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German Pages 420 [421] Year 2019
Tübinger Schriften zum Staats- und Verwaltungsrecht Band 103
Das strukturelle Homogenitätsgebot in der deutschen und österreichischen Bundesstaatslehre Eine vergleichende rechtshistorische Untersuchung
Von Alexander Gorskiy
Duncker & Humblot · Berlin
ALEXANDER GORSKIY
Das strukturelle Homogenitätsgebot in der deutschen und österreichischen Bundesstaatslehre
Tübinger Schriften zum Staats- und Verwaltungsrecht Herausgegeben von Christia n Sei ler in Gemeinschaft mit Jochen von Bernstor f f, Michael Droege M a r t i n He c k e l, K a r l -He r m a n n K ä s t n e r, F e r d i n a n d K i r c h h o f H a n s v o n M a n g o l d t , M a r t i n Ne t t e s h e i m, T h o m a s O p p e r m a n n G ü nt e r P ü t t n e r, B a r b a r a R e m m e r t , M i c h a e l R o n e l l e n f i t s c h J o h a n n e s S a u r e r, Wo l f g a n g G r a f V i t z t hu m sämtlich in Tübingen
Band 103
Das strukturelle Homogenitätsgebot in der deutschen und österreichischen Bundesstaatslehre Eine vergleichende rechtshistorische Untersuchung
Von Alexander Gorskiy
Duncker & Humblot · Berlin
Die Juristische Fakultät der Eberhard Karls Universität Tübingen hat diese Arbeit im Sommersemester 2018 als Dissertation angenommen.
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© 2019 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Satz: 3w+p GmbH, Ochsenfurt-Hohestadt Druck: CPI buchbücher.de GmbH, Birkach Printed in Germany ISSN 0935-6061 ISBN 978-3-428-15749-5 (Print) ISBN 978-3-428-55749-3 (E-Book) ISBN 978-3-428-85749-4 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706
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Meinen lieben Eltern in grenzenloser Dankbarkeit =_Y] U_a_TY] a_UYcV\p] b RVb[_^Vh^_Z R\QT_UQa^_bcmo
Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Sommersemester 2018 von der Juristischen Fakultät der Eberhard Karls Universität Tübingen als Dissertation angenommen. Im Mittelpunkt der Untersuchung stehen die theoretische Idee der strukturellen (organisationsrechtlichen) Homogenität und ihre bundesverfassungsrechtliche normative Verankerung in Gestalt des sog. Homogenitätsgebotes in Deutschland und Österreich. Für den Verfasser war es interessant zu untersuchen, warum die gegenwärtigen bundesverfassungsrechtlich vorbestimmten Modelle der Staatsorganisation in den deutschen und österreichischen Ländern – obwohl beide Bundesstaaten in kultureller, historischer, politischer und rechtlicher Hinsicht verwandt und durch Verflechtungen bzw. Wechselbeziehungen geprägt sind – auf so unterschiedliche theoretische und normative Weise begründet bzw. verankert wurden. Dieses persönliche wissenschaftliche Interesse stellte den wichtigen Grund für die Auswahl des Forschungsthemas dar. Die Arbeit hatte daher zum Ziel, das bundesstaatliche Homogenitätserfordernis in Bezug auf die Staatsorganisation der deutschen und österreichischen Länder in seinem theoretischen Verständnis sowie in der konkreten normativen bundesverfassungsrechtlichen Ausgestaltung in verschiedenen historischen Phasen der beiden deutschsprachigen Bundesstaaten aufzuzeigen und seine Evolution aus rechtswissenschaftlicher Perspektive zu beurteilen. Mein bester Dank gebührt in erster Linie meinem Doktorvater, Herrn Prof. Dr. Jochen von Bernstorff, LL.M. Ich danke ihm herzlich für sein mir entgegengebrachtes Vertrauen – dem damaligen LL.M.-Absolventen, den er als Doktorand angenommen hatte und später als wissenschaftliche Hilfskraft in seinem Lehrstuhlteam angestellt hat, sowie für seine fachliche und organisatorische Unterstützung im Laufe des gesamten Promotionsstudiums. Bei der gemeinsamen Erörterung des Themas der Dissertation wurde ich von meinem Doktorvater vor die große und ambitionierte Aufgabe gestellt, ein für die Homogenitätsproblematik grundlegendes Werk zu erstellen. Ob ich diese Aufgabe erfolgreich gemeistert habe, möge nicht ich beurteilen, sondern allein die Leserinnen und Leser dieser Arbeit. Worauf ich aber Gewicht lege, ist, dass in dieser Arbeit erstmals der Versuch unternommen wurde, eine in historischer und inhaltlicher Hinsicht so umfangreiche Untersuchung durchzuführen, welche die gesamte Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte des strukturellen Homogenitätsgebotes in seiner dogmatischen und normativen Entfaltung seit dem Westfälischen Frieden von 1648 bis in die Gegenwart umfasst. In Bezug auf diese Arbeit könnte auch die
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Vorwort
Tatsache als bemerkenswert angesehen werden, dass der Verfasser, der selbst weder Deutscher noch Österreicher ist, angesichts seiner persönlichen und fachlichen Verbundenheit sowohl zu Deutschland als auch zu Österreich, die Homogenitätsfrage in beiden Ländern von einem gewissermaßen neutralen Standpunkt aus behandelt. Die vorliegende Untersuchung möge einen wissenschaftlich bedeutsamen Beitrag nicht nur für die deutschsprachige Rechtsgeschichte und das deutsche und österreichische Verfassungsrecht liefern, sondern in theoretischer Hinsicht wünschenswerterweise auch für beispielsweise das Verständnis des föderalen Verbundes zwischen der Europäischen Union und ihren Mitgliedstaaten sowie für die anderen nationalen Bundesstaatsordnungen der Gegenwart. Großen Dank spreche ich an dieser Stelle auch Herrn Prof. Dr. Martin Nettesheim aus, der sich bereit erklärt hat, diese Arbeit als Zweitgutachter zu betreuen. Herrn Prof. Dr. Christian Seiler und dem Berliner Verlag Duncker & Humblot danke ich für ihr positives Votum und die freundliche Aufnahme meiner Arbeit in die vorliegende Schriftenreihe. Die vorliegende Arbeit hätte nicht entstehen können ohne die umfassende Unterstützung der Konrad-Adenauer-Stiftung während meines Master- und anschließenden Promotionsstudiums. Diese Unterstützung beschränkte sich nicht allein auf den finanziellen Aspekt, sondern umfasste auch ein hervorragendes Seminarprogramm mit inhaltlicher Förderung im Rahmen des Stipendiums. Für ihre professionelle Begleitung, Hilfsbereitschaft und Freundlichkeit danke ich allen Mitarbeitern der Konrad-Adenauer-Stiftung, besonders Herren Prof. Dr. Nils Abraham (derzeit FH für öffentliche Verwaltung NRW), Dr. h. c. Berthold Gees sowie Dr. Simon Backovsky von der Ausländerförderung. Erneut spreche ich Herrn Prof. Dr. Martin Nettesheim, nun als Vertrauensdozent der Konrad-Adenauer-Stiftung vor Ort, meinen Dank aus für seine Gastfreundschaft und die vielen interessanten Gespräche während der Jahrestreffen meiner Stipendiatengruppe in Tübingen. Für ihr Interesse an meiner Forschung, ihre für mich so wichtigen fachlichen Stellungnahmen und die spannenden Gespräche bedanke ich mich ganz herzlich bei Herren Prof. Dr. Dres. h. c. Thomas Oppermann (†), Prof. Dr. Dr. h. c. Wolfgang Graf Vitzthum, LL.M. und Prof. Dr. Armin Dittmann. Eine besondere Verbundenheit besteht zu meinem ehemaligen Moskauer Betreuer Herrn Prof. Dr. Mikhail Krasnov, der mein Interesse an staatswissenschaftlichen Fragestellungen stets unterstützt und auf jede Art und Weise angeregt hat. Ein wichtiger Bestandteil meines Promotionsstudiums war das Forschungssemester an der Leopold-Franzens-Universität Innsbruck. Der Aufenthalt in Tirol wurde mir durch das Programm Erasmus+ organisatorisch ermöglicht und von der Konrad-Adenauer-Stiftung finanziell gefördert. Für die Betreuung vor Ort danke ich Frau Prof. Dr. Annegret Eppler, Ass. jur. (derzeit Hochschule für öffentliche Verwaltung Kehl). Für ihre unermüdliche Hilfe bei meiner Literatursuche sowie ihre qualifizierte Beratung rund um die juristische Fachliteratur in Tübingen bedanke ich mich recht
Vorwort
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herzlich bei allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Juristischen Seminars, vor allem bei den Kolleginnen Petra Bertscheit, Ursula Ebinger und Ulrike Schmid. Ein großes Dankeschön möchte ich auch Herrn Dipl.-Übers. Munir Qureshi aus Mannheim für sein hervorragendes Korrektorat und Lektorat dieser Arbeit aussprechen. Ein besonderer Dank gilt Frau Isolde Zeiler, die mir mit Rat und Tat in all meinen Jahren in der Universitätsstadt zur Seite stand und weiterhin steht. Die vorliegende Arbeit widme ich meinen lieben Eltern und Großeltern in herzlicher Dankbarkeit für ihren Glauben an mich und ihre bedingungslose Unterstützung bei all meinen Vorhaben. Obwohl etwa zweitausend Kilometer zwischen uns liegen, fühle ich ihre große Liebe und ihren Rückhalt jeden Tag hier, am NeckarUfer. Zu guter Letzt verdanke ich all meinen Freunden, Kommilitonen, Konstipendiaten und Kollegen wunderbare Studienjahre in Deutschland. Tübingen, März 2019
Alexander Gorskiy
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Inhaltsverzeichnis Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 A. Die Notwendigkeit des Homogenitätserfordernisses in der Bundesverfassung . . . . . . 27 B. Das strukturelle (organisationsrechtliche) Homogenitätsgebot als eine der normativen Erscheinungsformen der bundesstaatlichen Homogenität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 C. Die bundesverfassungsrechtliche Verankerung des Homogenitätsgrundsatzes . . . . . . . 32
Kapitel I Die Entstehung der germanischen Bundesstaatslehre in der Zeit des Vorkonstitutionalismus
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A. Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation nach dem Westfälischen Frieden: Ius territoriale der Reichsstände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36 1. Vorbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36 2. Die Positionsverbesserung der Landesherren als Voraussetzung für die Entstehung der germanischen Bundesstaatsidee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 3. Ludolph Hugo als Stammvater der Staatenstaatstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 4. Kritik von Samuel Pufendorf: „undenkbar, dass ein Staat mehrere Staaten in sich enthalte“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 5. Die Annäherung an das moderne Bundesstaatsverständnis durch Gottfried Wilhelm Leibniz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 6. Die Entstehung des preußisch-österreichischen Dualismus: Johann Stephan Pütter als Hüter des Alten Deutschen Reiches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 B. Das große Deutschland an der Wegkreuzung: Auf der Suche nach der Form des Zusammenlebens nach der Auflösung des Alten Reiches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 1. Vorbemerkungen (Historische Gegebenheiten des Zerfalls des Alten Deutschen Reiches) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 2. Nicolaus Gönners Staatsverein als Form der Vereinbarkeit der Prinzipien der Staatentrennung und der Staatseinheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 3. Wilhelm Joseph Behr und die volkssouveräne Natur des Rheinbundes . . . . . . . . . . 62 4. Die Gründung des Deutschen Bundes als Ausdruck der preußisch-österreichischen Koexistenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68 5. Die Beurteilung der deutschen Einzelstaaten nach Johann Ludwig Klüber . . . . . . . 71
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Inhaltsverzeichnis 6. Der Einfluss der liberalen Bewegungen auf die Bundesstaatslehre im Deutschen Bund: Denkschrift von Friedrich Gagern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74
Kapitel II Die Homogenitätsidee nach der monarchischen Bundesstaatslehre des jüngeren Konstitutionalismus
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A. Die Paulskirchenverfassung von 1848/49 und der erste Versuch einer bundesverfassungsrechtlichen Bestimmung des Homogenitätsgebotes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 1. Die Entstehungsgeschichte, das Wesen und der Umfang der bundesverfassungsrechtlichen Homogenitätsvorschriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 2. Der Maßstab der Frankfurter Reichsverfassung für die Staatsorganisation der deutschen Einzelstaaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 a) „Volksvertretung mit entscheidender Stimme“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 b) Die Exekutive als tatsächlich verbleibende Prärogative des Monarchen . . . . . . . 92 c) „Ungleiche Gegengewichte“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 B. Der „Kremsierer Entwurf“ von 1848/49 zu einer Verfassungsurkunde für das Kaisertum Österreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 1. Vorgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 2. Autonomie der Reichsländer und scheinbarer Grundsatz einer vertikalen Gewaltentrennung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 3. Reichsrechtlich rahmenbedingte Staatsorganisation der österreichischen Länder
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a) Der Landtag und seine Gesetzgebungsfunktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 b) Die Landesregierung und ihre Verantwortlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 C. Die Institutionalisierung der herrschenden Bundesstaatslehre in Deutschland . . . . . . . 105 1. Das Konzept von Georg Waitz: Die organisationsrechtliche Selbständigkeit der Einzelstaaten und der Gesamtheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 2. Die Erläuterung von Heinrich Zachariä . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 3. Befürworter der Waitzschen Bundesstaatstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 4. Abweichende Lehrmeinungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 D. Das neue Deutsche Reich als bundesstaatliche Verbindung der deutschen Einzelstaaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 1. Die Reichsverfassung von 1871 ohne formalrechtliche Homogenitätserfordernisse 121 2. Der Einfluss der Reichsgründung auf die Staatenstaatstheorie: Die Abkehr von der Waitzschen Auffassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 3. Die Rechtsnatur der kaiserdeutschen Einzelstaaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 4. Albert Hänel und die „organische Totalität“ des Bundesstaates . . . . . . . . . . . . . . . . 131 5. Paul Laband über die Gliedstaaten als juristische Personen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 6. Siegfried Brie als Anwalt der klassischen Staatenstaatstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . 141
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7. Georg Jellineks Bundesstaatstheorie: Gliedstaaten als eine Art von nichtsouveränen Staaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 a) Die Souveränität ist kein wesentliches Merkmal der Staatsgewalt . . . . . . . . . . . 144 b) Bundesstaatsbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 c) Staatsrechtliche Stellung der Gliedstaaten im Bundesstaat . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 aa) Status subjectionis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 bb) Status libertatis (negativus) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 cc) Status positivus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 dd) Status activus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 d) Selbstorganisation der Gliedstaaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 E. Die organisationsrechtliche Stellung der Kronländer in Österreich-Ungarn . . . . . . . . . 155 1. Die staatsrechtliche Natur der Habsburger Monarchie nach dem Ausgleich von 1867 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 2. Die Machtstruktur der österreichischen Kronländer: Staatliche Organisation ohne Staatlichkeit? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158
Kapitel III Paradigmenwechsel in Deutschland und Österreich: Einfluss des Grundsatzes der Freistaatlichkeit auf die Verfassungsgesetzgebung und Bundesstaatlichkeit 161 A. Die Selbstorganisation der deutschen Länder in der Weimarer Republik . . . . . . . . . . . 161 1. Allgemeine Anmerkungen: Zerfall des Monarchismus und inneres Selbstbestimmungsrecht der deutschen Einzelstaaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 2. Gliedstaatlichkeit und Verfassungsautonomie der reichsrepublikanischen Länder aus organisationsrechtlicher Sicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 3. Das innerstaatliche Homogenitätsgebot nach der WRV: Drei Anforderungen an die Länder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 4. Die erste Anforderung: Jedes Land muss eine freistaatliche Verfassung haben (Grundsatz der Freistaatlichkeit) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 5. Die zweite Anforderung: Jedes Land muss eine demokratisch gewählte Volksvertretung haben (Entwicklung des Demokratieprinzips) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174 a) Rechtsnatur der Volksvertretung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174 b) Parlamentarisches Einkammersystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 c) Vorzeitige Beendigung der Legislaturperiode des Landtages . . . . . . . . . . . . . . . . 178 6. Die dritte Anforderung: Die Landesregierung bedarf des Vertrauens der Volksvertretung (Parlamentarische Regierungsform) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 a) Die Rechtsnatur des parlamentarischen Regierungssystems in den Ländern und die Stellung der Landesregierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 b) Das Staatsoberhaupt in den deutschen Länderrepubliken . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 c) Die parlamentarische Zusammensetzung der Landesregierung . . . . . . . . . . . . . . 184
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Inhaltsverzeichnis 7. Hans Nawiasky und seine „modernisierte Staatenstaatstheorie“ . . . . . . . . . . . . . . . 187 a) Der Kompetenzbegriff als Wesen des Bundesstaates . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188 b) Eigenstaatlichkeit der Glieder des Bundesstaates . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 c) Bundesverhältnis: Gegenseitige Rechte des Gesamtstaates und der Gliedstaaten 193 d) Selbstorganisation der deutschen Länder im Rahmen des strukturellen Homogenitätsgebotes nach der WRV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 8. Herangehensweise von Carl Schmitt und Ernst Forsthoff an die Bundesstaatsproblematik: Substanzielle Gleichartigkeit (Homogenität) als Mittel zur Vermeidung eines existenziellen Konfliktfalls . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198
B. Der Übergang Österreichs zur bundesstaatlichen Organisationsform . . . . . . . . . . . . . . 206 1. Der Zerfall der Österreich-Ungarischen Monarchie und die Entstehung der demokratischen Republik Deutschösterreich: Kampf um den Föderalismus . . . . . . . . . . 206 2. Die Gliedstaaten der Ersten Republik: Die staatsrechtliche Natur der österreichischen Länder nach dem Bundes-Verfassungsgesetz von 1920 . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 3. Das komplexe bundesstaatliche Homogenitätsgebot nach den Vorschriften des B-VG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218 a) Allgemeines Konzept . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218 b) Der Landtag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222 aa) Rechtsnatur und Zusammensetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222 bb) Legislaturperiode der Landtage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 c) Die Landesregierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 aa) Landesverwaltung und parlamentarische Regierungsform der Länder . . . . . 227 bb) Zusammensetzung der Landesregierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 cc) Grundsätze der inneren Organisation der Landesregierung . . . . . . . . . . . . . . 233 d) Landeshauptmann und mittelbare Bundesverwaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 4. Die Dezentralisationstheorie von Hans Kelsen und die österreichische Bundesstaatslehre der Wiener Schule des Rechtspositivismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237 a) Die Systematik des Bundesstaatsbegriffs Kelsens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238 aa) Souveränität als wesentliches Merkmal eines jeden Staates: Zur Frage der Fehlerhaftigkeit der bisher herrschenden Bundesstaatstheorien . . . . . . . 238 bb) Territoriale Gliederung des Staates: Zentralisation und Dezentralisation . . . 240 cc) Bundesstaatsbegriff nach der Dezentralisationstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . 242 b) Staatsrechtlicher Status der Gliedstaaten (Länder) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 244 c) Innere Organisation der Gliedstaaten als Teilrechtsordnungen . . . . . . . . . . . . . . 247 aa) Bundesstaatliche Homogenität im Sinne der Dezentralisationstheorie . . . . . 247 bb) Das System der Staatsorgane der Länder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 248 cc) Gesetzgebungsorgan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 dd) Vollziehende Gewalt der Länder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 250
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Kapitel IV Die Wiedererrichtung der Bundesstaatlichkeit in Deutschland und Österreich nach dem Zweiten Weltkrieg 254 A. Das bundesstaatliche Homogenitätsgebot nach der Verfassungsurkunde des Parlamentarischen Rates und seine Entwicklung bis zur Deutschen Wiedervereinigung . . . 254 1. Die Gründung der Bundesrepublik Deutschland und die Rechtsnatur der westdeutschen Länder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254 2. Entstehungsgeschichte des bundesstaatlichen Homogenitätsgebotes nach dem GG und seine Urbedeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259 3. Das strukturelle Homogenitätsgebot im Koordinatensystem der nachkriegerischen Bundesstaatslehre und -praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264 a) Die Bundesrepublik Deutschland als Bundesstaat: Begriff und typische Merkmale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264 b) Die Staatsqualität der westdeutschen Länder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267 c) Verfassungsautonomie der bundesdeutschen Gliedstaaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . 270 d) Homogenitätsgrundsatz und Staatsorganisation der Länder . . . . . . . . . . . . . . . . . 272 4. Inhalt und Tragweite des Homogenitätsgebotes nach Art. 28 I GG: Staatsstrukturprinzipien und ihre organisationsrechtlichen Erscheinungsformen . . . . . . . . . . . . . . 275 a) Umfang der grundgesetzlichen Homogenitätsforderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . 275 b) Der republikanische Grundsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277 aa) Allgemeine Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277 bb) Staatsoberhaupt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 278 c) Der demokratische Grundsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 280 aa) Allgemeine Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 280 bb) Verfassungsmäßige Natur der gliedstaatlichen Volksvertretungen . . . . . . . . 281 d) Der rechtsstaatliche Grundsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 284 B. Das Homogenitätsprinzip im Lichte der relativen Verfassungsautonomie der österreichischen Bundesländer und die Eigentümlichkeiten seiner verfassungsrechtlichen Ausgestaltung bis zum Beitritt Österreichs zur EU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289 1. Die Wiederinkraftsetzung des B-VG von 1920 i. d. F. von 1929 und der Neubeginn der Bundesstaatlichkeit in Österreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289 2. Die herrschende Bundesstaatslehre (Dezentralisationstheorie) im Wandel der Zeit 294 a) Der Bundesstaatsbegriff: Der Bundesstaat „Republik Österreich“ als eine Art des stark dezentralisierten (Einheits-)Staates . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 294 b) Staatsqualität der österreichischen Länder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299 c) Das Konzept der Landesverfassungen als Ausführungsgesetze zum B-VG und die spätere theoretische und verfassungsgerichtliche Anerkennung der (relativen) Verfassungsautonomie der Bundesländer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 302 d) Homogenitätsprinzip und Landesstaatsorganisation im Rahmen des B-VG . . . . 306
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Inhaltsverzeichnis 3. „Komplexe Bundesstaatslehre“ der Innsbrucker Schule (P. Pernthaler, F. Esterbauer, K. Weber, R. Novak) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 308 a) Originäre Staatlichkeit der österreichischen Länder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309 b) Verfassungsautonomie der Gliedstaaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 316 c) Das bundesstaatliche Homogenitätsgebot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 320 d) Organisationshoheit der Gliedstaaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 324 4. Normative Gestaltung des Homogenitätsprinzips in der Zweiten Republik . . . . . . . 327 a) Allgemeine Tendenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327 b) Parlamentarisches System und Stellung des Landtages . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 328 aa) Rechtsnatur und Zusammensetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 328 bb) Dauer der Legislaturperiode und vorzeitige Auflösung des Landtages . . . . . 330 c) Die Landesregierung und ihre Organisation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 332 aa) Die Rechtsnatur der Landesregierung als oberstes Vollzugsorgan . . . . . . . . 332 bb) Zusammensetzung der Landesregierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 335 cc) Die Prinzipien der Geschäftsführung der Landesregierung . . . . . . . . . . . . . . 337 dd) Amtsdauer der Landesregierung und Ende ihrer Funktionen . . . . . . . . . . . . 339 d) Der Landeshauptmann als selbständiger Amtsträger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 341 aa) Die verfassungsrechtliche Mehrfunktionalität des Amtes des Landeshauptmannes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 341 bb) Der Landeshauptmann als Staatsoberhaupt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 342 cc) Der Landeshauptmann und die Landesregierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 346
C. Gegenwärtige Tendenzen in dem theoretischen Verständnis und der praktischen Umsetzbarkeit des bundesverfassungsrechtlichen Homogenitätsgebotes für die Staatsorganisation der deutschen und österreichischen Länder . . . . . . . . . . . . . . . . 349 1. Allgemeine Anmerkungen und historischer Hintergrund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 349 2. Die Verfassungshoheit und das Recht auf Selbstorganisation als Besonderheiten der Staatlichkeit der Länder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 350 a) Die Staatlichkeit der Länder im Sinne der Bundesverfassung . . . . . . . . . . . . . . . 350 b) Staatsgewalt und Verfassungsautonomie der Länder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 354 c) Die Organisationshoheit der Gliedstaaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 358 3. Das Erfordernis der strukturellen Übereistimmung der Bundes- und Landesorganisationen, seine normative Gestaltung und sein theoretischer Inhalt (das organisationsrechtliche Homogenitätsgebot) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 360 a) Das Wesen des strukturellen Homogenitätsgebotes als bundesverfassungsrechtliche Normativbestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 360 b) Die Rechtswirkungen des strukturellen Homogenitätsgebotes als Bestandteiloder Durchgriffsnorm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 363 c) Der Umfang des strukturellen Homogenitätsgebotes (Bindung an Grundsätze oder konkrete Vorschriften) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 365
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4. Einzelne Probleme der Bindung der Staatsorganisation der deutschen und österreichischen Länder an die bundesverfassungsrechtlichen Staatsstrukturgrundsätze im Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 370 a) Der republikanische Grundsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 371 b) Der demokratische Grundsatz (Einzelne organisatorischen Aspekte des Rechtsstatus des allgemeinen Vertretungsorgans) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 373 aa) Zusammensetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 373 bb) Zulässigkeit eines parlamentarischen Zweikammersystems . . . . . . . . . . . . . 376 cc) Die Legislaturperiode und ihre vorzeitige Beendigung . . . . . . . . . . . . . . . . . 380 c) Der (abgeleitete) Grundsatz der Gewaltenteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 382 aa) Die parlamentarische Regierungsform der Länder: Sind die Gliedstaaten normativ dazu gezwungen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 382 bb) Die Bildung der Landesregierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 385 cc) Die Abwahl der Landesregierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 387 dd) Die verfassungsrechtliche Stellung des Landesregierungschefs . . . . . . . . . . 390 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 393 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 402 Personen- und Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 419
Abkürzungsverzeichnis 1. ZPEMRK a. A. a. F. Abs. AJPIL Anh Anh. Anm. AöR Art. Aufl. B-VG Bad BadWürtt Bay Bd. Berl BGBl. Bgld Brandbg Braunschw Brem bspw. BVerf BVerfG BVerfGE BVG bzw. ca. Cap. CDU ChE CSP CSU d. h. ders. dies. DÖV
Zusatzprotokoll zur Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 20. März 1952, BGBl. 1956 II S. 1880 anderer Ansicht alte Fassung Absatz Austrian Journal of Public and International Law (1991 – 1995) Anhalt Anhang Anmerkung Archiv des öffentlichen Rechts Artikel Auflage Bundes-Verfassungsgesetz vom 1. Oktober 1920 (Originaltitel: Gesetz, womit die Republik Österreich als Bundesstaat eingerichtet wird), BGBl. Nr. 1 (aktuelle Fassung laut BGBl. I Nr. 22/2018) Baden Baden-Württemberg Bayern Band Berlin (als Land) Bundesgesetzblatt (für Österreich seit 1920; für Deutschland seit 1949) Burgenland Brandenburg Braunschweig Bremen (als Land) beispielsweise Bundesverfassung Bundesverfassungsgericht (Deutschland) Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (Deutschland) Bundesverfassungsgesetz(e) (Österreich) beziehungsweise circa Capitel (lat.) Christlich Demokratische Union Deutschlands (seit 1945) Chiemseer Entwurf Christlichsoziale Partei Österreichs (1883 – 1934) Christlich-Soziale Union in Bayern (seit 1945) das heißt derselbe dieselbe Die Öffentliche Verwaltung
Abkürzungsverzeichnis Einl. etc. EU evtl. f. ff. Fn. FPÖ franz. FRV FS GDE GDVP GG ggf. GO H. Hamb HDtStR Hervorh. Hess Hrsg. Hs. HStR i. d. F. i. S. d. i. S. v. i. V. m. inkl. insb. IPO JBl K-E (I – V) Kap. KPD KPÖ Krnt KVE lat. Lfg. LGBl. lit. LR-GO LT-GO
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Einleitung et cetera (lat. und so weiter) Europäische Union eventuell und die folgende (Seite/Randnummer) und die folgenden (Seiten/Randnummern) Fußnote Freiheitliche Partei Österreichs (seit 1955) französisch Verfassung des Deutschen Reiches vom 28. März 1849 (Frankfurter Reichsverfassung), RGBl. S. 101 Festschrift Verfassungsentwurf der GDVP Großdeutsche Volkspartei (Österreich, 1920 – 1934) Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland vom 23. Mai 1949, BGBl. S. 1 (aktuelle Fassung laut BGBl. I S. 2347) gegebenenfalls Geschäftsordnung Heft Hamburg (als Land) Handbuch des Deutschen Staatsrechts (1930) Hervorhebung Hessen Herausgeber(-in) Halbsatz Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland (1990/2008) in der Fassung im Sinne der/des im Sinne von in Verbindung mit inklusive insbesondere Instrumentum Pacis Osnabruecense (lat. Osnabrücker Teil des Westfälischen Friedensvertrages) Juristische Blätter Entwürfe der (deutsch)österreichischen Verfassung von H. Kelsen (Nr. I bis V) Kapitel Kommunistische Partei Deutschlands (1919 – 1956) Kommunistische Partei Österreichs (seit 1918) Kärnten Entwurf zu einer Verfassungsurkunde für das Kaisertum Österreich 1848/49 (Kremsier Entwurf) lateinisch Lieferung Landesgesetzblatt Litera Geschäftsordnung der Landesregierung Geschäftsordnung des Landtages
24 LVerf MecklSchw MecklStr MecklV n. F. Nds NJW NÖ Nr. NRW NS NVwZ ÖJZ Old OÖ ÖVA ÖVP ÖZÖR Preuß RegVorl RGBl. RhPf Rn. RV
Abkürzungsverzeichnis
Landesverfassung Mecklenburg-Schwerin Mecklenburg-Strelitz Mecklenburg-Vorpommern neue Fassung Niedersachsen Neue Juristische Wochenschrift Niederösterreich Nummer Nordrhein-Westfalen Nationalsozialismus Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht Österreichische Juristen-Zeitung Oldenburg Oberösterreich Österreichisches Verwaltungsarchiv Österreichische Volkspartei (seit 1945) (Österreichische) Zeitschrift für öffentliches Recht Preußen Regierungsvorlage Reichsgesetzblatt (für Österreich 1849 – 1918; für Deutschland 1871 – 1945) Rheinland-Pfalz Randnummer Die Verfassung des Deutschen Reiches vom 16. April 1871, BGBl. des Norddeutschen Bundes Nr. 16, S. 63 S. Seite; Satz s. o. siehe oben s. u. siehe unten Saarl Saarland Sachs Sachsen SachsAnh Sachsen-Anhalt SchaumbLippe Schaumburg-Lippe SchlH Schleswig-Holstein SDAP Sozialdemokratische Arbeiterpartei Deutschösterreichs (1918 – 1934) Slbg Salzburg (als Land) sog. sogenannt SPD Sozialdemokratische Partei Deutschlands (seit 1890) SPÖ Sozialdemokratische Partei Österreichs (seit 1945) StGG Staatsgrundgesetz vom 21. Dezember 1867 über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger (für Österreich), RGBl. 1867/142 StGH Staatsgerichtshof Stmk Steiermark TE Verfassungsentwurf der Tiroler Landesregierung Thür Thüringen u. a. unter anderem US Die Vereinigten Staaten von (Nord-)Amerika betreffend USA Die Vereinigten Staaten von (Nord-)Amerika usw. und so weiter
Abkürzungsverzeichnis v. v. a. V-ÜG Vbg Verf. VfGG VfGH VfSlg vgl. VorlVerf VVDStRL WO WRV WStV Württ z. B. ZfV zit.
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von/vom vor allem Verfassungs-Überleitungsgesetz Vorarlberg Verfassung; Verfasser Verfassungsgerichtshofgesetz 1953 (Österreich), BGBl 1953/85 Verfassungsgerichtshof (Österreich) Sammlung der Erkenntnisse und wichtigsten Beschlüsse des VfGH (Österreich) vergleiche Vorläufige Verfassung Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer Wahlordnung Die Verfassung des Deutschen Reichs vom 11. August 1919 (Weimarer Reichsverfassung), RGBl. 1919, S. 1383 Verfassung der Bundeshauptstadt Wien vom 15. Oktober 1968 (Wiener Stadtverfassung), LGBl. 28/1968 Württemberg zum Beispiel Zeitschrift für Verwaltung zitiert
Einleitung A. Die Notwendigkeit des Homogenitätserfordernisses in der Bundesverfassung Der Bundesstaat ist als Erscheinungsform des Föderalismus ein in Teileinheiten gegliederter Gesamtstaat. Die föderative territoriale Gliederung geht davon aus, dass die Gliedstaaten eines Bundesstaates über ein bestimmtes Niveau der Eigenständigkeit verfügen. Dies bedeutet aber nicht, dass der Bundesstaat rechtlich und politisch zersplittert ist. Die Gliedstaaten einerseits und der Oberstaat andererseits gehören gemeinsam zu dem „einheitlichen“ Bundesstaat, weil der Sinn eines jeden Staatsgefüges in der effektiven Ausübung der einigen, vom Volk ausgehenden Staatsgewalt auf dem gesamten Staatsgebiet besteht. Diese „polyzentrische Einheit des Bundesstaates“1 entspricht der verfassungsrechtlichen Natur der föderalistischen Ordnung. Deswegen bringt sie die Wirkungs- und Rechtseinheit des föderativen Gesamtstaates hervor. Um die Funktionsfähigkeit der gesamten Verfassungsordnung des Bundesstaates zu gewährleisten, ist es notwendig, die öffentlich-rechtliche und politische Kongruenz zwischen den Landesverfassungen und der Bundesverfassung einerseits sowie andererseits den Landesverfassungen untereinander in ihrer gegenseitigen Verbindung zu sichern. Aus dieser Sicht muss die bundesstaatliche Verfassung einen gewissen Mindeststandard an Übereinstimmung der institutionellen Gefüge zwischen den Ländern und dem Bund enthalten. Diese axiomatische Annahme wird in der Staatsrechtslehre als „Homogenität“ bezeichnet. Der Rechtsbegriff „bundesstaatliche Homogenität“ beschreibt ein bestimmtes Verhältnis innerhalb eines Bundesstaates, in dem sich mehrere, grundsätzlich selbständige Teileinheiten der gesamten Rechtsordnung zueinander befinden.2 Homogenität bedeutet Gleichartigkeit: „Bei der Gleichartigkeit bleibt im Unterschied zur Gleichheit immer noch eine irgendwie geartete Ungleichheit bestehen, sie ist die Ähnlichkeit innerhalb derselben Art.“3 Als besonderes innerbundesstaatliches Verhältnis dient die Homogenität zur lebensfähigen Einheitlichkeit des verbundenen 1 Isensee, Josef, Idee und Gestalt des Föderalismus im Grundgesetz, in: Isensee, Josef/ Kirchhof, Paul (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Band VI: Bundesstaat, 3. Aufl., Heidelberg 2008, § 126 Rn. 18. 2 Vgl. Werner, Peter, Wesensmerkmale des Homogenitätsprinzips und ihre Ausgestaltung im Bonner Grundgesetz, Berlin und Frankfurt a. M. 1967, S. 10 f. 3 Lang, Kaspar, Die Philosophie des Föderalismus. Versuch einer ethisch fundierten Staatsphilosophie der Verantwortung, Zürich 1971, S. 90.
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Staatswesens durch die Angleichung, Anpassung und Ausgleichung der Bundesglieder untereinander und mit dem Gesamtstaat.4 In der Fachliteratur besonders des 20. Jahrhunderts herrscht in Bezug auf die bundesstaatliche Homogenität das Verständnis eines unentbehrlichen, notwendigen Wesensmerkmals einer jeden stabilen Bundesstaatsordnung vor. In der deutschsprachigen Staatsrechtslehre ist allgemein anerkannt, dass die bundesverfassungsrechtlich bestimmten Homogenitätserfordernisse für eine befriedigende „Arbeitsfähigkeit“ des Bundesstaates von enormer Wichtigkeit sind.5 Einem solchen Verständnis der bundesstaatlichen Homogenität liegt eine doppelte Bedeutung zugrunde: Einerseits übt das Homogenitätsgebot eine integrierende Wirkung auf die unveräußerliche innere Geschlossenheit des Bundesstaates aus. „Nur die Homogenität, die Voraussetzung eines bestimmten und einheitlichen Funktionierens gestattet es, ohne Gefährdung der politischen Einheit des Staatswesens […] als impermeabel […] zu behandeln.“6 Als ein „unerläßliches, in der Natur des Bundeskörpers gegründetes Gesetz“7 verstand Johann Caspar Bluntschli für die Schweizerische Eidgenossenschaft – den ersten europäischen Bundesstaat in seinem modernen Verständnis – die notwendige Systemharmonie zwischen den Gliedstaatsverfassungen und der Bundesverfassung. Es ist daher die Aufgabe einer jeden bundesstaatlichen Verfassungsordnung, diese innere Harmonie herzustellen und zu sichern, was durch die bundesverfassungsrechtliche Verankerung des Homogenitätsprinzips möglich ist. Nach Carlo Schmid ist tatsächlich „eine grundsätzliche Heterogenität zwischen der Verfassungswirklichkeit des Bundes und der Länder eine Unmöglichkeit und die Gewährleistung der Homogenität eine selbstverständliche Pflicht des Bundes.“8 Zugleich ist es aber wichtig, bei der Gewährleistung des bestimmten bundesstaatlichen Homogenitätsgebotes der Rolle des Oberstaates Rechnung zu tragen und daher „auch die Verfassungshoheit als Essentialia gliedstaatlicher Eigenständigkeit zu wahren.“9 Andererseits birgt die Natur des Bundesstaates, der aufgrund eines besonderen inneren Verhältnisses den Oberstaat und die verfassungsautonomen Gliedstaaten in 4
Vgl. Lang, Die Philosophie des Föderalismus, S. 89 ff. Vgl. Werner, Wesensmerkmale des Homogenitätsprinzips, S. 13 f.; Messmer, Georg, Föderalismus und Demokratie, Zürich 1946, S. 120; Mangoldt, Hermann von, Das Bonner Grundgesetz, Berlin u. a. 1953, S. 178. 6 Forsthoff, Ernst, Die öffentliche Körperschaft im Bundesstaat, Tübingen 1931, S. 110 f. 7 Bluntschli, Johann Caspar, Die neue Bundesverfassung der Schweiz, in: Bluntschli, Johann Caspar (Hrsg.), Blätter für politische Kritik, München 1848, S. 139. 8 Schmid, Karl (Carlo), Die politische und staatsrechtliche Ordnung der Bundesrepublik Deutschland, in: Die Öffentliche Verwaltung, 1949, H. 11, S. 201, 204. 9 Dittmann, Armin, Verfassungshoheit der Länder und bundesstaatliche Verfassungshomogenität, in: Isensee, Josef/Kirchhof, Paul (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Band VI: Bundesstaat, 3. Aufl., Heidelberg 2008, § 127 Rn. 2. 5
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einem Gesamtstaat vereinigt, die Gefahr, dass politische und rechtliche Spannungen sowie innere Konflikte entstehen können.10 Gerade das bundesverfassungsrechtlich bestimmte Homogenitätsgebot soll eben diese Gefahr minimieren und den „extremen Konfliktsfall“ (Carl Schmitt) innerhalb des Bundes11 ausschließen. Mit Rücksicht auf die schützenswerte gliedstaatliche Verfassungsautonomie dient das bundesstaatliche Homogenitätsgebot als ein verfassungsrechtliches Mittel der Konfliktverhütung und -bewältigung innerhalb des Bundesstaates, das eine notwendige Vorbedingung der ansatzlos funktionierenden Gesamtrechtsordnung bildet.12 Es wäre aber falsch, das bundesstaatliche Homogenitätsgebot nur auf die Auflösung der Ausnahmesituation des „extremen Konfliktsfalls“ zu reduzieren und die Geltung des Homogenitätsprinzips auf die Beilegung eines bereits aufgekommenen, scharfen innerstaatlichen Konfliktes zu beschränken. Statt des materiellrechtlichen Wesens schreibt Peter Lerche der bundesstaatlichen Homogenität einen rein verfahrensrechtlichen Sinngehalt zu. Ein so geartetes bundesverfassungsrechtliches Gebot muss auf „die Konflikte des täglichen Betriebs“ ausgerichtet werden, um ein Mindestmaß an Geschlossenheit der Gliedstaaten und des Oberstaates bei der Beilegung gewöhnlicher Störungen in der Zusammenarbeit zu sichern.13 Das bedeutet, dass das bundesverfassungsrechtlich bestimmte Homogenitätsgebot zuallererst die Rechts- und Wirkungseinheit des Bundesstaates sowie (idealerweise) die Abwehr von Konfliktsituationen und die normale Funktionsweise der Bund-Länder-Beziehungen gewährleisten muss und erst dann als verfassungsrechtliche Grundlage für die Anwendung von Zwangsmitteln wie Bundeszwang oder Bundesexekution herangezogen werden kann.
B. Das strukturelle (organisationsrechtliche) Homogenitätsgebot als eine der normativen Erscheinungsformen der bundesstaatlichen Homogenität Abgesehen vom begrifflich einheitlichen Verständnis der bundesstaatlichen Homogenität (als Mindestmaß an Übereinstimmung der Gesamt- und Teilrechtsordnungen im Bundesstaat) äußert sich diese in vielfältiger Weise in den föderalen 10
Vgl. Stern, in: Kahl, Wolfgang/Waldhoff, Christian/Walter, Christian (Hrsg.), Bonner Kommentar zum Grundgesetz, gegründet 1950, Heidelberg 2018, Art. 28 Rn. 7 (Lfg. Dezember 1964); Dittmann, in: HStR VI, 2008, § 127 Rn. 2. 11 Vgl. Schmitt, Carl, Verfassungslehre, 3. Aufl., Berlin 1957, S. 375 f. 12 Vgl. Stern, in: Kahl/Waldhoff/Walter, BK, Art. 28 Rn. 4, 7; Werner, Wesensmerkmale des Homogenitätsprinzips, S. 30. 13 Vgl. Lerche, Peter, Föderalismus als nationales Ordnungsprinzip, in: Bülck, Hartwig/ Lerche, Peter/Weber, Werner/Stern, Klaus (Hrsg.), Föderalismus als nationales und internationales Ordnungsprinzip. Die öffentliche Sache. Berichte und Aussprache zu den Berichten in den Verhandlungen der Tagung der Deutschen Staatsrechtslehrer zu Münster (Westfalen) vom 3. bis 6. Oktober 1962, Berlin 1964, S. 84 ff., 87.
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Einleitung
Beziehungen. Die Homogenität kann im Bundesstaat auf verschiedene Weise verwirklicht werden: a) In vertikaler Hinsicht zwischen dem Oberstaat und den Gliedstaaten (sog. BundGliedstaats-Homogenität14). Eine solche „vertikale“ Homogenität fordert gewissermaßen eine Ähnlichkeit der Länderrechtsordnungen gegenüber dem Oberstaat als der Teilrechtsordnung des Bundes und zugleich dem Hüter der einheitlichen Gesamtstaatsrechtsordnung. b) In horizontaler Hinsicht zwischen den Gliedstaaten (sog. horizontale Homogenität15). „Horizontale“ Homogenität innerhalb des Bundesstaates erfordert, dass die Teileinheiten in einer Wechselbeziehung zueinander stehen sowie sich gegenüberstellen und vergleichen lassen.16 c) Unterscheidung zwischen einerseits struktureller (organisationsrechtlicher) und andererseits funktioneller (materiellrechtlicher) Homogenität. Kurzgefasst bedeutet strukturelle Homogenität die Notwendigkeit einer bundesverfassungsrechtlich grundsätzlichen Begrenzung der gliedstaatlichen Selbständigkeit bei dem eigenen Staatsaufbau (d. h. Staatsorganisation der Bundesglieder); von funktioneller Homogenität spricht man hingegen, wenn den Gliedstaaten „übereinstimmend bestimmte Rechte und Pflichten zugewiesen sind“17 (d. h. Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern). In dieser Arbeit wird es ausschließlich um das strukturelle Homogenitätsgebot in vertikaler Hinsicht gehen, das als bundesverfassungsrechtliche Normativbestimmung vom Oberstaat in Bezug auf die Staatsorganisation der Gliedstaaten in Deutschland und Österreich festgesetzt wird. Dies erfordert indes eine deutliche begriffliche Eingrenzung der strukturellen Homogenität hinsichtlich der gliedstaatlichen Staatsorganisation. Unter struktureller Homogenität versteht man generell die institutionelle Kongruenz zwischen Ober- und Gliedstaaten in den tragenden Strukturgrundsätzen und -elementen. Dazu gehören die Staats- (Republik oder Monarchie) und Regierungsformen (parlamentarisches oder präsidiales System), das politische Regime (Demokratie oder sonstige Hybridformen) sowie die Gestaltung der Staatsorgane der bundesstaatlichen Glieder (nach dem Prinzip der Gewaltenteilung). Das Ziel des bundesverfassungsrechtlich bestimmten strukturellen Homogenitätsgebotes liegt darin, ein erforderliches, institutionell gleichartiges Arrangement zwischen den selbständigen staatlichen Ebenen innerhalb des Gesamtstaates zu erreichen.18 14
Werner, Wesensmerkmale des Homogenitätsprinzips, S. 34. Löwer, Wolfgang, in: Münch, Ingo von/Kunig, Philip (Hrsg.), Grundgesetz, Kommentar, Band 1: Präambel bis Art. 69, 6. Aufl., München 2012, Art. 28 Rn. 6. 16 Vgl. Werner, Wesensmerkmale des Homogenitätsprinzips, S. 10. 17 Pleines, Wolfgang, Homogenität in einer europäischen bundesstaatlichen Verfassung auf Grund der Erfahrungen mit der Homogenität in deutschen Bundesstaaten, Kiel 1973, S. 10. 18 Vgl. Pleines, Homogenität, S. 9; Dittmann, in: HStR VI, 2008, § 127 Rn. 2. 15
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Die Eigenstaatlichkeit der Glieder eines Bundesstaates äußert sich u. a. in der Staatsorganisation. Die selbständige Regelung der eigenen Staatsorganisation gehört zu den wichtigsten Verfassungsfunktionen der Gliedstaaten. Durch das strukturelle Homogenitätsgebot kann vom Oberstaat ein gewisses Mindestmaß an Übereinstimmung in der Verfassungsordnung des Gesamtstaates und gleichzeitig das sog. Organisationsstatut der Länder gesichert werden.19 Die bundesverfassungsrechtliche Regelung der Staatsorganisation des Bundes bindet allerdings die Landesverfassungen bei der Konstituierung eines Systems der Staatsorgane ihres Landes nicht, weil die Organisationsverfassungen des Oberstaates und der Glieder in keinem Konkurrenzverhältnis stehen.20 Das bundesstaatliche strukturelle Homogenitätsgebot begründet aber sehr wohl die bundesverfassungsrechtliche Pflicht der Gliedstaaten, die bundesverfassungsrechtlich vorgegebenen Rahmen für die obligatorische Grundausstattung des Landes zu beachten.21 Als institutionelle Garantie hat das strukturelle Homogenitätsgebot zweifache Bedeutung: Einerseits bestätigt es die organisationsrechtlich selbständige Existenz der Länder als gleichberechtigter Glieder des Bundesstaates. Andererseits dient es zur Gewährleistung der in territorialer Hinsicht gleichmöglichen Grundrechte der Staatsbürger bei der Ausübung der Staatsgewalt durch die homogen gestalteten Staatsorgane der Bundesglieder. In Bezug auf Letzteres kann mitunter fraglich sein, inwieweit die unterschiedlichen Ausprägungen der – im Rahmen des bundesstaatlichen Homogenitätsgebotes bestimmten – verfassungstragenden Staatsorganisationsprinzipien auf Landesebene den bundeseinheitlichen Erfordernissen des Grundrechtsschutzes entsprechen (bspw. die mögliche Einführung einer von der gesamtstaatlichen abweichenden Regierungsform auf Landesebene oder die landesverfassungsrechtliche Verankerung des Zweikammersystems in einem Land, während die übrigen Gliedstaaten nur ein Einkammerparlament besitzen). Unter Berücksichtigung des Begriffs der Staatsorganisation, unter der traditionell die Kreation, Organisation und Zuständigkeit der obersten Staatsorgane verstanden wird22, wird für die Zwecke dieser Arbeit die Staatsorganisation in den deutschen und den österreichischen Bundesländern im engeren Sinne betrachtet: Dabei wird es um die Kreation (inkl. strukturelles Zusammenwirken), um Grundzüge der Organisation sowie ausschließlich um die konstitutiven Zuständigkeiten der gliedstaatlichen 19
Vgl. Dittmann, in: HStR VI, 2008, § 127 Rn. 2; Isensee, in: HStR VI, 2008, § 126 Rn. 86; Löwer, in: v. Münch/Kunig, GGK I, 6. Aufl. 2012, Art. 28 Rn. 9. 20 Vgl. Pestalozza, Christian, Einführung, in: Pestalozza, Christian (Hrsg.), Verfassungen der deutschen Bundesländer, 10. Aufl., Stand: 1. März 2014, München 2014, Rn. 167; Dittmann, in: HStR VI, 2008, § 127 Rn. 13; anders vgl. Kloepfer, Michael, Verfassungsrecht, Band 1: Grundlagen, Staatsorganisationsrecht, Bezüge zum Völker- und Europarecht, München 2011, § 9 Rn. 87; Isensee, in: HStR VI, 2008, § 126 Rn. 83. 21 Vgl. Löwer, in: v. Münch/Kunig, GGK I, 6. Aufl. 2012, Art. 28 Rn. 9; Isensee, in: HStR VI, 2008, § 126 Rn. 123. 22 Vgl. Ipsen, Jörn, Staatsrecht I: Staatsorganisationsrecht, 24. Aufl., München 2012, Rn. 19.
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Verfassungsorgane (Volksvertretung und Regierung) gehen. Die Justiz (Rechtsprechung) als Bestandteil der Staatsorganisation ist aus folgenden Gründen nicht Gegenstand der vorliegenden Arbeit: Zum einen darf der Justiz als allein vom Gesetz abhängige Rechtspflege im Unterschied zu Gesetzgebung und insbesondere Verwaltung, welche v. a. der staatlichen Integration dienen, keine politische Funktion zukommen. Abgeleitet davon integriert die Justiz zum anderen die Einzelstaaten zu einem Bundesstaat als einer Rechtsgemeinschaft, nicht hingegen als eine Staatsgemeinschaft; daher bewegt sich das Gerichtswesen innerhalb der Bundesstaatssysteme und kann sowohl in die ausschließliche Kompetenz des Bundes als auch in die gemeinsame Kompetenz des Bundes und der Länder fallen.23 Hier sei angemerkt, dass die strukturelle (organisationsrechtliche) Homogenität, die in der Staatslehre überwiegend als Unterbegriff des allgemeinen Oberbegriffs „Homogenität“ angesehen wird, nach Ernst Forsthoff demgegenüber selbst eine substantielle Angleichung (d. h. bundesstaatliche Homogenität) bedingt: „Es liegt in der Intention des Bundesstaats, daß der Fall eines mit der bundesstaatlichen Einheit nicht zu vereinbarenden Gebrauchs der gliedstaatlichen Freiheitsrechte nicht eintritt, daß die homogene Struktur der Glieder eine Homogenität der politischen Entscheidung bewirkt.“24
C. Die bundesverfassungsrechtliche Verankerung des Homogenitätsgrundsatzes Die bundesstaatliche Homogenität ist ein objektiv-rechtlich existierendes Wesensmerkmal des Bundesstaates. Wegen seiner konstitutiven Rolle beim Staatsaufbau wird der Homogenitätsgrundsatz durch die Bundesverfassung nicht geschaffen, sondern vorausgesetzt.25 Als einer der tragenden Grundsätze der Bundesstaatlichkeit ist das Homogenitätsprinzip aber eine abstrakte staatsrechtliche Kategorie, die erst durch das bundesverfassungsrechtlich bestimmte normative Gebot ihre Ausprägung erhält. Das bundesstaatliche Homogenitätsgebot, das auf einem unentbehrlichen Mindestmaß an Homogenität zwischen den Teilrechtsordnungen innerhalb des Bundesstaates beruht, bedeutet einerseits Verzicht auf Konformität und Uniformität der Gliedstaaten gegenüber dem Oberstaat, was im entgegengesetzten Fall einer echten Bundesstaatlichkeit widersprechen würde. Um andererseits die stabile Arbeitsfähigkeit der bundesstaatlichen Gesamtordnung zu gewährleisten und eine dazu grundsätzlich erforderliche Gleichartigkeit der Teilrechtsordnungen zu erreichen, rechtfertigt das 23
Vgl. Smend, Rudolf, Verfassung und Verfassungsrecht, München und Leipzig 1928, S. 99 f.; Schmitt, Verfassungslehre, S. 273 f.; Forsthoff, Die öffentliche Körperschaft im Bundesstaat, S. 34. 24 Forsthoff, Die öffentliche Körperschaft im Bundesstaat, S. 42. 25 Vgl. Forsthoff, Die öffentliche Körperschaft im Bundesstaat, S. 110.
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bundesstaatliche Homogenitätsgebot „die Notwendigkeit von Umgrenzung, Kontrolle und auch direktem Durchgriff des Bundes gegenüber der Verfassungsautonomie der Länder.“26 Zu beachten ist dabei indes, dass die Anerkennung der Eigenstaatlichkeit der Glieder des Bundesstaates eine volle, unmittelbare bundesverfassungsrechtliche Einmischung in ihren inneren Gestaltungsraum ausschließt. Diese Pflicht des Oberstaates, die Selbständigkeit der Gliedstaaten zu respektieren, begründet keine „durchdringliche“ unmittelbare Einwirkung der Bundesverfassung auf die gliedstaatliche Staatsorganisation. Eine solche Einwirkung muss sich an der gesamtstaatlichen Gleichartigkeit orientieren. Die bundesstaatliche Homogenität ist lediglich als ein innerstaatliches, die Teilordnungen des Bundesstaates bindendes Verhältnis definiert. Sie bildet einen abstrakten Begriff des Staatsrechts, der das notwendige bundesstaatliche Homogenitätserfordernis nur in der Mitte zwischen den dem Bundesstaat inhärenten Polen (zentripetalen und zentrifugalen Tendenzen) verortet. Daraus folgt die Erforderlichkeit einer rechtlichen Verankerung des Gegenstandes der bundesstaatlichen Homogenität. Die Grenzen des Gegenstandes des bundesstaatlichen Homogenitätsgebotes und das Ausmaß, in dem die Homogenität zur Sicherung der Funktionsfähigkeit des Bundesstaates dient, sind unterschiedlich und lassen sich nicht auf eine allgemeingültige konkrete Formel bringen.27 Die Verwirklichung des Homogenitätsgebotes ist eine subjektive verfassungspolitische Entscheidung eines jeden Staates, die von unterschiedlichsten Faktoren (historischen, politischen, nationalrechtlichen Besonderheiten, Einwirkungen von außen) abhängt28: „Eine weitgehend wertindifferente Bundesverfassung wird diese Grenzen grundsätzlich weiterziehen können als eine wertbestimmte Bundesverfassung.“29 Das Ziel dieser Arbeit besteht darin, das theoretische Verständnis sowie die konkrete bundesverfassungsrechtliche Ausgestaltung des Homogenitätsgebotes in verschiedenen historischen Phasen zu untersuchen sowie die für seine Ausgestaltung entscheidungserheblichen Faktoren zu erörtern. Das abstrakte Homogenitätsprinzip wird durch die bundesverfassungsrechtlich bestimmten Normen ausgefüllt, die in ihrer Gesamtheit den Gegenstand des Homogenitätsgebotes bilden. Dies erfolgt aber keineswegs willkürlich: Da bundesstaatliche Homogenität eine gewisse Übereinstimmung zwischen den Teilrechtsordnungen bedeutet, muss eine solche, in den bundesverfassungsrechtlichen Normativbestimmungen geäußerte Übereinstimmung an die beiderseitigen substantiellen und strukturellen Merkmale der Gliedstaaten und des Oberstaates anknüpfen. Es handelt sich aber nur um solche dem Homogenitätsgebot zugrunde liegenden Merkmale, die der Gewährleistung der bundesstaatsnotwendigen Existenz dienen. 26 27 28 29
Stern, in: Kahl/Waldhoff/Walter, BK, Art. 28 Rn. 8. Vgl. Jellinek, Georg, Die Lehre von den Staatenverbindungen, Wien 1882, S. 306 f. Vgl. Stern, in: Kahl/Waldhoff/Walter, BK, Art. 28 Rn. 8. Werner, Wesensmerkmale des Homogenitätsprinzips, S. 30.
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Dazu gehören zuallererst die der bundesstaatlichen Gesamtordnung entsprechenden Staatsformprinzipien. Fraglich aber ist, wie diese „Bauelemente“ des Bundesstaates (bspw. Demokratie und Gewaltenteilung) im bundesstaatlichen Homogenitätsgebot zum Tragen kommen sollen. In welchem Grad muss die auf oberstaatlicher Ebene angenommene Demokratieform (in organisationsrechtlicher Hinsicht) in den Verfassungen der Gliedstaaten widergespiegelt werden? Wie kann sich die Gewichtung der Rolle des Parlaments und der Regierung im Rahmen der Gewaltenteilung auf Landesebene von deren Gewichtung auf Bundesebene unterscheiden? Diese Fragen werden in rechtshistorischer sowie -vergleichender Hinsicht den Fokus dieser Arbeit bilden. Der selbständige Gestaltungsspielraum der Gliedstaaten hängt nicht nur vom Umfang ab, sondern auch von der Intensität der bundesverfassungsrechtlichen Homogenitätsregelung. Eine bundeseinheitliche Regelung der Staatsorganisation in den Gliedstaaten ist ausgeschlossen; denn eine solche Regelung würde zur Störung der Rechtsnatur des Bundesstaates führen. Das bundesstaatliche Homogenitätsgebot soll auf die Bindung der gliedstaatlichen Verfassungsordnungen „nur an [den] leitenden Prinzipien“30 hinauslaufen. Es darf daher nur die grundsätzlichen Rahmen („Richtlinien“31) für u. a. die Staatsorganisation der Bundesstaatsglieder bestimmen. Die ausführliche Regelung, d. h. die Ausgestaltung im Einzelnen, muss den Gliedstaaten vorbehalten bleiben.32 Das bundesstaatliche Homogenitätsgebot wird umso detaillierter geregelt, „je intensiver die Verzahnung und Durchdringung von bundes- und gliedstaatlichen Funktionen ist, je mehr Gewicht der politischen Eigenständigkeit der Glieder beigelegt und damit die Alternative unmittelbarer Einwirkung verdrängt wird.“33 Dies ist von hervorragender Bedeutung, damit die konkreten bundesverfassungsrechtlichen Normen die Quintessenz des Homogenitätsprinzips nicht völlig verwischen. Die Bundesverfassung darf nur ein Höchstmaß an Homogenität festschreiben, bei dessen Überschreitung die konstitutive Bedeutung des Homogenitätsgrundsatzes als „Mindestmaß an Übereinstimmung“ zunichte gemacht und die Echtheit der konkreten Bundesstaatlichkeit in Frage gestellt werden. Problematisch aber ist, wo genau eine solche Obergrenze zu verorten ist. Diese Frage lässt sich nur bedingt beantworten. Mit Sicherheit kann man nur sagen, dass dem bundesstaatlichen Homogenitätsgebot nicht der Charakter einer unmittelbar durchgreifenden Bundesverfassungsnorm zum Zweck einer weitgehenden, uniformierenden Gleichschaltung der Gliedstaaten zukommen darf.34
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Stern, in: Kahl/Waldhoff/Walter, BK, Art. 28 Rn. 21. Anschütz, Gerhard, Die Verfassung des Deutschen Reichs vom 11. August 1919. Ein Kommentar für Wissenschaft und Praxis, 14. Aufl., Berlin 1933, Art. 17 S. 130. 32 Vgl. Werner, Wesensmerkmale des Homogenitätsprinzips, S. 37 f. 33 Werner, Wesensmerkmale des Homogenitätsprinzips, S. 30 f. 34 Vgl. Werner, Wesensmerkmale des Homogenitätsprinzips, S. 33 31
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In Bezug auf das Organisationsstatut der bundestaatlichen Glieder sind die folgenden Auffassungen strittig. Gegenstand der Kontroverse ist dabei, dass einerseits die Bestimmungen der Bundesverfassung gemeinsam mit dem bundesstaatlichen Homogenitätsgebot die Landesverfassungen ausmachen und dementsprechend für die Auslegung einer gliedstaatlichen Verfassung auch die Normen der Bundesverfassung, die in die Landesverfassung hineinwirken, zu berücksichtigen seien35. Andererseits können die Staatsformgrundsätze des Bundesstaates in Ergänzung zum bundesverfassungsrechtlich bestimmten Homogenitätsgebot auch durch einfache bundesstaatliche Gesetze für die Gliedstaaten konkretisiert werden.36 In dieser Arbeit soll mit rechtshistorischen sowie -vergleichenden Methoden der Versuch unternommen werden, die unterschiedlichen vertretenen Ansichten zu bestätigen bzw. zu widerlegen. Das Hauptziel dieser Arbeit besteht in der staatsrechtlichen Beurteilung des bundesstaatlichen Homogenitätserfordernisses in Bezug auf die Staatsorganisation der deutschen und österreichischen Länder im historischen Kontext. Die Struktur der Arbeit entspricht dem obengenannten Forschungsziel. Das erste Kapitel behandelt sowohl die erst im 17. Jahrhundert entstandenen theoretischen Studien der Notwendigkeit der Homogenität innerhalb des Bundesstaates als auch die dem Homogenitätsgebot nach heutigem Verständnis vorangegangenen Rechtsformen und -regelungen in Bezug auf die Landesstaatsorganisation während des späteren Alten Deutschen Reiches und nach dessen Zerfall. Das zweite Kapitel wird der Ausgestaltung des bundesstaatlichen Homogenitätsgebotes in der sich im 19. Jahrhundert herausbildenden deutschsprachigen Bundesstaatslehre und deren Einfluss auf die Reichsverfassungsakte gewidmet. Im dritten Kapitel werden die bereits demokratisch orientierten Verfassungsrechtsgrundlagen für die homogenen Staatsorganisationen der Gliedstaaten aus vergleichender Perspektive in der Weimarer Republik und der Ersten Österreichischen Republik sowie die weiterentwickelten Ideen in Bezug auf den Bundesstaat untersucht. Das letzte Kapitel wird den modernen Konzepten des strukturellen Homogenitätsgebotes nach den gegenwärtig geltenden Verfassungen Deutschlands und Österreichs sowie ihrer Länder gewidmet.
