet wird.“45 In diesem Zitat fallen der geografische Vergleich und die indirekte Denunziation der ‚Schwärmerei‘ als unnütze Fremdheitser-
44 Friedrich Schiller: „Die Götter Griechenlands“, in: Ders., Sämtliche Werke in 5 Bänden, Band I, hg. v. Albert Meier, München 2004, S. 169-173, hier S. 172. 45 I. Kant: Träume eines Geistersehers, erläutert durch Träume der Metaphysik, S. 982f. und S. 959: Kant vergleicht Schwärmereien mit körperlichen Blähungen, es wäre „bei dieser Lage der Sachen eben nicht nötig gewesen, so weit auszuholen und in dem fieberhaften Gehirne betrogener Schwärmer durch Hülfe der Metaphysik Geheimnisse aufzusuchen. Der scharfsinnige Hudibras hätte uns allein das Rätsel auflösen können, denn nach seiner Meinung: wenn ein hypochondrischer Wind in den Eingeweiden tobet, so kommt es darauf an, welche Richtung er nimmt, geht er abwärts, so wird daraus ein F-, steigt er aber aufwärts, so ist es eine Erscheinung oder eine heilige Eingebung“.
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fahrung auf, wobei darüber spekuliert werden kann, ob Kant in seinem eingängigen philosophischen Bild nicht die Grenzen der menschlichen Vernunft unbewusst mit den Grenzen zwischen Europa und Übersee gleichsetzte. Die unmissverständliche Ablehnung Swedenborgs durch Kant könnte den Eindruck entstehen lassen, es hätte sich zu seiner Zeit eine scharfe Grenze zwischen Vernunft und ‚Schwärmerei‘ ziehen lassen. Doch schon der Irrationalismus des 18. Jahrhunderts war unmöglich eindeutig von den Überlegungen der Aufklärer zu differenzieren, selbst Swedenborg verstand sich als Anhänger eines vernünftigen Denkens. In diesem Sinne erkannte man schon damals, dass man, wie heute die Hirnforschung, etwa LeDoux, behauptet, eine Vernunft ohne Emotion unmöglich ist.46 Immerhin profitierten der deutsche Idealismus und die Romantik in nicht unerheblichem Maße von der Philosophie Kants wie auch von den Spekulationen des Irrationalismus, postmoderne Konstruktivismen könnten ihren Ursprungsmythos in dieser Konstellation finden. Auch dramaturgische Strukturen speisten sich aus der intuitiv-dunklen Seite der Aufklärung. Schiller erklärte die persönliche, militärische und politische Durchsetzungskraft Wallensteins durch dessen Charisma, einen auf die Anmutung des Anderen abzielenden Begriff, den Max Weber für die Soziologie und die politische Theorie fruchtbar gemacht hat.47 Generell interessierte man sich bereits im Sturm und Drang für den Magnetismus als soziale Ansteckung, wobei die Trennung zwischen psychologischer, naturwissenschaftlich-physikalischer und medizinischer Ebene weniger entschieden war. So war eine anerkannte, heute dem Irrationalismus zugeschriebene Methode, die sich durchaus als ‚vernünftiges‘ Unternehmen verstand, die medizinische Hypnose, welche in den letzten Jahren des 18. Jahrhunderts mit Franz Anton Mesmer und seinen Anhängern in Frankreich zur Mode wurde, und mit der Psychoanalyse später ganz andere Ebenen erreichte.48 Mesmer, der in Wien als Arzt praktizierte, glaubte 1774 entdeckt zu haben, dass er das Wohlbefinden einer Patientin durch magnetische Felder entscheidend beeinflussen könnte – ein Rite de Passage einer frühen Performance: Deren Symptome wären für einige Zeit nicht mehr zu spüren gewesen und es wäre fallweise nach wiederholter Anwendung gar eine Heilung zu verzeichnen gewesen.49 Als Begründung dieser Vorgänge diente
46 Joseph E. LeDoux: The Emotional Brain: The Mysterious Underpinnings of Emotional Life, N.Y.1996. 47 Vgl. Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft, Tübingen 1980. 48 Edward Shorter: Geschichte der Psychiatrie, Reinbek 2003, S. 211. 49 Für Henry Ellenberger lässt sich Mesmers System, wie dieser es 1779 in 27 Punkten auflistete, in „vier Grundprinzipien zusammenfassen: (1) Ein subtiles physikalisches Fluidum erfüllt das Universum und stellt eine Verbindung zwischen dem Menschen, der Erde und den Himmelskörpern her, ebenso zwischen den einzelnen Menschen. – (2) Krankhei-
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die Vorstellung einer die Dinge und die Menschen verbindenden Energie, die man schon bei Paracelsus oder in der griechischen Antike am Werk sah und die in den letzten Jahren als visuelle oder performative Energie, auf theoretischer Ebene im affirmativen Theater Lyotards in der Kunst- und Theaterwissenschaft zu wissenschaftlichen Ehren gelangte. Mesmer ging nicht von einer eigenartigen Wirkung des Magneten in der Therapie im Sinne einer physikalischen Wirkung der Materie, sondern von einer Verstärkungsleistung desselben aus. Tatsächliche Ursache der Heilung sollte das von Mesmer verbreitete Fluidum sein, das, auf die Patientin angewandt, deren Gleichgewicht wieder ins Lot brachte. Analog wäre die Wirkung eines Theaters der Erfahrung von Artaud bis Perceval und Jan Fabre auf der unbewusst-energetischen Ebene so überwältigend wie logisch-rational nicht erklärbar. Ganz unwissenschaftlich war Mesmers Vorgehensweise, wenn man den zeitlichen Kontext mitbedenkt, nicht, hatte doch der Bologneser Professor für Anatomie Luigi Galvani versucht, seine bekannten Forschungen über die Elektrizität auf das Gebiet der Medizin zu übertragen. Dementsprechend glaubte er, Krankheiten, vor allem die der Nerven, auf Anormalitäten im elektrischen Fluidum des Menschen zurückführen zu können. Mesmers Vorstellungen waren freilich von weit spekulativerer Natur, von der einiges an heutiger Theatertheorie nicht sichtbar abständig wäre. Schon in seiner Doktorarbeit De influxu planetarum in corpus humanum beschäftigte sich Mesmer mit der innovativen Lehre des Magnetismus und nahm an, dass ein Fluidum, von ihm als „animalischer Magnetismus“ bezeichnet, dem Menschen inhärent und so imstande sei, eine Wirkung auf den Organismus zu zeitigen, eine Übertragung, die den Mikro- mit dem Makrokosmos verbände. Im Verein mit einer seinem wachsenden Erfolg geschuldeten Selbstüberschätzung glaubte er, erst nicht mehr auf den Magneten, dann nicht mehr auf eine direkte Berührung der Patienten angewiesen zu sein. Allein die Konzentration des eigenen Willens sollte ausreichen, um sein magnetisches ‚Fluidum‘ auf Patienten zu übertragen. Kulturgeschichtlich relevant wurden Mesmers Thesen dadurch, dass sie einerseits mystische Neigungen unterstützten, andererseits einen Beitrag zum Beginn der modernen Psychologie leisteten. Lavater verehrte Swedenborg; wie dieser glaubte er, übersinnliche Kontakte zu besitzen; ferner teilte er dessen Ansicht, dass die Gestalt des Menschen vor dem
ten entstehen aus der ungleichen Verteilung dieses Fluidums im menschlichen Körper; die Genesung wird erreicht, sobald das Gleichgewicht wiederhergestellt ist. – (3) Mithilfe bestimmter Techniken lässt sich dieses Fluidum kanalisieren, aufbewahren und anderen Personen übermitteln. – (4) Auf diese Weise lassen sich bei Patienten ‚Krisen‘ hervorrufen und Krankheiten heilen.“ Henry F. Ellenberger: Die Entdeckung des Unbewussten. Geschichte und Entwicklung der dynamischen Psychiatrie von den Anfängen bis zu Janet, Freud, Adler und Jung, Zürich 1985, S. 102.
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Hintergrund der Entsprechung von Mikro- und Makrokosmos lesbar sei.50 Swedenborg, Mesmer und Lavater waren dementsprechend das Ziel vernünftiger Kritik, die sie der „Schwärmerey“ bezichtigte, obwohl das eine ohne das andere dialektisch nicht denkbar war. Als wichtiger Begriff in der Ideengeschichte des 18. Jahrhunderts bedeutete „Schwärmerey“ die Entgrenzung der Einbildungskraft so weit, dass dunkle Gefühle und Einfälle für göttliche Erfahrungen gehalten wurden; darüber hinaus stünde man den Einbildungen, die jeden Menschen verfolgten, zu wenig kritisch gegenüber und unterzöge sie keiner kritischen Überprüfung. Nicht erstaunlich war, dass sich Kant in seiner Anthropologie explizit gegen Mesmerianer aussprach, ihre Vorstellungen seien nicht nur Illusion, sondern ein theatraler Betrug der Sinne. Er wäre das Resultat einer geschickten Inszenierung: „Gröber, wenigstens schädlicher war der Betrug, den die Bauchredner, die Gaßnere, die Mesmerianer u. dgl. vermeinte Schwarzkünstler verübten. Man nannte von alters her die armen unwissenden Weiber, die so etwas Übernatürliches tun zu können vermeinten, Hexen, und noch in diesem Jahrhundert war der Glaube daran nicht völlig ausgerottet.“ Der Grund für den immensen Erfolg der Scharlatane läge in der lustfeindlichen Nüchternheit und Schwierigkeit der Erkenntnis leitenden wissenschaftlichen Begrifflichkeit, das „Gefühl der Verwunderung über etwas Unerhörtes habe an sich selbst viel Anlockendes für den Schwachen: nicht bloß, weil ihm auf einmal neue Aussichten eröffnet werden, sondern weil er dadurch von dem ihm lästigen Gebrauch der Vernunft losgesprochen zu sein und andere in der Unwissenheit sich gleich zu machen verleitet wird.“51 Die
50 Vgl. Jurgis Baltrusaitis: Imaginäre Realitäten. Fiktion und Illusion als produktive Kraft, Köln 1984; Vgl. Jean Starobinski: Die Erfindung der Freiheit 1700-1789, Frankfurt/M. 1988, S. 136. Es liegt auf der Hand, dass Lavaters Überlegungen, die doch eigentlich auf ein mystisches Interesse zurückgehen, später einen willkommenen Angriffspunkt für die positivistische Naturforschung darstellten. Ein Beispiel hierfür ist die von Gall begründete Phrenologie, die Baudelaire zu der bissigen Bemerkung veranlasste: „Ähnliche Experimente hat man mit den Köpfen von Jesus und Apoll angestellt, und wenn ich mich nicht täusche, gelang es, einen von beiden dem Kopf einer Kröte anzunähern.“ Charles Baudelaire: Oevres complètes, hg. v. Y.-G. Le Dantec und Claude Pichois, Paris 1961, S. 1000, zit. n. A. Kupfer: Die künstlichen Paradiese, S. 672. 51 I. Kant: Anthropologie, S. 92f. Kant erklärte das Gefühl des Betrugs anhand der Täuschung von bemalten Statuen: „Daher kommt es auch, dass man mit Farben nach der Natur bemalte Statuen menschlicher oder tierischer Gestalten nicht leiden mag: indem man einen Augenblick betrogen wird, sie für lebend zu halten, so oft sie unversehens zu Gesicht kommen.“ Interessant wäre es, zu untersuchen, ob dies mit der klassizistischen ‚Reinheit‘ der antiken Skulpturen zusammenhing, deren ursprüngliche Bemalung man nicht sehen wollte.
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theosophische und mesmerianische Entsprechung zwischen Mikro- und Makrokosmos stellte einen unerlaubten Grenzübertritt aus dem engen Bereich der Vernunft in den unbekannten, fremden Bereich der Fantasie und Einbildungskraft dar, ihre Verbreitung benötige die Bühne als Spiel zwischen Zeigen und vor allem Verstecken, das den Betrug erst ermögliche. Die theosophische Vorstellungswelt begründete auch Schillers frühe Dramaturgie, der Dichter habe sich nicht an den „Ameisenaugen“ des gewöhnlichen Beobachters zu orientieren, sondern mit den „Augen eines besseren Wesens“ quasi das ganze Universum in den Blick zu nehmen. Hierbei solle er von der „Harmonie des Kleinen auf die Harmonie des Großen“ und von der „Symmetrie des Teils auf die Symmetrie des Ganzen“ weisen, wobei man das Letztere im Ersteren bewundern solle. Ziel wäre, ein „Versehen“ als „Ungerechtigkeit gegen das ewige Wesen“ zu vermeiden, welches nach dem „unendlichen Umriss der Welt, nicht nach einzelnen herausgehobenen Fragmenten beurteilt werden will“.52 Dieser unendliche Umriss der Welt spiegelte sich möglichst adäquat im Umriss der idealen Dramaturgie und wäre ein Korrelat des idealen Umrisses in der Physiognomik.
2.3 P HYSIOGNOMISCHE P RAXIS ÄSTHETISCHE A NMUTUNG
UND
Gegen Ende des 18. Jahrhunderts stand die Frage nach dem Verhältnis von äußerem Erscheinungsbild und innerem Charakter des Menschen auf der Tagesordnung, auf der Bühne arbeitete man sowohl praktisch wie theoretisch an einem möglichst ‚natürlichen‘ Schauspielstil. Man achtete auf die statischen Ausprägungen des Wesens in der menschlichen Gestalt des Körpers, insbesondere wurden Gesichtszüge als prägnante Physiognomie auffällig. Erste Bemühungen zu einer Methode lagen schon seit der Antike und Renaissance vor, diese wurden in der Neuzeit insbesondere von Giambattista della Porta weiterentwickelt. Speziell in den 1770-Jahren erlebte die ‚ars aliorum animos cognoscendi‘, die seit Aristoteles unter der Bezeichnung Physiognomik – griechisch für ‚Deutung nach der Natur‘ – überliefert wurde, einen in die Breite und in die Tiefe gehenden Aufschwung. Lavaters Physignomische Fragmente aus den Jahren 1775 bis 1779, die von Herder und Goethe unterstützt wurden, sorgten für eine massenwirksame Verbreitung. In der Physiognomik, wie sie Lavater vertrat, wurden vor theosophischem Hintergrund Analogien und Korrespondenzen wichtig, das Ziel war eine ‚Einheit‘, die in der neoplatonischen
52 Friedrich Schiller: „Über das gegenwärtige teutsche Theater“, in: Ders., Sämtliche Werke in 5 Bänden, Band V, hg. v. Wolfgang Riedel, München 2004, S. 811-818, hier S. 814f.
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Tradition auch als Emanation des ‚Einen‘ verstanden werden konnte.53 Aus dieser Perspektive gesehen wäre die Performanz als ab- und aufsteigende Bewegung zwischen der ‚absoluten Einheit‘ als das Gute und Schöne auf der einen Seite und der Materie als das Nichtseiende, Formlose, Ungeordnete und Hässliche auf der anderen Seite sowohl Grundlage als auch Problem des ambitionierten Unternehmens Lavaters gewesen, das letztlich im Fragment ausfransen und in seinen hohen Eigenansprüchen scheitern musste, wobei an den Bruchstellen der Fragmente die Triebenergien des ganzen Unternehmens sichtbar wurden – eine forcierte Provokation der Freilegung dieser Bruchstellen mithilfe der Triebenergien war später das Geschäft der Surrealisten und verfolgt heute die – wie sie sich selbst nennt – Triebtäterin Elfriede Jelinek. Das starke Fundament der lavaterschen Erkundungen bildete eine religiöse Metaphysik, die einer Vorstellungswelt geschuldet war, welche über die Theosophie sowie die Poesie des 18. Jahrhunderts und über die Renaissance hinaus bis in die Antike zurückreichte, und die – prospektiv gesehen – in den Idealismus, die Romantik des 19. Jahrhunderts und säkularisiert in das postmoderne Denken der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts einmündete: eine Entwicklung von Plotin und Paracelsus über Jacob Böhme bis zu Johann Georg Hamann. Ernst Cassirer bemerkte, dass sich „von [der] ersten Konzeption der ‚Pathologia aesthetica‘ bis zu Lavaters Physiognomik oder zu der medizinischen Probearbeit des jungen Schiller“ eine stete Linie der Entwicklung verfolgen ließe.54 Entsprechend der Annahme, dass den Dingen eine gewisse Symbolik innewohne, versuchte die Zeichenlehre wie die sich als Ausdruck eines Korrespondenzverhältnisses von Mikro- und Makrokosmos verstehende Physiognomik, die sogenannte Sprache der Natur zu entschlüsseln und zu verstehen. Ausgangspunkt hierfür war eine Signaturbeziehung zwischen Gehalt und Gestalt, die noch Artauds Hieroglyphen, falsch interpretiert im balinesischen Theater, im Theater der Grausamkeit ‚verständlich‘ macht.55 Eine ganzheitlich-totalitär-totalisierende Vorstellungswelt dieser Art war für etliche Zeitgenossen Lavaters nicht mehr nachvollziehbar; die nicht ausbleibende,
53 Lavater unterstützte vor allem in den letzten Jahren des 18. Jahrhunderts eine spiritualistische Vorstellungswelt, die sich im Gegensatz zum Materialismus und Positivismus bei ihrem Verständnis von Wirklichkeit generell auf ein geistiges Prinzip berief, das seine Wurzeln in platonischen Vorstellungswelten hatte. Oft wird übersehen, dass Lavater daher als Begründer eines autonomen psychologischen Ansatzes gesehen werden könnte. Die Wirkung des Spiritualismus ist noch im 19. Jahrhundert zu verzeichnen, etwa im deutschen Idealismus. 54 Ernst Cassirer: Freiheit und Form. Studien zur deutschen Geistesgeschichte, Berlin 1916, S. 142. 55 Vgl. Johannes Salzwedel: Das Gesicht der Welt. Physiognomisches Denken in der Goethezeit, München 1993, S. 19ff.
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teils massive Kritik trug jedoch oft erst recht zur Popularität Lavaters bei. Aus streng wissenschaftlicher Sicht war Lavater wie später Nietzsche mit seinen Thesen zur Geburt der Tragödie nicht unumstritten und kaum anerkannt, aber die indirekten Folgen seiner populären Fragmente für die Mentalitäten, Vorstellungswelten und stereotypen Ansichten waren beträchtlich. Wie Lichtenberg warnend vorhersagte, initiierten Lavaters Thesen gegen die Intention des Zürcher Geistlichen eine präbiologistische Physiognomik, deren bekannteste Entwicklungslinie über Galls Phrenologie, Alphonse Bertillons Messvorlagen sowie die Schädelkunde der Psychiater Cesare Lombroso und Guglielmo Ferrero verfolgt werden könnte; innerhalb einer Kulturgeschichte des Gesichts wäre dem Einfluss physiognomischen Denkens bis zu Darwin – nun auf naturalistischer Grundlage – nachzugehen.56 Obwohl die ganze Gestalt das physiognomische Interesse weckte, sollte doch das Gesicht der Mittelpunkt der Aufmerksamkeit werden. Spätestens seit dem 17. Jahrhundert war, so Michel Foucault, die Suche nach dem Gesicht des Anderen anziehend.57 Für Hans Blumenberg liegt es nahe, ein „des Ausdrucks so überwältigend fähiges Organ, wie das menschliche Gesicht, zur Quelle der Erkenntnis dessen zu machen, was dahinterliegt.“ Er interpretiert die physiognomischen Ansätze vor dem Hintergrund der Vorstellungswelt der Aufklärung und spricht im Zusammenhang mit Lavaters Physiognomik von der Lesekunst der Gesichter.58 Die Historische Kulturanthropologie besitze, so Wolfgang Reinhard, mit dem Gesicht und dessen Mimik eines der relevantesten Zugänge zur zwischenmenschlichen Kommunikation. Clifford Geertz eroberte sich über das Zwinkern des Auges in der sozialen
56 Charles Darwins „The Expression of the Emotions in Man and Animal“, in dem der Einsatz der Fotografie eine drucktechnische Erneuerung war, da es das erste wissenschaftliche Buch mit Heliotypien war, erschien zwar erst 1872. Wie Gunnar Schmidt feststellt, begann Darwin mit der Sammlung an Materialien aber bereits 1838: „Darwin lässt die Allegorien des Natürlichen paradieren: die Kinder, die Wahnsinnigen, die Wilden. Damit sind die Medien benannt, an denen die Natur leicht zu entdecken ist“; ders.: Das Gesicht. Eine Mediengeschichte, München 2003, S. 48f. Darwin sah bei Lavater einige Zeichnungen von „wutverzerrten Gesichtern, die wie ein übertriebenes, zur Gewohnheit gewordenes Hohnlächeln beschrieben werden können, wobei die Haut oder die Muskeln zwischen Augen und Oberlippe zusammengezogen sind; deutliche Analogie zu einem Panther, den ich im Tiergarten sah, wie er seine Zähne bleckte, um zu beißen. Das sinnlose Grinsen der Leidenschaft ist wie bei einer Hyäne das Grinsen der Furcht, ohne dass sie im Augenblick die Absicht hätte zu beißen, nichts weiter als Symbol der Bereitschaft und wird deshalb in extremer Form ausgedrückt.“ Charles Darwin: Sind Affen Rechtshänder?, übersetzt und hg. v. Henning Ritter, Berlin 1998, S. 87f. 57 Michel Foucault: Vom Licht des Krieges zur Geburt der Geschichte, Berlin 1986, S. 25. 58 H. Blumenberg: Die Lesbarkeit der Welt, S. 201.
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Situation eine Methode der dichten Beschreibung.59 Was sich im Gesicht abspielt, was aus ihm gelesen und was auf intuitiver Ebene bewirkt wird, ist das vorrangige Ziel der menschlichen Aufmerksamkeit, zumal es als menschliches Antlitz, als Augen des Anderen den Ort markiert, von dem wir mutmaßlich angeblickt, beobachtet und bewertet werden. Das gilt insbesondere für das präsentische Medium Theater, Ende des 18. Jahrhunderts stand das Gesicht im Zentrum der Beobachtung der „Gebehrden“. Für Johann Jakob Engel, dem die Physiognomik eine der Mimik ähnliche Kunst war,60 hatte die Seele „über alle Muskeln desselben Gewalt, und wirkt, bei vielen ihrer Bewegungen und Leidenschaften, in alle.“ Dabei diente besonders „das Gesicht zu den Gebehrden.“ Die „sprechensten Teile“ wären „Auge, Augenbraue, Stirne, Mund, Nase.“61 Anatomisch ‚hinter‘ diesen „sprechensten“ Teilen befinde sich mit der materialisierten Seele das Gehirn und damit das menschliche Bewusstsein. Im Zuge der Materialisierung des Ichs62 wurde der Schädel, der das Gesicht ‚umrahmt’, zum hervorgehobenen Merkmal und Ausgangspunkt der Analyse, Interpretation und Bewertung. Von Lavaters Schattenriss bis zu Galls Schädeltopographie war kein weiter Weg. In der Begegnung mit dem Anderen wurde das Gesicht zum zentralen Aufmerksamkeitsobjekt; wenn vermehrt die anatomische Gestalt, der Typus in den Vordergrund rückte, dann wurde der Schädel zum wichtigsten Untersuchungsobjekt: Während Johann Friedrich Blumenbach, Camper und Gall Schädel vermaßen und aus ihren ‚Trophäen‘, also aus den erhandelten Schädel Sammlungen mit einer imaginierten Entwicklungsordnung anlegten – ein beeindruckendes Theater der Dinge –, jagte man als zeittypische Figur in August von Kotzebues und Karl Looses Stücken dramaturgisch überzeugend den ‚besten‘ Schädeln hinterher. Diese Jagd wurde so verbissen, leidenschaftlich sowie zielgerichtet inszeniert und damit zur imaginären Wirklichkeit, dass einige Zeitgenossen Angst bekamen, nicht nur das Gesicht, sondern gleich den ganzen Kopf zu verlieren. Die Suche nach dem Gesicht des Anderen und die Lesekunst der Gesichter grundierten per se ein starkes Motiv zur Erkundung des Charakters in der Form, Topographie oder Gestalt des Kopfes. Problematisch wurde dies, wenn das Ergebnis dieser Suche mehr oder weniger der Emanation des jenseitigen Absoluten entsprechen sollte. Absolut gefährlich war hingegen die Weiterentwicklung in der Säkularisierung, wenn das Absolute im
59 Wolfgang Reinhard: Lebensformen Europas. Eine historische Kulturanthropologie, München 2004, S. 530; Clifford Geertz: Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme, Frankfurt/M. 1987, S. 11f. und 18. 60 Johann Jakob Engel: „Ideen zu einer Mimik“, in: Ders., Schriften. Bd. 7, Berlin 1804, S. 7. 61 Ebd., S. 70f. 62 Vgl. Olaf Breidbach: Die Materialisierung des Ichs, Frankfurt/M. 1996.
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Diesseits zur angeblich objektiven ‚Realität‘ der Medizin, Biologie, Wirtschaft und Soziologie wurde. Eine verstärkte Aufmerksamkeit für das Gesicht wurde mit der Gewissheit verbunden, das Ziel avisiert oder gar erreicht zu haben, in Schillers Kabale und Liebe vermeint Ferdinand, er schaue durch die Seele Luises wie „durch das klare Wasser“ eines „Brillanten“, sodass „kein Gedanke“ in deren „Angesicht“ trete, der dem Liebenden entwische;63 freilich durch-schaut er die tödliche Intrige so erst recht nicht. Die Lesekunst bekam fundamentalistische Züge, Lavater überlagerte christliche Vorstellungen mit Formen leiblicher Vollkommenheit: „Jeder Christ hat so gewiß Züge von Christus, Mienen von Christus, so gewiß er vom Geiste Christus hat.“64 Das hatte nicht nur Folgen, was das Verhältnis zu anderen Religionen und Kulturen betraf, und arbeitete späteren Rassendiskriminierungen zu. Es verankerte auch eine bestimmte äußerliche Erscheinung nicht im biologischen Zufall, sondern schien den Lesekundigen bzw. geschulten und talentierten Physiognomisten zu einem transzendentalen Signifikat zu führen, das die Arbitrarität der Zeichen aufheben konnte. Selbstredend scheiterte Lavater weniger in der Begründung, mehr aufgrund der empirischen Falsifikation seines geschlossenen Systems und Lesecodes. Aber von der Behauptung, dass er den richtigen Schlüssel besäße bzw. dass er auf dem richtigen Weg dahin sei, rückte Lavater niemals ab. So öffnete sich eine verhängnisvolle Differenz zwischen Anspruch und Wirklichkeit, in dieser nistete sich die machtgrundierte Willkür ein. Wenn die Physiognomik als Utopie funktioniert hätte, dann gäbe es keine Diskussionen über den Anderen mehr, aber auch keine Freiheit zum diesseitigen Gewaltakt. Die Welt wäre wie sie wäre, auch der Geringste hätte seinen vom Absoluten vorherbestimmten Platz, sie wäre nicht mehr voller Konflikte, nicht mehr dramatisch, die ontologische Differenz zwischen Sein und Seiendem aufgehoben. Die Performance entspräche dem puren Sein, das Sein wäre als Frage, wie in Goethes und später Handkes Faust, seinem Spiel vom Fragen, als modernpostmoderne Reflexion aufgehoben. In diesem Sinne war Lavater, der an sein System glaubte, so naiv und unschuldig wie gefährlich. Wenn man anerkannt hätte, dass ein physiognomisches Urteil nur Ausdruck der Fantasie des Physiognomisten wäre, dann wäre jeder Legitimation zur Deutung der Boden entzogen. So aber bestand der Anspruch der Physiognomik weiter als, mit Nietzsche gesprochen, Willen zur (Deutungs-) Macht, während kein transzendentales Signifikat als wirklich funktionierende Falsifikationsinstanz im popperschen Sinne vorhanden war, an der sich
63 Friedrich Schiller: „Kabale und Liebe“, in: Ders., Sämtliche Werke in 5 Bänden, Band I, hg. v. Albert Meier, München 2004, S. 755-858, hier S. 766. 64 Johann Caspar Lavater: Physiognomische Fragmente zur Beförderung der Menschenkenntnis und Menschenliebe, Bd. 4, Leipzig und Winterthur 1778, S. 435.
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die physiognomischen Einzeldeutungen bzw. die ganze physiognomische Methode als wissenschaftliche stärken konnte. Letztlich war die Physiognomik tatsächlich ein Produkt der Einbildungskraft, dem ausgerechnet der von Kant bestärkte korrelationistische Zirkel zuarbeitete, ihre Deutungen wurden zur Poesie, der die mimetische Legitimation fehlte. Zum Problem wurde die physiognomische Methode, als sie sich als wissenschaftliche verstand, ausgab und tradierte. Insbesondere in der späteren Verbindung mit dem Darwinismus wurde sie brandgefährlich. Darwin scheiterte nicht zufälligerweise am Phänomen der Schönheit. Als sich jedoch seine Vorstellungswelt zum Sozialdarwinismus wandelte, für dessen Pathologien Darwin nicht verantwortlich gemacht werden kann, wurde der Kampf ums Dasein auf den Bereich der Attraktivität, des Aussehens und der Physiognomie übertragen. Lavaters theologische Unschuld transformierte sich auf verhängnisvolle Weise in biologistische Rassendiskriminierungen als negative Folgen eines sozialen Kampfes ums Dasein, noch der Naturalismus wird über die Essentialisierungen der Vererbung einiges dramatisches Unheil anrichten. Die klassische Zeit der Anthropologie fiel mit dem Aufschwung der Physiognomik zusammen. Lavater schuf mit seinen Fragmenten eine Vor-Schrift, die Malern, Schriftstellern und Schauspielern das Porträtieren des Anderen und Fremden vereinfachen sollte. Die von ihm behaupteten Analogien zwischen Sichtbarem und Unsichtbarem führten eine Symbolik ins Feld der Beobachtung, welche Lavater keineswegs letztgültig durch die Evidenz der Bühnenerscheinung oder des Bildes beglaubigen konnte, sondern durch einen abschließend-souveränen Akt der Zuweisung, welche dem In-Szene-Setzen nicht unähnlich war. Lavater behauptete betont und nicht unautoritär eine direkte Verbindung zwischen Signifikat und Signifikant, zwischen den Gesichtszügen und ihrem Verhältnis zueinander und denen angeblich entsprechenden inneren Eigenschaften. Die Kritik, die sich an Lavater entzündete, war, wenn sie aus berufenem Munde kam, weniger gegen diese Verbindung an sich gerichtet, sondern vornehmlich gegen die theologisch begründete Weigerung Lavaters, deren Arbitrarität einzuräumen. Lavater setzte einen erkenntnistheoretischen Fundamentalismus in Szene, er initiierte, ohne sich dessen bewusst zu sein, eine Kodifizierung, welche breit veröffentlicht und in oft abgewandelter sowie simplifizierter Form im 19. Jahrhundert zum populären Paradigma wurde. Seiner Physiognomik, die einen intra- und intersubjektiven Anspruch auf Objektivität behauptete, eignete eine erstaunlich erfolgreiche Rhetorik. Sie bemühte sich primär, einen kohärenten methodischen Ansatz zu vertreten, den sie auf die Dauer jedoch nicht durchzuhalten imstande war, sodass sich die Entwicklung in zwei unterschiedliche Richtungen verfolgen lässt. Zum einen ging es um die Treue zum Modell bzw. zu den lavaterschen Thesen im engeren Sinn, zum anderen um die Deutung des Angesichts sowie der Gestalt des Anderen als Analogie, letztere führte im 19. Jahrhundert u.a. zum Symbolismus, zur
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Traumdeutung, Psychoanalyse und den Gestalten des Surrealismus, von Max Ernst bis Robert Wilson, nicht zu vergessen zu den begehrten Gestalten und Gestaltungen Hollywoods. Physiognomische Praxis ist seither grundsätzlich als gewöhnliches, alltägliches und mediales Ordnungs- und Rezeptionswerkzeug zu betrachten. Bis heute wird bewusst oder unbewusst in jeder Begegnung mit dem Anderen und Fremden unterstellt, dass das jeweilige innere Wesen die äußeren Merkmale der Gestalt bedinge und eine Kausalität zwischen ‚Seele‘ und Leib konstruiere. 65 Als (quasi-)ethnologische ‚Methode‘ erlaube sie die Typologie der Gestalten nach regionalen, geographischen, ethnischen und ‚rassischen‘ Kriterien.66 Wenn von Lavater die Rede ist, darf sein kompetentester zeitgenössischer Kritiker Lichtenberg nicht fehlen. Dieser ging zum Verhältnis von Körper und Seele generell von Ursache-Wirkungs-Beziehungen in der Welt aus, diesen müsste sich das Körper-Seele-Verhältnis unterordnen. Lichtenberg erkannte jedoch, dass diese Beziehungen höchst komplex, Lavaters Urteile unwissenschaftlich, naiv, einfach, fundamentalistisch und gefährlich waren. Der menschliche Körper stehe „zwischen der Seele und der übrigen Welt in der Mitte, Spiegel der Wirkungen von beiden; erzählt nicht allein unsere Neigungen und Fähigkeiten, sondern auch die Peitschenschläge des Schicksals, Klima, Krankheit, Nahrung und tausend Ungemach, dem uns nicht immer unser eigener böser Entschluss, sondern oft Zufall und Pflicht aussetzen.“67
65 Vgl. Peter K. Klein: „Jud’ Dir guckt der Spitzbub aus dem Gesicht! Traditionen antisemitischer Bildstereotype oder die Physiognomie des Juden als Konstrukt“, in: Abgestempelt – Judenfeindliche Postkarten, Katalog der Ausstellung, Heidelberg 1999, S. 43-78; vgl. Julia Schäfer: Vermessen – gezeichnet – verlacht. Judenbilder in populären Zeitschriften 1918-1933, Frankfurt 2005, S. 214f. Mittlerweile ist der Begriff der Physiognomie auch in der Forschungsliteratur wieder vermehrt zu finden. Vgl. Sibylle Baumbach: Let me behold thy face. Physiognomik und Gesichtslektüren in Shakespeares Tragödien, Heidelberg 2007; Jong-Ha Lee: Die gesellschaftliche Physiognomie der Kultur: Zum dialektischen Verhältnis von Kultur und Gesellschaft bei Theodor W. Adorno, Berlin 2004; Stefan Dückers: Pathos der Distanz: Zur theologischen Physiognomie und geistesgeschichtlichen Stellung Erik Petersons, Münster 1999; Georg Förster: Physiognomie eines Revolutionsjahrs: Erinnerungen aus dem Jahr 1790, Tübingen 1995. 66 Vgl. Ulrich Reißer: Physiognomik und Ausdruckstheorie der Renaissance. Der Einfluss charakterologischer Lehren auf Kunst und Kunsttheorie des 15. und 16. Jahrhunderts, Diss., München 1997, S. 19-94; vgl. Sander Gilman: Difference and Pathology. Stereotypes of sexuality, race and madness, Ithaca/London 1986, S. 28. 67 Georg Christoph Lichtenberg: „Über Physiognomik; wider die Physiognomen. Zu Beförderung der Menschenliebe und Menschenkenntnis“, in: Ders., Schriften und Briefe. Bd. 3, hg. v. Wolfgang Promies, München 1994, S. 256-295, hier S. 266.
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Dass die Erfahrung Spuren im Gesicht hinterließ, war eine physiognomische These, die nicht nur Lichtenberg vertrat. Auch für Arthur Schopenhauer drückten die „schlechten Gedanken und nichtswürdigen Bestrebungen allmählich dem Gesichte ihre Spuren ein, zumal dem Auge.“68 Die Frage war nur, woher die prägenden Erfahrungen kommen sollten. Als Physiker verließ sich Lichtenberg nicht nur auf die aristotelische Kausalität, sondern wusste um die mathematische Möglichkeit, physikalische Gesetzmäßigkeiten umzukehren: Die Seele wäre als Materie so formbar, wie es der Eindruck der Umwelt auf den Körper verlange: „Oder füllt die Seele den Körper etwa wie ein elastisches Flüssiges, das allzeit die Form des Gefäßes annimmt: so dass, wenn eine platte Nase Schadenfreude bedeutet, der schadenfroh wird, dem man die Nase plattdrückt?“69 Dieses Verhältnis interessierte noch Stanislawski und dessen Schüler Stella Adler oder Sanford Meisner, die den Weg von innen nach außen wie den von außen nach innen beschritten. Lichtenberg war der Überzeugung, dass Lavaters Eindeutigkeiten falsch und in der Konsequenz unmenschlich seien. Denn Erziehung oder Aufklärung wären nach dem Sieg der Physiognomik unnötig; für Lichtenberg erschien eine totalitäre physiognomische Gesellschaft am Horizont. Die festen und unbeweglichen Teile, zumal „die Form der Knochen“, könnten jedoch deshalb nicht über den Charakter des Anderen informieren, da jedermann sehen könne, dass die „Verbesserung des verbesserlichen Geschöpfs“ im Leben möglich sei, auch „nachdem diese ihre völlige Festigkeit erreicht haben.“70 Lichtenberg war Lavaters angeblich nach Gottes Ebenbildlichkeit geschaffene Welt unheimlich, er fragte sich, wieso „Tausende mit Gebrechen geboren werden, einige Jahre durchwinseln und dann wegsterben?“ Dabei griff Lichtenberg nicht nur die alte Frage der Theodizee auf, sondern erkannte frühzeitig, dass im Falle der gesellschaftlichen Ausbreitung der Methode Lavaters kranke, behinderte oder einfach nicht ganz dem Schönheitsideal oder einer gewissen Vorstellung entsprechende Menschen doppelt bestraft würden – prophetisch sagte er die Verbrechen der Nationalsozialisten voraus. Denn sie wären nicht nur den üblichen diesseitigen Diskriminierungen ausgesetzt, sondern es gäbe darüber hinaus einen unumstößlichen, unbezweifelbaren sowie höchst evidenten Grund für ihr Aussehen und damit für ihre Selektion. Dass in der Kunst zum schnelleren Verständnis auf Stereotype zurückgegriffen wurde, verstand Lichtenberg, denn diese erlaubten eine gute „Übersicht“. Er verneinte aber den Bezug der vereinfachten, oft komischen Bilder zur Wirklichkeit:
68 Arthur Schopenhauer: „Zur Physiognomik“, in: Ders., Sämtliche Werke, Bd. 5, hg. v. Wolfgang Frhr. v. Löhneeysen, Darmstadt 1968, S. 744-752, hier S. 752. 69 G.C. Lichtenberg: Über Physiognomik; wider die Physiognomen, S. 267. 70 Ebd., S. 287. Wobei Lavater schon zugab, dass zum Besseren hin erzogen werden könne. Natürlich verwickelte er sich auch hier in Selbstwidersprüche.
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„Wenn du einmal eine Welt schaffst, oder malst, so schaffe und male das Laster hässlich, und alle giftigen Tiere scheußlich, so kannst du es besser übersehen, aber beurteile Gottes Welt nicht nach der deinigen“ und „beurteile nicht den Garten der Natur nach deinem Blumengärtchen.“71 Lichtenbergs Warnung vor dem „Blumengärtchen“ als Konstruktion der Einbildungskraft, erleichtert durch den korrelationistischen Zirkel, verweist auf die in der Wahrnehmung wirksamen, kulturell und individuell determinierten Stereotypen. Das „Blumengärtchen“ im „Garten der Natur“ wären die Hypothesen und Wahrnehmungsmuster und eindeutigen Dramaturgien des Anderen, die notwendig wären, sich im unendlichen Garten der gesamten Natur zu orientieren. Aber das „Gärtchen“ wird niemals mit dem „Garten“ identisch sein können, zumal sich immer die Frage stellt, ob der „Garten“ überhaupt existiert, ein radikaler Skeptizismus, den gegenwärtig der philosophische Neorealismus vehement als Unsinn des postmodernen Denkens kritisiert. Dennoch, und das gilt für die dramatischen Medien umso mehr, benötigt der Mensch zur Orientierung die komplexitätsreduzierende ‚Brille‘ des Stereotyps. Mit der prägnanten Gegenüberstellung von „Gottes Welt“ und der individuellen Welt des Wahrnehmenden übernimmt er aus der platonischen Welt den Gegensatz zwischen komplexem Diesseits und dem Jenseits als „die Einheit“, verneint jedoch die Gleichsetzung der vielen Dinge der materiellen Welt, ihre Individualisierung, Differenzierung und Formlosigkeit mit dem Hässlichen, Bösen und Gefährlichen. Die alltägliche Erfahrung zeige, so Lichtenberg, dass Lavaters Thesen bezüglich einer Kongruenz zwischen einem schönen Körper und einer schönen Seele nicht evident seien, denn man sehe doch die „Geschichtsbücher und alle großen Städte voll von schönen Lasterhaften“.72 Letztlich war Lichtenberg niemals davon überzeugt, dass sich die Seele im Körper ausdrücke, für ihn bestand ein „unermesslicher Sprung von der Oberflächlichkeit des Leibes zum Innern der Seele!“73 Dieser Sprung war seines Erachtens nicht geringer, als der von „Kometenschwänzen auf Krieg“.74 Damit subvertierte Lichtenberg nicht nur das theosophische Verhältnis von Mikro- zu Makrokosmos, sondern verwies darauf, dass sich Analogien zwischen Körperzeichen und Seelen allein auf der Ebene der Wahrnehmung, der Konstruktion und der Stereotypisierung ab-
71 Georg Christoph Lichtenberg: Schriften und Briefe, hg. v. Wolfgang Promies, Bd. 3, München 1972, S. 259. 72 Ebd., S. 271. 73 Ebd., S. 258. 74 Ebd., S. 276.
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spielten und somit ein Produkt der Einbildungskraft wären, die aus der Kultur mit Bildern, Symbolen und Vorerwartungen versorgt wurden.75 Im Grunde genommen wären Lavaters Thesen leicht einer empirischen Überprüfung zu unterziehen gewesen, indem man sie auf der Folie von Poppers wissenschaftstheoretischen Erkenntnissen einer geordneten Falsifikation unterzogen hätte – dass postmoderne Denker und ihre Epigonen Popper gegenwärtig fast vergessen haben, spricht Bände. Unter anderem argumentierte Lichtenberg gegen Lavater mit folgender Erfahrung „Wer des Nachts auf einer Postkutsche gereiset ist, und im Dunkeln Bekanntschaft mit Leuten gemacht hat, die er nie gesehen hat, wird die Nacht über sich ein Bild von ihnen formiert haben und sich am Morgen so betrogen finden, als sich der Physiognome an jenem großen, feierlichen Morgen betrogen finden wird, an dem sich unsere Seelen zum erstenmal von Angesicht zu Angesicht schauen werden.“76 Das Verhalten der Menschen war, wenn man stimmenphysiognomische Aspekte subtrahiert, für Lichtenberg ausschlaggebend. Zu diesem fand er bei Lichte gesehen nicht die passenden Gesichter. Lichtenberg kam zu dem Schluss, dass selbstverständlich eine Physiognomik existiere und dass sie überaus mächtig sei, weil in jedem Menschen ein Physiognom stecke; nur sei sie Teil des diesseitigen alltäglichen Betrugs, den man auch als gesellschaftliche Theatralität des Alltags bezeichnen könnte, die später Nietzsche aufgriff. Außerdem wäre sie so gefährlich wie falsch. Auch Hegel sprach sich, aus einer anderen, da idealistischen Perspektive, gegen Lavaters Erkenntnisse aus, in der Phänomenologie des Geistes stellt er fest: „Indem das Individuum zugleich nur ist, was es getan hat, so ist sein Leib auch der von ihm hervorgebrachte Ausdruck seiner selbst.“77 Für ihn war die Physiognomik eine Wissenschaft des Meinens sowie eine phantastische Psychologie. Denn sie erschließe ein Inneres, welches so wahrscheinlich niemals als Wirklichkeit gegeben sei. Nicht beachtet würde das Handeln des Menschen. Nach Hegel wäre „das wahre Sein des Menschen vielmehr seine Tat; in ihr ist die Individualität wirklich“; man müsse unterscheiden zwischen „dem, was die Natur aus dem Menschen macht, und dem, was
75 Für Blumenberg sah Lichtenberg „Triumphe nicht nur mit den Augen dessen, der sich am Befundorgan solcher Erkenntnis benachteiligt glauben musste, sondern auch mit der Furcht, eben an ihnen sei das Scheitern der Aufklärung als beschlossene Sache der Geschichte manifest geworden. An der begeisterten Einwilligung, das Unlesbare doch lesbar gemacht zu sehen, trat ihm die Urtümlichkeit eines Bedürfnisses entgegen, das mit der Disziplinierung des Wildwuchses der Neugierde durch die Vernunft nicht vereinbar sein konnte, die Kant nicht zufällig exemplarisch zur Forderung des Tages erhoben hatte.“ H. Blumenberg: Die Lesbarkeit der Welt, S. 201. 76 Ebd., S. 284. 77 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Phänomenologie des Geistes, Stuttgart 1988, S. 224.
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der Mensch selbst aus sich macht.“78 Auch in den Augen Lichtenbergs systematisierte Lavater unreflektiert nur ein menschliches Tun, sodass gegen seine Thesen schwer zu argumentieren sei. In der Tat verhielt es sich so, dass Lavaters Thesen, obwohl vielfach empirisch falsifiziert, weiter höchst populär, medial erfolgreich und im ständigen Umlauf waren. Der Unterschied zwischen Lavaters und Lichtenbergs Überlegungen wird in (wie wir heute sagen würden) folgendem Konzept einer Performance deutlich, in dem Lavater die Kohärenz in den Bezügen der Dinge dafür verantwortlich machte, dass ein Fremdkörper im Gesicht des bekannten Anderen sofort auffallen würde: „Gehen Sie zur Überprüfung des Gesetzes der Homogenität mit einer Pappnase aus dem Haus“. Sogar Andere, denen man wohlbekannt wäre, würden einen „nicht ohne weiteres wiedererkennen, denn ein einziges anders – heterogen – geformtes Element im Gesicht“ reiche aus, um das eigene Antlitz unkenntlich zu machen. Fazit: Der „Natur widerstrebt alles, was ihr fremd ist.“79 Lichtenberg hätte jedoch darauf verwiesen, dass Lavater von ‚bekannten‘ Gesichtern spreche, also von Gesichtern, deren Oberfläche man kenne. Eine Veränderung verändere somit nicht unbedingt die Homogenität des Gesichts, sondern erschwere die Erinnerung an das gewohnte Bild im Kopf, subvertiere mit Judith Butler den normiert-gewohnten performativen Akt. Der eine spricht von der Homogenität in der Natur, der andere beruft sich auf die Einbildungskraft. Auch das hat gravierende Folgen; wenn die Pappnase als Maske genommen wird, dann ist sie für Lavater ein originärer Fremdkörper in einer sonst an sich evidenten, durch ein transzendentales Signifikat legitimierten Natur. Die Multiperspektivität, die eine Maske oder ein Rollenspiel ermögliche, wäre in dem Fall die Potenzierung der von Lavater wortwörtlich angesprochenen Heterogenität, zumindest in der Form. Das Heterogene in der Form war schon im Neuplatonismus ein Merkmal der niederen, unförmigen, hässlichen Materialität. Lichtenberg hingegen argumentierte in eine Richtung, die Nietzsche später aufgreifen wird. Die Maske bzw. das Spiel der Masken bliebe, wenn die Suche nach Wahrheit – im engeren Sinn die physiognomische Interpretation – offensichtlich versagt, eine Diagnose, gültig bis zu Derridas Radikalisierung von Austin und Beltings Faces. Paradox ist Kants Vorwurf, Lavater hätte seine Einbildungskraft nicht durch Vernunft im Zaum halten können – das wäre für Lavater kein Argument gewesen, denn es ging ihm nicht um die Einbildungskraft, sondern um die Unumstößlichkeit der harmonischen Natur. Lavaters Werk glich als fragmentarische, leicht anwendbare Zugangsmethode zum Anderen dem populären Theater, welches seinem Publikum ein performatives
78 Ebd., S. 237. 79 Johann Caspar Lavater: Essai sur la Physiognomonie destiné à faire connaître l’Homme et à le faire aimer, Bd. II, La Haye, S. 269.
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Vademecum der schnellen Menschenkenntnis als praktische Überlebenshilfe bot. Die Anweisungen zum Lesen des Charakters konnte man auch umgekehrt benutzen, als Richtschnur für das eigene Verhalten und Auftreten, für die Inszenierung seines Images, zur Selbstoptimierung in der leistungsorientierten bürgerlichen Moderne. An Lavater wie auch an den Inszenierungen des populären Theaters konnte man sich orientieren, um die Angst zu verringern, unangenehm aufzufallen. Populäres Theater besaß dementsprechend als lebendiges Anschauungsmaterial zum richtigen Verhalten und Wahrnehmen des Ichs und des Anderen eine wichtige Funktion in der bürgerlichen Lebenswelt, dies macht aus den Stücken Ifflands, Kotzebues oder Birch-Pfeiffers eine bis heute kaum genutzte Fundgrube, ein Quellenfundus zur Ermittlung der Mentalitäten und Stereotypen ihrer Zeit. Letztlich entscheidet die Tat und nicht die Interpretation, so Lichtenberg, wenn es um den Charakter des Einzelnen gehen soll. In den tatsächlichen Handlungen sei der ‚wahre‘ Charakter zu suchen – zumal in denjenigen Handlungen, wie Lichtenberg sekundieren würde, hinter denen kein Interesse und kein Abhängigkeitsverhältnis das Verhalten verfälschte. Dies erklärt die Anziehungskraft des populären Theaters um 1800 wie auch der heutigen TV-Serie. Der Vorwurf Weimars, dass sich die Ästhetik der Trivialdramatik dem Alltäglichen und Modischen unterwerfen würde, wird zu einem Vorteil, wenn man die Bedürfnisse des allgemeinen Publikums in Rechnung stellt. Theater bot als mediale Spezifität die attraktive Möglichkeit, ähnliche Figuren in bestimmten, alltäglich-ähnlichen Situationen in ihrem Verhalten zu beobachten. Das Denken als Probehandeln erweitere sich in der Inszenierung auf den Raum der Bühne oder in die Räume der Serieninszenierung. Deren Heterotopien öffneten den Raum für soziale Experimente. Das Publikum suchte und fand in populären Inszenierungen ein Korrektiv zu den einseitigen Erfahrungen, die in ihrer Beschränkung das Überleben des Individuums gefährdeten, wenn es sich zu sehr auf seine physiognomischen Vorurteile verließ. Leider gründen populäre Medienformen zugleich auf physiognomischen Stereotypen, sodass sich in der Performanz der Aufführung Stabilisierung und Subversion überschneiden. Ein prominenter Kritiker Lavaters war neben Napoleon Kant. Nachdem er im Entstehungsjahr der ersten Fragmente 1772/73 in Königsberg anthropologische Vorlesungen gehalten hatte, schrieb er 1797 in seiner Anthropologie ein Kapitel über den Zürcher. Dessen Physiognomik war für Kant inakzeptabel, weil es schwierig sei, die Verbindung von Seele und Leib in ein und demselben Zweck im Menschen zu postulieren, ohne zu sehr ins haltlose Spekulieren zu geraten und den falschen Bildern der Einbildungskraft zu verfallen. Kant konnte jedoch nicht umhin, zuzugestehen, dass es eine „physiognomische Charakteristik gäbe, die aber nie eine Wissenschaft“ werden könne. Sowieso wäre die lavatersche Physiognomik als „Ausspähungskunst des Innern im Menschen vermittels gewisser äußerer unwillkürlich gegebener Zeichen ganz aus der Nachfrage gekommen“. Von der Physiognomik bliebe eine Kunst der Kultur des Geschmacks übrig. Dieser Geschmack be-
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träfe aber weniger die Sachen, sondern in der Hauptsache „Sitten, Manieren und Gebräuchen, um durch eine Kritik, welche dem Umgange mit Menschen und der Menschenkenntnis überhaupt beförderlich wäre, dieser zu Hilfe zu kommen.“80 Die Wahrheit der Physiognomik wurde von Kant auf die ästhetische Ebene gehoben oder gesenkt. Er beobachtete Handlungen der verschiedensten sozialen Typen in ihren Milieus und rekurrierte auf deren Theatralität des Alltags, welche etwa Kotzebue in seinen Stücken um die Jahrhundertwende erfolgreich reflektierte. Dem Theater der Zeit ging es um die ästhetische Grenze: War die Bühnenerscheinung bzw. der von ihr behauptete Charakter ‚wahr‘? Und was bedeutete diese ‚Wahrheit‘? In erster Linie war der Charakter, wie auch Lichtenberg zugestehen musste, zumindest im inneren Kommunikationssystem des Mediums ‚wahr‘, egal, ob der Charakter am Ende dem Aussehen entsprach oder das Aussehen den Zuschauer absichtlich irreführte. Zudem war das informierte Publikum schnell ‚im Bilde‘, die Physiognomik grundierte den entsprechenden Code, wie man etwa schon bei Schiller sehen konnte. Aber galt der physiognomische Code auch außerhalb des Mediums? War das Theater in diesem Sinne nützlich wie ein physiognomisches Lehrbuch? Konnte man das Bühnengeschehen als Vorbild für das individuelle Alltagsleben nutzen? Lichtenberg spottete, man sähe „gerne Porträts von Leuten, die man nicht kennt und mit denen man künftig viel umgehen soll, aber bloß um sich wenigstens nach seinem System zu beruhigen, man irrt sich und erweitert das System.“81 So formulierte er frühe Einsichten über einen Vorgang, den man heute als Tendenz zur irritationslosen Verfertigung von Substereotypen bezeichnet, und reflektierte paradigmatisch die Begegnung mit dem Bild des Anderen. Er demonstrierte, wie man innerhalb eines Systems ein vorurteilbehaftetes Bild vom Anderen projizierte, das man unter Umständen aufgrund eines differenten empirischen Eindrucks korrigieren oder ganz löschen müsste; gerne korrigiere man jedoch so, dass das primäre Vorurteil erhalten werden könne. Die Begegnung mit dem Anderen wäre generell ein Prozess, der eine Performanz der inneren Bilder vom Anderen nach sich ziehe, was vom korrelationistischen Zirkel der Moderne enorm erleichtert und vor dem Hintergrund postmoderner Vorstellungswelten radikalisiert wurde. Erweitert in das Medium Theater wäre jede Inszenierung ein medialer Entwurf, der im menschlichen Spiel von Innovationslust und -angst ein vorläufiges Bild des Anderen vorstellt, dessen Verhältnis zur Wirklichkeit nicht unbedingt eine relevante, aber stets offene Frage bleibt. Das Bild vom Anderen als Fremden wäre daher für Lichtenberg keinen physiognomischen Regeln unterworfen, die ‚wahr‘ seien: es gäbe „keine Physiognomie
80 I. Kant: Anthropologie, S. 241. 81 G.C. Lichtenberg: Schriften und Briefe, S. 559.
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von einem Volk zum andern, von einem Stamm zum andern und von einem Jahrhundert zum andern.“82 Physiognomik wäre vielleicht als Analyse des Selbst denkbar, als Lektüre des eigenen Körpers, dem man sich bediene. Diese Lektüre ergäbe schon etwas über den Menschen, der ein Natur- und Kulturwesen zugleich sei. Vorstellungen der ‚analogia universalis‘ flössen in die neue Selbsterforschung der Seele, eine Errungenschaft des Pietismus, ein. Auf dieser Folie behauptete Lichtenberg eine Mittelstellung zwischen der unflexiblen Physiognomik Lavaters und der Seelenkunde eines Moritz’ oder Goethes. In seiner anthropologischen und zugleich psychologischen Perspektive wurde das Erleben sowie Verhalten des Menschen als eigenständige, stets ambivalente, letztlich undurchschaubare Lebenssituation begriffen. Der menschliche Körper, „zwischen Seele und der übrigen Welt in der Mitte, Spiegel der Wirkungen von beiden“, sei ein „gemeinschaftliches Glied sich in ihm durchkreuzender Reihen, deren jedes Gesetz er befolgt. Und deren jeder er Genüge leisten muss.“83 Die Physiognomik wäre daher, und damit geriet Lichtenberg endgültig in Opposition zu Lavater, als Wissenschaft nicht legitimierbar, denn ein Physiognomiker müsste notwendigerweise zu sehr vereinfachen. Das Bild des Anderen und Fremden erschien zu komplex, um wirklich eindeutig lesbar zu sein. Zwar sähe er schon, dass auf dem Gesicht des Anderen Zeichen eines individuellen Innenlebens, von Gedanken, Vorlieben sowie Fähigkeiten zu verzeichnen seien. Nur wer könne diese als Ausdruck eines komplexen Lebens wirklich lesen: „Wenn das Innere auf dem Äußeren abgedruckt ist, steht es deswegen für unsere Augen da? Und können nicht Spuren von Wirkungen, die wir nicht suchen, die bedecken und verwirren, die wir suchen? So wird nichtverstandene Ordnung endlich Unordnung, Wirkung nicht zu erkennender Ursachen Zufall, und wo viel zu sehen ist, sehen wir nichts.“84 Lichtenberg deutete hellsichtig auf das grundlegende Problem der Komplexität der Welt und der undurchschaubaren Individualität des Anderen, der letztlich immer fremd sein wird. Im Gegensatz zur Physik, die sich oft sinnvoll auf die Mathematik berufen könne, wäre die Psychologie des Anderen nicht von einer Ordnung, die man nicht einfach entschlüsseln könne. Der von Lichtenberg diagnostizierte „unermessliche Sprung von der Oberfläche des Leibes zum Innern der Seele“85 wies schon im Wort ‚uner-mess-lich‘ darauf hin, dass u.a. Bertillon, Galton und Lombro-
82 G.C. Lichtenberg: Über Physiognomik; wider die Physiognomen, S. 279. Vgl. hierzu Gerhard Neumann: „Das neuzeitliche Ich und der physiognomische Blick“, in: Ulrich Fülleborn/Manfred Engel (Hg.), Das neuzeitliche Ich in der Literatur des 18. und 20. Jahrhunderts. Zur Dialektik der Moderne, München 1988, S. 71-107, hier S. 78. 83 G.C. Lichtenberg: Über Physiognomik; wider die Physiognomen, S. 266. 84 Ebd., S. 264. 85 Ebd., S. 264.
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so bei der Vermessung des Gesichts scheitern würden, da ihre Messungen zwar reliabel, aber nicht valide waren. Das Uner-mess-liche war das ideale Einfallstor für Stereotypisierungen, ja Unsinn bzw. verbrecherische Vorhaben jeder Art. Diese hatten jedoch mehr mit dem kulturellen Kontext, den mentalen Bildern und Symbolisierungen und weniger mit der Natur oder Seele des Anderen und Fremden zu tun – Goethe deutete dies indirekt im zweiten Akt seines Trauerspiels Stella an: „O, mich dünkt immer, die Gestalt des Menschen ist der beste Text zu allem, was sich über ihn empfinden und sagen lässt.“86 Die Gestalt des Anderen wäre der beste Text, aber eben nicht der wahrste. Anders gesagt: Die Gestalt als Interpretation ist wie die ideale Dramaturgie und die Linie ein Instrument und Resultat der physiognomischen Methode, die auf den Geschmack und auf ästhetischen Prämissen beruht. Insofern schreibt die Physiognomik ästhetische Formen, Dramaturgien und stereotype Bilder in die Erscheinung des Anderen ein. In diesem Vorgang spielen die visuellen Medien eine herausragende Rolle. Sie kreieren, tradieren, löschen, stabilisieren und subvertieren in ihrem kybernetischen Verhältnis zu Zuschauern und Produzierenden Gestalten, Dramaturgien und Gesichter, deren Anwendung im Sinne der Vorverurteilung und Selektion grausame Folgen haben kann. Für Lichtenberg waren die „Wörter aus der Sprache eines Volks“ mehr wert als „100 ihrer Sprachorgane in Weingeist“,87 was etwa Rainald Goetz nicht nur als Schriftsteller, sondern auch als Psychiater von Irre bis zu seinen Poetikvorlesungen performativ unterschreiben würde. Lichtenberg formulierte Ansätze zu einer Pathognomik, die er selbst als Semiotik der Affekte verstand. Sie war die „Kenntnis der natürlichen Zeichen der Gemütsbewegungen“, wie man sie im täglichen gesellschaftlichen Umgang beobachten konnte,88 sie manifestierte sich als Deutung von Zeichen vorübergehender Handlungen im Sinne von transitorischen Performanzen.89 Dabei war sie zum einen direkt mit der Wahrnehmung von Mimik, Kinesik und Proxemik verbunden, zum anderen war die Sprache des Menschen vorrangig auf der Ebene der Zeichen und nicht als Repräsentation zu rezipieren. Die Sprache des Menschen, so überlegte Lichtenberg, erlaube eine Lektüre des Anderen, welche die Erscheinung des Anderen als eigentliches Zeichen des Körpers ‚sichtbar‘ machte. In und mittels des Mediums der Sprache könne man sich und den Anderen ‚erkennen‘. Es ergäbe sich ein Verfahren, das im Vergleich zu Lavater nicht an der Komplexität der Zeichenfelder scheitern würde, da in der Lektüre sowohl der Signifikant als verlautbarendes Organ als auch die objekthafte Erschei-
86 Johann Wolfgang von Goethe: Stella, Stuttgart 1988, S. 34. 87 G.C. Lichtenberg: Über Physiognomik; wider die Physiognomen, S. 288. 88 Ebd., S. 264 89 Ebd., S. 278.
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nung des Anderen aus demselben Repertoire der Zeichen schöpfte, welches die menschliche Sprache und Kultur bereitstellte – der Lektüre kam nicht die Eigenart, Präsenz bzw. das Reale des Korporalen in die Quere. Damit war auch das Problem der Komplexität gelöst und die ganze Operation in den ästhetischen Bereich transponiert. Der späte Lichtenberg interessierte sich infolgedessen generell mehr für eine Lektüre der gesellschaftlichen Umwelt, für die anerkannten Codes oder Dramaturgien und für die verschiedenen Typen in der Gesellschaft. Insbesondere Hogarths und Chodowieckis Stiche hatten es ihm angetan, er las diese als experimentelles Zeichenfeld – man könnte ähnliche Erkenntnismethoden für die Bühne in Anspruch nehmen.90 Lichtenberg arbeitete für eine soziale Physiognomik, die nicht das Innere des Individuums, sondern eine Semiotik der Affekte91 entschlüsselte, welche durch soziale und historische Konvention bestimmt wäre. Damit wurde der Blick willkürlich auf ästhetische Artefakte gelenkt, während die komplexe, unergründliche Umwelt fast postmodern klugerweise außen vor gelassen wurde. Lichtenberg verneinte das Vermögen des Physiognomen, über die Erkenntnis einer der Konvention entsprechenden Situation hinaus Regeln bezüglich der Lesbarkeit des Körpers und des Gesichts aufstellen zu können. Lesbar wurden soziale Zeichen, die Kunstwerke als Signifikanten offerierten – nicht mehr.92 Die Lesbarkeit sowohl von korporalen Zeichen als auch Erfahrungen in Bezug auf so etwas wie die Wahrheit der Seele wurde im Medium Theater besonders auf die (Experimental-)Probe gestellt. Jede Transformation eines dramatischen in einen theatralen Text bedeutete, wie etwa eine sogenannte lebensähnliche Darstellung von Typen in einer hogarthschen Darstellung, den Versuch einer wiederholbaren Konstruktion von sozialen Typen durch die Ausstellung von gesellschaftlichen Zeichen. In diesem Kontext rekurrierte das Theater wie auch die bildende Kunst auf ein Repertoire an Zeichenfeldern und Argumenten, welche der europäischen Moralistik entstammten. Es ging um kulturelles Wissen über und vom Menschen, welches in die tradierte Kultur, insbesondere das Theater, die Dichtung und die bildende Kunst
90 Gerhard Neumann zeigt diesbezüglich, wie Lichtenberg den bekannten hogarthschen Stich Die Punschgesellschaft im Sinne einer Allegorie der Aufklärungsgesellschaft als Grenzbild auffasste, welches die beiden „Schlüsselvorstellungen“, nämlich den Begriff der Aufklärung, der „Vernunft als ‚Geist‘ bestimmt“, und das „Bild der Aufklärung“, „das Vernunft als ‚Licht‘ der Sonne sehen lässt“, pervertierte: Die „Bildfelder entfalten und deuten das Spiel sozialer Handlungen im Hinblick auf jene beiden Vorstellungsfelder, welche die Signatur der Aufklärung bilden“; ders.: Das neuzeitliche Ich und der physiognomische Blick, S. 74. 91 G.C. Lichtenberg: Über Physiognomik; wider die Physiognomen, S. 264. 92 Vgl. G. Neumann: Das neuzeitliche Ich und der physiognomische Blick, S. 78.
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eingeschrieben war.93 Dieses kulturelle Wissen war sowohl auf der Seite der Produktion (Bühne) als auch auf der Seite der Rezeption (Zuschauer) im Bewusstseinsraum abruf- und mit der Wahrnehmung vergleichbar. Mentale Stereotypen wie zeichenhafte Typen wurden nicht nur wahrgenommen, sondern in jedem Erkenntnisakt performativ befestigt und tradiert, setzten sich aber zugleich der Möglichkeit der subversiven Transformation aus. Mentale Stereotypen und sozialgesellschaftliche Zeichenfelder waren die Menge an Elementen, aus denen auch Lichtenberg in seinen hermeneutischen Deutungsversuchen ästhetischer Bilder und Artefakte schöpfte. Sie wiesen darauf hin, dass Medien populärer Provenienz etwas zeichenhaft in die Kultur und aus der Kultur trugen, was in der Erkenntnis des Selbst und des Anderen nicht so (einfach) funktionierte. Letztlich waren dem physiognomischen Blick das Selbst und der Andere originär deshalb nicht zugänglich, weil Innen und Außen, Körper und Seele nicht in Zeichen, Begriffe und Codes fassbar sind. Diese Unbegreifbarkeit des Anderen setzte, als im 19. Jahrhundert das Unbewusste und die positivistischen Erkenntnisse immer mehr die ästhetischen Artefakte bedrängten, ein ‚ideales‘ Drama wie Goethes Iphigenie schwer unter Legitimationsdruck, was eine Krise des Dialogs und damit der Gattung Drama auslöste, dem im 20. Jahrhundert durch Episierungen und nicht mehr dramatische Inszenierungen begegnet wurde. Eine zufriedenstellende Lektüre des Anderen scheiterte bereits um 1800. Aus dieser lichtenbergschen Perspektive erscheinen später selbst Strindbergs und Freuds Symbolisierungen und surrealistische Artefakte, aber auch ein zeichenhaftes artaudsches Theater als Hochstapelei, denn dem Performativen hängt immer auch das Semiotische an, wobei beide theatrale Perspektiven nie zur Deckung gelangen können. Im Gegensatz zu Lavaters fast naivem Zugang offenbarte Lichtenbergs lebenslange Auseinandersetzung mit der Physiognomie eine eigenartige Theatralität, die Nietzsche einige Jahrzehnte später interessierte und die heute noch die Ästhetik des dokumentarischen Theaters stützt. Denn es mag Lichtenberg zwar vergönnt gewesen sein, sich selbst zu beobachten (wenn auch nicht zu erkennen), aber das Innere, die ‚Seele‘ und damit die ‚Wahrheit‘ bzw. das ‚Herz‘ des Anderen und erst recht des Fremden blieb ihm grundsätzlich verschlossen. Dennoch war im Blick auf den Anderen noch etwas erkenn- und deutbar, nämlich das soziale und gesellschaftlich gebundene Wesen, das mit jeder erkennbaren menschlichen Gestalt und gesellschaftsadäquaten Dramaturgie notwendigerweise verbunden ist. Als soziales Wesen unterlag der Mensch einer geographisch und geschichtlich durchaus konstanten Fest-Stellung der Arbitrarität der Zeichen durch einen relativ stabilen Code. Somit war immerhin der soziale Typus erkennbar, wenn auch vielleicht nur für den gefro-
93 Vgl. Stephen Greenblatt: Grundzüge einer Poetik der Kultur, Frankfurt/M. 1995.
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renen Moment des ereignissubtrahierenden Phänotextes. Deutlicher als im Alltag, so mag vermutet werden, geschah dies in der Kunst, zumal wenn dramatische Typen oder der eigenen Lebenswelt ähnliche Rollen zu sehen waren, wobei die gesamte Bandbreite zwischen Abstraktion oder Idealismus und Naturalismus gleichermaßen betroffen war. Im Theater ragte in den Abgrund des Zuschauerraums die Exzentrizität des Menschen als durch Kultur und Natur bestimmte Entität. Die Natur im Menschen war dabei immer Produkt der Kultur, nicht nur Alexander v. Humboldt setzte das Maß an Fähigkeit, Natur zu erkennen, mit der Stellung auf der kulturellen Entwicklungsleiter in Beziehung. Bereits der ionischen Naturphilosophie, den Pythagoreern und Platonikern erleichterten geometrische Strukturen, Ähnlichkeiten und Gestalten als Regelmäßigkeiten, die, vom Bild der Natur angeregt, letztlich eine Konstruktionsleistung sind, die Erkenntnis. Für Lichtenberg, der hier nahe an einem Platoniker argumentiert, galt: „So bald wir mit unsern mikroskopischen so wohl als anderen Beobachtungen überhaupt, auf besondere Regelmäßigkeiten kommen, so können wir sicherer glauben, dass wir uns einem gewissen Ende nähern, als so lange uns noch Dinge verwirrt erscheinen. So bald vermöge der Einrichtung eines Werks kein Grund mehr da ist, warum dieser Teil anders soll beschaffen sein, als der andre so müssen sie einerlei aussehen.“ Wenn man etwa die „sechseckige Gestalt der Bienen-Zellen“ als Beispiel nehme, dann wäre eine solche Regelmäßigkeit zwar für Bienen zweckmäßig, aber „vermutlich den Bienen selbst gleichgültig.“94 Der Mensch ist auf eine Erfahrung von Ordnung, mit Foucault auf eine Ordnung der Dinge angewiesen, welche sowohl auf der Bühne als auch im sogenannten Naturgemälde sichtbar wurde. In dieser physiognomischen Ordnung überblendeten sich Natur und Kultur, insbesondere in der Wahrnehmung der Struktur, der Typen und der Zeichenfelder. Dies ganz besonders, wenn der Mensch sich im Bühnenereignis wie im Naturgemälde selbst erfuhr und so in seiner doppelten Determination durch Seele und Kosmos wahrnahm. Hier zeigte sich am Zuschauer respektive Schauspieler, dass der Mensch sowohl Ordnung konstruiert, als auch wahrnimmt. Physiognomik und Theatralität operierten auf qualitativ nicht unähnlichen Ebenen einer naturgeschichtlichen und alltäglichen Wirklichkeit, nämlich auf derjenigen, performativ immer wieder in jedem Produktions- und Erkenntnisakt stabilisierten und zugleich hergestellten dramaturgischen Linie, auf welcher Zeichenwahrnehmung und konstruktion eine bedeutende Schnittmenge bildeten. Alles, was sich diesseits und jenseits dieser Linie befindet, würde – sei es das ‚wahre‘, empfundene Selbst, sei es die ‚Wahrheit‘ des Anderen und Fremden – weder theatral oder physiognomisch feststellbar, noch kommunizierbar sein. Lichtenbergs anthropologische Sicht galt
94 G.C. Lichtenberg: Schriften und Briefe, S. 26.
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dementsprechend für die animale und humane Lebenswelt, wobei etwa auf der Bühne Nestroys eine adäquate Ambivalenz zu beobachten war, insbesondere wenn die Nähe der komischen Figur zum Tier inszenatorisch nahegelegt wurde. Eine theatrale Figur wäre, wie bei Nestroy ganz besonders gut sichtbar, in ihren tierischen und menschlichen Anteilen im besten Sinne als ausgewogen zu bezeichnen. Das galt natürlich generell für den Menschen, hochreflektiert bei Schiller, Lichtenberg bemerkte hierzu: „Für den Geist des Menschen ist nicht minder gesorgt, als für den Leib der Tiere; was hier Trieb und Kunsttrieb heißt, ist dort gesunder Menschenverstand.“95 Instinkt und Vernunft als Erfahrung von Ordnung waren ein Ergebnis der Natur; sowohl das Zeichensystem der Menschen als auch das Signalsystem der Tiere beruhten auf einem natürlichen Code, welcher in der korporalen Physiognomik die Lesbarkeit fundierte. Die Erforschung der Natur war für den Menschen etwas, was ihm im Sinne eines Spiegels seiner eigenen Natur die Erfahrung von Identität vermittelte sowie die Integration des Menschen in die Natur ermöglichte. Beide, Mensch und Natur, wurden als Zeichen entschlüsselbar. Der Mensch offenbarte sich zugleich als Natur, denn er ist Leib, und als jemand, welcher Natur wahrnimmt und deutet, denn er hat einen Leib. In dieser Spannung eröffnete sich die spätere Möglichkeit zur Distinktion rassistischer Provenienz. Wichtig war, wer die Ordnungserfahrung machen durfte, wer im wahrsten Sinne des Wortes die Deutungshoheit hatte. Die Perspektive von ‚oben‘ fand ihr Medium im Panorama, in Berggipfeln, Aussichtstürmen und Bühneninszenierungen. In Alexander v. Humboldts anspruchsvollem Titel Kosmos überlagern sich exemplarisch Kühnheit und Unverschämtheit. Der Mensch hatte nicht nur einen Leib, sondern einen ordnenden Blick auf das Ganze, was bei Descartes noch die Natur als res extensa war. Das begreifende Denken, bei Descartes der Königsweg zur Wahrheit, zog dabei in der Moderne mit ihrem korrelationistischen Zirkel die Gefahr nach sich, zum begrifflichen Über-Griff auf den Anderen und Fremden zu werden. Dass es auch in der Realität des Theaters in erster Linie um das Aussehen, die Figur und das Gesicht ging, beweisen die Fragen und deren Reihenfolge, die Iffland am 18. Januar 1800 an Friedrich August Werdy übermittelte, als er sich im Vorfeld eines möglichen Engagements über eine ihm früher persönlich bekannte Kollegin, die Sopranistin Christiane Elisabeth Haßloch erkundigte: „1. Wie sieht die Haßloch im ganzen aus? 2. Wie ist ihre Figur? 3. Ihre Farbe? 4. Ihr Embonpoint? 5. Ihr Gesicht, ist es sehr gealtert? Wo? 6. Wie singt sie? 7. Wie spielt sie? 8. Interessiert ihre Nina und Maria Stuart noch ebenso? 9. Worin interessiert sie nicht? 10. Sind die Schikanen mehr oder weniger? 11. Ist die Mutter bei ihr? 12. Wie steht es um ihr Geld? 13. Gefällt sie dort? 14. Gefällt sie sich dort? 15. Was sagen Sie von ihm [ih-
95 Ebd., S. 197.
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rem Mann, dem Tenor Karl Haßloch]? 16. Was die Ffter [die Frankfurter]?“96 Die Reihenfolge lässt durchblicken, wie die Schauspielerin innerhalb der Codes und Ansprüche der Institution gefallen musste. Das nun in den Mittelpunkt gerückte ästhetische Subjekt ist ein Produkt der Ästhetik der Aufklärung. Die Ästhetik des 18. Jahrhunderts markierte überhaupt erst den Beginn der neueren Ästhetik, da hier zwei Faktoren bekannt und – mit Hegel – erkannt sein sollten: Geschmack und ästhetische Subjektivität.97 Als Lehre des Geschmacks lässt sich die Ästhetik von früheren Ansätzen abgrenzen. Zwar waren in der griechischen Antike und im Mittelalter durchaus kunstwissenschaftliche und technologische Ansätze in der Kunst bekannt und es existierte auch eine Psychologie und Metaphysik des Schönen. Eine moderne Ästhetik entstand jedoch erst auf der Grundlage eines spezifisch ästhetischen Subjekts, das sich im Erlebnis des Geschmacks konstituiert.98 Auf der Ebene der Ästhetik ist die Erscheinung des Anderen, die auch die Physiognomie des Anderen umfasst, ein Teil eines Closed Circuit, der das Subjekt in der Performanz des Erscheinens sowie Erlebens als Phänotext ausdrückt. Dies gilt erst recht in der Medienanordnung, in der die Rezeption als analoger Closed Circuit das ästhetische Subjekt des Zuschauers kreiert.99 Kant hat 1790 in seiner Abhandlung Kritik der Urteilskraft dem Geschmack die Aufgabe zugewiesen, ein sinnliches Beurteilungsvermögen von allgemeiner Gültigkeit zu sein. Infolgedessen wurde eine Erziehung des Geschmacks immer wichtiger. Erziehung bedeutete die Erfahrung ästhetischer Artefakte. Inwieweit wurde aber durch Geschmacksbildung zur Freiheit oder zur Imitation einer spezifischen Ästhetik erzogen? Und was war nun schön oder zumindest in sich soweit stimmig, dass man es als Kunst bezeichnen könne? Kant trieb den Bereich des Objektiven so weit in den ästhetischen Raum, wie er es für sich verantworten konnte. Er unterschied eine objektive von einer subjektiven Empfindung und stellte bezüglich der objektiven Empfindung als Sinneswahrnehmung fest: „Die grüne Farbe der Wiese gehört zur objectiven Empfindung, als Wahrnehmung des Gegenstandes des Sinns; die Annehmlichkeit desselben aber zur subjectiven Empfindung, wodurch kein Gegenstand vorgestellt wird: d.i. zum Gefühl, wodurch der Gegenstand als Objekt des
96 August Wilhelm Iffland: „Erkundungen vor Aufnahme von Engagementverhandlungen bei Friedrich August Werdy, 18. Jan. 1800“, in: Herbert A. Frenzel, Geschichte des Theaters. Daten und Dokumente 1470-1890, München 1984, S. 362f. 97 Vgl. Werner Jung: Von der Mimesis zur Simulation, Hamburg 1995, S. 60f. 98 Alfred Baeumler: Das Irrationalitätsproblem in der Ästhetik und Logik des 18. Jahrhunderts bis zur Kritik der Urteilskraft, Darmstadt 1975, S. 2. 99 Vgl. auch Johannes Bierbrodt: Naturwissenschaft und Ästhetik 1750-1810, Würzburg 2000, S. 101.
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Wohlgefallens (welches kein Erkenntnis desselben ist) betrachtet wird.“100 Schon Kant differenzierte zwischen dem Semiotischen und dem Performativen, wenn man seine Ästhetik auf die Theaterrezeption übertragen mag. Für die Rezeption des Anderen wurde wie für das ästhetische Artefakt die mehr oder weniger lustvolle bzw. angenehme Empfindung zu einem wichtigen Maßstab. Dies galt auch für die ästhetische Produktion. Der Künstler war derjenige, dem es gelang, etwas herzustellen, was mehr oder weniger angenehme Empfindungen auslöste. Mutmaßlich konnte er diese während des Herstellungsprozesses selbst fühlen. Schöne Kunst orientierte sich nicht mehr traditionell an verbindlichen Regeln, was für den Künstler bedeutete, dass er nicht auf technische Vorschriften bauen konnte. An die Stelle der Regeln rückte in der Kunst die Phantasie oder die Einbildungskraft. Der Künstler hatte die Natur nicht nachzuahmen, sondern war angehalten, schöne Werke aus sich selbst heraus zu kreieren. Genie war hierzu das notwendige Vermögen. Damit zeichnete sich das Ende des aus der Antike tradierten MimesisParadigmas ab. Mit Geschmack und Genie und der damit einhergehenden bürgerlichen Subjektivität wurde das Ver-Einzelte wichtiger als das Allgemeine, wiewohl dann doch eine allgemeine Gültigkeit das Ziel aller künstlerischen Arbeit war. Die Nachahmung der Natur, das Ab-Bild als die der Regel verpflichtete Reproduktion eines Referenten wurde von den Produkten der Phantasie und der Einbildungskraft abgelöst,101 obwohl eine völlig willkürliche Kunst-Produktion zum Ruin des Künstlers geführt hätte. Alles drehte sich nun um das, was Kant als subjektive Empfindung bezeichnete. Seither geht es um Qualitätsphänomene und ästhetische Urteile, deren Kriterien letztlich nur über autoritäre Urteile der Kulturkritik oder empirische Erhebungen unter den Rezipienten festgestellt werden können. Jede Kunstkritik ist wie auch jede ernsthafte Kunstwahrnehmung nur intuitiv möglich, auch wenn sie sich rational legitimiert.102 Lavaters Scheitern des Gesamtzugriffs, das sich in der fragmentarischen Form seiner Ergebnisse ausdrückt, war ein Indiz dafür, dass Lichtenberg
100 I. Kant: Kritik der Urteilskraft. 101 Laut Werner Jung tragen das „innerlich Geschaute, die subjektive Perspektive, der besondere Eindruck und die individuelle Handschrift“ den „Sieg über den Regelkanon davon. Ein Paradigma ersetzt ein anderes, zugespitzt formuliert: Das Gefühl dominiert über den Verstand“; ders.: Von der Mimesis zur Simulation, S. 62f. 102 Für Harald Kaufmann kommt „ästhetische Wertung nur in Fragmenten entwickelnd, in der Hauptsache aber antizipatorisch zustande, wodurch sie einem Spontanakt ähnelt. Die Begründungen werden nicht selten erst im Nachhinein am Detail aufgesucht und geordnet“; ders.: „Thesen über Wertungsforschung“, in: Ders./Institut für Wertungsforschung an der Akademie für Musik und darstellende Kunst in Graz (Hg.), Symposium für Musikkritik, Graz 1968, S. 40-45, hier S. 43.
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Recht hatte und die Physiognomik ein rein ästhetisches Unternehmen war. Ästhetische Urteile wurden mit wissenschaftlichen verwechselt. Die Physiognomik erwies sich als Methode, die auf Anmutungen gründete, der Atmosphäre vertraute, und, was das Theater betraf, den performativen Prozessen bzw. der sinnlichen Materialität aller Signifikanten anhing. Übersehen wurde jedoch, was wirklich wirkt. Die Realität als sogenanntes Ding an sich war nicht das Entscheidende. Wie etwa in Moritz’ Anton Reiser nachzulesen, waren die Synästhesien wichtiger. Sinn und Begrifflichkeit wurden durch die Anmutung, also letztlich das Gefühl vorgeprägt und in der Wahrnehmung selektiert. Die neue Herrschaft des Gefühls in der Ästhetik war ein Einfluss, der Sympathien und Antipathien auf die Gestalt und Dramaturgie des Anderen übertrug bzw. mit allen möglichen Wahrnehmungen des Anderen und Fremden interagierte. Es ging nicht mehr nur um Projektionen, sondern um die Triebkraft der folgenreichen Projektionen. So braute sich in der Moderne ein besonders gefährliches Gemisch aus Relikten der antiken Ästhetik, die das Gute mit dem Schönen verband, und aus der neu entdeckten Herrschaft des Gefühls zusammen. Hinzu trat ein wissenschaftlicher, zum Teil auch pseudoempirischer Anspruch, der die tatsächlich wirkende Anmutung hinter der Maske der wissenschaftlichen Objektivität verbarg. In diesem Sinne machte Stephen Jay Gould hinter den angeblich empirischen Vermessungen von Minderheiten das Gefühl der Abscheu gegenüber den Andersartigen sichtbar.103 Ähnliches galt für die Eroberung und Kartierung fremder Länder, für die sogenannte Rassenhygiene, für die Projektion eigener verdrängter sexueller Bedürfnisse auf das Verhalten des Fremden, für die Normalisierung des Menschen auf angeblich wissenschaftlicher Grundlage etc. Für die theatrale Ästhetik der Zeit wurde dieses wichtig, wenn man bedenkt, welche Möglichkeiten der Sympathieund Antipathielenkung sich ergaben, gerade im Übergang von Rollenfächern bzw. barocken Stil zur ‚natürlichen‘ sowie historisch wie geografisch-ethnologisch ‚korrekten‘ Theaterästhetik – auf der Ebene des Schauspielstils, der Kostüme und des Bühnenbildes, von Schinkels Bühnenbildern über Brühls Kostümreform und dem Historismus der Meininger bis hin zu den populären Naturalismen von Filmen, Fernsehprodukten und Computerspielen der Gegenwart. Was auf der Bühne und im Alltag unbekannt oder fremd erschien, erzeugte Angst, das mochte man nicht, also war es hässlich, also war es nicht gut und minderwertig und es war böse. Lavaters Fragmente haben zur Fokussierung der Aufmerksamkeit auf die Schönheit und – meist abgeleitet – der Hässlichkeit in der Erscheinung des Anderen im 18. Jahrhundert nicht unwesentlich beigetragen. Der Bezug zu Winckelmann ist evident, auch seine Ästhetik lässt sich auf neoplatonische Vorstellungen zurückführen, galt für ihn doch der Begriff der menschlichen Schönheit als umso vollkomme-
103 Stephen Jay Gould: Der falsch vermessene Mensch, Frankfurt/M. 1994.
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ner, „je gemäßer und übereinstimmender derselbe mit dem höchsten Wesen kann gedacht werden, welches uns der Begriff der Einheit und der Unteilbarkeit von der Materie unterscheidet.“ Kunst sei das Resultat der Wiederholung der Schöpfung. Der Begriff der Schönheit sei wie ein „Geist, welcher sich sucht ein Geschöpf zu zeugen nach dem Ebenbilde der im Verstande der Gottheit entworfenen ersten vernünftigen Kreatur.“104 Winckelmanns Bedeutung vom 18. Jahrhundert bis heute kann gar nicht überschätzt werden. Seine Imagination der griechischen Antike prägte Kunst und Kunstkritik, seine Vorstellung vom Griechentum formte über eine selbstbewusst zugegebene Prägnanz in der Gestalt das Ideal für die klassische Dichtung Goethes und Schillers, sie gab entscheidende Anstöße für die Geschichtsphilosophie von Herder bis Hegel und hinterließ ihre Spuren noch in Alexander v. Humboldts Kosmos, Arno Brekers nationalsozialistische Plastiken und Leni Riefenstahls Olympiafilm, aber auch, wie Oliver Toscani zurecht feststellt, in der idealisierenden Werbung der Gegenwart sowie im Fitnesskult einer neoliberalen Arbeitswelt. Winckelmann wurde, vergleichbar mit Schiller und Luther, eine nationale Identifikationsfigur, er formte das humanistische Bildungsideal, das in partieller Konkurrenz zum Technisch-Naturwissenschaftlichen die nationale Imagination speiste. Goethe unterstützte entscheidend 1805 mit seiner Schrift Winckelmann und sein Jahrhundert die Kanonisierung Winckelmanns.105 Dabei ging es Goethe nicht so sehr um den Inhalt, sondern mehr um die Person. Diese Umgehung des Werks zugunsten eines Bildes, das man sich von seinem Verfasser machte, mag auch damit zu tun gehabt haben, dass Winckelmanns Geschichte der Kunst des Alterthums keineswegs eine harmlos-unpolitische Schrift war. Kunstgeschichte war für Winckelmann nicht nur kontingent, sondern auch kontextabhängig. Schon der erste Aufschwung der Kunst sei eine Folge des Tyrannensturzes gewesen. Dass dies in Frankreich nach 1789 Furore machte, verwundert nicht, in Deutschland verhielt sich das naturgemäß anders. Goethe vertrat in seinem Werk zu Winckelmann einen kulturmorphologischen Ansatz: Nicht politische Freiheit ermögliche die Kunst, sondern das lebendige Wesen der Kunst selbst, die sich nach einem vorgegebenen Gesetz entwickele. Die Kunst verlor so den Bezug zur Geschichte und behauptete eine starke Autonomie, Winckelmann erfuhr in Deutschland gleichzeitig eine Kanonisierung und Verdrängung.106 Seine Ästhetik unterminierte auf der Grundlage
104 Johann Joachim Winckelmann: Geschichte der Kunst des Altertums, hg. v. Ludwig Goldscheider, Wien 1934, S. 149. 105 Johann Wolfgang Goethe: „Winckelmann und sein Jahrhundert“, in: Ders., Werke. Jubiläumsausgabe. Band 6: Versepen, Schriften, Maximen und Reflexionen, hg. v. Friedmar Apel u.a., Frankfurt/M. 1998, S. 243-279. 106 Vgl. Esther S. Sünderhauf: Griechensehnsucht und Kulturkritik. Die deutsche Rezeption von Winckelmanns Antikenideal 1840-1945, Berlin 2005.
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der Vorstellungswelt der Aufklärung den seit der Renaissance herrschenden normativen Begriff der Antike. Analysiert wurden die Kunstwerke der Antike von ihm mithilfe wissenschaftlicher Prinzipien. Kunstgeschichte, wie er sie schrieb, erinnerte zwar in ihrer zyklischen Entwicklung noch an Giorgio Vasari, verabschiedete jedoch die Relevanz des individuellen Künstlers: „Das Wesen der Kunst [ist] der vornehmste Endzweck, in welches die Geschichte der Künstler wenig Einfluss hat, und diese, welche von anderen zusammengetragen worden, hat man also hier nicht zu suchen.“107 In den Mittelpunkt seiner Überlegungen rückte der künstlerische Stil, der dem jeweiligen sozialen, politischen und klimatischen Kontext geschuldet wäre. Die Antike relativierte sich in ihrer Bedeutung, sie erschien nicht mehr als homogener Zeitraum mit zeitlich und regional differenten Ausprägungen. Trotz ihrer Historisierung stellte Winckelmann die Antike weiterhin als utopisches Ideal dar. Da in „Absicht der Verfassung und Regierung von Griechenland“ die „Freiheit die vornehmste Ursache des Vorzugs der Kunst“ gewesen wäre, lieferte er die Relativierung jeder zeitgenössischen unfreien Staatsform gleich mit. Die Erörterung der demokratischen Verfassung und somit der Freiheit der Griechen sowie deren ethischer Humanität als Erziehungsresultat konnte im deutschsprachigen Raum durchaus subversiv wirken. Man bemerkte den Rückgriff auf Plato, zugleich aber den Vorgriff auf die geschichtliche Wirklichkeit, d.h. auf die Ansicht, dass die Ästhetik nicht statisch sei. Es kristallisierte sich so etwas wie ein Übergang oder eine dynamische Mittelstellung heraus, die sich auch bei Herder, Lavater oder bei A. v. Humboldt bemerkbar machte. Um einen Überblick zu erhalten, hatte der Mensch in der eigenen und fremden Natur nach ‚oben‘ zu streben. Und ‚oben‘ war immer noch bewusst oder unbewusst der ‚Ort‘, von dem aus Platon in seinem objektiven Idealismus die wahre Welt der Ideen zu erkennen suchte. In seinem Aufsatz über Winckelmann schrieb Goethe 1805: „Denn indem der Mensch auf den Gipfel der Natur gestellt ist, so sieht er sich wieder als die ganze Natur an, die in sich abermals einen Gipfel hervorzubringen hat. Dazu steigert er sich, indem er sich mit allen Vollkommenheiten und Tugenden durchdringt, Wahl, Ordnung, Harmonie und Bedeutung anruft.“ Die Erziehung ermögliche dem Menschen über seine übrigen Taten und Werken hinaus die Produktion der Kunst. In seiner idealen Wirklichkeit stehe das Werk vor der Welt und bringe eine „dauernde Wirkung“, die „höchste hervor: denn indem es aus den gesamten Kräften sich geistig entwickelt, so nimmt es alles Herrliche, Verehrungs- und Liebenswürdige in sich auf und erhebt, indem es die menschliche Gestalt beseelt, den Menschen über sich selbst, schließt einen Lebens- und Tatenkreis ab, und vergöttert ihn für die Gegenwart, in der das Vergangene und Künftige be-
107 Johann Joachim Winckelmann: Vorrede der Geschichte der Kunst des Altertums, Dresden 1764.
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griffen ist.“108 In dieser Aussage Goethes zu Winckelmann erkennt man unschwer einen panoramatischen Blick, der eine idealistische Position mit einer medialen verbindet, die gerade das performative Gegenwartstheater dezidiert ablehnt. Wenn Dichter, Forscher und Maler wie Goethe, Schiller, A. v. Humboldt, Caspar David Friedrich und Heine natürliche oder imaginäre Höhen erklimmen, um von dort die Natur im Blick zu ordnen und bei Gelegenheit in ihren Medien zu verzeichnen, dann folgen sie dem Weg aus der Höhle der weltlichen Erscheinungen zur Welt der Ideen. Auf dem Gipfel angekommen, wird ihnen die Welt einsichtig, indem sie die Ideen im Akt der Wahrnehmung als Hypothesen nutzen, um durch die prägnanten Umrisse der Typisierungen wahrnehmungsnotwendige Differenzierungen vorzunehmen. Freilich zeitigt das unendliche Selektionen und Ausschlüsse, die Dekonstruktionen im Theater der Gegenwart wieder ans mediale Tageslicht holen wollen, wenn sie nicht als Verdrängtes Unbewusstes schon zu Beginn der Moderne, etwa bei Kleist, aber auch bei Nestroy, Kotzebue und Holtei, sozusagen von unten her im wahrsten Sinne des Wortes aufbrachen. Um 1800 war der Kunst ihre Tradition in Mythos und Kult fremder geworden, das wertete Nietzsche Jahrzehnte später folgenreich für die Entwicklung der Kunst und des Theaters radikal um. Die philosophische Ästhetik des 18. Jahrhunderts sah in der Darstellung des Schönen die vornehmste Aufgabe der Kunst. Somit stand sie am Ende einer Entwicklung der Aufwertung des Schönen seit der Renaissance. Das Hässliche hingegen, welches in einer metaphysisch legitimierten Ordnung seine spezielle Funktion besaß, da allein Gott über sein Dasein entschied, wurde mit der Fokussierung auf ein metaphysisch unbehaustes Diesseits aus einer Kunst abgedrängt. Was sich in der Natur als Kontingenz sehen ließ, wurde in der Kunst, welche mehr das soziale Vorbild betonte und nicht ‚natürliche Abbilder‘, weniger geachtet. Als Ästhetik des Hässlichen bestimmte sie dann umso gestärkter die Ästhetik der Moderne gleichwertig mit, sodass gegenwärtig in den hyperrealistischen Arbeiten Alvis Hermanis’ wie auch in der Montage der Experten des Alltags bei Rimini Protokoll sowohl Duchamps Ready-Made-Konzept als auch die von Luhmann geforderte Anmutung der Stimmigkeit zum Tragen kommen. Winckelmanns Vorstellungen, die originär dem Neuplatonismus verpflichtet waren, wurden im selben Augenblick denkbar konkret, in dem er die griechischen Artefakte in einen politischen, physisch-natürlichen und kulturellen Kontext verortete. Die griechischen Meisterwerke waren durch ihre „edle Einfalt“ und „stille Größe“ in „der Stellung als im Ausdrucke“ gekennzeichnet. Im Ausdruck des Leidens Laokoons wurde exemplarisch, dass der „Ausdruck in den Figuren der Griechen bei allen Leidenschaften eine große und gesetzte Seele“ zeige. Das Innere dieser Seele schildere sich „in dem Gesichte des Laokoons, und nicht in dem Gesichte
108 J.W.v. Goethe: Winckelmann und sein Jahrhundert, S. 45.
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allein, bei dem heftigsten Leiden.“ Dieser Schmerz „äußert sich dennoch mit keiner Wut in dem Gesichte und in der ganzen Stellung.“ Aus physiognomischer Perspektive wäre im Gesicht und in der Stellung des Körpers die ausgezeichnete Seele des Individuums so zum Ausdruck gebracht, dass man es deutlich sehen könne. Wenn Camper den Europäer in Abgrenzung zum Tier sowie zum außereuropäischen ‚Exoten‘ in die Nähe des antiken Ideals rückte, dann war das ein folgenreiche Behauptung. Für Winckelmann regulierte der ästhetische ‚Filter‘ den Ausdruck der weltlichen Begebenheiten im Korporalen: „Der Schmerz des Körpers und die Größe der Seele sind durch den ganzen Bau der Figur mit gleicher Stärke ausgeteilet, und gleichsam abgewogen.“ Alles, was sich wie ein Affe oder ein Frosch seltsam bewegte, alles, was sich nicht im Griff hatte oder grotesk aussah, hatte sich weit von der Welt der Ideen entfernt und fühlte sich im hässlich-materiellen Milieu zuhause. Das galt auch für den Künstler. Nicht zuletzt Kotzebue, der sich im direkten Vergleich für die Weimar Ästhetik zu sehr dem Alltag zuwandte, und Nestroy, dessen Performanz für viele Kritiker zu triebgesteuert war, offenbarten so angeblich eine niedrige Seele – zumindest im Vergleich zu dem idealisierten Bild der Griechen, die für Weimar zum Vorbild wurden. Winckelmann meinte dementsprechend, dass der Künstler die „Stärke des Geistes in sich selbst fühlen [musste], welche er seinem Marmor einpräget“. In Griechenland reichte die Weisheit „der Kunst die Hand, und blies den Figuren derselben mehr als gemeine Seelen ein.“109 Die Kunstwerke hatten dem Schöpfungsakt nachzueifern und die Seelen im Ausdruck dem Höheren zuzustreben. Dieser Laokoon war natürlich eine mediale Projektion des Anderen, zumal Winckelmann die ‚reale‘ Plastik selbst erst nach Abfassung seines Textes persönlich in Augenschein nehmen konnte. Aber auf diese als wahrnehmungsprägenden Vorgang kam es nun an. Die ‚edle Einfalt‘ und ‚stille Größe‘ geriet um die Jahrhundertwende in die Kritik, insbesondere da Winckelmanns Methode der Beschreibung selbst auf die konkreten Artefakte angewandt wurde, die er zuvor beschrieben hatte: Aloys Hirt beschrieb 1797 seine Begegnung mit Laokoon seltsam anders: „Das Geblüt stoket den Umlauf und verhindert das Einatmen der Luft; das äzende Gift von dem Bisse der Schlange hilft die heftige Gärung beschleunigen; eine erstikende Pressung beteubt das Gehirn, und ein Schlagfluß scheint den Tod plötzlich zu bewirken.“110 Weit vor Nietzsches Herausstellung des Dionysischen kam Hirt zu
109 Johann Joachim Winckelmann: Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst, hg. v. Ludwig Uhlig, Stuttgart 2003, S. 20. 110 Aloys Ludwig Hirt: „Nachtrag über Laokoon“, in: Die Horen 3 (1797). Vgl. hierzu auch: Imka Mülder-Bach: „Sichtbarkeit und Lesbarkeit. Über Goethes Aufsatz Über
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dem Ergebnis, dass es dem Bildhauer keineswegs um das Allgemeine, um schließende Identität, sondern vielmehr um die Prägnanz des Differenten ging. Mit der Aufmerksamkeit für das Differente näherte er sich der diesseitigen Welt der vielen Dinge, multiplen Perspektiven und der zunehmenden Unsicherheit in der Unbehaustheit der Moderne, die fast postmodern anmutet. In der Gegendarstellung des methodischen Adepten Winckelmanns reflektierte sich ein ästhetischer Wandel. Dem Schönen wurde nun das Individuelle im Sinne des Charakteristischen in einer gleichberechtigten Konstellation beigesellt. Natürlich konnte Goethe Hirts These nicht unkommentiert lassen; zwar sei dem Kritiker zugestanden, dass im Laokoon „mit dem sinnlichen auch das geistige Leyden auf der höchsten Stufe dargestellt sey“, dennoch halte sich die Darstellung des Leidens im Maß und ermögliche so die Schönheit der Kunst. Während Winckelmann das Maß des Anderen noch im Inhaltlichen verortete, sah Goethe dieses in der Form, die das Ganze und seine Teile in eine harmonische Ordnung brächte. Der Schrecken des Erhabenen des Anderen wurde durch die schöne Form gebändigt, eine Ansicht, welche die Ästhetik von der Ethik löste und noch Ernst Jüngers Ästhetik des Grauens stützte.111 Goethes einflussreiche Lesart Winckelmanns hatte gravierende Folgen. Denn mit ihr legitimierte sich ein eurozentrischer Blick auf den Anderen mittels der vermeintlich eigenen idealen Gestalt. Damit reduzierte sich das Mitleid mit den Charakteren, deren Gestalt nicht dem Ideal entsprach. Die Distanz wuchs, und das sympathetische Lachen wurde schnell zum Verlachen andersartiger, unormaler, ungewohnter, grotesker, letztlich unidealer Gestalten. Zwar forderte Weimar Humanität durch Harmonie ein. Aber die Geduld mit denjenigen Erscheinungen, die nicht harmonisch wirkten und damit folglich wenig human wären, fehlte. Natürlich musste das physiognomische Projekt an der Komplexität, Unidealität und Hässlichkeit des Alltäglichen, Gewöhnlichen und Durchschnittlichen scheitern. Nietzsche, für den Hässlichkeit das war, was den Menschen an seinen unabwendbaren Verfall, letztlich seinen Tod erinnerte, sah den wahren Charakter nicht im natürlichen Ausdruck, sondern im künstlichen Spiel der Formen; im Rahmen seiner Umwertung aller Werte transponierte sich die Betrachter- in eine Künstlerästhetik.112 Der Versuch, den Menschen in der Physiognomik, aber auch generell in der Wissenschaft in den Be-griff zu bringen, ließ die Diskurse bis in den unendlichen
Laokoon“, in: Inge Baxmann/Michael Franz/Wolfgang Schäffner (Hg.), Das LaokoonParadigma. Zeichenregime im 18. Jahrhundert, Berlin 2000, S. 465-479. 111 Vgl. hierzu Luca Giuliani: Meisterwerke der antiken Kunst, München 2005. 112 Friedrich Nietzsche: „Morgenröte, 4. Buch, n. 324: Philosophie des Schauspielers“, in: Ders., Sämtliche Werke, Bd. III, hg. v. Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Berlin u.a. 1980, S. 231.
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Regress anschwellen. Sie generierten Bild, Identität und Selbstverständnis des Anderen, aber der letzte Zweifel am Anderen ließ sich trotz zunehmenden Aufwands nicht ausräumen. Mit der dunklen, unbewussten, hässlichen, nicht idealen und unnormalen Seite drängte etwas auf Ausdruck, dass das Unbehagen in der Kultur (Freud) begründete, welches wiederum als Vorstellungwelt die Ästhetik der Volksbühne unter Castorf prägte, von Christoph Marthalers Murx den Europäer bis Herbert Fritschs Die spanische Fliege oder Die Physiker. Letztlich blieben alle physiognomischen Analysen im Raum der Projektionen, was die Physiognomik so anschlussfähig an die heterotopischen Räume der Kunst und des Theaters machte. Kultur ließ sich nicht dadurch negieren, dass man an ihr vorbei zum ‚Inneren‘ vorstieß. Sie besaß die unangenehme und/oder beruhigende Eigenschaft, dass sie die Grundlage der menschlichen Verbindung war, wiewohl sie die Individuen gleichzeitig immerwährend trennte. Die Tragik der Physiognomik bestand darin, dass sie im Raum der Moderne ohne transzendentales Signifikat einer fundamentalistischen Tendenz zuarbeitete, da sie zum verhärteten Stereotyp neigte, welches der Selektion und Verurteilung des Anderen Vorschub leistete – Derrida sprach mit Artaud von der Tragik der Repräsentation, Hans-Thies Lehmann von der Notwendigkeit, die Konfliktdramaturgie durch eine Ästhetik der Überschreitung der Repräsentation abzulösen. Durch ihre Aufmerksamkeit für das Gesicht und die Gestalt des Anderen forcierte ein physiognomischer und konfliktdramaturgischer Blick die Dekontextualisierung und damit Entfremdung der Figur mit gleichzeitiger Wesenseinwanderung und Naturalisierung. Lavaters Spekulationen gerannen zu Abstraktionen, was sich auf der Bühne, etwa in Nestroys Haus der Temperamente, gut darstellen und inszenieren ließ. Dem Akt der Naturalisierung ließen sich nun weit einfacher stereotype Vorurteile unterschieben, die so ihre Nobilitierung von der Meinung zur ‚wissenschaftlichen‘ ‚Tatsache‘ erfahren konnten.
2.4 D ER B ESUCH
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Eine alltägliche Begegnung in der Handlung, welche das Verhältnis von Publikum und Bühnengeschehen, die mimetische Grenze zwischen Kunst- und Realraum, reflektierte, wurde in Kotzebues Stück Der Besuch, oder: Die Sucht zu glänzen. Ein Schauspiel in vier Aufzügen, das im Jahr 1801 veröffentlicht wurde, zum Thema.113 Es spielte in einer Versuchsanordnung das soziale Ereignis des Besuchs als konfliktreiche Begegnung, Wahrnehmung, Beobachtung und Bewertung des Anderen oder Fremden durch. Die Figuren auf der Bühne wurden über das aus dem Alltag
113 August von Kotzebue: Der Besuch, oder: Die Sucht zu glänzen. Ein Schauspiel in vier Aufzügen, Leipzig 1801.
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herausragende und prägende soziale Ereignis des Besuchs zum anthropologischen Studienobjekt der Zuschauer. An ihnen entzündete sich ein anhaltendes Spiel des Vergleichs, der Identifikation oder Abwehr und der Selbst- wie Fremdeinschätzung. Konkret handelt das Stück vom Besuch des Barons mit dem sprechenden Namen Schaubrot, begleitet von seiner Frau, der Baronesse, und seinen hochgebildeten Kindern Immanuel und Clementine, bei seinem alten Freund, dem Oberforstmeister von Arlstein auf dessen Gut im Spessarter-Wald. Dort auf dem Land lebt auch dessen Frau und Kinder Hans und Christine, sowie der Schulmeister Wendling und dessen Tochter Malchen. Zeitgleich mit der Ankunft der Residenzbewohner auf dem Gut treffen Besucher aus Übersee ein, der Seemann und dessen afrikanischer Diener Cottica. In der sozialen Situation des Besuchs agieren Typen mit ‚natürlichen‘ Kennzeichnungen. Sie evozieren in ihrer Erscheinung und in ihrem Verhalten eine Konfliktlage, die dem Publikum in ihrer leicht übertriebenen Zeichnung zwar bekannt vorkam, die aber dennoch auf interessante Weise entrückt zu sein schien. Dabei waren die Figuren nicht nur Träger von überspitzten Charakteren, sondern transportierten in ihren Aussagen Assoziationsketten von aktuellen wissenschaftlichen oder ästhetischen Erkenntnissen und trivialen Moden. Wie so oft bei Kotzebue standen einfachere, ehrlichere, ‚natürlichere‘ Menschen überschlauen, vielwissenden und modeverrückten, auf ihren Auftritt bedachten gesellschaftlichen Rollenspielern gegenüber. Die Rollenspieler waren Kulturträger im wahrsten Sinne des Wortes, die mit ihrem einer Enzyklopädie entsprungenen Habitus den Zeitgeist direkt und zum Vergnügen des Publikums auf die Bühne projizierten. Diese Ambivalenz zwischen leicht übertriebener, betont ‚natürlicher‘ Biederkeit und deutlich markierter ‚Unnatürlichkeit‘, die sich im Spiel der Signifikanten als Figurenzeichnung ausprägte, machte die Bühnentauglichkeit der kotzebueschen Stücke aus. Die dramaturgische Übertreibung einzelner sozialer und charakterlicher Merkmale zugunsten der schnell erkennbaren und leicht interpretierbaren Physiognomie und Gestalt hob die Figuren des Stückes stärker vom Hintergrund des Allgemeinen ab. Jede theatrale Konturschärfung wurde durch die soziale Situation und personale Konstellation des Besuchs gesteigert, denn die zwangsläufig ausgelösten Konflikte machten die Zuschauer mit den Eigenarten jeder einzelnen Figur bekannt. Der Katalysator des zentralen Konflikts zwischen bürgerlicher und adeliger Existenzweise ist der exotisch Fremde, zum ersten vertreten durch den Heimkehrer aus der niederländischen Kolonie Surinam, den verlorenen Sohn, der zu Beginn von der Familie nicht erkannt wird. Und zum zweiten durch dessen Begleiter und Diener, der durch seine ‚dunkle‘ Hautfarbe auffällt. Clementine, die allzu kluge Tochter aus der Residenz, trifft auf den Seemann aus Surinam und bemerkt: „O ich weiß, ich weiß recht gut. Die Zuckerplantagen liegen zu beiden Seiten längs des Flusses, und werden von dem Fort Sommelsdyk beschützt“ – immerhin sei sie eine „erklärte
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Liebhaberin der Völker- und Länderkunde“, korrespondiere mit „Zach, Gaspari und Sprengel.“114 Das von der ausgestellt Gebildeten verkörperte ethnologische Wissen begegnet der Figur des Reisenden und Kolonisten, wobei die situative Paarung komische Spannungen zeitigt. Fremdheit ließe sich demnach doppelt personalisieren: als erfahrene Fremdheit und als Wissen, das die Hypothesen über den fremden Raum füllt und konturiert. Kotzebue teilt geschickt die Determinanten jeder Fremdheitserfahrung in leicht typisierte Figuren auf und zeigt die konfliktreiche Interdependenz von Wissen und Erfahrung, von Speicherung und Gewinnung von Wissen, welche die Eroberung des Fremden als Anderen erst ermöglicht. Erheblich verschärft wird die Frage nach dem Fremden durch die Sklavenfrage. „Draußen“ stehe, so der Hausdiener, plötzlich „der Teufel. Arls. Wer? Joh. Der Teufel fragt nach dem gnädigen Herrn.“ Dessen Identität als der Andere speist sich aus der imaginären Landkarte des Europäers. Dem „Neger“ wird nicht nur eine eigene Identität, sondern gar die vernünftige, ökonomische Planungsfähigkeit als Grundlage einer stabilen Kultur abgesprochen; so doziert der dörfliche Schulmeister Wendling: „Es gibt Wilde, die des Morgens ihr Bette verkaufen, weil sie sich nicht einbilden, dass es wieder Abend wird. So ist auch die erste Liebe. Alles wagt sie, alles gibt sie hin, weil sie meint, es könne nie anders werden.“115 Die ungebändigte Kraft des Begehrens dringt von ‚außen‘ durch die abendländischen dramatischen Ordnungsstrukturen, vorsichtshalber erkundigt man sich über Gewohnheiten des Fremden: „Joh.: Was frißt denn so ein Beest?“ Zwar handelt sich der subalterne Diener dafür sofort den Tadel des aufgeklärtbürgerlichen Oberforstmeisters, eines „glücklichen Hausvaters“ ein: „Dummkopf! Er ist ein Mensch wie du. Joh. Bewahre Gott!“116 Aber die von Kotzebue hier intendierten Lacher evozieren zumindest indirekt entsprechende Stereotype. Aus bürgerlicher Perspektive wird zudem die Fremdheit der Residenz zum Ziel der Ausgrenzung, der angereiste Baron von Schaubrodt sei kein „Mancher“, sondern ein „Original“. Originalität wäre der „Stempel des Genies. Nachahmung verräth Sklavensinn.“ Falls der Adel sich „dann und wann zur Nachahmung“ herablasse, so wären „doch nur Römer und Griechen“ seine „Muster“. Die mit hohen Kosten verbundene adelige Anlage einer naturgeschichtlichen Sammlung sei für Schaubrot ein reines Mittel zur Erhöhung des eigenen Prestiges: Man habe „die Hirnschädel aller Nationen gesammelt“, hierbei „oft Tausende verschleudert, um den Kopf eines gemeinen Tungusen oder Neuholländers zu bekommen.“ Distinktionsgewinn, nicht Erkenntnis sei das Ziel des arroganten Barons, über den sich das Publikum als Goethekarikatur amüsierte. „Blumenbach und Gall“ müssten sich vor
114 Ebd., S. 77f. 115 Ebd., S. 48. 116 Ebd., S. 13ff.
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ihm „verstecken. In Zeitungen und Journalen wurd´ es ausposaunt, kein Fremder reiste durch, ohne meine Herrlichkeiten anzustaunen.“117 Komische Kontraste inszeniert insbesondere die Ankunft der Gäste aus der Stadtresidenz auf der Bühne der Begegnung des Anderen: „Zuerst kam ein junger Herr von meiner Statur, ein Kopf wie eine Bürste, ein Rock wie ein Sack, [...] er hat das Kinn bis an´s Maul verbunden, er muss entweder blessiert sein, oder sonst eine hässliche Krankheit haben. – Hernach kam ein Frauenzimmerchen, hu! Es friert mich noch, wenn ich an sie denke. [...] Das arme Kind hatte fast gar nichts auf dem Leibe. Nackende Arme, nackende Brust, den Rücken bloß, und einen Rock von Spinnegewebe. [...] Hinterdrein kam einer, den nannten sie Papa. Das war ein dicker Herr mit einer rothen Nase und einer Perücke so weiß wie meines Vaters Mehlsäcke.“118 Der theatrale adelige Habitus wird als affektiert, gekünstelt, hoch unpraktisch und nicht zuletzt als krank skizziert. Dem steht die „ehrliche Hausfrau aus einem empfindsamen Familien-Gemälde“119 gegenüber. Die Gefahr triebgetriebenen Ausbruchs steige auch hier, immerhin befürchtete bereits Gellert 1770 in seinen Moralischen Vorlesungen, dass sich das Begehren ohne Kontrolle durch den Verstand von den äußeren Reizen übermäßig reizen ließe: „Alle Begierden wachsen dadurch, dass sie oft befriediget worden [...] und wir urtheilen von dem Werthe oder Unwerthe einer Sache nach dem Auge, dem Ohr, dem Gefühle.“120 Die Baronesse, die die Bürgerfamilie mit schnellen, oberflächlichen Reize einer weitgehend virtuellen Modewelt konfrontiert, eröffnet eine frühmoderne Spektakelgesellschaft, die sich freilich noch im Umfeld der Residenz ausbreitet, aber doch schon frühkapitalistisch die bürgerliche Sphäre bedroht. Das Stück thematisierte die um die Jahrhundertwende virulente Diskussion um das richtige Sehen, das von den äußeren Bildern angereizt und von den inneren, dem Begehren folgenden Bildern der Einbildungskraft verführt zu werden drohte.121 Die große Gefahr war die folgenreiche Täuschung, Karl Philipp Moritz argumentierte neoplatonisch: „Von dem reellen und vollendeten Schönen also, was unmittelbar sich selten entwickeln kann, schuf die Natur doch mittelbar den Widerschein durch Wesen, in denen sich ihr Bild so lebhaft abdrückte, dass es sich ihr selber in ihre eigene Schöpfung wieder entgegenwarf. – Und so brachte sie, durch diesen verdoppelten Widerschein sich in sich selbst spiegelnd, über ihrer Realität schwebend und gauckelnd, ein Blendwerk hervor, das für ein sterbliches Auge noch rei-
117 Ebd., S. 65. 118 Ebd., S. 44. 119 Ebd., S. 72. 120 Christian Fürchtegott Gellert: Moralische Vorlesungen, Leipzig 1770, S. 209. 121 Vgl. hierzu Thomas Kleinspehn: Der flüchtige Blick. Sehen und Identität in der Kultur der Neuzeit, Reinbek 1988.
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zender, als sie selber ist.“122 Über die Stufen der Spiegelungen richte sich über die Mode und das Attraktionstheater eine fatale zunehmende Entfernung der Schönheit von der Natur ein, die in ihrer Verkünstelung einen entscheidenden Schritt in Richtung Verstellung unternähme. Diese Stufen reflektieren Kotzebues geographische Einteilung, die von der exotischen über die ländliche zur städtischen Kultur eine Verfeinerung vorstellt, die jedoch mit einer moralischen sowie physischen Verarmung einhergehe. Dabei bleibt die geographische, kulturelle und ästhetische Zuordnung beim akribisch-karikierend registrierenden Zeitzeugen Kotzebue entsprechend unentschieden: Zum einen ergäbe sich Identität über naturgeschichtliche Milieus: „Arlst: Hätte ich doch eher vermuthet, eine Tulpe in meinem Krautgarten zu finden, als dich auf dem Lande. Schaubr. Menschen und Kartoffeln gedeihen überall. Arlst. Der Hof schien dein Element. [...] mochtest vor Zeiten gern ein wenig glänzen.“ Zum anderen über idealistisch-konstruktivistische Zuschreibung: „Schaubr. Ich habe lang genug durch Stand und Reichthum, mit einem Worte, durch mein Nichtich geglänzt; von nun an will ich die Zeitgenossen durch mein Ich in Erstaunen setzen. Arlst.: Ich? Nicht ich? Das ist mir zu hoch. Schaubr. Frage nur meinen Sohn, den Kantianer, der versteht den Wortkram.“123 Im Besuch schilderte Kotzebue immer wieder aus den verschiedensten Perspektiven die Fremdheitserfahrung, die die jeweiligen Figuren in der pränaturalistischen Begegnung mit den aus dem anderen Milieu stammenden Figuren machten. Die essentiellen Faktoren hatten dabei ein leichtes Übergewicht gegenüber den konstruktiven. Dem gemischten Publikum begegnete auf der kotzebueschen Bühne ein regionales Panorama, das die unterschiedlichsten Publikumsschichten zur Identifikation einlud. Obwohl Kotzebue mehr Sympathien für die bürgerliche Kultur erkennen ließ, wurde die Aufrichtigkeit ihrer Natürlichkeit ständig in Frage gestellt. Nicht nur das naturgeschichtlich analysierte Element der Residenz, sondern auch das der bürgerlich-öffentlichen Gesellschaft verlangte nach einer bewussten oder unbewussten Inszenierung.
2.5 N ATURGESCHICHTLICHES T HEATER Gleichwohl bleibt die Diagnose Kotzebues bis heute gültig, ähnlich wie Johann Nestroys von Ludwig Wittgenstein zitiertes Diktum „Überhaupt hat der Fortschritt das an sich, dass er viel größer ausschaut als er ist.“124 Nestroy gelang es, auf die Fähigkeit des Menschen zur Anthropomorphisierung hinzuweisen, die diesen über die Projektion in die Umwelt des Anderen stabilisiert und zugleich existenziell ver-
122 Karl Philipp Moritz: Schriften zur Ästhetik und Poetik, Tübingen 1962, S. 74. 123 Ebd., S. 62. 124 Ludwig Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen, Frankfurt/M. 2003.
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unsichert. Schon Arthur Schopenhauer bemerkte zur Attraktion von Tieren, der Grund dafür liege in der Freude, „unser eigenes Wesen so sehr vereinfacht vor uns zu sehen.“125 Die vereinfachte Identitätszuweisung ist die Basis der Erkennung/Verkennung des Anderen als Spiegel der eigenen Identität. Dies gilt insbesondere für den Fremden, sei es der Exot, sei es das Tier. „Nationallehre ist die Koketterie der Völker, vermöge welcher jedes Volk glaubt, das Hauptvolk zu sein, während die anderen nur Nebenvölker sind, sowie der einzelne Mensch nur darum jeden seinen Nebenmenschen nennt, weil er sich für den Hauptmenschen halt’t“126 – mit diesen Worten bringt Johann Nestroy die grenzziehende und zugleich auflösende Dialektik zwischen dem Ich und dem Anderen, dem Eigenen und dem Fremden auf den Punkt. Von dieser Dialektik lebt auch das Theater, nicht nur, was das Verhältnis von Bühne und Zuschauerraum, sondern zudem, was die dialogische bzw. agonale Handlungsstruktur des theatralen Textes betrifft. Gerade Nestroy, „unbestritten der witzigste und talentreichste“ der „Volksdichter“127 der Wiener Theater der Restaurationszeit, nutzte diese Dialektik als komisches oder allgemein aufmerksamkeitserregendes dramatisches Mittel. Nicht zuletzt deshalb war er in den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts der wichtigste Autor des erfolgreichsten Wiener Popularmediums.128 Er schrieb hauptsächlich für das Programm des Theaters an der Wien, das dem „Raume nach das größte“ Vorstadttheater war, zudem „die meisten geistigen Kräfte, die ausgiebigsten pecuniären Mittel“ besaß, „um etwas Tüchtiges zu leisten.“129 Tüchtig bedeutet in diesem Theater aus der Sicht des Direktors Carl Ferdinand Carl der täglich hart erkämpfte Gewinn an der Kasse, der allein bestimmte, wie lange ein Stück auf dem Spielplan blieb und ob es gar später, vielleicht mit einer anderen Besetzung, noch einmal wiederholt
125 Arthur Schopenhauer: Senilia. Gedanken im Alter, München 2010, S. 125. 126 Johann Nestroy: „Lady und Schneider, Handschrift, V, 644“, in: Franz H. Mautner, Nestroy, Heidelberg 1974, S. 53. 127 N. N.: „Kritische Blicke auf die Vorstadtbühnen Wiens“, in: Der Sammler vom 5.12.1839, S. 583f. 128 Nach Alois Eder war das Volkstheater generell das „damals bestfunktionierende Massenmedium der Stadt“. Vgl. ders.: „Die geistige Kraft der Gemeinheit. Zur Sozialgeschichte der Rezeption Nestroys“, in: Jürgen Hein (Hg.), Theater und Gesellschaft. Das Volksstück im 19. und 20. Jahrhundert, Düsseldorf 1973, S. 133-153, hier S. 135. 129 N.N.: Kritische Blicke auf die Vorstadtbühnen Wiens. Immerhin verfügte das Theater an der Wien über eine erstaunlich große Bühne, die nicht nur die Möglichkeit bot, Spektakelstücke aufzuführen, sondern auch gefüllt werden musste. Man konnte 18 Kulissen aufstellen, die Vorder- und die Hinterbühne ließen sich durch die Öffnung eines großen Tores über die Straße erweitern. Vgl. hierzu Anton Bauer: 150 Jahre Theater an der Wien, Zürich 1952, S. 83.
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wurde – verglichen mit den heutigen Theaterverhältnissen kam das eher selten vor. In diesem Umfeld begründeten Nestroy und Carl ein fruchtbares Arbeitsverhältnis, das allerdings nicht immer ohne Spannungen blieb. Carl gestaltete das Programm des Theaters an der Wien so, dass das Publikum sicher sein konnte, einerseits Beliebtes und Bewährtes, andererseits etwas ganz Neues, noch nie Dagewesenes präsentiert zu bekommen. So eigneten sich in einem Vorstadttheater die literarisch gebundenen dramatischen Ereignisse nicht immer, die Menschen täglich in großer Zahl anzulocken. Da war die Versuchung für die Theaterleiter groß, andere Formen des Spektakels in das Theater zu integrieren, auch wenn nur noch „Blend- und Zugstücke“ und „Tiger, Wölfe, Leoparden auf die Bühne gebracht“ wurden und es dazu kommen konnte, dass „die Schaulust übersättigt“ und „das stehende Repertoire vernichtet“ wurde.130 Dennoch waren diese „Productionen“ generell ein gewöhnlicher Bestandteil des populär orientierten Spielplans der deutschen Theater dieser Zeit, der „Programmen für Variété-Unterhaltungen“ ähnelte.“131 Insbesondere die Vorstadttheater standen täglich vor der Entscheidung, wie und in welcher Dosierung das originär Außertheatrale als Attraktion auf den Bühnen präsentiert werden sollte. Ein Zuwenig, Zuviel oder etwas Falsches konnte ein Theater ruinieren, eine Ignorierung der Trends umso mehr. Im Trend waren Tiere, noch besser, artistisch vorgebildete, glaubwürdig agierende reisende Tierdarsteller. Kaum einer von diesen wurde im deutschsprachigen Raum in dieser Zeit auf den Bühnen so bekannt wie der Affendarsteller Karl Klischnigg, der in Nestroys Der Affe und der Bräutigam auftrat.132 Mit Tieren auf der Bühne hat auch Goethe seine liebe Not, gemessen an seinem Weimarer Ideal war Nestroy jedoch sowieso „zuwenig dramatischer Dichter, um als Vorbild aufgestellt zu werden“, denn „vortrefflich ist nur das, was ruhig, geschmackvoll, einfach und abgeschlossen erscheint.“133 Man bemerke in dieser Analyse eines Kritikers 1838 bereits die von Szondi als Krise des idealen Dramas herausgearbeiteten Kriterien, die wiederum den Boden postdramatischer Ästhetik bereiteten. Gleichwohl war sich die Kulturkritik einig über die herausragenden
130 So heißt es weiter in einem Bericht über den Direktor des Leopoldstädter Theaters Palffy an den Grafen Sedlnitzky: „Begreiflich, dass dieses Theater in den bisherigen Händen sich weder erhalten noch weniger heben könne, denn es verlange einen spekulativen und dennoch kunstsinnigen Kopf, ohne alle eigene Liebhaberei für eine gewisse Gattung“; Eintrag zum 21.4.1825, in: Ebd., S. 139. 131 Max Martersteig: Das deutsche Theater im neunzehnten Jahrhundert. Eine kulturgeschichtliche Darstellung, Leipzig 1924, S. 356. 132 Ebd., S. 382. 133 J. Tuvora: Stellungen und Zustände der Wiener-Lokaltheater, in: Moritz Gottlieb Saphir (Hg.), Der Humorist vom 18.4.1838, S. 247f.
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schriftstellerischen Leistungen Nestroys, gelobt wurde auch das frühe Regietheaters Carls, der nicht einmal davor zurückschreckte, „sogar Schiller seinen Plänen dienstbar zu machen und dessen ‚Räuber‘ – wie er ankündigte –‚ in ganz neuer Gestalt‘ bei Ausstellung eines ‚lebendigen Theaters‘ aufzuführen.“134 Dieses lebendige Theater war eine Überraschung, welche „alles früher geleistete“ übertraf. Carl hat das Stück „bei Aufstellung eines lebendigen Theaters, das heißt mit mehreren Gärten und Waldpartien aus natürlichen Bäumen bestehend“ inszeniert. Außerdem wäre „nicht EINE gemalte Dekoration“ vorgekommen; im „Gegenteil, dass sogar eine Waldschenke erscheint, welche so natürlich ist, dass darin nicht einmal der gewöhnliche Haushund (ein grober Bullenbeißer an der Kette) vergessen ist, zeigen sich noch Gärten mit illuminierten, freistehenden Alleen, französischen Bogengewinde mit Statuen und Springbrunnen, welche letztere den Wasserstrahl über 14 Fuß in die Höhe treiben.“135 Diese Bühnenbildtechnik war also keineswegs mehr das von oben von Soffitten und nach hinten von Prospekten abgeschlossene Kulissensystem. Was sich schon bei Schinkel im Zuge einer Zunahme an Wirklichkeitstreue andeutete, wobei auch dort schon plastische Elemente vermehrt zum Einsatz kamen, wurde bei Carl vor dem Hintergrund eines zunehmenden Interesses an Landschaftsdarstellungen weiter naturalisiert. Mit „mehreren Gärten“ und „Waldpartien“ wurde über einen fast panoramatischen Blick in die Natur lange vor den Meiningern, Otto Brahm oder Max Reinhardt ein annähernd ‚naturalistischer‘ Eindruck erzeugt. Carl schaffte es meist, die „Schaulust im vollen Maße zu befriedigen“,136 integriert wurden insbesondere Attraktionen korporal-motorischer Art, die innerhalb einer dem Konsum dienenden Sehkultur dermaßen fremd oder andersartig anmuteten, dass sie interessant erschienen und „voyeuristisches Staunen“ erregten.137 Dazu gehörte das Extemporieren der komischen Figur, gegen das der um die ‚Literarisierung‘ des Wiener Theaters bemühte Joseph von Sonnenfels 1770 die „Errichtung der Theatralcensur“ forderte, insbesondere wegen der „Geberden, durch welche oft eine an sich unschuldige Rede zur größten Zote werden kann.“138
134 Carl Glossy: Zur Geschichte der Theater Wiens, 2 Bde., Bd. 2: 1821-1830, Zürich 1920, S. XXII. 135 N. N., in: Adolf Bäuerle: Allgemeine Theaterzeitung vom 21.9.1830, S. 463. 136 C. Glossy: Zur Geschichte der Theater Wiens 2, S. XXII. 137 Vgl. hierzu: Hellmuth, Eckhart/Martin H. Geyer: „Konsum konstruiert die Welt. Überlegungen zum Thema ‚Inszenierung und Konsum des Fremden‘“, in: Hans-Peter Bayerdörfer/Eckhart Hellmuth (Hg.), Exotica. Konsum und Inszenierung des Fremden, Münster 2003, S. IX-XXVI. 138 Joseph von Sonnenfels, zit. n. Carl Glossy: „Zur Geschichte der Wiener Theatercensur“, in: Jahrbuch der Grillparzergesellschaft 7 (1897), S. 238-340, hier S. 259.
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Nestroy war in der Kunst des Extemporierens besonders bewandert: „Man applaudierte nur jene Stellen, die gemein, die zweideutig waren. Daran hat Hr. N. einen gewissen Theil des Publikums gewöhnt! Dieser gewisse Theil des Publikums, von dem sich jeder gebildete Mensch ausschließt, lauert mit faunischer Lust auf eine Stelle, auf eine Geberde, in der er einen entarteten Sinn, eine Zweideutigkeit, eine Gemeinheit findet.“139 Ein probates körperlich-motorisches Darstellungsmittel waren Anspielungen sexueller oder, anders ausgedrückt, ‚tierischer‘ Natur. Friedrich Theodor Vischer berichtete entsetzt über Nestroys Siebzehn Mädchen in Uniform, deren Ähnlichkeiten mit Schillers Jungfrau von Orleans er nicht tolerieren wollte: „Nun aber dieser Nestroy. Er verfügt über ein Gebiet von Tönen und Bewegungen, wo für ein richtiges Gefühl der Ekel, das Erbrechen beginnt. Wir wollen nicht die thierische Natur des Menschen, wie sie sich just auf dem letzten Schritte zum sinnlichsten Genuß gebärdet, in nackter Blöße vors Auge gerückt sehen, wir wollen es nicht hören, dies kotig gemeinte ‚Eh’ und ‚Oh’ des Hohns, wo immer ein edleres Gefühl zu beschmutzen ist, wir wollen sie nicht vernehmen, diese stinkenden Witze, die zu erraten geben, dass das innerste Heiligtum der Menschheit einen Phallus verberge.“140 Als gemäßigter Linkshegelianer und Liberaler war Vischer auch der wichtigste Ästhetiker des zu Ende gehenden Idealismus in der Zeit zwischen Hegel und Nietzsche. In seiner auffällig aggressiven Kritik an Nestroys erfolgreichen Auftritten scheint man bereits die Macht des nietzscheanischen Dionysischen durch das Apollinische hindurch drängen zu sehen. Diese psychoanalytische Interpretation avant la lettre, welche nicht nur den Witz, sondern auch die Bewegung und den Körper des Darstellers als Ausdrucksmedium des Trieblebens offenlegte, auf die das angeregte Publikum sympathetisch reagierte, deutete zugleich auf den Genotext des nestroyschen Theaters. Erregend und zugleich unkontrollierbar wirkten Nestroys Auftritte, er erinnerte einige dabei an „diejenige Hefe des Pöbels, die in Revolutionsfällen zum Plündern und Totschlagen bereit ist. Wie ko-
139 Moritz G. Saphir: „Didaskalien“, in: Ders., Der Humorist vom 18.11.1843, S. 931-936, hier S. 934. 140 Friedrich Theodor Vischer: Kritische Gänge, Neue Folge Bd. 1, Stuttgart 1861, S. 63. Hegel konnte polemisch werden, wenn es gegen vorgeblich materialistische Perspektiven wie die von Gall gehen sollte: Dessen Theorie hätte zur Folge, dass Denken von ‚Pissen‘ nicht zu unterscheiden wäre. Den Geist allein aus seiner anatomischen Struktur zu erklären, bedeute, jedes „Verhalten anatomisch begründen zu können: Gehirnfibern u. dgl. als das Sein des Geistes betrachtet, sind schon eine gedachte, nur hypothetische, nichtdaseiende, nicht gefühlte, gesehene, nicht die wahre Wirklichkeit; wenn sie da sind, wenn sie gesehen werden, sind sie tote Gegenstände und gelten dann nicht mehr für das Sein des Geistes“; ders.: „Phänomenologie des Geistes“, in: Ders., Werke in zwanzig Bänden, Bd. 3, Frankfurt/M 1976, S. 261f.
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misch Herr Nestroy auch zuweilen wird – er kann das Unheimliche nicht verdrängen, welches den Zuhörer beschleicht.“141 Die komische Figur war folglich, zumal in der extremen Verkörperung Nestroys, ein theatrales Ereignis, das zugleich faszinierte und Angst machte. Die eigentümliche Ästhetik Nestroys in ihrer Korporalität und Ereignishaftigkeit wie auch in ihrer Subversion des idealistischen Schönheitsbegriffs war als frühe Überschreitungsästhetik politisch. Nestroys Komik kehrte ihre subversive Seite hervor, obwohl sie zugleich Formen der Ausschließung benutzte und auf einer anderen Ebene ordnungsstiftend wirkte. Seine Ver-Körperung erzeugte eine ähnliche Resonanz wie das Fremde, das als fascinosum oder tremendum erschien. Schon in der Commedia dell’Arte war die komische Figur nicht nur gesellschaftlich unterprivilegiert, sondern auch regional fremd. Zudem eignete ihr ein herausragendes artistisches Gestaltungselement. In Wien fand man ihre Nachkommen eineinhalb Jahrhunderte später im Vorstadttheater und im Prater, ihre Traditionslinie kann bis zu Charlie Chaplins Slapstick und Wsewolod Meyerholds Biomechanik gezogen werden. Eine besondere Attraktion des Wiener Praters war das Affentheater, hierbei ging es nicht darum, dass ein Gymnastiker einen Affen, sondern dass Affen Menschen nachmachten. So heißt es etwa auf einem Ankündigungszettel einer Gymnastischen Affen-Schule im Prater: Der Direktor hoffe durch die Aufführung zu beweisen, dass er allein „durch die Wirkung einer langweiligen, ja beschwerlichen Anstrengung“ sowie durch ein „besonderes Studium der Begreiflichmachung eines oder des andern, es zu einem solchen Grade gebracht hat, dass diese Thiere gymnastische Handlungen trefflich dem Menschen nachahmen.“ 142 In dieser Nachahmung des Menschen durch den Affen, in der Umkehrung der schauspielerischen Arbeit des Affendarstellers öffnete sich ein Bedeutungsraum, der in der Verbindung zwischen Affen und Menschen auf mehrere Konnotationen verwies. Einerseits stand der Affe für die Nähe des Menschen zur Natur, andererseits deutete er traditionell auf die Nachahmung als menschliches Vermögen. Zudem symbolisierte der Affe insbesondere im 18. Jahrhundert den Adeligen, der in der bürgerlichen Vorstellung in seinem Milieu ein ständiges Schauspiel bot. In diesem Sinne ging es bei Affendarstellungen immer auch um die Glaubwürdigkeit des schauspielerischen Ausdrucks. Zwar waren die Ähnlichkeiten im Verhalten zwischen Affen und Menschen evident; aber gerade die Ähnlichkeit vor allem in der gegenseitigen Nachahmung, wenn also Menschen Affen spielten, wie in Carls Theater, oder Affen Menschen,
141 Carl Ludwig Costenoble: Aus dem Burgtheater. 1817-1837. Tagebuchblätter, II, Wien 1889, S. 336. 142 Vgl. Hermann Schardt (Hg.): Schausteller, Gaukler und Artisten. Schaubudengraphik der Vormärzzeit, Bd. 1, Essen 1980, S. 153.
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wie im Affentheater des Praters, erzeugte schnell eine groteske Darstellung, die zum Lachen reizte. Das mochte auch damit zu tun haben, dass die Annahme, das Verhalten des Anderen würde auf den Charakter und die Seele verweisen, für den Menschen peinlich war, wenn die Nähe des Anderen zum Affen zu sehr bewusst wurde. Nietzsche betonte die Ambivalenz in der Anmutung eines solchen anthropologischen Grenzgangs: „Was ist der Affe für den Menschen? Ein Gelächter oder eine schmerzliche Scham“.143 Durch anthropologische Erörterungen des 18. Jahrhunderts, durch Nestroys Affenstück und das Affentheater im Prater und später – besonders mentalitätsprägend – durch Darwin wurde der Mensch identitätsgefährdend verunsichert. Einen Ausweg mochte noch der Subjektivismus Kants weisen, doch wurde schon für diesen nicht nur das ‚Ding an sich‘, sondern auch die Seele zum Erkenntnisproblem. Den ‚Halt‘ Lavaters in der Physiognomie des Anderen hatte bereits Lichtenberg dekonstruiert. Für Nietzsche war wie für Lichtenberg die Vorstellung, der ‚wahre‘ Charakter des Menschen zeige sich im ‚natürlichen‘ Ausdruck, kaum glaubhaft. Indem Nietzsche nun auf den Affen als das Tier, das zur besten Nachahmung fähig wäre, verwies, deutete er zugleich auf den Menschen als Schauspieler: „Vergessen wir nie, dass der Schauspieler eben ein idealer Affe ist und so sehr Affe, dass er an das ‚Wesen‘ und das ‚Wesentliche‘ gar nicht zu glauben vermag: alles wird ihm Spiel, Ton, Gebärde, Bühne, Kulisse und Publikum.“144 Die charakterliche Wahrheit des Menschen wäre demnach keineswegs im natürlichen Ausdruck zu suchen, sondern, wie schon von Lichtenberg vorgedacht, im Spiel mit seinen künstlichen Formen. Damit reflektierte sich die moderne Subjektivität im künstlichen Spiel zwischen Affe und Mensch, welches in der Nachahmung als ‚verbindendes Element‘ paradoxerweise den ‚natürlichen Ausdruck‘ dekonstruiert. Der Trend zur materiellen Anthropologie, der sich hier andeutete, lässt sich von der institutionellen Seite her vom Vorstadttheater über den Prater bis zur historischen Avantgarde verfolgen, die der Ästhetik des Zirkus’ viel verdankte. In Nestroys Darstellung war die Performanz des körperlichen Spiels dem gesprochenen Wort und dem dramatischen Dialog mindestens gleichwertig. „Mimik und Gestik des Schauspielers waren ebenso selten gänzlich bar der Ironie wie die Sätze des Wortspielers. Wo zwischen den Sätzen oder zwischen den Sätzen und den Gebärden ironische Diskrepanz besteht, da wird sie oft Quelle des Grotesken.“145 Transponiert auf die Ebene des Verhältnisses zwischen dramatischem Text und Affendarstellung durch den Gymnastiker spielte Nestroy mit der Diskrepanz zwischen
143 Friedrich Nietzsche: „Zarathustra“, in: Ders., Sämtliche Werke, Bd. IV, hg. v. Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Berlin 1978, S. 452. 144 F. Nietzsche: Morgenröte, S. 231. 145 F.H. Mautner: Nestroy, S. 29.
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Wort und Motorik in der Dramaturgie dadurch, dass er ein komisches Verwechslungsspiel zwischen verkleidetem, im Sinne von ‚künstlichem‘ und ‚richtigem‘, im Sinne von ‚natürlichem‘ Affen initiiert: Ein reicher, aber schon älterer Gutsbesitzer als vom Vater ausgewählter Bräutigam – eine Pantalonefigur –, dem die junge Liebhaberin versprochen ist, glaubt, er könne im Affenkostüm bei der jungen Frau Eindruck machen. Denn diese habe die seltsame Passion, sich „im Garten eine ganze Menagerie anzulegen, da hat sie türkische Gänse, indianische Tauben, aller Gattungen Papageien, zwei Dammhirsche, etc. nun wäre ihr sehnlichster Wunsch, einen Affen zu haben.“146 Der Affe solle in diesem Privatzoo die potente Spitze der natürlichen Hierarchie aller Tiere besetzen, er soll dort „das Capo“ darstellen147 – wenn man in Rechnung stellt, dass Nestroy in seinen Stücken die ganze Menschheit als Menagerie entlarvte, dann wird in dieser Reflexion die Gleichsetzung zwischen Affe und Mensch deutlich, die sich aufgrund der gestaltinduzierten Nähe auch aus den Naturgeschichten der Zeit lesen lässt. Einen exklusiven Zusammenhang zwischen Mensch und Affe zu konstruieren, fiel dem Publikum durch seine Erfahrungen mit den Tierattraktionen im Prater, insbesondere dem dortigen Affentheater, nicht schwer, so berichtete etwa die Wiener Zeitung Der Sammler zur selben Zeit über einen „Pariser Orang-Outang“ im „Jardin des plantes“, der „in Wahrheit jetzt mehr als jemals einem Menschen gleicht.“148 Hier schlugen sich auf popularer Ebene naturgeschichtliche Erkenntnisse nieder. Nestroys Theater rekurrierte auf eine Vorstellung der anthropomorphischen Gestalt des Affen.149 Linné subsumierte in seinem immens einflussreichen Systema naturae den Menschen unter die Primaten, wobei er 1735 den Menschen gemeinsam mit dem Faultier unter dem Oberbegriff ‚Anthropomorpha‘ innerhalb der Klasse der ‚Vierfüßler‘, der ‚Quadrupedia‘, in das Reich der Tiere einordnete. Erst in der 10. Auflage seines Werks von 1758 wurde der Mensch als homo sapiens den Primates in der Klasse der Säugetiere, den Mammalia zugeteilt. Dass sich hier bereits Übergangsverwischungen im mentalen Raum zwischen Affen und Wilden einstellten, zeigt z.B. Anthropomorphia von Linnes Schüler Hoppius von 1760, in dem zu finden sind: „1. Troglodyta Bontii, 2. Lucifer Aldrovandi, 3. Satyrus Tulpii
146 Johann Nestroy: „Der Affe und der Bräutigam“, in: Ders., Historisch-kritische Ausgabe. Stücke 11, hg. v. Jürgen Hein, Wien 1998, S. 77-139 und S. 245-340, hier S. 85. 147 Ebd., 99. 148 U. Roussel: „Der Pariser Orang-Outang“, in: Der Sammler vom 11.10.1936, S. 483. 149 Vgl. Hans Werner Ingensiep: „Der Mensch im Spiegel der Tier- und Pflanzenseele. Zur Anthropomorphologie der Naturwahrnehmung im 18. Jahrhundert“, in: Hans-Jürgen Schings (Hg.), Der ganze Mensch. Anthropologie und Literatur im 18. Jahrhundert, Stuttgart 1994, S. 54-79.
