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German Pages 209 Year 1998
Marcelo Neves · Symbolische Konstitutionalisierung
Schriften zur Rechtstheorie Heft 187
Symbolische Konstitutionalisierung Von Marcelo Neves
Duncker & Humblot · Berlin
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Neves, Marcelo: Symbolische Konstitutionalisierung / von Marcelo Neves. - Berlin : Duncker und Humblot, 1998 (Schriften zur Rechtstheorie ; H. 187) ISBN 3-428-09569-3
Alle Rechte vorbehalten © 1998 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0472 ISBN 3-428-09569-3 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706©
„Verfassungen sind oft hochherzige Dokumente; in der Erdenschwere des Tatsächlichen bewegen sie wenig vom historischen Fleck. Ob die Normtexte der Verfassung zu Verfassungsrecht werden, hängt von der spezifischen Dichte der realen gesellschaftlichen Verfaßtheit ab." (F. Müller, 1990b: 168) „As Constituiçoes feitas para näo serem cumpridas, as leis existentes para serem violadas..." (Buarque de Holanda, 1988: 136 f.) „A raiz é urna só: a criaçao de um mundo falso mais eficiente que ο mundo verdadeiro." (Faoro, 1976: 175)
Vorwort Die vorliegende Untersuchung ist die deutsche Fassung meiner 1994 in Säo Paulo (Brasilien) erschienenen Untersuchung über „Symbolische Konstitutionalisierung". Dabei handelt es sich nicht einfach um eine Übersetzung, sondern vielmehr um eine aktualisierte deutschsprachige Überarbeitung der ersten Fassung. Im Rahmen bestimmter neuer Anmerkungen zur begrifflichen Erklärung habe ich auch jüngste Literaturerscheinungen, die mit dem Thema der Untersuchung in Zusammenhang stehen, berücksichtigt. Außerdem habe ich am Schluß der Arbeit einen Ausblick auf die bevorstehende Entwicklung der Weltgesellschaft und damit auf die Möglichkeit der Ausdehnung der symbolischen Konstitutionalisierung auf die „zentrische Moderne" hinzugefügt. Die Zitate von Texten in anderen Sprachen wurden überwiegend (immer bei portugiesischen, spanischen und italienischen, in den meisten Fällen auch bei französischen) ins Deutsche übersetzt, auch wenn auf keine deutsche Übersetzung hingewiesen wurde. Englischsprachige Literatur habe ich, wenn nicht auf deutsche Übersetzungen hingewiesen wurde, vorwiegend im Original zitiert. Die Ausarbeitung dieser deutschen Fassung wurde durch ein Stipendium der Alexander von Humboldt-Stiftung zur Forschung im Fachbereich Rechtswissenschaft der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt am Main (1996 - 1998) und auch zum Teil im Law Department of The London School of Economics and Political Science (Oktober - November 1997) ermöglicht. Für diese institutionelle Unterstützung sei der Alexander von HumboldtStiftung und Prof. Günter Frankenberg gedankt. An der London School of Economics hat mich Prof. Gunther Teubner im Rahmen eines EuropaForschungsstipendiums der Alexander von Humboldt-Stiftung herzlich empfangen. Bei diesem Aufenthalt hatte ich die Gelegenheit, mit ihm lehrreiche Gespräche zu führen. Besonders dankbar bin ich Prof. Teubner für die sorgfältige Lektüre des Manuskripts und seine Kommentare zu dessen Überarbeitung. An dieser Stelle möchte ich noch einmal Prof. Karl Heinz Ladeur und Prof. Niklas Luhmann meinen herzlichen Dank für die ergiebigen und aufschlußreichen Lehrjahre und für die mir gewährten institutionellen Förderungen aussprechen. In diesen Jahren spielte die Asymmetrie der Stellungen und wissenschaftlichen Erkenntnisse nie eine bedeutende Rolle; vielmehr wurden theoretische Gespräche und Auseinandersetzungen, die für meine akademische
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Vorwort
Weiterentwicklung prägend waren und es immer noch sind, stets auf einer Ebene der Gleichberechtigung geführt. Auch dafür möchte ich ihnen sehr herzlich danken. Prof. Friedrich Müller, mit dem ich mehrmalig weiterführende Gespräche in Deutschland und Brasilien geführt habe, bin ich für institutionelle und akademische Förderungen sehr dankbar. Bei Prof. Ingeborg Maus möchte ich mich für die herzliche Aufnahme in ihr gesellschaftstheoretisches Kolloquium bedanken. Dort hatte ich die Gelegenheit, meine Arbeit zur Diskussion zu stellen. Ihrer Offenheit gegenüber meinem theoretischen Ansatz verdanke ich nicht zuletzt auch wichtige institutionelle Förderungen. Ganz besonders danke ich Frank Laudenklos, wissenschaftlicher Mitarbeiter im Fachbereich Rechtswissenschaft der Universität Frankfurt am Main, für die sorgfaltige und geduldige sprachliche Revision des vorliegenden Textes, die sehr zu dessen Klarheit beigetragen hat. Zu wiederholen habe ich nicht zuletzt den Dank an meine Frau, Andressa, für vielfaltige Unterstützungen.
Marcelo Neves
Inhaltsverzeichnis Einleitung
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Kapitell Von der symbolischen Gesetzgebung: Einer antreibenden Debatte... 1. Die Mehrdeutigkeit von ,Symbol', symbolisch' und,Symbolik' 1.1. Das Symbol als Vermittlung zwischen Subjekt und Wirklichkeit. Der Mensch als animal symbolicum
15 15
1.2. Die soziale Struktur als symbolische
16
1.3. Symbolisches und Symbolik in der Psychoanalyse
18
1.4. Institution als symbolisches Netz
21
1.5. Das Symbol in der Semiotik
22
1.6. Das Symbolische in der Logik
24
1.7. Das Symbolische in der Soziologie - Ein Beispiel der Systemtheorie
25
2. Semantische Präzisierung
27
3. Symbolische Politik versus symbolische Gesetzgebung
29
4. Symbolisches Recht versus symbolische Gesetzgebung
30
5. Symbolische Gesetzgebung versus politische Rituale und Mythen
31
6. Für eine Begriffsbestimmung
33
7. Typen der symbolischen Gesetzgebung
35
7.1. Zur Typologie
35
7.2. Bekräftigung sozialer Werte
36
7.3. Alibigesetzgebung
38
7.4. Symbolische Gesetzgebung als dilatorischer Formelkompromiß
42
8. Wirksamkeit und Effektivität des Gesetzes versus reale Wirkungen der symbolischen Gesetzgebung
43
8.1. Wirksamkeit als normative Konkretisierung des Gesetzestextes
43
8.2. Effektivität als Verwirklichung des Gesetzeszieles
46
8.3. Indirekte und latente Wirkungen der Gesetzgebung
47
8.4. Wirkungen der symbolischen Gesetzgebung
49
Inhaltsverzeichnis
10
Kapitel II ...Zur symbolischen Konstitutionalisierung: Eröffnung einer Debatte 1. Verfassung und Konstitutionalisierung
53
1.1. Das Problem der Vieldeutigkeit
53
1.2. Die herkömmliche Debatte über den Verfassungsbegriff.
54
1.3. Die Konstitutionalisierung
60
1.3.1. Verfassung als strukturelle Kopplung von Politik und Recht
60
1.3.2. Verfassung als „Teilsystem" des Rechtssystems
61
1.3.3. Verfassung als Mechanismus der operativen Autonomie des Rechts.
63
1.3.4. Soziale Funktion und politische Leistung der Verfassung
67
1.3.4.1. Grundrechte (Differenzierung der Gesellschaft) und Wohlfahrtsstaat (Inklusion)
67
1.3.4.2. Verfassungsrechtliche Regulierung des Wahl Verfahrens
70
1.3.4.3. Gewaltenteilung und Differenz von Politik und Verwaltung
72
2. Verfassungstext und Verfassungswirklichkeit
74
2.1. Die Beziehung von Verfassungstext und Verfassungswirklichkeit als Konkretisierung von Verfassungsnormen
74
2.2. Verfassungskonkretisierung und Semiotik
76
3. Symbolische Konstitutionalisierung im negativen Sinne: Mangel an generalisierter rechtsnormativer Konkretisierung des Verfassungstextes
79
4. Symbolische Konstitutionalisierung im positiven Sinne: politisch-ideologische Funktion der Verfassunggebung und des Verfassungstextes
82
5. Typen der symbolischen Konstitutionalisierung - Verfassung als Alibi
87
6. Symbolische Konstitutionalisierung und Loewensteins Klassifizierungsmodell.
90
7. Symbolische Verfassung versus „ritualistische Verfassung"
94
8. Symbolische Konstitutionalisierung und programmatische Verfassungsnormen.
96
9. Alibi-Konstitutionalisierung und „kommunikatives Handeln"
98
10. Symbolische Konstitutionalisierung versus Massenloyalität und „gag rules"...
101
Kapitel III Symbolische Konstitutionalisierung als Allopoiesis des Rechts 1. Von der Autopoiesis zur Allopoiesis des Rechts
107
1.1. Von der biologischen zur sozialen Autopoiesis
107
1.2. Das Recht als autopoietisches System
112
1.3. Die Allopoiesis des Rechts
116
Inhaltsverzeichnis 2. Symbolische Konstitutionalisierung als Überordnung der Politik über das Recht
122
3. Symbolische Konstitutionalisierung versus konsistente Selbstreferenz und adäquate Fremdreferenz des Rechtssystems 125 4. Semiotische Implikationen
132
5. Symbolische Konstitutionalisierung versus Verrechtlichung - Entrechtlichende Verfassungswirklichkeit
135
6. Symbolische Konstitutionalisierung als Problem der peripheren Moderne
138
7. Symbolische Konstitutionalisierung am Beispiel Brasilien
143
Ausblick: Symbolische Konstitutionalisierung der Weltgesellschaft? Peripherisierung des Zentrums?
153
Literaturverzeichnis
160
Namenregister
187
Sachregister
192
Einleitung In der vorliegenden Arbeit soll versucht werden, die soziale und politische Bedeutung symbolischer Konstitutionalisierung zu behandeln. Symbolische Konstitutionalisierung bezeichnet hierbei die Diskrepanz zwischen hypertroph symbolischer Funktion einerseits und gänzlich unzureichender Konkretisierung von Verfassungstexten andererseits. Die Problemstellung beschränkt sich also nicht auf die herkömmliche Diskussion über die Unwirksamkeit der Verfassungsnormen. Einerseits wird die Unterscheidung von Verfassungstext und Verfassungsnorm vorausgesetzt; andererseits wird versucht, die sozialen Wirkungen der normativ unwirksamen Verfassungsgesetzgebungen zu analysieren. In diesem Zusammenhang soll die symbolische Funktion der durch Mangel an rechtsnormativer Konkretisierung gekennzeichneten Verfassungstexte diskutiert werden. Im ersten Kapitel wird die in den letzten zwei Jahrzehnten in der deutschen Gesetzgebungstheorie und Politikwissenschaft geführte Debatte um symbolische Gesetzgebung aufgenommen, die für die vorliegende Untersuchung einen entscheidenden Anstoß gegeben hat. Im Hinblick auf das semantische Durcheinander um den Terminus ,symbolisch' nehme ich mir zunächst vor, dessen Sinn innerhalb des Ausdrucks ,symbolische Gesetzgebung' zu bestimmen. Relevant wird hier die Unterscheidung zwischen den jüngeren Ansätzen über symbolische Gesetzgebung und den in den sechziger und siebziger Jahren sehr einflußreichen Vorstellungen von symbolischer Politik und Recht als Symbolismus. Im Anschluß daran werde ich Überlegungen über den Begriff, die Typen und die Wirkungen der symbolischen Konstitutionalisierung anstellen. Im zweiten Kapitel wird die Eröffnung einer Debatte über symbolische Konstitutionalisierung vorgeschlagen. Dazu soll zuerst ein systemtheoretischer Begriff der Verfassung als struktureller Kopplung von Politik und Recht, aber vor allem als Mechanismus der operativen Autonomie des Rechtssystems in der modernen Gesellschaft abgegrenzt werden. Es handelt sich hierbei um eine Strategie: Es wird strikt von dieser systemtheoretischen Konzeption ausgegangen, um ihre empirische Angemessenheit in den Fällen der symbolischen Konstitutionalisierung in Frage zu stellen. Im Zusammenhang damit wird das Problem der normativen Konkretisierung des Verfassungstexts analysiert. Unter diesen theoretischen Voraussetzungen werden verschiedene Aspekte der Beziehung von rechtsnormativer Unwirksamkeit und politisch-symbolischer Funktion der Verfassung beleuchtet.
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Einleitung
In Anbetracht dessen, daß die vorliegende Arbeit auf eine frühere Untersuchung zur Positivität des Rechts und zur Verfassung zurückgreift, in der ich mich kritisch mit Luhmanns Auffassung der Ausdifferenzierung und operativen Autonomie des Rechtssystems in komplexen Gesellschaften auseinandergesetzt habe (Neves, 1992), schlage ich im dritten Kapitel eine Diskussion über symbolische Konstitutionalisierung als Allopoiesis des Rechts vor. Das impliziert die Infragestellung der Konzeption des Rechts als eines autopoietischen Systems in der modernen (hochkomplexen) Gesellschaft. Nach der Betrachtung einiger bestimmter Aspekte mit allgemein-theoretischem Anspruch wird die symbolische Konstitutionalisierung als typisches Problem der peripheren Moderne charakterisiert: Das in der oben erwähnten Untersuchung in umfassender Form analysierte Zusammentreffen von gesellschaftlicher Hochkomplexität mit einem Mangel an operativer Autonomie des Rechtssystems wird jetzt in einer spezifischeren Betrachtungsweise der Hypertrophie der politisch-symbolischen Funktion des Verfassungstexts zu Lasten seiner rechtsnormativen Verwirklichung bzw. Konkretisierung focussiert. Ich schließe das dritte Kapitel mit einem beispielhaften Überblick über die symbolische Konstitutionalisierung in der brasilianischen Erfahrung ab. Als Schlußbemerkungen des vorliegenden Beitrags wird, wie im Vorwort bereits bemerkt wurde, in Anbetracht der bevorstehenden verwirtschaftlichenden Entwicklungstendenzen in der Weltgesellschaft („wirtschaftliche Globalisierung") ein Ausblick auf die Möglichkeit einer paradoxen „Peripherisierung des Zentrums" und damit einer Ausdehnung der symbolischen Konstitutionalisierung auf die bisher wohlfahrtsstaatlichen und demokratischen Rechtsstaaten der noch immer „zentrischen" Moderne gegeben. Das vorliegende Buch stellt freilich kein endgültiges, theoretisch geschlossenes Konzept zum Problem der symbolischen Konstitutionalisierung dar. Es sollte daher nicht als das Endergebnis einer theoretischen Erörterung dieses Themas aufgefaßt werden. Es verfolgt vielmehr das Ziel, neue Wege und Horizonte für die Verfassungstheorie zu eröffnen. Sowohl die gängige Rechtsdogmatik als auch die herrschende Rechtssoziologie, beide an den Verfassungserfahrungen des demokratischen Rechtsstaats Europas und Nordamerikas orientiert, gehen von der Voraussetzung aus, daß ein gravierender Widerspruch zwischen Verfassungsrec/tf und Verfassungsw£//c//Ä:e/Y in den „unterentwickelten Ländern" bzw. „Entwicklungsländern" besteht. Streng genommen bezieht sich die Frage m.E. auf das Fehlen von Rechtsnormativität des Verfassungstextes als demokratischer Formel: Aus dem Verfassungstext entwickelt sich kein hinreichender Konkretisierungsprozeß zur Konstruktion des Verfassungsrechts; zugleich aber spielt die Verfassungssprache eine relevante politisch-symbolische Rolle, die auch weitreichende Implikationen in der Sphäre des Rechts hat.
Kapitell
Von der symbolischen Gesetzgebung: Einer antreibenden Debatte... 1. Die Mehrdeutigkeit von ,Symbol', symbolisch' und 9Symbolik' Die Ausdrücke symbolisch4, ,Symbol·, ,Symbolik' usw. werden sehr oft in den verschiedenen Bereichen der kulturellen Reproduktion verwendet, ohne daß eine Vordefinition vorhanden ist. Dem liegt die Annahme zugrunde, daß es sich jeweils um Temini mit evidenter, eindeutiger, „universell" verständlicher Bedeutung handelt (vgl. Eco, 1984: 202), obschon man dabei tatsächlich nicht immer denselben Bergriff in Anschlag bringt (Firth, 1973: 54). Vielmehr stehen wir hier einigen der vieldeutigsten Ausdrücke der sozialen und kulturellen Semantik gegenüber1, so daß ihre konsistente Verwendung eine Vorbegrenzung ihrer Bedeutung voraussetzt, um vor allem Ambiguitätsfallazien zu verhindern.2 Infolgedessen ist es hier m.E. angebracht, auf einige der wichtigsten Anwendungen von ,Symbol' und symbolisch' in der abendländischen Überlieferung zu verweisen, indem versucht wird, die Konvergenzen und Divergenzen von Bedeutungen hervorzuheben3, bevor der Sinn von symbolischer Gesetzgebung' im Rahmen der vorliegenden Arbeit präzisiert wird. 1.1. Das Symbol als Vermittlung zwischen Subjekt und Wirklichkeit. Der Mensch als animal symbolicum
In einem sehr umfassenden Sinne wird der Ausdruck symbolisch' verwendet, um auf alle Mechanismen der Vermittlung zwischen Subjekt und Wirklichkeit hinzuweisen. Es liegt in dieser Perspektive, daß Cassirer den Men1 Eco (1984: 199 f.) beschreibt die Gelegenheit, in der die Verfasser des Wörterbuches Lalandes zusammentreffen, um über die Definition von ,Symbol' zu diskutieren, als „einen der pathetischsten Momente der philosophischen Lexikographie" und behauptet, daß das Wörterbuch darüber unentschieden bleibt: „der indirekten Schluß, zu dem Lalande einlädt, ist, daß das Symbol viele Dinge und keines ist. Kurzum: man weiß nicht, was es ist". Vgl. Lalande (Hg.), 1988: 1079-81. 2 Über Ambiguitätsfallazien vgl. Copi, 1961: 73 ff. 3 Zu den verschiedenartigen Definitionen und Anwendungen des Wortes ,Symbol' siehe Firth, 1973: 54 ff.; Eco, 1984: 199 ff.
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Kap. I: Von der symbolischen Gesetzgebung: Einer antreibenden Debatte.
sehen als animal symbolicum definiert, indem er das symbolische Verhalten und Denken als spezifische Differenz des Menschen im Verhältnis zur Gattung Tier bezeichnet (Cassirer, 1944: 26 f., dt. 1996: 51 f.; hierzu vgl. neuerdings Habermas, 1997: insbes. 17). Das Symbolnetz bildet demnach das „artifizielle Medium" zwischen Mensch und Wirklichkeit (vgl. Cassirer, 1944: 25, dt. 1996: insbes. 50).4 Im Gegensatz zu den organischen, direkten und unmittelbaren, Reaktionen auf äußere Reize werden die menschlichen Antworten (responses) aufgeschoben (Cassirer, 1944: 24, dt. 1996: 49). In dieser Hinsicht unterscheiden sich die Signale von den Symbolen: erstere sind mit den Dingen, auf die sie verweisen, „fest und eindeutig verbunden", gehören zur „physikalischen Seinswelt" und stehen mit den Vorgängen der bedingten Reflexe in einem besonderen Zusammenhang; letztere sind „universell" und „höchst variabel", sie zeichnen sich durch ihre Vielseitigkeit aus (Cassirer, 1944: 32 u. 36 f., dt. 1996: 58 u. 64 f.). Das relationale Denken selbst hängt in dem Maße von dem symbolischen Denken ab, als es nur durch dieses möglich ist, Beziehungen zu isolieren, um sie abstrakt verstehen zu können (Cassirer, 1944: 38 ff, dt. 1996: 66 ff). Man kann hier den Einfluß von Kants Auffassung des transzendentalen Subjekts auf die Konzeption des Symbolischen von Cassirer feststellen. 5 Aber dieser bezeichnet das Symbolnetz als eine „Leistung" („acquisition"), die „das gesamte Dasein" des Menschen („the whole of human life") verwandelt (1944: 24, dt. 1996: 49), also als eine historisch bedingte Errungenschaft, schreibt ihm folglich genaugenommen einen transzendentalen Charakter nicht zu (in diesem Sinne Eco, 1984: 208; Bourdieu, 1971: 295 f.; hierzu vgl. insbes. Cassirer, 1988: 9 ff). 1.2. Die soziale Struktur als symbolische Dieser umfassenden Auffassung von Symbolischem philosophischer Natur, wonach die Sphäre des Symbolischen die Religion, die Kunst, die Philosophie und die Wissensschaft umgreift (Cassirer, 1944: 41, dt. 1996: 71), nähert sich die strukturalistische Anthropologie Lévi-Strauss' an: „Jede Kultur kann als ein Ensemble symbolischer Systeme betrachtet werden, wobei die Sprache, die Heiratsregeln, die ökonomischen Verhältnisse, die Kunst, die Wissenschaft und die Religion an erster Stelle rangieren" (1973: XIX, dt. 1974: 15). Dementsprechend ist die soziale Struktur ein symbolisches System, sie wird nicht mit der Realität der sozialen Beziehungen selbst gleichgesetzt (vgl. LéviStrauss, 1958: 305 f.). Zwischen dem Signifikanten und dem Signifikat besteht 4
Näheres über den Begriff der symbolischen Formen siehe auch Cassirer, 1988: insbes. 1 ff. 5 Nach Habermas (1997: 17) impliziert der Symbolisierungsprozeß bei Cassirer „eine semiotische Umformung der Transzendentalphilosophie".
1. Mehrdeutigkeit von, Symbol·, symbolisch4 und »Symbolik4
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eine Inadäquation, und damit zusammenhängend ist die Vorstellung, „eines Überflusses von Signifikanten im Verhältnis zu den Signifikaten" relevant (Lévi-Strauss, 1973: XLIX, dt. 1974: 39). Es ist diese relative Autonomie des symbolischen Systems, als Struktur von Signifikanten 6, gegenüber den sozialen Beziehungen (symbolisierten Objekten), die nach dem Modell LéviStrauss' die „symbolische Wirksamkeit" ermöglicht7. Sogar im Fall der „flottierenden Signifikanten" oder des „symbolischen Nullwerts" liegt die entsprechende symbolische Funktion bzw. Wirksamkeit darin, „sich der Abwesenheit von Sinn entgegenzutreten, ohne selber irgendeinen bestimmten Sinn mitzubringen" (Lévi-Strauss, 1973: XLIX f. Anm. 1, dt. 1974: 39 f. Anm. 34). Offensichtlich unter dem Einfluß von Lévi-Strauss' strukturalistischer Anthropologie entwickeln Bourdieu und Passeron die Konzeption der „symbolischen Gewalt" (bzw. der „symbolischen Macht/Wirksamkeit") (vgl. dies., 1970: 13-84; Bourdieu, 1971: 298 ff. u. passim; 1982: insbes. 97-161, 1989: insbes. 48 ff. u. 552 ff.). 8 Aber hier wird das symbolische System - auch nach Saussures linguistischem Strukturalismus als Struktur von Signifikanten in gegensätzlichen Beziehungen zueinander dargestellt (vgl. Bourdieu, 1966: insbes. 215) - mit der Frage der Macht in engeren Zusammenhang gebracht, indem es als legitimierend-ideologisches Vehikel des politischen Systems konzipiert wird (vgl. Bourdieu / Passeron, 1970: 18 ff.; Bourdieu, 1971: 298 ff, 310, 315 ff, 328 ff; 1989: insbes. 548 ff). In dieser Perspektive gab es also keine Unterscheidung zwischen dem Symbolischen und dem Ideologischen. Dennoch diene das symbolische System auf der anderen Seite nicht nur der Aufrechterhaltung und Reproduktion der politischen Ordnung, insofern die symbolische Revolution, obwohl sie die politische Revolution voraussetzt, dazu tauge, dieser „eine adäquate Sprache" als „Bedingung einer vollständigen Verwirklichung" zu geben (Bourdieu, 1971: 334). 6
Es läßt sich hier der Einfluß der Vorstellung von „syntagmatischen Solidaritäten" Saussures (1922: 176 f.) auf die Auffassung von Struktur Lévi-Strauss' feststellen: „Sie besteht aus solchen Elementen, daß irgendeine Veränderung eines von ihnen eine Veränderung aller anderen mit sich bringt" (1958: 306). In einem weitreichenderen Sinne kann man behaupten, daß Lévi-Strauss' Prinzip der Interdependenz der strukturellen Elemente (der Signifikanten) von Saussures linguistisch-strukturalistischem Modell der syntagmatischen und assoziativen (paradigmatischen) Beziehungen zwischen den Zeichen beeinflußt ist (1922: 170-75; vgl. auch Barthes, 1964: 114-30, der jeweils die Ausdrücke „Syntagma" und „System" verwendet; Lyons, 1968: 70-81, dt. 1971: 72-83; Greimas / Courtés, 1979: 266 f. u. 376 f.). 7 Über „symbolische Wirksamkeit" siehe z. B. Lévi-Strauss, 1958: 205-26. In Bezug auf ihre Bedeutung im Werke von Lévi-Srauss vgl. auch Bourdieu, 1971: 299 Anm. 10. 8 In seinem eklektischen Stil übernimmt Faria (1988: 103-11 u. 124-61, insbes. 146) Bourdieus und Passerons Auffassung von symbolischer Gewalt. Vgl. auch Ferraz Jr., 1988: 251. 2 Neves
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Kap. I: Von der symbolischen Gesetzgebung: Einer antreibenden Debatte..
1.3. Symbolisches und Symbolik in der Psychoanalyse Im Bereich der Psychoanalyse nimmt das Konzept des Symbolischen einen hervorragenden Platz ein. Das bedeutet aber auf keinen Fall Eindeutigkeit hinsichtlich des psychoanalytischen Symbolbegriffs. Von Freud über Jung bis hin zu Lacan beobachtet man eine relevante semantische Variation von „symbolisch" und „Symbolik".9 Nach Freuds Theorie wird die Symbolbeziehung in weiterem Sinne als eine Form der Vermittlung zwischen den manifesten bewußten Gedanken und den latenten unbewußten Gedanken angesehen, das heißt, „der Terminus Symbolik4 bezieht sich auf die Verwendung von Symbolen, um unbewußte psychische Inhalte, denen als solchen der Zugang zum Bewußtsein verwehrt wird, doch im Bewußtsein zu repräsentieren" (Nagera, Hg., 1974: 313; vgl. Freud, 1969: 159-77, 1972: 345-94). Im engeren Sinne besteht die Symbolbeziehung in einer konstanten Beziehung zwischen einem Symbol (Traumelement) und dem unbewußten Traumgedanken (Freud, 1969: 160; vgl. Laplanche / Pontalis, 1967: 476 ff, dt. 1972: 481 ff). Die besonders im Rahmen der Traumdeutung entwickelte Freudsche Konzeption der Symbolik,10 wonach der Traum als „die (verkleidete) Erfüllung eines (unterdrückten, verdrängten) Wunsches" definiert wird (Freud, 1972: 175), verweist auf den indirekten und übertragenen Sinn der Zeichen (hierzu vgl. Eco, 1984: 217-19), in der Regel eine Bedeutung sexuellen Charakters.11 Obwohl die Symbolbeziehung bzw. das Symbol als eine Vergleichung begriffen wird, läßt sich „dieser Vergleich nicht durch die Assoziation bloßlegen", indem er von dem Träumer selbst unerkannt bleibt: der Träumer bedient sich dieser Vergleichung, aber er hat 9
Genaugenommen ist es also nicht angebracht, den psychoanalytischen Begriffen der „unbewußten Symbolik" und des „symbolischen Denkens" einen eindeutigen Sinn zuzuschreiben, wie Piaget es tut, indem er sie im Hinblick auf die Untersuchung des „Symbolspiels" beim Kinde in Anspruch nimmt (1959: 7, dt. 1975: 16). 10 Aber Freud macht in seiner berühmten Vorlesung über die „Symbolik im Traum" (1969: 159-177) auf die Relevanz der Symbolbeziehungen in anderen Gebieten aufmerksam: „[...] diese Symbolbeziehungen [sind] nichts, was dem Träumer oder der Traumarbeit, durch die sie zum Ausdruck kommen, eigentümlich wäre. Wir haben ja erfahren, derselben Symbolik bedienen sich Mythen und Märchen, das Volk in seinen Sprüchen und Liedern, der gemeine Sprachgebrauch und die dichterische Phantasie. Das Gebiet der Symbolik ist ein ungemein großes, die Traumsymbolik ist nur ein kleiner Teil davon" (1969: 174). 11 Freud, 1969: 163, der hier auf das Mißverhältnis zwischen den nur wenigen bezeichneten Inhalten und den ungemein vielen Symbolen fur sie hinweist. An anderer Stelle unterscheidet er: „während im Traume die Symbole fast ausschließlich zum Ausdruck sexueller Objekte und Beziehungen verwendet werden", ist die Symbolik auf den anderen Gebieten „keineswegs nur Sexualsymbolik" (ebd.: 175).
1. Mehrdeutigkeit von,Symbol4, symbolisch4 und,Symbolik'
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„nicht einmal Lust", sie anzuerkennen, „nachdem [sie] ihm vorgeführt worden ist" (Freud, 1969: 162). Jung entfernt sich von der Freudschen Theorie der Symbolik dadurch, daß er behauptet, „was Freud als Symbole bezeichnet, sind nichts anders als Zeichen für elementare Triebvorgänge", also, „symbolisch" im Sinne Freuds heißt „semiotisch" bei Jung. (1960: 65 Anm. 38; vgl. ebd.: 502 f., 515). Während in der semiotischen Beziehung das Zeichen eine bekannte Sache ausdrückt und so einen bestimmten Bedeutungsinhalt hat, setzt das Symbol immer voraus, „daß der gewählte Ausdruck die bestmögliche Bezeichnung oder Formel für einen relativ unbekannten, jedoch als vorhanden erkannten oder geforderten Tatbestand sei" (Jung, 1960: 515).12 Dementsprechend hält man das Symbol insofern für lebendig, als es als Ausdruck eines unbekannten und unverstehbaren Inhalts betrachtet wird. Im Moment, in dem eindeutige und bewußte Übersetzungen seines Sinnes entstehen, ist das Symbol tot bzw. überholt (Jung, 1960: 515-518; hierzu vgl. Eco, 1984: 225fif.). Das lebendige Symbol wird in dieser Perspektive als „der bestmögliche und für die gegebene Epoche nicht zu übertreffende Ausdruck für das noch Unbekannte" dargestellt (Jung, 1960: 518). Und demnach gewinnt das Symbol seine Bedeutung genau daraus, keine bestimmte, eindeutige Bedeutung zu beinhalten, nur das Geahnte und noch nicht Bewußte auszudrücken.13 Hier läßt sich eine Annäherung zwischen LéviStrauss' oben angefühlter Vorstellung von „symbolischem Nullwert" oder von „flottierenden Signifikanten" und Jungs Konzept des Symbols beobachten. Obwohl Jung neben dem sozialen Symbol die Existenz des individuellen Symbols anerkennt (1960: 519), zeichnet sich seine Konzeption dadurch aus, daß sie auf die Beziehung des Symbols zum kollektiven Unbewußten hindeutet und damit zusammenhängend die Theorie der „Archetypen" als „urtümlicher Bilder" entwickelt, die „ganzen Völkern oder Zeiten gemeinsam" sind (1960: 453). Es handelt sich demnach um eine Einstellung, die „eine Metaphysik des
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„Ein Ausdruck, der für eine bekannte Sache gesetzt wird, bleibt immer ein bloßes Zeichen und ist niemals Symbol. Es ist darum ganz unmöglich, ein lebendiges, d.h. bedeutungsschwangeres Symbol aus bekannten Zusammenhängen zu schaffen 4' (Jung, 1960: 516). Es wäre vielleicht möglich, ein Parallele zwischen Jungs Auffassung von Symbol und Freuds Konzeption der Symbolik in dem Sinne zu ziehen, daß für die Traumdeutung die Symbole tot sind und also zu bloßen Zeichen werden, während für den Träumer sie als lebendig erscheinen, sofern er ihre latente Bedeutung nicht erkennt (vgl. Freud, 1969: 161 f.; Jung, 1960: 516, in bezug jeweils auf die esoterische Erklärung und den exoterischen Standpunkt). 13 „Lebendig heißt ein Symbol aber nur dann, wenn es ein best- und höchstmöglicher Ausdruck des Geahnten und noch nicht Gewußten für den Betrachtenden ist. Unter diesen Umständen bewirkt es unbewußte Anteilnahme. Es hat lebenerzeugende und -fördernde Wirkung44 (Jung, 1960: 518). 2*
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Kap. I: Von der symbolischen Gesetzgebung: Einer antreibenden Debatte.