35 36
Vgl. BVerfGE 1, 208, 227 ff. Vgl. Kloepfer, Verfassungsrecht I, § 9 Rn. 246.
Kapitel I
Die Entstehung der germanischen Bundesstaatslehre in der Zeit des Vorkonstitutionalismus A. Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation nach dem Westfälischen Frieden: Ius territoriale der Reichsstände 1. Vorbemerkungen Der Paradigmenwechsel einerseits in der allgemeinphilosophischen Weltanschauung (der Übergang vom „gottesfürchtigen Mittelalter“ über die dem Menschen und der Wissenschaft zugewandte Renaissance zur Neuzeit) und andererseits in den Staats- und Rechtswissenschaften (das Wiederaufleben der Naturrechtslehre aus der griechisch-römischen Antike) bedingten notwendig auch Veränderungen im Verständnis der Machtverhältnisse innerhalb der Staaten. Abgesehen davon, dass sich Machtverhältnisse langsam wandelten, setzte sich schrittweise auch die deutliche Auffassung von der rechtlichen Möglichkeit einer anderen territorialen Gliederung des Staates oder einer Vereinigung mehrerer Staaten durch – nicht nur aufgrund eines völkerrechtlichen Vertrages zu einem militärischen Zweck, sondern aufgrund eines staatsrechtlichen Vertrages zum Zweck des gegenseitig vorteilhaften Zusammenlebens. So entstand die Bundesstaatsidee, die aber noch in nur groben Umrissen formuliert wurde. Die Bundesstaatstheoretiker stießen auf Schwierigkeiten: Begriffe wie bspw. Souveränität (Staatshoheit), Staatlichkeit, Staatsgewalt u. a. ließen sich nicht ohne weiteres auf ein Bundesstaatswesen übertragen; sie waren ursprünglich nur auf den Einheitsstaat problemlos anwendbar. Eine besonders komplizierte Frage bildete die Anwendung der schon damals klassischen Souveränitätslehre in Bezug auf den zusammengesetzten Staat. Obwohl die Staatseinheit als eines der tragenden Prinzipien der Bundesstaatlichkeit vorbehaltlos anerkannt wurde, blieben gleichzeitig die Teileinheiten nach der herrschenden Meinung selbständig: Den Bundesgliedern wurde die Eigenstaatlichkeit mit allen daraus folgenden Konsequenzen zugeschrieben. Das Erfordernis der Staatseinheit, das später als bundesstaatliches Homogenitätsgebot in die Staatsrechtslehre eingeht, wurde in diesem Zeitabschnitt ausdrücklich nicht formuliert.
A. Ius territoriale der Reichsstände
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Eine andere Ursache für die Probleme rund um eine deutliche begriffliche Einordnung der notwendigen Homogenität innerhalb des Bundesstaates (inkl. der Staatsorganisation) bildete der Umstand, dass damalige Arbeiten zur Bundesstaatsproblematik eine stringente, methodisch fundierte Argumentation vermissen ließen und oft eher allgemeine Ausführungen enthielten. Bei der theoretischen Ausgestaltung des Bundesstaatswesens ging man vom Beispiel des Alten Deutschen Reiches aus, das ein komplexes und ungeordnetes quasistaatliches Gebilde darstellte. Es wäre jedoch ein Irrtum, dieser Periode die Bedeutsamkeit für die Entstehung der Homogenitätsidee abzusprechen. Denn damals wurden die theoretischen Grundlagen der germanischen Bundesstaatslehre geschaffen, die später (besonders in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts) noch eine wichtige Rolle spielen sollten. Nach der hier vertretenen Auffassung wäre die vorliegende Arbeit unvollständig, würde man die Zeit des späteren Alten Reiches außen vor lassen: Sie soll uns die wichtigsten Tendenzen bei der Entstehung der Bundesstaatslehre im altdeutschen Raum aufzeigen und somit zu einem besseren Verständnis der Weiterentwicklung der Ideen und der Verfassungsgesetzgebung hinsichtlich der rechtlichen Ausgestaltung der Staatsorganisation in den Bundesgliedern beitragen.
2. Die Positionsverbesserung der Landesherren als Voraussetzung für die Entstehung der germanischen Bundesstaatsidee Das Ergebnis des Dreißigjährigen Krieges war der Abschluss des Westfälischen Friedensvertrages 1648 zwischen dem Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation einerseits und Schweden und Frankreich andererseits. In Art. VIII § 1 des Osnabrücker Teils dieses Friedensvertrages (Instrumentum Pacis Osnabrucense, im Folgendem IPO) wurde von den vertragsschließenden Parteien das ius territoriale (d. h. die Territorialherrschaft) der Reichsstände1 (unter deren wurden nach Art. V § 9 IPO auch die Reichsstädte verstanden) anerkannt. Das war die erste formale Bestimmung, die allen Landesherren des Alten Reiches ihre Territorialgewalt zugestand. Dies hatte aber keine „konstitutive“ Bedeutung in dem Sinne, dass etwas kardinal Neues hinzutrat, das die Beziehungen zwischen dem germanischen Kaiser und den Landesherren stark hätte verändern können.2 Diese Formulierung diente jedoch als rechtliche Sicherung der Territorialherrschaft der Landesherren und bestätigte die seit dem 15. Jahrhundert stark ausgeprägte Tendenz zur Steigerung der Macht und Freiheit der Reichsstände, die besonders vom aufgrund des langwierigen 1 Hier und weiterhin wird unter dem (Reichs-)Stand ein territoriales und politisches Gebilde innerhalb des Alten Deutschen Reiches verstanden, soweit anderes aus dem Sinne des Textes nicht folgt. 2 Vgl. Willoweit, Dietmar, Deutsche Verfassungsgeschichte, 7. Aufl., München 2013, § 21 Rn. 11.
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Krieges der europäischen Großmächte im 17. Jahrhundert gesunkenen Einfluss der kaiserlichen Gewalt profitierten. In Art. VIII § 1 IPO handelte sich u. a. um „iuris territorialis“ (Genitiv Singular von „ius territoriale“), das in der deutschen Rechtssprache als „Landeshoheit“ wiedergegeben wurde.3 Geradeso dieser Begriff findet weite Verbreitung in der germanischen Staatsrechtslehre nach dem Westfälischen Frieden. Der Terminus „Landeshoheit“ entstammte dem seit dem 13. Jahrhundert in den Rechtsquellen terminologisch verwendbaren Begriff „iura territorialia“: Dies beschrieb bestimmte, aber möglichst abstrakt umschriebene einzelne Herrschaftsrechte (Landeshoheitsrechte), die den Landesherren (zumeist durch die Delegation vom Kaiser) zustanden.4 Seit dem Spätmittelalter wandelte sich das Verständnis der Landeshoheit als eines bloßen Inbegriffs der landesherrlichen Einzelrechte. Angesichts der Ausweitung der grundsätzlich unbegrenzten Machtbefugnisse der Landesherren und unter dem Einfluss des römischen Rechts und der zeitgenössischen französischen Lehrmeinungen (besonders der Souveränitätslehre von Jean Bodin) wird die Landeshoheit als „eine einheitliche, umfassende und obrigkeitliche Gewalt“ angesehen.5 Diesen Wandel der reichsständischen Landeshoheit bestätigt gerade der Westfälische Frieden. Ob den Reichsständen die Landeshoheit schon formal zugeschrieben ist, hängt mit der Frage nach ihrem Charakter zusammen. Das theoretische Problem liegt darin, dass die im IPO bestätigte Landeshoheit (ius territoriale) als echte Staatsgewalt mit allen dazu erforderlichen Attributen angesehen werden kann oder eben auch nicht. Abgesehen von der Vielzahl der Meinungen in der Fachliteratur über dieses Problem wäre es zulässig zu behaupten, dass die Landeshoheit der Territorien des Alten Deutschen Reiches als Vorläuferin der Staatsgewalt, als der Staatsgewalt angenäherte Herrschaftsgewalt betrachtet werden kann.6 Art. VIII § 1 IPO schrieb den Reichsständen zwar die Landeshoheit zu, aus der Fassung folgte aber keine eindeutige Antwort, ob die Territorialgewalt der Reichsstände als unabhängig von der Reichsgewalt verstanden wird. Man könnte mit relativer Sicherheit behaupten, dass die Auslegung des Art. VIII § 1 IPO dem Wortlaut nach die Unabhängigkeit der Reichsstände bei der Ausübung der Territorialherrschaft bestätigt: „libero iuris territorialis tam in ecclesiasticis quam politicis exercitio“, was die freie Ausübung der Landeshoheit bedeutet. Auch die Systematik des Art. VIII IPO bestätigt dies: § 2 hat den Reichsständen das Recht auf (faktisch unbeschränkte) Vertragsschließungskompetenz eingeräumt, insb. „unter sich oder mit Auswärtigen zu ihrer Erhaltung und Sicherheit Bündnisse 3
Vgl. Willoweit, Verfassungsgeschichte, § 22 Rn. 9. Vgl. Randelzhofer, Albrecht, Völkerrechtliche Aspekte des Heiligen Römischen Reiches nach 1648, Berlin 1967, S. 128 f.; Willoweit, Verfassungsgeschichte, § 22 Rn. 10. 5 Vgl. Randelzhofer, Völkerrechtliche Aspekte des HRR, S. 129 (u. a. Fn. 15). 6 Vgl. Randelzhofer, Völkerrechtliche Aspekte des HRR, S. 130 f. 4
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zu schließen“ (Abs. 2), die aber nicht gegen den Kaiser, das Reich und den Friedensvertrag gerichtet werden dürfen („ita tamen ne eiusmodi foedera sint contra imperatorem et imperium pacem que eius publicam vel hanc imprimis transactionem fiantque salvo per omnia iuramento quo quisque imperatori et imperio obstrictus est“). Andererseits verbietet es der Westfälische Friedensvertrag, ohne Einwilligung der Reichstände neue Steuern auszuschreiben, Anwerbungen oder Einquartierungen von Soldaten zu veranlassen oder neue Befestigungen innerhalb des Staatsgebiets der Stände im Namen des Reiches zu errichten (Abs. 1). Diese Vorschriften sprechen für die Landeshoheit als eine unabhängige Staatsgewalt der Reichsstände.7 Dagegen spricht aber die historische Auslegung des Art. VIII § 1 IPO, nach der die Territorialgewalt der Reichsstände tatsächlich eine echte, absolute und unabhängige Staatsgewalt war. Wie Johann Jacob Moser bemerkte, enthielt der von Frankreich vorbereitete Entwurf des Westfälischen Friedens bezüglich der in Art. VIII geregelten Frage die folgende Fassung: „Quod omnes dicti (Sacri Imperii) Principes & Status, generatim & speciatim, manutenebuntur in omnibus … suis Souveranitatis juribus.“8 Mit anderen Worten würde man den Ständen des Alten Reiches die souveränen, frei ausgeübten Rechte (gegenwärtig Befugnisse) zugeschreiben. „Wäre diese Formulierung in den Friedensvertrag aufgenommen worden, so wäre den Gliedstaaten eindeutig die Unabhängigkeit ihrer Staatsgewalt bestätigt worden“9, meinte Albrecht Randelzhofer. Der Zweck dieser Fassung ist offenkundig: Frankreich und Schweden wollten tatsächlich keine echte Souveränität der Reichsteileinheiten, sondern die Machtposition des germanischen Kaisers abschwächen und einfach seinen Einfluss auf die Stände ausdehnen. Die Voraussetzung dafür war u. a. die Machtstellung Schwedens innerhalb des Alten Reiches: 1630 – 1634 besaß die schwedische Krone ein großes Territorium zwischen Bamberg, Fulda und Münster als eigenes Lehn, das als Grundlage für eine potenzielle Hegemonie Schwedens im Reich dienen könnte. Die Ambitionen des schwedischen Königs Gustav Adolf auf die Kaiserkrone behinderten sowohl die starke Machtposition des habsburgischen Kaiserhauses als auch die traditionellen reichsständischen Freiheiten.10 Die vertragliche Zuerkennung der souveränen Reichsstände könnte auf das Anliegen Schwedens hindeuten, die nach der Schlacht bei Nördlingen (September 1634) verlorenen Machterwerbungen durch die Selbständigkeit der einzelnen Reichterritorien wiederzuerlangen. Die Feststellung des „Souveranitatis juribus“ (d. h. der rechtlichen Souveränität) der Reichsstände war für den germanischen Kaiser unzulässig, ohne dessen Unterschrift der Friedensvertrag nicht hätte geschlossen werden können. Deswegen wurde 7
Vgl. Randelzhofer, Völkerrechtliche Aspekte des HRR, S. 165. Zit. nach Moser, Johann Jacob, Von der Landeshoheit derer Teutschen Reichsstände überhaupt, in: Moser, Johann Jacob (Hrsg.), Neues teutsches Staatsrecht, Neudruck der Ausgabe 1766 – 1782, Osnabrück 1967 – 1968, S. 18. 9 Randelzhofer, Völkerrechtliche Aspekte des HRR, S. 166. 10 Vgl. Willoweit, Verfassungsgeschichte, § 21 Rn. 4. 8
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die von Frankreich vorbereitete Formulierung nicht in den Vertrag aufgenommen und in Art. VIII § 1 IPO fehlt jedwede Erwähnung der reichsständischen Souveränität. Dies erlaubte den verschiedenen Autoren zu behaupten, dass die Territorialgewalt der Reichsstände auch nach 1648 keine Qualität einer souveränen Staatsgewalt hatte.11 Die Reichsstände „erlangen mit dem Westfälischen Frieden zwar keine förmliche oder rechtliche Souveränität, aber eine faktisch weitreichende Landeshoheit“12. Diese Behauptungen münden in die Dichotomie in der Beurteilung des staatsrechtlichen Charakters der Gliedstaaten: Besitzen sie als bundesstaatliche Glieder eine vollkommene Souveränität („frei nach außen und nach innen zu handeln“) wie echte Staaten, oder sind sie nur die Teileinheiten eines Bundesstaates mit einem zwar umfassenden, aber zugleich begrenzten Wirkungsbereich? Zur Zeit des Westfälischen Friedens herrschte schon in der französischen Staatslehre die Idee der staatlichen Souveränität. In seinem Buch „Les six livres de la Re publique“ (franz. 1576, lat. 1586) formulierte Bodin den Souveränitätsbegriff auf folgende Weise: „Maiestas (franz.: souveraineté) est summa in cives ac subtidos legibusque soluta potestas“ („Die Souveränität ist eine höchste Gewalt über Bürger und Untertanen, gelöst von den Gesetzen“).13 Die staatliche Souveränität setzt die Machvollkommenheit im Inneren des Staates und volle Unabhängigkeit gegenüber allen anderen Herrschaftsmächten voraus. Bodin erklärte die Souveränität als eine besondere Eigenschaft des Staates. Deswegen können solche Gebilde als Staaten angesehen werden, die völlige Souveränität besitzen. Da die staatliche Souveränität unteilbar ist, unterschied Bodin nur zwei Staatsformen: Den Einheitsstaat und den Staatenbund. Eine gemischte Form (z. B. Bundesstaat) war für ihn undenkbar. Eine derart strikte Souveränitätslehre war in Bezug auf das Alte Deutsche Reich schwer anwendbar, was zu den verschiedenen Auslegungen des Souveränitätsbegriffs führte und in der germanischen Staatsrechtslehre die Entstehung des Konzepts eines zusammengesetzten Staates, dessen Mitglieder – die Staaten selbst – verschiedenartig und selbständig sind, bedingte. Bei der Untersuchung der Reichsstände hinsichtlich ihrer Staatlichkeit stellt sich die Frage nach der organisationsrechtlichen Selbständigkeit. Es steht außer Zweifel, dass die damalige Staatsorganisation sowohl des Reiches als auch der Reichsterritorien mit dem modernen Verständnis des Staates nicht gänzlich vergleichbar ist. Andererseits wäre die Ausübung der seit dem 13. Jahrhundert periodisch übertragenen Aufgaben und der damit erworbenen Rechte durch die Landesherren allein nicht möglich. Sie benötigten die Schaffung eines Beamtentums und die Einrichtung der Organe, die für den Staatsaufbau immer besondere Bedeutung haben.14 11
Vgl. Moser, Von der Landeshoheit derer Teutschen Reichsstände überhaupt, S. 17 f.; Randelzhofer, Völkerrechtliche Aspekte des HRR, S. 166. 12 Grzeszick, Bernd, Vom Reich zur Bundesstaatsidee. Zur Herausbildung der Föderalismusidee als Element des modernen deutschen Staatsrechts, Berlin 1996, S. 50. 13 Zit. nach Willoweit, Verfassungsgeschichte, S. 168. 14 Vgl. Randelzhofer, Völkerrechtliche Aspekte des HRR, S. 131 f.
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Die den Reichsständen zustehende Landeshoheit begründete ihre selbständige Staatsorganisation. Kraft der den Reichsständen garantierten Landeshoheit bestimmte der dortige Souverän selbst die Einrichtung der obersten Organe: In den Reichsterritorien wurde der Landesherr, in den Reichsstädten das höchste Organ (z. B. der Stadtrat) dazu berechtigt. Der Landesherr bzw. der Stadtrat war frei, die Organe einzurichten und deren Zuständigkeiten zu bestimmen. Diese organisationsrechtliche Selbständigkeit der Landeshoheitsträger ließ keinerlei Einmischung zu: weder vonseiten des Reiches (des Kaisers oder des Reichstages) noch anderer Reichsstände zu. Die Landesherren bzw. die höchsten Organe der Reichsstädte übten die Territorialgewalt durch die nachgeordneten Organe aus, die sie ohne Konkurrenz des Kaisers im eigenen Namen einführen konnten. Dies zeigt, dass die Landeshoheit tatsächlich alle Seiten des staatlich angenäherten Lebens der Reichsstände (inkl. die Staatsorganisation) umfasste.15 Die Staatsorganisation in den Reichsterritorien sah folgendermaßen aus: Die Herrschaftsgewalt wurde in den Händen des Landesherrn als des faktischen Landeshoheitsträgers konzentriert. Diese Tendenz hatte sich insb. in den großen Reichsterritorien verstärkt, als die in Frankreich entstandene Idee des Absolutismus seit Mitte des 17. Jahrhunderts weite Verbreitung erfuhr. Der Landesherr war das Einzelpersonorgan mit den gesetzgeberischen Befugnissen; im Verwaltungsbereich konnte nur er endgültige Entscheidungen treffen. Die zahlreichen, vom Landesherrn übernommenen Verwaltungsaufgaben wurden nach Sachgebieten zwischen verschiedenen Behörden aufgeteilt (hier sei indes angemerkt, dass diese Untergliederung und Kompetenzverteilung der reichsständischen Behörden objektiv-historisch gesehen nicht als dem modernen Staat innewohnend verstanden werden kann); diese Behörden waren dem (in der Bezeichnung meistens) Geheimen Rat untergeordnet. Der kollegial organisierte Geheime Rat bildete die Spitze der reichsständischen Behörden und koordinierte deren Zusammenarbeit, er spielte aber die Rolle eines beratenden Gremiums des Landesherrn. In den Reichsstädten bildete der Stadtrat (Bezeichnung: Senat oder Magistrat) das höchste Organ. Er bestand aus den Vertretern der städtischen Stände, die alle Entscheidungen bezüglich des städtischen Lebens trafen. Der Rat war auch die höchste Instanz der Stadtverwaltung, dem alle anderen Gremien für die Verwaltung der städtischen Lebensbereiche (wie Handel, Markt, Bauwesen usw.) untergeordnet wurden.16 So erfüllte der Rat einer Reichsstadt die Funktion als oberstes Verwaltungsorgan und gleichzeitig als Organ mit quasigesetzgeberischen Befugnissen. Abgesehen davon, dass der Westfälische Frieden die Herrschaftsgewalt der Reichsstände in einem faktisch unbegrenzten Handlungsbereich gewährleistet hat, führte er zu keiner grundlegenden Veränderung in der reichsständischen Staatsorganisation. Die Tendenz zum Absolutismus verstärkte die politische Stellung besonders der territorial großen Reichsstände und reichen Städte hinsichtlich des 15 16
Vgl. Randelzhofer, Völkerrechtliche Aspekte des HRR, S. 135 ff. Vgl. Randelzhofer, Völkerrechtliche Aspekte des HRR, S. 137.
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Reiches, dessen Staatsorgane im Vergleich zu den Organen der Stände schlechter ausgestaltet wurden und geringe Zuständigkeiten hatten. Unter anderem begünstigten diese organisationsrechtlichen Defizite des Alten Reiches als einer Art „Vorläufer“ eines Bundesstaates die Entstehung starker Nationalstaaten wie Brandenburg-Preußen und Österreich innerhalb des Reiches; deren Konfrontation wiederum bedingte später den Zerfall des römisch-deutschen Reiches.
3. Ludolph Hugo als Stammvater der Staatenstaatstheorie Anfang des 17. Jahrhunderts setzte sich die Erkenntnis durch, dass sich in Europa faktisch eine neue Form des dezentralisierten Staatswesens herausbildete, der einerseits im Vergleich zum Einheitsstaat und andererseits zum Bündnis ein jeweils unterschiedlicher Grad der Relation von Oberherrschaft und Unterordnung zukommt. In Anlehnung an die föderalistische Idee in der naturrechtlichen Staatslehre von Johannes Althusius hielten die Begriffe „Respublica composita“ (Philipp Heinrich von Hoen, 1615) und „Civitas composita“ (Christoph Besold, 1622) Einzug in den wissenschaftlichen Diskurs.17 Die ersten systematischen Grundlagen der entstehenden germanischen Bundesstaatslehre wurden aber durch die Einführung des Begriffs des Staatenstaates von Ludolph Hugo (1661) geschaffen.18 Anhand des angeführten Beispiels des Alten Reiches Deutscher Nation formulierte Hugo den Begriff des aus Staaten zusammengesetzten Staates, der „nie wieder völlig aus der Wissenschaft [verschwand]“19. Das war der erste Versuch einer Begriffsdefinition in der germanischen Staatsrechtslehre, der sich dem modernen Bundesstaatsverständnis näherte. Der Ausgangspunkt von Hugos Überlegungen war, dass sowohl das Reich als Gesamtstaat als auch die Reichstände als Teile des Gesamtstaates eine eigene Staatsqualität besitzen: „Es liegt vor Augen, dass unser Reich durch eine zwiefache Regierung gelenkt wird; denn das Reich als Gesammtheit bildet ein gemeinsames Staatswesen, und die einzelnen Gebiete, aus denen es zusammengesetzt ist, haben besondere Fürsten oder Magistrate, Gerichte und Rathsversammlungen und überhaupt ein besonderes, jenem höheren untergeordnetes Staatswesen.“20 Aus der 17 Vgl. Hoenonius, Philipp Heinrich, Disputationes politicae: Liber unus, Herborn 1615, Cap. 9 ff.; Besold, Christoph, Dissertatio politico-iuridica, de foederum iure, Straßburg 1622, Cap. 4 § 2 – 3. 18 Vgl. Brie, Siegfried, Der Bundesstaat. Eine historisch-dogmatische Untersuchung, Band 1: Geschichte der Lehre vom Bundesstaate, Leipzig 1874, S. 17; anders vgl. Gierke, Otto von, Johannes Althusius und die Entwicklung der naturrechtlichen Staatstheorien, 5. Aufl., Aalen 1958, S. 245 f.; zur Diskussion um die Frage der Priorität in der Formulierung des Bundesstaatsbegriffs vgl. Randelzhofer, Völkerrechtliche Aspekte des HRR, S. 78 Fn. 52. 19 Gierke, Althusius, S. 246. 20 Zit. nach Brie, Der Bundesstaat, S. 17.
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Konstruktion des im Alten Deutschen Reich vorhandenen sog. duplex regimen (oben als „zwiefache Regierung“ bezeichnet, d. h. die Verdoppelung der Herrschaftsgewalt) folgte eine faktische vertikale Gewaltenteilung zwischen dem Reich und den Reichsständen. Abgesehen davon, dass die Territorien für abhängige, dem Reich untergeordnete Staaten (Teil- oder Unterstaaten, „Analoga von Staaten“) erklärt wurden, die jedoch von den bloßen Provinzen und Reichskreisen zu unterscheiden seien, schrieb Hugo den Reichsständen eigene, von der Zentralgewalt unabhängige Herrschaftsgewalt zu.21 Die reichsständische Gewalt – „Superioritas territorialis“ – wird als „summa aemula Majestatis“22 formuliert. Danach scheint es, dass es sich bei der reichsständischen Gewalt einerseits kraft der Majestät um eine der höchsten Herrschaftsgewalt analoge Gewalt handelt. Andererseits ist diese Staatsgewalt nicht unbeschränkt: Die Zusatzbezeichnung „territorialis“ spricht dafür, dass diese „Superioritas“ sich auf den bestimmten Reichsstand bezieht und der höchsten Reichsgewalt unterworfen ist. Daraus, dass diese Gewalten aber gemeinsame Eigenschaften haben und in der Tat wesensverwandt sind, folgt, dass die Reichsstände auch Staaten sind.23 Die Unterordnung der Stände unter das Reich sollte der aus der Selbständigkeit der Territorialgewalten postulierten Staatlichkeit widersprechen. Hugo hielt aber an der Auffassung fest, dass das Erfordernis der höchsten Gewalt nicht unbedingt für das Verhältnis der Staaten zueinander gilt, weil die Oberherrschaft und die Unterordnung sehr verschiedene Grade zulassen.24 Um die Verwandtschaft der reichsständischen Herrschaftsgewalten mit der Reichsgewalt als höchster Macht im Gesamtstaat zu begründen, verwertete Hugo die Idee der prinzipiellen Teilung der Staatsherrschaft (Cap. II § 8). Wie Sigfried Brie bemerkte, ist aber die Frage der Übereinstimmung dieser Teilung mit der „universellen“ Natur der Staatsgewalt offengelassen.25 Das Problem bestand darin, dass der Versuch Hugos, die historisch gewachsenen innerstaatlichen Verhältnisse zwischen dem Reich und den Ständen einer theoretischen Grundlage zuzuordnen, auf dem Boden der modernen naturrechtlichen Staatsvorstellungen und dem gleichzeitig nach wie vor prävalenten mittelalterlichen Verständnis der Staatsgewalt als summa 21
Vgl. Gierke, Althusius, S. 246 (auch Fn. 49); Grzeszick, Vom Reich zur Bundesstaatsidee, S. 57 f. 22 Hugo, Ludolph, Dissertatio de Statu Regionum Germaniae et Regimine Principum Summae Imperii Rei Publicae Aemulo, Helmstadt 1661, Cap. I § IV, S. 13; deutsche Auflage: Hugo, Ludolf, Zur Rechtsstellung der Gebietsherrschaften in Deutschland. Übersetzt von Yvonne Pfannenschmid. Mit einem Vorwort von Jörg-Detlef Kühne, Berlin u. a. 2005. 23 Hugo, Dissertatio, Cap. II § IX, S. 37; Schönberg, Rüdiger Freiherr von, Das Recht der Reichslehen im 18. Jahrhundert. Zugleich ein Beitrag zu den Grundlagen der bundesstaatlichen Ordnung, Heidelberg und Karlsruhe 1977, S. 55. 24 Vgl. Brie, Der Bundesstaat, S. 19; Randelzhofer, Völkerrechtliche Aspekte des HRR, S. 79. 25 Vgl. Brie, Der Bundesstaat, S. 19 Fn. 10.
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potestas fußte.26 Der mittelalterlichen Staatsrechtslehre war die Idee einer einheitlichen, universellen Staatsgewalt fremd. Sie operierte mit dem Begriff des Herrschaftspluralismus, der nicht auf der umfassenden Gewalt des Herrschers, sondern auf seinen persönlichen, gegenständlich beschränkten Einzelrechten beruhte.27 Zur Zeit der Entstehung der germanischen Bundesstaatslehre war der Einfluss der mittelalterlichen Herrschaftsanschauung noch wesentlich und Bodins Vorstellungen von der staatlichen Souveränität waren in Deutschland noch nicht stark verbreitet. In seiner Theorie verwertete Hugo den neuen Souveränitätsbegriff nicht, weil im entgegengesetzten Fall die Erklärung der doppelten Staatlichkeit des Alten Reiches als Gesamtstaat mit der gleichzeitigen Oberherrschaft des Reiches im Widerspruch zur Souveränität im Sinne Bodins stünde.28 Deswegen läuft Hugos Idee der territorialen Teilung der Staatsherrschaften im Alten Deutschen Reich der (für ihn nicht existierenden) „einheitlichen“ Natur der Staatsgewalt zuwider und bedeutet keine Aufteilung oder Korrelation mit der Bodinschen Souveränität. Auf diesem Missverständnis der theoretischen Schlussfolgerungen von Hugo fußten die (besonders im 19. Jahrhundert verbreiteten) fehlerhaften Überlegungen, die von einer geteilten Souveränität des Bundesstaates ausgingen. Seine Bundesstaatstheorie – später als Staatenstaatstheorie bezeichnet – wurde auf den Gedanken reduziert, dass Ober- und Gliedstaaten innerhalb eines Bundesstaates gleichermaßen souverän seien. Um das Zusammenspiel der zum Alten Reich als Gesamtstaat angehörigen Territorien sowie des Reiches als Oberstaat, denen die Staatsqualität gleichermaßen zugeschrieben wird, zu erreichen, bedarf es einer Ähnlichkeit der Verfassungsstrukturen innerhalb des Bundesstaates. Eine solche Harmonie des Ganzen mit seinen Teilen setzt voraus, dass den Verfassungen der einzelnen Reichsstände die Reichsverfassung zur Nachahmung empfohlen wird, die aber auch nicht komplett genau nachzubilden ist, sondern der mannigfache Abweichungen von der oberstaatlichen Prägung eingeräumt sein sollen.29 Diese Ähnlichkeit, die als erste staatsrechtliche Ausprägung der Idee der erforderlichen bundesstaatlichen Homogenität betrachtet werden kann, bildet nach Hugo eines der notwendigen Wesensmerkmale eines aus einzelnen Staaten zusammengesetzten Staates.30 Abgesehen von der Wesentlichkeit solcher Merkmale der Gliedstaaten wie deren eigene Staatlichkeit und Homogenität mit der oberstaatlichen Ordnung handelte es sich bei der Beschreibung dieser Merkmale weniger um eine realistische Analyse der historischen Fakten, d. h. der damals, also nach dem erst unlängst zu Ende gegangenen Drei-
26
Vgl. Grzeszick, Vom Reich zur Bundesstaatsidee, S. 59. Vgl. bspw. Bünten, Wilfried, Staatsgewalt und Gemeinschaftshoheit bei der innerstaatlichen Durchführung des Rechts der Europäischen Gemeinschaften durch die Mitgliedstaaten, Berlin 1977, S. 82 (auch Fn. 70 f.). 28 Vgl. Grzeszick, Vom Reich zur Bundesstaatsidee, S. 59. 29 Vgl. Brie, Der Bundesstaat, S. 20. 30 Vgl. Hugo, Dissertatio, Cap. IV § 1; dazu auch Brie, Der Bundesstaat, S. 20 Fn. 18. 27
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ßigjährigen Krieg, herrschenden Verhältnisse; vielmehr war diese Beschreibung eher ein theoretisches Konstrukt.31
4. Kritik von Samuel Pufendorf: „undenkbar, dass ein Staat mehrere Staaten in sich enthalte“ Die Theorie Hugos, die den Gliedern des Alten Deutschen Reiches Staatsqualität zugeschrieben hat, war fast zeitgleich (1667) auch Kritik ausgesetzt. In enger Verbindung mit dem von Bodin geprägten Souveränitätsbegriff war Samuel von Pufendorf davon überzeugt, dass dem Wesen des Staates die Einheit der gesamtstaatlichen Gewalt mit der absoluten Unabhängigkeit derselben von jedem höheren Willen (lies: die staatliche Souveränität) zusteht.32 Aufgrund der universellen Natur der Gewalt eines souveränen Staatsgebildes erklärte Pufendorf es als unvorstellbar, „dass ein Staat mehrere Staaten in sich enthalte“33 (im Gegensatz zum Hugos „aus Staaten zusammengesetzten Staat“). Pufendorf stand auf dem Boden der strikten Souveränitätslehre. Seiner Meinung nach setzt staatliche Souveränität (lat. summitas) die Machtvollkommenheit voraus, die in der freien, unabhängigen Ausübung der Hoheitsrechte besteht. Eine solche Eigenschaft kann nur den Einzelstaaten zugeschrieben werden. Daraus folgt die Anerkennung nur der „reinen“ Staatsformen wie die Personalunion (d. h. der Einzelstaat als Gemeinwesen mit der Gebietseinteilung in unselbständige Provinzen) sowie der Staatenbund als eine natürliche Form der Staatenverbindungen. Letzteres bezeichnet Pufendorf als „Föderation (oder Bund) mehrerer Staaten“34, die aus souveränen Einzelstaaten besteht und selbst keinen Staat bildet. Dieser Unterschied zwischen den Staatsformen hängt von den Eigenschaften des Trägers der Souveränität ab. Ist der Souveränitätsträger eine einzelne Person, handelt es sich um eine Monarchie, wie im Fall der altdeutschen Fürstentümer (unterschiedlich war aber der Grad der Souveränität: Die Herrschaft der erblichen Fürsten war absolut, in den geistlichen Fürstentümern wurde sie durch die inneren Verträge mit den Ständen beschränkt). Es wäre jedoch durchaus möglich gewesen, dass während des Interregnums die staatliche Souveränität an das Volk oder an die Volksversammlung zurückfiel. In den Staaten, in denen der Träger der Souveränität hingegen kollektiver Natur war, konnte man von Demokratie bzw. Aristokratie sprechen. In einigen Reichsstädten, die aristokratisch regiert wurden, d. h., in denen das höchste Staatsorgan von den höchsten Ständen gewählt wurde und dieses Organ 31
Vgl. Menzel, Jörg, Landesverfassungsrecht, Stuttgart u. a. 2002, S. 41. Vgl. Brie, Der Bundesstaat, S. 22. 33 Zit. nach Brie, Der Bundesstaat, S. 23. 34 Vgl. Pufendorf, Samuel von, Die Verfassung des Deutschen Reiches, herausgegeben und übersetzt von Horst Denzer, Frankfurt a. M. und Leipzig 1994, Kap. VI § 9, S. 199, 201. 32
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(z. B. mit der Bezeichnung „Senat“) von der Bürgerschaft nicht kontrolliert wurde, stand die Herrschaft dem Senat zu. In anderen freien Städten, in denen der Magistrat von den Zünften gewählt und kontrolliert wurde, blieb die staatliche Souveränität dagegen beim Volk.35 Die Beurteilung der Staatsformen der Reichsstände war für Pufendorf nicht mit Schwierigkeiten verbunden. Keinesfalls handelte es sich um vollkommene Staaten, weil es als eine Irregularität angesehen werden kann, wenn einem Glied des Staatsgebildes irgendeine vorrangige Gewalt über die anderen Glieder zusteht. Gleichzeitig sind die Reichsterritorien vom Status der bloßen Provinzen weit entfernt.36 Da alle (einheitliche) Gewalt aus dem Gesamtstaat entsteht37, kommen demzufolge den Reichsständen die „souveränen“ Hoheitsrechte zu, die aber vom Reich kraft seiner Schwachheit übergetragen wurden.38 Hier blieb jedoch von Pufendorf der Umstand unberücksichtigt, dass der Westfälische Friedensvertrag der Landeshoheit als dem Inbegriff der reichsständischen Hoheitsrechte faktisch einen neuen rechtlichen Charakter zugeschrieben hatte. Dies war entgegen der früheren Praxis bereits keine innerstaatliche Vereinbarung zwischen dem Kaiser und den Reichsständen, sondern ein multilateraler völkerrechtlicher Vertrag, in dem drei souveräne Hoheitsträger die entstandene Landeshoheit der deutschen Reichsterritorien bestätigten. Pufendorf beschrieb das Alte Deutsche Reich als einen ungeordneten Staatenbund, der wegen seiner disharmonischen Staatsform ein Zwischengebilde („[…] nicht mehr eine beschränkte Monarchie, […] aber noch nicht eine Föderation mehrerer Staaten“39) darstellte. Ein so unharmonisches und ungeordnetes Staatswesen birgt die Gefahr, dass der aus mehreren Einzelstaaten zusammengefügte Bund „leichter inneren Unruhen oder gar der Auflösung [anheimfällt]“40. Daraus folgt die Notwendigkeit der substantiellen Homogenität: „Je fester und geordneter diese Einigung (gemeint ist der Staatenbund – Anm. des Verf.) ist, desto stärker ist die Gesellschaft.“41 Der Staatenbund soll eine gewisse Festigkeit erreichen, um einen harmonischen Körper zu bilden.42 Da die Staatsform die Quelle ist, aus der alle Regierungshandlungen fließen43, und anhand des Beispiels des Alten Deutschen Reiches, in dem die Stände unterschiedliche, schwer miteinander vereinbare 35 Vgl. Pufendorf, Verfassung, Kap. VI § 2, S. 181, 183, Kap. VI § 4, S. 185, Kap. VI § 7, S. 193. 36 Vgl. Pufendorf, Verfassung, Kap. VI § 2, S. 181 (besonders Fn. 1); Brie, Der Bundesstaat, S. 23. 37 Vgl. Pufendorf, Verfassung, Kap. VII § 7, S. 223. 38 Vgl. dazu Pufendorf, Verfassung, Kap. VII § 8, S. 225, 227. 39 Pufendorf, Verfassung, Kap. VI § 9, S. 199. 40 Pufendorf, Verfassung, Kap. VII § 7, S. 225. 41 Pufendorf, Verfassung, Kap. VII § 7, S. 223. 42 Vgl. Pufendorf, Verfassung, Kap. VII § 7, S. 225. 43 Vgl. Pufendorf, Verfassung, Kap. VI § 6, S. 185.
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Staatsformen besaßen, gelangte Pufendorf zu der Beurteilung, dass die Teile des Staatswesens dieselbe Staatsform haben müssen (d. h., es handelt sich um die erstmalig in der germanischen Bundesstaatslehre erwähnte Idee der Homogenität der Staatsformen innerhalb des zusammengesetzten Staates). Denn da verbündete Staaten mit verschiedener Staatsform (Monarchien oder Freistaaten) miteinander keinen stabilen, auf Dauer ausgerichteten Reichsverband nach Treu und Glauben gestalten können, müssen die Machtverhältnisse innerhalb dieser Einzelstaaten annähernd gleich sein und sich auf die gut ausgearbeiteten Grundgesetze stützen.44 Abgesehen davon, dass die Doktrin Pufendorfs die tatsächliche politische Lage des Reiches und die dort vorliegenden staatsrechtlichen Entwicklungstendenzen objektiv richtig beschrieb, konnte sie prinzipiell auf die erstarkte Staatenstaatstheorie nicht einwirken. Letztere Theorie erfuht in den folgenden Jahrzehnten eine Weiterentwicklung, worauf weiter unten näher eingegangen werden soll.
5. Die Annäherung an das moderne Bundesstaatsverständnis durch Gottfried Wilhelm Leibniz Wie Pufendorf war auch Gottlieb Wilhelm Leibniz (1677) ein Befürworter einer bundesstaatlichen Gestaltung. Er war aber anderer Auffassung als Bodin, was den Souveränitätsbegriff anbelangt. Unter dem Begriff „suprematus“ (d. h. Souveränität) verstand Leibniz eine volle Staatsgewalt, die dem Staatsgebilde zusteht. Nicht aber jedem territorialen Gemeinwesen wie einer Provinz, Stadt oder einem Stand kommt dieser Supremat zu: Es muss eine Anknüpfung an das Staatsvolk sein, das eine ausreichend starke Gewalt determiniert, um die Souveränität dem Staatswesen zuzurechnen.45 Das Reich besitzt die eigene, unbedingte höchste Gewalt, deren Träger der Kaiser ist, was die souveräne Staatlichkeit des Alten Deutschen Reiches bestätigt. Abgesehen davon, dass die reale Macht im Alten Reich offensichtlich bei den Landesherren lag, schrieb Leibniz aber den Reichsständen nur „potestas territorialis“ zu, d. h. die Landeshoheit. Da sich die den Landesherren ursprünglich übertragenen oder von ihnen erworbenen Hoheitsrechte aufgrund ihrer kontinuierlichen Ausübung auf einem bestimmten Territorium von einer bloßen Summe der Einzelrechte unterscheiden, standen den Reichsterritorien eigene, konstant ausgeübte Herrschaftsgewalten zu, die durch das Reich nie ganz gebrochen wurden.46 Kraft solcher Herrschaftsgewalten, die sich von den Landesherren auf den Territorien der Reichsstände unberührt ausbreiten, stehen die Fürsten nach Würde und Rang Königen gleich: 44
Vgl. Pufendorf, Verfassung, Kap. VII § 7, S. 225. Vgl. Schönberg, Das Recht der Reichslehen, S. 58. 46 Vgl. Leibniz, Gottfried Wilhelm, Tractatus De Jure Suprematus Ac Legationis Principum Germaniae, Editio Secunda, London 1678, Cap. XIV S. 60 ff.; Randelzhofer, Völkerrechtliche Aspekte des HRR, S. 80. 45
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„Jeder Fürst ist Kaiser in seinem Land“.47 Diese Landeshoheit ist aber keine vollständige Souveränität: Nach Leibniz ist es grundsätzlich möglich, dass ein Staatsgebilde trotz der Landeshoheit nicht souverän sei. Da die Beurteilung der Souveränität vom Umfang und von der Intensität der reichsständischen Gewalt abhängt, kann die Souveränität nur den großen Territorien zukommen.48 Der Kaiser als Oberhaupt des Reiches übte die absolute Souveränität („majestas“) aus, die u. a. die treuschuldigen Pflichten der Landesherren umfasste. Die oberstaatliche Souveränität schließt aber die prinzipielle Hoheitsgewalt der Landesherren nicht aus. Die Territorien bleiben jedoch dem Reich gleichzeitig unterworfen, weil so „der Kaiser die Quelle und gleichsam das Haupt der von den Fürsten in den Territorien ausgeübten Staatsgewalt [ist]“.49 Aus diesem Nebeneinander von Reich und Reichsständen folgte die Möglichkeit der mehrfachen Souveränitäten in einem Staat.50 Durch seine Theorie schrieb Leibniz sowohl dem Reich als auch den Reichsterritorien Staatsqualität zu und begründete weiter die Idee Hugos von einem Bundesstaat als einem aus mehreren Staaten zusammengesetzten Staat. Die Idee der Aufteilung der gesamten Staatsgewalt zwischen Reich und Reichsterritorien führte Leibniz zur Unterscheidung der zwei Formen von Staatenverbindungen: „confoederatio“ und „unio“. Erstere schließt die selbständigen Mitglieder ein, die eine eigene, souveräne Staatsgewalt besitzen. Dem Gesamtkörper steht keine eigene, gesamte Herrschaftsgewalt zu, er übt nur die Einzelbefugnisse aus, die ihm im Rahmen der vertraglichen Beziehungen von den Mitgliedern zugewiesen wurden. „Confoederatio“ bildet also keinen Staat, weil die absolute Souveränität bei den Mitgliedstaaten bleibt. Im Gegensatz dazu hat die letztgenannte Verbindungsart – „unio“ – eine eigene, nicht abgeleitete Hoheitsgewalt. Sie umfasst die wesentlichen Angelegenheiten des Gemeinlebens und gestaltet dazu erforderliche Gesamtorgane. Demnach ist „unio“ eine Rechtspersönlichkeit und hat eigene Staatlichkeit inne. Leibniz ordnete das Alte Deutsche Reich der „unio“ zu.51 Dafür sprach, dass zwischen dem Reich (vertreten durch den Kaiser) und den Reichsständen (vertreten durch die Landesherren bzw. Magistrate) keine vertraglichen Verhältnisse mehr bestanden, da schon der Westfälische Frieden die Kontinuität der reichsständischen Herrschaftsgewalt bestätigt hatte. Leibniz’ Idee der möglichen mehrfachen Souveränitäten innerhalb eines Staates kommt in der „unio“ zum Tragen: Der Oberstaat (d. h. das Reich) besitzt zweifellos die Souveränität, die Glieder (d. h. die Reichsstände) können selbständig 47 Leibniz, De Jure Principum Germaniae, Cap. XIII S. 40, vgl. auch Cap. XXX S. 93 f.; Schönberg, Das Recht der Reichslehen, S. 60. 48 Vgl. Leibniz, De Jure Principum Germaniae, Cap. XII S. 39 f.; Schönberg, Das Recht der Reichslehen, S. 58. 49 Schönberg, Das Recht der Reichslehen, S. 60. 50 Vgl. Randelzhofer, Völkerrechtliche Aspekte des HRR, S. 80 f. Fn. 64. 51 Vgl. Leibniz, De Jure Principum Germaniae, Cap. VI S. 17 f., Cap. IX S. 36 ff.; Grzeszick, Vom Reich zur Bundesstaatsidee, S. 64 f.
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graduell unterschiedlich sein. Dies hängt von dem Umfang und der Intensität der innerständischen Gewalt (s. o.) ab. Daraus folgt, dass die „unio“ ein zusammengesetzter Staat ist, der einerseits den souveränen Oberstaat und andererseits die souveränen Teilstaaten (große Territorien mit „suprematus“) oder die Staatsgebilde mit eigener Staatsqualität (die aber keine „suprematus“, sondern nur eine „potestas territorialis“ besitzen) umfasst. Das bedeutet, dass dem Bundesstaat die Teilstaaten mit einem unterschiedlichen Grad an Selbständigkeit angehören. In seiner Theorie erwähnt Leibniz den Begriff „bundesstaatliche Homogenität“ nicht explizit. Das Ziel eines – in moderner Diktion – „Bundesstaates“ sah er aber in der Herstellung innenpolitischer und rechtlicher Einheit. Die der Souveränität fast gleichbedeutende Selbständigkeit der Reichsterritorien müsste aber nicht im Widerspruch zur Hoheit des Oberstaates stehen und die staatsrechtliche Gebundenheit durch das Reich achten.52 Leibniz’ Ideen bedeuteten einen weiteren Fortschritt für die Staatenstaatstheorie und waren der Grundstein für eine neue, wissenschaftlicher begründete Form. Dem Begriff des Bundesstaates als einem aus mehreren Staaten zusammengesetzten Staates wurde von Leibniz „eine noch näher an moderne Fassungen des Bundesstaatsbegriffs streifende Prägung [verliehen]“.53
6. Die Entstehung des preußisch-österreichischen Dualismus: Johann Stephan Pütter als Hüter des Alten Deutschen Reiches Das 18. Jahrhundert begann mit einer innerstaatlichen Änderung des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation: Neben großen Teilstaaten wie dem reichsbildenden Österreich, Sachsen, Bayern und Hannover trat als neue Großmacht innerhalb des Reiches das mittelgroße Herzogtum Brandenburg-Preußen hervor. Im Januar 1701 wurde mit der Unterstützung des Kaisers das Königreich Preußen ausgerufen. Schon aber im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts gehörte Preußen zum Kreis der europäischen Großmächte. Diplomatisch oder meistens militärisch erwarb dieses nordostdeutsche Staatsgebilde neue Territorien und Verbündete in und außerhalb des Alten Reiches. Die zunehmende preußische Macht sollte früher oder später zur direkten Rivalität mit Österreich um die führende Rolle innerhalb des Reiches führen. Die Spannungen zwischen Preußen und Österreich wurden wegen des sog. Österreichischen Erbfolgestreites (1740 – 1748) verschärft, besonders aber der Erste Schlesische Krieg (1740 – 1742) führte zu einer offenen Feindschaft. Diese Konfrontation, die erst mit der Gestaltung des Norddeutschen Bundes im Jahre 1866 beendet wurde, wird als deutscher oder preußisch-österreichischer Dualismus be52 53
Vgl. Leibniz, De Jure Principum Germaniae, Cap. XI S. 46 ff. Gierke, Althusius, S. 246 f.
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zeichnet. Dieser Dualismus war in vielerlei Hinsicht der Beginn der Stagnation und weiteren Desintegration des Heiligen Römischen Reiches. Durch die Kriegshandlungen während des 18. Jahrhunderts mit der Beteiligung Preußens, Österreichs und anderer einzelner deutscher Teilstaaten, die auf verschiedenen Seiten standen (wie bspw. im Siebenjährigen Krieg), wurden die zentrifugalen Kräfte innerhalb des Alten Deutschen Reiches verstärkt. Zur Jahrhundertmitte besaßen Preußen und Österreich bereits einen hohen Grad einer wirksamen Eigenstaatlichkeit, ihre Rivalität bedingte weiter die Entwicklungstendenzen hin zu einem modernen Staatsaufbau. Der Unterschied zwischen diesen reichsführenden Staaten und den Reichsständen steigerte sich schneller und radikaler denn je, was schon bald dazu führte, dass es keinerlei Verständigungsmöglichkeiten mehr zwischen Österreich und Preußen gab.54 Die reale politische Lage des Alten Reiches wies darauf hin, dass die Reichsterritorien (außer Österreich und Preußen) in der Tat keine wirklichen Staaten bildeten. Die altdeutschen Staatsgebilde waren einfach die Stände des Gesamtstaates, deren Existenz vom Reich gewährleistet wurde. Die Grenzen der Reichsstände bildeten keine Staatsgrenzen, sie waren nur ungefährer Natur und wurden aufgrund einer freundlichen und friedlichen Behandlung der mächtigen Nachbarterritorien beachtet.55 Die meisten Reichsstände besaßen keine Staatsgewalt, sondern sie verwalteten mehr oder weniger ihre Territorien und Bevölkerung. Die Landesherren waren mehr mit Grundbesitzern als mit Staatsoberhäuptern vergleichbar. Der Westfälische Frieden eröffnete den Weg zum Aufbau einer modernen Staatlichkeit der Länder. Ab ca. dem letzten Viertel des 18. Jahrhunderts war die Entwicklung der Reichsstände hin zu souveränen Staaten unterschiedlich fortgeschritten. Während um die Jahrhundertwende noch Bayern und Sachsen als mittelgroße deutsche Reichsstände auf dem Weg zur staatlichen Souveränität waren und um die Siegespalme innerhalb des Reiches ringen konnten, wurden ihre Positionen jedoch bald nach und nach abgeschwächt: Nach der Kündigung der sächsisch-polnischen Personalunion im Jahre 1763 und dem sog. Bayerischen Erbfolgekrieg 1778/79 hatten die beiden Reichsstände Sachsen und Bayern ihre Chancen verspielt. „Das Reich wurde mehr und mehr in zwei Parteien aufgespalten, deren Exponenten nicht mehr die Konfessionen sondern die beiden Großmächte waren. Eine auf die Reichsverfassung allein sich stützende Neutralität zwischen diesen Lagern war faktisch nicht mehr möglich“56 : einige deutsche Teilstaaten mussten Verbündete Österreichs, andere Preußens werden. Die Abschwächung des strikten Souveränitätsbegriffs und die Entstehung der Gewaltenteilungslehre brachten ein Wiederaufleben der wissenschaftlichen Diskussion über die Natur des Bundesstaates mit sich. Seit der Mitte des 18. Jahrhun54 Vgl. Aretin, Karl Otmar Freiherr von, Heiliges Römisches Reich 1776 – 1806. Reichsverfassung und Staatssouveränität, Teil I. Darstellung, Wiesbaden 1967, S. 23 f. 55 Vgl. Aretin, Reichsverfassung und Staatssouveränität, S. 24. 56 Aretin, Reichsverfassung und Staatssouveränität, S. 106.
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derts fand der Begriff eines zusammengesetzten Staates wieder Eingang in die deutsche Staatrechtslehre, was den Weg für die Fortbildung der Staatenstaatstheorie ebnete. Die letzten großen Staatsrechtsdenker der ausgehenden Ära des Heiligen Römischen Reiches hielten bis zuletzt an der gleichzeitigen Staatsqualität des Reiches und der Stände fest.57 Bemerkenswert ist, dass der wiederaufgekommene Begriff des zusammengesetzten Staates seine Anwendung nicht nur in der speziellen Anknüpfung an das Alte Deutsche Reich fand, sondern auch allgemein von der naturrechtlichen Staatstheorie rezipiert wurde.58 Nach Ulrich Schlie war bisher der Begriff eines Staatenstaates (d. h. eines zusammengesetzten Staates) außerhalb Deutschlands unbekannt, weil in der westlichen Staatswissenschaft des 18. Jahrhunderts noch die aristotelische Staatsformlehre vorherrschte, die die Einteilung in Monarchie, Aristokratie und Demokratie einführte, welche sich untereinander nur völkerrechtlich, nicht hingegen verfassungsrechtlich zu Staatenbünden oder einer Union zusammenschließen konnten59 (das erste Beispiel bildete die US-amerikanische Verfassung von 1787, die den losen Staatenbund in den ersten Bundesstaat umkehrte). Einer der größten Staatsrechtler des absterbenden Alten Reiches war Johann Stephan Pütter. Wenn Hugo als Stammvater der Staatenstaatstheorie gilt, dann ist Pütter der Firmpate des Begriffs Bundesstaates als eines zusammengesetzten Staatskörpers. Trotz der offenbaren Schwächen des Reiches schrieb Pütter (1777) ihm fast unbestrittene Herrschaft zu: „Erfahrung und Geschichte stimmen damit überein, daß es nichts weniger als ungewöhnlich ist, daß mehrere einzelne Staaten in einen größeren vereinigt werden.“60 Diese Beurteilung entstand nicht durch die theoretische Klärung der rechtlichen Natur des Wesens eines abstrakten Bundesstaates, sondern durch das historisch-empirische Beispiel des Alten Reiches. Pütters Auffassung der Bundesstaatlichkeit folgte aus seinen Bemühungen, eine möglichst passende Beschreibung des Charakters des staatlich ungeordneten Reiches zu entwerfen, und zwar ausgehend von einer rationell-systematischen Methode. Dies wäre aber im Rahmen der von der allgemeinen Staatsrechtslehre der früheren Neuzeit erarbeiteten Konstruktionen nicht in vollem Umfang möglich.61 Daher brauchte Pütter dafür eine neue Herangehensweise. Ausgangspunkt der Pütterschen Bundesstaatslehre war die Unterscheidung zwischen einfachen und zusammengesetzten Staatskörpern.62 Den Prozess der Gestaltung eines jeden Staates sah Pütter „von unten nach oben“: Er hat nicht die 57
Vgl. Gierke, Althusius, S. 248 f.; Aretin, Reichsverfassung und Staatssouveränität, S. 96. Vgl. Gierke, Althusius, S. 249. 59 Vgl. Schlie, Ulrich, Johann Stephan Pütters Reichsbegriff, Göttingen 1961, S. 41. 60 Pütter, Johann Stephan, Beyträge zum teutschen Staats- und Fürstenrechte, in 2. Bde., Nachdruck der Ausgabe 1777, Zürich u. a. 2002, Bd. 1, S. 21. 61 Vgl. Schlie, Pütters Reichsbegriff, S. 46; Schönberg, Das Recht der Reichslehen, S. 64; Brie, Der Bundesstaat, S. 25. 62 Vgl. Pütter, Beyträge I, S. 20 ff. 58
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Gliederung eines großen Staates, sondern die Vereinigung mehrerer Staaten zu einem ganzen Staatswesen vor Augen.63 Der Gesamtstaat bildet sich durch den Zusammenschluss mehrerer einzelnen Staaten (Pütters „Realverbindungen“). Wenn eine völlige Verschmelzung der Teileinheiten in einen großen Staatskörper erreicht wird, handelt es sich um einen Einheitsstaat (Pütters „einfacher Staatskörper“). Wenn kein vollständiger Zusammenschluss erfolgt, entsteht hingegen der zusammengesetzte Staatskörper.64 Dieser Begriff umfasste den „verbundenen Staatskörper“ und den „aus Staaten zusammengesetzten Staat“. Die beiden Formen des zusammengesetzten Staatskörpers wurden durch die Vereinigung zu einem Staatswesen verschiedener, ursprünglich unabhängiger Staaten im Angesicht der auswärtigen Gefahr, dabei unbeschadet ihrer Gleichheit und Selbständigkeit, bedingt. Pütter führte für die Unterscheidung zwischen dem „verbundenen Staatskörper“ (in moderner Lesart: Staatenbund) und dem „aus Staaten zusammengesetzten Staat“ (d. h. Bundesstaat) folgende Kriterien an: Erstes ist die Dauerhaftigkeit des Zusammenschlusses benannt („auf ewig vereinigt“65). Dieses Kriterium dient der Abgrenzung des „zusammengesetzten Staatskörpers“ von anderen Arten der auf Grund des Völkerrechts ausgestalteten Staatenverbindungen. Einen institutionell-dauerhaften Charakter schrieb Pütter beiden Formen des zusammengesetzten Staatskörpers zu. Als zweites, wichtiges Kriterium dieser Unterscheidung wurde die Existenz einer einigen gemeinsamen höchsten Gewalt erwähnt.66 Die zu einem komplexen Staat zusammengesetzten, ursprünglich unabhängigen Staaten müssen als Teile des gesamten Staatswesens einer höchsten Herrschaftsgewalt unterworfen werden. Im Unterschied zu den niederländischen Provinzen und den schweizerischen Kantonen, die von Pütter den verbundenen Staatskörpern zugeordnet wurden, hatten die altdeutschen Reichsstände eine übergeordnete Gewalt und wurden unter einem gemeinsamen höchsten Oberhaupt (d. h. dem Kaiser) verbunden. Sie bildeten besondere, eben nicht völlig freie Staaten innerhalb des Reiches.67 Dies stützt Pütter auf das Beispiel des Alten Deutschen Reiches. Da das große Deutschland früher ein gesamter Einheitsstaat war, der aber wegen der Entstehung der Feudalbeziehungen im Frühmittelalter schrittweise in mehrere gesonderte Einzelstaaten zerfallen war, wäre auch der umgekehrte Prozess der Bundesstaatsbildung denkbar: Die ehemaligen Teile eines Einheitsstaates, die nicht in echte eigenständige Staaten umgewandelt wurden, können später zu einem einigen zusammengesetzten Staatskörper unter einer gemeinsamen höchsten Gewalt verbunden werden. „Das heißt, Teutschland ist ein Reich, das in lauter besondere Staaten eingetheilet ist, die jedoch alle noch unter
63
Vgl. Brie, Der Bundesstaat, S. 26. Vgl. Pütter, Beyträge I, S. 24 ff. 65 Pütter, Beyträge I, S. 25. 66 Vgl. Pütter, Beyträge I, S. 26. 67 Vgl. Pütter, Beyträge I, S. 25 ff.; Brie, Der Bundesstaat, S. 26 f.; Schönberg, Das Recht der Reichslehen, S. 64. 64
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einer gemeinsamen höchsten Gewalt in der Gestalt eines zusammengesetzten Körpers vereinigt sind.“68 Aus den historischen Gegebenheiten des Alten Reiches entwickelte Pütter seine wissenschaftliche Konstruktion von den innerhalb des zusammengesetzten Staates existierenden Oberstaat und Unterstaat (Reichsgewalt – Landeshoheit). Er war der Auffassung, dass die Reichsterritorien tatsächlich keine Gliedstaaten waren, sondern sie nur als „Unterstaaten“ unter dem „Oberstaat“, der ihre Staatlichkeit anerkennt, bezeichnet werden können. Diese Glieder des zusammengesetzten Staates stehen nebeneinander, es gibt weder eine ständige innerstaatliche institutionelle Beziehung zwischen den Reichs- und Territorialgewalten noch ein Zusammenwirken von den Ober- und Unterstaaten in diesem zusammengesetzten Staatskörper. Daraus folgte, dass dieses Konzept von Pütter im folgenden Sinne zu verstehen ist: Reich und Territorien als Glieder des Bundesstaates besaßen nebeneinander die wirkenden summae potestas, d. h., sie ergaben zusammen volle Souveränität.69 In Bezug auf die Reichsstände benutzte Pütter den Begriff „Souveränität“ indes nicht. Die wichtigste Eigenschaft der Reichsterritorien, die aus den historischen Gegebenheiten folgten, war für Pütter die Umwandlung der bisherigen iura territorialia als einfaches Bündel der einzelnen Hoheitsrechte der Landesherren in das umfassende ius territoriale als „Inbegriff aller möglichen landesherrlichen Rechte“70. Diese Landeshoheit bezeichnete Pütter als das Recht der höchsten Gewalt, das die Landesherren ausüben. Daran schließt sich die Frage über die staatsrechtliche Natur dieser „höchsten Gewalt“ der Reichterritorien an. Ist dann die Landeshoheit mit der Oberherrschaft des Reiches vergleichbar? Bezüglich der Ansicht Pütters hierzu gibt es in der modernen Staatswissenschaft zwei verschiedene Meinungen. Rüdiger von Schönberg schreibt, dass „Pütter die Landeshoheit nicht nur als eine einheitliche Regierungsgewalt, sondern als eine höchste, grundsätzlich allumfassende Gewalt ansieht.“71 Schlie meint dagegen, dass sich die Landeshoheit für Pütter als eine einheitliche Regierungsgewalt darstellt.72 Hier zeigt sich das Problem des Verständnisses der Reichweite der reichsständischen Landeshoheit in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Unter dem Begriff „höchste Gewalt“ verstand Pütter nicht mehr nur eine abschließende Liste der zahlreichen einzelnen Regierungsrechte, sondern die durch das allumfassende (naturrechtliche) Prinzip des Staatslebens „salus publica suprema lex“ (d. h. Gemeinwohl) abgegrenzte Herrschaft innerhalb des Staatskörpers: „Nach der Natur der Sache, d. i. ihrem Wesen und ihrer Absicht gemäß, erstreckt sich die höchste Gewalt und also in ihrer Art auch die Landeshoheit auf alles, was die gemeine Wohlfahrt eines Staates erfordert, […] also in einem ganz 68
Pütter, Beyträge I, S. 38. Vgl. Schlie, Pütters Reichsbegriff, S. 54; Aretin, Reichsverfassung und Staatssouveränität, S. 25 f. (Fn. 84). 70 Pütter, Beyträge I, S. 192. 71 Schönberg, Das Recht der Reichslehen, S. 67. 72 Vgl. Schlie, Pütters Reichsbegriff, S. 36. 69
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unermeßlichen Umfange der alles umfassenden Machtvollkommenheit (plenitudo potestatis).“73 Die hier erwähnte mittelalterliche Idee der päpstlichen plenitudo potestatis (d. h. Fülle der Gewalt) wurde später in der Lehre der absoluten staatlichen Souveränität entfaltet. Daraus folgt, dass für Pütter die Ausübung der höchsten Gewalt faktisch die Souveränität des Staatswesens bewirkte. Lässt sich aber behaupten, dass die Landeshoheit der Reichsterritorien mit der staatlichen Souveränität vergleichbar war? Pütter bezweifelt die Staatlichkeit des Reiches nicht, gleichzeitig aber schreibt er den Reichsständen Staatsqualität zu74, was auf Hugos Idee der doppelten Staatlichkeit innerhalb des zusammengesetzten Staates zurückweist. Pütter schreibt den Unterstaaten eine eigene kompetente Regierung mit allen Hoheitsrechten zu, zugleich meint er aber, dass „sie alle doch noch eine höhere gemeinsame Gewalt über sich hätten“.75 Das bedeutet, dass den Reichsständen fast der unbegrenzte Gestaltungsspielraum zugewiesen wurde, aber ihre Landeshoheit war nicht absolut.76 Pütter vertrat die Ansicht, dass „alles, was in der reichsständischen Landeshoheit begriffen ist, heutigen Tages ordentlicher Weise ganz ausschließlich nur von jedem Reichsstand in seinem Lande ausgeübt wird.“77 Einerseits behauptete er die selbständige und völlig freie Ausübung der Landeshoheit innerhalb eines Reichsstandes. Die altdeutschen Landesherren waren keine Privatbesitzer, sondern wahre Regenten ganzer Länder und Vertreter ihrer besonderen Staaten in den Beziehungen mit dem Kaiser78: „[M]ancher Fürst [verhält sich] ungefähr auf eben die Art zu seinen Landständen, wie der Kaiser zu seinen Reichsständen“79 (vgl. oben die Aussage von Leibniz ! S. 48). Eine solche Exklusivität der Landeshoheit (im Sinne von Schlie80) schloss jeglichen Eingriff seitens des Kaisers in die inneren Verhältnisse der Reichsterritorien und jedwede Konkurrenz zwischen dem Kaiser und den Landesherren aus.81 Andererseits ist die Landeshoheit keine vollwertige Staatsgewalt, da sie der höheren Gewalt des Reiches untergeordnet ist. Im Unterschied zur Herrschaftsgewalt der völlig selbständigen Staatswesen ist die reichsständische Landeshoheit daher einschränkbar. In der Praxis bedeutete das, dass die Entscheidungen der Landesherren den Reichsgesetzen folgen mussten und ihre Bündnisrechte begrenzt wurden.82 Pütter behauptete aber, dass die Reichsgewalt als Staatsgewalt die Landeshoheit nicht ersetzt: „Jede einzelne Regierung übt ihre Gewalt kraft eigenen 73 74 75 76 77 78 79 80 81 82
Pütter, Beyträge I, S. 320. Vgl. Pütter, Beyträge I, S. 187 ff. Pütter, Beyträge I, S. 26, vgl. auch S. 217 ff. Vgl. Schönberg, Das Recht der Reichslehen, S. 68. Pütter, Beyträge I, S. 221. Vgl. Brie, Der Bundesstaat, S. 27 f. Pütter, Beyträge I, S. 188. Vgl. Schlie, Pütters Reichsbegriff, S. 38 ff. Vgl. Pütter, Beyträge I, S. 221, 293 ff. Vgl. Schönberg, Das Recht der Reichslehen, S. 68.