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und 4. Pygmaeus Edwardi“.150 Die leibliche Zugehörigkeit des Menschen zum Tierreich als „erste Wahrheit der Naturgeschichte“151 war für Buffon „eine für den Menschen vielleicht demütigende Wahrheit“152 und wies bereits auf die durch eine materielle Anthropologie ausgelöste Kränkung des Menschen im Sinne einer deutlich gewordenen Ex-zentrizität, die noch dadurch eine zusätzliche Dynamik bekam, dass Linné, als er den Menschen als Homo Sapiens in das Tierreich, in die Gattung der Primaten, einordnete, von der Schöpfungsgeschichte ausging – so konnte man noch keineswegs von einer Entwicklungslehre sprechen. Buffon hingegen rekurrierte in Abgrenzung von Linné nicht mehr auf die Unveränderbarkeit der Arten in der Natur, die er als Einheit sah. Eine Art verschmelze mit der anderen, sodass man den Weg vom Mineral bis zum Menschen verfolgen könne. Denn in „jeder materiellen Hinsicht ist der Mensch ein Tier“, und „wenn wir von Pflanzen- und Tierfamilien sprechen, wenn etwa der Esel von der gleichen Familie wie das Pferd sein dürfte“, so „könnte man auf den Gedanken kommen, dass der Affe von der Familie der Menschen sei.“153 Das war zwar noch lange nicht Darwin, ging aber einen Schritt weiter in Richtung fundamentaler ‚Kränkung des Menschen‘. Wenn man die materielle Sicht schon im 18. Jahrhundert radikalisieren wollte, dann landete man kurz oder lang bei La Mettrie. Generell waren im 18. Jahrhundert anthropologische Überlegungen noch philosophische Gedanken. Immer mehr je-
150 Vgl. hierzu: Horst Woldemar Janson: Apes and Ape Lore, London 1952 ; H.W. Ingensiep: Der Mensch im Spiegel der Tier- und Pflanzenseele, S. 54f. 151 Ebd., S. 54. 152 Buffon´s sämmtliche Werke. Bd. 1, übers. v. H. J. Schaltenbrand, Köln 1837, S. 86. 153 J. Nestroy: Der Affe und der Bräutigam, S. 86.; Nestroys Grenzüberschreitungen standen der Meinung der Romantiker gegenüber, die von einer Entsprechung jeder Art in der Natur mit einer ewigen Idee ausgingen. Zwar wären die auf niederster Stufe einzuordnenden tierischen und pflanzlichen Organismen im Meer entstanden, dies solle man sich aber nicht als Entwicklung analog einer Leiter oder Reihe, sondern eher eines Baumes, der verschiedene Zweige als Arten besitzt, vorstellen. Die Romantiker schufen so eine geeignete mentale Grundlage für den Darwinismus, da sie das Leben als Entwicklungsprozess begriffen. Dennoch unternahmen sie nicht den entscheidenden Schritt, eine Veränderlichkeit der Arten anzunehmen: „Nach der neuen Lehre wisse man nicht, sagt Baader einmal, ob nicht aus einem Stein ein Baum, aus einem Baum ein Pferd, aus einem Pferd ein Mensch werden könne. Dies sei aber unmöglich; jede Art entspreche einer ewigen Idee, habe ihren unauslöschlichen Charakter, der innerhalb seiner Grenzen durchaus verharren müsse, nur nach Wiedergeburt der eigenen Form sei Vervollkommnung denkbar“; vgl. Ricarda Huch: Die Romantik. Blütezeit, Ausbreitung, Verfall, Tübingen 1951, S. 402f.
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doch kam die reine Philosophie unter Legitimationsdruck, sie hatte zunehmend Probleme damit, die Erkenntnisse der Naturwissenschaften in ihre Systeme einzufügen. Das bedeutet nicht, dass das spekulative Denken sofort den Platz räumen musste, aber schon William Harveys Entdeckung des Blutkreislaufes stellte eine Herausforderung für die descartessche Philosophie dar. Der sichere Rückzug auf ein ‚cogito‘ im Dualismus zwischen Denken als ‚res cogitans‘ und der Natur als ‚res extensa‘ wurde verbaut. Mit der steigenden Relevanz physiologischer Abläufe erschien Descartes’ Methode, die Logik als Ordnung der Natur, defizient. Folglich stieg die Anerkennung materialistischer Ansätze. So verweigerte La Mettrie in seiner Naturgeschichte der Seele von 1745 deren Immaterialität und vertrat den Standpunkt einer forcierten Körperlichkeit. Um die Jahrhundertwende modifizierte Blumenbach die linnésche Primatenordnung, indem er (wie danach auch Cuvier) den zweihändigen und aufrecht laufenden Menschen vom vierhändigen Affen differenzierte, wobei der aufrechte Gang durchaus eine symbolische Bedeutung hatte. Für Buffon war der Affe, wenn man ihn mit dem Menschen verglich, überhaupt ein ‚tierischer Rollenspieler‘, er sei „in der Wahrheit nur ein bloßes Tier, das äußerlich die Maske der menschlichen Figur an sich trägt, dem aber innerlich der Gedanke, dem alles fehlt, was den Menschen macht.“154 Johann Gottlob Krüger, der 1756 eine heute eher unbekannte Experimental-Seelenlehre veröffentlichte, war keineswegs mit Buffons Aussage einverstanden. Er sei verwundert darüber, dass Buffon, der „um die Natur der Thiere zu beschreiben die Hertzhaftigkeit hat, die Thiere mit so großer Zuversicht der Vernunft berauben, und sie nach dem Beyspiele des Cartesius zu Marionetten machen könne.“155 In der Diskussion um den Affen war eine kontroverse Diskussion der anthropologischen Theatralität enthalten, die bei Klischniggs Affendarstellungen eine Rolle spielte. Der Affe auf der Bühne war dem Menschen von seiner äußeren Erscheinung durchaus ähnlich, wenn man ihn mit anderen Tieren verglich. Auch seine Verhaltensweisen entzückten, wenn sie mit den menschlichen, insbesondere den kindlichen vergleichbar waren. Die spannende Frage war, was hinter der Erscheinung stecken mochte: Intelligenz, Einbildungskraft, Seele oder Bewusstsein? Gar Empathie? Diese Frage wurde noch virulenter, wenn es um das Theater ging. Denn dann kamen die Verstellung, die Rolle, das Schauspielen dazu. Die Zuschauer wussten nicht, inwieweit sie sich innerhalb einer Theory of Mind mit der Gestalt auf der Bühne identifizieren konnten. Diese Unsicherheit reizte vor allem in den Verwechslungsszenen zwischen Affen und Menschen im Affenkostüm erst recht zum Lachen.
154 Herrn von Buffons Naturgeschichte der vierfüßigen Thiere, 17. Bd., Wien 1791, S. 218. 155 Johann Gottlob Krüger: Experimental-Seelenlehre, Halle 1756, S. 6.
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Wenn Lessing das Mitleid und damit die Identifikation mit der Figur auf der Bühne hervorhob, dann war, das zeigt sich ganz besonders bei Nestroy, im Umkehrschluss das Mitleid mit dem Mitmenschen in Gefahr, wenn dieser im Zuge des Prädarwinismus und späteren Darwinismus seine Sonderrolle verlor. Ein Mensch, der vom Affen abstammt, entfernt sich in der Vorstellungswelt soweit vom Zentrum des Kosmos, dass er – nicht nur im christlichen Sinne – seine Sonderrechte und damit seinen Schutz vor Übergriffen des Stärkeren zumindest zum Teil einbüßt. Als materielle Gestalt und als biologischer Zellhaufen scheint er weniger wert zu sein. Menschenrechte sind biologisch nicht legitimierbar. Das erleichtert unter Umständen, Mitmenschen nach konstruierten Klassifikationssystemen als Nichtmenschen einzustufen und rechtlos in Lager zu stecken bzw. zu eliminieren. Das Verlachen des Affen auf der nestroyschen Bühne und im Affentheater deutete in seiner Gewalthaltigkeit auf die Dehumanisierung des Menschen, in welcher Gestalt auch immer, hin. 1785 kam Soemmerring nach einem anatomischen Vergleich von afrikanischen und europäischen Leichen zu dem Schluss, dass Europäer zum Affen in einem größeren Abstand stünden. Camper entwickelte in dieser Zeit seine metrische Methode, um anhand von „Rassenphysiognomien“ die „primitive Prognathie“ zu ermitteln, welche die Einordnung des Afrikaners in eine Position zwischen dem Affen und dem Europäer ergab.156 Lavater wehrte sich, motiviert durch seinen christlichen Hintergrund, vehement gegen die zu weitgehende Einordnung des Menschen in das Reich der Tiere, obwohl Vergleiche zwischen den Skeletten von Menschen und Primaten dies nahelegten. Dabei hatten zu dieser Zeit Analogien dieser Art, die meist von Gestaltanalogien ausgingen, bereits eine längere Geschichte, 1699 hatte Edward Tyson in seiner Schrift Orang-Outan sive homo sylvestris or the Anatomy of a Pygmie compared with that of a Monkey and an Ape einen engeren Zusammenhang zwischen Affe und Mensch postuliert. Für Buffon war der Mensch auf jeden Fall außerhalb des Tierreichs zu positionieren, er betonte den „unendlichen Abstand, den die Güte des Schöpfers zwischen Mensch und Tier gesetzt“ habe. Mit Rousseau und James (Burnett) Monboddo wurde die Aufmerksamkeit für den ‚Wilden‘ im Grenzbereich von Affe und Mensch besonders virulent, wobei Monboddo den ‚Wilden‘ eher in der Nähe des Tiers, Rousseau eher in der Nähe des Menschen annahm. Natürlich hatte die ideale Gestalt des ‚guten Wilden‘ zu Nestroys Zeiten lang nicht mehr ihre einstmalige Bedeutung.157
156 Vgl. hierzu u.a. Peter J. Bowler: Evolution. The History of an Idea, London 2003, S. 50ff.; S.J. Gould: Der falsch vermessene Mensch, S. 35ff.; Wilhelm E. Mühlmann: Geschichte der Anthropologie, Wiesbaden 1986, S. 54ff. 157 Moravia stellt fest, dass mit „Degérando, Volney und Péron“ der „Mythos vom Guten Wilden für die aufgeschlossenste und fortgeschrittenste Kultur nun definitiv sein Ende“
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In Nestroys Posse zieht Mondkalb, so der Name des älteren Herren, unter tatkräftiger Mithilfe und nicht ohne der Situation entsprechende zweideutige Bemerkungen seines Dieners Hecht, gespielt von Nestroy, ein zufällig mitgebrachtes Affenkostüm an, danach trifft er auf seinen Konkurrenten, den jungen, aufgeklärten Wilhelm, dessen Namen an Wilhelm von Humboldt erinnern soll, und der, ausgebildet in der Stadt, der eigentliche Favorit der jungen Braut ist.158 Wilhelm wird wiederum von der einfältigen Landbevölkerung für einen Zauberer gehalten, weil er die Schlossgesellschaft mit ein paar einfachen Zauberkunststückchen verblüfft.159 Der vermeintliche Hexenmeister Wilhelm macht von seinem aufgeklärten Verstand Gebrauch und verurteilt den dummen Mondkalb im Namen des Naturrechts, er hätte „gefrevelt an dem Restchen Menschenwürde“, das ihm die Natur verliehen habe, hätte sich durch die Verkleidung als Affe „der höhern Mächte“ entzogen und wäre so „anheimgefallen des Abgrundes lauernder Gewalt“.160 Der Alte im Affenkostüm akzeptiert aus Angst die paradoxe Ver-Kleidung, „als Affe angezogen [zu] bleiben“,161 und befindet sich nun in der hybriden korporal-motorischen Zwangslage, in die ihn die Dramaturgie Nestroys manövriert hat: „Gibt es eine gräßlichere Situation? Affe und Bräutigam zugleich. Affe geworden, um die Braut zu erringen, und die Braut verlieren, um nicht Affe zu werden, das ist schrecklich!“162 Mondkalb wird in einer liminalen Zwischensituation inszeniert, welche – den Akt jeder theatralen Rollendarstellung reflektierend – für den Zuschauer die Gestaltdifferenzen zwischen dem Körper und der Bewegung eines Menschen und eines Affen weitgehend in Frage stellt und beide Gestalten in der Wahrnehmung übereinander projiziert. Als er auf die begehrte junge Frau trifft, imponiert er ihr zwar als Tier und sie freut sich sehr, nun „einen Affen, einen Orangutang“ zu besitzen, er kann jedoch
fand. In der „Spätaufklärung wurde nicht so sehr die Welt der Primitiven als vielmehr ihr nicht mehr glaubwürdiger, verbrauchter Mythos auf das richtige Maß zurückgeführt, wenn nicht gar zum Verschwinden gebracht.“ Sergio Moravia: Beobachtende Vernunft. Philosophie und Anthropologie der Aufklärung, Frankfurt/M. 1989, S. 188f. 158 Nestroys Spiel mit dem Übergang zum aufgeklärten Denken verweist zumindest indirekt auf den Einfluss der Vorstellung der französischen Aufklärer, sowohl Mensch als auch Tier seien analog einer Maschine konstituiert. Anthropologisch einen Unterschied zwischen Mensch und Affe zu ziehen fiel so schwerer. 159 Hier ironisierte Nestroy nicht nur das Zauberstück, das zu dieser Zeit seine Hochzeit im Vorstadttheater schon hinter sich hatte, sondern spielte auch mit den Abgrenzungsbemühungen der Aufklärer, die, wie in der Encyclopédie, die Theologie nicht rein zufällig in die Nähe der schwarzen Magie rückten. 160 J. Nestroy: Der Affe und der Bräutigam, S. 32. 161 Ebd., S. 97. 162 Ebd., S. 98.
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seine angezogene Virilität nicht auf menschliche Art beweisen, da er ja nicht sprechen darf.163 Kompliziert wird das Spiel mit den Zuordnungen in dem Moment, als Menageriedirektor Tigerzahn, der für das Publikum die Vergnügungen und Spektakel des Wiener Praters repräsentiert, die Bühne betritt und nach seinem richtigen, von Klischnigg gespielten Affen sucht, der ihm entlaufen ist. Auf einmal hat man es mit zwei ‚Affen‘ zu tun, und es gibt innerhalb des Kommunikationssystems des Theaters Figuren wie den Diener Hecht und den jungen Wilhelm, die wissen, dass Mondkalb in einem Affenkostüm steckt, während die anderen bis zum Ende des Stücks bei jeder Begegnung mit einer Affengestalt von einer tierischen Natur des Gegenübers ausgehen. Dennoch können auch die aufgeklärten Figuren im Stück die beiden Affen als Anderen nicht unterscheiden, so dass es perpetuierend zu komischen Verwechslungen kommt. Der Zuschauer, der aufgrund seines Handlungsüberblicks und vor allem wegen der unterschiedlich wahrgenommenen Bewegungen des Schauspielers, der Mondkalb spielt, und Klischniggs, der den Affen mimt, besser informiert ist, als die Figuren, hat ein doppeltes Vergnügen: Er kann sich zum einen über die Konfusionen freuen und er ist sich zum anderen wohl selbst, insbesondere am Anfang eines Affenauftritts, nicht immer sofort darüber im Klaren, ob sich nun Mondkalb oder der Affe über die Bühne bewegt; suchen wird er nach der ‚natürlicheren‘ Bewegung des Anderen, die den ‚richtigen‘ Affen und damit das Können des Mimikers ausweist. Dass sich die theatralisierte Naturgeschichte nicht allein auf die Tierwelt beziehen soll, zeigt der dramaturgische Kontext, welcher nicht nur die korporal-motorische, sondern auch die regionale und geographische Grenzüberschreitung thematisiert. Das Spiel mit fremden Ländern und exotischen Figuren war ein Grundelement im Wiener Vorstadttheater. Nestroy wird hier jedoch etwas genauer und parodiert Reiseberichte sowie wissenschaftliche Abhandlungen. Eine solche Verbindung zwischen Naturgeschichte und Reiseberichten ereignete sich auf der Folie der innovativen Richtung der Reiseberichte wie denen Forsters, von denen Alexander von Humboldt behauptete, dass durch sie „eine neue Ära wissenschaftlicher Reisen, deren Zweck vergleichen-
163 Ebd., S. 98; Schon Jean-Jacques Rousseau glaubte zu erkennen, dass der Orang-Utan, aus der Nähe betrachtet, vielleicht ein Mensch ist: „Nos voyageurs font sans façon des bêtes sous les noms de Pongos, de Mandrills, d’Orang-Outang, de ces mêmes êtres dont sous le nom de Satyres, de Faunes, de Sylvains, les Anciens faisaient des divinités. Peut-être après des recherches plus exactes trouvera-t-on que ce sont des hommes“ ; ders.: Discours sur l’origine et les fondements de l’inégalité parmi les hommes, Paris 1992, S. 192f. 1841 ist ein solcher Orang-Utang der Mörder in Poes Erzählung Doppelmord in der Rue Morgue. Dessen letzte Kurzgeschichte beinhaltet wiederum als Orang-Utans verkleidete Herrscher, die der Narr verbrennen lässt. Dieses Motiv könnte Poe von Nestroy übernommen haben, immerhin kannte Poe den Wiener Prater.
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de Völker- und Länderkunde ist“, begann.164 Die Figur Hecht philosophiert über die Begegnung mit der ‚fremden‘ ‚Natur‘, wobei eine zeitgemäße Rassendifferenzierung des Anderen zur Sprache kommt, die jedoch noch nicht genetisch, sondern durch Umweltbedingungen begründet wird. Immerhin sei er nun „zwölf Meilen von meinem Geburtsort entfernt, es ist eine ungeheure Distanz, mich wundert’s nur, dass ich das fremde Klima so gut vertrag“. Hier müssten die Sonnenstrahlen „viel kürzer sein als in unserem Erdgürtel. Bei uns is um dreiviertel auf acht Uhr erst die Dämmerung gewesen, und hier hat es schon zehn Minuten nach halber angfangt dunkel zu werden“. Auch die Vegetation wäre fremd, „ich hab hier unzeitige Agras gsehn, bei uns hab ich schon von die halbzeitigen’s Zwicken kriegt“, ob „in der menschlichen ‚Race’, namentlich in der weiblichen Gattung, auch so ein Unterschied ist? Bin neugierig, ob sie hier auch solche Madeln haben, wie bei uns.“ Konsequent und wie vom Publikum erwartet zieht die komische Figur das ernsthafte Thema in den Bereich der Erotik und der Sexualität. Hecht erforscht die verschiedenen weiblichen Gattungen in Abhängigkeit von der Region: „Beide sind Stubenmadln, und der Unterschied! O Natur! Wie manigfaltig bist du in deinen Werken. … Herrscht in dieser Gegend auch Liebe?“ Offensichtlich sei es wahr, was er „in Büchern g´lesen“ habe, die Begegnung mit dem fremden Anderen wird zur Parodie überseeischer Expeditionen: „Sag Sie mir, gehört Sie zu den Eingebornen?… Ich bin von hier aber Gott sei Dank in der Stadt erzogen… Erlauben Sie mir, Eingeborne…Sonderbar! Ihre Haut ist viel zarter als die Haut in unserer Gegend.“ Der protestierenden Frage des wissenschaftlichen ‚Objekts‘ beim Zugriff entgegnet der ‚Forscher‘: „Das sind naturhistorische Bemerkungen, wie sie jeder Reisende hin und wieder macht.“ Nachdem er seine „Erkundigungen eingezogen“ hat „über die Beschaffenheit der hiesigen Bewohner“165, kommt Hecht zu dem folgenschweren Entschluss, eine Einheimische zu heiraten, wobei er indianische mit orientalischen Theatertopoi überlagert: „Mein Herr heirathet die Tochter des hiesigen Häuptlings, darum will ich eine der hiesigen Sklavinnen glücklich machen.“166 Nestroys Integration der Naturgeschichte spiegelt die philosophischanthropologische Frage nach den Abgrenzungskriterien, die dem Menschen gegenüber dem Tier eignet. Buffons Abgrenzung durch die menschliche Vernunft – verstärkt bei Herder durch die menschliche Sprache – wird zum wiederholten Differenzkriterium. Verwundert ist man, weil man feststellen muss: „Ein Affe, der spricht?“167 Diese Verwunderung hätten Wilhelm v. Humboldt und Herder geteilt.
164 Alexander von Humboldt: Kosmos, Bd. 1, Stuttgart u. Tübingen 1847, S. 65ff. und S. 70. 165 Ebd., S. 88. 166 Ebd., S. 107. 167 Ebd., S. 96.
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Humboldt hätte hinter der Maske des sprechenden Affen einen „Drang der Seele“ vermutet, der ihm als allein menschliches Vermögen sicher äußerst verdächtig vorgekommen wäre.168 Die zahlreichen Anspielungen auf die Naturgeschichte und das Spiel mit der klassifikatorischen Nähe von Menschen und menschenähnlichen Affen wurden, zumindest vom gebildeteren Publikum, durchaus verstanden. Das bestätigten die Rezensionen, in denen Klischnigg eine außerordentliche Gabe, das Tier genau nachzuahmen, zugesprochen wurde. Dies galt nicht nur für die Aufführung von Nestroys Affe und Bräutigam, sondern auch für alle weiteren Wiener Auftritte, wie etwa in der Zauberposse Affe und Frosch oder Hudriwudris Zauberfluch169: Den Affen habe Klischnigg studiert, er wäre „unter den A f f e n , was Herder unter den M e n s c h e n war, er hat den Affen a u f g e f a ß t in allen seinen Nuancen“. Hierzu hätte er dessen „Natur belauscht, ist in ihre tiefsten Geheimnisse gedrungen und gibt sie treu und ohne Aufschneiderey, wieder. Wahrlich, er hätte mit Salat vereint eine psychische Anthropo-Pithekologie herausgeben kön-
168 Wilhelm v. Humboldt schreibt in „Ueber die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues und ihren Einfluss auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts“, der Einleitung für sein 1836 bis 1839 veröffentlichtes, dreibändiges Werk Über die Kawi-Sprache auf der Insel Java: „Der Mensch nötigt den articulirten Laut, die Grundlage und das Wesen allen Sprechens, seinen körperlichen Werkzeugen durch den Drang seiner Seele ab, und das Thier würde das Nemliche zu thun vermögen, wenn es von dem gleichen Drange beseelt wäre.“ Ihm war die Sprache eine „äußerliche Erscheinung des Geistes der Völker“, in diesem Sinne wären Geist und Sprache miteinander identisch. Dabei stellte er sich die Abnötigung des „articulierten Lauts“ durch den Drang der Seele des Menschen als performativen Akt vor, sodass die Sprache als „Energeia“ und nicht als „Ergon“, also als Werk, zu verstehen sei. Im Sinne eines linguistic turn avant la lettre ging W. v. Humboldt davon aus, dass das Denken auf die Sprache genauso wirke, wie Sprache und Welt einen Zusammenhang bilden. Jeder Sprache sei eine „eigenthümliche Weltansicht“ eigen, die Schönheit der Sprache reflektiere den sich ausdrückenden Geist. Ders.: „Ueber die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues und ihren Einfluss auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts“, in: Ders., Werke. Bd. 7, hg. v. Albert Leitzmann, Berlin 1907, S. 45f. 169 Uraufführung war am 15.9.1836 im Theater an der Wien. Klischnigg spielte nicht nur den Affen, sondern auch den Frosch, den man auf Abbildungen sehen kann. Als Amphibie kam er keineswegs so gut an. Vermisst wurde die Glaubwürdigkeit der Naturnachahmung, das Tier sei einfach zu groß gewesen. Als unterste Form der Entwicklung findet man den Frosch nicht nur auf der carlschen Bühne, sondern auch bei Lavater, Rosenkranz oder Grandville.
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nen.“170 Naturgeschichte wird ganz selbstverständlich mit den von Herder vorgenommenen Differenzierungen der Völker zusammengedacht. Die sprachlich gegebenen Möglichkeiten, die nach Herder im Sinne der ‚distinctio rationis‘ die Formung und Eigendefinition des Menschen nicht nur möglich machen, sondern sogar erzwingen, weil dieser im Gegensatz zum Tier nicht in eine feste, determinierende Umwelt gefügt ist, haben zur Folge, dass der Mensch sich als geschichtliches Wesen betrachtet. Dies eröffnet eine moderne Rangfolge, die den Völkern, welche sich, durch niedrigste Triebe geprägt, zum Tier hinunterziehen lassen, einen hinteren Platz zuweist. Der erhabene Mensch wäre in Gefahr, zum Tier zu werden, wenn er seine niedrigen Triebe nicht im Griff habe. Mit dieser auch den Idealismus grundierenden Grenze spielt Nestroy durchgehend, auf sprachlicher, aber vor allem auf korporal-motorischer Ebene. Mentale, korporale und motorische Stereotypen des Affen und des Wilden wiesen zusammen mit der Atmosphäre des DunkelUnheimlichen und des Komischen eine Schnittmenge in der Vorstellungswelt des Autors Nestroy und der Zuschauer auf.171 Da das Publikum des Vorstadttheaters alle Schichten umfasste,172 traf die Wahrnehmung einer korporal-motorischen Kohärenz im dramaturgischen Kontext einer naturgeschichtlich begründeten Rassendifferenzierung nicht nur für den engen Kreis von Theaterliebhabern oder nur für ein sehr ungebildetes Publikum zu. Wenn der Text unter einer bekannten Lithographie „außerordentliche Stellungen des Herrn Klischnigg als Affe Mamock in der Posse Der Affe und der Bräutigam“ verspricht, dann wurden ebenso die außerordentlichen Stellungen des ‚Wilden‘ assoziiert, die auf dem Theater dieser Zeit allgemein als fremde durch performative Instabilität und ‚Animalisierung‘173 angezeigt wurden.
170 J.B. Sorger: „Notizen. Schauspiele“, in: Der Sammler vom 22.9.1836, S. 456. Pithekoiden sind menschenähnliche Affen. 171 Unmittelbarer wird der enge Bezug im melodramatischen Liederspiel Staberl als Robinson von Carl von Holtei angedeutet. In diesem ist die komische Figur Staberl Robinson und sein hier sprechender Diener Freitag, ein Affe, der zudem über patriotisches Gefühl verfügt: „Thiere auch fühlen Tugend, Thiere auch können sterben für Vaterland und Herrn ihrigen. Wagen Leben für Robinson.“ Carl von Holtei: Theater. In einem Bande, Breslau 1845, S. 125-131. 172 Jedenfalls ist dokumentiert, dass Angehörige des Herrscherhauses die Uraufführung von Der Affe und der Bräutigam am Theater an der Wien besuchten. Bis 1848 sind die Eintrittspreise der Vorstadttheater außerdem so gestiegen, dass sich die Unterschicht ‚ihr‘ Volkstheater kaum mehr leisten konnte. Man kann also davon ausgehen, dass in den 1830er-Jahren in den Vorstadttheatern ein gemischtes Publikum den Ton angab. 173 Vgl. hierzu: Hans-Peter Bayerdörfer: „Judenrollen und Bühnenjuden. Antisemitismus im Rahmen theaterwissenschaftlicher Fremdheitsforschung“, in: Werner Berg-
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In der Anthropomorphisierung des Affen auf der Bühne wurden die korporalen und motorischen Stereotypen demgemäß als wahrnehmbare Phänomene virulent,174 welche sich aus dem kulturellen und individuellen Gedächtnis speisten und im performativen Akt – im Sinne eines theatralen ex tempore – lustvoll erfahren wurden. Den originär bedeutungsarmen oder -losen außerordentlichen Bewegungen und Gestalten der Artisten wurden aus den popularen und wissenschaftlichen Medien fremde Identitäten zugewiesen, welche das Tier und den Wilden im gleichen Bedeutungsraum des Anderen erscheinen ließen. Dieses Andere war ausgerechnet das, was in Weimar im idealen Drama und in einer idealistischen Inszenierung ausgeschlossen oder zumindest beiseitegedrängt, wenn nicht verdrängt wurde. Vermittelt wurden dabei popularisierte Erkenntnisse der Naturgeschichte bezüglich eines sich entwickelnden Rassebegriffs, wobei, wie bereits erwähnt, Nestroy mit Kant oder Buffon noch von den Einflüssen der Umwelt, insbesondere des Klimas ausging.175 Carls lebendiges Theater fungierte als
mann/Mona Körte (Hg.), Antisemitismusforschung in den Wissenschaften, Berlin 2004, S. 27-49. 174 Auf diese phänomenologischen Gestaltanalogien in der Rezeption des Anderen als Tier rekurriert Maurice Merleau-Ponty: „Intelligenzprüfung an Menschenaffen wirkt auf den Leser wie eine naturalistische Anthropologie. Sie ist weniger empfindlich für den Kontrast zwischen der Gestaltung beim Menschen und beim Tier als für die Tatsache, dass es schon im Verhalten des Tieres genau wie beim Menschen eine Gestaltung gibt, und diese ganz formale Analogie tritt stärker hervor als die offenkundigsten deskriptiven Unterschiede.“ Ihm gehe es darum, dass die Psychologie, wenn sie „wirklich wissenschaftlich werden will, weder unsere menschliche Erfahrung des Tieres zur Gänze als anthropomorph zurückweisen noch allein den Fragen ausliefern darf, die das physikalische Experiment dem Atom oder der Säure stellt, dass es vielmehr andere wahre Relationen als die meßbaren gibt und dass schließlich unser Begriff des Objektiven völlig neu definiert werden muss“; ders.: „Das Metaphysische im Menschen“, in: Ders., Das Auge und der Geist, Hamburg 2003, S. 47-69, hier S. 48f. 175 Präevolutionäre Überlegungen können bei Nestroy und in den Rezensionen zu Klischniggs Mimik nicht verzeichnet werden. Deshalb wären heutige Interpretationsversuche, die der Versuchung erlägen, einen darwinistischen Hintergrund in Anschlag zu bringen, zumindest in der unmittelbaren Deutung verfehlt. Jean-Baptiste de Lamarcks Studium der Fossilien, das mittelbar eine völlig neue Sicht auf das Verhältnis von Mensch und Affe einleiten wird, fand zwar zu Beginn des 19. Jahrhunderts statt, wurde aber von der zeitgenössischen Geisteswelt kaum rezipiert. Die ergebnisträchtige Korrelation von geologischen Bodenschichten und Fossilien wurde erst zur Jahrhundertmitte virulent, zu Lamarcks Zeiten war der einflussreiche Georges de Cuvier noch der Meinung, dass es fossile Menschen nicht gäbe, da die entsprechende Vorgeschichte nicht vorhanden sei.
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theatraler Rahmen, welcher allen Bühnenmitteln vorgab, einen möglichst hohen Grad an Nachahmung der Natur des Anderen zu erreichen. So bezeugten ‚Affen‘ und ‚Wilde‘ ihre popularmediale Attraktionsfähigkeit durch ihre artistischen Gliederverrenkungen, denen auf der Bühne sogleich die Forderung nach ‚Natürlichkeit‘ anhing. Da sowohl Schauspieltheorien als auch physiognomische Methoden wie die populäre Phrenologie vermehrt die Oberfläche mit dem Charakter des Anderen in Verbindung brachten, erhöhte die Artistik des Fremden den Verdacht, dass Wilde und Menschenaffen charakterlich ähnliche Züge aufwiesen. Nestroy, dem nachgesagt wurde, dass er die „Sitten, Denkart, Vorurtheile, Tugenden und Untugenden, ja selbst Laster in derber Lebhaftigkeit, ganz so, wie sie sich dem unbefangenen Beobachter in den Weg stellen“,176 auf die Bühne brachte, wies das verdrängte und negativ bewertete Eigene dem Anderen und Fremden zu und umgekehrt. Sein Theater benutzte das stereotype korporal-motorische Fremde und Animalische als Mittel zur komischen Irritation der eigenen Identität und zur Kritik der herrschenden gesellschaftlichen Ordnung. Somit stellte er auf der Bühne die anthropologische Frage nach der Eigenart des Menschen als Anderen.177 In dem Spiel mit der Triebhaftigkeit und Unvernünftigkeit des Menschen als Tier nahm Nestroy anthropologisch eine Entwicklung vorweg, die sich erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts deutlich abzuzeichnen begann. Seine Performanz unterlief die klassische anthropologische Tradition, welche den Menschen innerhalb der Ordnung des Seins eine besondere Stellung zuwies, von der noch Linné ausging – Marx, Darwin, Nietzsche und Freud propagierten später Vorstellungswelten, die das biologisch-natürliche und das ökonomisch-materielle als primäre Grundlage des Menschen behaupteten. Indem er im Sprachwitz des Dialogs und im komischen Habitus das Rollenspiel und damit das künstliche Spiel der Formen markierte und zugleich den biologischen Trieb als ‚Phallus‘ deutlich machte, lieferte er eine frühe Interpretation moderner Subjektivität, wie sie später Nietzsche und Wittgenstein, der ein großer Bewunderer Nestroys war, philosophisch fassen sollten. Wenn Nestroy dabei, den ethnologischen Blick auf das Eigene gerichtet, mit dem imaginären, stereotypen Fremden arbeitete, rief er im Publikum entsprechende mentale Stereotypen des Anderen ab, vermittelte sie weiter und stabilisierte sie so performativ. Nestroys Theater war somit zwar während der Aufführung subversiv,
176 Dr. Notus: „Der Afterhumor der Zeit“, in: Moritz Gottlieb Saphir (Hg.), Der Humorist vom 18.4.1838, S. 335. 177 Das muss nicht direkt mit dem von Foucault erörterten Übergang der naturgeschichtlichen Kette des Seienden in Cuviers baumartigem Modell der Beziehungen zu tun haben. Peter J. Bowler behauptet gar gegen Foucault, dass Cuviers Sichtweise von den Naturforschern des 19. Jahrhunderts kaum akzeptiert wurde. Vgl. ders: Viewegs Geschichte der Umweltwissenschaften, Wiesbaden 1997, S. 169f.
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rekurrierte jedoch auf ungeahnte Triebenergien und Stereotypen des Anderen und Fremden, die jederzeit anders evoziert und benutzt werden konnten.
3. Topographien des Anderen
3.1 P HRENOLOGISCHE L OKALISATION
DES
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Das 19. Jahrhundert wagte zum einen den ordnungsstiftenden global-geografischen Über-Blick, zum anderen den anatomischen Blick von der Oberfläche in die Tiefe. Der oder das Andere öffneten sich medizinischer Diagnose, Behandlung und Prognose. Das Eigenartige an der Arbeit der Physiognomiker war, dass sie das traditionelle okkulte Denken in positive, wenn auch nicht positivistische Forschung zu erneuern vermochten. Sie stießen in das Unbekannte1 vor, begegneten aber immer mehr dem Unlösbaren – anders gesagt: Der Versuch, die Komplexität des Anderen in den Griff zu bekommen, erzeugte mit jedem erfolgreichen Schritt nur noch mehr Komplexität, potenziell bis in den unendlichen Regress. Zugleich blieb die anthropomorphe Projektion als Diskurs und in politischen wie gesellschaftlichen Handlungen ordnungsstiftend. Für Romantiker wäre Wissenschaft faustisch grundiert2, wobei sich die Erfolgsdramatiker Kotzebue und Nestroy nicht die Gelegenheit entgehen ließen, das bei einem solchen größenwahnsinnigen Unternehmen nicht ausbleibende Scheitern in komische Dramatik umzuformen – in eine andere, theatrale Art romantischer Ironie. Dabei gerieten Lavater und Galls dramatisch-theatrale Demonstrationen in die Nähe des Rufes der Scharlatanerie, Mirabeau erschien Lavater ähnlich Cagliostro als exzentrische Kombination aus Ignoranz und Wissen.3 Dieses Bild drückte sich in der Dramatik und in den Inszenierungen der Zeit aus, etwa in Karl Looses Lustspiel Die Schädellehre, oder die Geheimnißreiche Brieftasche. Über komische soziale Merkwürdigkeiten, Eitelkeiten und Neurosen hinaus waren Galls private Vorlesungen als Lecture Performances auf einer populär-theatralen Ebene erfolgreich, die für die Obrigkeit gefährlich erschien. Argumentiert wurde auf einer materialistischen Basis, auch wenn dies nicht explizit die Absicht Galls war. Friedrich Schlei-
1
J. Baltrusaitis: Imaginäre Realitäten, S. 47.
2
Ebd.
3
Ebd.
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ermacher diagnostizierte bei Gall gar eine Hinwendung über den Materialismus hin zum Fatalismus4. Anthropologisch grundiert war die Bemerkung Henrik Steffens, der 1805 in Halle Vorlesungen über Galls Thesen hielt. Dieser fände die „Organe unmittelbar mit der Handlung verbunden“. Doch seien sie eigentlich Produkte der Natur und als solche könnten „sie entweder überwältigt werden oder nicht. Können sie überwältigt werden, so können sie auch vernichtet werden; können sie nicht vernichtet werden, so hört der Mensch mit dem Verschwinden der Freiheit auf Mensch zu seyn.“ 5 Provoziert wurde die Frage nach Freiheit und Verantwortlichkeit des Anderen. Die momentan wieder – etwa aufgrund der vielzitierten Experimente von Benjamin Libet – aktuelle Diskussion um Schuld und Zurechnungsfähigkeit vor dem Hintergrund der popularisierten Erkenntnisse der Hirnforschung ist anlässlich der Verbreitung der gallschen Lehre bereits vor 200 Jahren geführt worden.6 Vor allem in der Frage nach den Differenzkriterien zwischen Mensch und Tier erregte Gall Anstoß; die seit Leibniz verbreitete Ansicht, der Mensch befände sich auch deshalb in der Kette der Lebewesen auf der obersten Stufe des Seins, da er ein spezifisches Selbstbewusstsein besäße, wurde durch Galls Thesen unterminiert: Der Mensch könne keineswegs willkürlich seine Handlungen bestimmen, seine Handlungen entbehrten höchstem Bewusstsein und maximaler Empfindungskraft. Gall vermied es jedoch, sein anthropologisches Argument zu übertreiben, denn im Vergleich zu den Handlungen von Tieren gestand er dem Menschen eine höhere Freiheit und Bewusstheit zu. Da er jedoch Charakter und Handlung auf Organe im Gehirn zurückführte, nahm er an, das dem Menschen eigentümliche Vermögen, welches ihn von den Tieren unterscheide, sei wiederum in spezifischen Organen des Gehirns festgelegt. So entkam er dem Materialismus und damit dem paradoxen Zirkel von Freiheit und Determination nicht.7 Organe der Seele waren für Gall „jene
4
Friedrich Schleiermacher: „Brief an J. Chr. Gass aus Halle vom 6. Sept. 1805“, in: Heinrich Meisner (Hg.), Schleiermacher als Mensch. Sein Werden und Wirken. Familien- und Freundesbriefe 1804-1834, Stuttgart/Gotha 1923, S, 43.
5
Henrik Steffens: „Kann und darf man bei der Beurtheilung der Verbrecher und der Zurechnung ihrer Thaten zur Strafe auf des Dr. Gall’s Gehirn- und Schädellehre Rücksicht nehmen?“, in: Der Europäische Aufseher vom 27.12.1805, Sp. 818ff.
6
Vgl. hierzu Christian Geyer (Hg.): Hirnforschung und Willensfreiheit. Zur Deutung der neuesten Experimente, Frankfurt/M. 2004.
7
Sigrid Oehler-Klein: Die Schädellehre Franz Joseph Galls in Literatur und Kritik des 19. Jahrhunderts. Zur Rezeptionsgeschichte einer medizinisch-biologisch begründeten Theorie der Physiognomik und Psychologie, Stuttgart 1990, S. 79.
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materielle Bedingung, wodurch eine Kraftäußerung möglich wird.“8 Wenn man „sich also bey einer Physiologie des Nervensystems und des Gehirnes nichts anderes“ vornähme, als „das Werkzeug des Geistes überhaupt und die besonderen Werkzeuge der besonderen Kräfte kennenzulernen, so liegt dieser Zweck unstreitig in der Reihe der möglichen Dinge.“9 Evoziert wurde die alte Diskussion über die Frage, ob die Seele unilokal bzw. als Organ anzunehmen oder ob sie Produkt der Lokalisierung einzelner seelischer Fakultäten sei. Insbesondere Soemmerring interessierte sich nach intensivem Kantstudium für dieses Problem.10 Gall verstand innovativ Kräfte der Seele als lokalisierbare Teilkräfte, welche im Bewusstsein und Denken ihren Überbau hätten, wobei das neue Paradigma Folgen für die Psychiatrie und Psychologie zeitigte. Doch traf der Vorwurf des Materialismus nicht hundertprozentig zu, denn „daraus, dass die Seele, um in einem Körper wirksam zu seyn, der Organe bedarf“, folge nicht, dass „sie derselben auch noch bedürfe, wenn sie“ vom Körper „getrennt, oder dass“ die Seele „selbst materiell“ sei.11 Für Gall hatten „nemlich denken und sich bewusst seyn“ kein „besonderes örtliches Organ, wie die übrigen, sondern schwebe[n] wie der Geist selber, gemeinschaftlich über alle, beherrsch[en] die Organe als materielle Werkzeuge, wodurch beide ihre Würkungen in der Sinneswelt versichtbaren.“12 Mit allen Vorbehalten könnte man zusammenfassen, dass sich Denken und Bewusstsein in der Sinneswelt doch in-Scene-setzten. Damit war zugleich ein hoher Anspruch Galls auf wissenschaftliche Objektivität verbunden, er machte es sich zur Aufgabe „keinem Vorurtheile Raum zu geben, keiner Hypothese zu folgen, mich nicht auf das Zeugniß andrer, sondern nur auf meine eigenen Beobachtungen zu verlassen“. Dies bedeutete auf quasi- oder vorpositivistischer Ebene eine für seine Wirkungszeit noch typische Unentschiedenheit zwischen Subjektivierung und Materialismus, die aufgrund des korrelationistischen Zirkels gravierende innere Widersprüche nach sich zog, da auf den Anderen nicht Verlass wäre. Diese Widersprüche beschäftigen gegenwärtig die Vertreter eines neuen oder spekulativen Realismus, gerade weil bis heute die Frage nach der Realität in Philosophie, Kunst und Wissenschaft weiterhin ungeklärt ist und wahrschein-
8
G.B.[Garlieb Merkel]: „Dr. Gall und der Geheime Rath Walter“, in: Der Freimüthige 3 (1805), S. 395.
9
Franz Joseph Gall/Johann Caspar Spurzheim: Anatomie und Physiologie des Nervensystems im allgemeinen und des Gehirnes insbesondere, Paris 1810. Bd. 1, Paris 1810, S. XVI.
10 Vgl. Samuel Thomas Soemmerring: Ueber das Organ der Seele. Nebst einem Schreiben von Immanuel Kant, Königsberg 1796. 11 G.M. [Garlieb Merkel]: „Aus Berlin, am 22. März“, in: Der Freimüthige 3 (1805), S. 244. 12 G.B. Gerlach: „Doktor Galls erste Vorlesung in Berlin, den 22. März 1805“, in: Allgemeine Zeitung vom 20.4.1805, S. 500.
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lich ewig unbeantwortet bleibt. Gall wollte „nichts als wahr von andern anzunehmen, sondern selbst“ prüfen und „vermittelst der Analogie und Induktion“ seine „allgemeinen Grundsätze“ formulieren. Man solle ihn als „Sohn der Natur“ verstehen, „verdorben durch keine Sekte, gefesselt an kein System, gebunden an keine Schule“, einen, der allein „mit unbefangenen Sinnen beobachtet“. Er wäre jemand, der „sich treu den Eindrüken, die sich im Bewusstsey abspiegeln, dahin gibt, um darüber zu reflektieren und aus den erhaltenen Reflektionen die Resultate zu folgern.“13 Ohne Zweifel tendierte dieses Vorgehen zum Zirkelschluss, Gall lief Gefahr, innerhalb des korrelationistischen Zirkels der Erkenntnis den Inszenierungen seines eigenen Bewusstseins auf den Leim zu gehen, was Kotzebue in seinem an Gall orientierten Theaterstück Die Organe des Gehirns prägnant und überzeugend darstellte. Insgesamt markierten Galls Thesen eine paradigmatische Wende. Michael Hagner bemerkt, dass bereits vor Darwins und Freuds Kränkungen eine Transformation epistemologisch vorangegangen war, bei der menschliche Qualitäten wie im Theater auf der Bühne in den Raum des Gehirns projiziert wurden. Der Übergang vom Seelenorgan zum Gehirn sei direkt verbunden mit der Lokalisation geistiger Funktionen in der Anatomie des Gehirns, welche einen der relevantesten Pfeiler der modernen und heutigen Hirnforschung bilde.14 Für die Seele ereignete sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein entscheidender Trend in Richtung materieller Anthropologie, der sich auch in den populären Theaterstücken der Zeit spiegelte. Von Descartes bis zum Ende der Aufklärung ein anerkanntes Konzept, änderte sich dieses entscheidend, nun war nicht mehr das Seelenorgan verantwortlich dafür, das Erleben und Verhalten des Subjekts zu organisieren. Medizinische oder physiologische Schriften offenbaren eine strukturelle „Aufwertung des ganzen Gehirns“ sowie eine „Neubestimmung des Verhältnisses von Seele und Körper.“15 In der Zeit zwischen Kotzebues und Nestroys Wirken fand der Übergang einer frühen Hirnforschung zur anthropologisch ausgerichteten Wissenschaft mittels der spezifischen Lokalisation geistiger und mentaler Eigenschaften des Anderen statt. Seit dieser Zeit war das Gehirn materiell und prinzipiell gesehen ein Organ wie alle anderen auch; ohne Zentrum sei aus dem Seelenorgan das moderne Gehirn entstanden.16 Diese Entwicklung fand ihren inhaltlichen Niederschlag in Kotzebues Stück Die Organe des Gehirns und indirekt ihre formale Entsprechung in der Auflösung der
13 Ebd., S. 492. 14 Michael Hagner: Homo cerebralis. Der Wandel vom Seelenorgan zum Gehirn, Berlin 1997, S. 10. 15 Ebd., S. 11f. 16 Ebd., S. 12.
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zentralen Beobachterinstanz in Carls Inszenierung von Nestroys Haus der Temperamente. Auch die Wahrnehmung als Verarbeitung der Sinneseindrücke hing nun von der Organisation des Gehirns bzw. von der Ausprägung der jeweiligen Grundkräfte ab.17 Das entzog der traditionellen Vorstellungswelt endgültig den Boden. Seit Christian Thomasius ging es im Denken der Aufklärung um das Problem, ob und in wie weit der Mensch innerhalb der durch kausale Gesetze determinierten Natur mit der traditionellen Vorstellung eines Geschöpfes der göttlichen Ordnung in Einklang zu bringen sei.18 Nun gerieten die alten Mentalitäten auf breiter Ebene ernsthaft unter Beschuss. Gall war neben Lavater einer der öffentlichkeitswirksamsten Pioniere einer konkreten Anthropologie, zu deren weiterer Popularisierung die Bühnenstücke Kotzebues, Nestroys oder Sessas beitrugen. Dabei hatten Gall, Lavater und Kotzebue unter vielfacher Kritik und Anfeindungen zu leiden, nicht unverständlich, wenn man die gravierenden Folgen von Galls Thesen bedenkt: Ohne ihn keine Kriminalanthropologie, keine Ordnungsfantasien Cesare Lombrosos19, keine bürgerlich-populäre Vorstellung, die Gestaltoberfläche sei ein direkter Ausdruck des Charakters, der mehr oder weniger positivistisch zu ermitteln bzw. letzten Endes messbar sei.20 Galls Überlegungen waren zwar nicht die alleinige Ursache aller negativen Begleiterscheinungen der konkreten Anthropologie, dennoch kann mit Börne Galls Schädellehre als „chemisches Reagens, das uns die Natur des wissenschaftlichen Zeitgeistes und seine Bestandteile kennen lehrte“, interpretiert werden.21 Letztlich begegnet einem hier der Andere in bestimmten und wirklichkeitseröffnenden Schädeltopographien, die wiederum auf das erweiterte Gebiet der Anatomie mit ihren Gestalten und die jeweilige Lage perspektivierenden To-
17 S. Oehler-Klein: Die Schädellehre Franz Joseph Galls in Literatur und Kritik des 19. Jahrhunderts, S. 80. 18 In diesem Kontext war auch relevant, inwieweit gewisse Eigenschaften beim Tier wie beim Menschen angeboren waren. Für Gall stellte sich die Frage, „auf was diese Angeborenheit gegründet sey? Ist es ein besonderes Princip, dessen Wesen seine Eigenschaften selbst sind, und welches zugleich mit der freyen Ausübung derselben begabt ist? Oder ist dieses Princip, ist die Ausübung seiner Kräfte gewissen körperlichen Bedingungen untergeordnet?“ F.J. Gall/K. Spurzheim: Anatomie und Physiologie des Nervensystems im allgemeinen und des Gehirnes insbesondere, S. XIIIf. 19 So S. Oehler-Klein: Die Schädellehre Franz Joseph Galls in Literatur und Kritik des 19. Jahrhunderts, S. 40. 20 Vgl. S.J. Gould: Der falsch vermessene Mensch. 21 Ludwig Börne: Sämtliche Schriften, hg. v. Inge und Peter Rippmann, Bd. 1, Aphorismen (1808-1810), Düsseldorf 1964, S. 147.
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pographien des medizinisch relevanten Inneren zu verweisen schienen, was einen schwer zu widerlegenden Essentialismus begründete. Im Dezember des Jahres 1801 erging ein Dekret Kaiser Franz II. an den Staatskanzler Graf Lazansky, Galls „Privatvorlesungen über die von ihm erfundene Theorie des menschlichen Hirnschädels“, insbesondere den häufigen „Besuch nicht nur von Männern, sondern auch von Weibern und jungen Mädchen“ betreffend: „Da über diese Kopflehre, von welcher mit Enthusiasmus gesprochen wird, vielleicht manche ihren eigenen [Kopf] verlieren dürften, diese Lehre auch auf Materialismus zu führen“ schien, also „gegen die ersten Grundsätze der Religion und der Moral“ argumentiere, sollten diese Veranstaltungen verboten werden.22 Der inkriminierte Gall musste nicht nur mit Redeverbot, das alsbald in Kraft trat, sondern zudem mit Schreib- und Druckverbot rechnen. Dies war eine erwartbare Reaktion auf die Privat-Vorträge Galls, die dieser zwischen 1796 und 1801 in Wien hielt. Wie man dem Dekret entnehmen kann, war nicht nur der Materialismus der gallschen Lehre, der das religiöse Fundament der politischen Ordnung zu unterminieren drohte23 und eine gefährliche Assoziation mit dem revolutionären Jakobinertum zeitigte, Stein des Anstoßes. Vielmehr kritisierte man die Öffentlichkeit der Vorträge bzw. der öffentliche Zugang zu einer privaten Darbietung, die man als wissenschaftliches Theater bezeichnen könnte. Ähnlichkeiten mit der Theaterzensur fallen auf, welcher gerade der Erfolgsautor Kotzebue oft zum Opfer gefallen war. Das Dekret des Kaisers kam reichlich spät, Galls Lehre war nach der vergleichsweisen langen Zeit, in der er seine Lehre in Wien verbreiten durfte, schon in aller Munde. Als aufmerksamkeitserregendes Thema der Zeit waren Galls wissenschaftliches Theater und seine kranioskopische Reise durch Europa der Stoff nicht weniger Theaterstücke, so etwa des 1805 erschienenen Lustspiels Doctor Gall auf der Reise von Wilhelm Freygang. Schon die zeitgenössische Kulturkritik stellte den populär-öffentlichen Teil der gallschen Vorträge zur Debatte. Er hätte „auf seiner Reise immer die Gewohnheit gehabt, Ungelehrte, Neugierige, Kaufleute, und Dilettanten mit seiner Organenlehre zu unterhalten, und den Gelehrten seine Hirn- und Schedellehre zu predigen“. Obwohl diese „wohl das Oberflächliche und Leere seiner Organenlehre einsahen“, war man doch der Ansicht, Gall hätte „etwas in der Hornlehre geleistet“, aber es sei doch Spekulation, denn „die Lehre von dem Gehirne hat ihre Schwierigkeiten; die innere Struktur des Gehirns lassen sich gar mann-
22 Zitiert nach S. Oehler-Klein: Die Schädellehre Franz Joseph Galls in Literatur und Kritik des 19. Jahrhunderts, S. 42. 23 Gall wagte es gar, am Schädel das Organ der Verehrung Gottes zu markieren und dies als anatomischen Gottesbeweis zu werten. Vgl. Erna Lesky (Hg.): Franz Joseph Gall. 17581828. Naturforscher und Anthropologe, Stuttgart 1979, S. 27.
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ichfaltig deuten“.24 Die Uneindeutigkeit einer populären Spekulation war jedoch gerade als geeignete wie anschlussfähige Basis der Moderne spannend, zumal es nicht ungewöhnlich war, dass gelehrte Vortragsreisende ihr Wissen der Öffentlichkeit vorstellten und hierfür Eintritt verlangten, immerhin mussten sie ihren Lebensunterhalt bestreiten.25 Breiter Erfolg provoziert Neid, aber auch berechtigte Kritik.26 Der Professor der Anatomie Johann Gottlieb Walter hielt die „Hirnschädellehre für eine der Religion und dem Staate gefährliche Fabel“, und zwar „wegen des Materialismus“, der „unverkenntlich darin enthalten sey.“ Kotzebues Freimüthiger schlug sich auf die Seite Galls, zumal Walters Vorstellungen ebenfalls eine korporale Wechselwirkung von Seele und Körper voraussetzten.27 Gall gewann durchaus einige Auseinandersetzungen in der öffentlichen Meinung auf seiner „apostolischen Reise zur Ausbreitung seiner Lehre“ 28, nutzte Rivalitäten zwischen Wien und Berlin: „In Berlin habe ich alles, was bedeutend ist zu Zuhörern.“ Sogar der Idealist Fichte „ehrt[e]“ ihn angeblich „höflich“,29 was man jedoch bezweifeln kann, wenn man Hegels höhnische Bemerkungen über Galls Lehre liest. Ein Lustspiel, das sich eng an der Figur, dem Leben und der Vortragsreise Galls orientierte, war das 1821 veröffentlichte Stück Schädellehre, oder die Geheimnißreiche Brieftasche von Karl Loose.30 Es verbindet den Vortrag des Wissenschaftlers
24 Jacob Fidelis Ackermann: Die Gall´sche Hirn, Schedel- und Organenlehre vom Gesichtspunkte der Erfahrung aus beurtheilt und widerlegt, Heidelberg 1806, S. 85f. 25 So etwa Gunter Mann: „Franz Joseph Galls kranioskopische Reise durch Europa (18051807). Fundierung und Rechtfertigung neuer Wissenschaft“, in: Nachrichtenblatt der deutschen Gesellschaft für Geschichte der Medizin, Naturwissenschaft und Technik e. V. 34/3 (1984), S. 86-114. 26 Vgl. zu Galls Reise und Aufenthalt in Berlin ebd. 27 G.M. [Garlieb Merkel]: Dr. Gall und der Hr. Geheime-Rath Walter, S. 409f. 28 [Friedrich Benjamin] Osiander: „Ueber Dr. Galls Vorlesungen in Göttingen“, in: Neues Hannöverisches Magazin vom 18.10.1805, Sp. 1352f. 29 „Brief F. J. Galls an Andreas Streicher vom 3. Mai 1805 aus Potsdam“, in: Archiv für Geschichte der Medizin 10 (1917), S. 10. 30 G. Mann: Franz Joseph Galls kranioskopische Reise durch Europa (1805-1807), S. 89: „August von Kotzebue hatte schon alles zu seiner Aufnahme gestimmt und ihn selbst in seinem Hause gastfreundlich aufgenommen.“ Vgl. Gerhard Otto Hölzke: Die medizinischen Lehren John Browns und Franz Joseph Galls in der dichterischen Darstellung August von Kotzebues, Diss. Med. Jena 1958; August von Kotzebue: „Die Organe des Gehirns“, in: Theater, 27. Band. Wien 1811; August von Kotzebue: „Sorgen ohne Noth und Noth ohne Sorgen. Ein Lustspiel in 5 Aufzügen von 1810“, in: Theater, 26. Bd. Wien und Leipzig 1841, S. 133-242; August von Kotzebue: „Der Vielwisser“, in: Ebd. 35. Bd.; Au-
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über die Bühne mit der Reise des unseriösen Schaustellers. Doktor Rehhaas – ein sprechender Name mit Bezug zur Tierphysiognomie – kehrt mit seinem Diener Jakob, einem Hanswurst31, in ein Gasthaus ein, obwohl er kein Geld mehr besitzt. Schon in den ersten Dialogen wird klar, dass er ein Scharlatan ist, der sich der Phrenologie bedient. Die Hauptfigur zielt auf Gall persönlich, immerhin wurde dieser aufgrund seiner verdächtigen Reisetätigkeit und seiner vermeintlichen Geldgier nicht nur einmal als Scharlatan bezeichnet und seine ständige Reisetätigkeit als Fluchtbewegung – daher der Name „Rehhaas“ – gewertet. So berichtet der Altphilologe Christian Gottlob Heyne, der Schwiegervater Georg Fosters, 1805 an Soemmerring, im nördlichen Deutschland wäre „die Losung Dr. Gall“. Er wünsche sich von Soemmerring ein fachmännisches Urteil: Dass Gall „als Charlatan umherzieht, Unwissenden predigt um Geld von ihnen zu ziehen, ist zu bedauern“. Eine „wissenschaftliche Reise, zu wissenschaftlichen Gelehrten“ hingegen würde „ihm Ehre und der Wissenschaft Vortheil gebracht haben.“ Aber so lang von Gall „nichts Gedrucktes vorhanden ist, glaubt man, sei kein sicheres Urtheil von seiner Lehre möglich“. Heyne fürchtete, es werde „viel Leidenschaftliches sich einmischen und ein Streit entstehen, in welchem die Gelehrten sich wieder einander prostituiren.“32 Bemerkenswert ist im Urteil Heynes das Misstrauen gegenüber einem rein Vortragenden, nicht Schreibenden. Anscheinend waren Bühnenpräsenz und -theatralität außerhalb der sich gerade einrichtenden wissenschaftlichen Institutionen geeignet, die Zuschauer eher zu täuschen, als es durch das Wort bzw. die Beschränkung auf einen gelehrten Zuhörerkreis möglich gewesen wäre. Diese von Gall evozierte Atmosphäre eines spannenden Konflikts, der über die Wissenschaft hinaus die allgemeine Öffentlichkeit interessierte, war der Hintergrund, vor dem Looses Lustspiel funktionierte. Zwei Monate später schrieb Heyne wieder an Soemmerring: „Gall hat hier gewonnen und verloren“. Zwar habe man den „freien scharfsinnigen Observator“ erkannt, vermisst habe man aber „ganz den Wahrheitssinn, Liebe für wahren Ruhm und für die Wissenschaft selbst; dagegen äußert er unverschämter Weise die schändlichste Habsucht und niedrigste Gewinnsucht und entehrt seine Wissenschaft.“33 Dies rekurrierte auf die einstmals einträgliche fruchtbare Zusammenarbeit von Theater und Medizin, im Lustspiel berichtet
gust von Kotzebue: „Der Besuch“, in: Ebd., 13. Bd.; Karl Loose: „Die Schädellehre, oder die Geheimnißreiche Brieftasche. Lustspiel in 2 Akten“, Landshut 1821. 31 K. Loose: Die Schädellehre, S. 10. 32 „Brief Christian Gottlob Heynes an Soemmerring, Göttingen 1. Aug. 1805“, in: Rudolph Wagner, Samuel Thomas von Soemmerrings Leben und Verkehr mit seinen Zeitgenossen, (Soemmerring-Forschungen II, hg. v. Gunter Mann u.a.) Stuttgart, S. 95f., hier S. 96. 33 Ebd., S. 98.
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der Diener Jakob als „ehrliche Hanswurst“34 von den guten alten Zeiten, die er mit dem „Doktor Rebhaas, ehemaliger Marktschreier“ erlebt hätte. Ganz ohne Marktschreierei war auch das Geschäft eines Professors nicht möglich, der in Looses Lustspiel zum Opfer des Betrugs wird. So war etwa Lichtenbergs 1778 gehaltene Hauptvorlesung zur Experimentalphysik aufgrund ihres Unterhaltungswertes weit bekannt. Nicht nur Göttinger Studenten, sondern auch Goethe, die Humboldts oder Schlegels kamen, immerhin konnte Lichtenberg mit einem Repertoire von 600 Versuchen aufwarten. Zur Vorführung hatte er ein privates Auditorium zur Verfügung, zu Experimenten mit Blitzen und Sprengungen bat er ins Freie. Obwohl Lichtenberg mit seinen physikalischen Spektakeln durchaus Erfolg hatte und finanziell gut über die Runden kam – immerhin hatte er oft über einhundert Hörer –, war er ständig besorgt, sein Publikum könnte ausbleiben.35 Das Lustspiel Looses bezog sich daher in erster Linie auf Galls Tätigkeit, meinte aber auch den seriösen Wissenschaftler, dessen Vortragstätigkeit nicht ohne Rollenspiel auskam und noch nicht ganz der einstmaligen Verbindung von Theatralität, Zauberei, Magie und Naturkunde entwachsen war. Dass das Opfer des Scharlatans ein Professor und seine Familie werden, welche „alle in ziemlich altmodischem Putz“36 auftreten, offenbart zudem die stückimmanente Kritik am Habitus einer eitlen Wissenschaftskaste. Noch das letzte Drittel des 18. Jahrhunderts war von Wunderheilern, Magiern und Geistersehern bevölkert, sodass sich seriöse Wissenschaftler bemühten, in Universitäten, Akademien und gelehrten Gesellschaften Scharlatane auszugrenzen, welche dem Ruf der Wissenschaft schadeten. Johann Christian Polycarp Erxleben, Ordinarius in Göttingen, Verfasser der Anfangsgründe der Naturlehre, die später Lichtenberg weiterführte, diffamierte eine Physik, die die Theatralität, die Sinnlichkeit der Vorführung, zu sehr betonte, als „französische Methode“. Dementsprechend französisiert der Doktor im Lustspiel mit einem „äußerst affektirten Ton“ seinen Diener Jakob: „Jacquet! Bringe die Totenköpfe von Nro. 1 bis 24“.37 Von Lichtenberg selbst war bekannt, dass er 1777 in Göttingen den Auftritt des Scharlatans Philadelphia dadurch verhinderte, dass er im Schutz der Dunkelheit in der Stadt satirische Nachahmungen der Anschlagzettel verbreitete.38 Er unterschied
34 K. Loose: Die Schädellehre, S. 10. 35 Vgl. Hans-Joachim Heerde: Das Publikum der Physik. Lichtenbergs Hörer, Göttingen 2006. 36 K. Loose: Die Schädellehre, S. 17. 37 Ebd., S. 18. 38 Vgl. Karl Riha: „Von Zaubristen und Scharlatanen“, in: Fälschungen. Zeitschrift der Universität Siegen 2 (1994), S. 109-116. Vgl. auch Simon During: Modern Enchantments – The Cultural Power of Secular Magic, Cambridge/Mass. 2002; Richard van Dül-
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kategorisch den „Phisiker“ vom „Taschenspieler“: Sesshafte Physiker beobachten Naturerscheinen, ziehen Schlüsse, formulieren Thesen und suchen, diese zu beweisen, zudem eine Erklärung für die Erscheinungen zu finden. Herumziehende Taschenspieler eignen sich Fertigkeiten der Physiker an, nutzen diese aber zur Täuschung, von der sie ökonomisch leben. Das Argument der Sesshaftigkeit überlagerte sich mit dem der Überprüfbarkeit von Behauptungen bzw. Thesen. Die Aufdeckung von Unsinn und Übertreibungen benötigt oft Zeit für die Falsifizierung, dazu müsste der Wissenschaftler aber vor Ort und als Identität des Anderen greifbar sein. Auch in Looses Stück bemüht sich der ehemalige Marktschreier darum, seriös zu erscheinen und sesshaft zu werden, zumal in einer Zeit, in er sich personell und institutionell um 1800 einzelnen Fächer wie Medizin, Chemie und Physik als Subsysteme der Naturwissenschaft ausdifferenzierten, innerhalb der Universität gesellschaftliche Nützlichkeit anstrebten sowie die Ausbildung professionalisierten.39 Aus heutiger Sicht bremsend, wenn nicht gar katastrophal wirkte sich vor dem Hintergrund der Romantik die spekulative Methode aus. Vor allem Schellings romantische Naturphilosophie, die damit verbundene Vergeistigung der Gesetze der Natur, und ihr Einfluss auf die Medizin hielt einige davon ab, ihre Spekulationen an der empirischen Erfahrung zu überprüfen. Da Schelling in seiner Suche nach der Einheit des Naturlebens Mikro- mit Makrokosmos zu verbinden suchte, verirrte er sich ähnlich wie Lavater in der unendlichen Semiose aufgrund ungehinderter Interpretationsmöglichkeiten. Spekulativen Ansätzen fehlte wie gegenwärtigen Fake News die empirische Falsifikationsmöglichkeit, was schreckliche Folgen für Diagnose und Behandlung nach sich ziehen konnte. Zynisch und zeitdiagnostisch erscheint die Aussage im Stück, die „meisten Krankheiten der Menschen“ bestünden „in der Einbildung; wir befriedigten diese Einbildung und machten glückliche Kuren.“40 Zwar wären nun „die Polizeyen so intolerant“, keine „Marktschreier mehr zu
men/Sina Rauschenbach (Hg.): Macht des Wissens – Die Entstehung der modernen Wissensgesellschaft, Wien 2004. 39 Oliver Hochadel: Öffentliche Wissenschaft – Elektrizität in der deutschen Aufklärung, Berlin 2003. Auf der anderen Seite bemühten sich um die Jahrhundertwende auch einige Zauberer, als ‚seriöse Künstler‘ anerkannt zu werden, sich vom Aberglauben zu distanzieren und der Ächtung als fahrendes Volk zu entkommen. Hilfreich war, dass Zauberei Bildungsinstrument werden konnte: Goethe schenkte seinem Enkel 1803 einen Zauberkasten, damit er sich in der Täuschungskunst unterrichte, ein „Mittel zur Übung in freier Rede und zur Erlangung einiger körperlicher und geistiger Gewandtheit“. Zudem lud er zur Unterrichtung den Wiener Zauberer Ludwig Döbler ein. Vgl. hierzu Brigitte Felder/Ernst Strouhal (Hg.): Rare Künste. Zur Kultur- und Mediengeschichte der Zauberkunst, Wien 2007. 40 K. Loose: Die Schädellehre, S. 11.
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dulden“. Seitdem werde jedoch „die Charlatanerie ins Große getrieben. Man biethet seine Mittel nicht mehr auf offenen Markte, sondern in Zeitungsblättern aus, nennt sich dort Zahn- oder Augenarzt.“ Passenderweise wird der Scharlatan vom Dichter durchschaut, welcher dem Doktor einst „auf jedes Arzneyglas kleine Reimchen fabrizierte“.41 Mit diesem Wissen ausgestattet und mit der Drohung, er würde das betrügerische Unternehmen auffliegen lassen, erzwingt er seine versteckte Anwesenheit bei allen Konsultationen, er sei „doch begierig zu vernehmen, was aus den Schädeln der ganzen hochwerthen Gesellschaft hervorgehen wird.“42 Nach der gallschen Methode werden Köpfe abgetastet und Charakterprofile erstellt.43 Die Ergebnisse der Untersuchun-
41 Ebd., S. 14. 42 Ebd., S. 16. 43 Hierbei gelingt Loose eine sehr schöne Zusammenfassung der gallschen Lehre, die auf die Begriffswelt der Botanik zurückgreift, wobei die Gleichsetzung des Menschenmaßes mit dem Pflanzenwuchs bezeichnend ist: „Ueber die große, von dem weltberühmten Herrn Doktor Gall erfundene wichtige Schädellehre werde ich mich nun so deutlich erklären, als es die Begreifungskraft eines gemischten Auditoriums erfordert. Der Mensch gleicht einer Pflanze, nur mit dem Unterschied, dass er Wurzeln und Aeste in sich hat, was jene außer sich hat. Meine Herren und Damen! Stellen Sie sich einen veredelten Obstbaum vor mit mehreren Hauptästen; halten sie diesen Begriff fest, um sich die Sache so deutlich als möglich zu machen. Dieser Baum hat Wurzeln, die ihm die Nahrung zuführen; [...] beym Menschen der Magen. Der Baum hat einen Stamm; dies ist dem Menschen der Körper. Alle Fasern des Stammes laufen in Aeste hinaus, von denen das äußerste Ende die Blätter und Früchte sind. Alle Nerven des menschlichen Körpers laufen in kleinen Fasern im Gehirn zusammen. Was also am Stamm die Aeste, Blätter und Früchte sind, das ist im menschlichen Körper das Gehirn. Der einzige Unterschied ist dieser, dass die Wurzeln des Baums in der Erde, die Aeste in der Luft ausbreitet; die Wurzeln des Menschen aber im Magen, seine Aeste im Hirnschädel zusammengedrängt sind. – Gesetzt nun, der Baum hat 6 Hauptäste, in deren jeden eine andere edle Obstgattung eingepfropft ist; so wird jener Ast am meisten tragen, der am besten herangewachsen ist und sich am stärksten verbreitet hat, oder mit anderen Worten, der sich am vollkommensten ausgebildet hat. Solche verschiedenen Aeste existieren im menschlichen Gehirn und jeder trägt seine besondere Frucht. Man nennt diese Aeste Organe, und ihre Früchte sind die Neigungen und Leidenschaften des Menschen. Das am vollkommendsten ausgebildete Organ ist das Herrschende: wenn also zum Beyspiel das Organ des Zorns sehr ausgebildet ist; so ist der Mensch zum Zorn geneigt; ist er hingegen gar nicht ausgebildet, so ist der Mensch sanftmütig. – Stelle man den Gärtner an den Baum hin, überziehe die Aeste mit einem Tuch; so wird jene Stelle am Tuch die erhabenste seyn, unter welcher sich der am vollkommensten ausgebildete Ast befindet. Der Gärtner wird also als Kenner des
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gen werden kaum wahrheitsgetreu weiterkommuniziert. Der unter dem Untersuchungstisch versteckte Dichter und mit ihm das Publikum haben jedoch die wahren Untersuchungsergebnisse als Konferenz-Protokolle mitnotiert, die Komik des Stücks entsteht durch die Differenz zwischen dem vom Doktor zugeschriebenen Eigen-Bild und dem nach außen getragenen, extrem geschönten Fremd-Bild der Untersuchten. Plötzlich gibt sich der Dichter als geheimer Beobachter und Protokollant zu erkennen und beschämt alle Anwesenden, indem er die ‚wahren‘, oft negativen Charakterprofile öffentlich macht, was zur Folge hat, dass noch schnell die Partner gewechselt werden und sich vor der endgültigen Eheschließung die zusammenpassenden Paare finden können. Mit der Bemerkung „Ich werde meine Organe aufnotieren, um mich künftig danach benehmen zu können“44 erobert sich ausgerechnet der Dichter die zentrale Stellung des die Wahrheit aussprechenden Beobachters. Am Ende bleibt der Verdacht, dass hinter jeder Maske des Anderen nicht die Wahrheit, sondern wieder eine Maske sichtbar wird und so weiter und so fort – es droht der Abgrund des unendlichen Regresses. Das notwendige Vertrauen im gesellschaftlichen Bereich koagierte mit der Dramaturgie, welche einen befriedigenden Schluss verlangt. Der Dichter als ‚Aufklärer‘ und als alter ego des Autors fungierte hier als eingeschriebene bzw. eininszenierte Instanz außerhalb des Systems, die das System legitimiert. Loose gelingt es, mit seinem Lustspiel auf die Theatralität der Phrenologie hinzuweisen, der Materialismusverdacht erweist sich als Argwohn, hinter den harten Fakten der unveränderbaren Schädeltopographie versteckten sich die Rollenspiele der individuellen Selbsttäuschungen und gesellschaftlichen Kämpfe um Positionen, Ränge und Einfluss. Während sie sich materialistisch gab, wäre die gallsche Methode letztlich auf den Wahrnehmungskontext, auf die Einbildungskraft, mentale Stereotypen und individuelle Zuschreibungen angewiesen, die die Maske des Anderen generieren. Was unter der Maske ‚ist‘, erschließt sich nur indirekt in den durch das Begehren motivierten Wunschbildern und Handlungen. Obwohl Lavater als derjenige gelten kann, welcher mit seinen Veröffentlichungen erste Gehversuche in Richtung einer Kraniologie als Wissenschaft machte, gilt
Baums aus der am Tuchüberzug erscheinenden Erhöhung oder Vertiefung sagen können, welche Obstgattung der Baum am häufigsten und welche er am wenigsten trägt. – Auf diese Art wird auch nach der gallschen Schädellehre aus den Erhöhungen oder Vertiefungen des Hirnschädels erhoben, welche Anlage, Neigung oder Leidenschaft die stärkste und welche die schwächste ist. Doktor Gall ist der große Gärtner, der nach 20-jähriger Untersuchung erforscht hat, wo jeder Ast des Gehirns unter der Schädeldecke liegt und was er für Früchte trägt. – Ich glaube, mich nun über die Theorie der Lehre hinlänglich verdeutlicht zu haben“; ebd., S. 19ff. 44 Ebd., S. 30.
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Gall keineswegs als Nachfolger Lavaters, dessen spiritualistische Vorstellungswelt lehnte er als Anatom ab. Die Phrenologie sollte eine sachliche Wissenschaft sein, eine ernste Kunst, das Gemüt bzw. den Charakter oder die individuelle Begabung aus der Schädelform zu erkennen: Die Lokalisation der physischen Funktionen in verschiedenen Teilen des Großhirns hätte ihr direktes Korrelat im umhüllenden Schädel bzw. dessen Form. Das wissenschaftliche Objekt wäre der objektivierbare Schädel und die Sammlung derselben als Vergleichsmaßstab – ein vermeintlich wissenschaftlicherer Zugang als die Porträts Lavaters. Im Gegensatz zu Lavaters eher aktualhermeneutischer Arbeitsweise definierte Gall spezifische Eigenschaften als topographische Merkmale. Zwischen 27 und 37 von ihnen konnten laut Gall am Kopf als ‚Buckel‘ ertastet werden, welche jeweils einer Lokalität im Kopf entsprachen. Gall propagierte seine Phrenologie als Methode, den Charakter des Anderen, dessen Veranlagungen und Begabungen, welche im Moment noch verborgen sein mochten, auf Grund der Kopfoberfläche eruieren zu können. Insgesamt ging es dabei um eine Art Persönlichkeitspsychologie, deren Erfolg in den Salons nicht aufzuhalten war, in denen man sich zur Unterhaltung nach allen Regeln der Kunst gegenseitig die Köpfe abtastete. Ernsthaftere Folgen hatte Galls Methode bei Gutachten im pädagogischen und justiziaren Bereich, der wissenschaftliche Anspruch öffnete das Tor für Vorurteile und Diskriminierungen verschiedenster Provenienz. Mit ihr wurde die Anthropologie konkret, die moderne Gehirnforschung, welche nach spezifischen Lokalisierungen im Gehirn sucht, hat der Phrenologie viel zu verdanken. Dass heute Gehirnscans ähnlich wie um 1800 Galls Schädel interpretiert werden müssen, dem korrelationistischen Zirkel nicht zu entkommen ist, wäre die aktuelle Pointe des angeblich naturwissenschaftlicheren Verfahrens der Hirnforscher45 – freilich wird heute mehr Wert auf die empirische Falsifikation der Thesen und Interpretationen gelegt. Mit dem Abschied vom Spiritualismus begann die positive Wissenschaft auf der Basis einer möglichst wissenschaftlichen Lokalisation. Während mit der Betonung der korporalen oder facialen Erscheinung die wissenschaftliche Reliabilität zunahm, wuchsen aus anthropologischer Perspektive die Gefahren des Essentialismus und damit des Humanitätsverlusts. Bei Lavater verhinderte die theologische Basis noch eine diskriminierende Stereotypisierung, da er trotz aller Systematisierungsversuche von Individuen ausging, die alle in einem legitimen Verhältnis zu Gott standen. Mit Gall begann die Biologisierung des Anderen, die später angeblich objektiven, tatsächlich rassistischen Selektionen den Boden bereitete.
45 Vgl. Olaf Breidbach: Die Materialisierung des Ich, Frankfurt/M. 1993.
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3.2 S YSTEMATISCHE E SSENTIALISMEN 1805 erschien in dem von August von Kotzebue herausgegebenen Freimüthigen, der Berlinischen Zeitung für gebildete, unbefangene Leser eine Nachricht über Galls Auftritte in Berlin und deren Resultate sowie Wirkungen auf das interessierte Publikum, wobei die Theatralität seiner Erscheinung auffiel. Man bewertete die Gesellschaftssensation als mediales und öffentliches Spektakel, als Theater, in dem sich die gegenwärtigen Mentalitäten und Ideen darstellten. Der dramatische Konflikt um Gall gewähre ein „ganz eigenes Schauspiel und Stoff zu mancherlei Beobachtungen über den Stand unserer Kultur und Literatur“. Da gab es etwa diejenigen, die sich „alle ersinnliche Mühe geben, um zu beweisen, dass Gall`s Lehre in allen ihren Theilen schon bei Albinus oder Bonnet, oder in Herders Ideen zur Geschichte der Menschheit oder in Huart´s Examen de ingemor pora las sciencias präformiert daliegen“. Andere zögen „mit leichterm oder schwererm Geschütz, im Schimpf und Ernst“ oder „förmlichen Vorlesungen, wie Steffens in Halle, Platner und Carus in Leipzig, in offener Schlacht oder als Wegelagerer“ gegen Gall zu Felde.46 Seine Vorträge wurden nicht nur im übertragenen Sinn als theatrale Sensationen wahrgenommen, wie man einer anderen Notiz des Freimüthigen entnehmen kann: „Auf dem Operntheater glänzt nach Neumanns Medea, Reichardts entzückende Rosamunde, fast an jedem Zwischentage ist ein Concert, alles aber übertreffen die Vorlesungen des Doktor Gall an Interesse.“47 Die Lecture Performances Galls lockten per se ihr lokales Publikum, das die Vorlesungen als willkommene Abwechslung ihres gesellschaftlichen Unterhaltungsprogramms goutierte. Informierte zogen ein zusätzliches Vergnügen aus der journalistischen Gesamtschau auf die Auseinandersetzungen zwischen den Gelehrten und ihren verschiedenen Positionen, zwischen strengen Apologeten, Unparteiischen und strikten Gegnern der gallschen Lehre. Die an verschiedenen Orten stattfindenden Vorlesungen konkurrierender Vortragender zum Thema ergaben einen anregenden Disput. Der Markt der Journale und Bücher transponierte den für die Beteiligten sowohl ökonomisch lukrativen als auch die eigene Reputation fördernden Streit auf die mediale Ebene: Das allgemeine Bücherverzeichnis der Michaelismesse sei „reich an Schriften oder Schriftlein gegen Gall, wobei es dem Widerbeller natürlich nicht um den Dieb, sondern um das Stück Brot zu thun“ wäre, das ihm der Buchhändler vorwerfe. Da gäbe es einen Antigall oder kranioscopische Fragmente für Leser und Nichtleser der Schädellehre, auch Anthropologische Bemerkungen mit Beziehung
46 [Anonymus] „Doktor Gall“, in: Der Freimüthige 3 (1805), S. 272. Vgl. G. Mann: Franz Joseph Galls kranioskopische Reise durch Europa (1805-1807), S. 86ff.; S. Oehler-Klein: Die Schädellehre Franz Joseph Galls in Literatur und Kritik des 19. Jahrhunderts, S. 62ff. 47 G. M. [Garlieb Merkel]: „Berlin, am 28sten März“, in: Der Freimüthige 3 (1805), S. 251.
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auf die Gall`schen Entdeckungen und eine Unparteiische Beleuchtung der Gall´schen Schädel- und Gehirnlehre. Mit „illuminierten Kupfern geschmückt“ trete aus „Halle ein Werklein entgegen: Reise eines Schädellehrers. Eine launigte Geschichte“, die Sache sei „allerdings weit ernster, als die Spaßmacher glauben oder auch nur ahnden“ könnten. 48 Der Freimüthige schlug sich eher auf die Seite Galls, was mit der bemerkenswerten Tatsache korrespondierte, dass Kotzebue alles zu Galls „Aufnahme gestimmt und ihn selbst in seinem Hause gastfreundlich aufgenommen“ hat.49 Kotzebue stand zu dieser Zeit auf dem Gipfel seines Ruhms, erst 1806, als die öffentliche Aufmerksamkeit sich weniger dem literarischen und kulturellen Leben, sondern mehr der Politik zuwandte, verblasste seine Prominenz. Insofern ist Kotzebues Lustspiel in drei Aufzügen, Die Organe des Gehirns, aus dem Jahr 1806,50 also ein Jahr nach Galls als Sensation und als Skandal empfundenen Auftritten in Berlin, ein Dokument der mentalitätsgeschichtlich wichtigen zeitgenössischen Auseinandersetzungen um die gallsche Phrenologie.51 Im professionellen Theater des in der Breite wirkungsmächtigsten, da meist gespieltesten Erfolgsdramatikers Kotzebue fanden die theatralen Auftritte Galls und die öffentlichkeitswirksame Diskussion seiner Thesen in Vorlesungen, Journalen und Büchern ihren Widerhall. Kotzebue nahm, mutmaßlich um den geplanten Erfolg des Stückes nicht zu gefährden, eine weitgehend überparteiliche Position ein. Trotzdem richtete sich die aggressive Komik des Stücks gegen die gallsche Lehre: Einer Komödie fiel es einfacher, umstrittene Thesen wie die von Gall zum Objekt allgemeiner Belustigung zu machen, als Argumente für und gegen Gall verständlich zu präsentieren. Um was es in diesem Stück geht, wurde dem Publikum durch den Titel Die Organe des Gehirns angezeigt, es wusste von vorneherein ungefähr, was auf der Bühne zu sehen sein würde. Die öffentliche Diskussion fand ihre direkte Fortsetzung im populären Theater. Hierfür musste Kotzebue die Positionen Galls nicht nur vereinfachen, sondern auf Charakter und Aussehen der Personen des Stücks applizieren.52
48 [Anonymus] „Doktor Gall“, S. 272. Vgl. G. Mann: Franz Joseph Galls kranioskopische Reise durch Europa (1805-1807), S. 86ff. 49 Ebd., S. 89. 50 August von Kotzebue: „Die Organe des Gehirns. Ein Lustspiel in drei Aufzügen“, in: Ders., Theater. 36. Bd., Wien/Leipzig 1841, S. 53-130. 51 Vgl. Gerhard Otto Hölzke: Die medizinischen Lehren John Browns und Franz Joseph Galls in der dichterischen Darstellung August von Kotzebues, Jena 1958. 52 Galls an der reinen ‚Natur‘ orientierter Ansatz entsprach dem Kotzebues, wie sich fast in jedem seiner Stücke zeigt, in denen die Vielwisser und Möchtegernphilosophen den Wald vor lauter Bäume nicht mehr sehen: „Es wäre dieses kein so schweres Unternehmen gewesen, wenn ich immer ganz unbefangen, mir und der Natur allein überlassen geblieben wäre. Leider ist es aber nur gar zu oft der Fall, dass man desto weiter von der schlichten
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Schon der Besetzungszettel ließ keine Unklarheiten aufkommen, Kotzebue bediente sich physiognomischer Namen. Als Hauptperson wird „Herr von Rückenmark“ genannt, sein Name gibt neben seiner gesellschaftlichen Position einen Hinweis auf dessen Leidenschaft und Menschenbild. Jede Person, die Rückenmark trifft, wird sofort anhand ihrer jeweiligen Schädelform taxiert und in eine Ordnung eingefügt, welche ihre empirische Evidenz durch die geliebte und gepflegte Schädelsammlung im eigenen Heim zugewiesen bekommt. Wichtigster Lebensinhalt Rückenmarks ist neben der zuweilen handgreiflich werdenden Vermessung aller ihm begegnender Anderen die Erweiterung der eigenen Sammlung. Diese wird zu einem ausgelagerten Gedächtnis, aus dem heraus sich für die Hauptfigur jede Begegnung mit dem Anderen figuriert. Freilich glaubt Rückenmark, sein Wissen auf essentialistischer Ebene vom Wahrnehmungsobjekt her zu erhalten, während er in Wirklichkeit seinen Imaginationen innerhalb des korrelationistischen Zirkels aufsitzt. Der Dialog ist weitgehend gestört durch quasi-wissenschaftliche Formen, welche die Verkennung des Anderen verstärken. Die Schädelsammlung soll bereits zu einer die ganze Welt abbildenden Größe angewachsen sein und ethnologische Abgrenzungen mit vermeintlich dominierenden Charaktereigenschaften verbinden, Kotzebue rekurrierte auf gängige Vorurteile: „RÜCK. Indessen wirst du erstaunen über die ansehnliche Vermehrung meiner Sammlung. Diebsköpfe von Otaheiti, Menschenfresser aus Neuseeland, wegen des Mordsinns; bömische Musikanten-Köpfe wegen des Tonsinns; Quäker, wegen der Theosophie, Bergschotten, wegen des Höhensinns; Zigeuner, wegen des Ortsinns.“53 Mit der Vermehrung der Sammlung erweitert sich die Anzahl und Prägnanz der Vorurteile. Die Vergrößerung der empirischen Basis erhöht paradoxerweise die Irrtumswahrscheinlichkeit, das Unternehmen schlägt die jeder seriösen Wissenschaft entgegengesetzte Richtung ein. Dabei wird Rückenmark nicht nur sukzessive unfähiger zum dramatischen Dialog, sondern isoliert sich immer mehr von denjenigen Freunden und Angehörigen, die ihm eigentlich wohlgesonnen sind, während er genau denen vertraut, die ihn betrügen und ausnehmen. Das ergibt komische Konflikte, welche die Handlung vorantreiben, während zugleich das Missverstehen Figuren handlungsunfähig macht. Emsige Bemühungen um empirische Legitimierung der ‚wissenschaftlichen‘ Thesen bewirken genau das Gegenteil, was daran liegt, dass schon die Sammlung in ihren Einzelstücken nicht das repräsentiert,
Wahrheit wegrückt, je gelehrter man wird. Gerade so gieng es mir. Jemehr ich mit den bestehenden Kenntnissen vertraut, oder vielmehr, mit je mehr Vorurtheilen ich so zu sagen aufgefüttert wurde, desto mehr wurde meine in so manchen Dingen noch zu schwache Überzeugung von Zeit zu Zeit erschüttert“; F.J. Gall/K. Spurzheim: Anatomie und Physiologie des Nervensystems im allgemeinen und des Gehirnes insbesondere, S. IXf. 53 A.v. Kotzebue: Die Organe des Gehirns, S. 73f.
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was sie vorgibt. Damit droht der unendliche Regress in der Bodenlosigkeit der falschen Deutungen des Anderen: Wenn die empirische Basis nicht trägt, dann gibt es keinen Grund bzw. keinen Punkt außerhalb des Systems, der das System selbst legitimieren bzw. korrigieren könnte. Zur Pflege und Erweiterung seiner Schädelsammlung beteiligt sich Rückenmark an einem für einige Händler höchst lukrativen Schädelmarkt. Schnell wird für das Publikum klar, dass hier gewinnsüchtige Betrüger agieren, deren kriminelle Machenschaften für einen Sammelsüchtigen wie Rückenmark und dessen Familie den privaten Ruin bedeuten könnten. Gegenüber Vorwürfen seines Sohnes Eduard, er gefährde die Existenz seiner Familie, verteidigt sich Rückenmark mit der Aussicht auf die zu erwartende Wertsteigerung. Seine Spekulationen auf dem Schädelmarkt, die sich prinzipiell von denen auf heutigen Finanzmärkten kaum unterscheiden, würden der Familie später sicher einen beeindruckenden Zugewinn bringen: „Ich habe keine Kosten gescheut, habe auch rasend viel Geld ausgegeben. Wenn ich einmal sterbe, so erbt ihr keinen baren Heller, aber dagegen ein paar tausend Schädel, die eine Million unter Brüdern werth sind.“ Fatalerweise ist Rückenmark zwar klassisch gebildet, aber ökonomisch unerfahren: „Apropos, ich muss dem alten Bombeck heute zwei tausend Louisd´or auszahlen; ich borgte sie von ihm um zwanzig griechische Schädel damit zu bezahlen, die von einem Schlaukopfe dem Lord Hamilton waren gestohlen worden. ED. Hundert Louisd´or das Stück? Das müssen ja äußerst merkwürdige Schädel sein. RÜCK. Freilich, freilich. Der Lord hat sie bei dem engen Paß Themophylä ausgegraben. Es sind zwanzig von den tapfern Spartanern, die mit Leonidas für ihr Vaterland starben. An jedem ist das Organ des Muthes so groß als ein Straußenei.“54 Beglaubigt werden die Schädel, die ein anderer Schädelsammler an Rückenmark verkauft, neben dem Preis durch den kulturgeschichtlich relevanten Rekurs auf das antike Griechenland, für den der Einfluss Winckelmanns steht, wobei hier eine indirekte Kritik Kotzebues an Goethe nicht von der Hand zu weisen ist. Die Komik der Handlung baut auf das, was Bergson eine komikfördernde unflexibel-lebensfeindliche Starrheit in der Begegnung mit dem sich ständig ändernden Leben nennt, auf Rückenmarks vorbehaltloses Vertrauen in die gallsche Lehre, das ihn dazu veranlasst, alle ihm begegnenden Personen anhand der ihnen eigenen Schädelformen zu beurteilen und widersprechende Berichte und Handlungen in einer höchst selektiven Wahrnehmung völlig auszublenden. Vordergründig legt Kotzebue eine traditionelle Lustspielhandlung vor: Es geht um mögliche Heiratskandidaten der Kinder Eduard und Emilie und erwartungsgemäß um den klassischen Konflikt des Vaters mit seinen Kindern, welcher Partner der richtige sei. Kompliziert wird die Partnersuche und -durchsetzung noch durch das väterliche Wunsch-
54 Ebd., S. 73f.
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bild einer Schwiegertochter bzw. eines Schwiegersohns, das durch das „Sistem“ der gallschen Lehre bestätigt werden muss. Vollends unmöglich scheint eine Einigung zwischen den Generationen zu sein, weil sich Rückenmark partout in den Kopf gesetzt hat, seine Kinder dürften nur jemanden heiraten, der einen besonderen „Tonsinn“ besäße, den man als entsprechende Erhebung am Schädel deutlich sehen bzw. fühlen könnte. Im Kontext einer Geschichte der Sinne zeigt dies den Irrweg der Hauptfigur an, denn die moderne Zeit und der zunehmende Subjektivismus verlangten vor allem den Sehsinn, der zudem auch der wichtigste Sinn in Rückenmarks Systemstabilisierung ist. Als erstes scheitert die Tochter Emilie mit ihrem Kandidaten Ferdinand von Bombeck an des Vaters Sturheit, es kommt zu einem Disput über die Qualitäten des jungen Mannes: „EMIL. Mein Ferdinand ist allerdings ein wenig schwärmerisch. RÜCK. Das ist´s ja eben, was ich sage. EMIL. Aber seine Gottheit ist nur die Liebe. RÜCK. Laß dir nichts weiß machen. Die Liebe sitzt nicht hier oben in dem Wirbel des Kopfes, die sitzt hinten im Nacken. EMIL. Ich meine im Herzen? RÜCK. Im Nacken sage ich dir. Und dein Herr von Bombeck ist ein Theosoph, der über kurz oder lang eine neue Religionssekte stiften wird. EMIL. Bis jetzt scheint er noch gar nicht daran zu denken. RÜCK. Es wird kommen.“55 Die Szene ist schon deshalb komisch, weil der Vater nur wegen seines „Sistems“ ein falsches Bild vom Anderen konstruiert und eine eigentlich gute Partie ablehnt: „BOMB. Bilder und Zerrbilder bei Seite, Herr von Rückenmark, was haben Sie gegen mich einzuwenden; ich bin ein wohlhabender Mann.“56 Mit der Figur des Ferdinand von Bombeck ist ein Lavatianer skizziert, ein Schwärmer und Theosoph, den ein strenger Gallianer wie Rückenmark nicht in seinem Hause dulden kann, zumal die Liebe des Schwiegersohns in spe nicht materiell nachweisbar wäre, weil dieser „zwar mit seinem Kopfe, aber nicht auf seinem Kopfe so recht richtig ist. Es ergibt sich nämlich bei demselben das Organ der Theosophie.“57 Hier verlagert sich das System der Theosophie, welche die lavatersche Methode grundierte, als materielle Ausprägung in das phrenologische Konkurrenzsystem. Ein „Organ der Theosophie“ ist ein Widerspruch in sich selbst, das zu Kotzebues Vergnügen die Thesen Lavaters und Galls gegeneinander ausspielt. Als Gallianer ist Rückenmark blind gegenüber der Schönheit des Lavatianers, die nach Lavaters System dessen guten Charakter beweisen würde: „RÜCK. Was geht mich seine Schönheit an? Mit der Physiognomie habe ich nichts zu schaffen, ich bin kein Lavaterianer, nur wo Gehirn liegt, da sind Organe. Also bis hinter die Augen, weiter nicht. ED. O, welche Augen, mein Vater! Jedem, der hineinsieht,
55 Ebd., S. 58f. 56 Ebd., S. 61. 57 Ebd., S. 118.
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thut der Himmel sich auf! RÜCK. Ei warum nicht gar! Was werden´s denn für Augen sein? Stehen sie etwa weit hervor wie beim Kalbe? Dann deutet es auf starkes Gedächtnis. Oder sind die äußern Augenwinkel heruntergezogen? Dann ist´s der Zahlensinn.“58 Empfindsamkeit und Gefühl des jungen Mannes – besonders relevant für ein Mädchen, dessen Vornamen Emilie auf Rousseau verweist – interessieren Rückenmark recht wenig, man müsse verstehen, dass „hier nicht von Herzen, sondern von Köpfen die Rede“ sei. Und das umso mehr, als der künftige Schwiegersohn „einen Schädel wie ein Affe“ habe, er aufgrund seiner schädeltopographischen Ähnlichkeit mit den vorurteilsbelasteten Bildern der untersten Kulturstufe „keinen Tonsinn“ besäße: „Ich will nun einmal keinen Schwiegersohn, dem der Sinn für diese herrliche Gottesgabe mangelt.“59 So stehen „Sistem“ gegen „Sistem“, Tochter gegen Vater, Rousseau gegen Gall, heute würden wir nachsetzen: Der Mensch als „unbeschriebenes Blatt“ (Steven Pinker) sowie Objekt von Zuschreibungen gegen einen naiven Materialismus der Naturwissenschaften.60 Das vom Vater abgelehnte System der Empfindsamkeit bzw. des Gefühls käme dem von Emilie verkörperten Erziehungsideal entgegen. Rousseau forderte in seinem 1762 erschienen Roman Emil oder Über die Erziehung die Vervollkommnung der Organe des Erkennens und einen Weg zur Vernunft durch eine richtige Übung der Sinne auf der Grundlage einer natürlichen Harmonie der Herzen.61 Den Vater treibt jedoch die Angst um, seine „eigenen Kinder“, die „solche Affenschädel“ hätten, könnten diese unglückliche Form in ihren Kindern nicht über die Verbindung zu einem Partner mit einer entgegengesetzten Form ausgleichen. Damit gelingt Kotzebue eine weitere anthropologische Pointe, indem er die rousseausche Harmonie der Herzen mit der auf der materialistischen Ebene feststellbaren Harmonie der Affenschädel parallelisiert. Die jungen Liebenden werden zugleich ‚gute Wilde‘, was wiederum am äffischen Profil eine auf Camper zurückweisende Objektivierung erfährt. Mit Blick auf die erst später erkannten mendelschen Vererbungsgesetze und Darwins Thesen erscheinen diese dramatisch-theatralen präevolutionären Erörterungen Kotzebues erstaunlich hellsichtig und zukunftsweisend.
58 Ebd., S. 75. Die Augen als prägnantester Teil des Gesichts, als die Orte des Antlitzes, an denen mutmaßlich der Andere als Fremder einen ansieht, deren Anblick die Rekluse des Eigenen aufbricht, sind auch im Schauspieldiskurs der Zeit die Aufmerksamkeitszentren, so etwa Johann Jakob Engel: „Am leichtesten, öftersten, unverkennbarsten spricht die Seele durch diejenigen Glieder, deren Muskeln am beweglichsten sind; also am öftersten durch Mienen des Gesichts, und unter den Minen durchs Auge; am seltensten durch veränderte charakteristische Stellungen“; ders.: Ideen zu einer Mimik, S. 61 und 64. 59 A.v. Kotzebue: Die Organe des Gehirns, S. 58f. 60 Vgl. Steven Pinker: The Blank Slate. The Modern Denial of Human Nature, N.Y. 2003. 61 Jean-Jacques Rousseau: Emil oder Über die Erziehung, Stuttgart 1998.
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Da Rückenmarks System nach ständiger Bestätigung verlangt, muss eine bestimmte Erhebung im Schädel die entsprechende Charaktereigenschaft bzw. Begabung ausweisen, auch wenn sie bis jetzt noch nicht erkannt wurde. Der Vater hat dem Sohn ein Mädchen ausgesucht, das einen Kopf „wie eine Triangel“ hat, nur Menschen mit solchen Schädeln wären die „echten musikalischen Genies.“62 Die Auserwählte besitzt jedoch weder die ihrem Aussehen gemäßen Charaktereigenschaften, noch findet sie aufgrund ihres unvorteilhaften Aussehens den Gefallen des Bruders: „EMIL. Ha! Ha! Ha! Das bucklige Fräulein Sturzwald, die kennt wenigstens bis jetzt noch keine Note. RÜCK. Das hat nichts zu bedeuten. Nachtigallen singen auch nicht nach Noten. EMIL. Sie hat aber auch keinen Ton in der Kehle.“63 Für einen Adepten gallscher Lehre beweist das nur, dass die natürlichen Anlagen der Frau bisher noch nicht die passende Gelegenheit und Förderung gefunden hätten, um sich zu zeigen. Rückenmark geht von vererbten und nicht von anerzogenen Fähigkeiten aus, der Mensch wäre für ihn vom Tier her zu denken. Einige unveränderliche Eigenschaften werden in der essentialistischen Sicht Rückenmarks auch bei den Frauen nicht wegzudiskutieren sein: ihre Untreue, ihr Hang zum Putz und ihr Talent als Schauspielerinnen des Alltags. Der Buckel der Fräulein Sturzwald sei kein Problem, denn alle „Frauenzimmer haben Buckel, wenn auch gleich nicht immer auf dem Rücken, denn die sind noch die besten. Eure Eitelkeit, eure Falschheit, eure Koketterie, das sind die schlimmsten Auswüchse, an denen der arme Ehemann schwerer zu tragen hat, als ihr.“64 In dieser Bewertung der Frauen sind sich der Vater und der Geliebte der Tochter erstaunlich einig: „BOMB. O ich kenne die Weiber. Man gebe nur ihrer Einbildungskraft Spielraum. Immer müssen sie etwas zu putzen haben, entweder sich selbst mithilfe des Spiegels, oder ihren faden Liebhaber mithilfe der Fantasie.“65 Die Frau habe zu viel Einbildungskraft, ergo zu wenig Vernunft. Sie sei auf männliche Führung angewiesen, denn einen Mangel an Vernunft hätten die Frauen mit den Kindern und Wilden gemeinsam. Das zeige sich für den Vater nach gallscher Lehre schon im empirisch ermittelbaren geringeren Volumen des Gehirns: „EMIL. Lieber Ferdinand, kehre dich nicht an meinem Vater, der lästert gar zu gern unser armes Geschlecht; besonders seit er in die Schädellehre sich verliebt hat, sind ihm alle unsere Köpfe zu klein, zu schmal, er spricht, wir hätten wenig Gehirn. Wenn das wahr ist, so muss es wohl nicht auf die Quantität ankommen, denn unser Bisschen Gehirn, das wirst du gestehen, trägt doch oft den Sieg über eure strotzenden Gehirnhälften davon. Weg mit den Falten von der Stirn! Vertraue mir. Wenn auch alle Organe mir fehlen sollten,
62 A.v. Kotzebue: Die Organe des Gehirns, S. 58f. 63 Ebd. 64 Ebd. 65 Ebd.
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das Organ der Treue besitze ich gewiß. BOMB. Ach das ist gerade das seltenste bei euch. EMIL: Geräthst du auch auf meines Vaters Ketzereien?“66 In diesem Dialog nimmt Kotzebue das Problem des biologischen Determinismus vorweg. Denn das Volumen des Gehirns, ‚objektiv‘ ausgemessen, wird weiter ein ‚objektives‘ Kriterium bleiben, nicht nur um Frauen, sondern auch Menschen aus nichteuropäische Kulturen zu diskriminieren. Wie Stephen Jay Gould explizit nachweist, war die akribische, nichtsdestotrotz fehlerbehaftete Messung des Gehirnvolumens, v.a. in der Mitte des 19. Jahrhunderts an Afroamerikanern durchgeführt, ein vorurteilsbehaftetes, rassistisches Instrument, das lange die Diskriminierung von Minderheiten legitimierte.67 Kotzebue gelingt eine sehr frühe kritische Auseinandersetzung mit einem politisch folgenreichen wissenschaftlichen Irrweg, er spielt mit den Vorurteilen gegenüber Frauen, entlarvt jedoch gleichzeitig die Vorurteilsstruktur mittels eines traditionellen komischen Kunstgriffes, indem er die Liebste des Sohnes dem Vater als Mann verkleidet zuführt, was dieser prompt nicht erkennt, obwohl oder gerade weil er ein scharfsinniger Beobachter zu sein glaubt. Nachdem Caroline von Hellstern ihre vertrauenserweckende Position als ‚Mann‘ beim Vater benutzt, um ihre Nebenbuhlerin zu diffamieren – „Ich fürchte doch, ein solches Skelett kann Ihr Sohn durchaus nicht leiden“68 – entspinnt sich ein Dialog über die vermeintliche wissenschaftliche Tatsache, dass die „Gattung“ Frauen und die „Gattung“ Affen, was Charaktereigenschaften und Kopfform betrifft, durchaus zu vergleichen seien: „RÜCK. Was meinen Sie wohl? Wie ist ein weiblicher Schädel am sichersten von einem männlichen zu unterscheiden? Das will ich sie bald lehren. Die Affen haben ein ausgezeichnetes Organ und die Frauenzimmer dasselbe.“ Nun dürfe man „ja nur darüber nachsinnen, in welchen Stücken die Frauenzimmer den Affen am mehresten gleichen. Was meinen Sie? CAR. In der That, ich habe diese beiden Gattungen von Geschöpfen noch nie mit einander verglichen. RÜCK. Ich sehr oft. Man könnte sagen: der Affe sei boshaft, das Frauenzimmer auch, der Affe nasche gern und sei neugierig, das Frauenzimmer auch; der Affe sehe gern in den Spiegel, ahme alles nach, gebrauche die nützlichsten Dinge als Spielwerk, zerbreche sie gern, – lauter Eigenschaften, die auch dem weiblichen Geschlechte eigen sind.“ Das nicht sehr schmeichelhafte Bild, das Rückenmark als „Maler“ zeichnet, wird auf entsprechende Organe zurückzuführen versucht. Er hat jedoch das Problem, dass es „theils“ dafür „keine Organe“ gibt, „theils finden wir sie leider auch alle an Männern. Wir müssen also eine solche Eigenschaft suchen, die Weibern und Affen ganz ausschließlich zukommt.“ Die wäre die Kinderliebe: „RÜCK. Belieben Sie nur nachher die Affen in meiner Samm-
66 Ebd. 67 Vgl. hierzu insbesondere S.J. Gould: Der falsch vermessene Mensch. 68 A.v. Kotzebue: Die Organe des Gehirns, S. 91f.
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lung zu betrachten, so werden Sie hinten am Schädel eine weit herausgehende Wölbung gewahr, die findet sich nur an Frauenzimmern, und nur an diesen, folglich ist es die Kinderliebe.“ Daran könnte man die „Köpfe beiderlei Geschlechter auf den ersten Blick“ unterscheiden. Da Rückenmark glaubt, vor sich einen Mann zu haben, diagnostiziert er prompt kein Organ der Kinderliebe, sondern einen männlichen, „ziemlich starken Mordsinn.“69 Kotzebue steuert den Zuschauer zur Erkenntnis, dass phrenologische und physiognomische Thesen in der Regel mit einem wahrnehmungsprägenden Vorwissen arbeiten, sie letztlich also Tautologien innerhalb des korrelationistischen Zirkels sind. Auch Lavater fiel bekanntermaßen auf eine Physiognomie bzw. den Schattenriss eines Mörders herein, der ihm in täuschender und entlarvender Absicht als großer Geist vorgestellt wurde. Auffallend ist in Kotzebues Szene der Rückgriff auf ein theatrales Mittel, nämlich das Rollenspiel, um die falschen Thesen der Hauptfigur zu explizieren. Als Theater im Theater weist das phrenologisches Versteckspiel auf die unaufhebbare Ungewissheit, die mit der Deutung des Charakters des Anderen verbunden ist. Selbstverständlich weiß die Hauptfigur, dass die ‚Objektivität‘ ihres ‚Systems‘ gestört wäre, wenn die Menschen eine Rolle spielen und sich dabei verkleiden bzw. ihre Oberfläche in täuschender Absicht verändern würden: „EMIL. Lieber Vater, ich kenne ja den Herrn noch gar nicht. RÜCK. Du darfst ja nur seinen Schädel befühlen, so kennst du ihn durch und durch. Da siehst du was mein Sistem für Vortheile bringt. Wer in Zukunft bei der Wahl eines Gatten betrogen wird, der hat es allein sich selbst zuzuschreiben. Ich fürchte nur, dass nächstens einige Spitzbuben die Perücken wieder in die Mode bringen werden, um ihre schlechten Organe zu verstecken.“70 Dies ist nicht nur eine passende, das eigene Medium reflektierende Bemerkung einer Theaterfigur, sie könnte auch als Seitenhieb auf den Adel verstanden werden. Auf jeden Fall könnte eine Perücke, die z.B. in Nestroys Stück Der Talisman erfolgreich zum Einsatz kommt, oder eine Maske die Entdeckung eines Verbrechers und Hochstaplers erschweren: „RÜCK. Männer von meiner Betastungsgabe sind selten. Wollten Sie wohl gütigst erlauben? – Sie haben da auch so eine verdammt neumodische Frisur, welche die ganze Stirn bedeckt. Die Polizei sollte sie verbieten, es ist lauter Betrug damit.“71 Erstaunlich ist hier die Hellsichtigkeit Kotzebues, der nicht nur die spätere Entwicklung zur Anthropometrie, sondern auch deren Missbrauch und deren Scheitern voraussieht: Rückenmark hält sich für einen Forscher mit einem System, dessen Zeit noch nicht gekommen ist: „RÜCK. Wann werden doch die blinden Menschen ihren wahren Wohlthäter kennen und schätzen
69 Ebd., S. 86ff. 70 Ebd., S. 97. 71 Ebd., S. 79.
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lernen? – Als Columbus eine neue Welt ahnete, wurde er in der alten für einen Narren ausgeschrien. Der erste Astronom, der der stolzen Erde zumuthete, sich zu drehen, wurde verketzert. Der Philosoph, der dem Blitz eine Bahn anwies, sollte ein Frevler gegen die Vorsehung genannt werden. Der Arzt, der die Kuhpocken einimpfte, sollte den Menschen mit dem Rindvieh in Verwandtschaft bringen. Jeder lechzt nach etwas Neuem, und wenn das Neue da ist, so schimpft er darauf.“72 Ironischerweise wird Rückenmark von der Polizei, die ihm eigentlich für sein „Sistem“ dankbar sein sollte, nicht zum Helden erklärt, denn sein System scheitert bei der Verbrecherjagd. Letztendlich wird er gar von der Obrigkeit zu einer Geldstrafe verurteilt, weil eine falsche Charakterzuschreibung von Rückenmark den Tatbestand der Verleumdung erfüllt – für ihn eine „himmelschreienste Ungerechtigkeit“, immerhin habe er „fünfzig Thaler“ bezahlen müssen, weil er „von einem ausgemachten Spitzbuben gesagt habe: der Kerl ist ein Spitzbube“.73 Erst in Zukunft würde man die Richtigkeit und die Nützlichkeit der gallschen Lehre erkennen und seinem engagierten Vertreter die gebührende Ehre zukommen lassen. Um sein „Sistem“ zu retten, passt er es jedoch nicht der Empirie, sondern diese dem System an: „Die ganze Polizei hat kein einziges Mitglied aufzuweisen, das ein Organ gehörig zu betasten im Stande wäre; darum taugt aber die ganze Polizei nichts. Was gilt die Wette, in hundert Jahren wird jeder Beamte die Schädellehre gründlich studiren müssen, und dann wird vermuthlich die Polizei von lauter Frauenzimmern verwaltet werden, weil die mit einem zarteren Gefühl in den Fingern begabt sind. Dann werde ich auch späte Genugthuung erhalten; in allen Journalen wird man lesen: O Schande! vor hundert Jahren ist der durch seine Schädelsammlung so berühmte Herr von Rückenmark um fünfzig Thaler gestraft worden, weil er einen Dieb nicht zum Kammerdiener annehmen wollte.“74 Als Hilfsmittel der Polizei wäre das System eine Katastrophe, denn das ganze Stück hindurch täuscht sich die Hauptfigur perpetuierend bei der Einschätzung der Ehrlichkeit und Tüchtigkeit seiner Bediensteten. Seinen treuen, aber naiven und weitgehend unfähigen Diener Peter Gutschaaf hält er für ein Genie, da er nicht weiß oder nicht sehen mag, dass die fühlbare Veränderung seines Schädels keineswegs der Form des Gehirns, sondern trivialen Umwelteinflüssen geschuldet ist: „RÜCK. Ich merke, mein Freund, Er traut mir noch immer nicht, und verbirgt den Schalk hinter die Einfaltslarve, aber den Schädel kann Er ja doch nicht verstecken, die beiden Hügel da strotzen von Witz. PET. Daran ist der lahme Rappe schuld, der mich gestern in den Graben warf, dass ich mit der Nase im Koth, und mit der Stirn auf
72 Ebd., S. 106f. 73 Ebd., S. 106f. 74 Ebd., S. 106f.
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die Baumwurzeln schlug. Hat die Bestie mich vollends witzig gemacht?“75 Der physiognomische Namen „Gutschaaf“ hätte einen Lavaterianer gegenteilig urteilen lassen. Aber die Zeichen am Kopf sind für Rückenmark deutlich ausgeprägt, er würde den Schädel seines Dieners am liebsten sofort in seine „berühmte“ Sammlung an vermeintlichen „Geistesgrößen“ eingliedern: „RÜCK. In meiner ganzen Sammlung habe ich keinen so edeln Schädel aufzuweisen. Sobald er stirbt, mein Freund, so schneide ich ihm den Kopf ab.“76 Das wäre zumindest konsequent, in der ständigen Verleugnung der empirisch erhobenen Daten fügt sich zu den Vorurteilen nur wieder ein weiteres Vorurteil. Auch wenn der Diener als komische Figur offensichtlich nicht der Klügste ist, lässt sich Rückenmark nicht beirren – die wahre Wissenschaft erkenne die wirklichen Zusammenhänge: „RÜCK.: Sollte nun nicht Jedermann glauben, der Mensch sei ein dummer Esel? Aber wir versteh´n das Ding besser; wir belauschen die Natur in ihrer geheimsten Werkstätte. Was gilt´s, der Schelm betrügt alle meine Hausgenossen: Aber mir macht er nichts weiß und wenn er sich noch zehnmal dümmer stellte. Ich bleibe dabei, er ist ein Genie vom ersten Range.“77 Ein revolutionäres Menschenbild deutet sich an: „Ich bekümmere mich den Henker darum, was die Menschen sind, sondern nur darum, was sie sein können. Mich sollten die Großen der Erde fußfällig bitten, dass ich ihre Minister und Generale aussuchte, dann würde es in manchem Staate ganz anders aussehen.“78 Für das Publikum als Beobachter zweiter Ordnung bleibt klar, dass die Prognosen Rückenmarks Unsinn sind und die Utopie eines funktionierenden Systems in ihr Gegenteil verkehrt wird. Als die Dummheit des Dieners beim besten Willen nicht mehr übersehen werden kann, wird erst einmal das System modifiziert: „RÜCK. (greift ihm schnell nach dem Kopfe). Dacht´ ich´s doch. Auch das Organ der Darstellung im höchsten Grade. Stell´ Er sich so einfältig wie Er will, mir macht Er nichts weiß. Er ist ein vortrefflicher Schauspieler. Da sitzt es, da. PETER: ich ein Schauspieler? Wenn es da sitzt, so lügt es.“79 Der ‚Wissenschaftler‘ bemüht eine Tautologie, welche letztendlich zu einem Regressus ad infinitum führt, da er sein „Sistem“ aus dem „Sistem“ herleitet. Zugleich macht Kotzebue auf das Problem der Täuschung in der ‚Natürlichkeit‘ der Erscheinung aufmerksam: „RÜCK. Das macht das Organ der Darstellung. Wäre der Mensch auf`s Theater gegangen, er würde das Publikum entzückt haben, trotz dem kleinen Roscius in England und London! Aber mich betrügt
75 Ebd., S. 85. Dieser komische Erklärungsansatz könnte tendenziell auf der symbolischen Ebene Lichtenbergs These der Einschreibung von Lebenserfahrung darstellen. 76 Ebd., S. 71. 77 Ebd., S. 71. 78 Ebd., S. 76. 79 Ebd., S. 69.
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er doch nicht! Gott sei Dank! Mich betrügt keiner!“80 Die Apotheose des vermeintlichen Genies mündet in die hellsichtige Vision einer neuen Menschenrasse, gezüchtet aus dem mit gallscher Hilfe ohne jeden Zweifel identifizierten ‚besseren‘ Menschen; Kotzebue persifliert hier Regeln für den Menschenpark (Peter Sloterdijk) avant la lettre: „RÜCK. Ach lieber Herr von Hellstern! Wollte Gott wir wären so gescheit als jener pfiffige Satan, der vom Schafe weiter nichts hat, als den Namen. Sie erinnern sich, dass Maupertuis einmal ein Projekt entwarf, wie eine edlere Menschenrace zu ziehen sei. Nun da hätte er sicher den Peter Gutschaaf zum Stammvater machen mögen.“81 Nachdem der Diener in den letzten Szenen des Stückes sogar als Aufpasser versagt hat und der Dieb, den Rückenmark als höchstehrlichen Mann identifiziert hatte, vor Gutschaafs naiven Augen mit dem Geld der Familie auf und davon ist, hilft nur noch die Erklärung durch den Alkohol, der wohl die vernünftigen Sinne vernebelt habe: „RÜCK. Da haben wir´s! selbst die größten Genies machen dumme Streiche, wenn sie besoffen sind. Wie war es möglich, mein Freund, dass er an seinem herrlichen Schädel sich so versündigen konnte? Was soll ich nun anfangen? Ich muss dem Kerl nachsetzen lassen. [...] Man muss Steckbriefe ausfertigen lassen.“82 Am Ende hat Rückenmark aufgrund seiner ständigen Fehldeutungen alle möglichen Böcke zu Gärtnern gemacht sowie jeden ehrlichen Bediensteten verjagt und verleumdet. Er hat in einem Akt der dramatischen Entropie das größtmögliche Chaos innerhalb der Beziehungen angerichtet. Um sich eines gültigen Bildes zu versichern, sucht er nun sein Heil im Steckbrief als gedruckte Physiognomie zur Suche nach dem evidenten Verbrecher. Die komische Konfusion des Lustspiels erreicht ihren Höhepunkt, welcher für alle Beteiligten zur Katastrophe zu werden droht. Daher beschließen die jungen Liebenden, die Ordnung wiederherzustellen und dem Vater eine Lektion zu erteilen. Ein solches Führungsversagen schreit nach einer Palastrevolution, die Jungen rufen einen Generations- und Zeitenwechsel aus: „CAR. Was sind denn auch die Verdienste solcher alten Knasterbärte? Sie haben vielleicht ein dreißig-vierzig Jahr lang geschrieben, gerechnet, die Staatsmaschine im schläfrigen Gang erhalten, kurz, ein sehr prosaisches Leben geführt. Das ist nun vorbei. Jetzt kommen wir an die Reihe. Wir behandeln die Sache poetisch und philosophisch, wir lösen die Räthsel der Welt, und gründen geschlossene Handelsstaaten.“83 Das romantische Bild wird zur Tat, der Vater wird mithilfe eines paradox erscheinenden Mittels, wie es ähnlich vom Konstruktivisten Paul Watzlawick empfohlen wird, therapiert: Man versucht
80 Ebd., S. 89. 81 Ebd., S. 91. 82 Ebd., S. 109. 83 Ebd., S. 99f.
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nicht, etwas Falsches zu unterbinden, sondern füttert im Gegenteil das System so lange und intensiv mit dem vom System Erwünschten, bis es sich gegen sich selbst wendet. Dem „Sistem“-gläubigen Rückenmark werden von den Jungen so viele Schädel als gefälschte Kostbarkeiten untergejubelt, dass er völlig pleite ist. Man bedient sich dabei ordinärer Schädel, welchen mithilfe der Einbildungskraft jeweils eine sensationelle Geschichte zugedichtet wird: „BOMB. Der Todtengräber hat mir sie alle genannt. ... Es ist Voltaires Kopf aus dem Pantheon geraubt. BOMB. Dieser war einst Küster an der St. Sebaldus-Kirche. CAR. Er werde Cagliostro genannt. BOMB. Dieser Kopf soll ein wenig verrückt gewesen sein. Er hat einem verliebten Mädchen zugehört. CAR. Wir taufen ihn Robespierre. BOMB. An diesem sind noch einige Hiebe sichtbar. Er war ein Dragoner, der im letzten Kriege blieb. CAR. Die Jungfrau von Orleans. BOMB. Der letzte hier hat auf dem Rumpfe eines Quäkers gesessen. CAR. Er heiße Cartouche.“84 Die Schädel bekommen allesamt eine Geschichte verpasst, die postmodern unendlich weitererzählt werden kann. Die Inszenierung ist ein voller Erfolg, das finanzielle und soziale Ende sollte für den Vater und vor allem für das Publikum eine Lehre sein: „Wer mit Sistemen spielt, der wird selbst das Spielwerk Aller, die schlau genug sind, sein Schooßkind zu streicheln.“85 Kotzebue konfrontierte den Materialismus mit romantischer Revolution. Dialektisch hebelte er den Essentialismus der gallschen Lehre aus, indem er ihre Theatralität sichtbar machte und die Selbstreferenz von Systemen aufzeigte, welche auf der Tautologie des korrelationistischen Zirkels beruhen. Vor dem Hintergrund des Idealismus erwies er sich als früher Konstruktivist, der hellsichtig auf die Gefahren der unkritischen Zuschreibungen, der späteren Anthropometrie und des biologischen Determinismus aufmerksam machte.
84 Ebd., S. 124f. 85 Ebd., S. 130.
4. Gestalten des Anderen
4.1 D IE A NATOMIE
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1851 sah Richard Wagner in seiner Schrift Oper und Drama nur den Künstler in der Lage, „mit klarem Auge Gestalten“ zu erkennen, welche sich der Sehnsucht zeigten, „die nach dem einzig Wahren – dem Menschen – verlangt“. Allein er wäre befähigt, „eine noch ungestaltete Welt im Voraus gestaltet zu sehen.“1 Die Zeichnung des Menschen durch den Menschen als kognitiver Geizhals, der die Anstrengungen des Komplexitätsrealismus‘ sowie die Unsicherheiten der kognitiven Dissonanzen vermeidet, wird schon aufgrund der Arbeit des limbischen Systems als erster Gestalteindruck stabil erhalten.2 Entkomplexivierende Gestalten funktionieren als Heuristiken, entstehen in der Aktualgenese der Gestaltung in der Wahrnehmung des Anderen, in einem Prozess, in dem alles Mögliche geschehen kann, vom Missverstehen oder der Fehldeutung bis hin zur Überprägnanz. Für die Neuzeit entscheidend ist der Kartesianismus. Noch Franciscus Lang, für den die Schauspielkunst die „schickliche Biegsamkeit des ganzen Körpers und der Stimme, die geeignet ist, Affekte zu erregen“ ist,3 orientierte sich am Rationalismus. Immerhin wurde bereits die Lokalisation der Epiphyse im Gehirn mit der Annahme verbunden, der Sitz der Gefühle sei nicht im Herzen, sondern im Kopf zu suchen: Wie wir, so Charles Le Brun, „von der Drüse in der Mitte des Gehirns sagten, sie sei der Ort, an dem die Seele die Eindrücke empfange, so sind die Augenbrauen der Teil des Gesichts, in dem sich die Gefühle am deutlichsten ausdrücken.“4 Von Versailles Kunstpolitik über die einflussreichen Typisierungen Blumenbachs wie auch des niederländischen Anatomen, Maler und Zoologen Peter
1
Richard Wagner: Oper und Drama, Stuttgart 1986, S. 280.
2
Vgl. Gerhard Roth: Persönlichkeit, Entscheidung und Verhalten, Stuttgart 2007, S. 43ff.
3
Franciscus Lang: Dissertatio de Actione Scenica, München 1727.
4
Conférence de Monsieur Le Brun, premier peintre du roy de France, chancelier et directeur de l’Académie de peinture et de sculpture. Sur l’expression générale et particulière, Amsterdam 1698.
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Camper bis zu den rassenanthropologischen Studien Carl Huters arbeitete man mit Ähnlichkeiten in der menschlichen und tierischen Gestalt des Anderen,5 suchte man wissenschaftliche Maßstäbe zur Verdeutlichung der beobachtbaren Analogien. Campers Arbeit umfasste die Dichotomie zwischen komplexer Natur und abstrahierender, ideal zeichnender Wissenschaft, seine Bildprojektionen sind Negative der Aufrisse Francis Bacons, die das zerstörende und zerstörte innere Fleisch nach außen wenden, während die Kompositionen als Stimmigkeit durch geometrischabstrakte Rahmen, Räume, fast ontologische Käfige zusammengehalten werden. Um 1770 initiierte Camper, den der „Ausdruck der verschiedenen Leidenschaften durch die Gesichtszüge und über die bewunderungswürdige Ähnlichkeit, im Bau des Menschen, der vierfüßigen Tiere, der Vögel und Fische“ interessierte,6 einen innovativen Blick auf die Untersuchung der Leidenschaften, der physiognomischen Erscheinung des Anderen sowie deren Integration in die moderne Anthropologie.7 Bekannt wurde er durch seine geometrische Methode, niemand hätte hier alles „in eine schönere Ordnung gebracht als Le Brun“.8 1792 verlohnt es sich für Camper „der Mühe, eine Reihe zu sehen, wie ich sie in meinem Kabinet habe: von Affen, Orangs, Negern, einem Hottentotten, Madagascarern, Celebesen, Chinesen, Mongolen, Kalmukken, und unterschiedlichen Europäern, welche, alle nach einander auf ein Brett gestellt, auf einmal die Verschiedenheiten klar machen.“9 Es wäre ein naturgeschichtlicher Schauraum mit exotischen Exponaten zu imaginieren, in dem in der Gestaltanordnung des Anderen Identitäten und Differenzen erkennbar bzw. unbewusst in Szene gesetzt wurden. Man fände die verschiedenen Tiere und ‚Nationen‘ auf einem ‚Brett‘ „nach einander“ arrangiert, nun aber nicht mehr „gestellt“,
5
Vgl. hierzu u.a. Wolf Lepenies: „Naturgeschichte und Anthropologie im 18. Jahrhundert“, in: Bernhard Fabian u.a. (Hg.), Deutschlands kulturelle Entfaltung. Die Neubestimmung des Menschen, München 1980, S. 211-226.
6
Petrus Camper: Akademie (Utrecht 1792), dt. Übersetzung von G. Schaz, Berlin 1793.
7
Für Wilhelm E. Mühlmann umfasst die klassische Epoche in der Anthropologie das letzte Viertel des 18. Jahrhunderts, welches durch Johann Friedrich Blumenbach, Immanuel Kant, Samuel Thomas Soemmerring, Johann Reinhold, Georg Forster, Peter Camper, Johann Gottfried Herder, Christoph Meiners und Wilhelm von Humboldt geprägt worden ist. Seine Einteilung, welche er mit Jacob Burckhardt herleitet, ist dem kulturgeschichtlichen Kontext von Weimar verpflichtet. Vgl. ders.: Geschichte der Anthropologie, S. 52.
8
P. Camper: Akademie.
9
Peter Camper: Über den natürlichen Unterschied der Gesichtszüge in Menschen verschiedener Gegenden und verschiedenen Alters; über das Schöne antiker Bildsäulen und geschnittener Steine; nebst Darstellung einer neuen Art, allerlei Menschenköpfe mit Sicherheit zu zeichnen, nach des Verfassers Tode herausgegeben von seinem Sohne Adrian Gilles Camper, übers. v. S. Th. Sömmerring, mit zehn Kupfertafeln, Berlin 1792, S. 28.
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sondern ‚gezeichnet‘. Einer dieser Tafeln zeigt eine vergleichende Darstellung der Schädelform und Physiognomie vom Affen über den Menschen zur griechischen Statue: genauer ganz links einen „Orang-Utang“ (Fig. I) und ganz rechts „Apollo Pythius“ (Fig. V).10 Dazwischen sieht man links von der Mitte einen „Neger“ (Fig. II), in der Mitte einen „Kalmukken“ (Fig. III), und rechts von der Mitte einen „Europäer“ (Fig. IV). Motiv des Unternehmens war ursprünglich eine Methode, die es erlaubte, Menschen und speziell „Neger“ getreu nach der Natur zu zeichnen und zu malen.11 Erst danach wurde Camper klar, dass seine Ergebnisse, welche neben den „Liebhabern der erhabenen Kunstwerke des ehrwürdigen Alterthums“ und den „Lehrern der Naturgeschichte“ vor allem „jungen Zeichnern und Bildhauern“ Vergnügen bereiten sollten,12 über den Bereich der künstlerischen Produktion hinaus auch für die Naturgeschichte nützlich waren, sodass er seine künstlerischen Schädelstudien nach 1770 zugunsten der wissenschaftlichen zurückstellte.13 Für den heutigen Betrachter mögen dieser ungewöhnliche methodische Transfer und die persönliche Kompetenzausweitung vom ästhetisch-künstlerischen zum wissenschaftlichen Diskurs auffallend sein.14 Denn gerade die Überschreitung, welche die Grenze und damit eine Gestalt vor dem historischen Hintergrund erscheinen lässt, erregt die Aufmerksamkeit, die im Vergleich mit den gegenwärtigen Wahrnehmungsschemata auch den
10 Wobei Adrien Gilles Camper diese Tafel „sorgfältig nachgesehen, und die Buchstaben beigeschrieben“ hat. Zuvor hat Peter Camper den „berühmte[n] V. Vinkeles bewegen“ können, seine „Zeichnungen in Kupfer zu stechen“; ebd., S. IV und XIX. 11 Adrien Gilles Camper lässt in seinem Vorwort wissen, dass die Abhandlung schon im „Jahre 1768 entworfen sowie 1772 mit Zusätzen bereichert wurde, 1786 dann zu der Vollkommenheit gediehen“ war, in welcher sie 1792 erschien. Der Grund der Verzögerung seien „viele unangenehme Beschäftigungen, in welchen ihn seine politischen Verhältnisse verwickelten“; ebd., S. III. 12 Ebd., S. XVII. 13 Robert Visser: „Die Rezeption der Anthropologie Petrus Campers (1770-1850)“, in: Gunter Mann/Franz Dumont (Hg.), Die Natur des Menschen. Probleme der Physischen Anthropologie und Rassenkunde (1750-1850), Stuttgart 1990, S. 325-335; hier S. 325. 14 So heißt es auf dem Titelblatt einer 1794 erschienenen Londoner Ausgabe der Werke Campers: The Works of the Late Professor Camper on The Connection Between the Science of Anatomy and The Arts of Drawing, Painting, Statuary: Containing A Treatise on the Natural Difference of Features in Persons of Different Countries and Periods of Life: And on Beauty, as Exhibited in Ancient Sculpture; With an New Method of Sketching Heads, National Features, and Portraits of Individuals, with Accuracy. Illustrated with Seventeen Plates. Explanatory of the Professor’s Leading Principles. Two Books. A New Edition. London 1821.
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historischen Gestaltwandel sichtbar macht. Dies gilt nicht nur für die Grenzen der Diskurse und Professionen, sondern auch für die vorliegende Tafel, in der das hervorstechendste Element wohl der Kopf des Apollo ist.15 Er fehlt bezeichnenderweise als tatsächlich vorhandener Schädel oder Kopf im Kabinet Campers, wird erst im Bildmedium sichtbar, wirkt im vergleichenden Gesamtbild für uns heute wie ein Fremdkörper und provoziert die Frage, was er in einer naturgeschichtlichen, mithin wissenschaftlichen Abbildung zu suchen hat. Einen ersten Hinweis mag der Titel der Abhandlung geben: Über den natürlichen Unterschied der Gesichtszüge in Menschen verschiedener Gegenden und verschiedenen Alters; über das Schöne antiker Bildsäulen und geschnittener Steine; nebst Darstellung einer neuen Art, allerlei Menschenköpfe mit Sicherheit zu zeichnen.16 Der Titel war Programm: Erst einmal sollte eine Differenzierung verschiedener Physiognomien, welche jeweils ‚Nationen‘ repräsentieren, geleistet werden. Hiermit wird auch die Verschiedenheit des Fremden vom Eigenen, was das physiognomische Bild von sich selbst und dem anderen betrifft, aufgezeigt. Zudem weist der Titel die Schönheit „antiker Bildsäulen“ aus, womit sich der Einfluss der im 18. Jahrhundert entstandenen Ästhetik als selbstständige Disziplin zeigt. Man denke an Baumgarten und das Vorbild der griechischen Antike, welches Winckelmann 1755 mit seinen Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerey und Bildhauerkunst populär gemacht hatte. Und es wird nicht zuletzt eine Technik angekündigt, die mit „Sicherheit“ erlauben solle, „allerlei Menschenköpfe zu zeichnen“. Insgesamt betrachtet geht es also um die Frage, wie bzw. mit welchen Hilfsmitteln sich an einem Ort, an dem der Wissenschaftler seine Wahrnehmungen und Überlegungen bündelt und als These in einem Werk zusammenstellt, das ereignishafte Leben in eine Naturgeschichte und der Mensch in seinen regionalen und historischen Spezifitäten in eine bildlich vermittelte Taxonomie ordnen lässt. Referent dieser bildlichen Darstellung des Anderen als Ordnung ist die sichtbare Körperlichkeit und Objekthaftigkeit, wobei Camper und seine Zeitgenossen anatomische Erkenntnisse zur Klassifikation heranzogen. Campers Werk erschien im Vorfeld des Übergangs von Carl von Linnés künstlichem System zu einem offenendigen Modell für Verwandtschaftsbeziehungen, für das als Zentralfigur Georges Cuvier steht, welcher 1812 in Paris die
15 Allgemein ist das Ungewöhnliche in der bildlichen Rezeption das Aufmerksamkeitserregende. Dies ist jedoch je nach geschichtlichem und kulturellem Wahrnehmungshintergrund immer etwas Anderes. Mithin lassen sich kulturelle und mentale Veränderungen sehr gut anhand von neuen Aufmerksamkeitsobjekten diskutieren. Vgl. hierzu Gerhard Roths Diktum, in das Wahrnehmungssystem dringe nur das ein, was nicht zu erwarten war; ders.: Persönlichkeit, Entscheidung und Verhalten. 16 P. Camper: Über den natürlichen Unterschied der Gesichtszüge in Menschen verschiedener Gegenden und verschiedenen Alters, S. XVII.
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Klassifizierung des gesamten Tierreichs nicht nach dem äußeren Erscheinungsbild, sondern nach inneren Merkmalen des Anderen durchführte.17 Die Naturgeschichte abbilden bedeutete, den Anderen zu ordnen und damit zu selektieren und bewusst oder unbewusst ein Rangverhältnis einzurichten. Diese im und mit dem Bild kommunizierte Hierarchie durfte keineswegs dem gängigen mentalen Muster widersprechen, um glaubhaft zu wirken. Bildhierarchien können sich an der Prägnanz und Größe eines Objektes orientieren, wie etwa in den mittelalterlichen Darstellungen der Heilsgeschichte, in denen die Figurengröße die Bedeutung des Dargestellten wiedergab. Oder sie folgen den Rezeptionsgewohnheiten einer Kultur. In diesem Sinne liest man eine Reihe von Bildern ohne signifikante und prägnante Unterschiede im europäischen Kulturraum wie die Schrift von links nach rechts, als zeitliche Abfolge ergibt sich die Illusion einer Entwicklung des Anderen. Daher ist die Botschaft in Campers Verbildlichung auf den ersten Blick nicht so klar; man erkennt zwei prägnante Zentren, welche den Blick auf sich ziehen, den Kopf eines „Kalmukken“ in der Mitte (Fig. III) und den Kopf eines „Apolls“ an der rechten Seite (Fig. V). Auf den zweiten Blick beginnt man, die Leseabfolge und kulturelle Bewertungen in Anschlag zu bringen, eine Entwicklung von links nach rechts wird interpretiert.18 Eine ähnliche, etwas ausführlichere und in dem von den Klassizisten bevorzugten reinen Profil gezeichnete Reihung19 ist in einer anderen, bekannten Abbildung aus Campers Werk zu finden. Wie er zu diesen Gestaltungen gelangt ist, erläutert er folgendermaßen: „Als ich zu dem Negerkopfe den Kopf eines Kalmukken erhielt, diese beiden mit einem Europäischen verglich, und einen Affenkopf daneben stellte, sah ich, dass eine von der Stirn zur Oberlippe gezogene Linie den Unterschied zwischen den Gesichtern dieser Nationen angab und die Übereinkunft des Negers mit
17 Peter J. Bowler kritisiert diesbezüglich die prominente foucaultsche These zum Zusammenbruch der klassischen Sicht von natürlichen Beziehungen um 1800 auf der Folie von Cuviers Arbeiten, da die Naturforscher des 19. Jahrhunderts Cuviers Argumenten keineswegs sofort folgten und das Konzept der Kette des Seienden oft modifiziert weiter benutzt wurde; ders.: Geschichte der Umweltwissenschaften, S. 169f. 18 Diese akkurate Ordnung Campers unterschiedet sich deutlich von Lavaters Ansätzen. Zwar nennt Baltrusaitis Lavaters Fragmente „zugleich eine Enzyklopädie der Theorien über diesen Gegenstand“. Aber, wie Goethe über Lavaters methodisch-kollektives Werk zutreffend feststellte: „Es machte keine Reihe, alles stand vielmehr zufällig durcheinander.“ J. Baltrusaitis: Imaginäre Realitäten, S. 39; Johann Wolfgang von Goethe: „Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit“, in: Ders., Berliner Ausgabe, Bd. 13, Berlin 1976, S. 738 und S. 810. 19 Vgl. die auf einer bildparallelen Raumbühne ohne Tiefe gestellte Figurengruppe in Eberhard Wächters Telemachs Rückkehr 1798, orientiert an Jacques Louis David.
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den Affen deutlich machte. Ich reihete einige dieser Gesichter auf eine Horizontallinie, und zog die Gesichtslinie unter verschiedenen Winkeln dazu. Liess ich nun die Gesichtslinie vorwärts herüber fallen, so erhielt ich ein antikes Gesicht; liess ich sie hinterwärts fallen, ein Negergesicht; neigte sie sich noch mehr zurück, so gab diese Linie einen Affen, einen Hund, eine Schnepfe. Hieraus erhellt also die erste Grundlage dieses Lehrgebäude“.20 Camper legte Wert darauf, eine Methode gefunden zu haben, welche den Standpunkt des Betrachters im Raum verschleiert: Er ließ beim Kopieren der Objekte willkürlich die „Augenlinie beständig rechtwinkelig auf jeden Punkt fallen“,21 was nicht nur eine weitgehende Anpassung des Blickes an die Objekte gewährleistete, sondern zudem die Vergleichbarkeit in der visuellen Abfolge erleichterte. In diesem Sinne war die kleine Schummelei Campers konsequent, der zuweilen die Köpfe vergrößerte bzw. verkleinerte, wenn sie nicht harmonisch in die Reihe passten. Dem visuellen Ergebnis korrespondierte über die sichtbare ‚Evidenz‘ der „Gesichtslinie“ hinaus eine metaphysische Hierarchie, welche keineswegs der heute üblichen evolutionstheoretischen zu subsumieren ist, auch wenn die Bilder eine Ähnlichkeit in der „Entwicklung“ von ‚links‘ (‚Affe‘) nach ‚rechts‘ (‚Ideal‘; Apoll) suggerieren.22 Die Versuche der Naturhistoriker, den Menschen einzureihen, waren durch eine frühere, metaphysisch begründete Ordnung beeinflusst, durch die Kette des Seienden als lückenlose Ordnung vom niedrigsten Tier bis in die Sphäre des Göttlichen. Diese Ordnung wurde im 18. Jahrhundert immer problematischer, mit dem immens zunehmenden Wissen und den auf den Erkundungsfahrten um die ganze Welt gesammelten neuen Arten wuchs das beschriebene Material dermaßen an, dass sich die Erscheinungswelt des Lebenden nicht mehr lückenlos in eine dem Schöpfungsplan entsprechende Kettenvorstellung einordnen ließ. Als die Zahl der entdeckten Arten sich sprunghaft vergrößert hatte, kamen die künstlichen Systeme
20 P. Camper: Über den natürlichen Unterschied der Gesichtszüge in Menschen verschiedener Gegenden und verschiedenen Alters, S. XV. 21 Ebd., S. 61. 22 So warnt der Evolutionshistoriker Peter J. Bowler explizit: „The fact that the inferior characteristics thus produced were apelike was, apparently, a coincidence – or more probably an indication that thinking on this question was still influenced by the traditional notion of a unilinear chain of being. The resemblance of lower races to the apes certainly did not indicate an evolutionary link between man and the animal kingdom. Only in the post-Darwinian period would this paradox be resolved, when the inferior races came to be seen as living relics of intermediate stages by which European man had progressed from his animal ancestors toward his supposedly more perfect form“; ders.: Evolution, S. 93f.
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unter einen sich verstärkenden Legitimationsdruck.23 Einen Ausweg aus diesem Dilemma versprach das künstliche System, welches Linné in seinem 1735 erschienen Systema Naturae dem zunehmenden „Chaos als künstliches System“ aufprägte.24 Linné betonte in der Philosophia Botanica, dass es ein ‚natürliches‘ System erst dann geben könne, wenn „alles festgestellt ist, was sich auf unser System bezieht“.25 Unter dem ‚Natürlichen‘ verstand Linné etwas nicht zufällig Entstandenes. Dieses sollte sowohl den Plan Gottes als auch eine rationale Ordnung in der Vielfalt der Organismen bezeugen. Dafür fand sich das Bild der Scala Naturae, auf der, von oben anfangend mit dem Menschen, die lebenden wie die toten Körper in stetiger Folge aufgereiht sind. Da Gott, so Charles Bonnet, „mit einer einzigen Tat alles verwirklicht, was je möglich war“,26 sollte die Scala Naturae unveränderlich sein.27 In seinem System subsumierte Linné den Menschen als den Anderen unter die Primaten. Spätestens mit dieser naturgeschichtlichen Zuordnung war der Verdacht virulent, dass die oberflächliche Ähnlichkeit zwischen Affe und Mensch auch eine tiefere, systematischere Bedeutung haben könnte; Linnés korporaler Blick erkannte zumindest in diesem Sinne eine visuelle Evidenz: „Ich will als Naturforscher den Menschen nach allen Teilen seines Körpers betrachten; und wenn ich dies tue, so finde ich schwerlich ein Merkmal, wodurch der Mensch vom Affen unterschieden werden kann.“28 Natürlich wusste Linné „sehr wohl, welch großer Unterschied zwischen dem Menschen und dem Tier herrscht, wenn man beide von der moralischen Seite betrachtet. Nur der Mensch ist das Geschöpf, welches Gott der Schöpfer mit der Zierde einer unsterblichen Seele gewürdigt hat.“29 Für Soemmerring, welcher das campersche Werk ins Deutsche übertrug und kritisch kommentierte, war nach einem anatomischen Vergleich „der Schluss nicht unbillig noch ungegründet. Dass im Allgemeinen, im Durchschnitt, die afrikanischen Mohren doch in etwas näher ans Affengeschlecht, als die Europäer gränzen“.30 Auch außerhalb der Naturge-
23 Vgl. Urs Bitterli: Die ‚Wilden‘ und die ‚Zivilisierten‘. Grundzüge einer Geistes- und Kulturgeschichte der europäisch-überseeischen Begegnung, München 2004, S. 211ff. 24 P.J. Bowler: Geschichte der Umweltwissenschaften, S. 106. 25 Carl von Linne: Philosophia botanica, Stockholm 1751, Aph. 12. 26 Zit. n. Armin Geus: „Zoologische Disziplinen“, in: Ilse Jahn (Hg.), Geschichte der Biologie, Hamburg 2004, S. 324-355, hier S. 325. 27 Ebd., S. 325. 28 Jens-Lorenz Franzen: „Die Primaten als stammesgeschichtliche Basis des Menschen“, in: Herbert Wendt (Hg.), Der Mensch, Zürich 1982, S. 557-597, hier S. 557. 29 Ebd., S. 558. 30 Soemmerring weiter: „Sie bleiben aber drum dennoch Menschen, und über jene Klasse wahrer vierfüßiger Thiere gar sehr erhaben, gar sehr auffallend von ihnen unterschieden
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und abgesondert. Auch unter den Schwarzen giebts einige, die ihren weißen Brüdern nähertreten, und manche aus ihnen sogar an Verstande übertreffen.“ Samuel Thomas Soemmerring: Über die körperliche Verschiedenheit des Mohren vom Europäer, Mainz 1784, S. 32. Dennoch ist auf der bildlich-physiognomischen Ebene die Verlockung zum Vergleich stark: „Wenn die Mohren durch Nase und Augen den Affen nähertreten, so unterscheiden sie sich doch leicht von ihnen, durch ihre Lippen, ob sie gleich lang, groß, aufgeworfen, wülstig, dick und mehr blaulich als schmutzig“ (S. 9.). Die sinnliche Evidenz, die augenfällige Ähnlichkeit, welche Soemmerring zum Ergebnis einer Ähnlichkeit zwischen Affen und Wilden führte, kritisierte Johann Friedrich Blumenbach, der ‚Vater der menschlichen Rassenkunde‘ als Fehlschluss: „Was man aber von den Aethiopiern behauptet hat, dass sie sich den Affen mehr nähern, als die andern Menschen, das gebe ich in dem Sinne sehr gern zu, als man z.B. sagen kann, dass sich jene Race von Hausschweinen mit Hufen (§ 30.) dem Pferde mehr nähere, als die übrigen Schweine; indeß erhellt schon daraus, dass eine solche relative Vergleichung im Allgemeinen doch ohne Gewicht sey, weil es auch unter den übrigen Hauptvarietäten des Menschengeschlechts keine einzige giebt, aus der nicht ebenfalls ein oder das andere Volk, und zwar von genauen Beobachtern, in Ansehung der Gesichtsbildung mit den Affen verglichen worden wäre“; ders.: Ueber die natürlichen Verschiedenheiten im Menschengeschlechte. Nach der dritten Ausgabe und den Erinnerungen des Verfassers übersetzt, und mit einigen Zusätzen und erläuternden Anmerkungen herausgegeben von Johann Gottfried Gruber. Leipzig 1798, S. 216f. Blumenbach relativierte und beschrieb sehr zutreffend die Konstruktion der Zugehörigkeit zu einer Gruppe aufgrund einer festgestellten Ähnlichkeit als Abhebung der Gestalt vom Hintergrund. Frank W. P. Dougerthy sieht den Grund für eine „unausgesprochene Meinungsverschiedenheit“ zwischen Blumenbach und Soemmerring nicht in der Feststellung, sondern in der Interpretation der Fakten. Der Stufenfolge des Gesichtswinkels als zweidimensionaler Abbildung mag Blumenbach nicht zustimmen, da er jede Gattung als eine „repräsentative[.] organische[.] Einheit mit der ihr eigenen Logik und ihren äußeren Unweltbestimmungen“ sieht, „die ihren prägnanten Ausdruck im Begriff des Totalhabitus (Gesamt-Gestalt, Gesamt-Haltung, Gesamt-Beschaffenheit) findet.“ Frank W. P. Dougerthy: „Johann Friedrich Blumenbach und Samuel Thomas Soemmerring. Eine Auseinandersetzung in anthropologischer Hinsicht?“, in: Ders., Gesammelte Aufsätze zu Themen der klassischen Periode der Naturgeschichte, Göttingen 1996, S. 160-175, hier insbesondere S. 165, S. 169, S. 174. Soemmerrings analytische Methode wurde diesem Totalhabitus in seiner Komplexität schon deshalb nicht gerecht, da die Schädelformen, aus anderen Perspektiven gezeichnet, durchaus differente Reihungen und Rangfolgen ergeben können. Zudem lehnte Blumenbach Soemmerrings Feststellung einer Analogie zwischen der Morphologie und den höchsten Geistesgaben des Menschen ab, für einen Vergleich wären neben Anatomie und Physiologie auch die Manifestationen der höheren Fakultäten wie Sprache, Sitten, Kunst etc. heranzuziehen.