Heiligen, des Göttlichen" voraussetzt und damit „Unendlichkeit der Interpretation" impliziert (Eco, 1984: 226).14 Lacans Ansatz nach erweist sich das Symbolische als eine Form der Vermittlung zwischen dem Subjekt und dem Anderen.15 Dementsprechend wird Folgendes als eine Art Grundsatz behauptet: „Die menschliche Ordnung charakterisiert sich dadurch, daß die symbolische Funktion in jedem Moment und auf allen Stufen ihrer Existenz interveniert" (Lacan, 1978b: 41, dt. 1980: 42).16 Als eine der drei wesentlichen Kategorien des psychoanalytischen Feldes (die anderen sind das Reale und das Imaginäre) (vgl. Laplanche / Pontalis, 1967: 195 f. u. 474-76, dt. 1972: 228 f. u. 487 f.) 17 ist das Symbolische Bedingung der Eigentümlichkeit, indem es die Konstruktion der Subjektivität ermöglicht,18 aber gleichzeitig entfernt es das Subjekt von dem lebhaften Realen (Lemaire, 1977: 36 ff., 109, 119 ff.), indem es seine „Identität" den Strukturen der Signifikanten unterordnet (vgl. Ladeur, 1984: 145)19, die umso mehr nichts bedeuteten, je unzerstörbarer sie werden (Lacan, 1981: 210). Unter Einfluß von Saussures linguistischem Strukturalismus (hierzu Lemaire, 1977: 43 ff.) und in derselben Richtung wie Lévi-Strauss deutet Lacan auf die „Diskordanz zwischen dem Signifikat und dem Signifikanten" (1966: 372), die Geschlossenheit der signifikanten Ordnung bzw. Kette und deren Autonomie gegenüber dem Signifikat hin (1966: 501 f.; Lemaire, 1977: 91), woraus er die Relevanz der linguistischen und soziokulturellen Symbole für die (konfliktäre) 14
Obgleich Freud (vgl. 1972: 345-94, 1969: 162 ff.) sich damit beschäftigt, „einen Code der Traumsymbolik zu rekonstruieren", und sich so der „Hypothese eines kollektiven Unbewußten" nähert, geht es dabei nicht um einen „universalen und kollektiven", sondern um einen ,historischen, semiotischen" Code, der „von der Enzyklopädie des Träumers abhängt" (Eco, 1984: 218). Laplanche und Pontalis (1967: 479, dt. 1972: 486) deuten ihrerseits „die Hypothese einer phylogenetischen Erbschaft" vom Symbol bei Freud an. 15 Für Lacan „gründet die symbolische Ordnung im allgemeinen mittelbare Beziehungen zwischen den Wesen, das heißt, die Beziehung des Menschen zum Menschen, des Ich zum Anderen, wird vermittelt durch ein Symbol" (Lemaire, 1977: 37). 16 „Die menschliche Handlung par excellence ist ursprünglich begründet in der Existenz der Welt des Symbols, das heißt in den Gesetzen und den Kontrakten" (Lacan, 1975: 255, dt. 1978a: 291). 17 Aber das Symbolische hat den Vorrang vor dem Imaginären und dem Realen in Lacans Theorie; vgl. z. B. ders., 1966: 11 f., 50 ff., 276. 18 „... es ist die symbolische Ordnung, die für das Subjekt konstituierend ist" [„...c'est l'ordre symbolique qui est, pour le sujet, constituant"] (Lacan, 1966: 12). „Der Mensch spricht also, aber deswegen, weil das Symbol ihn zum Menschen gemacht hat" [„L'homme parle donc, mais c'est parce que le symbole l'a fait homme"] (ebd.: 276). 19 Es wird dann „die Dominanz [...] des Signifikanten gegenüber dem Subjekt" [„la dominance [...] du signifiant sur le sujet"] behauptet (Lacan, 1966: 61).
1. Mehrdeutigkeit von, Symbol·, symbolisch und »Symbolik
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Determinierung der Identität des Subjekts ableitet.20 Mit dem Eintritt in die symbolische Ordnung verliert das Subjekt etwas Wesentliches von sich selbst, indem es nur über die Signifikanten vermittelt bzw. übersetzt werden kann („Spaltung").21 In dieser Perspektive läßt sich behaupten, „genau genommen ist der, den wir geistig gesund nennen, gerade deqenige, der sich entfremdet, weil er bereit ist, in einer Welt zu leben, die allein durch das Verhältnis von Ich und Anderen definiert werden kann" (Lévi-Strauss, 1973: XX, dt. 1974: 15, ausgehend von Lacan, 1966: 101-104). Andererseits aber bedeutet die Heilung den Übergang vom nicht symbolisierten, „entfremdenden", nach einer unmittelbaren und dualen Beziehung mit „seinesgleichen" bestimmten Imaginären zum symbolisierten Imaginären (Lemaire, 1977: 130)22, was die Analyse des Netzes von Signifikanten als Struktur der Vermittlung zwischen Bewußtem und Unbewußtem impliziert (ebd.: 37). 1.4. Institution als symbolisches Netz In der Sozialphilosophie unterscheidet Castoriadis unter m.E. Lacans Einfluß das Symbolische vom Funktionalen und dem Imaginären (vgl. 1975: 159 ff., dt. 1990: 196 ff.). Hier wird das Vorhandensein des Symbolischen wie bei Lacan sowohl in der Sprache als auch in den Institutionen betont (Castoriadis, 1975: 162 ff., dt. 1990: 199 ff.). Obschon die Institutionen nicht im Symbolischen aufgehen, sind sie ohne dieses undenkbar (1975: 162, dt. 1990: 200). Castoriadis kritisiert die fünktionalistische Sichtweise in dem Maße, wie sie die Institutionen durch die von ihnen in der Gesellschaft erfüllte Funktion erklärt und also das Symbolische auf das Funktionale reduziert (159 f., dt. 196 f.). Zwar kann die Entfremdung „als Verselbständigung der Institutionen gegenüber der Gesellschaft" konzipiert werden (159, dt. 196), aber es wird daraufhingewiesen, daß schon für die Sprache und erst recht für die Institutionen 20 In diesem Sinne schreibt Lacan: „L'homme est effectivement possédé par le discours de la loi, et c'est avec lui qu'il se châtie, au nom de cette dette symbolique qu'il ne cesse de payer toujours davantage dans sa névrose. [...] La psychanalyse devrait être la science du langage habité par le sujet. Dans la perspective freudienne, l'homme, c'est le sujet pris et torturé par le langage" (1981: 275 f.). Lemaire (1977: 106) macht indessen darauf aufmerksam, daß „die Sozialsymbolik vom Diskurs untrennbar ist", das heißt, sie betont den Zusammenhang zwischen Sprache und „Sozialsymbolik" in der Lacanschen Konzeption der symbolischen Ordnung. 21 Das impliziert die folgende Definition des Signifikanten: „un signifiant, c'est ce qui représente le sujet pour un autre signifiant" (Lacan, 1966: 819). Cf. Lemaire, 1977: 122 f. 22 Spezifisch in Hinsicht auf einen Fall von Psychose betont Lacan (1981: 20): ,Allein durch die Eingangstür des Symbolischen gelingt es, ihn zu penetrieren" [„C'est seulement par la porte d'entrée du symbolique qu'on parvient à le pénétrer"].
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Kap. I: Von der symbolischen Gesetzgebung: Einer antreibenden Debatte...
die Symbole als Signifikanten „nicht völlig abhängig von dem ,Inhalt' [sind], den sie vermeintlich" übertragen (169, dt. 208). Diese relative Autonomie der symbolischen Sphäre, deren Grenzverlauf a priori von nichts zu bestimmen ist (172, dt. 212), bedeutet aber nicht die Verselbständigung des Symbolismus als ein „letztes Faktum", geschweige denn, daß der Inhalt des sozialen Lebens durch die institutionelle Symbolik bestimmt wird (175, dt. 215 f.). „Nichts, was dem Symbolischen eigen wäre," - betont Castoriadis - „erzwingt etwa die Herrschaft eines verselbständigten Symbolismus der Institutionen über das gesellschaftliche Leben; nichts steht einer aufgeklärten Verwendung dieses Symbolismus durch die Gesellschaft entgegen" (176, dt. 216). Das Problem des Gebrauchs des Symbolischen durch das Subjekt führt bei Castoriadis zur Frage der Beziehung des Symbolischen zum Imaginären (177 ff., dt. 217 ff). Das Imaginäre als etwas „Erfundenes" begreifend, behauptet er dann, daß es das Symbolische benutzen muß, um zu „existieren" (177, dt. 217 f.). Das gesellschaftliche Imaginäre „muß sich mit dem Symbolischen verschränken, weil sich die Gesellschaft sonst nicht hätte,sammeln' können, muß aber auch mit dem Ökonomisch-Funktionalen verbunden sein, weil sie sonst nicht hätte überleben können" (183, dt. 225). Obwohl die Entfremdung als die zur Verselbständigung der Institution (symbolisches Netz) gegenüber der Gesellschaft führende „Vorherrschaft des imaginären Moments der Institution" definiert wird (184, dt. 226), entsteht nur durch das Imaginäre die Schöpfung neuer Symbolik, das heißt die Schaffung neuer Bedeutungen (vgl. 186 f., dt. 229 f.). 1.5. Das Symbol in der Semiotik In der Semiotik, der Theorie der Zeichen im allgemeinen23, verschärft sich noch weiter das Problem des Fehlens von Eindeutigkeit beim Terminus , Symbol'. Innerhalb des Oberbegriffs von Zeichen unterscheidet Peirce (1955: 102 ff.) nach der Art der Beziehung mit dem Referenten die Ikone, die Indizes und die Symbole.24 Die Ikone zeichnen sich durch ihre Ähnlichkeit mit dem Objekt aus, das sie bezeichnen (1955: 102, 104 ff). Ein Index wird seinerseits als ein Zeichen dargestellt, „which refers to the Object that it denotes by virtue of being really affected by that Object" (1955: 102). Das Symbol ist ein Zeichen, das sich auf das bezeichnete Objekt kraft einer allgemeinen Regel („law") bezieht, „which operates to cause the Symbol to be interpreted as referring to that 23
Oder nach Carnaps Formulierung „allgemeine Theorie der Zeichen und Sprachen" (1948: 8). 24 Kritisch gegenüber dem „Vorhandensein des Referenten als unterscheidenden Parameters" vgl. Eco, 1991: 239 f.
1. Mehrdeutigkeit von, Symbol·, symbolisch4 undSymbolik
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Object" (ebd.). Ganz im Sinne der aristotelisch-thomistischen Tradition also (vgl. Eco, 1984: insbes. 24) definiert Peirce das Symbol als ein konventionelles und arbiträres Zeichen (vgl. 1955: 112 ff.; Eco, 1984: 210 f.). Bei Morris wird ,Zeichen' wie bei Peirce als oberbegrifflicher Terminus benutzt, aber anstatt einer trichotomischen Klassifizierung unterscheidet er dichotomisch Symbole und Signale. Die Signale werden als Zeichen aufgefaßt, die die Erwartung oder die Anforderung an eine bestimmte Handlung hervorbringen. Das Symbol wird von dem Interpreten selbst erzeugt und wirkt als Substitut für einige andere Zeichen, für die es als Synonym funktioniert (vgl. Firth, 1973: 65 f., interpretierend Morris, 1938). In seiner anthropologischen Erörterung des Sinnes von ,Symbol· greift Firth (1973: 60 ff, 65 ff.) auf die semiotischen Einstellungen Peirces und Morris' zurück. In dieser Orientierung unterscheiden sich innerhalb des Oberbegriffes ,Zeichen4 der,Index', das ,Signal', das ,Ikon' und das ,Symbol·. Man findet einen Index darin, „where a sequential relation is inferred", wie z.B. aus dem Teil zu Ganzen, aus dem Präzedenten zum Konsequenten, aus dem Partikularen zum Allgemeinen (Firth, 1973: 74). Das Signal impliziert eine darauf folgende Handlung, es ist ein Zeichen, das als Stimulus für eine „Antwort komplexerer Art" [„response of a more complex kind"] wirkt (1973: 75). Bei dem Ikon besteht eine sensorische Beziehung der Ähnlichkeit zwischen Zeichen und bezeichnetem Objekt (ebd.). Zuletzt charakterisiert sich das Symbol dadurch, „eine komplexe Reihe von Assoziationen" einzuschließen, und damit zusammenhängend dadurch, daß es sich nur im Sinne einer partiellen Repräsentation beschreiben läßt; außerdem ergibt sich die Bedeutung eines Symbols aus der „persönlichen und sozialen Konstruktion", so daß dem Beobachter die Beziehung zwischen dem Zeichen und dem bezeichneten Objekt als arbiträr zugeschrieben erscheint (ebd.). In seiner Interpretation von Peirce und Morris hebt Firth hervor, daß bei der Bestimmung des Sinnes der Signale der Erzeuger und der Interpret denselben Code benutzen, während der Interpret, wenn er den Symbolen Sinn zuschreibt, eine prominente Position einnimmt, also über einen viel weiteren Raum verfügt, „um seine eigene Einsicht zu betreiben" [„for exercise his own judgement"] (1973 : 66 f.). Auf Grund dieses pragmatischen Unterscheidungsmerkmales zeichnen sich die Symbole durch die Unbestimmtheit, die Variabilität der Interpretation und besonders durch die Unerschöpflichkeit ihrer Bedeutung, „ihre wesentlichste Charakteristik", aus (1973: 66, 72 f.). Und es liegt in dieser pragmatischen Auffassung, daß Firth das Symbol als Instrument von Expression, Kommunikation, Erkenntnis und Kontrolle erörtert (76 ff). Ganz in umgekehrter Weise als Peirces und auch Morris Auffassung unterscheidet Saussure Zeichen und Symbol. Das Zeichen wird durch das „Prinzip der Arbitrarität" gekennzeichnet (Saussure, 1922: 100-2; als Variante vgl.
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Kap. I: Von der symbolischen Gesetzgebung: Einer antreibenden Debatte..
Barthes, 1964: 110 f.) 25 , während „das Symbol als Charakteristik hat, niemals ganz arbiträr zu sein; es ist nicht inhaltslos, es gibt ein Rudiment von natürlicher Verknüpfung zwischen Signifikanten und Signifikat" (1922: 101). Daher läßt sich behaupten, daß der Begriff des Symbols bei Saussure dem Konzept des Ikons bei Peirce entspricht, indem es eine Ähnlichkeit des Signifikanten mit dem bezeichneten Objekte impliziert (in diesem Sinne Eco, 1984. 211; Derrida, 1967: 66). Ebenfalls kann man feststellen, daß um seiner Arbitrarität willen das Zeichen bei Saussure ungefähr dem Symbol bei Peirce entspricht.26 Auch im Rahmen der semiotischen Diskussion definiert Eco (1984: 252), nachdem er verschiedene widersprechende Bedeutungen von ,Symbol' kritisch in Betracht genommen hat, den symbolischen Modus als „eine Art von Textproduktion oder -interpretation", in der ein Element als die Projektion „eines genügend unbestimmten Stücks von Inhalt" angesehen wird. Der „Nebelfleck von Inhalt", die Ungewißheit und die Unübersetzbarkeit der Symbole nähern die Konzeption Ecos dem Modell Jungs an und bringen sie mit der Interpretation der heiligen Schriften in direkter Verbindung (Eco, 1984: 225 ff., 234 ff.). Aber Eco weist auf den symbolischen Modus grundsätzlich als poetische Strategie hin (1984: 242) und sieht also von aller zugrundeliegenden Metaphysik oder Theologie ab, die den Symbolen eine partikulare Wahrheit zuschreiben (252). Demnach wird der symbolische Modus als ein Verfahren des „Gebrauchs von Text" dargestellt, das auf jeden Typus von Zeichen „durch eine pragmatische Entscheidung" angewendet werden kann, die auf der semantischen Ebene die Assoziation „neuer Inhaltsstücke" zu dem Zeichen erzeugt, die sich als „höchstmöglich unbestimmt und vom Empfänger entschieden" erweisen (253 f.). Auf diese Weise ist die semantische Implikation des symbolischen Modus („Nebelfleck von Inhalt") von einer bestimmten pragmatischen Einstellung des Benutzers des Texts und somit radikal vom Kontext abhängig. 1.6. Das Symbolische in der Logik Unter dem Gesichtspunkt der symbolischen Logik hängt der Begriff des Symbols hauptsächlich mit der Unterscheidung zwischen „künstlicher" und „gewöhnlicher" Sprache zusammen und beinhaltet insofern einen ganz ande-
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In kritischer Einstellung gegenüber Saussures These der Arbitrarität des Zeichens s. Derrida , 1967: 65 ff., ausgehend davon, daß die Idee der arbiträren Institution des Zeichens „vor der Möglichkeit der Schrift und außerhalb deren Horizonts undenkbar ist" (65). 26 Dabei lehnt Derrida (1967: 66) „im Namen des Arbiträren des Zeichens die Saussuresche Definition der Schrift als ,Bild' - also als natürlichen Symbols - der Sprache" ab.
1. Mehrdeutigkeit von Symbol, symbolisch undSymbolik
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ren Sinn als denjenigen, der jeweils in der anthropologischen, philosophischen, psychoanalytischen und semiologischen Diskussion vermittelt wird. Die symbolische Sprache wird mit dem Zweck konstruiert und angewendet, die Ungenauigkeit und die Flexibilität der Umgangssprache zu verhindern, sofern sie die logischen, mathematischen und wissenschaftlichen Ableitungen blockieren (Carnap, 1954: 1 f.; vgl. Wittgenstein, 1963: 30 f., § 3.344, u. 32, § 4.002; Firth, 1973: 55). Nach Carnap ermöglicht die symbolische Sprache in dem Maße die „Reinheit einer Ableitung", wie nur die für die entsprechende Folgerung relevanten Voraussetzungen verwendet werden; die Umgangssprache erlaubt dagegen das unvermerkte Einschmuggeln von Voraussetzungen, die der logischen Operation fremd sind und somit deren Ergebnisse entstellen (1954: 2).27 Außerdem wird hervorgehoben, die Kürze und Übersichtlichkeit der symbolischen Sprache, die so niemals in der Umgangssprache vorhanden ist, „erleichtert das Operieren, Vergleichen und Schließen außerordentlich" (ebd.). Carnap bezieht sich auch auf die Wichtigkeit der symbolischen Logik für die Auflösung gewisser, nicht durch die klassische Logik behobener Widersprüche (1954: 3), sowie auf die Möglichkeit, „Sätze irgend einer gegebenen Theorie über irgend welche Gegenstände" in die logisch-symbolische Sprache zu übersetzen, die sich somit als das formalisierteste Zeichensystem („Skelett einer Sprache") darstellt (1954: 1). 1.7. Das Symbolische in der Soziologie - Ein Beispiel der Systemtheorie In der Soziologie läßt sich eine vielfältige Variation bei der Konzeptualisierung von,symbolisch' feststellen und es ist nicht auszuschließen, daß im Werk ein und desselben Sozialwissenschaftlers der Ausdruck einer starken Bedeutungsvariierung unterliegt. Ich werde hier als Beispiel nur einen kurzen Hinweis auf das systemtheoretische Modell geben. Bei Luhmann bilden Wahrheit, Liebe, Eigentum/Geld, Macht/Recht, Kunst, religiöser Glaube und standardisierte „Grundwerte" wichtige Beispiele „symbolisch generalisierter Kommunikationsmedien" (vgl. 1975a, 1987a: 135 ff. u. 222 ff., 1997: 316 ff.; Luhmann / De Giorgi, 1992: 105 ff.). 28 „Der Begriff Symbol/symbolisch soll dabei das Medium der Einheitsbildung bezeichnen" (1987a: 135); die Symbolisierung bringt zum Ausdruck, „daß in der Differenz eine Einheit liegt" (1997: 319).29 So ermöglichen die symbolisch generalisier27 In diesem Sinne betonte Wittgenstein: „Es ist menschenunmöglich, die Sprachlogik, aus ihr [der Umgangssprache] unmittelbar zu entnehmen" (1963: 32, § 4.002). 28 Hier greift Luhmann auf Parsons' Auffassung der generalisierten Kommunikationsmedien zurück (vgl. z. B. Parsons, 1964: 5 f. u. 115 ff.). 29 Im Hinblick auf die symbolische Kunst, definiert Luhmann ähnlich: „Symbolisches hat es immer mit der Einheit einer Differenz zu tun..." (1996a: 273).
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Kap. I: Von der symbolischen Gesetzgebung: Einer antreibenden Debatte...
ten Kommunikationsmedien in hochkomplexen und -kontingenten gesellschaftlichen Konstellationen die Kontinuität der Kommunikation, indem sie der Fortsetzung des Zusammenhangs von Selektion und Motivation dienen (1975a: 174, 1987a: 222; 1997: 320 f.). Sofern die symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien nach verschieden binären Präferenz-Codes differenziert werden, die jeweils nur für eine von ihnen Relevanz haben (es handelt sich also um Medien-Codes), unterscheiden sie sich von der nicht spezialisierten Umgangssprache, und es entstehen die entsprechenden spezialisierten Sprachen der Wissenschaft, des Rechts, der Wirtschaft, der Kunst usw. (vgl. 1974: 62; 1975a: 175 f., 1997: 332 ff.). 30 In dieser Perspektive hängt die Ausdifferenzierung jedes sozialen Systems mit seiner symbolischen Darstellung als Einheit zusammen. Aber im Werke Luhmanns findet man auch den Begriff des symbolischexpressiven Handelns im Gegensatz zum Konzept des instrumentellen Verhaltens (vgl. 1983a: 223-32, 1987b: 315 ff). Dieses impliziert eine Zweck/ Mittel-Relation, so daß die darin verwickelten Bedürfnisse „ihren Sinn aus der Erfüllung fernliegender Zwecke gewinnen und im Hinblick darauf variierbar sind"; das symbolisch-expressive Handeln befriedigt unmittelbar die Bedürfnisse, auf die es sich richtet, „so daß eine Änderung des Handelns eine Änderung des Bedürfnisses voraussetzt" (1983a: 224 f.). Luhmann hebt hervor, daß das instrumenteile Verhaltensmuster, i. e. das nach der Zweck/Mittel-Relation orientierte Handeln allein einen der Aspekte der Funktionalität der sozialen Systeme konstituiert, die also, um die Komplexität ihrer Umwelt zu reduzieren, symbolisch-expressive Variablen mobilisieren müssen: Im Vorgang der Reduktion von Komplexität werden die Zweckmodelle erst eingesetzt, „wenn die Probleme schon spezifischere Strukturen gewonnen haben, wenn also Komplexität schon weitgehend absorbiert ist" (1973a: 156; vgl. auch 1983a: 223, 1971: 294).31 Die eigene Legitimation wird nicht durch Wahl geeigneter Mittel für die Verwirklichung eines Zwecks in der Zukunft erreicht, sondern durch symbolisch-expressives Handeln, dank dem das Verfahren Bedeutung für Beteiligte und Nichtbeteiligte gewinnt und sie alle in der Gegenwart motiviert, sich in den Prozeß der Komplexitätsreduktion zu integrieren (1983a: 224). Aber sicherlich kostet es die Legitimation, falls die instrumentellen Variablen an Sinn verlieren, d. h. die Zweck/Mittel-Relation beständig blockiert wird und die symbolisch-expressiven Variablen hypertrophisch werden. Dieses ist einer der Aspekte, die dazu führen, daß ,symbolisch' im Rahmen der vor-
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Über binäre Codierung im allgemeinen siehe Luhmann, 1986a: 75 ff. Daher ist die kritische Interpretation der Luhmannschen Systemtheorie seitens Habermas m. E. insofern nicht richtig, als er beschränkend behauptet: „Systemrationalität ist die auf selbstgeregelte Systeme übertragene Zweckrationalität" (1982a: 261). 31
2. Semantische Präzisierung
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liegenden Untersuchung anders verwendet wird als bei Luhmann.32 Außerdem gibt es in Luhmanns Auffassung eine Gleichsetzung von Expressivem und Symbolischem, zwei Dimensionen der Handlung, die analytisch unterschieden werden sollen.
2. Semantische Präzisierung Der oben ausgeführte Überblick über die Mehrdeutigkeit von ,Symbol', ,symbolisch' und ,Symbolik' erfordert, daß bei dem Gebrauch des Ausdruckes ,symbolische Gesetzgebung' präzise bestimmt wird, in welchem Sinne man jeweils den adjektivierenden Terminus verwendet. Zuerst ist zu beobachten, daß die Identifikation des Symbolischen mit dem Semiotischen, die sich in den Konzeptionen von Cassirer, Lévi-Strauss und Lacan (vgl. Eco, 1984: 206-10) findet, 33 unvereinbar mit dem Gebrauch des Ausdruckes ,symbolische Gesetzgebung' ist, und zwar in dem Maße, wie nach jener umfassenden Semantik alle menschliche Sinngebung - also auch die Gesetzgebung - symbolisch ist. Man würde dann bei der Anwendung dieses Ausdruckes vor einem Fall von Tautologie stehen. Ebenfalls läßt sich m. E. der Sinn von Symbolischem bei Jung, nämlich Ausdruck unbekannten und unverstehbaren Bedeutungsinhalts zu sein, nicht mit dem Problem der symbolischen Gesetzgebung ohne weiteres in Verbindung bringen. Vielleicht kann man eine Analogie mit Freuds Auffassung der Symbolik vermuten, sofern dort zwischen latenter und manifester Bedeutung unterschieden und im Hinblick auf die symbolische Gesetzgebung behauptet wird, daß die latente über die manifeste Funktion vorherrscht. 34 Aber, wie ich oben bereits vorausgeschickt habe, verbindet sich die Frage der symbolischen Gesetzgebung gewöhnlich mit der Unterscheidung zwischen instrumenteilen, expressiven und symbolischen Variablen im Rahmen der Sozialwissenschaften. Die instrumentellen Variablen würden eine Zweck/MittelRelation beinhalten, den bewußten Versuch, objektive Ergebnisse durch Handeln zu erzielen. In der expressiven Haltung gibt es eine Vermengung von Handeln und Befriedigung des jeweiligen Bedürfnisses. Während die instru32
Dennoch schließt Luhmann den Gebrauch von symbolisch4 in dem in der vorliegenden Arbeit verwendeten Sinne nicht aus (vgl. 1990a: 214, 1993a: 478). 33 Diese Gleichsetzung zeigt sich auch in der Erörterung von Castoriadis über die „Institution als symbolisches Netz" (s. oben Abschn. 1.4. dieses Kap.) und in der Verwendung des Ausdruckes „symbolische Funktion der Sprache" bei Ferraz Jr. (1988: 233-36). 34 Ich komme darauf im Abschnitt 8 dieses Kapitels zurück, wenn über die Wirkungen der symbolischen Gesetzgebung die Rede sein wird.
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mentelle Handlung sich als „Konfliktvehikel" konstituiert, ist das expressive Handeln ein „Vehikel der Katharsis" (Gusfield, 1986: 179). Indem er sich von anderen Autoren distanzierte, die das Problem der symbolischen Politik aufgriffen, unterschied Gusfield das Symbolische nicht nur vom Instrumentellen, sondern auch vom Expressiven (1986: 77 ff). Entgegen der expressiven Haltung und ähnlich der instrumentellen Handlung zeichnet die symbolische Haltung sich nicht durch die Unmittelbarkeit der Befriedigung der jeweiligen Bedürfnisse aus und hängt mit dem Problem der Lösung von Interessenkonflikten zusammen (1986: 183). Anders als die instrumentellen Variablen ist die symbolische Haltung nicht auf eine lineare Zweck/Mittel-Relation hin orientiert und ist andererseits nicht durch einen direkten und manifesten Zusammenhang zwischen Signifikanten und Signifikat gekennzeichnet, sondern unterscheidet sich durch ihren mittelbaren und latenten Sinn (1967: 176 f.). Wie Gusfield richtig bemerkt hat, „[ähnelt] die Unterscheidung zwischen instrumenteller und symbolischer Handlung in vielen Aspekten dem Unterschied zwischen denotativem und konnotativem Diskurs" (1986: 170).35 In der Denotation gibt es einen relativ klaren Zusammenhang zwischen Ausdruck und Inhalt; entsprechend gibt es im instrumentellen Handeln eine Ausrichtung des Verhaltens auf feste Ziele. In der Konnotation ist die Sprache mehrdeutiger; das symbolische Handeln ist konnotativ, sofern es einen mittelbaren und unpräzisen Sinn erhält, der zu seinem unmittelbaren und manifesten Sinn hinzutritt (1986: 170; 1967: 177) und ihm gegenüber die Oberhand behält. Die Unterscheidung zwischen instrumenteller, expressiver und symbolischer Funktion ist selbstverständlich nur in analytischer Hinsicht möglich: in der Praxis der sozialen Systeme sind diese drei Variablen immer gegenwärtig. Wenn man jedoch behauptet, daß ein Handlungszusammenhang eine symbolische, instrumenteile oder expressive Funktion hat, bezieht man sich auf die Dominanz einer dieser Variablen, niemals auf ihre Ausschließlichkeit. In diesem Sinn verweist „symbolische Gesetzgebung" auf die Vorherrschaft oder gar auf die Hypertrophie der symbolischen Funktion der gesetzgeberischen Tätigkeit und ihres Produkts, des Gesetzes, vor allem auf Kosten der rechtsinstrumentellen Funktion.
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Die Termini ,konnotativ' und ,denotativ' sind hier im linguistischen bzw. semiotischen Sinne verwendet (dazu vgl. ζ. B. Barthes, 1964: 130-32; Eco, 1991: 82-85; Greimas / Landowski, 1976: 85 f.; Greimas / Courtés, 1979: 62-64 u. 89). Aber im logischen Feld entspricht die Konnotation der semantischen Bedeutungsdimension und die Denotation der semantischen Referenzdimension (vgl. von Wright, 1963: 93 f.; Copi, 1961: 107 ff).
3. Symbolische Politik versus symbolische Gesetzgebung
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3. Symbolische Politik versus symbolische Gesetzgebung In dieser Perspektive muß das Konzept der symbolischen Gesetzgebung vorerst von dem umfassenderen und auch unpräziseren Begriff der symbolischen Politik unterschieden werden. Edelman hat instrumentelle und symbolische (expressive) Politik voneinander auf der Basis des Unterschieds zwischen Verweisungssymbolen und Verdichtungssymbolen differenziert: erstere werden in „derselben Weise von verschiedenen Personen" interpretiert und erleichtern „das logischen Erfassen der Situation und ihre Bewältigung"; letztere „wecken die Emotionen, die mit der Situation assoziierten sind" (1967: 6). Die an Verweisungssymbolen orientierte instrumenteile Politik sei Privileg organisierter Minderheiten zur Erlangung konkreter Vorteile und zur Befriedigung spezifischer Interessen. Die an Verdichtungssymbolen orientierte symbolische Politik sei eine Szenerie, „eine Reihe von Bildern", die der Mehrheit der Menschen, den Spektatoren, abstrakt vorgestellt würden; sie bestehe in einer „Parade abstrakter Symbole" (1967: 5). Dementsprechend stelle die Politik für die Masse der Bevölkerung vor allem eine symbolische Handlungs- und Erlebenssphäre dar. Für die Masse der Spektatoren symbolisierten die politische Akte nach Edelman sowohl Beschwichtigung als auch Bedrohung (vg. 1967: 7, 13 f. u. 188); aber die symbolische Politik diene eher der sozialen Anpassung (1967: 8), indem sie die Spannungen abschwäche (1967: 38) und also primär eine Beruhigungsfünktion für das Publikum erfülle (vgl. 1967: 22-43, 163-65, 170 f., 188-94 u. passim, 1977: 141-55). Sofern nach Edelmans Gesichtspunkt jede politische Tätigkeit im Grund genommen symbolisch ist, hat es keinen Sinn, in dieser Perspektive von symbolischer Gesetzgebung als einem spezifischen Problem der Beziehung zwischen dem politischen und dem Rechtssystem zu sprechen: jede Gesetzgebung wäre symbolisch. Deswegen ist eine enge Verbindung der sehr umfassenden Erörterung von Edelman über symbolische Politik mit der spezifischen Debatte über symbolische Gesetzgebung nicht angebracht (dazu Kindermann, 1988: 229),36 obwohl einige seiner Positionen auf diese Diskussion anwendbar sind, wie unten auszuführen sein wird. Außerdem unterliegt Edelmans Ansatz einer Kritik, was die dualistische Trennung zwischen Akteuren (der instrumentelle Handlung) als Minderheit und Spektatoren (des symbolischen Han36
Aber unter dem Stichwort ,symbolische Politik4 bezieht man sich auch auf eine spezifische Form von Politik, die sehr verschiedene, jedoch ganz bestimmte Erscheinungen einbezieht (vgl. z.B. Voigt [Hg.], 1989a; Abélès / Rossade [Hg.], 1993; Mänikke-Gyöngyösi [Hg.], 1996), so daß in diesem differenzierten Sinn die symbolische Gesetzgebung als ein Ausdruck symbolischer Politik verstanden werden könnte (so Kindermann, 1989 in Voigt [Hg.], 1989a).