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Rechtes aus, nicht als delegierte Gewalt.“83 Kraft der monarchischen Staatsform des Alten Reiches wurde die Territorialgewalt mit der oberstaatlichen Gewalt nicht verglichen, sondern von der Staatsgewalt abgegrenzt. Daraus folgte kein verfassungsmäßiges Zusammenwirken beider Gewalten.84 Zusammenfassend lässt sich also feststellen, dass Pütter die landeshoheitliche Gewalt von der Staatsgewalt des Reiches aus dem Blickwinkel der staatsrechtlichen Natur unterscheidet. Er sah die Landeshoheit nicht als integrierten Teil der Reichshoheit, sondern mehr als eine eigene, selbständige Gewalt an. Abgesehen davon, dass sie der Reichsgewalt untergeordnet wurde, war die Landeshoheit aber eine ursprüngliche Herrschaftsgewalt. Die Reichsstände übten die territorial begrenzte Machtvollkommenheit aus. Dies führte Pütter zu der Schlussfolgerung, dass die Landeshoheit der Reichsterritorien faktisch eine staatsbildende Kraft hatte.85 Inhaltlich bestimmte Pütter die reichsständische Landeshoheit auf folgende Weise: „Ein jeder dieser besonderen Staaten hat seine eigene und der Regel nach im Ganzen mit allen Hoheitsrechten begabte Regierung; ein jeder seine eigne innerliche Verfassung; ein jeder sogar gegen auswärtige Mächte solche Rechte, die sonst nur unabhängige Mächte gegen einander in Übung haben; […] geschweige von innerlichen Regierungsrechten sowohl gesetzgebende, als gerichtliche Gewalt […]. Alles das hat ein jeder besonderer Teutscher Staat in solcher Freiheit, daß einer darin so wenig an den andern, als eine Europäische Macht an die andere gebunden, oder etwa einige Gleichförmigkeit unter einander zu beobachten gehalten ist.“86 Einerseits vermutet Pütter, dass die Reichsterritorien ihre Staatsorganisation selbständig, im eigenen Namen ausgestalten. Bemerkenswert ist die Erwähnung der gesetzgebenden Gewalt der Reichsstände, da Pütters Vorgänger den Landesherren nur die Regierungs- sowie Gerichtsbefugnisse zuschrieben. Das liegt daran, dass zu dieser Zeit sowohl die Idee der Gewaltenteilung ausdrückliche Gestalt annahm als auch die gesamtstaatliche Gewalt des Reiches sich abschwächte. Andererseits sieht es gewissermaßen überraschend aus, dass Pütter in seiner Bundesstaatstheorie die notwendige Homogenität („einige Gleichförmigkeit unter einander“) der altdeutschen Territorialstaaten ausschloss. Er hielt eine solche organisationsrechtliche Heterogenität (Begriff von Menzel87) für einen weiteren Beweis der Eigenstaatlichkeit der deutschen Reichsstände, die keine Gefahr für den zusammengesetzten Staat bildet. Aus dieser äußeren Selbständigkeit der Reichsterritorien folgte für Pütter die Verschiedenheit der Regierungsformen innerhalb des Reiches. Er bemerkte, dass das Alte Deutsche Reich zahlreiche, voneinander völlig abweichende Regierungsformen in einem Staat umfasste, wie nirgends in anderen europäischen Reichen und Staaten
83 84 85 86 87
Pütter, Beyträge II, S. 40. Vgl. Schönberg, Das Recht der Reichslehen, S. 67; Schlie, Pütters Reichsbegriff, S. 54. Vgl. Pütter, Beyträge I, S. 191 ff. Pütter, Beyträge I, S. 31 f. Vgl. Menzel, Landesverfassungsrecht, S. 42.
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wahrzunehmen ist.88 In den vielfältigen Regierungsformen der Reichsstände – egal, ob Erb- oder Wahlmonarchie, Republik oder Aristokratie – sah Pütter keine potenzielle Gefährdung der Gesamtordnung des Reiches. Lässt sich also sagen, dass in diesen Aussagen Pütters die später als Motto des Föderalismus wahrgenommene Idee der Einheit in Vielfalt zum Tragen kam. Die Vielfalt der Verfassungsformen bedingte die politische und verfassungsrechtliche Unabhängigkeit der Reichsterritorien, was nach Pütter „fruchtbar“ ist.89 Er ließ aber das Konfrontationsverhältnis zwischen Preußen und Österreich unbeachtet, was beim Fehlen eines bestimmten bundesstaatlichen Homogenitätsgebotes die zentrifugalen Tendenzen innerhalb des Alten Reiches verschärfte und dessen Auflösung näher brachte. Pütters Bundesstaatslehre, die durch seine Schüler weiterentwickelt wurde, hatte großen Einfluss auf spätere Denker und markierte den Beginn des Siegeszuges der Idee des Bundesstaates als eines aus mehreren Staaten zusammengesetzten Staates in die deutsche Staatsrechtslehre des 19. Jahrhunderts.90
B. Das große Deutschland an der Wegkreuzung: Auf der Suche nach der Form des Zusammenlebens nach der Auflösung des Alten Reiches 1. Vorbemerkungen (Historische Gegebenheiten des Zerfalls des Alten Deutschen Reiches) Der preußisch-österreichische Dualismus verschärfte zwangsläufig die Spannungen innerhalb des Alten Deutschen Reiches. Das Tauziehen zwischen Österreich und Preußen erschwerte die Zersplitterung des Reiches, die aber keine Folge der historischen Entwicklung der Reichsstaatlichkeit war. Die aus dem Spätmittelalter übernommenen feudalen Machtverhältnisse wurden durch die Reichsverfassungsordnung konserviert, was die Entwicklung der reichsständischen Strukturen hin zu modernen Staaten bremste. Der Einstieg Österreichs und Preußens in den Kreis der europäischen Großmächte berührte nur einen Teil des Reiches: Nur die territorial großen Reichsstände wie Bayern und das südwestliche Württemberg mit Baden konnten „im Kielwasser“ der österreichisch-preußischen Großpolitik folgen, gegen Ende 18. Jahrhunderts hatten sie schon „ein absolutistisches Selbstverständnis“91. Das bedeutet, diese Reichsstände erreichten eine bestimmte Machtstellung gleich einer realen staatlichen Selbständigkeit, der die reichsständige Landeshoheit einfach nicht genügen konnte. Die übrigen, größtenteils kleinen Reichsstände konnten aber auf die sich schnell ändernden Gegebenheiten nicht reagieren. Sie hielten sich an 88 89 90 91
Vgl. Pütter, Beyträge I, S. 32 ff. Vgl. Pütter, Beyträge I, S. 35. Vgl. Gierke, Althusius, S. 250. Grzeszick, Vom Reich zur Bundesstaatsidee, S. 148.
B. Das große Deutschland an der Wegkreuzung
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dem Verständnis der Landeshoheit als reichsalte Privilegienordnung fest, was den Bestrebungen der großen Reichsterritorien zur staatlichen Souveränität widersprach. Da die Landesherren formal nur die Landeshoheit, die keine Souveränität bildete, besaßen und dem Kaiser untergeordnet waren, einige von ihnen jedoch gegenüber Reich und Kaiser als unabhängige Landesherrscher auftraten92, war die gesamte Macht- und Rechtsordnung des Alten Deutschen Reiches Ballast für die wachsenden deutschen Nationalstaaten. Die vom deutschen Dualismus bewirkten Spannungen hatten an der Auflösung des Alten Reiches einen wesentlichen Anteil.93 Dieser innerstaatliche Gegensatz bildete selbst aber keine ausreichende Ursache für die Auflösung des Reiches. Die Tendenz zur „Souveränisierung“ der Reichsstände war zum Ende des 18. Jahrhunderts in der Tat scharf ausgeprägt. Die entsprechenden Bewegungen innerhalb der reichsständischen Eliten waren aber schleichend und konnten allein nicht zu einer baldigen Auflösung des Alten Reiches führen. Besonders Österreich und Preußen hatten kein Interesse daran, den eigenen Einfluss auf die altdeutschen Territorien aufrechtzuerhalten. Die ersten Schritte hin zur staatlichen Souveränität ermöglichte den großen Reichsterritorien Hilfe von außen: Die Napoleonischen Kriege, in die alle europäischen Großmächte und somit die altdeutschen Reichsstände involviert waren, forcierten den Prozess der Auflösung des Staatsorganismus des Alten Deutschen Reiches. Die kriegerischen Maßnahmen deckten noch eine innere Ursache für diese Auflösungstendenz auf: die im Alten Deutschen Reich herrschende Diskrepanz zwischen der Verfassung (d. h. die aufgrund der Verträge und anderer Rechtsakte festgeschriebene Reichsordnung) und der Verfassungswirklichkeit. Für die meisten Reichsstände blieb die Landeshoheit ein enormer Wirkungsraum, der im Vergleich mit den deutschen Großmächten und souveränitätsfähigen mittelgroßen Reichsständen nur teilweise erfüllt wurde. Deshalb entsprach die vollkommene Ausübung der Landeshoheit für einige Reichsterritorien gerade einem zukunftsgerichteten Ideal. Die historischen Gegebenheiten verlangten nach einer erneuten Perfektionierung der Reichsordnung und widerlegten die haltlosen, der Realität nicht entsprechenden Behauptungen der Staatsrechtslehrer des späteren Reiches (besonders Pütter und seine Schüler) über die bundesstaatliche Natur des Alten Deutschen Reiches.94 Die Idee der Souveränität bekam im Zuge der Französischen Revolution erneut Aufwind. Während dies in Frankreich aber mit dem Sturz der absoluten Monarchie und der Umsetzung der Volksherrschaftsidee Jean-Jacques Rousseaus’ verbunden war, vollzog sich im großen Deutschland hingegen ein anderer Prozess: Das Streben der mächtigen altdeutschen Landesherren nach Souveränität war gänzlich an die Idee des Absolutismus angelehnt. Die großen Reichsstände strebten nach der Staatssouveränität und folglich nach einer von der höheren Instanz (d. h. von Reich und 92 93 94
Vgl. Grzeszick, Vom Reich zur Bundesstaatsidee, S. 148 f. Vgl. Aretin, Reichsverfassung und Staatssouveränität, S. 26, 70, 105. Vgl. Aretin, Reichsverfassung und Staatssouveränität, S. 70, 105.
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Kaiser) unabhängigen Eigenstaatlichkeit. Im Unterschied zu Frankreich, wo die Revolution die Volksherrschaft als Ideal der modernen Staatlichkeit proklamierte, wurde in Deutschland diese Idee in Bezug auf die staatliche Herrschaft der Landesherren rezipiert. Die bald folgende Auflösung des Alten Deutschen Reiches erfolgte nicht infolge sozialer Verwerfungen (das deutsche Bürgertum stellte die politische Herrschaft der Landesherren nicht in Frage und die inneren hierarchischen Beziehungen wurden wegen der französischen Revolutionsideen zunächst nicht angetastet), sondern diese Auflösung war bedingt durch die Unvereinbarkeit der alten Reichsordnung mit den reichsständischen Bestrebungen zu einer Staatssouveränität.95 Die Französische Revolution beeinflusste jedoch signifikant die Fortbildung der germanischen Bundesstaatslehre. Im Zusammenhang mit der Idee der Volkssouveränität entstand zur Jahrhundertwende eine neue Terminologie: Im juristischen Sprachgebrauch kamen die Bezeichnungen „Völkerbund“ (d. h. Staatenbund) für das System verbündeter souveräner Staaten und „Völkerstaat“ (d. h. Bundesstaat) für den aus Staaten zusammengesetzten Staat auf.96 Was den Bundesstaat als Begriff des zusammengesetzten Staates betrifft, hat die Umwandlung der amerikanischen Konföderation in einen Bundesstaat durch die US-Verfassung von 1787 eine wesentliche Rolle in der Verankerung der festen staatsrechtlichen Terminologie gespielt.97 Der in Erfüllung des Friedensvertrages von Lunéville (1801) angenommene Reichsdeputationshauptschluss vom 25. Februar 1803 errichtete die territorial und politisch grundlegenden Änderungen (durch Mediatisierung und Säkularisation) des Alten Deutschen Reiches. Die nach Anzahl verringerten und nach Größe gewachsenen Reichsterritorien zielten auf eine vom Reich unabhängige Politik ab – und der Reichsdeputationshauptschluss ebnete faktisch den Weg dafür. Diese inneren Veränderungen der Reichsordnung wurden von vielen altdeutschen Reichsständen für einen Umbau ihrer Landeshoheit nach dem Vorbild des preußisch-österreichischen Absolutismus benutzt. Besonders weitgehend erfolgte dies im süddeutschen Bayern, Württemberg und Baden, die neben Preußen eine führende Rolle bei der Behandlung des Reichsdeputationshauptschlusses spielten und von seiner Verabschiedung am meisten profitierten.98 Die Entstehung weiterer Länder mit einer eigenständigen und absolutistischen Regierung neben Österreich und Preußen bedeutete eine faktische Zersplitterung des Reiches. Die andauernden Napoleonischen Kriege bewirkten einerseits eine Schwächung der Positionen Österreichs und Preußens als der reichszementierenden Kräfte und andererseits die Ausdehnung des französischen Einflusses auf die meisten altdeutschen Reichsstände. Mit der politischen Unterstützung Frankreichs gründeten 95 96 97 98
Vgl. Aretin, Reichsverfassung und Staatssouveränität, S. 108 f. Vgl. Brie, Der Bundesstaat, S. 31 ff. (besonders Fn. 32 f., 3 f.). Vgl. z. B. Grzeszick, Vom Reich zur Bundesstaatsidee, S. 107 f. Vgl. Grzeszick, Vom Reich zur Bundesstaatsidee, S. 103 f.
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sechzehn altdeutsche Länder im Juli 1806 den Rheinbund als Konföderation deutscher Staaten und erklärten gleichzeitig ihren Austritt aus dem Heiligen Reich. Angesichts des französischen Ultimatums legte der österreichische Kaiser Franz II. am 6. August 1806 die heilig-römische Kaiserkrone nieder, was den Zerfall des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation bereits formal bestätigte.99 Die Rheinbundgründung bedeutete die juristische Anerkennung der eigenständigen Rechtsnatur der altdeutschen Reichsstände, und die endgültige Auflösung des Alten Reiches besagte, dass die Reichssouveränität nun den neuen deutschen Einzelstaaten übertragen wurde. Die Bezeichnung „Rheinbund“ (franz. Confédération du Rhin) implizierte den Wechsel von der bundesstaatsnah liegenden Reichsstruktur zum Staatenbund der souveränen deutschen Staatsherrscher.100 Abgesehen davon, dass die altdeutschen Landesherren die förmliche Staatssouveränität erlangten, traten sie in der Tat nicht selbständig auf: In Art. 12 der Rheinbundakte wurde der französische Kaiser Napoleon als Protektor des rheinischen Bundes ausgerufen. Dieser Umstand bedeutete mindestens eine Einschränkung der landesdeutschen Selbständigkeit im Außenverhältnis (faktisch aber führte dies zum Verlust der äußeren Souveränität). Mit Blick auf die fortschreitenden, von Napoleon veranlassten Gebietsänderungen innerhalb des damaligen Deutschen Reiches kann man behaupten, dass auch die innere Souveränität der deutschen Staaten in Frage gestellt werden könnte.
2. Nicolaus Gönners Staatsverein als Form der Vereinbarkeit der Prinzipien der Staatentrennung und der Staatseinheit Die historischen Gegebenheiten der Jahrhundertwende hatten erheblichen Einfluss auf die germanische Bundesstaatslehre. Einer der letzten großen Staatsrechtslehrer der scheidenden Reichsepoche war der bayerische Staatsmann und Professor Nicolaus Thaddäus Gönner. In seinem fundierten, dem russischen Kaiser Alexander I. als „dem weisen Vermittler und Garanten der teutschen Verfassung“ gewidmeten Lehrbuch „Teutsches Staatsrecht“ (1804) beschrieb Gönner das Alte Deutsche Reich, noch ungeachtet der schon geänderten Verhältnisse, als einen einheitlichen Staat, der kein System föderierter Staaten (d. h. Staatenbund) war, sondern einen wahren Staatsverein (d. h. Bundesstaat) bildete.101 Nach Gönner wird das Reich in mehrere Teile – Partikularstaaten – aufgeteilt. Diese Reichsteile gehören zum einheitlichen Staatskörper, unter einer von ihm ausgeübten gemeinsamen 99
Vgl. Grzeszick, Vom Reich zur Bundesstaatsidee, S. 139 ff.; Aretin, Reichsverfassung und Staatssouveränität, S. 500 ff. 100 Vgl. Grzeszick, Vom Reich zur Bundesstaatsidee, S. 149. 101 Vgl. Gönner, Nicolaus Thaddäus, Teutsches Staatsrecht, Landshut 1804, § 88 S. 94 f., § 90 S. 98.
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obersten Staatsgewalt bilden sie eine geschlossene Reichsvereinigung. Jeder Partikularstaat des Reiches ist ein echter Staat, dem eine besondere eigene oberste Gewalt (landesherrliche Gewalt oder jure proprio) zusteht: Jeder Landesherr regiert sein Territorium nicht im Auftrag des Kaisers und ohne seine Bestätigung, sondern nach eigenem Gutdünken. Dies wird vom Prinzip der Staatentrennung bedingt, das „für das Völkerglück höchst wichtig ist“102. Kraft dieses Grundsatzes bildet jedes Reichsterritorium einen eigenen selbständigen Staat mit einer besonderen Verfassung (d. h. nicht als Rechtsakt, sondern als Staatsordnung). Gleichzeitig wird der gesamte Staatskörper der Idee der Staatseinheit als dem obersten Grundsatz des deutschen Staatsrechts untergeordnet. Das Prinzip der Staatseinheit fordert daher die Subordination der territorialen Gewalt unter die Hoheit des Gesamtstaates.103 In der Frage der staatsrechtlichen Beurteilung der Landeshoheit bekannte sich Gönner zu der Ansicht der Pütterschen Schule: Jene Gewalt, die einem Partikularstaat des Reiches zusteht, ist die Landeshoheit.104 Diese Landeshoheit enthält nach Gönner sämtliche der obersten Gewalt zugrundeliegenden Rechte, die aber nicht als einzelne Rechte angesehen werden, sondern in einer einheitlichen Herrschaftsgewalt aggregiert sind. Die territoriale Gewalt kommt exklusiv dem Landesherrn zu, der allein (der personalisierte) Träger der Landeshoheit ist (daraus folgt Gönners Bezeichnung „landesherrliche Gewalt“105). Im rechtlichen Sinne hängt der Begriff der Landeshoheit nicht von deren Umfang (von ursprünglich zustehenden oder später von den kaiserlichen Privilegien abgeleiteten Rechten der Landesherren) oder der Eigenschaft des regierenden Subjektes (des Alleinherrschers wie in den Reichsterritorien oder des kollegialen Organs wie in den Reichsstädten) ab: Die Landeshoheit kommt nur jenen Reichsterritorien zu, in denen die Herrscher die meisten ihrer Hoheitsrechte vollkommen ausüben. Beim Fehlen der völlig ausgeübten Landeshoheit handelt es sich hingegen lediglich um ein Reichsgebiet, nicht jedoch um einen Partikularstaat.106 Nach Gönner steht die Landeshoheit in einem Subordinationsverhältnis zur obersten Staatsgewalt des deutschen Gesamtstaates, d. h., die Landeshoheit stellt einen integrierten Teil der Reichshoheit dar. Die Landeshoheit an sich sah er als eine im Verhältnis zur reichsständischen Territorialgewalt stehende Reichsanstalt an: Kraft des Prinzips der Staatseinheit wird die Landeshoheit als Reichsanstalt nur durch die Sanktionierung der Reichgewalt begründet und durch die Reichsgrundgesetze im Allgemeinen beschränkt. Je umfassender der Umfang der Landeshoheit eines konkreten Partikularstaates ist, desto weitreichender muss deren Begünstigung in den Reichgrundgesetzten sein, so Gönner.107 Darin wird deutlich, dass die 102 103 104 105 106 107
Gönner, Teutsches Staatsrecht, § 90 S. 99. Vgl. Gönner, Teutsches Staatsrecht, § 90 S. 98 f., § 226 S. 332 f. Vgl. Gönner, Teutsches Staatsrecht, § 226 S. 333. Gönner, Teutsches Staatsrecht, § 90 S. 98. Vgl. Gönner, Teutsches Staatsrecht, § 226 S. 333 f., § 227 S. 334 f. Vgl. Gönner, Teutsches Staatsrecht, § 228 S. 339 f.
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reichsständische Landeshoheit nicht nur als landesherrliche Gewalt, sondern auch als ein vom Oberstaat allgemein bestimmter Gestaltungsspielraum der Partikularstaaten verstanden wurde. Nach dem Gönnerschen Verständnis der Landeshoheit als einer Reichsanstalt, deren Rahmen allgemein durch die oberste Staatsgewalt bestimmt werden, findet man faktisch eine Formulierung der bundesstaatlichen Homogenitätsidee, was Gönners weitere Überlegungen auch bestätigen. Die Landeshoheit steht nicht in einem Konkurrenzverhältnis zur Reichshoheit. Das Prinzip der Staatentrennung muss auch in einer entsprechenden Trennung in der inneren Staatsordnung abgebildet sein, was für die Partikularstaaten die Landeshoheit begründet. Daraus folgt nach Gönner die Heterogenität der Reichsterritorien: Die substantiellen Unterschiede waren nicht nur durch die heterogene Natur der Reichsterritorien, sondern in höherem Maße durch die „Vorliebe unserer Reichsgrundgesetze für das Herkommen“108 bedingt. So unterschiedlich die Reichsstände an sich auch gewesen sein mögen – seien es geistliche oder weltliche, monarchische oder republikanische Staaten, durch Landstände beschränkte oder nicht beschränkte Landeshoheit, größere Territorien oder kleine Gebiete – und so unterschiedlich sie auch in ihrer inneren Zusammensetzung gewesen sein mögen, so sehr war Gönner dennoch der Überzeugung, dass das Alte Deutsche Reich staatsrechtlich ein echter Bundesstaat war.109 Nachdem alle kleinen Reichsstände (die Gönner abwertend als „Reichsdörfer“ bezeichnete110) gemäß dem Reichsdeputationshauptschluss von 1803 mediatisiert wurden, trat das Alte Reich als ein nun stärker geordnetes Staatsgebilde auf: Die altdeutschen Reichstände wurden entweder monarchisch oder republikanisch regiert. Während zu den Monarchien traditionell die Reichsterritorien gehörten, die durch Landstände besonders eingeschränkt werden konnten, näherte sich die innere Verfassung der noch verbliebenen Reichsstädte (im Jahre 1804 waren dies Augsburg, Bremen, Frankfurt am Main, Hamburg, Lübeck und Nürnberg) der republikanischen Regierungsform an.111 Die Reichsstände als besondere Staaten mit einer eigenen obersten Gewalt besaßen nach Gönner ihr eigenes Staatssystem und ihre eigenen zur Staatsverwaltung nötigen Anstalten.112 Das reichsaltdeutsche Staatsrecht überließ die territoriale Staatsorganisation den Partikularstaaten. Das Recht, über einen organisierten Hofstaat (in moderner Lesart also einen Staatsapparat) zu verfügen, ist nach Gönner ein Vorrecht der Landesherren aus dem fürstlichen Stand, inzwischen steht dieses Recht den Reichsstädten kraft ihrer Landeshoheit zu.113 Unter dem Staatssystem eines Reichsstandes verstand man den Inbegriff der Organisation der Staatsbehörden mit zweckmäßigen Kompetenzen, die Anordnung der sog. Landescollegien (Justiz- und 108 109 110 111 112 113
Gönner, Teutsches Staatsrecht, § 247 S. 373 f. Vgl. Gönner, Teutsches Staatsrecht, § 88 S. 94, § 247 S. 374. Gönner, Teutsches Staatsrecht, § 229 S. 341. Vgl. Gönner, Teutsches Staatsrecht, § 229 S. 340 f., § 261 S. 395 f. Vgl. Gönner, Teutsches Staatsrecht, § 91 S. 99 f., § 227 S. 336. Vgl. Gönner, Teutsches Staatsrecht, § 230 S. 343 f., § 261 S. 395.
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Administrative) sowie die Einrichtung von Ämtern im Land. Die Ausgestaltung der eigenen Staatsorganisation lag im Ermessen des jeweiligen Trägers der Landeshoheit (des Landesherrn als Staatsoberhaupt des Reichsterritoriums oder des Magistrates als eigentlicher Inhaber der Verwaltungshoheit114). Beispielsweise gehörten zum Partikularstaatsrecht der Reichsstädte nach Gönner folgende Kompetenzen, wie die Bestimmung der Zahl der Magistratsmitglieder, Regelungen zu deren Familienzugehörigkeit sowie die Ausgestaltung der Wahlordnung und Fragen der Wahlfähigkeit der einzelnen Magistratsmitglieder.115 Nur scheinbar wurde den Reichsständen hier ein unbeschränkter Gestaltungsspielraum eingeräumt und nur scheinbar waren sie in organisationsrechtlicher Hinsicht absolut frei. Denkbar mögliche, negative Folgen dieser so weitgehenden Selbständigkeit wären z. B. die vom Landesherrn veranlasste, immer wieder veränderliche Einteilung der Behörden und ihrer Zuständigkeitsbereiche.116 Tatsächlich müssen indes alle Handlungen der Reichsstände als der Inhaber der Landeshoheit kraft des Prinzips der Staatseinheit mit den Reichsgesetzen konform sein. In Bezug auf die durch Fundamentalgesetze des Reiches bestimmten Regelungsgegenstände konnte der Reichsstand nicht als selbständiger Gesetzgeber, sondern lediglich als untergeordnetes Staatsgebilde (kraft der Subordinationsnatur der Landeshoheit) handeln.117 Bemerkenswert schrieb Gönner dem von der reichsstädtischen Bürgerschaft gewählten Magistrat bloß die Ausübung der Verwaltungsaufgaben zu118; dies entsprach dem traditionellen Verständnis des frühen 18. Jahrhunderts von der reichsständischen Landeshoheit ohne Rücksicht auf die Gewaltenteilungsidee, die 1804 bereits festen Boden gewonnenen hatte. Der Zerfall des Heiligen Römischen Reiches, das für die Anhänger der Pütterschen Schule ein besonderes Beispiel des Bundesstaates als Staatenstaat bildete, bedingte die Weiterentwicklung der Staatenstaatstheorie und die Entstehung der theoretischen Dichotomie der germanischen Bundesstaatslehre: Während des gesamten 19. Jahrhunderts wurden wissenschaftliche Auseinandersetzungen zwischen Befürwortern und Gegnern der Visionen allgemeindeutscher Staatenverbindungen als Bundesstaaten oder Staatenbünde geführt.
3. Wilhelm Joseph Behr und die volkssouveräne Natur des Rheinbundes Die formale Auflösung des Alten Deutschen Reiches und die Ausrufung des Rheinischen Bundes, der die mediatisierten deutschen Staaten in sich vereinigte, 114 115 116 117 118
Vgl. Gönner, Teutsches Staatsrecht, § 248 S. 374, § 261 S. 396. Vgl. Gönner, Teutsches Staatsrecht, § 261 S. 396. Vgl. z. B. Gönner, Teutsches Staatsrecht, § 248 S. 374 f. Vgl. Gönner, Teutsches Staatsrecht, § 89 S. 97. Vgl. Gönner, Teutsches Staatsrecht, § 261 S. 395 f.
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forderten eine neue wissenschaftliche Beurteilung der bundesstaatlichen Verhältnisse innerhalb des großen Deutschlands. Einer der ersten und prominenten Staatsrechtler, der die staatsrechtliche Natur des neugegründeten Rheinbundes beschrieb, war der Würzburger Professor und bayerische Staatsmann und liberale Oppositionelle Wilhelm Joseph Behr. In seinem Werk „Systematische Darstellung des Rheinischen Bundes aus dem Standpunkte des öffentlichen Rechts“ (1808) trat Behr als Protagonist der neuen Verbindungsform der altdeutschen Reichsterritorien hervor. Damit ein Staat als Aggregat einzelner Menschen frei und unabhängig sein kann, muss er Souveränität besitzen.119 So war für Behr die Souveränität das wesentliche Merkmal der wahren Staatlichkeit. Er verstand aber die dem Staat zugeschriebene Souveränität bereits als Volkssouveränität. Das Volk als eigentlicher Träger der Souveränität spielte eine staatsbildende Rolle, was nach Behr eine Abgrenzung von Völkerstaat und Völkerbund ermöglichte.120 Diese beiden Formen beschreiben die Verbindung mehrerer Staaten, weshalb Behr an der Idee des zusammengesetzten Staates festhielt. Sie unterscheiden sich voneinander aber in folgender Weise: Wenn in einem Völkerstaat (d. h. Bundesstaat) mehrere Staaten einer höchsten gesamtstaatlichen Gewalt unterworfen sind und im Verhältnis der Unterordnung zum Oberstaat stehen, treten sie in einen Völker- oder Staatenbund aufgrund eines Vertrages ein, und zwar als freie und selbständige Staatswesen. Dabei wird ihr Recht auf die innere Ausgestaltung ihres Staatswesens unabhängig von anderen Mitgliedern gewährleistet.121 Als Beispiel eines Völkerstaates sah Behr das Alte Deutsche Reich an, als Völkerbund hingegen ordnete er den Rheinbund ein.122 Ausgehend von der Idee der Volkssouveränität betrachtete Behr einen Völkerstaat als eine enge Verbindung von Völkern. Es sind also die Völker, die jeden einzelnen besonderen Staat als Glied des Völkerstaates bilden. Da diese Glieder der gesamtstaatlichen höchsten Gewalt unterworfen sind, müssen die Partikularinteressen der Einzelvölker dem gemeinsamen Willen, der durch die höchste Gewalt des Gesamtstaates ausgedrückt wird, unterstehen. Auf dessen Territorium üben die Glieder aber die Machtvollkommenheit aus, ihre Partikularinteressen werden in einen allgemeinen (territorial aber begrenzten) Willen umgewandelt. Dadurch wird die Staatsqualität der Einzelvölker bestätigt. Der Privatwille eines Einzelvolkes wird vom Inhaber der höchsten Gewalt dieses Volkes ausgeführt. Wenn das Volk des Einzelstaates die Quelle dieser Gewalt bildet, ist das Staatsoberhaupt aber der Träger der höchsten Gewalt, die allein von einer Person ausgeübt werden soll.123 Hier gibt es Parallelen mit dem Alten Reich, wo der Kaiser und die Landesherren die exklusiven Träger der Reichs- bzw. Landeshoheit waren. 119
Vgl. Behr, Wilhelm Joseph, Systematische Darstellung des Rheinischen Bundes aus dem Standpunkte des öffentlichen Rechts, Frankfurt a. M. 1808, § 12 S. 55 f. 120 Vgl. Grzeszick, Vom Reich zur Bundesstaatsidee, S. 174. 121 Vgl. Behr, Systematische Darstellung, § 12 S. 56 f. 122 Vgl. Behr, Systematische Darstellung, § 13 S. 59, § 15 S. 61. 123 Vgl. Behr, Systematische Darstellung, § 13 S. 57; Grzeszick, Vom Reich zur Bundesstaatsidee, S. 175.
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Dem Staatenbund als zusammengesetztem Staat, der viele Völker in sich vereinigt, steht keine oberste Staatsgewalt zu mit der Möglichkeit der Unterwerfung der verbündeten Einzelstaaten. Die Glieder des Völkerbundes bleiben vielmehr eigene, freie, voneinander abgesonderte und unabhängige Staaten, die in den inneren Angelegenheiten einen bestimmten freien Spielraum besitzen. In ihren Außenverhältnissen sind die Einzelstaaten aber eingeschränkt: Um einerseits die rechtliche Freiheit und Unabhängigkeit aller Glieder des Staatenbundes und andererseits das Gleichgewicht ihrer Rechte zu gewährleisten, räumt Behr dem Völkerstaat als Staatenverbindung das Recht zur Beschränkung der außenpolitischen Beziehungen seiner Glieder ein.124 Da Behr in einem entsprechend organisierten Staat die Souveränität nur dem Gesamtstaat zuschrieb, folgte daraus, dass die Souveränität als Wesensmerkmal jeder Staatlichkeit in Bezug auf die Glieder des Staatenbundes nur die selbständige und freie Ausübung ihrer Rechte im Inneren umfasste. Im Unterschied zum Völkerstaat ist das Oberhaupt eines Völkerbundes durch keine „gewählte, sichtbare und physische“ Person geprägt: Der einzige Souveränitätsträger im Staatenbund ist einfach der gemeinsame Wille, der aufgrund des Bundesvertrages zur Obhut der Rechtseinheit und eines allgemeinen Friedenszustandes innerhalb des Völkerbundes geäußert wird.125 Die als Staatsoberhaupt des Völkerbundes ausgestattete Person (wie bspw. der Fürstprimas nach Art. 4 der Rheinbundakte) war nur Repräsentant des Souveränitätsträgers und wurde lediglich mit Exekutivvollmachten ausgestattet. Inhaber der Behrschen Souveränität blieben aber in jedem Fall das gesamtstaatsbildende Volk sowie die Einzelvölker.126 Das Alte Deutsche Reich war für Behr ein aus mehreren Staaten zusammengesetzter Staat, wobei diese Staaten aber nicht völlig selbständige und unabhängige Staaten bildeten, da sie einer gemeinsamen obersten Staatsgewalt untergeordnet wurden. Abgesehen davon, dass die Reichsglieder durch eine eigene Gewalt – die Landeshoheit – regiert wurden, waren sie dem Reich tatsächlich und förmlich subordiniert, was es nach Behr zulässt, diese Reichsglieder nur als Partikularstaaten oder Reichsterritorien zu bezeichnen.127 Durch die Auflösung des Alten Reiches traten die altdeutschen Territorien als einzelne, freie, selbständige und unabhängige Staaten hervor. Da nach der Auflösung des Alten Reiches das die allgemeine höchste Staatsgewalt innehabende Oberhaupt entfällt, sind die Begriffe „Landesherren“ und „Landeshoheit“ nicht mehr verwendbar: Die Reichssouveränität als Obergewalt fällt nunmehr sämtlichen damaligen Reichsgliedern zu, die die vollkommenen Träger der staatlichen Souveränität darstellen.128 Behr war der Auffassung, dass die Eigenschaften eines Staatenbundes als einer Form der Verbindung im Fall des Rheinischen Bundes klar erkennbar waren. Da die 124 125 126 127 128
Vgl. Behr, Systematische Darstellung, § 14 S. 59 f. Vgl. Behr, Systematische Darstellung, § 14 S. 60. Vgl. Grzeszick, Vom Reich zur Bundesstaatsidee, S. 174. Vgl. Behr, Systematische Darstellung, § 15 S. 62. Vgl. Behr, Systematische Darstellung, § 37 S. 130, § 63 S. 199 f.
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mediatisierten deutschen Staaten nun einzelne, eigene und selbständige Staatswesen bildeten, die nicht mehr einer gemeinsamen obersten Staatsgewalt unterworfen waren, verfügten sie nun die Möglichkeit, eine eigene Verfassung zu verabschieden und ihre innere Regierung selbständig auszuüben, ohne dabei irgendeiner Obergewalt unterworfen zu sein.129 Die Glieder des Staatenbundes, die Behr interessanterweise als Bundesstaaten (d. h. einem Bund zugehörige Einzelstaaten) bezeichnete, stehen in einem gleichrangigen Herrschaftsverhältnis zueinander: Daraus folgen das Recht der Bundesgenossen auf gegenseitige Anerkennung und Respektierung ihrer Unabhängigkeit und Souveränität und gleichzeitig die Pflicht aller Bundesstaaten, einander als unabhängige und souveräne Staaten anzuerkennen und zu respektieren.130 Der Völkerbund als Vereinigung mehrerer selbständiger, voneinander völlig unabhängiger Staaten verfolgt folgende Zwecke: Einerseits dient ein solcher Bund der Gewährleistung der Integrität eines jeden einzelnen Bundesstaates sowie dessen Rechtssicherheit. Andererseits erhielt der Bund die Sicherheit und den Schutz sowohl der Gesamtheit als auch seiner Glieder gegen Gefahren von außen. Für diese Zielerreichung wurde bspw. das Protektorat Frankreichs bestimmt, das aber nach Behr bloß dem Schutz der Rechtssicherheit und der Gewährleistung der Staatsintegrität der rheinbündischen Glieder diente, jedoch keine Herrschaftsgewalt über die Bundesstaaten hatte.131 Hier sei am Rande auch auf den interessanten Ansatz von Bernd Grzeszick verwiesen, der anmerkte, dass Behr ein Bewunderer Napoleons war – trotz seines Bekenntnisses zur Fortschrittlichkeit des Rheinbundes als einer Form der Staatenverbindung sowie ungeachtet seiner Unterstützung der Bewegung zum Aufbau eines einheitlichen germanischen Nationalstaates.132 Die Souveränität als Eckpfeiler der Staatlichkeit schrieb Behr gleichermaßen dem Gesamtstaat und den Gliedern zu. Für alle Bundesstaaten hatte die Souveränität im Inneren (oder „in sich selbst“) ausnahmslos den gleichen Charakter. Behr ging aber nicht vom Begriff der Souveränität als der unabhängigen Allgewalt aus: Er ließ zu, dass die staatliche Souveränität als ein substantielles Element eines jeden Staatswesens eingeschränkt werden kann. Seiner Auffassung nach wäre es wohl legitim, wenn die Souveränität im Außenverhältnis zum Tragen kommt und gleichzeitig in den inneren Staatsverhältnissen limitiert werden kann.133 Daraus zieht Behr die folgenden Schlussfolgerungen hinsichtlich der Souveränität in einem Staatenbund: Es steht außer Zweifel, dass die Bundesglieder als die alleinigen Herrscher in ihren vom Gesamtstaat anerkannten Staaten frei und unabhängig handeln und eine Teilung der Staatsgewalt weder zwischen den Bundesstaaten noch dem Bund und dessen Gliedern nicht in Frage kommt. Zugleich bestimmt das allgemeingültige Staatsgrundgesetz für die Wechselwirkung der Bundesstaaten eine positivrechtliche 129 130 131 132 133
Vgl. Behr, Systematische Darstellung, § 15 S. 62 f. Vgl. Behr, Systematische Darstellung, § 18 S. 71, § 37 S. 131. Vgl. Behr, Systematische Darstellung, § 15 S. 61 f. Vgl. Grzeszick, Vom Reich zur Bundesstaatsidee, S. 174. Vgl. Behr, Systematische Darstellung, § 18 S. 71 f., § 66 S. 206.
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Schranke: Um die Freiheit und die friedliche Koexistenz der Bundesgenossen zu gewährleisten, beschränkt sich jeder Bundesstaat in seinen Handlungen nach außen, was dem Bundeszweck entspricht.134 Daraus ist leicht zu ermessen, dass die Behrsche Theorie eher von der relativen, und nicht der absoluten staatlichen Souveränität ausgeht. Der Bund und die Bundesgenossen begrenzen ihre Herrschaft beiderseits: Da sich die Bundesstaaten selbst nicht nach außen vertreten können, fällt die Souveränität nach außen dem Bund zu; da sich der Bund gleichzeitig nicht in die inneren Angelegenheiten der Bundesglieder einmischen kann, ist somit jeder Bundesstaat souverän im Inneren. Hier sei aber erwähnt, dass diese Konstruktion dem Behrschen Staatenbund entspricht und für die Beurteilung der staatsrechtlichen Natur des modernen Bundesstaates nur mit Vorbehalten anwendbar wäre. Behr verstand unter Souveränität den Inbegriff aller Machtbefugnisse: Die Gesetzgebung als ersten und obersten Aktus der Souveränität, welche die allgemeinen Grenzen für den Gebrauch der Freiheit jeder Bundesstaat selbst vorgibt; die Rechtsprechung, d. h. die Untersuchung und die Lösung rechtlicher Streitfälle; die Vollziehung, d. h. die Anwendung und die Ausführung der Gesetze.135 Die Gesamtheit dieser drei Behrschen Aktus bildet die wahre Regierung eines Staates und garantiert die Staatssouveränität als die Machtvollkommenheit.136 Da in einem Völkerstaat die Gewalten der Partikularstaaten der gesamtstaatlichen höchsten Staatsgewalt untergeordnet sind, muss das objektive Recht eines jeden Teilstaates dem objektiven Recht des Gesamtstaates entsprechen. Grundsätzlich ist nach Behr die ihrer Art nach Ähnlichkeit der Teilrechtsordnungen der gesamtstaatlichen Rechtsordnung erforderlich: Die Partikularstaaten können rechtlich frei nur in dem Maße handeln, in dem keine notwendigen, vom Gesamtstaat bestimmten gesetzlichen Einschränkungen existieren (faktisch geht Behr hier also vom Prinzip „Verboten ist alles, was nicht ausdrücklich erlaubt ist“ aus). Diese Subordination erforderte, dass die besonderen Partikularinteressen mit dem allgemeinen Willen des Gesamtvolkes vereinbar sein mussten. Das Oberhaupt eines Volkes im Völkerstaat durfte keine Handlungen ohne Rücksicht auf die Bestimmungen der gesamtstaatlichen Rechtsordnung begehen.137 In Bezug auf die Staaten, die zu einem Völkerbund vereinigt sind, sah Behr die Notwendigkeit der vollkommenen Rechtsgleichheit aller Bundesglieder, was ihnen einen gleich begründeten Anspruch auf die Gewährleistung dieser Rechtsgleichheit vonseiten des Bundes zukommen lässt. Die Freiheit, Selbständigkeit und Unabhängigkeit – diese drei Elemente, die nach Behr die Basis der eigenen Rechtssphäre jedes Bundesstaates bilden, – müssen in allen Bundesgliedern dieselben sein. In 134 135 136 137
Vgl. Behr, Systematische Darstellung, § 18 S. 72, § 67 S. 208 f. Vgl. Behr, Systematische Darstellung, § 74 S. 228 ff., § 75 S. 232 ff., § 76 S. 236 f. Vgl. Behr, Systematische Darstellung, § 76 S. 237, § 108 S. 323 f. Vgl. Behr, Systematische Darstellung, § 13 S. 58.
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vollem Umfang dieser Rechtssphäre wird die eigene Staatsgewalt der Bundesgenossen frei ausgeübt: Im Unterschied zum Völkerstaat ist jedwede Begrenzung der Herrschaftsgewalt der Bundesglieder unzulässig, was aus der Natur des Staatenbundes folgt.138 Behr teilt die Ansicht eines ungenannten Autors, nach dem die „Gleichförmigkeit der organischen Beschaffenheit aller Bundesstaaten“ als Hauptidee der föderierten Staatlichkeit ausgerufen wurde. Zuerst hatte dieser Autor wohl eine klassische Idee aufgegriffen: Die Festigkeit und das Bestehen einer solchen Staatenverbindung hängen von der Annäherung der Bestandteile eines Gesamtstaates zueinander und zum Ganzen ab. Weiter schrieb er aber dem Oberstaat, der aus heterogenen Teileinheiten zusammengesetzt ist, eine exklusive, umfangreiche außenpolitische Gewalt zu, was mit dem laufenden Stand des Rheinbundes korrelierte.139 Behr selbst verstand eine so geartete Gleichförmigkeit (d. h. Homogenität) als eine der wesentlichen Eigenschaften des Staatenbundes. Er war dabei aber der Auffassung, dass diese Gleichförmigkeit nur in den Grundlagen und den Hauptbestandteilen der Staatsorganisation der Bundesglieder gedacht ist. Da die Partikularstaaten innerhalb eigener Rechtssphären die volle Fülle der Staatsgewalt ausüben, sind die mannigfaltigen Nuancen und Modifikationen der inneren Ausgestaltung der Bundesgenossen nach Behr nicht nur zulässig und der föderierten Natur entsprechend, sondern mehr noch notwendig.140 Hier sehen wir ein minimalistisches Verständnis der Homogenitätsnatur des Völkerbundes, was der Behrschen Theorie voll entspricht. Behr selbst äußerte seine Meinung bezüglich der Homogenitätsidee in einem Völkerstaat nicht. Man kann nur vermuten, dass aufgrund der postulierten Subordinationsverhältnisse innerhalb des Völkerstaates das Homogenitätserfordernis seinem Charakter nach wohl eher eigeschränkt wäre. Sämtliche theoretische Betrachtungen Behrs orientierten sich an der Gegenüberstellung von Rheinbund und Altem Deutschem Reich. Die Idealisierung des Rheinischen Bundes als angeblich fortgeschrittener Form einer Staatenverbindung führte Behr zu teilweise falschen praktischen Beurteilungen der tatsächlichen Verhältnisse innerhalb des großen Deutschlands. Theoretisch denkbare Vorteile des Rheinbundes wurden durch die politischen Gegebenheiten sowie den Dauerkonflikt zwischen den europäischen Großmächten nivelliert, weshalb der Rheinbund letztendlich nur relativ kurz existieren sollte.
138 139 140
Vgl. Behr, Systematische Darstellung, § 38 S. 132 f., § 67 S. 208, § 108 S. 323. Vgl. Behr, Systematische Darstellung, § 91 S. 270 f. Vgl. Behr, Systematische Darstellung, § 91 S. 271.
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4. Die Gründung des Deutschen Bundes als Ausdruck der preußisch-österreichischen Koexistenz Nach der Niederlage Napoleons und der Beendigung der militärischen Hegemonie Frankreichs standen die europäischen Großmächte vor der Frage der Nachkriegsregelung der politischen Ausgestaltung Europas. Eines der schärfsten Probleme war die sog. Deutsche Frage: Der Rheinische Bund war ein künstliches Gebilde unter Herrschaft Frankreichs, das als Gegengewicht Österreichs und Preußens ausgerichtet wurde, deswegen wurde seine Auflösung faktisch vorherbestimmt. Mit ihren Bestrebungen, den vorrevolutionären und Vorkriegszustand in ganz Europa wiederherzustellen, stellten die europäischen Großmächte die Deutsche Frage in den Mittelpunkt aller politischen Verhandlungen und wissenschaftlichen Betrachtungen. Deutschland blieb ein vor allem in territorialer Hinsicht zersplitterter Staat und die Frage der politischen Einheit und der Bildung einer einheitlichen Nation war nach wie vor ungelöst. Der Begriff der Deutschen Nation erschien zum ersten Mal im Kriegsaufruf des preußischen Königs gegen Frankreich (März 1813). Der deutliche Wunsch der deutschsprachigen Bevölkerung, eine einheitliche Nation zu bilden, wurde von der preußischen Elite auf eine eigene Art verstanden und als Mittel der preußischen Expansionspolitik wahrgenommen und instrumentalisiert. Andererseits strebte Österreich eine Wiederherstellung der souveränen deutschen Staaten an, um sich diese später einzuverleiben. Der erste Vertrag dieser Art wurde im Oktober 1813 zwischen Österreich und Bayern geschlossen: Nach dem Vertrag von Ried garantierten Österreich und seine Alliierten (die später beigetretenen Russland und Preußen) dem bayerischen König den territorialen Besitzstand und die volle Souveränität; seinerseits verpflichtete sich Bayern, aus dem Rheinbund auszutreten und Frankreich den Krieg zu erklären. Die nachfolgenden Akzessionsverträge mit den deutschen Staaten entsprachen grundsätzlich diesen Bedingungen.141 Die Deutsche Frage 1813 – 1815 bildete im Wesentlichen zwei miteinander verbundene Aspekte: Die territorialen Veränderungen in der Schlussphase des Alten Deutschen Reiches und nach seinem Zerfall einerseits sowie die Anerkennung der vollen Souveränität aller deutschen Einzelstaaten seitens der europäischen Großmächte (vorrangig Österreichs und Preußens) andererseits. Die mit dem Reichsdeputationshauptschluss von 1803 begonnene Mediatisierung sowie Säkularisierung der altdeutschen Reichsterritorien galten der Vereinheitlichung und Vereinfachung der Verhältnisse innerhalb des großen Deutschlands. Die späteren von Napoleon durchgeführten territorialen Veränderungen dienten nur seinen Zielen und widersprachen den großdeutschen Interessen diametral. Deshalb wurde in den mit den europäischen Großmächten abgeschlossenen Akzessionsverträgen die Anerkennung der Restituierung des innerdeutschen territorialen Standes von 1806 vereinbart. Diese Maßnahme bedeutete in der Tat einen Rückschritt für die Ausgestaltung der erwarteten politischen Einigung der deutschen Territorien: Die Napoleonische Mediatisierung der altdeutschen feudalen Länder hatte den Ausgangspunkt für die 141
Vgl. Grzeszick, Vom Reich zur Bundesstaatsidee, S. 192 f.
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weitere Entwicklung gebildet, und die Auflösung der neu gegründeten deutschen Staaten (bspw. des Königreichs Westphalen) mit der gleichzeitigen Wiedererrichtung der mediatisierten altdeutschen Länder führte tatsächlich zu einer weiteren territorialen Zersplitterung Deutschlands, was den eigenen Zwecken Österreichs und Preußens entsprach.142 Wegen der „Entmediatisierung“ einiger Territorien hatten die kleineren und mittleren deutschen Staaten die Befürchtung, dass ihnen die durch den Zerfall des Alten Reiches erworbene formale Souveränität nach der Auflösung des Rheinbundes seitens der deutschen Großmächte wieder entzogen werden könnte. Während Preußen unter dem Deckmantel der Idee eines einheitlichen Staates deutscher Nation nach der Neugestaltung der deutschen Staaten mit der faktisch wiedereingeführten Landeshoheit statt Souveränität unter der Schirmherrschaft eines preußischen Unitarstaates strebte, unterstützte Österreich die Wahrung ihrer souveränen Eigenschaften, aber lediglich in einem beschränkten Umfang: Beispielsweise forderten Vertreter der Intelligenz in den süddeutschen Staaten die Errichtung von Verfassungen mit der Einschränkung der Macht des Monarchen sowie mit der Gewährleistung der liberalen, im Zuge der Französischen Revolution erlangten Bürgerrechte, was für das absolutistische Österreich inakzeptabel gewesen wäre.143 Die Deutsche Frage stand im direkten Zusammenhang mit der europäischen Friedensordnung: Die Alliierten hatten über das Modell der politischen Existenz der deutschen Staaten zu entscheiden. Eine der ersten Entscheidungen des einberufenen Wiener Kongresses (September 1814 – Juni 1815) war die Anerkennung und Restauration der Fürstenwürde fast aller deutschen Herrscher144, was die potenziellen Spannungen zwischen den deutschen Großmächten und restlichen Staaten abbaute. Deshalb bestimmten lediglich Fragen der Auswahl einer Form der Zusammensetzung souveräner deutscher Staaten und ihrer Einbettung in die europäische Nachkriegsordnung den Verlauf der Wiener Kongressverhandlungen. Die Auswahl fiel wieder auf die Formen eines Bundesstaates und eines Staatenbundes. Wie Brie anmerkte, hatte der Begriff des Bundesstaates zu diesem Zeitpunkt einen ganz unbestimmten Sinn und wenig gemein mit dem modernen Verständnis des Bundesstaates. Die Betrachtungen in der zeitgenössischen Fachliteratur und den amtlichen Entwürfen waren völlig allgemein und oberflächlich.145 Die bundesstaatliche Ordnung wurde als eine enge Verbindung der teilweise souveränen Staaten verstanden und mit dem Alten Deutschen Reich in einer negativen Hinsicht assoziiert. Einige Stimmen kleinerer deutscher Staaten zur Wiedererstellung der Deutschen Kaiserwürde blieben ungehört, weil sie einerseits den Souveränitätsansprüchen der deutschen Mittelstaaten zuwiderliefen und andererseits im Widerspruch zu den Expansionsinteressen Österreichs und Preußens standen. Die 142 143 144 145
Vgl. Grzeszick, Vom Reich zur Bundesstaatsidee, S. 193 f., 200. Vgl. Grzeszick, Vom Reich zur Bundesstaatsidee, S. 194, 196. Vgl. Grzeszick, Vom Reich zur Bundesstaatsidee, S. 194 f. Vgl. Brie, Der Bundesstaat, S. 42 f.
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zwei letztgenannten Gründe (besonders aber der wiederauflebende preußischösterreichische Dualismus) bedingten die Auswahl einer losen föderierten Staatenverbindung für die deutschen Territorien statt einer engeren nationalen Gemeinschaft.146 Am 8. Juni 1815, dem letzten Tag des Wiener Kongresses, wurde der Deutsche Bund als Verein aller deutschen Staaten und bestimmter Teile Preußens und Österreichs ausgerufen. Der Deutsche Bund wurde als ein Staatenbund ausgestaltet, was das Ergebnis eines Kompromisses zwischen den deutschen Großmächten war. Auf die Nichtannahme einer bundesstaatlichen Rechtsverbindung in Deutschland verwies später der österreichische Präsidialgesandte Graf von Buol-Schauenstein in seiner Rede anlässlich der Eröffnung der Deutschen Bundesversammlung im November 1816: Die deutschen Staaten sollten nicht wieder durch einen staatsrechtlichen Verband (d. h. Bundesstaat) verknüpft werden und die politische Einheit des großen Deutschlands wäre nur in Form eines Staatenbundes denkbar.147 Der neugegründete Bund hatte eine völkerrechtliche Natur, da seine Ausrufung und weitere Existenz durch die europäischen Großstaaten gewährleistet wurde. Die Deutsche Bundesakte von 1815 als völkerrechtlicher Vertrag war aber auch ein verfassungsrechtlicher Vertrag zwischen den deutschen Staatsherrschern, da sie die Grundlagen der Verfassungsordnung der deutschen Staaten bestimmte. In der Präambel der Bundesakte wurde festgestellt, dass „die souverainen Fürsten und freien Städte Deutschlands übereingekommen [sind], sich zu einem beständigen Bunde zu vereinigen“. Daraus folgte die Anerkennung der souveränen Staatlichkeit der einzelnen deutschen Gebiete, denen die vollkommene Staatsgewalt formal zustand. Abgesehen davon, dass die verbündeten Staaten (in der Bundesakte als Bundesstaaten bezeichnet wurden) im innenpolitischen Bereich volle Eigenständigkeit erhielten, bekam der Bund als Dachorganisation eine starke rechtliche Stellung. Durch die Wiener Schlussakte (Art. 5) war der Deutsche Bund vor Auflösung geschützt. Nach Art. 2 der Bundesakte bestand der Bundeszweck in der „Erhaltung der äußeren und inneren Sicherheit Deutschlands und der Unabhängigkeit und Unverletzbarkeit der einzelnen deutschen Staaten“, d. h., als Völkerrechtssubjekt war der Bund formal völlig selbständig und die einzelnen Bundesstaaten waren für die selbständigen außenpolitischen Beziehungen nicht zuständig (tatsächlich konnte aber einerseits kraft der teilweisen territorialen Beteiligung Österreichs und Preußens am Bund (vgl. Art. 1 der Bundesakte) die auswärtige Politik dieser deutschen Großstaaten mit der bündischen nicht absolut übereinstimmen und andererseits konnten die deutschen Großmächte aufgrund dieser Besonderheit die gesamte Politik des Bundes beeinflussen). Die Einmischung des Bundes in die innerstaatliche Gestaltung der Bundesglieder wurde ausgeschlossen. Eine Ausnahme bildete jedoch Art. 13 der Bundesakte: 146
198. 147
Vgl. Brie, Der Bundesstaat, S. 43 f.; Grzeszick, Vom Reich zur Bundesstaatsidee, S. 194, Vgl. Brie, Der Bundesstaat, S. 45.
