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German Pages 264 Year 2009
Tübinger Schriften zum internationalen und europäischen Recht Band 91
Das Subsidiaritätsprinzip im Prozess europäischer Konstitutionalisierung Von Philipp Molsberger
asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin
PHILIPP MOLSBERGER
Das Subsidiaritätsprinzip im Prozess europäischer Konstitutionalisierung
Tübinger Schriften zum internationalen und europäischen Recht Herausgegeben von Thomas Oppermann in Gemeinschaft mit Heinz-Dieter Assmann K r i s t i a n K ü h l , H a n s v. M a n g o l d t We r n h a r d M ö s c h e l , M a r t i n N e t t e s h e i m Wo l f g a n g G r a f Vi t z t h u m , J o a c h i m Vog e l sämtlich in Tübingen
Band 91
Das Subsidiaritätsprinzip im Prozess europäischer Konstitutionalisierung
Von Philipp Molsberger
asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin
Die Juristische Fakultät der Eberhard Karls Universität Tübingen hat diese Arbeit im Wintersemester 2006 / 2007 als Dissertation angenommen.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
D 21 Alle Rechte vorbehalten # 2009 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: TextFormA(r)t, Daniela Weiland, Göttingen Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0720-7654 ISBN 978-3-428-12556-2 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier ∞ entsprechend ISO 9706 *
Internet: http://www.duncker-humblot.de
Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Wintersemester 2006/2007 von der Juristischen Fakultät der Eberhard Karls Universität Tübingen als Dissertation angenommen. Meinem akademischen Lehrer und Doktorvater, Herrn Professor Dr. Dr. h. c. Wolfgang Graf Vitzthum, LL. M. (Columbia), bin ich zu großem Dank verpflichtet. In den Jahren als Mitarbeiter seines Lehrstuhls, während derer vorliegende Arbeit entstand, erfuhr ich nicht nur jede denkbare Freiheit, sondern vor allem eine außerordentliche Förderung, Unterstützung und wertvolle Anregungen. Herrn Professor Dr. Martin Nettesheim danke ich für die schnelle Erstellung des Zweitgutachtens. Besonderer Dank gebührt auch Herrn Prof. Dr. Dres. h. c. Thomas Oppermann für die ehrenvolle Aufnahme der Arbeit in die „Tübinger Schriften zum internationalen und europäischen Recht“. Mein erster Kontakt mit dem Subsidiaritätsprinzip entstand während der Wahlstation des juristischen Vorbereitungsdienstes in der Abteilung V des Staatsministeriums von Baden-Württemberg. Der dortigen Referatsleiterin, Frau Ministerialrätin Dr. Alexandra Zoller, sowie Herrn Ministerialrat Dr. Stefan Lehr schulde ich daher ebenfalls Dank. Ohne steten Rückhalt, Verständnis und mannigfaltige Unterstützung aus meinem persönlichen Umfeld wäre diese Arbeit niemals entstanden. An erster Stelle gebührt hier großer Dank meiner lieben Lebensgefährtin, Frau Rechtsanwältin Dr. Angela Brett, die mit wertvoller Hilfe und unerschütterlicher Geduld die gesamte Entstehungsphase der Dissertation begleitet hat. Meinem ehemaligen Lehrstuhlkollegen, Herrn Rechtsanwalt Dr. Andreas Wax, danke ich für die Durchsicht des Manuskripts. Ein besonderer Dank sei der Reinhold-und-Maria-Teufel-Stiftung, Tuttlingen, für die ehrenhafte und großzügige Auszeichnung der Arbeit ausgesprochen. Der letzte Dank gilt meinen Eltern, welche die Entstehung dieser Arbeit in jeder Hinsicht gefördert und unterstützt haben. Ihnen sei dieses Buch gewidmet. Stand dieser Arbeit ist der Herbst 2006. Die spannenden Entwicklungen danach zur Rettung des Konzepts einer Neuordnung des Europäischen Vertragsrechts (Reformvertrag) sind nicht mehr berücksichtigt. Dies wäre daher Aufgabe anderer Arbeiten; Europas Entwicklung ist weiterhin spannend, in permanentem Fluss und jeglicher Beachtung wert. Tübingen, im August 2008
Philipp Molsberger
Inhaltsverzeichnis Inhaltsverzeichnis Einführung: Das Subsidiaritätsprinzip I.
Die Mehrdimensionalität des Subsidiaritätsprinzips . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
11
II. Das Subsidiaritätsprinzip im Europarecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
19
III. Gang der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
22
Kapitel 1
1
Das Subsidiaritätsprinzip in der Zeit vor dem Verfassungsvertrag I.
Das Subsidiaritätsprinzip vor Maastricht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
25
1. Art. 5 EGKSV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
25
2. Das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
27
3. Art. 308 (ex-Art. 235 EWGV) EGV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
30
4. Art. 94 (ex-Art. 100 EWGV) EGV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
33
5. Art. 3 h) (ex-Art. 3 h) EWGV) EGV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
34
6. Art. 130 r Abs. 4 EWGV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
37
7. Der Charakter des Rechtssetzungsinstruments der Richtlinie . . . . . . . . . . . . . . . . .
40
8. Weitere Rechtsquellen und Dokumente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
43
a) Der Verfassungsentwurf des Europäischen Parlaments von 1984 . . . . . . . . . . .
43
b) Die Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer . . . . . . .
45
II. Das Subsidiaritätsprinzip nach Maastricht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
46
1. Art. 5 Abs. 2 (ex-Art. 3 b Abs. 2 ) EGV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
46
a) Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
46
b) Zum Insuffizienz-Kriterium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
49
c) Zum Kriterium der Effizienz-Optimierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
52
d) Das Verhältnis des Insuffizienz-Kriteriums zum Kriterium der Effizienz-Optimierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
54
e) Konkretisierungen der Subsidiaritätskriterien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
57
2. Die Präambel und Art. 2 Abs. 2 (ex-Art. B Abs. 2) des EUV . . . . . . . . . . . . . . . . .
58
3. Justiziabilität des Subsidiaritätsprinzips . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
61
III. Das Subsidiaritätsprinzip nach Amsterdam . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
64
8
Inhaltsverzeichnis Kapitel 2
2
Der Weg zum Vertrag über eine Verfassung für Europa I.
Die Notwendigkeit einer Reform der Union . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
71
1. Die Debatte um eine Europäische Verfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
71
a) Das Vertragswerk als Verfassung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
71
b) Die Grundsatzrede von Joseph Fischer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
74
2. Der Vertrag von Nizza . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
77
3. Die Erklärung von Laeken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
81
4. Der Lamassoure-Bericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
86
II. Arbeit und Ergebnisse des Konvents zur Zukunft Europas in Bezug auf das Subsidiaritätsprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
90
1. Die Struktur des Konvents . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
90
2. Der Vorentwurf des Konventspräsidiums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
95
3. Die Arbeitsgruppe „Subsidiarität“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
97
a) Das Mandat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
97
b) Beiträge von Konventsmitgliedern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 c) Die Schlussfolgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 d) Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 4. Das Subsidiaritätsprinzip in den Plenartagungen des Konvents . . . . . . . . . . . . . . . 112 5. Die Regierungskonferenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 III. Die Aussagen weiterer Entwürfe einer Verfassung für Europa zum Subsidiaritätsprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 1. Der Freiburger Entwurf, Schwarze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 2. Eine Verfassung für ein starkes Europa – das Kongressdokument der EVP . . . . . . 133 3. Der Verfassungsentwurf der Europäischen Volkspartei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 4. Der Cambridge-Text, Dashwood . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 5. Die Constitution Européenne, Badinter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 6. Der Berliner Entwurf, Gloser/Roth . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144
3
Inhaltsverzeichnis
9
Kapitel 3
4
Das Subsidiaritätsprinzip im Vertrag über eine Verfassung für Europa I.
Art. I-11 des Verfassungsvertrags . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 1. Normative Befundnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 2. Natur, Struktur und Adressaten des Art. I-11 Abs. 3 VVE . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 a) Zur Rechtsnatur des Subsidiaritätsprinzips im Verfassungsvertrag . . . . . . . . . . 148 b) Nichtanwendbarkeit auf Bereiche ausschließlicher Zuständigkeit . . . . . . . . . . . 149 c) Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 d) Welche Rechtsakte der Union unterliegen dem Subsidiaritätsprinzip? . . . . . . . . 153 e) Normadressaten des Subsidiaritätsprinzips . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 f) „Nach dem Subsidiaritätsprinzip“ – Nach welchem? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 3. Die zwei Kriterien des Subsidiaritätsprinzips . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 a) Das Insuffizienz-Kriterium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 b) Das Kriterium der Effizienz-Optimierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 c) Die Verbindung beider Kriterien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 d) Weitere Unterschiede zwischen Konventsentwurf und Verfassungsvertrag . . . . 174 e) Materielle Konkretisierungen des Subsidiaritätsprinzips in Protokollen? . . . . . . 175 f) Zusammenfassende Bewertung des Art. I-11 VVE . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176
II. Weitere Verortungen und Aspekte des Subsidiaritätsprinzips im Verfassungsvertrag . . 177 1. Art. I-18 VVE . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 2. Die Präambel der Grundrechtecharta und Art. II-111 VVE . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 3. Art. III-259 VVE . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184 4. Art. III-266 VVE . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 5. Sonstige Anklänge an das Subsidiaritätsprinzip? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 III. Die Mechanismen zur Gewährleistung des Subsidiaritätsprinzips . . . . . . . . . . . . . . . 190 1. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190 2. Anwendungsbereich des Subsidiaritätsprotokolls . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192 3. Die Begründungspflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 4. Das Frühwarnsystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200 a) Allgemeine Erwägungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200 b) „Nationale Parlamente“? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202 c) Das Stellungnahmerecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206 5. Die Subsidiaritätsklage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213
10
Inhaltsverzeichnis a) Gegenstand der Klage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 b) Zuständiges Gericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 c) Klageberechtigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216 d) Durchführung des Frühwarnsystems als Klagevoraussetzung? . . . . . . . . . . . . . . 220 e) Klagefrist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222 f) Umfang der Begründetheitsprüfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 g) Rechtsfolge einer begründeten Subsidiaritätsklage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226
Résumé und Ausblick I.
Zu den materiellrechtlichen Aspekten des Subsidiaritätsprinzips . . . . . . . . . . . . . . . . 228
II. Zu den prozeduralen Aspekten des Subsidiaritätsprinzips . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 III. Zur Zukunft des Verfassungsvertrags – abschließende Bemerkungen . . . . . . . . . . . . . 235
Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238 Rechtsprechungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254 I.
EuGH/EuG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254
II. BVerfG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 Dokumentenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 256 I.
Völkerrechtliche Verträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 256
II. Europarechtliche Verträge, Rechtsakte und sonstige Dokumente (einschließlich Dokumente des Konvents zur Zukunft Europas) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 256 III. Gesetze und Dokumente der Bundesrepublik Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261 Sachwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 262
Einführung: Das Subsidiaritätsprinzip Einführung: Das Subsidiaritätsprinzip
I. Die Mehrdimensionalität des Subsidiaritätsprinzips I. Die Mehrdimensionalität des Subsidiaritätsprinzips „Am andern Morgen setzte sich Mose, um dem Volk Recht zu sprechen. Und das Volk stand um Mose her vom Morgen bis zum Abend. Als aber sein Schwiegervater alles sah, was er mit dem Volk tat, sprach er: Was tust du denn mit dem Volk? Warum musst du ganz allein da sitzen, und alles Volk steht um dich her vom Morgen bis zum Abend? Mose antwortete ihm: Das Volk kommt zu mir, um Gott zu befragen. Denn wenn sie einen Streitfall haben, kommen sie zu mir, damit ich richte zwischen dem einen und dem andern und tue ihnen kund die Satzungen Gottes und seine Weisungen. Sein Schwiegervater sprach zu ihm: Es ist nicht gut, wie du das tust. Du machst dich zu müde, dazu auch das Volk, das mit dir ist. Das Geschäft ist dir zu schwer; du kannst es allein nicht ausrichten. Aber gehorche meiner Stimme; ich will dir raten, und Gott wird mit dir sein. Vertritt du das Volk vor Gott und bringe ihre Anliegen vor Gott und tu ihnen die Satzungen und Weisungen kund, dass du sie lehrest den Weg, auf dem sie wandeln, und die Werke, die sie tun sollen. Sieh dich aber unter dem ganzen Volk um nach redlichen Leuten, die Gott fürchten, wahrhaftig sind und dem ungerechten Gewinn feind. Die setze über sie als Oberste über tausend, über hundert, über fünfzig und über zehn, dass sie das Volk allezeit richten. Nur wenn es eine größere Sache ist, sollen sie diese vor dich bringen, alle geringeren Sachen aber sollen sie selber richten. So mach dir‘s leichter und lass sie mit dir tragen. Wirst du das tun, so kannst du ausrichten, was dir Gott gebietet, und dies ganze Volk kann mit Frieden an seinen Ort kommen. Mose gehorchte dem Wort seines Schwiegervaters und tat alles, was er sagte, und erwählte redliche Leute aus ganz Israel und machte sie zu Häuptern über das Volk, zu Obersten über tausend, über hundert, über fünfzig und über zehn, dass sie das Volk allezeit richteten, die schwereren Sachen vor Mose brächten und die kleineren Sachen selber richteten. Und Mose ließ seinen Schwiegervater wieder in sein Land ziehen.“1
Das Subsidiaritätsprinzip ist in aller Munde. Der Begriff ist „Mythos und Mode“ (Josef Isensee)2, mittlerweile „Allgemeingut“, hat „Eingang in politische Programme und Parteisatzungen gefunden und kaum eine ordnungspolitische Debatte (möchte) auf seine Appellqualität verzichten“ (Alois Baumgartner).3 Gleichermaßen überbordend wie die Beschwörung der Subsidiarität in der politischen Praxis erscheinen die wissenschaftlichen Annäherungsversuche an das Prinzip:4 Nichts gibt es, zu dem nicht bereits – meist mehrfach – geschrieben wurde. Dennoch oder 1
Ex. 18, 13–27; Übersetzung Martin Luther, revidierte Fassung von 1984. Isensee, Subsidiaritätsprinzip und Verfassungsrecht, S. 9. 3 Baumgartner, „Jede Gesellschaftstätigkeit ist ihrem Wesen nach subsidiär“, S. 13. 4 Grundlegend etwa Pieper, Subsidiarität – Ein Beitrag zur Begrenzung der Gemeinschaftskompetenzen (1992); Nörr/Oppermann (Hrsg.), Subsidiarität: Idee und Wirklichkeit (1997); Calliess, Subsidiaritäts- und Solidaritätsprinzip in der Europäischen Union, 2. Auflage (1999); Isensee, Subsidiaritätsprinzip und Verfassungsrecht, 2. Auflage (2001). 2
Einführung: Das Subsidiaritätsprinzip
12
gerade deswegen wirkt der Begriff unscharf und konturenlos. Treffend beschreibt der katholische Sozialethiker Baumgartner das Dilemma: „Durchaus unterschiedliche Ansprüche werden unter Berufung auf (den Subsidiaritätsbegriff) geltend gemacht. Divergierende Ziele werden nicht weniger mit ihm in Verbindung gebracht als höchst differente Begründungen. Es erscheint so, als habe der Gedanke der Subsidiarität in der Stunde seines Erfolgs seine Identität und Identifizierbarkeit verloren, als sei eine gewisse Beliebigkeit seiner Interpretation der Preis seiner allseitigen Anerkennung.“5 Es gilt: Je häufiger das Subsidiaritätsprinzip in Theorie wie Praxis Erwähnung und Erwägung findet, desto weiter gehen die Meinungen über seinen Inhalt auseinander. Eine von vielen „Welterklärungsformeln“ (Peter Lerche, freilich ironisch)6? Ein „föderalistisches Schwert“ (Wolfgang Kahl)7? Ein „Zauberwort“ (Hartmut Kühne)8 oder „nur ein Wort“ (Dieter Grimm)9? Ein „Goobledegook“ (Margaret Thatcher)10? Allenfalls konsensfähig – und nahe dem lateinischen Ursprung des Wortes11 – scheint sein Grundgedanke, „dass einer den Vorrang genießt und ein anderer dahinter zurücktreten soll“ (Günter Püttner)12. Aus diesem Grundgedanken lassen sich noch einige weitere Schlüsse ziehen. Das Subsidiaritätsprinzip stellt – in welcher Weise und in welchen Situationen auch immer – ein Organisationsschema dar, welches das Zusammenspiel verschiedener Größen mittels einer Rangentscheidung regelt. Es befasst sich also mit der sachgerechten Lösung von Zuständigkeitskontroversen im weitesten Sinne;13 hierzu können sowohl Kompetenzkonkurrenzen („Wer darf etwas tun?“) als auch Berechtigungskonflikte („Wer darf/soll etwas bekommen?“) zählen. Zu seiner Anwendbarkeit bedarf es folglich mindestens zweier Einheiten,14 nach „oben hin“ besteht keine zahlenmäßige Grenze. Die durch das Subsidiaritätsprinzip festgelegte Rangentscheidung kann gegenstands5
Baumgartner, „Jede Gesellschaftstätigkeit ist ihrem Wesen nach subsidiär“, S. 13. Lerche, Föderalismus als nationales Ordnungsprinzip, S. 76. 7 Kahl, Möglichkeiten und Grenzen des Subsidiaritätsprinzips, S. 435. 8 Kühne, Auslaufmodell Föderalismus?, S. 143. Siehe auch Constantinesco, „Subsidiarität“: Magisches Wort oder Handlungsprinzip der Europäischen Union?, S. 561 ff. 9 Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 17.9.1992, S. 38. 10 Zitiert nach Hilf, Subsidiarität als Verfassungsgrundsatz der Europäischen Union, S. 7, der einige Bedeutungen dieses Worts anbietet – „confusing nonsense“; „pretentious or unintelligible language“. 11 Das dem militärischen Sprachgebrauch entstammende subsidium bezeichnet „die im Rücken zurückbleibende Hilfe (Rückhalt, Reservetruppe), die erst eingreift, wenn die in der vordersten Schlachtreihe stehenden Kräfte nicht ausreichen. Insofern entspricht der Wortgehalt der Vorschrift von einem Krafteinsatz, der erst in zweiter Linie in Betracht kommt“, Calliess, Subsidiaritäts- und Solidaritätsprinzip, S. 25. Zu Sinn und Unsinn etymologischer Auslegung im Zusammenhang mit dem Subsidiaritätsprinzip vgl. Isensee, Subsidiaritätsprinzip und Verfassungsrecht, S. 15; Moersch, Leistungsfähigkeit und Grenzen des Subsidiaritätsprinzips, S. 23 Fn. 1. 12 Püttner, Die Relevanz des europarechtlichen Subsidiaritätsprinzips, S. 47. 13 Vgl. Zöllner, Subsidiarität zwischen den Gestaltungsfaktoren der Arbeitsbedingungen, S. 227. 14 Isensee, Subsidiaritätsprinzip und Verfassungsrecht, S. 54. 6
I. Die Mehrdimensionalität des Subsidiaritätsprinzips
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bezogen, zeitlich oder territorial sein;15 genauso kann sie sich an anderen Schichtungen orientieren. Hat es mit diesen Grundfeststellungen schon sein Bewenden? Weitere Inhalte können womöglich nicht als notwendige Bestandteile dieses Prinzips benannt werden. Insbesondere erscheint es bei einer an der „wortgemäßen Bedeutung“ des Prinzips orientierten Betrachtung nicht zwingend notwendig, in den Grundgedanken der Subsidiarität – den einer Rangentscheidungsregelung – das grundsätzliche Vorrecht bestimmter Vergleichseinheiten hineinzulesen. Insoweit mutet das Prinzip zunächst einmal inhaltsneutral an: Die Entscheidung, wem der Vorrang gebührt, ist dem Anschein nach nicht sein Wesenskern; dies ist allein das Dekret, dass er irgendjemandem gebührt. Die Entscheidung zugunsten der einen oder der anderen Einheit im subsidiären Verhältnis verschiedener Größen könnte dementsprechend auf die Grundlage beliebiger Faktoren gestützt werden. Freilich verdient eine solche auf den vermeintlich kleinsten gemeinsamen Nenner kondensierte Quintessenz des Wortes Subsidiarität nicht den Beinamen „Prinzip“. Zudem beruht sie auf einem fehlerhaften Denkansatz: Es verbietet sich, inhaltsblind aus dem Namen eines Begriffs Rückschlüsse auf dessen Inhalt zu ziehen – „(D)er Name hat sich am Wesen zu rechtfertigen, nicht umgekehrt“ (Josef Isensee)16. Jenes Wesen des Subsidiaritätsprinzips ist viel älter als sein Begriff; sein Grundgedanke ist „uralt“17, auch wenn es den terminus technicus erst seit neuerer Zeit als Namen führt. Kernbestandteil und Grundmerkmal des Subsidiaritätsprinzips, das „axiologische Substrat“ (Antonio D’Atena),18 ist dabei stets die Präferenzentscheidung zugunsten unterer Ebenen.19 Jene unteren Instanzen bzw. kleineren Körperschaften und Einheiten im Organigramm einer Gemeinschaft oder Gesellschaft sollen solange Handlungsvorrang genießen, als ihre Kräfte zur Bewältigung der in Betracht stehenden Aufgabe ausreichen.20 Erst nachrangig soll die höhere Ebene zum Zuge kommen. Prüfungskriterium kann dabei zum einen die Frage sein, ob – ein Blick von „unten“ – die niedrigere Ebene die gestellte Aufgabe unzureichend erfüllt (im Folgenden: Insuffizienz-Kriterium); genauso kann – Blick von „oben“ – gefragt werden, ob die höhere Ebene zu einer besseren Aufgabenbewältigung imstande ist (Kriterium der Effizienz-Optimierung).21 Beide Kriterien können auch 15
Püttner, Die Relevanz des europarechtlichen Subsidiaritätsprinzips, S. 47. Isensee, Subsidiaritätsprinzip und Verfassungsrecht, S. 15. 17 So auch Herzog, Subsidiarität, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 10 Spalte 482. 18 D’Atena, Die Subsidiarität: Werte und Regeln, S. 327. 19 In den nachfolgenden Ausführungen wird der Ebenenbegriff im Zusammenhang mit nationalen und supranationalen Schichtungen in Anführungszeichen gesetzt. Damit soll dem Missverständnis entgegengewirkt werden, die Bezeichnung „Ebene“ charakterisiere ein „prinzipielles Über-/Unterordnungsverhältnis“, etwa zwischen Bund und Ländern in der Bundesrepublik Deutschland, oder zwischen der Europäischen Union und ihren Mitgliedstaaten. Vgl. hierzu Graf Vitzthum, Der Föderalismus in der europäischen und internationalen Einbindung der Staaten, S. 282. 20 Isensee, Subsidiaritätsprinzip und Verfassungsrecht, S. 33. 21 Terminologie nach B/L/Lehr, Der Amsterdamer Vertrag, S. 199 ff. 16
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Einführung: Das Subsidiaritätsprinzip
nebeneinander stehen. Das Subsidiaritätsprinzip ist demnach kein inhaltsleerer Rangentscheidungsgrundsatz, vielmehr stellt es „eine Relation zwischen Aufgaben und einem Kompetenzträger her“22 und entscheidet konkrete Kompetenzkonflikte im Sinne eines grundsätzlichen Primats des kleineren Verbands – „minus“ vor „maius“, „inferius“ vor „altius“.23 Die Fragen nach der Herkunft dieses Schemas, nach seiner Fundierung, seinen Motiven und nach seinen genauen Ausformungen sind mit dieser Grundsatzfestlegung indes noch nicht beantwortet. Die Zahl der Antworten hierzu ist Legion: Das Subsidiaritätsprinzip hat „nicht nur einen Vater“ (Antonio D’Atena)24, seine Wurzeln sind auf religiöse Quellen25 und Lehren26, Ansätze aus der neuscholastischen Naturrechtslehre27, soziologisch-philosophische Ansätze28 und staatsphilosophische Überlegungen29 gegründet.30 Auf sie erschöpfend einzugehen würde den Rahmen dieser – wahrscheinlich jeder – Arbeit sprengen. Der eingangs zitierte Abschnitt aus dem zweiten Buch Mose ist jedenfalls die wohl älteste Beschreibung eines am Subsidiaritätsprinzip orientierten Organisationsmodells:31 Es ist „nicht gut“, wenn die höhere Ebene (Mose) alles macht, weder für sie selbst, noch für das Volk. Die alltägliche Aufgabenbewältigung soll daher einer unteren Ebene (eingesetzte Richter) vorbehalten sein. Diese ist ihrerseits („über tausend, über hundert, über fünfzig und über zehn“) in weitere Ebenen geschichtet, welche abgestuft für die „geringeren Sachen“ zuständig sind. Allein 22
Moersch, Leistungsfähigkeit und Grenzen des Subsidiaritätsprinzips, S. 79. Isensee, Subsidiaritätsprinzip und Verfassungsrecht, S. 23. 24 D’Atena, Die Subsidiarität: Werte und Regeln, S. 328. 25 So etwa der erwähnte Abschnitt im Buch Exodus. 26 Bspw. die Enzyklika „Quadragesimo Anno“. Dazu im Folgenden. 27 Stewing, Subsidiarität und Föderalismus, S. 11 f.; Bernzen, Das Subsidiaritätsprinzip als Prinzip des deutschen Staatsrechts, S. 19 ff.; Isensee, Subsidiaritätsprinzip und Verfassungsrecht, S. 21 ff. 28 Stewing, Subsidiarität und Föderalismus, S. 9 f. m. w. N. 29 Die Ursprünge sind hier bei Aristoteles und Platon zu finden, vgl. Höffe, Subsidiarität als staatsphilosophisches Prinzip, S. 56 ff. – Freilich bestehen grundlegende Unterschiede zwischen Föderalismus und Subsidiarität, die eine unreflektierte Koppelung beider Prinzipien verbieten. Dazu im Folgenden. Auf die griechische Staatsphilosophie stützt sich weiterführend auch das thomasische Denken, wonach – ausgehend vom „Dasein“ als Stufenordnung – „die Einrichtung von Gemeinschaften der verschiedensten Art, angefangen von der Familie bis hin zum Staate mit den entsprechenden Autoritäten und sittlichen Normen“ erforderlich ist, Steffes, Thomas von Aquin und das moderne Weltbild, S. 20. Die Lehre des Thomas ist wiederum eine der Grundlagen der im 19. Jahrhundert entwickelten Neuscholastik, Calliess, Subsidiaritäts- und Solidaritätsprinzip, S. 29 Fn. 27. 30 Umfangreiche Literaturnachweise bei Isensee, Subsidiaritätsprinzip und Verfassungsrecht, S. 33 f. 31 Die Ratschläge des Jitro an Mose gelten auch heute noch als passendes Exempel für das Subsidiaritätsprinzip, vgl. z. B. die Rede des baden-württembergischen Staatsministers Christoph Palmer beim 26. Jahreskongress des Studienzentrums Weikersheim am 7. Mai 2004, „Die Verankerung christlich-abendländischer Grundwerte in der geplanten EU-Verfassung“, im Internet abrufbar unter http://www.stm.baden-wuerttemberg.de/sixcms/media.php/629/rede_ palmer_weikersheim.pdf. 23
I. Die Mehrdimensionalität des Subsidiaritätsprinzips
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„größere“ Angelegenheiten sollen vor Mose verhandelt werden. Mit diesem Ratschlag gelingt es Jitro, dem Schwiegervater des Mose, die Last der zu erledigenden Aufgaben für den Einzelnen zu reduzieren („lass sie mit Dir tragen“). Dies führt zu Entbürdung („mach dir‘s leichter“), Effizienz (Das Richten währt nicht mehr „vom Morgen bis zum Abend“) und Bürgernähe („redliche Leute aus ganz Israel“ sollen über ihr Volk richten). Das so verstandene Subsidiaritätsprinzip findet seine ideengeschichtlichen Wurzeln als Organisationsgrundsatz einer res publica wie erwähnt freilich nicht allein im zweiten Buch Mose. Auf vier weitere Fundamente soll hier beispielhaft noch in aller Kürze eingegangen werden. Das erste Exempel entstammt dem calvinistischen Kirchenrecht: Auf der Emdener Synode im Jahre 1571 wurde in Bezug auf den Aufbau der Kirchen und ihr Verhältnis zueinander festgelegt: „Keine Gemeinde soll über andere Gemeinden (…) den Vorrang oder die Herrschaft beanspruchen (…). Provinzial- und Generalsynoden soll man nicht Fragen vorlegen, die schon früher behandelt und gemeinsam entschieden worden sind, (…) und zwar soll nur das aufgeschrieben werden, was in den Sitzungen der Konsistorien nicht entschieden werden konnte oder was alle Gemeinden der Provinz angeht.“32 Der Gedanke des Subsidiaritätsprinzips als einer Determinante der Gesellschaftsordnung findet sich ferner in der Enzyklika „Rerum Novarum“ des Jahres 1891 von Papst Leo XIII. Dort wird „als gewaltiger und verderblicher Irrtum“ bezeichnet, zu fordern, „dass das Gutdünken der staatlichen Gewalt bis in das Innerste von Haus und Heim regiert. Allerdings, wenn eine Familie sich in schwerster Bedrängnis und Ratlosigkeit befände, aus der sie sich in keiner Weise mit eigener Kraft befreien kann, dann ist es gewiss am Platze, diesem äußersten Notstand abzuhelfen“.33 Die wohl bekannteste und konkreteste Einführung des Subsidiaritätsprinzips als ein Verfassungsprinzip erfolgte im Jahre 1931 in der päpstlichen Sozialenzyklika „Quadragesimo Anno“ (Pius XI.). Hier heißt es: „Wie dasjenige, was der Einzelmensch aus eigener Initiative und mit seinen eigenen Kräften leisten kann, ihm nicht entzogen und der Gesellschaftstätigkeit zugewiesen werden darf, so verstößt es gegen die Gerechtigkeit, das, was die kleineren und untergeordneten Gemeinwesen leisten und zum guten Ende führen, für die weitere und übergeordnete Gemeinschaft in Anspruch zu nehmen; zugleich ist es überaus nachteilig und verwirrt die ganze Gesellschaftsordnung. Jedwede Gesellschaftstätigkeit ist ja ihrem Wesen nach subsidiär; sie soll die Glieder des Sozialkörpers unterstützen, darf sie aber niemals zerschlagen oder aufsaugen.“34 Ein letztes Beispiel für den 32
Zitiert nach Calliess, Subsidiaritäts- und Solidaritätsprinzip, S. 30 Fn. 34. Zitiert nach Bernzen, Das Subsidiaritätsprinzip als Prinzip des deutschen Staatsrechts, S. 17; Text ebenfalls abgedruckt bei Stewing, Subsidiarität und Föderalismus, S. 7. 34 Zitiert nach Heun/Schöpsdau, Evangelisches Staatslexikon, Spalte 2423. Im Unterschied zur evangelischen hat die katholische Kirche freilich das Postulat des Subsidiaritätsprinzips für ihre eigenen Strukturen nur eingeschränkt übernommen, vgl. Schmidhuber, Das Subsidiaritätsprinzip im Vertrag von Maastricht, S. 417. Sie bleibt auch nach Quadragesimo Anno eine zentralistisch ausgerichtete Organisation – fast „alle Wege führen nach Rom“. 33
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Einführung: Das Subsidiaritätsprinzip
Gedanken einer nach dem Subsidiaritätsprinzip aufgebauten Staats- und Gesellschaftsstruktur liefert der Völkerrechtler, spätere Kreisauer und Widerstandskämpfer gegen das NS-Regime Helmuth James Graf von Moltke im Jahre 1939. Dort heißt es in einer Denkschrift, die in eindrucksvoller Weitsicht auch die europäische Dimension in den Blick nimmt: „Ich gehe davon aus, dass es für eine europäische Ordnung unerträglich ist, wenn der einzelne Mensch isoliert und nur auf eine große Gemeinschaft, den Staat, ausgerichtet wird“35 – ein beeindruckendes Exempel „europäischen Denkens von unten“ in gänzlich uneuropäischer Zeit.36 So vielfältig wie die Ursprünge und Ausprägungen des Subsidiaritätsprinzips sind, so mannigfaltig und komplex sind auch die mit ihm in seiner Eigenschaft als Organisationsschema verbundenen Wirkungsvorstellungen. Subsidiarität gilt als „Synonym für Bürgernähe und Gouvernanzoptimierung“ (Christian Calliess)37, Garant für Demokratie, Identitätsstifter, Axiom liberaler Staatlichkeit38 („Liberale Staatlichkeit ist daher nur legitim, soweit sie subsidiär ist, Josef Isensee39), ökonomisches Effizienzprinzip und Garant wie nucleus föderaler Ordnung. Letztere These vom „untrennbaren“40 Sinnzusammenhang von Subsidiarität und Föderalismus soll hier in aller gebotenen Knappheit kritisch hinterfragt werden. Sie erscheint für diese Arbeit insoweit von Bedeutung, als jene Prinzipien in Europapolitik und Wissenschaft fast schon regelmäßig im Akkord erklingen41 – bedingt der eine Begriff den anderen? Sind sie gar inhaltsgleich, mithin austauschbar? Zunächst ist im europäischen Kontext42 bei der Verwendung der Begriffe „föderal“/ „Föderalismus“ stets eine gewisse Vorsicht geboten: Im deutschen Sprachraum sind diese termini positiv belegt und stehen für politische Werte wie Pluralismus43, 35
Zitiert nach Graf von Schwerin, Moltke und Europa, S. 18. Im Zusammenhang mit dem Widerstand gegen Adolf Hitler kann weiterführend auf ein interessantes „Gegenmodell“ zum klassischen Subsidiaritätsverständnis hingewiesen werden: Der schwäbische Generalstabsoffizier Claus Schenk Graf von Stauffenberg, die Zentralfigur des 20. Juli 1944, sah die vorrangige Berechtigung bzw. Verpflichtung zur Widerstandstat auf der oberen Ebene; erst nach Versagen der Feldmarschälle und Generale – so Graf Stauffenberg im Jahr 1943 – sei es Zeit, dass sich die „Obersten einschalten“ (gemeint im Sinne des militärischen Dienstgrads Oberst). Jenes „Absteigen“ der Aktivlegitimation von der höchsten Stufe hinunter zu den niedrigeren Funktionsebenen im Staat findet seine historisch-ideengeschichtlichen Grundlagen bei Althusius sowie Calvins Kirchenordnung, wonach nur die Obrigkeit bzw. die Ephoren zur Widerstandstat befugt sein sollten – schon, um eine das Unrecht der Tyrannei ggf. übertreffende Situation der Anarchie zu vermeiden. Dazu Graf Vitzthum, Rechtsstaatspatriotismus. 37 Calliess, Subsidiaritäts- und Solidaritätsprinzip, S. 31. 38 Vgl. bspw. Moersch, Leistungsfähigkeit und Grenzen des Subsidiaritätsprinzips, S. 26 ff. 39 Isensee, Subsidiaritätsprinzip und Verfassungsrecht, S. 45. 40 Vgl. etwa Pernthaler, Föderalismus, S. 3. 41 Vgl. hierzu bereits 1951 die Ausführungen von Stadler, Subsidiaritätsprinzip und Föderalismus, S. 4 f.; 138 ff. 42 Zum Föderalismus im Horizont europäischer und internationaler Verflechtungen vgl. Graf Vitzthum, Der Föderalismus in der europäischen und internationalen Einbindung der Staaten, S. 281 ff. 43 Etwa Stewing, Subsidiarität und Föderalismus, S. 25. 36
I. Die Mehrdimensionalität des Subsidiaritätsprinzips
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Autonomie, Partizipation und Kooperation44, für „Abgrenzung und Ausgleich zwischen Partikular- und Gesamtinteressen“ (Jörn Axel Kämmerer)45, für das Ziel, „die Existenz und Selbständigkeit einer Mehrheit politischer Einheiten mit der Zusammenfassung dieser Einheiten in ein höheres Ganzes zu verbinden“ (Martin Nettesheim)46. Ganz anders der britische Sprachgebrauch; hier ist Föderalismus, historisch zurückzuführen auf „englisch-schottisch-walisische Spannungen“47 ein „dirty word“, gerne verwendet als Synonym für – insbesondere den aus Brüssel zu den Britischen Inseln hinüberschwappenden – Zentralismus.48 Ähnlich verhält es sich in Frankreich, jedenfalls in Paris – der Föderalismusbegriff gilt dort seit den Wirren der Revolution als „Synonym für die Spaltung der Nation, für feudale Reaktion und Hochverrat“49 – sowie in Spanien und Italien50. Wer also Subsidiarität und Föderalismus vergleichend gegenüberstellen will, sollte von vorneherein nur vom „deutschen“ Verständnis des zweiten Begriffs ausgehen. Doch auch hier verbietet sich aus mehreren Gründen jede unreflektierte Gleichsetzung: Zwar mag man innerhalb des Föderalismus eine „engere staatsrechtliche Gemarkung“ (Hans Maier)51 abgrenzen, im Kern handelt es sich dabei aber jedenfalls um ein „politisches Grundprinzip“ (Konrad Hesse)52. Das Subsidiaritätsprinzip hingegen kann mehrdimensional erfasst werden: Einerseits im Horizont seiner Ideengeschichte als ein ebenfalls „politischer“ Grundsatz von großer Komplexität, andererseits – expressis verbis oder „der Sache nach“ in einer staatlichen Rechtsordnung normiert – als (verfassungs-)rechtlicher Begriff. Wer vergleichen will, braucht freilich vergleichbare Maßstäbe; die Gegenüberstellung zweier Begriffe kann nur innerhalb ihrer jeweiligen Dimension erfolgen, nicht hingegen „überkreuzend“. Entweder können daher Subsidiarität und Föderalismus in ihrer politisch-soziologischen Wesensart zueinander abwogen werden, oder es kann die rechtliche Dimension als Vergleichsebene gewählt werden. Dann muss jedoch zunächst der Begriff des Föderalismus konsequent in eine staatsrechtliche Form gegossen werden, was im Ergebnis cum grano salis auf eine Konfrontation des Subsidiaritätsprinzips mit dem Bundesstaat als staatsrechtlichem Formprinzip des Föderalismus53 hinaus-
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Bspw. Maier, Der Föderalismus – Ursprünge und Wandlungen, S. 215. Kämmerer, Grenzen des Europarechts, S. 99. Grundlegend Triepel, Unitarismus und Föderalismus im Deutschen Reiche, S. 8 ff. 46 Nettesheim, Demokratie durch Föderalismus?, S. 28. 47 Graf Vitzthum, Die Identität Europas, S. 4. 48 Kahl, Möglichkeiten und Grenzen des Subsidiaritätsprinzips, S. 417 Fn. 12. 49 Marhold, Konventspräsident, S. 490 f. 50 „Desintegrationsängste“, Graf Vitzthum, Die Identität Europas, S. 4. 51 Maier, Der Föderalismus – Ursprünge und Wandlungen, S. 215. 52 Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, S. 97. Siehe auch Hertel, Formen des Föderalismus, S. 14 m. w. N.; Nettesheim, Demokratie durch Föderalismus?, S. 28: „politisches Ordnungsprinzip“. 53 Graf Vitzthum, Der Föderalismus in der europäischen und internationalen Einbindung der Staaten, S. 282. Triepel, Unitarismus und Föderalismus im Deutschen Reiche, S. 12, spricht vice versa von der „föderative(n) Natur“ des Bundesstaats. Vgl. auch Hertel, Formen des Föde45
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Einführung: Das Subsidiaritätsprinzip
läuft.54 Jene Begriffsgegenüberstellung zeigt dann recht deutlich, wie fragwürdig die Qualifikation des Subsidiaritätsprinzips als „föderales“ Prinzip ist. Die „föderative“ bzw. bundesstaatliche Ausgestaltung eines Gemeinwesens bedingt nicht ohne weiteres den prinzipiellen Vorrang der unteren gegenüber der oberen Ebene; auch andere Strukturformen sind denkbar, die nicht zwingend auf eine subsidiäre Zuständigkeit der höheren Instanz gegründet sind.55 Noch augenfälliger: Das Subsidiaritätsprinzip anerkennt und billigt zwar den vom Föderalismus geförderten Pluralismus der Akteure und Meinungen in bundesstaatlichen Verfassungsstrukturen; es strebt jene konkurrierende und gleichzeitig kooperierende Vielfalt aber nicht unbedingt an.56 Dies verdeutlicht folgendes Exempel: Richtigerweise ist davon auszugehen, dass Subsidiarität „keine Einbahnstraße“57, sondern ein „dynamisches Konzept“58 ist, folglich auch stets zu einer Erweiterung der Zuständigkeiten des übergeordneten Verbands führen kann. Dies könnte im Extremfall bewirken, dass – fast – alle Kompetenzen kompensationslos59 „nach oben“ verlagert werden, wenn die streng in Übereinstimmung mit den entsprechenden Kriterien des Prinzips ergehende Entscheidung des die Subsidiaritätsfrage beurteilenden Organs jeweils zugunsten der höheren Stufe ausfällt. Eine solche totale Entkernung der unteren „Ebenen“ ist nach dem Prinzip des Föderalismus wie demjenigen des Bundesstaats gleichermaßen undenkbar: Beide besagen, dass ein Wesenskern immer auf der unteren Stufe verbleiben muss. Die politische Dimension „Föderalismus“, gegründet auf dem Ziel, die „unteren Ebenen“ stark auszugestalten, kann eine absolute Entautonomisierung niemals widerstandslos gestatten. Gleiches gilt für die verfassungsrechtliche Dimension „Bundesstaat“ – hier verbietet die eigene unabgeleitete Staatlichkeit60 der „unteren Körperschaft“ deren Entbindung von allen hoheitlichen Zuständigkeiten. Dies gilt zwingend auch dann, wenn die Zuständigkeit für die in Frage stehenden Regelungsbereiche nach den Kriterien des Subsidiaritätsprinzips eigentlich „hochgezont“ – ein in politischen Debatten häufig verwendeter Begriff für die Kompetenzverlagerung „nach oben“ – werden müsste. So betrachtet findet also das Subsidiaritätsprinzip in seiner Kompetenzralismus, S. 14; Grzeszick in Maunz/Dürig, Grundgesetzkommentar, Art. 20 [Die Verfassungsentscheidung für den Bundesstaat] Rn. 14. 54 Hier zeigt sich, dass auch die Begriffe „Bundesstaat“ und „Föderalismus“ keineswegs wesensidentisch sind, sondern in zwei verschiedenen Dimensionen existieren. Freilich werden sie meist unterschiedslos verwendet – dies zeigt unter anderem das Beispiel der „Kommission zur Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung“ (KOMBO), die nach kurzer Zeit bereits in den Medien und im alltäglichen politischen Gespräch als „Föderalismuskommission“ firmierte. Zur KOMBO vgl. u. a. Hrbek, Auf dem Weg zur Föderalismus-Reform, S. 147 ff. 55 Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, S. 97. 56 Stewing, Subsidiarität und Föderalismus, S. 25. 57 Vetter, Die Sicht der deutschen Länder, S. 13. 58 Kenntner, Das Subsidiaritätsprotokoll, S. 2871. Vgl. auch die „Aufzug-Metapher“ bei D’Atena, Die Subsidiarität: Werte und Regeln, S. 331. 59 Hackel, Subnationale Strukturen im supranationalen Europa, S. 75. 60 Grzeszick in Maunz/Dürig, Grundgesetzkommentar, Art. 20 [Die Verfassungsentscheidung für den Bundesstaat] Rn. 40.
II. Das Subsidiaritätsprinzip im Europarecht
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verlagerungen gestattenden Funktion eine Grenze am letzten Schutzwall des Föderalismus- wie des Bundesstaatsprinzips. Zugegebenermaßen ist die geschilderte „Totalhochzonung“ von Aufgaben und Zuständigkeiten ein – in praxi irreal anmutender – Extremfall. Das Beispiel zeigt jedoch, dass beide Prinzipien – jenseits aller Überschneidungen – nicht wesensgleich, sondern gegebenenfalls zueinander sogar widersprüchlich sind.61 Als Grundaxiom föderalistischer Strukturen kann das Subsidiaritätsprinzip daher nicht betrachtet werden.
II. Das Subsidiaritätsprinzip im Europarecht II. Das Subsidiaritätsprinzip im Europarecht
Die angesprochene Aufblähung des Subsidiaritätsprinzips zur „Wunderwaffe“ und „Welterklärungsformel“ realisiert sich in besonderem Maße im Europarecht. Kritiker einer vermeintlich ausufernden Unionstätigkeit und einer bedrohlichen Oktroyierung durch die als „fern“ empfundenen europäischen Institutionen, allen voran die Kommission, neigen dazu, in der Subsidiarität sämtliches Heil zu suchen und ihr Idealbild eines europäischen „Denkens von unten nach oben“62 in dieses Prinzip hineinzukanalisieren.63 Das Subsidiaritätsprinzip droht dabei bisweilen zur „Blase“ zu werden, die irgendwann platzen könnte. Wie die Ausführungen zu Art. 5 Abs. 2 (ex-Art. 3 b Abs. 2) EGV64 in Kapitel 1 dieser Arbeit zeigen werden, verfolgte die im Jahre 1992 maßgeblich auf Betreiben der Bundesrepublik Deutschland65 erfolgte Kodifizierung des Prinzips in dem genannten Artikel als Rechtsprinzip des primären Gemeinschaftsrechts den Zweck, möglichst bürgernahe Entscheidungsprozesse in der Europäischen Union herzustellen66 und in effektiver Weise der europäischen Sekundärrechtsetzung Grenzen aufzuweisen.67 Insbesondere die Steigerung von Effektivität einschließlich Justiziabilität war auch
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Vgl. Stewing, Subsidiarität und Föderalismus, S. 25 f. So der baden-württembergische Ministerpräsident Erwin Teufel, vgl. seine Rede bei der öffentlichen Anhörung des Ständigen Ausschusses des Landtags von Baden-Württemberg am 15. November 2002 zum „Konvent zur Zukunft Europas“, im Internet abrufbar unter http:// www3.landtag-bw.de/wP13/Drucksachen/1000/13_1572_d.pdf. 63 Vgl. Götz, Kompetenzverteilung und Kompetenzkontrolle in der Europäischen Union, S. 58. 64 Vertrag zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft vom 25. März 1957, BGBl. 1957 II S. 766 (seit dem Vertrag über die Europäische Union – „Vertrag von Maastricht“ – vom 7. Februar 1992, BGBl. 1992 II S. 1253 „Europäische Gemeinschaft“); letzte Änderung vom 16. April 2003, BGBl. 2003 II S. 1410. In Klammern ist die vor Inkrafttreten des Vertrags von Amsterdam vom 2. Oktober 1997, BGBl. 1998 II S. 387, berichtigt BGBl. 1999 II S. 416, gültige Artikelnummerierung aufgeführt. Inhaltliche Abweichungen bestehen dabei nicht. 65 Hier vor allem die Länder, die traditionell das Subsidiaritätsprinzip als ihr „liebstes Kind“ (Erwin Vetter) betrachten, Vetter, Das Subsidiaritätsprinzip in der Europäischen Union, S. 35; vgl. auch Hach, Das Subsidiaritätsprinzip aus der Perspektive der Bundesregierung, S. 18. 66 Vgl. bspw. Calliess, Subsidiaritäts- und Solidaritätsprinzip, S. 31. 67 Calliess, Subsidiaritäts- und Solidaritätsprinzip, S. 56 ff. 62
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Einführung: Das Subsidiaritätsprinzip
vorrangiges Ziel68 bei der Neukonstruktion des Subsidiaritätsprinzips und seiner Gewährleistungsmechanismen in dem 2004 in Rom unterzeichneten Vertrag über eine Verfassung für Europa. Diese Zielrichtung kollidiert freilich mit der metaphysisch anmutenden Überfrachtung des Subsidiaritätsprinzips. Es erscheint widersprüchlich, das Prinzip als „Weltformel“ zu überhöhen und mit den verschiedensten – letztlich normfernen – Aussagegehalten zu versehen, gleichzeitig aber seine Ineffektivität zu kritisieren und etwa zu beklagen, dass der Europäische Gerichtshof (EuGH) es kaum für eine Sekundärrecht einschränkende Judikatur heranzieht69: In diesem Spannungsfeld von Begeisterung und Kritik verkommt die Subsidiarität von der „Wunderwaffe“ schnell zum „stumpfen Schwert“, bleibt „politischer Gemeinplatz und rhetorischer Pausenfüller“ (Detlef Merten)70. Das häufig beanstandete Zurückbleiben der Anwendungspraxis des Subsidiaritätsprinzips hinter seiner Dauerpräsenz in Schrifttum71 und politischer Diskussion72 ist hier nur konsequentes Resultat. Indem sie die Ablösung des Subsidiaritätsprinzips von seinen geistesgeschichtlichen Wurzeln73 vollzieht, versucht diese Arbeit zur Verbesserung von Effektivität und Durchsetzbarkeit des Subsidiaritätsprinzips als Rechtsprinzip beizutragen. Das Subsidiaritätsprinzip als europarechtlicher Gesetzesbefehl wird konsequent als Norm gedeutet, anstelle von „vorgefassten Vorstellungen“ (Meinhard Hilf)74 soll allein die Auslegung des Gemeinschaftsrechts zählen. Gewiss: Eine Norm zwingt ihren Adressaten – oder denjenigen, der sich wissenschaftlich mit ihr zu beschäftigen versucht – „nicht dazu, die eigenen Wurzeln abzuschneiden“75, welche im Falle des Subsidiaritätsprinzips besonders lang sind und im reichen Nährboden der Jahrtausende gründen. Auch dürfen die geistesgeschichtlichen Ursprünge einer Norm im Rahmen der Auslegung – gesetzgeberische Motive etc. – nicht vernachlässigt werden. Dennoch wird die Untersuchung zeigen, dass die Subsidiaritätsbestimmungen im geltenden Gemeinschafts-/Unionsrecht sowie im Vertrag über eine Verfassung für Europa „wenig mit der ursprünglich sozialphilosophischen Tradition der Subsidiarität zu tun“76 haben. Das ist auch gut so. „Ideologische Aufladungen dieser Art müssen denn wieder entladen werden, selbst wenn es Funken gibt“ (Peter Lerche)77. Daher gilt: Soll das Subsidiaritätsprinzip im Horizont Europas eine prinzipielle, gleichsam „naturgegebene“ Vorrangstellung der Kommunen, Regionen und Staaten vor Brüssel rechtfertigen, so vermag es das 68
Vgl. hierzu die Ausführungen in Kapitel 2. Neben vielen Altmaier, Die Subsidiaritätskontrolle, S. 305. 70 Merten, Subsidiarität als Verfassungsprinzip, S. 77. 71 Eilmansberger, Kompetenzverteilung in der Europäischen Union, S. 121. 72 Vgl. v. Donat, Das Subsidiaritätsprinzip aus der Perspektive der Kommission, S. 9: „In der Praxis ist Subsidiarität kein Verfassungsprinzip, sondern ein konkreter Konflikt.“ 73 Siehe Schwarze/Lienbacher, EU-Kommentar, Art. 5 EGV Rn. 2. 74 Hilf, Subsidiarität als Verfassungsgrundsatz der Europäischen Union, S. 9. 75 Molsberger/Wax, Feiertagsdiskussionen, S. 156. 76 Ritzer/Ruttloff, Die Kontrolle des Subsidiaritätsprinzips, S. 132. 77 Lerche, Föderalismus als nationales Ordnungsprinzip, S. 76. 69
II. Das Subsidiaritätsprinzip im Europarecht
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trefflich in seiner Dimension als allgemeiner politischer Grundsatz. Hier dürfen in der Tat die historischen Wurzeln des Prinzips und seine Entfaltung in den verschiedenen christlichen wie säkularen Theorien rechtfertigend herangezogen werden – ad fontes, haben doch Platon, sein Schüler Aristoteles, Thomas von Aquin und nicht zuletzt über zwei Jahrtausende das päpstliche Rom die Fundamente des europäischen Menschenbildes und seiner Gesellschaftsordnung maßgeblich geprägt. Soll das Subsidiaritätsprinzip hingegen als effektiver – und justiziabler – Leitsatz einer Ausweitung der Gemeinschaftskompetenzen wehren, ist es streng als Rechtsnorm zu greifen und zu begreifen. Im Grunde geht es also um eine „Banalisierung zur Effektivierung“. Dies führt zu einer wichtigen Grundfeststellung: Das Subsidiaritätsprinzip als Norm des Europarechts kann stets nur eine Kompetenzausübungsregel sein.78 Es kann somit nur Aussagen dahingehend treffen, ob die „höhere Ebene“ – also „Europa“ – eine ihr prinzipiell zustehende Kompetenz auch im konkreten Einzelfall ausüben darf. Diese Beschränkung ist freilich nicht im Wesen des Subsidiaritätsprinzips selbst begründet: Grundsätzlich könnte das Prinzip auch den Charakter einer Kompetenzverteilungsregel innehaben. Man erwäge nur das Beispiel, dass Mose den Ratschlag seines Schwiegervaters zu einer gerichtsverfahrensrechtlichen Regelung – also einer „richtigen“ Norm – erhoben hätte. Die forensische Zuständigkeit im Volke Israel bestimmte sich dann nach der Schwierigkeit und Komplexität der vorgebrachten Rechtsfälle: Für die Bearbeitung einfacher Angelegenheiten wären die erwählten redlichen Leute kompetent, für schwierige Fälle läge die Zuständigkeit bei Mose selbst. In dieser Konstellation fungierte das Subsidiaritätsprinzip unproblematisch als kompetenzbegründende bzw. kompetenzverteilende Rechtsregel. Im europäischen Primärrecht indes steht einer solchen Funktion der Subsidiarität das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung entgegen. Dieses Prinzip, im geltenden Gemeinschaftsrecht verankert bspw. in Art. 5 Abs. 1 (ex-Art. 3 b Abs. 1) EGV79, stellt als „struktureller Grundsatz“ (Thomas Oppermann)80 die oberste Kompetenzregelung des europäischen Rechts dar. Es findet seine Grundlage in der Souveränität der Mitgliedstaaten81 und beschreibt „Ursprung und Umfang“ der Kompetenzen der Gemeinschaft.82 Diese hat keine allgemeine Rechtsetzungskompetenz (Kompetenz-Kompetenz), sondern darf nur dann tätig werden, wenn ihr die Zuständigkeit zum Handeln jedweder Art durch eine ausdrücklich im Vertrag verankerte Ermächtigung zugewiesen wurde. Das Subsidiaritätsprinzip kann nicht als eine solche Ermächtigung angesehen werden. 78
Herrschende Meinung für Art. 5 Abs. 2 (ex-Art. 3 b Abs. 2) EGV, vgl. bspw. v. Bogdandy/ Nettesheim in Grabitz/Hilf, Recht der Europäischen Union, Altband I, Art. 3 b EGV Rn. 19; Bieber, Subsidiarität im Sinne des EU-Vertrages, Koenig/Haratsch, Europarecht, S. 28; S. 171. A. A. Merten, Subsidiarität als Verfassungsprinzip, S. 81 m. w. N. 79 Vgl. die Ausführungen zum Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung in Kapitel 1 I. 2. 80 Oppermann, Europarecht, S. 158. 81 Bzw. vice versa im fehlenden Staatscharakter Europas. 82 Moersch, Leistungsfähigkeit und Grenzen des Subsidiaritätsprinzips, S. 234.
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Einführung: Das Subsidiaritätsprinzip
Gemeinschaftliche Kompetenzen vermögen nicht mit dem Argument zu begründen sein, dass eine bestimmte Aufgabe von den Mitgliedstaaten nicht sowie von „Europa“ besser erfüllt werden könne: Zum einen stellte sich nämlich die Frage, auf welcher Rechtsgrundlage eine Materie überhaupt als „Aufgabe“ qualifiziert werden kann, in deren Horizont dann der Vergleich der Handlungsfähigkeit beider „Ebenen“ erfolgt. Bereits durch die notwendigerweise einer solchen Subsidiaritätsprüfung vorgelagerte Aufgabenfestlegung käme es zu Auswirkungen auf das kompetenzielle Gefüge, die wiederum am Maßstab des – erst im Anschluss zum Zuge kommenden – Subsidiaritätsprinzips nicht gemessen und gegebenenfalls korrigiert werden könnten. Ein solcher Weg verbietet sich, aus „Aufgaben“ und „Zielen“ können grundsätzlich keine Kompetenzen abgeleitet werden.83 Abgesehen davon: Wofür bedürfte es noch der „Ergänzungsklausel“ des Art. 308 (ex-Art. 235) EGV84, wenn Fragen der Kompetenzverteilung – mithin also auch der Kompetenzzuweisung – mittels einer generalklauselartigen Zuständigkeitsnorm realisiert werden könnten? Daher: Wegen des systemimmanenten „Vorrangs“ des Prinzips der begrenzten Einzelermächtigung kann das Subsidiaritätsprinzip im Europarecht niemals Kompetenzverteilungsnorm sein. Vielmehr regelt es allein den Bereich der Kompetenzausübung, vermag sich also erst auf der zweiten Stufe im Rahmen einer Zuständigkeitsprüfung zu realisieren. Dies gilt – das dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung inhärente „Abstandsgebot“ zu anderen Kompetenzbestimmungen macht hier keine Unterschiede – unabhängig davon, ob das Subsidiaritätsprinzip als solches expressis verbis kodifiziert oder nur der Sache nach in einzelnen Bestimmungen des primären Gemeinschaftsrechts verankert ist.85
III. Gang der Untersuchung III. Gang der Untersuchung
In den folgenden drei Kapiteln soll die Verwurzelung des Subsidiaritätsprinzips in der europäischen Rechtslandschaft von den Anfängen bis zur Gegenwart untersucht werden. Die Ausführungen orientieren sich daher an einem chronologischen Schema. Kapitel 1 betrifft zunächst die Zeit bis zum Inkrafttreten des Vertrags von Maastricht im Jahre 1993. Mangels ausdrücklicher Inkorporation des Wortes „Subsidiarität“ in den Rechtstexten dieser Zeit geht es hier allein um die Frage, ob und inwieweit das Prinzip seinem Inhalt nach im damaligen Ge83
Unstrittig, vgl. Oppermann, Europarecht, S. 157; Streinz/Streinz, EUV/EGV, Art. 2 EGV Rn. 13, Art. 3 EGV Rn. 5; Schwarze/Hatje, EU-Kommentar, Art. 2 EGV Rn. 7, jeweils m. w. N. 84 Jene „Lückenfüllungsnorm“ wird ihrerseits bisweilen als „Ausprägung des Subsidiaritätsprinzips“ gewertet. Dieser Ansatz ist jedoch abzulehnen, vgl. die Ausführungen in Kapitel 1 I. 3. 85 Ebenfalls wird „umgekehrt“ in der Literatur vertreten, das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung stelle eine Ausprägung des Subsidiaritätsprinzips dar. Auch diese Auffassung ist, wie die Ausführungen in Kapitel 1 I. 2. zeigen werden, abzulehnen.
III. Gang der Untersuchung
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meinschaftsrecht Berücksichtigung gefunden hat. Der Vertrag von Maastricht verankerte das Subsidiaritätsprinzip expressis verbis im primären Gemeinschaftsrecht. Die entsprechende Norm – Art. 5 Abs. 2 (ex-Art. 3 b Abs. 2) EGV – sowie weitere subsidiaritätsrelevante Neuerungen werden detailliert untersucht. Im Anschluss daran wird das durch den Vertrag von Amsterdam im Jahr 1997 eingefügte Protokoll über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit beleuchtet, welches unter anderem die Kriterien des Subsidiaritätsprinzips durch eine Reihe materieller Leitlinien zu konkretisieren beabsichtigt. Die in Kapitel 1 getroffenen Feststellungen bilden die Grundlage für den Schwerpunkt dieser Arbeit, nämlich die Untersuchung der Reformbemühungen im Anschluss an das Vertragswerk von Nizza im Jahre 2001, die letztlich in dem 2004 beschlossenen – bislang nicht in allen Mitgliedstaaten der Union ratifizierten – Vertrag über eine Verfassung für Europa (VVE) mündeten. Kapitel 2 widmet sich dabei der Entstehungsgeschichte des Verfassungsvertrags, von den ersten Denkanstößen über die Beratungen im Konvent zur Zukunft Europas bis hin zu parallel in Wissenschaft und Politik entwickelten Alternativvorschlägen. Auch hier sind die Erörterungen freilich auf das Subsidiaritätsprinzip fokussiert. In Kapitel 3 steht der eigentliche Normtext des Vertrags über eine Verfassung für Europa im Vordergrund. Hier soll zunächst die zentrale Subsidiaritätsbestimmung – Art. I-11 Abs. 3 VVE – auf ihren Aussagegehalt sowie ihre Zweckmäßigkeit hin untersucht werden. Im Anschluss daran wird geprüft, ob das Subsidiaritätsprinzip noch an anderen Stellen des Verfassungsvertrags verankert worden ist. Recht umfangreich sind die Ausführungen zu den Mechanismen zur Gewährleistung des Subsidiaritätsprinzips. Dieses mehrstufig geschichtete System mit seinem „Mix“ aus politischen und justiziellen Kontrollkomponenten stellt im Vergleich zum geltenden Primärrecht das eigentliche Novum des Verfassungsvertrags im Bereich des Subsidiaritätsprinzips dar. In einem knappen Résumé werden die materiellen und prozeduralen Aspekte des Subsidiaritätsprinzips im Vertrag über eine Verfassung für Europa einer prognoseorientierten Abschlussbewertung unterzogen. Insbesondere bei der Schilderung des Wegs zum Verfassungsvertrag dürfte dem Leser die gehäufte Nennung deutscher Namen auffallen. Dies liegt nicht daran, dass die Untersuchung „tunnelblickartig“ allein auf die am Verfassungsprozess beteiligten deutschen Persönlichkeiten schaut. Vielmehr war der deutsche Einfluss auf die Aspekte des Subsidiaritätsprinzips im Vertragswerk unbestreitbar groß. Dies gilt sowohl für die eigentlichen politischen Akteure (bspw. Erwin Teufel86, Jürgen Meyer87, 86 Vertreter des Bundesrats im Europäischen Konvent, der unter Vorsitz des früheren französischen Staatspräsidenten Valéry Giscard d‘Estaing den Entwurf des Vertrags über eine Verfassung für Europa erarbeitete. 87 Vertreter des Bundestags im Konvent.
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Einführung: Das Subsidiaritätsprinzip
Peter Glotz88, Joseph Fischer89, Klaus Hänsch90 und nicht zuletzt der „barocke“91 Elmar Brok92) als auch für die oft hautnah am politischen Geschehen beteiligten Wissenschaftler (Thomas Oppermann93, Jürgen Schwarze94 etc.).95 Gerade der „Ländervertreter“ Erwin Teufel war ein unermüdlicher Kämpfer auf diesem Schauplatz und warb beharrlich – größtenteils sehr erfolgreich – für ein ernstzunehmendes und effektives Subsidiaritätsprinzip („Europa vom Kopf auf die Füße stellen“96).97 Die nachfolgenden Ausführungen werden zeigen, dass der Vertrag über eine Verfassung für Europa – nicht nur, aber besonders in Sachen „Subsidiarität“ – eine spezifisch deutsche Handschrift trägt.
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Vertreter des Bundeskanzlers im Konvent, abgelöst von Joseph Fischer. Ab November 2002 Vertreter des Bundeskanzlers im Konvent. 90 Vertreter des Europäischen Parlaments im Konvent. 91 Oppermann, Europäischer Verfassungskonvent, S. 1267. 92 Vertreter des Europäischen Parlaments im Konvent. 93 Professor an der Tübinger Juristenfakultät und Berater des Konventsmitglieds Erwin Teufel. 94 Professor an der Freiburger Juristenfakultät. Schwarze erarbeitete mit einer deutsch-französischen Arbeitsgruppe den sog. „Freiburger Entwurf“ eines Verfassungsvertrags. 95 Bei genauer Betrachtung der aufgezählten Personen zeigt sich überdies – cum grano salis – der besondere Einfluss Baden-Württembergs auf den Verfassungsvertrag. 96 Teufel in seiner Regierungserklärung vom 16. Juli 2003 über die Ergebnisse des Konvents für die Zukunft Europas im Landtag von Baden-Württemberg, im Internet abrufbar unter http://www.baden-wuerttemberg.de/sixcms/media.php/16/teufel_regerklaer_eu_konvent_ 160703.2434.pdf. 97 Vgl. Oppermann, Ministerpräsident Erwin Teufel im Europäischen Verfassungskonvent, S. 25 ff. 89
Kapitel 1
1
Das Subsidiaritätsprinzip in der Zeit vor dem Verfassungsvertrag Kap.1: Das Subsidiaritätsprinzip vor dem Verfassungsvertrag
I. Das Subsidiaritätsprinzip vor Maastricht I. Das Subsidiaritätsprinzip vor Maastricht
1. Art. 5 EGKSV Schon lange vor der Verankerung expressis verbis in Art. 5 (ex-Art. 3 b) EGV wurde das Subsidiaritätsprinzip aus Normen der Gemeinschaften „herausgelesen“. Hierzu gehört Art. 5 EGKSV1 aus dem Jahre 1951;2 danach greift die Gemeinschaft „in die Erzeugung und den Markt nur dann direkt ein, wenn es die Umstände erfordern.“ Ob diese Vorschrift tatsächlich Ausdruck des Subsidiaritätsprinzips ist, mag bezweifelt werden.3 Dem Wortlaut der Norm kann nämlich keineswegs entnommen werden, dass diese eine Regelung des Kompetenzausübungsverhältnisses zwischen Mitgliedstaaten und der Gemeinschaft trifft. Aus damaliger Sicht war durchaus nicht gewollt, dass die Wahrnehmung von Aufgaben grundsätzlich vorrangig durch die Mitgliedstaaten erfolgen sollte; eine solche „heutige“ Betrachtungsweise würde nicht mit der ursprünglichen Ansicht konform gehen, welche das „Miteinander“ im Sinne eines „harmonischen Verhältnisses“ als Grundgedanken des Montanvertrags erachtete.4 Zur Untermauerung dieser Auffassung wurde die Vorschrift des Art. 37 Abs. 2 EGKSV herangezogen, nach welcher im Konfliktfall die Gemeinschaftsinteressen vorrangig gegenüber mitgliedstaatlichen Interessen sein sollten;5 zudem führe der Solidarcharakter der Gemeinschaft dazu, dass entgegen der normalen völkerrechtlichen Regelung (im Zweifel für die 1
Vertrag über die Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl vom 18. April 1951, BGBl. 1952 II S. 447, letzte Änderung vom 2. Oktober 1997, BGBl. 1998 II S. 387, berichtigt BGBl. 1999 II S. 416; die Geltungsdauer des Vertrags endete am 23. Juli 2002. 2 Im Montanunionvertrag könnte auch Art. 95 Abs. 1 EGKSV, im Euratom-Vertrag (Vertrag zur Gründung der Europäischen Atomgemeinschaft (EURATOM) vom 25. März 1957, BGBl. 1957 II S. 1014; letzte Änderung vom 16. April 2003, BGBl. 2003 II S. 1410) Art. 203 EAGV genannt werden. Beide Bestimmungen entsprechen jedoch der Vorschrift des Art. 235 EWGV, die noch Gegenstand der Untersuchung sein wird. Die dortigen Feststellungen lassen sich mithin übertragen, vgl. dazu Stewing, Subsidiarität und Föderalismus, S. 110. 3 Für das Vorliegen einer Subsidiaritätsregelung unter anderem der Zwischenbericht des Institutionellen Ausschusses des Europäischen Parlaments über den Grundsatz der Subsidiarität vom 4. Juli 1990 (sog. Bericht Giscard d’Estaing), EP-Dok. A 3–163/90/Teil B. 4 Jerusalem, Das Recht der Montanunion, S. 21. 5 Jerusalem, Das Recht der Montanunion, S. 23.
Kap.1: Das Subsidiaritätsprinzip vor dem Verfassungsvertrag
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belastete Partei) die Montanverfassung zugunsten der Gemeinschaft auszulegen sei6 – in dubio pro communitate. Es dürfte mithin nicht der damaligen Auffassung entsprechen, das Erforderlichkeitsmerkmal als Ausdruck des Subsidiaritätsprinzips7 zu verstehen. Vielmehr liegt – auch bei systematischer Betrachtung – nahe, dass das in Art. 5 EGKSV niedergelegte Erforderlichkeitsmerkmal das Verhältnis zwischen den verschiedenen, der Gemeinschaft zur Verfügung stehenden Handlungsmechanismen betraf. Zu unterscheiden war dabei zwischen sogenannten direkten und indirekten Eingriffen. Zu den direkten Eingriffsmöglichkeiten gehörten Erzeugungsquoten, Art. 58 EGKSV, Verteilung des Kohle- und Stahlaufkommens in Mangellagen, Art. 59 EGKSV, die Festsetzung von Höchst- und Mindestpreisen, Art. 61 EGKSV sowie Maßnahmen im Falle der Störung des Gemeinsamen Marktes durch dritte Länder, Art. 74 EGKSV. Indirekte Maßnahmen hingegen umfassten die Zusammenarbeit mit den Regierungen und das Eingreifen auf dem Gebiet der Preise und der Handelspolitik, Art. 57 EGKSV. Konkretisiert wurden die verschiedenen indirekten Maßnahmen in Art. 46, 60, 71 Abs. 3, 73, 75 EGKSV sowie in § 12 des Abkommens über die Übergangsbestimmungen. Wenn die Anwendung indirekter Maßnahmen nicht ausreichte, durfte die Gemeinschaft, vertreten durch die Hohe Behörde, Art. 7 Spiegelstrich 1 EGKSV, in den dargestellten ausdrücklich vorgesehenen Fällen direkte Maßnahmen ergreifen.8 Der Erforderlichkeitsbegriff in Art. 5 EGKSV regelte folglich allein das Anwendungsverhältnis der verschiedenen Eingriffsmechanismen: Erforderlich war ein direktes Eingreifen nach diesem System nur, wenn es die Umstände erforderten. Welche Umstände dies sein konnten, erfassten die Art. 58, 59, 61, 74 EGKSV katalogartig und abschließend. Welcher Art die direkten Eingriffe sein durften, war ebenfalls abschließend in den genannten Bestimmungen aufgeführt. Ziele der Maßnahmen als Gemeinschaftsaufgabe, Art. 5 Abs. 1 EGKSV, waren – auf der Grundlage eines gemeinsamen Marktes – die Ausweitung der Wirtschaft, die Beschäftigungssteigerung und die Wohlstandsmehrung, vgl. Art. 2 Abs. 1 EGKS. Sinn des abgestuften Eingriffssystems war es, die prinzipielle Freiheit der Marktwirtschaft von hoheitlichem Zwang dann – aber auch nur dann – zu modifizieren, wenn es aufgrund der Umstände zu ihrem Schutz erforderlich schien.9 Der Erforderlichkeitsbegriff in Art. 5 EGKSV stellte keine Ausprägung des Subsidiaritätsprinzips im Sinne dieser Untersuchung dar. Dafür wäre erforderlich, dass die Bestimmung das Verhältnis zwischen der Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten bei der Ausübung von Kompetenzen regelte. Dies traf jedoch nicht zu, vielmehr beschränkte sich die Norm auf eine Regelung des Rangverhältnisses
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Kraus, Die rechtliche Struktur der EGKS, S. 203 f. Genauso wenig wie als Ausdruck des Prinzips der begrenzten Einzelermächtigung. Zur Systematik der Eingriffsbestimmungen vgl. Gaedke, EGKS, Anm. zu Art. 5 und 57. Siehe dazu Jerusalem, Das Recht der Montanunion, S. 133.
I. Das Subsidiaritätsprinzip vor Maastricht
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verschiedener Handlungsformen der Gemeinschaft innerhalb ihres eigenen Aufgabenwahrnehmungssystems.
2. Das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung Dieses Prinzip besagt, dass die Gemeinschaft und ihre Organe nur dort tätig werden dürfen, wo ihnen die Zuständigkeit vertraglich zugewiesen worden ist. Mit anderen Worten: Jedes Gemeinschaftshandeln bedarf einer Ermächtigungsgrundlage; eine Kompetenz-Kompetenz gibt es nicht, die Allzuständigkeit verbleibt bei den Mitgliedstaaten.10 Das Prinzip findet sich unter anderem in den ex-Art. 3, 4, 137, 145, 155, 189, 198 EWGV;11 daneben auch in Art. 3, 5, 8, 20, 28 EGKSV sowie in Art. 2, 3, 107, 115, 124, 161 und 170 Abs. 1 EAGV. Ex-Art. 3 EWGV regelt dabei das Tätigkeitsfeld der Gemeinschaft als solcher, also die Verbandskompetenz; es erfolgt also eine Abgrenzung zu den Mitgliedstaaten. Hingegen trifft bspw. ex-Art. 4 EWGV Regelungen zur Abgrenzung des Zuständigkeitsbereichs der einzelnen Gemeinschaftsorgane; hier geht es um Organkompetenz.12 Somit kommen dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung zwei Funktionen zu: Aussagen einerseits zum Verhältnis der Mitgliedstaaten zur Gemeinschaft, andererseits zum Verhältnis der Gemeinschaftsorgane untereinander.13 Ein Teil der Literatur14 versteht zwar das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung15 als Ausprägung des Subsidiaritätsprinzips. Nur so könne begründet werden, warum die Mitgliedstaaten, nicht aber die Gemeinschaft, über die Kompetenz-Kompetenz verfügten.16 Diese Struktur, wonach die Gemeinschaft lediglich die zur Zielerfüllung erforderlichen Kompetenzen erhalte, ihre Mitgliedstaaten hingegen allzuständig seien, sei Ausdruck der Geltung des Subsidiaritätsprinzips in der Gemeinschaft.17 Das Subsidiaritätsprinzip, dessen Geltung im Bereich des Verhältnisses verschiedener Ebenen öffentlicher Gewalt auf die allen freiheit10 Die Gemeinschaft ihrerseits ist ausgestattet „mit echten, aus der Beschränkung der Zuständigkeit der Mitgliedstaaten oder der Übertragung von Hoheitsrechten der Mitgliedstaaten auf die Gemeinschaft herrührenden Hoheitsrechten“, so der Europäische Gerichtshof in der grundlegenden Entscheidung EuGH, RS. C-6/64 (Costa/ENEL) Slg. 1964, I-1251 (1269). 11 Verwendete Artikel des EWGV („ex-Art.“) entsprechend dem Stand vor dem Inkrafttreten des Vertrags über die Europäische Union vom 7. Februar 1992, BGBl. 1992 II S. 1253. Vgl. heute Art. 3, 7, 189, 202, 211, 249, 262 EGV. 12 Kraußer, Das Prinzip begrenzter Ermächtigung, S. 17. 13 Kraußer, Das Prinzip begrenzter Ermächtigung, S. 17. 14 Besonders deutlich Vorwerk, Kompetenzen, S. 51, wonach das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung „wichtigster Ausdruck des Subsidiaritätsprinzips im Gemeinschaftsrecht“ sei. 15 In erster Linie muss dabei die Ausprägung des Prinzips gemeint sein, welche das Verhältnis der Gemeinschaft als solcher zu den Mitgliedstaaten, also die Verbandskompetenz, betrifft. 16 Vorwerk, Kompetenzen, S. 51. 17 Siehe hierzu Calliess, Subsidiaritäts- und Solidaritätsprinzip, S. 37.
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Kap.1: Das Subsidiaritätsprinzip vor dem Verfassungsvertrag
lichen Gesellschaften inhärente Forderung nach größtmöglicher Selbstbestimmung zurückgeführt werden könne, sei notwendige Kehrseite der Integrationsidee im Gemeinschaftsrecht.18 Für Hans-Peter Kraußer stellt das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung das formale Gegenstück zum Subsidiaritätsgedanken als materialem Prinzip dar, da Kompetenzen nur insoweit auf die Gemeinschaft verlagert würden, als dies zur Erfüllung übergeordneter Interessen erforderlich sei.19 Nach Auffassung von Stefan Pieper entspricht das System begrenzter Einzelermächtigung einer starren, nicht dynamischen Subsidiarität: Es sei in den Gründungsverträgen niedergelegt worden, dass bestimmte Aufgaben durch die Gemeinschaft bewältigt werden sollten; in diesen Bereichen habe die Gemeinschaft somit die Verbandszuständigkeit. Betreffend die Verbandszuständigkeit seien das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung und das Subsidiaritätsprinzip deckungsgleich.20 Diese Auffassungen verdienen im Ergebnis jedoch keine Zustimmung. Das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung und daraus resultierend die Verneinung einer Kompetenz-Kompetenz der Gemeinschaft findet seine Grundlage in der Souveränität der Mitgliedstaaten21 und dem fehlenden Staatscharakter der Gemeinschaft. Einer Heranziehung des Subsidiaritätsprinzips bedarf es hierfür nicht.22 Ein auf dem Prinzip begrenzter Einzelermächtigung errichtetes Rechtssystem wäre theoretisch auch ohne das Subsidiaritätsprinzip als Leitprinzip denkbar; man erwäge nur den Fall, dass die Mitgliedstaaten als oberstes Gemeinschaftsziel eine möglichst vollständige Integration in möglichst vielen Politikbereichen angestrebt hätten; für die Zuweisung von Zuständigkeiten an die Gemeinschaft wäre es ihnen unbenommen gewesen, bspw. das Insuffizienzkriterium als prägendes Merkmal des Subsidiaritätsprinzips zu ignorieren und allein auf die Frage abzustellen, ob die Gemeinschaft die betreffende Aufgabe bewältigen kann oder nicht. Der Verlagerungsgrund läge dann allein im Integrationsbestreben. Das Prinzip begrenzter Einzelermächtigung hingegen ließe sich weiter auf die Souveränität der Staaten zurückführen, da das angeführte Gemeinschaftsmodell trotz weitgehender Integration kein „Staat“ wäre: Allzuständigkeit, mithin Kompetenz-Kompetenz, basierte allein auf dem Staatscharakter der Mitgliedstaaten. Anhand dieses theoretischen Alternativmodells wird ersichtlich, dass das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung nicht denknotwendig mit dem Subsidiaritätsprinzip einhergehen muss. Beide Prinzipien haben einen voneinander verschiedenen Regelungsgehalt. Das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung legt fest, in welchem Umfang der Gemeinschaft und ihren Organen Kompetenzen zustehen; im Übrigen stellt es klar, 18 19 20 21 22
Vorwerk, Kompetenzen, S. 51. Kraußer, Das Prinzip begrenzter Ermächtigung, S. 173 Pieper, Subsidiarität, S. 184. Dazu Moersch, Leistungsfähigkeit und Grenzen des Subsidiaritätsprinzips, S. 234. Insoweit zutreffend Kraußer, Das Prinzip begrenzter Ermächtigung, S. 172.
I. Das Subsidiaritätsprinzip vor Maastricht
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woher diese Kompetenzen stammen, nämlich durch Übertragung aus der Allzuständigkeit der Mitgliedstaaten. Dieses Prinzip bezieht sich also auf den Umfang und die Herleitung von Kompetenzen23 und legt fest, dass die Ermächtigung durch den Vertrag die absolute Grenze24 für gemeinschaftliches Tätigwerden ist. Das Subsidiaritätsprinzip hingegen regelt, unter welchen Voraussetzungen die Gemeinschaft von einer – theoretisch einschlägigen – Kompetenz Gebrauch machen darf. Das Subsidiaritätsprinzip ist kein Prüfungsmaßstab, wenn die Gemeinschaft ausschließlich zuständig ist; genauso wenig bedarf es seiner Erörterung, wenn eine Gemeinschaftszuständigkeit bereits nach den Kompetenzverteilungsregeln nicht gegeben ist. Vielmehr kommt es nur zur Anwendung, wenn – grundsätzlich – sowohl die Gemeinschaft als auch die Mitgliedstaaten handeln dürften.25 Das Subsidiaritätsprinzip regelt dann die Frage der Kompetenzausübung, so dass ein eindeutiger methodischer Wirkungsunterschied26 zum Prinzip begrenzter Einzelermächtigung gegeben ist. Durch das Subsidiaritätsprinzip ist nämlich gewährleistet, dass auch diesseits der absoluten Grenzen der verliehenen Befugnisse27 nicht jedes Handeln der Gemeinschaft zulässig ist. Als Ergebnis kann festgehalten werden, dass ein direkter inhaltlicher Zusammenhang rechtlicher Art zwischen dem Prinzip begrenzter Einzelermächtigung und dem Subsidiaritätsprinzip nicht besteht.28 Gleichwohl wirken beide Prinzipien zusammen,29 wenn auch auf unterschiedlichen Prüfungsebenen. Das Prinzip begrenzter Einzelermächtigung drückt dabei den so fundamentalen30 wie – in jedem rechtsgebundenen und rechtsetzungsbefugten System geltenden31 – selbstverständlichen Grundsatz aus, dass die Gemeinschaft und ihre Organe nur im Rahmen ihrer Zuständigkeit agieren dürfen. Es ist, wie in der Einführung dargestellt, der Grund dafür, dass das Subsidiaritätsprinzip des geltenden Gemeinschaftsrechts zwingend nur als Kompetenzausübungsregelung qualifiziert werden kann.
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Calliess, Subsidiaritäts- und Solidaritätsprinzip, S. 37. Schima, Das Subsidiaritätsprinzip, S. 47. 25 Koenig/Haratsch, Europarecht, S. 28. 26 Calliess, Subsidiaritäts- und Solidaritätsprinzip, S. 37. 27 Schima, Das Subsidiaritätsprinzip, S. 47. 28 Calliess, Subsidiaritäts- und Solidaritätsprinzip, S. 37. 29 So ist nach Schima, Das Subsidiaritätsprinzip, S. 47, die Verbindung beider Grundsätze wichtig, um zu verhindern, dass das Subsidiaritätsprinzip so ausgelegt wird, dass es im Fall der Notwendigkeit gemeinschaftlichen Handelns eine Ausweitung der Gemeinschaftsbefugnisse über das im Vertrag festgelegte Maß erlaubt. 30 Stewing, Subsidiarität und Föderalismus, S. 90. 31 GTE/Bieber, Art. 4 EWGV Rn. 38. 24
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Kap.1: Das Subsidiaritätsprinzip vor dem Verfassungsvertrag
3. Art. 308 (ex-Art. 235 EWGV) EGV Nach Art. 308 (ex-Art. 235 EWGV) EGV32 ist die Gemeinschaft zum Handeln befugt, „wenn ein Tätigwerden (…) erforderlich ist, um im Rahmen des Gemeinsamen Marktes eines ihrer Ziele zu verwirklichen“ und keine spezielle Kompetenzzuweisung gegeben ist. Die Bestimmung stellt also eine Ergänzung des Prinzips der begrenzten Einzelermächtigung dar.33 Teilweise wird vertreten, durch diese Vorschrift34 werde dem Rat die Befugnis verliehen, sich selbst durch Rechtsakt neue zusätzliche Kompetenzen zuzubilligen.35 Von der wohl überwiegenden Meinung wird die Anerkennung einer solchen Kompetenz-Kompetenz jedoch abgelehnt: Zur Begründung neuer, im Vertrag nicht vorgesehener Ermächtigungen kann die Norm danach nicht verwendet werden.36 Eine andere Betrachtung widerspräche dem Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung37 als tragendem Grundsatz des Vertrags und würde dieses Prinzip letztlich konterkarieren. Art. 308 (ex-Art. 235 EWGV) EGV ermöglicht also keine Kompetenzerweiterung, er weist vielmehr Kompetenzen zu; die Norm dient der Gemeinschaft nicht zur Vornahme von Lückenfüllungen, sondern füllt Lücken selbst.38 Einige Stimmen in der Literatur39 erachten Art. 308 (ex-Art. 235 EWGV) EGV als Ausprägung des Subsidiaritätsprinzips. Dem kann jedoch allenfalls zugestimmt werden, sofern damit ein vertragsimmanentes Regel-Ausnahme-Verhältnis gemeint ist. Richtig ist, dass ein Rückgriff auf Art. 308 (ex-Art. 235 EWGV) EGV nur zulässig ist, wenn – genau dies besagt der Wortlaut der Norm – im Vertrag sonst die erforderlichen Befugnisse nicht vorgesehen sind. Es handelt sich also um ein innervertragliches Normenkollisionssystem.40 Die vorzunehmende „Subsidiaritätsprüfung“ betrifft somit nur die Frage, ob die Gemeinschaft aufgrund anderer Ermächtigungen zum Erlass eines Rechtsakts befugt ist: Solche anderen Ermächtigungen können sowohl aufgrund ausdrücklicher Kompetenzvorschriften, als auch 32 Ex-Art. 235 EWGV und Art. 308 EGV sind identisch – die hier dargestellten Erwägungen gelten somit gleichermaßen für die aktuelle Rechtslage wie für den Stand vor Inkrafttreten des Vertrags von Maastricht. Beide Normen werden daher durchgehend zusammen zitiert. 33 Calliess, Subsidiaritäts- und Solidaritätsprinzip, S. 38. 34 Wie bereits erwähnt, lassen sich die Ausführungen zu Art. 308 (ex-Art. 235 EWGV) EGV auch auf die insoweit entsprechenden Art. 95 I EGKSV und Art. 203 EAGV übertragen. 35 v. Meibom, Lückenfüllung bei den Europäischen Gemeinschaftsverträgen, S. 2166. 36 Calliess, Subsidiaritäts- und Solidaritätsprinzip, S. 38. Siehe auch das Bundesverfassungsgericht in seinem Maastricht-Urteil BVerfGE 89, 155 (210), welches konstatiert, „eine (vertragserweiternde) Auslegung von Befugnisnormen würde für Deutschland keine Bindungswirkung entfalten.“ 37 Grabitz. in Grabitz/Hilf, Recht der Europäischen Union, Altband II, Art. 235 EWGV Rn. 2. 38 GTE/Schwartz, Art. 235 EWGV Rn. 15. 39 Bspw. Knemeyer, Subsidiarität – Föderalismus – Dezentralisation, S. 450, wonach das Subsidiaritätsprinzip „der Sache nach“ in Art. 235 EWGV enthalten sei. Was „der Sache nach“ bedeuten soll, bleibt aber letztlich ungeklärt. 40 Calliess, Subsidiaritäts- und Solidaritätsprinzip, S. 38.
I. Das Subsidiaritätsprinzip vor Maastricht
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„implizit“41 durch stillschweigende Befugnis im Zusammenhang mit einer ausdrücklichen Befugnis – implied powers – bestehen.42 Ein solches „Subsidiaritätssystem“ vertragsimmanenter Kollisionsregeln43 hat aber freilich nichts mit dem in dieser Abhandlung untersuchten Prinzip gemein. Bei Letzterem geht es ja gerade nicht um innergemeinschaftliche Verhältnisse (horizontale Betrachtung), sondern um Fragen der Kompetenz zwischen Gemeinschaft und Mitgliedstaaten (vertikale Betrachtung). Normenkollisionen in Rechtssystemen – reine Normvorrangsfragen – fallen nicht unter den hier untersuchten Begriff der Subsidiarität: Dieser beinhaltet nämlich nicht Aussagen dazu, auf welcher Grundlage jemand zum Erlass von Rechtsakten befugt ist, sondern ob er überhaupt zum Handeln befugt ist. Die Ausprägung von „Subsidiarität“ in Art. 308 (exArt. 235 EWGV) EGV stellt also lediglich eine lex-specialis-Regelung dar.44 Zwar erkennt Stefan Pieper in dieser Bestimmung mehr als nur die rechtstechnische „Subsidiarität“ der lex-specialis-Regelung; die Norm enthalte nämlich nicht allein eine logische Normenhierarchie. Sie lege auch eine eigene Gemeinschaftszuständigkeit fest: Ohne Art. 308 (ex-Art. 235 EWGV) EGV dürfte die Gemeinschaft nicht tätig werden, auch nicht, wenn Handeln im Gemeinschaftsinteresse geboten wäre, aber keine Einzelermächtigung herangezogen werden kann.45 Pieper erachtet Art. 308 (ex-Art. 235 EWGV) daher als „doppelt-subsidiär“.46 Die Norm ermöglicht nach dieser Auffassung „subsidiäre Kompetenzen oder Befugnisse in Bezug auf bereits subsidiäre, aber unzulängliche Kompetenzen oder Befugnisse“.47 Die lex-specialis-Regelung wird von Vlad Constantinesco als zweitgradige Subsidiarität innerhalb des als subsidiär konzipiert erachteten Systems der Gemeinschaftskompetenzen angesehen.48 Woraus jedoch die behauptete „erstgradige“ Subsidiarität der Gemeinschaftskompetenzen hergeleitet werden soll, bleibt unbeantwortet.49 Der Auffassung, Art. 308 (ex-Art. 235 EWGV) EGV enthalte jenseits der lexspecialis-Regelung eine Ausprägung des eigentlichen Subsidiaritätsprinzips, kann jedoch auch dann nicht gefolgt werden, wenn man das System des Gemeinschaftsrechts als dem Grund nach subsidiär aufgebaut erachtet: Das dieser Bestimmung zugrunde liegende Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung kann nicht herangezogen werden, um daran eine Ausprägung des Subsidiaritätsprinzips fest-
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Streinz/Streinz,, EUV/EGV, Art. 308 EGV Rn. 5 f. GTE/Schwartz, Art. 235 EWGV Rn. 54 f. 43 Calliess, Subsidiaritäts- und Solidaritätsprinzip, S. 38. 44 Zur lex-specialis-Regel als besonderen Fall von Subsidiarität siehe Pieper, Subsidiarität, S. 142. 45 Pieper, Subsidiarität, S. 204. 46 Pieper, Subsidiarität, S. 205. 47 Constantinesco, Subsidiarität, S. 168. 48 Constantinesco, Subsidiarität, S. 168 f. 49 Calliess, Subsidiaritäts- und Solidaritätsprinzip, S. 38. 42
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Kap.1: Das Subsidiaritätsprinzip vor dem Verfassungsvertrag
zumachen.50 Dem Wortlaut der Norm ist keine Aussage über das Verhältnis der Gemeinschaftskompetenzen gegenüber den Befugnissen der Mitgliedstaaten zu entnehmen. Insbesondere kann die Formulierung „Erscheint ein Tätigwerden der Gemeinschaft erforderlich“ in Art. 308 (ex-Art. 235 EWGV) EGV nicht im Sinne des Subsidiaritätsprinzips verstanden werden. So legt auch die Rechtsprechung des EuGH das Erforderlichkeitserfordernis zwar streng aus, jedoch nicht mit dem Ziel des Schutzes der Mitgliedstaaten, sondern des Schutzes der Gemeinschaft;51 durch die weite Auslegung der konkretisierten Gemeinschaftskompetenzen soll nämlich die Notwendigkeit des Rückgriffs auf Art. 308 (ex-Art. 235 EWGV) EGV – Einstimmigkeitserfordernis! – verhindert werden.52 Die Fähigkeiten der Mitgliedstaaten zur Regelung der Materie werden vom Gerichtshof hingegen nicht erörtert; Voraussetzung für einen Rechtsakt auf Grundlage von Art. 308 (ex-Art. 235 EWGV) EGV ist also nicht, dass ein bestimmtes Ziel durch mitgliedstaatliches Handeln nicht zu erreichen ist.53 Dass die einzelnen Mitgliedstaaten bspw. durch völkerrechtlichen Vertrag, durch Beschlüsse der im Ministerrat vereinigten Regierungsvertreter oder durch gleichgerichtetes Verhalten54 das Ziel ebenfalls verwirklichen könnten,55 schließt die Erforderlichkeit der Gemeinschaftsmaßnahme nicht aus. Die Zulässigkeit eines Rückgriffs auf die völkerrechtliche Rechtsetzungsbefugnis der Mitgliedstaaten ist nach der Systematik des Vertrags nämlich stets expressis verbis niedergelegt worden, so etwa in Art. 293 (ex-Art. 220 EWGV) EGV.56 Entscheidend für die Beurteilung als „erforderlich“ ist allein, dass ein Gemeinschaftsziel noch nicht oder noch nicht hinreichend verwirklicht ist und dass diesbezüglich durch Handeln der Gemeinschaftsorgane Abhilfe geschaffen werden kann.57 Diese Voraussetzung hat jedoch mit dem Subsidiaritätsprinzip im Sinne einer Kompetenzregelung ersichtlich nichts zu tun.
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Siehe dazu Kapitel 1 I. 2. EuGH, RS. C-45/86 (Kommission/Rat) Slg. 1987, 1493 ff. Zu weiteren Rechtsprechungsnachweisen siehe GTE/Schwartz, Art. 235 EWGV Fn. 58. 52 Schima, Das Subsidiaritätsprinzip, S. 60. 53 Böhm, Kompetenzauslegung und Kompetenzlücken im Gemeinschaftsrecht, S. 111. 54 Grabitz in Grabitz/Hilf, Recht der Europäischen Union, Altband II, Art. 235 EWGV Rn. 68. 55 Anders wohl, wenn die Mitgliedstaaten entsprechend gehandelt haben. Wenn dadurch das Gemeinschaftsziel verwirklicht wurde, dürfte ein nachfolgendes Handeln der Gemeinschaft nicht mehr erforderlich sein, Everling, Zielverwirklichung nach Art. 235 EWG-Vertrag, S. 12. Siehe dazu auch Dorn, Art. 235 EGWV, S. 34 ff. 56 Everling, Zielverwirklichung nach Art. 235 EWG-Vertrag, S. 32. 57 Schwarze/Schreiber, EU-Kommentar, Art. 308 EGV Rn. 16 f. 51
I. Das Subsidiaritätsprinzip vor Maastricht
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4. Art. 94 (ex-Art. 100 EWGV) EGV Teilweise wird vertreten,58 dass Art. 94 (ex-Art. 100 EWGV)59 EGV Merkmale des Subsidiaritätsprinzips enthalte. Nach dieser Bestimmung ist eine Angleichung derjenigen Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten vorgesehen, „die sich unmittelbar auf die Errichtung und das Funktionieren des Gemeinsamen Marktes auswirken.“ Die Ansicht, diese Bestimmung stelle eine Ausprägung des Subsidiaritätsgrundsatzes dar, geht aber fehl. Zum einen ist bereits nach dem Wortlaut der Norm nicht offensichtlich, dass darin überhaupt eine Beschränkungsregelung liegt. Genauso könnte man bei einer unbefangenen Betrachtung der Auffassung sein, Art. 94 (exArt. 100 EWGV) EGV enthalte – allein – eine positive Kompetenzzuweisung für Maßnahmen, die den Gemeinsamen Markt betreffen. Diese Beurteilung würde auch durch den Umstand gestützt, dass in der gegenwärtigen Fassung des EGV dem Wortlaut nach Maßnahmen betreffend die Errichtung und das Funktionieren des Gemeinsamen Marktes neben den Voraussetzungen des Art. 94 EGV als Handlungsermächtigung der Erforderlichkeitsgrenze des Art. 3 h EGV60 sowie dem Subsidiaritätsprinzip nach Art. 5 Abs. 2 (ex-Art. 3b Abs. 2) EGV unterliegen.61 Schon aus systematischen Gründen erschiene daher stimmig, dass eine Erforderlichkeitsregelung zum einen nicht Bestandteil der speziellen Handlungsermächtigungsnorm Art. 94 EGV ist; vielmehr läge hier die positive Zuweisung, bei Art. 3 h EGV hingegen die generelle Begrenzung für das Gemeinschaftshandeln vor. Zum anderen ergäbe sich, dass die Erforderlichkeitsklausel des Art. 3 h EGV einen von dem Subsidiaritätsprinzip gesonderten, eigenständigen Regelungsgehalt hätte, jedenfalls wenn man diese Bestimmung nicht als Verweis auf das Subsidiaritäts-, sondern auf das Verhältnismäßigkeitsprinzip aus Art. 5 Abs. 3 (ex-Art. 3 b Abs. 3) EGV versteht.62 Ebenso denkbar wäre, eine Trias von Voraussetzungen herauszulesen: Zum einen die der Handlungsermächtigungsbestimmung Art. 94 EGV. Weiter das Erforderlichkeitskriterium des Art. 3 h EGV. Drittens die Voraussetzungen des Art. 5 Abs. 2 und 3 (ex-Art. 3 b Abs. 2 und 3) EGV, also die Einhaltung des Subsidiaritäts- sowie des Verhältnismäßigkeitsprinzips. Freilich mögen aus der heutigen Struktur des EGV keine zwingenden Schlüsse auf den Inhalt des als Art. 100 EWGV eingeführten – und durch den Vertrag von Maastricht modifi58
Nachweise bei Calliess, Subsidiaritäts- und Solidaritätsprinzip, S. 35 Fn. 3. Ex-Art. 100 EWGV wurde durch den Vertrag von Maastricht im Wortlaut geändert, die Nummer des Artikels blieb jedoch gleich. Durch die Neunummerierung anlässlich des Vertrags von Amsterdam erhielt die Norm ihre aktuelle Nummerierung als Art. 94 EGV. Die vermeintlich subsidiaritätsrelevanten Aussagen sind sowohl in ex-Art. 100 als auch in Art. 94 EGV grammatisch wie inhaltlich identisch. Beide Artikel werden daher in den folgenden Ausführungen zusammen zitiert. 60 Vgl. Kapitel 1 I. 5. 61 Schwarze/Herrnfeld, EU-Kommentar, Art. 94 EGV Rn. 17 f. 62 Schwarze/Hatje, EU-Kommentar, Art. 3 EGV Rn. 15. 59
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Kap.1: Das Subsidiaritätsprinzip vor dem Verfassungsvertrag
zierten – Art. 94 EGV geschlossen werden. Dennoch kann jedenfalls dem Wortlaut der Norm nicht entnommen werden, dass hierin eine Begrenzungsregelung liegt. Selbst wenn man aber bereits in Art. 94 (ex-Art. 100 EWGV) EGV eine Grenze für das Handeln der Gemeinschaft verorten will, bemisst sich jedenfalls diese Grenze allein danach, ob – wie wiederum bereits dem insoweit klaren Wortlaut zu entnehmen ist – eine Maßnahme die Errichtung oder das Funktionieren des Gemeinsamen Marktes betrifft oder nicht.63 Über das Verhältnis zwischen der Gemeinschaft und den Mitgliedstaaten betreffend die Ausübung von Kompetenzen trifft die Bestimmung hingegen gerade keine Aussage.64 Begrenzendes Kriterium für das Handeln der Gemeinschaft ist also nicht der Umstand, dass die betreffende Maßnahme nicht von den Mitgliedstaaten getroffen werden könnte. Die Kapazität der Mitgliedstaaten spielt keine Rolle.65 Vielmehr wird die Gemeinschaftstätigkeit auf das Ziel des Gemeinsamen Marktes beschränkt. Es handelt sich also um eine Zieleingrenzung, keine Kompetenzgrenze, die auf das Verhältnis zwischen Gemeinschaft und Mitgliedstaaten abstellt. Geschützt wird durch diese Bestimmung nicht eine eigene Handlungssphäre der Mitgliedstaaten. Gewahrt wird allerdings eine effektive Beteiligung der Mitgliedstaaten, da Maßnahmen nach Art. 94 (ex-Art. 100 EWGV) EGV dem Einstimmigkeitsprinzip unterliegen.66 Zielsetzung der Norm ist also effektive Partizipation, nicht Eigenverantwortlichkeit im Sinne des Subsidiaritätsprinzips.67
5. Art. 3 h) (ex-Art. 3 h) EWGV) EGV Auch Art. 3 h) (ex-Art. 3 h) EWGV) EGV könnte angesichts seines Wortlauts als eine Ausformung des Subsidiaritätsprinzips verstanden werden; hiernach obliegt der Gemeinschaft „die Angleichung der innerstaatlichen Rechtsvorschriften, soweit dies für das ([nur ex-Art. 3 h) EWGV:] ordnungsgemäße) Funktionieren des Gemeinsamen Marktes erforderlich ist.“68 Im Gegensatz zum handlungsermächtigenden Art. 94 (ex-Art. 100 EWGV) EGV scheint bei Art. 3 h) (ex-Art. 3 h) EWGV) EGV mit der Formulierung „erforderlich“ in der Tat ein Begrenzungstatbestand niedergelegt worden zu sein. Nach Manfred Zuleeg stellt das Merkmal der Erforderlichkeit hingegen keine Kompetenzbeschränkung dar; vielmehr werde hier die Pflicht der Gemeinschaft zum Tätigwerden im Bereich der Rechtsan-
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GTE/Taschner, Art. 100 EWGV Rn. 13. Zutreffend Calliess, Subsidiaritäts- und Solidaritätsprinzip, S. 36. 65 Schima, Das Subsidiaritätsprinzip, S. 58. 66 Schima, Das Subsidiaritätsprinzip, S. 59 f. 67 Schima, Das Subsidiaritätsprinzip, S. 60. 68 Ex-Art. 3 h) EWGV wurde durch den Vertrag von Maastricht im Wortlaut geändert (Streichung des Wortes „ordnungsgemäße“). Bezüglich der hier allein zu untersuchenden Frage nach der Verortung des Subsidiaritätsprinzips dürften sich hieraus aber keine Veränderungen ergeben. Beide Artikel werden daher in den folgenden Ausführungen gemeinsam zitiert. 64
I. Das Subsidiaritätsprinzip vor Maastricht
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gleichung „relativiert“.69 Dies kann mit der Auffassung begründet werden, dass Art. 3 (ex-Art. 3 EWGV) EGV keine Ermächtigungsgrundlage für ein Handeln der Gemeinschaft enthalte; solche Ermächtigungsgrundlagen seien vielmehr in den Tatbeständen der Art. 94–96 (ex-Art. 100–103 EWGV) EGV zu finden.70 Zuleeg wie Hans-Peter Ipsen erachten daher die Erforderlichkeitsklausel in Art. 3 h) (ex-Art. 3 h) EWGV) EGV als ein positives, konstruktives Kriterium: Erforderlich ist dementsprechend alles, was für den Gemeinsamen Markt nützlich ist und diesen fördert.71 Nun kann dieser Ansicht – eventuell auch vor dem Hintergrund der heutigen Anordnung der Tatbestände, die zumindest gewisse Rückschlüsse auf die damals angedachte Konstruktion gestatten – widersprochen werden. Aus den Ausführungen zu Art. 94 (ex-Art. 100 EWGV) EGV ergibt sich, dass dieser Bestimmung entweder – bei einer am Wortlaut orientierten Auslegung – gar kein Begrenzungscharakter innewohnt, oder aber die Begrenzung eine Zieleingrenzung darstellt. In beiden Fällen ist ein rein positiver und konstruktiver Charakter des Erforderlichkeitskriteriums in Art. 3 h) (ex-Art. 3 h) EWGV) EGV eher unwahrscheinlich. Wenn nämlich Art. 94 (ex-Art. 100 EWGV) EGV keine Einschränkung beinhaltet, die dortige Formulierung „auswirken“ also keinen begrenzenden, sondern lediglich einen beschreibenden Charakter hat, wäre ein positiv-konstruktiv gedachtes „erforderlich“ in Art. 3 h) (ex-Art. 3 h) EWGV) EGV eine – mithin überflüssige – Tautologie. Denn schon aus dem Tatbestandsmerkmal „auswirken“ könnte die gleiche Aussage gezogen werden, nämlich dass es um Maßnahmen geht, welche dem Gemeinsamen Markt dienlich sein müssen. Die Positivität des Auswirkens liegt dabei, auch wenn sie nicht ausdrücklich niedergelegt ist, auf der Hand, schließlich soll ja die Rechtsangleichung dem Gemeinsamen Markt als Unionsziel förderlich sein. Nicht so eindeutig verhält es sich hingegen, wenn man in Art. 94 (ex-Art. 100 EWGV) EGV eine Zieleingrenzung sieht. Dann könnte das Erforderlichkeitskriterium in Art. 3 h) (ex-Art. 3 h) EWGV) EGV – systematisch gesehen – tatsächlich entweder ein rein konstruktiv-positives, oder aber ein begrenzendes Tatbestandsmerkmal sein. Im ersten Fall löst sich die Frage zumindest dahingehend auf, dass mangels eines Begrenzungstatbestandes das Subsidiaritätsprinzip zweifelsfrei nicht Bestandteil des Art. 3 h) (ex-Art. 3 h) EWGV) EGV ist. Im zweiten Fall läge zwar eine Begrenzung vor, es bliebe aber zu erörtern, ob es sich auch um eine Begrenzung im Sinne des Subsidiaritätsprinzips handelt. Genauso könnte nämlich auch eine Begrenzung im Sinne eines allgemeinen Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes anzunehmen sein.
69 GTE/Zuleeg, Art. 3 EWGV Rn. 11. Was genau unter „relativiert“ zu verstehen ist, bleibt bei Zuleeg allerdings offen. 70 Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, S. 689. 71 Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, S. 690.
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Kap.1: Das Subsidiaritätsprinzip vor dem Verfassungsvertrag
Allerdings findet sich bei einem Vergleich der beiden Begrenzungsmöglichkeiten der Erforderlichkeitsklausel (Subsidiaritätsprinzip oder Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, vielleicht auch als dritte Variante beide Prinzipien kumulativ) ein gewisses „Rangverhältnis“: Das Subsidiaritätsprinzip stellt dabei die „speziellere“ Maxime dar. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit hingegen ist ein Rechtsgrundsatz, welcher dem Europarecht72 wie wohl jeder anderen Rechtsordnung inhärent ist. Es liegt daher näher, dass dieser Grundsatz in dem Merkmal der Erforderlichkeit gemeint ist. Das Beibehalten der Erforderlichkeitsklausel auch nach der Einführung des Art. 5 Abs. 3 (ex-Art. 3 b Abs. 3) EGV wäre letztlich auf sprachliche Beweggründe zurückzuführen. Ein in sich schlüssiges – widerspruchsfrei kohärentes – Normensystem erfordert nicht, eine Spezialregelung zu beseitigen, wenn eine Generalnorm nachträglich eingefügt wird, welche auch den Regelungsbereich der speziellen Norm erfasst – freilich gilt dies nur, solange die Regelungsgehalte beider Normen inhaltlich nicht divergieren. Der Normbefehl der speziellen Regelung kann entweder fortbestehen oder sich unter Preisgabe des eigenständigen Regelungsgehalts in einen Verweis auf die allgemeine Regelung wandeln. Die Vertragsänderung von Maastricht beabsichtigte die Niederlegung eines bei allen Maßnahmen der Gemeinschaft zur Anwendung gelangenden Prinzips. Systematisch betrachtet ist daher anzunehmen, dass ggf. zuvor bestehende und „im Gemeinschaftsrecht verteilte“ Ausprägungen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes ihren eigenständigen Regelungsgehalt zugunsten eines Verweises auf die „Globalbestimmung“ des Art. 5 Abs. 3 (ex-Art. 3 b Abs. 3) EGV verlieren sollten. Nach der heutigen Struktur des EGV dürfte es daher stimmig sein, Art. 3 h EGV als bloßen Verweis73 auf den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz in Art. 5 Abs. 3 (ex-Art. 3 b Abs. 3) EGV ohne eigenständigen Regelungsgehalt anzusehen. Die Auffassung, Art. 3 h) (ex-Art. 3 h) EWGV) EGV sei Ausdruck des Subsidiaritätsprinzips, findet also im Ergebnis keine Stütze in Systematik und Regelungszweck des EGV.
72 Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ist „bereits seit langem Bestandteil der Verfassung der EG“, Zuleeg, Das Subsidiaritätsprinzip, S. 640. Siehe auch Bieber, Subsidiarität im Sinne des EU-Vertrages, S. 171. Zum Verhältnismäßigkeitsprinzip als allgemeinem Rechtsgrundsatz des Gemeinschaftsrechts vgl. Emmerich-Fritsche, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als Direktive und Schranke, S. 96 ff. 73 Vgl. Schwarze/Hatje, EU-Kommentar, Art. 3 EGV Rn. 15.
I. Das Subsidiaritätsprinzip vor Maastricht
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6. Art. 130 r Abs. 4 EWGV Art. 130 r Abs. 4 EWGV wurde im Jahre 1987 durch die Einheitliche Europäische Akte (EEA)74, welche dem EWG-Vertrag unter anderem den neuen Titel „Umwelt“ hinzufügte,75 eingeführt.76 Danach wird die Gemeinschaft „im Bereich der Umwelt insoweit tätig, als die in Absatz 1 genannten Ziele besser auf Gemeinschaftsebene erreicht werden können als auf der Ebene der einzelnen Mitgliedstaaten.“ Ob diese Bestimmung, mit der erstmalig definitorische Merkmale des Subsidiaritätsprinzips textlich in das primäre Gemeinschaftsrecht aufgenommen wurden, tatsächlich eine Ausprägung dieses Prinzips darstellte, ist umstritten.77 Ein Teil der Literatur versteht die Bestimmung als Kompetenzverteilungsregel.78 Die Gemeinschaft war nach dieser Ansicht nur zum Handeln befugt, wenn die Voraussetzungen des Absatzes 4 vorlagen. Damit wäre die Bestimmung eindeutig nicht Ausprägung des Subsidiaritätsprinzips im Sinne dieser Untersuchung, da dieses keine Aussagen zur Kompetenzverteilung, sondern vielmehr zur Kompetenzausübung trifft. Als systematisches Argument gegen den Kompetenzverteilungscharakter von Art. 130 r Abs. 4 EWGV wird allerdings zutreffend angeführt, dass nach dem System des EWGV Art. 130 s EWGV als alleinige Kompetenzgrundlage des Umweltrechts der Gemeinschaft anzusehen war.79
74 Einheitliche Europäische Akte vom 28. Februar 1986, ABl. EG L 169 S. 27 vom 29. Juni 1987. 75 Eine kurze Darstellung der Genese des europäischen Umweltrechts findet sich u. a. bei Röger, Entwicklung des europäischen Umweltrechts, S. 131 ff. 76 Die Vorschrift wurde durch den Maastricht-Vertrag in wesentlichen Punkten geändert, bspw. durch Einführung des Ziels eines hohen Schutzniveaus und einer Schutzklausel. Der heutige Art. 174 EGV entspricht weitgehend der Fassung des Art. 130 r Abs. 4 EGV nach Maastricht, vgl. Schwarze/Jans-Böhm, EU-Kommentar, Art. 174 EGV Rn. 1. 77 Für die Verortung des Subsidiaritätsprinzips in dieser Vorschrift u. a. die Kommission, Das Subsidiaritätsprinzip. Mitteilung der Kommission an den Rat und an das Europäische Parlament vom 27.11.1992. Ferner Höffe, Subsidiarität, S. 122; Stein, Subsidiaritätsprinzip als Rechtsprinzip?, S. 27; Stewing, Subsidiarität und Föderalismus, S. 97; Schima, Das Subsidiaritätsprinzip, S. 71. Eine umfassende Darstellung mit weiteren Literaturnachweisen findet sich bei Calliess, Subsidiaritäts- und Solidaritätsprinzip, S. 43 f. und Vorwerk, Kompetenzen, S. 47. Siehe auch die Ausführungen bei Kahl, Möglichkeiten und Grenzen des Subsidiaritätsprinzips, S. 421 ff. 78 Grabitz/Nettesheim in Grabitz/Hilf, Recht der Europäischen Union, Altband II, Art. 130 r EWGV Rn. 80. 79 Der EuGH ging zunächst von einer Zuständigkeit der Gemeinschaft aufgrund beider Bestimmungen aus, siehe EuGH, RS. C-62/88 (Griechische Republik/Rat) Slg. 1990, I-1527 (1550). Seit der sog. Titandioxid-Entscheidung (EuGH, RS. C-300/89 (Kommission/Rat) EuR 1991, 175 ff.) sieht aber auch der Gerichtshof Art. 130 s EGV als alleinige Kompetenznorm an, dazu Grabitz/Nettesheim in Grabitz/Hilf, Recht der Europäischen Union, Altband II, Art. 130 s EWGV Rn. 1.