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schichte war die Ähnlichkeit zwischen Affe und Mensch ein gern benutzter Topos; Rousseau glaubte zu erkennen, dass der „Orang-Utang“ ein Mensch im Sinne eines Wilden im Naturzustande sei.31 So erklärt sich die auf den camperschen Abbildungen zu registrierende Nähe des Affen zum Nichteuropäer. Eigentlich anerkannte Camper selbst Linnés Taxonomie nur als mentale Abstraktion, als Gedächtnisstütze, da die Natur ihm zu komplex und variantenreich erschien. Allgemein galt, dass der Affe, was seine Stellung im Tierreich betraf, zwar an der Spitze der Hierarchie zu finden sei. Wenn es aber um die anthropologische Frage ging, was eigentlich den Menschen als naturgeschichtliches Phänomen ausmache, begann der Streit, welcher den Hintergrund und die Deutung dieser Abbildung mitbestimmte. Aus kultureller Sicht waren es mit Buffon vor allem die Vernunft32 bzw. mit Herder die Sprache, welche den Menschen vom Tier trennten. Insbesondere bei Letzterem verhinderte der theologische Hintergrund, über eine zu große Nähe zwischen „Negern“ und „Affen“ zu spekulieren, wiewohl Herder selbst „von fern die Ähnlichkeit der Konformation“ der Physiognomie des „Negers“ zum „Affenschädel“ registrierte.33 Noch Schiller, der dann wiederum Nietzsche beeinflusst, wird in seiner Schaubühnenrede den Tiermenschen mit seinen älteren und „drängenderen Bedürfnissen“ vom „Bedürfnis des Geistes“ trennen; denn „was die Dauer des physischen Lebens erhält“, wird immer des Menschen „erstes Augenmerk“ sein, und
31 Für Rousseau war die fehlende Sprache des ‚Wilden‘ keineswegs ein Zeichen für dessen Animalität, da Sprachen erlernt werden müssen und als Teil sozialer Konvention zu betrachten sind. Vgl. Jean-Jacques Rousseau: „Discours sur l’inégalité“, in: Bernard Gagnebin/Marcel Raymond (Hg.), Oeuvres complètes, III, Paris 1958, S. 209-212. Wobei der Orang-Utan zu dieser Zeit nicht nur als der menschenähnlichste Affe galt, sondern meist für den Affen an sich stand. So definierte auch Soemmerring: „Wenn ich von Affen ohne Beysatz spreche, meine ich meist den, Orang Utang, oder auch den gemeinen Affen, S. SYLVANUS.“ S.T. Soemmerring: Über die körperliche Verschiedenheit, S. 8. 32 Insbesondere in den Bänden II, III und IV seiner Naturgeschichte postulierte Buffon einen nicht überwindbaren Einschnitt in der Scala Naturae. Der Mensch sei per se aufgrund seines Geistes und seiner Seele dem Tier überlegen. Später rekurrierte er auf Edward Tyson, indem er den Orang-Utan, wahrscheinlich ein Schimpanse, trotz seiner Ähnlichkeit, nicht der Spezies des Menschen zurechnen wollte, da dem Affen Sprache und Vernunft fehlten; Georges Louis Leclerc Graf von Buffon: Allgemeine Historie der Natur nach allen besonderen Theilen nebst einer Beschreibung der Naturalienkammer [...]. Mit einer Vorrede Herrn Doctor Albrecht von Hallers, Band 1-9. Hamburg und Leipzig 17501775. 33 Johann Gottfried Herder: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, Bd. 2, hg. v. Heinz Stolpe, Berlin, Weimar 1965, S. 229.
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was die „Menschheit innerhalb ihres Wesens veredelt, sein höchstes.“ 34 Später wies Schiller in seiner Jenaer Antrittsvorlesung auf Entdeckungen, welche die Europäer in fernen, exotischen Regionen gemacht hätten. Diese gäben ein ebenso „lehrreiches als unterhaltendes Schauspiel“, sie zeigten „Völkerschaften“, die „wie Kinder verschiednen Alters um einen Erwachsenen herumstehen und durch ihr Beispiel ihm in Erinnerung bringen, was er selbst vormals gewesen und wovon er ausgegangen ist.“ Gegen Rousseau, den Schiller gut kannte, dem er aber nicht mehr folgen wollte, beurteilte er das Bild, das die fremden „Völkerschaften“ boten, dezidiert als „beschämend“. Erst mit seiner kulturellen Höherentwicklung, innerhalb einer Tendenz zur „Veredlung“, wenn die „Zwangspflichten von dem Menschen ablassen, übernehmen ihn die Sitten. Den keine Strafe schreckt und kein Gewissen zügelt, halten jetzt die Gesetze des Anstands und der Ehre in Schranken.“35 Veredelungshierarchisierungen interessierten auch Camper: In seinen Tafeln wird mit jedem Kopf- und Schädelpaar schon aufgrund der Anordnung auf der Bildebene eine Kulturstufe assoziiert, sie transportierten somit eine zeitgenössische Wahrnehmungs- und Kulturtradition, für die in erster Linie Herder stand. Dessen Ideen von der Entwicklung des Menschen waren der Problematik geschuldet, eine adäquate Darstellung anderer Kulturen zu finden.36 Alles Lebende in der Welt entwickelte sich für Herder entlang einer Linie als jeweils sich selbst organisierende
34 Friedrich Schiller: „Was kann eine gute stehende Schaubühne eigentlich wirken?“, in: Ders., Sämtliche Werke in 5 Bänden, Band V, hg. v. Wolfgang Riedel, München 2004, S. 818-831, hier S. 819. 35 Friedrich Schiller: „Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte?“, in: Ders., Sämtliche Werke in 5 Bänden, Band IV, hg. v. Peter-André Alt, München 2004, S. 749-767, hier S. 754 und 757. 36 „Niemand in der Welt fühlt die Schwäche des allgemeinen Charakterisierens mehr als ich. Man malet ein ganzes Volk, Zeitalter, Erdstrich – wen hat man gemalt? Man fasset auf einander folgende Völker und Zeitläufte, in einer ewigen Abwechslung, wie Wogen des Meeres zusammen – wen hat man gemalt? Wen hat das schillernde Wort getroffen? [...] ist das, wie? Wenn man das Weltmeer ganzer Völker, Zeiten und Länder übersehen, in einen Blick, ein Gefühl, ein Wort fassen soll! Mattes halbes Schattenbild von Worte! Das ganze lebendige Gemälde von Lebensart, Gewohnheiten, Bedürfnissen, Landes- und Himmelseigenheiten müsste dazu kommen, oder vorhergegangen sein“; Johann Gottfried Herder: „Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit“, in: Ders., Werke, Bd. 1., hg. v. Wolfgang Pross, München 1987, S. 611f. Dass es Camper um den Entwicklungsgedanken im weitesten Sinne geht, wenn er seine Tafeln analog einer Stufenleiter von links nach rechts anlegt, bestätigen auch die weiteren Tafeln seines Werkes, welche u.a. die Altersentwicklung des Menschen im Profil zeigen, beginnend links mit dem Kleinkind und endend rechts mit dem Greis.
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Form immer höher. Wobei, wie sein 1784 erschienenes Hauptwerk Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit belegt, auch ihn die anatomische und morphologische Ähnlichkeit zwischen Affe und Mensch sowie die Schriften Buffons und Campers dazu animierten, einerseits die Nähe zu betonen, da die „Denkungsart“ des Affen „dicht am Rande der Vernunft“ steht,37 andererseits die Differenz zu sehen. Für Herder war weder der „Pongo, noch der Longimanus“ der Bruder des Menschen, „aber wohl der Amerikaner, der Neger“, denn er sei „ein Mensch“ wie der Leser selbst.38 Dabei orientierte sich Herders Anthropologie augenscheinlich, was die Gestalt des Körpers und die Physiognomie betraf, an Buffons „physikotheologischer Sicht von der Sinnhaftigkeit überlegener menschlicher Körperformen.“39 Für Buffon „malt“ sich das „Bild der Seele“ in des Menschen Zügen, die „Vortrefflichkeit seiner Natur dringt durch die materialistischen Werkzeuge durch, und beseelt seine Gesichtsbildung mit einem göttlichen Feuer.“ Die Bewertung des Habitus gelang Buffon nicht, ohne auf kulturelle und letztlich religiöse Vorstellungen von ‚oben‘ und ‚unten‘ zurückzugreifen. Der aufrechte Gang des Menschen wurde zum entscheidenden anthropologischen Differenzkriterium: „Sein majestätisches Betragen, sein gesetzter und kühner Gang zeigen seinen Adel und seinen Rang an: nur mit den entferntesten Theilen seines Körpers berührt er die Erde, er sieht sie nur von weitem, und scheint sie zu verachten, die Aerme sind ihm nicht zum Nutzen seines Körpers gegeben, seine Hand soll nicht die Erde treten, und durch wiederholtes Reiben die Zärte des Gefühls verlieren, dessen vornehmstes Werkzeug sie ist“.40 Den Gesamthabitus als Unterscheidungsmerkmal reduzierte Camper auf die menschlichen bzw. tierischen „Züge“,41 sodass aus naturgeschichtlicher Sicht die Anatomie des Affen derjenigen des Menschen schon verblüffend ähnlich erschien.42
37 J.G. Herder: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, S. 103. 38 J.G. Herder: Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit, S. 179. 39 Vgl. Samuel Thomas von Soemmerring: Werke, Bd. 15. Anthropologie: Über die körperliche Verschiedenheit des Negers vom Europäer, hg. v. Sigrid Oehler-Klein, Stuttgart 1998, S. 80f. 40 G.L. Buffon: Allgemeine Historie der Natur, Bd. 1, 1750, S. 242f. 41 Was die Mimik betrifft, hatte Camper Vorbehalte gegenüber der Annahme einer zu großen Relevanz des Sitzes der Seele. Deren Mechanismus wäre eher in der Art der Wirkung der Gesichtsnerven und -muskeln zu lokalisieren. Er ging von neuen Bewegungen des Gemüts aus, was im Vergleich zu seinen morphologischen Ansätzen nicht unbedingt innovativ war. 42 Wobei Camper schon frühzeitig sein Augenmerk auf die Gestalt des Fremden richtete: „Bei der besonderen Neigung, welche ich von der frühesten Jugend an zur Zeichenkunst und allen ihren nachahmenden Teilen hatte, musste ich mehr, als ein Anderer, meine Be-
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Die visuelle Wahrnehmung der zu Vergleichszwecken reduzierten Oberflächengestalt und Anatomie belegte die bildliche Ordnung in Campers Darstellung mit einem mentalen Stereotyp. Daraus resultierte eine fast zwingende Assoziation, wenn einerseits das Tier, der exotisch Fremde, der Europäer und das Ideal Apoll innerhalb einer wertenden Reihe voneinander differenziert, sie andererseits aufgrund ihrer anatomischen Ähnlichkeit – bildlich noch einmal beglaubigt durch die zugeordnete Reihe der Schädel – in ihrer Ähnlichkeit wieder zusammengerückt werden. Hiermit wird die Dialektik deutlich, die jedes Bild zeitigt, indem die Gestalt sowohl zwischen sich und dem Hintergrund differenziert als auch sich und den Hintergrund gleichzeitig zusammenfügt – es ergibt sich eine produktive Spannung, welche Boehm als „ikonische Differenz“ bezeichnet.43 Auf den Abbildungen Campers ist der Affe dem exotischen Menschen schon geometrisch näher als dem europäischen. Dem Bild widerspricht jedoch der Text, da Camper, vor einer nicht korrekten Interpretation seiner Darstellung warnend, keineswegs die Nähe, sondern vielmehr die Differenz zwischen „Afrikaner“ und „Affe“ demonstrieren wollte.44 Als bekennenden Christen war ihm die Differenz zwischen Mensch und Tier eine solche Selbstverständlichkeit, dass diese bei der Produktion und Wahrnehmung seiner Darstellungen als Gestaltgrenze fungierte, indem die Gruppe der Menschen sich von den Tieren und Figurationen aus der Antike noch deutlich abhob. Gegen die Einheit der Gesamtgestalt ‚Mensch‘ sprach für Camper kein ihm bekannter naturgeschichtlicher Beweis; er selbst sah die Gefahr, eine visuelle Ähnlichkeit zwischen Tier und exotischem Menschen zu registrieren, im zu schnellen Blick auf die Objekte: „Wahrscheinlich wird man sich wundern, auf der ersten Tafel zwei Gesichter von Affen, dann den Schedel eines Negers, und zuletzt den eines Kalmukken geordnet zu finden. Die bewundernswürdige Gleich-
trachtungen auf die eigenthümlichen Züge der Menschen und Tiere richten, welche mir, als die erhabensten Gegenstände der Natur, am meisten gefielen. Zeichnen und in Thon bossiren, waren daher Erholungsbeschäftigung meiner Kinderjahre. Als ich älter ward, fiel mir die Gestalt und Farbe der Mohren gewaltig auf, vorzüglich in der Farbe und Gesichtsbildung der Schwarzen, welche aus Ostindien oder aus Afrika kamen“. Den Hauptfehler in den künstlerischen Darstellungen der Fremden wollte er korrigieren, wenn er etwa ein prägnantes Beispiel aus der Zeit kritisierte: „Er war ein Mohr durch die Farbe aber ein Europäer an Gestalt.“ Positive Bespiele wieder schienen „mir der Natur getreu gefolgt zu seyn und einen Mohren gut abgebildet zu haben“; ders.: Über den natürlichen Unterschied der Gesichtszüge in Menschen verschiedener Gegenden und verschiedenen Alters, S. VI, S. VII und S. VIII. 43 G. Boehm: Die Wiederkehr der Bilder, S. 32. 44 Ebenso wollte Camper auch eine deutliche Differenz zwischen dem Europäer und den idealisierten Gestalten gewahrt wissen.
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heit zwischen den Affen und den schwarzen Menschen, wenn man beide flüchtig ansieht, hat einige Philosophen zum Äussersten verleitet, nämlich zu der Behauptung: es sey nicht unmöglich, dass eine Vermischung zwischen weissen Menschen und Orang-Utangs oder Pongos stattgefunden habe, aus welcher die Mohren ursprünglich herkämen; auch wohl, dass diese Ungeheuer allmählich durch Erziehung verbessert, und endlich Menschen geworden seyn könnten“.45 Der Hinweis auf das anthropologische Merkmal der Perfektibilität des Menschen war ein Seitenhieb auf Rousseau. Aber Camper ließ sich auf die Niederungen der philosophischen Spekulation gar nicht ein, sondern argumentierte mit anatomischen Unzulänglichkeiten der Affen, welchen es unmöglich sei, anthropologischen Mindestkriterien zu entsprechen, da „die Affen vom grössesten bis zum kleinsten wahre vierfüssige Thiere, schlechterdings nicht zum Aufrechtgehen geschickt und wegen des Baues ihrer Kehle zum Sprechen unfähig“ seien.46 Dabei lehnte Camper die Vorstellung einer Stufenleiter ab, auch wenn diese durch die bildliche Darstellung seiner Schädelmessung suggeriert wird. In seiner 1764 an der Groninger Universität gehaltenen anatomischen Vorlesung Über den Ursprung und die Farbe der Schwarzen wandte er sich gegen die in seiner Zeit populäre Meinung, der „Neger“ sei eine Kreuzung aus weißem Menschen und Affen. Eine wertende Rassendifferenzierung relativierte er: „Wir sind weiße Mohren; wir sind menschliche Wesen, in jeder Hinsicht identisch mit den Schwarzen“.47 Zudem hat sich der Monogenist und Unitarist Camper auf politisch-gesellschaftlicher Ebene in der Abolitionismusdebatte, welche zu dieser Zeit zunehmend Gestalt annahm, ähnlich wie Kotzebue für die Befreiung der „Schwarzen“ ausgesprochen.48 Am Beispiel der Abbildungen Campers wird der visuelle Effekt erkennbar, dass jede Bildkomposition sowohl die Unterschiede als auch die Gemeinsamkeiten der Teile sichtbar macht, je nach in Anschlag gebrachter Rezeptionshypothese.49 Die
45 P. Camper: Über den natürlichen Unterschied der Gesichtszüge in Menschen verschiedener Gegenden und verschiedenen Alters, S. 21. 46 Ebd., S. 21. 47 Petrus Camper: „Redevoering over den oorspong en de kleur der zwarten“, in: De Rhapsodist 2 (1772), S. 373-394; hier S. 391. Zur Übersetzung vgl. R. Visser: Rezeption der Anthropologie Petrus Campers, S. 326. 48 Vgl. zur Fehlinterpretation von Campers Intentionen bezüglich der Debatte um Sklavenhandel und Rassenhierarchie in der Rezeptionsgeschichte ebd., v.a. S. 329f. 49 David Bindman möchte Campers Verantwortung nicht an den jeweiligen Betrachter delegieren: „It is tempting to conclude that the benign intention of Camper’s scale was inadvertently by ist visual rhetoric, but in Foucault’s terms, Camper’s scale is just as much a ‚statement‘ as his verbal denials, and is therefore as valid in terms of its discourse. The scale ‘states‘ that there is a hierarchy of humanity that privileges the European as the
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Interpretation einer Bildaussage hängt mit dem gewählten bildlichen Ausschnitt zusammen.50 Die Darstellung ist immer auch Resultat einer Zuschreibung, welche über die Brücke der mentalen Stereotypen das Korporale im Bild mit dem Bild im Korporalen verbindet, sodass aus der Interaktion zwischen der Imagination und der Bild-Technologie ein spezifisches Verhältnis des Menschen zu den Bildern und damit zu sich selbst entsteht, wie Belting in seiner Bild-Anthropologie beschreibt.51 Insofern war die Aneignung des Bildes als ‚Europäer‘, nahe dem winckelmannschen Ideal und deutlich abgegrenzt zum Exoten und zum Tier, Teil eines anthropologischen Selbstbildes als eigene Identität. Dieses Eigenbild sollte mit jedem energetisch-performativen Akt der Herstellung eines naturgeschichtlichen Werks bzw. dessen Rezeption möglichst stabilisiert werden. Als Instrument dieser Selbststabilisation war die campersche Skalierung als schnell eingängiges und leicht erinnerbares Bild höchst geeignet. Auffallend an den Abbildungen Campers ist die Zuordnung der oberen Reihe der Schädelformen an die untere Reihe, die typisierte Physiognomien sehen lässt. Das stillgestellte Lebendige in der Typisierung wird in Beziehung zum noch stillgestellteren Toten der Schädel gesetzt. Linien zwischen den Schädeln und Physiognomien wiesen auf die Korrelation zwischen ‚lebendigem‘ Gesicht und anatomisch ‚korrektem‘ Schädel. Hier sollte sich im Bild zeigen, dass man das Lebende, wenn man es naturgeschichtlich einordnet, auf die Anatomie bezieht. So wird der transitorischen und damit unzuverlässigen Pathognomik etwas Beständigeres beigefügt, was allein durch das Gehirn längerfristig in seiner Form beeinflusst werden kann. Ein harter Schädel bringt zudem immense Vorteile beim Messen und Klassifizieren, wenn er etwa mit der Hautfarbe des Anderen verglichen wird. Nun ist dabei in den Abbildungen ein bemerkenswerter logischer Fehler festzustellen: Dem Apollokopf wird ein eigener Schädel zugeordnet. Das ist in der empirischen Realität Unsinn, wird aber im vom korrelationistischen Zirkel gespeisten Bild akzeptiert. Im Apollokopf samt Schädel ist das verräterische Bildobjekt zu finden, welches nicht nur auf den performativen Bildherstellungsprozess, wie ihn Camper selbst schildert, sondern auch auf die grundsätzlichen Probleme der Mimesis verweist. Die Zuordnung wirkt wie die Konstruktion der Realitäten in den Ve-
closest to the universal ideal, for Camper shared with Herder and Blumenbach the normal assumption of the period of European aesthetic superiority“; ders.: Ape to Apollo. Aesthetics and the Idea of Race in the 18th Century, Ithaka 2002, S. 208f. 50 Jede Interpretationshypothese hat Einfluss auf die der Wahrnehmung inhärente Selektion des Inputs an Information, was ähnlich wie eine Begrenzung des Bildausschnitts wirkt. Ein Wahrnehmungsbild ist jedoch keineswegs schon ein Bild, da diesem eine pikturale Differenz eignet. 51 H. Belting: Bild-Anthropologie.
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xierbildern Maurits Cornelis Eschers, welche nur auf der Bildebene möglich ist. Betrachtet man Eschers Bilder, wird man plötzlich daran erinnert, dass zwischen Bild und Realität stets eine gravierende Differenz besteht. Der Apollokopf sprengt jedoch nicht nur das wissenschaftliche Bild, denn aus einem anderen Blickwinkel gesehen hält er das Bild zugleich zusammen. So weist seine Anwesenheit auf das, was das Bild alles kann: Das Bild vereint ordnend auf der visuellen Ebene Objekte verschiedenster Provenienz und es projiziert dabei aus dem Raum der Imagination Objekte in seine Darstellung, welche aus der empirischen Naturbeobachtung, aus dem kulturellen Bildreservoire sowie aus dem Bereich des Fabelhaften stammen können. Oberstes Kriterium der bildlichen Zuordnung ist die physiognomische Ähnlichkeit, die sich nach Ernst H. Gombrich zwischen Wirklichkeit und Einzelbild dann herstellt, wenn die Abstraktion von der Bewegung nicht nur ein überzeugendes Abbild von der Maske, sondern auch vom lebendigen Eindruck ergibt.52 Camper simuliert dieses Spiel zwischen Lebendigkeit und Maske bereits auf der Bildebene, indem er das Gesicht durch die Anatomie und die Anatomie durch das Gesicht beglaubigen lässt. Während mit Derrida die Energie der Projektion als Akt der Inszenierung die Repräsentation nicht verlassen bzw. überschreiten kann, war im letzten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts (d.h. noch fast ein halbes Jahrhundert, bevor, Jonathan Crary zufolge, die Krise der Repräsentation begann, weil die sichtbare Welt als Eigenprodukt des Sehapparats in den wissenschaftlichen Blick geriet)53 davon auszugehen, dass all diese abgebildeten Physiognomien etwas repräsentieren sollten, sogar der Apollokopf als schwaches Glied in der Kette. Das dramatisch-projizierte Entwicklungsbild behauptet folglich in seinen Teilen wie auch als Gesamtkomposition eine wissenschaftliche Wahrheit, deren unbewusste Wahrheit zum Verschwinden gebracht wurde. Diese verbindet im Bild das stillgestellte, aber lebendiger erscheinende Fleisch mit dem toten Schädel. Repräsentiert wird auch ein außerbildlicher Bezug: Die Naturforscher der Zeit bezogen ihr Wissen über fremde Menschen und Tiere einerseits aus Reiseberichten, andererseits aus Artefakten, die man ihnen aus fernen Ländern mitbrachte oder zuschickte. Als exponiertes Beispiel mag Blumenbach gelten. Er ist schon deshalb bemerkenswert, weil er die mit Abstand größte und renommierteste Schädelsammlung der Zeit be-
52 In diesem Sinne muss das festgehaltene Bild die Betrachter zur Projektion anregen, um die Abwesenheit der Bewegung zu substituieren. Vgl. Ernst H. Gombrich: „Maske und Gesicht“, in: Ders. u.a. (Hg.), Kunst, Wahrnehmung, Wirklichkeit, Frankfurt/M. 1977, S. 10-60. 53 Jonathan Crary: Techniken des Betrachters. Sehen und Moderne im 19. Jahrhundert, Dresden 1996.
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saß, um 1800 waren es etwa 100 Exemplare,54 Camper konnte hingegen bis zu seinem Tod 1789 nicht einmal mit einem Dutzend Schädel aufwarten – aus heutiger Sicht eine empirische Lächerlichkeit. In diesem Kontext verrät der Kopf des Apolls, dass die fehlende empirische Basis durch mentale, die Wirklichkeit einer Kommunikationsgemeinschaft bestimmende Bildstereotype ersetzt wurde. Camper entwickelte nun, ausgehend vom Profil, seinen sehr einflussreichen Gesichtswinkel, welcher in den Tafeln durch die vertikale Linie vor jedem Kopf geometrisch erfasst wird.55 Er bildet sich als Kreuzung der horizontalen Linie vom Nasenboden bis zum Gehörgang mit der vertikalen Linie von der Stirn über die Nasenwurzel bis zum Vorderrand des Oberkiefers. Dieser Gesichtswinkel sollte es Camper erlauben, sogenannte Nationen über die durchschnittlichen Gesichtszüge vergleichbar zu machen. Während bei Lavater die Physiognomie den typischen Charakter verraten sollte, waren die typischen Gesichtszüge der einzelnen ‚Nationen‘ im ‚Gesichtswinkel‘ formalisierbar, womit sie „naturgetreu“ gezeichnet werden konnten. 1768 gefunden und zwei Jahre später von Camper als Methode an der Amsterdamer Zeichenakademie in Vorlesungen vorgestellt, war der campersche ‚Gesichtswinkel‘ 1778 Thema einer brieflichen Notiz in Lavaters Physiognomischen Fragmenten.56 Hiermit ist der Gesichtswinkel nicht nur ein naturgeschichtliches Vergleichsmaß, er erlaubt auch ein kulturgeschichtliches ‚Ideal‘ als überliefer-
54 J.F. Blumenbach: Ueber die natürlichen Verschiedenheiten im Menschengeschlechte, S. 2ff.; vgl. Thomas Nutz: „Kartographie des fremden Körpers“, in: Claudia Jeschke/Helmut Zedelmeier (Hg.), Fremde Körper, fremde Bewegungen, Münster 2005, S. 193-215, hier S. 196f. 55 Die Geometrisierung und der Gesichtswinkel stehen, von der kunstgeschichtlichen Seite her betrachtet, in einer Tradition der ästhetischen Proportionen; vgl. Umberto Eco: Die Geschichte der Schönheit, München 2004, S. 34f. und S. 61ff. 56 David Bindman vertritt die These, dass „Camper’s use of the profile as evidence is almost certainly derived from Winckelmann’s criteria for dating Greek statues, based on the assumption that coins would be datable to the reign of the ruler represented, and that the profiles would share a common style with statues of the same reign“; ders.: Ape to Apollo. Aesthetics and the Idea of Race in the 18th Century. Ithaka, New York 2002, S. 208. Dass die empirische Basis von Campers Abhandlung nicht nur die ‚Natur‘, sondern auch die Kulturgeschichte ist, zeigt der Hinweis des Herausgebers auf das Fehlen eines besonderen Kapitels über den „Charakter der Antiken in Bildern, Münzen, Intaglios und so ferner“, welches eigentlich zur letzten Tafel gehöre. Entschuldigt wird dies mit der Schwierigkeit Campers, „sich in diesem Lande antike Münzen, Statüen u. s. f. zu verschaffen, welche zur Bestätigung der in diesem Werke enthaltenen Gründe dienen könnten“. P. Camper: Über den natürlichen Unterschied der Gesichtszüge in Menschen verschiedener Gegenden und verschiedenen Alters, S. 67f.
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te, einem Medienwechsel geschuldete Gestalt und somit eine ästhetische Wertung; Camper stellt die rhetorische Frage: „Fragt man itzt: Was ist ein schönes Gesicht? So antworte ich: Ein solches, dessen Gesichtslinie MG mit der Horizontallinie einen Winkel von 100 Graden macht. Die alten Griechen wählten ebenfalls diesen Winkel; doch kann ich nicht bestimmen, ob sie nach eben den Grundsätzen, wie ich, das vollkommene Ebenmass der Theile erhalten haben. Gewiss ist es, dass ein solcher Kopf nie gefunden wird. Auch glaube ich nicht, dass die alten Griechen jemals solche Köpfe gehabt haben; denn weder die Ägyptier, von denen die wahrscheinlich herstammen, noch die Perser, noch die Griechen selbst haben auf ihren Münzen mit Portraits jemals ein solches Gesicht vorgestellt.“ Das „antik Schöne“ wäre somit keineswegs „in der Natur, sondern nur idealisch, nach Winkelmann, so dass die Griechen, wenn sie Römische Kaiser auf ihren Münzen vorstellten, wiewohl sie verpflichtet waren, die Ähnlichkeit beizubehalten, allezeit etwas von diesem idealisch Schönen hinzufügten.“57 Die Performanz des besonderen Bildherstellungsvorgangs wird von Camper schon in seinem Vorwort ausführlich dargelegt, wobei sich die Abhängigkeit der Deutung naturgeschichtlicher ‚Fakten’ von kunstgeschichtlichen Prämissen deutlich zeigt. Er musste „nicht allein nette Abbildungen von den verschiedenen Schedeln verfertigen, sondern auch ein Mittel finden, dieses mit Genauigkeit zu tuhn, welches“ ihm „endlich glückte. Die Zeichnungen mussten darauf bei einander und auf das nämliche Verhältniss gebracht werden.“ Dabei mussten „die antiken Köpfe, als die Kupferstiche der besten Meister“, „aufs neue untersucht und beurtheilt, alte und neue Schriftsteller über die Naturgeschichte des Menschen und über die Zeichenkunst gelesen und ihre Behauptungen gehörig geprüft und wiederholt werden“.58 Die dem kulturellen Diskurs entstammenden ästhetischen Bewertungen, wiewohl auf eine Formel gebracht, waren für Camper durchaus relativ. Die Schönheit des jeweiligen Gesichts hänge zwar „von der verhältnismäßigen Beziehung ab, welche die Theile aus einander haben, wie 1 zu 4, oder 1 zu 3 und dergleichen.“ Dies käme jedoch „bloss von der Gewohnheit, da man es allezeit gesehen hat. Hierzu gehört auch eine gewisse Höhe; zum Beispiel, das Gesicht von der Seite angesehen, darf nicht mehr Breite als Höhe haben, wie es in den Negern und Kalmukken oder bei uns fast so breit als hoch ist“.59 Dennoch scheute sich Camper nicht, bezüglich des Gesichtswinkels von der jeweiligen Nation abhängige Toleranzwerte vorzugeben: „Das Äusserste für die Gesichtslinie bei Europäern sind 10 Grade vor und 10 Grade hinter die Linie H I; alles, was darüber läuft, ist nicht länger schön, oder gefallend, sondern missgestaltet. Bisweilen giebt es auch bei Schwarzen ein
57 Ebd., S. X. 58 Ebd., S. XVII. 59 Ebd., S. 56.
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Maximum und ein Minimum; doch kann ich das Äußerste noch nicht bestimmen, weil ich weder selbst eine hinlängliche Anzahl von diesen Nationen besitze, noch Gelegenheit hatte, sie bei andern zu untersuchen. Die Gesichtslinie möchte aber wohl nicht viel mehr als noch fünf Grade oder bis zu 65 Graden sich neigen dürfen, ohne das Gesicht gar zu affenähnlich zu machen. Auch muss die Gesichtslinie im Affen sich nicht zu viel neigen, oder der Affe gleicht einem Hunde u. s. w.“60 Diese Toleranzwerte definierten sich anhand des Winkels, welcher sich ergibt, wenn man die vertikale Linie um den Drehpunkt am Nasenboden verschiebt. Ausgehend vom „Europäer“ ‚links‘ vom Ideal, welcher einen Gesichtswinkel zwischen 70 und 80 Grad haben sollte, da alles, was darüber ist, „Aehnlichkeit mit Affen aufweist“,61 entwickelt sich die Reihe nach ‚rechts‘ hin in einen Raum, welcher völlig dem kulturgeschichtlichen Ideal und der idealistischen Imagination geschuldet war. Camper zufolge sollte man sich bereits bei der zweiten Figur von links vorstellen, der Schädel sei aus weicher Masse, sodass das Hinterhaupt nach vorne verschoben werden kann.62 So ergäben sich die drei Köpfe, deren Gesichtswinkel zwischen 80 und 100 Grad über dem Toleranzbereich des „Europäers“ liege: Köpfe, die, so Camper, allein „nach Kunstregeln gemacht“ sind.63 Wobei auch im Raum der ‚Kunstregel‘ eine Hierarchie eingezogen wurde; der dritte Kopf der Abbildungen von ‚links‘ (Fig. III) hat noch keineswegs die Idealmaße des vierten (Fig. IV). Während sich bei dem einen Kopf „römische Steinschneider“ mit „95“ Grad „begnügten“, gingen griechische Künstler beim idealen Haupt bis zum Maximum von 100 Grad.64 Ein noch größerer Gesichtswinkel wäre, so Camper, ästhetisch nicht zu vertreten, da in diesem Falle der „Wasserkopf“ drohe. Mit voranschreitender Entwicklung des Anderen auf der Tafel vom ‚Europäer‘ zur antiken Figur verließ Camper den Bereich der naturhistorischen Beobachtung und näherte sich über die kulturelle Tradition dem reinen ästhetischen Urteil an. Damit bewegte er sich über die Brücke der Geometrie auf ein Ideal zu, das der Einbildungskraft und der Vorstellungswelt des Idealismus geschuldet war. Rosenkranz schrieb später über die „geometrischen und stereometrischen Formen“, welche „in ihrer Einfachheit durch die Symmetrie ihrer Verhältnisse eigentlich schön“ sind.“65 Ähnlich wird man dem camperschen Apoll nur eine ideelle Existenz zusprechen können. Wenn man den Gedanken Rosenkranz’ weiterführt, und die ‚Stufenleiter‘ von Apoll wieder zum Tier hinunter‚steigt‘, dann sieht man das vom imaginären
60 Ebd., S. 63. 61 Ebd., S. 21. 62 Ebd., S. 21. 63 Ebd., S. 21. 64 Ebd., S. 22. 65 Karl Rosenkranz: Ästhetik des Hässlichen, Leipzig 1996, S. 20.
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Zentrum Apoll so konstruierte abhängige ‚Hässliche‘. Vulgarisiert entsprach dies der kommenden Negativfolie der ideologischen Zuweisung der Nationalsozialisten 1934 in der Ausstellung Entartete Kunst. Als Gesamtreihe fundierten und veranschaulichten die camperschen Tafeln eine prägnante Theorie, welche anhaltend an Bedeutung gewann, als, um 1800 und danach, nicht nur die Diskussionen der Rassen und der damit verbundenen Unterschiede zunahmen, sondern den Rassen auch vermehrt eine korporal-materielle Grundlage zugeschrieben wurde. Der zur Messung der Prognathie benutzte campersche Gesichtswinkel wurde zu einem Instrument, welches die im 19. Jahrhundert entstehende Anthropometrie entscheidend vorbereitete66 – Camper galt als Begründer der physischen Anthropologie.67 Obwohl schon um die Jahrhundertwende nicht
66 Die Korrelation zwischen Oberflächen-Ästhetik und wertender Interpretation war trotz Georges Cuviers neuer Taxonomie, welche sich auf die innere Struktur bezog, weiter virulent. Im Laufe des 19. Jahrhunderts weitete sich die untersuchte Korporalität vom Objektiv der Schädelmessung, der Craniometrie, zur Anthropometrie, welche nicht nur den fremden, sondern auch den eigenen ganzen Körper umfasste. Das mochte auch damit zu tun haben, dass man in Bezug auf den zu entdeckenden Anderen vermehrt Ganzkörper‚material‘ geliefert bekam, denn Völkerschauen brachten außereuropäisch Fremde ins Land und Ethnologen bereisten die letzten Winkel der sich globalisierenden Welt. Über die Neuperspektivierung der darwinschen Evolutionstheorie wurde aus der anatomischen Nähe des Affen zum Menschen eine entwicklungsgeschichtliche. In den Bildprogrammen und öffentlichen Diskursen konservierte sich der Einfluss der Ästhetik. So fand sich das griechische Ideal des 18. Jahrhunderts überraschend wieder als Indogermane in einer Darstellung Ernst Haeckels aus dessen Natürlichen Schöpfungsgeschichte. Haeckel schrieb dazu: „Das Titelbild dient zur anschaulichen Erläuterung der höchst wichtigen Thatsache, dass in Bezug auf die Schädelbildung und Physiognomie des Gesichts (ebenso wie in jeder anderen Beziehung) die Unterschiede zwischen den niedersten Menschen und den höchsten Affen geringer sind, als die Unterschiede zwischen den niedersten und den höchsten Affen derselben Familie.“ Eingezeichnet wurde in der Tafel dem „‚niederen‘ Menschen“ ein ausgeprägterer „affenähnlicher Gesichtsschädel und den höheren Affen ein mehr menschenähnliches Gesicht.“ Das ideale europäische Eigenbild aus der griechischen Antike wanderte folglich durch die Wissenschaftsdiskurse, ein Vorgang, den W.J.T. Mitchell anhand von bildlichen Darstellungen von Dinosauriern in der Wissenschaftsgeschichte als bildevolutionären Vorgang bezeichnete; ders.: „Paläokunst – oder wie die Dinosaurier im MoMA Einzug hielten“, in: Gerhart Schröder/Helga Breuninger, Kulturtheorien der Gegenwart, Frankfurt/M. 2001, S. 81-104. 67 Für Hans Belting leben wir weiterhin „(und nirgendwo anders als) in unserem Körper, aber wir nehmen an ihm keine Anthropometrie mehr vor (wenn ich den Begriff mal weiter fassen darf). Anthropometrie, wie sie der griechische Bildhauer Polyklet in seinen
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unumstritten,68 war dem Gesichtswinkel eine von den Intentionen des Erfinders losgelöste Popularität beschieden. Nicht die in der Tradition der Aufklärung stehende Gleichheit, sondern die der Konkurrenz des 19. Jahrhunderts geschuldete Differenz machte aus dem vergleichenden Winkel den entscheidenden Unterschied. Dass dabei nur noch der Gesichtswinkel und nicht mehr der begleitende Text Campers Beachtung fand, ist so psychologisch nachvollziehbar wie tragisch. Der Grund für den Missbrauch des Gesichtswinkels entgegen der Intention Campers war zuerst eine Folge der weitreichenden Unkenntnis des Originaltextes, der, weil vermeintlich von einem Künstler stammend, uninteressant erschien.69 Er war aber auch der Power of Images70 geschuldet, wobei eine veränderte Vorstellungswelt im 19. Jahrhundert die Prämissen der klassischen Anthropologie in den Hintergrund drängte. Die Betonung des Biologisch-Natürlichen und des Ökonomisch-Materiellen untergrub die zentrale Position des Menschen innerhalb der Ordnung des Seins, sodass die von Camper als Wahrnehmungshypothese angenommene Einheit des Menschen nicht mehr galt. Die Bilder von sich, dem Anderen und dem Fremden, welche die Verbrechen des 20. Jahrhunderts als mentale Stereotypen fundierten, nahmen eine andere Gestalt an.
Proportionsstudien als erster betrieb, war Körpervermessung mit dem Ziel, am Körper ein Idealbild des Menschen abzumessen. Die griechische Statue entstand wohl ursprünglich mit der Frage nach dem sozialen Status des Körpers und fand für diese Frage in den folgenden Epochen ganz verschiedene Antworten. Die Inventarisierung des Menschen brachte im 19. Jahrhundert dagegen das Körpermessverfahren des Pariser Polizeipräfekten Alphonse Bertillon hervor. Es diente in der Massengesellschaft zur ‚anthropometrischen Identifizierung‘ insbesondere von kriminellen Personen und bestand aus elf verschiedenen Körpermaßen sowie den ‚unveränderlichen Merkmalen‘, die aus heutiger Sicht wie ein Anachronismus wirken“; ders.: „Das Körperbild als Menschenbild“, in: Ders., Bild-Anthropologie, S. 87-113, hier S. 93. 68 So etwa Blumenbach, für den die Fixierung Campers auf den Gesichtswinkel angesichts der Komplexität der differenzierenden anatomischen Merkmale zu einfach war. 69 So die These Robert Vissers, ders.: Rezeption der Anthropologie Petrus Campers, S. 334f. 70 Der Begriff von David Freedberg weist auf die Kraft des Bilds im Alltag, deren grundlegende Unterschätzung einem damals herrschenden „Mythos des Anikonismus“ geschuldet sein solle. Dieser „arises precisely because of our fear of acknowledging that images are indeed endowed with qualities and forces that seem to transcend the everyday, and that we make up the myth because we cannot bring ourselves to acknowledge that possibility”; ders.: The Power of Images. Studies in the History and Theory of Response. Chicago 1989, S. xxiii.
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4.2 D ARWINS I MAGINATIONEN PRÄAVANTGARDISTISCHE
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UND
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Niemals dürfe, so Schiller, die Natur des Mediums über die Form herrschen, dies gelte für das Drama, das Bühnenspiel wie für den Schauspieler. Schon Büchners Woyzeck wäre für Schiller ekelhaft gewesen, den Naturalismus hätte er niemals akzeptiert, ganz zu schweigen vom Surrealismus oder dem Theater der Erfahrung. Auf der naturwissenschaftlichen Ebene vollzog sich eine ganz ähnliche Entwicklung mit Widerständen: von der Idee zum Stoff, vom (Neo)Platonismus zum Positivismus, wobei das eine nicht ohne das andere denkbar gewesen wäre. Alexander v. Humboldt nahm an, dass die Gestaltung des Anderen an feste, sich ewig konstant ausbildende Typen gebunden wäre. Sein Kosmos hielt als Panorama nur auf (neo)platonischer bzw. idealistischer Grundlage zusammen, dieses wurde dann zum Panorama der Entwicklung der evolutionären Lebewesen: Darwin erklärte die Morphologie der Gestalten vorgeblich nicht mehr auf ideeller, sondern auf materieller Ebene. Nachfolgend verdrängte der Naturalismus den Idealismus als innovative Theaterästhetik. Die gemeinsame Geschichte des Menschen und der „niederen Thiere“ leite sich aus der „großen Ähnlichkeit“ sowohl „in der embryonalen Entwicklung als in unzähligen Punkten des Baues und der Constitution“ her.71 Angeregt dachte Darwin über Humboldts Zonen in dessen Kosmos nach und wunderte sich darüber, dass an den Rändern dieser Zonen Überlappungen von verschiedenen Entwicklungsstufen der Arten gefunden werden konnten. Wieso verhielt es sich so? Diese grundlegende Frage motivierte Darwin dazu, seine bahnbrechende Theorie zu formulieren. Im frühen 19. Jahrhundert bildete die idealistische Morphologie die Basis der Biologie. Differenzierungen zwischen Homologien, also Ähnlichkeiten aufgrund
71 Charles Darwin: Die Abstammung des Menschen, Paderborn 2005, S. 686. Letztendlich profitierte Darwin von der Morphologie, auch wenn für Goethe, dem Spiritus rector Humboldts, noch der gemeinsame Bauplan einer Idee geschuldet war, so dass er „die Nothwendigkeit einen Typus aufzustellen [fühlte], an welchem alle Säugetiere nach Übereinstimmung und Verschiedenheit zu prüfen wären“; Johann Wolfgang von Goethe: „Schriften zur Morphologie“, in: Ders., Sämtliche Werke. I. Abt., Bd. 24, hg. v. Dorothea Kuhn, Frankfurt/M. 1987, S. 404. In Darwins Vorstellung von der Abstammung mit Modifikationen wurden der Bauplan, die homologen Merkmale durch Vererbung weitergegeben, während analoge Merkmale, also die bezüglich der Funktion, durch Adaptation und Selektion ausgebildet wurden. So wurde Goethes Urtier bei Darwin zum historischen Vorfahren; die beobachteten Ähnlichkeiten im Bauplan – etwa die zwischen Affe und Mensch – deuteten auf eine mehr oder weniger kollektive Geschichte.
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des Bauplanes, und Analogien, also Ähnlichkeiten aufgrund der Funktion,72 erstellten innerhalb der noch idealistischen Morphologie funktionierende Begriffsrahmen. Mit deren Hilfe konnte man immerhin bereits die Gestalt der Organismen aufgrund der Lebensweise und des Bauplanes analysieren.73 Nur: Woher kamen die Baupläne des Anderen? Die Ähnlichkeit der Skelette der Lebewesen in den Sammlungen war evident. Das Leben des Anderen, die Grundlage der Biologie konnten kein Zufall sein. Wie Camper den staunenden Zuschauern mit seinen Zeichenkünsten ‚beweisen’ konnte, indem er aus einer Zeichnungen mit wenigen Strichen immer wieder neue Tiere entstehen ließ, bildeten für ihn alle Tiere eine Einheit. Sie besaßen aufgrund gleicher Prinzipien ihre Form, hierbei waren sie ein Ganzes aus gleichen Teilen, wie Skelette und letztlich die Anatomien vermuten ließen. Nur der Mensch mit seiner Fähigkeit, auf zwei Beinen zu laufen und auf dem Rücken zu liegen, besäße ein Distinktionsmerkmal. Der Mensch war schon deshalb das vollkommenste Geschöpf, da er aufrecht ging und saß. Quer zu dieser Grenzziehung zwischen Mensch und Tier stand jedoch die anschauliche Evidenz, dass die Wesen aus gleichen Teilen und auch nach gleichen Prinzipien aufgebaut zu sein schienen. So wären sowohl die Fische als auch die Elefanten, die Pferde und die Vögel in die Klasse der vierfüßigen Tiere einzuordnen. Wenn man die Skelette als Anhaltspunkt akzeptierte, konnte man erstaunliche Ähnlichkeiten beim Pinguin, beim Hund und beim Menschen feststellen. Auf diese Weise zeitigte die zoologische Welt bei aller Komplexität eine erstaunliche Ähnlichkeit und Gemeinsamkeit des Anderen. Diese offensichtliche Ähnlichkeit des biologisch Anderen, medial projiziert auf die zweidimensionale Ebene des Zeichenpapiers, unterstützte als Vorstellung eine künstlerische Technik, der es nicht nur darum ging, schnell und leicht Tiere zu zeichnen, sondern diese auch effizient zu verwandeln. Trotz oder gerade aufgrund seines auffallenden Zeichentalentes war sich Camper unsicher, ob er didaktisch erfolgreich war und ob seine Erläuterungen als anwendbare Regeln ausreichend waren, den Künstlern wirklich nützlich zu sein. Er hoffte zudem, „eine etwas erweiterte Einsicht in den Plan des allgemeinen Baues der Tiere geöffnet“74 zu haben, die eine schwer zu ergründende, doch visuell evidente Verwandtschaft der Wesen erkennen ließe. Zu dem Vermögen, Tiere auf der Ebene der Zeichnung schnell zu verwandeln, kam die Theorie des Gesichtswinkels, die quasi die Transformation mithilfe der Geometrie weiterführte. Insbesondere sein Gesichtswinkel erlaubte Camper, eine
72 Thomas Junker: Geschichte der Biologie, München 2004, S. 42ff; Vgl. R. Owen: On the Archetype and Homologies of the Vertebrate Skeleton, London: Van Voorst 1848, S. 7. 73 I. Jahn: Geschichte der Biologie, S. 42ff. 74 Petrus Camper: Akademie, (Utrecht 1792), dt. Übersetzung von G. Schaz, Berlin 1793.
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Entwicklungslinie des Anderen zu konstruieren, die verblüffend den darwinschen Überlegungen ähnelte. Mediengeschichtlich könnte man diese Entwicklung der Bilder in einer Rangreihe extrapolieren und als fortlaufende Linie etwa über Eadweard Muybridge bis zur Entwicklung des Films ziehen. Camper setzte den Menschen auf der Ebene der Zeichnung mit dem Skelett in Beziehung, das Skelett erschien wiederum als vereinfachter Strich auf hellem Grund. In Goethes Fragment über Tierschädel findet man die zugehörigen methodischen Elemente:75 Ein Skelett bildet im Sinne eines Figur-Grund-Modelles ein formales Schema der äußeren Formen, das nüchtern und auf den Punkt gebracht die Komplexität des Anderen zu reduzieren scheint. Die Zeichen treten mit dem Strich als Oberfläche des Skeletts in den Vordergrund, heben sich quasi vom ‚Leben‘ des Anderen ab. Sie verwiesen einerseits auf eine Ebene außerhalb des Lebens, andererseits wirkten sie als ‚wahrer‘, jenseits des ‚Natürlichen‘ existierender Ausdruck, obwohl zugleich ihr Bezug zur Karikatur nicht von der Hand zu weisen war. Goethe verhielt sich in seinen Untersuchungen oft wie ein Osteologe, sucht aber zugleich nach den Spuren des Geistes: Wenn man etwa den Hund betrachte, dann wäre im „Abgehen des Schädels vom Augenknochen“ die „Bestimmtheit der Sinneskraft“ erkennbar. Der Elefant zeige mit seinem Schädel einen „wahre[n] natürliche[n] Ausdruck von Gedächtnis, Verstand, Klugheit, Kraft und – Delikatesse“. So war die auffällige Topographie der ‚Natur‘ als Prägnanz in der Wahrnehmung und zugleich als ‚ideale‘ Linie im Bild die Gestalt des Anderen, an der man sich zu orientieren suchte und an die man glaubte, auch wenn jederzeit die Inversion drohte. Wie auch heute noch ein Blick in den Hauptsaal des Pariser Naturkundemuseums schlagartig deutlich macht, sind die verschiedensten Lebewesen einander, wenn man sie als Skelettformen nebeneinanderstellt, verblüffend ähnlich. Die Skelettform mutet wie eine grundlegende Struktur oder Sprache des Anderen an, ihr Bild lässt leicht so etwas wie einen Grundbauplan alles Lebendigen vermuten. Die Morphologie der Lebewesen und der Natur scheint eine ursprüngliche Idee, ausgezeichnet oder eingeschrieben in das sichtbare Bild des Anderen, indirekt erkennbar werden zu lassen. Goethe verfolgte ganz ähnliche Gedanken. Er suchte nach einer Verbindung von Physiognomie und Geist, nach einer Ursprache der Natur. Schon Diderot erkannte im Vergleich der Gestalten des Anderen in der Natur in den verschiedenen Graden der Ähnlichkeit einen deutlichen Hinweis auf ein Urbild: Ohne Zweifel sähe man, „wie die aufeinanderfolgenden Metamorphosen der äußeren Gestalt des Urbilds – wie immer diese auch gewesen sein mag – ein Reich durch unmerkliche Stufen einem anderen Reich annähern“; wäre „man da nicht geneigt, zu
75 Vgl. J. Baltrusaitis: Imaginäre Realitäten, S. 42f.
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glauben, dass es immer nur ein Urwesen, ein Urbild aller anderen Wesen gegeben“ habe?76 An solchen Beobachtungen anknüpfend sollten die Semiotik und die Physiognomik für Goethe die Vorarbeiten für eine neue Morphologie des Anderen sein. In seinen Überlegungen zu einer vergleichenden Anatomie bemerkte Goethe, dass sich die Semiotik in der Hauptsache mit den „physiologischen und pathologischen Zuständen des Menschen“ beschäftige, insofern „solche mit dem Sinne des Auges gefasst werden. Der Physiognom richtet seine Aufmerksamkeit vorzüglich auf geistige und moralische Anzeichen.“ Von diesem könne der Morphologe lernen, indem er wie der Physiognom die „Aufmerksamkeit auf die zartesten Veränderungen der organischen Natur, nicht allein der Gestalt, sondern auch der Farbe nach“ lenke.77 Goethes Bild der Natur des Anderen ging aufs sprichwörtlich Ganze: „Müssen im Naturbetrachten/Immer eins wie alles achten;/Nichts ist drinnen, nichts ist draußen:/Denn was innen, das ist außen/So ergreifet ohne Säumnis/Heilig öffentlich Geheimnis.“ Seine idealistische Morphologie enthielte dezidiert die „Lehre von der Gestalt, der Bildung und Umbildung der organischen Körper“ des Anderen.78 Mit Blick auf die Organismen ging es um die grundlegenden Baupläne auf Kosten der Funktion, wichtig war der Vergleich der Formen.79 Der Bauplan des Anderen als Typus war das Ergebnis einer Abstrahierung vieler Einzelformen.80 Da für Goethe die Naturgeschichte generell auf Vergleichung beruhte, war die wichtigste Methode der Vergleich der Einzelformen der Anderen.81 Innerhalb einer idealistischen Morphologie waren die auf Lebewesen und deren Organisation angewandten Wahr-
76 Denis Diderot: XII. Aphorismus, Pensées sur L’Interpretation de la Natur, zit. n. Thomas Franke: Ideale Natur aus kontingenter Erfahrung. Johann Joachim Winckelmanns normative Kunstlehre und die empirische Naturwissenschaft, Würzburg 2006, S. 146f.; Ilse Jahn: „Biologie als allgemeine Lebenslehre“, in: Dies., Geschichte der Biologie, S. 274301, hier S. 270ff. 77 Johann Wolfgang von Goethe: „Fragmente zur vergleichenden Anatomie“, in: Naturwissenschaftliche Schriften, Bd. II, Zürich 1952, S. 418. 78 J.W.v. Goethe: Schriften zur Morphologie, S. 365. 79 Vgl. T. Junker: Geschichte der Biologie, S. 42ff. 80 Lorraine Daston und Peter Galison leiten von Goethes Typus ihre Beobachtung her, dass „typische Bilder“ die „anatomische Atlanten vom siebzehnten bis zur Mitte des neunzehnten Jahrhunderts“ dominierten, „wenn auch nicht immer in der von Goethe gefeierten ungetrübten Form“; Dies.: „Das Bild der Objektivität“, in: Peter Geimer (Hg.), Ordnungen der Sichtbarkeit. Fotografie in Wissenschaft, Kunst und Technologie, Frankfurt/M. 2002, S. 29-99, hier S. 42. 81 J.W.v. Goethe: Schriften zur Morphologie, S. 227.
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nehmungsschemata auf ideelle Zusammenhänge und Typen zurückzuführen.82 Dass es Goethe gelang, durch Analogieschlüsse von einer annähernd spekulativen These zum empirischen Nachweis des Zwischenkieferknochens zu gelangen, motivierte ihn, nicht nur an die Existenz weniger, aber relevanter Grundformen zu glauben, sondern diese auf eine Idee zurückzuführen. Er fühlte die „Nothwendigkeit einen Typus“ des Anderen zu ermitteln, an welchem alle Säugetiere „nach Übereinstimmung und Verschiedenheit zu prüfen wären.“ Und so wie er „früher die Urpflanze aufgesucht“, so bemühte er sich nunmehr darum, das Urtier zu finden. Dieses bedeutete für Goethe den Begriff oder die Idee des Tiers.83 Nun war Goethes Morphologie eine extreme Ausformung im Feld der Möglichkeiten einer idealistischen Vorstellungswelt. Aber von einem grundlegenden Typus ganz ähnlicher Art ging sogar Buffon aus; dessen festgelegte Typen galten als Teil von Gottes Konstruktionsplänen,84 der allumfassenden Grundlage der Erschaffung der Arten.85 Folglich wären Homologien auf denselben Grundplan Gottes für verschiedene Tiere und Pflanzen zurückzuführen. Erklären konnte man im 19. Jahrhundert aber kaum oder gar nicht die evidenten Entwicklungen der Arten, die histtorisch, etwa durch Funde oder Ausgrabungen von Fossilien, wie systematisch, durch die Entdeckung exotischer Tiere und Pflanzen, in ihrer Menge und Vielfalt enorm zunahmen. Erst Darwin fand die bis heute überzeugende Lösung. Für ihn lag dem Konstruktionsplan nicht mehr eine Idee, sondern die materielle Abstammung des Anderen zugrunde. Homologe, den Bauplan betreffende Merkmale blieben durch Vererbung konstant, während analoge, auf die Funktion bezogene Merkmale durch Anpassung, durch Adaptation im Spiel von Mutation und Selektion entstanden.86 Wäh-
82 Für Rudolf Kassner erklärt die Morphologie die „Beschaffenheit (der Baum hat die hohe Gestalt, um besser ans Tageslicht zu gelangen)“, die Physiognomik „deutet diese (der Baum hat die hohe Gestalt, weil sein Ganzes auf das Ganze des hohen Waldes verweist. Das Ganze weist aufs Ganze).“ Somit handelt die Morphologie vom „Wandeln und Wandern, von der Entwicklung, vom Werden, (dabei wird immer ein Teil durch den Teil erklärt); die Physiognomik vom Sein der Gestalt, vom Rhythmus, vom Ineinandersein der Wesen, von der All-Einheit“; ders.: Grundlagen der Physiognomik, S. 77. 83 J.W.v. Goethe: Schriften zur Morphologie, S. 404. 84 Vgl. P.J. Bowler: Geschichte der Umweltwissenschaften, S. 117. 85 Vgl. T. Junker: Geschichte der Biologie, S. 42. 86 Ebd.; Charles Darwin: On the Origin of Species by means of Natural Selection, or the Preservation of Favoured Races in the Struggle for Live, London 1859, S. 333 und 434. Dennoch sollte man Darwins ästhetischen, teilweise an A. v. Humboldt geschulten Blick nicht übersehen. Horst Bredekamp bemerkt in der Rezeption darwinscher Schriften, insbesondere der Fahrt der Beagle, zur ästhetischen Seite der evolutionsbiologischen Refle-
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rend ein Jahrhundert zuvor aus morphologischer Sicht ein einheitlicher Bauplan auf die Konstruktionspläne Gottes verwies, stellte sich Darwin fortan die Konstruktionspläne als Hinweis auf eine gemeinsame Geschichte der Organismen vor. Goethes ideales Urtier wurde zu Darwins realen Vorfahren. Dennoch hatten Darwin und die Evolutionsbiologie Goethes Modell eines Urtiers und der idealistischen Morphologie einiges zu verdanken. Die Darwinisten mussten über die Gestaltanalogien, die sie der Anatomie bzw. deren Bildern entnahmen, vieles in der Rekonstruktion der Stammesgeschichte der Organismen mithilfe der Imagination als Entwicklungstableau des Anderen inszenieren. Dieses Entwicklungstableau wies erstaunliche methodische wie ästhetische Ähnlichkeiten zu Humboldts Kosmos auf, auch wenn es sich historisch ausfaltete. Als rein empirisch ermittelte Reihe wäre das evolutionsbiologische Entwicklungstableau oder panorama aufgrund der lückenhaften empirischen Basis der fossilen Funde nicht möglich gewesen wäre.87 Deshalb griffen Evolutionsbiologen trotz aller materialistischer Ansprüche noch entscheidend auf die Imagination, auf innere wie äußere Bilder des Anderen und auf ein gewisses Maß an ästhetischem Vermögen des imaginierenden und skizzierenden Wissenschaftlers innerhalb des korrelationistischen Zirkels zurück. Dass für Darwin die Morphologie und somit eine Form der Gestalt des Anderen „das interessanteste Fachgebiet der Naturgeschichte“ und „ihre eigentliche Seele“ war, verwundert vor dem geschilderten Hintergrund nicht.88
xionen, dass in diesen eine „antik-barocke Vorstellung von der Natur“ zwar fiktiv sei, dennoch von Darwin engagiert benutzt werde, um einen „Begriff für die Präsenz dieses Problems zu haben. Die Natur, so schreibt er, ist die bessere Künstlerin als die Kunst.“ Immer wieder würden Beispiele der Kunst bemüht, um eine besonders ansprechendeigenartige Qualität von Natur darzustellen: „Der Himmel ist für Darwin wie ein Kupferstich in Schabkunstmanier, das Korallenriff erscheint ihm wie ein Stich, bei dem der Rahmen den Brechern entspricht, das Passepartout der Lagune und die Zeichnung der Insel.; auf Ascension, wo ihn seine Sprache in eine Hymne an die Schönheit der Natur treibt, beschwört er die undeutlichen, aber schönen Bilder der Kindheit; er vergleicht die Rinder Südamerikas mit griechischen Skulpturen, er nennt die Verwüstungen des Erdbebens schrecklich-pittoresk, auf dem Gipfel der Kordilleren erklingt ihm Händels Messias, und, und die extreme Klarheit der Luft lässt für ihn die Landschaft wie in einer Zeichnung flächig zusammenfallen; manche Landschaftsbeschreibungen wirken, als hätte Darwin Gemälde Turners vor Augen.“ Kunst und Naturwissenschaften würden über die Einbildungskraft eine nicht unproblematische Gestaltverbindung eingehen; ders.: „In der Wüste des Wassers“, in: DIE ZEITLITERATUR, September 2006, S. 74f., hier S. 75. 87 Vgl. T. Junker: Geschichte der Biologie, S. 42ff. 88 C. Darwin: On the Origin of Species, S. 434. Junker bemerkt zu Recht, dass es in Anbetracht der revolutionären Anmutungen und mentalen Zumutungen der darwinschen Lehre
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Was als platonische Tradition über Goethe, Carus und Humboldt und sogar noch bei Darwin in der Naturwissenschaft im morphologischen Bild des Anderen auslief, obwohl es mehr oder weniger verdeckt weiter virulent blieb, überlebte in der Kunst bis zur (Neo)Avantgarde als artistische Ideenkultur.89 Wie etwa bei Kasimir Malewitschs Schwarzes Quadrat oder Edward Gordon Craigs Maske bzw. Übermarionette verweigerte sich die artistische Ideenkultur dem Zweckdenken und Materialismus, opponierte zumindest indirekt bis heute gegen viele Realismen und alle Naturalismen. Sie hielt zudem weiter die spannende Frage offen, inwieweit der Mensch als der Andere ein Produkt von Zuschreibungen wäre.90 In diesem Sinne notierte Paul Cezanne über seinen modernen Blick in die Natur als das Andere – nicht zufällig in der Zeit der zunehmenden Medienkonkurrenz durch die Fotografie: „Um eine Landschaft richtig malen zu können, muss ich zuerst auch die geologische Schichtung kennen.“ Er „zeichne im Geist ihr steinernes Skelett.“91 Sein konstruktives Sehen, sein Bemühen um die Konstruktion eines selbstständigen Kosmos aus Farbe und Form initiierte die Abstraktion des Anderen in den bildenden wie darstellenden Künsten.
4.3 M EDIALE U MRISSE
DES
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Prägnanter Umriss, Schattenriss, Silhouette und neue Medien bildeten seit der Zeit der Aufklärung und noch mehr im 19. Jahrhundert eine ausgezeichnete Assemblage. Für William Henry Fox Talbot existieren „wenige Dinge im Bereich der Wissenschaft, welche mehr in Erstaunen versetzen, als das allmähliche Erscheinen“ des fotografischen „Bildes auf einem weißen Blatt.“ Büchners Valerio bemerkt zu Leonce, man können „aus ordentlichen Menschen ordentlichen Soldaten ausschnei-
erstaunlich ist, wie viele empirische Fakten, wie viele Begriffe, etwa den der Homologie und Analogie, und wie viele methodische Vorstellungen der Idealistischen Morphologie in kaum veränderter Form von der Evolutionsmorphologie übernommen wurden. 89 Vgl. zur ästhetischen Ideenkultur Beat Wyss: Der Wille zur Kunst. Zur ästhetischen Mentalität der Moderne, Köln 1997, S. 35. 90 Vgl. hierzu S. Pinker: The Blank Slate; Wolfgang Welsch: Mensch und Welt. Eine evolutionäre Perspektive der Philosophie, München 2012; K. Eibl: Kultur als Zwischenwelt. 91 Zit. n. Werner Bloch: Die Melancholie des Berges am Abend, SZ vom 23.12.2006, S. 38. Cezanne argumentiert wie ein Mystiker: „Es gibt Tage, an denen mir das Weltall nur mehr wie eine einzige Flut erscheint, ein luftiger Strom von tanzenden Reflexen, rings um die Ideen der Menschen.“ Das „Farbenprisma ist unsere erste Annäherung an Gott, an unsere sieben Glückseligkeiten, die himmliche Geographie des großen, ewigen Weiß, die diamantenen Zonen Gottes.“
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den, so dass alles ganz natürlich wird.“92 Das Ausschneiden des Anderen als dezidiert-prägnante Wahrnehmungsmodalität war ein Signum der Zeit. Für Lavater war, Schädelanatomie, mediale Anordnung und (neo)platonische Ideenlehre verbindend, der Schattenriss „Gotteswort“93, substanziell abwesend, aber eigentlich das reinste „Gold“.94 Er höbe sich am deutlichsten, da am kontrastreichsten in höchster Natürlichkeit vom Hintergrund ab, während ihn zugleich ein Lichtstrahl als Verlängerung eines unverstellten Blick abtastete.95 Lavaters mediale Sammlung an Schattenrissen hatte eine ähnliche Funktion wie Johann Friedrich Blumenbachs oder Petrus Campers Schädelsammlungen. Die Physiognomik hätte überhaupt keinen „zuverlässigeren, unwiderlegbareren Beweis ihrer objektiven Wahrhaftigkeit“ als die Schattenrisse.96 Die Silhouette offenbarte eine in der natürlichen Erscheinung eingeprägte Charaktereigenschaft, sodass das Bild des Anderen gegen die Intention Lavaters einer späteren Materialisierung, einer Essentialisierung zuarbeitete. Der Schattenriss war nicht allein wissenschaftliche, sondern auch künstlerische Methode, zudem – ausgehend von im 17. Jahrhundert in Europa eingeführten ostasiatischen Schattenspielen97 –, eine gesellschaftliche Mode: Der Darzustellende
92 G. Büchner: Leonce und Lena, S. 11. 93 Johann Caspar Lavater: „Lavater in einem Brief an Herder (30.12.1773)“, in: H. Düntzer/F. G. v. Herder, Aus Herders Nachlaß (3 Bde.), Bd. 2: Briefe an Herder von Lavater, Jacobi, Forster u.a., Frankfurt/M. 1856/57, S. 78. 94 J.C. Lavater: Physiognomische Fragmente, S. 90. 95 Albrecht Koschorke verbindet dies über Böhme mit der hermetischen Tradition: „Im Negativ des Schattens, den er wirft, gelangt der Mensch zur höchsten Stufe der Sichtbarkeit. Er hat kein plastisches Volumen mehr und ist seiner kreatürlichen Existenz enthoben. Seine einzige optische Eigenschaft ist Dunkelheit; und auch die Dunkelheit charakterisiert ihn nicht für sich, sondern als Übergang. Er wird zum Bild, insofern er an der Schwelle zu dem steht, was er nicht ist. Seine Wahrheit liegt in dem Licht, das ihn umtastet; und dieses gleichsam negative Lichtwesen“ ist keineswegs „weit entfernt vom Astralleib der hermetischen Tradition. Der abbildungstechnische Umschlagpunkt, in dem der Körper durch sein Abwesendwerden sichtbar gemacht wird, trägt den Namen, auf dem die Emphase des Physiognomen sowohl wie des Moralisten liegt: ‚Seele’“; ders.: Körperströme und Schriftverkehr. Mediologie des 18. Jahrhunderts, München 2003, S. 149; Hartmut Böhme: „Der sprechende Leib. Die Semiotiken des Körpers am Ende des 18. Jahrhunderts und ihre hermetische Tradition“, in: Ders., Natur und Subjekt, Frankfurt/M. 1988, S. 179-211. 96 Ebd., S. 91; vgl. Victor I. Stoichita: Eine kurze Geschichte des Schattens, München 1999, S. 155. 97 Zu nennen wären das javanische Wayang-Kulit oder Figurenspiele aus der Türkei, aus Thailand, China, Indien und Ägypten; Hans Rudolf Reust: „Animierte Gespenster“, in:
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wurde zwischen eine Kerze als Lichtquelle und einen Papierbogen gesetzt. Die sichtbaren Umrisse des Anderen wurden nachgezeichnet, die Zeichnung mit dem Storchschnabel maßstabsgerecht verkleinert und die Umrisse mit schwarzer Tusche ausgefüllt. Gegebenenfalls wurden die Umrisse auf schwarzes Papier übertragen und das Profil ausgeschnitten. Die Erfindung des mit durchsichtigem Papier versehenen Rahmens in der Anordnung eines Silhouettierstuhls vereinfachte die Prozedur. Schon im 17. Jahrhundert waren Megalografien bzw. Coptografien verbreitet, die die Silhouettierkunst der Scherenschnitte weiterentwickelten. Ein Negativ des zu erzeugenden Bildes diente als Vorlage der Wandprojektion. Die Variabilität der Distanz zur Wand erlaubte eine dramatisierende Größenbeweglichkeit: Plötzlich entstand aus einer niedlichen Figur ein erschreckendes Monster.98 Das Flackern der Kerze erzeugte eine unheimliche Lebendigkeit im Bild des Anderen, zwischen Realismus und grenzüberschreitender Imagination.99 Über die Prägnanz des Umrisses korrespondierte der Schattenriss mit der Karikatur, das Ideale des Anderen mit dem Komischen des Anderen. Was im Schattenriss die Grenze zwischen Gestalt und Hintergrund markierte, wurde in der Karikatur zum überbetonten Strich, der auf den zu verlachenden Makel korporaler und charakterlicher Art verwies. Grandvilles Die Schlagschatten (Les ombres portées) von Grandville aus dem Jahre 1830 für La Caricature konfrontierte die Vertreter des Pariser Bürgerkönigtums mit ihren tierischen Verwandten. Vor dem Hintergrund der symbolischen Lichtmetaphorik erschien das Böse im Komischen als Hässlichem: Jean Paul imaginierte sich den „Teufel als die wahre verkehrte Welt der göttlichen Welt, als den großen Welt-Schatten, der eben dadurch die Figur des LichtKörpers abzeichnet“100 Der Schatten in der Welt als Natur des Anderen regte die Fantasie an, produzierte schon in den Höhlen der frühen Menschen ein Bild, das in den dunklen Stellen die negativen Gefühle einfließen ließ. Gerade der Künstler achte in der Naturbeobachtung auf die Form des Schattens des Anderen. Der Architekt Boullée berichtete von einem Schlüsselerlebnis: „Als ich einst auf dem Lande war, wanderte ich im Mondlicht einem Gehölz entlang. Mein Schattenbild erregte meine Aufmerksamkeit.“ Vor allem die als „Schattenrisse auf den Boden gezeichneten Bäume machten“ einen „tiefen Eindruck. Die Phantasie vergrößerte das Bild, und so nahm“ man wahr, was die „Natur an düsterstem Dunkel“ berge. Die Beobach-
Bodo von Derwitz/Werner Nekes (Hg.), Ich sehe was, was Du nicht siehst – Sehmaschinen und Bilderwelten. Die Sammlung Werner Nekes, Göttingen: Steidl, 2002, S. 10-15, hier S. 11. 98
Ebd., S. 11.
99
Ebd., S. 12.
100 Jean Paul: „Die Vorschule der Ästhetik“, in: Ders, Sämmtliche Werke, 18. Bd. 1. Abt., VII. Programm: Über die humoristische Poesie, § 33, S. 148.
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tung der Natur offenbarte, wenn die Einbildungskraft ins künstlerische Spiel kam, im Schatten die dunkle Seite des Anderen durch die Kraft des Lichts. Das Licht würde ihm, so Boullée, wie er es in der Natur beobachten konnte, „alles aufzeichnen“, was seine „Phantasie erzeugte“.101 Das Schattenspiel sollte als Medium dunkle Bilder der Fantasie in der Naturbeobachtung zugleich produzieren, registrieren und fixieren. Für Boullée ermöglichte dies die Architektur in der Differenz des gestalteten Baustoffs, etwa der glatten Mauer, vor ungestaltetem Hintergrund. Letztlich profitierte – neben der Malerei und der Zeichnung – ein weniger träges, teures und aufwendiges Medium als die Architektur von der Suche nach dem geeigneten Material für die Fixierung der Schatten: die Fotografie. Das Schattenbild als prägnante Form bzw. Gestalt des Anderen vor einem Hintergrund schuf eine mediale Anordnung, der sich technische Neuerungen als technische Medien anpassen ließen. Die Silhouettiermaschine, der Physiognotrace bereitete den Boden für die Daguerreotypie.102 Sie kombinierte drei Techniken der Porträtdarstellung: das Umrisszeichnen der Silhouettenschneider mit dem Pantograf zum Vergrößern oder Verkleinern und dem Kupferstechen. Um 1780 gelang es Charles leider noch nicht, in einer Blackbox mit gebündeltem Sonnenlicht den Schatten eines Abzubildenden auf einem mit Silberchloriden gesättigten Papier zu fixieren.103 Das generelle Problem war, den „natürlichen Abbildern Dauerhaftigkeit“ zu verleihen und ein Verfahren zu finden, wie die Bilder „auf dem Papier fixiert werden könnten“.104 Einige Jahre später erfolgte der mediale Sprung vom Schattenriss zur Fotografie, William Henry Fox Talbot nannte seine Erfindung der Fotografie mittels Negativ „the art of fixing the shadow“.105 Er arbeitete mit Willi-
101 Etienne-Louis Boullée: Architecture, essais sur l’art, zit. n. Georg Germann: Einführung in die Geschichte der Architekturtheorie, Darmstadt 1980, S. 225f. 102 B.v. Derwitz/W.Nekes: Ich sehe was, was Du nicht siehst, S. 444. 103 Dass der Schattenriss medialer Vorläufer des Films ist, machte u.a. die Münchner Installation Peter Greenaways zum 100-Jährigen Jubiläum des Films deutlich, welche die abgelaufenen Jahreszahlen an verschiedene Wände projizierte; vgl. Wolfgang Kemp (Hg.): Theorie der Fotografie I 1839-1912, München 1999. 104 Ebd. 105 [William] Henry Fox Talbot: „Der Stift der Natur“, in: Wolfgang Kemp (Hg.), Theorie der Fotografie I 1839-1912, München 1999, S. 60-63, hier S. 60. In diesem Sinne machte schon Walter Benjamin die wahrnehmungspsychologische Erkenntnis der Differenzierung von Figur und Grund als Fundament der Bildmedien bewusst: „Unter den der Fotografie vorhergehenden Erfindungen sind die Lithographie (1805 durch Senefelder, einige Jahre danach in Frankreich durch Philippe de Lasteyrie eingeführt) und der Physionotrace zu berücksichtigen, der seinerseits wieder eine Mechanisierung des Verfah-
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am Hyde Wollastons Camera lucida, deren Funktion darin bestand, Objekte nach der Natur abzuzeichnen.106 Dies führte mit seinen medialen Über-Zeichnungen der Natur eine Entwicklung weiter, welche mit Thomas Wedgewood Ende des 18. Jahrhunderts begann, als dieser mithilfe von lichtempfindlichen Substanzen versuchte, Bilder der Camera obscura zu fixieren. Diese Bilder sollten in der Steingutfabrik seiner Familie die Produktion von Geschirr effizienter gestalten. Leider waren die Abbildungen auf den Produkten zu schwach, aber Blätter und Insektenflügel konnte man so schon aufprägen. Talbot nahm diese Tradition auf und experimentierte seit den 1830er-Jahren, indem er sich daranmachte, Papier zu belichten. Er stellte Fotogramme her, präparierte das Papier, auf das er die Objekte legte, mit Silbernitrat und Salzlösung und belichtete das Ganze anschließend mit Tageslicht. Die Form-Hintergrund-Abbildung konnte er mit Kochsalzlösung fixieren, so entstand 1835 das früheste noch erhaltene Negativ. Nachdem Daguerres Erfindung um die Welt gegangen war, schaffte Talbot es 1840, das Papier so zu sensibilisieren, dass die Belichtungszeit auf einige Sekunden verkürzt werden konnte. Das mit Gallussäure-Silbernitratlösung entwickelte Papier-Negativ wurde transparent, indem Bienenwachs zur Anwendung kam. Im fotogenischen oder skiagrafischen Prozess wurde durch ein Bild die Produktion eines weiteren Bildes ermöglicht, wobei sich im Spiel von Gestalt und Hintergrund Licht und Schatten vertauschten.107 Indem Talbot es auf Salzpapier legte, schuf er als Positiv ein Salzprint.108 In dieser Umkehrung spiegelt sich das naturhafte Verhältnis von Körper und Schatten wider. In diesem Sinne sprach Talbot vom „Zauber unserer natürlichen Magie“, mit dem sich
rens des Silhouettenschneiders darstellt“; ders.: Das Passagen-Werk. Zweiter Band, Frankfurt/M. 1982, S. 829. 106 Vgl. zur Camera lucida Jill Austin: The Camera Lucida in Art and Science, Bristol 1987; Larry J. Schaaf: Tracings of Light: Sir John Herschel & the Camera Lucida, San Francisco 1989; Brian Warner und John Rourke: Flora Herscheliana: Sir John and Lady Herschel at the Cape, 1834 to 1838, Houghton, Südafrika 1996. 107 Vgl. Hubertus von Amelunxen: Die aufgehobene Zeit. Die Erfindung der Fotografie durch W. H. Fox Talbot, Berlin 1989, S. 26, 33 und 60. 108 Für Michel Frizot konnte nur die mediale Umsetzung der Fotografie eine „Form der Sichtbarkeit der Dinge – oder ihrer visuellen Wahrnehmung über ihr Bild – mit sich bringen, die man als negative Bildlichkeit definieren kann“. Es handele sich um die „Wahrnehmung einer Figur auf einem Grund, bei der die Helligkeitswerte im Vergleich zur standardisierten Deutung von Bildern verkehrt worden waren“, letztlich um eine „negative Ikonizität“. Paradox sei, dass das menschliche Gehirn die Negativität verstehen, die Augen jedoch nicht „negativ sehen“ könnten. Hierbei übersieht Frizot etwa die Tradition der Schattenspiele; vgl. Michel Frizot: „Negative Ikonizität. Das Paradigma der Umkehrung“, in: P. Geimer (Hg.), Ordnungen der Sichtbarkeit, S. 433.
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„das Vergänglichste aller Dinge, ein Schatten, ein Sinnbild für alles, was flüchtig ist“, dauerhaft in ein Bild transponieren ließ.109 Heute sprechen wir von Zu-Schreibung des Anderen, das erste mit Fotografien versehene Buch der Welt von Talbot hat 1844 den vielsagenden Titel Stift der Natur. Der Akt der Inszenierung des Anderen in der Fotografie ist für Talbot in der Fotografie kein stupides Abbilden des in der physikalischen Wirklichkeit Gegebenen. Er ist mit Vorstellungen, Erinnerungen, Gedanken und Assoziationen verbunden. Der ‚Stift der Natur‘ wird wie der Pinsel des Malers einen ästhetischen Mehrwert ins Bild bringen, der über eine reine Verdopplung der empirischen Realität hinausgeht. Was Blanchot zum Text bemerkte, galt auch für die Fotografie: das Paradox, dass die Konservierung des Lebens zugleich den Tod bedeutet; für Barthes ist der Andere in der Fotografie „ganz und gar Bild geworden“, konkret „der Tod in Person“.110 Lavater glaubte, in der Stillstellung des Schattenrisses neuplatonisch das Eine (griechisch hen) als das Gute, die absolute Einheit und Fülle zu erlangen, von dem sich alles Sein und alle Schönheit herleitete. In der säkularisierten Vorstellungswelt der Moderne ging diese Verbindung verloren, während der korrelationistische Zirkel ohne transzendentales Signifikat eine ‚subjektive‘ und zugleich der symbolischen Ordnung geschuldete Projektionsgestalt des Anderen (als Schattenriss) in Szene setzte, die entgegen der vielfältigen, multiperspektivischen, bewegten und sich bewegenden, performativen ‚Natur‘ kein Lebensbild, sondern vielmehr ein Bild des Todes schuf. Die mortifizierend-mediale Stillstellung des Lebens bzw. der Existenz des Anderen verwirklichte sich in der späteren Anthropometrie, in der u.a. etwa Francis Galton versuchte, mithilfe der Fotografie das ‚wahre‘ Verbrechergesicht zu ermitteln. Dass im Endeffekt Galtons Kompositbilder von Verbrecherfotos eher attraktiv wirkten, ist nicht nur eine mediengeschichtliche Pointe und aus der Sicht der Schönheitsforschung ein gar nicht so überraschendes Ergebnis; es verweist über die ästhetische Wirkung des Durchschnittsbilds des Anderen, das sich durch das Kompositverfahren ergab, auch auf die alte neoplatonische Erklärung der Schönheit zu-
109 H.v. Amelunxen: Die aufgehobene Zeit, S. 26, 33 und 60. 110 R. Barthes: Die helle Kammer, S. 23 und 102. Grundsätzlich mochte gelten, dass die Leere der Zwischenräume, die die Umrisse bzw. prägnanten Linien der Bilder im Vergleich zum ‚Leben‘ erkennen ließen, die Sehnsucht nach dem absoluten Bild steigerten. Was dem ‚Schattenbild‘ der Fotografie fehlte, sollten die bewegten Bilder als Abfolge der fotografischen Bilder leisten. Die Performanz des einstmals flackernden Schattenbildes wanderte in den Zwischenraum der Bilder, sie führte zum Film, welcher über das Nachbild des Auges und die Geschwindigkeit des Bilderwechsels möglich wurde. Letztendlich war aber auch der Film nur eine Täuschung des Auges, auch ihm gelang es nicht, die ‚Wahrheit‘ des Anderen zu repräsentieren.
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rück, wobei der empirisch-mathematische Durchschnitt so etwas wie eine Form wäre, die über ihre Einheit und Schönheit auf das ‚Eine‘ als absolute Einheit verwiese. In der Typisierung auf der Bühne, in Sessas Judenfiguren, in Nestroys „großartigen, chargirten Conturzeichnungen“111 oder den tier- und kindernahen Exotenfiguren, schlich sich in der Überzeichnung der charakterleitenden Linie nicht nur die Verfehlung des Anderen, sondern auch der stereotypengeleitete mentale Übergriff auf den Anderen ein, dem oft ein realer, gewaltsamer Zugriff folgte. Die ÜberZeichnung des Anderen bedeutete den Übergang vom Charakterbild zur bewussten oder stereotyp-unbewussten Karikatur. Hogarths Kupferstich von Wandernden Schauspielern in einer Scheune zeigt das Prinzip der dialektisch montierten gegenseitigen Entwertung des Anderen.112 Komische Kontraste zwischen heroischer Pose in auffallendem Kostüm und schäbigem Schauspieleralltag schließen direkt an die Differenz von Rolle und ‚Wahrheit‘ an. Zum eigenen Bild gehörte die ständige Gefahr der Ent-Deckung und die Angst, dass man sich vor den Anderen lächerlich machte, weil diese einen Kontrast zwischen Eigen- und Fremd-Bild bemerkten. Hogarth wandte, wie er in seiner Autobiografie schrieb, seinen „Blick auf ein neueres Genre, nämlich auf das Malen und Stechen moderner Lebensbilder“. Sein „Wunsch war, auf der Leinwand Bilder wiederzugeben, die den Aufführungen auf der Bühne gleichen“, sein Ziel war, seinen „Stoff zu behandeln wie ein Dramatiker“. Seine Bilder des Anderen waren ihm seine „Bühne“, Bildfiguren seine „Schauspieler, die durch gewisse Gesten und Stellungen ein stummes Spiel vorführen.“113 In der Physiognomie offenbart sich das ‚wahre‘ Gesicht des Menschen in der karikativen Zuspitzung, die sich dem tierischen Ausdruck nähert. Mit Berger und Luckmann geht es um eine vom menschlichen Subjekt produzierte Typisierung, der nun ein ontologischer wie auch totaler Status zugeschrieben wurde, wobei die Typisierung, auch wenn „sie internalisiert wird, doch nur einen Teil des Selbst“ objektivierte. Bezüglich der Frage nach dem Jüdischsein konnte dies aus soziologischer Sicht als Verdinglichung funktionieren – vom trivial-naiven „Was jedermann vom Juden weiß“ bis zu biologistischen Rassismen („Jüdisches Blut“), ausgrenzender Psychologie („Jüdische Seele“,) oder gar metaphysischen Spekulationen („das Geheimnis Israel“). 114 Der korrelationistische Zirkel von Kant bis Watzlawick bot keinen
111 Franz Pietznigg [Ermin]: Die Wiener Volkskomiker, in: Der Sammler vom 11.10.1836, S. 488. 112 Wilhelm Fraenger: „Das Burleske“, in: Ders., Formen des Komischen. Vorträge 19201921, S. 34-58, hier S. 41. 113 Maria Leitner (Hg.): William Hogarths Aufzeichnungen, Berlin 1914, S. 12f. 114 Peter L. Berger/Thomas Luckmann: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit, Frankfurt/M. 1998, S. 98.
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Ausweg, ganz im Gegenteil, man muss Walter Laqueurs Gesichter des Antisemitismus wörtlich nehmen. Karl Valentin bringt es auf den ausschließenden Punkt: „Der Einheimische kennt zwar den Fremden nicht, erkennt aber auf den ersten Blick, daß es sich um einen Fremden handelt.“ Für Richard Wagner fällt der Jude „uns im gemeinen Leben zunächst durch seine äußere Erscheinung“ auf, „die – mögen wir nun einer europäischen Nationalität angehören, welcher wir wollen, etwas dieser Nationalität unüberwindlich unangenehm Fremdartiges hat.“115 Das stereotype Bild des Juden behauptete ‚typische‘ Gesichtszüge und Körperformen, die erkannt werden könnten, dies war zu Beginn des 19. Jahrhunderts eine weit verbreitete Meinung.116 Sie wurde durch Stereotype grundiert, die sich spätestens am Ende des 18. Jahrhunderts verfestigt hatten, denn zu dieser Zeit war in der Vorstellung zumindest der gebildeteren Schichten eine national jüdische Physiognomie eine mehr oder weniger ausgeprägte ‚Tatsache’.117 Die Assoziation einer ‚jüdischen Physiognomie‘ mit Hässlichkeit entwickelte sich jedoch bereits deutlich früher. Über einen längeren Zeitraum entstand ein sich performativ verfestigender Eindruck, der dem Anderen über die behauptete Hässlichkeit einen amoralischen Charakter zuschrieb. Schon Herder erkannte, dass das Vorurteil der Hässlichkeit generell „ewig bleibt, sich als Natur, als dargestellte Wahrheit unvermerkt eindrückt und Geschlechter hinab Unheil anrichtet.“118 Noch in Rosenkranz’ Ästhetik des Hässlichen wird 1853 die These vertreten, dass „im tiefsten Grunde das Schöne mit dem Guten Eines“ wäre. Das Hässliche hinge „an und für sich mit dem Bösen“ zusammen, für die populären Bühnen des 19. Jahrhunderts mochte dementsprechend gelten, dass die oberflächliche Erscheinung einer Bühnenfigur direkt auf den Charakter verwies.119 Das Allgemeine baute auf historisch konkrete Diskriminierungen: 1688 wurden in Scrivers Seelenschatz
115 Richard Wagner: „Das Judentum in der Musik“, in: Ders., Die Kunst und die Revolution. Das Judentum in der Musik. Was ist deutsch?, hg. u. komm. v. Tibor Kneif, München 1975, S. 51-77, hier S. 57. 116 Vgl. Rainer Erb: „Die Wahrnehmung der Physiognomie der Juden: Die Nase“, in: Heinrich Pleticha (Hg.), Das Bild des Juden in der Volks- und Jugendliteratur vom 18. Jahrhundert bis 1945, Würzburg 1985, S. 107-126 hier S. 107. 117 Vgl. Sander L. Gilman: „Der jüdische Körper: Gedanken zum physischen Anderssein der Juden“, in: Die Macht der Bilder. Antisemitische Vorurteile und Mythen, hg. v. Jüdischen Museum der Stadt Wien, Wien 1995, S. 168-179, hier S. 168f.; R. Erb: Die Wahrnehmung der Physiognomie der Juden: Die Nase, S. 107. 118 Johann Gottfried Herder: „Plastik. Einige Wahrnehmungen über Form und Gestalt aus Pygmalions bildendem Träume“, in: Ders., Werke, hg. v. Karl-Gustav Gerold, Bd. 1, München 1953, S. 699. 119 K. Rosenkranz: Ästhetik des Hässlichen, S. 325.
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Juden als makelbehaftet und hässlich beschrieben, sie seien „blaß und gelbe, oder schwarzlich“, hätten „große Köpfe, große Mäuler“ und „aufgeworfene Lippen, herführstehende Augen, und Augen-Wimmer als Borsten, große Ohren, krumme Füsse und Hände, so ihnen über die Knie hinhängen, große unförmliche Warzen“, insgesamt sei ihr Körper nicht „Symetrice und schicklich proportioniret gewesen.“120 Johann Jacob Schudt berichtet in seinen „Merckwürdigkeiten aus den Jahren 1714 bis 1718“, dass in der Erscheinung „der Jud gleich hervor guckt, an der Nase, Lippen, Augen, auch der Farbe und der gantzen Leibes-Positur.“121 In Zedlers UniversalLexikon aus dem Jahr 1735 seien sie „einem ein Eckel und Grauen, und Stanck und Unfalt machet sie abscheulich.“122 Sogar für Camper gäbe es „keine Nation, welche sich so sehr unterscheidet wie die Juden: Männer, Frauen, Kinder, selbst wenn sie eben geboren sind, haben das Kennzeichen ihrer Herkunft.“123 Obwohl klar zu sein schien, dass Juden an ihrer unveränderlichen Physiognomie erkennbar seien, herrschte paradoxerweise die Angst, Juden nicht identifizieren zu können, insbesondere nach der modernen Assimilation der Juden. So las man am Ende des 19. Jahrhunderts, Juden hätten die „bemerkenswerte Fähigkeit, eine neue Schale anzunehmen, ohne darunter aufzuhören Jude zu sein“; und noch schlimmer: Nun hatte sich das Stereotyp essentialisiert, so habe der Ostjude „etwas von einem Reptil an sich“, etwas „Windendes und Kriecherisches, etwas Schleimiges und Klammes, von dem sich auch ein gebildeter Israelit nicht immer befreien“ könne. Dies wäre eine „Qualität, die ihn erneut“ in einen „Orientalen“ verwandle, es wäre ein „Rassemerkmal, ein Laster, das mit dem Wasser und Salz der Taufe nicht immer abgewaschen werden kann.“124 Ob genetisch oder milieubedingt oder eine Kombination von beidem, einig war man sich darüber, dass Juden entweder hässlich waren – bzw. dem widersprechend sexuell aufreizend – oder sich gut verstellen konnten. Im Kommentar zu den Bildern des NS-Films Der ewige Jude, der die diskriminierende Tradition der physiognomischen Ausgrenzung auf filmischer Ebene bündelte, wurden tradierte stereotype Elemente kombiniert, wobei die einstmalige ‚Schmarotzerpflanze‘ in Parallelmontagen zur ‚Ratte’ wurde. Juden würden, so heißt es im Filmkommentar, „nicht arbeiten, sondern schachern“, der Handel sei ihr
120 Scrivers Seelenschatz, 1688, zit. n. Johann Jacob Schudt: Jüdische Merckwürdigkeiten, Frankfurt und Leipzig 1714-1718. II, S. 369. 121 Ebd. 122 Johann Heinrich Zedler: Universal-Lexikon, Bd. 14, Leipzig 1735, Sp. 1500. 123 P. Camper: Über den natürlichen Unterschied der Gesichtszüge in Menschen verschiedener Gegenden und verschiedenen Alters, S. 7. 124 Anatole Leroy-Beaulieu: Israel among the Nations: A Study on Jews and Antisemitism, N.Y. 1893, S. 178.
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„Element“, sie drängten „sich zum Handel, weil er ihrem Charakter und ihrer natürlichen Veranlagung“ entspräche. Der Charakter wäre deutlich sichtbar, vor allem das Gesicht entberge die ‚Natur‘: „Sie tragen die jahrtausendalten Züge des ewigen Schmarotzertums im Gesicht, die Züge des ewigen Juden, der sich durch den Lauf der Zeiten und weltweiten Wanderungen stets gleich geblieben ist.“ Und wie schon in der Aristoteles zugeschriebenen Physiognomonica wird der ruhelose ‚Charakter‘ über den Ahasvermythos mit animalen Gestalttypologien verbunden: „Eine verblüffende Parallele zu dieser jüdischen Wanderung durch die ganze Welt bieten uns die Massenwanderungen eines ebenso ruhelosen Tieres – der Ratte.“ Das Wandern und die Verstellung sollten dabei Symptome einer jüdischen Weltverschwörung sein, die letztlich den Holocaust legitimerte; immerhin stelle das „Parasitenvolk der Juden“ einen „großen Teil des internationalen Verbrechertums.“125 Dass Zuschauer falsche, aber mit schrecklichen Folgen verbundene Parallelen ziehen konnten, war das Resultat einer mentalen Stereotypisierung auf der Basis des korrelationistischen Zirkels, die sich paradoxerweise als essentialistisch zu verstehende, unveränderbare Gestaltkonstanz ausgab; zu dieser trugen die medialen Fixierungen der Schattenlinie, die Physiognomik, die idealistischen Prägnanzen und die naturwissenschaftlich-klassifikatorischen Verortungen am unteren Ende eines entwicklungsgeschichtlichen Kontinuums enorm bei.
4.4 D IE N ATURALISIERUNG
DES ANDEREN
G ESCHLECHTS
Ganz ähnlich wie die Mechanismen der Ausschließung der Juden funktionierten diejenigen der intelligent-selbstbewussten Frau in Charlotte Birch-Pfeiffers Die Grille, einem ländlichen Charakterbild in fünf Akten aus dem Jahr 1856. Es wurde sowohl im Theater an der Wien – wobei das Premierendatum leider nicht bekannt ist – als auch am 11. Mai 1856 am Burgtheater uraufgeführt.126 Das Charakterbild arbeitete mit einer prägnanten Physiognomik der Natur, die im Nebentext als ländlicher Raum detailgetreu vorgestellt wird. Sie wird wie in A. v. Humboldts Kosmos in verschiedene Sektoren aufgeteilt.127 Das skizzierte Bühnenbild erscheint als Re-
125 Der ewige Jude. NS-Propagandafilm (Deutschland 1940, R: Fritz Hippler); Kommentar protokolliert in: Wolfgang Benz: Bilder zum Juden. Studien zum alltäglichen Antisemitismus, München 2001, S. 9. 126 In Berlin kam es am 22.12.1856 auf die Bühne der königlichen Schauspiele. Vgl. Birgit Pargner: Charlotte Birch-Pfeiffer (1800-1868). Eine Frau beherrscht die Bühne, Bielefeld 1999, S. 177. 127 „Freie Gegend. Rechts in der zweiten Coulisse auf einem kleinen Hügel das Haus der alten Fadet, von Bäumen überdacht. Links gradaufsteigende Felswände, in der ersten
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sultat eines physiognomischen Blicks, der die Natur ordnet und einrichtet. Inszeniert wird eine dichte Atmosphäre, in der sich innerhalb des Bühnenraums die Figuren typisiert einfügen. Die Dramaturgie Birch-Pfeiffers reflektiert in ihren Grundkonflikten der Ausschließung und des Kampfes um Anerkennung die Frage, wie vor einem geordneten Natur-Raum als Bild die passende Gesellschaftsordnung, das Verhältnis zum Anderen sowie das entsprechende Erscheinungsbild der Figuren auszusehen haben. Insbesondere geht es im Stück um die Frage nach der Stellung der unangepassten, selbstständigen Frau in einer traditionell-ländlichen Gesellschaft. Im Vordergrund der Handlung stehen die physiognomischen Merkmale einer ausgeschlossenen Anderen, die sich sukzessive ihr Recht auf Zugehörigkeit erkämpft und schlussendlich den begehrten männlichen Helden als Ehemann gewinnt. Die Schauplätze sind zwei Dörfer im südlichen Frankreich, die Handelnden Bauern. Fanchon, deren Spitznamen den Stücktitel bildet und der von vorneherein darauf hinweist, dass die Hauptfigur eine Grille hat, sie also keineswegs den Normalitätsanforderungen der Mehrheit genügt, ist Enkelin einer Frau, die alleine wohnt und – wie überall erzählt wird – gefährlich sein soll. Wie in Nestroys Talisman wird der alte Hexenverdacht funktionalisiert, zumal sie „mit ihrem höllisch klugen Kopf“ weit „mehr weiß, als der Herr Pfarrer und unser Maire zusammen“128. Birch-Pfeiffer formulierte feministisch eine Kritik an den üblichen Geschlechterstereotypen.129 Innerhalb der ‚natürlichen‘ Umwelt subvertierte die Autorin die Gleichsetzung von weiblichem Geschlecht, Aussehen, gesellschaftlicher Position, Intelligenz, Wissen und Anpassungsbereitschaft. Der zugeschriebene bösartige Charakter spiegelt sich im Aussehen der Großmutter, einer „Greisin von einigen sechzig Jahren mit scharfen, stark markierten“ Zügen. Alles „alt, zerflickt, bettelhaft. Sie geht gebückt an einem Krückstock, ihre Stimme spitz und gellend.“130 Noch schlimmer als die alte soll die junge ‚Hexe’ sein, sie wird als Kobold be-
Coulisse ein kleiner praktikabler Hügel oder Steinbank. Quer über die Bühne im Mittelgrund läuft ein schmaler Fluß, von Schilfgras und hohen Wasserpflanzen begrenzt; einige Stufen führen nach einer ländlichen Brücke, die sich schräg von der rechten Seite nach der linken hinüber zieht zu einem Fußsteig, der in die Höhe führt und links in den Felsen verschwindet. Die ganze linke Seite der Bühne besteht aus Felsstücken und wenig Baumwuchs, die rechte ist von Bäumen begrenzt; die Mitte der Bühne hinter dem Flüßchen mit Erlen und Gestrüpp bedeckt, tief im Hintergrund eine freie von Wasser durchschnittene Gegend. Abendröthe“; Charlotte Birch-Pfeiffer: „Die Grille“, in: Dies., Gesammelte Dramatische Werke. Bd. 15, Leipzig 1876, S. 1-120, hier S. 11. 128 Ebd., S. 6. 129 Vgl. hierzu u.a. Ida Ahrendt-Schulte: Weise Frauen – Böse Weiber. Die Geschichte der Hexenverfolgungen in der Frühen Neuzeit, Freiburg i. Br. 1994. 130 Ebd., S. 12.
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schrieben, als „ganz boshafte, unheimliche Creatur“ und die „Plage aller ehrbaren Leute im Dorf“. Zudem gilt sie als „neugierig wie ein Rothkelchen, geschwätzig wie eine Elster“ sowie „hässlich und faul wie eine Grille.“131 Bevor die junge Frau leibhaftig die Bühne betritt, wird sie bereits (tier)physiognomisch ausgezeichnet. Gut meinende Beurteilungen imaginieren einen anarchisch-ungebildeten Charakter, der noch erzogen werden könne: „Lustige Kinder sind selten von Herzen böse“. Assoziiert werden tierisches und wildes Verhalten: Mit dem Satz „Putt! Putt! Putt! – Hier, mein Hühnchen, hier! Putt! Putt! Putt!“132 springt Fanchon einem flatternden Huhn hinterher, durch das Fernster in den Spielraum, „nimmt rasch einen Schemel, ohne sich um die Anwesenden zu bekümmern, eilt zum Tisch, setzt ihn hinauf, trägt sich dann einen Stuhl zum Tisch, ist mit einem Satz auf dem Tisch, dann auf dem Schemel, reißt sich die Schürze ab und wirft sie dem Huhn über den Kopf.”133 Korporal-motorische Fremdheit, wenn nicht gar A-Sozialität zeichnet ihren ersten Auftritt aus. Den entwertenden Blicken der Anderen begegnet sie mit Gleichgültigkeit: „Die Menschen machen sich nichts aus mir, warum soll ich mir was aus den Menschen machen?134 Ihre Auftritte evozieren entweder Aggression: „Ich könnt den kecken Balg erwürge“, oder Verständnis ob der schwierigen häuslichen Lage: „Man muss Nachsicht haben mit dem verwahrlosten jungen Ding; sie ist wild aufgewachsen.“135 Auf dem Heiratsmarkt, den üblichen Festen der Jugend hat sie keine Chance: Dort sind die jungen Mädchen „geputzt in französischer Bauerntracht, kleidsam und zierlich, Blumensträuße vor der Brust, niedliche weiße Häubchen und Jede eine Blume auf dem Kopf“.136 Begehrtes männliches Objekt ist Didier, der Bruder des Helden, ein „zarter, schlanker Jüngling“, das „Hemde offen, ein seidenes Halstuch hängt nachlässig geschlungen um seinen Nacken, sein langes blondes Haar um Gesicht und Schläfe.“137 In Kontrast zum modisch gekleideten Beau bleibt Fanchons Kostüm „auffallend, und sichtlich nicht für ihre Gestalt gefertigt.“138 Die innere Unstimmigkeit in der Gestalt der für eine Liebesgeschichte typischen Cinderellafigur, ihre Amorphie und Asymmetrie verkörpert den Verdacht der Anderen. Anzunehmen ist, dass aus dem unpassenden Kostüm Fanchons das attraktive Gesicht einer Schauspielerin hervorstach, um den schönen und guten Charakters des ‚hässlichen Entleins‘ früh anzudeuten, zumal die Umwelt argwöhnt, die seltsame Zuneigung
131 Ebd., S. 7. 132 C. Birch-Pfeiffer: Die Grille, S. 7. 133 Ebd., S. 8. 134 Ebd., S. 10. 135 Ebd., S. 10. 136 Ebd., S. 31. 137 Ebd., S. 14. 138 Ebd., S. 35.
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des attraktiven Helden zur ‚hässlichen‘ Außenseiterin sei nur aufgrund von Hexerei möglich. In diesem Vorwurf manifestiert sich die typische Fremdheitsgestalt der Femme fatale,139 eigentlich eine männliche Angstprojektion von Lillo über Schiller bis zu heutigen Männerphantasien in James-Bond-Filmen. Damit konvergieren direkt und indirekt sexuelle Motive, an die Stelle der exotisch-erotischen passiven Figur rückt die intelligente und selbstständige aktive Frau als die Andere, die Birch-Pfeiffer als erfolgreiche Schauspielerin und Autorin selbst war. Mit dem Rekurs auf die Tradition der Hexenverfolgungen stellte sie das Los der klugen sowie selbstbewussten Frau in einen kritischen Kontext. Freilich negierte die Autorin die Grenzen nur soweit, wie es der theatrale Code der Zeit gerade noch erlaubte. Letztlich passt sich die Hauptfigur der Gesellschaft an, indem sie nach dem Rite de Passage der Heldinnenreise die Widersprüche in ihrer Erscheinung dialektisch-dramaturgisch auf zwei Ebenen auflöst: auf derjenigen der guten Taten und des anständigen Charakters, der sich in mehreren entscheidenden Situationen beweist; und in der Bestätigung der guten persönlichen Anlagen, die man in der jungen ‚Wilden’ zu erkennen glaubt. Fanchon kann durch einen glücklichen Zufall die Gegend verlassen und in die Stadt ziehen, wo sie die notwendige Bildung erhält. Als sie auf das Land zurückkehrt, ist sie zur attraktivsten Frau der Gegend geworden: „Na, höre – was die Hässlichkeit betrifft, (sie wohlgefällig betrachtend) damit hat sich’ s! Ich muss Dir sagen, Fanchon, dass Du Dich in der Stadt teufelmäßig verändert und ein Paar Augen im Kopfe hast, Prachtsaugen! Gott’s Blut!“ Das vordergründig Sexuelle der Anderen ist mit der bürgerlichen Bildung in den Hintergrund getreten: „Kannst den Jungen ohne Hexerei die Köpfe verdrehen – und mir scheint – den Alten erst recht! Dann bist Du auch ein braves Mädchen.“140 Trotz Erziehungsziel „braves Mädchen“: Eine ungleiche Machtverteilung der Blicke, geteilt in aktiv/männlich sowie passiv/weiblich, wie sie Mulvey für das klassische Hollywoodkino festgestellt hat, wird von Birch-Pfeiffer durchaus performativ unterlaufen, auch die Männer haben Attraktivitätsvorgaben zu genügen.141 Der Erfolgsautorin ist es bereits 1856 gelungen, die Ängste der Männer vor dem unheimlichen, da letztlich fremden weiblichen Geschlecht sichtbar zu machen und Stereotypisierungen der Frau als die Andere (Verrückte, Kindische, Amoralische, Wilde) kritisch zu reflektieren.
139 Vgl. zu dieser speziellen Projektionsfigur Carola Hilmes: Die Femme fatale. Ein Weiblichkeitstypus in der nachromantischen Literatur, Stuttgart 1997. 140 C. Birch-Pfeiffer: Die Grille, S. 114. 141 Laura Mulvey: „Visuelle Lust und narratives Kino“, in: Franz-Joseph Albersheimer (Hg.): Texte zur Theorie des Films, Stuttgart 2003, S. 389-408, hier S. 397.
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4.5 D IE A TTRAKTIVITÄT
DES
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Sander L. Gilman differenziert in der Geschichte der ästhetischen Chirurgie bzw. Schönheitschirurgie die Zeit vor der Mitte des 19. Jahrhunderts von der folgenden. In den Jahren zwischen 1840 und 1900 wurden in der Chirurgie alle Operationsverfahren eingeführt, die auch in der heutigen Schönheitschirurgie in der Transformation des Körpers zur Anwendung kommen. Wichtig waren die Jahre 1846 und 1867, in denen erst die Anästhesie und dann die Antisepsis in die Medizin Einzug hielten.142 Johann Nestroys Der Talisman, das am 16. Dezember 1840 im Theater an der Wien uraufgeführt wurde und eine Adaption der Pariser Comédie-Vaudeville Bonaventure aus dem gleichen Jahr war, ist ein Stück, welches Motiv und Politik der einschneidenden und dauerhaften Transformation der Physiognomie und Gestalt des individuellen Körpers vor dem Beginn der intensiven neuen therapeutischen Möglichkeiten der Medizin vorwegnahm. Überdies wird die Problematik der Außenseiterin bzw. des Außenseiters thematisiert. Die Handlung wird durch die Konflikte vorangetrieben, die durch Vorurteile gegenüber nicht der Norm Entsprechenden hervorgerufen werden, welche durch ein hervorstechendes Merkmal – hier durch die Prägnanz der roten Haare der Hauptfigur – deutlich und weithin sichtbar markiert sind. Im Vordergrund steht der dringende Wunsch des Anderen, sich in einer neuen Heimat durch einen angepassten, nicht Anstoß erregenden Körper eine neue Identität zu schaffen, seine Gestalt vor dem Hintergrund der Front der Mehrheit nicht mehr allzu deutlich sichtbar werden zu lassen. Synästhesie als Wahrnehmungsphänomen – seit Moritz’ Anton Reiser im intellektuellen Diskurs der Zeit – bewirkt die imaginär-performative Anpassung aller Merkmale an das neue, erwünschte Bild. Schon 1775 staunte Leonhard Meister über die oft gravierenden Bildveränderungen durch die Einbildungskraft. Die Menschen würden sich, „unzufrieden mit demjenigen, was die Augen“ zeigen, die Augen mit dem „Zauberglas“ der Einbildungskraft „bewaffnen“.143 Dieses funktioniert als Wahrnehmungsschirm der mentalen Stereotypen und gemeinsamer Raum zwischen Subjekt und Objekt.144 Verstanden als „Bild/tableau“145 oder als „Ort der Vermittlung“146 wird er zur maßgebenden Instanz der Anerkennung des Anderen als Fremden, Gilman bemerkt hierzu in seiner Reflexion Ethnische Fragen der Schön-
142 Sander L. Gilman: „Die erstaunliche Geschichte der Schönheitschirurgie“, in: Angelika Taschen (Hg.), Schönheitschirurgie, Köln 2005, S. 62-109, hier S. 62. 143 Leonhard Meister: Über die Schwermerei. Eine Vorlesung, 2 Theile, Bern 1775/77, S. 1. 144 M. Merleau-Ponty: Schrift für die Kandidatur am Collège de France, S. 103. 145 J. Lacan: Was ist ein Bild/Tableau, S. 76. 146 Ebd., S. 77.
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heitschirurgie: „Wie wird man ein braver Bürger in einer neuen Heimat? Man zieht in dieses Land, lernt die Sprache, kleidet sich nach den Gepflogenheiten der Einheimischen und lernt die landesüblichen Verhaltensregeln, damit man sich am Tisch nicht danebenbenimmt.“ Würde dies alle zufriedenstellen? Was wäre, wenn „man das Gefühl hat, Verhalten allein reiche nicht aus, um in der Gesellschaft akzeptiert zu werden? Was ist, wenn man glaubt, der ganze Körper bedürfe dazu einer Verwandlung?“147 Dann versucht man wie Nestroys Held, seinen körperlichen ‚Makel‘, im Stück rote Haare, durch eine Perücke zu beseitigen. Tatsächlich gelingt so der gesellschaftliche Aufstieg bis ganz nach oben. Auch die weibliche Heldin hat rote Haare und muss eingangs durch die Hölle der Anderen, durch das Fest als soziales Begegnungs- und Bewertungsritual, als Projektionsort der Eitelkeiten, der Sehnsüchte sowie des Begehrens, des Beziehungsmarktes: Salome Pockerl, deren Namen sowohl auf die biblische Figur der Salome, in diesem Sinne auf eine erotische Anziehungskraft der Jüdin, als auch auf die Pocken als abstoßende Krankheit verweist, verdeutlicht physiognomisch, dass sie „wegen der Feuerg’fahr“148 auf ästhetischer wie moralischer Ebene die letzte sein wird, mit der einer aus der Gemeinschaft des Dorfes zusammen auf dem Fest gesehen werden will. Ihre korporale Erscheinung evoziert den „starken Verdacht“, sie hätte einen Stall „anzunden mit [ihrer] Frisur.“149 Die unvernünftigen Assoziationen im imaginären Raum des Vorurteils und der abergläubischen Mentalitäten der Landbevölkerung überlagern die rote Haarfarbe sowohl mit einer versteckten Hexenidentität als auch mit der Anmutung des überwältigenden Begehrens. Das die Gemeinschaft schädigende Verhalten der Brandstiftung verlängert die Tradition der Hexenverfolgung in aufgeklärte Zeiten, während der Brand nicht nur ein ökonomisches, sondern auch ein soziales Problem reflektiert, wenn man ihn auf der symbolischen Ebene mit dem sexuellen Triebleben und dem Chaos der Gefühle zwischen den Geschlechtern in Verbindung bringt. Salome erkennt den Zusammenhang zwischen zugeschriebener Schönheit als Provokation – ein traditionelles Verdachtsmotiv gegenüber ‚Hexen‘ –, dem dadurch erzeugten Begehren bei den Männern, den Neid bei den Frauen und dem psychologischen Mechanismus der Gefahrenminderung durch herabsetzende Ausschließung: „Für die schönste wollts mich nicht gelten lassen, drum setzts mich als die Wildeste herab.“150 Sie wird – nahe an der Figur des agambenschen Homo sacer – als unge-
147 Sander L. Gilman: „Ethnische Fragen der Schönheitschirurgie“, in: Angelika Taschen (Hg.), Schönheitschirurgie, Köln 2005, S. 112-137, hier S. 112. 148 Johann Nestroy: „Talisman. Posse mit Gesang in 3 Aufzügen“, in: Ders., Historischkritische Ausgabe. Stücke 17/1, hg. v. Jürgen Hein und Peter Haida, Wien: Jugend und Volk 1993, S. 5-86, hier S. 8. 149 Ebd. 150 Ebd.
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bildete, rohe Fremde bezeichnet, deren Konnotation zwischen unzähmbar, arm, nicht kultiviert und vogelfrei changiert. Als Angehörige einer angeblich radikalen Minderheit wird sie der Sphäre des Bösen, der Armut, des Fremden, sexuell Gefährlichen, Jüdischen, Kranken und Unzivilisierten zugeordnet, deren Schnittmenge die ‚Wilde‘ bildet. Sie definiert als Figur die Grenze der Normalität der bäuerlichen Gemeinschaft, indem ihr die Attribute und Charakterzüge zugeschrieben werden, welche die Gruppe bei sich selbst nicht wahrnehmen will. Innerhalb der Struktur des Beziehungs- und Heiratsmarktes besetzt sie nach Oben (Schönheit) und nach Unten (Fremdheit, Anormalität, grenzenlose Sexualität) Extrempole, was ihr die dramaturgische Position der Femme fatale zuweist. Ihr bleibt verwehrt, eine anerkannte Position im Spiel einzunehmen, da es für sie keinen entsprechenden Partner gibt, wenn man verdeckte Prostitution ausklammert. Die Hauptfigur Titus ist als männlicher Außenseiter nicht wie Salome derjenige, den man schon länger kennt, sondern der Fremde, der, Georg Simmel folgend, heute kommt und morgen bleibt, dabei schnell die Struktur des Vorurteils durchschaut: „Rothe Haar´ von ein falschen Gemüth zeigen soll´n/´s is dümmste, wann d´Leut´ nach die Haar urtheil´n woll´n.“151 Aus leidvoller Erfahrung steht für Titus fest, dass Vorurteile zu stark sind, um sie bekämpfen oder beseitigen zu können. „So kopflos urtheilt die Welt über die Köpf´, und wenn man sich auch den Kopf aufsetzt, es nutzt nix, das Vorurtheil is eine Mauer, von der sich noch alle Köpf die gegen sie ang´rennt sind, mit blutige K[ö]pf zurückgezogen haben.“ Ihm bleibt wie Ahasver nur die erzwungene Wanderschaft, um der regionalen Ausgrenzung durch dauerhafte Flucht zu entgehen: „Ich hab´meinen Wohnsitz mit der weiten Welt vertauscht, und die weite Welt is viel näher als man glaubt.“152 Nestroy spiegelt Migrationsschicksale des 19. Jahrhundert sowie auf materialistischer Grundlage die Beziehungen zwischen Geld, Liebe und gesellschaftlicher Position: „Jetzt steh´ich in den Hemdärmeln der Freiheit da. [...] Wenn ich einen Versorgungs-Mantel hätt´, der mich vor dem Sturm der Nahrungssorgen schützet.“153 Die Dialektik zwischen Herrn und Knecht, die oberflächlich irrational wirkenden Mechanismen des Beziehungsmarktes und ein der komischen Figur eigener Hang zum Gelegenheitsopportunismus ermöglichen ihm jedoch in einer klassischen Komödienstruktur performativ-hegelianisch den Aufstieg: „SALOME. Na wenn der Herr[!] arbeiten will da laßt sich Rath schaffen. Mein Bruder is Jodl hier, sein Herr der Beck hat eine große Wirthschaft, und da brauchen s´ ein Knecht – TITUS. Was? ich soll Knecht wer´n? ich[,] der ich bereits Subject gewesen bin. SALOME. Subject? Da hab´n wier auch ein g´habt, der das war, der is aber auf´n Schub fortkom-
151 Ebd. 152 Ebd., S. 10ff. 153 Ebd.
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men. TITUS. Warum? SALOME. Weil er ein schlechtes Subject war, hat der Richter g´sagt.“154 Das ausgegrenzte Ich erwirbt sich in moderner Subjekt-ObjektDialektik zwischen grenzenlosem Ich der Romantik und sozialer Grenzüberschreitung des Künstlers wie Betrügers plötzlich enormes Ansehen, steigt mithilfe neuerworbener Schönheit durch einen, wie es der Titel des Stücks schon verrät, Talisman, vulgo eine Perücke, die die roten Haare verbirgt, gesellschaftlich auf: „Talisman hat er g´sagt – er hat recht – wenn ich diese Tour aufsetz´, so sinckt der Adonis zum Rastelbinderbub´n herab, und der Narziss wird ausg´strichen aus der Mithologie. Meine ‚Carriere‘ geht an, die Glückspforte öffnet sich – (Auf die Thüre in der Gartenmauer blickend.) schau, die Thür steht grad offen da, - wer weiß? – Ich reskier´s, ein schön Kerl schlagt´s nirgends fehl.“155 Die Perücke ist nur die erste hilfreiche Maske, während seiner weiteren Karriere wird Titus stets just in time die geeignete Kleidung, die richtige Sprache und das angemessene Verhalten zur Verfügung stehen. Um in der modernen Gesellschaft zu überleben, verfügt Titus über die notwendige Menschenkenntnis und ein Talent zur Anpassung: „FLORA. Da fragt sich aber vor Allem, ob Er die Gärtnerey versteht? TITUS. Ich habe Menschenkenntniß, folglich auch Pflanzenkenntniß. FLORA. Wie geht denn das zusamm? TITUS. Sehr gut; wer die Menschen kennt, der kennt auch die Vegetabilien, weil nur sehr wenig Menschen leben, und viele unzählige aber nur vegetieren.“156 Er bietet den Anderen jeweils das, was sie sehen wollen, ein Spiegelbild ihres eigenen Identitätskonstrukts: der verwitweten Gärtnerin, der verwitweten Kammerfrau, am Ende gar der verwitweten Herrschaftsgattin: „FRAU v. CYPRESSENBURG. Seine blonden Locken schon zeigen ein Apollverwandtes Gemüth. War Sein Vater oder Seine Mutter blond?“157 Nestroy präsentiert über seine Haarfarben eine gesellschaftlich relevante Farbenhierarchie, die sich in eine kulturelle Entwicklungshierarchie von rot als Farbe des ‚Wilden‘ über schwarz als Farbe des Südeuropäers zu blond bzw. weiß als Herrschaftsattribut spiegelt. Wie sich für Blumenbach den Rassen Farben zuordnen, so werden die Figuren Nestroys von einem Code bestimmt, der soziale Hierarchien mit dem äußeren markierten Erscheinungsbild des Anderen analogisiert. Am Ende wäre der Aufsteiger ganz oben angekommen, wenn er nicht so viele Personen mit verschiedenen körperlichen Erscheinungsbildern getäuscht hätte, dass die Komplexität der Erscheinungsordnungen unbeherrschbar wird. Je nach Situation, Raum oder Personenkonstellation muss sich Titus geschickt-geschwindt wie Arlecchino in Giorgio Strehlers Inszenierung Goldonis Diener zweier Herren entweder verstecken oder blitzschnell
154 Ebd., S. 15f. 155 Ebd., S. 19f. 156 Ebd., S. 24f. 157 Ebd., S. 50.
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durch die jeweils richtige Perücke anpassen, um zu vermeiden, dass man ihn als Schwindler entlarvt. Die liminale Sphäre des unstrukturierten Fremdraums fordert von ihm einen ständigen Identitätswechsel. Der lineare Aufstieg als Wechsel von Identität zu Identität geht in ein räumliches Nebeneinander der sich widersprechenden Identitäten über. Da Titus von dem jeweiligen, zufällig anwesenden Gegenüber existenziell abhängig ist, geht es in einer Art Sozialdarwinismus avant la lettre darum, ob er oder ob der andere überlebt: „TITUS (f[ür] s[ich]). Meine Stellung hir im Haus gleicht dem Brett des Schiffbrüchigen, ich muss die andern hinunterstoßen oder selbst untergeh´n.“158 Der perpetuierende Maskenwechsel ist mit dem Problem der richtigen Wahl und der angemessenen Geschwindigkeit verbunden. Kleine, nur vom Publikum bemerkte Verzögerungen und Ungeschicktheiten werde im bergsonschen Sinne zu komischen Brüchen der Grazie. Die Hegelsche Dialektik von Herrn und Knecht, oder, mit Samuel Beckett dramatisiert, von Lucky und Pozzo, wird im beschleunigten Ablauf, der die abstrakte Struktur noch verdeutlicht, sichtbar. Sie bestimmt augenscheinlich Statik und Dynamik der gesellschaftlichen Ordnung, deutlich wird im Spiel die strukturelle Gewalt der Bewertung des Anderen: „Das is wahr[,], recht liebreich behandln eim d´Leut wenn eim der Faden ausgeht. Im Grund hab´ ich´s verdient, ich hab mich auch nicht sehr liebreich benommen, wie ich oben auf war“.159 Die räumliche Schizophrenie der Gleichzeitigkeit der Identitäten lässt die Hegelsche Dialektik von Herr und Knecht kollabieren, in der GleichGültigkeit der ständigen Ausweichbewegungen drängt die Gewalt/das Begehren als Triebstruktur der Individuen und der Gesellschaft ans Licht und wird als Hauptmotiv entlarvt, sodass Carl Carls Theater mit Nestroy eine frühe Form der castorfschen Volksbühnenästhetik offeriert. Bevor sich die Anarchie in eine surreale Ästhetik ausweitet, mündet das Stück in gesellschaftlich akzeptierte Bahnen ein; Titus erkennt den Wert der wahren Liebe und entscheidet sich für Salome. Sein Rite de Passage als Erfahrung der Fremdheit in der eigenen Gesellschaft, initiiert durch den Talisman im rudimentärdramaturgischen Rahmen des Zauberstücks, wird für die Zuschauer zur Erfahrung eines Besserungsstückes. Hilfreich für die neue Ehrlichkeit ist paradoxerweise eine weitere Verstellung, Titus gerät zufälligerweise an eine Adelsperücke, die den reichen Onkel so beeindruckt, dass dieser ihm eine beachtliche Erbschaft zukommen lässt: „SPUND. Das ist ja nicht möglich – TITUS. Wirklichkeit is immer das schönste Zeugniß für die Möglichkeit.“160 Titus erklärt seine grauen Haare als Folge einer somatischen Reaktion, der bürgerlichen Rührung über die Ankunft des Onkels. Dies reißt wiederum den Onkel zu außerordentlichen Tränen der Rührung hin.
158 Ebd., S. 53. 159 Ebd., S. 67. 160 Ebd., S. 79.
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So fällt der bürgerliche Onkel auf eine Täuschung herein, welche ausgerechnet mithilfe eines adeligen Accessoires gelingt; Titus muss auf jeden Fall vermeiden, dass man am hinteren Teil der Perücke das adelige Zeichen sieht, über das sich Lichtenberg in seiner Persiflage der lavaterschen Physiognomik, dem Fragment von Schwänzen,161 lustig gemacht hat: „TITUS. Wenn der den Zopfen sieht so is aus; denn das glaubt er doch nicht dass mir aus Kränckung ein Zopfen g´wachsen is. [...] Gott wenn der den Zopfen sieht.“162 Es gelingt ihm im letzten Moment, unbemerkt den Zopf abzuschneiden, womit er gleichzeitig auf symbolischer Ebene kastriert wird, von seinem imaginären Trugbild einer Adelsexistenz Abschied nimmt und seinem Stand gemäß heiratet. Die enttäuschten Damen lästern: „FLORA (zu TITUS boshaft). Ich ‚gratuliere’ zur schönen Wahl, da heißt´s wohl gleich und gleich gesellt sich gern.“163 Nestroy verweist mit seinem antiessentialistischen Stück nicht nur auf die Abhängigkeit des sozialen Ansehens in der Gesellschaft vom Aussehen, sondern auch auf die Konstruiertheit und Kontextgebundenheit der Bewertungsmaßstäbe innerhalb des korrelationistischen Zirkels der Moderne.
4.6 D IE Ö KONOMIE
DES
A NDEREN
Die Zeit um 1800 leitete den Aufstieg der heute herrschenden Wirtschaftsordnung ein. Nach dem Siegeszug von George Lillos erstem bürgerlichen Trauerspiel The London Merchant (1731) und der Veröffentlichung von Adam Smiths An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations (1776) steigerte sich auf der Basis der einsetzenden Industrialisierung der Wohlstand signifikant, fast unheimlich für idiosynkratische Zeitgenossen, was die Erfindung des Papiergeldes in Goethes Faust II ausgerechnet durch Mephisto reflektiert. Während zwei Jahrhunderte lang sich das reale Pro-Kopf-Einkommen um etwa zwei Prozent erhöhte, stieg es in den darauffolgenden Jahren um etwa 2000 Prozent. Als diesseitige Versprechen der Aufklärung, als Utopie des Kapitalismus schufen die Idee und Praxis einer auf dem Markt basierten Wirtschaftsordnung die bürgerliche Gesellschaft des 19. Jahrhunderts. Dialektisch bildeten sich der opponierende Sozialismus und planwirtschaftliche Modelle, die bis heute das Problem der Wirtschaftsrechnung bzw. des adäquaten Preises nicht in den Griff bekommen. Der Markt als Spiel von Angebot und Nachfrage, die von Smith vorgestellte ‚unsichtbare Hand‘ schienen unschlagbar in ihrem Vermögen, Energien im bürgerlichen Sinne zu kanalisieren und Ressourcen,
161 Georg Christoph Lichtenberg: Fragment von Schwänzen. Ein Beytrag zu den Physiognomischen Fragmenten, Göttingen 1783. 162 J. Nestroy: Talisman, S. 81f. 163 Ebd., S. 86.
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Produkte, Dienstleistungen sowie Rechte sinnvoll und zielführend zu bewerten. Wirtschaftsordnungen ohne Märkte und marktinduzierte Konkurrenz zeitigten hingegen mehr oder weniger beliebige unproduktiv-anarchisch und/oder willkürlich erscheinende Energieverschwendungen, auf rational-struktureller Ebene: Wertzuweisungen oder -interpretationen, welche die Bedürfnisse oder das Begehren auf der Nachfrageseite und effiziente Produktionsstrukturen und Ressourcenallokationen auf der Angebotsseite verzerrten oder verfälscht reflektierten. In diesem Sinne kanalisierte das bürgerliche Trauerspiel Energien, die sich als Überschuss in übermäßigen Affekten innerhalb der Konfliktdramaturgie Lessings, Schillers, Ifflands oder Kotzebues und einem dementsprechenden sich entwickelten bürgerlich-natürlichen Schauspielstil ausdrückten, der dem sich aus dem Trauerspiel entwickelnden dramatisch-dialogisch aufgebauten Rührstück zuarbeitete. Räume des Wirtschaftens wurden tendenziell in Europa immer enger, mit ihnen verschärfte sich neben der politischen Frage die nach dem Eigentum des Anderen. In der kommunistischen Utopie etwas Überwundenes, ohne jedoch nicht den nun institutionell verankerten Diebstahl des Einen am Anderen unterbinden zu können, brandmarkte Rousseau die Grenzziehung um ein beliebiges Eigentum noch per se als betrügerischen Akt. John Locke empfahl als Ventil für die aufgestaute Energie der Zukurzgekommenen die Eroberung des Fremdraums – wer aus dem Geldvertrag als Grundlage der Legitimation des Eigentums aussteigen wollte, sollte sich neues Eigentum in den Kolonien erobern. Dies schuf eine Dynamik des Anderen, die – ähnlich wie heute in Dusan David Parizeks Inszenierung von Wolfram Lotz’ Die lächerliche Finsternis – in Kotzebues Stück Die Negersklaven in einer theatralen Heterotopie den neuen Interaktionsraum des Atlantiks als Wirtschaftsraum thematisierte; das Kolonisationsthema sprengte schon in Goethes Faust II den dramatischen Raum im Energieüberschuss, sodass die Verbindung zu Gertrude Steins Landscape Plays oder Jelineks textuell-dramaturgisch kanalisierte Triebtaten wie ihre Kontrakte des Kaufmanns heute leicht fiele; Robert Wilson oder in der nächsten Generation Nicolas Stemann wären geeignete Regisseure des goetheschen Spätstücks.164 Kotzebue fasst den energetischen Überschuss und -griff noch weitgehend dramatisch, eröffnet aber in einer panoramatischen Perspektive einen geographischimaginären Raum, welcher der gewaltsamen Gestaltung weitgehend zur Verfügung stand. Nur dort konnte eines der ehrgeizigsten sozialtechnischen Experimente der
164 Jürgen Osterhammel/Niels P. Petersson: Geschichte der Globalisierung, München 2003, S. 39. Vgl. auch Wolfgang Reinhard: Kleine Geschichte des Kolonialismus, Stuttgart 1996, S. 84ff.
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Frühen Neuzeit eingerichtet werden.165 Mit der in den 1580er-Jahren eingeführten und nach 1680 hundertfünfzig Jahre lang reüssierenden Plantage war der Sklavenhandel als Dreiecksbeziehung zwischen Europa, Afrika und Westindien verbunden. Im Resultat eine transatlantische Sklavenmigration, war sie ein ökonomisches Netzwerk in einem neuen Maßstab der Glokalisierung zwischen dem Vergnügen als Dopaminausschüttung durch Zucker- und Nikotinkonsum in Europa,166 lokalen traditionellen Sklavenökonomien in Afrika als Lieferzone167 und dem Anbauraum des Suchtmittels in der Karibik. Sklaven galten als Massenware in einem Fernhandel, der, wie üblich, keine traditionellen zivilisatorischen Zentren verband, sondern vor dem Hintergrund innovativer oder auch revolutionärer Ausprägungen gesellschaftlicher, politischer und wirtschaftlicher Systeme entstand.168 Als Ordnungsgefüge und gesellschaftliche Institution, die Teil einer durch den Handelskapitalismus angetriebenen Wirkungskette war, produzierte die Plantage Zucker und Tabak für den europäischen Markt und war hierzu auf die Arbeitskraft und die anhaltenden Zufuhr von afrikanischen Sklaven angewiesen.169 Im sozialen Raum der Plantage und deren tagtäglich wiederholten, stark strukturierten, monotonen Arbeitsprozessen interagierten afrikanische Sklaven, afrikanische Wächter, europäische Aufseher, europäische Intendanten und oft abwesende, in Europa weilende Besitzer.170 Ihre Beziehungen waren von Systemzwängen, perversen Produktivitätsüberlegungen,171 hemmungslos ausagierbaren Triebüberschüssen und daraus resultierenden unterschiedlichen Interessen sowie gegenseitigen vorurteilsbeladenen Wahrnehmungen geprägt. Insbesondere die völlige, entfremdende Inanspruchnahme des Sklaven im Sinne eines Verwertungsprozesses, die daraus resultierende Zwangsarbeit und das unter verschärften Effizienzbedingungen verkümmerte Mitleid sorgten dafür, dass sich sowohl bei den Wächtern, Aufsehern,
165 Vgl. J. Osterhammel/N.P. Petersson: Geschichte der Globalisierung, S. 39f.; Robin Blackburn: The Making of New World Slavery: From the Baroque to the Modern, London 1997, S. 166ff. 166 Vgl. hierzu David J. Linden: The Compass of Pleasure, N.Y. 2011. 167 Vgl. Egon Flaig: Weltgeschichte der Sklaverei, München 2011, S. 99ff. 168 J. Osterhammel/N.P. Petersson: Geschichte der Globalisierung, S. 40; Herbert Klein: The Atlantic Slave Trade, Cambridge 1999, S. 211. 169 Ebd. S. 40. 170 Vgl. U. Bitterli: Die ‚Wilden‘ und die ‚Zivilisierten‘, S. 152. 171 Nach Flaig war die Zuckerplantage ein besonders viele Menschenleben fordernder Plantagentyp, „vereinzelt wird darauf hingewiesen, daß die Arbeit eines Sklaven auf der brasilianischen oder karibischen Zuckerplantage binnen 3 bis 4 Jahre seinen eigenen Preis amortisierte, daher kein Anreiz bestanden habe, sein Leben zu schonen“; ders.: Weltgeschichte der Sklaverei, S. 170.
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Intendanten und Besitzern als auch bei den Sklaven charakterliche Störungen, Auffälligkeiten im Verhalten und im Erleben einstellten. Das von Adam Smith 1759 in seiner The Theory of Moral Sentiments erörterte, unter anderem von Lessing für die bürgerliche Bühne beanspruchte Mitleid war durch systematische Dehumanisierung zerstört worden. So etwas wie Vertrauen oder Verantwortung für den Anderen oder eine ‚normale‘ menschliche Beziehung war im Lagersystem der Plantage generell unmöglich.172 Nicht nur auf der Seite der Herrschenden stumpfte man ab, sah man den Anderen nicht mehr als Menschen und wurde extrem gewalttätig. Auch auf der Seite der Sklaven lernte man, durch Diebstahl und Verstellung sein Überleben zu sichern. In der Begegnung mit dem Anderen, in jeden Dialog schlich sich das Misstrauen ein. Gegenseitiges Vertrauen, eine Theory of Mind war aufgrund der sozialen Situation von vorne herein durch negative Erfahrungen der Beteiligten und durch rational begründbare, fundamentale Interessengegensätze kaum möglich. Dialogische Performanz folgte systembedingt einer Negativspirale von Aktion und Reaktion, war somit das Gegenbild eines herrschaftsfreien Raumes, wie ihn Jürgen Habermas als Resultat einer idealen Sprechsituation charakterisiert.173 Ohne die Analogie überstrapazieren zu wollen, waren die Sklavenplantagen auf dem katastrophalen Weg hin zur Struktur des Konzentrationslagers als dem von Agamben so bezeichneten Ort, an dem der Ausnahmezustand zur Regel wurde.174 Die Differenz zwischen der Attraktivität des ökonomischen Zentrums, das sich als europäische Hochkultur in den Herrenhäusern der Plantagen, die auf zeitgenössischen Abbildungen hervorstachen, spiegelte, und den grausamen Praktiken, die man aus europäischer Perspektive eher erahnte als detailgenau kannte, war eine besondere Her-
172 Bitterli schreibt, dass in den Plantagen „jede menschliche Beziehung fragwürdig, jedes Verantwortungsbewusstsein gestört war“; ders.: Die ‚Wilden‘ und die ‚Zivilisierten‘, S. 154. 173 In einer idealen Sprechsituation sollen Handlungszwänge minimiert, Erfahrungsfreiheit gewährt und aufgrund ihrer strukturellen Bedingungen jede systematische Verzerrung des Dialogs als Aktion und Reaktion ausgeschlossen werden, vgl. Jürgen Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns, Frankfurt/M. 1981. Plantageninteraktionen waren so ziemlich das Gegenteil: „Schlechte Behandlung wurde mit Diebstahl und Falschheit beantwortet, und Diebstahl und Falschheit zeitigten wiederum schlechtere Behandlung. Die Herrenhäuser der Pflanzer mochten feudal wirken und in manchen Fällen eine Aura des Luxus ausstrahlen. Aber sie waren auf dem Treibsand des Argwohns errichtet, sie ruhten auf den hohlen, morschen Fundamenten des Misstrauens“; James PopeHenessy: Geschäft mit schwarzer Haut, Wien 1970, S. 183; vgl. U. Bitterli: Die ‚Wilden‘ und die ‚Zivilisierten‘, S. 154f. 174 Giorgio Agamben: Was von Auschwitz bleibt. Das Archiv und der Zeuge, Frankfurt/M. 2003, S. 43.
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ausforderung für das deutsche Theater. Aufgrund dessen medialer Spezifität waren auch einem professionellen Autor wie Kotzebue Grenzen in der Darstellung gesetzt, der anders als etwa Büchner in Woyzeck die radikal-antidialogische Entfremdung paradoxerweise in Dialoge eines Rührstücks übertragen musste. Die Sklavenplantage als besonders extremer Ort menschlicher ‚Begegnung‘ des Fremden wurde zum Schauplatz des 1796 erschienen historisch-dramatischen Gemäldes Die Negersklaven in drei Aufzügen von Kotzebue, das die „Scene“ – historisch getreu – auf eine von den Engländern beherrschte Karibikinsel verlegte. Jamaica als Handlungsort des Stückes war kein Zufall, assoziierte man doch zeitgemäß das Bild dieser Insel mit der Lust der Europäer auf den Zucker und die dadurch entstehenden Gewinnaussichten sowie den forcierten, unmenschlichen Anbau und Handel. Im System der Sklavenplantage interagierten physiognomische Ausgrenzung, ökonomische Interessen, energetisches Ausagieren und gesellschaftliche Distinktionswünsche. Entfremdung175 und Dehumanisierung, der ‚Dialog‘ als negative Spirale von Aktion und Reaktion und die daraus entstehende ‚Geschichte‘ der in der Sklavenplantage Handelnden basierte auf der Fremdheit des Anderen als Resultat einer räumlichen und kulturellen Versetzung in eine ‚fremde‘ Umwelt. Die Ökonomie des Anderen erzeugt im Stück die dramatische Grundkonstellation und grundiert die Konfliktdramaturgie, welche im Raum des tendenziell verwirklichten Ausnahmezustandes als Regel auf die unsichtbaren strukturellen Gewalten in den herrschenden sozialen und wirtschaftlichen Ordnungen Europas verwiesen.176 Das Spannungsverhältnis zwischen dem Europäer, der sich auf der obersten Kulturstufe sah, und dem ‚naturnahen‘ und ‚kulturfernen‘ afrikanischen Sklaven kreiert die dialogische Performanz in der Begegnung, welche wirtschaftlichen Erwägungen unterliegt – in diesem speziellen Fall dem folgenreichen Motiv des Ver-
175 Entfremdung verweist hier auf ein weiteres Begriffsfeld von Rousseaus Zivilisationskritik über Marx‘ Das Kapital bis hin zu Horkheimer und Adornos Dialektik der Aufklärung. Dies bedeutet jedoch nicht, wie in Kotzebues Stück imaginiert, dass Afrika als Herkunftsland der Sklaven einem rousseauschen Naturzustand entsprach. Schon in der früheren Zeit des europäisch, etwa von Portugiesen getragenen Sklavenhandels galt, dass Afrikaner „afrikanische Menschen“ verkauften, welche „sie selber oder andere Afrikaner versklavt hatten“; E. Flaig: Weltgeschichte der Sklaverei, S. 172. 176 Nach Agamben wird im Konzentrationslager die „Extremsituation zum Paradigma des Alltäglichen“. Insbesondere diese „paradoxe Tendenz, ins Gegenteil umzukippen, macht die Grenzsituation interessant. Solange Ausnahmezustand und Normalsituation, wie gewöhnlich der Fall, räumlich und zeitlich getrennt gehalten werden, bleiben sie, obwohl sie einander insgeheim stützen, opak. Doch sobald sie offen ihre Komplizenschaft“ präsentierten, „erleuchten sie einander sozusagen von innen her“; G. Agamben: Was von Auschwitz bleibt, S. 43.
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langens der Europäer nach Zucker.177 Eine glaubwürdige Motivation der Haupttriebkräfte funktionierte auf der Folie der Annahme natürlicher Grundlagen für Kultur und Habitus innerhalb einer physischen Geographie, wie sie etwa Kant in seinen Geographie-Vorlesungen entwarf, die auf naturalistische Klima- und Milieutheorien der Kulturgeschichte wie die Bacons oder Montesquieus rekurrierten. Kotzebue wurde mit seinem Stück zu einem deutschen Vertreter der Abolitionsdebatte, die ihren Ursprung im Menschenrechtsdenken der Aufklärung hatte. Dänemark hatte bereits 1792 begonnen, den Sklavenhandel abzuschaffen, Großbritannien folgte 1807 und verbot 1833 die Sklaverei endgültig. Auf der Nachbarinsel Haiti hatte 1794 im von den Franzosen beherrschten Saint-Domingue ein Aufstand der Sklaven einen gewissen Erfolg. Aufgrund der Neuartigkeit der Formen wirtschaftlicher, mikrogesellschaftlicher und -politischer Organisation, die die Plantage darstellte, und der extrem-unmenschlichen Bedingungen, die den Dialog und jede menschlichen Interaktion in diesem Kontext grundierten, war Kotzebue, was das inhumane Los der Afrikaner betraf, bemüht, einen höchstmöglichen Realismus auf die Bühne zu bringen. Hierzu bediente er sich einschlägiger Literatur, die er in einem Vorbericht so akribisch auflistet, dass man ihn als unerkanntes Vorbild der quellengestützten Reenactments wie Hate Radio (2011) von Milo Rau bezeichnen könnte. Dennoch sind die beteiligten Personen stark typisiert, wenn nicht idealisiert gezeichnet, was der Wirkungsabsicht Kotzebues und den theatral-dramaturgischen Normalitätsanforderungen geschuldet war. Die Fronten zwischen Gut und Böse sind im Stück von Anfang an klar, Zwischentöne bemerkt man eher selten. Die Irri-
177 Ohne Zuckeranbau und Sklavenhaltung wäre, so Smith, ein Handlungsort Jamaica aus europäischer Sicht unsinnig, für ihn war die Insel Jamaika vor der Kolonisation eine „ungesunde, wenig bewohnte und noch weniger angebaute Wüste.“ Der steigende Absatz des Suchtmittels Zucker fundierte den berüchtigten Dreieckshandel zwischen Europa, Jamaika und Afrika, den bereits Adam Smith andeutete: „Zucker war ursprünglich eine Ware, die nur nach Großbritannien ausgeführt werden konnte. Aber 1731 wurde die Ausfuhr desselben auf eine Vorbestellung der Zuckerpflanzer hin nach allen Teilen der Welt hin gestattet. Indes haben die Einschränkungen, unter denen diese Freiheit bewilligt wurde, und der hohe Preis des Zuckers in Großbritannien jene Erlaubnis größtenteils unwirksam gemacht. Großbritannien und seine Kolonien bleiben immer fast noch der einzige Markt für allen in den britischen Pflanzungen gebauten Zucker. Der Verbrauch desselben nimmt so rasch zu, dass trotzdem infolge des vermehrten Anbaues in Jamaika und auf den abgetretenen Inseln die Zuckereinfuhr seit zwanzig Jahren außerordentlich gestiegen ist, die Ausfuhr in fremde Länder doch nicht viel stärker sein soll als früher. Rum ist ein sehr wichtiger Artikel in dem Handel, den die Amerikaner nach der afrikanischen Küste treiben, von wo sie Negersklaven dafür zurückbringen“; ders.: Reichtum der Nationen, Paderborn 2002, S. 591f. und S. 612.
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tation der Zuschauer ergab sich somit nicht durch eine nuancierte Zeichnung der Charaktere, sondern durch die listige Vertauschung der weitgehend typisierten Figuren, sodass die Erwartungshaltung subversiv unterlaufen wurde. Kotzebue selbst hielt dieses Stück für eines seiner besten, aber er beklagte, dass es die großen Bühnen nicht spielen wollten, „weil die Damen sich nicht schwarz färben“ mochten178, was indirekt den diskriminierenden Rassismus gegenüber Afrikanern aufdeckt, denn Indianer- oder Asiatenrollen waren kein Problem. Der Autor, über den ansonsten gespottet wurde, „mehr ein Dichter der Schönen – als des Schönen“ zu sein,179 bemerkte, dass keineswegs alles auf der Bühne gezeigt werden konnte, da „viele Züge in diesem Schauspiele allzugräßlich sind“.180 Kotzebue duldete weder eine naturgeschichtliche noch eine moralische Trennung des „Negers“ vom „Europäer“. Im realistisch-energetischen Überschwang des HistorischDramatischen machen sich im Tableau der Szene bereits Züge des Naturalismus, des Dokumentartheaters sowie eines heterotopischen Landscape Plays bemerkbar, obwohl die Figuren dafür zu dramatisch gezeichnet sind. Eingangs des zweiten Aktes ist eine Aussicht auf die Lebens-, Leidens- und Arbeitswelt der Sklaven der fremden Insel Jamaica angezeigt, für deren Inszenierung Kotzebue den „Schauspiel-Director“ persönlich anspricht. Gefordert wäre eine frühe Regie, sie „wird am besten beurteilen können, welche von [den folgenden] Arbeiten das schönste Tableau macht“.181 Entfremdendes Szenenbild und dramatischer Dialog geraten in ein Spannungsverhältnis. Die Negersklaven entsprechen, in der Tradition des bürgerlichen Trauerspiels tragödienfähig, zuweilen nicht nur einem antiken korporalen Schönheitsideal, sondern vertreten auch eine bürgerliche Moral auf einem Niveau, an dem sich die Engländer, mithin die Europäer messen lassen müssen und an dem sie allzu oft scheitern. Die personale Konstellation ist spiegelbildlich angelegt: Die im Vordergrund agierenden Negersklaven – Ada, die Heldin, und Lilli, die beste Freundin der Heldin in der traditionellen Dienerrolle – werden mit dem europäischen Brüderpaar
178 Jürg Mathes: Kotzebues Briefe an seine Mutter, Tübingen 1970, S. 372. Vgl. Werner Petermann: Die Geschichte der Ethnologie, Wuppertal 2004, S. 442. 179 Johann Daniel Falk: Elysium und der Tartarus. Zeitung für Poesie, Kunst und neuere Zeitgeschichte, Weimar 1806, S. 60. 180 Da es dem Autor wichtig war, ein wirklichkeitsnahes historisches Gemälde vorzustellen, sei „alles Weggelassene“ zumindest in der vorliegenden Druckfassung enthalten, wenn auch nicht aufgeführt worden; August von Kotzebue: „Die Negersklaven. Ein historisch-dramatisches Gemälde in drei Aufzügen“, in: Ders., Theater. 5. Bd., Wien/Leipzig 1840, S. 155-244, S. 158. Auch Schillers Stücke, etwa Die Räuber, Kabale und Liebe oder Don Carlos, kamen nicht ungekürzt bzw. unzensiert auf die Bühne. 181 Ebd., S. 188.