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delns) als Mehrheit anbetrifft, denn die instrumentelle Politik kann für breite Teile der Bevölkerung, die sich dafür engagieren, Vorteile bringen, so wie die symbolische Politik zu einer (aktiven) Mobilisierung des Publikums führen kann (vgl. Sarcinelli, 1987: 61). Zuletzt muß man berücksichtigen, daß die symbolische Politik nicht allein zur „psychologischen Beruhigung" der Gruppen, auf die sie sich richtet, beiträgt, sondern auch gewisse Interessen in Gefahr bringt. (Gusfield, 1986: 182, in einer Kritik an Edelman).
4. Symbolisches Recht versus symbolische Gesetzgebung Im Rahmen des umfassenden Begriffs der symbolischen Politik entwickelte sich spezifisch die Konzeption des „Rechts als Symbolismus". Arnold war unbestreitbar der Pionier in der Auseinandersetzung mit dieser Frage, indem er dem gesamtem Recht eine primär symbolische Funktion zuschreibt (1935: insbes. 33 ff.). 37 Das „Recht" wird als eine Form, auf die Staatsinstitutionen (governmental institutions) „in idealer Weise" zu verweisen, konzipiert, folglich nicht als ein Mechanismus aufgefaßt, durch den diese Institutionen objektiv-realistisch betrachtet werden (1935: 33). Demnach wird hervorgehoben, daß es „zur Funktion des,Rechts' gehört, Ideale anzuerkennen, die das genaue Gegenteil von dem etablierten Verhalten darstellen", woraus sich eine komplizierte „Traumwelt" ergebe (1935: 34). Diese symbolische Funktion des Rechts sei vorherrschend, das heißt, sie überwiege weitgehend gegenüber seiner instrumentellen Funktion: „the observer should constantly keep in mind that the function of law is not so much to guide society, as to comfort it" (1935: 34). Obgleich der Glaube an das „Reich des Rechts" sowohl zum Gehorsam als auch zur Revolte oder Revolution führen könne, habe er üblicherweise die Funktion, die Akzeptierung des Status quo zu produzieren (1935: 34 f.). Auch die Rechtswissenschaft sei in dieser Traumwelt eingeschlossen, indem sie dazu diene, deren Widersprüche und Irrationalität dadurch zu verdecken, daß sie sie 37
In einem anderen Zusammenhang, einer ,Analyse der Rechtssoziologie Niklas Luhmanns", verweist Zielcke (1979) umfassend auf „die symbolische Natur des Rechts", aber dabei bleibt das Konzept des „Symbolischen" sehr weitreichend und vage, sei es weil die Symbolvermittlung mit der Zeichenvermittlung gleichgesetzt und also das Symbolische mit dem Semiotischen identifiziert wird, sei es, weil das Symbolische die gesamte Ebene des Erwartens umfaßt, so daß in diesem Sinne alle soziokulturellen Vorgänge symbolische sind (vgl. ebd.: insbes. 41 u. 129 ff.). Andererseits kritisiert Voß (1989: 38) zu Recht die Einseitigkeit der Analyse Zielckes von Luhmanns Rechtssoziologie, weil erstere die Funktion des Rechts auf die Erwartungssicherung beschränkt, während nach letzterer,Rieben der Sicherung von Erwartungshaltungen das Recht auch tatsächliche Verhaltensänderungen bewirken kann". Vgl. dazu Luhmann, 1981d.
5. Symbolische Gesetzgebung versus politische Rituale und Mythen
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rhetorisch als eine nach der Vernunft regierte, widerspruchslose Welt darstelle (1935: 56 ff). Es ist unbestritten, daß Arnolds Beitrag relevant und zum Teil für eine Kritik der Rechtsideologie nach wie vor zutreffend ist (Lenk, 1976: 143 Anm. 12). Aber die Vorstellung des Rechts als Symbolismus ist wie die oben in Betracht genommene, umfassende Auffassung der symbolischen Politik mit dem Konzept der symbolischen Gesetzgebung unvereinbar: Geht man davon aus, daß alle, sowohl praktische als auch theoretische, rechtliche Tätigkeit primär und letztendlich symbolisch ist, verliert die Behandlung der symbolischen Gesetzgebung als eines spezifischen Problems des Rechtssystems an Sinn. Dabei würde man wieder vor einer Tautologie stehen. Dennoch spielen das Recht und die Gesetzgebung, wie unten eingehend zu zeigen sein wird, nicht immer eine hypertroph symbolische Rolle, denn in vielen Fällen tritt seine/ihre instrumenteile Dimension hervor. So wie die Überschätzung der instrumenteilen Funktion des Rechts Faktor und Produkt einer Illusion über die Fähigkeit bildet, mittels Rechtsnormen das Verhalten zu steuern (vgl. Lenk, 1976: 147), ist die Überbewertung des symbolischen Charakters des Rechts vereinfachend, indem sie verunmöglicht, daß wichtige Unterscheidungen bzw. differenzierte Analysen in bezug auf die Rechtsmaterialien vorgenommen werden.38 5. Symbolische Gesetzgebung versus politische Rituale und Mythen Bei den umfassenden Konzeptionen der symbolischen Politik und des symbolischen Rechts besteht nicht nur eine Vermengung von Symbolischem mit Expressivem (vgl. ζ. B. Edelman, 1967: 19 ff; in anderem Zusammenhang Luhmann, 1983a: 224 ff), die bereits oben in Anlehnung an Gusfield kritisierte wurde, sondern auch eine Tendenz, die symbolischen Variablen der politischen und rechtlichen Aktivitäten mit derenritualistischen und mythischen Elementen durcheinanderzubringen. Für Edelman sind Rituale und Mythen symbolische Formen, die die politischen Institutionen durchziehen (1967: 16). Demnach bestehe eine Beziehung von Gattung und Spezies. Das Ritual wird als „eine motorische Tätigkeit verstanden, die ihre Teilnehmer symbolisch in eine gemeinsame Unternehmung hineinzieht", indem es ihnen suggeriert, daß sie aus gemeinsamen Interessen verbunden sind (Edelman, 1967: 16).39 Es wird also als eine kollektive Akti38 In dieser Richtung vgl. die Kritik von Dworkin (1991: 15 f.) an den von ihm sogenannten „nominalistischen" Juristen. 39 In der Perspektive der Theorie des kommunikativen Handelns behauptet Habermas (1982b Π: 88): „...die rituellen Handlungen [haben] ihre adaptativen Funktionen verloren; sie dienen der Herstellung und Erhaltung einer kollektiven Identität, dank deren die Interaktionssteuerung von einem genetischen, im einzelnen Organismus ver-
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Kap. I: Von der symbolischen Gesetzgebung: Einer antreibenden Debatte..
vität definiert, die ihre Teilnehmer der Inexistenz von Dissens zwischen ihnen versichert und dadurch beruhigt (1967: 17). Der Mythos läßt sich seinerseits als „sozial tradierter" und „unbestrittener" Glaube konzipieren (1967: 18). Rituale als motorische Tätigkeiten und Mythen als unbestrittene Überzeugungen verstärken sich wechselseitig, beinhalten latente Sinnzusammenhänge bzw. Konnotationsebenen, die sich den an ihre manifesten Bedeutungen gebundenen Handelnden und Gläubigen nicht zeigt. Aber die symbolische Sphäre läßt sich danach nicht auf die Rituale und Mythen reduzieren, sie ist umfassender. Neuerdings hat Voigt, indem er das Problem der symbolischen Politik behandelt, zwischen Mythen, Ritualen und Symbolen unterschieden; aber er macht darauf aufmerksam, daß sie oft gleichzeitig vorkommen (1989b: 9). „Mythen bestimmen unser Weltverständnis, oft ohne daß wir uns dessen bewußt werden. In vielen Fällen prägen Sie unser Denken so nachhaltig, daß uns ein abweichendes Verhalten nur schwer möglich scheint".(1989b: 10) In Ritualen wird die mythische Bindung an die Vergangenheit „durch stete und gleichbleibende Wiederholung bekräftigt. Das Besondere daran ist die Aufhebung der Zeit: Durch das Ritual wird die Vergangenheit (im wahrsten Sinne des Wortes) lebendig" (1989b: 12). Zum letzten definiert Voigt die Symbole als „codierte Signale, deren Sinn nur der versteht, der den Code entschlüsseln kann" (1989b: 14). Die in den Ritualen eingeschlossenen Symbole dienen demnach der Anpassung der neuen wirklichen Gegebenheiten an die vorhandenen Interpretationsmuster (1989b: 14). In dieser Perspektive können die Symbole unter bestimmten Umständen als Mittel der ritualistischen Tätigkeiten und des mythischen Glaubens begriffen werden.40 Die Unterscheidung zwischen Mythen, Ritualen und symbolische Formen interessiert mich hier spezifisch, um die symbolische Gesetzgebung differenziert zu charakterisieren und analysieren. Mir scheint, wenn man von hypertroph symbolischer Funktion der gesetzgeberischen Tätigkeit, der Gesetze und der Diskurse über sie spricht, wenn es sich also um „symbolische Gesetzgebung" handelt, dann verweist man im Prinzip nicht auf rituelle und mythische Formen. Nur bedingt hängen unbestrittene Überzeugungen (Mythen) und motorische, stetig und gleichbleibend wiederholte Tätigkeiten (Rituale) mit der symbolischen Gesetzgebung zusammen. Dennoch beruht auch die instrumentelle Gesetzgebung (die normative Kraft der Gesetze) sehr oft auf Ritualen (die primär expressive Handlungen sind) und Mythen. Was nun die symboliankerten Programm auf ein intersubjektiv geteiltes kulturelles Programm umgestellt werden kann." 40 Anders, in dem Sinne einer engeren Verknüpfung von politischen Mythen und politischen Symbolen vgl. unter unterschiedlichen Voraussetzungen Dörner, 1995: insbes. 76 ff.; Garcia-Pelayo, 1991: 1005 ff.
6. Für eine Begriffsbestimmung
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sehe Gesetzgebung unterscheidet, ist weder das Ritualistische noch das Mythische, sondern das Übergewicht ihrer latenten „politisch-ideologischen" Bedeutung zu Lasten ihres scheinbaren rechtsnormativen Sinns.
6. Für eine Begriffsbestimmung Die instrumentelle Konzeption des positiven Rechts in dem Sinne, daß die Gesetze unüberwindbare Mittel zum Erreichen bestimmter vom Gesetzgeber „gewünschter" Zwecke bilden, um dadurch vor allem sozialen Wandel herbeizuführen, impliziert ein vereinfachendes und illusorisches funktionales Modell, wie die Kritiker dieser Konzeption in der letzten Zeit immer wieder aufgewiesen haben. Einerseits beobachtet man, daß zahlreiche Gesetze nur dazu dienen, anerkannte „soziale Normen" zu kodifizieren (Lenk, 1976: 146). Andererseits wird jetzt stärker berücksichtigt, daß die Komplexität der sozialen Umwelt des politischen und des Rechtssystems zu hoch ist, als daß die Betätigung des Staates durch die Gesetzgebung ein zuverlässiges Instrument der Gesellschaftssteuerung konstituieren könnte.41 Neuerdings wird auch schon auf den paradoxen Zusammenhang zwischen wachsenden Staatsaufgaben und sinkender Steuerungsfahigkeit des Rechts hingewiesen (Grimm, 1990). Aber die Frage der Grenzen einer instrumentellen Konzeption der Gesetzgebung interessiert mich hier in einer anderen Perspektive: Ist das Scheitern der instrumenteilen Funktion des Gesetzes ein sich nur auf die Unwirksamkeit der Rechtsnormen beziehendes Problem? Die negative Antwort auf diese Frage stellt uns vor die Debatte um die symbolische Wirkung bestimmter Gesetze. Wie Gusfield zusammenfassend zutreffend formuliert hat, „many laws are honored as much in the breach as in performance" (1967: 177). In einem weitreichenderen Sinn läßt sich behaupten, daß eine beträchtliche Anzahl der Gesetze latente soziale Funktionen im Widerspruch zu ihrer rechtsnormativen Wirksamkeit erfüllt, das heißt im Gegensatz zu ihrem manifesten rechtlichen Sinn. Es handelt sich also nicht einfach um eine Negation der instrumentellen Gesetzgebung. In dieser Hinsicht beobachtet Kindermann: „Symbolische Gesetzgebung darf nicht lediglich als Kontrapunkt zur instrumentellen Gesetzgebung zeitgenössischer Provenienz gesehen werden, sondern muß als Alternative zur normativ-generellen Verhaltenssteuerung begriffen werden" (1989: 258). In Anbetracht dessen, daß die gesetzgeberische Tätigkeit ein Moment konzentrierter Konfluenz zwischen dem politischen und dem Rechtssystem 41
In dieser Richtung betont Luhmann: „Die Gesellschaft selbst kann nicht allein von ihrer Rechtsverfassung her begriffen werden. Das Recht" - sowie die Politik - „ist nur ein strukturelles Moment unter anderen" (1987b: 299). Vgl. auch Teubner, 1982, 1989: 81 ff.; ders. / Willke, 1984; Ladeur, 1983: 466 ff., 1984: 170 ff., 1990. 3 Neves
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konstituiert, läßt sich die symbolische Gesetzgebung als Produktion von Texten definieren, deren manifester Bezug auf die Wirklichkeit rechtsnormativ ist, die tatsächlich aber primär und hypertroph politischen Zwecken nicht spezifisch rechtsnormativen Charakters dienen. Es scheint mir nicht sinnvoll zu behaupten, symbolisch seien die gesetzgeberischen Akte, nicht die Gesetze (so aber Noll, 1981: 356). Zwar kann sich aus bestimmter gesetzgeberischer Tätigkeit, die primär symbolische Funktion erfüllt, ein Gesetz ergeben, das nachträglich eine starke „normative Kraft" erhält; und umgekehrt können auch Gesetze, die aus Akten instrumenteller Gesetzgebung entstehen, im Verlauf der Zeit dazu übergehen, eine vorrangig symbolische Rolle zu spielen (hierzu vgl. Kindermann, 1988: 225). Aber das Konzept der symbolischen Gesetzgebung muß sich umfassend auf die spezifische Bedeutung sowohl des Produktionsaktes als auch des produzierten Textes beziehen, indem es das Problem zu offenbaren hat, daß der politische Sinn beider sich hypertroph gegen ihren scheinbaren rechtsnormativen Sinn durchsetzt. Der rechtliche Bezug von Handlung und Text auf die Wirklichkeit wird genau dadurch sekundär, daß die wertpolitische bzw. „politisch-ideologische" Bedeutung - obwohl sie durchgehend latent bleibt - zu dominant wird und also expansiv wirkt. Obwohl ich auf diese Frage unten zurückkommen werde, läßt sich hier vorweg bemerken, daß ich die symbolische Gesetzgebung nicht nach dem vereinfachenden Modell konzipiere, das sie von den Absichten des Gesetzgebers her erklärt bzw. definiert (anders Noll, 1981: 355 f.; vgl. auch Kindermann, 1989: 266). Selbstverständlich bestehen Anzeichen der symbolischen Gesetzgebung, wenn der Gesetzgeber sich darauf beschränkt, einen normativen Anspruch zu formulieren, ohne jede ernst zu nehmende Maßnahme zur Schaffung derjenigen Voraussetzungen für einen wirksamen Vollzug des entsprechenden Gesetzes zu treffen, „die er schaffen könnte" (Kindermann, 1988: 227).42 Aber das Problem der symbolischen Gesetzgebung ist strukturell bedingt, und so empfiehlt es sich in bezug darauf, eher von gesellschaftlichen Interessen- und Erwartungskonstellationen, auf denen es beruht, zu sprechen, als von Absichten des Gesetzgebers. Andererseits läßt sich umgekehrt die symbolische von der instrumentellen Gesetzgebung nicht an Hand der Differenz zwischen jeweils nicht-intendierten und intendierten Wirkungen unterscheiden (vgl. König, 1982: 308), denn es ist unvermeidlich, daß es Gesetzgebung gibt, die darauf intentional orientiert ist, symbolisch zu funktionieren. Sinnvoll scheint mir allerdings die Entgegensetzung von den latenten Wirkungen der symbolischen Gesetzgebung und den manifesten Wirkungen der instrumentellen Gesetzgebung (siehe Abschn. 8 dieses Kap.). 42
43.
Ähnlich, aber in einer „voluntaristischen" Einstellung, vgl. Blankenburg, 1977:
7. Typen der symbolischen Gesetzgebung
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7. Typen der symbolischen Gesetzgebung 7.1. Zur Typologie Im Hinblick darauf, daß die in den Begriffsbereich der symbolischen Gesetzgebung eingegliederten Fälle sehr heterogen sind, versucht man sie eben zu klassifizieren. In einigen Versuchen der Typisierung sind allerdings normative Akte eingeschlossen, die zur symbolischen Gesetzgebung in dem in der vorliegenden Arbeit angewendeten, engeren und differenzierten Sinne nicht gehören. So ordnet Noll die Deklarationen, wie sie vor allem in Verfassungen und besonders in deren Präambeln auftreten, in die umfassende Kategorie der symbolischen Gesetzgebung ein (1981: 356 f.; vgl. dazu Voß, 1989: 35 f.). Aber trotz der symbolischen Funktion der in den Verfassungsurkunden und deren Präambeln enthaltenen Deklarationen können diese der Interpretation und also der normativen Konkretisierung des jeweiligen Verfassungstextes dienen. Demgemäß dürfen sie nicht ohne weiteres in die Kategorie der symbolischen Gesetzgebung eingefügt werden, die durch eine Hypertrophie ihrer symbolischen Funktion auf Kosten der normativen Konkretisierung des entsprechenden Gesetzestextes gekennzeichnet ist. Diese Zuordnung rechtfertigt sich nur dann, wenn jene Deklarationen in Widerspruch zum eigenen geltenden Verfassungssystem bzw. in Diskrepanz zur Verfassungswirklichkeit stehen. Ebenso muß man hinsichtlich der sich auf „Symbole" der „souveränen" Staatsmacht beziehenden Normen argumentieren, wie etwa Armeewappen, Staatsflaggen und Nationalhymnen, die über eine informative Funktion hinaus normative Kraft und sogar strafrechtliche Folgen für Ihre Adressaten haben und deswegen im Prinzip symbolische Gesetzgebung nicht implizieren (Kindermann, 1989: 265; vgl. Noll: 1981: 359 f.). Unangemessen scheint mir auch, ohne weiteres die Gesetzgebung als symbolisch zu klassifizieren, die eine in anderem(n) Gesetz(en) schon ausreichend behandelte Materie wieder zu regulieren beansprucht, wie ζ. B. im Fall von Strafandrohung in bezug auf bereits strafbare Taten (anders Schild, 1986: 197). Es ist nicht auszuschließen, daß neue Gesetzesvorschriften mit identischem bzw. ähnlichem Inhalt wie dem früherer Gesetzesbestimmungen - selbst wenn man ihre symbolische Funktion unterstellt - der Verstärkung bestimmter Einstellung des Staats als Gesetzgebers dienen und damit zu einer höheren Wirksamkeit des entsprechenden normativen Inhaltes beitragen können. Im Prinzip können sie also eine relevante instrumentelle Rolle spielen. Wenn indessen die neue Gesetzgebung praktisch nur einen weiteren Versuch bildet, den Staat so darzustellen, als identifiziere er sich mit den von ihr formal beschützten Werten und Zielen, ohne irgendein neues Ergebnis hinsichtlich der normativen Konkretisierung mit sich zu bringen, dann stehen wir freilich vor einem Fall der symbolischen Gesetzgebung. Aber das resultiert nicht einfach 3*
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daraus, daß es um Gesetzgebung geht, die darauf gerichtet ist, schon in früheren Gesetzen hinreichend erfaßte Situationen zu regulieren, sondern ist davon vielmehr unabhängig. Kindermann schlug ein trichotomisches Modell für die Klassifikation der symbolischen Gesetzgebung vor, dessen systematischer Charakter es theoretisch fruchtbar macht: „Inhalt symbolischer Gesetzgebung kann es sein: a) soziale Werte zu bekräftigen, b) die Handlungsfähigkeit des Staates unter Beweis zu stellen und c) die Lösung gesellschaftlicher Konflikte durch dilatorische Kompromisse aufzuschieben" (1988: 230; vgl. auch 1989: 267). Im folgenden sollen diese drei Typen jeweils näher behandelt werden. 7.2. Bekräftigung sozialer Werte Was sehr oft vom Gesetzgeber gefordert wird, ist primär eine Stellungnahme zu sozialen Konflikten um Werte. In diesen Fällen sehen die in die Debatten bzw. Kämpfe um die Dominanz bestimmter Werte verwickelten Gruppen den „legislativen Sieg" als eine Form der Anerkennung der „Überlegenheit" resp. Vorherrschaft ihrer Wertauffassung in der Gesellschaft an, wobei eben die normative Wirksamkeit des entsprechenden Gesetzes für sie sekundär ist. Somit versuchen sie, die gesetzgeberische Tätigkeit in dem Sinne zu beeinflussen, daß die mit ihren Werten nicht zu harmonisierenden Verhaltensweisen formal verboten sowie die mit ihrem Lebensstil übereinstimmenden Handlungen erlaubt oder geboten werden. Dabei werden ihre Erwartungen im Prinzip lediglich durch den Erlaß des Gesetzes erfüllt. Ein beim Studium der symbolischen Gesetzgebung klassisch gewordenes Beispiel ist der Fall der Alkoholprohibition in den Vereinigten Staaten, dem Gusfield im einzelnen nachgegangen ist (1986: insbes. 166 ff., 1967: 176 ff.). Dessen Hauptthese besagt: die Befürworter der Prohibition waren nicht an deren instrumenteller Wirksamkeit interessiert, sondern vor allem daran, sich um ihrer legislativ bekräftigten Werte willen hohen gesellschaftlichen Respekt zu erwerben, so daß die jeweilige Gesetzgebung als Statussymbol füngierte. Bei den Konflikten zwischen Protestanten/Einheimischen, Anhängern des Alkoholverbots, und Katholiken/Einwanderern, Gegnern der Prohibition, füngierte demnach der „legislative Sieg" symbolisch auf einmal „als Akt der Ehrerbietung für die Sieger und der Entwürdigung für die Verlierer"; die instrumentellen Wirkungen waren dagegen irrelevant (1986: 23). Obgleich Gusfields Beitrag im Hinblick auf seine Empirische Basis angefochten wurde (Friedman, 1972: 210; Noll, 1981: 350; vgl. Kindermann, 1988: 224 f., 1989: 266), läßt sich anerkennen, daß er eine neue und produktive Lesart der gesetzgeberischen Tätigkeit ermöglicht und ausgelöst hat (Kindermann, 1989: 266; vgl. auch Voß, 1989: 85 ff.).
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Ein anderer, neuerlicher Fall ist die Diskussion über Abtreibung in der Bundesrepublik. Im Hinblick auf die Auseinandersetzung um die Legalisierung in den siebziger Jahren betonte Blankenburg: „...allen Beteiligten an der Diskussion [war] bekannt, daß Übertretungen von § 218 StGB sehr häufig sind und daß Bestrafungen nur in Ausnahmefälle[n] erfolgen" (1977: 42). Er schließt dann - zurückgreifend auf die Urteilsbegründung des Bundesverfassungsgerichts selbst -, daß es sich bei dem Konflikt um die Legalisierung der Abtreibung um „die symbolische Bekräftigung von Normansprüchen" handelt, nicht um „deren effektive Durchsetzung" (ebd.; vgl. auch Kindermann, 1988: 231 f.; Voß, 1989: 26 f.; Hegenbarth, 1981: 202; Noll, 1981: 353). Ein weiteres, sehr bedeutsames Beispiel für die jüngste gesellschaftliche Erfahrung Europas ist die Ausländergesetzgebung. Die Debatte um eine strengere oder flexiblere Gesetzgebung gegenüber Ausländern wird dabei als vorwiegend symbolisch charakterisiert: in diesem Fall habe die Gesetzgebung eine sehr wichtige symbolische Kraft in dem Maß, in dem „sie beeinflusse, wie die Immigranten von der einheimischen Bevölkerung gesehen würden, ob als Fremde, Außenseiter und Eindringlinge oder als Nachbarn, Arbeitskollegen und Vereinskameraden und damit als Teil der Gesellschaft" (Kindermann, 1989: 267).43 Demnach funktioniere die Gesetzgebung primär als „Etikett" in bezug auf die ausländischen Immigranten (Kindermann., 1987: 267).44 In der Analyse des Problems des Rechts und der Verwaltung in Afrika nach der „Unabhängigkeit" (1960-1985) hat Bryde behauptet, daß die legislative Betonung von Prinzipien wie „négritude" und „authenticité" eine symbolische Funktion für die Abgrenzung der „nationalen Identität" gegenüber der Kolonialmacht erfüllt habe. Dieselbe Funktion habe andererseits die modernisierende Kodifikation ausgeübt, wie im Falle Äthiopien 1960, wo sie als Formel der Bestätigung der Modernität gedient habe (Bryde, 1987: 37). Kindermann hat diese Fälle der symbolischen Gesetzgebung als „Bekräftigung sozialer Werte" interpretiert (1989: 267). Obwohl in bezug auf den ersten Fall, die Hervorhebung von „négritude" und „authenticité", die Eingliederung in diese Kategorie der symbolischen Gesetzgebung angebracht zu sein scheint - denn dabei tritt die Bekräftigung sozialer Werte vermutlich in den Vordergrund -, ist die modernisierende Kodifikation m.E. in die Gruppe der „Alibigesetzgebung" einzuordnen, die im nächsten Abschnitt behandelt wird. Die primär auf die Bekräftigung sozialer Werte gerichtete symbolische Gesetzgebung wird hauptsächlich als Mittel betrachtet, die Bevölkerungsgruppen 43
Kindermann greift an dieser Stelle auf Schlußbemerkungen von Groenendijk (1987: 25) über das Wahlrecht für Ausländer auf der Kommunaleebene in den Niederlanden zurück. 44 Zur symbolischen Gesetzgebung aus der Sicht der Etikettierungstheorie vgl. Voß, 1989: 79 ff.
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und also die entsprechenden Werte bzw. Interessen zu differenzieren. Hiernach bilde sie einen Fall der symbolischen Politik durch „Differenzierungsgesten", die „auf Verherrlichung oder Entwürdigung einer Gruppe im Gegensatz zu anderen innerhalb der Gesellschaft hinweisen" (Gusfield, 1986: 172). Aber die soziale Werte bekräftigende Gesetzgebung kann auch „Kohäsionsgesten" implizieren (Gusfield, 1986: 171), insofern als es eine scheinbare Identifizierung der „nationalen Gesellschaft" mit den legislativ bekräftigten Werten gibt, wie im Fall von Prinzipien der „authenticité".45 Außerdem ist die Unterscheidung zwischen „Kohäsionsgesten" und „Dififerenzierungsgesten" relativ. Sogar wenn man von „Kohäsionsgesten" hinsichtlich der „nationalen Gesellschaft" als ganzes spricht, muß man berücksichtigen, daß sie als starke „Dififerenzierungsgesten" in bezug auf den „äußeren Feind", auf die Kolonialmacht usw. fungieren können. Und umgekehrt können Gesetzgebungsakte, die als „Dififerenzierungsgesten" gekennzeichnet sind - das ist nach Gusfields Interpretation der Fall bei der Prohibition in den Vereinigten Staaten -, relevanterweise der Kohäsion der jeweiligen Gruppen dienen, sowohl der „Verherrlichten" als auch der „Entwürdigten". 7.3. Alibigesetzgebung Ziel der symbolischen Gesetzgebung kann auch sein, „das Vertrauen der Bürger in die jeweilige Regierung oder ganz allgemein in den Staat" zu stärken (Kindermann, 1988: 234; mit ähnlicher Formulierung Hegenbarth, 1981: 201). Hierbei handelt es sich nicht darum, Werte bestimmter Gruppen zu bekräftigen, sondern Vertrauen in das politische bzw. das Rechtssystem zu schaffen (Kindermann, 1988: 234). Der Gesetzgeber arbeitet - sehr oft unter direktem Druck des Publikums - Normurkunden aus, um die Erwartungen der Bürger zu befriedigen, ohne daß damit auch nur die Minimalbedingungen für die Durchführung der entsprechenden Normen vorhanden sind. Auf diese Haltung bezieht sich Kindermann mit dem suggestiven Ausdruck „Alibigesetzgebung" (1988: 234-38, 1989: 267 ff.). 46 Durch sie versucht der Gesetzgeber, sich von politischem Druck zu entlasten bzw. den Staat als sensibel für die Forderungen und Erwartungen der Bürger darzustellen. In den Wahlkampagnen ζ. B. geben die Politiker gemeinhin Rechenschaft über Ihre Leistungen mit Hinweisen auf die Initiative und die Beteiligung an 45
Hier läßt sich einer der Fälle der „miranda" charakterisieren, wie diese von Lasswell (1949: 10 f.) definiert werden: „The miranda are the symbols of sentiment and identification in the political myth. They are those whose function is to arouse admiration and enthusiasm, setting forth and strengthening faiths and loyalties" (11). 46 Ähnlich spricht Noll (1981: 360-62) von „Ersatzreaktionen" als einer Art der symbolischen Gesetzgebung. Vgl. auch Voß, 1989: 31 f.
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Verfahren der Ausarbeitung von Gesetzen, die den Erwartungen der Wählerschaft entsprechen. Dabei ist es sekundär, ob die Gesetze die gesellschaftlich „gewünschten" Wirkungen ausgelöst haben, zumal die Legislaturperiode zu kurz ist, als daß der Erfolg gerade verabschiedeter Gesetze überzeugend nachgewiesen werden könnte (Kindermann, 1988: 234, 1989: 269). Wichtig ist hier, daß die Mitglieder des Parlaments und der Regierung als Leistungsträger erscheinen und so der Staat-Gesetzgeber das Vertrauen der Bürger weiterhin behält. Aber nicht nur auf diese allgemeine Weise kommt die Alibigesetzgebung zutage. Angesichts der Bevölkerungsunzufriedenheit in bezug auf bestimmte Ereignisse oder auf das Auftauchen sozialer Probleme fordert man vom Staat sehr oft eine unmittelbare Lösungsreaktion. Obwohl in diesen Fällen in der Regel die normative Regulierung höchstwahrscheinlich nicht zur Lösung der jeweiligen Probleme beitragen kann, dient die gesetzgeberische Haltung als Alibi des Gesetzgebers vor der Bevölkerung, die eine Reaktion des Staates verlangt hat. Kindermann verweist auf den im Frühsommer 1987 von einem deutschen Fernsehmagazin berichteten Fall des zunehmenden Nematodenbefalls der Seefische und einer gefährlichen, durch den Verzehr befallener Fische verursachte Darmerkrankung des Menschen. Die sozioökonomischen Probleme, die sich aus dem vom Bericht ausgelösten dramatischen Rückgang des Fischabsatzes ergaben, führten die Bundesregierung zur Ankündigung einer umfangreichen und detaillierten Verordnung, „die sicherstellen soll, daß kein befallener Fisch mehr in den Handel gelangt", die mit Befriedigung aufgenommen wurde, und durch die „der Staat zeigte, daß er die Probleme im Griff hat" (Kindermann, 1989: 268). Damit erreichte man positive Wirkungen für die Normalisierung des Fischhandels, obwohl unter instrumentellem Gesichtspunkt das Problem bzw. das Risiko des Handels und Verzehrs befallener Fische im Grunde genommen nach wie vor außerhalb staatlicher Kontrolle und eher von privaten Maßnahmen der Fischhändler selbst abhängig blieb (vgl. Kindermann, 1989: 268). Im Strafrecht entstehen die Gesetzgebungsreformen häufig als symbolische Reaktionen auf den Druck des Publikums für eine drastischere Einstellung des Staates gegen bestimmte Verbrechen (vgl. Schild, 1986: 198). Die sich zur Jahreswende 1959/1960 über die Bundesrepublik Deutschland verbreitende antisemitische Welle, in der es Schändung jüdischer Friedhöfe und Synagogen gab, führte z.B. zu einer rechtlich überflüssigen Novelle des StGB (§ 130), die aber symbolisch die Entschlossenheit des Staates demonstrieren sollte, auf die von den antisemitischen Ausschreitungen ausgelöste „Empörung" des Publikums zu antworten (Kindermann, 1988: 237). Auch in bezug auf die rasche und unkontrollierbare Zunahme der Kriminalität in den letzten zwei Jahr-
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zehnten in Brasilien spielt die Diskussion um eine strengere Strafgesetzgebung im weiteren Umfang eine Alibirolle, weil das Problem nicht aus dem Fehlen strafandrohender Gesetze, sondern grundsätzlich aus dem Nichtvorhandensein der sozioökonomischen und politischen Voraussetzungen für die Durchführung der in Kraft getretenen Strafgesetze herrührt. 47 Außer den Fällen, in denen die Alibigesetzgebung sich als „Ersatzreaktion" auf gesellschaftlichen Druck oder als Referenz im Rechenschaftsabiegen vor der Wählerschaft erweist, dient sie als Mechanismus der symbolischen Darstellung der Institutionen. Ein interessantes Beispiel ist die Mediengesetzgebung in den Vereinigten Staaten (hierzu siehe Hoffinann-Riem, 1981, 1985; vgl. auch Kindermann, 1988: 235-37). Die Normen über Rundfunk- und Fernsehkontrolle seien „ohne reale Regelungswirkung geblieben", hätten aber dazu beigetragen, „den Anschein der staatlichen Vorsorge für ein Mindestmaß an Medienverantwortung" zu erwecken sowie „Zweifel an der Rationalität des amerikanischen Mediensystems" zu zerstreuen und damit möglichen Bürgerunmut zu vermeiden (Hoffmann-Riem, 1981: 81 f.; Kindermann, 1988: 236). In Fällen wie diesen steht die Alibigesetzgebung nicht mit konkreteren Verhältnissen zwischen Politikern und Wählern oder zwischen Regierung/Parlament und spezifischem Druck der Bevölkerung in Zusammenhang, sondern eher in allgemeinerer Weise mit der abstrakten Darstellung des Staates als einer Institution, die das Vertrauen des Publikums verdient. Die Alibigesetzgebung resultiert aus dem Versuch, den Anschein der Lösung der entsprechenden Probleme zu geben, oder zumindest aus dem Anspruch, das Publikum von den guten Absichten des Gesetzgebers zu überzeugen (Kindermann, 1988: 234). Es läßt sich feststellen, daß sie „nicht nur die Probleme ungelöst" läßt, „sondern dazu noch den Weg zu Ihrer Lösung" verbaut (Noll, 1981: 364; im Anschluß daran Kindermann, 1988: 235, 1989: 270). Dieser Formulierung der Frage liegt freilich ein instrumentalistischer Glaube an die Wirkungen der Gesetze zugrunde, nach dem der Gesetzgebung die Funktion zugeschrieben wird, die Probleme der Gesellschaft zu lösen.48 Es ist jedoch selbstverständlich, daß die Gesetze keine tauglichen Instrumente sind, um auf direkte Weise die Wirklichkeit zu verändern, denn die rechtsnormativen Variablen treten anderen, nach unterschiedlichen systemischen Codes und Kriterien orientierten Variablen gegenüber (siehe unten Kap. III. 1.)· Die Lösung sozialer Probleme hängt dann von der Mitwirkung nichtrechtsnormativer Variablen ab. Es scheint also angebrachter zu behaupten, 47
Hierzu läßt sich die Debatte um die Legalisierung der Todesstrafe erwähnen, die letztlich auf die Frage der Verfassungswidrigkeit hinausläuft (vgl. Art. 5. Abs. XL VII a und Art. 60 § 4° Abs. IV der brasilianischen Verfassung von 1988). 48 So spricht Kindermann von „Lösung gesellschaftlicher Probleme" durch Gesetze (1988: 234).