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Kap.1: Das Subsidiaritätsprinzip vor dem Verfassungsvertrag
Ausgehend von dieser Begründung unterscheiden Eberhard Grabitz und Martin Nettesheim zwischen den Aspekten der Befugnis (Kompetenzverteilung) und deren inhaltlicher Ausgestaltung. Danach hatte die Gemeinschaft, ausgehend von Art. 130 s EWGV, die Kompetenz zum Erlass von Rechtsakten. Von dieser (grundsätzlichen) Kompetenz durfte sie jedoch nur Gebrauch machen, wenn die Voraussetzungen des Art. 130 r Abs. 4 EWGV vorlagen.80 Diese Ansicht könnte grundsätzlich für eine Niederlegung des Subsidiaritätsprinzips in Art. 130 r Abs. 4 EWGV sprechen. Nach einer dritten Auffassung wird der Bestimmung der Charakter einer Kompetenzregel – gleich ob nun Verteilungs- oder Ausübungsregel – versagt.81 Vielmehr sei sie als politische Grundsatzentscheidung oder als Leitlinie zu verstehen,82 an der sich die Gemeinschaft auszurichten und die sie durch Rechtsakte zu konkretisieren habe.83 Ist der genaue rechtliche Gehalt des Art. 130 r Abs. 4 EWGV also unterschiedlicher Bewertung zugänglich, dürfte nach Sinn und Regelungsbereich der Vorschrift jedenfalls zweifelhaft sein, ob gerade auf dem Gebiet des Umweltschutzes dem Subsidiaritätsprinzip eine erste Bresche in das primäre Gemeinschaftsrecht geschlagen werden sollte. Gerade Aspekte des Umweltschutzes, die nicht vor Grenzen haltmachen und unter Effektivitätsgesichtspunkten beinahe zwingend übergreifender „großer“ Lösungsansätze bedürfen,84 sind nicht geeignet, Exempel der Subsidiarität zu statuieren. Umweltschutz ist ein Gebiet, auf dem ein im Sinne des Subsidiaritätsprinzips nur ergänzendes Gemeinschaftshandeln bei grenzüberschreitenden Sachverhalten85 keine durchgreifenden Erfolge zeitigen kann.86 Zu Recht stellt Ludwig Krämer87 daher auf eine umfassende Betrachtung des Umweltschutzes in der gesamten Gemeinschaft, nicht auf die einzelstaatliche Umwelt, ab. Maßstab ist also die Frage, wie die in Art. 130 r Abs. 1 EWGV genannten Ziele innerhalb des Ökosystems Gemeinschaft88 durch diese realisiert werden 80 Grabitz/Nettesheim in Grabitz/Hilf, Recht der Europäischen Union, Altband II, Art. 130 r EWGV Rn. 81. 81 Z. B. Krämer, EC Environmental Law, S. 12. 82 Stein, Subsidiaritätsprinzip als Rechtsprinzip?, S. 30. 83 Dazu GTE/Krämer, Art. 130 r EWGV Rn. 59. Vgl. auch Grabitz/Nettesheim in Grabitz/ Hilf, Recht der Europäischen Union, Altband II, Art. 130 r EWGV Rn. 79. 84 Bspw. Schima, Das Subsidiaritätsprinzip, S. 71. 85 Siehe dazu etwa die Regierungserklärung des baden-württembergischen Ministerpräsidenten Teufel vom 16. Juli 2003 über die Ergebnisse des Konvents für die Zukunft Europas im Landtag von Baden-Württemberg,http://www.baden-wuerttemberg.de/sixcms/media.php/ 16/teufel_regerklaer_eu_konvent_160703.2434.pdf. 86 Man bedenke an dieser Stelle zudem, dass der Umweltschutz wesentliches Gemeinschaftsziel ist, vgl. Stewing, Subsidiarität und Föderalismus, S. 98 m. w. N. 87 GTE/Krämer, Art. 130 r EWGV Rn. 71. 88 GTE/Krämer, Art. 130 r EWGV Rn. 70 ff.; Krämer weist in seinen Ausführungen zu Recht darauf hin, dass das Umweltschutzniveau in den Mitgliedstaaten der Gemeinschaft sehr unter-
I. Das Subsidiaritätsprinzip vor Maastricht
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konnten. Entscheidend kam es also auf den bestmöglichen Umweltschutz für das größtmögliche Gebiet an.89 Es erfolgte gerade nicht die Beschreibung eines RegelAusnahme-Verhältnisses, vielmehr sollten Gemeinschaft und Mitgliedstaaten nebeneinander gemäß ihren jeweiligen Wirkungsmöglichkeiten agieren.90 Auch Grabitz/Nettesheim verneinen vor diesem Hintergrund zumindest eine „strenge Subsidiarität“ als Aussagegehalt des Art. 130 r Abs. 4 EWGV: Eine grundsätzliche Nachrangigkeit der Gemeinschaftszuständigkeit hinter den Handlungsbefugnissen der Mitgliedstaaten werde den Problemzusammenhängen der Umweltverschmutzung nicht gerecht; die Aufgabe des Umweltschutzes könne schon vom Ansatz her nicht nur ergänzend auf Gemeinschaftsebene wahrgenommen werden.91 Im Ergebnis ist daher festzustellen, dass Art. 130 r Abs. 4 EWGV zwar erstmalig definitorische Elemente des Subsidiaritätsprinzips in das primäre Gemeinschaftsrecht einführte. Hingegen handelte es sich bei der Vorschrift nicht um eine Verkörperung dieses Prinzips. Vielmehr ist mit Ingolf Pernice92 ein vom Subsidiaritätsprinzip inspirierter, an Effektivitätsgesichtspunkten orientierter Aktualisierungsvorbehalt, eine das Prinzip der optimalen Wirkungsebene verfolgende Optimierungsklausel, anzunehmen.93 Der Norm die Qualität einer Kompetenzausübungsregelung abzusprechen heißt aber, ihren Charakter als Subsidiaritätsnorm zu verneinen.94 Einer Subsidiaritätsregelung muss mehr als das bloße Prinzip der geeigneten Handlungsebene innewohnen. Sie muss – ausgehend von einem Regel-Ausnahme-Verhältnis – die grundsätzlich gegebene Befugnis zum Handeln aktualisieren. Genau diesen Regelungsinhalt hatte Art. 130 r Abs. 4 EWGV aber nicht.95 Daher kann diese Bestim-
schiedlich ist. Diese Umstände müsste eine auf den Umweltschutz in der Gemeinschaft gerichtete Gemeinschaftspolitik berücksichtigen. Der Schutz der Umwelt in den einzelnen Mitgliedstaaten sei hingegen kein relevanter Prüfungsmaßstab. 89 GTE/Krämer, Art. 130 r EWGV Rn. 72. 90 Grabitz/Nettesheim in Grabitz/Hilf, Recht der Europäischen Union, Altband II, Art. 130 r EWGV Rn. 83. 91 Grabitz/Nettesheim in Grabitz/Hilf, Recht der Europäischen Union, Altband II, Art. 130 r EWGV Rn. 82. Der Grundsatz mitgliedstaatlicher Zuständigkeit sowie die daraus resultierende Nachrangigkeit der Gemeinschaftszuständigkeit ist freilich genau genommen nicht „strenge Subsidiarität“, sondern gewöhnlicher Kern des gemeinschaftsrechtlichen Subsidiaritätsbegriffs. Grabitz/Nettesheim dürften daher hier mit ihrer Ablehnung einer „strengen“ Subsidiarität argumentativ Art. 130 r Abs. 4 EWGV jeglichen Charakter als Ausprägung des Subsidiaritätsprinzips abgesprochen haben. 92 Pernice, Kompetenzordnung, S. 1; 34 f. 93 Siehe auch Calliess, Subsidiaritäts- und Solidaritätsprinzip, S. 43 f. 94 Hier anderer Auffassung Calliess, Subsidiaritäts- und Solidaritätsprinzip, S. 46, der Art. 130 r EWGV den Charakter einer Kompetenznorm versagt, sie aber dennoch als „rechtssatzförmige Regelung des Subsidiaritätsprinzips“ qualifiziert. 95 Grabitz/Nettesheim in Grabitz/Hilf, Recht der Europäischen Union, Altband II, Art. 130 r EWGV Rn. 83.
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Kap.1: Das Subsidiaritätsprinzip vor dem Verfassungsvertrag
mung nicht als erste Niederlegung des Subsidiaritätsprinzips im Gemeinschaftsrecht qualifiziert werden.
7. Der Charakter des Rechtssetzungsinstruments der Richtlinie Nach Art. 249 (ex-Art. 189 EWGV) EGV96 stellt die Richtlinie neben Verordnungen, Entscheidungen, Empfehlungen und Stellungnahmen eine der Möglichkeiten von Kommission bzw. Rat zur Vornahme von Rechtshandlungen dar. Eine Besonderheit der Richtlinie ist, dass diese den Mitgliedstaaten zwar verbindliche Ziele vorgibt, den innerstaatlichen Stellen allerdings die Wahl der Form und der Mittel zur Erreichung des Ziels freistellt, Art. 249 Abs. 3 (ex-Art. 189 Abs. 3 EWGV) EGV. Sinn dieser gestuften Verbindlichkeit97 ist es, nach Möglichkeit die hoheitlichen Befugnisse der Mitgliedstaaten zu wahren und ihnen einen Betätigungsspielraum zu belassen,98 so dass bei der Ausführung der Richtlinie den Besonderheiten der jeweiligen nationalen Rechtsordnung Rechnung getragen werden kann.99 Trotz dieser Intention ist die Gemeinschaft nach herrschender Auffassung nicht daran gehindert, so detaillierte Zielvorgaben in eine Richtlinie aufzunehmen, dass ein Umsetzungsspielraum für die Mitgliedstaaten faktisch kaum besteht.100 Dies kann zum einen damit begründet werden, dass der Erlass von Richtlinien dem Gemeinsamen Markt und der Funktionsfähigkeit der Gemeinschaft dienlich sein soll; die Regelungsdichte der Richtlinie soll daher flexibel sein und den jeweiligen Erfordernissen entsprechen dürfen.101 Diesem Argument mag freilich entgegengehalten werden, dass damit die Grenzen zwischen den verschiedenen Handlungsmöglichkeiten, insbesondere im Verhältnis zu Verordnungen und Entscheidungen, verwischt würden, was dem Prinzip der Formenklarheit und des sachgerechten Formengebrauchs zuwiderlaufen könnte;102 nach jenem Prinzip sollen Form und Inhalt eines Organaktes kongruent sein, anderenfalls kann ein nichtigkeitsbegründender Fehler im Sinne von Art. 173 f. EWGV vorliegen.103 Für die Möglichkeit detaillierter Regelungen in einer Richtlinie sprechen aber auch folgende Erwägungen: Zum einen gibt es Regelungsbereiche wie etwa den Umweltschutz, in denen Detailbestimmungen zur Zweckerreichung kraft Natur 96 Auch diese Bestimmung wurde durch den Vertrag von Maastricht geändert. Die Frage nach einem eventuell „subsidiären“ Charakters des Rechtssetzungsinstruments der Richtlinie stellt sich jedoch gleichermaßen in ex-Art. 189 EWGV wie im aktuell gültigen Art. 249 EGV, so dass hier ebenfalls beide Bestimmungen zusammen erörtert werden können. 97 Calliess, Subsidiaritäts- und Solidaritätsprinzip, S. 39. 98 Fuß, Die „Richtlinie“ des Europäischen Gemeinschaftsrechts, S. 379. 99 GTE/Daig/Schmidt, Art. 189 EWGV Rn. 39. 100 GTE/Daig/Schmidt, Art. 189 EWGV Rn. 37. 101 Vgl. die entsprechenden Literaturnachweise bei Fuß, Die „Richtlinie“ des Europäischen Gemeinschaftsrechts, S. 379. 102 Fuß, Die „Richtlinie“ des Europäischen Gemeinschaftsrechts, S. 381. 103 Fuß, Rechtssatz und Einzelakt, S. 330.
I. Das Subsidiaritätsprinzip vor Maastricht
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der Sache notwendig sind.104 Zum anderen ist zu bedenken, dass es in vielen Fällen den Gemeinschaftsorganen unbenommen bliebe, anstelle der Richtlinie eine andere Handlungsform zu wählen; so etwa die Verordnung oder die Entscheidung, welche beide unproblematisch detaillierte Regelungen schaffen können; es erscheint daher fragwürdig, die Handlungsform der Richtlinie einer strengen Kontrolle in Bezug auf die Wahlfreiheit von Form und Mittel zu unterziehen, wenn das Gemeinschaftsorgan schlichtweg auch eine andere Form von Rechtshandlung hätte wählen können.105 Insofern dürfte auch das an sich stimmige Argument der Notwendigkeit von Formenklarheit und sachgerechtem Formengebrauch106 aus praktischen Erwägungen vielfach ins Leere laufen, abgesehen vielleicht von den Fällen bewusster bzw. willkürlicher Umgehenstatbestände. Mit der wohl herrschenden Auffassung kann daher davon ausgegangen werden, dass die Grenzen der Regelungsintensität einer Richtlinie von ihrem Regelungsgegenstand abhängen; im Übrigen kann freilich auch der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz beschränkend wirken.107 Die nun von einigen Stimmen in der Literatur108 geäußerte Ansicht, die gestufte Verbindlichkeit der Richtlinie sei Ausdruck des Subsidiaritätsprinzips, ist im Ergebnis abzulehnen. Eine Handlungsspielräume belassende und dadurch konkrete Gegebenheiten berücksichtigende Richtlinie109 könnte zwar Ausdruck einer Art von Subsidiaritätsverständnis dahingehend sein, dass der sachnäheren „unteren Ebene“ die konkrete Ausformung einer Zielvorgabe ermöglicht wird. Schon mangels Regelmäßigkeit dieses „Idealfalls“ einer Richtlinie sind jedoch ernsthafte Zweifel angebracht, ob in dieser Handlungsform tatsächlich – auch nach dem Willen aller beteiligten Akteure – der Subsidiaritätsgedanke verankert ist. Stefan Pieper erkennt in diesem Problem den Grund für die Rechtsprechung des EuGH zur Direktwirkung von Richtlinien110 und bezeichnet diese Rechtsprechung als „konkrete Anwendung eines dynamischen Subsidiaritätsprinzips“.111 Dabei verkennt er jedoch im Ergebnis, dass die stärkere Detaillierung von Richtlinien gerade 104 Als Beispiel kann hier die Festlegung von Grenzwerten genannt werden; solche Festlegungen sind per se detailliert, siehe dazu Schwarze/Biervert, EU-Kommentar, Art. 249 EGV Rn. 26. 105 Schwarze/Biervert, EU-Kommentar, Art. 249 EGV Rn. 26. 106 Fuß, Rechtssatz und Einzelakt, S. 330. 107 GTE/Daig/Schmidt, Art. 189 EWGV Rn. 37; Schwarze/Biervert, EU-Kommentar, Art. 249 EGV Rn. 26. Instruktiv zur Regelungsdichte von Richtlinien auch Oppermann, Europarecht, S. 165 ff. 108 Besonders deutlich Pieper, Subsidiaritätsprinzip – Strukturprinzip der EU, S. 708; ders., Subsidiarität, S. 205, wonach die Kompetenz zum Erlass von Richtlinien „den klarsten Ausdruck des Subsidiaritätsprinzips“ darstelle. 109 Calliess, Subsidiaritäts- und Solidaritätsprinzip, S. 39. 110 Das erste Urteil des EuGH, in welchem die Direktwirkung einer Richtlinie gegenüber einem Individuum festgestellt wurde, stammt aus dem Jahre 1974, EuGH, RS. C-41/74 (van Duyn/Home Office) Slg. 1974, 1337 ff. 111 Pieper, Subsidiarität, S. 190 f.
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Kap.1: Das Subsidiaritätsprinzip vor dem Verfassungsvertrag
keine stärkere Bindung der Mitgliedstaaten herbeiführen sollte, wenn man – wie Pieper selbst112 – den Erlass einer Richtlinie mit dem Inhalt einer Verordnung als mögliche Kompetenzüberschreitung der Gemeinschaft erachtet. Vielmehr müsste aus der (kompetenzwidrigen) Überregulierung eigentlich eher eine Entbindung der Mitgliedstaaten von ihren Umsetzungspflichten denn eine noch dichtere Bindung im Sinne einer Direktwirkung resultieren. Die Rechtsprechung des EuGH stellt also genau genommen keine Reaktion auf die fortschreitende Richtliniendetaillierung, sondern auf mitgliedstaatliche Verweigerung oder Verzögerung der Umsetzung dar.113 Daraus folgt, dass die fortschreitende Detaillierung und Konkretisierung von Richtlinien nicht als unzulässige Kompetenzüberschreitung angesehen werden darf, sollen sich die Argumentationslinien nicht widersprechen. Wenn aber detaillierte Richtlinien zulässig sind, stellt die Rechtsprechung des EuGH gerade keine Anwendung eines dynamischen Subsidiaritätsprinzips als Folge der Wesensart der Richtlinie dar. Vielmehr wird dadurch klar dem Gemeinschaftsinteresse Vorrang gegeben. Ferner beruht die Zweistufigkeit der Richtlinie zwar auf einem Grundverständnis des Subsidiaritätsprinzips, nämlich der Vorstellung, dass die „unteren Ebenen“ – weil sachnäher – grundsätzlich geeigneter zur Erfüllung von Aufgaben sind als die „höheren Ebenen“. Daher erfüllt das Regelungssystem der Richtlinie, die konkrete Ausgestaltung einer Zielvorgabe den Mitgliedstaaten zu überlassen, die Forderungen dieses Prinzips. Dennoch gibt es erhebliche Unterschiede: Zum einen betrifft die gestufte Verbindlichkeit der Richtlinie nur die Wirkungsweise einer Handlungsform der Gemeinschaft. Hingegen regelt sie nicht das Kompetenzausübungsverhältnis zwischen der Gemeinschaft und den Mitgliedstaaten.114 Genau dies wäre aber erforderlich, um der Bestimmung zuzusprechen, Ausdruck des Subsidiaritätsprinzips zu sein. Bei der Richtlinie hat die Gemeinschaft hingegen die – konkrete – Kompetenz, lediglich die Durchführungsmaßnahmen bleiben bei den Mitgliedstaaten. Ihnen kommt also (auch wenn die Richtlinie tatsächlich allein betreffend das Ziel detailliert sein sollte) nur die Vollziehungskompetenz zu, die Wahl zwischen verschiedenen Ausgestaltungsformen, die aber am Ende alle das gleiche Resultat herbeiführen müssen.115 Ein solches Auftrags-DurchführungsVerhältnis hat mit dem dieser Untersuchung zugrunde gelegten Subsidiaritätsbegriff im Sinne einer Kompetenzausübungsregel nichts gemein. Bei einer Richtlinie gibt es keine Kompetenzausübungsfragen: Wenn eine Richtlinie ergeht, ist die Kompetenzfrage bereits im Sinne einer „Hochzonung“ beantwortet. Die Gemeinschaft setzt – mehr oder minder detailliert – das Ziel; die Staaten führen die gemeinschaftsrechtliche Zielvorgabe – basierend auf mehr oder minder selbst gewählten Pfaden – aus.
112 113 114 115
Pieper, Subsidiarität, S. 191. So denn auch Pieper, Direktwirkung von Richtlinien, S. 685. Zutreffend Calliess, Subsidiaritäts- und Solidaritätsprinzip, S. 39. Schima, Das Subsidiaritätsprinzip, S. 64.
I. Das Subsidiaritätsprinzip vor Maastricht
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Zum anderen gilt – wie bereits dargestellt – zu bedenken, dass die Richtlinie nur eine mögliche Handlungsform der Gemeinschaft zum Erlass von Rechtsakten darstellt;116 in einer Reihe von Fällen käme alternativ auch eine Verordnung117 oder eine Entscheidung118 in Betracht. In den beispielhaft genannten Fällen steht die Wahl der Handlungsform im Ermessen des handelnden Organs; das Ermessen ist jedoch dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit unterworfen: Unter Umständen kann daher statt einer Verordnung oder Entscheidung der Erlass einer Richtlinie einzig zulässiges Handlungsinstrument sein. Dann nämlich, wenn diese eine weniger belastende Handlung darstellt („Erforderlichkeit“) oder wenn nur eine Richtlinie proportional zum erstrebten Zweck ist („Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne“).119 Aus diesem Verhältnis der möglichen Handlungsformen über das Verhältnismäßigkeitsprinzip hinaus Rückschlüsse auf eine Verankerung des Subsidiaritätsprinzips im Institut der Richtlinie zu ziehen, dürfte freilich zu weit gehen. Im Ergebnis kann daher festgestellt werden, dass die Richtlinie nach Art. 249 (ex-Art. 189 EWGV) EGV weder in ihrer rechtlichen Konzeption noch in ihrer praktischen Ausformung120 als Ausdruck des Subsidiaritätsprinzips im Sinne dieser Untersuchung beurteilt werden kann.
8. Weitere Rechtsquellen und Dokumente a) Der Verfassungsentwurf des Europäischen Parlaments von 1984 Der Entwurf des Europäischen Parlaments eines „Vertrags zur Gründung der Europäischen Union“ aus dem Jahre 1984121 enthält zwei ausdrückliche Erwähnungen des Subsidiaritätsprinzips.122 Zum einen heißt es in der Präambel dieses Vertragsentwurfs: „In der Absicht, gemeinsamen Institutionen nach dem Grundsatz der Subsidiarität nur die Zuständigkeiten zu übertragen, die sie benötigen, um die Aufgaben zu bewältigen, die sie wirkungsvoller wahrnehmen können als jeder Mitgliedstaat für sich (…).“
Das Subsidiaritätsprinzip stellt sich hier als eine allgemeine Richtlinie für die Kompetenzzuweisungsregelungen des nachfolgenden Vertragstextes dar.123 Ferner besagt Art. 12 Abs. 2 des Vertragsentwurfs: 116
Vgl. Calliess, Subsidiaritäts- und Solidaritätsprinzip, S. 39 f. Siehe z. B. Art. 83 (ex-Art. 87 EWGV) EGV. 118 Art. 71 Abs. 1 d (ex-Art. 75 I c EWGV); „alle (…) zweckdienlichen Vorschriften“. 119 Grabitz in Grabitz/Hilf, Recht der Europäischen Union, Altband II, Art. 189 EWGV Rn. 33. 120 Schima, Das Subsidiaritätsprinzip, S. 67. 121 Sog. Spinelli-Entwurf vom 14. Februar 1984, Abl. EG Nr. C 77 1984 S. 53 vom 19. März 1984. 122 Eine gute Übersicht über Entstehungsgeschichte und Inhalt des Verfassungsentwurfs findet sich bei Garthe, Weichenstellung zur Europäischen Union? (1989). 123 Constantinesco, Subsidiarität, S. 169. 117
Kap.1: Das Subsidiaritätsprinzip vor dem Verfassungsvertrag
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„Weist dieser Vertrag der Union eine konkurrierende Zuständigkeit zu, so handeln die Mitgliedstaaten, soweit die Union nicht tätig geworden ist. Die Union wird nur tätig, um die Aufgaben zu verwirklichen, die gemeinsam wirkungsvoller wahrgenommen werden können als von einzelnen Mitgliedstaaten allein, insbesondere Aufgaben, deren Bewältigung ein Handeln der Union erfordert, weil ihre Ausmaße oder ihre Auswirkungen über die nationalen Grenzen hinausreichen.“
Der hier verwendete Subsidiaritätsbegriff erfasst zwar nur das Kriterium der Effizienz-Optimierung; das Insuffizienzkriterium ist hingegen nicht aufgenommen worden. Dennoch wurde der Vertragsentwurf in der Literatur als überzeugender124 und einleuchtender125 Ansatz gesehen, dieses Prinzip in einem – wenn auch konkretisierungsbedürftigen126 – Rechtssatz zu formulieren. Nach Vlad Constantinesco unterliegt die Berufung auf das Subsidiaritätsprinzip wegen Art. 12 Abs. 2 Satz 1 a. E. des Vertragsentwurfs zwei einschränkenden Kriterien, nämlich der Erforderlichkeit, dass die zu bewältigende Aufgabe in Ausmaß oder Auswirkung einen grenzüberschreitenden Bezug hat: Nur bei nachgewiesener Feststellung dieses grenzüberschreitenden Charakters dürfe die Union tätig werden.127 Diese Auffassung begegnet jedoch Zweifeln: Die Bestimmung verlangt nicht zwingend die Auslegung, dass die zu bewältigende Aufgabe in ihren Ausmaßen oder Auswirkungen über die Grenzen eines Staates hinausgehen muss. Nach dem Wortlaut der Norm ist Voraussetzung für ein Handeln der Union, dass die zu verwirklichende Aufgabe gemeinsam wirkungsvoller wahrgenommen werden kann als von einzelnen Mitgliedstaaten allein. Der zweite Halbsatz des Art. 12 Abs. 2 Satz 1 des Verfassungsentwurfs, eingeleitet durch das Wort „insbesondere“, erscheint bei genauer Betrachtung nicht als zusätzliche Tatbestandsvoraussetzung für ein Handeln der Union. Vielmehr erweckt die Bestimmung den Eindruck eines Regelbeispiels. Nach dieser Auslegung bedarf ein Tätigwerden der Union nur der Erfüllung des Kriteriums der Effizienz-Optimierung in Halbsatz 1; in denjenigen Fällen, die der durch „insbesondere“ eingeleitete Halbsatz 2 erfasst – also Aufgaben mit grenzüberschreitenden Ausmaßen oder Auswirkungen – wäre die Erfüllung des „Besser“-Kriteriums nach der Systematik dieses Rechtssatzes indiziert. Zugegebenermaßen mag hier auch eine andere Auslegung denkbar sein. Die Bestimmung hätte in diesem Punkt durchaus eine klarere Formulierung vertragen.
124
Constantinesco, Subsidiarität, S. 170. Wessels, Der Vertragsentwurf des Europäischen Parlaments, S. 241. 126 Garthe, Weichenstellung zur Europäischen Union?, S. 64. 127 Constantinesco, Subsidiarität, S. 170, hier ungenau formulierend: Aus der entsprechenden Passage geht nämlich nicht eindeutig hervor, ob das grenzüberschreitende Element sich auf die Handlung der Union oder auf die zu bewältigende Aufgabe beziehen soll. Nach dem Wortlaut des Art. 12 II Satz 1 a. E. des Verfassungsentwurfs kann diese Frage freilich eindeutig zu Gunsten letzterer Variante beantwortet werden. 125
I. Das Subsidiaritätsprinzip vor Maastricht
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Ebenfalls nicht eindeutig erscheint die Ausformulierung des Kriteriums der Effizienz-Optimierung: In der Präambel ist dieses Kriterium mit der Formulierung „wirkungsvoller“ niedergelegt, in Art. 12 Abs. 2 des Entwurfs mit den Worten „gemeinsam wirkungsvoller“. Dies wirft Fragen auf: Besteht zwischen den beiden Begriffen ein inhaltlicher Unterschied? Was genau ist mit „gemeinsam wirkungsvoller“ gemeint: Ist darunter die „gemeinsame Aktion“ als Oberbegriff aller Rechtshandlungen der Union, vgl. Art. 10 des Entwurfs, zu verstehen, oder könnte unter diesen Begriff ggf. auch ein gemeinsames Handeln der Mitgliedstaaten aufgrund völkerrechtlichen Vertrags fallen? Im Ergebnis kann man feststellen, dass das Subsidiaritätsprinzip in dem Verfassungsentwurf des Europäischen Parlaments zwar eine Ausformung gefunden hat, die mit dem Subsidiaritätsbegriff dieser Untersuchung konform geht. Ob die Darlegung dieses Prinzips, was seine konkreten Inhalte betrifft, jedoch so überzeugend gelungen ist, wie teilweise behauptet, mag bezweifelt werden.
b) Die Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer Die vom Europäischen Rat 1989 in Straßburg angenommene Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer128 enthält eine ausdrückliche begriffliche Erwähnung des Subsidiaritätsprinzips. Dort heißt es: „Aufgrund des Subsidiaritätsprinzips sind für die Schritte zur Verwirklichung dieser sozialen Rechte die Mitgliedstaaten und ihre Gebietskörperschaften und im Rahmen ihrer Befugnisse die Europäische Gemeinschaft zuständig.“
Interessant ist, dass hier das Subsidiaritätsprinzip – zumindest lässt der Wortlaut eine solche Deutung zu – anscheinend als Kompetenzverteilungsnorm verstanden wird, soll doch die Zuständigkeit aufgrund dieses Prinzips den jeweiligen Akteuren zugewiesen werden.129 Diese Auslegung der Bestimmung könnte allerdings auf eine etwas ungenaue sprachliche Formulierung in der Charta zurückzuführen sein. Dass das Subsidiaritätsprinzip selbst kompetenzbegründend ist, muss dem Text nicht zwingend entnommen werden. Vielmehr könnte man auch davon ausgehen, dass die Kompetenzzuweisung für die Gemeinschaft sich aus der Formulierung „im Rahmen ihrer Befugnisse“ herleiten lässt und im Übrigen die Allzuständigkeit bei den Mitgliedstaaten verbleibt. Der Begriff „Aufgrund“ dürfte dann eher im Sinne eines „Nach Maßgabe des Subsidiaritätsprinzips“ zu verstehen sein. Damit wäre in dieser Charta tatsächlich das Subsidiaritätsprinzip als Kompetenzausübungsnorm verankert worden. Ferner ist bemerkenswert, dass der Subsidiaritätsbegriff in der Gemeinschaftscharta mit der Formulierung „und ihre Gebietskörperschaften“ ausdrücklich auch 128 129
Dok. KOM (89) 248 endg. v. 9. Dezember 1989. So auch Constantinesco, Subsidiarität, S. 171.
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Kap.1: Das Subsidiaritätsprinzip vor dem Verfassungsvertrag
die regionale „Ebene“ mit einbezieht. Im Blickwinkel bei der Frage nach der Zulässigkeit eines Gemeinschaftshandelns ist danach nicht allein „der Mitgliedstaat“ und seine Fähigkeit zur Aufgabenbewältigung; vielmehr ist auch die regionale „Ebene“ mit zu berücksichtigen. Dies scheint in der Tat Ausdruck eines kraftvollen Subsidiaritätsverständnisses zu sein, welches sogar über das später in Art. 5 Abs. 2 (ex-Art. 3 b Abs. 2) EGV verankerte Subsidiaritätsprinzip – zumindest begrifflich – hinausreicht. Freilich: Hier geht es in erster Linie um eine politische Akzentuierung; in rechtlicher Hinsicht ändert die Aufnahme der regionalen Dimension in den Subsidiaritätsbegriff nichts. Bezugspunkt wie Anknüpfungspunkt „aus Sicht Europas“ ist stets der Mitgliedstaat130 – dies folgt bereits aus der völkerrechtlichen Natur des Europarechts. Auch ohne explizite Bezugnahme auf seine Binnenstruktur hat die Prüfung des Subsidiaritätsprinzips die Frage zu erörtern, ob der Staat auf einer seiner „unteren Ebenen“ nicht zur Bewältigung der jeweiligen Maßnahmen imstande ist: Die regionale „Ebene“ ist danach nicht Akteur, sondern Ort der Zielverwirklichung.131 Eine weitere Konkretisierung des in der Charta verankerten Subsidiaritätsprinzips erfolgte in dem von der Kommission 1989 in Zusammenhang mit der Charta angenommenen Aktionsprogramm. Darin heißt es: „In Anwendung des Subsidiaritätsprinzips, demzufolge die Kommission tätig wird, wenn die gesetzten Ziele sich besser durch sie als durch die Mitgliedstaaten erreichen lassen …“.132 Die Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer enthält tatsächlich Ausformungen des Subsidiaritätsprinzips im Sinne dieser Untersuchung. Mehr noch, insbesondere durch die Einbeziehung der regionalen „Ebene“ scheint das hier niedergelegte Prinzip ein recht „modernes“ weit reichendes – wenn auch nur politisch wirklich bedeutsames – Verständnis von Subsidiarität darzustellen.
II. Das Subsidiaritätsprinzip nach Maastricht II. Das Subsidiaritätsprinzip nach Maastricht
1. Art. 5 Abs. 2 (ex-Art. 3 b Abs. 2 ) EGV a) Allgemeines Diese durch den am 1. November 1993 in Kraft getretenen Vertrag von Maastricht eingefügte Bestimmung enthält die erste Niederlegung des Subsidiaritätsprinzips expressis verbis im primären Gemeinschaftsrecht. Anlass war die mit der 130 Vgl. hier die Ausführungen in Kapitel 3 zur politischen wie rechtlichen Relevanz der Niederlegung der regionalen – und lokalen – Dimension in der Subsidiaritätsdefinition des Vertrags über eine Verfassung für Europa. 131 Siehe auch hier die entsprechenden Ausführungen in Kapitel 3. 132 Mitteilung der Kommission über ihr Aktionsprogramm zur Anwendung der Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer, Dok. KOM (89) 568 v. 29. November 1989, S. 4. Siehe dazu Constantinesco, Subsidiarität, S. 171 f.
II. Das Subsidiaritätsprinzip nach Maastricht
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EEA einhergehende Ausweitung der Gemeinschaftskompetenzen; dies führte im Rahmen der Diskussion des anstehenden Integrationsschrittes hin zu einer Wirtschafts- und Währungsunion zu einem grundsätzlichen Überdenken der Fragen von Zentralismus und Dezentralismus133 – insbesondere auf Betreiben der Bundesrepublik Deutschland, dort vor allem der Länder.134 Gemäß einem Vorschlag des Deutschen Bundesrats aus dem Jahre 1990 für die Formulierung des Insuffizienz-Kriteriums135 sollte die Gemeinschaft dann handlungsbefugt sein, „wenn und soweit das Handeln (…) notwendig ist, um die in diesem Vertrag genannten Ziele wirksam zu erreichen und hierzu Maßnahmen der einzelnen Mitgliedstaaten bzw. der Länder, Regionen und autonomen Gebietskörperschaften nicht ausreichen.“
Die Formulierung der Subsidiaritätsklausel in dem gemeinsamen Vorschlag von Bund und Ländern, den die Bundesregierung im Jahre 1991 in die Vertragsverhandlungen von Maastricht einbrachte, lautete136: „Die Gemeinschaft wird nur tätig, um die ihr im Rahmen dieses Vertrages übertragenen Maßnahmen durchzuführen und die darin festgelegten Ziele zu verwirklichen.137 Sie wird nur insoweit tätig, wie die Maßnahmen aufgrund ihrer Tragweite oder ihrer Auswirkungen die Grenzen eines Mitgliedstaates überschreitende Lösungen erfordern und wenn und soweit der verfolgte Zweck durch Maßnahmen auf den Ebenen der einzelnen Mitgliedstaaten allein nicht ausreichend verwirklicht werden kann.“
Der letztlich konsentierte Wortlaut von Art. 5 Abs. 2 (ex-Art. 3 b Abs. 2) EGV lautet im Vergleich: „In den Bereichen, die nicht in ihre ausschließliche Zuständigkeit fallen, wird die Gemeinschaft nach dem Subsidiaritätsprinzip nur tätig, sofern und soweit die Ziele der in Betracht gezogenen Maßnahmen auf Ebene der Mitgliedstaaten nicht ausreichend erreicht werden können und daher wegen ihres Umfangs oder ihrer Wirkungen besser auf Gemeinschaftsebene erreicht werden können.“
Der Vergleich der letzten beiden Subsidiaritätsregelungen zeigt, dass wesentliche Elemente des deutschen Vorschlags übernommen wurden.138 Art. 5 Abs. 2 (ex-Art. 3 b Abs. 2) EGV stellt also eine intensiv vom deutschen Rechtsdenken geprägte Norm dar.
133
Streinz/Streinz, EUV/EGV Kommentar, Art. 5 EGV Rn. 30. Vgl. u. a. Calliess, Subsidiaritäts- und Solidaritätsprinzip, S. 58 ff. 135 Entschluss des Bundesrats zur Regierungskonferenz der Mitgliedstaaten der EG über die Politische Union v. 31. Juli 1990, BR-Drs. 550/90, Anlage, S. 1, EuZW 1990, S. 431; siehe auch Kahl, Möglichkeiten und Grenzen des Subsidiaritätsprinzips, S. 426. 136 KONF. UP 1840/91, Zitiert nach Lecheler, Das Subsidiaritätsprinzip, S. 18. 137 Dies ist freilich noch keine Subsidiaritätsbeschreibung, sondern eine Definition des Prinzips der begrenzten Einzelermächtigung. 138 Bspw. das kumulative Erfordernis von mitgliedstaatlicher Insuffizienz und europäischem „Mehrwert“. Siehe dazu Kapitel 1 II. 1. d). 134
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Kap.1: Das Subsidiaritätsprinzip vor dem Verfassungsvertrag
Aufgrund seiner Positionierung in den Grundlagenvorschriften des EGV gilt Art. 5 Abs. 2 (ex-Art. 3 b Abs. 2) EGV für die gesamte Tätigkeit der Europäischen Gemeinschaft.139 Der sachliche Anwendungsbereich ist beschränkt auf die Bereiche, die nicht in die ausschließliche Zuständigkeit140 der Gemeinschaft fallen; es entfaltet seine Wirkung also im Bereich der konkurrierenden und parallelen141 Kompetenzen.142 Es spielt dabei keine Rolle, ob eine Maßnahme verbindlich ist oder nicht; die Gemeinschaft ist somit auch bei Empfehlungen und Stellungnahmen grundsätzlich an die Vorgaben des Art. 5 Abs. 2 (ex-Art. 3 b Abs. 2) EGV gebunden.143 Unverbindliche Maßnahmen haben ebenso eine rechtliche Bedeutung,144 sei es, dass sie „Vorstufe und Vorbedingung für den Erlass verbindlicher Rechtsakte“145 sind, sei es, dass sie eine gewisse Selbstbindung für das beschließende Organ erzeugen,146 welche für andere – spätere – Maßnahmen gegebenenfalls Relevanz haben kann.147 Es handelt sich bei Art. 5 Abs. 2 (ex-Art. 3 b Abs. 2) EGV nicht um eine Kompetenzzuweisungs-148 oder Kompetenzverteilungsnorm; vielmehr stellt die Bestimmung eine Kompetenzausübungsnorm149 dar: Eine andere rechtserhebliche Funktion wäre nach der hier vertretenen Auffassung neben dem in Art. 5 Abs. 1 (ex-Art. 3b Abs. 1) EGV verankerten Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung nicht möglich.150 Das Subsidiaritätsprinzip des Art. 5 Abs. 2 (ex-Art. 3 b Abs. 2) EGV nimmt also der Gemeinschaft keine Zuständigkeiten, sondern schränkt sie 139
Schliesky, Der Beitrag des Subsidiaritätsprinzips zur Legitimation supranationaler Herrschaftsgewalt, S. 43. 140 Da der EGV den Begriff der ausschließlichen Gemeinschaftszuständigkeiten abseits Art. 5 Abs. 2 (ex-Art. 3 b Abs. 2) EGV nicht kennt, bestehen Meinungsverschiedenheiten über die hierunter fallenden Bereiche, Hilf, Subsidiarität als Verfassungsgrundsatz der Europäischen Union, S. 10. Ausführlich zum Streitstand Calliess, Subsidiaritäts- und Solidaritätsprinzip, S. 76 ff. 141 Dazu Calliess, Subsidiaritäts- und Solidaritätsprinzip, S. 98 ff. 142 Vgl. u. a. Oppermann, Europarecht, S. 158; Schwarze/Lienbacher, EU-Kommentar, Art. 5 EGV Rn. 13; Roth, Binnenmarkt der Versicherungen und Subsidiarität, S. 14. 143 Weiterführend für das geltende Gemeinschaftsrecht vgl. Bothe, „Soft law“ in den Europäischen Gemeinschaften?, S. 761 ff. 144 Calliess, Subsidiaritäts- und Solidaritätsprinzip, S. 102; Schwarze/Biervert, EU-Kommentar, Art. 249 EGV Rn. 37. 145 Schwarze/Biervert, EU-Kommentar, Art. 249 EGV Rn. 37. 146 Dazu Bothe, „Soft law“ in den Europäischen Gemeinschaften?, S. 765. 147 Vgl. Streinz/Schroeder., EUV/EGV, Art. 249 EGV Rn. 140, 143; str., a. A. etwa Schwarze/ Biervert, EU-Kommentar, Art. 249 EGV Rn. 12. 148 So aber Merten, Subsidiarität als Verfassungsprinzip, S. 81 m. w. N. 149 Neben vielen v. Bogdandy/Nettesheim in Grabitz/Hilf, Recht der Europäischen Union, Altband I, Art. 3 b EGV Rn. 19; Bieber, Subsidiarität im Sinne des EU-Vertrages, Koenig/ Haratsch, Europarecht, S. 28; S. 171; Huber, Recht der Europäischen Integration, S. 249 f.; Hirsch, Auswirkungen des Subsidiaritätsprinzips, S. 93; Hilf, Subsidiarität als Verfassungsgrundsatz der Europäischen Union, S. 9; Magiera, Zur Kompetenzneuordnung zwischen der Europäischen Union und den Mitgliedstaaten, S. 272; Roth, Binnenmarkt der Versicherungen und Subsidiarität, S. 15. 150 Vgl. die Ausführungen in der Einführung.
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bei der Ausübung grundsätzlich vorhandener Kompetenzen ein.151 Die Niederlegung des Subsidiaritätsprinzips hat keine Auswirkungen auf die Binnenorganisation der Mitgliedstaaten; Art. 5 Abs. 2 (ex-Art. 3 b Abs. 2) EGV ist auf diese nicht anwendbar. Die Ausgestaltung der inneren Ordnung verbleibt in der Organisationsgewalt der Mitgliedstaaten.152 Das Subsidiaritätsprinzip des Art. 5 Abs. 2 (ex-Art. 3 b Abs. 2) EGV besteht aus zwei Kriterien.153 Das erste Element (Insuffizienz-Kriterium) stellt auf die Frage ab, ob „die Ziele der in Betracht gezogenen Maßnahmen auf Ebene der Mitgliedstaaten nicht ausreichend erreicht werden können“. Das zweite Element (Kriterium der Effizienz-Optimierung) klärt, ob „besser auf Gemeinschaftsebene“ gehandelt werden kann.
b) Zum Insuffizienz-Kriterium Der Wortlaut des Art. 5 Abs. 2 (ex-Art. 3 b Abs. 2) EGV legt nahe,154 dass die Frage der Zielbestimmung im Rahmen der Prüfung des Insuffizienz-Kriteriums allein bei den Gemeinschaftsorganen liegt. Diese müssen also zunächst ein Gemeinschaftsziel formulieren, welches sie verwirklichen wollen.155 Nun besteht die Gefahr, dass Gemeinschaftsorgane auf das Ergebnis der Prüfung durch entsprechende Zielformulierungen Einfluss nehmen.156 Dann nämlich, wenn sie Ziele formulieren, die mitgliedstaatliches Handeln von vorneherein ausschließen oder erheblich erschweren.157 Diesen Bedenken begegnen Armin von Bogdandy und Martin Nettesheim mit mehreren Argumentationslinien: Zum einen sollen nur solche Ziele als Bezugspunkt gewählt werden dürfen, die selbst mit dem Subsidiaritätsgedanken konform gehen; eine gemeinschaftsgeltende Wirkung – diesbezüglich gäbe es ja keine mitgliedstaatliche Alternative158 – ist danach als anzusteuerndes Ziel ausgeschlossen. Zum anderen dürften ohnehin keine Zielsetzungen außerhalb des durch Art. 5 Abs. 1 (ex-Art. 3 b Abs. 1) EGV festgelegten Wirkungsbereichs der 151 Nach v. Simson/Schwarze, Europäische Integration und Grundgesetz, S. 46, beschränkt Art. 5 Abs. 2 (ex-Art. 3 b Abs. 2) EGV „den Handlungsspielraum der Union auf eine ‚compétence d’attribution‘.“ 152 Streinz/Streinz, EUV/EGV Kommentar, Art. 5 EGV Rn. 34. 153 Zum Verhältnis der Kriterien Kapitel 1 II. 1. d). 154 v. Bogdandy/Nettesheim in Grabitz/Hilf, Recht der Europäischen Union, Altband I, Art. 3 b EGV Rn. 33. 155 Zuleeg, Justiziabilität des Subsidiaritätsprinzips, S. 192. 156 Schwarze/Lienbacher, EU-Kommentar, Art. 5 EGV Rn. 18. 157 v. Bogdandy/Nettesheim in Grabitz/Hilf, Recht der Europäischen Union, Altband I, Art. 3 b EGV Rn. 33. 158 v. Bogdandy/Nettesheim in Grabitz/Hilf, Recht der Europäischen Union, Altband I, Art. 3 b EGV Rn. 33. Zwar wäre eine intergouvernementale Regelung durch völkerrechtliche Verträge auch denkbar, um eine einheitliche Geltung einer Maßnahme im gesamten Gemeinschaftsgebiet zu erzielen. Diese dürfte aber (s. o.) wegen eines Verstoßes gegen Art. 10 (ex-Art. 5) EGV unzulässig sein.
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Gemeinschaft herangezogen werden.159 Der konkrete Prüfungsmaßstab sei unter Beachtung mitgliedstaatlicher kultureller, gesellschaftlicher und sonstiger Eigenarten herauszubilden. Dies führe zu einer Abwägung zwischen einem Interessengeflecht aus Gemeinschaftszielen, mitgliedstaatlichen Interessen und den Interessen der Unionsbürger.160 Für diese Betrachtungsweise sprechen klare praktische Aspekte, wie die Möglichkeit der Problembewältigung im Einzelfall unter Berücksichtigung aller irgendwie relevanten Belange. Für Georg Lienbacher fügt diese Ansicht dem in Art. 5 Abs. 2 (ex-Art. 3 b Abs. 2) EGV niedergelegten Subsidiaritätsprinzip jedoch Aspekte hinzu, welche aus dem Wortlaut der Norm nicht herausgelesen werden können. Ein komplexer Abwägungsmechanismus kann seiner Ansicht zufolge nicht der Entstehungsgeschichte der Vorschrift entnommen werden; der Normsetzungsprozess sei in Bezug auf die Verankerung des Subsidiaritätsprinzips von mannigfaltigen Kompromisserfordernissen geprägt gewesen; die Niederlegung eines vielschichtigen Abwägungssystems, welches den Ausgleich innerhalb des Interessengeflechts von Gemeinschaft, Mitgliedstaaten und Bürgern gewährleistet, entspräche nicht dem Willen der Vertragspartner. Außerdem verwische diese Betrachtungsweise den Unterschied zwischen Art. 5 Abs. 2 (ex-Art. 3 b Abs. 2) EGV und dem in Absatz 3 der Norm niedergelegten Verhältnismäßigkeitsprinzip. Im Ergebnis sei daher eine Prüfung des Insuffizienz-Kriteriums nur unter Offensichtlichkeits- und Plausibilitätsgesichtspunkten möglich.161 Der Auffassung von Lienbacher kann freilich eine Reihe von Argumenten entgegengesetzt werden: Zum einen ist eine Beschränkung auf Offensichtlichkeitsund Plausibilitätsgesichtspunkte nicht besonders zielführend; dies sind nämlich Prüfmuster, welche die Frage der Wirkungsstärke eines bereits in die Abwägung eingestellten Kriteriums bewerten. Welches Kriterium aber in die Abwägung einzustellen ist, erklären sie gerade nicht. Einer Prüfung allein „unter Offensichtlichkeits- und Plausibilitätsgesichtspunkten“162 fehlt der heranzuziehende Prüfungsmaßstab – dieser ist zwingend aus einer Interpretation des Erforderlichkeitsmerkmals zu entnehmen. Auch dem Argument, es werde der eigenständige Gehalt des Subsidiaritätsprinzips verwischt, weil die Prüfung nach Armin von Bogdandy und Martin Nettesheim die Grenzen zum Verhältnismäßigkeitsprinzip verwische, kann widersprochen werden. Zum einen bereits, weil Art. 5 Abs. 3 (ex-Art. 3 b Abs. 3) EGV einen eigenständigen Anwendungsbereich besitzt und auch in Fällen zur Geltung kommt, in denen das Subsidiaritätsprinzip nicht einschlägig ist, wie bspw. bei 159 v. Bogdandy/Nettesheim in Grabitz/Hilf, Recht der Europäischen Union, Altband I, Art. 3 b EGV Rn. 33. 160 v. Bogdandy/Nettesheim in Grabitz/Hilf, Recht der Europäischen Union, Altband I, Art. 3 b EGV Rn. 33 f. Siehe dazu auch Schwarze/Lienbacher, EU-Kommentar, Art. 5 EGV Rn. 19. 161 Schwarze/Lienbacher, EU-Kommentar, Art. 5 EGV Rn. 22. 162 Schwarze/Lienbacher, EU-Kommentar, Art. 5 EGV Rn. 22.
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Gemeinschaftshandeln aufgrund ausschließlicher Gemeinschaftszuständigkeit.163 Aber auch, wenn eine Maßnahme Art. 5 Abs. 2 und 3 (ex-Art. 3 b Abs. 2 und 3) EGV unterfällt, besteht für beide Prinzipien ein eigenständiger Anwendungsbereich. Auch eine Maßnahme, welche nach einer komplexen Subsidiaritätsabwägung im Rahmen der Zuständigkeit der Gemeinschaft erging, kann trotzdem in ihrer konkreten Gestaltung ungeeignet, nicht erforderlich oder unverhältnismäßig im engeren Sinne sein.164 Letztlich ist zu sehen, dass zwar ein komplexer Abwägungsmechanismus nicht dem Erforderlichkeitsbegriff in Art. 5 Abs. 2 (ex-Art. 3 b Abs. 2) EGV entnommen werden kann und die Verankerung des Subsidiaritätsprinzips im EGV Ausfluss eines auf der unterschiedlichen Auffassung der Mitgliedstaaten basierenden Formelkompromisses ist.165 Die Verortung des Subsidiaritätsprinzips in den Grundlagenbestimmungen des EGV und nicht etwa nur in dessen Präambel166 macht aber deutlich, dass dabei nicht bloße „Verfassungslyrik“ angedacht war. Vielmehr sollte Art. 5 Abs. 2 (ex-Art. 3 b Abs. 2) EGV die Möglichkeit bieten, konkrete Einzelfälle zu lösen, was zwangsläufig die Entwicklung juristischer Argumentationsmuster167 impliziert. Dazu haben die Gemeinschaftsorgane selbst eine Reihe von Prüfungsmethoden entwickelt,168 welche umfangreiche und detaillierte Erörterungsschemata für die Subsidiaritätsprüfung enthalten. Diese Tests führen zu nichts anderem als zu einer Gesamtabwägung aller einschlägigen Kriterien.169 Im Ergebnis muss also in Bezug auf das Insuffizienz-Kriterium eine komplexe Abwägung vorgenommen werden, die nicht Rechtsfortbildung,170 sondern Interpretation des Erforderlichkeitsmerkmals in Art. 5 Abs. 2 (ex-Art. 3 b Abs. 2) EGV ist. Das nach von Bogdandy und Nettesheim zu erörternde Interessengeflecht171 163
Oppermann, Europarecht, S. 158. Zu den Kriterien bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung siehe v. Bogdandy/Nettesheim in Grabitz/Hilf, Recht der Europäischen Union, Altband I, Art. 3 b EGV Rn. 50 ff. 165 Schwarze/Lienbacher, EU-Kommentar, Art. 5 EGV Rn. 21. 166 Wie bspw. von Frankreich gefordert, Schwarze/Lienbacher, EU-Kommentar, Art. 5 EGV Rn. 21. 167 v. Bogdandy/Nettesheim in Grabitz/Hilf, Recht der Europäischen Union, Altband I, Art. 3 b EGV Rn. 34. 168 Z. B.: Europäischer Rat von Edinburgh vom 11./12. Dezember 1992, Schlussfolgerungen des Vorsitzes, Anlage I – Gesamtkonzept für die Anwendung des Subsidiaritätsprinzips und des Artikels 3 b des Vertrags über die Europäische Union durch den Rat, Bulletin der Bundesregierung Nr. 140/S. 1277 vom 28. Dezember 1992; Mitteilung der Kommission an den Rat und an das Europäische Parlament betreffend das Subsidiaritätsprinzip, Anhang III, vom 30. Oktober 1992, Dok. KOM SEK (92) 1990 ENDG./2; beide Dokumente unter anderem abgedruckt bei Merten (Hrsg.), Die Subsidiarität Europas, 2. Auflage (1994) und Hrbek (Hrsg.), Das Subsidiaritätsprinzip in der Europäischen Union – Bedeutung und Wirkung für ausgewählte Politikbereiche (1995). 169 Oppermann, Europarecht, S. 159. 170 Schwarze/Lienbacher, EU-Kommentar, Art. 5 EGV Rn. 22. 171 v. Bogdandy/Nettesheim in Grabitz/Hilf, Recht der Europäischen Union, Altband I, Art. 3 b EGV Rn. 34. 164
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mag allenfalls, was sein konkretes Ausmaß betrifft, fraglich sein; die grundsätzliche Einbeziehung verschiedenster Kriterien in die Prüfung kann hingegen nicht zur Debatte stehen. Eine weitere Frage wirft das Insuffizienz-Kriterium in Art. 5 Abs. 2 (ex-Art. 3 b Abs. 2) EGV mit der Formulierung „auf Ebene der Mitgliedstaaten“ auf. Fällt hierunter auch ein konzertiertes Vorgehen der Mitgliedstaaten, etwa durch intergouvernementale Zusammenarbeit? Bei einem konsequenten Verständnis des Subsidiaritätsprinzips müsste in diesem Fall eine Gemeinschaftszuständigkeit abgelehnt werden.172 Dieses Ergebnis entspräche jedoch nicht Sinn und Zweck der Norm: Intergouvernementales Handeln durch völkerrechtliche Verträge könnte zwar ggf. ein taugliches Mittel sein, ein Gemeinschaftsziel zu verwirklichen. Es müssen aber Mittel ausgeschlossen bleiben, die geeignet sind, die Struktur der Gemeinschaft als Integrationsverband auszuhöhlen.173 Ein derartiges Verhalten dürfte daher unter das Umgehungsverbot des Art. 10 (ex-Art. 5) EGV fallen.174 Somit gilt: Kann im Wege intergouvernementaler Zusammenarbeit der Regierungen der Mitgliedstaaten ein Gemeinschaftsziel verwirklicht werden, stellt der Abschluss entsprechender völkerrechtlicher Verträge keinen direkten Verstoß gegen Art. 5 Abs.2 (ex-Art. 3 b Abs. 2) EGV dar, da sich die hierin verankerte gemeinschaftsrechtliche Verpflichtung zur Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips allein an die Organe der Gemeinschaft richtet. Plant die Gemeinschaft indes Maßnahmen in Bezug auf ein Gemeinschaftsziel, welches auch durch konzertiertes Handeln der Mitgliedstaaten erreicht werden kann, ist sie wegen dieses Befundes durch das Subsidiaritätsprinzip nicht daran gehindert, ihre in Übereinstimmung mit dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung zugewiesene Zuständigkeit auszuüben.
c) Zum Kriterium der Effizienz-Optimierung Wenn die Prüfung des Insuffizienz-Kriteriums zugunsten der Gemeinschaft ausgefallen ist, also festgestellt wurde, dass mitgliedstaatliches Handeln nicht ausreicht, folgt die zweite Stufe der Subsidiaritätsprüfung. Dabei wird ein Perspektivenwechsel von der mitgliedstaatlichen auf die gemeinschaftliche „Ebene“ vorgenommen.175 Bereits der Wortlaut dieser zweiten Stufe wirft allerdings Probleme auf: Dem deutschen Normtext lässt sich nämlich nicht entnehmen, worauf sich die Formulierung „…wegen ihres Umfangs oder ihrer Wirkungen…“ bezieht. Sind mit „ihrer“ die Ziele oder die Maßnahmen gemeint? Sprachlich-grammatisch können nur die Ziele gemeint sein, inhaltlich erscheint allein eine Bezugnahme auf die Maß172
Pieper, Subsidiarität, S. 255. v. Bogdandy/Nettesheim in Grabitz/Hilf, Recht der Europäischen Union, Altband I, Art. 3 b EGV Rn. 37. 174 v. Bogdandy/Nettesheim in Grabitz/Hilf, Recht der Europäischen Union, Altband I, Art. 3 b EGV Rn. 37; Art. 5 EGV Rn. 33. 175 B/L/Lehr, Der Amsterdamer Vertrag, S. 206. 173
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nahmen sinnlogisch. Klarheit verschafft ein Blick in andere Sprachfassungen des EGV. So lautet die entsprechende Passage in der französischen Fassung:176 „ en raison des dimensions ou des effets de l‘action envisagée…“. Der französische Text bezieht also die Begriffe „Umfang“ („dimensions“) und „Wirkungen“ („effets“) auf die in Betracht gezogenen Maßnahmen („action envisagée“). Auch die englische Fassung177 ist präziser als die deutsche und bestätigt, dass Umfang oder Wirkungen der Maßnahmen und nicht etwa der Ziele relevant sind. Dort heißt es nämlich: „…by reason of the scale or effects of the proposed action…“. Mitursächlich für den missverständlichen Wortlaut der deutschen Fassung mag auch der Umstand gewesen sein, dass die entsprechende Formulierung im letzten Moment noch geändert wurde und die hiermit verbundenen Auswirkungen auf die deutsche Semantik nicht hinreichende Berücksichtigung fanden. Die Neuformulierung mit dem Ergebnis, dass – grammatisch betrachtet – nur die „Ziele“ als mögliche Korrespondenzbegriffe zu „ihrer“ fungieren können, entstammt womöglich der hektischen Situation der Verhandlungen um den Maastricht-Vertrag. Nach den Entwürfen des Vorsitzes sollte die Gemeinschaft handeln dürfen, sofern und soweit die „Ziele des Vertrags“ besser auf „Ebene“ der Gemeinschaft erreicht werden können. Erst im Verlauf des Europäischen Rates wurde hieraus die Formulierung „Ziele der in Betracht kommenden Maßnahmen“, verbunden mit der Voraussetzung, dass sie „auf der Ebene der Mitgliedstaaten nicht ausreichend erreicht werden können“.178 Im Ergebnis muss also das Ziel wegen des Umfangs oder der Wirkungen der Maßnahmen besser auf Gemeinschaftsebene erreicht werden können.179 Die bessere Verwirklichung auf Gemeinschaftsebene muss (vgl. die Formulierung „wegen“) gerade aus dem besonderen Charakter der Maßnahme resultieren.180 Zu beachten ist freilich, dass das Kriterium der Effizienz-Optimierung stets nur nachrangig, nicht isoliert als reines Effizienz-Kriterium, verstanden werden darf. Dann wäre nämlich allein maßgeblich, welche in Betracht kommende Maßnahme den größten Nettonutzen erbringt.181 Die in Art. 5 Abs. 2 (ex-Art. 3 b Abs. 2) EGV niedergelegte Verknüpfung des Kriteriums der Effizienz-Optimierung mit dem InsuffizienzKriterium182 macht deutlich, dass es gerade nicht darauf ankommt, nur die Ebene zu wählen, welche Ziele „besser“ zu bewältigen vermag; Grundvoraussetzung ist die nicht ausreichende Bewältigungsmöglichkeit auf mitgliedstaatlicher „Ebene“. 176 Die französische Fassung des Vertrags (Traité instituant la Communauté Européenne) kann im Internet unter http://europa.eu.int/abc/obj/treaties/fr/frtoc051.htm abgerufen werden. 177 Die englische Fassung des Vertrags (Treaty establishing the European Community) ist abrufbar unter http://www.europa.eu.int/eur-lex/lex/en/treaties/dat/12002E/pdf/12002E_EN.pdf. 178 Zitiert nach Stein, Subsidiarität als Rechtsprinzip?, S. 28. 179 vgl. auch Huber, Recht der Europäischen Integration, S. 251; B/L/Lehr, Der Amsterdamer Vertrag, S. 206. 180 Pieper, Subsidiarität, S. 255. 181 Vgl. v. Arnim, Wirtschaftlichkeit als Rechtsprinzip, S. 47. 182 Siehe Kapitel 1 II. 1. d).
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Können die Mitgliedstaaten aber ein Ziel verwirklichen, ist ein Unionshandeln auch dann gesperrt, wenn diese das Ziel besser verwirklichen könnte.183.
d) Das Verhältnis des Insuffizienz-Kriteriums zum Kriterium der Effizienz-Optimierung Durch die kumulativ („und“) verbundenen Tatbestandsvoraussetzungen „auf Ebene der Mitgliedstaaten nicht ausreichend“ und „besser auf Gemeinschaftsebene“ wurde klargestellt, dass für ein Tätigwerden der Gemeinschaft die Einhaltung des Insuffizienz-Kriteriums und des Kriteriums der Effizienz-Optimierung erforderlich ist. Diese ausdrückliche Aufnahme beider Kriterien stellt eine stärkere Begrenzung des Gemeinschaftshandelns dar, als es etwa noch in dem für die Maastrichter Konferenz vorbereiteten luxemburgisch-niederländischen Vertragsentwurf vorgesehen war. Darin hieß es nämlich: „In den Bereichen, die nicht in ihre ausschließliche Zuständigkeit fallen, wird die Gemeinschaft nach dem Subsidiaritätsprinzip nur tätig, sofern und soweit diese Ziele wegen des Umfangs oder der Wirkung der in Betracht gezogenen Maßnahmen besser auf Gemeinschaftsebene als auf Ebene der einzelnen handelnden Mitgliedstaaten erreicht werden können.“184 Die Kumulierung der Kriterien ist maßgeblich auf Betreiben der Bundesrepublik Deutschland, insbesondere der deutschen Länder, zurückzuführen.185 Fraglich ist jedoch, wie die beiden Kriterien zueinander stehen, was aus der unglücklichen und Auslegungsprobleme aufwerfenden186 Formulierung „und daher“ resultiert. Gerade der Begriff „daher“ ließe eine Deutung dahingehend zu, dass es einen Automatismus187 zwischen beiden Kriterien gibt: In allen Fällen, in denen das In183
Pieper, Subsidiarität, S. 255. Vgl. Calliess, Subsidiaritäts- und Solidaritätsprinzip, S. 67. Dort auch Abdruck der Bestimmung des Entwurfstextes. 185 Hach, Das Subsidiaritätsprinzip aus der Perspektive der Bundesregierung, S. 18; Calliess, Subsidiaritäts- und Solidaritätsprinzip, S. 67; Koenig/Haratsch, Europarecht, S. 28; siehe auch der baden-württembergische Ministerpräsident Erwin Teufel in seiner Rede vor dem Forum Constitutionis Europae der Humboldt-Universität Berlin am 23. April 2003, Konturen der Europäischen Verfassung, im Internet abrufbar unter http://www.baden-wuerttemberg.de/ sixcms/media.php/587/teufel_europ_verfassung_230403.pdf. Zu beachten ist hier der im Zusammenhang mit der Ratifikation des Maastricht-Vertrags neu eingeführte Art. 23 GG, wonach die Bundesrepublik Deutschland bei der Entwicklung der Europäischen Union mitwirkt, die (als Maßgabevorbehalt im Sinne von „wenn sie“, vgl. Sachs/Streinz, Grundgesetzkommentar, Art. 23 Rn. 16) „dem Grundsatz der Subsidiarität verpflichtet ist“. Die deutsche Delegation hatte am 7. November 1991 folgenden Formulierungsvorschlag für eine Subsidiaritätsregelung eingebracht: „Sie (die Gemeinschaft) wird nur insoweit tätig, wie die Maßnahmen aufgrund ihrer Tragweite oder ihrer Auswirkungen die Grenzen eines Mitgliedstaates überschreitende Lösungen erfordern und wenn und soweit der verfolgte Zweck durch Maßnahmen auf den Ebenen der einzelnen Mitgliedstaaten allein nicht ausreichend verwirklicht werden kann,“ vgl. Konow, Zum Subsidiaritätsprinzip des Vertrags von Maastricht, S. 406. 186 Schweitzer/Fixson, Subsidiarität und Regionalismus in der EG, S. 581. 187 Bauer, Der europäische Verfassungsprozess, S. 460. 184
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suffizienz-Kriterium erfüllt, eine Zielverwirklichung auf mitgliedstaatlicher Ebene also nicht möglich ist, bedarf es zwar („kumulativ“) noch der Erfüllung des Kriteriums der Effizienz-Optimierung. Dies ergibt sich allein schon aus dem Nexus „und“. Wegen der Verknüpfung des „und“ mit dem Begriff „daher“ könnte aber das „Besser-Kriterium“ wegen der vorausgegangen bejahten Insuffizienz mitgliedstaatlichen Handelns automatisch als erfüllt betrachtet werden („Vermutungswirkung“). Ein solcher Ansatz188 stimmte zwar mit dem Wortlaut des Art. 5 Abs. 2 (ex-Art. 3 b Abs. 2) EGV überein. Im Ergebnis kann er indes nicht Bestand haben, sonst bliebe das Kriterium der Effizienz-Optimierung grundsätzlich ohne eigenständigen Regelungsgehalt. Eine demzufolge rein „deklaratorische“ Funktion des zweiten Kriteriums war bei der Einfügung des Art. 5 Abs. 2 (ex-Art. 3 b Abs. 2) EGV in das Gemeinschaftsrecht nicht beabsichtigt, die Möglichkeit eines Tätigwerdens der Gemeinschaft sollte bewusst an zwei Bedingungen geknüpft189 werden. Das bewusste Aufstellen eines dualistischen Kriteriensystems macht aber keinen Sinn, wenn eine Bedingung automatisch wegen Erfüllens der anderen angenommen werden kann. Unabhängig von der weiter offenen Frage nach dem genauen Verhältnis beider Kriterien zueinander ist jedenfalls festzustellen, dass eine Verknüpfung im Sinne eines Erfüllungsautomatismus weder der Entstehungsgeschichte der Bestimmung noch ihrer inneren Systematik entspricht.190 Es ist also davon auszugehen, dass das Kriterium der Effizienz-Optimierung kumulativ neben dem Insuffizienz-Kriterium als eigenständiges Handlungserfordernis für die Gemeinschaft steht. Erforderlich sind demzufolge zwei Prüfungen,191 nicht eine Prüfung und eine darauf aufbauende Feststellung. In einem zweiten Schritt muss nun die Frage nach der Notwendigkeit einer Kausalität im Verhältnis beider Kriterien zueinander kurz angesprochen werden. Sie 188 Die Befürchtung eines derartigen Verständnisses der Bestimmung war denn auch ein wesentlicher Grund für die Kritik an der Formulierung des Kriteriennexus in Art. 5 Abs. 2 (ex-Art. 3 b Abs. 2) EGV, vgl. neben vielen Zoller, Das Subsidiaritätsprinzip im Europäischen Verfassungsvertrag, S. 273. 189 Zuleeg, Das Subsidiaritätsprinzip, S. 639. 190 Vgl. Europäischer Rat von Edinburgh vom 11./12. Dezember 1992, Schlussfolgerungen des Vorsitzes, Anlage I – Gesamtkonzept für die Anwendung des Subsidiaritätsprinzips und des Artikels 3 b des Vertrags über die Europäische Union durch den Rat, Bulletin der Bundesregierung Nr. 140/S. 1277 vom 28. Dezember 1992; Dokument abgedruckt bei Merten (Hrsg.), Die Subsidiarität Europas, 2. Auflage (1994) und Hrbek (Hrsg.), Das Subsidiaritätsprinzip in der Europäischen Union – Bedeutung und Wirkung für ausgewählte Politikbereiche (1995); hiernach muss der Nachweis erbracht werden, dass Maßnahmen auf Gemeinschaftsebene deutliche Vorteile bringen, B/L/Lehr, Der Amsterdamer Vertrag, S. 206. Ein Erfüllungsautomatismus besteht hingegen nicht. 191 Vgl. die sog. Deidesheimer Formel, benannt nach einer der Auslegung des Subsidiaritätsprinzips gewidmeten Tagung in Deidesheim/Pfalz vom 11. bis 13. Dezember 1992. Ergebnis dieser von Detlef Merten geleiteten Tagung war die Feststellung der Notwendigkeit einer zweistufigen Prüfung (als Deidesheimer Formel bezeichnet) beider insoweit als eigenständig bewerteten Kriterien des Subsidiaritätsprinzips, Abdruck der Referate bei Merten (Hrsg.), Die Subsidiarität Europas, 2. Auflage (1994); siehe auch Kahl, Möglichkeiten und Grenzen des Subsidiaritätsprinzips, S. 435 Fn. 113.
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steht unabhängig von den Überlegungen zum Vorliegen eines Erfüllungsautomatismus. Die Formulierung „daher“ könnte nämlich so gedeutet werden, dass der Grund für die Bejahung der Effizienz-Optimierung der gleiche sein muss, welcher zur Annahme mitgliedstaatlicher Insuffizienz führte. Es wären also zwei eigenständige Prüfungen erforderlich, sie hätten sich jedoch auf dieselbe Materie zu beziehen. Für die Annahme einer solchen Kausalverknüpfung192 besteht, abgesehen vom Wortlaut, allerdings kein Anlass. Wenn Christian Calliess von einem kumulativ-kausalen Charakter ausgeht,193 bleibt er die genaue Antwort schuldig, inwieweit zwischen beiden Kriterien die Notwendigkeit einer Ursächlichkeit besteht; genau diese wäre nämlich für eine Kausalverknüpfung erforderlich. Der Bestimmung kann nach ihrem Sinn nicht entnommen werden, dass das Kriterium der Effizienz-Optimierung aufgrund des Insuffizienz-Kriteriums gegeben sein muss.194 Im Gegenteil: Es wäre gut denkbar, dass das Insuffizienz-Kriterium aus dem einen Grund erfüllt ist, die bessere Aufgabenerfüllung auf der „Ebene“ der Gemeinschaft aber aus ganz anderen Gründen herrührt. Auch in einer solchen Konstellation muss ein Gemeinschaftshandeln zulässig sein. Daher ist zunächst schlichtweg davon auszugehen, dass die beiden Kriterien kumulativ nebeneinander stehen, was – negativ formuliert – bedeutet, dass die Gemeinschaft dann nicht handeln darf, wenn alternativ die Zielverwirklichung auch von den Mitgliedstaaten bewältigt werden kann oder von diesen mindestens so gut wie von der Gemeinschaft bewältigt werden kann.195 Die Kriterien stehen allerdings – und so kann die Formulierung widerspruchslos ausgelegt werden – nicht gleichrangig nebeneinander, sondern, wie Detlef Merten treffend formuliert, konsekutiv-additiv hintereinander.196 Art. 5 Abs. 2 (ex-Art. 3 b Abs. 2) EGV fordert also nicht das Vorliegen eines Kausalverhältnisses, vielmehr regelt die Norm eine Art von „argumentativem Einbahnstraßenverhältnis“, eine zwingende Begründungsreihenfolge: Das Insuffizienzkriterium muss zuerst geprüft werden und allein Bestand haben, das Kriterium der Effizienz-Optimierung kann nicht zur Begründung der Insuffizienz mitgliedstaatlicher Aufgabenbewältigung herangezogen werden. Maßnahmen der Gemeinschaft können nur zum Zuge kommen, wenn mitgliedstaatliches Handeln zur Zielverwirklichung nicht ausreicht;197 umgekehrt kann nicht aus einer effektiveren Erledigung durch die Ge-
192 Nach Auffassung von Schweitzer/Fixson, Subsidiarität und Regionalismus in der EG, S. 581, entweder „banal“ oder „widersprüchlich“. 193 Calliess, Subsidiaritäts- und Solidaritätsprinzip, S. 104. 194 Nach Schima, Subsidiaritätsprinzip, S. 105, ist die kausale Verknüpfung nur als „salopp hingesagt“ zu verstehen. „Was die Gemeinschaft kann, ergibt sich aus den ihr zur Verfügung stehenden Mitteln, nicht aus der Unfähigkeit der Mitgliedstaaten. Würde man diese UrsacheWirkung-Relation ernst nehmen so dürfte die Gemeinschaft nie handeln.“ 195 v. Bogdandy/Nettesheim in Grabitz/Hilf, Recht der Europäischen Union, Altband I, Art. 3 b EGV Rn. 31. 196 Merten, Subsidiarität als Verfassungsprinzip, S. 83. 197 Konow, Zum Subsidiaritätsprinzip des Vertrags von Maastricht, S. 409.
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meinschaft auf eine unzureichende Zielverwirklichung durch die Mitgliedstaaten geschlossen werden.198
e) Konkretisierungen der Subsidiaritätskriterien Die Beurteilung der als unbestimmte Rechtsbegriffe zu qualifizierenden199 Voraussetzungen des Art. 5 Abs. 2 (ex-Art. 3 b Abs. 2) EGV obliegt den Gemeinschaftsorganen nach pflichtgemäßem Ermessen.200 Dazu wurden vom Europäischen Rat und von der Kommission Prüfungskriterien und schematische Erörterungsmuster entwickelt. Nach Auffassung der Kommission sind folgende Prüfungsschritte vorzunehmen: „– Verfügen die Mitgliedstaaten über Mittel, einschließlich der finanziellen Mittel, zur Erreichung der Ziele (nationale, regionale oder kommunale Gesetzgebung, Verhaltenskodex, Vereinbarungen zwischen Sozialpartnern, usw.)? (Komparativer Effizienztest); – Wie effizient ist die Gemeinschaftsmaßnahme (Umfang, grenzübergreifende Probleme, Kosten der Untätigkeit, kritische Masse usw.)? (Mehrwert-Test).“201
Der Europäische Rat legt der Prüfung, ob die Kriterien des Art. 5 Abs. 2 (exArt. 3 b Abs. 2) EGV erfüllt sind oder nicht, folgende Leitlinien zugrunde: „– Die zur Prüfung vorliegende Frage hat transnationale Aspekte, die durch Maßnahmen der Mitgliedstaaten nicht zufriedenstellend geregelt werden können, und/oder – Maßnahmen der Mitgliedstaaten allein oder das Fehlen gemeinschaftlicher Maßnahmen würden zu den Erfordernissen des Vertrags im Widerspruch stehen (bspw. zu dem Erfordernis, Wettbewerbsverzerrungen zu beheben oder verschleierte Handelsbeschränkungen zu vermeiden oder den wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt zu stärken) oder in anderer Weise die Interessen der Mitgliedstaaten erheblich beeinträchtigen, und/oder – dem Rat muss der Nachweis erbracht werden, dass Maßnahmen auf Gemeinschaftsebene aufgrund ihrer Größenordnung oder ihrer Auswirkungen im Verhältnis zu einem Tätigwerden auf Ebene der Mitgliedstaaten deutliche Vorteile erbringen würden.“202
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Merten, Subsidiarität als Verfassungsprinzip, S. 83. Zu Recht weist Merten darauf hin, dass die Formulierung „und daher“ sprachlich unglücklich gewählt ist. Ob sein Vorschlag („und darüber hinaus“) aber tatsächlich zu mehr inhaltlicher Klarheit führt, mag dahingestellt bleiben. 199 Bieber, Subsidiarität im Sinne des EU-Vertrages, S. 178. 200 Blanke, Gehalt und Justitiabilität des Subsidiaritätsprinzips, S. 102. 201 Mitteilung der Kommission an den Rat und an das Europäische Parlament betreffend das Subsidiaritätsprinzip, Anhang III, vom 30. Oktober 1992, Dok. KOM SEK (92) 1990 ENDG./2; Dokument abgedruckt bei Merten (Hrsg.), Die Subsidiarität Europas, 2. Auflage (1994) und Hrbek (Hrsg.), Das Subsidiaritätsprinzip in der Europäischen Union – Bedeutung und Wirkung für ausgewählte Politikbereiche (1995). 202 Europäischer Rat von Edinburgh vom 11./12. Dezember 1992, Schlussfolgerungen des Vorsitzes, Anlage I – Gesamtkonzept für die Anwendung des Subsidiaritätsprinzips und des Artikels 3 b des Vertrags über die Europäische Union durch den Rat, II. Leitlinien, Bulletin der Bundesregierung Nr. 140/S. 1277 vom 28. Dezember 1992; abgedruckt auch bei Merten (Hrsg.), Die Subsidiarität Europas, 2. Auflage (1994) und Hrbek (Hrsg.), Das Subsidiaritäts-
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Die Bundesregierung hat mit Beschluss vom 8. Dezember 1993 Verfahrensgrundsätze aufgestellt, nach denen die Bundesressorts bei der Prüfung von Gemeinschaftsmaßnahmen in Bezug auf das Subsidiaritätsprinzip vorgehen sollen.203 Ziel dieser Vereinbarung ist, ein einheitliches Vorgehen der Bundesressorts bei der Subsidiaritätsprüfung zu gewährleisten.204 Problematisch bei diesem Beschluss ist allerdings, dass hierin nur eine Abstimmung auf Bundesebene vorgesehen ist, eine Beteiligungsmöglichkeit der Ländervertreter hingegen nicht niedergelegt wurde.205 Eigene Prüfungskriterien enthält noch ein Prüfraster für die Subsidiaritätsprüfung, welches die Bundesregierung im Mai 1994 vorgelegt und dem Bundestag, dem Bundesrat und den Ländern übermittelt hat;206 darin soll durch einen Fragenkatalog den jeweiligen beteiligten Akteuren die Subsidiaritätsprüfung erleichtert werden.207
2. Die Präambel und Art. 2 Abs. 2 (ex-Art. B Abs. 2) des EUV Sowohl in der Präambel als auch in Art. 2 Abs. 2 (ex-Art. B Abs. 2) EUV208 findet sich eine ausdrückliche Niederlegung des Subsidiaritätsprinzips. In der Präambel wird das Subsidiaritätsprinzip mit dem Gebot der Bürgernähe in Verbindung gebracht. Was dabei genau unter Bürgernähe zu verstehen ist, lässt der EUV offen. Teilweise wird die Bürgernähe als Ausdruck eines föderalistischen Strukturprinzips angesehen. Für diese Ansicht spricht, dass in ursprünglichen Vertragsentwürfen209 eine „föderale Ausrichtung“ der Union formuliert war. Dieser Begriff prinzip in der Europäischen Union – Bedeutung und Wirkung für ausgewählte Politikbereiche (1995). 203 Verfahrensgrundsätze für die Subsidiaritätsprüfung durch die Bundesressorts gemäß Beschluss der Bundesregierung vom 8. Dezember 1993; abgedruckt unter anderem bei Hrbek (Hrsg.), Das Subsidiaritätsprinzip in der Europäischen Union – Bedeutung und Wirkung für ausgewählte Politikbereiche (1995). 204 Die Ressorts sollen der Prüfung ein Prüfraster zugrundelegen, das auf dem Gesamtkonzept des Europäischen Rates vom 11./12. Dezember 1992 und der Institutionellen Vereinbarung zwischen dem Europäischen Parlament, dem Rat und der Kommission über die Verfahren zur Anwendung des Subsidiaritätsprinzips vom Oktober 1993 beruht; beide Dokumente unter anderem bei Hrbek (Hrsg.), Das Subsidiaritätsprinzip in der Europäischen Union – Bedeutung und Wirkung für ausgewählte Politikbereiche (1995). Zur Institutionellen Vereinbarung siehe auch Große Hüttmann, Das Subsidiaritätsprinzip in der EU, S. 16. 205 Vgl. Große Hüttmann, Das Subsidiaritätsprinzip in der EU, S. 15. 206 Prüfraster für die Subsidiaritätsprüfung durch die Bundesressorts vom 18. Mai 1994, BR-Drs. 532/94. Abgedruckt unter anderem bei Hrbek (Hrsg.), Das Subsidiaritätsprinzip in der Europäischen Union – Bedeutung und Wirkung für ausgewählte Politikbereiche (1995). 207 Große Hüttmann, Das Subsidiaritätsprinzip in der EU, S. 15. 208 In Klammern ist die vor Inkrafttreten des Vertrags von Amsterdam gültige Artikelnummerierung aufgeführt. Inhaltliche Abweichungen bestehen dabei nicht. 209 Vgl. den Vertragsentwurf der Luxemburger Präsidentschaft über die Wirtschafts- und Währungsunion vom 5. Juli 1992, Europe Dok. Nr. 1722/1723 und den Vertragsentwurf der niederländischen Präsidentschaft über die Wirtschafts- und Währungsunion vom 3. Oktober 1991, Europe Dok. 1733/1734 bzw. vom 20. November 1991, Europe Dok. 1746/1747.
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scheiterte allerdings am Widerstand Großbritanniens, da nach dortigem Rechtsverständnis „federal goal“210 eher als zentralistisch orientiert aufgefasst wurde.211 Mit Bürgernähe könnte daher allenfalls eine föderale Ausrichtung gemeint sein, welche nicht auf die Zentralebene fokussiert ist. Einem solchen Verständnis steht aber entgegen, dass der inhaltliche Unterschied zwischen dem Subsidiaritätsprinzip und dem Prinzip des Föderalismus zu groß ist, als dass beide Prinzipien in der Präambel in direkten Zusammenhang gesetzt werden könnten. Zunächst einmal ist der Begriff des Föderalismus ein vor allem politischer Begriff, der, wie bereits in der Einführung dargestellt, den „unteren Ebenen“ eine starke Rechtsstellung sowie ausgedehnte und kraftvolle Befugnisse bewilligen möchte; das Subsidiaritätsprinzip hingegen ist von mehrdimensionaler Art, einerseits politische Maxime, andererseits Rechtsregel. Ein Vergleich beider Begrifflichkeiten muss daher schon wegen ihrer verschiedenen Natur vorsichtig gehandhabt werden. Zudem kann nach dem Subsidiaritätsprinzip keine echte föderalistische Struktur hergestellt werden: Sein Regelungsbereich gewährt gerade nicht den „unteren Ebenen“ einen unveräußerlichen Kompetenzkern. Wie dargestellt, wäre sogar eine komplette „Hochzonung“ aller Aufgaben theoretisch mit dem Subsidiaritätsprinzip in Einklang zu bringen, sofern sichergestellt ist, dass das Insuffizienz-Kriterium (sowie bei entsprechendem Subsidiaritätsverständnis auch das Kriterium der Effizienz-Optimierung) eingehalten wird. Im Gegensatz dazu müsste in einem föderalistischen System (gleiches gilt für ein bundesstaatliches System, staatstheoretischer Terminus und politischer Topos stimmen insoweit inhaltlich überein) auch dann ein Wesenskern an Aufgaben jeder „Ebene“ verbleiben, selbst wenn sie die damit verbundenen Ziele nicht ausreichend bewältigen könnte. Im Übrigen stellt das Prinzip des Föderalismus nach üblichem Verständnis vorrangig auf das Verhältnis zwischen verschiedenen staatlichen „Ebenen“ ab, wohingegen Bürgernähe als ein Gebot in Bezug auf das Verhältnis des Staates zu seinen verbandszugehörigen Bürgern verstanden wird.212 Freilich regelt auch das Subsidiaritätsprinzip im Sinne dieser Untersuchung die Kompetenzausübung in einem Mehrebenensystem, in welches der Bürger – zumindest direkt – nicht eingebunden ist. Die Formulierung der Präambel dürfte daher am ehesten so zu verstehen sein, dass die Entscheidungen in der Union vor dem Hintergrund und nach Maßgabe des Subsidiaritätsprinzips mit dem Ziel einer möglichst großen Bürgernähe getroffen werden sollen. Das Gebot der Bürgernähe wirkt dabei als gewisse Integrationsgrenze213 210
So die englische Fassung des Entwurfs. Hilf in Grabitz/Hilf, Recht der Europäischen Union, Altband I, Art. A EUV Rn. 14 m. w. N. 212 Schwarze/Stumpf, EU-Kommentar, Art. 1 EUV Rn. 31. 213 Hilf/Pache in Grabitz/Hilf, Das Recht der Europäischen Union, Band I, Präambel EUV Rn. 34. Ein wenig kann die Gegenüberstellung des Integrationsziels und des Prinzips der Bürgernähe auch als Vertragsinhalt gewordener Ausdruck der gegenläufigen Positionen in den Verhandlungen angesehen werden, vgl. Hilf in Grabitz/Hilf, Recht der Europäischen Union, Altband I, Art. A EUV Rn. 15. 211
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Kap.1: Das Subsidiaritätsprinzip vor dem Verfassungsvertrag
eigenständig neben dem Subsidiaritätsprinzip. Die Bürgernähe dürfte im Übrigen auch ein nicht nur an die Union, sondern vor allem auch an die Mitgliedstaaten gerichtetes Postulat darstellen: Eine eigene Unionsbürgerschaft ist nämlich in der Präambel des EUV zwar vorgesehen, besteht aber noch nicht. Daher könnte in der Formulierung des Gebots der Bürgernähe (auch) eine Aufforderung an die Mitgliedstaaten gesehen werden.214 Eine solche an die Mitgliedstaaten gerichtete Forderung nach Bürgernähe mag dann sogar das Postulat implizieren, dass auch auf der nationalen „Ebene“ ein grundsätzlicher Vorrang der dortigen „unteren Ebenen“ anzuerkennen ist.215 Das in Art. 5 Abs. 2 (ex-Art. 3 b Abs. 2) EGV niedergelegte Subsidiaritätsprinzip erlangt durch Art. 2 Abs. 2 (ex-Art. B Abs. 2) EUV Geltung für die gesamte EU, wirkt also über den Bereich der EG hinaus. Dem Wortlaut des Art. 2 Abs. 2 (ex-Art. B Abs. 2) EUV gemäß scheint die rechtliche Tragweite des Prinzips im Bereich der EU mit der innerhalb der EG übereinzustimmen: „Die Ziele der Union werden (…) unter Beachtung des Subsidiaritätsprinzips, wie es in Artikel 5 des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft bestimmt ist, verwirklicht.“ Eine solche Betrachtungsweise begegnet jedoch Zweifeln, da eine Anwendung des Subsidiaritätsprinzips im Sinne von Art. 5 Abs. 2 (ex-Art. 3 b Abs. 2) EGV das Bestehen supranationaler Kompetenzen voraussetzt; solche Kompetenzen gibt es jedoch in der auf intergouvernementale Zusammenarbeit ausgerichteten GASP und der PJZS bislang nicht.216 Nach überwiegender Auffassung wird dem Subsidiaritätsprinzip in diesen Bereichen daher die Funktion einer Kompetenzausübungsregel versagt; vielmehr wird es als Prüfungsmaßstab für die Beantwortung der Frage angesehen, ob die Mitgliedstaaten gemeinsam217 oder aber eigenständig autonom handeln sollen; es dient also der Auswahlentscheidung zwischen isoliert einzelstaatlichem und gemeinsamem Handeln im Bereich der intergouvernementalen Handlungsmodalitäten des EUV.218 Es handelt sich daher auf dem Gebiet der 2. und 3. Säule der Union nicht um die „klassische“ Ausprägung des Subsidiaritätsprinzips im Sinne dieser Untersuchung als eine Kompetenzausübungsregelung im Verhältnis zwischen der europäischen und der mitgliedstaatlichen Ebene, vielmehr verbleibt die Kompetenzausübungszuständigkeit bei den Mitgliedstaaten. 214
Schwarze/Stumpf, EU-Kommentar, Art. 1 EUV Rn. 32. So für das auch in Art. 1 EUV niedergelegte Gebot der Bürgernähe Bleckmann, Vertrag über die Europäische Union, S. 336. A. A. Hilf in Grabitz/Hilf, Recht der Europäischen Union, Altband I, Art. A EUV Rn. 14, wonach die mittlerweile in Art. 6 Abs. 3 EUV niedergelegte Forderung nach Achtung der nationalen Identität der Mitgliedstaaten eine solche Ausweitung auf die innerstaatliche „Ebene“ verbietet. 216 Schwarze/Stumpf, EU-Kommentar, Art. 2 EUV Rn. 22; Hilf/Pache in Grabitz/Hilf, Recht der Europäischen Union, Band I, Art. 2 EUV Rn. 24. 217 So durch „Gemeinsame Standpunkte“, Art. 15 oder 34 Abs. 2 lit. a EUV, oder durch „Gemeinsame Aktionen“, Art. 14 Abs. 1 EUV. 218 Schwarze/Stumpf, EU-Kommentar, Art. 2 EUV Rn. 22; Hilf/Pache in Grabitz/Hilf, Recht der Europäischen Union, Band I, Art. 2 EUV Rn. 25. 215
II. Das Subsidiaritätsprinzip nach Maastricht
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Bei der Frage, ob ein gemeinsames Handeln angebracht ist, haben diese jedoch das Insuffizienz-Kriterium und das Kriterium der Effizienzoptimierung nach Maßgabe von Art. 2 Abs. 2 (ex-Art. B Abs. 2) EUV i. V. m. Art. 5 Abs. 2 (ex-Art. 3 b Abs. 2) EGV zu beachten.
3. Justiziabilität des Subsidiaritätsprinzips Im Jahre 1995 – also nach Maastricht – befasste sich das Gericht Erster Instanz219 mit der Frage, ob das Subsidiaritätsprinzip schon vor seiner Niederlegung expressis verbis in Art. 5 Abs. 2 (ex-Art. 3 b Abs. 2) EGV einen Grundsatz des Gemeinschaftsrechts darstellte. Das Gericht hat diese Frage eindeutig negativ beantwortet;220 dem Subsidiaritätsgrundsatz in Art. 5 Abs. 2 (ex-Art. 3 b Abs. 2) EGV könne auch keine rückwirkende Kraft zuerkannt werden. In Bezug auf die Justiziabilität des Subsidiaritätsprinzips für die Zeit nach seiner Verankerung in Art. 5 Abs. 2 (ex-Art. 3 b Abs. 2) EGV muss zwischen formellen und materiellen Aspekten unterschieden werden. Wohl unstreitig kann der EuGH dabei die Einhaltung ersterer, wozu vor allem die Begründungspflicht gemäß Art. 253 (ex-Art. 190) EGV gehört, kontrollieren.221 Der Gerichtshof hat mit zwei Urteilen aus den Jahren 1996222 und 1997223 klargestellt, dass die Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips von der Begründungspflicht gemäß Art. 253 (ex-Art. 190) EGV erfasst wird; das Prinzip muss allerdings in der Begründung nicht ausdrücklich genannt worden sein, es reicht, wenn sich aus den vorgenommenen Erwägungen seine Berücksichtigung der Sache nach ergibt.224 Gegen eine Justiziabilität der Anforderungen des Art. 5 Abs. 2 (ex-Art. 3 b Abs. 2) EGV wurde in der Literatur vielfach die mangelnde Bestimmtheit der Norm, ihr vermeintlich primär politischer Charakter und der letztlich hieraus resultierende weite Beurteilungsspielraum der Gemeinschaftsorgane angeführt.225 219 EuG, RS. T-29/92 (Vereniging van Samenwerkende Prijsregelende Organisaties in de Bouwnijverheid u. a./Kommission) Slg. 1995, II-289 ff. 220 „Außerdem stellte der Subsidiaritätsgrundsatz (…) vor dem Inkrafttreten des Vertrages über die Europäische Union keinen allgemeinen Rechtsgrundsatz dar, anhand dessen die Rechtmäßigkeit der Gemeinschaftshandlungen zu prüfen war,“ EuG, RS. T-29/92 (Vereniging van Samenwerkende Prijsregelende Organisaties in de Bouwnijverheid u. a./Kommission) Slg. 1995, II-289 Rn. 331. 221 Blanke, Gehalt und Justitiabilität des Subsidiaritätsprinzips, S. 111. 222 EuGH, RS. C-84/94 (Vereinigtes Königreich/Rat) Slg.1996, I-5755. 223 EuGH, RS. C-233/94 (Bundesrepublik Deutschland/Europäisches Parlament und Rat) Slg. 1997, I-2405. 224 Europäische Parlament in: Kurzdarstellungen: Das Subsidiaritätsprinzip, im Internet abrufbar unter http://www.europarl.eu.int/factsheets/1_2_2_de.htm. Kritisch zu dieser Rechtsprechung Calliess, Subsidiaritäts- und Solidaritätsprinzip, S. 298 f. 225 Vgl. neben vielen die Darstellungen bei Calliess, Subsidiaritäts- und Solidaritätsprinzip, S. 300 ff., Blanke, Gehalt und Justitiabilität des Subsidiaritätsprinzips, S. 112 ff. und B/L/Lehr,
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Kap.1: Das Subsidiaritätsprinzip vor dem Verfassungsvertrag
Öfters wurde auch auf die restriktive Urteilspraxis des Bundesverfassungsgerichts bei der Bedürfnisprüfung nach Art. 72 Abs. 2 GG a. F.226 verwiesen.227 Es kamen zudem Zweifel auf, ob der EuGH in Anbetracht seiner führenden Leistung im Integrationsprozess228, selbst wenn er denn fähig, überhaupt willens wäre, eine wirksame Subsidiaritätskontrolle vorzunehmen. Nach systematischen Erwägungen muss der materielle Gehalt des Subsidiaritätsprinzips gerichtlicher Kontrolle zugänglich sein.229 Adressat des Subsidiaritätsprinzips sind grundsätzlich alle Organe der Gemeinschaft im Rahmen ihrer jeweiligen Aufgaben und Befugnisse, also auch der EuGH.230 Gemäß Art. 220 (ex-Art. 164) EGV fällt ihm die Aufgabe zu, das Recht in der Gemeinschaft „bei Auslegung und Anwendung dieses Vertrages“ zu wahren. Unionsbürger können zwar aus Art. 5 Abs. 2 (ex-Art. 3 b Abs. 2) EGV unmittelbar keine Rechte herleiten;231 dieser Umstand verhindert jedoch nicht, dass der EuGH die Einhaltung der Norm gerichtlich überprüft.232 Mehrere Verfahrensarten sind denkbar, in denen der Gerichtshof in Bezug auf die Einhaltung der Voraussetzungen des Subsidiaritätsprinzips tätig werden kann: An erster Stelle die Nichtigkeitsklage nach Art. 230 (ex-Art. 173) EGV; sie kommt dann in Frage, wenn eine Verletzung des Subsidiaritätsprinzips im Sinne einer Überschreitung seiner Kriterien gerügt werden soll. Spiegelbildlich dazu, also im Falle des Unterschreitens der Anforderungen des Art. 5 Abs. 2 (ex-Art. 3 b Abs. 2) EGV, käme eine Untätigkeitsklage in Betracht, Art. 232 (ex-Art. 175) EGV; denkbar wären ferner Vertragsverletzungsverfahren, Art. 226, 227 (ex-Art. 169, 170) EGV, Vorabentscheidungsverfahren,233 Art. 234 (ex-Art. 177) EGV, sowie das Verfahren der inzidenten Normenkontrolle nach Art. 241 (ex-Art. 184) EGV.234
Der Amsterdamer Vertrag, S. 208 f. Deutlich auch Möschel, Zum Subsidiaritätsprinzip im Vertrag von Maastricht, S. 3027 m. w. N. 226 Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland vom 23. Mai 1949, BGBl. 1949 S. 1, letzte Änderung vom 26. Juli 2002, BGBl. 2002 I S. 2863, hier in der Fassung des 41. Gesetzes zur Änderung des GG vom 30. August 1994, BGBl. 1994 I S. 2245. 227 Vgl. etwa Pieper, Subsidiarität, S. 274; Schima, Das Subsidiaritätsprinzip, S. 150. Eine erste Kurskorrektur erfolgte hier allerdings von gesetzgeberischer Seite durch die Neufassung des Art. 72 Abs. 2 GG im Jahre 1994, insbesondere aber durch das Altenpflege-Urteil des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE 106, 62 ff.). Das Bundesverfassungsgericht dürfte somit kein taugliches Beispiel der Justiziabilitätsgegner mehr bieten, im Gegenteil. Siehe dazu auch die Ausführungen im Résumé dieser Arbeit. 228 Siehe bspw. Hallstein, Die Europäische Gemeinschaft, S. 110. 229 Blanke, Gehalt und Justitiabilität des Subsidiaritätsprinzips, S. 111. 230 Hirsch, Auswirkungen des Subsidiaritätsprinzips, S. 96. 231 Europäisches Parlament in: Kurzdarstellungen: Das Subsidiaritätsprinzip, im Internet abrufbar unter http://www.europarl.eu.int/factsheets/1_2_2_de.htm. 232 Oppermann, Europarecht, S. 159. 233 Die nationalen Gerichte können also bei der Anwendung von Unionsrecht seine Übereinstimmung mit dem Subsidiaritätsprinzip überprüfen und ggf. dem Gerichtshof die Frage zur Entscheidung vorlegen, Huber, Recht der Europäischen Integration, S. 252. 234 Blanke, Gehalt und Justitiabilität des Subsidiaritätsprinzips, S. 111.
II. Das Subsidiaritätsprinzip nach Maastricht
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Die Urteilspraxis des EuGH235 dürfte mittlerweile die Zweifel an der grundsätzlichen Justiziabilität des Subsidiaritätsprinzips ausgeräumt haben.236 Auch dürften die Auffassungen, welche dem EuGH eine einseitige Integrationsfreundlichkeit bescheinigen, durch eine Reihe von Urteilen237 widerlegt werden können.238 Streit besteht allerdings noch in Bezug auf die Prüfungsintensität.239 In Anbetracht der Komplexität und Allgemeinheit der in die Prüfung einzustellenden Kriterien des Subsidiaritätsprinzips könnte der Gerichtshof die Konkretisierung durch die Gemeinschaftsorgane regelmäßig respektieren240 und nur bei offensichtlichen Fehleinschätzungen eingreifen.241 Andererseits muss Art. 5 Abs. 2 (ex-Art. 3 b Abs. 2) EGV nicht zwingend den Gemeinschaftsorganen einen (weiten) Beurteilungsspielraum einräumen; im Vergleich zum Verhältnismäßigkeitsprinzip ist das Subsidiaritätsprinzip – verstanden als Rechtsprinzip ohne den Ballast diverser Überfrachtungen – nicht von wesentlich politischerem und offenerem Charakter.242 Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz hat aber durch die Rechtsprechung des EuGH durchaus präzise Konturen bekommen.243 Das wäre durchaus auch für das Subsidiaritätsprinzip denkbar.
235 Z. B. EuGH, RS. C-415/93 (Union royale belge des sociétés de football association ASBL u. a./Jean-Marc Bosman) Slg. 1995, I-4921; EuGH, RS. C-84/94 (Vereinigtes Königreich/Rat) Slg.1996, I-5755; EuGH, RS. C-233/94 (Bundesrepublik Deutschland/Parlament und Rat) Slg. 1997, I-2405; EuGH, RS. C-377/98 (Niederlande/Parlament und Rat) Slg. 2001, I-7079. Für die Zeit nach Inkrafttreten des Vertrags von Amsterdam siehe insbesondere das Urteil des EuGH vom 10. Dezember 2002, RS. C-491/01 (The Queen/Secretary of State for Health) Slg. 2002, I-11453 ff. 236 Schliesky, Der Beitrag des Subsidiaritätsprinzips zur Legitimation supranationaler Herrschaftsgewalt, S. 62. 237 EuGH, RS. C-45/86 (Kommission/Rat) Slg. 1987, 1493 ff: Nichtigkeitserklärung von Verordnungen, die zu Unrecht auf Art. 235 EWGV gestützt worden waren; EuGH, RS. C-300/89 (Kommission/Rat) Slg. 1991, I-2867 ff.; EuGH, RS. C-295/90 (Parlament/Rat) Slg. 1992, I-4139 ff; ebenfalls Nichtigerklärung von Gemeinschaftsrechtsakten. Vgl. hierzu m. w. N. Zuleeg, Justiziabilität des Subsidiaritätsprinzips, S. 202. 238 Nach Oppermann, Europarecht, S. 115, entwickelt der EuGH mehr und mehr das Selbstverständnis eines „ehrlichen Maklers zwischen Gemeinschaft und Mitgliedstaaten“. Zum sich wandelnden Selbstverständnis des Gerichtshofes siehe auch Oppermann, Die dritte Gewalt in der EU, S. 905 f. 239 Vgl. Schliesky, Der Beitrag des Subsidiaritätsprinzips zur Legitimation supranationaler Herrschaftsgewalt, S. 62 m. w. N. 240 Das muss vor allem in Fällen (wie z. B. einstimmigen Ratsentscheidungen) gelten, bei denen die Mitgliedstaaten effektiv in die Entscheidungsfindung einbezogen worden sind und alle betroffenen Organe und Rechtssubjekte ausführlich gehört wurden, v. Bogdandy/ Nettesheim. in Grabitz/Hilf, Recht der Europäischen Union, Altband I, Art. 3 b EGV Rn. 41. 241 Oppermann, Europarecht, S. 159. Vgl. das Urteil des EuGH vom 10. Dezember 2002, RS. C-491/01 (The Queen/Secretary of State for Health) Slg. 2002, I-11453 ff. 242 v. Bogdandy/Nettesheim. in Grabitz/Hilf, Recht der Europäischen Union, Altband I, Art. 3 b EGV Rn. 41. 243 v. Bogdandy/Nettesheim. in Grabitz/Hilf, Recht der Europäischen Union, Altband I, Art. 3 b EGV Rn. 41, 50 m. w. N.
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Kap.1: Das Subsidiaritätsprinzip vor dem Verfassungsvertrag
Im Ergebnis ist festzustellen, dass das Subsidiaritätsprinzip den Gemeinschaftsorganen zwar einen gewissen Spielraum bei der Beurteilung seiner Kriterien gewähren mag. Jeder Spielraum besitzt aber seine Grenzen. Bei je nach Fall variabler Kontrolldichte244 erfolgt die letztgültige Determinierung durch den Gerichtshof.245 Die jeweils anzuwendende Kontrolldichte ist unterschiedlicher Auffassung zugänglich. Sie wird sich in der künftigen Judikatur des EuGH herausbilden und konkretisieren.
III. Das Subsidiaritätsprinzip nach Amsterdam III. Das Subsidiaritätsprinzip nach Amsterdam
Durch den Vertrag von Amsterdam wurde Art. 5 Abs. 2 (ex-Art. 3 b Abs. 2) EGV durch das Protokoll über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit246 ergänzt. Auch hier war die Bundesrepublik Deutschland wieder maßgeblich beteiligt.247 Inhaltlich beruht das Subsidiaritätsprotokoll im Wesentlichen auf den Schlussfolgerungen des Europäischen Rates von Edinburgh;248 es besitzt allerdings wegen Art. 311 (ex-Art. 239) EGV den Rang primären Gemeinschaftsrechts.249 Das Protokoll enthält 13 Einzelpunkte. In diesen werden die Kriterien zur Anwendung des Subsidiaritätsprinzips und des Verhältnismäßigkeitsprinzips präzisiert.250 Unter Ziffer 1 verpflichtet das Protokoll alle Gemeinschaftsorgane zur Beachtung des Subsidiaritätsprinzips. Unklar ist, was als Organ im Sinne der Bestimmung zu verstehen ist. Ein Rückgriff auf die Terminologie des Art. 7 Abs. 1 (exArt. 4 Abs. 1) EGV, in welchem Parlament, Rat, Kommission, Gerichtshof und Rechnungshof als Organe der Gemeinschaft bezeichnet werden, dürfte zu kurz greifen. Für eine effektive Subsidiaritätsgewährleistung müssen – davon geht auch Art. 5 Abs. 2 (ex-Art. 3 b Abs. 2) EGV aus, der pauschal „die Gemeinschaft“ an das Subsidiaritätsprinzip bindet – nämlich alle Akteure von der Verpflichtung zur Einhaltung des Prinzips erfasst sein, zumindest aber die am Prozess der Normsetzung Beteiligten. Dazu gehören bspw. der Ausschuss der Regionen (AdR) sowie der Wirtschafts- und Sozialausschuss (WSA). Beide sind nach Art. 7 Abs. 2 244
B/L/Lehr, Der Amsterdamer Vertrag, S. 208. Schwarze/Lienbacher, EU-Kommentar, Art. 5 EGV Rn. 25. 246 Im Folgenden: Subsidiaritätsprotokoll (Amsterdam). 247 B/L/Lehr, Der Amsterdamer Vertrag, S. 210. 248 Europäischer Rat von Edinburgh vom 11./12. Dezember 1992, Schlussfolgerungen des Vorsitzes, Anlage I – Gesamtkonzept für die Anwendung des Subsidiaritätsprinzips und des Artikels 3 b des Vertrags über die Europäische Union durch den Rat, Bulletin der Bundesregierung Nr. 140/S. 1277 vom 28. Dezember 1992; abgedruckt bei Merten (Hrsg.), Die Subsidiarität Europas, 2. Auflage (1994) und Hrbek (Hrsg.), Das Subsidiaritätsprinzip in der Europäischen Union – Bedeutung und Wirkung für ausgewählte Politikbereiche (1995). 249 B/L/Lehr, Der Amsterdamer Vertrag, S. 210. 250 Siehe zu den einzelnen Punkten B/L/Lehr, Der Amsterdamer Vertrag, S. 210 ff.; hier soll nur kurz auf einige wenige Regelungsbereiche eingegangen werden. 245
III. Das Subsidiaritätsprinzip nach Amsterdam
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(ex-Art. 4 Abs. 2) EGV die Organe unterstützende Einrichtungen, nicht hingegen selbst Organe. Sie sind jedoch – wenn auch nicht in zentraler Funktion – in bestimmten Fällen am Rechtsetzungsverfahren beteiligt: So müssen der WSA nach Art. 262 EGV und der AdR nach Art. 265 EGV vom Rat bzw. der Kommission vor dem Erlass mancher Rechtshandlungen angehört werden.251 Bei den Stellungnahmen aufgrund der Anhörungen handelt es sich zwar selbst nicht um nach außen gerichtete Maßnahmen. Sie tragen jedoch zur Entstehung solcher Rechtsakte mit bei. Es erscheint daher angebracht, Ziffer 1 Subsidiaritätsprotokoll (Amsterdam) auch auf diese Akteure zu erstrecken.252 Hingegen ist fraglich, ob der Rechnungshof – Organ im Sinne von Art. 7 Abs. 1 (ex-Art. 4 Abs. 1) EGV – auch unter Ziffer 1 fällt, da er nicht am Rechtsetzungsprozess beteiligt ist.253 Eine solche Beschränkung dürfte jedoch mit dem Regelungsgehalt des EGV nicht in Einklang zu bringen sein. Das in Art. 5 Abs. 2 (ex-Art. 3 b Abs. 2) EGV niedergelegte Subsidiaritätsprinzip gilt mangels einer Differenzierung in dieser Bestimmung für alle Institutionen der Gemeinschaft, wenn auch de facto Rat, Parlament und Kommission im Vordergrund stehen.254 Dem EGV kann nicht entnommen werden, dass gerade der Rechnungshof aus dem personellen Anwendungsbereich herausgelöst werden sollte. Mangels eines Vorrangs der Vertragsartikel zu den Protokollbestimmungen kann zwar aus diesem Umstand noch nicht zwingend gefolgert werden, dass Ziffer 1 auch den Rechnungshof erfasst. Jedoch spricht auch die Systematik des Protokolls selbst gegen die Auffassung von Stefan Lehr, wonach nur am Prozess der Normsetzung beteiligte Akteure von der Verpflichtung auf das Subsidiaritätsprinzip erfasst seien:255 Genauso wenig am Prozess der Rechtsetzung beteiligt wie der Rechnungshof ist der EuGH. Dieser wird aber auch nach Lehr zu Recht vom Subsidiaritätsprinzip erfasst.256 Dieses Ergebnis kann freilich mit dem Argument begründet werden, 251 Sog. obligatorische Stellungnahmen. Hier müssen sich der Rat bzw. die Kommission auf die Anhörung des Ausschusses berufen, bevor sie einen bindenden Rechtsakt erlassen; inwieweit die Stellungnahme berücksichtigt wird, steht im Ermessen von Rat bzw. Kommission, Schwarze/Siebeke, EU-Kommentar, Art. 262 EGV Rn. 3 bzw. Schwarze/Wiedmann, EU-Kommentar, Art. 265 EGV Rn. 5, jeweils mit einer Auflistung der Fälle obligatorischer Anhörungen. In den Fällen, in denen eine Stellungnahme nicht obligatorisch ist, haben AdR und WSA ein fakultatives Anhörungsrecht; darüber hinaus können die Ausschüsse in allen Fällen, in denen sie es für zweckmäßig erachten, von sich aus eine Stellungnahme abgeben (sog. Selbstbefassungsrecht), Schwarze/Siebeke, EU-Kommentar, Art. 262 EGV Rn. 5 bzw. Schwarze/Wiedmann, EU-Kommentar, Art. 265 EGV Rn. 14 f. 252 So auch B/L/Lehr, Der Amsterdamer Vertrag, S. 210. 253 Mit dieser Begründung verneinend B/L/Lehr, Der Amsterdamer Vertrag, S. 210. 254 Schwarze/Lienbacher, EU-Kommentar, Art. 5 EGV Rn. 15. 255 B/L/Lehr, Der Amsterdamer Vertrag, S. 210. 256 Wie bereits dargestellt, fällt auch der EuGH in den personellen Anwendungsbereich von Art. 5 Abs. 2 (ex-Art. 3 b Abs. 2) EGV, Schliesky, Der Beitrag des Subsidiaritätsprinzips zur Legitimation supranationaler Herrschaftsgewalt, S. 43; Hirsch, Auswirkungen des Subsidiaritätsprinzips, S. 96; v. Bogdandy/Nettesheim in Grabitz/Hilf, Recht der Europäischen Union, Altband I, Art. 3 b EGV Rn. 26.