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William und John konfrontiert. Bemüht wird die traditionelle Folie des Bruderkonfliktes, von Kain und Abel bis zu Schillers Die Räuber. Ähnlich einer melodramatischen Dramaturgie ist der eine Bruder der gute, aber nicht unschuldigen Gast der Plantage, während der andere Bruder John als Plantagenbesitzer und Intendant den ausgewiesen Bösen verkörpert. Ada (deren Name nicht zufälligerweise ein Akronym aus Adam und Eva ist) bleibt gegenüber dem Begehren und den gewaltsamen Übergriffen Johns standhaft, erinnert sich an ihre glückliche Zeit in Afrika, während Lilli durch realistisch-resignative Anpassung zu überleben sucht. Der stücktragende Konflikt ergibt sich dadurch, dass Ada ihrem verschwundenen und mutmaßlich noch in Afrika weilenden Mann die Treue halten will, auch um nicht ihren letzten Halt in der Fremde zu „verlieren: den Trost, an ihn zu denken.“182 Der Herr der Plantage, der „Nichts und Niemand liebt, dennoch [den] Reizen [Adas] huldigt“, hat andere Pläne; er will „Adas Gegenliebe“ erzwingen, „wie man den Saft aus einem Zuckerrohr gewaltsam preßt“,183 sein Begehren als energetischer Überschuss ist ein Äquivalent zur Effizienz aufgrund strenger Kosten-Nutzen-Rechnung. Kotzebue implementiert die stücktragende Spannung, indem der Figur Ada vierzehn Tage Bedenkzeit zugestanden wird, bis ihr die „Stunde der Prüfung schlägt“.184 Die Sklaven beten am Grab des „alten Herrn“, dass der gute Bruder William, dessen „frommes Auge noch weit mehr sagt“, als er verbal äußert, und dessen guten Charakter man schon an der Ähnlichkeit der Gestalt zum Vater erkenne, die Erbschaft erhalten und die Nachfolge des gütigen Pflanzungsleiters antreten möge: „Gib uns deinen anderen Sohn zum Herrn. [...] Er wird gut sein wie du.“185 In dieser religiös anmutenden Konstellation wird William als auserwählter Sohn des verstorbenen gütigen Vaters zum Heilsbringer aufgebaut, sodass sich die Auflösung der Spannung fast mechanisch ergibt. In der Figurenkonstellation tritt Ada an die Stelle der bürgerlichen Heldin und der grausame Plantagenverwalter John nimmt den Platz des moralisch verderbten Adels ein. Kotzebue spielt in seinem Stück, das den Grundkonflikt aus Lessings Emilia Galotti übernimmt, mit der Kohärenz zwischen Seele und sichtbarer Oberfläche, wobei er das traditionelle, vorurteilsbehaftete Verhältnis in den Antagonisten Ada und John aufmerksamkeitserregend ändert: Ada besitzt eine ‚dunkle‘ Haut, aber eine schöne Seele, John hingegen eine ‚helle‘ Haut, aber eine dunkle, hässliche Seele. Auf die Frage Williams, welche „andere Hoffnung“ als die Hingabe an den „Tirannen“ John ihrer „schönen Seele“ denn
182 Ebd., S. 163. 183 Ebd. 184 Ebd. 185 Ebd., S. 195f.
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bliebe, antwortet Ada: „Keine! du wirst mein Gesicht, und ich sein Gewissen nicht weiß waschen.“186 Kotzebue gelingt es, in einem Satz physiognomische Vorurteile auf den Punkt zu bringen und zu dekonstruieren. In Adas Konflikt, der sich an der fragwürdigen Beziehung zwischen Hautfarbe und Charakter entzündet, spiegeln sich nicht nur Abolitionsdebatten, sondern auch Methode, Anwendung und Folgen des physiognomischen Diskurses. Selbstverständlich kommt Kotzebue nicht ohne heute als rassistisch zu verstehende Vorurteile aus, die Sklaven seien „immer froh“, sie „leben“ und „genießen“ „heute“ und „sprechen nicht: morgen ist auch ein Tag“. Sie „verstehen sich gut auf Pantomime, sie wissen das Geschrei der Tiere nachzuäffen; sind lustig, sobald sie nur Musik hören, und ermüden nie im Tanz.“ Dramaturgisch interessant ist der Kontrast schöner Seelen vor dem Hintergrund einer materialistischen Vorstellungswelt. Für die Realistin Lilli sind „Mann und Weib [...] ein Ganzes“. Dies Ganze muss dem „Polypen gleichen; schneide ihn auseinander, und jeder Theil lebt für sich.“187 Hier deutet sich eine brisante politische Diskussion an: Das Verhältnis zwischen Mensch und Tier wurde im späten 17. und 18. Jahrhundert auf der Folie des Paradigmas der großen Kette der Lebewesen verstanden. Während man den Affen als Verbindungsglied zwischen Mensch und Tier deutete, funktionierte der Süßwasserpolyp Hydra als wichtiges Glied in der Verbindung von Pflanze und Tier. Trembley schien es 1741 zu gelingen, nach Versuchen mit dem Süßwasserpolypen die in dieser Zeit prominente Präformationstheorie zu widerlegen. Damit lieferte er entscheidende Argumente für radikale Materialisten, die behaupteten, Materie besäße organische Eigenschaften.188 Wer für den Polypen war, war gegen das Konzept des Genfer Zoologen und Philosophen Charles Bonnet, welches wiederum Lavaters Physiognomik entscheidend beeinflusste.189 Bonnet, der sich gegen die Urzeugung von Mikroorganismen aussprach, erforschte 1740 die Parthenogenese der Blattläuse, welche die These von der Möglichkeit der Präformation entscheidend stützte.190 Sie galt in weiten Kreisen als Beweis, dass die Reproduktion ihre
186 Ebd., S. 232. 187 Ebd., S. 160f. 188 Vgl. P.J. Bowler: Geschichte der Umweltwissenschaften, S. 100. 189 Johann Caspar Lavater: Aussichten in die Ewigkeit in Briefen an Herrn Joh. Georg Zimmermann, Königl. Großbritannischen Leibarzt in Hannover, 1. Aufl. Zürich 1768 bis 73. 190 Nach Ilse Jahn gibt es über „den bisherigen Fällen von Generationswechsel, auch Metagenese genannt“, hinaus „Fälle, in denen regelmäßig Generationen mit zweigeschlechtlicher Fortpflanzung und eingeschlechtlicher Vermehrung, d.h. Parthenogenese abwechseln. Die Tatsache, dass weibliche Blattläuse auch ohne Männchen für reichlich Nachwuchs sorgen, war durch Bonnet 1740 bekannt, eine genauere Untersuchung der
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Ursache in winzigen Keimen oder Miniaturen hatte. Diese wiederum hätte Gott erzeugt und in die Weibchen jeder Art induziert. 191 Ordnungen der Natur waren aufgrund der Vielzahl an neu endeckten Arten in den letzten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts in Legitimationsschwierigkeiten geraten. Der Streit um Blattläuse und Polypen, den Kotzebue hier andeutet, war keineswegs harmlos, sondern hatte starke sozialpolitische Auswirkungen. Radikalste Materialisten beriefen sich auf Trembleys Polypenforschung, wenn es darum ging, die Behauptung zu widerlegen, dass Gott die Ursache aller innerweltlichen, komplexen Strukturen sei. In der Natur sollte jede Kreativität fundiert sein. Organische Eigenschaften wurden auf die Materie zurückgeführt. Das Universum wurde zu einer Bühne ständiger Performanz, als statisches System hatte es ausgedient. Revolutionären Geistern wie Diderot und Baron d´Holbach bot der Materialismus in auffälligem Kontrast zu heutigen neostrukturalistischen Emanzipationsperspektiven eine willkommene Legitimation für politische wie soziale Veränderungen. Die Naturforschung des 18. Jahrhunderts und relevante gesellschaftspolitische Diskussionen waren miteinander verbunden und schlugen sich in Kotzebues Negersklaven nieder. Während die Konservativen an die Blattlaus glaubten, führten die Radikalen den Süßwasserpolypen ins Feld.192 Infolgedessen war im Zuge der Aufklärung das statische Weltbild des späten 17. und des 18. Jahrhunderts kaum mehr zu halten; Kotzebues Stück reflektiert die Unsicherheit zwischen den wissenschaftlichen und politischen Positionen der Zeit. Der Materialismus trat inhaltlich als Wahrheit des Sinnlichen (Feuerbach), die später den Realismus und den Naturalismus des 19. Jahrhunderts unterstützte, auf. Er opponierte gegen die Romantik, die – mit Hölderlin – das, was ‚außen‘ ist, mit dem Göttlichen im Inneren des Individuums zu vereinen suchte. Auf formaler Ebene hingegen hielt Kotzebue dialogisch über die Konfliktdramaturgie seine dramatisch-bürgerliche Welt noch zusammen, obgleich die revolutionäre Energie bedrohlich durch die gesellschaftlichen und naturgeschichtlichen Ritzen drängte. Die klassische Nationalökonomie, die auf das Menschenbild von individueller Freiheit sowie das Verfügungsrecht auf Arbeit und Eigentum vertraute und dem freien Wettbewerb die Aufgabe der Harmonisierung der Interessen aller und die allgemeine Mehrung des Wohlstands zuwies, könne die energetischen Kräf-
Parthenogenese oder Jungfernzeugung erfolgte aber erst 1856 durch von Siebold“; dies.: Geschichte der Biologie, S. 341. Für Darwin war die Vererbung ein wichtiges Problem der Evolution. 1868 entwarf er eine Hypothese zur Pangenesis, die den durch Maupertuis, Bonnet und Buffon im 18. Jahrhundert vertretenen Thesen ähnelte, denen er aber entwicklungsgeschichtliche Faktoren hinzufügte. Ebd., S. 410. 191 Ebd. S. 256; P.J. Bowler: Geschichte der Umweltwissenschaften, S. 100. 192 I. Jahn: Geschichte der Biologie, S. 101.
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te des egoistischsten Menschen binden, so die Idee Adam Smiths: „Von einer unsichtbaren Hand werden sie dahin geführt, beinahe die gleiche Verteilung der zum Leben notwendigen Güter zu verwirklichen, die zustande gekommen wäre, wenn die Erde zu gleichen Teilen unter alle ihre Bewohner verteilt worden wäre.“193 Kotzebue inszenierte in seinen Negersklaven die anthropologische Frage nach dem Verhältnis von altruistischen Ideen und egoistischem, letztlich das Individuum täuschendem Begehren, das über die ‚unsichtbare Hand‘ das Wohl aller befördern soll.194 Die fundamentale binäre Struktur reflektierte die im Dialog und im Konflikt sich dialektisch entfaltende Dramaturgie und das energetische Begehren, das zwischen Oberfläche und Abstraktion aufgespalten ist. Johann Gottlieb Fichte trennte 1796 in seiner Wissenschaftslehre folgenreich zwischen Ich und nicht Ich, das Nicht-Ich könne nur „insofern gesetzt werden, inwiefern im Ich (in dem identischen Bewusstseyn) ein Ich gesetzt ist, dem es entgegengesetzt werden kann.“195 Als romantische Einheit nach Novalis wäre die vom Subjekt geleitete Romantisierung der Umwelt, wie sie etwa im Bewusstsein der Figur Ada angesprochen wird, nur dadurch zu erhalten, dass sich die Dinge über den Prozess der Abstraktion von ihrem ‚realen‘ Charakter so weit abheben, dass sie frei beweglich werden. Insofern bezieht sich Novalis auf Fichte, wenn er dessen Relationsschema, mittels dessen „jedes Ding substituiert werden kann“, mit einem „Begriff von Geld“ vergleicht.196
193 Adam Smith: Theorie der ethischen Gefühle, Hamburg 1985, S. 315f. Smith diagnostizierte bei der fundamentalen Täuschung zum Wohle aller eine nicht vollzogene Differenzierung zwischen der Ästhetik und dem individuellen Vorteil: „Wenn wir die wirkliche Befriedigung, die alle diese Dinge zu gewähren imstande sind, an und für sich und abgesondert von der Schönheit der Anordnung in Betracht ziehen, die zu dem Zwecke getroffen wurden, diese Befriedigung zu fördern, so wird sie uns immer im höchsten Grade verächtlich und geringfügig erscheinen. Aber wir betrachten sie selten in diesem abstrakten und philosophischen Lichte. Wir vermengen sie vielmehr in unseren Gedanken ganz unwillkürlich mit der Ordnung, der regelmäßigen und harmonischen Bewegung des Systems, der Maschine oder wirtschaftlichen Einrichtung, mittels der sie hervorgebracht wird.“ 194 Selbstverständlich wären in Kotzebues Stück auch Elemente des Physiokratismus als Wirtschaftstheorie des aufgeklärten Absolutismus nachweisbar, insbesondere was das individuelle Gewinnstreben betraf. Da Kotzebue jedoch höchst belesen und generell an den neuesten Theorien interessiert war, wäre dies ein Blick zurück, der weder dem Text noch dem Autor gerecht werden würde. 195 Johann Gottlieb Fichte: Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre, Erster Theil, § 3, A. 2), Jena 1796, S. 34. 196 Vgl. hierzu Christoph Asendorf: Batterien der Lebenskraft. Zur Geschichte der Dinge und ihrer Wahrnehmung im 19. Jahrhundert, Gießen 1984, S. 16f.
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Im Allgemeinen Brouillion von 1798/99 bemerkt er: „Der Handelsgeist ist der Geist der Welt. Er ist der großartige Geist schlechthin. Er setzt alles in Bewegung und verbindet alles.“197 Mit dem „Zauberstab der Analogie“ schien es Novalis zu gelingen, den Menschen zu befreien, indem er dem Geld die Fähigkeit zuschrieb, über seine Annihilations- und Abstraktionskraft dem romantischen Geist zuzuarbeiten, der die utopische Veränderbarkeit der Welt imaginierte.198 Kotzebue band in dem strukturellen Gegensatzpaar, das sich in den Figuren Ada und Lilli sowie William und John ausdrückt, die Dichotomie zwischen Geld- und Menschenwert sowie zwischen Subjekt und Objekt des Anderen. In der Physiognomie und Gestalt des Anderen kreuzten sich Begriff und Geldwert auf der einen und ‚reales‘ Ding (an sich) wie ‚wahrer‘ Charakter auf der anderen Seite. Während Tieck in Runenberg die Gefahr der Transformation der Sinnlichkeit in den Schatz thematisierte, wirkten für Novalis die Dinge und die wirtschaftliche Performanz der Waren keineswegs entfremdend, weil er glaubte, sie als Nicht-Ich in die allumfassende romantische Subjektivität integrieren zu können. Dass er sich wohl überschätzte, beweist Kotzebues Stück: Nicht romantische Ironie, sondern bürgerlich-christlich motivierte Rührung im dramatischen Dialog einer bürgerlichen Konfliktdramaturgie stehen dem schnellen Übergriff auf den Anderen entgegen. Dass der romantische Blick, gerade ein totalisierend-panoramatischer, zum gewaltsam-kolonisierenden Über-Blick wird, macht an anderer Stelle Humboldt deutlich. Freilich bremsen für Novalis, Lavater und Kotzebue religiös-rituelle Strukturen wie Narrative. Smiths marktgeleitete Kanalisierung der Energien könnte durchaus Novalis’ blauer Blume folgen, wenn man das säkularisierende vulgäre Begehren subtrahierte. Und ließ sich Goethes Faust nicht erst von Mephistos fundamentaler Täuschung, zu der das Papiergeld gehört, dazu bringen, dem Verweilen nicht mehr zu wiederstehen? Die für die Entwicklung der Wirtschaft und der Kultur notwendige Ausrichtung des Begehrens wird dann a-sozial, wenn sie es im romantischen Überschwang übertreibt und ethische Grundsätze nicht mehr greifen, weil sie sich außerhalb der Geschichte nicht mehr legitimieren lassen. So wie es John letztlich egal ist, was Ada wirklich fühlt, so lange sie ihre Liebe nur vortäuscht, so sieht Nathanael in E.T.A Hoffmanns Erzählung Der Sandmann aus dem Jahr 1815 in einer Puppe sein persönliches Ideal. Er verwechselt folgenreich Projektion mit Realität. Im 19. Jahrhundert lösen sich über die rasante Zunahme der visuellen Welt und der Medienrealität, der Industrialisierung und der Warenwelt Signifikate vermehrt von Signifikanten, die Dinge werden als Ware zunehmend libidinös besetzt. No-
197 Novalis: „Das Allgemeine Brouillion“, in: Ders., Schriften, Bd. III. Das philosophische Werk II, hg. v. Richard Samuel u.a., Darmstadt 1968, S. 207-478, S. 464. 198 Vgl. C. Asendorf: Batterien der Lebenskraft, S. 16.
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valis, nicht Nietzsche oder gar Lyotard, schien einer der ersten gewesen zu sein, der die Entfremdung durch Begriff, Arbitrarität der Zeichen und das Geld positiv deutete. Im Vordergrund einer solch affirmativen Ästhetik stünde pure Imagination innerhalb des korrelationistischen Zirkels: „Ein reiner Gedanke – ein reines Bild – eine reine Empfindung sind Gedanken, Bilder und Empfindungen – die nicht durch ein correspondierendes Objekt erweckt etc., sondern außerhalb der so mechanischen Gesetze [...] entstanden sind. Die Phantasie ist eine solche mechanische Kraft.“199 Novalis magischer Idealismus outete sich spätestens im Surrealismus auf ideal-imaginärer Ebene als grenzenloser Gewaltakt. In der mitleidlosen Behandlung der Sklaven in Kotzebues Stück ist der Weg der romantischen Wahrnehmungskonstruktionen vor dem Hintergrund eines ausgeprägten Materialismus, einer sich ausbreitenden Entfremdung einer potenziell revolutionären Aufstauung wie marktwirtschaftlichen Einbindung von Energien bereits angedeutet. Potentiell hätte schon um 1800 die dialogische Herr-Knecht-Dialektik innerhalb eines apokalyptischdionysischen Landscape Plays aufbrechen können, wenn Kotzebue in seinem Theater nicht vorsichtshalber eine dramatische Konfliktdramaturgie eingezogen hätte.
199 Novalis: Das Allgemeine Brouillion, S. 430.
5. Hintergründe des Anderen
5.1 D IE L ANDSCHAFT
DES
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Die modernen Methoden der Be-Schreibung des Anderen, deren Genese im Denken der Aufklärung und zugleich im Irrationalismus des 18. Jahrhunderts, im wissenschaftlichen sowie im ästhetischen Kontext, könnten als Versuche aufgefasst werden, der zunehmenden Unsicherheit in der Begegnung des Anderen mit apollinischen Schemata im Kopf zu begegnen, die das Erkennen erleichterten bzw. erst ermöglichten. Fokussiert auf den prägnanten Umriss, überzeichnet durch die Linie der Karikatur, interagierten diese als Silhouette mit den visuellen Medien der Zeit. Für Walter Benjamin sind die Lithografie und der Physionotrace, der „seinerseits wieder eine Mechanisierung des Verfahrens des Silhouettenschneiders darstellt,“1 Bildmedien der Figur/Grund-Differenzierung sowie Prägnanz. Über die Umrisse des Anderen sind sie mit Gernot Böhme als Teil der Atmosphäre, die in der Wirkung des jeweiligen Medienbildes oder Bühnenraums auf den Rezipienten ihren speziellen Ausdruck findet, zu verstehen.2 Böhme eignete sich Grundlagenwissen der Psychologie an, Phänomenologien etwa von Maurice Merleau-Ponty und – luzider sowie einflussreicher – Wolfgang Metzger schufen die entsprechenden Grundlagen der Wahrnehmungspsychologie.3 Das Vertrauen zwischen Menschen wäre im Atmosphärischen zu suchen, es verbindet sich mit dem Dazwischen, welches das eine Subjekt vom anderen trennt und als Schirm stereotyper Projektionen des Subjekts fungiert. Das Atmosphärische entzieht sich über die Kraft der Kunst als das Energetische eigentümlich der semiotischen Definition. Roland Barthes hat mit Blick auf die Rauheit der Stimme darauf hingewiesen, dass die Wirkung des jeweiligen Artefaktes oder Bildes die Interpretationsebene bei weitem übersteigt.4 Hans-Thies Lehmann bezeichnet die Wirkung auf die Zuschauer als sinnliche Mate-
1
W. Benjamin: Das Passagen-Werk. Zweiter Band, S. 829.
2
G. Böhme: Atmosphäre; ders.: Anmutungen. Über das Atmosphärische, Ostfildern 1998.
3
Wolfgang Metzger: Psychologie, Darmstadt, 1963.
4
Vgl. Roland Barthes: Die Lust am Text, Frankfurt 1974, S. 97.
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rialität der Signifikanten,5 Patrice Pavis bezieht sich diesbezüglich auf eine Subpartitur,6 Erika Fischer-Lichte zeichnet für das Theater eine phänomenologische Aufführungsanalyse als Forschungsdesiderat aus und erweitert das Semiotische durch den Begriff des Performativen,7 während Sabine Schouten ästhetische Wahrnehmung als sinnhaft-sinnliche Gegenwartserfahrung diskutiert.8 Guido Hiß macht eine semiotisch ausgerichtete Wissenschaft, die sich noch nicht von Brecht befreien konnte, dafür verantwortlich, dass die auf die Qualität bezogene, lustvolldionysische Seite der ästhetischen Erfahrung vernachlässigt wurde.9 Die ästhetische Bewertung eines Objektes zeitigt das Phänomen der Synästhesie, bei Freud als unbewusste Bezüge zwischen offenkundig unverbundenen Objekten (etwa zwischen Apfel und Versuchung) auffällig, Karl Philip Moritz beschrieb dies detailreich in Anton Reiser. Als Phänomen des Geschmacks berührt die Wirkung bzw. die Anmutung oder Atmosphäre des Anderen das Gebiet der Ästhetik, eine Grundlage für die Physiognomik Rudolf Kassners.10 Böhmes Physiognomik lenkt die Aufmerksamkeit weg von der Interpretation des Anderen hin zu dessen leibhafter Anwesenheit,11 zu Merleau-Pontys ‚Fleisch’: Das Atmosphärische gehe von der Prägnanzform aus, es wäre das Typische, das zugleich individualisiere.12 Das betrifft zum einen die Gestalt des Anderen, zum anderen den Hintergrund – die Umwelt oder Natur, die uns be-
5
Hans-Thies Lehmann: Die Inszenierung. Problem ihrer Analyse, in: Zeitschrift für Semiotik 11/1 (1989), hg. v. Roland Posner, S. 29-49, hier S. 48.
6
Patrice Pavis: L’Analyse des Spectacles, Paris 1996.
7
Erika Fischer-Lichte: Ästhetische Erfahrung. Das Semiotische und das Performative, Tübingen 2001; vgl. Hans Robert Jauß: Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik 1, München 1977; Joachim Küpper/Christoph Menke (Hg.): Dimensionen ästhetischer Erfahrung, Frankfurt/M. 2003.
8
Sabine Schouten: „Zuschauer auf Entzug. Zur Wahrnehmung von Aufführungen“, in: Erika Fischer-Lichte u.a. (Hg.), Kunst der Aufführung – Aufführung der Kunst, Berlin 2004, S. 104-118, hier S. 115.
9
Guido Hiß: „Die Rauheit des Körpers, Variationen über ein theaterwissenschaftliches Thema“, in: Heinz B. Heller u.a. (Hg.), Der Körper im Bild. Schauspielen – Darstellen – Erscheinen, Marburg 1999, S. 47-60.
10 Vgl. R. Kassner: Grundlagen der Physiognomik. Kassner selbst lies eine komplexe Vorstellungswelt erkennen. U.a. war er zwar mit einer Jüdin verheiratet, dennoch können bei ihm zumindest rudimentär stereotyp-negative Judenbilder nachgewiesen werden. 11 G. Böhme: Atmosphäre; ders.: Anmutungen. Über das Atmosphärische; vgl. Gunter Gebauer und Christoph Wulf: Mimesis. Kultur-Kunst-Gesellschaft, Reinbek 1992, S. 308ff. 12 „Als Prägnantes wird das Wesen als etwas aus sich Heraustretendes bezeichnet“, G. Böhme: Atmosphäre, S. 152.
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gegnet.13 Schon Aristoteles differenzierte die Natura naturata als empirisch-realen Raum von der Natura naturans als ideale Natur oder Gestalt der Natur. Noch in der Moderne entwickelte Carl Gustav Carus eine an Goethe geschulte Physiognomik auf morphologischer Basis. In seinem 1853 erschienenen Werk Symbolik der menschlichen Gestalt. In seinen Neun Briefen über die Landschaftsmalerei vertrat er 1831 die Auffassung, der eigentliche Sinn der abgebildeten Landschaft liege in der Sichtbarmachung der in der Natur verborgenen göttlichen Ideen. Aus Landschaftsmalerei wurde für Carus „Erdlebenbildkunst.“14 Schönheit wäre nichts anderes als das, „wodurch die Empfindung göttlichen Wesens in der Natur, das ist in der Welt sinnlicher Erscheinungen, erregt“ werde – dies auf gleicher Weise, wie „Wahrheit das Erkennen göttlichen Wesens und Tugend das Leben göttlichen Wesens in derselben zu nennen“ wäre.15 Schön wäre die „gleichmäßige Durchdringung von Vernunft und Natur“,16 schön könne „im sinnlich Erkennbaren nichts genannt werden, worin nicht das Wesen der Gottheit als ewige Vernunft und Gesetzmäßigkeit sich ausspricht.“17 So würde „die eigentliche Naturerkenntnis, die Naturwissenschaft, durch die Kunst vorbereitet und gefördert.“18 Landschaftsbetrachtung nimmt nicht alles, was ihr als empirische Realität begegnet, wahr, sondern folgt der Prägnanz, interpretiert und selektiert, samt medialer Darstellung ist sie ein Produkt performativer Wahrnehmung und medialer Produktion. Landschaft wäre somit eine historisch, kulturell, medial sowie individuell determinierte ästhetische Konstruktion des Anderen, die der Einbildungskraft nicht entbehren kann, aber nicht unabhängig vom empirischen Raum wäre.19 Sie bleibt ein Projektionsraum des Selbst ins Andere, der Blick ins Außen der empirischen Realität zugleich ein Blick nach innen, gesteigert durch den korrelationistischen Zirkel im romantischen Subjektivismus. Noch in der Gartengestaltung des Barock als Allegorie der Ordnung des absolutistischen Staates und in den allegorischen Gestaltungen des barocken Landschafts-
13 Gernot Böhme/Gregor Schiemann: Phänomenologie der Natur, Frankfurt/M. 1997. 14 Zit. n. Oskar Bätschmann: Entfernung der Natur – Landschaftsmalerei 1750-1920, Köln 1989, S. 310ff. 15 Carl Gustav Carus: Neun Briefe über Landschaftsmalerei. Geschrieben in den Jahren 1815 bis 1824, Leipzig 1831, S. 62f. 16 Ebd., S. 63. 17 Ebd., S. 64f. 18 Carl Gustav Carus: Neun Briefe über Landschaftsmalerei. Geschrieben in den Jahren 1815 bis 1824, Leipzig 1831, S. 70f. 19 Landschaft, als Begriff etymologisch schon früh v.a. auf Bilder bezogen, wäre in Relation zu dem abbildenden Medium und dem Beobachter zu verstehen; vgl. Gerhard Hard: Die ‚Landschaft‘ der Sprache und die ‚Landschaft‘ der Geographie, Bonn 1970.
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bildes vermochte der individuelle Beobachter vergleichsweise wenig zu bewirken, Landschaften des Anderen schienen wie Affekte im Schauspielstil austauschbar.20 Herausfordernd wurde für das 18. Jahrhundert Paul Thiry d’ Holbach; Natur ergäbe sich „aus der Vereinigung der verschiedenen Stoffe aus ihren verschiedenen Verbindungen und aus den verschiedenen Bewegungen“, welche „wir im Universum sehen“.21 Sie wäre ein in sich abgeschlossenes System mit Ursache und Wirkung, Vorbild wäre das Wunder des präzisen Uhrwerks, von Gott geschaffen und in der physikalischen Welt als Gesetze der Mechanik erkannt – so sah es zumindest Voltaire in der Tradition von Descartes und Newton. Goethe hingegen war von Holbach enttäuscht, von dessen „triste(r) atheistische(r) Halbnacht“, vermisste die Frage nach der Gestalt in der Natur, bevorzugte Shakespeares Kosmos.22 Moritz lies seinen Anton Reiser folgen, er hatte die „Empfindungen Tausender beim Lesen des Shakespeare mit durchempfunden.“23 In Reisers psychologischer Welt war die Natur von subjektiven Stimmungen eingefärbt, synästhetische Effekte offenbarten, dass es eine reine Naturwahrnehmung nicht geben könne. Johann Georg Sulzer bemerkte in seiner Allgemeinen Theorie der Schönen Künste, dass der Natur ein anthropomorpher Bezug eigne, es müsse etwas in ihr „seyn, das nicht bloß dem Auge schmeichelt, sondern Gedanken erweket, Neigungen rege macht, und Empfindungen hervorloket“. Die Natur habe die „rohe Materie mit so mannichfaltigen Farben und Formen bekleidet, aus denen eine zwar stumme, aber empfindsamen Seelen doch verständliche Sprache entsteht, in welcher sie den Menschen unterrichtet, und bildet.“24 Nach Beat Wyss war in der Folge der Kunstentwicklung der modernen Industriekultur eine artistische Ideenkultur vorgeblendet, die dem Zweckdenken und Materialismus entgegentrat. Entfremdung, Leistungsdruck und moderne Ungewissheit bildeten eine Art platonischer Höhle, in der die Anderen durch Vorstellungen gefangen wären.25 Die artistische Ideenkultur beeinflusste mehr oder weniger die Abbildung bzw. Inszenierung der empirischen Natur,
20 Eckhard Lobsien: Landschaft in Texten: Zur Geschichte und Phänomenologie der literarischen Beschreibung, Stuttgart 1981, S. 38; Götz Großklaus u.a. (Hg.): Natur als Gegenwelt. Beiträge zu einer Kulturgeschichte der Natur, Karlsruhe 1983, S. 197-233, hier S. 202 und S. 208f. 21 Paul Thiry d’Holbach: System der Natur, übers. v. F. G. Voigt, Berlin 1960, S. 17. 22 Johann Wolfgang Goethe: Dichtung und Wahrheit (11. Buch), hg. v. Klaus-Detlef Müller, Darmstadt 1998, S. 440ff. 23 K.P. Moritz: Anton Reiser, S. 199. 24 Johann Georg Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, in einzeln, nach alphabetischer Ordnung der Kunstwörter auf einander folgenden Kunstartickeln abgehandelt. Zweyten Theils, erster Band, von K bis R, Biel 1777, S. 316. 25 B. Wyss: Der Wille zur Kunst, S. 35f.
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die ihren Weg zwischen den Polen radikaler Naturalismus und absolute Konstruktion finden musste, wobei sie auf erkenntnistheoretischer Ebene dem korrelationistischen Zirkel nicht entkam. Sie war ein gewisser Schutz gegen den unaufgeklärten, chaotischen, fremden und damit angsteinflößenden Teil der Natur,26 gegen Naturkatastrophen als das Böse im leibnizschen Sinne, gegen das von de Sade erkannte kalt-freiheitliche Zerstörerische, positiv gewertet das nietzscheanisch-überindividuell Dionysische. Für Schiller war dem Chaos der Natur etwas entgegenzusetzen, auch für Buffon war die unkultivierte Natur „scheußlich“ und lag „in ihren letzten Zügen“. Sie erschien ihm als „Wüstenney“, in der nicht die Vernunft herrschte, in der sich „keine Straße, keine Gemeinschaft, nicht einmal die Spur von einem verständigen Wesen“ zeigte.27 Der vernünftige Mensch hätte die Aufgabe, diese scheußliche Natur, dieses Chaos des Lebens, diesen ständigen Energieüberschuss zu einer „gebauten Natur“ zu transformieren, die man erst so als schön bezeichnen dürfe. Dieser Akt der Kultivierung war durchaus aggressiv und entbehrte sicher nicht einer feindlichen Geste gegenüber allem, was im Weg stand, wenn man Buffon als Maßstab nimmt:28 „Auf! laßt uns jene Moräste trocknen, jenes todte Wasser beleben, fließend machen, Bäche und Kanäle damit anlegen! Laßt uns von jenem wirksamen, und verzehrenden, vorher verborgenen und bloß durch unser Nachforschen entdeckten Elemente Gebrauch machen!“29 Ästhetisch gestimmt offener begegnete man dem Chaotischen als Erhabenem. Burke machte zwar auf die dunkle Seite der Aufklärung aufmerksam, das Erhabene war bei ihm aber mit dem Schrecklichen als ästhetische Faszination verbunden. Ihm war alles, was „auf irgend eine Weise geeignet ist, die Idee von Schmerz und Gefahr zu erregen, das heißt alles, was irgendwie schrecklich ist oder mit schrecklichen Objekten in Beziehung steht oder in einer dem Schrecken ähnlichen Weise wirkt“, eine Quelle des Erhabenen.30 Somit wanderte das Zentrum der Konstruktion der Landschaft in der wilden Natur in das erlebende Subjekt, das vor dem Hintergrund einer empirischen als psychologischen Anthropologie bemüht war, neben der Lust am Schrecken der Gefahr des Schmerzes in der apollinischen Konstruktion der Natur aktiv zu begegnen. Erst mit einer aktiv-erkenntnis-reflektierenden Haltung, welche die Angst vor der Natur
26 Vgl. A. Kupfer: Die künstlichen Paradiese, S. 179. 27 Comte du Buffon: De la Nature, in: Histoire de la Nature, Bd. 12, zit. n. O. Bätschmann: Entfernung der Natur – Landschaftsmalerei 1750-1920, S. 270f. 28 Ebd., S. 271. 29 Ebd., S. 270f. 30 Edmund Burke: Philosophische Untersuchungen über den Ursprung unserer Ideen vom Erhabenen und Schönen, übersetzt von Friedrich Bassenge, hg. v. Werner Strube, Hamburg 1980, S. 72.
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weitgehend reduzierte, war der ästhetische und lustvolle Blick möglich. Schon Aristoteles forderte für die Tragödie Distanz, während Nietzsche und erst recht Artauds Theater der Grausamkeit oder Nitschs Orgien-Mysterien-Theater dem Theater das ganze Leben und damit auch das Unperfekte, Unschöne, Gewalttätige, Verfallende und Dunkle nicht vorenthalten wollten. Dem entsprach das energetische Theater – etwa von La Fura dels Baus in Suz o Suz – samt drohend-präsentischem, postmodern-erhabenem Hintergrund, der, wie Lyotard es zeichnete, im wahrsten Sinne überwältigend geworden war.
5.2 D ER K OSMOS
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Goethe war beeindruckt, Alexander von Humboldt hätte an Kenntnissen und lebendigem Wissen nicht seinesgleichen, wobei die Gegenüberstellung von kristallisierter Kenntnis und lebendig-anwendbarem Wissen der entscheidende Zugang wäre.31 Humboldt hatte, so schrieb er 1834 über seinen Entwurf Kosmos,32 „den tollen Einfall, die ganze Welt, alles, was wir heute von den Erscheinungen der Himmelsräume und des Erdenlebens, von den Nebelsternen bis zur Geographie der Moose und der Granitfelsen, alles in einem Werke darzustellen“. Die Natur ordnende Gestalten und empirische Evidenzen sollten überzeugend zusammengeführt werden, „jede wichtige und große Idee, die irgendwo aufglimmt, muss neben den Tatsachen verzeichnet werden. Es muss eine Epoche der geistigen Entwicklung der Menschheit – in ihrem Wissen von der Natur – voll umfänglich darstellen.“33 Dieses Werk war einem Charakter geschuldet, der einen beeindruckenden Lebensweg mit ständigen
31 Zur Dialektik zwischen Fixiertem und Prozesshaften bemerkt Hansjörg Küster, Naturbilder seien stabil, „aber der Gegenstand, der darin beschrieben ist, verändert sich unaufhörlich“. So müsse man zwischen der Natur und ihrem Bild differenzieren, denn das „Wirken der Natur setzt sich aus zahlreichen Prozessen zusammen, die sich überlagern, seit Urzeiten und in der Gegenwart für Dynamik sorgen und dies auch in Zukunft tun werden“; ders.: Die Entdeckung der Landschaft. Einführung in eine neue Wissenschaft, München 2012, S. 59. 32 Der Entwurf eines Kosmos schließt eine ästhetische Komponente von vorne herein mit ein. Rémi Brague betont die Herkunft des Wortes Kosmos, welche die Schönheit mit anklingen lässt, er schildert das „Neue, das [für die Griechen, die den Begriff kosmos fanden] darin besteht, der Welt einen eigenen Namen zu geben.“ Der Begriff bezeichne die „Ordnung und die Schönheit, genauer noch, die Schönheit, die von der Ordnung kommt“; ders.: Die Weisheit der Welt. Kosmos und Welterfahrung im westlichen Denken, München 2006, S. 31. 33 Alexander von Humboldt: Eine Auswahl, hg. v. Gerhard Harig, Leipzig 1959, S. 264.
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Wohn- und Forschungsortswechseln hinter sich brachte, wobei es scheint, dass Humboldts gesamte empirische und kulturelle Erfahrungen, die er in seinen Reisen in fremde Länder und in Sammlungen und Bibliotheken gemacht hatte, in seinen Kosmos direkt oder indirekt eingingen. 1769 in Berlin geboren, reorganisierte Humboldt 1793 bis 1796 in preußischen Diensten das Minenwesen, ging 1790 mit Georg Forster auf eine Reise durch die Niederlande, England und Frankreich34, quittierte, auch damals schon unvorstellbar, 1796 den bequemen Staatsdienst und reiste mit dem französischen Botaniker Aimé Bonpland 1799 bis 1804 nach Mittelund Südamerika. Diese Reise fand ihren schriftlichen Niederschlag in der zwischen 1805 bis 1838 erschienenen sechsunddreißigbändigen Reise in die AequinoctialGegenden des neuen Continents,35 welche Darwin zu seiner eigenen folgenreichen Fahrt motivierte.36 Humboldt lebte nach seiner Rückkehr über zwanzig Jahre in Paris, kehrte 1827 auf Veranlassung des preußischen Königs nach Berlin zurück, wobei ihn mehrere diplomatische Missionen wieder nach Paris führten. 1834 begann er mit den Arbeiten am Kosmos, zwischen 1845 und 1862 erschienen die fünf Bände bei Cotta in Stuttgart, wo sie zu einem Bestseller wurden. Obwohl Humboldt eine Unmenge an physikalischen, organischen und menschlichen Fakten, für ihn verbunden in der Natur, in sein Buch integrierte – insgesamt hat der Kosmos 2457 Fußnoten –, rekurrierte er an vielen Stellen auf Erkenntnisse, die er sich persönlich in der geographischen Fremde aneignete. Das Reisen als Annäherung an den Fremd-Raum hielt Humboldt für unverzichtbar.37 Seine Sehnsucht nach erweiterter
34 Wo er den „größten Teil des Tages unter der Erde“ verbrachte, vgl. Karl Bruhns: Alexander von Humboldt. Eine wissenschaftliche Biographie. 3 Bde., Leipzig 1872, S. 99, S. 314ff.; Rudolf Endres: „Alexander von Humboldt und Franken“, in: Uta Lindgren (Hg.), Alexander von Humboldt. Weltbild und Wirkung auf die Wissenschaften, Köln 1990, S. 39-59, hier S. 42. 35 Alexander von Humboldt: Reise in die Aeqinoctial-Gegenden des neuen Continents in den Jahren 1799-1804, Bd. 1-6, Stuttgart und Tübingen 1815-1832; Vgl. Alexander von Humboldt, Südamerikanische Reise, Berlin 1979; Hanno Beck: Alexander von Humboldts Amerikanische Reise, Darmstadt 1985; Hermann Kellenbenz, Alexander von Humboldt in Südamerika und die dortigen Bodenschätze, in: U. Lindgren, Alexander von Humboldt, S. 21-37. 36 Vgl. hierzu P.J. Bowler: Evolution, S. 120f. 37 Diese Annäherung darf man sich keineswegs als linear-geordnete vorstellen. Über das Verhältnis von nichtlinearen, assoziativen Gedankengängen und Humboldts Methode meint Ernst Pöppel: „Dieses Entstehenlassen innerer Landschaften durch die Weise der Darstellung, also der neuen Richtung von Quergedanken zu folgen oder eine Beobachtung vorweg zu nehmen, ist vielen Naturforschern vertraut.“ In der Darstellung, die der Natur „selbst eher gerecht werde, denn damit wird in der Darstellung das Wesensmerk-
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Weltsicht als Antrieb „zur Unternehmung großer Reisen“ erweckten, wie er in seinen Berliner Kosmos-Vorträgen bekennt, „Georg Forster’s Schilderung der Südseeinseln“, der „Anblick des großen Drachenbaums in dem hiesigen botanischen Garten“ und „Hodges vortreffliche[n] Zeichnungen“.38 Auf Forscher, die daheim blieben, sah er herab, er beklagte die „kleinliche Moquerie und Tadelsucht“, die „in Berlin und Potsdam herrscht, wo man Monate lang gedankenleer an einem selbstgeschaffenen Zerrbilde matter Einbildungskraft naget.“39 Er war stark beeinflusst von antimaterialistischen, romantischen Vorstellungswelten seiner Zeit, suchte in Gestaltungen nach den Beziehungen zwischen natürlichen Phänomenen.40 Gleichermaßen begeisterte er sich jedoch für das Experiment und die Messung, sodass er die Bilder seiner Einbildungskraft dem notwendigen Korrektiv einer an Ort und Stelle beobachtbaren Wirklichkeit aussetzte und sie nicht zu den Zerrbildern wurden, die, wie wir heute sagen würden, als postmoderne ‚Fake News’ der potentiellen Falsifikation durch die Empirie entbehrten. Die angemessene Gestalt des Anderen stellte sich für Humboldt in erster Linie nur dann ein, wenn man sich, Unbequemlichkeiten nicht scheuend, in den unbekannten Raum vorwagte. Er überschritt den Horizont der Uferlinie, die man vom Schiff bequemer und gefahrloser in den Blick nehmen konnte, um das Hinterland persönlich zu erforschen. Persönlich hieß für Humboldt, im Fremd-Raum einen Standpunkt einzunehmen, damit sich aus einer dadurch definierten Perspektive eine, so nannte er es, „Naturscene“ einstellte. Das geeignetste Medium seiner Zeit, diese abzubilden, war die Landschaftsmalerei. So nahm es nicht wunder, dass sich
mal der Natur deutlich gemacht“, würde gezeigt, dass „alles mit allem engstens verbunden ist, dass die Natur um uns (wie die Natur in uns) ein Wirkungsgefüge ist, das man als ein Gesamtbild erfassen“ müsse. Hieraus ergäbe sich die Notwendigkeit eines Bildes, hingegen wäre es der „Sache nicht gerecht, einem Faden zu folgen, den man sich ausgelegt hat und der sich aus äußerlichen Ordnungsgründen nahezulegen scheint“; ders.: Der Rahmen, S. 12f. 38 Alexander von Humboldt: Die Kosmos-Vorträge 1827/28 in der Berliner Singakademie (16.te Vorlesung), Frankfurt/M. 2004, S. 210f. 39 Zit. n. H. Kellenbenz: Alexander von Humboldt in Südamerika, S. 23. 40 Schellings Naturphilosophie beeindruckte ihn durchaus, zwar sei sie „Vielen zum Gift geworden“, aber sie könne den „Fortschritten der empirischen Wissenschaften nie schädlich sein, wie sie zugleich neue Entdeckungen begründet.“ Man könne ihr nicht anlasten, dass sie von Stümpern benutzt werde: „Darf man die Analysis verschreien, weil unsere Müller oft bessere Maschinen bauen als die, welche der Mathematiker berechnet hat? Nicht die Mathematik, nein, ihre voreilige, unphilosophische Anwendung und die fehlenden Zwischenglieder haben allein die Schuld.“ „Brief von Humboldt an Schelling aus Paris vom 1. Febr. 1805“, in: Michaela Boenke (Hg.), Schelling, München 1995, S. 87f.
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über das Medium das Wissenschaftliche mit dem Ästhetischen verbinden ließ, wenn es um den Fremdeindruck ging. Insbesondere das Ästhetische fungierte für Humboldt als Antrieb für die Erkundung des Fremd-Raumes: „Wer, empfänglich für die Naturschönheit von Berg,- Fluß- und Waldgegenden, die heiße Zone selbst durchwandert ist, wer Ueppigkeit und Mannigfaltigkeit der Vegetation nicht bloß an den bebauten Küsten, sondern am Abhange der schneebedeckten Andes, des Himalaya und des mysorischen Nilgherry-Gebirges, oder in den Urwäldern des Flußnetzes zwischen dem Orinoco und Amazonenstrom gesehen hat; der allein kann fühlen, welche ein unabsehbares Feld der Landschaftsmalerei zwischen den Wendekreisen beider Continente oder in der Inselwelt von Sumatra, Borneo und der Philippinen zu eröffnen ist, wie das, was man bisher geistreiches und treffliches geleistet, nicht mit der Größe der Naturschätze verglichen werden kann, deren einst noch die Kunst sich zu bemächtigen vermag.“41 Humboldt beklagt, dass es bisher Malern jedoch nicht gelungen sei, den „Totaleindruck der tropischen Zone aufzufassen“, die Gründe lägen einerseits in der schlechten Vorbereitung, also im „Mangel an früher Kunstbildung und anderweitige[r] wissenschaftliche[r] Beschäftigung“, andererseits in der Oberflächlichkeit der Weltumseglungen, die wenig dazu geeignet seien, „den Künstler in ein eigentliches Waldland oder zu dem oberen Laufe großer Flüsse, und auf den Gipfel innerer Gebirgsketten zu führen.“42 Da für Humboldt der lange „Anblick großer Naturscenen“ und der „häufige Versuch der Nachbildung“43 die Grundbedingungen zur Vermeidung der „Zerrbilder der Einbildungskraft“ sind, darf der Aufenthalt im Fremd-Raum keineswegs zu kurz ausfallen. Skizzen sollten „in Angesicht der Naturscenen“ erstellt werden.44 Nur diese erlaubten, „den Charakter ferner Weltgegenden, nach der Rückkehr, in ausgeführten Landschaften wiederzugeben.“45 Die Bindung zum Referenten der Bilder ergab sich für Humboldt durch den getreulich wiedergegebenen Charakter, der von Angesicht zu Angesicht gewonnen wurde. Die „Naturscene“ ließ unter geeigneten Umständen einen Charakter erkennen, der über die Zeichen richtig gedeutet werden muss, sie besaß eine Physiognomie und Humboldt erwies sich als Physiognomiker der Natur.46 Um die Zeichen der Natur richtig zu interpretieren, benötig-
41 Alexander von Humboldt: Kosmos. Entwurf einer physischen Weltbeschreibung, hg. v. Ottmar Ette und Oliver Lubrich, Frankfurt/M. 2004, S. 231. 42 Ebd., S. 232. 43 Ebd., S. 231. 44 Ebd. 45 Ebd. 46 Vgl. hierzu auch Michael Hagner: „Zur Physiognomik bei Alexander von Humboldt“, in: Rüdiger Campe/Manfred Schneider (Hg.), Geschichten der Physiognomik. Text, Bild, Wissen, Freiburg/Br. 1996, S. 431-452; Brigitte Hoppe: Physiognomik der Vegetation
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te man Wissen, das allein in kulturell ‚höher entwickelten Kulturen‘ vorhanden wäre. Potentielle Höherentwicklung analogisierte Humboldt in seinem Kosmos mit einem wirklichen Aufstieg, Ziel war ein Überblick über die Natur. Dieser Drang, in der Natur eine erhöhte Stelle einzunehmen, um einen Überblick zu gewinnen, war nicht allein Humboldts Charakter geschuldet. So berichtete schon Goethe von seinen Gipfelbesteigungen, freilich noch in den Schweizer Alpen. Der Gipfel erlaubte, dass nun mit „größtem Vergnügen“ das „gegönnt“ war, was „gestern versagt war“: Das „ganze Pays de Vaud und de Gex lag wie eine Flurkarte unter uns, alle Besitzungen mit grünen Zäunen abgeschnitten, wie die Beete eines Parterres.“ Entscheidend für den Überblick war die ungewohnte Höhe, auf den Bergen um den Genfer See war man „so hoch, dass die Höhen und Vertiefungen der vordern Landes gar nicht erschienen“. Dem Überblick gesellte sich die Erhabenheit des Panoramas dazu, für Goethe „sind keine Worte für die Größe und Schöne dieses Anblicks.“47 Oettermann diagnostiziert eine zeitgemäße „Sucht nach Überschau“.48 Wilhelm Heinrich Wackenroder sah es als Vorteil seiner Generation, dass „wir auf dem Gipfel eines hohen Berges stehen, und dass viele Länder und viele Zeiten unsern Augen offenbar, um uns herum und zu unseren Füßen ausgebreitet liegen“. Dies wäre zu nutzen, mit „heitern Blicken über alle Zeiten und Völker umherschweifen, und uns bestreben, an allen ihren mannigfaltigen Empfindungen und Werken der Empfindung immer das Menschliche herauszufühlen.“49 Während Herder, Lenz, Klopstock und Goethe den Drang verspüren, auf eine regionale Höhe wie die Plattform des Straßburger Münsters zu steigen,50 lies es sich Georg Forster während seiner Reise um die Welt 1772 nicht entgehen, während eines Aufenthaltes am Cap der Guten Hoffnung den prägnanten Tafelberg zu erobern, um auch hier festzustellen, dass die „Aussicht, welche man von der Höhe“ desselben genießt, „groß und mahlerisch“ sei.51
zur Zeit von Alexander von Humboldt, in: U. Lindgren (Hg.), Alexander von Humboldt., S.77-102. 47 Johann Wolfgang von Goethe: „Biographische Einzelschriften“, in: Ders., GoetheGedenkausgabe, Bd. 12, Zürich 1949, S. 18f. 48 S. Oettermann: Das Panorama, S. 25. 49 Wilhelm Heinrich Wackenroder: Herzergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders, Hamburg 1948, S. 46ff. 50 Vgl. hierzu Götz Großklaus: Medien-Bilder. Inszenierung der Sichtbarkeit, Frankfurt/M. 2004, S. 98. 51 Georg Forster: Reise um die Welt (1778 bis 1780), hg. v. Gerhard Steiner, Frankfurt/M. 1983, S. 89f.
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Die Aussichtstürme des späten 19. Jahrhunderts haben diesen Drang nach oben architektonisch kollektiviert.52 Heine wagte sich 1824 in der Mitte des eigenen Landes auf den schon touristisch erschlossenen Brocken, wobei der Faustmythos seine Einbildungskraft mit den entsprechenden Bildern versorgte. Im Aufstieg war ihm „immer, als ob der Pferdefuß neben mir hinaufklettere, und jemand humoristisch Atem schöpfe“.53 Die Natureroberung ist eine Erinnerung an die prägnanten Formen der Lektüre und die aktuelle Wahrnehmung physikalischer Reize aus der Umgebung. Auf der Turmwarte angekommen begegnete Heine nicht nur eine schöne Aussicht, sondern auch eine „sehr schöne junge Dame“, wobei sich die Physiognomien beider Naturformen in des Dichters Einbildungskraft übereinander lagerten; der Über-Blick geht gleichermaßen einordnend in die Weite der Landschaft wie über die Frauengestalt. Heine entwickelte „viele geographische Kenntnisse, nannte der wißbegierigen Schönen alle Namen der Städte, die vor uns lagen, suchte und zeigte ihr dieselben auf meiner Landkarte, die ich über den Steintisch, der in der Mitte der Turmplatte steht, mit echter Dozentenmiene ausbreitete. Manche Stadt konnte ich nicht finden, vielleicht weil ich mehr mit den Fingern suchte, als mit den Augen, die sich unterdessen auf dem Gesicht der holden Dame orientierten, und dort schönere Partien fanden.“54 Die Erscheinung der Anderen werden in Heines Bericht genauso zur physiognomischen Attraktion wie die Partien der Aussicht und der Landkarte. Auch in Karl Schinkels Bühnenbildern wurde, wie ein Rezensent anlässlich der 1816 am Berliner Hoftheater aufgeführten Zauberflöte bemerkte, das Andere mit seinen „Wundern der Natur und der Baukunst“, seinen „Zeit- und VolksEigenthümlichkeiten, so wie sie sich sinnlich im Raum dargestellt“ haben, wie „in einem Zauberspiegel, durch den Rahmen des Proszeniums dem Zuschauer gezeigt. Über diese Gränze hinaus steigt der Künstler mit der Phantasie in eine Region dichterischer Compositionen, wo die Wirklichkeit zurück bleibt[,] das Feenland der Dichterwelt beginnt.“55 Während in der Entwicklung Schinkels, der bezeichnen-
52 So G. Großklaus: Medien-Bilder. 53 Wobei die Umrisse ganz besonders die Phantasie anregten: „Nach diesem Geschäfte ging ich noch auf dem Brocken spazieren; denn ganz dunkel wird es dort nie. Der Nebel war nicht stark, und ich betrachtete die Umrisse der beiden Hügel, die man den Hexenaltar und die Teufelskanzel nennt“; Heinrich Heine: „Die Harzreise“, in: Ders., Werke, zweiter Band, hg. v. Wolfgang Preisedanz, Frankfurt/M. 1968, S. 89-148, hier S. 124f. und S. 129. 54 Ebd., S. 126. 55 Louis Catel: „Ueber die Dekorationen der Zauberflöte“, in: Königlich privilegierte Berlinische Zeitung von Staats und gelehrten Sachen, 18.tes Stück, Sonnabend, den 10. Febr. 1816, S. 5-7, hier S. 6.
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derweise als Maler von Panoramen bekannt wurde, ein Trend vom Symbolischen zum Charakteristischen zu verzeichnen war, entstanden seine Bilder in der Hauptsache durch sorgfältige Integration visueller, vornehmlich wissenschaftlicher Quellen aus dem Fremd-Raum. Das „freie Feld der Composition“56 ermöglichte die Einbildungskraft des Künstlers, die das Wissen und die Bilder der Zeit zusammenfügte und im Artefakt des Bühnenbildes ausdrückte. Dabei hat sich Schinkel auch an Darstellungen aus Humboldts Bericht über seine südamerikanische Reise orientiert.57 Die Idee des Panoramas hatte starken Einfluss auf die Ästhetik des Theaters, von Berlin über Wien bis hin zu den Meiningern.58 Insbesondere Schinkels Rundhorizont59 wie der Horizont des panoramatischen Blicks verwiesen auf eine empirisch-imaginäre Grenze. Caspar David Friedrich forderte, dass der Maler nicht bloß malen soll, „was er vor sich sieht, sondern auch, was er in sich sieht. Sieht er aber nichts in sich, so unterlasse er auch zu malen, was er vor sich sieht.“ Wie für Heine auf dem Brocken galt für den Maler, dass die „reine Empfindung“ nie „naturwidrig, immer nur naturgemäß“ sein könne: „Ein Bild muss nicht erfunden, sondern empfunden sein.“60 Für Kleist war Friedrichs Bild Mönch am Meer“, „da es in seiner Einförmigkeit und Uferlosigkeit, nichts, als den Rahmen zum Vordergrund hat“, wenn „man es betrachtet, als ob einem die Augenlieder weggeschnitten wären.“61 Komischer brachte es Büchners Dialog zwischen Leonce und Valerio zum Ausdruck: Ob denn die Welt „ein ungeheuer weitläufiges Gebäude“ oder nur ein ganz enges Zimmer voller Spiegel, hinter denen die kahle, nackte Wand lauere, wäre?62 Dreißig Jahre nach Büchner war für Friedrich Albert Lange das wahrnehmende Innen kein Spiegelsaal mehr, sondern ein Diorama, in dem die „Täuschung in Beziehung auf die Perspektive des Bildes nichts zu wünschen übrig“ ließe: „Ich sehe den Vierwaldstätter See vor mir und erblicke die wohlbekannten Riesenhäupter der Ufergebirge und die dämmernden Höhen in der Ferne mit dem vollen Gefühl der Weite und Großartigkeit dieser gewaltigen Naturszene, obwohl ich weiß, dass ich
56 Ebd. 57 Ruth Freydank: Theater in Berlin, Berlin 1988, S. 190. 58 Vgl. S. Oettermann: Das Panorama, S. 21. 59 Für Oettermann begleitet Hoffnung die „Erfahrung des Horizonts“. Man „könnte von einer Verräumlichung der Paradiesvorstellung sprechen – nicht mehr jenseits der Schwelle des Todes, sondern jenseits des Horizonts liegt von nun an das gelobte Land“; ebd., S. 15 60 Zit. n. Gerhard Eimer: Caspar David Friedrich: Auge und Landschaft, Frankfurt/M. 1974, S. 32 und 38. 61 Heinrich von Kleist, Berliner Abendblätter, 13.10.1810, zit. n. ders.: Sämtliche Werke, hg. v. Helmut Sembdner, München 1967, S. 935f. 62 G. Büchner: Leonce und Lena, S. 44.
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mich Wolfstraße 5 in Köln befinde“. Nun nimmt er an, das „Ich, das Bewusstsein oder sonst ein fingiertes Wesen sitze im Inneren des Schädels und betrachte das Netzhautbild, einerlei durch welches Medium, wie das Bild eines Dioramas mit der herrlichsten Perspektive; zugleich belebt wie das Bild der Camera obscura.“63 Medienhistorisch aufschlussreich, jedoch immer noch mit Kants Frage von 1796 nach dem Ort der Seele im Raum64 beschäftigt, drohte der unendliche Regress, dem auch die heutige Hirnforschung nicht entkommt. Der kantsche erkenntnistheoretische Skeptizismus bewirkte, dass man im panoramatischen Blick und in der Verankerung in der eigenen Kultur den Rückhalt suchte, den man verloren glaubte. Während Kleist durch die kantsche Philosophie so verstört wurde, dass er seinem Leben ein Ende setzte, band sich Humboldt im Kosmos an den erhöhten Blick und sein kulturelles Wissen. Darwin, Freud, der Naturalismus und der Surrealismus, Nietzsche und Artaud zwangen den erkenntnistheoretischen in den ontologischen Skeptizismus, der den Kosmos, das dramatische Verständnis der Umwelt und die Begegnung sowie den Dialog mit dem Anderen als Theater entlarvte. Humboldt wagte in seinem Kosmos noch den großen Überblick. Für ihn sollten kultureller und geographischer Überblick an Ort und Stelle in eins fallen, um den Charakter der Naturszene möglichst genau wiederzugeben: „In Südamerika liegen volkreiche Städte fast bis zu 13000 Fuß Höhe über der Meeresfläche. Von da hinab bieten sich dem Auge alle klimatischen Abstufungen der Pflanzenformen dar. Wie viel ist nicht von malerischen Studien der Natur zu erwarten, wenn, nach geendigtem Bürgerzwiste und hergestellten freien Verfassungen, endlich einmal Kunstsinn in jenen Hochländern erwacht.“65 Dem erhöhten Blick erschließe sich die Natur, welche, so Humboldt, „in jedem Winkel der Erde ein Abglanz des Ganzen“ ist.66 Mit dem expliziten Verweis auf seine, wie er sagt, „fast vor einem halben Jahrhunderte“,67 erschienenen Betrachtungen Ideen zu einer Physiognomik der Gewächse68 fordert er, die „Natur mit einem Blicke zu erfassen und von Lokalphänomenen zu abstrahieren“,69 um nicht nur zu erkennen, dass „jedem Erstrich“ eigene „Schönheiten vorbehalten“ sind, sondern dass auch „jede Vegetationszone“ außer den „ihr ei-
63 Friedrich Albert Lange: Geschichte des Materialismus und Kritik seiner Bedeutung in der Gegenwart (1866), hg. v. Alfred Schmidt, Bd. 2, Frankfurt 1974, S. 857-860. 64 Kant in S. T. Soemmerring: Über das Organ der Seele, Königsberg 1796, S. 86. 65 Ebd., S. 231f. 66 Ebd., S. 232. 67 Ebd. 68 Alexander von Humboldt: „Ideen zu einer Physiognomik der Gewächse“, in: Ders., Ansichten der Natur, Nördlingen 1986. 69 Ebd., S. 232.
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genen Vorzügen auch ihren eigenthümlichen Charakter“70 habe und jeweils „andere Eindrücke in uns“ hervorrufe.71 Humboldt, der sich zwischen den Polen der Naturphilosophie Schellings und dem Positivismus Comtes bewegte, meinte mit Eindruck etwas, was wir heute mit Böhme als Atmosphäre oder Anmutung verstehen, etwas, was sich durch seine eigentümliche Prägnanz auszeichnet. Für Böhme ist die Prägnanzform das „Typische, das zugleich individualisiert. Prägnanzform ist ein ausgesprochen physiognomischer Begriff, insofern er das charakteristische, sichtbare Wesen von etwas“ benenne. Als Prägnantes werde das „Wesen als etwas aus sich Heraustretendes bezeichnet.“72 Die Atmosphäre der Landschaft als Eindruck auf den Betrachter der Naturscene hat einen direkten Einfluss auf die Stimmung, die die Naturscene evoziert: „Wer fühlt sich nicht, um an uns nahe vaterländische Pflanzenformen zu erinnern, anders gestimmt in dem dunklen Schatten der Buchen, auf Hügeln, die mit einzelnen Tannen bekränzt sind, und auf der weiten Grasflur, wo der Wind in dem zitternden Laube der Birken säuselt.“73 Mit der Prägnanzform und damit über das aus sich Heraustretende ordnet sich für Humboldt der Raum der Naturscene: „So wie man an einzelnen organischen Wesen eine bestimmte Physiognomie erkennt, wie beschreibende Botanik und Zoologie im engeren Sinne des Worts Zergliederung der Thier- und Pflanzenformen sind, so giebt es auch eine gewisse Naturphysiognomie, welche jedem Himmelsstriche ausschließlich zukommt.“74 Das Zukommen findet als Eindruck im Kopf des nicht nur wissenschaftlich, sondern auch künstlerisch Gebildeten statt und drückt sich über die Hand des Künstlers im Medium aus: „Was der Künstler mit den Ausdrücken: Schweizernatur, italiänischer Himmel bezeichnet, gründet sich auf das dunkle Gefühl des lokalen Naturcharakters. Himmelsbläue, Wolkengestaltung, Duft, der auf der Ferne ruht, Sanftfülle der Kräuter, Glanz des Laubes, Umriss der Berge sind die Elemente, welche den Totaleindruck einer Gegend bestimmen“. Diesen Totaleindruck „aufzufassen und anschaulich wiederzugeben ist die Aufgabe der Landschaftsmalerei. Dem Künstler ist es verliehen die Gruppen zu zergliedern, und unter seiner Hand löst sich (wenn ich den figürlichen Ausdruck wagen darf) das große Zauberbild der Natur, gleich den geschriebenen Werken der Menschen, in wenige einfache Züge auf.“75 Nachdem Humboldt beschrieben hat, wie sich im Idealfall an Ort und Stelle im Fremd-Raum das Naturbild mithilfe des physiognomischen Blickes in Charakterräume zergliedern lässt, ging es
70 Ebd., S. 233. 71 Ebd. 72 G. Böhme: Atmosphäre, S. 152. 73 A.v. Humboldt: Kosmos, S. 233. 74 Ebd. 75 Ebd.
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ihm anschließend um das geeignete Medium, das die Ergebnisse der Reisen der Naturforscher einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich machen könne. So konnten diejenigen, die nicht die Gelegenheit und Mittel hat, Fernreisen selbst durchzuführen, zumindest die physiognomische Ansicht der fernen Naturscenen als Eindruck erleben. Mit „dem jetzigen unvollkommenen Zustand bildlicher Darstellungen der Landschaft, die unsere Reiseberichte als Kupfer begleiten, ja nur zu oft verunstalten“,76 war Humboldt zwar nicht zufrieden, aber er gestand ihnen immerhin zu, dass „sie doch nicht wenig zur physiognomischen Kenntnis ferner Zonen, zu dem Hange nach Reisen in die Tropenwelt und zu thätigerem Naturstudium beigetragen“77 haben. Um jedoch dem Eindruck des vor Ort arbeitenden Wissenschaftlers und Künstlers im Anblick der Naturszene noch näher zu kommen, waren andere visuelle Medien besser geeignet: „Die Vervollkommnung der Landschaftsmalerei in großen Dimensionen (als Decorations-Malerei, als Panorama, Diorama [...]) hat in neueren Zeiten zugleich die Allgemeinheit und die Stärke des Eindrucks vermehrt. Was Vitruvius und der Aegyptier Julius Pollux als ‚ländliche (satyrische) Verzierungen der Bühne‘ schildern, was in der Mitte des sechzehnten Jahrhunderts, durch Serlio´s Coulissen-Einrichtungen, die Sinnestäuschung vermehrte, kann jetzt, seit Prevost´s und Daguerre´s Meisterwerken, in Parker´schen Rundgemälden, die Wanderung durch verschiedenartige Klimate fast ersetzen.“78 Humboldt analogisierte die Entwicklungsgeschichte der Kultur mit der Entwicklungsgeschichte der Medien, wobei das Panorama als höchste Entwicklungsstufe der Medien selbst sich gerade dadurch auszeichnete, dass es den Betrachterstandpunkt auf einer erhöhten Plattform in Relation zum Gezeigten positionierte.79 Gleichzeitig sollte das Panorama, für Groß-
76 Ebd. 77 Ebd. 78 Ebd. Während A. v. Humboldt noch vorwiegend die Landschaftsmalerei empfiehlt, spricht er zudem in seinem Kosmos neben dem Panorama bereits von der Daguerreotypie, die neben dem Panorama die „Wanderung durch verschiedene Klimate fast ersetzen könne.“ Wie Ludwig Schorn und Eduard Kolloff 1839 betonten, wobei sie sich auf einen „Augenzeugen“ bezogen, den sie ausgiebigst zitierten, würde man mithilfe des neuen Mediums der Daguerreotypie „Abbildungen von Pflanzen, Mineralien und anatomischen Teilen und Präparaten auf genaueste nehmen können und dadurch die Zeit ersparen, welche bisher der Zeichner in Anspruch nahm“; dies.: „Der Daguerreotyp“, in: Wolfgang Kemp (Hg.), Theorie der Fotografie I, 1839-1912, München 1999, S. 56-59, hier S. 56ff. Auf Ägypten bezogen spricht Susan Sontag von der „großen Epoche des Orientalismus in der Fotografie“, die mit einem eigenartigen „Heroismus des Sehens“ verbunden war; dies.: Über Fotografie, München 2002, S. 85. 79 Wenig bekannt ist, dass Humboldt einer der ersten Menschen war, die Daguerres Erfindung als auswärtige Mitglieder der Kommission der Pariser Académie des Sciences in
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klaus bereits ein Medium der Simulation,80 fähig sein, die räumliche Bewegung durch verschiedene „Klimate“ fast zu ersetzen, es integriert also zwischen Betrachterstandpunkt und Horizont die von ihm geforderte räumliche Annäherung an die „Naturscene“ und die Erkenntnis der differenzierten Zonen der Natur durch das Reisen als grenzüberschreitende Bewegung. Die dafür nötigen „Sinnestäuschungen“ übertrafen für Humboldt gar die der Theater, als Heterotopie leisten die Rundgemälde „mehr als die Bühnentechnik, weil der Beschauer, wie in einen magischen Kreis gebannt und aller störenden Realität entzogen, sich von der fremden Natur selbst umgeben wähnt.“81 Das Panorama war dabei das Medium, welches, so Oettermann, „die Endabrechnung der summierten Natur“ darstellte, da es „der Unsicherheit der Details ein Ende“ bereitete, „indem es sie mit einer einzigen Geste für sich vereinnahmt.“82 Diese funktionierte zwischen Standpunkt und Horizont als performative Vereinnahmung der Besucher durch den schwindelerregenden Eindruck. Das Wort Panorama, griechisch für „Alles-Schau“, ist ein modernes Kunstwort, geprägt im letzten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts, für die innovativen Gemälde und den sie umgebenden Bau. Die Rezension des ersten Panoramas im deutschen Raum verwies nicht zufälligerweise auf das Gesicht und das Sehen: „I. Panorama So heißt die goldfarbige Inschrift einer Rotunde oder runden Bretterbude auf dem hiesigen großen Neumarkt. Das Wort ist aus dem Griechischen alles und Gesicht, Aussicht, Sehen, zusammengesetzt und ließ sich deutsch durch Allansicht geben. Man sieht in dieser Bude freilich nicht alles, aber alles möglich Sichtbare von der Stadt London.“83 Der Erfinder des Panoramas Robert Barker hatte dieses in seiner Patentschrift 1787 noch „la nature à coup d´oeil“ – Natur auf einen Blick – genannt. Diese enthüllte sich plötzlich, fast schockartig mit dem Eintritt in die Medienanordnung.84
Form erster Proben begutachten konnten. Für ihn waren die Proben, die er zu sehen bekam, etwas zwischen „Gegenständen, die sich selbst mahlen“ und „Stahlstichen“, sie wären „Zwitter von Natur und Kunst, von der Natur selbst hervorgebrachte Bilder oder aber künstlerische Bilder, die der Natur zum Verwechseln ähnlich sehen“; Bernd Stiegler: Theoriegeschichte der Fotografie, München 2006, S. 15f. 80 G. Großklaus: Medien-Bilder, S. 205ff. 81 A.v. Humboldt: Kosmos, S. 233. 82 S. Oettermann: Das Panorama, S. 25 83 Privilegierte Wöchentliche Gemeinnützige Nachrichten von und für Hamburg, 25. Sept. 1799. 84 Vgl. Albrecht Koschorke: „Das Panorama. Die Anfänge der modernen Sensomotorik um 1800“, in: Harro Segebrecht (Hg.), Die Mobilisierung des Sehens. Zur Vor- und Frühgeschichte des Films in Literatur und Kunst, München, 1996, S. 149-169; Marie-Louse von Plessen: „Der gebannte Augenblick. Die Abbildung von Realität im Panorama des 19.
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Der Besucher wurde nach dem Eintritt in ein Panorama erst durch einen dunklen Gang geleitet. Dort musste er etwas warten, damit sich seine Augen an das Dämmerlicht gewöhnte und sich die Erinnerungsbilder aus der äußeren Realität etwas getrübt hatten. Dann ging er die Treppe wie im Inneren eines Turmes nach oben. Auf der Plattform angekommen, erschien ihm das Freie, die Natur erst einmal überwältigend. Und was noch eindrucksvoller war: Der Besucher hatte nun keinen sicheren Rücken mehr. In ihm entstand der Eindruck, von einer ausweglosen Naturscene vollständig umgeben zu sein. Während die Camera obscura noch eine Fensteraussicht auf die Natur gewährte, potenzierte sich diese in der Geste des Totaleindrucks. Albrecht Koschorke spricht mit Bezug auf August Langen von einer Verabschiedung der Rahmenschau, der sich eine im Panorama eingeübte Entgrenzung des visuellen Raums im Sinne einer Totalisierung der Empirie anschloss.85 Da die Scene im Panorama seltsam stillgestellt war, bewegte sich der Besucher um seine eigene Achse, um alles zu sehen. Während dem Rezipienten die ungewohnte „volle Macht des Faktischen“ gegenübertrat, ergab sich der Halt allein aufgrund der Prägnanz der Physiognomie der dargestellten Natur, der erhöhten Plattform, auf der der Betrachter sich aufhielt, und der Begrenzung des simulierten Naturraums durch den Horizont. Die Medienwirkungen auf die Rezipienten sollten laut Humboldt so stark sein, dass sie sich auch außerhalb der Panoramen in der Einbildungskraft mit Realitätseindrücken vermischten. Die Panoramen ließen „Erinnerungen zurück, die nach Jahren sich vor der Seele mit den wirklich gesehenen Naturscenen wundersam täuschend vermengen.“86 Letztlich kehrte sich damit die Wirkungsrichtung um. Das Panorama vermittelte nicht mehr die gesehenen Naturscenen als Abbild, sondern prägte potentiell als Erinnerung die Wahrnehmung des Naturforschers im Fremd-Raum. Jedoch: Ein ganzer Kosmos spiegelte sich für Humboldt keineswegs im momenthaften Eindruck des Panoramas. Erst der periodische Wechsel der Rundgemälde garantierte die Annäherung an den Totaleindruck: „Physiognomische Studien, an den schroffen Berghängen des Himalaya und der Cordilleren oder in dem Inneren der indischen und südamerikanischen Flußwelt entworfen“, würden einen „magi-
Jahrhunderts“, in: Sehsucht. Das Panorama als Massenunterhaltung des 19. Jahrhunderts, Bonn 1993, S. 12-19. 85 Für Koschorke funktionierten Panoramen mit „ihren topographischen und historistischen Übersichten als Schulungsstätten der modernen Apperzeptionsfähigkeit“; A. Koschorke: Das Panorama, S. 153ff. August Langen argumentiert u.a., dass die Landschaftsbetrachtung des 18. Jahrhunderts noch den Charakter der Guckkastenschau besaß. Vgl. ders.: Anschauungsformen in der deutschen Dichtung des 18. Jahrhunderts, Darmstadt 1965, S. 40. 86 A.v. Humboldt: Kosmos, S. 233f.
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schen Effect hervorbringen.“ Die Erhabenheit des Ganzen würde durch das Medium Panorama adäquat vermittelt, „der Begriff des Naturganzen, das Gefühl der Einheit und des harmonischen Einklangs im Kosmos“ würden „um so lebendiger unter den Menschen, als sich die Mittel vervielfältigen die Gesammtheit der Naturerscheinungen zu anschaulichen Bildern zu gestalten.“87 Der Wechsel der Bilder, welcher erst den Eindruck des Kosmos erzeugte, wies nicht nur auf die spätere Erfindung des Films, sondern auch auf die mediale Spezifizität des eher linearen und in der Zeit sukzessive ablaufenden Schreibens und Lesens.88 Die Bemerkung zum intermedialen Verhältnis zwischen dem visuellen Medium Panorama und dem Medium der Schrift ist deshalb wichtig, weil Humboldts Kosmos eigentlich keine Abbildungen besitzt. Das mag für einige erstaunlich klingen, da man immer Abbildungen sieht, wenn von Humboldts Kosmos die Rede ist, aber diese Abbildungen stammen größtenteils aus früheren Veröffentlichungen Humboldts. Teilweise sind sie auch dem Physikalischen Atlas von Heinrich Berghaus entnommen, der zwar ursprünglich gemeinsam mit Humboldts Kosmos publiziert werden sollte, aber aufgrund eines Zerwürfnisses zwischen Berghaus und Humboldts Verleger Cotta in einem anderen Verlag erschien.89 Später, nach Beendigung des Streits, wurden in beiden Publikationen an einigen Stellen gegenseitige Verweise eingefügt. Dennoch muss man sich vor Augen halten, dass der humboldtsche Kosmos seinen Totaleindruck über die Schrift herzustellen sucht. Das mag kein Zufall sein, ist doch das Medium Schrift geeignet, kulturgeschichtliche Entwicklungen besser zu verfolgen, als eine Abfolge von Bildern. Kulturelles Wissen ist für Humboldt die unabdingbare Grundlage, die Zeichen einer Physiognomie der Natur richtig zu deuten. Da dieses Wissen die räumliche Einteilung der Naturszenen fundiert, hänge es sehr von dem Stand der kulturellen Entwicklung ab, inwieweit ein Volk in der Lage sei, die Naturszenen ertragreich abzu-
87 Ebd., S. 234. 88 Ist der frühe Film Fiktion oder Dokument? Im ersten Film der Filmgeschichte sieht man Arbeiter aus der Brüder Lumières Fabrik herausströmen – dies wird dokumentiert, ist aber offensichtlich auch inszeniert, denn Kamera und Team werden ignoriert. Die Lumiere-Kameraoperatoren hatten in den nachfolgenden Jahren die Aufgabe, global Bilder von Natur und Kultur zu machen. Da die ganze Welt aber so nur in Fragmenten abgebildet werden konnte, mussten diese Fragmente montiert werden. Diese Tradition zieht sich von A.v. Humboldts Darstellung der Welt im Kosmos über Piscators epische Perspektive bis hin zu heutigen Darstellungen der Welt in den Medien. 89 Heinrich Berghaus: Physikalischer Atlas, oder: Sammlung von Karten, auf denen die hauptsächlichsten Erscheinungen der anorganischen und organischen Natur nach ihrer geographischen Verbreitung und Vertheilung bildlich dargestellt sind, Gotha 1838. [Reprint als Beilage zu A. v. Humboldts Kosmos, Frankfurt/M. 2004.]
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bilden. Dass dabei gerade Theater und Natur in der Wahrnehmung zusammenhingen, sah man für Humboldt schon im antiken Griechenland, da man „bei tiefer Kenntnis von dem Wesen des griechischen Trauerspiels [...] sinnig den Zauber des Chors in seiner allvermittelten Wirkungsweise mit dem Himmel in der Landschaft verglichen“90 habe. Die Deutschen kommen beim Weltbürger Humboldt nicht zuerst: „See-makuang schrieb um das Jahr 1086, als in Deutschland die Poesie in den Händen einer rohen Geistlichkeit, nicht einmal in der vaterländischen Sprache auftrat. Damals, und vielleicht ein halbes Jahrtausend früher, waren die Bewohner von China, Hinterindien und Japan schon mit einer großen Mannigfaltigkeit von Pflanzenformen bekannt.“91 In seinem Kosmos warf Humboldt, wenn man im Modell des Panoramas bleiben möchte, nicht nur den üblichen Blick von der Plattform auf das Rundgemälde, sondern deduzierte, von der Naturszene ausgehend, quasi in einer Beobachtung zweiter Ordnung, die Bedingungen, also die Hypothesen der eigenen Kultur und Entwicklungsstufe, aus den Prägnanzformen und differenzierten Räumen der abgebildeten Naturszene: „Der Reichthum von charakteristischen Pflanzenformen, welche unsere Zeit der wissenschaftlichen Beobachtung wie der Landschaftmalerei darbietet, muss lebhaft anreizen den [kulturgeschichtlichen] Quellen nachzuspüren, welche uns diese Erkenntniß und diesen Kulturgenuß bereiten.“ Humboldt rekurrierte auf ewige wiederkehrende Typen in der Physiognomik der wahrgenommenen Natur. Es kam ihm darauf an, in dem „Reflex der Außenwelt auf das Innere des Menschen, auf seine geistige Thätigkeit und seine Empfindungsweise die Anregungsmittel zu schildern, welche bei fortschreitender Kultur so mächtig auf die Belebung des Naturstudiums eingewirkt haben“. Die „urtiefe Kraft der Organisation fesselt, trotz einer gewissen Freiwilligkeit im Entfalten einzelner Theile, alle thierische und vegetabilische Gestaltung an feste, ewig wiederkehrende Typen; sie bestimmt in jeder Zone den ihr eingeprägten, eigenthümlichen Charakter, d.i. die Physiognomik der Natur.“92 Hier ergänzte Humboldt das synchrone um das diachrone Panorama, oder, anders gesehen, um den selbstreflexiven Blick auf den eigenen Standpunkt, im Panorama auf die eigene Plattform. Aus der Sicht der Evolutionsforschung ist interessant, dass Humboldt, was die Morphologie der Gestalten betrifft, eine Mittelstellung einnimmt. Von der Ansicht, dass die Ähnlichkeit der Typen durch Gott garantiert werde, hat er sich bereits verabschiedet. Zwar war für Humboldt alle „Gestaltung an feste, ewig wiederkehrende Typen gebunden“, dies wurde aber ideell bestimmt. Die nächstfolgende Stufe wäre, die Ähnlichkeit in der Morphologie der Gestalten materiell zu erklären, wie es
90 A.v. Humboldt: Kosmos, S. 236. 91 Ebd., S. 238. 92 Ebd., S. 239.
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Darwin gelang, der die gemeinsame Geschichte des Menschen und der „niederen Thiere“ aus der „großen Ähnlichkeit“ sowohl in der „embryonalen Entwicklung“ als auch in „unzähligen Punkten des Baues und der Constitution“ herleitete.93 Wie bereits angesprochen, hatte sich Darwin, dezidiert ausgehend von Humboldts Zonen, gewundert, wieso es an den Rändern dieser Zonen Überlappungen von verschiedenen Entwicklungsstufen von Arten gab, was ihn dazu motivierte, seine bahnbrechende Theorie zu formulieren. In Humboldts Kosmos ist das Panorama, was die Plattform und was den Raum bis zum Horizont betrifft, noch stabilisiert durch die wiederkehrenden Typen, welche die Räume gliedern und differenzieren: „Wenn der menschliche Geist sich erkühnt, die Materie, d.h. die Welt physischer Erscheinungen, zu beherrschen, wenn er bei denkender Betrachtung des Seienden die reiche Fülle des Naturlebens, das Walten der freien und gebundenen Kräfte zu durchdringen strebt; so fühlt er sich zu einer Höhe gehoben, von der herab, bei weit hinschwindenden Horizonte, ihm das Einzelne nur gruppenweise verteilt, wie umflossen von leichtem Flusse erscheint.“ Der genau bezeichnete Standpunkt und das Unternehmen, das es erlauben sollte, im Kosmos das „Universum zu betrachten und in seinen beiden Sphären, der himmlischen und der irdischen, anschaulich darzustellen“, wäre, so gesteht Humboldt, durchaus gewagt. Der Entwurf eines „allgemeinen Naturgemäldes“ sei umso schwieriger, als „wir der Entfaltung gestaltenreicher Mannigfaltigkeit nicht unterliegen, und nur bei großen, in der Wirklichkeit oder in den subjektiven Ideenkreise geschiedenen Massen verweilen sollen.“94 Das Empirische, von Humboldt als Sammlung von Fakten, als Variablen der Temperatur, der Feuchtigkeit, des Luftdrucks etc. akribisch ermittelt, blieb gebunden durch die Organisation der Informationen dadurch, dass man der Komplexität der Erscheinung eine verstandesgemäße Form aufprägte. Hier befand sich Humboldt noch in der Vorstellungswelt der Jahrhundertwende, welche insbesondere durch Kants revolutionäre Philosophie, der Mensch beziehe seine Informationen nicht passiv von den Sinnen, bestimmt wurde. Somit war für Humboldts „denkende Betrachtung“ die Natur „Einheit in der Vielheit, Verbindung des Mannigfaltigen in Form und Mischung, Inbegriff der Natur-
93 C. Darwin: Die Abstammung des Menschen, S. 686; J.W.v. Goethe, Schriften zur Morphologie, S. 404. 94 A.v. Humboldt: Kosmos, S. 38. Wenn nach Oettermann das Panorama die „Endabrechnung der summierten Natur“ ist, da es der „Unsicherheit der Details ein Ende“ bereite, indem es sie „mit einer einzigen Geste für sich vereinnahmt“, dann wäre nach Darwin die mediale Analogie mit einem Entwicklungspanorama sinnvoll, das sich nun an der Zeitachse orientiert, wie Dolf Sternberger expliziert; vgl. S. Oettermann: Das Panorama, S. 25; Dolf Sternberger: Panorama oder Ansichten vom 19. Jahrhundert, Frankfurt/M. 1974, S. 96 und S. 103.
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dinge und Naturkräfte, als ein lebendiges Ganzes.“ Für ihn ergab sich als wichtigste Aufgabe des „sinnigen physischen Forschens“, in der „Mannigfaltigkeit die Einheit zu erkennen, von dem Individuellen alles zu umfassen, was die Entdeckungen der letzteren Zeitalter uns darbieten, die Einzelheiten prüfend zu sondern und doch nicht ihrer Masse zu unterliegen.“ Die Bestimmung des Menschen sei, den „Geist der Natur zu ergreifen, welcher unter der Decke der Erscheinungen verhüllt liegt.“ So gelänge es, über die Enge der Sinnenwelt hinaus zu gelangen und, „die Natur begreifend, den rohen Stoff empirischer Anschauung gleichsam durch Ideen zu beherrschen.“95 Die Umrisse der Formen als Prägnanzform und räumliche Einteilung erkenne man allein mithilfe der Vernunft: „Was in dem Gefühle umrisslos und durftig“ verschmelze, könne von der, nach „dem Causalzusammenhang der Erscheinungen grübelnden Vernunft nur in einzelne Elemente zerlegt, als Ausdruck eines individuellen Naturcharakters, begriffen werden.“96 Der besonders wertvolle, da ergiebige rohe Stoff wäre für Humboldt jedoch nicht an jedem Ort zu finden. Ideal sind natürlich Gebirge, da sich an ihnen etwa der Querschnitt der verschiedenen Vegetationszonen, die sich vom Tropenwald bis zur Schneeregion ausbreiten, in einer einzigen Naturszene zeigt. Dabei korreliert die Höhe eines zu beobachtenden Gesamtraumes keineswegs positiv mit der Ergiebigkeit: Obwohl das Himalayagebirge „in der Größe seiner colossalen, jetzt durch wiederholte Messung wohl bestimmten Massen die Andeskette weit übertrifft, so gewährt ihr Anblick doch nicht die Mannigfaltigkeit der Erscheinungen, welche die Cordilleren von Südamerika charakterisieren. Höhe allein bestimmt nicht den Eindruck der Natur.“97 Grundsätzlich kommt es also für den optimalen panoramatischen Blick auf den gewählten Standpunkt an. So habe die dem „Aequator nahe Gebirgsgegend“ einen „nicht genugsam beachteten Vorzug: es ist der Theil der Oberfläche unsres Planeten, wo im engsten Raume die Mannigfaltigkeit der Natureindrücke ihr Maximum erreicht. In der tiefgefurchten Andeskette von NeuGranada und Quito ist es dem Menschen gegeben, alle Gestalten der Pflanzen und alle Gestirne des Himmels gleichzeitig zu schauen.“98 Zusätzlich begründete Humboldt seine Präferenz für die Äquatorialgegend, darin, dass dort der „innere Zusammenhang großer, periodisch wiederkehrender Erscheinungen“ gut beobachtbar wäre. Die „einfachen Gesetze, nach denen diese Erscheinungen sich zonenweise gruppieren“, böten sich dort dem „Menschen in größerer Klarheit dar.“99
95 A.v. Humboldt: Kosmos, S. 10. 96 Ebd., S. 15. 97 Ebd., S. 12. 98 Ebd., S. 14. 99 Ebd., S. 16.
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Humboldt spricht an dieser Stelle allgemein vom Menschen, meint damit aber vor allem den Menschen am Ende einer notwendigen Entwicklung zur höchsten Kultur. Überzeugt von der prägenden Beeinflussung des Menschen durch die ihn umgebende Landschaft und Vegetation ergab sich für Humboldt eine fast paradoxe, räumlich begründete Situation. Er stellte fest, dass „bei den Ursachen, welche in vielen Theilen dieses glücklichen Erdstrichs“, also der Äquatorgegend, „dem localen Entstehen hoher Gesittung entgegentreten“, die „Vortheile eines leichteren Erkennens jener Gesetze (so weit geschichtliche Kunde reicht) unbenutzt geblieben“100 wären. Diese Feststellung hatte Folgen. Humboldt, der für Stephen Jay Gould in Der falsch vermessene Mensch der potentielle „Held aller modernen Gleichheitsapostel, die nach ihren Vorläufern in der Geschichte suchen“, ist,101 besteht zwar im Kosmos „auf der Einheit der menschlichen Spezies“ und weist „zugleich die deprimierende Annahme zurück, es gäbe höher stehende und tiefer stehende Menschenrassen.“102 Aber den Menschen der nördlichen, gemäßigten Hemisphäre wäre es vergönnt gewesen, schneller eine höhere Cultur zu entwickeln.103 Diese inhomogene Verteilung der günstigsten Bedingungen, die Naturszenen des Kosmos abzubilden und richtig zu deuten, ließ für Humboldt eine räumliche Bewegung notwendig erscheinen, damit, im Modell des Panoramas, die Plattform zum Rundgemälde gefügt werden konnte: „Von daher ist diese Einsicht in die Tropenregion und die ihr nahen Länder durch Völkerzüge und fremde Ansiedler gebracht worden: eine Verpflanzung wissenschaftlicher Cultur, die auf das intellectuelle Leben und den industriellen Wohlstand der Colonien, wie der Mutterstaaten, gleich wohlthätig eingewirkt hat.“104 Dass dieser intellectuelle und wirtschaftliche Aus-
100 Ebd. 101 S.J. Gould: Der falsch vermessene Mensch, S. 33f. 102 Humboldt kann durchaus als Humanist und als Gegner des Kolonialismus gelten, so war er auch gegen 1842 geplante Verordnungen zur Diskriminierung der Juden und plädierte 1857 für das Gesetz, dass jeden Sklaven auf preußischen Boden in Freiheit setzte. Dem steht jedoch ein von Gould gefundenes Schreiben Humboldts an Samuel George Morton entgegen, der versuchte, Rassen objektiv aufgrund physischer Merkmale hierarchisch zu ordnen. Humboldt bemerkt: „Die kraniologischen Schätze, die Sie das Glück hatten, in ihrer Sammlung zusammenzutragen, haben in Ihnen einen würdigen Interpreten gefunden. Ihre Arbeit ist gleichermaßen bemerkenswert wegen der Tiefgründigkeit ihrer anatomischen Betrachtung, der numerischen Detailliertheit der Relationen organischer Ausformung und des Fehlens jener poetischen Ergüsse, wie es die Mythen der modernen Physiologie sind.“ Zit. n. S.J. Gould: Der falsch vermessene Mensch, S. 49. 103 A.v. Humboldt: Kosmos, S. 16. 104 Ebd., S. 16.
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tausch zwischen den Natur- und Culturrräumen keineswegs gleich wohltätig gewirkt hat, wissen wir aus der Kolonialgeschichte. Für Humboldt bedeutete die koloniale Expansion oft eine Kohärenz von kulturellem Fortschritt und gewaltsamer Grenzüberschreitung, die Geschichte der Wissenschaft war bei ihm von einer Geschichte der Gewalt nicht zu trennen. Seine Natur als Reich der Freiheit legitimierte den Fort-Schritt – nun wörtlich verstanden – als tatsächlichen Übergriff in den Raum des Fremden. Charles Darwin las Humboldts Schriften, er ließ sich von ihm zu seinen Reisen motivieren. Für Peter J. Bowler steht fest, dass „Darwin´s project would become perhaps the broadest application of Humboldtian science, which encouraged the search for complex interactions underlying natural phenomena.”105 Insbesondere Darwins Aufmerksamkeit für die geographische Verteilung der Arten schien von seiner Lektüre Humboldts angeregt worden zu sein, obwohl seine Beobachtungen auf der Reise der Beagle eine neue Sichtweise herausforderten. Um die empirische Beobachtung der Verteilung der Arten zu erklären, reichten traditionelle Modelle keineswegs mehr aus. Die Fakten könnten, so Bowler, „be better explained by combining a theory of adaptive evolution with a study of how species are able to migrate around the world. Biogeography and ecology thus shaped the framework within which he would conceive his theory. Natural theology implied that species should inhabit the area to which it was best adapted. But this approach could not deal with the complex problems that Darwin now began to recognize.”106 So war Darwin nicht klar, wieso Südamerika eine einzigartige Kollektion tierischer Arten besaß, während Afrika, das grundsätzlich eine ähnliche Bandbreite an spezifischen Umwelten bot, ein unterschiedliche Menge an Arten vorweisen konnte. Darwin beschäftigte die Frage, ob es stimmen könne, dass jede Spezies perfekt an ihre Umwelt angepasst war. Er entdeckte in Patagonien zwei Vogelarten, die jeweils ihre eigene Heimstatt hatten. Aber es existierte auch ein Raum als geographische Schnittmenge, in dem beide Vogelarten lebten. Wie konnte das sein? Wenn die Lebewesen perfekt angepasst waren an ihre jeweilige Heimat, wie konnten sie dann alle beide zugleich in einem Raum leben? Darwin kam der Verdacht, dass sich beide Arten in einem Wettbewerb befanden, um den Schnittmengenraum zu besetzen. Humboldt ging noch von einer Balance der Räume aus, indem er die Arten spezifischen Umwelten zuwies. Bei Darwin dynamisierte sich diese Sicht. Lokale Bedingungen gewährten einer Art zwar einen gewissen Vorteil, während nicht weit davon entfernt einer anderen Art andere Vorteile geboten wurden. Dazwischen jedoch kämpften beide Arten um das Territorium. Auf längere Sicht konnte sich dann die Umwelt überall so verändern, dass auch vermeintlich sichere Territorien weitere
105 P.J. Bowler: Evolution, S. 151. 106 Ebd.
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Anpassungsleistungen verlangten und der Kampf nie zu einem wirklichen Ende kam. Dieser Kampf ließ sich auch auf die Menschenrassen übertragen. Deren Aussterben war für Darwin „hauptsächlich eine Folge der Concurrenz eines Stammes mit dem anderen und einer Rasse mit der andern.“ Wenn man davon ausgehe, dass es einige hindernde Momente gibt, die eine Population in ihrem Bestand bedroht, wie u.a. die „periodisch eintretenden Hungersnöthe, das Wandern der Eltern und das in Folge hiervon auftretende Sterben der Kinder, das lange Stillen, Kriege, Naturereignisse, Krankheiten, zügelloses Leben, das Stehlen von Frauen, Kindesmord und besonders verminderte Fruchtbarkeit“, dann sähe man schon, wie dynamisch dieses System sei. Da brauche nur eines dieser Hindernisse mehr oder weniger stark verstärkt werden, dann würde der „auf diese Weise betroffene Stamm zur Abnahme neigen, und wenn einer von zwei an einander stoßenden Stämmen weniger zahlreich und weniger machtvoll als der andere wird, so wird der Kampf sehr bald durch Krieg, Blutvergießen, Cannibalismus, Sclaverei und Absorption beendet. Selbst wenn ein schwächerer Stamm nicht in dieser Weise plötzlich hinweggeschwemmt wird, nimmt er doch, wenn er einmal beginnt, abzunehmen, beständig weiter ab, bis er ausgestorben ist.“ In dem Fall, dass „civilisierte Nationen mit Barbaren in Berührung kommen“, sei der Kampf schnell entschieden und das Ergebnis vorhersehbar. Hier wäre der „Kampf kurz, mit Ausnahme der Orte, wo ein tödtliches Klima der eingeborenen Rasse zu Hilfe kommt. Von den Ursachen, welche zum Siege der civilisierten Nationen führen, sind einige sehr deutlich und einfach, andere compliciert und dunkel. Wir können einsehen, dass die Cultur des Landes aus vielen Gründen den Wilden verderblich sein wird.“ Am „Grad ihrer Civilisation“ könne man ihre Fähigkeit, sich gegen Konkurrenten durchzusetzen, erkennen, er „scheint ein höchst bedeutungsvolles Element bei dem Erfolge der in Concurrenz kommenden Nationen zu sein.“107 Darwin ging gar davon aus, dass sich der „Grad ihrer Civilisation“ auf ästhetischer Ebene ausdrücke, man sähe, wie „sehr die verschiedenen Rassen des Menschen in ihrem Geschmack für´s Schöne verschieden sind. In jeder Nation, die weit genug fortgeschritten war, sich Bildnisse ihrer Götter oder ihrer vergötterten Herrscher zu machen, versuchten ohne Zweifel die Bildhauer ihr Ideal von Schönheit und Großartigkeit in diesen Bildwerken auszudrücken. Von diesem Gesichtspunkte aus verdienen die griechischen Statuen des Jupiter oder Apollo mit den ägyptischen oder assyrischen Statuen im Geiste verglichen zu werden, und diese wiederum mit den häßlichen Basreliefs der zerstörten Bauten von Central-Amerika.“108 Auch in Darwins materialistischer Welt lassen sich ästhetisch begründete Entwicklungsrei-
107 C. Darwin: Die Abstammung des Menschen, S. 203ff. 108 Ebd., S. 657f.
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hen feststellen, das campersche Ideal des Apolls war bei Darwin an der Spitze der Hierarchie zu finden.
5.3 D IE B OTANIK
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Für Kant werden das überwältigend Große bzw. die beeindruckende Natur zu einer Erfahrung des Anderen, an dem das Subjekt in seinem Versuch des Überblicks oder der begreifenden Zusammenfassung scheitern wird. Dennoch oder gerade deshalb erfährt sich der Mensch als Wesen, das vermittels der Idee, über die Idee als Medium befähigt ist, so etwas wie eine Idee des Überblicks, der Synopsis und des Allgemeinen zu erlangen und in Anwendung zu bringen. Gefahrlos war, ist und bleibt das nicht. Schiller warnt, „dass man sich in moralischen Dingen nicht ohne Gefahr von dem natürlichen praktischen Gefühl entfernt, um sich zu allgemeinen Abstraktionen zu erheben, dass sich der Mensch weit sicherer den Eingebungen seines Herzens oder dem schon gegenwärtigen und individuellen Gefühle von Recht und Unrecht vertraut als der gefährlichen Leitung universeller Vernunftsideen, die er sich künstlich erschaffen hat – denn nichts führt zum Guten, was nicht natürlich ist.“109 Von Adornos negativer Dialektik bis zur postmodernen Version des Erhabenen nach Lyotard wird der Versuch der Bewältigung des Erhabenen im Ablauf der Zeit und der Sukzession der ständig scheiternden Gestaltungsversuche des Anderen durch das ganz Andere auf Dauer gestellt; die Grausamkeit (Artaud), die Präsenz des Anderen entzieht sich ständig in der De-Konstruktion der Zuweisung von Bedeutung und Vernunft. Bezogen auf die Erfahrung der Natur meint dies: Das Typische in der Prägnanzform koagiert mit der Atmosphäre des Naturraumes, während es analog zu der von Derrida festgestellten Unmöglichkeit, von einem Ereignis zu reden, an der anderen (polarisiert gesehenen) Seite des denkbaren Feldes um den (unmöglichen) Versuch eines topologischen Über-Blicks geht. Der Raum besitzt als Naturraum eine gewisse Anmutung, er begegnet einem mit einer bestimmten Atmosphäre. Insbesondere in der kalten Moderne wird der ferne Hintergrund wichtig, Kafka schreibt in Das Schloss: „Nun sah er oben das Schloss deutlich umrissen in der klaren Luft und noch verdeutlicht durch den alle Formen nachbildenden, in dünner Schicht überall liegenden Schnee.“110 Positiv gewendet begegnet der dem Neo-Strukturalismus
109 Friedrich Schiller: „Briefe über Don Karlos“, in: Ders., Schillers Werke. Nationalausgabe. Band 22. Vermischte Schriften, hg. v. Herbert Meyer/Annette Dedring, Weimar 1958/1991, S. 137-177, hier S. 172. 110 Franz Kafka: Das Schloß. Roman. In der Fassung der Handschrift, Frankfurt/M. 2001, S. 16f.
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entwachsene Peter Handke der Atmosphäre des ihm zugeneigten Naturraums: „Fern über der Hochebene des Philosophen war die Luft von jenem besonders frischen Blau, mit dem Cézanne den Bereich oft gemalt hat. Über die Bergwand selbst flogen die Wolkenschatten, als würden da immer Vorhänge gezogen“. Endlich „stand das ganze Massiv ruhig im Gelbglanz, wie gläsern, ohne doch wie ein anderer Berg, die Heimkehr zu verwehren“. Und er „spürte die Struktur all dieser Dinge“ in sich, als sein „Rüstzeug. TRIUMPH! Dachte ich – als sei das Ganze schon glücklich geschrieben. Und ich lachte.“111 Die Atmosphäre kann nicht nur umgangssprachlich als Klima bezeichnet werden; bereits im 18. Jahrhundert registrierten die Botaniker, dass die Verbreitung der Pflanzen in direktem Zusammenhang mit klimatischen Bedingungen stand. Insbesondere Tournefort und Linné wären zu nennen, daneben vor allem Horace Bénédict de Saussure, der in der Beobachtung von Pflanzen in den Alpen 1779 die Höhengrenzen erkannte. 1792 gelang es Carl Ludwig Willdenow, eine Geographie der Pflanzen zu verfassen, welche die Ausbreitung der Pflanzen über die Erde und den jeweils bestimmenden Einfluss des Klimas auf die Vegetation einer Region behandelte.112 Dabei ging es ihm auch um die Folgen für die Pflanzen bei Transformationen der Erdoberfläche, ihre Veränderungen und die Erhaltung der Arten.113 Obwohl zu seiner Zeit die Botanik im Großen und Ganzen noch der linnéschen Klassifikation verpflichtet war, welche die Differenzierung der Spezies in den Vordergrund schob, formulierte Willdenow bereits Ansätze zu einer Geschichte der Pflanzen: „Unter der Geschichte der Pflanzen verstehen wir den Einfluss des Klimas auf die Vegetation, die Veränderungen, welche die Gewächse wahrscheinlich erlitten haben, wie die Natur für die Erhaltung derselben sorgt, die Wanderung der Gewächse und endlich die Verbreitung über den Erdball.“114 Willdenow war ein Lehrer und Freund Humboldts und er beeinflusste seinen ehemaligen Schüler sehr, als dieser 1789 mit den Vorbereitungen seines umfassenden botanischen Werks begann. Das Konzept zu diesem zeigte er 1791 Paul Unsteri an, er beginne, „auf eine Geschichte der Pflanzenwanderungen zu sammeln, ja Proben zu Karten für die ge-
111 Peter Handke: Die Lehre der Sainte-Victoire, Frankfurt/M. 1980, S. 115f. 112 Das korrelierte mit der rasanten quantitativen Zunahme an bekannten Pflanzen. Nach Humboldt war die „Zahl der auf dem Erdboden verbreiteten Pflanzen natürlich unbekannt“, immerhin habe er von seiner Reise „über 3000 Species zurückgebracht. Wie bedeutend ist dies Ergebnis im Vergleich mit den überhaupt bekannten 60,000 Arten!“; Alexander von Humboldt: „8.te Vorlesung“, in: Ders., Die Kosmos-Vorträge in der Berliner Singakademie (1827/28), hg. v. Jürgen Hamel u.a. Frankfurt/M. 2004, S. 105115, hier S. 114f. 113 Vgl. I. Jahn: Geschichte der Biologie, S. 308ff. 114 Carl Ludwig Willdenow: Grundriß der Kräuterkunde, Berlin 1792, S. 345.
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sellschaftlich lebenden Pflanzen, z.B. die fast in ganz Europa zusammenhängenden ericeta, die afrikanischen Euphorbien zu entwerfen.“115 Dabei stellte er sich einen Zeithorizont von zwanzig bis dreißig Jahren Arbeit vor, die er durch die Zusammenarbeit mit Georg Forster zu reduzieren hoffte, von dessen Reiseberichten er sich, wie er in seinen Kosmos-Vorträgen schrieb, genauso animiert fühlte, wie später Darwin von Humboldts Beschreibungen: „Wenn ich nun angeben soll, was in mir zuerst die Sehnsucht nach erweiterter Weltsicht erweckt, und mich zur Unternehmung großer Reisen angetrieben hat, so war es: Georg Forster´s Schilderung der Südseeinseln, der Anblick des großen Drachenbaumes in dem hiesigen botanischen Garten, u. Hodges vortreffliche Zeichnungen, welche ich bei meiner frühesten Reise nach England zu sehen Gelegenheit hatte.“116 An Schiller, der Humboldt anfänglich sehr schätzte und ihn zur Mitarbeit an den Horen einlud, annoncierte er seine Pläne: „Wie man die Naturgeschichte bisher trieb, wo man nur an den Unterschieden der Form klebte, die Physiognomik von Pflanzen und Tieren studierte, Lehre von den Kennzeichen, Erkennungslehre, mit der heiligen Wissenschaft selbst verwechselte, so lange konnte unsere Pflanzenkunde z.B. kaum ein Object des Nachdenkens speculativer Menschen sein.“117 Dieser Brief zeigt die Annäherung an Weimar, wobei die Liebe schnell einseitig wurde, da Schiller Humboldt die grundlegenden Fähigkeiten eines Wissenschaftlers absprach: Humboldt hätte zwar einen guten Verstand, ihm fehle jedoch die Einbildungskraft, was zur Folge hätte, dass er die Natur nicht in der Anschauung erfahren und schon gar nicht empfinden könne.118 Nach Humboldts Rückkehr aus Südamerika bezweifelte Schiller, dass es Humboldt gelingen werde, seine Reiseeindrücke in eine den Erlebnissen angemessene schriftliche Form zu bringen. Er habe „keine gute Gabe zum Schriftsteller, und seine Reise möchte leicht interessanter gewesen sein, als die Beschreibung derselben ausfallen dürfte.“119 Dabei polemisierte gerade Humboldt in seinem Brief an Schiller gegen eine Botanik auf linnéscher Grundlage und gegen die „elenden Registratoren der Natur“, wobei er wusste, von was er sprach, denn er legte 1793 mit seinem frühen Werk Florae Fribergensis specimen, plantas cryptogamicas praesertim
115 Zitiert nach Ilse Jahn/Fritz G. Lange (Hg.): Die Jugendbriefe Alexander v. Humboldts 1787-1799, Berlin 1973, S. 163f. 116 Alexander von Humboldt: „16.te Vorlesung“, in: Ders., Die Kosmos-Vorträge in der Berliner Singakademie (1827/28), hg. v. Jürgen Hamel u.a. Frankfurt/M. 2004, S. 204214, hier S. 210. 117 Alexander von Humboldt: „Brief an Schiller, 6. August 1794“, in: I. Jahn/F.G. Lange, Die Jugendbriefe Alexander v. Humboldts 1787-1799, S. 346. 118 F. Schiller in einem Brief an Körner, 6. Aug. 1797. 119 F. Schiller: Brief an Cotta, S.180
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subterraneas exhibens. Accedunt Aphorismi es doctrina physiologiae chemicae plantarum eine Abhandlung zur Botanik vor, welche die experimentelle Physiologie der Pflanzen in Beziehung zur linnéschen Klassifikation setzte. Eine Geographie der Pflanzen, wie Humboldt sie sich vorstellte, rekurrierte von vorne herein auf ein romantisches Korrespondenzverhältnis zwischen der sinnlichen Ausstrahlung der natürlichen Erscheinungen und der notwendigen sinnlichen Empfänglichkeit, die der Naturforscher haben müsse und die Schiller dem jungen Humboldt nicht zugestehen wollte. Diese sinnliche Empfindlichkeit müsse geschult und entwickelt werden, da sie auf dem „ästhetischen Sinn des Menschen und dessen Ausbildung in der Kunstliebe“ beruhe. Noch im Kosmos beklagte Humboldt, dass es bisher den Landschaftsmalern keineswegs gelungen sei, den „Totaleindruck der tropischen Zone aufzufassen“, die Gründe lägen in der schlechten Vorbereitung, also im „Mangel an früher Kunstbildung und anderweitige[r] wissenschaftliche[r] Beschäftigung“. Der sinnlichen Empfindlichkeit sollte auf der ‚Objekt’-Seite eine Pflanzenwelt gegenüberstehen, welche geeignet sei, „im sinnlichen Menschen“ die „verschiedenen Eindrücke der Fröhlichkeit und Melancholie“120 zu erwecken. Für den Betrachter der „Naturscene“ evozierte diese eine Stimmung, die Humboldt noch Jahre später im Kosmos als regional anhängige definierte: „Wer fühlt sich nicht, um an uns nahe vaterländische Pflanzenformen zu erinnern, anders gestimmt in dem dunkeln Schatten der Buchen; auf Hügeln, die mit einzelnen Tannen bekränzt sind; oder auf der Grasflur, wo der Wind in dem zitternden Laube der Birke säuselt?“ Der „Einfluss der physischen Welt auf die moralische, das geheimnisvolle Ineinanderwirken des Sinnlichen und Außersinnlichen gibt dem Naturstudium, wenn man es zu höheren Gesichtspunkten erhebt, einen eigenen, noch zu wenig erkannten Reiz.“121 Der intendierte, ausgebildete und möglichst weit entwickelte ästhetische Sinn des Menschen war einerseits ein Ziel, den das Individuum anstreben sollte, andererseits korrespondierte er mit der kulturgeschichtlichen Entwicklung bzw. der jeweils erreichten Entwicklungsstufe einer Kultur. In seinen Kosmos-Vorträgen referierte Humboldt darüber, „welche Ursachen in der neuesten Zeit dem Studium der Natur so fördernd gewesen sind, und wodurch die Liebe zur Betrachtung der Natur so lebhaft erregt worden“ sei.122 Primär wäre eine „mehr aesthetische Beschreibung der Naturwissenschaften“ zu nennen, welche „überhaupt dazu beigetragen haben“ mag. Der Anblick schöner „Pflanzenformen in den botanischen Gärten, die in so manchen ausgezeichneten Exemplaren ein Bild der Tropengewächse geben; u. endlich die Art wie in unserer Zeit die Landschaftsmalerei die Pflanzen-Physiognomik
120 I. Jahn/F. Lange: Die Jugendbriefe Alexander v. Humboldts 1787-1799, S. 346. 121 A.v. Humboldt: Ansichten der Natur, S. 247. 122 A.v. Humboldt: 16.te Vorlesung, S. 210.
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darstellend, die Ansicht uns fremdartiger Naturscenen versinnlicht.“ 123 Diese ästhetische Beschreibung wäre jedoch erst nach einer bestimmten kulturellen Entwicklung möglich: „Wenn wir bei den Alten wahrnehmen, dass sie weniger den Einfluss beachtet haben, den der Anblick der unbelebten Natur auf den Menschen ausübt, so kommt dies wohl daher, dass der Mensch u. das Studium seiner Kräfte u. Leidenschaften, ihnen das Höchste und Einzige schien.“124 Zwar gäbe es auch in der Antike durchaus Beispiele für die Anregung des Einzelnen durch die Natur, wie etwa bei Plinius, welcher seine Villen Laurentinum und Tuscum schön beschrieben hätte. Aber es fände sich bei den Griechen und Römern an keiner Stelle ein spezieller Zweig der Naturbeschreibung. Die Landschaft diente ihnen „gewissermaßen nur als Hintergrund um den historischen Figuren mehr Halt zu geben.“125 Während sich in neuerer Zeit die „erste aesthetische Beschreibung der Naturscenen beim Kardinal Bembo“126 fände, „der in einer eignen kleinen Blumenschrift sein Aufsteigen auf den Aetna schildert, u. auf eine reizende Weise die Veränderung der Vegetationsverhältnisse malt“127 – ein vortreffliches Vorbild für Humboldts Aufstieg auf den Chimborazo – wurde für Humboldt ein wirklicher Fortschritt erst im 18. Jahrhundert erreicht: „Später bei genauerer Erforschung aller Erdtheile, u. bei mehr verbreiteten Naturkenntnissen, treten unsere Männer auf, denen wir ebenso gründliche als geschmackvolle Naturbeschreibungen danken.“128 Diese Naturneugierigen bildeten in ihren Bemühungen eine Tradition, in der sich Humboldt selbst einreihte. Zuerst jedoch „nennen wir Buffon, der obgleich großartig in seinen Ansichten, doch mehr pomphaft malt, als individuell, u. dessen Schilderungen eine gewisse Kälte haben, weil ihn die eigne Ansicht der exotischen Natur abgeht“. An Wahrheit und Anmut überträfe ihn jedoch der „jüngere Forster. Er entwirft ein sehr geschmackvolles Naturbild, in dieser Art das Erste, u. schildert nicht nur lebhaft den Anblick der Tropenwelt, sondern berücksichtigt auch die verschiedenen Sitten und Racen der Völker.“129 Die höchste Entwicklungsstufe personifiziere jedoch Goethe (und nicht Schiller!), dessen „Werke ein so tiefes Gefühl für die Natur durchdringt. Wie im Werther, so in der Reise, in der Metamorphose der Pflanzen, überall klingt dieses begeisterte Gefühl an und berührt uns gleich wie ‚ein sanfter Wind vom blauen Himmel weht‘.“130 Einiges von dieser Vorstellungs-
123 Ebd. 124 Ebd., S. 211. 125 Ebd. 126 Ebd. 127 Ebd. 128 Ebd., S. 211f. 129 Ebd., S. 212. 130 Ebd.
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welt ging 1806 in Humboldts Ideen zu einer Physiognomik der Gewächse ein, wirkte von dort weiter in den Kosmos, in dem gefordert wurde, die „Natur mit einem Blicke zu erfassen und von Lokalphänomenen zu abstrahieren“, um nicht nur zu erkennen, dass „jedem Erstrich“ spezifisch eigene Schönheiten vorbehalten seien, sondern dass „jede Vegetationszone“ auch ihren „eigenthümlichen Charakter“ habe und jeweils „andere Eindrücke in uns“ evoziere. Eine Geographie der Pflanzen, wie sie Humboldt projektierte, band sich deshalb nicht nur an die sinnliche Wirkung der Naturszenen als Anmutung sowie die geographische Verteilung der Pflanzen über der Erde, sondern an die Frage nach der Genese, bei Goethe die Suche nach der Urpflanze, einer ursprünglichen Pflanzenform, die „sich in tausenderlei Abstufungen darstellt.“131 Hierbei war sich Humboldt schon sehr früh darüber klar, dass es ihm um eine grundlegende Arbeit über „Pflanzenschöpfung in Verbindung mit der ganzen übrigen Natur“ ging, wie er sie samt Titel 1794 bereits vor Augen hatte: Ideen zu einer künftigen Geschichte und Geographie der Pflanzen oder historische Nachricht von der allmäligen Ausbreitung der Gewächse über den Erdboden und ihren allgemeinsten geognostischen Verhältnissen.132 Der Entwurf einer Wissenschaft als Gesamtüberblick, der Mensch und Natur in einer Naturszene integrierte, war ein Unternehmen, das Humboldt auf der Basis der linnéschen Klassifikation von dieser aus weiter- und wegführte, so dass sein Ansatz nicht mehr auf die klassische Ordnung der Dinge rekurrierte, sich nicht allein an sichtbaren Eigenschaften orientierte. Vielmehr zielte er – mit Foucault gesprochen – bereits analog der Tendenz der Moderne auf komplexe, auch verborgene innere Strukturen im Sinne funktionaler Beziehungen ab.133 Als Humboldt 1799 in Südamerika persönlich seine Erfahrungen machte, schilderte er seine Eindrücke in einem Brief an seinen Bruder Wilhelm: „Aber schöner noch als diese Wunder im einzelnen, ist der Eindruck, den das Ganze dieser kraftvollen, üppigen und doch dabei so leichten, erheiternden, milden Pflanzennatur macht.“134 Gesucht war der ganzheitlicher Eindruck im Sinne eines die natürlichen Phänomene in geeigneter Art und Weise ordnenden, in Szene setzenden Bildes. Dieses Weimarer Programm trat im weiteren Verlauf der Südamerika-Reise in den Hintergrund, in einem Brief von 1801 an Willdenow ging Humboldt wieder einen
131 Vgl. M. Hagner: Zur Physiognomik bei Alexander von Humboldt, S. 435. 132 „Brief an Friedrich Pfaff, 12. 11. 1794“, in: I. Jahn/F.G. Lange, Die Jugendbriefe Alexander v. Humboldts 1787-1799, S. 370. Vgl. M. Hagner: Zur Physiognomik bei Alexander von Humboldt, S. 436. 133 Vgl. Malcolm Nicolson: „Alexander von Humboldt, Humboldtian Science and the Origin of the Study of Vegetation“, in: History of Science 25 (1987), S. 167-194. 134 „Brief an Wilhelm von Humboldt, 16. 7. 1799“, in: Briefe Alexander von Humboldts an seinen Bruder Wilhelm, hg. v. der Familie von Humboldt, Stuttgart 1880, S. 13.
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Schritt zurück zur linnéschen Klassifikation: „Das botanische Werk gemeinsam mit Bonpland, und zwar nicht bloß nova genera und Spec[ies], sondern nach Folge des Lin[néschen] Systems Beschreibung, Aufzählung alle Species, über die wir mehr als andere gesehen.“135 Es pendelte sich wohl in ein erkenntnisträchtiges Spiel zwischen Distanzierung und Überwältigenlassen in kurzen Intervallen ein. Als Humboldt 1805 nach Berlin zurückgekehrt war, rückte der Gedanke an eine physiognomische Sicht wieder in den Vordergrund. Am 30. Januar 1806 sprach er vor der Akademie über das Thema Physiognomik der Gewächse, und im gleichen Jahr erschienen auch seine Ideen zu einer Physiognomik der Gewächse, welche zwei Jahre später in die Ansichten der Natur übernommen und in deren Neuauflagen 1826 und 1849 immer wieder überarbeitet und erweitert wurden; dies dokumentierte die stete Relevanz der Physiognomik bis zum Hauptwerk Kosmos, in dem sie in einem eigenen Kapitel Landschaftsmalerei in ihrem Einfluss auf die Belebung des Naturstudiums. – Graphische Darstellung der Physiognomik der Gewächse. – Charakteristik ihrer Gestaltung unter verschiedenen Zonen136 noch einmal auf breitem Raum diskutiert wurde. In seinen Ideen zu einer Physiognomik verfolgte Humboldt eine „Lehre von den Kennzeichen der Pflanzen“, die sich in einem Gesamtüberblick verwirklicht. Diesen bezeichnete Humboldt mit dem bei Lavater entliehenen Begriff Totaleindruck, in dem sich Wissenschaft und Ästhetik vereinigten. Flora wurde als ein Teppich, ein „Gewebe samtartiger Pflanzen“, welcher den „nackten Erdkörper“ abdeckte, vorgestellt.137 Humboldt vermied so das lichtenbergsche Problem der Komplexität des Anderen: „Der botanische Systematiker trennt eine Menge von Pflanzengruppen, welche der Physiognomiker sich gezwungen sieht, mit einander zu verbinden.“138 In der Naturszene differenzierten sich für Humboldt die Arten nicht mehr innerhalb der traditionellen linnéschen Ordnung, sondern verteilten sich im Bild nach ästhetischen Kriterien. Nur mit diesen gelang es, den erwünschten Totaleindruck zu erzielen, eine andere Methode hätte das Bild aufgrund der Überfülle der Details unscharf angelegt. Ästhetisch zu unterscheidende Eigenschaften der verschiedenen Pflanzen wurden daher zu Einheiten zusammengefasst. Konkret kam Humboldt in seiner Abhandlung auf sechzehn ästhetisch differenzierte Formen an Pflanzen, aber das konnten, da die Welt noch keineswegs völlig erkundet war, jederzeit mehr werden. Der Totaleindruck erlaubte, eine Region als Charakter wahrzunehmen, welcher in einem einzigen performativen Akt als sich abzeichnende
135 „Brief an Carl Ludwig Willdenow, 21.2.1801“, in: Alexander von Humboldt, Briefe aus Amerika, S. 122-124. 136 A.v. Humboldt: Kosmos. 137 A.v. Humboldt: Ideen zu einer Physiognomik der Gewächse, S. 25. 138 Ebd., S. 31.
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Form vor dem Hintergrund be-eindruckte. Es ging darum, die „Natur mit einem Blicke zu umfassen und von Lokalphänomenen zu abstrahieren.“139 Damit vermutete Humboldt keineswegs ein inneres Wesen der Natur, das sich in der Physiognomie ausdrücke, sondern bezog, wenn er den Charakter der Natur meinte, diesen rein auf das Äußerliche der dem Subjekt begegnenden Landschaft. Humboldts Ansatz kann somit generell als anthropozentrisch bezeichnet werden. Mit Eindruck war etwas gemeint, was wir heute mit Böhme als Atmosphäre oder Anmutung verstehen, etwas, was sich durch seine eigentümliche Prägnanz auszeichnet.140 Für Böhme ist die Prägnanzform das „Typische, das zugleich individualisiert.“ Prägnantes wäre das Wesen als etwas aus sich Heraustretendes.141 Das Typische in der Prägnanzform, welches in den sechzehn von Humboldt ermittelten Grundformen hervortritt, weist auf eine Typologie in Bezug auf die Wuchsarten von Gewächsen. So wird in der humboldtschen Methode wieder Goethes Suche nach der Urpflanze sichtbar, an deren Stelle Humboldt die Grundformen findet.142 Die Urpflanze Goethes kann als das Gesetz der inneren Natur der Pflanze begriffen werden, welches, so Goethe, mit dem Begriff oder der Idee der Pflanze gleichgesetzt werden muss.143 So definierte Goethe die Urpflanze analog dem Urtier, es ging ihm um den Begriff und die Idee des Tieres. Ihm fiel die erstaunliche Ähnlichkeit der Lebewesen untereinander auf, insbesondere der höheren – diese bildete die Basis für seinen auf Organismen allgemein anwendbaren Typus-Begriff. Habe man die Idee von einem Typus gefasst, würde man „recht einsehen, wie unmöglich es sei, eine einzelne Gattung als Kanon aufzustellen“. Einzelnes könne „kein Muster vom Ganzen sein“, daher dürfe man „das Muster für alle nicht im
139 Ebd., S. 37. 140 Interessant ist in diesem Zusammenhang auch Johann Gottfried Herders Orientierung an prägnanten oberflächlichen Merkmalen: „Meere, Bergketten und Ströme sind die natürlichsten Abschneidungen [...] der Länder, [...] Völker, Lebensarten, Sprachen und Reiche, ja auch in den größten Revolutionen [...] sind sie die Directionslinien [...] der Weltgeschichte gewesen: Liefen die Berge, flößen die Ströme, ufere das Meer anders, wie unendlich anders hätte man sich auf diesem Tummelplatz von Nationen umhergeworfen.“ Zit. n. Hans-Dietrich Schultz: „Raumkonstrukte der deutschsprachigen Geographie des 19./20. Jahrhunderts im Kontext ihrer Zeit“, in: Geschichte und Gesellschaft 28 (2002), S. 343-377, hier S. 344. 141 G. Böhme: Atmosphäre, S. 152. 142 Vgl. hierzu das Kap. „Pflanzen- und Landschaftsphysiognomie“ in G. Böhmes: Atmosphäre, S. 142-152, hier S. 152. 143 Vgl. Manfried Gädeke: „Goethes Urpflanze und der ‚Bauplan‘ der Morphologie“, in: Goethes Beitrag zur Erneuerung der Naturwissenschaften, Bern 2000, S. 107-129, hier S. 112ff.
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Einzelnen“ zu ermitteln suchen: „Klassen, Gattungen, Arten und Individuen verhalten sich wie die Fälle zum Gesetz: sie sind darin enthalten, aber sie enthalten und geben es nicht.“144 Doch Goethes Schau der Pflanze, welche den Horizont des europäischen Raums nicht verließ, konnte mit ihrem Rekurs auf die Urpflanze die Vielfalt der pflanzlichen Formen, welche die Entdeckungsreisen in die Sammlungen brachten, nicht in eine sinnvolle Ordnung bringen. Auch die Bestimmung nach Linné wäre keine brauchbare Lösung mehr gewesen, hier wurde das täglich zunehmende Material gerade aus den fremden, exotischen Ländern zum Problem. Für Humboldt musste man nicht, wie es in den „botanischen Systemen aus anderen Beweggründen geschieht“, zur „Bestimmung dieser Typen, von deren individueller Schönheit, Vertheilung und Gruppierung die Physiognomie der Vegetation eines Landes abhängt“, auf die „kleinsten Fortpflanzungsorgane, Blüthenhüllen und Früchte, sondern nur auf das Rücksicht nehmen, was durch Masse den Totaleindruck einer Gegend individualisiert.“145 Pflanzenphysiognomie schlug daher eine mittlere Position zwischen der zu komplexen Klassifikation nach Linné und der zu einfachen Schau der Pflanze nach Goethe vor, um das gefundene und gesammelte Material in einer noch überschaubaren Anzahl an Prägnanzformen zu ordnen. Nun unternahm Humboldt nicht nur die Trennung von geographischen Eigenheiten wie etwa die des nördlich-bekannten der „dicklaubigen Eichenwälder“ von der „Mannigfaltigkeit der Bildungen, Anmuth der Formen und des Farbengemisches, ewigen Jugend und Kraft des organischen Lebens“.146 Sondern er setzte auch die Einwohner mit ihrer jeweiligen Geographie in Beziehung, dabei analogisierte er den lokalen Natur-Charakter mit dem zugehörigen Volkscharakter. Als „düstere oder heitere Stimmung der Menschheit“ hängen diese „großentheils von klimatischen Verhältnissen“ ab. „Wie sind nicht in dem schönen und glücklichen Erdstriche zwischen dem Oxus und dem Trigris, und dem ägeischen Meere, die sich ansiedelnden Völker zuerst zu sittlicher Anmuth und zarteren Gefühlen erwacht.“147 Damit perpetuierte Humboldt eine viel kolportierte Ansicht in der Naturgeschichte des 18. Jahrhunderts, unterschied sich aber in einer besonderen Weise. Er begründete über die Naturphysiognomie nicht die Rückständigkeit der Fremden gegenüber den Europäern, vielmehr verglich er die fremden Geographien mit der Schönheit ihrer Naturphysiognomien, was mit Blick auf Lavater eine physiognomi-
144 Johann Wolfgang Goethe: „Vorlesungen über die drei ersten Kapitel der vergleichenden Osteologie“, in: Ders., Gesamtausgabe der Werke und Schriften in 22 Bänden. Band 19. Zweite Abteilung. Schriften: Schriften zur Morphologie II. Morphologische Hefte 1817-1814, hg. v. Wilfried Malsch, Stuttgart 1969, S. 229-249, hier S. 238. 145 A.v. Humboldt: Ideen zu einer Physiognomik der Gewächse, S. 248f. 146 Ebd., S. 26. 147 Ebd., S. 29.
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sche Umkehrung bedeutete. Analog Camper setzte er das Beobachtete in den Kontext der Idealvorstellung der griechischen Antike. Versteinerungen und Fossilien „zeigen uns auch kolossale Gestalten, welche mit den kleinlichen, die uns gegenwärtig umgeben, nicht minder contrastieren, als die einfache Heldennatur der Griechen gegen die Charaktergröße neuerer Zeit.“148 Für Humboldt wurde die Physiognomie der Fremde ein Teil der Imagination des Eigenen: „Im kalten Norden, in der öden Heide, kann der einsame Mensch sich aneignen[!], was in den fernsten Erdstrichen erforscht wird, und so in seinem Innern eine Welt sich schaffen, welche das Werk seines Geistes, frei und unvergänglich, wie dieser, ist.“149 Somit waren für Humboldt die ausstellenden Institutionen, Techniken und Vorrichtungen wie etwa das von ihm favorisierte Panorama, aber auch Zeichnungen oder Pflanzengärten dezidiert Aneignungsmedien, welche durch die Freiheit der Imagination befördert wurden. Als Heterotopien schufen sie Sehnsüchte, die der tatsächlichen Aneignung der fernsten Erdstriche vorausgehen mochten. Humboldts Ideen zu einer Physiognomik bewegten sich wie Goethes Versuche direkt auf der Grenzlinie zwischen Ganzheit und Reduktionismus, zwischen Ästhetik und (positivistischer) Wissenschaft, zwischen Sinnlichkeit und Erkenntnis. Es wurde ein alltäglicher Wahrnehmungsmodus und originärer, quasi unbelasteter Zugang zur Umwelt und Natur angesprochen. Böhme meint zu diesem Natur-Bild mit Blick auf die heutige Bilderwelt, welche durch die visuellen Medien des 19. Jahrhundert erst möglich wurde: „Es besteht die Aussicht, unsere sinnliche Erfahrung der Natur so zu verstehen, dass darin die Natur auch erkannt wird, und zu entdecken, dass die Natur etwas an sich hat, was sie für uns gegeben sein lässt.“150 Natürlich verhält es sich nicht so einfach, denn das Für-uns-gegeben-Sein ist seit der Antike ein ungelöstes Problem der Philosophie. Sinnlichkeit und Erkenntnis waren in der Physiognomik im Vorfeld des physiognomischen Blicks noch nicht getrennt. Es war der anziehende, aufmerksamkeitserregende Wahrnehmungsraum, mit dem insbesondere das Theater arbeitete, auch wenn sich die Wissenschaft diesem Effekt keineswegs entziehen konnte. Es war der Raum, in dem das Gesamt, das Atmosphärische, die Erotik der Signifikanten (Barthes) noch nicht oder kaum von der Komplexität der bedeutenden Erscheinungen getrennt war, von einer genauen und akribischen Semiotik der Einzelheiten im Sinne eines wissenschaftlichen Reduktionismus. Auf diesem Vorfeld der endgültigen Wahrnehmung trafen sich Goethe und Humboldt. Goethe rezensierte Humboldt nach dessen Rückkehr aus Südamerika erwartungsgemäß positiv, seine Ideen zu ei-
148 Ebd., S. 29. 149 Ebd., S. 39. 150 Gernot Böhme: Natürlich Natur. Über Natur im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit, Frankfurt/M. 1992, S. 125f.
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ner Physiognomik der Gewächse seien „die erste Gabe, in einem kleinen Gefäß sehr köstliche Früchte“, denn Wissenschaft sei eben genau in dem Bereich angesiedelt, wo das „einzeln Erkannte“, der „geschichtete und rauchende Holzstoß“, zum „ästhetischen Hauch, zur lichten Flamme“, zur „völlige[n] Pracht und Fülle“ wird. Er sah bei Humboldt, dass „das im einzelnen so kümmerlich ängstliche, botanische Studium“ so zusammengeführt wurde, dass es dem Betrachter „einen lebhaften und einzigen Genuß“ gewährte.151 Auch wenn für Goethe Sinnlichkeit grundlegend und notwendig, für Humboldt eher funktional zu verstehen war,152 war im Zusammenspiel von Performativem und Semiotischem der Kosmos theatral. Er transponierte die natürliche Physiognomie einer fremden Geographie, in dem Fall Südamerika, in das eigene Land bzw. das eigene Medium, sei es die naturgeschichtliche Publikation oder sei es das Ausstattungstheater. Damit lieferte die Expedition Material für die Imagination des Theaters und als Naturgemälde für das Bild, es ordnete sich in seiner pikturalen Differenz. Das Vorfeld, welches Humboldt kurz nach der Jahrhundertwende ausmaß, war ein Raum, der noch im Unentschiedenen zwischen Kunst und Wissenschaft verharrte – am Ende des 19. Jahrhunderts waren die Perspektiven geschieden.153 Humboldt resümierte nicht ohne Stolz, dass keine Arbeiten gab, welche alle Erscheinungen des Organismus, der Klimate, des Luftdrucks etc. so vergleichbar wie er in einem Bild eingefasst hätten. Ja, die ganze Idee einer Geographie der Pflanzen, der Pflanzenphysiognomie wäre unbestritten allein seine gewesen. Doch man darf nicht den Fehler machen, Humboldts Physiognomie allzu sehr der Romantik unterzuordnen. Dazu beschränkte sich Humboldt zu wenig darauf, die Natur nur ästhetisch zu erleben, denn letztendlich sollte die Natur doch vermessen und analysiert werden. Wie in den zeitgleich veröffentlichten Ideen zu einer Geographie der Pflanzen zu lesen, in denen bereits ein starkes Übergewicht der Meßmethoden und Experimente gegenüber der ästhetischen Anmutung herrschte, ging es Humboldt um die Erkenntnis der Natur: Geographie sollte als geordnetes, im Blick gestaltetes Anderes das sein, was für Linné die Systematik war.154
151 Johann Wolfgang v. Goethe: „Berlin. Ideen zu einer Physiognomik der Gewächse, von Alexander v. Humboldt“, in: Ders., Die Schriften der Naturwissenschaft, hg. v. Rupprecht Matthei, Wilhelm Troll, K. Lothar Wolf, Wolf von Engelhardt und Dorothea Kuhn, 1. Abt, 11 Bde. Weimar 1947-1970, Bd. X, 1964, S. 199-204, hier S. 199f. 152 So M. Hagner: Zur Physiognomik bei Alexander von Humboldt, S. 451. 153 Vgl. ebd. S. 451. 154 Vgl. M. Hagner: Zur Physiognomik bei Alexander von Humboldt, S. 450.
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5.4 D IE K UNST
DES
A NDEREN
Man müsse, wie Charles Baudelaire bemerkte, „immer zu de Sade zurückkehren, das heißt zu dem natürlichen Menschen, um das Böse zu erklären.“155 BirchPfeiffers Dorf und Stadt aus dem Jahr 1847 behandelt verschiedene geographische und kulturelle Räume,156 ist zugleich ein Künstlerdrama, eine selbstreferentielle theatrale Erörterung der eigenen Profession, die den Übergang vom Klassizismus zum Frühimpressionismus sowie den Aufstieg der bis dahin marginalisierten Landschafts- auf Kosten der Historienmalerei thematisiert. Folie ist das System der schönen Künste, die, so Luhmann, im 17. und 18. Jahrhundert aus dem umfassenden Feld der artes ausdifferenziert und in der Autonomie der Selbstregulierung überlassen wurden.157 Der Künstler begegnet in Birch-Pfeiffers Dorf und Stadt dem gängigen Thema der bürgerlichen Liebe. Es bot ein Gefühl der Sicherheit in der Begegnung mit den Zumutungen der modernen Gesellschaft, der Ökonomie, dem Staat und der invasiven Technologie. Das moderne Ich rettet „sich in die Liebe, regeneriert sich in der Familie, findet seine Ausdruckmöglichkeiten in der Kunst.“158 Der Schwarzwald wird, die „schwarzen Wälder“159 aus Rousseaus Bekenntnissen zitierend, eingangs als imaginativer Fluchtraum vorgestellt, in den die Künstler vor den Zumutungen der Stadt und aus den geschlossenen Ateliers fliehen. Das Land wird zum Raum der ersehnt-projizierten romantischen Einheit, freilich bei Birch-Pfeiffer ins Biedermeierliche transformiert: Grundzüge der Romantik wie die Orientierung am Subjekt, die Betonung des Emotionalen und Intuitiven neben der Vernunft und das Wissen um Situationen, die mit Vernunft nicht gemeistert werden können, sind nicht zu übersehen. Dennoch bleibt die Zugehörigkeit zu einer Region wie zu einem sozialen Stand soweit bindend, dass es im Stück keinem der handelnden Personen gelingen wird, Heimatorte und soziale Herkunft zu verlassen. Der erste Akt eröffnet das Milieu eines Dorfes, in das ein Maler mit seinem Freund, dem Dichter, eintrifft. Sie waren auf Reisen,160 die sie über die „Wüsten des Welt-
155 Charles Baudelaire: Sämtliche Werke/Briefe in acht Bänden, Bd. 6, hg. von Friedhelm Kemp/Claude Pichois, München 1975, S. 278. 156 Es wurde am 18.11. 1847 am Wiener Burgtheater und am 28.9.1858 am Carltheater aufgeführt. In Berlin sah man es am 19.11.1847 in den Königlichen Schauspielen. Vgl. B. Pargner: Charlotte Birch-Pfeiffer, S. 177. 157 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft. Bd. 2, Frankfurt/M. 1997, S. 978 u. 980. 158 Ebd., S. 987f. 159 Jean-Jacques Rousseau: Bekenntnisse, Frankfurt/M. 1985, S. 264f. 160 Charlotte Birch-Pfeiffer: „Dorf und Stadt. Schauspiel“, in: Dies., Gesammelte Dramatische Werke, Leipzig 1878, S. 1-120, S. 28.
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lebens“ wieder nach Hause geführt haben. Nach einigem Werben gelingt es dem Maler, die schöne und tugendhafte Tochter des Lindenwirths für sich zu interessieren. Sie zieht ihn als idealisiertes natürliches und religiöses Bild an, während er ihr an Wissen, Können, Welterfahrung und präavantgardistischer Wildheit voraus ist. Beide heiraten und sie folgt ihm im zweiten Akt in die Residenz der Stadt. Dort soll Reinhard „Gallerie-Inspector mit dem Titel ‚Professor‘ werden“, es winkt eine „Anstellung – sicheres Brod – eine bleibende Stätte“,161 der Lohn für die globale Reisetätigkeit, im Maler spiegelt sich das Weltmännische in der gerahmten Aussicht, überlagert sich das Subjektivistische mit dem Enzyklopädischen. Seine Frau tangiert als Figur ein Konstrukt, das Elfriede Jelineks Diktum, es gäbe die Frau als Sprechende nicht, daher gelte es, diesen „Zustand des Nicht-sprechen-Dürfens für die Frauen“ zu thematisieren,162 ansatzweise verwirklicht. Die Frau dient als Projektionsfigur im Übergang vom Klassizismus zur Romantik (ihr Name mäandert von Leonore zu Lorle als Kurzform von Loreley), der Fürst bemerkt, er besäße „in der Galerie an meinem Raffael wohl den höchsten Kunstschatz“, aber der Künstler sei reicher „mit dem Naturschatz, den er sich errang!“163 Ihr Gesicht gleicht Raphaels Dresdner Madonna, die Winckelmann als ein „Gesichte voller Unschuld und zugleich einer mehr als weiblichen Größe, in einer selig ruhigen Stellung, in derjenigen Stille, welche die Alten in den Bildern ihrer Gottheiten herrschen ließen“, beschreibt.164 Als Madonna der Deutschen wurde sie zur umstrittenen Projektionsfigur zwischen internationalem Klassizismus (als antike Göttin) und nationaler Romantik (als religiös gedeutete Maria).165 Dem junge Paar begegnen in der Residenz Intrigen, Neid und die kontrollierenden Blicke der Anderen: „Da werden sie mich wieder in ihre hohen Kreise ziehen, da muss ich wieder W e l t m a n n sein, mich angaffen lassen, wie ein fremdes Tier!“166 Die Ehe gerät in eine Krise, weil der Frau, als „blöde[s] Naturkind“167 kaum Chancen zur Integration geboten werden und der Mann am Hof seiner ehemaligen Geliebten begegnet. Hin und her gerissen entscheidet sich der Maler am Ende für seine Frau und folgt ihr in das bürgerlich-bäuerliche Milieu des Dorfes, um
161 Ebd., S. 29. 162 Elfriede Jelinek/Anke Roeder: „Theatergespräch“, in: Anke Roeder (Hg.), Autorinnen. Herausforderungen an das Theater, Frankfurt/M. 1989, S. 141-160, hier S. 144. 163 Ebd., S. 93. 164 J.J. Winckelmann: Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst, S. 24f. 165 Hans Belting: Das unsichtbare Meisterwerk, München 1998, S. 85. 166 Ebd, S. 30. 167 Ebd., S. 85.
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„dort im Schooße der Natur“ Friede168 zu finden. Die Ästhetik des Rührstücks bestätigt die bürgerliche Ordnung, die Frau bleibt in doppeltem Wortsinn eine stillgestellte Reflexionsfigur. Sie begegnet dem Mann als Beute seiner Rites de Passage einer modernen Künstlerexistenz, seiner Heldenreise als Sehender und Abbildender, der sich noch vor Nietzsche, aber auf der Folie der Romantik, dem UnbewusstDunklen des Assoziativ-Kreativen stellen muss, um zu einem wirklichen Künstler zu werden. Als ästhetisches Subjekt der Moderne, das seine Gestaltidentität durch das Erlebnis des Geschmacks gewinnt, steht er gegen das höfische, noch an der Antike geschulte Paradigma der Mimesis. Nicht mehr die regelgeleitete Nachahmung der Natur, sondern Produkte der Einbildungskraft treten in den Vordergrund. Dem höfischen Regelkanon opponiert der subjektive Eindruck,169 mithilfe der Landschaftsmalerei befreit sich der Maler vom idealistischen Klassizismus, bleibt jedoch im korrelationistischen Zirkel seiner bürgerlichen Projektionen gefangen. Sie wären mit Wilhelm von Humboldt Gestalten des Schönen, „allein subjektiv“, wie die „Schönheit bloß in uns, und das Wesentliche derselben eine moralische, d.i. sinnliche Idee sinnlich dargestellt.“170 Doch solle es im Dorf nun „ohne Goethe“ gehen, denn hier sei „alles noch ursprünglich – Natur und Menschen, laß es uns wohl sein, als hätten wir auch noch was Ursprüngliches – laß uns eignen Gedanken unsere eigenen Worte geben!“ Hier „bleiben wir, schüttle allen Schulstaub von Dir – denke nichts und wolle nichts – und Du wirst Alles haben.“171 Hier wäre über die romantische Sehnsucht die frühe Bruchstelle hin zur Avantgarde markiert, von den Futuristen über Dada zu den Surrealisten. Birch-Pfeiffer kann den dunklen Sog selbstverständlich nur dramaturgisch andeuten, sie lässt ihn vorsichtshalber in ein künstliches Paradies einer verbürgerlichten Land-Idylle einmünden, die heute noch durch die Zeitschrift Landlust oder die Warenkette Manufaktum inszeniert wird. Natur bleibt als das Andere in einer idyllischen Gestalt bürgerlich domestiziert. Indirekt wird hinter Rousseau das Verdrängte, personifiziert durch den Marquis de Sade sichtbar. Naturrecht verdeckt die Volunté Générale der Diktatur, Natürlichkeit die ungezügelten Triebe. Birch-Pfeiffer verzauberte die Natur, als wäre Max Reinhardt ihr Regisseur gewesen. Für Vischer erschien die „elementarische Natur“ innerhalb des korrelationistischen Zirkels der Moderne dem „menschlichen Bewusstsein durch eine dunkle Symbolik des Gefühls als ein objektiver Widerschein seiner
168 Ebd., S.119f. 169 Ebd., S. 62f. 170 Wilhelm von Humboldt: Brief an Christian Gottfried Körner, 15.1.1794. Zit. n. Wilhelm von Humboldt: Ansichten über Ästhetik und Literatur. Seine Briefe an Christian Gottfried Körner, hg. v. F. Jonas, Berlin 1880, S. 17f. 171 C. Birch-Pfeiffer: Dorf und Stadt, S. 17f.
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Stimmungen“. Sie einigte anthropomorphisch „die zerfallnen Pole des Universums“, versuchten, „die Urperson herzustellen“.172 Doch das von Gottfried Wilhelm Leibniz erkannte malum physicum verschwand nicht, sodass de Sade die Freiheit im absoluten Bösen vermutete, indem er die Natur an Grausamkeit zu übertreffen suchte. Birch-Pfeiffer skizzierte vorsichtig Züge schwarzer Romantik, visionierte Artauds Theater der Grausamkeit, rahmte jedoch das Energetische noch zeitgemäß naturidyllisch-biedermeierlich.
172 Friedrich Theodor Vischer: Zustand der jetzigen Malerei, in: Robert Vischer (Hg.): Kritische Gänge. Bd. 5, München 1922, S. S. 35-55, hier S. 45.