7. Typen der symbolischen Gesetzgebung
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daß die Alibigesetzgebung dafür bestimmt ist, das Bild zu konstruieren, nach dem ein Staat auf reale Probleme der Gesellschaft eine normative Antwort gibt, obgleich die jeweiligen sozialen Beziehungen tatsächlich nicht konsequent normiert werden. In diesem Sinne läßt sich zwar behaupten, daß die Alibigesetzgebung eine Art von Manipulation bzw. Täuschung bildet, die das politische System gegen andere Alternativen immunisiert (vgl. Noll, 1981: 362; Kindermann, 1988: 235; Hegenbarth, 1981: 202 f.), und so eine ideologische Funktion erfüllt. Aber die Auffassung, daß bei Alibigesetzgebung der Gesetzgeber als der Täuschende und der Bürger als der Getäuschte dastehen (Kindermann, 1989: 270), scheint sehr beschränkt und vereinfachend. Zunächst ist folgendes zu beobachten: Angesichts des „Realitätsverlusts der Gesetzgebung" in einer „wandlungsbeschleunigten Welt" verwischen sich das Reale und die Inszenierung, „schwinden auch die Konturen zwischen Wunsch und Wirklichkeit, werden Täuschung und Selbsttäuschung ununterscheidbar", so daß „politische Führer nicht nur Hersteller, sondern auch Opfer symbolischer Deutungen" sind (Hegenbarth, 1981: 204). Die Alibigesetzgebung impliziert eine soziale Rollenübernahme sowohl durch die inszenierenden Eliten als auch durch den Publikum-Spektator und darf folglich nicht auf die bewußten Aktivitäten der Eliten zur Erreichung ihrer Ziele zurückgeführt werden, denn Manipulationsversuche dieser Art „werden gewöhnlich bekannt" und tendieren zum Scheitern (Edelman, 1967: 20; vgl. Kindermann, 1988: 238; Offe, 1976: IX). Obwohl die Begriffe der Manipulation und Täuschung zu relativieren sind (Kindermann, 1988: 238), kann die Alibigesetzgebung dennoch offensichtlich „ein Gefühl des Befriedigtseins" erwecken, dadurch „das Lösen von Spannung" hervorbringen (Edelman, 1967: 38) und folglich der Massenloyalität dienen (vgl. Kindermann, 1989: 269; Hegenbarth, 1981: 201). Zum letzten ist es wichtig zu betonen, daß die Alibigesetzgebung nicht immer erfolgreich in ihrer symbolische Funktion ist. „Je mehr sie verwandt wird," so Kindermann (1989: 270), „desto häufiger wird sie scheitern." Dies folgt daraus, daß die übertriebene Verwendung von Alibigesetzgebung zur „Unglaubwürdigkeit" des Rechtssystems selbst beiträgt und „nachhaltig das Rechtsbewußtsein [zerrüttet]" (Kindermann, 1989: 270, 1988: 235). Wird demnach offen erkennbar, daß Gesetzgebung unter diesen Umständen keinen Beitrag zur Konstruktion von Rechtsnormen liefert, gerät das Recht als Regelungssystem selbst in Mißkredit; daraus ergibt sich, daß das Publikum sich getäuscht fühlt und die politischen Akteure zynisch werden (Kindermann, 1989: 270). Daraufkomme ich zurück, wenn die symbolische Konstitutionalisierung spezifisch behandelt wird.
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Kap. I: Von der symbolischen Gesetzgebung: Einer antreibenden Debatte...
7.4. Symbolische Gesetzgebung als dilatorischer Formelkompromiß Die symbolische Gesetzgebung kann auch dafür bestimmt sein, durch dilatorische Kompromisse die Lösung sozialer Konflikte zu verschieben. (Kindermann, 1988: 239). In diesem Fall werden die Auseinandersetzungen zwischen politischen Gruppen nicht an Hand des legislativen Akts ausgetragen; er wird statt dessen von den darin verwickelten Parteien einstimmig angenommen, soweit sie die Perspektive der Unwirksamkeit des entsprechenden Gesetzes vor Augen haben. Die Zustimmung beruht dann nicht auf dem Inhalt der Normurkunde, sondern auf der Verschiebung der Lösung auf eine unbestimmte Zukunft. Als „dilatorischer Formelkompromiß", ein von Schmitt (1970: 31 ff.) in bezug auf die Weimarer Verfassung verwandter Ausdruck, läßt sich nach einer gründlichen Untersuchung von Aubert (1967) gerade das Norwegische Hausangestelltengesetz von 1948 einordnen (vgl. auch Lenk, 1976: 148 f.; Kindermann, 1988: 228, 230 u. 239; Voß, 1989: 33 f.). Die manifeste Funktion dieses Gesetzes sei die Regulierung der Arbeitsverhältnisse gewesen; instrumenteil habe es auf die Verbesserung der Arbeitsbedingungen und den Schutz von deren Interessen gezielt (Aubert, 1967: 285; Kindermann, 1988: 228). Die Harmlosigkeit der auf die Hausfrauen in den Fällen der Gesetzesübertretungen anzuwendenden Strafbestimmung, sowie die Schwierigkeiten der tatsächlichen Sanktionierung, die aus dem Gesetz selbst resultierten, bildeten einen wichtigen Faktor, um dessen Unwirksamkeit zu gewährleisten. Außerdem wirkte die starke persönliche Abhängigkeit des Hausangestellten von den Hausfrauen als negative Bedingung der Verwirklichung des Gesetzestextes. Es war genau dieses voraussichtliche Fehlen von normativer Konkretisierung, das die Übereinstimmung zwischen „Progressiven" und „Konser-vativen" über den Gesetzesinhalt ermöglichte. Erstere wurden deswegen befriedigt, weil das Gesetz mit seinen Sanktionsmitteln ihre positive Einstellung zu den sozialen Reformen bekundete. Letztere, die im Grunde genommen Gegner des neuen Gesetzes waren, geben sich mit dem Nichtvorhandensein der Aussicht auf seine Durchführung, mit der „offensichtlichen Unpraktikabilität" seiner Strafbestimmung zufrieden (Aubert, 1967: 302; Lenk, 1976: 149). Auf diese Weise entschärft sich ein innenpolitischer Konflikt durch „ein scheinbar progressives Gesetz", „das beide Parteien befriedigte" (Lenk, 1976: 149; vgl. Aubert, 1967: 1967: 296 ff.), indem die Austragung eines zugrunde liegenden Konflikts auf eine unbestimmte Zukunft verschoben wird.
8. Wirksamkeit, Effektivität und Wirkungen der Gesetzgebung
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8. Wirksamkeit und Effektivität des Gesetzes versus reale Wirkungen der symbolischen Gesetzgebung Die im letzten Abschnitt ausgeführten Betrachtungen implizieren die Zurückweisung der vereinfachenden, instrumentalistischen Konzeption, nach der die Gesetzgebung bzw. die Gesetzestexte, denen Wirksamkeit fehlt, d. h. die keine instrumentell-normative Wirkung hervorbringen, keine gesellschaftliche Existenz resp. Relevanz hätten. In diesem Sinne unterschied Aubert in seiner schon angegebenen Untersuchung zwischen manifesten und latenten sozialen Funktionen der Gesetzgebung (1967).49 Die symbolische Gesetzgebung hat dann latente soziale Wirkungen, in vielen Fällen weitreichendere als die ihr fehlenden manifesten Wirkungen. Dennoch kann der unterschiedslose Gebrauch der Termini, Wirksamkeit4 und Effektivität' in bezug auf die symbolische Gesetzgebung das Verständnis ihrer spezifischen Wirkungen verwirren. Ferner gibt es latente Wirkungen, die keine symbolische Funktion des Gesetzes mit sich bringt. Daher soll im folgenden versucht werden, die Wirkungen der Gesetzgebung Übersichtshaft zu klassifizieren. 8.1. Wirksamkeit als normative Konkretisierung des Gesetzestextes Man unterscheidet herkömmlich die Wirksamkeit im rechtsdogmatischen, Juristischen" Sinne von der Wirksamkeit im „soziologischen" Sinne (vgl. Neves, 1988: 51 f.). Erstere betrifft die rechtstechnische Möglichkeit der Anwendung der Rechtsnorm, oder umfassender ausgedrückt, ihre Verbindlichkeit, Anwendbarkeit und Durchführbarkeit. Die dabei aufgeworfene Frage ist, ob die Norm die systeminternen Bedingungen erfüllt hat, um „Rechtswirkungen" zu produzieren (vgl. Rottleuthner, 1981: 92; Silva, 1982: 55 f.; Borges, 1975: 42-44). Letztere, die Wirksamkeit im „empirischen", „realen", „soziologischen" - allerdings auch in der „Reinen Rechtslehre" aufgenommenen (Kelsen, 1960: 10 f. u. 215 ff, 1946: 39 f.) - Sinne, bezieht sich auf die Korrespondenz des Verhaltens der Normadressaten mit der Norm. Die angeschnittene Frage ist dann, ob die Norm tatsächlich „befolgt", „angewendet", „durchgesetzt" bzw. „gebraucht" wird. Es ist diese Frage, i. e. das Problem der Wirksamkeit im „empirischen" Sinne, die hier interessiert. Zunächst soll man die Unterscheidung zwischen Befolgung und Durchsetzung des Gesetzes berücksichtigen: Die Befolgung ist vorhanden, wenn gesetzmäßig gehandelt wird, ohne daß dieses Verhalten durch eine vollstreckende Aktivität erzwungen wird; die Durchsetzung taucht genau als konkrete Re49
Diese Unterscheidung geht auf Merton (1968: 105 u. 114 ff.) zurück. Dazu vgl. auch Treves, 1977: 178 f.; Voß, 1989: 60 ff.
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Kap. I: Von der symbolischen Gesetzgebung: Einer antreibenden Debatte.
aktion auf das gesetzwidrige Handeln auf, um das Recht zu erhalten oder die verletzte Ordnung bzw. den rechtmäßigen Zustand wiederherzustellen (Luhmann, 1987b: 267; vgl. auch Garrn, 1969: 168 f., Noll, 1972: 259). Dementsprechend bezieht sich die Befolgung auf die „primäre Norm" und die Durchsetzung auf die „sekundäre Norm", die zwei Glieder der Rechtsnorm, die jeweils dem rechtmäßigen Verhalten und dem rechtswidrigen Handeln normative Folgen zuschreiben.50 Die Wirksamkeit kann sich also sowohl aus der Befolgung des Gesetzes als auch aus dessen Durchsetzung ergeben (vgl. Geiger, 1970: 70). In einer strikt rechtlichen Hinsicht (nicht unter dem Gesichtspunkt der begründeten Moralanerkennung) ließe sich dann zwischen autonomer Wirksamkeit (durch Befolgung) und heteronomer Wirksamkeit (über die Durchsetzung seitens eines Dritten) einer Gesetzesvorschrift unterscheiden. Hier wird folglich nicht die Auffassung vertreten, daß das Konzept der Wirksamkeit sich auf die „autonome" Befolgung beschränkt, wonach die Frage unter der spezifischen Perspektive der möglichen Richtigkeit der Rechtsnorm zu erörtern wäre (so Ryffel, 1972: 228; vgl. auch ders., 1974: 251-58; hierzu kritisch Blankenburg, 1977: 33 ff.). Auch die Überschätzung der Befolgung (Garrn, 1969: 169)51 oder das Betonen der „regulativen Wirksamkeit" (Kramer, 1972: 254 ff.) ist in dem Maße zurückzuweisen, in dem die Bedeutung der Wirksamkeit mittels Durchsetzung ausgeschlossen wird. Die Norm wird dann also erst unwirksam, wenn keine der beiden Alternativen ihrer
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Zur Unterscheidung von primärer und sekundärer Norm siehe z.B. Geiger, 1970: 144 ff. Cossio verwendete jeweils die Ausdrücke ,Endonorm' und ,Perinorm', um zu betonen, daß es sich um zwei disjunktiv verknüpfte Glieder einer einzelnen Norm handelt (vgl. ders., 1964: insbes. 661 f.). Kelsen sprach umgekehrt von sekundärer Norm (Befolgungsnorm) und primärer Norm (Sanktionsnorm) aufgrund des Überschätzens der rechtlichen Bedeutung letzterer (vgl. Kelsen, 1966: 51 f., 1946: 60 f., 1980: 52 u. 124-27). Auf logischer Ebene lehnt Vilanova (1977: 64 f. u. 90) die begriffliche Umkehrung bei Kelsen ab und behält die Adjektive ,primär' und ,sekundär' im üblichen Sinne bei, indem er argumentiert, daß sie jeweils eine logische Beziehung von Präzedenten und Konsequenten innerhalb der Norm bezeichnen. 51 Mißverständlich ist aber die Position von Garrn, der im Widerspruch zu seiner Behauptung, „eine Rechtsnorm ist wirksam, wenn sie befolgt oder durchgesetzt wird" (1969: 168), schreibt: „Sie kann sich nur dadurch als wirksam erweisen, daß sie befolgt wird" (169), so daß ihre Durchsetzung ausschließlich die Wirksamkeit (Befolgung) der entsprechenden „sekundären Norm" („Durchsetzungsnorm") impliziert (169 f.). Zwar sind Befolgung und Durchsetzung relativ zu begreifen insofern, als die Durchsetzung einer „primären Norm" mittels ihr entsprechender„Durchsetzungsnorm" die Befolgung letzterer bildet; es ist jedoch zu ergänzen: in der Perspektive ihrer Befolgung/Nichtbefolgung stellt letztere nicht mehr eine „Durchsetzungsnorm" bzw. „sekundäre Norm" dar, sondern eine „primäre Norm", der ihrerseits eine „sekundäre Norm" entspricht.
8. Wirksamkeit, Effektivität und Wirkungen der Gesetzgebung
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Verwirklichung eintritt, also wenn „primäre Norm" und entsprechende „sekundäre Norm" scheitern.52 Da die Begriffe von Durchsetzung und Befolgung hier eine enge Bedeutung annehmen, sind an dieser Stelle zwei andere Begriffe einzuführen: ,Rechtsanwendung' und ,Gebrauch des Rechts'. Ebenso wie die Rechtsdurchsetzung erfordert die Rechtsanwendung in positiven Rechtsordnungen das Handeln eines Dritten, des zuständigen Organs, gegenüber den Adressaten der Normen. Aber die Durchsetzung besteht spezifisch aus den tatsächlichen Vollstrekkungshandlungen, während sich die Rechtsanwendung als konkrete Festsetzung der Bedeutung eines gesetzten, abstrakten Normtextes hinsichtlich eines bestimmten Falls begreifen läßt (vgl. Garrn, 1969: 166 f.), 53 was nicht nur die Erzeugung der entsprechenden (individuellen) „Entscheidungsnorm" einbezieht, sondern auch die der auf den Fall anzuwendenden (allgemeinen) „Rechtsnorm" (vgl. Müller, 1994: 263 ff.). 54 Obwohl Rechtsanwendung und Durchsetzung miteinander zusammenhängen, bestehen aber rechtsanwendende Tätigkeiten, die nichts mit Durchsetzung im engeren Sinne zu tun haben, wie z.B. in der freiwilligen Gerichtsbarkeit. Die rechtsinterne Differenzierung von Durchsetzung und Anwendung (Polizei und andere vollstreckende Organe versus Gerichte) führt dazu, daß auch zwischen diesen zwei Momenten der Rechtskonkretisierung Diskrepanzen zutage treten. Insoweit die „Individualnorm" (des gesetzesanwendenden Organs) „eine bloße Möglichkeit" bildet, ist es auch nicht auszuschließen, daß sich weder die verurteilte Partei noch die zuständigen vollstreckenden Behörden ihrem Inhalt gemäß verhalten (Kramer, 1972: 255).55 Die Übereinstimmung der Rechtsanwendung mit der Rechtssetzung reicht demnach nicht aus, damit die Wirksamkeit festgestellt wird: Der Mangel an Befolgung bzw. an Durchsetzung kann hierin die Kette der Normkonkretisierung brechen. Eine andere relevante Unterscheidung ist diejenige zwischen Befolgung und Gebrauch des Rechts. Die Befolgung bezieht sich auf „Verhaltensregeln", d. h. Gebote und Verbote, der Gebrauch auf „Regelungsangebote" (Blankenburg, 52
Damit wird aber nicht verkannt: „eine Norm, die bezüglich der primären Normadressaten nicht mehr regulativ wirksam wird, sondern nur noch repressiv, wird auf lange Sicht wohl überhaupt - auch repressiv - in desuetudo fallen" (Kramer, 1972: 256). 53 Bei Kelsen schließt die ,^Anwendung" die durchsetzende Tätigkeit (Vollstreckung der Sanktion) ein (vgl. z.B. Kelsen, 1960: 11 u. 240; hierzu kritisch Garrn, 1969: 169). 54 Hier ist anzumerken, daß bereits die Reine Rechtslehre die Relativität des Begriffs von Rechtsanwendung und -erzeugung hervorhob (vgl. ζ. B. Kelsen, 1960: 240, 1946: 132 f., 1966: 233 f.; dazu Kramer, 1972: 247 ff). 55 In dieser Hinsicht läßt sich der Begriff der Wirksamkeit nicht auf die „Disposition zur Anwendung" bzw. „Gerichtsfahigkeit" beschränken, wie es Bulygin beansprucht (1965: 53 ff).
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1977: 36 f.). 56 Fallen die Bedingungen („Infrastruktur") für den Gebrauch der gesetzten Regelungsangebote weg, so ist auch von Normunwirksamkeit zu sprechen. Dabei geht es jedoch nicht um Einhaltung/Nichteinhaltung von Gesetzesvorschriften, deren Befolgung, Abweichung oder Umgehung, sondern um Gebrauch, Nichtgebrauch oder Mißbrauch von Gesetzestexten, die Angebote für die Selbstregulierung intersubjektiver Beziehungen beinhalten (vgl. Friedman, 1972: 207 f.; Blankenburg, 1977: 37). Die Wirksamkeit des Gesetzes, indem sie verschiedenste Situationen - Befolgung, Durchsetzung, Anwendung und Gebrauch des Rechts - einschließt, kann allgemein im Rahmen eines Oberbegriffs als normative Konkretisierung des Gesetzestextes verstanden werden. Dieses Konzept der Konkretisierung ist umfassender als der von Müller formulierte Begriff, nach dem der „Konkretisierungsvorgang" sich auf die Erzeugung der (allgemeinen) „Rechtsnorm" und der (individuellen) „Entscheidungsnorm" in der Lösung eines bestimmten Falls beschränkt (vgl. ζ. B. 1994: 263).57 In dem hier konzipierten Sinne leidet der Konkretisierungsprozeß unter Blockierungen in allen Situationen, in denen der Inhalt eines abstrakt gesetzten Normtextes in den konkreten Interaktionen der Bürger, Gruppen, Staatsorgane, Organisationen usw. entweder abgelehnt oder verkannt bzw. außer Acht gelassen wird, einschließlich der Fälle von Nichtbefolgung und Nichtdurchsetzung der im bestimmten Rechtsfall erzeugten (allgemeinen) „Rechtsnorm" und (individuellen) „Entscheidungsnorm" sowie von Nichtgebrauch und Mißbrauch der „Regelungsangebote". Aber der Konkretisierungsvorgang soll keineswegs „die Illusion der vollen Entsprechung des Abstrakten und des Konkreten" hervorrufen, sondern als ein „durch eine Art integrierte Nichtidentität des Abstrakten und des Konkreten" zu lösendes Problem begriffen werden (Luhmann, 1974: 52). Ich komme auf dieses Thema, wenn die Beziehung zwischen Verfassungstext und Verfassungswirklichkeit spezifisch erörtert wird (Kap. Π.2.). 8.2. Effektivität als Verwirklichung des Gesetzeszieles Von der Wirksamkeit als bloßer Konformität des Verhaltens mit dem (alternativen) Inhalt der Norm unterscheidet man die Effektivität, die auf die Ziele der Gesetzgeber hindeutet (Capeila, 1968: 105; Jeammaud, 1983: 53 f.;
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Bulygin (1965: 45 ff.) schlägt eine ganz andere Unterscheidung zwischen ,3efolgung und Gebrauch von Normen" vor, in deren Rahmen die Anwendung als ein typischer Fall von Gebrauch einzuordnen wäre, nämlich „als Gebrauch der Normen zur Begründung von rechtlichen Entscheidungen definiert wird" (40). 57 Nach Müller ist auch die Rechtsnorm „erst jeweils im Fall zu erzeugen" (1994: 269).
8. Wirksamkeit, Effektivität und Wirkungen der Gesetzgebung
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vgl. Glasyrin et al., 1982).58 Mit anderen Worten läßt sich behaupten, daß die Wirksamkeit die Verwirklichung des „Konditionalprogramms" betrifft, i. e. die Konkretisierung der abstrakt und hypothetisch im Gesetz vorgesehenen Wenn/Dann-Beziehung,59 während sich die Effektivität auf die Implementation des „Zweckprogramms", an dem sich die gesetzgeberischen Tätigkeit orientiert hat, also auf die Konkretisierung der abstrakt aus dem Gesetzestext resultierenden Zweck/Mittel-Relation bezieht.60 Was spezifisch die Ziele der Rechtsnormen anbelangt, wurde die Unterscheidung zwischen Effektivität, Ineffektivität und Antieffektivität ihres Wirkens vorgeschlagen (vgl. Glasyrin et al., 1982: 49-52). Ein für die Bekämpfung der Inflation bestimmtes Gesetz wird effektiv, wenn kraft seiner Wirksamkeit (durch Befolgung, Anwendung, Durchsetzung bzw. Gebrauch) die Inflation in relevanter weise reduziert wird. Indessen kann z. B. die in einem antiinflationären Gesetz abstrakt vorgesehene Wenn/Dann-Beziehung regelmäßig und beständig in den gesellschaftlichen Verhältnissen konkretisiert werden, ohne daß darauf eine bedeutende Veränderung in der Preissteigerung folgt; es gibt dann Wirksamkeit ohne Effektivität. Und es besteht auch die Möglichkeit, daß eine antiinflationäre Gesetzgebung (um in dem Beispiel zu bleiben) sehr wirksam ist, aber eine erhebliche Preissteigerung auslöst und also Antieffektivität mit sich bringt. Zum letzten ist darauf hinzuweisen, daß sowohl ,Wirksamkeit' als auch Effektivität' relative, graduelle Begriffe sind. In den Fällen aber, in denen die Unwirksamkeit und Ineffektivität ein großes Ausmaß erreichen und damit implizieren, daß sich die normativen Erwartungen der Personen und Staatsorgane in allgemeiner Weise nicht an der Gesetzesvorschriften orientieren, stehen wir vor dem Mangel an sozialer Geltung des Gesetzes bzw. vor dem Fehlen von Normativität des Gesetzestextes (vgl. Abschn. 8.4. dieses Kap.). 8.3. Indirekte und latente Wirkungen der Gesetzgebung Wirksamkeit und Effektivität schöpfen das Problem der Wirkungen der Gesetzgebung nicht aus. Die Gesetznormen lösen indirekte oder latente Wirkungen aus, die mit ihrer Wirksamkeit und Effektivität nicht unbedingt in Zusammenhang stehen müssen. 58
Noll (1972: 261) nennt letztere „soziale Wirksamkeit". Über die konditionale Programmierung als Eigenschaft des Rechtssystems siehe Luhmann, 1987b: 227-34, 1981b: 140-43, 1981c: 275 ff, 1973a: 88 ff. (insbes. 99). 60 Zur legitimierenden Rolle der Ergänzungsbeziehung von Konditionalprogramm und Zweckprogramm für das positive Recht siehe Luhmann, 1983a: 130 ff, 1973a: 101 ff. 59
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Zuerst lassen sich die „Auswirkungen" der Gesetzgebung auf andere soziale Vorgänge berücksichtigen (vgl. Blankenburg, 1977: 41). Diesbezüglich nimmt einen wichtigen Platz die Diskussion über Nützlichkeit und Wirtschaftlichkeit der Rechtsnormen ein (hierzu vgl. Glasyrin et al., 1982: 52-60). Ein Steuergesetz z. B. kann überaus wirksam und effektiv sein, aber Rezession, Arbeitslosigkeit bzw. Inflation herbeiführen. Auch im Hinblick auf Kunst, Liebe und Familienbeziehungen können sich die Auswirkungen eines Gesetzes als sehr bedeutsam erweisen. Ein Gesetz, das die Möglichkeit der Abtreibung erweitert (bzw. begrenzt), wird sicherlich einen starken Einfluß auf die Liebes- und Familienbeziehungen ausüben. Eine Gesetzgebung, die Zensur auferlegt, wird gewiß Auswirkungen auf die Kunstschöpfung haben. Auch haben Gesetze über das Erziehungssystem häufig Resonanz in der Wissenschaft und umgekehrt. Und in allen intersystemischen Zusammenhängen spielen die (indirekten) „Auswirkungen" der Gesetzgebung eine relevante Rolle. Im Bereich des Strafrechts wird von kriminogener Funktion bzw. Wirkung des Strafgesetzes selbst gesprochen (vgl. Schild, 1986: 200 f.). Man kann einwenden, daß es sich hierbei um einen Fall von Antieffektivität handelt. Aber das Problem ist umfassender. Die kriminologische Forschung deutet auf Situationen hin, in denen die Aktion des staatlichen Sanktionsapparates gegen die Jugendkriminalität zur Verstärkung der Beziehungen zwischen den entsprechenden Jugendlichen führen, die dann zur Bandenbildung übergehen und so in der Lage versetzt werden, weitere bzw. gravierendere Straftaten zu begehen (Schild, 1986: 201). Ebenso besteht die Möglichkeit, daß auf den Erlaß eines neuen Gesetzes Gegenreaktionen, Widerstandshandlungen und Hilfeleistungen für die Täter folgen, was andere Straftaten impliziert (ebd.). Nicht zuletzt ist zu bemerken, daß es unter den Strafjuristen als unbestritten betrachtet wird, daß Kriminalisierung eines Verhaltens oft die Begehung neuer Straftaten zu seiner Durchführung oder Verdeckung - einschließlich der Erpressungen - zur Folge hat (ebd.). Unter psychoanalytischem Gesichtspunkt läßt sich behaupten, daß die Gesetzgebung Ich-Stabilisierungsprozessen dienen kann, wobei sich instrumentelle und symbolische Variablen verwischen (Schild, 1986: 200). Im Bereich des Strafrechts wird betont, daß die Gesetzgebung dazu taugt, in einer sublimierten Form das „Vergeltungsbedürfnis" des Volkes zu befriedigen und dadurch Lynchjustiz zu verhindern (ebd.).61 Analog dazu wird durch verhaltens-
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Durch eine rechtssoziologische Forschung versuchen C. Souto und T. Souto (1995) nachzuweisen, daß der Mangel an Wirksamkeit der Strafgesetzgebung in den Gebieten des Hinterlandes Nordostbrasiliens mit der Vorherrschaft der (privaten) Vergeltung gegenüber dem Ahndungsmuster des positiven Strafrechts zusammenhängt. In einer psychoanalytischen Perspektive könnte man hier hinzufugen, daß das Strafgesetz
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ahndende bzw. rechtsbeschränkende Gesetze das Bedürfnis nach einem „Sündenbock" erfüllt, indem bestimmte Gesellschaflsmitglieder stigmatisiert und andere von Verantwortung oder Schuldgefühl entlastet werden (vgl. ebd.). Wenn aber in diesem Fall keine Wirksamkeit der Gesetzesvorschriften besteht, dann stehen wir vor einer typischen Situation der symbolischen Gesetzgebung. Eine relevante indirekte Wirkung der Gesetzgebung ist diejenige, die sie auf die Ausarbeiter des Gesetzesentwurfs ausübt (vgl. Schild, 1986: 201 f.). Für einen Juristen kann die Beteiligung an der Ausarbeitung des Entwurfs eines Zivil-, Straf-, Steuergesetzbuchs usw. eine entscheidende Stärkung seines Ansehens im akademischen und beruflichen Milieu mit sich bringen. Ein Bürokrat, der einen wichtigen Gesetzesentwurf ausarbeitet, wird mehr Chancen bei seiner Beförderung in der Verwaltungshierarchie haben. Auch für die politische Karriere ist die Beeinflussung der gesetzgeberischen Tätigkeit sehr bedeutsam. In allen diesen Fällen impliziert die Verabschiedung des jeweiligen Gesetzes ebenso die persönliche Befriedigung, die Freude, den Genuß des „Gesetzesmachers" (Schild, 202). Es ist zwar selbstverständlich, daß in diesen Fällen die Gesetzgebung nur symbolisch füngieren kann. Je stärker aber die normative Kraft des Gesetzes ist, um so weiter und intensiver sind tendenziell die positive Wirkungen der Gesetzgebung für dessen „Ausarbeiter", besonders für Juristen und Bürokraten. 8.4. Wirkungen der symbolischen Gesetzgebung Kennzeichnend für die symbolische Gesetzgebung ist in erster Linie ihre normative Unwirksamkeit.62 Das bedeutet, daß sich die hypothetisch-abstrakte Wenn/Dann-Verknüpfung der primären und der sekundären Norm (konditionale Programmierung) nicht konkretisiert. Es reicht die NichtVerwirklichung der im Gesetzestext abstrakt vorgeschrieben, instrumentellen Zweck/MittelBeziehung (Zweckprogramm) aus, damit man zur Diskussion über die hypertroph symbolische Funktion eines Gesetzes kommt. Ist es trotz Ineffektivität in einer „sublimierten", „zivilisierten" Weise nicht auf das „Vergeltungsbedürfhis" des Volkes antwortet. 62 Besonders im Hinblick auf Strafgesetzgebung vgl. anders Voß, 1989: 35 u. 42. Man muß jedoch unterscheiden: Zwar haben die Strafgesetzgebung bzw. die Strafgesetze in der Regel eine sehr relevante symbolische Bedeutung und die Grenzen ihrer „Instrumentalisierung" sind immer - mehr oder weniger - markant (Kerchove, 1991); aber es handelt sich im Rahmen der in dieser Untersuchung aufgegriffenen Diskussion über die symbolische Gesetzgebung um einen engeren Sinn des Ausdrucks und um problematische Erscheinungen fur die Autonomie und das Funktionieren des Rechtssystems, also - wie oben bereits betont wurde - um die Hypertrophie ihrer symbolischen Bedeutung auf Kosten ihrer instrumentalen Funktion, d.h. zum Schaden ihrer normativen Kraft bzw. Wirksamkeit. 4 Neves
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(Nichterreichung der Ziele) allerdings wirksam, das heißt, wird es regelmäßig befolgt, angewendet, durchgesetzt oder gebraucht (normative Konkretisierung des Gesetzestextes), so darf nicht von symbolischer Gesetzgebung die Rede sein. Dennoch stellt die Wirksamkeit' einen graduellen, meßbaren Begriff dar (Befolgungs- und Durchsetzungsquote), wie die Rechtssoziologen zu betonen pflegen (vgl. Carbonnier, 1976: 99-111; Geiger, 1970: 228 ff.). Welcher wäre dann der hinreichende Grad an normativer Unwirksamkeit, der es erlauben würde, einem Gesetz hypertroph symbolische Wirkungen zuzuschreiben? Es scheint mir, daß die Antwort nicht aus einer Quote der meßbaren Unwirksamkeit hervorgeht, sondern aus dem Problem des Fehlens von sozialer Geltung der Norm. Im folgenden soll dies erklärt werden. Vorausgesetzt, daß sowohl die „Verhaltenssteuerung" als auch die „Erwartungssicherung" Funktionen des Rechtssystem bilden,63 ist es sinnvoll zu behaupten, die Wirksamkeit bezieht sich auf erstere, die (soziale) Geltung auf letztere. Obgleich die Wirksamkeit meßbar ist, läßt sich die Geltung nicht durch ein „Verbindlichkeitskalkül" nach der „Efifektivitätsquote" messen (vgl. hiergegen Geiger, 1970: 71 f. u. 209 f.; im Anschluß an ihn Teubner, 1989: 112); trotz der Relativität der Rechtsgeltung im rechtssoziologischen Sinne (vgl. Weber, 1985: 17) steht die Geltungsproblematik primär auf der Ebene des Erlebens, im Gegensatz zur Wirksamkeitsfrage, die primär auf der Ebene des Handelns auftritt. 64 Daß die (soziale) Geltung auf eine Funktion der Effektivitätsquote nicht beschränkt werden kann, schließt aber nicht aus, daß diese Quote die Geltung der Rechtsnormen bedingt und umgekehrt; denn „kein Erleben ist ohne Handeln zugänglich, kein Handeln ohne Berücksichtigung des Erlebens des Handelnden verständlich" (Luhmann, 1981 f: 85). Die Fähigkeit des Rechtssystems, Verhalten zu steuern, und dessen Fähigkeit, Erwartungen zu sichern, stehen in Wechselbeziehung zueinander. Die „Frage nach Verhaltensabläufen" und die Frage nach Orientierung an Verhaltenserwartungen setzen einander voraus und ergänzen sich wechselseitig (Blankenburg, 1977: 35). Ein hoher Grad an Unwirksamkeit kann bedeuten, daß sowohl seitens der Bürger, (privater bzw. nicht staatlicher) Gruppen und Organisationen als auch auf Anregung der Staatsorgane keine generalisierte Erwartungsorientierung an dem Gesetz besteht (Mangel an sozialer Geltung). Geht man davon aus, daß die primäre Funktion des Rechts „nicht in der Bewirkung bestimmten Verhaltens [liegt], sondern in der Stärkung bestimmter Erwartungen" (Luhmann, 63
Hierzu Luhmann, 1981d, wo besonders die Spannung zwischen beiden Funktionen behandelt wird. 64 Zur Differenz zwischen Erleben und Handeln siehe Luhmann, 198le; Kiss, 1986: 12-15.