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Kap.1: Das Subsidiaritätsprinzip vor dem Verfassungsvertrag
dass es nicht allein auf den Normsetzungs-, sondern auch auf den Normüberprüfungsprozess ankommen müsse. Dem ist insoweit zuzustimmen als die Existenz einer Norm sich nicht allein durch den Weg ihrer Genese, sondern (im Streitfall) auch durch ihre judikative Bestätigung verwirklicht. Jenes Ansatzes bedarf es indes nicht; was die Organe der Union angeht, kann mangels entgegenstehender Anhaltspunkte in Protokoll wie EGV schlicht am Ergebnis der Wortlautauslegung festgehalten werden. Ein einfacher wie stimmiger Auslegungsweg ist einem ebenso stimmigen aber komplizierten vorzuziehen. Daher sollten die Organeigenschaft nach Art. 7 Abs. 1 (ex-Art. 4 Abs. 1) EGV und die Beteiligung am Rechtsetzungsprozess als Kriterien für die Bindung an Ziffer 1 – und damit an das gesamte Subsidiaritätsprotokoll(Amsterdam) – gewählt werden. Die Bestimmung ist also erweiternd auszulegen: Erfasst sind zum einen alle Gemeinschaftsorgane im Sinne von Art. 7 Abs. 1 (ex-Art. 4 Abs. 1) EGV. Zusätzlich sind aber diejenigen Akteure einzubeziehen, welche in irgendeiner Art und Weise am Normsetzungsprozess der Gemeinschaft beteiligt sind. Die Formulierung („Jedes Organ gewährleistet bei der Ausübung seiner Befugnisse die Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips“) stellt mittelbar klar, dass das Subsidiaritätsprinzip keine Kompetenzverteilungs-, sondern eine Kompetenzausübungsregelung darstellt.257 Um zur Anwendung zu kommen, muss das Gemeinschaftsorgan bereits abstrakt zuständig sein („seiner Befugnisse“). Ziffer 3 bekräftigt den Charakter des Subsidiaritätsprinzips als (expressis verbis) „dynamisches Konzept“. Das Prinzip wirkt nicht allein beschränkend, sondern kann auch eine Erweiterung der Gemeinschaftsbefugnisse legitimieren.258 Bewirkt diese Niederlegung des dynamischen Charakters des Subsidiaritätsprinzips einen Sieg der Gemeinschaftsorgane? Aus europapolitischem Blickwinkel mag zwar zuzugeben sein, dass aufgrund der ausdrücklichen Beschreibung des Subsidiaritätsprinzips als dynamisches Konzept diese „Runde“ (Markus Kenntner)259 im Machtkampf an die Gemeinschaftsorgane ging. Allerdings gilt zu bedenken, dass der dynamische Charakter des Subsidiaritätsgedankens im EGV eigentlich nie wirklich strittig war und letztlich durch Ziffer 3 nur eine ausdrückliche Bestätigung260 erfahren hat: Weder nach dem Wortlaut, noch nach Sinn und Zweck kann Art. 5 Abs. 2 (ex-Art. 3 b Abs. 2) EGV als eine die Gemeinschaftskompetenzen beschränkende Einbahnstraßenregelung verstanden werden; mag das Prinzip auch als Schutznorm gegen eine immer weiter sich ausdehnende Gemeinschaftstätigkeit 257 B/L/Lehr, Der Amsterdamer Vertrag, S. 210. Siehe auch Schwarze/Lienbacher, EU-Kommentar, Art. 5 EGV Rn. 32. 258 Freilich nicht in zuständigkeitsbegründender Weise, da das Subsidiaritätsprinzip eben keine Kompetenzverteilungsregel ist. Vielmehr müssen bereits Gemeinschaftszuständigkeiten bestanden haben, die Ausübungsbefugnisse aber bei den Mitgliedstaaten verblieben sein. Wenn dann später die Prüfung des Insuffizienz-Kriteriums und das Kriteriums der Effizienz-Optimierung zugunsten der Gemeinschaft ausfällt, kann die Ausübungsbefugnis auch „hochgezont“, den Mitgliedstaaten also „weggenommen“ werden. 259 Kenntner, Das Subsidiaritätsprotokoll, S. 2871. 260 B/L/Lehr, Der Amsterdamer Vertrag, S. 211.
III. Das Subsidiaritätsprinzip nach Amsterdam
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in den EGV inkorporiert worden sein, so besagt es doch nicht den Vorrang der „unteren“ Ebenen um jeden Preis; vielmehr verlangt es in gewissen Bereichen261 von den Mitgliedstaaten eine Akzeptanz der Aufgabenwahrnehmung durch die europäische Ebene.262 Der Rundensieg der Gemeinschaftsorgane im politischen Machtkampf um das Subsidiaritätsprinzip wird daher kaum die Mitgliedstaaten in ihrem Wunsch nach Stärkung des Subsidiaritätsgedankens zu Boden gehen lassen, geschweige denn ihren K. O. bewirken. Nach Ziffer 3 kann es wegen des Subsidiaritätsprinzips auch zu einer Einschränkung bzw. Einstellung der Gemeinschaftstätigkeit kommen. Diese so unklare wie bemerkenswerte Formulierung könnte zur Verpflichtung führen, auch bereits bestehendes Handeln der Gemeinschaft am Maßstab des Art. 5 Abs. 2 (exArt. 3 b Abs. 2) EGV zu prüfen.263 Insofern müsste von einer erheblichen Stärkung des Subsidiaritätsprinzips gesprochen werden, da eine solche Verpflichtung Art. 5 Abs. 2 (ex-Art. 3 b Abs. 2) EGV jedenfalls nicht ausdrücklich entnommen werden kann. Nach Stefan Lehr könnte auf diese Weise das Subsidiaritätsprinzip sogar den acquis communautaire in Frage stellen.264. Letztere Ansicht dürfte abzulehnen sein, da Nr. 2 des Protokolls ausdrücklich bekräftigt, dass das Subsidiaritätsprinzip „unter voller Wahrung des gemeinschaftliche Besitzstandes“ anzuwenden ist. Ob und wie jene Widersprüchlichkeit aufgelöst werden kann, soll hier allerdings nicht weiter erörtert werden – der Widerspruch mag auch als Bekräftigung des Kompromisscharakters des Protokolls verstanden werden und in der rechtlichen Beurteilung offen bleiben.265 Nach Ziffer 4 muss „jeder Vorschlag für gemeinschaftliche Rechtsvorschriften (…) begründet (werden), um zu rechtfertigen, dass dabei die Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit eingehalten werden; die Feststellung, dass ein Gemeinschaftsziel besser auf Gemeinschaftsebene erreicht werden kann, muss auf qualitativen oder – soweit möglich – quantitativen Kriterien beruhen.“
Diese Vorschrift spezifiziert die Begründungspflicht des Art. 253 (ex-Art. 190) EGV in Bezug auf die Frage der Konformität eines Vorschlags mit dem Subsidiaritäts- und dem Verhältnismäßigkeitsprinzip.266 Die Begründungspflicht gilt für „gemeinschaftliche Rechtsvorschriften“, mithin jedenfalls für die in Art. 253 (ex-Art. 190) EGV aufgezählten Verordnungen, Richtlinien und Entscheidungen. Fraglich ist, ob Ziffer 4 auch für Empfehlungen und Stellungnahmen gilt. Dafür könnte sprechen, dass die Gemeinschaft bei diesen unverbindlichen Handlungsformen ebenso an das Subsidiaritätsprinzip gebunden ist wie bei Verordnungen, 261 262 263 264 265 266
Z. B. auf dem bereits angesprochenen Gebiet der Umwelt(schutz)politik. Vgl. Vetter, Die Sicht der deutschen Länder, S. 13. B/L/Lehr, Der Amsterdamer Vertrag, S. 211. B/L/Lehr, Der Amsterdamer Vertrag, S. 211. Vgl. Kenntner, Das Subsidiaritätsprotokoll, S. 2875. B/L/Lehr, Der Amsterdamer Vertrag, S. 211.
Kap.1: Das Subsidiaritätsprinzip vor dem Verfassungsvertrag
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Richtlinien oder Entscheidungen. Eine Kopplung der materiellrechtlichen Bindung an prozedurale Pflichten wäre konsequent und durchaus denkbar. Der Wortlaut der Ziffer 4 („gemeinschaftliche Rechtsvorschriften“) erlaubt keine eindeutige Entscheidung. Unter diesen Begriff – zumal wenn man ihn als spezifischen Terminus des Subsidiaritätsprotokolls auffassen sollte – könnten auch Entscheidungen und Stellungnahmen subsumiert werden. Indes ist festzustellen, dass Ziffer 4 des Subsidiaritätsprotokolls bewusst als Präzisierung der Begründungspflicht nach Art. 253 (ex-Art. 190) EGV für die Aspekte Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit konzipiert wurde. Jene Norm des EGV wurde ihrerseits im Zuge des Amsterdamer Vertrags inhaltlich unverändert belassen.267 Es kann daher kaum angenommen werden, dass das Subsidiaritätsprotokoll (Amsterdam) mit der Formulierung „gemeinschaftliche Rechtsvorschriften“ die Begründungspflicht bei Rechtsakten über Art. 253 (ex-Art. 190) EGV hinaus auch auf Empfehlungen und Stellungnahmen auszudehnen beabsichtigt. Der zweite Halbsatz von Ziffer 4 des Subsidiaritätsprotokolls (Amsterdam) bezieht sich nach seinem insofern eindeutigen Wortlaut lediglich auf das Kriterium der Effizienz-Optimierung. Die „etwas unklar formulierte Passage“268, wonach die Diagnose „auf qualitativen oder – soweit möglich – auf quantitativen Kriterien beruhen“ muss, dürfte als Entscheidung für den Vorrang qualitativer Kriterien aufzufassen sein. Erst nachrangig soll bei der Beurteilung der Effizienz-Optimierung ein quantitativer Mehrwert berücksichtigt werden können.269 Die Formulierung „soweit möglich“ ist also nicht – wie die Auslegung des Wortlauts bei erster Betrachtung nahe legen könnte – als Bevorzugung, sondern als Zurückstellung der quantitativen Kriterien im Rahmen der Prüfung eines europäischen Mehrwerts zu verstehen. In Ziffer 5 wird bestätigt, dass beide Kriterien des Subsidiaritätsprinzips kumulativ vorliegen müssen, um ein Handeln der Gemeinschaft zu rechtfertigen. Überdies werden Leitlinien aufgestellt, an denen sich die Subsidiaritätsprüfung zu orientieren hat. Während die erste270 und die dritte271 Leitlinie lediglich eine konkretisierende Beschreibung der beiden Prüfungskriterien des Art. 5 Abs. 2 (exArt. 3 b Abs. 2) EGV enthält, bringt die zweite generalklauselartige272 Leitlinie neue im Rahmen der Subsidiaritätsprüfung zu erörternde Aspekte ein: „Alleinige Maßnahmen der Mitgliedstaaten oder das Fehlen von Gemeinschaftsmaßnahmen würden gegen die Anforderungen des Vertrags (bspw. Erfordernis der Korrektur von Wettbe267
Streinz/Gellermann, EUV/EGV, Art. 253 EGV Rn. 1. B/L/Lehr, Der Amsterdamer Vertrag, S. 211. 269 B/L/Lehr, Der Amsterdamer Vertrag, S. 211. 270 „Der betreffende Bereich weist transnationale Aspekte auf, die durch Maßnahmen der Mitgliedstaaten nicht ausreichend geregelt werden können“. 271 „Maßnahmen auf Gemeinschaftsebene würden wegen ihres Umfangs oder ihrer Wirkungen im Vergleich zu Maßnahmen auf der Ebene der Mitgliedstaaten deutliche Vorteile mit sich bringen.“ 272 B/L/Lehr, Der Amsterdamer Vertrag, S. 212. 268
III. Das Subsidiaritätsprinzip nach Amsterdam
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werbsverzerrungen, der Vermeidung verschleierter Handelsbeschränkungen oder der Stärkung des wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalts) verstoßen oder auf sonstige Weise die Interessen der Mitgliedstaaten erheblich beeinträchtigen.“
Lehr bewertet diese Leitlinie vor dem Hintergrund des Ziels einer Stärkung des Subsidiaritätsgedankens zu Recht kritisch: Sie inkorporiere überkommene effetutile-Vorstellungen von Kommission und Gerichtshof als Prüfungsleitlinien in das Protokoll, die ihrerseits gerade Auslöser für den Wunsch nach Stärkung der mitgliedstaatlichen Kompetenzen waren; damit trete der Kompromisscharakter des Subsidiaritätsprotokolls (Amsterdam) deutlich hervor; die niedergelegten Aspekte könnten als Einfalltor dienen, um in Zukunft strikt verstandene Subsidiaritätsgrundsätze auszuhebeln.273 Ziffer 8 behandelt die Frage nach den Handlungspflichten der Mitgliedstaaten, wenn ein Gemeinschaftshandeln wegen des Insuffizienz-Kriteriums unzulässig ist. Aus Art. 10 (ex-Art. 8) EGV wird in diesen Fällen eine Pflicht der Mitgliedstaaten zum Tätigwerden abgeleitet. Ziffer 13 soll die Justiziabilität des Subsidiaritätsprinzips bekräftigen.274 Ob hier jedoch tatsächlich eine strenge rechtliche Durchsetzbarkeit verankert werden soll, wird aufgrund der Formulierung der Bestimmung („Die Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips wird nach den Bestimmungen des Vertrags geprüft“) teilweise bezweifelt.275 Angesichts der Tatsache, dass die grundsätzliche Justiziabilität des Subsidiaritätsprinzips aber aufgrund der Urteilspraxis des EuGH276 als anerkannt gelten dürfte,277 kann dieser Auffassung jedoch nur gefolgt werden, soweit es um das – in der Tat ungeklärte – Ausmaß der gerichtlichen Kontrolldichte, nicht aber um die Überprüfbarkeit als solche geht. Zur Kontrolldichte enthält das Subsidiaritätsprotokoll keine direkte Aussage; die diesbezüglichen Konkretisierungen bleiben der Rechtsprechung vorbehalten. Die grundsätzliche Justiziabilität der Voraussetzungen des Art. 5 Abs. 2 (ex-Art. 3 b Abs. 2) EGV kann ebenso aus Ziffer 1 des Protokolls abgeleitet werden, da der EuGH als Gemeinschaftsorgan durch diese Bestimmung zur Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips verpflichtet wird.278 In den Ziffern 4 sowie 9 – 12 werden formale Erfordernisse wie eine Begründungspflicht für sämtliche Gemeinschaftshandlungen in Bezug auf die Beachtung 273
B/L/Lehr, Der Amsterdamer Vertrag, S. 212. B/L/Lehr, Der Amsterdamer Vertrag, S. 214; Kenntner, Das Subsidiaritätsprotokoll, S. 2875. 275 Vgl. Schwarze/Lienbacher, EU-Kommentar, Art. 5 EGV Rn. 32 f.: Schon die im Protokoll vorherrschende Terminologie („Richtschnur“, „Leitlinien“) stünde der Annahme einer „harten“ rechtlichen Verbindlichkeit entgegen. 276 Vgl. EuGH, RS. C-415/93 (Union royale belge des sociétés de football association ASBL u. a./Jean-Marc Bosman) Slg. 1995, I-4921; EuGH, RS. C-84/94 (Vereinigtes Königreich/Rat) Slg.1996, I-5755; EuGH, RS. C-233/94 (Bundesrepublik Deutschland/Parlament und Rat) Slg. 1997, I-2405; EuGH, RS. C-377/98 (Niederlande/Parlament und Rat) Slg. 2001, I-7079. 277 Für B/L/Lehr, Der Amsterdamer Vertrag, S. 214, hat Ziffer 13 daher „eher deklaratorische Bedeutung“. 278 Kenntner, Das Subsidiaritätsprotokoll, S. 2875. 274
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Kap.1: Das Subsidiaritätsprinzip vor dem Verfassungsvertrag
des Subsidiaritätsprinzips und des Verhältnismäßigkeitsprinzips sowie Anforderungen an das Prozedere bei Gemeinschaftstätigkeiten niedergelegt. In der Literatur wird teilweise – neben den bereits dargestellten Kritikpunkten – bemängelt, das Protokoll sei insgesamt so vage formuliert, dass es dem Subsidiaritätsprinzip in der Praxis keinen deutlichen Geltungsschub verleihen könne.279 Zu offensichtlich sei sein Kompromisscharakter, die angebliche Präzisierung werfe mehr Fragen auf280 als sie löse.281 Freilich stellt es immerhin einen Erfolg dar, dass überhaupt ein Subsidiaritätsprotokoll mit Primärrechtscharakter verabschiedet werden konnte.282 Positiv ist ferner die Klarstellung, dass die beiden Kriterien des Art. 5 Abs. 2 (ex-Art. 3 b Abs. 2) EGV kumulativ vorliegen müssen,283 sowie die Bestätigung der Justiziabilität des Subsidiaritätsprinzips. Auch der in den Ziffern 4 und 9 – 12 niedergelegte Grundsatz „Subsidiarität durch Verfahren“284 trägt in seinen Konkretisierungen dazu bei, durch eine Prozeduralisierung des Subsidiaritätsprinzips285 diesem Operabilität286 und Konturenschärfung287 zu verschaffen. Im Übrigen ist die Einleitung des Protokolls für dessen Bewertung von Belang, in welcher das vom Europäischen Rat in Edinburgh vereinbarte Gesamtkonzept288 als Richtschnur für die Anwendung des Subsidiaritätsprinzips bekräftigt wird. Diese vermeintlich unscheinbare Bekräftigung stellt eine wesentliche Stärkung des Subsidiaritätsprinzips dar: Die Inhalte jenes Gesamtkonzepts – „Frucht“ – sind nämlich noch präziser und detaillierter als das, was – der gepresste „Saft“ dieser Vorlage – schlussendlich in die 13 Einzelziffern des Subsidiaritätsprotokolls (Amsterdam) aufgenommen wurde.289
279 Besonders deutlich z. B. Bergmann, Neuerungen des Amsterdamer Vertrags, S. 442, für den das Protokoll „…derart vage formuliert (ist), dass es kaum ernst genommen werden kann und in der Praxis wenig an der allgemeinen Missachtung des Subsidiaritätsprinzips ändern dürfte.“ 280 Bspw. das bereits angesprochene Verhältnis zwischen Ziffer 2 und Ziffer 3 in Bezug auf das Verhältnis des Subsidiaritätsprinzips zum acquis communautaire. 281 Kenntner, Das Subsidiaritätsprotokoll, S. 2875. Dort auch: „Der Versuch, die im Subsidiaritätsprotokoll festgelegten „Präzisierungen“ (…) operabel zu machen, ähnelt daher demjenigen, einen Pudding an die Wand zu nageln.“ 282 B/L/Lehr, Der Amsterdamer Vertrag, S. 214. 283 Vgl. z. B. Schönfelder/Silberberg, Der Vertrag von Amsterdam, S. 208. 284 B/L/Lehr, Der Amsterdamer Vertrag, S. 213. 285 Kenntner, Das Subsidiaritätsprotokoll, S. 2875. 286 Oppermann, Europarecht, S. 159. 287 B/L/Lehr, Der Amsterdamer Vertrag, S. 215. 288 Europäischer Rat von Edinburgh vom 11./12. Dezember 1992, Schlussfolgerungen des Vorsitzes, Anlage I – Gesamtkonzept für die Anwendung des Subsidiaritätsprinzips und des Artikels 3 b des Vertrags über die Europäische Union durch den Rat, Bulletin der Bundesregierung Nr. 140/S. 1277 vom 28. Dezember 1992; abgedruckt bei Merten (Hrsg.), Die Subsidiarität Europas, 2. Auflage (1994) und Hrbek (Hrsg.), Das Subsidiaritätsprinzip in der Europäischen Union – Bedeutung und Wirkung für ausgewählte Politikbereiche (1995). 289 Vgl. Stein, Die Europäische Union nach dem Vertrag von Amsterdam, S. 147; Calliess, Subsidiaritäts- und Solidaritätsprinzip, S. 65 f.
Kapitel 2
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Der Weg zum Vertrag über eine Verfassung für Europa Kap. 2: Der Weg zum Vertrag über eine Verfassung für Europa
I. Die Notwendigkeit einer Reform der Union I. Die Notwendigkeit einer Reform der Union
1. Die Debatte um eine Europäische Verfassung a) Das Vertragswerk als Verfassung? Schon Walter Hallstein benannte das Europäische Vertragswerk ohne Bedenken als Verfassung.1 Er sah – davon ausgehend, dass der Nationalstaat keineswegs die „einzige gültige Verwirklichung politischer Einheit“2 sei – Europa auf dem Wege zu einer Föderation, einem Bundesstaat,3 ein sich durch das gesamte Werk des bislang einzigen deutschen Kommissionspräsidenten ziehender, teilweise auch am konföderativen Vorbild der Vereinigten Staaten orientierender4 Gedanke. Diese Konzeption mag „revolutionär“ und von einer „beispiellosen Kühnheit“5 gewesen sein, sie hat sich jedenfalls nicht realisiert. Europa wurde kein Bundesstaat und wird dies wohl auch auf absehbare Zeit nicht werden,6 hat sich allerdings im Laufe der Jahrzehnte zu einem staatsnahen7 Gebilde integriert.8 Die fehlende Staatsqualität9 und das Legitimationsdefizit10 der Union werden als Argumente herangezogen, warum ihr primäres Gemeinschaftsrecht nicht als Verfassung bezeichnet werden kann. Dem kann nach formellen11 Gesichtspunkten gefolgt werden. Gemäß der definitorischen Darstellung von Martin Nettesheim, der fünf Merkmale als notwendige Bedingung für die Annahme einer Ver-
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Vgl. Hallstein, Die Europäische Gemeinschaft, S. 61 ff. Hallstein, Die Europäische Gemeinschaft, S. 13. 3 Hallstein, Die Europäische Gemeinschaft, S. 13; ders., Der unvollendete Bundesstaat, S. 7 ff. 4 Vgl. Kilian, Walter Hallstein und die Europäische Union, S. 47, auch wenn die Vereinigten Staaten freilich nicht als Bundesstaat in staatsrechtlichem Sinne zu qualifizieren sind. 5 Hallstein, Die Europäische Gemeinschaft, S. 61. 6 Dem stehen für die Bundesrepublik Deutschland bereits Art. 79 Abs. 3 GG i. V. m. Art. 20 Abs. 1 und 2 GG entgegen, vgl. hierzu das Karlsruher „Maastricht“-Urteil, BVerfGE 89, 155 ff. 7 Oppermann, Vom Nizza-Vertrag zum Europäischen Verfassungskonvent, S. 192. 8 Ausführlich Nettesheim, Die konsoziative Föderation, S. 1 ff.; Europa als System „sui generis“, Bußjäger, Föderale und konföderale Systeme im Vergleich, S. 3. 9 Vgl. P. Kirchhof, Der Verfassungsstaat und seine Mitgliedschaft in der EU, S. 212 f. 10 Grimm, Braucht Europa eine Verfassung?, S. 581 ff. 11 Oppermann, Vom Nizza-Vertrag zum Europäischen Verfassungskonvent, S. 192. 2
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Kap. 2: Der Weg zum Vertrag über eine Verfassung für Europa
fassung im normativen Sinne auflistet,12 fehlt es der Europäischen Union bereits an einem legitimatorischen Unterbau: Nur das Volk, Autor und Rechtsunterworfener zugleich, kann eine Verfassung geben.13 Ein die Rechtsordnung tragendes Europäisches Volk14 existiert freilich nicht:15 Daher kann es auch keine Verfassung normativer Art geben. Der Vorwurf von Jean-Paul Jacqué,16 diese Betrachtungsweise führe zum „Dilemma von der Henne und dem Ei“, im positiven Recht forme „die Verfassung das Volk zu einer rechtlichen Einheit“, geht fehl: Gegebenes Recht vermag nicht den zu definieren, der es gegeben hat, von dem es seine Legitimation herleitet. „Herren der Verträge“ sind und bleiben trotz aller Integrationsschritte weiterhin die Mitgliedstaaten.17 Peter Häberle geht freilich einen Schritt weiter, wenn er die Union, beruhend auf einem „Ensemble von Teilverfassungen“18, auf dem Weg vom „contract to status“ sieht und die Entwicklung einer spezifischen „europäischen Verfassungslehre“ fordert.19 Diese soll die „überkommenen Begriffe der sog. Allgemeinen Staatslehre“ in Bezug auf das Wesen Europas als „werdende Verfassungsgemeinschaft eigener Art“ überdenken.20 Die internationalisierende Dynamik,21 der sich die Staatenwelt, oder besser: die Welt der Staaten – 12
Nettesheim, Von der Verhandlungsdiplomatie zur internationalen Verfassungsordnung, S. 391. 13 Bubner, Was wird aus der Verfassung Europas?, S. 52. 14 Der Vertrag über eine Verfassung für Europa verleiht allerdings eine Unionsbürgerschaft, Art. I-10 Abs. 1 VVE. Hierzu instruktiv Nettesheim, Die Unionsbürgerschaft im Verfassungsentwurf, S. 428 ff.; vgl. auch ders., Die politische Gemeinschaft der Unionsbürger, S. 193 ff.; zum „europäischen Verständnis von Staatsbürgerschaft“ weiterführend Häberle, Europäische Verfassungslehre, S. 365 ff., der für eine Loslösung von den klassischen Begrifflichkeiten plädiert. 15 Siehe bspw. Kellerbauer, Von Maastricht bis Nizza, S. 65; Graf Vitzthum/Kämmerer, Bürgerbeteiligung vor Ort, S. 20. Kritisch Augustin, Das Volk der Europäischen Union, die im Ergebnis (vgl. S. 397) für einen Verzicht auf den Volksbegriff in rechtlichen Fragestellungen plädiert. 16 Jacqué, Der Vertrag über eine Verfassung für Europa, S. 554. 17 „Rechtsgrund und (…) Quelle der Legitimität für die Europäische Union“ ist die Staatsgewalt der Mitgliedstaaten, nicht eine „originär durch (…) eigene verfassunggebende Gewalt legitimierte Verfassung“, Badura, Das Konventsverfahren, S. 442 f. 18 Häberle, Konvergenzen und Divergenzen, S. 85, „wenn auch noch in der formalen Gestalt von paktierten „Verfassungsverträgen“.“ 19 Häberle, Europäische Verfassungslehre, S. 37. Siehe auch Hufeld, Europäische Verfassunggebung zwischen Völker- und Europarecht, S. 313 ff. 20 Häberle, Europäische Verfassungslehre, S. 37; siehe dazu auch ders., Europa als werdende Verfassungsgemeinschaft, S. 841, nach dessen Auffassung „…Europa bereits ein Ensemble von teils geschriebenen, teils ungeschriebenen Teilverfassungen (lebt)“ (kursive Hervorhebung im Original). Instruktiv auch Beck/Grande, Das kosmopolitische Europa, S. 81 ff., die ein von dem üblichen Gegensatz „Staatenbund-Bundesstaat“ losgelöstes Organisationsmodell für Europa entwickeln. 21 Zur europäischen Verflechtung des Staates auch vor dem Hintergrund des Verfassungsvertrags Graf Vitzthum, Der Staat der Staatengemeinschaft, S. 81 ff. – der Prozess der Internationalisierung lässt sich auch terminologisch fassen: Vgl. nur den Titel der 28 Jahre vor jener Abhandlung von Graf Vitzthum erschienenen Zusammenstellung von Beiträgen des Freiburger Staatsrechtslehrers Werner v. Simson, Der Staat und die Staatengemeinschaft (1978).
I. Die Notwendigkeit einer Reform der Union
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gewollt oder ungewollt – ausgesetzt sieht, mag Häberle dahingehend Recht geben, dass der Staat nicht mehr der „archimedische Punkt“ des Verfassungsdenkens22 ist und somit der Verfassungsbegriff seinerseits losgelöst von seiner „traditionellen Staatsfixiertheit“23 bestehen kann.24 Auch wenn man aber Peter Häberle und seiner „Expandierung des Verfassungsbegriffs“25 nicht so weit folgt: Im materiellen26, nicht im normativen27 Sinne stellt das primäre Gemeinschaftsrecht zweifelsohne ein rechtliches Grundstatut28 Europas dar. In diesem Sinne verstanden – man denke etwa an die „Verfassung der Völkerrechtsgemeinschaft“ (Alfred Verdross)29 – kennzeichnet der Verfassungsbegriff nicht mehr und nicht weniger als die oberste Grundordnung einer Organisation30, eines – nicht zwingend Staatsqualität besitzenden31 – Gemeinwesens (Konrad Hesse)32. So hat das Bundesverfassungsgericht dem EWG-Vertrag die Bezeichnung Verfassung gegeben, wenn auch einschränkend mit dem Präfix „gewissermaßen“.33 Auch der Europäische Gerichtshof versteht die Gemeinschaftsverträge als „Verfassungsurkunde“.34 Jener weite Verfassungsbegriff als Ausdruck der Verfasstheit der Union soll – unbefangen und ohne damit eine Staatlichkeit der Union zu reklamieren35 – auch den weiteren Ausführungen zugrunde
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Häberle, Konvergenzen und Divergenzen, S. 86. Häberle, Konvergenzen und Divergenzen, S. 85. 24 Vgl. Hänsch, Die Verfassung für die Europäische Union, S. 9: „Es ist unhistorisch und ungerecht, die EU-Verfassung an nationalstaatlichen Verfassungen (…) zu messen. Die Verfassung für Europa hat den Anspruch, daran gemessen zu werden, ob sie dazu taugt, dem Zusammenschluss von 25 Staaten und Völkern, die jahrhundertelang mit Raub und Krieg und Verwüstung übereinander hergefallen sind, die alle auf eine lange eigene Geschichte zurückblicken, die verschiedene Sprachen sprechen und von denen jeder seine Identität bewahren will, eine feste Grundlage zu geben.“ 25 Häberle, Konvergenzen und Divergenzen, S. 85. 26 Vgl. Oppermann, Vom Nizza-Vertrag zum Europäischen Verfassungskonvent, S. 192. 27 Nettesheim, Von der Verhandlungsdiplomatie zur internationalen Verfassungsordnung, S. 391. 28 Nettesheim, Von der Verhandlungsdiplomatie zur internationalen Verfassungsordnung, S. 391. 29 Verdross, Die Verfassung der Völkerrechtsgemeinschaft, unterscheidet im Vorwort seiner Arbeit drei Kategorien des Verfassungsbegriffs. Die „Verfassung der Völkerrechtsgemeinschaft“ gehört dabei zur zweiten Kategorie („Verfassung im materiellen Sinne“) und meint die Gesamtheit der Normen, welche „die Grundordnung einer Gemeinschaft regeln“. 30 Oppermann, Vom Nizza-Vertrag zum Europäischen Verfassungskonvent, S. 191; dazu auch Möstl, Verfassung für Europa, S. 19. 31 Vgl. Nettesheim, Die konsoziative Föderation, S. 25. 32 Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, S. 10. 33 BVerfGE 22, 293 (296). 34 EuGH, Gutachten 1/91, erstattet auf der Grundlage von Art. 228 Abs. 1 Unterabsatz 2 EWG-Vertrag, Slg. 1991, I-6079 (6080): „…(O)bwohl er in der Form einer völkerrechtlichen Übereinkunft geschlossen wurde, (stellt der EWG-Vertrag) nichtsdestoweniger die grundlegende Verfassungsurkunde einer Rechtsgemeinschaft dar.“ 35 Oppermann, Eine Verfassung für die Europäische Union, S. 1165 Fn. 1. 23
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Kap. 2: Der Weg zum Vertrag über eine Verfassung für Europa
liegen,36 auch wenn feststeht, dass Europa im Falle des Inkrafttretens des Verfassungsvertrags eine neue und beispiellose Integrationsstufe erreicht, welche das Überdenken der klassischen Kategorien erforderlich machen könnte.37 Das Rätsel der Staatsqualität des künftigen Europas ist indes nicht Thema dieser Arbeit.
b) Die Grundsatzrede von Joseph Fischer Am 12. Mai 2000 skizzierte Joseph Fischer in seiner Rede „Vom Staatenverbund zur Föderation – Gedanken über die Finalität der europäischen Integration“38 an der Humboldt-Universität in Berlin seine Vorstellungen – „als überzeugter Europäer und deutscher Parlamentarier“, nicht als Mitglied der Bundesregierung, deren Position vertretend – von der zukünftigen Gestalt Europas. Diese Rede fand national und international ein breites Echo, sowohl zustimmend, als auch kritisch.39 Fischer blickt darin weit nach vorne, über die „Fragen, die wir heute und morgen zu lösen haben“ hinweg, zu den „möglichen strategischen Perspektiven der europäischen Integration weit über das nächste Jahrzehnt und über die Regierungskonferenz hinaus.“ Die in der Rede aufgeworfenen Fragen und Probleme, zentraler Aspekt dabei die Bewahrung der Handlungsfähigkeit der Union angesichts ihrer bevorstehenden Erweiterung, führt der Außenamtschef auf „eine ganz einfache Antwort hin: den Übergang vom Staatenverbund der Union hin zur vollen Parlamentarisierung einer Europäischen Föderation (…) Diese Föderation wird sich auf einen Verfassungsvertrag zu gründen haben.“ Der Nationalstaat soll nach den Vorstellungen Fischers in dieser Föderation nicht untergehen, sich nicht auflösen wie ein Stück Zucker im Kaffee.40 Er visi36 Der „Vertrag über eine Verfassung für Europa“ versucht, diesen Spagat zwischen formeller Verfassung und materieller Verfasstheit mehr oder weniger gelungen terminologisch zu überbrücken. Zum Spannungsverhältnis zwischen Verfassungsvertrag und traditionellem Verfassungsbegriff Krisch, Die Vielheit der europäischen Verfassung, S. 61 ff. 37 Siehe dazu Bergmann, Staatswerdung durch Konstitutionalisierung?, S. 121 ff.; Sack, Die Staatswerdung Europas, S. 68, erkennt in der Annahme des Verfassungsvertrags einen „Akt der Staatswerdung“: Der Verfassungsvertrag verleihe eine Staatsbürgerschaft (in Art. I-10 des Verfassungsvertrags als Unionsbürgerschaft bezeichnet; dass mit dieser Vorschrift tatsächlich das staatskonstituierende Merkmal der Staatsbürgerschaft eingefügt werden sollte, ist freilich kaum anzunehmen), verfüge über ein Gebiet und übe hoheitliche Tätigkeit aus; daher könnten (Jörn Sack wendet hier die klassischen Staatsmerkmale Staatsvolk, Staatsgebiet und Staatsgewalt nach Georg Jellinek an, vgl. dazu u. a. Hailbronner, Der Staat und der Einzelne als Völkerrechtssubjekte, S. 175 ff.) „die konstitutiven Merkmale eines Staates nicht länger bestritten werden.“ 38 Die Rede von Fischer kann im Internet unter http://www.auswaertiges-amt.de/www/de/ infoservice/download/pdf/reden/2000/r000512a.pdf abgerufen werden. Zu Inhalt und Auswirkungen der Rede vgl. Hrbek, „Europäische Föderation“ durch „Verfassungsvertrag“, S. 35 ff. 39 Siehe dazu Große Hüttmann, Der Konvent zur Zukunft der Europäischen Union, S. 140 ff. 40 Diese Begrifflichkeit geht auf Charles de Gaulle zurück, der Ende der 50er Jahre Überlegungen zu einer großen Freihandelszone mit dem Argument entgegentrat, dann würde sich die Gemeinschaft in der FHZ auflösen wie ein Stück Zucker in einer Tasse Tee. Ferner benutzte
I. Die Notwendigkeit einer Reform der Union
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oniert eine „europäische Integration, (welche) die Nationalstaaten in eine (…) Föderation mitnimmt.“ Die Möglichkeit der Ablösung nationalstaatlicher Souveränität durch einen europäischen Bundesstaat verwirft Fischer als „synthetisches Konstrukt jenseits der gewachsenen europäischen Realitäten. Die Vollendung der europäischen Integration lässt sich erfolgreich nur denken, wenn dies auf der Grundlage einer Souveränitätsteilung von Europa und Nationalstaat geschieht.“ Was hinter dem Begriff der Subsidiarität stünde, „der gegenwärtig allenthalben diskutiert und von kaum jemandem verstanden wird“, sei genau ein solches System der Souveränitätsteilung von Europa und Nationalstaat. In dieser Föderation werde das Subsidiaritätsprinzip Verfassungsrang besitzen. Diese Beschreibung des Begriffes der Subsidiarität als eine „Souveränitätsteilung zwischen Europa und Nationalstaat“ ist freilich bei genauer Betrachtung nicht ganz korrekt. Das Subsidiaritätsprinzip ist – unabhängig davon, ob man es als irgendwie geartete Kompetenzregel oder nur als politisches Postulat begreift41 – nicht souveränitätsteilend, verschiedene Staatsgewalten schaffend. Vielmehr setzt es bereits die Existenz mehrerer Staatsgewalten voraus und betrifft deren Verhältnis zueinander. Es bezieht sich also nicht auf das ob einer Souveränitätsteilung, sondern auf das wie, mithin die Ausgestaltung eines vorhandenen Mehr„ebenen“systems. Der „Verfassungsvertrag“, welchen Joseph Fischer zur Souveränitätsteilung von Föderation und Nationalstaaten für erforderlich hält, ist mehr als der unbefangene Ausdruck der Verfasstheit einer zukünftigen Union; hier geht es in Richtung einer Verfassung in formellem Sinne und um die Reklamation einer Staatlichkeit für die Union.42 Zwar bezeichnet Fischer dieses europäische Modell nicht als Bundesstaat, sein begrifflicher Unterscheidungsversuch ist jedoch zweifelhaft: Jene unterstellte Ablösung nationalstaatlicher Souveränität durch einen europäischen Bundesstaat, welche die Souveränitätsteilung der Fischer-Föderation angeblich vermeidet, ereignet sich auch in einem Bundesstaat nicht: Souveränität ist keine Eigenschaft des Staates – Staatlichkeit besitzen beide „Ebenen“ des Bundesstaats43 in jedem Falle losgelöst von der Souveränitätsfrage –, sondern eine der Staatsgewalt; Souveränität der Staatsgewalt ist dann vorhanden, wenn sie sich von keiner anderen diese Wendung unter anderem der tschechische Staatspräsident Vaclav Klaus in einem Interview mit der französischen Zeitung „Le Figaro“, um seine Bedenken gegenüber einer europäischen Verfassung Ausdruck zu verleihen, zitiert nach Neue Züricher Zeitung, 16. Juli 2003, S. 5. Siehe bspw. auch Graf Vitzthum, Die Identität Europas, S. 3; ders., Der Staat der Staatengemeinschaft, S. 78. 41 Zu den verschiedenen Dimensionen des Subsidiaritätsprinzips vgl. die Ausführungen in der Einführung. 42 Zu den Begrifflichkeiten Oppermann, Eine Verfassung für die Europäische Union, S. 1165 Fn. 1. 43 BVerfGE 1, 14 (34); vgl. neben vielen Sommermann in v. Mangoldt/Klein/Starck, GG Kommentar, Art. 20 Rn. 26.
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Kap. 2: Der Weg zum Vertrag über eine Verfassung für Europa
Staatsgewalt herleitet.44 Die mitgliedstaatliche Souveränität wäre sowohl in einem europäischen Bundesstaat als auch in Joseph Fischers Föderationsmodell eine Eigenschaft eigener Staatsgewalt, die sich nicht auf durch eine andere Gewalt, also durch die europäische „Ebene“, gesetzte Ermächtigungsnormen stützt.45 Welches genaue Konstrukt Fischer mit dem Begriff der Föderation beschreiben möchte, bleibt unklar. Walter Hallstein verwendete die bei Joseph Fischer in Gegensatz gestellten Begriffe Bundesstaat und Föderation recht unterschiedslos.46 Falls der Terminus Föderation – der Außenamtschef bezieht sich dabei ausdrücklich auf Robert Schuman, der in seiner, vielfach als Geburtsurkunde der Europäischen Union angesehenen, Erklärung vom 9. Mai 195047 die Vision einer zur Friedenssicherung unerlässlichen europäischen Föderation verkündete und darunter die „Vereinigung der europäischen Nationen“ verstand48 – Assoziationen mit dem Schlagwort des Föderalismus erwecken will, wäre die von Fischer vorgenommene Konfrontation mit dem Bundesstaatsbegriff unglücklich; da diese beiden Begriff auf verschiedenen Ebenen angesiedelt sind, verbieten sich Gleichstellung wie Antagonismen. Falls Fischer freilich bei seinem Föderationsmodell kein föderalistisches Gefüge sondern etwas anderes49 im Sinn hatte, geht dies aus seinen Ausführungen nur vage hervor. Klar ist jedenfalls: Sobald im europäischen Kontext die Begriffe „föderal“ oder „Föderation“ fallen, löst dies bei vielen Europapolitikern „Irritation und Ablehnung“50 aus. Diese provozierende Wirkung dürfte Joseph Fischer einkalkuliert und beabsichtigt haben; nur so bestand die Chance, prominente Reaktionen zu erzielen und eine intensive Debatte über die zukünftige Gestalt der Union in die Wege zu leiten.51 Wer interessieren will, muss provozieren (Salvador Dali).
44 Grzeszick in Maunz/Dürig, Grundgesetzkommentar, Art. 20 [Die Verfassungsentscheidung für den Bundesstaat] Rn. 40. Zur Definition der Souveränität vgl. v. Simson, Die Souveränität, S. 24 ff. 45 Instruktiv Grzeszick in Maunz/Dürig, Grundgesetzkommentar, Art. 20 [Die Verfassungsentscheidung für den Bundesstaat] Rn. 37 ff. 46 Hallstein, Die Europäische Gemeinschaft, S. 13: „…in Europa (wird) eine Föderation angestrebt (…), ein Bundesstaat, nicht ein Einheitsstaat.“ 47 Die Erklärung des damaligen französischen Außenministers kann im Internet unter http:// europa.eu.int/abc/symbols/9-may/decl_de.htm abgerufen werden. 48 In diesem Zusammenhang muss auch auf Winston Churchills Züricher Rede vom 19. September 1946 hingewiesen werden, in welcher die Vision der „United States of Europe“ in Gestalt eines „federal system“ skizziert wird. Rede abrufbar bspw. unter http://www.europa-web. de/europa/02wwswww/202histo/churchil.htm. 49 Etwa ein staatenbundliches Modell, was abwegig ist, da es einen integrativen Rückschritt bezeichnen würde. Der gegenwärtige Rechtszustand der Gemeinschaft ist ein stärker integrierter als der eines Staatenbundes, vgl. daher auch die Bezeichnung „Staatenverbund“ in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, um die Quasi-Zwischenstufe zwischen Staatenbund und Bundesstaat terminologisch zu erfassen, BVerfGE 89, 155 ff.; diesbezüglich kann im Ergebnis auch für die Union nichts anderes gelten. 50 Hrbek, „Europäische Föderation“ durch „Verfassungsvertrag“, S. 35. 51 Hrbek, „Europäische Föderation“ durch „Verfassungsvertrag“, S. 35.
I. Die Notwendigkeit einer Reform der Union
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2. Der Vertrag von Nizza Am 14. Februar 2000 wurde in Brüssel eine Regierungskonferenz zur Reform der europäischen Verträge eröffnet. Ihre Arbeiten – Joseph Fischers Rede vom 12. Mai 2000 hatte zwischenzeitlich eine Reihe von Stellungnahmen europäischer Spitzenpolitiker,52 allen voran Frankreichs Staatspräsident Jacques Chirac und Großbritanniens Premierminister Tony Blair, nach sich gezogen53 und die Europadebatte in immer schnelleres Rollen gebracht – endeten mit der Vorlage eines Vertragsentwurfs an den im Dezember 2000 in Nizza zusammengekommenen Europäischen Rat. Er sollte eine Einigung über diejenigen Punkte erzielen, welche für die anstehende Erweiterung als unumgänglich angesehen wurden, insbesondere die sogenannten left-overs von Amsterdam 1997.54 Der auf dieser Grundlage am 26. Februar 2001 abgeschlossene und zum Jahresbeginn 2003 in Kraft getretene Vertrag von Nizza55 vermochte die Herausforderungen allerdings nicht zufriedenstellend zu bewältigen.56 Europa war mit dem Umstand konfrontiert, dass seine Gestalt und Gestaltung, seine Institutionen und Verfahren der politischen Entwicklung hinterherhinkten: Während die Entscheidungsverfahren – ursprünglich für eine Gemeinschaft von 6 Staaten konzipiert – schon im gegenwärtigen Europa nicht mehr hinreichend funktionierten, stand die Union gleichzeitig vor der größten Erweiterungsrunde ihrer Geschichte.57 Die Instrumentarien bedurften der Vereinfachung, das institutionelle Gefüge litt nicht nur an demokratischen Defiziten, es war zudem auch ineffektiv: zu viele Kompromisse, zu viele Partikularinteressen. Das Gemeinschaftsrecht war immer mehr ausgeufert; die Vielzahl an Verträgen, Protokollen und Erklärungen selbst für Spezialisten schwerlich überschaubar, für den Bürger freilich sich darstellend als fürchterliche Grundordnung, als Konglomerat, von dem er sich mit Grausen abwand.58 Das Subsidiaritätsprinzip, spätestens seit Maastricht als Modewort in aller Munde,59 war zwar schon ein Jahrzehnt im Gemeinschaftsrecht verankert und hatte gewisse Präzisierungen und Konkretisierungen durch Gemeinschaftsdokumente, Urteile des Gerichtshofes, politische Reden sowie wissenschaftliche Abhandlungen erhalten. In der europäischen Wirklichkeit war es 52
Vgl. Große Hüttmann, Der Konvent zur Zukunft der Europäischen Union, S. 140 ff. Zu den Reaktionen auf die Rede Fischers siehe Hrbek, „Europäische Föderation“ durch „Verfassungsvertrag“, S. 38 ff. 54 Vgl. Große Hüttmann, Der Konvent zur Zukunft der Europäischen Union, S. 143: Zu diesen left-overs gehörten die Themenbereiche „Stimmengewichtung“, „Ausweitung von Mehrheitsentscheidungen im Rat“ sowie „Zusammensetzung und Größe der Kommission“. 55 Vertrag von Nizza zur Änderung des Vertrags über die Europäische Union, der Verträge zur Gründung der Europäischen Gemeinschaften sowie einiger damit zusammenhängender Rechtsakte vom 26. Februar 2001, BGBl. 2001 II S. 1667. 56 Vgl. Brok, Die Ergebnisse von Nizza, S. 87. 57 Giscard d’Estaing, Europa im Aufwind, S. 23. 58 Oppermann, Vom Nizza-Vertrag zum Europäischen Verfassungskonvent, S. 193. 59 Vgl. Heberlein, Subsidiarität und kommunale Selbstverwaltung, S. 1052. 53
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als starker und wirkungsvoller Grundsatz indes noch nicht angekommen, hatte in Brüssel nicht zu einem Denken von unten nach oben60 geführt. Die Probleme, an denen Europa litt, waren so einfach zu benennen wie schwer zu lösen: Demokratiedefizit, Legitimationsprobleme, Identifikationsprobleme, Integrationsprobleme, Effizienzprobleme, Informationsprobleme.61 Freilich bewirkte Nizza eine Reihe von Schritten in die richtige Richtung: So bspw. die Abschaffung nationaler Vetorechte, also der Übergang zu Mehrheitsentscheidungen in wichtigen Themenbereichen, teilweise sofort, teilweise erst künftig. Unter dem Blickwinkel der Integrationsförderung war dies gewiss eine sinnreiche Maßnahme.62 Auch die Deckelung der Anzahl der Kommissare – einhergehend mit dem Verzicht der größeren Mitgliedstaaten auf einen zweiten Kommissar – war nach Effektivitätsgesichtspunkten zu begrüßen; im Ansatz zutreffend war ferner der Versuch, über eine Neuordnung der Stimmengewichtung im Ministerrat vor dem Hintergrund der anstehenden Erweiterung ein ausgewogeneres Verhältnis zwischen der Anzahl der Stimmen eines Landes und seiner Bevölkerungsgröße zu erzielen;63 gleiches gilt für die neu austarierte Zusammensetzung des Europäischen Parlaments. Ebenfalls zu den positiven Akzenten des Vertrags von Nizza gehörte gewiss die Ausweitung des durch den Amsterdamer Vertrag eingeführten Instrumentes der Verstärkten Zusammenarbeit, vor allem auf dem Sektor der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik. In Anbetracht der unmittelbar bevorstehenden Erweiterung – die Beitrittstaaten standen ja schon an der Türschwelle des Europäischen Hauses – waren diese Ergebnisse jedoch halbherzig und von eher homöopathischem Charakter. Der Vertrag war defizitär „bevor die Tinte der Unterzeichner getrocknet war“.64 Die Verhandlungen erwiesen sich als zu sehr geprägt von gegenseitiger Blockade, nationalen Egoismen, Konfliktszenarien zwischen großen und kleinen Mitgliedstaaten sowie innenpolitischen Lähmungen65. Ergebnisse entstanden nach in „Nächten der langen Messer“ kulminierenden Verhandlungsmarathons und erwiesen sich häufig als Produkt „fast schon mutwillig herbeigeführter Ermüdungserscheinungen der Staats- und Regierungschefs“.66 Die Vertragsfortbildung durch die Mitgliedstaaten, die klassisch-völkerrechtliche Methode, war an ihre Grenzen gelangt.67 60
So die – freilich „überladende“ – Subsidiaritätsdefinition des baden-württembergischen Ministerpräsidenten Teufel, vgl. seine Rede bei der öffentlichen Anhörung des Ständigen Ausschusses des Landtags von Baden-Württemberg am 15. November 2002 zum „Konvent zur Zukunft Europas“, im Internet abrufbar unter http://www3.landtag-bw.de/wP13/Drucksachen/ 1000/13_1572_d.pdf. 61 Vgl. Müller, Mut zur Staatlichkeit, S. 75. 62 Vgl. Pleuger, Der Vertrag von Nizza, S. 1. 63 Pleuger, Der Vertrag von Nizza, S. 2. 64 Weidenfeld, Europa eine zuverlässige Ordnung geben, S. 15. 65 Vgl. Hänsch, Maximum des Erreichbaren – Minimum des Notwendigen?, S. 94; Bergmann, Der EU-Vertrag von Nizza, S. 307. 66 Wessels, Der Konvent, S. 85. 67 Oppermann, Eine Verfassung für die Europäische Union, S. 1165.
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Resultat der Kompromisszwänge in den Verhandlungen war der von ständiger Inkonsequenz geprägte Charakter des Vertrags: gute Ansätze wurden mit einschränkenden Regelungen aufgeweicht und relativiert, durch das gesamte Vertragswerk zieht sich der Zwiespalt wie ein roter Faden.68 In einer anderen Situation wäre das nicht prekär gewesen, der Weg der kleinen pragmatischen Schritte, die „Methode Monnet“,69 hätte vielmehr zu einer steten Verbesserung in späteren Folgekonferenzen geführt. Hier jedoch hing das Damoklesschwert Erweiterung über der Union, das einer solchen üblich-langsamen Vertragsfortbildung eine unerbittliche Frist setzte. Der Grund für diesen Zeitdruck war freilich hausgemacht, nicht etwa ein struktureller Fehler der „Methode Monnet“; vielmehr hatten die Staats- und Regierungschefs den bewährten Weg der kleinen Schritte durch ihre ungestümen, dem vermeintlichen politischen Zeitgeist angepassten Erweiterungsbeschlüsse selbst und aus freien Stücken verlassen, ohne sich um die dadurch erforderlich gewordenen Änderungen des Bauplans des europäischen Hauses allzu vertiefte Gedanken zu machen.70 Für eine der beschlossenen Erweiterungsrealität angemessene Reform des Gemeinschaftsrechts waren die Mitgliedstaaten der Union zu diesem Zeitpunkt noch nicht bereit. In der Gesamtbewertung zutreffend bezeichnet Klaus Hänsch daher den Vertrag von Nizza zwar nicht als „Rückschritt“, wohl aber als „weniger als das Minimum des Notwendigen“, ungeeignet, „auch nur einer der kommenden Herausforderungen gerecht zu werden.“71 Zwei Ergebnisse von Nizza verdienen allerdings besonders hervorgehoben zu werden: Zum einen die feierliche Proklamation der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, welche ein 1999 eingesetzter Konvent unter Vorsitz des Altbundespräsidenten Roman Herzog erarbeitet hatte.72 In dem Konvent waren neben den Beauftragten der Staats- und Regierungschefs auch Kommissionsvertreter, Mitglieder des Europäischen Parlaments sowie Abgeordnete der nationalen Parlamente der Mitgliedstaaten vertreten. Dem Konventsentwurf stimmte der Europäische Rat von Biarritz (13./14. Oktober 2000) einstimmig zu und übermittelte ihn dem Europäischen Parlament und der Kommission. Das Europäische Parlament billigte den Entwurf am 14. November 2000, die Kommission am 6. Dezem68
Wiedmann, der Vertrag von Nizza, S. 212. Graf Vitzthum, Die Identität Europas, S. 16. 70 Der Irrweg eines solchen stürmischen, den „Fisch ertränkenden Angelns“ (Graf Vitzthum, Die Identität Europas, S. 16) wurde spätestens bei den Referenden in Frankreich und den Niederlanden offenkundig, als in diesen Mitgliedstaaten eine Ratifikation des Verfassungsvertrags verhindert wurde. Leider kam dieser Tritt auf die Bremse nicht nur zu spät, er bremste auch das einzig vorhandene Gefährt, welches die hektisch erbaute europäische Straße künftig hätte befahren können. 71 Hänsch, Maximum des Erreichbaren – Minimum des Notwendigen?, S. 94. 72 Charta der Grundrechte der Europäischen Union vom 7. Dezember 2000, Abl. EG Nr. C 463/1 S. 1 vom 18. Dezember 2000. 69
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ber 2000. Am 7. Dezember 2000 unterzeichneten und proklamierten in Nizza die Präsidentin des Europäischen Parlaments, der Präsident des Rates und der Präsident der Kommission die Charta im Namen ihrer jeweiligen Institutionen. Damit wurde erstmalig auf europäischer Ebene ein Normgebungsprozess außerhalb des klassisch-gouvernementalen Verfahrens in Gang gesetzt. Eine Einbeziehung der Grundrechtecharta in die Gemeinschaftsverträge erfolgte allerdings nicht.73 Auch ist die Begeisterung der Bürger in Europa über die Charta eher verhalten geblieben.74 Dennoch stellen die Grundrechte der Charta als Ausdruck der gemeinsamen Wertanschauungen der Bürger und Symbol europäischen Bürgersinns75 einen ersten Schritt in Richtung europäischer Identitätsstiftung76 und Akzeptanzvermittlung der als fern empfundenen Union dar. Zweitens und insbesondere muss die Nizzaer „Erklärung zur Zukunft der Union“ genannt werden.77 Darin wurde – abermals, wie beim Konvent zur Erarbeitung der Grundrechtecharta, eine Abkehr vom völkerrechtlichen Vertragsänderungsverfahren78 – eine „umfassende Debatte“ zur Zukunft Europas mit „allen interessierten Parteien“ gefordert: „Vertreter der nationalen Parlamente und der Öffentlichkeit insgesamt, das heißt Vertreter aus Politik, Wirtschaft und (…) Hochschulbereich, Vertreter der Zivilgesellschaft usw.“; ebenfalls einzubeziehen seien die Bewerberstaaten.79 Der durch die Erklärung ins Leben gerufene sogenannte Post-Nizza-Prozess sollte nach dem Willen der Mitgliedstaaten der nächsten Regierungskonferenz, die sich mit den erörterten Fragestellungen in Bezug auf die Erforderlichkeit der Vornahme etwaiger Vertragsänderungen befassen würde, vorangehen80 und ihr die entsprechenden Impulse geben. Dabei sollte unter anderem erörtert werden, „wie eine genauere, dem Subsidiaritätsprinzip entsprechende Abgrenzung der Zuständigkeiten zwischen der Europäischen Union und den Mitgliedstaaten geschaffen und ihre Einhaltung überwacht werden kann“;81 ferner „eine Vereinfachung der Verträge, mit dem Ziel, diese klarer und verständlicher zu machen, ohne sie inhaltlich zu ändern“,82 sowie „die Rolle der nationalen Parlamente in der Architektur Europas“.83 Durch diese Themenstellung werde anerkannt, „dass die demokratische Legitimation und die Transparenz der Union und 73
Huber, Recht der Europäischen Integration, S. 25. Dies ist erst im Vertrag über eine Verfassung für Europa realisiert worden, dessen Zweiter Teil die Grundrechtecharta inkorporiert hat. 74 Pache, Die Europäische Grundrechtscharta, S. 476. 75 Nettesheim, Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union, S. 42 f. 76 Vgl. Graf Vitzthum, Die Identität Europas, S. 8 f. 77 23. Erklärung zur Schlussakte der Konferenz von Nizza mit Erklärungen („Erklärung für die Schlussakte der Konferenz zur Zukunft der Union“) vom 26. Februar 2001, im Internet abrufbar unter http://europa.eu.int/constitution/futurum/documents/offtext/declaration_de.pdf. 78 Oppermann, Vom Nizza-Vertrag zum Europäischen Verfassungskonvent, S. 3. 79 Ziffer 3 der Erklärung. 80 Ziffer 7 der Erklärung. 81 Ziffer 5 Spiegelstrich 1 der Erklärung. 82 Ziffer 5 Spiegelstrich 3 der Erklärung. 83 Ziffer 5 Spiegelstrich 4 der Erklärung.
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ihrer Organe verbessert und dauerhaft gesichert werden müssen, um diese den Bürgern der Mitgliedstaaten näher zu bringen.“84 Dieses Selbsteingeständnis der Notwendigkeit weiterer Reformen,85 zumal verbunden mit einer Eingrenzung auf die wichtigsten Themenfelder, also einem recht eindeutigen Handlungsauftrag, ist ein Posten, welcher gewiss auf der Haben-Seite des Gipfels von Nizza gebucht werden muss.
3. Die Erklärung von Laeken Die Erklärung des Europäischen Rates von Laeken86 vom 15. Dezember 2001 zur Zukunft der Europäischen Union formulierte die Diskussionsergebnisse des Post-Nizza-Prozesses in einem ausführlichen zusammenfassenden Text,87 der auch die in der Erklärung der Regierungskonferenz von Nizza zur Zukunft der Union niedergelegten Aufgaben aufgriff und näher ausführte.88 Unter den zentralen Überlegungen betreffend die „Herausforderungen und Reformen in einer erneuerten Union“ wird an erster Stelle der programmatische Leitsatz aufgestellt, dass die Union „transparenter, demokratischer und effizienter“ werden müsse. Darunter werden drei „grundlegende Herausforderungen“ der Union genannt: Erstens, wie den Bürgern „das europäische Projekt und die (…) Organe näher gebracht werden (können)“; zweitens, wie „das politische Leben und der (…) politische Raum in einer erweiterten Union zu strukturieren (sind)“; drittens, wie „die Union zu einem Stabilitätsfaktor und zu einem Vorbild in der neuen multipolaren Welt werden (kann)“. Die Antworten auf diese Herausforderungen werden danach in mehreren Punkten dargestellt, welche den inhaltlichen Kern der Erklärung von Laeken bilden: Zum einen wird die bereits als Leitsatz beschriebene Forderung konkretisiert, die Union müsse demokratischer, transparenter und effizienter werden. In diesem Zusammenhang werden unter anderem Fragen der Legitimation der Gemeinschaftsorgane aufgeworfen. Als weiterer Punkt wird eine Vereinfachung der Instrumente der Union gefordert. An erster Stelle des Katalogs aber steht das Postulat der verbesserten Aufteilung und Festlegung der Zuständigkeiten in der Europäischen Union. Ausgangspunkt der Erörterungen ist hier der Bürger, der einerseits Erwartungen in die Union setze, die diese nicht erfülle, andererseits jedoch den Eindruck habe, dass Europa auf Gebieten agiere, wo dies nicht unbedingt notwendig sei. Daraus resultiere die Notwendigkeit, das Zuständigkeitssystem zu verdeutlichen, zu verein84
Ziffer 6 der Erklärung. Vgl. Schwarze, Europäische Verfassungsperspektiven nach Nizza, S. 993. 86 Erklärung von Laeken zur Zukunft der Europäischen Union, Anlage I zu den Schlussfolgerungen des Vorsitzes des Europäischen Rats (Laeken) vom 15. Dezember 2002; im Internet abrufbar unter http://europa.eu.int/constitution/futurum/documents/offtext/doc151201_de.htm. 87 Oppermann, Vom Nizza-Vertrag zum Europäischen Verfassungskonvent, S. 195. 88 Oppermann, Eine Verfassung für die Europäische Union, S. 1166. 85
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fachen und den neuen Herausforderungen anzupassen. Dies wiederum erfordere, dass manche Aufgaben an die Mitgliedstaaten zurückübertragen, andere hingegen auf die Union verlagert werden müssten; hierbei sei stets die Gleichheit der Mitgliedstaaten und ihre gegenseitige Solidarität zu berücksichtigen.89 Die aufgeführte Möglichkeit der Anpassung des Zuständigkeitssystems in beide Richtungen schlägt unter Subsidiaritätsgesichtspunkten einen inhaltlichen Bogen zu Ziffer 3 des Subsidiaritätsprotokolls des Amsterdamer Vertrags, wonach das Subsidiaritätsprinzip als dynamisches Konzept Befugnisse sowohl zu erweitern als auch einzuschränken vermag; bei dieser Deutung ist freilich der Charakter des Prinzips als Kompetenzausübungsregel zu berücksichtigen: Das Subsidiaritätsprinzip vermag also nicht auf der ersten Erörterungsstufe eine abstrakte Zuständigkeit zu gewähren bzw. wegzunehmen; seine Aufgabe ist vielmehr, auf der zweiten Stufe die konkrete Ausübungsbefugnis in Bezug auf eine bestehende Zuständigkeit zu gestatten bzw. zu verbieten. Ausdrücklich genannt in der Erklärung ist das Subsidiaritätsprinzip nicht im Zusammenhang mit den Ausführungen zur erforderlichen Neuordnung des Zuständigkeitssystems; dies lässt sich mit seinem Charakter als Kompetenzausübungsregel erklären. Das Prinzip wird demzufolge nicht bei der Auflistung einzelner Punkte zur Neuordnung der Zuständigkeiten erwähnt; eine dortige Verortung würde nur Sinn machen, wenn man das Subsidiaritätsprinzip – neben seinem oder anstelle seines Charakters als Kompetenzausübungsregel – als politisches Postulat90 sieht, dessen Inhalt es ist, möglichst umfangreiche Zuständigkeiten auf den mitgliedstaatlichen Ebenen zu belassen oder dorthin wieder zu übertragen. Genannt wird das Subsidiaritätsprinzip bei dem Fragenkomplex, wie die vorzunehmende Zuständigkeitsaufteilung transparenter gestaltet werden kann. Diese Verortung ist keineswegs selbsterklärend und bedarf inhaltlicher Prüfung: Zum Erreichen des Ziels größerer Transparenz werden mehrere als Fragen formulierte Einzelpunkte aufgelistet: „Können wir (…) eine deutlichere Unterscheidung zwischen drei Arten von Zuständigkeiten vornehmen (…)? Auf welcher Ebene werden die Zuständigkeiten am effizientesten wahrgenommen? Wie soll dabei das Subsidiaritätsprinzip angewandt werden? Und sollte nicht deutlicher formuliert werden, dass jede Zuständigkeit, die der Union nicht durch die Verträge übertragen worden ist, in den ausschließlichen Zuständigkeitsbereich der Mitgliedstaaten gehört?“ Der letzte Aspekt hat zweifellos – auch was das System des als Aneinanderreihung einzelner Fragestellungen formulierten Textes angeht – nichts mit dem als Kompetenzausübungsregel verstandenen Subsidiaritätsprinzip zu tun, sondern betrifft vielmehr die Frage nach einer präziseren und schärferen Formu89 Grundlegend zum Verhältnis von Subsidiarität und Solidarität Calliess, Subsidiaritätsund Solidaritätsprinzip, S. 185 ff. 90 Oder auch als Kompetenzverteilungsregel, was jedoch weder mit dem Inhalt von Art. 5 Abs. 2 (ex-Art. 3 b Abs. 2) EGV noch mit der entsprechenden Regel im Verfassungsvertrag (dazu später) konform geht.
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lierung des Prinzips der begrenzten Einzelermächtigung. Nicht einwandfrei hingegen geht aus der Erklärung hervor, ob das Subsidiaritätsprinzip auch bei der ersten Frage betreffend die deutlichere Unterscheidung der Zuständigkeiten Anwendung finden soll. Dies dürfte aber zu verneinen sein: Eine verdeutlichende Funktion in Bezug auf die Abgrenzung der drei Zuständigkeitsarten voneinander kann dem Subsidiaritätsprinzip wohl kaum beigemessen werden. Bleibt also das in der zweiten Frage niedergelegte Postulat nach möglichst effizienter Zuständigkeitswahrnehmung, auf welches das Subsidiaritätsprinzip Anwendung finden soll. Damit gebraucht die Erklärung zur Zukunft der Union das Subsidiaritätsprinzip allein in seiner effizienzorientierten Ausformung (Kriterium der Effizienz-Optimierung); seine andere Ausprägung, das Insuffizienz-Kriterium, findet hingegen keine Erwähnung. Diese Einseitigkeit verwirrt ein wenig, da das Subsidiaritätsprinzip in Art. 5 Abs. 2 (ex-Art. 3 b Abs. 2) EGV, ausdrücklich bekräftigt durch das Subsidiaritätsprotokoll des Amsterdamer Vertrages,91 von dem Erfordernis des kumulativen Vorliegens beider Kriterien ausgeht. Dass diese Formulierung allerdings Ausdruck der – zumindest überholten – Bewertung des gemeinschaftsrechtlichen Subsidiaritätsprinzips als reines Effizienzprinzip ist, kann mit Fug und Recht bezweifelt werden. Die Erklärung von Laeken will hier gewiss nicht auf den Stand des für die Maastrichter Konferenz vorbereiteten luxemburgisch-niederländischen Vertragsentwurfs zurückfallen, in welchem eine allein auf das Kriterium der Effizienz-Optimierung zugeschnittene Subsidiaritätsklausel vorgeschlagen wurde,92 ein Konzept, welches sich insbesondere wegen des Engagements der Bundesrepublik Deutschland für eine kumulative Aufnahme des Insuffizienz-Kriteriums und des Kriteriums der Effizienz-Optimierung93 nicht realisiert hat. Der Beigeschmack einer zumindest missverständlichen Aussage verbleibt dem Text der Erklärung jedoch. Das Subsidiaritätsprinzip findet nochmalige Erwähnung unter der dritten Leitforderung der Erklärung, nämlich dem Postulat nach mehr Demokratie, Transparenz und Effizienz. Dort wird es in Zusammenhang mit der Frage der demokratischen Legitimation bei der Rolle der nationalen Parlamente verortet. Es wird erwogen, ob die nationalen Parlamente die Möglichkeit bekommen sollen, „vorab die Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips (zu) kontrollieren.“ Diese diskutierte verfahrensbezogene Stärkung des Subsidiaritätsprinzips hat sich schlussendlich durch die Einführung des Frühwarnsystems und der Subsidiaritätsklage, niedergelegt im Protokoll über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und 91
Siehe dazu Kapitel 1 III. „In den Bereichen, die nicht in ihre ausschließliche Zuständigkeit fallen, wird die Gemeinschaft nach dem Subsidiaritätsprinzip nur tätig, sofern und soweit diese Ziele wegen des Umfangs oder der Wirkung der in Betracht gezogenen Maßnahmen besser auf Gemeinschaftsebene als auf Ebene der einzelnen handelnden Mitgliedstaaten erreicht werden können“, vgl. Calliess, Subsidiaritäts- und Solidaritätsprinzip, S. 67, mit Abdruck der Bestimmung des Entwurfstextes. 93 Hach, Das Subsidiaritätsprinzip aus der Perspektive der Bundesregierung, S. 18; Calliess, Subsidiaritäts- und Solidaritätsprinzip, S. 67. 92
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der Verhältnismäßigkeit94, realisiert.95 Am Ende des Fragenkatalogs wird schließlich die Möglichkeit der Schaffung einer „Verfassung für die europäischen Bürger“ thematisiert. Dabei wird zunächst das bestehende Vertragsrecht auf eine vereinfachende Neuordnung hin überprüft: Zur Diskussion gestellt ist dabei sowohl die Unterscheidung zwischen Union und Gemeinschaften als auch die bestehende Säulenstruktur. In einem zweiten Schritt bringt die Erklärung eine mögliche Neuordnung der Verträge ins Spiel, so die eventuelle Aufspaltung in einen Basisvertrag und weitere Vertragsbestimmungen, was Auswirkungen auf das jeweilige Ratifikations- und Änderungsverfahren haben könnte. Ein weiterer Denkschritt sind die Fragen nach der Aufnahme der Grundrechtecharta in den Basisvertrag sowie dem Beitritt der Europäischen Gemeinschaft96 zur EMRK97. Aufbauend auf diesen Anregungen stellt sich „die Frage, ob diese Vereinfachung und Neuordnung nicht letztlich dazu führen sollte, dass in der Union ein Verfassungstext angenommen wird. Welches sollten die Kernbestandteile einer solchen Verfassung sein? Die Werte, für die die Union eintritt, die Grundrechte und -pflichten der Bürger, das Verhältnis zwischen den Mitgliedstaaten in der Union?“ Die Bedeutung der Erklärung von Laeken liegt allerdings nicht allein in den dargestellten Überlegungen zur Gestaltung des künftigen Europas. Ein wichtiger Sprung nach vorne findet sich gerade auch in ihrem letzten Teil: Der Schwächen intergouvernementaler Vertragsfortbildung bewusst, zuletzt an der Genese des Vertrags von Nizza offenkundig geworden, vollzieht die Erklärung hier eine entscheidende Wende in der Integrationspolitik.98 In Anbetracht des Erfolgs des Grundrechtekonvents soll die Tagesordnung zum zukünftigen Europa nicht mehr allein von einer Regierungskonferenz hinter verschlossenen Türen inhaltlich durchgearbeitet werden; vielmehr sind für die nächste Konferenz die europäische Öffentlichkeit, das Parlament und die Kommission stärker einzubeziehen als noch in Nizza:99 „Im Hinblick auf eine möglichst umfassende und möglichst transparente Vorbereitung der nächsten Regierungskonferenz hat der Europäische Rat beschlossen, einen Konvent einzuberufen, dem die Hauptakteure der Debatte über die Zukunft der Union angehören. Im Lichte der vorstehenden Ausführungen fällt diesem Konvent die Aufgabe zu, die wesentlichen Fragen zu prüfen, welche die künftige Entwicklung der Union aufwirft, und sich um verschiedene mögliche 94
Protokoll Nr. 2 zum Vertrag über eine Verfassung für Europa. Vgl. Kapitel 3 III. 96 Nach Art. I-9 Abs. 2 VVE tritt freilich die Union der EMRK bei, da in der Folge von Art. IV-438 Abs. 1 VVE die Gemeinschaft als eigenständige Rechtspersönlichkeit erlischt, vgl. Streinz/Ohler/Herrmann, Die neue Verfassung für Europa, S. 33. Was genau unter der Formulierung „tritt (…) bei“ des Verfassungsvertrags zu verstehen ist – Auftrag, Verpflichtung, Möglichkeit? – wird sich zukünftig zeigen. 97 Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. November 1950, BGBl. 1952 II S. 685, 953 in der Fassung der Bekanntmachung vom 17. Mai 2002, BGBl. 2002 II S. 1055; letzte Änderung vom 13. Mai 2004, BGBl. 2006 II S. 138. 98 Große Hüttmann, Der Konvent zur Zukunft der Europäischen Union, S. 144. 99 Pache/Schorkopf, Der Vertrag von Nizza, S. 1386. 95
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Antworten zu bemühen.“ Die vom Konvent100 diskutierten Fragen sollen in einem Abschlussdokument niedergelegt werden. Dieses soll Optionen aufzeigen und – im Konsensfall – Empfehlungen aussprechen. In Verbindung mit dem Erörterungsauftrag betreffend eine Europäische Verfassung wurde also dem Konvent „in etwas verschämter Form“101 die „beiläufige Einladung“102 ausgesprochen, eigenständig einen solchen Vertragsentwurf auszuarbeiten. Dass der Konvent tatsächlich nach 18 Monaten intensiver Arbeit einen fertigen Vertragsentwurf für eine Verfassung für Europa vorlegen würde, hätte zu diesem Zeitpunkt freilich niemand geahnt.103 Das Reformprojekt Europa wurde also unter einer doppelten Abkehr vom Prinzip der – alleinigen – intergouvernementalen Vertragsfortbildung angegangen. Den ersten Schritt stellte dabei bereits der durch die Erklärung von Nizza eingeleitete Post-Nizza-Prozess dar, welcher zu einer Ideensammlung in breitem Spektrum führte. Darauf baute, konkretisierend und weiterentwickelnd, die Erklärung von Laeken auf, indem sie dieser neuen Methode durch Einberufung des Konvents zur Zukunft Europas eine institutionelle und schlagkräftige Ausformung verlieh. Ein offiziell von den Regierungen der Mitgliedstaaten eingesetztes Gremium, mit der Vorbereitung einer Verfassung beauftragt, diese Konstruktion stellte in der Tat eine nie gekannte Herausforderung in rechtlicher wie politischer Hinsicht dar.104
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Neben dem von Roman Herzog geleiteten Grundrechtekonvent stellt auch der Verfassungskonvent von Philadelphia aus dem Jahre 1787 in gewisser Weise ein Vorbild für den Konvent zur Zukunft Europas dar; auch dort gab es ein als unbefriedigend erachtetes Regelwerk, das von neuen Verfassungsregeln abgelöst werden sollte, die in einem Gremium von Vertretern der Mitgliedstaaten der Konföderation unter Vorsitz von George Washington erarbeitet wurden; geht man ins Detail, stößt der Vergleich beider Konvente indes recht bald an inhaltliche Grenzen, Müller, Mut zur Staatlichkeit, S. 73. 101 Oppermann, Eine Verfassung für die Europäische Union, S. 1166. 102 Papier, Die Neuordnung der Europäischen Union, S. 753. 103 Vgl. Brok, Der Konvent – Bewertungen und Perspektiven, S. 420; Große Hüttmann, Der Konvent zur Zukunft der Europäischen Union, S. 137. 104 Oppermann, Vom Nizza-Vertrag zum Europäischen Verfassungskonvent, S. 198; Schäuble, Zukunftsperspektiven für die kommunale Selbstverwaltung, S. 89. Oppermann bezeichnet den Konvent gar als verfassunggebendes Gremium, Schäuble spricht von einer Art von verfassungsgebendem Gremium. Ob diese Terminologie den Konvent dogmatisch präzise erfasst, ist zweifelhaft: Schließlich verblieb auch beim Verfassungsvertrag die Beschlusszuständigkeit bei den Mitgliedstaaten, von der Ratifikationsnotwendigkeit in den Mitgliedstaaten ganz zu schweigen. Statt Verfassungsgebung sollte dem Konvent daher besser eine verfassungsvorbereitende Tätigkeit beigemessen werden. Die Außergewöhnlichkeit der Konstruktion sowie die Leistungen des Konvents werden hierdurch in keiner Weise geschmälert.
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4. Der Lamassoure-Bericht Fast genau 5 Monate nach der Erklärung von Laeken nahm das Europäische Parlament in der Sitzung vom 16. Mai 2002 den Lamassoure-Bericht zur Abgrenzung der Zuständigkeiten zwischen der Union und den Mitgliedstaaten105 an. In diesem recht umfangreichen Dokument, das der Arbeit des Konvents zur Zukunft Europas fruchtbare Impulse lieferte, wird das bestehende Zuständigkeitssystem kritisch analysiert; aufbauend auf dieser Befundnahme werden Empfehlungen für die Erneuerung und Verbesserung dieses Systems ausgesprochen. Die Entschließung geht dabei auch auf das Subsidiaritätsprinzip und die Notwendigkeit der Verbesserung seiner Operationalisierung und der Erhöhung seiner Effektivität ein. Der Text führt aus, „dass die mit dem Vertrag von Maastricht eingeführten und im Vertrag von Amsterdam präzisierten Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit noch nicht erlaubt haben, im konkreten Fall die jeweilige Rolle der Union und der Mitgliedstaaten klarzustellen“.106 Ferner erwägt er, dass „die Union nur über zugewiesene Zuständigkeiten verfügen darf, die gemäß den Grundsätzen der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit in der Verfassung definiert sind“.107 Letztere Aussage betreffend die Niederlegung des Subsidiaritätsund Zuständigkeitssystems in der – gemeint ist die künftige – Verfassung ist freilich etwas missverständlich, wenn man von dem als Kompetenzausübungsregel formulierten Subsidiaritätsprinzip des bisherigen Gemeinschaftsrechts ausgeht. Genauso nicht präzise nachvollziehbar ist die nächste Erwägung des Parlaments, wonach sich „in den meisten Mitgliedstaaten oder Organen mit föderalem Charakter die ausschließlichen Zuständigkeiten, die entweder auf Gemeinschaftsebene oder in den Mitgliedstaaten wahrgenommen werden, durch die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit zugunsten eines wachsenden Bereichs der geteilten Zuständigkeiten verringern“.108 Auch diese Aussage ist mit dem Subsidiaritätsprinzip als Kompetenzausübungsregel nicht vereinbar, da es gerade auf ausschließliche Zuständigkeiten grundsätzlich keine Anwendung findet, diese also nicht zu geteilten Zuständigkeiten umzuformen in der Lage ist. Ein wenig könnte der Eindruck entstehen, dass das Europäische Parlament hier leise einen neuen Subsidiaritätsbegriff der Debatte um den Reformprozess der Union und das künftige Europa unterschieben möchte, der das Subsidiaritätsprinzip zu einer Kompetenzverteilungsregelung aufwertet. Dieser Eindruck verstärkt 105 Entschließung des Europäischen Parlaments zu der Abgrenzung der Zuständigkeiten zwischen der Union und den Mitgliedstaaten vom 16. Mai 2002, Abl. EG Nr. C 180E 2003 S. 493 vom 31. Juli 2003, abrufbar im Internet unter http://europa.eu.int/eur-lex/pri/de/oj/dat/2003/ ce180/ce18020030731de04930499.pdf. Der in weiten Teilen wortgleiche Entschließungsantrag sowie seine Begründung vom 24. April 2002 (Sitzungsdok. EP A5–0133/02 ENDG.) sind abrufbar unter http://european-convention.eu.int/docs/relateddoc/513.pdf. 106 Punkt C der Entschließung. 107 Punkt E der Entschließung. 108 Punkt F der Entschließung.
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sich etwas später im Text noch, wenn es heißt, dass die Union „den Zeitpunkt für gekommen (hält), eine Aufteilung der Zuständigkeiten zwischen der Union und ihren Mitgliedstaaten, gestützt auf die Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit, zu aktualisieren“.109 Auch diese Aussage ist nicht widerspruchsfrei: Einerseits kann der Formulierung „aktualisieren“ entnommen werden, dass das Europäische Parlament das in den Verträgen niedergelegte Subsidiaritätsprinzip zum Gegenstand seiner Reformvorschläge macht. Auf der anderen Seite ist der als Kompetenzausübungsregel formulierte Art. 5 Abs. 2 (ex-Art. 3 b Abs. 2) EGV eben nicht geeignet, die Basis für eine neue Zuständigkeitsaufteilung des Gemeinschaftsrechts darzustellen. Man könnte zwar der Auffassung zugeneigt sein, dass die Aussagen des Europaabgeordneten und späteren Konventsmitglieds Alain Lamassoure zum Subsidiaritätsprinzip nicht auf die rechtsdogmatische Goldwaage gelegt werden müssen: Schließlich handelt es sich hierbei nicht um die Formulierung von Rechtssätzen, sondern um politische Forderungen und Denkanstösse für die zeitgleich stattfindenden Konventsarbeiten zur Reform der Union. In diesem Sinne sollte daher auch die weitere – ebenfalls nicht in die Entschließung übernommene – Aussage des Entschließungsantrags, wonach „die Mitgliedstaaten für die detaillierte Umsetzung in die interne Rechtsordnung gemäß den Grundsätzen der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit zuständig sein sollen“,110 verstanden werden – als politisches Postulat einer Union „von unten nach oben“111, nicht als neue rechtstechnische Verteilungsmaxime. So nennt der Entschließungsantrag in Ziffer I 3 seines Begründungsteils auch die Notwendigkeit, eine Anleitung für die Zuständigkeitsverteilung „im Geiste der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit“ zu geben. Die Verwendung der entsprechenden Begrifflichkeiten könnte also als rechtlich ungenau und unbeabsichtigt, als politisch hingegen gewollt gewertet werden. Allerdings fordert auch die Begründung des Entschließungsantrags etwas später expressis verbis die Aufnahme der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit in den Grundlagentext – gemeint ist das künftige Vertragswerk – „als Leitlinien sowohl für die Aufteilung der Zuständigkeiten als auch für deren Wahrnehmung“112, verpasst dem künftigen Subsidiaritätsprinzip also – 109
Ziffer 1 der Entschließung. Ziffer 23 des Entschließungsantrags. 111 Vgl. zu dieser häufig verwendeten Formulierung bspw. das Informationsbüro des Europäischen Parlaments für Deutschland, Europa A-Z, Zuständigkeiten und Subsidiarität, im Internet abrufbar unter http://www.europarl.de. Siehe auch der ehemalige baden-württembergische Ministerpräsident Teufel bspw. in seiner Rede am 22. Januar 2003 vor dem französischen Senat in Paris aus Anlass des 40-jährigen Jubiläums des Deutsch-Französischen Freundschaftsvertrags, „Zur Rolle des deutschen Bundesrates und des französischen Senates in der Europäischen Union“, im Internet unter http://www.baden-wuerttemberg.de/sixcms/media.php/1899/rede_ teufel_dt_franz_freundschaftsvertrag.pdf. 112 Ziffer II 5.1 der Begründung des Entschließungsantrags. 110
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Kap. 2: Der Weg zum Vertrag über eine Verfassung für Europa
jetzt nicht nur als politisches Wunschbild sondern als rechtliche Realität – den Anschein kompetenzverteilender und kompetenzausübungsregelnder Art. Diese Widersprüchlichkeit lässt sich auch nicht durch eine präzise Betrachtung des Wortlautes auflösen, bei welchem auffällt, dass sowohl der Text der Entschließung als auch derjenige der Begründung jeweils feine terminologische Unterschiede enthält, wenn er die Begriffe „Subsidiarität“, „Subsidiaritätsprinzip“ und „Grundsätze der Subsidiarität“ nebeneinander verwendet, woraus auch auf die Absicht inhaltlicher Differenzierung geschlossen werden könnte: Der Terminus „Subsidiarität“ könnte dabei als Oberbegriff verwendet werden; unter „Subsidiaritätsprinzip“ wäre der in Art. 5 Abs. 2 (ex-Art. 3 b Abs. 2) EGV niedergelegte Rechtssatz einer Kompetenzausübungsregel zu verstehen; die „Grundsätze der Subsidiarität“ hingegen wären Ausdruck des politischen Postulats, des Strebens nach einem „vom Kopf auf die Füße gestellten“113 Europa. So sinnreich aber eine solche Differenzierung zwischen hartem Rechtsdenken und politischen Absichten sein mag, sie wird im Text nicht konsequent verfolgt und kann daher kaum seinen Verfassern unterstellt werden. So wird bspw. im Rahmen der Erwägungen über die Einführung einer neuen Klagemöglichkeit als Klagegrund die „Nichtbeachtung der Grundsätze der Subsidiarität“114 genannt; kurz darauf ist dann von derselben Klage „auf der Grundlage eines Verstoßes gegen das Subsidiaritätsprinzip“115 die Rede. Diese unterschiedliche Bezeichnung von offenkundig Gleichem lässt terminologisch begründete Differenzierungstheorien leer laufen. Im Ergebnis bleibt daher der Eindruck eines mehr oder minder versteckten Erweiterungsversuchs des Subsidiaritätsprinzips hin zu einer Kompetenzverteilungsregel bestehen. Dies ist europapolitisch vielleicht im Interesse einer Stärkung des Subsidiaritätsgedankens begrüßenswert. Unter rechtlichen Gesichtspunkten wirft es aber einen zweifelhaften Schatten auf die Entschließung des Europäischen Parlaments auf der Grundlage des Lamassoure-Berichts. In einem weiteren Punkt wird „für wesentlich (gehalten), (…) die Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips als verfassungsmäßige Verpflichtung zu verankern“.116 Diese Forderung erscheint auf den ersten Blick unnötig, da das Subsidiaritätsprinzip nach Art. 5 Abs. 2 (ex-Art. 3 b Abs. 2) EGV bereits im geltenden Gemeinschaftsrecht eine verfassungsmäßige Verpflichtung für alle europäischen Institutionen darstellt.117 Die Aussage wird daher eher als Forderung nach einer Bei-
113 Vgl. zu diesem Bekenntnis die Regierungserklärung des baden-württembergischen Ministerpräsidenten Teufel am 7. Mai 2003 vor dem Landtag von Baden-Württemberg, im Internet abrufbar unter http://www.stm.baden-wuerttemberg.de/sixcms/media.php/628/teufel_ regierungserklaerung_070503.pdf. 114 Ziffer II 8.2 Spiegelstrich 3 der Begründung des Entschließungsantrags. 115 Ziffer II 8.2 Spiegelstrich 4 der Begründung des Entschließungsantrags. 116 Ziffer 11 der Entschließung. 117 Durch Art. 2 Abs. 2 (ex-Art. B Abs. 2) EUV erlangt das Subsidiaritätsprinzip Geltung für die gesamte EU, vgl. dazu die Ausführungen in Kapitel 1 II. 2.
I. Die Notwendigkeit einer Reform der Union
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behaltung dieser Verpflichtung bzw. noch deutlicheren Klarstellung im reformierten Vertragswerk zu verstehen sein.118 Ebenfalls der Erwähnung bedarf die Aussage, dass das Europäische Parlament es für notwendig hält, „die Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit zu stärken; (es) schlägt daher vor, dass ein Mitglied der Kommission beauftragt wird, die Anwendung des Subsidiaritätsprinzips für alle von dieser vorgeschlagenen Texte zu kontrollieren.“119 Dieser Vorschlag einer „Eigenkontrolle“ durch einen „Herrn oder Frau Subsidiarität“120 ist zwar noch recht zaghaft und wenig konkret. Insbesondere was Ausgestaltung und Folge des Kontrollverfahrens betrifft, enthält die Entschließung keine Aussage. Dennoch stellt dieser Vorschlag einen begrüßenswerten Schritt zur prozeduralen Stärkung des Subsidiaritätsprinzips dar. Ebenfalls zum Themenfeld der prozeduralen Stärkung des Subsidiaritätsprinzips gehört der Vorschlag „zur Einführung einer zusätzlichen Klagemöglichkeit vor Inkrafttreten einer Rechtsvorschrift, mit der deren Anwendung ausgesetzt werden kann; (…) sie könnte von der Kommission oder von einer signifikanten Minderheit im Rat oder im Parlament eingereicht werden; (…) der einzige Klagegrund, der in diesem Dringlichkeitsverfahren zugelassen werden könnte, wäre ein Zuständigkeitskonflikt über die Nichtbeachtung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit“.121 Eine solche Klage im Vorfeld „würde nicht ausschließen, dass dieselben Texte anschließend der nachträglichen (…) Kontrolle auf der Grundlage der anderen Bestimmungen des Vertrags122 oder der Verfassung unterworfen werden.“123 Dieser Vorschlag einer zusätzlichen Klagemöglichkeit hat 118 Dies geht auch aus Ziffer II 5.1 der Begründung des Entschließungsantrags hervor, wonach die „Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit (…) natürlich in ihrer derzeitigen Fassung in den Grundlagentext aufgenommen werden (müssen)“. 119 Ziffer 32 der Entschließung. 120 Auch während des Konvents zur Zukunft Europas wurde die Einrichtung eines solchen Subsidiaritätsbeauftragten als mögliche Option diskutiert, vgl. bspw. die Schlussfolgerungen der Arbeitsgruppe I „Subsidiarität“ vom 23. September 2002, CONV 286/02, S. 5, im Internet abrufbar unter http://register.consilium.eu.int/pdf/de/02/cv00/00286d2.pdf: „Ferner brachte die Gruppe die Benennung eines bzw. einer „Herrn oder Frau Subsidiarität“ oder eines Vizepräsidenten zur Sprache, der bzw. die ausdrücklich beauftragt wäre, für die Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips (…) Sorge zu tragen. Er bzw. sie müsste mit jedem Vorschlag für einen Rechtsakt befasst werden.“ Dieser Vorschlag hat sich letztendlich aber nicht durchgesetzt, vgl. dazu die Ausführungen zu den Schlussfolgerungen der Arbeitsgruppe I „Subsidiarität“. 121 Ziffer 43 der Entschließung. 122 Mögliche Klagearten wären die Nichtigkeitsklage nach Art. 230 (ex-Art. 173) EGV; sie kommt dann in Betracht, wenn (der Regelfall) einer Überschreitung des Subsidiaritätsprinzips gerügt werden soll. Spiegelbildlich dazu, also im Falle des Unterschreitens der Anforderungen des Art. 5 Abs. 2 (ex-Art. 3 b Abs. 2) EGV, wäre an eine Untätigkeitsklage, Art. 232 (ex-Art. 175) EGV, an Vertragsverletzungsverfahren, Art. 226, 227 (ex-Art. 169, 170) EGV, Vorabentscheidungsverfahren, Art. 234 (ex-Art. 177) EGV, sowie das Verfahren der inzidenten Normenkontrolle nach Art. 241 (ex-Art. 184) EGV zu denken. 123 Ziffer II 8.2 Spiegelstrich 4 der Begründung des Entschließungsantrags.
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sich später – ebenfalls im Protokoll über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit – in der Subsidiaritätsklage realisiert, welche sich jedoch, was bspw. Aktivlegitimation und Prüfungsgegenstand betrifft, von der in der Entschließung des Europäischen Parlaments aufgeführten Klage inhaltlich erheblich unterscheidet.124
II. Arbeit und Ergebnisse des Konvents zur Zukunft Europas in Bezug auf das Subsidiaritätsprinzip II. Arbeit und Ergebnisse des Konvents zur Zukunft Europas
1. Die Struktur des Konvents Der durch die Erklärung von Laeken einberufene Konvent zur Zukunft Europas umfasste insgesamt 105 Mitglieder.125 69 davon hatten volles Stimmrecht, die übrigen aus dem Kreis der Bewerberstaaten einschließlich der Türkei nahmen ohne Stimmberechtigung beratend an den Sitzungen des Konvents teil.126 Hinzu kam nochmals die gleiche Anzahl an stellvertretenden Mitgliedern. Dem Konvent stand ein zwölfköpfiges Präsidium vor. Vorsitzender als Präsident des Konvents war der ehemalige französische Staatspräsident Valéry Giscard d‘Estaing, Vizepräsidenten waren die beiden früheren Regierungschefs Giuliano Amato aus Italien sowie aus Belgien Jean-Luc Dehaene.127 Neben weiteren neun vom Konvent gewählten Mitgliedern gehörte als „Gast“ noch der ehemalige slowenische Ministerpräsident Alojz Peterle zum Präsidium des Konvents. Die übrigen Mitglieder des Konvents gliederten sich in Vertreter der Mitgliedstaaten bzw. Beitrittstaaten, Vertreter des Europäischen Parlaments und Vertreter der Europäischen Kommission. Die Zusammensetzung des Konvents beruhte damit auf einer territorialen sowie einer institutionellen Herkunft seiner Mitglieder.128 Die Mitgliedstaaten entsandten jeweils drei Mitglieder: einen Regierungsvertreter und zwei parlamentarische
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Siehe die Ausführungen in Kapitel 3 III. 5. Die Lebensläufe aller Mitglieder und stellvertretenden Mitglieder des Konvents sind im Internet unter http://european-convention.eu.int abrufbar. 126 Zur Struktur und Arbeitsweise des Konvents siehe u. a. Oppermann, Vom Nizza-Vertrag zum Europäischen Verfassungskonvent, S. 196 ff.; ders., Eine Verfassung für die Europäische Union, S. 1166 f.; ders., Europäischer Verfassungskonvent, S. 1265 ff. 127 Die Wahl von Giscard d‘Estaing war wegen seiner (vermuteten) europapolitischen Orientierung nicht unumstritten; Dehaene und Amato wurden als „stärker einem föderalen Leitbild“ verpflichtete Gegengewichte dem Präsidenten bewusst als „Aufpasser“ zur Seite gestellt, Große Hüttmann, Der Konvent zur Zukunft der Europäischen Union, S. 149. Eine genauere Analyse des europapolitischen Denkens Giscard d‘Estaings lässt eine so starke wie komplexe Prägung durch föderalistische Konzeptionsmodelle erkennen, vgl. Marhold. Konventspräsident, S. 490. Dies ist von Bedeutung, da der Konventspräsident seine Aufgabe nicht allein in der Moderation der Beratungen sah, sondern vielmehr auch eine inhaltliche Führungsrolle für sich reklamierte, Bauer, Der europäische Verfassungsprozess, S. 456. 128 Pollak/Slominski, Verfassungsverfahren und Repräsentation, S. 48. 125
II. Arbeit und Ergebnisse des Konvents zur Zukunft Europas
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Vertreter129. Vertreter der Bundesregierung war zunächst Peter Glotz, ab November 2002 Bundesaußenminister Joseph Fischer.130 Als Vertreter des Bundestags fungierte der Abgeordnete Jürgen Meyer, der Bundesrat wurde durch den badenwürttembergischen Ministerpräsidenten Erwin Teufel vertreten. Die 16 Vertreter des Europäischen Parlaments gliederten sich in die „Fraktionen“ der Europäischen Volkspartei, der Sozialisten und der Liberalen zuzüglich einiger Abgeordneten der Grünen und einer deutschen Vertreterin der PDS.131 Vertreter der Europäischen Kommission waren Michel Barnier und António Vitorino. Ferner nahmen insgesamt 13 Mitglieder des Wirtschafts- und Sozialausschusses, der europäischen Sozialpartner und des Ausschusses der Regionen sowie der Europäische Bürgerbeauftragte als Beobachter mit dem Recht zur Abgabe von Stellungnahmen am Konvent teil.132 Sprach die Zusammensetzung des Konvents eher für eine Tendenz zur Stärkung oder aber für eine Tendenz zur Schwächung des Subsidiaritätsprinzips? Diese Frage lässt sich schwer beantworten, da die Fronten der politischen Auffassungen diffus und multipolar133 waren; die Ansichten zu den verschiedenen Sachthemen orientierten sich nicht allein an der Zugehörigkeit zu politischen Gruppierungen, sondern auch an nationalen Interessenlagen oder der institutionellen Herkunft des jeweiligen Konventsmitglieds.134 Parteipolitischen Präferenzen konnte dabei der wohl geringste Einfluss beigemessen werden: Europapolitik war und ist zu einem großen Teil überparteiliche res publica.135 Im Konvent wurde dies bspw. an einer Reihe von Positionspapieren deutlich, welche die Vorsitzenden der „politischen Familien“ gemeinsam zur Kompromissbildung vorlegten.136 Der überparteiliche Konsens in europäischen Angelegenheiten („Wir machen hier nicht Wahlkampf, sondern Verfassungsarbeit“, 129
In Staaten mit einem Parlament entsandte dieses zwei Vertreter. In Staaten mit einem Zweikammersystem kam von jeder Kammer des Parlamentes ein Vertreter. In Deutschland entsandten also Bundestag und Bundesrat je einen Vertreter in den Konvent, auch wenn es sich (dazu später) bei letzterem mangels unmittelbarer demokratischer Legitimation nicht um ein „Parlament“ im staatsrechtlichen Sinne handelt. 130 Im Laufe der Konventsarbeit verdichtete sich bei vielen Regierungen das Interesse an den Ergebnissen des Konvents. Dies führte – nicht nur im Falle des Regierungsvertreters der Bundesrepublik Deutschland – zu einer allmählichen „Veraußenministerung“ (Thomas Oppermann) des Konvents, was diesem ein wachsendes politisches Gewicht verlieh, vgl. Oppermann, Europäischer Verfassungskonvent, S. 1265. 131 Oppermann, Europäischer Verfassungskonvent, S. 1265. 132 Von EuGH und Rechnungshof gab es hingegen keine Repräsentanten, was teilweise als Defizit im Bereich der personellen Zusammensetzung gewertet wird, vgl. Pollack/Slominski, Verfassungsverfahren und Repräsentation, S. 49. 133 Oppermann, Vom Nizza-Vertrag zum Europäischen Verfassungskonvent, S. 197. 134 Oppermann, Vom Nizza-Vertrag zum Europäischen Verfassungskonvent, S. 196; ders., Europäischer Verfassungskonvent, S. 1265. 135 Oppermann, Europäischer Verfassungskonvent, S. 1266. 136 Brok, Der Konvent – Bewertungen und Perspektiven, S. 421; Große Hüttmann, Der Konvent zur Zukunft der Europäischen Union, S. 155.
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Jürgen Meyer)137 besteht insbesondere in der politischen Landschaft der Bundesrepublik Deutschland.138 Das gilt speziell für die Ansichten der 16 Länder in Bezug auf Kompetenzordnung und Subsidiaritätsprinzip im europäischen Regelwerk: Beispielhaft zu nennen ist hier das Engagement der Länder im Vorfeld von Maastricht zur Verankerung des Subsidiaritätsprinzips im künftigen EGV sowie die gemeinsamen Standpunkte aller Ministerpräsidenten zur Notwendigkeit der Verankerung einer starken und effizienten Subsidiaritätskontrolle im Vertrag über eine Verfassung für Europa.139 Aus der Zugehörigkeit der Konventsmitglieder zu verschiedenen parteipolitischen Richtungen konnten also nur schwer die jeweiligen Ansichten zur Subsidiarität abgeleitet werden. Die Zusammensetzung des Konvents140 ließ zahlenmäßig ein starkes parlamentarisches Übergewicht erkennen: Von den insgesamt 105 Mitgliedern waren 77 Parlamentarier, sei es aus dem Europäischen Parlament oder den Parlamenten der Mitgliedstaaten. Im „Kernteam“141 der voll stimmberechtigten Mitglieder bestand ein vergleichbares parlamentarisches Übergewicht. Die numerischen Kräfteverhältnisse ähnelten insoweit denen des von Roman Herzog geleiteten Grundrechtekonvents.142 Diese zahlenmäßige Parlamentarisierung des Konvents konnte freilich nicht zwingend gewährleisten, dass parlamentarische Interessen im Verfassungsentwurf stärker als im bisherigen Unions- und Gemeinschaftsrecht verankert würden:143 So konnte sich die Minderheit der Regierungsvertreter – zumindest nach einiger Zeit der Konventsarbeit – mit dem Prestige hoher Ämter schmücken.144 Die Besetzung einer Gruppierung mit „politischen Schwergewichten der Regierung“ darf als Einflussfaktor nicht unterschätzt werden. Der gouvernementale Ein137 Zit. nach Oppermann, Der Europäische Verfassungsvertrag – Legenden und Tatsachen, S. 281. 138 Vgl. bspw. der baden-württembergische Ministerpräsident Erwin Teufel in seiner Rede vor dem Forum Constitutionis Europae der Humboldt-Universität Berlin am 23. April 2003, Konturen der Europäischen Verfassung, im Internet abrufbar unter http://www.baden-wuerttemberg. de/sixcms/media.php/587/teufel_europ_verfassung_230403.pdf: „Europapolitik (ist) in Deutschland in den großen Zielsetzungen zwischen den großen demokratischen Parteien unumstritten (…). Als Vertreter des Bundesrates sehe ich keine nennenswerten Meinungsunterschiede zwischen den so genannten unionsgeführten und den sozialdemokratisch geführten Ländern. Die europapolitische Linie im Sinne des Integrationsgedankens wird besonders und parteiübergreifend von den Europaabgeordneten im Konvent vertreten.“ 139 Siehe dazu Teufel in seiner Regierungserklärung vom 16. Juli 2003 über die Ergebnisse des Konvents für die Zukunft Europas im Landtag von Baden-Württemberg, http://www.badenwuerttemberg.de/sixcms/media.php/16/teufel_regerklaer_eu_konvent_160703.2434.pdf. 140 „In seiner politischen Zusammensetzung war der Konvent „weder Fisch noch Fleisch“, d. h. weder ein parlamentarisches Gremium noch eine Regierungskonferenz“, Oppermann, Eine Verfassung für die Europäische Union, S. 1166. 141 Oppermann, Vom Nizza-Vertrag zum Europäischen Verfassungskonvent, S. 196. 142 Oppermann, Vom Nizza-Vertrag zum Europäischen Verfassungskonvent, S. 196. 143 Vgl. Magiera, Die Arbeit des europäischen Verfassungskonvents, S. 714 ff.; zum Einfluss der Parlamentarier siehe auch Ladenburger, Die Erarbeitung des Verfassungsentwurfs, S. 414 f. 144 Oppermann, Europäischer Verfassungskonvent, S. 1266.
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fluss wurde besonders im Präsidium deutlich, Valéry Giscard d‘Estaing richtete als Präsident des Konvents besonderes Augenmerk auf Stellungnahmen und Vorschläge von Regierungsseite.145 Dies war durchaus „konventstaktisch“ begründet: Das Votum eines, gerade was die Regierungsvertreter betrifft, hochrangig besetzten Konvents würde von der anschließenden Regierungskonferenz nur schwer zu ignorieren sein;146 wenn etwa der Außenminister eines Mitgliedstaates als Konventsmitglied den Verfassungsentwurf billigte, konnte er diesen kaum als Mitglied der nachfolgenden Regierungskonferenz in Frage stellen oder gar gänzlich ablehnen.147 Ein „leichthändiges ‚Beiseiteschieben‘ der Konventsergebnisse“148 wäre als venire contra factum proprium bewertet worden. Folglich standen auf der Regierungskonferenz nur noch Debatten über einzelne, wenn auch essenzielle, Aspekte des Verfassungsentwurfs an; hingegen konnte eine vollständige Neuverhandlung des Textes nicht mehr auf der Tagesordnung stehen.149 Freilich kann aus einer Klärung der Machtverteilung im Konvent zwischen parlamentarischer und Regierungsseite ohnehin kaum eine Aussage dahingehend getroffen werden, ob sich das Subsidiaritätsprinzip im Konvent „in guten Händen“ befand oder nicht. Gerade zwischen den mehrheitlich im Europaparlament versammelten „‚Integrationisten‘ der klassischen Europaphilosophie“ und den „pragmatischen ‚Euro-Realisten‘“ in vielen nationalen Parlamenten (Thomas Oppermann)150 waren die Auffassungen zur Subsidiarität keineswegs kongruent. Eine gewisse Übereinstimmung ließ sich allenfalls innerhalb der Gruppe der Vertreter der nationalen Parlamente feststellen. Aber auch dort gab es unterschiedliche Auffassungen, die auf die jeweiligen nationalen Interessenlagen zurückzuführen waren. So versteht sich der deutsche Parlamentarismus – insbesondere in den Ländern, aber auch im Bundestag – seit jeher als Protagonist des Subsidiaritätsprinzips in Europa; in Spanien gab es dagegen deutliche – und letztlich auch erfolgreiche – Vorbehalte gegen die Verankerung einer eigenen Klagemöglichkeit der Regionen in Subsidiaritätsangelegenheiten im Verfassungsvertrag, weil man in Anbetracht der politischen Situation im Baskenland so weitgehenden Rechten der Regionen im gesamtstaatlichen Interesse (Desintegrationsgefahren) nicht zuzustimmen vermochte.151 Ebenso gab es Stimmen, 145
Oppermann, Europäischer Verfassungskonvent, S. 1266. Tsatsos, Der europäische Konvent, S. 758. 147 Meyer, Der Entwurf eines Vertrages über eine Verfassung für Europa, S. 437, spricht in diesem Zusammenhang recht zutreffend von der „List der Konventsmethode“. 148 Oppermann, Europäischer Verfassungskonvent, S. 1269. 149 Oppermann, Europäischer Verfassungskonvent, S. 1269. 150 Oppermann, Europäischer Verfassungskonvent, S. 1269. 151 Vgl. Erwin Teufel in seiner Rede vor dem Forum Constitutionis Europae der Humboldt-Universität Berlin am 23. April 2003, Konturen der Europäischen Verfassung, im Internet abrufbar unter http://www.baden-wuerttemberg.de/sixcms/media.php/587/teufel_europ_ verfassung_230403.pdf, ebenso Schäuble, Zukunftsperspektiven für die kommunale Selbstverwaltung in der EU, S. 90; siehe auch Molsberger, Die Bedeutung der Subsidiaritätsklage für die deutschen Länder, S. 171. 146
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die deswegen gegen ein eigenes Klagerecht der zweiten Kammer der nationalen Parlamente votierten, weil sie es als ungerecht empfanden, dass ein Mitgliedstaat mit zwei Parlamentskammern „zweimal“ klagen könnte, andere Staaten „mit nur einem Parlament“ hingegen nur „einmal“.152 Weder aus der politischen, noch aus der institutionellen Zugehörigkeit der Konventsmitglieder konnten also zwingende Schlüsse auf die Subsidiaritätsfreundlichkeit der Konventsmehrheit und damit auf die Chancen einer Effektivierung des Subsidiaritätsprinzips gezogen werden. Dies galt auch für den „amtlichen Motor“ des Subsidiaritätsprinzips im Konvent, die Arbeitsgruppe I „Subsidiaritätsprinzip“ unter Vorsitz des Spaniers Íñigo Méndez de Vigo y Montojo. Eine Besonderheit des Konvents jenseits seines offiziellen Organigramms war indes die Bildung von informellen Diskussionskreisen.153 Diese Gruppen Gleichgesinnter, die sich intensiv mit bestimmten Themenfeldern befassen wollten, waren die eigentlichen Vorkämpfer inhaltlicher Reformarbeit im Konvent. So auch im Bereich der Subsidiarität: Der baden-württembergische Ministerpräsident Erwin Teufel etablierte einen parteiübergreifenden Kreis von Konventsmitgliedern, der – bekannt geworden unter dem Namen „Freunde der Subsidiarität“ oder auch „Le Stammtisch“154 – eine Reihe von Akzenten in der Konventsarbeit setzen konnte: Diesem Zirkel gehörten unter anderem der französische Europaabgeordnete Alain Lamassoure155, der Vertreter der französischen Nationalversammlung Pierre Lequiller sowie Hubert Haenel als Vertreter des französischen Senats an.156 Im Konvent bestand Konsens in einem Punkt: Sollten die erarbeiteten Grundkonzepte künftiger europäischer Verfasstheit in der nachfolgenden Regierungskonferenz Chance auf Annahme haben, musste den „Herren der Verträge“ ein Entwurf vorgelegt werden: Der Europäische Rat von Laeken hatte dem Konvent zwar auch die Möglichkeit zugestanden, verschiedene Optionen eines Verfassungsvertrags zu erarbeiten, zwischen denen die nachfolgende Regierungskonferenz dann hätte auswählen können; der Konvent ging jedoch zu Recht davon aus, dass die 152 Vgl. Teufel in seiner Regierungserklärung vom 16. Juli 2003 über die Ergebnisse des Konvents für die Zukunft Europas im Landtag von Baden-Württemberg, http://www.badenwuerttemberg.de/sixcms/media.php/16/teufel_regerklaer_eu_konvent_160703.2434.pdf. In den 15 Mitgliedstaaten der Union bis zum 1. Mai 2004 gab es 6 Einkammer- und 9 Zweikammersysteme. Nach der Erweiterung gab es in den nunmehr 25 Mitgliedstaaten der Europäischen Union 14 Einkammer- und 11 Zweikammersysteme, siehe dazu Meyer/Hölscheidt, Die Europäische Verfassung aus Sicht des Deutschen Bundestags, S. 345. 153 Oppermann, Europäischer Verfassungskonvent, S. 1269. 154 Zitiert nach Oppermann, Ministerpräsident Erwin Teufel im Europäischen Verfassungskonvent, S. 30. 155 Berichterstatter und Namensgeber des entsprechenden Berichts, siehe oben. 156 Hierzu der Minister im Staatsministerium von Baden-Württemberg Christoph-E. Palmer in seiner Rede „Die Mitgestaltung des europäischen Verfassungsprozesses durch die deutschen Länder – grenzüberschreitende Impulse mit Frankreich“ am 21. November 2003 im FrankreichZentrum, Freiburg, http://www.baden-wuerttemberg.de/sixcms/media.php/1899/rede_palmer_ verfassungsprozess.344744.pdf.
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Chancen einer Annahme ungleich höher wären, wenn ein einheitlicher Text präsentiert würde.157 Nur die Autorität eines vollständigen158 und inhaltlich kohärenten Verfassungsentwurfs159 vermochte eine echte Verhandlungsgrundlage für die Regierungskonferenz und das anschließende Ratifizierungsverfahren zu bilden und die Konzeption des Konvents für ein zukünftiges Europas möglichst unbeschadet160 vertragliche Wirklichkeit werden zu lassen; diese Prämisse bestimmte von Beginn an die Arbeitsweise des Präsidiums161 und setzte sich letztlich auch in der überwiegenden Konventsmehrheit durch.162 Die Arbeit des am 28. Februar feierlich eröffneten Konvents war in drei logisch aufeinander aufgebaute, methodische Arbeitsschritte163 segmentiert: Der erste Teil, die „Phase des Zuhörens“ (phase d’écoute), diente vornehmlich der Stoffsammlung und dem Dialog mit der Zivilgesellschaft,164 welche durch die Mandatierung von Laeken ausdrücklich in den Prozess der Konventsarbeit einbezogen werden sollte. Die zweite „Phase der Studien“ (phase d’examen) war von der Arbeit in den einzelnen Arbeitsgruppen und Diskussionskreisen sowie der Erörterung ihrer Ergebnisse im Plenum des Konvents geprägt.165 In der dritten und letzten Etappe, der „Phase der Texte“ (phase des propositions), trat man in die abschließende Beratung des Entwurfs ein; die vorlegten Texte des Präsidiums verdichteten sich zu Gesamtentwürfen, welche nach Diskussion im Plenum des Konvents in den Abschlusssitzungen am 13. Juni und 10. Juli 2003 verabschiedet wurden.166 Der Entwurfstext des Vertrags über eine Verfassung für Europa wurde am 18. Juli 2003 von Giscard d‘Estaing der italienischen Ratspräsidentschaft übergeben.