6. Entlarvungen des Anderen
6.1 D ER S KANDAL
DES
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Wie das Theater, so ist auch der Skandal als Ärgernis1 ein öffentliches Ereignis, das, Höhepunkte initiierend, ein aufmerksames Publikum erzeugt. Das Interessante am Skandal ist vor allem seine Dialektik, die seine Theatralität begründet. Einerseits verletzt der Skandal den Common Sense, andererseits wird diese Störung der Gleich-Förmigkeit geradezu vom Publikum erwartet und eben nicht ignoriert, verdrängt oder verschwiegen, sondern lustvoll rezipiert und weiterkommuniziert. Dabei gilt für den Skandal, so Thompson, dass er „involves the transgression of certain values, norms or moral codes”.2 Wie das Theater selbst wird er durch eine oft gezielte Grenzüberschreitung interessant, wobei Motive und Intentionen der Beteiligten, seien es die Skandalisierer oder die Skandalisierten, besonders wichtig sind. Als spezifische Form der Kommunikation ist der Skandal auf gewisse Elemente angewiesen, primär sind dies der Skandalisierer, der Skandalisierte, dem die gesellschaftliche Sanktion droht, der Grund bzw. der Anlass des Skandals, die Medien der Verbreitung und die Rezipienten.3 Aus der Perspektive der Rezipienten ist die
1
Christian Schütze: Skandal. Eine Psychologie des Unerhörten, Bern 1985, S. 19.
2
John B. Thompson: Political scandal: power and visibility in the media age, Cambridge 2000, S. 12f.
3
Für Karl Otto Hondrich gehören zur Kommunikation des Skandals folgende Elemente: Der Skandalisierer, der Skandalisierte, der Anstoß oder Anlass, die Verbreitungsmedien und ein anonymisiertes Publikum, zuweilen kommt dann noch die Sanktion für den Skandalisierten dazu; ders.: „Skandalmärkte und Skandalkultur“, in: Max Haller/HansJoachim Hoffmann-Nowotny/Wolfgang Zapf (Hg.), Kultur und Gesellschaft, Frankfurt/M. 1989, S. 43-56.; ders.: „Skandale als gesellschaftliche Lernmechanismen“, in: Julius H. Schoeps (Hg.), Der politische Skandal, Stuttgart 1992, S. 175-189. Michael Corsten rekurriert auf Hondrichs Vorgaben, für ihn besteht die Skandalkommunikation aus 1. „einer spezifischen Menge von Elementen (Skandalisierer, Skandalierter, Anstoß,
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Überschreitung der Grenze auch die eines sicheren Rahmens, die als ästhetische Grenze den Real- vom Zuschauerraum trennt. Insofern begründet sich im Zuschauakt die Ähnlichkeit zwischen Skandal und Theater.4 Verstärkt wird diese Analogie durch das Spannende am Skandal, das dem „entertainment for the public“5 dient. Im Positiven wie im negativen Sinne auf- und anregend ist, dass etwas offengelegt bzw. an die Öffentlichkeit kommt, was eben gerade nicht für diese bestimmt ist und oft von den Beteiligten angeblich oder tatsächlich verborgen wird.6 Aus dieser Sicht ist der Theaterskandal um Karl Boromäus Alexander Sessas antisemitischem Stück Unser Verkehr aus zweifacher Perspektive gesehen interessant.7 Denn es geht in diesem ganz speziellen Fall nicht allein um die Spekulationen mit den Reaktionen der Öffentlichkeit im gesellschaftspolitischen Raum, sondern auch um die fast zeitgleiche Reflexion dieses Skandals in den dramatischen wie theatralen Artefakten. Insbesondere im Theatertext selbst wird die Frage der Verbergung und Ver-Stellung des Anderen und Fremden in der Gesellschaft und damit die Frage nach der gesellschaftlichen Theatralität als soziales Rollenspiel, das wiederum im dramatischen und theatralen Rollenspiel erörtert wird, thematisiert. Insofern handelt es sich bei diesem Skandal um eine Kommunikation zweiter oder höherer Ordnung, weil sich im Stück selbst und dann noch mal im Rollenspiel in den Salons die Ent-Deckung des Jüdischseins hinter der Maske als Skandal offenbart,
Verbreitungsmedien, anonymes Publikum, öffentliche Empörung)“, 2. „einer normativen Übereinstimmung des sich selbst gegenüber anonymen Publikums hinsichtlich der Relevanz und Verwerflichkeit des skandalisierten Verhaltens und“ 3. „weiteren, konventionellen oder standardmäßigen Zusatzbedingungen (Aufdeckung von etwas Verheimlichten; Gerichtetheit gegen Leistungsrollenträger der Gesellschaft, Automatik der Verurteilung, Oberflächlichkeit der Reparatur von Schäden, die durch das skandalisierte Verhalten angerichtet wurden, Nicht-Beachtung von [ggf. moralisch] problematischen Nebenfolgen der Skandalisierung)“; ders.: „Unterschiede zwischen Moralisierung und Skandalisierung am Beispiel politischer Argumentationsmuster von bürgerschaftlich Engagierten“, in: Roland Reichenbach/Heiko Breit (Hg.), Skandal und politische Bildung, Berlin 2005, S. 105-140, hier S. 106f. 4
Dass der Skandal theatrale Qualitäten hat, darauf weist indirekt auch Dirk Käsler hin, für den der Skandal politisches Theater ist und eine Dramaturgie besitzt; ders.: Der politische Skandal. Zur symbolischen und dramaturgischen Qualität von Politik, Opladen 1991.
5
Wolfgang Weigel: „Scandals – the Externality Case“, in: Manfred J. Holler (Hg.), Scandal and Its Theory, München 1999, S. 88-96, hier S. 88.
6
Vgl. J.B. Thompson: Political scandal, S. 19.
7
Karl Borromäus Sessa: Unser Verkehr. Eine Posse in Einem Aufzuge, Leipzig 1816.
E NTLARVUNGEN DES A NDEREN
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der in seiner Entlarvung selbst zum Skandal wird. Da nach Schmitz8 der Skandal immer auch mit illegitimen bzw. illegalem Handeln, also mit ‚illegaler‘ Performanz zu tun hat, soll die Entlarvung des Illegitimen in der Suche nach und in der Deutung von mehr oder weniger sichtbaren Kennzeichen der emanzipierten Fremden funktionieren. Der Theaterskandal um Sessas Judenschule weist infolgedessen eine semiotische, physiognomische und zudem eine frühkriminalistische Komponente auf. Für Rahel Varnhagen gab es im August 1919 drei Gründe für die landesweiten Pogrome an den Juden, wie sie ihrem Bruder Ludwig Robert schrieb. Erstens die Polemik der deutschromantischen Eliten, zweitens der in den niederen Schichten anzutreffende Hass auf die Juden und drittens das Theater:9 „Die Insinuationen die seit Jahren alle Zeitungen durchlaufen. Die Professoren Fries und Rühs, und wie sie alle heißen, Arnim, Brentano, Unser Verkehr und noch höhere Professoren mit Vorurteilen.“10 Sie resümierte: „Ich kenne mein Land! Leider.“ Der realistische, das Medium Theater besonders einbeziehende Blick war natürlich nicht unvoreingenommen, war Varnhagen doch ein persönliches Opfer von Sessas umstrittener Posse Unser Verkehr, zu der ihre Person, mehr oder weniger versteckt, als Vorlage für die weibliche jüdische Hauptfigur diente. Dass es gerade Varnhagen traf, war kein Zufall, sondern ein Zeichen der sich verändernden Zeit. Seit dem 18. Jahrhundert versprach die Philosophie der Aufklärung den Juden, gleichberechtigte Staatsbürger werden zu können. Als direkter Weg bot sich der Aufstieg über das Bildungsbürgertum an, so geschah es insbesondere in Berlin, aber auch etwa in Dessau, Kassel oder Königsberg und in Breslau, dem Herkunftsort der Judenschule. In Berlin personifizierte Mendelssohn die Verbindung von jüdischer Kultur und Aufklärungsphilosophie. Teilöffentliche Räume wie die Salons der Jüdinnen Henriette Herz und Rahel Varnhagen in Berlin unterstützten den Aufstieg. In ihnen versammelten sich die verschiedensten Schichten, Bürgerliche und Adelige, Juden und Christen, Frauen und Männer.
8
Manfred Schmitz: Theorie und Praxis des politischen Skandals, Frankfurt/M. 1981, S. 102.
9
Vgl. Hans-Joachim Neubauer: „Stimme und Tabu. Was das Theater erfindet und was es vermeidet“, in: Wolfgang Benz/Angelika Königseder (Hg.), Judenfeindschaft als Paradigma. Studien zur Vorurteilsforschung, Berlin 2002, S. 70-78, hier S. 70; ders.: „Auf Begehr: Unser Verkehr. Über eine judenfeindliche Theaterposse im Jahre 1815“, in: Rainer Erb/Michael Schmidt (Hg.), Antisemitismus und jüdische Geschichte, Berlin 1987, S. 313-327, hier S. 314.
10 Brief Rahel Varnhagens an ihren Bruder Ludwig Robert, 29. 8. 1819, Rahel-Bibliothek, Bd. 9, S. 582f., zit. n. Rainer Wirtz: Widersetzlichkeiten, Excesse, Crawalle, Tumulte und Skandale, Frankfurt/M. 1981, S. 73; vgl. Hans-Joachim Neubauer: Judenfiguren. Drama und Theater im frühen 19. Jahrhundert, Frankfurt 1994, S. 10.
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Für die Auseinandersetzung und den Skandal um Sessas Stück waren die Salons sehr wichtig, fungierten sie doch als einflussreiche Bühnen außerhalb des Theaters. Die Schlacht in den Salons war eine indirekte Antwort auf das 1812 in Kraft getretene preußische Emanzipationsedikt, in dem Juden zu „Einländern und preußischen Staatsbürgern“ erklärt wurden. Unser Verkehr reflektierte dialektisch die Probleme, die sich unter Umständen ergaben, wenn die gesetzliche Gleichstellung einer Minderheit nicht von allen Angehörigen der Mehrheit begrüßt wird und deren geistigem Vermögen, Mentalität und gesellschaftlichen Wirklichkeit zu weit vorauseilt. Wilhelm v. Humboldt befürchtete drei Jahre vor dem Emanzipationsedikt, dass „eine allmähliche Aufhebung“ die „Absonderung, die sie vernichten will, in allen nicht mit aufgehobenen Punkten“ bestätigt, denn sie „verdoppelt gerade durch die neue größere Freiheit die Aufmerksamkeit auf die noch bestehende Beschränkung, und arbeitet dadurch sich selbst entgegen.“11 So gesehen war Sessas Unser Verkehr als dramatische Reaktion auf das Emanzipationsedikt kein Wunder. Aufgrund der nun errungenen rechtlichen Gleichstellung wurden Juden umso mehr Legitimationszwängen ausgesetzt. Auf der Seite der nichtjüdischen Mehrheit wurde nicht immer begrüßt, dass Juden nun angeblich unsichtbar wurden, es erzeugte Ängste, wenn man den ‚Fremden‘ im ‚Eigenen‘ nicht mehr erkennen konnte. Wie sich die Zeichen veränderten, schilderte zwei Jahrzehnte später Michael B. Lessing, als er über die „ungeheure Veränderung, die in Sprache, Tracht, Lebensweise, in Bedürfnissen und Vergnügen, in Sitten und Gewohnheiten sich zugetragen“, berichtete und diese diskutierte. Insbesondere ihre „äußere Erscheinung“ sei „seit jener Zeit anders“ geworden: „Wer hätte ehemals einen Juden nicht gleich an der orientalisch-plumpen Kleidung, an dem weiten dunklen Kaftan, an der tief herabgedrückten Pelzmütze, an den Pantoffeln und an seinem das Gesicht entstellenden Barte, wer eine jüdische Matrone nicht an der silbergestickten Kappe, an der ernsten, jedes Haarschmucks beraubten Stirn erkannt? Und wie viele Juden sieht man noch heute so erscheinen, wenn sie nicht entweder noch Reliquien aus der alten Zeit oder polnischen Herkunft sind?“ Die schnelle Erkennbarkeit sei jedoch nicht nur mehr über die äußere Erscheinung, sondern auch durch die Sprache kaum mehr gegeben: „Nur in den wenigsten Häusern bedienen sich die älteren Mitglieder zuweilen noch der jüdischen Mundart, und Kinder sowohl als besonders die Großstädter sprechen zu Hause wie in Gesellschaft dieselbe Sprache wie ihre christlichen Mitbürger.“12 Diese von vielen missbilligte
11 Wilhelm von Humboldt: Gutachten zur Neuordnung der jüdischen Verhältnisse in Preußen 1809, in: Ismar Freund: Die Emanzipation der Juden in Preußen. Bd. 2. Berlin 1812, S. 271. 12 Michael Benedict Lessing: Die Juden und die öffentliche Meinung im preußischen Staate, Altona 1833.
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Verwandlung der Juden in unauffällige Mitbürger galt einigen als Verstellung, als gesellschaftlich gefährliches Rollenspiel. Um ein solches augenfällig zu machen, wäre das Theater ein geeignetes Medium, daher war Sessas Stück über aktuelle Unterhaltung hinaus ein gesellschaftspolitisches Ereignis und ein manifester Skandal. Der Posse eignet eine größere Nähe zum transitorischen Medium Theater. Sie ist von vorneherein auf die Bühneneignung und Publikumswirkung hin berechnet. Unser Verkehr wurde 1813 in Breslau uraufgeführt und von Ludwig Devrient nach seinem Wechsel an die Königlichen Schauspiele nach Berlin mitgebracht.13 Brühl setzte die Aufführung für den 1. Juli 1815 an, neben Devrient als Abraham Hirsch sollte Albert Wurm die Hauptrolle als Jakob Hirsch spielen. Ludwig Devrient schien für die Hauptrolle gut geeignet, denn er glänzte u.a. auch in Genrerollen zeitgenössischer Dramatik als Charakterkomiker. Für Eduard Devrient ging sein Spiel „lediglich aus der Natur und konsequenten Notwendigkeit seiner Gestalten hervor, wie er sie nun einmal erfunden hatte.“ So „lebte“ er seine Rollen, er „spielte sie nicht“, sodass es ihm keineswegs wie dem durchschnittlichen Kotzebuedarsteller darum ginge, die „Aufmerksamkeit vornehmlich an sich zu fesseln“, indem er etwa ein „Mosaik von einzelnen sorgsam bereiteten Momenten“ bot.14 In diesem Sinne stattete Devrient seine Figur in Unser Verkehr mit einem vermeintlich ‚natürlichen‘ jüdischen Charakter aus. Dass er auch für seine Rolle als Franz Moor bekannt wurde, erlaubte einen Vergleich zwischen einer typisierten ‚jüdischen‘ Figur und dem verbrecherischen Charakter Franz’, der sich nach Schiller in dessen Hässlichkeit und unkultiviertem Profil niederschlug. Kaum zu überraschen vermag, dass Devrient auch den Shylock und den Scheva spielte. Für Eduard Devrient konnte man in der Breite seines Repertoires den „Umfang des Genies“ sehen, die seiner „Unfehlbarkeit des Griffes bis in die grauenvollsten Tiefen der menschlichen Natur“ zu verdanken wäre. Das erlaubte ihm, die „furchtbare, mitleidenswerte Wut des Shylock“, die „saubere, bis ins kleinste gehende treue Genremalerei in seinem Juden Scheva“ und eben auch „possenhaften Rollen“, denen er den „feinen Reiz der sichersten Charakteristik anzuerschaffen wusste“ auf gleich hohem Niveau zu spielen. In der Funktion des „Volkskomikers“ gelang es ihm, nicht allein „das Publikum, sondern auch seine Mitspieler dergestalt mit Gelächter“ zu überwältigten, dass „dadurch Pausen in der Darstellung entstanden.“15 Devrient war demnach als Komiker wie als Charakterdarsteller hervorragend geeignet, eine stereotype Darstellung so in eine ‚natürliche‘ und zugleich lächerliche zu transformieren, dass die Berliner Juden nur scharf Einspruch erheben konnten.
13 Vgl. zur Geschichte der Aufführung H.-J. Neubauer: Judenfiguren, S. 137. 14 Eduard Devrient: Geschichte der deutschen Schauspielkunst, Berlin 1929, S. 312. 15 Ebd.
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Hardenberg, der auf die reformjüdischen Kreise um Israel Jacobson Rücksicht nehmen wollte, erwirkte ein Verbot, fast im letzten Moment wurde die Aufführung gestoppt. Der Staat habe eine Schutzfunktion, sodass es keineswegs angehe, „wenn religiöse Begriffe, welche der Staat duldet, und [die] sich mithin seines Schutzes zu erfreuen haben, auf der Bühne lächerlich gemacht und verächtlich dargestellt werden.“16 Da Verbote, zumal wenn sie kurz vor der erwarteten Aufführung in Kraft treten, eher die Neugier reizen, ließ sich das Stück nicht mehr aus der Welt schaffen, wurde so erst zum öffentlichen Thema. Ein nicht zu unterschätzender Faktor war der Schauspieler Wurm, der die Aufführung des kurzfristig angesetzten Ersatzstückes dazu nutzte, zu extemporieren und auf das Verbot von Unser Verkehr anzuspielen. Die Folge waren Unruhen im Theater und ein außerordentlicher öffentlicher Skandal. Das Theater nahm seinen Weg von der Bühne über den Zuschauerraum in die Stadt Berlin und folgte einer Spannungsdramaturgie, die denen aus der aristotelischen Poetik abgeleiteten dramatischen Strukturmerkmale einer theatralen Dramaturgie nicht unähnlich waren.17 Brentano schildert eindrücklich den Weg des Skandals zum Höhepunkt: „Hier ist jetzt schier alle Abend lärmendes Begehren nach einem Judenstück Unser Verkehr, das, einstudiert und angekündigt, durch die
16 Zit. nach Hübscher: Die königl. Schauspiele, S. 142. 17 Was man bei dem öffentlichen Skandal um das Stück Unser Verkehr und seinen Folgen jeweils sehr gut beobachten kann, subsumiert Michael Neu unter die Handlungsstruktur eines Skandals. Für ihn entwickelt sich ein Skandal in differenten Phasen und ähnelt hier stark allen öffentlich diskutierten Themen, ders.: „Der Skandal“, in: Jürgen Bellers/Maren Königsberg (Hg.), Skandal und Medienrummel, Münster 2004, S. 3-23, hier S. 10. Niklas Luhmann weist in seinem Modell des Prozesses der öffentlichen Meinungsbildung Phasen aus, die man auch beim Skandal findet: 1. die latente Phase, 2. die kreative Phase, 3. die Konsolidierung, 4. der Kumulationspunkt, und 5. die Ermüdungsphase; Niklas Luhmann: Politische Planung, Opladen 1971, S. 17ff.. Für Steffen Burckhardt folgt die „Dynamik des Medienskandals“ der „geschlossenen Form des Dramas, die sich in fünf Phasen beobachten lässt“. Der 1. „relativ kurzen Latenzphase“ mit der „Einführung der Protagonisten und Schlüsselereignisse“ folgt 2. die „Aufschwungphase“ mit der „Kontextualisierung der Schlüsselereignisse“, dem dann 3. die „Etablisierungsphase mit Klimax“ als „Entscheidungsfindung“, worauf der 4. „Abschwungphase“ als „Qualifikation der Entscheidung“ die 5. „Rehabilitationsphase“ im Sinne einer „Normalisierung der Situation“ folgt; Steffen Burckhardt: Medienskandale. Zur moralischen Sprengkraft öffentlicher Diskurse, Köln 2006, S. 203f. Der Skandal hat immer ein Ende, wiewohl dieses offen ist: „A long-running mediated scandal will either reach a point of termination (a confession, a resignation, the outcome of a trial, the result of an official inquiry, etc.) or it will gradually fade out, as public interest wanes and media organizations decide that it no longer merits the attention once devoted to it“; J.B. Thompson: Political scandal, S. 72.
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Juden – Jakobsohn an der Spitze – von Hardenberg abgebettelt worden. Brühl ist auf der Seite des Publikums, man ist begierig, wer siegt.“18 Dass sich Brühl opportunistisch verhalten würde, war abzusehen. Von Beginn seiner Amtszeit an beugte er sich den ökonomischen Zwängen, auch wenn Goethe gehofft hatte, Brühl würde ein Theater im Sinne des klassischen Ideals mache.19 Brühl schaffte es nicht, der Zwickmühle zu entkommen, mit seinem Spielplan einerseits dem Publikumsgeschmack, andererseits einem bürgerlichen, literarischen Anspruch entsprechen zu müssen. Zwei Jahre nach seinem Amtsantritt beklagte er sich bei Goethe, er werde: „ziemlich unbarmherzig“ und „oft von Kritikern über das mitgenommen, was unkunstmäßig beim hiesigen Theater geschieht, und doch kann ein Direktor, dem eine so große Kasse zu verwalten obliegt, oft nicht umhin, dem schlechten Geschmack des Publikums nachzugeben.“20 Der aufgeheizten öffentlichen Stimmung hatte er wenig entgegenzusetzen. Er veröffentlichte Annoncen in Berlins Zeitungen, welche einerseits dämpfend wirken sollten, andererseits für die Aufführung warben.21 Er lavierte solange zwischen dem Publikum und Hardenberg, bis man sich auf eine zensierte Fassung einigte, von der Hardenberg zustimmend bemerkte, dass diese gegen die „jüdische Religion durchaus nichts Anstößiges enthält“.22 Dabei spielt Unser Verkehr selbst mit der Konvergenz zwischen Bühnendarstellung und öffentlichem Auftreten sowie negativ-falschem Bild des ‚Juden‘. Die Handlung zeigt in einem Aufzug den Rite de Passage der Hauptfigur Jakob, der „werden [will] a neier Mensch“, sich als junger Mann von der Familie löst und den gesellschaftlichen Aufstieg sowie die Anerkennung der Gesellschaft sucht. Im ers-
18 Clemens Brentano: „Brief an Achim von Arnim, Berlin, 14.8.1815“, in: Ders., Briefe, Bd. 2, S. 134. Rudolf Weil berichtet über den Druck auf Brühl und Hardenberg: „Nachdem nämlich durch die Zuschauer tagelang das Stück gefordert, der Direktion Drohbriefe zugesandt und am Schauspielhaus Zettel befestigt worden waren, in denen man die Aufführung verlangte, hatte Hardenberg schließlich nochmals das Buch geprüft und dabei festgestellt, dass es nichts gegen die jüdische Religion enthielt“, S. 372. 19 So schrieb Goethe an Brühl: Das „Theaterwesen ist ein Geschäft, das vorzüglich mit Großheit behandelt werden will, eben weil es aus lauter Kleinheiten besteht, von denen zuletzt eine große Wirkung gefordert wird. Jene Kleinlichkeiten, Verschränkungen und Verfilzungen zu beseitigen, zurechtzulegen und durchzuhauen, ist freilich ein unangenehmes Geschäft, es ist aber nicht undankbar, weil zuletzt das Gute und Rechte wie von selbst entspringt“, Brief an Brühl, 15.3.1815, in: Hans von Krosigh: Carl Graf von Brühl und seine Eltern, Berlin 1910, S. 325. 20 Ebd., S. 330. 21 Vgl. Vossische Zeitung; Spenersche Zeitung, 17.8.1815; Vgl. H.-J. Neubauer: Judenfiguren, S. 115. 22 Brief Hardenbergs an Brühl, zit. n. Hübscher: Königl. Schauspiele, S. 143.
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ten Bild sieht man Jakob „mit einem Bündel Kleider, reisefertig.“23 Vater Abraham, Stammvater der Familie und – auf symbolischer Ebene – der Juden, der wie bekannt, auch bereit war, seinen eigenen Sohn zu opfern, schickt seinen Sohn aus nicht uneigennützigen Gründen auf die Wanderschaft, die einem „Ewigen Juden“ sowieso abverlangt werde: „Du musst werden ä neier Mensch! Du musst wandern aus Ägypten von de Fleischtöpfe der Memme! Du musst siehen in de Wüste, wo sie der nich geben werden än Trunk Wasser umsonst! Du musst sehen das gelobte Land von de raiche Gois! Du musst der nehmen dein Erbtheil von ihnen, wie de kannst, as de willst sein ä rechter Puacher vom Soomen Isreal!“24 Der Auszug der Israeliten aus Ägypten solle über die Wüste ins gelobte Land des Reichtums führen, der auf nicht legale Weise von den Nichtjuden zu erschleichen wäre. Die mehrfache Überlagerung von Erzählungen aus dem Alten Testament wird mit dem Mythos von Ahasver, dem Verdacht der Unredlichkeit und Eigennützigkeit der Juden und dem Übergangsritus des Erwachsenwerdens kombiniert. Die eigenartige Anthropologie des Stücks stellt die Mensch-Werdung des Juden als Reise, Gaunertum und Maskerade dar. Zugleich steht Jakob für den Aufbruch der Juden in die neue Gesellschaft, in der sie als „Neuer Mensch“ gleiche Rechte haben würden und an äußeren Zeichen nicht mehr zu erkennen wären. Um ein „Neuer Mensch“ zu werden, muss Jakob zugleich die Taufe empfangen, hierzu muss er eine Kirche betreten, an deren Portal zu seinem Pech ein Kirchendiener als Schwellenhüter Wache hält. Dieser spiegelt die angebliche moralische und rechtliche Ordnungsinstanz der Gesellschaft, die zwar an Einfluss verloren habe, für einen ‚Juden‘ aber immer noch zum Problem werden konnte; alles ginge, so der Kirchendiener, drunter und drüber: „Ich bin die Wache, und soll auf gute Ordnung halten! Aber du lieber Gott, da hält sich was auf gute Ordnung; Schaaren von Laffen ziehen in den Gängen herum, plaudern, sehen auf die schönen Mamsellen, drehen dem lieben heil’gen Altar den Rücken, wenden die Gesichter auf’s Chor, wo musicirt wird. – Sagt man was, so wird man angefahren – man ist eben nur für’s Bettelvolk da! – So geht’s heute in den Kirchen – voll ist’s freilich genug, aber mit der alten Andacht, da ist’s vorbei.“25 In der Annahme, dass bei einem solchen Chaos auch sein Eintritt in die Kirche kein Problem sei, bittet Jakob um Einlaß: „Lieber guter Freind, will er mich nich herein lassen in die Kerche?“ Darauf hin fragt ihn der Schwellenwächter nach dem Grund und Jakob gibt offen zu, er wolle nur „hören de schaine Musik“. Augenscheinlich nur am sinnlichen Genuss und an materialistischer Bereicherung interessiert wird ihm der Zutritt versagt: „Kirchendiener: Hoho! Deswegen kommt eures Gleichen nur gelaufen, getauft und ungetauft. [...] Was denkst du, Jude?
23 K.B. Sessa: Unser Verkehr, S. 5. 24 Ebd., S. 6. 25 Ebd., S. 21.
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Marsch! Du kömmst nicht herein.“ 26 Anderen Juden gelingt dies jedoch, Jakob protestiert gegen die Ungleichbehandlung: „Nü, es kömen doch mehr von unsere Leit rein, der Herr Polckwitzer, der Herr Morgenländer – Kirchendiener: (ihm nachsprechend). Der Her Zupter, der Herr Hundsfelder. Schande genug, aber’ s sind reiche Leute, können blechen, man muss ein Auge zudrücken. (Giftig.) Aber du kannst nicht hinein, Schacherjude. (Ab.)“. Der ‚Schacherjude‘ wäre nicht nur durch seine jüdische, sondern zudem durch seine soziale Herkunft marginalisiert. Drei Möglichkeiten hätten ‚Juden‘, in der Gesellschaft oberflächlich anerkannt zu werden: Reichtum, als Frau durch ‚Schönheit‘, und durch universitäre Bildung: Für diese steht die Figur Isidorus Morgenländer, nach Neubauer27 eine Karikatur des unter dem Pseudonym Isidorus Orientalis publizierenden Romantikers Ferdinand Otto Heinrich Graf von Loeben. Sie ist „geworden ä Dokter“, der nun als „Weiser aus dem Morgenland“ die Mysterien predigt und, wie es sich für einen ‚Juden‘ gehöre, ständig mobil sei: „Ich bin gereist auf Akademien und Universitäten; ich bin gewesen in Jena und Halle, in Marburg und Würzburg, in Bamberg und Heidelberg, in Königsberg und Wittenberg, in Leipzig und Helmstädt, in Tübingen und Göttingen, in Breslau und Krakau, in Padua und Pavia.“28 Auch Isidorus entpuppt sich als Egoist, obwohl ihn Jakob bittet: „Nimm mich mit in die Kerche!“, lehnt dieser ab: „Uneingeweiht in das Mysterium der Liebe willst du betreten ihre heil’ge Schwelle! Jakob: Du bist doch aach nicht getauft! Sei so gütig, nimm mich mit!“29 Das Motiv der Distinktion Isidorus vom einfachen ‚Schacherjuden‘ Jakob ist dessen Angst, durch die unangemessene Begleitung beim Eintritt in den gesellschaftlichen Raum der Kirche könnten die anderen hinter seiner Maske als ‚weiser‘ „Dokter“ seine ‚eigentliche‘ Existenz als Jude und als Scharlatan entdecken. Der Jude wäre trotz seiner hohen Bildung zu seriöser Wissenschaft nicht fähig, er bleibe einer niederen Kulturstufe verhaftet, indem hinter der wissenschaftlichen Methode die alte Magie und der Marktschreier als ‚wahre‘ Identität durchschienen. Neben dem ‚reichen Juden‘ und dem ‚Bildungsjuden‘ gelingt der ‚schönen‘ bzw. erotisch lockenden ‚Jüdin‘ als Femme fatale, was dem ‚Schacherjuden‘ Jakob verwehrt wird. Mit ausgeprägtem Hang zur modischen Inszenierung gelingt es ihr, sich so zu verstellen, dass ihre ‚Schönheit‘ keiner inneren moralischen entspricht, sondern Resultat des von ihr gereizten männlichen Begehrens ist. Ihr wichtigstes Persönlichkeitsmerkmal ist die sexuelle Untreue, wobei Untreue als grundsätzliches Charaktermerkmal auf Juden projiziert wird. Selbstverständlich ist sie sehr leicht verführbar, wenn sie sich nicht gar selbst herausnimmt, den Mann wie eine Prostituierte zu
26 Ebd., S. 21. 27 H.-J. Neubauer: Judenfiguren, S. 107. 28 Ebd., S. 18. 29 Ebd., S. 19.
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locken. Dagegen hat nicht einmal der jüdische Vater etwas, bezeichnet er seine Tochter doch als „Haupt-Capital“. Ihr gegenüber steht der jüdische junge Mann, der zwar die ‚Schönheit‘ der Jüdin goutiert, aber nur dann richtig überzeugt werden kann, wenn die Frau auch reich ist. Wenn beides, Schönheit und Reichtum, zusammenkommt, locke die ‚Sirene‘: „In der Kerche auf en Chor, dort singt se – das Mädchen mein’ ich. Isodorus: Wie? Also ist es nicht die himmlische, die irdsche Sinnenliebe fesselt dich im Netz? Jakob: Ach jo! De Liebche, s’ ist die Lydie Polckwitzer! Isidorus: Wie Also die, die hehre Jungfrau, schön und reizend anzuschauen? Jakob: Ach ja! reizend is se und raich.“30 Lydie Polckwitzer figuriert eine Karikatur Rahel Varnhagens, die es gewagt hatte, sich nicht nur als Jüdin, sondern auch als Frau so weit wie möglich zu emanzipieren. Neubauer bemerkt, dass in der Folge dieser Posse „solche Karikaturen von sich emanzipierenden Jüdinnen das Rollenfach der Liebhaberin um das Stereotyp der ‚komischen Jüdin‘ [erweitern]. Deren immer ähnlichen Züge schließen auch ein bestimmtes Körperbild mit ein. Sie wird manchmal als verführerisch, fast immer als sehr sinnlich dargestellt.“31 Wie Isabel V. Hull darlegt, hatte die Angst vor der Femme fatale der ‚schönen Jüdin‘ etwas mit dem verbreiteten Glauben zu tun, das Sexuelle schwäche in der Form von Prostitution und zu früher Sexualerfahrung Körper und Geist.32 Infolgedessen seien vom Mann die Triebe durch die Vernunft zu kontrollieren, er solle sich von der „animalischen Naturwelt“ fernhalten, erwünscht sei eine „sittlich-ideale“ Gestaltung des Verhältnisses zwischen Mann und Frau.33 Dort wo die Triebe durchschlügen, bewege man sich auf niedrigster Kulturstufe, insofern befinde sich die ‚schöne Jüdin‘ hinter der Maske ihrer Attraktivität im Bedeutungsraum des Tieres und des Wilden: Verstellung, Triebhaftigkeit und die Nähe zum Tier erweise sich bei der emanzipierten Salonjüdin im Stereotyp als ‚wahrer‘ jüdischer Charakter. Als weiterer Grundzug einer jüdischen Liebe zwischen Mann und Frau stellt sich die Mobilität der Verhältnisse dar, die mit der erhöhten Anschlussfähigkeit der Partner einhergeht. In der personalen Beziehung zwischen Mann und Frau reflektiere sich die erhöhte Mobilität des Geldes in der liberalen Wirtschaftsordnung. Wenn ‚Juden‘ einem niemals untreu würden, dann wäre dies das Geld. Wie das Geld als Zeichen für alles Mögliche als Wert stehen kann, so bedeuteten weder der lokale Standort des ‚Juden‘ noch die physiognomischen Zeichen seiner Erscheinung etwas
30 Ebd., S. 19. 31 H.-J. Neubauer: Judenfiguren, S. 71 32 Isabel V. Hull: Sexuality, State, and Civil Society in Germany, 1700-1815, Ithaka 1996; vgl. Peter Becker: Verderbnis und Entartung. Eine Geschichte der Kriminologie des 19. Jahrhunderts als Diskurs und Praxis, Göttingen 2002, S. 120. 33 Alexander von Oettingen: Die Moralstatistik in ihrer Bedeutung für eine christliche Socialethik, Erlangen 1846, S. 339.
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Verlässliches. Jüdische Geldgier bedeute jüdische Untreue bedeute jüdische Heimatlosigkeit und letztlich jüdische Verstellung als fundamentales jüdisches Rollenspiel. Der Jude wäre der moderne Mensch par excellence. Sein Körper bestünde potentiell nur aus Signifikanten, die Arbitrarität reflektiere die hohe Mobilität des Geldkreislaufes. So würde Geld zur Medizin: „Abraham: Wenn ich zähl Geld, wird mein Harz erquickt, wenn ich zähl Geld, brauch ich kein ander Vergnügen, wenn ich zähl Geld, brauch ich kän Doctor und käne Apotheke, ich bin schon gesünd.“34 Um zu überleben, müssten nicht Beziehungen zu Anderen, sondern zum Geld gepflegt werden, so richte sich der ubiquitäre Geiz ein. Man kämpfe nur für sein Geld, in keinem Fall für einen Anderen oder eine Nation, das wäre gegen die ‚eigene Natur‘, dazu wäre man viel zu feige: „Jakob: (alleine, sich aufrichtend): Ich hob mich gestellt taudt! Ich hob gerettet mei Leben! – (Sich umsehend.) Er ist fort! (Aufstehend)“.35 Wenn Bindungslosigkeit, Feigheit und Geiz das individuelle Handlungsmuster ausmachten, dann wäre nur durch den Wechsel des oberflächlichen Bildes der Aufstieg in der Gesellschaft möglich. ‚Jüdisch‘ sein bedeute daher, in der Ver-Stellung als Mobilität der Signifikanten auf drei Arten von Masken als Zeichen ohne eigentliche Referenten vertrauen zu müssen: auf die Grundlosigkeit des (akademischen) Bücherwissens, auf die oberflächliche Schönheit ohne entsprechenden Charakter und vor allem auf die Menge des Geldes, die ein Individuum zu besitzen scheint. Auf die Menge kommt es an; umso mehr Geld, umso mehr Möglichkeiten des schnellen Anschlusses, der Neuausrichtung und der Mobilität. Dem Geiz und der privaten wie geschäftlichen Untreue auf der einen Seite entspricht auf der anderen Seite der nicht an Leistung gebundene Reichtum und der in einer zunehmend egalitären Gesellschaft sich sofort einstellende Erfolg. Wie der Erfolg erzielt würde, wäre egal. Als Opportunist ohne Skrupel arbeite der ‚Jude‘ nicht, vielmehr lauere er auf günstige Gelegenheiten. Der Aufstieg des ‚Schacherjuden‘ Jakob zum geachteten Mitglied gelingt nicht durch Leistung, sondern durch das institutionalisierte Glück, er ist „doch geworden durch die Letterie sum Mann.“36 Wenn jemand Geld hätte, spräche sich das unter ‚Juden‘ sofort herum und hebe unmittelbar die soziale Stellung: „Mit en Gelde kümmt der Verstand, mit en Gelde de Gewalt und de Tugend und’s Recht.“37 Jakob Berufsweg verläuft stereotyp vorgezeichnet vom ‚Schacherjuden‘ zum ‚Benkiehr‘.38 Mit plötzlichem Reichtum wandeln sich Eigen- und Fremdbild, der Andere bedeutet „frugo-
34 K.B. Sessa: Unser Verkehr, S. 27. 35 Ebd., S. 20. 36 Ebd., S. 26. 37 Ebd., S. 24. 38 Ebd., S. 27.
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les Essen, än guten Wein, än koschern Wein, ä freindlich Gesicht“,39 die Schmeichler blieben nicht aus: „Löbel: [...] ich günn’s doch keinem Menschen lieber as Sie! – weiß Gott, keinem Menschen!“,40 man will Jakob überraschend körperlich nahe sein, seine erotische Ausstrahlung steigt deutlich: „Rebekka: Sell mich Gott strafen, ich muss en noch ä mohl harzen den lieben Menschen! (sie umarmt Jakob ganz brünstig, sehr zärtlich.) Bleiben Se mein Freind!“41 Doch auch in der neuen sozialen Position haben sich die Bilder nicht verfestigt, das „Bleiben“ und der „Freind“ sind nur sprachlich-instabile Zuschreibungen, Jakob wird zum Ziel von betrügerischen Aktionen der Anderen. Aufstieg bedeutet eigentlich, dass nun die Verstellung ein höheres Maß erreicht hat, die ‚wahren‘ Charaktere bleiben schlecht. Aus etymologischer Sicht verweist der Titel Unser Verkehr auf den Warenaustausch und Handelsverkehr. Dem schließt sich die zweite Bedeutungsebene an, die den Verkehr mit dem jeweils Anderen meint. Sogar Kant überlegte, ob und warum die „unter uns lebenden Palästinenser“ durch „ihren Wuchergeist seit ihrem Exil, auch was die größte Menge betrifft, in den nicht ungegründeten Ruf des Betrugs gekommen“ wären.42 In Sessas Stück ist Verkehr als Warenaustausch und gesellschaftlicher wie persönlicher Umgang verbunden mit der Generierung, Stabilisierung und Veränderung, letztlich der Performativität von Eigen- und Fremdbildern. Das stückimmanente Menschenbild baut neben der klassifikatorischen Verortung des ‚wahren‘ ‚Juden‘ am unteren Ende eines entwicklungsgeschichtlichen Kontinuums auf die Erkenntnis der Arbitrarität und erhöhten Mobilität der Zeichen und Bilder. Die Gemeinschaft der ‚Juden‘ wird als bindungsarme Gesellschaft inszeniert, deren Zentrum allein das Geld ist. Die sich herausbildenden Strukturen der modernen Gesellschaft werden mit kritisiert. Die Position des Individuums hinge von seinem Image ab, das sich wie ein Aktientitel an der Börse ständig erneuern müsse, um stabil zu bleiben. Als Katalysator der gesellschaftlichen Ordnung fungiere der Heiratsmarkt, Verbindungen richteten sich als Resultate von Wertzuschreibungen im Spiel von Angebot und Nachfrage ein: „Polckwitzer: Lydie – meine Tochter – mei Haupt-Capital – mei Alles! Do staiht ä Man, ä tälentvoller Mann, ä geschickter Man, ä raicher Mann, ä theirer Freind! Er will hoben deine kunstreiche Hand, deine schaine Stimm, deinen witzigen Kopf, deine angenehmen Mänieren, deine vortreffliche Person – er will dich heirothen- Werst de sagen Nein?“43 Natürlich sagt Lydie nicht nein, nachdem Jakobs Wert rasant gestiegen ist und er so die Aufmerksamkeit Lydies erregt hat: „Mich dünkt, ich sah sie vorhin. – das Geschick riß mich hinweg. [...] – Sie haben
39 Ebd., S. 25. 40 Ebd., S. 25. 41 Ebd., S. 25. 42 I. Kant: Anthropologie, S. 110f. 43 K.B. Sessa: Unser Verkehr, S. 29.
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ja das große Los gewonnen!“ Sessa arbeitet die gültigen Währungen des Heiratsmarktes heraus – Schönheit, Attraktivität (bis hin zur Erotik im Spannungsverhältnis zur Ehrbarkeit) und Geld, kritisiert so die tatsächlichen Einflussfaktoren der modernen Gesellschaft. Eigentlich wäre der ‚Jude‘ nicht wirklich schön und reich im bürgerlichen Sinne, denn seine ‚wahre‘ Identität zwinge ihn immer zur Verstellung. Sein Auftreten gerät ähnlich wie komische Adelsfiguren aufgrund der notwendigerweise forcierten und künstlich-ungeschickten Darstellung zur Karikatur des bürgerlich angesehenen Lebens. Als Karikatur wird der Jude immer eine lächerliche Figur machen, so sehr er sich auch anstrengt. Der bürgerliche Traum ist in seiner jüdischen Version ein Trug-Bild: „Abraham: Gott, mer werden verdienen Geld! Polckwitzer: Mer werden sein än angesehenes Haus.- Jakob: Wer werden setzen in Cours unsere Tälente. Lydie: Wir werden machen breit mit unserm Reichthum, wer werden brillieren mit unserm Putz, wer werden machen glücklich mit unsre prächtigen Festins, wer werden erregen den Neid mit unsern Pertensionen! – Gott! Wird das ein Leben sein – oh, mein Lieber! (sie umarmt Jakob).“44 Da das jüdische Leben kein ‚natürliches‘ Fundament besitze, müsse es als bürgerliches scheitern. In Sessas Stück wird exemplarisch demonstriert, dass sich jede Gesellschaft durch Kulturen als Zwischenwelt konstituiert, welche im Bild des jeweils Anderen ihre Ausprägung erfährt. Bevor er die Grenze zur Kirche als Symbol der christlich fundierten Gesellschaft überschreiten darf, bewegt sich Jakob in einer Gegenwelt, die nach Sessa die ‚wahre‘ jüdische Welt sei: „Jakob (allein): Liebsche, ich känn nicht zu dir! De Welt drängt sich zwischen uns! Der Voter foppt und schimpft – der Feind stecht und schlagt – der Kirchendiener kommt mit en Spieß! – Was soll weren, was sell kümmen heraus?“45 Diese Welt ist ärmlich, kulturarm und gewalttätig, als jüdische Gegenwelt ähnelt sie strukturell der kriminellen Gegenwelt. Von der Welt des Gaunertums nahm man an, dass sie sich aufgrund ihrer Fähigkeit zur Selbstreproduktion ständig erneuere, so dass nach Peter Becker erst durch die „Konstruktion“ und „Vorstellung“ der Gegenwelt die „Antwort auf die bohrenden Fragen nach der Effizienz der polizeilichen Maßnahmen“46 gegeben werden konnten. Die Bewohner der Gegenwelt waren ein erkennungsdienstliches Problem, es ging um die Identifizierung des unerwünschten Subjekts. Im Stück übernimmt die polizeilichen Aufgaben der Kirchendiener als Hüter der Schwelle zwischen der bürgerlichen und der jüdischen Welt. Der Kirchendiener fungiert dabei als erwünschter Zuschauer, er soll lernen, wie man den Juden ähnlich wie einen Gauner als Bewohner der Gegenwelt erkennt und an seinem Aufstieg hindert, um Schaden
44 K.B. Sessa: Unser Verkehr, S. 29f. 45 Ebd., S. 22. 46 P. Becker: Verderbnis und Entartung, S. 212.
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von der eigenen Gesellschaft und Kultur abzuwenden. Itzig Feitel Stern, eigentlich Johann Friedrich Seigmund Frhr. von Holzschuher, bemerkte in dem Nachahmerstück Unser wahrer Verkehr über seine Motivation: „Euere Plane will ich enthüllen, und Jedermann soll es wissen, wie ihr zu Werke geht, den fleißigen und wackern Bürger und Bauersmann zu ruinieren“.47 1841 schrieb der preußische Kriminalaktuar Thiele über die „jüdischen Gauner in Deutschland, ihre Taktik, ihre Eigenthümlichkeiten und ihre Sprache“, freilich zwischen jüdischem Bürger und Gauner noch differenzierend: „Der jüdische Gauner ist ein Gegending aller bürgerlichen Ordnung. Ohne solche Ordnung ist das gesellschaftliche Bestehen eines Staates nicht denkbar und daher ist er ein Feind des Staates, wie jedes Einzelnen seiner Angehörigen. Rücksichten auf Religionsverwandtschaften bestimmen ihn nicht; er bestiehlt den jüdischen Bürger sowohl wie den christlichen, und ich wüßte daher in der Tat nicht, warum jener ihn nicht ebenso zu fürchten hätte, warum er ihn nicht vielmehr ebenso verabscheuen sollte, wie dieser.“48 Für Peter Becker ist Thieles Werk exemplarisch, er stützt darauf seine These von der Konzeption einer kriminellen Welt als Gegenwelt. Kriminalisten „rekonstruierten seit dem 18. Jahrhundert die Strukturmerkmale dieser Welt, indem sie die Ordnungskategorien der eigenen Welt auf die Vergesellschaftungsformen der Gauner projizierten“. Inszeniert würde eine Welt des Anderen als Gauner, diese „erschien dabei nicht als gänzlich unbekannte Wirklichkeit, sondern als negatives Abbild der eigenen Gesellschaft. Dieser polarisierende und gleichzeitig projizierende Zugang zum gesellschaftlichen Leben der Gauner drückte sich bereits in den Begriffen aus, mit denen die Lebenswelt von Verbrechern angeeignet wurde.“49 Ganz ähnlich konstruierte Sessa die jüdische Gegenwelt als negative Version der eigenen Gesellschaft, reflektierte sich diese in der
47 Itzig Feitel Stern [Johann Friedrich Siegmund Frhr. von Holzschuher]: Unser wahrer Verkehr, bestehend in einzelnen jüdischen Familien-Scenen, in vier Abtheilungen, in: Israels Verkehr und Geist in jüdischen Charakterzeichnungen, Erzählungen, Gedichten u. s. w., E Schulklopfer für die hauchlöbliche Judenschaft von Itzig Feitel Stern. Zweite, verbesserte, vermehrte und mit sieben Abbildungen verschönerte Auflage, Meißen 1833, S. 1-54, hier S. 30. 48 A. F. Thiele: Die jüdischen Gauner in Deutschland, ihre Taktik, ihre Eigenthümlichkeiten und ihre Sprache, nebst ausführlichen Nachrichten über die in Deutschland und an dessen Grenzen sich aufhaltenden berüchtigsten jüdischen Gauner. Nach Kriminalakten und sonstigen zuverlässigen Quellen bearbeitet und zunächst praktischen Kriminal- und Polizeibeamten gewidmet von A. F. Thiele: Königlich Preußischem Kriminal-Aktuarius, Erster Band, Berlin 1841, S. VII. 49 P. Becker: Verderbnis und Entartung, S. 201.
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Sprache der jüdischen Figuren. Im 18. Jahrhundert hatte das Jüdischdeutsche einen schlechten Ruf.50 So interessierten sich mit Ausnahme einiger ‚Missionsgrammatiker‘ seit dem Ende des 17. Jahrhunderts in der Hauptsache die Kriminalwissenschaft und die Polizei für die Sprache der Juden, welche als „Gauner-, Diebes-, Spitzbuben, Schureroder Kaloschen-Sprache“ bezeichnet wurde. Die jüdische Sprache wurde zum Merkmal der verbrecherischen Gegenwelt und der polizeilich Auffälligen. Christliche Gauner wurden im Gegensatz zu jüdischen selten in ihren Polizeisignalements extra mit sprachlichen Zeichen als „persönliche Sprechart“ in Verbindung gebracht. Für Thiele war die Gaunersprache ein „ein wirres Gemengsel von Wörtern“ aus „fast allen todten und lebenden europäischen Sprachen“. Sie wären „theils der Zigeunersprache entlehnt, theils selbst erfunden, theils sind es Provinzialismen, theils endlich, und ganz vorzüglich, sind es verketzterte hebräische Wörter.“51 Insbesondere die Täuschung und das Rollenspiel sei, so Becker, ein Mittel der Gauner, sie „schwärmen, durch gesellschaftliche Band zusammengeknüpft, unter hunderterley Masken umher.“52 Der Jude als der exemplarische Fremde, der nach Simmel „seiner Natur nach kein Bodenbesitzer [ist], wobei Boden nicht nur im physischen Sinn verstanden wird, sondern auch in dem übertragenen Sinn einer Lebenssubstanz, die, wenn nicht an einer räumlichen, so an einer ideellen Stelle des gesellschaftlichen Umkreises fixiert ist“,53 stand grundsätzlich unter dem Verdacht, ein Gauner zu sein. Seine Heimatlosigkeit erhöhte diesen Verdacht noch, denn aus polizeilicher Sicht ist ein Individuum, das heute an- und morgen abreist, ein Identifikations- und Festnahmeproblem ersten Ranges. Für die Juden schien das zu gelten, was Becker für den Gauner feststellte, der „nicht nur Emotionen und Eigenschaften fälschlich reproduzierte, sondern eine neue soziale Identität annahm. Dieses Rollenspiel war so eng mit ihrer Erwartung an die Gauner verbunden, dass es neben der Vergesellschaftung in einer kriminellen Gegenwelt als konstitutives Merkmal des Gaunertums galt.“54 Sowohl der Gauner als auch der Jude waren als Bewohner einer Gegenwelt nicht nur Fremde, sondern standen beide unter dem Verdacht, dass Physiognomie, Sprache und Verhalten nicht ihren ‚wahren‘ Charakter offenbarten. Das dem Theater als Medium eigene Rollenspiel war besonders geeignet, die Gegenwelt
50 Vgl. H.-J. Neubauer: Judenfiguren, S. 137. 51 A. F. Thiele: Die jüdischen Gauner in Deutschland, S. 198. 52 Johann Ulrich Schöll: Abriß des Jauner und Bettelwesen in Schwaben nach Akten und andern sichern Quellen, Stuttgart 1793, S. VI. 53 Georg Simmel: „Der Fremde“, in: Michael Landmann (Hg.), Das individuelle Gesetz. Philosophische Exkurse, Frankfurt/M. 1968, S. 64f. 54 P. Becker: Verderbnis und Entartung, S. 225.
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und Maske des Juden sichtbar zu machen und im Rollenspiel den Umgang mit den ‚gefährlichen‘ Subjekten imaginär einzuüben. Im Theater sollte es daher gelingen, in der Verbergung zugleich etwas deutlich zu machen, was sich in der Gesellschaft nicht auf den ersten Blick sehen ließ. Damit war Sessas Posse Unser Verkehr schon deshalb als Skandalstück besonders virulent, weil es nicht nur Diffamierungen verstärkte und gewisse Persönlichkeiten in ihren Gestalten der Lächerlichkeit preisgab, sondern weil es den Verdacht schürte, dass die oberflächliche Erscheinung des Anderen, in dem Fall des Juden, generell zur Ver-Stellung neigt, deren Wahrheit in ihrer Möglichkeit, aufgedeckt zu werden, strukturell dem Skandal ähnelte. Die Lust am Skandal antwortete der angeblichen Motivation der Juden, ihren ‚wahren‘ Charakter zu verbergen. Denn nur das, was mit großem Aufwand verborgen wird, ist es wert, gesucht, ermittelt und an die Öffentlichkeit gezerrt zu werden, eine Dialektik, die dem öffentlichen Skandal um Sessas Posse offensichtlich zugrunde liegt. Mit der Aufführung des entschärften Texts im Theater ging das öffentliche Theater erst richtig los. Für das Stück agierten höchst engagiert der Schauspieler Wurm und ihm gleichgesinnte Presseorgane wie das Dramaturgische Wochenblatt, die Szenen aus der Posse druckten. Auf der Gegenseite intrigierten die Gebrüder Henschel auf demselben, eine Minderheit diskriminierenden Niveau, indem sie Stiche veröffentlichten, die den Verdacht aufkommen ließen, dass Wurm homosexuell sei. Das hatte ein gerichtliches Nachspiel und sorgte dafür, dass Wurm trotz Freispruch Berlin verlassen musste. Unser Verkehr war für über zwei Monate wichtigstes Gesprächsthema der Stadt. Während die Gebrüder Henschel das Bildmedium, das zu dieser Zeit mit dem Beginn des modernen visuellen Zeitalters seine außerordentliche Wirkungsstärke unter Beweis stellte, benutzten, um Wurm zu diffamieren, agitierte Wurm vor seinem Prozess, manchmal zusammen mit Ludwig Devrient, in Berliner Gesellschaften. Er stellte ein eigenes Salonprogramm mit ‚jüdischen‘ Rollen vor, um eine Aufhebung des Aufführungsverbots zu erreichen. Dabei „gab es nun Handelsszenen, Gebote und Ueberbote auf Versteigerungen, Streite und Zankunterhaltungen über den Papierstand an der Börse, andere an Theetischen über Kunst- und Literaturgegenstände, immer aus besonderen Klassen, und mit verschiedenen Stimmen und abweichenden Ausdruck vorgetragen, wozu das biegsame Sprachorgan des Herrn Wurm sich überraschend gut eignet.“ Wurm spielte stereotype ‚jüdische‘ Rollen vom „altsittigen Trödler an, bis zum reichsten Wechsler“. Vor allem der Aufsteiger wurde von dem begabten Charakterdarsteller als jemand vorgestellt, „der seine Abkunft platterdings in Rede und Thun nicht offenbaren, vielmehr zeigen will, dass jenen Anstrich verfeinerter Umgang und eigne Bildung rein austilgten, dem aber doch in manchen Augenblicken ein Zeichen davon entflieht, weiß dieser Mime nicht allein die Endpunkte, sondern auch die zwischen
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ihnen liegenden Abstufungen treffend auszudrücken.“55 Die Intention Wurms war, hinter allen Masken der aufgesetzten (Fremd-)Kultur und Gesellschaftsformen die „jüdische Natur“ sichtbar werden zu lassen: „Der israelitischen Dame müssen die Art zu reden, und sich darzustellen, nach den eben üblichen Zeitmoden in der vornehmen Welt, höchst geläufig seyn, denn hiernach strebte die um Bildung Ringende, und jüdisches Streben ist ernst und heiß, gewinnt viel von dem, was es sich als Ziel vorstreckte. Um nichts weniger fertig und leicht sollen ihr aber auch gemeinhebräische Mundart und Wesen von Statten gehen. Sie hörte und sah das als Kind von manchen Umgebungen, spricht und tut daheim noch mit Dienstboten so, oder mit geringen Glaubensgenossen, um nicht sich auszuzeichnen, oder um [sich] desto verständlicher zu machen.“56 Wurm konnte sich, wenn man Voß glauben mag, auf eine traditionelle Gepflogenheit der Salons stützen, denn „nichts übertraf“ das, was „von ihm das jüdische Deklamiren genannt“ wurde. Er beobachtete genau den Zeitvertreib in Abendgesellschaften, dass „einige ihrer Glieder Poesien von Schiller, Göthe, Schlegel u. s. w. hersagten.“ Nachdem er anscheinend so etwas „in einem oder dem anderen israelitischen Hause, wo man auf Bildung Anspruch machte“, wahrgenommen hatte, konnte er die „Momente, wo an den ästhetischen Redeton ein Anklang jüdischer Mundart sich geschmiegt hatte“ sehr gut wiedergeben. Es war ihm so möglich, nach Wunsch zu parodieren: „Alexis und Dora, die Kraniche des Ibikus, der Gang zum Eisenhammer und mehr Gedichte dieser Art, wurden dann in ermeldeter Weise aufgetischt.“ Eine besondere Attraktion war wohl die Darstellung einer Rezitation von Schillers Taucher durch die Figur einer Jüdin, die ihre Herkunft verbergen will, eine „hebräische Dame“, die „diese Poesie vortrug mit behutsamer Vorsicht: von den Sprachgewohnheiten ihrer Nation nichts dabei unterlaufen zu lassen. Im Anfang geht das ziemlich von Statten, doch nicht lange, und bald hie bald da mengt sich eine Verrath übernde Betonung ein. Je mehr der Affekt steigt, je weniger sind die Zeichen zu vermeiden, und endlich in die Fantasie und Empfindung des Gedichts fortgezogen, greift die Selbstvergessenheit völlig Platz, und man hört kein Wort mehr, das nicht an eine, im Laden Seidenzeug verhandelnde Jüdin, erinnerte. Dieser Taucher wurde nun hochberühmt, man lud Herrn Wurm oft an vornehme Tafeln, um ihn dort von ihm zu hören.“57 Die Anerkennung in den Salons, errungen über die anhaltende Nachfrage einiger Gäste nach einem Auftritt, der Gelegenheit dazu gab, jemand zu verlachen, der sich ungewollt verriet und blamierte, setzte sich auf der Bühne fort, als am 2. Sep-
55 Julius von Voß: „Ueber des Schauspielers Herrn Wurm jüdische Deklamation“, in: Ders. (Hg.), Jüdische Romantik und Wahrheit. Von einem getauften Israeliten, Berlin 1817, S. 291-300, hier S. 292. 56 Ebd., S. 295f. 57 Ebd., S. 127.
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tember 1815 Unser Verkehr im Berliner Opernhaus erstaufgeführt wurde. Es wurde der größte Erfolg der Saison, wenn man die Einnahmen an der Kasse als Maßstab nehmen wollte. Das wirtschaftlich erfolgreiche Geschäft bewies auch hier, dass Skandale in den meisten Fällen geschäftsfördern sind, zumal in modernen Gesellschaften, in denen das Ansehen des Anderen vom Image als kommuniziertes und kursierendes Bild abhängt. Erst nach Monaten ließ der Zulauf in Berlin nach, zumal der Star Wurm die Stadt verlassen musste. Aber der Erfolg schlug ungeahnte Wellen. Das Stück wurde anschließend in vielen Theatern nachgespielt, die stereotypen Figuren wurden in Stichen und Bilderbögen immer wieder gedruckt und es gab einige Nachahmerdramen und Anspielungen auf Unser Verkehr in anderen Stücken. Außerdem zeitigte Sessas Posse Neuerungen im System der Rollenfächer. Possenhafte Judenfiguren wurden ein eigenes Fach. Die Initialzündung der Aufführung, der Skandal samt ausufernder öffentlicher Diskussion und nachfolgenden Stücken, Texten und Graphiken bewirkten, wie eingangs Rahel Varnhagen andeutete, eine neue mentale Stimmung, welche mutmaßlich eine der Ursachen der ‚Hep-HepKrawalle‘ von 1819 war. Unser Verkehr führte zu „Haßverbreiten, Partheisinn und Trennsucht“, die „niemals unbedeutend seyn können, am wenigsten da, wo das Ganze gegen einander geregelt wird in einer Zeit, die eben vermischen und verbinden will.“58 Dass die Wahrnehmung des Anderen und vor allem des Fremden durch mentale Stereotypen determiniert wurde, zeigte sich im öffentlichen Skandal des Stückes von Sessa ganz besonders. Ludwig Börne befürchtete in seiner Rezension, die Zuschauer werden „die bei solchen Anlässen empfangenen Eindrücke mit sich aus dem Schauspielhause tragen und die auf der Bühne mit Treue und Überladung vorgespiegelten Gebrechen der Juden üblicher Weise allen diesen Glaubensbekennern anrechnen.“ Immerhin habe man Erfahrung damit, dass „man alle in Zeit und Raum zerstreute Schlechtigkeiten, solche, welche Juden verschiedenen Gegenden und verschiedener Zeiten, eigen oder angedichtet waren, gesammelt, und stets auf den einzelnen Kopf jedes nächst dastehenden Juden als reine Routine gehäuft hat!“59 Welche Rolle die Imagination und damit die Konstruktion des Anderen spielte, deutete Börne an, wenn er zur Darstellung des Schewa aus Cumberlands Stück durch Weidner bemerkte, dies alles mache eine „Darstellung des Juden, als eines abstrakten Begriffsmenschen nämlich, der so, wie man sich ihn denkt, eigentlich gar nicht besteht, sondern nur die Schöpfung christlicher Vorstellung und Phan-
58 F. W. Gubitz: Ueber die Posse: Unser Verkehr nebst zweien Geschichten und einer Fabel, in: Freimüthige Blätter für Deutsche, in Beziehung auf Krieg, Politik und Staatswirthschaft. Eine Zeitschrift in zwanglosen Heften. Zweiter Band, oder fünftes bis achtes Heft, Berlin 1816, S. 137-146, hier S. 143. 59 Ludwig Börne: „Rezension zu Unser Verkehr. Posse“, in: Ders., Gesammelte Schriften. Vollständige Ausgabe. Vierter Band, Wien 1868, S. 181-186, S. 186.
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tasie ist, äußerst schwer.“60 Die Angst, den Fremden als gefährlichen Anderen im Eigenen nicht mehr erkennen zu können, trieb die Gesellschaft auf der Grundlage zugeschriebener Eigenheiten in die Suche nach ‚natürlichen‘ Zeichen, die den ‚wahren‘ Juden hinter der Maske der Anpassung unweigerlich verrieten, auch wenn sich dieser noch so verstellen mochte. Diese Zeichen wurden dabei zunehmend zu unveränderbaren Zeichen seines Wesens, die die klassifikatorische Verortung am unteren Ende eines entwicklungsgeschichtlichen Kontinuums biologisch legitimierten. Dass die Zeichen des Skandals dabei immer medialisierte waren, der Skandal also auf die medialen Spezifitäten des dramatischen wie theatralen Textes zurückgriff, zeigt, wie generell wichtig für den Skandal das jeweilige involvierte Medium ist. Man kann grob vereinfachend den „mediated scandal“61 bzw. den „scandal als mediated event“62 in Opposition zu den „localized scandals“63 setzten. Im Theaterskandal um Sessa offenbarte sich der lokalisierte Skandal als medialisierter. Ein „auf der Handlungsebene auftretender Skandal“ muss generell „medial transportiert (also öffentlich gemacht) sowie von Rezipienten wahrgenommen und kommuniziert“ werden. Hier spielt das Theater eine wichtige Rolle; es braucht Massenmedien, damit sich ein Skandal entwickeln kann, um „ihn vom Skandal an sich zum Skandal an und für sich zu machen.“64 Zu Beginn der Moderne werden diese Massenmedien, insbesondere in ihrer Visualität, besonders relevant, um den Referent der Inszenierung des Skandals mit der Inszenierung selbst in Beziehung zu setzen.65 Nach Niklas Luhmann überführten Medien Unwahrscheinliches in Wahrscheinliches, insofern wäre ein Skandal als „externality case“66 ein ideales Medienphänomen. Man könnte grundsätzlich darüber nachdenken, ob nicht das Massenmedium Theater auf ein gewisses Maß an Skandalen angewiesen ist. Man denke, was die Zeit um 1800 betrifft, etwa an den Erfolgsautor August von Kotzebue, der es schon mit seinem frühen Stück Menschenhaß und Reue mit seinen vielfältigen sexuellen Anspielungen auf den Skandal hat ankommen lassen. Sogar ein Klassiker wie Friedrich Schiller hat mit seinen Räubern 1783 durchaus beabsichtigt einen Theaterskandal höchsten Ranges verursacht. Dass Schillers Stück heute kaum noch für
60 Ludwig Börne: „Der Jude. Schauspiel von Cumberland“, in: Ders., Für die Juden, Frankfurt/M. 1886, S. 27-29, hier S. 29. 61 J.B. Thompson: Political scandal, S. 31. 62 Ebd., S. 60 63 Ebd., S. 61. 64 M. Neu: Der Skandal, S. 6. 65 Ebd., S. 6f. 66 W. Weigel: Scandals – the Externality Case, S. 93.
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Empörung sorgt, zeigt, wie zeit- und gesellschafts-, also kontextabhängig jeder Skandal ist.67 Letztlich, und das scheint eine weitgehend zeitunabhängige anthropologische Konstante zu sein, geht es in jedem Skandal um die Frage nach dem ‚wahren‘ Charakter und damit um die individuelle Angst vor der Fremdheit des Anderen.
6.2 D AS V ERBRECHEN
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Nachahmung, so Aristoteles, wäre eine dem Menschen eigene Fähigkeit. Für Gabriel Tarde, den Bruno Latour auf dem Weg zu seiner Actor-Network Theory wiederentdeckt hat, basiert 1890 die Gesellschaft generell auf Nachahmung.68 Medial verstanden wäre Nachahmung wie eine fotografische „Reproduktion eines zerebralen Negativs durch die fotografische Platte eines anderen Gehirns“. Sie wäre eine Fortpflanzung über Entfernung, als Kriminologe interessierte sich Tarde insbesondere für die Verbreitung des Verbrechens. Ähnlich wie die neostrukturalistisch verstandene Performanz des Verhaltens und der Zu-Schreibung eröffnete Nachahmung eine Gelegenheit zur Veränderung. Vor diesem Hintergrund ging es Tarde um die sich verbreitende Nachahmung von Verbrechen; Verbrechenshäufigkeiten sollten sich etwa entlang der neu erstellten Telegraphenlinien ausbreiten. Der Verbrecher würde als solcher nicht geboren, das Individuum wäre zum Teil selbst verantwortlich, aber eben nicht ganz verantwortlich zu machen, wenn es ein verbrecherisches Tun nachahmte. Die Nachahmung des Verbrechens, das erkannte schon Schiller, wäre eine Folge der Verlockung. In seiner Selbstbesprechung der Räuber im Wirtembergischen Repertorium begründete Schiller seine geschickte Wahl der Räuber und Intriganten, z. B. des „schleichenden Teufels“ Franz Moor als Helden. Gerade die von der Welt Ausgestoßenen besäßen eine besondere Bühnenpräsenz und lenkten die Aufmerksamkeit im Drama auf sich. Schiller erkannte früh, dass die Zuschauer an die unmoralischen „Jaunerhorden“ festgebunden werden aufgrund des eigentümlichen „Korpus, das sie der bürgerlichen Gesellschaft gegenüber formieren“. Des Verbrechers „Beschränkungen, seine Gebrechen, seine Gefahren, alles lockt“ die Zuschauer „näher zu ihnen.“ Freilich differenzierte Schiller zwischen den verschiedenen Charakteren im Stück, von denen Franz Moor in seiner dezidiert hässlichen Erscheinung schon so weit ins Negative ausschlägt, dass bei ihm die Imagination des Dra-
67 Vgl. dazu Carsten Germis, der von einer gewissen notwendigen „gesellschaftliche[n] Disposition“ spricht, in: Ders.: Parlamentarische Untersuchungsausschüsse und politischer Skandal, Frankfurt/M. 1988, S. 18. 68 Gabriel Tarde: Die Gesetze der Nachahmung, Frankfurt/M. 2010.
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matikers die „luxurierenste Phantasie“ des Karikaturisten übertrifft. Einen solchen „überlegenden Schurken“ auf „die Bühne zu bringen“ bzw. „ihn zum Gegenstand der bildenden Kunst zu machen“, hätte mehr gewagt, „als das Ansehen Shakespeares, des größten Menschenmalers, der einen Jago und Richard erschuf, entschuldigen; mehr gewagt, als die unglücklichste Plastik der Natur verantworten kann.“69 Zugespitzter und weitaus karikierender waren die Negativbilder, die Sessa verbreitete. Eine Rezension hob hervor, wie genau „alle Mienen, alle Bewegungen“ der Darsteller untereinander abgestimmt waren, um im Publikum den „jüdischen“ Effekt zu evozieren.70 Eine weitere Rezension schilderte die von Ludwig Devrient gespielte Figur des Abraham Hirsch: „Geitz wohnt im Kinn, Lug in der Rede Singen; Trug in dem Funkelblick, Gier in der Arme Schwingen; Die dürren Finger krümmen sich wie Zangen; Und Angelhaken, Geld damit zu fangen.“71 Dies hatte bis heute unterschätzte Folgen: Erstens wurden Negativstereotype des Juden als ‚lebensnäher‘, ‚authentischer‘ wahrgenommen; zweitens wurden die Merkmale des Fremden, das äußerliche Anderssein, nun mehr in das ‚Wesen‘ verlagert. Das korporale ‚jüdische‘ Erscheinungsbild gewann sichtbar an Evidenz. Unser Verkehr deutete bereits in seinem Titel an, dass die Dekontextualisierung und Ent-fremdung der theatralen Figur von der Bühne mit einer vor allem den Alltag berührenden Wesenseinwanderung und Naturalisierung seiner stereotypen Merkmale einhergehen sollte.72 Das scheint Sessa, wenn man die weitere Entwicklung hin zu einem biologischen Determinismus betrachtet, auch sehr gut gelungen zu sein. Das Bild des Juden zeitigte eine genuine Fremdheit, es differenzierte sich im Physiognomischen aus, wobei auf der visuellen Ebene die angeblichen Differenzmerkmale verstärkt und in der Übertreibung als Karikaturmerkmale ausprägt wurden. Als ‚verräterische‘ Merkmale unterminierten sie jedes noch so angepasste Verhalten des Juden. Unter der mehr oder weniger ‚geschickt‘ hergestellten Maske der ‚Normalität‘ wäre immer der ‚wahre‘ Charakter des ‚Juden‘ zu finden. Das ‚Judenbild‘ hatte oft zwei Seiten, eine ‚normale‘, bisweilen attraktive, die sich jedoch als theatrale erwies, und eine ‚hässliche‘, die ihre Nähe zum Tierischen, zum Wilden und Verbrecher nicht verleugnen konnte. Wenn die hässliche Seite versteckt wurde, drängte sie als unbewusste Struktur so sehr in das ‚schöne‘ Bild,
69 Friedrich Schiller: „Die Räuber. Selbstbesprechung im Wirtembergischen Repertorium“, in: Ders., Sämtliche Werke in 5 Bänden, Band I, hg. v. Albert Meier, München 2004, S. 619-635, hier S. 624f. 70 Rezension zur Premiere von Sessas Unser Verkehr, in: Spenersche Zeitung vom 5.10.1815, S. 6. 71 H.-J. Neubauer: Judenfiguren, S. 103. 72 Vgl. zu dem Effekt in visuellen Medien Peter Dittmar: Die Darstellung der Juden in der populären Kunst zur Zeit der Emanzipation, München 1992, S. 243.
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dass sich das Bild verzerrte, der Habitus seine Grazie verlor und komisch erschien. Das Bild des ‚Juden‘ als Anderen war daher immer verzerrt, an den unter Druck stehenden Zeichen schien man die andere Seite zu erkennen. Daneben war man auf der Suche nach deutlichen Zeichen, nach einer physiognomischen Semiotik des Judentums, die in Karikaturen, Bilderbögen und dramatischen wie theatralen Texten geeignete Verbreitungsmedien fand und ihre Parallelen in der Semiotik des Gaunertums hatte. Noch vor der Einführung der Fotografie entstand, so die These Peter Beckers, eine Semiotik des Gaunertums,73 dazu „dekonstruierte man Physiognomien und Verhaltensweisen mit einem geschulten, ‚praktischen‘ Blick, um die Einprägungen von Unsittlichkeit und krimineller Lebensweise aufzuspüren.“74 Verbrechen als „moralische Verworfenheit des Gauners“ waren in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts wie die Krankheit an äußeren Zeichen erkennbar,75 sie existierten im Element des Aussagbaren.76 Die korporal-motorische Erscheinung des Verbrechers wiese Spuren seiner Herkunft auf, man könnte ihm seine moralische Verfasstheit und seine Verwurzelung in einer verbrecherischen Gegenwelt ansehen, auch wenn er dies zu verbergen suchte. Die Suche nach aussagekräftigen Zeichen, die den Verbrecher verrieten, welche die Bekämpfung des Verbrechertums erleichtern sollten, war in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts aufgrund der mangelhaften Infrastruktur noch ein Desiderat. Frühen Kriminalisten gelang es oft nur, Straftaten der lokalen Bevölkerung aufzuklären. Der Berufsverbrecher, der einen „starken Rückhalt in der kriminellen Gegenwelt“ und zugleich in einer „prätendierten bürgerlichen Existenz“ besaß, war hingegen nur schwer ermittelbar.77 Wie der ‚Jude‘ wäre er durch seine übermäßige Reisetätigkeit, seine Heimatlosigkeit und seine genuine Fremdheit charakterisiert, zu denen das verdächtige Merkmal der Verstellung hinzukäme. Wer etwas verbarg, hätte sicher etwas Unerwünschtes zu vertuschen, dabei spielte wie im jüdischen Stereotyp der grenzenlose Überschuss an nicht rational gebundener Energie eine Rolle: „Das unstete Leben und Umherschweifen des Gauners gibt ihm volle Frei-
73 „Semiotik des Gaunertums“ ist ein Ausdruck von Franz Andreas Wennmohs, einem Kriminalrat, aus: Ders.: Ueber Gauner und über das zweckmäßigste, vielmehr einzige Mittel zur Vertilgung dieses Uebels. Bd. 1: Schilderung des Gauners nach seiner Menge und Schädlichkeit, in seinem Betriebe, nach seinem Aeußern und als Inquisition, Güstrow 1823, S. 322. 74 Peter Becker: „Physiognomie aus kriminologischer Sicht“, in: Gert Theile (Hg.), Anthropometrie, München 20005, S. 93-124, hier S. 100f. 75 Ebd., S. 101. 76 Michel Foucault: Die Geburt der Klinik, Frankfurt/M. 1988, S. 109f. 77 P. Becker: Physiognomie aus kriminologischer Sicht, S. 100f.
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heit, seiner ungeheuer wuchernden Sinnlichkeit“ zu folgen und „somit die am heimatlichen Wohnort einigermaßen mögliche polizeiliche Controle zu eludiren.“78 Der Grenzgang zwischen bürgerlich-unauffälliger Rolle und versteckt gehaltener Gegenwelt machte den „Gauner“ oder „Jauner“, wie er als professioneller Krimineller zu dieser Zeit genannt wurde, in den Augen der Kriminalisten so gefährlich. Er hätte wie der ‚Jude‘ viele soziale Gesichter, er könnte einem überall begegnen, als „abgebrannte[r] Bürger“ wie als „elendste[r] Bandit.“79 Um dieser Gefahr vorzubeugen, war man an einer Systematik verräterischer Zeichen interessiert, so forderte bereits zum Ende des 18. Jahrhunderts Johann Ulrich Scholl: „Es müsste zur Auskundschaftung“ sowie „Ausrottung der Jauner ungemein viel beytragen, wenn es gewisse untrügliche Merkmale gäbe, an welchen man sie mit Zuverlässigkeit erkennen könnte.“80 Diese untrüglichen Merkmale wären durch den, wie ihn Becker nennt, „praktischen Blick“ des Kriminalisten zu erkennen, welcher unter der „Maske“ den Gauner identifizierte.81 Er entsprach weitgehend dem physiognomischen Blick, der über das Äußere das Innere zu ermitteln suchte: „Zu einem Aeußeren also, wenn es als Erscheinung eines Innern gelten soll, gehört wesentlich dieses Innere, welches sich durch seine Erscheinung verkündet oder offenbart. Und diese Verkündigung und Offenbarung des Inneren durch das Aeußere, oder das, ein Inneres andeutende, Aeußere, nennen wir eben das Zeichen.“82 Johann Christian August Heinroth, der in seiner psychologischen Semiotik von innovativen physiologischen Ansätzen ausging, konzentrierte seine Methode der Entlarvung auf das Auge des Anderen, das quasi wie eine Bühne funktionierte: „Alle Gefühle, alle Affecte, alle Leidenschaften verkündigen, offenbaren sich im Blicke“. Vom Auge des Anderen ausgehend spräche in einem facialen Korrespondenzprinzip das Gesicht: „Was nun aber die Bewegungswerkzeuge betrifft, so spricht mit dem Auge zugleich das ganze Gesicht des Menschen durch seine Mienen und Züge, besonders durch das zarte Spiel der Muskeln des Mundes, das im Innern herrschende Gefühl aus.“83 Die verräterischen Affekte und Leidenschaften
78 F.A. Wennmohs: Ueber Gauner, S. 320. 79 Friedrich Christian Benedikt Avé-Lallemant: Das Deutsche Gaunerthum in seiner socialpolitischen, literarischen und linguistischen Ausbildung zu seinem heutigen Bestande. Bd. 2, Leipzig 1858, S. 3. 80 J.U. Schöll: Abriß des Jauner und Bettelwesen, S. 305. 81 Vgl. Peter Becker: „Randgruppen im Blickfeld der Polizei. Ein Versuch über die Perspektivität des ‚praktischen Blicks‘“, in: Archiv für Sozialgeschichte 32 (1992), S. 283304, hier S. 283ff. 82 Johann Christian August Heinroth: Grundzüge der Criminal-Psychologie; oder, Die Theorie des Bösen in ihrer Anwendung auf die Criminal-Rechtspflege, Berlin 1833, S. 213. 83 Ebd., S. 242.
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sprächen für sich selbst, sie durchbrächen die Rolle und erzeugten beim Gauner wie beim ‚Juden‘ ein schiefes Bild. Becker fasst die Entwicklung zusammen: Zur Klassifikation eines Anderen als Gauner bemühte man den Unterschied zwischen ‚Authentizität‘ und Inszenierung einer Rolle und die „Eintragung einer kriminellen Lebensweise und gelebter Immoralität in den Körpern der Probanden.“84 An ihrem dann doch auffälligen Rollenspiel vor allem erkannte man ‚Juden‘ wie ‚Verbrecher‘. Im bürgerlichen Theater konnte eingeübt werden, den Rollenspieler zu entlarven. Es ging um Nuancen im Spiel, die für den Schauspieler auf der einen und den Zuschauer bzw. Beobachter auf der anderen Seite wichtig wurden, aber nicht einfach zu deuten waren, Lichtenberg meinte dazu: „Der völlige Idiot, der vernünftig gangbare Mann und der Rasende haben überhaupt ihre Zeichen, woran man sie leicht erkennt, aber die Gradatio[nen] und Nuancen hierin zu bestimmen (das eigentliche Fach der Physiognomik) ist sehr schwer.“85 Wobei insbesondere die visuellen Medien der „Semiotik des Gaunertums“ und des ‚Juden‘ über die physiognomische Methode in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts einem gefährlichen Bild des Anderen zuarbeiteten, das sich vom 18. Jahrhundert her entwickelte.86 Jahrzehnte später war Cesare Lombroso auf der Suche nach den Zeichen des Verbrechers. Ausgehend von der Vorstellung einer angeborenen Kriminalität hatte er 1870 den Unterschied in der Anatomie von Verbrechern und Irren finden wollen, scheiterte jedoch. Erst in der Untersuchung des Schädels des Briganten Vihella kam er auf die Idee, am Schädel atavistische Merkmale zu suchen, die ihn mehr an den Schädel des Affen bzw. an die Vorzeit des Menschen im Äffischen erinnerten als an die Schädelformen des zeitgenössischen Menschen.87 Lombroso schildert, wie er zu seiner wissenschaftlichen Methode kam; dies ähnelte interessanterweise dem kreativen, der Einbildungskraft geschuldeten, plötzlichen Einfall eines Künstlers: „Das war nicht bloß eine Idee, sondern eine blitzartige Erleuchtung. Beim Anblick dieses Schädels schien er mir, als sehe ich plötzlich wie eine weite Ebene erhellt von einem flammenden Himmel, das Problem der Natur des Verbrechers vor mir liegen – eines atavistischen Wesens, das in seiner Person die wilden Instinkte der primitiven Menschen und der niederen Tiere reproduziert.“ Die ‚Natur‘ des Verbrechers ist selbstverständlich an visuellen Merkmalen von besonders auffallender Prägnanz zu erkennen: „So erklärten sich anatomisch die riesigen Kiefer, die vorstehenden
84 P. Becker: Physiognomie aus kriminologischer Sicht, S. 95. 85 Georg Christoph Lichtenberg: Schriften und Briefe. Bd. 1: Sudelbücher I (1776-1779), hg. v. Wolfgang Promies, Frankfurt/M. 1994, 507. 86 Diese These vertritt bezüglich der Semiotik des Gaunertums auch Peter Becker; ders: Physiognomie aus kriminologischer Sicht, S. 104ff. 87 Vgl. S.J. Gould: Der falsch vermessene Mensch, S. 130f.
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Wangenknochen, die Knochenwülste der Augenbrauen, die vereinzelten Handlinien, die Übergröße der Augenhöhlen, die henkelförmigen Ohren, wie sie bei Verbrecher, Wilden und Affen zu finden sind, die Schmerzunempfindlichkeit, die extreme Sehschärfe, die Tätowierungen, der übertrieben Müßiggang, die Vorliebe für Orgien und die verantwortungslose Sucht nach dem Bösen um des Bösen willen, der Wunsch, nicht nur das Leben der Opfer auszulöschen, sondern auch die Leiche zu verstümmeln, ihr Fleisch zu essen, und ihr Blut zu trinken.“88 Auffallend ist, wie ‚übertrieben‘ die Zeichen, was Gesicht und Verhalten betrifft, wirken. Der Verbrechertypus ist nahe an der Karikatur und wirkt höchst theatral. Lombroso schuf eine auf anthropometrischen Daten basierende Evolutionstheorie,89 darunter verstand er, dass Verbrecher als Rückfälle der Evolution mitten in der Zivilisation anzusehen waren. Im Erbgut des Menschen befänden sich noch Keime aus der menschlichen Urzeit, die bei den Verbrechern wieder zum Leben erwachten: Er wird einem Trieb unterworfen, der ihn zum Affen bzw. zum Wilden oder eben auch zum Verbrecher macht. Zeichen der Affenartigkeit wiesen daher auf die Infizierung hin. Zwar gäbe es auch Verbrecher, die eigentlich „normale“ Menschen wären, der „geborene“ Verbrecher sei hingegen klar an der betreffenden Anatomie des Affenartigen zu erkennen: „Wir stehen unter stummen, unabänderlichen Gesetzen, welchen die Gesellschaft mehr gehorcht, als den geschriebenen. Das Verbrechen tritt demnach als Naturerscheinung“ auf.90 Lombroso erstellte daraufhin einen „Katalog von Verbrechergesichtern“, in denen sich die anatomischen Stigmata zeigen sollten.91 Sie stellten als pathologische Erscheinungen Extremwerte auf einer Normalverteilung dar, die man als apollinische Übertreibungen in der Gestalt leicht karikieren konnte. Diese Übertreibungen fielen dem suchenden Lombroso aufgrund ihrer Prägnanz mehr auf als ‚normale‘ Erscheinungen, seine interessengesteuerte Wahrnehmung erzeugte eine Selektion, die einen unbewussten statistischen Fehler zur Folge hatte. Gould sieht hier einen fundamentalen Statistikfehler am diskriminierenden Werk, der eine der Grundursachen für Lombrosos Irrtum war. Er verdeutlicht dies an einem Beispiel: „Die Armlänge schwankt bei Menschen und manche haben zwangsläufig einen längeren Arm als andere. Der durchschnittliche Schimpanse hat einen
88 Zit. n. ebd., S. 130f. 89 Zit. n. ebd. S. 131. 90 Lombroso 1894, zit. n. ebd. 91 Nach Gould sind diese „äffischen Stigmata“ bei Lombroso „größere Dicke der Schädelknochen, Einfachheit der Nähte, gewaltige Entwicklung der Kiefer und Jochbögen, stark entwickeltes sinus frontales, relativ lange Arme, frühe und tiefe Furchen, flehende Stirn, große Ohren, dichtes krauses Haar, größere Gesichtsschärfe, Herabsetzung der Berührungs- und Schmerzempfindung, und fehlende Gefäßreaktion (Erröten)“; ebd., S. 135.
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längeren Arm als der Durchschnittsmensch, doch dies bedeutet nicht, dass ein relativ langarmiger Mensch genetisch den Affen ähnelt. Die normale Variation innerhalb einer Population ist ein anderes biologisches Phänomen als der Unterschied der Durchschnittswerte zwischen Populationen.“92 Dieser Fehler tauchte für Gould immer wieder auf, wenn es um die irreführende Vermessung von Außenseitern, Minoritäten und Randgruppen ging. Dass Lombroso Extremwerte auf einer Normalverteilung bevorzugte und selektierte, um daraus eine Sammlung zu bilden, die seine Hypothese vermeintlich empirisch absicherte, weist darauf hin, dass sein Blick schon im Vorfeld von mentalen Stereotypen gelenkt worden sein musste, die das Bild des affenartigen Aussehens eines Wilden und Verbrechers tradierten. Interessant ist die Kohärenz zwischen der Übertreibung eines vermeintlichen pathologischen Merkmals einer Minderheit in der Karikatur und der mehr oder weniger unbewussten Selektion von Extremwerten einer Normalverteilung als anatomische Stigmata, wenn es um die Erkenntnis des Fremden geht. Generell scheint auf der visuellen Ebene, wie es Rosenkranz formulierte, der Gegensatz „des Schönen[,] die Karikatur“93 das „Charakteristische auf die Spitze zu treiben.“94 Dort erschien es als prägnantes Fremdheitsmerkmal, das schnell zum biologisch determinierten Zeichen wurde. Das Interesse Lavaters für das blickfangende Detail in seiner Physiognomik stand so am Anfang einer unglücklichen Entwicklung. In der Betonung des Außerordentlichen im Bild schloss sich der Kreis von der Physiognomik über die Karikatur zu Lombrosos anatomischen Stigmata. Für Rosenkranz war dabei die Karikatur „insofern die Spitze in der Gestaltung des Hässlichen, allein eben deshalb macht sie, durch ihren bestimmten Reflex in das von ihr verzerrte Gegenbild, den Übergang ins Komische.“95 Die Karikatur benötigte somit das (imaginäre) Gegengewicht des ‚idealen‘ Bildes; Campers ‚Affen‘, Lavaters und Grandvilles ‚Frösche‘ waren auf ‚Apoll‘ angewiesen. Wobei der campersche ‚Apoll‘ – wie vielfach, etwa von Lavater, kritisiert – fast eine weitere Übertreibung darstellte. Für Carl Gustav Carus entwickelte sich die „Idealfigur“ in seinem Werk Symbolik der menschlichen Gestalt aus der Vorstellung der „reinen Mitte“. Diese errechnete er aus dem Mittelwert vieler Körpervermessungen und dem positiven Vergleich der „reinen Mitte“ mit der griechischen Plastik. Dass das Außerordentliche bzw. die Übertreibung eines physiognomischen Details eher ‚hässlich‘ wirkt, während die ‚Schönheit‘ als Gestalt eher dem statistischen Mittelmaß entspricht, wurde im 19. Jahrhundert unbeabsichtigt von Francis Galton, dem Vertreter der im 20.
92 Ebd. 93 K. Rosenkranz: Ästhetik des Hässlichen, S. 57. 94 Ebd., S. 268. 95 Ebd., S. 310
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Jahrhundert dann die schrecklichsten Verbrechen theoretisch einen legitimierenden Boden bereitenden Eugenik, empirisch bestätigt. Galton erfand eine technisch funktionierende Anordnung, die es ihm erlaubte, Fotos so übereinander zu legen, dass sich als Gestalt ein praktisches ‚Mittelmaß‘ aller eingelegten Fotos ergab. Seine Idee war, auf diese Weise Kompositbilder aus einer Vielzahl von Porträts ausgewiesener Verbrecher herzustellen. Das Ziel war, über das bildlich hergeleitete Mittelmaß das typische Verbrechergesicht zu erhalten. Natürlich ging er davon aus, dass ein Verbrechergesicht, verglichen mit dem ‚normalen‘ Gesicht, hässlich sein müsse. Umso überraschter war er, als er feststellen musste, dass seine Kompositbilder durchgehend attraktive Gesichter zeigten. Galton hatte unwillkürlich bestätigt, dass die physiognomischen Extremwerte der Verbrechergesichter der Normalverteilung des Bevölkerungsdurchschnittes entsprachen. Mit anderen Worten: Es gab kein typisches Verbrechergesicht. Denn statistisch gesehen glichen sich die unterschiedlichen Extrema, an deren Prägnanz sich das Komische der Karikatur entzündete, gegenseitig aus, sodass Galton die ‚ideale Gestalt‘ Carus’ erzeugte.96 Damit hat Galton gegen seine dezidierte Absicht indirekt bewiesen, dass Fremdheitsmerkmale, auch wenn sie biologisch determiniert schienen, eine Täuschung der selektiven Wahrnehmung waren, das ‚typische‘ Gesicht des Wilden, des Juden oder des Verbrechers war als Konstruktion entlarvt worden.
96 Auch heute noch wird in der Schönheitsforschung das von Galton eingeführte Kompositverfahren benutzt, nun mithilfe des Computers.
7. Entdramatisierungen des Anderen
7.1 D AS W ISSEN
DES
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Die Moderne richtete den korrelationistischen Zirkel in der Lücke zwischen Subjektivierung und zunehmendem Positivismus ein – eine Polarisierung, die für das Drama und das dramatische Theater den Dialog und damit die dramatische Struktur in die Krise führte. Der Dialog stand von nun an von zwei Seiten her unter einer immensen Belastung: durch das schon bei Kleist etwa in seinem Prinz von Homburg sich artikulierende Unbewusste bzw. dessen unergründliches Inneres; und durch die sich unter anderem bei Büchner in seinem Woyzeck aufdrängende sozialnatürliche Wirklichkeit. Kotzebue spürte diese Zerrissenheit, reflektierte das Unbehagen in der Kultur der Moderne: Sein Lustspiel Der Vielwisser1 behandelt den Grundkonflikt zwischen den, wie Rousseau bemerkt, Schönheiten der Natur2 und dem sich ausdifferenzierenden Wissen über die Natur; Kant sprach von der Differenz zwischen Geschmacksurteil und Naturzweck.3 Durchgespielt wird dies innerhalb einer dramatisch-theatralen Experimentalanordnung, als Rite de Passage der grundlegenden Veränderung einer Figur, des Vielwissers Peregrinus; der ist, nachdem er sein Studium in der Stadt beendet hat, nun wieder auf das Landgut seiner Eltern zurückgekehrt und kaum mehr wiederzuerkennen, sodass seine Verlobte beklagen muss: „Als er mit Hand und Mund mir ew’ge Liebe schwur, Da huldigt’er, gleich mir, der einfachen Natur! Doch bald hat ihn der Durst nach Weisheit mir entrissen! Lebend’ge Liebe wich dem todten, kalten Wissen!“4 Bereits eingangs wird das Mädchen als nahe am Naturzustand vorge-
1
August von Kotzebue: „Der Vielwisser. Ein Lustspiel in fünf Aufzügen“, in: Ders., Theater. 36. Bd., Wien/Leipzig 1841, S. 201-299.
2
Fragments de Botanique, in: Ders., Oevres completes, Bd. IV, hg. v. B. Gagnebin/M. Raymond, Paris 1969, S. 1251, zit. n. und übers. v. Günther Mensching: Jean-Jacques Rousseau, Hamburg 2000, S. 34.
3
I. Kant: Kritik der Urteilskraft, S. 694.
4
A.v. Kotzebue: Der Vielwisser, S. 283.
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stellt, dem im rousseauschen Sinne die lebendige Liebe zugeordnet wird, während ihr gegenüber die hochgezüchte Art des Kulturmenschen, verkörpert durch die Figur des Vielwissers, steht. Dieser ist nicht mehr, wie alle anderen Figuren über ihn bemerken, „wie unser einer“, auch seine äußerliche Erscheinung kehrt den Gelehrten heraus.5 Wie Hamlet handelt er nicht, sondern grübelt. Anders als Shakespeares Intellektueller spiegelt er sich in seinem Wissen, seine Eitelkeit ist „weit greller und auch weit unerträglicher, als die eines hübschen Mädchens.“ Kotzebue exemplifizierte eine strukturelle Dichotomie, die sich in den gegensätzlichen Charaktereigenschaften Herz/Kopf, wahrhafte Liebe/Selbstliebe, Freunde haben/Bewunderer heranziehen, Gattin/Haushälterin und vor allem Nutzen bringen/Wissen haben zum Ausdruck bringt. Der idealistisch verbildete Vielwisser beansprucht eine Sonderrolle, blickt vornehm auf den Bürger herab, „der in enger Sphäre nur praktisch nützt“. Die Büchersucht zieht als „böse Krankheit“ eine Gleichgültigkeit gegen alle „Verhältnisse, die häuslich und traulich die Menschen an einander knüpfen“, ein Mangel an der Fähigkeit zur Theory of Mind und zur Empathie nach sich, ist typisch modern a-sozial.6 Es fehlt der angemessene Umgang mit dem neuen Medium, wie ihn Adam Johann Bergk in seiner Kunst, Bücher zu lesen, forderte: Zwar müsse man beim Lesen erst einmal das „Feuer der Einbildungskraft“ anfachen, um den „Vorstellungen Lebendigkeit einzuhauchen, und das Ganze sich anschaulich darstellen und es mit Reflexion überschauen zu können.“ Dennoch dürfe das „Buch, das wir lesen“ einen „nicht als Sklaven behandeln“, vielmehr müssten Menschen als „freie Wesen über seinen Inhalt herrschen.“ Um nicht zum willenlosen Medium des Mediums zu werden, solle man es nicht dem Buch überlassen, „eine Erklärung von dieser oder jener Erscheinung zu geben“. Vielmehr sollten „die Bewegungen unseres Gemüthes“ den Verstand zum „Reflektiren über seine Thätigkeiten nöthigen, und ihm die erzählte Thatsache durch sich selbst erklären.“ Damit spricht Bergk eine eigene Instanz der Interpretation in der Seele oder im Bewusstsein des Menschen an, die sich von ihren ungefilterten Wahrnehmungen und Leseerlebnissen so weit distanziert, dass es gelänge, „das in uns lesen, worüber nachzudenken uns ein Buch Gelegenheit giebt.“ Dies ist dem Vielwisser kaum möglich, da er streng dem Gelesenen folgt und den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr sieht. Insbesondere versteht er sich nicht darin, mittels des eigentätigen Verstandes, wie es Bergk fordert, „alles unter einen Gesichtspunkt“ zusammenzufassen, so „das Ganze“ zu „überschauen“ und „darüber Reflexionen“ anzustellen.7 Letztlich besitzt er eben nicht den panoramatischen Blick im humboldtschen Sinne, sondern bleibt Gefangener der kleinsten Interpretationseinheiten als höchst fragmentiertes Resultat seiner anhal-
5
Ebd., S. 211.
6
Ebd., S. 225f.
7
Adam Johann Bergk: Die Kunst, Bücher zu lesen, Jena 1799, S. 62f.
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tenden Lesesucht. Die Lesefrüchte fügen sich nicht zu einem Kosmos, sondern zu einem Chaos an Wissenssplittern, die bei passender und unpassender Gelegenheit ‚ausgespuckt‘ werden, um vor sich selbst und den Anderen eine bewunderungswürdige Person zu inszenieren. Der Vielwisser ist jedoch nicht nur emotional verkümmert, arrogant und egozentrisch, sondern im Handlungszusammenhang aus der Sicht der Anderen auch zu einer komischen Figur geworden. Er verhält sich im bergsonschen Sinne situationsunangepasst, sein Betragen ist als fast molièrescher Typus steif. Da er jedes Objekt und jede Situation mithilfe seines immensen enzyklopädischen Wissens analysiert, ist er – eine Hamletkarikatur des 19. Jahrhunderts, die bereits auf die Aporien der Intellektuellenfigur in Heiner Müllers Hamletmaschine verweist – als Intellektueller weitgehend handlungsunfähig und erscheint so linkisch wie hilflos. Sein höchst fragmentiertes Wissen spiegelt sich in einer Gestalt, die kein Ganzes ergibt, sein Habitus ist situativ und sozial in hohem Maße unangemessen. Gegen die positiv gezeichneten einfachen Leute als stückprägender Hintergrund hebt sich der Vielwisser als prägnant überzeichneter Fremder ab, wiewohl oder gerade weil er als Aufklärer in der Tradition der französischen Enzyklopädisten steht. Er funktioniert als Figur ähnlich wie Gustave Flauberts Bouvard und Pécuchet und erinnert an den geschwätzigen Dottori aus der Commedia dell’Arte. Verkörpert wird ein negativ gezeichneter Romantiker, komisch-subjektiver Idealist, radikaler Fichteschüler, auffällig in der Selbstüberschätzung, die ganze Welt aus seinem Ich heraus zu begreifen und als viel Wissender zu beherrschen. Gefangen im korrelationistischen Zirkel mangelt es ihm an romantischer Ironie als Mittel der Selbstrelativierung. Diese wird im dramatischen Text von den anderen Figuren übernommen, insofern trägt die Handlung des Stücks das dialektische Spiel zwischen Welterkenntnis als Entwurf auf der einen und ironischer Distanzierung sowie komisches Scheitern auf der anderen Seite. Das unangepasste Verhalten des Vielwissers macht Kotzebue unter anderem an zwei exemplarischen Szenen deutlich, die zwei entscheidende Elemente der zeitgenössischen Theatralität reflektieren: die äußere Erscheinung der Figur auf der Bühne sowie im Stück und die Anziehungskraft bzw. Liebe zwischen männlichen und weiblichen Hauptfiguren. Damit wird das grundlegende Problem der ästhetischen Erfahrung im Theater angesprochen. Es geht um die Frage, wieso jemand schön ist bzw. auf den Anderen attraktiv wirkt, was wiederum die Frage nach der Bedingung der Anziehungskraft, der Attraktivität und der Wirkung der Theateraufführung anspricht. Dies ist Thema in der Diskussion des Vielwissers mit seinem Bruder, der zugleich sein schärfster Konkurrent bei Amalie bzw. Malchen ist, in dieser Konstellation eine Anspielung auf Schillers Die Räuber. Man diskutiert anhand des ‚Objektes’ der Angebeteten die grundlegend verschiedenen Möglichkeiten, das ästhetische Geheimnis der Schönheit zu erleben, zu reflektieren und mehr oder weniger zufriedenstellend erklären zu können. Für den einfach denkenden, romantisch liebenden
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Bruder Philipp, dem das Mädchen, vom Geschwätz und der Handlungsunfähigkeit des Vielwissers entnervt und enttäuscht, am Ende das Jawort geben wird, ist Schönheit etwas, was einfach da ist: Eine Frau „gefällt“, ihre Anziehungskraft wird „gefühlt“. Man kann sie nicht erklären, indem man darüber etwas liest, sie wird erfahren und „gesehen“. Der Vielwisser hingegen breitet in langen monologischen Dialogen sein angelesenes Wissen über die Schönheit aus, er zitiert das grundlegende Problem der philosophischen Ästhetik seit der Antike, dass es „sehr schwer zu definiren“ sei, „was schön ist“; hierbei macht er generell das Unwissen über die genaue „Beschaffenheit des Dings“ – gemeint ist seine Verlobte – für das Forschungsdesiderat verantwortlich. Um Näheres über die Schönheit der Frau als Andere in Erfahrung zu bringen, müsste er sich diesem „Instrument“ schon im Detail widmen und analytischer nähern. Er zitiert Sulzer, Plato, Aristoteles, Voltaire, Vannius, Betussi, Hogarth und natürlich Kant, Winkelmann und Mengs. Erfahrene Schönheit an sich wird als Phänomen relativiert, während die Begriffe als einzige stabile Größen dienten. Für den Vielwisser wäre Schönheit zudem graduell messbar, sodass erst mal genau ermittelt werden müsse, welcher Grad an Schönheit der Figur Amelie zukomme.8 Das Phänomen Schönheit wird sowohl über qualitative als auch über quantitative Ansätze zu erklären versucht, was nie zu einem befriedigenden Ergebnis führen wird, da mit dem wissenschaftlichen Blick auf das ganzheitlich Erfahrbare der ästhetische Eindruck verschwindet. Der abstrakt-zergliedernde Blick wird der Hauptfigur besonders in der direkten Begegnung mit der Angebeteten zum Verhängnis. Auch das emergente Phänomen der Liebe wird so lange wissenschaftlich reflektiert und mit den verschiedensten Begriffen traktiert, bis es sich in Luft auflöst. Statt Amalie, die durchaus etwas für den Vielwisser empfindet, seine Liebe zu erklären, zerstört dieser jede Beziehungsmöglichkeit durch kalte Theorie und peinlich detaillierte Beobachtung. Den interessierten Blick des Mädchens als Beginn jeder Liebe zerredet er gezielt, indem er ihn philosophisch und anatomisch analysiert: „Was sagt Rochefoucault? Es ist mit der wahren Liebe wie mit den Gespenstern, Jedermann redet davon, aber sehr wenige haben Sie geseh`n. Amal.: Ganz recht. Per.: Wir, mein Fräulein, werden zu den Wenigen gehören. Amal.: Wirklich? Per.: Sie lieben mich, das sagen mir Ihre Blicke. Amal.: In der That? Per.: In der Anatomie nennt man amatorii musculi diejenigen Muskeln des Auges, die ihm eine schiefe Bewegung vergönnen, woraus das sogenannte Liebäugeln entspringt. Amal.: Und Sie finden, dass ich diese Muskeln in Bewegung gesetzt habe? Per.: Schämen Sie sich der süßen Thorheit nicht. Amal.: Also wäre es doch eine Thorheit, Sie zu lieben!“9 Peregrinus destruiert mit seinen anatomischen Kenntnissen nicht nur jede Romantik in der Begegnung mit der ge-
8
A.v. Kotzebue: Der Vielwisser, S. 229ff.
9
Ebd., S. 233.
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liebten Anderen, sondern auch die poetische als einzige Möglichkeit, die Atmosphäre einer solchen Begegnung zu beschreiben; für ihn sind Metaphern seines Bruders wie „blutende Herzen“ nur alberne Redensarten: „Das Herz blutet nie. Oder, wenn man will, es blutet immer; denn die Blutadern führen das Blut in die große Hohlader.“10 Er seziert die Natur des Anderen und verliert den Überblick, den der Geschmack, der ästhetische Blick ihm noch gewähren würde. Im Vielwisser spiegelte sich die Kritik am übermäßigen Lesen und am überwuchernden Diskurs als Schirm zum Anderen. Gewarnt wird vor der Gefahr einer solipsistischen Einbildungskraft, gespeist aus der symbolischen Ordnung. Als das Lesen zu einer weitverbreiteten Fähigkeit wurde und die Schulpflicht zum Rückgang des Analphabetismus führte, diagnostizierte man schädliche Auswirkungen des Lesens. Für eine breitere Schicht eröffnete sich zwar ein spannendes Welttableau innerhalb einer erweiterten symbolischen Ordnung, dies erzeugte jedoch zugleich ein höheres Maß an Unsicherheit, da sich die Standpunkte im sich weitenden Welttext vervielfältigten. Insbesondere Romane kamen in Verruf, denn diese aktivierten mit und in künstlichen Welten. Für Anton Reiser war Lesen in Moritz’ psychologischem Roman, in dem die „Aufmerksamkeit des Menschen mehr auf den Menschen selbst“ gelenkt und „ihm sein individuelles Daseyn wichtiger“ gemacht wird, welt- und subjektprägend. Das individuelle Erlebnis überlagerte Gelesenes, Gefühltes, Gedachtes und die Wirklichkeit, welche die Sinnesorgane vermittelten. Lesen eröffnete dem „jungen Anton nun auf einmal eine neue Welt“. Aber es kam auf das richtige Verhältnis zwischen Imagination und ‚realer‘ Wirklichkeit an.11 Der Mensch generell, vor allem der Lesende war nach Johann Christian Friedrich Bährens in Gefahr, zum Sklaven seiner Einbildungskraft zu werden. Das hätte fatale Folgen, der Leser könnte mit „Begebenheiten sympathisieren, die er aus der Feenwelt ins würkliche Leben hinüberzaubert“ und er könnte sich einen „Vorrath von lebhaften Bildern sammeln, welcher seine ganze Seele einnimmt.“12 Lesen würde den Verstand „umnebeln“. Gegen eine „ausschweifende“ Einbildungskraft verordnete man eine „Theorie über die Disciplin der Einbildungskraft“13, in Kants Anthropologie las man: „Die Vergehungen (vitia) der Einbildungskraft sind: dass ihre Dichtungen entweder bloß zügellos oder gar regellos sind.“14 Kant wollte die Einbildungskraft natürlich nicht unterbinden, sondern vielmehr in die Subjektivität produktiv integ-
10 Ebd., S. 235f. 11 K.P. Moritz: Anton Reiser, S. 117f. 12 Johann Christian Friedrich Bährens: Über den Werth der Empfindsamkeit, besonders in Rücksicht auf die Romane, Halle 1786, S. 9. 13 Johann Gebhard Ehrenreich Maass: Versuch über die Einbildungskraft, Halle 1797, S. 115. 14 I. Kant: Anthropologie, S. 484f.
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rieren. Johann Gebhard Ehrenreich Maass warnte dementsprechend in seinem Versuch über die Leidenschaften vor der „Lebhaftigkeit der Bilder der Phantasie“, denen „Leidenschaft zum Grunde liegt“. Die Leidenschaft könne „den Verstand verhindern, über dasjenige gehörig zu reflectiren, worauf die Aufmerksamkeit nicht durch die Leidenschaft selbst gelenkt wird.“ Sie verhindere unter Umständen, dass die Einbildungskraft sich in die Subjektivität so einbinden lasse, dass eine handlungsbremsende und entscheidungsverhindernde Zerstreuung eintrete, falls der „Verstand nicht auf dasjenige achtet, worauf er jetzt achten soll“.15 Der Vielwisser kann sich in Kotzebues Stück dementsprechend nicht auf das relevante Objekt konzentrieren, im Wald seines aus dem Gedächtnis in die Imagination gerufenen Wissens wird die Zerstreuung pathologisch. Damit reflektierte Kotzebue das neue, insbesondere mit dem damaligen Modephilosophen verbundene Subjektivitätsideal und verhandelte die Entscheidung als Grundlage jeder Handlung in der dramatischen Dramaturgie. Der Vielwisser reflektiert als Figur in seiner Verweigerung, seinem Scheitern und seiner Komik die für einen dramatischen Text notwendigen Konstituentien. So wie die Einbildungskraft in Zaum gehalten werden musste, so reduzierte der dramatische Text die Möglichkeiten, die sich präsurreal und -dekonstruktivistisch durch regel- und ziellose Assoziationen ergeben könnten. Mit seinem ständigen Rekurs auf Kant machte sich Kotzebue keineswegs über Kant selbst lustig, sondern über die oberflächliche Kantmode. Der Vielwisser zitiert zwar ständig den Königsberger und lässt durchblicken, dass die Unsicherheit über das Ding an sich eine legitime Entscheidung und definitive Aussage unterlaufe. Aber gerade Kant wandte sich scharf gegen die Übertreibung eines Denkens in Affinitäten, also eines sprunghaft-assoziativen Denkens. Besonders der zerstreuende, beziehungsdestruierende Dialog, der eigentlich meist ein Monolog des Vielwissers in der Verweigerung von linearer Kommunikation ist, wäre Kant ein Gräuel gewesen. Für ihn wäre in einer gesellschaftlichen Unterhaltung das „Abspringen von einer Materie auf eine ganz ungleichartige, wozu die empirische Assoziation der Vorstellungen, deren Grund bloß subjektiv“ ist, verleitet, eine „Art Unsinn der Form nach, welche alle Unterhaltung zerbricht und zerstört.“ Und dann spricht Kant interessanterweise etwas an, was auf die assoziative Dramaturgie des Surrealismus verweist: „Die regellos herumschweifende Einbildungskraft verwirrt, durch den Wechsel der Vorstellungen, die an nichts objektiv angeknüpft sind, den Kopf so, dass dem, der aus einer Gesellschaft dieser Art gekommen ist, zu Mute wird als ob er geträumt hätte.“16 Eine solche „regellos umher-
15 Johann Gebhard Ehrenreich Maass: Versuch über die Leidenschaften, Bd. 1, Halle 1805, S. 149. 16 I. Kant: Anthropologie, S. 479.
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schweifende Einbildungskraft“ als „Art Unsinn der Form nach“ verlangte generell nach einer Gestalt oder bindenden Linie, Schiller stellte dementsprechend fest: „Insofern sich noch gar nichts von Form in diese Phantasiespiele mischt, und eine ungezwungene Folge von Bildern den ganzen Reiz derselben ausmacht, gehören sie, obgleich sie dem Menschen allein zukommen können, bloß zu seinem animalischen Leben“, ohne noch auf eine „selbstständige bildende Kraft in ihm schließen zu lassen“.17 Da klingt schon das Triebhafte als urtümlich Formloses an, das auch in Nestroys freien Improvisationen bemerkt wird, insbesondere wenn die ungehaltene Kulturkritik Vischers vor dem Hintergrund Weimarscher Ästhetik das triebhafte Bühnentreiben des Wiener Stars verurteilte. Um Unkontrollierbares im Zaum zu halten, verlangte Schiller, dass die Einbildungskraft „in dem Versuch einer freyen Form den Sprung zum ästhetischen Spiele“ ausführte. Mit Einführung der „Betrachtung (Reflexion)“18 sollte sie dem Abstrakten „einen Körper“ schaffen,19 was dem Vielwisser eben nicht gelingt. Für Herder war in diesem Sinne der Mensch dann ein Künstler, wenn er „Configurationen“ von sich selbst „herausdenkt“. Grundsätzlich sei es „die nothwendige Regel unsrer Natur, aus allem, was wir erlebten und fühlen, sofort Configurationen uns zu erschaffen, d.i. nur durch Gestaltung zu denken.“ Eine Gestaltung des Anderen finde im Raum der inneren Bilder statt: „Da bei den meisten Menschen das Gesicht der herrschende Sinn ist, was kann ihre Phantasie anders, als Bilder zurücknehmen und neu zusammensetzen?“ Diese Fantasien folgen einander „gewissermaßen leidend; erschaffen wir aber mit Selbstbewusstsein Bilder, welches die Griechen Bildungskraft (Idolopöie) nannten, so geschiehets nie ohne Regel, der sich in schnellen Momenten selbst unser bedrohtes Auge nicht entziehet.“20 Um, so Herder, „bloßen Ejakulationen der Einbildungskraft“,21 also formlosen Assoziationen bzw. Träumereien auf animalischer, vorkultureller Ebene vorzubeugen, musste die symbolische Ordnung dem Subjekt einen Halt bieten. In diesem Fall wäre der Vielwisser einerseits hochgebildet, andererseits gerade deshalb dem kulturfernen Wilden und noch nicht erzogenen Kind nahe, weil er seinen assoziativen ‚Ejakulationen‘ freien Lauf ließe. Nach Herder manifestierte sich die Kultur in
17 Friedrich Schiller: „Die schmelzende Schönheit. Fortsetzung der Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen. 3. Teil, 17. bis 27. Brief“, in: Ders. (Hg.), Die Horen, 6. Stück. Tübingen, 1795. S. 45-124, hier S. 115. 18 Ebd., S. 394 und 407. 19 Friedrich Schiller: „Über die nothwendigen Grenzen beim Gebrauch schöner Formen“, in: Ders., Sämtliche Werke. Bd. 21, Hamburg 1963, S. 3-10, hier S. 5. 20 Johann Gottfried Herder: Kalligone. 1800. Bd.1 (=Sämmtliche Werke. 18. Teil: Zur Philosophie und Geschichte), Stuttgart/Tübingen 1830, S. 145. 21 Ebd., S. 202.
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der Geschichte der Menschheit, welche „die ausgelassene Phantasie unwissender Menschen, die nirgends ein Ende findet, unter Gesetze, in Gränzen“22 zwang. Da für Herder die Seelenkräfte des Menschen nur durch „lehrhafte Muster und Uebungen cultiviert werden“ konnten, wären der „Einbildungskraft sowohl als dem Verstande, ja der Vernunft selbst schöne, d.i. bildende Wissenschaften und Künste“ unentbehrlich.23 Diese seien, wie auch A. v. Humboldt betonte, im europäischen Bereich deutlich höher entwickelt. Erziehung beinhalte, sowohl „Phantasie zu erwecken“ als auch diese in “Schranken zu halten, ihr und der Bildungskraft menschlichere Gedanken über Maas und Gestalt einzuprägen, und sie zu gewöhnen, dass sie dem Verstand gehorche“. Wie die heutige Hirnforschung anfügen würde, ginge es darum, auf der ersten Ebene einen freien Fluss der Assoziationen zuzulassen, dem aber auf der zweiten Ebene ein Rahmen, eine Dramaturgie, eine ästhetische Form folgen müsste.24 Die assoziationsformende Gestalt des Anderen könne für Herder allein durch „Wissenschaften und Künste bewirkt werden, die selbst Form, Vorbild, Muster gewähren, und durch solche eben so unvermerkt als angenehm bilden.“ Symbolische Ordnung richtet sich als Intertext ein, „Cultur wird nur durch Cultur, Werk durch Werk: eine gebildete Natur nur durch edlere, glücklichere Naturen.“25 Für SchulteSasse ginge es um ein Fantasiemanagement, vor dessen Hintergrund sich das moderne Subjekt organisieren konnte: „Der Übergang von externen, autoritätsgestützten Disziplinarmaßnahmen zur panoptisch abgestützten Internalisierung der Disziplin war nur auf der Grundlage einer Textkultur möglich, in der Spiegelungsverhältnisse eine sittlich-ästhetische Erfahrung von Identität ermöglichten.“26 Basis hierfür wären die ausgebildete Lesekultur, ein abgeschlossenes Körpergefühl im Sinne eines nicht mehr osmotischen Körpers und die sich in der Zeit zwischen Descartes und Kant durchsetzende Distanzierung des Subjekts vom Objekt im Sinne einer allgemeinen Subjektivierung. Für Foucault entdeckte das 19. Jahrhundert generell einen Raum der Einbildungskraft, deren Kraft „frühere Zeitalter sicher nicht einmal geahnt haben. Diese Phantasmen haben ihren Sitz nicht mehr in der Nacht, dem Schlaf der Vernunft, der ungewissen Leere, die sich vor der Sehnsucht auftut, sondern im Wachzustand, in der unermüdlichen Aufmerksamkeit, im gelehrten Fleiß, im wachsamen Ausspä-
22 Ebd., S. 185. 23 J.G. Herder: Kalligone. 1800. Bd.2 (=Sämmtliche Werke. 19. Teil: Zur Philosophie und Geschichte), Stuttgart/Tübingen 1830, S. 183. 24 Vgl. E. Pöppel: Der Rahmen. 25 Ebd., S. 311f und 314. 26 Jochen Schulte-Sasse: „Einbildungskraft/Imagination“, in: Karlheinz Barck (Hg.), Ästhetische Grundbegriffe, Stuttgart 2001, S. 125-158, hier S. 109.
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hen.“ So hause das Imaginäre „zwischen dem Buch und der Lampe. Man trägt das Fantastische nicht mehr im Herzen, man erwartet es auch nicht mehr von den Ungereimtheiten der Natur; man schöpft es aus der Genauigkeit des Wissens.“ Zu träumen bedeutete nun nicht mehr, im Schlaf oder Tagtraum die Augen zu schließen, sondern zu lesen bzw. das Bühnengeschehen zu verfolgen. Das Imaginäre stand keineswegs mehr in Opposition zum Realen, sondern dehnte sich „von Buch zu Buch zwischen den Schriftzeichen aus, im Spielraum des Noch-einmal-Gesagten und der Kommentare; es entsteht und bildet sich heraus im Zwischenraum der Texte.“ Das Imaginäre war – Jorge Louis Borges grüßt Umberto Eco – ein Bibliotheksphänomen.27 Und selbstverständlich erst recht ein Theaterphänomen. Damit figuriert Kotzebues Vielwisser die Explosion des Imaginären im sich ständig erweiternden Wissen der Moderne. Die bewusste Kontrolle der Fantasie musste dementsprechend im Sinne Kants dafür Sorge tragen, dass das Denken in Affinitäten, also das sprunghaft-assoziative Denken nicht so weit überhandnahm, wie es in der Schwärmerei oft geschah und für den Surrealismus wieder bestimmend wurde. Diese Gefahr drohte ganz ähnlich Lavater, seine überbordende Fantasie fand ihren direkten, fast schon verräterischen Ausdruck im ausgreifenden Umfang und in der fragmentierten Form seiner Physiognomischen Fragmente. Auch Humboldts Unternehmen des Kosmos scheiterte letztendlich trotz geschickter und hochästhetischer Gestaltung der von ihm gesammelten Daten – sein Überblick war mit der Drucklegung schon veraltet. Analog wuchern heute postmoderne Theatertexte und performative Produktionen potentiell ins Unendliche, wenn sie nicht empirisch-dramatisch eingehegt werden. Die ständige Wissensproduktion des Vielwissers war der physiognomischen „Ejaculation“ Lavaters gar nicht so unähnlich. Für Baltrusaitis waren Fragmente auch eine Enzyklopädie der Theorien über diesen Gegenstand.28 Goethe qualifizierte Lavaters Untersuchungen als methodisch-kollektive, für ihn machte der Zürcher „keine Reihe, alles stand vielmehr zufällig durcheinander“.29 Lavaters Problem war ein grundlegendes Paradox. Einerseits suchte er ein System – denn die „Natur ist so homogen, so mathematisch in allen ihren Würkungen und Bildungen“30 –, dessen Gefährlichkeit Kotzebue in Die Organe des Gehirns“ dramatisierte. Andererseits ging der Züricher Geistliche schon aus theologischen Gründen von der Einzigartig-
27 Michel Foucault meint damit v.a. die Einbildungskraft als „Bibliotheksphänomen“; Ders.: Un ‚fantastique‘ de bibliotèque, in: Schriften zur Literatur, Frankfurt/M 1988, S. 157177, hier S. 160. 28 J. Baltrusaitis: Imaginäre Realitäten, S. 39. 29 Johann Wolfgang v. Goethe: „Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit“, in: Ders., Berliner Ausgabe, Bd. 13, Berlin 1976, S. 738 und S. 810. 30 J.C. Lavater: Physiognomische Fragmente Bd. I, S. 97.
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keit jedes Menschen aus: „Da nun der Mensch so verschiedene Seiten hat, deren jede sich besonders beobachten und beurtheilen lässt, so entstehen daher so vielerley Physiognomien – so mancherlei Physiognomik.“31 Käuser spricht in diesem Zusammenhang von überbordender Theorieaneignung, die kein Paradigma zu einem dominierenden werden lässt, was Kompetenz-, Perspektiven und Verbindlichkeitsverluste zur Folge hätte: „Wo alle Theorien gelten sollen, noch dazu solche mit absolutem Anspruch, gilt eben keine mehr mit der ihr eigenen und der von ihr verlangten Normativität.“32 Die Physiognomik hielt infolgedessen etwas im Rahmen eines behaupteten Überblicks, was eigentlich zu dieser Zeit durch das übermäßig vorhandene Wissen schon längst auseinandergefallen oder gar – bildlich gesprochen – explodiert war. Natürlich versuchte der ästhetische Blick auf der Grundlage der rousseauschen Vorstellungswelt die Einheit zu erhalten, daher wird in Kotzebues Stück die exemplarisch moderne Figur des orientierungslosen und linkischen, letztlich komischen Vielwissers noch einmal von der bürgerlich-biedermeierlichen Ordnung gerettet. Auch Humboldt wird ähnlich wie in der Form der Romane Balzacs in seinem Kosmos das immense Wissen mithilfe der Physiognomik gerade noch in ein Werk integrieren können. Doch dem Kosmos hat kein ähnliches Werk mehr nachfolgen können. Nur noch der Kunst, insbesondere dem Symbolismus, der Theaterreform und der Avantgarde nach 1900 gelang es, nicht mehr als realistisches Abbild der Wirklichkeit, sondern als utopisches Gegen-Bild einen jenseitigen Zusammenhang des Anderen darzustellen. Nietzsche schrieb im Vorwort zur Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik, dass er wie Richard Wagner von der „Kunst als der höchsten Aufgabe und der eigentlichen metaphysischen Tätigkeit dieses Lebens“ ausgehe.33 Kotzebues Vielwisser wäre, wie auch die besonders gebildeten jungen Adeligen aus dem Stück Der Besuch, als Vertreter des von ihm verachteten ästhetischen Sokratismus ein ideales Negativbild Nietzsches gewesen: „Für die Entwicklung der modernen Künste ist die Gelehrsamkeit, das bewusste Wissen und Vielwissen der eigentliche Hemmschuh: alles Wachsen und Werden im Reiche der Kunst muss in tiefer Nacht vor sich gehen.“34 So blieb nur noch, wie Edward Gordon Craig später auf der Folie von Nietzsches Gedanken bestätigte, die Musik als „ewiges Urbild, wohin alle Künste streben“.35 Für die Entwicklung des Dramas deutete sich in der
31 Ebd., S. 13. 32 Andreas Käuser: Physiognomik und Roman im 18. Jahrhundert, Frankfurt/M. 1989, S. 29f. 33 Friedrich Nietzsche: „Die Geburt der Tragödie“, in: Ders.: Kritische Studienausgabe. Bd. 1, hg. von Giorgio Colli/Mazzino Montinari, München 1988, S. 9-156, hier S. 24. 34 Friedrich Nietzsche: Das griechische Musikdrama, Leipzig 1926, S. 3. 35 Edward Gordon Craig; zit. n. Joachim Fiebach: Von Craig bis Brecht, Berlin 1991, S. 94.
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Unfähigkeit des Vielwissers zum Dialog schon das an, was Peter Szondi später die Krise des Dramas nennen wird: der Einbruch des Imaginären aus dem Innen und Außen, das den Dialog im Sinne Hegels erst stört und dann ganz unmöglich macht. Das zunehmende Wissen der Moderne rückte im korrelationistischen Zirkel das Subjekt nicht näher an die Wahrheit des Objektes bzw. des Anderen, sondern entfernte ihn. Es verdichtete den Schirm, die symbolische Ordnung als Zwischen zum Anderen. Das, was in Kotzebues dramatischem Text noch die unwissende, reine Liebe im Gegensatz zum Imaginären des Wissens war, transponierte sich in der Romantik, der Präavantgarde und der Kunst der Moderne zum Unbewussten, welches den logozentrischen Blick unterlief. So gesehen hat Antonin Artaud in seiner Kritik des eurozentrischen, abendländischen Theaters die Wurzel des Wissenstriebs (auf)gesucht.
7.2 D E -G LOKALISIERUNG
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Konstruktionen und De-Konstruktionen des Anderen interagierten in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts im Vorstadttheater mit frühen theatralen Glokalisierungen, bildeten auf der Grundlage räumlicher Heterotopien moderne Xenotopien aus, erlaubten dem Publikum Spiegel-Erfahrungen und Rahmenspiele mit der mimetischen Grenze. Globalisierung wäre zum einen ein Begriff, um die Gegenwart zu diagnostizieren, zum anderen kann er durchaus sinnvoll in der Interpretation der Vergangenheit angewendet werden.36 Nachdem die Europäer in der Frühen Neuzeit die Weltmeere zu beherrschen gelernt, hierbei unter anderem im 18. Jahrhundert den dynamischsten Bereich der Wirtschaft in den karibischen Plantagen eingerichtet hatten, ordneten sich die Einflussbereiche der europäischen Mächte auch im Spannungsfeld zwischen imperialistischen Zentren und Kolonien.37 Dieses Spannungsfeld provozierte auf den deutschsprachigen Bühnen einen theatralen Projektionsraum, der zum einen exotisch-fremde, zum anderen europäisch-fremde Räume zur Darstellung brachte. In dieser sich auf der Wand der Projektion inszenierenden Auseinandersetzung, heruntergebrochen auf dramatische Konflikte in mehr oder weniger populären Dramaturgien, spiegelte sich das Globale im Lokalen und umgekehrt, sodass man von theatralen Glokalisierungen sprechen kann.38 Die Animo-
36 Vgl. J. Osterhammel/N.P. Peterson: Geschichte der Globalisierung, S. 7 und 10. 37 Ebd., S. 46ff. 38 „Globalisierung – scheinbar das ‚ganz Große‘, das Äußere, das, was am Ende noch dazukommt und alles andere erdrückt – wird fassbar im Kleinen, Konkreten, im Ort, im eigenen Leben, in kulturellen Symbolen, die alle die Signatur des ‚Glokalen‘ tragen“; Ulrich Beck: Was ist Globalisierung?, Frankfurt/M.1997, S. 91; vgl. auch Roland Robertson:
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sitäten zwischen europäischen Hauptstädten und Paris auch noch nach 1815 schlugen sich in unzähligen Medien, Bildern, Stoffen, dramatischen Konflikten und Anspielungen nieder. Was die nicht unaggressive Fremdheitserfahrung zwischen Wien und Paris betraf, war Carl von Holteis Wiener in Paris, oder: Der zwölfte Februar. Schauspiel in zwei Akten, mit einem Nachspiel: Pariser in Wien39 ein gutes Beispiel. Das schnell verfasste Gelegenheitsstück aus dem Jahr 1834 „ward für Wien geschrieben“, daher war die primäre Perspektive festgelegt, die noch immer, wenn auch im Komischen abgemildert, vom Hass auf Napoleons Truppen und deren Hauptstadt geprägt war, wiewohl die Wiener zugleich von der Weltmetropole fasziniert waren. Unter dem Diktat der Realpolitik verdeckt fand man national aufgeladene Aversionen, welche später auf politischer Ebene verstärkt gewaltsam zutage traten.40 Wie Nestroy spielte Holtei selbst in seinem Stück eine komische Figur, Kritiker äußerten sich lobend über seine „natürliche Darstellung des Bonjour“.41 Dies ist insofern bedeutsam, da die Figur des Bonjour über Kleidung, Gestik, Mimik und selbstverständlich über sein Französisch bzw. über den französischen Akzent, wenn er Deutsch sprach, als stereotyper Franzose vorgestellt wurde. Als dessen einheimisch-typisierter Gegenpart und als zweite komische Figur fungierte der Wiener Diener mit dem sprechenden Namen Treu. Das Stück hatte Erfolg, denn „es ward pikant durch seine süddeutsche Färbung, es kam in die Mode.“42 Carl Carl machte gar, als Holtei „im Jahre 1840-41 wieder in Wien war, und bei [ihm] eine Reihe von Gastrollen spielte“, den Vorschlag, „die alten Wiener in Paris mit einem neuen
„Globalisation or Glocalisation?“, in: Ders./Kathleen E. White (Hg.), Globalization, Bd. 3, London 2003, S. 31-51. Der Mehrwehrt des von Robertson bekannt gemachten Begriffs Glokalisierung gegenüber dem der Globalisierung ist unter anderem, dass er den Fokus neben dem Globalen auf das Lokale und vor allem auf die ständigen sowie flexiblen Wechselwirkung zwischen beiden Räumen einstellt, somit vor dem Hintergrund des Spatial Turns mehr den Raum auf Kosten der Zeit und der Geschichte betont; vgl. Roland Robertson: Encyclopedia of globalization, Bd. 2, London 2007, S. 545ff. 39 Carl von Holtei: „Wiener in Paris, mit Nachspiel: Pariser in Wien“, in: Ders., Theater, Breslau 1845, S. 419-439. 40 Insofern kann man schon für das 19. Jahrhundert mit aller Vorsicht von so etwas wie einer Geographie des Zorns sprechen, der die anscheinend klaren Linien auf- und so Unsicherheiten auslöste, die auf den Bühnen mehr oder weniger verdeckt zum Ausdruck kamen. Vgl. hierzu Arjun Appardurai: Die Geographie des Zorns, Frankfurt/M. 2009, S. 14. 41 C.v. Holtei: Wiener in Paris/Pariser in Wien, S. 419. 42 Ebd.
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Nachspiel zu versehen“. So entstanden „die Pariser in Wien, worin Scholz ([...] der ergötzlichste aller Lokalkomiker), seiner übermüthigsten Laune freien Lauf ließ.“ 43 Resultat war eine fast spiegelbildliche Dramaturgie, freilich weitgehend aus der Perspektive des Wiener bzw. deutschsprachigen Vorstadttheaters. Das Bild des Fremden, hier des europäisch Fremden, war innerhalb des Feldes des Sehens ein Spiegelbild des Eigenen, was insbesondere mit den beiden komischen Figuren, auch mit den Liebenden und den bürgerlichen Familien zur Darstellung kommt. Ort der Handlung ist Paris im Februar 1835, der dritte Akt, das Nachspiel, begleitet die Figuren im Juli 1836 in und um Wien. Im ersten und zweiten Akt geht es um einen jungen Wiener, Ferdinand, der von seiner reichen Familie nach Paris geschickt wurde, damit er weltmännische Erfahrung sammle, „er muss die Welt sehen!“44 Die Reise soll, weitgehend dem Monomythos nach Campbell entsprechend, als Initiationsritus in der Fremde funktionieren. Die Familie erwartet, dass Ferdinand „ganz verwandelt seyn“ wird, „er wird [dann] seinem eigenen Kopfe nachgehen. Er [wird] sich emancipier[en].“45 Kurz vor seiner Rückkehr nach Wien verliebt sich der junge Mann auf den ersten Blick in die ihm unbekannte Tochter des Bonjour; dieser ist als armer, aber redlicher „Commisair“ ein leicht diskriminierendes Bild des Parisers. Er fühlte sich „fremd und einsam“, aber der „Anblick hielt mich fest, . . ich verzögerte meine Abreise, . . und ich bin noch hier.“46 Seit er „dieses Mädchen sah“, ist er „ein Anderer! Ich sehe die Welt und das Leben mit neuen Augen an.“47 Er schenkt seine Liebe einer ihm Unbekannten, die sich jedoch nach und nach als halbe Wienerin mit dem eigentlichen Namen Magdalena bzw. Leni entpuppt. Madelon ist die ideale Projektion in der Inszenierung, sie ist als fremde Pariserin exotisch-begehrenswert und zugleich als einheimische Wienerin nicht unheimlich, kann als Ehefrau akzeptiert werden. Nach der ersten Begegnung versucht Ferdinand, wie zufällig Madelon zu begegnen, die zwar seine „Blicke freundlich erwidert, aber es liegt so viel Würde, so viel edler Stolz in ihrem Wesen, dass [Ferdinand] es gar nicht wagen könnte, sie anzureden.“48 Madelons Mutter trägt den Namen Kathi, sie hat nach dem Krieg zwischen Österreich und Frankreich, als Bonjour als Soldat verletzt in einem Wiener Hospital lag, ihn unter ihrem Stand und gegen den Willen ihrer Familie geheiratet und ist ihm aus Liebe nach Paris gefolgt. Madelon ist zu dieser Zeit bereits ein Jahr alt, ist infolgedessen von ihrer Geburt her Wienerin, wächst aber in Paris auf,
43 Ebd. 44 Ebd., S. 422. 45 Ebd., S. 424. 46 Ebd., S. 421. 47 Ebd., S. 428. 48 Ebd., S. 420.
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in dem der junge Wiener die junge Wienerin intuitiv als Liebender ‚erkennt‘. Das Ehepaar Bonjour und Kathi einigte sich in der Erziehung, jede Woche zwischen der deutschen und der französischen Sprache zu wechseln. So wuchs die Tochter zweisprachig auf, bleibt als Figur selbst ein Spiegelbild des Fremd-Verhältnisses: „Kathi. In der französischen Woche nenn’ ich Dir zu Liebe unsere Magdalene Madelon; aber in der deutschen Woch’ heißt sie einmal Leni, und dabei bleibt’s. Ich will doch wenigstens eine Erinnerung an meine Heimath haben.“49 Ferdinand stellt sich, wie es sich gehört, der Familie seiner Angebeteten vor. Kathi, die es „gleich gespürt hat“, dass Ferdinand kein „Hiesiger“ ist, und zwar an seinem „Gange, an [seinen] Augen, an [seinem] ganzen Wesen“,50 freut sich, wieder etwas aus ihrer Heimat zu hören. Die Begegnung wird von beiden Seiten als intuitiv-physiognomisches Erkennen im Fremdraum in Szene gesetzt. Da der junge Mann den Kontakt nach Wien vernachlässigt, sind dessen Eltern gezwungen, nach Paris zu reisen, um im „Gewirr dieser Stadt, [im] taumelnde[n] Geräusch ihres wüsten Treibens“51 nach ihrem verschollenen Sohn zu suchen. Der mitreisende Diener Treu klagt über die labyrinthische Stadt, in der ihm keiner antwortet, da er kein Französisch spricht: „Die Unordnung in dem Paris! Der Durcheinand’! Die Konfusion! - - Kein Graben, kein Kohlmarkt, kein Stock-am-Eisen-Platz! nix! ... Pfui Teixel, ist das eine Lebensart?“52 Im Fremd-Raum herrscht erfahrungsgemäß das Chaos, was einerseits der mangelnden Orientierungsfähigkeit und Weltläufigkeit des dummen Dieners, andererseits dem Ort selbst als urbane Struktur geschuldet ist. Da Treu immer wieder daran scheitert, die Pariser zu verstehen, sind sie für ihn Wilde bzw. Affen, immerhin könnten sie sich nicht einmal menschlich verständlich machen, ergo besäßen sie auch keine Sprache und Kultur. Seine erste ‚Verständigung‘ mit einem ‚Einheimischen‘ gleicht einer Begegnung mit ‚Eingeborenen‘ in Übersee: „Bei all dem wünscht’ ich, der Affe blieb’ ein wenig bei mir. Er ist gar zu dumm. [...] Er merkt nix. Ich darf ihm schimpfen, wie ich will, er macht eine Verbeugung um die andere.“53 Treu fühlt sich in seinen Vorurteilen bestätigt: „Ich hab’ s ja gleich g’sagt. Mit dem Paris – da schaut ja nix heraus! Es ist wahr, die Leute haben hier auf gewisse Weise einen höheren Grad von Bildung, als bei uns, denn hier spricht jeder Fiacker französisch, was bei uns schon eine Seltenheit ist. Aber das ist auch Alles! Im Uebrigen sind sie dumm. (Aergerlich) Was soll ich von einem Menschen halten, der nicht weiß, was ein Kipfel ist? O pfui, sehr pfui!“.54 Das Verhältnis zum Ande-
49 Ebd. 50 Ebd., S. 421. 51 Ebd. 52 Ebd., S. 422. 53 Ebd. 54 Ebd., S. 424.
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ren wirkt in der Metropole als Entfremdung: „Es ist ein fürchterliches G’fühl, für einen g’fühlvollen Menschen, wenn er denken muss: um Dich herum krabbelt eine Million Seelen, und Du hast keine einzige Seel’ bei Dir, zu der Du sagen könntest: Seel’, thu’s Maul auf, red’ deutsch, trink Eins mit mir, und freu’ Dich.“55 Später hat der Diener einen Traum, in dem Ferdinand im Sumpf versinkt, weil er eine schöne Blume pflücken will. Die Symbolik ist eindeutig, Paris ist für Wiener ein dunkler Raum, in dem die erotische Pariserin als Femme fatale lockt. Dem Vater erscheint Paris im Traum gar wie die „ungeheure“ Totenstadt des „Kirchhof père la chaise“,56 womit sich in Holteis Stück Erotik und Tod zur stereotypen Pariser Stadtphysiognomie fügen. Damit vereinigt das fast surreale Bild der wichtigsten europäischen Großstadt die zwei extremsten Fremderfahrungen der Sexualität und des Todes, die einerseits Angst erzeugen, andererseits im sicheren Rahmen der Bühne als Attraktionsfaktoren funktionieren. Der dritte Akt, eigentlich das später geschriebene, angeschlossene Stück Die Pariser in Wien, setzt die Handlung in Wien fort. Madelon und Ferdinand haben geheiratet und seit einem Jahr ein Kind. Madelon vermisst ihre Eltern sehr, hat schon zu lange nichts mehr von ihnen gehört, man vermutet, die „Faulheit im Briefeschreiben“ müsse „halt so eine Art von Pariser Strauchen seyn“.57 Treu hat ein Auge auf die Dienerin Babet geworfen, ist eifersüchtig auf den attraktiv-virilen Kutscher eines anderen Hauses und versucht, seine Angebetete durch seine Sprachkenntnisse zu beeindrucken. Seit einiger Zeit bemüht er sich, beeinflusst durch einen neuen preußischen Freund, „ein reines, sehr hoches Deutsch zu reden“, außerdem täuscht er vor, seit seinem Pariser Abenteuer „französisch reden“ zu können.58 Nachdem der alte französische Feind in der Figur des Bonjour lächerlich gemacht worden ist, nimmt man nun in der arroganten Nebenfigur den preußischen Konkurrenten aufs Korn. Madelons Heimweh hat sich indes vergrößert, nachdem sie ein kleines Heft mit Kupferstichen von Pariser Ansichten59 geschenkt bekam. Das Druckmedium evoziert die Erinnerung: „Da können wir drin blättern und die Orte suchen, wo wir uns in Paris begegnet sind. [...] Das ist der Louvre. Ferdinand. Das seyn die Tuilerieen! [...] ... schau Madelon! erkennst Du den Platz? Madelon. [...] Hier sind wir uns zum Erstenmale begegnet.“60 Motiviert von Pariser Bildern als Stadtphysiognomie, von visuellen Fragmenten, die sich in ihrer Einbildungskraft zu emotional grundierten Panoramen zusammensetzen, verlangt Madelon von ihrem
55 Ebd., S. 430. 56 Ebd., S. 423. 57 Ebd. 58 Ebd., S. 431. 59 Ebd., S. 433. 60 Ebd., S. 435f.
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Mann Ferdinand, nach Paris zu reisen, um dort die Eltern zu besuchen. Dies erübrigt sich, als sich herausstellt, dass Ferdinand ohne Wissen Madelons deren Eltern nach Wien eingeladen hat. Das Zusammentreffen beider Familien im letzten Bild wird zum Closed-Circuit der eigenen Projektionsperformanz. Bonjour, die physiognomische Gestalt des typischen Franzosen in der Überzeichnung, hat das Schlusswort, als er sein Enkelkind das erstemal sieht: „Gute Kleiner, Du nix werden erben von mir, als meinen ehrlichen Herz und meinen fröhlichen Sinn! Das isse Alles, was ick haben haben mitgebracht von Paris nach Wien!“61 Der neue Bürger als Kind der großen Revolution erscheint den Wienern als armer Mann, der zumindest ehrlich wirkt. Dennoch bleibt der typische Pariser auf Wiener Bühnen eine komische Dienerfigur, letztlich in der szenischen Überzeichnung eine zu verlachende Karikatur. Man rezipiert sie mit gemischten Gefühlen, denn einerseits wird eine Fremdheitsfigur mit allen stereotypen Klischees als nicht ganz geheure Attraktion vorgestellt, andererseits nimmt sie den Wienern als komisch-einfache Figur die Urangst vor den Franzosen. Die einst von Bonjour verführte und nach Paris gelockte Wienerin wollte nichts mehr als in ihre Heimat zurückzukehren. Auch dies verweist einerseits auf die tiefsitzende zeitgenössische Angst vor der Anziehungskraft der Franzosen, anderseits über den aktuellen dringenden Rückkehrwunsch der Emigrantin auf die letztlich stärkere Attraktivität der Heimat sowie der eigenen Kultur. Bonjours Tochter ist für die Wiener und damit für das Publikum des Vorstadttheaters als Familienmitglied nur deshalb zu akzeptieren, weil sie eigentlich eine gebürtige Wienerin ist. Der Pariser Anteil ihrer Existenz bezieht sich unausgesprochen auf den exotisch-erotischen Reiz der schönen Französin. Insofern kommt in der Situation des letzten Bildes und in der Hauptfigur Madelon die theatrale Attraktion des Closed-Circuit der Projektionsperformanz, das ewige Spiel zwischen der Erotik des Fremden und der Absicherung durch den Rahmen des Eigenen zum für die Zuschauer gelungenen Ende. In der Figur der Leni und/oder Madelon spiegelt sich die mimetische Grenze der Bühne, die als Heterotopie dem Publikum die gefahrenlose mediale Reise in die Fremde erlaubt. Der Einblick in die Fremde auf der Bühne ist einerseits wie der Blick Ferdinands auf die ihm unbekannte Pariserin ein begehrender, lustvoller. Andererseits gewährt der Bühnenrahmen die notwendige mentalmediale Sicherheit – Madelons Wiener Herkunft fungiert als imaginärer Halt, der die folgenlose Reise in die erotische Pariser Fremde erlaubt. Die Möglichkeit, Madelons durch Pariser Ansichten evoziertes Heimweh auf der Stelle durch den Import ihrer Eltern nach Wien zu kurieren, weist auf das Imaginäre des medialen Fremdraums Paris. Der Spiegel des großstädtischen Fremden präsentiert die eigenen sexuellen Wünsche und Machtphantasien, die dem einstmaligen nationalen Feind und
61 Ebd., S. 439.
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nun kulturell überlegenen urbanen Raum zugeschrieben und als Angst-Lust im ästhetischen Medium Theater genussvoll erfahren werden.