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Danach wird in allen deutschen Bundesstaaten die landständige Verfassung errichtet. Diese Bestimmung könnte als eine Art der ersten verfassungsrechtlichen Homogenitätsanforderung in Deutschland angesehen werden: Sie forderte von den deutschen Bundesstaaten die Einführung einer Verfassungsordnung, was den Weg für die Entstehung des Konstitutionalismus im großen Deutschland ebnete. Die in der Bundesakte enthaltene Verfassungshomogenitätsregelung bestimmte, wie Grzeszick bemerkt, „ob die föderalen Elemente des Deutschen Bundes eine eher enge oder doch lose Verbindungsform der deutschen Länder bildeten.“148 Der unbestimmte Rechtsbegriff „landständische Verfassung“ gab den deutschen Bundesstaaten einen großen Interpretationsspielraum, was Gegenstand andauernder Kontroversen werden sollte. Problematisch war der Sinn des Adjektivs „landständisch“: Die Auslegungen reichten von der Einführung einer ständischen Korporationsvertretung bis hin zu einer Volksvertretung. Solche Überlegungen zogen selbst die Legitimationsnatur der Herrschaftsgewalt innerhalb der deutschen Länder in Zweifel, was schon für die Fürsten und Könige gefährlich war.149
5. Die Beurteilung der deutschen Einzelstaaten nach Johann Ludwig Klüber Die erste ausführliche Untersuchung der staatsrechtlichen Natur des neugegründeten Deutschen Bundes führte Johann Ludwig Klüber durch, der seine Betrachtungen darüber in seiner Abhandlung „Oeffentliches Recht des Teutschen Bundes und der Bundesstaaten“ (1817)150 anstellte. Klüber war Professor in Heidelberg und später Angehöriger der Badischen Regierung. Als Mitglied der badischen Regierungsdelegation hatte er selbst an den Verhandlungen des Wiener Kongresses teilgenommen, was ihm ermöglichte, viele Informationen hinsichtlich der Ausgestaltung der neuen Verbindung der deutschen Staaten sozusagen „an der Quelle“ zu erlangen. Schon als Geheimer Legationsrat unter dem preußischen Staatskanzler veröffentlichte Klüber sein Werk mit einer detaillierten Beschreibung des Staatsorganismus des Deutschen Bundes. Nach Klüber war der Deutsche Bund kein Staat, sondern ein Staatsverein oder ein Staatenbund, unter dem er eine ständige Vereinigung mehrerer unabhängiger deutscher Staaten für gemeinschaftliche Zwecke verstand.151 Um einen echten Staat zu bilden, fehlte es dem Deutschen Bund an Obergewalt (daraus folgte das Fehlen der gesetzgebenden Gewalt und der Staatsregierung) und das Staatsgebiet. Dem Bund 148
Grzeszick, Vom Reich zur Bundesstaatsidee, S. 241. Vgl. Grzeszick, Vom Reich zur Bundesstaatsidee, S. 231. 150 In der vorliegenden Arbeit wird die 2. Auflage von 1822 verwendet: Klüber, Johann Ludwig, Oeffentliches Recht des Teutschen Bundes und der Bundesstaaten, in 2 Bde., 2. Aufl., Frankfurt a. M. 1822. 151 Vgl. Klüber, Oeffentliches Recht I, § 103a S. 133, § 154 S. 327. 149
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stand nur die vertragsgemäße Bundesgewalt als „eine politische Social- oder Collegialgewalt“152 zu. Für den Bund existierte kein Oberhaupt, Trägerin der Bundesgewalt war vielmehr die Gesamtheit aller Bundesglieder. Der Deutsche Bund war auch kein Nachfolger oder Stellvertreter des früher aufgelösten Alten Deutschen Reiches, sondern bloß ein völkerrechtlicher Verein der souveränen Fürsten und freien Städte. Klübers Erwähnung des Alten Reiches eröffnete eine weitere Schlussfolgerung: Der Deutsche Bund ist auch kein Bundesstaat.153 Im Unterschied zum Bundesstaat ordnete er dem Deutschen Bund als Staatenbund keine höchste (oberherrliche) Gewalt über die Bundesglieder zu.154 Die im Deutschen Bund vereinigten einzelnen deutschen Staaten waren „unter sich getrennt, selbständig und unabhängig“.155 Die einzelnen Bundesstaaten (Klüber verwendete diese in der Zeit des Rheinbundes in den staatsrechtlichen Sprachgebrauch eingebürgerte Bezeichnung auch in Bezug auf die Glieder des Deutschen Bundes) besaßen die Souveränität und eigene Staatsgewalt. Sie übten die Regierungsrechte auf eigenem Staatsgebiet aus: Den Inbegriff der Gebiete aller einzelnen deutschen Staaten, die sich selbst, also souverän, regierten, bildete nach Klüber der sog. Territorialbestand des Deutschen Bundes, der aber kein eigenes Staatsgebiet des Bundes darstellte. Dieser Begriff als geografisch-politische Kategorie ermöglichte dem Bund den in der Bundesakte (Art. 2) bestimmten Zweck des Vereins zu erfüllen.156 Die politische Natur der deutschen Bundesgenossen war dualer Natur: Einerseits hatten sie die Eigenschaften der Mitglieder des Deutschen Bundes, andererseits blieben sie unabhängige Staaten. Der Beleg für diese Unabhängigkeit lag nach Klüber in der Staatshoheit oder der unabhängigen Staatsgewalt im weiteren Sinne (Souveränität).157 Daraus folgt, dass Klüber wie die meisten seiner Vorgänger an die Übereinstimmung von Souveränität und Staatsgewalt anknüpfte; er führte aber darüber hinaus die Unterscheidung im Verständnis der Staatsgewalt im weiteren und engeren Sinne ein. Die staatliche Souveränität (Staatshoheit) bilden folgende Elemente: 1) die politische Unabhängigkeit (oder die Souveränität im engeren Sinne), die die Selbständigkeit des Bundesglieds im Verhältnis zu anderen Bundes- und Drittstaaten bedeutet; 2) die Staatsgewalt im engeren Sinne, die die zum Zweck des Staates ausgeübte Hoheitsgewalt ist; 3) der rechtliche Entstehungsgrund der Staatshoheit (im Fall der deutschen Bundesstaaten kam dies in der Unterwerfung durch den Gründungsvertrag zum Tragen); 4) die Staatshoheit als Realrecht bezieht sich auf das bestimmte Territorium158, d. h., das Staatsgebiet begrenzt die Ausübung der Staatssouveränität. (Für Klübers Staatsrechtsgedanken spielte das Territorium als 152 153 154 155 156 157 158
Klüber, Oeffentliches Recht I, § 103a S. 133. Vgl. Klüber, Oeffentliches Recht I, § 6 S. 8, § 103a S. 133 f. Vgl. Klüber, Oeffentliches Recht I, § 156a S. 330. Klüber, Oeffentliches Recht I, § 6 S. 9. Vgl. Klüber, Oeffentliches Recht I, § 6 S. 9, § 86 S. 108, § 154 S. 327. Vgl. Klüber, Oeffentliches Recht II, § 176 S. 377 f. Vgl. Klüber, Oeffentliches Recht II, § 176 S. 378.
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Staatsgestaltungselement eine wesentliche Rolle, was später in der klassischen DreiElemente-Lehre Jellineks geäußert wird.) Die einzelnen Rechte, die den Bundesstaaten zur Ausübung zustehen, bezeichnete Klüber als Staatshoheitsrechte (Souveränitäts- oder Regierungsrechte). Die Souveränität (Staatshoheit) ist dann der Inbegriff aller Staatshoheitsrechte.159 Wenn der Träger der Souveränität in den deutschen Flächenstaaten der Staat selbst war, stand die Staatshoheit ihrer Rechtsnatur nach in den freien Städten der Stadtgemeinde (d. h. der Bevölkerung) zu. Sie wird kollegial durch den Rat oder den Senat (den Bürgermeister und den Rat) als das höchste Vertretungs- und Verwaltungsorgan der Stadt ausgeübt. Für bestimmte Gegenstände war aber das städtische Volksvertretungsorgan verpflichtet, gemeinsam mit der Bevölkerung (d. h. mit ihrer direkten Beteiligung) zu handeln.160 In den meisten anderen Bundesgliedern vertraute nach Klüber der einzelne Staat (kein Volk!) als Souveränitätsträger die Ausübung der Staatsgewalt (im engeren Sinne) dem Staatsoberhaupt an. Daraus folgte, dass der einzelne Bundesstaat selbst als das nichtpersonifizierte Subjekt formal Träger der Souveränität war, aber das Staatsoberhaupt der reale Inhaber der Staatshoheit (inkl. der Staatsgewalt im engeren Sinne) war. Die dem Staatsoberhaupt zustehenden Staatshoheitsrechte bilden seine Machtvollkommenheit (plenitudo potestatis), die die folgenden Elemente umfasst: 1) die monarchische Majestät; 2) die Funktion der Repräsentation des Staates nach außen; 3) die Staatsregierung, d. h. die Ausübung der Staatsgewalt im Inneren, die nach Klüber aber naturgemäß eingeschränkt ist.161 (Klüber erklärte jedoch nicht, warum „die Staatsregierung oder Oberherrschaft daher, ihrer Natur nach, eingeschränkt [ist]“ [Hervorhebung im Original].) Die Literaturhinweise in der Fußnote enthalten aber einen Hinweis darauf, dass Klüber unter einer solchen Einschränkung einerseits den Staatszweck und andererseits die Rechte der Untertanen [bspw. verband er die Rechtmäßigkeit des Staatsoberhauptes damit, dass „seine Regentengewalt dem Rechtgesetz gemäß“ sein muss162] verstand.) Wie andere souveräne Staaten waren die deutschen Bundesglieder berechtigt, eine eigene Grundverfassung, Verwaltung und Vertretung zu haben163 (Recht auf eigene Staatsorganisation). Die Staatsgrundverfassung bestimmte die Machtverhältnisse innerhalb des einzelnen souveränen Staates. Die gesetzgebenden Befugnisse wurden dem auf verschiedene Weise aufgebauten Vertretungsorgan erteilt. Die Leitung der Staatsverwaltung lag in den Händen des Staatsoberhauptes als Inhaber der Souveränität (im engeren Sinne).164 159 Vgl. Klüber, Oeffentliches Recht I, § 97 S. 124; ders., Oeffentliches Recht II, § 176 S. 378. 160 Vgl. Klüber, Oeffentliches Recht II, § 178a S. 382. 161 Vgl. Klüber, Oeffentliches Recht I, § 95 S. 122, § 97 S. 124, ders., Oeffentliches Recht II, § 177 S. 380 f.; ders., Oeffentliches Recht II, § 177 S. 381 Fn. a. 162 Vgl. Klüber, Oeffentliches Recht II, § 179 S. 388. 163 Vgl. Klüber, Oeffentliches Recht I, § 97 S. 123, § 154 S. 328. 164 Vgl. Klüber, Oeffentliches Recht I, § 97 S. 124; ders., Oeffentliches Recht II, § 263 S. 566 f.
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Abgesehen davon, dass der Deutsche Bund kein Bundesstaat war und daher die Bundesglieder nicht im Verhältnis der Unterordnung zur höchsten Herrschaftsgewalt standen, wurden die deutschen Bundesstaaten im Rahmen der Bundeskompetenz dem Bund vertragsmäßig untergeordnet, indes unbeschadet ihrer politischen Unabhängigkeit. Dies schließt die Selbständigkeit der Bundesgenossen im Inneren nicht aus: Grundsätzlich ist der Bund nicht berechtigt, in die innere Staatsverfassung und Staatsverwaltung einzugreifen.165 Obwohl den Bundesgliedern durch die Bundesakte von 1815 die Souveränität und die souveräne Staatsgewalt ausdrücklich garantiert wurden, ließ die Bundesakte aber die Möglichkeit zu, die Bundesgenossen in ihren Staatshoheitsrechten unter bestimmten Bedingungen einzuschränken. Daraus ergaben sich verfassungsgemäß begründete Ausnahmefälle, in denen der Bund als Gesamtheit an den inneren Rechtsverhältnissen seiner Glieder direkt teilnehmen konnte.166 Eine der wichtigsten Normen, die direkt auf die innere Staatsorganisation der Bundesgenossen einwirkte, war Art. 13 der Bundesakte, nach dem den deutschen Bundesstaaten eine landständige Verfassung vorgeschrieben wurde (! S. 70 f.). Das andere Beispiel bildete die Gesetzgebung der Bundesglieder, die durch den Bundeszweck und die Konventionalgesetze (Beschlüsse der Bundesversammlung) des Deutschen Bundes beschränkt wurde.167 Hier lässt sich feststellen, dass zum ersten Mal in der deutschen Verfassungsgeschichte die schon theoretisch begründete Idee der notwendigen staatsorganisationsrechtlichen Übereinstimmung innerhalb eines Bundesstaates (das bundesstaatliche Homogenitätsgebot) in einem der Verfassung angenäherten Rechtsakt zum Tragen kam: Die Bundesakte von 1815 stellte insofern einen Fortschritt dar, als sie diese Idee in – wenn auch nur groben – Umrissen skizzierte. In seiner Konzeption eines nichtsouveränen Staatenvereins beschrieb Klüber tatsächlich einzelne Elemente der zukünftigen bundesstaatlichen Homogenitätsanforderungen in Bezug auf die begrenzt souveränen Bundesglieder.
6. Der Einfluss der liberalen Bewegungen auf die Bundesstaatslehre im Deutschen Bund: Denkschrift von Friedrich Gagern Die von den absolutistischen Großmächten durchgeführte Restauration der vorkriegerischen Machtverhältnisse in Europa konnte die beginnenden Veränderungen in der Selbstidentifizierung der Völker nicht konservieren. Der dank der Französischen Revolution anerkannte Wert der menschlichen Persönlichkeit und ihre naturgemäßen Bürgerrechte setzten sich im Bürgertum verschiedener europäischer Staaten durch. Während in Frankreich der Druck hin zu liberalen Reformen stieg, 165 166 167
Vgl. Klüber, Oeffentliches Recht I, § 155 S. 329, § 165 S. 348. Vgl. Klüber, Oeffentliches Recht I, § 156a S. 330, § 165 S. 349. Vgl. Klüber, Oeffentliches Recht II, § 282 S. 590.
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was endlich zur Julirevolution von 1830 und dem endgültigen Sturz der Bourbonen führte, stagnierten das politische Leben und die Verfassungsentwicklung im großen Deutschland, während die intensive Industrialisierung und das Wirtschaftswachstum die Veränderungen in der politischen und staatsrechtlichen Ausgestaltung der deutschen Staatenverbindung erforderten. Der kontinuierlich bestehende preußischösterreichische Dualismus als Mechanismus der beiderseitigen Mäßigung diente für diesen Zeitabschnitt tatsächlich den gemeinsamen restaurativen Interessen der deutschen Großstaaten. Kleinere Staaten versuchten angesichts der Rivalität zwischen Österreich einerseits und Preußen andererseits (indes erfolglos), eine politisch und wirtschaftlich selbständige Staatenvereinigung als Gegengewicht zu Österreich und Preußen zu bilden, um die Hegemonialansprüche der beiden Großmächte herunterzuschrauben.168 Die besonders nach der französischen Julirevolution von 1830 stark ausgeprägte Idee des Liberalismus im politischen Bereich verband sich mit der Entstehung des deutschen Konstitutionalismus und der noch von G. W. F. Hegel geäußerten Mahnung zum Aufbau eines allgemeindeutschen Nationalstaates169 und fand Gehör bei der Intelligenz und dem Bürgertum in allen Teilen des großen Deutschlands. Die konkreten Reaktionen der politischen Eliten waren aber höchst unterschiedlich. Während in den süddeutschen Staaten eine liberale Opposition in den Landtagen vertreten war und starken Einfluss auf die Politik (insb. Verfassungsentwicklung) hatte, was zur Bildung der konstitutionellen Monarchien mit fortschrittlichen Landesverfassungen führte (später sollte dieser Umstand Preußens Plänen über den Beitritt der süddeutschen Staaten zum neuen Deutschen Reich im Wege stehen), besaßen die norddeutschen Staaten dagegen eine noch altständische Struktur der Gesellschaft und ihre Politik war konservativ ausgeprägt – die wirtschaftliche Expansion und der damit einhergehende wachsende Wohlstand Preußens begünstigten den Fortbestand eher konservativen Strukturen dort. Die übrigen deutschen Territorien standen unter dem Einfluss Österreichs, das auch gegen die liberalen Bewegungen innerhalb des deutschsprachigen Raums war.170 Abgesehen von der gemeinsamen preußisch-österreichischen Restaurationspolitik, die nur weitere Spannungen innerhalb des Deutschen Bundes erzeugte, wuchsen die liberal-demokratischen Kräfte weiter. Die deutsche Bundesstaatslehre reagierte ebenfalls auf die neuen Entwicklungen. Eines der kennzeichnenden Werke der 1830er Jahre war die Denkschrift „Vom Bundesstaat“ (1835)171 von Friedrich von Gagern. Als Berufsoffizier, der zunächst Rechtswissenschaften in Göttingen, Marburg und Gießen studiert hatte, war General Gagern jedoch auch staatswissenschaftlich engagiert, was wohl auf seine familiäre Umgebung zurückgeht: Sein Vater 168
Vgl. Grzeszick, Vom Reich zur Bundesstaatsidee, S. 271. Vgl. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich, Über die Reichsverfassung, München 2002. 170 Vgl. Grzeszick, Vom Reich zur Bundesstaatsidee, S. 272 ff. 171 Zit. weiterhin nach: Gagern, Friedrich von, Vom Bundesstaat, in: Gagern, Heinrich von (Hrsg.), Das Leben des Generals Friedrich von Gagern, Bd. 1, Leipzig 1856, S. 372 ff. 169
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Hans von Gagern war Minister im Herzogtum Nassau, seine jüngeren Brüder waren politisch exponierte Personen – Heinrich von Gagern war Präsident und Maximilian von Gagern Abgeordneter der Frankfurter Nationalversammlung von 1848/49. Der überzeugte Unitarier und Befürworter eines deutschen Einheitsstaates172 wurde nach der französischen Julirevolution zum Verfechter eines bundesstaatlichen Standpunkts. In „Vom Bundesstaat“ schrieb er, dass man sich von dem Dilemma zwischen Bundesstaat und Staatenbund als Formen der großdeutschen Existenz zu Gunsten des ersteren befreien müsse. Als Bedingungen hierfür sah er das Vorhandensein einer gemeinsamen deutschen Nationalität und Muttersprache.173 Am Anfang seiner Denkschrift führt Gagern den Begriff des Bundesstaates ein, den er als „die Vereinigung mehrerer Staaten, welche sich zur vollkommenen Erreichung des Staatszwecks einer gemeinschaftlichen Staatsgewalt unterwerfen, ohne dass die Regenten der einzelnen Staaten allen inneren Hoheitsrechten entsagen“ (Hervorh. im Original)174 definiert. Die tragenden Elemente der Bundesstaatlichkeit – die gesamtstaatliche Obergewalt und die Souveränität – beurteilte Gagern auf folgende Weise. Den wesentlichen Unterschied zwischen Bundesstaat und Staatenbund sah Gagern in der Natur der gemeinschaftlichen Gewalt. Während der Bundesstaat ein staatsrechtlicher Verein ist, dem eine oberste Staatsgewalt zusteht, ist der Staatenbund im Gegensatz dazu bloß ein völkerrechtlicher Verein, der zu den von den Bundesgliedern bestimmten Zwecken vereinigt wird. Im Staatenbund bleibt die Souveränität bei den einzelnen Mitgliedstaaten und die Bundesgewalt ist keine Hoheitsgewalt, sondern lediglich eine kollegial angeordnete Gewalt der Bundesgenossen. Gagern merkte an, dass einerseits im Staatenbund die Selbständigkeit der Einzelstaaten größer ist, andererseits aber hierdurch die staatenbündische Gesamtheit mehreren Gefahren ausgesetzt ist. Dagegen wird die durch den Bundesstaat begründete Staatsgewalt die Staatseinheit und -sicherheit gewährleisten und die Funktionsfähigkeit des Gesamtstaates nach außen und nach innen bestätigen.175 Im Bundesstaat als staatsrechtlichem Verein sind die einzelnen Mitgliedstaaten der gemeinschaftlichen Staatsgewalt untergeordnet. Daraus folgt nach Gagern, dass sie nicht souverän sind.176 Diese Oberstaatsgewalt steht einem erblichen Monarchen zu, der das Oberhaupt des Bundesstaates ist. Um die Unparteilichkeit und die Gleichstellung mit den Landesstaatsoberhäuptern zu sichern, dürfe dieser Monarch nach Gagern nicht zugleich Regent eines Mitgliedstaates (der im gegenteiligen Fall
172
Vgl. seine Schrift „Unitarier und Föderalisten“ aus dem Jahr 1825/26 in: Gagern, Heinrich von (Hrsg.), Das Leben des Generals Friedrich von Gagern, Bd. 1, Leipzig 1856, S. 361 ff. 173 Vgl. Gagern, Vom Bundesstaat, S. 377 f.; Brie, Der Bundesstaat, S. 57. 174 Gagern, Vom Bundesstaat, S. 372. 175 Vgl. Gagern, Vom Bundesstaat, S. 375 ff. 176 Vgl. Gagern, Vom Bundesstaat, S. 372.
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besondere Interessen hätte) sein.177 Dem bundesstaatlichen Monarchen wird die Reichshoheit zugeschrieben, während in den Mitgliedstaaten die Regenten die Landeshoheit haben. Ihre inneren Hoheitsrechte, die unter dem Begriff „Landeshoheit“ vereinigt sind, werden nur innerhalb der Territorien ausgeübt und ihr Wirkungskreis hat keinen Vorrang vor der Reichshoheit. Schon früh thematisiert Gagern die Frage nach der Übereinstimmung der vorhandenen Landeshoheit mit der von ihm postulierten Idee der Staatshoheit (d. h. Souveränität) als einer unteilbaren Einheit. Gagern war der Auffassung, dass die staatliche Einheit nicht gefährdet sei, wenn die Ausübung der inneren und äußeren Hoheitsrechte trennbar ist und die inneren Hoheitsrechte durchaus den Mitgliedsstaaten zustehen können, weil die Landeshoheit der Reichshoheit unterworfen ist. Als Ergebnis wären für Gagern halbsouveräne Staaten nicht denkbar.178 Dieser Gedanke ist aber nicht klar formuliert. Gagern stellt zuerst fest, dass, da die einzelnen Staaten der Oberstaatsgewalt unterworfen sind, die Mitglieder des Bundesstaates nicht souverän sind. Gleichzeitig behauptet er, dass kraft der Existenz der Reichs- und Landeshoheit eine „Halbsouveränität“ der Mitgliedstaaten ausgeschlossen sei. Aus der Teilung der inneren und äußeren Hoheitsrechte folgt nach Gagern keine souveräne Natur der einzelnen Staaten im Bundesstaat. Diese Teilung ist aber nicht absolut: Dem Bundesstaat stehen nicht nur die außenpolitischen, sondern auch manche inneren Befugnisse zu, und er ist als souveräner Staat, der die höchste Gewalt innehat, anerkannt. Die Mitgliedstaaten können jedoch auch die einzelnen auswärtigen Beziehungen ausüben, was aber wiederum keine Souveränität beweist. Neben dieser Unklarheit finden sich bei Gagern noch weitere Brüche. So fehlt eine klare Abgrenzung von Souveränität und Staatsgewalt: Ist die von den Mitgliedstaaten ausgeübte Gewalt die Staatsgewalt oder hat sie eine andere Rechtsnatur? Ist die Landeshoheit einfach der Inbegriff der einzelnen Hoheitsrechte der Territorialherrscher oder die territorial begrenzte Staatssouveränität? Nach der hier vertretenen Auffassung wäre allerdings das Einfordern einer durchgehenden Stringenz in der Theorie von Gagern nicht angebracht, da – wie sein Bruder zutreffend anmerkte – General Gagern ja in erster Linie Offizier war, für den die Staatswissenschaft nur eine Nebenbeschäftigung bildete.179 Die Rechtsnatur des Bundesstaates erfordert nach Gagern, dass zwischen der Form der Staatsgewalt der Mitgliedstaaten und der Form der Oberstaatsgewalt Übereinstimmung besteht. Die Verfassungen der Mitgliedstaaten müssen mit der Verfassung des Gesamtstaates ebenfalls übereinstimmen.180 Daraus folgt das Erfordernis der Homogenität der Verfassungen und der Staatsformen innerhalb des Bundesstaates. Ein heterogener Staat (den Gagern metaphorisch als „Puddingstaat“ bezeichnet181), d. h. ein in seinen verschiedenen Bestandteilen aus völlig unter177 178 179 180 181
Vgl. Gagern, Vom Bundesstaat, S. 382. Vgl. Gagern, Vom Bundesstaat, S. 383. Vgl. Gagern, Vom Bundesstaat, S. 387. Vgl. Gagern, Vom Bundesstaat, S. 379. Vgl. Gagern, Vom Bundesstaat, S. 378.
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schiedlichen Partikularinteressen heraus zusammengesetzter Staat, könne nur unter einer streng autokratischen Herrschaftsgewalt verbunden werden. Gagern sah die ideale Staatsform des bundesstaatlichen Zusammenlebens in der Monarchie: „Monarchisch regierte Staaten können nur unter einem Monarchen zum Bundesstaat vereinigt werden.“182 Gäbe man der Oberstaatsgewalt hingegen eine republikanische Form, würde sich das als Bundesstaat gegründete Staatsgebilde bald in einen bloßen Staatenbund umwandeln, weil es einem solchen als kollegiale Bundesgewalt ausgestatteten Oberstaat (also der Republik), die der Macht der erblichen Monarchen gegenüber stünde, an Einheit und Stabilität fehlen würde. Zum Vergleich zog Gagern das Alte Deutsche Reich als Wahlmonarchie herbei. Besitzen die einzelnen Mitgliedstaaten eine republikanische Staatsform und sind sie der freistaatlichen Obergewalt untergeordnet, sind diese Staaten politischer Instabilität ausgesetzt, was auch die Einheit des Bundesstaates gefährden könne. Gagern lehnte auch eine solche Variante ab, in der sich mehrere Republiken einer monarchischen Herrschaftsgewalt unterwerfen. Hier käme das Übergewicht innerhalb des Bundesstaates zugunsten des Monarchen zum Vorschein: Die republikanisch ausgestalteten Einzelstaaten würden in unselbständige Provinzen umgewandelt, und aus Staatsoberhäuptern und -beamten würden schlicht weisungsgebundene Beamte des Monarchen183, was selbst die Echtheit der Staatlichkeit der Bundesglieder in Frage stellen würde. Gagern ging nicht nur von der Unterordnung der partikularen Staatsgewalten der Oberstaatsgewalt aus, sondern auch von der organisatorischen Harmonie der in einem engen Zusammenhang stehenden Gewalten innerhalb des Bundesstaates. Diese Harmonie wird durch die Bundesverfassung erreicht: Abgesehen davon, dass die Staatsgewalt der Landesherrscher kraft eigener Rechtsnatur territorial begrenzt ist, wird der Umfang der Landeshoheit gegenständlich durch die Bestimmungen der Bundesverfassung beschränkt.184 Hier stellte Gagern aber nicht klar, wieweit diese einschränkende Wirkung der Bundesverfassung gehen soll, d. h., er räumte den Bundesverfassungsgebern ein fast absolutes Ermessen in der Frage der inneren Organisation der Mitgliedstaaten ein. Eine Erklärung dafür findet sich bei Gagern in seinen weiteren Ausführen. Die landeshoheitliche Regierung des Einzelstaates stellte Gagern zwischen Gemeinde und höchste Staatsgewalt. Der Unterschied zwischen Bundesmitgliedern einerseits und bloßen Provinzen andererseits liegt darin, dass dem Einzelstaat mehr Freiheit und Selbständigkeit zusteht.185 Er erkannte aber die Gliedstaaten nicht als souveräne Staatsgebilde an, daher wurde der Begriff „Landeshoheit“ verwendet. An dieser Stelle ließe sich gar kühn behaupten, dass Gagern in seiner stellenweise nicht stringenten Bundesstaatstheorie teilweise von den herrschenden Ansichten der Staatenstaatstheorie abwich: Der von ihm befürwortete mehrstaatliche Bestand des 182 183 184 185
Gagern, Vom Bundesstaat, S. 379. Vgl. Gagern, Vom Bundesstaat, S. 379 f. Vgl. Gagern, Vom Bundesstaat, S. 373. Vgl. Gagern, Vom Bundesstaat, S. 377.
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Bundesstaates wurde zugleich wiederum abgelehnt angesichts der postulierten eingeschränkten Selbständigkeit der Gliedstaaten. In diesem Sinne beschrieb Gagern den Grundriss der inneren Staatsorganisation der Bundesglieder. „Die gesetzgebende Gewalt in den Particularstaaten kann nur Gegenstände betreffen, worüber besondere Bestimmungen in den einzelnen Territorien ohne Nachteil für das Ganze zulässig sind.“186 Er sprach den Einzelstaaten das Zweikammersystem der Volksvertretung ab: Wenn im Oberstaat das Parlament aus zwei Kammern bestehen muss, ist für die Partikularstaaten eine direkt gewählte Kammer genug. Allerdings bleibt die gesetzgebende Gewalt der Gliedstaaten der gesetzgebenden Bundesgewalt untergeordnet.187 Abgesehen davon, dass der Landesherr als Träger der Landeshoheit anerkannt wurde, schrieb Gagern ihm nur die beschränkte Ausübung der Exekutivgewalt zu: Nach Gagern kommt den Fürsten nur ein Ernennungsrecht für die niederen und höheren Staatsämter zu; das Ernennungsrecht für die höchsten Staatsämter hingegen stehe nur dem Bundesoberhaupt zu. Gagerns Denkschrift wurde erstmals von dessen Bruder Heinrich im Jahre 1856 veröffentlicht, acht Jahre später nach Gagerns Tod und dem Beginn der Deutschen Revolution 1848/49. Obwohl sie seinen Zeitgenossen nicht bekannt war, konnte Gagern den weiteren Verlauf der Ereignisse voraussehen. Die Gagernschen Bundesstaatsideen waren nicht durchgehend liberal, er war bspw. ein Befürworter der monarchischen Staatsform für den zukünftigen deutschen Bundesstaat. Seiner Theorie lag aber die bereits seit langer Zeit gewachsene Idee der Einheit der Deutschen Nation zugrunde. Daher wurden viele seiner Gedanken tatsächlich im Projekt der ersten allgemeindeutschen Verfassung implementiert, was für die deutsche Bundesstaatslehre den Übergang in eine neue Phase markierte.
186 187
Gagern, Vom Bundesstaat, S. 373. Vgl. Gagern, Vom Bundesstaat, S. 382.
Kapitel II
Die Homogenitätsidee nach der monarchischen Bundesstaatslehre des jüngeren Konstitutionalismus A. Die Paulskirchenverfassung von 1848/49 und der erste Versuch einer bundesverfassungsrechtlichen Bestimmung des Homogenitätsgebotes 1. Die Entstehungsgeschichte, das Wesen und der Umfang der bundesverfassungsrechtlichen Homogenitätsvorschriften Wie bereits oben (! S. 74 ff.) dargelegt, gab es noch in den 1830er Jahren nur vereinzelte Stimmen zugunsten einer bundesstaatlichen Gestaltung. Die entschiedene Restaurationspolitik sowohl der österreichischen als auch der preußischen Regierung vermochte es, die aktiven Befürworter eines liberalen, nationalorientierten Deutschen Bundesstaates aus dem politischen Alltag zu verdrängen – jedoch nur auf Zeit: Seit der Mitte der 1840er Jahre entstehen die ersten klar formulierten Programme des Aufbaus eines nationaldeutschen Bundesstaates. Die in vielerlei Hinsicht sozial bedingte europäische Revolutionswelle von 1848/49 galt in gewissem Maße als Antwort auf die mangelhafte reaktionäre Friedensordnung in Europa nach der Wiener Schlussakte 1815. Dank der Revolution gewannen die wissenschaftlichen Betrachtungen des bundesstaatlichen Modells viele Anhänger und fanden auch in praktischer Hinsicht Anwendung.1 Es gab nur vereinzelte Stimmen für einen deutschen Einheitsstaat, die Mehrheit der liberalen Politiker und Staatsrechtler entschied sich dagegen für die Notwendigkeit der Gestaltung einer stabilen Verbindung der nationaldeutschen Staaten: Das große Deutschland müsste aus dem lockeren Staatenbund in einen festen Bundesstaat umgewandelt werden.2 Ebendieser Gedanke wurde als das notwendige Ziel aller nationalen Bestrebungen in Deutschland angesehen.3
1
Vgl. Brie, Der Bundesstaat, S. 71 f. Vgl. Nieding, Kurt, Das Prinzip der Homogenität in den Verfassungen des Deutschen Reiches von 1849, 1871 und 1919 unter besonderer Berücksichtigung des Artikels 17 der geltenden Reichsverfassung, Gotha 1926, S. 38. 3 Vgl. Brie, Der Bundesstaat, S. 73. 2
A. Die Paulskirchenverfassung von 1848/49
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Einen der entscheidenden Aspekte in der Konzeption des Bundesstaatsmodells bildete die Frage der staatsrechtlichen Harmonie zwischen den Teilen des Gesamtstaates, d. h. die bundesstaatliche Homogenität. Vom Beginn des Verfassungsverfahrens an wurde der Gewährleistung der bundesstaatlichen Einheit eine große Bedeutung beigemessen: Bereits im „Entwurf eines Reichsgrundgesetzes der siebzehn Männer des öffentlichen Vertrauens“4, der der späteren Frankfurter Reichsverfassung (FRV oder sog. Paulskirchenverfassung) zugrunde lag, kamen die Homogenitätsanforderungen erstmals explizit zum Tragen. Innerhalb des am 10. März 1848 vom Bundestag des Deutschen Bundes eingesetzten sog. Siebzehnerausschusses „war man durchdrungen davon, daß zwischen der Verfassung des Gesamtstaates und der Einzelstaaten keine grundsätzliche Verschiedenheit bestehen dürfe, daß wie im Reich, so in den Ländern die wichtigsten Forderungen des Verfassungsstaates erfüllt sein müßten.“5 Mit anderen Worten soll die Bundesverfassung zum Zweck der gesamtstaatlichen Funktionsfähigkeit eine bestimmte Richtung für die Verfassungsentwicklung der deutschen Einzelstaaten vorgeben. Den Ausgangspunkt blieb die Selbständigkeit der bundesstaatlichen Glieder: Nach Art. I § 2 des Entwurfes wird sie zwar nicht aufgehoben, aber zwecks der Nationaleinheit (in der endgültigen Gestalt – „Einheit Deutschlands“) beschränkt. Daraus folgte die prinzipielle Autonomie der Einzelstaaten, die nur durch die Bestimmungen der Bundesverfassung eingeschränkt werden kann. In Art. IV § 25 des Entwurfes wurden die dem deutschen Volk zustehenden Grundrechte enumeriert, die durch das Reich gewährleistet werden und zugleich der Verfassung eines jeden deutschen Einzelstaates zur Norm dienen sollten, an deren erster Stelle das Recht auf die Volksvertretung stand. Dieser Artikel bildete also die bundesverfassungsrechtlichen Normativbestimmungen in Bezug auf die einzelstaatlichen Verfassungen. Die konstituierende Frankfurter Nationalversammlung, die vom Mai 1848 bis zum Mai des Folgejahres in der Paulskirche tagte und an welcher die Vertreter aller deutschen Staaten teilnahmen, erkannte auch die Bedeutsamkeit der Frage der bundesstaatlichen Einheit unter gleichzeitiger Respektierung der gliedstaatlichen Selbständigkeit an. „Was zu der Einheit, – was überhaupt dazu nöthig ist, um dieselbe in ihrem Wesen und ihrer Wirkung zu sichern, so dürfen wir doch auch nicht vergessen, daß wir die Autonomie der Einzelstaaten nicht ohne Grund antasten dürfen, und daß wir die Einzelstaaten als selbständig berechtigt gelten lassen wollen. […] In diesem Sinne, meine Herren, wollen wir die Harmonie des deutschen Staatswesens, wie es in seinen Interessen zweckmäßig und förderlich erscheint“6, so der Abgeordnete Georg Beseler in der Sitzung am 13. Februar 1849. Die FRV übernahm die 4 Zit. nach: Droysen, Johann Gustav, Aktenstücke und Aufzeichnungen zur Geschichte der Frankfurter Nationalversammlung, Stuttgart u. a. 1924, S. 96 ff. 5 Hübner, Rudolf, Der Verfassungsentwurf der siebzehn Vertrauensmänner, Jena 1923, S. 50. 6 Zit. nach: Wigard, Franz, Stenographischer Bericht über die Verhandlungen der Deutschen Constituirenden Nationalversammlung zu Frankfurt am Main, in 9. Bde., Frankfurt a. M. 1848 – 1849, Bd. 7, S. 5184.
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entsprechenden Vorschriften des Entwurfes der 17 Vertrauensmänner mit minimalen Erweiterungen und Änderungen. Die früheren Autoren hatten nach der vorliegend vertretenen Ansicht ein in gewissem Maße irrtümliches Verständnis vom Homogenitätsgebot in der FRV. Zu diesem zählten sie in der Regel die §§ 186 und 187 FRV, die im Abschnitt VI. „Die Grundrechte des deutschen Volkes“ enthalten waren. Diese Zuordnung ist nach der vorliegend vertretenen Auffassung nur teilweise richtig: Der Auffassung des Verfassers nach war das bundesstaatliche Homogenitätsgebot in der FRV ein mehrstufiges, und der Homogenitätsgrundsatz war dagegen in § 5 FRV verankert, der bereits in Verbindung mit den §§ 186, 187 und 195 FRV das komplette bundesverfassungsrechtliche Homogenitätsgebot bildete. § 5 FRV sah vor, dass die deutschen Einzelstaaten ihre Selbständigkeit behalten und alle staatlichen Hoheiten und Rechte haben. Einerseits bestätigte diese Vorschrift die Existenz der deutschen Einzelstaaten als gleichberechtigte Bundesglieder und galt als die geeignete Garantie ihrer Eigenständigkeit.7 Zugleich enthielt diese bundesverfassungsrechtliche Bestimmung aber wichtige Ergänzungen, die jeweils mit „soweit“ eingeleitet waren: Die Gliedstaaten besitzen die Selbständigkeit, soweit dieselbe nicht durch die Reichsverfassung beschränkt ist, und die Hoheitsrechte, soweit diese nicht der Reichsgewalt ausdrücklich übertragen sind. Hier findet man die klassischen Homogenitätsanforderungen. Im ersten Fall handelt es sich um die allgemeine Homogenität zwecks Gewährleistung der Staatseinheit und der praktischen Wirkung der Bundesverfassung, im zweiten Fall geht es um die spezielle Ausprägung des Grundsatzes, d. h. um die funktionelle Homogenität (vgl. oben ! S. 30). Als Ausgangspunkt des Homogenitätsgebotes werden die allgemeinen Regelungen des § 5 FRV durch die konkretisierten Verfassungsnormen ergänzt. So oblag es gemäß § 186 FRV den Einzelstaaten, eine eigene Verfassung zu schaffen und i. V. m. § 187 FRV die Volksvertretung mit der verantwortlichen Regierung einzuführen; § 195 FRV machte jegliche Veränderung der Regierungsform abhängig von der Zustimmung des Reiches (ausführlicher s. u.). In ihrer Gesamtheit bildeten diese Vorschriften das bundesstaatliche Homogenitätsgebot, das, wie Wolfgang Pleines zutreffend anmerkt (jedoch nur in Bezug auf die §§ 186, 187 FRV), das Verhältnis der Gliedstaaten zum Gesamtstaat normieren sollte (vgl. auch § 130 S. 2 FRV) und den Ländern ein Mindestmaß an einheitlich vorhandenen Staatsorganen mit bestimmten Rechten und Pflichten vorschrieb.8 Jörg-Detlef Kühne, Autor eines der fundierten staatsrechtlichen Werke über die Paulskirchenverfassung, stellt die Frage, die seiner Ansicht nach „zu den unaufgeklärten Wandlungen der deutschen Grundrechtsentwicklung [gehört]“: Warum sind im Gegensatz zu den §§ 186, 187 FRV, die im Grundrechtskatalog der FRV standen, die späteren Homogenitätsvorschriften (gemeint sind die WRV und das GG) zwi7 Vgl. Bergsträsser, Ludwig, Die Verfassung des Deutschen Reiches vom Jahre 1849, Bonn 1913, S. 7. 8 Vgl. Pleines, Homogenität, S. 13 f.
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schen den organisationsrechtlichen Verfassungsbestimmungen verortet?9 In dieser Hinsicht erstaunt Kühne im Vergleich zu den Auffassungen der wenigen Autoren, die sich überhaupt mit der Homogenitätsproblematik beschäftigt haben (u. a. seien hier Carl Schmitt, Peter Werner und Klaus Stern erwähnt), die ganz überwiegend schlicht von einer Fortführung der Entwicklung der späteren bundesverfassungsrechtlichen Homogenitätsvorschriften sprachen. Kühne führt die Meinung von Kurt Nieding an, der aus seiner Sicht „vorsichtiger gemeint“ hat, dass die entsprechenden Bestimmungen der FRV „wohl zunächst nicht als Homogenitätsvorschriften gedacht [waren], sondern vielmehr als Schutzmaßnahmen der eben erst erworbenen bürgerlichen Freiheit gegen jede Regierungswillkür.“10 Dieses „Erstaunen“ Kühnes folgt aus der historischen Auslegung der in den §§ 186, 187 FRV enthaltenen Rechtsnormen. Kraft der liberalen Richtung der Frankfurter Nationalversammlung wurde die Freiheit jedermanns sowie des ganzen deutschen Volkes an die Spitze der Verfassungskonstruktion gestellt. Die Forderungen der §§ 186, 187 FRV, dass jeder deutsche Einzelstaat die Volksvertretung mit einer entscheidenden Stimme haben muss, dienten dazu, die Existenz mindestens der absoluten Monarchien innerhalb des großen Deutschlands auszuschließen.11 Die deutschen Gliedstaaten wurden als selbständige Teile des Bundesstaates gedacht, die den Bürgern ihre Einzelfreiheit durch die Verankerung der Staatsformen gewährleisten sollen. Um aber den gleichwertigen Schutz der Einzelfreiheiten innerhalb des „pyramidalen“ Staates zu garantieren, müssten in der Bundesverfassung die oberen und unteren Anknüpfungspunkte (d. h. die sog. Homogenitätsklammern) eingeführt werden. Dazu wurden die entsprechenden Verfassungsvorschriften (§§ 186, 187 FRV) im Abschnitt über die Grundrechte des Volkes festgelegt.12 Wie bereits oben beschrieben (! S. 31), hat das bundesstaatliche Homogenitätsgebot einen doppelten Anwendungszweck: Einerseits dient es der Einheit des Bundesstaates, andererseits muss es das gleiche Niveau der Wahrnehmung und des Schutzes der Grundrechte garantieren. Daraus folgt seine zweifache Rechtsnatur: Das bundesverfassungsrechtlich bestimmte Homogenitätsgebot soll als gleichzeitig organisationsrechtliche und grundrechtliche Ausprägung des Homogenitätsgrundsatzes angesehen werden. Es ist aber schwer zu sagen, welche Seite dieser Ausprägung überwiegt. (Der Verfasser ist der Auffassung, dass die organisationsrechtliche Eigenschaft des Homogenitätsgebotes in höherem Grad Wirkung ausübt, was jedoch den grundrechtlichen Einfluss des Gebotes keineswegs nivelliert.) Diese Eigenschaften bilden in ihrem Zusammenhang das bundesstaatliche Homogenitätsgebot als ein abgeschlossenes Ganzes. Ihre konkreten Anteile am Gebot hängen 9
Kühne, Jörg-Detlef, Die Reichsverfassung der Paulskirche. Vorbild und Verwirklichung im späteren deutschen Rechtsleben, 2. Aufl., Berlin u. a. 1998, S. 446. 10 Nieding, Homogenität, S. 40; vgl. Kühne, Die Reichsverfassung der Paulskirche, S. 446 (auch Fn. 169). 11 Vgl. Pleines, Homogenität, S. 13. 12 Vgl. Kühne, Die Reichsverfassung der Paulskirche, S. 447 f.
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aber von den bestimmten nationalstaatlichen Bedingungen ab und lassen sich nur schwer theoretisch im Vorwege charakterisieren (was nach der Auffassung des Verfassers auch ein sinnloses Unterfangen wäre). Daraus folgt, dass die von Kühne verfochtene Zuordnung der bundesstaatlichen Homogenitätsanforderungen einzig zu dem Grundrechtsschutzmechanismus nach der hier vertretenen Ansicht zumindest einseitig erscheint. Der Verfasser stellt das Vorhaben der Autoren der FRV nicht in Zweifel. Dass die Regelungen der §§ 186, 187 FRV tatsächlich als grundrechtskonforme und -absichernde Regelungen gedacht waren, folgt aus den stenographischen Protokollen der Frankfurter Nationalversammlung.13 Der Verfasser vertritt jedoch die Auffassung, dass die Anwendung exklusiv der historischen Auslegung hinsichtlich der homogenitätsgebotenen Normen der FRV aus rein wissenschaftlicher Sicht falsch wäre. Dies gilt umso mehr vor dem Hintergrund, dass selbst die voraussichtliche Absicht während der Arbeit der Nationalversammlung durch die Verabschiedung des § 195 FRV, der in einem anderen Abschnitt verortet wurde, aber einen Bestandteil des Homogenitätsgebotes der Paulskirchenverfassung bildete, verändert wurde. Die Rechtsnatur des in der FRV enthaltenen Homogenitätsgebotes muss auch nach der normativen Systematik beurteilt werden. Diese verweist auf die vorherrschende Bedeutung der organisationsrechtlichen Eigenschaft des Homogenitätsgebotes der FRV, was später noch eingehend betrachtet wird. Kühne hält die Zuordnung der §§ 186, 187 FRVals die Homogenitätsvorschriften in Hinsicht auf das allgemeine Ordnungsschema der Paulskirchenverfassung für erklärbar. Dieses Schema wurde vom Abgeordneten Beseler in dessen Eigenschaft als Berichterstatter des Verfassungsausschusses in der Sitzung am 3. Juli 1848 klar vorgestellt: „Wir konnten uns zuerst beschäftigen mit den Spitzen der höchsten Gewalt, mit der Constituirung der Centralgewalt, mit ihrer Organisation, der Feststellung ihres Verhältnisses zu den einzelnen Staaten Deutschlands. Allein auch ein anderer Ausweg stand uns offen: wir konnten auch damit anfangen, die tieferen Schichten des öffentlichen Lebens zu erfassen, die Rechte festzustellen, die dem ganzen Volke und dem Einzelnen im Volke zukommen, die verfassungsmäßig gewährleistet, die dem Schutze des Reichs überantwortet werden sollen.“14 Das heißt die Staatsorganisation und die Verankerung der Grundrechte wurden von den Autoren der FRV in zwei separate Regelungsbereiche aufgeteilt und die Verortung der homogenitätsenthaltenen §§ 186, 187 im grundrechtlichen Abschnitt der FRV spricht für die grundrechtsharmonisierende Rolle des Homogenitätsgebotes. Deswegen bringt Kühne diese Verfassungsvorschriften in Zusammenhang allein mit der Binnenstruktur der Gliedstaaten, nicht mit ihren Außenverhältnissen zum Gesamtstaat. Wenn die §§ 186, 187 FRV als die Homogenitätsvorschriften die Innenstruktur der Machtverhältnisse in den Bundesgliedern organisationsrechtlich bestimmen, wie 13 Vgl. Wigard, Stenographischer Bericht, Bd. 1, S. 700, Bd. 7, S. 5097, 5185, Bd. 8, S. 5636. 14 Zit. nach: Wigard, Stenographischer Bericht, Bd. 1, S. 700.
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es Kühne sieht, handelt es sich also nicht um ein bundesstaatliches Homogenitätsgebot: Die Regelung der inneren Organisation der Teileinheiten durch die Verfassung des Gesamtstaates bedeutet einen Eingriff der gesamtstaatlichen Gewalt in den Gestaltungsraum der Glieder, schließt ihre Eigenständigkeit aus und sieht tatsächlich höchstwahrscheinlich keine echte Bundesstaatlichkeit vor. Das bundesstaatliche Homogenitätsgebot bestimmt dagegen nur die Rahmen der inneren Staatsorganisation der Gliedstaaten, gibt ihnen nur die bundesverfassungsgemäße Richtung, um die Übereinstimmung der gliedstaatlichen Machtstrukturen mit der gesamtstaatlichen Organisation zu erreichen. In Bestätigung der Exklusivität der §§ 186, 187 FRV als der homogenitätstragenden Verfassungsnormen macht Kühne das Argument geltend, dass der außerhalb der Grundrechtsregelungen verortete § 195 FRV der allgemeinen Systematik der Paulskirchenverfassung widerspricht, da die §§ 186, 187 FRV die vertikalen Homogenitätsnormen bilden. Im Gegenzug kann § 195 FRV der vertikalen Homogenität nicht entsprechen, weil es sich bei diesem Paragraphen um mehr als eine Homogenitätsvorschrift in lediglich horizontaler Hinsicht handelt, d. h. diese Vorschrift sieht als Anforderung einen Ausgleich zwischen den Gliedstaaten vor.15 Der Verfasser dieser Arbeit stimmt dieser Behauptung nicht uneingeschränkt zu, weil in diesem Fall neben dem Wortlaut und der Systematik der Verfassungsnorm eine große Rolle auch noch ihre Entstehungsgeschichte spielt. § 195 FRV bestimmte, dass eine Änderung der Regierungsform in einem deutschen Einzelstaat nur mit der Zustimmung des Reiches erfolgen kann, d. h. es wurde die Homogenität der Regierungsformen vorausgesetzt. Fraglich aber ist, ob diese Homogenitätsanforderung das Bund-Länder-Verhältnis oder das Länder-LänderVerhältnis berührt hätte (es geht um die vertikale oder horizontale Art der Homogenität der Regierungsformen). Die tatsächliche Lage war dergestalt, dass zum Beginn der Arbeit der Frankfurter Nationalversammlung die überwiegende Anzahl der deutschen Einzelstaaten Monarchien waren, und nur vier Städte republikanisch regiert wurden. Solange für den Oberstaat eine konstitutionell-monarchische Regierungsform gewählt wurde, blieben die Einzelstaaten in statu quo ante. § 195 FRV schloss dabei eine Möglichkeit der Änderung der gliedstaatlichen Staatssform (bspw. die Umwandlung der Monarchie in eine Republik) nicht aus, er begrenzte aber das Ermessen der Gliedstaaten in dieser Frage. Die ursprüngliche Fassung der FRV sah eine derartige Einschränkung nicht vor. Der Verfassungsausschuss der Nationalversammlung erkannte sie als für die Regelung der Verhältnisse zwischen dem Gesamtstaat und den Gliedstaaten im Rahmen des Grundrechtskatalogs nicht relevant an und ließ diese Frage für die weitere Erörterung offen.16 Auf die Frage nach der notwendigen „Festhaltung der inneren Analogie“ (so Abgeordneter Carl Theodor Welcker17) durch die bundesverfas15 16 17
Vgl. Kühne, Die Reichsverfassung der Paulskirche, S. 446 f. Vgl. Nieding, Homogenität, S. 43. Zit. nach: Droysen, Aktenstücke, S. 361.
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sungsrechtliche Homogenität der Regierungsformen kam der Verfassungsausschuss während der Sitzungen am 29.–30. Dezember 1848 zurück, was in langwierige Kontroversen mündete. Die ursprüngliche Formulierung des späteren § 195 FRV wurde vom Abgeordneten Friedrich Joseph Zell vorgeschlagen: „Eine Änderung der Regierungsform in den einzelnen Staaten kann nur mit Einwilligung der Reichsgewalt eintreten. Diese Einwilligung muß unter den für Abänderung in der Reichsverfassung vorgeschriebenen Formen erfolgen.“18 Die Argumente dafür waren folgende: Die Befürworter (z. B. die Abgeordneten Zell, Ahrens, Welcker, Mittermaier, Reh und teilweise Beseler) stimmten der Einführung dieser Regel für die Selbstbestimmung der Einzelstaaten zu. Sie gingen jedoch davon aus, dass es fraglich ist, ob bei der Veränderung der Regierungsform eines Einzelstaates der Schutz und die Gewähr der aus dem gesellschaftstragenden Prinzip der Ruhe folgenden Grundrechte gleichermaßen zur Geltung kommen (Abgeordneter Welcker). Zell sah die große Gefahr in der potenziellen Entstehung der sog. Winkelrepubliken, die die Existenz des Bundesstaates bedrohen könnten. „Das Volk will Freiheit, aber auch Ordnung, und dies Ganze ist wesentlich eine Ordnungsfrage“19, so Beseler. Daher entspricht die vorgeschlagene Norm dem Ziel, als Gewährleistung des Ganzen (d. h. des Bundesstaates) zu gelten, da die Teile (d. h. die Gliedstaaten) dem Gesamtstaat untergeordnet werden müssen und ihm analog seien.20 Die Gegner waren der Meinung, dass die deutschen Einzelstaaten als selbständige Staatswesen ihre eigene Regierungsform selbst bestimmen können und keine Aufsicht seitens des Reiches dazu benötigen. Besonders scharf kritisierte den Vorschlag Zells der Abgeordnete Friedrich Ernst Scheller: Er fand ihn „prinzipienwidrig, nicht nötig, unnütz. Prinzip ist, daß man die Einzelstaaten nur insoweit einschränkte, als es zur Freiheit und Kraft des Ganzen nötig ist […]. Zu dieser Selbständigkeit der Einzelstaaten gehört, daß sie sich politisch entwickeln dürfen, und das würde gehindert, wenn wir ihre Verfassung für ewig fixieren. Findet ein einzelner Staat sich disponiert, Republik zu werden, so darf das Reich ihn nicht hindern wollen.“21 Mit dem Ergebnis von 12 gegen zu 7 Stimmen wurde aber diese Norm in den Text des Verfassungsentwurfes aufgenommen und vom Verfassungsausschuss der Nationalversammlung zur Verabschiedung empfohlen.22 Während der Plenarsitzungen der Nationalversammlung wurde jedoch die Frage des Ausgleichs der gliedstaatlichen Regierungsformen weiter kontrovers diskutiert. 18 Abgeordneter Zell in der 125. Sitzung des Verfassungsausschusses am 30. Dezember 1848, zit. nach: Droysen, Aktenstücke, S. 360 f. 19 Abgeordneter Beseler in der 125. Sitzung des Verfassungsausschusses am 30. Dezember 1848, zit. nach: Droysen, Aktenstücke, S. 363. 20 Vgl. Droysen, Aktenstücke, S. 362 f. 21 Abgeordneter Scheller in der 125. Sitzung des Verfassungsausschusses am 30. Dezember 1848, zit. nach: Droysen, Aktenstücke, S. 363. 22 Vgl. Droysen, Aktenstücke, S. 365.
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Der Abgeordnete Beseler gab seinen Befürchtungen Ausdruck: Er fand, dass die Mitglieder der Nationalversammlung nicht berechtigt seien, die Verfassungen der Einzelstaaten zu gestalten, und die vorgeschlagene Verfassungsvorschrift wäre ein Eingreifen des Oberstaates in die eigentümlichen Verhältnisse der Gliedstaaten.23 Später stellte der Abgeordnete Otto Karl Würth einen Antrag, nach dem die Feststellung der Verfassungsform des Einzelstaates lediglich die Sache der Volksvertretung sein soll.24 Der Abgeordnete Johann Adam Förster machte seinen Kollegen Vorhaltungen, dass sie zu viel Gewicht auf die Gleichartigkeit der Regierungsform in den deutschen Einzelstaaten zu der des Gesamtstaates legen würden. Er war der Meinung, dass die Anerkennung der Volksfreiheit die Staatseinheit mehr fördere als die Verankerung der Gleichartigkeit der Regierungsformen.25 Mit anderen Worten stützten sich die Befürworter der Streichung des § 195 FRV auf die Idee der Volkssouveränität, wenn jedem Einzelstaat das Recht zustehen muss, eine eigene Verfassung selbständig zu bestimmen.26 Abgesehen davon stimmte die Frankfurter Nationalversammlung der Annahme des § 195 zu. Wie die stenographischen Protokolle zeigen, wurden diese Regelungen als homogenitätszugewandt gedacht, welche die innere Analogie der Glieder im Verhältnis zum Gesamtstaat gewährleisten müssen. Die historische Auslegung des § 195 FRV entkräftet Kühnes Behauptung, dass die darin enthaltenen Normen dem horizontalen (d. h. zwischen den Gliedstaaten) Ausgleich dienten. Der Verfasser dieser Arbeit stimmt jedoch nicht der Behauptung zu, dass dieser Paragraph das vertikale Homogenitätsgebot enthält. Pleines schreibt, dass „diese Bestimmung (gemeint ist § 195 FRV – Anm. des Verf.) eine weitgehende Garantie des Bestandes der vorhandenen Staatsformen [ausspricht] und damit für eine Homogenität der bestehenden Staatsformen in den Ländern [sorgt].“27 Diese bundesverfassungsrechtliche Regel schloss das Recht der Gliedstaaten, sich eine eigene Regierungsform zu geben, nicht aus, begrenzte aber eine solche Möglichkeit und bestätigte faktisch eine Ungleichförmigkeit innerhalb des geplanten Deutschen Reiches. Wie Kühne aber zutreffend anmerkt, geht es in § 195 FRV nicht um die „reibungsbegrenzende Gleichförmigkeit“28, die die vertikale Gewaltenteilung innerhalb des Bundesstaates garantieren sollte. Als interessenharmonisierendes Instrument gedacht, musste § 195 FRV auch die Kohärenz des gesamten Bundesstaatswesens sichern. Daraus folgt jedoch eine theoretische Frage, die von Nieding zutreffend formuliert wurde, nämlich die Frage danach, wie weit diese Sicherung gehen sollte.29 Das heißt fraglich ist, was unter der 23 24 25 26 27 28 29
Vgl. Wigard, Stenographischer Bericht, Bd. 7, S. 5184. Vgl. Wigard, Stenographischer Bericht, Bd. 8, S. 5636. Vgl. Wigard, Stenographischer Bericht, Bd. 8, S. 5637. Vgl. Nieding, Homogenität, S. 44; Pleines, Homogenität, S. 15. Pleines, Homogenität, S. 14. Kühne, Die Reichsverfassung der Paulskirche, S. 448. Vgl. Nieding, Homogenität, S. 45.
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Homogenität der Staats- bzw. Regierungsformen innerhalb des Bundesstaates verstanden werden kann und wie solche bundesverfassungsrechtlichen Normen funktionieren sollen. Das Verständnis der bundesstaatlichen Homogenität der Staats- und Regierungsformen in der modernen euroatlantischen Staatsrechtslehre besteht in der Harmonisierung der Verteilung der Machtverhältnisse innerhalb des Gliedstaates mit entsprechendem Modell auf der Bundesebene. In der Situation der überall in Europa und beiden Amerika herrschenden republikanischen Staatsform in den Bundesstaaten ist völlig klar, dass die Gliedstaaten keine von der oberstaatlichen abweichende Staatsform besitzen können. Mehr Freiheit der Gliedstaaten im Rahmen ihrer Verfassungsautonomie gibt es in der Frage der Wahl der konkreten Regierungsform innerhalb der vorbestimmten Staatsform (gemeint ist eine parlamentarische, präsidiale oder semipräsidentielle Republik). Als Beispiele der geltenden Homogenitätsanforderungen hinsichtlich der vertikalen Übereinstimmung der gliedstaatlichen Staatsformen galten zur Zeit der Ausarbeitung der Paulskirchenverfassung die USamerikanische sowie die schweizerische Verfassung, die „die Gewährleistung der im Bunde und den Einzelstaaten allein zufälligen Staatsform für ewige Zeiten garantieren sollte“30 (vgl. Art. IV Abschnitt 4 der US-Verfassung vom 17. September 178731 und Art. 6 S. 2 lit. b der Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 12. September 184832). Tatsache ist, dass diese beiden Gesamtstaaten Bundesrepubliken bildeten und die Staatsformen der Gliedstaaten der gesamtstaatlichen Form logischerweise entsprechen müssen. (Beachtenswert ist auch der Prozess der Ausgestaltung der bundesstaatlichen Dachorganisation in diesen Staaten: Während in Deutschland angedacht wurde, die Idee des nationalen Bundesstaates „von oben“ in die Tat umzusetzen, war die Bundesorganisation in den USA und der Schweiz durch die Kooperation der eigenständigen Staatsgebilde „von unten“ erfolgt.) Abgesehen vom starken Einfluss der republikanischen Bewegungen aus Frankreich fanden die Stimmen für die Ausrufung Deutschlands als Republik kein Gehör in der Frankfurter Nationalversammlung. Die Entscheidung fiel zugunsten eines konstitutionell-monarchischen deutschen Bundesstaates. Während der Ausarbeitung der FRV bildete die republikanische Staatsform innerhalb des großen Deutschlands die Ausnahme und es wäre damals noch unvorstellbar gewesen, dass die Republik später einmal die herrschende Staatsform in Europa werden sollte. Nur vier ehemalige Reichsstädte wurden annähernd republikanisch regiert, was eine 30
Nieding, Homogenität, S. 45. „Die Vereinigten Staaten gewährleisten jedem Staat innerhalb dieses Bundes eine republikanische Regierungsform.“ 32 „1Die Kantone sind verpflichtet, für ihre Verfassungen die Gewährleistung des Bundes nachzusuchen. 2Der Bund übernimmt diese Gewährleistung insofern: a. sie nichts den Vorschriften der Bundesverfassung Zuwiderlaufendes enthalten; b. sie die Ausübung der politischen Rechte nach republikanischen – repräsentativen oder demokratischen – Formen sichern; c. sie vom Volke angenommen worden sind und revidirt werden können, wenn die absolute Mehrheit der Bürger es verlangt.“ 31
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Synchronisierung der verschiedenen Formen der Staatsorganisation im Gesamtstaat erforderlich machte, um die potenziellen Spannungen und Reibungen sowohl zwischen den Einzelstaaten als auch zwischen den Einzelstaaten und dem Oberstaat maximal auszuschließen. In dieser Situation war es nötig, die Existenz des Oberstaates durch die Stabilisierung des territorial-politischen Bestandes zu sichern. Dafür galt § 195 FRV, nach dem die Existenzform des deutschen Einzelstaates nur mit der Zustimmung des Reiches geändert werden könnte. So bekam das Homogenitätsgebot der Regierungsformen in der Paulskirchenverfassung keine klare vertikale Natur, sondern bildete eine gemischte Anforderung in Bezug auf die Gliedstaaten. Hier sei angemerkt, dass es sich im Fall des § 195 FRV eben um die Homogenität der Regierungsformen handelt. Diese formale Bestimmung muss aber in zweierlei Hinsicht ausgelegt werden. Gegenwärtig versteht man unter Staatsform die rechtliche Grundordnung eines Staates, während Regierungsform die Art und Weise beschreibt, wie ein Staat regiert wird.33 Die Entstehungsgeschichte des bundesstaatlichen Homogenitätsgebotes in der FRV zeigt uns einerseits, dass es während der Sitzungen der Nationalversammlung um die Möglichkeit der Begrenzung des Rechts der Gliedstaaten auf die selbständige Wahl gerade der Regierungsform ging, da das Ziel darin bestand, eine potenzielle Wiederherstellung der absoluten und ständischen Monarchien in den deutschen Einzelstaaten völlig auszuschließen. Andererseits ließ § 195 FRV eine Möglichkeit nicht nur der Veränderung der Regierungsform (z. B. von der konstitutionellen Monarchie in eine parlamentarische), sondern auch der Umwandlung der Staatsform zu, d. h. die denkbare Ausrufung einer Republik statt der Monarchie. Daraus folgte, dass die Normen des § 195 FRVeher ein (spezifisches) Homogenitätsgebot der Regierungsformen feststellen, während die moderne Bundesstaatslehre eher von der Homogenität mindestens der Staatsformen ausgeht. In diesem Punkt wurde vorliegend eine weitere theoretische Frage erörtert, die in der Staatsrechtslehre bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch ungeklärt bleibt. Es ist mehr oder weniger anerkannt, dass die Staatsformen der Gliedstaaten mit der entsprechenden Staatsform des Oberstaates übereinstimmen müssen. (Allerdings könnte man hier durchaus provokativ die Frage aufwerfen, weshalb die Existenz einer parlamentarisch-demokratischen Monarchie als eines Einzelstaates innerhalb der parlamentarischen Bundesrepublik (oder umgekehrt: eine Republik innerhalb der bundesstaatlichen Monarchie) unvorstellbar sein soll? Nach der vorliegend vertretenen Auffassung wäre eine solche Konstruktion durchaus denkbar.) Strittig bleibt eine Möglichkeit, die verschiedenen Regierungsformen innerhalb des Bundesstaates zu mischen. Fraglich ist, ob es theoretisch zulässig wäre, bspw. im Fall eines auf parlamentarischem Wege organisierten Oberstaates die präsidiale Regierungsform auf Landesebene einzuführen. Der Verfasser dieser Arbeit ist der Auffassung, dass die Gliedstaaten in der Frage der Auswahl der Regierungsform – im 33 Vgl. Schmidt, Rolf, Staatsorganisationsrecht sowie Grundzüge des Verfassungsprozessrechts und des Rechts der Europäischen Union, 14. Aufl., Grasberg bei Bremen 2014, Rn. 54, 61.