2. Der Vorentwurf des Konventspräsidiums Am 28. Oktober 2002 wurde den Mitgliedern des Konvents ein vom Präsidium erstellter Vorentwurf eines Verfassungsentwurfs vorgestellt.167 Damit sollte ausweislich der Einleitung des Entwurfstextes „die Struktur eines etwaigen Vertrags 157
Oppermann, Konzeption und Struktur des Verfassungsentwurfs, S. 23. Freilich ohne die Protokolle zum Vertrag, die erst in der Regierungskonferenz beigefügt wurden. 159 Vgl. Isak, Legitimation der Europäischen Union, S. 29. 160 Magiera, Die Arbeit des europäischen Verfassungskonvents, S. 714. 161 Vgl. Hänsch, Jenseits der Artikel, S. 321. 162 Abgesehen von der kleinen Gruppe der „Euroskeptiker“, zu denen etwa der Däne JensPeter Bonde und der Brite David Heathcoat-Amory gehörten, die sich am Ende einem Konsens über den Verfassungsentwurf verweigerten, Oppermann, Europäischer Verfassungskonvent, S. 1266 f. 163 Ladenburger, Die Erarbeitung des Verfassungsentwurfs, S. 399. 164 Möstl, Verfassung für Europa, S. 22. 165 Oppermann, Europäischer Verfassungskonvent, S. 1270. 166 Oppermann, Europäischer Verfassungskonvent, S. 1270. 167 Der Vorentwurf des Präsidiums (CONV 369/02) ist im Internet unter http://register. consilium.eu.int/pdf/de/02/cv00/00369d2.pdf erhältlich. 158
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veranschaulicht werden“ ohne dem Ergebnis der Beratungen des Konvents vorzugreifen. Ein ausformulierter Entwurf der ersten 16 Artikel wurde dem Konvent erst während der Plenartagung vom 6./7. Februar 2003 vorgestellt.168 Das Subsidiaritätsprinzip soll nach den Vorstellungen des Präsidiums in Art. 7 des Vorentwurfs (im Folgenden VE Präsidium [CONV 369/02]) niedergelegt werden. Nach dieser Bestimmung, die die Grundsätze für das Tätigwerden der Union festlegt, wird diese „im Rahmen der ihr im Vertrag zugewiesenen Zuständigkeiten“ (in Verbindung mit Art. 8 VE Präsidium [CONV 369/02]169 Ausdruck des Prinzips der begrenzten Einzelermächtigung) „und unter Wahrung des Subsidiaritäts- und des Verhältnismäßigkeitsprinzips tätig.“ Welcher Art dieses Subsidiaritätsprinzip sein soll, darüber schweigt sich der nur den groben Rahmen vorzeichnende Entwurfstext aus. Die Nichterwähnung des Erfordernisses einer inhaltlich-textlichen Änderung legt aber nahe, dass das Präsidium nicht beabsichtigte, im künftigen Verfassungsvertrag ein von dem des Art. 5 Abs. 2 (ex-Art. 3 b Abs. 2) EGV verschiedenes Subsidiaritätsprinzip niederzulegen. Anders in Art. 8 VE Präsidium [CONV 369/02], der unter anderem „Vorschriften für die effektive Kontrolle der Einhaltung des Subsidiaritäts- und des Verhältnismäßigkeitsprinzips“ enthalten soll. Bereits der Vorschlag der Inkorporation von Vorschriften in den Verfassungsvertrag, die expressis verbis der Kontrolle der Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips dienen sollen, stellt ein Novum gegenüber dem Regelungsgehalt des EGV dar. Zwar bestand auch unter diesem Regime die Möglichkeit, Verstöße gegen das Subsidiaritätsprinzip im Klageweg zu rügen. Es handelte sich dabei aber stets um Verfahren vor dem EuGH, die nicht explizit einer effektiven Subsidiaritätskontrolle zu dienen bestimmt waren. Die Formulierung des Art. 8 VE Präsidium [CONV 369/02] legt hingegen nahe, dass im künftigen Verfassungsvertrag nach Auffassung des Präsidiums ein spezielles Subsidiaritätsverfahren geregelt sein soll. Eine solche prozedurale Stärkung des Subsidiaritätsprinzips käme auch den Forderungen insbesondere der Entschließung des Europäischen Parlaments zum Lamassoure-Bericht, aber auch der Erklärung von Laeken nach, wo jeweils – mehr oder weniger deutlich – die Notwendigkeit einer verbesserten Kontrolle der Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips angesprochen wurde. Besonderer Erwähnung bedarf die Aussage in Art. 8 VE Präsidium [CONV 369/02], dass im Hinblick auf eine effektive Kontrolle der Einhaltung des Subsidiaritäts- und des Verhältnismäßigkeitsprinzips die diesbezügliche Rolle der nationalen Parlamente Erwähnung zu finden hat. Eine solche Regelung wäre eine wichtige Neuerung gegenüber dem bisherigen Gemeinschaftsrecht, welches
168
Siehe dazu Kapitel 3 II. 2. „Darin wird die Achtung des Grundsatzes festgeschrieben, dass die der Union durch die Verfassung nicht zugeschriebenen Kompetenzen in der Zuständigkeit der Mitgliedstaaten bleiben“, CONV 369/02. 169
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den nationalen Parlamenten bislang keine besondere Funktion bei der Subsidiaritätskontrolle zubilligt. Art. 8 VE Präsidium [CONV 369/02] dürfte sich hier auf die Überlegung der Erklärung von Laeken beziehen, wonach sich die nationalen Parlamente „auf die Aufteilung der Zuständigkeiten zwischen der Union und den Mitgliedstaaten konzentrieren (könnten), indem sie bspw. vorab die Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips kontrollieren“.170 Dieser Denkanstoß von Laeken wird aber nicht allein hinsichtlich der Rolle der nationalen Parlamente als mögliche für die Subsidiaritätskontrolle aktivlegitimierte Institutionen aufgenommen: Art. 8 VE Präsidium [CONV 369/02] beschränkt sich nach seinem Wortlaut nicht auf nachträgliche gerichtliche Kontrollmechanismen; die Formulierung kann auch andere Kontrollmöglichkeiten, auch Maßnahmen im Vorfeld vor Inkrafttreten eines europäischen Rechtsakts, umfassen. Eine solche Vorfeldkontrolle war in der zitierten Überlegung der Erklärung von Laeken ebenfalls erwähnt („vorab die Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips kontrollieren“). Der Kontrollmechanismus muss dabei weder nach dem Wortlaut der Erklärung von Laeken noch nach Art. 8 VE Präsidium [CONV 369/02] zwingend gerichtlicher Art sein. Ergebnis dieser Überlegungen ist die Verankerung der Subsidiaritätsklage und des Frühwarnsystems im späteren Subsidiaritätsprotokoll des Verfassungsvertrags. Die Schaffung eines eigenständigen Kompetenzgerichts ist in dem Verfassungsentwurf nicht vorgesehen. Die gerichtliche Kontrolle der Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips würde danach unverändert bei der bestehenden europäischen Gerichtsbarkeit verbleiben.
3. Die Arbeitsgruppe „Subsidiarität“ a) Das Mandat Auf Vorschlag des Präsidiums wurden sogenannte Arbeitsgruppen („Working Groups“, „Groupes de travail“) eingerichtet, die sich eingehend mit bestimmten Themenbereichen zu befassen hatten. Zunächst gab es 6, später 11 Arbeitsgruppen, Vorsitzender war jeweils ein Mitglied des Präsidiums. Das Thema „Subsidiarität“ oblag der Arbeitsgruppe I unter Vorsitz von Íñigo Méndez de Vigo y Montojo, einem spanischen Europaabgeordneten, der bereits als Vorsitzender der Delegation des Europäischen Parlaments bei der Ausarbeitung der Grundrechtecharta Erfahrungen mit der Arbeitsweise eines „Konvents“ gesammelt hatte. Die deutschen Mitglieder der Arbeitsgruppe waren Erwin Teufel und Jürgen Meyer.
170
Zitat nach der dritten Leitforderung (Mehr Demokratie, Transparenz und Effizienz in der Europäischen Union) unter Gliederungspunkt II. (Die Herausforderungen und Reformen in einer erneuerten Union) der Erklärung von Laeken.
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Am 30. Mai 2002 übermittelte Méndez de Vigo den Mitgliedern einen Vermerk171, in dem das vom Präsidium gegebene Mandat172 der Gruppe aufgezeichnet und näher präzisiert wurde. Das Präsidium hatte vereinbart, der Arbeitsgruppe die Erörterung folgender Fragen als Mandat aufzutragen: – „Wie kann die Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips am effizientesten überwacht werden? – Sollte ein Überwachungsmechanismus oder -verfahren eingerichtet werden? – Sollte dieses Verfahren politischer und/oder gerichtlicher Natur sein?“ Prüfungsgegenstand war ausweislich der vom Präsidium formulierten Fragen nicht die Anwendung des Subsidiaritätsprinzips, sondern die Überwachung seiner Anwendung. Gleichwohl sah sich die Arbeitsgruppe auch berechtigt, die Anwendung des Subsidiaritätsprinzips zumindest zu erörtern: Nach Auffassung von Íñigo Méndez de Vigo y Montojo sollte geprüft werden, ob die im Protokoll zum Amsterdamer Vertrag über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit173 festgelegten Kriterien für die Anwendung des Subsidiaritätsprinzips „ausreichend sind, ob sie noch weiter zu spezifizieren oder ob neue Kriterien hinzuzufügen sind.“174 In Bezug auf die Frage nach der Einrichtung eines politischen Kontrollmechanismus erwägt Méndez de Vigo verschiedene Handlungsmöglichkeiten: „Einsetzung einer für die Subsidiarität zuständigen beigeordneten Person für jedes Mitglied des Europäischen Rates und für das Europäische Parlament, die die Aufgabe hätte, die Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips in den Vorschlägen für Rechtsakte zu prüfen und zu gegebener Zeit eine entsprechende Stellungnahme abzugeben? Aufforderung an die Kommission, jedem Vorschlag einen „Subsidiaritätsbogen“ beizufügen? Sonstige Möglichkeiten?“175 Ferner sollte erörtert werden, „ob die Überwachung der Anwendung des Subsidiaritätsprinzips durch die nationalen Parlamente zu verstärken ist, entweder durch deren Beteiligung am Rechtsetzungsprozess (…) oder durch eine verstärkte Kontrolle der nationalen Parlamente über den von ihrer Regierung im Rat zu vertretenden Standpunkt.“176 Außerdem solle die Gruppe prüfen, „ob ein mit der Überwachung der Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips beauftragtes „Ad-hoc“-Organ geschaffen werden sollte, und gegebe-
171 CONV 71/02, im Internet abrufbar unter http://register.consilium.eu.int/pdf/de/02/cv00/ 00071d2.pdf, ergänzt durch CONV 71/02 COR 1, http://register.consilium.eu.int/pdf/de/02/ cv00/00071-c1d2.pdf, da das erste Dokument auf S. 1 irrtümlicherweise den Vertrag von Amsterdam anstelle des Vertrags von Maastricht als Ausgangspunkt der Verankerung des Subsidiaritätsprinzips in Art. 5 Abs. 2 (ex-Art. 3 b Abs. 2) EGV angeführt hatte. 172 CONV 52/02, abrufbar unter http://register.consilium.eu.int/pdf/de/02/cv00/00052d2.pdf. 173 Siehe dazu Kapitel 1 III. 174 CONV 71/02, S. 2, http://register.consilium.eu.int/pdf/de/02/cv00/00071d2.pdf. 175 CONV 71/02, S. 4, http://register.consilium.eu.int/pdf/de/02/cv00/00071d2.pdf. 176 CONV 71/02, S. 4, http://register.consilium.eu.int/pdf/de/02/cv00/00071d2.pdf.
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nenfalls Vorschläge für dessen Zusammensetzung (…) sowie die Befugnisse und die Rolle eines solchen Organs machen“.177 Betreffend die Verstärkung der gerichtlichen Kontrolle des Subsidiaritätsprinzips erwägt Íñigo Méndez de Vigo y Montojo „die Möglichkeit, eine „Subsidiaritätskammer“ innerhalb des Gerichtshofes einzurichten oder einen Mechanismus zur Zusammenarbeit zwischen dem Gerichtshof und den nationalen Verfassungsgerichten vorzusehen“; auch die „Einführung einer gerichtlichen oder gerichtsähnlichen Vorabkontrolle“ sei zu prüfen.178 Bemerkenswert ist auch die Überlegung des Vorsitzenden, „ob eine Ausweitung der Befugnis zur Befassung des Hofes179 in Bezug auf die Einführung einer Nichtigkeitsklage betreffend die Verletzung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit erforderlich ist. (…) Für den Fall der Verletzung des Grundsatzes der Kompetenzverteilung könnte die Ausweitung dieses Rechtsbehelfes180 auf die nationalen Parlamente (oder ein „Ad hoc“-Organ, das aus Mitgliedern der nationalen Parlamente besteht, sofern ein solches geschaffen wird) geprüft werden“; es sei auch erörterungswürdig, ob die Aktivlegitimation „auf den Ausschuss der Regionen oder die verfassungsmäßigen Gebietskörperschaften, deren legislative Befugnisse in Frage gestellt würden, auszudehnen“ sei.181 Der Vermerk von Íñigo Méndez de Vigo y Montojo lieferte den Mitgliedern der Arbeitsgruppe I „Subsidiarität“ eine Reihe wertvoller Anregungen und Denkanstöße. Einige Formulierungen des Textes sind jedoch kritisch zu hinterfragen. So verortet Méndez de Vigo das Mandat zum Subsidiaritätsprinzip im „Bereich der zu prüfenden Frage der Kompetenzverteilung zwischen der Europäischen Union und den Mitgliedstaaten“ und bezieht sich dabei ausdrücklich auf die Erklärungen von Nizza und Laeken.182 Die dortigen missverständlichen Aussagen zur Rechtsnatur des gemeinschaftsrechtlichen Subsidiaritätsprinzips hält der Vorsitzende der Arbeitsgruppe aufrecht, wenn er das Prinzip mit der Frage der Kompetenzverteilung in Zusammenhang bringt. Das Mandat erfasste die Erörterung von Fragen der Anwendung und der Kontrolle der Anwendung des Subsidiaritätsprinzips; die Arbeitsgruppe I war hingegen nicht ermächtigt, einen neuen gemeinschaftsrechtlichen Subsidiaritätsbegriff zu entwerfen, was zwangsläufige Folge einer Bewertung dieses Prinzips als Maßstab für die Kompetenzverteilung wäre. Daran ändert auch der Umstand nichts, dass das Subsidiaritätsprinzip ausdrücklich als „philosophischer183 Grundsatz, der der sozialen Doktrin der Kirche entnommen und 1949 für den deutschen Föderalismus und 1992 für das Gemeinschaftsrecht her-
177 178 179 180 181 182 183
CONV 71/02, S. 5, http://register.consilium.eu.int/pdf/de/02/cv00/00071d2.pdf. CONV 71/02, S. 5, http://register.consilium.eu.int/pdf/de/02/cv00/00071d2.pdf. Gemeint ist der EuGH. Nichtigkeitsklage. CONV 71/02, S. 6, http://register.consilium.eu.int/pdf/de/02/cv00/00071d2.pdf. CONV 71/02, S. 2, http://register.consilium.eu.int/pdf/de/02/cv00/00071d2.pdf. Sic! in der deutschen Fassung des Konventsdokuments.
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angezogen wurde“,184 bezeichnet wird. Hier vermischt Méndez de Vigo in unzulässiger Weise die verschiedenen Dimensionen des Subsidiaritätsprinzips. Verstärkt wird dieser Eindruck durch die nachfolgende definitorische Beschreibung des Prinzips, wonach „das, was die kleinere Einheit in ausreichendem Maße versehen kann, nicht durch die größere Einheit versehen werden sollte, es sei denn, letztere ist dazu besser in der Lage.“185 Dies ist nicht die Definition des gemeinschaftsrechtlichen Subsidiaritätsprinzips, welches allein für die Arbeitsgruppe I maßgeblich sein konnte: Bspw. ist de lege lata ein Handeln der Union nach Art. 5 Abs. 2 (ex-Art. 3 b Abs. 2) EGV unstreitig unzulässig, wenn die „kleinere Einheit“ etwas ausreichend, die „größere Einheit“ dies aber besser kann. Auch die Formulierung „sollte“ führt terminologisch in die Irre, da sie die Verbindlichkeit des gemeinschaftsrechtlichen Subsidiaritätsprinzips verkennt. Ferner ist die nachfolgende Aussage von Méndez de Vigo, wonach das Subsidiaritätsprinzip festlegt, wann die Union „in Bereichen, die nicht in ihre ausschließliche Zuständigkeit fallen (…), tätig werden muss“,186 nicht korrekt, da eine zwingende Handlungsverpflichtung aus der Erfüllung der Subsidiaritätskriterien nicht hergeleitet werden kann.187 Bei genauer Betrachtung sind einige Aussagen im Vermerk des Arbeitsgruppenvorsitzenden Íñigo Méndez de Vigo y Montojo daher zumindest missverständlich, geprägt von einer fragwürdigen Vermischung der verschiedenen Dimensionen des Subsidiaritätsprinzips. Als Ausgangspunkt der Erörterungen in der Arbeitsgruppe war sein Beitrag jedoch wertvoll und kanalisierte die nachfolgenden Diskussionen konsequent auf die wichtigen zu prüfenden Fragestellungen.
b) Beiträge von Konventsmitgliedern Die Arbeitsgruppe I „Subsidiarität“ tagte vom 7. Juni bis zum 19. September 2002 insgesamt 7 Mal. In den Sitzungen wurde eine Reihe von Experten zu verschiedenen Fragen der Anwendung und der Kontrolle der Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips angehört.188 Die deutschen Konventsmitglieder Erwin Teufel und Jürgen Meyer beteiligten sich mit umfangreichen und konstruktiven Beiträgen: So betonte Teufel in einem Dokument vom 1. Juli 2003, das der Arbeitsgruppe am 184
CONV 71/02, S. 2, http://register.consilium.eu.int/pdf/de/02/cv00/00071d2.pdf. CONV 71/02, S. 2, http://register.consilium.eu.int/pdf/de/02/cv00/00071d2.pdf. 186 CONV 71/02, S. 2, http://register.consilium.eu.int/pdf/de/02/cv00/00071d2.pdf. 187 Letztlich mag auch die Aussage in der Fußnote auf Seite 1 des Vermerks kritisch betrachtet werden, wonach das Subsidiaritätsprinzip vor der Niederlegung im EGV „ausdrücklich nur im Bereich Umwelt genannt (wurde)“, CONV 71/02, S. 2, http://register.consilium.eu.int/ pdf/de/02/cv00/00071d2.pdf. Ausdrücklich – vgl. hierzu die Ausführungen in Kapitel 1 I. 6 – taucht das Subsidiaritätsprinzip dort nämlich gerade nicht auf, die Vorschrift enthält allenfalls definitorische Elemente dieses Prinzips. 188 Auflistung in CONV 286/02, S. 11, Schlussfolgerungen der Gruppe I „Subsidiaritätsprinzip“, abrufbar unter http://register.consilium.eu.int/pdf/de/02/cv00/00286d2.pdf. 185
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9. Juli 2003 übermittelt wurde,189 die Notwendigkeit einer vollständigen Kompetenzkontrolle, die sich nicht allein auf Aspekte der Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips beschränken dürfe: Nur durch eine umfassende Klärung der Zuständigkeiten zum Erlass bestimmter Rechtsakte könne die „Befürchtung der nationalen Parlamente (…) ausgeräumt werden, dass sie einem immer weiteren Kompetenzverlust zugunsten der EU ausgesetzt sind.“190 Um das Auftreten von Kompetenzverlusten zu vermeiden, schlägt Teufel die Etablierung eines präventiven Kontrollverfahrens vor; eine solche präventive Kontrolle könne entweder „während des Gesetzgebungsverfahrens durch ein neu zu schaffendes parlamentarisch/politisches Gremium“ oder vor einem „Kompetenzsenat des Europäischen Gerichtshofes mittels einer neuen „Kompetenzklage“ nach Abschluss des Rechtsetzungsverfahrens, aber vor Inkrafttreten des Rechtsaktes („französisches Modell“)191“ erfolgen.192 Im Ergebnis sei ein gerichtlicher Kontrollmechanismus vorzuziehen; der Vorteil liege „in dem frühzeitigen bindenden Kompetenzurteil des EuGH“, welches „vor dem Inkrafttreten des Rechtsaktes Klarheit“ schaffe.193 Problematisch sei allerdings, dass die sehr unbestimmte Fassung des Art. 5 Abs. 2 (exArt. 3 b Abs. 2) EGV einer effektiven Justiziabilität des Subsidiaritätsprinzips entgegenstehe; in der Regel werde der EuGH daher die politischen Wertungen des Unionsgesetzgebers akzeptieren.194 Zugunsten einer besseren gerichtlichen Subsidiaritätskontrolle schlägt Erwin Teufel daher eine Änderung des Wortlauts von Art. 5 Abs. 2 (ex-Art. 3 b Abs. 2) EGV vor: „In den Bereichen, die nicht in ihre ausschließliche Zuständigkeit fallen, wird die Gemeinschaft nach dem Subsidiaritätsprinzip nur tätig, sofern und soweit die Ziele der in Betracht gezogenen Maßnahmen auf Ebene der Mitgliedstaaten nicht ausreichend erreicht werden können und eine bessere Regelung wegen ihres Umfangs oder ihrer Wirkungen auf Gemeinschaftsebene erfolgen müsste.“195
Die Änderungen zur Subsidiaritätsdefinition des Art. 5 Abs. 2 (ex-Art. 3 b Abs. 2) EGV betreffen die Abfassung des Kriteriums der Effizienz-Optimierung und die Formulierung der Verknüpfung beider Kriterien. Ob diese Fassung tatsächlich zu mehr Klarheit und damit zu einer verstärkten Justiziabilität des Subsidiaritätsprinzips führen würde, mag indes bezweifelt werden: Zum einen lässt der Wortlaut der Verknüpfung „und“ – ohne das bisherige, zweifelsohne auch nicht besondere Klarheit verheißende „daher“ – das konsekutiv-additive Verhältnis beider Subsidiaritätskriterien zueinander nicht erkennen; dieses Verhältnis ist aber 189 „Eine wirksame Kompetenzkontrolle bei der Rechtsetzung der Europäischen Union“, WG I WD 6, abrufbar unter http://european-convention.eu.int/docs/wd1/1393.pdf. 190 WG I WD 6, S. 2 f., abrufbar unter http://european-convention.eu.int/docs/wd1/1393.pdf. 191 Art. 61 f. der französischen Verfassung regeln ein entsprechendes Verfahren der Präventivkontrolle vor dem Conseil Constitutionel. 192 WG I WD 6, S. 3, http://european-convention.eu.int/docs/wd1/1393.pdf. 193 WG I WD 6, S. 8, http://european-convention.eu.int/docs/wd1/1393.pdf. 194 WG I WD 6, S. 9, http://european-convention.eu.int/docs/wd1/1393.pdf. 195 WG I WD 6, S. 9, http://european-convention.eu.int/docs/wd1/1393.pdf.
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von herausgehobener Bedeutung für das Subsidiaritätsprinzip, da es eine Heranziehung des Kriteriums der Effizienz-Optimierung zur Begründung der Insuffizienz mitgliedstaatlicher Aufgabenbewältigung verhindert.196 Auch die Formulierung im Vorschlag von Erwin Teufel erscheint gegenüber dem bisherigen Wortlaut des Art. 5 Abs. 2 (ex-Art. 3 b Abs. 2) EGV nicht als wesentliche Präzisierung des Kriteriums der Effizienz-Optimierung. Allerdings dürfte es dem baden-württembergischen Ministerpräsidenten auch nicht zwingend um genau diese Formulierung gegangen sein, das macht schon die dem Entwurf unmittelbar nachfolgende Aussage deutlich, wonach sich die gerichtliche Kontrolle des Subsidiaritätsprinzips mit „einer solchen oder ähnlichen Präzisierung“197 wirksamer gestalten ließe. Teufel dürfte mit seinem Beitrag vielmehr beabsichtigt haben, überhaupt die Möglichkeit einer textlichen Verbesserung der gemeinschaftsrechtlichen Subsidiaritätsdefinition auf die Agenda zu setzen. In einem weiteren Beitrag vom 13. August 2002, übermittelt am 29. August 2002,198 setzt sich Erwin Teufel mit den am 29. Juli 2002 unterbreiteten Vorschlägen des Vorsitzenden für die Schlussfolgerungen der Arbeitsgruppe199 auseinander. Méndez de Vigo hatte darin festgestellt, dass die zu erarbeitenden Vorschläge der Arbeitsgruppe sich auf drei Aspekte zu stützen hätten: „reinforcing application by all the institutional players of the principle of subsidiarity;“ „setting up an „early warning system“, enabling national parliaments to participate directly in monitoring compliance with the principle of subsidiarity;“ „creating a subsidiarity chamber within the court of justice.“ Teufel begrüßt diese Vorschläge einer dreiphasigen Subsidiaritätskontrolle („während der Ausarbeitung des Kommissionsvorschlags“, „nach Vorlage des Vorschlages im Verfahren von Parlament und Rat“, „nach Verabschiedung, aber noch vor Inkrafttreten des Rechtsaktes durch eine neue Kompetenzkammer des Gerichtshofes“).200 Er setzt sich intensiv mit der dritten Phase, also der gerichtlichen Kontrolle, auseinander und legt diesbezüglich konkrete Entwürfe von Vertragsartikeln vor, „als grundsätzliche Formulierungen, die weiterer Überlegung und Präzisierung bedürfen“201. Die von Erwin Teufel vorgeschlagene Kompetenzkammer beim EuGH ist zuständig für Klagen wegen des Verstoßes eines Unionsrechtsaktes gegen das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung, das Subsidiaritätsprinzip und das Verhältnismäßigkeitsprinzip. Die Idee einer vollständigen Kompetenzkontrolle202 wird also aufrechterhalten und verfahrensrechtlich präzisiert. Die Zusammensetzung der Kompetenzkammer soll gemischter Natur sein: Fünf Richter sollen aus den Reihen des EuGH stammen und von diesem 196
Siehe dazu die Ausführungen in Kapitel 1 II. 1. d). WG I WD 6, S. 9, http://european-convention.eu.int/docs/wd1/1393.pdf. 198 Bemerkungen zu dem „Ersten Vorschlag für die Schlussfolgerungen“ (Arbeitsdokument 09 vom 29. Juli 2002), WG I WD 12, http://european-convention.eu.int/docs/wd1/2354.pdf. 199 Initial proposals for conclusions, WG I WD 9, abrufbar unter http://european-convention. eu.int/docs/wd1/2107.pdf. 200 WG I WD 12, S. 5, http://european-convention.eu.int/docs/wd1/2354.pdf. 201 WG I WD 12, S. 7, http://european-convention.eu.int/docs/wd1/2354.pdf. 202 Vgl. WG I WD 6, http://european-convention.eu.int/docs/wd1/1393.pdf. 197
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für die Dauer von sechs Jahren gewählt werden. Weiter soll die Kompetenzkammer aus „fünf Richtern oder ehemaligen Richtern der obersten Verfassungsgerichte der Mitgliedstaaten, die von den Regierungen der Mitgliedstaaten im gegenseitigen Einvernehmen für sechs Jahre ernannt werden (sowie) dem Präsidenten des Gerichtshofes als Vorsitzenden bestehen.“203 Erwin Teufel schlägt also einen Spruchkörper mit 11 Mitgliedern vor, wobei er diesbezüglich ausdrücklich Änderungen für möglich hält, sofern die Kammer „klein genug (ist), um in den kurzen Fristen entscheiden zu können“,204 die in einem weiteren Artikel des Vorschlags niedergelegt werden.205 Natürlich ist der Kreis der Aktivlegitimierten, die eine Klage bei der Kompetenzkammer erheben können, im Entwurf von Teufel weitgefasst: Klageberechtigt ist danach jeder Mitgliedstaat der Union, die Parlamente der Mitgliedstaaten, eine qualifizierte Minderheit des Europäischen Parlaments, der Ausschuss der Regionen und die Regionen mit Gesetzgebungsbefugnissen „im Rahmen der verfassungsrechtlichen Bestimmungen der Mitgliedstaaten.“206 Im Falle des Stattgebens der Klage soll der Unionsrechtsakt nichtig sein. Wird hingegen die Befugnis der Union zum Erlass des Rechtsaktes bestätigt, kann er in Kraft treten „und unter dem Gesichtspunkt der erhobenen Kompetenzrüge nicht mehr angefochten werden. Im Übrigen bleibt es bei der bisherigen a posteriori-Kontrolle des Gerichtshofes nach den allgemeinen Vorschriften.“207 In einem als Schreiben an den Arbeitsgruppenvorsitzenden gehaltenen Dokument, übermittelt an die Mitglieder der Arbeitsgruppe am 10. September 2002,208 setzt sich Jürgen Meyer mit den Überlegungen auseinander, zur Subsidiaritätskontrolle ein neues Gremium, bestehend aus nationalen Parlamentariern, zu bilden. Zu Recht befürchtet er, dass ein solches bspw. als Subsidiaritätsausschuss strukturiertes Gebilde zu einer „Überfrachtung des Institutionensystems“ der Union führen und „eine erhebliche Verzögerung des Gesetzgebungsprozesses“ bewirken könnte.209 Meyer möchte, wie auch andere Delegierte, Verfahren der politischen Subsidiaritätskontrolle in die bestehenden Mechanismen des europäischen Rechts inkorporieren. Sein Vorschlag210 zielt auf eine entsprechende Ergänzung des Art. 251 (ex-Art. 189 b) EGV ab, der das durch den Vertrag von Maastricht eingeführte Mitentscheidungsverfahren bei bestimmten Gesetzgebungsverfahren der Gemeinschaft regelt. In dieser Bestimmung ist ein Vermittlungsverfahren vorgesehen für den Fall, dass in der Phase der Zweiten Lesung eines Vorhabens im Rat keine Einigung zwischen diesem und dem Europäischen Parlament erzielt werden
203
WG I WD 12, S. 8, http://european-convention.eu.int/docs/wd1/2354.pdf. WG I WD 12, S. 8, http://european-convention.eu.int/docs/wd1/2354.pdf. 205 Danach soll die Kammer binnen sechzig Tagen nach der Klageerhebung entscheiden, WG I WD 12, S. 9, http://european-convention.eu.int/docs/wd1/2354.pdf. 206 WG I WD 12, S. 8 f., http://european-convention.eu.int/docs/wd1/2354.pdf. 207 WG I WD 12, S. 9, http://european-convention.eu.int/docs/wd1/2354.pdf. 208 WG I WD 18, abrufbar unter http://european-convention.eu.int/docs/wd1/2561.pdf. 209 WG I WD 18, S. 2, http://european-convention.eu.int/docs/wd1/2561.pdf. 210 Dieser Ansatz wurde auch von anderen Mitgliedern der Arbeitsgruppe verfolgt. 204
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konnte.211 Art. 251 (ex-Art. 189 b) EGV soll um einen neuen Absatz 5 (im Folgenden Art. 251 Abs. 5 EGV [VE Meyer]) ergänzt werden: „In der 1. Woche nach seiner Einberufung leitet der Vermittlungsausschuss den nationalen Parlamenten der Mitgliedstaaten die Beratungsunterlagen gemäß Absatz (4) Satz 3 zur Stellungnahme insbesondere zur Anwendung des Subsidiaritätsgrundsatzes binnen 4 Wochen zu.“212 Diese Konstruktion der Einbeziehung der nationalen Parlamente in ein bestehendes Verfahren, nämlich das Vermittlungsverfahren nach Art. 251 (exArt. 189 b) EGV, scheint in der Tat einen gangbaren Weg darzustellen, die Möglichkeiten der Kontrolle der Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips auf politischer Ebene zu intensivieren. Der Entwurf ist dennoch aus verschiedenen Gründen zu kritisieren: Zum einen wird schon nicht deutlich, welche inhaltlichen Aspekte das Stellungnahmerecht der nationalen Parlamente umfasst: Nach dem Wortlaut des Art. 251 Abs. 5 EGV [VE Meyer] hat sich die Stellungnahme „insbesondere“ auf die Anwendung des Subsidiaritätsprinzips zu beziehen. Ein Stellungnahmerecht in Bezug auf eine mögliche Verletzung etwa des Verhältnismäßigkeitsprinzips oder des Prinzips der begrenzten Einzelermächtigung wäre demnach nicht ausgeschlossen. Auch die englische Fassung des Entwurfs von Art. 251 Abs. 5 EGV [VE Meyer],213 „in particular as regards the application of the subsidiarity principle“, führt zu keinem anderen Auslegungsergebnis. Andererseits bezieht sich der Beitrag von Jürgen Meyer ausdrücklich nur auf Fragen der Subsidiaritätskontrolle („Vorschlag (…) zur Subsidiaritätskontrolle unter Einbeziehung der nationalen Parlamente“214). Der Umfang des vorgeschlagenen Stellungnahmerechts bleibt hier also – bewusst? – unklar. Deutlich schwerer wiegt indes folgendes Problem, welches die Grundstruktur des Entwurfs in Frage stellen muss: Jürgen Meyer knüpft das Stellungnahmerecht der nationalen Parlamente zwingend an die Einberufung eines Vermittlungsausschusses an. Die Voraussetzungen der Einberufung des Vermittlungsausschusses selbst sollen nach dem Entwurf unverändert bleiben: Seit dem Vertrag von Amsterdam kann der Vermittlungsausschuss nur noch einberufen werden, wenn das Europäische Parlament den vom Rat übermittelten Vorschlag eines Gesetzgebungsaktes abgeändert hat und dieser die Änderungen nicht billigt, Art. 251 Abs. 2 lit. c, Abs. 3 Satz 2 EGV.215 Dass das Vermittlungsverfahren nicht mehr durchgeführt wird, wenn das Europäische Parlament den gesamten Vorschlag abgelehnt hat, spielt nun für die Beteiligungsrechte der nationalen Parlamente keine Rolle, da in 211
Siehe hierzu bspw. Schwarze/Schoo, EU-Kommentar, Art. 251 EGV Rn. 34 ff. WG I WD 18, S. 6, http://european-convention.eu.int/docs/wd1/2561.pdf. Die nachfolgenden Absätze von Art. 251 (ex-Art. 189 b) EGV verschieben sich entsprechend, bleiben aber wortgleich. 213 WG I WD 18, S. 7, http://european-convention.eu.int/docs/wd1/2561.pdf. 214 Überschrift des Entwurfstextes, WG I WD 18, S. 6, http://european-convention.eu.int/ docs/wd1/2561.pdf. 215 Hiezu instruktiv B/L/Wirtz, Der Amsterdamer Vertrag, S. 292. 212
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diesem Fall der vorgeschlagene Rechtsakt ohnehin endgültig gescheitert, die Rüge eines Verstoßes gegen das Subsidiaritätsprinzip im Ergebnis also „überflüssig“ wäre.216 Anders sieht es aber aus, wenn das Europäische Parlament den Ratsvorschlag entweder billigt bzw. gar keinen Beschluss fasst, Art. 251 Abs. 2 lit. a EGV, oder Änderungen vorschlägt, die der Rat anschließend billigt, Art. 251 Abs. 2 lit. c, Abs. 3 Satz 1 EGV. In diesen Fallkonstellationen kommt es zu keiner Einberufung des Vermittlungsausschusses; Art. 251 Abs. 5 EGV [VE Meyer], der die Einberufung des Vermittlungsausschusses tatbestandlich voraussetzt greift mithin nicht, die nationalen Parlamente erhalten kein Recht zur Stellungnahme. Diese Verknüpfung zwischen der Einberufung des Vermittlungsausschusses im Mitentscheidungsverfahren und dem Stellungnahmerecht der nationalen Parlamente ist inhaltlich nicht zu rechtfertigen: Die nationalen Parlamente können, gerade in Subsidiaritätsangelegenheiten, gänzlich anderer Auffassungen sein, als dies Rat und Europäisches Parlament sind. Dieser bekannte Umstand war ja erst der Auslöser für die Idee einer Einbindung der nationalen Parlamente in die politischen Mechanismen zur Kontrolle der Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips. Nach dem Vorschlag von Jürgen Meyer besteht das Stellungnahmerecht der nationalen Parlamente zu Subsidiaritätsgesichtspunkten eines Gesetzgebungsvorschlags nur, wenn Rat und Europäisches Parlament unterschiedlicher Auffassung über die von letzterem vorgenommenen Änderungen am Ratsvorschlag sind. Ein Bedürfnis der nationalen Parlamente, als Sachwalter der „mitgliedstaatlichen Ebene“ aufzutreten, mag aber genauso in den Konstellationen vorhanden und schutzbedürftig sein, in denen Rat und Europäisches Parlament gleicher Auffassung sind, das Gesetzesvorhaben von der „europäischen Ebene“ also einmütig gebilligt wird. Insofern ist das Konzept, das Stellungnahmerecht nationaler Parlamente zur Anwendung des Subsidiaritätsprinzips bei einem Gesetzgebungsvorhaben in der das Verfahren der Mitentscheidung regelnden Bestimmung des Art. 251 (ex-Art. 189 b) EGV zu verorten, zwar grundsätzlich denkbar. Auch der Umstand, dass im Verfahren der Zusammenarbeit nach Art. 252 (ex-Art. 189 c) EGV ein solches Stellungnahmerecht der nationalen Parlamente nicht bestünde, begegnet keinen besonderen Bedenken, da dieses Verfahren seit dem Vertrag von Amsterdam nur noch in wenigen Fällen Anwendung findet.217 Indes wird die Beschränkung des Stellungnahmerechts auf die Fälle unterschiedlicher Auffassungen von Rat und Europäischem Parlament zu von letzterem vorgenommenen Änderungen an Gesetzesvorschlägen des Rates dem telos einer überzeugenden Beteiligung der nationalen Parlamente an der Subsidiaritätskontrolle im Vorfeld nicht gerecht. Dennoch hat Jürgen Meyers Entwurf als anregendes Modell und Diskussionsanstoß einen relevanten Beitrag zur Konventsarbeit geleistet. 216
B/L/Wirtz, Der Amsterdamer Vertrag, S. 292. Dabei handelt es sich um 4 Bereiche des Titels VII des EGV betreffend die Wirtschafts- und Währungspolitik, siehe Art. 99 Abs. 5 (ex-Art. 103 Abs. 5) EGV, Art. 102 Abs. 2 (ex-Art. 104 a Abs. 2) EGV, Art. 103 Abs. 2 (ex-Art. 104 b Abs. 2) EGV und Art. 196 Abs. 2 (ex-Art. 105 a Abs. 2) EGV, vgl. Schwarze/Schoo, EU-Kommentar, Art. 252 EGV Rn. 4. 217
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Kap. 2: Der Weg zum Vertrag über eine Verfassung für Europa
c) Die Schlussfolgerungen Die am 23. September 2002 vorgelegten Schlussfolgerungen der Gruppe I „Subsidiarität“218 fassen die Ergebnisse der Beratungen zusammen. Der Abschlussbericht ist dreigeteilt: Teil I stellt die Grundsätze dar, über die Konsens erzielt werden konnte. Teil II enthält konkrete Vorschläge zur Verbesserung der Anwendung und Überwachung des Subsidiaritätsprinzips. In Teil III schließlich sind Überlegungen der Arbeitgruppe zur Verbesserung der Anwendung und Überwachung des Subsidiaritätsprinzips aufgenommen worden, die aber den Rahmen des der Gruppe gesetzten Mandats überschreiten würden und daher nicht als Vorschläge in Teil II aufgenommen werden konnten. Zunächst wird in Teil I festgestellt, dass bereits im bestehenden Gemeinschaftsrecht eine Überwachung der Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips im Rechtsetzungsverfahren vorgesehen ist, „und zwar anhand der Kriterien, die im Vertrag und insbesondere im Protokoll über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit219 festgelegt sind.“220 Auch unterliege das Subsidiaritätsprinzip bereits de lege lata der nachträglichen gerichtlichen Kontrolle durch den EuGH. Zu Recht wird also bereits zu Beginn des Dokuments klargestellt, dass es – was die dargestellten Mechanismen betrifft – nicht um die erstmalige Einrichtung, sondern um die Verbesserung des Systems der Subsidiaritätsgewährleistung geht. Nach weiteren Festlegungen221 wendet sich der Text der Frage zu, welcher Natur die Überwachung des Subsidiaritätsprinzips zu sein habe und entscheidet sich für einen ex ante-Mechanismus „im Wesentlichen politischer Art“, da es sich beim Subsidiaritätsprinzip „um ein im Wesen politisches Prinzip handelt, dessen Umsetzung den Organen einen weiten Ermessensspielraum bietet“.222 Diese politische Kontrolle solle „in erster Linie unter Einschaltung der einzelstaatlichen Elemente erfolgen“: Zum einen durch eine bessere „Überwachung der einzelstaatlichen Regierungen (bei der) Festlegung des Regierungsstandpunkts in Gemeinschaftsfra218
CONV 286/02, im Internet abrufbar unter http://register.consilium.eu.int/pdf/de/02/cv00/ 00286d2.pdf. 219 Gemeint ist das Subsidiaritätsprotokoll zum Vertrag von Amsterdam. 220 CONV 286/02, S. 2, http://register.consilium.eu.int/pdf/de/02/cv00/00286d2.pdf. 221 Darin erteilt die Arbeitsgruppe den Überlegungen zur Schaffung einer ad hoc-Instanz zur Überwachung der Anwendung des Subsidiaritätsprinzips eine Absage, um die Beschlussfassung in den Organen „weder (zu) erschweren noch in die Länge (zu) ziehen oder (zu) blockieren“; ferner wird ausgeführt, dass einige der notwendigen Maßnahmen „Änderungen des Vertrags, insbesondere des Protokolls über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit, erfordern“; außerdem stellt die Arbeitsgruppe fest, dass ihr „daran gelegen (war) sicherzustellen, dass die (…) vorgeschlagenen Verbesserungen unabhängig von der institutionellen Struktur der einzelnen Mitgliedstaaten ihre Wirkung entfalten können. Gleichzeitig wollte sie eine Überlagerung etwaiger einzelstaatlicher Diskussionen institutioneller Art vermeiden“; CONV 286/02, S. 2, http://register.consilium.eu.int/pdf/de/02/cv00/00286d2.pdf. 222 CONV 286/02, S. 2, http://register.consilium.eu.int/pdf/de/02/cv00/00286d2.pdf.
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gen“, zum anderen durch einen ad hoc-Mechanismus, der die einzelstaatlichen Parlamente in das Prozedere der Überwachung einbezieht, das Rechtssetzungsverfahren aber weder erschwert noch bürokratisiert.223 Ex post soll die Kontrolle der Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips gerichtlicher Art sein, diesbezüglich sollten die Klagevoraussetzungen gelockert werden. Die in Teil II des Dokuments enthaltenen Vorschläge für den Konvent orientieren sich am Konzept eines dreiphasigen Systems zur Gewährleistung des Subsidiaritätsprinzips. Erster Akkord des Subsidiaritätsdreiklangs ist die „Anwendung des Subsidiaritätsprinzips durch die am Rechtsetzungsprozess beteiligten Organe während der Erarbeitung und der Unterbreitung eines Rechtsakts“: Kernaspekt des Vorschlags der Arbeitsgruppe ist hier die Verpflichtung der Kommission, einen „Subsidiaritätsbogen“ zu erstellen, der detaillierte Angaben zu den „voraussichtlichen finanziellen Auswirkungen eines Rechtsakts sowie – im Fall einer Richtlinie – zu seinen Auswirkungen auf die von den Mitgliedstaaten zu erlassenden Rechtsvorschriften“ enthält.224 Dieser Vorschlag hat sich letztlich verwirklicht und ist in Art. 5 des Protokolls zum Vertrag über eine Verfassung für Europa über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit niedergelegt worden.225 Nicht mehrheitsfähig in der Arbeitsgruppe war der Vorschlag, in der Kommission einen „Herrn oder Frau Subsidiarität“ oder einen Vizepräsidenten zu benennen, der für die Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips „Sorge zu tragen (hat und) mit jedem Vorschlag für einen Rechtsakt befasst werden“ müsste; begründet wurde die Ablehnung dieser auf den ersten Blick eleganten Idee mit dem nicht von der Hand zu weisenden Argument, dass jedes Mitglied der Kommission für die Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips in seinem Bereich verantwortlich, die Festlegung ihrer Binnenstruktur überdies allein Sache der Kommission (genauer: ihres Präsidenten, vgl. Art. 217 (ex-Art. 161) EGV) ist.226 Zweiter Akkord ist die Schaffung des Frühwarnsystems, mittels dessen die einzelstaatlichen Parlamente direkt an der Überwachung der Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips beteiligt werden. Der Ablauf des Frühwarnverfahrens soll sich wie folgt gestalten:227 „– Die Kommission übermittelt jedem einzelstaatlichen Parlament der Mitgliedstaaten ihre Rechtsetzungsvorschläge.
223
CONV 286/02, S. 3, http://register.consilium.eu.int/pdf/de/02/cv00/00286d2.pdf. CONV 286/02, S. 4, http://register.consilium.eu.int/pdf/de/02/cv00/00286d2.pdf. 225 Siehe dazu die Ausführungen in Kapitel 3 III. 226 CONV 286/02, S. 5, http://register.consilium.eu.int/pdf/de/02/cv00/00286d2.pdf. 227 Da die Vorschläge der Arbeitsgruppe I „Subsidiarität“ zum Frühwarnsystem im Wesentlichen inhaltsgleich in das Protokoll zum Vertrag über eine Verfassung für Europa über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit übernommen wurden, soll die Darstellung des Ablaufs des Frühwarnverfahrens an dieser Stelle kurz gehalten werden. Eine ausführliche Auseinandersetzung mit dem Frühwarnsystem erfolgt in Kapitel 3. 224
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Kap. 2: Der Weg zum Vertrag über eine Verfassung für Europa
– Binnen 6 Wochen kann jedes einzelstaatliche Parlament eine begründete Stellungnahme dahingehend abgeben, ob der Rechtsetzungsvorschlag mit dem Subsidiaritätsprinzip vereinbar ist. Die Stellungnahme wird an die Präsidenten des Europäischen Parlaments, des Rates und der Kommission gerichtet. – Gehen fristgerecht Stellungnahmen ein, allerdings von weniger als einem Drittel der einzelstaatlichen Parlamente, ist die Begründung des Gemeinschaftsgesetzgebers betreffend die Vereinbarkeit des Rechtsakts mit dem Subsidiaritätsprinzip zu präzisieren und umfangreicher zu gestalten. – Gehen von mindestens einem Drittel der nationalen Parlamente fristgerecht Stellungnahmen ein, muss die Kommission (ergebnisoffen) den Vorschlag überprüfen.“228
Der Vorschlag einiger Arbeitsgruppenmitglieder,229 die entsprechende Ergänzung des Vermittlungsverfahrens nach Art. 251 (ex-Art. 189 b) EGV biete eine zweckmäßige Möglichkeit zur Beteiligung der einzelstaatlichen Parlamente an der Subsidiaritätskontrolle, wird unterstützt; allerdings soll dieses Stellungnahmerecht als Ergänzung zum ebenfalls bestehenden Stellungnahmerecht im Frühwarnsystem bestehen, also „eine erneute Beteiligung der einzelstaatlichen Parlamente an der Überwachung des Subsidiaritätsprinzips darstellen“.230 Die im Zusammenhang mit dem Vorschlag von Jürgen Meyer zur Niederlegung eines Stellungnahmerechts der einzelstaatlichen Parlamente im Vermittlungsverfahren231 geäußerte Kritik greift bei diesem System nicht: Hier hat ein einzelstaatliches Parlament bei jedem Gesetzgebungsvorschlag ein Recht zur Stellungnahme, unabhängig davon, ob zwischen Rat und Europäischem Parlament unterschiedliche Auffassungen betreffend von letzterem vorgenommene Änderungen am Entwurf des Rechtsakts bestehen und damit gemäß Art. 251 Abs. 3 Satz 2 EGV ein Vermittlungsausschuss einberufen werden kann. Mindestens einmal könnte also jedes einzelstaatliche Parlament eine Stellungnahme abgeben, falls es zu einem Vermittlungsverfahren kommt, sogar zweimal. Die Dopplung des Stellungnahmerechts im Falle der Einberufung eines Vermittlungsausschusses ist keineswegs redundant, vielmehr gewährleistet sie, dass auch die vom Europäischen Parlament vorgeschlagenen Änderungen eines Gesetzgebungsentwurfs einer Subsidiaritätskontrolle durch die einzelstaatlichen Parlamente unterzogen werden können. Letzter Akkord des Subsidiaritätsdreiklangs ist die Geltendmachung eines Verstoßes gegen das Subsidiaritätsprinzip im Klageweg vor dem EuGH. Diese Klage soll unter Verweis auf die nach mehrheitlicher Auffassung überwiegend politischen Charakter aufweisende Subsidiaritätskontrolle „nur in wenigen Fällen, die 228 229
CONV 286/02, S. 5 f., http://register.consilium.eu.int/pdf/de/02/cv00/00286d2.pdf. So des deutschen Mitglieds Jürgen Meyer, siehe dazu die vorangegangenen Ausführun-
gen. 230
CONV 286/02, S. 7, http://register.consilium.eu.int/pdf/de/02/cv00/00286d2.pdf. Vgl. den Entwurf von Meyer für die Ergänzung von Art. 251 (ex-Art. 189b) EGV, WG I WD 18, S. 6, http://european-convention.eu.int/docs/wd1/2561.pdf. 231
II. Arbeit und Ergebnisse des Konvents zur Zukunft Europas
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voraussichtlich Ausnahmen darstellen werden, zulässig sein“:232 Klagevoraussetzung soll daher das Durchlaufen der politischen Kontrollmechanismen sein, ein mitgliedstaatliches Parlament bzw. eine seiner Kammern muss – selbst!233 – eine begründete Stellungnahme abgegeben haben, um hernach Klage wegen Missachtung des Subsidiaritätsprinzips erheben zu dürfen. Die Arbeitsgruppe schlägt ferner vor, auch dem Ausschuss der Regionen ein Klagerecht wegen Verstoßes eines Gesetzgebungsaktes gegen das Subsidiaritätsprinzip zu gewähren; keine mehrheitliche Zustimmung fand hingegen der Vorschlag,234 auch regionalen Körperschaften mit Gesetzgebungsbefugnissen ein solches Recht zu gewähren.235 Die Idee der Einrichtung einer besonderen Subsidiaritätskammer beim EuGH236 wird in den Schlussfolgerungen mit dem Hinweis verworfen, dass diese organisatorische Aufgabe Sache des Gerichtshofes sei.237 Der Vorschlag Erwin Teufels, das Verfahren vor dem EuGH als ex ante-Kontrolle auszugestalten, so dass ein Rechtsakt nach Abschluss des Rechtsetzungsverfahrens, aber noch vor seinem Inkrafttreten präventiver gerichtlicher Kontrolle unterzogen werden kann,238 vermochte sich ebenfalls nicht durchzusetzen. Nach Ansicht der Arbeitsgruppenmehrheit würde eine solche gerichtliche Kontrolle „während der legislativen Phase“ dem „überwiegend politischen Charakter der Überwachung des Subsidiaritätsprinzips“ zuwiderlaufen.239 Zudem sei es „kaum praktikabel, dass die gerichtliche Kontrolle der Achtung des Subsidiaritätsprinzips zu einem anderen Zeitpunkt erfolgt, als die Kontrolle anderer Grundsätze, wie bspw. des Grundsatzes der Verteilung der Zuständigkeiten oder des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit.“240 Die Stichhaltigkeit dieser Mehrheitsbegründung mag bezweifelt werden: Der von der Arbeitsgruppe als vorrangig angesehene politische Kontrollmechanismus würde jedenfalls durch das von Teufel vorgeschlagene Modell einer präventiven Subsidiaritätsklage nicht beeinträchtigt, da die gerichtliche Subsidiaritätskontrolle nach diesem Entwurf gerade nicht „während der legislativen Phase“,241 sondern erst „nach Verabschiedung des Rechtsaktes durch Rat und Parlament“242 stattfin232
CONV 286/02, S. 7, http://register.consilium.eu.int/pdf/de/02/cv00/00286d2.pdf. CONV 286/02, S. 8, http://register.consilium.eu.int/pdf/de/02/cv00/00286d2.pdf. 234 Vgl. Teufel, WG I WD 12, S. 9, http://european-convention.eu.int/docs/wd1/2354.pdf. 235 CONV 286/02, S. 8, http://register.consilium.eu.int/pdf/de/02/cv00/00286d2.pdf. 236 Teufel, WG I WD 12, S. 5, http://european-convention.eu.int/docs/wd1/2354.pdf. 237 CONV 286/02, S. 8, http://register.consilium.eu.int/pdf/de/02/cv00/00286d2.pdf. Nach Art. 221 (ex-Art. 165) EGV i. V. m. Art. 9 des Verfahrensordnung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften bildet der Gerichtshof seine Kammern selbst. Eine Spezialisierung der Kammern auf bestimmte Rechtsgebiete ist im Gemeinschaftsrecht nicht vorgesehen, Schwarze/Schwarze, EU-Kommentar, Art. 222 EGV Rn. 5. 238 WG I WD 6, S. 7, http://european-convention.eu.int/docs/wd1/1393.pdf. 239 CONV 286/02, S. 9, http://register.consilium.eu.int/pdf/de/02/cv00/00286d2.pdf. 240 CONV 286/02, S. 9, http://register.consilium.eu.int/pdf/de/02/cv00/00286d2.pdf. 241 CONV 286/02, S. 9, http://register.consilium.eu.int/pdf/de/02/cv00/00286d2.pdf. 242 WG I WD 6, S. 7, http://european-convention.eu.int/docs/wd1/1393.pdf. 233
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den soll. Das gerichtliche Kontrollverfahren könnte keine Auswirkungen auf das Gesetzgebungsverfahren zeitigen, da dieses zum Zeitpunkt der Anrufung des Gerichtshofes bereits vorüber wäre. Auch das zweite Argument der Arbeitsgruppenmehrheit, wonach es unpraktikabel wäre, die Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips zu einem anderen Zeitpunkt – früher – als die Einhaltung des Prinzips der begrenzten Einzelermächtigung und des Verhältnismäßigkeitsprinzips im Klageweg geltend machen zu können, mag zwar nicht von der Hand zu weisen sein; ein solches Auseinanderfallen der Prüfungsgegenstände wäre freilich im Entwurf von Erwin Teufel nicht zu befürchten gewesen, da der von ihm vorgeschlagene Kompetenzsenat zur Prüfung aller drei Grundsätze der europäischen Kompetenzordnung befugt sein sollte.243 Der Vorschlag einer präventiven gerichtlichen Kontrolle des Subsidiaritätsprinzips wurde also in den Schlussfolgerungen mit Argumenten abgelehnt, welche die konkreten diesbezüglichen Entwürfe einzelner Arbeitsgruppenmitglieder nicht in vollem Umfang zu erfassen vermochten, so dass sich bei genauer Analyse des Textes ein gewisser Eindruck inhaltlicher Lückenhaftigkeit nicht vermeiden lässt. Teil III des Dokuments enthält Überlegungen, welche nicht vom Mandat der Arbeitsgruppe erfasst waren und folglich nicht als konkrete Vorschläge formuliert werden konnten.244 Interessant ist hier die Erwägung, „dass eine Vereinfachung der Rechtsakte der Union sowie eine Klärung ihrer Wirkungen die Anwendung und die Überwachung des Subsidiaritätsprinzips insbesondere deshalb verbessern würde, als sich leichter feststellen ließe, ob die Umsetzung dieser Akte Sache der Gemeinschaft bzw. der Mitgliedstaaten ist.“245 Die Arbeitsgruppe regt an, „eine Unterscheidung zwischen Rechtsakten legislativer und Rechtsakten exekutiver Art im Vertrag“ zu verankern; dies würde auch „die Anwendung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit fördern, da eher Rechtsakte gewählt würden, die der angestrebten Intensität der erforderlichen Maßnahmen angemessen sind.“246 Diese Überlegungen beziehen sich auf das Aufgabenfeld der Arbeitsgruppe IX „Vereinfachung“.247 In Art. 33 f. VE Konvent sowie auch in den späteren Art. I-33 ff. VVE wurde eine solche Trennung in gewisser Weise realisiert; der Verfassungstext unterscheidet nämlich zwischen Gesetzgebungsakten (Europäisches Gesetz und Europäisches Rahmengesetz) und Rechtsakten ohne Gesetzgebungscharakter (Europäische Verordnung und Europäischer Beschluss).248
243
WG I WD 6, S. 8, http://european-convention.eu.int/docs/wd1/1393.pdf. CONV 286/02, S. 9, http://register.consilium.eu.int/pdf/de/02/cv00/00286d2.pdf. 245 CONV 286/02, S. 10, http://register.consilium.eu.int/pdf/de/02/cv00/00286d2.pdf. 246 CONV 286/02, S. 10, http://register.consilium.eu.int/pdf/de/02/cv00/00286d2.pdf. 247 Der Abschlussbericht der Arbeitsgruppe IX „Vereinfachung“ vom 29. November 2002, CONV 424/02, ist im Internet unter http://register.consilium.eu.int/pdf/de/02/cv00/00424d2. pdf abrufbar. 248 Siehe dazu bspw. Streinz/Ohler/Herrmann, Die neue Verfassung für Europa, S. 63 f. 244
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d) Bewertung Die Ergebnisse der Arbeitsgruppe I „Subsidiarität“ sind positiv zu bewerten und haben der anschließenden Diskussion im Plenum des Konvents wertvolle Anregungen gegeben, die sich auch in weiten Teilen im Konventsentwurf und anschließend im Vertrag über eine Verfassung für Europa niedergeschlagen haben. Zu nennen ist insbesondere das Konzept eines dreiphasigen Gewährleistungsschemas zur Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips: Auf der ersten Stufe die Verpflichtung der Kommission, auf einem „Subsidiaritätsbogen“ die Vereinbarkeit eines Vorschlags für einen Rechtsakt mit dem Subsidiaritätsprinzip detailliert zu begründen und somit allen am Rechtsetzungsprozess Beteiligten ausreichend Informationen zu verschaffen, so dass diese auf der Grundlage der Angaben der Kommission geeignete Entscheidungen über das weitere Vorgehen in Bezug auf den Vorschlag fassen können. Auf der zweiten Stufe das Frühwarnsystem, das eine frühzeitige Beteiligung der nationalen Parlamente am Rechtschöpfungsprozess ermöglicht. Auf der letzten Stufe dann der Vorschlag zur Einführung einer Subsidiaritätsklage vor dem Europäischen Gerichtshof, welche nach Inkrafttreten eines Rechtsakts auch dem Ausschuss der Regionen und den nationalen Parlamenten als Gralshüter der Rechte und Interessen der „unteren Ebenen“ die Möglichkeit eröffnet, die Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips gerichtlich kontrollieren zu lassen. Auch eine kritische Anmerkung zu den Ergebnissen der Arbeitsgruppe muss indes fallen: Zu sehr wurde in den Beratungen vom unumstößlichen primär politischen Charakter des Subsidiaritätsprinzips ausgegangen. Alle lobenswerten Kontrollmechanismen zur Gewährleistung der Einhaltung dieses Grundsatzes wurden um das „goldene Kalb“ dieses vermeintlichen Charakters249 „herumgebaut“. Den mindesten genauso weiterführenden Schritt, den Griff in die Substanz, die sedes materiae des Subsidiaritätsprinzips, vollzog die Arbeitsgruppe nicht: Der Vorschlag von Erwin Teufel,250 eine sprachliche Präzisierung der Subsidiaritätsdefinition des Art. 5 Abs. 2 (ex-Art. 3 b Abs. 2) EGV vorzunehmen und so zu besserer Handhabbarkeit und Justiziabilität des Prinzips zu gelangen, wurde nicht aufgenommen und erörtert. Das lag nicht etwa an zeitlichen Gründen, die ein Herauslösen des Vorschlags aus der dichtgedrängten Agenda gefordert hätten: Vielmehr hatte das Konventspräsidium entschieden, dass die Arbeitsgruppen keine Vorschläge zur Änderung der Bestimmungen des EGV vorlegen sollten.251 Grund dafür dürfte die nachvollziehbare Absicht gewesen sein, die eigentliche Arbeit am Gemälde des künftigen Unionsrechts nicht einzelnen „Fachausschüssen“ zu überlassen; legislative Vorschläge sollten vielmehr unter der Verantwortung des gesamten Konvents („Wesentlichkeitstheorie“) erarbeitet werden, wenn alle Arbeitsgrup249
CONV 286/02, S. 2, 7, 9, http://register.consilium.eu.int/pdf/de/02/cv00/00286d2.pdf. WG I WD 6, S. 9, http://european-convention.eu.int/docs/wd1/1393.pdf. 251 Vgl. den am 18. September 2002 übermittelten Schriftwechsel zwischen Erwin Teufel und Íñigo Méndez de Vigo y Montojo, WG I WD 23, im Internet abrufbar unter http://europeanconvention.eu.int/docs/wd1/2947.pdf. 250
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penberichte eingegangen waren und eine tragfähige Basis für das weitere Handeln bilden konnten. So blieb der Aspekt einer Präzisierung der Subsidiaritätsdefinition der bereits parallel und nachfolgend stattfindenden Konventsarbeit im Plenum vorbehalten. Dass hierbei letztlich ein recht ansprechendes Resultat erzielt wurde, lässt die Kritik an der fehlenden Erörterung im Rahmen der Arbeitsgruppe I „Subsidiarität“ zwar nicht verstummen, besänftigt sie jedoch.
4. Das Subsidiaritätsprinzip in den Plenartagungen des Konvents Nach der Eröffnung des Konvents zur Zukunft Europas am 28. Februar 2002 fanden insgesamt 24 arbeitsreiche Plenartagungen252 statt, bis der Entwurf eines Vertrags über eine Verfassung für Europa im Juni 2003 verabschiedet und den Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union auf dem Gipfel in Thessaloniki übergeben wurde. Bereits in der ersten Plenartagung am 21./22. März 2002253 wurden die Themenkomplexe Kompetenzordnung und Subsidiaritätsprinzip in den Mittelpunkt der Beratungen gestellt. Ein großer Teil der Mitglieder des Konvents, allen voran Erwin Teufel, bekannte sich zum Subsidiaritätsprinzip und zur Notwendigkeit, wirksame Vorkehrungen zu treffen, um die Einhaltung dieses Prinzips zu gewährleisten.254 Teufels Forderung, in einem Kompetenzkatalog auch Zuständigkeiten der Mitgliedstaaten festzulegen, „in die die EU nicht eingreifen darf“,255 also eine ausschließliche Zuständigkeit der Mitgliedstaaten expressis verbis europarechtlich zu verankern, fand indes keine mehrheitliche Befürwortung.256 In der Plenartagung vom 15./16. April 2002257 stand unter anderem die Notwendigkeit effektiver Mechanismen zur Kontrolle der Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips auf der Tagesordnung. Es wurde darauf hingewiesen, „dass die einzelstaatlichen Parlamente schon jetzt die Einhaltung des Grundsatzes der Kompetenzverteilung und des Subsidiaritätsprinzips in bestimmten Bereichen überwachen können, sofern diese Fragen auf nationaler Ebene erörtert werden.“258 Erörtert wurde die Frage, ob ein neuer Kontrollmechanismus notwendig sei und ob dieser bejahendenfalls gerichtlicher oder politischer Art sein sollte; von den Befürwor252 Die vollständigen Protokolle der Plenartagungen des Konvents sind auf der Homepage des ttp://www.europarl.eu.int/europe2004/index_de.htm. Europäischen Parlaments abrufbar, http://www.europarl.eu.int/europe2004/index_de.htm 253 Zusammenfassung der Plenartagung (CONV 14/02) im Internet abrufbar unter http:// register.consilium.eu.int/pdf/de/02/cv00/00014d2.pdf. 254 CONV 14/02, S. 4, im Internet abrufbar unter http://register.consilium.eu.int/pdf/de/02/ cv00/00014d2.pdf. 255 Erwin Teufel auf der Plenartagung vom 21./22. März 2002, „Erwartungen an die Europäische Union“, abrufbar unter http://european-convention.eu.int/docs/speeches/106.pdf. 256 Bauer, Der europäische Verfassungsprozess, S. 456. 257 Zusammenfassung der Plenartagung (CONV 40/02) im Internet abrufbar unter http:// register.consilium.eu.int/pdf/de/02/cv00/00040d2.pdf. 258 CONV 40/02, S. 7, http://register.consilium.eu.int/pdf/de/02/cv00/00040d2.pdf.
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tern eines gerichtlichen Kontrollmechanismus wurde die Möglichkeit der Etablierung eines aus den Mitgliedern der nationalen Verfassungsgerichte bestehenden Gerichtshofs, als andere Option die Schaffung eines Systems der Zusammenarbeit zwischen EuGH und nationalen Verfassungsgerichten ins Spiel gebracht.259 Auch die Beteiligung von Regionen, insbesondere von solchen mit Gesetzgebungsbefugnissen, an einem Kontrollmechanismus wurde teilweise gefordert; die diesbezügliche Kompetenzverteilung zwischen dem Mitgliedstaat und seiner Region sollte allerdings allein nationaler Regelung vorbehalten sein.260 In der Sitzung des Konvents vom 23./24. Mai 2002261 standen neben anderen Themen abermals die Kontrollmechanismen zur Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips im Mittelpunkt der Diskussionen. Mehrheitlich wurde die Notwendigkeit einer stärkeren politischen Kontrolle befürwortet; für einen Teil der Konventsmitglieder machte dies eine Stärkung der parlamentarischen Kontrollmöglichkeiten in Bezug auf das Subsidiaritätsprinzip erforderlich: Vorgebracht wurde, dass der Einfluss der nationalen Parlamente auf die Regierung bei Festlegung ihres Standpunkts in Gemeinschaftsangelegenheiten verstärkt werden müsse; auch solle ein Mechanismus eingerichtet werden, der den nationalen Parlamenten eine stärkere Rolle bei der Subsidiaritätskontrolle im Rahmen des europäischen Beschlussfassungsprozesses verleihe.262 Die gerichtliche Kontrolle des Subsidiaritätsprinzips war ein weiterer Gegenstand der Erörterungen: Einige Konventsmitglieder forderten die Einrichtung einer speziellen Subsidiaritäts- und Kompetenzkammer am EuGH. Ferner wurde diskutiert, wer zum Kreis der Aktivlegitimierten bei einer Subsidiaritätsklage gehören solle; während manche Konventsmitglieder diesbezüglich für eine Klageberechtigung der nationalen Parlamente votierten, wurde in anderen Beiträgen auf die Regionen mit Gesetzgebungsbefugnissen oder den Ausschuss der Regionen verwiesen.263 In Anbetracht des „politischen und zugleich rechtlichen Charakters des Subsidiaritätsprinzips“ sprachen sich manche Mitglieder des Konvents für die Errichtung eines „Schiedsmechanismus gemischter (politisch-gerichtlicher) Natur, der vor der Annahme eines Rechtsakts mit einer Frage hinsichtlich der Kompetenzabgrenzung oder Subsidiarität befasst werden könnte“, aus.264 Auch in der Konventssitzung vom 6./7. Juni 2002,265 die sich unter anderem mit der Rolle der einzelstaatlichen Parlamente im europäischen Gefüge befasste, wurde die Kontrolle der Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips diskutiert. Einige 259
CONV 40/02, S. 7, http://register.consilium.eu.int/pdf/de/02/cv00/00040d2.pdf. CONV 14/02, S. 7, http://register.consilium.eu.int/pdf/de/02/cv00/00040d2.pdf. 261 Zusammenfassung der Plenartagung (CONV 60/02) im Internet abrufbar unter http:// register.consilium.eu.int/pdf/de/02/cv00/00060d2.pdf. 262 CONV 60/02, S. 4, http://register.consilium.eu.int/pdf/de/02/cv00/00060d2.pdf. 263 CONV 60/02, S. 5, http://register.consilium.eu.int/pdf/de/02/cv00/00060d2.pdf. 264 CONV 60/02, S. 5, http://register.consilium.eu.int/pdf/de/02/cv00/00060d2.pdf. 265 Zusammenfassung der Plenartagung (CONV 97/02) im Internet abrufbar unter http:// register.consilium.eu.int/pdf/de/02/cv00/00097d2.pdf. 260
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Konventsmitglieder äußerten, das Subsidiaritätsprinzip – wie auch das System der Kompetenzabgrenzung – werfe vor allem politische Probleme auf; die Kontrolle seiner Einhaltung müsse daher unter Beteiligung der einzelstaatlichen Parlamente auf politischer Ebene erfolgen.266 Andere Teilnehmer dagegen forderten unter Berufung auf die Union als Rechtsgemeinschaft, dass die Kontrolle der Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips durch die Gerichte erfolgen müsse; hier gab es verschiedene Auffassungen, ob diese gerichtliche Kontrolle ex post oder auch ex ante stattfinden und welche Beteiligungsrechte den nationalen Parlamenten dabei zukommen solle.267 Erwin Teufel wies darauf hin, dass Kompetenzkonflikte zwischen der Union und den Mitgliedstaaten am besten gar nicht erst entstehen dürften; im Interesse einer klaren Kompetenzverteilung sei somit eine frühzeitige Kompetenzkontrolle notwendig, unabhängig davon, ob diese politisch-parlamentarischer oder justizieller Art sei.268 Die Konventstagung vom 24./25. Juni 2002269 war der „Anhörung der Zivilgesellschaft“ gewidmet. Das Subsidiaritätsprinzip wurde auch hier mehrfach angesprochen, stellte aber nicht den inhaltlichen Schwerpunkt der Erörterungen dar. Das Gleiche gilt für die Sitzung vom 11./12. Juli 2002270, die das außenpolitische Handeln der Union sowie den Bericht des Jugendkonvents271 auf der Tagesordnung hatte. Der Bericht des Jugendkonvents selbst enthält einige Aussagen zum Subsidiaritätsprinzip, „das dem Gedanken, den Menschen ins Zentrum der Europäischen Union zu stellen, am ehesten entspricht.“272 Es soll maßgeblich für die Verteilung der Zuständigkeiten zwischen Union und nationaler „Ebene“ sein273 und sorgfältiger Überwachung unterliegen. Der Jugendkonvent beschreibt das Subsidiaritätsprinzip zutreffend in seiner funktionalen Dimension als Garant für Bürgernähe und Demokratie, wenn auch die Bezugnahme auf das Prinzip als maßgeblicher Faktor für die Zuständigkeitsverteilung zumindest missverständlich erscheint. In der Sitzung vom 12./13. September 2002274 erläuterte der Vorsitzende der Arbeitsgruppe I „Subsidiarität“, Íñigo Méndez de Vigo y Montojo, den Stand der Ar266
CONV 97/02, S. 10, http://register.consilium.eu.int/pdf/de/02/cv00/00097d2.pdf. CONV 97/02, S. 10, http://register.consilium.eu.int/pdf/de/02/cv00/00097d2.pdf. 268 Rede von Ministerpräsident Erwin Teufel auf dem Europäischen Konvent am 6. Juni 2002, im Internet abrufbar unter http://european-convention.eu.int/docs/speeches/1008.pdf. 269 Zusammenfassung der Plenartagung (CONV 167/02) im Internet abrufbar unter http:// register.consilium.eu.int/pdf/de/02/cv00/00167d2.pdf. 270 Zusammenfassung der Plenartagung (CONV 200/02) im Internet abrufbar unter http:// register.consilium.eu.int/pdf/de/02/cv00/00200d2.pdf. 271 Der Jugendkonvent tagte vom 9. – 12. Juli 2002 in Brüssel. Das am 12. Juli 2002 verabschiedete Schlussdokument (CONV 205/02) ist abrufbar unter http://register.consilium.eu.int/ pdf/de/02/cv00/00205d2.pdf. 272 CONV 205/02, S. 5, http://register.consilium.eu.int/pdf/de/02/cv00/00205d2.pdf. 273 CONV 205/02, S. 5, http://register.consilium.eu.int/pdf/de/02/cv00/00205d2.pdf. 274 Zusammenfassung der Plenartagung (CONV 284/02) im Internet abrufbar unter http:// register.consilium.eu.int/pdf/de/02/cv00/00284d2.pdf. 267
II. Arbeit und Ergebnisse des Konvents zur Zukunft Europas
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beiten seiner Gruppe. Ausgehend davon, dass das Subsidiaritätsprinzip ein geltender Grundsatz ist, dessen Anwendung von den Institutionen überwacht wird, arbeite die Gruppe an einer Verbesserung des Subsidiaritätssystems; dabei gehe man von der Prämisse aus, keine neuen Organe zu etablieren und das Rechtsetzungsverfahren weder zu blockieren, noch zu überlagern oder komplizierter zu gestalten.275 Drei Leitlinien bestünden für die Arbeit der Gruppe: Erstens solle die Kommission verpflichtet sein, in der prälegislativen Phase die Auswirkungen ihres Vorschlages deutlicher darzulegen.276 Zweitens werde ein Frühwarnsystem geprüft, bei dem die mitgliedstaatlichen Parlamente tätig würden; diese erhielten aber kein Vetorecht, vielmehr handele es sich um die Ausübung einer politischen Kontrolle. Drittens solle den nationalen Parlamenten die Möglichkeit der Erhebung einer Subsidiaritätsklage gewährt werden, wenn sie vorher das Frühwarnverfahren durchgeführt hätten. Insbesondere letzter Punkt wurde in der Plenarsitzung recht kontrovers diskutiert.277 Auf der Konventstagung vom 3./4. Oktober 2002278 wurden die von der Arbeitsgruppe I „Subsidiarität“ vorgestellten Schlussfolgerungen279 ausführlich und unter starker Beteiligung der Konventsmitglieder erörtert:280 Die meisten Beiträge bezogen sich auf die von der Arbeitsgruppe vorgeschlagene Einrichtung eines „Frühwarnsystems“. Mehrheitlich wurde die hierbei vorgesehene Beteiligung der nationalen Parlamente begrüßt. Kritik gab es dahingehend, dass das Verhältnismäßigkeitsprinzip nach den Vorschlägen der Arbeitsgruppe keiner äquivalenten Kontrolle wie das Subsidiaritätsprinzip unterzogen sei. Umstritten war das Verhältnis der Kammern eines nationalen Parlaments zueinander in Bezug auf die Beteiligung an der Durchführung des Frühwarnverfahrens. Kritisiert wurde die vorgeschlagene Verknüpfung zwischen dem Frühwarnmechanismus und der Subsidiaritätsklage; es bestünde die Gefahr, dass jener nur durchlaufen werde, um sich die Möglichkeit späterer Klageerhebung offenzuhalten. Dieser Kritik wurde unter anderem entgegengehalten, das Frühwarnsystem trage dazu bei, durch effektive Vorfeldkontrolle eine Überlastung des EuGH zu verhindern. Hinsichtlich der gerichtlichen Kontrolle des Subsidiaritätsprinzips war bereits umstritten, ob den nationalen Parlamenten des Mitgliedstaates das Recht zur Klageerhebung eingeräumt werden sollte. Für ein Klagerecht wurde angeführt, dass die mitgliedstaatlichen Parlamente in der Regel diejenigen Institutionen seien, die bei einem Verstoß gegen das Subsidiaritätsprinzip in ihren Zuständigkeiten verletzt sind. Andere Redner wiesen 275
CONV 284/02, S. 6, http://register.consilium.eu.int/pdf/de/02/cv00/00284d2.pdf. Diese Überlegung hat sich im „Subsidiaritätsbogen“ realisiert. Dazu die Ausführungen in Kapitel 3 III. 3. 277 CONV 284/02, S. 6 f., http://register.consilium.eu.int/pdf/de/02/cv00/00284d2.pdf. 278 Zusammenfassung der Plenartagung (CONV 331/02) im Internet abrufbar unter http:// register.consilium.eu.int/pdf/de/02/cv00/00331d2.pdf. 279 Schlussfolgerungen der Gruppe I „Subsidiarität“ (CONV 286/02) vom 23. September 2002, im Internet abrufbar unter http://register.consilium.eu.int/pdf/de/02/cv00/00286d2.pdf. Dazu Kapitel 2 II. 3. c). 280 CONV 331/02, S. 6 ff., http://register.consilium.eu.int/pdf/de/02/cv00/00331d2.pdf. 276
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auf die Gefahr hin, dass Staaten künftig nicht mehr „mit einer Stimme sprechen“ würden, wenn im Mitgliedstaat unterschiedliche Auffassungen über die Notwendigkeit einer Klageerhebung bestünden. Das unter anderem von Erwin Teufel beharrlich geforderte281 Klagerecht auch für regionale gesetzgebende Körperschaften wurde mehrheitlich abgelehnt. In seinen abschließenden Bemerkungen konnte Valéry Giscard d‘Estaing feststellen, dass im Konvent dahingehend Einvernehmen bestand, dass das Subsidiaritätsprinzip in einer künftigen Verfassung stärkere Berücksichtigung finden müsse; die Kontrolle seiner Einhaltung müsse in erster Linie politischer Art sein, eine gerichtliche Kontrolle am Ende des Gesetzgebungsverfahrens dürfe indes nicht ausgeschlossen sein. Was die genaue inhaltliche Ausgestaltung der jeweiligen Kontrollmechanismen betrifft, waren die Ansichten im Konvent aber weiterhin geteilt. In der Sitzung vom 28./29. Oktober 2002282 lag der Schwerpunkt auf der Vorstellung des vom Präsidium erarbeiteten Vorentwurfs des Verfassungsvertrags.283 Ferner wurden die Berichte der Arbeitsgruppe IV „Einzelstaatliche Parlamente“284 und der Arbeitsgruppe II „Charta (der Grundrechte)“285 erörtert. Die Schlussfolgerungen der Arbeitsgruppe I „Subsidiarität“ wurden von der Arbeitsgruppe IV „Einzelstaatliche Parlamente“ im Wesentlichen unterstützt. Erneut wurde auf die Notwendigkeit einer Beteiligung der nationalen Parlamente am Gesetzgebungsverfahren hingewiesen. Erwin Teufel forderte, die Erhebung einer Subsidiaritätsklage dürfe nicht von der vorherigen Durchführung des Frühwarnverfahrens abhängig gemacht werden; eine solche Einschränkung des Klagerechts könne dazu führen, dass die nationalen Parlamente „das Frühwarnsystem rein vorsorglich in Anspruch nehmen, um ihr Klagerecht nicht zu verlieren“; Teufel sprach sich weiterhin dafür aus, das Klagerecht in Staaten mit einem Zweikammersystem beiden Kammern des Parlaments zukommen zu lassen; zu Recht wies er darauf hin, dass die erste Kammer nur selten gegen europäische Rechtsakte vorgehen dürfte, welche die von ihr gestützte Regierung im Rat mitverantwortet hat. Im Übrigen – dieses ceterum censeo zieht sich durch einen großen Teil aller Konventsbeiträge des baden-württembergischen Ministerpräsidenten – sei ein Klagerecht für Regionen mit Gesetzgebungsbefugnissen wünschenswert. Sowohl die politischen als auch die gerichtlichen Kontrollmechanismen dürften sich nicht auf das Subsidiaritätsprinzip beschränken, sondern müssten vielmehr auch die Kontrolle der 281 Vgl. den Redebeitrag von Ministerpräsident Erwin Teufel bei der Konventssitzung vom 3./4. Oktober 2002, im Internet abrufbar unter http://european-convention.eu.int/docs/speeches/ 3519.pdf. 282 Zusammenfassung der Plenartagung (CONV 378/02) im Internet abrufbar unter http://register.consilium.eu.int/pdf/de/02/cv00/00378d2.pdf. 283 Dazu Kapitel 2 II. 2. 284 Schlussfolgerungen der Gruppe IV „Einzelstaatliche Parlamente“ (CONV 353/02) vom 22. Oktober 2002, im Internet abrufbar unter http://register.consilium.eu.int/pdf/de/02/cv00/ 00353d2.pdf. 285 Schlussfolgerungen der Gruppe II „Charta“ (CONV 354/02) vom 22. Oktober 2002, im Internet abrufbar unter http://register.consilium.eu.int/pdf/de/02/cv00/00354d2.pdf.
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Einhaltung des Verhältnismäßigkeitsprinzips und der Kompetenzordnung umfassen.286 Bei den folgenden Plenartagungen287 war das Subsidiaritätsprinzip nicht Schwerpunkt der Erörterungen. In der Sitzung vom 6./7. Februar 2003288 stellte Valéry Giscard d‘Estaing im Namen des Präsidiums einen Textentwurf der ersten 16 Artikel des Verfassungsvertrags289 vor. Sie sollten auf der nächsten Konventstagung diskutiert werden. Das Subsidiaritätsprinzip ist nach Art. 8 Abs. 1 dieses Entwurfs (im Folgenden VE Präsidium [CONV 528/03]) neben der begrenzten Einzelermächtigung, der Verhältnismäßigkeit und der loyalen Zusammenarbeit ein Grundsatz für „die Abgrenzung und Ausübung der Zuständigkeiten der Union“. Diese Formulierung ist freilich etwas ungenau, wenn man das Subsidiaritätsprinzip als Kompetenzausübungsregel begreift, die es wegen des Prinzips der begrenzten Einzelermächtigung auch im Verfassungsentwurf des Präsidiums darstellt. Eine kumulative Bedeutung für Abgrenzung und Ausübung kann das Prinzip als Rechtsregel also nicht haben, es mag für die Kompetenzverteilung allenfalls in seiner politischen Dimension als Leitbild eines Europas von unten herangezogen werden. Art. 8 Abs. 1 VE Präsidium [CONV 528/03] ist daher so zu lesen, dass das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung – nur – für die Abgrenzung, das Subsidiaritätsprinzip hingegen – allein – für die Ausübung der Zuständigkeiten maßgeblich ist. Die Definition des Subsidiaritätsprinzips erfolgt in Art. 8 Abs. 3 VE Präsidium [CONV 528/03]. Danach „wird die Union in den Bereichen, die nicht in ihre ausschließliche Zuständigkeit fallen, nur tätig, sofern und soweit die Ziele der in Betracht gezogenen Maßnahmen auf Ebene der Mitgliedstaaten nicht ausreichend erreicht werden können, wegen ihres Umfangs oder ihrer Wirkungen aber besser auf Unionsebene erreicht werden können.“
Der Präsidiumsentwurf orientiert sich in seiner Formulierung an Art. 5 Abs. 2 (ex-Art. 3 b Abs. 2) EGV, wirkt sprachstilistisch aber – noch – ungelenker. Auch inhaltlich ist die Streichung des Verbindungswortes „und“ – im Vergleich zur Regelung im EGV – zwischen dem Insuffizienzkriterium und dem Kriterium der Ef286
Redebeitrag von Erwin Teufel auf der Sitzung des Konvents am 28. Oktober 2002, http:// www.europarl.eu.int/europe2004/textes/verbatim_021028.htm. 287 Plenartagung vom 7./8. November 2002, Zusammenfassung (CONV 400/02) abrufbar unter http://register.consilium.eu.int/pdf/de/02/cv00/00400d2.pdf; Plenartagung vom 5./6. Dezember 2002, Zusammenfassung (CONV 449/02) unter http://register.consilium.eu.int/pdf/ de/02/cv00/cv00449de02.pdf; Plenartagung vom 20. Dezember 2002, Zusammenfassung (CONV 473/02) unter http://register.consilium.eu.int/pdf/de/02/cv00/cv00473de02.pdf; Plenartagung vom 20./21. Januar 2003, Zusammenfassung (CONV 508/03) unter http://register. consilium.eu.int/pdf/de/03/cv00/cv00508de03.pdf. 288 Zusammenfassung der Plenartagung (CONV 548/03) im Internet abrufbar unter http:// register.consilium.eu.int/pdf/de/03/cv00/cv00548de03.pdf. 289 Entwurf der Art. 1–16 (CONV 528/03) im Internet abrufbar unter http://register.consilium. eu.int/pdf/de/03/cv00/cv00528de03.pdf.
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fizienz-Optimierung zu beanstanden: Die Notwendigkeit eines kumulativen Vorliegens beider Kriterien geht aus der Formulierung nicht deutlich genug hervor; daran vermag auch das Wort „aber“ nichts zu ändern, welches in das Kriterium der Effizienz-Optimierung hineingefügt wurde. Auch die englische Fassung290 ist nur wenig klarer: „…the Union shall act only if and insofar as the objectives of the intended action cannot be sufficiently achieved by the Member States, but can rather, by reason of the scale or effects of the proposed action, be better achieved at Union level“: Anstelle des „and can therefore“ des EGV formuliert der Präsidiumsentwurf also „but can rather“. In der französischen Fassung291 heißt es: „…l’Union intervient seulement et dans la mesure où les objectifs de l’action envisagée ne peuvent pas être atteints de manière suffisante par les Etats membres, mais peuvent, en raison des dimensions ou des effets de l’action envisagée, être mieux obtenus au niveau de l’Union.“ Anstelle des „et peuvent donc“ der französischen Fassung des EGV heißt es in der Formulierung des Präsidiumsentwurfs „mais peuvent“. Auch hier tritt das kumulative Erfordernis der beiden Subsidiaritätskriterien nicht offenkundig hervor. Nach Art. 9 Abs. 2 VE Präsidium [CONV 528/03] wenden die Unionsorgane bei der Ausübung der nicht ausschließlichen Zuständigkeiten das Subsidiaritätsprinzip nach dem Protokoll über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit an. Dieses Protokoll wird im Anhang der Verfassung verortet sein.292 Art. 9 Abs. 2 VE Präsidium [CONV 528/03] beseitigt folglich die Ungenauigkeit des Art. 8 Abs. 1 VE Präsidium [CONV 528/03], wonach das Subsidiaritätsprinzip auch für die Kompetenzverteilung bedeutsam sein könnte. In der Sitzung vom 6./7. Februar 2003 wurde ferner der Bericht der Arbeitsgruppe XI „Soziales Europa“293 diskutiert; auch fand eine Aussprache zur regionalen und lokalen Dimension in Europa statt; Diskussionsgrundlage zu letzterem Thema war ein vom Präsidium vorgelegtes Arbeitspapier,294 welches unter anderem mehrfach die Rechtsstellung der Regionen bei der Kontrolle der Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips ansprach. In der Diskussion forderte Erwin Teufel – abermals – ein Klagerecht für Regionen mit Gesetzgebungsbefugnissen, zumindest aber ein Klagerecht der zweiten Kammer in Staaten mit einem Mehrkammersystem; ein Klagerecht zur Wahrung seiner Rechte solle auch der AdR erhalten.295 290
Abrufbar unter http://register.consilium.eu.int/pdf/en/03/cv00/cv00528en03.pdf. Abrufbar unter http://register.consilium.eu.int/pdf/fr/03/cv00/cv00528fr03.pdf. 292 Der Entwurf des Subsidiaritätsprotokolls wurde den Konventsmitgliedern auf der nächsten Plenartagung unterbreitet. 293 Der Abschlußbericht der Arbeitsgruppe XI „Soziales Europa“ (CONV 516/1/03 REV 1) ist abrufbar unter http://register.consilium.eu.int/pdf/de/03/cv00/CV00516-re01de03.pdf; das Corrigendum des Abschlußberichts (CONV 516/1/03 REV 1 COR 1) ist abrufbar unter http:// register.consilium.eu.int/pdf/de/03/cv00/CV00516-re01co01de03.pdf. 294 CONV 518/03, abrufbar unter http://register.consilium.eu.int/pdf/de/03/cv00/cv00518de 03.pdf. 295 Redebeitrag von Erwin Teufel auf der Sitzung des Konvents am 7. Februar 2003, http:// www.europarl.eu.int/europe2004/textes/verbatim_030207.htm. 291
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Auch Hans Martin Bury, Vertreter der Bundesregierung (stellvertretend für Joseph Fischer), sprach sich für ein Klagerecht der Regionen mit Gesetzgebungsbefugnissen, der zweiten Kammer der nationalen Parlamente sowie des AdR aus.296 Darüber hinaus wurde in der Diskussion von manchen Konventsmitgliedern gefordert, dass das Subsidiaritätsprinzip sich ebenso auf die lokalen und regionalen „Ebenen“ beziehen solle und eine entsprechende Niederlegung im Subsidiaritätsprotokoll erfolge.297 Auf der anderen Seite wiesen zahlreiche Konventsmitglieder darauf hin, dass die Achtung des mitgliedstaatlichen Rechts auf freie Organisation der internen Strukturen ein Grundprinzip des Gemeinschaftsrechts darstellt,298 welches das Einpflanzen des Subsidiaritätsschemas in die mitgliedstaatliche Verfassungsordnung durch europäische Oktroyierung299 untersagt. Auf der Plenartagung vom 27./28. Februar 2003300 wurden die Präsidiumsentwürfe der Art. 1 – 16 VE Präsidium [CONV 528/03] diskutiert. Eine große Anzahl von Stellungnahmen betraf Art. 1 VE Präsidium [CONV 528/03], der das Wesen der zukünftigen Union definieren sollte. Insbesondere die Formulierung, dass die Union bestimmte gemeinsame Zuständigkeiten „in föderaler Weise“ wahrnimmt, war umstritten und Gegenstand vieler Änderungsvorschläge.301 Änderungsvorschläge erfolgten auch zu Art. 8 Abs. 3 VE Präsidium [CONV 528/03]: So beantragte Erwin Teufel neben anderen Konventsmitgliedern, nach der Formulierung „Mitgliedstaaten“ in Art. 8 Abs. 3 VE Präsidium [CONV 528/03] auch deren regionale und kommunale Körperschaften im Text niederzulegen.302 Zudem forderte er gemeinsam mit Elmar Brok, die Formulierung „besser“ beim Kriterium der Effizienz-Optimierung durch das Wort „effizienter“ zu ersetzen.303 Dieser Änderungsvorschlag geht auf die entsprechende Formulierung im Verfassungsentwurf der Europäischen Volkspartei zurück.304 Bundesaußenminister Joseph Fischer sprach sich für die Aufnahme eines Bezugs auf das Subsidiaritätsprotokoll aus.305 296 Redebeitrag von Hans Martin Bury auf der Sitzung des Konvents am 7. Februar 2003, http://www.europarl.eu.int/europe2004/textes/verbatim_030207.htm. 297 CONV 548/03, S. 9, http://register.consilium.eu.int/pdf/de/03/cv00/cv00548de03.pdf. 298 CONV 548/03, S. 8, http://register.consilium.eu.int/pdf/de/03/cv00/cv00548de03.pdf. 299 Vgl. Molsberger, Die Bedeutung der Subsidiaritätsklage für die deutschen Länder, S. 173. 300 Zusammenfassung der Plenartagung (CONV 601/03) im Internet abrufbar unter http://register.consilium.eu.int/pdf/de/03/cv00/cv00601de03.pdf. 301 Vgl. CONV 574/1/03 REV 1, Reaktionen auf den Entwurf der Artikel 1 bis 16 des Verfassungsvertrags – Übersichten, abrufbar unter http://register.consilium.eu.int/pdf/de/03/cv00/ cv00574-re01de03.pdf. 302 CONV 574/1/03 REV 1, S. 73, http://register.consilium.eu.int/pdf/de/03/cv00/cv00574re01de03.pdf. 303 CONV 574/1/03 REV 1, S. 73, http://register.consilium.eu.int/pdf/de/03/cv00/cv00574re01de03.pdf. 304 Dazu Kapitel 2 III. 3. 305 CONV 574/1/03 REV 1, S. 73, http://register.consilium.eu.int/pdf/de/03/cv00/cv00574re01de03.pdf.
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Ferner wurde auf dieser Plenartagung dem Konvent der Präsidiumsentwurf der Protokolle über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit sowie der Rolle der einzelstaatlichen Parlamente unterbreitet.306 Sie beruhen auf den Schlussfolgerungen der entsprechenden Arbeitsgruppen und den Stellungnahmen des Konventsplenums. Regelungskern ist die Beschreibung eines Frühwarnsystems und einer Subsidiaritätsklage. Das Frühwarnsystem ermöglicht den einzelstaatlichen Parlamenten, innerhalb von 6 Wochen nach Übermittlung eines Vorschlags der Kommission für einen Rechtsakt eine begründete Stellungnahme vorzulegen, wenn das Vorhaben ihrer Auffassung nach einen Verstoß gegen das Subsidiaritätsprinzip darstellt. Es obliegt dabei dem jeweiligen einzelstaatlichen Parlament, die internen Verfahren für die Anhörung der zweiten Kammer in Staaten mit einem Zweikammersystem bzw. der Regionalparlamente mit Gesetzgebungsbefugnissen festzulegen. Gibt mindestens ein Drittel der Parlamente eine Stellungnahme ab, muss die Kommission ihren Vorschlag überprüfen. Die Mitgliedstaaten, ggf. auf Ersuchen ihrer Parlamente und/oder Regionalparlamente mit Gesetzgebungsbefugnissen, sollen Verstöße gegen das Subsidiaritätsprinzip auf dem Klageweg vor dem EuGH geltend machen können. Klageberechtigt in diesem Verfahren soll auch der AdR sein. Am 5. März 2003 fand eine zusätzliche Plenartagung307 statt, in deren Mittelpunkt die Diskussion über die Art. 8 – 16 VE Präsidium [CONV 528/03] stand. Zentraler Änderungsvorschlag in dieser Sitzung war die Anregung einiger Konventsmitglieder, die ausschließlichen Zuständigkeiten der Union nicht von vorneherein aus dem Anwendungsbereich des Subsidiaritätsprinzips herauszunehmen. Dieser Ansatz wurde auf mehrere Argumente gestützt:308 Zum einen bedeute das Vorliegen einer ausschließlichen Unionszuständigkeit nicht, dass die Union auch zwangsläufig handeln müsse. Das Subsidiaritätsprinzip könne folglich auch hier für die Frage nach der Zulässigkeit des Handelns der Union zum Tragen kommen. Es wirke sich außerdem auf die Intensität einer Maßnahme in einem Bereich ausschließlicher Zuständigkeit aus. Das Subsidiaritätsprinzip gelange stets auf der Ebene der Durchführung einer Maßnahme zur Anwendung, genauso wie bei der Wahrnehmung geteilter Zuständigkeiten, die im Zuge ihrer Wahrnehmung „ausschließlich“ geworden sind, sowie bei dem in Art. 10 Abs. 1 VE Präsidium [CONV 528/03] vorgesehenen Mechanismus der Ermächtigung der Mitgliedstaaten durch die Union. Dieser Versuch, den Anwendungsbereich des Subsidiaritätsprinzips auf die ausschließlichen Unionszuständigkeiten zu erstrecken, ist freilich abzulehnen. In seiner rechtlichen Dimension stellt das Subsidiaritätsprinzip eine Kompetenzaus306 CONV 579/03, abrufbar unter http://register.consilium.eu.int/pdf/de/03/cv00/cv00579de 03.pdf. 307 Zusammenfassung der Plenartagung (CONV 624/03) im Internet abrufbar unter http:// register.consilium.eu.int/pdf/de/03/cv00/cv00624de03.pdf. 308 CONV 624/03, S. 2, http://register.consilium.eu.int/pdf/de/03/cv00/cv00624de03.pdf.
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übungsregel dar, welche die Wahrnehmung von Zuständigkeiten entweder der Union oder den Mitgliedstaaten gestattet. Bei einer Erstreckung des Prinzips auf die ausschließlichen Zuständigkeiten führt die Rechtsfolge der Norm ins Leere: Resultat wäre nämlich, dass nach Art. 8 Abs. 3 VE Präsidium [CONV 528/03] die Mitgliedstaaten für die konkrete Ausübung einer sie gar nicht abstrakt erfassenden Zuständigkeit berechtigt erklärt würden. Die – durchaus relevante – Frage, ob und mit welcher Intensität die Union eine abstrakt gegebene ausschließliche Zuständigkeit tatsächlich in der Situation des konkreten Einzelfalls wahrnehmen darf, beantwortet hingegen bereits das Verhältnismäßigkeitsprinzip, Art. 8 Abs. 4 VE Präsidium [CONV 528/03], welches für jede Art von Unionshandeln maßgeblich ist, zur Genüge. Genauso verfehlt ist der Verweis auf die im Zuge ihrer Wahrnehmung vermeintlich ausschließlich gewordenen geteilten Zuständigkeiten: Hier fand das Subsidiaritätsprinzip ja schon Anwendung bei der Frage, ob die Union die geteilte Zuständigkeit tatsächlich wahrnehmen, also tätig werden darf. Warum ein „zweiter Subsidiaritätsdurchlauf“ erfolgen und was er inhaltlich Neues bringen soll, wenn die Kompetenzausübung unter Subsidiaritätsgesichtspunkten bereits der Union gestattet wurde, vermochten die Befürworter309 einer solchen Ausdehnung des Anwendungsbereiches des Subsidiaritätsprinzips jedenfalls nicht zu begründen. Gegenstand der Sitzung vom 17./18. März 2003310 war neben anderem die Diskussion der Protokollentwürfe des Präsidiums über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit sowie der Rolle der einzelstaatlichen Parlamente. Insbesondere die deutschen Konventsmitglieder311 setzten sich abermals intensiv dafür ein, dass in Staaten mit einem Zweikammersystem beide Kammern die Möglichkeit erhalten sollten, den Frühwarnmechanismus in Gang zu setzen. Andere Konventsmitglieder pflichteten dem bei mit Verweis auf die oft unterschiedliche Interessenlage der beiden Kammern, welche ein individuelles Stellungnahmerecht für jede Kammer gesondert erforderlich mache.312 Um Staaten mit einem Einkammersystem nicht zu benachteiligen wurde vorgeschlagen, bei der Berechnung der Eindrittelschwelle die Stellungnahmen der Zweikammerparlamente je einfach und die der Einkammerparlamente doppelt zu zählen; dieser Vorschlag fand bei der Konventsmehrheit Anklang.313 Umstritten war die Regelung des Protokollentwurfs über die Grundsätze der Subsidiarität und der 309 Unter anderem die beiden britischen Europaparlamentarier Andrew Duff und Neil Mac Cormick. 310 Zusammenfassung der Plenartagung (CONV 630/03) im Internet abrufbar unter http://register.consilium.eu.int/pdf/de/03/cv00/cv00630de03.pdf. 311 Vgl. die Redebeiträge von Jürgen Meyer, Hans Martin Bury, Elmar Brok und Wolfgang Gerhards auf der Sitzung am 18. März 2003, http://www.europarl.eu.int/europe2004/textes/ verbatim_030318.htm. 312 CONV 630/03, S. 6, http://register.consilium.eu.int/pdf/de/03/cv00/cv00630de03.pdf. 313 Vgl. CONV 630/03, S. 6, http://register.consilium.eu.int/pdf/de/03/cv00/cv00630de03. pdf; CONV 610/03, Reaktionen auf den Entwurf eines Protokolls über die Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit, S. 5, abrufbar unter http://register.consilium.eu.int/pdf/ de/03/cv00/cv00610de03.pdf.
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Verhältnismäßigkeit,314 wonach Klagen vor dem Europäischen Gerichtshof wegen eines behaupteten Verstoßes gegen das Subsidiaritätsprinzip „von einem Mitgliedstaat gegebenenfalls auf Antrag seines nationalen Parlaments“ erhoben würden. Mehrere Konventsmitglieder schlugen eine Änderung der Bestimmung dahingehend vor, dass das Recht zur Klageerhebung unmittelbar den nationalen Parlamenten gewährt werden solle.315 Dem wurde zu Recht entgegengehalten, das Monopol für eine Vertretung vor dem Gerichtshof solle bei den Mitgliedstaaten liegen.316 Abermals forderte eine Reihe von Mitgliedern des Konvents ein Klagerecht für Regionen mit Gesetzgebungsbefugnissen.317 In der Konventssitzung vom 3./4. April 2003318 stand das Subsidiaritätsprinzip nicht im Zentrum der Diskussionen. Gleiches galt für die Sitzungen vom 24./25. April 2003319, vom 15./16. Mai 2003320 und vom 30./31. Mai 2003321. Auf der Konventstagung vom 5./6. Juni 2003322 fand eine Aussprache zum ersten323 und vierten Teil des Verfassungsentwurfs sowie zu den Protokollen über die Rolle der nationalen Parlamente und über die Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit statt. Die Entwurfstexte waren vom Präsidium „im Lichte der eingegangenen Bemerkungen und Änderungsvorschläge sowie der Aussprache in der Plenartagung überarbeitet“324 worden. Das Subsidiaritätsprinzip ist nun in Art. I-9 des Vertragsentwurfs (im Folgenden VE Präsidium [CONV 724/03]) geregelt. Diese Bestimmung ist im Vergleich zum früheren Art. 8 VE Präsidium [CONV 528/03] teilweise verbessert worden. So lautet Art. I-9 Abs. 1 VE Präsidium [CONV 724/03] nunmehr: „Für die Abgrenzung der Zuständigkeiten der 314 CONV 579/03, abrufbar unter http://register.consilium.eu.int/pdf/de/03/cv00/cv00579de 03.pdf. 315 CONV 610/03, Reaktionen auf den Entwurf eines Protokolls über die Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit, S. 6, abrufbar unter http://register.consilium.eu.int/ pdf/de/03/cv00/cv00610de03.pdf. 316 Vgl. die Ausführungen zur Subsidiaritätsklage in Kapitel 3 III. 5. 317 CONV 610/03, Reaktionen auf den Entwurf eines Protokolls über die Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit, S. 7, http://register.consilium.eu.int/pdf/de/03/cv00/ cv00610de03.pdf. 318 Zusammenfassung der Plenartagung (CONV 677/03) im Internet abrufbar unter http:// register.consilium.eu.int/pdf/de/03/cv00/cv00677de03.pdf. 319 Zusammenfassung der Plenartagung (CONV 696/03) im Internet abrufbar unter http:// register.consilium.eu.int/pdf/de/03/cv00/cv00696de03.pdf. 320 Zusammenfassung der Plenartagung (CONV 748/03) im Internet abrufbar unter http:// register.consilium.eu.int/pdf/de/03/cv00/cv00748de03.pdf. 321 Zusammenfassung der Plenartagung (CONV 783/03) im Internet abrufbar unter http:// register.consilium.eu.int/pdf/de/03/cv00/cv00783de03.pdf. 322 Zusammenfassung der Plenartagung (CONV 798/03) im Internet abrufbar unter http:// register.consilium.eu.int/pdf/de/03/cv00/cv00798de03.pdf. 323 CONV 724/03, Entwurf der Verfassung, Band I – Überarbeiteter Text von Teil 1, http:// register.consilium.eu.int/pdf/de/03/cv00/cv00724de03.pdf. 324 CONV 724/03, Entwurf der Verfassung, Band I – Überarbeiteter Text von Teil 1, S. 1, http://register.consilium.eu.int/pdf/de/03/cv00/cv00724de03.pdf.
II. Arbeit und Ergebnisse des Konvents zur Zukunft Europas
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Union gilt der Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung. Für die Ausübung der Zuständigkeiten der Union gelten die Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit.“ Damit wird der Charakter des Subsidiaritätsprinzips als Kompetenzausübungsregel festgeschrieben und klargestellt, dass dem Prinzip325 keine Bedeutung für die Abgrenzung der Zuständigkeiten, also für die Kompetenzverteilung, zukommt. Die noch in Art. 8 Abs. 1 VE Präsidium [CONV 528/03] niedergelegte Bezugnahme auf den Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit wurde herausgenommen. Jenes Prinzip steht nun in Art. I-5 VE Präsidium [CONV 724/03], was systematisch gesehen begrüßenswert ist. Die Definition des Subsidiaritätsprinzips erfolgt in Art. I-9 Abs. 3 VE Präsidium [CONV 724/03]: „Nach dem Subsidiaritätsprinzip wird die Union in den Bereichen, die nicht in ihre ausschließliche Zuständigkeit fallen, nur tätig, sofern und soweit die Ziele der in Betracht gezogenen Maßnahmen von den Mitgliedstaaten weder auf zentraler noch auf regionaler oder lokaler Ebene ausreichend erreicht werden können, und vielmehr wegen ihres Umfangs oder ihrer Wirkungen auf Unionsebene besser erreicht werden können.“ Erster positiv zu bewertender Aspekt dieser Bestimmung ist, dass der Ausschluss der ausschließlichen Zuständigkeiten aus dem Anwendungsbereich des Subsidiaritätsprinzips entgegen der unter rechtlichen Gesichtspunkten nur schwer nachvollziehbaren Forderung einiger Konventsmitglieder326 beibehalten wurde. Ebenfalls positiv ist, dass die Verknüpfung des Insuffizienz-Kriteriums mit dem Kriterium der Effizienz-Optimierung deutlicher im Hinblick auf das erforderliche kumulative Vorliegen beider Voraussetzungen eines Handelns der Union formuliert zu sein scheint. Die Verbindung der Subsidiaritätskriterien in der deutschen Fassung des Entwurfstextes mit den Worten „und vielmehr“ ist recht eindeutig und dürfte keine Zweifel daran lassen, dass das Vorliegen eines der beiden Kriterien noch nicht ausreichen kann, um ein Tätigwerden der Union zu rechtfertigen. Der gegenüber Art. 5 Abs. 2 (ex-Art. 3 b Abs. 2) EGV abweichende Wortlaut betreffend das Fehlen des Wortes „daher“ in der Kriterienverknüpfung stellt überdies einen klaren Fortschritt zur bisherigen gemeinschaftsrechtlichen Subsidiaritätsdefinition dar, zogen doch einige Stimmen in der Literatur den Wortlaut des Art. 5 Abs. 2 (ex-Art. 3 b Abs. 2) EGV heran, um einen Erfüllungsautomatismus327 bzw. ein kumulativ-kausales Verhältnis zwischen dem Insuffizienz-Kriterium und dem Kriterium der Effizienz-Optimierung zu begründen,328 was nach Sinn und Zweck des Subsidiaritätsprinzips abzulehnen ist: Wie bereits dargestellt, ist denkbar, dass das Insuffizienz-Kriterium aus einem Grund erfüllt ist, die bessere Aufgabenerfüllung auf Unionsebene indes aus einem anderen. Auch in dieser Konstellation muss ein Handeln auf europäischer „Ebene“ zulässig sein. Die Verknüpfung der Subsidiaritätskriterien in Art. I-9 Abs. 3 VE Präsidium [CONV 724/03] erlaubt dies im 325
Jedenfalls in seiner Dimension als Rechtsregel. Siehe dazu die obigen Ausführungen. 327 Bauer, Der europäische Verfassungsprozess, S. 460; Zoller, Das Subsidiaritätsprinzip im Europäischen Verfassungsvertrag, S. 273. 328 Vgl. Calliess, Subsidiaritäts- und Solidaritätsprinzip, S. 104. 326
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Gegensatz zu Art. 5 Abs. 2 (ex-Art. 3 b Abs. 2) EGV nun auch nach ihrem Wortlaut. Gleiches gilt für die Frage nach der Existenz eines Erfüllungsautomatismus im Verhältnis beider Kriterien, die in Art. I-9 Abs. 3 VE Präsidium [CONV 724/03] nun auch auf der Grundlage des Wortlauts der Norm verneint werden kann. Fraglich ist, ob die Kriterienverknüpfung des Präsidiumsentwurfs auch das in Art. 5 Abs. 2 (ex-Art. 3 b Abs. 2) EGV zum Ausdruck kommende konsekutiv-additive Verhältnis329 der beiden Subsidiaritätskriterien enthält. Die Formulierung „und vielmehr“ schließt ein solches „argumentatives Einbahnstraßenverhältnis“ zumindest nicht aus: Auch Art. I-9 Abs. 3 VE Präsidium [CONV 724/03] kann so verstanden werden, dass das Insuffizienz-Kriterium zuerst geprüft werden und allein Bestand haben muss, das Kriterium der Effizienz-Optimierung also nicht zur Begründung der Insuffizienz mitgliedstaatlicher Aufgabenbewältigung herangezogen werden darf.330 In diese Richtung lässt der Präsidiumsentwurf aber die notwendige Eindeutigkeit vermissen. Indes ist zu beachten, dass die angesprochenen Verbesserungen bei der Formulierung der Kriterienverknüpfung nicht in allen Sprachen übernommen wurden: So heißt es in der englischen Fassung331 des Art. I-9 Abs. 3 VE Präsidium [CONV 724/03] weiterhin „but can rather“; die französische Fassung332 lautet diesbezüglich genau so wie in dem vorangegangen Präsidiumsentwurf „mais peuvent“. In der Konventssitzung vom 11./13. Juni 2003333 wurde ein breiter Konsens über den vom Präsidium erneut überarbeiteten Entwurfstext der Präambel, der Teile I und II des Verfassungsvertrags sowie der Protokolle über die Rolle der nationalen Parlamente sowie der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit erzielt.334 Die Definition des Subsidiaritätsprinzips in Art. I-9 Abs. 3 des Entwurfs (im Folgenden VE Präsidium [CONV 797/03] bleibt in der überarbeiteten Fassung im Wesentlichen gleich: „Nach dem Subsidiaritätsprinzip wird die Union in den Bereichen, die nicht in ihre ausschließliche Zuständigkeit fallen, nur tätig, sofern und soweit die Ziele der in Betracht gezogenen Maßnahmen von den Mitgliedstaaten weder auf zentraler noch auf regionaler oder lokaler Ebene ausreichend erreicht werden können, sondern vielmehr wegen ihres Umfangs oder ihrer Wirkungen auf Unionsebene besser erreicht werden können.“ Lediglich eine Änderung ist im Verhältnis zu Art. I-9 Abs. 3 VE Präsidium [CONV 724/03] zu verzeichnen. Sie betrifft die Formulierung der Verknüpfung der beiden Subsidiaritätskriterien: Anstelle des bisherigen „und vielmehr“ heißt es nun „sondern vielmehr“. Da 329
Merten, Subsidiarität als Verfassungsprinzip, S. 83. Vgl. die diesbezüglichen Ausführungen in Kapitel 1. 331 Abrufbar unter http://register.consilium.eu.int/pdf/en/03/cv00/cv00724en03.pdf. 332 Abrufbar unter http://register.consilium.eu.int/pdf/fr/03/cv00/cv00724fr03.pdf. 333 Zusammenfassung der Plenartagung (CONV 814/03) im Internet abrufbar unter http://register.consilium.eu.int/pdf/de/03/cv00/cv00814de03.pdf. 334 CONV 797/03, Überarbeitete Fassung von Teil I (einschließlich Präambel und Protokolle über die Rolle der nationalen Parlamente sowie der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit), abrufbar unter http://register.consilium.eu.int/pdf/de/03/cv00/cv00797de03.pdf. 330
II. Arbeit und Ergebnisse des Konvents zur Zukunft Europas
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der Wortlaut von Art. I-9 Abs. 3 Satz 1 VE Konvent [CONV 797/03] diesbezüglich mit dem späteren Art. I-11 Abs. 3 Satz 1 VVE übereinstimmt, soll die Auseinandersetzung mit dieser Formulierung den Ausführungen des nächsten Kapitels vorbehalten bleiben. Auf der Tagung des Europäischen Rats am 20. Juni 2003 in Thessaloniki stellte Valéry Giscard d‘Estaing die vom Konvent fertiggestellten Teile des Verfassungsentwurfs den Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union vor. Auf der Konventssitzung vom 4. Juli 2003335 wurden vor allem der Entwurf von Teil III des Verfassungsvertrags erörtert. Giscard d‘Estaing berichtete überdies von der Tagung des Europäischen Rats. Der Verfassungsentwurf sei dort weitgehend positiv aufgenommen worden. Er habe die Staats- und Regierungschefs vor einem „Aufdröseln“ des Entwurfs im Laufe der anstehenden Regierungskonferenz gewarnt: Der Entwurf habe ein Gesamtgleichgewicht, jeder Änderungsversuch könne dieses gefährden oder gar zunichte machen.336 Die abschließende Konventstagung fand am 9./10. Juli 2003337 statt. Nach einer letzten Aussprache zu den Teilen III und IV des Verfassungsentwurfs erfolgten die feierlichen Abschluss- und Dankesreden, die Unterzeichnung des dem Vertragsentwurf beigefügten Übermittlungsdokuments sowie sonstige Formalia am Ende einer arbeitsreichen Epoche, die das Mandat von Laeken zu einem „résultat inespéré“ (Valéry Giscard d‘Estaing)338 geführt hatte.339
5. Die Regierungskonferenz Die Übergabe des Vertragsentwurfs an die Regierungskonferenz wurde von zahlreichen Warnungen maßgeblich an der Konventsarbeit Beteiligter begleitet, der Entwurfstext dürfe um seiner austarierten Gesamtstruktur willen nicht fühlbar modifiziert werden.340 Er sollte also „in allen wesentlichen Punkten schon das 335 Zusammenfassung der Plenartagung (CONV 849/03) im Internet abrufbar unter http:// register.consilium.eu.int/pdf/de/03/cv00/cv00849de03.pdf. 336 CONV 849/03, S. 1, http://register.consilium.eu.int/pdf/de/03/cv00/cv00849de03.pdf. 337 Zusammenfassung der Plenartagung (CONV 853/03) im Internet abrufbar unter http:// register.consilium.eu.int/pdf/de/03/cv00/cv00853de03.pdf. 338 CONV 814/03, S. 1, http://register.consilium.eu.int/pdf/de/03/cv00/cv00814de03.pdf. 339 Der abschließende Konventsentwurfs des Vertrags über eine Verfassung für Europa (CONV 850/03) kann im Internet unter http://european-convention.eu.int/docs/Treaty/cv00850.de03. pdf abgerufen werden. Für eine politische Bewertung des Verfassungsentwurfs siehe die Regierungserklärung von Erwin Teufel am 14. Juli 2004 im Landtag von Baden-Württemberg, abrufbar unter http://www.stm.baden-wuerttemberg.de/sixcms/media.php/628/regierungserklaerung_ teufel_EU_verfassung.pdf. 340 Valéry Giscard d‘Estaing bei der Vorstellung des Konventsentwurfs auf der Tagung des Europäischen Rats am 20. Juni 2003 in Thessaloniki, CONV 849/03, S. 1, http://register. consilium.eu.int/pdf/de/03/cv00/cv00849de03.pdf; siehe auch Meyer, Entwurf eines Vertrages über eine Verfassung für Europa, S. 438; Oppermann, Eine Verfassung für die Europäische
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Kap. 2: Der Weg zum Vertrag über eine Verfassung für Europa
letzte Wort sein“, nicht nur Anregung, wie der Parlamentarische Rat die „willkommene Vorarbeit des Herrenchiemseer Verfassungskonvents“ behandelte.341 Die Historie der Regierungskonferenz ist hinlänglich bekannt: Zunächst scheiterte der Konventsentwurf auf der Regierungskonferenz am 13. Dezember 2003 in Brüssel. Die Gründe dafür waren verschiedener Art, an erster Stelle muss aber die Haltung von Aleksander Kwasniewskis Polen und José Maria Aznars Spanien zur künftigen Stimmengewichtung im Ministerrat genannt werden.342 Auch Silvio Berlusconis unzureichend vorbereitete Verhandlungsführung in Brüssel343 und Jacques Chiracs „eruptive Verhaltensweisen“344 waren nicht gerade förderlich. Hinzu kam das von Gerhard Schröder und Chirac subtil aufgebaute Drohszenario eines „Kerneuropas“ für den Fall des Scheiterns der Verfassung – ein Verhalten, das viele kleinere Mitgliedstaaten der Union in Anbetracht des unrühmlichen Umgangs von Deutschland und Frankreich mit dem Stabilitätspakt beunruhigen musste.345 Der ehrgeizige Plan, die Verfassung direkt nach dem Beitritt der neuen Mitgliedstaaten und noch vor den Europawahlen im Juni 2004 (Valéry Giscard d‘Estaing schlug als symbolträchtiges Datum den Europatag am 9. Mai vor) zu unterzeichnen,346 schien also aufgeben werden zu müssen.347 Wirklich zu stören schien dies jedoch niemanden,348 die „Nicht-Krise“, wie Klaus Hänsch treffend formuliert, war „die eigentliche Krise Europas.“349 „Rettung“ kam in Gestalt von Bertie Ahern, dessen Irland zum Jahreswechsel 2003/2004 den Vorsitz im Europäischen Rat übernommen hatte. Ahern erkannte die „epochalen Herausforderungen“350, vor denen die Union stand und die sie mit dem Regelwerk von Nizza auf Dauer nicht bewältigen können würde. In informellen „Beichtstuhlgesprächen“ verhandelte er mit den Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten, das Ziel vor Augen, spätestens auf dem Europäischen Rat im Juni 2004 doch noch zu einer Einigung zu gelangen.351 Vorteilhaft war der Regierungswechsel in Spanien. José Luis Rodríguez Zapatero erwies sich in der euroUnion, S. 1245; Brok, Der Konvent – Bewertungen und Perspektiven, S. 425. („Wenn man einen Stein aus der Pyramide lösen würde, würde alles zusammenbrechen.“) 341 Badura, Das Konventsverfahren, S. 439. 342 Oppermann, Europäischer Verfassungskonvent, S. 1264. 343 Streinz/Ohler/Herrmann, Die neue Verfassung für Europa, S. 17. 344 Hänsch, Die Verfassung für die Europäische Union, S. 4. 345 Zoller/Lehr/Holz, Verfassungskonvent und Regierungskonferenz, S. 94. Dazu auch Schneider, Die Zukunft der differenzierten Integration, S. 263. 346 Siehe dazu Giscard d‘Estaing, Erklärung von Rom, 18. Juli 2003, im Internet abrufbar unter http://european-convention.eu.int/docs/Treaty/Rome_DE.pdf. 347 Ruffert, Schlüsselfragen der Europäischen Verfassung der Zukunft, S. 165; vgl. Brok, Der Konvent – Bewertungen und Perspektiven, S. 429. 348 Streinz/Ohler/Herrmann, Die neue Verfassung für Europa, S. 17. 349 Hänsch, Die Verfassung für die Europäische Union, S. 1. 350 Hänsch, Die Verfassung für die Europäische Union, S. 1. 351 Streinz/Ohler/Herrmann, Die neue Verfassung für Europa, S. 17 f.