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1981b: 118), so läßt sich behaupten, die symbolische Gesetzgebung findet nur statt, wenn die soziale Geltung der Gesetznorm, also deren Funktion „kongruenter Generalisierung normativer Verhaltenserwartungen" 65 entscheidend betroffen wird. Dabei ist der Gesetzestext nicht nur dazu untauglich, normativgenerell das Verhalten zu steuern, sondern kennzeichnend für ihn ist vor allem, daß er nicht dazu dient, in einer verallgemeinerten Weise normative Erwartungen zu orientieren bzw. zu sichern. Ihm fehlt dann Normativität. Was die Auslösung von Wirkungen angeht, kommt die symbolische Gesetzgebung nicht nur im negativen Sinne zum Ausdruck: Mangel an (rechtsnormativer) Wirksamkeit und (sozialer) Rechtsgeltung. Es gibt Gesetzgebungsakte und Normtexte, die diese Merkmale tragen, ohne jede symbolische Funktion zu erfüllen; man denke einfach an den Vorgang der de sue tu do, die sogar die eigene „Geltung" der Norm im rechtstechnischen Sinne aufhebt (vgl. Kelsen, 1960: 220). Die symbolische Gesetzgebung wird auch in einem positiven Sinne definiert: Sie bringt relevante Wirkungen für das politische System hervor, deren Natur nicht spezifisch rechtlich ist. Sie unterscheidet sich von instrumenteller Gesetzgebung nicht durch den Mangel an Einfluß auf menschliches Verhalten, sondern durch die Form dieses Einflusses und die Art des zu beeinflussenden Verhaltens (vgl. Kindermann, 1989: 257). Je nach dem Typus der symbolischen Gesetzgebung werden aber ihre Wirkungen variieren. Im Hinblick auf die für die Bekräftigung sozialer Werte bestimmte Gesetzgebung können drei Arten gesellschaftlich relevanter Wirkungen unterschieden werden. Erstens geht es um Gesetzgebungsakte, die dazu beitragen, bestimmte Personen und Gruppen von der Konsistenz und Überlegenheit des durch Rechtssetzung bewerteten Verhaltensmusters und Norminhalts zu überzeugen und sie damit in dem Sinne zu trösten und zu beruhigen, daß deren Interessen und Gefühle im Recht eingeschlossen und durch es garantiert sind (Gusfield, 1967: 177). Zweitens: Die öffentliche Bestätigung einer moralischen Norm durch den Gesetzgeber führt zur deren Unterstützung durch die Hauptinstitutionen der Gesellschaft, sogar wenn dem entsprechenden Gesetzestext die spezifisch rechtsnormative Wirksamkeit fehlt. Damit hängt zusammen, daß das als gesetzwidrig definierte Verhalten größere Schwierigkeiten hat, sich durchzusetzen, als die rechtmäßige Handlung; hier wird instrumentelle Funktion für das Recht vermutet, obgleich „vorbildliche Abweichung" besteht (Gusfield, 1967: 177 f.). Drittens: Die soziale Werte bekräfti65
Ich beziehe mich hier auf Luhmanns Definition des Rechts: „... Struktur eines sozialen Systems, die auf kongruenter Generalisierung normativer Verhaltenserwartungen beruht (1987b: 105); oder einfach: die „kongruent generalisierten normativen Verhaltenserwartungen" (1987b: 99). Mit anderer Formulierung behauptet er, daß „das Recht umfassende Funktionen der Generalisierung und Stabilisierung von Verhaltenserwartungen [erfüllt]" (1974: 24). Vgl. auch ders., 1993a: 131 ff. 4*
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Kap. I: Von der symbolischen Gesetzgebung: Einer antreibenden Debatte.
gende symbolische Gesetzgebung unterscheidet mit institutioneller Relevanz, „welche Kulturen Legitimation und öffentliche Herrschaft haben" (dem öffentlichen Ansehen würdig sind) und welche als „abweichend" verurteilt („öffentlich entwürdigt") werden, so daß sie soziale Konflikte zwischen den jeweiligen Gruppen hervorruft (Gusfield, 1967: 178). Die Alibigesetzgebung ist ein Mechanismus mit breiten politischideologischen Wirkungen. Wie oben hervorgehoben wurde, entlastet sie das politische System von konkretem sozialem Druck, konstituiert Wahlunterstützung für die Politiker-Gesetzgeber oder dient der symbolischen Darstellung der Staatsinstitutionen als vertrauenswürdig gegenüber dem Publikum. Die Hauptwirkung der Gesetzgebung als eines dilatorischen Formelkompromisses liegt darin, politische Konflikte zu verschieben, ohne die ihnen zugrunde liegenden Probleme wirklich zu lösen. Die „Versöhnung" impliziert die Aufrechterhaltung des Status quo und vor dem Publikum-Spektator eine kohärente „Repräsentation"/„Inszenierung" der divergenten politischen Gruppen.
Kapitell I
...Zur symbolischen Konstitutionalisierung: Eröffnung einer Debatte 1. Verfassung und Konstitutionalisierung 1.1. Das Problem der Vieldeutigkeit Spricht man von Konstitutionalisierung, wird dabei die Existenz von verfassungslosen Rechtsordnungen bzw. Staaten implizit angenommen. Definiert man jedoch ,Verfassung 4, wird darin herkömmlicherweise die Vorstellung geteilt, daß jeder Staat eine reale und/oder normative Verfassung hat. Und selbst wenn der konstitutionelle Charakter bestimmter Staaten negiert wird, so beschränkt sich doch die Diskussion üblicherweise auf das wertbezogene/moralische Problem der Begründbarkeit des Staates und des Rechts im Sinne des Konstitutionalismus. So wie es für viele andere Ausdrücke der sozialen und politischen Semantik gilt, ist auch der Terminus ,Verfassung' synchronisch durch Vieldeutigkeit und diachronisch durch Bedeutungswandelbarkeit gekennzeichnet. In einer früheren Arbeit habe ich bereits diese semantische Frage erörtert (vgl. Neves, 1988: 53 ff.). Die Lehrbücher, Handbücher, Abhandlungen des Verfassungsund Staatsrechts, der Verfassungs- und Staatslehre nehmen sich geläufig - oft ohne die gehörige Deutlichkeit bei den Begriffsunterscheidungen - eine umfassende Aufstellung der Bedeutungsvariierung bzw. Verschiedenartigkeit der Verfassungsbegriffe vor.1 Dies ist nicht der Ort, eine weitere Aufstellung der zahlreichen Definitionen hinzuzufügen. Doch sowohl wegen des Bedeutungswandels beim Verfassungskonzept im Verlauf der Zeit, das heißt wegen seiner historisch-politischen Semantik (hierzu Maddox, 1989; Mcllwain, 1940; Mohnhaupt / Grimm, 1995; Böckenförde, 1983; Melo Franco, 1958: 43-61; Stourzh, 1975 ο. 1989), insbesondere im Übergang zum modernen Staat (vgl.
1
Hierzu vgl. zusammenfassend unter vielen anderen: Canotilho, 1991: 59-73; Biscaretti di Ruffia, 1973: 148-53, 1974: 433-40; Pinto Ferreira, 1962: 27-40, 1975: 408-15; Garcia-Pelayo, 1950: 29-48; Silva, 1982: 9-29. Siehe auch die Hinweise der Anm. 7 dieses Kap.
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Kap. Π: ...Zur symbolischen Konstitutionalisierung: Eröffnung einer Debatte
Luhmann, 1990a: 176 f.), 2 als auch angesichts der Beharrlichkeit unterschiedlicher relevanter Begriffsbestimmungen in der Gegenwart ist es angebracht, eine einleitende Erörterung der herkömmlichen Diskussion um die Verfassungsbegriflfe und ihre geschichtliche Variierung voranzustellen.3 1.2. Die herkömmliche Debatte über den Verfassungsbegriff Die Diskussion über den Begriff der Verfassung geht auf Aristoteles zurück, bei dem sich Verfassung (politela), in einem sehr umfassenden Sinn, als die Ordnung der Polis verstehen ließ: „... Verfassung ist die Ordnung (taxis) der Staaten in bezug auf die Regierungsämter (arché ), wie sie zu verteilen sind, und die Bestimmung der obersten Regierungsgewalt im Staate wie auch des Endziels (telos) der jeweiligen Gemeinschaft (koinonia)."4 Nach diesem Konzept der Polis-Organisation, das strukturelle und teleologische Elemente einbezog,5 konnten Verfassung und Staat gleichgesetzt werden (Smend, 1968: 196; vgl. Aristoteles, 1968: 85 - III, 3, 1276 b). Ohne zu verkennen, daß die Übertragung von ,politela4 in Constitution' (,constitution') bei den Übersetzungen von Aristoteles erst seit dem späten 18. Jahrhundert üblich geworden ist, früher die Übersetzung mit dem englischen Wort government' vorgeherrscht hatte (Stourzh, 1975: 101 ff. bzw. 1989: 5 ff.; Mohnhaupt, 1995: 8), läßt sich feststellen, daß der aristotelische Begriff eine wichtige Rolle bis in die frühe Neuzeit hinein spielte (vgl. Stourzh, 1975: 99 ff. bzw. 1989: 3 ff.). Aber im Übergang zur Moderne öffnet sich eine neue semantische Konstellation, in deren Rahmen die Verfassung besonders als Freiheitsbrief oder Herr2 Ich verwende hier den Ausdruck ,historisch-politische Semantik', um mich auf den Zusammenhang zwischen dem Wandel des begrifflichen Sinngehalts und der Transformation der Gesellschaftsstruktur zu beziehen (vgl. Luhmann, 1980: 19 Anm. 13). 3 Hierzu Neves, 1992: 45 ff., dem ich im allgemeinen die Elemente der folgenden Ausführung entnehme. 4 Aristoteles, 1968: 124 f. (IV, 1, 1289 a); vgl. auch 80 (ΠΙ, 1, 1274 b) u. 91 f. (ΠΙ, 6, 1278 b). In der von J. Marias und M. Araujo hrsg., griechisch-spanische Ausgabe (Aristoteles, 1951) wird der Terminus ,politela4 an der zitierten Stelle mit dem Ausdruck ,régimen politico4 übersetzt (167 f.), aber an den beiden anderen hier erwähnten Stellen mit dem Wort ,constitution' (67 u. 78). Daraus könnte man ableiten, daß es dieser spanischen Übersetzung an Eindeutigkeit fehlt. Wie jedoch Bordes (1967: 436) im Rahmen einer umfassenden Analyse der Bedeutungsvariierung von ,politela' im griechischen Gedankengut betont, tauchen nicht nur in der Gesamtheit des Aristotelischen Werkes, sondern auch innerhalb der eigenen „Politik" „Widersprüche selbst" auf, „die der Autor nicht zu beseitigen versuchte." 5 Das heißt: Obwohl das Wort ,politeia' sich auf die politische Gemeinschaft bezieht, so wie diese „wirklich ist", also einer deskriptive Terminus ist (Meliwain, 1940: 28; Maddox, 1989: 51), hat es axiologische Implikationen (hierzu vgl. Mohnhaupt, 1995: 9).
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schaftsvertrag begriffen wird (vgl. dazu Böckenforde, 1983: 7 ff.). Im Unterschied zu dem nur „herrschaftsmodifizierenden", „punktuellen" und „partikularen" Charakter der Herrschaftsverträge entsteht im Kontext der bürgerlichen Revolutionen des späten 18. Jahrhunderts der moderne Konstitutionalismus, dessen Semantik sowohl auf die normative als auch auf die „herrschaftskonstituierende", „umfassende" und „universale" Funktion und Geltung der Verfassung hinweist (Grimm, 1987a: insbes. 48 ff.; vgl. auch ders., 1989: 633 f., 1995: 100 ff.). Diesem mit den revolutionären Veränderungen verbundenen, innovativen Sprachgebrauch6 folgte jedoch auf keinen Fall Eindeutigkeit in bezug auf den Konstitutionsbegriff. Im Gegenteil verstärkte sich seit der Entstehung der modernen, liberalen Staaten das Problem der Mehrdeutigkeit des Wortes Verfassung4 bzw. Constitution4. Vor allem in der „klassischen44 deutschen Staatsund Verfassungslehre kam das zum Ausdruck; aber trotz der Vielheit von Begriffen, die dabei formuliert wurden,7 lassen sie sich in vier Haupttendenzen klassifizieren, die jeweils durch die Schlagwörter „soziologisch", Juristischnormativ44, „ideal" und „kulturell-dialektisch" zu bezeichnen sind und die noch bis heute eine wichtige Rolle für Studien über Staat, Recht und Verfassung spielen. Die klassische „soziologische44 Definition der Verfassung formulierte Lassalle in seinem berühmten Vortrag vom April 1862: „die in einem Lande bestehenden tatsächlichen Machtverhältnisse" (1987: 130). Es handelt sich nicht gerade um eine bahnbrechende Konzeptualisierung; früher (1844) hat Engels in einer Analyse der „englischen Konstitution" ähnliche Fragestellung angegriffen (vgl. 1988: insbes. 572 ff.). Andererseits blieb Lassalles' Begriff nicht in den Grenzen der sozialistischen Bewegung isoliert; er wurde z.B. von Weber (1985: 27) explizit übernommen. Man bezeichnete ihn als „historischuniversell44 (Canotilho, 1991: 59) in dem Sinne der folgenden Behauptung: „Eine wirkliche Verfassung [...] hat jedes Land und zu jeder Zeit gehabt44 (Lassalle, 1987: 136). Aber Lassalle beschränkte sich nicht darauf, ein soziologisches Verfassungskonzept zu formulieren. Darüber hinaus begriff er die Verfassung nur im 6
„Konzentriert man sich auf Fragen der Begriffspolitik und der semantischen Innovation, so ist leicht zu erkennen, daß revolutionäre Veränderungen einen innovativen Sprachgebrauch motivieren" (Luhmann, 1990b: 177). Hierzu vgl. Skinner, 1989. 7 Vgl. Schmitt, 1970: 3 ff; Heller, 1934: 249 ff (insbes. 274-76). Diese Vielheit von Verfassungskonzepten wäre nach Vilanova (1953: insbes. 19 u. 98 f.) auf die Vielfältigkeit des Gegebenen zurückzufuhren. Laut Luhmann (1990b: 212) dienten hingegen die unterschiedlichen Verfassungsdefinitionen im Rahmen der deutschen Staatslehre zum Überdecken des Defizits, „die eigentliche Funktion und damit auch de(n) Begriff von Verfassungen" klar zu fassen bzw. zu erklären.
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Hinblick auf ihre sozioökonomische Dimension, indem nach ihm die Verfassungsnormen als bloßer Ausdruck der „wirklichen Verfassung" anzusehen seien, von der sie absoluterweise abhingen, ohne jede bedingende Rückwirkung hervorzubringen (vgl. 1987: insbes. 125 u. 147). Diese „soziologistische" (sogar „ökonomistische") und „mechanistische" Einstellung von Lassalle verkennt, daß die (rechtsnormative) Verfassungsordnung eine relative Autonomie gegenüber den wirklichen Machtverhältnissen hat und bis zu einem bestimmten Grad als deren Grenzbedingung fungiert. Es wird dabei nicht berücksichtigt, daß die „materialen" Machtfaktoren und die Juristische" Verfassungsordnung in stetigen wechselseitigen Beziehungen zueinander stehen, besonders durch Grenzziehung.8 Lassalle setzte eine Gleichstellung von Verfassungstext und -norm voraus9 und ging davon aus, Verfassungsnormen bildeten keine Wirklichkeit. Die Verfassunggebung wird derart nicht als ein Filterungsprozeß von normativen Verhaltenserwartungen und die Verfassung also nicht als Ensemble geltender rechtsnormativer Erwartungen verstanden (s. unten Abschn. 1.3. dieses Kap.). Im Gegensatz zu der klassischen „soziologischen" Konzeption der Verfassung treten die ausschließlich Juristisch-normativen" Verfassungsbegriffe der Reinen Rechtslehre auf: „die positivrechtlich höchste Stufe" (Verfassung im materiellen Sinne) oder die im Vergleich mit gewöhnlichen Gesetzen nur unter erschwerten Bedingungen abänderbaren Rechtsnormen (Verfassung im formellen Sinne).10 In dieser Perspektive wird eine Identifikation von staatlicher Rechtsordnung und Staat vorausgesetzt (vgl. Kelsen, 1966: 13-21, 1946: 181-92, 1960: 289-320) sowie die Norm als ideales Objekt - genauer: als idealer objektiver Sinn eines Willensaktes - aufgefaßt (vgl. Kelsen, 1960: 3-9, 1979: 2; dagegen Luhmann, 1987b: 43 f.). Obwohl es dabei nicht um die Identität von Norm und Normtext geht (vgl. Kelsen, 1979: 120),11 wird die Wirklichkeit der verfassungsnormativen Erwartungen als struktureller Ele8
Auch innerhalb des Marxismus hat man es nicht unterlassen, das hervorzuheben (vgl. ζ. B. Poulantzas, 1967: 160; Nersesiants, 1982: 177 f.). 9 In herabsetzender Einstellung bezeichnete Lassalle (1987: 134 u. 136) die moderne geschriebene Verfassung als „Blatt Papier". 10 Kelsen, 1960: 228-30, 1946: 124 f., 1966: 251-53, mit Variationen im Hinblick auf den Inhalt der „Verfassung im materiellen Sinne" (vgl. Neves, 1988: 56 f.). Daß die Frage, welche Normen als „materielle Verfassung eines Staates" zu bezeichnen sind, „ein kontingentes Problem der Klassifikation" sei (Vernengo, 1976: 310), führte in der herkömmlichen staatsrechtlichen Diskussion viele Autoren dazu, nur dem Begriff der „Verfassung im formellen Sinne" rechtsnormative Bedeutung zuzuschreiben (vgl. z.B. Jellinek, 1976: 534; Carré de Malberg, 1922: 572 ff.; Heller, 1934: 274; Pinto Ferreira, 1975: 433 f.). Im Gegensatz dazu siehe Kelsen, 1946: 258 f. 11 Hingegen behauptet Müller (1994: 148 u. 268) die Gleichsetzung von Norm und Normtext bei der Reinen Rechtslehre. In Kontroverse zu Müller vgl. hierzu Walter, 1975:444.
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mente der Juristischen" Verfassung verkannt, was Kelsens' theoretisches Muster für eine Untersuchung der Funktionalität des Verfassungsrechts, d.h. der normativen Kraft des Verfassungstextes, unbrauchbar macht. Insoweit aber die Reine Rechtslehre - im Gegensatz zu anderen rechtsdogmatischen Ansätzen anerkennt, daß ein bestimmter Grad an Wirksamkeit der Rechtsordnung und einer einzelnen Norm Bedingung ihrer Geltung ist (vgl. Kelsen, 1960: insbes. 215 f., 1979: 112 f., 1946: 41 f. u. 118-20), eröffnet sie schon - ohne daß sie daraufhin ausgerichtet ist - einen Spielraum für eine rechtssoziologische Interpretation der Beziehung von Geltung und Wirksamkeit der Verfassung. In einer dritten Perspektive wird die Verfassung in der Konstellation des sogenannten Konstitutionalismus konzipiert, der sich insbesondere mit den bürgerlichen Revolutionen des 18. und 19. Jahrhunderts durchsetzte, also dem Verfassungsideal des bürgerlichen Rechtsstaates entspricht (vgl. Schmitt, 1970: 36-41; Canotilho, 1991: 64-66). Hier hängt das Konzept der Verfassung mit dem Begriff des Verfassungsstaates zusammen (Hollerbach, 1969: 47). Dementsprechend werden die „konstitutionellen" den „verfassungslosen" Staaten gegenübergestellt und „man spricht sogar von einer konstitutionellen Staatsverfassung', d.h. einer verfassungsmäßigen Staatsverfassung" (Schmitt, 1970: 36). Das Problem der Verfassung wird auf seine wert- bzw. moralbezogene Dimension beschränkt: In dieser Orientierung wäre „wahre" Verfassung nur diejenige, die einem bestimmten idealen Wert- bzw. Prinzipienmuster entsprechen würde. Ein klassischer Ausdruck des Verfassungsidealismus findet sich im Art. 16 der Déclaration des Droits de L'Homme et du Citoyen von 1789: „Toute société dans laquelle la garantie des droits n'est pas assurée, ni la séparation des pouvoirs déterminée, n'a point de constitution."12 Hiernach impliziert Verfassung ein System von Garantien der bürgerlichen Freiheit, die Gewaltenteilung und eine geschriebene Form (Schmitt, 1970: 38-40). Lehnt man diese strikte liberale Auffassung des Konstitutionalismus zugunsten einer 12
Unter anderem in: Duverger (Hg.), 1966: 3 f. (4). Über diese liberale Grundeinstellung am Anfang des letzten Jahrhunderts vgl. als Übersicht Melo Franco, 1960: 10 ff. Zur Begründung des liberalen Konstitutionalismus in diesem Jahrhundert siehe Hayek, 1960: insbes. 176-92. Vgl. auch in anderer Richtung Rawls, 1990: 221 ff, der die Gerechtigkeit der Verfassung auf das Prinzip der (gleichen) Partizipation zurückführt, das seinerseits von ihm als die Anwendung vom Prinzip der gleichen Freiheit auf die Verfassungsverfahren konzipiert wird. Kritisch gegenüber dem liberalen Begriff („Ideologie") der Verfassung vgl. Müller, 1990b: 163 ff, der betont: „ E i n e Verfassung ist nicht ,Organisation der Freiheit4. [...] In einer Verfassung und ihrem Staat sind Zwang und Freiheit nicht gleichgeordnete Größen, als solche zur Synthese gebracht. [...] Freiheit als gleichwertige Antithese ist eine Täuschung. [...] Eine Verfassung ist Organisation der Gewalt44 (163, 168). Aber hier zielt Müller kritisch auf Hegels Konzeption des Staats als „Wirklichkeit der konkreten Freiheit" (Hegel, 1986: 406 - § 260). Hierzu vgl. auch in marxistischer Perspektive die Kritik von Miaille, 1980: 16567.
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demokratischen - sogar sozialdemokratischen - Konzeption des Verfassungsstaates ab, bleibt immer noch als inhaltlicher Kern des Begriffs die „Gewährleistung" der sogenannten Grundrechte und die rechtliche Begrenzung der Staatsmacht. In diesem Sinn hätten die autoritären und totalitären Staaten keine Verfassung in dem Maße, wie sie die Veifassungs/?rwz//?/eA7 nicht verwirklichen (vgl. ζ. B. Loewenstein, 1975: 128 ff.). Dieser Begriff der Verfassung steht nur in einer indirekten Form in Beziehung mit dem im Rahmen dieser Arbeit zu verwendenden Konzept: Da die Verfassung im modernen Sinn nur durch die Positivierung des Rechts entsteht,13 läßt sich auch von Mangel an Verfassung in den vormodernen sowie in den totalitären und autoritären Staaten der Neuzeit sprechen. Die Erklärungsmuster aber sind ganz unterschiedlich. Das eine geht von der „Erklärung" rechtswesentlicher Grundwerte oder von der Evolution des Moralbewußtseins aus,14 das andere von der Ausdifferenzierung des Rechtssystems. Diesen „einseitigen" Verfassungsbegriffen treten die sogenannten „kulturell-dialektischen" Verfassungskonzeptionen entgegen, nach denen die Verfassung als eine die drei zuvor genannten Hauptdimensionen umfassende „Synthese" zu verstehen ist. Die Staatsverfassung ergebe sich danach aus der wechselseitigen Beziehung zwischen („ideellem") Verfassungssollen und („wirklichem") Verfassungssein. Bei Heller drückt sich diese Formel durch die Dialektik „Normativität/Normalität" aus (vgl. Heller, 1934: 249 ff.), die zu einem sehr umfassenden Konzept führt: „Die so entstandene Staatsverfassung bildet ein Ganzes, in dem Normalität und Normativität, sowie rechtliche und außerrechtliche Normativität im Verhältnis gegenseitiger Ergänzung zueinander stehen" (254). Nach dieser Konzeptualisierung, die - im Gegensatz sowohl zu den einseitigen Konzeptionen von Kelsen und Schmitt als auch zu Jellineks Dualismus (Heller, 1934: 259 u. 276 f.) 15 - die Synthese von Sein und Sollen betont, setzen die Teilanalysen der Verfassung deren Gesamtauffassung voraus. Somit ist die rechtlich normierte Staatsverfassung als Teilausdruck eines
13
Wie unten erklärt wird (Abschn. 1.3.3. dieses Kap.), übernehme ich strategisch Luhmanns Modell der Positivierung bzw. Positivität des Rechts im Sinne eines gesetzten, änderbaren und selbstbestimmten Rechts. 14 Zur These der Entwicklung des Moralbewußtseins von einer präkonventionellen über eine konventionelle bis hin zu einer postkonventionellen (modernen) Stufe siehe Habermas 1983: 127 ff.; Eder, 1980. Vgl. auch Habermas 1982b I: 350 ff., 1982b Π: 260 ff., 1982a: 13 ff. u. 69 ff. 15 Über Schmitts (dezisionistischen) Begriff der Verfassung als „GesamtEntscheidung über Art und Form der politischen Einheit", das heißt als politische Grundentscheidung vgl. ders. 1970: 20 ff. Kritisch gegenüber dem dieser Konzeption zugrunde liegenden „Voluntarismus" vgl. Pontes de Miranda, 1932: 26 f. Zum Dualismus von Jellinek vgl. ders. 1976: 10-12 u. 20.
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Ganzen zu verstehen.16 Obwohl sie ein normatives Sinngebilde, ein (ideales) Sollen konstituiert, „ist und bleibt" sie auch „der Ausdruck der sowohl physischen wie auch psychischen Machtverhältnisse" (Heller, 1934: 259 f.). Eine Variante der „kulturell-dialektischen" Verfassungskonzeption findet sich bei Rudolf Smend. Der Staat wird hiernach als Integrationsprozeß konzipiert (vgl. 1968: 136 ff.) 17 und die Verfassung als dessen Rechtsordnung, d. h. als „die gesetzliche Normierung einzelner Seiten dieses Prozesses" begriffen (1968: 189). Aber die Verfassung im strikt rechtlichen Sinn bildet hier - abweichend von den Auffassungen Jellineks, Kelsens, Schmitts und Hellers nicht nur ein (ideelles) normatives Sinngefüge: „Als positives Recht ist die Verfassung nicht nur Norm, sondern auch Wirklichkeit" (1968: 192). Daraus ergibt sich eine dynamische Konzeption, nach der das Verfassungssystem „sich gegebenenfalls von selbst ergänzt und wandelt" (191), insoweit die Verfassung in politisches Leben umgesetzt wird (189)18 und damit abweichende Verfassungsauslegungen fordert (190). In den „kulturell-dialektischen" Verfassungsansätzen Hellers und Smends wird das Sollen als idealer Sinnzusammenhang begriffen, welcher aber von (wirklichem) Sein bedingt wird bzw. seine gesellschaftliche Bedeutung bekommt. Ein Unterschied besteht u.a. darin, daß bei Heller die Verfassung im strikt juristischen Sinne ein (ideales) Normengefüge ist, bei Smend dagegen die politische Wirklichkeit zum Verfassungsrecht gehört. In beiden Auffassungen wird übersehen, daß sich das Verfassungssollen als eine Dimension der Wirklichkeit und die Verfassungsnormen fruchtbarerweise als stabilisierte Verhaltenserwartungen konzipieren lassen. In dieser Perspektive sind die Verfassungsnormen die spezifisch durch sowohl die verfassunggebenden als auch die verfassungskonkretisierenden Entscheidungsverfahren gefilterten rechtsnormativen Verhaltenserwartungen. Es handelt sich nicht um ein ideales Sinngebilde in wechselseitigen Beziehungen mit der sozialen Wirklichkeit, sondern um ein rechtsnormatives Teilsystem, welches einerseits eine bestimmte Autonomie hat, andererseits mit den primär kognitiven sozialen Systemen, den anderen primär normativen Systemen und besonders den anderen Teilen des Rechtssystems in stetigen und verschiedenartigen Verhältnissen steht.
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„Deshalb kann der einzelne Rechtssatz grundsätzlich erst aus der Totalität der politischen Gesamtauffassung voll begriffen werden" (Heller, 1934: 255). 17 Zur Auswirkung der Konzeption von Smend auf den Bedeutungswandel der Verfassung im Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland vgl. Böckenförde, 1983: 17 ff. 18 Stern (1984: 73) spricht von ,,stärkere[r] Einbeziehung des politischen Prozesses in das Verfassungsrecht" bei Smend.