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Unterschied zur Staatsform – frei sein sollten. Auf diesen Aspekt wird weiter unten (! S. 228; S. 277 ff., S. 371 ff., S. 382 ff.) in Bezug auf die moderne Bundesstaatsentwicklung in Deutschland und Österreich näher eingegangen.
2. Der Maßstab der Frankfurter Reichsverfassung für die Staatsorganisation der deutschen Einzelstaaten Die Einzigartigkeit der Paulskirchenverfassung bestand darin, dass sie zum ersten Mal in der germanischen Verfassungsgeschichte die bundesverfassungsrechtlichen Anforderungen der homogenen Staatsstrukturen innerhalb des Bundesstaates festschrieb (dies war auch bemerkenswerterweise das einzige derartige Beispiel in der Geschichte des großen Deutschlands im 19. Jahrhundert). Mit anderen Worten fand das strukturelle (organisationsrechtliche) Homogenitätsgebot Ausdruck in der nationaldeutschen Bundesverfassung. Die Nichtanerkennung der FRV als gesamtstaatliche Verfassung durch die großdeutschen Mächte nivellierte aber ihre Bedeutung für die verfassungsrechtliche Weiterentwicklung innerhalb des deutschen Raums nicht und legte dagegen die Grundlagen für die Festigung des Konstitutionalismus. Im Unterschied zum Art. 13 der Bundesakte von 1815, der erstmals den Absolutismus der deutschen Einzelstaaten durch die Bindung an die Verfassung verhinderte, sollten die §§ 186, 187 FRV die absolute Monarchie in den Gliedstaaten komplett ausschließen. Bundesverfassungsrechtlich wurde obligatorisch festgeschrieben, dass sich jeder deutsche Einzelstaat eine Verfassung geben und eine Volksvertretung sowie eine verantwortliche Regierung einrichten muss. a) „Volksvertretung mit entscheidender Stimme“ Durch die Verankerung des auf der Landesverfassung basierenden Gestaltungsspielraums garantierte der Oberstaat den Gliedstaaten ihre staatsorganisationsrechtliche Selbständigkeit. Im Rahmen der vertikalen Gewaltenteilung forderte die Bundesverfassung aber von den Einzelstaaten die Einführung einer Volksvertretung. Das Ziel der liberalen Mehrheit in der Frankfurter Nationalversammlung war nicht nur die Ausschließung des Weiterbestehens der absolutistisch regierten deutschen Monarchien, sondern mehr die Beseitigung der existierten landständischen Monarchien.34 Dafür sollte die beabsichtigte, durch die FRV bedingte starke Stellung der gliedstaatlichen Volksvertretungen dienen, die durch die auf Antrag des Abgeordneten Ludwig Uhland vom Verfassungsausschuss angenommene Formulierung „eine Volksvertretung mit entscheidender Stimme“ statt „eine Volksvertretung mit dem Rechte der Zustimmung“ bestätigt werden sollte.35 Dies wurde von den Autoren der 34 Vgl. Pleines, Homogenität, S. 12 f.; Kühne, Die Reichsverfassung der Paulskirche, S. 449. 35 Vgl. Droysen, Aktenstücke, S. 74, 104.
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Paulskirchenverfassung für keiner näheren Erläuterung bedürftig erachtet. Tatsächlich könnte dieser Aspekt aber durchaus unterschiedlich ausgelegt werden. Für den Verfasser dieser Arbeit steht außer Zweifel, dass der Begriff „die Volksvertretung“ die Vertretung des ganzen Volkes als der Gesamtheit aller wahlberechtigten Staatsbürger beschreibt. Von den in Frankfurt tagenden Abgeordneten liberal-demokratischer Überzeugung wurde die Bildung der Landesvolksvertretungen eben so aufgrund allgemeiner Wahlen gedacht, egal ob es sich um eine Monarchie oder eine Republik innerhalb Deutschlands handele. Dies wurde auch durch die allgemeine Klausel über die Aufhebung des Adels und aller Standesvorrechte (vgl. § 137 FRV) bestätigt, was grundsätzlich die mögliche Bildung eines geburtsständischen Vertretungskörpers ausschließen müsste. Während der Plenarsitzungen der Nationalversammlung wurde jedoch vom Abgeordneten Justin von Linde die Frage gestellt, was eigentlich unter Volksvertretung verstanden werden soll, wenn gleichzeitig die Verfassungsautonomie der deutschen Einzelstaaten anerkannt wird. Seiner Meinung nach könnte durch den Ausdruck „Volksversammlung“ sowohl das ständische als auch das repräsentative Organ bezeichnet sein.36 Der Abgeordnete Beseler hielt die Anträge über die bundesverfassungsrechtliche Feststellung der Grundsätze des Wahlrechts in den Gliedstaaten als mit der Verfassungsautonomie letztgenannter für unvereinbar.37 (Bemerkenswert sind die späteren Vorschriften der deutschen sowie österreichischen Bundesverfassungen – Art. 17 I WRV, Art. 28 I GG und Art. 95 I, II B-VG, – die die Geltung der Wahlgrundsätze für die Länder deutlich vorschrieben und darin keinen Eingriff in die Landesverfassungsautonomie sahen.) Diese Aussagen der FRV blieben seitens zahlreicher deutscher Einzelstaaten tatsächlich bis 1918 unbeachtet.38 Man könne denken, dass anhand des Zusatzes „entscheidende Stimme“ die Volksvertretung an die Spitze der Staatsorganisation der Gliedstaaten gestellt werden müsste. Einige Abgeordnete schlugen vor, dem Monarchen und der Landesregierung das absolute Vetorecht gegen die Beschlüsse der Volksvertretung zu entziehen.39 Der Berichterstatter des Verfassungsausschusses Beseler verwarf diese Anträge aber wieder, da dieser Zusatz nur im Gegensatz zur „beratenden Stimme“ der Volksvertretung (was für die frühere Verfassungspraxis der deutschen monarchischen Staaten charakteristisch war) gedacht wurde.40 Er sah darin auch einen Eingriff in die gliedstaatliche Verfassungsautonomie. Die Mehrheit der Abgeordneten lehnte die Anträge ab, was den deutschen Einzelstaaten ermöglichte, für ein absolutes oder suspensives Vetorecht selbst zu entscheiden.41
36 37 38 39 40 41
Vgl. Wigard, Stenographischer Bericht, Bd. 7, S. 5176 f. Vgl. Wigard, Stenographischer Bericht, Bd. 8, S. 5184. Vgl. Kühne, Die Reichsverfassung der Paulskirche, S. 449. Vgl. Wigard, Stenographischer Bericht, Bd. 8, S. 5175, 5519, 5636. Vgl. Wigard, Stenographischer Bericht, Bd. 8, S. 5184. Vgl. Nieding, Homogenität, S. 49.
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Kap. II: Die Homogenitätsidee im jüngeren Konstitutionalismus
§ 187 I FRV enthielt eine Bestimmung, die vorsah, in Bezug auf das Recht der Volksvertretung eine Ministeranklage zu erheben, unter dem Vorbehalt „wo zwei Kammer vorhanden sind“. Daraus folgt, dass die FRV die Einrichtung des Zweikammersystems in den Gliedstaaten grundsätzlich zuließ: Sie konnten zwischen dem Ein- und Zweikammersystem selbständig wählen. Die Vorschriften der §§ 186, 187 FRV sollten der Stärkung der Landesparlamente gegenüber der Exekutive dienen. Die Verwirklichung dieser Idee gelang aber in vielen deutschen Einzelstaaten bis zum Sturz der monarchischen Ordnungen im Jahre 1918 nicht. b) Die Exekutive als tatsächlich verbleibende Prärogative des Monarchen Die Regierung als eines der tragenden Elemente der Landesstaatsorganisation wurde in der FRV explizit nicht genannt. Ihr Bestehen folgt aber mittelbar aus dem zweiten Satz des § 186 FRV, in dem es um die Verantwortung der Minister gegenüber der Volksvertretung geht. Logischerweise sind die Minister die Regierungsmitglieder. Es wurde deshalb die Existenz der Regierung als Exekutivorgan auf Landesebene vermutet. Diese implizite Erwähnung der Landesregierung eröffnete tatsächlich ein großes Ermessensfeld hinsichtlich ihrer Ausgestaltung. Die Regierungsbildung wurde als ein so selbstverständlich formales wie materielles Recht des Monarchen betrachtet, dass die Ernennungen der Minister selbständig vom Monarchen kraft seines ungeschriebenen Rechts erfolgten.42 Dieser Kerngedanke der monarchischen Staatsform wurde durch die FRV grundsätzlich nicht verletzt: Die Mehrheit der Frankfurter Nationalversammlung war gegen die Regierungsbildung nach dem Majoritätsprinzip, d. h. gegen die exklusiv parlamentarische Landesregierung und die Beschränkung des Ernennungsrechts des Monarchen auf den Parlamentswillen. Eine solche Parlamentsautonomie (Parlamentsherrschaft) in der Frage der Regierungsbildung wurde von der Nationalversammlung aus Gründen der gegenwärtigen Idee der rechtsstaatlichen Gewaltenteilung abgelehnt.43 Die liberale Mehrheit war für ein Regierungsmodell, bei dem das formale Recht auf Regierungsernennung beim Monarchen verbliebe, während das materielle Ernennungsrecht durch die Gesamtheit aus Monarchen und Volksvertretung ausgeübt würde.44 Darunter wurde zuallererst die Initiative der Ministerernennung des Monarchen verstanden, auch wenn es ein unklares bzw. eindeutiges 42 Vgl. Wigard, Stenographischer Bericht, Bd. 5, S. 3274 f.; Kühne, Jörg-Detlef, Volksvertretungen im monarchischen Konstitutionalismus (1814 – 1918), in: Schneider, Hans-Peter/ Zeh, Wolfgang (Hrsg.), Parlamentsrecht und Parlamentspraxis in der Bundesrepublik Deutschland: Ein Handbuch, Berlin u. a. 1989, § 2 Rn. 26. 43 Vgl. Kühne, Die Reichsverfassung der Paulskirche, S. 461; Kühne, Volksvertretungen, § 2 Rn. 28. 44 Vgl. Kühne, Volksvertretungen, § 2 Rn. 28 (besonders Fn. 86).
A. Die Paulskirchenverfassung von 1848/49
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Mehrheitsverhältnis innerhalb des Landesparlaments gibt. Der Abgeordnete Welcker merkte diesbezüglich skeptisch an, dass das Recht des Monarchen auf Ernennung eines Ministers verloren sei, „wenn bei der Ernennung schon Widerspruch mit entscheidender Gewalt entgegentritt. Alsdann müßte die Krone ihr Ernennungsrecht aufgeben und den Ständesaal schicken mit der Bitte, man möge ihr die Minister ernennen.“45 Die große Einflussnahme des Monarchen auf die Regierungsbildung wurde noch von der Vorstellung bedingt, dass das Königtum erbschaftlich sei und daher eine dauerhafte Legitimation erhalte, während die parlamentarische Mehrheit nur temporär erworben sei und sich die fraktionellen (d. h. eher ideologischen) Machtverhältnisse nach einer Wahl einfach ändern können. Andererseits musste die Regierung nicht als Gegengewicht zur Parlamentsmehrheit erachtet werden, was für den späteren Vorkonstitutionalismus sowie den früheren Konstitutionalismus im großen Deutschland charakteristisch war.46 Dafür war die Teilnahme der Volksvertretung an der Regierungsbildung gemeint: „Die Regierungen, das will sagen, die Ministerien, gehen fortan hervor aus den Majoritäten der Kammern. Hiermit ist die alte, schädliche, principielle Feindschaft zwischen Volk und Regierung, welche unter letztes deutsches Menschenalter so sehr verdüsterte, verschwunden, sie ist aufgehoben“47, so der Abgeordnete Friedrich Christoph Dahlmann. Kraft dieser Art der Regierungszusammensetzung – die Kühne metaphorisch als „Modell einer […] parlamentarischen Regierung mit monarchischem Korsett“48 bezeichnet – sollten nun die einzelnen deutschen Landesregierungen vom doppelseitigen Vertrauen des Monarchen und der Volksvertretung (der Parlamentsmehrheit) abhängen, was der staatsrechtlichen Stabilität der konstitutionellen Monarchien Deutschlands dienen müsste. c) „Ungleiche Gegengewichte“ Zum Ersatz der partiellen Teilnahme an der Regierungszusammensetzung besaß die Volksvertretung die Kontrollrechte gegenüber der Exekutive; das wichtigste darunter bildete das Recht der Ministeranklage (§ 187 I FRV). Dieses Recht folgte aus der allgemeinen parlamentarischen Verantwortlichkeitsklausel der Minister (§ 186 S. 2 FRV). Formal gingen die Minister aus dem Vertrauen der Volksvertretung hervor, aber sobald durch ihr verfassungs- oder gesetzwidriges Verhalten der vollziehenden Tätigkeit der Landesregierung geschadet würde, verlieren sie das Vertrauen und müssen aus dem Amt entlassen werden.49 Eine solche Anklage könnte 45 Abgeordneter Welcker in der 115. Sitzung der Frankfurter Nationalversammlung am 14. November 1848, zit. nach: Wigard, Stenographischer Bericht, Bd. 5, S. 3275. 46 Vgl. Kühne, Die Reichsverfassung der Paulskirche, S. 462. 47 Abgeordneter Dahlmann in der 133. Sitzung der Frankfurter Nationalversammlung am 11. Dezember 1848, zit. nach: Wigard, Stenographischer Bericht, Bd. 6, S. 4048. 48 Kühne, Volksvertretungen, § 2 Rn. 27. 49 Vgl. die Überlegungen des Abgeordneten Dahlmann, in: Wigard, Stenographischer Bericht, Bd. 6, S. 4048.
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Kap. II: Die Homogenitätsidee im jüngeren Konstitutionalismus
jede Parlamentskammer – wenn im deutschen Einzelstaat ein Zweikammersystem vorhanden ist – erheben (§ 187 I Hs. 2 FRV); erforderlich wäre dann noch die Zustimmung der anderen Kammer.50 Die parlamentarische Anklage gegen die Minister in der FRV könnte auch nur als eine Erscheinungsform der rechtlichen Verantwortlichkeit gegenüber der Volksvertretung betrachtet werden.51 Das bedeutete einen begrenzten Einfluss des Landesparlaments auf die Regierungstätigkeit, da die Entscheidungen im Rahmen der politischen Verantwortlichkeit nur dem Monarchen vorbehalten blieben. Deshalb hatte der bundesverfassungsrechtlich garantierte Mechanismus der parlamentarischen Regierungsverantwortlichkeit fast keine ausdrückliche praktische Wirkung.52 Da die FRV nur die allgemeinen Homogenitätsklammern in Bezug auf die Staatsorganisation der deutschen Einzelstaaten vorgab, verblieb das Instrument des Einflusses auf die Volksvertretung wie das Recht der (bedingungslosen) Auflösung des Landesparlaments beim Monarchen. Gleichzeitig handelte es sich nicht um das Recht der Volksvertretung, der Landesregierung das Misstrauensvotum zu erteilen. Daraus folgte, dass das organisatorische Kontrollrecht der Landesabgeordneten durch die Auflösungsmöglichkeit vonseiten der Krone nivelliert wurde und die Billigung der Regierungstätigkeit durch den Monarchen faktisch eine bindende Wirkung für die Parlamentsmehrheit hatte. Die Anwendung des Mechanismus der Ministeranklage bestätigte, dass die führenden Minister die parlamentarische Mehrheit normalerweise nicht um Unterstützung baten.53 Das von der liberalen Mehrheit in der Frankfurter Nationalversammlung progressiv gedachte Modell der Machtverhältnisse innerhalb des Staatssystems der Glieder des Deutschen Reiches sollte der Gleichberechtigung des Monarchen und der Volksvertretung hinsichtlich der Staatsverwaltung (im weiteren Sinne) dienen, abgesehen vom offenbaren Übergewicht zugunsten des monarchischen Prinzips. ***
Das Abflauen der revolutionären Bewegungen innerhalb des großen Deutschlands ermöglichte es den germanischen Monarchen, ihre Machtpositionen wiederherzustellen. In den Monaten April bis Mai 1849 lehnte zuerst Österreich, danach Preußen, Sachsen und Hannover die Note der Nationalversammlung über die Ausschreibung der nach der FRV festgestellten Wahlen zum ersten allgemeindeutschen Reichstag ab. Nach dem Ultimatum der Nationalversammlung, die Reichstagswahlen selbst auszuschreiben, erklärten die Regierungen beider deutschen Großmächte sowie Sachsen, Hannover und Baden die Abberufung ihrer Abgeordneten. Dies führte zum Fehlen des notwendigen Quorums und machte die Tätigkeit der restlichen Abgeordneten gegenstandslos. Durch die zwanghafte Auflösung der 50 51 52 53
Vgl. Nieding, Homogenität, S. 49. Vgl. Kühne, Die Reichsverfassung der Paulskirche, S. 463. Vgl. Kühne, Volksvertretungen, § 2 Rn. 33. Vgl. Kühne, Die Reichsverfassung der Paulskirche, S. 462 f. (besonders Fn. 291, 294).
B. Der „Kremsierer Entwurf“ von 1848/49
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Nationalversammlung störten Österreich, Preußen und mittelgroße deutsche Staaten den gesamten Prozess der Verfassungsgebung und machten so die Wirksamkeit der Paulskirchenverfassung zunichte. Obwohl die FRV keine formale Kraft erlangt hatte, blieb die Frage des Aufbaus eines nationaldeutschen Bundesstaates weiter ungelöst. Der preußisch-österreichische Dualismus, der in den 1850 – 1860er Jahren seinen Höhepunkt erreichte, schloss endgültig die Möglichkeit aus, einen föderativen Staat für das gesamte Deutschland auszurufen. Die Bundesstaatsidee war nun eher für Preußen interessant, da es nun Pläne für die Bildung einer festen Staatenverbindung unter preußischer Herrschaft schmiedete. Die wichtige praktische Folge der Paulskirchenverfassung war die Herstellung nicht der formalen, sondern der relativ realen Gleichförmigkeit der staatsorganisationsrechtlichen Grundzüge der deutschen Einzelstaaten, was später die Errichtung des Deutschen Reiches mit der preußischen inneren Hegemonie erleichtern sollte.54
B. Der „Kremsierer Entwurf“ von 1848/49 zu einer Verfassungsurkunde für das Kaisertum Österreich 1. Vorgeschichte Im Revolutionsjahr 1848 blieb die Österreichische Monarchie nicht unbeteiligt. Die liberale Bewegung bedingte intensive Debatten über den Umbau des Gesamtstaatssystems. Ein wesentlicher Unterschied Österreichs zu anderen ehemaligen römisch-deutschen Territorialstaaten bestand in der stark ausgeprägten Nationalitätenfrage. Das Österreichische Kaisertum – dieser „Flickenteppich“ – war zusammengesetzt nicht nur aus den deutschsprachigen Territorien (dem Erzherzogtum Österreich als dem „eigentlichen Mutterstaat“ und den „teutschen“ reichsständischen Ländern55 wie Kärnten, Schlesien, Steiermark sowie Tirol mit Vorarlberg), sondern auch aus den Territorien mit nichtdeutscher Bevölkerungsmehrheit wie dem Adria-Küstenland, der Bukowina, Böhmen, Dalmatien, Galizien, Lombardo-Venetien, Mähren und Ungarn. Die europäische Revolutionswelle hatte auch das nationale Bewusstsein in den letztgenannten Ländern entfacht, was bei den Verhandlungen über die zukünftige Verfassung des Kaisertums eine wesentliche Rolle spielte. Die Frage der staatlichen und territorialen Neugestaltung der Habsburger Monarchie bedingte die Aufspaltung in zwei Lager: Föderalisten setzten sich für die Föderalisierung des österreichischen Gesamtstaates und die Einräumung einer 54
Vgl. Nieding, Homogenität, S. 52. Vgl. Luca, Ignaz de, Vorlesungen über die Oestreichische Staatsverfassung, Bd. 1, Wien 1792, S. 98; ders., Historisch-statistisches Lesebuch zur Kenntniß des Östreichischen Staates, Band 1: Staatsgeschichte von Östreich, Wien 1797, S. VI. 55
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Kap. II: Die Homogenitätsidee im jüngeren Konstitutionalismus
Verfassungsautonomie für die Reichsländer ein; Zentralisten waren dagegen, sahen Österreich lediglich als einen in den Kreisen (oder höchstens bloßen, zentral verwalteten Provinzen mit stark begrenzter Autonomie) gegliederten Einheitsstaat. Diese Gegenmeinungen nahmen definitiv großen Einfluss auf die Ausarbeitung des Verfassungsentwurfs, was unten mehrfach exemplifiziert werden soll. Bevor aber die für die Entwicklung des bundesstaatlichen Homogenitätsgebotes relevanten Bestimmungen des Kremsierer Entwurfes ausführlich betrachtet werden, ist der grundlegende Unterschied zwischen den österreichischen Ländern und den anderen Mitgliedstaaten des Deutschen Bundes zu erwähnen, der für Verständnis des weiteren Aufbaus der Bundesstaatlichkeit in Österreich eine enorme Bedeutung hat. Die zahlreichen Territorialerwerbungen Österreichs im Zeitraum zwischen dem 15. und dem 19. Jahrhundert (bspw. große territoriale Erwerbungen Böhmens und Ungarns im 16. Jahrhundert, Galiziens und Bukowinas nach den Teilungen Polens am Ende des 18. Jahrhunderts und die endgültige Eingliederung des Fürsterzbistums Salzburg nach dem Wiener Kongress) brachten immer auch das Streben der Habsburger Dynastie mit sich, die neu erworbenen heterogenen Länder zu verschmelzen und zu einem zentralistischen Einheitsstaat unter der Herrschaftsgewalt des Hauses Habsburg zu verbinden. Dieser Prozess bestand in der schrittweisen Eingliederung der neuen Territorien an das Kernland Österreich (das moderne Nieder- und Oberösterreich) durch die Machtakkumulation beim absolutistischen Monarchen (der gleichzeitig der einzige Herrscher aller Länder war), die Schaffung der Zentralorgane und die Einordnung der Landesorgane in den gesamten Staatsapparat, die Nivellierung des Landesrechts und die Rechtsvereinheitlichung, die Schaffung des gesamten Beamtentums sowie durch die Zurückdrängung der Landstände.56 Obwohl regionale Unterschiede (gemeint sind zumindest kulturelle, sprachliche sowie religiöse Unterschiede in den deutschösterreichischen Reichsländern; unter Berücksichtigung der nichtdeutschen Bevölkerung war die Verschiedenheit im Gesamtstaat viel stärker) vorhanden waren, trat das Kaisertum Österreich zum Jahre 1848 als ein zentralistisch verwalteter Einheitsstaat auf, in dem den Ländern fast kein Freiraum verblieb. In der zeitgenössischen Fachliteratur herrschte eine Bezeichnungsvielfalt in Bezug auf die Territorien der Österreichischen Monarchie: „Länder“ oder „Erbländer“, „Provinzen“ oder „Reichsprovinzen“, „Staaten“ oder „Erbstaaten“. Die Bezeichnung der österreichischen Länder als „Staaten“ lief der unitarischen Natur des Kaisertums aber nicht zuwider, da es hier nicht um einen Staat im Sinne der Bodinschen Souveränitätslehre ging, „sondern der vernunftrechtliche Staatsbegriff als Zustand der Vergemeinschaftung der Menschen in einer bürgerlichen Gesellschaft unter einer Obrigkeit zugrunde gelegt wird“.57 Wie Preußen war Österreich ein Einheitsstaat und sollte als gleichbedeutende Einheit zusammen mit anderen deut56 Vgl. Schennach, Martin, Die „österreichische Gesamtstaatsidee“. Das Verhältnis zwischen „Gesamtstaat“ und Ländern als Gegenstand rechtshistorischer Forschung, in: Schennach, Martin (Hrsg.), Rechtshistorische Aspekte des Österreichischen Föderalismus, Beiträge zur Tagung an der Universität Innsbruck am 28. und 29. November 2013, Wien 2015, S. 18. 57 Schennach, Gesamtstaatsidee, S. 24.
B. Der „Kremsierer Entwurf“ von 1848/49
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schen Einzelstaaten nach den Plänen der Väter der Paulskirchenverfassung den föderalistischen Gesamtkörper des ganzen deutschen Volkes – das Deutsche Reich – bilden. Die von Österreich gewählten Abgeordneten (insgesamt 168, d. h. ein Fünftel der Gesamtzahl) nahmen aktiv an der Arbeit der Frankfurter Nationalversammlung teil und waren für das Deutsche Reich als Bundesstaat. Während Preußen unitär und unteilbar blieb, fanden gleichzeitig mit Frankfurt die Diskussionen über die bundesstaatliche Gestaltung des Kaisertums Österreich statt, d. h. es war denkbar, einen Bundesstaat innerhalb eines gesamten Bundesstaates (sozusagen wie eine russische Matrjoschka) zu konstruieren. Diese Idee war nicht neu und hatte schon Anfang des 19. Jahrhunderts ihre theoretische Begründung erhalten.58 Im Fall Österreichs war die Durchführung dieses Konzepts problematisch, da in diesem zentralisierten Staat, in dem alle Gewalten in der Hand einer monarchischen Dynastie vereinigt waren, keine Bedingungen für eine Föderalisierung „von oben“ vorhanden waren. Während es im planbaren Deutschen Reich möglich gewesen wäre, einen Ausgleich der widerstreitenden Interessen beider Seiten – der zahlreichen deutschen Einzelherrscher (wenn auch unfreiwillig) und der zu einer Kultur und einer Sprachgemeinschaft gehörigen Bevölkerungen – zu erreichen, blieb die Idee eines echten Bundesstaates in der Praxis unrealisierbar.
2. Autonomie der Reichsländer und scheinbarer Grundsatz einer vertikalen Gewaltentrennung Nach dem Ausbruch der Oktoberrevolution 1848 wurde der erste gewählte österreichische Reichstag von Wien in die kleine mährische Stadt Kremsier verlegt. Der sog. Kremsierer Reichstag tagte von 22. November 1848 bis zu seiner Auflösung durch Kaiser Franz Joseph I. am 7. März 1849. Auf diesem Reichstag wurde der Verfassungsentwurf (der sog. Kremsierer Entwurf, im Folgenden KVE) erarbeitet, der das Kaisertum Österreich in einen modernen Verfassungsstaat umwandeln sollte. Eine Woche vor der abschließenden Abstimmung wurde der Reichstag aufgelöst und der Entwurf blieb daher bloß ein Projekt. Dennoch stellt der Kremsierer Verfassungsentwurf ein wichtiges Dokument dar, das für die Entstehung des bundesstaatlichen Homogenitätsprinzips eine gewichtige Rolle spielen sollte. Zur ersten Sitzung des Verfassungsausschusses wurde vom Abgeordneten Kajetan Mayer ein Vorentwurf vorbereitet, der dem endgültigen KVE zugrunde gelegt wurde. Schon die ersten Beratungen im Ausschuss zeigten die unterschiedlichen Visionen der Föderalisten und Zentralisten. Die Debatten wurden mit der Frage der Einteilung des Staates eröffnet. Der Abgeordnete Adolf Pinkas äußerte von Anfang an den Ausgangsstandpunkt der Zentralisten: Vom historischen Standpunkt aus bildete die Provinz Österreich einen Einzelkörper und seine Bestandteile wurden nur durch bürokratische Verwaltung gesondert, d. h. es wäre geschichtlich fehlerhaft 58
Vgl. Gönner, Teutsches Staatsrecht, § 229 S. 342.
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gewesen, eine staatliche Abgrenzung einzuführen.59 Deshalb sprach der KVE explizit nicht von einem Bundesstaat: Das Kaisertum Österreich wurde als „eine untheilbare constitutionelle Erbmonarchie“ bezeichnet (§ 1 KVE). Im § 2 KVE wurden alle unter die Geltung dieser Verfassung fallenden Reichsländer (ohne Ungarn und Lombardo-Venetien) aufgezählt. Ganz wichtig war der § 4 KVE, nach dem das Gleichberechtigungsprinzip der Reichsländer in den Beziehungen zum Gesamtstaat verankert wurde. Dabei blieben die Reichsländer aber untrennbare, organische Bestandteile des Kaisertums. Der Vorentwurf Mayers räumte den Reichsländern das Selbstregierungsrecht ein, dessen Ausübung innerhalb der durch die Verfassung festgesetzten Schranken gesichert werden sollte.60 Dies bedeutete faktisch die Anerkennung der Reichsländer als bloße Provinzen eines zentralisierten Einheitsstaates, denen das Recht auf Selbstverwaltung erteilt ist. Darauf verwies der Abgeordnete Franz Rieger: Seiner Meinung nach sei das Selbstregierungsrecht der Länder nicht gleichbedeutend mit Autonomie, die neben Selbstverwaltung noch Selbstgesetzgebung der föderierten Länder voraussetzt.61 In der endgültigen Fassung wurde § 5 KVE auf folgende Weise formuliert: „Jedem Reichslande bleibt die Autonomie innerhalb der durch diese Constitution festgesetzten Schranken […] gesichert.“ In Verbindung mit § 111 KVE, der das Recht der Landtage auf Feststellung der Landesverfassungen bestimmte, bestätigte diese Norm, dass die österreichischen Reichsländer eine eigene Verfassungsautonomie besaßen. Die Verfassungsautonomie bildet einen durch die Bundesverfassung eingeschränkten Gestaltungsspielraum, in dessen Rahmen eine selbständige Herrschaftsgewalt von den Gliedstaaten ausgeübt wird. Die nächste strittige Frage im Laufe der Arbeit des Verfassungsausschusses war die Natur der den Reichsländern zugeordneten Gewalt. Im 3. Abschnitt des KVE ging es um die Regierungsgewalten insgesamt. Während der Debatten über die entsprechenden Paragrafen äußerte sich der Abgeordnete Eduard von Cavalcabo, dass der Ausdruck „Regierungsgewalten“ nicht passend sei, da unter „Regierung“ bloß die vollziehende Gewalt verstanden werde, während es sich im entsprechenden Abschnitt des Entwurfs ganz klar um die sowohl vollziehende als auch gesetzgebende Gewalt im Kaisertum und in den Reichsländern handele. Seiner Ansicht nach wäre es besser, statt „Regierungsgewalten“ den Begriff „Staatsgewalt“ anzuwenden.62 Diese „föderalistische“ Position wurde postwendend scharf kritisiert. Kurz und inhaltsvoll formulierte der Abgeordnete Anton Laufenstein den Standpunkt der Zentralisten: „Ich gehe vom Grundsatze aus, daß alle Gewalt vom Reiche ausgehe und daß die Ländergewalt nur ein Ausfluß des zugestandenen Selbstregierungs-
59 Hier und weiterhin zitiert nach Springer, Anton (Hrsg.), Protokolle des VerfassungsAusschusses im Oesterreichischen Reichstage 1848 – 1849, Leipzig 1885 (hier S. 16). 60 Vgl. Springer, Protokolle, S. 123 Fn. 1. 61 Vgl. Springer, Protokolle, S. 123. 62 Vgl. Springer, Protokolle, S. 127.
B. Der „Kremsierer Entwurf“ von 1848/49
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rechtes ist.“63 Obwohl der KVE begrifflich „die Central- oder Reichsregierungsgewalten“ einerseits und „die Landesregierungsgewalten“ andererseits unterschied (§ 34 KVE), bekam die Landesregierungsgewalt nicht die Eigenschaft einer echten Staatsgewalt. Schon im § 35 KVE war die Rede von der gemeinschaftlichen Ausübung der jedem Land überlassenen gesetzgebenden Gewalt durch den Kaiser als Landesoberhaupt mit dem Landtag. Die vollziehende Gewalt stand jedoch dem Kaiser allein zu (§ 38 KVE). Daraus folgte, dass die Reichsländer keine Staatsgewalt besaßen; sie übten nur die Gewalt aus, die aus den vom Oberstaat delegierten Einzelbefugnissen gebildet wurde. Ein anderer wichtiger Aspekt war die Klausel über die Kompetenzverteilung, die die Staatsqualität der Reichsländer betraf. Die Föderalisten sprachen sich natürlich für die Generalklausel zugunsten der Länder aus. Der Abgeordnete Franz Palacky schlug vor, dass in der Reichsverfassung nur die Kompetenzen der Zentralgewalt aufzuzählen sind: Alles, was nicht ausdrücklich dem Oberstaat zugeordnet ist, sollte automatisch in die Kompetenz der Reichsländer fallen.64 Der Abgeordnete Rudolf Brestel war genau der Gegenmeinung: Nur die Landeskompetenzen sollten aufgezählt werden, der Rest gehört zur Kompetenz des Oberstaates.65 Der Abgeordnete Rieger sprach metaphorisch: „Alles was nicht dem Centrale und dem Kreistage zugewiesen ist, bleibt dem Landtage, dann haben Sie zwei Arme, aber keinen Körper.“66 Der KVE nahm die Regelung an, dass im Zweifel über die Kompetenz der Reichs- und Landesregierungsgewalten die Vermutung zugunsten der Zentralgewalt (§ 34 II KVE). Diese Regelung bestätigte nochmal die Exklusivität der Zentralgewalt als Staatsgewalt und schließ normativ das potenzielle Streben der nationalen Reichsländer nach Staatssouveränität aus. Auch die Rechtsnatur der Landesverfassungen kam zur Sprache. Der Abgeordnete Brestel ging davon aus, dass die Provinzen ihrer Natur nach eigentlich keine Verfassungen haben können, und deshalb seien sie nur berechtigt, einen Rechtsakt mit der Bezeichnung „Landesordnung“ zu entwerfen.67 Bei den Föderalisten setzte man sich für das Gestaltungsrecht der österreichischen Provinzen als föderierte Länder ein, denen die verfassungsgebende Gewalt zusteht. Daraus folgte für die Reichsländer, dass diese einen konstituierenden Landtag haben sollen sowie eine Verfassung, die als Urkunde die Teilung der öffentlichen Gewalt gewährleisten soll.68 Da der Ausschuss die Entscheidung getroffen hatte, den Reichsländern die Auto63 Abgeordneter Laufenstein in der Sitzung am 7. Februar 1849, zit. nach: Springer, Protokolle, S. 130. 64 Vgl. Gottsmann, Andreas, Der Reichstag von Kremsier und die Regierung Schwarzenberg. Die Verfassungsdiskussion des Jahres 1848 im Spannungsfeld zwischen Reaktion und nationaler Frage, Wien und München 1995, S. 75. 65 Vgl. Gottsmann, Der Reichtag von Kremsier, S. 75. 66 Abgeordneter Rieger in der Sitzung am 17. Februar 1849, zit. nach Springer, Protokolle, S. 231. 67 Vgl. Springer, Protokolle, S. 281. 68 Vgl. Springer, Protokolle, S. 282.
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nomie einzuräumen (§ 5 KVE), würde diese nach Auffassung des Abgeordneten Mayer durch eben solche Landesverfassungen ausgeübt werden. Um alle in die Kompetenz der Länder fallenden Angelegenheiten zu regeln, sollten sich die Reichsländer solche Statuten geben. Die Einheit des Gesamtstaates erfordert aber, dass die Landesverfassungen keine Bestimmungen enthalten dürfen, die ihrerseits wiederum gegen die Reichsverfassung verstoßen.69 Daher wurde die Verabschiedung der Landesverfassung vom Landtag an die Bestätigung der gesetzgebenden Reichsgewalt gebunden (§ 111 S. 1 KVE). Jedoch war die Erteilung dieser Bestätigung für den Reichstag obligatorisch, wenn die Bestimmungen der Landesverfassung den Grundsätzen der Reichsverfassung nicht widersprechen (§ 111 S. 2 Hs. 2 KVE). Da es im ersten Satz des § 111 KVE um die Bestätigung der gesetzgebenden Reichsgewalt ging, die laut § 35 Hs. 1 KVE vom Kaiser gemeinschaftlich mit dem Reichstag ausgeübt wird, stellt sich die Frage über die Rolle des Kaisers in dem nach § 111 KVE festgestellten Schutzmechanismus. Logischerweise soll der Kaiser als Bestandteil der gesetzgebenden Gewalt des Reiches den Landesverfassungen auch zustimmen. Im entsprechenden Teilabschnitt des KVE über die Befugnisse des Kaisers findet man aber eine solche Regelung explizit nicht. Diese Befugnis kann allerdings aus dem systematischen Zusammenhang des § 46 KVE, nach dem der Kaiser die (Reichs-)Gesetze sanktioniert, und des § 117 KVE, nach dem die Landtagsbeschlüsse erst durch die Sanktion des Kaisers die Kraft der Landesgesetze erhalten, abgeleitet werden. Da sowohl die Bestätigung des Reichstages nach § 111 KVE in Form eines Reichsgesetzes erteilt werden muss als auch die Landesverfassung durch den Beschluss des Landtages verabschiedet werden muss, erlangt der Kaiser in beiden Fällen das Recht, an diesen Verfahren teilzunehmen. Außerdem obliegt die Regel des § 111 S. 2 Hs. 2 KVE nur dem Reichstag, d. h. als Teilnehmer dieses Bestätigungsverfahrens könnte der Kaiser diese Regel ignorieren und der Landesverfassung bloß nach eigenem Ermessen nicht zustimmen. Diese Rechtslücke zeigt ein weiteres Mal, dass die Verfassungsautonomie der österreichischen Reichsländer nicht vollständig umgesetzt werden konnte. Der Abgeordnete Brestel griff die oben erwähnte Idee Mayers auf: Nach seiner Überzeugung war es notwendig, die Grenzen der Landesverfassungen und gewisse allgemeine Bestimmungen, die die Autonomie der Provinzen beschränken, in der Reichsverfassung zu verankern.70 Das ist nichts anderes als das Erfordernis der innerstaatlichen Homogenität. Der KVE befürwortete das Homogenitätsprinzip implizit, enthielt in sich aber kein allgemein formuliertes Homogenitätsgebot. Die systematische Auslegung lässt die Normen erkennen, die das Homogenitätsgebot nach dem KVE bildeten. Zu den grundlegenden Bestimmungen zählten § 5 KVE, der den Grundsatz der reichsverfassungsrechtlichen Schranken der Autonomie der Länder postulierte, und § 112 V KVE, nach dem in den Landesverfassungen festzuhalten ist, dass der den Landesgewalten durch die Reichsverfassung zuerkannte 69 70
Vgl. Springer, Protokolle, S. 282. Vgl. Springer, Protokolle, S. 284.
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autonome Wirkungskreis nicht überschritten werden darf. Diese Normen dienten als Grundlage des allgemeinen bundesstaatlichen Homogenitätsgebotes im KVE. Alle weiteren Rechtssatzungen des KVE, die die Staatsorganisation der Reichsländer betrafen, entsprachen, obwohl sie ausführlich waren, dem Erfordernis der strukturellen (organisationsrechtlichen) Homogenität innerhalb des Bundesstaates.
3. Reichsrechtlich rahmenbedingte Staatsorganisation der österreichischen Länder Als kurze Vorbemerkung sei auf das Folgende eingegangen: Der entsprechende Teilabschnitt des KVE über die Organisation der Landesregierungsgewalt begann mit der Landesverwaltung, und erst an zweiter Stelle fanden sich die Regelungen über die Landtage. Diese Reihenfolge der Normen war Ausdruck des Gedankens über die Integrität und die Unteilbarkeit der Exekutive, was von den Zentralisten nachdrücklich verfochten wurde.71 Ferner geht es um die Stellung des Kaisers: Dieser wurde als zentrales Bindeglied des gesamten Staates betrachtet und kraft der Bestimmungen des KVE war er das Oberhaupt eines jeden Gliedstaates, da er der Mitinhaber der gesetzgebenden Landesgewalt war (§ 35 KVE: „Kaiser als Landesoberhaupt“) und die vollziehende Gewalt nur ihm allein zustand (§ 38 KVE). Dies unterschied den KVE von der FRV, nach der der Monarch (oder die Bevölkerung in den freien Hansestädten) eines jeden deutschen Einzelstaates der Träger der Staatlichkeit war. Der Deutsche Kaiser konnte kaum zugleich das Staatsoberhaupt eines jeden Mitgliedstaates sein. Die besondere Stellung des österreichischen Kaisers schloss also die vertikale Gewaltenteilung innerhalb der Gesamtordnung aus und machte die Selbständigkeit der Landesorgane faktisch zunichte. a) Der Landtag und seine Gesetzgebungsfunktion Der Landtag sollte das Parlament für jedes Reichsland sein (§ 110 KVE), dem die selbständige gesetzgebende Gewalt zusteht (§ 114 S. 1 KVE). Nach dem Abgeordneten Pinkas sollten die Landtage die Grundsäulen des geplanten Staatsgebäudes werden.72 Diese postulierte Selbständigkeit des Landtages war jedoch in gewissem Maße illusorisch. Neben dem Landtag war der österreichische Kaiser für die Ausübung der jedem Land durch die Reichsverfassung und -gesetze (vgl. § 116 KVE) überlassenen gesetzgebenden Gewalt zuständig (§ 35 KVE). Jeder Beschluss des Landtages über die Verabschiedung eines Landesgesetzes sollte vom Kaiser sanktioniert werden (§ 117 KVE). Die Kernkompetenz des Landtages als Gesetzgebungsorgan des Reichslandes bildeten die in §§ 114 f. KVE aufgezählten Gegen-
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Vgl. Gottsmann, Der Reichstag von Kremsier, S. 75 f. Vgl. Springer, Protokolle, S. 233.
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stände. In seine Kompetenz konnten auch andere innenpolitischen Angelegenheiten fallen, die ihm durch die Reichsgesetze zugewiesen werden konnten (§ 116 KVE). Was die organisationsrechtlichen Grundlagen der Landtage betrifft, forderte der KVE zuerst die Homogenität der Wahlrechtsgrundsätze. Nach § 112 I, II KVE sollten die Landesverfassungen folgende grundgesetzliche Bestimmungen festhalten: Der Oberstaat forderte die direkte Wahl der Landtagsabgeordneten, d. h. es sollte ein Mehrheitswahlsystem auf Landesebene eingeführt werden. Für die Ausübung des aktiven sowie passiven Wahlrechts konnten die Landesverfassungen keine anderen oder größeren Beschränkungen vorsehen als das Reichsgesetz für die Wahlen des Reichstages. Die Legislaturperiode des Landtages wurde auf drei Jahre festgesetzt (§ 120 S. 1 KVE). Der Landtag konnte in zwei Fällen aufgelöst werden: Erstens durch die entsprechende Entscheidung des Kaisers mit gleichzeitiger Ausschreibung neuer Wahlen (§ 120 S. 2 KVE) und zweitens als Folge der Auflösung der Länderkammer (d. h. der obersten Kammer des Reichstages) durch den Kaiser (§ 121 KVE). In beiden Fällen war der Kaiser nicht an inhaltlichen, sondern nur an Verfahrensbedingungen (obligatorische Erklärung über die Vornahme neuer Wahlen; vgl. auch § 51 KVE) gebunden. Diese Befugnis des Kaisers zusammen mit seinem Recht, jedes Landesgesetz zu billigen, verwandelte die „selbständige gesetzgebende Gewalt der Landtage“ in eine bloße Deklaration. Aus organisationsrechtlicher Sicht waren die Landtage unselbständig und näherten sich deswegen der Versammlungen der Provinzen eines Einheitsstaates an. b) Die Landesregierung und ihre Verantwortlichkeit Zur Notwendigkeit der Einrichtung einer den Reichsländern zustehenden Exekutive bekannten sich nicht nur die Föderalisten, sondern auch die Zentralisten. Aus Sicht des Abgeordneten Rieger „sei [es] aber klar, daß die Länder, wenn sie einmal eine Autonomie haben, sie auch Leute haben müssen, welche die Gesetze vollziehen, und es verantworten müssen, wenn sie dies schlecht thun.“73 Die Exekutive der Länder sollte aber in der vollziehenden Gewalt des Gesamtstaates integriert bleiben: Die Zentralisten vertraten die Idee der Einheit der Exekutive kompromisslos. In seinem Vorentwurf sah der Abgeordnete Mayer für die Reichsländer einen Gouverneur vor, der für den Vollzug der Landesgesetze dem Landtag, im Fall der Reichsgesetze der Zentralgewalt verantwortlich sein sollte.74 Der Abgeordnete Simon Turco war strikt dagegen. Seiner Meinung nach sei ein und derselbe Grundsatz nicht für alle Länder Österreichs anwendbar, bspw. in den Fällen Salzburgs und Galiziens: „Ein kleines Land braucht keinen Gouverneur, sondern nur einen unmittelbar dem Ministerium (d. h. der Exekutive des Oberstaates, Anm. des Verf.) 73 Abgeordneter Rieger in der Sitzung am 27. Februar 1849, zit. nach: Springer, Protokolle, S. 338. 74 Vgl. Gottsmann, Der Reichstag von Kremsier, S. 78.
B. Der „Kremsierer Entwurf“ von 1848/49
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unterstehenden Landeschef.“75 Der Abgeordnete Emil Vacano stellte einen dem diametral entgegengesetzten Änderungsantrag: „An der Spitze der Verwaltung jedes Reichslandes hat ein verantwortlicher Landeschef zu stehen.“76 Der Abgeordnete Josef von Lasser wiederum fragte überhaupt nach der Anwendbarkeit des Modells der parlamentarischen Verantwortlichkeit der Regierung auf Landesebene. Wenn der Landeschef gleichzeitig Mitglied des Reichsministeriums sei, dann müsste er für die Ausführung der Landesgesetze dem nicht verantwortlich sein. Falls nicht, sei er doch dem Landtag verantwortlich.77 Die Zentralisten sahen in der Errichtung der verantwortlichen Landesregierungen ein prinzipielles Problem und versuchten eine weitgehende Autonomie der Reichsländer in der Verwaltung zu verhindern.78 Aus diesem Grund waren die Diskussionen um die Gestaltung der Exekutive auf Landesebene schwierig (insgesamt dauerte sie vier Sitzungen) und die im KVE gefundene Entscheidung bildete einen unsicheren Kompromiss. Nach § 102 KVE steht an der Spitze der Landesverwaltung ein Oberhaupt, welches in den aus zwei oder mehreren Kreisen bestehenden Reichsländern Statthalter und in den kleinen Ländern Landeshauptmann (Gouverneur) genannt wird. Dieses Oberhaupt der Landesverwaltung wird vom Kaiser ernannt und ist dem Reichsministerium für den Vollzug der Reichsgesetze sowie die Ausübung der Reichsregierungsgewalt verantwortlich. In Bezug auf die großen Reichsländer stellte der KVE fest, dass der Statthalter und die vom Kaiser ernannten Statthaltereiräte, welche dem Statthalter für den Vollzug der Landesgesetze verantwortlich sind, die Landesregierung – den Statthaltereirat – bilden. Die innere Organisation derselben ist der Landesverfassung überlassen (§ 103 i. V. m. § 104 S. 1 KVE). Über das entsprechende Vollzugsorgan in den kleinen Ländern enthält das KVE keine Regelung. Es besteht aber Grund zur Annahme, dass, ausgehend von der Verfassungsautonomie, die übrigen Reichsländer eine eigene Regierung haben können. Solche Regierungsmitglieder würden sich jedoch von den Statthaltereiräten unterscheiden, da nach § 104 S. 1 KVE neben dem Statthalter noch die kontrasignierten Mitglieder des Statthaltereirats für den Vollzug der Landesgesetze verantwortlich sind. Obwohl die vollziehende Gewalt allein dem Kaiser zustehen sollte und die Landeshauptmänner, die Statthalter sowie die Statthaltereiräte auch nur vom Kaiser ernannt würden, kann man nicht sagen, dass die vollziehende Landesgewalt völlig der Reichsgewalt untergeordnet wurde und unselbständig war. Der KVE räumte dem Kaiser kein Recht auf die Abberufung der Landesregierungschefs und der anderen Regierungsmitglieder ein. Laut § 105 KVE hatte der Landtag das Recht, den Lan75
Abgeordneter Turco in der Sitzung am 16. Februar 1849, zit. nach: Springer, Protokolle, S. 222. 76 Abgeordneter Vacano in der Sitzung am 16. Februar 1849, zit. nach: Springer, Protokolle, S. 222. 77 Vgl. Springer, Protokolle, S. 336. 78 Vgl. Gottsmann, Der Reichstag von Kremsier, S. 78 f.
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deshauptmann (Gouverneur), den Statthalter sowie die Statthaltereiräte unter Anklage zu stellen. Die endgültige Entscheidung über die Abberufung lag in der Hand des obersten Reichsgerichts. Es ging hier aber um die rechtliche Verantwortlichkeit der Landesregierung. Der aus der Ablehnung der Zentralisten der dem Landtag politisch verantwortlichen Landesregierung erlangte Kompromiss führte letztendlich zur Festschreibung eines Missverhältnisses innerhalb des Regierungssystems im KVE. ***
Aus den obigen Ausführungen zum KVE lassen sich die folgenden Schlussfolgerungen ziehen: Im Unterschied zu den deutschen Einzelstaaten als Gliedstaaten des nach der FRV geplanten gesamtdeutschen Bundesstaates bildeten die österreichischen Reichsländer keine eigenständigen politischen Einheiten. Die vom KVE zugeordnete Autonomie war keine echte Verfassungsautonomie im Sinne der Gliedstaatlichkeit. Sie ähnelte ihrer staatsrechtlichen Natur nach eher der Autonomie bloßer Selbstverwaltungskörper. Im monarchischen Staat bildete die Exekutive eine Prärogative des Monarchen. Während aber in den deutschen Einzelstaaten die Monarchen als Träger der vollziehenden Landesgewalt vorhanden waren, fehlten solche in den österreichischen Reichsländern, da der Kaiser das Oberhaupt jedes Landes war. In Bezug auf die gesetzgebende Landesgewalt war der Kaiser Mitinhaber dieser Gewalt und hatte das absolute Vetorecht hinsichtlich aller Beschlüsse des Landtages. Daraus folgte, dass der Landtag nach dem KVE in gewissem Maße eher nur ein beratendes als entscheidendes Staatsorgan war. In horizontaler Hinsicht hatten die Landtage auch keinen Einfluss auf die Bildung der Landesregierung. Im Unterschied zur FRV, die dies ausdrücklich bestimmte, waren die Landesregierungen der österreichischen Reichsländer den Landtagen politisch überhaupt nicht verantwortlich. Obwohl das im KVE verankerte Homogenitätsgebot die Staatsorganisation der Reichsländer sehr detailliert beschrieb und die modellierte Autonomie der Länder nicht der staatsrechtlichen Natur der Bundesstaatlichkeit entsprach, nivellierte dieser Umstand nicht die Wichtigkeit des ersten unternommenen Versuchs, eine bundesstaatliche Organisation in Österreich einzuführen. Die Tatsache, dass der KVE eine bundesverfassungsrechtliche Bestimmung der Staatsorganisation auf Landesebene enthielt, hatte definitiv Einfluss auf die spätere territoriale Gestaltung Österreichs, die infolge des Zerfalls des Monarchismus unumgänglich werden sollte.
C. Die Institutionalisierung der herrschenden Bundesstaatslehre
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C. Die Institutionalisierung der herrschenden Bundesstaatslehre in Deutschland 1. Das Konzept von Georg Waitz: Die organisationsrechtliche Selbständigkeit der Einzelstaaten und der Gesamtheit Der Misserfolg der Paulskirchenverfassung als bundesstaatsbildender Rechtsakt führte zu einer weiteren kontroversen theoretischen Diskussion über das Wesen des möglichen Deutschen Bundesstaates sowie über die Vereinbarkeit der damals zeitgenössischen republikanischen Bundesstaatsmodelle in der Schweiz und den nordamerikanischen Vereinigten Staaten mit dem geplanten, monarchisch regierten großen Deutschland. Einer der prominenten Theoretiker seiner Zeit, der einen bedeutenden Beitrag zur Ausgestaltung der herrschenden Bundesstaatslehre leistete, war der Rechtshistoriker Georg Waitz. Als Mitglied des Verfassungsausschusses der Frankfurter Nationalversammlung nahm er unmittelbar an der Vorbereitung des ursprünglichen Textes der Paulskirchenverfassung und später an dessen Beratung teil. Nach der Auflösung der Nationalversammlung zog sich Waitz aus der Politik zurück und ging erneut in die Wissenschaft. 1853 erschien in der Kieler Monatsschrift seine Abhandlung mit dem Titel „Das Wesen des Bundesstaats“79, in welcher der Begriff und die Merkmale des Bundesstaates umfassend analysiert wurden. Dieses Werk wurde schon bald als grundlegendes für die moderne Staatenstaatstheorie anerkannt. Im Unterschied zum Staatenbund ist der Bundesstaat, „wie sein Name sagt, ein Staat“80. Der Staat ist für Waitz nicht nur der bloße Inbegriff einzelner Privatpersonen, die aufgrund eines Vertrages oder einer Herrschaftsgewalt vereinigt sind, sondern die Organisation eines Volkes zur Ausführung seiner Lebensaufgaben. Das Volk hat somit ein unmittelbares Verhältnis zum Staat. Der Bundesstaat bildet ebenjene Staatsform, bei der einige Staatsaufgaben vom gesamten Volk, während andere Staatsaufgaben allein von den einzelnen, territorial getrennten Teilen des Volkes ausgeübt werden. Durch einen solchen direkten Zusammenhang des Volkes mit den Gebilden besitzen sowohl die Gesamtheit als auch die Glieder eines Bundesstaates Staatsqualität.81 Gerade dank der Eigenstaatlichkeit des Oberstaates unterscheidet sich der Bundesstaat von einem Staatenbund, in dem die Gesamtheit keinen Staat bildet. Im Bundesstaat, der aus dem Oberstaat (Gesamtstaat) und den Gliedstaaten
79
In dieser Arbeit wird der folgende Wiederabdruck (mit kurzer Zusammenfassung des Autors) verwendet: Waitz, Georg, Das Wesen des Bundesstaats, in: Waitz, Georg (Hrsg.), Grundzüge der Politik nebst einzelnen Ausführungen, Kiel 1862, S. 153 ff. 80 Waitz, Das Wesen des Bundesstaats, S. 162. 81 Vgl. Waitz, Das Wesen des Bundesstaats, S. 162 ff.
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(Einzelstaaten)82 zusammengesetzt ist, ist jeder Teil für sich ein echter Staat, dem ein bestimmter Teil des staatlichen Lebens zusteht. Interessanterweise schrieb Waitz dazu, dass ein bestimmter Teil der Aufgaben den einzelnen Gliedern des Bundesstaates überlassen sei.83 Dies lässt die Vermutung zu, dass er allerdings ungeachtet der postulierten gleichwertigen Staatlichkeit aller Glieder des Bundesstaates die Übertragung einzelner Zuständigkeitsbereiche vom Gesamtstaat auf die Einzelstaaten (d. h. „von oben nach unten“) vorausgesetzt hatte. Dieser Ansatz entspricht nicht völlig dem früheren Verständnis des Bundesstaates als eines aus mehreren (vormals) selbständigen Einzelstaaten zusammengesetzten Staatsgebildes. Die dem Gesamtstaat und den Einzelstaaten zugeschriebene Eigenstaatlichkeit bedeutet nach Waitz, dass sowohl ersterer als auch die letzteren unabhängig von einer fremden Gewalt sind. Diese durchgreifende Eigenständigkeit des Gesamtstaates einerseits und der Gliedstaaten andererseits bedingt die völlige Selbständigkeit der Zentral- und Einzelgewalten als Staatsgewalten.84 Diese notwendige Konsequenz ihrer Eigenschaft als gleichrangige Staatsgewalten folgt aus ihrem unmittelbaren Verhältnis zum Volk.85 Später hat Waitz noch ergänzt, dass im Bundesstaat „eine zwiefache Organisation des Volks zum Staate“86 erfolgt, was zur Bildung der selbständigen Einzelstaaten führt. Die für das Alte Deutsche Reich eigentümliche Unterordnung der Einzelstaaten und ihrer Fürsten unter den Gesamtstaat und den Kaiser ist im Bundesstaat grundsätzlich ausgeschlossen, da „der Gesamtstaat selbst nur ein Staat wie die Einzelstaaten [ist], freilich nicht räumlich, aber dem Begriff und Recht nach diesen nebengeordnet.“87 (Hier ist noch der zweite Halbsatz bemerkenswert, in welchem Waitz den Gliedstaaten das Staatsgebiet verweigert, was die Staatlichkeit der Bundesstaatsglieder nach der späteren klassischen Drei-ElementeLehre überhaupt in Frage stellen könnte.) Alle Mitglieder des Bundesstaates sind selbständig und üben ihre eigene Herrschaftsgewalt frei aus. Diese Selbständigkeit heißt Souveränität. Dementsprechend verstand Waitz unter Souveränität die freie, unabhängige und eigenständige Ausübung der Staatsgewalt durch jedes bundesstaatliche Glied. Waitz ging also davon 82 Hier ist interessant zu erwähnen, dass Waitz auf eine im deutschen Sprachgebrauch aufgekommene Verwechslung hinweist: Die für die Zeit des Deutschen Bundes charakteristische Bezeichnung der Einzelstaaten als Bundesstaaten nannte er irreführend (wie bereits oben in der vorliegenden Arbeit aufgezeigt wurde, geht dieser Sprachgebrauch in der Literatur auf die rheinbündische Periode zurück, d. h. bereits Anfang des 19. Jahrhunderts). Nach Waitz folgt aus dem Wesen des Bundesstaates, dass die Einzelstaaten als Gliedstaaten bezeichnet werden müssen und die oberstaatliche Ebene als Gesamtstaat. Man kann in diesen Erläuterungen ein Urbild der späteren Theorie des zweigliedrigen Bundesstaates erkennen (vgl. dazu Waitz, Das Wesen des Bundesstaats, S. 163 f.). 83 Vgl. Waitz, Das Wesen des Bundesstaats, S. 164. 84 Vgl. Waitz, Das Wesen des Bundesstaats, S. 165, 166. 85 Vgl. Brie, Der Bundesstaat, S. 107. 86 Waitz, Georg (Hrsg.), Grundzüge der Politik nebst einzelnen Ausführungen, Kiel 1862, S. 43. 87 Waitz, Das Wesen des Bundesstaats, S. 213; vgl. dazu Brie, Der Bundesstaat, S. 117.
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aus, dass es sich nur um einen wahren Bundesstaat handelt, wenn die Souveränität sowohl dem Gesamtstaat als auch den Einzelstaaten zusteht. Kraft der beiderseitigen Souveränität sind die Bundesgewalt (Zentralgewalt) und die Gewalten der Einzelstaaten selbständig: Der Oberstaat darf seine Gewalt nicht von den Einzelstaaten erhalten (wie dies im Deutschen Bund als Staatenbund der Fall war) und jeder Gliedstaat besitzt eine eigene Gewalt, die nicht aus der Zentralgewalt abgeleitet ist.88 Jedem Teil des Bundesstaates kommt ein eigener Sonderbereich des Staatslebens zu, innerhalb dessen ein jedes Glied selbständig (souverän) ist. Wichtig ist, dass nach Waitz die Souveränität den bundesstaatlichen Mitgliedern innerhalb einer bestimmten Sphäre zukommt.89 Daraus folgt, dass sie nur über eine relative Souveränität verfügen.90 Waitz wies aber auf folgenden Umstand hin: Im Bundesstaat geht es nur um die Beschränkung des Umfanges, nicht des Inhalts; die Gliedstaaten sind berechtigt, wie der Gesamtstaat eine eigene Gewalt innerhalb ihrer Machtsphäre vollständig auszuüben.91 Wenn es sich um Souveränität (d. h. die freie Ausübung der Staatsgewalt innerhalb einer abgesonderten Sphäre) als Wesensmerkmal der Staatlichkeit sowohl der bundesstaatlichen Gesamtheit als auch der Glieder handelt, so bedarf es der Anwendung dieses Grundsatzes auf die wichtigsten Verhältnisse des Staatslebens.92 Die staatsbildende Rolle des Volkes bedingt nach Waitz eine doppelte Staatsorganisation innerhalb des Bundesstaates. Für jeden Teil gibt es eine besondere Organisation. Die Bestimmung und Verwendung dieser inneren Ordnung bleibt im Allgemeinen den Einzelstaaten überlassen.93 Diese organisationsrechtliche Selbständigkeit der Gliedstaaten wird durch die Unabhängigkeit der Landesregierung von der Zentralgewalt und den autonomen Charakter der Mittel ihrer Existenz geprägt.94 Abgesehen von der selbständigen (souveränen) Natur des Gesamtstaates und der Einzelstaaten bleibt aber der zusammengesetzte Staat doch ein einiger Staat. Da ein wesentlicher Teil der Staatsaufgaben gemeinsam ausgeübt wird, ist ein gewisses Maß der Gleichheit der politischen Rechte unter den Mitgliedern des Bundesstaates erforderlich.95 Es geht hier also um die bundesstaatliche Homogenität. Waitz begründet dieses Erfordernis wie folgt: Damit die auf unterschiedliche Art verfassten souveränen Staaten (bspw. freie Republiken, absolute Monarchien) als eine große politische Gesamtheit auftreten können, bedarf es gewisser gleichartiger Grundlagen des Staatslebens. Dafür ist aber keine absolute Gleichheit der Bundesstaatsmitglieder nötig: Die beiden Seiten (gemeint sind der Oberstaat und die Gliedstaaten) stecken 88 89 90 91 92 93 94 95
Vgl. Waitz, Grundzüge der Politik, S. 44. Vgl. Waitz, Das Wesen des Bundesstaats, S. 165 f. Vgl. Brie, Der Bundesstaat, S. 110. Vgl. Waitz, Das Wesen des Bundesstaats, S. 166. Vgl. Waitz, Das Wesen des Bundesstaats, S. 167. Vgl. Waitz, Grundzüge der Politik, S. 43 f.; ders., Das Wesen des Bundesstaats, S. 200. Vgl. Waitz, Das Wesen des Bundesstaats, S. 167 f. Vgl. Waitz, Grundzüge der Politik, S. 44; ders., Das Wesen des Bundesstaats, S. 202.