II. Arbeit und Ergebnisse des Konvents zur Zukunft Europas
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päischen Sache als deutlich kompromissbereiter als sein Vorgänger Aznar; Polen drohte die politische Isolation.352 Am 14. Juni 2004 gelang tatsächlich der Durchbruch: Die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union erzielten eine Einigung über den künftigen Vertrag einer Verfassung für Europa. In den Sommermonaten 2004 nahmen Sprachjuristen mit großer Akribie die noch notwendigen redaktionellen Änderungen am Verfassungstext vor. Am 29. Oktober 2004 wurde der Vertrag über eine Verfassung für Europa353 feierlich in Rom unterzeichnet. Ungefähr 90 % des Textes entsprechen der Fassung, die der Konvent vorgelegt hatte.354 Die Änderungen betreffen zwar keineswegs nur Marginalien der Verfassung, es geht jedoch immer um Detailprobleme; in seiner Gesamtstruktur, Substanz und Kohärenz ist der Konventsentwurf erhalten geblieben.355 Änderungen erfolgten bspw. in Bezug auf die künftige Zusammensetzung der Kommission: Art. 25 des Konventsentwurfs des Vertrags über eine Verfassung für Europa (im Folgenden VE Konvent) sah eine Unterscheidung zwischen stimmberechtigten „Europäischen Kommissaren“ und „Kommissaren ohne Stimmrecht“ vor, die zum 1. Januar 2009 in Kraft treten sollte. Einschließlich dem Kommissionspräsidenten und dem Außenminister der Union356 sollte es 15 Europäische Kommissare (bezeichnet als „Kollegium“) geben, ausgewählt nach einem System der gleichberechtigten Rotation zwischen den Mitgliedstaaten. Die Kommissare ohne Stimmrecht sollten aus allen übrigen Mitgliedstaaten kommen. Dieses System – ein nicht gerade überzeugend wirkender Versuch, die Entscheidungsfähigkeit der Kommission auch in einer erweiterten Union sicherzustellen – wurde in der Regierungskonferenz grundlegend abgewandelt: Nach Art. I-26 Abs. 5 VVE besteht die Kommission ab dem Jahr 2014 „aus einer Anzahl von Mitgliedern, die zwei Dritteln der Zahl der Mitgliedstaaten entspricht, sofern der Europäische Rat nicht einstimmig eine Änderung dieser Anzahl beschließt.“ Die Kommission wird ab diesem Zeitpunkt (zuvor stellt jeder Mitgliedstaat einen Kommissar, Art. I-26 Abs. 5 VVE) also auf 15 Mitglieder verkleinert. Die Auswahl erfolgt nach dem Prinzip der gleichberechtigten Rotation. Kommissare ohne Stimmrecht gibt es nicht. Diese Konstruktion erscheint deutlich praktikabler als das zweigliedrige Konventsmodell. Im institutionellen Bereich änderte die Regierungskonferenz bspw. die vom Konvent vorgeschlagene Größe und Zusammensetzung des Europäischen Parlaments. Auch im nichtinstitutionellen Bereich gab es gewisse Änderungen: So modifizierte die Regierungskonferenz bspw. die Formulierung des Art. 7 Abs. 2 VE Konvent „Die Union strebt den Bei352
Streinz/Ohler/Herrmann, Die neue Verfassung für Europa, S. 18. CIG 87/1/04 REV 1 mit ADD 1 und ADD 2, ABl. EG 2004 Nr. C 310/1 S. 1 vom 16. Dezember 2004. Der vollständige Text des Verfassungsvertrags kann unter http://europa.eu.int/ constitution/index_de.htm abgerufen werden. 354 Oppermann, Europäischer Verfassungskonvent, S. 1265; Hänsch, Jenseits der Artikel, S. 320. 355 Möstl, Verfassung für Europa, S. 25; Hänsch, Jenseits der Artikel, S. 320. 356 Gleichzeitig Vizepräsident. 353
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Kap. 2: Der Weg zum Vertrag über eine Verfassung für Europa
tritt zur Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten an“ ab; in Art. I-9 Abs. 2 VVE heißt es nunmehr: „Die Union tritt der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten bei.“ Der Wortlaut der neuen Fassung drückt eine im Vergleich zum Konventsentwurf stärkere (Selbst)Verpflichtung der Mitgliedstaaten, den Beitritt zur EMRK herbeizuführen,357 aus. Gleichzeitig stellt die Norm die wegen des Prinzips der begrenzten Einzelermächtigung (Art. I-11 Abs. 1 und 2 VVE) erforderliche Rechtsgrundlage für den Beitritt dar.358 Was das Subsidiaritätsprinzip betrifft, ergaben sich während der Regierungskonferenz nur geringfügige Änderungen: So gibt es diesbezüglich zwischen Art. I-9 VE Konvent und Art. I-11 VVE, den zentralen Vorschriften für das Subsidiaritätsprinzip, lediglich zwei Unterschiede: Zum einen wurde bei der jeweils in Absatz 3 dieser Bestimmungen niedergelegten Definition des Prinzips das Verb „erreicht“ in Art. I-9 Abs. 3 Satz 1 VE Konvent durch „verwirklicht“/„verwirklichen“ in Art. I-11 Abs. 3 Satz 1 VVE ersetzt. Ob diese Wortlautänderung auch eine inhaltliche Modifikation bedeutet, wird im nächsten Kapitel im Rahmen der Ausführungen zu Art. I-11 VVE erörtert. Die zweite Änderung ist zwar konsequent,359 hat aber offensichtlich keine inhaltlichen Auswirkungen: In Art. I-11 Abs. 3 Satz 2 VVE wurde die in Art. I-9 Abs. 3 Satz 2 VE Konvent enthaltene Aussage herausgenommen, wonach das Subsidiaritätsprotokoll „im Anhang zur Verfassung“ enthalten sei. Im Protokoll über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit erfolgte eine Reihe von Änderungen, die sich jedoch nicht auf die Grundstruktur des vom Konvent vorgeschlagenen Systems der Subsidiaritätskontrolle auswirken. Mit der Unterzeichnung des Vertrags auf der Regierungskonferenz in Rom war die Arbeit – wie sich in Frankreich und den Niederlanden gezeigt hat – indes noch lange nicht getan. Der „Kampf um die Verfassung“ (Elmar Brok)360 hat erst begonnen.
357 358 359 360
Siehe dazu Grabenwarter, Auf dem Weg in die Grundrechtsgemeinschaft?, S. 569. Streinz/Ohler/Herrmann, Die neue Verfassung für Europa, S. 87 Fn. 380. Siehe die Ausführungen in Kapitel 3 I. 3. a). Brok, Die künftige Verfassung der Europäischen Union, S. 333 f.
III. Die Aussagen weiterer Entwürfe einer Verfassung für Europa
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III. Die Aussagen weiterer Entwürfe einer Verfassung für Europa zum Subsidiaritätsprinzip III. Die Aussagen weiterer Entwürfe einer Verfassung für Europa
1. Der Freiburger Entwurf, Schwarze Im Zuge der Arbeiten des Konvents zur Zukunft Europas befasste sich eine Reihe von Wissenschaftlern und Politikern mit den Gestaltungsmöglichkeiten in Bezug auf eine künftige europäische Verfassung. In diesem Zusammenhang entstanden verschiedene Entwürfe eines Verfassungsvertrags,361 die auf die Beratungen des Konvents zur Zukunft Europas inhaltlich mehr oder weniger großen Einfluss nahmen.362 Einer dieser Entwürfe basiert auf Diskussionen einer deutsch-französischen Arbeitsgruppe um den Freiburger Hochschullehrer Jürgen Schwarze.363 Dieser sogenannte Freiburger Entwurf364 vom 12. November 2002 – die ursprüngliche Idee eines solchen Projektes entstand noch vor der Einberufung des Konvents zur Zukunft Europas – konzentriert sich auf die Kernthemen, welche in Nizza und Laeken als vorrangig für eine Reform des europäischen Rechts eingestuft wurden.365 Über den eigentlichen Kernverfassungstext hinausgehende Konkretisierungen und Präzisierungen, wie sie in den Protokollen zum Vertrag über eine Verfassung für Europa niedergelegt sind, enthält der Entwurf nicht. Die erste Erwähnung des Subsidiaritätsprinzips findet sich in Art. 9 Abs. 3 des Verfassungsentwurfs (im Folgenden VE Freiburg), wo es heißt: „Bindende Leitlinien für die Ausübung dieser366 Kompetenzen sind das Subsidiaritätsprinzip und 361 Eine Übersicht über weitere Verfassungsentwürfe neben den nachfolgend näher dargestellten findet sich im Internet unter http://www.bundestag.de/dialog/eu_konvent/verf_ent. html. Eine instruktive Zusammenstellung ferner bei Häberle, Europäische Verfassungslehre, S. 604 ff. 362 Oppermann, Europäischer Verfassungskonvent, S. 1266. 363 Zu dieser Forschungsgruppe gehörten neben Schwarze der Völkerrechtler Jean F. Flauss, der Generalsekretär der Commission Centrale pour la Navigation du Rhin Jean M. Woehrling, Johannes Schoo, Direktor im Juristischen Dienst des Europäischen Parlaments, sowie die Freiburger Assistenten Nicolai Böcker, Sebastian Strohmayr und Lukas Wasielewski. Unregelmäßiger Teilnehmer an den Beratungen der Arbeitsgruppe war unter anderem der Europaabgeordnete Karl v. Wogau. 364 Der Text des Verfassungsentwurfs ist in broschierter Form am Europa-Institut Freiburg erhältlich; er ist ferner abgedruckt bei Schwarze (Hrsg.), Der Verfassungsentwurf des Europäischen Konvents – Verfassungsrechtliche Grundstrukturen und wirtschaftsverfassungsrechtliches Konzept (2004) und kann überdies im Internet abgerufen werden unter http://www.europa-institut.de/deu/FreiburgerEntwurf.pdf. 365 Also eine bessere Kompetenzabgrenzung zwischen Union und Mitgliedstaaten, eine Verbesserung des Grundrechtsschutzes, eine Vereinfachung der Verträge sowie eine Reform des institutionellen Gefüges. 366 Damit sind die der Union nach Art. 9 Abs. 2 VE Freiburg „ausdrücklich zugewiesen(en)“ Befugnisse gemeint. Das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung ist also auch in diesem Entwurf das fundamentale Kompetenzprinzip.
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Kap. 2: Der Weg zum Vertrag über eine Verfassung für Europa
das Prinzip der Verhältnismäßigkeit.“ Nach den dem Entwurfstext beigefügten „Anmerkungen zu den einzelnen Bestimmungen des Verfassungsentwurfs“ ist dieser Artikel „in seiner verfassungsmäßigen Begrenzung der Unionsbefugnisse von zentraler Bedeutung.“ Durch die Aufnahme des Subsidiaritätsprinzips in den Grundlagenteil des Entwurfs wird diesem Prinzip ein hoher Stellenwert eingeräumt. Durch die Bezeichnung des Subsidiaritätsprinzips in Art. 9 Abs. 3 VE Freiburg als „bindende Leitlinie“ wird sein doppelter Charakter treffend hervorgehoben. Auf der einen Seite ist das Subsidiaritätsprinzip als – auch dies stellt der Wortlaut der Bestimmung eindeutig klar – Kompetenzausübungsregel eine Rechtsregel, welche von den Organen der Union zwingend zu beachten ist. Andererseits ist es nicht allein ein Rechtssatz, sondern – eben als Leitlinie – ein prägendes, auch politisch zu verwirklichendes Grundpostulat für Europa. Hingegen findet sich das Subsidiaritätsprinzip nicht expressis verbis in Art. 2 VE Freiburg („Grundlagen der Union“), wo die „den Rechtsordnungen aller Mitgliedstaaten gemeinsamen“ Grundsätze (Freiheit, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten, Solidarität und Einhaltung des Völkerrechts) aufgeführt sind. Dies verwundert bei erster Betrachtung, wird damit doch bspw. dem Solidaritätsprinzip ein scheinbar formal höherer Rang eingeräumt; dies auch vor dem Hintergrund, dass in den Gemeinsamen Bestimmungen des EUV das Subsidiaritätsprinzip als zu beachtendes Kriterium ausdrückliche Erwähnung in Art. 2 EUV findet, der die Ziele der Union beschreibt.367 Bezugspunkte für das Subsidiaritätsprinzip lassen sich jedoch auch in Art. 2 VE Freiburg finden: So, wenn in Art. 2 Abs. 1 Satz 2 VE Freiburg niedergelegt ist, dass die Union „ihre Entscheidungen in größtmöglicher Offenheit und Bürgernähe“ trifft; hier wird inhaltlich vergleichbar mit dem Wortlaut der Präambel des EUV („einer (…) Union, in der die Entscheidungen entsprechend dem Subsidiaritätsprinzip möglichst bürgernah getroffen werden“) auf die Ausprägung des Subsidiaritätsgedankens als Garant für Bürgernähe verwiesen. Ähnlich verhält es sich mit Art. 2 Abs. 2 Satz 1 VE Freiburg, wonach die Union „die nationale Identität und die Organisationsstruktur ihrer Mitgliedstaaten“ achtet. Mit dieser Bestimmung wird erstens auf den identitätsfördernden Charakter des Subsidiaritätsgedankens abgestellt. Auch dies ist freilich noch keine direkte Bezugnahme auf das Subsidiaritätsprinzip als Rechtsprinzip. Besonders interessant ist indes der Hinweis auf die Achtung der Organisationsstruktur der Mitgliedstaaten. Hier finden mittelbar stärker verrechtlichte Aspekte des Subsidiaritätsgedankens Einzug in die Grundlagenvorschrift des Verfassungsentwurfs – nicht jedoch dergestalt, dass damit eine Strukturentscheidung auf Unionsebene festgelegt oder vorweggenommen würde. Vielmehr kann diese Bestimmung dahingehend verstanden werden, dass ein – gegebenenfalls – mitgliedstaatlich vorhandenes, am Subsidiaritätsgedanken orientiertes Kompetenzprinzip nicht durch ein Handeln der Union in Frage gestellt wer367
Zu Art. 2 EUV vgl. Kapitel 1 II. 2.
III. Die Aussagen weiterer Entwürfe einer Verfassung für Europa
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den darf. Die Bestimmung fordert und fördert also keine Subsidiarität, sie schützt nur – so denn vorhanden – deren Bestand. Das Element der nationalen Identität wird – in Übernahme der Regelung des Art. 6 Abs. 3 EUV – in Teil B des Verfassungsentwurfs, der die Zuständigkeiten der Union behandelt, abermals niedergelegt: Dort achtet die Union „die Hoheit der Mitgliedstaaten und ihrer regionalen Untergliederungen“ auf nachfolgend näher beschriebenen Gebieten, „die für deren nationale Identität und verfassungsrechtliche Grundordnung prägend sind“. Die nächste ausdrückliche Niederlegung erfährt das Subsidiaritätsprinzip in Art. 23 Abs. 1 VE Freiburg. Diese Bestimmung findet sich systematisch in den Allgemeinen Vorschriften des Teils B des Verfassungsentwurfs. Im Wesentlichen ähneln die dortigen Formulierungen denen in Art. 5 Abs. 2 (ex-Art. 3 b Abs. 2) EGV. Ein Unterschied ist die Verwendung des Begriffs „Maßnahme“ in der Singularform; im EGV war noch von „in Betracht gezogenen Maßnahmen“ die Rede. Eine inhaltliche Differenzierung lässt sich hieraus freilich nicht ableiten, genauso wenig wie aus dem Umstand, dass im Verfassungsentwurf nun naturgemäß auf die „Unionsebene“ anstatt auf die „Gemeinschaftsebene“ abgestellt wird. Eine entscheidende Veränderung im Vergleich zu Art. 5 Abs. 2 (ex-Art. 3 b Abs. 2) EGV könnte allerdings darin liegen, dass nunmehr die regionale Ebene ausdrücklich auch in das Subsidiaritätssystem einbezogen wird. Nach den Anmerkungen zum Verfassungsentwurf soll hiermit „die Rolle der Regionen besonders hervorgehoben“ werden. Europapolitisch gewiss eine begrüßenswerte Neuerung, wird so doch die tragende Rolle der „untersten Ebenen“ für ein bürgernahes und effizientes „Europa von („ganz“) unten“ deutlich hervorgehoben, das Subsidiaritätsprinzip also expressis verbis quasi durchgehend auf alle Akteure erstreckt. Welche Einheiten genau unter den Begriff der Regionen fallen, geht weder aus Art. 23 Abs. 1 VE Freiburg noch aus den Anmerkungen hierzu eindeutig hervor. In Anbetracht des Charakters der Bestimmung als Kompetenzausübungsregel müssen aber von dem Regionenbegriff zumindest all diejenigen Körperschaften erfasst sein, die nach der jeweiligen innerstaatlichen Verfassungsordnung überhaupt grundsätzlich befugt sein können, aufgrund eigener Zuständigkeit Kompetenzen auszuüben, denen also eine Gesetzgebungskompetenz zukommt. In Deutschland wären dies die Länder. Die umfangreiche Einbeziehung des regionalen Elements in die künftige europäische Verfassungsstruktur ist daher auch eine besondere Forderung der deutschen Länder gewesen.368 368 Vgl. u. a. der ehemalige baden-württembergische Ministerpräsident Teufel in seiner Rede am 22. Januar 2003 vor dem französischen Senat in Paris aus Anlass des 40-jährigen Jubiläums des Deutsch-Französischen Freundschaftsvertrags, im Internet abrufbar unter http://www. baden-wuerttemberg.de/sixcms/media.php/1899/rede_teufel_dt_franz_freundschaftsvertrag. pdf; ders. in seiner Rede vor dem Forum Constitutionis Europae der Humboldt-Universität Berlin am 23. April 2003, Konturen der Europäischen Verfassung, im Internet abrufbar unter http://www.baden-wuerttemberg.de/sixcms/media.php/587/teufel_europ_verfassung_230403.
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Kap. 2: Der Weg zum Vertrag über eine Verfassung für Europa
Art. 25 ff. VE Freiburg umfassen Regelungen zur verfahrensmäßigen Stärkung und Absicherung des Subsidiaritätsprinzips. Art. 25 VE Freiburg schafft – ohne die eigentlichen Entscheidungsebenen zu vermischen – ein in den Anmerkungen als „Frühwarnsystem“ bezeichnetes System der Vorabkontrolle von Gesetzgebungsvorschlägen der Kommission: Hiernach kann das Europäische Parlament der Kommission eine Stellungnahme zuleiten, wenn es der Auffassung ist, dass ein Gesetzgebungsvorschlag das Subsidiaritätsprinzip verletzt.369 Die Kommission ist daraufhin gehalten, sich mit den Einwänden auseinanderzusetzen und den Vorschlag gegebenenfalls zu überarbeiten. In Art. 26 VE Freiburg wird ein Kompetenzausschuss etabliert, der bei Streitigkeiten zwischen der Union und den Mitgliedstaaten über die Vereinbarkeit von Gesetzgebungsakten mit der Kompetenzordnung vermitteln soll. Der Ausschuss soll als Vorstufe der gerichtlichen Kontrolle die Möglichkeit konsensorientierter politischer Vermittlung370 bieten. Insbesondere bei Subsidiaritätsfragen, so die Anmerkungen zu Art. 26 VE Freiburg, schließe die Beurteilung der zu wählenden Regelungsebene politische Wertungen ein, welche auf der Grundlage politischer Konfliktlösungsmechanismen vorzugsweise zu erörtern seien. Der Vorteil einer solchen Vorgehensweise rechtfertige auch einen Konflikt mit der – auf den Zielen der Transparenz und der Vereinfachung des künftigen europäischen Vertragswerks basierenden – Devise, keine neuen Gremien zu schaffen. Die erfolglose Durchführung der Vorabkontrolle nach Art. 25 VE Freiburg und des „Widerspruchsverfahrens“ vor dem Kompetenzausschuss nach Art. 26 VE ist erforderliche Prozessvoraussetzung für die Erhebung einer Klage nach Art. 27 VE Freiburg, mit welcher die Überschreitung der Befugnisse durch die Union gerügt werden kann. Diese Klage wird in Art. 27 VE Freiburg als Nichtigkeitsklage bezeichnet. Aktivlegitimiert sind die „Parlamente in den Mitgliedstaaten nach deren verfassungsrechtlicher Zuordnung“. Damit wird sichergestellt, dass auch regionale gesetzgebende Körperschaften ein Klagerecht besitzen, wenn sie sich durch Unionsrechtsakte in ihren Zuständigkeiten verletzt sehen. Die Bezugnahme auf die mitgliedstaatliche Zuständigkeitsordnung wahrt, so die Anmerkungen, die „Autonomie der nationalen Verfassungsordnungen“; gegen den Willen eines Mitgliedstaates können seine regionalen Untergliederungen also keine verfahrensrechtliche Aufwertung erfahren. Neben den nationalen Parlamenten ist auch der Ausschuss der Regionen aktivlegitimiert. Dieser wird durch Art. 72 VE Freiburg ausdrückpdf. Siehe auch den Beschluss der Konferenz der Präsidentinnen und Präsidenten der deutschen Landesparlamente am 17./18. Mai 2004 in Quedlinburg („Quedlinburger Erklärung“), im Internet unter http://www.landtag.sachsen-anhalt.de/aktuell/0405182.pdf. 369 Gleiches gilt im Falle der Behauptung eines sonstigen Verstoßes gegen die Zuständigkeitsordnung. 370 In den Anmerkungen des Vertragsentwurfs ist auch von „einer Art „Vermittlungsausschuss““ die Rede.
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lich verpflichtet, die Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips zu überwachen. Die Klage wird vor dem Europäischen Gerichtshof erhoben.371 Klagegegenstand ist die „Überschreitung der Befugnisse der Union“; die Klage ist Nichtigkeitsklage gemäß Art. 65 Abs. 4 VE Freiburg.372
2. Eine Verfassung für ein starkes Europa – das Kongressdokument der EVP Der Kongress der Europäischen Volkspartei (EVP) verabschiedete auf seiner 15. Tagung vom 17./18. Oktober 2002 in Estoril/Portugal ein Positionsdokument für eine künftige europäische Verfassung.373 Der Diskussionsbeitrag formuliert zwar keinen eigentlichen Verfassungstext; er setzt sich jedoch ausführlich mit den erforderlichen Strukturentscheidungen für das künftige Europa auseinander und legt ein vertieftes Konzept für eine europäische Verfassung vor. Als einer von mehreren Ausgangspunkten für den ausformulierten Verfassungsentwurf der EVP374 soll der Beitrag daher an dieser Stelle erörtert werden. Der umfangreichste Teil dieses Dokumentes375 enthält Ausführungen zur künftigen Kompetenzordnung innerhalb der Union; dort sind auch Überlegungen zum Subsidiaritätsprinzip niedergelegt. In Ziffer 11 wird die Notwendigkeit aufgeführt, „in strikter Übereinstimmung mit dem Subsidiaritätsprinzip (…) die Politikbereiche, die wir in Zukunft auf Europäischer Ebene gestalten wollen, fest(zu)legen.“ Etwas später, in Ziffer 14, heißt es, dass es „an der Zeit (ist), die Kompetenzverteilung zwischen 371 Der Vertragsentwurf folgt also nicht einigen Vorschlägen der Verfassungsdebatte, ein eigenständiges Kompetenzgericht für derartige Klagen zu etablieren. Diese Vorschläge basierten auf der Annahme, der EuGH sei aus rechtlichen oder politischen Gründen nicht geeignet, Verstöße von Rechtsakten der Union gegen Zuständigkeitsregelungen zu überprüfen. Dazu u. a. Erwin Teufel in einem Beitrag für die Zeitschrift Via EUROPA, im Internet abrufbar unter http:// www.stm.baden-wuerttemberg.de/sixcms/media.php/629/viaeuropa.pdf; Zuleeg, Justiziabilität des Subsidiaritätsprinzips, S. 201 ff.; Oppermann, Vom Nizza-Vertrag zum Europäischen Verfassungskonvent, S. 8; Goll/Kenntner, Brauchen wir ein Europäisches Kompetenzgericht?, S. 101 ff.; vgl. auch die Ausführungen in Kapitel 3 III. 5. b). 372 Die Nichtigkeitsklage nach Art. 65 Abs. 4 VE Freiburg unterscheidet sich – was die Formulierung des Klagegrundes betrifft – von der Nichtigkeitsklage des Art. 230 EGV. Während in Art. 230 EGV vier einzelne Klagegründe aufgeführt sind (Unzuständigkeit; Verletzung wesentlicher Formvorschriften; Verletzung dieses Vertrags oder einer bei seiner Durchführung anzuwendenden Rechtsnorm; Ermessensmissbrauch), ist Klagegrund bei Art. 65 Abs. 4 VE Freiburg generalklauselartig eine „Verletzung“. Inhaltliche Änderungen, so auch die Anmerkungen zu Art. 65 Abs. 4 VE Freiburg, ergeben sich hieraus freilich nicht, da auch dem dritten Klagegrund des Art. 230 EGV die generalklauselartige Wirkung eines Auffangtatbestandes zukommt, vgl. Schwarze/Schwarze, EU-Kommentar, Art. 230 EGV Rn. 64. 373 Der Text ist im Internet unter http://www.epp-ed.org/Press/peve02/eve30/congressdoc_ de.asp erhältlich. 374 Dazu Kapitel 2 III. 3. 375 Teil II: „Praktische Subsidiarität und Solidarität: Die Kompetenzverteilung zwischen der Europäischen Union und den Mitgliedstaaten“.
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Kap. 2: Der Weg zum Vertrag über eine Verfassung für Europa
der Union und den Mitgliedstaaten auf der Grundlage des Subsidiaritätsprinzips und der Verhältnismäßigkeit zu erneuern und dabei die Erfahrungen aus der Geschichte der Gemeinschaft miteinzubeziehen wie auch die Ansichten der Beitrittskandidaten wie auch die Erwartungen der Bürger.“ Ausgangspunkt der Notwendigkeit einer Diskussion über eine Neuverteilung der Kompetenzen sind die Bürger: „(Sie) müssen stärker als bisher in der Lage sein, nachzuvollziehen, welche Ebene für welche Entscheidungen verantwortlich ist.“376 Unter der Überschrift der „praktischen Subsidiarität“ wird also hier das Subsidiaritätsprinzip in seiner Dimension als Garant für Bürgernähe und Transparenz benannt. So bemerkenswert wie bedenklich ist freilich, dass das Subsidiaritätsprinzip auch in diesem Dokument wieder als Grundlage einer erneuerten Kompetenzverteilung ins Feld geführt wird. Hier wird wohl die Entschließung des Europäischen Parlaments zum Lamassoure-Bericht mit ihren Aussagen zur Subsidiarität gedanklich Pate gestanden haben. Eine weitere kleine Merkwürdigkeit findet sich in Ziffer 23 des Dokuments, wonach die Union „gemäß dem Subsidiaritätsprinzip (…) in diesen Bereichen (gemeint ist die Beschäftigungspolitik) die Aufgaben übernehmen (muss), die nicht von den Mitgliedstaaten alleine bewältigt werden können.“ Das Weglassen des Kriteriums der Effizienz-Optimierung in dieser Aussage dürfte freilich eher auf unbeabsichtigte Ungenauigkeit denn auf eine bewusste Abkehr vom Kumulationserfordernis beider Subsidiaritätsvoraussetzungen zurückzuführen sein. Das EVP-Dokument spricht sich konkludent dagegen aus, ein besonderes Kompetenzgericht für Subsidiaritätsfragen zu etablieren. Vielmehr soll der Gerichtshof „das Verfassungsgericht der Union sein. Innerhalb des Gerichtshofes soll eine spezielle Kammer geschaffen werden, um Fälle bezüglich der Verfassung und Grundrechte anzuhören.“377 Dem gerichtlichen Kontrollverfahren von europäischen Gesetzgebungsvorhaben soll ein (im Dokument nicht näher beschriebenes) „Frühwarnsystem sowie ein zusätzliches Überweisungsverfahren vorgeschaltet werden das auch in der Lage ist, (diese Gesetzesentwürfe) aufzuheben.“378 Dem Ausschuss der Regionen wird schließlich in Ziffer 50 die Aufgabe zugewiesen, „Hüter des Subsidiaritätsprinzips und der Nähe zum Bürger“ zu sein. Die Stärkung dieser unterstützenden Einrichtung (Hilfsorgan)379 mit bislang nur beratender Funktion ohne wirkliche Entscheidungskompetenzen realisiert das EVPDokument ausdrücklich in Ziffer 27 durch die Einräumung eines eigenen Klagerechts in bestimmten Angelegenheiten.
376
Ziffer 13 des Dokuments. Ziffer 27 des Dokuments. 378 Ziffer 27 des Dokuments. 379 Vgl. Art. 7 Abs. 1 (ex-Art. 4 Abs. 2) EGV. Zum AdR siehe Huber, Recht der Europäischen Integration, S. 236 ff. 377
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3. Der Verfassungsentwurf der Europäischen Volkspartei Am 10. November 2002 legte die Europäische Volkspartei (EVP) ein Diskussionspapier vor, welches die Präambel und den ersten Teil („Struktur der Verfassung“) des Entwurfs einer Verfassung für die Europäische Union beinhaltete.380 Das Diskussionspapier stützt sich inhaltlich381 auf das vom EVP-Kongress am 18. Oktober 2002 verabschiedete Dokument „Eine Verfassung für ein starkes Europa“,382 den gemeinschaftlichen Besitzstand, die Beratungen im Konvent zur Zukunft Europas einschließlich der Struktur des vom Konventspräsidium am 28. Oktober 2002 vorgelegten Vorentwurfs des Verfassungsentwurfs383, die Entschließung des Europäischen Parlaments zum Lamassoure-Bericht, die Beratungen der Studientage der EVP-Konventsgruppe in Frascati/Italien vom 8.–10. November 2002, sowie auf sonstige Dokumente. Die überarbeitete Fassung des Diskussionspapiers datiert auf den 27. Januar 2003 und enthält auch den Zweiten Teil des Entwurfs einer Verfassung für die Europäische Union.384 Der Text wurde am 03. Februar 2003 vom Vorsitzenden der EVP-Konventsgruppe, Elmar Brok, MdEP, vorgestellt; diese Fassung ist Gegenstand der nachfolgenden Betrachtungen. Zum ersten Mal genannt wird das Subsidiaritätsprinzip in Art. 52 Abs. 1 des Verfassungsentwurfs (im Folgenden VE EVP). Diese Bestimmung befasst sich mit dem Anwendungsbereich der an erster Stelle in den Entwurf inkorporierten Grundrechtecharta. Art. 52 Abs. 1 VE EVP legt fest, dass die Charta „für die Organe und Einrichtungen der Union unter Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips“ gilt; die Norm stimmt, was Wortlaut und Inhalt betrifft, im Wesentlichen mit Art. 51 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union überein, dem Text hinzugefügt wurde der Passus, wonach die Anwendung der Charta „unter Achtung der Grenzen der Zuständigkeiten der Union, die dieser in dieser Verfassung übertragen werden“, zu erfolgen hat. In Art. 67 VE EVP, der ersten Bestimmung unter Titel III des Vertragsentwurfs, welcher sich mit den Zuständigkeiten und Tätigkeitsbereichen der Union befasst,385 380
Der Entwurfstext kann im Internet unter http://www.cap.uni-muenchen.de/konvent/down load/EPP-Constitution2.pdf abgerufen werden. 381 Darauf weisen auch die einleitenden Anmerkungen zum Verfassungsentwurf ausdrücklich hin. 382 Kapitel 2 III. 2. 383 Der Vorentwurf des Präsidiums (CONV 369/02) ist im Internet unter http://register. consilium.eu.int/pdf/de/02/cv00/00369d2.pdf erhältlich. Vgl. Kapitel 2 II. 2. 384 Die Verfassung der Europäischen Union – Diskussionspapier –; überarbeitete Fassung, einschließlich des Zweiten Teils, 27. Januar 2003; eine deutschsprachige Version des Textes kann im Internet unter http://www.epp-ed.org/constitution/docs/030127constitution-de.pdf abgerufen werden. 385 Der Aufbau von Titel III – darauf weisen die Anmerkungen zum Verfassungsentwurf ausdrücklich hin – wurde vom Vorentwurf des Verfassungsvertrags übernommen, den das Präsidium des Konvents zur Zukunft Europas am 28. Oktober 2002 auf der Plenartagung des Konvents vorstellte (CONV 369/02).
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findet das Subsidiaritätsprinzip seine zentrale Niederlegung. Es gilt – neben dem Prinzip der begrenzten Ermächtigung und dem Verhältnismäßigkeitsprinzip – als ein Grundprinzip der Union. Seine konkrete Ausgestaltung findet sich in Art. 67 Abs. 3 VE EVP; danach müssen „alle Entscheidungen in der Union (…) nach dem Subsidiaritätsprinzip so bürgernah wie möglich getroffen werden“. Der Verfassungsentwurf realisiert hiermit die in dem EVP-Kongress-Dokument „Eine Verfassung für ein starkes Europa“386 beschriebene Funktion des Subsidiaritätsprinzips im Sinne einer „praktischen Subsidiarität“ als Garant für Bürgernähe. Die in Art. 67 Abs. 3 VE EVP enthaltene Definition des Subsidiaritätsprinzips entspricht der des Art. 5 Abs. 2 (ex-Art. 3 b Abs. 2) EGV – mit der Ausnahme, dass das Kriterium der Effizienz-Optimierung abgeändert wurde: Statt der Formulierung „besser“ verlangt der Entwurf VE EVP, dass die Ziele „wegen ihres Umfangs oder ihrer Wirkungen in effizienterer Weise auf Unionsebene erreicht werden können.“ Nach den Erläuterungen zum Entwurfstext wird diese sprachliche Änderung vorgeschlagen, „um die Vorschrift klarer und justiziabler zu gestalten.“ Ob dies gelungen ist, mag bezweifelt werden. Auch die Formulierung „in effizienterer Weise“ ist ohne eine weitere Konkretisierung in „Prüfrastern“ und „Leitlinien“387 nicht wirklich klarer als der Terminus „besser“. Dasselbe gilt für das Ziel einer verbesserten Justiziabilität. Auch diesbezüglich ist kaum ersichtlich, welche Verbesserungen die Umformulierung des Kriteriums der Effizienz-Optimierung bringen sollte. Eventuelle negative Auswirkungen sind freilich aufgrund dieser Wortlautänderung genauso wenig zu befürchten, im Hinblick auf das Ziel einer Förderung und Stärkung des Subsidiaritätsgedankens ist der Formulierungsvorschlag daher letztlich unnütz, aber unschädlich. Aus Art. 68 Abs. 1 VE EVP388 geht hervor, dass das Subsidiaritätsprinzip im Verfassungsentwurf als Kompetenzausübungsregel verstanden wird; die Organe der Union wenden das Prinzip nämlich „bei der Ausübung der nicht ausschließlichen Zuständigkeiten der Union“ an. Die konkrete Anwendung hat dabei gemäß einem der Verfassung beigefügten Protokoll über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit zu erfolgen. Auch ein Frühwarnmechanismus, mit Hilfe dessen die nationalen Parlamente die Einhaltung des Subsidiaritäts- und des Verhältnismäßigkeitsprinzips überwachen können sollen, Art. 68 Abs. 3 VE EVP, wird in diesem Protokoll beschrieben. Das Protokoll wird im Anhang I des Verfassungsentwurfs389 zwar nicht ausformuliert. Es soll aber die Ergebnisse der Arbeitsgruppe I (Subsidiarität) des Konvents zur Zu386
Kapitel 2 III. 2. Zu solchen Versuchen, das Subsidiaritätsprinzip greifbarer zu machen vgl. Kapitel 1 II. 1. e). 388 „(Anwendung der Grundprinzipien)“. 389 „Liste der der Verfassung beigefügten Protokolle“. Darin sind – neben einigen neuen Protokollvorschlägen – die bestehenden Protokolle zu EUV und EGV etc. enthalten, die gemäß Art. 142 VE EVP (entspricht inhaltlich Art. 311 (ex-Art. 239) EGV) auch Bestandteile des neuen Verfassungsentwurfs werden sollen. 387
III. Die Aussagen weiterer Entwürfe einer Verfassung für Europa
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kunft Europas berücksichtigen.390 Besonderes Augenmerk legen die Ausführungen zum Subsidiaritätsprotokoll dabei auf die Ausgestaltung des einzurichtenden Frühwarnsystems.391 Danach hat die Kommission sämtliche Rechtsetzungsvorschläge zeitgleich dem Europäischen Parlament, dem Rat, jedem einzelstaatlichen Parlament,392 dem Ausschuss der Regionen sowie dem Wirtschafts- und Sozialausschuss zur Prüfung auf die Vereinbarkeit mit dem Prinzip der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit zuzuleiten. Ein einzelstaatliches Parlament – nicht erwähnt werden die Möglichkeiten, welche die anderen am Prüfungsverfahren beteiligten Teilnehmer haben – kann, wenn es der Auffassung ist, der Rechtsetzungsvorschlag verstoße gegen eines der Prinzipien, binnen 6 Wochen der Kommission eine begründete Stellungnahme zuleiten. Die Kommission muss den Vorschlag dann ausführlicher und präziser bezüglich seiner Vereinbarkeit mit beiden Prinzipien begründen;393 wenn mehr als ein Drittel der Parlamente394 eine begründete Stellungnahme abgeben, muss die Kommission ihren Vorschlag überprüfen. Eine Bezugnahme auf das Subsidiaritätsprinzip und seine Überwachung durch das vorgeschlagene Frühwarnsystem findet sich auch in Art. 74 VE EVP, der – entsprechend Art. 308 (ex-Art. 235) EGV395 – Konstellationen bewältigen soll, in denen ein Handeln der Union zum Erreichen eines ihrer Ziele erforderlich ist, die hierfür notwendigen Befugnisse in der Verfassung aber nicht vorgesehen sind. Nach Art. 74 Abs. 1 VE EVP werden in solchen Fällen die erforderlichen Maßnahmen von Europäischem Parlament und Rat gemeinsam im Mitentscheidungsverfahren, geregelt in Art. 102 VE EVP, getroffen. Art. 74 Abs. 2 VE EVP fordert nun, dass die Kommission die nationalen Parlamente ausdrücklich auf solche Vorschläge hinweist, welche auf die Grundlage der Flexibilitätsklausel des Art. 74 VE EVP gestützt werden. Vor Kenntnisnahme des Hinweises durch die nationalen Parlamente dürfen das Europäische Parlament und der Rat nicht tätig werden. Diese Regelung bewirkt eine verfahrensmäßige Stärkung des Subsidiaritätsprinzips im Bereich von Rechtsetzungsvorschlägen, die auf die Flexibilitätsklausel gründen.
390
Schlussfolgerungen der Gruppe I „Subsidiarität“ vom 23. September 2002 (CONV 286/ 02), im Internet abrufbar unter http://register.consilium.eu.int/pdf/de/02/cv00/00286d2.pdf. 391 Das in vier Einzelpunkten umschriebene Verfahren orientiert sich ebenfalls an den diesbezüglichen Ausführungen der Arbeitsgruppe „Subsidiarität“. 392 Auch diese Formulierung beabsichtigt den Einbezug beider gesetzgebender Körperschaften in Staaten mit einem Mehrkammersystem, es muss sich also nicht jeweils um Parlamente im staatsrechtlichen Sinn handeln. 393 Der EVP-Vorschlag ist hier klarer als die entsprechenden Ausführungen im Abschlussbericht der Arbeitsgruppe „Subsidiarität“; dort tritt die Begründungspflicht beim Eingang ein, wenn „nur wenige Stellungnahmen“ bei der Kommission eingehen. Wie viele Stellungnahmen sind hier notwendig, reicht insbesondere die Stellungnahme eines einzelnen Parlaments aus? 394 Auch diese Formulierung ist klarer verständlich als jene der Arbeitsgruppe „Subsidiarität“, wonach die Überprüfung erfordert, dass „eine erhebliche Anzahl von Stellungnahmen eingeht, die von einem Drittel der einzelstaatlichen Parlamente stammen“. 395 Siehe dazu Kapitel 1 I. 3.
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Dies ist begrüßenswert, da gerade jener Klausel396 der Vorwurf397 gemacht wird, einer uferlosen Erweiterung der Gemeinschaftskompetenzen Hilfe zu leisten.398 Die gerichtliche Kontrolle der Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips erfolgt vor dem EuGH. Die Klage ist statthaft als Nichtigkeitsklage gemäß Art. 84 d) und e) VE EVP. Die Anmerkungen zum Verfassungsentwurf beziehen sich wiederum ausdrücklich auf den Abschlussbericht der Arbeitsgruppe „Subsidiarität“. In Einklang damit wird vorgeschlagen, dass das Klagerecht „eines nationalen Parlaments“ beide Kammern einschließt, „wenn dies nach nationalem Verfassungsrecht zulässig ist“, Art. 84 e) VE EVP.399 Im Unterschied zu den Empfehlungen der Arbeitsgruppe des Konvents wird allerdings vorgeschlagen, den Klagegegenstand nicht auf die Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips zu beschränken, sondern auf alle Kompetenzfragen auszuweiten; zudem soll die Erhebung der Klage eines nationalen Parlaments nicht von der vorherigen Durchführung des Frühwarnverfahrens abhängig gemacht werden. Hierfür hatte sich die Arbeitsgruppe „Subsidiarität“ ausgesprochen, um die Erhebung einer Subsidiaritätsklage zur Ausnahme für die Fälle zu machen, in denen die vorherigen politischen Kontrollmechanismen des Frühwarnsystems zu keiner zufriedenstellenden Lösung führten.400 Der VE EVP nimmt vielmehr eine Anregung der Arbeitsgruppe IV Einzelstaatliche Parlamente des Konvents zur Zukunft Europas auf; diese hatte in ihrem Abschlussbericht401 vorgeschlagen, die Möglichkeit zur Klageerhebung nicht auf die Parlamente zu beschränken, „die in einem früheren Stadium eine mit Gründen versehene Stellungnahme abgegeben hatten.“402 In Art. 95 VE EVP taucht das Subsidiaritätsprinzip im Zusammenhang mit dem Ausschuss der Regionen auf, der durch seine beratende Mitwirkung gewährleisten soll, dass seitens der Union „die Prinzipien der Subsidiarität und der Nähe zu den Bürgern der Union“ berücksichtigt werden. Durch diese Aufgabenzuweisung, verbunden mit dem Recht zur Erhebung einer Nichtigkeitsklage nach Art. 84 d) VE EVP wegen Verstoßes gegen das Subsidiaritätsprinzip, konkretisiert der Verfassungsentwurf die Stellung des Ausschusses der Regionen als „Hüter des Subsidiaritätsprinzips und der Nähe zum Bürger“, wie sie im EVP-Kongressdokument „Eine Verfassung für ein starkes Europa“ proklamiert wurde.403 396
Die Flexibilitätsklausel selbst ist nicht Ausdruck des Subsidiaritätsprinzips im Sinne dieser Untersuchung, vgl. Kapitel 1 I. 3. 397 Vgl. bspw. Steinberg/Britz, Energiepolitik, S. 313 ff. 398 Zur Flexibilitätsklausel im bisherigen Gemeinschaftsrecht siehe Grabitz in Grabitz/Hilf, Recht der Europäischen Union, Altband II, Art. 235 EWGV Rn. 1 ff; Schwarze/Schreiber, EUKommentar, Art. 308 EGV Rn. 1 ff. 399 Jede Kammer ist also unabhängig vom Entschluss der anderen aktivlegitimiert. 400 S. 7 des Abschlussberichts der Arbeitsgruppe „Subsidiarität“. 401 Schlussbericht der Gruppe IV über die Rolle der einzelstaatlichen Parlamente vom 22. Oktober 2002 (CONV 353/02), im Internet abrufbar unter http://register.consilium.eu.int/pdf/ de/02/cv00/00353d2.pdf. 402 S. 11 des Abschlussberichts. 403 Ziffer 50 des Dokuments. Siehe Kapitel 2 III. 2.
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Das Subsidiaritätsprinzip und die Bindung der Organe der Union hieran erscheint ferner in Art. 98 VE EVP, der katalogartig die Rechtsakte aufzählt, durch welche die Union zu handeln vermag. Abgesehen von den nicht-bindenden Handlungsformen der Unionsempfehlungen und Unionsstellungnahmen, Art. 98 Abs. 1 d) und e) i. V. m. 98 Abs. 5 VE EVP, unterliegen alle Rechtsakte der Union einer Begründungspflicht, Art. 99 VE EVP. Letztere Bestimmung übernimmt in ihrem ersten Absatz den Inhalt von Art. 253 (ex-Art. 190) EGV, ergänzt ihn aber in Absatz 2 um eine ausdrückliche Bezugnahme auf das Subsidiaritätsprinzip der zufolge zur Begründung zwingend eine Erläuterung gehört, „warum aus Sicht der handelnden Organe bei der Maßnahme die Voraussetzungen der Prinzipien der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit erfüllt sind.“ Die Anmerkungen des Verfassungsentwurfs zur Niederlegung einer Begründungspflicht in Bezug auf Subsidiaritätsgesichtspunkte lassen erkennen, dass hier bewusst ein Vorschlag der Arbeitsgruppe „Subsidiarität“ umgesetzt wurde; jener forderte nämlich, dass jeder Vorschlag eines Rechtsakts einen „Subsidiaritätsbogen mit detaillierten Angaben erhalten (sollte), die es ermöglichen zu beurteilen, ob das Subsidiaritätsprinzip eingehalten wurde.“404
4. Der Cambridge-Text, Dashwood Am 16. Oktober 2002 übermittelte das Konventsmitglied Peter Hain405 dem Konvent zur Zukunft Europas den Entwurf eines Verfassungsvertrages406 für die Europäische Union, der von einer Gruppe von Verfassungsrechtlern der Universität Cambridge (GB) um Alan Dashwood verfasst worden war. Seine erste Niederlegung erfährt das Subsidiaritätsprinzip in Art. 7 des Vertragsentwurfs (im Folgenden VE Dashwood). In Absatz 1 dieser Bestimmung wird es407 als „general and fundamental principle of the constitutional order“ bezeichnet. Die Ausgestaltung des Subsidiaritätsprinzips enthält Art. 7 Abs. 3 VE Dashwood: Im ersten Unterabsatz – so die Anmerkungen zu dieser Bestimmung – wird das Subsidiaritätsprinzip allgemein definiert und klargestellt, dass es auf dem Gebiet der ausschließlichen Unionskompetenzen keine Anwendung findet. Die Norm überrascht zweifach: „The principle of subsidiarity requires that powers be located and exercised at the level of Member States, except in areas (…), or where a clear common advantage can be discerned in acting at the level of the Union.“ 404
S. 4 des Abschlussberichts der Arbeitsgruppe „Subsidiarität“. Peter Hain, Member of Parliament und Europaminister war Mitglied im Konvent zur Zukunft Europas als Vertreter der Regierung des Vereinigten Königreiches. 406 Der Vertragsentwurf (CONV 345/1/02 REV 1) kann im Internet unter http://register. consilium.eu.int/pdf/de/02/cv00/00345-r1d2.pdf abgerufen werden. 407 Zu den Grundprinzipien zählt Dashwood ferner das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung, das Verhältnismäßigkeitsprinzip und das Prinzip der loyalen Zusammenarbeit. 405
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Zum einen scheint Dashwood, obwohl freilich auch er die Zuständigkeitsordnung in seinem Verfassungsentwurf auf das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung stützt, das Subsidiaritätsprinzip nicht allein als Kompetenzausübungs-, sondern auch als Kompetenzverteilungsprinzip anzusehen; dies zeigt die Verwendung der Begriffe „located“ und „exercised“. Zum anderen fällt auf, dass Dashwood das Subsidiaritätsprinzip anscheinend nur als Kriterium der Effizienz-Optimierung begreift („where a (…) advantage can be discerned in acting at the level of the Union“), wohingegen das Insuffizienz-Kriterium in der Beschreibung des Prinzips nicht erscheint. Damit wäre das Subsidiaritätsprinzip nach Dashwood ein klarer Rückschritt hinter die Regelung des Art. 5 Abs. 2 (ex-Art. 3 b Abs. 2) EGV, seine Bedeutung und sein Wirkungsgehalt in diesem Verfassungsentwurf deutlich geringer als im bestehenden Gemeinschaftsrecht. Anders verhält es sich hingegen bei Betrachtung des dritten Unterabsatzes von Art. 7 Abs. 3 VE Dashwood, der laut Anmerkungen die Rolle des Subsidiaritätsprinzips als „brake on the exercise of conferred powers“ aufgreift. Die Bestimmung orientiert sich inhaltlich an Art. 5 Abs. 2 (ex-Art. 3 b Abs. 2) EGV, weicht aber in den Formulierungen von dessen englischer Fassung ab. So ist die Unanwendbarkeit des Subsidiaritätsprinzips auf ausschließliche Unionskompetenzen nicht mehr enthalten; dieser Umstand wurde freilich bereits im ersten Unterabsatz von Art. 7 Abs. 3 VE Dashwood niedergelegt. Ein weiterer Unterschied zu Art. 5 Abs. 2 (ex-Art. 3b Abs. 2) EGV liegt in der Definition des – nun aufgenommenen – Insuffizienz-Kriteriums. Während im EGV erforderlich ist, dass die Ziele auf der Ebene der Mitgliedstaaten „cannot be sufficiently408 achieved“, verlangt der Wortlaut von Art. 7 Abs. 3 Unterabsatz 3 VE Dashwood, dass die Organe der Union von Handeln absehen, „in any case the contemplated action is capable of being achieved by action at the level of the Member States“. Die ausreichende mitgliedstaatliche Zielverwirklichungsmöglichkeit fordert Dashwood also nicht, es genügt, dass das Ziel von den Mitgliedstaaten erreicht werden kann. Diese feine sprachliche Unterscheidung könnte durchaus als Stärkung der Stellung der „unteren Ebenen“ verstanden werden. Eine Erforderlichkeitsprüfung im Sinne von Art. 7 Abs. 3 Unterabsatz 3 VE Dashwood fiele knapper aus als bei Art. 5 Abs. 2 (ex-Art. 3 b Abs. 2) EGV: Sobald ein Mitgliedstaat ein Ziel überhaupt verwirklichen kann, ist der Union ein Handeln auf diesem Gebiet versagt. Der weiteren Untersuchung, inwieweit diese Zielverwirklichung ausreichend ist, also einer tiefergehenden qualitativ-inhaltlichen Befundnahme, bedürfte es dagegen nicht. Zugegebenermaßen mag in den meisten Fällen die Grenze zwischen Zielverwirklichungsmöglichkeit und ausreichender Zielverwirklichungsmöglichkeit fließend und schwer bestimmbar sein. Zumindest terminologisch stellt das InsuffizienzKriterium von Dashwood aber eine etwas höhere Hürde für die Zulässigkeit von Unionshandeln auf. Daran vermag auch der Umstand nichts zu ändern, dass bei erster Betrachtung das Regel-Ausnahme-Verhältnis des Art. 5 Abs. 2 (ex-Art. 3 b 408
In der deutschen Fassung von Art. 5 Abs. 2 (ex-Art. 3 b Abs. 2) EGV „nicht ausreichend“.
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Abs. 2) EGV in Art. 7 Abs. 3 Unterabsatz 3 VE Dashwood zugunsten der Union ins Gegenteil gekehrt zu sein scheint: Während es im EGV heißt, „the Community shall take action (…) only if and in so far“, müssen die Unionsorgane gemäß Art. 7 Abs. 3 Unterabsatz 3 VE Dashwood „refrain from exercising a power which has been conferred on the Union pursuant to this Treaty“. Die Formulierung im EGV macht deutlich, dass die Gemeinschaft nur tätig werden kann, wenn die Voraussetzungen des Subsidiaritätsprinzips erfüllt sind, Gemeinschaftshandelns ist also Ausnahme, mitgliedstaatliches Handeln Regel. Dies scheint bei Dashwood anders zu sein; hier unterlässt es die Union, ihr zugewiesene Kompetenzen auszuüben, wenn die Bedingungen des Subsidiaritätsprinzips nicht erfüllt sind. Im Ergebnis liegt freilich keine Umkehrung eines Regel-Ausnahme-Verhältnisses vor: Art. 7 Abs. 3 Unterabsatz 3 VE Dashwood macht lediglich deutlich, dass die Subsidiaritätsprüfung der zweite Schritt bei einer Prüfung der Zulässigkeit von Handeln auf europäischer Ebene ist; sie kommt erst zum Zuge, wenn festgestellt wurde, dass die Union für die fragliche Materie abstrakt zuständig ist. Ob sie diese Zuständigkeit auch ausüben darf, ist eine Frage der Übereinstimmung mit dem Subsidiaritätsprinzip in der konkreten Situation. Die Formulierung von Dashwood verdeutlicht diese zweigliedrige Prüfungsreihenfolge, die Union muss die Ausübung einer ihr abstrakt zugeordneten Materie unterlassen, wenn die Kriterien des Subsidiaritätsprinzips ihr das Handeln verbieten. Trotz unterschiedlichem Satzaufbau ändert sich bei Art. 7 Abs. 3 Unterabsatz 3 VE Dashwood im Vergleich zu Art. 5 Abs. 2 (ex-Art. 3 b Abs. 2) EGV diesbezüglich also nichts. Art. 7 Abs. 3 Unterabsatz 3 VE Dashwood beseitigt die bei isolierter Betrachtung des ersten Unterabsatzes gehegte Befürchtung, das Subsidiaritätsprinzip in diesem Entwurf habe in Bezug auf seinen Wirkungsgehalt einen geringeren Stellenwert als das im bestehenden Gemeinschaftsrecht niedergelegte. Die Prüfung der Zulässigkeit von Unionshandeln bedarf auch nach Dashwood der Heranziehung des Insuffizienz-Kriteriums und des Kriteriums der Effizienz-Optimierung. Der erste Unterabsatz dürfte mehr als – zugegebenermaßen missverständliche und in inhaltlichem Widerspruch zum dritten Unterabsatz stehende – Allgemeinbeschreibung des Subsidiaritätsprinzips zu verstehen sein, der eigentliche rechtliche Kern dieses Prinzips als Kompetenzausübungsregelung findet sich in Art. 7 Abs. 3 Unterabsatz 3 VE Dashwood. Das Verständnis des ersten Unterabsatzes als eher politisches Postulat denn als harte Rechtsregel vermag auch die vermeintliche Qualifizierung des Subsidiaritätsprinzips als Kompetenzverteilungsregel („powers be located“) zu erklären. Dieser Unterabsatz soll vor allem die Bedeutung der „unteren Ebenen“ im Kontext des Verfassungsentwurfs herausheben und stärken, nicht aber Prüfungsraster für die Zulässigkeit von Unionshandeln sein. Art. 7 Abs. 3 Unterabsatz 2 VE Dashwood besteht aus einem einzigen kurzen Satz: „The principle of subsidiarity shall serve as a guide when this Treaty is amended.“ Nach den Anmerkungen zum Verfassungsentwurf benennt dieser Unterabsatz das Subsidiaritätsprinzip als Richtschnur für Novellierungen der Verfassung. Auch diese Regelung ist freilich nicht Ausdruck des Subsidiaritätsprinzips
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Kap. 2: Der Weg zum Vertrag über eine Verfassung für Europa
als Kompetenzausübungsregel. Vielmehr verpflichtet sie als rechtspolitisches Postulat die Mitgliedstaaten bei künftigen Änderungen bzw. Ergänzungen der Verfassung, die Grundsätze der Subsidiarität im Sinne der Förderung starker „unterer Ebenen“ zu beachten und zu verwirklichen. Die Niederlegung einer solchen rechtpolitisch-zukunftsgerichteten Bestimmung ist begrüßenswert: Zwar gewährt sie den Mitgliedstaaten schon durch die Formulierung („guide“) einen breiten Einschätzungsspielraum. Gleichwohl ist sie als Verfassungsbestimmung verbindlich und vermag so, uferlosen Zentralisierungsbestrebungen bei Verfassungsänderungen einen nicht nur politisch wirkungsvollen Riegel vorzuschieben.
5. Die Constitution Européenne, Badinter Das stellvertretende Konventsmitglied Robert Badinter409 übermittelte am 30. September 2002 dem Konvent zur Zukunft Europas einen mit umfangreichen Erläuterungen versehenen Entwurf einer Europäischen Verfassung.410 Bereits in den dem eigentlichen Vertragsentwurf vorangestellten Erläuterungen findet sich – neben der Definition der Prinzipien der begrenzten Einzelermächtigung und der Verhältnismäßigkeit – eine definitorische Niederlegung des Subsidiaritätsprinzips: „L’Union ne doit intervenir que dans les domaines où l’action des Etats se révélerait inopérante“.411 Auffällig ist, dass diese Definition nur das Insuffizienz-Kriterium enthält, nicht hingegen das Prinzip der Effizienz-Optimierung. Insofern handelt es sich um die Beschreibung eines „schwächeren“ Subsidiaritätsprinzips als des in Art. 5 Abs. 2 (ex-Art. 3b Abs. 2) EGV niedergelegten, bei welchem die „bessere“ Zielverwirklichung auf europäischer Ebene, der europäische Mehrwert412, als konsekutiv-additive Bedingung gegeben sein muss.413 Nachfolgend findet sich in den Erläuterungen eine Beschreibung des Aufgabenfeldes des EuGH im Hinblick auf das Subsidiaritätsprinzip:414 Danach kommt dem Gerichtshof als Verfassungsgericht („Cour constitutionelle“) der Union die Auf409 Robert Badinter, Präsident des Vergleichs- und Schiedsgerichtshofs der OSCE (Cour de conciliation et d’Arbitrage de l’OSCE), früherer Justizminister Frankreichs und Präsident des Verfassungsrats (Conseil constitutionnel), war stellvertretendes Mitglied im Konvent zur Zukunft Europas als Vertreter der französischen Nationalversammlung. 410 Der Beitrag von Robert Badinter (CONV 317/02) kann im Internet unter http://register. consilium.eu.int/pdf/de/02/cv00/00317d2.pdf abgerufen werden. 411 S. 16 des Beitrags Badinter (CONV 317/02), http://register.consilium.eu.int/pdf/de/02/ cv00/00317d2.pdf. 412 Mitteilung der Kommission an den Rat und an das Europäische Parlament betreffend das Subsidiaritätsprinzip, Anhang III, Dok. KOM SEK (92) 1990 ENDG./2 vom 30. Oktober 1992; Dokument abgedruckt bei Merten (Hrsg.), Die Subsidiarität Europas, 2. Auflage (1994) und Hrbek (Hrsg.), Das Subsidiaritätsprinzip in der Europäischen Union – Bedeutung und Wirkung für ausgewählte Politikbereiche (1995). 413 Siehe Kapitel 1 II. 1. d). 414 S. 16 des Beitrags Badinter, (CONV 317/02), http://register.consilium.eu.int/pdf/de/02/ cv00/00317d2.pdf.
III. Die Aussagen weiterer Entwürfe einer Verfassung für Europa
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gabe zu, zum Vorteil aller Parteien („à l’avantage de toutes les parties“) – gemeint sind die Union und die Mitgliedstaaten – den Subsidiaritätsbegriff415 zu präzisieren. Auch der Entwurf Badinter erteilt also der Idee der Schaffung eines selbständigen Kompetenzgerichts für die Union eine Absage. Im eigentlichen Verfassungsentwurf (im Folgenden VE Badinter) erscheint das Subsidiaritätsprinzip erstmals in Art. 16 VE Badinter, der ersten Bestimmung des Dritten Titels („Competences de l’Union Européenne“).416 Die Vorschrift regelt die Prinzipien des Kompetenzsystems und verlangt, dass die Union das Subsidiaritäts- und das Verhältnismäßigkeitsprinzip achtet („doit respecter“). Welchen Inhalts das Prinzip ist, beschreibt sie hingegen nicht. Eine Definition ist auch sonst in keinem weiteren Artikel des Verfassungsentwurfs mehr enthalten. Dies lässt den Text – was das Subsidiaritätsprinzip betrifft – in einem zweifelhaften Licht erreichen. Zwar wäre eine entsprechende definitorische Niederlegung auch in den der Verfassung beigefügten Protokollen (protocoles annexes) denkbar. Eine solche außerhalb des eigentlichen Vertrages vorgenommene Konkretisierung widerspräche freilich dem sonst üblichen modus operandi bei Axiomen, welche – auch in dem hier untersuchten Entwurf, vgl. Art. 16 VE Badinter – als grundlegende Ingredienzien einer verfassungsmäßigen Ordnung eingestuft werden. Insofern ist, was den materiellen Gehalt des Subsidiaritätsprinzips betrifft, der Entwurf Badinter blass und wenig aussagekräftig, ja er stellt – was die alleinige Bezugnahme auf das Insuffizienz-Kriterium in den Erläuterungen betrifft – einen Rückschritt gegenüber dem in Art. 5 Abs. 2 (ex-Art. 3 b Abs. 2) EGV niedergelegten Subsidiaritätsbegriff dar. Art. 19 VE Badinter enthält die zweite – und letzte – ausdrückliche Erwähnung des Subsidiaritätsprinzips. Dieser Artikel, welcher Bestimmungen über die gerichtliche Kontrolle der Einhaltung der Kompetenzvorschriften des Verfassungsentwurfs enthält, beschreibt ein Verfahren der Kontrolle von Rechtsakten der Union vor ihrem Inkrafttreten auf ihre Vereinbarkeit mit dem Subsidiaritäts- und dem Verhältnismäßigkeitsprinzip. Dieser Kontrollmechanismus („recours préalable“) soll den anderen Verfahren zur Einhaltung der Kompetenzregelungen zur Seite gestellt werden, ist also Ergänzung, nicht Ersatz im Bereich der Subsidiaritätskontrolle. Von den in anderen Verfassungsentwürfen enthaltenen Frühwarnsystemen unterscheidet sich dieser Kontrollmechanismus dadurch, dass er kein politisches kompromissorientiertes Verfahren, sondern ein „normales“ Gerichtsverfahren vor dem EuGH ist. Aktivlegitimiert in diesem Verfahren, dessen Ausgestaltung sich nach den in der Satzung des Gerichtshofes417 niederzulegenden Regeln für das Eilverfahren richtet, sind der Ministerrat, die Kommission, einhundert Abgeordnete 415
Gleiches gilt auch für das Verhältnismäßigkeitsprinzip. Im Ersten Titel „Fondements de l’Union Européenne“ ist das Subsidiaritätsprinzip hingegen nicht enthalten. Der Zweite Titel des Verfassungsentwurfs zählt die Ziele der Union auf. 417 Annex E des Entwurfs Badinter (CONV 317/02), http://register.consilium.eu.int/pdf/de/ 02/cv00/00317d2.pdf, nicht formuliert. 416
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des Europaparlaments sowie der Rat der nationalen Parlamente („Conseil des Parlements Nationaux“). Diese Institution wird in Art. 53 ff. VE Badinter beschrieben. Sie setzt sich aus 4 Parlamentsabgeordneten jedes Mitgliedstaates der Union zusammen und hat in nuce die Aufgabe, die Einhaltung der Kompetenzvorschriften der Verfassung zu gewährleisten. Der Entwurf Badinter wählt demzufolge einen kompromisshaften Mittelweg in Bezug auf die Überlegungen zur Stärkung der Rechte der nationalen Parlamente bei der Kontrolle der Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips. Er gewährt den nationalen Parlamenten kein eigenes Klagerecht, sondern schaltet eine Zwischeninstitution auf europäischer Ebene ein, um die Anliegen der Parlamente in Subsidiaritätsangelegenheiten vor den EuGH zu bringen. Eine wirklich „schlagkräftige“ Subsidiaritätskontrolle ist damit freilich nicht gewährleistet, schließlich hängt nach diesem Konzept die Einleitung eines Kontrollverfahrens davon ab, dass sich hierfür im Conseil des Parlements Nationaux eine entsprechende Mehrheit findet. Insofern ist im Hinblick auf die Forderungen nach einer frühzeitigen Einbindung der nationalen Parlamente bei der Kontrolle von Unionsrechtsakten auf ihre Vereinbarkeit mit dem Subsidiaritätsprinzip zwar zu begrüßen, dass der Entwurf Badinter die Möglichkeit einer gerichtlichen Vorabkontrolle schafft; das niedergelegte Verfahren bleibt jedoch „auf halbem Wege stehen“; einer wirklich effektiven Subsidiaritätsgewährleistung ist es nicht zuträglich, zumal die anderen aktivlegitimierten Unionsorgane ersichtlich nicht besonders daran interessiert sein dürften, Vorschläge „aus ihrem eigenen Kreis“ einer Kontrolle durch den Gerichtshof zu unterziehen. Im Ergebnis kann daher der Entwurf Badinter zwar als wichtiger Beitrag für den Prozess der Schaffung einer künftigen europäischen Verfassung angesehen werden; er liefert auf vielen Themengebieten Anregungen und Ideen. Im Bereich Subsidiarität hat er allerdings keine tiefen Pflöcke eingeschlagen.
6. Der Berliner Entwurf, Gloser/Roth Am 25. November 2002 legten die beiden SPD-Bundestagsabgeordneten Günter Gloser418 und Michael Roth419 einen eigenen, mit Erläuterungen versehenen Entwurf einer Verfassung für die Europäische Union (im Folgenden VE Berlin) vor.420 Der Verfassungstext ist kompakt und besteht aus genauso vielen Artikeln wie die Grundrechtecharta der Union.421 Er will eine deutlich „sozialdemokra418
Damals europapolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion. Damals Vorsitzender der Projektgruppe „Europäische Verfassung“ der SPD-Bundestagsfraktion. 420 Der Text des Verfassungsentwurfs einschließlich der Erläuterungen kann im Internet unter http://www.constitutional-convention.net/bulletin/archives/000154.html abgerufen werden. 421 Darauf weisen die Verfasser in ihren Erläuterungen ausdrücklich hin. Die Grundrechtecharta selbst wird in Art. 2 Abs. 1 VE Berlin für verbindlich erklärt, ihr Text jedoch nicht in den Verfassungsentwurf übernommen. 419
III. Die Aussagen weiterer Entwürfe einer Verfassung für Europa
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tische Handschrift“ zeigen,422 was bspw. an der ausdrücklichen Verbindung der Begriffe „Sozialunion“ und „Binnenmarkt“ deutlich werden soll.423 Das Subsidiaritätsprinzip ist in Art. 8 Abs. 2 VE Berlin niedergelegt. Diese Regelung stimmt – abgesehen von der Ersetzung des Begriffs „Gemeinschaft“ durch „(Europäische) Union“ – wörtlich mit Art. 5 Abs. 2 (ex-Art. 3 b Abs. 2) EGV überein. Inhaltlich ergeben sich also keine Modifikationen zum Regelungsgehalt des Subsidiaritätsprinzips im EGV, zumal das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung als grundlegendes Kompetenzprinzip auch im Berliner Entwurf vorhanden ist, Art. 8 Abs. 1 VE Berlin. Begrüßenswert ist allerdings, dass jenes Prinzip im Vergleich zu Art. 5 Abs. 1 (ex-Art. 3 b Abs. 1) EGV modifiziert wurde: Im Berliner Entwurf wird die Union nur noch „innerhalb der Grenzen der ihr zugewiesenen Befugnisse tätig“, der Zusatz der „gesetzten Ziele“ in Art. 5 Abs. 1 (ex-Art. 3 b Abs. 1) EGV entfällt. Die Schwierigkeiten, welche der EGV dadurch bereitete, dass er Kompetenznormen mit konkreten Befugnissen und solche mit bloßen Zielvorgaben begrifflich erfasste,424 scheinen im Berliner Entwurf nun expressis verbis beseitigt zu sein – Handlungsbefugnisse der Union können nicht aus bloßen Zielbestimmungen abgeleitet werden. Unter Subsidiaritätsgesichtspunkten begrüßenswert, wenn auch freilich mit dem Subsidiaritätsprinzip als Rechtsprinzip nicht direkt in Verbindung stehend, ist Art. 3 VE Berlin zu erwähnen, der den bisherigen Art. 10 (ex-Art. 5) EGV in modifizierter Form in den Entwurf übernimmt. Während die Bestimmung des EGV noch einseitig den Mitgliedstaaten eine Pflicht zur Gemeinschaftstreue auferlegte, Verpflichtungen der Gemeinschaft gegenüber den Mitgliedstaaten indes aus dem ungeschriebenen, letztlich im Wege richterlicher Rechtsfortbildung konstruierten Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit gezogen werden mussten,425 stellt Art. 3 VE Berlin nun ausdrücklich die Verpflichtung auf, dass die „Mitgliedstaaten und die Union (…) sich gegenseitig die Erfüllung ihrer Verpflichtungen aus dieser Verfassung (erleichtern).“ Diese ausdrückliche Verankerung einer reziproken Loyalitätsverpflichtung war auch eine stete Forderung der deutschen Länder.426 422
Auch dies wird in den Erläuterungen ausdrücklich hervorgehoben. Das Fehlen dieser Verbindung im Entwurf des Konvents zur Zukunft Europas wird in den Erläuterungen als entscheidende Lücke dieses Verfassungskonzeptes bezeichnet. Ferner soll der sozialdemokratische Anspruch durch die Themenfelder Solidarität, Grundrechte mit wirklichem Verfassungsgehalt und individuelle Klagemöglichkeiten sowie die Verankerung von nachhaltigem Wachstum und Vollbeschäftigung als Unionsziele herausgearbeitet werden. 424 Schwarze/Lienbacher, EU-Kommentar, Art. 5 EGV Rn. 8. Zum Streitstand auch v. Bogdandy/Nettesheim in Grabitz/Hilf, Das Recht der Europäischen Union, Altband I, Art. 3 b EGV Rn. 4 ff. 425 Hierzu v. Bogdandy in Grabitz/Hilf, Das Recht der Europäischen Union, Altband I, Art. 5 Rn. 79 EGV ff. 426 Vgl. hierzu bspw. das auf der 10. Europaministerkonferenz am 23./24. Mai 1995 in Würzburg beschlossene Positionspapier zur Vorbereitung der Regierungskonferenz 1996, im Internet abrufbar unter http://www.europaminister.de/medien/download/emk10.pdf; siehe auch Vetter, Die Sicht der deutschen Länder, S. 18. 423
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Kap. 2: Der Weg zum Vertrag über eine Verfassung für Europa
In Art. 8 Abs. 4 VE Berlin wird das Subsidiaritätsprinzip zum zweiten Mal erwähnt; geregelt ist hier, dass der Gerichtshof „die Einhaltung des Subsidiaritätsund des Verhältnismäßigkeitsprinzips (überprüft).“427 Auch der Berliner Entwurf lehnt also die Einrichtung eines Kompetenzgerichts ab. Das gleiche gilt, wie auch aus den Erläuterungen zum Verfassungsentwurf hervorgeht, für die Schaffung eines Subsidiaritätsausschusses zur Gewährung der Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips im Vorfeld gerichtlicher Kontrolle: Eine solche – oder andere – verfahrensmäßige Stärkung des Subsidiaritätsprinzips halten die Verfasser des Berliner Entwurfs offenbar nicht für geboten. Weitere Erwähnung im Berliner Entwurf findet das Subsidiaritätsprinzip nicht. Der Verfassungsentwurf setzt andere Schwerpunkte als einen an den strukturellen Grundentscheidungen offenkundig werdenden Bau eines Europas von unten. Die Funktionsfähigkeit der künftigen Union soll vor allem – so die Erläuterungen – durch Demokratisierung, Parlamentarisierung und höhere Transparenz sichergestellt werden. So erscheint auch im Hauptteil der Erläuterungen, in welchem in immerhin 47 Einzelpunkten die „Schwerpunkte des „Berliner Entwurfs“ in Stichworten“ dargestellt werden sollen, letztlich aber nur die einzelnen Vertragsentwurfbestimmungen der Reihe nach kommentiert werden, das Subsidiaritätsprinzip als solches kein einziges Mal. Für die weitere Entwicklung des Subsidiaritätsprinzips im Hinblick auf das künftige Europa war daher der in anderen Themenfeldern agile Berliner Entwurf kaum geeignet, Denkanstöße und Impulse zu geben.
427 Laut den dem Verfassungsentwurf in Fußnoten nachgestellten Anmerkungen handelt es sich bei dieser Bestimmung lediglich um eine Klarstellung.
Kapitel 3
3
Das Subsidiaritätsprinzip im Vertrag über eine Verfassung für Europa Kap. 3: Vertrag über eine Verfassung für Europa
I. Art. I-11 des Verfassungsvertrags I. Art. I-11 des Verfassungsvertrags
1. Normative Befundnahme Die Subsidiaritätsbestimmung im geltenden Recht des Art. 5 Abs. 2 (ex-Art. 3 b Abs. 2) EGV (deutsche Fassung) lautet: „In den Bereichen, die nicht in ihre ausschließliche Zuständigkeit fallen, wird die Gemeinschaft nach dem Subsidiaritätsprinzip nur tätig, sofern und soweit die Ziele der in Betracht gezogenen Maßnahmen auf Ebene der Mitgliedstaaten nicht ausreichend erreicht werden können und daher wegen ihres Umfangs oder ihrer Wirkungen besser auf Gemeinschaftsebene erreicht werden können.“
Die Subsidiaritätsbestimmung des Art. I-9 Abs. 3 VE Konvent1 (deutsche Fassung) lautet: „Nach dem Subsidiaritätsprinzip wird die Union in den Bereichen, die nicht in ihre ausschließliche Zuständigkeit fallen, nur tätig, sofern und soweit die Ziele der in Betracht gezogenen Maßnahmen von den Mitgliedstaaten weder auf zentraler noch auf regionaler oder lokaler Ebene ausreichend erreicht werden können, sondern vielmehr wegen ihres Umfangs oder ihrer Wirkungen auf Unionsebene besser erreicht werden können.“
Der von der Regierungskonferenz angenommene Text des Art. I-11 Abs. 3 VVE2 lautet in seiner deutschen Fassung:3 „Nach dem Subsidiaritätsprinzip wird die Union in den Bereichen, die nicht in ihre ausschließliche Zuständigkeit fallen, nur tätig, sofern und soweit die Ziele der in Betracht gezogenen Maßnahmen von den Mitgliedstaaten weder auf zentraler noch auf regionaler oder lokaler Ebene ausreichend verwirklicht werden können, sondern vielmehr wegen ihres Umfangs oder ihrer Wirkungen auf Unionsebene besser zu verwirklichen sind.“
1
CONV 850/03. CIG 87/1/04 REV 1 mit ADD 1 und ADD 2. 3 Gemäß Art. IV-448 Abs. 1 VVE ist der Vertrag in einer Urschrift in allen Sprachen der Mitgliedstaaten der Union abgefasst, wobei jeder Wortlaut gleichermaßen verbindlich ist. Auf den Abdruck aller Sprachfassungen des Art. I-11 Abs. 3 VVE wird hier verzichtet. Der Abdruck der französischen und der englischen Fassung soll lediglich der Veranschaulichung und als Interpretationshilfe dienen. 2
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Kap. 3: Vertrag über eine Verfassung für Europa
Die französische Fassung des Art. I-11 Abs. 3 VVE lautet: „En vertu du principe de subsidiarité, dans les domaines qui ne relèvent pas de sa compétence exclusive, l’Union intervient seulement si, et dans la mesure où, les objectifs de l’action envisagée ne peuvent pas être atteints de manière suffisante par les États membres, tant au niveau central qu’au niveau régional et local, mais peuvent l’être mieux, en raison des dimensions ou des effets de l’action envisagée, au niveau de l’Union.“
In seiner englischen Fassung lautet Art. I-11 Abs. 3 VVE: „Under the principle of subsidiarity, in areas which do not fall within its exclusive competence, the Union shall act only if and insofar as the objectives of the proposed action cannot be sufficiently achieved by the Member States, either at central level or at regional and local level, but can rather, by reason of the scale or effects of the proposed action, be better achieved at Union level.“
Im Folgenden soll Art. I-11 Abs. 3 VVE einer genauen Untersuchung unterzogen werden. Beachtung finden dabei auch die inhaltlichen Unterschiede zur Subsidiaritätsregelung des EGV sowie zur entsprechenden Bestimmung des Konventsentwurfs, welche – wie unschwer zu erkennen ist – in der Regierungskonferenz gewisse Abänderungen en detail erfahren hat. 2. Natur, Struktur und Adressaten des Art. I-11 Abs. 3 VVE a) Zur Rechtsnatur des Subsidiaritätsprinzips im Verfassungsvertrag Das in Art. I-11 Abs. 3 VVE niedergelegte Subsidiaritätsprinzip stellt eine Kompetenzausübungsregel dar.4 Diesbezüglich bestehen keine Unterschiede zur bisherigen Regelung des Art. 5 Abs. 2 (ex-Art. 3 b Abs. 2) EGV sowie Art. I-9 Abs. 3 VE Konvent. Der zwingende Charakter des Subsidiaritätsprinzips als Kompetenzausübungsregel resultiert inhaltlich aus dem in Art. I-11 Abs. 2 VVE verorteten Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung. Zudem legt Art. I-11 Abs. 1 VVE fest: „Für die Abgrenzung der Zuständigkeiten der Union gilt der Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung. Für die Ausübung der Zuständigkeiten der Union gelten die Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit.“
Diese Klarstellung im Text des Verfassungsvertrags ist begrüßenswert, zieht sie doch einen formellen Schlussstrich unter die bislang divergierenden Ansichten5 zur Rechtsnatur des Subsidiaritätsprinzips im Europarecht. Für die Prüfung von Rechtsakten der Union gilt daher unzweideutig: Die Frage der Konformität einer geplanten Unionsmaßnahme mit dem Subsidiaritätsprinzip stellt sich erst in einem „zweiten Prüfungsschritt“, wenn zuvor – ausgehend vom Prinzip der begrenzten 4
Streinz/Ohler/Herrmann, Die neue Verfassung für Europa, S. 70. Vgl. die Ausführungen zu Art. 5 Abs. 2 (ex-Art. 3 b Abs. 2) EGV. Für das Subsidiaritätsprinzip als Kompetenzverteilungsregel etwa Merten, Subsidiarität als Verfassungsprinzip, S. 81; a. A. die h. M., bspw. Schwarze/Lienbacher, EU-Kommentar, Art. 5 EGV Rn. 12. 5
I. Art. I-11 des Verfassungsvertrags
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Einzelermächtigung – eine abstrakte Unionszuständigkeit für den betreffenden Regelungsbereich festgestellt worden ist.
b) Nichtanwendbarkeit auf Bereiche ausschließlicher Zuständigkeit Wie bisher im EGV, der entsprechende Wortlaut des Art. 5 Abs. 2 (ex-Art. 3 b Abs. 2) EGV wurde wörtlich in Art. I-9 Abs. 3 Satz 1 VE Konvent und Art. I-11 Abs. 3 VVE übernommen, findet das Subsidiaritätsprinzip auf die Bereiche6, welche in die ausschließliche Zuständigkeit der Union fallen, keine Anwendung.7 Diese Regelung bleibt auch im Verfassungsvertrag konsequent: Dort, wo die Mitgliedstaaten ihre Zuständigkeit für einzelne Regelungsbereiche vollumfänglich der Union übertragen haben, besteht grundsätzlich kein Bedarf für das Subsidiaritätsprinzip. Hier verzichten die übertragenden Staaten freiwillig auf Teilbereiche ihrer qua Staatsqualität originär existenten uneingeschränkten Souveränität zu Gunsten der Union.8 Insofern ist, dies sei nur am Rande erwähnt, Art. I-11 Abs. 2 Satz 2 VVE („Alle der Union nicht in der Verfassung übertragenen Zuständigkeiten verbleiben bei den Mitgliedstaaten“) streng genommen redundant. Dieser Normbefehl ergibt sich denknotwendig bereits aus dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung, welches seinerseits wiederum Ausfluss der Nicht-Staatlichkeit der Union und der infolgedessen fehlenden Kompetenz-Kompetenz ist.9 Als politische Aussage dahingehend, dass auch das neue Vertragswerk nicht an diesem unumstößlichen Grundsatz des Verhältnisses der Mitgliedstaaten „zu Europa“ zu rütteln beabsichtigt, mag Art. I-11 Abs. 2 Satz 2 VVE daher von gewisser Relevanz sein. In rechtlicher Hinsicht hat die Norm jedenfalls nur eine deklaratorische Bedeutung.10
6
Allgemein zur Kompetenzordnung des VVE Nettesheim, Kompetenzordnung, S. 511 ff. Gemäß Art. I-13 Abs. 1 VVE hat die Union ausschließliche Zuständigkeit für die Bereiche Zollunion, Festlegung der für das Funktionieren des Binnenmarktes erforderlichen Wettbewerbsregeln, Währungspolitik für die Mitgliedstaaten, deren Währung der Euro ist, Erhaltung der biologischen Meeresschätze im Rahmen der gemeinsamen Fischereipolitik sowie für den Bereich gemeinsame Handelspolitik. Nach Art. I-13 Abs. 2 VVE ist die Union zudem ausschließlich zuständig „für den Abschluss internationaler Übereinkünfte, wenn der Abschluss einer solchen Übereinkunft in einem Gesetzgebungsakt der Union vorgesehen ist, wenn er notwendig ist, damit sie ihre interne Zuständigkeit ausüben kann, oder soweit er gemeinsame Regeln beeinträchtigen oder deren Tragweite verändern könnte.“ 8 Vgl. Streinz/Ohler/Herrmann, Die neue Verfassung für Europa, S. 19; Möstl, Verfassung für Europa, S. 90 f. 9 Möstl, Verfassung für Europa, S. 91. 10 So auch Streinz/Ohler/Herrmann, Die neue Verfassung für Europa, S. 70. 7
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Kap. 3: Vertrag über eine Verfassung für Europa
c) Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit Während das Subsidiaritätsprinzip nicht für die Bereiche ausschließlicher Unionszuständigkeit gilt, findet das Verhältnismäßigkeitsprinzip des Art. I-11 Abs. 4 VVE auf alle „Maßnahmen der Union“ Anwendung. Ebenso wie das Subsidiaritätsprinzip stellt es gemäß Art. I-11 Abs. 1 Satz 2 VVE eine Kompetenzausübungsregel11 dar und gebietet, dass die Maßnahmen der Union „inhaltlich wie formal nicht über das zur Erreichung der Ziele der Verfassung erforderliche Maß hinaus(gehen)“. Das Verhältnismäßigkeitsprinzip hat also im Gegensatz zum Prinzip der Subsidiarität einen umfassenden Anwendungsbereich. Genauso wie das Subsidiaritätsprinzip12 greift es aber erst im „zweiten Prüfungsschritt“ begrenzend ein, auch hier ist zunächst erforderlich, dass überhaupt nach dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung eine abstrakte Zuständigkeit der Union vorgefunden werden kann. Hier hat sich zur Verhältnismäßigkeitsregelung des Art. 5 Abs. 3 (ex-Art. 3 b Abs. 3) EGV strukturell nichts geändert. Allerdings ist das Verhältnismäßigkeitsprinzip im Verfassungsvertrag – der Wortlaut des Art. I-9 Abs. 4 Satz 1 VE Konvent wurde identisch übernommen – inhaltlich präzisiert worden: Ausdrücklich wurde klargestellt, dass Unionsmaßnahmen weder inhaltlich noch formal übermäßig sein dürfen. Das formale Übermaßverbot ist dabei als Schranke für die Art des Tätigwerdens13 der Union, also die Rechtsformwahl zu verstehen. Die möglichen Rechtsakte, katalogmäßig aufgeführt in Art. I-33 Abs. 1 VVE,14 werden als solche, ohne dass es auf den Inhalt der jeweiligen Regelung ankäme, einer formellen Hierarchisierung unter Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkten unterzogen. Dementsprechend mag bspw. die Wahl der Rechtsform eines – unmittelbar geltenden – Europäischen Gesetzes unverhältnismäßig ein, wenn das Ziel der Maßnahme genauso mittels eines – umsetzungsbedürftigen – Europäischen Rahmengesetzes erreicht
11 Eine kompetenzverteilende, gar kompetenzzuweisende Funktion ist für das Verhältnismäßigkeitsprinzip noch weniger denkbar als für das Subsidiaritätsprinzip. Freilich gibt es auch hier entsprechende Überlegungen, bspw. bei der Frage nach der Zuständigkeit der Bundesregierung zur Veröffentlichung von Warnlisten (Stichworte: Jugendsekten, Glykol-Wein, „Gammelfleisch“). So scheint die Rechtsprechung aus der vermeintlichen Unmöglichkeit, für staatliche Warnungen eine Befugnisnorm zu kreieren, welche sich nicht in einer einfachgesetzlichen Ausgestaltung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes erschöpft, den Schluss zu ziehen, dass eben dieses Verhältnismäßigkeitsprinzip selbst eine hinreichende Eingriffsermächtigung darstelle, BVerfG NJW 1989, 3269 f.; diese – klar voneinander zu trennende Prüfungsebenen durcheinander wirbelnde – Auffassung ist jedoch abzulehnen. Das Verhältnismäßigkeitsprinzip konstituiert Maßstäbe für die Abwägung mit konkurrierenden Belangen; jene Maßstäbe müssen aber erst einmal gefunden und rechtlich anerkannt sein vgl. Gusy, Verwaltung durch Information, S. 985; Schmidt, Staatliches Informationshandeln und Grundrechtseingriff, S. 127. 12 Zur Frage der Reihenfolge bei der Prüfung des Subsidiaritätsprinzips und des Verhältnismäßigkeitsprinzips im Folgenden. 13 Möstl, Verfassung für Europa, S. 92. 14 Danach gibt es das Europäische Gesetz, das Europäische Rahmengesetz, die Europäische Verordnung, den Europäischen Beschluss sowie – als unverbindliche Maßnahmen – die Empfehlung und die Stellungnahme.
I. Art. I-11 des Verfassungsvertrags
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werden könnte.15 Hierbei käme es nicht in erster Linie darauf an, dass ein umsetzungsbedürftiges Europäisches Rahmengesetz den Mitgliedstaaten einen inhaltlichen Ausgestaltungsspielraum gewährt; ein solcher Spielraum mag de facto in einer Reihe von Fällen ohnehin kaum substantiell bestehen. Vielmehr reichte als Begründung für eine Hierarchisierung nach der Rechtsform der möglichen Maßnahmen aus, dass im Falle umsetzungsbedürftiger Unionsrechtsakte eine formal geringere Einflussnahme auf die mitgliedstaatliche Souveränität und die mit ihr verbundenen hoheitlichen Rechte vonstatten geht als im Falle eines unmittelbar geltenden Unionsrechtsakts.16 Ein über die Regelung der Rechtsformwahl hinausgehender Gehalt des Kriteriums der formalen Verhältnismäßigkeit ist kaum denkbar. Insofern erstreckt nicht erst Art. I-38 Abs. 1 VVE („Wird die Art des zu erlassenden Rechtsakt von der Verfassung nicht vorgegeben, so entscheiden die Organe darüber von Fall zu Fall unter Einhaltung der geltenden Verfahren und des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit nach Art. I-11.“) die Verhältnismäßigkeitsprüfung auf die Frage nach der Wahl des Rechtsakts.17 Vielmehr ergibt sich dieser Regelungsgehalt bereits aus Art. I-11 Abs. 4 VVE selbst. Auch für die Fälle, in denen die Rechtsformwahl durch den Verfassungsvertrag vorgegeben wird, bedarf es keines Rückgriffs auf Art. I-38 Abs. 1 VVE, wonach e contrario in diesen Fällen keine formale Verhältnismäßigkeitsprüfung vorzunehmen ist. Dieses offenkundige Resultat lässt sich bereits Art. I-11 Abs. 4 VVE entnehmen, der eine Hierarchisierung verschiedener Rechtsakte unter Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkten sinnlogisch nur dann anordnet, wenn mehrere Rechtsakte zur Regelung der betreffenden Materie abstrakt in Betracht kommen können. Steht hingegen wegen ausdrücklicher Anordnung im Verfassungsvertrag überhaupt nur ein Rechtsakt zur Verfügung, bleibt für das Kriterium der formalen Verhältnismäßigkeit kein Raum. In diesem Fall ist allein der Weg zu einer inhaltlichen Verhältnismäßigkeitsprüfung eröffnet. Art. I-38 Abs. 1 VVE kommt insofern lediglich deklaratorische Bedeutung zu. Ein eigenständiger Regelungsgehalt der Bestimmung – was den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz betrifft18 – lässt sich indes darin sehen, dass sie die Vornahme der formalen Verhältnismäßigkeitsprüfung durch die Organe der Union „von Fall zu Fall“ vorschreibt. Dies ist eine das Verhältnismäßigkeitsprinzip des Art. I-11 Abs. 4 VVE konkretisierende, nicht nur wiederholende Aussage: Sie macht deutlich, dass es kein allgemeingültiges Rangverhältnis zwischen den verschiedenen Rechtsakten der Union unter Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkten gibt. Die „Rangfolge“ etwa 15
Vgl. Möstl, Verfassung für Europa, S. 92. Vgl. aber die nachfolgenden Ausführungen. 17 Hier zumindest missverständlich Streinz/Ohler/Herrmann, Die neue Verfassung für Europa, S. 71. 18 Was die Frage der Rechtsform angeht, trifft Art. I-38 Abs. 1 VVE dahingehend eine eigenständige („Negativ“)-Aussage, dass er den Unionsorganen die Wahl des Handlungsinstruments freistellt, sofern nur das Verhältnismäßigkeitsprinzip gewahrt bleibt. Weitere Anforderungen konstituiert die Norm nicht, vgl. Fischer, Kompetenzordnung, S. 122. 16
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zwischen unmittelbar geltenden und umsetzungsbedürftigen Gesetzen gilt also nicht pauschal. Es kommt stets auf eine Einzelfallprüfung an, auch wenn freilich in praxi nur schwer denkbar ist, dass ein unmittelbar geltender Rechtsakt formal verhältnismäßiger sein kann als ein umsetzungsbedürftiger. Klärung bedarf die Frage, in welcher Reihenfolge das Verhältnismäßigkeitsprinzip und das Subsidiaritätsprinzip zu prüfen sind, wenn – im Falle nicht ausschließlicher Zuständigkeiten – beide Kompetenzausübungsregelungen Anwendung finden. Systematisch präziser dürfte es sein, einen Rechtsakt der Union zunächst auf seine Vereinbarkeit mit dem Subsidiaritätsprinzip zu überprüfen: Im Europarecht – ebenso bspw. im Grundgesetz – stellt die Verhältnismäßigkeitsprüfung das letzte Korrektiv bei der Beurteilung eines im Übrigen zulässigen Rechtsaktes dar, es ist allgemeine Handlungsmaxime (Georg Lienbacher)19 und regulativer Rationalitätsmaßstab (Karl-Peter Sommermann) bei Eingriffen in autonome Rechts- oder Kompetenzsphären20. Als zentrales Element von Rechtstaatlichkeit21, auf europäischer „Ebene“ wegen des fehlenden Staatscharakters der Union besser: als allgemeiner Rechtsgrundsatz (Klaus Stern)22, reichen Bedeutung und Regelungsgehalt des Verhältnismäßigkeitsprinzips weit über die Materie „Zuständigkeit“ hinaus. Diese umfassende Geltung des Prinzips gilt trotz seiner Qualifikation in Art. I-11 Abs. 1 VVE als Kompetenzausübungsregel und den damit verbundenen Besonderheiten nach den Bestimmungen des Protokolls über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit23: Danach mag zwar das Verhältnismäßigkeitsprinzip in seiner Konkretisierung (lex specialis) als Kompetenzausübungsregel womöglich Einschränkungen der gerichtlichen Kontrollmöglichkeit in Bezug auf seine Einhaltung unterliegen; dies beseitigt jedoch nicht seinen uralten Gerechtigkeitsvorstellungen entstammenden (Fritz Ossenbühl)24 Ursprung als allgemeines „rechtstaatliches“ Prinzip, das daneben im Verfassungsvertrag insgesamt Anwendung findet.25 Daher gilt: Auch das expressis verbis als Kompetenzausübungsregel in Art. I-11 Abs. 3 VVE formulierte Verhältnismäßigkeitsprinzip kann und sollte dort erörtert werden, wo der allgemeine Verhältnismäßigkeitsgrundsatz dogmatisch seinen Platz hat: auf der letzten Prüfungsebene. Diese Reihenfolge entspricht auch der systematischen Auflistung beider Kompetenzausübungsregeln in Art. I-11 VVE sowie im Subsidiaritätsprotokoll. Im Ergebnis freilich dürften beide möglichen Prüfungsreihenfolgen keine divergierenden Resultate bewirken, zumal in der Überprüfungspraxis durch die Organe der 19
Schwarze/Lienbacher, EU-Kommentar, Art. 5 EGV Rn. 35. Sommermann in v. Mangoldt/Klein/Starck, GG Kommentar, Art. 20 Rn. 318. 21 Etwa BVerfGE 19, 342 (348 f.). 22 Stern, Entstehung und Ableitung des Übermaßverbotes, S. 169, mit Verweis auf die Verankerung dieses Prinzips auch im Gemeinschaftsrecht, konkret in Art. 225 EWGV (jetzt Art. 298 EGV). 23 Protokoll Nr. 2 zum Vertrag über eine Verfassung für Europa. Im Folgenden „Subsidiaritätsprotokoll“. 24 Ossenbühl, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, S. 617. 25 Streinz/Ohler/Herrmann, Die neue Verfassung für Europa, S. 71. 20
I. Art. I-11 des Verfassungsvertrags
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Union26 eine völlig isolierte Erörterung der einzelnen Ebenen „ohne Rücksicht auf die anderen Prüfungsschritte“ (Stefan Lehr) nicht Realität sein wird; vielmehr wird es regelmäßig zu Überschneidungen kommen.27
d) Welche Rechtsakte der Union unterliegen dem Subsidiaritätsprinzip? Zu prüfen ist, ob das in Art. I-11 Abs. 3 VVE niedergelegte Subsidiaritätsprinzip für alle oder nur für bestimmte Formen des Handelns der Union gilt. Gemäß Art. I-33 Abs. 1 VVE bedient sich die Union28 bei der Ausübung ihrer Zuständigkeiten folgender 6 Rechtsakte: Europäisches Gesetz, europäisches Rahmengesetz, Europäische Verordnung, Europäischer Beschluss, Empfehlung und Stellungnahme.29 Dass Europäisches Gesetz und Europäisches Rahmengesetz30 als Rechtsakte mit Gesetzescharakter („Gesetzgebungsakt“, Art. I-33 Abs. 1 Satz 2 und 3 VVE) an den Vorgaben des Subsidiaritätsprinzips zu messen sind, ist unzweifelhaft. Anderes mag indes bereits für die Europäische Verordnung31 und den Europäischen Beschluss32 als „Rechtsakte ohne Gesetzescharakter“ gelten: Hierfür könnte ein Vergleich mit dem Regelungsgehalt des Subsidiaritätsprotokolls sprechen. Nach dem Wortlaut von Art. 3 dieses Protokolls scheinen – im Einzelnen dazu später – die in dem Protokoll niedergelegten Mechanismen zur Gewährleistung des Subsi26
Inwieweit der EuGH die Einhaltung des Verhältnismäßigkeitsprinzips überprüfen kann, wird im Rahmen der Darstellung der Mechanismen zur Gewährleistung des Subsidiaritätsprinzips erörtert. 27 B/L/Lehr, Der Amsterdamer Vertrag, S. 202, spricht in Bezug auf das ähnlich gestaltete Verhältnis zwischen Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit im geltenden Gemeinschaftsrecht sogar von einem „Wechselwirkungsverhältnis“. 28 Zu den genauen Normadressaten des Subsidiaritätsprinzips Kapitel 3 I. 2. e). 29 Zur Einordnung und zum Gehalt der einzelnen Rechtsinstrumente vgl. bspw. Bapuly, Die Vereinfachung der Rechtsakte der Europäischen Union, S. 152 ff.; Maurer, Die neue Normenhierarchie, S. 440 ff. 30 Vgl. Art. I-33 Abs. 1 Satz 2 – 4 VVE: „Das Europäische Gesetz ist ein Gesetzgebungsakt mit allgemeiner Geltung. Es ist in allen seinen Teilen verbindlich und gilt unmittelbar in jedem Mitgliedstaat. Das Europäische Rahmengesetz ist ein Gesetzgebungsakt, der für jeden Mitgliedstaat, an den es gerichtet ist, hinsichtlich des zu erreichenden Ziels verbindlich ist, jedoch den innerstaatlichen Stellen die Form und Wahl der Mittel überlässt.“ Das Europäische Gesetz entspricht somit den bisherigen Verordnungen gemäß Art. 249 Abs. 2 EGV; das europäische Rahmengesetz gleicht der Richtlinie gemäß Art. 249 Abs. 3 des geltenden Gemeinschaftsrechts, vgl. Streinz/Ohler/Herrmann, Die neue Verfassung für Europa, S. 63. 31 Vgl. Art. I-33 Abs. 1 Satz 5 und 6 VVE: „Die Europäische Verordnung ist ein Rechtsakt ohne Gesetzescharakter mit allgemeiner Geltung; sie dient der Durchführung der Gesetzgebungsakte und einzelner Bestimmungen der Verfassung. Sie kann entweder in allen ihren Teilen verbindlich sein und unmittelbar in jedem Mitgliedstaat gelten oder für jeden Mitgliedstaat, an den sie gerichtet ist, hinsichtlich des zu erreichenden Ziels verbindlich sein, jedoch den innerstaatlichen Stellen die Wahl der Form und der Mittel überlassen.“ 32 Art. I-33 Abs. 1 Satz 7 und 8 VVE: „Der Europäische Beschluss ist ein Rechtsakt ohne Gesetzescharakter, der in allen seinen Teilen verbindlich ist. Ist er an bestimmte Adressaten gerichtet, so ist er nur für diese verbindlich.“
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Kap. 3: Vertrag über eine Verfassung für Europa
diaritätsprinzips nur auf Maßnahmen Anwendung zu finden, welche „den Erlass eines Europäischen Gesetzgebungsaktes zum Ziel haben“ – mangels Gesetzescharakter unterfielen die Europäische Verordnung und der Europäische Beschluss dem Anwendungsbereich von Art. 3 des Subsidiaritätsprotokolls also nicht. Das Subsidiaritätsprotokoll unterliegt im Verhältnis zum eigentlichen Verfassungstext keiner Normenhierarchie. Es stellt mit den Artikeln des Verfassungsvertrags gleichrangiges primäres Unionsrecht dar.33 Eine systematische Auslegung könnte also auf den ersten Blick zum Ergebnis führen, dass Art. I-11 Abs. 3 VVE nur diejenigen Maßnahmen an die Kriterien des Subsidiaritätsprinzips binden will, die auch mittels der im Subsidiaritätsprotokoll verorteten Gewährleistungsmechanismen auf ihre Konformität mit dem Prinzip überprüft werden können.34 Ein solches Auslegungsergebnis kann freilich nicht Bestand haben. Die Europäische Verordnung und der Europäische Beschluss können gleichermaßen verbindlich sein wie ein Europäisches Gesetz oder ein Europäisches Rahmengesetz. Aufgrund dieser Bindungswirkung greifen sie in das Kompetenzgefüge zwischen Union und Mitgliedstaaten ein und lösen Vorrang wie Sperrwirkung gegenüber nationalen Rechtsakten aus.35 Schon aus Gründen einer effektiven Gewährleistung der Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips besteht daher kein Anlass, die Bindung der Union an Art. I-11 Abs. 3 VVE auch beim Erlass solcher Rechtsakte zu bezweifeln. Eine systematische Betrachtung des Verfassungsvertragstextes selbst bestätigt dieses Ergebnis: Das Subsidiaritätsprinzip gilt nach Art. I-11 Abs. 1 VVE „(f)ür die Ausübung der Zuständigkeiten der Union“. Dem Normtext lässt sich nicht entnehmen, dass hier der Anwendungsbereich des Prinzips auf bestimmte Ausübungsmaßnahmen beschränkt werden soll. Die „Ausübung der Zuständigkeiten der Union“ realisiert sich gemäß Art. I-33 Abs. 1 VVE durch „Rechtsakte“. Rechtsakte in diesem Sinne sind nach der Definition des Art. I-33 Abs. 1 VVE auch die Europäische Verordnung und der Europäische Beschluss. Der „Widerspruch“ zu Art. 3 des Subsidiaritätsprotokolls erzwingt hier kein anderes Auslegungsergebnis: Es ist zumindest denkbar, dass die Bindung an das Subsidiaritätsprinzip bei allen – jedenfalls verbindlichen – Rechtsakten besteht, derer sich die Union bedienen kann, eine Kontrolle nach den Vorgaben des Subsidiaritätsprotokolls hingegen nur bei solchen Rechtsakten vonstatten gehen soll, welche Gesetzescharakter besitzen.36 Wie verhält es sich aber mit unverbindlichen Maßnahmen der Union wie Empfehlungen und Stellungnahmen?37 Der im Folgenden gezogene Vergleich mit Art. 3 Subsidiaritätsprotokoll zeigt, dass auch diese Handlungsmöglichkeiten – 33
Art. IV-442 VVE. Zur Frage, welche Rechtsakte der Union der Überprüfung durch das Frühwarnsystem und die Subsidiaritätsklage ausgesetzt sind, vgl. Kapitel 3 III. 35 So betreffend den Maßnahmenbegriff im geltenden Gemeinschaftsrecht des Art. 5 Abs. 2 (ex-Art. 3 b Abs. 2) EGV Calliess, Subsidiaritäts- und Solidaritätsprinzip, S. 101. 36 Ob jene Einschränkung bei Art. 3 Subsidiaritätsprotokoll tatsächlich besteht, soll später erörtert werden. 37 Vgl. dazu die Ausführungen in Kapitel 1 II. 1. a); Bothe, „Soft law“ in den Europäischen Gemeinschaften?, S. 761 ff. 34
I. Art. I-11 des Verfassungsvertrags
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jedenfalls dem Wortlaut nach – nicht von den dort niedergelegten Kontrollmechanismen erfasst sind, da es sich bei ihnen nicht um Gesetzgebungsakte handelt. Nach der Struktur des eigentlichen Vertragstextes dürften hingegen Empfehlungen und Stellungnahmen den Vorgaben des Art. I-11 Abs. 3 VVE unterliegen: Gemäß Art. I-33 Abs. 1 Satz 1 VVE – der argumentative Ansatz entspricht dem zuvor für die Europäischen Verordnungen und Europäischen Beschlüsse entwickelten Schema – handelt es sich bei Empfehlungen und Stellungnahmen um Rechtsakte der Union, derer sie sich bei der Ausübung ihrer Zuständigkeiten bedient. Bei der Ausübung von Zuständigkeiten ist die Union gemäß Art. I-11 Abs. 1 VVE an das Subsidiaritätsprinzip des Art. I-11 Abs. 3 VVE gebunden. Nach Sinn und Zweck des Subsidiaritätsprinzips38 besteht kein Anlass, an diesem durch systematische Auslegung des Vertragstextes gewonnenen Ergebnis etwas zu ändern. Hier verhält es sich wie im geltenden Gemeinschaftsrecht: Auch nicht-verbindliche Maßnahmen können in gewissem Umfang – „mittelbar“ – rechtliche Wirkungen zeitigen,39 sei es nur, dass sie eine gewisse Selbstbindung für das beschließende Organ erzeugen,40 welche für andere – spätere – Maßnahmen gegebenenfalls Relevanz haben kann. Um dem so häufig formulierten wie oftmals berechtigten „Vorwurf der Kompetenzüberschreitung“41 durch die Union wirksam entgegentreten zu können, muss die Anwendung der Kriterien des Subsidiaritätsprinzips auch bei solchen eo ipso unverbindlichen Maßnahmen obligatorisch sein. Daher gilt: Alle in Art. I-33 Abs. 1 VVE aufgeführten Maßnahmen, welche die Union bei der Ausübung ihrer Zuständigkeit erlässt, unterliegen dem Subsidiaritätsprinzip des Art. I-11 Abs. 3 VVE; keine Rolle spielt dabei, ob der in Betracht gezogene Rechtsakt Gesetzgebungscharakter besitzt oder nicht bzw. ob er verbindlich ist oder nicht.
e) Normadressaten des Subsidiaritätsprinzips Adressat des Subsidiaritätsprinzips in Art. 5 Abs. 2 (ex-Art. 3 b Abs. 2) EGV war „die Gemeinschaft“. Verpflichtet waren also nach zutreffender Auffassung42 – wortlautkonform – alle Gemeinschaftsinstitutionen. Fraglich ist, ob hieran der Verfassungsvertrag etwas ändert. Keine Rolle spielt jedenfalls hier, dass aufgrund der von Art. IV-437 VVE angeordneten Aufhebung von EUV und EGV und dem Übergang der Rechte und Pflichten der Europäischen Gemeinschaft und der – „alten“ – Europäischen Union auf die – „neue“ – Union, Art. IV- 438 Abs. 1 VVE,43 38
Siehe Calliess, Subsidiaritäts- und Solidaritätsprinzip, S. 101. Calliess, Subsidiaritäts- und Solidaritätsprinzip, S. 102; Schwarze/Biervert, EU-Kommentar, Art. 249 EGV Rn. 37. 40 Dazu Bothe, „Soft law“ in den Europäischen Gemeinschaften?, S. 765. 41 Etwa Nettesheim, Kompetenzordnung, S. 523 ff. 42 Vgl. etwa Schwarze/Lienbacher, EU-Kommentar, Art. 5 EGV Rn. 15. 43 Streinz/Ohler/Herrmann, Die neue Verfassung für Europa, S. 33. Weiterführend Längle, Rechtsfragen der Neugründung der Europäischen Union, S. 293 ff. 39
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Kap. 3: Vertrag über eine Verfassung für Europa
der Terminus „Gemeinschaft“ in Art. 5 Abs. 2 (ex-Art. 3 b Abs. 2) EGV durch den der „Union“ ersetzt worden ist. In Art. I-11 Abs. 3 Satz 2 VVE werden die „Organe der Union“ zur Anwendung des Subsidiaritätsprinzips „nach dem Protokoll über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit“ verpflichtet. Anders als in Art. 5 Abs. 2 (ex-Art. 3 b Abs. 2) EGV taucht also ausdrücklich der Begriff „Organe“ auf. Organe der Union sind nach Art. I-19 Abs. 1 VVE das Europäische Parlament, der Europäische Rat, der Ministerrat, die Europäische Kommission und der Europäische Gerichtshof (EuGH). Hinzu kommen gemäß Art. I-30 Abs. 3 Satz 1 VVE die Europäische Zentralbank (EZB) sowie gemäß Art. I-31 Abs. 1 Satz 1 VVE der Rechnungshof. Keine Organe, sondern „beratende Einrichtungen“ sind nach Art. I-32 VVE der AdR44 sowie der WSA. Nach dem Wortlaut des Art. I-11 Abs. 3 Satz 2 VVE scheinen daher AdR und WSA nicht an die Anwendungsverpflichtung des Subsidiaritätsprinzips gemäß dem Subsidiaritätsprotokoll gebunden. Dies lässt sich freilich nicht mit dem Umstand rechtfertigen, dass das Subsidiaritätsprotokoll mittels des dort geregelten Frühwarnmechanismus und der Subsidiaritätsklage die Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips im Zuge des Erlasses Europäischer Gesetzgebungsakte45 gewährleisten will. Am Erlass Europäischer Gesetzgebungsakte sind der AdR und der WSA zwar nicht unmittelbar beteiligt; vielmehr haben sie nach Art. I-32 Abs. 1 VVE beratende Funktion und unterstützen das Europäische Parlament, den Rat – gemeint ist wegen Art. I-19 Abs. 1 VVE der Ministerrat – und die Kommission; ihre Stellungnahmen, vgl. Art. III-386 ff. VVE bzw. Art. III-389 ff. VVE, haben nur innereuropäische Bedeutung, also keine Außenwirkung etwa gegenüber den Mitgliedstaaten oder den Unionsbürgern. Diese sich lediglich in der Binnenstruktur Europas entfaltende Wirkung vermag jedoch kein inhaltliches Argument dafür zu liefern, dass AdR und WSA dem Wortlaut nach nicht der Anwendungsverpflichtung des Art. I-11 Abs. 3 Satz 2 VVE unterfallen: So handelt es sich zwar bei jenen Stellungnahmen selbst nicht um nach außen gerichtete Maßnahmen; sie tragen jedoch zur Entstehung solcher Rechtsakte mit bei. Diese Beteiligung am Rechtsetzungsprozess dürfte bereits eine Einbeziehung in die Kontrollmechanismen rechtfertigen.46 Genauso wenig kann als Argument dienen, dass Stellungnahmen von AdR und WSA keine verbindliche Wirkung entfalten: Auch unverbindliche Empfehlungen 44
Der AdR forderte im Konventsverfahren die Zuerkennung des Organstatus, blieb mit diesem Ansinnen indes erfolglos, vgl. Eppler, Der Ausschuss der Regionen im Jahr 2003, S. 424 ff. 45 Zur Frage, inwieweit die Regelungen des Subsidiaritätsprotokolls auch auf die Europäische Verordnung und den Europäischen Beschluss als Rechtsakte ohne Gesetzescharakter Anwendung finden, vgl. Kapitel 3 III. 2. 46 Vgl. hier die insofern parallelen Ausführungen zum Subsidiaritätsprotokoll (Amsterdam) in Kapitel 1 III.