7.3 D E -K ONSTRUKTION
DES
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Was Kotzebue mit seinem Vielwisser auf dramatischer Ebene vorexerzierte, gelang Carl von Holtei, von 1825 bis 1827 Direktionssekretär, Regisseur und Dramenautor des Königstädtischen Theaters, auf theatraler Ebene. Er verfolgte vergeblich den Plan, das sogenannte erste Berliner Privattheater als Theater für Vaudevilles, wie er sie aus Paris kannte, einzurichten. Aus Paris als Ort der Inszenierung des Anderen nach Berlin zurückkehrend, meinte er, dass das, „was dort möglich sey“, etwa „die Pariser Farcen, Revuen, Paraden“, sich auch in Berlin „wagen lassen“ müsse. Die theatrale Überzeichnung, Karikatur, Travestie und Parodie suchte jedoch noch nach einem geeigneten Darstellungsort. In der kulturellen Provinz (verglichen mit Paris) ohne passende Bühne und Publikum setzte Holtei seinen dramatischen Text Staberl als Robinson grenzüberschreitend in das weite Feld zwischen Königlichem Opernhaus sowie Schauspielhaus auf der einen und dem Theater in der Königstadt auf der anderen Seite. Er plante, mit dem Stück „das Königl. Hoftheater anzugreifen“, das, wie in dieser Zeit üblich, eines der „schlechtesten Pariser VorstadtspektakelMelodramen: Robinson Crusoe“ übersetzt und aufgeführt hätte. Zugleich ließ er sich „verleiten, den in der Königstadt heimischen Jocko mit hineinzuziehen.“ Diese Ungeheuerlichkeit hetzte Holtei und seinem Stück jedoch „beide Partheien auf den Hals“. Ohne tragende Handlung, aber mit vielen aktuellen Anspielungen versehen, wurde die Aufführung nur von Wenigen verstanden. Einige immerhin applaudierten, ansonsten erreichten Holtei die stärksten Reaktionen, an die sich der erfahrene Theatermann erinnern konnte: „Niemals ist ein Stück so vollständig ausgezischt, gepocht, -gepfiffen, -gehöhnt worden, als dieses bei seiner ersten – und letzten Aufführung.“62 Die Aufführung war ein veritabler Theaterskandal und transponierte das Theater in eine an die castorfsche Volksbühne erinnernde Theatralität des Anderen, welche einen gespürten, gegen den idealistischen Zeitgeist gerichteten Utopieverlust als energetischen Überschuss nicht bedauerte, sondern in einer affirmativen Krisenästhetik abfeierte, was verständlicherweise zu einem Aufruhr im Publikum führte. Holtei berührte mit seinem Stück empfindliche Tabus der Zuschauer, ständig herrschte Unklarheit darüber, was auf der Bühne zu sehen wäre: ein Mensch oder ein Tier, ein Europäer oder ein ‚Wilder‘, eine Imagination oder eine tatsächliche
62 Carl von Holtei: „Staberl als Robinson“, in: ders., Theater. In einem Bande, Breslau 1845, S. 125-131, hier S. 126.
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Begebenheit, tragische oder komische Figuren, Gestalten aus dem Leben oder reine Theaterfiguren aus dem eigenen oder aus einem fremden Stück, das den markierten Intertext als geeignete Spielvorlage benutzte. Freilich baute Holtei mit der parodierten Robinsonade auf eine auch damals sehr bekannte dramatische Struktur: Der Mensch, so Schiller, sympathisiere „umso wärmer“, je eher ihm Ort und Schicksal fremd seien, er niste sich „lieber mit Crusoe auf der menschenverlassenen Insel“ ein, als dass er „im drängenden Gewühle der Welt“ mitschwimme.63 Eskapismen dieser Art löste Holtei rigoros auf, indem er den Fluchtraum mit dem real existierenden Alltagsraum überblendete und ein verwirrendes, subversives theatrales und imaginäres Kompositbild schuf, das eine „Ontologie der Unbestimmtheit“ (Costoriadis) einrichtete, die Bergson als Basis des Schöpferischen erkannte. Eine Robinsonade, mithin eine Handlung auf einer Insel, tendierte generell zu einer Heterotopie zweiter Ordnung, einer Heterotopie als Heterotopie.64 Das wäre eine frühe Extrapolarisierung einer Entwicklung von Schillers Spiel mit Stofftrieb und Formtrieb zu Nietzsche und von dort zu Elfriede Jelineks und Nicolas Stemanns dramatischen oder theatralen Texten. Holtei führte in seiner grotesken Dramaturgie nicht nur seine Figurengestaltung entlang der Trennwand zwischen Mensch und Tier, zwischen Europäer und Exoten, sondern balancierte zugleich auf der Grenze zwischen hoher Poesie und Gebrauchsdramatik. Inszenierter Ort war der liminale Fremd-Raum einer einsamen Insel, der sowohl die eigene zivilisatorische Existenz als auch die Identität aller Figuren in Frage stellte. Parodiertes Thema und Stoff des Crusoe evozierten die Tradition utopischer Texte von Dafoe über Schnabel, Haller, Saint-Pierre, Goethe bis zu Bougainville und Forster. Diese folgten den in religiös-mythischen und profanen Texten überlieferten gedruckten und kognitivimaginären Karten, wenn sie eine utopische Landschaft, einen anderen Raum als Gegenwelt entwarfen. Politischen, gesellschaftlichen und ökonomischen Strukturen sollte vermeintlich entkommen werden, obwohl zivilisatorische Strukturen in der Gegenwelt mit einzogen oder das Überleben überhaupt erst ermöglichten.65 Intermediale Bezüge dieser Utopien, Gegenweltentwürfe und als Rite de Passage funktionierende Robinsonaden funktionierten zu den Bildern der zeitgenössischen Landschaftsmaler, etwa von Salvator Rosa und Claude Lorrain.
63 Friedrich Schiller: „Die Räuber. Selbstbesprechung im Wirtembergischen Repertorium“, in: Ders., Sämtliche Werke in 5 Bänden, Band I, hg. v. Albert Meier, München 2004, S. 619-635, hier S. 622. 64 Für Edward Said handelt der „prototypische moderne realistische Roman“ Robinson Crusoe nicht ohne Grund von einem „Europäer, der auf einer fernen, nicht europäischen Insel ein Lehen für sich allein errichtet“; ders.: Kultur und Imperialismus, S. 15. 65 Vgl. G. Großklaus: Medien-Bilder, S. 194.
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In Holteis Crusoe ist die Landschaft geographisch uneindeutig, man sieht laut Nebentext die Felsenwohnung des Robinson, im „Hintergrund freie Gegend“.66 Die komische Figur des Staberls anthropomorphisiert die Gestalt der Landschaft als Angesicht: „Die Insel wär’ ganz sauber,/Doch warum ist s’ denn wüst?/Sie ist mir z’ wüst von Angesicht,/Geh’ weg, geh’ weg, ich mag dich nicht.“67 Aufgrund der im Vergleich zur eigenen unsicheren Umwelt noch potenzierten Unbestimmtheit des Fremd-Raums steht dem Subjekt kein ‚Ding an sich‘ im Blick, das einer ungehinderten Herrschaft der Phantasie Einhalt gebieten könnte. Zugleich ist die Insel, ähnlich wie ein zu bezwingender Berg, der ideale liminale Raum eines selbstbewussten, aber auch vereinzelten, starken Ichs. Durch den Medienrahmen gesehen wären Pflanzen- und Tiergärten, aber auch Reiseberichte und Bühnen Teile des ‚hortus conclusus‘, in dem der Bürger weitgehend gefahrenfrei die Rites des Passages der Reise, die sich in der üblichen Dramaturgie von Abreise-FremderfahrungAnkunft ausdrückten, erfahren kann. In diesem Sinne sind in Holteis Stück auf der Bühne die Besetzung der Insel durch die Identifikationsfigur Staberl und der Blick des Zuschauers auf die Bühne, die die Inselwelt imaginieren lässt, als Einleitung in eine liminale Phase zu werten, die die Identität der Figuren wie der Zuschauer zu sehr in Frage stellte, sodass der Publikumsaufruhr provoziert werden musste. Da die Inselbewohner von Holtei dezidiert als Theaterfiguren ausgezeichnet wurden, stellt sich die Frage nach der Identität des Anderen in der Differenz zwischen Rolle und Schauspieler, wobei der ‚Schauspieler‘ selbst eine Rolle ist, denn schon Robinson ist eine Rolle Staberls und Freitag eine Rolle des Affen. Beide Rollen sind markiert der zeitgenössischen Literatur entnommen. Auch die Insel war ein kulturell vorgeprägter Raum, der nicht nur aus Dafoes The Life and Strange Surprizing Adventures of Robinson Crusoe“, sondern für das gebildetere Publikum aus Johann Gottfried Schnabels Insel Felsenburg oder Hans Jacob Christoph von Grimmelshausens Abenteuerlichen Simplicissiumus Teutsch bekannt war. Die Insel als Landschaftsraum und Raumutopie empfing ihren symbolischen Sinn grundsätzlich aus dem Akt der Distanzierung vom Raum der Heimat oder des Eigenen. Die europäische Welt und die eigene Gesellschaftsordnung war diejenige, die verlassen wurde, und diejenige, die in der Fremde als Projektion wiedererschien. Die Performanz der Projektion auf der fremden Insel überlagerte sich in der Inszenierung mit der Projektion des Fremdraums auf der Bühne. Bei Holtei kehrte die Inszenierung der eigenen Theaterkultur so heftig den Rücken zu, dass sie auf der anderen Seite in der Fremde in markierten Rollen wieder mitspielte. In diesem Sinne traten der insulare Natur-Raum und der Gesellschaftsraum und in diesem Fall der Theater-Raum auseinander, während beide Räume im Hintergrund immer eine
66 C.v. Holtei: Staberl als Robinson, S. 125. 67 Ebd., S. 126.
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Einheit blieben. Als medial vermittelte und historisch wirksame Polarität grundierte die Dichotomie von kaum zu ertragender Heimat und utopischer Fremde die Vorstellungswelt bürgerlicher Gesellschaften, wobei das Utopische durch die Tatkraft des Individuums in Frage gestellt wurde.68 Da die komische Figur Staberl der Held ist, kommt die komische Übertreibung mit ins Spiel, welche die Figuren jeweils sich selbst in Frage stellen lässt. Dies und die Physiognomie der ‚wüsten‘ Insellandschaft öffnen einen fremden Ort, geeignet für allerlei Projektionen, die der Imaginationskraft der komischen, theatralen Figur entspringen und gleichzeitig der kulturellen Tradition als äußerer Rahmen gehorchen müssen, wobei hier bereits eine Dialektik der Vernunft, eigentlich eine Denkfigur des 20. Jahrhunderts, erkannt werden kann. Wie Prospero auf seiner Insel in Shakespeares Sturm kolonisiert Staberl den Fremd-Raum. Der plötzliche Machtzuwachs der Figur wird zum besitzergreifenden Übergriff, hemmungslos wird der Geschlechtstrieb ausgelebt. Gerade weil die fremde Insel keine Gesellschaftsordnung aufzuweisen scheint, die Staberl als Robinson zur Anpassung hätte zwingen können, kann sich dort die Einbildungskraft des gestrandeten Individuums verwirklichen. Die Bühne erlaubt, auf medialer Ebene die Zuschauer im Unklaren darüber zu lassen, ob die Kolonisation nicht der Einbildungskraft einer komischen Figur entsprungen ist. Staberl kreiert nicht, wie es die traditionelle Robinsonade verlangt, vor dem Hintergrund der Vorstellungswelt der Aufklärung eine handfeste Welt des Überlebens, sondern entwirft leichter Hand eine imaginäre, dem Theater und der Literatur entnommene Bühnenwelt. Dies erhöht die Subjektivierung und deren Reflektion gleichermaßen. Die Darstellung blieb der Imagination und den mentalen Stereotypen der handelnden Personen verbunden, denen jedoch als ausgewiesene Theaterfiguren mit zweifelhaftem, instabilem Charakter nicht zu trauen war. Die Inszenierung reflektierte nicht nur das Verhältnis von Natur und Kunst, sondern auch von hoher und niederer Literatur. Nachdem Staberl die Rolle des Robinsons angenommen hat, freundet er sich mit einem Papagei und einem Affen an. Der Primat wird systematisch umerzogen, da, wie es die Erzählung verlangt, zum einsamen zivilisierten Europäer Robinson ein eingeborener Diener Freitag gehört. Im Folgenden lässt sich an den beiden Protagonisten die Urzelle der hierarchischen
68 Vgl. G. Großklaus: Medien-Bilder, S. 194. Für Urs Bitterli sind Robinsonaden mit Utopien verwandt, da die Identifikationsfigur durch ein unvorhersehbares Ereignis plötzlich aus ihrem gewohnten Lebenszusammenhang gerissen wird und sich in einer fremden Welt und meist in einer ihr unbekannten Kultur wiederfindet, die er während eines längeren Zeitraumes nicht mehr verlassen kann. Robinsonaden wären aber keine reinen Utopien, da der Held nicht untätig bleibe und sich anschicke, der fremden Umwelt seine autonome Tatkraft entgegen zu setzten; ders.: Die ‚Wilden‘ und die ‚Zivilisierten‘, S. 401.
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Gesellschaft in ihrer Dialektik von Herr und Knecht bzw. zwischen Kolonisator und Kolonisiertem demonstrieren. Sowohl dem Affen als auch dem Papagei wird das Sprechen beigebracht, wobei dem bei Linné höherstehenden Tier der Entwicklungssprung zum Menschen gelingt. Dabei dient nicht nur der Affe - „Mann und Aff’ und Aff’ und Mann,/Einer schaut den anderen an“69 –, sondern auch der sprechende Pagagei dem Staberl bzw. Robinson als anthropologischer Spiegel: „Jetzt schau’ ein Mensch das Viech an!“70 Der Blick auf das sprechende Tier provoziert die Frage nach dem Abgrenzungskriterium Sprache in der anthropologischen Diskussion. Schon Herder schrieb über den Papageien in seiner Abhandlung über den Ursprung der Sprache: „Papagei und Star haben genug menschliche Schälle gelernet; aber auch ein menschliches Wort gedacht?“71 Diese anhaltende, das Verhältnis jedes Menschen zum Anderen bestimmende Unsicherheit, ob hinter der Schädelwand des sprechenden Gegenübers auch eine Seele bzw. ein Bewusstsein zu finden sei, das dem eigenen entspräche oder ähnele, betrifft das Verhältnis zwischen Mensch und Tier, wenn es um die Frage geht, ob die Bewusstseinsfähigkeit ein Abgrenzungskriterium des Menschen zum Tier ist. Beim Affen scheint die Situation klarer zu sein als beim Papagei: Ein Affe der spricht, ist innerhalb einer Theory of Mind wahrscheinlich ein Mensch. In Holteis Stück greift das traditionelle, die erregten Diskussionen um Darwin vorwegnehmende Stereotyp, der anthropomorphe Affe sei dem Menschen ‚natürlich‘ am nächsten. Dieser Affe kann bald lesen und erfährt so etwas über seine tierische Identität, indem er sich selbst mit dem gelesenen Begriff Affe in Beziehung setzt. Im ersten Akt der ersten Scene, vor der „Felsenwohnung des Robinson“, liest „Freitag (allein, in der Hand ein Buch). A – f – af – f – je – fe – Affe! Lesen können bald werden, Freitag glücklicher. Hat gefunden Herrn guten: Staberl. Sprechen schon gelernt hat. Liebt Herrn guten, als wär’ Herr ein Affe. Wird werden Mensch, Freitag.“72 Aus einem Buch, so erfährt der Zuschauer schon im ersten Satz, definiert sich nicht nur der Affe als eingeborener Diener Freitag, sondern die ganze Inselwelt. Die Robinsonade aus dem Buchtext bzw. der sich verbreitenden Lesekultur gibt die Rollen der Protagonisten vor, wobei die Tiere Menschen spielen und die komische Figur Staberl kulturell Erlerntes als Rolle annimmt; ein Robinson sei „eine grausam schwere Roll’! So schlimm hätt’ ich mir’s gar nicht vorgestellt wie ich
69 C.v. Holtei: Staberl als Robinson, S. 126. 70 Ebd. 71 Johann Gottfried Herder: Abhandlung über den Ursprung der Sprache, Berlin 2015, S. 37. 72 C.v. Holtei: Staberl als Robinson, S. 125.
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mein Robinsonderl auf der Schul’ gelesen hab’.“73 Der Rolle assoziiert man den entsprechenden naturgeschichtlichen Kontext, die „Race scheint auf der Insel ausgegangen zu seyn und ist nicht wieder heimgekommen. Wußt’ ich, dass ich Robinson werden musst’, so hätt’ ich mir ein Lama aus irgend einer Menagerie ausgeliehen.“74 Bezeichnenderweise dem heterotopischen Ort der Menagerie entliehen, gehöre das exotische Tier zur fremden Rolle, weil es die symbolische Ordnung, gespeist aus der kulturellen Überlieferung, so vorgibt; ein Robinson ohne Naturumfeld käme Staberl so vor, „wie ein Theater ohne Repertoir. Ein Robinson ohne Lama ist eine lahmer Robinson.“75 Generell ist die Assoziation in der symbolischen Ordnung klar vorgegeben, die ganze Inselwelt scheint aus zwingenden Assoziationen als gesellschaftliche Beziehungen gebaut zu sein. Stereotypen bleiben nicht aus und die Grenzen der Insel werden durch die Performanz der Tautologie gezogen, Staberl: „Jede wüste Insel hat einen Robinson. Jeder Robinson hat einen Freitag. Jeder Freitag hat einen Robinson. Und jeder Robinson hat eine wüste Insel.“76 Der Schiffbrüchige wird in die Rolle des Robinsons gezwungen, weil er ein Schiffbrüchiger auf einer Insel ist. Die Tiere müssen Freitag und Jakob spielen, es herrscht ein selbstreferentieller „Zirkel, in dem man verrückt werden könnte.“77 Die ästhetische Vorlage zwingt die Schiffbrüchigen, die Inselbewohner und die Zuschauer in eine kybernetische Ordnung, die das Buch als zentrales Medium der symbolischen Ordnung vorgibt. Dessen Text ersetzt über die Einbildungskraft die rationale Ordnung der Natur, wird in der Wahrnehmung zum korrelationistischen Zirkel der Moderne. Übersetzungsvorgange dieser Art reflektieren den entscheidenden Wandel in der Naturgeschichte und der Poetik des 18. Jahrhunderts. Der stärker werdende Einfluss der sensualistischen Ästhetik zog einen gravierenden Zweifel und letztendlich die Verabschiedung der normativen Dichtungstheorie Gottscheds nach sich. Ähnlich wie in der Naturgeschichte erzeugte auch in der Poetik das ständig zunehmende fiktionale und nicht fiktionale Wissen einen so großen Druck auf die Regelpoetik, dass sie nicht mehr haltbar war. Mit Baumgarten und Lessing antwortete eine innovative Ästhetik, sinnliche Erkenntnis und poetische Illusion wurden später von Schiller, Schlegel und Novalis mit dem Gedanken der Autonomie des Schönen ohne Zweckbindung assoziiert. Wenn der Affe als Mensch Freitag über ein Buch und das erworbene Lesevermögen zum von der symbolischen Ordnung geforderten Menschen wird, dann verbinden sich Vernunft und Instinkt als Ordnungserfahrungen, die auf denselben
73 Ebd., S. 126. 74 Ebd. 75 Ebd. 76 Ebd., S. 127. 77 Ebd.
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Stamm der Natur zurückzuführen sind. Das System der Zeichen des Menschen und das Signalsystem der Tiere wurden in der Einbildungskraft beide im Fundament eines natürlichen Codes eingebettet. Die unterstellte und letztlich diskriminierende oberflächliche Ähnlichkeit von Affen und Wilden erlaubte den in der Posse stattfindenden doppelten Übersetzungsvorgang vom Tier zum Menschen und von der Wirklichkeit in die symbolische Ordnung. Die Physiognomik kittete imaginär die Differenz zwischen Seele und Kosmos sowie zwischen Instinkt und Umwelt. Staberl entdeckt als Naturforscher in der Tradition Robinsons die Insel, nimmt sie als Kolonisator in Besitz und macht zugleich eine Ordnungserfahrung, die sein Menschsein, seine Identität erst ermöglicht. Gerade der komischen Figur steht es an, diese Travestie so weit zu treiben, dass in der Performanz dasjenige im Zeitraffer deutlich wird, was eigentlich jede Naturforschung ausmacht: Dass das zunehmende Sammeln von Erkenntnissen über die Natur die eigene Identität als Mensch und Individuum aufzeichnet und festschreibt, indem es die Integration in die Natur mit der Lesbarkeit derselben und damit seiner eigenen Identität verbindet. Sichtbar und darstellbar wird, dass der Mensch und im Falle des Bühnenstücks natürlich auch das Tier, gerade wenn es sich seiner selbst bewusst wird wie der Affe Freitag, zugleich Natur ist (Leib sein) und Natur erkennt (Körper haben). In dieser Posse war nicht allein Staberl als die komische Figur „jetzt Robinson“78, sondern ausgerechnet Freitag ein Affe. Der Autor erläutert im Begleittext, wie er den am Königstädter Theater heimischen Jocko in das Stück integriert habe. Die Korporal-Motorik des Affen grundierte Freitags Auftritt, zugleich war dieser aus der dafoeschen Erzählung als Eingeborener bekannt. Gespielt wurde mit ständigen Wahrnehmungsüberlagerungen von Affe und Mensch und Eingeborenen, dem des Weiteren das Stereotyp eines kindlichen Habitus unterstellt wurde: „Freitag: Nicht seyn Herr böse? Staberl: Wie der Kerl red’t, wie ein kleines dalketes Kind!“79 Die dominante Nebenfigur wurde zur Grenzfigur zwischen außereuropäischem Exoten und wildem Tier, sie provozierte die im 18. Jahrhundert virulente anthropologische Frage zur naturhistorischen Klassifikation und zu den Alleinstellungsmerkmalen des Menschen.80 Die Erkenntnis über die Variabilität der Arten erzeugte Zweifel an deren Realitätsbezug und noch mehr an der Legitimität der höheren Gruppenkategorien. Der Prozess der Individualisierung, dem der Affe als Freitag im Stück unterworfen ist, wurde zur Inszenierung eines naturgeschichtlichen Experiments, das zugleich in der Hochzeit der Romantik als Gedankenexperiment verstanden werden konnte.
78 Ebd., S. 125. 79 Ebd., S. 126. 80 Vgl. M. Hagner: Homo cerebralis, S. 40.
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Mit Rückgriff auf die von Leibniz vertretene Vorstellung einer graduellen Perfektion der Objekte in der Natur war es früher noch möglich, Individuen anhand von an der Oberfläche erkannten Zeichen in einer linearen Stufenleiter anzuordnen. Hierbei waren insbesondere die Varietäten als Mittelformen geeignet, eine weitgehend lückenlose Reihe zu legitimieren.81 Wenn jedoch im Rollenspiel unklar blieb, welchen mimetischen Bezug der Umriss, die Gestalt und das Verhalten des Affen/Menschen/Wilden/Kind zur Natur als Wirklichkeit des Anderen hatten, dann wurde jede naturhistorische Klassifikation von vorneherein als Konstruktion entlarvt, was wiederum gravierende Auswirkungen auf das Selbstverständnis des Menschen hatte. Letztendlich wäre die Klassifikation zweitrangig, wenn die Machtverhältnisse geklärt wären. Während auf der Insel die Identitäten verschwimmen, treten umso mehr die Machtkämpfe und -verhältnisse in den Vordergrund. Mensch ist derjenige, der herrscht. Aber ohne Anderen ergäbe sich keine Dialektik zwischen Herrn und Knecht und somit keine gesellschaftliche Ordnung. Im ersten Auftritt Staberls als Robinson scheint alles klar zu sein, der Affe Freitag „stürzt vor [Robinson] nieder und küßt liebkosend seine Füße“. Robinson ist entsetzt, hat er sich in Freitag doch einen menschlichen Dialogpartner erhofft, der zumindest den aufrechten Gang beherrschte: „Aber Freitag, Freitag, wirst du denn nie vergessen, dass Du ein Affe bist? Hab’ ich mir darum solch’ eine unsinnige Müh’ gegeben, Dich zum Menschen zu machen? Willst Du Deine thierische Kriecherei niemals ablegen? Ich lieb’ einen demüthigen Diener, (ich war selbst Einer!) aber sklavisch muss kein Mensch seyn – geschweige denn ein Aff’!“82 Wenn sich Robinson schon anschickte, die Inselwelt imaginär zu beleben, was eine eher ungefährliche, im Theater medienspezifische Methode im Kampf um Anerkennung zwischen Herrn und Knecht darstellte, dann sollte ihm auch ein passender Diener zu Verfügung stehen. Ein Tier als ‚Tier‘ wäre ihm nicht von Nutzen, dessen tierischer Natur gelänge es kaum, sich soweit einer Selbst-Kontrolle zu unterwerfen, dass er ein brauchbarer Diener sein könne. In diesem Sinne reflektierte die Vermenschlichung des Affen zu Freitag die Dialektik der Ent-Fremdung des modernen Menschen als Natur in der Natur. Für Hegel wäre die „unfreiwillige Verleiblichung der inneren Empfindungen“ etwas „dem Menschen mit den Thieren Gemeinsames“.83 Freiheit bedeutet, dass der Affe sein Menschsein den nicht willkürlichen Äußerungen des Leibes abzuringen habe. Aus dialektischer Perspektive bedürfe es erst mal der Äußerung des Leibes, um die Seele als Empfindung überhaupt wahrnehmen zu können. Damit wird das
81 Vgl. I. Jahn: Geschichte der Biologie, S. 397. 82 C.v. Holtei: Staberl als Robinson, S. 125f. 83 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: System der Philosophie. Dritter Teil. Die Philosophie des Geistes, Stuttgart 1965, S. 247.
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Subjekt durch das Zeichen zugleich vertreten und vom Zeichen abgetrennt, das Subjekt erobert sich über die Objektalisierung selbst, so wie die komische Figur als Robinson die Insel als Natur überwindet und der Affe über das Buch sich selbst als Mensch gewinnt, um Robinson ein guter Diener sein zu können. Während das Tier und der Wilde noch in Gefahr sind, durch die Affekte unwillkürlich überwältigt zu werden, befreit sich der Mensch aus der Unselbständigkeit, indem der Gegensatz zur Einheit in der Idealität aufgehoben wird. Die wirkliche Seele des Selbst kommt für Hegel zur Ruhe und damit zu sich selbst, in seinem Konzept vom Menschen ist jener auf der einen Seite Natur, von der er sich auf der anderen Seite zugleich entfremdet, genauso wie der Mensch Leib ist und einen Körper hat. Der Prozess der Vermenschlichung des Ausdrucks ist bei Freitag zwar keineswegs abgeschlossen, da er seine Verhaltensweisen noch nicht im Griff hat, aber er ist auf einem guten Weg und wird am Ende des Stücks die Macht über die Insel übernehmen. Das gelingt der komischen Figur nicht, obwohl sie eingangs die menschlichste und damit ranghöchste ist. Ihr Aufstieg würde der von der niederen zur höheren Kultur, vom Vorstadttheater zum Nationaltheater sein, um mit Hegel zur vermittelten Einheit einer für sich seienden Seele zu gelangen. Damit hätte sie sich vor idealistischem Hintergrund ihrer Hanswurstidentität zu entledigen, ihrer Triebhaftigkeit, Improvisationslust und virtuosen, aber zu sehr zur Schau gestellten Korporalität. Sie hätte sich in ihrem Auftreten stark zu disziplinieren, immerhin hätte, wie Hegel feststellt, der „Gebildete ein weniger lebhaftes Mienen- und Geberdenspiel, als der Ungebildete.“ Der in seinem Auftreten Ge-Formte solle dem „inneren Sturme seiner Leidenschaften Ruhe“ gebieten, indem er auch „äußerlich ein gewisses mittleres Maaß“ einrichtet. Staberls nach außen gekehrtes Innenleben verrät jedoch immer die ungebildete, impulsgetriebene Dienerfigur. Sie glaubt, sich, wie Hegel es beschreibt, durch einen „Luxus von Mienen und Gebehrden“ verständlich machen zu können, bekommt so ein komisches Aussehen, weil „in der Grimasse das Innere sich sogleich ganz äußerlich macht, und der Mensch dabei jede einzelne Empfindung in sein ganzes Daseyn übergehen lässt, folglich – fast wie ein Thier – ausschließlich in diese bestimmte Empfindung versinkt.“84 Dementsprechend tritt die komische Figur in der inszenierten Wildnis auf, denn im Bereich des Übergangs von Natur zu Kultur bewegt sie sich auf der Grenzlinie zwischen Mensch und Tier soweit, dass sich die Empfindungen direkt im Gesicht zeigen, obwohl oder gerade weil der klassizistische Blick den Menschen, der eine Grimasse zieht, auf einer niedrigen Stufe einordnet. Dass dies auch im äußeren Kommunikationssystem der Bühne Anlass für kulturkritische Schelte bietet, beweisen u.a. die wiederholten scharfen Angriffe auf Nestroys Spiel, dem mit Weimar als Urteilsfolie ein zu trieb-
84 Ebd., S. 250.
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lastiges Auftreten bescheinigt wird – aber dies war das theatrale Los der komischen Figur seit Gottscheds Verdikt. Während der Affe im Bildungsprogramm der intensiven Lektüre erst zu Freitag und dann zum Inselherrscher aufsteigt, bleibt die komische Figur in der Rolle des Robinson im Grenzbereich zwischen triebhafter Natur und disziplinierender Bildung gefangen und erlangt niemals die nach Hegel im „verständigen Bewusstsein wurzelnde[n] Freiheit“.85 Sie wirkt als paradigmatische theatrale Figur, denn jedes Rollenspiel ist eine ausgewogene Mischung von triebhafter Korporalmotorik und sich aus dem kulturellen Gedächtnis speisender literarischer Vorlage, die in die inszenierte Rolle einfließt. Damit begründet sich der Raum des Theaters als Heterotopie, weil er im Rollenspiel die anthropologische Grenzerfahrung zwischen Natur und Kultur als denkbares Extrem ermöglicht. Der Schauspieler begegnet insbesondere als komische Figur der inneren und äußeren Wildnis, die durch den Bühnenrahmen ihre institutionelle Absicherung behält. Für Hegel war ein Mensch, der „nun aus seinem bewussten, besonnen Leben heruntergefallen in die bloße Empfindung“, krank.86 Für ihn waren es „durchgängig die exotischen, peripheren, ausgestoßenen Individuen, bei denen die Expressivität als unkontrollierbare Verleiblichung in Erscheinung tritt.“ Die Reise einer Dienerfigur in die Peripherie der fremden, exotischen Inselwelt entwarf die geeignete Dramaturgie, auch wenn der Übergangsritus der Robinsonade scheitern musste, die Hauptfigur eine komische Figur war. Im Scheitern blieb die hegelsche (nicht die rousseausche) Natur Sieger: Diese ist „Krankheit, Animalität, Wahnsinn, Infantilität.“ Denn wo „Langsicht, Zurückhaltung und Selbstobjektivierung fehlen, dort trifft man auf Natur. Methodisch bedeutet dies: man muss Exkursionen ins Wildland wagen [etwa im geschützten Rahmen des Theaters!], um die naturalen Affekte und Leidenschaften auffinden zu können.“87 Insofern legte Holtei mit seinem Stück eine theatrale Exkursion ins „Wildland“ vor, die als imaginäres Probehandeln die Frage nach der eigenen menschlichen Identität stellte. Robinson alias Staberl und sein Freitag langweilen sich auf der Insel, sie vermissen wie Papageno die Frauen. Zudem plant Staberl als erster ‚Mensch‘ auf der Insel, mit jedem weiteren Ankömmling eine Herrschaft unter seinem Regiment einzurichten. Es herrscht der dringende Wunsch nach Gesellschaft, insbesondere nach weiblicher Begleitung: „Freitag: Traurig ist der Herr? Was Herrn fehlt? Staberl: O Aff’, Du begreifst es nicht, Du kennst die Seligkeit des Wahnsinns nicht? O Freitag, Freitag, warum bist Du keine Sontag? – Hast Du schon geliebt? Freitag: Geliebt?
85 Ebd., S. 193. 86 Ebd., S. 93. 87 G. Schmidt: Das Gesicht, S. 46f.
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Ich? Ja: Aeffin!“88 In der Sehnsucht nach dem „ewig Weiblichen“ sind sich Mensch und Tier, Zivilisierter und Eingeborener, ernste und komische Figur einig, sie resultiert aus einem ‚natürlichen‘ und keineswegs dezidiert ‚menschlichen‘ Begehren: „Mel.: [Staberl:] Bei Männern, welche Liebe fühlen/Bei Affen, welche Liebe fühlen, Fehlt auch ein gutes Herze nicht/Freitag: Mit Aeffin ich in Bäume spielen,/Doch Liebe weichet jetzt der Pflicht. Staberl: Mann und Aff’ und Aff’ und Mann, Einer schaut den Anderen an.“89 Wenn es um die Triebe geht, dann spiegelt sich der Mensch auch in der prädarwinistischen Zeit im Affen. Insbesondere in der Spiegelszene wird deutlich, dass die komische Figur und der Affe letztendlich zwei Seiten, die menschliche und die animalische, einer Figur als Projektion des Bewusstseins auf eine leere Insel (wie auf einem leeren Blatt) sind. Der Wunsch von Robinson und Freitag, von Mensch und Tier wird erhört, es verschlägt eine illustre Gesellschaft auf die Insel, wobei die eine Hälfte dieser Gruppe, bestehend aus den „Verschworenen“ „Meinau, Hugo, Isidor, Jaromir, dem Seiltänzer und dem Galeerensklaven“, die andere Hälfte gefangen hält, die aus „Julia“, „Ifigenia“, „Minna“, „Käthchen“, „Posa“ gebildet wird. Wie man schon an den Namen unschwer erkennen kann, gibt die Gruppendifferenzierung die Trennung zwischen zeitgenössischer populärer Dramatik eines Iffland und Kotzebue, und Stücken, die wir heute als „klassisch“ bezeichnen, wieder, alle Figuren entstammen der Literatur bzw. dem Theater. Die männlichen Figuren aus den trivialen Stücken haben als „Verschworene“ unter der Führung Meinaus, des „Menschenhassers“, der Hauptfigur aus Kotzebues Erfolgsstück Menschenhaß und Reue90, den Aufstand gegen die – bis auf Posa – weiblichen Figuren Shakespeares, Lessings, Schillers Kleists und Goethes angezettelt: „Isidor: Nieder mit Euch Allen/Ihr unerträglichen Autoritäten.“91 Untergründig scheint auch ein Geschlechterkampf stattzufinden; der von seiner Frau in ‚seinem‘ Stück betrogene und daher von den Menschen bzw. Frauen enttäuschte Meinau rächt sich an der männerdominierenden Minna und freut sich, während er sie fesselt: „Jetzt werden Sie den armen Tellheim nicht mehr quälen.“92 Beide Gruppen bestehen auf ihrer jeweiligen Herkunft, wobei die Autorennamen zu Nationennamen werden: „Staberl: Sie sind ja wohl der Markis Posert?
88 C.v. Holtei: Staberl als Robinson, S. 126. 89 Ebd. 90 Zwar ist das Erfolgsstück von Kotzebue aus dem Jahr 1788, aber Goethe berichtet noch 1830 so kritisch wie Frauen herabsetzend über das Stück, „worüber noch jetzt alle Damen sich totweinen, wenn auch so mancher Herr sich dabei im Kopfe kratzt“; ders.: Gedenkausgabe der Werke, Briefe und Gespräche, hg. v. Ernst Beutler, 24 Bde. Bd. 13, Zürich 1948, S. 704. 91 C.v. Holtei: Staberl als Robinson, S. 126. 92 Ebd.
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Posa. Sie irren. Sie verwechseln mich mit einem Iffländer. Nicht Posert. P.o. Po – s.a. Posa!”93 Dass es den sonst marginalisierten Figuren der trivialen Dramatik gelingt, auf der Insel die Macht über die einflussreichen Figuren zu erringen, liegt natürlich daran, dass die Inselwelt der Imagination der komischen Figur entstammt: „In Berlin -/Habt ihr G’ wicht [sagt Mainau],/Auf der Insel,/Habt Ihr’ s nicht./Auf der Insel,/Sind wir Herr’n,/Euer Tod/Ist nicht fern!“94 Obwohl Robinson als Staberl die Gefangenen der „Verschworenen“ eigentlich „niemals leiden“ hat können, „denn sie haben mir eine grausliche Langweile gemacht, und die Verschworenen haben mich, aufrichtig zu reden, weit besser amüsiert“,95 ist er bereit, die Figuren des ‚anspruchsvollen‘ Theaters zu befreien, dafür verlangt er jedoch, von diesen als der Herrscher der Insel anerkannt zu werden. Schon als er noch mit seinem Diener, dem Affenmenschen Freitag, und seinem Papagei Jakob allein war, hoffte er auf einen Bevölkerungszuwachs durch Schiffbrüchige: „Vielleicht treibt das Meer einige [von diesen] an meine Insel? Wer hier eintrifft, muss mir gehorchen und wenn sich die Bevölkerung bis auf Tausende vermehrt, so bleib’ ich ein Herr von der Insel, nach altem Völkerrecht.“96 Bevor sie die Gefangenen befreit, verlangt die komische Figur ewige Gefolgschaft von Figuren einer Dramatik, die im Diskurs der Aufklärung den Hanswurst nicht mehr nötig hatte: „Staberl: Ja, mit dem Losbinden geht’s nicht so g’schwind. Erst müßt Ihr mir als treue Unterthanen Treue schwören.“97 Kaum ist Posa als der erste Gefangene befreit, kann er nicht aus seiner Haut und fordert nicht ohne schillerschem Pathos vom „Große[n] Herrscher dieser Insel“, dem „große[n] Staberl-Robinson“: „Geben Sie Gedankenfreiheit!“98 Das deutet bereits das Scheitern der komischen Figur an, denn die Figuren sind alle Gefangene ihres traditionellen Charakters. Der Diener Staberl versucht zwar, auf der Insel als Fremdraum, der traditionell eine temporäre Umkehrung der heimatlichen hierarchischen Verhältnisse ermöglicht, im Kampf um Anerkennung zum Herrn zu werden, aber seine Natur als Rollenfigur lässt dies nicht zu. Nicht nur die Zitate sind dem ursprünglichen dramatischen Text der Figuren geschuldet, sondern auch die Beziehungsstrukturen. So können sich die Frauen der ‚langweiligen‘ Stücke nicht von ihren Erinnerungen an ihre einstigen Geliebten trennen, sodass für Staberl als potentielle Partnerin nur Käthchen bleibt. Er würde zwar gerne eine der von ihm befreiten Damen näher kennenlernen und fragt „Posa“ um Rat, welche er ansprechen könnte. Die ‚klassische Figur‘ antwortet jedoch aus-
93 Ebd., S. 127. 94 Ebd., S. 129. 95 Ebd., S. 127. 96 Ebd., S. 126. 97 Ebd., S. 127. 98 Ebd.
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weichend: „Die Wahl ist schwer. Ich bin in Liebessachen nicht unerfahren und ein guter postillion d’amour, hier jedoch weiß ich mir keinen rechten Rath.“ Denn die in den dramatischen Texten fixierten Verhältnisse und Charaktereigenschaften der berühmten Figuren lassen nicht viel Spielraum: „Ifigenia ist kalt und stolz. Man sagt ihr war nach, dass sie einen gewissen Pylades mit Wohlgefallen betrachtet habe, darauf aber geb’ ich nichts: Die Griechen und Scythen waren so gut Lästerzungen, als wir es sind. Julia und Minna sind in ihren Romeo und Tellheim so verliebt, dass kein Anderer –“.99 Nur „Käthchen“ komme in Frage, aber die hat für Staberl „zu viel Aehnlichkeit mit Madame Staberl“.100 Die von ihm erkannte physiognomische Ähnlichkeit wies vordergründig auf einen wahren Charakter hinter den Masken, am Ende des Stücks stellte sich prompt heraus, dass Staberls Frau tatsächlich in der Rolle der Käthchen steckte, wobei auch sie als weibliche komische Figur wiederum eine Rolle spielte, deren Bedeutung keinesfalls feststand: „Käthchen: Verzeihung! Ich bin Deine verlassene Gattin. Ich erschien in dieser Maske nur, um anzudeuten, dass ich Dir folge, wie Käthchen ihrem – Staberl (sie unterbrechend): Donner – Käthchen: Wetter –“.101 Das Wortspiel bezog sich auf das Verhältnis zwischen den beiden Hauptfiguren aus Kleists Käthchen von Heilbronn, Käthchen und Graf Wetter von Stahl, der schnell zu von ‚Sta’berl wird. Dass Staberl alias Robinson gerade in Käthchen alias Madame Staberl sein weibliches Gegenstück fand, eröffnete mit Kleist die Frage nach der Identität in einer grundlegend prekär-modernen Welt. Während Holtei eine Insel der Imaginationen als Heterotopie des korrelationistischen Zirkels einrichtete, hat Kleist einen Raum der Träume und Bilder geschaffen, in dem sich die unbewusste Identität Käthchens am Ende als die richtige herausstellte. In beiden Stücken trugen die Imagination bzw. der Traum über die Wirklichkeit den Sieg davon. Während die Erfüllung des Traums bei Kleist der Idealität Käthchens im Sinne einer unschuldigen, traumwandlerischen Grazie, die Kleists Marionette vorgriff, geschuldet war, fand bei Holtei die komische als naive Figur wie von selbst ans Ziel. Doch während Käthchen als verborgene Kaisertochter aufsteigt und sich gegen alle dramatischenrealen Widerstände selbst findet, zeigt sich in Holteis Spiel über das Gefühl die Macht der Natur des Anderen und zugleich die der Grenzen für eine komische Figur. Denn nach einigem kriegerischen Hin und Her im insularen Kulturkampf ruft in der höchsten Not Freitag die Tiere der Insel zu Hilfe: „Will Freitag laufen und rufen zu Hülfe alle Thier’ auf Insel. Thiere auch fühlen Tugend, Thiere auch können sterben für Vaterland und Herrn ihrigen. Wagen Leben für Robinson. (Ab.)
99
Ebd., S. 127f.
100 Ebd., S. 128. 101 Ebd., S. 130.
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Käthchen (allein). Freitag! Freitag! – Vergebens, er hört mich nicht mehr. O wie sehr gleicht er seinem erhabenen Vorfahren, dem edlen Jocko, der auch für die Tugend stirbt.“102 Nicht dem Menschen Robinson, sondern den Tieren unter der Führung des Affen und kolonisierten ‚Eingeborenen‘ Freitag gelingt es, die klassischen Figuren in einem Gefecht von der Herrschaft der Verschworenen zu befreien. Dies hat gravierende Folgen, denn in einem Inselreich als „Thierreich“, in dem ein ‚Prospero‘ auf die existenzielle Hilfe ‚Calibans‘ angewiesen ist, wird sich der Inselherrscher nicht mehr halten können. So werden die Theaterfiguren am Ende der Konflikte zu Untertanen, die vermenschlichten Tiere übernehmen als Verkörperung des Natürlich-Unbewussten die Macht: „Staberl: Ich hab Freitag zu befehlen. Freitag. Nein, auch Du nicht mehr. Staberl. Was? Freitag: Die Tiere sind mündig geworden, Sie wollen sich nicht länger von der Poesie unterjochen lassen.“103 Auch das Vermögen des Inselherrschers Staberl, mit Begriffen eine natürliche Ordnung in der Fauna zu schaffen und somit das Heft in der menschlichen Hand zu behalten, nützt wenig: „Staberl (Leise zu Posa): Die Bären scheinen noch die gutmüthigsten. Soll ich vielleicht in der Eil’ etliche siebentzig Beester zu Bär’s ernennen? Posa: Das hilft Ihnen nichts. Kaum sind sie ernannt, schlagen sie auch um.“104 Letztendlich kann Staberl keine Ordnung über die Natur des Anderen, die insbesondere auch seine eigene tierisch-triebhafte Natur ist, herstellen und bleibt die seinen Primärimpulsen unterworfene Figur, die er schon immer war. In Holteis Stück stellte sich die Herrschaft des Unbewussten über die Poesie dar, wiewohl beide für das Theater essentiell sind. Umstritten ist jedoch immer das richtige Verhältnis zwischen Natur und Kultur bzw. Performanz und Literatur auf der Bühne, und um dieses ging es letztlich im dramatisierten Kulturkampf. Während auf ihr als theatraler Heterotopie das Rollenspiel die Hierarchien generell in Frage stellte, übernehmen erst die nicht so langweiligen Figuren aus den Stücken Ifflands und Kotzebues die Macht. Von den anständigen, klassischen Frauenfiguren angezogen, ließ sich Staberl wie Pentheus in Euripides’ Bakchen zum Ordnungsdienst verführen, erreichten aber letztlich das Gegenteil, da man zur Überwindung der trivialen Figuren der Erfolgsstücke auf unbewusstere Mächte zurückgreifen muss, die noch mehr im Unkontrollierbaren angesiedelt sind. Letztendlich siegen die Schaulust, die Menagerie, der Zirkus, das KorporalMaterielle und das Tierisch-Triebhafte; die komische Figur wurde auf die Stufe zurückgeworfen, der sie entstammte. Die unge-bildete Figur hätte, mit Hegel, ihre Natur nicht im Griff. Holtei demonstrierte in seinem insularen Traum der Bilder wie Kleist die Macht des Unbewussten.
102 Ebd., S. 129. 103 Ebd., S. 130. 104 Ebd.
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Am Ende des Stücks fordert Posa, der sich gerne der herrschenden Macht beugte, dass man Freitag als neuen Inselherrscher huldigen solle, und zwar schon deshalb, „weil sonst das Stück gar nicht zu Ende kommen kann.“ In der anschließenden Replik offenbarte sich der Mechanismus der Differenz, letztlich vom Überschuss der symbolischen Ordnung, die durch das Unbewusste bewegt wird: „Staberl: In einer Abtheilung? Von was ist’s denn hernach abgetheilt? Posa (leise): Vom gesunden Menschenverstande. Staberl: Wodurch? Posa: Durch Worte.“105 Der Macht des Unbewussten war nicht zu entkommen, Posa erkennt, dass es „doch nichts“ helfe, man könne „nicht gegen den Strom!“ Staberl sekundiert: „Kein Gram, kein Schmerz, - s’ ist Alles einerlei!“106 Im Schlussgesang formulierten die Figuren ein Programm der Gleichheit im Sinne einer situativ-relativen Perspektivenabhängigkeit: „Das ist alles gleich,/Wer regieren mag im Reich/[...] Sind es Hunde, bellen sie nach Hundebrauch,/Sind es Hugo’s, dann bellt ihr Gewissen auch, Das ist Alles gleich,/[...]“. Projiziert auf ein theatral-dramatisches Zentrum, das durch die komische Figur figuriert wurde, legte sich das theatrale Spiel zwischen Trieb und Geist, Komik und Idealität, triebhafter Korporalität und symbolischer Ordnung sowie der Rolle, die der literarischen Vorlage geschuldet war, offen. Zwischen den Tieren als symbolisierte natürliche Triebe und den poetischen Figuren der Hochkultur bzw. des theatralen Idealismus Weimars kam es zu einem Bündnis gegen die mittleren Figuren der populären Dramatik, um deren momentane Herrschaft zu beenden. Die Untreue der komischen Figur, die den poetischen Figuren mitsamt ihren tierischen Dienern zu Hilfe eilt, leitete deren Machtverlust ein, Holtei spielte auf die ständigen Versuche der Zensur an, die komische Figur verschwinden zu lassen. In der Infragestellung der gattungsbestimmten Grenzen, des idealen Dramas nach Weimar und der Unterminierung der Differenz zwischen Rollenspiel und Unbewusstem wies die Darstellung präavantgardistische Elemente auf. Die Handlung des Stückes war zugunsten einer assoziativen Struktur äußerst reduziert, die Figuren demonstrierten ihren Rollencharakter, der Gestus der beteiligten Figuren blieb irritierend selbstbezüglich, die Referenz aller Zeichen wurde mit einem großen Fragezeichen versehen. Die thematisierte Möglichkeit einer Utopie unterminierte weit vor den messianischen Reflexionen Walter Benjamins und Ernst Blochs teleologische Fortschrittsvorstellungen, die das 18. und 19. Jahrhunderts prägen sollten; eine theatrale in sich geschlossen Dramaturgie wurde von der von Karl-Heinz Bohrer als Plötzlichkeit vorgestellten Utopie Augenblick ersetzt, die wiederum nur dem selbstreflexiven Subjekt im Theatermachen und -rezipieren bewusst möglich bzw. erträglich ist. Einem solchen Unvernehmen (Rancière) konnte und wollte das Publikum nicht mehr folgen, aber es war unterschwellig als dunkle Seite immer da, konnte je-
105 Ebd., S. 130f. 106 Ebd., S. 131.
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derzeit durch idealistische Bildungsböden brechen, was auf der Ebene des Bewusstseins erst recht zu Verhärtungen in der Gestaltung des Anderen führte. Von einer mimetischen Repräsentation konnte in Holteis Stück kaum eine Rede sein, die Zuschauer waren sich des Konstruktcharakters und der Theatralität des Inszenierten bewusst. Man nahm eine De-Konstruktion der Hierarchie der Theaterelemente und medialen Spezifitäten war, obwohl am Ende die alte Ordnung wiederhergestellt wurde. Binäre Oppositionsbildungen wie komische und tragische Figur oder triviales und klassisches Stück wurden markiert, indem ins Zentrum verschobene und marginalisierte Elemente in ständigem Wechsel in den Blick genommen wurden. Die komische Dienerfigur subvertierte als zentrale Gestalt die hierarchische, letztlich ideologische Ordnung der herrschenden Theaterkultur. Die Theatralität des Mediums Theater wurde weit vor Peter Handkes Publikumsbeschimpfung sichtbar und reflektiert, der Menschen in der Natur triebhaft und als Schauspieler kenntlich gemacht, sein Konstruktcharakter offengelegt – wir würden heute von einem modernen, wenn nicht gar postmodernen Theatertext sprechen, während die Inszenierung performative Züge aufwies.
8. Dramaturgien des Anderen I. Konflikt
8.1 D AS D RAMA
DES
D RAMAS
Politisches Theater machen oder politisch Theater machen? Konfliktmodell oder Überschreitungsmodell der Tragödie? Theater der Unterhaltung oder Theater der Wirksamkeit? Das steht zur Diskussion, obwohl die Theaterpraxis weniger schwarz-weiß als grau schattiert erscheint. Spätestens seit Schechner 1966 und Wirth 1985, dann Gerda Poschmann 1997 sowie Lehmann 1999 für das deutschsprachige Theater die Vorherrschaft des traditionellen Dramas für veraltet erklärten, wird in Theatern, freien Gruppen, der Kulturkritik und Wissenschaft disputiert und gestritten. Was ist ein traditionelles Drama – ein offenes oder geschlossenes, ein Theatertext oder gar eine dramatische Situation? Die Form des Dramas leitet sich im europäischen Kulturraum von den griechischen Tragödien sowie Komödien des fünften Jahrhunderts v. Chr. und von der Poetik des Aristoteles her. Es bildete sowohl in der literarischen als auch in der theatralen Kultur eine trotz vieler Formen, Gattungen und Subgattungen konstante Tradition. Zum einen differenzierten sich die poetischen und bildenden Künste sowie die Musik aus, deren Grenzen heutzutage vor dem Hintergrund zunehmender Inter- oder gar Transmedialität, -disziplinität und -kulturalität unter dem Stichwort Interart sukzessive und partiell aufgehoben werden. Zum anderen unterschieden sich seit der griechischen Antike innerhalb der Poesie die Gattungen Dramatik, Epik und Lyrik, in der Dramatik wiederum die Tragödie und Komödie, die etwa in aktuellen Qualitätsserien in der Form der Dramedy oder in Computerspielen auf der Ebene des Narrativen neben dem Spielcharakter eingeschrieben sind. In einer Assemblage an historisch wie systematisch divergenten Perspektiven wirkt das Drama wie eine magnetisch-diffus, halbsichtbare Gestalt vor kulturell-medialem Hintergrund, während Ausdifferenzierungen und Auflösungen des Dramas als Form, Struktur und Gattung zu verzeichnen sind. Die traditionelle dramatische Struktur skizziert wäre zum einen die Darstellung von Handlung durch Figurenrede (Dialog sowie Monolog) in einem bestimmten Zeit-Raum auf der Bühne, zum anderen der dramatische Text, der dieser Darstel-
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lung zugrunde liegt. Damit wäre seit Aristoteles ein Konvergenz- und Spannungsverhältnis begründet, das Literatur und Theater verbindet und zugleich trennt. Transponiert auf das traditionelle Rollenspiel ergibt sich aus der bis auf einen letzten asymptotischen Spalt zuweilen kaum wahrnehmbaren, aber letztlich unaufhebbaren Differenz zwischen Eigenart der Schauspieler sowie der meist (immer noch) literarisch formulierten Rolle ein kreativ-virulenter Konflikt, der, je nach ästhetischer, medialer und institutioneller Spezifität, zu verschiedensten Darstellungsmodi führt: Die Bandbreite reicht vom dialogbasierten TV-Serienskript in House of Cards bis zu Marina Abramovic’ Performance The Artist is Present. Das Drama ist, gerade ex negativo, gestaltermöglichender Hintergrund für das performative Theater wie für populäre dramatische Formen in Film, Fernsehen und in den neuen Medien in Computerspielen; es beeinflusst den Tanz (etwa im Tanztheater von DV8 oder Sasha Waltz) und das Musiktheater (wie Heiner Goebbels Schwarz auf Weiß). Nicht zuletzt wurde von einer gegenwärtig hoch dramatisierten und theatralisierten Kultur gesprochen, einer Gesellschaft des Spektakels (Guy Debord) bzw. des Hyperrealen (Jean Baudrillard), dem einige Formen des avancierten Theaters durch Entdramatisierung (Schechner, Lehmann) oder gar einer Ästhetik des Postspektakulären begegneten.1 Misstraut wurde von Einigen der ubiquitären Mimesis des Fiktiven, einen Ausweg suchte die Theorie des Performativen (Nietzsche, Austin, Searle, Derrida, Butler, Schechner) und die performative Praxis der ästhetischen Grenzüberschreitung, die sich auf den Vollzug von Handlungen, die Realität selbst herstellen, fokussiert. Wieso erhält sich das Drama seit über 2000 Jahren in einer sich ständig verändernden europäischen Kultur- und Medienlandschaft? Diese Frage ist schwer zu beantworten. Auffallend ist jedoch seine strukturelle Ähnlichkeit mit dem, was uns Menschen den Zugang zu unserem Leben ermöglicht: Figur, Handlung, Sprache bzw. Dialog, Zeit und Raum oder Ort sind auch die Koordinaten der eigenen Existenz im Umgang mit dem Anderen. Man begegnet bekannten und fremden Personen, vermutet Handlungen, verständigt oder missversteht sich im Dialog und benutzt Zeitangaben sowie Ortsbestimmungen, um sich zu orientieren. Außer Frage steht, dass alle diese Orientierungsformen, -identitäten und Gestalten vor postmodernem Hintergrund prekär werden, was zu dementsprechenden theatralen Formen führen kann.2 Nur: Wären damit für Alltag wie Theaterpraxis dramatische Formen und Gestalten obsolet? Unbestrittene Autorität für das Dramatische ist Aristoteles mit seiner Poetik. Für ihn stand der Mythos, die Handlung im Mittelpunkt, mit ihr verbunden sind Peripetie und Anagnorisis; gefordert wird eine Kausalität aufweisende, Wahrschein-
1
Vgl. A. Eiermann: Postspektakuläres Theater.
2
Vgl. etwa Katharina Pewny: Das Drama des Prekären, Bielefeld 2011.
D RAMATURGIEN DES A NDEREN I. K ONFLIKT
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lichkeit repräsentierende Einheit der Handlung, mit Anfang, Mitte und Schluss, die sich gegenwärtig immer noch in der Drei-Akt-Struktur des populären Hollywoodfilms zeigt.3 Plädiert wird für den mittleren Helden, der ein Schicksal erleidet. Die Wirkung der Tragödie bezeichnet Aristoteles mit den Begriffen Jammer und Schauder, die zur Katharsis, zur Reinigung der Gefühle führen. Aristoteles Poetik entfaltete historisch eine unvergleichliche Wirkung, bis heute bleibt der unvollständige und wohl nicht zur Veröffentlichung ausformulierte Text unangefochten die Leitpoetik, was das Drama und all seine Auflösungsopponenten betrifft: von der Renaissance, etwa bei Castelvetro, über den französischen Klassizismus bis zur Tragödie der Aufklärung mit den Antagonisten Gottsched und Lessing, mit der Frage nach Ständeklausel und bürgerlicher Moral; vom bürgerlichen Trauerspiel, den Tragödien der Moderne als Abgesang dieses Genres bis hin zur Postdramatik seit den 1960er-Jahren. Für ein weites Blickfeld auf die dramatischen Medien wird der Rückgriff auf das bürgerliche Trauerspiel interessant, die Einführung des tragikfähigen Bürgers, mit Diderots und Lillos Stücken als französische und englische Vorbilder. Im Zentrum stehen Tugendethos, Wirtschaftsnähe, Wahrscheinlichkeit und Lebensnähe; der Vater löst den Fürst ab, in diesem Sinne funktionierte auch die Absage an den Vers; Lessing interpretierte Aristoteles bürgerlich, suchte Furcht und Mitleid zu erreichen, hierzu geeignet sei der gemischte Held, der dem Zuschauer ähnelt. Die Figuren definierten sich über ihr Innenleben, das in den jeweiligen Taten zum Ausdruck kommt. Dies leitete die weitere Entwicklung der sogenannten Trivialdramatik ein, von Kotzebue über Iffland hin zu Birch-Pfeiffer, die wiederum als dramatische Vorgänger der heutigen TV-Serien gelten können. Im sozialen Drama, im Realismus und im Naturalismus, vom Sturm und Drang über Büchners Woyzeck bis zu Hauptmanns Vor Sonnenaufgang zeigte sich Ökonomie als Schicksal, Biologie und Vererbung als Determination und Familie als Drama; dies fand im 20. Jahrhundert im kritische Volksstück, bei Horvath, Fleißer, Toller, später bei Kroetz, Turrini, Sperr, in den USA bei Williams oder Albee oder in den amerikanischen Filmen Sidney Lumets zeitgemäße Fortsetzungen. Dagegen revoltierte die Avantgarde des 20. Jahrhunderts, die empirische Wirklichkeit als das Andere nicht repräsentieren, sondern selbst gestalten wollte. Nietzsches Geburt der Tragödie, das seine entscheidenden Anregungen durch Wagners Musikdrama empfing, initiierte ein theatral-performatives Gegenmodell eines Theaters der Erfahrung des Anderen, das mit Artaud, Grotowski, Schechner, Wirth oder heute Perceval dem Konfliktmodell der Tragödie das eines Überschreitungsmodells entgegensetzte. Damit schloß sich der Kreis von der Prädramatik des Dionysoskults zum Theater
3
Vgl. Syd Field: Screenplay, N.Y. 2005; Robert McKee: Story, N.Y. 1997; daran anknüpfend: M. Krützen: Dramaturgie des Films.
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der Erfahrung (Grotowski, Perceval) oder postdramatischen Theater (Schchner, Lehmann). Der angebliche Fehler Aristoteles’, in seiner Poetik der Inszenierung einen hinteren Platz in der Bestimmung der Tragödie zuzuweisen, wäre korrigiert. Dramentheorie und -praxis lassen sich auch gegenwärtig von Athen her definieren und verstehen; für Aristoteles ist die Tragödie eine „Nachahmung einer edlen und abgeschlossenen Handlung von einer bestimmten Größe in gewählter Rede, derart, dass jede Form solcher Rede in gesonderten Teilen erscheint und dass gehandelt und nicht berichtet wird und dass mit Mitleid und Furcht eine Reinigung von eben derartigen Affekten bewerkstelligt wird“. Ohne Handlung gäbe es keine Tragödie, in einem zweiten Schritt käme der Charakter hinzu, mit dessen Bezug auf die Handlung ein erstes grundlegendes Strukturmerkmal für das Drama etabliert wird. Drama basiert etymologisch auf dem griechischen „dran“, was Tun oder Handeln bedeutet: Im Drama wird gehandelt, und zwar von jemandem. Dies gilt gegenwärtig, in Kontrast zu Aristoteles’ Marginalisierung der Inszenierung, auf der Bühne sowohl für die Rollenfigur als auch für den Schauspieler. Auch das performative Theater, in dem programmatisch unklar ist, ob überhaupt eine Rolle gespielt wird, basiert auf Tun und Handeln. Die Uneindeutigkeit in der Frage nach Rollenspiel oder nicht lässt sich auf den bekannten Streit zwischen Searle, der sich auf Austin berief, und Derrida projizieren, in dem man sich nicht einig war, was unter Performativität zu verstehen sei. Für Austin fand im performativen Akt – wenn man mit einer Aussage etwas tut – eine Veränderung der Wirklichkeit statt. Für Derrida war jedoch über die Sprache hinaus eine real-authentische Basis des Handelns nicht gegeben, es fehle generell ein Referent, dem performativen Akt entspringe allein eine Zu-Schreibung. Daraus resultierte wie in Schechners Produktion Dionysos in 69 mit der Performance Group, in Schlingensiefs Aktionen oder in Polleschs Schauspielerreflexionen eine intendierte Unsicherheit in der Beantwortung der Frage, ob überhaupt Theater gespielt wird. Dies begründete vor performativem Hintergrund eine allgemeine Theatralität, welche die ästhetische Grenze zwischen Kunst- und Realraum (Michalski) undeutlich werden ließ, wenn nicht ganz aufhob.4 Dennoch blieben Tun oder Handeln das zentrale Kriterium des Dramas in der ganzen Bandbreite seiner ästhetischen Erscheinungsformen, das verbindet letztlich die dialoglastige TV-Serie mit der grenzüberschreitenden Performance Art. Wenn jemand etwas tut, dann gerät er schnell mit jemand Anderem in Konflikt, der etwas Anderes tut. Menschen haben verschiedene Interessen und verfügen über
4
Vgl. Helmar Schramm: Karneval des Denkens, Berlin 1996; Andreas Kotte: Theatralität im Mittelalter, Tübingen 1994; Stefan Hulfeld: Zähmung der Masken, Wahrung der Gesichter: Theater und Theatralität in Solothurn 1700-1798, Zürich 2000; Kritik durch Klaus Lazarowicz: Gespielte Welt, Frankfurt 1997.
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unterschiedliche Machtpotenziale (Hegel, Nietzsche, Foucault). Zugleich sind sie als soziale Tiere außerordentlich befähigt zur Kooperation bzw. zu solidarischem Handeln (Habermas, Tomasello), was zumindest zum Teil über die Nachahmung (von Aristoteles über Tarde, Latour bis zu den Spiegelneuronen) vonstattengeht. Während der Held in der griechischen Antike noch dem Schicksal gegenübersteht, begegnet er im modernen Drama dem Anderen. Soll nach Hegel der „wesentliche Gehalt der menschlichen Empfindung und Tätigkeit“ dramatisch erscheinen, so müsse er sich „in seiner Besonderung als unterschiedene Zwecke entgegentreten, sodass überhaupt die Handlung Hindernisse von Seiten anderer handelnder Individuen zu erfahren hat und in Verwicklungen und Gegensätze gerät, welche das Gelingen und sich Durchsetzen einander wechselseitig bestreiten.“5 Hieraus deduziert sich das Dialogische als „erste äußere Grundlage“ des Dramas, so Schlegel in seinen Vorlesungen über dramatische Kunst und Literatur, in ihm kristallisieren sich sowohl Konflikt wie auch Verständigung. Gustav Freytag erweiterte als Erbe Schillers im vom Idealismus geprägten 19. Jahrhundert Hegels Grundkonzept: „Zuerst treten einzelne Momente: innerer Kampf und Entschluss eines Menschen, eine folgenschwere Tat, Zusammenstoß zweier Charaktere, Gegensatz eines Helden gegen seine Umgebung, so lebhaft aus dem Zusammenhang mit anderen Ereignissen heraus, dass sie Veranlassung zur Umbildung des Stoffes werden.“6 Damit erschien das Drama als Gestalt vor gesetztirrelevantem Hintergrund und Aristoteles’ Wahrscheinlichkeit transponierte sich in die dialektische Ausrichtung des Dramas. Die „anderen Ereignisse“ wären als zweitrangig vernachlässigbar, Freytag traute begabten Autoren die Fähigkeit zu, die jeweils relevante Struktur zu erkennen und ins Drama umzusetzen. Postmoderne Ansätze gingen hingegen insbesondere seit den 1960er-Jahren von der Prämisse aus, die Umwelt wäre zu komplex, um sie mittels Dialog bzw. Konflikt komplexitätsreduziert in ein traditionelles Drama so zu überführen, dass das Drama allumfassend wirklichkeitsrepräsentierend wäre. Den jeweiligen Interessenkonflikt oder vorgängigen Machtkampf, die mehr oder weniger bewusste Ideologieunterfütterung würde das notwendigerweise zu einseitig perspektivierte Drama verbergen. Das träfe, so Joachim Fiebach, sogar noch für Brecht zu, seine „konkrete Gestalt eines dialektisch-historischen Entwurfs enthielte“ eine „wichtige Lücke – es dürfte von ihr aus kaum möglich sein, auch das als ein Moment unendlicher Möglichkeiten menschlicher Seinserfahrung und jeweils andersgearteter Wahrnehmung mitzufassen, was – zum Beispiel – Artaud erfuhr und in seinem Entwurf zu umreißen suchte.“ Dies würde die Sicht verstellen und die Möglichkeit verbauen, „auch
5
Georg Wilhelm Friedrich Hegel: „Vorlesungen über die Ästhetik“, in: Ders., Werke 10/3, Berlin 1843, S. 485.
6
G. Freytag: Die Technik des Dramas.
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in das ganz Andere zu springen, wenn man gleichsam nur eine theatrale Grundstruktur setzt – das einfache Gegenüber von Darstellern und Zuschauern, die nurruhige Raucher-Haltung des Betrachters (und letztlich des Darstellers?), die lineare Narration.“7 Nur der nicht mehr dramatische Theatertext bzw. das postdramatische Theater präsentierten eine zeitgemäße Ästhetik, die auf die Unterbrechung, Steuerung oder Verhinderung von dramatischer Bedeutungszuweisung hinauslaufe. Eine prägnante Gegenmeinung vertrat Bernd Stegemann: Selbst der reine performative Akt könne nicht ohne Bezug auf dramatisch zu verstehende strukturelle Vorentscheidungen funktionieren. Damit kritisierte er ähnlich wie Thomas Ostermeier, dass vor postmodernem Hintergrund der Andere mit seinen Interessen und seiner jeweilig-spezifischen Möglichkeit der Machtausübung, der Machtkampf zwischen Protagonist und Antagonist verdeckt worden sei.8 Man interessiere sich nur noch mit Nietzsche, der Psychoanalyse – Freud auf biologischer, Lacan auf struktureller Basis –, dem Surrealismus9, Artaud und Grotowski für den Kampf gegen die Alltagsmasken (Grotowski, Perceval) bzw. die Repräsentation selbst. Die Gestalt des sogenannten überflüssigen Menschen, ursprünglich für Maxim Gorki Kennzeichen des bürgerlichen Realismus, würde zur Basis einer höchst erfolgreichen Avantgardeästhetik, die zwar an ihrem unschuldigen Beginn die „anarchistische Kraft des Anderen“ formulierte, jedoch in ihrer weiteren Entwicklung den „in ihr angelegten Tendenzen zum Formalismus einerseits und zur Verwertbarkeit anderseits“ zum Opfer gefallen sei.10 Folglich würden das permanent kritische Theater bzw. die performativ-dekonstruierende Kunst blind gegenüber den tatsächlichen Interessen der Mächtigen und den herrschenden Machtverhältnissen, lasse die Opfer alleine zugunsten narzisstischen bzw. institutionell geforderten Wirklichkeitserkundungen von Performern. Übergreifend gesehen wurde für die Theatergeschichte der Zusammenhang zwischen Handeln und Konflikt zwar nicht bindend, aber aufschlussreich. Auf dieser Basis ließ sich Drama aus der Tradition heraus vom Roman, in dem Innensicht und Reflexion dominieren (können), und der von Stimmung und Atmosphäre bestimmten Lyrik abgrenzen, obwohl heutige Theatertexte die Differenzierung wie selbstverständlich und oft virtuos überwinden oder gar negieren, wie etwa das Langzeitprojekt der Inszenierungen von Elfriede Jelineks Kontrakte des Kaufmanns durch Nicolas Stemann zeigt. Der lebensweltliche Bezug zum Dramatischen gilt aus einer bestimmten Perspektive sogar für das moderne, offene und postmoderne, nicht mehr dramatische Drama. Wenn für letztere das Geschehen oder Ereignis auf Kos-
7
J. Fiebach: Von Craig bis Brecht, S. 375.
8
Bernd Stegemann: Kritik des Theaters, Berlin 2014; ders.: Lob des Realismus.
9
Vgl. Peter Bürger: Ursprung des postmodernen Denkens, Weilerswist 2007.
10 B. Stegemann: Lob des Realismus, S. 26.
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ten der traditionellen Handlung dominiert, dann bedeutet das nicht, dass nicht gehandelt wird: Handlung kann einerseits als aktionistischer Vorgang verstanden werden (die Figuren agieren und produzieren einen Ereigniszusammenhang), andererseits als Veränderung der Situation: Handlung wird auch dann wahrgenommen, wenn eine Situation, ein Bild, eine Konstellation, ein Environment, eine Installation oder eine Assemblage in eine andere übergeht, wie es Handkes Die Stunde da wir nichts voneinander wußten überzeugend präsentiert. In einer sozialen Situation genügt es, wenn eine andere Figur auftritt oder etwas Einschneidendes, Anderes passiert. Damit fände selbst in einem statischen Drama wie in Becketts Warten auf Godot oder in einem inszenierten Theatertext wie Heiner Müllers Hamletmaschine Handlung statt. Sogar ein rein performativer Akt wie der Auftritt einer Drag-Queen wäre Handlung im Sinne einer Veränderung der Zuschreibung von Geschlechtsidentität, wie sie Judith Butler über das Performativitätskonzept einforderte. Von seinem Beginn an im Dionysoskult und in seiner dramatischen Ausdifferenzierung im Athener Dionysostheater stellte sich die Frage nach dem Drama im Spannungsverhältnis von gedrucktem Dramentext zur Inszenierung oder ereignishaften Aufführung. Als erst ein, dann zwei oder drei Schauspieler aus dem Chor traten und der Mythos dialogisch verhandelt wurde, hob sich das Sprachliche vom Körperlich-Anwesenden ab.11 Die Differenz, der Spalt, die Nicht-Identität mochte vor allem im natürlichen Schauspielstil vom 18. Jahrhundert bis Stanislawski verdeckt werden, er blieb jedoch als unhintergehbare mediale Spezifität des Theaters präsent und wirksam. Schuld an der in der europäischen Dramen- und Theatergeschichte lange anhaltenden Höherbewertung des Literarischen, so wird allgemein angenommen, sei Aristoteles, der als Verfasser der Poetik über die Hochphase des griechischen Theaters und der wichtigsten Dramatiker Aischylos, Sophokles und Euripides berichtete, die zu seiner Schaffenszeit annähernd ein Jahrhundert lang zurück lag.12 Somit musste Aristoteles sich auf Quellen verlassen, die vor allem aus schriftlich überlieferten Rollentexten bestanden. Zudem mag auch die Befürchtung, nach Platons Kritik an der Mimesis der Dichtkunst zu frivol oder leichtfertig die positiven Seiten der Darstellungskunst hervorzukehren, eine Rolle gespielt haben. So wundert es kaum, dass für Aristoteles die Opsis, also nach heutigem Verständnis eine ästhetische Inszenierung, zwar die Zuschauer ergreifen könne. Nichtsdestotrotz sei sie das Kunstloseste, am weitesten von der Dichtkunst entfernte. Die Wirkung der Tragödie stelle sich, so Aristoteles in der textgebundenen, fast philologischen Rückschau, die ihn nicht gerade zum Experten für die Theatralitäts-
11 Vgl. Hans-Thies Lehmann: Theater und Mythos, Stuttgart 1991. 12 Hans-Peter Bayerdörfer: „Drama/Dramentheorie“, in: Erika Fischer-Lichte/Doris Kolesch/Matthias Warstat (Hg.): Metzler Lexikon Theatertheorie, Stuttgart 2005, S.72-80.
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gestaltung des Geschehens machte, auch ohne Aufführung und Aufführende ein.13 Dies initiierte eine Tradition, die dem Theater bzw. der Aufführung einen niederen Rang im Vergleich zum literarisch gebundenen Text zuwies. Während in der virulenten Theaterpraxis das Performative das Dramatische immer produktiv begleitete, galt das literarisch gebundene Drama oft als ordentlich, einordnend und identitätsstiftend; das theatral Körperliche, sich Bewegende, Affizierende und zuweilen unverschämt Erotische des Theaterspiels als das Unverfügbare, Fremde, Unbewusste machte zwar Lust, erzeugte aber als Unkontrollierbares Angst. Eine grundlegende Neuorientierung leitete Nietzsches Veröffentlichung Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik (mit der er seine akademische Karriere ruinierte) ein, die mit bewunderndem Blick auf Wagners Gesamtkunstwerk nicht nur für die historische Avantgarde, sondern für die Kunsttheorie und -praxis der folgenden Zeit bis heute außerordentlich bedeutsam wurde. Heute differenzieren wir in der Tradition der letzten 120 Jahre stehend weiter zwischen Konfliktmodell und Überschreitungsmodell, wobei in der Theaterpraxis von Castorf bis Stemann, von Parizek bis Ostermeier, von Kusej bis Steckel dramatischer Konflikt wie auch interpretationsverweigernde Überschreitungssituationen im Tragischen der Repräsentation gleichermaßen zeitgemäße Aufführungen auszeichnen. Schon Aristoteles sieht Handlung im Drama als Gegenbegriff zu der das Epos eigenen Erzählform. Nach Hamburger ergäbe sich dementsprechend der sprachlogische Ort des Dramas innerhalb des Systems der Dichtkunst aus der Abwesenheit der Erzählfunktion, der für sie strukturellen Folie, dass „die Gestalten dialogisch gebildet“ wären.14 Wenn Drama sich als Gattung eigenständig von den beiden anderen differenzieren soll, dann lassen sich Probleme in der Abgrenzung nicht vermeiden, zumal man heute davon ausgeht, dass Diegesis und Mimesis als Darstellungsformen nicht zureichend funktionieren, Gattungen zu bestimmen. Mögliche generische Invarianten des Dramas und deren historisch differente Transformationsresultate haben, was das europäische Drama und dessen Aufführung betrifft, zum großen Teil normative Fundamente in der griechischen Antike. Früh entscheidend ist die Unterscheidung von Bericht und Darstellung, Platon bemerkt in der Politeia, dass im Bericht der Dichter zu Wort komme, in der Darstellung hingegen die Figuren selbst sprächen. Dies würden wir heute als zu normativ oder als sehr vereinfachend bezeichnen, letztlich würde es bedeuten, dass im Gegensatz zum Bericht in einer dramatischen Darstellung die Figuren unmittelbar aufeinanderträfen und ohne kommentierende Vermittlungsinstanz sprechen würden. Schon die nicht notwendigen, aber oft zu lesenden Nebentexte (Ingarden) bzw. Paratexte (Genette) weisen auf eine vermittelnde Instanz des Dramas. Natürlich ist die aufgeführte oder darge-
13 Aristoteles: Poetik, Stuttgart 1982, S. 25. 14 Käte Hamburger: Die Logik der Dichtung, Frankfurt/M. 1980, S. 173f.
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stellte Welt, sind die Figuren im inneren Kommunikationssystem des Theaters nicht eigenständig, sind keine menschlichen, komplexen oder selbstbewussten Anderen, obwohl der Rezipient das insbesondere in realistischen oder naturalistischen Inszenierungen annehmen mag. Immer bleibt die mehr oder weniger unsichtbare Instanz des Berichtenden, Einrichtenden auch für das Drama entscheidend, was im gegenwärtigen Regietheater oder noch auffälliger im Erzähltheater eines Johan Simons, Armin Petras oder Thom Luz deutlich wurde. Dennoch ist diese erste Unterscheidung Platons weiterhin gattungsmarkierend, wenn auch nicht -bestimmend. Für Platons Schüler Aristoteles lasse der Dichter Figuren als handelnde und tätige Gestalten erscheinen, ohne selbst zu berichten oder einen Erzähler einzusetzen.15 Die Situationen, die Ereignisse, die Geschehnisse und die Handlung ergeben sich für die normative Einrichtung des Dramas unmittelbar aus den sprachlichen, später auch betont performativen Interaktionen der Figuren. Damit wäre das Drama über die Tragödie anthropologisch begründet, was bis heute die Frage nach anthropologischen Konstanten des Dramatischen offenhält, obwohl eine solche Begründung gegenwärtig von Vielen als zu essentialistisch gewertet werden würde.16 Der im Drama mehr oder weniger stark ausgeprägte Verzicht auf eine vermittelnde Instanz führt dazu, dass sich die Geschehnisse bzw. das Rollenspiel auf der Bühne vom Publikum mehr oder weniger klar abgrenzen, wobei episierende Tendenzen des modernen Theaters eher die vermittelnde Instanz, die Mittel des Theaters sichtbar und spürbar machen. Man spricht zum einen von einem inneren Kommunikationssystem zwischen den Figuren, zum anderen von einem äußeren Kommunikationssystem zwischen den Rollenspielern bzw. der Bühne und den Zuschauern. Dem Drama ist so eine doppelte Perspektivität des Bezugs zum Anderen eigen;17 seine Botschaften sind zweifach adressiert und doppelt lesbar, konstituiert werden Sprechakte zwischen den Figuren und Kommunikationsakte zwischen Spiel und Rezeption. In der Geschichte des Theaters haben sich hierbei mehrfach die Perspektiven und Akzente verschoben. Bis hin zum Theater der Aufklärung wurde der Dialog zwischen Bühne und Zuschauerraum betont, in der bürgerlichen Ästhetik des Theaters jedoch die vierte Wand besonders stark gemacht18, sodass etwa das naturalistische Drama bzw. Theater sich möglichst eigenständig im inneren Kommunikationssystem der Bühne
15 Aristoteles: Poetik, S. 9. 16 Eine Gegenmeinung auf der Basis der Kognitionswissenschaften formuliert etwa Fritz Breithaupt: Kulturen der Empathie, Berlin 2009. 17 Theresia Birkenhauer: Schauplatz der Sprache - das Theater als Ort der Literatur: Maeterlinck, Cechov, Genet, Beckett, Müller, Berlin 2005. 18 Vgl. Johannes Friedrich Lehmann: Der Blick durch die Wand. Zur Geschichte des Theaterzuschauers und des Visuellen bei Diderot und Lessing, Freiburg 2000.
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ausprägte. Dies wiederum provozierte insbesondere in den avantgardistischen und grenzüberschreitenden Formen des Theaters als Ritual im 20. Jahrhundert Auflösungstendenzen, die, so Schechner, dem dramatischen Theater vor dem Hintergrund der Neoavantgarde und Counter Culture der 1960er-Jahre den untergeordneten Rang eines Theaters als Unterhaltung zuwiesen, es wie Wirth als Teil einer (zu?) reichen, saturierten und unbeweglichen Institution kritisierten. Auch wenn wir Theater als plurimediales Ereignis in einer stark durch Intermedialität geprägten globalisierten Welt betrachten, wäre es in der Aufführung oder Performance als Ereignis zu verstehen, in dem Schauspieler und/oder Performer und/oder Zuschauer beteiligt sind. Gattungsbestimmend in der Abgrenzung zum Roman wäre die Vermittlungsebene, denn im traditionell dramatischen Theater würde nicht etwa über etwas bereits Geschehenes berichtet, das Geschehen ereigne sich vielmehr in der Gegenwart. Dies ist eine besondere schauspielerische Herausforderung: Die potentiell unsterbliche Rolle begegnet dem sterblichen Schauspieler, was die Frage nach sich zieht, wie und auf welcher Ebene der Eindruck von Wirklichkeit, Authentizität oder Relevanz des Anderen entsteht. Wenn theatrale Nachahmung durch das Medium des Schauspielers in der Rolle so stattfindet, als würde sie sich gerade im Moment ereignen, ergibt sich gegebenenfalls das, was Diderot bereits im 18. Jahrhundert als Paradox bezeichnet hat: Der Schauspieler müsse professionell, also berechnend und kalt spielen, während der Eindruck seines Spiels vollkommen natürlich schiene.19 Bentley vertrat ähnlich wie Schiller die Ansicht, dass in der Literatur bzw. Drama wie im Theater Masken durchschaut oder abgerissen würden bzw. dem Menschen in die Seele geblickt werden könne, freilich im Gegensatz zu Artaud und Grotowski auf dramatischer Ebene. Die Stärke des Theaters wäre, dass die Seele einen Körper, eine manifeste Erscheinung in der Situation benötige, denn, so Bentley, sie hätte keine Knie, keine Hüften oder Augen.20 Das Drama benötige die Inszenierung und Aufführung, um der Seele des Anderen eine Substanz zu geben, wobei eben in jeder Aufführung die Frage nach dem Anderen, nach dessen Seele oder Charakter virulent würde. Dies wurde in der Übergangszeit hin zur Moderne zum brisanten Thema, in der die Frage nach dem Anderen als Seele bzw. zunehmend als Gehirn die Physiognomik, die Phrenologie und die Kriminologie, dem adäquat das Theater, von Schiller über Kotzebue bis in die von René Pollesch vertretene Postmoderne, interessierte. Auch wenn die Nachahmung des Anderen noch so perfekt wäre: Offenbart uns der Andere als Rolle und/oder Schauspielerpersönlichkeit seine Seele, zeigt er seinen Charakter? Oder spielt er ihn nur, täuscht er uns? Diese Frage ist nicht nur für die Bühne spannend, sondern auch für den Alltag der Zuschauer. Insofern zieht sich
19 Vgl. G. Heeg: Das Phantasma der natürlichen Gestalt. 20 Eric Bentley: The Life of the Drama, N.Y. 1964.
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der Verdacht der Unehrlichkeit des Anderen von der Bühne in die Theatralität des Alltags: Die Nachahmung der Rolle durch einen Anderen, durch einen Schauspieler, die Nachahmung des Körpers (der mutmaßlich die Seele beherbergt) durch einen anderen Körper ergibt einen ständigen, spannenden Widerspruch, den man versuchen kann, größtmöglich zu eliminieren – etwa in die eine Richtung mit Stanislawski, Adler bzw. Moss oder in die andere in der Performance Art. Oder man betont den dialektischen Widerspruch, wie bei Brecht. Oder man offenbart wie in der Volksbühne der 1990er-Jahre das Unbehagen in der Kultur und lässt das Spiel triebgesteuert ausflippen, entgleiten, explodieren. Oder man behauptet im Theatertext bzw. in der Inszenierung, dass die Seele ein reines Diskursphänomen sei – wie vergnüglich, aber kalt Pollesch: „Man muss den Menschen als Leiche denken“ (Ping Pong d’Amour). Das klar Erzählte bedeutet, dass jemand etwas vermittelt; dies vermeidet das Drama, es ist im Vergleich zum Epos direkter, vereinnahmender, was es für Viele, von der Zensur des 19. Jahrhunderts bis hin zu Brecht, zur Kritischen Theorie und zu diskursanalytisch grundierten Theaterästhetiken verdächtig macht. Vor einem weiteren kritischen Horizont wirkt bis zum Theater der Gegenwart Theodor W. Adornos an einem avantgardistischen Kunstverständnis in seiner Ästhetischen Theorie ausgerichtetes Diktum gegen Hegel: Allein das Nicht-Identische vermöge die verblendende, wenn nicht intelligenzvermindernde Identifikation aufzulösen. Wenn dies nicht geschehe, bliebe das Publikum vor der vierten Wand unmündig der Einfühlung und den evozierten Gefühlen ausgeliefert. Gezielt auf die aristotelisch grundierte traditionelle Dramenform, die seit der Renaissance und sogar in der offenen Form der shakespeareschen Dramen (die nach Greenblatt das existenziell Menschliche darstellten, nach Bloom das Menschliche überhaupt erst erfanden) reüssierte, wäre die Kritik radikalisiert nicht nur gegen das Drama, sondern eine damit verbundene Form des Menschen als Zentrum, als Subjekt der Moderne zu richten. Dies betrifft noch die Subversivität des Regietheaters der 1960er- und 1970er-Jahre, dessen zentraler Akteur Zadek dem heutigen postdramatischen oder performativen Theater äußerst kritisch gegenüberstand, da deren Konzepttheater „so eins zu eins und plump und stilisiert“ sei; er sehe nur noch den Einfall, dem sich alles unterzuordnen habe, und er vermisse einen betroffen machenden Realismus und die Geschichtenerzähler. Das, „was eigentlich der Sinn von Theater ist, nämlich über den Menschen etwas zu erzählen“, das finde er nicht mehr.21 Freilich wäre hierzu die Frage nach dem Menschen als Diskursphänomen bzw. als Erfindung des Anderen im langen 19. Jahrhundert zu stellen, was auf performativer Ebene die Aufgabe einiger gegenwärtiger, vor allem dekonstruktivistischer Produktionen ist.
21 Peter Zadek: Interview, in: SZ vom 26.8.2005, S. 15.
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Aristoteles präzisierte entscheidend seine Haltung zum Mythos, wenn er feststellt, es gehe in der Tragödie um Nachahmung von Handlung. Hier kommt der Begriff der Mimesis ins Spiel, verstanden als Ähnlichkeit zwischen Urbild und Abbild, bei Platon noch mit der Voraussetzung des Urbilds im Reich der Ideen. Dies führte zu seiner Herabsetzung derjenigen, die Mimesis benutzten, da sie sinnliche Erscheinungen nachahmten, welche selbst nur Repräsentationen der Ideen seien – sie würden „von der Nachahmung das Sein davontragen“ (Politeia). Platon prägt über die Vermittlung des Neuplatonismus das Drama der Ideen22, die theosophisch fundierte Theatralität der Avantgarde, von Malewitsch bis Craig bzw. das Theater eines Robert Wilson auch heute noch – bis hin zur theatralen craigschen Utopie einer „zeit, in der wir kunstwerke im theater schaffen können, ohne von geschriebenen stücken, ohne von schauspielern gebrauch zu machen“.23 Aristoteles setzte Mimesis positiv ins Zentrum, zentral wäre die Nachahmung von Handlungen, wobei in der Tradition des Dramas immer wieder neu bestimmt wird, wer in welcher Form handelt und wie sich die Nachahmung konkret ausgestaltet. Das Theater müsse die medialen Modalitäten der Nachahmung von Handlung auf der Bühne klären: Wer ahmt wie bzw. mit welchen Mitteln was auf welcher dramatischen Grundlage nach? Für Aristoteles schienen allgemein „zwei Ursachen die Dichtung hervorgebracht zu haben, beide in der Natur begründet“. Erstens sei das „Nachahmen den Menschen von Kindheit angeboren“. Das unterscheide den Menschen von „den anderen Lebewesen, dass er am meisten zur Nachahmung befähigt ist und das Lernen sich bei ihm am Anfang durch Nachahmung vollzieht“. Zweitens erfreuten sich „Menschen an den Nachahmungen“. Dies beweise die Rezeption von Kunstwerken: Was Menschen „in der Wirklichkeit nur mit Unbehagen“ anschauten, betrachteten sie mit „Vergnügen“, wenn sie „möglichst getreue Abbildungen“ vor sich hätten.24 Mit der entwicklungspsychologischen Herleitung des Dramas und des Theaters eröffnet sich die Möglichkeit, in der Distanz zur Wirklichkeit als das Andere diese zu beobachten und daran Vergnügen zu finden. Diese begründet bei Aristoteles eine Differenz zwischen Kunst- und Realraum, die jedoch generell in der Theateraufführung über deren Ereignishaftigkeit und im Rollenspiel über die Eigenart des Schauspielers mehr oder weniger in Frage gestellt wird. Schlingensiefs Ausländer raus!, sein Die Kirche der Angst vor dem Fremden in mir oder etwa die Ausstellung eines geplanten Suizids in der Adaption von Ibsens Gespenster durch das Kollektiv Markus und Markus mindern die aristotelische Distanz zur Wirklichkeit soweit, dass das Publikum mindestens (un)angenehm berührt wird.
22 Martin Puchner: The Drama of Ideas. Platonic Provocations in Theater and Philosophy, Oxford 2010. 23 Edward Gordon Craig: Die Kunst des Theaters, Berlin 1969, S. 111. 24 Aristoteles: Poetik, S. 11.
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Die Sicherheit des Abstands zur Wirklichkeit erlaubt im traditionellaristotelischen Theater dem Zuschauer oder einer Gemeinschaft, sich selbst in tragischen Situationen zu beobachten, das Schicksal des Anderen, oft Fremden als mögliches eigenes Schicksal zu verstehen – die erste weitgehend ganz überlieferte griechische Tragödie, Aischylos’ Die Perser, zeugt davon. Die traditionelle Form wirkt infolgedessen normierend oder zumindest beispielgebend. Über die Identifikation oder die Abwehr derselben ermöglicht das Theater die Erfahrung des Eigenen durch die Erfahrung des Fremden und Anderen. Diese ereignet sich auf der Ebene der Interpretation, sodass man im Verstehen Identitätsentwürfe, ethische Haltungen und politische Einsichten gewinnen kann. Die Erfahrung geschieht jedoch immer zugleich auch auf der Ebene der Intuition, der unvermittelten Anmutung und gespürten Atmosphäre – Letztere wird in einem Theater der Erfahrungen, vor allem im 20. Jahrhundert von Artaud über Grotowski und Schechner bis Perceval gesucht. Des Weiteren vermittelt das Theater den Eindruck des Maskenspiels, der Verstellung und des Rollenspiels, was anthropologisch für das nicht festgestellte Tier Mensch (Nietzsche) insofern relevant ist, als er sich im Theaterspiel selbst auf die Rollenhaftigkeit seines Daseins verwiesen sieht – von den Masken in der Orchestra des Athener Dionysos-Theaters über Shakespeares „All the world’s a stage“ bis hin zu Rimini Protokolls dokumentarischen Erkundungen der gegenwärtigen Alltagsinszenierungen. In oft unterschätztem Maß sind die Institution des Theaters und die Theaterlandschaft jeweils mitbeteiligt, wenn nicht entscheidend verantwortlich für die historisch und kulturell spezifische Ästhetik des Dramas und des Bühnenspiels. Dabei formen sie das Verhältnis zwischen Literatur bzw. dramatischem Text und Bühnenspiel jeweils besonders aus. Dies betrifft auch alle das Dramatische episch, postdramatisch oder performativ reflektierenden oder auflösenden Inszenierungen, auch Ästhetiken des sogenannten freien Theaters, das in der Mehrzahl ein Theater der Erfahrung oder des Rituals vorstellt, denn deren Experimente stoßen sich prinzipiell von traditionellen Formen des Dramas und Theaters ab, sodass das Nicht-mehrDramatische mit dem Dramatischen dialektisch verbunden bleibt. Die Institution des dezidiert öffentlichen Mediums Theater prägt spezifisch durch kollektive Arbeitsprozesse die Dramenproduktion bzw. die jeweilige Form des Dramatischen, wobei die Spanne weit ist, etwa von Lessings bürgerlichen Trauerspielen bis zu dokumentarisch-fiktionalen Einrichtungen Milo Raus oder Yael Ronens. Sicherlich spielt es eine Rolle, ob Dramatiker außerhalb des Theaters arbeiten oder wie Shakespeare und Brecht selbst Teil des Produktionsprozesses waren. Bestimmend sind verschiedene politische Kontexte und damit verbunden Förderkulturen: Während im angelsächsischen Bereich das Sprechtheater in scharfer institutioneller Abgrenzung vom Off-Theater, von der Performance Art und der Live Art eher traditionell-dramatisch bleibt, wobei die täglichen Kasseneinnahmen keine geringe Rolle im Zug zum Traditionellen spielen, ist das mitteleuropäische,
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spezifisch das gut subventionierte deutsche Theater als Regietheater oder performatives Theater der Erfahrung weit mehr offen für Experimente und Grenzüberschreitungen, wobei die institutionellen Grenzen zwischen Stadt-, Staats- bzw. Landestheater und der sogenannten freien Szene heutzutage im weltweiten Vergleich außerordentlich durchlässig sind, was Personal und Ästhetiken betrifft. Trotz aller Infragestellungen, Grenzüberschreitungen und Dekonstruktionen sind die traditionellen Abgrenzungskriterien der Gattung Drama weiterhin, auch wenn sie keine normative Gültigkeit mehr behaupten können, verblasst, indirekt oder in der Absetzung wahrnehmbar. Selbstverständlich kann man seit einiger Zeit nicht mehr wie Goethe davon ausgehen, dass es „drei ächte(n) Naturformen der Poesie“ gäbe: „Die klar erzählende, die enthusiastisch aufgeregte und die persönlich handelnde: Epos, Lyrik und Drama.“25 Diese Naturformen müssten überhistorisch, fast panoramatisch verstanden werden, sie wären das Ergebnis einer jeweils bestimmten Tradition und einer willkürlichen Systematisierung der Dichtung, die selbst ihre eigene Auflösung in sich trägt. Seit dieser Zeit kam vor dem Hintergrund einer spekulativen Gattungspoetik um 1800 bzw. vor dem Hintergrund der Philosophie des Idealismus ein triadisches Modell zum Tragen, welches essentialistisch grundiert bis ins 20. Jahrhundert einflussreich blieb. Grund hierfür war die Infragestellung der klassizistischen, von Horaz’ Ars poetica und der um 1500 wiederentdeckten Poetik des Aristoteles beeinflussten Regelpoetiken. Die neue Freiheit des Individuums auf der Folie der Genieästhetik, der allgemeinen Subjektivierung im Zuge der politischen und wirtschaftlichen Revolutionen und des seit Kant bis heute geltenden korrelationistischen Zirkels mitsamt allen konstruktivistischen Nebenwirkungen wird zu Beginn der Moderne erkauft mit zwei zunehmend die Freiheit wieder einschränkenden Entwicklungen: Erstens die sich mit Macht ausbreitende Geschichtsphilosophie, zweitens das neue Verständnis des Menschen als des Anderen vor allem in der Naturgeschichte, Physiognomik, Wirtschaftslehre, Anthropologie, unspekulativen Medizin und Geologie, also die differenzierte Konstruktion und zugleich subtil-wirksamen Kontrolle des Menschen (Foucault). Auf der Ebene der Geisteswissenschaften lässt sich mit Diltheys psychologisch unterfütterter Poetik die Linie bis zu Emil Staiger weiterziehen. Mit Rekurs auf Goethes Gestaltbegriff werden bis ins 20. Jahrhundert literarische Gestalten als absolute, ideale Wesenheiten angenommen, noch Staiger verstand auf der Grundlage von Heideggers Fundamentalontologie in seinen Grundbegriffen der Poetik Grundhaltungen des Epischen, Lyrischen und Dramatischen vor dem Hintergrund von Platons Ideen als anthropologische Konstanten. Manfred Pfisters strukturalistischer Ansatz in Das Drama tra-
25 Johann Wolfgang von Goethe: „Naturformen der Dichtung. Noten und Abhandlungen zum Divan“, in: Ders., Werke in acht Bänden, Bd. 1, Wiesbaden 1972, S. 1168f.
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dierte aristotelische Strukturen, die sogar indirekt-dialektisch Poschmann und Lehmann übernahmen.26 Auch wenn die Erfindung der naturgeschichtlichen, später biologischen Gattungen durch Linné nicht lange zurücklag, wusste man schon in Weimar um die reine Vorläufigkeit der definitiven Dreiteilung: „Diese drei Dichtweisen können zusammen oder abgesondert wirken“, um ein überzeugendes „Gebild“ zu erlangen. Tatsächlich seien die Dichtweisen, so Goethe, doch meist „bis ins Unendliche mannigfaltig; und deshalb auch so schwer eine Ordnung zu finden, wonach man sie nebenoder nacheinander aufstellen könnte“.27 Eine weitere Entwicklungslinie des Dramas oder Theatertextes reichte von der Aristotelesrezeption und Horaz’ Diktum „ut pictura poesis“ aus seiner Ars poetica bis zu Gottscheds Deutung der „Malerey“ des Dichters als nicht nur wie die „gemeine Malerkunst“ das Sehen, sondern gar die Einbildungskraft involvierende Tätigkeit. Freilich beendete Lessing 1766 diese Ineinssetzung durch seinen bekannten Laokoon-Aufsatz, mit dem medientheoretisch gesehen die Aufteilung von Raum- und Zeitkünsten begann. Das hatte bis heute immense Folgen für das Drama, wurde es nicht zufällig zeitgleich mit der Naturalisierung der Schauspielkunst in Absetzung von einer eher dem Tanz und der Rhetorik nahen Schauspielästhetik von Lang über Saint-Albine, Riccoboni, Lessing, Diderot und nicht zuletzt Goethe, auch über die lessingsche Einordnung der Kunst des Schauspielers „zwischen den bildenden Künsten und der Poesie“, auf seine Spezifität als Zeit- und zugleich Raumkunst, auf „sichtbare“ und „transitorische Malerei“ verwiesen. In diesem Sinne sei, so weiter Lessing, das Drama „für die lebendige Malerei des Schauspielers bestimmt“, hätte sich dementsprechend an „die Gesetze der materiellen Malerei“ auszurichten.28 Dies wurde im performativen Theater bzw. im sogenannten Bildertheater seit den 1970er-Jahren noch deutlicher sichtbar, Wirth stellte dementsprechend 1992 fest, dass sich in der „zeitgenössischen Ästhetik der Präsentation“, in der sich die „Proportionen zwischen Theater und Performance immer mehr zugunsten der Performance“ im Sinne eines „Überwiegen des Performativen“ entwickelten, ein „neue[r], arbiträrer, totalisierender Kontext“ ergäbe, den er anhand wilsonscher Inszenierungen als eigentümliche Verbindung von Ikonophilia und Ikonoklasmus kenntlich machte, wobei der ikonoklastische Moment in seiner Weigerung, „eine Trennungslinie zwischen Kultur und Natur, zwischen Mensch
26 Manfred Pfister: Das Drama, München 1980; Gerda Poschmann: Der nicht mehr dramatische Theatertext, Tübingen 1997; H.-T. Lehmann: Postdramatisches Theater. 27 J.W. v. Goethe: Naturformen der Dichtung, S. 1168f. 28 G.E. Lessing: Laokoon, S. 24.
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und Tier, zwischen alt und modern, zwischen heilig und profan zu ziehen“, sichtbar werde.29 Gegenwärtig wird nicht einmal der überzeugteste Traditionalist leugnen, dass das hegelianisch Ganze auch für das Drama nicht mehr einfach das Wahre ist, sondern seit Adorno und noch weit mehr seit der linguistischen sowie neostrukturalistischen Wende das Unwahre. Dramaturgische, insbesondere figurale, handlungsbezogene Identitäten als Grundlage des traditionellen Dramas standen seit den 1960erJahren unter starkem Auflösungs- bzw. Dekonstruktionsdruck: „Ganzheit, Illusion und Repräsentation von Welt sind dem Modell Drama unterlegt, umgekehrt behauptet dramatisches Theater durch seine Form Ganzheit als Modell des Realen. Dramatisches Theater endet, wenn diese Elemente nicht mehr das regulierende Prinzip, sondern nurmehr eine mögliche Variante der Theaterkunst darstellen“, so Lehmann.30 Für Hegel selbst, an dem sich Szondi orientierte, war das Drama „die höchste Stufe der Poesie und der Kunst überhaupt“, da dialektisch gesehen die ideale Synthese des subjektiven Prinzips der Lyrik mit dem objektiven des Epos.31 Mit Schlegel wäre das Drama durch die „Absonderung alles nicht zum Wesen der Sache“ gehörig charakterisiert32, damit trat das Drama als scharf umrissene Gestalt vor den Hintergrund, was Freytag in seiner Technik des Dramas bestätigte33 und in den Drehbuchpoetiken der Gegenwart weiterhin reüssiert.34 Die seit Jahrzehnten anhaltend vehemente Kritik am Drama als zu überwindende Form bestätigte in der Opposition nichtsdestotrotz dialektisch, dass das Drama einen beeindruckenden Wirklichkeitsraum (Hamburger) schafft. Die verdächtige Wirkung wird dabei durch die plurimediale und potentiell synästhetische Spezifität noch verstärkt.35 Der starke Eindruck des Dramas entsteht über Gegenwärtigkeit, Illusion und Identifikation, der Zuschauer bleibt der Darstellung gegenüber eher passiv, kann nicht vor- und nicht zurückblättern, muss sich der Geschwindigkeit und dem Rhythmus anpassen. Ideal typisiert kann man das traditionelle Drama auch als absolut bezeichnen, weil der Zuschauer in der Guckkastenbühne ohne Anzeichen
29 Andrzej Wirth: „Interkulturalität und Ikonophilia im neuen Theater“, in: Sigrid Bauschinger/Susan L. Cocalis (Hg.), Vom Wort zum Bild. Das neue Theater in Deutschland und den USA, Bern 1992, S. 233-243, hier S. 233 und 242f. 30 H.-T. Lehmann: Postdramatisches Theater, S. 22. 31 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: „Vorlesungen über die Ästhetik“, in: Ders.: Werke. Bd. 15, hg. v. Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Frankfurt 1990, S. 474. 32 August Wilhelm von Schlegel: „Vorlesungen über dramatische Kunst und Literatur, in: Ders., Kritische Schriften und Briefe, Bd. 6, hg. v. Edgar Lohner, Stuttgart 1966, S. 29. 33 G. Freytag: Die Technik des Dramas. 34 Vgl. u.a. R. McKee: Story. 35 M. Pfister: Das Drama, S. 24f.
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einer Erzähler- oder Vermittlungsinstanz einem perfekten Rollenspiel (etwa wie bei Stanislawski idealisiert) zusieht, das absolut gegenwärtig, den Dialog als handlungsleitendes Dazwischen betonend, an dem repräsentierten Ort stattfindet.36 Daher darf das traditionelle Drama nicht zu komplex, zu undeutlich oder unverständlich werden. Oder es wird durch den Kontrast, die Verfremdung, den Widerspruch im Sinne einer dialektischen Ästhetik wie bei Brecht in seinem selbstverständlichen inneren Aufbau mit Finalität und Sukzession gestört. Ein reines oder wahres Drama gibt es nicht, auch das geschlossene Drama (Volker Klotz) ist, genauer betrachtet, auf den Bühnen im Gegensatz zu populären filmischen Formen eigentlich ein Phantom, im Gegenteil dominiert heute wie in der Geschichte im avancierten Theater das offene Drama und die mehr oder weniger ausgeprägte Uneindeutigkeit, was Gattungsgrenzen betrifft. Schwierigkeiten bereiten der Theaterwissenschaft, dass man in der Theatergeschichte von einer Abweichung vom Modell ausgehen muss, denn das Performative begleitete das Literarische als Teil der Definition des Dramas grundsätzlich. Letztlich lässt sich das aus der klassischen Definition des Theaters nach Bentley ableiten: A spielt B, während C zuschaut.37 „A spielt B“ kann nie, auch nicht bei Stanislawski, ganz zur Deckung kommen, während der Zuschauer im Theater durch seine Anwesenheit Einfluss auf das Spiel hat. Gerade die moderne und umso mehr die der Postmoderne eigene Multiperspektivität und zunehmende Intermedialität koagieren mit der Unsicherheit über die Grenze zwischen dem Ernsten und Komischen, Fiktiven und Wirklichen, Hohen und Niedrigen, Sprachlichen und der reinen Erfahrung des Anderen. Sogar die Darstellung des Tragischen bleibt unentschieden zwischen dem dramatischen Konfliktmodell (Menke) und dem Überschreitungsmodell des performativen Theaters (Lehmann). Diese Uneindeutigkeiten und die ständigen Experimente schufen auf der theoretischen Ebene ein Spannungsverhältnis zwischen normativen Poetiken und deskriptiven Ästhetiken des Dramas. Die jeweilige dramatische Form im Theatertext und auf der Bühne hing davon ab, ob man Theater als politisches Theater machen oder politisch Theater Machen verstand. Innerhalb der komplexen Mediengeschichte scheint jedoch trotz aller Auflösungserscheinungen des Dramatischen weiterhin mit Macht eine dramatische Struktur mehr oder weniger deutlich in den verschiedensten Medien durch. Es ergeben sich in den jeweiligen Funktionszuweisungen unterschiedliche Ausprägungen, Normen und somit Poetiken sowie Produktionsweisen auf der Folie des Dramas – vom Sprechtheater bis zum Film, von der TV-Serie bis zum Videoclip, vom Tanz bis zum Musiktheater. Wenn man der Tradition des geschlossenen Dramas von Aristoteles bis zur heutigen Film- und TV-Serien-
36 P. Szondi: Theorie des modernen Dramas. 37 E. Bentley: The Life of the Drama, S. 150.
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dramaturgie etwas mehr Aufmerksamkeit schenkt, fällt auf, dass „Aristoteles in Hollywood“ 38 bei Filmpraktikern bzw. Drehbuchautoren gegenwärtig einen besseren Ruf zu haben scheint, als im Kunstmedium Theater, in dem nicht Autoren, sondern Regisseure das Sagen haben – die „besten Gegenwartsautoren“, so Carl Hegemann, seien „die Regisseure. Der Text ist nur Versatzstück“.39 Dabei reüssieren im Film weniger akademische Poetiken, sondern eine Vielzahl an praxisbezogenen Handbüchern.40 Interessanterweise dominiert etwa in der Filmdramaturgie der Dreiakter als Rite des passage des Helden und monomythische Reise in die Fremde41, den man auf die aristotelische Einteilung einer Tragödie in einen Anfang, eine Mitte und einen Schluss übertragen kann. Daraus deduzierte sich die Dreiteilung des Dramas in Einleitung/protasis, Verwicklung/epitasis und Auflösung/katastrophe. Die hieraus von Horaz in seiner Ars Poetica entwickelte Fünferteilung wirkt sich noch auf Gustav Freytags Handlungspyramide in der Aufteilung des Dramas in Exposition, Steigerung, Höhepunkt und Katastrophe aus. Insgesamt über alle Medien hinweg gesehen stellen die verschiedenen medialen Spezifitäten des Gedruckten, der Literatur auf der einen und des Theaters mit seinen einmaligen Aufführungen auf der anderen Seite das Drama in ein vielfältig gebrochenes Licht. Auch ihre jeweiligen Anteile des textlich fixierten Dramatischen oder des inszenierten Theatralen bzw. Performativen beeinflussten die Abgrenzung des Dramas von den anderen Gattungen, man denke nur an die heute aktuellen Spielarten des Erzähltheaters42 oder an die nicht mehr dramatischen Inszenierungen der Texte von Elfriede Jelinek. Mit der dialektisch-historisch argumentierenden Formsemantik von Szondis Theorie des modernen Dramas wurde der neuzeitliche Idealtypus von Drama als der Moderne nicht mehr angemessen betrachtet, da in ihm der ideale Dialog als Dazwischen zwar die dramatische Handlung fundierte, aber im 19. Jahrhundert keineswegs mehr den neuen soziologischen und psychologischen Erkenntnissen entsprach. Das Drama rettete sich im 20. Jahrhundert in die Episierung, welche wiederum von die richtungsweisende Dialektik auflösenden, dekonstruktivistischen, postdra-
38 Ari Hiltunen: Aristotle in Hollywood, Portland 2002. 39 Carl Hegemann, in Gregor Dolak: Gib dem Affen Saures, Focus Online 2003, http://www.focus.de/kultur/medien/buehne-gib-dem-affen-saures_aid_196748.html. 40 Vgl. Jens Eder: Dramaturgie des populären Films, Münster 2007. 41 J. Campbell: The Hero with a Thousand Faces; vereinfacht Christopher Vogler: The Writer’s Journey, Studio City 1998; zusammenfassend M. Krützen: Dramaturgie des Films. 42 Hans-Peter Bayerdörfer: „Erzähldramatik: Spieltexte jenseits der Gattungsgrenzen“, in: Andreas Englhart/Artur Pelka (Hg.), Junge Stücke. Theatertexte junger Autorinnen und Autoren im Gegenwartstheater, Bielefeld 2014, S. 29-65.
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matischen oder performativen Ästhetiken abgelöst wurde. Ähnlich wie man nach den Auflösungen der Gattungsgrenzen nicht mehr von Oper, sondern von Musiktheater, nicht mehr von Ballett, sondern von Tanz (zwischen Tanztanz, Performancetanz und Tanztheater), nicht mehr vom Marionetten- oder Figurentheater, sondern vom Theater der Dinge sprach, war man auf der sicheren Seite, wenn man an der Stelle des Begriffs Drama den weiter fassenden Begriff Theatertext verwendete.43 Dabei blieb, direkt oder indirekt, bewusst oder unbewusst die seit Aristoteles zuweilen deskriptiv, oft aber normativ zu verstehende dramatische Struktur im künstlerisch-alltäglichen Umgang wahrnehmungs- und in der Reflexion erkenntnisleitend, auch wenn diese Struktur sowohl auf der Ebene des Dramentextes als auch der der Inszenierung in Frage gestellt, nicht beachtet oder lustvoll destruiert wurde.
8.2 D ER
DRAMATISCHE
R AUM
DES
A NDEREN
Diese Auflösungen rekurrierten auf den weiterhin virulenten korrelationistischen Zirkel, auf den postmodernen Übergang des modernen erkenntnistheoretischen in einen auch gegenwärtig noch einflußreichen ontologischen Skeptizismus und auf den Verlust des transzendentalen Signifikats in der Nachmoderne oder späten Moderne. Das Europa des 18. Jahrhundert gilt als Zeitraum der Entstehung und Emanzipation des Bürgertums zur gesellschaftlich relevanten und zunehmend tonangebenden Schicht. Mit der Abgrenzung gegen das System der absolutistischen Feudalherrschaft und deren Repräsentationsmedien versuchten die vor allem in Wirtschaft und staatlicher Verwaltung erfolgreichen Bürger, über das Medium des Theaters ein eigenes Forum zu schaffen, das ihre Identität, Philosophie, Wissenschaft und Ethik reflektierte und zum Teil selbst entwickelte. Vorstellungsweltliche wie institutionell sich ausprägende innovative Tendenzen, die sich erst im englischen und im französischen, zuletzt im deutschen Sprachraum verwirklichten, zeitigten vor allem zwei neue Entwicklungen, welche die Zeit bis um 1900 entscheidend bestimmte: zum einen die neue Form des bürgerlichen Dramas, vor allem des weinerlichen oder empfindsamen Lustspiels und des bürgerlichen Trauerspiels, das zum Vorbild trivialerer Dramen wie des Rührstücks und später der populären Filmdramaturgie zwischen Klassik, Moderne und Postklassik wurde. Zum anderen eine innovative Theaterästhetik, welche bei den Zuschauern die Illusion des Anderen als Wirkungsziel voran stellte und insbesondere durch einen natürlichen Schauspielstil erreicht wurde.44 Das gedruckt vorliegende Drama wurde wichtiger, die Theaterre-
43 G. Poschmann: Der nicht mehr dramatische Theatertext. 44 Vgl. Sybille Maurer-Schmoock: Deutsches Theater im 18. Jahrhundert, Tübingen 1982; G. Heeg: Das Phantasma der natürlichen Gestalt.
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form des 18. Jahrhunderts strebte die Literarisierung des Theaters mit dem Ziel an, dass die Dramatik eine Aufwertung als Vermittlerin der geistigen Situation der Zeit und der wichtigsten Diskurse der Epoche erfuhr.45 Von der dramatischen Vorlage ausgehend hatte sich die Bühneninszenierung an den Erfordernissen einer vergleichsweise psychologisch nachvollziehbaren und realistischen Schauspielkunst zu orientieren. Während im Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert die seit René Descartes vorherrschende Subjekt-Objekt-Verbindung in die Problematik einer isolierten Subjektivität und einer isoliert materiellen Verfügung über die Gegenstandsbereiche zerfiel, provozierte der im Prozess der Emanzipation entstehende Individualismus mentale Bilder und Dramaturgien einer für den gesellschaftlichen Umgang wichtigen ethisch-moralischen Sittlichkeit des Anderen, die sich im Medium Theater im Sinne eines Bildungsanspruches und -auftrages niederschlug.46 Dies wurde zur Grundlage der strengeren Beobachtung des Anderen, der nun in einer Entwicklung zwischen Konrad Ekhofs Schauspielakademie, Ludwig Schröders Spiel und August Wilhelms Ifflands Schauspieltalent wie Dramatik nicht mehr anhand seiner äußeren, künstlichen Zeichen wie Kleidung und kodifiziertem Verhalten,47 sondern über seine als natürlich gedeuteten Zeichen bewertet wurde.48 Es sollte auf Charakter, emotionale Befindlichkeit, letztlich auf die persönliche und gesellschaftliche Berechenbarkeit des Anderen hin geschlossen werden. Später wurden Kostüme angepasst charakteristischer, etwa unter dem Nachfolger Ifflands in Berlin, Karl Graf Brühl, der nach 1814 eine einflussreiche Kostümreform einleitete, indem er seine Kostümentwürfe nicht traditionell an phantastischen Einfällen oder der Bühnentradition, sondern an wissenschaftlichen Diskursen der Zeit anlehnte.49 Um die Mitte des 18. Jahrhunderts entstand mit dem bürgerlichen Trauerspiel eine neue dramatische Form, welche die Lebenswelt des bürgerlichen Publikums repräsentierte. Lessing setzte sich gegen Gottsched durch, bevorzugte die regellosen Dramaturgien der shakespeareschen Dramen. Vorbild wurde insbesondere das bürgerliche Trauerspiel George Lillos, The London Merchant aus dem Jahr 1731, dem
45 Vgl. George Steiner: Der Tod der Tragödie. Ein kritischer Essay, München 1962; Peter Szondi: Die Theorie des bürgerlichen Trauerspiels im 18. Jahrhundert, Frankfurt/M. 1972; Karl S. Guthke: Das deutsche bürgerliche Trauerspiel, Stuttgart 1972. 46 Hilde Haider-Pregler: Des sittlichen Bürgers Abendschule. Bildungsanspruch und Bildungsauftrag des Berufstheaters im 18. Jahrhundert, Wien 1980. 47 R. Sennett: Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. 48 Erika Fischer-Lichte: Vom ‚künstlichen‘ zum ‚natürlichen‘ Zeichen – Theater des Barock und der Aufklärung. Semiotik des Theaters. Bd. 2, Tübingen 1983. 49 H.-P. Bayerdörfer/A. Englhart: Ausstattungstheater und mise en scene im frühen 19. Jahrhundert.
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mit David Garricks Spiel eine adäquate Schauspielvirtuosität in der Natürlichkeit des Anderen korrespondierte. Die Ständeklausel fiel schon bei Lillo – primär aus wirkungsästhetischen Gründen; vor dem Hintergrund ihres Berufes agierten im und außerhalb des Theaters Kaufleute, die sich über ihren persönlichen wirtschaftlichen Erfolg definierten und auf ihr Ansehen beim Anderen achten mussten. Diderot, der zusammen mit D`Alembert die Encyclopédie herausgab, schuf in Frankreich das Drame sérieux mit innovativ familiärem Bezug, etwa in Le Fils naturel von 1757 und Le Père de famille von 1758. Während sich im bürgerlichen Trauerspiel und seinen trivialen Nachahmerstücken von Iffland, August von Kotzebue oder Charlotte Birch-Pfeiffer50 die Handlung in die häusliche Welt verlagerte, fand paradoxerweise die Diskussion darüber in der gerade entstehenden bürgerlichen Öffentlichkeit der Lesezirkel, der Salons, des zunehmenden Buchmarktes und des sich dem bürgerlichen Publikum öffnenden stehenden Theaters statt.51 Mit dem Wandel der dramatischen Form veränderte sich der Begriff des Tragischen. War es bis dahin so, dass der Held in der klassischen Tragödie ein grausames Schicksal erlitt, das sich weitgehend seinem Einfluss entzog, wurden der bürgerliche Held und damit auch der Zuschauer nun zunehmend damit konfrontiert, dass ein ungünstiges Schicksal auf den eigenen Charakter und dessen Verhalten zurückzuführen war. Das bedeutete ganz konkret eine wachsende Zuschreibung an Eigenverantwortlichkeit. Damit ging eine sich verstärkende Idiosynkrasie nicht nur gegenüber eigenen inneren Zuständen, sondern auch dem mehr oder weniger verborgenen Charakter des Anderen einher. Man interessierte sich überwiegend für das Innerseelische und die Motive des Anderen. Relevant wurden die körperliche Erscheinung, das individuelle Verhalten in der dramatisch-sozialen Situation und der Schauspielstil über die vom Schauspieler verkörperte Figur hinaus. Vor dem Hintergrund der entstehenden Anthropologie, Psychologie und Physiognomik wollte man wissen, was sich hinter der Oberfläche der Erscheinung des Anderen verbarg bzw. auf welches Innenleben die korporalen und performativen Zeichen verwiesen. In diesem Sinne postulierte Remond de Sainte-Albine, dass es die „vornehmste Sorge eines Schauspielers“ sein müsse, „uns nichts, als seine Personage sehen zu lassen“.52 Saint-Albine plädierte für eine Transparenz des Anderen auf der Gefühlsebene: Wenn der Schauspieler die Empfindungen, welche er auf der Bühne „zeigen wollet, nicht selbst fühlet, so zeiget“ er sie „uns nicht selbst, sondern nur ein unvollkommenes Abbild davon, und niemals wird die Kunst die Stelle der Empfin-
50 Horst Albert Glaser: Das bürgerliche Rührstück, Stuttgart 1969. 51 J. Habermas: Strukturwandel der Öffentlichkeit. 52 Remond de Sainte Albine: Der Schauspieler. Ein dogmatisches Werk für das Theater. Zweeter Theil, Altenburg 1772, S. 39.
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dung ersetzen“.53 Für Lessing milderte sich diese radikale Position ab, er schrieb 1754 zu seinem Auszug aus dem Schauspieler des Herrn Saint Albine: Wenn der „Schauspieler alle äußerlichen Kennzeichen und Merkmale, alle Abänderungen des Körpers, von welchem man aus Erfahrung gelernt hat, dass sie etwas Gewisses ausdrücken, nachzuahmen weiß, so wird sich seine Seele durch den Eindruck, der durch die Sinne auf sie geschieht, von selbst in den Stand setzen, wer seinen Bewegungen, Stellungen und Tönen gemäß ist“.54 Franceso Riccoboni widersprach SaintAlbine, obwohl er grundlegend die dramatische Situation des Anderen mit dessen Charakter verbunden wissen wollte; es sei keineswegs „genug, daß man die Rede, welche uns der Dichter in den Mund gelegt, versteht und sie nicht widersinnig ausdrückt“, man müsse tatsächlich „alle Augenblicke das Verhältnis einsehen, welches das, was wir sagen, mit dem Charakter unserer Rolle, mit der Stellung, in welche uns die Bühne setzt, und mit der Wirkung, die es in der Haupthandlung hervorbringen soll, hat“.55 Wirkung erziele man, so Riccoboni, nicht mit der zeittypischen Empfindsamkeit als Zugang zu sich selbst und zum Anderen, auch für Diderot erzeuge „übertriebene Empfindsamkeit“ nur „mittelmäßige Darsteller; mittelmäßige Empfindsamkeit macht die Masse schlechter Schauspieler, und das vollständige Fehlen von Empfindsamkeit ist die Voraussetzung für erhabene Schauspieler. Die Tränen des Schauspielers stammen aus seinem Gehirn; die des empfindsamen Menschen steigen aus seinem Herzen auf.“ Ein wirklich guter Schauspieler orientiere sich nach Diderot genau, überlegt und kühl am Anderen, er „beobachtet die Erscheinungen; der empfindsame Mensch dient ihm als Modell: er denkt über ihn nach und findet durch Überlegung, was hinzugefügt oder hinweggelassen werden muss, um das Modell zu verbessern“.56 Damit erweiterte sich im 18. Jahrhundert, was das Theater und die bürgerliche Identität betraf, die dramatische Form des bürgerlichen Trauerspiels hin zur Inszenierung, also zur Performanz der Bühnenerscheinung.57
53 Remond de Sainte Albine: Der Schauspieler. Ein dogmatisches Werk für das Theater, Altenburg 1772, S. 38. 54 Gotthold Ephraim Lessing: „Auszug aus dem Schauspieler des Herrn Remond von Sainte Albine“, in: Ders., Sämtliche Schriften. Bd. 4, hg. v. Karl Lachmann, Berlin 1838, S. 176-209, hier S. 209f. 55 Francesco Riccoboni: „Die Schauspielkunst (übersetzt von Lessing)“, in: Gotthold Ephraim Lessing/Christlob Mylius, Beyträge zur Historie und Aufnahme des Theaters, Stuttgart 1750, S. 483-544, hier S. 502. 56 Denis Diderot: „Paradox über den Schauspieler“, in: Ders.: Ästhetische Schriften. Band 2, hg. v. Friedrich Bassenge, Berlin 1984, S. 481-538, hier S. 505. 57 Vgl. R. Ruppert: Labor der Seele und der Emotionen.
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Politisch wurde bis zum Ende des 19. Jahrhunderts im bürgerlichen Trauerspiel sichtbar, dass in Deutschland die fehlende Revolution noch lange nachwirkte. Während in England das wirtschaftlich erfolgreiche Bürgertum der Kaufleute eine starke, selbstbewusste und zuweilen tonangebende Mittelschicht ausprägte, sublimierte sich das Revolutionäre in Deutschland erst einmal in der Imagination der Figuren, vor allem im imaginären Bezug zum Anderen. Wie Lessing 1756 in einem Brief an Nicolai ausführte, wäre in diesem Sinne die Aufgabe der Tragödie, „unsere Fähigkeit, Mitleid zu fühlen“, zu erweitern. Sie solle „uns so weit fühlbar machen, dass uns der Unglückliche zu allen Zeiten, und unter allen Gestalten, rühren und für sich einnehmen muss.“ Das bürgerliche Programm verlangte eine eigene Ethik des Mitleids mit dem Anderen: „Der mitleidigste Mensch ist der beste Mensch, zu allen gesellschaftlichen Tugenden, zu allen Arten der Großmut der aufgelegteste. Wer uns also mitleidig macht, macht uns besser und tugendhafter, und das Trauerspiel, das jenes tut, tut auch dieses, oder – es tut jenes, um dieses tun zu können“.58 Erfahrbar wurde dies mit Miss Sara Sampson aus dem Jahre 1755. Lessing orientierte sich an Lillos in Deutschland vielgespieltem Erfolgsstück und am Vorbild Diderot, für ihn der philosophischste Denker seit Aristoteles. In Miss Sarah Samson geht es vornehmlich weniger um einen Konflikt zwischen den Ständen, sondern um die Empfindsamkeit für den Anderen in einem überschaubaren Personenkreis. Die Rührung war leitende Emotion, sowohl im Verhältnis der Personen im Stück untereinander als auch als Wirkungsziel beim Zuschauer. Sie galt als Mittel, den bürgerlichen Zuschauer als Charakter zu bessern bzw. zu vervollkommnen. In der Identifikation mit den dargestellten Empfindungen und dem Verhalten des Anderen sollte das Mitleid und damit die bürgerliche Tugend verbessert werden. Natürlich war mit Rührung keineswegs ein überindividueller Affekt gemeint, wie ihn etwa die Tragödie der französischen Klassik evozierte. Lessing bevorzugte eher zurückgenommene seelische Regungen, so übersetzte er die aristotelischen Wirkungskategorien Eleos und Phobos, in der Poetik noch als Reinigung der Zuschauer von den Affekten verstanden, in die dramatischen Erlebniszustände Furcht und Mitleid. Verfolgt wurde ein Programm der Überführung der Affekte in sozial wertvolle Mentalitäten. Zum Mitleid käme die Furcht hinzu, sie wäre als Mitleid, das man in der Identifikation mit dem Schicksal der Bühnenfigur empfinde, zu verstehen. Damit das bürgerliche Trauerspiel und das Theater dies leisten konnten, hatten die bürgerlichen Dramatiker, aber auch die Schauspieler dafür Sorge zu tragen, dass auf der Bühne eine theatrale Welt zu sehen war, deren Ähnlichkeit (als Mime-
58 Gotthold Ephraim Lessing: „Brief an Nicolai vom 13. November 1756“, in: Ders./Moses Mendelsohn/Friedrich Nicolai, Briefwechsel über das Trauerspiel, hg. v. Karl-Maria Guth, Berlin 2014, S. 7-11, hier S. 10.
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sis zwischen Urbild und Abbild) mit der Lebenswelt der bürgerlichen Zuschauer das Mitempfinden mit dem Schicksal der bürgerlichen Helden möglich machte. Zur Unterstützung der Illusion war durch eine in sich abgeschlossene theatrale Welt zu vermeiden, wie früher üblich, die Zuschauer direkt anzusprechen; die sogenannte vierte Wand als ästhetische Grenze zwischen Kunst- und Realraum verstärkte sich, versetzt wurde theaterästhetisch zunehmend in das Andere. Bereits Diderot suchte, das Wahre auf der Bühne herzustellen. Unter dem Wahren verstand er jedoch keineswegs, die „Dinge so zu zeigen, wie sie in der Natur sind“, vielmehr bemühte er sich um die „Übereinstimmung der Handlungen, der Reden, der Gestalt, der Stimme, der Bewegung, der Gebärde mit einem vom Dichter erdachten ideellen Modell“.59 Lessing orientierte sich an Diderot, er legte die Charaktere seiner Figuren als gemischte an, sodass sie einerseits an der Realität gemessen werden konnten, wenngleich sie andererseits noch einen idealen Zug aufwiesen, der das Besondere und allzu Niedrige zurückdrängte. Auf dem bürgerlichen Theater wurde ein bürgerliches Menschenbild des Anderen sichtbar, das zwischen dramatischem Text und theatraler Inszenierung, insbesondere der Schauspielkunst vermittelte.
8.3 D IE R EISE
IM
A NDEREN
Das bürgerlich erfolgreiche Drama ähnelte dem Erleben und Verhalten der bürgerlichen Rezipienten. Um glaubwürdig zu sein, animierte Stanislawski, der sowohl dem sozialistischen Realismus als auch dem Realismus der Filmindustrie als Folie diente, den Schauspieler dazu, die ästhetische Essenz des Dramas zu ermitteln. In der Bühnensituation einer paradox öffentlichen Einsamkeit habe er einen variablen Kreis zu eröffnen, in dem er sich als Objekt allgemeiner Aufmerksamkeit befinde: der Andere als das, was begehrt wird, auch ein Handelnder in jetziger oder zukünftiger dramatisch-dialogischer Beziehung. Über die Einbildungskraft bzw. Phantasie gelte es, das emotionale Gedächtnis aufzurühren: Sie locke aus verdeckten Bereichen des Unterbewußtseins, das dem Freuds eben gerade nicht entspräche, die Gestaltungen, Gefühle und Atmosphären als Anderes hervor, das früher oder vormals erlebt wurde. Diese werden in der gespielten Handlung nun etwas anders, aber dienlich-ähnlich so organisiert, dass durch sie die der dramatischen Situation entsprechenden Gestalten entstehen. Mittels einer äußeren Technik im Dienste einer harmonischen und rhythmischen Gestaltung des Anderen sowie der inneren Technik des Schauspielers innerhalb der
59 D. Diderot: Das Paradox über den Schauspieler, S. 492.
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schöpferischen Situation des „Wenn“ versetze sich der Darsteller in etwas Anderes als anders, imaginär Produziertes.60 Der Naturalismus, der auf einigen Bühnen mit dem Symbolismus, den Reformen, den Episierungen und der Avantgarde im Theater seit dem beginnenden 20. Jahrhundert immer wieder aufs Neue obsolet erschien, wurde mit der Rettung des Dialogs als existenziell-angenommene Grundlage des Verhältnisses zum Anderen zum medialen Fundament der Film- und Fernsehästhetik. Populär-massenmediale Dramatik übernahm Wirkungsmuster des bürgerlichen Rührstücks, der naturalistischen Schauspielästhetik des 19. Jahrhunderts und vor allem die kausale aristotelische Handlungsstruktur. Für Aristoteles bedeutete der Mythos als Ziel der Tragödie eine spezifische Zusammensetzung der Geschehnisse. Die Tragödie sei Nachahmung von Handlungen bzw. Nachahmung von Handelnden. Eine Handlung wäre nach Aristoteles gut, in sich geschlossen, sie habe eine bestimmte Größe, Nachahmung geschähe in anziehend geformter Sprache. Diese besitze Rhythmus (in den Dialogen, mit Hilfe von Versen) und Melodie (in den Chorliedern und sonstigen gesungenen Partien).61 Mit Aristoteles begann eine mediendramaturgische Tradition, die über die Betonung von Anfang, Mitte und Schluss und die zielgerichtete Wirkung auf die Zuschauer noch die heutige Drei-Akt-Struktur des klassischen Hollywoodfilms erkennen lässt. Für den Film gilt: Show, don’t tell – er erzählt anders als das traditionelle Drama nicht in Dialogen, sondern in inszenierten Szenen und montierten Bildern, übernimmt aber die dramatische Struktur und die Wirkungsästhetik des Theaters. Seit der Entwicklung der klassischen Filmdramaturgie haben sich die Grundstrukturen nicht wirklich verändert. Michaela Krützen differenziert für den heutigen Stand der populären Filmdramaturgie drei filmische Erzählweisen als filmische Ästhetiken des Anderen, die sich zwar in der kurzen Tradition des Films nacheinander ausprägten, gegenwärtig jedoch parallel funktionierten: Erst die Klassik, deren Strukturen sich schon seit den 1910er-Jahren bis zu einem ersten Höhepunkt in den 1930er- und 1940er-Jahren ausbildeten.62 Dann die gegenläufige Moderne, etwa Godards Filmexperimente, in den 1950er- und 1960er-Jahren. Als Synthese die Postklassik oder Nachmoderne, exemplifiziert in Paul Greengrass’ Bourne Ultimatum oder Christopher Nolans Inception. Ähnlich wie im Theater bliebe dramatischklassische Filmdramaturgie ein Grundmuster, „an dem sich die Moderne abarbei-
60 Konstantin Stanislawski: „Die Kunst des Schauspielers und Regisseurs“, in: Ders., Moskauer Künstlertheater. Ausgewählte Schriften 2, hg. v. Dieter Hoffmeier, Berlin 1988, S. 76-84. 61 Aristoteles: Poetik, S. 21ff. 62 Vgl. David Bordwell: Narration in the Fiction Film, London 1985.
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tet“.63 Zugleich könne die aktuelle Postklassik auf das mediale Filmgedächtnis zurückgreifen, zumal für jüngere Generationen an Filmemachern das Studium an Filmhochschulen mehr oder weniger obligatorisch wurde. So können heute moderne Gegenästhetiken virtuos, kreativ und spielerisch in populäre Filmdramaturgien integriert werden. Klassische Strukturen tendierten zu einem geschlossenen, leicht verständlichen, alles erklärenden Drama in aristotelischer Tradition. Ähnlich wie im idealen Drama nach Szondi der Dialog als Dialektik das Drama auf der Handlungsebene weitertrug, funktionierte für McKee in jeder Szene eines klassischen Films ein Auslöser als Basisfragment weiterer Handlung: „No scene that doesn’t turn“.64 Für Bordwell ist eines der relevantesten Merkmale des klassischen Films, dass die handelnden Figuren etwas ganz Bestimmtes wollen. In Wim Wenders Alice in den Städten hingegen wissen die Figuren wie in den meisten europäischen Autorenfilmen vergleichsweise kaum oder gar nicht, was ihr bewusstes Ziel sein soll. Gilles Deleuze entdeckte im klassischen Film das Aktion-Bild des Verhaltens des Anderen, denn Verhalten sei eine „Handlung, die von einer Situation zu einer anderen führt; es antwortet auf eine Situation, die es zu modifizieren oder gänzlich zu erneuern versucht“. Annähernd aristotelisch beobachte man innerhalb einer kausalen Reihe als sensomotorisches Schema Figuren, die „in Handlung ausbrechen“, die Handlung gehe „von einer Situation zu einer anderen“ über.65 Mit Bordwells konstruktivistischem Ansatz gesehen rechne der Rezipient extrapolierend hoch, was aufgrund der kausalen Handlung in der Vergangenheit in der Filmzukunft wahrscheinlich passieren werde. Die Découpage Classique, der klassische Hollywoodstil setze nach Bordwell dabei eine Aktivität des Zuschauers voraus. Jede Rezeption eines populärdramatischen Filmes wäre im Sinne des filmischen Konstruktivismus als medienspezifischer korrelationalistischer Zirkel eine aktive Tätigkeit. Wahrnehmung entsteht aus mehr oder weniger unbewussten Schlüssen oder Hypothesen, die in einem try-and-error-Prozess aus den divergenten Bildern bzw. Einstellungsangeboten eine mehr oder weniger kohärente Folge konstruieren. Bordwell unterscheidet zwischen Fabula, die vom Zuschauer als mehr oder wenige kausale Handlung gestaltet wird, und Syuzet oder Plot als aktuelle Präsentation der Fabula im Film.66 Der Style, der Stil als das Wie, der systematische Einsatz von filmischen Mitteln wie Montage etc.
63 Michaela Krützen: „Dramaturgie des Films: Klassik, Moderne, Nachmoderne“, in: Andreas Englhart/Franziska Schößler (Hg.), Grundthemen der Literaturwissenschaft. Band 10: Drama, Berlin 2017, S. 574-584; dies: Klassik, Moderne, Nachmoderne. Eine Filmgeschichte. Frankfurt/M. 2015. 64 R. McKee: Story. 65 Gilles Deleuze: Kino 1. Das Bewegungsbild. Frankfurt/M. 1989, S. 211. 66 D. Bordwell: Narration in the Fiction Film.
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wird benutzt, um das Syuzet, das Was darzustellen. Syuzet und Fabula sind verbunden über erstens die aristotelisch-traditionelle Logik der Narration im Sinne einer Kausalität zwischen Ereignissen; zweitens über die Zeit in ihrer Dauer und AnOrdnung; und drittens über den Raum als Ver-Ortung der Figuren, Positionen oder Wege. Narrative Logik, Zeit und Ort lenken die Bildung von Hypothesen und Wahrnehmungsschemata, sodass man von einer filmischen Hypothesentheorie der Wahrnehmung sprechen kann, also einem modernen korrelationistischen Zirkel des filmisch Anderen. Das Syuzet kann Teile der Fabula verdeckt halten, dies erzeugt Spannung etc., ausgeprägt etwa im sogenannten unzuverlässigen Erzählen. Klassische Narration meint, dass eine psychologisch definierte Figur, der Protagonist, mit dem sich der Zuschauer identifiziert, im Anderen ein Problem zu lösen oder ein Ziel zu erreichen hat. Dabei gerät sie in Konflikt mit anderen Figuren oder der situativen Umwelt, die Handlung wird durch den Charakter (Motivation, Ziel, Konfliktbewältigung) vorangetrieben. Die Fabula beruht auf einer starken (konstruierten) Kausalität, sie bringt im Anderen Protagonisten, Raum und Zeit zusammen. Klassische Narration auf der Ebene des Syuzets bedeute in diesem Sinne nach Bordwell: Erst Etablieren eines (gleichgewichtigen) Zustandes. Dann Zerstören dieses Zustandes und nachfolgend Konflikte. Das Syuzet wird eingeteilt in MontageSequenzen, als Zusammenfassung von mehreren Szenen, wobei eine Stimmung erzeugt und größere Zusammenhänge geschaffen werden; des Weiteren in Szenen im Sinne einer vermittelten Einheit von Zeit, Ort und Handlung. Das Ziel ist die konsequente Konstruktion eines Handlungsstrangs, damit Spannung erhalten bleibt. Dabei soll dosiert immer mehr Wissen vermittelt werden, damit sich am Ende alles auflöst, und zwar im Positiven, verstanden als Happy end, oder im Negativen als tragisches Ende. Das Syuzet sollte immer darauf hinwirken, den Eindruck einer in sich geschlossenen Welt des Anderen in der Fabula zu vermitteln, in der die Erzählung sozusagen eintaucht. Die klassische Narration vermittelt den Eindruck von Allwissenheit, ist sich jedoch nicht oder kaum selbst bewusst. Der Zuschauer sollte sich auf das Erzählte konzentrieren und nicht auf die Mittel der Erzählung. Filmische Mittel sollten möglichst unauffällig zum Einsatz kommen. Das Zentrum alles Mitteleinsatzes läge in der Motivation in der Handlung der Figuren, die das Ziel der Identifikation des Zuschauers wären. Die filmischen Mittel und der Stil haben die Aufgabe, den Zuschauer zur Konstruktion eines in sich kohärenten Zeit-Raumes anzuregen, das klassische Hollywoodkino greift auf relativ konventionelle filmisch-dramatische Mittel zurück, die sich von den Brüdern Lumiere über Méliès bis Griffith entwickelt haben. Im klassischen Film, der in das Andere versetzt, tritt eine in sich geschlossene, in ihrer Eigengesetzlichkeit glaubwürdige Welt entgegen, der Zuschauer beobachtet als Voyeur das Geschehen in einem anderen Raum. Das Andere wird parallel getragen durch mehrere Plotlines, oft einen Love Plot und einen Thriller Plot, zuweilen noch ergänzt durch einen Comic Plot. Meist ist der Grobaufbau in
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aristotelischer Tradition nach Syd Field in drei Akte hintereinander geteilt: Exposition, Konfrontation, Auflösung67, samt Ende der Exposition mit dem ersten Wendepunkt (Plot Point I), der Konfrontation mit dem zweiten Wendepunkt (Plot Point II). Dies entspricht zum einen dem von Turner vorgestellten Rite de Passage; der zweite Akt wäre der Liminalitätsraum, der Bereich der Anti-Struktur, die dramaturgische Gelegenheit für dramatische Konflikte. Als Reise des Helden, die auf Joseph Campbells Monomythos zurückgeht68, den Rüdiger Vogler in The Writer’s Journey popularisierte69, handelt ein modernes Subjekt innerhalb einer erlebten äußeren und inneren Reise, muss sich im Fremdraum bewähren. Der Liminalitätsraum ist als Fremdraum ein Raum des Anderen, in dem alles Mögliche nicht nur möglich, sondern als nun wahrscheinliches Unwahrscheinliches weltkonstituierend ist. Im dritten Akt wird der Held, der die äußeren Bewährungsproben überstanden hat und innerlich-charakterlich gefestigter ist, wieder in die Struktur der Gesellschaft, die bekannte Welt integriert – er hat sich nun aber entscheidend verändert, eine neue Stufe in seiner Entwicklung erreicht, ist oft erwachsen geworden. Darüber hinaus teilt der zentrale Wendepunkt (Midpoint) den zweiten Akt der Konfrontation im Anderen in zwei Hälften, sodass der Handelnde in einer anderen Welt hier nochmal besonders prägnant in Szene gesetzt ein Anderer wird: Oft kommt es in der Konfrontation zu einer Neuausrichtung der Handlung und des Charakters des Handelnden; dieser trifft die zentrale Entscheidung, nun ein Anderer zu sein. So ergeben sich dramaturgisch mit Krützen auf idealisierter Ebene vier etwa gleich lange Handlungsviertel, die nach David Howard in Sequenzen unterteilt werden, etwa die Unterteilung des erste Akts nach dem Prolog in die erste Sequenz der grundsätzlichen Etablierung und die zweiten Sequenz der Formulierung des Problems.70 Zugleich orientiert sich die klassische Filmerzählung mit C.G. Jung an der Dramaturgie der Reise des Helden in der Konstellation von Archetypen, die Campbell als Monomythos durch vergleichende Analysen von traditionellen Erzählungen, Mythen und Märchen als Strukturähnlichkeit ermittelt hat. Damit übernahmen Campbell und die Filmdramaturgie das strindbergsche Stationenmodell, blieben aber in der Begegnung mit dem inneren und äußeren Anderen dabei, dass diese essentialisiert werden können, nicht wie in Strindbergs Nach Damaskus und im nachfolgenden Expressionismus Projektionen des Anderen im korrelationistischen Zirkels des verunsichernden Ichs darstellen. Der Held wird im Film zum Abenteuer aufgefordert, bricht nach erster Weigerung mit der Hilfe eines Mentors doch auf,
67 S. Field: Screenplay. 68 J. Campbell: The Hero with A Thousand Faces. 69 C. Vogler: The Writer’s Journey. 70 David Howard: How to Build A Great Screenplay, N.Y. 2004; Vgl. M. Krützen: Dramaturgie des Films.
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bewältigt Schwierigkeiten, widersteht Versuchungen, meistert Prüfungen und kommt mit einem veränderten, höheren Bewusstsein wieder nach Hause zurück.71 Klassische Filme neigen dabei zum Bracketing,72 die Backstorywound des Helden wird erfolgreich bewältigt,73 die Story aufgelöst, die Befreiung erreicht, die Fragen beantwortet, die Rätsel gelöst. Zwei oder drei Handlungsstränge führen zur Herausforderung, Prüfung und Ankunft des Helden, in einer Plotline wird etwa ein Mordfall aufgeklärt, in der zweiten eine Liebesbeziehung gestiftet, in der dritten ein Problem in komischer Manier in Heiterkeit aufgelöst. Durch eine dramaturgische Klammer, z.B. durch die Ankunft im Eingangsbild, wird Aufklärung, beruhigende Weltkonstanz und Zielerreichung suggeriert, wobei dies den Referenzrahmen, die Struktur für die so deutlich erkennbare Entwicklung des Helden im Raum des Anderen, der Anti-Struktur bildet. In modernen Filmdramaturgien wie etwa in Antonionis L’Avventura wird das Aktionsbild nicht völlig negiert, destruiert oder verworfen, aber an mehr oder weniger auffallenden Stellen subvertiert, nicht beachtet oder ins Gegenteil verkehrt.74 Man kann Wendepunkte und so etwas wie Einteilungen, Plotlines, gar Akte und Sequenzen ausmachen, aber deren Funktion, Parallelität und Einsatz gehorchen nicht mehr den Vorgaben der klassischen Filmstruktur. Insbesondere für den Autorenfilm ginge es nicht mehr um die geradlinige Geschichte, sondern um die eigenwillige Perspektive des Schöpfers. Er deutete die Welt nicht als logisch, kausal nachvollziehbar und erklärbar, sondern ging mehr wie schon Nietzsche vom Chaos des Lebens, von den Brüchen, dem Unerklärbaren aus, das sich über den fehlbaren und sich nicht ins System einfügenden Autor, der ja ebenfalls seine Geheimnisse und unerklärbaren Charakterzüge hat, in den Film einschreibt. Die Subjektivität des Autors wäre wahrer, weil sie dem Leben näher sei, als die von Aristoteles herleitbare stringente Struktur des geschlossenen Dramas. Deleuze diagnostizierte diesbezüglich in avantgardistischen, brechtbeeinflussten, neorealistischen, der Arthouseästhetik oder dem Autorenfilm zuzurechnenden anderen Filmästhetiken eine „Lockerung der sensomotorischen Zusammenhänge". Festzustellen wäre eine Tendenz zum Zeit-Bild als einem „reinen optischakustischen Bild".75 Das Aktionsbild geriete in der Mitte des 20. Jahrhunderts in eine Krise, um 1948 antwortet darauf der italienische Neorealismus, 1958 die franzö-
71 Vgl. M. Krützen: Dramaturgie des Films; Keith Cunningham: The Soul of Screenwriting. On Writing, Dramatic Truth, and Knowing Yourself, N.Y. 2008; C. Vogler: The Writer’s Journey. 72 Richard Neupert: The End. Narration and Closure in the Cinema, Detroit 1995, S. 36ff. 73 M. Krützen: Dramaturgie des Films. 74 Vgl. M. Krützen: Klassik, Moderne, Nachmoderne. 75 Gilles Deleuze: Kino 2. Das Zeitbild, Frankfurt/M. 1991, S. 14.
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sische Nouvelle Vague, in Deutschland um 1968 die zeitgleich mit dem Regietheater aufsteigende Generation Kluge, Wenders, Fassbinder etc. Brüchig wurden jeweils gesellschaftspolitisch wie ästhetisch Ereignis-Kontinuitäten, eindeutige Bezüge zwischen Mensch und Umwelt – filmische Ästhetik tendierte vor dem Hintergrund des Strukturalismus zur Entpsychologisierung. Jenseits des Bewegungsbildes äußerte sich ein Kino des rein optisch-akustischen Bildes, das sich von seinen sensomotorischen Bezügen, Referenzen und Abhängigkeiten unabhängig gestalten musste. Aus dem Aktionsbild wurde das allein optische oder akustische Bild. Damit dieses nicht zu einem Klischee geriete, hätte es sich durch riskante Anbindungen an Begegnungen mit dem Anderen des Zeit-Bildes als lesbares, gar denkendes Bild zu legitimieren.76 Das Andere entsprach nicht mehr der ästhetischen Produktion einer im Kopf des Betrachters konstruierten Bewegung eines psychologisierten Anderen im Raum, sondern der Spur der Zeit dessen, was als Einbruch des Realen, des Anderen im Jetzt begegnete. Die Welt wurde nicht in der mimetischen Abbildung des Anderen als natürliche und damit unveränderliche Welt gezeigt, sondern als immer zum Besseren veränderbare Welt. Auch hierzu wurde, etwa bei Godard, Brechts Diktum, von Walter Benjamin in seiner Geschichte der Photographie zitiert, virulent, „dass weniger denn je eine einfache Wiedergabe der Realität etwas über die Realität“ aussage, da die „eigentliche Realität“ in die „Funktionale gerutscht“ sei. Es wäre „tatsächlich etwas aufzubauen, etwas Künstliches, Gestelltes“. Der Autorenfilm korrespondierte mit den ‚prä-postdramatischen‘ Theaterexperimenten der 1960er-Jahre, die Handlung schien zuweilen richtungslos und unmotiviert; nicht alles, was erzählerisch angerissen wurde, wurde auch aufgelöst, Plotlines blieben voneinander unabhängig, setzten plötzlich ein, offenbarten sich als fragmentiert, rissen unvermittelt ab. Figuren erwiesen sich als orientierungslos oder bewegten sich ziellos durch oft unbestimmte Landschaften wie in Denis Hoppers Easy Rider oder Wim Wenders Alice in den Städten, Benjamin hätte vom Flaneur gesprochen, Deleuze benutzte den Begriff Balade, in der als innovative Form Ereignisse für filmische Handlung auffallend unbedeutend werden, ungewiss in ihrer „Verkettung und wie zufällig“ in ihrer „Verbindung mit denjenigen, denen sie widerfahren.“77 Ein Bracketing, eine Abgeschlossenheit von Dramaturgie, Drama und Welt war nicht mehr auszumachen, der Held entwickelte sich nicht überzeugend, die Backstorywound wurde nicht bewältigt, die Geschichte blieb offen, wurde nicht aufgelöst, die Zuschauenden begegneten nach Deleuze einem Bild, das in der Gestaltung des Anderen auf der Folie von Einstellung, Montage und Handlungsstruktur keine allgemein gültige oder akzeptierbare Deutung zulässt.