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durch ihre Verfassungen gewisse Grenzen für die eigenen Machtsphären ab, innerhalb welcher es noch Handlungsfreiheit gibt.96 Solche Schranken, die die Einzelstaaten einhalten sollen, müssen keine gleichmäßigen Hürden bilden, die wohl letztlich auch gar nicht einführbar wären. Sie müssen nach Waitz zu einer gleichmäßigen, wahrhaft gesunden und kräftigen Ausgestaltung des Staatslebens führen.97 Waitz hielt aber die Auffassung, dass solche verfassungsrechtlichen Bestimmungen nur ein Minimum an Freiheit geben sollten, für unbegründet. Gleichzeitig lehnte er die Anordnung eines Maximums an Gleichheit, hinter das die selbständige Staatsorganisation der Länder zurückbleiben und das man nicht überschreiten dürfe, ab.98 Daraus folgt die Notwendigkeit eines gesunden Mittelmaßes der bundesstaatlichen Gleichheit. Waitz stellte sich selbst die Frage, welche Art der Abweichung hiervon – also ein Mangel oder ein Übermaß an politischer Freiheit der Einzelstaaten – schädlicher für die Bundesstaatlichkeit wäre. Er ließ diese Frage unbeantwortet, merkte jedoch an, dass das „Einzelne über die Organisation der Verfassung, die Zusammensetzung der Landesversammlung, das Wahlrecht, die besonderen Verhältnisse der Gemeinden und was der Art mehr ist, […] billig den Einzelstaaten überlassen [bleiben].“99 Selbst der Gesamtstaat habe nach Waitzscher Ansicht kein Interesse an der Beseitigung einer größeren Verschiedenheit in dem Umfang und der Bedeutung der Gliedstaaten, obwohl das Streben nach größerer Gleichförmigkeit innerhalb des Bundesstaates immer vorliege.100 Waitz legte noch einen besonderen Akzent auf die Homogenitätsanforderungen der Paulskirchenverfassung, in der er das notwendige Mindestmaß als weit überschritten ansah, da manche in der FRV enthaltenen Gleichheitserfordernisse auf keinen Fall geboten waren und tatsächlich eine gesunde Entwicklung der mannigfachen Kräfte und Richtungen innerhalb des Bundesstaates gefährdeten.101 Aufmerksamkeit lenkte Waitz auch auf die Frage der Homogenität der Staatsformen. Ausgangspunkt seiner Überlegungen war folgender: „Gleiche Staatsform für die Einzelstaaten hat Vorzüge, erscheint aber nicht als unbedingt nothwendig.“102 Weiter widmet sich Waitz der in der Bundesverfassung vorgegebenen Anforderung einer bestimmten Gleichheit der Staatsformen in den Gliedstaaten untereinander und im Verhältnis zur Staatsform des Gesamtstaates; ferner erörtert er die Zulässigkeit der Änderung der gliedstaatlichen Verfassungsform nur mit der Zustimmung des Oberstaates (Letzteres ist ein impliziter Hinweis auf die entsprechende Regelung der FRV). Fraglich ist, warum der Einzelstaat, der für einen eigenen Sonderbereich des gesamten Staatslebens zuständig ist, in der Wahl seiner Existenzform nicht völlig frei 96
Vgl. Waitz, Das Wesen des Bundesstaats, S. 204. Vgl. Waitz, Das Wesen des Bundesstaats, S. 202. 98 Vgl. Waitz, Das Wesen des Bundesstaats, S. 204. 99 Waitz, Das Wesen des Bundesstaats, S. 207. 100 Vgl. Waitz, Das Wesen des Bundesstaats, S. 207 f. 101 Vgl. Waitz, Das Wesen des Bundesstaats, S. 203 f. 102 Waitz, Grundzüge der Politik, S. 44. 97
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sein darf. Die Natur des Bundesstaates fordert jedoch auf jeden Fall einen engen Zusammenhang zwischen dem Gesamtstaat und den Gliedstaaten. Daher wären unterschiedliche Existenzformen einiger oder mehrerer Einzelstaaten auf ganz verschiedenartiger Grundlage (einheitliche monarchische oder volkssouveräne republikanische Leitung) für die innerstaatliche Gleichartigkeit im Bundesstaat nachteilig. Diese Verschiedenheit könnte aber nicht bloß zur Störung des inneren Friedens führen und die bestehende Staatsordnung der Gesamtheit gefährden.103 Allerdings zweifelt Waitz daran, dass innerhalb derselben Staatsform eine gewisse Übereinstimmung zwischen den Teilen des Bundesstaates auch erreicht werden kann (bspw. unterscheiden sich auch die Republiken von der starren Aristokratie im alten Bern und auch von der vollentwickelten Demokratie in Genf).104 Seit der Zeit des Alten Reiches lautete die vorherrschende Auffassung, dass das große Deutschland als ein monarchischer Bundesstaat existieren kann. Der erste Versuch einer verfassungsrechtlichen Gestaltung des großdeutschen Bundesstaates – die Paulskirchenverfassung – bestätigte, dass diese Idee zahlreiche Anhänger fand. In Anlehnung an die herrschende Vorstellung merkte Waitz an, dass eine monarchische Staatsordnung auch für den Gesamtstaat eingeführt werden müsse, wenn die verfassungsrechtliche Gleichartigkeit aller Bundesstaatsglieder für notwendig gehalten wird und alle oder die meisten Einzelstaaten selbst Monarchien bilden. Nur eine wahrhafte Übereinstimmung der Staatsformen, wenn der erblichen Herrschaft in den Einzelstaaten eine Erbmonarchie auf gesamtstaatlicher Ebene entspricht, kann die Funktionsfähigkeit des monarchischen Bundesstaates vollständig gewährleisten.105 Zum Schluss seiner Schrift postuliert Waitz die Notwendigkeit der Errichtung einer monarchischen Bundesstaatlichkeit in Deutschland, um die fehlende Einheit der Deutschen Nation wiederherzustellen und die innere Gleichartigkeit der meist monarchisch regierten Einzelstaaten zu erreichen, was dem nationalen Geist bzw. der deutschen Geschichte völlig entsprechen würde.106
2. Die Erläuterung von Heinrich Zachariä Ein weiterer herausragender Denker, dessen Arbeiten ausschlaggebend für die juristische Institutionalisierung der Staatenstaatstheorie wurden, war der Göttinger Rechtswissenschaftler Heinrich Albert Zachariä. Er war Delegierter im Siebzehnerausschuss und beteiligte sich später auch an der Frankfurter Nationalversammlung. Im Unterschied zu Waitz blieb Zachariä auch danach in der Politik, u. a. war er Mitglied des Reichstages des Norddeutschen Bundes und wurde später Abgeordneter des preußischen Landtages. Nach der Auflösung der Frankfurter Nationalver103 104 105 106
Vgl. Waitz, Das Wesen des Bundesstaats, S. 205 f. Vgl. Waitz, Das Wesen des Bundesstaats, S. 206. Vgl. Waitz, Das Wesen des Bundesstaats, S. 213 ff. Vgl. Waitz, Das Wesen des Bundesstaats, S. 218.
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sammlung revidierte Zachariä als aktiver Teilnehmer des Bundesreformversuchs seine Auffassung von der für Deutschland gebotenen Bundesstaatlichkeit teilweise, die er in der erweiterten und bearbeiteten Auflage seines Deutschen Staats- und Bundesrechts107 fast gleichzeitig mit Waitz zu Papier gebracht hat. Nach Zachariä können die Staaten alle möglichen Arten von Verbindungen untereinander eingehen, die dauerhaft oder vorübergehend, staatsrechtlich oder völkerrechtlich ausgestaltet werden können. Diese unterschiedlichen Staatenverbindungen bezeichnete er mit dem Oberbegriff „Staaten-Unionen“. Den völkerrechtlichen Staatenverbindungen ordnete Zachariä u. a. den Staatenbund zu – die Vereinigung souveräner Staaten zu einem umfassenden und dauernden Zweck mit einer die Erfüllung desselben sichernden überstaatlichen Organisation.108 Das Wesen des Staatenbundes wird durch die folgenden Merkmale beschrieben: Die Souveränität der verbündeten Einzelstaaten bleibt fortdauernd insofern bestehen, als sie durch die der Bundesverbindung völkerrechtlich übertragenen Rechte und festgestellten Pflichten eingeschränkt ist. Die Bundesgewalt hat keine Natur einer wahren Staatsgewalt, da sie vertraglich bewirkt ist, und der Gesamtwille des Staatenbundes wird durch den Inbegriff der Einzelwillen der verbündeten Staaten gebildet.109 Dahingegen stellt der Staatenstaat oder Bundesstaat die staatsrechtliche Verbindung mehrerer Gliedstaaten zu einem Gesamtkörper dar, die der ihm zustehenden höchsten Staatsgewalt unterworfen sind.110 Genau in dieser Unterwerfung der Regierungsgewalten der Gliedstaaten unter eine selbständige Zentralgewalt, die nicht durch eine bloße Zusammenstellung der Willen der Gliedstaaten gebildet, sondern durch den begründeten Gesamtwillen bewirkt wird, sah Zachariä die Quintessenz des Bundesstaates im Unterschied zum Staatenbund.111 In Anlehnung an die Püttersche Bundesstaatstheorie unterscheidet Zachariä zwei Wege der Entstehung eines Bundesstaates: Ein Staatkörper wandelt sich in einen Bundesstaat um, wenn sich die seinen Teilen zustehende Gewalt in Richtung einer politisch selbständigen, aus eigener Quelle bestehenden Regierungsgewalt entwickelt hat (so wie im Fall des Alten Deutschen Reiches). Anderweitig kommt es zustande, wenn sich die bisher souveränen Staaten unter einer Gemeinsamkeit staatsrechtlich vereinigen, der eine in ihrer Sphäre selbständige Staatsgewalt zugeordnet ist und sich die Regierungsgewalten gleichzeitig eigene Selbständigkeit vorbehalten.112
107 Zachariä, Heinrich Albert, Deutsches Staats- und Bundesrecht, in 2 Bde., 2. Aufl., Göttingen 1853 – 1854. 108 Vgl. Zachariä, Staats- und Bundesrecht I, § 25 S. 90 f. 109 Vgl. Zachariä, Staats- und Bundesrecht I, § 26 S. 92. 110 Vgl. Zachariä, Staats- und Bundesrecht I, § 25 S. 91. 111 Vgl. Brie, Der Bundesstaat, S. 132, 133. 112 Vgl. Zachariä, Staats- und Bundesrecht I, § 26 S. 93.
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Nach Zachariä trägt die Bundesstaatlichkeit zwei wesentliche Merkmale in sich: Vom objektiven Standpunkt aus ist eine Abtrennung der gesamtstaatlichen Bundeszuständigkeiten von den Sonderbereichen der Gliedstaaten erforderlich. Dies ist eine Angleichung des Bundesstaates an den Staatenbund. In subjektiver Hinsicht kommt sowohl dem Gesamtstaat als auch den Gliedstaaten eine in ihren Sphären selbständige (souveräne) Gewalt zu, was für einen Staat charakteristisch ist. Kraft der Objektivierung der Zentralgewalt als souveräne Staatsgewalt stellt sie im Gegensatz zur entsprechenden Gewalt im Staatenbund eine echte Herrschaft innerhalb des zusammengesetzten Staates dar.113 In Bezug auf die Gliedstaaten bedeutet die Selbständigkeit (Souveränität), dass alle unter die eigene Machtsphäre gefallenen Gegenstände vom Einzelstaat nach dessen Ermessen ausgeübt werden, solange sie nicht im allgemeinen Interesse der Bundesebene überwiesen sind. Die in der eigenen Sphäre ausgeübte selbständige (souveräne) Gewalt der Gliedstaaten ist nach ihren Eigenschaften eine echte Staatsgewalt. Dadurch handelt der Einzelstaat nach dem eigenen freien Willen und herrscht in seiner Machtsphäre.114 Da der Bundesstaat einen wahren Staat bildet, muss seine Einheit gewährleistet werden. Zugleich darf aber die Freiheit der Gliedstaaten nicht verletzt werden. Die Übereinstimmung dieser Anforderungen könnte nach Zachariä durch die verfassungsrechtliche Garantie der Bundesstaatlichkeit erreicht werden. Er merkte jedoch an, dass die Bundesverfassung, welche die gliedstaatliche Selbständigkeit durch eine allgemeine Bestimmung illusorisch macht, das Wesen des Bundesstaates verletze und zu einer scheinbaren Bundesstaatlichkeit führe. Zum Vergleich zieht Zachariä § 63 FRV herbei, nach dem die Reichsgewalt befugt wäre, wenn sie im Gesamtinteresse Deutschlands gemeinsame Einrichtungen und Maßregeln notwendig fände, die dazu erforderlichen Gesetze für die Änderung der Bundesverfassung zu erlassen. Dies könnte – ungeachtet der im § 196 FRV bestimmten Abänderungsklausel – zur Abschaffung der Bundesstaatlichkeit durch den Oberstaat führen.115 In Bezug auf die Staatsorganisation der deutschen Staaten unterschied Zachariä die Beherrschungsform (d. h. die Staatsform), die beantwortet, wer das Subjekt der höchsten Gewalt im Staat ist, und die Regierungsform, die beantwortet, wie die Staatsgewalt ausgeübt wird. Nach der Beherrschungsform sind die Einzelstaaten entweder Monarchien oder Republiken, Letztere können noch aristokratisch oder demokratisch regiert werden.116 Bezüglich der Regierungsform bemerkte Zachariä, dass sowohl im Gesamtstaat als auch in den Gliedstaaten „rechtlich keine Despotie, keine absolute oder ganz unbeschränkte Herrschaft stattfinden darf.“117 Er schreibt weiter, dass dem deutschen Staatsrecht die Umsetzung der Idee einer ursprünglichen 113 114 115 116 117
Vgl. Brie, Der Bundesstaat, S. 133. Vgl. Zachariä, Staats- und Bundesrecht I, § 27 S. 93 f. Vgl. Zachariä, Staats- und Bundesrecht I, § 27 S. 94 f. (besonders Fn. 3). Vgl. Zachariä, Staats- und Bundesrecht I, § 21 S. 69 f. Zachariä, Staats- und Bundesrecht I, § 52 S. 250.
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Volksherrschaft fremd ist sowie die Annahme der ursprünglichen unbeschränkten Fürstenherrschaft in den Einzelstaaten historisch unbegründet ist.118 Dies verweist auf die weiteren Überlegungen Zachariäs hinsichtlich der Natur der Souveränität (Selbständigkeit) der deutschen monarchischen und republikanischen Einzelstaaten. Die meisten deutschen Einzelstaaten waren zu der Zeit, in der Zachariä seine Schriften veröffentlichte, ihrer Beherrschungsform nach beschränkte Monarchien, in denen der regierende Monarch das Subjekt der Souveränität und der Träger der gesamten Staatsgewalt war. Da die Regierungsform eine absolute Herrschaft ausschließt, kann der Monarch seine Rechte nur innerhalb der formellen und materiellen Schranken ausüben, die in der Verfassung vorgesehen sind.119 Der Monarch als Inhaber der Staatsgewalt war nicht nur zu ihrer Ausübung berechtigt, sondern wurde kraft der benannten Schranken zur Vollziehung der dazu erforderlichen Geschäfte verpflichtet.120 Beispielsweise steht das Recht auf die innere Staatsorganisation dem Monarchen zu, solange dies durch die Verfassungsbestimmungen nicht eingeschränkt ist.121 Auch die freistaatlichen Städte verfügten in gleichem Maße über die wesentlichen Eigenschaften, die den Besitz der Staatlichkeit ausmachen. Die Souveränität bleibt bei den Städten als selbständigen Teilen des zusammengesetzten Gesamtkörpers. Hinsichtlich des Inhabers der höchsten Gewalt in den deutschen Städten waren zwei Varianten möglich: Einerseits konnte der Senat oder Rat nur als Beauftragter für die Ausübung der der Gesamtheit zustehenden Staatsgewalt fungieren. Zachariä bezeichnet dies als Demokratie.122 Allerdings blieb eben die Gesamtheit – in Anlehnung an seine These über die Unzulässigkeit der reinen Volksherrschaft in den deutschen Einzelstaaten (s. o.), d. h. die Stadt als Staatsgebilde – formale Inhaberin der souveränen Staatsgewalt, während das reale Machtsubjekt tatsächlich der Senat oder Rat war. Andererseits haben die Hamburger und Bremer Verfassungen der Märzrevolution versucht, den Grundsatz der reinen Demokratie einzuführen. Vorgeschrieben wurden in beiden Stadtverfassungen sowohl die Volkssouveränität (Art. 2 § 3 BremVerf: „Alle Staatsgewalt geht von der Gesammtheit der Staatsbürger aus.“; Art. 7 HambVerf: „Alle Staatsgewalt wird von den Staatsbürgern entweder unmittelbar, oder mittelbar durch verfassungsmäßig gewählte Vertreter ausgeübt.“123) als auch die klassische Gewaltenteilung. Die konkrete Ausgestaltung der inneren Organisation wurde den Städten als Freistaaten voll übertragen. Das folgt aus dem Wortlaut und der Systematik Art. 57 i. V. m. Art. 58 Wiener Schlussakte von 1820. Grundsätzlich fand das Bundesrecht auch auf die freien Städte Anwendung, soweit es sich nicht nur auf die monarchi118 119 120 121 122 123
Vgl. Zachariä, Staats- und Bundesrecht I, § 62 S. 289. Vgl. Zachariä, Staats- und Bundesrecht I, § 62, S. 289, 291. Vgl. Zachariä, Staats- und Bundesrecht II, § 129 S. 1 f. Vgl. Zachariä, Staats- und Bundesrecht II, § 131 S. 11. Vgl. Zachariä, Staats- und Bundesrecht I, § 124 S. 657 f. Zit. nach: Zachariä, Staats- und Bundesrecht I, § 124 S. 659 (Fn. 6).
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schen Einzelstaaten bezog. Da die freien Städte der Geltung des Art. 57 i. V. m. Art. 58 Wiener Schlussakte nicht unterlagen, kam Zachariä zu dem Schluss, dass es seitens des Bundes nicht mehr Rechte auf Einmischung in die inneren Angelegenheiten der freistaatlichen Städte gäbe als in Bezug auf die monarchischen Einzelstaaten. Art. 58 Wiener Schlussakte räume dem Bund auch kein Recht ein, gegenüber den freien Städten irgendwelche einschränkenden Vorschriften hinsichtlich der Landesverfassungen zu erlassen.124
3. Befürworter der Waitzschen Bundesstaatstheorie Die wirkliche Entstehung der Staatenstaatstheorie im modernen Verständnis geht indes erst auf die 1860er Jahre zurück, kurz nach dem Wiederabdruck der Waitzschen Abhandlung aus dem Jahre 1853. Die Waitzsche Ausformung der herrschenden Bundesstaatslehre gewann viele prominente Anhänger, darunter die Staatsrechtswissenschaftler Robert von Mohl, Heinrich von Treitschke, Hermann Schulze und Heinrich Ahrens. Sie waren allesamt Befürworter des Waitzschen Ansatzes, wenn auch nicht alle vorbehaltslos. Dieser Umstand war jedoch nicht nur einer wie auch immer gearteten wissenschaftlichen „Reinheit“ der Waitzschen Theorie geschuldet, sondern fügte sich passend in den historischen Kontext ein. Nach der Ernennung Otto von Bismarcks zum Ministerpräsidenten änderte sich die Politik Preußens. Der fast 50 Jahre dauernde preußisch-österreichische Dualismus, der die Existenz der losen Verbindung der deutschen Einzelstaaten – des Deutschen Bundes – bedingte und rechtfertigte, führte zum Schluss zur Unmöglichkeit eines weiterhin konfliktlosen Zusammenlebens Preußens und Österreichs (seit 1867 Österreich-Ungarn) innerhalb des großen Deutschlands. Die wachsende militärische Macht Preußens bedeutete zunächst rangmäßig eine Annäherung an Österreich. Danach versuchte Preußen, im vereinigten Deutschland die Vorherrschaft zu erlangen. Dies führte zum sog. Deutschen Krieg 1866 zwischen dem Deutschen Bund unter Führung Österreichs einerseits und Preußen sowie dessen Verbündeten (den nord- und mitteldeutschen kleinen und mittelgroßen Staaten) andererseits. Der Sieg des preußischen Lagers bewirkte die Auflösung des Deutschen Bundes und ebnete den Weg für den Ausbau des neuen Deutschen Reiches unter preußischem Dach. Deutsch-Österreich wurde aus diesem Prozess ausgeschlossen, was den inneren Umbau der Habsburgischen Donaumonarchie bedingte. In der wissenschaftlichen Diskussion über die Zukunft des gesamtdeutschen Bundesstaates trat Treitschke (1864) als erster Gegner der Teilnahme Österreichs am Großen Deutschland auf. Er war der Meinung, dass die gesamte Politik Österreichs nur ein Beleg dafür war, wie fremd es der deutschen Nation gegenübersteht, und dass das Wiener Kabinett der Deutschen Einheit nur entgegenarbeitet. Den Grund dafür fand er nicht nur in der unfreundlichen Politik des Kaiserreichs, sondern auch in der 124
Vgl. Zachariä, Staats- und Bundesrecht I, § 124 S. 657 (Fn. 3).
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der deutschen Kultur fremden Selbstwahrnehmung der Österreicher (diese Äußerung Treitschkes wurde wohl anlässlich des von ihm als fremd wahrgenommenen Umgangs der Österreicher mit ihren nichtdeutschen Untergebenen ausgelöst).125 Idealerweise stellt die Umwandlung eines Staatenbundes in einen Bundesstaat ein friedliches Verfahren dar, obwohl sie einen von Natur aus revolutionären Schritt bildet. Für das große Deutschland sah Treitschke den Bundesstaat als natürliche Form der staatlichen Existenz an, jedoch war eine ruhige und friedliche Umwandlung des Deutschen Bundes in ein solches Staatsgebilde nicht mehr möglich: Der preußischösterreichische Dualismus und die dynastischen Widersprüche konnten nur durch einen großen Sprung überwunden werden.126 Statt einer langen und erfolglosen Evolution gab Preußen einer sprunghaften Entwicklung der deutschen Bundesstaatlichkeit den Vorzug: Durch den Deutschen (1866) und danach Deutsch-Französischen (1870/71) Krieg vereinigte Preußen alle deutschen Einzelstaaten (außer Österreich) zu einem Bundesstaat unter seiner Schirmherrschaft. Die geänderten politischen Verhältnisse innerhalb des gesamten Deutschlands wirkten sich natürlich auch auf die Denkansätze über die Bundesstaatlichkeit im Ganzen und die Ausgestaltung des gesamtdeutschen Bundesstaates im Einzelnen aus. Der Ausgangspunkt der institutionalisierten Staatenstaatstheorie war die Zuordnung des Bundesstaates (als auch des Staatenbundes) zu Staatenverbindungen. Der Bundesstaat (Staatenstaat) als dauernde Verbindung mehrerer Staaten zu einem Gesamtkörper ist jedoch im Unterschied zum Staatenbund eine vollstaatliche nationale Vereinigung, was zu dem Ergebnis führt, dass diese einen wahren Staat bildet.127 Die staatliche Ausgestaltung einer gemeinschaftlichen Ordnung war einerseits für die Gewährleistung des friedlichen und geordneten Zusammenlebens mehrerer unterschiedlicher Einzelstaaten128 und andererseits für die Wahrung der Autonomie und Gleichberechtigung der Gliedstaaten zum Zweck einer harmonischen Völker- und Staatenentwicklung erforderlich129. Daraus folgt die zweifache Natur des Bundesstaates, der durch das Nebeneinander der zentripetalen und zentrifugalen Kräfte innerhalb des Staatskörpers geprägt wird.130 Das Volk wird auch auf doppelte Weise zum Gesamtstaat konstituiert: Einerseits ist das Volk zu einem Gesamtstaat organisiert, andererseits spielt es eine 125 Vgl. Treitschke, Heinrich von, Bundesstaat und Einheitsstaat, in: Schiller, Karl Martin (Hrsg.), Heinrich von Treitschke. Aufsätze, Reden und Briefe, Band 3: Schriften und Reden zur Zeitgeschichte I, Meersburg 1929, S. 35, 45. 126 Vgl. Treitschke, Bundesstaat, S. 36 f. 127 Vgl. Schulze, Hermann, Einleitung in das Deutsche Staatsrecht mit besonderen Berücksichtigung der Krisis des Jahres 1866 und der Gründung des Norddeutschen Bundes, Neue Ausgabe, Leipzig 1867, § 62 S. 198, 199; Ahrens, Heinrich, Naturrecht oder Philosophie des Rechts und des Staates, Bd. 2, 6. Aufl., Wien 1871, § 112 S. 342; Mohl, Robert von, Encyklopädie der Staatswissenschaften, 2. Aufl., Tübingen 1872, § 8 S. 43. 128 Vgl. Treitschke, Bundesstaat, S. 75. 129 Vgl. Ahrens, Naturrecht II, § 104 S. 273, § 112 S. 339. 130 Vgl. Treitschke, Bundesstaat, S. 17, 37.
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staatsbildende Rolle für die Gliedstaaten.131 Die Zuordnung einer eigenen und selbständigen Organisationshoheit zum Oberstaat muss der staatlichen Einigung mehrerer souveräner Gliedstaaten und dem Ausschluss staatsstörender Tendenzen dienen. Im Unterschied zum Staatenbund geht es beim Bundesstaat darum, dass der Gesamtstaat eine echte Staatlichkeit besitzt. Die souveränen Gliedstaaten übertragen dem Gesamtstaat die einzelnen Zuständigkeiten, die er durch den Oberstaat mit eigenen Mitteln selbständig ausübt.132 Gleichzeitig bleiben die Gliedstaaten auch eigenständig und sind Inhaber eigener Staatlichkeit. Diese scheinbare Dichotomie machte eine ausführliche Klärung hinsichtlich der staatsrechtlichen Natur der Souveränität und der Staatsgewalt im Bundesstaat erforderlich. Das Wesen des Bundesstaates setzt eine doppelseitige Staatlichkeit voraus, d. h. sowohl die Gesamtheit bildet einen Staatskörper als auch seine Glieder, die ihren vollstaatlichen Charakter behalten. Die Begründung dieser Behauptung lief auf den von Waitz erbrachten Beleg hinaus, dass in einem Bundesstaat die Gliedstaaten keine Untertanen des Oberstaates sind, sondern sie gleichberechtigt mit dem Gesamtstaat selbständig und unabhängig handeln können, d. h. den Einzelstaaten wie dem Gesamtstaatskörper steht die gleichmäßige Souveränität zu.133 Unter Souveränität verstand man den Besitz einer staatlichen Hoheitsgewalt und ihre freie und selbständige Ausübung durch das Staatsgebilde. In Bezug auf die bundesstaatlichen Glieder bedeutet dies eine Selbständigkeit innerhalb ihrer Wirkungskreise. Strittig war die Stellungnahme zur Natur der Souveränität. Anhänger von Waitz lehnten die früher geäußerte Meinung als missverständlich ab, dass die Gliedstaaten als Untertanen der Zentralgewalt des Gesamtstaates nicht völlig souverän, sondern halbsouverän seien, da die absolute Souveränität nur dem Bundesstaat als Gesamtheit zustehen könne. Eine solche Halbierung der gliedstaatlichen Souveränität wurde als nicht denkbar und im Widerspruch zur Natur des Bundesstaates stehend angesehen. Als vollstaatliche Körperschaften sind der Gesamtstaat und die Gliedstaaten qualitativ gleichartig, d. h. sie besitzen keine beschränkte, sondern eine vollwertige Souveränität. Als Teile eines zusammengesetzten Staatskörpers unterscheiden sie sich aber in quantitativer Hinsicht: Der Oberstaat und die Gliedstaaten handeln souverän nur innerhalb der ihnen zustehenden Machtsphäre, d. h. sie üben ihre Staatsgewalten im unterschiedlichen sachlichen Umfang und unter dem territorialen Aspekt aus.134 Die Gesamtsouveränität des Bundesstaates und die territorial begrenzte Souveränität der Gliedstaaten umfasst gleichermaßen drei wichtige Funktionen des Staates – Gesetzgebung, Vollziehung und Rechtsprechung.135 131
Vgl. Schulze, Einleitung in das Deutsche Staatsrecht, § 64 S. 206. Vgl. Mohl, Encyklopädie II, § 8 S. 43. 133 Vgl. Waitz, Das Wesen des Bundesstaats, S. 206 f.; Schulze, Einleitung in das Deutsche Staatsrecht, § 64 S. 206; Ahrens, Naturrecht II, § 112 S. 342. 134 Vgl. Ahrens, Naturrecht II, § 112 S. 342. 135 Vgl. Schulze, Einleitung in das Deutsche Staatsrecht, § 64 S. 207; Ahrens, Naturrecht II, § 112 S. 342. 132
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Von einem eher praktischen Standpunkt aus betrachtete Treitschke die Frage der Souveränität in einem zusammengesetzten Staat. Seiner Ansicht nach war die Souveränität der deutschen Einzelstaaten mit der entsprechenden Souveränität in den Gliedstaaten des bundesstaatlichen Nordamerika und der Schweiz nicht vergleichbar. Während in den Letzteren die bundesstaatliche Ordnung auf einem demokratischen Selfgovernment begründet ist, knüpften die deutschen Einzelstaaten an die Souveränität der monarchischen Dynastien an. Diese Souveränität ist nicht gleichbedeutend mit der Freiheit des Volkes, was für die nordamerikanische bzw. schweizerische Demokratie charakteristisch ist. Nur die Beseitigung der Souveränitätsansprüche der deutschen Fürstenhäuser könnte den Aufbau des gesamtdeutschen Bundesstaates ermöglichen.136 Den Ursprung der staatlichen Souveränität bildet die eigentümliche Hoheitsgewalt als Inbegriff der Rechte und Pflichten im Rahmen des bestimmten Wirkungskreises (Kompetenz). Gerade das Vorhandensein dieser höchsten Gewalt unterscheidet den Staat von einem nicht- bzw. quasistaatlichen Gebilde. In einem Bundesstaat besitzen sowohl der Gesamtstaat als auch die Gliedstaaten eine eigene wirkliche Gewalt: Im Unterschied zum Staatenbund setzt sich die Hoheitsgewalt der Bundesgesamtheit auf keinen Fall aus den Gewalten der Gliedstaaten zusammen.137 Der Bundesstaat bildet eine staatliche Verbindung genau aus dem Grund, dass das Volk eine unmittelbare Beteiligung an der Ausübung der Staatsgewalt hat138: Die Hoheitsgewalten der Gliedstaaten werden örtlich begrenzt, d. h. auf ihrem abgesonderten Gebiet, ausgeübt; die Zentralgewalt erstreckt ihren Geltungsbereich dagegen auf das gesamte Bundesgebiet. Beide handeln in den ihnen zustehenden Wirkungsbereichen unabhängig voneinander. Daraus folgt die duale Natur der Staatsgewalt im Bundesstaat, was in dem Nebeneinander der Bundes- und Einzelstaatsgewalten zum Ausdruck kommt (Mohl bezeichnete dies als „Doppel-Staatsgewalt“).139 Abgesehen von dieser Doppelung der Staatsgewalt im Bundesstaat verliert sie ihre ursprüngliche Eigenschaften aber nicht: Sie bleibt ausschließlich und unteilbar. Das Vorhandensein der doppelten Staatsgewalt in einem zusammengesetzten Staat erklärte Mohl bloß durch die unerlässliche strikte Schichtung der Aufgaben und die dazu entsprechende Zuteilung von Rechten und Pflichten zwischen Oberstaat und Gliedstaaten.140 Die Echtheit der Bundes- sowie Gliedstaatsgewalten als wirkliche Staatsgewalten beruht auf der selbständigen Ausübung sowie der dazu entsprechenden Organisation, d. h. jeder Staatsgewalt im Bundesstaat stehen eigene Organe zur Verfügung
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Vgl. Treitschke, Bundesstaat, S. 21, 36, 92. Vgl. Mohl, Encyklopädie II, § 49 S. 367. 138 Vgl. Ahrens, Naturrecht II, § 112 S. 342. 139 Vgl. Mohl, Encyklopädie II, § 49 S. 367, 373. 140 Vgl. Mohl, Robert von, Encyklopädie der Staatswissenschaften, Tübingen 1859, § 15 S. 110. 137
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zu.141 Obwohl sich die Gliedstaaten vom Oberstaat im Umfang der Ausübung der eigenen Staatsgewalt unterscheiden, bleibt grundsätzlich die verfassungsrechtliche Regelung der inneren Verhältnisse Sache der Einzelstaaten, soweit die Bundesverfassung nichts anderes vorsieht.142 Um die Gleichberechtigung der Glieder eines zusammengesetzten Staates zu wahren, bedarf es einer gewissen Gleichheit der politischen Einrichtungen (zuallererst bei der Organisation des Systems der Staatsorgane) in den Einzelstaaten. Wie Treitschke bemerkte, können die Einzelstaaten, deren Bürger einen sehr verschiedenen Umfang ihrer politischen Rechte haben, eine feste und ständige Verbindung ohne Gefährdung der inneren Ordnung nicht gestalten.143 Eine wichtige Frage mit Blick auf den bundesstaatlichen Gleichheitsgrundsatz sahen die Anhänger von Waitz in der Übereinstimmung der Staatsformen innerhalb des Bundesstaates. Die Meinungen hierzu gingen aber weit auseinander. Schulze verwies darauf, dass historisch betrachtet die damals zeitgenössischen Bundesstaaten (die USA und die Schweiz) nur auf republikanischer Grundlage gestaltet wurden: Sowohl der Gesamtstaat als auch die Gliedstaaten bildeten die Republiken. Er sah keinen prinzipiellen Widerspruch darin, dass ein Bundesstaat aus mehreren Monarchien bestehen kann. Problematisch wäre jedoch die praktische Umsetzung dieses Modells: Die Erreichung der staatlichen Einheit in einem solchen, aus monarchischen Gliedern zusammengesetzten Staat dürfte viele ungeklärte Fragen aufwerfen.144 Seinerseits lehnte Mohl jeden Grund ab, der einem Bundesstaat die Wahl einer bestimmten Staatsform mit logischer und rechtlicher Notwendigkeit vorschriebe. Er ließ die Möglichkeit zu, dass der Gesamtstaat dieselbe Staatsform auswählt, die für einen Gliedstaat passend ist. Allerdings hielt Mohl die Ausgestaltung des Gesamtstaates auf aristokratische oder rein demokratische Weise für praktisch unmöglich, da – wie im Fall der Demokratie – eine feste Staatenverbindung nur in einem Gesamtkörper stattfinden könne, der aus einer sehr begrenzten Anzahl territorial kleiner Glieder besteht.145 So kam Mohl tatsächlich zu dem Ergebnis, dass in Deutschland Bundesstaatlichkeit nur auf monarchischer Grundlage denkbar ist. Ein erklärter Gegner dieser Auffassung war Treitschke. Der mögliche Übergang aus einem Staatenbund in einen Bundesstaat wäre seiner Ansicht nach nur in Republiken denkbar gewesen, in denen nach dem dauernden Entstehungsgang der demokratischen Institutionen die Grundlage für eine dauerhafte Staatenverbindung gewachsen ist. Eben darum verlangte die schweizerische Bundesverfassung von den 141
Vgl. Mohl, Encyklopädie I, § 6 S. 37; ders., Encyklopädie II, § 49 S. 367. Vgl. Ahrens, Naturrecht II, § 112 S. 342; Schulze, Einleitung in das Deutsche Staatsrecht, § 64 S. 206. 143 Vgl. Treitschke, Bundesstaat, S. 55. 144 Vgl. Schulze, Einleitung in das Deutsche Staatsrecht, § 64 S. 208. 145 Vgl. Mohl, Encyklopädie II, § 49 S. 371. 142
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Gliedstaaten die republikanische Staatsform, die aber im Ermessen der Gliedstaaten auf „demokratische“ oder „repräsentative“ Weise umgesetzt werden kann.146 Im Unterschied dazu bestand das damalige Deutschland aus Monarchien mit schwachen Anfängen des Konstitutionalismus. Falls diese Monarchien zu einem auch monarchisch regierten Gesamtkörper vereinigt würden, d. h. wenn die vollziehende Gewalt einer monarchischen Dynastie übertragen wird, verliert die monarchische Bundesstaatlichkeit zwei tragende Grundsätze, die den republikanisch verfassten Vereinigten Staaten von Nordamerika und der Schweiz eigen sind. Diese zwei Grundsätze betreffen die rechtliche Gleichheit aller Glieder des Bundesstaates und das Prinzip, das eine Konkurrenz zwischen Zentralgewalt und Einzelstaatsgewalten ausschließt147 (Letzteres wird mit der aus dem Volke abgeleiteten Natur der Zentralsowie Partikulargewalten in einem republikanischen Bundesstaat begründet). Dies führte zu einer der wichtigsten Regeln des Homogenitätserfordernisses in der germanischen Bundesstaatslehre, die bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt ihre Geltung nicht eingebüßt hat: Angesichts der damals existierenden Bundesstaaten formulierte Treitschke die Anforderung der innerstaatlichen Homogenität der Staatsformen: Die Staatsformen der Gliedstaaten müssen mit der entsprechenden Staatsform auf Bundesebene übereinstimmen, wobei jedoch die Regierungsformen der Einzelstaaten von der gesamtstaatlichen abweichen können. Diese Regel ist indes vor dem Hintergrund der Existenz quasi- bzw. schwacher konstitutioneller Monarchien entstanden und kann gegenwärtig in dieser Form nicht uneingeschränkt Geltung beanspruchen (ausführlicher dazu ! S. 277 f., S. 382 ff.).
4. Abweichende Lehrmeinungen Die Waitzsche Bundesstaatstheorie, die in Fachkreisen viele Anhänger gewonnen hat, konnte aber auch damals keineswegs „wissenschaftliche Alleinherrschaft“ (nach Brie148) für sich beanspruchen. Schon in der Schlussphase des Deutschen Bundes (d. h. noch vor der Gründung des Norddeutschen Bundes sowie des neuen Deutschen Reiches) entstanden im Kreis deutscher Staatsrechtler entgegensetzte oder stark abweichende Meinungen über die Natur des zukünftigen gesamtdeutschen Bundesstaates. Der Kern der Gegenansichten lag sich in der Frage, ob eine Unterordnung der zum Bundesstaat zusammengesetzten Einzelstaaten unter die Zentralgewalt des Gesamtstaates zulässig sei oder nicht. Jedem eigenständigen Staat steht eine reale Willensmacht zu, die „Staatsgewalt“ heißt. Diese Hoheitsgewalt ist die innerhalb des zusammengesetzten Staates herrschende Macht des Gesamtkörpers über seine Glieder. Die Staatsgewalt des Gesamtstaates ist die oberste (aber im Rahmen der Kompetenz), umfassende, unteilbare 146 147 148
Vgl. Treitschke, Bundesstaat, S. 55 f. Vgl. Treitschke, Bundesstaat, S. 73. Brie, Der Bundesstaat, S. 142.
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und ausschließliche Herrschaftsgewalt. Daraus folgt, dass für einen zusammengesetzten Staatskörper die Unterstellung der Gliedstaaten unter eine Zentralgewalt (die eine wirkliche Staatsgewalt des Bundesstaates bildet) charakteristisch ist.149 Diese Unterwerfung unter die Zentralgewalt kann mittels der Zusammenlegung mehrerer bisher selbständiger Staatsgewalten zu einer einigen neuen erfolgen, d. h. die betreffenden souveränen Einzelstaaten eines Staatenbundes bilden einen neuen Staat – dem Staatenstaat oder Bundesstaat.150 Durch die Zusammensetzung zu einem Staatskörper verlieren die Einzelstaaten einen entsprechenden Teil ihrer Souveränität, sie bleiben aber selbständig nur innerhalb des Wirkungskreises, der außerhalb des Geltungsbereiches der Zentralgewalt liegt. Im Übrigen sind die Gliedstaaten der Gesamtheit unterworfen.151 Da dem wirklichen Staat nur eine einige Staatsgewalt zustehen kann, befindet sich im Bundesstaat nur eine Staatsgewalt – die Zentral- oder Bundesgewalt, – die dem Gesamtstaat zukommt, neben der noch die Regierungsgewalten der Gliedstaaten stehen. Die jedem Einzelstaat zukommende Regierungsgewalt bildet hingegen nur eine Ausprägung der souveränen Zentralgewalt des Gesamtstaates.152 Daraus folgerte Joseph Held, dass „der Bundesstaat streng genommen gar keine Staatenverbindung, sondern ein Staat sei, dessen einzelne Theile einen gewissen Grad von politischer Selbständigkeit besitzen, der aber nie so gross sein kann, dass diese Theile selbst Staaten würden.“153 Dies verweist auf die Idee Pufendorfs, dass das Vorhandensein mehrerer Staaten in einem Staat undenkbar sei (! S. 45 ff.). Jedoch benutzten Held und andere Autoren (wie Otto Mejer und Heinrich Zöpfl), die Held insofern folgen, weiterhin die Bezeichnung „Staatenstaat“, was sinngemäß ihren Erläuterungen eigentlich zuwiderläuft. Bezüglich der Natur der Souveränität im Bundesstaat gingen die Meinungen indes auseinander. Nach Mejer und Held ist die Souveränität (Staatshoheit) die Staatsgewalt, d. h. der Besitz dieser obersten Gewalt bedeutet die Souveränität des Gebildes.154 Wie in Bezug auf die Staatsgewalt erklärt wurde, kann ebenfalls in einem Staat nur eine Souveränität existieren, d. h. es ist ausgeschlossen, dass ein Staat (dies gilt auch für einen zusammengesetzten Staat) zwei oder mehrere Souveränitätsqualitäten besitzt. Der Staat und die Souveränität stehen im Zusammenhang zu149 Vgl. Mejer, Otto, Einleitung in das deutsche Staatsrecht, Rostock 1861, § 3 S. 5; Held, Joseph, System des Verfassungsrechts der monarchischen Staaten Deutschlands mit besonderen Rücksicht auf den Constitutionalismus. Erster Theil: Einleitung. Allgemeine Staatsgrundsätze. Geschichte der politischen Gestaltung Gesammt-Deutschlands, Würzburg 1856, S. 392. 150 Vgl. Mejer, Einleitung in das deutsche Staatsrecht, § 4 S. 6, 7; Kaltenborn, Carl von, Einleitung in das constitutionelle Verfassungsrecht, Leipzig 1863, § 15 S. 155. 151 Vgl. Mejer, Einleitung in das deutsche Staatsrecht, § 4 S. 7; Mohl, Encyklopädie II, § 8 S. 43; Held, System des Verfassungsrechts I, S. 392. 152 Vgl. Zöpfl, Heinrich, Grundsätze des gemeinen deutschen Staatsrechts auf die neuesten Zeitverhältnisse, Bd. 1, Leipzig und Heidelberg 1863, § 64 S. 121. 153 Held, System des Verfassungsrechts I, S. 395. 154 Vgl. Held, System des Verfassungsrechts I, S. 272; Mejer, Einleitung in das deutsche Staatsrecht, § 3 S. 5, § 58 S. 219.
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einander und dauern deswegen „Eines so lang wie das Andere“.155 Nach Held ist die Souveränität der Gliedstaaten erstens nach innen beschränkt (insoweit das Recht der Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung nämlich der Zentralgewalt zukommt). Zweitens ist die gliedstaatliche Souveränität auch nach außen nicht nur beschränkt, sondern völlig aufgehoben, insoweit sich die Gliedstaaten nach außen nicht selbst vertreten dürfen.156 Man könnte sagen, dass es sich hier um die Idee der beschränkten (Quasi-)Souveränität der Gliedstaaten handelt. Nach Zöpfl ist die Souveränität der Einzelstaaten eines Bundesstaates in dieser Art beschränkt. Daraus folgt, dass die über Souveränität verfügenden Einzelstaaten nur als halbsouveräne Staaten auftreten. Zöpfl erwähnt, dass dieser Begriff aus dem Völkerrecht stamme und auf der Beschränkung der Teilnahme der Gliedstaaten an den außenpolitischen Beziehungen beruht.157 Demgegenüber wurde auch eine Auffassung vertreten, welche die Souveränität der bundesstaatlichen Glieder nicht verneinte. Nach dieser Meinung habe sich die Staatlichkeit der Gesamtheit ursprünglich aus den übertragenen Souveränitätsrechten der Einzelstaaten herausgebildet. Da die Gliedstaaten einen entsprechenden Teil ihrer Souveränität zugunsten des Oberstaates übertragen, besitzen sie eine geteilte Souveränität.158 Eine extreme Position bezog Carl von Kaltenborn. Er war der Ansicht, dass die Souveränität der Einzelstaaten im Wesentlichen gebrochen sei. Er sah in den Gliedstaaten eher Provinzen mit einem nur bestimmten Grad an Selbständigkeit, wobei sie ihre eigene Politik nach Innen und nach Außen nur eingeschränkt ausüben konnten.159 Abgesehen davon, dass die obengenannten Autoren den Gliedstaaten die Souveränität in unterschiedlichem Maße versagten, vereint diese Anschauung die folgende Vorstellung: Gemeint war, dass bei der Zusammensetzung eines Bundesstaates (und zwar von unten nach oben; die andere Variante wurde nicht in Betracht gezogen) die bisher völlig eigenständigen (souveränen) Einzelstaaten ihre Hoheitsrechte an den neugestalteten Gesamtstaat übertragen. Diese Rechte (mit den entsprechenden Pflichten) bilden eine dem Bundesstaat als Ganzes zustehende Staatsgewalt. Der Besitz dieser Staatsgewalt ist Beleg für die Staatlichkeit des Bundesstaates. Die in die Gliedstaaten eines Bundeskörpers umgewandelten einzelnen Staaten verlieren ihre Souveränität und absolute Selbständigkeit. Sie können nun eigenstaatlich handeln nur in dem Maße, wie es ihnen der durch die Bundesverfassung bestimmte Wirkungskreis erlaubt. In dieser, von der Waitzschen Theorie abweichenden Erläuterung des Wesens des Bundesstaates lässt sich eine Art Archetyp der erst viel später durch Kelsen formulierten Dezentralisationstheorie er155 156 157 158 159
Held, System des Verfassungsrechts I, S. 272. Vgl. Held, System des Verfassungsrechts I, S. 392 f. Vgl. Zöpfl, Grundsätze des deutschen Staatsrechts I, § 64 S. 120 (besonders Fn. 5). Vgl. Mohl, Encyklopädie II, § 8 S. 43, § 49 S. 367. Vgl. Kaltenborn, Einleitung in das Verfassungsrecht, § 16 S. 159.
D. Bundesstaatliche Verbindung der deutschen Einzelstaaten
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kennen, die den Gliedern des Bundesstaates jegliche eigene Staatlichkeit und vollwertige Selbständigkeit absprach (! S. 237 ff.). Hier stellt sich die Frage, inwiefern die abweichenden Meinungen relevant im Kontext der Staatsorganisation der Gliedstaaten sind. Erkennt man den Gliedstaaten ihre Souveränität ab, bedeutet das, dass man ihnen zugleich auch jegliches innere staatliche Leben abspricht. Der Grad der gliedstaatlichen Unabhängigkeit bei der Eigenorganisation würde runtergestuft. Da ihre Gewalten nur als von der Staatsgewalt der Gesamtheit abgeleitet anerkannt werden, könnten die Gliedstaaten in der Frage der eigenen Staatsorganisation nur beschränkt handeln: Sie dürfen zwar eigene Organe selbständig einrichten, solange dies nicht durch die Bundesverfassung vorgeschrieben ist. Allerdings ist der Gesamtstaat nicht darin eingeschränkt, was er im Einzelnen in der Bundesverfassung für seine Glieder bestimmen kann. Er handelt nach seinem Ermessen (als einziger Träger der höchsten Hoheitsgewalt) und muss den Gliedstaaten keine Garantie der Eigenständigkeit einräumen.
D. Das neue Deutsche Reich als bundesstaatliche Verbindung der deutschen Einzelstaaten 1. Die Reichsverfassung von 1871 ohne formalrechtliche Homogenitätserfordernisse Mit der Proklamation des preußischen Königs zum Kaiser des Deutschen Reiches am 18. Januar 1871 wurde der etwa 125 Jahre andauernde Deutsche Dualismus bereits formal geklärt. In Anlehnung an Art. IV des Prager Friedens vom 23. August 1866, nach dem die Ausgestaltung der innerstaatlichen und außenpolitischen Beziehungen den süddeutschen Einzelstaaten (Baden, Bayern, Hessen und Württemberg) vorbehalten blieb, teilte Reichskanzler Bismarck der österreichischen Regierung den Beitritt dieser Monarchien zum neugegründeten Deutschen Reich mit. Durch die Note vom 26. Dezember 1870 erteilte das Kaisertum Österreich-Ungarn seine Zustimmung160 ; damit wurden seine Ansprüche auf eine Führungsrolle innerhalb des großdeutschen Raums endgültig aufgegeben. Das zweite Deutsche Reich (also das dem Heiligen Römischen Reich nachfolgende) wurde unter der militärischen, diplomatischen und wirtschaftlichen Herrschaft Preußens gestaltet (die aber in der historischen Fachliteratur die Bezeichnung „Hegemonie“ erhielt). Obwohl die Souveränitätsträger der deutschen Einzelstaaten als gleichgestellte Parteien des Bündnisvertrages galten, wurde die bundesstaatliche Natur des Reiches durch die 160
Vgl. Friedensvertrag vom 23. August 1866 zu Prag (Prager Friedensvertrag von 1866), https://de.wikisource.org/wiki/Prager_Frieden_(1866) (zuletzt besucht am 03. 07. 2018); Kürschner, Theo, Die Landeshoheit der deutschen Länder seit dem Westfälischen Frieden unter dem Gesichtspunkt der Souveränität. Eine staatsrechtlich politische Studie, Heidelberg 1938, S. 42 f.
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Kap. II: Die Homogenitätsidee im jüngeren Konstitutionalismus
besondere Stellung eines der Herrscher, nämlich des preußischen Königs als des deutschen Kaisers, abgeschwächt. Dieser Umstand und noch einige andere Faktoren ließen aber keinen Zweifel daran, dass das neue Deutsche Reich der erste föderative Gesamtstaat des gesamten deutschen Volkes war. Diese Meinung wurde durch die überwiegende Mehrzahl der zeitgenössischen Staatsrechtler (mit Ausnahme von Max von Seydel und dessen Schule161) vertreten. Die am 16. April 1871 in Kraft getretene Verfassung des Deutschen Kaiserreichs (sog. Bismarcksche Reichsverfassung, im Folgenden RV) verankerte die Gestaltung des neuen monarchischen Gesamtkörpers. Mit zahlreichen Aspekten, die bereits in den Jahren 1848/49 beim Versuch der Reichsgründung durch die Frankfurter Nationalversammlung angesprochen worden waren, und die sich auch bereits in theoretischen Ansätzen niedergeschlagen haben, setzen sich auch die Autoren der neuen Reichsverfassung auseinander. Es verwundert nicht, dass viele der in der Revolutionszeit vorgeschlagenen Antworten ihre Anwendung später bei der Ausarbeitung der Verfassung des ersten wirklichen gesamtdeutschen Bundesstaates fanden. Brie merkte in diesem Zusammenhang allerdings an, dass die RV von 1871 von Staatsmännern der Bismarckschen Epoche vorbereitet wurde, die lediglich praktische Ziele verfolgten, ganz im Unterschied zur FRV, an derer Ausarbeitung viele zeitgenössische prominente Gelehrte beteiligt waren. Es ist richtig, dass ebendiese FRV als Grundlage der zukünftigen RV diente. Die Autoren der Bismarckschen Reichsverfassung wichen aber von den den Grundlinien der Staatswissenschaft entsprechenden Mustern der detailliert und vielseitig ausgearbeiteten FRV ab. Dies entsprach allerdings der Anschauung des „Vaters“ des neuen Staatsgebäudes (Brie nannte diesen nicht explizit beim Namen, hier ist aber völlig klar, dass es um Bismarck ging), der es seinerseits wohl befürwortete, von allen theoretischen Schablonen und Erkenntnissen einer abstrakten staatsrechtlichen Doktrin abzuweichen.162 Daher ist es nicht verwunderlich, dass im Text der RV von 1871 keine ausdrücklich vorgeschriebenen Erfordernisse an die Homogenität der ober- und gliedstaatlichen Machtstrukturen enthalten waren. Gerade in der Behandlung der innerstaatlichen Homogenität unterschied sich die RV von der FRV: Während in der FRV ein komplexes Homogenitätsgebot explizit vorgesehen war, fehlten entsprechende Homogenitätsvorschriften in der RV völlig. Das Fehlen einer normativen Homogenitätsklausel wurde unmittelbar nach der Verabschiedung der RV in der Fachliteratur beklagt. Justus Westerkamp fragte sich, ob die für das reibungslose Funktionieren des gesamtdeutschen Bundesstaates wünschenswerte und auf lange Sicht notwendige Gleichartigkeit zwischen den Verfassungen des Oberstaates und der Gliedstaaten wirklich besteht.163 Die Tatsache, dass ein bundesverfassungs161 Vgl. Seydel, Max von, Der Bundesstaatsbegriff. Eine staatsrechtliche Untersuchung (1872), in: Seydel, Max von (Hrsg.), Staatsrechtliche und politische Abhandlungen, Freiburg i. Br. und Leipzig 1893, S. 15, 34, 52 ff. 162 Vgl. Brie, Der Bundesstaat, S. 155 f. (besonders Fn. 1 f.). 163 Vgl. Westerkamp, Justus, Über die Reichsverfassung, Hannover 1873, S. 217; Pleines, Homogenität, S. 27.
D. Bundesstaatliche Verbindung der deutschen Einzelstaaten
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rechtliches Homogenitätsgebot fehlte, könnte darauf hinweisen, dass der monarchische Bundesstaat des deutschen Volkes auch ohne Übereinstimmung der Verfassungen der Einzelstaaten mit der Reichsverfassung denkbar wäre. Wie Nieding und Pleines aber bemerkten, folgte aus dem Fehlen der normativen Homogenitätsbestimmungen in der RV keine Schlussfolgerung, dass dem Deutschen Kaiserreich das Homogenitätsprinzip fremd war.164 Das Fehlen einer verfassungsrechtlichen Regelung der Verfassungsautonomie bei den einzelnen Bundesgliedern bedeutete nicht, dass den deutschen Einzelstaaten auch tatsächlich keine vollständige Verfassungshoheit zustand. Gleichermaßen gilt dies auch für eine vollkommen ausgeprägte Homogenität, die nach Nieding im Verhältnis von Reichs- und Landesverfassungen im Deutschen Reich von 1871 in Wirklichkeit ausreichend bestand. Im Hinblick auf das Wesen der innerstaatlichen Homogenität verwies Nieding auf den Unterschied zwischen der in der FRV durch mustergültige Bestimmungen vorgegebenen Homogenität einerseits und der in der RV formal nicht dargestellten Homogenität andererseits.165 Hier geht es allem Anschein nach um die Unterscheidung der von den Frankfurter Delegierten angestrebten Homogenität innerhalb des geplanten gesamtdeutschen Bundesstaates, welche nur durch formalrechtliche Vorschriften garantiert wäre, und der tatsächlichen (faktischen) Homogenität zwischen den Machtstrukturen der deutschen Einzelstaaten, die durch die Annäherung im Verfassungsbau der Bundesglieder untereinander noch vor der Gründung des Deutschen Reiches im Jahre 1871 erreicht worden war. Niedings Ansicht nach sollte durch die verfassungsrechtlichen Homogenitätsbestimmungen in der FRV die politische Harmonie der Staatsgewalten innerhalb des noch nicht existierenden, aber angestrebten deutschen Gesamtstaates gesichert werden. Diese Harmonie war aber schon zur Gründung des kaiserlichen Deutschlands vollkommen erreicht. Und während die Autoren der FRV die innerstaatliche Homogenität erst formalrechtlich herbeiführen mussten, um die Funktionsfähigkeit des gesamten Staatsgebäudes zu gewährleisten, verfolgten die Schöpfer der RV ein solches Ziel nicht, weil das Fehlen der expliziten Homogenitätserfordernisse der entstandenen Struktur des Bismarckschen „Kindes“ entsprach.166 Tatsächlich war das neue Deutsche Reich seiner staatsrechtlichen Natur nach ein „ewiger“ Bund der einzelnen Monarchen (vgl. S. 1 der Präambel der RV) und nicht – wie aus der FRV folgte – ein Bund der einzelnen Staaten. Das monarchische Prinzip (drei republikanische Hansestädte als Bundesmitglieder bildeten eine kleine, unbeachtliche Ausnahme) galt als fest zementiertes Element des Kaiserreichs. Durch den Vorsitz des preußischen Königs im Präsidium des Bundes wurde einerseits die Einheit des deutschen Volkes („zur Pflege der Wohlfahrt des Deutschen Volkes“) und andererseits die Existenz der monarchischen Staatsform in den deutschen Einzelstaaten („zum Schutze des […] innerhalb [des Bundesgebietes] gültigen Rechtes“) 164 165 166
Vgl. Nieding, Homogenität, S. 53; Pleines, Homogenität, S. 21 f. Vgl. Nieding, Homogenität, S. 53. Vgl. Nieding, Homogenität, S. 53 f.
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Kap. II: Die Homogenitätsidee im jüngeren Konstitutionalismus
gewährleistet. In einer solchen Konstellation verblieb den deutschen Einzelstaaten eine relativ umfangreiche Verfassungshoheit im Rahmen der dem Oberstaat nicht übertragenen Zuständigkeiten im Tausch gegen die Anerkennung der führenden und gesamtstaatsbildenden Rolle Preußens innerhalb des Kaiserreichs. Daher fand die Homogenitätsklausel keinen Eingang in die RV. Die vorhandene Homogenität der monarchischen Staatsformen in den Gliedstaaten wurde durch Bündnisverträge zwischen den deutschen Fürsten faktisch bestätigt. Genau diese faktische Homogenität innerhalb des neuen deutschen Bundesstaates ist Gegenstand der Untersuchung und Darstellung bei Nieding und Pleines. Mit einer wohl ein wenig naiven Auffassung begründet Pleines das Fehlen der formalrechtlichen Homogenitätserfordernisse in der RV: Seiner Meinung nach sei „der Zusammenhalt eines Bundesstaates am besten durch das gemeinsame Interesse aller Glieder eines Bundes am Fortbestand der Einheit gewährleistet […].“167 Ohne diese Aussage anzuzweifeln sei hier aber angemerkt, dass ohne rechtliche Mechanismen – im vorliegenden Fall geht es um ein bundesverfassungsrechtliches Homogenitätsgebot – weder die staatsrechtliche Einheit noch die reibungslose Funktionsfähigkeit des bundesstaatlichen Gesamtkörpers erreicht werden kann. In Bezug auf das Deutsche Kaiserreich von 1871 ergibt sich das Problem, ob sich die Änderung der Staatsform innerhalb eines Mitgliedsstaates (bspw. zugunsten einer republikanischen Staatsform) negativ auf die monarchische Gesamtordnung des deutschen Bundesstaates ausgewirkt hätte. Die Frage der Übereinstimmung der in den deutschen Einzelstaaten vorhandenen Staatsformen mit der entsprechenden Staatsform auf Bundesebene war unmittelbar verknüpft mit der Natur der Bundesstaatlichkeit des Deutschen Kaiserreichs im Allgemeinen und der Frage nach Umfang und Inhalt der gliedstaatlichen Verfassungsautonomie im Besonderen. Wenn die Einzelstaaten ihre eigene Staatsform im Rahmen des inneren Verfassungsrechts völlig selbständig ändern könnten, würde dies bedeuten, dass das Deutsche Kaiserreich nur einen bloßen Staatenbund bildet. Die Einhaltung aller innerstaatlichen Regelungen im Fall einer Änderung der Staatsform würde keine Verfassungsstreitigkeit im Sinne des Art. 76 I RV, die eine Teilnahme des Oberstaates in Gestalt des Bundesrates erforderte, bewirken. Denn diese Norm bildete keine allgemeine Klausel für den Oberstaat, die Verfassungsentwicklung in den Gliedstaaten zu beeinflussen oder zu verhindern.168 Da das Bismarksche Reich allerdings ein Bundesstaat war, verfügte der Oberstaat weiterhin über die potenzielle Möglichkeit, eine Gefahr für das reichsbildende monarchische Prinzip seitens der Einzelstaaten abzuwehren. Nach Art. 78 I RV konnten Änderungen der Reichsverfassung durch Gesetzgebungsverfahren erfolgen. In dieser Verfassungsbestimmung sah Nieding den Grund für die einseitige Aufnahme einer Rechtsnorm, die einen Eingriff des Oberstaates in die Landesverfassungen ermöglichte. Ein solcher Eingriff wäre denkbar im Fall der möglichen Einführung einer mit dem monarchischen Prinzip des Gesamtstaates nicht vereinbaren republikanischen 167 168
Pleines, Homogenität, S. 31. Vgl. Pleines, Homogenität, S. 21 f.