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Kap. Π: ...Zur symbolischen Konstitutionalisierung: Eröffnung einer Debatte
1.3. Die Konstitutionalisierung 1.3.1. Verfassung als strukturelle
Kopplung von Politik und Recht
Der Verwendung des Terminus konstitutionalisierung' liegt die Idee zugrunde, daß nicht jede staatlich organisierte politisch-rechtliche Ordnung eine Verfassung hat, oder präziser gesagt, ein Verfassungssystem befriedigend entwickelte. Der Verfassungsbegriff nimmt dann eine sehr begrenzte Bedeutung an. Er verweist auf die Verfassung im modernen Sinne. Daraus ergibt sich nicht unbedingt eine wertbezogene bzw. moralische Begründung in der Perspektive des klassischen Konstitutionalismus. Das heißt: Obwohl sich im strikt modernen Sinne die Verfassung als „eine Beschränkung der Regierung", als „die Antithese des arbiträren Regimes" fassen läßt (Konstitutionalismus) (Mcllwain, 1940: 24), folgt daraus nicht zwingend, daß sie als eine „Deklaration" von präexistenten, dem Menschen wesentlichen, politisch-rechtlichen Werten oder als Produkt der Evolution der Bewußtseinsstrukturen in Richtung einer postkonventionellen/universalen Moral konzipiert ist (vgl. Anm. 14 dieses Kap.). Es ist auch eine Lesart in der Hinsicht möglich, daß die Verfassung im modernen Sinne Faktor und Produkt der funktionalen Differenzierung von Recht und Politik als Teilsystemen der Gesellschaft ist. In dieser Betrachtungsweise erweist sich die Konstitutionalisierung als der Prozeß, durch den diese Differenzierung sich verwirklicht. Aus dieser Perspektive definiert Luhmann die Verfassung als „strukturelle Kopplung" von Politik und Recht (1990a: 193 ff., 1993a: insbes. 470 ff.). 19 Danach erweist sich die Verfassung im strikt modernen Sinne als Brücke der Übertragung der wechselseitigen Leistungen und vor allem als Mechanismus der Interpénétration (und sogar der Interferenz) 20 von zwei autonomen sozia19
Der Begriff der „strukturellen Kopplung" steht im Mittelpunkt von Maturanas und Varelas biologischer Theorie der autopoietischen Systeme (vgl. Maturana, 1982: 143 ff., 150 ff., 251 ff., 287 ff.; ders. / Varela, 1980: XX f., 1987: 85 ff.), auf die Luhmann zur Übertragung auf soziale Systeme explizit zurückgreift (vgl. Luhmann, 1993a: 440 f., 1990a: 204 Anm. 72; ders. / De Giorgi, 1992: 33). Über die Theorie der autopoietischen Systeme s. unten Kap. ΠΙ. 1. 20 Zum Begriff der Interpénétration s. Luhmann, 1987a: 289 ff., der diesen Begriff von dem der Leistungsbeziehungen (,Jnput/Output-Beziehungen'' - 1987a: 275 ff.) unterscheidet: „Von Penetration wollen wir sprechen, wenn ein System die eigene Komplexität (und damit: Unbestimmtheit, Kontingenz und Selektionszwang) zum Aufbau eines anderen Systems zur Verfügung stellt. [...] Interpénétration liegt entsprechend dann vor, wenn dieser Sachverhalt wechselseitig gegeben ist, wenn also beide Systeme sich wechselseitig dadurch ermöglichen, daß sie in das jeweils andere ihre vorkonstituierte Eigenkomplexität einbringen" (290). Davon unterscheidet sich der Begriff der Interferenz bei Teubner (1989: insbes. 110, 1988: 55 ff.), denn bei dieser stellt jedes der beiden Systeme dem anderen vorgeordnete Komplexität zur Verfugung,
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len Systemen, der Politik und dem Recht, insofern sie „eine rechtliche Lösung des Selbstreferenzproblems des politischen Systems und zugleich eine politische Lösung des Selbstreferçnzproblems des Äec/tfssystems ermöglicht" (Luhmann, 1990a: 202). Es handelt sich nicht um irgendeine Beziehung zwischen Politik und Recht, was ein „historisch-universelles" Verfassungskonzept implizieren würde. In den vormodernen Gesellschaften und auch in den zeitgenössischen autokratischen Staaten ist die Beziehung zwischen Macht und Recht hierarchisch, sie zeichnet sich durch die Unterordnung des Rechts unter die Politik aus (vgl. Luhmann, 1981g: 159 f., 1987b: 168 ff.). In der Sprache der Systemtheorie bedeutet das die Unterordnung des Differenzcodes Recht/Unrecht unter den Differenzcode Macht/Nicht-Macht; der Präferenz-Code des Rechts fungiert dann nicht als Zweitcode des politischen Systems.21 Durch die Verfassung als strukturelle Kopplung wird die unmittelbare Beeinflussung des Rechts seitens der Politik und umgekehrt ausgeschlossen, denn die operative Autonomie beider Systeme ist Bedingung und gleichzeitig Ergebnis dieser strukturellen Kopplung. Jedoch wird über diese die Möglichkeit des wechselseitigen Einflusses immens gesteigert (Luhmann, 1990a: 205) und die „Lernchancen" für die beteiligten Systeme verdichtet (206). So dient die Verfassung der Interpénétration (und Interferenz) der beiden selbstreferenziellen Systeme, was zugleich Verhältnisse wechselseitiger Abhängigkeit und Unabhängigkeit impliziert, die ihrerseits „auf der Grundlage selbstreferentieller Systembildung" möglich sind (1981g: 165). 1.3.2. Verfassung als „ Teilsystem " des Rechtssystems Aber die Verfassung läßt sich in einer systemtheoretischen Perspektive nicht nur als strukturelle Kopplung von Politik und Recht begreifen. Es ist unter dem politisch-soziologischen Gesichtspunkt möglich, sie als spezifische Einrichtung des politischen Systems selbst zu konzipieren (hierzu vgl. Luhmann, 1973b). Für den in der vorliegenden Arbeit verfolgten Zweck, nämlich
während in der Interpénétration das jeweils aufnehmende System „unfaßbare Komplexität, also Unordnung" zur Verfügung hat (Luhmann, 1987a: 291). 21 Über binären Präferenz-Code im allgemeinen vgl. Luhmann, 1986a: 75 ff.; spezifisch im Hinblick auf das Rechtssystem 1986b, 1993: 165 ff. Obwohl die Macht sich primär auf der Basis des Codes „Überlegenheit/Unterlegenheit" entwickelt, läßt sich feststellen, daß im Rechtsstaat die Differenz von Recht und Unrecht in der Beobachtungsperspektive des politischen Systems als Zweitcodierung der Macht fungiert (Luhmann, 1986b: 199; 1988a: 34,48 ff, 56).
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die Analyse der Bedeutung der symbolischen Konstitutionalisierung,22 erscheint der Begriff der Verfassung als „Teilsystem" des Rechtssystems (Verfassungsrecht) eher angebracht.23 Die Verfassungsnorm als Sonderfall der Rechtsnorm stellt in dieser Perspektive eine Art von kontrafaktisch stabilisierter Verhaltenserwartung dar, sie wird nicht als ideales Sollen verstanden.24 Das impliziert nicht zwingend den Begriff der Verfassung als rechtliche Grundordnung des Gemeinwesens25, der voraussetzt, „daß auch in unserer Gesellschaft konstituierende' Strukturen die Form normativer Verhaltenserwartungen annehmen können" (Luhmann, 1973b: 2). 26 Aber wenn sich die Verfassung unter einem rechtssoziologischen Gesichtspunkt auch als ein Teilsystem des Rechts begreifen läßt, so ist die Auffassung der Verfassungsnormen als kongruent generalisierter, kontrafaktisch stabilisierter Verhaltenserwartungen nicht ausgeschlossen (s. Anm. 65 des Kap. I). In diesem Sinne gewinnen die verfassungsnormativen Erwartungen ihre Geltung nicht nur aus der Verfassunggebung und Verfassungsänderung als spezifisch darauf ausgerichteten Filterungsprozessen, sondern auch aus der Verfassungskonkretisierung als Vielheit von Filterungsprozessen. Somit ist die Verfassung nicht nur in struktureller Hinsicht (als Erwartungen, Normen) zu definieren, sondern gleichzeitig unter operativem Gesichtspunkt: Sie bezieht diejenigen Kommunikationen mit ein, die einerseits auf den geltenden Verfassungserwartungen beruhen und die andererseits diesen zugrunde liegen. Versteht man die Verfassung als „Teilsystem" des positiven Rechts, so lassen sich die folgenden Fragen aufwerfen: 1) Welche Bedeutung hat die (moderne) Verfassung für das Rechtssystem, oder genauer für die Positivierung des Rechts? 2) Welche gesellschaftliche Funktion erfüllt das positive Verfassungsrecht? 3) Wie bringt das Verfassungssystem das positive Recht mit den Erfordernissen der anderen sozialen Systeme in Beziehung? Diese drei Fragen 22
„Was ist Verfassung? Die Richtung, in die diese Frage zielen muß, hängt von der Aufgabe ab, die mit dem zu gewinnenden Begriff gelöst werden soll" (Hesse, 1980: 3). 23 Hierzu s. Neves, 1992: 50 ff, woraus ich in allgemeinen Zügen die Elemente der folgenden Ausführung beziehe; diese Möglichkeit anerkennend, Luhmann, 1990a: 185 ff 24 Obwohl Luhmann in rechtssoziologischer Perspektive (Fremdbeobachtung) die Rechtsnormen als Fakten (Verhaltenserwartungen) begreift, erkennt er an, daß unter rechtstheoretischem Gesichtspunkt (Selbstbeobachtung) Normen nicht aus Fakten abzuleiten sind, und interpretiert dies als ein im Rahmen der gesellschaftlichen Evolution zur Ausdifferenzierung des Rechtssystems entdecktes „logisches Verbot" (vgl. ders., 1986c: 21). 25 So ζ. B. Hesse, 1980: 11; Hollerbach, 1969: 46; Böckenförde, 1983: 16 ff. 26 „Entsprechend gerät das Interesse an Verfassungswirklichkeit in eine Perspektive, die nach normkonformem oder abweichendem Verhalten fragt" (1973b: 2).
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stellen uns vor die Probleme der „Reflexion", „Funktion" und „Leistung" des Rechtssystems auf der Verfassungsebene. 27 1.3.3. Verfassung als Mechanismus der operativen Autonomie des Rechts Wir gehen hier theoriestrategisch von Luhmanns Konzept der Positivierung bzw. Positivität des Rechts aus. Als charakteristische Erscheinung der modernen Gesellschaft bedeutet das Phänomen der Positivierung, daß das Recht durch die Gesetztheit und Änderbarkeit gekennzeichnet ist (hierzu Luhmann, 1981b, 1987a: 190 ff., 1983a: 141-50; Neves, 1992: insbes. 27-30). Außerdem und vor allem wird die Positivität als Selbstbestimmtheit des Rechts bzw. operative Geschlossenheit des Rechtssystems aufgefaßt (vgl. Luhmann, 1988b, 1993a: 38 ff., 1983b, 1985, 1981h).28 Damit hängt zusammen, daß dem geschichtlichen Prozeß der Positivierung die Entstehung der Verfassung im modernen Sinn entspricht,29 d. h. die rechtssysteminterne Differenzierung des Verfassungsrechts. Insoweit die für alle sozialen Bereiche geltenden, letztlich eine übergeordnete politische Herrschaftsordnung legitimierenden Moralvorstellungen ihre gesellschaftliche Funktion und Bedeutung verloren, konnte die Geltung der rechtsanwendenden und rechtssetzenden Entscheidungen offensichtlich nicht weiter auf diese gesellschaftlich allumfassenden Vorstellungen gegründet werden. Die Positivität als Selbstbestimmtheit des Rechts bedeutet den Ausschluß jeder unmittelbaren (nicht durch innersystemische Kriterien vermittelten) Überdetermination des Rechts durch andere soziale Systeme: Politik, Wirtschaft, Wissenschaft usw. Hiernach ist die Beziehung zwischen Rechtssystem und politischem System horizontal-funktional, also nicht mehr vertikal-hierarchisch. In dieser neuen Konstellation bedarf das Rechtssystem, nunmehr ohne gesellschaftsumfassende politische und moralische Grundlagen,30 der internen Kriterien nicht nur für die Rechtsanwendung, sondern 27
Über diese drei Systembeziehungen (Funktion, Leistung und Reflexion) s. im allgemeinen Luhmann, 1982: 54 ff ; ders. und Schorr, 1988: 34 ff ; im Hinblick spezifisch auf das Recht und die Verfassung Neves, 1992: 113 ff. u. 147 ff, in einer kritisch problematisierenden Einstellung. Ich komme darauf im Kap. ΠΙ zurück. 28 Indessen betrachtet Luhmann (1993a: 38 f.) den Begriff der Positivität selbst theoretisch als nicht ausreichend, insofern dieser dem „Vorwurf des ,Dezisionismus4" unterliegt oder als Gegenbegriff zum Naturrechtskonzept aufgefaßt werden kann, d.h. nicht streng auf die operative Geschlossenheit des Rechtssystems hinausläuft. 29 So daß der „Erlaß" (?) von Verfassungen als Beweis für die Wirklichkeit der Positivierung des Rechts bezeichnet wird (Luhmann, 1984 a: 95 f.). 30 In dieser Perspektive gilt die These von Timasheff, daß das Recht als sekundäres Phänomen die Kombination von Ethik und Politik als primären Phänomenen ist (193738: 230 f., 1936: insbes. 143 u. 155 ff), also nicht einmal für das moderne Recht, obgleich sie für die vormodernen Gesellschaften Bedeutung hat.
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auch fur die Rechtssetzung. Diese Rolle wird dem Verfassungsrecht zugeordnet. Insofern „ist die Verfassung diejenige Form, mit der das Rechtssystem auf die eigene Autonomie reagiert. Die Verfassung muß, mit anderen Worten, Außenanlehnungen, wie sie das Naturrecht postuliert hatte, ersetzen" (Luhmann, 1990a: 187). Mangel an rechtlich ausdifferenzierter Verfassung führt in der hochkomplexen und -kontingenten, nicht an einer umfassenden, in allen sozialen Bereichen unmittelbar geltenden Moral orientierten, modernen Gesellschaft zur willkürlichen politischen Handhabung des Rechts, was dessen Positivierung verhindert. Einer uneingeschränkten Gesetzgebung, die den Bruch der Autopoiesis des Rechtssystems, d. h. die Allopoiesis der Reproduktion der rechtlichen Kommunikationen zur Folge hat, tritt die interne Form der Hierarchisierung durch die übergesetzliche Geltung des Verfassungsrechts entgegen (Luhmann, 1990a: 190). Das hat nicht nur eine rechtstechnische Bedeutung (anders aber Luhmann, 1973b: 1). Es handelt sich nicht um mehrere gegeneinander isolierte Ebenen, sondern um „tangled hierarchies" 31 : Die Geltung und der Sinn des Verfassungsrechts hängt von der gesetzgebenden und der konkret rechtsanwendenden Tätigkeit ab. Die interne Hierarchisierung ,Verfassungsrecht/ Gesetzesrecht' füngiert als Bedingung der autopoietischen Reproduktion des modernen Rechts, sie dient also dessen operativer, normativer Geschlossenheit.32 In diesem Sinne betont Luhmann: „die Verfassung schließt das Rechtssystem, indem sie es als einen Bereich regelt, in dem sie selbst wiedervorkommt. Sie konstituiert das Rechtssystem als geschlossenes System durch Wiedereintritt in das System" (1990a: 187). Auf diese Weise wird jeder gesetzgeberische Eingriff des politischen Systems in das Rechtssystem durch die Verfassungsnormen mediatisiert. Das Rechtssystem gewinnt dadurch Kriterien für die Anwendung des Codes Recht/Unrecht auf die gesetzgebenden Verfahren. 33 Unter diesem Gesichtspunkt läßt sich sagen, daß die Positivierung des Rechts in der modernen Gesellschaft über die Trennung von Rechtssetzung und Rechtsanwendung' hinaus den Unterschied von Verfassung und Gesetz voraussetzt. Im Lichte des Begriffs von reflexiven Mechanismen (hierzu vgl. Luhmann, 1984a) kann man dies so ausdrücken: Die Verfassung als umfassende Normierung von normierenden Prozessen ist unentbehrlich für die Positivität als Selbstbestimmtheit des Rechts. 31
Ein von Luhmann (1986c: 15 f.) in diesem Zusammenhang verwendetes Konzept Hofstadters (1979: 10 u. 684 ff., dt. 1985: 12 u. 728 ff). Vgl. auch Teubner, 1989: 9. 32 Zum positiven Recht als kognitiv offenes System insoweit, als es ein operativ, normativ geschlossenes System bildet, s. Luhmann 1983b: insbes. 139 u. 152 f., 1984b: 110 ff, 1993a: 38 ff; Neves, 1992: 37-41. Daraufkomme ich im Kap. ΙΠ.1. zurück. 33 Über die Differenz von Codes und Kriterien bzw. Programmen vgl. Luhmann, 1986a: 82 f., 89 ff; im Hinblick spezifisch auf das Rechtssystem, 1986b: 194 ff; 1993a: 165 ff. Im Kap. ΙΠ.1. komme ich auf diese Unterscheidung zurück.
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Das Verfassungsrecht, so läßt es sich rechtssoziologisch behaupten, funktioniert als systeminterne Grenze für die Lernfähigkeit ( - * kognitive Offenheit) des positiven Rechts, mit anderen Worten: die Verfassung bestimmt, wie und wieweit das Rechtssystem lernen kann, ohne seine Autonomie auflösen zu lassen.34 Der Mangel an rechtlicher Regelung der Lernfähigkeit des Rechtssystems führt, in einer hochkomplexen Gesellschaft mit sehr problematischen Konsequenzen, zu unmittelbaren Eingriffen anderer sozialer Systeme, vor allem des politischen Systems, in das Recht. Aber es ist auch anzumerken, daß das Verfassungssystem zugleich lernfahig hinsichtlich dessen ist, was es vorschreibt. Dieser kognitive Charakter des Verfassungssystems drückt sich durch das spezifische Verfahren der Verfassungsänderung aus, sehr wohl aber auch im Verlauf der Verfassungskonkretisierung. Es handelt sich also nicht um absolute Hierarchisierung. Besonders die gewöhnlichen Gesetze und die Entscheidungen der für Verfassungsfragen zuständigen Gerichte, die unter technisch-juristischer Betrachtungsweise Unterverfassungsrecht bilden, bestimmen den Sinn und bedingen die Geltung der Verfassungsnormen. 35 Die Zirkularität des Rechts bleibt erhalten, zumindest im „Mischungsverhältnis" von Rechtsschöpfüng und Rechtsanwendung.36
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In Übereinstimmung damit schrieb Luhmann: „Sinn und Funktion der Verfassung werden unter Verwendung expliziter Negationen, Negationen von Negationen, Abgrenzungen, Verhinderungen gekennzeichnet; die Verfassung selbst ist, ihrem formalen Verständnis nach, die Negation der uneingeschränkten Abänderbarkeit des Rechts" (Luhmann, 1973b: 165). Die Kritik von Canotilho (1991: 86 f.) in dem Sinne, daß dieser negative formale Begriff den „Ausschluß der sozialen Elemente" impliziere und also „mit dem Verfassungstext eines sozial orientierten demokratischen Staates wie der portugiesische" unvereinbar sei, erscheint mir vereinfachend. Nichts verhindert, daß die Verfassung als Mechanismus der Einschränkung der Änderbarkeit des Rechts sozialdemokratische Züge annimmt. Eher wäre zu bemerken, daß dieser Begriff der Verfassung unvereinbar mit dem politischen System beim Salazarismus ist. 35 „Es mag Einflußdifferenzen, Hierarchien, Asymmetrisierungen geben, aber kein Teil des Systems kann andere kontrollieren, ohne selbst der Kontrolle zu unterliegen; und unter solchen Umständen ist es möglich, ja in sinnhaft orientierten Systemen hochwahrscheinlich, daß jede Kontrolle unter Antezipation der Gegenkontrolle ausgeübt wird" (Luhmann, 1987a: 63; vgl. im Hinblick spezifisch auf das Rechtssystem ders., 198Ii: 254 f.). 36 Aus der als Variante der Reinen Rechtslehre zu bezeichnenden Lehre vom Stufenbau der Rechtsordnung Öhlingers (1975) liest Luhmann heraus, daß die Abstufung des „Rechtssystems" sich nur auf das ,Mischungsverhältnis" von Rechtsschöpfung und Rechtsanwendung bezieht, um hinzuzufügen: „Ein Schritt darüber hinaus wäre, das Verhältnis von Rechtsschöpfung/Rechtsanwendung auf jeder Stufe als zirkulär, also als selbstreferenziell zu begreifen. Dann wäre Stufenbau eine Dekomposition und Hierarchisierung der grundlegenden Selbstreferenz des Systems" (Luhmann, 1983b: 141 Anm. 26; vgl. auch 1990b: 11). 5 Neves
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Nach dem systemtheoretischen Ansatz erfüllt die Verfassung eine entlastende Funktion für das positive Recht als Teilsystem der hochkomplexen modernen Gesellschaft. Sie verhindert die Blockierung des Rechtssystems durch die verschiedensten Verhaltenserwartungen, die sich in dessen Umwelt entwickeln. Diese entlastende Funktion ist nur mittels der Übernahme des „Prinzips der Nicht-Identifikation" 37 möglich. Für die Verfassung bedeutet es ihre Nicht-Identifikation mit religiösen, moralischen, philosophischen oder weltanschaulichen Gesamtkonzeptionen (Hollerbach, 1969: 52).38 Die Identifikation der Verfassung mit einer dieser Konzeptionen würde das Rechtssystem blockieren, so daß es keine adäquate interne Komplexität gegenüber seiner hochkomplexen Umwelt produzieren könnte. Eine „sich identifizierende Verfassung" könnte nur unter den Bedingungen einer vormodernen Gesellschaft in Einklang mit ihrer Umwelt funktionieren. Hier setzt die Herrschaft von gesamtgesellschaftlich geltenden Moralvorstellungen eine einfache, möglichkeitsarme Gesellschaft voraus, in deren Rahmen die Strukturelemente für die Ausdifferenzierung (Positivierung) des Rechtssystems noch nicht vorhanden sind. Eine „sich identifizierende Verfassung" bringt unter den heutigen Bedingungen der Hochkomplexität und -kontingenz der Gesellschaft entdifferenzierende dysfünktionale Wirkungen auf das Rechtssystem hervor in dem Maße, wie es an Abstimmung zwischen unterkomplexem Rechtssystem und hochkomplexer Umwelt fehlt. 39 Man kann in dieser Perspektive sogar hinzufügen, daß eine „sich identifizierende Verfassung" - insoweit sie um der „Identifikation" willen keine rechtlich ausdififerenzierte Verfassung, sondern bestimmte höchste konstituierende Prinzipien bildet, die für alle sozialen Be37
Ich verwende hier im Lichte der systemtheoretischen Perspektive das Konzept der Nicht-Identifikation (des Staates) von Krüger (1966: 178-85), das Hollerbach (1969: 52-57) im Hinblick auf die Verfassung übernahm. Ich verkenne hierbei nicht, daß dieses Prinzip eine starke ideologische Rolle in der Diskussion um die „Verfassungsfeindlichkeit" spielt. Andererseits aber läßt sich behaupten, daß es in der diskurstheoretischen Perspektive von Habermas mit dem Prinzip der Unverfügbarkeit des Rechts bzw. der Unparteilichkeit des Rechtsstaats in Zusammenhang gebracht werden kann (vgl. ders., 1987a, 1992: 583 ff.). 38 Damit zusammenhängend, obwohl in anderer Perspektive, behauptet Grimmer (1976: 9): „Die Zielsetzungen gesellschaftlicher Gruppen oder politischer Parteien und die diesen Zielsetzungen zugrunde liegenden Anliegen, Interessen und Bedürfnisse für staatliches Handeln haben keine unmittelbare Allgemeingültigkeit." 39 Damit soll eines nicht übersehen werden: Obwohl aus einem spezifisch positivrechtlichen Blickwinkel eine „sich identifizierende Verfassung" unter den zeitgenössischen Umständen als „dysfunktional" fungiert, wirkt sie „funktional" für andere soziale Bereiche und für bestimmte partikularistische Interessen. Aber sie ist rechtlich „dysfunktional" in dem Sinne, daß sie durch ihre Normen selbst exkludierend wirkt und somit die Differenzierung und die widersprüchliche Pluralität der in der Gesellschaft existierenden normativen Erwartungen verkennt.
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reiche bzw. Mechanismen zu gelten beanspruchen - keine Verfassung im modernen Sinne ist. 1.3.4. Soziale Funktion und politische Leistung der Verfassung In Anbetracht des „Prinzips der Nicht-Identifikation" der Verfassung läßt sich erklären, welche Beziehung die moderne Verfassung als „Teilsystem" des Rechts zur Gesellschaft als dem umfassenden Sozialsystem hat, d.h. welche Funktion im engeren Sinne sie erfüllt. Das stellt uns vor die Frage der Institutionalisierung der Grundrechte und vor das Problem der verfassungsrechtlichen Verankerung wohlfahrtsstaatlicher Einrichtungen. Außerdem ermöglicht jenes Prinzip, die spezifische Beziehung des Verfassungsrechts zum politischen System, i.e. seine politische Leistung zu erläutern. Das stellt uns vor das Problem der politischen Wahl und der Gewaltenteilung.40 1.3.4.1. Grundrechte (Differenzierung der Gesellschaft) und Wohlfahrtsstaat (Inklusion) Durch die Institutionalisierung der Grundrechte41 erkennt die Verfassung die Hochkomplexität der Gesellschaft, den Wegfall von gesamtgesellschaftlichen Kriterien der Verhaltensorientierung, mithin das Nichtvorhandensein eines höchsten sozialen Systems an. Grundrechte dienen zur Entfaltung von Kommunikationen auf verschiedenen ausdifferenzierten Niveaus. Ihre Funktion bezieht sich also auf die „Gefahr der Entdifferenzierung" (besonders der „Politisierung"), d. h. positiv ausgedrückt auf die „Erhaltung einer differen40
Ober die Funktion (Beziehung zur Gesellschaft als umfassendem Sozialsystem) und die Leistung (Beziehung zu den anderen Teilsystemen der Gesellschaft) des Rechts s. Luhmann 1993a: 156 ff; und spezifisch auf der Verfassungsebene Neves, 1992: 147-81, in einer kritische Konfrontation dieser systemtheoretische Begriffe mit der Verfassungsentwicklung Brasiliens. 41 Das Konzept der Institutionalisierung hat hier einen umfassenden Sinn, in dem es die Zeit-, Sozial- und Sachdimension, also Normierung, unterstellten Konsens und generalisierte Sinnidentifikation einbezieht: ,Institutionen sind zeitlich, sachlich und sozial generalisierte Verhaltenserwartungen und bilden als solche die Struktur sozialer Systeme" (Luhmann; 1965: 13, der später den Begriff auf die soziale Dimension, d.h. auf den „unterstellten Konsens" beschränkt - vgl. 1987b: 64 ff). Im Einklang mit dieser umfassenden Bedeutung weist Mayhew (1968: 19) seinerseits auf drei unentbehrliche Momente für die rechtliche Institutionalisierung eines Wertes hin: 1) „one interpretation of the value is legally enforceable (legal interpretation)"; 2) „there is machinery for invoking sanctions against violations (legal organization)"; 3) „the legal machinery is systematically invoked in cases of possible violations of the norm" („systematic enforcement"). 5*
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zierten Kommunikationsordnung" (Luhmann, 1965: 23-25). Wenn dem so ist, werden im Rahmen einer sich mit totalitären Konzeptionen identifizierenden „Verfassung", soweit sie die Institution der Grundrechte ausschließt oder verzerrt, die Vielheit und die Kontingenz der Erwartungen nicht beachtet, eine für die Komplexität der heutigen Gesellschaft inadäquate Entdifferenzierung hervorgebracht. 42 Kurzum läßt sich behaupten: Durch Grundrechte beansprucht die moderne Verfassung, auf die umweltlichen Anforderungen nach freier Entfaltung der Kommunikation (und der Persönlichkeit) gemäß verschiedenen ausdifferenzierten Codes zu antworten. Die geläufige Konzeption des Wohlfahrtsstaates bezieht sich auf seine ausgleichende, distributive Funktion, um zu betonen, daß ein Minimum an Realität der klassischen, freiheitlich-demokratischen Grundrechte von der Institutionalisierung und Gewährleistung der „sozialen Grundrechte" abhängt.43 Mit Anspruch auf ein umfassenderes Deutungsmodell und im Anschluß an Marshall (1976) begreift Luhmann (1981j: 25 ff.) den Wohlfahrtsstaat anhand des soziologischen Prinzips der Inklusion. „Der Begriff der Inklusion meint die Einbeziehung der Gesamtbevölkerung in die Leistungen der einzelnen gesellschaftlichen Funktionssysteme. Er betrifft einerseits Zugang zu diesen Leistungen, andererseits Abhängigkeit der individuellen Lebensführung von ihnen. In dem Maße, als Inklusion verwirklicht wird, verschwinden Gruppen, die am gesellschaftlichen Leben nicht oder nur marginal teilhaben" (Luhmann, 198 lj: 25).44 Dementsprechend läßt sich die anhaltende Beibehal-
42 Hiermit läßt sich die Kritik von Lefort (1981) an den gegen die „droits de l'homme" gerichteten totalitären Tendenzen in Zusammenhang bringen, indem er die Institutionalisierung der „Menschenrechte" auf die Differenzierung („Entwirrung" „désintrication") von Macht, Recht und Wissen zurückführt (1981: 64). Aber auch in der kritischen Einstellung von Marx (1988: 361 ff.) in bezug auf die „droits de l'homme" („im Unterschied zu den droits du citoyen") als „Rechte des Mitglieds der bürgerlichen Gesellschaft, d.h. des egoistischen Menschen" (364) kann man einen Zusammenhang mit dem Problem der funktionalen Differenzierung der Gesellschaft feststellen: „Der Mensch wurde daher nicht von der Religion befreit, er erhielt die Religionsfreiheit. Er wurde nicht vom Eigentum befreit. Er erhielt die Freiheit des Eigentums. Er wurde nicht von dem Egoismus des Gewerbes befreit, er erhielt die Gewerbefreiheit" (1988: 369). Marx spricht jedoch von Versetzung des Menschen" (357). 43 Vgl. u.a. Grimm, 1987b; Grimmer, 1976: 11 ff; Bonavides, 1972. Hingegen kritisiert Frankenberg (1996: insbes. 1382) die Auffassung der sozialen Rechte als bloßer Instrumente der privaten Autonomie, indem er ihre ,Solidaritätsdimension betont1. 44 In Anlehnung an Parsons betonen Luhmann / Schorr (1988: 31): „Inklusion kann sich nicht auf die Leistungsrollen erstrecken, sondern nur auf ihre Komplementärrollen: Nicht jeder kann Arzt werden, aber jeder Patient; nicht jeder Lehrer, aber jeder Schüler." Außerdem schließt das Prinzip der Inklusion nicht aus, daß „nach wie vor
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tung der Marginalità als Exklusion bezeichnen (vgl. 1981j: 25 f. Anm. 12). 45 Dies bedeutet für die überwiegende Bevölkerungsmehrheit der heutigen modernen Abhängigkeit von den Leistungen der unterschiedlichen gesellschaftlichen Funktionssysteme, ohne Zugang zu ihnen zu haben (Subintegration). 46 Definiert man also den Wohlfahrtsstaat als „realisierte politische Inklusion" (Luhmann, 1981j: 27) 4 7 und, weil zugleich Rechtsstaat, als realisierte rechtliche Inklusion, 48 ist festzustellen, daß die von ihm konstitutionell institutionalisierten „sozialen Grundrechte" unentbehrlich für die reale Institutionalisierung
höhere Schichten durch höhere Partizipation in wohl allen Funktionsbereichen ausgezeichnet sind" (Luhmann, 1981j: 26). 45 Neuerdings entfernt sich Luhmann von seinerfrüheren Einstellung, nach der die moderne Gesellschaft durch das Prinzip der Inklusion gekennzeichnet sei, und stellt sich theoretisch dem Problem der Beziehung von Inklusion und Exklusion in der modernen Weltgesellschaft (dazu vgl. 1993a: 582 ff., 1995a, 1997: 168 ff. u. 618 ff.). 46 Die Oberintegration hingegen wäre die Unabhängigkeit von den Regeln mitsamt dem Zugang zu den Leistungen der einzelnen gesellschaftlichen Teilsysteme. Hierzu Neves, 1994a, 1992: 78 f. u. 94 f. Ausgehend primär von der Abhängigkeit und nicht vom Zugang unterscheidet Luhmann neuerdings anders als ich zwischen Exklusionsbereich als hochintegriert und Inklusionsbereich als weniger integriert (1993a: 584 f., 1997: 631 ff., 1995a: 259 f.); dabei wird Integration einseitig „als die Reduktion der Freiheitsgrade von Teilsystemen" bzw. „als Einschränkung der Freiheitsgrade für Selektionen" (1997: 603 u. 631), also negativ als Abhängigkeit und nicht positiv als Zugang verstanden. Aber nach meiner Formulierung implizieren Subintegration und Überintegration (hier ist gemeint, gegenüber den Funktionssystemen „von unten" bzw. „von oben" integriert zu sein) jeweils unzureichende Inklusion (und so teilweise Exklusion), sei es mangels Zugangs (positiver Integration) zu den systemischen Leistungen, sei es mangels Abhängigkeit (negativer Integration) von ihnen. Ich komme auf dieses Thema im Kap. ΙΠ.6. und im „Ausblick" zurück. 47 „Für den Wohlfahrtsstaat ist politische Inklusion der Bevölkerung eine funktionale Notwendigkeit..." (Luhmann, 1981j: 118). 48 Bei diesem Konzept wird der Wohlfahrtsstaat nicht nach dem herkömmlichen Modell mit dem Interventionsstaat gleichgesetzt, geschweige denn mit einer auf Politik beruhenden Form der gesellschaftlichen Integration. Kritisch gegenüber diesem Muster betont Teubner neuerdings (1998: 22 f.), daß mit der „Privatisierung" - verstanden nicht einfach als Schwächung des Politischen, genau: des Staatlichen wegen verwirtschaftlichenden Tendenzen in der Weltgesellschaft, sondern vielmehr als neue Bedingung für die Entwicklung der Autonomie der verschiedenen Kommunikationsfelder Mechanismen zur Inklusion geschaffen werden können. In dieser Perspektive wäre dann nicht zureichend von Wohlfahrtsstaat als einem an politischer und rechtlicher Inklusion orientierten Staatstypus zu sprechen, sondern umfassend von Wohlfahrtsgesellschaft als eine sich an der Inklusion in die verschiedenen sozialen Bereiche ausrichtende Gesellschaft, deren Mechanismen immerhin auf Verankerung in der Verfassung angewiesen sind.