I. Art. I-11 des Verfassungsvertrags
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und Stellungnahmen gehören nach Art. I-33 Abs. 1 VVE zu den Rechtsakten, derer sich die Unionsorgane zur Ausübung der Zuständigkeiten der Union bedienen können. Bei der „Ausübung der Zuständigkeiten“ besteht aber wegen Art. I-11 Abs. 1 Satz 2 VVE eine Bindung an Art. I-11 Abs. 3 VVE. Der Unterschied dieser Empfehlungen zu solchen von AdR und WSA liegt nicht in der Verbindlichkeit; beide sind unverbindlich. Die dem Subsidiaritätsprinzip unterfallenden Empfehlungen und Stellungnahmen der Organe der Union im Sinne von Art. I-33 Abs. 1 Satz 1 VVE („Rechtsakte der Union“) sind aber nach außen gerichtet. Während Empfehlungen expressis verbis als Rechtsakte ohne Gesetzescharakter in Art. I-35 Abs. 3 VVE Erwähnung finden, taucht der Begriff der Stellungnahme nach seiner Qualifikation in Art. I-33 Abs. 1 VVE als nicht verbindlicher Rechtsakt der Union in Kapitel 1 („Gemeinsame Bestimmungen“) des Titels V („Ausübung der Zuständigkeiten der Union“) nicht mehr auf. Aus dem Umstand, dass in Art. I-35 Abs. 3 VVE Regelungen getroffen sind, welche Unionsorgane Empfehlungen abgeben können, lässt sich daher der Umkehrschluss ziehen, dass die Abgabe von Stellungnahmen jedem Organ der Union offen steht.47 Es sind also zwei Arten von Stellungnahmen zu unterscheiden: Zum einen solche nach Art. I-33 Abs. 1 VVE. Sie sind Rechtsakte der Union mit Außenwirkung und können nur von Organen der Union abgegeben werden. Die Organe der Union sind dabei wegen Art. I-33 Abs. 1 VVE i. V. m. Art. I-11 Abs. 1 Satz 2, Abs. 3 VVE an das Subsidiaritätsprinzip gebunden. Dieser Befund führt freilich zu einem Problem: Nach Auslegung der Art. I-11 Abs. 1 und 3, I-33 Abs. 1 VVE scheinen lediglich die Organe der Union an das Subsidiaritätsprinzip gebunden zu sein, nicht aber der AdR und der WSA. Dieses Resultat ließe sich – wie gezeigt – jedoch nicht damit begründen, dass nur Organe für den Erlass nach außen gerichteter Rechtsakte zuständig sind. Zudem übersieht eine allein am Wortlaut orientierte Auslegung der Art. I-11 Abs. 1 und 3, I-33 Abs. 1 VVE die Europäische Investitionsbank (EIB). Sie gehört nicht zu den beratenden Einrichtungen der Union im Sinne der Art. I-32, III-386 ff. VVE, sondern ist in einem eigenen Abschnitt des Titels VI des Teils III des Verfassungsvertrags verortet, Art. III-393 f. VVE.48 Die EIB besitzt Rechtspersönlichkeit, Art. III-393 VVE, ist aber kein Organ der Union. Ihre Aufgabe „ist es, zu einer ausgewogenen und reibungslosen Entwicklung des Binnenmarktes im Interesse der Union beizutragen“, Art. III-394 VVE. Zur Erfüllung ihrer Aufgaben kann sie gemäß Art. I-34 Abs. 3 VVE in bestimmten Fällen den Erlass von Gesetzgebungsakten der Union beantragen. Diese Anträge werden in Art. 4 des Subsidiaritätsprotokolls als „Entwürfe von Europäischen Gesetzgebungsakten“ bezeichnet. Die EIB ist also – in der Entwurfsphase – an der Gesetzgebung der Union beteiligt. Die Gesetzgebung ist gemäß Art. I-33 Abs. 1 Satz 1 VVE ein Rechtsakt, des47
So auch Streinz/Ohler/Herrmann, Die neue Verfassung für Europa, S. 65. I. V.m. dem Protokoll zur Festlegung der Satzung der Europäischen Investitionsbank, Protokoll Nr. 5 zum Vertrag über eine Verfassung für Europa. 48
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Kap. 3: Vertrag über eine Verfassung für Europa
sen sich die Organe der Union bei der Ausübung ihrer Zuständigkeiten bedienen – und dabei nach Art. I-11 Abs. 1 Satz 2 VVE dem Subsidiaritätsprinzip verpflichtet sind. Nach dieser Systematik ist die EIB, da kein Organ, nicht an „Rechtsakten“ im Sinne des Art. I-33 Abs. 1 Satz 1 VVE beteiligt; folglich wäre sie nicht an das Subsidiaritätsprinzip des Art. I-11 Abs. 1, Abs. 3 VVE gebunden. Jenes Auslegungsergebnis kann keinen Bestand haben. Bereits der Entwurf eines Europäischen Gesetzgebungsaktes muss von seinem Ersteller auf seine Vereinbarkeit mit dem Subsidiaritätsprinzip49 überprüft werden, soll eine wirksame und frühzeitige – „politische“ – Überwachung der Einhaltung dieses Prinzips – eines der wesentlichen Motive bei der Schaffung des Verfassungsvertrags50 – gewährleistet werden. Von dieser Prämisse geht auch das Subsidiaritätsprotokoll aus, das insoweit in systematischem Widerspruch zu den Bestimmungen des Verfassungsvertrags steht. Hier wird der Kreis der dem Subsidiaritätsprinzip des Art. I-11 VVE Verpflichteten erweitert. Erstreckte sich in Art. I-11 Abs. 3 Satz 2 VVE die Verpflichtung zur Anwendung des Subsidiaritätsprinzips auf die Organe, so heißt es in Art. 1 Subsidiaritätsprotokoll: „Jede Institution trägt stets für die Einhaltung der in Artikel I-11 der Verfassung niedergelegten Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit Sorge.“ In den nachfolgenden Artikeln des Subsidiaritätsprotokolls bestätigt sich, dass der Begriff „Institution“ weiter gefasst ist als der des „Organs“. So hat auch die EIB51 ihre Entwürfe von Europäischen Gesetzgebungsakten gemäß Art. 5 Subsidiaritätsprotokoll „im Hinblick auf die Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit“ zu begründen. Stellungnahmen zu ihren Entwürfen im Rahmen des sogenannten Frühwarnsystems hat die EIB nach Art. 7 Subsidiaritätsprotokoll zu berücksichtigen und gegebenenfalls den Entwurf zu überprüfen. Im Interesse einer effektiven und möglichst frühzeitigen Subsidiaritätsgewährleistung verpflichtet das Subsidiaritätsprotokoll die EIB also genauso zur Einhaltung des Art. I-11 VVE wie die Organe der Union.
49 Die nachfolgenden Ausführungen gelten in gleichem Maße für das Verhältnismäßigkeitsprinzip. 50 Vgl. etwa den Abschlussbericht der Arbeitsgruppe „Subsidiarität“, CONV 286/02, im Internet abrufbar unter http://register.consilium.eu.int/pdf/de/02/cv00/00286d2.pdf. 51 Die Europäische Investitionsbank wird im letzten Satz des Art. 6 Subsidiaritätsprotokoll als „Einrichtung“ im Unterschied zum „Organ“ qualifiziert. Auch diese Terminologie ist mit der des Verfassungsvertrags nicht ganz kohärent. Als „Einrichtungen“ i. S.d. VVE finden nämlich nur die „beratenden Einrichtungen“ AdR und WSA expressis verbis Erwähnung. Die Europäische Investitionsbank fällt unter den Begriff der „sonstigen Stellen“, vgl. die Überschrift zu Teil III, Titel VI, Kapitel I, Abschnitt 4, „Gemeinsame Bestimmungen für die Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union“. Im Protokoll über die Festlegung der Sitze der Organe und bestimmter Einrichtungen, sonstiger Stellen und Dienststellen der Europäischen Union, Protokoll Nr. 6 zum Vertrag über eine Verfassung für Europa, kommt als weitere Kategorie noch die Dienststelle hinzu. Dazu gehört nach Absatz 10 des Artikels des Protokolls Europol. Für das Subsidiaritätsprotokoll dürfte gelten, dass Institution der Oberbegriff für Organ (entsprechend der Nomenklatur des VVE) und Einrichtung (nach Art. 6 Subsidiaritätsprotokoll nur die Europäische Investitionsbank) ist.
I. Art. I-11 des Verfassungsvertrags
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Diese Verpflichtung aus dem Subsidiaritätsprotokoll dürfte sich im Übrigen angesichts des Wortlauts von Art. 1 Subsidiaritätsprotokoll („Jede Institution“) auch auf den AdR und den WSA erstrecken. Der Begriff Institution erfasst demnach also nicht nur die Organe und Einrichtungen,52 sondern alle „Entitäten“ der Union.53 Dies ist insofern folgerichtig, als AdR und WSA nicht nur – indirekt – am Gesetzgebungsprozess, sondern auch am gestuften Mechanismus der Kontrolle der Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips beteiligt sind, der WSA freilich nur in geringem Maße: So ist ihm gemäß Art. 9 Subsidiaritätsprotokoll der von der Kommission jährlich anzufertigende Bericht über die Anwendung des Art. I-11 VVE vorzulegen. Zu diesem Bericht kann er dann nach Art. III-392 VVE eine Stellungnahme abgeben. Eine gewisse Präsenz im Bereich des politischen Kontrollinstrumentariums zeigt der WSA daher unbestreitbar. Deutlich stärker sind die Befugnisse des AdR. Er darf bspw. unter bestimmten Voraussetzungen54 gemäß Art. 8 Subsidiaritätsprotokoll Klage wegen eines Verstoßes eines Europäischen Gesetzgebungsakts gegen das Subsidiaritätsprinzip erheben. Daher ist konsequent, dass den Rechten von AdR und auch Pflichten – Bindung an dieses Prinzip – korrespondieren. Somit gilt: Über Art. 1 Subsidiaritätsprotokoll sind entgegen dem Ergebnis einer isolierten Betrachtung des Wortlauts der Art. I-11 Abs. 1, 3; I-33 VVE auch alle in irgendeiner Weise am Rechtsetzungsprozess der Union beteiligte „Institutionen“, unabhängig von ihrer Qualifikation als Organe, zur Anwendung des Subsidiaritätsprinzips verpflichtet. Das mit den Artikeln des Verfassungsvertrags gleichrangige Unionsrecht im Subsidiaritätsprotokoll kann im Rahmen einer Gesamtbetrachtung korrigierenden Einfluss auf die Auslegung der Einzelbestimmungen des Verfassungsvertrags nehmen. Der Terminus „Organ“ in Art. I-11 VVE ist mithin erweiternd auszulegen. Allerdings: Nach dem insoweit eindeutigen Wortlaut des Art. I-11 VVE sind alle Organe zur Anwendung des Subsidiaritätsprinzips verpflichtet. Erfasst ist daher auch der Rechnungshof, obwohl dieser am Rechtsetzungsprozess der Union nicht beteiligt ist.55 Die Auslegung der Bestimmungen des Verfassungsvertrags wie des Subsidiaritätsprotokolls führt nur zur Notwendigkeit einer erweiternden Auslegung des Organbegriffes in Art. I-11 auf diejenigen Institutionen, die in irgendeiner Art und Weise am Rechtsetzungsprozess beteiligt sind. Für den Umkehrschluss, also die Notwendigkeit eines einschränkenden Verständnisses des Terminus „Organ“ und damit einhergehend den Ausschluss aller Organe, die nicht an der Rechtsetzung partizipieren, lassen sich hingegen keine Anhaltspunkte finden – auch wenn freilich in praxi bei Organen, die nicht an der rechtsetzenden 52
Hier im Sinne der Terminologie des Art. 6 Subsidiaritätsprotokoll. In Art. 1 des Konventsentwurfs des Protokolls über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit hieß es noch: „Organe“. 54 Dazu Kapitel 3 III. 5. c). 55 Vgl. hier die Ausführungen zum Subsidiaritätsprotokoll (Amsterdam) in Kapitel 1 III. 53
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Kap. 3: Vertrag über eine Verfassung für Europa
Ausübung von Zuständigkeiten beteiligt sind, eine tatsächliche Prüfung der Subsidiaritätskriterien wohl kaum vorkommen wird. Recht knapp kann auf den EuGH eingegangen werden. Da der Gerichtshof nach Art. I-19 Abs. 1 VVE ein Organ der Union darstellt, ist nach der hier vertretenen Verhaftung am Wortlaut bei Organen im Rechtssinne unproblematisch von seiner Verpflichtung zur Anwendung des Subsidiaritätsprinzips auszugehen. Dieses Ergebnis kann freilich auch mit dem Argument begründet werden, dass es nicht allein auf den Normsetzungs-, sondern auch auf den Normüberprüfungsprozess ankommen müsse, da die Existenz einer Norm sich nicht allein durch ihre Genese, sondern genauso durch ihre Aufrechterhaltung verwirklicht.56 Einer solchen „Erweiterung der erweiternden Auslegung“ bedarf es freilich bei näherer Betrachtung nicht zwingend: Der EuGH ist nämlich in bestimmten Fällen sogar am Normsetzungsprozess beteiligt. Gemäß Art. I-34 Abs. 3 VVE kann der Gerichtshof in bestimmten Fällen den Erlass Europäischer Gesetze oder Rahmengesetze beantragen. Diese Entwürfe von Europäischen Gesetzgebungsakten sind dann nach Art. 4 Subsidiaritätsprotokoll zur Durchführung des Frühwarnsystems den nationalen Parlamenten zuzuleiten. Art. 5 und Art. 7 Subsidiaritätsprotokoll legen dem Gerichtshof die entsprechenden Begründungs-, Berücksichtungs- und Überprüfungspflichten auf. Somit kann die Bindung des EuGH an Art. I-11 VVE dreifach begründet werden: Einerseits – dem Wortlaut folgend – aus seiner Qualifikation als Organ der Union. Zum anderen aus der Notwendigkeit, nicht nur Normsetzungs-, sondern auch Normprüfungsprozesse der Subsidiaritätsbindung zu eröffnen. Ferner aus der „zweitrangigen“ Funktion des Gerichtshofes als Beteiligter am Normsetzungsverfahren in bestimmten Fällen. Zwar wendet sich die Verpflichtung zur Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips direkt allein an die Union, nicht an ihre Mitgliedstaaten. Die mitgliedstaatliche „Ebene“ findet – als „Adressat“ – in der Subsidiaritätsregelung des Art. I-11 Abs. 3 VVE dennoch eine ausdrückliche Erwähnung. Hier wird nämlich, Art. I-11 Abs. 3 Satz 3 VVE, den nationalen Parlamenten57 aufgegeben, auf die Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips nach dem im Subsidiaritätsprotokoll vorgesehenen Verfahren zu achten. Diese Regelung stellt ein Novum im Vergleich zu Art. 5 Abs. 2 (ex-Art. 3 b Abs. 2) EGV dar und bedarf einer kurzen Einordnung. Sie verweist auf das Subsidiaritätsprotokoll, wonach den nationalen Parlamenten ein mehrstufiges System zur Kontrolle der Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips zur Verfügung steht.58 Bemerkenswert an dieser Regelung ist, dass sie das bei AdR und WSA angesprochene Korrespondenzverhältnis zwischen Rechten und Pflichten auflöst: Der Normbefehl des Subsidiaritätsprinzips entfaltet unstreitig keine Bindungswirkung für die nationalen Parlamente, da dieser allein die Union und ihre 56
Dazu ebenfalls Kapitel 1 III. Zur Frage, was alles als nationales Parlament im Sinne der Norm zu verstehen ist, siehe Kapitel 3 III. 4. b). 58 Zum Frühwarnsystem und zur Subsidiaritätsklage Kapitel 3 III. 4. und 5. 57
I. Art. I-11 des Verfassungsvertrags
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„Organe“ verpflichtet, nicht hingegen die mitgliedstaatliche „Ebene“ und deren Institutionen. Die nationalen Parlamente erhalten also von Art. I-11 Abs. 3 VVE Rechte zugewiesen, können aber nicht gegen diese Bestimmung „verstoßen“. Trotz des insofern unklaren Wortlauts vermittelt Art. I-11 Abs. 3 Satz 3 VVE den nationalen Parlamenten mithin lediglich eine Berechtigung, an den Verfahren der Subsidiaritätskontrolle zu partizipieren. Eine dahingehende Verpflichtung kann der Bestimmung hingegen nicht entnommen werden. Was die nationalen Parlamente angeht, besteht somit kein Korrespondenzverhältnis der von Art. I-11 Abs. 3 VVE vermittelten Rechte und Pflichten. Ein solches Verhältnis ist vielmehr in der durch die Neuregelung geschaffenen Korrespondenz von Beteiligungsrechten und eigener Betroffenheit zu sehen. Die Einbeziehung der nationalen Parlamente, als gesetzgebende Institutionen in besonderem Maße von Brüsseler Oktroyierung betroffen59 („‚Verlierer‘ der Europäisierung“60), in den Prozess der Entscheidungsfindung auf EU-„Ebene“ stellt eine erhebliche Aufwertung ihrer Rechtsstellung dar: Obschon direkt betroffen, ist ihnen bis dato eine direkte Mitwirkung versagt; bislang sind die Parlamente darauf beschränkt, innerstaatlich an der Europapolitik ihrer Regierung mitzuwirken.61 Zwar können auch andere Beteiligte nach den Vorschriften des Subsidiaritätsprotokolls am Verfahren der Kontrolle der Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips partizipieren. So kann die Subsidiaritätsklage nach Art. 8 Subsidiaritätsprotokoll etwa vom Mitgliedstaat – also regierungsverantwortet – oder vom AdR erhoben werden. Damit hat es aber schon sein Bewenden. Das Subsidiaritätsprotokoll ist klar auf die Beteiligungsrechte der nationalen Parlamente fokussiert. Sie sind die letztlich Hauptbetroffenen des intergouvernemental geprägten Systems europäischer Rechtsetzung. Die Ausweitung ihrer Partizipationsbefugnisse ist daher, wie Erwin Teufel feststellt, zwar ein „Systembruch“, aber – aus der Sicht dieser von der europäischen Rechtsetzung in ihren ureigenen Aufgabenfeldern besonders betroffenen Institutionen – „ein überaus positiver“.62
f) „Nach dem Subsidiaritätsprinzip“ – Nach welchem? Bereits die ersten drei Worte des Art. I-11 Abs. 3 VVE63 verwirren bei näherer Betrachtung. Dort wird das Handeln der Union „(n)ach dem Subsidiaritätsprinzip“64 vorgeschrieben, welches in den nachfolgenden Zeilen definiert wird. Dieser Pas59
Vgl. Schröder, Vertikale Kompetenzverteilung und Subsidiarität, S. 149. v. Bogdandy/Bast/Westphal, Die vertikale Kompetenzordnung, S. 419. 61 Hierzu bspw. Wuermeling, Mehr Kraft zum Konflikt, S. 560. 62 Regierungserklärung des baden-württembergischen Ministerpräsidenten Teufel am 14. Juli 2004 im Landtag von Baden-Württemberg, S. 7, abrufbar im Internet unter http://www.stm. baden-wuerttemberg.de/sixcms/media.php/628/regierungserklaerung_teufel_EU_verfassung.pdf. 63 Gleiches gilt für Art. I-11 Abs. 2 VVE: „Nach dem Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung…“ und Art. I-11 Abs. 4 VVE: „Nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit…“ 64 Engl.: „Under the principle“; franz.: „En vertu du principe“. 60
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Kap. 3: Vertrag über eine Verfassung für Europa
sus wurde aus der Regelung des Art. 5 Abs. 2 (ex-Art. 3 b Abs. 2) EGV übernommen und an den Anfang der Subsidiaritätsbestimmung des Verfassungsvertrags gestellt. Inhaltlich unproblematisch ist die Formulierung, wenn man den nachfolgenden Normtext als Definition des unionsrechtlichen Subsidiaritätsprinzips versteht. Streng genommen sind die ersten drei Worte des Art. I-11 Abs. 3 VVE dann freilich redundant; Definition und Folgen des Prinzips wären identisch. Ausgehend von dieser Überlegung erlaubt die Bestimmung auch eine andere Auslegung. Nach dem Wortlaut des Art. I-11 Abs. 3 VVE könnte der Text nach „Nach dem Subsidiaritätsprinzip“ auch als bloße an die Unionsorgane gerichtete Prüfkriterienauflistung, nicht aber als Definition des unionsrechtlichen Subsidiaritätsprinzips, verstanden werden. Diese Betrachtungsweise führt dann zum Befund, dass es ein nicht-legaldefiniertes Subsidiaritätsprinzip gibt, welches die Einhaltung bestimmter, in Art. I-11 Abs. 3 VVE einzeln aufgeführter Voraussetzungen fordert, damit ein Tätigwerden der Union anstelle der „unteren Ebenen“ gerechtfertigt ist. Für die Zulässigkeit oder Unzulässigkeit eines Handelns der Union im konkreten Fall spielt die Frage nach der richtigen „Lesart“ der Einleitungsformulierung „Nach dem Subsidiaritätsprinzip“ keine direkte Rolle. Relevant ist sie indes für die Frage nach dem Wesen des Subsidiaritätsprinzips im europäischen Recht als solchem: Gemäß der ersten denkbaren Auslegungsvariante erfährt das Subsidiaritätsprinzip eine umfassende und abschließende Legaldefinition im Primärrecht: Es ist Kompetenzausübungsregel wegen Art. I-11 Abs. 1 Satz 2 VVE. Sein genauer Inhalt und Regelungsgehalt folgt aus Art. I-11 Abs. 3 VVE, der Sache nach besteht es also – abschließend – aus den im Folgenden näher erläuterten Kriterien der Insuffizienz und der Effizienz-Optimierung. Die zweite Lesart hingegen setzt ein – irgendwie geartetes – existentes, aber nicht im Verfassungstext definitorisch verortetes Subsidiaritätsprinzip voraus und formuliert auf dessen „Schultern“ konkrete einzuhaltende Kriterien. Im Ergebnis sollte der ersten Auslegungsvariante der Vorzug gegeben werden: Zum einen zeigt eine historische Auslegung die Kontinuität zu Art. 5 Abs. 2 (ex-Art. 3 b Abs. 2) EGV; auch dort wird das Subsidiaritätsprinzip als in der Bestimmung selbst definiert, nicht nur als anwendungsorientiert konkretisiert verstanden. Die bewusste „Ablösung von den geistesgeschichtlichen Wurzeln“ des Prinzips65 hin zu seiner Formulierung als handhabbarer Rechtsbegriff sollte nicht im Verfassungsvertrag, der ja gerade auf eine stärkere Fassbarkeit der Subsidiarität abzielt, rückgängig gemacht werden. Eine – neue – Verwurzelung des Rechtsprinzips im reichen Nährboden seiner komplexen Entstehungsgeschichte durch verfassungsimmanente Bejahung überkonstitutioneller, nicht-legaldefinierter, wohl aber „normleitender“ („Nach dem Subsidiaritätsprinzip“) Subsidiarität wäre auch fatal: Gewiss, es gibt diese Wurzeln. Sie sollten nur nicht in den Normtext des Verfassungsvertrags hineinwachsen. Die bereits geschilderte Überfrachtung des 65
Schwarze/Lienbacher, EU-Kommentar, Art. 5 EGV Rn. 2.
I. Art. I-11 des Verfassungsvertrags
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Subsidiaritätsprinzips de lege lata mit seinem ideengeschichtlichen Hintergrund und reichhaltigen theoretischen Unterbau birgt die Gefahr, die als Rechtsprinzip formulierte Subsidiarität zur Gestalt eines schillernden politischen Begriffs zu wandeln. Die Mehrdimensionalität des Subsidiaritätsprinzips darf sich nicht im Normtext wiederfinden, soll dieses handhabbare, operationalisierbare und – vor allem – justiziable Rechtsregel sein. Würde die Einleitung des Art. I-11 Abs. 3 VVE als Verweis auf eine überkonstitutionelle Subsidiarität verstanden, wäre der ausufernden Interpretation dieses Begriffs Tür und Tor geöffnet. Unter Verweis auf überkonstitutionelle Inhalte des Prinzips könnte das Ergebnis der „harten“ Kriterienprüfung letztlich bis an die Grenze der Beliebigkeit verwässert werden. Dies ist zu vermeiden. Daher gilt: Die einleitenden Worte „Nach dem Subsidiaritätsprinzip“ sind nicht als Verweis auf einen Subsidiaritätsbegriff jenseits des Normtextes zu verstehen. Sie haben für die Beurteilung eines Handelns der Union keine eigenständige Bedeutung. Das Subsidiaritätsprinzip findet seine alleinige und abschließende Definition im Vertragstext selbst. Es ist Kompetenzausübungsregel und besteht aus den in Art. I-11 Abs. 3 VVE niedergelegten Kriterien. Nur dies ist im Rahmen einer rechtlichen Prüfung maßgeblich.
3. Die zwei Kriterien des Subsidiaritätsprinzips a) Das Insuffizienz-Kriterium Auch im Verfassungsvertrag besteht das Subsidiaritätsprinzip inhaltlich aus zwei Elementen: dem Insuffizienz-Kriterium und dem Kriterium der EffizienzOptimierung. Beide Elemente haben jedoch im Vergleich zur Regelung des Art. 5 Abs. 2 (ex-Art. 3 b Abs. 2) EGV nicht unerhebliche Abwandlungen im Wortlaut erfahren.66 Auch im Vergleich zu Art. I-9 Abs. 3 VE Konvent wurden – allerdings in geringerem Maße – noch Änderungen des Wortlauts vorgenommen. Die Formulierung „nicht ausreichend erreicht werden können“ in Art. 5 Abs. 2 (ex-Art. 3 b Abs. 2) EGV wurde durch „weder (…) noch (…) ausreichend verwirklicht werden können“ ersetzt. Diese Abänderung dürfte keine inhaltlichen Auswirkungen haben. Die Ersetzung von „nicht“ durch „weder (…) noch“ resultiert allein aus der zusätzlichen Einbeziehung der regionalen und lokalen Ebene67 und hat offenkundig dieselbe Bedeutung. Gleiches gilt für die Ersetzung des Verbs „erreicht“ durch „verwirklicht“, wobei noch in Art. I-9 Abs. 3 VE Konvent die der Regelung des Art. 5 Abs. 2 (ex-Art. 3 b Abs. 2) EGV entsprechende Formulierung enthalten war. Die Abänderung wurde also erst nach Abschluss der Konventsar66
Die Terminologie von Lehr, B/L/Lehr, Der Amsterdamer Vertrag, S. 204, kann dennoch beibehalten werden. 67 Dazu im Folgenden.
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Kap. 3: Vertrag über eine Verfassung für Europa
beit vollzogen. Für die deutsche Sprache ist jedenfalls keine wirkliche Divergenz zwischen den beiden, oft synonym verwendeten, Begriffen ersichtlich. Allenfalls ließe sich überlegen, ob das deutsche Verb „verwirklichen“ eine weitergehende Auslegung erlaubt als das Verb „erreichen“: Ein „Ziel zu erreichen“ könnte dann ein geringeres Maß an Handeln erfordern als ein „Ziel zu verwirklichen“. Für ein Ausfallen der Prüfung des Insuffizienz-Kriteriums zugunsten der mitgliedstaatlichen „Ebene“ müsste diese nach Art. I-11 Abs. 3 VVE ein Ziel nicht – wie nach Art. I-9 Abs. 3 VE Konvent oder Art. 5 Abs. 2 (ex-Art. 3 b Abs. 2) EGV – „nur“ erreichen, sie müsste es auch verwirklichen können. Nach einer solchen Betrachtungsweise wäre freilich die Union nach den Vorgaben des Verfassungsvertrags öfter handlungsbefugt als nach dem Formulierungsvorschlag des Konvents – ein Ergebnis, das gewiss politisch so nicht gewollt gewesen wäre. Gegen eine inhaltliche Bedeutsamkeit der Divergenz der deutschen Fassung des Verfassungsvertrags zum EGV und dem Konventsvorschlag spricht zudem, dass in anderen Sprachfassungen keine entsprechende Änderung nach Abschluss der Konventsarbeit vollzogen wurde. So lautet etwa die englische Formulierung in Art. I-11 Abs. 3 VVE wie bereits in Art. 5 Abs. 2 (ex-Art.3 b Abs. 2) EGV und in Art. I-9 Abs. 3 VE Konvent „cannot be sufficiently achieved“. In der französischen Fassung heißt es in Art. I-11 Abs. 3 VVE wie in Art. I-9 Abs. 3 VE Konvent „ne peuvent pas être atteints“; allerdings lautete die Formulierung in Art. 5 Abs. 2 (ex-Art. 3 b Abs. 2) EGV „ne peuvent pas être réalisés“. Eine am Wortlaut orientierte Auslegung führt also – auch bei Hinzuziehung anderer Sprachversionen – nicht zu einem wirklich überzeugenden Ergebnis. Ein anderer Umstand vermag jedoch gegebenenfalls die Frage zu beantworten: Die Änderung der Formulierung von „erreichen“ hin zu „verwirklichen“ wurde erst in der Phase der Überarbeitung des Textes des Verfassungsvertrags durch den sprachjuristischen Dienst, also zwischen dem 14. Juni 2004 und dem 29. Oktober 2004, vorgenommen. Der Sprachendienst hatte freilich keine Kompetenz, auf die Inhalte des von der Regierungskonferenz politisch beschlossenen Verfassungsvertrags Einfluss zu nehmen. Seine Aufgabe war vielmehr die redaktionelle Überarbeitung des Textes. Nur inhaltsbelassende sprachlich-grammatische Änderungen gehörten zur Zuständigkeit der Sprachjuristen. Es ist folglich davon auszugehen, dass Wortlautänderungen in der Phase der sprachjuristischen Überarbeitung des Vertragstextes keine Inhaltsänderungen implizieren sollten und daher auch nicht implizieren. An diesem Befund ändert auch die Tatsache nichts, dass sich die Regierungskonferenz die Änderungsvorschläge des Sprachendienstes in einem Beschluss formal zu Eigen gemacht hat. Zwar wäre auf diesem Wege eine nachträgliche inhaltliche Änderung des vor der redaktionellen Überarbeitung beschlossenen Textes auf der Grundlage der Arbeit der Sprachjuristen prinzipiell denkbar. Anhaltspunkte für eine entsprechende Absicht, die Vorschläge des sprachjuristischen Dienstes als Grundlage für eine inhaltliche Modifikation des Verfassungsvertrags in den entsprechenden Passagen heranzuziehen, sind jedoch nicht erkennbar. Es kann mithin davon ausgegangen werden, dass die formale Übernahme des redak-
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tionell überarbeiteten Textes sich nur auf den geänderten Wortlaut bezog und die beschnittene Kompetenz des Sprachendienstes zu lediglich sprachlich-grammatischen Korrekturen nicht zum Angelpunkt für eine über diesen Bereich hinausgehende Neuregelung gewählt wurde. So wie das von Art. 5 Abs. 2 (ex-Art. 3 b Abs. 2) EGV vorgegebene Gefüge des Insuffizienz-Kriteriums68 räumt auch Art. I-11 Abs. 3 VVE der europäischen „Ebene“ die Aufgabe der Zielbestimmung ein. Es besteht also die Gefahr, dass die Unionsorgane auf das Ergebnis der Prüfung durch entsprechende Zielformulierungen Einfluss nehmen, indem sie Ziele formulieren, die mitgliedstaatliches Handeln von vorneherein ausschließen oder erheblich erschweren.69 Dieser Gefahr kann auch im Verfassungsvertrag mit den Argumentationslinien von Armin von Bogdandy und Martin Nettesheim entgegengetreten werden: Es dürfen demnach nur solche Ziele als Bezugspunkt gewählt werden, die selbst mit dem Subsidiaritätsgedanken konform gehen – unzulässig mangels mitgliedstaatlicher Alternative ist also etwa das Ziel einer gemeinschaftsgeltenden Wirkung als solcher.70 Ferner dürfen natürlich keine Zielsetzungen jenseits des durch das in Art. I-11 Abs. 2 VVE niedergelegte Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung umrissenen Wirkungsbereichs der Gemeinschaft herangezogen werden71 – auch im Verfassungsvertrag haben Ziele72 weder kompetenzverteilende noch kompetenzausübungsgestattende Funktion.73 Augenfälligste Neuerung im Bereich des Insuffizienz-Kriteriums ist der Einbezug der regionalen und lokalen Ebene in das Subsidiaritätsprinzip. Wo bisher Art. 5 Abs. 2 (ex-Art. 3 b Abs. 2) EGV nur auf die Handlungsmöglichkeit „auf Ebene der Mitgliedstaaten“ verwies, kommt es nach Art. I-11 Abs. 3 VVE darauf an, ob das Ziel „von den Mitgliedstaaten weder auf zentraler noch auf regionaler oder lokaler Ebene ausreichend verwirklicht werden“ kann. Gerade von Seiten der deutschen Länder wird diese Einbeziehung als wesentlicher Fortschritt gesehen,74 da sich nunmehr die Subsidiaritätskontrolle „ausdrücklich auch auf einen Vergleich mit den Regelungsmöglichkeiten auf regionaler oder lokaler 68
Vgl. Kapitel 1 II. 1. b). v. Bogdandy/Nettesheim in Grabitz/Hilf, Recht der Europäischen Union, Altband I, Art. 3 b EGV Rn. 33. 70 v. Bogdandy/Nettesheim in Grabitz/Hilf, Recht der Europäischen Union, Altband I, Art. 3 b EGV Rn. 33. 71 v. Bogdandy/Nettesheim in Grabitz/Hilf, Recht der Europäischen Union, Altband I, Art. 3 b EGV Rn. 33; Streinz/Streinz, EUV/EGV, Art. 5 EUV Rn. 9. 72 Zum Normtypus „Unionsziel“ siehe Kotzur, Die Ziele der Union, S. 313 ff. 73 Möstl, Verfassung für Europa, S. 91; Streinz/Ohler/Herrmann, Die neue Verfassung für Europa, S. 56; Regierungserklärung des baden-württembergischen Ministerpräsidenten Teufel am 14. Juli 2004 im Landtag von Baden-Württemberg, S. 7, im Internet abrufbar unter http:// www.stm.baden-wuerttemberg.de/sixcms/media.php/628/regierungserklaerung_teufel_EU_ verfassung.pdf. 74 Vgl. Zoller, Das Subsidiaritätsprinzip im Europäischen Verfassungsvertrag, S. 273; Bauer, Der europäische Verfassungsprozess, S. 460. 69
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Ebene erstreckt“.75 Was gehört alles zur regionalen oder lokalen „Ebene“ im Sinne des Art. I-11 Abs. 3 VVE? Aus deutscher Sicht stellen unproblematisch die Länder die regionale, die kommunalen Gebietskörperschaften – Städte, Gemeinden, Kreise –76 die lokale „Ebene“ dar. Für die anderen Mitgliedstaaten ist die Frage, was die regionalen „Ebenen“ betrifft, nicht gleichlaufend zu beantworten, da es Länder im Sinne der grundgesetzlichen Ordnung77 als Körperschaften mit Staatsqualität – nach nationalem Verfassungsrecht – im europäischen Vergleich kaum gibt.78 In Anbetracht dessen wäre es wohl verfehlt, als Regionen etwa nur solche Körperschaften zu qualifizieren, die nach dem Verfassungsrecht der Mitgliedstaaten Staatsqualität haben sowie Legislativbefugnisse besitzen,79 nicht in erster Linie deswegen, weil dann der Regionenbegriff speziell auf die Binnenstruktur einiger weniger Mitgliedstaaten zugeschnitten worden wäre, was kaum anzunehmen ist. Vor allem ergibt eine solche einschränkende Auslegung des Begriffs „Region“ vor dem Hintergrund der ebenbürtigen Gegenüberstellung „in einem Atemzug“80 mit dem Terminus der „lokalen Ebene“ schon aus systematischen Gründen keinen Sinn, da die hierunter fallenden Körperschaften offenkundig weder Staatsqualität haben noch Legislativbefugnisse in obigem Sinn81 – so weit auch der pouvoir municipal82 reichen mag, Gesetzgebung im formellen Sinne umfasst er jedenfalls nicht – besitzen. Für die Möglichkeit der Erreichung eines Ziels ist zudem gar nicht notwendig, dass der handelnden Einheit Staatsqualität zukommt bzw. dass sie Legislativbefugnisse hat: Von dieser Prämisse ging die Kommission bereits für Art. 5 Abs. 2 (ex-Art. 3 b Abs. 2) EGV aus; nach dem von ihr entwickelten Prüfungsmuster war im Rahmen des „komparativen Effizienztests“ zu erörtern, ob die 75
Möstl, Verfassung für Europa, S. 93. Traditionell ist die „lokale Ebene“ keine staatliche Einheit, sondern Gemeinschaft der Bürger. Zur Gemeinde als (ehedem) „räumlich und personell klar abgegrenztes Gebilde eigenen Wuchses“ Scheuner, Zur Neubestimmung der kommunalen Selbstverwaltung, S. 1 ff.; vgl. zur politischen Subjektstellung und Partizipation des Bürgers auch Graf Vitzthum/Kämmerer, Bürgerbeteiligung vor Ort (2000). 77 Zu den verfassungsrechtlichen Strukturen des Bundesstaats ausführlich Graf Vitzthum, Die Bedeutung gliedstaatlichen Verfassungsrechts in der Gegenwart, S. 7 ff. 78 Möstl, Verfassung für Europa, S. 39. Für eine Zusammenstellung der Verfassungen der Mitgliedstaaten der Europäischen Union siehe die Textausgabe von Kimmel, Verfassungen der EU-Mitgliedstaaten. Eine (allerdings knappe) Übersicht über die „föderale Struktur“ verschiedener Staaten außerhalb Europas findet sich bei Bußjäger, Föderale und konföderale Systeme im Vergleich (2003). 79 Vgl. bspw. den vom Europäischen Parlament am 16. Mai 2002 angenommenen Lamassoure-Bericht über die Abgrenzung der Zuständigkeiten zwischen der Union und den Mitgliedstaaten, ABl. EG Nr. C 180E 2003 S. 493 vom 31. Juli 2003, abrufbar im Internet unter http:// europa.eu.int/eur-lex/pri/de/oj/dat/2003/ce180/ce18020030731de04930499.pdf. In den dortigen Ausführungen zur Rolle der Gebietskörperschaften wird zwischen Regionen und Regionen mit legislativen Zuständigkeiten unterschieden. 80 Möstl, Verfassung für Europa, S. 39. 81 Gesetzgebung „im engeren Sinne“, formelle Gesetzgebung, nicht nur Satzungsautonomie wie etwa in der Bundesrepublik Deutschland durch Art. 28 Abs. 2 GG vermittelt. 82 Vgl. Scheuner, Zur Neubestimmung der kommunalen Selbstverwaltung, S. 4. 76
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Mitgliedstaaten durch „nationale, regionale oder kommunale Gesetzgebung, Verhaltenskodex, Vereinbarungen zwischen Sozialpartnern“ das in Aussicht genommene Ziel erreichen können.83 Daher gilt: Der Begriff der regionalen wie der lokalen „Ebene“ in Art. I-11 Abs. 3 VVE ist weit auszulegen. Er erfasst alle Bereich der mitgliedstaatlichen Binnenstruktur unterhalb der „Ebene“ des Gesamtstaates. Welcher Art die gegebenenfalls handlungsfähige regionale oder lokale Einheit ist, welche Rechtsqualität nach dem Verfassungsrecht des Mitgliedstaats ihr zukommt, haben die europäischen Institutionen im Rahmen der Prüfung des InsuffizienzKriteriums nicht zu erörtern. Ausgehend von diesem Befund ist freilich die Auffassung zu verneinen, dass mittels der Niederlegung der regionalen und lokalen „Ebene“ im Insuffizienz-Kriterium erstmals das Subsidiaritätsprinzip für diese Gebietskörperschaften dahingehend formuliert wurde, dass ihre „Anliegen und Kompetenzen“ im Gegensatz zur Rechtslage des geltenden Gemeinschaftsrechts im Verfassungsvertrag „jetzt ebenfalls beachtet werden“ müssen.84 Ausgangspunkt der Überlegungen – neben dem Umstand, dass ja bereits die Kommission für Art. 5 Abs. 2 (ex-Art. 3 b Abs. 2) EGV von der Notwendigkeit der Einbeziehung der regionalen Dimension ausging – ist dabei ein Kernaspekt des Verhältnisses zwischen Union und Mitgliedstaaten: Wie schon bei Art. 5 Abs. 2 (ex-Art. 3 b Abs. 2) EGV,85 gilt das in Art. I-11 Abs. 3 VVE verankerte Subsidiaritätsprinzip nicht für die innere Ordnung der Mitgliedstaaten. Art. I-5 Abs. 1 VVE verpflichtet die Union, „die nationale Identität der Mitgliedstaaten, die in deren grundlegender politischer und verfassungsrechtlicher Struktur einschließlich der regionalen und kommunalen Selbstverwaltung zum Ausdruck kommt“, zu achten. Diese Festlegung bedeutet nicht, dass die Existenz regionaler oder kommunaler Strukturen erwartet wird; vielmehr kommt es auf die Entscheidung der souveränen Mitgliedstaaten an, ob sie entsprechende Strukturen innerstaatlich haben (wollen) oder nicht.86 Die vorgefundene innerstaatliche Struktur wird dann von der Union als Element der nationalen Identität87 geachtet. Diese Achtung der mitgliedstaatlichen Verfassungsstruktur ist wohl auch primärer Grund für die Formulierung in Art. I-11 Abs. 3 VVE, wonach im 83 Mitteilung der Kommission an den Rat und an das Europäische Parlament betreffend das Subsidiaritätsprinzip, Anhang III, Dok. KOM SEK (92) 1990 ENDG./2 vom 30.10.1992; Dokument abgedruckt bei Merten (Hrsg.), Die Subsidiarität Europas, 2. Auflage (1994) und Hrbek (Hrsg.), Das Subsidiaritätsprinzip in der Europäischen Union – Bedeutung und Wirkung für ausgewählte Politikbereiche (1995). Vgl. die Ausführungen in Kapitel 1 II. 1. e). 84 So etwa Kühne, Auslaufmodell Föderalismus?, S. 144; vgl. auch Wuermeling, Kalamität Kompetenz, S. 224. 85 Streinz/Streinz, EUV/EGV, Art. 5 EUV Rn. 34. 86 Vgl. bspw. auch den Synthesebericht über die Plenartagung des Konvents vom 6./7. Februar 2003, CONV 548/03, im Internet abrufbar unter http://register.consilium.eu.int/pdf/ de/03/cv00/cv00548de03.pdf, sowie Kapitel 2 II. 4. 87 Siehe auch den in Art. I-8 VVE niedergelegten Leitspruch der Union: „In Vielfalt geeint“ – Anklang an, weder sprachlich noch inhaltlich aber eine Kopie des amerikanischen e pluribus unum; hierzu Krausnick, Symbole der Europäischen Verfassung, S. 148 f.
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Rahmen des Insuffizienz-Kriteriums zu prüfen ist, ob die Ziele – egal auf welcher konkreten „Ebene“ – „von den Mitgliedstaaten“ verwirklicht werden können. Der Verwirklichende in der Systematik des Subsidiaritätsprinzips des Verfassungsvertrags ist also, wie schon in Art. 5 Abs. 2 (ex-Art. 3 b Abs. 2) EGV der Mitgliedstaat, nicht etwa eine seiner „Ebenen“.88 Die Region oder die Kommune sind nicht selbst Akteure der Zielverwirklichung, denen Art. I-11 Abs. 3 VVE unmittelbar ein solches Recht gewährt – ein derartiges Konstrukt wäre ohnehin wegen des „immer noch“ im Schwerpunkt völkerrechtlich89 zu bewertenden Gefüges des Europarechts90 („im Kern intergouvernemental“, Thomas Oppermann)91 bedenklich. Sie sind vielmehr Ort der Zielverwirklichung. Akteur und Bezugspunkt bleibt auch im Vertrag über eine Verfassung für Europa der (Mitglied)Staat.92 In diesem Punkt besteht kein Unterschied zum geltenden Gemeinschaftsrecht. Dass freilich jene Dimensionen der mitgliedstaatlichen Binnenstruktur ausdrücklich weder in Art. 5 Abs. 2 (ex-Art. 3 b Abs. 2) EGV noch im Protokoll über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit des Amsterdamer Vertrages93 aufgeführt sind, stellt – zumindest aus einem politischen Blickwinkel gesehen – eine Schwachstelle des Subsidiaritätsprinzips im geltenden Gemeinschaftsrecht dar. Insofern mag die in Art. I-11 Abs. 3 VVE expressis verbis niedergelegte Verpflichtung, im Rahmen der Prüfung des Insuffizienz-Kriteriums das gesamte Spektrum mitgliedstaatlicher Handlungsfähigkeit zu überprüfen, einen politischen Fortschritt unter Klarstellungsgesichtspunkten darstellen. Eine rechtlich relevante Erweiterung des Prüfungsbereiches bringt sie hingegen nicht mit. Bereits im Rahmen der Prüfung des Insuffizienz-Kriteriums des Art. 5 Abs. 2 88 Der Wortlaut folgt für die Staatsstruktur von Bundesstaaten oder vergleichbar „föderativ“ gestalteten Systemen zutreffend dem dualistischen Ansatz. Es geht nicht um die Möglichkeit des Handelns des Mitgliedstaats („Gesamtstaats“) bzw. des Zentralstaats oder der darunter liegenden „Ebenen“ im Sinne der Dreigliederungslehre. Vielmehr ist zu prüfen, ob der Mitgliedstaat entweder auf zentraler oder auf einer anderen „Ebene“ die Möglichkeiten zur Verwirklichung eines Ziels besitzt. Zu beiden Strukturtheorien Scheuner, Struktur und Aufgabe des Bundesstaats in der Gegenwart, S. 641 ff.; zur Theorie des Bundesstaates instruktiv Hesse, Der unitarische Bundesstaat (1962). 89 Freilich erscheint auch das Völkerrecht strukturellen Veränderungen unterworfen zu sein. Für eine Loslösung von dessen „klassischen“ Parametern Nettesheim, Das kommunitäre Völkerrecht, S. 569 ff.; ähnlich Kotzur, Die Ziele der Union, S. 318, der für eine „Fortentwicklung des Völkerrechts vom Kooperationsvölkerrecht zum konstitutionellen Völkergemeinschaftsrecht“ plädiert. Für ein neues Verständnis des „europäischen Projektes der regionalen Integration“ jenseits der klassischen Antipoden des intergouvernementalen Staatenbundes und des föderalen Bundesstaates siehe auch Beck/Grande, Das kosmopolitische Europa, S. 81 ff. 90 Siehe dazu Hufeld, Europäische Verfassunggebung zwischen Völker- und Europarecht, S. 313 ff. 91 Oppermann, Europarecht, S. 180. 92 Weiterführend zur Stellung des Staates im Europa des Verfassungsvertrags, Graf Vitzthum, Der Staat der Staatengemeinschaft, S. 83 ff. 93 Abgesehen davon, dass in Ziffer 9 des Subsidiaritätsprotokolls die Kommission aufgefordert wird, „gebührend zu berücksichtigen, dass die finanzielle Belastung und der Verwaltungsaufwand (…) der örtlichen Behörden (…) so gering wie möglich gehalten werden und in einem angemessenen Verhältnis zu dem angestrebten Ziel stehen müssen“.
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(ex-Art. 3 b Abs. 2) EGV ist für die Frage, ob ein Ziel „auf Ebene der Mitgliedstaaten“ erreicht werden kann, eine umfassende Betrachtung vonnöten, die sich nicht allein auf die Handlungsmöglichkeiten der „zentralen Ebene“ beschränkt, sondern – der Sache nach wie bei Art. I-11 Abs. 3 VVE – eine Einbeziehung der regionalen bzw. lokalen Dimension erfordert. Die Nichterwähnung dieser Dimensionen im geltenden Gemeinschaftsrecht gründet nicht auf eine fehlende umfassende Prüfungspflicht. Sie ist vielmehr Ausdruck eines europarechtlich einwandfreien Verständnisses der Beziehung der Gemeinschaft zu ihren Mitgliedstaaten, an welcher sich auch im Vertrag über eine Verfassung für Europa für das Verhältnis zwischen Union und Mitgliedstaaten grundsätzlich nichts geändert hat: Materiellrechtlich94 enthält die Subsidiaritätsregelung des Verfassungsvertrags keine „Tendenz“ zur „Auflösung (der) Mediatisierung“ der mitgliedstaatlichen „Binnenebenen“ durch die Mitgliedstaaten95 – nationalpolitisch vielleicht zu bedauern, europarechtsdogmatisch hingegen konsequent.96 Die Formulierung in Art. I-11 Abs. 3 VVE ist – so sehr sie aus Sicht der um ihren Besitzstand kämpfenden Regionen begrüßenswert erscheinen darf – streng genommen zumindest redundant. Der oftmals gewünschte und in den Wortlaut von Art. I-11 Abs. 3 VVE „hineingelesene“ materiellrechtliche Vorrang der „unteren und untersten Ebenen“ lässt sich der Norm nicht entnehmen. Allenfalls als politisches Signal gegen den Vorwurf der „Landes-Blindheit“ (Hans Peter Ipsen)97 und zugunsten der von europäischer Oktroyierung Betroffenen „unterhalb“ der zentralstaatlichen „Ebene“ hat die Dimensionserweiterung wirkliche Bedeutung: „Europa“ zeigt damit, dass es die regionale und lokale „Ebene wahrnimmt und achtet“.98 Indes birgt die Gegenüberstellung von regionaler und lokaler „Ebene“ auch politische Risiken, werden doch etwa die Länder im deutschen Sinne, wie aufgezeigt, ebenbürtig und „in einem Atemzug“99 den lokalen Gebietskörperschaften wie Städten und Gemeinden gegenübergestellt.100 Dem deutschen Verständnis von Ländern als Gebietskörperschaften mit Staatsqualität wird solch eine Zuordnung nicht wirklich gerecht,101 die paritätisch erscheinende Gegenüberstellung ist aber aus dem Blickwinkel des Europarechts systemgerecht. Art. I-11 Abs. 3 VVE impliziert kein innerstaatliches Rangverhältnis zwischen lokaler und regionaler „Ebene“, also bspw. zwischen Kommunen und deutschen Ländern. Ein solches Verhältnis lässt sich schon nicht dem Wortlaut der Norm entnehmen, die 94
„Neuerungen“ auf diesem Gebiet gibt es vor allem bei der Frage nach der prozeduralen Gewährleistung der Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips – z. B. die Einbeziehung der nationalen Parlamente als Klageberechtigte im Rahmen der Subsidiaritätsklage. Dazu Kapitel 3 III. 5. c). 95 So aber Streinz/Ohler/Herrmann, Die neue Verfassung für Europa, S. 71. 96 Zu den Gestaltungsmöglichkeiten der deutschen Länder im Prozess der europäischen Integration siehe auch Fuhrmann-Mittlmeier, Die deutschen Länder, S. 181 ff. 97 Ipsen, Als Bundesstaat in der Gemeinschaft, S. 256. Siehe auch Möstl, Verfassung für Europa, S. 39. 98 Zoller, Das Subsidiaritätsprinzip im Europäischen Verfassungsvertrag, S. 273. 99 Möstl, Verfassung für Europa, S. 39. 100 Deshalb recht kritisch Möstl, Verfassung für Europa, S. 39. 101 Möstl, Verfassung für Europa, S. 40.
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Kap. 3: Vertrag über eine Verfassung für Europa
sich in Bezug auf die Verpflichtung zum Handeln gemäß dem Subsidiaritätsprinzip ohnehin allein an die Institutionen der Union und nicht an die Mitgliedstaaten richtet; ferner greift auch hier die Verpflichtung aus Art. I-5 Abs. 1 VVE zur Achtung der mitgliedstaatlichen Identität und Verfassungsstruktur, welche eine europäische Oktroyierung des Subsidiaritätsprinzips auf binnenstaatliche Strukturen von vorneherein ausschließt. Das Subsidiaritätsprinzip des Art. I-5 Abs. 1 VVE wirkt nur zwischen Union und Mitgliedstaaten; einen „Durchgriff“ auf die mitgliedstaatliche Verfassungsstruktur vermag es nicht zu leisten.102 Was das Handeln „auf zentraler (…) Ebene“ angeht stellt sich auch bei Art. I-11 Abs. 3 VVE die bereits im Rahmen von Art. 5 Abs. 2 (ex-Art. 3 b Abs. 2) EGV erörterte103 Frage, ob hierunter ein konzertiertes Vorgehen der Mitgliedstaaten, etwa durch intergouvernementale Zusammenarbeit, fällt. Wie im geltenden Gemeinschaftsrecht gilt indes im Verfassungsvertrag, dass solche Mittel unberücksichtigt bleiben müssen, die geeignet sind, die Struktur der Union als Integrationsverband auszuhöhlen;104 anderenfalls wäre ein Verstoß gegen das Umgehungsverbot des Art. I-5 Abs. 2 Satz 3 VVE anzunehmen.105 Die intergouvernementale Zusammenarbeit verstößt nicht direkt gegen den allein die „Organe“ der Union verpflichtenden Art. I-11 Abs. 3 VVE. Die Möglichkeit konzertierten mitgliedstaatlichen Handelns führt aber im Rahmen der Prüfung des Insuffizienz-Kriteriums nicht dazu, dass ihretwegen ein geplanter Rechtsakt der Union wegen Verstoßes gegen das Subsidiaritätsprinzip unzulässig ist.
b) Das Kriterium der Effizienz-Optimierung Bereits der ähnliche Wortlaut zeigt, dass Struktur und Inhalt des Kriteriums der Effizienz-Optimierung in Art. I-11 Abs. 3 VVE mit demjenigen des Art. 5 Abs. 2 (ex-Art. 3 b Abs. 3) EGV im Wesentlichen übereinstimmen. Was den Wortlaut betrifft, liegt ein Unterschied darin, dass der Terminus „Gemeinschaft“ durch den der „Union“ ersetzt wurde – Konsequenz des Erlöschens der Rechtspersönlichkeit 102 Insofern missverständlich Alexandra Zoller, Das Subsidiaritätsprinzip im Europäischen Verfassungsvertrag, S. 272 ff., die zunächst eine Definition des Subsidiaritätsprinzips als Dreischritt Region/Kommune – Mitgliedstaat – EU wagt und dieses Prinzip dann im Verfassungsvertrag verortet. 103 Siehe die Ausführungen in Kapitel 1 II. 1. b). 104 v. Bogdandy/Nettesheim in Grabitz/Hilf, Recht der Europäischen Union, Altband I, Art. 3 b EGV Rn. 37. 105 Die Rechtslage entspricht mithin der des geltenden Gemeinschaftsrechts; zur Einschlägigkeit des Umgehungsverbots des Art. 10 (ex-Art. 5) EGV in dieser Fallkonstellation vgl. v. Bogdandy/Nettesheim in Grabitz/Hilf, Recht der Europäischen Union, Altband I, Art. 3 b EGV Rn. 337; Art. 5 EGV Rn. 33. Nach Calliess in Calliess/Ruffert, Verfassung für die Europäische Union, Art. I-11 Rn. 33, wäre bei intergouvernementalem Handeln ein Verstoß gegen den 5. Spiegelstrich der Präambel anzunehmen, welcher die Weiterentwicklung der Union dem Vorbehalt der „Wahrung der Kontinuität des gemeinschaftlichen Besitzstandes“ unterstellt.
I. Art. I-11 des Verfassungsvertrags
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der Europäischen Gemeinschaft und des Übergangs der aus dem EGV resultierenden Rechte und Pflichten auf die – neue – Europäische Union des Verfassungsvertrags.106 Die andere Divergenz im Wortlaut stellt die bereits im Rahmen der Ausführungen zum Insuffizienz-Kriterium dargestellte Ersetzung der Formulierung „besser (…) erreicht werden können“ durch „besser zu verwirklichen sind“ dar. Wie beim Insuffizienz-Kriterium wurde hier eine Änderung erst nach Abschluss der Konventsarbeit vorgenommen; nach dem Vorschlag in Art. I-9 Abs. 3 VE Konvent hieß es noch „besser erreicht werden können“. Wie dort kann im Ergebnis nicht davon ausgegangen werden, dass zwischen den Verben „verwirklichen“ und „erreichen“ ein inhaltlicher Unterschied von Belang besteht. Das von Art. 5 Abs. 2 (ex-Art. 3 b Abs. 2) EGV bekannte Problem in der deutschen Version,107 dass nach dem Wortlaut unklar ist, worauf sich die Formulierung „…wegen ihres Umfangs oder ihrer Wirkungen…“ bezieht, besteht auch in Art. I-11 Abs. 3 VVE fort. Wie bereits in der Norm des geltenden Gemeinschaftsrechts muss die Frage aber im Wege einer constructio ad sensum dahingehend beantwortet werden, dass sich „ihrer“ nicht auf die „Ziele“ sondern auf die „Maßnahmen“ bezieht. Die bessere Verwirklichung auf Ebene der Union muss gerade aus dem besonderen Charakter der Maßnahme („wegen“) resultieren.108 Wie bereits bei Art. 5 Abs. 2 (ex-Art. 3 b Abs. 2) EGV darf dieses Kriterium nur nachrangig im Verhältnis zum Insuffizienz-Kriterium verstanden werden. Ein Handeln der Union ist also nicht schon zulässig, wenn diese ein Ziel besser erreichen kann als die Mitgliedstaaten. Sobald die mitgliedstaatliche Ebene überhaupt zu einer ausreichenden Zielverwirklichung in der Lage ist, ist das Handeln für die Unionsorgane gesperrt, unabhängig von der Frage, ob und inwieweit „Europa“ gegebenenfalls zu (noch) besserem Handeln befähigt wäre. Welches Organ „auf Unionsebene“ die Zielverwirklichung übernimmt, ist keine Frage des Subsidiaritätsprinzips. Art. I-11 Abs. 3 VVE äußert sich nicht zum Verhältnis der verschiedenen Organe zueinander; die Bestimmung trifft folglich auch keine Aussage zur mit der Entscheidung für das Tätigwerden eines bestimmten Organs zusammenhängenden Frage nach der Rechtsform der Zielverwirklichungsmaßnahme. Begrenzendes Korrektiv im Einzelfall für die Frage der Rechtsformwahl ist vielmehr das in Art. I-11 Abs. 4 VVE verortete Verhältnismäßigkeitsprinzip.109
106
Siehe Streinz/Ohler/Herrmann, Die neue Verfassung für Europa, S. 33. Vgl. Kapitel 1 II. 1. c). 108 Hier bestehen keine Unterschiede zum Subsidiaritätsprinzip des geltenden Gemeinschaftsrechts, dazu Pieper, Subsidiarität, S. 255. 109 Siehe Kapitel 3 I. 2. c). 107
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Kap. 3: Vertrag über eine Verfassung für Europa
c) Die Verbindung beider Kriterien Die Verbindung zwischen dem Insuffizienz-Kriterium und dem Kriterium der Effizienz-Optimierung hat im Verfassungsvertrag einen anderen Wortlaut erhalten. Statt „und daher“ in Art. 5 Abs. 2 (ex-Art. 3 b Abs. 2) EGV heißt es nun in Art. I-11 Abs. 3 VVE „sondern vielmehr“. Ob mit dieser sprachlichen Abwandlung auch eine inhaltlich veränderte Aussage getroffen wurde, soll im Folgenden erörtert werden. Die Auslegung des Art. 5 Abs. 2 (ex-Art. 3 b Abs. 2) EGV ergab,110 dass die Verbindung dort ein kumulatives Verhältnis beider Kriterien konstituiert. Im geltenden Gemeinschaftsrecht darf die Gemeinschaft dann nicht handeln, wenn alternativ die Zielverwirklichung auch von den Mitgliedstaaten bewältigt werden kann oder von diesen mindestens so gut wie von der Gemeinschaft bewältigt werden kann.111 Hingegen konstituiert das „und daher“ in Art. 5 Abs. 2 (ex-Art. 3 b Abs. 2) EGV weder einen Erfüllungsautomatismus, noch eine Kausalverknüpfung im Sinne erforderlicher Ursächlichkeit: Die Bejahung des Insuffizienz-Kriteriums führt nicht automatisch zur Annahme des Vorliegens des Kriteriums der Effizienz-Optimierung, vielmehr bedarf es zweier eigenständiger Prüfungen; die Bejahung des Kriteriums der Effizienz-Optimierung muss sich allerdings – obwohl der Wortlaut hierfür sprechen mag – nicht aus denselben Gründen herleiten, welche zur Erfüllung des Insuffizienz-Kriteriums führten. Vielmehr führt die Verknüpfung in Art. 5 Abs. 2 (ex-Art. 3 b Abs. 2) EGV zu einem konsekutiv-additiven Verhältnis112 beider Subsidiaritätskriterien. Dementsprechend muss das – als erstes zu erörternde – Insuffizienzkriterium allein Bestand haben, das Kriterium der Effizienz-Optimierung kann nicht zur Begründung der Insuffizienz herangezogen werden – eine effektivere Erledigung durch die Gemeinschaft begründet nicht die Annahme unzureichender Zielverwirklichung durch die Mitgliedstaaten.113 Die Verknüpfung der Subsidiaritätskriterien im Verfassungsvertrag sollte die als mehrdeutig empfundene Formulierung in Art. 5 Abs. 2 (ex-Art. 3 b Abs. 2) EGV präzisieren. Dies dürfte nur teilweise gelungen sein, die Formulierung des Art. I-11 Abs. 3 VVE stellt gegenüber Art. 5 Abs. 2 (ex-Art. 3 b Abs. 2) EGV keinen deutlichen Fortschritt dar: Der kumulative Charakter beider Kriterien als solcher ging bereits aus der Verwendung des Verknüpfungswortes „und“ in Art. 5 Abs. 2 (ex-Art. 3 b Abs. 2) EGV deutlich genug hervor; auch die Tatsache, dass zwischen dem Insuffizienz-Kriterium und dem Kriterium der Effizienz-Optimierung kein Kausalitätserfordernis besteht, dürfte durch die neue Formulierung nicht erkennbarer geworden sein. Allein in Bezug auf die Frage nach der Eigenständigkeit beider Prüfkriterien, die angesichts des Wortlauts – nicht aber, wie dargestellt, bei systematischer oder historischer Betrachtung – des Nexus „daher“ in Art. 5 Abs. 2 110
Kapitel 1 II. 1. d). v. Bogdandy/Nettesheim in Grabitz/Hilf, Recht der Europäischen Union, Altband I, Art. 3 b EGV Rn. 31. 112 Merten, Subsidiarität als Verfassungsprinzip, S. 83. 113 Merten, Subsidiarität als Verfassungsprinzip, S. 83. 111
I. Art. I-11 des Verfassungsvertrags
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(ex-Art. 3 b Abs. 2) EGV zugunsten eines Erfüllungsautomatismus beantwortet werden könnte, mag eine Verbesserung angenommen werden: Die Formulierung „sondern vielmehr“ schließt einen Mechanismus der Begründung des Vorliegens des zweiten Kriteriums mit dem Umstand der Erfüllung des ersten Kriteriums tatsächlich recht offenkundig aus.114 Damit bleibt es auch im Verfassungsvertrag zum einen bei der Notwendigkeit einer eigenständigen „zweistufigen“ Prüfung beider Subsidiaritätsaspekte nach der Deidesheimer Formel115, zum anderen bei dem konsekutiv-additiven Verhältnis zwischen dem Insuffizienz-Kriterium und dem Kriterium der Effizienz-Optimierung ohne die Erforderlichkeit einer Ursachenidentität. Der Wortlaut des Art. I-11 Abs. 3 VVE bestätigt also insofern expressis verbis das bisherige Auslegungsergebnis der h. M.. Inhaltliche Neuerungen bringt die Norm nicht, auch wenn insbesondere die Verwendung des Begriffs „vielmehr“ Fragen aufwirft. Streng genommen bedarf es seiner nicht. Das obige Auslegungsergebnis, welches bei genauer Betrachtung bereits – freilich nicht so deutlich – der Formulierung des Art. 5 Abs. 2 (ex-Art. 3 b Abs. 2) EGV entnommen werden kann, vermag nämlich bereits auf dem die Verknüpfung darstellenden Begriff „sondern“ zu fußen. Die Präzisierung – wenn man überhaupt von einer solchen sprechen möchte – realisiert sich allein durch die Ersetzung der Formulierung „und daher“ durch „sondern“. Was aber besagt die dem „sondern“ nachgestellte Ergänzung „vielmehr“, welcher nicht allein die baden-württembergische Seite bei den Verhandlungen im Konvent besondere Aufmerksamkeit widmete? Im Entwurf des Konvents bereits enthalten, wurde das Wort im Zuge der sprachjuristischen Überarbeitung des Verfassungstextes zunächst gestrichen,116 dann wieder eingefügt. Ob es den Nexus „wesentlich klarer“ (Alexandra Zoller)117 erscheinen lässt, mag jedenfalls bezweifelt werden. Auch ein Blick bspw. in die englische oder die französische Version des Verfassungsvertrags trägt wenig zur Erhellung bei: Das „sondern vielmehr“ lautet in der englischen Fassung „but can rather“, dies mag allenfalls als Betonung der Verknüpfung angesehen werden. In der französischen Fassung ist ein eigenständiges „vielmehr“ gar nicht enthalten, hier wird die Betonung des Nexus allenfalls durch die grammatisch vielleicht etwas ausgefallene Konstruktion „mais peuvent l’être mieux“ vermittelt. Aber auch eine Betonung der Verknüpfung des Insuffizienz-Kriteriums mit dem Kriterium der Effizienz-Optimierung erscheint wenig zielführend. Dass eine solche Verknüpfung existiert, steht schließlich außer Frage. Für die Klärung des – vermeintlichen – Rätsels, welcher Art genau die Verknüpfung und damit das Verhältnis der Kriterien zueinander ist, vermag aber eine Akzentuierung der Verknüpfung als solche nichts Wesentliches beizutragen. Zudem spricht der Um114 Zoller, Das Subsidiaritätsprinzip im Europäischen Verfassungsvertrag, S. 273 f.; Bauer, Der europäische Verfassungsprozess, S. 460; Wuermeling, Kalamität Kompetenz, S. 224. 115 Vgl. dazu die Ausführungen in Kapitel 1 II. 1. c). 116 Siehe noch Zoller, Das Subsidiaritätsprinzip im Europäischen Verfassungsvertrag, S. 274 Fn. 11. 117 Zoller, Das Subsidiaritätsprinzip im Europäischen Verfassungsvertrag, S. 274 Fn. 11.
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Kap. 3: Vertrag über eine Verfassung für Europa
stand, dass das „vielmehr“ im Zuge der sprachjuristischen Überarbeitung zunächst herausgestrichen wurde, deutlich gegen eine besondere inhaltliche Relevanz dieses Begriffes, da der Sprachendienst nach der politischen Einigung über den Verfassungsvertrag zu inhaltlichen Abänderungen nicht kompetent war.118 Wenn der sprachjuristische Dienst sich also „traute“, ein ganzes Wort aus einer Bestimmung zu entfernen, muss dies konsequenterweise implizieren, dass dieses Wort zuvor keinen eigenständigen Bedeutungsgehalt hatte. Im Ergebnis dürfte es sich daher vor allem um sprachliche Änderungen handeln, welche keine inhaltlichen Auswirkungen auf das Subsidiaritätsprinzip haben.119 Auch als redaktionelle Verbesserung120 kann der Nexus nur in Bezug auf den Ausschluss eines Erfüllungsautomatismus angesehen werden. An der diffusen Mehrdeutigkeit des Wortlauts hat sich im Verhältnis zur Formulierung in Art. 5 Abs. 2 (ex-Art. 3 b Abs. 2) EGV gerade durch die zumindest überflüssige Einfügung der Formulierung „vielmehr“ letztlich nicht allzu viel geändert.
d) Weitere Unterschiede zwischen Konventsentwurf und Verfassungsvertrag Der Vollständigkeit halber soll an dieser Stelle noch kurz auf zwei Wortlautunterschiede zwischen dem Konventsentwurf und dem Verfassungsvertrag hingewiesen werden. In Art. I-9 Abs. 3 Satz 2 VE Konvent war niedergelegt, dass das Subsidiaritätsprotokoll „im Anhang zur Verfassung“ enthalten sei. Diese auf den Anhang verweisende Aussage wurde in Art. I-11 Abs. 3 Satz 2 VVE herausgenommen. Inhaltliche Auswirkungen ergeben sich offensichtlich nicht. Die Verweisung könnte ohnehin redundant sein; wo sonst – könnte man fragen –, wenn nicht im Anhang des Verfassungsvertrags, sollten die Protokolle enthalten sein? Dennoch hat die Herauslösung der Verweisung einen Sinn. Der Verfassungsvertrag unterscheidet nämlich begrifflich zwischen Protokollen und Anhängen: Neben der Überschrift „A. Protokolle“ gibt es die Überschrift „B. Anhänge“. Dies verleiht dem Begriff „Anhang“ eine spezifische Bedeutung, wohingegen im Konventsentwurf die einzelnen Protokolle und Erklärungen ohne weitere Einordnung in „einem“ Anhang enthalten waren. Die zweite – noch kleinere – Änderung liegt darin, dass die in Art. I-9 Abs. 3 Satz 3 VE Konvent enthaltene Formulierung „in diesem Protokoll“ durch „in jenem Protokoll“ in Art. I-11 Abs. 3 Satz 3 VVE ersetzt wurde (in der englischen Fassung bspw.: „in the protocol“, Art. I-9 Abs. 3 Satz 3 VE Konvent; „in that protocol“, Art. I-11 Abs. 3 Satz 3 VVE). Inhaltliche Auswirkungen ergeben sich aus dieser Abänderung freilich nicht. 118 119 120
Siehe dazu die vorangegangen Ausführungen. Schröder, Vertikale Kompetenzverteilung und Subsidiarität, S. 148. So Weber, Zur föderalen Struktur der Europäischen Union, S. 849.
I. Art. I-11 des Verfassungsvertrags
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e) Materielle Konkretisierungen des Subsidiaritätsprinzips in Protokollen? So knapp dieser Punkt behandelt werden kann, so erstaunlich und relevant ist er. Im Falle des Inkrafttretens des Vertrags über eine Verfassung für Europa werden gemäß Art. IV-437 im Verbindung mit dem Protokoll über die Rechtsakte und Verträge zur Ergänzung oder Änderung des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft und des Vertrags über die Europäische Union121 nicht nur der EGV und der EUV selbst aufgehoben. Genauso tritt auch das Protokoll zum Amsterdamer Vertrag über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit außer Kraft. Dieses, auf den Schlussfolgerungen des Europäischen Rates von Edinburgh122 beruhende Protokoll123 stellt die einzige Richtschnur mit Primärrechtscharakter für die Operationalisierung des Subsidiaritätsprinzips des geltenden Gemeinschaftsrechts durch die Organe der Gemeinschaft dar. Die dort enthaltenen Konkretisierungen und Präzisierungen des Subsidiaritätsprinzips fallen nach Inkrafttreten des Verfassungsvertrags ersatzlos weg. Das Subsidiaritätsprotokoll zum Verfassungsvertrag124 vermag diesen Verlust nicht auszugleichen.125 Es ist in erster Linie als prozeduraler Vorschriftenkatalog gestaltet, welcher die Mechanismen zur Gewährleistung der Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips detailliert beschreibt. Materielle Leitlinien, wie etwa Ziffer 5 des Subsidiaritätsprotokolls zum Amsterdamer Vertrag, enthält es in deutlich geringerem Maß.126 Sollte die nachfolgende Erörterung des Subsidiaritätsprotokolls zum Verfassungsvertrag daher zum Resultat gelangen, dass das Subsidiaritätsprinzip seinetwegen eine Stärkung erfahren habe, gilt dies nur in verfahrensrechtlicher Hinsicht. Unter materiellrechtlichen Gesichtspunkten wird der Verlust bindender Prüfungskriterien für die Anwendung des Subsidiaritätsprinzips nicht einfach zu verkraften sein.
121 Protokoll Nr. 33 zum Vertrag über eine Verfassung für Europa. Im Internet abrufbar unter http://europa.eu.int/constitution/de/ptoc128_de.htm#a599. 122 Europäischer Rat von Edinburgh vom 11./12. Dezember 1992, Schlussfolgerungen des Vorsitzes, Anlage I – Gesamtkonzept für die Anwendung des Subsidiaritätsprinzips und des Artikels 3 b des Vertrags über die Europäische Union durch den Rat, Bulletin der Bundesregierung Nr. 140/S. 1277 vom 28.12.1992; abgedruckt bei Merten (Hrsg.), Die Subsidiarität Europas, 2. Auflage (1994) und Hrbek (Hrsg.), Das Subsidiaritätsprinzip in der Europäischen Union – Bedeutung und Wirkung für ausgewählte Politikbereiche (1995). 123 Zum genauen Regelungsgehalt des Subsidiaritätsprotokolls (Amsterdam) vgl. Kapitel 1 III. 124 Protokoll über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit – Protokoll Nr. 2 zum Vertrag über eine Verfassung für Europa. 125 Wuermeling, Kalamität Kompetenz, S. 224 f.; v. Bogdandy/Bast/Westphal, Die vertikale Kompetenzordnung, S. 419, begrüßen hingegen den Wegfall jener „rechtstechnisch bedenklichen materiellen Standards“ bei gleichzeitiger Hinwendung zu einem in erster Linie verfahrens- und organisationsrechtlichen Modell der Subsidiaritätsgewährleistung. 126 Vgl. dazu den Regelungsgehalt von Art. 5 des Subsidiaritätsprotokolls zum Vertrag über eine Verfassung für Europa, der – freilich sehr allgemein gehalten – gewisse Leitlinien für die Beurteilung eines Gesetzgebungsentwurfs auf seine Vereinbarkeit mit dem Subsidiaritätsprinzip enthält.
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Kap. 3: Vertrag über eine Verfassung für Europa
f) Zusammenfassende Bewertung des Art. I-11 VVE Die Neuformulierung des Subsidiaritätsprinzips in Art. I-11 Abs. 3 VVE hat zu keiner Verschärfung des Regelungsgehalts im Verhältnis zu Art. 5 Abs. 2 (ex-Art. 3 b Abs. 2) EGV geführt; auch eine wirkliche Präzisierung der beiden Subsidiaritätskriterien und ihrer Verknüpfung ist nicht festzustellen.127 Die regionale bzw. lokale „Ebene“ ist bereits im geltenden Gemeinschaftsrecht in die Prüfung der Frage, ob ein Ziel von den Mitgliedstaaten verwirklicht werden kann, einzubeziehen. Ihre Erwähnung expressis verbis mag freilich in politischer Hinsicht als Zeichen der Achtung Europas vor der regionalen bzw. lokalen Dimension begrüßenswert sein. Die Ersetzung der Formulierung „erreichen“ durch „verwirklichen“ ist inhaltlich ohne Bedeutung.128 Die Verknüpfung „sondern vielmehr“ führt, wie schon im geltenden Gemeinschaftsrecht, zu einer Kumulation beider Subsidiaritätskriterien und zu deren konsekutiv-additivem Verhältnis. Unter Klarstellungsgesichtspunkten kann hier positiv vermerkt werden, dass nunmehr auch nach dem Wortlaut des Nexus kein Erfüllungsautomatismus im Verhältnis beider Kriterien bestehen kann. Im Übrigen sind inhaltlich betrachtet Art. I-11 Abs. 3 VVE und Art. 5 Abs. 2 (ex-Art. 3 b Abs. 2) EGV größtenteils deckungsgleich.129 Dies verwundert auch nicht in Anbetracht der Genese des Verfassungstexts in den Beratungen des Arbeitsgruppe I „Subsidiarität“ und den Plenartagungen des Konvents, bezog sich doch bspw. das vom Präsidium des Konvents der Arbeitsgruppe übermittelte Mandat130 allein auf Fragen der Überwachung der Anwendung des Subsidiaritätsprinzips, also auf verfahrensrechtliche Aspekte – auch wenn Íñigo Méndez de Vigo y Montojo freilich seine Gruppe als genauso für Fragen der Anwendung des Prinzips mandatiert erachtete.131 Die Arbeit am Subsidiaritätsartikel selbst war jedenfalls der Arbeitsgruppe „Subsidiarität“ versagt; der eigentliche Verfassungstext sollte unter Regie und Verantwortung des Konventsplenums entstehen. Doch auch dort lag der Schwerpunkt der Reformdiskussion in Bezug auf das Subsidiaritätsprinzip nicht auf seiner Neudefinition im Sinne eines „großen Wurfs“, sondern auf dem Bereich seiner verfahrensmäßigen Absicherung. Diese Zielrichtung spiegelt sich im Ergebnis wider: Die Gesamtheit des Vertrags über eine Verfassung für Europa setzt auf ein „im Kern prozedurales Schutzkonzept.“132 Dieses ist nicht im eigentlichen Vertragstext, sondern als gleichrangiges Unionsrecht im Subsidiaritätsprotokoll133 127
Zutreffend Papier, Die Neuordnung der Europäischen Union, S. 755. Vgl. Kapitel 3 I. 3. a). 129 So auch Calliess, Binnenmarkt, Kompetenzordnung und Subsidiaritätsprinzip, S. 23. 130 CONV 52/02, abrufbar unter http://register.consilium.eu.int/pdf/de/02/cv00/00052d2.pdf. 131 Vgl. CONV 71/02, S. 2, http://register.consilium.eu.int/pdf/de/02/cv00/00071d2.pdf. 132 Papier, Die Neuordnung der Europäischen Union, S. 755. 133 Auch das Protokoll über die Rolle der nationalen Parlamente in der Europäischen Union – Protokoll Nr. 1 zum Vertrag über eine Verfassung für Europa, enthält Ausführungen zum Konzept der Gewährleistung der Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips. Ein spezifischer Regelungsgehalt im Verhältnis zum Subsidiaritätsprotokoll ist aber nicht ersichtlich, siehe Kapitel 3 III. 1. 128
II. Weitere Verortungen und Aspekte des Subsidiaritätsprinzips
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niedergelegt worden. Auf dessen Inhalte wird nach der Erörterung möglicherweise weiterer Verortungen des Subsidiaritätsprinzips im Text des Verfassungsvertrags eingegangen.
II. Weitere Verortungen und Aspekte des Subsidiaritätsprinzips im Verfassungsvertrag II. Weitere Verortungen und Aspekte des Subsidiaritätsprinzips
1. Art. I-18 VVE Die in Art. I-18 VVE niedergelegte sogenannte Flexibilitätsklausel mag beim Betrachter den Eindruck einer „bedenkliche(n) Relativierung“134 des Prinzips der begrenzten Einzelermächtigung erwecken. Die Norm übernimmt den Gedanken des Art. 308 (ex-Art. 235 EWGV) EGV, ist aber inhaltlich mit dieser Bestimmung des geltenden Gemeinschaftsrechts nicht deckungsgleich. Übereinstimmung besteht in der grundsätzlichen Funktion beider Regelungen, unter bestimmten Voraussetzungen eine Sekundärrechtsetzung durch die Union zu ermöglichen,135 wenn der Verfassungsvertrag keine entsprechende explizite Sachkompetenz zuweist136. Vor dem Hintergrund der Bemühungen137 um ein systematisiertes und striktes Abgrenzungssystem zwischen Union und Mitgliedstaaten in Zuständigkeitsfragen erscheint ein solches „Kompetenzreservoir (…) als Fremdkörper“,138 der gerade auch von Seiten der deutschen Länder während der Beratungen über den Verfassungsvertrag vor dem Hintergrund ihrer Erfahrungen mit „zweifelhaften „Kompetenzerschleichungen“ zugunsten Brüssels“139 kritisch bewertet wurde.140 Im Vergleich zu Art. 308 (ex-Art. 235 EWGV) EGV ist Art. I-18 VVE einerseits 134
So Möstl, Verfassung für Europa, S. 91. Zur Frage, ob neben (präziser formuliert eigentlich „vor“) der Flexibilitätsklausel noch Platz für stillschweigende Lückenfüllungskompetenzen bleibt Weber, Zur föderalen Struktur der Europäischen Union, S. 849. 136 Siehe Nettesheim, Kompetenzordnung, S. 520. 137 Siehe nur die Überlegungen zur Kompetenzordnung in der Erklärung von Laeken, „Die Zukunft der Europäischen Union“; Erklärung des Europäischen Rates von Laeken, 15. Dezember 2002; im Internet abrufbar unter http://europa.eu.int/constitution/futurum/documents/ offtext/doc151201_de.htm. 138 Schröder, Vertikale Kompetenzverteilung und Subsidiarität, S. 146. 139 So der baden-württembergische Ministerpräsident Erwin Teufel in seiner Rede vor dem Forum Constitutionis Europae der Humboldt-Universität Berlin am 23. April 2003, Konturen der Europäischen Verfassung, abrufbar unter http://www.baden-wuerttemberg.de/sixcms/ media.php/587/teufel_europ_verfassung_230403.pdf. Letztlich hat Teufel die Flexibilitätsklausel in Anbetracht der Gesamtstruktur der Verfassung wohl akzeptiert – in der Regierungserklärung des Ministerpräsidenten vom 14. Juli 2004 im Landtag von Baden-Württemberg zur Verfassung der Europäischen Union, im Internet abrufbar unter http://www.stm.badenwuerttemberg.de/sixcms/media.php/628/regierungserklaerung_teufel_EU_verfassung.pdf, wird darüber jedenfalls ausdrücklich kein Wort mehr verloren. 140 Nettesheim, Kompetenzordnung, S. 520; so auch bspw. Möstl, Verfassung für Europa, S. 91. 135
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Kap. 3: Vertrag über eine Verfassung für Europa
„weiter“: Im Gegensatz zur Bestimmung des geltenden Gemeinschaftsrechts141 – Möglichkeit des Tätigwerdens, um im Rahmen des gemeinsamen Marktes Ziele zu verwirklichen – gewährt142 Art. I-18 VVE eine Abrundungskompetenz, die sich auf das gesamte Tätigkeitsspektrum der EU erstreckt („im Rahmen der in Teil III festgelegten Politikbereiche“).143 Andererseits ist die Vorschrift „enger“: So ist neben Einstimmigkeit144 im Ministerrat auch die Zustimmung des Europäischen Parlaments erforderlich, Art. I-11 Abs. 1 a. E. VVE. Nach Art. I-11 Abs. 3 VVE dürfen die Maßnahmen zudem „keine Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten in den Fällen beinhalten, in denen eine solche Harmonisierung nach der Verfassung145 ausgeschlossen ist.“ Zudem – eine dritte Einschränkung – sind die auf Art. I-18 VVE gestützten Maßnahmen dem Subsidiaritätsprinzip unterworfen. Dies ergibt sich aus Art. I-18 Abs. 2 VVE, wonach die Kommission „die nationalen Parlamente im Rahmen des Verfahrens zur Kontrolle der Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips nach Art. I-11 Abs. 3 auf die Vorschläge aufmerksam (macht)“, die sich auf die Flexibilitätsklausel stützen. Die Einbindung in das Verfahren zur Kontrolle der Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips bedeutet zwangsläufig, dass dieses Prinzip auch materiell auf ein Unionshandeln nach Art. I-18 VVE Anwendung findet. Art. I-18 VVE mag zwar als „Fremdkörper“146 gesehen werden, welcher dem Wunsch nach einem klaren Abgrenzungskonzept im Vertrag über eine Verfassung für Europa nicht entspricht. Im Ergebnis stellt er freilich einen recht „gelungenen Kompromiss zwischen dem Flexibilitätsinteresse der EU und der mitgliedstaatlichen Sorge um ein unkontrolliertes Ausgreifen der EU in ihre Zuständigkeitssphären“ (Martin Nettesheim)147 dar. Im Vergleich zu Art. 308 (ex-Art. 235 EWGV) EGV setzt die Bestimmung zweifellos höhere Hürden,148 die bei einer Ge141
Vgl. zu Art. 308 (ex-Art. 235 EWGV) EGV Kapitel 1 I. 3. Wie Art. 308 (ex-Art. 235 EWGV) EGV „ermöglicht“ Art. I-18 VVE der Union also keine Kompetenzerweiterung („Kompetenz-Kompetenz“), er weist vielmehr Kompetenzen zu; die Norm dient der Union nicht zur Vornahme von Lückenfüllungen; vielmehr füllt sie etwaige Lücken selbst, vgl. GTE/Schwartz, Art. 235 EWGV Rn. 15. Jede andere Sichtweise widerspräche zwangsläufig dem aus der Rechtsnatur des Europarechts unmittelbar ableitbaren Grundprinzip der begrenzten Einzelermächtigung. 143 Nettesheim, Kompetenzordnung, S. 520 f.; gegen diese Beschränkung (gemessen am Verfassungsvertrag, nicht am Verhältnis zum Regelungsumfang des Art. 308 (ex-Art. 235 EWGV) EGV) hat sich die Kommission letztlich erfolglos gewehrt, Wuermeling, Kalamität Kompetenz, S. 228. 144 Gerade in Anbetracht der Erweiterung der Union dürfte eine „substanzielle Gesetzgebung auf dieser Rechtsgrundlage“ schwerlich zu erwarten sein, Wuermeling, Kalamität Kompetenz, S. 228; so auch Nettesheim, Kompetenzordnung, S. 521. 145 Bspw. Art. I-12 Abs. 5 Satz 2 VVE. 146 Schröder, Vertikale Kompetenzverteilung und Subsidiarität, S. 146. 147 Nettesheim, Kompetenzordnung, S. 521. 148 Der Vorschlag, eine Verfallsklausel („sunset-clause“) zu installieren, konnte sich nicht durchsetzen. Danach wären auf die Flexibilitätsklausel gestützte Maßnahmen nach einer bestimmten Zeit automatisch außer Kraft getreten. Dazu Oppermann, Eine Verfassung für die Europäische Union, S. 1173; Nettesheim, Kompetenzordnung, S. 521; Bauer, Der europäische Verfassungsprozess, S. 461. 142
II. Weitere Verortungen und Aspekte des Subsidiaritätsprinzips
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samtabwägung den – gemessen am geltenden Gemeinschaftsrecht – breiteren Anwendungsbereich kompensieren; es kann daher gehofft werden, dass im Fall des Inkrafttretens des Verfassungsvertrags eine „exzessive Inanspruchnahme“ der Flexibilitätsklausel in der Fassung des Art. I-18 VVE „der Vergangenheit angehört“ (Thomas Oppermann).149 Wie bei Art. 308 (ex-Art. 235 EWGV) EGV150 ist davon auszugehen, dass die Verwendung des Terminus der „erforderlichen Befugnisse“ in Art. I-18 Abs. 1 VVE nicht als Ausdruck des Subsidiaritätsprinzips zu verstehen ist. So wie in der Bestimmung des geltenden Gemeinschaftsrechts geht es hier allein um ein vertragsimmanentes Regel-Ausnahme-Verhältnis: Ein Rückgriff auf die Flexibilitätsklausel ist nur zulässig, wenn im Vertrag sonst die erforderlichen Befugnisse – explizit oder implizit – nicht vorgesehen sind. Die Erforderlichkeitsklausel beschreibt ein innervertragliches Normenkollisionssystem: Sie bestimmt, auf welche Zuständigkeitsbegründungsvorschriften sich die Organe der Union zu stützen haben und qualifiziert mittels der Erforderlichkeitsregelung die Möglichkeit eines Abstellens auf die Flexibilitätsklausel als „subsidiär“. Sie trifft hingegen keine Aussage über das Verhältnis von Union zu Mitgliedstaaten in der Frage der Kompetenzausübungsbefugnis – dies bleibt auch für die auf Art. I-18 VVE gestützten Maßnahmen der Subsidiaritätsklausel in Art. I-11 Abs. 3 VVE vorbehalten.
2. Die Präambel der Grundrechtecharta und Art. II-111 VVE Ausdrücklich erscheint der Begriff des Subsidiaritätsprinzips in der den zweiten Teil des Verfassungsvertrags151 einleitenden Präambel der Charta der Grundrechte der Union. Danach „bekräftigt (diese Charta) unter Achtung der Zuständigkeiten und Aufgaben der Union und des Subsidiaritätsprinzips die Rechte, die sich vor allem aus den gemeinsamen Verfassungstraditionen und den gemeinsamen internationalen Verpflichtungen der Mitgliedstaaten, aus der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten, aus
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Oppermann, Eine Verfassung für die Europäische Union, S. 1173. Siehe die Ausführungen zu Art. 308 (ex-Art. 235 EWGV) EGV in Kapitel 1 I 3. 151 Die bis zu diesem Zeitpunkt unverbindliche EU-Grundrechtecharta, welche vom Europäischen Rat am 7. Dezember 2000 in Nizza feierlich proklamiert wurde, erhält durch die Aufnahme in Teil II des Vertrags über eine Verfassung für Europa den Rang verbindlichen Verfassungsrechts. Die Verortung als Teil II des Verfassungsvertrags (insofern vergleichbar mit der Struktur der Weimarer Reichsverfassung von 1919) ist Ergebnis eines Kompromisses zwischen der britischen und insbesondere der deutschen Auffassung. Während nach Ansicht Großbritanniens die Charta in einem (gleichwohl rechtsverbindlichen) Protokoll verankert werden sollte, votierte die deutsche Seite (geleitet vom Vorbild des Grundgesetzes) für eine Verortung am Anfang des Verfassungsvertrags; siehe Oppermann, Eine Verfassung für die Europäische Union, S. 1242. Für weitere denkbare Einbeziehungsmethoden vgl. Notz, Die Grundrechtscharta als Wertebasis, S. 63 f.; zu Fragen des Verhältnisses von Grundrechtecharta und Verfassungsvertrag Bühler, Einschränkung von Grundrechten, S. 442 ff. 150
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Kap. 3: Vertrag über eine Verfassung für Europa
den von der Union und dem Europarat beschlossenen Sozialchartas sowie aus der Rechtsprechung des (EuGH) und des (EGMR) ergeben.“
Der Text ist – von einigen notwendigen Anpassungen abgesehen152 – mit dem Wortlaut der Präambel der Grundrechtecharta von Nizza identisch. Gleiches gilt für die zweite Nennung des Subsidiaritätsprinzips expressis verbis im Rahmen der Grundrechtecharta. Nach Art. II-111 VVE – dem früheren Art. 51 der Charta von Nizza – gilt die Charta „für die Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union unter Wahrung des Subsidiaritätsprinzips und für die Mitgliedstaaten ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union.“
Beide Nennungen des Subsidiaritätsprinzips verfolgen denselben Zweck.153 Es soll hiermit festgeschrieben werden, dass die Bindung der Union durch und an die Grundrechte keinesfalls zu einer Ausweitung ihrer Kompetenzen im Verhältnis zu den Mitgliedstaaten führt;154 dies gilt sowohl für die Stufe der Kompetenzverteilung als auch für die – hier geht es um das Subsidiaritätsprinzip – Stufe der Kompetenzausübung.155 Für die in bestimmten Bereichen156 ebenfalls an die EU-Grundrechte gebundenen Mitgliedstaaten der Union gilt nach dem so eindeutigen wie mit dem Adressatenkreis des Art. I-11 Abs. 3 VVE in Übereinstimmung stehenden Art. II-111 Abs. 1 VVE das Subsidiaritätsprinzip nicht. Die Nennung des Subsidiaritätsprinzips in der Präambel und in Art. II-111 Abs. 1 VVE erscheint bei systematischer Betrachtung unnötig. Bereits gemäß Art. I-11 VVE existiert das Subsidiaritätsprinzip für alle „Organe“ der Union als bindende Kompetenzausübungsregel. Jede Ausübung einer – nicht-ausschließlichen – Zuständigkeit der Union muss an den Kriterien des Art. I-11 Abs. 3 VVE gemessen werden. Ob es sich dabei um eine den Bereich des zweiten Teils des Verfassungsvertrags tangierende Maßnahme handelt oder nicht, spielt keine Rolle. Insofern stünde jede auf die Grundrechtsbindung der Union aus Art. II-111 Abs. 1 VVE gestützte Maßnahme „automatisch“ auch dann unter dem Prüfungsvorbehalt 152
So musste etwa der Begriff der „Gemeinschaft“ ersetzt werden. Dieser Zweck ergibt sich auch aus den Erläuterungen zur Grundrechtecharta, welche vom Präsidium des Grundrechtekonvents unter Leitung von Roman Herzog erarbeitet und später vom Präsidium des Verfassungskonvents aktualisiert wurden. Diese Erläuterungen werden von der Regierungskonferenz in der Erklärung Nr. 12 der Schlussakte zum Vertrag über eine Verfassung für Europa (Erklärung betreffend die Erläuterungen zur Charta der Grundrechte) zur Kenntnis genommen und sind dort im vollen Wortlaut abgedruckt. Die Erläuterungen entfalten keine direkte rechtliche Wirkung, sie sollen vielmehr als Interpretationshilfe dienen. 154 Die Sorge vor einer Nutzung der Grundrechte durch den EuGH als „Einfallstore für Kompetenzerweiterungen“ (Thomas Oppermann) scheint angesichts von Beispielen wie dem der Rechtssache „Tanja Kreil“ nicht unbegründet: In diesem Fall, EuGH, RS. C-285/98 Slg. 2000, I-69 ff., erstreckte der EuGH den Anwendungsbereich des gemeinschaftsrechtlichen Diskriminierungsverbots auf den Bereich nationaler Verteidigung, vgl. Oppermann, Eine Verfassung für die Europäische Union, S. 1243 Fn. 109. 155 Jarass, EU-Grundrechte, S. 36. 156 Dazu Jarass, EU-Grundrechte, S. 37 ff. 153
II. Weitere Verortungen und Aspekte des Subsidiaritätsprinzips
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des Art. I-11 Abs. 3 VVE, wenn das Subsidiaritätsprinzip nicht expressis verbis in der den Anwendungsbereich der Grundrechtecharta regelnden Bestimmung niedergelegt wäre. Freilich: Da der Passus „unter Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips“ bereits in Art. 51 der Grundrechtecharta von Nizza enthalten war, wäre es angesichts des Ziels einer Akzentuierung des Subsidiaritätsgedankens im Vertrag über eine Verfassung für Europa zumindest „optisch kontraproduktiv“ gewesen, wäre ausgerechnet seine Erwähnung bei der Inkorporation der Grundrechtecharta in den Vertragstext herausgenommen worden.157 Daher gilt: Die Bezugnahme auf das Subsidiaritätsprinzip in der Präambel der Grundrechtecharta und in Art. II-111 Abs. 1 VVE ist als rein deklaratorisch158 zu verstehen. Einige Rechte aus der Charta wie etwa das Verbot der Todesstrafe, Art. II-62 Abs. 2 VVE,159 betreffen Politikbereiche, für welche die Union keine Handlungszuständigkeit besitzt. Dieses Auseinanderdriften von Kompetenzordnung und Grundrechtsordnung ist nicht legislatives Versehen, sondern gewollt160 und hat durchaus seine Berechtigung:161 So muss wohl eine Bindung der Union an die Grundrechte nach Struktur und Systematik der Charta auch in den Fällen angenommen werden, in welchen diese nicht hoheitlich, sondern privatrechtlich agiert,162 eine Handlungszuständigkeit im Sinne des Art. I-11 VVE also gar nicht vonnöten ist. Hier kommt es nicht zur Anwendung des Subsidiaritätsprinzips, da dieses gemäß Art. I-11 Abs. 1 Satz 2 VVE nur für den Fall der Ausübung von Zuständigkeiten, damit für den Erlass von Rechtsakten – mithin hoheitliche Tätigkeit – gilt. Zudem – eine zweite Rechtfertigung für das zunächst widersprüchlich erscheinende Auseinanderdriften von Kompetenz- und Werteordnung – kommt für die Union als Beitrittskandidat nur ein Mitgliedstaat in Betracht, der den zum acquis communautaire gehörenden Kernbestand ihrer Grundwerte teilt – eine Niederlegung von Grundrechten der Union macht demnach auch dann Sinn, wenn diese keine Regelungskompetenz für die damit zusammenhängende Materie besitzt:163 Wer den Kernbestand der Charta nicht zu übernehmen bereit ist,164 kann nicht Mitglied der Union werden; genauso ist denkbar, dass ein Mitgliedstaat der Union, 157
Gleiches gilt für die Erwähnung des Prinzips in der Präambel. Nach Eisner, Die Schrankenregelung der Grundrechtecharta, S. 96, verleiht der Wortlaut dem Subsidiaritätsprinzip „Eindeutigkeit und rechtliche Unanfechtbarkeit“. Siehe auch Zimmermann, Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union, S. 22: „überflüssige (…) Verstärkung der (…) Kompetenzschutzklausel“ in Absatz 2 des jetzigen Art. II-111 VVE; ähnlich Philippi, Die Charta der Grundrechte, S. 36. 159 Weitere Beispiele sind das Folterverbot, Art. II-64 VVE, das Recht auf Ehe, Art. II-69 VVE, die Rechte des Kindes, Art. II-84 VVE etc. 160 Vgl. Hirsch, Die Aufnahme der Grundrechtecharta in den Verfassungsvertrag, S. 117. 161 Kritisch Hummer, Der Status der EU-Grundrechtecharta, S. 86 f. 162 Jarass, EU-Grundrechte, S. 35. 163 Hirsch, Die Aufnahme der Grundrechtecharta in den Verfassungsvertrag, S. 117. 164 Freilich müsste der Aspirant auf eine Unionsmitgliedschaft schwerwiegend gegen die Grundrechte der Charta verstoßen. Das mag bei dem Verbot der Todesstrafe recht einfach zu entscheiden sein, vielleicht auch noch beim Folterverbot, bei den „Rechten des Kindes“ aber bspw. wird eine Abgrenzung schwer zu treffen sein. 158
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Kap. 3: Vertrag über eine Verfassung für Europa
der in schwerwiegender Weise den Gehalt der Grundrechtecharta verletzt, einem Sanktionsverfahren nach Art. I-59 VVE165 ausgesetzt wird, welches zu einer Suspendierung seiner Mitgliedschaftsrechte führen kann.166 Drittens widerspräche es der Bedeutung der Charta als Grundwerteordnung der Union, wenn sie im Rahmen jeder Veränderung der unionsrechtlichen Kompetenzordnung auch angepasst werden müsste.167 Die „Sinnhaftigkeit“ einer Prüfung von Unionshandeln auf die Vereinbarkeit mit dem Subsidiaritätsprinzip im Rahmen des Grundrechtsschutzes ist jedoch in bestimmten (Sonder-) Konstellationen168 kritisch zu hinterfragen. Nach dem Konzept des Art. I-11 Abs. 3 VVE darf die Union Maßnahmen mit dem Ziel des Grundrechtsschutzes nur vornehmen, wenn die Ziele der in Betracht gezogenen Maßnahmen von den Mitgliedstaaten nicht ausreichend verwirklicht werden können und zudem die europäische „Ebene“ zu einer besseren Zielverwirklichung im Stande ist. Nun richtet sich der unionsrechtliche Grundrechtsschutz gerade auch gegen die Union selbst; nach den Kriterien des Subsidiaritätsprinzips sind europäische Maßnahmen zur Verhinderung solcher – drohender oder existenter – Grundrechtsverletzungen nur zulässig, wenn kein ausreichender mitgliedstaatlicher Grundrechtsschutz besteht (Insuffizienz-Kriterium). Einen derartigen nationalen Grundrechtsschutz „gegen die Union“ gibt es indes nicht:169 Entweder, weil schon die Verfassungen der Mitgliedstaaten ihren Mitbürgern überhaupt keine – vergleichbaren – Grundrechte gewähren; oder spätestens, weil nationaler Grundrechtsschutz grundsätzlich auch nur nationale Hoheitsakte zu korrigieren vermag. Aus dieser Perspektive verliert das Insuffizienz-Kriterium im Rahmen der Subsidiaritätsprüfung von geplanten Maßnahmen der Union gegen Grundrechtsverletzungen von Seiten „Europas“ seine Bedeutung: Ein Handeln auf „Ebene“ der Mitgliedstaaten zur Gewährleistung der Grundrechte gegen mögliche Verletzungen von Seiten der Union erweist sich nicht nur als insuffizient, sondern als rechtlich unmöglich. Diese rechtliche Unmöglichkeit führt zwar nicht zu einer ausschließlichen Handlungskompetenz für die Union mit der Folge der Nichtanwendbarkeit des Subsi165
Im geltenden Unionsrecht Art. 7 EUV. Vgl. Jarass, EU-Grundrechte, S. 27. 167 Jarass, EU-Grundrechte, S. 37. Freilich besteht „umgekehrt“ die Gefahr grundrechtsbedingter Kompetenzverschiebungen, „stillschweigend, punktuell und immer nur schrittweise“, Nettesheim, Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union, S. 38. 168 Es geht hier um Fälle, in welchen die Grundrechtecharta positive Handlungspflichten (Leistungs- oder Schutzpflichten) für die Union begründet und eine Zuständigkeit der Union nach dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung besteht. Aus Art. II-111 Abs. 2 VVE ergibt sich nämlich, dass die Grundrechte (auch in ihrer Schutzpflichtendimension) zwar keine zuständigkeitsbegründende Funktion besitzen. Sie vermögen allerdings ggfs. das „kann“ eines Unionshandelns (auf Grundlage der jeweiligen Kompetenzverteilungsnorm) in ein „muss“ zu wandeln. Zur Schutzpflichtendimension von Grundrechten siehe bspw. Jaeckel, Schutzpflichten im deutschen und europäischen Recht; Szczekalla, Die sogenannten grundrechtlichen Schutzpflichten; Böckenförde, Zur Lage der Grundrechtsdogmatik, S. 37 ff.; Graf Vitzthum/ Proelß, Weinimporte aus Frankreich, S. 170 ff. 169 Zimmermann, Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union, S. 22. 166
II. Weitere Verortungen und Aspekte des Subsidiaritätsprinzips
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diaritätsprinzips. Vielmehr steht einem Handeln der Union unter dem Gesichtspunkt des Insuffizienz-Kriteriums der Subsidiaritätsprüfung nach Art. I-11 Abs. 3 VVE generell nichts entgegen. Sofern das Handeln der Union dann zusätzlich einen europäischen „Mehrwert“ zeitigt, wird die Prüfung des Kriteriums der Effizienz-Optimierung ebenfalls zum Nachteil der Mitgliedstaaten ausfallen. Auch bei dieser Prüfung ist bei genauer Betrachtung das Ergebnis freilich „vorprogrammiert“. Falls nämlich der europäische Mehrwert aus irgendwelchen Gründen nicht festgestellt werden sollte, dürfte im Ergebnis niemand handeln: Die Union nicht, da die Prüfung des Kriteriums der Effizienz-Optimierung nicht zu ihren Gunsten ausfällt; die Mitgliedstaaten ebenfalls nicht, da sie keine rechtliche Möglichkeit besitzen, Verletzungen europäischer Grundrechte durch die Union mit nationalen Maßnahmen entgegenzutreten. Somit bestünde in derartigen Fallkonstellationen keinerlei Schutz der Unionsbürger vor der Verletzung ihrer Rechte aus der Grundrechtecharta, ein Ergebnis, welches offensichtlich keinen Bestand haben kann. Das Interesse an einem effektiven – bzw. überhaupt existenten – Grundrechtsschutz muss daher auf der Ebene des Kriteriums der Effizienz-Optimierung direkte Auswirkungen auf das Resultat der Subsidiaritätsprüfung haben. Mit anderen Worten: Führt die rechtliche Unmöglichkeit mitgliedstaatlichen Handelns dazu, dass die Prüfung des Insuffizienz-Kriteriums zugunsten der Union ausfällt, muss die Erörterung des Kriteriums der Effizienz-Optimierung zum gleichen Ergebnis kommen. Somit gilt: Im Falle geplanter Maßnahmen der Union – gegründet auf die Schutzpflichtendimension der Grundrechtecharta und eine Zuständigkeitszuweisung durch die Kompetenzordnung – gegen europarechtlich bedingte Verletzungen einzelner Grundrechte bleibt das Subsidiaritätsprinzip trotz seiner ausdrücklichen Nennung in Teil II des Vertrags inhaltlich ein stumpfes Schwert. Nicht allein im Sinne eines „effet utile“ des Grundrechtskatalogs,170 sondern gerade auch in dogmatischer Hinsicht ist dieses Resultat freilich korrekt. Der dieser Arbeit zugrundeliegende Ansatz einer Zurückführung des Subsidiaritätsprinzips auf den Aussagegehalt seiner primärrechtlichen Kodifikation verlangt keine „Subsidiarität um jeden Preis“ als goldenes Kalb politischer Überzeugungen. Vielmehr ist streng nach den niedergelegten Prüfungskriterien zu verfahren. Fällt nach diesem Raster in bestimmten Konstellationen das Prüfungsergebnis grundsätzlich zu Gunsten der Union aus, ist dies nicht „falsch“. Zu kritisieren ist allenfalls, dass durch seine – wie gezeigt in der Sache ohnehin unnötige und „auch nach mehrfachem Lesen“ (Andreas Zimmermann)171 schwer verständliche – Verortung expressis verbis in Präambel und Art. II-111 Abs. 1 VVE eine inhaltlich „starke“ Bedeutsamkeit des Subsidiaritätsprinzips gerade im Anwendungsbereich des zweiten Teils des Verfassungsvertrags suggeriert wird. Dieser politischen Suggestion kann in normativer Hinsicht jedenfalls nicht entsprochen werden.
170 171
Dazu Hummer, Der Status der EU-Grundrechtecharta, S. 87 f. Zimmermann, Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union, S. 22.