D. Bundesstaatliche Verbindung der deutschen Einzelstaaten
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Staatsform in einem Mitgliedstaat, insofern eine solche Einführung gegen die innerstaatliche Homogenität verstoßen könnte. Aus dem Grund des innerstaatlichen Friedens im Reich dürfte der Oberstaat nicht nur zu rechtlichen Mitteln greifen, sondern bedarfsweise auch Zwangsmittel gegen die Einzelstaaten anwenden.169 Diese insoweit kämpferische Meinung ist indes strittig. Für die Annahme einer Verfassungsänderung war eine Dreiviertelmehrheit der Stimmen im Bundesrat erforderlich (Art. 78 S. 2 RV), was nur mit Einvernehmen der Mehrheit der Bundesglieder hätte erfolgen können (obwohl Preußen im Reich dominierte, besaß es nur 17 Stimmen im Bundesrat). Dies bedeutet, dass es für den Oberstaat jedenfalls nicht leicht war, die innere Verfassungsentwicklung eines Einzelstaates zu beeinflussen. Genau dies geschah im Fall von beiden Mecklenburg: Diese deutschen Staaten hatten seit 1848 am ständisch-monarchischen Prinzip festgehalten. In der Schlussphase der Existenz des Kaiserreichs wurde vor dem Bundesrat die Frage gestellt, ob sich der Oberstaat entschließen würde, seine Kompetenz bezüglich der innerstaatlichen Organisation der Bundesglieder zu erweitern. Sowohl die Reichsregierung als auch der Bundesrat kamen zu dem Schluss, dass der Oberstaat als Garant der Gesamtordnung keine Einschränkungen für die Mitgliedstaaten vorsehen wird, solange diese nicht das Interesse der staatlichen Einheit des Kaiserreichs berühren. So blieben beide Mecklenburg bis zum Zerfall des kaiserlichen Deutschlands im Jahre 1918 ständische Monarchien, obwohl ihre innere Organisation dem zeitgenössischen konstitutionell-monarchischen Grundsatz nicht entsprach.170 Hier ging aber um den abweichenden Monarchismus auf Landesebene. Im Gegensatz dazu könnte man vermuten, dass – falls sich ein deutscher Einzelstaat für den Republikanismus entschieden hätte – eine Einigung zwischen den deutschen Monarchen zugunsten der Annahme einer entsprechenden Änderung der RV leichter erzielbar gewesen wäre. Dann wäre ein Eingriff des Oberstaates in die Verfassungsverhältnisse der Gliedstaaten (z. B. in der in Art. 11 der Bundesakte von 1815 vorgesehenen Weise) wohl denkbar, weil solche Umwälzungen von einer monarchischen hin zu einer republikanischen Gestaltung der Staatsorganisation in einem Bundesglied den gesamten Staatskörper gefährden könnten. Daraus folgt, dass die in der RV fehlende bundesstaatliche Homogenität im Deutschen Kaiserreich durch die Übereinstimmung der monarchischen Existenzformen der deutschen Einzelstaaten, die nicht durch staatsrechtliche, sondern dynastische Mechanismen entstanden waren, erreicht wurde. Verfassungsrechtliche Homogenitätserfordernisse wiederum konnten nicht im Text der RV verankert werden, da sie mit der Natur der monarchischen Einzelstaaten, in denen die Autonomie nicht dem Staatsgefüge als Ganzem, sondern den Monarchen als Trägern der Staatlichkeit zugeordnet wurde, unvereinbar gewesen wären. Die „durch Blut und Eisen“ erreichte Einheit des deutschen Volkes wurde mittels Einigung zwischen den deutschen Einzelherrschern (den Monarchen bzw. den aristokratisch regierten 169 170
Vgl. Nieding, Homogenität, S. 55 f., 58, 60. Vgl. Pleines, Homogenität, S. 28 f.
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Kap. II: Die Homogenitätsidee im jüngeren Konstitutionalismus
Hansestädten) gewonnen, die zur Sicherung des Fortbestandes der eigenen Existenz einen Teil ihrer Hoheitsrechte faktisch dem stärkeren preußischen König übertrugen und im Gegenzug unter Berücksichtigung der Partikularinteressen einen Gestaltungsspielraum im Hinblick auf die eigene innere Organisation erhielten.
2. Der Einfluss der Reichsgründung auf die Staatenstaatstheorie: Die Abkehr von der Waitzschen Auffassung Die Neuordnung der deutschen Einzelstaaten unter dem Dach des Norddeutschen Bundes und dessen kurz danach folgende Erweiterung mit der entsprechenden Modifizierung der inneren Strukturen hin zu einer borussifizierten Reichsgestalt stellten die deutsche Staatswissenschaft vor die Frage nach der rechtlichen Natur des neu entstandenen Gemeinwesens. Da, wie bereits oben angemerkt wurde (! S. 122 ff.), die Gestaltung des neuen Deutschen Reiches viele in der deutschen Bundesstaatslehre etablierte Denkmuster aufgebrochen hatte, standen die zeitgenössischen Staatsrechtler nunmehr vor der schwierigen Aufgabe, die bundesstaatliche Natur des monarchischen deutschen Gesamtkörpers zu belegen bzw. zu widerlegen. Kurz nach der Verabschiedung der RV bildete sich bereits die herrschende Meinung heraus, nach der – ungeachtet der wesentlichen Abweichungen des reichsdeutschen Staatsmodells von den nordamerikanischen und schweizerischen Vorbildern – das Bismarcksche Reich den Grundcharakter eines Bundesstaates besaß.171 Dies war aber unvereinbar mit den bislang herrschenden Vorstellungen (besonders der Waitzschen Lehre) vom Bundesstaat als staatsrechtlicher Verbindung mehrerer eigenständiger Einzelstaaten, in dem sowohl diese als auch der Oberstaat selbst echte Staaten darstellen. Den Ausweg aus dieser theoretischen Schwierigkeit sah Brie in zwei Möglichkeiten: Seiner Meinung nach mussten die Vertreter der Waitzschen Bundesstaatstheorie entweder jene praktische Abweichung des neuen gesamtdeutschen Bundesstaates von den theoretischen Auffassungen als eine Ausnahme erklären oder das tatsächlich vorhandene Bundesstaatsmodell des Deutschen Kaiserreichs unter einen nun wissenschaftlich modifizierten Bundesstaatsbegriff subsumieren. Beide Ansätze waren strittig. Die Mehrheit der Staatsrechtstheoretiker wählte allerdings den letztgenannten Weg der Anpassung der wissenschaftlichen Erklärungsmuster an die geänderte Verfassungswirklichkeit im Reich.172 Die Grundlage für diese Abkehr von den Leitlinien der Waitzschen Theorie bildeten die abweichenden Meinungen einiger Staatsrechtler (! S. 118 ff.) aus den 1860er Jahren, die sie in Bezug auf den untergehenden Deutschen Bund und den neugegründeten Norddeutschen Bund geäußert hatten. Brie erwähnt vier prinzipielle Fragen, deren Auslegung in der zeitgenössischen Fachliteratur neu zum Ausdruck gebracht wurde. Dies waren im Einzelnen: 1) der Verzicht auf die Idee der Teilung 171 172
Vgl. Brie, Der Bundesstaat, S. 157 f. Vgl. Brie, Der Bundesstaat, S. 158 ff.
D. Bundesstaatliche Verbindung der deutschen Einzelstaaten
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der Souveränität innerhalb des Bundesstaates und der daraus folgenden Nebenordnung der Gliedstaaten und des Oberstaates als selbständiger (souveräner) Staatsgebilde; 2) die Befugnis des Oberstaates, nach eigenem Ermessen den Zuständigkeitsbereich zu erweitern (sog. Kompetenz-Kompetenz); 3) die Gestaltung eines eigenen und unabhängigen Verwaltungsapparats des Gesamtstaates; 4) die Formen und der Umfang der Beteiligung der Gliedstaaten an der Bildung des Gesamtwillens, d. h. die Teilnahme der Glieder an der Bundesgesetzgebung und -verwaltung.173 Für die vorliegende Arbeit sind aus organisationsrechtlicher Perspektive die zwei ersten Fragen besonders relevant. Was die Souveränitätsproblematik im Bundesstaat betrifft, wurde die „neue alte“ These von der Unterordnung der Gliedstaaten unter die Zentralgewalt innerhalb der Kompetenz des Gesamtstaates aufgestellt. Es gab noch vereinzelt Stimmen zugunsten einer Nebenordnung und Gleichstellung der unabhängigen und souveränen Gewalten der Glieder und des Ganzen. So hielt Westerkamp an der Auffassung fest, dass die Zuständigkeit der Einzelstaaten die Regel, die Zuständigkeit des Reiches hingegen die Ausnahme ist: Alle Befugnisse, die nicht durch die RV von den Einzelstaaten dem Reich überwiesen werden, verbleiben bei den Gliedstaaten. Sowohl der Oberstaat als auch seine Glieder handeln innerhalb der ihnen zustehenden Kompetenz als unabhängige souveräne Staaten. Aus der Selbständigkeit der Gliedstaaten folgt nur die Übertragung einzelner bestimmter Rechte an den Oberstaat; die übrigen Befugnisse verbleiben bei den Gliedstaaten in derselben Weise und aus demselben Rechtsgrund wie zuvor und werden von diesen ebenso ausgeübt.174 Dies bildete den klassischen Standpunkt im Sinne der Waitzschen Bundesstaatstheorie, was aber dem neuen materiellen Verfassungsrecht des Deutschen Reiches nicht mehr völlig entsprach. Das Subordinationsverhältnis zwischen den deutschen Einzelstaaten und dem Gesamtstaat könnte nun aus der normativen Verankerung (Art. 2 S. 1 RV) des Vorrangs der Reichsgesetze vor den Landesgesetzen abgeleitet werden.175 Demgemäß stand auch die Problematik der Souveränität innerhalb des Bundesstaates im Fokus der Betrachtung der reichsdeutschen Staatswissenschaft. Obwohl den Gliedstaaten eine eigene Souveränität im Großen und Ganzen abgesprochen wurde, blieb die Frage nach der staatsrechtlichen Natur der Eigenschaften, die die Gliedstaaten eines Bundesstaates von den Selbstverwaltungskörpern eines Einheitsstaates unterscheiden, weiterhin unbeantwortet. Zahlreiche prominente Staatsrechtler der Kaiserzeit versuchten, die Selbständigkeit der Mitglieder eines monarchisch gestalteten Bundesstaates aus einer Verknüpfung der früheren Verfassungsdogmatik mit der zeitgenössischen Verfassungspraxis heraus zu begründen. Dies hatte eine enorme Bedeutung für die Bemessung der Selbstorganisation der Gliedstaaten nach dem inneren Verfassungsrecht, was im Folgenden ausführlich analysiert wird. 173 174 175
Vgl. Brie, Der Bundesstaat, S. 160. Vgl. Westerkamp, Reichsverfassung, S. 32, 40 f. Vgl. Brie, Der Bundesstaat, S. 161.
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Kap. II: Die Homogenitätsidee im jüngeren Konstitutionalismus
3. Die Rechtsnatur der kaiserdeutschen Einzelstaaten In den nach der Inkraftsetzung der RV von 1871 folgenden Veröffentlichungen wurde abermals bestätigt, dass der Bundesstaat als eine der Formen der Staatenverbindungen im Unterschied zum Staatenbund kein bloßes politisches Band einzelner Staaten ist.176 Neben den klassischen Bezeichnungen des Bundesstaates als Staatenstaates oder civitas composita177 wurde nun im Sprachgebrauch in Bezug auf das neue Reich der Begriff eines Verfassungsbündnisses verwandt.178 Dieses Bündnis hat folgende Merkmale: Durch die Zusammensetzung der einzelnen, im Sinne der Bodinschen Lehre souveränen Staaten zu einem Bundesstaat verlieren diese ihre Souveränität und erkennen die höhere, über ihnen stehende Gewalt des Gesamtstaates an. Der Oberstaat und die Gliedstaaten stehen nicht wie zwei souveräne und gleichberechtigte Gebilde nebeneinander, die Einzelstaaten sind vielmehr die Glieder eines staatsrechtlichen Gemeinwesens, welche innerhalb der Bundeskompetenz der Herrschaftsgewalt des Gesamtstaates unterworfen sind.179 Obwohl die Bundesglieder entsprechend dem seinerzeit etablierten Sprachgebrauch weiter als „Staaten“ bezeichnet werden, sind die Gliedstaaten eines Bundesstaates nicht souverän, da sie der Bundesgewalt (Zentralgewalt, Gesamtstaatsgewalt) unterstehen. Danach steht die Souveränität im Bundesstaat nur dem Gesamtstaat zu und daher war lediglich die Reichsgewalt die einzige staatliche Hoheitsgewalt im kaiserlichen Deutschland.180 Wenn die Souveränität als fundamentales Postulat eines jeden Staatswesens betrachtet wird, dann ist die von Waitz proklamierte Teilung der Souveränität nach Inhalt und Besitz absolut unmöglich: Als eine der natur- und vernunftgemäßen Eigenschaften der Staatlichkeit muss die Souveränität nach Inhalt und Zuständigkeit einheitlich und unteilbar sein.181 Im Fall des Bundesstaates steht die Souveränität ausschließlich der Gesamtheit zu. Georg Meyer sprach den Gliedstaaten sowohl eine volle als auch beschränkte Souveränität ab. Seiner Meinung nach bedeutet diese sachlich beschränkte Kompetenz des Gesamtstaates allerdings nicht, dass die Gliedstaaten über eine beschränkte Souveränität innerhalb der restlichen Aufgabengebiete verfügen, auch wenn sich die Souveränität des Gesamtstaates nicht auf 176 Vgl. Meyer, Georg, Staatsrechtliche Erörterungen über die Deutsche Reichsverfassung, Leipzig 1872, S. 13; Schulze, Hermann, Das preussische Staatsrecht. Auf Grundlage des deutschen Staatsrechts, Bd. 2, Leipzig 1877, S. 788. 177 Vgl. Schulze, Hermann, Lehrbuch des deutschen Staatsrechtes, Bd. 1, Leipzig 1881, S. 44. 178 Vgl. Held, Joseph, Die Verfassung des Deutschen Reiches vom staatsrechtlichen Standpunkt aus betrachtet. Ein Beitrag zu deren Kritik, Leipzig 1872, S. 3, 12. 179 Vgl. Meyer, Georg/Anschütz, Gerhard, Lehrbuch des deutschen Staatsrechtes, 6. Aufl., Leipzig 1905, § 14 S. 45 f. 180 Vgl. Meyer, Staatsrechtliche Erörterungen, S. 5 f.; Meyer/Anschütz, Lehrbuch des Staatsrechtes, § 14 S. 48, § 71 S. 203. 181 Vgl. Held, Die Verfassung des Deutschen Reiches, S. 19, 22 f.
D. Bundesstaatliche Verbindung der deutschen Einzelstaaten
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alle Zuständigkeitsbereiche erstreckt. Meyer merkte an, dass man von einer beschränkten Souveränität der Bundesglieder sprechen könnte, wenn den Einzelstaaten nur einige Herrschaftsrechte belassen sind, die ihnen ohne ihre Einwilligung nicht entzogen werden können. Da in einem Bundesstaat nur eine Hoheitsgewalt existiert, welche diese gliedstaatlichen Herrschaftsrechte verfassungsmäßig abzuerkennen berechtigt ist, können die Gliedstaaten nicht als beschränkt souverän anerkannt werden.182 Der Besitz einer solchen Eigenschaft wie der Souveränität bedeutet die Vermutung der Ausübung einer Hoheitsgewalt. Dem Gesamtstaat steht eine eigene und einheitliche Staatsgewalt zu. Obwohl diese durch die Gesamtheit der Gewalten der Gliedstaaten gebildet wird, bleibt die Zentralgewalt von den partikularen Staatsgewalten völlig unabhängig. Die Teilnahme der Einzelstaatsgewalten an der Bildung der Gesamtstaatsgewalt beeinflusst die Souveränität des Gesamtstaates in keiner Hinsicht.183 Da das neue Deutsche Reich ein Verfassungsbündnis war, wurden die deutschen Einzelstaaten durch die Zusammensetzung zu einem Gesamtkörper allerdings nicht in bloße Selbstverwaltungskörper wie Provinzen oder Gemeinden umgewandelt. Die Gliedstaaten besitzen eine eigene Gewalt, die von der Staatsgewalt des Oberstaates nicht abstrahiert ist, sondern zusammen mit ihr die umfangreiche, einheitliche und hoheitliche Staatsgewalt des zusammengesetzten Gesamtstaates bildet. Die Gewalten der Gliedstaaten als individuelle Willensbestimmungen sind aber der Zentralgewalt untergeordnet: Aus der Souveränität des Bundesstaates folgt die Eigenschaft der gesamten Staatsgewalt, nicht nur innerhalb der eingeräumten Zuständigkeitsbereiche ausgeübt zu werden, sondern sie kann auch innerhalb der bei den Gliedstaaten verbliebenen Kompetenzen zur Geltung gebracht werden, wenn dies durch die widersprechende Staatstätigkeit der Gliedstaaten bedingt wird, was die Funktionsfähigkeit des Gesamtstaates gefährden könnte.184 Abgesehen davon, dass die deutschen Einzelstaaten ihre staatliche Souveränität dem Kaiserreich überlassen hatten, blieben sie weiter in gewissem Maße politisch selbständig. Sie hatten den Charakter von Staaten.185 Allerdings fassten Staatsrechtler diese Selbständigkeit der deutschen Gliedstaaten auf verschiedene Weise auf. Held war der Ansicht, dass den vormals souveränen deutschen Einzelstaaten ein gewisses Maß an Selbständigkeit durch die RV gelassen wurde und die einzelnen Herrschaftsrechte nichts anderes waren als eine Zulassung seitens des Oberstaates.186 Meyer und Schulze gingen davon aus, dass den deutschen Gliedstaaten eine Reihe eigener, nicht vom Oberstaat abgeleiteter Hoheitsrechte verblieb, die sie zur selb182
Vgl. Meyer, Staatsrechtliche Erörterungen, S. 6. Vgl. Meyer, Staatsrechtliche Erörterungen, S. 15, 17; Meyer/Anschütz, Lehrbuch des Staatsrechtes, § 14 S. 46. 184 Vgl. Schulze, Das preussische Staatsrecht II, S. 786 f.; Held, Die Verfassung des Deutschen Reiches, S. 3 f. 185 Vgl. Meyer/Anschütz, Lehrbuch des Staatsrechtes, § 71 S. 203; Schulze, Das preussische Staatsrecht II, S. 787. 186 Vgl. Held, Die Verfassung des Deutschen Reiches, S. 7, 25. 183
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Kap. II: Die Homogenitätsidee im jüngeren Konstitutionalismus
ständigen Regelung besitzen. Im Unterschied zu den Selbstverwaltungskörpern können die Gliedstaaten innerhalb ihrer Kompetenz Entscheidungen nicht nur im Bereich der Verwaltung, sondern auch in der Gesetzgebung treffen.187 Mit der Gründung des Deutschen Kaiserreichs erfolgte ein theoretisches Umdenken der für jeden Bundesstaat erforderlichen Einheit. Statt der Staatseinheit, die für die Autoren des 17. und 18. Jahrhunderts eine der grundlegenden Voraussetzungen eines jeden zusammengesetzten Staatsgefüges bildete, wurde nun der Begriff der staatsrechtlichen Einheit (Rechtseinheit) verwendet. Die Umwandlung einer staatlichen Einheit in eine (staats)rechtliche Einheit des Bundesstaates entsprach einerseits der damals entstehenden Idee des Rechtsstaates im Gegensatz zum Polizeistaat der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Andererseits wurde dies durch die Abkehr von der Anerkennung einer staatlich gearteten Einheit im Bundesstaat bedingt. Die frühere Staatenstaatstheorie (besonders in Waitzscher Lesart) sah den Bundesstaat als eine Staatenmehrheit – also eine Mehrheit von Gebieten und Völkern, wobei jedes dieser Gebiete und Völker eine höchste und vollständige Gewalt besitzt, woraus die Teilung der staatlichen Souveränität folgte. Dagegen hielt die reichsdeutsche Staatswissenschaft an der Auffassung fest, dass die staatsrechtliche Einheit des Bundesstaates durch die Eigenschaft der unteilbaren Souveränität, d. h. die Nichtunterordnung der oberstaatlichen Gesetzgebung, Vollziehung und Rechtsprechung, geprägt ist.188 Dies war die Idee der staatsrechtlichen Einheit (Rechtseinheit) des Bundesstaates, die weiter unten bei vielen anderen Autoren der Kaiserzeit zum Ausdruck kommt. Der Besitz einer eigenen Gewalt verweist auf die Vermutung u. a. einer eigenen Organisationshoheit. Da die Gliedstaaten im Bundesstaat selbständig bleiben, sind sie zum Erlass eigener Verfassungen berechtigt (dies meint der moderne Begriff „Verfassungsautonomie“). „Die Organe der Einzelstaaten finden ihren Ursprung lediglich im Einzelstaat; dem Reiche steht auf die Bestellung derselben keinerlei Einfluß zu.“189 Die theoretische Vorstellung von der Gestaltung der Machtsysteme der deutschen Gliedstaaten entsprach weiterhin den hierzu geäußerten Vorstellungen aus der Zeit des jüngeren Konstitutionalismus. Die konstitutionell-monarchischen Staatssysteme bildeten wie bereits zuvor der Monarch und der Landtag. Der Monarch als Staatsoberhaupt ist der Träger der gesamten Staatsgewalt auf dem Gebiet des Einzelstaates. Seine Berufung findet unmittelbar durch die Verfassung des Gliedstaates statt und hängt nicht vom Oberstaat ab. Seine Hoheitsrechte gehen aus dem monarchischen Prinzip der Staatlichkeit der deutschen Einzelstaaten hervor. Der Landtag ist das gesetzgebende Organ des Gliedstaates. Im Rahmen des konstitutionell-monarchischen Staatssystems bildet der Landtag ein einschränkendes Element, an dessen Teilnahme am Entscheidungsprozess der Monarch gebunden 187 Vgl. Meyer/Anschütz, Lehrbuch des Staatsrechtes, § 71 S. 203; Schulze, Das preussische Staatsrecht II, S. 787. 188 Vgl. Held, Die Verfassung des Deutschen Reiches, S. 12 f., 186. 189 Meyer/Anschütz, Lehrbuch des Staatsrechtes, § 71 S. 203.
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ist.190 In den freien Hansestädten waren traditionsgemäß Senat und Bürgerschaft gemeinschaftlich zur Ausübung der Staatsgewalt berufen.191 Für die Bundesstaatslehre der jüngeren Kaiserzeit waren die allgemeine Abkehr von der Waitzschen Theorie und die grundsätzliche Akzeptanz der Idee der einheitlichen und unteilbaren Souveränität des Bundesstaates charakteristisch. In Anlehnung an die seinerzeit (in den 1850 – 60er Jahren) abweichenden Meinungen modernisierten die Staatsrechtler die Vorstellungen über den Bundesstaat im Rahmen aber der weiterhin vertretenen Staatenstaatstheorie. Der Bundesstaat (nunmehr unter Berücksichtigung des neuen Deutschen Reiches) wurde als ein alleinig souveränes Staatsgebilde mehrerer nichtsouveräner, aber doch selbständiger staatlich gearteter Bundesglieder betrachtet. Obwohl den Gliedstaaten eine echte staatliche Souveränität mit allgemeiner (stillschweigender) Zustimmung abgesprochen wurde, blieb fraglich, nach welchen Eigenschaften sich die Glieder eines Bundesstaates von den Selbstverwaltungskörpern innerhalb eines Einheitsstaates unterscheiden müssen, wenn sie ohne Souveränität doch den Charakter von Staaten haben. Diese Fragestellung führte zu weiteren unterschiedlichen Auffassungen bezüglich der Natur der gliedstaatlichen Selbständigkeit und deren Umfang, u. a. in Bezug auf die Frage nach der Unterordnung der inneren Organisation der deutschen Einzelstaaten unter die gesamtstaatliche Verfassung.
4. Albert Hänel und die „organische Totalität“ des Bundesstaates Den ersten systematischen Versuch, das Bundesstaatssystem des Deutschen Kaiserreichs vom Standpunkt einer modernisierten Staatenstaatstheorie zu beschreiben, machte der Kieler Staatsrechtsprofessor Albert Hänel.192 Er entwarf zwar eine Lehre von der Unteilbarkeit der Staatssouveränität, stellte allerdings einige für seine Zeit neuartige Thesen insb. in Bezug auf die Staatsorganisation der bundesstaatlichen Glieder auf. Ausgangspunkt der Auffassung Hänels vom Bundesstaat war die Anerkennung der Existenz politischer Gemeinwesen innerhalb des Bundesstaates, welche im Rahmen eines bestimmten Wirkungskreises in der Weise von Staaten organisiert sind und anders als bloße Selbstverwaltungskörper auch wie echte Staaten Hoheitsaufgaben erfüllen (gemeint sind die Gliedstaaten). Allerdings befindet sich über diesen Gebilden noch ein politisches Gemeinwesen, das auch nach der Art eines Staates organisiert und tätig ist (d. h. der Oberstaat). Da sich Hänel in Anlehnung an die 190
Vgl. Meyer/Anschütz, Lehrbuch des Staatsrechtes, § 83 S. 241, 244 f. Vgl. Meyer/Anschütz, Lehrbuch des Staatsrechtes, § 119 S. 415 ff. 192 Vgl. Hänel, Albert, Die vertragsmässigen Elemente der Deutschen Reichsverfassung, Leipzig 1873; ders., Deutsches Staatsrecht, Band 1: Die Grundlagen des deutschen Staates und die Reichsgewalt, Leipzig 1892. 191
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Kap. II: Die Homogenitätsidee im jüngeren Konstitutionalismus
ursprüngliche Pufendorfsche Souveränitätslehre, die die Teilbarkeit der Staatssouveränität innerhalb eines zusammengesetzten Staates streng abgelehnt hatte, äußerte, gelangte er zu der Schlussfolgerung, dass weder die Gliedstaaten noch der Oberstaat Staaten (als Inhaber der Souveränität) sind: Sie sind bloß in der Weise von Staaten organisierte und handelnde politische Gemeinwesen, während nur der Bundesstaat als Totalität (d. h. der Gesamtstaat) einen wirklichen Staat bildet.193 Die Gliedstaaten und der Oberstaat sind die Bestandteile des organischen Ganzen. Die Rechtsnatur des Bundesstaates bedingt die Frage, in welchem Verhältnis die Einzelstaaten zum Oberstaat stehen. Das Bundesverhältnis sieht nach Hänel wie folgt aus: Er lehnt nicht die Tatsache ab, dass den Gliedstaaten ein gesonderter Wirkungskreis zusteht und der Oberstaat auch über einen bestimmten Kompetenzbereich verfügt. Das bedeutet aber nicht, dass sowohl die Gliedstaaten als auch der Oberstaat getrennte Staatswesen mit sich gegenüberstehenden Organisationen bilden, d. h. als völlig unabhängige Staaten im Verhältnis einer bloßen Nebenordnung stehen.194 In der Tat können die Gliedstaaten innerhalb ihrer Wirkungskreise nicht als von der Zentralgewalt unabhängige und losgelöste politische Gebilde betrachtet werden, was aber dem Ziel der organischen Totalität des zusammengesetzten Staates entspricht. Der Oberstaat bildet nicht nur ein anderes Mitglied des Gesamtstaates, sondern ist zugleich berufen, die organische Existenz des Bundesstaates als Gesamtheit zu bewahren und zu entwickeln. Daher sind innerhalb des Bundesstaates Herrschaftsverhältnisse (Über- und Unterordnung) zwischen dem Oberstaat und den Einzelstaaten gegeben. Abgesehen von den Abhängigkeitsverhältnissen im Verhältnis zum Oberstaat stehen die Gliedstaaten allerdings noch in vielseitiger Wechselwirkung mit der Zentralgewalt. Das bedeutet, dass im Bundesstaat der Oberstaat als Vertreter des Gesamtstaates mit dem übergreifenden Machtpotenzial nicht nur viele wichtige Entscheidungen treffen und in die den Gliedstaaten zustehende Sphäre eingreifen kann, sondern auch als Hüter der Gesamtordnung die bestimmte Selbstgenügsamkeit der Gliedstaaten gewährleisten soll, was den Bundesstaat von einem Einheitsstaat grundsätzlich unterscheidet.195 Fraglich aber ist, was genau unter der Selbständigkeit der Gliedstaaten verstanden werden soll und wieweit der Oberstaat in den gliedstaatlichen Gestaltungsspielraum eingreifen darf. Die Gliedstaaten und der Oberstaat sind sich ergänzende Bestandteile eines Staates. Als wesentliche Teile des zusammengesetzten Staates enthalten die Gliedstaaten die Eigenschaften der Selbständigkeit und der Individualität, die durch das Bundesverhältnis verbürgt werden. Allerdings steht keinem Einzelstaat des Deutschen Kaiserreichs die Souveränität zu. Im Unterschied zu den Selbstverwaltungskörpern sind die Gliedstaaten als staatsartige Gefüge ausgeformt, denen aus 193
Vgl. Hänel, Reichsverfassung, S. 39, 47, 63. Vgl. Hänel, Reichsverfassung, S. 47, 62, 66; ders., Staatsrecht I, § 31 S. 206, § 58 S. 342. 195 Vgl. Hänel, Reichsverfassung, S. 59, 65 f.; ders., Staatsrecht I, § 31 S. 201, 206, § 58 S. 342. 194
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entstehungsgeschichtlicher Sicht der unabgeleitete Rechtsgrund ihrer Existenz zukommt. Durch die Verankerung der Schranken, die der Gesamtstaat seinen Gliedern setzt, erfolgt keine Beseitigung der gliedstaatlichen Selbständigkeit; vielmehr wird die Voraussetzung dieser Selbständigkeit gebildet, so Hänel.196 Woraus ergibt sich aber diese an Souveränität angrenzende Selbständigkeit der Gliedstaaten? Hänel ging davon aus, dass die souveränen Rechte des Gesamtstaates (primäre Kompetenz) zwischen dem Oberstaat und den Gliedstaaten verteilt werden. Deshalb steht eine eigene Rechtssphäre sowohl dem Oberstaat als auch den Gliedstaaten zur Verfügung. Zu der primären Kompetenz gehören die Regierungsrechte und Aufgaben, welche der Gesamtstaat als Souverän besitzt. Durch die nach der Bundesverfassung bestimmte Kompetenzverteilung werden die Befugnisse an den Oberstaat und die Gliedstaaten als wirkende Mitglieder des Bundesstaates übertragen. So besitzen sie eine sekundäre Kompetenz, derer Inhalt, Richtung und Grenzen durch die gesamtstaatliche Verfassung und Gesetzgebung festgelegt sind. Genau im Rahmen dieser sekundären Kompetenz erfüllen die Gliedstaaten eine Reihe staatlicher Aufgaben nach eigenem Ermessen, was die gliedstaatliche Selbständigkeit bildet.197 Die Anerkennung eines eigenen Zuständigkeitsbereichs der Gliedstaaten bedingt deren Organisationshoheit. Hänel nennt sie „Organisationsgewalt“ und betrachtet diese in gewissem Maße als „die oberste und vorvornehmste Gewalt“.198 Der Besitz einer eigenen Organisationsgewalt bedeutet, dass ein Gebilde berechtigt ist, die Existenzform seines inneren Wesens selbst zu bestimmen: „voller Herr […] über seine Organisation zu sein, ist das notwendige Attribut des suveränen Staates.“199 Die Zuordnung einer sekundären Kompetenz an die Gliedstaaten hat zur Folge, dass sie für die eigene innere Organisation zuständig sind. Auf dieser Kompetenzebene sind die Gliedstaaten daher selbständig. Da diese Kompetenz aber von der staatsbildenden Kompetenz des Bundesstaates als Gesamtheit abgeleitet ist, wird die Staatsorganisation der Bundesmitglieder der gesamtstaatlichen Organisation untergeordnet. Der Oberstaat übt seine Befugnisse durch die Organe des Gesamtstaates aus, d. h. die Staatsorgane des Gesamtkörpers sind zugleich die Organe des Oberstaates (Bundesorgane). Daraus folgt eine verfassungsmäßige Doppelstellung der Einzelstaaten innerhalb des Bundesstaates: Aus organisationsrechtlicher Sicht sind die Gliedstaaten bei der Bestimmung eigener inneren Organisation selbständig, welche aufgrund des Erfordernisses der organischen Totalität des Bundesstaates der gesamtstaatlichen Organisationsgewalt untergeordnet ist.200 Soweit die Kompetenz den Gliedstaaten bundesverfassungsmäßig zusteht, üben diese die Staatsaufgaben nach ihren eigenen Verfassungen selbständig und unab196 197 198 199 200
Vgl. Hänel, Reichsverfassung, S. 48, 66; ders., Staatsrecht I, § 58 S. 350, § 136 S. 800. Vgl. Hänel, Staatsrecht I, § 56 S. 336, § 136 S. 799; ders., Reichsverfassung, S. 66. Hänel, Staatsrecht I, § 56 S. 335. Hänel, Staatsrecht I, § 56 S. 336. Vgl. Hänel, Staatsrecht I, § 56 S. 336, § 58 S. 350, § 136 S. 800.
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hängig vom Oberstaat und in eigener Verantwortung aus. Die dazu erforderliche Staatsorganisation betrifft sowohl die Gesetzgebung als auch die Vollziehung und ist frei von den Vorschriften und der Kontrolle seitens Oberstaates ausgerichtet: In Bezug auf den Gestaltungsspielraum der Gliedstaaten ist die Organisationsgewalt des Oberstaates verpflichtet, nicht bloß die Kompetenzgrenzen einzuhalten, sondern auch jedes rechtswidrige Eingreifen zu vermeiden.201 Der Bundesstaat unterscheidet sich von einem zentralisierten Einheitsstaat und dem lockeren Staatenbund in der Frage der Bewahrung „der Einheit in der Vielfalt“ des Gesamtkörpers. Problematisch scheint die Frage, ob durch das Bundesverhältnis zwischen dem Oberstaat und den Gliedstaaten die geforderte organische Totalität innerhalb des zusammengesetzten Staates erreicht werden kann. Diese – Hänelsche – „organische Totalität“ ist nichts anderes als bundesstaatliche Homogenität. Eine der wichtigsten Voraussetzungen der echten Staatlichkeit bildet die Einheit des Staatswesens. Hänel sprach auch von der erreichbaren Rechtseinheit: „Die Einheit des Staates ist um so ideeller oder, sagen wir, abstrakter und das Produkt eines um so verwickelten Prozesses, je mehr wir uns dem modernen Rechtsstaat nähern.“202 Er war der Auffassung, dass sich die notwendige Einheit des (Bundes-)Staates auf die obersten, allgemeinen und grundsätzlichen Bestimmungen der Verfassung und Gesetzgebung stützt, welche den Gesamtstaat als Souverän selbst binden. Der auf dem Rechtsstaatsprinzip basierende Bundesstaat soll seinen Gliedern deren Selbständigkeit bis zu einem solchen Grad einräumen, dass sie für die Erfüllung der ihnen zugeordneten Befugnisse nicht nur eine eigene Verwaltung, sondern auch eine eigene Gesetzgebung vollgültig besitzen können. Dank dem Zusammenwirken der selbständigen Rechtssphären der Gliedstaaten und des Oberstaates muss die geforderte Einheit („wenn sie überhaupt gefunden werden kann“ [sic!], so Hänel203) erreicht werden. Das Ziel des Gesamtstaates besteht darin, jeder potenziellen Störung der Gesamtordnung, die durch die Summe der einzelnen Willenserklärungen geprägt ist, vorzubeugen und eine solche Störung ggf. zu beseitigen. Die Aufrechterhaltung und Fortbildung der gliedstaatlichen Verfassung bleibt Sache der Einzelstaaten, soweit aber diese die aus der primären Kompetenz folgende Aufgabe des Oberstaates der Friedenswahrung und Schlichtung von Verfassungsstreitigkeiten, was die Willensbestimmung der Gesamtheit ist, nicht verletzt.204 Hänel vertrat einen Standpunkt der Dreigliedrigkeit des Bundesstaates (sog. trialistische Bundesstaatstheorien oder Trialismus205): Er unterschied innerhalb des Bundesstaates den Gesamtstaat (d. h. den Oberstaat) einerseits, die Einzelstaaten (d. h. die Gliedstaaten) andererseits und als drittes Glied den Bundesstaat selbst. Nur 201
Vgl. Hänel, Staatsrecht I, § 58 S. 350, § 136 S. 801. Hänel, Reichsverfassung, S. 64. 203 Hänel, Reichsverfassung, S. 64. 204 Vgl. Hänel, Staatsrecht I, § 58 S. 351; ders., Reichsverfassung, S. 47, 63 ff. 205 Vgl. dazu Gamper, Anna, Staat und Verfassung. Einführung in die allgemeine Staatslehre, 3. Aufl., Wien 2014, S. 89 f. 202
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der Gesamtstaat (Oberstaat) übt die Funktion aus, die Einzelstaaten einem Ganzen als Glieder einzureihen und den Mitgliederbestand dauerhaft und qualitativ aufrechtzuerhalten.206 Aber wenn sowohl der Oberstaat als auch die Gliedstaaten eine eigene Organisationsgewalt besitzen, entsteht die Frage nach der Reichweite der Organisationsgewalt des Oberstaates als zementierendes Elementes des Bundesstaates. Dem ersten Anschein nach liegt es nahe, dass durch die Verteilung der primären Kompetenz Grenzen zwischen den selbständigen Gestaltungsspielräumen gezogen wurden, die der Oberstaat nicht überschreiten darf. Hänel ging aber davon aus, dass diese Umgrenzung vom Oberstaat durch seine eigene Verfassung (d. h. die Bundesverfassung) erfolgt, woraus formallogisch folgt, dass die Abgrenzung der Machtsphäre des Oberstaates, innerhalb der er organisationsrechtlich selbständig ist und zwingende Vorschriften bezüglich der gesamtstaatlichen Organisation vorsehen kann, durch die Novellierung der Bundesverfassung geändert werden kann.207 Hier handelt es sich um die Problematik der sog. Kompetenz-Kompetenz. Hänel zweifelte daran, dass diese sozusagen kompetenzbildende Kompetenz in vollem Umfang allein dem Oberstaat zusteht und sie auch die verfassungsmäßigen Grenzen der Organisationsgewalt der Gliedstaaten betreffen kann. Wenn diese Möglichkeit zu bejahen ist, dann würden die Einzelstaaten in ihrer Organisationshoheit nicht bloß von einzelnen bestimmten Seiten durch den Oberstaat eingeschränkt, sondern „in ihrer Totalität, in ihrer gesamten Existenz“ seitens der Organisationsgewalt des Reiches ergriffen werden.208 Hänel gab hier aber keine eindeutige Antwort, inwiefern ein solches Eingreifen in den vom Existenzrecht bedingten organisationsrechtlichen Zuständigkeitsbereich der Gliedstaaten zulässig wäre. Hänels Auffassung entsprach den zeitgenössischen Vorstellungen von der Unteilbarkeit der Souveränität innerhalb des Bundesstaates, stellte aber gleichzeitig die durch die RV von 1871 erzwungene Eindeutigkeit der übergeordneten und umfangreichen Kompetenz des Oberstaates besonders bezüglich der organisationsrechtlichen Befugnisse der Gliedstaaten in Frage.
5. Paul Laband über die Gliedstaaten als juristische Personen Einer der herausragenden Vertreter der kaiserdeutschen Staatsrechtslehre war der Straßburger Professor Paul Laband. Der ursprüngliche Privatrechtshistoriker wandte sich mit der Gründung des Norddeutschen Bundes dem Staatsrecht zu und vertrat den Rechtspositivismus. Dank seinem privatrechtlichen Hintergrund brachte Laband einige dem Privatrecht charakteristischen Denkansätze in das deutsche Staatsrecht ein, die auch seine Bundesstaatstheorie betrafen. 206 207 208
Vgl. Hänel, Reichsverfassung, S. 66. Vgl. Hänel, Staatsrecht I, § 58 S. 352 f. Vgl. Hänel, Staatsrecht I, § 58 S. 353.
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Schon im allgemeinen Begriff des Bundesstaates kommt Labands Neigung zu privatrechtlichen Konstruktionen zum Ausdruck: Seiner Ansicht nach hat der Bundesstaat die Natur einer aus Staaten bestehenden öffentlich-rechtlichen Korporation.209 Laband unterscheidet zusammengesetzte Staaten oder Staatenstaaten, denen der Bundesstaat zugeordnet ist. Jedoch ist nicht jeder zusammengesetzte Staat (Staatenstaat) zugleich auch ein Bundesstaat: Es kann sich um einen Bund nur in dem Fall handeln, wenn im Gegensatz zu einem Hegemonie- oder Vasallenstaat die souveräne Staatsgewalt den die Gesamtheit bildenden Gliedstaaten zusteht. Die Gliedstaaten als juristische Personen des öffentlichen Rechts (noch ein aus dem Privatrecht entnommener Begriff) sind die Mitglieder des Bundesstaates. Laband fand das Wesen des Bundesstaates in der Mediatisierung der Mitgliedstaaten: Unter diesem altreichsdeutschen Begriff verstand er keine Unterdrückung oder Auflösung der Einzelstaaten in dem Sinne, dass sie einem dieser Einzelstaaten (sic! vgl. dazu die Situation der innerstaatlichen Hegemonie Preußens im Deutschen Reich) oder von außen unterworfen sind, sondern sie sind vereinigt (mediatisiert) zu einer ideellen Person (einem Gemeinwesen höherer Ordnung), deren Substrat sie selbst sind und der sie als ihre Mitglieder staatsrechtlich untergeordnet sind.210 Dem zusammengesetzten Staat wohnt eine doppelte Gliederung inne. Territorium und Bevölkerung sind zunächst einer Unterstaatsgewalt und schon die Einzelstaaten einer Oberstaatsgewalt unterworfen. Hier folgt Laband der Idee Hänels von der Doppelstellung der Gliedstaaten: „der Gliedstaat ist nach Unten Herr, nach Oben Unterthan.“211 Daraus folgt seiner Meinung nach ein Über- bzw. Unterordnungsverhältnis mehrerer (mindestens zweier) Staatsgewalten innerhalb des Bundesstaates, so dass die Gliedstaaten der Zentralgewalt untergeordnet sind. Man kann in diesem Sinne den Bundesstaat als Staatenstaat bezeichnen.212 Logischerweise folgt aus dieser Auffassung die Frage, ob es mit dem allgemeinen Staatsbegriff vereinbar ist, dass selbst ein Staat der Hoheitsgewalt eines anderen Staates unterworfen sei. Wenn diese Frage verneint wird, so kann kein „Gesamtstaat“ vorhanden sein, der aus den „Staaten“ als Mitglieder besteht. Den Ausweg aus dieser Situation sah Laband einzig in der Gestaltung eines Staatsverbandes vertragsmäßiger Natur einerseits und eines Einheitsstaates mit mehr oder weniger realisierter Dezentralisierung andererseits. Die Beantwortung dieser Frage beinhaltet das Problem der Beurteilung der Souveränität als notwendiger Eigenschaft jeglicher Staatlichkeit. Laband zweifelt nicht daran, dass jedem wirklichen Staat eine oberste und höchste Gewalt („potestas suprema“) zustehen muss, die von keiner anderen weltlichen Macht rechtlich abhängig ist. „Hieraus ergibt sich aber mit logischer Notwendigkeit,
209
Vgl. Laband, Paul, Deutsches Reichsstaatsrecht, 6. Aufl., Tübingen 1912, § 6 S. 32. Vgl. Laband, Paul, Das Staatsrecht des Deutschen Reiches, Bd. 1, Tübingen 1876, § 8 S. 70 f., 72; ders., Reichsstaatsrecht, § 2 S. 21 f. 211 Laband, Staatsrecht I, § 8 S. 71. 212 Vgl. Laband, Staatsrecht I, § 8 S. 70, 71. 210
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dass die Souveränität unbeschränkbar und folglich auch unteilbar ist.“213 So teilte Laband die herrschende Meinung, dass die Idee der Teilung der Souveränität nichts mit dem Wesen des Bundesstaates zu tun hat. Wenn man sich für eine teilbare, eingeschränkte oder sonst „halbe“ Staatssouveränität ausspricht, so legt man nach Laband einen anderen Sinn in den Begriff der „Souveränität“ oder widerspricht sich selbst. Wenn unter einem Staat ein rechtliches und politisches Gebilde mit souveräner Gewalt verstanden wird, muss eine Unterordnung eines Staates innerhalb eines anderen schlicht ausgeschlossen werden.214 Laband gelangt zu der wichtigen Schlussfolgerung, dass in einem Bundesstaat sowohl dem Oberstaat als auch den Gliedstaaten eine echte Staatlichkeit im Sinne des Besitzes einer souveränen Gewalt abzusprechen ist. Ungeachtet des gefestigten fachlichen Sprachgebrauchs, nach dem die Mitglieder eines zusammengesetzten Staates selbst als Staaten (Glied- oder Einzelstaaten) bezeichnet werden, sind aus Gründen der wissenschaftlichen Konsistenz allein die begrifflichen Merkmale zu berücksichtigen.215 Die staatliche Souveränität bedeutet die öffentlich-rechtliche Herrschaft des Staates nach innen und nach außen, die er kraft eines eigenen Rechts besitzt und nicht durch die Übertragung seitens anderer Rechtssubjekte erhält. In diesem Sinne steht im Bundesstaat die Souveränität ganz dem Gesamtstaat zu; die Gliedstaaten sind ausschließlich in ihrer Gesamtheit souverän.216 Nach Laband ist jede juristische Person an sich willens- und handlungsfähig. In Bezug auf den Staat als juristische Person meint diese Willens- und Handlungsfähigkeit den Besitz der Souveränität. Die Annahme der Willensakte und Vollziehung der Rechtshandlungen bildet aus staatsrechtlicher Sicht genau die Gewalt. Dem echten Staat steht die Staatsgewalt zu, welche souverän ist. Daraus folgt, dass das Subjekt, der Träger der Staatsgewalt seinem Wesen nach ausschließlich der Staat selbst ist. Man kann den Staat als Souverän bezeichnen, der die ihm zustehende Hoheitsgewalt frei verwirklicht.217 Im Bundesstaat, in dem nur dem Gesamtstaat die Souveränität zukommt, ist allein die Zentralgewalt souverän. Abgesehen davon, dass die deutschen Einzelstaaten durch den Beitritt zum Deutschen Reich ihre Souveränität aufgegeben hatten, besaßen sie trotzdem ihre staatliche Persönlichkeit (d. h. die Staatsqualität) weiter; ihre staatsrechtliche Individualität dauerte kontinuierlich fort und bildete die wesentliche Grundlage der Bundesstaatlichkeit. Durch die Gründung des föderativen Reiches wurde eine Staatsgewalt über den Einzelstaaten – die souveräne Zentralgewalt – hergestellt, was darauf schließen lässt, dass die Gliedstaaten als Mitglieder des Bundesstaates in ihrer Gesamtheit das Substrat der Staatspersönlichkeit des Deutschen Reiches bilden. Obwohl das neue Deutsche Reich kein Fürstenbund, sondern ein aus den deutschen Einzelstaaten zusammen213 214 215 216 217
Laband, Reichsstaatsrecht, § 2 S. 18. Vgl. Laband, Reichsstaatsrecht, § 2 S. 17 f. Vgl. Laband, Reichsstaatsrecht, § 2 S. 18 (besonders Fn. 1). Vgl. Laband, Staatsrecht I, § 8 S. 75, § 9 S. 93; ders., Reichsstaatsrecht, § 2 S. 18 f. Vgl. Laband, Staatsrecht I, § 9 S. 86, 87.
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gesetzter Staat ist (hier wich Laband faktisch von der Präambel der RVab), kann man in diesem Sinne behaupten, dass die deutschen Monarchen als Staatsoberhäupter und die obersten Staatsorgane der freien Hansestädte Mitträger der Zentralgewalt sind.218 Der Bundesstaat ist aber kein dezentralisierter Einheitsstaat; obgleich der Oberstaat und die Gliedstaaten keine wirklichen Staaten bilden, sind die bundesstaatlichen Mitglieder selbständige Rechtssubjekte mit eigenen Zuständigkeitsbereichen, innerhalb derer sie über eine gewisse Willens- bzw. Handlungsfreiheit verfügen. Allerdings ist problematisch, dass die hoheitlichen Aufgaben des Bundesstaates als des Gesamtstaates zwischen seinen Mitgliedern auf eine solche Weise aufgeteilt würden, dass in jedem Teil (d. h. der Kompetenz des Oberstaates und der Gliedstaaten) eine gesonderte Staatsgewalt unabhängig von der anderen ausgeübt wird.219 Laband verneinte die Möglichkeit eines isolierten Daseins der Teilrechtsordnungen innerhalb des Bundesstaates und ohne Rücksicht auf die gesamtstaatliche Ordnung. Hier ergibt sich seines Erachtens die Frage, ob die Gliedstaaten bei der Ausübung der ihnen verbliebenen Befugnisse die von der Zentralgewalt angenommenen Rechtsnormen einhalten müssen oder ob dagegen die von den Gliedstaaten erlassenen Rechtsakte eine Schranke für die Ausübung der Zentralgewalt bilden.220 Wenn man anerkennt, dass die Einzelstaatsgewalten durch die Vorschriften der Gesamtstaatsgewalt eingeschränkt sind, dann verbleibt nur die Möglichkeit, die souveränen Handlungen der Gliedstaaten innerhalb des ihnen verbliebenen Zuständigkeitsbereiches auszuschließen. In dieser Auffassung lehnt sich Laband an die Idee Helds an, nach der die Gliedstaaten auch hinsichtlich ihrer Aufgabengebiete den mittelbaren oder unmittelbaren Einwirkungen des Oberstaates rechtsverpflichtend unterliegen.221 Da den Gliedstaaten die staatsbildende Souveränität nicht zusteht, sind sie keine wirklichen Staaten. Laband erkennt aber die vielschichtige staatsrechtliche Natur der Gliedstaaten an. Er betrachtete diese als 1) teils bloße Bestandteile des Gesamtstaates, 2) teils Selbstverwaltungskörper, und als 3) teils nicht souveräne, sondern autonome Staaten.222 Dies wird von der Kompetenzverteilung zwischen dem Oberstaat und den Gliedstaaten bedingt. Die Gliedstaaten wirken als bloße Bestandteile des zusammengesetzten Staates innerhalb der (im modernen Sinne) ausschließlichen Kompetenz des Gesamtstaates. Als Selbstverwaltungskörper handeln die Gliedstaaten in dem Fall, wenn sie im Auftrag des Oberstaates die ihnen nicht zugewiesenen einzelnen Befugnisse nach relativ eigenem Ermessen ausüben. Komplizierter wäre zu begründen, warum die Gliedstaaten in Einzelfällen wiederum als echte Staaten agieren können.
218 219 220 221 222
Vgl. Laband, Reichsstaatsrecht, § 2 S. 17, § 4 S. 24 ff.; ders., Staatsrecht I, § 9 S. 89. Vgl. Laband, Reichsstaatsrecht, § 2 S. 19; ders., Staatsrecht I, § 8 S. 74. Vgl. Laband, Staatsrecht I, § 8 S. 74. Vgl. Laband, Staatsrecht I, § 8 S. 74 (besonders Fn. 2), § 10 S. 107. Vgl. Laband, Reichsstaatsrecht, § 5 S. 30.
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Als Mitglieder des Bundesstaates, die zugleich die Mitträger der souveränen Zentralgewalt sind, besitzen die Gliedstaaten das objektive Recht auf Existenz. Im Unterschied zu den einzelnen subjektiven Rechten, die aus der grundlegenden Kompetenz des Gesamtstaates abgeleitet sind, kann den Gliedstaaten ihr Existenzrecht seitens des Oberstaates nicht entzogen werden. Fraglich ist aber, inwieweit die Existenz der Gliedstaaten durch die Bundesverfassung geboten und gewährleistet werden kann. Logischerweise kann der Gliedstaat als staatsartiges Gebilde sein Existenzrecht nur innerhalb eines Gestaltungsspielraums, der durch die Beschränkung der oberstaatlichen Kompetenz einzuräumen ist, frei ausüben. Das Problem besteht darin, dass die konkrete Gestaltung des neuen Deutschen Reiches dem Oberstaat die Möglichkeit gibt, seinen Zuständigkeitsbereich durch eine einfache gesetzgeberische Änderung der Bundesverfassung auszudehnen (KompetenzKompetenz nach Art. 78 RV) und insofern das Existenzrecht der Gliedstaaten bis zur Inhaltslosigkeit zu verengen und deren Existenzfähigkeit als autonome Gefüge einer Gefahr auszusetzen.223 Außer dem Existenzrecht verfügen die Gliedstaaten noch über die einzelnen subjektiven Hoheitsrechte (jura singulorum), welche außerhalb der Kernkompetenz des Oberstaates liegen. Diese öffentlich-rechtlichen Funktionen werden durch die Gliedstaaten frei und unabhängig vom Oberstaat ausgeübt. Im Unterschied zum Existenzrecht können sie aber auch entzogen werden. Da der Gesamtstaat in Gestalt des Oberstaates idealerweise eine unbegrenzte Kompetenz hat, können so die bundesverfassungsrechtlich festgestellten Machtsphären innerhalb des Bundesstaates auf andere Weise einseitig abgegrenzt werden und die bisher den Gliedstaaten zustehenden Befugnisse nun in die Kompetenz des Oberstaates fallen.224 Hier stellt sich die Frage, wie sich die Bundesglieder als autonome Staaten von Gliedstaaten im Sinne von Selbstverwaltungskörpern unterscheiden. Laband schrieb den Gliedstaaten eines Bundesstaates die Eigenschaft der Selbstgesetzgebung oder Autonomie zu. Unter Berücksichtigung der altreichsdeutschen Staatsrechtstradition, nach der den altdeutschen Einzelstaaten die Autonomie zuerkannt wurde, wich Laband jedoch von dem früheren Verständnis der gliedstaatlichen Autonomie ab: Der Begriff der Autonomie war für ihn analog zum Begriff der Selbstverwaltung. Diesen Begriff ordnete er nicht einem Rechtsbegriff zu. Er sah die Autonomie lediglich als Ausdruck der rechtlich anerkannten Willens- und Handlungsfähigkeit an. Im Gegensatz zur staatsbildenden Souveränität stellt die gliedstaatliche Autonomie im staatsrechtlichen Sinne nur die gesetzgebende Gewalt dar. Das bedeutet, dass die Selbstgesetzgebung als besondere Eigenschaft nur denjenigen Gebilden zukommen kann, welche den von der über ihnen stehenden Hoheitsgewalt verabschiedeten Gesetzen auch im eigenständigen Zuständigkeitsbereich untergeordnet werden könnten. Während die souveräne Staatsgewalt selbstverständlich fähig ist, Gesetze ohne Sanktion Dritter für sich selbst zu erlassen, setzt die gliedstaatliche Autonomie 223 224
Vgl. Laband, Staatsrecht I, § 12 S. 124; ders., Reichsstaatsrecht, § 7 S. 35. Vgl. Laband, Reichsstaatsrecht, § 5 S. 29, § 7 S. 35.
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eine nicht souveräne, öffentlich-rechtliche Gewalt voraus, die dazu berechtigt ist, nicht aufgrund einer bloßen Delegation seitens des Oberstaates verbindliche Rechtsnormen zu erlassen; bei der Ausführung der eigenen Gesetze sind die Gliedstaaten auch von der Aufsicht des Oberstaates befreit.225 Der Unterschied liegt aber darin, dass diese den Gliedstaaten verbliebenen Hoheitsaufgaben vom Oberstaat verfassungskonform jederzeit entzogen werden können. Laband ergänzte dazu, dass soweit die Autonomie reicht, den Gliedstaaten auch die eigene vollziehende Gewalt im vollen Umfang zusteht. Im Unterschied zum Selbstverwaltungskörper bestimmt der Gliedstaat selbst durch eigene Gesetzgebung Ziele und Mittel der Verwaltung.226 So verfügen die Gliedstaaten des Bundesstaates im Rahmen des ihnen abgegrenzten Kompetenzbereichs über eine eigene Gesetzgebung und Verwaltung. Der Besitz einer eigenen Kernkompetenz zusammen mit den durch die Bundesverfassung zugeschriebenen Befugnissen und die in diesem Rahmen ausgeübte gesetzgebende und vollziehende Gewalt sind ein Beleg für die Staatspersönlichkeit der Gliedstaaten. Für die Verwirklichung der Autonomie benötigen die Gliedstaaten (wie auch die souveränen Staaten) einen eigenen Apparat. Die innere Organisation betrachtete Laband (wie auch Hänel) als von der Kompetenz abgeleitetes, aber notwendiges Element der Staatlichkeit.227 Er ließ aber unbeantwortet, ob die übergreifende Kompetenz des Gesamtstaates in Gestalt des Oberstaates auch die Organisation der Gliedstaaten betrifft und falls ja, in welchem Umfang. Wenn man von der Unentbehrlichkeit der Kernkompetenz der Gliedstaaten als Mitglieder des Bundesstaates ausgeht, gilt die Selbstorganisation als Ausweis der Selbständigkeit und Existenzfähigkeit der Gliedstaaten. Logischerweise ist der Gliedstaat zu seiner inneren staatlichen Organisation berechtigt und in dieser Hinsicht selbstverantwortlich. Wie wäre es aber in dem Fall, wenn der Zuständigkeitsbereich der Gliedstaaten variabel ist und nach dem Ermessen des Oberstaates geändert werden kann oder wenn die gliedstaatlichen Organe die Befugnisse des Oberstaates im Auftrag des Letzteren ausüben? Soll dann die Staatsorganisation durch die Vorschriften der Zentralgewalt verankert werden oder mindestens mit Rücksicht auf die Erfordernisse der gesamtstaatlichen Organisationsgrundsätze? Ungeachtet seiner ausführlichen und theoretisch begründeten Bundesstaatstheorie blieben diese Fragestellungen bei Laband leider unbeantwortet.
225 226 227
Vgl. Laband, Staatsrecht I, § 10 S. 107 f.; ders., Reichsstaatsrecht, § 5 S. 28, 29. Vgl. Laband, Staatsrecht I, § 10 S. 108; ders., Reichsstaatsrecht, § 5 S. 30. Vgl. Laband, Reichsstaatsrecht, § 5 S. 28 f.
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6. Siegfried Brie als Anwalt der klassischen Staatenstaatstheorie Die mit der Gründung des neuen Deutschen Reiches aufgekommene Bundesstaatstheorie, die von Meyer, Schulze, Hänel und Laband vertreten wurde, stieß auf deutliche Ablehnung seitens des bedeutendsten Bundesstaatshistorikers der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, namentlich des bereits mehrfach erwähnten und zitierten Breslauer Professors Siegfried Brie. Er teilte weder die zeitgenössischen Konstruktionsversuche im Hinblick auf das Bismarcksche Reich, welche die Staatsqualität der Bundesglieder anzweifelten bzw. den Gesamtstaat und die Gliedstaaten nur als Faktoren eines Staatswesens betrachteten, noch diejenigen Auffassungen, nach denen der Staatscharakter gleichermaßen dem Oberstaat und den Gliedstaaten zukommt. Brie war der Auffassung, dass die neueren Bundesstaatstheorien unter dem Einfluss der reichsdeutschen Verfassungspraxis der dogmatischen Darlegung des Föderalismus als Organisationsprinzips des Staates einen falschen Weg eingeschlagen hatten.228 Der Bundesstaatsbegriff stützt sich nach Brie auf die dem Bundesstaat als zusammengesetztem Gemeinwesen charakteristische Doppelnatur. Diese findet ihre Ausprägung darin, dass der Bundesstaat zugleich Bund und Staat ist. Einerseits bildet er einen aus Staaten zusammengesetzten, föderativ organisierten Gesamtkörper (Bund), andererseits ist er als Organisationsform der Existenz der Gesamtheit der Menschen – des Gesamtvolkes – berufen (Staat). Der Bundesstaatsbegriff vereinigt daher alle wesentlichen Merkmale sowohl des Bundes als auch des Staates in sich: Diese sind nicht getrennt, sondern zu einer einheitlichen Gestaltung verschmolzen.229 Seinem Wesen nach sah Brie den Bundesstaat als einen Verein (eine Assoziation) von Staaten an, welcher – obwohl er zum Zweck der allseitigen Ergänzung der Einzelstaaten berufen ist – zugleich selbst Staatscharakter hat.230 Brie ging davon aus, dass die Gliedstaaten dem Gesamtstaat bei der Zusammensetzung des Bundesstaates nur gewisse Befugnisse aus freiem Willen übertragen. Daraus folgt, dass die Gliedstaaten jedenfalls eine eigene bisherige Staatsgewalt weiter besitzen und ihnen eine umfassende Kompetenz zusteht. Abgesehen von der Übertragung vieler einzelner Funktionen zugunsten des Gesamtstaates verfügen die Gliedstaaten über einen prinzipiell unbegrenzten Wirkungskreis, innerhalb dessen sie als wirkliche Staaten eigene Hoheitsgewalt ausüben.231 Im Unterschied zur zuvor herrschenden Bundesstaatslehre war Brie der Auffassung, dass die Staatsqualität der Bundesglieder keine vom Gesamtstaat abgesonderte Existenz bedingt. Der Gesamtstaat und die Gliedstaaten befinden sich in einer na228 Vgl. Brie, Siegfried, Theorie der Staatenverbindungen, Stuttgart 1886, S. 96 ff. (vgl. auch die Fußnoten). 229 Vgl. Brie, Staatenverbindungen, S. 95 f. 230 Vgl. Brie, Staatenverbindungen, S. 99, 135. 231 Vgl. Brie, Staatenverbindungen, S. 96, 106.