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der sich auf die Zivilfreiheit und die politische Partizipation beziehenden Grundrechte sind. 49 Das ergibt sich aus der Tatsache, daß die Inklusion der Gesamtbevölkerung in die verschiedenen sozialen Systeme und die funktionale Differenzierung der Gesellschaft einander wechselseitig insofern voraussetzen, als die Exklusion breiter sozialer Gruppen und die operative Selbstreferenz unvereinbar sind (Luhmann, 198lj: insbes. 26 ff., 35 u. 118). 50 In dieser Perspektive läßt sich behaupten, daß in der hochkomplexen, auf den unterschiedlichsten und widersprüchlichsten Erwartungen und Interessen beruhenden Gesellschaft der Gegenwart das Recht seine Funktion kongruenter Generalisierung normativer Verhaltenserwartungen befriedigend nur erfüllen kann, sofern die Prinzipien der Inklusion und der funktionalen Differenzierung, folglich die sozialen (wohlfahrtsstaatlichen) und die auf Zivilfreiheit und politische Partizipation bezogenen Grundrechte institutionalisiert werden. 1.3.4.2. Verfassungsrechtliche Regulierung des Wahlverfahrens Obwohl die Institutionalisierung des Wahlrechts als eines der Grundrechte (vgl. Luhmann, 1965: 136 ff.) zur Funktion des Rechtssystems gehört, läßt sich unter anderem Blickwinkel die Verfassungsregulierung des Wshlverfah49 In diesem Sinne schließt der Begriff von citizenship bei Marshall (1976: 71 ff.) die Zivilrechte, die politischen und die sozialen Rechte mit ein. Im Anschluß an ihn vgl. Bendix, 1969: 92 ff. Daraus folgt nicht zwingend eine instrumentalistische Konzeption der Sozialrechte (vgl. Anm. 43 dieses Kap.). 50 Neuerdings formuliert Luhmann anders: „Die Differenz von Inklusion und Exklusion hat gravierende Effekte, weil sie einerseits durch funktionale Differenzierung der Weltgesellschaft ausgelöst ist, andrerseits die regionale Herstellung der Bedingungen funktionaler Differenzierung behindert, wenn nicht verhindert" (1997: 168). Es handelt sich mit anderen Worten um eine Differenz, „die zwar durch funktionale Differenzierung erzeugt wird, aber mit ihr im Ergebnis inkompatibel ist (1993a: 582, Hervorhebung von mir). Dabei wird die Variable Inklusion/Exklusion zu einer Meta-Differenz bzw. zu einem Metacode, der die Codes aller Funktionssysteme mediatisiert (1997: 632, 1993a: 583). Aber wenn dem so ist, scheint es mir sehr umstritten, weiter zu behaupten, daß die moderne Gesellschaft durch einen Primat funktionaler Differenzierung charakterisiert ist und daß die Differenz von System und Umwelt innergesellschaftlich die Hauptdifferenz ist. Um mit der Behauptung konsequent zu sein, daß die Differenz von Inklusion und Exklusion als ein die anderen Codes mediatisierender Metacode dient, könnte man m. E. daraus sogar - zuspitzend - die Folge ziehen, daß die Weltgesellschaft primär nach dieser Meta-Differenz differenziert ist; bei Inklusion/Exklusion versus die (funktional orientierte) Differenz System/Umwelt geht es jedoch eher um konkurrierende Unterscheidungen in der modernen Weltgesellschaft. Außerdem besteht Luhmann anders als ich darauf, daß trotz der verallgemeinerten Bedingungen von „Inklusion/Exklusion" wie im Fall Lateinamerika die Ausschaltung der Autopoiesis des Rechts nicht vorkommt (1997: 632).
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rens als spezifische Leistung des Rechts an das politische System betrachten (vgl. Luhmann, 1983a: 155 ff.). Die Verfassungsbestimmungen über die Allgemeinheit der Wahlberechtigung, Gleichheit des Stimmgewichts und Geheimhaltung der Stimmabgabe zielen darauf, die Unabhängigkeit der Wähler gegenüber deren anderen Rollen zu sichern (Luhmann, 1983a: 159) und auf diese Weise das Wahlverfahren gegen Status- und Meinungsunterschiede zu immunisieren.51 Das impliziert nach Luhmann den Übergang von askriptiven (statischen) zu eignungs- oder leistungsorientierten (dynamischen) Kriterien für die Besetzung politischer Rollen (Luhmann, 1983a: 156-58). Es ist aber zu bemerken, daß eine zu weit getriebene Interpretation der modernen Gesellschaft im Sinne der Vorherrschaft der leistungsorientierten Rekrutierung - als ob die Demokratie zur Wahl der besten Kandidaten führte - offensichtlich einer Ideologiekritik nicht standhält.52 Vielmehr füngiert die demokratische Wahl als entlastende Unterstützung für das politische System in dem Maße, wie dieses „die volle Verantwortung für das Recht" in der modernen Gesellschaft übernimmt (Luhmann, 1981b: 147). Die aus dem verfassungsrechtlich regulierten Wahlverfahren resultierende „Generalisierung politischer Unterstützung" dient folglich der Differenzierung des politischen Systems, indem sie als Hindernis für dessen Manipulation durch partikularistische Interessen funktioniert. 53 Ohne die demokratische Wahl oder ein funktionales Äquivalent wäre es unvorstellbar in der komplexen Gesellschaft der Gegenwart, daß das politische System und das Rechtssystem sich nicht mit bestimmten weltanschaulichen Konzeptionen bzw. mit Interessen privilegierter Gruppen identifizieren. Ein Wegfallen von demokratischen Wahlen unten den heutigen Bedingungen führt zu der Identifikation des „Staates" mit bestimmten Gruppen54 und damit zu einer für die Komplexität des die Gesellschaft konstituierenden Kommunikations-, Erwar-
51 ,AHe Unterschiede dürfen bzw. sollen ignoriert werden außer solchen, die sich in einem funktionsspezifischen Zusammenhang als sinnvoll begründen lassen" (Luhmann, 1983a: 160). 52 Vgl. Rubinstein, 1988: 539 f., im Rahmen einer Kritik an der Konzeption des „achievement" als allgemeinen Verteilungsprinzips der modernen Gesellschaft. 53 Damit wird nicht verkannt, daß die „Generalisierung politischer Unterstützung" mit dem imperativen Mandat unvereinbar ist (Luhmann, 1983a: 165 Anm. 19), das, obwohl ein vormoderner Mechanismus (eine „mittelalterliche Figur" - Lamounier, 1981: 253), eine sehr wichtige Stütze noch im „aufklärerischen" Werk Rousseaus hatte (1975: 301-303 - Buch m, Kap. XV). 54 Dementsprechend „verlangt die Ordnung ohne Wahlrecht, daß der Bürger sich in seinen Kommunikationen mit dem politischen Handlungssystem (und nicht etwa nur mit einer normativen Rahmenordnung: der Verfassung) identifiziere, sich selbst also als vollkommen loyal darstelle" (Luhmann, 1965: 149).
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tungs- und Interessenzusammenhangs inadäquaten Entdifferenzierung des Rechtssystems. Selbstverständlich reicht die Festsetzung des entsprechenden Verfahrens im Verfassungstext nicht aus, um die Wahl als Immunisierungsmittel gegen partikularistische Blockierungen des politischen Systems, mithin als Mechanismus seiner generalisierten Unterstützung und Differenzierung tatsächlich wirksam werden zu lassen. Durch die Erfahrungen der peripheren Länder erweist sich deutlich, wie sehr mangels gesellschaftlicher Voraussetzungen die Verfassungsnormen über Wahlverfahren im Vorgang ihrer Konkretisierung verzerrt werden, wie dies typisch im Fall Brasiliens zu sehen ist (Hierzu vgl. Neves, 1992: 97 f. u. 170 ff.). 1.3.4.3. Gewaltenteilung und Differenz von Politik und Verwaltung Moderne Verfassungen institutionalisieren auch Gewaltenteilung, um die Möglichkeit der Entdifferenzierung von Recht und Politik zu verhindern. Die Einwirkung der Kommunikation unter Verwendung des Machtcodes auf die am Rechtscode ausgerichtete Kommunikation wird damit rechtsintern vermittelt. Luhmann fügt hinzu: „Durch Gewaltenteilung wird nun im Prinzip der Machtcode mit dem Recht verknüpft. Entscheidungsprozesse werden auf den Weg des Rechts geleitet" (1973b: 11). Demnach kann die Gewaltenteilung als Mittel der Begrenzung der politischen Macht betrachtet werden.55 Aber sie erfüllt auch „die Filterfunktion zwischen Politik und Verwaltung und die Funktion der Machtkettenverlängerung", die ebenso „auf eine Verankerung in der Verfassung angewiesen" sind (Luhmann, 1973b: 11 f.). In dieser Perspektive steigert die Einführung funktional differenzierter Verfahren (Gesetzgebung, Rechtsprechung und Regierungs-/Verwaltungsverfahren) durch die Institutionalisierung der Gewaltenteilung die Leistungsfähigkeit des Rechtssystems und der Politik, jeweils auf die Anforderungen der von den verschiedensten Erwartungen überfüllten Umwelt zu antworten (hierzu Luhmann, 1983a). Der Wegfall oder die Verzerrung der „Gewaltenteilung" führt zur Entdifferenzierung der Kommunikationszusammenhänge (Politisierung) und erweist sich deswegen als unvereinbar mit der Hochkomplexität der heutigen Gesellschaft. In engem Zusammenhang mit der Gewaltenteilung steht die ebenso im Verfassungsrecht verankerte Differenz von Politik und Verwaltung.56 Durch diese Leistung des positiven Rechts an das politische System wird die Verwaltung neutralisiert bzw. immunisiert gegenüber konkreten und partikularen 55
So die auf Montesquieu (1973: 168-79 - Buch XI, Kap. VI) zurückgreifende, geläufige Konzeption. 56 Vgl. Luhmann, 1973b: 8-12, der dabei die Bedeutung dieser Differenz gegenüber dem klassischen Prinzip der Gewaltenteilung selbst hervorhebt.
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Interessen; sie fungiert dann nach Anweisungen und Prinzipien mit Anspruch auf Allgemeinheit.57 Damit wird nicht ausgeschlossen, daß die höheren Schichten stärkeren Einfluß auf die Ausarbeitung und Ausführung des Verwaltungsprogramms ausüben, sondern es wird nur behauptet, daß das innerhalb des politischen Systems differenzierte Verwaltungssystem effektiv über eigene Filterungsmechanismen gegenüber den Einwirkungen externer Faktoren verfügt. In diesem Sinne müssen sich Verwaltungsbeamte „nicht selten gegen höherrangige Mitglieder der Gesellschaft durchsetzen und benötigen deshalb besonders legitimierte Rechte zu verbindlichem Entscheiden" (Luhmann, 1965: 147). Damit hängt zusammen, „daß in einem politischen System, das seine Teilsysteme nach Funktionen differenziert und spezifiziert, der ausführenden Verwaltung nicht zugleich Funktionen der Legitimation, der Konsensbeschaflüng und Enttäuschungsbewältigung aufgetragen werden sollten, weil das ihre Entscheidungsprozesse mit Nebenfünktionen belasten und ihre Rationalisierung erschweren würde" (Luhmann, 1983a: 211). Wenn das nicht der Fall ist, wie heute in den peripheren Ländern, tritt die Partikularisierung oder die Politisierung der Verwaltung zutage, mit allen ihren negativen Bedingtheiten und Implikationen in einer immer komplexer werdenden Weltgesellschaft: Von „unten" (den Subintegrierten) her gesehen wird die Verwaltung in das dringende Problem der (Nicht-)Befriedigung von lebenswichtigen Bedürfnissen der Unterschichten verwickelt, die unter diesen Bedingungen „nicht warten können"58 und also leicht durch verfassungs- und gesetzwidrige administrativen Zuwendungen manipulierbar sind;59 von „oben" (den Überintegrierten) her gesehen wird die Verwaltung durch partikularistische Interessen privilegierter Gruppen blockiert.
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In dieser Orientierung behauptet Luhmann: „Die Trennung von Politik und Verwaltung ermöglicht die praktische Anwendung des Gleichheitssatzes" (1965: 155). 58 „Der lebenswichtige Bedarf muß auf alle Fälle gedeckt sein, so daß jedermann warten kann" (Luhmann, 1983a: 198). 59 In anderer Perspektive, nach dem Modell „vorher-nachher" schrieb Luhmann (1983a: 65 Anm. 10): „...Tatbestände, die in komplexen, stark differenzierten Gesellschaften als Korruption im weiteren Sinne angesehen werden, [entsprechen] in einfachen Gesellschaften im Gegenteil der moralischen Erwartung und werden geradezu gefordert - man soll seinen Nächsten helfen! Das haben namentlich neuere Untersuchungen aus Entwicklungsländern gelehrt, die sich in dieser Frage in einer Übergangsphase mit institutionellem Konflikt befinden" (Hervorhebungen von mir). Hierbei geht es m.E. aber nicht um ein Problem von einfachen Gesellschaften in der „Übergangsphase" (von „Entwicklungsländern"). Es ergibt sich vielmehr aus der „strukturellen Heterogenität", d.h. aus der mangelhaften funktionalen Differenzierung der komplexen, modernen Gesellschaft in ihrer Reproduktion in den peripheren Ländern und läßt sich systemtheoretisch besser als Symptom von nicht genügend bzw. adäquat strukturierter Komplexität interpretieren (s. unten Kap. ΠΙ.6.).
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Kap. Π: ...Zur symbolischen Konstitutionalisierung: Eröffnung einer Debatte
2. Verfassungstext und Verfassungswirklichkeit 60 2.1. Die Beziehung von Verfassungstext und Verfassungswirklichkeit als Konkretisierung von Verfassungsnormen Der oben von mir strategisch aufgenommene, mit der modernen Vorstellung der „Konstitutionalisierung" zusammenhängende, systemtheoretische Verfassungsbegriff läßt sich auf fruchtbare Weise durch die verfassungstheoretische Erörterung der Beziehung zwischen Verfassungstext und Verfassungswirklichkeit ergänzen. Es handelt sich hier nicht um die alte Dichotomie ,Verfassungsnorm/Verfassungswirklichkeit'. 61 Es geht vielmehr um die Frage nach der „Konkretisierung" der Verfassungsnorm (hierzu vgl. Müller, 1995: insbes. 166 ff., 1994, 1990a, 1990b; Christensen, 1989: 87 ff.; Hesse, 1980: 24 ff.), die in dieser Betrachtungsweise nicht mit dem Verfassungstext identisch ist (vgl. Müller, 1995: 122 ff., 1994: insbes. 147-67 u. 234-40, 1990a: 126 ff., 1990b: insbes. 20; Christensen, 1989: 78 ff.; Jeand'Heur, 1989: insbes. 22 f.). Unter diesem Gesichtspunkt stehen Verfassungstext und -Wirklichkeit in Beziehung durch die im Laufe des Konkretisierungsprozesses zu gewinnende Verfassungsnormativität. In der deutschen Verfassungstheorie sind in dieser Richtung die Ansätze von Friedrich Müller und Peter Häberle zu erwähnen. Nach Müllers Auffassung setzt sich die Rechtsnorm aus Normprogramm (Sprachdaten) und Normbereich (Realdaten) zusammen (1994: 232-234, 1990b: 20, 1975: 38 f.). Die Normstruktur ergibt sich aus dem Zusammenhang dieser beiden Bestandteile der Rechtsnorm (1994: 17 u. 250; vgl. auch 1990b: 124 ff.; Christensen, 1989: 87). Dementsprechend läßt sich die Konkretisierung der Rechtsnorm, vor allem der Verfassungsnorm, nicht auf eine „anwendende Interpretation" des Normtextes einschränken, der verschiedene
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Hierbei handelt es sich um eine Überarbeitung einer früheren Ausführung zu diesem Thema (Ne ves, 1992: 56-61). 61 Jellineks Lehre von der normativen Kraft des Faktischen (1976: 337 ff.) löst sich nicht von dieser Tradition. Hesse (1984) bleibt z.T. noch immer diesem Dualismus verhaftet, insoweit es bei ihm nur um die „Wirklichkeitsbezogenheit der rechtlichen Verfassung" (8) geht. Vgl. hierzu kritisch Müller (1994: 77-93). Siehe auch unter anderem Gesichtspunkt die Bedenken von Ritter (1968) zur Konzeption der Verfassungswirklichkeit als Rechtsquelle. Luhmann kritisiert seinerseits die überlieferte Diskussion über die Diskrepanz zwischen Verfassungstor und Verfassungswirklichkeit, denn „dazu brauchte man keinen Verfassungsbegriff und keine Verfassungstheorie" (ders., 1973b: 2), was in der vorliegenden Arbeit offensichtlich nicht der Fall ist. Schließlich ist hier anzumerken, daß im Rahmen dieser Untersuchung die Unterscheidung von Verfassungsrec/rt und Verfassungswirklichkeit nur als verfassungsrechtlicher Ausdruck der Differenz von System und Umwelt auftritt.
2. Verfassungstext und Verfassungswirklichkeit
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Verständnismöglichkeiten anbietet62 und der nur einen Teilaspekt des Normprogramms bildet (Müller, 1994: 252)63; sie bezieht über das Normprogramm hinaus den Normbereich ein als „die Menge der für die einzelne Konkretisierung normativ erheblichen Realdaten" (1994: 253; vgl. auch 1990b: 128). Hiernach definiert Müller die Normativität in zwei Dimensionen: ^Normativität4 heißt die dynamische Eigenschaft der so aufgefaßten Rechtsnorm, die ihr zuzuordnende Wirklichkeit zu beeinflussen (konkrete Normativität) und dabei durch diesen Ausschnitt von Realität selbst wieder beeinflußt und strukturiert zu werden (sachbestimmte Normativität)" (1994: 258; vgl. auch Christensen, 1989: 87). Versagt der Normbereich, der eine selektive Leistung gegenüber dem Sachbereich und dem Fallbereich voraussetzt (vgl. 1994: 253-56, 1990b: 128; Christensen, 1989: 88), so wird die Normativität des entsprechenden Verfassungstextes betroffen (vgl. 1994: 171). Es fehlt dann an den Bedingungen und Voraussetzungen für die „Erzeugung" der „einen bestimmten Fall mittelbar regierende(n)" Rechtsnorm und also der „unmittelbar normativ(en), den bestimmten Fall regelnd(en)" Entscheidungsnorm.64 In dieser Konstellation spricht man nicht von Gesetzgebung oder Verfassunggebung als Verfahren der Erzeugung der (allgemeinen) Rechtsnorm, sondern von „Gesetzestextgebung" oder „Verfassungstextgebung" (vgl. Müller, 1994: 264 u. 270). Die Rechtsnorm, insbesondere die Verfassungsnorm, wird im Verlauf ihres Konkretisierungsprozesses erzeugt.65 Mit Müllers „sachbezogener" Perspektive paßt die „personale"/„gruppenbezogene"66 Orientierung von Peter Häberle zusammen. Durch den Aufsatz „Die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten" (1980b) stellt Häberle über die Frage nach den Zielen und Methoden der Verfassungsinterpretation hinaus vor allem die ,JBeteiligtenfî&gë\ um die These aufzustellen: „In Prozesse der VerfassungtinlerprQiaüon sind potentiell alle Staatsorgane, alle öf62
„Die schwierigen methodischen Probleme liegen innerhalb des Spielraums, den der Normtext verschiedenen Verständnismöglichkeiten offenläßt" (Müller, 1994: 160). 63 In einer radikaleren Formulierung behauptet Müller (1990b: 20): „Der Normtext ist [...] kein begrifflicher Bestandteil der Rechtsnorm, sondern das neben dem rechtlich zu entscheidenden Fall wichtigste Eingangsdatum des einzelnen Konkretisierungsvorgangs." Cf. auch ebd.: 127 u. 129; Jeand'Heur, 1989: 22. 64 Über den Unterschied von Rechtsnorm und Entscheidungsnorm siehe Müller, 1994: 264 ff; vgl. auch 1990a: 48; Christensen; 1989: 88. 65 „Die Rechtsnorm selbst ist im Verlauf der Fallösung erst zu erzeugen" (Müller, 1994: 273). Vgl. Christensen, 1989: 89. In diesem Sinne betont Müller, daß der Richter nicht „Gesetzgeber zweiter Stufe" ist, sondern „alleiniger Gesetzgeber, auch wenn das ungewohnt klingt" (1990b: 127 Anm. 16). Demnach behauptet er (1994: 259 Anm. 48a), daß Derridas (1994: 50 f.) Auffassung, der Richter sei in jedem einzelnen Fall der Erfinder des Gesetzes, sich seinem normstrukturierenden Ansatz nähere. 66 So adjektiviert Ladeur, 1985: 384 f.
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Kap. Π: ...Zur symbolischen Konstitutionalisierung: Eröffnung einer Debatte
fentlichen Potenzen, alle Bürger und Gruppen eingeschaltet" (1980b: 79 f.). Daß das „materiale" Verfassungsrecht in dieser Perspektive aus einer Vielzahl von Interessen und Funktionen entsteht, impliziert die praktische Verschiedenheit der Verfassungs interpretation (93 f.). Auf diese Weise wird die Bedeutung des Verfassungstextes nicht überschätzt wie in der herkömmlichen Interpretationslehre (90). Im Vordergrund des Interpretationsprozesses steht die „pluralistische Öffentlichkeit". 67 Hiernach läßt sich sagen: Der Verfassungstext gewinnt seine Normativität erst mittels der Einbeziehung der „pluralistischen Öffentlichkeit" in den Interpretationsvorgang, d.h. in den Prozeß der Verfassungskonkretisierung. 2.2. Verfassungskonkretisierung und Semiotik Die Verfassungsansätze Müllers und Häberles unterliegen einer Betrachtung nach dem semiotischen Unterschied zwischen Syntaktik, Semantik und Pragmatik.68 Bei Müller geht es um die semantische Eigenschaft der juristischen Sprache, besonders der Verfassungssprache, mehrdeutig und vage zu sein,69 was einen „Konkretisierungsprozeß" erfordert, nicht einfach einen „Anwendungsvorgang" nach Subsumtionsregeln. Bei Häberle handelt es sich um die pragmatische Eigenschaft der Verfassungssprache, sich auf verschiedene Erwartende und ,Gebraucher' zu beziehen, was einen konfliktträchtigen und „ideologischen" Diskurs impliziert. Die semantischen und pragmatischen Aspekte aber hängen miteinander zusammen: Die Mehrdeutigkeit und Vagheit der Verfassungssprache führen zur Entstehung verschiedener und wider67 „Der Verfassungsjurist ist nur ein Zwischenträger" (Häberle, 1980b: 90). Hierbei läßt Häberle m.E. die selektive Rolle außer acht, die die Verfahrensbeteiligten im engeren Sinne (vgl. 1980b: 82 f.) gegenüber der „Öffentlichkeit" spielen. Da die „Öffentlichkeit" keine Einheit bildet, sondern eine Vielheit von verschiedenen Interessen, entstehen widersprüchliche Verfassungserwartungen, die also im verfassungsinterpretierenden Verfahren selegiert bzw. ausgeschlossen werden. 68 Diese Einteilung der Semiotik in drei Dimensionen, die auf Peirces Begriff der „Thirdness" als triadischen Relation zwischen einem Zeichen, einem Objekt und dem interpretierenden Denken zurückgeht (vgl. Peirce, 1955: 99 f., 1985: 149 ff.), wurde von Morris (1938: 6 ff.) formuliert und von Carnap (1948: 8-11) übernommen. Verschiedene Strömungen der Rechtstheorie haben sie verwendet; vgl. z.B. Schreiber, 1962: 10-14; Viehweg, 1974: 111 ff.; Ross, 1968: 5-7; Kalinowski, 1965: 52 f., 56-63; Capella, 1968: 22 u.76; Warat, 1972: 44^8, 1984: 39-48; Reale, 1968: 173. 69 Das ist zwar weitgehend unumstritten, es werden aber unterschiedliche Schlußfolgerungen daraus gezogen - vgl. z.B. Kelsen, 1960: 348 f.; Smend, 1968: 236; Ehrlich, 1967: 295; Ross, 1968: 116 f. Spezifisch über die Mehrdeutigkeit und Vagheit der juristischen Sprache s. Carrió, 1986: 28 ff.; Koch 1977: 41 ff.; Warat, 1984: 76-79, 1979: 96-100. Im Zusammenhang mit der symbolischen Funktion des Rechts s. hierzu auch Edelman, 1967: 139 ff. (dt. 1976: 173 ff.).
2. Verfassungstext und Verfassungswirklichkeit
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sprüchlicher normativer Erwartungen im Hinblick auf die Normtexte, andererseits verstärken die Interessen- und Meinungswidersprüche zwischen Verfassungserwartenden bzw. -handelnden die Variabilität der Bedeutung des Verfassungstextes. 70 Nur unter den Bedingungen einer Interessen- und Weltanschauungseinheit würden die Verfassungsfragen ihre semantisch-pragmatische Relevanz verlieren, um primär eine nach den Regeln der logischen Ableitung und Subsumtion orientierte, syntaktische Frage zu werden. Das ist aber unvereinbar mit der Komplexität der modernen Gesellschaft. In dieser semiotischen Perspektive rechtfertigt sich dann die kritische Reaktion der Topik (Viehweg), der Hermeneutik (Müller) und der pluralistischen Verfassungsinterpretation (Häberle) auf den Anspruch des Rechtspositivismus, die Verfassungsfrage als Rechtsfrage primär unter ihren syntaktischen Aspekten zu behandeln. „Situative Denkweise" (Viehweg, 1974: insbes. 111 ff.), 71 „Konkretisierungsprozeß 44 und „pluralistische Öffentlichkeit 44 sind unterschiedliche Formeln, die semantische Uneindeutigkeit des Verfassungstextes und die pragmatische Vielheit der Verfassungserwartungen (Wert- bzw. „ideologischen44 Dissens in der diskursiven „Gemeinschaft") hervorzuheben. Derart bleibt die syntaktische Dimension - im Gegensatz zum Rechtspositivismus - der semantisch-pragmatischen untergeordnet. 72 All das setzt voraus, daß die Rechtssprache, namentlich die Verfassungssprache, keine „künstliche44 (bzw. „ideale44) Sprache ist, sondern ein spezialisierter Typus der „gewöhnlichen44 (bzw. „normale") Sprache,73 die sich also 70
Hierzu behauptet Edelman (1967: 141, dt. 1976: 175): „Für die direkt Beteiligten unterliegt die Bedeutung des Rechts einer dauernden und beobachtbaren Wandlung je nach den veränderten Machtpositionen der beteiligten Gruppen." 71 Hier ist anzumerken, daß bei Viehweg das semantische Denkmuster nichtsituativ ist in dem Maße, wie die Bedeutung der Wörter „im Grunde ein für alternai" feststehe (1974: 114). Man kann aber zwischen der eine eindeutig festgesetzte Bedeutung des Zeichens implizierenden, syntaktisch-semantischen Denkweise (vgl. 1974: 111 f.) und der die Variabilität des Sinnes der Termini und Ausdrücke voraussetzenden, semanüsch-pragmatischen Denkweise unterscheiden. 72 Dem linguistischen Strukturalismus entsprechend würde man dazu sagen: was die Verfassungssprache anbelangt, haben die paradigmatischen (assoziativen) Beziehungen Vorrang vor den syntagmatischen. Über diesen Unterschied s. Saussure, 1922: 170-75; Barthes, 1964: 114-30. Vgl. oben Anm. 6 des Kap. I. 73 Vgl. Visser't Hooft, 1974; Carrió, 1986: 49 ff.; Greimas / Landowski, 1976: 83 f.; Olivecrona, 1962: 151. Es läßt sich nach Luhmanns Ansatz behaupten, daß die Spezialisierung der „gewöhnlichen" Sprache mit der getrennten Entwicklung von Zusatzeinrichtungen zur Sprache „in der Form symbolisch generalisierter Kommunikationsmedien für je spezifische Funktionsbereiche" (s. oben Kap. 1.1.7.) und daher mit dem Ausbilden entsprechender binärer Schematismen zusammenhängt, im Fall der juristischen Sprachen also dem Gebrauch der Code-Differenz von Recht und Unrecht ausschließlich in einem dafür ausdifferenzierten Funktionssystem (vgl. Luhmann, 1974: 62, wo
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Kap. Π: ...Zur symbolischen Konstitutionalisierung: Eröffnung einer Debatte
grundsätzlich aus der semantisch-pragmatischen Situation heraus entwickelt. 74 Somit ist eine syntaktische Isolierung durch Neutralisierung der semantischen und pragmatischen Probleme zugunsten der Eindeutigkeit und Erwartungseinheit unvorstellbar. Möglich ist jedoch eine Konkretisierungsselektivität durch Verfahren und Argumente, die aber von Fall zu Fall stark variieren kann. Im Anschluß daran ist anzumerken, daß auch in einer semiotischen Perspektive die hierarchisch-normative Überlegenheit der Verfassung relativiert werden muß. Die vollständige Trennung von Metasprache und Objektsprache 75 hat Bedeutung nur auf der syntaktischen Ebene. In der semantischpragmatischen Dimension bedingen sich Metasprache und Objektsprache gegenseitig. Andererseits: obgleich der Verfassungstext im Hinblick auf die „Verfassungskonkretisierung" als Metasprache fungiert, stellen die verfassungsinterpretierenden Entscheidungen Metasprache hinsichtlich des Verfassungstextes (Objektsprache) dar. 76 Hat man dieses Merkmal des Verfasjedoch diese Code-Differenz mit dem Kommunikationsmedium Macht verbunden wird, nicht genauer mit dem Kommunikationsmedium Recht - aber vgl. oben Anm. 21 dieses Kap.). 74 Hierfür gilt die berühmte Behauptung von Wittgenstein (1960: 311, § 43): „Die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache". Daran schließt sich z.B. Müller (1975: 32-34) im Rahmen der Rechtstheorie an. Gadamer (1990: 332 f) seinerseits betont: Der Jurist als Interpret hat sich „den eingetretenen Wandel der Verhältnisse einzugestehen und hat daher die normative Funktion des Gesetzes neu zu bestimmen", es „den Bedürfnisse der Gegenwart" anzupassen, um „eine praktische Aufgabe" zu lösen. „Aber seine Auslegung des Gesetzes" - bedenkt er - „ist deshalb noch lange nicht eine willkürliche Umdeutung" (333). In dieselbe Richtung und auch unter der Voraussetzung, „Sprache ist nie willkürlich" (1989: 16), behauptet Wimmer: „Der ständige tiefgreifende Wandel ist ein Wesensmerkmal aller natürlichen Sprachen. Ohne diesen Wandel würden die Sprachen ihre Erkenntnisfunktion und ihre Potenz zur Wirklichkeitserarbeitung und -Verarbeitung verlieren" (14). Vgl. auch Larenz, 1979: 311 ff.; Pontes de Miranda, 1972: 99; Vilanova, 1977: 245; Alchourrón / Bulygin, 1974: 140-44; Biscaretti di Ruffìa, 1974: 525-40. 75 Über dieses Begriffspaar vgl. Carnap, 1948: 3 f.; Barthes, 1964: 130-32. 76 Vgl. hierzu Neves, 1988: 160-162. Aber in diesem früheren Beitrag (162) wurde im Unterschied zum „präskriptiven" Charakter der Verfassungswofwe« für deren eigene Interpretation/Anwendung die verfassungsinterpretierende Entscheidung als „deskriptive" (d.h. kognitive) Metasprache bezüglich der VerfassungsHornie« gekennzeichnet. In der vorliegenden Arbeit handelt es sich vielmehr um das zirkuläre Verhältnis von Verfassungstor und dessen eigener Interpretation, die auch normative Implikationen hat. In diesem Sinne betont Luhmann (1990a: 217): „Die selbstreferenzielle Komponente kommt dadurch zustande, daß auch die Interpretation normative Bindungen zu erzeugen versucht - und nicht einfach nur über den Text redet. Insoweit findet sich der Verfassungsjurist in der gleichen Situation wie der Linguist, der über Sprache spricht und daher an seinem Objekt sein eigenes Verhalten erkennt". Dazu
3. Symbolische Konstitutionalisierung im negativen Sinne
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sungstextes vor Augen, im Verhältnis zur Konkretisierungssprache gleichzeitig Meta- und Objektsprache zu sein, so läßt sich unter semiotischen Gesichtspunkten sowohl der Unterschied von Verfassungsnorm und -text als auch die Unhaltbarkeit der herkömmlichen Vorstellung der hierarchischen Überlegenheit der Verfassung klarer einsehen. Einer systemtheoretischen Lesart dieser semiotisch-linguistischen Betrachtungsweise entsprechend läßt sich sagen, daß die Verfassunggebung nur einer der Filterungsprozesse für die rechtliche Geltung der verfassungsnormativen Erwartungen bildet: Die verschiedenen und widersprüchlichen Erwartungen im Hinblick auf den schon gesetzten Verfassungstext werden durch die verfassungskonkretisierenden Entscheidungen gefiltert bzw. selegiert; erst in diesem Rahmen ist von geltenden Verfassungsnormen zu sprechen. - Möchte man unter diesem Gesichtspunkt auf der Dichotomie „Verfassungsrecht/Verfassungswirklichkeit" bestehen, dann bedeutet sie hier den Unterschied zwischen geltendem Verfassungsrecht als Verfassungssystem (Komplex der durch Verfassunggebung und Verfassungskonkretisierung gefilterten normativen Verhaltenserwartungen sowie der entsprechenden Kommunikationen) und VerfassungsWirklichkeit als Verfassungswmwe/ί (Gesamtheit der Erwartungen und Verhalten, die sich über andere spezifische Systemcodes bzw. „lebensweltlich" auf das Verfassungsrecht beziehen). - Je mehr die soziale Komplexität zunimmt, desto stärker werden die Divergenzen der Erwartungen gegenüber dem Verfassungstext, um so mehr verändert sich dessen Bedeutung durch die Auslegung und Anwendung. Das, was für alle rechtlichen Normtexte gilt, ist besonders bedeutsam im Bereich des Verfassungsrechts, insoweit es umfassender in der Sozial-, Sach- und Zeitdimension ist. 3. Symbolische Konstitutionalisierung im negativen Sinne: Mangel an generalisierter rechtsnormativer Konkretisierung des Verfassungstextes Den Ausführungen über die Beziehung zwischen Verfassungstext und Verfassungswirklichkeit läßt sich ein erster kennzeichnender Zug der symbolische Konstitutionalisierung, ihr negativer Sinn, entnehmen: der Mangel an generalisierter rechtsnormativer Konkretisierung des Verfassungstexts. Es wird hier von der Voraussetzung der Strukturierenden Rechtslehre ausgegangen, daß „aus dem Normtext selbst - entgegen der herrschenden Meinung keine Normativität [hervorgeht]" (Jeand'Heur, 1989: 22). Andererseits nehme vgl. Hofstadter, 1979: 21 ff. (dt. 1985: 24 ff.), kritisch gegenüber der „Theorie der Typen" von Russell (1968: 75-80), sofern diese „Seltsame Schleifen" und Paradoxien innerhalb der Sprache dadurch zu beseitigen beansprucht, daß sie zur Hierarchisierung von Metasprache und Objektsprache führt.