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Kap. 3: Vertrag über eine Verfassung für Europa
3. Art. III-259 VVE Kapitel IV des dritten Teils des Verfassungsvertrags trifft Ausführungen zur Union als „Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“. Dabei geht es um die Bereiche Grenzkontrollen, Asyl und Einwanderung, Art. III-265 ff. VVE, die justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen, Art. III-269 VVE, die justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen, Art. III-270 ff. VVE und die polizeiliche Zusammenarbeit, Art. III-275 ff. VVE. Der Verfassungsvertrag hat also die dritte Säule des EUV („Bestimmungen über die polizeiliche und justitielle Zusammenarbeit in Strafsachen“) mit Titel IV des EGV („Visa, Asyl, Einwanderung und andere Politiken betreffend den freien Personenverkehr“) zusammengeführt.172 Art. III-259 VVE (Abschnitt 1 des Kapitels IV, „Allgemeine Ausführungen“) lautet: „Die nationalen Parlamente tragen bei Gesetzgebungsvorschlägen und -initiativen, die im Rahmen der Abschnitte 4 und 5 vorgelegt werden, Sorge für die Achtung des Subsidiaritätsprinzips nach Maßgabe des Protokolls über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit.“
Diese bei erster Betrachtung „harmlos“ erscheinende Vorschrift wirft Fragen auf: Grundsätzlich ist eine Bezugnahme auf das Subsidiaritätsprinzip zwar stimmig, da die Materie „Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“ nach Art. I-14 Abs. 2 j) VVE zu den Bereichen mit geteilter Zuständigkeit gehört. Maßnahmen auf diesem Gebiet sind daher an der Subsidiaritätsklausel des Art. I-11 Abs. 3 VVE zu messen. Da Art. III-259 VVE nicht – zumindest nicht ausdrücklich – die Bindung der Unionsorgane an das Subsidiaritätsprinzip vorschreibt, ist die Bestimmung insoweit nicht redundant.173 Fraglich ist jedoch, weshalb die Rolle der nationalen Parlamente als „Gralshüter des Subsidiaritätsprinzips“ hier expressis verbis niedergelegt werden musste. Ihre Aufgabe und Funktion im Rahmen der Subsidiaritätskontrolle ergibt sich für den Regelungsbereich „Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“ offensichtlich bereits aus Art. I-11 Abs. 3 Satz 3 VVE in Verbindung mit den Vorschriften des Protokolls über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit. Die Gesetzgebungsvorschläge bzw. -initiativen im Rahmen der Abschnitte 4 und 5 von Kapitel IV des dritten Teils des Verfassungsvertrags, auf welche Art. III-259 VVE hinweist, betreffen Europäische Rahmengesetze und Europäische Gesetze, also Rechtsakte, bei welchen bereits nach den allgemeinen Bestimmungen die nationalen Parlamente „auf die Einhaltung des Subsidiaritätsprinzip (achten)“ können, Art. I-11 Abs. 3 172
Streinz/Ohler/Herrmann, Die neue Verfassung für Europa, S. 105. Eine knappe Darstellung der Erörterungen über die Innen- und Justizpolitik in Konvent und Regierungskonferenz findet sich bei Hagedorn, Auf dem Weg zu einer europäischen Innenpolitik, S. 197 ff.; vgl. auch Böse, Die polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen, S. 151 f. 173 Eine solche Formulierung wäre nichts anderes als eine (im Ergebnis überflüssige) Wiederholung des Regelungsgehalts von Art. I-11 Abs. 3 VVE, der die Bindung der Union an das Subsidiaritätsprinzip unproblematisch auch für den Bereich „Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“ als einen Hauptbereich der geteilten Zuständigkeiten vorschreibt.
II. Weitere Verortungen und Aspekte des Subsidiaritätsprinzips
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Satz 3 VVE. Inhaltliche Unterschiede zwischen den Formulierungen „Sorge für die Achtung (tragen)“, Art. III-259 VVE und „auf die Einhaltung (achten)“ betreffend die Rolle der nationalen Parlamente sind nicht ersichtlich. Insbesondere kann wie bei Art. I-11 Abs. 3 Satz 3 VVE auch bei Art. III-259 VVE nicht argumentiert werden, dass durch diese Norm die nationalen Parlamente zur Kontrolle der Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips verpflichtet würden: Ein solcher Normbefehl existiert nicht, bei Untätigkeit können die nationalen Parlamente weder gegen Art. I-11 Abs. 3 Satz 3 VVE noch gegen Art. III-259 VVE „verstoßen“; Trotz des auch hier unklaren Wortlauts vermittelt Art. III-259 VVE den nationalen Parlamenten mithin lediglich eine Berechtigung, an den Verfahren der Subsidiaritätskontrolle zu partizipieren.174 Die insofern tatsächlich überflüssige Erwähnung der nationalen Parlamente mag allenfalls in einer historischen Dimension nachvollziehbar sein: Während die polizeilich/justizielle Zusammenarbeit im geltenden Unionsrecht einer intergouvernementalen Struktur unterliegt, löst der Verfassungsvertrag diese Struktur größtenteils175 auf und unterstellt die entsprechenden Gesetzgebungsmaßnahmen wie auch den Rechtsschutz den allgemeinen Vorschriften.176 Zur Klarstellung mag daher die ausdrückliche Erwähnung der Funktion der nationalen Parlamente in diesem traditionell intergouvernemental bestimmten – und damit „parlamentsfernen“177 – Bereich ihre Berechtigung haben. Eine in rechtlicher Hinsicht „besondere Stellung“178 folgt hieraus aber nicht. Auch der Umstand, dass Art. III-259 VVE nur auf die Bereiche der justiziellen und polizeilichen Zusammenarbeit in Strafsachen, nicht hingegen auf die justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen verweist, sollte allein als Ausdruck eines politischen Willens angesehen werden, gerade in diesen – besonders grundrechtsrelevanten179 – Bereichen „den Rechtfertigungsdruck für die Kommission“180 zu steigern181 – die rechtliche Bindung an das Subsidiaritätsprinzip des Art. I-11 Abs. 3 VVE besteht unabhängig von seiner Nichterwähnung in Art. III-259 VVE freilich in gleicher Weise für das Regelungssegment der justiziellen Zusammenarbeit in Zivilsachen.
174
Vgl. die Ausführungen zu den Normadressaten des in Art. I-11 Abs. 3 VVE niedergelegten Subsidiaritätsprinzips, Kapitel 3 I. 2. e). 175 Zu einzelnen Fällen des Niederschlags intergouvernementalen Ursprungs auch im Verfassungsvertrag vgl. Streinz/Ohler/Herrmann, Die neue Verfassung für Europa, S. 105. 176 Streinz/Ohler/Herrmann, Die neue Verfassung für Europa, S. 105. 177 Allgemein zum Verhältnis zwischen Regierung und Parlament bei der auswärtigen und inneren Staatsführung Graf Vitzthum, Parlament und Planung, S. 217 ff. 178 Streinz/Ohler/Herrmann, Die neue Verfassung für Europa, S. 105. 179 Fischer, Kompetenzordnung, S. 125. 180 Monar, Der Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, S. 543. 181 Vgl. auch den Abschlussbericht der Arbeitsgruppe X „Freiheit, Sicherheit und Recht“ des Europäischen Konvents, CONV 426/02, S. 12, 22; im Internet abrufbar unter http://register. consilium.eu.int/pdf/de/02/cv00/00426d2.pdf.
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Kap. 3: Vertrag über eine Verfassung für Europa
4. Art. III-266 VVE Zumindest dem Wortlaut nach scheint das Subsidiaritätsprinzip eine zweite Verankerung in den Artikeln des Verfassungsvertrags zum Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts gefunden zu haben. Gemäß Art. III-266 Abs. 1 Satz 1 VVE entwickelt die Union „eine gemeinsame Politik im Bereich Asyl, subsidiärer Schutz und vorübergehender Schutz, mit der jedem Drittstaatsangehörigen, der internationalen Schutz benötigt, ein angemessener Status angeboten und die Einhaltung des Grundsatzes der Nicht-Zurückweisung gewährleistet werden soll.“
Nach Art. III-266 Abs. 2 VVE werden zu diesem Zweck Maßnahmen durch Europäisches Gesetz oder Europäisches Rahmengesetz für eine gemeinsame europäische Asylregelung festgelegt; diese umfasst „b) einen einheitlichen subsidiären Schutzstatus für Drittstaatsangehörige, die keinen europäischen Asylstatus erhalten, aber internationalen Schutz benötigen; (…) d) gemeinsame Verfahren für die Gewährung und den Entzug des (…) subsidiären Schutzstatus; e) Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines Antrags auf (…) subsidiären Schutz zuständig ist; f) Normen über die Aufnahmebedingungen von Personen, die (…) subsidiären Schutz beantragen; g) Partnerschaft und Zusammenarbeit mit Drittländern zur Steuerung der Zuströme von Personen, die (…) subsidiären (…) Schutz beantragen.“
Bevor auf die Bedeutung des Terminus „subsidiärer Schutz“ in Art. III-266 VVE eingegangen wird, bedarf es der klarstellenden Feststellung, dass das Subsidiaritätsprinzip des Art. I-11 Abs. 3 VVE auch auf Maßnahmen in den Bereichen Grenzkontrollen, Asyl und Einwanderung Anwendung findet. Dies ergibt sich aus den allgemeinen Vorschriften der Art. I-11 Abs. 1 und 3, Art. I-14 Abs. 2 j), Art. I-33 Abs. 1 VVE – unbeschadet der Tatsache, dass Art. III-259 VVE nach seinem Wortlaut den nationalen Parlamenten nur die Sorge für die Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips bei Maßnahmen im Bereich der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit zu übertragen scheint.182 Eine Bezugnahme auf das Subsidiaritätsprinzip des Art. I-11 Abs. 3 VVE183 kann im Begriff des subsidiären Schutzes bzw. des subsidiären Schutzstatus freilich nicht gesehen werden. Als Kompetenzausübungsregel trifft das Subsidiaritätsprinzip Aussagen über die Frage, ob die Union im Falle ihrer Zuständigkeit auf Grundlage des Kompetenzverteilungssystems des Verfassungsvertrags eine bestimmte Maßnahme treffen darf oder ob ein Tätigwerden der mitgliedstaatlichen 182
Vgl. die vorangegangenen Ausführungen zu Art. III-259 VVE, Kapitel 3 II. 3. Es geht es hier aber auch um den Grundgedanken der Subsidiarität als einer Rangentscheidungsregel, vgl. die Ausführungen in der Einführung. 183
II. Weitere Verortungen und Aspekte des Subsidiaritätsprinzips
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„Ebene“ obliegt. Das im Begriff des subsidiären Schutzes anklingende Subsidiaritätsverhältnis hingegen regelt nicht die Frage der Ausübung von Kompetenzen zwischen Union und Mitgliedstaaten. Die Begriffsdefinition geht vielmehr auf einen Vorschlag der Europäischen Kommission aus dem Jahr 2001 für eine Richtlinie des Rates zurück.184 Dieser Vorschlag stellt auf der Basis der Beschlüsse des Europäischen Rats von Tampere im Oktober 1999 Leitlinien für ein gemeinsames europäisches Asylsystem auf.185 In Art. 2 f) des Richtlinienvorschlags wird der Begriff des subsidiären Schutzstatus definiert. Es handelt sich dabei um „eine Form des internationalen Schutzes unabhängig von und ergänzend zu der Flüchtlingseigenschaft, die ein Mitgliedstaat einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen gewährt, der kein Flüchtling ist, jedoch anderweitig internationalen Schutz benötigt und als solcher in das Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats zugelassen wird.“
Es gibt demnach also – dies belegt auch Art. 5 des Richtlinienvorschlags – zwei separate Formen des internationalen Schutzes. Zum einen der in der Flüchtlingseigenschaft begründete Schutz, wobei sich die Anerkennung als Flüchtling aus Kapitel 3 des Richtlinienvorschlags auf Grundlage des 1951 beschlossenen Genfer Flüchtlingsabkommens186 und des Protokolls von 1967187 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge ergibt. Der Richtlinienvorschlag erkennt den Vorrang der Schutzmechanismen der Genfer Konvention an; Personen, auf welche diese Konvention keine Anwendung findet, die dessen ungeachtet aber internationalen Schutzes bedürfen, soll dieser dennoch gewährt werden. Die vorgeschlagenen subsidiären Schutzmaßnahmen dienen als Ergänzung zu den Schutzmechanismen der Genfer Konvention und dem Protokoll von 1967. Damit gilt: Nach Art. 2 a) des Richtlinienvorschlags bezeichnet der Begriff des internationalen Schutzes „die Flüchtlingseigenschaft und den subsidiären Schutzstatus“. Das durch letzteren Ausdruck begründete Subsidiaritätsverhältnis besteht zwischen den – vorrangigen – „Genfer“ Schutzmechanismen für Personen, denen die Eigenschaft als Flüchtling zugemessen werden kann und dem – nachrangigen – Schutzsystem „Brüssel“ für Personen, die eine solche Eigenschaft nicht besitzen.188 184 Vorschlag für eine Richtlinie des Rates über Mindestnormen für die Anerkennung und den Schutz von Drittstaatsangehörigen und Staatenlosen als Flüchtlingen oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen vom 12.9.2001, Dok. KOM (2001) 510, im Internet abrufbar unter http://europa.eu.int/eur-lex/lex/LexUriServ/site/de/com/2001/ com2001_0510de01.pdf. 185 Zu weiteren Dokumenten betreffend das europäische Asylsystem bis hin zu den Regelungen im Konventsentwurf siehe Weber, Das europäische Flüchtlings- und Migrationsrecht, S. 62 ff. 186 Genfer Abkommen vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, BGBl. 1953 II S. 560. 187 Protokoll über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 31. Januar 1967, BGBl. II 1969 S. 1294. 188 Der Vorschlag der Kommission hat sich 2004 in einer Richtlinie realisiert, welche die Terminologie des subsidiären Schutzes übernommen hat. Auch hier stellt der subsidiäre Schutz eine Ergänzung zu den Schutzmechanismen für anerkannte Flüchtlinge dar; dieses zweigliedrige Schutzsystem soll nach dem ersten Erwägungsgrund der Richtlinie dazu beitragen, das
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Kap. 3: Vertrag über eine Verfassung für Europa
Im Mandat der Arbeitsgruppe X „Freiheit, Sicherheit und Recht“ des Europäischen Konvents von September 2002189 wurde festgestellt, dass im geltenden Gemeinschaftsrecht die Vorgaben des Europäischen Rats von Tampere zum Politikbereich Asyl und Einwanderung noch nicht vollständig umgesetzt worden seien. Nach den Beratungen in der Arbeitsgruppe gab diese in ihrem Abschlussbericht190 drei Empfehlungen für die Anpassungen der Rechtsvorschriften betreffend eine gemeinsame Asylpolitik. So sollte etwa die Handlungsermächtigung des geltenden Gemeinschaftsrechts, Art. 63 EGV, für Maßnahmen auf den Gebieten des Asyls und der Einwanderungspolitik umformuliert werden: Wie bisher sollte die Einhaltung der Genfer Konvention uneingeschränkt gewährleistet sein, gleichzeitig aber die Union befähigt werden, über den Gehalt dieses Abkommens hinaus „zusätzliche Formen des Schutzes zu gewähren.“191 Die Terminologie des Richtlinienvorschlags der Kommission zu diesem ergänzenden Mechanismus als subsidiären Schutz übernahmen letztlich sowohl der Konvent zur Zukunft Europas192 als auch die Regierungskonferenz. Unter rechtlichen Gesichtspunkten mag an diesem Begriff zunächst nichts auszusetzen sein. Die dort verankerte Subsidiarität hat mit dem Subsidiaritätsprinzip des Art. I-11 Abs. 3 VVE nichts gemein, wie die Auslegung der entsprechenden Normen offenkundig ergibt. Hinsichtlich des Ziels einer Eindeutigkeit und Verständlichkeit der Regelungen des Verfassungsvertrags wäre freilich eine andere Formulierung, welche jeden Anklang an das Subsidiaritätsprinzip als Kompetenzausübungsregel vermieden hätte, vorzugswürdig gewesen. So hätte der Schutz für Personen, welchen keine Flüchtlingseigenschaft zugemessen werden kann, als Ergänzung des Flüchtlingsschutzes bspw. auch als komplementärer Schutz (lat.: complere, complementum – ergänzen, Ergänzung) bezeichnet werden können. Der Vorrang der Schutzmechanismen der Genfer Konvention wäre auch im Terminus komplementär – allerdings zugestandenermaßen nicht so deutlich – zum Ausdruck gekommen, schon deswegen, weil gemäß Art. III-266 Abs. 1 Satz 2 VVE Maßnahmen zur Gewährung subsidiären Schutzes im Einklang mit den Vorschriften des Flüchtlingsschutzes stehen müssen. Gegebenenfalls hätte die Vorrangstellung der Genfer Konvention und des Protokolls von 1967 sogar noch expressis verbis verZiel eines „gemeinsamen Europäischen Asylsystems“ als Bestandteil eines „Raum(s) der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts (…), der allen offen steht, die wegen besonderer Umstände rechtmäßig in der Gemeinschaft um Schutz ersuchen“, zu erreichen, Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes, ABl. EG Nr. L 304 2004 S. 12 vom 30. September, im Internet abrufbar unter http://europa.eu.int/ eur-lex/lex/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=CELEX:32004L0083:DE:HTML. 189 CONV 258/02, http://register.consilium.eu.int/pdf/de/02/cv00/00258d2.pdf. 190 CONV 426/02, im Internet abrufbar unter http://register.consilium.eu.int/pdf/de/02/cv00/ 00426d2.pdf. 191 CONV 426/02, S. 4, http://register.consilium.eu.int/pdf/de/02/cv00/00426d2.pdf. 192 Dort Art. III-167 Abs. 2 VE Konvent.
II. Weitere Verortungen und Aspekte des Subsidiaritätsprinzips
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ankert werden können – ob dies nicht zu einer Überbetonung des Rangverhältnisses führen würde, kann dann allerdings mit Recht gefragt werden. Jedenfalls wäre eine Umformulierung des ergänzenden Schutzes im Interesse eines einheitlichen Verständnisses von Subsidiarität im Vertrag über eine Verfassung für Europa begrüßenswert gewesen.
5. Sonstige Anklänge an das Subsidiaritätsprinzip? Der Verfassungsvertrag enthält noch weitere Aussagen und Regelungen, die bei „unbefangener Betrachtung“ als Ausprägung des Subsidiaritätsprinzips verstanden werden könnten. Zu nennen ist bspw. der sowohl in der Präambel193 als auch in Art. I-8 VVE formulierte Leitspruch der Union „In Vielfalt geeint“, der „die auf dem Subsidiaritätsgedanken fußende, spezifisch unionsrechtliche Variante des Föderalismus“194 symbolisieren soll. Auch könnte in diesem Zusammenhang die in Art. I-5 Abs. 1 VVE niedergelegte Verpflichtung der Union zur Achtung der nationalen Identität der Mitgliedstaaten als Präzisierung der „(ä)ußerste(n) Grenze für die Tätigkeit der Union“195 angeführt werden, insbesondere in Verbindung mit der ausdrücklichen Einbeziehung regionaler und kommunaler Strukturen im gleichen Absatz. Ferner könnte auf die in Art. I-5 Abs. 2 VVE verankerte loyale Zusammenarbeit als Postulat gegenseitiger Treueverpflichtung196 – Unionstreue nicht als „Einbahnstraße“197 – hingewiesen werden. Auf den genauen Inhalt und die normative Bedeutung dieser Bestimmungen soll im Folgenden nicht eingegangen werden. Ihnen ist jedenfalls gemein, dass sie der mitgliedstaatlichen „Ebene“ einen besonderen Stellenwert im europäischen Kontext einräumen und insoweit – aus Sicht der Mitgliedstaaten – Verbesserungen im Vergleich zum Regelungsgehalt des geltenden Gemeinschaftsrechts bewirken. Nach dem in dieser Arbeit vertretenen Ansatz können sie freilich nicht als Ausprägung des Subsidiaritätsprinzips verstanden werden. Sie haben keine direkten Auswirkungen auf die Frage, ob die Union in einem bestimmten Fall handlungsbefugt ist oder nicht. Vielmehr stellen sie übergeordnete bzw. allgemeine Prinzipien für oder Symbole der Union dar. Vermengt man den Inhalt dieser Bestimmungen mit dem als reine Kompetenzaus193
Zu Gehalt und Funktion von Präambeln gerade im europäischen Kontext vgl. Häberle, Europäische Verfassungslehre, S. 274 ff.; Kopetz, Präambeln, S. 9 ff. 194 Krausnick, Symbole der Europäischen Verfassung, S. 148 f. m. w. N. 195 Oppermann, Konzeption und Struktur des Verfassungsentwurfs, S. 27. 196 Die Loyalitätspflicht des geltenden Gemeinschaftsrechts obliegt einseitig den Mitgliedstaaten gegenüber der Union – die Wandlung in einen reziprok verpflichtenden Grundsatz – vergleichbar dem Prinzip der Bundestreue im deutschen Staatsrecht – ist aus Sicht der Mitgliedstaaten in der Tat begrüßenswert, vgl. Oppermann, Eine Verfassung für die Europäische Union, S. 1170. 197 So der baden-württembergische Ministerpräsident Erwin Teufel in seiner Rede vor dem Forum Constitutionis Europae der Humboldt-Universität Berlin am 23. April 2003, Konturen der Europäischen Verfassung, abrufbar unter http://www.baden-wuerttemberg.de/sixcms/ media.php/587/teufel_europ_verfassung_230403.pdf.
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Kap. 3: Vertrag über eine Verfassung für Europa
übungsregel formulierten Subsidiaritätsprinzip des Art. I-11 Abs. 3 VVE, wird der rechtliche Gehalt dieses Prinzips verwässert und überlagert. Dies gilt es zu vermeiden. Die genannten Vorschriften könnten daher allenfalls als Konkretisierung eines Subsidiaritätsprinzips verstanden werden, welches als überkonstitutionelle Maxime – „Europa vom Kopf auf die Füße stellen“198 – zur Verwirklichung eines „föderalen“ Unionsmodells beiträgt, nicht hingegen als Konkretisierung des Subsidiaritätsprinzips im Sinne des Verfassungsvertrags. Ein solches „übergeordnetes“ Subsidiaritätsprinzip – als „gesellschaftliches Allgemeingut“199 – ist freilich nicht Gegenstand dieser Untersuchung.
III. Die Mechanismen zur Gewährleistung des Subsidiaritätsprinzips III. Mechanismen zur Gewährleistung des Subsidiaritätsprinzips
1. Einführung Die Schaffung eines prozeduralen Schutzkonzepts200 zur Gewährleistung der Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips ist das eigentlich Neue im Vergleich zu den Regelungen des geltenden Gemeinschaftsrechts. Während, wie dargestellt, das Subsidiaritätsprinzip materiellrechtlich nur geringfügige Abwandlungen erfahren hat, wurde der Bereich seiner verfahrensmäßigen Absicherung völlig neu gestaltet. Sedes materiae ist in erster Linie das Subsidiaritätsprotokoll. Auch das Protokoll über die Rolle der nationalen Parlamente in der Europäischen Union (Protokoll Nr. 1 zum Vertrag über eine Verfassung für Europa)201 enthält Regelungen zur prozeduralen Gewährleistung der Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips. Sie stellen aber im Wesentlichen eine Wiederholung bzw. Konkretisierung des Aussagegehalts des Subsidiaritätsprotokolls dar. Die Niederlegung der Mechanismen in Protokollen mag als „Auslagerung“ wichtiger Regelungsbereiche bedauert werden, insbesondere von denjenigen, die das Vertragswerk als eine Verfassung für Europa in formellem Sinn erachten.202 Protokolle gibt es bei einer Verfassung im eigentlichen Sinne üblicherweise nicht. In der Tat hätte auch eine so bedeutende Neuerung wie etwa die Subsidiaritätsklage durchaus expressis verbis203 im Verfassungstext selbst – „Wesentlichkeitstheorie“ – Erwähnung finden 198 Abermals Teufel in seiner Regierungserklärung am 7. Mai 2003 vor dem Landtag von Baden-Württemberg, http://www.stm.baden-wuerttemberg.de/sixcms/media.php/628/teufel_ regierungserklaerung_070503.pdf. 199 Baumgartner, „Jede Gesellschaftstätigkeit ist ihrem Wesen nach subsidiär“, S. 14. 200 Papier, Die Neuordnung der Europäischen Union, S. 755. 201 Im Folgenden: Protokoll über die Rolle der nationalen Parlamente. 202 Bedauernd deswegen bspw. Meyer, Entwurf eines Vertrages über eine Verfassung für Europa, S. 433 f. 203 Bei der Subsidiaritätsklage handelt es sich – wie aus Art. 8 des Subsidiaritätsprotokolls hervorgeht – um eine Klage „nach Maßgabe des Art. III-365 der Verfassung“. Ausdrücklich wird sie in diesem Artikel jedoch nicht genannt.
III. Mechanismen zur Gewährleistung des Subsidiaritätsprinzips
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können.204 Gleiches gilt für den im Subsidiaritätsprotokoll niedergelegten Mechanismus des Frühwarnsystems, auf welchen der Verfassungsvertrag unspezifisch und allein im Wege der Verweisung eingeht, Art. I-11 Abs. 3 Satz 3 VVE. Dennoch ist die Beibehaltung der Struktur des geltenden Gemeinschaftsrechts auch im Vertrag über eine Verfassung für Europa begrüßenswert. Das „Nebeneinander“ von eigentlichem Vertragstext und – gleichrangigen – Protokollen ist altbewährter modus operandi völkerrechtlicher Rechtsetzung. Zwar hatte das europäische Projekt – vor dem Hintergrund der Erweiterungsbeschlüsse, welche ein rascheres Handeln erforderlich machten, als der Weg der kleinen politischen Schritte, die „Methode Monnet“,205 zu leisten im Stande war – jene „klassisch-völkerrechtliche, gouvernementale Methode“ faktisch „an ihre Grenzen“ geführt (Thomas Oppermann).206 Jedenfalls im formell-rechtlichen Sinne207 stellt der Vertrag über eine Verfassung für Europa aber „nur“ einen regierungsverantworteten intergouvernementalen Vertrag, nicht eine – allein vom Volk zu gebende – Verfassung im eigentlichen Sinne dar. Das System der Beifügung von Protokollen holt daher das Vertragswerk auch „optisch“ auf den Boden seiner eigentlichen Rechtsnatur zurück. Das im Subsidiaritätsprotokoll niedergelegte Gewährleistungsschema gliedert sich bei genauer Betrachtung in drei208 Abschnitte. Zunächst sind die Entwürfe europäischer Gesetzgebungsakte auf ihre Vereinbarkeit mit dem Subsidiaritätsprinzip und dem Verhältnismäßigkeitsprinzip hin detailliert zu begründen. In einem zweiten Schritt werden die dergestalt begründeten Gesetzgebungsentwürfe einem politisch209 geprägten Kontrollmechanismus unterworfen. „Hüter und Sach204 Umgekehrt hätten auch einige Detailbestimmungen – insbesondere im Dritten Teil des Verfassungsvertrags – eventuell herausgelöst und „nur“ in Protokollen verankert werden können. Eine weitere Möglichkeit wäre die Verortung in einem „Organgesetz“ unterhalb der Verfassung gewesen, vgl. Oppermann, Eine Verfassung für die Europäische Union, S. 1168 Rn. 15. 205 Vgl. Graf Vitzthum, Die Identität Europas, S. 16. 206 Oppermann, Eine Verfassung für die Europäische Union, S. 1165. Siehe auch Kapitel 2 I. 2. 207 Oppermann, Vom Nizza-Vertrag zum Europäischen Verfassungskonvent, S. 192. 208 Man kann die Begründungspflicht auch als Bestandteil des Frühwarnsystems verorten. Insoweit statuiert das Subsidiaritätsprotokoll dann einen zweigliedrigen Gewährleistungsmechanismus, so auch Oppermann, Eine Verfassung für die Europäische Union, S. 1171. Der hier vertretene dreigliedrige Ansatz beruht auf dem Umstand, dass bereits das Subsidiaritätsprotokoll des Amsterdamer Vertrags eine Begründungspflicht für geplante Maßnahmen der Union in Bezug auf ihre Vereinbarkeit mit dem Subsidiaritätsprinzip kannte. Hinzu kommt, dass der Begründungspflicht eine eigenständige Bedeutung im Rahmen des Systems der Gewährleistung des Subsidiaritätsprinzips zukommt: Sie dient nicht allein als „Vorbereitungshandlung“ für das Stellungnahmerecht der nationalen Parlamente. Die Pflicht, sich intensiv mit einem Gesetzgebungsentwurf zu befassen, mag auch „Denkanstöße“ für den Urheber des Entwurfs selbst bewirken. Erkannte Verstöße etwa gegen das Subsidiaritätsprinzip können dann in einem frühen Stadium – noch vor dem eigentlichen Frühwarnsystem – abgestellt werden. Das Element „Begründungspflicht“ wird daher als eigenständiger Aspekt der Gewährleistungsmechanismen dargestellt. Rechtlich relevante Unterschiede resultieren aus der unterschiedlichen Katalogisierung freilich nicht. 209 Neben vielen Schwarze, Der Verfassungsentwurf, S. 520.
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Kap. 3: Vertrag über eine Verfassung für Europa
walter“ des Subsidiaritätsprinzips in diesem Stadium sind die nationalen Parlamente der Mitgliedstaaten. Die dritte Phase des Gewährleistungsschemas ist die gerichtliche Überprüfung eines Gesetzgebungsaktes durch den EuGH. Für dieses Verfahren wurde eine besondere Klageart eingeführt.
2. Anwendungsbereich des Subsidiaritätsprotokolls Das Subsidiaritätsprotokoll findet Anwendung auf „Europäische Gesetzgebungsakte“. In Bezug auf die Begründungspflicht und das Frühwarnsystem handelt es sich dabei um noch nicht beschlossene Gesetzgebungsakte, mithin Entwürfe. Die Subsidiaritätsklage hingegen kann – wie nachfolgend gezeigt wird – erst nach Erlass eines Europäischen Gesetzgebungsaktes durch den Unionsgesetzgeber erhoben werden. Eine Legaldefinition des „Entwurf(s) eines Europäischen Gesetzgebungsaktes“ findet sich in Art. 3 des Subsidiaritätsprotokolls. Sie ist identisch mit der Definition in Art. 2 Protokoll über die Rolle der nationalen Parlamente. Danach handelt es sich um „Vorschläge der Kommission, die Initiativen einer Gruppe von Mitgliedstaaten, die Initiativen des Europäischen Parlaments, die Anträge des Gerichtshofs, die Empfehlungen der Europäischen Zentralbank und die Anträge der Europäischen Investitionsbank, die den Erlass eines Europäischen Gesetzgebungsaktes zum Ziel haben.“
Diese Beschreibung in Art. 3 Subsidiaritätsprotokoll ist nicht etwa notwendig, um den Begriff eines Europäischen Gesetzgebungsaktes zu definieren. Vielmehr bedarf es ihrer, um – aus Gründen der Textkürze – einen Oberbegriff für die insgesamt vier Termini herauszubilden, mittels derer die Einbringungsmaßnahme für einen Europäischen Gesetzgebungsakt – je nach einbringender „Institution“ – bezeichnet wird: „Entwurf“ ist demnach die Sammelbezeichnung für „Vorschläge“, „Initiativen“, „Anträge“ und „Empfehlungen“. Da die Begriffsbestimmung in Art. 3 Subsidiaritätsprotokoll nun allein um des Terminus „Entwurf“ und nicht um der Worte „Europäischer Gesetzgebungsakt“ willen erfolgt, resultiert, dass jene Gesetzgebungsakte sowohl im Entwurfsstadium als auch im Stadium nach ihrem Erlass die gleichen Rechtsakte begrifflich erfassen. Ein Unterschied im Regelungsbereich, je nachdem, ob es um die Phase Begründungspflicht/ Frühwarnsystem oder um die Phase der gerichtlichen Kontrolle vor dem EuGH im Rahmen der Subsidiaritätsklage geht, besteht nicht, die Bandbreite der vom Subsidiaritätsprotokoll erfassten Rechtsakte ist in jedem Stadium des Gewährleistungsschemas deckungsgleich. Eine Legaldefinition des Europäischen Gesetzgebungsaktes hingegen findet sich als solche nicht im Subsidiaritätsprotokoll. Sie ergibt sich erst aus einer Zusammenschau mit Art. I-33 VVE. Hierbei erweist sich das Wort „Europäischer“ im Zusammenhang mit dem Begriff „Gesetzgebungsakt“ im Subsidiaritätsprotokoll als streng genommen redundant, sind doch alle verbindlichen Rechtsakte der Union mit dem Präfix „Europäische(r)“ versehen. Für die Beantwortung der Frage,
III. Mechanismen zur Gewährleistung des Subsidiaritätsprinzips
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was als „Europäischer Gesetzgebungsakt“ zu verstehen ist, kommt es folglich allein auf die Einordnung eines Rechtsaktes als Gesetzgebungsakt oder als Rechtsakt ohne Gesetzescharakter an. Gesetzgebungsakte sind nach Art. I-33 Abs. 1 Satz 2 und 4 VVE das Europäische Gesetz und das Europäische Rahmengesetz; nicht darunter fallen mangels Gesetzescharakter die Europäische Verordnung und der Europäische Beschluss.210 Somit gilt, dass nach der Struktur des Subsidiaritätsprotokolls lediglich Europäische Gesetze und Europäische Rahmengesetze – bzw. die Entwürfe für diese Rechtsakte – der Pflicht zur Begründung ihrer Vereinbarkeit mit dem Subsidiaritätsprinzip, dem Frühwarnsystem und der Überprüfungsmöglichkeit durch die Subsidiaritätsklage unterliegen. Europäische Verordnungen und Europäische Beschlüsse hingegen sind vom Gewährleistungsschema des Subsidiaritätsprotokolls nicht erfasst.211 Dieses – systematisch betrachtet – eindeutige Ergebnis begegnet inhaltlichen Bedenken, da es zu Friktionen führt: So ist – entsprechend der Regelung im geltenden Gemeinschaftsrecht212 – die Union nach Art. I-11 Abs. 3 VVE zur Einhaltung des Subsidiaritätsprinzip bei allen Maßnahmen verpflichtet, unabhängig davon, ob es sich um Gesetzgebungsakte handelt oder nicht.213 Nur in Teilbereichen hingegen – nämlich bei Europäischen Gesetzen bzw. Europäischen Rahmengesetzen – soll sie hingegen auch von den besonderen Pflichten aus dem Subsidiaritätsprotokoll betroffen sein, sich nach Erfüllen der dort geregelten Begründungspflichten der Stellungnahme der mitgliedstaatlichen Parlamente stellen müssen sowie letztendlich die Erhebung der Subsidiaritätsklage zu befürchten haben. Das vielgerühmte „Warnsignal an die Kommission“214 würde nur bei jenen Gesetzgebungsvorhaben erschallen, bei den anderen – ebenfalls in das Kompetenzgefüge zwischen Union und Mitgliedstaaten eingreifenden – Rechtsakten „bliebe das Horn stumm.“ Dieses Auseinanderdriften von „Verpflichtung“ auf der einen, „Kontrolle“ – bzw. „konkreter Verantwortlichkeit“ – auf der anderen Seite erscheint unbefriedigend. Es kann auch nicht mit den formalen Unterschieden (ordentliches Gesetzgebungsverfahren etc.) der jeweiligen Rechtsakte überzeugend erklärt werden. In Anbetracht des eindeutigen Wortlauts des Art. 3 Subsidiaritätsprotokoll – eine Legaldefinition – wie auch des Art. 2 Protokoll über die Rolle der nationalen Parlamente dürfte für eine erweiternde Auslegung des Begriffs „Europäische Gesetzgebungsakte“ kein Raum bleiben; jene Friktionen müssen allerdings als existent hingenommen werden. Sie lassen freilich das Subsidi210
Erst recht nicht die Empfehlung und die Stellungnahme. So auch Streinz/Ohler/Herrmann, Die neue Verfassung für Europa, S. 52; Fischer, Kompetenzordnung, S. 126; v. Bogdandy/Bast/Westphal, Die vertikale Kompetenzordnung, S. 419. 212 Vgl. etwa Calliess, Subsidiaritäts- und Solidaritätsprinzip, S. 101 f.; siehe auch Winter, Kompetenzverteilung und Legitimation, S. 261. 213 Siehe dazu Kapitel 3 I. 2. d). 214 So der baden-württembergische Ministerpräsident Teufel am 14. Juli 2004 in seiner Regierungserklärung im Landtag von Baden-Württemberg, S. 12, abrufbar im Internet unter http:// www.stm.baden-wuerttemberg.de/sixcms/media.php/628/regierungserklaerung_teufel_EU_ verfassung.pdf. 211
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Kap. 3: Vertrag über eine Verfassung für Europa
aritätsprotokoll bereits in einem zentralen Punkt als „nachbesserungswürdig“215 erscheinen.216 In einem anderen Punkt hingegen ist der Anwendungsbereich des Subsidiaritätsprotokolls „weiter“ als der Regelungsgehalt des Subsidiaritätsprinzips es erfordern würde. Eine inhaltliche Beschränkung auf „bestimmte“ Europäische Gesetzgebungsakte ist weder Art. 2 Protokoll über die Rolle der nationalen Parlamente noch Art. 3 Subsidiaritätsprotokoll zu entnehmen. Daher ist davon auszugehen, dass auch Entwürfe Europäischer Gesetze und Europäischer Rahmengesetze in den Bereichen ausschließlicher Zuständigkeit den nationalen Parlamenten zugeleitet werden müssen.217 Dieses Ergebnis erscheint auf den ersten Blick unsinnig, da sowohl das Frühwarnsystem als auch die anschließende Subsidiaritätsklage nach dem Wortlaut218 der Art. 6 bzw. 8 Subsidiaritätsprotokoll nur eventuelle Rügen eines Verstoßes gegen das Subsidiaritätsprinzip erfassen – ein Prinzip, das nach Art. I-11 Abs. 3 VVE auf Maßnahmen im Bereich der ausschließlichen Unionszuständigkeit grundsätzlich keine Anwendung findet. Wenn das Subsidiaritätsprinzip aber von der Union in allen Bereichen außerhalb des Katalogs des Art. I-12 VVE zu beachten ist, welchen Sinn macht dann die Zuleitung eines Gesetzgebungsentwurfs an die nationalen Parlamente, der nach Art. 5 Subsidiaritätsprotokoll ausführlich auf seine Vereinbarkeit mit dem Subsidiaritätsprinzip zu begründen ist? Die Frage stellen heißt sie verneinen, indes: Die Begründungspflicht des Art. 5 Subsidiaritätsprotokoll erstreckt sich nicht allein auf die Vereinbarkeit eines Gesetzgebungsaktes mit dem Subsidiaritätsprinzip. Sie erfasst auch Angaben dahingehend, ob das Verhältnismäßigkeitprinzip des Art. I-11 Abs. 4 VVE eingehalten wurde. Jenes Prinzip findet bei allen Maßnahmen der Union – auch solchen im Bereich der ausschließlichen Zuständigkeiten – Anwendung. Insofern hat es durchaus seine Berechtigung, dass der Urheber eines Gesetzgebungsentwurfs diesen den Begründungsanforderungen des Art. 5 Subsidiaritätsprotokoll unterziehen muss, selbst wenn der Entwurf inhaltlich den – subsidiaritätsirrelevanten – Bereich der ausschließlichen Unionszuständigkeiten betrifft.219 Zusammenfassend gilt daher: Die Bestimmungen des Subsidiaritätsprotokolls zur Begründungspflicht, zum Frühwarnsystem und zur Subsidiaritätsklage finden nach Art. 3 Subsidiaritätsprotokoll Anwendung auf Europäische Gesetzge215
Fischer, Kompetenzordnung, S. 126. Laut Ziffer 4 des Subsidiaritätsprotokolls zum Amsterdamer Vertrag erfasste die Begründungspflicht noch alle verbindlichen Rechtsakte der Union. Ein Auseinanderfallen von materieller und prozeduraler Verpflichtung gab es dort daher nur im Bereich der unverbindlichen Empfehlungen und Stellungnahmen. 217 So Streinz/Ohler/Herrmann, Die neue Verfassung für Europa, S. 52. 218 Ob über den Wortlaut hinaus auch Rügen betreffend einen Verstoß gegen das Verhältnismäßigkeitsprinzip im politischen Verfahren des Frühwarnsystems sowie der nachfolgenden Subsidiaritätsklage erhoben werden können, wird im Rahmen der Ausführungen zu der jeweiligen Phase des Gewährleistungsmechanismus erörtert. 219 Zur Frage, ob und inwieweit der EuGH im Falle der Erhebung der Subsidiaritätsklage Zuständigkeitsfragen erörtert, vgl. Kapitel 3 III. 5. f). 216
III. Mechanismen zur Gewährleistung des Subsidiaritätsprinzips
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bungsakte bzw. deren Entwürfe. Die Qualifikation eines Rechtsakts als Gesetzgebungsakt ergibt sich aus Art. I-33 VVE. Gesetzgebungsakte sind danach das Europäische Gesetz und das Europäische Rahmengesetz, nicht hingegen die Europäische Verordnung, der Europäische Beschluss sowie die Empfehlung und die Stellungnahme. Zwar ist beim Erlass jener letztgenannten Rechtsakte die Union gleichermaßen zur Beachtung des Subsidiaritätsprinzips verpflichtet. Diese Verpflichtung resultiert jedoch aus Art. I-11 Abs. 1 und 3, Art. I-33 Abs. 1 VVE, nicht aus den Bestimmungen des Subsidiaritätsprotokolls. Insofern besteht eine Diskrepanz zwischen der Verpflichtung der Union zur Beachtung des Subsidiaritätsprinzips beim Erlass geplanter Maßnahmen nach den Vorgaben des eigentlichen Vertragstextes und ihrer „konkreten Verantwortlichkeit“ hierfür im Gefüge des Gewährleistungsmechanismus des Subsidiaritätsprotokolls. Der Anwendungsbereich des Protokolls ist gleichermaßen für jene Europäischen Gesetzgebungsakte eröffnet, die den Bereich ausschließlicher Unionszuständigkeiten betreffen, da die gemäß Art. 5 Subsidiaritätsprotokoll anzufertigende Begründung sich auf die Vereinbarkeit mit dem Verhältnismäßigkeitsprinzip des Art. I-11 Abs. 4 VVE erstreckt, welches für alle Maßnahmen der Union gilt, unabhängig davon, auf welche Zuständigkeitsform diese sich gründen.
3. Die Begründungspflicht Der eigentlichen Begründungspflicht nach Art. 5 Subsidiaritätsprotokoll ist ein Element vorgeschaltet, welches nur die Kommission betrifft. Diese hat gemäß Art. 2 Subsidiaritätsprotokoll vor Einbringung eines Gesetzgebungsvorschlags „umfangreiche Anhörungen“ durchzuführen. In diesem Zusammenhang ist gegebenenfalls „…der regionalen und lokalen Bedeutung der in Betracht gezogenen Maßnahmen Rechnung zu tragen. In außergewöhnlich dringenden Fällen führt die Kommission keine Konsultationen durch. Sie begründet dies in ihrem Vorschlag.“
Wie beim Insuffizienz-Kriterium des Art. I-11 Abs. 3 VVE ist auch in dieser Vorschrift des Subsidiaritätsprotokolls die ausdrückliche Einbeziehung regionaler bzw. lokaler Strukturen politisch begrüßenswert: „Europa“ zeigt damit, dass es jene Schichtungen der Binnenorganisation eines Mitgliedstaates „wahrnimmt und achtet“.220 Ferner besteht – zumindest theoretisch221 – die Möglichkeit, auf geplante 220
Zoller, Das Subsidiaritätsprinzip im Europäischen Verfassungsvertrag, S. 273. In der Praxis mag angezweifelt werden, ob die Stellungnahme einer angehörten Körperschaft wirkliche Auswirkungen auf die Entscheidungsfindung der Kommission zeitigt. Auch stellt sich die Frage, ob jene Körperschaften tatsächlich in der Lage sind, umfassende und überzeugende – mithin entscheidungsdeterminierende – Stellungnahmen zu komplexen Vorhaben der Kommission abzugeben; die „traditionell schwache Informationslage des Parlaments“ (Graf Vitzthum, Parlament und Planung, S. 250), besonders der Regionalparlamente oder gar der kommunalen „Ebene“ wird allzu optimistische Vorstellungen vom Einfluss dieser angehörten Körperschaften auf die Europäische Gesetzgebung dämpfen. Die genaue Entwicklung bleibt hier freilich abzuwarten. 221
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Kap. 3: Vertrag über eine Verfassung für Europa
Europäische Gesetzgebungsakte in einem frühen Zeitpunkt Einfluss zu nehmen.222 Die angehörten Körperschaften etc. haben also in diesem Stadium eine „direkte Stimme in Europa“, die vielfach bedauerte Mediatisierung durch den Mitgliedstaat in Angelegenheiten der Europäischen Union findet hier nicht statt. In rechtlicher Hinsicht freilich ist Anknüpfungspunkt für die Frage nach der Konformität eines geplanten Gesetzgebungsaktes mit dem Subsidiaritätsprinzip auch im Rahmen der Anhörungspflicht nach Art. 2 Subsidiaritätsprotokoll der Mitgliedstaat. Das Subsidiaritätsprotokoll legt – wie aus der Präambel des Protokolls hervorgeht – die „Bedingungen für die Anwendung der in Art. I-11 der Verfassung verankerten Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit“ fest. Es konstituiert prozessuale Abläufe zur Gewährleistung dieser Prinzipien, verändert diese in materiell-rechtlicher Hinsicht aber nicht. Die in Art. 2 Subsidiaritätsprotokoll niedergelegte Pflicht, „der regionalen und lokalen Bedeutung“ anvisierter Maßnahmen Rechnung zu tragen, dient daher – bezogen auf das Subsidiaritätsprinzip – dem Ziel, die Prüfkriterien der Insuffizienz und der Effizienz-Optimierung des Art. I-11 Abs. 3 VVE zufriedenstellend nachvollziehen zu können. Der Union gegenübergestellt als Akteur ist dort der Mitgliedstaat, nicht eine seiner „Ebenen“. Dies gilt genauso im Rahmen des Subsidiaritätsprotokolls; auch ohne die ausdrückliche Verankerung der regionalen und lokalen Dimension223 wäre die Union verpflichtet,224 bei den von Art. 2 Subsidiaritätsprotokoll angeordneten „umfangreiche(n) Anhörungen“ der eventuellen Bedeutung einer geplanten Maßnahme für die mitgliedstaatliche Binnenstruktur Rechnung zu tragen – freilich nicht „direkt“ um jener unteren „Ebenen“ willen, sondern in Blickrichtung auf den Mitgliedstaat, der – vgl. den insoweit eindeutigen Wortlaut des Art. I-11 Abs. 3 Satz 1 VVE – das Ziel der Maßnahme weder auf zentraler noch auf einer anderen „Ebene“ seines Staatsgefüges ausreichend verwirklichen können darf (Insuffizienz-Kriterium). Das Erfordernis, die Vereinbarkeit von Gesetzgebungsentwürfen mit dem Subsidiaritäts- und dem Verhältnismäßigkeitsprinzip zu begründen, ist in Art. 5 Subsidiaritätsprotokoll niedergelegt. Diese Norm stellt eine Konkretisierung der aus Art. I-38 Abs. 2 VVE225 herrührenden allgemeinen Begründungspflicht dar. Die Begründungspflicht des Art. 5 Subsidiaritätsprotokoll gilt – anders als die Anhö222
Zoller, Das Subsidiaritätsprinzip im Europäischen Verfassungsvertrag, S. 277, sieht sogar hier die Möglichkeit, „gegebenenfalls einen Entwurf zu verhindern, der dem Subsidiaritätsgrundsatz widerspricht.“ Diese „Verhinderungsmöglichkeit“ ist freilich rein politisch zu verstehen; entsprechende rechtliche Möglichkeiten haben die angehörten Körperschaften in diesem Stadium nicht. 223 In Art. 2 des Konventsentwurfs des Protokolls über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit lautete die Formulierung „Dimension“ anstelle von „Bedeutung“. 224 Eine entsprechende Pflicht besteht nach hier vertretener Ansicht auch im geltenden Gemeinschaftsrecht aufgrund der in Ziffer 9 Spiegelstrich 1 des Subsidiaritätsprotokolls zum Vertrag von Amsterdam niedergelegten Normbefehls an die Kommission, „umfassende Anhörungen durchzuführen“. 225 „Nachfolgeregelung“ des Art. 253 (ex-Art. 190) EGV.
III. Mechanismen zur Gewährleistung des Subsidiaritätsprinzips
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rungspflicht nach Art. 2 Subsidiaritätsprotokoll – für alle Entwürfe Europäischer Gesetzgebungsakte, nicht allein für Vorschläge der Kommission.226 Zwar enthält sich Art. 5 Subsidiaritätsprotokoll einer eindeutigen Aussage darüber, wer die Begründung anzufertigen hat. Es liegt jedoch auf der Hand, dass diese Pflicht denjenigen trifft, der den Gesetzgebungsentwurf ausgearbeitet hat. Jedem Gesetzgebungsentwurf „sollte“ die ursprünglich als „Subsidiaritätsbogen“ bezeichnete227 Begründungsschrift („Vermerk“, Art. 5 Subsidiaritätsprotokoll) beigefügt werden. Nicht eindeutig erscheint hier die rechtliche Bedeutung des Terminus „sollte“, heißt es doch einen Satz zuvor in Art. 5 Subsidiaritätsprotokoll: „Die Entwürfe (…) werden (…) begründet.“ Bei einer allein am Wortlaut orientierten Auslegung könnten die Regelungen so verstanden werden, dass ein Gesetzgebungsentwurf zwar in jedem Fall begründet werden muss, die Beifügung dieser Begründung als „Vermerk“ an den Entwurf hingegen nicht zwingend ist. Freilich kann nach Sinn und Zweck der Vorschrift ein solches Auslegungsergebnis keinen Bestand haben.228 Der Terminus „sollte“ ist vielmehr als auf die Notwendigkeit einer Detaillierung der erforderlichen Angaben in der Begründungsschrift bezogen zu verstehen. Auf diese Weise kann verhindert werden, dass der Entwurf eines Europäischen Gesetzgebungsaktes allein wegen eines für nicht ausführlich genug erachteten „Begleitschreibens“ als formal fehlerhaft gebrandmarkt werden kann.229 Eine etwas andere Bedeutung kommt dem zweiten „sollte“ in Art. 5 Subsidiaritätsprotokoll zu, welches sich auf den erforderlichen Inhalt des Vermerks bezieht. Der dem Entwurf eines Europäischen Gesetzgebungsakts beizufügende Vermerk 226 Freilich stellen Vorschläge der Kommission den „Normalfall“ des Entwurfs eines Europäischen Gesetzgebungsaktes dar, vgl. Art. I-34 Abs. 1 VVE. Die anderen „Entwurfsberechtigten“ kommen gemäß Art. I-34 Abs. 3 VVE nur “(i)n bestimmten, in der Verfassung vorgesehenen Fällen“ zum Zuge. – Etwas anders stellte sich die Rechtslage in Art. 4 des Konventsentwurfs des Protokolls über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit dar. Dort wurde ausdrücklich die „Kommission“ zur Anfertigung einer Begründungsschrift verpflichtet. Grund hierfür dürfte der Umstand sein, dass der Kreis der „Entwurfsberechtigten“ in Art. I-33 VE Konvent enger gefasst war als in Art. I-34 VVE. Außer der Kommission war laut erster Vorschrift lediglich eine „Gruppe von Mitgliedstaaten“ initiativberechtigt. Nach dem eindeutigen Wortlaut des Protokollentwurfs des Konvents oblagen derartige Initiativen dort keiner Begründungspflicht. 227 Vgl. S. 4 der Schlussfolgerungen der Gruppe I „Subsidiarität“ (CONV 286/02) vom 23. September 2002, im Internet abrufbar unter http://register.consilium.eu.int/pdf/de/02/ cv00/00286d2.pdf. Auch in Art. 4 des Konventsentwurfs des Protokolls über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit hieß es noch „Bogen“. 228 So aber Calliess in Calliess/Ruffert, Verfassung für die Europäische Union, Art. I-11 Rn. 56. 229 Das Subsidiaritätsprotokoll zum Amsterdamer Vertrag verwendet ebenfalls den Begriff „sollte“: So „sollten“ nach Ziffer 5 dieses Protokolls „Leitlinien“ bei der Erörterung der Kriterien des Subsidiaritätsprinzips befolgt werden. Ein weiteres „sollte“ findet sich in Ziffer 9 des Subsidiaritätsprotokolls zum Amsterdamer Vertrag; dort geht es um diverse Pflichten der Kommission.
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Kap. 3: Vertrag über eine Verfassung für Europa
„sollte Angaben zu den voraussichtlichen finanziellen Auswirkungen sowie im Fall eines Europäischen Rahmengesetzes zu den Auswirkungen auf die von den Mitgliedstaaten zu erlassenden Rechtsvorschriften, einschließlich gegebenenfalls der regionalen Rechtsvorschriften, enthalten.“
Hier kommt es darauf an, dass die wesentlichen Aspekte genannt werden, die für eine Beurteilung der Konformität eines Gesetzgebungsentwurfs mit dem Subsidiaritäts- und dem Verhältnismäßigkeitsprinzip von Belang sind. Jene Aspekte werden im Anschluss an das „sollte“ katalogartig aufgezählt. Der Terminus führt also zu einer Exemplifizierung relevanter Angaben, die jeder Vermerk enthalten „sollte“. Es handelt sich aber nicht um eine abschließende Auflistung, vielmehr können im Einzelfall auch weitere – über den Katalog des Art. 5 Satz 3 Subsidiaritätsprotokoll hinausgehende – Angaben erforderlich sein, um das Beurteilungsziel erreichen zu können. Nach der Systematik des Art. 5 Satz 3 Subsidiaritätsprotokoll beziehen sich die dort beispielhaft genannten Angaben sowohl auf die Begründung der Vereinbarkeit einer geplanten Maßnahme mit dem Subsidiaritäts- als auch dem Verhältnismäßigkeitsprinzip. Dies ergibt sich recht eindeutig aus einer Zusammenschau mit Art. 5 Satz 2 Subsidiaritätsprotokoll, der ausdrücklich detaillierte Angaben zur Konformität des vorgesehenen Europäischen Gesetzgebungsaktes mit beiden Prinzipien fordert. Es ist danach nicht ersichtlich, dass die „Auswirkungen“ im Sinne von Art. 5 Satz 3 Subsidiaritätsprotokoll allein in Bezug auf die Subsidiaritätsprüfung festgestellt und in dem Vermerk niedergelegt werden sollten. Auch Sinn und Zweck der Norm erfordern eine solche Einschränkung nicht. Der Regelungsgehalt des Art. 5 Satz 4 Subsidiaritätsprotokoll war in ähnlicher Form bereits in Ziffer 4 des Subsidiaritätsprotokolls zum Amsterdamer Vertrags enthalten. Danach beruht die „Feststellung, dass ein Ziel der Union besser auf Unionsebene erreicht werden kann, (…) auf qualitativen und, soweit möglich, quantitativen Kriterien.“
Wie schon im Subsidiaritätsprotokoll zum Amsterdamer Vertrag230 bezieht sich diese Aussage lediglich auf das Kriterium der Effizienz-Optimierung. Die Ersetzung des „oder – soweit möglich –„ in Ziffer 4 des Amsterdamer Protokolls durch „und, soweit möglich,“ in Art. 5 Satz 4 Subsidiaritätsprotokoll vermag die Bedeutung jener Verknüpfung der qualitativen mit den quantitativen Kriterien freilich im Vergleich zum geltenden Gemeinschaftsrecht nicht wirklich zufriedenstellend zu erklären. Im Ergebnis dürfte auch in dieser Formulierung eine Vorrangentscheidung für die qualitativen Kriterien zu sehen sein.231 Die quantitativen Kriterien treten demgegenüber zwar weiterhin nachrangig zurück, im Gegensatz zu Ziffer 4 des Amsterdamer Subsidiaritätsprotokolls („oder“) haben sie in Art. 5 Satz 4 Subsidiaritätsprotokoll („und“) jedoch eine „gesteigerte Existenzberechtigung“. Der 230 231
Vgl. B/L/Lehr, Der Amsterdamer Vertrag, S. 211. Vgl. B/L/Lehr, Der Amsterdamer Vertrag, S. 211 f.
III. Mechanismen zur Gewährleistung des Subsidiaritätsprinzips
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quantitative europäische Mehrwert als Faktor der Kriterien des Subsidiaritätsprinzips ist gegenüber Amsterdam damit ein wenig „aufgewertet“ worden. Nach Art. 5 Satz 5 des Subsidiaritätsprotokolls berücksichtigen die „Entwürfe von Europäischen Gesetzgebungsakten (…), dass die finanzielle Belastung und der Verwaltungsaufwand der Union, der nationalen Regierungen, der regionalen und lokalen Behörden, der Wirtschaftsteilnehmer und der Bürgerinnen und Bürger so gering wie möglich gehalten werden und in einem angemessenen Verhältnis zu dem angestrebten Ziel stehen müssen.“
Jener „Rundumschlag“ mit dem Ziel der Kostendämpfung und Bürokratievermeidung auf allen „Ebenen“ war in ähnlicher Form bereits in Ziffer 9 Spiegelstrich 3 des Subsidiaritätsprotokolls zum Vertrag von Amsterdam enthalten. Danach sollte die Kommission „gebührend berücksichtigen, dass die finanzielle Belastung und der Verwaltungsaufwand der Gemeinschaft, der Regierungen der Mitgliedstaaten, der örtlichen Behörden, der Wirtschaft und der Bürger so gering wie möglich gehalten werden und in einem angemessenen Verhältnis zu dem angestrebten Ziel stehen müssen.“
Der Inhalt beider Regelungen ist im Wesentlichen deckungsgleich. Die zusätzliche Erwähnung der regionalen Behörden in Art. 5 Subsidiaritätsprotokoll ist gewiss politisch begrüßenswert, dürfte in rechtlicher Hinsicht aber keine besondere Bedeutung nach sich ziehen. Zwar war jene regionale Verwaltungs„ebene“ im Protokoll zum Amsterdamer Vertrag noch nicht enthalten; daraus den Schluss zu ziehen, der dort im Zusammenhang mit geplanten Europäischen Maßnahmen zu erwartende finanzielle und bürokratische Aufwand spiele bei der Prüfung des Subsidiaritäts- und des Verhältnismäßigkeitsprinzips keine Rolle, ist freilich – auch wenn der Wortlaut einen solchen Befund durchaus stützen könnte – nicht möglich. Wie bereits mehrfach dargestellt, ist Bezugspunkt wie Subjekt der Erörterungen stets der Mitgliedstaat. Im Rahmen der Prüfung der beiden Kriterien des Subsidiaritätsprinzips – sowohl im geltenden Gemeinschaftsrecht als auch nach Art. I-11 Abs. 3 VVE – ist der Staat der mögliche Akteur der Zielverwirklichung, welcher der Union gegenüberzustellen ist, nicht seine verschiedenen „Ebenen“. Diese sind lediglich Ort der Zielverwirklichung und Objekt der Prüfung. Vergleichbares gilt für das Verhältnismäßigkeitsprinzip, bei dessen Prüfung präzise betrachtet die Frage zu erörtern ist, ob gemäß Art. I-11 Abs. 4 VVE bzw. Art. 5 Abs. 3 (ex-Art. 3 b Abs. 3) EGV eine geplante Maßnahme den Mitgliedstaat nicht „über das (…) erforderliche Maß hinaus“ belastet. Freilich sind in diesem Rahmen genauso die Auswirkungen in der Binnenstruktur des Mitgliedstaates zu beachten; dies jedoch nicht „aus eigenem Recht“ der jeweiligen substaatlichen „Ebene“, sondern – Resultat der völkerrechtlichen Prägung des Europarechts – zur Wahrung der Rechte des Mitgliedstaates in seiner Gesamtheit. Unklar scheint, ob sich die Aspekte der finanziellen Belastung und des Verwaltungsaufwands in Art. 5 Satz 5 Subsidiaritätsprotokoll auf das Subsidiaritäts- oder das Verhältnismäßigkeitsprinzip beziehen. Stimmen in der Literatur zählen diese
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Kap. 3: Vertrag über eine Verfassung für Europa
Faktoren zum Regelungsgehalt des „Umfangs“ im Rahmen des Kriteriums der Effizienz-Optimierung.232 Dieser Befund wird systematisch durch den Umstand gestützt, dass Ziffer 9 Spiegelstrich 4 des Subsidiaritätsprotokolls zum Amsterdamer Vertrag sich auf Spiegelstrich 3 zu beziehen scheint, der eine Pflicht zur Begründung der Konformität einer geplanten Maßnahme allein mit dem Subsidiaritätsprinzip konstituiert;233 das Verhältnismäßigkeitsprinzip wird in dieser Ziffer nicht erwähnt.234 Anders jedoch verhält es sich – hier besteht ein relevanter Unterschied zwischen den Bestimmungen beider Subsidiaritätsprotokolle – mit Art. 5 Subsidiaritätsprotokoll, der in seinem ersten Satz expressis verbis auch eine Begründung im Hinblick auf das Verhältnismäßigkeitsprinzip vorschreibt – eine Entscheidung auf dieser Grundlage ist demnach nicht möglich. Indes: Art. 5 Satz 5 Subsidiaritätsprotokoll legt fest, dass die Aspekte der finanziellen Belastung und des Verwaltungsaufwands „dabei“ zu berücksichtigen sind. Das Wort „dabei“ – in Ziffer 9 Spiegelstrich 4 des Subsidiaritätsprotokolls zum Amsterdamer Vertrag noch nicht enthalten – stellt einen engen Bezug zu Art. 5 Satz 4 Subsidiaritätsprotokoll her. Dieser Satz aber bezieht sich auf das Kriterium der Effizienz-Optimierung, mithin allein auf das Subsidiaritätsprinzip. Insofern ist unter systematischen Gesichtspunkten davon auszugehen, dass die finanziellen und administrativen Aspekte des Art. 5 Satz 5 Subsidiaritätsprotokoll – im Unterschied zum Befund bei Art. 5 Satz 3 Subsidiaritätsprotokoll – allein im Rahmen der Prüfung des Kriteriums der Effizienz-Optimierung zu „berücksichtigen“ sind. Der Sache nach können diese Aspekte freilich auch auf der Stufe der Verhältnismäßigkeitsprüfung eine relevante Rolle spielen, was sich für die finanziellen Aspekte bereits aus Art. 5 Satz 3 Subsidiaritätsprotokoll ergibt. Diese Erstreckung folgt aber nicht aus dem Normbefehl des Art. 5 Satz 5 Subsidiaritätsprotokoll.
4. Das Frühwarnsystem a) Allgemeine Erwägungen Zu Beginn der Ausführungen zum Frühwarnsystem bedarf ein kleines systematisches Problem kurzer Klärung. Auf den ersten Blick betrachtet entspricht die Reihung der Normen des Subsidiaritätsprotokolls dem Gang des Verfahrens zur Gewährleistung des Subsidiaritätsprinzips: Den Anfang macht die Anhörungspflicht nach Art. 2 Subsidiaritätsprotokoll im Falle eines Kommissionsvorschlags; Schlusspunkt ist die Subsidiaritätsklage vor dem EuGH gemäß Art. 8 Subsidia-
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So bereits Blanke, Gehalt und Justitiabilität des Subsidiaritätsprinzips, S. 102. Siehe auch B/L/Lehr, Der Amsterdamer Vertrag, S. 213. 234 Eine Begründungspflicht folgt freilich aus Ziffer 4 des Subsidiaritätsprotokolls zum Vertrag von Amsterdam. Das „Fehlen“ des Subsidiaritätsprinzips in Ziffer 9 lässt sich dennoch für die Frage nach dem „Aufhänger“ der Kriterien der finanziellen Belastung und des Verwaltungsaufwands argumentativ fruchtbar machen. 233
III. Mechanismen zur Gewährleistung des Subsidiaritätsprinzips
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ritätsprotokoll.235 Ein gewisser „Bruch in der Kette“ entsteht allerdings bei den Art. 4 und 5 Subsidiaritätsprotokoll, wird doch die Pflicht zur Zuleitung eines Gesetzgebungsentwurfs an die nationalen Parlamente vor der Pflicht zur Begründung eines Gesetzgebungsentwurfs auf seine Vereinbarkeit mit dem Subsidiaritäts- und dem Verhältnismäßigkeitsprinzip verortet. Bei einer „unbefangen systematischen“ Betrachtung könnte daher durchaus gefragt werden, ob die den nationalen Parlamenten zugeleiteten Entwürfe bereits mit dem „Subsidiaritätsbogen“ versehen sein müssen, oder ob jener erst „später“ dem Gesetzgebungsentwurf beigefügt werden kann. Nach Sinn und Zweck der Regelungen ist das Ergebnis freilich klar: Eine effektive Kontrolle der Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips erfordert, dass die Akteure des Kontrollmechanismus – also die nationalen Parlamente – in der Lage sind, den ihnen übermittelten Gesetzgebungsentwurf entsprechend zu überprüfen. Zu diesem Zweck236 sind sie auf die Informationen des „Subsidiaritätsbogens“ angewiesen. Als reines Instrument der Selbstreflexion für den Urheber eines Gesetzgebungsentwurfs macht der Vermerk hingegen keinen Sinn. Daher gilt: Zunächst muss ein Gesetzgebungsentwurf den Vorgaben des Art. 5 Subsidiaritätsprotokoll entsprechend begründet werden. Erst dann ist er – zusammen mit dem „Vermerk“ – gemäß Art. 4 Subsidiaritätsprotokoll den nationalen Parlamenten zuzuleiten. Diese haben dann die Möglichkeiten zur Stellungnahme nach Art. 6 Subsidiaritätsprotokoll. Freilich wäre es im Interesse einer klaren Struktur des Subsidiaritätsprotokolls vorzugswürdig gewesen, die Inhalte von Art. 4 und 5 Subsidiaritätsprotokoll zu vertauschen, zuerst also die Begründungspflicht und danach die Zuleitungspflicht niederzulegen. Nach Art. 4 Subsidiaritätsprotokoll werden die – gemäß Art. 5 Subsidiaritätsprotokoll begründeten – Entwürfe Europäischer Gesetzgebungsakte den nationalen Parlamenten zugeleitet. Bei Entwürfen der Kommission und des Europäischen Parlaments geschieht die Zuleitung direkt,237 Entwürfe von einer Gruppe von Mitgliedstaaten, dem EuGH, der EZB oder der EIB werden vom Rat den nationalen Parlamenten zugeleitet.238 Im Zuge der Konventsarbeit wurden auch andere Modelle als das einer Zuleitung der Entwürfe Europäischer Gesetzgebungsakte an die nationalen Parlamente erwogen. So gab es etwa Überlegungen, einen mit nationalen Parlamentariern besetzten Subsidiaritätsausschuss zu etablieren und die235 Nach Art. 9 Subsidiaritätsprotokoll besteht noch die Pflicht der Kommission zur Anfertigung eines Jahresberichts „über die Anwendung des Artikels I-11 der Verfassung“. Dies hat jedoch mit dem Gang eines konkreten Gesetzgebungsentwurfs durch die Verfahrensabschnitte des Subsidiaritätsprotokolls nicht direkt zu tun. Diese Verpflichtung ist vielmehr „allgemeiner“ Schlusspunkt des Gewährleistungsverfahrens „im Jahreslauf.“ 236 Dieses „ermöglichen zu beurteilen“ steht expressis verbis als Zweck des „Subsidiaritätsbogens“ in Art. 5 Subsidiaritätsprotokoll. 237 Bei Entwürfen der Kommission ordnet Art. 4 Subsidiaritätsprotokoll zusätzlich an, dass jene „gleichzeitig“ den nationalen Parlamenten und dem Unionsgesetzgeber zugeleitet werden. 238 Gemäß Art. 4 Satz 1 Protokoll über die Rolle der nationalen Parlamente sind die Entwürfe Europäischer Gesetzgebungsakte den nationalen Parlamenten „in den Amtssprachen der Union“ zuzuleiten.
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Kap. 3: Vertrag über eine Verfassung für Europa
sen „mit konsultativen Befugnissen in den Rechtsetzungsprozess einzubauen.“239 Zu Recht wurde dieses Konzept aber verworfen:240 Zum einen hätte die Errichtung einer neuen Institution dem „Geist von Laeken“ widersprochen: Die Verkomplizierung der institutionellen Struktur und die Erschwerung der „Lokalisierung politischer Verantwortlichkeit“241 stünden der Transparenz wie der Effizienz als wesentliche Ziele einer reformierten Union diametral entgegen.242 Zum anderen führte eine entsprechende Schöpfung womöglich – cum grano salis – selbst zu einem „Verstoß“ gegen das Subsidiaritätsprinzip: „Kann die mitgliedstaatliche Ebene mittels ihrer nationalen Parlamente nicht selber das Ziel einer Subsidiaritätskontrolle im Vorfeld Europäischer Gesetzgebungsakte ausreichend erreichen? Kann die europäische „Ebene“ dies besser?“ Es dürfte schwer fallen, diese Fragen zugunsten eines supranational angesiedelten „Subsidiaritätsausschusses“ zu beantworten.
b) „Nationale Parlamente“? Wer sind aber die „nationalen Parlamente“ im Sinne jener Vorschriften? Klarheit bringt eine Zusammenschau des Subsidiaritätsprotokolls und des Protokolls über die Rolle der nationalen Parlamente. Dabei wird zunächst deutlich, dass der Plural-Begriff „Parlamente“ nicht als Bezugnahme auf die Verfassungsstruktur des einzelnen Mitgliedstaats mit gegebenenfalls mehreren Parlamenten bzw. Parlamentskammern zu verstehen ist. Vielmehr ist die Gesamtheit der nationalen Parlamente aller Mitgliedstaaten gemeint. Anders formuliert: Der Entwurf eines Europäischen Gesetzgebungsaktes ist an „das Parlament“ eines jedes Mitgliedstaates zu übermitteln. Mit diesem Befund hat es aber noch nicht sein Bewenden. Das Protokoll über die Rolle der nationalen Parlamente konkretisiert die Vorgaben des Subsidiaritätsprotokolls zur Rolle der Parlamente der Mitgliedstaaten bei der Subsidiaritätskontrolle. In Art. 8 Protokoll über die Rolle der nationalen Parlamente heißt es: 239
v. Bogdandy/Bast/Westphal, Die vertikale Kompetenzordnung, S. 419. Vergleichbare Überlegungen zur Einrichtung eines „Schlichtungs- oder Vermittlungsausschusses“ bereits bei Schwarze, Kompetenzverteilung in der Europäischen Union, S. 1267. 240 Vgl. Weber, Zur föderalen Struktur der Europäischen Union, S. 850. 241 v. Bogdandy/Bast/Westphal, Die vertikale Kompetenzordnung, S. 419. 242 Zwar enthielt die Erklärung von Laeken die Überlegung, ob künftig die „nationalen Parlamente. (…) in einem neuen Organ – neben dem Rat und dem Europäischen Parlament – vertreten sein (sollten).“ In Bezug auf das Subsidiaritätsprinzip wurde indes erwogen, den Parlamenten selbst – ohne Mediatisierung durch irgendwelche Formen von „Mitgliedschaft“ in europäischen Gremien – eine Rolle bei der Vorabkontrolle dieses Prinzips zu gewähren: „Sollen (…) sich (die nationalen Parlamente) auf die Aufteilung der Zuständigkeiten zwischen der Union und den Mitgliedstaaten konzentrieren, indem sie bspw. vorab die Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips kontrollieren?“ – Hervorhebung durch Verfasser. Text der Erklärung von Laeken abrufbar unter http://europa.eu.int/constitution/futurum/documents/offtext/doc151201_ de.htm; vgl. auch Kapitel 2 I. 3.
III. Mechanismen zur Gewährleistung des Subsidiaritätsprinzips
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„Handelt es sich bei dem System des nationalen Parlaments nicht um ein Einkammersystem, so gelten die Artikel 1 bis 7 für jede der Kammern des Parlaments.“
Daraus folgt, dass die Zuleitungspflicht nach Art. 4 Subsidiaritätsprotokoll wegen Art. 2 i. V. m. Art. 8 Protokoll über die Rolle der nationalen Parlamente gegenüber jeder Kammer des mitgliedstaatlichen Parlaments besteht.243 Fraglich ist, ob die Anzahl der zu berücksichtigenden Kammern in irgendeiner Form begrenzt ist. Dem Wortlaut von Art. 8 Protokoll über die Rolle der nationalen Parlamente („jede der Kammern“) lässt sich eine solche Begrenzung nicht entnehmen; bei – deren Existenz hypothetisch angenommen244 – Staaten mit einem „Drei- oder Vierkammersystem“ wäre jeder dieser Kammern der Entwurf eines Europäischen Gesetzgebungsaktes zuzuleiten; das anschließende Recht zur Stellungnahme stünde gemäß Art. 3 i. V. m. Art. 8 Protokoll über die Rolle der nationalen Parlamente ebenfalls jeder Kammer zu. Auch in Art. 3 i. V. m. Art. 8 Protokoll über die Rolle der nationalen Parlamente kann keine „Deckelung“ der Kammerzahl hineingelesen werden. Gegen eine Begrenzung der Anzahl der zu berücksichtigenden Kammern spricht auch der Wortlaut des Art. 7 Subsidiaritätsprotokoll, der neben Art. 6 Subsidiaritätsprotokoll das Prozedere im Rahmen des Frühwarnsystems beschreibt. Gemäß Art. 7 Satz 2 und 3 Subsidiaritätsprotokoll hat jedes nationale Parlament „zwei Stimmen, die nach dem jeweiligen System des nationalen Parlaments aufgeteilt sind. In einem Zweikammersystem hat jede der beiden Kammern eine Stimme.“
Hier wird deutlich, dass das Subsidiaritätsprotokoll zwar ausdrücklich – der konstitutionellen Realität in den Mitgliedstaaten entsprechend – nur die Konstruktion eines Zweikammersystems als Mehrkammersystem erwähnt.245 Die Vorgabe, dass in einem solchen Zweikammersystem jede der beiden Kammern eine Stimme im Rahmen des Frühwarnsystems besitzt,246 kann jedoch nicht gegen die Möglichkeit der Berücksichtung weiterer Parlamentskammern angeführt werden: Bereits 243 Vgl. auch die Schlussfolgerungen der Arbeitsgruppe I „Subsidiarität“ des Verfassungskonvents, CONV 286/02, S. 5 Fn. 2, im Internet abrufbar unter http://register.consilium.eu.int/ pdf/de/02/cv00/00286d2.pdf: „Der Ausdruck „jedes einzelstaatliche Parlament“ (in der späteren Terminologie des Verfassungsvertrags: „nationales Parlament“) stellt in den Fällen, in denen sich die Volksvertretung aus zwei Kammern zusammensetzt, auf jede der beiden Kammern ab. Dies trifft auf die überwiegende Mehrheit der derzeitigen Mitgliedstaaten und der Beitrittsländer zu.“ 244 Im Rechtsraum der Europäischen Union gibt es zwar gegenwärtig kein Drei- oder Mehrkammersystem. Ein solches Modell wäre jedoch verfassungstheoretisch durchaus denkbar. Man stelle sich bspw. den – zugestandenermaßen unwahrscheinlichen – Fall vor, Großbritannien beabsichtige ein Bundesstaat zu werden, seine Verfassungsstruktur im Übrigen aber unangetastet zu belassen. In dieser Konstellation existierten weiterhin das Unter- wie das Oberhaus – zusätzlich wäre freilich die Etablierung einer irgendwie gearteten „Länderkammer“ erforderlich. 245 Auch die Schlussfolgerungen der Arbeitsgruppe I „Subsidiarität“ des Verfassungskonvents, CONV 286/02, S. 5 Fn. 2, im Internet abrufbar unter http://register.consilium.eu.int/pdf/ de/02/cv00/00286d2.pdf, gehen lediglich von einem Ein- oder Zweikammersystem aus. 246 Hierzu Kapitel 3 III. 4. b).
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Kap. 3: Vertrag über eine Verfassung für Europa
Art. 7 Satz 2 Subsidiaritätsprotokoll geht ja von der Möglichkeit alternativer Parlamentsstrukturen aus und ordnet die Verteilung der Stimmen im Rahmen des Stellungnahmeverfahrens „nach dem jeweiligen System des nationalen Parlaments“ an. Art. 7 Satz 3 Subsidiaritätsprotokoll kann daher nur so verstanden werden, dass im Falle der Existenz zweier Kammern jede dieser Kammern das – nachfolgend näher erläuterte – Recht zur Stellungnahme besitzt, individuell und unabhängig von der Entscheidung der anderen Kammer. Somit gilt: Ein Anlass für eine „einschränkende“ Auslegung des Art. 8 Protokoll über die Rolle der nationalen Parlamente besteht nicht. Es ist daher davon auszugehen, dass Entwürfe Europäischer Gesetzgebungsakte nach den Vorgaben der Art. 2 i. V. m. Art. 8 Protokoll über die Rolle der nationalen Parlamente sowie Art. 4 Subsidiaritätsprotokoll allen Kammern eines nationalen Parlaments zugeleitet werden müssen, unabhängig davon, wie viele Kammern das jeweilige nationale Parlament besitzt. Freilich ist hiermit noch nicht die Frage beantwortet, was alles als nationales Parlament im Sinne der beiden Protokolle zu qualifizieren ist. Auf die Bundesrepublik Deutschland bezogen etwa könnte diese Frage dahingehend von Bedeutung sein, dass der Bundesrat in Ermangelung einer unmittelbaren demokratischen Legitimation247 kein „Parlament“ im staatsrechtlichen Sinne248 ist.249 Ein solch „enger“ staatsrechtlicher Ansatz ist aber bei der Auslegung des Parlamentsbegriffs der beiden Protokolle nicht angebracht. Sinn und Zweck der entsprechenden Bestimmungen ist es, auch das zweite Legislativorgan250 in Staaten mit einem Mehrkammersystem zu erfassen.251 Für die Beantwortung der Frage, was als Parlament im Sinne dieser Protokolle zu verstehen ist, muss allein darauf abgestellt werden, ob das jeweilige Organ in irgendeiner Art und Weise an der innerstaatlichen Gesetzgebung beteiligt ist oder nicht.252 Ist dies der Fall, besteht nämlich die Möglichkeit, dass ein geplanter Europäischer Gesetzgebungsakt Auswirkungen auf die legislativen Befugnisse des Organs hat. Vom Ergebnis der Prüfung der Kriterien 247
Etwa Molsberger, Die Bedeutung der Subsidiaritätsklage für die Länder, S. 170 Fn. 11. Insoweit missverständlich Nawiasky, Die Grundgedanken des Grundgesetzes, S. 57: „eine Art von Parlament“. 249 Der Bundesrat ist als nichtparlamentarische Zweite Kammer Gesetzgebungskörperschaft; Parlament hingegen ist – auf Bundesebene – allein der Bundestag, vgl. Vonderbeck, Der Bundesrat – ein Teil des Parlaments?, S. 110. Zu Struktur und Wesen des Bundesrates, zu seinem Verhältnis zum Bundestag und zu seiner Mitwirkung an der Gesetzgebung auch im historischen Vergleich mit der Reichsverfassung von 1871 siehe Schäfer, Der Bundesrat, S. 27 ff., v. Brentano, Der Bundestag und der Bundesrat, S. 270 f., Scholl, Der Bundesrat in der deutschen Verfassungsentwicklung, S. 89 ff.; rechtsvergleichend zum Einfluss der Zweiten Kammer auf die Gesetzgebung in Deutschland, der Schweiz und den Vereinigten Staaten Jaag, Die Zweite Kammer im Bundesstaat, S. 15 ff. 250 Gegebenenfalls auch weitere Legislativorgane in potentiellen Staaten mit Drei- oder Mehrkammersystemen. 251 Schlussfolgerungen der Arbeitsgruppe I „Subsidiarität“ des Verfassungskonvents, CONV 286/02, S. 5 Fn. 2, im Internet abrufbar unter http://register.consilium.eu.int/pdf/de/02/cv00/ 00286d2.pdf; Molsberger, Die Bedeutung der Subsidiaritätsklage für die Länder, S. 170 Fn. 12. 252 Vgl. Nettesheim, Kompetenzordnung, S. 542. 248
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des Subsidiaritätsprinzips ist das mitgliedstaatliche Gesetzgebungsorgan folglich „betroffen“. Allein diese Betroffenheit in Bezug auf die Gesetzgebungsbefugnisse rechtfertigt seine Einbeziehung in das Verfahren zur Kontrolle der Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips.253 Nach dieser weiten und untechnisch zu verstehenden Terminologie254 des Subsidiaritätsprotokolls wie des Protokolls über die Rolle der nationalen Parlamente ist daher der Bundesrat – wie die vergleichbaren Organe der anderen Mitgliedstaaten der Union – als „Parlament“ zu qualifizieren. Die regionalen Parlamente der Mitgliedstaaten wie etwa die deutschen Landtage – auch wenn sie „echte“ Legislativbefugnisse haben – sind hingegen keine „nationalen Parlamente“ im Sinne der beiden Protokolle. Dies ergibt sich bereits im Umkehrschluss aus Art. 6 Satz 2 Subsidiaritätsprotokoll, wonach es „dem jeweiligen nationalen Parlament oder der jeweiligen Kammer eines nationalen Parlaments (obliegt), gegebenenfalls die regionalen Parlamente mit Gesetzgebungsbefugnissen zu konsultieren.“
Außer den Entwürfen Europäischer Gesetzgebungsakte – einschließlich des Vermerks nach Art. 5 Subsidiaritätsprotokoll – sind den nationalen Parlamenten gemäß Art. 5 Protokoll über die Rolle der nationalen Parlamente auch die „Tagesordnungen für die Tagungen des Rates und die Ergebnisse dieser Tagungen, einschließlich der Protokolle der Tagungen, auf denen der Rat über Entwürfe von Europäischen Gesetzgebungsakten berät, gleichzeitig mit der Übermittlung an die Regierungen der Mitgliedstaaten direkt (zuzuleiten).“
Art. 6 Protokoll über die Rolle der nationalen Parlamente bestimmt zusätzlich: „Beabsichtigt der Europäische Rat, Artikel IV-444 Abs. 1 oder Abs. 2 der Verfassung in Anspruch zu nehmen, so werden die nationalen Parlamente mindestens sechs Monate vor dem Erlass eines Europäischen Beschlusses von der Initiative des Europäischen Rates unterrichtet.“
253 Etwas „enger“ betreffend die Rechtfertigung der Einbeziehung in den personalen Anwendungsbereich der Protokolle argumentieren Streinz/Ohler/Herrmann, Die neue Verfassung für Europa, S. 53. Danach rechtfertigt sich die Einbeziehung „daraus, dass [der Bundesrat] nach Art. 23 Abs. 2 bis 7 GG innerstaatlich in den Angelegenheiten der EU mitwirkt und insbesondere an dem Willensbildungsprozess der Bundesregierung bei europäischen Rechtsetzungsakten beteiligt ist.“ Dieser Ansatz ist jedoch zumindest zweifelhaft: Die verfassungsrechtliche Gewährung von Mitwirkungsrechten des Bundesrats in Angelegenheiten der EU ist bereits in dem Umstand begründet, dass sich Europäische Gesetzgebungsakte in immer stärkerem Ausmaß auf die (Gesetzgebungs-) Kompetenzen der Länder auswirken – sogar in Bereichen, in denen nach dem Kompetenzsystem des Grundgesetzes nicht einmal der Bund zuständig wäre. Deswegen gewährt Art. 23 GG den Ländern „durch den Bundesrat“ Partizipationsbefugnisse in Angelegenheiten der Europäischen Union. Ansatzpunkt für eine Einbeziehung der Parlamente in das Verfahren der Subsidiaritätskontrolle sind daher nicht ihre durch die Verfassung gewährten Mitwirkungsrechte in EU-Angelegenheiten. Vielmehr ist früher, nämlich bereits bei der abstrakten Betroffenheit aufgrund möglicherweise beeinträchtigter eigener Gesetzgebungskompetenzen, argumentativ anzusetzen. 254 Streinz/Ohler/Herrmann, Die neue Verfassung für Europa, S. 53.
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Im Falle einer geplanten Änderung von Verfahrensvorschriften des Teils III des Verfassungsvertrags im Wege des vereinfachten Änderungsverfahrens erfolgt die Unterrichtung der nationalen Parlamente also wesentlich früher. Wenn innerhalb der Frist von 6 Monaten ein nationales Parlament die Initiative ablehnt, wird der Europäische Beschluss („Veto-Recht“) nicht erlassen. Das Besondere an diesem System ist der Umstand, dass hier den nationalen Parlamenten – in der Tat eine Durchbrechung der üblichen intergouvernementalen Struktur – eine Rechtsposition verliehen wird, „die unmittelbar in den Verfassungsrechtsordnungen der Mitgliedstaaten wirkt“255 und unmittelbare parlamentarische Gestaltungsmöglichkeiten auf europäischer „Ebene“ eröffnet.
c) Das Stellungnahmerecht Nun zum eigentlichen Kernelement des „Frühwarnsystems“: Nach erfolgter Zuleitung gewährt Art. 6 Subsidiaritätsprotokoll den nationalen Parlamenten bzw. deren Kammern das Recht, binnen 6 Wochen eine begründete Stellungnahme zu dem Entwurf eines Europäischen Gesetzgebungsaktes abzugeben. Bereits nach dem Wortlaut von Art. 6 Satz 1 Subsidiaritätsprotokoll, insbesondere aber wegen Art. 3 i. V. m. Art. 8 Protokoll über die Rolle der nationalen Parlamente256 hat dabei jede einzelne Kammer ein Stellungnahmerecht, unabhängig von der Entscheidung der jeweils anderen Kammer. Es kann also unterschiedliche Entscheidungen „innerhalb“ eines nationalen Parlaments geben, sowohl was die Frage betrifft, ob überhaupt eine Stellungnahme abgegeben wird, als auch betreffend deren jeweiligen Inhalt. Das Stellungnahmerecht kann daher – bei unterschiedlicher politischer „Färbung“ beider Kammern – zwar zur „innenpolitischen Waffe“257 werden, was sicherlich nicht seine eigentliche Aufgabe ist. Dieser Nebeneffekt muss jedoch hingenommen werden, soll tatsächlich eine möglichst effektive Partizipationsbefugnis aller von Europäischen Gesetzgebungsakten betroffenen258 Legislativorgane der Mitgliedstaaten sichergestellt werden.259 Der Umstand, dass das 255
Streinz/Ohler/Herrmann, Die neue Verfassung für Europa, S. 35. Das unabhängige Stellungnahmerecht jeder einzelnen Parlamentskammer folgt zudem aus Art. 7 Satz 2 und 3 Subsidiaritätsprotokoll, wonach in einem Zweikammersystem jede der beiden Kammern eine der insgesamt dem nationalen Parlament zukommenden zwei Stimmen hat. Auch hieraus geht hervor, dass die Kammern unterschiedlich abstimmen dürfen. 257 Zoller, Das Subsidiaritätsprinzip im Europäischen Verfassungsvertrag, S. 276. 258 Zu Recht weist Schröder, Vertikale Kompetenzverteilung und Subsidiarität, S. 150, darauf hin, dass „die Subsidiaritätsfrage im Hinblick auf regionale oder lokale Auswirkungen eines Gesetzgebungsvorschlags unterschiedlich gesehen werden kann.“ Ein Zwang zur einheitlichen Stimmabgabe wäre in Anbetracht der verschiedenen Sichtweisen und Interessenlagen daher „nicht sinnvoll“. 259 Kritisch Papier, Auf dem Weg zu einer Verfassung für Europa, S. 708: „(Hierdurch werden) die Blockademöglichkeiten des Bundesrates, die aus verfassungspolitischer Sicht ohnehin problematisch sind, noch einmal ganz erheblich verstärkt.“ 256
III. Mechanismen zur Gewährleistung des Subsidiaritätsprinzips
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Stellungnahmerecht dabei nicht allein zum Recht der „Zweiten Kammer“ und damit – mittelbar „durch“ den Bundesrat – zum Recht des Landesgesetzgebers, sondern gegebenenfalls auch zum Recht der – jeweiligen – Opposition wird, ist daher weniger „nachvollziehbar“260 als vielmehr unvermeidbar.261 Die Stellungnahmen der nationalen Parlamente zum Entwurf eines Europäischen Gesetzgebungsaktes werden gemäß Art. 6 Satz 1 Subsidiaritätsprotokoll bzw. Art. 3 Satz 1 Protokoll über die Rolle der nationalen Parlamente „an die Präsidenten des Europäischen Parlaments, des Rates und der Kommission“ gerichtet. In den Fällen, in denen der Entwurf von einer Gruppe von Mitgliedstaaten, vom EuGH, von der EZB oder der EIB vorgelegt wurde, enthält der jeweilige Urheber die Stellungnahme nicht direkt von den nationalen Parlamenten; sie wird vielmehr vom Präsidenten des Rates übermittelt, Art. 6 Satz 3 und 4 Subsidiaritätsprotokoll bzw. Art. 3 Satz 2 und 3 Protokoll über die Rolle der nationalen Parlamente. Fraglich ist, worauf sich das Stellungnahmerecht262 der nationalen Parlamente bezieht. Dürfen lediglich Verstöße gegen das Subsidiaritätsprinzip gerügt werden, oder erfasst das Stellungnahmerecht auch mögliche Verstöße gegen die Kompetenzordnung oder das Verhältnismäßigkeitsprinzip? Alexandra Zoller erstreckt das Rügeverfahren aufgrund eines Erst-Recht-Schlusses auch auf Kompetenz- und Verhältnismäßigkeitsfragen: Wenn die nationalen Parlamente einen Entwurf zurückweisen könnten, bei der die Union grundsätzlich zuständig ist, müsse dies erst recht auch für Maßnahmen gelten, bei denen bereits aufgrund der Kompetenzverteilungsregeln ein Handeln auf europäischer „Ebene“ untersagt sei.263 Darüber hinaus müsse auch das Verhältnismäßigkeitsprinzip einer Rüge im Rahmen des Frühwarnsystems zugänglich sein.264 Auch Jürgen Schwarze zieht einen vergleichbaren Erst-Recht-Schluss und weist auf die Fokussierung der Konventsdebatten zur Kompetenzabgrenzung auf das Subsidiaritätsprinzip hin.265 Eine Prüfung der Kriterien des Subsidiaritätsprinzips im Verfassungsvertrag setze voraus, dass „für die Union überhaupt eine vertraglich zugewiesene Handlungsbefugnis“ 260
So Zoller, Das Subsidiaritätsprinzip im Europäischen Verfassungsvertrag, S. 277. Zu diesem Punkt gab es kontroverse Diskussionen während der Konventsphase, Wuermeling, Kalamität Kompetenz, S. 225; Zoller, Das Subsidiaritätsprinzip im Europäischen Verfassungsvertrag, S. 276. 262 Das gleiche Problem stellt sich auch auf der dritten Stufe des Gewährleistungssystems des Subsidiaritätsprotokolls: Betrifft die Subsidiaritätsklage des Art. 8 Subsidiaritätsprotokoll tatsächlich nur Aspekte des Subsidiaritätsprinzips, oder werden in diesem Verfahren vor dem EuGH auch Verstöße gegen das Verhältnismäßigkeitsprinzip bzw. die Kompetenzordnung erörtert. Dazu Kapitel 3 III. 5. f). 263 Zoller, Das Subsidiaritätsprinzip im Europäischen Verfassungsvertrag, S. 275. So auch der baden-württembergische Ministerpräsident Teufel in seiner Regierungserklärung vom 16. Juli 2003 über die Ergebnisse des Konvents für die Zukunft Europas im Landtag von BadenWürttemberg, http://www.baden-wuerttemberg.de/sixcms/media.php/16/teufel_regerklaer_eu_ konvent_160703.2434.pdf, S. 9. 264 Zoller, Das Subsidiaritätsprinzip im Europäischen Verfassungsvertrag, S. 276. 265 Schwarze, Der Verfassungsentwurf, S. 522 f. 261
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Kap. 3: Vertrag über eine Verfassung für Europa
bestehe.266 Der Wortlaut des Subsidiaritätsprotokolls bedürfe somit einer erweiternden Auslegung, um der Zielsetzung des Verfassungsvertrags, „die bestehenden Rügemöglichkeiten zu verbessern, nicht aber hinter ihnen zurückzubleiben“, gerecht zu werden.267 In der Tat spricht einiges für ein entsprechend „weites“ Verständnis des Art. 6 Subsidiaritätsprotokoll. Merkwürdig ist ja bereits der Umstand, dass das Protokoll nach seinem vollen Namen „Protokoll über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit“ heißt, fällt doch letzteres Prinzip im Fortgang der Normen des Protokolls „sang- und klanglos unter den Tisch“. Auch leuchtet auf den ersten Blick ein, dass die Kompetenzfrage als notwendige „Vorfrage“ (Thomas Oppermann)268 einer Subsidiaritätsrüge der „Miterörterung“ bedarf. Zudem – so könnte argumentiert werden – greifen Verstöße gegen die Kompetenzordnung und das Verhältnismäßigkeitsprinzip unter Umständen besonders stark in die Belange der Mitgliedstaaten ein; es wäre daher sinnwidrig, gerade gegen solche Verstöße von besonderer Eingriffsintensität nicht vorgehen zu dürfen.269 Diese Ansätze können jedoch aus verschiedenen Gründen angezweifelt werden. Anhaltspunkte in der – tatsächlich „subsidiaritätsfokussierten“270 – Entstehungsgeschichte der kompetenzregelnden Bestimmungen des Verfassungsvertrags und seiner Protokolle gibt es wenige. Allenfalls auf die Vorschläge der Arbeitsgruppe I „Subsidiarität“ kann in diesem Zusammenhang hingewiesen werden; in ihrem Abschlussbericht empfahl die Gruppe betreffend das Stellungnahmerecht der nationalen Parlamente: „Sie [die begründete Stellungnahme] betrifft ausschließlich die Frage der Achtung des Subsidiaritätsprinzips (und nicht den Inhalt des betreffenden Vorschlags)“.271 Der Wortlaut dieser Empfehlung könnte für den Willen, allein das Subsidiaritätsprinzip als Prüfungsgegenstand in das Frühwarnsystem aufzunehmen, angeführt werden. Freilich ist sie nicht sehr aussagekräftig und selbst mehrdeutig, bezieht sich doch die Frage der Achtung des Subsidiaritätsprinzips in gewisser Weise gerade auf inhaltliche – und nicht bloß formelle – Aspekte des betreffenden Gesetzgebungsaktes. Das angesprochene Argument der Kompetenz als notwendige „Vorfrage“ einer Subsidiaritätsprüfung ist – entgegen dem ersten Anschein – nicht zwingend. Nach 266
Schwarze, Der Verfassungsentwurf, S. 523. Schwarze, Der Verfassungsentwurf, S. 523. 268 Oppermann, Eine Verfassung für die Europäische Union, S. 1171 Fn. 37; Ritzer/Rutloff, Die Kontrolle des Subsidiaritätsprinzips, S. 132, beide allerdings in Bezug auf den Umfang des Prüfungsmaßstabes im Rahmen der Subsidiaritätsklage vor dem EuGH. Siehe auch Wuermeling, Kalamität Kompetenz, S. 225; Streinz/Ohler/Herrmann, Die neue Verfassung für Europa, S. 52: „Kompetenzgrundlage (…) als notwendiger Bestandteil des Subsidiaritätsprinzips“. 269 Diese Überlegung – allerdings den Rügeumfang im Rahmen der Subsidiaritätsklage betreffend – bei Molsberger, Die Bedeutung der Subsidiaritätsklage für die Länder, S. 170 Fn. 11. 270 Schwarze, Der Verfassungsentwurf, S. 522 f. 271 Schlussfolgerungen der Arbeitsgruppe I „Subsidiarität“ des Verfassungskonvents, CONV 286/ 02, S. 6, im Internet abrufbar unter http://register.consilium.eu.int/pdf/de/02/cv00/00286d2.pdf. 267
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dem Wortlaut von Art. I-11 Abs. 3 VVE ist für die Eröffnung des Anwendungsbereichs des Subsidiaritätsprinzips allein entscheidend, dass es sich um keine Maßnahme in den Bereichen ausschließlicher Unionszuständigkeit handelt. Dass es sich – gleichzeitig und positiv gewendet – um eine Maßnahme auf Grundlage einer anderen Zuständigkeitsbegründungsnorm handelt, ist genau genommen nicht Tatbestandsinhalt von Art. I-11 Abs. 3 VVE, sondern von Art. I-11 Abs. 1 Satz 1 i. V. m. Abs. 2 VVE. Die Rüge eines Verstoßes gegen Art. I-11 Abs. 3 VVE könnte sich daher – was Aspekte der Kompetenzverteilung betrifft – im Grunde nur darauf beziehen, dass die in Frage stehende Maßnahme eine solche auf dem Gebiet ausschließlicher Unionszuständigkeit ist – nur in diesem Fall liegt ein unmittelbarer Verstoß gegen den Regelungsgehalt des Subsidiaritätsprinzips vor. Eine derartige Rüge macht freilich im Frühwarnsystem keinen Sinn, zielte sie doch darauf ab, den betreffenden Gesetzgebungsentwurf im Ergebnis dem Anwendungsbereich des Subsidiaritätsprotokolls zu entziehen. Zugestandenermaßen erscheint diese Trennung des Negativkriteriums „keine ausschließliche Zuständigkeit“ vom Positivkriterium „eine andere Zuständigkeit“ zwar ein wenig gekünstelt und inhaltlich entbehrlich, wird doch in der Prüfungspraxis mit Klärung des einen Aspekts immer auch der andere mitbeantwortet. Dennoch – und hier ging es ja allein darum, die Theorie von der „notwendigen Vorfrage“ zu erschüttern – handelt es sich in rechtlicher Hinsicht um zwei Details der Kompetenzstruktur: Zum einen der „positive“ Aspekt auf Ebene der Kompetenzverteilung, dass die Union auf Grundlage einer Zuständigkeitsnorm überhaupt gesetzgeberisch tätig werden kann; zum anderen auf Ebene der Kompetenzausübung der Aspekt, dass es sich – soll das Subsidiaritätsprinzip geltender Prüfungsmaßstab sein – bei dieser Zuständigkeit nicht um eine ausschließliche handeln darf. Dergestalt getrennt betrachtet ist der erste Aspekt nicht notwendige Vorfrage zur Erörterung des zweiten Aspekts. Demnach erfordert also Art. 6 Subsidiaritätsprotokoll keine erweiternde Auslegung auf Fragen der Kompetenz. „Stärkstes“ Argument an dieser Stelle dürfte aber der Wortlaut selbst sein. Nach Art. 6 Subsidiaritätsprotokoll und Art. 3 Protokoll über die Rolle der nationalen Parlamente ist der Anwendungsbereich des Frühwarnsystems eindeutig auf die Frage der Konformität eines geplanten Gesetzgebungsakts mit dem Subsidiaritätsprinzip beschränkt. Für eine abweichende Interpretation dürfte hier, anders als etwa bei der Frage nach der Bedeutung des Terminus „Organe“ in Art. I-11 Abs. 3 VVE, wo das gleichrangige Subsidiaritätsprotokoll mit seiner umfassenderen Formulierung „Institutionen“ eine erweiternde Auslegung des Organbegriffs erlaubte, kein Platz sein – in claris non fit interpretatio;272 jene Doktrin des acte clair gilt nach der Rechtsprechung des EuGH273 auch im Europarecht.274 Der „Geist der
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Instruktiv Bredimas, Methods of Interpretation, S. 15 f. Etwa EuGH, RS. 79/77 (Firma Kühlhaus Zentrum AG/Hauptzollamt Hamburg-Harburg, Vorabentscheidung auf Ersuchen des Finanzgerichts Hamburg) Slg. 1978, 611 ff. (619). 274 Oppermann, Europarecht, S 207 f. 273
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Gründungsverträge“275 kann hier schon deswegen nicht ausnahmsweise ein Beiseiteschieben der klaren Wortlautinterpretation rechtfertigen, weil das Stellungnahmerecht ein Novum in den europäischen Rechtsquellen darstellt; ein greifbares Indiz dafür, dass das Protokoll hier anderes meint als es gleichzeitig sagt, kann seiner Entstehungsgeschichte – wie angesprochen – nicht entnommen werden. Soll das Frühwarnsystem also auch die Rüge eines Verstoßes gegen die Kompetenzordnung oder das Verhältnismäßigkeitsprinzip erfassen – was politisch möglicherweise begrüßenswert wäre – muss der Wortlaut der entsprechenden Protokollartikel „nachgebessert“ werden.276 Freilich: Der Kommission wie den anderen Urhebern des Entwurfs eines Europäischen Gesetzgebungsakts kann nicht verboten werden „zu denken“. Denkverbote sprechen auch die Bestimmungen des Subsidiaritätsprotokolls und des Protokolls über die Rolle der nationalen Parlamente nicht aus. In der Überprüfungsphase nach Eingang einer begründeten Stellungnahme kann der jeweilige Urheber natürlich unproblematisch seinen Entwurf wegen erkannter Verstöße gegen andere Grundsätze als gegen das Subsidiaritätsprinzip ändern. Zu diesem Zeitpunkt befindet sich der geplante Europäische Gesetzgebungsakt immer noch in der Entwurfsphase. Die Vorgaben des Art. 7 Subsidiaritätsprotokoll, wie und unter welchen Voraussetzungen die Stellungnahme zur Vereinbarkeit des Entwurfs eines Europäischen Gesetzgebungsaktes mit dem Subsidiaritätsprinzip beachtet werden muss,277 sind nicht als Einschränkung der „Planungshoheit“ des Entwurfsurhebers zu verstehen. In dieser Phase kann der Entwurf aus anderen Motiven als der festgestellten Unvereinbarkeit mit dem Subsidiaritätsprinzip abgewandelt oder sogar zurückgezogen werden – so bspw. wegen erkannten Verstoßes gegen das Kompetenzverteilungssystem des Verfassungsvertrags oder wegen Verletzung des Verhältnismäßigkeitsprinzips.278 Daher gilt: Zwar steht den nationalen Parlamenten de lege lata ein Stellungnahmerecht zu anderen Aspekten als dem Subsidiaritätsprinzip wegen des eindeutigen Wortlauts der Protokollartikel nicht zu. Ihnen kommt jedoch zugute, dass es sich beim Frühwarnsystem – anders als bei der nachfolgenden Subsidiaritätsklage – um ein im Kern politisches Verfahren handelt. Rügen also die nationalen Parlamente in ihrer begründeten Stellungnahme neben etwaigen Verstößen gegen das Subsidiaritätsprinzip „zusätzlich“ auch Verstöße etwa gegen die Kompetenzordnung oder das Verhältnismäßigkeitsprinzip, hat dies zwar keine rechtlichen Auswirkungen; insbesondere werden durch diese „Appendices“ nicht die Berücksichtigungs- bzw. Überprüfungspflichten des Art. 7 Subsidiaritätsprotokoll ausgelöst. Sofern die Stellungnahme sich jedoch genauso auf die Vereinbarkeit des Entwurfs mit dem Subsidiaritätsprinzip bezieht – selbst
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Instruktiv Schlochauer, Der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften, S. 448 f. So auch Fischer, Kompetenzordnung, S. 126. 277 Dazu im Folgenden. 278 Genauso kann der Entwurf auch aus rein politischen Gründen (Zweckmäßigkeit) abgeändert oder zurückgezogen werden. 276
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wenn die Begründung nicht überzeugend ist –, ist sie zulässig und „steht im Raum“. Die Subsidiaritätsrüge vermag in dieser Konstellation quasi als „Vehikel“ zu dienen, um anderweitige Stellungnahmen in Umlauf zu bringen und auf die – politische – europäische „Ebene“ zu „hieven“. Der Urheber eines Entwurfs kann durch die – rechtlich irrelevanten – Äußerungen in der Stellungnahme gegebenenfalls „zum Denken angeregt“ werden. Auf diese Weise kann womöglich ein breiter Katalog behaupteter Verstöße auf die politische Agenda gelangen und den umfassend gestaltungsbefugten Entwurfsurheber zum Nachbessern bewegen. Allein: Die nationalen Parlamente haben keinerlei „Beschwerdemöglichkeit“, falls er dies nicht tut. Wie bereits angesprochen, steht das Recht zur Stellungnahme im Rahmen des Frühwarnsystems nicht den regionalen Parlamenten zu. Gemäß Art. 6 Satz 2 Subsidiaritätsprotokoll „obliegt“ es lediglich den nationalen Parlamenten279 – als „Anwälte der Belange der Gesetzgebungsorgane mitgliedstaatlicher Glieder“ (Martin Nettesheim)280 – „gegebenenfalls die regionalen Parlamente mit Gesetzgebungsbefugnissen zu konsultieren.“ Zwar mag es begrüßenswert erscheinen, dass die Regionalparlamente an dieser Stelle des Subsidiaritätsprotokolls überhaupt Erwähnung gefunden haben. Ihre Rechtsposition ist freilich äußerst schwach: Der Begriff „gegebenenfalls“ ist so zu verstehen, dass die Entscheidung über die Konsultation dem nationalen Parlament zukommt; diesbezüglich hat es also ein Ermessen. Lehnt das nationale Parlament bzw. seine Kammer eine Konsultation ab, bedeutet dies keinen Verstoß gegen Art. 6 Subsidiaritätsprotokoll; erst recht kann ein Unterlassen der Konsultation nicht sanktioniert werden, da es sich – wie der Wortlaut281 zeigt – um eine reine Obliegenheit („Sache des Parlaments“) handelt. Natürlich gewährt das Subsidiaritätsprotokoll den Regionalparlamenten auch keinen Anspruch darauf, dass das nationale Parlament in seiner Stellungnahme – entscheidet es sich für die Abgabe einer solchen – einen bestimmten Standpunkt vertritt.282 Überdies hätte es aus rechtlichen Gründen einer Niederlegung des Konsultationsrechts nicht bedurft. Die Befugnis des nationalen Parlaments, Konsultationen innerhalb der Binnenstruktur des Verfassungssystems eines Mitgliedstaates zu führen, muss diesem Parlament nicht durch das Europarecht gewährt werden. Dieses Recht hat ein Parlament originär aus der jeweiligen mitgliedstaatlichen Verfassung. Untersagt – was in der Realität der Verfassungen der Mitgliedstaaten nicht vorkommen dürfte – es die Verfassung eines Mitgliedstaates seinem nationalen Parlament, in europäischen Angelegenheiten die Regionalparlamente zu konsultieren,
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Bzw. „der jeweiligen Kammer eines nationalen Parlaments“. Nettesheim, Kompetenzordnung, S. 537. 281 Die englische („It will be for each national Parliament (…) to consult“) wie die französische Formulierung („Il appartient à chaque parlement national (…) de consulter“) zeigt ebenfalls, dass hier keine „echte“ Verpflichtung statuiert werden soll. 282 Nettesheim, Kompetenzordnung, S. 537. 280
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kann jenes Verbot mangels zwingenden Charakters des Art. 6 Satz 2 Subsidiaritätsprotokoll auch nicht durch diese Norm beseitigt werden.283 Im Ergebnis stellt sich die Befugnis zur Konsultation der Regionalparlamente daher eher als „zahnloser Tiger“ denn als effektives Partizipationsinstrument dar.284 Während der sechswöchigen Stellungnahmefrist darf der geplante Gesetzgebungsakt nicht erlassen werden. Ausnahmen sind nach Art. 4 Satz 3 Protokoll über die Rolle der nationalen Parlamente nur „in ordnungsgemäß begründeten dringenden Fällen“ möglich. Einen weiteren Ausnahmetatbestand enthält Art. 4 Satz 2 Protokoll über die Rolle der nationalen Parlamente: Danach darf in – ebenfalls begründungsbedürftigen – dringenden Fällen von der sechswöchigen Frist abgewichen werden. Die Rechtswirkungen der abgegebenen Stellungnahmen zur Vereinbarkeit des Entwurfs eines Europäischen Gesetzgebungsaktes mit dem Subsidiaritätsprinzip regelt Art. 7 Subsidiaritätsprotokoll. Nach dieser Vorschrift kommen zwei verschiedene Rechtsfolgen in Betracht, abhängig von der Anzahl der begründeten Stellungnahmen, die zu dem jeweiligen Gesetzesentwurf abgegeben wurden. Sobald mindestens eine Stellungnahme abgegeben wurde, muss diese vom Europäischen Parlament, vom Rat und von der Kommission285 berücksichtigt werden. Der Unionsgesetzgeber kann den Entwurf zurückziehen, verändern oder aber unverändert als Gesetzgebungsakt erlassen. Die Entscheidung bedarf keines formellen Beschlusses.286 Der Unionsgesetzgeber ist auch nicht gehalten, seine Entscheidung zu begründen.287 Falls eine größere Anzahl von Stellungnahmen zu einem Gesetzgebungsentwurf abgegeben wurden, bedarf es einer kleinen Rechnung: Ausgangspunkt ist Art. 7 Satz 2 Subsidiaritätsprotokoll, der jedem nationalen Parlament zwei Stimmen zuspricht. Diese zwei Stimmen werden „nach dem jeweiligen System des nationalen Parlaments aufgeteilt (…). In einem Zweikammersystem hat jede der beiden Kammern eine Stimme.“
283 Umgekehrt mag eine mitgliedstaatliche Verfassung ihrem nationalen Parlament das Recht gewähren, etwa regionale „Parlamente“ ohne Gesetzgebungsbefugnisse zu konsultieren. Dies kann Art. 6 Satz 2 Subsidiaritätsprotokoll genauso wenig untersagen. 284 Bedauernd deswegen bspw. Straub, Der Verfassungsentwurf aus Sicht der Länder, S. 39. 285 Zusätzlich trifft gemäß Art. 7 Satz 1 Subsidiaritätsprotokoll die Berücksichtigungspflicht auch die Gruppe von Mitgliedstaaten, den EuGH, die EZB und die EIB, falls der Gesetzgebungsentwurf durch einen von ihnen vorlegt wurde. 286 Umkehrschluss aus Art. 7 Satz 6 Subsidiaritätsprotokoll, wonach für jede der denkbaren Konstellationen (Festhalten am Entwurf, Ändern des Entwurfs, Zurückziehen des Entwurfs) ein „beschließen“ angeordnet wird – hier unklar Weber, Zur föderalen Struktur der Europäischen Union, S. 850: „Quasi-Entscheidungscharakter“. 287 Dies ergibt sich im Umkehrschluss aus Art. 7 Satz 7 Subsidiaritätsprotokoll, der im Falle der Pflicht zur Überprüfung des Gesetzgebungsentwurfs die Begründung des Überprüfungsergebnisses anordnet.