76 G. Deleuze: Kino 2. 77 G. Deleuze: Kino 1. Das Bewegungsbild, S. 284.
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In einem nach Krützen postklassischen Film wie Inception oder The Bourne Ultimatum, auch in seinen besonderen Spielarten des unzuverlässigen Erzählens wie Shutter Island, The Sixth Sense oder Fight Club, können die Zuschauer durchaus kausale Handlungsabläufe erkennen oder rekonstruieren. Dies gilt ebenfalls für die aktuellen Autoren- oder Qualitätsserien wie Breaking Bad, House of Cards oder True Detective. Im Gegensatz zur auf Verständlichkeit verpflichteten klassischen Filmdramaturgie werden den Rezipierenden in der Postklassik jedoch auf verschiedenen Ebenen eine erhöhte Eigenleistung, eine temporäre Verwirrung oder zu meisternde Komplexität, Kompliziertheit bzw. Uneindeutigkeit abverlangt. Zuweilen spricht man von nachmodernen Mindgames.78 Der Aufbruch des sensomotorischen Schemas des modernen Films bildet die Folie als Freiheitsspielplatz für die heutige Filmregie bzw. Serienproduktionen. Was Ursache von welcher Wirkung sein soll, ist erst spät halbwegs klar, muss abgeleitet, zielführend vermutet und kombiniert werden.79 Zugleich bleibt die orientierende Grundstruktur des klassischen Erzählschemas, oft in seiner Dreiaktstruktur, erhalten, damit die Zuschauenden eine gute Chance zur Erkenntnis bzw. zum Verstehen haben. Auch wenn am Ende etwas offenbleibt, stürzt dies für Krützen die Rezipierenden nicht in völlige Verwirrung oder eine grundlegende Unentscheidbarkeit, eröffnet dies höchstens einen weiteren Freiheitsgrad oder eine Ebene zur Reflexion, deren Basis und Spielgrund genau vermessen bleiben. Wie im postklassischen Film werden in der Qualitätsserie in eine weiterhin dialogisch-klassische Seriendramaturgie Elemente des Zeit-Bildes bzw. der Arthouse bzw. Autorenfilmästhetik integriert. Als eine dezidiert moderne Gegenästhetik kann Inception ähnlich wie im Theater Dusan Parizeks Die lächerliche Finsternis nicht verstanden werden. Analog zum postklassischen Film nimmt heute das postironische Theater performative Elemente auf, integriert diese jedoch so in ein dramatisches Theater, dass das Dramatische weiterhin, wenn auch abgeschwächt, strukturierend bleibt. In Anlehnung an filmwissenschaftliche Erörterungen Krützens soll im Folgenden auch das avancierte Theater der Gegenwart als postklassisches bezeichnet werden.
78 Vgl. Thomas Elsaesser: Hollywood heute. Geschichte, Gender und Nation im postklassischen Kino, Berlin 2009, S. 237–263. 79 Vgl. M. Krützen: Klassik, Moderne, Nachmoderne.
9. Dramaturgien des Anderen II. Überschreitung
9.1 P RÄAVANTGARDE Schillers Hoffnungen, den Rhythmus betreffend, mag einigen als Präavantgarde einleuchten. Nestroys performatives Theater wäre dieser Tendenz hinzuzufügen. Thema und Subtext seines Stücks Das Haus der Temperamente, am 16. November 1837 im Theater an der Wien uraufgeführt, sei, so die Kritik, „in seiner Erfindung nicht überraschend neu“ gewesen.1 Der Einteilung des Anderen in Temperamente als theatrales Handlungsmotiv und Figurenzeichnung korrespondierte präavantgardistisch eine sich theatral ausdrückende Vorahnung moderner Entfremdung, mit Hartmut Rosa ausgedrückt ein Verlust an Resonanz in der Begegnung des Anderen.2 Diesem Verlust als Begleiterscheinung der Moderne arbeitete bereits dezidiert die Theateravantgarde von Georg Fuchs bis Craig entgegen. Bei Nestroy offenbarte sich diese präavantgardistisch in der Aufteilung des Raumes, das Theater „soll vier Mal getheilt, und die Handlung größtentheils in vier Abtheilungen vorgeführt werden. Die Idee soll höchst anziehend und originell seyn.“3 Als ästhetische Idee war die Bühneneinrichtung ihrer Zeit weit voraus, obgleich sie Ausdruck der herrschenden Vorstellungswelt war. Dem Zuschauer begegnete eine Symmetrie der dramatischen Struktur und zugleich eine des Bühnenraums sowie der Personenkonstellation. Dies ging mit einer großen Anzahl an Protagonisten – 40 sind namentlich genannt – und der Nivellierung des Abstandes zwischen Haupt- und Nebendarstellern einher, der illusionstragende bürgerliche Held des Trauerspiels wurde zugunsten der Gesellschaftsdarstellung zurückgedrängt. Außerordentlich viele chorische Partien fallen auf, Einar Schleef hätte für seine chorisch-rhythmische Einrichtung von Elfriede Jelineks Sportstück 1998 am Wiener Burgtheater einiges übernehmen können: „eintretende Personen [bilden] einen Chor“, oder: Die GESELLSCHAFT tritt
1
J. Tuvora, in: Der Sammler vom 23.11.1837.
2
Vgl. Hartmut Rosa: Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung, Berlin 2016.
3
Theaterzeitung vom 4.10.1837, S. 804.
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während dem Ritornell mit GLÜCK ein. CHOR zu GLÜCK.“4 Dem entspricht eine eigenartige Bürokratie der sozialen Handlung, eine effiziente Abhandlung des bürgerlichen Liebesdiskurs: „Liebesbriefe zu schreiben, das könnt überhaupt ganz abkommen“, man „brauchet ja nur vier Formular, eins mit einer Liebeserklärung, eins mit einer Eifersucht, eins mit einer Versöhnung und Bestellung, und eins mit einem gänzlichen Bruch.“ Der künftigen arbeitsteiligen Ökonomie bzw. Marktstruktur der Beziehungen vorgreifend benötige man „nur immer Nahmen und ‚Datum‘ auszufüllen, und die verliebte Welt wär versorgt auf ewige Zeiten.“5 Seriell-psychologisch auch die Familienstruktur: Vier Vaterfiguren repräsentieren vier Temperamente: der Choleriker Herr von Braus, der Phlegmatiker Herr von Fad, der Melancholiker Herr von Trüb und der Sanguiniker Herr von Froh. Diese wiederum haben je einen Sohn und eine Tochter mit demselben, noch vor Mendel, Darwin und dem Naturalismus dramatisch vererbten Temperament. Charaktere und Handlung sind fundamental stilisiert, wobei man an der geometrischen Raum-Aufteilung und korrespondierend an vier Darstellungsstereotypen, die die vier Temperamente bedeuten, Maß nahm. Die Bühne stellte die jeweils vierte Wand jeder Szene als eines von vier gleich großen, einge-rahmten Räumen vor und richtete als zur Abstraktion tendierendes Gesamtbild eine vertikale und horizontale Symmetrie ein. Damit verbanden sich die symmetrische Dramaturgie und der aufgeteilte Raum mit den Charakteren und einer determinierenden Substanz der körperlichen Erscheinung. Schon Kant postulierte, dass die „Temperamente, die wir bloß der Seele beilegen, doch wohl insgeheim das Körperliche des Menschen auch zur mitwirkenden Ursache haben mögen“, sodass aus physiologischer Sicht beim Temperament des Anderen die „körperliche Konstitution“ sowie „Komplexion (das Flüssige, durch die Lebenskraft gesetzmäßig Bewegliche im Körper, worin die Wärme und Kälte in Bearbeitung dieser Säfte mit begriffen ist)“ mit ursächlich sei.6 Neben den vier Hauptfiguren und deren Söhne und Töchter agieren im Stück vier Hausangestellte und vier Jugendfreunde der Väter: Die Herren von Sturm, von Schlaf, von Schmerz und von Glück hätten die Väter gerne als Schwiegersöhne, da sie ihnen als gleichartige Temperamente zusagen würden. Die Konflikte ergeben sich komödientypisch aus der Weigerung der Töchter, den Wünschen der Väter zu entsprechen; sie sind jeweils in einen Sohn des Nachbarn verliebt, der jedoch vom Temperament her gesehen, auf der Ebene einer prärassistischen, biologistischen Selektion, gar nicht passen würde. Zusätzlich stiftet die von Nestroy gespielt, zentrale komische Figur des Friseurs Schlankel in der
4
Johann Nestroy: „Das Haus der Temperamente“, in: Ders., Sämtliche Werke. Historischkritische Ausgabe. Stücke 13, hg. v. W. E. Yates, Wien 1981, S. 5-191, hier S. 91 und S. 171.
5
Ebd., S. 65.
6
I. Kant: Anthropologie, S. 212.
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Tradition der komischen Figur perpetuierend Verwirrung. Sie kämpft mit dem Stiefelputzer Hutziputz, der zweiten komischen Dienerfigur, um Gunst und Trinkgelder als Liebesbote. Schnell steht „das Haus der Liebe an allen 4 Ecken in Flammen“.7 Eifersuchtsintrigen funktionieren, da Schlankel psychologisch die Inszenierungen in den Imaginationen der Liebenden steuert: „Keinen fruchtbarern Boden giebt’s in der Welt, als das menschliche Herz[;] wenn man den Samen des Argwohns hinein streut, das schlägt Wurzel, und wächst und schießt.“8 Explorative Dialoge laufen aufgrund der Unfassbarkeit des Anderen in den unendlichen Regress aus, die jungen Männer erwartet ein heißer Empfang durch die sich betrogen glaubenden jungen Frauen: „WALBURGA: Dir, du Abbild des Betruges, du Widerschein der Falschheit, dir, der du das personifizierte Unrecht bist.“9 Man verteidigt sich heftigst: „FELIX: Offen und wahr, Aug in Auge – sieh mich an, bin ich einer Falschheit fähig? Ich habe an nichts gedacht, und werde nie an etwas anderes denken, als dich glücklich zu machen, und durch dich glücklich zu seyn.“10 Beklagt wird „mit tiefem Schmerz“, dass man „ganz, ganz“ verkannt werde, die argwöhnischen Frauen trauen der naturgeschichtlich-attraktiven Oberfläche nicht: „MARIE: O man kennt den Vogel an den Federn, die Duckmauser mit düsterem Äußern tragen sehr helle variable Farben im Herzen.“11 Der Tradition der Komödie gemäß nimmt das Stück ein gutes Ende, die jungen Frauen setzen sich vor dem Hintergrund des bürgerlichen Liebesdiskurs gegen ihre Väter trotz Prägung durch vererbte Temperamente durch: „FELIX: Das Temperament hat vierfach zwar geschieden/Der Menschen Denk- und Sinnesart,/Doch eine Liebe giebts es nur hienieden,/Die Alles ausgleicht, Alles paart“. Es folgt der allgemeine Chor: „(‚Cholerisch‘, ‚Phlegmatisch‘, ‚Melancholisch‘, ‚Sanguinisch‘) Was noch so verschieden im Leben erscheint,/Zu einem Glück wird es durch Liebe vereint.“12 So gelang es dem empfindsam-aufklärerischen Charakter, den materialistischen Determinationen der Physis zu entkommen, aber der Zweifel war – natürlich! Die galensche Lehre von den vier Temperamenten, schon 1751 in Diderots und D’Alemberts Encyclopédie als unsicher und unnütz bewertet, blieb in den populären Hygienediskursen wie im Vorstadttheater erkenntnisleitend.13 Sogar Kant zitierte in seiner Anthropo-
7
J. Nestroy: Das Haus der Temperamente, S. 44.
8
Ebd., S. 35.
9
Ebd., S. 57.
10 Ebd., S. 58. 11 Ebd. 12 Ebd., S. 190. 13 „Hygiene“, in: Denis Diderot/Jean le Rond D’Àlembert (Hg.), Encyclopédie, 1765, Bd. VIII, S. 385. Vgl. Philipp Sarasin: „Man glaubt nicht mehr an Galen – aber man denkt sich die Verschiedenheit der Körper galenisch. Dieses Schwanken zeigt, dass die Lehre
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logie die Zuordnung eines Temperaments zu einem Anderen, folgende Grafik war dazu abgedruckt: A - - - - - - - - - - - - -- - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - B Das Sanguinische Das Melancholische C-------------------------------------------D Das Cholerische Das Phlegmatische Die Abbildung glich der Bühnenaufteilung bei Nestroy. Kant ging von vorgeprägten Anziehungs- und Abstoßungskräften aus: „Wenn ein Temperament die Beigesellung eines anderen sein soll – wie das gemeiniglich geglaubt wird –“, so widerstünden „sie entweder einander, oder sie neutralisieren sich.“ Wie in einer mathematischen bzw. mathematisch-chemischen oder -physikalischen Formel ließe sich der menschliche Charakter berechnen, auch wenn es wie bei Schiller letztendlich weniger darauf ankomme, was die „Natur aus dem Menschen, sondern was dieser aus sich selbst macht; denn das Erstere gehört zum Temperament (wobei das Subjekt größtenteils passiv ist), und nur das Letztere gibt zu erkennen, dass er einen Charakter habe.“14 Ganz ähnlich Nestroy: Nicht nur als komische Figur neigte er über eine korporal-materielle Anthropologie zum Determinismus, relativierte diesen jedoch durch die Annahme einer Freiheit des Charakters. Wie Schiller vertrat er Kants Perspektive, nach der einen Charakter „schlechthin zu haben“ diejenige „Eigenschaft des Willens“ bedeute, nach der das „Subjekt sich selbst an bestimmte praktische Prinzipien“ bände, die er sich „durch seine eigene Vernunft unabänderlich vorgeschrieben“ habe.15 Einerseits erben Nestroys Figuren die Eigenschaften ihrer Eltern: „MARIE: Na, wie gefall ich Ihnen in den Anzug Papa? FROH: Sauber, bildsauber, bist ganz mein Ebenbild.“16 Andererseits erweist sich der Nachwuchs als charakterlich eigenwillig und damit aufgeklärt-frei: „FAD: Ich begreiff nicht,
der vier Temperamente noch lange Zeit in jener Unsicherheit über die Gründe der manifesten Verschiedenheit von Körpern und von psychischen Dispositionen die Vorstellungen vor allem im Rahmen populärer und insbesondere hygienischer Texte strukturierte. Sie wird, so unklar sie auch erscheint, im 19. Jahrhundert keineswegs verschwinden, sondern selbstverständlich bleiben, ohne dabei eine weitere Begründung zu bedürfen.“ Ders.: Reizbare Maschinen. Eine Geschichte des Körpers 1765-1914, Frankfurt/M. 2001, S. 78f. 14 I. Kant: Anthropologie, S. 217ff. 15 Ebd. 16 J. Nestroy: Das Haus der Temperamente, S. 16.
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wie eine leibliche Tochter von mir, so einen rabiaten Geschmak haben kann.“17 Individueller Geschmack begegnet der Ästhetik des Anderen, für Kant würden „geometrische-regelmäßige Gestalten, eine Zirkelfigur, ein Quadrat, ein Würfel usw. von Kritikern des Geschmacks gemeiniglich als die einfachsten und unzweifelhaftesten Beispiele der Schönheit“ genannt.18 Die Abstraktion des Bühnenraumes, der Figuren sowie der Konstellationen entsprang der ästhetischen Freiheit, die sich von der Vulgarität des Positivismus, der materiellen Verfügbarkeit über alle Gegenstandsbereiche löste. Sichtbar wurde das Prinzip geometrischer Komposition, das sich aus dem älteren Natur-Symbolismus herausschälte. Im Vorgang der Komposition, den sich Nestroy im Wiener Vorstadttheater erlaubte, artikulierte sich die isolierte präavantgardistische Subjektivität. Ein ästhetisches Spiel (Schiller), eine artistische Ideenkultur (Beat Wyss) befreite sich vom Materiellen und prägte sich dem Bühnengeschehen auf. Die Gesellschaft erschien im theatralen Mikrokosmos über ihre angebliche Determination qua vererbter Anlage wohlgeordnet, wurde jedoch von außen, vom Autor, dem Publikum und der Regie in Szene gesetzt. Dass sich die Verliebten dem Schematismus und der Abstraktion dieser Einteilung widersetzen konnten, indem sie gegen die Vor-Prägung rebellierten, verhinderte letztlich die Totalisierung des übergeordneten Bezugssystems, machte aber zugleich die Struktur der dargestellten, zunehmend entfremdenden Welt umso mehr deutlich. Die Figuren wehren sich als Liebende gegen den modernen Verlust an Resonanz in der Begegnung des Anderen, gegen ihre Verfügbarkeit als Material und Teil des Gesamtartefakts. Hierbei wurden, wie in heutigen Seriendramaturgien, verschiedene Teile der eigenen Persönlichkeit schematisch in den Raum und die Teilcharaktere projiziert. Der Zuschauer sah auf der Bühne als Spiegel die in den Temperamenten jeweils zugespitzt-polarisierten Bestandteile seines eigenen Ichs – ähnlich wie Gall, der die verschiedenen Charakterschwerpunkte als Organe im Gehirn lokalisierte. In der Zeit zwischen Kotzebue und Nestroy fand der Übergang der Hirnforschung zur Wissenschaft vom Menschen mittels der Lokalisation der geistigen Eigenschaften statt,19 sodass ein Dualismus immer in Gefahr war, zugunsten des Materialismus zurückstehen zu müssen. Die Auflösung der Seele in das moderne Bewusstsein erzwang eine Ordnung, die sich dem Anderen von außen aufprägte. In Carl Carls Inszenierung war das Außen zugleich eine Instanz in der gesellschaftlichen Institution und im Produktionsprozess Theater: Carls Regie, die benötigt wurde, um den harmonischen Zusammenhalt zu gewährleisten. Der Trend zur Anthropometrie materialisierte sich auf Nestroys Bühne in der Abstraktion des Bühnen-
17 Ebd, S. 146. 18 I. Kant: Kritik der Urteilskraft, S. 704. 19 M. Hagner: Homo cerebralis, S. 12.
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raums, setzte ein Äquivalent zur späteren Bauhausästhetik und abstrahierenden Avantgarde. Evident wurde, dass alle vier Temperamente und deren Figurationen im Ich des Rezipienten, in dem Nestroys und des verantwortlichen Regisseurs Carl eine imaginäre Schnittmenge bilden mussten, obgleich die jeweiligen Mischungsverhältnisse der Charaktere und Identitäten unterschiedlich ausfallen mochten. Die zentrale Figur des Stücks machte die Vorherrschaft eines Temperaments von den jeweiligen Umständen abhängig: „SCHLANKEL. Überhaupt, wer kann bei einem Temperament bleiben, die Umstände bringen’s ja mit sich, dass der Mensch in alle vier Temperamente herumkugeln muss.“20 Damit symbolisierte der Bühnenraum in seinem Rahmen die Grenzen der Freiheit des Ichs als „Herumkugeln“. Dessen Performanz war dem modernen Bewusstsein geschuldet, das sich nicht mehr als Seele in irgendeinem imaginären oder natürlichen Raum in einem Punkt lokalisieren ließ. Die Determination als Rahmensetzung drückte sich in der Geometrie der Bühnenästhetik aus, was weit vor Appias Atmosphäre und Craigs Bewegung den Regisseur als ästhetisch verantwortlich Einrichtenden (freilich nach Goethes Weimarer Eigenmächtigkeiten) institutionell in den Mittelpunkt rückte.21 Der Schematismus der bis zur Übertreibung der Karikatur abstrakten Bühnenfiguren initiierte die Komik, die dem Verlust der Grazie der einzelnen Figuren und den übertriebenen Kontrasten der Figuren untereinander geschuldet war. Neben der Menschenzeichnung monierte man die Künstlichkeit der An-Ordnung und Handlung, denn wie man aus der „Inhaltsanzeige leicht ersähe“, könne der „Zuschauer nur mit vieler Anstrengung dem labirintischen Gange der Handlung, und der allzuverwirrten Verwickelung der Intrigue folgen“. Der Grund läge darin, dass „die Grundidee an und für sich zu viel als g e k ü n s t e l t e S p i e l e r e i erscheint, dass der m e c h a n i s c h e T h e i l des Stückes seine g e i s t i g e T o t a l i t ä t aufzuheben droht“. Insbesondere konnte man keine „hervorstechende moralische Tendenz in dem Stücke wahrnehmen“, auch registrierte man eine „bisweilige Monotonie und Stockung der überladenen Handlung“, der „kaum auszuweichen war.“22 Die Kritik reflektierte die Unentschiedenheit zwischen Natur und Kunst, zwischen Trieb und Idee, zwischen Leben und Abstraktion, zwischen amorpher und geometrischer Schönheit. Diese Polarisierungen waren das indirekte Resultat des korrelationistischen Zirkels vor dem Hintergrund der Auflösung der alten Subjekt-
20 In einem Lied schildert Schlankel anschaulich die komische Praxis dieses „Herumkugelns“: „Lied/Wann m’r auch festen Charakter hat im Ehstand/Kriegt man leicht alle vier Temprament nach eineinand.“; J. Nestroy: Das Haus der Temperamente, S. 156f. 21 Vgl. zur Rahmensetzung E. Pöppel: Der Rahmen. 22 Der Humorist vom 20.11.1837, S. 683f.
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Beziehung in die isolierte Subjektivität und die isoliert materielle Verfügung über Dinge als vorstellungsweltlicher Grundzug der Moderne. Die Figuren wurden zu entfremdeten Objekten des Anderen, denen keine Resonanz in der Begegnung des Anderen, keine sympathetische, sondern eine dezisionistische Komik eignete. Das Lachen des Zuschauers war einem Ver- oder Auslachen des Anderen geschuldet. Es war weniger eines im lessingschen Sinne, sondern ein nietzscheanisches, den Resonanzverlust und die Angst kompensierendes, betont aggressives Lachen der Überlegenheit. Lessing wollte noch bürgerlich in der Komödie durch „Lachen bessern; aber eben nicht durch Verlachen“. Für ihn hatte „die ganze Moral“ kein kräftigeres Präservativ, „wirksamers, als das Lächerliche“.23 Die Frage nach dezisionistischer oder sympathetischer Komik war eine eminent politische, daran ermisst sich bis heute die Antwort, was politisches Theater sei. Fast ein Jahrhundert später stellten Charlie Chaplins Filme, deren Figurationen nicht unwesentlich Meyerholds Biomechanik und Brechts Inszenierungsstil beeinflussten, eine korporale Motorik als „Wiederholungszwang, der das Subjekt mit sich selbst entzweit,“24 vor, die durch eine melodramatische Handlung gerahmt wurde. Heiner Müller interessierte sich als Vertreter einer nachmodernen Überschreitungsästhetik für die korporale Motorik in den Filmen, darüber hinaus bemängelte er, dass diese dramaturgisch zu sehr in die Reflexion der sozialen Lage – Müller nannte diese „Brüderlichkeit“ – eingebunden war, „weil der Boden aufbrach“. Das ginge jedoch „auf Kosten seiner Kunst“, daher bliebe von Chaplin „nicht der gute Mensch, sondern der böse Engel“.25 Chaplin hingegen war – schon vom klassischen Hollywoodcode dazu gezwungen – der Ansicht, dass er ähnlich wie Nestroy ohne soziale Lage als Identifikationsfläche nicht auskommen würde, arbeitete also weiterhin im Rahmen der aristotelischen Konfliktdramaturgie: „Dem Publikum muss der Umstand, der einen Menschen in eine missliche Lage bringt, immer vollkommen vertraut sein, sonst verstehen die Leute überhaupt nicht, worum es geht.“26 Diese Konstellation wiederholt sich heute, wenn Thomas Ostermeiers sozialer Realismus sich als Kritik der postdramatischen Ästhetik versteht. Im Endeffekt ging es um das Bild des Anderen, welches man auf der Bühne oder der Leinwand sehen wollte. Für Brecht war der „mit großem Aplomb ausmarschierende Clown“, welcher „auf die Nase fällt“, weniger „ein gesellschaftliches
23 Gotthold Ephraim Lessing: „Hamburgische Dramaturgie. 29. Stück“, in: Ders., Hamburgische Dramaturgie, Stuttgart 1981, S. 151-155, hier S. 151f. 24 Karlheinz Stierle: „Komik der Handlung, Komik der Sprachhandlung, Komik der Komödie“, in: Ders., Text als Handlung, München 1975, S. 56-97, hier S. 59. 25 Heiner Müller: „Ich wollte lieber Goliath sein“, in: Ulrich Profitlich (Hg.), Komödientheorie, Reinbek 1998, S. 223f., hier S. 224. 26 David Robinson: Chaplin, Zürich 1993, S 247.
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Element“, denn dieses war „verloren gegangen, sodass der Clownssturz als etwas schlechthin Biologisches, als bei allen Menschen in allen Situationen Komisches erscheint“.27 Das Biologische als aktuelle Herausforderung der Genetik und Hirnforschung, die zu Nestroys Zeiten ihre materialistischen Anfänge nahmen, fände so seine Grundlage, es verbände das Allgemeine in der Geometrisierung mit dem Resonanzverlust und der Kälte in der Behandlung des Anderen.
9.2 D IE R EGIE
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Den Aktionen der komischen Figuren Nestroys käme der energetische Teil der theatralen Ästhetik zu, der modern bei Nietzsche und Freud, nachmodern in der affirmativen Ästhetik Lyotards eine adäquate Beschreibungsebene fand. Die Inszenierung Carls arbeitete auf eine subjektiv-totalisierende Über-Sicht hin, die das Wirkliche als eine bewegliche Konstellation des Anderen sichtbar machte, die Lautréamont später als „zufälliges Zusammentreffen einer Nähmaschine und eines Regenschirms auf einem Seziertisch“ bezeichnete. Es ging darum, vom Anderen in der Inszenierung ein „Bild zu machen“ (Man Ray) und nicht ein „Bild aufzunehmen“, wie es dem positivistischen Blick des Arztes Tschechow zu tun war und wie es in der stanislawskischen Inszenierung von Maxim Gorkis Nachtasyl beispielhaft vorgeführt wurde. Mit Nestroys Stück veränderte sich das Verhältnis von Mimesis und Poiesis, das etwas mit dem wie auch immer definierten Abstand und mit der Ähnlichkeit in der Abbildung von Wirklichkeit zu tun hat. Mimesis changierte dabei bis hin zur Avantgarde und bis heute postavantgardistisch über sie hinaus zwischen platonischem und aristotelischem Urbild. Die ‚Wirklichkeit‘ innerhalb eines Arrangements, einer Assemblage oder Installation in Szene gesetzt, ging es um das Verhältnis als Differenz, welches die Elemente der Inszenierung untereinander haben, zumal in der Annahme, dass nicht nur die inszenierte, sondern auch die ‚wirkliche‘ ‚Realität‘ ein Intertext sei. Wenn Nestroy die Konstituentien seines Stücks, die Handlung, die Figuren und den Raum soweit schematisierte, dass seine ‚Bauteile‘ sichtbar wurden, dann schwächte er deren Bindung an ihre Referenten und ermächtigte den Autor, den Regisseur und nicht zuletzt das Publikum zur freieren Handhabung des Artefakts. Als einzelne Attraktionen einer frühen Wiener Spektakelkultur, wie sie uns Guy Debord treffend definierte, werden die Bauteile erst recht interessant. Der Sprung zur freien Montage als eisensteinschen Montage der Attraktionen erschien als Möglichkeit des 20. Jahrhunderts am Horizont.
27 Bertolt Brecht: Zu Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui, in: Ders., Gesammelte Werke. Bd. 17, Frankfurt/M. 1967, S. 1176f.
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Für Nestroys Zeit galt eine identitätsphilosophische Tradition, die das Andere der Vernunft trotz Kleists dramaturgischen Überschreitungen möglichst ausschloss. Carl und Nestroy offenbarten im Spiel, dass, so der Linkshegelianer und wichtigste Ästhetiker des zu Ende gehenden Idealismus Vischer, das „innerste Heiligtum der Menschheit einen Phallus verberge.“28 Das nietzscheanische Dionysische drängte mit komischer Macht durch das dramatisch gestaltende Apollinische. Nestroys unterlief subversiv die Begradigung und Logifizierung der sich selbst gewissen Identität des Subjekts und formulierte als Surrealist avant la lettre einen lustbetonten Verdacht gegen die Herrschaft der Vernunft, wurde zu einem der wichtigsten Chronisten des frühmodernen Unbehagens in der Kultur. Er theatralisierte den Einwand Rosenkranz’ in dessen Ästhetik des Hässlichen, die dieser gegen die Identitätsphilosophie Hegels und die idealistische Ästhetik formulierte. Bei Kant als moralischgesetztes Subjekt noch autonom, bei Hegel und den Idealisten relational strukturiert, wurde es, vorbereitet durch Schopenhauer und Wagner, bei Nietzsche zu einem Objekt des Willens zur Macht: Der wahre Charakter des Anderen erschiene nicht im natürlichen Ausdruck seiner Inhalte, sondern im artifiziellen Spiel mit seinen Formen in der Kunst als das, was dem Leben Sinn verleiht. Die moderne Subjektivität verband sich bei Nietzsche mit dem Modell des Schauspielers. Weder eine Entsprechung zwischen Mikro- und Makrokosmos noch ein sonstiges transzendentales Signifikat konnte für die Wahrheit garantieren. Da Kultur bestenfalls ein „dünnes Apfelhäutchen über glühendem Chaos“ war, sollte man nie vergessen, „dass der Schauspieler eben ein idealer Affe ist und so sehr Affe, dass er an das ‚Wesen‘ und das ‚Wesentliche‘ gar nicht zu glauben vermag: alles wird ihm Spiel, Ton, Gebärde, Bühne, Kulisse und Publikum.“29 Diese Herabsetzung des Rollenspiels klingt noch heute in der Verweigerung, Störung oder Erschwerung des professionellen Schauspielens im performativen Theater nach. Nietzsches Spannung zwischen Apollo und Dionysos, zwischen individuell-figurativer Gestalt und überindividuellem Lebensrausch als Grundlage der Tragödie ersetzte Freud durch den Kulturkampf zwischen Eros und Thanatos. In Nestroys Vier Temperamente gelang es den jungen Liebenden noch, das durch die komische Figur angerichtete Chaos durch den Eros und das Ritual ihrer Liebe in Grenzen zu halten. In Artauds Theatervisionen, in der kulturfeindlichen Aggressivität der Futuristen und in den surreal-assoziativen Montagen der Filme von Dali und Bunuel wurde die Unbegrenztheit als Aufbruchsphantasie im Tragischen der dramatischen Repräsentation zum avantgardistischen Programm. Damit wäre bereits mit Nestroy die Kraft der Kunst in der Energie des Genotextes, in einer Potenzierung der Interpretationsmöglichkeiten angedeutet. Bis zur reinen Rhythmik
28 F.T. Vischer: Kritische Gänge. Bd. 1, S. 63. 29 F. Nietzsche: Morgenröte, S. 231.
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der Bewegung auf der Bühne einerseits und die Behandlung des Anderen auf der Bühne als Material andererseits reichte die Energie des von Vischer bei Nestroy ausgemachten „Phallus“. In der eigensinnigen Kombination von Nietzsches Ekstase als Grundlage des schöpferischen Aktes und der platonischen Philosophie als Quelle seines symbolistischen Entwurfes forderte Craig, dass die Gestaltungsmittel der Bühne aus dem „unbekannten Land der Phantasie“ geholt werden müssten.30 Der Theaterkritiker Georg Fuchs, der 1904 zur „Retheatralisierung des Theaters“31 aufrief, schrieb über den Tanz der Lili Marberg als Salome in Oscar Wildes gleichnamigem Skandalstück, aufgeführt im Münchner Schauspielhaus: Sie statte „ihre Rolle nicht mit den sorgsam erstudierten Resultaten psychologischer Beobachtung aus“, vielmehr erfasse sie „intuitiv das rhythmische Gesetz, das dem noch nicht ganz gereiften, aber schon dumpf geschlechtsbewussten Mädchen seine typischen Erscheinungs- und Ausdrucksformen gibt, nein: sie erfasst es nicht, sie lässt sich davon faßen, packen durch und durch – und aus diesem ihre ganze Wesenheit durchpulsenden Rhythmus heraus entwickelt sich ihr mit instinktiver Logik alles einzelne in Sprache und Geste, Maske und Kostüm.“ Infolgedessen wäre Marberg „immer eine Harmonie – und darum packt sie auch immer uns ganz und gar und lässt uns die Harmonie mit allen Sinnen miterleben.“32 Mit dem Verweis auf das Antipsychologische, das Überindividuelle, die Einfügung in das Ganze opponierte Fuchs gegen die Orientierung am bürgerlichen Illusionstheater und der subjektiv-bewussten Figur. In der tänzerischen Darstellung der Lili Marberg sei nicht mehr die Persönlichkeit, sondern das rhythmische Gesetz am Werk, der Resonanzverlust der Moderne würde kompensiert, ja mehr: das dramatisch Individuelle ginge im energetisch-lebendigen Ganzen auf. Der Tanz, die körperliche Aktion waren nicht mehr dem dramatischen Text nachgeordnet. Alle Teile eines Bühnenereignisses hatten sich nach dem theatralen, nicht dem literalen Zusammenhang auszurichten, was Richard Schechner später mithilfe seines Modells eines Environmental Theatre beschrieb. Ein reiner Rhythmus wäre aus phänomenologischer Sicht, so Waldenfels, „nur unterwegs heimisch.“ Was bei ihm zähle, sei „nicht das Woraufhin des Ziels und das Was des Ergebnisses, sondern das Wie der Bewegtheit.“33 Damit wäre eine Retheatralisierung nicht in der Lage, über eine situative Befreiung
30 Die Gemeinsamkeit zwischen Nietzsche und Craig sieht Joachim Fiebach in einem „irrationalen Ästhetizismus“; ders.: Von Craig bis Brecht, S. 91 und 94. 31 Lenz Prütting: Die Revolution des Theaters. Studien über Georg Fuchs, München 1971. 32 Almanach für das Münchner Schauspielhaus 6/7, 1900-1908, hg. v. Paul Busse, S. 36. 33 Bernhard Waldenfels: Sinnesschwellen. Studien zur Phänomenologie des Fremden 3, Frankfurt/M. 1999, S. 64; für Hans Ulrich Gumbrecht hat der Rhythmus Teil am NichtHermeneutischen, opponiert daher gegen den Sinn; vgl. ders.: „Rhythmus und Sinn“, in ders. u.a. (Hg.), Materialität der Kommunikation, Frankfurt/M. 1988, S. 714-729.
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hinaus Widerstand gegen einen Stärkeren zu leisten bzw. diesen in einen rechtlichen Rahmen zu binden. So konnten die Auflösung der ästhetischen Grenzen und die reaktionären Ansätze aus dem Kaiserreich, die sich in Zensurbestrebungen und Abgrenzungsbemühungen zeigten, in eine unselige gemeinsame Richtung münden, als sich die sozialen Unsicherheiten verschärften. Eine undeutliche Grenze zwischen Politik und Kunst, eine schwer zu durchschauende Ästhetisierung der Politik, eine verlockende Aussicht auf Gemeinschaft gegen den Resonanzverlust verhalf den Nationalsozialisten zur Machtdurchsetzung. Ästhetiken der sinnbefreiten Körperbewegungen, der allumfassenden Rhythmik, des Antiindividualistischen und des Gesamtkunstwerkes, dem sich das oder der Einzelne einzuordnen hat, waren ihnen nicht unwillkommen. Nestroys Subversion konnte somit auch in die negative Richtung ausschlagen, wenn den „Phallus“ als „Wille zur Macht“ keine kulturelle Ordnung mehr im Rahmen hielt und die mimetische Grenze soweit überschritten oder negiert wurde, dass Theater und Politik ununterscheidbar schienen. Eine Ästhetik der Überschreitung konnte aber auch einen positiven Entwicklungsweg einschlagen, wenn, wie von Oskar Schlemmer in seinem Triadischen Ballett, die Bewegung des menschlichen Körpers im geometrischen Raum als Tanz entgrenzend dionysisch, in der endlichen Gestalt zugleich begrenzend-apollinisch inszeniert wurde, man dem Ganzen als übergreifenden Zusammenhang aber keine Idee des ‚Volks-Ganzen‘ unterschob. Schlemmer, der wie Fuchs ebenfalls von Nietzsche beeinflusst war, versuchte, die Polarität zwischen Natur und Geist auszutarieren. Der Mensch war bei ihm sowohl „raumbehextes“ als auch „raumschaffendes“ Wesen. Es galt, dass der Künstler zwar „Inhaber und Vollstrecker der Gesamtidee“ war, sodass es scheinen könnte, dass „es für den Tänzer die Aufgabe seiner selbst bedeute, ihn bestenfalls zur exakt arbeitenden Maschine degradiere.“ Doch das wäre keineswegs das Ziel, denn das „Gesetz der Form gibt Freiheit des Ausdrucks und die Seele kann nicht genommen werden.“34 Schlemmers Aufmerksamkeit für die Beziehung von Mensch und Raum resultierte aus seiner Beschäftigung mit der Romantik, insbesondere mit Novalis, dessen Bezug zur „reinen Mathematik“ als „Religion“ relevanter Hintergrund wäre.35 Während sich in Nestroys Stück die Dinge als Objekte geometrisch an- und unterordneten, gewann das moderne Subjekt an Macht über das gesamte Artefakt. Damit subvertierte Nestroy den
34 Zit. n. Dirk Scheper: Oskar Schlemmer. Das Triadische Ballett und die Bauhausbühne, Berlin 1988, S. 33. 35 Für Novalis galt: „Ein reiner Gedanke – ein reines Bild – eine reine Empfindung sind Gedanken, Bilder und Empfindungen – die nicht durch ein correspondierendes Objekt erweckt etc., sondern außerhalb der so mechanischen Gesetze [...] entstanden sind. Die Phantasie ist eine solche mechanische Kraft“; ders.: „Das Allgemeine Brouillion“, in: Ders., Schriften, Bd. 3, hg. v. Paul Kluckhohn u.a., Stuttgart 1960, S. 430.
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Anderen als Persönlichkeit auf der Bühne, lange vor Craig, der das Leben als geistiges eher im Abstrakt-Geometrischen verorten wollte, der nicht an die „magie der persönlichkeit“, aber an die „magie des unpersönlichen im menschen“36 glaubte. Die Inszenierung des nestroyschen Stücks verlangte infolgedessen nach einer kompetenten Regie, damit es in seiner extremen Polarisierung nicht auseinanderbrach. Die Leistung der Regie wurde von der Kritik positiv vermerkt: „Die Decoration, das Theater in vier Abtheilungen, nahm sich allerliebst aus; das Arrangement, von Hrn. Director Carl, ist meisterlich. Es griff alles so rasch und sicher ineinander, wie die Töne bei einem gut gespielten Clavier. Der unermüdliche Director hat wirklich eine Meisteraufgabe gelöst: wollten andere Bühnen dieses Stück mit gleichem Glücke in die Scene setzen, so wäre es sehr gerathen, einen Regisseur nach Wien zu schicken. [Dieses Stück] ist zehn Mal schwerer zu spielen und in die Scene zu setzen, als jede Zauberoper. Hr. Director Carl besitzt hierin ein wahres Rezept der Goldtinctur, wie die Folge ganz gewiß zeigen wird.“37 Wichtig waren das „Arrangement“ einerseits und das „Zusammenspiel“ andererseits, beide hielten „jedes Mißbehagen, jede Stockung fern.“38 Man kam zu dem Ergebnis: „Die Darstellung wie die Inscenesetzung war überaus trefflich; ungemeine scenische Schwierigkeiten müssen dabei überwunden worden seyn. Das ganze Personal der Bühne war, vielleicht mit Ausnahme von ein oder zwey Individuen, beschäftigt.“39 Carl Carl betrieb einen Aufwand, der mutmaßlich Pariser Ausmaße hatte. August Lewald schrieb noch 1833 in diesem Sinne in einem Artikel über die Melodramen an den französischen Theatern: „Was man in Paris eine sorgfältige und schöne mise-en-scène nennt, ist nicht von prächtigen Dekorationen und kostbaren Costümen abhängig, noch weniger von den sinnlosen Arrangements, die unsere sogenannten Spektakelstücke begleiten.“40 Davon konnte bei Carl Carl keine Rede mehr sein. Er wurde nicht nur zum erfolgreichsten Produzenten und Theaterleiter der Restaurationszeit, sondern noch vor den Meiningern, Max Reinhardt, Craig oder Piscator zu einem Meister der InSzene-Setzung.41 Sie trug individuell-künstlerisch Gesamtverantwortung, ging
36 E.G. Craig: Die Künstler des Theaters der Zukunft, S. 47. 37 Theaterzeitung vom 18.11.1837, S. 938. 38 Wiener Zeitschrift für Kunst, Literatur, Theater und Mode, Nr. 139, S. 1111f. 39 J. Tuvora, in: Sammer Nr. 140 vom 23.11.1837, S. 560. 40 August Lewald: „Das Melodrama II“, in: Ders. (Hg.), Unterhaltungen für das TheaterPublikum, Nr. 3, 26. Juni 1833, München, S. 19-24, hier S. 21. 41 Für Craig sollte kein anderer „als der regisseur auf der bühne befehlen“, dies fiel Carl schon auf institutioneller Ebene leicht, war er doch der Direktor des Theaters. Der Vertreter einer avantgardistischen Regiekunst sah als Kunst des Theaters „weder die schauspielkunst noch das theaterstück, weder die szenengestaltung noch der tanz“, sondern
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schon über eine reine Koordination bzw. Interpretation hinaus, sodass Carls Regie nach Goethes Weimarer Experimenten als moderne und er selbst als Begründer des Regietheaters bezeichnet werden könnte. Unpolitisch waren hierbei weder die verhandelten Inhalte, die je nach Zensurhärte außerordentlich frech ausfallen konnten, noch die besondere Form. Vor allem die Präsenz der Darstellenden, der Körper und Bewegungen, die Attraktionen im Raum, die ästhetische Bildprägnanz und die pure Virtuosität des Wortwitzes ergänzten die Konfliktdramaturgie hin zu einer Überschreitungsdramaturgie, sodass schon im Wiener Vorstadttheater in einem mindestens intuitiven Verständnis des Tragischen der Repräsentation vom politisch Theater Machen auszugehen ist.
9.3 D RAMATISCHE P ROJEKTION
DES
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Das avancierte Theater der Moderne suchte sukzessive eine neue Funktion und entwickelte sich von Weimar bis zur Gegenwart zum Kunsttheater. Die Krise des Dialogs wurde zur Krise des Dramas durch die Infragestellung eines verlässlichen Innen als Anderen, von Kleists Prinz von Homburg, in dem der Prinz nicht mehr bewusst Herr über seine Handlungen ist, bis zu Strindbergs Nach Damaskus, Botho Strauß’ Groß und Klein und Elfriede Jelineks Das schweigende Mädchen, in dem in einer kreisförmigen Dramaturgie und eines nun dramatisch-stabil sichtbar werdenden korrelationistischen Zirkels die Anderen auf ontologischer Ebene in ihrer autonomen Existenz bezweifelt werden müssen. Politisch virulent wurde dies mit der Uraufführung des Stückes Die Wandlung am 30. September 1919, mit der der Autor Ernst Toller und der Schauspieler Fritz Kortner schlagartig bekannt wurden. Aufgrund der Inszenierung im Berliner Experimentaltheater Die Tribüne,42 einer gerade erst gegründeten expressionistischen Versuchsbühne, durch Karl Heinz Martin setzte sich der Expressionismus im Berliner Theater durch. An der Wandlung wäre „der Expressionismus des Theaters zum ersten Mal nicht Experiment, sondern Erfül-
vielmehr die „gesamtheit der elemente, aus denen die einzelnen bereiche zusammengesetzt sind. Sie besteht aus der bewegung, die der geist der schauspielkunst ist, aus den worten, die den körper des stückes bilden, aus linie und farbe, welche die seele des szene sind, und aus dem rhythmus, welcher das wesen des tanzes ist.“ Zumindest was die Zusammensetzung der Elemente als Gesamtheit betraf, schien Carl Craigs Vorstellungen tendenziell vorweg zu nehmen, die Kritik sprach lobend vom „Zusammenspiel“ (s.o.); E.G. Craig: Die Kunst des Theaters, S. 101 und 108. 42 Vgl. Fritz Kortner: Aller Tage Abend. München 1979, S. 232.
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lung“43 gewesen, denn dramatischer Text und expressionistische Inszenierungsmittel bestätigten sich gegenseitig auf höchstem Niveau. Der expressionistischen Vision einer neuen Gestalt des Anderen entsprach die Absetzung von den Konventionen des Theaters, in Berlin bedeutete dies die Kritik am erfolgreichen Stil Max Reinhardts und an früheren naturalistischen Ästhetiken. Es ging um eine dramatischtheatrale Revolution des Anderen, um nicht mehr und nicht weniger als um die „Änderung der vorhandenen Welt“.44 In einem verantwortlich-ethischen Programm sollten politische und ästhetische Vorstellungen ein performatives Forum finden. Dies in einem Raum, von dem aus eine Wandlung des Menschen und, als deren Folge, der gesellschaftlichen Zustände propagiert und erreicht werden sollten: Er sollte ein „Theater des Glaubens“,45 ein Verkündigungsort sein, von dem aus die expressionistischen Ziele ausgerufen und das „Wesenhafte“ des „Menschentums erklärt“ werde46. In der Überwindung der Ästhetik der Guckkastenbühne, der ästhetischen Grenze zwischen Bühne und Zuschauerraum sollte eine völlig neue „Lösung des Problems des Theaterraums“ gefunden werden, um „den Theatergenuß zu seinem eigentlichen Sinn zurückzuführen: zu Vergeistigung gesitteter Hörer, zu unmittelbarer und tiefgreifender Übermittelung des Dichtwerkes, zur Erschaffung der Kultusstätte einer geistigen Gemeinschaft.“47 Ein die Breite des Saales einnehmendes Podium errichtete die „Vortragsbühne, die jeglichen Bühnenrahmens, aller Maschinerie, aller Soffitten und Beleuchtungsrampen entkleidet“ war.48 Dramatischer Text, Inszenierung und Raum bildeten eine expressionistische Kanzel in der Hoffnung auf eine einschneidende Wandlung der Menschheit. Dem Stücktext lag der Weg des Anderen in sechs Stationen und dreizehn Bildern zugrunde, auf dem Toller pazifistische Einstellungen und sozialanarchische Revolutionsmotive mit dem Problem der Andersheit und des Ausgegrenztseins zur Deckung brachte. Der Dialektik der Gewalt ist nur mit der Überwindung der Grenzen zum Anderen zu entkommen, zumal diese als konstruiert und relativ erkannt werden: „FRIEDRICH: Wer bestimmt, daß ein andrer Feind sei?... Ist da eine geistige Kraft, die zum Kampf zwingt?... Oder bestimmt Willkür den Feind?...
43 Zit. n. Günther Rühle: Theater für die Republik. Im Spiegel der Kritik, 1917–1933. 2 Bde., Frankfurt/M. 1988, Bd. 1, S. 158. 44 Walter Hasenclever: „Das Theater von morgen“, in: Paul Pörtner, Literatur-Revolution 1910–1925. Dokumente. Manifeste. Programme. Bd. 1, Darmstadt 1960, S. 352. 45 Max Hermann-Neiße in: Hugo Zehder (Hg.), Die neue Bühne. Eine Forderung, Dresden 1920, S. 58. 46 „Programm der Serie Die Dramen der Neuen Schaubühne“, in: Paul Raabe: Die Zeitschriften und Sammlungen des literarischen Expressionismus, Stuttgart 1964, S. 192. 47 Programmheft der Tribüne 1919, in: R. Freydank: Theater in Berlin, S. 399. 48 Franz Wenzler: „Konzessionsgesuch vom 12.4.1919“, in: Ebd.
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Da klafft ein Widerspruch.“49 Die Stationendramaturgie steuert die Handlung aus der existentiellen Fremdheit in deren Auflösung, indem wie später in Jean-Luc Godards Weekend individuelle und gesellschaftliche Grenzen zwischen den Menschen in einem revolutionären Akt überwunden werden. Die Dialektik in der performativen Konstruktion von Identität und Andersheit innerhalb eines relationalen Verhältnisses als ewige Wiederkehr des Gleichen sollte ausgesetzt werden. Das Stationenmodell nach August Strindberg ist nicht mehr wie in Nach Damaskus als kreisförmiges zu denken. Doch bleiben auch bei Toller die Stationen weitgehend autonom, die das Geschehen zusammenhaltende Hauptfigur entwickelt den Handlungsfortschritt nicht anhand psychologisch einsichtiger Aktionen. Räumliche Situierung, zeitlicher Ablauf und Stationenabfolge sind nicht in jedem Fall zwingend festgelegt. Zentrum ist letztlich das Erleben der Hauptfigur, Reales und Imaginäres schlägt sich gleichermaßen szenisch nieder, sodass einige Bilder „schattenhaft wirklich, in innerlicher Traumferne gespielt zu denken“ sind.50 Das Verhältnis der Hauptperson zu den Anderen konstituiert sich aus dem Panorama an apollinischen Projektionen des zentralen Ichs als innere Wirklichkeit. Im Imaginären zwischen Ich und Du, dem Eigenen und dem Anderen, prägen sich immer nur temporär stabile Gestalten aus. In der für den deutschen Expressionismus folgenreichsten theoretischen Abhandlung, Wilhelm Worringers Abstraktion und Einfühlung (1908), markiert der Abstraktionsdrang gegenüber dem Anderen, als „Bedürfnis nach Selbstentäußerung“, den Gegenpol zur Einfühlung.51 In diesem Sinne war auch die expressionistische Inszenierung der Wandlung in der Tribüne ein Sieg der Andeutungs- über die Wirklichkeitsästhetik des Anderen. Auf dramatischer wie theatraler Ebene führte die expressionistische Revolution jedoch leider keineswegs zum Anderen, sondern theatertheoretisch wie -praktisch in eine Aporie. Dem ständigen Widerspruch zwischen Erkennen/Verkennen im korrelationistischen Zirkel, den Artaud und Derrida als das Tragische der Unentrinnbarkeit aus der Repräsentation ausmachten und dem man später durch das Theater der Erfahrung, durch eine affirmative Ästhetik auf einer anderen Ebene aggressiv begegnen wollte, war im expressionistischen Nicht-Dramatischen auf der Bühne nicht zu entkommen.
49 Ernst Toller: „Die Wandlung“, in: Ders., Gesammelte Werke, Bd. 2, München 1978, S. 761, hier S. 35. 50 E. Toller: Die Wandlung, S. 12. 51 Wilhelm Worringer: „Abstraktion und Einfühlung“, in: Charles Harrison u.a. (Hg.), Kunst/Theorie im 20. Jahrhundert, Ostfildern-Ruit 2003, S. 91-95, hier S. 95.
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9.4 D ER W IDERSPRUCH
DES
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Spätestens mit dem Theaterexpressionismus war die Frage nach dem Anderen entnaturalisiert, wiewohl Goethe schon 1802 bemerkte, der „Schauspieler müsse seine Persönlichkeit verleugnen und dergestalt umbilden lernen, daß es von ihm abhange, in gewissen Rollen seine Individualität unkenntlich zu machen. In früherer Zeit stand dieser Maxime ein falsch verstandener Konversationston sowie ein unrichtiger Begriff von Natürlichkeit entgegen“. Gegen Kotzebues Dramatik und Schröders Spiel forderte Goethe in seinen Regeln für Schauspieler, die Schauspieler sollen „nicht aus missverstandene Natürlichkeit unter einander spielen, als wenn kein Dritter dabei wäre; sie sollen nie im Profil spielen, noch den Zuschauern den Rücken zuwenden. Geschieht es um des Charakteristischen oder um der Nothwendigkeit willen, so geschähe es mit Vorsicht und Anmuth“ (§ 39). Man solle zudem „nie in’s Theater hineinzusprechen, sondern immer gegen das Publicum. Denn der Schauspieler muss sich immer zwischen zwei Gegenständen theilen: nämlich zwischen dem Gegenstande, mit dem er spricht, und zwischen seinen Zuhörern. Statt mit dem Kopfe sich gleich ganz umzuwenden, lasse man mehr die Augen spielen (§40)“.52 Hier deutete sich im Prototyp des Regietheaters ein neues theatrales Verständnis des Anderen an, das seine Fortführung in dem Versuch der Avantgarde, die ästhetische Grenze zwischen Kunst und Leben zu überwinden, fand. Eine daraus entwachsende Politisierung der Ästhetik neben einer Ästhetisierung der Politik forderte Wsewolod Meyerhold, der 1921 den Theateroktober ausrief und nach dem Vorbild der Arbeitsformen der industriellen Produktion seine Biomechanik entwickelte; er übertrug mit Anleihen bei der typisierenden Commedia dell’Arte, bei Charlie Chaplins Slapstick, beim Volkstheater und bei der artistischen Ästhetik des Jahrmarktes das Konzept des Konstruktivismus auf seine Bühnen- und Schauspielästhetik. Orientierung bot eine wissenschaftlich fundierte Arbeitsorganisation, die originär kapitalistische Technik des Taylorismus zur Effizienzsteigerung der Arbeit in Henry Fords erster Fließbandfabrik. Indem er die effizienten und kräftesparenden Arbeiterbewegungen in die korporal-motorischen Bewegungen der Schauspieler integrierte, schuf Meyerhold abstrakt-rhythmische Körperfiguren, mit deren Hilfe die Schauspieler ihr Material, also ihren Körper, wie eine Arbeitsmaschine des Anderen effizient kontrollieren und organisieren konnten: „Beobachten wir einen erfahrenen Arbeiter, bemerken wir an seinen Bewegungen: 1. das Fehlen redundanter, nicht produktiver Bewegungen; 2.
52 Johann Wolfgang Goethe: „Regeln für Schauspieler“, in: Ders., Gesamtausgabe der Werke und Schriften in zweiundzwanzig Bänden. Zweite Abteilung Schriften, 15. Band: Schriften zu Literatur und Theater, hg. v. Walter Rehm, Stuttgart 1959, S. 203-226, hier S. 215.
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Rhythmik; 3. Ein adäquates Gefühl für den Körperschwerpunkt; 4. Ausdauer.“ Die Bewegungen des Körpers, die auf diesen Grundsätzen aufgebaut sind, ließen ‚Tänzerisches‘ erkennen. Die Arbeit eines erfahrenen Arbeiters mute wie ein Tanz an, Arbeit und Kunst bildeten eine entscheidende Schnittmenge, die auf Seiten der Produktion wie Rezeption Vergnügen bereite. Im Schauspieler vereinigten sich zugleich „Organisator und Organisierter“, Theaterkünstler und Material. Die dazu passende Formel wäre „N = A1+A2“; N wäre der Schauspieler oder Performer, A1 der Konstrukteur, der die Idee konzipiert und motiviert wäre, dieser eine Form zu geben. A2 wäre als Material der bewegliche Körper des Schauspielers, der als Anderer den Gestaltungen des Konstrukteurs A1 folgt.53 In Deutschland beeinflussten die Konzepte und Ästhetiken des sowjetischen Proletkults die ersten Inszenierungen Erwin Piscators und die Ansätze Brechts. Piscator griff für sein episches als politisches Theater konsequent auf die Neuen Medien wie Film und Diaprojektionen bzw. auf die Integration derselben in die Bühnenausstattung zurück. Die Neuen Medien entsprachen in ihrer intermedialen Beziehung zum theatralen Spiel auf der Bühne der Multiperspektivität des Anderen, der modernen Welt. Der epische Überblick, ermöglicht durch die Gleichzeitigkeit der verschiedenen medialen Einblicke zwischen intimer Theaterszene und gleichzeitig projiziertem Film oder Dia, hatte die dargestellte konkrete Situation in einen größeren historischen, gesellschaftlichen und politischen Kontext zu stellen. Er führte Humboldts Kosmos auf anderer medialer Basis weiter, behauptete aber innerhalb einer Agit-Prop-Wirkungsästhetik einen ideologisch-geschichtsphilosophischen Überblick, der episch-dialektisch noch einen Zusammenhang des Anderen stiftete. Das Living Theatre übernahm den Impetus des politischen Theaters, setzte diesen aber als Theater der eigenen Erfahrung im Paradise Now! ganz anders um. Castorf und Stemann kombinierten beide Zugänge zum Anderen, insbesondere bei Stemann löste sich der geschichtsphilosophische Gesamtzusammenhang auf – Humboldts Kosmos wäre so letztlich in einen transmedialen Kosmos der Dekonstruktion übergegangen. Brecht hingegen verließ die expressionistische Ästhetik, reduzierte Mitte der zwanziger Jahre die Bühne vor dem Hintergrund der Neuen Sachlichkeit, betrachtete die klassische Dramatik als Material und wandte sich den Wissenschaften zu. Seine Vorstellung eines epischen Theaters entwickelte er über die Exiljahre zum dialektischen Theater. Verschiedene polarisierende Positionen zusammenfassend ging es um den reflexionsermöglichenden Abstand vom Anderen, sei es durch das Staunen, sei es durch das Erschrecken, wie Heiner Müller bemerkte: Der Schrecken sei der „Augenblick der Wahrheit, wenn im Spiegel das Feindbild auftaucht.“ Müller
53 Wsewolod Meyerhold: „Der Schauspieler der Zukunft und die Biomechanik. Referat 1922“, in: Ders., Schriften. 2. Band (1917-1939), Berlin 1979, S. 478-480, hier S. 479.
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zitierte einen Text von Brecht: „Nicht nahe kommen sollten sich die Zuschauer und Schauspieler, sondern entfernen sollten sie sich voneinander. Jeder sollte sich von sich selber entfernen, sonst fällt der Schrecken weg, der zum Erkennen nötig ist.“ Das wäre nach Müller ein „sehr zentraler Punkt bei Brecht, und viele seiner Innovationen oder Techniken lassen sich da subsumieren unter diese Kategorie der Entfernung. Man sieht ja nur aus der Distanz; wenn man mit dem Auge auf dem Gegenstand liegt, sieht man ihn nicht. Wer bei sich bleibt, lernt nicht.“ Die Distanz zu sich selbst und zum Anderen ist allgemeine Folie des Gegenwartstheaters in seinen vielfältigen Formen. Ältere und jüngere Vertreter des aktuellen Regietheaters wie Johan Simons und Tilmann Köhler arbeiten mit und in der Brechttradition. Leider ist man sich das heute gar nicht mehr in allen Fällen bewusst. Brechts Einfluss ist noch so groß, dass er sowohl die Grundlage für realistischtypisierende Inszenierungen wie die von Ostermeier an der Berliner Schaubühne als auch für postdramatisch-dekonstruktivistische Theaterformen wie die von Pollesch bildet. Er ist die Folie für den aktuellen Streit um eine den unsicheren Verhältnissen adäquate Dramaturgie: Soll politisches Theater oder Theater politisch gemacht werden? Soll mit mehr oder weniger realistischem Rollenspiel oder in der Präsenz des Performers inszeniert, (re-)präsentiert, produziert bzw. dekonstruiert werden? Wäre eine eher traditionell-dramatische oder eine nichtdramatische Struktur zu wählen? Ist politisches Theater heute eher in der Vermittlung von brisanten Themen in einer Konfliktdramaturgie oder in der Unterbrechung von Bedeutungszuweisung bzw. in einem Theater als Ritual zu finden? Paradoxerweise können sich beide ästhetische Richtungen jeweils auf Brecht berufen. Wenn man den Konflikt sehr vereinfacht auf den Punkt bringen will, dann geht es darum, ob man den dialektischen Prozess in den Proben wie auch in der Rezeption der Inszenierung postmodern offenhält oder ob man ihn im Dienste einer dramatischen Wiedergabe der aktuellen Machtverhältnisse in eine bestimmte Richtung ausrichtet, die wieder so etwas wie eine Utopie erlaubt. Theatral-performativer Ausgangspunkt ist, „dass der Schauspieler in zweifacher Gestalt auf der Bühne steht“, etwa „als Laughton und als Galilei, dass der zeigende Laugthon nicht verschwindet in dem gezeigten Galilei“, bedeute „schließlich nicht mehr, als dass der wirkliche, der profane Vorgang nicht mehr verschleiert wird – steht doch auf der Bühne tatsächlich Laughton und zeigt, wie er sich den Galilei denkt"54. Brecht verlangte in diesem Sinne im Schauspielen, in der Regie und vom Zuschauer auf dialektischer Basis nicht nur eine Reflexion des politisch, ökonomisch und sozial Gegebenen, sondern einen grundlegenden Bewusstseinswandel sowie letztlich die Revolution. Natürlich provozierte Brecht zugleich durch seine listige Anpassungs- bzw. Überlebensfähigkeit, trotz aller theoretischer wie prakti-
54 Bert Brecht: Kleines Organon des Theaters, Berlin 1948.
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scher Utopien blieb er Realist, zeigte sich eine Diskrepanz zwischen dem Theoretiker und dem Praktiker, dem Revolutionär und dem Pragmatiker. Unbestritten bleibt Brecht die Basis heutiger Theater- und Filmpraxis, vom realistischen Theater, dem Regietheater über die Postdramatik bis zum Autorenfilm und (neo)avantgardistischen Experimenten, ein Vorbild von Frank Castorf, Johan Simons, Yael Ronen, Dusan David Parizek, Richard Schechner und Susanne Kennedy, Heiner Müller, Oliver Kluck sowie Wolfram Lotz, Jean-Luc Godard, Rainer Werner Fassbinder, Lars von Trier oder Francois Ozon. Für das Regietheater seit den 1960er Jahren wie für die moderne Filmästhetik maßgeblich wurden Brechts Vorstellungen zur Produktion: Die Regie solle eher kollektiv und induktiv, nicht deduktiv vorgehen, vom Anspruch her unterscheidet sich Brecht hier beispielsweise von Goethe, den man mit seiner idealisierenden Inszenierungspraxis theaterhistorisch als ersten Regisseur im deutschsprachigen Raum bezeichnen kann. Im Produktionsprozess, insbesondere in der Probe gehe es darum, „die staunende Haltung der Schauspieler“ zu „organisieren“55 und die Produktivität aller Beteiligten „zu wecken“. Der Regisseur solle keinesfalls „mit einer ‚Idee‘, oder ‚Vision‘, einem ‚Plan der Stellungen‘ und einer ‚fertigen Dekoration‘“ ins Theater kommen.56 Die Probe soll zum Ausprobieren werden, es sollen immer viele Perspektiven eröffnet, mehrere Möglichkeiten des Spielens erprobt werden. Dies müsse dialektisch zu einer Anreicherung der „Endlösung“ führen, anarchisch radikalisiert wäre es heute die Grundlage der Arbeiten von Frank Castorf oder Christoph Marthaler, postmodern offen gehalten in der Dekonstruktion bzw. im Diskurstheater Polleschs. Für Brecht müsse der Regisseur „Krisen entfesseln“, was man aus der Regiepraxis George Taboris, Rainer Werner Fassbinders oder Werner Herzogs kennt. Der Probenleiter müsse zugeben, dass er „nicht immer ‚die‘ Lösung weiß und parat hat“. Seine Autorität beruhe eher darauf, dass man ihm zutraue, herauszufinden, „was keine Lösung ist“.57 Da die Schauspieler meist den schnellen Effekt bzw. Rollenzugriff suchen würden, hätte der Regisseur ständig Fragen, Hindernisse, Anlässe zum Zweifel beizusteuern. Der Regisseur müsse erreichen, dass sich die Schauspieler oder die sonstigen Beteiligten fragen: „‚Warum sage ich das? und warum sagt dieser das?‘ Er muss sogar erreichen, dass sie sagen: ‚ich (oder diese) könnte doch besser dies oder das sagen‘“.58 Dieser Erkenntnisprozess wäre als Emanzipationsprozess der abhängigen Beschäftigten zu verstehen, später orientierte
55 Bertolt Brecht: „Haltung des Probenleiters (bei induktivem Vorgehen)“, in: Ders., Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe. Band 22.1, hg. von Werner Hecht u.a. Berlin, Weimar, Frankfurt/M. 1993, S. 597-599, hier S. 598. 56 B. Brecht: Haltung des Probenleiters, S. 597. 57 Ebd., S. 597. 58 Ebd., S. 598.
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sich daran die Mitbestimmungs- und Produktionspraxis der frühen Schaubühne am Halleschen Ufer. „Das anfängliche Stutzen und Widersprechen, wenn eine bestimmte Antwort erzielt wurde“, solle, so Brecht, „nicht ganz aus der Gestaltung“ verschwinden „beim weiteren Verlauf der Proben“. Damit auch der Zuschauer „Gelegenheit zu diesem Stutzen und Widersprechen“ habe, sollten die Krisen, Widerstände sowie Einwände auch im Endergebnis der Aufführung sicht- und spürbar bleiben: „Der Zuschauer soll die ‚Lösung‘ als eine besondere, aber das gewisse Zufällige noch enthaltende sehen, das ja in Wirklichkeit ihr anhaftet“. Die Montage der Inszenierungsarbeit sollte nicht zum Ergebnis eines „nietenlose(n) Ineinanderschweißen(s) der Details“ führen, sondern „als eine logische Kette von Details, die noch Detailcharakter“ aufwiesen, erscheinen: „Gerade so kommt die Logik ihrer Aufeinanderfolge und ihres Ineinanderübergehens zur Geltung“.59 Diese dialektische Praxis grundierte die dann nicht mehr dialektisch in der Synthese schließende Montage des Anderen in Godards Filmen, den Übergang vom deleuzeschen Aktions-Bild zum Zeit-Bild, die Überlegungen Richard Schechners ab 1966 und heute das dokumentarische Theater von Rimini Protokoll, die Texte Jelineks sowie deren Inszenierungen durch Stemann. Aus dem Konflikt bzw. der Krise des Anderen entstand bei Brecht theatraler wie gesellschaftlicher Fortschritt: „Indem wir die Krisen und Konflikte unseres Stücks herausarbeiten, folgen wir dem dialektischen Denken des revolutionären Proletariats. Der Dialektiker arbeitet bei allen Erscheinungen und Prozessen das Widerspruchsvolle heraus, er denkt kritisch, d.h., er bringt in seinem Denken die Erscheinungen in ihre Krise, um sie fassen zu können.“60 Ein unentschiedener Standpunkt des Intellektuellen wie in Heiner Müllers Hamletmaschine, eine postmoderne Dekonstruktion als ewige Verschiebung der identitätsstiftenden Synthese wie in Polleschs Ping Pong d’Amour wäre Brecht fremd gewesen. Auch wenn Brecht in seinen eigenen Produktionen erkennen musste, das Schauspieler und Publikum noch „nicht weit genug“ waren,61 denn das Theater sei wie ein „Schwimmer, der nur so schnell schwimmen kann, wie es ihm die Strömung und seine Kräfte erlauben. Im Augenblick etwa, wo das Publikum unter realistischer Darstellung noch eine Darstellung versteht, welche die Illusion der Wirklichkeit gibt, würden wir keine der beabsichtigten Wirkungen erzielen“,62 behielt Brecht die Revolution als Ziel jedoch immer im Auge; für seine Theaterarbeit nahm er für sich in Anspruch, wie in der Physik Albert Einstein gesellschaftsum-
59 Ebd., S. 598. 60 Bertolt Brecht: „Katzgraben-Notate“, in: Ders., Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe. Band 25, hg. von Werner Hecht u.a. Berlin, Weimar, Frankfurt/M. 1994, S. 399-490, hier S. 416. 61 Ebd., S. 430. 62 Ebd.
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wälzend revolutionär zu sein. Dies wird ernsthaft gegenwärtig wieder von Milo Rau in seinem Traktat Was tun? gefordert, in dem er dem postmodern-unverbindlichen, performativen Gegenwartstheater unpolitische Biedermeierbequemlichkeit vorwirft.63 Vermisst würde eine Utopie als Ziel des Handelns.
9.5 N EOAVANTGARDE
IM
R EGIETHEATER
Die Frage nach dem Politischen des Theaters begleitete das Theaters seit der griechischen Antike, fand im weiten Feld von Idealismus, Realismus und Naturalismus bis zum epischen Theater, Beginn des Regietheaters sowie zur Neoavantgarde der 1950er-Jahre ihre spezifisch modernen Formen. Sie war seit den 1960er-Jahren auch die nach der politisch wirksamen theatralen Dramaturgie des Anderen, welche zunehmend außerhalb der traditionellen Institutionen gesucht wurde. Insbesondere stützte man sich auf die Entdramatisierungstendenzen im 19. Jahrhundert, deren präavantgardistische Öffnungen, die Theaterreform nach der Jahrhundertwende und vor allem die Ästhetiken der historischen Avantgarde: Expressionismus, Futurismus, Dadaismus und Surrealismus, in den USA übernommen von John Cages, Robert Rauschenbergs und Merce Cunninghams Untitled Event (1952) oder Allan Kaprows Happenings; in Europa unter anderem von den provokanten, Tabus brechenden Wiener Aktionisten und den Fluxuskünstlern Joseph Beuys (dessen Ästhetik Christoph Schlingensief beeinflusste) und Nam June Paik. Kaprow veränderte 1959 mit 18 Happenings in Six Parts in der New Yorker Reuben Gallery entscheidend die Vorstellung von Theatralität in der Kunst: In drei durch Plastikfolie voneinander abgetrennten Räumen ‚ereignete‘ sich etwas, das wirksam war, aber nichts Anderes in Szene setzte. 1966 nannte Kaprow in Assemblage, Environments, and Happenings die sieben Merkmale des Happenings: fluide, unbestimmbare Grenzen zwischen Kunst und Leben; nicht festgelegte Herkunft von Themen, Material und Aktionen; Unabhängigkeit von Kunsträumen; eine variable und diskontinuierliche Zeit; eine Einmaligkeit des Happenings; die Aufhebung der Trennung zwischen Künstler und Zuschauer; keine rational-logische, dramatisch-narrative, sondern eine assoziative, zufällige Dramaturgie. Schechner nahm diese Überlegungen auf und sprach bereits 1966 vom „postdramatic theatre“.64 Für ihn waren die Produktionen der neoavantgardistischen OffSzene der 1960er- und 1970er-Jahre weniger unterhaltendes, sondern mehr ritualisiertes Theater, dem es vor allem um die direkte Wirkung auf Publikum und Gesell-
63 M. Rau: Was tun? 64 Richard Schechner: „Approaches to Theory/Criticism“, in: The Tulane Drama Review, Vol. 10, No. 4 (Summer, 1966), S. 20-53.
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schaft ging. Er führte damit eine Tradition der Avantgarde weiter, die etwa mit Dadaismus und Futurismus das Dramatische sowie die ästhetische Grenze zwischen Kunst und Leben bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts auflösen wollte. Für Richard Huelsenbeck (und andere unterzeichnende Dadaisten wie Hugo Ball) symbolisierte das Wort Dada das „primitivste Verhältnis zur umgebenden Wirklichkeit, mit dem Dadaismus tritt eine neue Realität in ihre Rechte. Das Leben erscheint als ein simultanes Gewirr von Geräuschen, Farben und geistigen Rhythmen, das in der dadaistischen Kunst unbeirrt mit allen sensationellen Schreien und Fiebern seiner verwegenen Alltagspsyche und in seiner gesamten brutalen Realität übernommen wird.“ Der Dadaismus eröffne keinen Raum des Anderen, stehe „dem Leben nicht mehr ästhetisch gegenüber, indem er alle Schlagworte von Ethik, Kultur und Innerlichkeit, die nur Mäntel für schwache Muskeln sind, in seine Bestandteile zerfetzt.“65 Der Futurismus hingegen radikalisierte die posthumane Destruktion einer bürgerlichen Inszenierung des Anderen, „für einen futuristischen Dichter“ gäbe es, so Marinetti, „nichts Interessanteres als die Bewegungen der Tatze des mechanischen Klaviers. Der Kinematograph bietet uns den Tanz eines Gegenstandes, der sich teilt und sich ohne menschliches Eingreifen wieder zusammensetzt“. Das „Reich der Maschinen“ löse das Reich der Lebewesen ab. Man bereite „die Schöpfung des MECHANISCHEN MENSCHEN MIT ERSATZTEILEN vor“.66 Als historische Avantgarde bildete dies die Folie der Performance Art, des Happenings, Fluxus, Aktionskunst und Media Art auf der einen und des surrealen Theaters der Erfahrung von Artaud über Grotowski und Schechner bis Peter Brook auf der anderen Seite, wobei die Ästhetik Brechts als Katalysator einer neoavantgardistischen Entwicklung funktionierte. Global einflussreich wurde das Living Theatre von Judith Malina und Julian Beck, die sich bemerkenswerterweise in einem Theaterseminar von Piscator als Paar fanden, Malina war Piscators New Yorker Assistentin. Ausgehend von Nietzsche über Artaud, Grotowski, der Performance Group, der Berliner Schaubühne bis zu Jürgen Gosch, und, noch mal auf einer weiteren Ebene reflektiert, Stemann entwickelt es ein Theater der Erfahrung des Anderen. Gesucht, provoziert und erreicht werden sollte die Wahrheit des Anderen, als Paradise Now! durch einen negativen Weg des Aufbruchs der theatralen Gestalten des Anderen und der Alltagsrollen. Das Living Theatre betonte das Kollektiv, den gemeinschaftlichen Produktionsprozess im Verhältnis des offenen Ichs zum Anderen. Seine Ästhetik der direkten Konfrontation, oft etwas naiv noch übersetzt in offensiv präsentierter Nacktheit, ist heu-
65 Richard Huelsenbeck u.a.: „Dada Manifesto“, in: Ders. (Hg.), Dada Almanach, Berlin 1920, S. 35-41, hier S. 37. 66 Filippo Tommaso Marinetti: Die futuristische Literatur. Technisches Manifest, in: Der Sturm 3/133, Oktober 1912, S. 194f.
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te selbstverständlicher Bestandteil des Regietheaters, etwa in der bekannten Hexenszene von Jürgen Goschs Macbeth mit drei nackten, älteren Männern samt lebensähnlicher Fäkalienperformance, die 2005 am Schauspielhaus Düsseldorf ein kleinerer Skandal war. Innerhalb der Counterculture der 1960er Jahre war das Living Theatre eine der einflussreichsten Theatergruppen weltweit, Ende der 1960er-Jahre befand es sich auf Welttournee, 1970 gastierte es mit Paradise Now! im Berliner Sportpalast, eine heute legendäre Aufführung, in der die Performer in einer unruhigen Menge kleine Sinnelemente schufen, Sätze skandierten wie „Es ist mir nicht erlaubt, Haschisch zu rauchen“ oder „Es ist mir nicht erlaubt, meine Kleider auszuziehen“, Verbotenes, was zugleich in actu – Now! – gemacht wurde. In dieser Zeit war das Living Theatre eine wandernde Theatergruppe, 34 feste Mitglieder, neun Kinder, kein Mitglied war Schauspieler im traditionellen Sinne, jeder arbeitete mit sich selbst, aus sich selbst heraus, war Performer. Einer von ihnen, Steven Ben Israel, bemerkte, es ginge dem Living Theater darum, „ein Environment zu kreieren. Wir erschufen einen Raum. Kreation ist das einzige, was wir tun können. Ändern können wir nichts außer uns selbst. Aber wir können etwas erschaffen. Vielleicht können wir die Welt neu erschaffen aus dem Wissen heraus, daß sie sich Jahrtausende lang immer falsch erschaffen hat. Ändern – wie gesagt, kann man nur sich selbst. Aber auch das geht nur mit Hilfe der Anderen. Darin liegt der Sinn unserer Kommunität“.67 Diese Kommunität suchte, wie Lavater 200 Jahre zuvor, den direkten Kontakt zum Anderen, nur eben nun nicht auf idealer Ebene in (neo)platonischertheosophischer Tradition, sondern in der Begegnung des Anderen als Präsenzerfahrung des Anderen, als Ganzheit auf unbewusst-surrealer Ebene. In diesem Sinne war, so Israel, Kommunität „Konfrontation mit dem Leben“; sie bedeute „für jeden von uns Persönlichkeitsfindung. In gewissem Sinne verliert man seine Persönlichkeit, um sie neu zu entdecken“. Man tue „auf der Bühne nichts anderes als im Leben“, versuche, den „anderen zu erreichen, einen Raum zu erschaffen zwischen dir und dem anderen“. Begriffe und damit etwa eine dramatische Dramaturgie wären „immer nur die Abstraktion dessen, was sie wirklich meinen.“ Theater wäre neu zu denken und zu erfahren, denn es wäre „Treffpunkt für Menschen. Paradise Now! ist die bisher von uns erreichte stärkste Gleichsetzung von Kunst und Leben“. Dies ist die Folie, auf der heute verschiedene Formen eines dokumentarischen Theaters arbeiten, die eine direkte Begegnung mit dem Anderen zum Ziel haben, auch wenn die symbolische oder mediale Ordnung dies zu verhindern sucht. Im Geiste der Avantgarde sollte sich vom Living Theatre ausgehend der revolutionäre Impuls global ausbreiten: „Unsere Ideen leben in der Welt. Sie sind nicht einfach als Worte
67 Erika Billeter/Dölf Preisig (Hg.): The Living Theatre, Paradise Now, München 1968, S. 41.
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in die Welt geschickt, sondern körperlich von uns als Impuls ausgestrahlt“. Das performative Leben sollte das Resultat eines inneren Reifeprozesses sein, den jeder durch die Erfahrungen in der Kommunität durchgemacht habe. Im Living Theatre gab es kein Bühnenbild im traditionellen Sinne, die Performer trugen keine Kostüme, sondern ihre Alltagskleidung bzw. ihre nackte Haut – äußeres Zeichen der für sie bestehenden Identität von Kunst und Leben. Eines der markantesten Merkmale der Theaterarbeit war der Angriff auf das Publikum durch Provokation bzw. dessen forcierte Einbeziehung. Es sollte zwischen Schauspieler und Publikum eine neue Qualität an Erfahrungskommunikation entstehen, den das traditionelle Theater auch in seinen progressivsten Versuchen nie erreicht hätte – man machte Theater mit Piscator über Piscator hinaus. Die Einbeziehung des Zuschauers in die Theateraktion wurde partiell verwirklicht und ist paradoxerweise selbst zum künstlerischen Ausdrucksmittel geworden. Kollektive Arbeit bedeutete, es gab keinen Helden, keine Hauptfigur, es agierte ein Kollektiv, das das Individuum als tragende Figur überwunden hatte. Das Wort als Basis war zurückgetreten und lebte in der Form von kurzen, prägnanten Erfahrungsmitteilungen, von Warnrufen und Aufrufen fort. Die eigentliche Aussage der Aufführung lag in der Kreation als Aktion selbst, ausgehend von den Körpern der Performer. Artauds intuitiv-kommunikative Kraft der Gebärde kam als Medium der performativen Übertragung zur Wirkung. Der direkte innere Impuls wurde wie bei Grotowski sichtbare Reaktion in einem sinnenhaft-körperlichen Spiel, das jede schematische Geste, jede einstudierte Bewegung, jede fixe Gestalt des Anderen verbannen wollte. Gestaltung, Bewegungen und Gebärde sollten dem inneren Gefühl eines jeden Performers folgen, wären sichtbar gewordene Zeichensprache seines Empfindens und seiner Erfahrung des Anderen. Zum direkten Ausdruck käme die Übereinstimmung von Körper, Unbewusstes und Bewusstsein, die sich gestischmotorisch manifestierte. Das Living-Theatre-Mitglied Henry Howard spricht von der „Wandlung vom Bühnenschauspieler zum schöpferischen Menschen“. Petra Vogt von „echte(n) menschliche(n) Begegnungen“, da man „den Anderen so tief“ entdecke, wie es „sonst nur in einer Zweiergemeinschaft möglich ist. Durch das Zusammenleben fällt die Maske ab. Man spielt kein Theater mehr“. Dies wäre mit Grotowski oder mit Schechner Ziel einer Theaterarbeit, die heute noch Kollektive wie She She Pop interessieren. War das Living Theatre ein politisches Theater? Für Judith Malina traf das ohne Zweifel zu, das wäre „auch immer Piscators Ansicht gewesen. Aber unsere Politik ist eine andere als seine. Er hat letztlich unsere Arbeit nie ganz akzeptiert. Wir haben bei Piscator als seine Schüler gelernt, daß man ein Engagement eingehen muß, daß man Partisan ist.“ Malina glaubte, dass sich Piscators Idee vom politischen Theater in der „Besetzung des Theatre de l‘Odeon durch Studenten während der Mai-Revolution vollendet“ habe. Piscator hätte unter „Theater immer Tribüne, Forum von Ideen verstanden. Piscator konnte dieses Ideal selbst nur teilweise realisieren.“ Während Piscators Theater
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noch als Agit-Prop-Theater Botschaften vermitteln wollte, wäre das Living Theatre kein politisches Theater macht, sondern ein Theater, das politisch Theater lebt. Dies zeitigte unübersehbare Auswirkungen auf das deutschsprachige Theater der späten 1960er- und der 1970er-Jahre. So zitierte das Antikenprojekt, die Übungen für Schauspieler (1974) der in den 1970er-Jahren ästhetisch führenden Berliner Schaubühne das Living Theatre, insgesamt veränderten sich die Institutionen des deutschsprachigen subventionierten Theaters. Freie Gruppen der Universitätstheater, Seminargruppen, Kollektive und Off- bzw. Off-Off-Broadwaytheater suchten auf inhaltlicher und formaler Ebene als Teil der Counterculture neue Formen des theatralen Protestes bzw. der theatralen Subversion. Vor diesem Hintergrund initiierten revolutionär bewegte junge Theatermacher im deutschsprachigen Theater experimentell-öffnende Produktionen im Konflikt mit etablierten Institutionen, die OffTheater-Szene erstarkte insbesondere in den Ballungsräumen und bekannten Theaterstädten – von Fassbinders Antitheater in München bis zur frühen Schaubühne am Halleschen Ufer in Berlin, die aus dem Produktionskollektiv um Peter Stein in Bremen hervorging. Die internationale Avantgarde opponierte gegen den die Bühnen dominierenden dramatischen Text, das Bildertheater Achim Freyers, Wilfried Minks‘ oder Robert Wilsons, das Tanztheater Pina Bauschs waren Vorbilder für mediale, theatrale und inhaltliche Grenzüberschreitungen, die theatrale Ästhetik tendierte zur subversiven Affirmation, die Energetik ersetzte auf performativer Ebene den Sinn. Botho Strauß zitierte in seiner zeitgemäßen Version des Sommernachtstraums, Der Park (1983), Mythenfragmente in einer heillosen Gegenwartskultur; Handke entdeckte die Basis des Neostrukturalismus in Heideggers ontologischer Differenz, schrieb seinen persönlichen Faust im Spiel vom Fragen (1989), das die heideggersche Frage als Urgrund vorstellte: „Schauspieler: Schweigen als Frage“ – der Andere erschien als resonanzarmer, entfremdeter Mit-Läufer einer Inszenierungs- und Erlebnisgesellschaft, dessen mimetische Grund-Losigkeit im Schweigen ihren nicht mehr dialogischen Ausdruck fand – die skizzierte Gestalt des Anderen erhielt sich referenzlos in der Abdrift. Damit machte gerade diese postmoderne Vorstellungswelt mit ihrem Höhepunkt in den 1980er-Jahren den korrelationistischen Zirkel der Moderne noch prägnanter, ja verabsolutierte ihn; in den Theatertexten wurde der phänomenologische Blick aus einer solipsistischen Rekluse deutlich, wie ihn Handke in Die Stunde da wir nichts voneinander wußten (1992) in Szene setzte: Der Reigen der Gestalten des Anderen formierte die Handlungswirklichkeit in diesem Stück (fast) ohne Worte in der Montage imaginärer und ‚realistischer‘ Attraktionen des Anderen. Der Zieleinlauf postdramatischer Ästhetik im deutschsprachigen Gegenwartstheater war bereits 1986 erreicht, Robert Wilson inszenierte Heiner Müllers Hamletmaschine: Der Dekonstruktion des nicht mehr dramatischen Textes begegnete die strenge, willkürliche Komposition der Gestalten und der Körper des Anderen als Material. Die Ästhetik des Anderen bestimmte das postmoderne Denken, der Be-
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obachter trat selbstreferentiell auf. Rainald Goetz protokollierte nach seiner Klagenfurter Leseperformance 1983, während der er sich mit einer Rasierklinge die Stirn aufschlitzte, 1989 seine Trilogie Festung als Ergebnis einer erschöpfenden Medienerfahrung: Sein potentiell endloser Text lagerte sich als Skript ab in den Materialien 1989 als Mitschrift und Quelle einer phänomenologischen Medienschau, zudem mehr oder weniger aristotelisch eingerichtet in den Theaterstücken Festung sowie den Berichten Kronos als räumlich-dramatische und zeitlich-epische Ordnungsinseln in der ubiquitär medial-mentalen Performance. Thomas Bernhards musikalisch-rhythmische Dramaturgien, Jelineks dekonstruktivierende Sprachflächen und Müllers postdramatische Theatertexte waren die ästhetisch anspruchsvollsten Werke der 1980er-Jahre. Müllers Bildbeschreibung oder Wolokolamsker Chaussee I-III waren Stücke, die weniger als inhaltlichpolitische, sondern mehr über ihre Form politisch zu verstehen waren: Die kommunikative Aufklärung zwischen Zuschauerraum und Bühne als Raum des Anderen funktionierte kaum mehr, jedoch die Reflexion darüber, dass die Strukturen und Diskurse die Produktion und Rezeption über den Wahrnehmungsvorgang ‚kurzschlossen‘, sodass eine Kritik oder eine subversive Haltung mehr in der Unterbrechung bzw. Störung der Kommunikation als in der kohärenten Interpretation zu finden waren. 1992 begründete Jelinek ihre Abkehr von einer dramatischen Konfliktdramaturgie damit, dass „sie resigniert habe, daß politische Ziele, daß überhaupt Ziele außerhalb von einem selbst zu haben noch einen Sinn macht“. Daher habe sie „das ganze wie in Aspik gegossen und eingefroren. Nichts hat mehr Schärfe, daß daraus noch ein produktiver Konflikt entstehen könnte“.68 Dies korrespondierte mit der Annahme eines Diskurses des Anderen, der als Anordnung von Praktiken, die auf geordnete Art und Weise das produzieren, von dem sie sprechen, funktioniert, was insbesondere in den 1990er-Jahren in Theatertexten und Aufführungen neue theatrale Formen hervorbrachte. Angenommen wurde, dass den sich sprachlich ausprägenden Diskursen eine bestimmte diskursive Praxis zugrunde lag, von der eine Assemblage an Institutionalisierung, Organisation, Hierarchisierung und Medialisierung der ‚Subjekte‘ eingerichtet würde. Jelineks Theatertexte und nachfolgend Polleschs Inszenierungen spielten und reflektierten die herrschenden diskursiven Praktiken. Partiell dekonstruierend ging es um die (Wieder-)Aufführung von selektierten Ausschnitten, Gestalten und Diskurselementen. Aus feministischer, Alteritätsstereotypen reflektierender und klassenbewusster Perspektive waren die Diskurse in der abendländischen Geschichte weder gleich-gültig noch demokratisch, sondern geprägt durch 3000 Jahre Patriarchat, Fremdenausschluss und Unterdrückung der Ärmeren und Machtloseren. Da jedes Individuum selbst Diskursphänomen wä-
68 Elfriede Jelinek: „Wir leben auf einem Berg von Leichen und Schmerz. Gespräch mit Peter von Becker“, in: Theater heute September 1992, S. 1-9, hier S. 7.
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re, könne man die Kritik nur in der De-Konstruktion, in der konsequenten Verweigerung der dramatischen Ordnung und in der entlarvenden Montage der Diskursfragmente theatral in Szene setzen. Bedeutung, Sinn, kommunizierbare politische Sachverhalte in einer verständlichen Handlung bzw. eine zur Einfühlung im schillerschen Sinne eindeutig gestaltete Psychologie der Figuren waren nicht das Ziel. Gesucht waren vielmehr Unterbrechung, Störung oder gar Destruktion der dramatischen Abläufe und Dialoge durch die in der Montage sicht- und erfahrbar gemachten Bruch- und Leerstellen zwischen den Diskursen als Erscheinung des Anderen, die sich noch zusätzlich im Widerspruch gegenseitig in Frage stellten sollten. Beispielsweise transponierte das Medium Jelinek in ihrem Stück Ulrike Maria Stuart (2006), in dem Ulrike Meinhof und Gudrun Ensslin auf Maria Stuart und Elisabeth I. projiziert wurden, den RAF-Heldenmythos als Geschichte ihrer eigenen Generation in den heutigen Diskurs. In der Inszenierung ergäbe sich nun für die Autorin das Problem der Höhe der „fast immer ‚gebundene‘ Sprache des Textes“, die „unbedingt konterkariert werden muß von der Regie.“ Die Figuren sollten „sozusagen fast jeden Augenblick von sich selbst zurückgerissen werden“, um keineswegs „mit sich selbst ident zu werden.“ Relevant wären nicht die „inzwischen längst lästigen Sprachflächen“, sondern die Verortung, Darstellung als Ausstellung der Figuren als „Produkte von Ideologie“ bzw. des Diskurses, der seine eigenen Assoziationsordnungen, Stereotypisierungen, Gestaltungen und Figurationen mit sich bringt. In der Inszenierung hätten „die Figuren quasi neben sich selber her(zu)laufen“, damit „eine Differenz erzeugt wird, und zwar von ihnen selber. Es steht nicht der reine Mensch vor uns, sondern seine Absonderung und seine Absonderlichkeit“. Nebenbei solle Schillers Idealismus als Ideologie entlarvt werden. Das von Schiller als ‚tierische Natur‘ und psychoanalytisch als Trieb bezeichnete Unbewusste dürfe im Vordergrund anarchisch eingreifen, es dürfe „keinesfalls vornehm oder dichterisch sein, es muß alles runter runter runter.“ Durchaus mit Rückblick auf das Wiener Vorstadttheater habe das Komische das Erhabene zu brechen, die theatral-ästhetische Gewalt auf nietzscheanisch-dionysischer sowie surrealistischer Grundlage das Zivilisatorisch-Logozentrische als falsche Maske zu entlarven: „Die Figuren können mit allem, was sie haben, aufeinander losgehen, vor allem mit sich selbst. Ich möchte, daß Chaos, Schmutz, Unordnung zurückbleiben und daß das Schöne oder Hohe von Idealen und die Figuren vor sich selbst das Weite suchen“.69 Das Ideale als das Kunstschöne, dialektisch-moderne EntfremdendGewalttätige und Unwahre sei aufzubrechen. Die Entfremdung des Anderen insbesondere im traditionellen Theaterbetrieb nahm Pollesch als Grundlage seiner gemeinsam mit den Schauspielern just in time
69 Elfriede Jelinek: Das schweigende Mädchen. Ulrike Maria Stuart. Zwei Theaterstücke, Reinbek 2015, S. 9.
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erarbeiteten Theatertexte und Inszenierungen, indem er deren Situationen, Assoziationen und Anregungen direkt vor Ort in den entstehenden Theatertext hineinschrieb. Mit starker Rückbindung an die Vorstellung einer Intertextualität der Kultur sollten Text oder Sprache dialogisch und zitierend zu verstehen sein, indem sie grundsätzlich in Bezügen zu Texten des Anderen stünden. Vor diesem Hintergrund radikalisierte Julia Kristeva die Thesen Michail Bachtins, nahm eine dialogische Relation aller Texte untereinander an, da jeder Text Integration und Transformation anderer Texte sei: Der die Gattung Drama bestimmende Dialog mit dem Anderen transformierte sich zum Dialog von Texten des Anderen. Der Autor verfügte nun nicht mehr souverän über die Repräsentation des Anderen, sondern vollzog die Entfremdung im und durch den Text nach, war in den Text des Anderen eingeschrieben. Polleschs Arbeiten kombinierten dialektisch-konfrontativ postmoderne Modephilosophen, sinnliche Ereignisse und Entfremdungserfahrungen. Dargestellt wurden jedoch keine Lebenssituationen und in Konflikten verwickelte, psychologisch zu verstehende, dem Publikum ähnlich erscheinende Protagonisten, sondern vom Unbewussten getriebene Sprechende auf der Basis eines perspektivierten Theorieapparates. Polleschs Theatertexte standen in der Tradition von Handkes Publikumsbeschimpfung als Sprechstücke, die auf die Struktur des gesellschaftlichen Theaters und des Theaterbetriebs mit seinen Systemzwängen im engeren Sinn verwiesen, gingen jedoch in der Annahme eines fehlenden transzendentalen Signifikats einen entscheidenden Schritt weiter. Die ‚Theoriestücke‘ mit ständigem Bezug auf neostrukturalistische Denker wie Lacan, Agamben, Foucault oder Preciado verwiesen auf Theatralitäten der medialen Globalisierung, während sie ausgerechnet im bürgerlichen Medium Theater bürgerliche Subjektpositionen bzw. deren Repräsentationsmuster unterlaufen wollten. Zuschreibungen von Identitäten des Anderen wurden programmatisch prekär. Damit formulierte sich in den Produktionen von Pollesch ein Alteritäts- oder Queerprogramm, das seit den 1990er-Jahren weltweit ästhetisch-avancierte Inszenierungen prägte: Mimik, Gestik oder Stimmlage wurden unbestimmt und unbestimmbar in Szene gesetzt oder durch nicht zum Geschlecht passende Aktionen, Handlungen oder Gestaltungen konterkariert. Männer traten in Heldenrollen physisch oder psychisch extrem schwach auf, wie in Andreas Kriegenburgs Nibelungen nach Hebbel (2004) oder Marthalers Murx den Europäer! Murx ihn! Murx ihn! Murx ihn! Murx ihn ab! (1993). Frauenrollen wurden gegen sexistische Vorurteile gespielt, mussten sich weniger sexualisiert, handlungs- und entscheidungsschwach oder dümmlich präsentieren. Waltz, Marthaler, Schleef, She She Pop, Gob Squad oder die Wooster Group dekonstruierten stereotype Imaginationen von Weiblichkeit und Männlichkeit. Kategorien des Geschlechts und der Fremdheit, die ihren Konstruktcharakter nicht mehr verbergen konnten, wurden als relationale Beziehungen zum Anderen offengelegt. Gender wurde von Sex, kulturelles von biologischem Geschlecht unterschieden, Judith Butlers Buch
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Gender Trouble erweiterte Freuds Unbehagen in der Kultur zu, so der deutsche Titel, Das Unbehagen der Geschlechter. Die Identitätskategorien weiblich und männlich sah man nun als in der Begegnung des Anderen durch die Ansprache als Frau oder Mann performativ (re-)produzierten Konstrukte aus der symbolischen Ordnung. Bestimmend für eine Entwicklung bis hin zur Popularisierung durch Conquita Wurst in ihrem Sieg beim Eurovision Song Contest 2014 waren Live und Performance Art; seit den 1990er-Jahren untersuchte die Gender Performance die Inszenierung von Geschlechtern und damit von Vorstellungen, Strukturen und Modellen von Weiblichkeit bzw. Männlichkeit, die sich in theatralen Inszenierungen, Aufführungen und Rollen sowie in dramatischen Texten offenbarten. Gender Performance verstand man als reine Inszenierung von Weiblichkeit oder Männlichkeit; Geschlecht war Resultat von performativen Akten, in denen normativ determinierte Handlungen und Praktiken wiederholt wurden. Eine solche offensichtlich theatrale und inszenatorische Komponente von Weiblichkeit und Männlichkeit konnte im traditionellen Theater nicht ignoriert werden. Performative Formen und Akte aus der feministischen oder Queer Performance beeinflussten das postdramatische Theater, Vorbilder wurden Laurie Anderson, Marina Abramovic, Matthew Barney, Holly Hughes, Orlan, Cindy Sherman, Yoko Ono, Carolee Schneemann oder David Hoyle. Parallel brach Castorf in den Jahren nach der Wiedervereinigung das deutschsprachige, wenn nicht globale Theater dramaturgisch von innen her auf, durch seine Ästhetik der theatralen Dekonstruktion, der intelligenten Dialektik und zugleich des trivialsten Materialismus, plötzlicher Improvisation, harter Körperarbeit und niveaulosesten Klamauks. Seit 1992 suchte man an der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz theatrale Erkenntnis nicht in der figuralen oder handlungsstringenten Identität des Anderen, sondern in der ständig-performativen Differenz als Ästhetik des Anderen auf der Bühne. Ziel war weder inhaltlich noch formal eine schließende Dialektik, die für Brecht zumindest auf der theoretischen Ebene noch leitend war, hier knüpfte Castorf an Godards Montage-Ästhetik an, aber auch an das absurde Theater, an Artaud, die Surrealisten und die historische Avantgarde. Man spielte, litt, kalauerte und performte anarchisch-konzentriert und macht sich über die akademischen Kommentatoren lustig, die in die Lust an der performativen Differenz als ständig offen gehaltene Kluft zum Anderen die derridasche Différance hineinprojizierten. Castorf ging es jedoch weniger um Gedankenspiele als um theatrale Intuition, ähnlich wie Brecht sah er sein Theater nicht als Seminar-, sondern als aufregendverstörenden Theaterraum. Mit Müller gesprochen suchte man in den Proben und Aufführungen den triebgesteuerten Kampf, den Ausstieg aus dem Unbehagen an der Kultur, die operative Kunst als Bewegung des ständigen, lustvollen Widerspruchs, das verstörende Eingreifen in deutsch-deutsche Mentalitäten. Die Volksbühne diente als Entwicklungsraum subversiver Theaterästhetik, sie ermöglichte Marthaler, Dimiter Gotscheff, Schlingensief, Pollesch, Kriegenburg
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sowie Vinge/Müller und nicht zuletzt Herbert Fritschs am Slapstick, der Commedia dell’Arte sowie an Nestroy bzw. der komischen Figur des Wiener Vorstadttheaters orientiertes energetisches Spiel. Zugleich nahm Castorf den dramatischen Text wie kulturellen Kontext ernst, untersuchte und kommentierte akribisch seine Einzelteile, lies dem Drama aber immer seine Grundstruktur und stellte niemals seine Daseinsberechtigung in Frage.
9.6 D ER R HYTHMUS
DES
A NDEREN
Die Sterblichkeit der Schauspieler, Performer, Zuschauenden und Beteiligten trug und unterminierte das Rollenspiel, sie kreierte die Atmosphäre des Theaters. Insbesondere das Theater seit den 1990er-Jahren setzte in einigen aufregenden Formen seinen theatralen Schwerpunkt auf das Spannungsverhältnis von dramatischem Text und präsentischer Aufführung, Wort-Drama und korporalmotorischem Schauspiel. Ein solches Ereignis reflektierte performativ Freuds Unbehagen in der Kultur und wäre mit Lyotard postmodern polarisiert in einer affirmativen Ästhetik ein energetisches Theater, welches in seiner Präsenz sinnlich überwältigte. In einigen Ästhetiken des Theaters ging es dementsprechend um eine direkt wirkende Erfahrung, die sich von der Vorherrschaft des Dramas befreit hatte, um eine geteilte als mitgeteilte Erfahrung. Die Wahrnehmung der Zuschauenden sollte aktiv gestört bzw. daran gehindert werden, die verschiedenen Bühnenereignisse zu einer einheitlichen, sinnvollen mentalen Synthese zu führen; die Präsenz und das unbewusste Andere des Menschen sollten eher spürbar als begriffen werden. Schechner definierte 1966 das postdramatische Theater, das nicht mehr einer Dialektik des Konflikts und/oder Dialogs zwischen X und Y mit einer Sukzession über dialektische Synthesen entspräche. In einer nicht mehr dramatischen, aber dicht-atmosphärischen Situation „X and Y are the forces or individuals in conflict. Although the tensions have been released through the explosive discharge of energy, the situation is not resolved, but returned to its original configuration.“ Gliedernd wirkte der Rhythmus, „often these rhythms are set within the context of a game, and in many contemporary plays rules replace plots. A single game, or a series of related games, usually of a rhythmic-explosive nature, is played. Instead of an action being ‚completed‘, permutations on a given set are explored.“ Dies habe immense dramaturgische Auswirkungen, „the story yields to the game as the matrix of the theatrical situation. Thus we have the game of the Lesson, the game of waiting for Godot, the game of killing Madame in The Maids, and so forth.“ Das bedeutete schon in den 1960er-Jahren eine radikale Veränderung, denn „it decreases our interest in character (people follow set patterns rather than invent ways around or
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through difficult situations) and psychological motivation“.70 Damit schuf der Rhythmus eine theaterhistorische Linie des Theatralen von ritualnahen Formen im frühen griechischen Theater über Schillers Rhythmusästhetik, Nietzsches Dionysischem im Apollinischen, der Avantgarde und Neoavantgarde bis zu Einar Schleef mit seiner dezidiert chorischen Ästhetik, etwa auf der Basis von Sportstück 1998 am von Peymann geleiteten Burgtheater. Jelineks Theatertext wurde von einem überwältigenden Chor an Schauspielern, die rhythmische Übungen, abstraktes Spiel und Gymnastik vor- und ausführten, skandiert. Das Resultat unterminierte Bedeutungen, eindeutige Rollenzuweisungen und Figurencharakteristiken. Sicht-, hör und vor allem spürbar war ein nie an ein Ende gelangender performativer Akt der Bedeutungszuweisung, der durch die Atmosphäre der Präsenz und Sterblichkeit des Anderen, durch die so erzeugte chorische Wucht des Anderen als die auf der Bühne rhythmisch agierenden Performer angetrieben wurde. Schon Schiller prominierte den präsentischen Rhythmus über eine natürliche Darstellung des Anderen, wie sie etwas Schröder oder Iffland auf den Bühnen präsentierten. Für ihn leistete der Rhythmus „bei einer dramatischen Production noch dieses große und bedeutende, daß er, indem er alle Charaktere und alle Situationen nach Einem Gesetz behandelt, und sie, trotz ihres innern Unterschiedes, in Einer Form ausführt, er1) dadurch den Dichter und seinen2) Leser nöthiget, von allem noch so charakteristisch-verschiedenem etwas allgemeines, rein menschliches zu verlangen.“ Der Rhythmus wurde zur bestimmenden Gestalt des Anderen im Gesamten, „alles soll sich in dem Geschlechtsbegriff des Poetischen vereinigen, und diesem Gesetz dient der Rhythmus sowohl zum Repräsentanten als zum Werkzeug, da er alles unter Seinem Gesetze begreift. Er bildet auf diese Weise die Atmosphäre für die poetische Schöpfung, das gröbere bleibt zurück, nur das geistige kann von diesem dünnen Elemente getragen werden.“71 In der Weimarer Experimentalästhetik sollten so die Figuren „mehr oder weniger idealische Masken und keine eigentlichen Individuen“72 sein, die Figuren seien annähernd präavantgardistisch formuliert keineswegs „mit uns von gleichem Schrot und Korn“. 1803 schrieb Schiller in seiner Vorrede zur Die Braut von Messina, Über den Gebrauch des Chors in der Tragödie, es wäre nun „dem Naturalism in der Kunst offen und ehrlich“ der Krieg erklärt. Theater als Kunst dürfe nicht die soziale und natürliche Wirklichkeit von Gesellschaft und Natur nachahmen. Vielmehr müsse
70 R. Schechner: Approaches to Theory/Criticism, S. 47. 71 Friedrich Schiller: „Brief an Goethe aus Jena, 24. November 1797“, in: Ders., Sämtliche Werke. Band 23, Grätz 1836, S. 46-48, hier S. 47f. 72 Friedrich Schiller: „Brief an Goethe aus Jena, 4. April 1797“, in: Ders., Sämtliche Werke. Band 22, Grätz 1836, S. 46-48, S. 519-521, hier S. 520.
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sich Theater als Kunst zum „Symbol des Wirklichen“ entwickeln. Illusion und Täuschung wären nichts als „armselige(r) Gauklerbetrug“, dezidiert war man gegen den „gemeinen Begriff des Natürlichen“.73 Für Goethe müsste 1802 der Schauspieler seine „Persönlichkeit verleugnen und dergestalt umbilden lernen, daß es von ihm abhange, in gewissen Rollen seine Individualität unkenntlich zu machen“, keineswegs dulde man weiterhin einen „falsch verstandene(n) Conversationston sowie ein unrichtige(n) Begriff von Natürlichkeit“.74 Ähnlich wie heute etwa in Robert Wilsons oder Susanne Kennedys Inszenierungen ging es um die Harmonie des ästhetischen Eindrucks in einem Tableau, das sich mit einer szenischen Installation überblendet. Damit war früh die Notwendigkeit einer Regiekunst angesprochen, für die man in Weimar einen längeren Blick aufs französische Theater warf. Wilhelm von Humboldt berichtete 1799 von seinen Eindrücken aus Paris nach Weimar. Leider setzte der deutsche Schauspieler „blos die Arbeit des Dichters fort, die Sache, die Empfindung, der Ausdruck sind ihm das erste, oft das einzige, worauf er sieht“. Der französische Schauspieler hingegen verbinde „mehr mit dem Werke des Dichters das Talent des Musikers und des Malers, darum ist er aber auch weniger stark in dem Charakterausdruck und macht eine weniger tiefe Wirkung“; die Ursache dafür, „daß wir auf diesen eigentlichen Kunstglanz zu wenig Gewicht legen“, wäre, dass man in der deutschen Theaterwelt „nicht sinnlich genug ausgebildet“ wäre, das „Ohr nicht musikalisch“, das „Auge nicht malerisch genug“ sei. Für Ausbildung wie Bühnenpraxis gelte: „Decoration, Kostüm und, wenn der Schauspielkunst eine eigne Erziehung gewidmet würde, vor allem die Bildung des Körpers selbst, sollte mit mehr Sorgfalt behandelt werden“. Der Schauspieler solle im Spiel „das Dichterische und Mahlerische seiner Kunst nicht trenne(n)“. Und fast hundert Jahre vor Craig nun die Feststellung, keine Kunst wäre der „Schauspielkunst in gewisser Rücksicht so nahe verwandt als der Tanz“.75 Die schillersche Rhythmisierung der Sprache als Verwandlung der „gemeinen Empirie“ in etwas „Allgemeines, rein Menschliches“, sodass sich die Figuren nicht im Individuellen verlören, sondern zu „symbolischen Wesen“ würden, welche das
73 Friedrich Schiller: „Über den Gebrauch des Chors in der Tragödie“, in: Ders., Sämtliche Werke. Band 8, Stuttgart 1827, S. 3-18, hier S. 9. 74 Johann Wolfgang Goethe: „Weimarerisches Theater“, in: Ders., Werke. 45. Band, Stuttgart 1833, S. 3-16, hier S. 5. 75 Wilhelm von Humboldt: „Ueber die gegenwärtige französische tragische Bühne“, in: Ders., Gesammelte Werke. Dritter Band, Berlin 1843, S. 142-172, hier S. 158f.
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„allgemeine der Menschheit darzustellen und auszusprechen“ hätten,76 erweitert Schelling zum Rhythmus als „Musik in der Musik“. Rhythmus wäre auf musikalischer Ebene eine innovative Gestalt des Anderen, „Verwandlung der an sich bedeutungslosen Succession in eine bedeutende. Die Succession rein als solche hat den Charakter der Zufälligkeit. Verwandlung der Zufälligkeit der Succession in Nothwendigkeit = Rhythmus, wodurch das Ganze nicht mehr der Zeit unterworfen ist, sondern sie in sich selbst hat“,77 was sie im Theatralen anschlussfähig für das Ritual macht; das Andere bricht aus dem Überzeitlichen ein und macht keinen anderen Raum des Anderen zur Bedeutungszuweisung und Einfühlung auf. 1872 veröffentlichte Nietzsche mit 27 Jahren Die Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik. Diese sehr eigenen Vorstellungen sind bis heute bewusst oder unbewusst Basis der Theatertheorie und -ästhetik, seine intuitive Vorgehensweise dominierende Methode. Bei Künstlern und Intellektuellen hatte und hat Nietzsches Schrift außerordentlichen Erfolg, bleibt als künstlerisches Manifest vielzitiert, gegenwärtige Vorstellungen eines Theaters als Ritual von Nitsch bis Jan Fabre basieren auf seinen Überlegungen. Nach einer Schopenhauerphase unternahm Nietzsche eine Wendung hin zur radikalen Lebensbejahung. Das Ideal war wie in Weimar das antike Griechenland, nur in einer überraschenden Neudeutung: Schiller und Goethe, die in Athen das ideal-souverän Heitere hineininterpretierten, lehnte Nietzsche schroff ab, er betonte die tragische als lebensnah-energetische Seite der griechischen Antike. Trost spende die Kunst, Wagners Musikdramen sollten vorbildlich sein für die Wieder-Geburt der griechischen Tragödie. Gegner waren die christliche Moral und die Philosophie des Platonismus, über den Neuplatonismus auch Schillers Idealismus und Ästhetik. In Frage gestellt wurden die philosophische und christliche Metaphysik, was wiederum bedeutend für heutige postmoderne Ansätze wurde, insbesondere mit der geforderten Vorrangstellung der Ästhetik – „nur als ästhetisches Phänomen“ seien das „Dasein und die Welt ewig gerechtfertigt“.78 Deutlich setzte sich Nietzsche ähnlich wie Heidegger und Lévinas von Sokrates bzw. vom sokratischen, also platonischen Denken ab. Schon Euripides’ Tragödien zeugten vom Verfall im sokratischen Denken. Abendländische Rationalität, Intellektualität sowie eine rational-kausal-aristotelische Dramaturgie der Tragödie, welche die moderne wissenschaftliche Vorstellungswelt samt wissenschaftlich denkenden und handelnden Menschen hervorbrachte, trügen Schuld daran, in der Kultur
76 Friedrich Schiller: „Brief an Goethe aus Jena am 24. Aug. 1798“, in: Ders., Auserlesene Briefe in den Jahren 1781-1805. Drittes Bändchen, hg. v. Heinrich Doering, Zeitz 1835, S. 49-51, hier S. 51. 77 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: „Philosophie der Kunst“, in: Ders., Sämtliche Werke. Abteilung 1, Band 5, Stuttgart 1859, S. 493. 78 F. Nietzsche: Die Geburt der Tragödie, S. 47.
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das Eigentliche ständig zu verfehlen. Für Nietzsche war die Musik metaphysischer Ausdruck des schopenhauerschen Willens zum Leben. Ursprung wäre der Ritus des Dionysos, daraus entstanden die Chorlieder, die Dithyramben, dann die Tragödie bis bin zur dramatischen Dramaturgie von Euripides. Das Apollinische, Klassische, Gestaltgebende sowie figural Individualisierende und das Dionysische als Expressionistisches, Überindividuelles, Gestaltsprengendes wirkten im idealen Kunstwerk zusammen – kaum eine andere Vorstellung hatte mehr Einfluss auf avantgardistische Ästhetiken der Folgezeit. Das betraf sogar stilisierte Neuentwürfe. So wollte Meyerhold in seinem antinaturalistischen Theater den Schauspieler in einem ausgespielt dreidimensionalen Raum von der Dekoration befreien. Gerade die Komplexität der modernen Erfahrung verlange nach der Gestaltung der Wirklichkeit des Anderen in der Stilisierung. Ähnlich wie für Craig die Bewegung wäre für Georg Fuchs der Tanz die Basis der Schauspielkunst, wirksam als „rhythmische Bewegung des menschlichen Körpers im Raum, ausgeübt aus dem schöpferischen Drange, eine Empfindung durch die Ausdrucksmittel des eigenen Leibes zur Darstellung zu bringen, aber in der Absicht, sich dadurch eben jenes inneren Dranges lustvoll zu entladen, dass man andere Menschen in gleiche und ähnliche rhythmische Schwingungen und damit in einen gleichen oder ähnlichen Rauschzustand versetzt“. Dementsprechend wäre das Drama „nichts anderes als die höchst-vergeistigte und differenzierteste Anwendung der Tanzkunst.“79 Rhythmus würde sich hierbei unmittelbar auf den Anderen durch Resonanz übertragen. Alles steige, so Fuchs, dem der Rhythmus über der Verbindung mit der „Rasse“ leicht den Weg zum Nationalsozialismus weist, „auf aus dem Kreislaufe“ des „Blutes, das eine magische Eurhythmie durchpulst. Die Rasse, f´das Blut (ist) (.) Trägerin des Rhythmischen und damit alles Künstlerischen.“80 Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass Schleef den Verdacht, eine totalitäre Gleichschaltungsästhetik ins Werk zu setzen, erweckte, zumal die Ähnlichkeit mit Leni Riefenstahls Olympiafilm nicht von der Hand zu weisen war. Schleef verwies zurecht auf Nietzsche und die Ursprünge des griechischen Theaters im Chor, auf die Wiederholung des Rituals, die nicht reduziert auf Sinnstiftung, vielmehr auf Wirksamkeit baute. Der sich rhythmisch bewegende Chor in der Spielund Zuschauraum verbindenden Orchestra wurde im postdramatischen Theater der 1980er- und 1990er-Jahre zur Verbindungsästhetik von Elementen des Sprech-, Musik- und Tanztheaters. Er korrespondierte dem weitgehend antinarrativen, Bewegung, Farbenspiel und geometrische wie abstrakte Formen präsentierenden Videoclip der 1980er-Jahre, der entscheidende Ästhetiken aus der Avantgarde übernahm, etwa abstrakte Formen
79 Georg Fuchs: Der Tanz, Stuttgart 1906, S.12f. 80 Ebd., S. 27.
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und deren rhythmisches Erscheinen in Walter Ruttmanns Lichtspiel Opus I (1921) oder Hans Richters Rhythmus 21 (1921). Der Chor stand besonders für das Energetische, Präsentische, auch Antidialogische und Entsubjektivierende zeitgenössischer Inszenierungen, etwa in Schleefs Faust nach Goethes 1990 im Schauspiel Frankfurt. Ähnlich reüssierten rhythmisch Christoph Marthalers/ Stephanie Carps Die Stunde Null oder die Kunst des Servierens 1995 am Deutschen Schauspielhaus Hamburg, Andreas Kriegenburgs kluge, identitätsgestaltende und nationale Stereotypen verweigernde Produktion von Friedrich Hebbels Die Nibelungen 2004 an den Münchner Kammerspielen, Jan Fabres Mount Olympus 2015 in Berlin, oder, hier bereits auf einer weiteren Reflexionsebene gebrochen, Stemanns Ulrike Maria Stuart 2006, ein jelineksches Palimpsest unter anderem nach Schiller, am Hamburger Thalia Theater. Das Publikum spürte in (vermeintlichen?) Resterfahrungen des Ursprünglichen einen skandierenden, tanzenden Chor, den mitreißenden Rhythmus der Musik, verlor darin den Sinn einer logozentrischen Kultur und sollte eine Erfahrung der Grausamkeit, des dionysisch-unbewussten Erlebens machen, das das Unbehagen in der Kultur temporär aufhob bzw. zumindest als Verlust auswies. Grenzüberschreitungen, rhythmische Ektasen, Auflösungen sowie Übergänge waren jedoch im Theater immer auch auf ordnend-haltende, leitende und Ausgleich sowie Verständigung bzw. Dialog erhaltende Formen angewiesen; der radikalen Präsenz des Überwältigenden des Anderen musste durch Repräsentationen von menschlichen Gestalten des Anderen – in welcher Ausprägung auch immer – aktiv begegnet werden. Der Einbruch des Anderen als ganz Anderen im Rhythmus wäre hierbei mit Schiller neoplatonisch als Wirklichkeit der Ideen, mit Nietzsche als Wirklichkeit des lebendig pulsierenden ganzheitlichen Lebens zu verstehen. Auch hier galt also, dass Anmutung und Interpretation in einer doppelten szenischen Ambivalenzebene, in Gestalt/Auflösung und/oder Ideen-/Lebens-rhythmus, im chorischen Theater der 1990er-Jahre bis heute das rhythmische Spiel des Anderen ermöglichten.
9.7 T HEATER
ALS
R ITUAL , T HEATER
DER
W IRKSAMKEIT
Richard Schechners Theorie des Environmental Theatre hob 1973 die Ähnlichkeit der rituellen Struktur im Realraum wie im Kunstraum so weit hervor, dass das Theater weniger als Artefakt des Anderen, sondern mehr in seiner Performanz, in seiner ständigen Entwicklung in den Vordergrund trat. Dabei löste sich die Grenze zwischen Theater und Nichttheater programmatisch auf, das Publikum wurde weniger in seiner Zuschauerrolle im Verhältnis zu einem inszenierten Anderen bestätigt, sondern mehr auf seine vielfältigen Möglichkeiten zur Partizipation in der Auffüh-
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rung gestoßen. Merkmale des Environmental Theatre, das die Ästhetik des heutigen postdramatischen Theaters stark beeinflusst hat, waren, die Grenze zwischen Kunst und Leben aufzuheben, also überall, auch im Zuschauerbereich, zu spielen; die übliche Trennung zwischen Kunst- und Realraum nicht zuzulassen, überhaupt in jedem ‚gefundenen‘ Raum arbeiten zu können; die Perspektiven grundsätzlich flexibel und variabel zu halten, alle Theatermittel zu enthierarchisieren und auf ein Stück oder einen Theatertext als Leitstruktur zu verzichten. Als Beispiel mag die Produktion Dionysus in 69 (1969) der Performance Group, die 1967 von Schechner mit seinen Studierenden gegründet worden war, dienen. Um Dionysus in 69 zu sehen bzw. zu erleben, musste man sich in die Performing Garage, eine ehemalige Garage in der Wooster Street im New Yorker Stadtteil Soho begeben. Die Performance Group arbeitete auf der Grundlage von Grotowskis theatraler Ästhetik. So wurde aus Euripides‘ in den Tragödientext eingeschriebenem psychologischen, sozialen und weltanschaulichen Konflikt zwischen Dionysos und Pentheus eine sich in die theatrale Form transformierende Performance; bis hin zu gemeinsamen Nackttänzen und angedeuteten Orgien, aber auch in dramatisch-dialogischen Partien erlebte man den ständigen Wechsel von triebbestimmter Grenzüberschreitung und ‚zivilisiertem‘ Rollenspiel. Diese Ästhetik der Wirksamkeit und Überschreitung verstand Schechner als Theater des Rituals. Aus theaterwissenschaftlicher Sicht kann das Ritual nicht allein als textuelle Repräsentation reflektiert, muss vielmehr in seiner Performanz verstanden werden. Dies umso mehr, als es in der heutigen Mediengesellschaft wenig Sinn macht, Text bzw. Interpretation und Performanz auf analytischer Ebene zu trennen. Letztlich geht es eher um die Qualität wie Quantität des Raums des Liminoiden mitsamt differenter Möglichkeiten der Erfahrung.81 Verwirrend ist, dass Rituale zum einen traditionell als starr, unveränderlich, stereotyp und rückwärtsgewandt angesehen werden, während zugleich seit den 1960er-Jahren innerhalb der Theatre- und Performancestudies das grenzüberschreitende, ästhetisch-kreative Potenzial von Ritualen betont wird; ein Theater nahe am Ritual wird als nicht mehr dramatisches, performatives Theater mit dem Ziel einer direkten Wirkung propagiert. Theaterwissenschaftliche Ritualdefinitionen treffen jedoch, wenn man es genauer betrachtet, auf eine historisch wie systematisch weites Feld an verschiedensten Ritualtheorien, -praktiken und Perspektiven auf das Phänomen des Rituals. Aus der Sicht der Theateranthropologie bedeutet Theater für Eugenio Barba ein ausgezeichnetes Medium, den Menschen jeweils in der Beziehung zum Anderen zu
81 Karl Ludwig Pfeiffer: Das Mediale und das Imaginäre. Dimensionen kulturanthropologischer Medientheorie, Frankfurt/M. 1999, S. 64.
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bestimmen.82 Ein Ritual bilde sich generell „um die Wiederholung einer Handlung, die ursprünglich von einem Gott oder einem übernatürlichen Helden begangen wurde“. Jedoch wäre das, was in Barbas Theater „an Rituale erinnern könnte“, in einer säkularisierten Moderne eher ein Verhaltensmuster, welches nicht dem religiösen Kontext entstammte. Es wäre als „eine Art biologisch bedingte Reaktion, die unter bestimmten extremen Bedingungen auftritt“, zu verstehen. Mit indirektem Bezug zu Artauds Theater der Grausamkeit und zu Grotowskis anthropologischen Überlegungen meinte Barba, dass Menschen „in Augenblicken von Angst, ungebundener Freude, Schrecken oder Begeisterung“ in einer bestimmten Art und Weise reagierten, welche vom menschlichen Alltagsverhalten verschieden wäre – körperliches Verhalten und Stimme würden dann anders sein. In seiner Arbeit ging es Barba, mit Rückgriffen auf Nietzsches Philosophie, darum, „solche Reaktionen zu entwickeln und zu üben, um Stereotypen sozialen Verhaltens zu durchbrechen, die das übliche theatralische Muster abgeben“. Damit versuche man, über „gesellschaftlich konditionierten Reflexe hinauszugehen, unseren lebendigen zugrundeliegenden Kern zu erreichen und diesen Prozess durch Symbole und Situationen zu steuern.“ In dieser Destruktion der Stereotype sozialen Verhaltens durch ein Theater als Ritual liege der Kern einer performativen Überschreitungsästhetik, welche das traditionelle Konfliktmodell der Tragödie von Aristoteles über Lessing und Gustav Freytag bis in den heutigen dreiaktigen Hollywoodfilm aufbrechen solle. Hilfreich seien Formen, die an „hieratische Gesten in religiösen Ritualen oder an bestimmte ritualisierte Formen orientalischen Theaters“ erinnern, schon deshalb, weil sie das alltagsnatürlich Verhalten, gespiegelt im Unterhaltungsrealismus, in Frage stellten. Ein solcher Diskurs der Natürlichkeit des Anderen unterscheidet sich prägnant von der Natürlichkeit in der bürgerlichen Schauspieltheorie des 18. Jahrhunderts, von St. Albine, Riccoboni, Diderot, Lessing bis zu Stanislawski, Michael Tschechow, Lee Strasberg, Stella Adler und Larry Moss. Barbas Suche wäre „psychophysiologischer Natur“, seine Methoden entwickelte Barba mit dem Blick des Fremden in einer Kultur der Anderen: „Das Bedürfnis, die Haltung Anderer mir gegenüber zu dechiffrieren, war eine tägliche Notwendigkeit, die alle meine Sinne wachhielt und die mich schnell die kleinsten Impulse wahrnehmen ließ, jede unbewußte Reaktion, das ‚Leben‘, das durch die kleinsten Anspannungen floß und das für den aufmerksamen Beobachter, der ich war, besondere Bedeutungen und Absichten annahm.“83
82 Eugenio Barba: Jenseits der schwimmenden Inseln. Reflexionen mit dem Odin-Theater. Theorie und Praxis des Freien Theaters, Reinbek 1985, S 45. 83 Eugenio Barba: Ein Kanu aus Papier. Abhandlung über Theateranthropologie, Köln 1998, S. 17.
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Schechner hat sich auf analoger Grundlage anregen lassen, die Theatre Studies zu Performance Studies zu erweitern. Er beobachtete für performative Ereignisse bzw. Performances (im us-amerikanischen Wortsinn) die Basispolarität von Wirksamkeit und Unterhaltung und ordnete das Ritual näher an die Wirksamkeit, das Theater näher an die Unterhaltung. Damit wurden dem Ritual assoziativ eine kollektive Kreativität, glaubende und teilnehmende Zuschauer (denen Kritik verboten ist), besessene und in Trance befindliche Darsteller und letztlich eine Gemeinde von Teilnehmenden zugeordnet.84 Das Ritual schaffe die Zeit ab, bringe das Andere hierher bzw. öffne die Verbindung zu einem nicht anwesenden Anderen. Traditionell-dramatisches Theater mit seinem Ziel des Vergnügens versetze hingegen die Zuschauer in das Andere, lasse Kritik am Anderen zu, rege die individuelle Kreativität an. Diese Versetzung, Einfühlung in und Identifikation mit dem Anderen entspricht also mehr der von Lessing in der Hamburgischen Dramaturgie geforderten bürgerlichen Ästhetik samt Mitleiden und Illusionierung.85 Strukturadäquat funktioniert die Polarität in HansThies Lehmanns Überlegungen zum prädramatischen Theater, historisch und systematisch reflektiert im sogenannten postdramatischen Theater bzw. im Überschreitungsmodell der Tragödie86: Vereinfacht sieht man die Opposition (altes) Konfliktmodell der Tragödie und (aktuelles) Überschreitungsmodell der Tragödie, wobei das Überschreitungsmodell der Tragödie dem Theater, das dem Ritual weitgehend ähnlich und dessen Ziel Wirkung (und nicht Unterhaltung) ist, tendenziell entspricht. Damit handelt sich der theaterwissenschaftliche, aber auch schon der avantgardistische Ritualbegriff (etwa bei Artaud) die eigenartige Ambivalenz ein, zum einen grenzüberschreitend wirken zu sollen, während zum anderen in einem Ritual eine Gemeinde entstünde, Kritik nicht erlaubt wäre und das Formale, die Wiederholung und damit das Stereotypähnliche eher die Tradition als den Fortschritt zu betonen scheine – zumindest aus moderner Perspektive. Diese eigenartige Ambivalenz ist auf theaterpraktischer, ästhetischer, analytischer und nicht zuletzt gesellschaftspolitischer Ebene relevant, wenn es um das Gegenwartstheater geht. Insbesondere denke man an Kantor, Wilson, Schleef, Fabre, die Socìetas Raffaello Sanzio, den frühen Kriegenburg, Marthalers komische, gerade auf den Starrheiten repetitiven Verhaltens beruhende Inszenierungen, Luk Percevals intensive Theatererfahrungen oder die Jelinekinszenierungen von Stemann. Ein zeitgemäßes Ritual in diesem Sinne wäre Christoph Schlingensiefs FluxusOratorium Die Kirche der Angst vor dem Fremden in mir. Hierzu wurde nicht nur
84 Richard Schechner: Theater-Anthropologie: Spiel und Ritual im Kulturvergleich, Reinbek 1990. 85 G.E. Lessing: Hamburgische Dramaturgie. 86 Hans-Thies Lehmann: Tragödie und dramatisches Theater, Berlin 2013.
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ein Kircheninnenraum in den theatralen Raum eingefügt (der nach dem Tod des Künstlers im deutschen Pavillon der Biennale in Venedig partiell wieder aufgebaut wurde – sozusagen als Reenactment eines Reenactement eines Rituals), sondern das Ritual der katholischen Messe in ihren prägnanten Zügen travestierend, aber eben auch nicht ohne Tod-Ernsthaftigkeit wiederholt: Schlingensief hat sich in seinen letzten Monaten, Wochen und Tagen intensiv, auch wenn er kaum an religiöse Wahrheiten glauben konnte, mit dem im Leben Unverfügbaren und der Ungerechtigkeit seines Schicksals auseinandergesetzt. Welchen Sinn sollten sein Leiden und sein Tod, überhaupt alles Leid in der Welt haben? Wenn der Theatermacher hierbei auf das ihm bekannte Ritual der katholischen Kirche zurückgriff, dann war er zumindest in seiner Todesangst auf der Suche nach Halt (soweit man das Schlingensief unterstellen darf), zugleich waren im theatralisierten Ritual parodierende Elemente überdeutlich, die zugleich für seine Skepsis und seinen Unglauben standen. Schlingensief war in seiner Jugend Ministrant, hat also ähnlich wie Kantor in dessen Toten Klasse seine Erinnerungen in Szene gesetzt, seine ersten Erfahrungen mit dem Theatralen im Ritual eines katholischen Gottesdienstes. Ministrant sein, bedeutet, eine weitgehend vorgegebene Rolle zu spielen. Diese Rolle hat dabei nichts oder wenig mit dem Charakter bzw. der individuellen Persönlichkeit des Spielenden zu tun. Ein Ministrant reagiert auch nicht oder kaum innerhalb oder außerhalb seiner Rolle frei-improvisierend auf konkrete Situationen, hat keinen Konflikt zu bewältigen, muss sich nicht mit einem Antagonisten auseinandersetzen. In einem Gottesdienst geht es keineswegs um die individuelle Befindlichkeit, Stimmung, Erfahrung oder Erinnerung. Relevant ist jedoch, ähnlich wie etwa im japanischen No-Theater, die traditionelle Rolle richtig, wie vorgeschrieben auszufüllen, im Ausfüllen perfekt zu sein. Auch die Gottesdienstteilnehmer sind keine eigentlichen Zuschauer, die überrascht, illusioniert, in Spannung gehalten oder plötzlich bewegt werden (wenn man von der Predigt absieht); sie spielen die vorgeschriebene Rolle, murmeln die bekannten Texte, stehen auf und knien nieder, wie es alle anderen auch machen. Der Gläubige soll das Ritual nicht als Rollenspiel auffassen, sondern als Begegnung oder Verbindung zu einem ganz Anderen. Daher fügen sich Ministranten, der Priester und die Gläubigen zu einer Gemeinde zusammen, die zum Gedächtnis eines längst vergangenen Aktes diesen Akt wiederholen, sodass sich im Ritual so etwas wie Überzeitlichkeit einstellt. Wenn man das so gesehen undramatische Ritual eines Gottesdienstes mit der Arbeit des Schauspielers an einem typischen Ensemble- und Repertoiretheater vergleicht, dann fallen die Unterschiede auf, auch wenn gewisse Ähnlichkeiten etwa mit den postdramatischen Inszenierungen René Polleschs bzw. größere Ähnlichkeiten zum Regie- als zum Schauspielertheater bemerkbar sind. In Schlingensiefs performativer Einrichtung ging es ebenfalls weniger um Unterhaltung durch dramatische Konflikte im Zeitablauf, sondern mehr um Wirksamkeit, um Teilnahme und Erfahrung.
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Schechners Basispolarität zur Bestimmung des Verhältnisses von Ritual und Theater orientierte sich an Victor W. Turners Verbindung von Liminalität und Communitas, an sogenannten Schwellenphänomenen als „Mischung aus Erniedrigung und Heiligkeit, Homogenität und Kameradschaft“. Man werde in „Riten mit einem ‚Augenblick in und außerhalb der Zeit‘, in und außerhalb der weltlichen Sozialstruktur konfrontiert, der – wie flüchtig er auch sein mag – das (wenn auch nicht immer sprachlich, so doch symbolisch zum Ausdruck gebrachte) Erkennen einer generalisierten sozialen Bindung offenbart, die aufgehört hat zu bestehen, gleichzeitig erst noch in eine Vielzahl struktureller Beziehungen unterteilt werden muss.“87 Turner stellte eine Dichotomie von zwei Hauptmodellen menschlicher Sozialbeziehungen vor, welche nebeneinander existierten und einander abwechseln würden: Ein Modell verstünde die Gesellschaft als „strukturiertes, differenziertes und oft hierarchisch gegliederte System politischer, rechtlicher und wirtschaftlicher Positionen mit vielen Arten der Bewertung“. In dieser Sozialhierarchie würden Menschen nach oben und unten sowie nach In und Out differenziert. Im anderen Modell, in dem der sogenannten Schwellenphase, bilde sich die Gesellschaft hingegen als kaum oder gar nicht strukturierte, weitgehend undifferenzierte und antihierarchische Gemeinschaft. Alle würden im Moment zu Gleichen, welche sich „gemeinsam der allgemeinen Autorität der rituellen Ältesten unterwerfen.“ Lebensweltlich oder biografisch relevant wird dieser Schwellenzustand, wenn ein individueller Übergang, ein Aufstieg von einem niederen zu einem höheren Status vollzogen wird, welcher durch die Phase und den Raum der Statuslosigkeit erfolgt. Dieser essenzielle Teil eines, so Arnold van Gennep, Übergangsritus, eines Rite de Passage88, ähnelt strukturell erstaunlicherweise dem mittleren Teil des verbreitetsten dramaturgischen Konfliktmodells des Abendlandes, der sogenannten Reise in die Fremde im von Joseph Campbell festgestellten Monomythos, der die Grundstruktur fast aller populären Hollywood-Filme bildet.89 Ein Schwellenzustand könne jedoch in der Institutionalisierung gefährlich werden: „Was in Stammesgesellschaften hauptsächlich eine Reihe von die Übergangsphase zwischen definierten kulturellen und sozialen Seinsformen kennzeichnenden Eigenschaften war, ist, wie es scheint, mit zunehmender gesellschaftlicher und kultureller Spezialisierung und immer größer werdender Komplexität der sozialen Arbeitsteilung zu einer institutionalisierten Daseinsform geworden.“90 Turner stellte
87 Victor A. Turner: Liminalität und Communitas, in: Andrea Belliger/David J. Krieger (Hg.): Ritualtheorien, Opladen 2008, S. 247–260, hier S. 250. 88 Vgl. Arnold van Gennep: Übergangsriten, Frankfurt/M. 2005. 89 Vgl. hierzu J. Campbell: The Hero with a Thousand Faces; aktualisiert und kritisch reflektiert in: M. Krützen: Dramaturgie des Films. 90 V.A. Turner: Liminalität und Communitas, S. 252.
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den Bezug zu Gemeinschaften in Religionen her: „Nirgends tritt diese Institutionalisierung des Schwellenzustands klarer zu Tage als im Kloster- und Bettelmönchsleben, das die großen Weltreligionen hervorgebracht haben.“ Deren gelebte und propagierte „Homogenität, Gleichheit, Anonymität, Besitzlosigkeit“ wirke auf Künstler und Theatermacher oft attraktiv, etwa im Sinne einer Ästhetik der Einfachheit in Grotowskis armen Theater, in Brooks leerem Raum oder in Oskar Schlemmers Triadischem Ballett. Nach Erving Goffman zitierte Turner hierzu die Kategorie der totalen Institution,91 die sich zum Beispiel in der Ordensregel des heiligen Benedikt manifestiere: Eine Gemeinschaft entspreche einer „Familie, die der ganzen Obhut und Kontrolle eines Vaters (,des Abts‘) untersteht“92. Dies verweist, zumindest indirekt, darauf, dass der Raum der Kunst kein originär demokratischer wäre, die der totalen Institution inhärente Kollektivität deutet zudem auf die Gefahr von Kunst-Kollektiven im Kreativprozess, schnell zu totalen Institutionen zu werden, zumindest auf einen Übervater oder eine Übermutter angewiesen zu sein – gerade im Regietheater nicht unbedingt eine seltene Erfahrung für Schauspieler, Regieassistenten, Bühnenbildner oder Dramaturgen. Totalitarismus bzw. Unfreiheit drohe jedoch auch von der anderen Seite, von der hierarchisierten Gesellschaft her. Für diese wären (künstlerische) Manifestationen der Communitas gefährlich, destruktiv (heute dekonstruktiv) und anarchisch. Künstler personifizierten diese Störung, man benötige sie als Vertreter der Antistruktur, um das „moralische und gesetzliche Gleichgewicht in einem lokalen System politischer Machtbeziehungen“93 zu erhalten. Insofern begründet sich das deutschsprachige Regietheater als Raum der gesellschaftsnotwendigen Störung, auch wenn es selbst paradoxerweise als Institution, Ästhetik und kollektiver Produktionsprozess durchaus totalitäre Züge aufweist. Es ist kein Zufall, dass gerade in der Counterculture der 1960er-Jahre die einzigartige Konstellation an Einflüssen von Brecht, Piscator, Kortner, Artaud/Grotowski und der Neoavantgarde ein Feld eröffnet hat, auf dem die Geburt des gegenwärtigen Regietheaters fast zwangsläufig war. Neben Peter Stein waren insbesondere Peter Zadek und Claus Peymann die führenden Innovatoren. Zur gleichen Zeit richtete auch Schechner mit der von ihm mitbegründeten Performance Group Dionysos in 69 in der Performance Garage ein. In diesem performativen Ereignis nach Euripides’ Die Bakchen figurierte Dionysos die Anti-Struktur und Communitas, Pentheus den kontrollierenden Staat. Während im traditionellen Konfliktmodell der Tragödie Dionysos den rationalen Herrscher listig und mit Macht in seinen Tod durch die ihn in blinder Raserei zerreißenden Frauen treibt, überschrei-
91 Ebd., S. 253. 92 Ebd., S. 252. 93 Ebd., S. 254.
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ten die Performer und die Zuschauer als Mitperformer auf mehreren Ebenen in einem Überschreitungsmodell der Tragödie die Grenzen der Repräsentation: Im Raum dieses Environmental Theatres wurden die Grenze zwischen Rollenspiel und Zuschauerrolle, zwischen Leben und Kunst, zwischen Kunstraum und Realraum partiell aufgehoben. Wie in Schechners Sechs Axiome zum Environmental Theatre 1973 gefordert, war der Fokus kein abendländisch-perspektivisch am Fluchtpunkt ausgerichteter; die Aufführungsmittel gehorchten kaum einer Hierarchie und der Tragödientext war nicht allein Ausgangs- oder Zielpunkt der Produktion.94 Damit setzte Schechner auf theatraler bzw. performativer Ebene etwas fort, was für die Gesellschaft von Turner als Communitas formuliert wurde, welche ein performativdialogisches Prinzip einrichtet – wobei hierbei eben dezidiert nicht der traditionelle lessingsche Dialog im inneren Kommunikationssystem des Theaters als Hineinversetzen ins Andere ins performative Werk gesetzt wird, sondern der ritualadäquate Dialog zwischen Kunst- und Realraum als möglichst direkte Erfahrung des hergeholten, evozierten, beschworenen Anderen.
9.8 P OSTDRAMATISCHES T HEATER Eine postmoderne Vorstellungswelt, neue Ästhetiken des Regietheaters sowie die tendenzielle Infragestellung der Spartengrenzen unterstützten die Entstehung des postdramatischen Theaters, das seit den 1980er-Jahren auch die traditionellen Bühnen erobert hat und die Bühnenästhetik der wichtigsten Theater maßgeblich beeinflusste. Schechner fasste die experimentellen Ästhetiken der 1960er- und 1970erJahre in seiner Polarisierung zwischen einem Theater der Wirksamkeit und einem Theater der Unterhaltung systematisch und historisch prägnant und so folgenreich, dass auf der Basis seiner Überlegungen und Schemata Andrzej Wirth in den frühen 1980er-Jahren das Gießener Institut für Angewandte Theaterwissenschaft gründete. In seiner Programmschrift Säkularisierung des deutschen Theaters bemerkte Wirth 1985, dass die deutsche Theaterkultur in „vielen Ländern der westlichen Welt mit Eifersucht“ betrachtet werde, Gründe seien u.a. der lokale Stellenwert in der Kultur, die institutionelle Breite und die üppige Subventionierung sowie das außerordentliche Niveau der Reflexion in der Kulturkritik sowie an den Universitäten.95 Man übersehe jedoch die Kehrseiten dieses Systems, das zu einer „erhabenen Erstarrung“ und einem „Konservatismus“ der deutschsprachigen Institution des Theaters geführt habe. Die Gründe lägen in deren Verwurzelung in der absolutistischen
94 Richard Schechner: Environmental Theatre, N.Y. 1973. 95 Andrzej Wirth: Säkularisierung des deutschen Theaters, in: Gießener Universitätsblätter, 181, 1985, S. 45-48; Und: http://geb.uni-giessen.de/geb/volltexte/2013/9606/.