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Kap. Π: ...Zur symbolischen Konstitutionalisierung: Eröffnung einer Debatte
ich keine Unterscheidung zwischen Verfassungsverwirklichung und Verfassungskonkretisierung vor (anders Canotilho, 1991: 207-209). Eine solche Unterscheidung wäre nur sinnvoll, wenn man in den Konkretisierungsvorgang nicht alle Staatsorgane, Bürger und privaten Organisationen einschließt, sondern ihn auf die Erzeugung der Rechtsnorm und der Entscheidungsnorm durch die mit der „Norminterpretation" und „Normanwendung" beauftragten Organe beschränkt. Die Verfassungskonkretisierung bezieht jedoch sowohl die direkt Beteiligten am Verfahren der Verfassungsinterpretation/-anwendung („Verfahrensbeteiligten im engeren Sinne") als auch die Öffentlichkeit ein (vgl. Häberle, 1980b: 82 f.). In diesem Sinne umfaßt sie die Verfassungsverwirklichung. Aber es geht dabei nicht einfach um einen nur für die externe Perspektive relevanten, soziologischen Begriff, sondern er hat interne Implikationen, ist relevant für die Selbstbeobachtung des Rechtssystems.77 Und es läßt sich behaupten, daß das generalisierte Fehlen der Konkretisierung von Verfassungsnormen, wie im Fall der symbolischen Konstitutionalisierung, die eigene Unmöglichkeit einer Unterscheidung von Selbst- und Fremdbeobachtung mit sich bringen kann (vgl. Neves, 1992: 206 u. 210).78 Das Problem beschränkt sich nicht auf die Nicht-Entsprechung von Verfassungsvorschriften und Handeln der öffentlichen und privaten Akteure, es läuft also nicht einfach auf eine Frage der Wirksamkeit als verfassungsnormativer Verhaltenssteuerung hinaus. Im Rahmen der symbolischen Gesetzgebung gewinnt das Problem seine spezifische Bedeutung auf der Ebene der sozialen Geltung der vertexteten Verfassungsnormen, eben durch das generalisierte Fehlen von Orientierung der normativen Verhaltenserwartungen an den Verfassungsvorschriften (s. oben Kap. I.8.4.). Dem Verfassungstext fehlt dann Normativität. In der Sprache der Systemtheorie entsprechen ihm nicht kongruent generalisierte normative Erwartungen (s. Anm. 65 des Kap. I). Mit den Worten der Strukturierenden Rechtslehre gibt es keine hinreichende Integration zwischen Normprogramm (Sprachdaten) und Normbereich (Realdaten). Die Bedingungen für den selektiven Prozeß der Konstruktion des Normbereichs aus dem Sach- und Fallbereich heraus an Hand der linguistischen Elemente des Normprogramms sind nicht vorhanden. Der Sachbereich - „die Menge aller empirischen Gegebenheiten, von denen anzunehmen ist, daß sie mit der Norm in Zusammenhang stehen" (Christensen, 1989: 88) - findet sich nicht genügend strukturiert, um seine selektive Zuordnung in den Normbereich zu ermöglichen. Dem Verfassungstext entspricht weder konkrete Normativität noch sachbestimmte Normativität, d.h. aus ihm folgt keine allge77
Zur Unterscheidung von interner Perspektive bzw. Selbstbeobachtung und externer Perspektive bzw. Fremdbeobachtung in bezug jeweils auf die Rechtstheorie/Rechtsdogmatik und die Rechtssoziologie s. Luhmann, 1989, 1986c: insbes. 19, 1987b: 22 f.; Carbonnier, 1978: 22 f. 78 Ich komme auf diese Frage im Kap. ΠΙ zurück.
3. Symbolische Konstitutionalisierung im negativen Sinne
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meinverbindliche Verfassungsnorm als eine die Verfassungsrealität strukturierend-beeinflussende und gleichzeitig von dieser Realität strukturiertbeeinflußte Variable. In der systemtheoretischen Betrachtungsweise kann man dazu bemerken, daß der (ökonomische, politische, wissenschaftliche, religiöse, moralische usw.) Sachbereich, der sich an anderen Differenzcodes (Haben/Nichthaben, Macht/Ohnmacht, Wahrheit/Unwahrheit, Transzendenz/Immanenz, Liebe/ Nichtliebe, Achtung/Mißachtung usw.) orientiert (seien diese systemisch strukturiert, seien sie lebensweltlich diffus) 79 nicht in der Lage ist, sich einer selektiven Umschaltung durch den Differenzcode Recht/Unrecht zu unterziehen. Die spezifisch rechtlichen Verfahren und Argumente haben dabei keine funktionale Relevanz gegenüber den umweltlichen Faktoren. Im Gegenteil: im Fall der symbolischen Konstitutionalisierung tritt die stetige und strukturelle Blockierung der Konkretisierung der verfassungsrechtlichen Kriterien/Programme durch die unmittelbaren Einwirkungen anderer Systemcodes und die direkten Determinierungen der Lebenswelt ein, so daß auf der Verfassungsebene der Differenzcode Recht/Unrecht von anderen, das Handeln und Erleben orientierenden Differenzcodes überlagert wird. In dieser Perspektive, auch wenn man die Differenz constitutional/unconstitutional als autonomen Code innerhalb des Rechtssystems annimmt (vgl. Luhmann, 1990a: 188 f.), liegt das Problem „nicht nur in der Verfassungsmäßigkeit des Rechts, es liegt vorab schon in der Rechtgemäßheit der Verfassung" (Luhmann, 1992: 3). Man kann behaupten, daß die Verfassungswirklichkeit als Umwelt des Verfassungsrechts „selektive", oder genauer: destruktive Relevanz gegenüber diesem Teil des Rechtssystems hat. 79
Hier bezieht sich der Begriff der Lebenswelt auf Handlungs- und Erlebenssphären, die sich nicht systemfunktional differenziert finden und die also diffuse PräferenzCodes implizieren. In diesem Sinne ist die Moral nach Luhmanns Auffassung (1990c, 1993b) als eine an der Differenz von Achtung und Mißachtung orientierte Art von Kommunikation in die Lebenswelt einbezogen. Es geht hierbei nicht um Habermas' Konzeption der Lebenswelt als des Horizonts des verständigungsorientiert, kommunikativ Handelnden, obwohl ich die Lebenswelt auch als Handlungs- und Erlebenssphäre auffasse, die nicht unter systemfunktionale Codes/Medien untergeordnet ist (vgl. Habermas, 1982b Π: 171 ff., wo die soziale Evolution als Differenzierungsvorgang von System und Lebenswelt bezeichnet wird - 229 ff.; ders. 1973: 9 f.). Andrerseits greift es m. E. zu weit, die Lebenswelt im Sinne „eines Horizontes inaktualisierter Möglichkeiten" zu begreifen (Luhmann, 1988a: 70 f., zurückgreifend auf Husserl, 1982, der eher die Lebenswelt - im Gegensatz zur Welt der Idealitäten - „als vergessenes Sinnesfundament der Naturwissenschaft" definiert - 52 ff.). Für diese Referenz erscheint mir der Terminus ,Welt' adäquater, insofern er auf die fur das System bestehende Summe und Einheit aller Möglichkeiten verweist (Luhmann, 1987a: 106, der jedoch hinzufügt, daß die Welt „in je bestimmten Vollzügen" als Lebenswelt fungiert). 6 Neves
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Kap. Π: ...Zur symbolischen Konstitutionalisierung: Eröffnung einer Debatte
Nach der Lesart der pluralistischen und „prozessualen" Verfassungskonzeption, so wie sie Häberle formulierte, 80 läßt sich behaupten, daß die symbolische Konstitutionalisierung mit dem Nichteinschluß einer „pluralistischen Öffentlichkeit" im Prozeß der Verfassungskonkretisierung zusammenhängt. Aber nicht nur: Außer dem Fehlen einer „pluralistischen Öffentlichkeit", d.h. der Beteiligten im weiteren Sinne am Prozeß der Verfassungskonkretisierung, sind die Verfassungsbestimmungen nicht relevant für die zu deren Interpretation/Anwendung strikt in Beziehung stehenden Staatsorgane. Somit hat die Behauptung von Hesse, die auf der Erfahrung in der (ehem.) Bundesrepublik Deutschland beruht, für die symbolische Konstitutionalisierung keine Geltung: „Im Verhältnis von Bund und Ländern, im Verhältnis der staatlichen Organe untereinander wie in ihren Funktionen spielt die verfassungsrechtliche Argumentation und Auseinandersetzung eine beherrschende Rolle" (1984 15). In den Situationen des symbolischen Konstitutionalismus ist im Gegenteil die Praxis der Staatsorgane nicht nur in Richtung auf Verfassungsaushöhlungen orientiert, sondern auch darauf, die Verfassung ständig und „kasuistisch" zu durchbrechen.81 Auf diese Weise stellt sich dem das Publikum einschließenden Verfassungstext eine dieses ausschließende Verfassungswirklichkeit gegenüber; oder zumindest läßt sich von einer begrenzten, nicht in der Zeit-, Sachund Sozialdimension generalisierten Verfassungsnormativität sprechen.
4. Symbolische Konstitutionalisierung im positiven Sinne: politisch-ideologische Funktion der Verfassunggebung und des Verfassungstextes Obwohl unter rechtlichem Gesichtspunkt die symbolische Konstitutionalisierung negativ durch das Fehlen von normativer Konkretisierung des Verfassungstexts charakterisiert wird, hat sie auch einen positiven Sinne in dem Maße, wie die verfassunggebende bzw. verfassungsändernden Tätigkeit und die Verfassungssprache eine relevante politisch-ideologische Rolle spielen. Dementsprechend erfordert sie eine differenzierte Behandlung im Unterschied zu den herkömmlichen Erörterungen über die „Unwirksamkeit" bzw. „Nichtverwirklichung" der Verfassungsnormen. Hier wird nicht verkannt, daß auch die „normativen Verfassungen" eine symbolische Funktion ausüben, wie Burdeau (1962: 398) und Edelman (1967: 80
Hierzu außer dem im Abschn. 2.1. dieses Kap. zitierten Aufsatz (Häberle, 1980b) s. die anderen Beiträge desselben Buches - Häberle, 1980a. 81 Ich greife hier auf Grimms Unterscheidung zwischen der „verfassungsausfüllenden Verfassungswirklichkeit" einerseits und der „verfassungsaushöhlenden" sowie der „verfassungsdurchbrechenden Verfassungswirklichkeit" andererseits zurück (1989: 637).
4. Symbolische Konstitutionalisierung im positiven Sinne
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18 f.) zu Recht hervorgehoben haben, unter Berufung auf die europäische bzw. nordamerikanische Verfassungserfahrung (vgl. auch jeweils Massing, 1989; Habermas, 1992: 342); ebensowenig wird übersehen, daß die Unterscheidung zwischen „normativer Verfassung" und „symbolischer Verfassung" relativ ist und es sich dabei „eher um zwei Endpunkte auf einer Skala als um eine Dichotomie" handelt (Bryde, 1982: 27). Die symbolische Funktion der „normativen Verfassungen" ist aber an ihre rechtlich-instrumentelle Relevanz gekoppelt, d.h. an einen hohen Grad von verallgemeinerter normativer Konkretisierung der Verfassungsbestimmungen. „Normative Verfassungen" füngieren nicht nur als symbolischer Ausdruck von „Konsistenz", „Freiheit", „Gleichheit", „Partizipation" usf. als kennzeichnender Elemente der auf der Verfassung beruhenden politischen Ordnung; es läßt sich nicht bestreiten, daß sie rechtlich einen hohen Grad an Verhaltenssteuerung und an Erwartungssicherung implizieren. Den jeweiligen Verfassungsbestimmungen entsprechen in größerem oder geringerem Ausmaß, aber immer auf gesellschaftlich relevante Weise, „kongruent generalisierte normative Erwartungen" (vgl. Anm. 65 des Kap. I). Das „Symbolische" und das „Instrumentelle" wirken wechselseitig aufeinander, um die Konkretisierung der Verfassungsnormen zu ermöglichen. Die Verfassung funktioniert wirklich als reflexive Instanz eines geltenden und wirksamen Rechtssystems. Im Fall der symbolischen Konstitutionalisierung folgt jedoch auf die Verfassunggebung keine verallgemeinerte rechtliche Normativität, keine umfassende normative Konkretisierung des Verfassungstexts. So wie ich es schon in bezug auf die symbolische Gesetzgebung behauptet habe, ist das Unterscheidungsmerkmal auch die Hypertrophie der symbolischen Dimension zu Lasten der rechtlich-instrumentellen Verwirklichung der Verfassungsbestimmungen. Der positive Sinn der symbolischen Konstitutionalisierung ist an seine negative Eigenschaft gebunden, die schon im vorhergehenden Abschnitt erörtert worden ist. 82 Seine Definition beinhaltet diese zwei Momente: einerseits besteht seine Funktion nicht darin, nach Maßgabe der rechtlichen Bestimmungen der jeweiligen Verfassungstexte die Verhaltensweisen zu steuern und die Erwartungen zu orientieren; andererseits antwortet sie auf konkrete politische Forderungen und Ziele. „Das kann die rhetorische Verbeugung vor bestimm82
In dieser Richtung (doch Wirksamkeit und Effektivität gleichsetzend) behauptet Villegas (1991: 12) mit Bezug auf die kolumbianische Erfahrung: „Die symbolische Wirksamkeit des Verfassungsrechts in Kolumbien erscheint gewöhnlich in Verbindung mit einer instrumentellen Unwirksamkeit, oder was dasselbe ist, mit einem Scheitern seines expliziten Objektiven." Aber er generalisiert unterschiedslos die Vorstellung der symbolischen Wirksamkeit nach der „klassischen" Auffassung der symbolischen Politik (s. oben Kap. 1.3.): „Die Macht der Verfassung - aller Verfassungen - ist grundsätzlich symbolisch und nicht rechtlich" (1991: 8). Damit wird die rechtsregelnde Relevanz bzw. Kraft der „normativen Verfassungen" unterschätzt. 6*
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Kap. Π: ...Zur symbolischen Konstitutionalisierung: Eröffnung einer Debatte
ten Werten (Demokratie, Frieden) sein. Es kann aber auch um Propaganda gegenüber dem Ausland gehen" (Bryde, 1982: 28)83. Unter diesem Gesichtspunkt läßt sich behaupten, daß die symbolische Konstitutionalisierung ideologische Funktion impliziert. Mit dieser Perspektive befinden wir uns hier in der Sphäre des Ideologischen im Sinne von Habermas: „Illusionen, die mit der Macht gemeinsamer Überzeugungen ausgestattet sind, nennen wir ja Ideologien". (1987: 246). Es handelt sich nicht um Ideologie im Sinne des frühen Luhmanns, die - als künstliche Neutralisierung anderer Möglichkeiten (1962) oder Bewerten von Werten (reflexiver Mechanismus) (1984c: 182 ff.) - zur funktional adäquaten Reduktion der Komplexität in der heutigen Gesellschaft dienen kann;84 im Rahmen des Luhmannschen Ideologiebegriffs wäre ja zu sagen, daß es um die einseitige Wirkung des „symbolischen" Aspekts der Ideologie, d.h. um Mangel an ihrer entsprechenden „instrumentellen Funktion" geht (vgl. 1984c: 183). Aber andererseits ist die Ideologie in der vorliegenden Arbeit nicht als Verzerrung einer wesentlichen Wahrheit zu verstehen, also nicht einmal als eine falsche Vorstellung dessen, „was nicht nicht ist". 85 Im Fall der symbolischen Konstitutionalisierung besteht das ideologische Problem darin, daß ein Modell vermittelt wird, dessen Verwirklichung nur unter völlig anderen sozialen Bedingungen möglich wäre. Auf diese Weise verliert man an Transparenz hinsichtlich der Tatsache, daß die dem symbolischen Verfassungsmodell entsprechende soziale Situation nur vermittels einer gesellschaftlichen Umwälzung zur Wirklichkeit werden könnte. Oder die Verfassungsfigurine tritt als Ideal auf, das durch die „Machthaber" und ohne Schaden für die privilegierten Gruppen verwirklicht
83 Als Beispiel zitiert Bryde (ebd. Anm. 6) die folgende „Aussage eines hohen Offiziers in Bangla Desh vor den Wahlen im Januar 1979": „Der Westen, und insbesondere der US-Kongreß, hat es gern, wenn wir eine Demokratie genannt werden. Das wird es fur uns leichter machen, Hilfe zu bekommen." 84 „Positives Recht und Ideologie gewinnen in sozialen Systemen eine Funktion für die Reduktion der Komplexität des Systems und seiner Umwelt" (Luhmann, 1984c: 179). 85 Luhmann, 1962: 436, 447 u. passim, kritisch gegenüber solcher ontologischen Konzeption der Ideologie, zu der die marxistische Vorstellung der Ideologie als „falschen Bewußtseins" gehört (vgl. z.B. Marx / Engels, 1990: insbes. 26 f.; Engels, 1985: 108 f.; 1986a: insbes. 563, 1986b: 596) . Ein Überblick über die in der abendländischen philosophischen und wissenschaftlichen Überlieferung vorherrschenden Konzeptionen der Ideologie findet sich bei Kurt Lenk (Hg.), 1972. Siehe dazu auch zusammenfassend Topitsch, 1959. Über die Verhältnisse zwischen Recht und Ideologie s. unter verschiedenen Gesichtspunkten Maihofer (Hg.), 1969.
. Symbolische Konstitutionalisierung im
iven Sinne
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werden soll, wobei dann die rhetorische Formel der „guten Absicht" der Verfassungsväter und der Regierenden im allgemeinen herangezogen wird. 86. Der „Scheinkonstitutionalismus" (Grimm, 1989: 634) impliziert unter diesen Bedingungen eine illusorische Darstellung in bezug auf die Verfassungswirklichkeit 87 und dient eher der Immunisierung des politischen Systems gegen andere Alternativen. Durch ihn können nicht nur die Probleme und Beziehungen, die auf der Grundlage der jeweiligen Verfassungsbestimmungen normiert würden, unverändert fortdauern (Bryde, 1982: 28 f.); sondern kann auch der Weg der sozialen Änderungen in Richtung des proklamierten Verfassungsstaats blockiert werden.88 Zum Diskurs der Macht gehört also die ständige Berufung auf die Verfassungsurkunde als normative Struktur der Gewährleistung der Grundrechte, der „Gewaltenteilung" und der demokratischen Wahl, und der rhetorische Rekurs auf diese Institutionen als Errungenschaften der Regierung bzw. des Staats und Beweise der Existenz von Demokratie im Lande.89 Die ideologisch aufgeladene Formel „demokratische Gesellschaft" wird von den mit „symbolischen Verfassungen" Regierenden so regelmäßig benutzt wie von ihren Kollegen unter „normativen Verfassungen", wobei unterstellt wird, daß es sich um dieselbe Verfassungswirklichkeit handelt. Daraus entspringt eine pragmatische Verzerrung der Verfassungssprache, die zwar einerseits die soziale Spannung vermindert und die Wege zur Veränderung der Gesellschaft verstellt, indem sie das System gegen andere Alternativen immunisiert, andererseits aber in Extremfallen zum Mißtrauen des Publikums gegen das politische System und die staatlichen Akteure führen kann. In diesem Sinn hat selbst die ideologische Funktion der symbolischen Konstitutionalisierung ihre Grenzen, und die Situation kann sich paradoxerweise in ihr Gegenteil verkehren, im Sinn einer Bewußtmachung des Auseinanderklaffens von politi-
86 „Es ist naiv zu glauben, der Gesetzgeber brauche nur anzuordnen, dann geschehe das Gewollte" (Schindler, 1967: 66 - Hervorhebung von mir). Es ist aber auch naiv, unter bestimmten sozialen Verhältnissen an gute Absichten der Normgeber zu glauben (wie Schindler, 1967: 67). 87 Wie ich oben (Kap. 1.7.3.) bereits betont habe, folgt daraus nicht die vereinfachende Auffassung des Verfassungsgesetzgebers und des Bürgers als jeweils des Täuschenden und des Getäuschten. 88 Es ist aber darauf hinzuweisen, daß selbst die „normativen Verfassungen" die sozialen Probleme nicht direkt lösen können. In diesem Sinne hebt Grimm hervor: sie können „die Wirklichkeit nicht unmittelbar verändern, sondern nur mittelbar beeinflussen" (1989: 638). Dabei wird die Autonomie der verschiedenen funktionalen Bereichen mit berücksichtigt (641). Vgl. auch ders. (Hg.), 1990. 89 „Es dürfte heute in der ganzen Welt kaum noch einen Staat geben, der nicht Wert darauf legte, sich als Demokratie zu bezeichnen und als solche international anerkannt zu sein" (Krüger, 1968: 23).
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Kap. Π: ...Zur symbolischen Konstitutionalisierung: Eröffnung einer Debatte
scher Handlung und konstitutionalistischem Diskurs (vgl. Abschn. 10 dieses Kap.). Die symbolische Konstitutionalisierung unterscheidet sich von der symbolischen Gesetzgebung durch ihren weitreichenderen Wirkungsumfang in der Sozial-, Zeit- und Sachdimension. Während die symbolische Gesetzgebung spezifische Bereiche des Rechtssystems berührt, es als Ganzes aber nicht affiziert, trifft die symbolische Konstitutionalisierung den Kern des Rechtssystems und belastet seine ganze operative Struktur. Das hängt damit zusammen, daß die Verfassung als maßgebliche reflexive Instanz des Rechtssystems (s. Abschn. 1.3.3. dieses Kap.) sich als normative Metasprache in bezug auf alle unterverfassungsrechtlichen Normen erweist, also den umfassendsten Prozeß der Normierung innerhalb des positiven Rechts darstellt. Falls sich im Verlauf des Konkretisierungsvorgangs Verfassungsnormativität nicht hinreichend herausbildet, die Normstruktur (als Verknüpfung von Normprogramm und Normbereich) also nicht am Verfassungstext entwickelt wird, dann wird auch die einfache Gesetzgebung als Objektsprache in ihrer Normativität belastet. Wie wir im Kap. III im einzelnen sehen werden, wird der eigene operative Prozeß der normativen Reproduktion des Rechts bei symbolischer Konstitutionalisierung insgesamt blockiert. Das Problem der symbolischen Konstitutionalisierung darf auch nicht mit der Unwirksamkeit einiger spezifischer Vorschriften des Verfassungstextes verwechselt werden, selbst wenn in diesem Fall das Ausbleiben der normativen Konkretisierung mit der symbolischen Funktion verbunden ist. Die Existenz von Verfassungsbestimmungen mit rein symbolischer Wirksamkeit ist immer möglich, ohne daß dadurch das Verfassungssystem in seinen Grundzügen kompromittiert ist. Ich spreche von symbolischer Konstitutionalisierung, wenn das Problem des hypertroph politisch-ideologischen Funktionierens der sich auf die (den) Verfassung(stext) beziehenden Tätigkeit die Hauptpfeiler des verfassungsrechtlichen Gefüges ins Wanken bringt. Dies geschieht dann, wenn die grundlegenden Verfassungsinstitutionen - die (zivilen, politischen und sozialen) Grundrechte, die Gewaltenteilung und die demokratische Wahl weder in der Praxis der Staatsorgane noch im Verhalten und in den Erwartungen der Bevölkerung auf allgemeine Resonanz stoßen. Die symbolische Konstitutionalisierung wird jedoch vor allem in bezug auf das Prinzip der Gleichheit vor dem Gesetz, das die Verallgemeinerung des Codes „Recht/Unrecht", d.h. den Zugang der gesamten Bevölkerung zum Rechtssystem impliziert, 90
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„Der Gleichheitssatz besagt natürlich nicht, daß jedermann die gleichen Rechte haben soll (in welchem Falle der Charakter des Rechtes als Recht unvorstellbar würde), wohl aber: daß die Rechtsordnung einer differenzierten Gesellschaft nach bestimmten strukturellen Anforderungen generalisiert sein muß" (Luhmann, 1965: 165).
5. Typen der symbolischen Konstitutionalisierung - Verfassung als Alibi
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gekennzeichnet. Man kann behaupten, daß die „Verfassungswirklichkeit" dann entgegen der Verallgemeinerung des Rechts, die aus dem in der Verfassung symbolisch-ideologisch proklamierten Gleichheitsprinzip hervorgehen würde, partikularistisch ist, selbst im Hinblick auf die Praxis der Staatsorgane. Dem symbolisch inkludierenden Verfassungstext steht die exkludierende „Verfassungswirklichkeit" gegenüber. Die Grundrechte, die Gewaltenteilung, die demokratische Wahl und die Gleichheit vor dem Gesetz, die als Rechtsinstitute umfassend in der Verfassungssprache vorgesehen sind, werden in der Praxis des Konkretisierungsprozesses verzerrt, besonders im Hinblick auf die Generalisierung, sofern sie sich einer Filterung nach Maßgabe partikularistischer Kriterien politischer, wirtschaftlicher usf. Natur unterwerfen. In diesem Kontext wäre es nur angemessen, von eingeschränkter, exkludierender, partikularistischer Normativität zu sprechen, die sich also gegen die verallgemeinerte und inkludierende Normativität wenden würde, die im Verfassungstext proklamiert ist. Aber die im Verfassungstext verkündigten „Rechtsinstitutionen" sind als symbolische Bezugsgrößen des Machtdiskurses weiterhin relevant. Zum Abschluß möchte ich darauf hinweisen, daß hier das Symbolische nicht mit dem Ideologischen verwechselt wird (in anderem Zusammenhang vgl. Bryde, 1993: 16). Es ist unbestreitbar, daß das Symbolische eine relevante Rolle bei der Entwicklung von (sozial vermitteltem) „Rechtsbewußtsein" spielen und damit „emanzipatorische" Wirkungen hervorbringen kann. Lefort verweist auf die Relevanz der „legalen" Erklärungen der „Menschenrechte" im demokratischen Rechtsstaat, deren symbolische Funktion zur Eroberung und Ausweitung dieser Rechte geführt habe (1981: 67 ff. u. 82). Aber im Fall der symbolischen Konstitutionalisierung, insbesondere als Alibi-Konstitutionalisierung findet eher eine Überschneidung zwischen dem Symbolischen und dem Ideologischen als ein kritischer Prozeß der Entwicklung von „Rechtsbewußtsein" statt, eben in dem Maße, in dem man das politische System gegen andere Möglichkeiten immunisiert und die Lösung der Probleme auf eine ferne Zukunft verschiebt.
5. Typen der symbolischen Konstitutionalisierung Verfassung als Alibi Ausgehend von der schon oben (Kap. 1.7.) behandelten Typologie der symbolischen Gesetzgebung läßt sich die symbolische Konstitutionalisierung in drei Hauptformen ihrer Erscheinung klassifizieren: 1) die symbolische KonSpezifisch über „Gleichheitssatz als Form und als Norm" s. ders. 1991a; vgl. auch 1993a: 110 ff.
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Kap. Π: ...Zur symbolischen Konstitutionalisierung: Eröffnung einer Debatte
stitutionalisierung zur Bekräftigung bestimmter sozialer Werte; 2) die Verfassung als dilatorischen Formelkompromiß; 3) die Alibi-Konstitutionalisierung. Im ersten Fall haben wir Verfassungsvorschriften, die ohne rechtsnormative Relevanz den Glauben und Lebensstil bestimmter Gruppen bekräftigen, wie bei der von Bryde betrachteten Betonung der Prinzipien von „authenticité" und „négritude" in den afrikanischen Ländern nach der Unabhängigkeit (1987: 37; vgl. oben S. 37). Aber genaugenommen handelt es sich hier nicht um das umfassende Problem der Kompromittierung der grundlegenden konstitutionellen Institutionen, d.h. nicht um die Blockierung der Konkretisierung der sich auf Grundrechte, Gewaltenteilung, demokratische Wahl und Gleichheit vor dem Gesetz beziehenden Verfassungsnormen. Eher bilden jene Prinzipien spezifische Symbolismen, sehr oft mit autokratischen Verfassungstexten verbunden, so daß sich strenggenommen nicht von symbolischer Konstitutionalisierung sprechen läßt. Was den zweiten Typus anbelangt, ist die Analyse der Weimarer Verfassung (1919) von Schmitt (1970: 28-36) repräsentativ, der ihren Kompromißcharakter hervorhob. Er unterschied aber „echte" von „unechten" Kompromissen, den „dilatorischen Formelkompromissen" (1970: 31-36). Der dezisionistischen Konzeption der Verfassung entsprechend (vgl. Anm. 15 dieses Kap.) wird dann behauptet, daß echte Kompromisse auf die „sachliche Regulierung und Ordnung" bestimmter kontroversen Fragen mittels Verhandlungen um die Organisation und den Inhalt der Verfassung zielen (1970: 31). Unechte, Schein- bzw. Formelkompromisse treffen hingegen keine sachliche, über Verhandlungen gewonnene Entscheidung, „sondern ihr Wesen [besteht] gerade darin, diese Entscheidung hinauszuschieben und zu vertagen" (1970: 31). Der Kompromiß hat den Zweck, „eine Formel zu finden, die allen widersprechenden Forderungen genügt und in einer mehrdeutigen Redewendung die eigentlichen Streitpunkte unentschieden läßt" (1970: 31 f.). So kann sich jede der unversöhnlichen Parteien auf die entsprechenden Verfassungsbestimmungen berufen, ohne daß sich daraus eine überzeugende Verfassungsinterpretation ergeben kann (1970: 34 f.). Aber Schmitt hob heraus, daß die Frage des dilatorischen Formelkompromisses nur einzelne Aspekte der verfassungsgesetzlichen Regelung betrifft. 91 Nach dem dezisionistischen Muster schließt er: 91
Das heißt die Verfassung im „,relativen" Sinne „als eine Vielheit einzelner Gesetze" (Schmitt, 1970: 11-20), nicht die Verfassung im positiven" Sinne „als GesamtEntscheidung über Art und Form der politischen Einheit" (1970: 20 if.), die die Vorherrschaft im dezisionistischen Modell hat (vgl. Anm. 15 dieses Kap.). Schmitt unterscheidet auch den „