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Jede abgegebene Stellungnahme zählt als „Stimmabgabe“. Wie bereits dargestellt, besteht innerhalb des Systems des nationalen Parlaments keine Pflicht zur einheitlichen Stellungnahme. In einem Zweikammersystem sind daher verschiedene „Stimmen“-Konstellationen denkbar.288 Zu prüfen ist nun, wie viele Stellungnahmen den Schluss enthalten, dass der Gesetzgebungsentwurf nicht mit dem Subsidiaritätsprinzip in Einklang steht. Stellungnahmen, die zur Konformität des Entwurfs mit dem Subsidiaritätsprinzip gelangen, bleiben im Folgenden genauso unberücksichtigt wie unterlassene Stellungnahmen. Erreicht die Anzahl der abgegebenen Stellungnahmen, wonach der Gesetzgebungsentwurf nicht mit dem Subsidiaritätsprinzip konform ist, „mindestens ein Drittel der Gesamtzahl der den nationalen Parlamenten (…) zugewiesenen Stimmen“, muss dieser Entwurf gemäß Art. 7 Satz 4 Subsidiaritätsprotokoll überprüft werden. Bei Entwürfen auf Grundlage von Art. III-264 VVE beträgt das Quorum lediglich ein Viertel der Gesamtstimmenzahl.289 Nach Abschluss des Überprüfungsverfahrens können die zuständigen „Organe“ entscheiden, am Entwurf unverändert festzuhalten, ihn zu ändern oder ihn ganz zurückzuziehen. Im Unterschied zum bloßen Berücksichtungserfordernis bedarf die Entscheidung nach Überprüfung des Gesetzgebungsentwurfs aber eines – erneuten – formellen Beschlusses (vgl. den Wortlaut von Art. 7 Satz 6 Subsidiaritätsprotokoll: „beschließen“).290 Gemäß Art. 7 Satz 7 Subsidiaritätsprotokoll muss dieser Beschluss begründet werden.
5. Die Subsidiaritätsklage a) Gegenstand der Klage Letzter Akkord im Dreiklang des Gewährleistungssystems des Subsidiaritätsprotokolls ist die Subsidiaritätsklage nach Art. 8 Subsidiaritätsprotokoll. Gemäß Art. 8 Satz 1 Subsidiaritätsprotokoll ist der „Gerichtshof der Europäischen Union (…) für Klagen wegen Verstoßes eines Europäischen Gesetzgebungsakts gegen das Subsidiaritätsprinzip zuständig, die nach Maßgabe des Artikels III-365 der Verfassung von einem Mitgliedstaat erhoben oder entsprechend der jewei288 1.: Beide Kammern gelangen in ihrer jeweiligen Stellungnahme zum Ergebnis, der Gesetzgebungsentwurf verstoße gegen das Subsidiaritätsprinzip. 2.: Beide Kammern sind der Auffassung, der Entwurf verstoße nicht gegen das Subsidiaritätsprinzip. 3.: Keine der beiden Kammern gibt eine Stellungnahme ab. 4.: Nur eine Kammer gibt eine Stellungnahme ab und votiert für einen Verstoß gegen das Subsidiaritätsprinzip. 5.: Nur eine Kammer gibt eine Stellungnahme ab, nach welcher kein Verstoß gegen das Subsidiaritätsprinzip vorliegt. 6.: Eine Kammer votiert für einen Verstoß gegen das Subsidiaritätsprinzip, die andere dagegen. 289 Hier geht es um Maßnahmen auf dem Gebiet der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen sowie der polizeilichen Zusammenarbeit – „besonders grundrechtsrelevante Materien der Innenpolitik“, Fischer, Kompetenzordnung, S. 125. 290 Nettesheim, Kompetenzordnung, S. 538.
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ligen innerstaatlichen Rechtsordnung von einem Mitgliedstaat im Namen seines nationalen Parlaments oder einer Kammer dieses Parlaments übermittelt werden.“
Die Subsidiaritätsklage291 wird als Spezialfall der Nichtigkeitsklage gemäß Art. III-365 VVE zu qualifizieren sein.292 Sie kann nur gegen bereits beschlossene Europäische Gesetzgebungsakte gerichtet werden, eine gerichtliche Prüfung im Vorfeld ist hingegen nicht möglich. Dieser Befund ergibt sich bereits aus dem Wortlaut des Art. 8 Satz 1 Subsidiaritätsprotokoll, welcher allein den Begriff „eines Europäischen Gesetzgebungsakts“ enthält, nicht mehr – wie bei den vorigen Gewährleistungsmechanismen – den des „Entwurfs eines Europäischen Gesetzgebungsakts“.293 Das Gesetzgebungsverfahren einschließlich der etwaigen Durchführung des Frühwarnsystems294 muss also abgeschlossen sein. Dagegen dürfte nicht notwendig sein, dass der Europäische Gesetzgebungsakt bereits in Kraft getreten ist:295 Die Bestimmungen des Verfassungsvertrags zum Gesetzgebungsverfahren untersagen ein zeitliches Auseinanderfallen von Verkündungs- und Inkrafttretenstermin nicht. Letzterer kann nach Belieben des Unionsgesetzgebers festgelegt werden. Dieser beliebig datierbare Zeitpunkt kann für die Zulässigkeitsvoraussetzungen einer Normenkontrolle nicht maßgeblich sein.296 Ausschlaggebend für die Qualifikation als „Europäischer Gesetzgebungsakt“ im Sinne existenten Rechts ist somit lediglich, dass „die Tätigkeit aller am Rechtsetzungsverfahren Beteiligter beendet ist.“297 291
Zu diesem Verfahren instruktiv und weiterführend Kees, Die Rechtsnatur der Subsidiaritätsklage, S. 365 ff. 292 Altmaier, Die Subsidiaritätskontrolle, S. 314 f.; systematisch spricht für diese Einordnung der Subsidiaritätsklage bspw. die Verweisung auf einzelne Regelungsgehalte der Nichtigkeitsklage in Art. 8 Subsidiaritätsprotokoll („Nach Maßgabe des Artikels III-365“). Zum Verhältnis zwischen Art. 8 Subsidiaritätsprotokoll und Art. III-365 VVE vgl. Kapitel 3 III. 5. a). 293 Auch eine systematische Betrachtung der Normen des Subsidiaritätsprotokolls sowie eine an seiner Entstehungsgeschichte orientierte Auslegung (vgl. etwa die Schlussfolgerungen der Gruppe I „Subsidiarität“, CONV 286/02, S. 7, im Internet abrufbar unter http://register. consilium.eu.int/pdf/de/02/cv00/00286d2.pdf: „gerichtliche Ex-post-Kontrolle“) stützen dieses Ergebnis. 294 Zur Frage, ob die (erfolglose) Durchführung des Frühwarnsystems notwendige Zulässigkeitsvoraussetzung zur Erhebung der Klage nach Art. 8 Subsidiaritätsprotokoll ist, siehe Kapitel 3 III. 5. d). 295 Hier lassen sich Parallelen etwa zur Abstrakten Normenkontrolle vor dem Bundesverfassungsgericht nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG ziehen. Auch dort kommt es allein darauf an, dass die betreffende Norm rechtlich existent, nicht hingegen, dass sie auch bereits in Kraft getreten ist, so bereits BVerfGE 1, 396 (410); vgl. Sachs/Sturm, Grundgesetzkommentar, Art. 93 Rn. 56; Pestalozza, Verfassungsprozessrecht, S. 124. 296 Für die abstrakte Normenkontrolle des GG Pestalozza, Verfassungsprozessrecht, S. 124. Ansatzpunkte für eine diesbezügliche „Andersbehandlung“ der Subsidiaritätsklage nach Art. 8 Subsidiaritätsprotokoll sind nicht ersichtlich. 297 BVerfGE 1, 396 (410). – Die Landesverfassung von Baden-Württemberg (LV) gewährt in Art. 64 Abs. 1 Satz 2 LV hingegen eine solche Überprüfung eines Gesetzgebungsakts (hier: Verfassungsänderung) in statu nascendi; derartige prozessuale Möglichkeiten sind indes bei empirischer Betrachtung eher „unüblich“ und bedürfen daher wohl regelmäßig ausdrücklicher Normierung.
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b) Zuständiges Gericht Zuständiges Gericht im Verfahren der Subsidiaritätskontrolle ist der EuGH. Der Vorschlag,298 anstelle des „Integrationsfaktor(s) erster Ordnung“299 ein besonderes Kompetenzgericht zu etablieren, konnte sich nicht durchsetzen. Auch Überlegungen, am EuGH eine eigenständige Kompetenzkammer zu schaffen,300 wurde frühzeitig eine Absage erteilt; eine solche Zuständigkeitsverteilung sei allein Bestandteil der Organisationsgewalt des Gerichtshofs.301 Das Festhalten am EuGH als einzigem „europäische(m) Verfassungsgericht“ (Peter Häberle)302 ist zu begrüßen: Zwar mag erst die Zukunft zeigen, ob und inwieweit der EuGH von seiner – angeblichen – „Präferenzregel“ des „in dubio pro communitate“303 abweichen wird.304 Andererseits stünde eine „Aufsplittung“ der europäischen Gerichtsbarkeit305 diametral dem Ziel entgegen, „Europa und seine Institutionen“ zu vereinfachen306 sowie die Transparenz der Union und ihres Rechts zu steigern.307 Zudem – so zu Recht die mehrheitliche Auffassung im Verfassungskonvent – sollte ein normierter Ausdruck des Misstrauens gegen den Gerichtshof vermieden werden.308
298 So schon Goll/Kenntner, Brauchen wir ein Europäisches Kompetenzgericht?, S. 101 ff.; a. A. Colneric, Der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften, S. 709 ff. 299 Hallstein, Die echten Probleme der europäischen Integration, S. 9. 300 Siehe etwa den entsprechenden Vorschlag in der Entschließung der Europäischen Parlaments vom 16. Mai 2002 zum Lamassoure-Bericht (P5_TAPROV(2002)0247), im Internet unter http://europa.eu.int/eur-lex/pri/de/oj/dat/2003/ce180/ce18020030731de04930499.pdf. 301 Schlussfolgerungen der Gruppe I „Subsidiarität“, CONV 286/02, S. 8, im Internet abrufbar unter http://register.consilium.eu.int/pdf/de/02/cv00/00286d2.pdf. 302 Häberle, Europäische Verfassungslehre, S. 481. 303 Goll/Kenntner, Brauchen wir ein Europäisches Kompetenzgericht?, S. 105. 304 Siehe hierzu indes Everling, Quis custodiet custodes ipsos?, S. 362: „Entgegen unausrottbarer Vorurteile entscheiden die Richter [des EuGH] keineswegs immer zu Gunsten der Union, denn sie haben ihre Wurzeln weiter in den Mitgliedstaaten und wissen, dass die Union von ihnen getragen wird und dass dies nur bei einem ausgewogenen Verhältnis zu ihnen bestehen kann.“ Vgl. auch Skouris, Der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften, S. 655: „Ebenso wenig wie der streitentscheidende Richter – auch der Verfassungsrichter – ein politischer Richter ist, nur weil seine Entscheidungen die Politik beeinflussen, wird der EuGH zum Integrationsfaktor, nur weil seine Urteile die europäische Einigung fördern und sogar vertiefen.“ 305 Ohnehin ist unklar, ob damit tatsächlich der „Wahrung der Subsidiaritätsprinzipien“ gedient worden wäre, Molsberger, Die Bedeutung der Subsidiaritätsklage für die Länder, S. 170 Fn. 10. Vgl. auch Oppermann, Europarecht, S. 114: „nicht erfolgversprechend“. 306 Colneric, Der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften, S. 714. 307 Vgl. etwa „Die Zukunft der Europäischen Union“; Erklärung des Europäischen Rates von Laeken, 15. Dezember 2002; abrufbar unter http://europa.eu.int/constitution/futurum/ documents/offtext/doc151201_de.htm; siehe auch Schröder, Vertikale Kompetenzverteilung und Subsidiarität, S. 152. 308 Vgl. Nettesheim, Kompetenzordnung, S. 541; Wuermeling, Kalamität Kompetenz, S. 225; Everling, Quis custodiet custodes ipsos?, S. 362.
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c) Klageberechtigung Gemäß Art. 8 Subsidiaritätsprotokoll können mehrere Rechtssubjekte mit der Subsidiaritätsklage einen Verstoß gegen das Subsidiaritätsprotokoll rügen:309 Erstens der Mitgliedstaat der Union; dieser wird durch seine Regierung vertreten. Zweitens das nationale Parlament, in Staaten mit einem Mehrkammersystems eine „Kammer dieses Parlaments“. Diesbezüglich besteht ein gewisser Klärungsbedarf: Zunächst einmal muss festgestellt werden, dass – wie bereits erörtert – der Begriff „Parlament“ eine weite Auslegung erfordert. Die gesetzgeberische Motivation310 bei der Formulierung von Art. 8 Subsidiaritätsprotokoll ging dahin, in Staaten mit einem Zweikammersystem beide Legislativorgane zu erfassen.311 Allerdings beschränkt Art. 8 Subsidiaritätsprotokoll die Anzahl der denkbaren Kammern des nationalen Parlaments nicht. Hier kann auf die obigen Ausführungen zur Rolle der nationalen Parlamente im Rahmen des Frühwarnsystems verwiesen werden; weder Wortlaut noch telos rechtfertigen bei der Subsidiaritätsklage eine von obigem Befund abweichende Beurteilung. In Ermangelung einer „Deckelung“ ist daher anzunehmen, dass in – deren Existenz hypothetisch unterstellt – Staaten mit einem Drei- oder Mehrkammersystem jede dieser Kammern klageberechtigt ist. Das Klagerecht einer Parlamentskammer besteht auch – so wie bereits festgestellt das Recht zur Abgabe einer Stellungnahme nach Art. 6 Subsidiaritätsprotokoll – unabhängig vom Votum der anderen Kammer(n). Bei unterschiedlicher politischer „Färbung“ der Kammern kann daher das Klagerecht nach Art. 8 Subsidiaritätsprotokoll genauso wie das Stellungnahmerecht im Rahmen des Frühwarnsystems zur „innenpolitischen Waffe“312 geraten. Wie dort ist diese „Nebenwirkung“ freilich hinzunehmen, soll die effektive Partizipation aller „von Europa“ betroffenen „Ebenen“ an der Subsidiaritätskontrolle sichergestellt werden. Ähnliches gilt im Verhältnis zwischen dem Mitgliedstaat und seinen weiteren klageberechtigten Körperschaften: Der durch seine Regierung vertretene Mitgliedstaat hat keine Möglichkeit der Einflussnahme auf die von dem nationalen Parlament oder einer seiner Kammern erhobene Subsidiaritätsklage. Schon der Wortlaut von Art. 8 Subsidiaritätsprotokoll beschränkt die mitgliedstaatliche Rolle auf die eines „Boten“ bzw. – gebundenen – „Stellvertreters“, welcher die Klage dem EuGH „im Namen seines nationalen Parlaments oder einer Kammer dieses Parlaments übermittelt“. Auch eine teleologische Auslegung der Norm rechtfertigt keine abweichende Betrachtungsweise: Angesichts der eventuell unterschiedlichen Mehrheitsverhältnisse in Mitgliedstaat (Mehrheit der Regierungspartei) und Zwei309
Siehe Molsberger, Die Bedeutung der Subsidiaritätsklage für die Länder, S. 170. Vgl. etwa den Abschlussbericht der Arbeitsgruppe I „Subsidiarität“ des Konvents zur Zukunft Europas, CONV 286/02, S. 5 Fn. 2, im Internet abrufbar unter http://register.consilium. eu.int/pdf/de/02/cv00/00286d2.pdf. 311 Molsberger, Die Bedeutung der Subsidiaritätsklage für die Länder, S. 170 Fn. 12. 312 So betreffend das Stellungnahmerecht der nationalen Parlamente Zoller, Das Subsidiaritätsprinzip im Europäischen Verfassungsvertrag, S. 276. 310
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ter Kammer sowie insbesondere der möglicherweise divergierenden Interessen der jeweiligen Klageberechtigten an der Kontrolle der Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips kann es nicht gewollt sein,313 einem Klageberechtigten die Möglichkeit der Einflussnahme auf die Klage eines anderen Klageberechtigten zuzusprechen, da dessen Klagerecht dann weitgehend entwertet wäre.314 Vielmehr ist davon auszugehen, dass jedem der Klageberechtigten auf mitgliedstaatlicher „Ebene“ – also dem Mitgliedstaat sowie dem nationalen Parlament bzw. seinen Kammern – ein autonomes und gleichrangiges Klagerecht gewährt werden soll. Der Mitgliedstaat bzw. seine Regierung darf also die Klage weder inhaltlich verändern noch zurückhalten,315 vielmehr besteht die Pflicht zur – und damit korrespondierend der Anspruch des klagenden Parlaments oder seiner Kammer auf – Übermittlung auch dann, wenn die Regierung den betreffenden Europäischen Gesetzgebungsakt für vereinbar mit dem Subsidiaritätsprinzip erachtet.316 Das Einwirkungsverbot folgt dabei nicht etwa aus dem binnenstaatlichen Gewaltenteilungsprinzip, sondern unmittelbar aus Wortlaut und telos des Art. 8 Subsidiaritätsprotokoll. Der vermeintliche Umweg der parlamentarischen Klageerhebung über den Mitgliedstaat dient lediglich der „Sicherung eines einheitlichen Außenauftritts der Staaten gegenüber dem EuGH.“317 Durch die Nutzung des Mitgliedstaats als „Briefträger“318 kann sichergestellt werden, dass dieser – zumindest „quasi-formal“, da es sich freilich dennoch um eine Klage des nationalen Parlaments bzw. seiner Kammer und nicht des Mitgliedstaats als solchen handelt319 – mit einer Stimme in Luxemburg spricht, die „institutionelle Einheit der Mitgliedstaaten gegenüber der Union“320 also gewahrt bleibt.321 313 Vgl. zur Diskussion dieses Punktes während der Beratungen bspw. die Beiträge in der Plenartagung des Konvents vom 17./18. März 2003, CONV 630/03, S. 6, abrufbar unter http:// register.consilium.eu.int/pdf/de/03/cv00/cv00630de03.pdf. 314 Molsberger, Die Bedeutung der Subsidiaritätsklage für die Länder, S. 171. 315 Molsberger, Die Bedeutung der Subsidiaritätsklage für die Länder, S. 170 f. 316 Nettesheim, Kompetenzordnung, S. 542 f. 317 Molsberger, Die Bedeutung der Subsidiaritätsklage für die Länder, S. 170. 318 Bspw. Molsberger, Die Bedeutung der Subsidiaritätsklage für die Länder, S. 170. 319 Streinz/Ohler/Herrmann, Die neue Verfassung für Europa, S. 53; Molsberger, Die Bedeutung der Subsidiaritätsklage für die Länder, S. 170. 320 Vgl. bspw. diesbezügliche Beiträge zur Konventstagung vom 3./4. Oktober 2002, CONV 284/02, S. 7, im Internet abrufbar unter http://register.consilium.eu.int/pdf/de/02/cv00/00284 d2.pdf. 321 Nach Thomas Oppermann wurde mit „diesem schwierigen Kompromiss (…) der wichtigen deutschen Forderung nach einem Klagerecht Zweiter Kammern (Bundesrat) und evtl. auch von „Regionen mit Gesetzgebungsbefugnissen“ (einzelne Bundesländer) gegen starken Widerstand von Mitgliedstaaten mit zentralistischer Tradition im Wesentlichen Rechnung getragen“, Oppermann, Eine Verfassung für die Europäische Union, S. 1171 Fn. 38. Vorbehalte gegen diese Regelung gab es unter anderem mit dem Argument, es sei ungerecht, dass ein Mitgliedstaat mit zwei Parlamentskammern „zweimal“ klagen könnte, andere Staaten „mit nur einem Parlament“ hingegen nur „einmal“, vgl. dazu der baden-württembergische Ministerpräsident Erwin Teufel in seiner Regierungserklärung vom 16. Juli 2003 über die Ergebnisse des Konvents für die Zukunft Europas im Landtag von Baden-Württemberg, im Internet abrufbar unter http://www. baden-wuerttemberg.de/sixcms/media.php/16/teufel_regerklaer_eu_konvent_160703.2434.pdf.
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Neben der mitgliedstaatlichen „Ebene“ gewährt Art. 8 Subsidiaritätsprotokoll auch dem AdR ein Recht zur Erhebung der Subsidiaritätsklage. Dies gilt jedoch nur für „Europäische Gesetzgebungsakte, für deren Erlass die Anhörung des Ausschusses der Regionen nach der Verfassung vorgeschrieben ist.“
Dies betrifft Bereiche europäischer Rechtsetzung bspw. auf dem Gebiet der Beschäftigungspolitik322, der Sozialpolitik323, des wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Zusammenhalts324 sowie der Umweltpolitik325. Der AdR ist mithin in wesentlichen326 Themenfeldern am dritten327 Akkord des Schemas zur Gewährleistung der Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips beteiligt. Nicht klageberechtigt nach Art. 8 Subsidiaritätsprotokoll ist die regionale „Ebene“ der Mitgliedstaaten, auch nicht die Regionen mit Gesetzgebungsbefugnissen.328 Dieser Punkt war in den Verhandlungen äußerst umstritten, insbesondere BadenWürttembergs Ministerpräsident Erwin Teufel hatte sich vehement für ein solches Klagerecht ausgesprochen.329 Entsprechende Ansätze scheiterten jedoch zum einen am Votum von Mitgliedstaaten mit zentralistischer Verfassungsstruktur,330 denen regionale Gliederungen „nicht vertraut“331 oder gar suspekt waren. Zum anderen befürchteten die Vertreter einiger Staaten im Konvent,332 dass ihre Regionen über den „Umweg Europa“333 Zuständigkeiten und Rechte erlangen würden, welche in Anbetracht der politischen Lage für das gesamtstaatliche Interesse nachteilig wären.334 Eine – „mittelbare“ bzw. „indirekte“335 – Einbeziehung der regionalen „Ebenen“ in das Verfahren der Subsidiaritätskontrolle vor dem EuGH ist freilich möglich. Art. 8 Subsidiaritätsprotokoll delegiert die nähere Ausgestaltung des Klageverfahrens betreffend die Rolle der nationalen Parlamente und deren einzelner Kammern auf die Rechtsordnung des Mitgliedstaates („entsprechend der jeweili322
Art. III-207 VVE. Art. III-210 Abs. 2 VVE. 324 Art. III-221, III-223 Abs. 1, III-224 VVE. 325 Art. III-234 VVE. 326 Molsberger, Die Bedeutung der Subsidiaritätsklage für die Länder, S. 170 Fn. 13. 327 Rechte im Rahmen des Frühwarnsystems stehen dem AdR indes nicht zu. 328 Bspw. in Deutschland die Länder. 329 So z. B. Erwin Teufel in seiner Rede bei der öffentlichen Anhörung des Ständigen Ausschusses des Landtags von Baden-Württemberg am 15. November 2002 zum „Konvent zur Zukunft Europas“, im Internet abrufbar unter http://www3.landtag-bw.de/wP13/Drucksachen/ 1000/13_1572_d.pdf. Für weitere Bspw. vgl. die Nachweise in Kapitel 2. 330 Z. B. Frankreich. 331 Schäuble, Zukunftsperspektiven für die kommunale Selbstverwaltung in der EU, S. 90. 332 In erster Linie Spanien in Anbetracht der Situation im Baskenland. 333 Schäuble, Zukunftsperspektiven für die kommunale Selbstverwaltung in der EU, S. 90. 334 Vgl. Molsberger, Die Bedeutung der Subsidiaritätsklage für die Länder, S. 170; Bauer, Der europäische Verfassungsprozess, S. 461; Zoller, Das Subsidiaritätsprinzip im Europäischen Verfassungsvertrag, S. 280. 335 Letzterer Terminus bei F. Kirchhof, Zur indirekten Klagebefugnis eines deutschen Landes, S. 893 ff. 323
III. Mechanismen zur Gewährleistung des Subsidiaritätsprinzips
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gen innerstaatlichen Rechtsordnung“).336 Zwar vermag das innerstaatliche (Verfassungs-)Recht nicht den Kreis der unmittelbar Klageberechtigten auszudehnen, da Art. 8 Subsidiaritätsprotokoll insoweit abschließend formuliert ist und keine Öffnungsklausel enthält. In „der jeweiligen innerstaatlichen Rechtsordnung“ könnte aber bspw. festgelegt werden, dass die Zweite Kammer eines nationalen Parlaments337 verpflichtet ist, Klage nach Maßgabe von Art. 8 Subsidiaritätsprotokoll zu erheben, wenn die regionale „Ebene“ dies verlangen sollte. Insbesondere in der Bundesrepublik Deutschland wird eine solche Konstruktion mit Elan diskutiert. Besonders „spannend“ erscheint dabei die Konstellation, in welcher nur ein einzelnes Land338 die Erhebung der Subsidiaritätsklage begehrt – falls alle Länder oder deren Mehrzahl den Gang nach Luxemburg befürworten, entstehen keine Probleme, da in diesem Fall die Entschließung zur Klageerhebung im Bundesrat mehrheitlich beschlossen werden kann, Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GG. In rechtlicher Hinsicht wird eine Verfassungsänderung notwendig sein, soll bereits ein Land den Bundesrat zur Erhebung der Subsidiaritätsklage veranlassen können: Regelungen durch einfaches Bundesgesetz oder mittels einer Änderung der Geschäftsordnung des Bundesrats dürften gegen das Mehrheitserfordernis des Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GG bei der Wahrnehmung der verfassungsrechtlichen Befugnisse339 verstoßen.340 Auf der politischen Ebene hat die Ministerpräsidentenkonferenz der deutschen Länder am 14. April 2005 in Berlin einen Beschluss gefasst,341 wonach die Ländervertreter im Bundesrat das Ansinnen eines Landes auf Erhebung einer Subsidiaritätsklage zu unterstützen haben; diese politische Verpflichtung auf Zustimmung zur Klageerhebung soll nur dann nicht bestehen, wenn ein Land sich darauf beruft, durch die Klage in eigenen, grundlegenden Interessen negativ betroffen zu sein.342 Jene – „weich“ formulierte343 und nicht überprüfbare – Möglichkeit des Einwendens eigener, grundlegender Betroffenheit vermag freilich rasch jegliches Klagebegehren abzuwehren. Ob eine solche rein-politische Verpflichtungserklärung der Weisheit letzter Schluss sein wird, bleibt abzuwarten; angesichts des gravierenden Interesses der Länder an einer effektiven Partizipation an den Kontrollmechanismen zur Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips spricht einiges für die Notwendigkeit einer „harten“ normativen Regelung. Kaum zu befürchten dürfte jedenfalls 336
Molsberger, Die Bedeutung der Subsidiaritätsklage für die Länder, S. 170. In der Regel die „Länderkammer“. 338 Oder auch eine Minderheit innerhalb der Länder. 339 Hier: Entschließung zur Klageerhebung als Wahrnehmung von Aufgaben in Angelegenheiten der Europäischen Union, Art. 50 Alt. 3 i. V. m. Art. 23 Abs. 2 Satz 1 GG. 340 Molsberger, Die Bedeutung der Subsidiaritätsklage für die Länder, S. 172. A. A. F. Kirchhof, Zur indirekten Klagebefugnis eines deutschen Landes, S. 899, der eine Regelung durch einfaches Bundesgesetz für zulässig und vorzugswürdig hält. Insoweit unzutreffend Zoller, Das Subsidiaritätsprinzip im Europäischen Verfassungsvertrag, S. 287, wonach Ferdinand Kirchhof „in erster Linie eine Grundgesetzänderung vorgeschlagen“ habe. 341 Tagungsergebnisse der Ministerpräsidentenkonferenz vom 14. April 2005, im Internet abrufbar unter http://www.berlin.de/rbmskzl/dokumentation/mpk/ergebnisse140405.html. 342 Zoller, Das Subsidiaritätsprinzip im Europäischen Verfassungsvertrag, S. 288. 343 Zoller, Das Subsidiaritätsprinzip im Europäischen Verfassungsvertrag, S. 288. 337
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eine durch „partikularistische Interessenverfolgung“ bedingte Klageflut sein, welche die Subsidiaritätsklage zu einem reinen „Verhinderungsmechanismus“ pervertieren würde; es ist zu erwarten, dass die Länder die Klaviatur dieses – für ihre Stellung im Gefüge der Union so wichtigen – Instruments maßvoll und verantwortungsbewusst benutzen würden.344 Die detaillierte Erörterung von Fragen der Umsetzung der prozeduralen Aspekte des Subsidiaritätsprinzips in nationales Recht soll freilich nicht Gegenstand dieser – auf die europäische „Ebene“ beschränkten – Arbeit sein.345
d) Durchführung des Frühwarnsystems als Klagevoraussetzung? Die Frage, ob die Zulässigkeit der Erhebung einer Klage nach Art. 8 Subsidiaritätsprotokoll eine vorherige – erfolglose – Durchführung des Frühwarnsystems voraussetzt, ist im Ergebnis zu verneinen.346 Schon der Wortlaut von Art. 8 Subsidiaritätsprotokoll verlangt ein solches nicht; die Subsidiaritätsklage kann danach erhoben werden, ohne dass der Klagende – oder auch ein anderer – zuvor eine Stellungnahme abgegeben hat. Eine historische Auslegung führt zum selben Ergebnis: So forderte die Arbeitsgruppe I „Subsidiarität“ des Verfassungskonvents in ihrem Abschlussbericht zwar,347 dass die „Einleitung eines Gerichtsverfahrens nur in wenigen Fällen, die voraussichtlich Ausnahmen darstellen werden, zulässig sein (darf); Voraussetzung ist, dass die politische Phase durchlaufen wurde, ohne dass eine für das bzw. die einzelstaatliche(n) Parlament(e) zufriedenstellende Lösung gefunden werden konnte.“348 Mehr noch: Die Konventsarbeitsgruppe sprach sich nicht nur dafür aus, dass vor Erhebung der Subsidiaritätsklage von irgendeinem Parlament eine Stellungnahme abgegeben werden muss; das Klagrecht sollte vielmehr lediglich der „einzelstaatlichen Volksvertretung (gestattet sein), die im Rahmen des vorstehend beschriebenen Frühwarnsystems eine begründete Stellungnahme abgegeben hat“349. Dieser Vorschlag der Konventsarbeitsgruppe zur notwendigen Abhängigkeit der Subsidiaritätsklage von der vorangegangenen politischen Stellungnahme – jene als „Vorverfahren“ – war zwar konsequent, wenn man das Subsidiaritäts344
Molsberger, Die Bedeutung der Subsidiaritätsklage für die Länder, S. 173. Dazu weiterführend Hrbek, Der deutsche Bundesstaat in der EU, S. 271 ff.; Zoller, Das Subsidiaritätsprinzip im Europäischen Verfassungsvertrag, S. 281 ff.; F. Kirchhof, Zur indirekten Klagebefugnis eines deutschen Landes, S. 893 ff; Molsberger, Die Bedeutung der Subsidiaritätsklage für die Länder, S. 171 ff. 346 Vgl. Calliess in Calliess/Ruffert, Verfassung für die Europäische Union, Art. I-11 Rn. 75. 347 Siehe Kapitel 2 II. 3. c). 348 CONV 286/02, S. 7, abrufbar unter http://register.consilium.eu.int/pdf/de/02/cv00/00286 d2.pdf. 349 CONV 286/02, S. 8, abrufbar unter http://register.consilium.eu.int/pdf/de/02/cv00/00286 d2.pdf. 345
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prinzip und darauf aufbauend seine Kontrolle als primär politische Angelegenheit erachtet. Er barg freilich das Risiko, dass die nationalen Parlamente – um sich die Möglichkeit einer späteren Klageerhebung nicht zu verbauen – lediglich pro forma Stellungnahmen während des politischen Kontrollverfahrens abgeben, an einer ernsthaften Lösung auf dieser Ebene indes gar nicht interessiert sind. Ein solches Prozedere könnte nicht nur das erklärte Ziel gefährden, die Gesetzgebungsverfahren durch die Kontrollmechanismen zur Gewährleistung der Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips nicht zu verzögern. Es würde auch im Ergebnis zu einer unbeabsichtigten – faktischen – Umkehr des Vorrangs politischer Lösungswege vor gerichtlichen Verfahren führen. Der Sinn der politischen Prüfungsphase wäre damit in Frage gestellt. Diese Gefahr wurde während der Plenarphase des Konvents durch eine Reihe von Konventsmitgliedern angesprochen350 und hat letztlich dazu geführt, dass in der Formulierung des Verfassungsentwurfs durch den Konvent eine Konditionalität von Stellungnahme und Klagerecht nicht verankert wurde.351 Auch eine an systematischen Kriterien sowie an Sinn und Zweck des Subsidiaritätsprotokolls orientierte Auslegung des dreistufigen Gewährleistungsmechanismus erfordert352 kein vorheriges Handeln gemäß Art. 6 Subsidiaritätsprotokoll als Voraussetzung zur Erhebung der Subsidiaritätsklage: So hat nach Art. 8 Satz 2 Subsidiaritätsprotokoll der AdR in bestimmten Fällen353 das Recht zur Erhebung der Subsidiaritätsklage. Der AdR gehört aber nicht zum Kreis derer, die befugt sind, im Rahmen des Frühwarnsystems Stellungnahmen abzugeben. Gleiches gilt für den Mitgliedstaat selbst, auch ihm stehen keine Rechte aus Art. 6 Subsidiaritätsprotokoll zu. Sowohl AdR als auch Mitgliedstaaten wären also – erachtet man die zweite Stufe des Gewährleistungssystems des Subsidiaritätsprotokolls als notwendiges Vorverfahren – „auf Gedeih und Verderb“ darauf angewiesen, dass ein nationales Parlament oder die Kammer eines solchen eine begründete Stellungnahme zur Subsidiaritätskonformität des Europäischen Gesetzgebungsakts abgeben. Bliebe eine solche Handlung nach Art. 6 Subsidiaritätsprotokoll aus, stünde deswegen dem AdR bzw. den Mitgliedstaaten keine Möglichkeit zur Erhebung der Subsidiaritätsklage mehr offen. Ein solches Auslegungsergebnis kann keinen Bestand haben: Verschiedene Klageberechtigte haben verschiedene Interessen. Jenseits des Rechtskreises des Klägers liegende Klageerfordernisse beschneiden sein 350 Etwa in der Plenarsitzung vom 12./13. September 2002 CONV 331/02, S. 6 ff., abrufbar unter http://register.consilium.eu.int/pdf/de/02/cv00/00331d2.pdf; ähnliche Kritik auch in der Sitzung vom 3./4. Oktober 2002, CONV 331/02, S8, http://register.consilium.eu.int/pdf/de/02/ cv00/00331d2.pdf. Vgl. ferner die Sitzung vom 28./29. Oktober 2002, CONV 378/02, S. 3 ff., im Internet abrufbar unter http://register.consilium.eu.int/pdf/de/02/cv00/00378d2.pdf. 351 Siehe Zoller, Das Subsidiaritätsprinzip im Europäischen Verfassungsvertrag, S. 279. 352 Hier geht es also um die Frage, ob das wortlautkonforme und historisch gewollte Auslegungsergebnis systematisch und teleologisch betrachtet Bestand haben kann. Ein anderes Resultat wäre nämlich durchaus möglich, da der Wortlaut von Art. 8 Subsidiaritätsprotokoll zwar eindeutig scheint, die Abgabe einer Stellungnahme als notwendige Klagevoraussetzung andererseits aber nicht expressis verbis verbietet. 353 Vgl. die vorangegangenen Ausführungen zur Klageberechtigung.
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Kap. 3: Vertrag über eine Verfassung für Europa
individuelles Klagerecht erheblich. Eine Abhängigmachung der Rechte des Einen vom Verhalten des Anderen erscheint nicht nur prozessrechtlich unüblich, sie widerspräche auch dem Ziel des Subsidiaritätsprotokolls, dem jeweils sich von europäischer Oktroyierung betroffen Fühlenden eine effektive Partizipation an der Kontrolle der Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips zu gewähren. Daher muss gelten: Zumindest wenn AdR und Mitgliedstaaten eine Subsidiaritätsklage zu erheben beabsichtigen, kann die vorherige Abgabe einer begründeten Stellungnahme durch ein nationales Parlament bzw. eine Parlamentskammer – als im Klageverfahren „unbeteiligter Dritter“ – nicht Zulässigkeitsvoraussetzung für den dritten Akkord des Gewährleistungssystems sein. Fraglich ist freilich, ob die Losgelöstheit der beiden Stufen auch für die nationalen Parlamente selbst gilt. Diese hätten ja aus eigenem Recht die Möglichkeit zur Abgabe einer Stellungnahme. Aus diesem Blickwinkel erschiene es nicht bedenklich, das Stellungnahmeverfahren als notwendiges Vorverfahren zu qualifizieren. Andererseits erscheint es widersprüchlich, wenn man den nationalen Parlamenten höhere Anforderungen an die Erhebung einer Subsidiaritätsklage setzt als dem Mitgliedstaat oder dem AdR, sind die Parlamente doch gerade die Institutionen, denen mittels des Subsidiaritätsprotokolls eine besondere Stellung im Rahmen der Kontrolle der Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips zugesprochen werden soll. Eine Differenzierung in den Klagevoraussetzungen zu Lasten der nationalen Parlamente – auch wenn diese es freilich in der Hand hätten, die Erfordernisse zu erfüllen – ist daher zu verneinen. In Übereinstimmung mit Wortlaut und gesetzgeberischer Absicht kann mithin festgestellt werden, dass die Zulässigkeit der Erhebung einer Subsidiaritätsklage nicht von der vorherigen Abgabe einer begründeten Stellungnahme im Rahmen des Frühwarnsystems abhängt.
e) Klagefrist Die Klagefrist bestimmt sich nach Art. 8 Subsidiaritätsprotokoll i. V. m. Art. III365 Abs. 6 VVE. Die in Art. III-365 Abs. 6 VVE festgelegte Zweimonatsfrist läuft „je nach Lage des Falles von der Veröffentlichung der betreffenden Handlung, ihrer Bekanntgabe an den Kläger oder in Ermangelung dessen von dem Zeitpunkt an, zu dem der Kläger von dieser Handlung Kenntnis erlangt hat.“
Richtigerweise sollte bei der Bestimmung des Fristbeginns auf die erste der drei Terminalternativen abgestellt werden, also die Veröffentlichung des jeweiligen Europäischen Gesetzgebungsakts im Amtsblatt der Europäischen Union. So kann sichergestellt werden, dass die Klagefrist für alle Klageberechtigten gleich ist.354 354
Stellt man auf die Bekanntgabe an den Kläger ab, wäre die Subsidiaritätsklage für die nationalen Parlamente regelmäßig verfristet. Fristbeginn wäre dann ja bereits der Zeitpunkt der Übermittlung des Gesetzgebungsentwurfs nach Art. 6 Subsidiaritätsprotokoll. Selbst wenn die
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f) Umfang der Begründetheitsprüfung Wie schon im Rahmen der Ausführungen zum Frühwarnsystem dargestellt, kann in Anbetracht des eindeutigen Wortlauts von Art. 8 Subsidiaritätsprotokoll auch bei der Erhebung der Subsidiaritätsklage nur der Verstoß eines Europäischen Gesetzgebungsakts gegen das Subsidiaritätsprinzip gerügt werden – nicht also vermeintliche Verstöße gegen das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung oder das Verhältnismäßigkeitsprinzip.355 Entsprechendes klägerisches Vorbringen wäre unzulässig. Damit ist freilich noch nicht die Frage beantwortet, was in Fällen geschieht, in denen ein Kläger im Verfahren nach Art. 8 Subsidiaritätsprotokoll einen Verstoß gegen das Subsidiaritätsprinzip behauptet, dieser nach Auffassung des EuGH nicht gegeben ist, der angegriffene Rechtsakt aber wegen Verstoßes gegen ein anderes Verfassungsprinzip für nichtig zu erklären wäre.356 Zur Klärung dieses Problems mag beitragen, dass der EuGH nach h. M. bei der Begründetheitsprüfung einer Klage nach Art. 230 (ex-Art. 173) EGV nicht auf die klägerisch vorgebrachten Nichtigkeitsgründe beschränkt ist, sondern vielmehr umfassend („von Amts wegen“357) die Rechtmäßigkeit des betreffenden Rechtsaktes prüft und seiner Entscheidung auch solche Gründe zugrunde legt, die nicht geltend gemacht wurden.358 Überdies: Kann der Gerichtshof gezwungen sein, „sehenden Auges“ einen offensichtlich rechtswidrigen Gesetzgebungsakt nur deswegen „abzunicken“, weil er gerade nicht gegen das Subsidiaritätsprinzip verstößt? Dieses Ergebnis erscheint insbesondere dann absurd, wenn wegen bspw. fehlender abstrakter Zuständigkeit der Union für diesen Regelungsbereich eine rechtliche Prüfung überhaupt nicht bis zur Erörterung der Konformität mit dem Subsidiaritätsprinzip gelangen würde.359 nationalen Parlamente die sechswöchige Stellungnahmefrist nicht ausschöpfen, wäre in Verbindung mit dem Berücksichtigungs-/Überprüfungsverfahren gemäß Art. 7 Subsidiaritätsprotokoll eine Dauer von zwei Monaten wohl stets überschritten. Die nationalen Parlamente könnten folglich die Klagefrist nur einhalten, wenn sie keine begründete Stellungnahme nach Art. 6 Subsidiaritätsprotokoll abgeben. Dieses Ergebnis wäre untragbar: Zwar soll die Stellungnahme von den Zulässigkeitsvoraussetzungen des Art. 8 Subsidiaritätsprotokoll losgelöst sein; wie festgestellt, bedarf es ihrer zur Klageerhebung nicht. Dies bedeutet freilich genauso wenig, dass im Falle ihrer Abgabe die nachfolgende Subsidiaritätsklage regelmäßig unmöglich sein darf. 355 So bspw. Götz, Kompetenzverteilung und Kompetenzkontrolle in der Europäischen Union, S. 60. 356 Beispiel: Ein Mitgliedstaat der EU behauptet im Verfahren nach Art. 8 Subsidiaritätsprotokoll, ein Europäisches Gesetz verstoße gegen das in Art. I-11 Abs. 3 VVE verankerte Subsidiaritätsprinzip. Der Gerichtshof kommt zum Ergebnis, ein solcher Verstoße liege nicht vor, die Union habe aber nach dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung überhaupt keine (abstrakte) Regelungszuständigkeit auf fraglichem Gebiet gehabt. Ist nun die Klage des Mitgliedstaates abzuweisen oder das Europäische Gesetz für nichtig zu erklären? 357 EuGH, RS. 1/54 (Französische Republik/Hohe Behörde) Slg. 1954/55, 7 (33). 358 Streinz/Ehricke, EUV/EGV, Art. 230 EGV Rn. 67. 359 Siehe bspw. Wuermeling, Kalamität Kompetenz, S. 225; Calliess in Calliess/Ruffert, Verfassung für die Europäische Union, Art. I-11 Rn. 77. Freilich ist hier anzumerken, dass der Aspekt „Zuständigkeit aufgrund des Kompetenzverteilungssystems“, wie die vorangegangenen Ausführungen zeigen, nicht zwingende Vorfrage für die Erörterung der Vereinbarkeit eines Gesetzgebungsakts mit dem Subsidiaritätsprinzip ist.
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Kap. 3: Vertrag über eine Verfassung für Europa
Allerdings: Art. 8 Subsidiaritätsprotokoll beinhaltet ein Verfahren, das speziell und ausdrücklich der Wahrung des Subsidiaritätsprinzips dienen soll. Es wäre daher terminologisch zumindest fragwürdig, eine Subsidiaritätsklage als begründet zu bezeichnen, wenn der Gerichtshof den geltend gemachten Verstoß gegen Art. I-11 Abs. 3 VVE verneint, den betreffenden Rechtsakt aber aus anderen Gründen für nichtig erklärt. Das Ziehen einer Parallele etwa zur Nichtigkeitsklage Teilprivilegierter nach Art. 365 Abs. 3 VVE360 hilft argumentativ nicht weiter: Zwar prüft auch dort der Gerichtshof umfassend, trifft seine Nichtigkeitsentscheidung also sowohl auf Grundlage klägerisch nicht vorgebrachter Argumente als auch wegen Vertragsverstößen des betreffenden Gesetzgebungsakts, die selbst den Kläger nicht in seinen Rechten verletzen, obwohl es sich nach dem Wortlaut um ein Verfahren zur Wahrung subjektiver Rechtspositionen des Klägers („Klagen (…) die auf die Wahrung ihrer Rechte abzielen“) handelt. Hier besteht im Ergebnis eine gewisse Ähnlichkeit mit der Verfassungsbeschwerde des Grundgesetzes: Betrifft eine Maßnahme den Klageberechtigten „quasi im Sinne der Adressatentheorie“, ist die Klage zulässig, sofern der Kläger die behauptete Verletzung seiner organschaftlichen Befugnisse361 substantiiert darzulegen vermag.362 Auf Begründetheitsebene führt dann jeglicher, auch der eo ipso nicht den Kläger verletzende, „objektiv“ erfüllte Nichtigkeitsgrund des Art. III-365 Abs. 2 VVE zum Obsiegen,363 mithin für gewöhnlich zur Nichtigerklärung der Maßnahme. Die Nichtigkeitsklage gemäß Art. III-365 Abs. 2 VVE stellt sich daher als eine Kombination aus Organstreit- und Normenkontrollverfahren364 dar. Die Subsidiaritätsklage hingegen erweist sich – auch wenn ihr Seinsgrund die Wahrung der Rechte der von europäischer Oktroyierung betroffenen „Ebenen“ ist – als ein Verfahren der objektiven 360 Diese Vorschrift lehnt sich an Art. 230 Abs. 3 (ex-Art. 173 Abs. 3) EGV an, führt als weiteren Klageberechtigten aber noch den AdR an. 361 Koenig/Pechstein/Sander, EU-/EG-Prozessrecht, S. 194. 362 Dazu etwa Streinz/Ehricke, EUV/EGV, Art. 230 EGV Rn. 8 bzw. Sachs/Sturm, Grundgesetzkommentar, Art. 93 Rn. 90. Zur Frage nach den Voraussetzungen der Klagebefugnis bei den verschiedenen Aktivlegitimierten differenzierend Kees, Die Rechtsnatur der Subsidiaritätsklage, S. 368 ff. 363 Dies gilt für das Grundgesetz seit BVerfGE 6, 32 ff. – Elfes-Urteil. Auch bei der Nichtigkeitsklage gem. Art. 230 Abs. 3 (ex-Art. 173 Abs. 3) EGV kommt es auf Ebene der Begründetheitsprüfung allein auf die vier im zweiten Absatz der Vorschrift benannten Nichtigkeitsgründe an. Wenn die angegriffene Maßnahme mit einem dieser Gründe behaftet ist, ist die Klage begründet, Schwarze/Schwarze, EU-Kommentar, Art. 230 EGV Rn. 56. Eine subjektive Rechtsverletzung gerade durch diesen Grund ist hingegen nicht erforderlich, Koenig/Pechstein/ Sander, EU-/EG-Prozessrecht, S. 271; Kees, Die Rechtsnatur der Subsidiaritätsklage, S. 370 Fn. 17. Dieses Ergebnis lässt sich auch im Wege eines Erst-Recht-Schlusses aus Art. III-365 Abs. 4 VVE begründen. Dort ist das Merkmal der „unmittelbar(en) und individuell(en)“ Betroffenheit als „Filter“ allein im Rahmen der Zulässigkeitsprüfung relevant; auf Begründetheitsebene führt auch der nur objektiv gemeinschaftsrechtswidrige Akt zum klägerischen Obsiegen, vgl. zur alten Rechtslage bspw. Gesser, Die Nichtigkeitsklage, S. 169 f.; gleiches muss auch bei Klagen teilprivilegierter Kläger gelten. 364 Koenig/Pechstein/Sander, EU-/EG-Prozessrecht, S. 194, für das entsprechende Verfahren nach Art. 230 Abs. 3 (ex-Art. 173 Abs. 3) EGV.
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Rechtskontrolle.365 Art. 8 Subsidiaritätsprotokoll konstituiert nicht das Erfordernis des substantiierten Vorbringens einer möglichen Verletzung eigener Rechte. Es kann auch nicht etwa aus den verweisenden Formulierungen „nach Maßgabe des Art. III-365“/„(N)ach Maßgabe des genannten Artikels“ in Art. 8 Subsidiaritätsprotokoll geschlossen werden, dass die Geltendmachung der Verletzung eigener Rechte zwar nicht für die Mitgliedstaaten, aber für den AdR gelte, weil dieser – im Gegensatz zu den Mitgliedstaaten – nach Art. III- 365 Abs. 3 VVE zum lediglich „teilprivilegierten“ Klägerkreis gehöre.366 Eine solche Aufspaltung der Klagevoraussetzungen des Art. 8 Subsidiaritätsprotokoll ist inhaltlich nicht zu rechtfertigen – warum sollte die von Mitgliedstaaten erhobene Subsidiaritätsklage ein Verfahren der objektiven Rechtskontrolle sein, eine vom AdR erhobene entsprechende Klage hingegen ein Verfahren zur Gewährleistung subjektiver Rechte? Außerdem: Erachtet man die Thematisierung dieses Bereiches wegen der Verweisungsformulierungen in Art. 8 Subsidiaritätsprotokoll als auf Art. III-365 VVE verlagert, bleibt die Frage nach der Notwendigkeit einer Rechtsverletzung in Bezug auf die nationalen Parlamente unklar. Gehören sie zu den „privilegierten“ Klägern des Art. III-365 Abs. 2 VVE oder zum Kreis der „Teilprivilegierten“ gemäß Art. III-365 Abs. 3 VVE?367 Zwar mag ihre Einbeziehung in Absatz 2 (als zum Mitgliedstaat gehörig) inhaltlich vorzugswürdig sein, erwähnt sind die Parlamente in Art. III-365 VVE nicht. Systematisch betrachtet dürfte daher der Ansatz, Notwendigkeit und Art der Klagebefugnis wegen der Verweisung in Art. 8 Subsidiaritätsprotokoll als in Art. III-365 VVE verortet zu betrachten, abzulehnen sein. Vielmehr ist die Formulierung „nach Maßgabe“ auf diejenigen Inhalte zu beziehen, die trotz Art. 8 Subsidiaritätsprotokoll als insoweit lex specialis noch der Notwendigkeit einer Regelung unterliegen, bspw. die Klagefrist des Art. III-365 Abs. 6 VVE.368 Die Sachlage betreffend die Begründetheitsprüfung im Rahmen der Subsidiaritätsklage des Art. 8 Subsidiaritätsprotokoll stellt sich anders dar als bei Verfahren, welche der Wahrung klägerischer Rechtspositionen zu dienen bestimmt sind. Die Subsidiaritätsklage als Verfahren objektiver Rechtskontrolle ist insoweit von der „allgemeinen“ Nichtigkeitsklage des Art. III-365 VVE zu trennen, die in Art. III-365 Abs. 2 VVE aufgeführten Nichtigkeitsgründe sind für das Verfahren nach Art. 8 Subsidiaritätsprotokoll nicht maßgeblich. An dieser Stelle ist anzumerken, dass Verstöße gegen das Subsidiaritätsprinzip auch mittels der Nichtigkeitsklage des Art. III-365 VVE unter den dort genannten Voraussetzungen geltend gemacht werden können. Die Subsidiaritätsklage nach Art. 8 Subsidiaritätsprotokoll 365 Differenzierend Kees, Die Rechtsnatur der Subsidiaritätsklage, S. 379, der dem Verfahren nach Art. 8 Subsidiaritätsprotokoll „eine zweigeteilte Rechtsnatur“ attestiert. 366 Die dort aufgeführten Klageberechtigten dürfen eine Nichtigkeitsklage zulässigerweise nur „zur Wahrung ihrer Rechte“ erheben. 367 Unvertretbar dürfte jedenfalls ein Ansatz sein, wonach die nationalen Parlamente unter Art. III-365 Abs. 4 VVE („Jede natürliche und juristische Person“) fallen. 368 Vgl. Kees, Die Rechtsnatur der Subsidiaritätsklage, S. 370.
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stellt zwar eine spezielle Form der „allgemeinen“ Nichtigkeitsklage dar, sie verdrängt diese allgemeine Klageform indes nicht. In den Fällen, in denen die jeweiligen Klageberechtigten auf Grundlage von Art. III-365 VVE eine Maßnahme unter dem Gesichtspunkt eines vermeintlichen Verstoßes gegen das Subsidiaritätsprinzip angreifen, gelten für die Begründetheitsprüfung der Klage durch den EuGH die Vorgaben des Art. III-365 Abs. 2 VVE: Der Gerichtshof führt eine umfassende Prüfung durch und erklärt die angefochtene Maßnahme gegebenenfalls auch aus Gründen für nichtig, die nicht in der Klageschrift aufgeführt waren.369 Dessen bedarf es bei der Subsidiaritätsklage des Art. 8 Subsidiaritätsprotokoll nicht. Wenn Mitgliedstaaten einen Rechtsakt der Union umfassender Prüfung zugänglich machen wollen, ist es ihnen unbenommen, anstelle der Subsidiaritätsklage die „allgemeine“ Nichtigkeitsklage zu erheben. Gleiches gilt für den AdR, wenn das Klagebegehren auf die Wahrung seiner Befugnisse abzielt. Zwar steht den nationalen Parlamenten der Weg einer Klage nach Art. III-365 VVE nicht offen. Dies ist aber unschädlich: Sinn und Zweck des im Subsidiaritätsprotokoll verankerten Gewährleistungsschemas ist es, den nationalen Parlamenten eine Beteiligung an der Kontrolle der Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips zu ermöglichen – nicht hingegen, sie an der allgemeinen Rechtmäßigkeitskontrolle Europäischer Gesetzgebungsakte partizipieren zu lassen. Diesem gewollten Unterschied wird die hier vertretene Ansicht gerecht. Mit der Subsidiaritätsklage nach Art. 8 Subsidiaritätsprotokoll kann zulässigerweise nur der Verstoß eines Europäischen Gesetzgebungsakts gegen das Subsidiaritätsprinzip geltend gemacht werden.370 Nicht erforderlich ist die substantiierte Behauptung der Verletzung eigener Rechte.371 Im Rahmen der Begründetheitsprüfung erörtert der EuGH entgegen seiner Verfahrensweise bei „allgemeinen“ Nichtigkeitsklagen nur die Verletzung des Subsidiaritätsprinzips. Stellt sich im Verfahren heraus, dass kein Verstoß gegen Art. I-11 Abs. 3 VVE vorliegt, der Gesetzgebungsakt womöglich aber aus anderen Gründen nichtig wäre, wird die Klage dennoch als unbegründet abgewiesen.372
g) Rechtsfolge einer begründeten Subsidiaritätsklage Als Spezialfall der Nichtigkeitsklage richtet sich die Rechtsfolge einer begründeten Subsidiaritätsklage nach Art. III-366 VVE.373 Demnach gilt: Verstößt der an369
Streinz/Ehricke, EUV/EGV, Art. 230 EGV Rn. 67. Zu den Anforderungen an eine entsprechende Klageschrift vgl. Art. 20 f. des Protokolls zur Festlegung der Satzung des Gerichtshofes der Europäischen Union (Protokoll Nr. 3 zum Vertrag über eine Verfassung für Europa) i. V. m. Art. III-365 VVE. 371 So auch Nettesheim, Kompetenzordnung, S. 543; a. A. Kees, Die Rechtsnatur der Subsidiaritätsklage, S. 376, bei Klagen, die von einem nationalen Parlament erhoben werden. 372 So im Ergebnis auch Kees, Die Rechtsnatur der Subsidiaritätsklage, S. 370. 373 Der Anwendbarkeit von Art. III-366 VVE steht nicht entgegen, dass Art. 8 Subsidiaritätsprotokoll nach seinem Wortlaut „nur“ auf Art. III-365 VVE zu verweisen scheint: Diese 370
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gegriffene Europäische Gesetzgebungsakt tatsächlich gegen das Subsidiaritätsprinzip, wird er vom EuGH gemäß Art. III-366 Satz 1 VVE für nichtig erklärt. Gegebenenfalls kommt aus Gründen der Rechtssicherheit oder zur Wahrung von Rechten Dritter eine Aufrechterhaltung der Rechtswirkungen des Gesetzgebungsakts nach Art. III-366 Satz 2 VVE in Betracht.374
Verweisung bezieht sich auf die Zulässigkeitsvoraussetzungen der Klage – etwa die Verfristung – und stellt systematisch klar, dass es sich bei der Subsidiaritätsklage um einen Fall der Nichtigkeitsklage handelt. Aus eben dieser Qualifikation der Klage nach Art. 8 Subsidiaritätsprotokoll als Nichtigkeitsklage folgt unproblematisch die Anwendbarkeit auch der Rechtsfolgennorm des Art. III-366 VVE. 374 Vgl. Streinz/Ehricke, EUV/EGV, Art. 231 EGV Rn. 8. – Der Rechtsprechung des EuGH folgend, der Art. 231 (ex-Art. 174) EGV analog auch auf andere Maßnahmen als Verordnungen anwendet, wurde der Anwendungsbereich von Art. III-366 Satz 2 VVE auf alle mit der Nichtigkeitsklage angegriffenen Handlungen ausgeweitet.
Résumé und Ausblick Résumé und Ausblick
I. Zu den materiellrechtlichen Aspekten des Subsidiaritätsprinzips Auch im Vertrag über eine Verfassung für Europa bleibt das Subsidiaritätsprinzip eine Kompetenzausübungsregel. Dies folgt nach hier vertretener Auffassung bereits aus dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung, das im Verfassungsvertrag genauso wie im geltenden Gemeinschaftsrecht das Grundprinzip aller Kompetenzzuordnungsfragen im Verhältnis zwischen Europa und seinen Mitgliedstaaten darstellt. Solange Europa kein Staat ist – eine solche „Ordnungsstufe“ erscheint aus deutscher Sicht nicht allein vor dem Hintergrund von Art. 79 Abs. 3 i. V. m. Art. 20 Abs. 1 und 2 GG auch zukünftig ausgeschlossen1 – bleibt das auf der mitgliedstaatlichen Souveränität fußende Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung maßgebliche Größe. Eine kompetenzverteilende Funktion kann das Subsidiaritätsprinzip unter diesem Regime als Rechtsregel – im Interesse einer effektiven Implementierung des Prinzips sollte es allein unter diesem Blickwinkel betrachtet werden, losgelöst von seinen mannigfaltigen anthropologischen, philosophischen, politologischen und theologischen Verwurzelungen2 – nicht zugesprochen bekommen. In seiner Funktion als Kompetenzausübungsregel hat die Formulierung des Subsidiaritätsprinzips in Art. I-11 Abs. 3 VVE gewisse materielle Konkretisierungen und Präzisierungen gegenüber der Fassung in Art. 5 Abs. 2 (ex-Art. 3 b Abs. 2) EGV des geltenden Gemeinschaftsrechts erhalten. Der „große Wurf“ ist hier freilich weder gelungen, noch war er beabsichtigt. So gibt die Beschreibung des Subsidiaritätsprinzips weiterhin einige Rätsel auf. Diese werden der Politik, dem Gerichtshof sowie der Wissenschaft voraussichtlich – jedenfalls auf absehbare Zeit – erhalten bleiben. Die Chancen auf präzisierende Änderungen im Wortlaut des Art. I-11 Abs. 3 VVE sind sehr gering. Die in dieser Norm eingeschlagenen Pflöcke dürften wohl kaum in der momentanen Ungewissheit des eingefrorenen Ratifikationsprozesses herausgerissen und neu angeordnet werden, schon aus der Angst heraus, jeder kleine Riss könnte das dünne Eis endgültig zum Bersten bringen; genauso wenig sind – in Anbetracht der bewusst gewählten Schwerpunktsetzung auf einen prozeduralen Gewährleistungsmechanismus, der in praxi genügend Herausforderungen mit sich bringen wird – Neuerungen nach einem etwaigen Inkrafttreten der Verfassung im Wege des Vertragsänderungsverfahrens zu erwarten. Sollte der Unionsgesetzgeber dennoch das – auch politische – Wagnis einzuge1
Vgl. BVerfGE 89, 155 ff. („Maastricht“). Dazu bspw. Baumgartner, „Jede Gesellschaftstätigkeit ist ihrem Wesen nach subsidiär“, S. 13 ff.; vgl. die Ausführungen der Einführung. 2
Résumé und Ausblick
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hen beabsichtigen, die Subsidiaritätsdefinition des Art. I-11 Abs. 3 VVE einer kritischen Prüfung zu unterziehen, böten sich drei Punkte zur Veränderung an. Beide nachfolgend vorgeschlagenen Korrekturen änderten an Inhalt und Aussagegehalt der Norm nichts, trügen aber ein wenig zur Klarstellung und Präzisierung bei. Erstens sollten die einleitenden Worte des Art. I-11 Abs. 3 VVE („Nach dem Subsidiaritätsprinzip“) ersatzlos gestrichen werden. Damit wäre klargestellt, dass das Subsidiaritätsprinzip in dieser Bestimmung selbst definiert, nicht nur anwendungsorientiert konkretisiert wird. Wie bereits ausgeführt,3 legt die gegenwärtige Formulierung den – ideengeschichtlich freilich zutreffenden – Schluss nahe, Art. I-11 Abs. 3 VVE setze ein irgendwie geartetes existentes, aber nicht im Verfassungstext definitorisch verortetes Subsidiaritätsprinzip voraus und formuliere auf dessen „Schultern“ konkrete einzuhaltende Kriterien. Eine Kappung jener historischen Wurzeln des Prinzips wirkte effektiv der Gefahr entgegen, die Subsidiarität mit normfernem Unterbau zu überfrachten und sie – weg vom Rechtsprinzip – hin zu einem schillernden politischen Begriff zu verwandeln. Die Beseitigung des Hinweises auf seine überkonstitutionelle Existenz verschlösse die Tür zu ausufernden Interpretationsmöglichkeiten des Subsidiaritätsbegriffs – der harten, normbasierten Kriterienprüfung könnten keine verwässernden „normleitenden“ Allgemeinplätze entgegengesetzt werden. Die Annahme einer alleinigen und abschließenden Definition des europarechtlichen Subsidiaritätsprinzips im Vertragstext selbst wäre ein weiterer Schritt hin zu einer effektiven Durchsetzbarkeit seiner Inhalte, sowohl auf der politischen Ebene, als auch im Rahmen der Prüfung von Rechtsakten vor dem EuGH. Der zweite Änderungsvorschlag betrifft die Formulierung der Verknüpfung der beiden Kriterien in Art. I-11 Abs. 3 VVE. Hier sollte auf das Wort „vielmehr“ in der deutschen Fassung des Vertragstextes verzichtet werden. Wie die Prüfung des Kriteriennexus zeigte,4 hat dieser Begriff, der insbesondere der baden-württembergisch/deutschen Seite unter Erwin Teufel „am Herzen zu liegen“ schien, keinen eigenständigen inhaltlichen Sinn, sondern wirkt im Ergebnis eher verwirrend. Die Herauslösung des „vielmehr“ beließe der Verknüpfungsformulierung ihren relevanten Bedeutungsgehalt, nämlich die Festschreibung der Notwendigkeit einer eigenständigen „zweistufigen“ Prüfung beider Subsidiaritätsaspekte sowie des konsekutiv-additiven Verhältnisses der Kriterien ohne die Erforderlichkeit von Ursachenidentität. Zudem wäre etwas von der diffusen Mehrdeutigkeit in der Abfassung des Nexus beseitigt. Drittens sollte die bereits angesprochene Notwendigkeit einer constructio ad sensum im Rahmen des Kriteriums der Effizienz-Optimierung5 durch eine grammatisch korrekte Formulierung obsolet gemacht werden. Es bedarf also einer sprachlichen Fassung dieses Kriteriums, aus der einwandfrei hervorgeht, dass die 3 4 5
Kapitel 3 I. 2. f). Kapitel 3 I. 3. c). Kapitel 3 I. 3. b); Kapitel I 2. 1. c).
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zu prüfendem Faktoren „Umfang“ bzw. „Wirkungen“ sich nicht auf die „Ziele“, sondern auf die in Betracht gezogenen „Maßnahmen“ beziehen. Art. I-11 Abs. 3 VVE lautete dann in der deutschen Fassung folgendermaßen: „Die Union wird in den Bereichen, die nicht in ihre ausschließliche Zuständigkeit fallen, nur tätig, sofern und soweit die Ziele der in Betracht gezogenen Maßnahmen von den Mitgliedstaaten weder auf zentraler noch auf regionaler oder lokaler Ebene ausreichend verwirklicht werden können, sondern wegen des Umfangs oder der Wirkungen der Maßnahmen auf Unionsebene besser zu verwirklichen sind.“
Weitere Aspekte könnten genannt werden, die eine entsprechende Änderung des Wortlauts von Art. I-11 Abs. 3 VVE begrüßenswert machen könnten, bspw. die Formulierung des Kreises der dem Subsidiaritätsprinzip Verpflichteten; wie aufgezeigt wurde,6 greift der Terminus „Organe“ in diesem Zusammenhang zu kurz. Darauf soll jedoch nicht weiter eingegangen werden, da bezüglich dieser Punkte eine tiefschürfendere Arbeit am Vertragstext vonnöten wäre, als von den am Rechtsetzungsprozess beteiligten Akteuren zum gegenwärtigen Zeitpunkt ernsthafterweise erwartet werden kann. Die Überlegungen zu einer etwaigen Änderung der Subsidiaritätsformulierung des Art. I-11 Abs. 3 VVE soll sich daher auf die genannten Aspekte beschränken, die „einfach“ und im Wege quasi „redaktioneller“ Arbeit zu einer Präzisierung des Normtextes führen würden. Jenseits von Art. I-11 Abs. 3 VVE muss das bereits kritisierte7 Fehlen eines Prüfungskatalogs Anlass geben, auch den Inhalt des Subsidiaritätsprotokolls zu überdenken. Die im Subsidiaritätsprotokoll zum Amsterdamer Vertrag verankerten und damit Primärrechtscharakter aufweisenden Leitlinien für die Operationalisierung des Subsidiaritätsprinzips fielen nach Inkrafttreten des Verfassungsvertrags ersatzlos weg. Wirklich plausible Gründe für diesen bedauerlichen8 Rückschritt hinter den Stand des geltenden Gemeinschaftsrechts sind nicht ersichtlich. Es führte zu keiner Gefährdung der gelungenen Akzentuierung der prozeduralen Schutzaspekte unter dem Regime des Verfassungsvertrags, würde etwa der überarbeitete Inhalt von Art. 5 des Subsidiaritätsprotokolls zum Vertrag von Amsterdam in das Subsidiaritätsprotokoll des Verfassungsvertrags inkorporiert – ein „Abstandsgebot“ zwischen materiellen und prozeduralen Aspekten erscheint nicht zielführend, vielmehr erfordert die gewünschte Effektivierung des Subsidiaritätsprinzips ein Handeln „auf beiden Seiten des Flusses“. Eine solche Ergänzung gäbe nicht nur den sich jeweils mit der Subsidiaritätsfrage beschäftigenden Organen und Institutionen einen recht verlässlichen9 „Leitfaden“ an die Hand, gleich-
6
Kapitel 3 I. 2. e). Kapitel 3 I. 3. e). 8 A. A. Wuermeling, Kalamität Kompetenz, S. 224 f.; v. Bogdandy/Bast/Westphal, Die vertikale Kompetenzordnung, S. 419. 9 A. A. v. Bogdandy/Bast/Westphal, Die vertikale Kompetenzordnung, S. 419, den Wegfall der „rechtstechnisch bedenklichen materiellen Standards“ begrüßend. 7
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zeitig würde auch – ganz im Sinne der Erklärung von Laeken10 – die Transparenz des Gewährleistungsverfahrens gestärkt.11
II. Zu den prozeduralen Aspekten des Subsidiaritätsprinzips Trotz einiger Lücken und Schwächen kann das prozedurale System zur Gewährleistung der Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips insgesamt als recht gelungen bezeichnet werden. Das Subsidiaritätsprotokoll und das Protokoll über die Rolle der nationalen Parlamente führen den Regelungsgehalt der entsprechenden Vorschriften des geltenden Gemeinschaftsrechts „bemerkenswert weiter“ (Thomas Oppermann)12. Wie schon bei den materiellrechtlichen Aspekten des Subsidiaritätsprinzips stellt sich freilich auch im prozeduralen Bereich die Frage nach der Notwendigkeit oder Sinnhaftigkeit von Änderungen und Ergänzungen des Normtextes. Denkbar wäre eine Reihe von präzisierenden Formulierungen, bspw. zur Klärung der in Anbetracht von Rüge- und Prüfungsumfang de lege lata nicht unbedeutenden Frage, ob die in Art. 5 Satz 5 Subsidiaritätsprotokoll genannten Aspekte der finanziellen Belastung und des Verwaltungsaufwands – die einzigen materiellrechtliche „Leitlinien“ zur Prüfung in diesem Protokoll – sich inhaltlich auf das Subsidiaritäts- oder das Verhältnismäßigkeitsprinzip beziehen. Ferner käme in Betracht, den Anwendungsbereich des im Subsidiaritätsprotokoll niedergelegten Kontrollmechanismus auch auf andere Rechtsakte als Europäische Gesetzgebungsakte auszuweiten.13 Damit wäre zum einen das problematisch erscheinende Auseinanderfallen von Verpflichtung und konkreter – kontrollunterworfener – Verantwortlichkeit beseitigt; zum anderen wäre sichergestellt, dass das „Warnsignal an die Kommission“14 bei allen Rechtsakten15 erschallen könnte, welche möglicherweise in kompetenzielle Sphären der Mitgliedstaaten und ihrer binnenstaatlichen „Ebenen“ eingreifen. Ebenfalls erörterungswürdig ist die Frage, ob im Rahmen des Frühwarnsystems und der Subsidiaritätsklage nicht – wie die tatsächliche Titulierung des „Subsidiaritätsprotokolls“ insinuiert – auch Verstöße gegen das 10 „Die Zukunft der Europäischen Union“; Erklärung des Europäischen Rates von Laeken, 15. Dezember 2002; im Internet abrufbar unter http://europa.eu.int/constitution/futurum/documents/offtext/doc151201_de.htm. 11 So im Ergebnis auch Calliess in Calliess/Ruffert, Verfassung für die Europäische Union, Art. I-11 Rn. 29. 12 Oppermann, Eine Verfassung für die Europäische Union, S. 1171. 13 Kapitel 3 – Anwendungsbereich des Subsidiaritätsprotokolls. 14 Erwin Teufel am 14. Juli 2004 in seiner Regierungserklärung im Landtag von BadenWürttemberg, S. 12, http://www.stm.baden-wuerttemberg.de/sixcms/media.php/628/regierungs erklaerung_teufel_EU_verfassung.pdf. 15 Dies wäre vor allem im Bereich der Europäischen Verordnungen und Europäischen Beschlüsse relevant.
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Verhältnismäßigkeitsprinzip gerügt und geprüft werden können sollten. Die Implementierung letztgenannter Erwägungen hätte freilich auf den Inhalt der im Subsidiaritätsprotokoll niedergelegten Gewährleistungsmechanismen erhebliche Auswirkungen. In Anbetracht der gegenwärtigen Situation des Verfassungsvertrags wird daher – wie bei den tiefergehende Arbeit am Vertragstext erfordernden materiellrechtlichen Anpassungsüberlegungen – auf diese Aspekte nicht weiter eingegangen. Auch in der Praxis sollte die Diskussion hierüber erst dann geführt werden, wenn ein Inkrafttreten des Vertrags über eine Verfassung für Europa absehbar erscheint oder bereits Realität geworden ist – an Übereiltheit ist nicht allein König Lear in der gleichnamigen Tragödie von William Shakespeare gescheitert. Das Frühwarnsystem – als Instrument politischer Kontrolle – gibt den nationalen Parlamenten zwar nicht die Möglichkeit, einen Gesetzgebungsentwurf zu verhindern, wenn dieser ihrer Auffassung nach gegen das Subsidiaritätsprinzip verstößt. Durch die Erzwingung einer Berücksichtigung oder gar Überprüfung des Entwurfs kann der Gang des Gesetzgebungsverfahrens auf diesem Wege nur ein wenig hinausgezögert werden.16 Obwohl die rechtlichen Einflussmöglichkeiten der nationalen Parlamente auf den Unionsgesetzgeber also sehr gering sind – eben kein „Prinzip der roten Karte“17 – darf die Bedeutung des Frühwarnsystems für die Gewährleistung der Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips nicht unterschätzt werden.18 Es stellt ein deutliches „Warnsignal“ an den Unionsgesetzgeber dar19 und mag diesen dazu bewegen, ein Vorhaben „noch einmal (…) zu überdenken“ (Jürgen Schwarze)20 und eine politische Lösung zu finden, insbesondere in Anbetracht des drohenden „Damoklesschwerts der Subsidiaritätsklage“21 im Anschluss an die – aus Sicht der nationalen Parlamente erfolglose – Durchführung des Frühwarnsystems.22 Gerade jene Vorschaltung eines „diskursiven Prozess(es) der Verständigung“ (Martin Nettesheim)23 vor die „harte“ – allein „an Recht und Gesetz gebundene“ – Überprüfung des Gesetzgebungsakts vor dem EuGH macht den besonderen „Reiz“ des mehrstufigen Subsidiaritätsgewährleistungssystems aus. In dieser Kombination liegt eine gute Chance, das Subsidiaritätsprinzip bei der Europäischen Gesetzgebung effektiver als bisher zu implementieren. Dies gilt jedenfalls 16 Insofern bestehen hier gewisse Parallelen zum Verfahren bei Einspruchsgesetzen gemäß Art. 77 GG. 17 Schwarze, Der Verfassungsentwurf, S. 522. 18 So neben anderen Möstl, Verfassung für Europa, S. 94. 19 Vgl. die Regierungserklärung des baden-württembergischen Ministerpräsidenten Teufel am 14. Juli 2004 im Landtag von Baden-Württemberg, S. 12, im Internet abrufbar unter http:// www.stm.baden-wuerttemberg.de/sixcms/media.php/628/regierungserklaerung_teufel_EU_ verfassung.pdf. 20 Schwarze, Der Verfassungsentwurf, S. 522. 21 Abermals Teufel in seiner Regierungserklärung am 14. Juli 2004 im Landtag von BadenWürttemberg, S. 12, http://www.stm.baden-wuerttemberg.de/sixcms/media.php/628/regierungs erklaerung_teufel_EU_verfassung.pdf. 22 Vgl. Straub, Der Verfassungsentwurf aus Sicht der Länder, S. 39. 23 Nettesheim, Kompetenzordnung, S. 538.
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dann, wenn die nationalen Parlamente willens und in der Lage sind, den Rechtsetzungsprozess auf europäischer Ebene „kritisch zu verfolgen und gegebenenfalls einzuschreiten“.24 Ob der politische Wille besteht, wird die Zukunft zeigen und gewiss auch von den jeweils aktuellen Mehrheitsverhältnissen in den Parlamenten der Mitgliedstaaten abhängig sein. Die Fähigkeit zur Abgabe fundierter – und damit Erfolg versprechender – Stellungnahmen setzt jedenfalls voraus, die „traditionell schwache Informationslage des Parlaments“ (Wolfgang Graf Vitzthum)25 in Angelegenheiten der Europäischen Union zu verbessern. Die nationalen Parlamente werden diesbezüglich um organisatorische Maßnahmen vielfältiger Art nicht herumkommen.26 Die Befürchtung, dass der Arbeitsaufwand zur Abgabe gewichtiger27 Stellungnahmen im Vergleich zu deren rechtlichen Konsequenzen zu einer „Disproportionalität zwischen Aufwand und Ertrag“ (Meinhard Schröder)28 führt, ist nicht von der Hand zu weisen. Das mögliche Resultat, die Änderung oder Rücknahme eines Gesetzgebungsakts bereits auf der im Vergleich zur gerichtlichen expost-Kontrolle „geräuschloseren“ politischen Ebene („solange das Eisen noch heiß ist“, Jürgen Meyer)29 zu bewirken, dürfte allerdings die Anfertigung überzeugender Stellungnahmen rechtfertigen.30 Gefragt sein wird jedenfalls die Etablierung effektiver und effizienter „Querverbindungen auf Arbeitsebene“31, gerade in Anbetracht der nicht besonders langen Frist zur Abgabe einer Stellungnahme.32 Eine verbesserte „Kommunikationskultur“ ist Voraussetzung, dass sich die nationalen Parlamente „zu einem konstruktiven Gesprächspartner im europäischen Rechtsetzungsprozess“ entwickeln können33 – über die Rolle eines reinen „Vetospieler(s) im Gefüge vertikaler Gewaltenteilung“ (Karl-Peter Sommermann)34 hinaus. Die Beantwortung der Frage, ob unter dem Regime des Vertrags über eine Verfassung für Europa eine „genauere“ Beachtung der Kriterien des Subsidiaritätsprinzips zu erwarten ist, hängt maßgeblich davon ab, welche Rolle der EuGH künftig bei der Subsidiaritätskontrolle einzunehmen gedenkt. Die bisherige Praxis, den Gemeinschaftsorganen im Bereich des Subsidiaritätsprinzips einen außerordentlich weiten Ermessensspielraum zuzubilligen, ist jedenfalls in rechtlicher Hinsicht nicht zwingend: Im Wege einer vergleichenden Betrachtung kann dies 24
Nettesheim, Kompetenzordnung, S. 538. Graf Vitzthum, Parlament und Planung, S. 250. 26 Vgl. Nettesheim, Kompetenzordnung, S. 538. 27 Oppermann, Eine Verfassung für die Europäische Union, S. 1171. 28 Schröder, Vertikale Kompetenzverteilung und Subsidiarität, S. 150. 29 Meyer, Entwurf eines Vertrages über eine Verfassung für Europa, S. 437. 30 So im Ergebnis auch Schwarze, Der Verfassungsentwurf, S. 524. 31 Nettesheim, Kompetenzordnung, S. 538. 32 Freilich wäre eine deutliche Verlängerung der Stellungnahmefrist auch keine „Lösung“, besteht doch ein – ebenfalls schutzwürdiges – Interesse „Europas“ an einer zügigen und möglichst verzögerungsfreien Rechtsetzung. 33 Ritzer/Ruttloff, Die Kontrolle des Subsidiaritätsprinzips, S. 135; Altmaier, Die Subsidiaritätskontrolle, S. 313. 34 Sommermann, Verfassungsperspektiven, S. 1013. 25
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an der Entwicklung der Rechtsprechung des BVerfG zu Art. 72 Abs. 2 GG bis hin zum „Altenpflege“-35 und dem „Juniorprofessur“-Urteil36 aufgezeigt werden. Zwar mag man verschiedener Auffassung dahingehend sein, ob Art. 72 Abs. 2 GG überhaupt eine mit Art. I-11 Abs. 3 VVE vergleichbare Subsidiaritätsregel darstellt.37 Zudem darf nicht außer Acht gelassen werden, dass die Entwicklung der Karlsruher Rechtsprechung durch die Änderung – Verschärfung – von Art. 72 Abs. 2 GG im Jahre 199438, welche nach dem Willen des Verfassungsgesetzgebers ausdrücklich einer Verbesserung der Justiziabilität der Norm dienen sollte,39 entscheidend beeinflusst wurde. Unabhängig von der genauen rechtlichen Einordnung der Erfordernisklausel handelt es sich aber bei Art. 72 Abs. 2 GG wie beim Subsidiaritätsprinzip des Art. I-11 Abs. 3 VVE zweifelsohne um eine Kompetenzausübungsregel. Insofern können in gewissem Umfang die vom BVerfG entwickelten Grundsätze zu dieser „Subsidiaritätsbarriere“ (Josef Isensee)40 herangezogen werden, um als „leuchtendes Beispiel“ Luxemburg den „rechten Weg“ zu einer effektiven Kontrolle der Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips zu weisen.41 Dabei wird es in erster Linie darauf ankommen, dem EuGH grundsätzliche „Impulse (zu) geben“ (Jürgen Schwarze)42 und ihm die Möglichkeit einer „wirklichen“ Prüfung der Kriterien des Subsidiaritätsprinzips vor Augen zu führen. Überdies sind aber auch Einzelanregungen aus dem Fundus Karlsruher Rechtsprechung denkbar, etwa zur Beurteilung der Frage, ob die den europäischen Institutionen gewährte legisla35
BVerfGE 106, 62 ff. BVerfGE 111, 226 ff. 37 Für Isensee, Subsidiaritätsprinzip und Verfassungsrecht, S. 358, stellt Art. 72 Abs. 2 GG den „Prototyp einer positivrechtlichen Umsetzung des Subsidiaritätsprinzips“ dar. Nach Kenntner, Normgeberwille und Verfassungsinterpretation, S. 294, kommt das europarechtliche Subsidiaritätsprinzip der Erforderlichkeitsklausel des Art. 72 Abs. 2 GG „strukturell (…) sehr nahe“. Ähnlich Calliess, Subsidiaritäts- und Solidaritätsprinzip, S. 306 ff.; Schröder, Vertikale Kompetenzverteilung und Subsidiarität, S. 147 („übernimmt im Ergebnis die Funktion des Art. 72 Abs. 2 GG“). Nach Sachs/Degenhart, Grundgesetzkommentar (3. Auflage 2003), Art. 72 Rn. 10, handelt es sich beim Grundsatz der Erforderlichkeit hingegen um ein „Teilelement des Verhältnismäßigkeitsprinzips.“ Es sei daher unzulässig, die Erforderlichkeitsklausel des Art. 72 Abs. 2 GG „entsprechend dem Subsidiaritätsprinzip des Art. 5 EGV zu bestimmen.“ Nach Rn. 22 der aktuellen Auflage hat diese Frage angesichts der Herausarbeitung gerichtlicher Kontrollmaßstäbe durch das BVerfG „an Relevanz verloren“. 38 Das „Bedürfnis nach bundesgesetzlicher Regelung“ wurde in diesem Jahr (Gesetz vom 27.10.1994, BGBl. I S. 3146) durch die strengere Anforderungen konstituierende Formulierung „eine bundesgesetzliche Regelung erforderlich macht“ ersetzt. Hierzu Neumeyer, Der Weg zur neuen Erforderlichkeitsklausel, S. 131 ff. 39 Siehe etwa BT-Drs. 12/6633 S. 8; vgl. bspw. auch Oeter in v. Mangoldt/Klein/Starck, GG Kommentar, Art. 72 Rn. 86 ff.; Jahn, Empfehlungen der Verfassungskommission, S. 180. 40 Isensee, Idee und Gestalt des Föderalismus, S. 582. 41 So auch Calliess, Kontrolle zentraler Kompetenzausübung in Deutschland und Europa, S. 196 f.; ders. in Calliess/Ruffert, Verfassung für die Europäische Union, Art. I-11 Rn. 79. 42 Anmerkung zu Art. 23 des Freiburger Entwurfs für einen Europäischen Verfassungsvertrag; unter anderem abgedruckt bei Jürgen Schwarze (Hrsg.), Der Verfassungsentwurf des Europäischen Konvents – Verfassungsrechtliche Grundstrukturen und wirtschaftsverfassungsrechtliches Konzept (2004). Vgl. die Ausführungen zum VE Freiburg in Kapitel 2 III. 1. 36
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tive Einschätzungsprärogative43 auf einem angemessenen Prognoseverfahren beruhte.44
III. Zur Zukunft des Verfassungsvertrags – abschließende Bemerkungen Europas Zukunft steht momentan „in den Sternen“, nach den gescheiterten Referenden in Frankreich und den Niederlanden sind die Chancen eines Zustandekommens des Verfassungsvertrags schwer abzuschätzen.45 Die Ursachen für das „Nein“ der Bevölkerung jener beiden Gründungsmitglieder der Europäischen Gemeinschaft sowie für die deutliche Skepsis auch in vielen anderen Staaten Europas46 sind vielfältiger Art: Teilweise beruht die ablehnende öffentliche Meinung auf „Legenden und gelegentliche(n) Böswilligkeiten“ (Thomas Oppermann)47, teilweise auf wirklichen „Schwachstellen“ des Vertragstexts.48 Weder das französische „Non!“ noch das holländische „Nee!“ haben freilich zu einer Gesetzlosigkeit in Europa geführt – die Union steht nur eben vor der schwierigen Aufgabe, bis auf weiteres mit dem – schon angesichts der Erweiterung um zehn neue Mitglieder völlig unzureichenden – Instrumentarium von Nizza „weiterleben“49 zu müssen. Einerlei, wie sich die europäische Rechtslandschaft zukünftig im Einzelnen gestalten wird: Der Vertrag über eine Verfassung für Europa und die hierin erzielten Fortschritte sind zu wichtig, um in rechtsgeschichtliche Vergessenheit zu geraten. Das dringend notwendige „Risorgimento“ (Thomas Oppermann)50 der Union darf über die wesentlichen, in diesem Vertragswerk verankerten Reformergebnisse nicht gedankenlos hinweggehen. Sollte der Verfassungsvertrag als solcher tatsächlich keine Chance auf Ratifizierung haben, erscheint eine Inkorporation einiger seiner wesentlichen Inhalte in das geltende Gemeinschafts- bzw. Unionsrecht51 43 Siehe etwa für das geltende Gemeinschaftsrecht Calliess, Subsidiaritäts- und Solidaritätsprinzip, S. 337; Zuleeg, Justiziabilität des Subsidiaritätsprinzips, S. 194. 44 BVerfGE 106, 62 (150 ff.); BVerfGE 111, 226 (255). 45 Hierzu trifft auch der Verfassungsvertrag keine Aussage. Eine entsprechende Regelung könnte ohnehin nur nach Inkrafttreten des Vertrags Wirkung entfalten – mithin ein Zirkelschluss! Denkbar wäre allenfalls ein dieses Thema regelnder Vorschaltvertrag gewesen, eine Option, welche diskutiert, aber recht schnell als unpraktikabel verworfen wurde, vgl. Hector, Die Europäische Verfassung, S. 498. 46 Zu den Folgen einer Nichtratifikation durch einzelne Mitgliedstaaten der Union vgl. Hector, Die Europäische Verfassung, S. 497 ff. 47 Oppermann, Der Europäische Verfassungsvertrag – Legenden und Tatsachen, S. 298. 48 Zu beiden Aspekten Oppermann, Der Europäische Verfassungsvertrag – Legenden und Tatsachen, S. 281 ff. 49 Oppermann, Der Europäische Verfassungsvertrag – Legenden und Tatsachen, S. 283. 50 Oppermann, Der Europäische Verfassungsvertrag – Legenden und Tatsachen, S. 283. 51 Ein solcher Weg wäre jedenfalls der rechtlich denkbaren, politisch freilich fatalen letzten Option, dem Szenario eines kollektiven Austritts aller Mitgliedstaaten „mit anschließender Neugründung im Kreis der Willigen“ vorzuziehen, vgl. Hector, Die Europäische Verfassung, S. 504.
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als – zugegeben unbefriedigende – Möglichkeit, die voraussehbare Krise Europas wenigstens ansatzweise abzumildern.52 Zu diesen „übernahmewürdigen“ essentialia negotii gehören zweifelsohne die Bestimmungen zum Subsidiaritätsprinzip, sowohl was dessen materielle Definition in Art. I-11 Abs. 3 VVE angeht, als auch – vor allem – die prozedurale Ausgestaltung des Prinzips im Subsidiaritätsprotokoll und – ergänzend – im Protokoll über die Rolle der nationalen Parlamente. Die dort verankerten Regeln und Grundsätze könnten recht unproblematisch als „Filetstücke“ aus dem auf Eis liegenden Körper des Verfassungsvertrags herausgelöst und – nach gewissen Anpassungsarbeiten – in das geltende europäische Recht hineingefügt werden. Im Hinblick auf die verfassungsrechtliche Ordnung der Mitgliedstaaten dürfte ein solches Prozedere der Teilinkorporation keinen Bedenken begegnen: Das „negative“ Ergebnis der Referenden in Frankreich und den Niederlanden betraf nur den Verfassungsvertrag als solchen. Eine Übernahme eines Teils53 seines Inhalts in das geltende Europarecht im Wege des „üblichen“ intergouvernementalen Vertragsänderungsverfahrens dürfte sich daher – noch – nicht als Verstoß gegen ein verfassungsrechtliches Umgehungsverbot darstellen. Noch weniger steht die bereits erfolgte Ratifikation des Vertrags in einer Reihe von Mitgliedstaaten der Union jenem Verfahren entgegen. Im Übrigen verdient eine solche „Notoperation am europäischen Patienten“ auch nicht den zu erwartenden Vorwurf, hier werde „Leichenfledderei“ betrieben: Selbst wenn der Verfassungsvertrag keine Chance auf ein Inkrafttreten haben sollte –, wer kann überhaupt eine solche Aussage für die Zukunft treffen? – wäre er nicht „tot“; totes Recht mag nur solches sein, welches keine Bedeutung mehr besitzt.54 Für die Zukunft der Europäischen Union aber sind die Inhalte des Vertrags über eine Verfassung für Europa eine kaum zu überschätzende Größe. Keine europäische Primärrechtsetzung in den nächsten Jahren wird die im Verfassungsvertrag gesetzten Maßstäbe achtlos beiseite lassen können. Sie sind und bleiben – unabhängig von der Frage nach ihrer Gültigkeit – wertvolle normative Richtschnur und Wanderkarte auf dem Weg, „dieses große Unterfangen fortzusetzen, das einen Raum eröffnet, in dem sich die Hoffnung der Menschen entfalten kann“.55 Und wie oft kommt es doch vor, dass Totgeglaubte urplötzlich zu neuem Leben erwachen. Dennoch mögen abschließend hier noch – ohne eine Antwort darauf zu geben – zwei „häretisch“ anmutende Fragen gestellt sein. Erstens: Ist das Subsidiaritäts52 Eine andere – freilich rechtstechnisch ebenfalls komplizierte – Möglichkeit wäre es, den Verfassungsvertrag vom „Ballast der Politikbereiche des III. Teiles“ zu befreien und dann einen neuen Ratifikationsprozess einzuleiten, Oppermann, Der Europäische Verfassungsvertrag – Legenden und Tatsachen, S. 299. 53 Hingegen muss eine – mehr oder minder – vollständige „Überleitung“ der Artikel des Verfassungsvertrags in den EUV/EGV jedenfalls aus französischer wie niederländischer Sicht unzulässig sein. 54 Die Metapher vom „toten Recht“ soll keine Aussage hinsichtlich der Positivität (Geltung, nicht Gültigkeit) der Normen des Verfassungsvertrags treffen; vgl. hierzu bspw. Ryffel, Grundprobleme der Rechts- und Staatsphilosophie, S. 371 ff. 55 Aus der Präambel des Verfassungsvertrags.
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prinzip tatsächlich das geeignete Mittel, um in einer sich immer weiter ausdehnenden Union die Belange der „unteren Ebenen“ zu vertreten? Wäre nicht vielleicht eine am politischen Begriff des „Föderalismus“ orientierte Struktur – etwa ein „Bundesstaat ohne Staatscharakter“ – ein schärferes Schwert zur Wahrung mitgliedstaatlicher Kompetenz und Identität56? Zu Beginn dieser Arbeit wurde darauf hingewiesen, dass das Subsidiaritätsprinzip – theoretisch – eine schrankenlose Hochzonung von Zuständigkeiten nicht unterbinden kann, während in einer nach föderativen Grundsätzen ausgestalteten Union stets ein gehaltvoller Kernbestand an Kompetenz und Eigenständigkeit den Staaten verbleiben muss. Ein Ende als „Würfelzucker im Kaffee“ könnte daher vielleicht eher durch eine Akzentuierung der Garantie der Achtung nationaler Identität im Verfassungsvertrag sowie durch in Rechtsform gegossene und in das Vertragswerk inkorporierte föderative Strukturprinzipien verhindert werden denn durch eine immer feiner ausziselierte Weiterführung des Subsidiaritätsgedankens. Zweitens: Ist die immer stärker werdende Betonung der Region als Faktor im Horizont Europas wirklich zielführend? Werden so die „unteren Ebenen“ – Mitgliedstaaten und ihre Regionen – tatsächlich gegenüber „Europa“ gestärkt, oder besteht nicht in erster Linie die Gefahr, dass der Staat als vermeintliches „Auslaufmodell“ zwischen den beiden Mühlsteinen subnationaler und supranationaler Art zur Unkenntlichkeit zerrieben wird? Seit Walter Hallsteins Diktum – „Der Nationalstaat (…) ist nicht das unveränderliche Maß aller politischen Dinge; zu sehr missachtet er regionale Interessen“57 – hat sich die politische Landkarte erheblich gewandelt; die Kontinentaldrift dauert an. Dem Staat als einzigen wirklichen Garanten einer – seiner – Volksgemeinschaft droht Gefahr nicht allein von einer immer stärker werdenden Verflechtung im Gewirr supranationaler wie internationaler Beziehungen. Bedrängnis kann auch durch das einschnürende Zusammenspiel dieser Verflechtungen mit den binnenstaatlichen „Ebenen“ entstehen. Zwar gilt gewiss: „Der Wald hat keine Wurzeln, nur die Bäume haben sie“.58 Man mag aber vielleicht noch ergänzend hinzufügen: Bäume bestehen nicht allein aus Zweigen. Sie bedürfen auch eines Stamms.
56 57 58
Vgl. dazu Graf Vitzthum, Die Identität Europas, S. 1 ff. Hallstein, Die Europäische Gemeinschaft, S. 13. Graf Vitzthum, Der Staat der Staatengemeinschaft, S. 94.
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Mandat der Arbeitsgruppen des Konvents, Vermerk des Präsidiums für die Arbeitsgruppen vom 17. Mai 2002, CONV 52/02. Mandat der Arbeitsgruppe zum Subsidiaritätsprinzip, Vermerk des Vorsitzenden der Arbeitsgruppe I an die Mitglieder des Konvents vom 30. Mai 2002, CONV 71/02, ergänzt durch CONV 71/02 COR. „Eine wirksame Kompetenzkontrolle bei der Rechtsetzung der Europäischen Union“, Dokument des Konventsmitglieds Erwin Teufel vom 9. Juli 2002, WG I WD 6. Initial proposals for conclusions, Vermerk des Vorsitzenden der Arbeitsgruppe I für die Mitglieder der Arbeitsgruppe I vom 29. Juli 2002, WG I WD 9. „Bemerkungen zu dem „Ersten Vorschlag für die Schlussfolgerungen“ (Arbeitsdokument 09 vom 29. Juli 2002)“, Dokument des Konventsmitglieds Erwin Teufel vom 29. Juli 2002, WG I WD 12. Proposal by Mr. Jürgen Meyer and copy of his letter to Mr. Mendez de Vigo, Vermerk des Konventsmitglieds Jürgen Meyer an die Mitglieder der Arbeitsgruppe I vom 10. September 2002, WG I WD 18. Schlussbericht der Gruppe IX „Vereinfachung“, Bericht des Vorsitzenden der Arbeitsgruppe I an die Mitglieder des Konvents vom 23. September 2002, CONV 286/02. Schlussfolgerungen der Gruppe I „Subsidiaritätsprinzip“, Bericht des Vorsitzenden der Arbeitsgruppe IX an die Mitglieder des Konvents vom 29. November 2002, CONV 424/02. Vorentwurf des Verfassungsvertrags, Übermittlungsvermerk des Präsidiums an die Mitglieder des Konvents vom 28. Oktober 2002, CONV 369/02. Correspondance between Mr. Teufel […] and […] Mr. Íñigo Méndez de Vigo, Vermerk für die Mitglieder der Arbeitsgruppe I vom 18. September 2002, WG I WD 23. Aufzeichnung über die Plenartagung des Konvents (21./22. März 2002), Vermerk vom 25. März 2002, CONV 14/02. Aufzeichnung über die Plenartagung des Konvents (15./16. April 2002), Vermerk vom 25. April 2002, CONV 40/02. Aufzeichnung über die Plenartagung des Konvents (23./24. Mai 2002), Vermerk vom 29. Mai 2002, CONV 60/02. Aufzeichnung über die Plenartagung des Konvents (6./7. Juni 2002), Vermerk vom 19. Juni 2002, CONV 97/02. Aufzeichnung über die Plenartagung des Konvents (24./25. Juni 2002), Vermerk vom 4. Juli 2002, CONV 167/02. Synthesebericht über die Plenartagung des Konvents (11./12. Juli 2002), Vermerk vom 16. Juli 2002, CONV 200/02. Schlussdokument des Europäischen Jugendkonvents, Übermittlungsvermerk des Sekretariats an die Mitglieder des Konvents vom 19. Juli 2002, CONV 205/02. Mandat der Gruppe X „Freiheit, Sicherheit und Recht“, Vermerk des Sekretariats für die Mitglieder des Konvents vom 12. September 2002, CONV 258/02.
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Synthesebericht über die Plenartagung des Konvents (12./13. September 2002), Vermerk vom 17. September 2002, CONV 284/02. Beitrag des Stellvertretenden Mitglieds des Konvents […] Robert Badinter – „Eine Europäische Verfassung“, Übermittlungsvermerk des Sekretariats an die Mitglieder des Konvents vom 30. September 2002, CONV 317/02. Synthesebericht über die Plenartagung des Konvents (3./4. Oktober 2002), Vermerk vom 11. Oktober 2002, CONV 331/02. Beitrag des Mitglieds des Konvents […] P. Hain – Verfassungsvertrag für die Europäische Union, Übermittlungsvermerk des Sekretariats an die Mitglieder des Konvents vom 16. Oktober 2002, CONV 345/1/02 REV 1. Schlussbericht der Gruppe IV über die Rolle der einzelstaatlichen Parlamente, Bericht der Arbeitsgruppe IV an die Mitglieder des Konvents vom 22. Oktober 2002, CONV 353/02. Schlussbericht der Gruppe II über die Charta, Bericht des Vorsitzenden der Arbeitsgruppe II an die Mitglieder des Konvents vom 22. Oktober 2002, CONV 354/02. Synthesebericht über die Plenartagung des Konvents (28./29. Oktober 2002), Vermerk vom 31. Oktober 2002, CONV 378/02. Synthesebericht über die Plenartagung des Konvents (7./8. November 2002), Vermerk vom 13. November 2002, CONV 400/02. Schlussbericht der Gruppe X „Freiheit, Sicherheit und Recht“, Bericht des Vorsitzenden der Arbeitsgruppe X an die Mitglieder des Konvents vom 2. Dezember 2002, CONV 426/02. Synthesebericht über die Plenartagung des Konvents (5./6. Dezember 2002), Vermerk vom 13. Dezember 2002, CONV 449/02. Synthesebericht über die Plenartagung des Konvents (20. Dezember 2002), Vermerk vom 23. Dezember 2002, CONV 473/02. Synthesebericht über die Plenartagung des Konvents (20./21. Januar 2003), Vermerk vom 27. Januar 2003, CONV 508/03. Die regionale und lokale Dimension in Europa, Übermittlungsvermerk des Präsidiums an die Mitglieder des Konvents vom 29. Januar 2003, CONV 518/03. Schlussbericht der Gruppe XI „Soziales Europa“, Bericht der Arbeitsgruppe XI an die Mitglieder des Konvents vom 4. Februar 2003, CONV 516/1/03 REV 1. Korrigendum des Schlussberichts der Gruppe XI „Soziales Europa“, Korrigendum des Sekretariats für die Mitglieder des Konvents vom 4. Februar 2003, CONV 516/1/03 REV 1 COR 1. Entwurf der Artikel 1 bis 16 des Verfassungsvertrags, Vermerk des Präsidiums für die Mitglieder des Konvents vom 6. Februar 2003, CONV 528/03. Synthesebericht über die Plenartagung des Konvents (6./7. Februar 2003), Vermerk vom 13. Februar 2003, CONV 548/03. Reaktionen auf den Entwurf der Artikel 1 bis 16 des Verfassungsvertrags, Übermittlungsvermerk des Sekretariats an die Mitglieder des Konvents vom 26. Februar 2003, CONV 574/1/03 REV 1.
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Entwurf von Protokollen über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit und über die Rolle der einzelstaatlichen Parlamente in der Europäischen Union, Vermerk des Präsidiums für die Mitglieder des Konvents vom 27. Februar 2003, CONV 579/03. Kurzbericht über die Plenartagung des Konvents (27./28. Februar 2003), Vermerk vom 11. März 2003, CONV 601/03. Kurzbericht über die zusätzliche Plenartagung des Konvents (5. März 2003), Vermerk vom 17. März 2003, CONV 624/03. Reaktionen auf den Entwurf eines Protokolls über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit – Analysen, Vermerk des Sekretariats für die Mitglieder des Konvents vom 12. März 2003, CONV 610/03. Synthesebericht über die Plenartagung des Konvents (17./18. März 2003), Vermerk vom 21. März 2003, CONV 630/03. Synthesebericht über die Plenartagung des Konvents (3./4. April 2003), Vermerk vom 9. April 2003, CONV 677/03. Synthesebericht über die Plenartagung des Konvents (24./25. April 2003), Vermerk vom 30. April 2003, CONV 696/03. Synthesebericht über die Plenartagung des Konvents (15./16. Mai 2003), Vermerk vom 27. Mai 2003, CONV 748/03. Entwurf der Verfassung, Band I – Überarbeiteter Text von Teil I, Übermittlungsvermerk des Präsidiums an die Mitglieder des Konvents vom 24. Mai 2003, CONV 724/03. Zusammenfassender Bericht über die Plenartagung des Konvents (30./31. Mai 2003), Vermerk vom 16. Juni 2003, CONV 783/03. Synthesebericht über die Plenartagung des Konvents (5. Juni 2003), Vermerk vom 17. Juni 2003, CONV 798/03. Band I – Überarbeitete Fassung von Teil I, Übermittlungsvermerk des Präsidiums an die Mitglieder des Konvents vom 10. Juni 2003, CONV 797/03 Synthesebericht über die Plenartagung des Konvents (11. und 13. Juni 2003), Vermerk vom 19. Juni 2003, CONV 814/03. Aufzeichnung über die Plenartagung des Konvents (4. Juli 2003), Vermerk vom 14. Juli 2003, CONV 849/03. Entwurf eines Vertrags über eine Verfassung für Europa, Übermittlungsvermerk des Sekretariats an die Mitglieder des Konvents vom 18. Juli 2003, CONV 850/03. Synthesebericht über die Plenartagung des Konvents (9./10. Juli 2003), Vermerk vom 23. Juli 2003, CONV 853/03. Richtlinie 2004/83/EG des Rates über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes vom 29. April 2004, ABl. EG Nr. L 304 2004 S. 12 vom 30. September.
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Vertrag über eine Verfassung für Europa, CIG 87/1/04 REV 1 mit ADD 1 und ADD 2, ABl. EG 2004 Nr. C 310/1 S. 1 vom 16. Dezember 2004. Protokoll über die Rolle der nationalen Parlamente in der Europäischen Union (Protokoll Nr. 1 zum Vertrag über eine Verfassung für Europa), CIG 87/1/04 REV 1 mit ADD 1 und ADD 2, ABl. EG 2004 Nr. C 310/1 S. 1. Protokoll über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit (Protokoll Nr. 2 zum Vertrag über eine Verfassung für Europa), CIG 87/1/04 REV 1 mit ADD 1 und ADD 2, ABl. EG 2004 Nr. C 310/1 S. 1. Protokoll zur Festlegung der Satzung des Gerichtshofes der Europäischen Union (Protokoll Nr. 3 zum Vertrag über eine Verfassung für Europa), CIG 87/1/04 REV 1 mit ADD 1 und ADD 2, ABl. EG 2004 Nr. C 310/1 S. 1.
III. Gesetze und Dokumente der Bundesrepublik Deutschland Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland vom 23. Mai 1949, BGBl. 1949 S. 1, letzte Änderung vom 26. Juli 2002, BGBl. 2002 I S. 2863. Verfassung des Landes Baden-Württemberg vom 11. November 1953, GBl. 1953 S. 173, letzte Änderung vom 23. Mai 2000, GBl. 2000 S. 449. Entschluss des Bundesrats zur Regierungskonferenz der Mitgliedstaaten der EG über die Politische Union v. 31. Juli 1990, BR-DrS. 550/90, Anlage, S. 1. Gemeinsamer Vorschlag von Bund und Ländern in den Vertragsverhandlungen von Maastricht zur Formulierung des Subsidiaritätsprinzips vom 15. Januar 1991, eingebracht durch die Bundesregierung, KONF. UP 1840/91. Verfahrensgrundsätze für die Subsidiaritätsprüfung durch die Bundesressorts gemäß Beschluss der Bundesregierung vom 8. Dezember 1993. Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU, SPD und F. D. P. – Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes (Art. 3, 20 a, 20 b, 28, 29, 72, 74, 75, 76, 77, 80, 87, 93, 118 a und 125 a) vom 20. Januar 1994, BT-DrS. 12/6633. Prüfraster für die Subsidiaritätsprüfung durch die Bundesressorts vom 18. Mai 1994, BRDrS. 532/94. Positionspapier der Europaminister und -senatoren der Länder zur Regierungskonferenz 1996, Beschluss der 10. Europaministerkonferenz in Würzburg am 23./24. Mai 1996. Beschluss der Konferenz der Präsidentinnen und Präsidenten der deutschen Landesparlamente am 17./18. Mai 2004 in Quedlinburg vom 18. Mai 2004 („Quedlinburger Erklärung“). Beschluss der Ministerpräsidentenkonferenz in Berlin vom 14. April 2005.
Sachwortverzeichnis acquis communautaire 67, 70, 181 acte clair 209 Begründungspflicht 61, 67, 69, 137, 139, 191, 192, 194, 195, 196, 197, 200, 201 Bundesstaat 17, 18, 71, 72, 75, 76, 168, 169, 203, 204, 220, 237, 242, 243, 244, 245, 248, 249 Bürgernähe 15, 16, 58, 59, 60, 114, 130, 134, 136, 251 Deidesheimer Formel 55, 173 Desintegrationsgefahren 93 dynamisches Konzept 18, 66, 82 Effizienz-Optimierung 13, 44, 45, 49, 52, 53, 54, 55, 56, 59, 66, 68, 83, 101, 118, 119, 123, 124, 134, 136, 140, 141, 142, 162, 163, 170, 172, 173, 183, 196, 198, 200, 229 Einheitliche Europäische Akte 37, 256 Emdener Synode 15 EMRK 84, 128, 244, 253 Euro-Realisten 93 Flexibilitätsklausel 137, 138, 177, 178, 179 Föderalismus 12, 13, 14, 15, 16, 17, 18, 19, 20, 25, 29, 30, 37, 38, 59, 76, 99, 167, 189, 234, 237, 238, 240, 242, 243, 244, 245, 246, 247, 248, 251, 252, 253 Freiburger Entwurf 24, 129 Frühwarnsystem 107, 108, 111, 115, 116, 120, 132, 134, 137, 154, 160, 191, 192, 193, 194, 200, 208, 209, 210, 223, 232 Grundrechtecharta 80, 84, 97, 135, 144, 179, 180, 181, 182, 183, 239, 240, 243, 253 Hochzonung 42, 59, 237 implied powers 31
Insuffizienz-Kriterium 13, 49, 51, 52, 53, 55, 56, 59, 61, 83, 123, 124, 140, 142, 143, 163, 167, 171, 172, 182, 195 Integrationisten 93 intergouvernementale Zusammenarbeit 52, 60, 170 Justiziabilität 19, 49, 61, 63, 69, 70, 101, 111, 133, 136, 234, 235, 253 Klagerecht 94, 109, 115, 116, 118, 122, 132, 138, 144, 216, 217, 218, 221, 222 Kompetenzausschuss 132 Kompetenzausübung 22, 29, 37, 59, 121, 180, 209, 234, 239 Kompetenzausübungsregel 21, 42, 60, 82, 86, 87, 88, 117, 121, 123, 130, 131, 136, 142, 148, 150, 152, 162, 163, 180, 186, 188, 190, 228, 234 Kompetenzkammer 102, 113, 215 Kompetenz-Kompetenz 21, 27, 28, 30, 149, 178 Kompetenzverteilung 19, 20, 22, 37, 38, 99, 112, 114, 117, 118, 123, 133, 161, 174, 177, 178, 180, 193, 202, 206, 209, 215, 223, 233, 234, 240, 241, 250, 253 Kompetenzverteilungsregel 21, 37, 66, 82, 88, 141, 148 Lamassoure-Bericht 86, 96, 134, 135, 166, 215 Mehrdimensionalität des Subsidiaritätsprinzips 11, 163 Methode Monnet 79, 191 Montanverfassung 26 Naturrechtslehre 14 Nichtigkeitsklage 62, 89, 99, 132, 133, 138, 214, 224, 225, 226, 227, 241
Sachwortverzeichnis Pluralismus 16 pouvoir municipal 166 Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung 21, 22, 27, 28, 31, 48, 52, 102, 117, 129, 139, 140, 145, 148, 149, 150, 165, 182, 223, 228 prozedurales Schutzkonzept 176 Sozialenzyklika 15 Stellungnahmerecht 104, 105, 108, 121, 191, 206, 207, 208, 210, 216 Subsidiaritätsbogen 98, 107, 111, 115, 139, 197, 201 Subsidiaritätsklage 83, 90, 93, 97, 109, 111, 113, 115, 116, 119, 120, 122, 138, 154, 156, 160, 161, 169, 190, 192, 193, 194, 200, 204, 207, 208, 210, 213, 214, 215, 216, 217, 218, 219, 220, 221, 222, 223, 224, 225, 226, 227, 231, 232, 244, 247 Subsidiaritätsprotokoll 18, 64, 65, 66, 67, 68, 69, 70, 83, 97, 106, 119, 128, 137, 152, 154, 156, 158, 159, 160, 161, 174, 175, 176, 190, 191, 192, 194, 195, 196, 197, 198, 199, 200, 201, 203, 205, 206,
263
207, 208, 209, 210, 211, 212, 213, 214, 216, 218, 220, 221, 222, 223, 224, 225, 226, 227, 230, 231, 236, 238, 244 sunset-clause 178 Übermaßverbot 150, 248 Umweltschutz 38, 39, 40 Unionstreue 189 Untätigkeitsklage 62, 89 Verhältnismäßigkeit 23, 36, 43, 64, 67, 68, 84, 86, 87, 89, 98, 99, 106, 107, 109, 110, 117, 118, 120, 121, 122, 124, 128, 130, 134, 136, 139, 142, 148, 150, 151, 152, 153, 156, 158, 159, 161, 168, 175, 184, 196, 197, 208, 240, 248, 257, 260, 261 Vertrag von Amsterdam 23, 64, 70, 86, 98, 104, 105, 106, 196, 199, 200, 230, 250, 251, 257 Vertrag von Maastricht 15, 19, 23, 33, 34, 40, 46, 62, 86, 103, 247, 250, 256, 257 Vertrag von Nizza 77, 78, 79, 84, 238, 248, 249, 253, 257