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Kleinstaaterei, hinzu käme das Konzept des bürgerlichen Bildungstheaters, gegen das sogar Brecht nicht aufbegehrte. Peter Handke wäre hingegen der erste gewesen, der den „Anachronismus des deutschen Bildungstheaters“ erkannte, seine Kritik an Brecht wäre bereits aus postmodernistischer Perspektive verfasst. Doch erst durch die „Schockwirkung des neuen amerikanischen Theaters (Robert Wilson, Meredith Monk) und solcher Künstler wie Pina Bausch oder George Tabori“ wäre das Bildungstheater verunsichert worden. Wirth verkannte die Leistung Piscators, Brechts, Kortners und der jungen Regiewilden Zadek, Peymann (der Handkes Publikumsbeschimpfung 1966 inszenierte) und Stein völlig, was mit seiner weitgehenden Unkenntnis des deutschsprachigen Theaters zu tun haben mochte. Zudem übersah er (absichtlich?) das deutschsprachige freie Theater, dass etwa mit Alexeji Sagerer schon in den 1970er-Jahren am Münchner Institut für Theaterwissenschaft die Performance pflegte – von der Fluxusbewegung, Vostell und den Wiener Aktionisten mal ganz abgesehen. Zutreffend beobachtete Wirth jedoch den neuen Einfluss einer postmodernistischen Theaterästhetik: Theatertexte würden nicht mehr geschrieben, sondern produziert, „getippt, collagiert, zusammenmontiert; von den Spielern durch die Strategien des Psychodrama erpreßt; zu einer Klangmatrix (konkrete Dichtung) reduziert, usw.“ Zum Ausdruck kämen in diesen Produktionen und Aktionen „mehr ein Es, ein Id als ein Ich, ein Ego.“ Man solle nun nicht mehr von einem Autor sprechen, sondern von einem Medium, es gäbe kein Genie, keinen Schöpfer, kein ‚wer’ mehr, sondern nur ein ‚was’. Damit wäre die Integrität des Werkes als Opus zu einem „prae-kritische(n), naive(n) Konzept“ degradiert, Stücke für das Theater wären keine Dramen im traditionellen Sinne – Wirth verwies auf Ernst Jandls Wortspiele und Robert Wilsons Spieltexte etwa in Death Destruction & Detroit, auf Pina Bauschs Tanztheater und Gertrude Steins Landscape Plays. Das nun in einen Spieltext transponierte Werk vermittle „keine Botschaft mehr, die Sinnbestimmung“ bliebe dem Leser beziehungsweise dem Zuschauer überlassen: „Die tradierte Auffassung des Darstellers im bürgerlichen Sprechtheater ist von dem neuen, viel umfassenderen und legereren Konzept ersetzt worden“, zukunftsweisend wäre mit Meredith Monk das Verständnis der Kreativen als Performing Artist, das traditionelle Rollenspiel ginge in der Performance auf. Mit dem Verweis auf das Konzept „Kunstgegenstand als gefundenes Objekt“ – als Object trouve – das sich im deutschsprachigen Theater noch nicht durchgesetzt hätte, kündigt Wirth Anfang der 1980er-Jahre fast prophetisch heutige dokumentarische Formen an, die wie Rimini Protokoll oder Markus & Markus den Experten des Alltags als ‚gefundenes Objekt‘ an die Stelle des Schauspielers setzen. Damit war zukünftig auch das Konzept der Aufführung eines vorgängigen dramatischen bzw. literarischen Textes unterminiert durch die antithetisch auftauchende Performance-Praxis, die ihre Quelle im Spieler und nicht im Text habe. Grundsätzlich am Ende sei eine theatrale Ästhetik der Interpretation des Anderen im Theater. Theater solle diesbezüglich nicht paternalistisch sein, nicht mittels eines Kon-
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fliktmodells Botschaften versenden, vorbei wäre Theater als Lehre, gefordert wäre Theater als Erfahrung. Dass es noch nicht einmal der innovativen Schaubühne gelänge, trotz Grübers Winterreise im Olympiastation, dem Belehrungstheater zu entkommen, führte Wirth auf das ‚theologische‘ Theater der Deutschen zurück, das den Fehler als Einbruch des Realen als ganz Anderen nicht zulasse: „Ich interpretiere es als kulturbedingt: Die Deutschen haben im Leben wie auf der Bühne wenig Mut zur Spontaneität“. Ein „paralysierende Hang zum Gekonnten, Vollendeten ist sozusagen vorprogrammiert in der Theaterkultur des Landes.“ Ganz anders die alternativen Theater in den USA: Die Anregungen, welche deutsche Theatermacher in den 1960er-Jahren vom Living Theatre, in den 1970er-Jahren von Robert Wilson erhalten haben, hätten eine Säkularisierung begründet. Aber, so Wirth, es würde noch „lange dauern, ehe sich dieser Trend gegen die restaurativen Tendenzen der etablierten Theaterkultur behauptet.“ Dabei unterschlug Wirth auch hier großzügig die europäische Performancepraxis, von Nam June Paik über Beuys bis zu Faßbinder und der virulenten Off-Szene in den deutschen Großstädten. Hans-Thies Lehmann griff Überlegungen Schechners und Wirths auf und machte sie in den 1990er-Jahren für das Politische im Sinne einer negativen Dialektik (Adorno) im Theater fruchtbar. Der Andere wäre ständig verstellt, durch das „sozio-symbolische Gesetz“, dies wäre „das gemeinsame Maß, das Politische der Bereich von dessen Bestätigung, Bekräftigung, Sicherung, Anpassung an den wandelbaren Lauf der Dinge, Abschaffung oder Modifizierung“. Dementsprechend existiere „eine unaufschiebbare Kluft schon im Politischen, das die Regel gibt, und der Kunst, die, sagen wir einfach, immer die Ausnahme ist: Ausnahme zur Regel, Affirmation des Nichtregelhaften sogar noch in der Regel selbst. Theater als ästhetisches Verhalten“ wäre „undenkbar ohne das Moment der Übertretung der Vorschrift, der Überschreitung.“96 Dies trifft jedoch gegen die traditionelle Ansicht bereits für das vorgeblich literarische und unkörperliche Theater des 19. Jahrhunderts zu, boten die Bühnen doch trotz Drama oft erstaunlich weitgehende Auflösungen des Dialog-Dramatischen, zeigten weit mehr als heute Drama Gesang, Musik, Akrobatik, mehr oder weniger seriösen Tanz und Tierattraktionen. Insbesondere das im 18. Jahrhundert für Aufklärer zum Problem gewordene Extemporieren, das Improvisieren und die Performanz gegen die Textkontrolle durch die Theaterzensur schufen einen eigenen Bereich des subversiv Theatralen, das man heute kaum mehr in seiner Tragweite erfasst. Nicht erst Craig plädierte für ein Theater ohne dramatische Vorlage, schon das absurde Theater Nestroys bereite Eugène Ionescos ‚Anti-Stücke‘ (anti-théâtre) vor; Artauds Theater der Grausamkeit und der Surrealismus, Grotowski, der Strukturalismus, das absurden Theater sowie Aktions- und Performancekunst legten ne-
96 H.-T. Lehmann: Postdramatisches Theater, S. 457.
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ben Brecht die Grundlagen für die Entstehung des Regietheaters in den 1960erJahren. Wilson, Bausch, Richard Foreman, Fabre, die Wooster Group oder Kantor lösten das Szenische vom Dramatischen. In Brechts Modell der Straßenszene wurde ein Gestus eingeübt, der die illusionserheischende Gestaltung konterkarierte, dies beeinflusste den Autorenfilm von Jean-Luc Godard, dem es darum ging, nicht politische Filme, sondern politisch Filme zu machen: Nicht die Kommunikation von politischen Inhalten durch das Bühnenspiel, sondern nun über Brechts Dialektik hinausgehend der Aufbruch, die Unterbrechung oder Störung der eindeutigen Interpretation des Bühnengeschehens waren nun Wirkungsziele. Der gespielte, auf Einfühlung in das Andere zielende Dialog der Figuren im internen Kommunikationsraum des Spiels musste zugunsten des externen Dialogs zwischen Bühne und Zuschauerraum zurücktreten, dies verlangten das absurde Theater, das Sprechstück oder die Performance tendenziell gleichermaßen. Nicht mehr dramatische Theatertexte waren spätestens seit den 1980er-Jahren nichts mehr Neues auf den deutschsprachigen Bühnen: Elfriede Jelinek (z.B. Wolken.Heim 1988), Heiner Müller (z.B. Hamletmaschine 1977), Botho Strauß (z.B. Kalldewey, Farce 1982), zuvor die frühen Sprechstücke Handkes wie Kaspar oder die medienreflektierenden Stücke von Rainald Goetz wie Festung oder heute Polleschs Diskurstexte – gemessen an den Einladungen zu stücke, den Mülheimer Theatertagen von 1976 bis heute, lässt sich jedoch keine lineare Entwicklung vom Dramatischen zum Postdramatischen bzw. Nicht mehr Dramatischen feststellen. Seit den 1980er- und weit verbreiteter auf den traditionellen Bühnen seit den 1990er-Jahren agierten die Schauspieler oft vorne an der Rampe zum Publikum gewendet. Nicht alle Konstituenten des Dramas, also Handlung, Figur, Zeit, Raum und Dialog, verschwanden oder wurden aufgelöst; Postdramatik besetzte den breiten-grauen Bereich zwischen den extremen Polen dramatisches Theater auf der einen und Performance als Live Art auf der anderen Seite. Der dramaturgische Graubereich verhinderte, dass man Postdramatik synchron wie diachron ohne Schwierigkeiten definieren konnte. Evident war aber, dass neu dominant gewordene Formen des Tanztheaters, der Performance Art, des Site-Specific Theatres, der Soundcollage, der Theaterinstallation oder der Sprechoper nicht primär auf dramatische Vorlagen basierten. Postdramatische Inszenierungen wie diejenige von Müllers Hamletmaschine durch Wilson 1986 und dann 1989 durch den Autor selbst oder Müllers/Wilsons Civil Wars (1984) hatten daran orientiert einen eher ritualhaften Charakter, suchten die unmittelbare Wirkung und Wirksamkeit in der Produktion und Rezeption, richteten kein Theater der Repräsentation zum Verständnis des Anderen, sondern der Präsenz des Anderen ein. Nicht der traditionell-populäre Sinn der Handlung, deren Geschlossenheit, gesuchte Figurenidentitäten oder -psychologien, sondern der unmittelbare Ausdruck, die Energetik, die Anmutung, Präsenz, Atmosphäre oder das Erhabene drängten
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sich vor bzw. in die dramatische Repräsentation. Dadaistische Sinnaufbrüche, assoziative Montagen und rhythmische Muster subvertierten erkennbare Handlungsräume, unterstützten dramaturgische Flächen oder räumliche Landschaften. Theatrale Mimesis baute wenig auf einer Ähnlichkeit zwischen Abbild und Welt, kaum oder gar nicht auf eine psychologisch-realistische Repräsentation von Wirklichkeit. Die dramatische Handlung wich dem Ereignis. An die Stelle der Gestalt trat die Gestaltung in der Präsenz des Anderen, an die des Dialogs trat der Diskurs, an die der Figuren die Figuration als Prozess der ständigen Herstellung und Auslöschung von statischer Figurenidentität des Anderen.
10. Ethik des Anderen. Postironisches Theater
10.1 P OLITISCHES T HEATER UND / ODER T HEATER POLITISCH MACHEN Wann beginnt etwas? Wann beginnt eine Handlung, wann das eigene Leben? Einen ersten Punkt einer Reihe werden wir in der Performance des eigenen, chaotischenergetischen Lebens als das Andere nicht bestimmen können. Tim Etchells definiert für Produktionen von Forced Entertainment keinen Anfang und kein Ende. Vielleicht eröffnen erste eigene Erinnerungen für das Leben einen Anfang. Aber ab welchem Alter können sich Menschen erinnern? Hinderlich scheint das Phänomen zu sein, das Freud als kindliches Vergessen begriff: Das Kind habe keinen Zugriff auf die Erfahrungen seiner ersten sechs Jahre, weil die Erinnerungen mit aggressiven Gedanken und sexuellen Wünschen kontaminiert seien. Heute vertreten Psychologen und Hirnforscher die alternative These, dass dem Kleinkind noch drei Fähigkeiten fehlten, die notwendig für eine solide Erinnerung wären: erstens eine fundamentale Ich-Entwicklung im Sinne des Vermögens, sich synchron und diachron in die wahrgenommene Umwelt einzuordnen; zweitens der Entwicklungsstand des Hirns selbst, das erst in der Pubertät in seinen Nervenzellen einen ausgereiften Zustand erreiche; drittens die Beherrschung der Sprache. Das individuelle Gedächtnis benötige Begriffe, Grammatiken und wörtlich formulierbare Einordnungsraster, sonst gingen die Eindrücke als unzusammenhängende Fragmente irgendwo im Gedächtnis verloren. Wie es Schlingensief berührend über die Einspielung von autobiographischen Material in Die Kirche der Angst vor dem Fremden in mir dargestellt hat, ergäbe sich aus der Verbindung der eigenen Erfahrung mit kulturellen Rastern die Vorstellung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, die für spätere Erinnerungen unabdingbar wären. Individuen sind auf mehr oder weniger dramatische Handlungsstrukturen angewiesen, um dem unstrukturiert-komplex Anderen, dem Realen zu begegnen. „The mind is a storyteller“, so Jonathan Gottschall. Menschen sehen Gestalten und Gesichter in uneindeutigen Reizen wie etwa Wolken etc., sie besitzen
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einen angeborenen Hang zur Anthropomorphisierung.1 Sie konstruieren perpetuierend Storys, projizieren Gestalten in unverbundene Teileindrücke, gehen von Kausalitäten aus, auch wenn diese seit Hume und Kant, erst recht seit Nietzsche außerhalb des anthropozentrischen korrelationistischen Zirkels, der apollinischen Projektion des Dramatischen nicht mehr verifiziert werden könnten. Gestalten als Thesen über das Andere könnten jedoch falsifiziert oder als zu umständlich bzw. irreführend entlarvt werden, so die Kritik des Neuen Realismus an der Philosophie und Praxis der Postmoderne. Die Suche nach festen Formen, Kausalitäten und Realitäten des Anderen scheint umso mehr relevant zu werden, wenn sich das Eigene im Bezug zum Anderen und Fremden etwa aufgrund erlebter ständiger kognitiver Dissonanzen in seiner Identität bedroht glaubt. Genügten in diesem Fall Verweise auf die Konstruiertheit, Relativität und Hybridität dessen, was einem als Halt, Rahmen, Ordnungsraster oder Sicherheit zur Verfügung stünde? Umberto Eco, Maurizio Ferraris und Markus Gabriel kritisierten eine hermetisch-postmoderne Folie des ständigen Entzugs. Neuer und Spekulativer Realismus werten (post-)moderne Konstruktivismen als Übertreibungen, suchen selbstbezügliche korrelationistische Zirkel zu durchbrechen: Eine soziale oder naturwissenschaftlich ermittelbare bzw. falsifizierbare Realität solle unabhängig von menschlichen Zuschreibungen existieren. Nicht jede Interpretation wäre potenziell gleichwertig und funktioniere je nach sozialer Situation, psychologischer Stimmung, biologischer Basis und sich ständig verändernder Umwelt gleich gut. Wolfgang Welsch wirft dem Konstruktivismus von Kant bis heute vor, neben der Hybris der Übersteigerung der Erkenntnisleistung des Subjekts zu übersehen, dass der Mensch grundsätzlich an seine natürliche Umwelt angepasst wäre – von der Anatomie des Auges bis zum Liebestrieb. Er plädiert für eine den Anthropozentrismus der Moderne relativierende Perspektive der Kulturwissenschaften, die der evolutionsbiologisch zu verstehenden Adaptation eine größere Aufmerksamkeit schenke.2 Selbstverständlich übergehen weder postmodernes Denken noch performative Theaterformen das Reale des Anderen, auch wenn es nur indirekt durch den Entzug, den Aufbruch oder die Unterbrechung der letztgültigen Interpretation bemerkbar wäre. Mimesis als Ähnlichkeit zwischen Urbild und Abbild, von Platon über Aristoteles bis heute Grundlage der Kunst und des Theaters, wäre mit Walter Benjamin über die indirekte Spur mit im Spiel. Die Natur erzeuge „Ähnlichkeiten. Man braucht nur an die Mimikry zu denken. Die höchste Fähigkeit im Produzieren von Ähnlichkeiten hat der Mensch“. Noch Pollesch wird das zwanghaft Dramatische auf diese Fähigkeit des Menschen zurückführen. Für Benjamin wäre die Fähigkeit, Ähnlichkeit zu erkennen, nichts „als ein Rudiment des ehemals gewaltigen
1
Jonathan Gottshall: The Storytelling Animal, N.Y. 2012, S. 103ff.
2
Vgl. W. Welsch: Mensch und Welt.
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Zwanges, ähnlich zu werden und sich zu verhalten“3 – man müsse von einer phylogenetischen Basis des mimetischen Vermögens ausgehen.4 Nietzsche spricht davon, dass „wirkliches Geschehen“ außerordentlich vereinfacht werde, sodass es „ähnliche und gleiche Dinge zu geben“ scheine. Erkenntnis sei „Fälschung des Vielartigen und Unzählbaren zum Gleichen, Ähnlichen, Abzählbaren“.5 Nicht nur für Aristoteles, Tarde oder Latour, sondern auch für Benjamin wäre Mimesis eine menschliche Art und Weise der Aneignung des Anderen, mit Swedenborg, Lavater, Kant und Hegel geeignet, Mikro- und Makrokosmos zu verbinden. Freilich bleibt diese Aneignung innerhalb der anthropozentrischen Rekluse des korrelationistischen Zirkels, über die wahrnehmungsprägenden Strukturen innerhalb der symbolischen Ordnung ohne transzendentales Signifikat. In dieser wäre das dramatische Theater ein Teil des von Benjamin so benannten nicht-sinnlichen Archivs6, in das sich das Eigentliche nicht gestalthaft direkt abbilde, sondern als Spuren (Derrida) einschreibe. Damit wären dramatische wie alltägliche Rollenspiele nicht als Signifikanten zu verstehen, die dauerhaft-medial Sinn speichern, sondern als Medien, die Eindrücke von etwas Indirekt-Unbewusst-Eigentlichem vermitteln und/oder überliefern. In kreativ-experimentellen Theaterformen wie etwa den Aktionen des Orgien-Mysterien-Theaters wird dies quasi magisch aus dem Untergrund hervorholt, was unkontrolliert als Theater der Grausamkeit, surrealer Einbruch des Realen oder Theater der Erfahrung begegnen kann. Das erlaube im Theater kein Rollenspiel im traditionellen Sinn mehr, vielmehr öffne sich der Performer für den Einbruch des Realen. Den gültigen Codes, mentalen Stereotypen sowie traditionellen Gestaltungen im Rollenspiel wären das Unperfekte, der Fehler, das Versagen oder gar psychische und physische Verletzungen bis hin zum Tod entgegenzusetzen. She She Pop verbündeten sich in der RelevanzShow mit dem gewöhnlichen Publikum, forderten in 50 Grades of Shame in der Tradition des Living Theatres zur Orgie der nicht allzu attraktiven Körper im Zuschauerraum auf; Gob Squad spielten in Super Night Show mit abendlichen Passanten der Innenstadt dilettantisch Liebesszenen: Der Andere, der sich in seiner Unähnlichkeit in nichts von mir unterscheide, wäre genauso peinlich und unperfekt wie ich. Wir spielen alle unsere Rollen, aber im Bewusstsein einer knallharten Normalität und eines Normalisierungsdrucks irgendwie immer zu schlecht. Gerade weil jeder gerne relevant wäre, einen perfekten Körper hätte und eine perfekte Rolle spie-
3
Walter Benjamin: „Über das mimetische Vermögen“, in: Ders., Schriften, Band 2.1, Frankfurt/M. 1980, S. 210-213, hier S. 210.
4
Ebd.
5
Friedrich Nietzsche: Nachgelassene Fragmente 1884-1885, München 2010, S. 506.
6
Ebd. S. 212f.
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len wolle, gerate er in die Normalisierungsfalle, was durch die Präsentation unzusammenhängender Bedeutungsangebote zu dekonstruieren wäre. Dialektisch gesehen schlüge jedoch, so die Kritik an dieser postmodernen Theaterästhetik, in der gesuchten Unähnlichkeit der Solipsismus der reinen Selbstbezüglichkeit des Subjekts zurück. Von Thomas Ostermeier (Plädoyer für ein realistisches Theater) und Milo Rau (Was tun?) bis hin zu Peter Laudenbach und Bernd Stegemann (Lob des Realismus, Kritik des Theaters) wird diesem ästhetischen Entzug biedermeierliche politische Naivität unterstellt. Performer erzeugten allein Aufmerksamkeit über Präsenzeffekte, der performative Freiraum würde nach Frank M. Raddatz (Das mimetische Dilemma) tatsächlich nur das Herrschende bestätigen. Weder Produzierende noch Rezipierende lernten etwas über tatsächliche Machtund Wirtschaftsstrukturen, die erlaubten, dass Wenige Macht und Geld hätten, Viele jedoch arm, ohne Einfluss und unwissend wären und blieben. Die Ibsen-Produktion Gespenster des Kollektivs Markus und Markus, in der Performer und betroffenes Publikum eine alte Frau in den Suizid begleiten, das Publikum ‚authentisches‘ Sterben im Videofilm miterlebt, provozierte hitzige Diskussionen. Doch die Attraktion beruhte auf dem schockierenden Präsenzeffekt des Sterbens. Keineswegs versuchten Markus und Markus, die gesellschaftliche Situation zu erhellen, in der eine alte Frau ‚freiwillig‘ den Tod suchte, in der in einer neoliberalen Effizienzgesellschaft ihrer offensichtlichen Altersdepression attraktive Angebote zur aktiv-leichten Sterbehilfe gegenüberstanden; wieso verweigerten Markus und Markus eine wie auch immer gestaltete Darstellung von eindeutigen Machtstrukturen? Wieso blieben sie gleichgültig und halfen der Frau nicht? Weil – vor neostrukturalistisch-antisokratischem Hintergrund – jede Eindeutigkeit als Reduktion einer angeblich unendlichen Komplexität totalitär gegenüber dem Anderen wäre, weil althusserscher Posthumanismus das leidende Subjekt nicht ins Zentrum theatral-postdramatischer Theoriebildung rücke, weil jede handlungsauslösende Interpretation des Anderen gleich-gültig wäre; vor diesem postdramatischen Hintergrund könnte der aggressive Humanismus des Zentrums für politische Schönheit, etwa in ihrer umstrittenen Aktion Scholl2017, eine aktuellere Perspektive sein. In diesem Sinne wäre die performative Ästhetik mit Brecht soweit über Brecht hinausgegangen, dass dessen politische Intentionen in Vergessenheit geraten waren. Brecht hob in seinen Inszenierungen am Berliner Ensemble die Illusion in der Typisierung nicht vollständig auf. Auf dieser theatralen Ebene wäre eine andere Ibseninszenierung politisches Theater: Thomas Ostermeiers Volksfeind, in der neben dem Rollenspiel samt neobrechtscher Verfremdungselemente auf globaler Tournee plötzlich eine ernsthafte Diskussion darüber geführt wurde, wie man im jeweiligen Land mit idealistisch-nervigen Außenseitern wie Stockmann umgehen sollte. Neue politische wie gesellschaftliche und kulturelle Ereignisse nach der Jahrtausendwende, insbesondere eine veränderte soziale Wirklichkeit sowie eine Wiederkehr der Ökonomie prägten die Bühnenangebote der letzten Jahre. Dies kulmi-
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nierte in ein von Milo Rau propagiertes dezidiert ethisches Trotzdem in der Inszenierung. Ernst genommen werde wieder, dass ein „Wesen leidet und zu Grunde“ gehe, dass „jemand zusticht mit einer bestimmten Geschwindigkeit und einer bestimmten Kraftanstrengung und einem wirren Empfinden“. Es gäbe theatralisierbare „Positionen in diesem ‚Spiel‘“, die „REAL sind, die aus der allgemeinen symbolischen Verabredung herausfallen.“ Damit wäre jedoch nicht das Reale des performativ-postdramatischen Theaters gemeint, sondern das Leiden des Anderen, das der Solipsismus postmoderner Theaterformen nicht erreiche, für das er sich kaum oder gar nicht interessiere. Ethisch-moralische Produktionsperspektiven erreichten hingegen, dass „man von dieser REALITÄT selbst infiziert“ würde, „nicht nur belästigt, analysiert, abgestoßen oder hysterisiert, verpestet oder gereinigt, sondern gleichsam unheilbar verwirrt und zerrüttet“.7 Rau formulierte eine manifeste Kritik an der Repräsentationskritik und damit an der Postmoderne seit den 1960er-Jahren, Theater solle sich wieder seiner traditionellen Funktion als moralische Anstalt der Aufklärung bewusstwerden. Dies steht in einem eigenartigen Einklang und zugleich Kontrast zum Theater als sozialen Ort, wie ihn Matthias Lilienthal fordert. Fast dialektisch zu verstehen oszillierte das Andere über den dem Ästhetischen – bei Rau wie bei Lilienthal – eigentümlichen Spalt, der in der Gegenwartskunst immer wieder von neuem aufbricht. Für Christoph Menke wäre das Ästhetische „zwar befreiend und verändernd“, aber „nicht ‚politisch‘“. Als „‚Gesammtentfesselung aller symbolischen Kräfte‘ (Nietzsche)“ sei es „weder produktiv noch praktisch“.8 Diese Energien kanalisieren sich – polarisierend gesehen – in zwei Richtungen. Zum einen im Dramatischen sublimiert: Theater funktioniere als Auskunftsmedium, ist Medium einer spontanen Repräsentation gesellschaftlicher Vorgänge, einer „Suche nach gültigen dramatischen, bewusstseinsprägenden Bildern unseres noch immer dramatisch geprägten Lebens“ (Günther Rühle). Zum anderen im energetischen Theater als performativen Akt, als Präsenz, die die Bedeutungszuweisung stört oder unterbricht und somit Stereotypen in der Wahrnehmung bewusstmacht, dekonstruiert oder auflöst. Was ist dementsprechend heute politisch wirksames Theater: Politisches Theater machen oder Theater politisch machen? Bezogen auf die dramatische wie theatrale Form entzündete sich die Frage nach dem Politischen des Theaters. Nach der Jahrtausendwende und in den letzten Jahren der Finanzkrise sowie der weltweiten Migrationsbewegungen ließen sich postmodern-affirmative, ironisch-gleichgültige Vorstellungswelten einer Event-, Inszenierungs- oder gar Spaßgesellschaft der 1990er-Jahre nicht mehr ohne schlechtes Ge-
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Milo Rau/Sylvia Sasse: Das Reale des Simulacrums, in: Rolf Bossart (Hg.), Die Enthüllung des Realen: Milo Rau und das International Institute of Political Murder, Berlin 2013, S. 54-57, hier S. 56.
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C. Menke: Die Kraft der Kunst.
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wissen aufrechterhalten. Spätestens seit den Terroranschlägen des 11. September 2001 und den globalen Folgen, die keine Performance – wie sie von Stockhausen, Baudrillard und Hegemann repräsentationskritisch kommentiert wurden – waren, sondern blutige Realität, historisierte sich die Postmoderne. Auch Befreiungsräume der Communitas, welche über ihre existenzielle Qualität in Momenten des Living Theatres, der Produktionen Jan Fabres oder der Inszenierungen Percevals idealerweise den „ganzen Menschen“, der in Beziehung zum Anderen als „anderen ganzen Menschen“ stehe, betrafen, kamen unter Verdacht.9 Übersehen wurde oft, dass bereits Turner dialektisch der Unmittelbarkeit der Communitas gesellschaftlich den Strukturzustand beiordnete. In den theatralen wie dramaturgischen, nach Krützen auch filmdramaturgischen Übergangsriten erführen Menschen, von der Struktur befreit, Communitas, aber nur, um, durch eine solche „Erfahrung revitalisiert, zur Struktur zurückzukehren.“ Eine zivilisierte Gesellschaft könne ohne eine solche Dialektik nicht bestehen. Jede Überbetonung der Struktur wäre gefährlich, würde für Turner zu „pathologischen Erscheinungsformen von Communitas führen, die außerhalb des Rahmens ‚des Gesetzes‘ stehen“, könne leicht „in Despotie, übermäßige Bürokratisierung oder andere Formen struktureller Erstarrung münden.“10 Diesen dialektischen Gedanken setzten aktuellste Produktionen der letzten Jahre als postklassisches Theater um, so kombinierten Dusan David Parizek, Milo Rau oder Johann Simons geschickt dramatische mit performativen Elementen. Auch in der diachronen Entwicklung oszillierte die theatrale Ästhetik. Nach den postdramatischen 1980er-Jahren verzeichnete man in den späten 1990er-Jahren einen Wiedereinzug des Dramatischen durch die junge englische ‚Blood and Sperm‘Dramatik, durch das In-yer-face-theatre, New British Drama oder Theatre of Brutalism im deutschsprachigen Theater. Es ging um eine soziale Wirklichkeit, die ‚weh tut‘. Den medialen Schrecken, der plötzlich in die geschützten Räume, Wohn- und Hotelzimmer des Westens einbricht, dramatisierte Sarah Kanes Zerbombt (1995). Stücke von Mark Ravenhill, Martin Crimp, David Harrower oder Anthony Neilson waren tendenziell bzw. vergleichweise realistisch. Die vierte Wand zeichnete sich für die 1990er-Jahre wieder deutlicher ab, obwohl paradoxerweise der harte Realismus in seiner Brutalität und sozialen Fremdheit den Zuschauern erst recht zu schaffen machte, mit dem explizit-realistischen Spiel von Sex, Gewalt, Verrohung und Elend. Formen englischer Theatertradition von Shakespeare über John James Osborne bis zu Sarah Kane und Simon Stephens waren für das ironischverfremdende deutschsprachige Theater in dieser Zeit eher ungewöhnlich. Thomas Ostermeier übernahm den Royal-Court-Realismus, kombinierte ihn mit biomecha-
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V.A. Turner: Liminalität und Communitas, S. 250.
10 Ebd.
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nischer Korporalmotorik, die Genadi Bogdanov nach Berlin importiert hatte, und präsentierte Mark Ravenhills Shoppen und Ficken 1998 in der Baracke des Deutschen Theaters Berlin als vergleichsweise authentische Milieudarstellung. Skandalös wirkte die überlang-quälende Vergewaltigungsszene eines jungen Drogensüchtigen mit einem Messer. Beeindruckend waren die energetischen Körper, fahrigmechanischen Bewegungen, die rhythmisch-treibende Musik, der Dreck, das fast hyperrealistisch in Szene gesetzte Elend der Drogenszene. Ostermeiers innovativaggressiver Regiestil brachte ihm relativ jung die Leitung der Berliner Schaubühne ein. Seither verfolgte er dort ein dezidiert dramatisches Programm, warb er für einen zeit-, sozial-, politik- und problembezogenen, letztlich gesellschaftsanalysierenden Realismus. Für das Ausland, insbesondere in Großbritannien und in Frankreich galt Ostermeier als Vertreter eines radikalen Regietheaters, während er im deutschsprachigen Theater eher für das Verständlich-traditionell-Dramatische stand. Der neue Fokus auf die soziale und physikalische Wirklichkeit als das Andere, das eine ständige Herausforderung des Empirischen für den korrelationistischen Zirkels ist, zeitigte in den Medien einen Trend hin zum vorgeblich Authentischen, selbstbehaupteten Wahren und inszenierten oder eben echten Echten. Dokumentarfilme erlebten eine Renaissance. Dokudramen und Dokusoaps bereicherten das mediale Angebot. Aktionskunst, performatives Theater oder Theater als sozialer Ort stellten die Grenze zwischen Rollenspiel und alltäglichem Handeln in Frage. Das Videoportal Youtube präsentierte privat-öffentliche Lebenswelten, Popkultur und Politik spielten mit dem Pathos der ‚Authentizität‘. Beispielgebend wurde das Kollektiv Rimini Protokoll, das den professionellen Schauspieler, der in der Rolle jemand Anderen spielt, durch den Laien als sogenannten Experten des Alltags ersetzte. Dieser stellte sich im lockeren dramaturgischen Gerüst eines Themas wie globale Nachrichtenmedien oder indische Callcenter selbst auf der Bühne oder im theatralisierten Alltagsraum dar. Die Zuschauer sahen etwas, das nicht mehr dramatischen oder theatralen Regeln der Vereinbarung folgte, das traditionelles Vormachen vermied und direkter mit dem Publikum kommunizierte. Dabei wurden die Regelzwänge des Theater- und Rollenspiels aufgebrochen. Dramaturgisch herrschte jedoch keineswegs der Zufall, die Zusammenfügung aller Teile zur Gesamtinszenierung verantwortete Rimini Protokoll durch die Montage der Materialien, wozu auch die verschiedenen Experten des Alltags gehörten. Die Montage bezog sich etwa in Wallenstein (2005) nicht auf ein beliebiges oder zufälliges Zentrum. Vielmehr wurde eine Struktur eingezogen, deren Anziehungskraft im Vergleich mit dem traditionellen dramatischen Theater bewusst zurückgenommen wurde, die Bindungskräfte zwischen dem Inszenierungszentrum und den einzelnen -elementen erschienen in der Aufführung eher schwach, undeutlich oder nicht begründet. Das hatte mutmaßlich mit dem Problem der Gegenwart zu tun, ein ideologisches oder vorstellungsweltliches Zentrum zu behaupten – die
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Dramaturgien der Produktionen von Rimini Protokoll reflektierten die zeitentsprechende flexibel-fragmentierte Lebenswelt. Zugleich verwiesen die Experten des Alltags auf eine Sehnsucht nach Authentizität des Anderen bei gleichzeitigem Verdacht des ubiquitären Rollenspiels und Resonanzverlusts in einer Inszenierungsgesellschaft, auf die insgesamt gesehen das deutschsprachige Theater mit seinen vielfältigen innovativen Dramaturgien eines aktuellen Dokumentartheaters antwortete. Im Verfehlen, in den Brüchen ergäbe sich idealerweise für die Zuschauer der Eindruck des Authentischen, aber auch in der Intuition, dass dabei eine weitgehend unbewusste Realitätsprüfung in der Resonanz des Anderen stattfand. Neues dokumentarisches Theater schien der Sehnsucht nach einer wirklichen Resonanz in der Begegnung mit dem Anderen entgegenzukommen, stellte den Anderen aber sofort unter Fiktionalisierungsverdacht – Resultate waren Fragen nach Authentizität, Fiktionalität, Rollenspiel, Referenz und verschiedenen Formen der Mimesis. Zugleich interessierte der Andere im Bemühen um Wiederkehr der Geschichten, gar der ‚Helden‘ und der wieder dramatischen Texte von Theresia Walser, Marius von Mayenburg, Roland Schimmelpfennig, Lukas Bärfuss, Oliver Bukowski, Moritz Rinke, Igor Bauersima, Jon Fosse, John von Düffel, Lutz Hübner, Philipp Löhle, Anja Hilling, Nis-Momme Stockmann, Marianna Salzmann oder Dirk Laucke. Spannend war wieder die Realität hinter den Masken des Anderen und – mit Brecht – hinter den Geschäftsmauern und Institutionen. Angenommen wurde eine den modernen Anthropozentrismus durchbrechende Substantialität des Anderen. Ein theatraler Verweis auf die Relativität jeder Erkenntnis des Anderen schien zunehmend ungenügend zu sein. Neue Wege eröffnete die Thematisierung ökonomischer und sozialer Realitäten durch Falk Richter, René Pollesch, Roland Schimmelpfennig, Fritz Kater, Gesine Danckwart und Kathrin Röggla. Das (Neo-)Strukturelle wurde im postironischen Theater um das Referentielle erweitert, etwa in Top Dogs von Urs Widmer (1997) oder in Schimmelpfennigs Push up 1-3 (2001). Falk Richter ging es in seinem vierteiligen Zyklus Das System (2003/4) an der Schaubühne um entfremdete Wirtschaftssubjekte. Milo Rau stellte mit Hate Radio 2011 den unvorstellbaren Genozid in Ruanda als Fiktion, aber durchgehend durch Quellen belegt, so verstörend in den theatralen Raum, dass eben nicht wieder postmodern nur Repräsentationskritik geübt werde, sondern in einer aktuellen postklassischen Theaterästhetik das reale Leiden des Anderen zur theatralen Sprache käme. Insbesondere junge Theatermacher sahen sich mit dem grundsätzlichen Problem konfrontiert, dass sowohl auf formaler als auch auf inhaltlicher Ebene kaum mehr Grenzen zum Überschreiten in das Andere vorhanden waren. Die mit der Auflösung des Dramatischen verbundene De-Konstruktion des Subjekts wurde von der jüngeren Generation nicht mehr grundsätzlich als Grenzüberschreitung interpretiert, sondern von Fall zu Fall als effektvolles Inszenierungsmittel benutzt, etwa durch Ro-
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bert Borgmann in seinen Inszenierungen Vatermord nach Arnolt Bronnen 2010 am Centraltheater Leipzig oder Onkel Wanja 2014 am Staatstheater Stuttgart. Die meisten jungen Regisseure wie David Bösch mit Simon Stephens’ Port (Thalia Theater Hamburg, 2004), Roger Vontobel mit Don Carlos (Staatsschauspiel Dresden, 2010) oder Jette Steckel mit Camus’ Caligula (DT Berlin, 2008) und Romeo und Julia (Thalia Hamburg 2015) inszenierten auffallend traditionell-dramatisch. Junge Autoren entschieden sich ebenfalls für dramaturgische Vielfalt: In Philipp Löhles dramatisch gebautem Stück Genannt Gospodin (2007) wird durchgespielt, was einem in unserer Gesellschaft im Verhältnis zu den Anderen, zur Umgebung, zu Freunden, Kollegen und Nachbarn zustößt, wenn man allen Anderen gesinnungsethisch begegnet: Gospodin ist ein außerordentlich sturer und widerständiger Charakter, er orientiert sich konsequent an einem Dogma: „Nr. 1: Ein Weggang ist auszuschließen. [...] Nr. 2: Geld darf nicht nötig sein. [...] Nr. 3: Jedweder Besitz ist abzulehnen. [...] Nr. 4: Freiheit ist, keine Entscheidung treffen zu müssen.“11 Nachdem der nicht ganz uneigennützige Idealist Gospodin belogen, betrogen und ausgenutzt wurde und ihn alle Anderen verlassen haben, wird am Ende des Stücks seine A-Sozialität amtlich festgestellt. Das Ziel des Leidensweges ist die Freiheit im Freiheitsentzug. Gospodin landet im Gefängnis als seinem persönlichen Raum der Utopie des Anderen. So reflektierte Löhle die bittere Erkenntnis nach den Katastrophen des 20. Jahrhunderts, dass schon den frühen Vorstellungen von Utopie mit ihrer Herrschaft der Idee eine totalitäre Ordnung eingeschrieben ist. Während für die zynisch gewordenen Älteren keine Alternative zur Herrschaftserhaltung existierte (Stich- bzw. Unwort: „alternativlos“), eignete den Jüngeren eine neue Sehnsucht nach dem, was fehlt: eine Utopie. Auch Oliver Klucks postdramatischem Theatertext Das Prinzip Meese, ein Sprechstück in der Tradition von Handkes Publikumsbeschimpfung, fehlt jeder utopische Gedanke bzw. er stellt diesen als ständige Verfehlung des Anderen dar. Thema ist die prekäre Existenz der Jüngeren, der zwangs-flexiblen Individuen, die arbeiten dürfen, „solange man mich braucht oder bis der Vertrag ausläuft oder bis irgendwer wieder gesund wird oder bis Aufträge zurückgehen oder bis die Firma von einer anderen Firma übernommen wird oder bis die andere Firma von einem Investor übernommen wird oder das Wochenende kommt oder Sommerferien oder Kohle von meinem Alten/und bis dahin arbeitet diese Existenz/aber als was?“ Nietzsches umgedrehter Platonismus wird als Grundlage nachmoderner Vorstellungswelten zur Alltagsversion von Beuys‘ Diktum „Jeder ist ein Künstler“; Goethes Faust transformiert sich über Handkes Typen in seinem Spiel vom Fragen zu Klucks Künstlerfigur Meese, verstanden als Erbe warholscher Popästhetik. Wir wären – so das Lebensgefühl der jungen Generation – alle Künstler, aber orientierungslos und müde. Das Prinzip Meese wäre der Begriff
11 Philipp Löhle: Genannt Gospodin, Frankfurt/M. 2007, S. 17.
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einer Zustandsbeschreibung, die keineswegs „auf einem Zitat von Wittgenstein“ und auch nicht auf „Kant und nicht Frankreich in den Sechzigern“ basiere, also nicht einmal auf den postmodernen Extrapolationen der ästhetischen Umbrüche in den Jahren der Counter Culture. Es wäre als gegenwärtiger Schlusspunkt einer formalen und inhaltlichen Entwicklung seit 1989 allein das „Finden der eigenen Verwirrung“, die Feststellung des unendlichen Regresses, in den das dekonstruierte Individuum im anthropozentrisch-korrelationistischen Zirkel gerät. Über die Unsicherheiten aufgrund des ständigen Entzugs von Identitäten, Zugehörigkeiten und Ordnungsraster hinaus wurde die bedrohliche, ausbeutende, entfremdende und verletzende Realität des Anderen durchaus wieder in der dramatischen wie performativen Produktion (re)präsentiert. In Inszenierungen von Roberto Ciulli, Johannes Lepper oder Andreas Kriegenburg ereignete sich das Andere als das Poetische durch die Eröffnung eines erweiterten Möglichkeitsraums für die Einbildungskraft. Kriegenburgs Bühnenräume, etwa zu Franz Kafkas Prozess (2008), stellten das Andere als Innerhalb und Außerhalb, als Bewusstes und Unbewusstes, als Reales und Surreales innerhalb einer neoromantischen Ambivalenz von Abstraktion und Surrealität dar. Diese typisch-eigene Welt wurde von Kunstfiguren zwischen Clownsfiguren, Commedia dell’Arte, Alltags- und Elendsgestalten bevölkert – verfremdet und konkretisiert durch Masken, stark geschminkte Gesichter und auffallende Kostüme, etwa in Drei Schwestern (2007). Stanislawskis poetischer Naturalismus und Meyerholds industrielle Biomechanik führten eigenwillig verschichtet zu grotesk anmutenden Bewegungen und korpomotorischer TanzArtistik. Elegische Hintergrundmusik evozierte eine Atmosphäre des Traums, des poetisch Unwirklichen, wenn nicht metaphysisch Übersteigerten. Poetische-reale Kunsträume, Kunstfiguren und artistische Bewegungen erlaubten jedoch stets kohärente Erzählungen, dialogische Dramatik und mimetische Ähnlichkeit zwischen poetischem Abbild und mutmaßlich metaphysisch-surreal getöntem Urbild; Poiesis und Mimesis waren geschickt kombiniert. Als das Kind ein Kind war, so dichtete Handke in Wenders Der Himmel über Berlin, erfand sich das Poetische über die Darstellung des unvermittelten Welteindrucks. Die poetische begleitete die ästhetische Erfahrung, die Atmosphären des Anderen spürte man in dieser Form eines postklassischen oder postironischen Theaters als Sehnsucht. Diese wäre in Kriegenburgs Einrichtungen, die Dea Lohers weitgehend realistische Texte produktiv verfremdeten – wie in Berliner Geschichte (2007) oder in Diebe (2010) –, das unstillbare Verlangen nach Resonanz, nach wirklicher Zuwendung durch den Anderen, welche die Moderne als Epoche der Entzauberung grundlegend unmöglich machte. Das postironische Theater der Poesie verwies, wenn man es ernst nahm, auf die Defizite der (post-)strukturalistischen Kunstpraxis wie -theorie in der Verfehlung des Anderen, welche fast ausschließlich auf Heideggers ontologischer Differenz baute. Über das Spiel mit der ontologischen Differenz zwischen Sein und Seiendem traute sich fast keiner hinaus, wenn man von Strauß oder Handke absieht: „Heideg-
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gers Denken“, so Peter Strasser, kreise „unentwegt um ein Sein, dessen Medium wir sind, indem es sich durch die Weise unseres sprachbegabten Weltbezugs erst vollendet, und dabei aber, in seiner Vollendung zu sich selbst hin, keinen Bezug zur Sehnsucht in uns allen unterhält“. Heideggers Sein ermögliche „keinen Bezug zu jenen Stimmungen oder Gestimmtheiten, die von der Sehnsucht geprägt sind“, habe keinen Zugang zum „unendlichen Verlangen nach einem Objekt der Zuwendung, um dessen Unerreichbarkeit der Sehnsüchtige weiß.“12 Diese Möglichkeit der Poetizität des Anderen wäre ein Ausbruch aus der Kälte der Moderne, die dem korrelationistischen Zirkel geschuldet ist. Michael Thalheimer legte hingegen die Substanz des Anderen im Skelett, in der Grundstruktur des postklassischen Theatertextes frei. Relevant war das postklassisch Universelle, auch theatral Effiziente, abgelehnt wurde das nur Spielerische, Beliebige, Unökonomische. Der leer-abstrakte neoavantgardistische Raum, oft von Olaf Altmann, offenbarte wie in Medea (2012) ein artifiziell-alltägliches Rollenspiel; erzielt werden sollte der Eindruck des Anderen als Wesentliches in der Überformung und Abstraktion: Klassiker wie Goethes Faust (2004), Gerhart Hauptmanns Die Ratten (2007) oder Lessings Emilia Galotti am Deutschen Theater Berlin aus dem Jahr 2001 waren hoch stilisiert und stark verkürzt; eingespielte Musikloops muteten in der ständigen Wiederholung wie Minimal Music an, Bilderloops beschleunigten die Nebenhandlung und betonten nebenbei das Wesentliche im Rollenspiel, das gut zum abstrakten Ausdrucksraum der Bühne passte. Der Eindruck des Anderen formierte sich innerhalb eines kreativen Minimalismus auf dem Boden einer eigenartigen Ambivalenz in der starken theatralen Präsenz: auf der performativen Ebene, die das Innenleben zu offenbaren schien; und auf der Ebene des Dialogs, der, ins extrem Laute oder Leise getrieben, schnell gespielt, gekonnt gestottert oder virtuos gebremst geleiert wurde und Austauschbarkeit, Entfremdung, Beliebigkeit und so mangelnde Resonanz in der Begegnung mit dem Anderen signalisierte. Oft verriet die korporal-motorische Ebene des Anderen bereits, was der betonungslose, schnell absolvierte Dialog gerade noch kommentierte. Damit wurde der dramatische Text postironisch auf eine stärker ästhetisierte, theatralisierte Ebene gehoben, wiewohl seine Bedeutungen keineswegs destruiert wurden. Der komprimiert-gestrichene, von der entsprechenden Rollenfigur vorgetragene Text entsprach weitgehend texttreu dem zugrundeliegenden Stück. Dekonstruiert wurden die Klassiker insofern, als Thalheimer durch seine Teilverweigerung der Bedeutung sprachlicher Kommunikation mit dem Anderen den Zuschauern das Identifikationsmotiv qua sozialer Interaktion entzog und die Figuren als dem jeweils Anderen entfremdete erscheinen ließ. In der Komprimierung war jedoch das Bühnengeschehen ästhetisierend harmonisiert, gar idealisiert, der Dualismus zwischen Literatur- und Körper-
12 Peter Strasser: Sehnsucht, Paderborn 2010, S. 197.
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theater aufgehoben: Ergebnis war ein postklassisches Regietheater an der Grenze zwischen neoavantgardistischer Dekonstruktion und neuer Rekonstruktion der bürgerlichen Klassiker von Aischylos und Euripides bis Shakespeare und Hauptmann. Die Sehnsucht nach Resonanz, nach dem Anderen als ganz Anderen führte in einem weiten Feld zu einer erstaunlichen Vielfalt an dramatischen und theatralen Ästhetiken eines postironischen und postklassischen Theaters: von aktuellen Formen des Dokumentarischen wie Volker Lösch oder Rimini Protokoll über quellengestützte sozialpolitische Versuchsanordnungen wie bei Milo Rau, poetischavantgardistische Stilisierungen wie bei Andreas Kriegenburg, Martin Kusej und Michael Thalheimer, dekonstruktivistischen Ansätzen wie bei Pollesch und Stemann bis hin zu einer neuen Aufmerksamkeit für die Sprache bei Stephan Kimmig, Anleihen an filmischen Ästhetiken wie bei David Bösch und Simon Stone oder neuen Formen des Erzähltheaters bzw. von Romanadaptationen wie bei Armin Petras. Perceval suchte die theatral-intuitive Erfahrung des Anderen, für ihn haben Schechner, Grotowski, Kantor und Brook „zum ersten Mal das Theater nicht als Unterhaltung, sondern als Ritual erklärt“.13 Ziel war, obwohl Perceval dies nur für kurze Momente wie am Ende von Schlachten erreicht zu haben glaubte, ein Theater als existenzielle Erfahrung,14 welches eine „ursprüngliche rituelle Dimension besitzt und den Sinn dieses Lebens zu erfahren versucht.“ Es gehe „um nichts weniger als die Suche nach der Wahrheit“,15 darum, dass „die Zuschauer die gleiche Erfahrung machen“ wie die Theatermacher, um Beteiligung im Überindividuellen, um die „Vereinigung von Zuschauer und Schauspieler“. Freilich, bedauerte Perceval, waren diese utopischen Momente nur kurz erfahrbar. Zudem konnte ein Theater als Ritual in seiner puren Form zwar künstlerisch überwältigen, jedoch kaum als Medium der rationalen Reflexion von gesellschaftlichen (Macht-)Verhältnissen dienen. Generell wurde in den letzten Jahren vor dem atmosphärischen Hintergrund einer Sehnsucht nach Resonanz das Spiel der Schauspieler wichtiger: einerseits untereinander und in der Rolle, andererseits als Versuch eines direkten Kontakts in der sozialen Begegnung, etwa von ‚Experten des Alltags‘ (Rimini Protokoll). Man beobachtete gar einen Generationenkonflikt, etwa wenn Jette Steckel für die Jüngeren ein unangenehmes Gefühl der Sinn- und Utopielosigkeit verzeichnete und sich wie Anne-Sophie Mahler, Ingo Berk, Lisa Nielebock oder Laurent Chétouane als Teil einer jungen Regiegeneration sah, der in einem postironischen Theater eine neue Aufrichtigkeit des Anderen wichtig war – es ginge darum, „Dinge wieder ernst zu meinen“. Die „Zeit der Ironie“ hingegen sei „definitiv vorbei“.
13 Luk Perceval: Theater und Ritual, Berlin 2005, S. 117-164. 14 Ebd., S. 121. 15 Ebd., S. 123.
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Dies galt ohne Zweifel für das protestantisch-karge Erzähltheater Johan Simons oder für die ethischen Reenactments Milos Raus. Es motivierte aber auch das aus den 1990er-Jahren übernommene Poptheater, das neben dem unverschämt Populären zugleich kultur-, medien- und gesellschaftskritisch auftrat. Stefan Puchers Inszenierungen destabilisierten populäre Vorurteile, etwa in Othello (2004), in dem der Hauptdarsteller als verkörperter Mashup von Michael Jackson, James Brown und dem ‚Sarottimohr‘ als prägnantes Kondensat bekannter Popstars das Publikum provozierte. David Böschs nur an der Oberfläche gefällig-bunte, tatsächlich die Verzweiflung des Anderen empathisch auslotende Inszenierungen, von Port (2004) bis Glaube Liebe Hoffnung (2016), erwiesen sich als subversive Zeitbomben im freundlich zugeneigten Abonnementpublikum. An sich funktioniert Pop über Begeisterung, subvertiert Reflexion, eignet sich frech aus ernsten Kontexten Bilder, Symbole, Haltungsweisen, performative Akte und Begriffe an. Diese fügt Pop in einen ganzheitlich-panoramatischen Popkontext, während zugleich das Neukontextualisierte in der Anmutung abgeschwächt dasjenige erhalten wird, was in seinem Ursprungskontext als revolutionär, aufrührend oder asozial galt. Dabei kann sich die schreckliche Realität je nach Verharmlosungsgrad durchaus subversiv in den banalen Konsumentenalltag einschleichen. Für das zeitgenössische Poptheater hatte der Ernst aus dem Außerpop-Universum seit der Jahrtausendwende deutlich zugenommen. Ursprünglich weitestgehend eine affirmative Ästhetik, verband sich Poptheater nun mit Symbolen und Attributen einer kritischen Haltung zum Anderen, mit Positionen wie Postkolonialismus, Medienkritik, Gender, Stereotypenreflexion. Stefan Puchers Sturm nach Shakespeare (2007) präsentierte den Zauberer/Herzog Prospero zwar als Impresario Andy Warhol, den Kellermeister Stephano und den Hofnarr Trinculo als Gilbert und George sowie den Geist Ariel als postfeministische Dragqueen, die Neapolitaner verkörperten jedoch ernsthaft das Mafiaproblem Süditaliens und Caliban den marginalisierten, diskriminierten außereuropäischen Fremden, übertragen in das regional Ausgeschlossene im Inneren.
10.2 E MPATHIE
MIT DEM
A NDEREN
Wenn alles Andere eine Inszenierung, der anthropozentrisch-korrelationistische Zirkel wahrnehmungsprägend wäre, stellt sich die Frage, ob und wie uns das Leiden des Anderen betrifft. Geht uns das Leiden der Anderen in ärmeren Schichten oder in Ländern der Dritten oder Vierten Welt, des Anderen als uns nicht ähnliche oder gar fremde Erscheinung auch oder besonders im Theater etwas an? Die Autorin Dea Loher untersucht dies als inneren und äußeren dramatischen Konflikt in ihrem Stück Land ohne Worte (2007). Eine Künstlerin reflektiert während einer Reise
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durch Kabul in einer Lebenskrise darüber, ob es ihr überhaupt möglich sei, das Elend des Anderen abzubilden, zu repräsentieren, zu einem angemessenen Thema zu machen. Der Regisseur Kriegenburg setzt die Schauspielerin Wiebke Puls in einen Glaskasten als bespielbares Abbild des korrelationistischen Wahrnehmungszirkels, den die Figur sukzessiv-manisch von innen zumalt, sodass gerade aufgrund des Repräsentationsversuchs die brutale Wirklichkeit des Anderen aus der Innensicht der Künstlerin immer unsichtbarer wird. Der Theatertext von Loher verhandelte ernsthaft und unironisch die realen Schrecken außerhalb des auf sich selbst bezogenen Kunstbetriebs. Dies war als Kritik der übergreifenden Ästhetisierung des Anderen, die mit einer Désinvolture in der postmodernen Inszenierungsgesellschaft einhergeht, zu verstehen. Aus ethischer Perspektive wäre zu fragen, ob die Gewalt des Realen als Parallelität der Sensationen ‚neben‘ einer unbeteiligten symbolischen Ordnung auf der Bühne zu affirmieren wäre oder ob dialektisch eine bürgerliche Ästhetik des MitLeidens entgegengesetzt werden soll? Inwieweit kann das Theater heute noch eine moralische Anstalt im traditionellen Sinne sein? Wäre ein Blick zurück in die Hamburgischen Dramaturgie mit ihrer Forderung nach gemischten Charakteren zu richten? In Lessings bürgerlich-eigenwilliger Interpretation Aristoteles’ wäre all das uns „fürchterlich, was, wenn es einem andern begegnet wäre, oder begegnen sollte, unser Mitleid erwecken würde“; und all dasjenige fänden wir „mitleidswürdig, was wir fürchten würden, wenn es uns selbst bevorstünde“.16 Grundzüge dieser bürgerlichen Ästhetik des späten 18. Jahrhunderts bestimmen noch aktuellste populäre Dramaturgien: Durchscheinend vom bürgerlichen Trauerspiel über das bürgerliche Rührstück, das Melodram und das Well-Made-Play des 19. Jahrhunderts bis zur Autoren- oder Qualitätsserie wie The Wire und zu den erfolgreichen, traditionell gebauten Stücken von Lars Noren (Dämonen) bis Yasmina Reza (Der Gott des Gemetzels). Für die Begegnung mit dem Anderen im Theater und/oder in alltäglichen Inszenierungen kann grundsätzlich angenommen werden: Tradition und Phänomen des Mit-Leidens sind mit einem mittleren Affizierungslevel verbunden. Man leidet mit einem Anderen mit, der man selbst nicht ist, der einem aber auch nicht völlig fremd anmutet, begegnet oder erscheint. Mit-Leiden mit dem Anderen bedeutet auf der Basis einer Theory of Mind eine zumindest partielle Identifikation mit dem Anderen. Die Begegnung mit dem Anderen vor dem Hintergrund einer postmodernen Ethik verhindere, dass es zu einer Be-Handlung, einem Zugriff oder gar Übergriff auf den Anderen komme. Mit Lévinas soll der Andere unsokratisch als unendlich fremd erkannt werden. In der Enthierarchisierung, in der programmatischen Unun-
16 G.E. Lessing: „Hamburgische Dramaturgie. 75. Stück“, in: Ders., Hamburgische Dramaturgie, S. 383-387, hier S. 385.
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terscheidbarkeit zwischen Gesellschaft oder Politik und Kunst bzw. Theater als Wirklichkeiten wäre die Aufgabe der Künstler nach Jacques Rancière, dasjenige in den Blick zu rücken, „was nicht hätte gesehen werden sollen, und das als Rede verständlich, was nur als Lärm gelten dürfte.“17 Eine entsprechende Tradition an performativen Aktionen wäre von Nestroy über John Cage zu Heiner Goebbels und darüber hinaus zu verfolgen. Dimiter Gotscheff inszenierte dementsprechend Heiner Müllers Ödipus, Tyrann 2009 nach Sophokles und Hölderlin postbrechtianisch verfremdend, expressiv, weniger das Verständnis als die Anmutung des Anderen betonend. Der Text hob sich vom Textträger, vom Schauspieler ab, die Bühne war karg und weitgehend leer, man agierte körper- und bewegungszentriert, auf allen affektiven Ebenen des Anderen wurde energetischer Überschuss produziert. Im Mittelpunkt gotscheffscher Inszenierungen stand die Physis der Darsteller und weniger die Psyche der Figur. Schauspielerinnen wie Bibiana Beglau in Heiner Müllers Zement (2013) und der Chor mussten sich erst in die Rolle, in das Dramatische, den Konflikt und die Bedeutung, welche letztendlich die Wahrheitssuche nach dem Anderen einleitete und zugleich verhinderte, hineinfinden. Der Andere wurde erfahrbar als ständige Differenz und Verfehlung zwischen Text und Körper, zwischen Genotext und Phänotext, zwischen Ereignis und Form, zwischen Impuls und Ausführung. Postmoderne Ethik verringerte die Gefahr einer Biologisierung und Essentialisierung des Anderen, reduzierte die Motivation zum Ausschluss oder gar zur Vernichtung des Anderen – das wäre die eine Seite der Medaille, die andere perspektivierte die ethische Basis anders: Die Verweigerung der Annahme einer Essenz des Anderen könne dazu beitragen, dass der Andere als reine ästhetische Erscheinung, als Text oder Bild des Anderen ohne Grund (oder Seele?), als Oberflächenphänomen und Inszenierung angenommen würde, mit den möglichen schrecklichen Folgen der Entpersonalisierung und Distanzierung vom Leiden des Anderen. Eine so sich offenbarende existenzielle Ambivalenz im Blick auf den Anderen, im Alltag und auf der Bühne hängt mit der Frage nach der Struktur einer zeitgemäßen Dramaturgie zusammen. Auf Theatertexte projiziert, stünden auf der einen Seite Elfriede Jelinek oder René Pollesch, der Ähnlichkeit in der Figurengestaltung verweigerte oder dekonstruierte, auf der anderen Lukas Bärfuss oder Philipp Löhle, die in ihren Stücken konfliktfähige Identitäten des Anderen erkennen ließen. Gelänge es nun, Figuren und Figurationen, Gestalten und Gestaltungen des Anderen im mehr oder weniger Dramatischen zu finden, welche keine Essenz, Wesenheit oder gar biologistische Substanz darstellten und darüber hinaus als reine Textfläche nicht beliebig interpretiert und so behandelt werden könnten? Das engagierte Theater könnte wie in Roland Schimmelpfennigs postklassischer Inszenierung von Der
17 Jacques Rancière: Das Unvernehmen, Frankfurt/M. 2002.
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goldene Drache (2009), Thomas Ostermeiers Der Volksfeind (2012) oder Sebastian Nüblings Pornography (2007) bzw. Three Kingdoms (2011) über Figuren bzw. Gestalten des Anderen eine Identifikation des Anderen erlauben, obwohl zugleich die Konstruktion des Anderen bewusst werden würde.
10.3 O NTISCH - ONTOLOGISCHE D IFFERENZ
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Die Herausforderung des Gegenwartstheaters, was die Begegnung des Anderen betrifft, sind über den anthropozentrisch-korrelationistischen Zirkel hinaus durchaus eingeschränkte Horizonte, welche das vorherrschende ästhetische Denken des 19. und 20. Jahrhunderts über die Vorstellung der ontisch-ontologischen Differenz des Anderen hervorgebracht hat. Kunstwerke verstünde man heute, so Georg W. Betram, als „Zeichen, an deren sinnlich-materialer Gestalt wir Verständnisse entwickeln“.18 Dies ereignet sich auf der Folie der ontologischen Differenz von Sein und Seiendem, von Darstellendem und Dargestelltem. Wirkungen als sinnlich-materiale Momente eines Kunstwerks werden in der Rezeption in Beziehung gesetzt, Strukturen bilden sich, auf kleiner Ebene verbinden sich Mikro- und Makrostrukturen des Eigenen und des Anderen, letztlich von (Kunst)Welt. Doch es bleiben Brüche, Nahtstellen, Miss- oder Unverstehen. Das interpretierende Verstehen wird bis an seine eigenen Grenzen geführt, verlockt und provoziert. Überzeugende Kunst ist generell uneinordbar, über- oder untercodiert, erhaben, ständig auf Entzug oder fragmentiert. Ästhetisches Verstehen ist nicht erst seit Adorno prekäres Verstehen,19 Fragen provozierend statt Antworten gebend – mit Botho Strauß: Krise ist immer. Dennoch benötigt es auch Gestalt, Gestaltung, Strukturen und Dramaturgien. Gerade Nietzsche behauptet die Notwendigkeit des Apollinischen bei aller Sympathie für das Dionysische. Dies gilt umso mehr für die Bühnenkunst. Darstellendes und Dargestelltes stehen grundsätzlich in einem Spannungsverhältnis, auch bei Stanislawski, auch bei Grotowski oder Schechner, nur jeweils von der anderen Seite her betrachtet. Das ist die Herausforderung im Theater, wie es uns nicht nur Brecht lehrte. Die Produktion von Dramaturgie muss jemand leisten, sei es eher der Theatermacher, sei es eher der Rezipient. Gegenwärtig wird Kunst meist aus phänomenologischer Perspektive reflektiert, sie wirke dementsprechend wie in Jan Fabres Mount Olympus (2015) unmittelbar, nur indirekt solle traditionell-dramatische Kunst auf die Alltagswirklichkeit deuten, einer zeichentheoretischen Perspektive nachkommen. Kunst könne nicht nur als
18 Georg W. Betram: Kunst, Stuttgart 2005, S. 283ff., 296ff. 19 Ebd., S. 283f.
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Zeichensystem verstanden werden, das auf andere Wirklichkeiten verweist, sondern darüber hinaus als „Wirklichkeiten für sich“. Die Bedeutung und der Gehalt (Sinn etc.) von Kunstwerken blieben in jedem Fall an die einmalige, individuelle Gestalt des Kunstwerks gebunden, an sein spezifisches Erscheinen. Zwar existierten zwei Ebenen: Erstens die phänomenologische, am So-Sein des Kunstwerks orientierte (Theater)Theorie; zweitens die semiotische, an der Zeichenhaftigkeit orientierte (Theater)Theorie. Beide Ebenen greifen jedoch ineinander. Martin Seel spricht von einer Ästhetik des Erscheinens. Als ästhetische Objekte seien Kunstwerke „Ereignisse des Erscheinens“. In ihrer außerordentlichen Gegenwärtigkeit wäre der Prozess ihres Erscheinens „ein performativer Prozess, durch den sie etwas in seiner Gegenwärtigkeit zur Darbietung bringen.“20 Etwas zur Darbietung bringen bedeutet auf etwas verweisen. Die Darbietungsfunktion von Kunstwerken begründet ihren zeichenhaften Charakter, ohne sie jedoch gänzlich in der Zeichenhaftigkeit aufgehen zu lassen. Kunstwerke seien, so Seel weiter, „Wahrnehmungsereignisse einer besonderen Art, eben weil sie Darbietungsereignisse einer besonderen Art sind“. In dieser willkürlichen Tautologie präsentierten Kunstwerke sich selbst als Kunstwerke, indem sie – vor allen Verweisen auf andere Wirklichkeiten, gar vor jedem mimetischen Bezug zur Alltagswirklichkeit – sich selbst in ihrem So-Sein, in ihrer einmaligen sinnlichen Erscheinung präsentierten. Diese Einmaligkeit des (Theater-)Kunstwerks erlaube nach Adorno den Entzug im Nicht-Identischen. Folglich führe, so Seel, der Weg zur Präsentation der Welt als das Andere über die „Selbstpräsentation des Werks, seines Materials, seiner internen Konfigurationen, seiner Perspektiven usf.“ Ähnlich argumentieren Gernot Böhme, was das Bild, und Waldenfels, was das Theater betrifft; Dieter Mersch spricht bei Kunstwerken von der „Duplizität von Bedeutung und Materialität“.21 Er geht von einer leiblichen Präsenz aus, die nicht auf Zeichen rückführbar ist, etwas, „das nicht spricht, sondern sich nur zeigen kann.“ Auch hier: Einerseits konstituiert das Sprechen eines Kunstwerks den Zeichencharakter des Kunstwerks, während andererseits der (performative) Akt des Zeigens primäre sinnliche, korporale, motorische, haptische oder materiale Qualitäten des Kunstwerks offenbare. Hans-Ulrich Gumbrecht betonte diesbezüglich das „Oszillieren“ zwischen Präsenz und Bedeutung,22 Gottfried Boehm machte auf die „Differenz“ zwischen „Repräsentation und
20 Martin Seel: Die Macht des Erscheinens, Frankfurt/M. 2007, S. 35. 21 Dieter Mersch, „Aisthetik und Responsivität. Zum Verhältnis von medialer und amedialer Wahrnehmung“, in: Erika Fischer-Lichte u.a. (Hg.), Wahrnehmung und Medialität, Tübingen 2001, S. 273-300, hier S. 276. 22 Hans-Ulrich Gumbrecht: Epiphanien, in: Joachim Küpper/Christoph Menke (Hg.): Dimensionen ästhetischer Erfahrung, Frankfurt/M., S. 203-222.
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Präsenz“ aufmerksam,23 Erika Fischer-Lichte analog auf ein „Betwixt and Between“.24 Qualitäten, die nicht begrifflich erfasst werden können, werden im Erscheinen in einem Augenblick klar, können auch mit Bohrer plötzlich erscheinen.25 Letztlich berufen sich Theorien der ontologischen Differenz, des Seins auf Nietzsche, Husserl und Heidegger. Weit älter ist Paul Valerys Beschreibung des Gedichts als „ausgehaltenes Zögern zwischen Klang und Sinn“.26 Diese den meisten Kunsttheorien zugrundeliegende Dichotomie der Repräsentations- und Präsentationsfunktion von Kunst fächert Ursula Brandstätter noch weiter auf. Sie nominiert Repräsentation, Präsentation und Präsenz;27 Repräsentation wäre die Funktion von Kunstwerken, für etwas Anderes zu stehen; die Präsentation meine den Selbstbezug jedes Kunstwerks (Ich bin ein Kunstwerk und will so oder so rezipiert werden, ich will Aufmerksamkeit); und die Präsenz eröffne die Erfahrung, das Unmittelbare, den Sinnen gegebene So-Sein eines ästhetischen Objekts. Das postklassische oder postironische Theater seit der Jahrtausendwende betont im Vergleich zum postdramatisch-dekonstruktivistischen Theater tendenziell (wieder) die Repräsentationsfunktion, ohne Repräsentationskritik aufzugeben. Husserl forderte gegen Idealismus und Platonismus und damit indirekt gegen Schiller und ein Theater der Aufklärung: „Zu den Sachen selbst!“, nicht von der Theorie, nicht von der Philosophie, vielmehr von den „Sachen und Problemen muß der Antrieb zur Forschung ausgehen“.28 Zu beantworten war die Grundfrage, wie Vorstellungen die ihnen äußeren Gegenstände treffen? Wie sind dem Bewusstsein Sachverhalte gegeben? Relevant wäre nach Husserl das intentionale Bewusstsein, die Intentionalität als Bezug auf außerhalb des Bewusstseins liegende Sachverhalte oder Gegenstände, die „Grundeigenschaft des Bewußtseins, Bewußtsein von etwas zu sein“. Heidegger übernimmt und überarbeitet Husserls Annahmen, macht sie fruchtbar für heutige Dekonstruktionen des Anderen im Theater. Somit wird in der besonderen Ausstellung der ontologischen Differenz im performativen Theater des Anderen das Sein des Seienden die Hauptrolle zugewiesen, was zum ständigen Entzug in der Gestaltung führt und Präsenzen erfahren lässt. In diesem Sinne wäre die Ästhetik der Performance oder Live Art der bevorzugte Zu-
23 Gottfried Boehm: Der Topos des Lebendigen. Bildgeschichte und ästhetische Erfahrung, in: Joachim Küpper/Christoph Menke (Hg.): Dimensionen ästhetischer Erfahrung, Frankfurt/M. 2003, S. 203-222. 24 Erika Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, Frankfurt/M. 2004. 25 Karl Heinz Bohrer: Plötzlichkeit. Zum Augenblick des ästhetischen Scheins, Frankfurt/M. 1981. 26 Paul Valery: Windstriche. Aufzeichnungen und Aphorismen, Frankfurt/M. 1995, S. 81. 27 Ursula Brandstätter: Grundfragen der Ästhetik, Stuttgart 2008. 28 Edmund Husserl: Philosophie als strenge Wissenschaft, Frankfurt/M. 1965, S. 71.
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gang, macht sie doch den Entzug in der Begegnung mit dem Anderen, die Performanz in der ontologischen Differenz zwischen Sein und Seiendem besonders bemerkbar. Paradigmatisch hierfür schien im Theater Susanne Kennedys Inszenierung von Marie-Luise Fleißers Fegefeuer in Ingolstadt gewesen zu sein. Nachdem der Eiserne Vorhang hochgegangen war, auf dem bereits eine Projektion eines völlig leeren, kahlen, mutmaßlich gerade geräumten, etwas abgelebten Zimmers zu sehen war, erkannten die Zuschauer nun für eine längere Zeit nur einen kühl und leblos anmutenden Innenraum als streng an einem Fluchtpunkt orientierten Guckkasten. Dieser Raum blieb während der ganzen Aufführung derselbe; Veränderungen fanden nur im häufigen Wechsel zwischen dem Eindruck von Auf- und Abblende statt. Letzteres manifestierte sich im plötzlichen Dunkelwerden mit gleichzeitig hässlichem, nervigem, eher undefinierbar-maschinenähnlichem Lärm. Die in der momentanen sozialen Situation spielenden Figuren standen statisch und abstrakt erscheinend, nach hinten gestaffelt verteilt, im ansonsten leeren Raum. Meistens agierten und ‚sprachen‘ die Figuren zum Publikum hin, ohne mit diesem Kontakt aufzunehmen, also eher in sich gekehrt – vermieden wurde im inneren Kommunikationssystem des Theaters weitgehend jede gestische, mimische oder proxemisch-korporal ausgedrückte Zuwendung zum Anderen. Die Spielweise war minimalistisch, die Figuren bewegten sich kaum, ihre verkrampfte Haltung sollte die Körperbilder von Francis Bacon spiegeln. Wenn eine Bewegung zu sehen war, dann wirkte sie künstlich, die Zuschauer meinten, Marionetten oder lebendige Tote, unheimliche, psychisch gestörte Alltagszombies vor sich zu haben. Nach jeder Ab- und Aufblende erschienen und verschwanden Figuren wie von Geisterhand – Auf- und Abtritte der Schauspieler waren niemals zu sehen. Am Ende der Aufführung wiederholten alle Figuren weiterhin statisch im Raum stehend als Chor über Minuten immer wieder dasselbe Gebet, „Blut Christi tränke mich“, aber stets einen Ton höher transponiert. Dies wurde solange ausgehalten, bis das Schrille ins Hysterische zu kippen schien und einige Zuschauer aus Protest den Saal verlassen hatten. Diese Überdehnung in der ständigen Wiederholung spiegelte das existenzialistisch Absurde, auch die nietzscheanische Wiederkehr des Gleichen. Eine solche musikalisch-chorische Endlosschleife kannte man aus Christoph Marthalers Kultinszenierung Murx den Europäer an der Volksbühne aus dem Jahr 1993, in der das bekannte evangelische Kirchenlied Danke für diesen guten Morgen in endlos erscheinenden Wiederholungen vortragen wird. Nur: Was bei Christoph Marthaler einst in der Wiederholung hoch komisch war und die Zuschauer zu Lachstürmen hinriss, war nun bei Susanne Kennedy absolut ernst, unironisch und eher abstoßend. Im Vergleich dieser beiden strukturell ähnlichen Szenen zeigt sich die Differenz zwischen der postmodern-anarchischen Volksbühnenzeit in der Event- und Spaßgesellschaft der 1990er-Jahre und der heutigen ernsten Krisenzeit nach der Jahrtausendwende. Als besonders ungewöhnlich an Kennedys Inszenierung bewertet wur-
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de, was den meisten Zuschauern erst nach einer gewissen Weile ins Bewusstsein trat: Die Schauspieler bewegten zwar den Mund synchron zum Dialog bzw. zu den Stimmen der einzelnen Figuren, der gesamte gesprochene Text kam jedoch letztlich vom Band und wurde während der Aufführung über Lautsprecher eingespielt. Dabei betonte jede Figur die ihr zugehörige Dialog- bzw. Monologeinheit, sodass die Worte und Sätze jeweils nur für sich zu stehen schienen, man eher einen monologisierenden Dialog vernahm, und so auch auf sprachlicher Ebene die Isolierung der jeweiligen Figuren verständlich wurde. Zugleich blieb jedoch die erkennbare dramatische Struktur der Gesamtdramaturgie in der Handlungskausalität fast völlig erhalten. Die Identitäten der Figuren sowie die Orts- und Zeiteinrichtungen waren leicht erkennbar. Über eine starke Verfremdung hinaus hielt sich der Entzug von Sinn in einem prägnanten Rahmen. In der Guckkastenästhetik der Bühne der Münchner Kammerspiele wurde eine Ästhetik der Installation präsentiert, die, so Juliane Rebentisch mit Rückgriff auf Gertrude Stein, die Idee einer Synchronität der ästhetischen Erfahrung mit dem zeitlichen Verlauf der jeweiligen Zeitkunst subvertiert. Installationen bewirkten, dass das Spannungsverhältnis zwischen der Zeit der ästhetischen Erfahrung und dem zeitlichen Verlauf der jeweiligen Kunstwerke bewusstwerde.29 Benannt wird eine Ästhetik, für die Gilles Deleuze im Film die Dichotomie zwischen Zeit- und Bewegungsbild gefunden hat, wobei das Bewegungsbild mit der medialen Traditionslinie Brecht – Godard – Fassbinder und, wenn man so will, Kennedy verbunden werden kann. Dies deutet auf die ontisch-ontologische Differenz zwischen Sein und Seiendem, übertragen auf das Kunstwerk bzw. die Installation zwischen Darstellendem und Dargestelltem. Damit verstärkte sich der Dialog zwischen Kunst- und Realraum, zwischen sinnlich-materialem Kunstwerk bzw. zwischen Schauspielern, die ihre Rolle weniger erlebt, sondern mehr ausgestellt haben, und den Zuschauern, welchen vermehrt interpretatorische und reflektierende Eigenleistungen abverlangt wurden. Dem Rezipienten wurde letztlich gegenüber dem offenen Kunstwerk (Umberto Eco) seine eigene, eingeforderte, unabschließbare Mitarbeit bewusst – auf Kosten des Dialogs im inneren Kommunikationssystem, also zwischen den Figuren der Inszenierung. In diesem Sinne korrespondierten in Kennedys Inszenierung inhaltlich-dramatische und formal-epische oder gar postdramatische Zugänge zur Entfremdung des modernen Individuums in der Provinz als Produkt zunehmender Glokalisierung als Spannungsverhältnis zwischen Lokalem und Globalem in den 1920er Jahren und heute.30 So wäre auch der avantgardistische Zug, die Schauspieler eher als sinnlich-materiales Objekt und weniger als Subjekt im Rollenspiel zu
29 Juliane Rebentisch: Ästhetik der Installation, Frankfurt/M. 2003. 30 Vgl. hierzu etwa Mike Featherstone/Scott Lash/Roland Robertson (Hg.): Global Modernities, London 2001.
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präsentieren, verständlich: In der Arbeit des Verstehens, Einordnens und Strukturierens des auf der Bühne Eröffneten kommt der Zuschauer schnell an seine Grenzen, ihm wird die unaufhebbare Differenz zwischen aktueller Bedeutungszuweisung und Verweigerung jedes schließenden, begreifenden Verstehens bewusst. Das auf der Bühne Anwesende ist in seiner Präsenz immer anders als jede in sich geschlossene Gestalt, das Reale bleibt unaufhebbar fremd. Verdeutlicht wird das ästhetische Verstehen als stets prekäres, krisenanaloges und unabschließbares – die Korporalität, Präsenz und Anwesenheit der Aufführung konvergiert mit der anhaltenden Performanz, der Prozessualität des Wahrnehmungs- und Zuschauakts. Zugleich bleibt das Stück in seiner Grobstruktur leicht erkennbar, das dramatische Gerüst wird keineswegs aufgelöst. Heideggers ontisch-ontologischen Differenz, bzw. neu verstanden die performative Differenz überlagerte sich in Kennedys postironischer Inszenierung mit Brechts Verfremdungseffekt und aristotelisch-dramatisch-stützenden Bauträgern. Zugleich übernahmen die Figuren im Raum in ihrer Anordnung und Artifizialität Stilmittel aus frühen Filmen von Fassbinder. Das Bühnenbild und dessen Ästhetik der Installation kopierte Gregor Schneiders Rauminstallation Totes Haus u r 1985Gegenwart. Schneider baute seit 1985 in Mönchengladbach-Rheydt in der Untenheydenerstr. 12 ein abgelebtes kleinbürgerliches Mietshaus als Installation ständig um. 2001 wurde diese performative Installation als deutscher Beitrag zur Biennale von Venedig eingeladen, wobei man dort die Innenräume des Toten Hauses in den in der Zeit des Nationalsozialismus umgestalteten deutschen Pavillon der Biennale einfügte. Dass Gregor Schneider unlängst mit seiner Ankündigung, einen Sterbenden in einem Museum auszustellen, einen veritablen Kunstskandal erzeugt hat, war mutmaßlich eine vom Produktionsteam intendierte Spur in der Anmutung und im Verständnis von Fegefeuer in Ingolstadt. Der regionale Bezug auf Ingolstadt und die lokale Situation des in der Gruppe Ausgeschlossenen interagierte eigentümlich mit einem reanimierten Existenzialismus, mit absurdem Theater sowie der Transkulturalität und globalen Mobilität brechtscher und neoavantgardistischer Installationsästhetik, global-schicker Fassbinderrezeption und transnationaler Performanceästhetik. In dieser bewussten Integration performativer bzw. postdramatischer Entzüge in eine verfremdend-reflektierenden, dabei durchaus dramatischkausal repräsentierenden Dramaturgie präsentierte sich eine zeitgemäße Theaterästhetik, deren Tendenzen hin zu einem postklassischen Theater kaum zu übersehen waren, wiewohl sie in der Rekluse der ontisch-ontologischen Differenz verharrte.
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10.4 D IE
DRAMATURGISCHE
O SZILLATION
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In einem postironischen Theater, das den Horizont der Rekluse der ontischontologischen Differenz des Anderen zu überschreiten versucht, wäre das MitLeiden sowie die Erkenntnis von Ähnlichkeiten im Anderen (wieder) möglich, da die Lebenswelten des Anderen bekannt erschienen, obwohl sie verfremdet würden. Es wäre kein nihilistisches Theater, denn ein solches würde sich mit Alain Badiou „nur zum Spiegel der Logik des Fehlens einer Welt“ machen und jeder utopischen Gestalt des Anderen den theatralen Boden entziehen.31 Die Anwesenheit der Anderen würde glaubhaft gespielt, performt oder dargestellt, während das Abwesende nicht unterdrückt, die Verfremdung oder Dekonstruktion der Gestalt nicht generell verhindert würde. Zum wieder entdeckten oder nie in Frage gestellten Anthropologischen gesellte sich das konventionell (Neo-)Strukturelle, obgleich dies in den Hintergrund getreten wäre. Die Substanz des Anderen bliebe glaubhaft, während ihre Konstruiertheit nicht geleugnet würde. In dieser Richtung formte sich in den letzten Jahren als Teil eines postironischen Theaters das sogenannte Erzähltheater aus, etwa Kafkas Der Prozess, von Kriegenburg 2008 in den Münchner Kammerspielen dramatisiert. Vorbildlich waren hier Castorfs Volksbühne, 1999 etwa mit Dämonen von Fjodor Dostojewski, oder romannahe Theatertexte wie Jelineks Sportstück (1998). Eine erzählerische Perspektive verlangte, dass die Schauspieler Distanz zum Bühnengeschehen hielten, um dann – halb vorbereitet wirkend und unbewusst lauernd – plötzlich in eine gesteigerte Intensität des Dramatischen zu wechseln. Der Zuschauer erlebte abrupte Übergänge zwischen zwei Formen des theatral Anderen: zwischen wirkungsvoller Ansprache durch den Erzählenden und Identifikation einfordernden Dialog der Figuren. So eignete sich das Theater Geschichten des Anderen sowohl aus Romanen als auch aus Filmen an: Homers Ilias, Theodor Fontanes Effi Briest, Leo Tolstois Anna Karenina sowie Krieg und Frieden, Thomas Manns Zauberberg, Jack Londons Ruf der Wildnis, Jonathan Littells Die Wohlgesinnten, Uwe Tellkamps Der Turm, Clemens Meyers Als wir träumten und Helene Hegemanns Axolotl Roadkill. Stoffe von Gustave Flaubert bis Günter Grass und Filmstorys von Federico Fellini bis Luchino Visconti sicherten den Theatern das, was ihnen eine radikale Postdramatik vorenthielt: anregende und aufregende Storys, psychologisch glaubhafte Charaktere und auf die Lebenswelt der Zuschauer bezogene Konflikte. Darüber hinaus erlaubten sie dem Regietheater die partielle Aussetzung des Dramatischen. Erzähltheater erschien so manchen als Inszenierung einer bewussten oder unbewussten Sehnsucht nach Geschichten des Anderen. Dagegen spräche, dass viele Zu-
31 Alain Badiou/Florian Borchmeyer: „Gespräch“, in: Spielzeitheft der Schaubühne am Lehniner Platz, Berlin 2015.
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schauer die Roman- und Filmhandlungen bereits kannten. So ginge es im Erzähltheater vielleicht gar nicht so sehr um die Überraschung in der unvorhersehbaren Wendung des Anderen, sondern mehr um den einzelnen Moment, das ästhetische Erlebnis in der Präsenz des Ereignisses. Nicht der dramaturgisch sauber eingefädelte Konflikt, nicht die dramatische Handlungsspannung interessierten das Publikum, sondern die Spannung zwischen dem Geschehen auf der Bühne als das Andere und den Zuschauern. Vor diesem Hintergrund wäre wiederum das ständige Wechseln zwischen Rollenspiel und distanzierender Erzählung auf der Bühne interessant, denn dieses lenkte die Aufmerksamkeit im Bruch der Ebenen auf den Moment und den performativen Akt der Herstellung einer Rolle bzw. des Verlassens derselben als dramaturgischer Umschlagspunkt bzw. -moment in der Erkennung/Verkennung des Anderen. Insofern bezeichnete das Phänomen des Erzähltheaters den ambivalenten theaterästhetischen Zustand des deutschsprachigen Regietheaters zwischen Vorführen und Einfühlen vor dem Hintergrund der Kippfigur Erkennen/Verkennen des Anderen. Diese figurierte im Reenactment dramaturgisch auf diachroner Ebene. Milo Rau stellte z.B. mit Hate Radio (2011) eine Propagandaradiosendung aus Ruanda aus der Zeit des Genozids an den Tutsi quellengestützt, aber dennoch fiktional nach, wiederholte den Moskauer Pussy Riot-Prozess, nun mit rechtsstaatlichen offenem Ausgang (2013), setzte eine Verurteilung der Schweizer Weltwoche (2013) in Szene und lies Schauspieler aus mehreren Ländern in Dark Ages (2014) aus den Katastrophen ihrer Familienbiographien zwischen Jugoslawienkonflikt und deutschem Erbfallkrieg erzählen. Vorspiel aller heutiger Reenactments war Jeremy Dellers The Battle of Orgreave (2001), das den englischen Bergarbeiterstreiks von 1984 nachinszenierte. Einen eigenartigen performativen Widerspruch offenbarten Marina Abramovics Seven Easy Pieces im New Yorker Guggenheim Museum 2005, Reenactments eigener und fremder Performances wie Joseph Beuys’ wie man dem toten hasen die bilder erklärt (1965) oder Valie Exports Aktionshose, Genitalpanik (1969). Politische oder historische Ereignisse und ereignishafte Performances waren als das historisch Andere nicht ohne Abstrich, Fehler und Detailspekulation zu ‚reenacten‘. Als performativer Vorgang richtete sich formal eine Iteration ein, die behauptete, Nähe zu einem historischen Geschehen zu schaffen, während sie jedoch eigentlich Distanz zu ihm herstellte bzw. bemerkbar werden ließ. Insofern war das Reenactment eine Begegnung mit dem Anderen auf der diachronen Achse, die per se im Erkennen ein Verkennen verdeutlichte. Als künstlerisches offenbarte das Reenactment im Gegensatz zum ‚naiven’ historischen Reenactment sein Unvermögen, seine Fehler in der Re-Konstruktion. Milo Rau baute gar in Hate Radio aktualisierende Elemente ein, um in der Wirkung des Reenactments dem stets inszenierenden, dennoch nicht nur erfindenden Erinnerungsakt des Menschen nahe zu kommen. Allgemein erlaubte die Inszenierung der historischen Rekonstruktion in der Dekonstruktion, der Annäherung in der Distan-
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zierung die Möglichkeit zur Reflexion des Vorgangs wie auch des historischen Geschehens selbst. Das Historische wurde so in der Gestalt und Gestaltung als das ganz Andere im Anderen kenntlich, das konstruiert werden muss, während es sich zugleich aus diesem Grund dem Zugriff eigentümlich entzieht. Daher war ein Reenactment als avanciertes selbstkritisch, konnte die Verkennung in der Erkennung aber auch naiv übersehen oder reaktionär nicht zur Kenntnis nehmen, man denke nur an Hobbyhistoriker, die als ‚Living History‘ oder ‚Lebendiges Museum‘ historische Ereignisse wie die Schlacht bei Tannenberg von 1410 gemeinsam vergnüglich in Szene setzten. Kritisch reflektierende und ästhetisch anspruchsvolle Reenactments thematisierten im Gegensatz zu den ästhetischen Amateuren, wie auf der Grundlage des individuellen und kulturellen Gedächtnisses erinnert wird: keineswegs durch eine detailgenaue-wahre Rekonstruktion, sondern vielmehr durch eine sich immer wieder ändernde Konstruktion des Vergangenen als das Andere, das letztlich seine uneinholbare Fremdheit behauptet. Ähnlich wie Inszenierungen älterer Stücke würde eine Aktualisierung klugerweise nicht ohne verunsichernde Restfremdheit auf inhaltlich wie formaler Ebene auskommen. Massimo Furlans Reenactment 22. Juni 1974, 21 Uhr 03 (2008) bot den Beteiligten das Erlebnis der westdeutschen Niederlage bei der Fußballweltmeisterschaft 1974: Der Performer spielte auf dem Fußballfeld alle Ballberührungen in Echtzeit nach und erzielte in der Rolle Jürgen Sparwassers das entscheidende Tor für die DDR – allerdings ohne real existierenden Ball und Gegner. Furlan konnte nicht alles Positionen im Spiel gleichzeitig besetzen, die Lücken des historisch Anderen wurden so überdeutlich. Das künstlerische Reenactment machte die Sichtbarkeit der Differenz, das Scheitern und den Fehler in der Kopie oder Interpretation sicht-, wahrnehm- und erlebbar. Die Zeichen des Anderen konnten niemals hintergangen werden, dem wahren Leben als das Andere des Realen war nur in den Lücken und der Unterbrechung indirekt auf die Spur zu kommen. Derrida, der wiederum Heidegger paraphrasierte, sprach von der „Unmöglichkeit, von einem Ereignis zu sprechen“: In der Iteration des Reenactments ergaben sich entweder eine Differenz zum Vor-Bild als das Andere, eine Differenz zum Status Quo oder Brüche in der Montage, also im Herstellungsakt des Reenactments. Verstörende Inkongruenzen verwiesen als Fehler indirekt auf die Wahrheit, an die man mit Begriffen, Kausalitäten, Erzählungen oder Theorien des Anderen nicht wirklich herankomme, auch wenn man, so Milo Rau, heute nicht ohne schlechtem Gewissen einfach nur Repräsentationskritik üben könne. Da uns aber trotz allen Wissens um die Unerreichbarkeit der Wahrheit immer noch eine Sehnsucht nach dem Anderen umtreibt, suchen wir sie in der Inszenierung des Reenactments und hoffen, dass indirekt oder für einen klitzekleinen Moment das Wahre des Anderen aufscheint. Mit solchen neuen Formen des Dokumentarischen wäre die Frage zu stellen, wie wir gegenwärtig mit der empirischen und/oder sozialen Realität des Anderen
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als potentielle Wirklichkeit umgehen. Wäre eine Kritik am Realismus noch zeitgemäß? In den 1950er- oder 1960er-Jahren wäre diese tatsächlich noch subversiv gewesen, da der Realismus soweit der herrschende Code war, dass Handke 1966 der Gruppe 47 „Beschreibungsimpotenz“ vorwerfen konnte. Heute, so Milo Rau, lebe man in einer Welt, in der es normal sei, jedes Bild, jede Erscheinung des Anderen semiotisch oder als Inszenierung zu verstehen. Keiner vertraue mehr der Idee des Referenten, in den Künsten der Gegenwart wäre „die normale Einschärfung des Blicks, hinter der Oberfläche immer augenblicklich etwas anders zu wittern und zu sagen: Das ist ja alles verfremdet, das ist ja alles medialisiert, das ist ja alles performt.“ In diesem Sinne wäre Repräsentationskritik in den letzten Jahren die Norm; subversiv hingegen wäre es, „einen neuen Realismus einzuführen und zu sagen: Nein, ich meine es wirklich genau so, wie ich es sage. Es geht nicht um Metaphern. Es geht um genau das, was ich hier benenne.“32 Die Aufgabe des Künstlers sei nicht mehr, die ewige Wiederholung einer erwartbaren Repräsentationskritik ins Werk zu setzen, sondern ein ethisches Trotzdem in der Inszenierung zu versuchen. Relevant sei, dass „ein Wesen leidet und zu Grunde geht, dass jemand zusticht mit einer bestimmten Geschwindigkeit und einer bestimmten Kraftanstrengung und einem wirren Empfinden, es also Positionen in diesem ‚Spiel‘ gibt, die REAL sind, die aus der allgemeinen symbolischen Verabredung herausfallen.“ In überzeugender Kunst, in einem zeitgemäßen Theater würde man von einer „REALITÄT selbst infiziert. Man wird von ihr nicht nur belästigt, analysiert, abgestoßen oder hysterisiert, verpestet oder gereinigt, sondern gleichsam unheilbar verwirrt und zerrüttet, man hört ein Ruf, den man nicht versteht, obwohl er verdammt laut ist“. Dieser Ruf des Anderen wäre nun aber nicht mehr als unbegreifbar zu verstehen, sondern in der Fiktion des Reenactments zu repräsentieren. Ähnlich wie Markus Gabriel kritisiert Rau die antihumanistische, postmoderne Philosophie, man habe nun „über ein halbes Jahrhundert verschärfter Repräsentationskritik hinter“ sich, in der man annahm, „dass man es dem REALEN und den Wächtern der GEWISSHEIT schon irgendwie zeigen würde (der Geschichte, dem Totalitarismus, dem Subjekt, dem Geschlecht, dem Tod), dass am Schluss alles zum fröhlichen Spiel der immateriellen Simulacren und zur demokratischen Collage irgendwelcher Diskurse würde und sogar die Toten irgendwie zwischengelagert und bei Bedarf wieder auf die Bühne geholt werden könnten, während die Lebenden sich wie kleine Hündchen gegenseitig Zitate zuwerfen.“ Ausgehend von vehementer Kritik am Intertextualitäts- und Diskursparadigma sei man heute um „einiges ernster geworden, oder, wenn man so will, ‚realistischer‘“. In diesem Sinne wären für Rau postironische Reenactments auch keine postmodernen Simulacren. Er diffe-
32 „Elisabeth Bronfen in einem Telefongespräch mit Milo Rau 2011“, in: R. Bossart (Hg.), Die Enthüllung des Realen, S. 176f.
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renziert Barthes’ Simulacrumbegriff, an den er mit seinen Reenactments anschließe, von dem heute prominenteren baudrillardschen, der, über Debords Spektakelansatz weit hinausgehend, keinen Platz außerhalb der Hyperrealität mehr zulasse. Mit Barthes gehe es darum, von etwas zu Untersuchendem ein inszenatorisches Double als Simulacrum zu produzieren, um in der so ermittelten Anatomie bzw. Struktur deren Funktionsmechanismen zu verstehen. Barthes interessierte sich insbesondere für jene Partien oder Teile, die nicht funktionierten, überflüssig schienen oder als Fehler auffällig wurden. Diese Ausfälle bedeuteten nichts anderes als die Realität selbst. Der stumpfe Sinn, Punctum statt Studium, die Rauheit der Stimme, auf ethisch-moralischer Ebene: Die Leiden der Anderen wären irritierende Einbrüche in das zu einfache Konzept einer ubiquitären Inszenierung bzw. der intellektuellen Desinvolture von Carl Schmitt bis Louis Althusser und Niklas Luhmann. Für Rau solle man Barthes Simulacrumansatz als „paradoxe oder unmögliche Arbeit einer repräsentativen Verdoppelung“ verstehen. Diese müsse jedoch etwa im Reenactment oder in Neueinsetzungen von historisch relevanten Prozessen geleistet werden, um das „unauflösbare Hier- und Dortsein eines Reenactments“, den „unabweisbaren Realitätsgehalt einer Abbildung“, den permanenten Überfluss des Realen als indirekte Spur bemerkbar zu machen. Raus The Dark Ages im Residenztheater München, das sich mit dem Bösen in Bosnien, Kroatien und Serbien und in Deutschland anhand der Erinnerungen der Schauspieler an die dunklen Seiten ihrer Familiengeschichten beschäftigte, sind ähnlich wie Andres Veiels/Gesine Schmidts Der Kick Expeditionen in die existenziellen Grausamkeiten der normalen Welt, die als Realität des Anderen nicht zu dekonstruieren wären.
10.5 D ER
FREMDE
A NDERE
IM TRANSKULTURELLEN
R AUM
Deutschsprachiges Regietheater war vergleichsweise offen für die Integration von Ästhetiken anderer Länder, Regionen und Kulturen, weil es programmatisch Teil inter- oder transnationaler Beziehungen, Vernetzungen und kultureller Mobilität sein wollte und sollte. Weitgehend einig war man sich darüber, dass in der deutschsprachigen Theaterlandschaft das Inter- oder Transnationale zur lokalen Eigenheit zählt. Beeindruckt war man von Inszenierungen Luk Percevals, Yael Ronens, Katie Mitchells, Barbara Wysockas, Nurkan Erpulats, Dusan Davids Parizeks, Alvis Hermanis, Jan Klatas, Susanne Kennedys, Yannis Houvardas und Lola Arias. Performatives Theater wie das des Nature Theater of Oklahoma, von Jérome Bel, Jan Lauwers, Jan Fabre, Forced Entertainment, Rosas und Romeo Castellucci war eine gewohnte Erscheinung im Festivalbetrieb zwischen Berlin, Hamburg, Wien, Zürich und München. Ein transnationales Ensembletheater wie die Münchner Kammerspiele unter Johan Simons oder das postmigrantische Maxim Gorki Theater von
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Shermin Langhoff waren nichts Besonderes mehr, und die Spielpläne der Plattformtheater, etwa des HAU 1-3 (neuerdings in einer institutionellen Mischform Kammer 1-3 unter Lilienthal in München), von Festivals wie euroscene Leipzig und theatrale Netzwerke wie Mitos21 sind programmatisch global ausgerichtet. Der Titel der Ausgründung der Berliner Festspiele als Veranstalter des Berliner Theatertreffens für internationales performatives Theater, Foreign Affairs, spricht für sich. Auch das wichtigste deutschsprachige Festival für junge Theatermacher, Radikal Jung am Münchner Volkstheater, beschränkte sich nicht mehr auf den deutschsprachigen Nachwuchs, sondern präsentierte ein weites Spektrum an Ästhetiken und Regisseuren, seit 2011 aus dem europäischen Raum und seit 2013 aus der globalen Theaterlandschaft. In der unaufgeregten Normalität des transnationalen Blicks, in der entspannten Integration globaler Multiperspektivität eröffnet sich die Frage nach der Differenz zum jeweils Anderen bzw. Fremden. Wenn das Fremde eine relationale Beziehung ist, wie verdeutlicht sich theatral oder performativ diese Beziehung? Oder anders und etwas vereinfacht gefragt: Wie oder was wären die ästhetischen Zeichen, prägnanten Anmutungen oder medialen Merkmale für den Fremdeinfluss? Kann und darf heute noch etwas als ‚anders‘, gar ‚fremd‘ bezeichnet oder erfahren werden, gerade in einer transnationalen Welt des Neben- und Miteinanders von Lokalisierung, Regionalisierung und Globalisierung? Welche prägenden Einflüsse auf inhaltlicher und/oder formaler Ebene aus dem transnationalen Raum auf die hiesige Bühnenästhetik wären überhaupt zu verzeichnen und welche innovativen Formen sind daraus entstanden? Zumal nicht erst seit den 1990er-Jahren als, so Arjun Appardurai, Epoche der Hochglobalisierung,33 transnationale Verflechtungen und Überlagerungen die Kultur- und damit die Theatergeschichte bestimmen. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit sei nur an den Einfluss der italienischen Commedia dell’Arte auf das französische klassische Theater oder die Autorität Shakespeares für das deutsche Theater erinnert – Shakespeare wurde gar zum ‚Dritten deutschen Klassiker‘, was relativ offen auf die paradoxe Konstellation von Kulturbildung hinweist. Schon die erste uns erhaltene griechische Tragödie, Aischylos’ Die Perser, stellte die Welt aus der Perspektive der ‚Fremden‘, nämlich der mit den Athenern verfeindeten Perser, der ‚Barbaren‘, dar. Tom Lanoye weitete die Erörterung des Fremden zeitgemäß gleichgewichtiger in seiner Adaption Mamma Medea (2007) aus. Aischylos’ Hiketiden/Schutzflehende suchten Asyl, für Elfriede Jelinek Ausgangtext ihres Palimpsests zum Thema Migration und Schutzsuchende. Für das 20. Jahrhundert sind die Einflüsse des asiatischen Theaters auf Bert Brecht, Antonin Artaud und Max Reinhardt bekannt. Shakespeares Othello ist auch heute noch die große Herausforderung in der Besetzung – die Möglichkeiten reichen vom berühm-
33 A. Appardurai: Geographie des Zorns, S. 14.
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ten Ira Aldridge als ‚echtem Schwarzen‘ im 19. Jahrhundert über Zadeks Skandalinszenierung 1976 mit Ulrich Wildgruber als ‚angemaltem‘ Schwarzen, Stefan Puchers entstereotypisierende Inszenierung des Othello als ‚King of Pop‘, der 2004 den Rhythmus ‚im Blut hat‘, bis zu Luk Percevals Othello an den Münchner Kammerspielen, in dem 2003 die afrikanische Herkunft allein in diskriminierenden Dialogzeilen („Schoko“) angedeutet wurde. ‚Originäre‘ Figuren oder sonstige Bühnenverweise auf das Fremde sind generell mit dem Problem der Vorstellungen, Projektionen und Stereotypisierungen verbunden: Was ist fremd? Wie sieht der Fremde aus? Fremdheit, so die seit Jahrzehnten in den Geistes-. Medien- und Kulturwissenschaften vorherrschende Meinung, ist keine Essenz, Substanz oder Wesenheit, sondern Resultat eines relationalen Verhältnisses, und: Fremdheit und mentale Stereotype sind nicht voneinander zu trennen. Spätestens seit Edward Said sein weltweit einflussreiches Buch Orientalismus 1978 als Gründungsdokument postkolonialer Theorie vorgestellt hatte, in dem kulturelle Beschreibungssysteme des Westens als Teil von Machtdiskursen offengelegt wurden, war die abendländische Wissensproduktion und damit die Darstellung des Fremden im Theater nicht mehr unschuldig.34 Aus kulturanthropologischer Sicht ging es um die Darstellung kultureller Spezifität, wobei jeglicher Form transkultureller Verallgemeinerung eine Absage erteilt wurde, bis hin zu Homi K. Bhabhas Liminalitätsraum der Hybridization bzw. des In-Between.35 Ein entsprechendes Theater der Transkulturalität kombinierte als theatrale Assemblage im Sinne von Deleuze und Guattari auf in sich korrespondierenden formalen und inhaltlichen Ebenen lokales bzw. regionales Theater mit globaler Ästhetik – ausgehend von externen ästhetischen, personellen und institutionellen Vernetzungen sowie dem grundsätzlich inneren Hybridcharakter von Kulturen, Ästhetiken und Charakteren.36 Es korrespondierte mit der Globalisierung seit den 1990er-Jahren und der heute im deutschsprachigen Regietheater nicht nur zugelassenen, sondern forcierten internen ästhetischen Hybridisierung, die allen Beteiligten am theatralen Prozess bewusst machte, dass Aufführungen in sich verschiedenste kulturelle Typen, Gestalten, Stile und Wahrnehmungsmuster verbänden, also von vorne herein niemals monokulturell, sondern transkulturell strukturiert wären. Perceval ging mit der Problematik der Darstellung des Fremden 2008 in Shakespeares Troilus und Cressida besonders geschickt um: Zum einen wurden Griechen und Trojaner von denselben Schauspielern gespielt, zum anderen war ein hinzuer-
34 Edward Said: Orientalism, N.Y. 1978. 35 Homi K. Bhabha: The Location of Culture, London 1994. 36 Wolfgang Welsch: „Was ist eigentlich Transkulturalität?“, in: Lucyna Darowska/Thomas Lüttenberg/Claudia Machold (Hg.), Hochschule als transkultureller Raum? Kultur, Bildung und Differenz in der Universität, Bielefeld 2010, S. 39-66.
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fundener ‚Bühnendiener‘ als inhaltlich neutrale Figur ein Schauspieler mit Migrationshintergrund. Damit ließ Perceval indirekt Peter Brooks interkulturelle Produktion Mahabharata (1985) naiv aussehen. Schon die zeitgenössische Kritik hatte Brook die Aneignung eines indischen Mythos, den er letztlich nicht ganz verstanden habe, vorgeworfen. Besser hat wohl die künstlerische Zusammenarbeit der internationalen Schauspielergruppe funktioniert. Brooks gelungene und zugleich gescheiterte Inszenierung war ein Höhepunkt interkultureller Produktionen in einer noch weitgehend überschaubaren Welt, die sich, so Appardurai, in den 1990erJahren im Zuge der Globalisierung in Richtung einer um- und übergreifenden sozialen Verunsicherung deutlich verändert hat.37 Auch das deutschsprachige Theater musste sich an eine transnationale Perspektive gewöhnen, was insbesondere einen neuen Blick auf die eigene Migrationsgeschichte erforderte. Feridun Zaimoglus erstes Buch Kanak Sprak wurde zwar schon 1997 mehrfach für die Bühne adaptiert, jedoch handelte es sich wie bei Senkels und Zaimoglus Schwarze Jungfrauen (2006) um frühe Versuche. Erst seit einigen Jahren wurden Deutsche mit Migrationshintergrund zu einem zentralen Thema auf den deutschsprachigen Bühnen, immer mehr hörte man den Begriff postmigrantisches Theater. 2011 setzen in Verrücktes Blut Nurkan Erpulat und Jens Hillje die stereotypen Verhaltensweisen von Schülern mit Migrationshintergrund zuerst auffällig in Szene, um sie dann in mehreren Peripetien lustvoll und nicht ohne pädagogischen Aufklärungswillen sowie Unterhaltungsabsicht ad absurdum zu führen. Es war eine Produktion des programmatisch postmigrantischen Theaters Ballhaus Naunynstraße in Berlin, dessen Leiterin Şermin Langhoff danach die Intendanz des Maxim Gorki Theaters übernommen hat. Postmigrantischem Theater ging es um Erfahrungen, kollektive Erinnerungen, mentalen Typisierungen und Selbstdarstellungen derjenigen Menschen, die im deutschsprachigen Raum aufgewachsen sind, aber ihren Migrationshintergrund weiterhin mit sich tragen. Diese Erfahrungen nahmen durchaus in Opposition zum dokumentarischen Theater in neuen Erzählungen dramaturgische postklassische Gestalt an. Damit sind sie theatralisiert in der Mehrzahl der Produktion kein postdramatisches Theater. Sie wären eher aus der Perspektive der je eigenen Kulturproduktionen der New Ethnicities (Stuart Hall) bzw., auf die heutige Situation übertragen, mit Onur Suzan Nobrega der postmigrantischen Ethnizitäten zu verstehen – deren auf Narrative angewiesenen Erinnerungsformen wären nicht leichtfertig zu dekonstruieren. Solche Narrative konvergierten mit der globalen Tendenz hin zur allgemeinen Erfahrung von Diversität, ganz unabhängig davon, ob ein individueller Migrationshintergrund zu verzeichnen war. Diese generelle und globale Diversität forderte grundsätzlich einen global- oder transnationalperspektivischen Blick auf
37 A. Appardurai: Geographie des Zorns, S. 22.
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die theatralen Phänomene des Anderen ein, zumal der Prozess der Globalisierung mit der Entwicklung, Einrichtung, Verbreitung und Ausdifferenzierung von offeneren ökonomischen Feldern, interdependierenden Organisationen, global ausgerichteten Medien, Technologien, besseren Verkehrswegen und – Stichwort Containerökonomie – effizienteren Transportmöglichkeiten verbunden ist. Dies bedeutete zum einen eine dichtere und lebendigere globale Vernetzung, zum anderen tatsächliche oder angebliche Verringerungen politischer, kultureller sowie letztlich geographischer Unterschiede und Distanzen. Selbstverständlich hatte das Auswirkungen auf die Theaterwelt, auf den von ihr mit performten Raum von regionaler bzw. lokaler und translokaler, wenn nicht transnationaler Öffentlichkeit, auf den Austausch bzw. die Migration von Ästhetiken, Künstlerpersönlichkeiten, Inszenierungsstilen und Institutionsformen. Diese Dimensionen, Entwicklungen, Dynamiken und Performanzen hat Arjun Appadurai mit den Begriffen Mediascapes, Technoscapes oder Econoscapes beschrieben.38 Transnationale Phänomene ereigneten sich auf der Basis einer entsprechenden Mobilität, nicht umsonst eines der wichtigsten Schlagworte in der letzten Zeit. Dies betraf sowohl materielle Güter und Artefakte als auch Habitus, Lebensstile, Ästhetiken und Akteure auf den verschiedensten Qualifikationsebenen. Zur Mobilität von Ästhetiken, sowohl auf der Produktions- als auch auf der Rezeptionsebene, gesellte sich unter anderem die Mobilität von Intendanten, Kuratoren, Schauspielern, Regisseuren, Dramaturgen, Bühnen- und Kostümbildnern und nicht zuletzt der Kulturkritik sowie eines polyglotten Publikums. Hierbei konnte man bekanntermaßen paradoxe, annähernd obszön-unreflektierte Entwicklungen feststellen: Während für hoch qualifizierte Akteure wie international ausgerichtete Künstler die Grenzen eher fielen, nahmen die Schwierigkeiten bei der Grenzüberwindung für Migranten ohne hohe Qualifikationsausweise generell eher zu, wuchsen sich an einigen Brennpunkten gar zu lebensgefährlichen, oft tödlichen Unternehmen aus. Das Zentrum für politische Schönheit erregte Aufmerksamkeit, als es 2015 einen im Mittelmeer ertrunkenen Migranten in der performativ-politischen Aktion Die Toten kommen vor dem Bundeskanzleramt bestatten oder verzweifelte Flüchtlinge zum Vergnügen der Mediengesellschaft wie im antiken Rom Tigern zum Fraß vorwerfen wollte. Das Lokale im Globalen erwies sich als (zu) enger, teilweise lebensgefährlicher Raum für sogenannte untere Schichten, während es zugleich den jeweiligen hippen Lebens- und Arbeitsraum einer künstlerischen Elite bildete – Ghettoisierung des Anderen war eine Tendenz in der zunehmenden Differenzierung nach Oben wie nach Unten.
38 Vgl. Arjun Appardurai: Modernity at Large. Cultural Dimensions of Globalisation, Minneapolis 1996.
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10.6 P OSTKLASSISCHES T HEATER HEUTE : P RÄSENZ ODER / UND I NSZENIERUNG DES A NDEREN ? Brechts Gestus initiierte für das Gegenwartstheater zwei Entwicklungen, die sich eigentlich widersprachen: Zum einen den ‚Gestus nach Brecht’ als postdramatisches, performatives Theater der Wirksamkeit, das die brechtsche Dialektik aufbrach und Bedeutungs- und somit Gestaltzuweisungen gegenüber dem Anderen verunmöglichte. Es reagierte seit den 1960er-Jahren auf die Überkomplexität und ubiquitäre Theatralität der sozialen, politischen, wirtschaftlichen, biologischphysikalischen und privaten Welt. Zum anderen ein tendenziell realistischeres Theater, das die Gegenwart des Anderen nicht eins zu eins widerspiegelte, sondern das Wesen des menschlichen Miteinanders in der Inszenierung des Anderen erfasste, insbesondere versteckte Macht- und Wirtschaftsbeziehungen entdeckte, diskutierte sowie kritisierte.39 Ostermeier bezichtigte postmodern-performatives Theater der Kapitulation vor einer angeblich zu komplexen Wirklichkeit des Anderen, es bliebe programmatisch unentschieden; er würde gar von einem „kapitalistischen Realismus sprechen, weil diese Kunstform, ähnlich wie der sozialistische Realismus des Ostblocks, nichts anderes tut, als das Weltbild des Kapitalismus zu bestätigen und so keine Gefahr für die herrschende Doktrin darstellt.“40 In Ostermeiers Inszenierung von Ibsens Volksfeind (2012), die durch globale Regionen und Städte wie Berlin, Moskau, Neu Delhi, Istanbul oder Minsk tourte, öffneten die Figuren, ohne aus der Rolle zu fallen, die Diskussion über Ethik, Moral, Ideale und lokale Realpolitik für das Publikum, nachdem Dr. Stockmann im 4. Akt seine berühmte Rede, angereichert mit Auszügen aus dem situationistisch-linken Manifest Der kommende Aufstand des Unsichtbaren Komitees, gehalten hat. In den oft hitzig-engagierten Diskussionen wurde das realistische Rollenspiel so weit wie möglich fortgeführt, wiewohl performative Elemente stärker betont wurden. Das Publikum war und spielte die von Dr. Stockmann einberufene öffentliche Anhörung, es funktionierte als Kulisse wie als reale lokale Bürgerversammlung. Ostermeier vermied mit seinem realistischen Inszenierungsstil dezidiert, den Handelnden ihre schon von Ibsen intendierte Grauzeichnung zu nehmen. Die Figuren offenbarten im Spiel das weite Feld zwischen Auflehnung und Anpassung, ethisch redend und doch in der Entscheidung die eigenen Interessen nicht aus den Augen verlierend, widerstehend und ängstlich zugleich. Man konnte sich mit einigem Mut zur Selbsterkenntnis in allen Figuren als das inszenier-
39 Thomas Ostermeier: Erkenntnisse über die Wirklichkeit des menschlichen Miteinanders. Plädoyer für ein realistisches Theater (2009), http://www.schaubuehne.de/uploads/ Realistisches-Theater.pdf. 40 Ebd.
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te Andere spiegeln, erkannte in einem Theater der Neoaufklärung die eigenen Determinationen und einrichtenden Machtbeziehungen sowie -strukturen wieder. So gelang Ostermeier mit der detailgenauen Zeichnung eines großstädtischpostakademischen Milieus durchaus naturalistisch-berlinerisch eine sukzessiv sich spannend entfaltende Zeichnung der Zwänge, Bedingtheiten und Optionseinschränkungen, die heutige Gesellschaften einrichten. Brechtsche Verfremdungselemente wie der Bühnenumbau durch die Schauspieler verhinderten hierbei die zu ausgeprägte Einfühlung, die Figuren blieben aus distanzierterer Perspektive beobachtbar, offerierten das Gezeigte als für die gesellschaftliche Situation und nicht für persönliche Befindlichkeiten typisch. Mit Brecht ging es um Widersprüche, die sich dialektisch zumindest in der Erkenntnis des Drückenden zur Aufführung brachten, während zugleich eine neue Gesellschaftsordnung gefordert wurde. Neuer Realismus, Gesellschaftskritik und Aufruf zur Revolution ließen als Sozialer Realismus im Theater wieder eine Utopie zu und hatten den Mut zur Aufdeckung von Strukturen wie zur eindeutigen Benennung der Schuldigen. Vor diesem Hintergrund einer eigenartigen intellektuellen Unentschiedenheit, über die bereits Müller 1977 in seiner Hamletmaschine reflektierte, stellt sich die Frage, ob und inwieweit man heute eher politisches Theater oder Theater politisch machen solle. Wäre mit der Volksbühnenästhetik der 1990er-Jahre alles gespielt, wäre, so Carl Hegemann, Theater ein Medium, das sich primär mit dem Unbehagen in der Kultur (Freud) als Medium des Anderen des Realen auseinandersetzen sollte, mit der ständigen Spannung, dem Antagonismus zwischen der ästhetischunbewussten Energie oder Kraft und der gesellschaftlich-strukturellen Form? Oder wären besser mit Ostermeier bzw. Stegemann die erkenntniserhellende Repräsentation der gesellschaftlich-strukturellen Form, mit Frank M. Raddatz der Andere in Schillers Spiel und mit Milo Rau im Belegbaren, den Quellen das Andere im Reenactment zu suchen? In der Theaterpraxis hat sich seit der Jahrtausendwende die Beschäftigung mit dem Politischen und dem öffentlichen Raum im Vergleich zu den fröhlich-ironisch-postmodernen 1990er-Jahren intensiviert und verschiedene ästhetische, vor allem postironische Zugänge im Gegenwartstheater ausgebildet. Wir erleben gegenwärtig eine besonders spannende Zeit der gesellschaftlichen Transformationen, des exponentiellen Wissenzuwachses und der weltweiten kommunikativen Vernetzungen sowie Migrationen und beschleunigten Bewegungen von Menschen, Gütern, Paradigmen und Vorstellungswelten. Dem entspricht die ästhetische wie institutionelle Bandbreite und Qualität des Gegenwartstheaters. Neueres Regietheater im Spannungsverhältnis von Darstellung und Dekonstruktion des Anderen ist nun fast ein halbes Jahrhundert alt, aber weder langweilig, noch irrelevant oder banal geworden. Es hat sich medial behauptet, perpetuierend verändert, ausdifferenziert und in seinen vielfältigen Formen noch lange nicht erschöpft. Die immer wieder diskutierte Frage: Regietheater oder nicht? ist seiner Geschichte und
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heutigen Bedeutung keineswegs angemessen. Wichtiger wäre zu klären: welche Art von Regietheater? Auf der theaterentwicklungsgeschichtlichen Basis der neoavantgardistischen Grenzüberschreitungen seit den 1950er-Jahren, der epischen Züge des Regietheaters der 1960er-Jahre und der postdramatischen Entzüge der 1980er-Jahre hat der Dialog zwischen Bühne und Zuschauerraum in den 1990er-Jahren zugenommen. Die ästhetische und mimetische Grenze zum Anderen, zwischen Kunst- und Realraum, wurde zwar nicht überwunden oder gar zerstört, aber zumindest reduziert oder in Frage gestellt, indem die Präsenz des Anderen als ganz Anderer mehr in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit gerückt wurde. Seit der Jahrtausendwende war das performative Theater wieder auf dem Rückzug, in den Inszenierungen der öffentlich geförderten Theater sucht man wieder mehr dramatische wie ästhetische Geschlossenheit. Zugleich blieben performative Ästhetiken in der freien Szene dominierend. Aber eigentlich geht es heute gar nicht mehr um die Trennung zwischen dramatischen und performativen dramaturgischen Strukturen, zumal die Grenzen zwischen Stadt-, Landes- bzw. Staatstheatern und dem sogenannten freien Theater auf institutioneller wie auch auf ästhetischer Ebene kaum mehr sicher zu bestimmen sind. Meist gehen diese problemlos ineinander über, freilich in jeweils unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen und Mischungsverhältnissen. Das Literarische hat das Theater nicht verlassen, immer noch und weiterhin ist das Theaterstück der Ausgangspunkt der Mehrzahl der Inszenierungen, es muss aber nicht Zentrum jeder Produktion sein. Auch die Gegenwartsdramatik lässt sich in ihrer ästhetischen, thematischen und dramaturgischen Vielfalt keineswegs mehr von einer theoretischen Perspektive aus einseitig in den Blick nehmen. Neue Stücke können, müssen aber nicht postdramatisch sein. Während Müller, Jelinek, Kluck, Goetz, Petras und Pollesch nicht mehr dramatische Theatertexte schreiben, stehen Lukas Bärfuss, Dea Loher, Lutz Hübner, Oliver Bukowski, Marius von Mayenburg, John von Düffel, Roland Schimmelpfennig, Sibylle Berg oder Andres Veiel/Gesine Schmidt für den wieder mehr oder weniger dramatischen Theatertext, Berg hält ein eigenes Stück für „wenigstens schön wenn schon nicht jelinek, genial, pollesch supergenial, so doch solides Handwerk“. Dies führte jedoch keineswegs zu einer Rückkehr zum realistischen Psychologismus. Meist findet man in den heutigen Dramaturgien sowohl dramatische als auch postdramatische Elemente, und dies in einer vielschichtigen Konvergenz. Dies konvergiert mit der Erkenntnis, dass der Andere zugleich als Gestalt wie als gestaltauflösender ganz Anderer begegnet. Gegenwärtig scheint vor allem in der jüngeren Generation das Solide, Sichere, Belegbare wieder gefragt zu sein; einige diagnostizieren bereits eine pragmatische Generation Manufaktum, andere eine zweite Moderne. Die deutschsprachige Gesellschaft ist zwar offener, multioptionaler, -religiöser und -kultureller geworden, Patchworkidentitäten, flexible Beziehungs- und Arbeitsverhältnisse sowie nonlineare Biografien werden immer mehr zum Normalfall. Gleichzeitig bremsen traditio-
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nell-bürokratische Sicherungsinstitutionen, kleinbürgerlich-spießige Klientelverhältnisse und Nepotismen im sehr eng vernetzten Kunstbetrieb sowie mehr oder weniger versteckte ideologische, ökonomische wie institutionelle Machtstrukturen der älteren Etablierten. Dies erzeugt für die Kinder und Enkel der 1968erGeneration, welche sich ihre symbolischen Freiheiten nicht mehr erkämpfen mussten, während sie in einen knallharten Wettbewerb untereinander gezwungen wurden, eine Sehnsucht, die keineswegs nur die nach Dezentrierung, Bewegung und Auflösung sein muss. Aufgewachsen in Patchworkfamilien, mitten in einer Glaubwürdigkeitskrise der Politik, konfrontiert mit den immens gestiegenen Mobilitätsanforderungen des Arbeitsmarkts, ohne Schutz durch solidarische Gemeinschaften wie starke Gewerkschaften zirkulieren sie selbst als ‚frei flottierende Signifikanten‘, Ich-AGs sowie Bewerbungs- oder Castingchampions im Kreis der befristeten Anstellungen, prekären Jobs und Praktikantenverhältnisse. Gebotene Freiheit, aufgezwungene Flexibilität, erwartete pausenlose Erreichbarkeit und kontrollierende Vernetzung sowie angeordnete Mobilität korrelieren direkt mit einem ständig sich verschärfenden Wettbewerb und unablässiger Evaluation – Müdigkeit ist die zunehmende physisch-psychische Antwort. Nicht die Vorwürfe mangelnder Disziplin, Behauptung individueller Schuld und Einforderung von Verantwortung durch Andere funktionieren heute als gesellschaftliche Disziplinierungselemente oder diskurse; vielmehr drückt, bemängelt, tadelt und kritisiert das eigene schlechte Gewissen: Man könne sich eigentlich mehr anstrengen, man sei selbst schuld, es fehle nur am Mut zur Selbstverwirklichung, an Eigeninitiative, an der Lust zum Risiko. Den westlichen Wettbewerbsgesellschaften ist es gelungen, ihre Systemwidersprüche in die individuellen Gewissen der Vereinzelten zu übertragen. Gesellschaftliche Spannungen, Machtkämpfe und Verteilungsauseinandersetzungen sowie revolutionäre Impulse werden so verinnerlicht und führen zu pessimistischen Lebensbildern sowie Depressionen. Auch dies bestimmt Inhalte und Formen des Gegenwartstheaters, von Jelineks Die Kontrakte des Kaufmanns (2009) über Polleschs Ich schau dir in die Augen, gesellschaftlicher Verblendungszusammenhang! (2010) bis zu Thomas Ostermeiers Volksfeind (2012), Milo Raus Hate Radio (2011), Philipp Löhles Genannt Gospodin (2007) oder Die Überflüssigen (2010) und Oliver Klucks Das Prinzip Meese (2010). Für Oliver Kluck kann Theater deshalb heute keine Bildungsinstitution mehr sein, sondern ein „Ort der Subjektivität“, der „Befindlichkeit und Befindung“, ein „Ort des Zweifels“. Wie sieht es nun mit dem Tragischen aus, zumal im Theater einer nachmodernen Gesellschaft, in der das, was früher Schicksal war, nun zum Versagen des Einzelnen geworden ist? In seinen Schriften zu Artaud ist für Derrida die Erkenntnis tragisch, die Geschlossenheit der Repräsentation als Theatralität und Gestalt des Anderen nicht verlassen zu können. Keineswegs gehe es um die Repräsentation des Schicksals, sondern um das Schicksal der Repräsentation. Das Tragische wäre also nicht das Schicksal des Anderen als inszenierte Figur des Helden, das man aus po-
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pulären Filmdramaturgien kennt und Dieter Dorn als Grundstruktur einer Theateraufführung präferierte, sondern erwüchse aus der Erfahrung des Anderen der Vernunft, der rationalen Erkenntnis und des Wissens innerhalb der notwendigen Gestaltung des Anderen. Diesem entsprechend wäre im postdramatischen Theater die erwünschte Wirkung der Tragödie als Unterbrechung, Störung oder Aufbruch zu verstehen. Das Tragische wäre die Bezeichnung für die Erkenntnis dessen, dass sich im figurierten, begreifbaren Anderen das ganz Andere dem Begreifen des Anderen verweigert. Die Tragödie würde nicht als Drama des Anderen dargestellt werden, sondern sich, wie in Schechners Dionysus in 69 (1969) oder Schleefs Inszenierung von Jelineks Sportstück (1998), im Moment des Anderen als Anderen und zugleich als ganz Anderen ereignen. Aber, müsste hier der Dialektiker einwerfen, ist eine theatrale Ästhetik der Präsenz des Anderen und des nicht mehr Dramatischen heute noch im doppelten Wortsinn aufregend? Ist sie bzw. ist sie allein noch die unserer Zeit gemäße Form des Tragischen? Jette Steckel fordert eine Abkehr von der Dekonstruktion des Anderen, eine neue Ernsthaftigkeit im Umgang mit Figuren, Konflikten und Handlungen; die Zeit der Ironie sei vorüber, die traditionelle Konfliktdramaturgie der Tragödie des Anderen habe noch lange nicht ausgedient. Obwohl immer wieder der ausschweifenden Dekonstruktion verdächtigt, hielt schon Castorf als früher Vertreter eines postklassischen Theaters einen mittleren Kurs zwischen richtungsweisend-dramatischer Dialektik und performativer Auflösung, zwischen Darstellung und Präsenz des Anderen.41 Zwar suchte er die theatrale Erkenntnis nicht in der figuralen oder handlungsstringenten Identität, sondern in der ständig-performativen Differenz auf der Bühne. Doch letztlich war ein haltender Gesamtrahmen als Dramaturgie perpetuierend erkennbar, ging man an der Volksbühne nicht weit über Brechts Produktionsverfahren hinaus, indem dialektisch der situativ-gesellschaftserzwungene Widerspruch eingearbeitet wurde. Ähnlich produzierte Herbert Fritsch, der etwa in seiner Züricher Inszenierung von Die Physiker nach Friedrich Dürrenmatt (2013) die aufbrechende Energie aus dem Dampfkessel des als Unbehagen in der Kultur verspürten Gefängnisses der Repräsentation dadurch Ausdruck verlieh, dass er in einem abstrakt in sich abgeschlossenen Bühnenraum die Schauspieler in ihren Rollen über den Energieerhaltungssatz wie Billardkugeln aufeinanderprallen lies. Fritschs Theater setzte ähnlich wie das von Castorf immens korporal-motorische Energie frei, war aber meist kein rein postmodern-energetisches, sondern oft auch und zugleich traditionell-dramatisches, in diesem Sinne aktuelles postklassisches Theater.
41 Andreas Englhart: Das Theater der Gegenwart, München 2013.
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Politisches Theater oder Theater politisch machen? Konfliktmodell oder Überschreitungsmodell im Theater der Gegenwart? Rollenspiel oder Performance Art? Vielleicht sind in einer postfaktischen Zeit, welche die Erlebnisgesellschaft der 1990er-Jahre (Gerhard Schulze) offenkundig durch eine Wiederkehr des Klassismus abgelöst hat, die durch offenkundige Verteilungsungerechtigkeit (Thomas Piketty), durch aufkeimenden Fremdenhass, Stereotypisierung des Anderen und zunehmende globale wie lokale kriegerische Auseinandersetzung geprägt ist, die Theatermacher schon wieder viel weiter und schlauer als die sich streitenden Theoretiker. Wenn man aktuelle Inszenierungen von Susanne Kennedy, Dusan David Parizek, Yael Ronen, Milo Rau, Simon Stone oder Nicolas Stemann, die zu letztjährigen Berliner Theatertreffen oder zum Festival Stücke in Mülheim eingeladen wurden, genauer analysiert, dann fällt auf, dass routiniert und meist nicht unbegründet zwischen dramatischer Handlung, Dialog und Rollenspiel auf der einen und performancenaher, nicht mehr dramatischer Aktion auf der anderen Seite hin- und hergewechselt wird. Diesen theatralen Pragmatismus, diese so kluge wie zeitgemäße Ästhetik subsumiere ich unter den Begriff des postklassischen Theaters. Diesen übernehme ich aus der Filmwissenschaft, in der Michaela Krützen heutige Filmästhetik als Verschichtung von (Post)Moderne und Klassik versteht. Ästhetisch spannende formale Oszillationen, Unübersichtlichkeiten, Paradoxien und oft verwirrende Ambivalenzen korrespondieren im Theater auf dramaturgischer Ebene dem, was Umberto Eco in seiner gleichnamigen Abhandlung als Grenzen der Interpretation definiert. Er plädiert gegen die epistemologischen Fanatismen Fundamentalismus und hermetische Semiose und für ein brauchbares, kontextabhängiges Dazwischen, das sich an den Kriterien Ökonomie und Konsensfähigkeit orientiere. Eine nicht extreme Position sichere, dass eine Gemeinschaft „zwar einen Text als Spielwiese für die unbegrenzte Semiose verwenden“ könne, in bestimmten sozialen wie politischen Situationen jedoch Übereinstimmungen darüber erzielt werden müssten, dass das „‚play of musement‘ eine Weile zu unterbrechen“ wäre, wobei der eine in der Beziehung, der Begegnung und im Dialog mit dem Anderen „dazu nur aufgrund eines (freilich nur transitorischen) Konsens-Urteils fähig“ wäre.42 Dies erweitert die Dekonstruktion in einem postklassischen oder postironischen Theater um die transitorische Dramatisierung. Übertragen auf die Bühne könnte dies etwa bedeuten: Milo Rau reenactete in Hate Radio 2011 einen Genozid in einer dramatisierenden Fiktion, in der jedoch jedes Detail durch akribische Quellenarbeit belegt ist. Die Erinnerungsarbeit läuft nicht im beliebigen „Es könnte auch ganz anders gewesen sein“ aus, durchbricht Gleichgültigkeit in der üblichen Repräsentationskritik durch ein „So
42 Umberto Eco: Die Grenzen der Interpretation, München 1995, S. 440.
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war es!“ in der theatralen Versuchsanordnung, auch wenn das Dramatische offenkundig Fiktion bleibt. Simon Stone eignete sich naturalistische Klassiker wie Ibsens John Gabriel Borkman (2015) oder Tschechows Drei Schwestern (2016) schon auf der dramatischen Ebene frech an, schrieb das Drama radikal-hermeneutisch ins Heutige aktualisierend um und inszenierte den entstandenen TV-Serien-Dialog auffallend filmisch. In Stemanns Inszenierung von Elfriede Jelineks Die Schutzbefohlenen (Jelinek 2013) kritisierten die ‚echten‘ Flüchtlinge aus dem Hamburger Kirchenasyl plötzlich die ‚professionellen‘ Schauspieler, was aber bereits in den theatralen Text eingeschrieben wurde: „Wir können euch nicht helfen, wir müssen euch ja spielen“. Damit eroberte sich Stemann wie so oft eine weitere Metaebene, die sowohl performative Realpräsenz wie auch dramatisches Rollenspiel reflektiertdialektisch integrierte und oberflächlich Postdramatisches ins zeitgemäß Postklassische weiterentwickelte. In Dusan David Parizeks Inszenierung des Stückes von Wolfram Lotz, Die lächerliche Finsternis (Lotz 2013), wurden die männlichen Rollen verfremdend mit Frauen besetzt, um eine reflexionsermöglichende Distanz des Zuschauers zum Bühnengeschehen zu erreichen; die dramatisch-dialogische Handlung der Reise in die Fremde als Reise zum eigenen Unbewussten wurde überraschend durch eine Pausenperformance aufgebrochen, in der die dramatisch Sicherheiten illusionierenden Bretter der Bühne zerlegt und geschreddert, die Haut der deutschen ‚Weißen‘ lustvoll schwarz-dreckig angemalt und das zuvor nur philosophisch reflektierte Sexuelle körperlich ausgelebt wurden. Überzeugend wurde so im weiten, aber notwendigen Rahmen der Dramatisierung von normierenden mentalen und medialen Stereotypen eine theatrale Reise in das Zentrum des eigenen Begehrens, in den ungeschminkten Raum von Eros und Thanatos geboten. Yael Ronen unternahm im postmigrantischen Maxim Gorki Theater mit einem Ensemble an Schauspielern, die in der Mehrzahl Kinder von Eltern sind, welche im Jugoslawienkonflikt zu Opfern oder Tätern wurden, eine individuell betroffen machende, performencenahe Erkundung, die klären sollte, was eigene Identität und Fremdheit des Anderen bedingt. Dies wurde jedoch auf dem Common Ground der Bühne, so der Titel des Projekts, fast im habermasschen Sinne zur Grundlage eines dialektischen, ins Dramatische und in das Rollenspiel eingefügten Versuchs einer utopischtheatralen Verständigung. Susanne Kennedy radikalisierte ihre Installationsästhetik in der Neuinszenierung des Fassbinderfilms Warum läuft Herr K. Amok?, wobei die theatral verstörenden Masken, Bewegungsreduktionen und der von Laien gesprochene, vom Band eingespielte Dialog eine sinnvoll-dramatische Kausalität beibehielt. Auf der Ebene der Anmutung und der Reflexion wurde den Zuschauern klar, wieso Herr R. als Kleinbürger in dieser Gesellschaft mit ihren Zwängen einfach durchdrehen musste, auch hier wurde eine neue Gesellschaftsordnung zumindest indirekt eingefordert, schloss man indirekt an Was tun? von Milo Rau und Der kommende Aufstand des Unbekannten Komitees an.
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Ohne Zweifel untergraben Entdramatisierungen die mit dem Wissen verbundene Macht über Andere, die unabänderlichen Essentialismen und Metaphysiken der Substanz des Anderen. Aber genügen Performanzen der De-Konstruktion des Anderen tatsächlich, um gegenwärtigen Problemen auf Augenhöhe kritisch zu begegnen? So mögen auf der Bühne verhandelte Menschenrechte des Anderen eine Konstruktion sein, und das Tragische wäre, dass der Mensch aufgrund seiner Triebhaftigkeit und Fehlbarkeit sogar Menschenrechte zur Beherrschung des Anderen und zur Zerstörung der Umwelt missbrauchen kann. Aber haben wir eine Alternative? Sind wir nicht letztendlich auf unsere Konstruktionen des Anderen angewiesen? Benötigen wir in einem postklassischen Gegenwartstheater nicht weiterhin dramatische Gestaltungen wie Figur, Handlung, Zeit, Raum und Dialog, um dem Dunkel-Energetischen unserer Existenz erst den Lebens- und Spielraum zu ermöglichen? Die Performancekünstlerin Marina Abramovic provozierte 2010 im MoMa mit The Artist is Present beeindruckende kathartische Momente, gerade weil sie jede Begründung durch den Anderen oder Sinnstiftung durch Narration ins Leere laufen ließ. 2012 forderte das Kollektiv Pussy Riot mit ihrer neoavantgardistischen Punkaktion gar die russische Staatsmacht heraus. Insbesondere scheint es die der Institution und sozialen Situation fremde Korporalmotorik zu sein, die ein solches Theater der Wirksamkeit begründet. Ohne Zweifel ist dabei die Widerstandsfähigkeit und die Kraft zur Veränderung abhängig vom individuellen, gesellschaftlichen wie auch politischen Kontext einer Aktion. Gelingt konkret eine radikale Neustrukturierung eingespielter Wahrnehmungs- und Erfahrungsweisen? Ist avantgardistische Ästhetik primär eine Mittel zur Bekanntheits- und Marktwertsteigerung im Kunstbetrieb oder bewirkt sie eine tatsächliche Veränderung, die oft nicht ohne die Gefährdung der realen Existenz der Performer zu erreichen ist? Sicherlich operierten die Tierschutzaktion zum Schutz der Bären der Moskauer/Petersburger Performance-Gruppe Woina (Krieg) 2008 oder die noch radikaleren Aktionen von Pjotr Pawlenski auf einer ganz anderen ästhetischen wie gesellschaftspolitischen Ebene als viele subventionierten Kunstaktionen hierzulande. Im psychischen wie physischen Liminalitätsraum wird indirekt das ganz Andere erfahrbar, das jedoch über das Sein hinaus einen neuen Horizont eröffnet: „Der Tod“, so Lévinas, „macht jede Sorge, die sich das Ich um seine Existenz und sein Schicksal machen wollte, unsinnig. Ein Unterfangen ohne Erfolg und immer lächerlich: nichts ist komischer als die Sorge, die sich ein Wesen, das der Zerstörung geweiht ist, um sich selbst macht.“ Und mit einem Seitenhieb auf Heidegger und Nietzsche, deren antisokratisches Denken Lévinas selbst tragischerweise als Folie diente: „Aber die ursprüngliche Verantwortung für den Anderen misst sich nicht am Sein, es geht ihr keine Entscheidung voran und der Tod kann sie nicht ad absurdum führen.“43 So
43 Emmanuel Levinas: Humanismus des anderen Menschen, Hamburg 2005, S. 81f.
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gestalte sich im postklassischen Theater eine ethisch zu verstehende „Antwort, die in der Verantwortung für den Anderen besteht, durch die Begegnung“ mit dem Anderen.44 Dies solle jedoch nicht die Hölle in der Bewertung des Anderen aufmachen, wie es in Warum tanzt ihr nicht? (2004) von She She Pop erfahrbar wurde. Es wäre eher über die dramatische bzw. theatrale Erweiterung des Diktums von George Tabori zu erreichen, „jeder Schriftsteller“ müsse ein „Fremder sein, um die Welt zu beschreiben.“ Genauso wenig erschöpft sich die Verantwortung für den Anderen nicht in der surrealistischen Gewalttat, auch oder gerade weil die Performer von Ausländer raus! (2000) täglich um ihre Gesundheit oder gar ihr Leben fürchten mussten – Risiko und Wut wären, so die Kommentare Schlingensiefs und Stemanns zu eigenen Produktionen, das Echo der surrealistischen Tat, auf die Straße zu gehen und mit einem Revolver wahllos in die Menge zu schießen. Ein passender, zynischer Nachklang wären dann jedoch der „Kampf als inneres Erlebnis“ und/oder die intellektuelle Désinvolture, für die Ernst Jünger bekannt geworden ist. Genügen die theatralen wie philosophischen Spiele der Ambivalenz von Anwesenheiten/Abwesenheiten, Präsenzen/Absenzen im Modus ‚Ich ist ein Anderer‘ als Referenz? Können wir Menschen als in die Welt Geworfene, als Storytelling Animal, als Homo Narrans dauerhaft auf Erzählungen verzichten? Wie gestalten wir uns und die Anderen ohne Geschichten, ohne individuelle und gemeinsame Erinnerungsformen? Auch wenn wir heute wissen, dass jeder Erinnerungsakt ein Akt der phantasieträchtigen Fiktionalisierung und Konstruktion von Vergangenheit ist, jede Erinnerung als inneres Reenactment auf eine Vergangenheit verweist, die garantiert so nie ‚wirklich‘ war: Aus psychologischer Sicht basiert der Mensch auf einem funktionierenden individuellen – erweitert: medialen, kulturellen – Gedächtnis, um ein halbwegs funktionierendes stabiles Selbst aufzubauen und nicht verrückt zu werden. Er benötigt mehr oder weniger stabile Heuristiken in der Welterkennung und er ist auf stabile Grundannahmen in der Erkenntnis angewiesen, um überhaupt gegen repressive Strukturen, Gewalttäter und Machthaber Widerstand leisten zu können – sonst treibt er wie ein Blatt im beliebig-postmodernen Wind des Unbewusst-Ungefähren. Letztlich geht es bei der Gestalt bzw. Gestaltung des Anderen um die Toleranz in Bezug auf heuristische Verfahren. Psychologen sprechen bei der Interpretation von Wahrnehmungsinhalten von Top-Down-Prozessen, welche die in der Wahrnehmung lückenhaften Raster, Muster und Informationen aus dem Gedächtnis ergänzen, um ein Ganzes als Gestalt zu konstruieren, um kognitive Dissonanzen zu vermeiden – letztlich, um überhaupt Weltorientierung zu erlangen. Nur so können in einem korrelationistischen Zirkel Objekte erkannt und in einen weltund situationsorientierenden Zusammenhang eingeordnet werden, wobei der hermeneutische Zirkel bzw. ein weithin gültiger Code so etwas wie eine existenzielle
44 Ebd., S. 81. und S. 44.
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Stabilität garantiere. De-konstruktionen lösen diese Stabilität programmatisch auf, da Heuristiken erstens für Fehler anfällig sind und zweitens fälschlicherweise aus Zuschreibungen Essentialitäten transponieren. Dennoch sind Heuristiken im Umgang mit Dramaturgien wichtig. Sie funktionieren im postklassischen Theater als selbstverständliche Gestaltannahmen, die den alltäglichen, schon aus Effizienzgründen erst mal unhinterfragten Umgang mit der Umwelt, dem Anderen und dem Selbst grundieren. In der Handlung werden ständig Hypothesen aus dem Erkannt-Gewesenen formuliert, die im weiteren Verlauf zutreffen oder nicht. Dramaturgien sind auf sogenannte Hypothesentheorien der Wahrnehmung angewiesen, auch oder gerade wenn sie die De-Konstruktion von Hypothesen zum Ziel haben – deren Performanz darf eigentlich nicht wirklich entropisch auslaufen. Und: Tendieren nicht generell affirmative Ästhetiken zur GleichGültigkeit gegenüber dem Anderen? Für Hannah Arendt stellt die Indifferenz die „größte Gefahr dar, auch wenn sie weit verbreitet ist“. Nur marginal weniger gefährlich wäre die weitere „häufig anzutreffende Tendenz, das Urteilen überhaupt zu verweigern.“ Diese Verweigerung wäre unter Umständen eine postmoderne, zugespitzt unter Umständen eine Folie performativer Theaterformen. Aus dem „Unwillen oder der Unfähigkeit, seine Beispiele und seinen Umgang zu wählen, und dem Unwillen oder der Unfähigkeit, durch Urteil zu Anderen in Beziehung zu treten“, entstünden nach Arendt so die tatsächlichen „‚skandala‘, die wirklichen Stolpersteine, welche menschliche Macht nicht beseitigen kann, weil sie nicht von menschlichen oder menschlich verständlichen Motiven verursacht wurden. Darin liegt der Horror des Bösen und zugleich seine Banalität“.45 So gesehen wäre ein oft sich wiederholendes Missverständnis zu korrigieren: Kaum jemand will tatsächlich in Zukunft mit dem Dramatischen und einer Gestalt oder Gestaltung des Anderen in und außerhalb des Theaters ideologisch-reaktionär eine bestimmte Perspektive zur allgemeingültigen erklären. Niemand will über die kritische Hintertür ein transzendentales Signifikat wiedereinführen, das den korrelationistischen Zirkel aufsprengen solle. Vielmehr wäre in einem postklassischen Theater des Anderen zu diskutieren, ob jede dramatische These über den Anderen gleich-wertig und in der resultierenden Haltung zum Anderen gleich-gültig sein soll. Geschichten und das Dramatische helfen durch ihre Struktur des Anderen, nicht durch kommunizierte Konflikte, eindeutige Positionierungen und Problemlösungsmodelle. Es geht also keineswegs um letztgültige Welterklärungen oder einen optimistischen Schluss der Tragödie – gerade die Sterblichkeit, die Banalität des Bösen und das Schuldigwerdenmüssen gegenüber dem Anderen bleiben existentielle und somit theatral relevante Themen. Die weitere Entwicklung des Theaters be-
45 Hannah Arendt: Über das Böse. Eine Vorlesung zu Fragen der Ethik, München 2006, S. 150.
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stimmt vielmehr die Potenzialität der Bühne, den Menschen imaginär und tatsächlich in ein bestimmtes Verhältnis zu sich, den Anderen und der Umwelt zu setzen, auch wenn dieses Verhältnis kein essentielles, sondern immer nur ein relationales sein kann. Dieses Vermögen der Bühne wäre das Spiel, wie es Schiller vor seinen Augen hatte. Von diesem könne wieder eine dramatisch-theatrale Utopie des Anderen ausgehen. Mit Jelinek wäre der andere Raum des Theaters heute noch lebensnotwendig: Im Theater herrsche die Macht „nicht mehr über die gesamte Welt, sondern nur noch über einen abgegrenzten Raum, und daher kann man anfangen, mit ihr zu spielen“.46 Das Spiel ist durchaus ernst, hat Regeln, aber keine harten oder wenig Konsequenzen. Seine Freiheit begründe sich gerade darin, nicht authentisch sein zu müssen. Seine Relevanz baue darauf, nicht gleich-gültig, unberührbar oder unempathisch zu sein. Die Ethik des postklassischen Theaters läge im Angebot einer mehr oder weniger dramatischen menschlichen Form des Anderen und deren potentiellen, aber nicht beliebig-gleichgültigen Dekonstruktion im Spiel zwischen Rolle und Ereignishaftigkeit der Aufführung.
46 Elfriede Jelinek: „Leider gleich ein kleiner Essay“, in: Deutscher Bühnenverein (Hg.), Muss Theater sein?, Köln 2003, S. 28-31, hier S. 31.
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Choreografischer Baukasten Das Buch 2015, 280 S., kart., zahlr. Abb. 29,99 € (DE), 978-3-8376-3186-9 E-Book PDF: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3186-3
Susanne Quinten, Stephanie Schroedter (Hg.)
Tanzpraxis in der Forschung — Tanz als Forschungspraxis Choreographie, Improvisation, Exploration. Jahrbuch TanzForschung 2016 2016, 248 S., kart., zahlr. z.T. farb. Abb. 29,99 € (DE), 978-3-8376-3602-4 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation ISBN 978-3-8394-3602-8
Marion Leuthner
Performance als Lebensform Zur Verbindung von Theorie und Praxis in der Performance-Kunst. Linda Montano, Genesis P-Orridge und Stelarc 2016, 384 S., kart. 34,99 € (DE), 978-3-8376-3742-7 E-Book PDF: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3742-1
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Theater- und Tanzwissenschaft Milena Cairo, Moritz Hannemann, Ulrike Haß, Judith Schäfer (Hg.)
Episteme des Theaters Aktuelle Kontexte von Wissenschaft, Kunst und Öffentlichkeit (unter Mitarbeit von Sarah Wessels) 2016, 664 S., kart., zahlr. Abb. 39,99 € (DE), 978-3-8376-3603-1 E-Book PDF: 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3603-5
Katharina Kelter, Timo Skrandies (Hg.)
Bewegungsmaterial Produktion und Materialität in Tanz und Performance 2016, 396 S., kart., zahlr. z.T. farb. Abb. 39,99 € (DE), 978-3-8376-3420-4 E-Book PDF: 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3420-8
Tania Meyer
Gegenstimmbildung Strategien rassismuskritischer Theaterarbeit 2016, 414 S., kart., zahlr. Abb. 39,99 € (DE), 978-3-8376-3520-1 E-Book PDF: 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3520-5
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