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turgemäß engen Wechselwirkung, welche aus staatsrechtlicher Sicht bedeutet, dass die Einzelstaaten als die Mitglieder des Bundesstaates einerseits an die gesamtstaatlichen Rechtsbestimmungen gebunden sind und andererseits an der Bildung des Gesamtwillens teilnehmen. Im Bundesstaat als einer der Staatenverbindungen wird dennoch der Gesamtbereich der Beziehungen der Gliedstaaten zum Oberstaat (das sog. Bundesverhältnis) als Unterordnungsverhältnis charakterisiert. Diese Subjektion der Partikularstaatsgewalten unter die Gesamtstaatsgewalt wurde laut Brie mittels der folgenden Instrumente erreicht: 1) die Verankerung der Schranken des Willens der Einzelstaaten im Interesse der Gesamtheit (d. h. die bundesstaatliche Homogenität); 2) der Vorrang des Gesamtstaatswillens vor dem Willen der Gliedstaaten (d. h. der Grundsatz „Bundesrecht bricht Landesrecht“; vgl. dazu Art. 2 S. 1 RV: „[…] die Reichsgesetze den Landesgesetzen vorgehen.“); 3) die Tätigkeit der Einzelstaaten den Interessen des Gesamtstaates positiv dienstbar zu machen (d. h. die bundesverfassungsrechtlich erlaubte (bestimmte) Teilnahme der Gliedstaaten an der Bildung des Gesamtwillens, z. B. durch den Bundesrat; vgl. dazu Art. 6 ff. RV).232 Abgesehen davon, dass bei den Gliedstaaten zahlreiche Hoheitsrechte verbleiben, in deren Ausübung sie bisher nicht eingeschränkt wurden, fordert die Unterwerfung unter den konstituierenden Gesamtwillen keine Zuordnung eines bestimmten Bereichs, innerhalb dessen die Gliedstaaten über eine höchste Gewalt verfügen. Hier spricht Brie den Gliedstaaten die staatliche Souveränität ab: „Sie sind wirkliche Staaten, aber nicht souveräne Staaten“ (Hervorh. im Original).233 Fehlerhaft fand er auch die Behauptung, dass die Gliedstaaten in ihrer Gesamtheit als Träger bzw. Mitträger der gesamtstaatlichen Souveränität betrachtet werden können: Auch in diesem Fall steht den Einzelstaaten kaum Souveränität zu. Im Gegensatz dazu stellte Brie fest, dass im neuen Deutschen Reich die Gliedstaaten in ihrer Gesamtheit Träger der Zentralgewalt sind. Die Ausübung der Gesamtstaatsgewalt im Reich wurde dem Bundesrat zugeschrieben. Da dieser aus den Vertretern der Gliedstaaten bestand (Staatsoberhäuptern und anderen Amtsträgern), gelangte Brie zu der Schlussfolgerung, dass der Gesamtwille im Bundesstaat in der Tat durch die Einzelstaaten ausgeübt wird und diese daher auf eigenem Recht beruhende und umfassende Staatsgewalten besitzen.234 Die Doppelnatur des Bundesstaates äußert sich auch in der inneren Organisation. Die Staatsqualität des Gesamtstaates und seiner Glieder ist in erster Linie in der Staatsorganisation ausgeprägt.235 Da die Gründung des neuen Deutschen Reiches als Bundesstaat durch die Zusammensetzung der organisationsrechtlich schon bestehenden Einzelstaaten erfolgte, erforderte dies bei der Konstituierung des neuen Gemeinwesens einerseits die Berücksichtigung der historisch-politischen Verhältnisse der Einzelstaaten untereinander und andererseits die Sicherung der inneren 232 233 234 235
Vgl. Brie, Staatenverbindungen, S. 109 f. Brie, Staatenverbindungen, S. 112 (vgl. auch Fn. 2). Vgl. Brie, Staatenverbindungen, S. 126, 134. Vgl. Brie, Staatenverbindungen, S. 116, 117.
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Harmonie zwischen den Gliedstaaten und dem Oberstaat. Vor allem sah Brie diese Harmonie in der Übereinstimmung der Staatsformen des Gesamtstaates und seiner Glieder (d. h. die Homogenität der Staatsformen), die rechtlich oder nur faktisch erreicht werden darf.236 Hier rechtfertigt Brie das tatsächliche Fehlen der Homogenitätserfordernisse in der RV und begründet daher diese theoretische Auffassung auch wie seine Opponenten mit praktischen Erwägungen, nämlich mit der verfassungsrechtlichen Gestaltung des neuen Deutschen Reiches. Man kann vermuten, dass die Geringschätzung der notwendigen normativen Kraft des bundesstaatlichen Homogenitätsgebotes von Brie und auch seinen Zeitgenossen durch die herrschende Vorstellung von der vertraglichen Gründung des Bundesstaates bedingt wurde. Die Bundesverfassung wurde als staatsgründender Vertrag betrachtet, d. h., es wurde angenommen, dass die Bundesverfassung als Willensäußerung aller zukünftigen Bundesglieder die tatsächlich entstandene Sachlage nur formal feststellt. Bries Theorie forderte die im ausgehenden 19. Jahrhundert im deutschsprachigen Raum herrschende Bundesstaatslehre heraus. Seine These über die Gliedstaaten als nichtsouveräne Staaten bildete den Eckpfeiler einer gleichzeitig formulierten neuartigen Bundesstaatstheorie.
7. Georg Jellineks Bundesstaatstheorie: Gliedstaaten als eine Art von nichtsouveränen Staaten Noch stärker wich in seinen Erörterungen von der zeitgenössisch herrschenden Bundesstaatslehre der prominenteste Staatsrechtler um die Jahrhundertwende Georg Jellinek ab. Dank seiner österreichischen Herkunft und wissenschaftlichen Tätigkeit an der Universität Wien beeinflusste der spätere Heidelberger Professor die gesamte deutschsprachige Staatsrechtslehre in starkem Maße und auf Jahre hinaus. Jellineks konzeptionelle Herangehensweise an den Staat hatte eine entscheidende Bedeutung für die Entstehung seiner neuartigen Bundesstaatstheorie, die Grundzüge sowohl der früheren Waitzschen Theorie als auch der zeitgenössischen Auffassungen von Held, Hänel und Laband in sich vereinte. Jellinek gründete seine Theorie nicht nur auf die früheren Erkenntnisse der germanischen Bundesstaatslehre, sondern auch das römische Privatrecht und die zahlreichen Fälle aus der Entstehungsgeschichte der Staatlichkeit. Der Ausgangspunkt seiner Konzeption des Bundesstaates war die an den historischen und damaligen Beispielen angelehnte Betrachtung, dass es zwischen dem Staat einerseits und den unselbständigen Teileinheiten eines Einheitsstaates andererseits eine Zwischenstufe gibt – die politischen Gebilde, die einer Obergewalt unterworfen sind und selbst keine souveränen Staaten bilden, aber zugleich in diesen Staatskörper nicht ganz eingebunden werden und die staatlichen Anlagen darstellen. Diese bezeichnete Jellinek als Staatsfragmente, zu denen auch
236
Vgl. Brie, Staatenverbindungen, S. 118, 134.
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die Gliedstaaten (Länder) gehören.237 Die besondere Stellung der Gliedstaaten im Bundesstaat forderte eine besondere theoretische Begründung, die Jellinek in der Negation der Souveränität als staatsbildender Eigenschaft fand. a) Die Souveränität ist kein wesentliches Merkmal der Staatsgewalt Jedem echten Staat steht ein eigenes Territorium (Staatsgebiet), eigene Angehörige (Staatsvolk) und eigene Herrschaftsgewalt (Staatsgewalt) zu (sog. DreiElemente-Lehre).238 Aus organisationsrechtlicher Sicht ist der Besitz einer eigenen Gewalt die wichtigste Voraussetzung des Daseins des Staates. Die Staatsgewalt ist die unabgeleitete und nicht weiter ableitbare Herrschaftsgewalt, sie geht von eigener Macht aus und wird deshalb zu eigenem Recht ausgeübt.239 Die Naturrechtslehre ging davon aus, dass die Hoheitsgewalt des Staates die Souveränität als wesentliches Merkmal besitzt. Unter Souveränität wurde einerseits die Einheit aller staatlichen Hoheitsrechte verstanden. Andererseits bedeutet die Souveränität für den Staat, dass er kraft dieser Eigenschaft nur durch eigenen Willen gebunden werden kann und jede Unterordnung oder Beschränkung ausgeschlossen ist. Daraus folgt, dass der Souveränitätsbegriff die unabhängige (nach außen, im Verkehr mit anderen souveränen Staatsgewalten) und höchste (nach innen, in Bezug auf die innerstaatlichen Teileinheiten) Herrschaftsgewalt umfasst, die der Staat von seiner souveränen Natur aus innerhalb des von ihm selbst abgegrenzten Kompetenzbereichs ausübt. Diese untereinander verbundenen Elemente – die frei ausgeübte Herrschaftsgewalt innerhalb des selbstbestimmten Tätigkeitskreises – bilden die Staatssouveränität, die Jellinek in Analogie zum Begriff aus dem römischen Privatrecht auch als Imperium (lat. imperium, „riesiger Macht, Herrschaftsbereich“) bezeichnet.240 Jellinek rekurrierte auf den Vater des modernen Souveränitätsbegriffs Bodin, der den Grad der Souveränität anerkannte und von der absoluten Souveränität im Gegensatz zu der durch die geringere oder größere Abhängigkeit beschränkten Souveränität sprach.241 Wenn die Rede von einer absoluten Souveränität ist, lässt sich logischerweise vermuten, dass auch eine relative Souveränität des Staates existiert. In Anlehnung an die Geschichte und Gegenwart bemerkte Jellinek, dass es innerhalb der Staaten solche Gebilde gibt, die, obwohl sie einer höheren Staatsgewalt unterworfen sind, relativ selbständig sind und über ein eigenes Imperium verfügen. Das Problem besteht aber in der Frage, ob diese in einen Gesamtkörper eingereihten und der höheren Herrschaftsgewalt untergeordneten Gefüge, welche selbst mit einer 237
Vgl. Jellinek, Georg, Über Staatsfragmente, Heidelberg 1896, S. 10 f., 46. Vgl. Jellinek, Staatsfragmente, S. 11; ders., Allgemeine Staatslehre, 3. Aufl., Darmstadt 1959, S. 394 ff. 239 Vgl. Jellinek, AStL, S. 489 f. 240 Vgl. Jellinek, Staatenverbindungen, S. 26 ff., 34 f.; ders., AStL, S. 475, 486. 241 Vgl. Jellinek, Staatenverbindungen, S. 38 (besonders Fn. 4). 238
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Herrschaftsgewalt ausgerüstet sind, trotz dieser Unterwerfung Staatsqualität besitzen können oder nicht. Der Ausweg aus diesem Dilemma wurde zunächst in der geteilten Souveränität zwischen dem Gesamtstaat und seinen Gliedern gefunden (altreichsdeutsche Staatslehre und Waitzsche Bundesstaatstheorie). Als man sich später auf die Unteilbarkeit der Souveränität innerhalb eines Staates verständigte, wurde den Gliedstaaten der Charakter selbständiger (souveräner) Staaten abgesprochen. Diese Negation der nichtsouveränen Staatlichkeit der bundesstaatlichen Glieder beurteilte Jellinek als die schlimmsten Folgerungen der abstrakten und staatenweltfernen reinen Begriffsjurisprudenz.242 Die Lösung dieser theoretischen Streitfrage sah Jellinek in der Verneinung der Souveränität als notwendiges Merkmals des Staates: Seiner Ansicht nach bildet die Staatssouveränität keine staatsrechtlich relevante, sondern eine historische Kategorie.243 Wenn Souveränität keine staatsprägende Eigenschaft ist, kann man von zwei Arten der Staaten sprechen: souveräne und nichtsouveräne. Jellineks nichtsouveräner Staat ist ein rechtspolitisches Gebilde, das mit einer Herrschaftsgewalt ausgerüstet ist, seine staatlichen Aufgaben mit eigener selbständigen Organisation und Mitteln erfüllt, aber nicht souverän ist. Fraglich aber ist, wie sich ein nichtsouveräner Staat einerseits vom souveränen Staat und andererseits von nichtstaatlichen Gebilden, die einem Staatskörper gänzlich unterworfen sind (die Teileinheiten des Einheitsstaates), unterscheidet. Fraglich ist außerdem, was eine völkerrechtliche Verbindung souveräner Staaten (gemeint ist der Staatenbund) von einer staatsrechtlichen unterscheidet, in der es ein Unterordnungsverhältnis zwischen souveräner Gesamtheit und nichtsouveränen Mitgliedern gibt (gemeint ist der Bundesstaat).244 Ein Staat ist nur dann vorhanden, wenn ein Gemeinwesen mit eigener ursprünglicher Hoheitsgewalt die Herrschaft über sein Territorium und seine Angehörige gemäß einer ihm zustehenden eigentümlichen inneren Ordnung sichert. Kraft des Besitzes einer Staatsgewalt zu eigenem Recht handelt jeder Staat als öffentlichrechtliche Körperschaft nach innen und nach außen nach seinem Ermessen frei. Diese Eigenschaft kann nur dem Staat zukommen und heißt nach der klassischen Naturrechtslehre Souveränität, d. h. die Fähigkeit ausschließlicher rechtlicher Selbstbestimmung.245 Allerdings weisen die Gliedstaaten als nichtsouveräne Staaten tatsächlich auch einen selbständigen Wirkungskreis auf, in dessen Rahmen alle staatlichen Tätigkeiten frei ausgeübt werden. Was aber den Unterschied zwischen den nichtsouveränen Staaten und den souveränen Staatswesen aus der Sicht des Staats- und Völkerrechts betrifft, ist nach Jellinek Folgendes anzumerken: Den nichtsouveränen Staaten steht ein in seiner Reichweite begrenzter Gestaltungsspielraum zu. Trotz der Selbständigkeit der Herrschaftsgewalt der nichtsouveränen Staaten und ihrer freien Ausübung innerhalb des ihnen verliehenen Bereiches wird 242 243 244 245
Vgl. Jellinek, AStL, S. 486 f. Vgl. Jellinek, Staatsfragmente, S. 11; ders., AStL, S. 487. Vgl. Jellinek, Staatenverbindungen, S. 53; ders., AStL, S. 489. Vgl. Jellinek, Staatenverbindungen, S. 51 f.; ders., AStL, S. 495.
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diese Herrschaftsgewalt durch das Vorhandensein einer höheren Staatsgewalt, die dem übergeordneten Gesamtkörper zusteht und dem die nichtsouveränen Staaten organisationsrechtlich angehörig sind, naturgemäß eingeengt.246 Was die Unterscheidung der nichtsouveränen Staaten von den nichtstaatlichen Gemeinwesen betrifft, machte Jellinek ein wichtiges Kriterium aus: Im Fall der Abschaffung des übergeordneten souveränen Staates (Gesamtstaates) würden seine nichtsouveränen Mitglieder kraft ihrer Staatlichkeit die Eigenschaft der Souveränität automatisch gewinnen. Für die staatsrechtliche Umwandlung in einen souveränen Staat braucht der nichtsouveräne Gliedstaat nur die durch seine Gesetze, die von seinen zuständigen Organen erlassen werden, ausführbare Erweiterung des Zuständigkeitsbereiches bis zu dem einem souveränen Staat zustehenden Umfang. Demgemäß wäre gegebenenfalls eine Verfassungsänderung ausreichend, um bei der Auflösung eines souveränen Gemeinwesens einen nichtsouveränen Gliedstaat als unabhängigen Einzelstaat auszurufen. Nach Jellinek erfolgte eben dies im Fall der Auflösung des Alten Deutschen Reiches im Jahre 1806 und der anschließenden Entstehung mehrerer selbständiger deutscher Einzelstaaten.247 Wenn man die Souveränität als wesentliches Merkmal der Staatlichkeit verneint und jedem Staat eine eigene Herrschaftsgewalt zuschreibt, ergibt sich logischerweise die Frage, ob in einem zusammengesetzten Gesamtstaat, der als selbst souveräner Staat aus mehreren nichtsouveränen Staaten besteht, eine Vielzahl von Staatsgewalten vorhanden ist. Bejaht man diese Frage, bleibt wiederum fraglich, worin der Unterschied zwischen der altreichsdeutschen und der Waitzschen Bundesstaatslehre liegt, die die Souveränität (Staatsgewalt) allen bundesstaatlichen Mitgliedern – sowohl der Gesamtheit als auch ihren Gliedern – zuschrieb. Verneint man die Frage hingegen, ließe sich behaupten, dass es in einem Bundesstaat um eine geteilte oder fragmentierte Staatsgewalt geht, die den Besitz und die Ausübung einzelner Hoheitsrechte den Teilrechtsordnungen überließ. Sowohl die Behauptung der Existenz einer doppelten Souveränität von Oberstaat und Gliedstaat im Bundesstaat, der auch die Gleichsetzung der Souveränität und Staatsgewalt zugrunde lag, als auch die Anerkennung im Bundesstaat zweier fragmentarischer Staatsgewalten, die zusammen eine umfangreiche und vollkommene Staatsgewalt der Gesamtheit bilden, beurteilte Jellinek als völlig im Widerspruch zum Wesen der Staatsgewalt stehende Theorien, die auch zur Verwechslung der Begriffe „Staatsgewalt“ und „Souveränität“ führten.248 Jellinek teilte die Auffassung von der Unteilbarkeit der Souveränität. Im Unterschied zu seinen Vorgängern und Zeitgenossen hielt er die Vorstellung einer gedoppelten, geteilten, fragmentarischen etc. Souveränität im Bundesstaat für aus logischer Sicht unmöglich nicht angesichts der Negation der eigenen Staatlichkeit 246 247 248
Vgl. Jellinek, Staatenverbindungen, S. 52. Vgl. Jellinek, Staatsfragmente, S. 16 f. Vgl. Jellinek, AStL, S. 497, 502 f.
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der Bundesglieder, sondern aufgrund der Rechtsnatur der Souveränität. Wie die Seele als geistliches Substrat des Menschen unzerlegbar sei, könne auch die Staatssouveränität nicht geteilt werden, da sie nur eine Eigenschaft der Staatsgewalt bilde, so Jellineks Schlussfolgerung bildlich gesprochen.249 Das Problem sämtlicher bisheriger Bundesstaatstheorien bestand nach Jellinek darin, dass meistens versucht wurde, einen bestimmten sachlichen Inhalt der Souveränität festzustellen und erschöpfend zu beschreiben. Unbeachtet blieb aber die Tatsache, dass in historischer Hinsicht der Umfang der Hoheitsrechte, die als notwendige Konsequenzen der Staatssouveränität betrachtet wurden, variabel war. Ihrerseits ändert sich die Souveränität als rein formaler Begriff im Laufe der Geschichte des Staates überhaupt nicht, da sie nur einen Aspekt der Staatlichkeit bildet. Im Fall eines aus mehreren Staaten zusammengesetzten Staatswesens, in dem seinen Mitgliedern (den Gliedstaaten und selbst der Gesamtheit) ein eigener Aufgabenkreis zugeschrieben wird, geht es nicht um eine Teilung der Souveränität oder Staatsgewalt. Geteilt sind die Objekte der staatlichen Tätigkeit (Kompetenzverteilung) und nicht die subjektiven Handlungen der Organe (ausgeübte Staatsgewalt), die diese Objekte betreffen. Da die Notwendigkeit der Staatssouveränität von Jellinek verneint wurde, handelt es sich hier vielmehr um das Vorhandensein zweier getrennter Staatsgewalten im Bundesstaat, die in ihrer Kompetenz beschränkt sind und die keine einheitliche Staatsgewalt des Bundesstaates ausmachen sollten.250 Demgemäß bejahte Jellinek das Bestehen mehrerer Herrschaftsgewalten unterschiedlicher Grade innerhalb des Bundesstaates, die im Rahmen der ihnen verliehenen Wirkungskreise selbständig waren, zugleich aber der Gewalt mit dem höchsten Grad an Eigenständigkeit – der Staatsgewalt des souveränen Gesamtwesens – untergeordnet wurden. Diese Auffassung leitet nun über zur Frage nach den charakteristischen Merkmalen des Bundesstaates. b) Bundesstaatsbegriff In Anlehnung an die staatswissenschaftliche Tradition ordnete Jellinek den Bundesstaat den Staatenverbindungen zu. Ein Bundesstaat stellt einen souveränen Staat dar, in dem eine Vielzahl nichtsouveräner Staaten verfassungsrechtlich zu einer Einheit verbunden ist. Im Bundesstaat steht dem Gesamtstaat eine souveräne Staatsgewalt zu, die in ihrem Herrschaftsbereich absolut unabhängig ausgeübt wird. Als der einzige Träger der souveränen Gewalt besitzt der Gesamtstaat alle Hoheitsrechte. Kraft der Rechtsnatur des Bundesstaates werden diese Rechte aber verfassungsmäßig auf eine solche Weise verteilt, dass sich der Oberstaat nur eine bestimmte Anzahl derselben zur eigenen Ausübung vorbehält, die anderen Befugnisse jedoch den nichtsouveränen Gliedstaaten übertragen sind. Die Gliedstaaten sind ihrerseits auch mit einer eigenen (aber nichtsouveränen) Herrschaftsgewalt 249 250
Vgl. Jellinek, Staatenverbindungen, S. 35; ders., AStL, S. 497 (auch Fn. 2). Vgl. Jellinek, AStL, S. 484 ff., 503.
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ausgestattet, die sie im Rahmen des ihnen zugeschriebenen Kompetenzbereiches ohne Kontrolle seitens des Oberstaates ausüben. Diese Selbständigkeit (als Ersatz der Staatssouveränität) der Gliedstaaten ist bundesverfassungsrechtlich eingeschränkt dahingehend, dass sie mit dem Imperium des Gesamtstaates nicht kollidieren darf.251 Von diesem Begriff ausgehend lassen sich folgende Elemente des Bundesstaates hervorheben: 1) Im zweigliedrigen Bundesstaat sind nach Jellinek der souveräne Gesamtstaat und die nichtsouveränen Gliedstaaten zusammengefügt. Obwohl die Souveränität nur der Gesamtheit zusteht, bilden alle Mitglieder des Bundesstaates Staaten, die mit einer eigenen Herrschaftsgewalt und inneren Organisation ausgestattet sind. 2) Im Bundesstaat sind mindestens zwei Staatsgewalten vorhanden. Eine – souveräne – Staatsgewalt kommt dem Gesamtstaat zu, eine andere – nichtsouveräne – Staatsgewalt besitzt der Gliedstaat. Diese Gewalten sind nicht gleichwertig, die Gliedstaatsgewalt ist der Bundesgewalt unterworfen, da sie die entsprechenden Befugnisse zur freien Ausübung „von oben“ erhält. Denn der Inbegriff aller staatlichen Aufgaben steht ursprünglich ausschließlich dem Bundesstaat als Gesamtstaat zu und kann zwischen den Mitgliedern des Bundesstaates vollzählig nicht aufgeteilt werden. Daher können weder die Staatsgewalt des Gesamtstaates noch die Gewalten der Gliedstaaten als absolut selbständig voneinander betrachtet werden, da wegen der unmöglichen scharfen Trennung der Objekte der staatlichen Tätigkeit innerhalb des Bundesstaates die Herrschaftsgewalten kollidieren können. Aber genau in diesen Fällen zeigt sich die Staatsgewalt des Gesamtstaates von ihrer souveränen Natur aus als höchste Gewalt: Die ist die einzige souveräne Gewalt im Bundesstaat, deren Funktionen durch die nichtsouveränen Gliedstaatsgewalten ergänzt werden.252 3) Wenn im Bundesstaat von einer Vielzahl der Staatsgewalten die Rede ist, die voneinander unabgeleitet sind und als eigenes Recht ausgeübt werden, stellt sich die Frage nach der Qualifikation eines weiteren Elementes der staatsrechtlichen Trinität – des Staatsvolkes. Das Bestehen der doppelten Herrschaftsgewalt im Bundesstaat bewirkt in der Folge keine Verdoppelung des Volkes, sondern seine zwittrige Rechtsnatur. Im Bundesstaat existiert das einheitliche Staatsvolk, welches aber zuerst der souveränen Staatsgewalt des Gesamtstaates und sodann auch der nichtsouveränen Herrschaftsgewalt eines Gliedstaates im Umfang seiner sachlichen und territorialen Zuständigkeit unterworfen ist.253 Jellinek vertrat die klassische Staatenstaatstheorie, laut derer ein mit eigener Herrschaftsgewalt ausgestatteter Staatskörper aus mehreren selbständigen Einzel251
Vgl. Jellinek, Staatenverbindungen, S. 278; ders., AStL, S. 770 f.; ders., System der subjektiven öffentlichen Rechte, Freiburg i. Br. 1892, S. 281 f. 252 Vgl. Jellinek, Staatenverbindungen, S. 52, 272; ders., AStL, S. 782. 253 Vgl. Jellinek, Staatenverbindungen, S. 278 f., 281 f. (Kritik der Labandschen Herangehensweise).
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staaten, welche auch eine eigene Gewalt besitzen, besteht. Diese Art des Staates erhielt zunächst die Bezeichnung „Staatenstaat“ und wurde erst später in Bundesstaat umgewandelt. In Bezug auf diesen wurde aber auch weiterhin gewohnheitsmäßig der Begriff „Staatenstaat“ (meist in Klammern) verwendet. Jellinek unterschied jedoch den Bundesstaat vom Staatenstaat. Beide bilden seiner Ansicht nach Verbindungen (Verbände) mehrerer Staaten. Während aber der Bundesstaat ein zur Einheit zusammengefügtes Staatsgebilde ist, bleibt der Staatenstaat eine nichtorganisierte Staatenverbindung.254 Der Staatenstaat war im modernen Begriffssinne bereits ein Staat. Die im Mittelalter begonnene Übertragung der einzelnen, ursprünglich persönlichen Hoheitsrechte vom Suzerän an seinen Vasallen, die bei den neuen Besitzern unwiderruflich blieben und unkontrollierbar ausgeübt wurden, führte zur Bildung der objektiven Hoheitsrechte der Einzelstaaten, d. h., statt eines Privatbesitzes einzelner Hoheitsrechte erhielten die Vasallenstaaten eine eigene Herrschaftsgewalt.255 Dies war nach Jellinek auch der Fall beim Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation. Die Mitglieder des Staatenstaates – der Oberstaat und die Unterstaaten – wurden mit eigenen Staatsgewalten ausgestattet, die im Verhältnis „von Befehlendem und Gehorchendem“ zueinander standen. Der Unterstaat nimmt den oberstaatlichen Willen als etwas ihm Fremdes wahr, was keine naturgemäße Grundlage für die obligatorische Unterordnung bildet. Obwohl die Einzelstaaten zu einem gemeinsamen Staatskörper zusammengesetzt werden, verbindet die Unterstaaten mit dem Dachstaat keine oder nur eine schwache innere Organisation, welche die effektive Ausübung der „nach unten“ überlassenen gesamtstaatlichen Hoheitsrechte durch die Unterstaaten nicht gewährleisten kann. Für den Staatenstaat ist eine geringe Verflechtung zwischen den öffentlich-rechtlichen Ebenen charakteristisch, was zur Stärkung der zentrifugalen Bestrebungen führte.256 So näherten sich die Glieder des Staatenstaates zunehmend den souveränen Staaten an. Die Rechtsnatur der Gliedstaaten beurteilte Jellinek auf eine völlig andere Weise.
c) Staatsrechtliche Stellung der Gliedstaaten im Bundesstaat Die Gliedstaaten sind Mitglieder des Bundesstaates. Obwohl sie die Staaten bilden, fehlt ihnen die Eigenschaft der Souveränität und sie sind nur nichtsouveräne Staaten, was eine absolute Selbstbestimmung ausschließt. Dies bedingt die vielschichtige Identifizierung der Gliedstaaten als Mitglieder des komplexen Gemeinwesens.257 Die Idee der unterschiedlichen Identitäten der Gliedstaaten wurde schon von Brie geäußert und in groben Zügen systematisiert (! S. 141 f.). Jellinek folgte dieser Idee und ordnete sie seiner grundrechtsorientierten Statuslehre zu, die er in 254 255 256 257
Vgl. Jellinek, Staatenverbindungen, S. 137 f., 140. Vgl. Jellinek, Staatenverbindungen, S. 139. Vgl. Jellinek, Staatenverbindungen, S. 140; ders., AStL, S. 749. Vgl. Jellinek, Subjektive Rechte, S. 282.
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seinem Werk „System der subjektiven öffentlichen Rechte“ (1892) entwickelt hat. In Anlehnung an das römische Privatrecht beschrieb diese Lehre, dass die Persönlichkeit eines jeden Menschen eine Relation desselben zum Staat darstellt. Dieses Verhältnis nennt Jellinek Status, an den die subjektiven Rechte des Individuums angeknüpft werden. Diese Herangehensweise übertrug er auch auf die öffentlichrechtlichen Verhältnisse zwischen dem Gesamtstaat und seinen Mitgliedern. Jellinek unterschied vier Formen des Status (im Folgenden die im Original verwendete Reihenfolge): status subjectionis (der passive Status), status libertatis (negativus bzw. der negative Status), status positivus (der positive Status) und status activus (der aktive Status). aa) Status subjectionis Der passive Status der Gliedstaaten äußert sich in ihrer Unterwerfung unter die souveräne Bundesgewalt. Was die Reichweite dieser Unterwerfung anbelangt, ist die Staatsqualität des untergeordneten Gliedstaates ausgeschlossen und hat er die Identität einer Teileinheit des Staates. Das ist für den ausschließlichen Zuständigkeitsbereich des Gesamtstaates charakteristisch. In diesem Fall wandelt sich der Gliedstaat vom Rechtssubjekt zu einem Pflichtsubjekt. Die Willensfähigkeit der Gliedstaaten ist sehr eingeschränkt, was sie an die Selbstverwaltungskörper annähert. Der Gesamtstaat ist kraft seiner Souveränität berechtigt, den Gliedstaaten die ihnen eigeräumten Hoheitsrechte jederzeit und nach eigenem Ermessen, ohne deren Zustimmung zu entziehen und die gliedstaatlichen Organe zur verbindlichen Ausübung der gliedstaatlichen Funktionen zu verpflichten. Der Grad dieser Verpflichtung (und entsprechend der Berechtigung) kann allein vom Gesamtstaat abgestuft bestimmt werden.258 bb) Status libertatis (negativus) In Analogie zu den persönlichen Abwehrrechten erhalten die Gliedstaaten als Mitglieder der Gesamtheit mit dem negativen Status einen von der Bundesgewalt befreiten Raum. Diese Sphäre ist durch die Fähigkeit der Gliedstaaten zur Selbstherrschaft und Selbstorganisation gekennzeichnet. Ebenjene Eigenschaften unterscheiden die Gliedstaaten von den Selbstverwaltungskörpern und bloßen Provinzen eines Einheitsstaates und belegen daher ihre echte Staatlichkeit.259 Dieser freie Gestaltungsspielraum wird durch die Gliedstaaten nach eigenem, durch den Oberstaat inhaltlich nicht determiniertem Recht erfüllt. Auf diesem Gebiet breiten die Gliedstaaten eine eigene, vom Bundesstaat nicht abgeleitete Herrschaftsgewalt aus und betätigen sich als wirkliche Staaten. Die Fähigkeit, innerhalb 258 Vgl. Jellinek, Subjektive Rechte, S. 282; ders., Staatenverbindungen, S. 290 f., 296; ders., AStL, S. 491, 771. 259 Vgl. Jellinek, Subjektive Rechte, S. 283; ders., AStL, S. 489.
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der bestimmten Sphäre selbständig und unabhängig zu handeln, kann als Selbstherrschaft oder Autonomie bezeichnet werden. Ebenjene Autonomie bestätigt die öffentlich-rechtliche Subjektivität des Bundesglieds als Staat (mit anderen Worten bildet sie die Eigenschaft eines Rechtssubjektes).260 Die Gliedstaaten sind aber nichtsouveräne Staaten. Nur der die Souveränität tragende Staat kann selbst seine Kompetenz mit einer notwendigen Organisation gestalten. Die Gliedstaaten sind berechtigt, sich lediglich innerhalb der vom Bundesstaat bestimmten Schranken frei zu betätigen. Diese Schranken sind für die Verfassungen der Gliedstaaten einzuführen: Sie legen den Umfang des Handlungsraums fest, der genügend freie Bewegung für die staatliche Tätigkeit der Gliedstaaten gewährleistet. Fraglich ist, welche Rechtsnatur diese Schranken haben sollten. Jellinek gab hierauf eine zweideutige Antwort: Einerseits schrieb er, dass die Schranken für die gliedstaatlichen Verfassungen in den bundesstaatlichen Gesetzen gezogen sein können.261 Andererseits sprach er sich dafür aus, dass den Gliedstaaten ihre Wirkungskreise durch die Bundesverfassung eingeräumt werden sollen.262 Diese theoretische Unbestimmtheit spielt für die Selbstorganisation der Gliedstaaten in der Tat eine große Rolle, was weiter unten ausführlich betrachtet werden wird. cc) Status positivus Den positiven Status der Gliedstaaten bilden die ihnen zugewiesenen staatsrechtlichen Ansprüche. Diese Ansprüche folgen aus dem Existenzrecht der Gliedstaaten als nichtsouveräner Staatsgefüge. Zuallererst geht es um den Komplex von Ansprüchen auf die Anerkennung des ihnen zustehenden Status. Im Rahmen des positiven Status haben die Gliedstaaten folgende Ansprüche innerhalb ihrer freien Gestaltungsspielräume: 1) auf die Verhinderung sowie Aufhebung der das Bundesverhältnis verfassungswidrig ausdehnenden oberstaatlichen Vorschriften; 2) auf die Anerkennung der im Interesse der Gliedstaaten statuierten positiven Forderungen nach der bundesstaatlichen Tätigkeit; 3) auf Anerkennung der gesicherten Teilnahme der Gliedstaaten an der Gestaltung des gesamtstaatlichen Willens.263 Dies sind die Ansprüche der Gliedstaaten auf sozusagen Selbstverwirklichung als selbständige Staaten. Damit die Gliedstaaten das Substrat ihrer Staatlichkeit absichern können, sind ihnen die entsprechenden Ansprüche zuzuordnen. Jellinek bezeichnete diese als konkrete Leistung des Gesamtstaates im gliedstaatlichen Interesse und verglich sie mit dem grundrechtlichen Rechtsschutzanspruch von Privatpersonen. Der Rechtsschutz der Gliedstaaten als Mitglieder des Bundesstaates ist nach innen und nach außen gerichtet. Der innere Rechtsschutz gewährleistet den Gliedstaaten die Verabschiedung und Beibehaltung eigener Verfassungen und die 260 261 262 263
Vgl. Jellinek, Subjektive Rechte, S. 281 f., 283 f.; ders., AStL, S. 493. Vgl. Jellinek, AStL, S. 491. Vgl. Jellinek, Staatenverbindungen, S. 291. Vgl. Jellinek, Subjektive Rechte, S. 284 f.
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Lösung von Verfassungsstreitigkeiten durch ein Bundesorgan. Der äußere Rechtsschutz bietet den Gliedstaaten den Anspruch auf Abwehr von bundesverfassungswidrigen und das Gliedstaatsrecht betreffenden Eingriffen seitens des Oberstaates sowie die friedliche und rechtskonforme Beilegung öffentlich-rechtlicher Streitigkeiten zwischen den Gliedstaaten.264 Was genau diese Ansprüche der Gliedstaaten inhaltlich darstellen, hängt von der Gestaltung des konkreten Bundesstaates ab und wird durch die entstehungsgeschichtlichen, politischen und sozialen Verhältnisse bedingt. Sie finden ihre Verankerung in der bundesstaatlichen Verfassungsgesetzgebung. Die allgemeine Staatslehre kann nach Jellinek keine ausführliche Beschreibung vorschlagen.265 Obwohl der Bundesstaat eine besondere staatsrechtliche Natur hat, bleibt nur der Gesamtstaat souverän. Er räumt den Gliedstaaten einen eigenen Wirkungskreis ein, innerhalb dessen sie ihre Herrschaftsgewalt frei und selbständig ausüben können. Da die Gliedstaaten nichtsouverän sind, ist ihre Selbständigkeit bundesverfassungsrechtlich eingeschränkt. Und diese Schranken, die vom Gesamtstaat bestimmt sind, haben keinen absoluten Charakter für den Gesamtstaat. Jellineks Erachtens bildet das Existenzrecht der Gliedstaaten keine absolute, den gesamtstaatlichen Willen bindende Schranke. Auch die absolute Begrenzung der eigenen Zuständigkeitsbereiche durch den Gesamtstaat ist diesem nicht zu setzen. In diesem Zusammenhang gelangt Jellinek zu der Schlussfolgerung, dass der Gesamtstaat als der einzige Souverän im Bundesstaat den Gliedstaaten sämtliche diesen zugewiesene Hoheitsrechte potenziell entziehen, deren Staatsqualität nivellieren und sie in Selbstverwaltungskörper oder bloße Teileinheiten eines Einheitsstaates umwandeln könnte. Die Existenz der Gliedstaaten darf letztendlich dem Willen des Gesamtstaates nicht zuwiderlaufen.266 dd) Status activus Mit dem aktiven Status sind die Gliedstaaten berechtigt, einen Anspruch auf die Teilnahme an der Bildung des Gesamtwillens zu haben. Hier können bspw. die Teilnahme der Gliedstaaten an der Bundesgesetzgebung und die Vertretung ihrer Interessen durch ein Bundesorgan erwähnt werden. d) Selbstorganisation der Gliedstaaten Die Herrschaftsgewalt als wesentliches Merkmal der Staatlichkeit umfasst nicht nur die Kompetenz. Seine Funktionen übt der Staat durch die Organe aus. Daraus folgt, dass ein Staat die Organe der Gesetzgebung, Verwaltung und Gerichtsbarkeit besitzen muss. Dies bezeichnete Jellinek als Eigenschaft der Organträgerschaft, d. h. 264
Vgl. Jellinek, Subjektive Rechte, S. 285. Vgl. Jellinek, Staatenverbindungen, S. 290; ders., Subjektive Rechte, S. 285. 266 Vgl. Jellinek, Staatenverbindungen, S. 290 f., 301, 304; ders., Subjektive Rechte, S. 289 f.; ders., AStL, S. 783. 265
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die Fähigkeit, eine eigene Herrschaftsgewalt durch eigenständige Staatsorgane auszuüben. Ein wirklicher Staat existiert durch eigene Organe, die sein Dasein gewährleisten. Die Tätigkeit der Staatsorgane bildet die Tätigkeit des Staates selbst. Wenn ein Gebilde seine Organisation von einem anderen Staat (z. B. Oberstaat) kraft seines (fremden) Rechts erhält, handelt es sich nicht um einen Staat.267 Die Selbstorganisation der Herrschaftsgewalt, d. h. die innere Organisation nach der eigenen Verfassungsgesetzgebung, bezeichnete Jellinek als erstes Merkmal einer selbständigen Herrschaftsgewalt. Die Gliedstaaten als nichtsouveräne Staaten besitzen eine eigene Organisation, die nicht auf dem Willen des Oberstaates beruht und durch die sie ihre Identität der Staaten bestätigen. Daher bilden die Gliedstaaten des neuen Deutschen Reiches echte Staaten, welche ausschließlich aufgrund ihrer eigenen, nicht vom Oberstaat oktroyierten Verfassungen die Staatsorganisation gestalten können.268 Die Organe der Gliedstaaten sind wirkliche, mit den Bundesorganen vergleichbare Staatsorgane, weil durch sie die Gliedstaatsgewalt ausgeübt wird und sie daher die staatlichen Aufgaben unmittelbar besorgen. Da die Gliedstaaten allerdings nicht souverän sind, kann die Kompetenz ihrer Staatsorgane deswegen eingeschränkt sein, was aber nach Jellinek geringfügig ist, denn es genügt bereits das Vorhandensein der Organe der Gesetzgebung, Vollziehung und Rechtsprechung, um die Staatsqualität der Bundesglieder zu bewahren.269 Der Besitz einer eigenen Organisation und der mit dieser verknüpften Machtverteilung bezeichnete Jellinek als das erste Kriterium, das die Unterscheidung eines Staates von einem nichtstaatlichen Gebilde erleichtert.270 Hier muss auch die Reihenfolge beachtet werden: Denn aus der Reihenfolge folgt, dass die Staatsorganisation die Kompetenzverteilung bedingt. Für Jellinek stand im Unterschied zu seinem Vorgänger die innere Organisation des Staates an erster Stelle. Die Verteilung der Zuständigkeitsbereiche folgt aus der Organträgerschaft der Staaten, da sie die ihnen zustehende Herrschaftsgewalt nur durch die Organe ausüben können, und nicht umgekehrt, so dass nach der Verteilung der Kompetenz zwischen dem Oberstaat und den Gliedstaaten die Organe für die Erfüllung der Befugnisse eingerichtet werden. Obwohl die Gliedstaaten über eine eigene Staatsorganisation verfügen, die sie nach der inneren Verfassungsgesetzgebung gestalten, berührt dieser Umstand nicht die Tatsache, dass allein der Gesamtstaat souverän ist. Hier stellt sich die Frage, in welchem Maß der Gesamtstaat die Staatsorganisation seiner Glieder beeinflussen darf. Dies lässt sich nach Jellinek nicht auf eine universelle Formel bringen. Er war aber der Meinung, dass eine bestimmte Verankerung der inneren Organisation der 267 Vgl. Jellinek, Staatsfragmente, S. 15; ders., Staatenverbindungen, S. 25; ders., AStL, S. 491. 268 Vgl. Jellinek, AStL, S. 491, 492, 493. 269 Vgl. Jellinek, Staatsfragmente, S. 47 f.; ders., AStL, S. 493. 270 Vgl. Jellinek, AStL, S. 490.
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Gliedstaaten durch die Bundesverfassung in Hinsicht auf die Zulässigkeit der bundesverfassungsrechtlichen Feststellung der inhaltlichen Schranken für die gliedstaatlichen Verfassungen wohl denkbar wäre. Es würde auch keine Aufhebung der Gliedstaatlichkeit bedeuten, wenn den Gliedstaaten innerhalb dieser bundesverfassungsgemäß festgesetzten Organisation freie Hand gelassen würde.271 Eine solche inhaltliche Schranke betrifft in erster Linie die Staatsform der Gliedstaaten. Wenn der Gesamtstaat als ein souveränes Gefüge völlig frei darin ist, sowohl die monarchische als auch republikanische Staatsform für sich selbst einzuführen, muss jeder der Zentralgewalt unterworfene Staat (d. h. jeder Gliedstaat) in eine bestimmte Staatsform eingeordnet werden. Mit anderen Worten bildet nach Jellinek die Staatsform des Gesamtstaates eine absolute Schranke für die Staatsform seiner Glieder.272 Implizit spricht sich Jellinek auch für die parlamentarische Regierungsform in den Gliedstaaten aus. In Anlehnung an seine Auffassung der Gewaltenteilungslehre273 fand er es für jedes Staatswesen charakteristisch, ein oberstes, selbständiges und daher handlungsfähiges Organ zu haben. Jellinek war der Ansicht, dass die in den Gliedstaaten vorhandenen Staatsorgane – Regierung und Gerichte – in ihrer Gestaltung an das besondere parlamentarische Gesetzgebungsorgan gebunden sein können.274 ***
Die Bundesstaatstheorie von Jellinek zeichnete sich einerseits durch ihre Originalität aus. Zum ersten Mal wurde die Souveränität als eines der wesentlichen Merkmale der Staatlichkeit in der deutschsprachigen Staatslehre abgelehnt. Mit Hilfe dieses Schritts versuchte Jellinek, die Rechtsnatur der Vielfalt der damals existierenden Staatsgebilde zu erklären. Dazu gehörten auch die Gliedstaaten des Bismarckschen Reiches, denen die Qualität nichtsouveräner Staaten zugeschrieben wurde. In der Frage der Zusammensetzung der Bundesstaaten ging Jellinek vom Verständnis der vertraglichen Entstehung der Bundesstaatlichkeit aus, nach dem die bisher selbständigen Staaten bei dem Beitritt zum Gesamtstaat ihre Souveränität, aber nicht die Staatlichkeit verlieren. Deswegen bildete seines Erachtens der Bundesstaat einen souveränen Gesamtstaat, der aus mehreren nichtsouveränen Staaten zu einer Einheit zusammengefügt ist. Diese Doppelstaatlichkeit des Bundesstaates bedeutet die Überlassung eines abgesonderten Zuständigkeitsbereiches an die beiden öffentlich-rechtlichen Ebenen, wobei innerhalb dieses Kompetenzbereiches sowohl der Oberstaat als auch die Gliedstaaten eine eigene Herrschaftsgewalt selbständig ausüben. Dies ist andererseits keine neue Herangehensweise, die Jellinek in seiner Bundesstaatstheorie äußerte. Neu aber war die Priorität, die der Organisation im Vergleich zur Kompetenz zuerkannt wurde. Nach Jellinek charakterisiert eben diese 271 272 273 274
Vgl. Jellinek, Staatenverbindungen, S. 306 f. Vgl. Jellinek, Staatsfragmente, S. 16; ders., Staatenverbindungen, S. 305. Vgl. dazu: Jellinek, AStL, S. 497 ff. Vgl. Jellinek, Staatsfragmente, S. 47; ders., AStL, S. 492.
E. Die organisationsrechtliche Stellung der Kronländer
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Organträgerschaft der Herrschaftsgewalt das Gebilde als Staat. Die Staatsorganisation bedingt die Machtverteilung zwischen den Ebenen. Da allein der Bundesstaat als Gesamtstaat souverän ist, sind seine Gliedstaaten ihm unterworfen. Hier hat die Gliedstaatlichkeit keinen absoluten Charakter. Einerseits räumt Jellinek den Gliedstaaten das Existenzrecht (den positiven Status) ein, wodurch sich ihre staatsrechtliche Stellung von der Stellung der Teileinheiten eines Einheitsstaates unterscheidet. Andererseits erkennt er beim Gesamtstaat die Souveränität als absolute Unabhängigkeit auch nach innen an und lässt die Möglichkeit zu, zwecks gesamtstaatlicher Notwendigkeit die Staatlichkeit der Bundesmitglieder stark zu beschränken oder sogar zu vernichten. Gleichermaßen betraf diese strittige Auffassung die Staatsorganisation der Gliedstaaten. Jellinek war der Meinung, dass es denkbar wäre, wenn der Gesamtstaat die organisationsrechtlichen Vorschriften für die Gliedstaaten bestimmt. Unbeantwortet blieb aber, in welchem Umfang der Gesamtstaat für seine Glieder Schranken setzen darf. Allerdings kann man in Anlehnung an Jellineks Verständnis von der souveränen Gesamtstaatlichkeit und der Geringfügigkeit des Existenzrechts der Gliedstaaten vermuten, dass der Gesamtstaat in die Gestaltung der gliedstaatlichen inneren Organisation tatsächlich auch sogar weitreichend eingreifen könnte.
E. Die organisationsrechtliche Stellung der Kronländer in Österreich-Ungarn 1. Die staatsrechtliche Natur der Habsburger Monarchie nach dem Ausgleich von 1867 Gleichzeitig mit der Gründung des Norddeutschen Bundes, der das Grundmuster des zukünftigen Deutschen Reiches bildete, entstand auf dem Territorium des Kaisertums Österreich ein neues Staatsgebilde mit dem Namen „ÖsterreichischUngarische Monarchie“. Deren Entstehen wurde durch äußere Faktoren bedingt, die schon oben (! S. 113 f., 121) kurz beschrieben wurden. Durch den Ausgleich Österreichs und Ungarns fand die innere Umgestaltung der Donaumonarchie statt. Seit der Revolutionswelle in den Jahren 1848/49 und der Arbeit des Kremsier Reichstages stand die Föderalismusproblematik im Fokus der Wissenschaftler und Gesellschaft. Zwei Lager – Zentralisten als Befürworter eines einheitlichen und politisch ungeteilten österreichischen Staates und Föderalisten, die sich für die Umwälzung der Österreichischen Monarchie in einen Verband mehrerer politisch eigenständiger Staatsgefüge aussprachen – stritten im Laufe dieser Zeit über die Zukunft der politischen Existenz des österreichischen Vielvölkerstaates. Erst die Niederlage Österreichs im sog. Deutschen Krieg, der Verlust der herrschenden Position im deutschsprachigen Raum (d. h. die Auflösung des sog. Deutschen Dualismus) und die Gefahr nationalistischer Revolutionsbewegungen in den nichtdeut-
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schen Teilen des Kaisertums zwangen den extrem konservativen Kaiser Franz Joseph I., Schritte in Richtung des Staatsumbaus zu gehen. Die Entstehung des neuen Staatswesens, das aus zwei eigenständigen und gleichbedeutenden Staaten – Österreich (Cisleithanien) und Ungarn (Transleithanien) – bestand, forderte die Beurteilung seiner Rechtsnatur. Die Dichotomie der zentralistischen und föderalistischen Herangehensweisen bedingte die einander entgegengesetzten Auffassungen. Die erste Auffassung sah in Österreich-Ungarn einen dezentralisierten Einheitsstaat, der sich durch die Zentralisierung der aus dem Ausgleich entstandenen Realunion Österreichs und Ungarns entwickelt hatte. Diese Position vertraten Jellinek und einer der prominentesten Staatsrechtler der österreichisch-ungarischen Zeit, der Professor an der deutschen Karl-Ferdinands-Universität in Prag Joseph Ulbrich.275 Einen Einheitsstaat unterscheidet von einer Realunion Folgendes: Wenn die Realunion als völkerrechtliche Verbindung aus den einzelnen eigenständigen Staaten besteht, die unter dem Dach der Realunion weiterexistieren, verlieren die zuvor selbständigen Einzelstaaten durch die Zusammensetzung zu einem Einheitsstaat ihre Souveränität und Staatlichkeit und tauschen diese gegen eine stark beschränkte Autonomie und Selbstverwaltung ein. Das Musterbeispiel eines aus den ursprünglich selbständigen Staaten gewachsenen, danach aber in einen dezentralisierten Einheitsstaat verwandelten Staatskörpers bildete Österreich-Ungarn in den Jahren 1867 – 1918. Die Mitglieder der ausgeglichenen Monarchie bildeten keine Subjekte der Hoheitsrechte und besaßen keine eigene Staatlichkeit.276 Nach der anderen Auffassung verblieben als Mitglieder Österreich-Ungarns jene Staaten, die durch ihre staatsrechtliche Verbundenheit zu einem Gesamtkörper ihre Sonderexistenz nicht verloren und als selbständige Gebilde einen Bundesstaat gebildet hatten. Diese Auffassung wurde v. a. durch den Wiener und später Innsbrucker Staatsrechtsprofessor Theodor Dantscher von Kollesberg vertreten.277 Grundsätzlich wurde in Österreich die damals im Deutschen Reich herrschende Bundesstaatslehre bejaht. Im Unterschied zum Staatenbund, der ein Rechtsverhältnis zwischen den Mitgliedstaaten ist, wird der Bundesstaat als eine Verbindung mehrerer Staaten zu einer Einheit, also eine juristische Person (Rechtssubjekt) betrachtet. Sowohl der Gesamtstaat als ein politisches Gemeinwesen mit selbständiger juristischer Persönlichkeit als auch jeder seiner Gliedstaaten bilden die wirklichen Staaten; sie sind Subjekte der Hoheitsrechte und selbständiger Befugnisse. Alle Mitglieder des Bundesstaates besitzen eine eigene Staatsgewalt, d. h., im Bundesstaat ist eine mehrfache Staatsgewalt vorhanden. Die Souveränität kommt jedoch nur der Zentralgewalt zu. Daher sind die Zentralgewalt und die Gliedstaatsgewalten nicht ne275
Vgl. dazu: Jellinek, Staatenverbindungen, S. 75 ff., 226 ff.; Ulbrich, Joseph, Lehrbuch des österreichischen Staatsrechts, Wien 1883, § 118 S. 296 ff. 276 Vgl. Jellinek, Staatenverbindungen, S. 75 ff. 277 Vgl. Dantscher von Kollesberg, Theodor, Der monarchische Bundesstaat ÖsterreichUngarn und der Berliner Vertrag nebst der Bosnischen Vorlage, Wien 1880, S. 33 ff., 326 ff.
E. Die organisationsrechtliche Stellung der Kronländer
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bengeordnet, sondern die Letzteren sind der Gesamtstaatsgewalt untergeordnet. In Bezug auf die Bundesmitglieder wird die beiderseitige Rechtssphäre abgegrenzt, der Gesamtstaat mit der eigenen souveränen Staatsgewalt und mit selbständiger Willenssphäre ist aber übergeordnet.278 Im Vergleich zum Deutschen Kaiserreich wurde die Föderalismus-Debatte im monarchischen Österreich durch die Nationalitätenfrage erschwert und hatte weniger dogmatisch-begrifflichen als vielmehr historisch-faktischen Charakter.279 Die Habsburger Donaumonarchie entsprach ihrer Rechtsnatur nach allerdings einem Einheitsstaat. Der österreichisch-ungarische Kaiserstaat entstand aus den Ländern und Territorien, die seit der Pragmatischen Sanktion von 1713 zu einem unteilbaren und untrennbaren Gesamtkörper durch die Habsburger Dynastie verbunden waren. Die bisher durch die einzelnen Monarchen regierten selbständigen Staatsgebilde wurden im Laufe der früheren Neuzeit unter dem Dach des Hauses von HabsburgLothringen vereinigt. Zum österreichisch-ungarischen Ausgleich im Jahre 1867 stellte die Donaumonarchie ein Konglomerat der vom österreichischen Kaiser als Einzelherrscher regierten Territorien dar. Die Umwandlung des Kaisertums Österreich in eine Doppelmonarchie Österreich-Ungarn änderte die staatsrechtliche Natur des Gesamtkörpers keineswegs: Nach dem Staatsgrundgesetz vom 21. Dezember 1867 (der sog. Dezemberverfassung) wurden die in mehr oder weniger autonome Teileinheiten umgewandelten „im Reichsrat vertretenen Königreiche und Länder“ (die sog. Reichsrats- oder Kronländer, vgl. §§ 1, 3) Österreich-Ungarns weiter dynastisch und durch die einheitlichen staatlichen Strukturen allein vom österreichischen Kaiser beherrscht, der im Unterschied zum deutschen Kaiser (dem Reichspräsidium) kein durch die Summe der einzelnen Landesherrscher repräsentierter Träger der gesamten Staatsgewalt war, da er gleichzeitig als der ungarische König und Herr aller übrigen Königreiche und Länder agierte. Sowohl die deutschen als auch nichtdeutschen Mitglieder der Österreichisch-Ungarischen Monarchie wurden durch den Gesamtstaat als eher hochgradig autonome Selbstverwaltungskörper konstituiert, für die kein bundesstaatliches Über-Unterordnungsverhältnis charakteristisch war.280 Die vermutete Staatlichkeit der österreichischen Kronländer erfüllte nicht die Kriterien der staatsrechtlichen Trinitätslehre. Selbst wenn man behauptet, dass den Reichsratsländern ein eigenes Gebiet zukam und ihre Bevölkerungen die einzelnen Staatsvölker bildeten (besonders unter Berücksichtigung der Vielfalt nichtdeutscher Nationalitäten), besaßen diese allerdings keine eigene Staatsgewalt, die sich auf das 278 Vgl. Ulbrich, Joseph, Die rechtliche Natur der österreichisch-ungarischen Monarchie, Prag 1879, S. 9, 12; ders., Lehrbuch des Staatsrechts, § 118 S. 297, 299 f. 279 Vgl. Simon, Thomas, Zur Stellung der Länder in der österreichischen und deutschen Staatsrechtslehre von 1867/71 bis 1918, in: Schennach, Martin (Hrsg.), Rechtshistorische Aspekte des Österreichischen Föderalismus, Beiträge zur Tagung an der Universität Innsbruck am 28. und 29. November 2013, Wien 2015, S. 72, 85. 280 Vgl. Jellinek, Staatsfragmente, S. 27; ders., Staatenverbindungen, S. 77; Simon, Stellung der Länder, S. 74, 79; Tezner, Friedrich, Die Volksvertretung, Wien 1912, S. 642.
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Kap. II: Die Homogenitätsidee im jüngeren Konstitutionalismus
gesamte Territorium des Kronlandes erstreckte und der alle in diesem Kronland wohnhafte Reichsangehörige unterworfen würden. Obwohl den Reichsratsländern nach dem Staatsgrundgesetz (§§ 11, 12) ein relativ ausgedehnter Wirkungskreis eingeräumt wurde, stand ihnen keine Landesstaatsgewalt zu, weil der einzige Träger aller Staatsgewalt in der Doppelmonarchie eine und dieselbe Person war, nämlich der österreichische Kaiser.281 Die einzige Eigenschaft, in der die österreichischen Kronländer den wirklichen Staaten ähnelte, war nach Jellinek der Besitz eigener Organe, was es ermöglichte, die Reichsratsländer den Staatsfragmenten zuzuordnen.282 Ulbrich meinte dagegen, dass sowohl der Ausdruck „Staatsfragment“ generell als auch die Einordnung der österreichischen Kronländer als nichtstaatliche Gebilde zu einer besonderen Kategorie unzutreffend und bedeutungslos sei.283 Hier sei angemerkt, dass Jellineks Gleichsetzung der österreichischen Reichsratsländer, denen er eine eigene staatliche Existenz absprach,284 und der deutschen Einzelstaaten, die seines Erachtens nichtsouveräne Staaten bildeten (! S. 145 f.), zumindest angreifbar ist. Hier stellt sich die Frage, ob die österreichischen Kronländer mit den reichsdeutschen Gliedstaaten aus organisationsrechtlicher Sicht vergleichbar sind, wenn beide nach Jellinek zu den Staatsfragmenten gehören. Diese Frage führt zur Problematik der Beurteilung der Rechtsnatur der Staatsorganisation der österreichischen Reichsratsländer.
2. Die Machtstruktur der österreichischen Kronländer: Staatliche Organisation ohne Staatlichkeit? Die innere Organisation der österreichischen Reichsratsländer war nicht aus eigenem Recht heraus erfolgt. Nach Art. III der Verfassung vom 26. Februar 1861 (dem sog. Februarpatent) wurden vom Kaiser die Landesordnungen für die Kronländer sanktioniert, die für die betreffenden Länder die Kraft von Staatsgrundgesetzen hatten. Die Landesordnungen waren aber zugleich auch Bestandteile der Reichsverfassung (Art. VI). Daraus folgte, dass sich die Kronländer keine eigene und originäre innere Verfassungsordnung nach eigenem Ermessen geben konnten, da ihr Organisationssubstrat aus dem Verfassungsrecht des Kaiserreichs hervorging.285
281 Vgl. Jellinek, Staatenverbindungen, S. 77; Ulbrich, Joseph, Das österreichische Staatsrecht, 3. Aufl., Tübingen 1909, § 27 S. 64; ders., Lehrbuch des Staatsrechts, § 118 S. 300; Simon, Stellung der Länder, S. 75 f. 282 Vgl. Jellinek, Staatsfragmente, S. 29 f. 283 Vgl. Ulbrich, Staatsrecht, § 27 S. 65. 284 Vgl. Jellinek, Staatenverbindungen, S. 77 f. 285 Vgl. dazu: Ulbrich, Staatsrecht, § 27 S. 64 f.; Jellinek, Staatsfragmente, S. 27; Simon, Stellung der Länder, S. 74.
E. Die organisationsrechtliche Stellung der Kronländer
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Die wichtigsten Organe der österreichischen Kronländer waren die Landtage, die einen Doppelcharakter hatten. Diese waren einerseits ausschließlich Landesorgane, die das Kronland vertreten. Die Gegenstände der Gesetzgebung, welche dem Reichsrat nicht ausdrücklich zugeordnet wurden, gehörten in den Wirkungskreis der Landtage, die entsprechende Beschlüsse fassen konnten (vgl. § 12 der Dezemberverfassung). Andererseits bildeten die österreichischen Landtage allerdings keine „Vollparlamente“: Diesen kam die Eigenschaft nur der parlamentarischen Vertretung der Landesbevölkerung bei der Teilnahme an der Landesgesetzgebung zu. Sämtliche den Landtagen eingeräumten Befugnisse wurden zusammen mit dem Kaiser ausgeübt, weil die Beschlüsse der Landtage seiner Unterzeichnung bedurften. Die österreichischen Reichsratsländer verfügten über keine Selbstgesetzgebung, die den Gliedstaaten eines Bundesstaates grundsätzlich zusteht. Die Landtage der Kronländer erlassen keine eigentlichen Landesgesetze, sie besaßen nur das Mitwirkungsrecht an der Bildung der gesamtstaatlichen Gesetzgebung. Die durch das Reichsrecht bedingten Landesordnungen räumten den Kronländern keine eigene Gesetzgebungsgewalt ein, in Österreich-Ungarn war nur eine, durch den Kaiser und den Reichsrat ausgeübte gesetzgebende Gewalt vorhanden. Beispielsweise konnte jeder Landtag durch die Reichsgewalt aufgelöst werden sowie die Kompetenz der Landtage durch die einseitige Veränderung der Reichsverfassung eingeschränkt werden.286 Der eigentlichen Staatsorganisation der österreichischen Kronländer fehlte eine eigene Verwaltung mit dem an der Spitze stehenden Landesstaatsoberhaupt. Abgesehen von seinen zahlreichen Titeln als Herrscher verschiedener Territorien von den Alpen bis zur Adria vertrat der österreichische Kaiser nur die gesamte Monarchie und war der höchstpersönliche Träger der Staatsgewalt. Im Unterschied zu den reichsdeutschen Gliedstaaten besaßen die österreichischen Kronländer keine eigene vollziehende Gewalt. Der Landtag enthielt in seiner Kompetenz gleichzeitig die Funktionen der Legislative und Exekutive, was der Gewaltenteilungslehre mit dem Gedanken der gegenseitig kontrollierten Zusammenarbeit der Gesetzgebungs- und Vollzugsorgane widersprach. In den Angelegenheiten der Verwaltung handelten die Landtage nur als periodisch zusammentretende Organe. Daher wählten sie ein auf einer ständigen Grundlage funktionierendes Vollzugsorgan namens Landesausschuss aus ihrer Mitte, der unter dem Vorsitz des vom Kaiser ernannten Landtagspräsidenten (Oberstlandmarschall, Landmarschall, Landeshauptmann, Landespräsident) tagte. Der Landtagspräsident war kein Landesstaatsoberhaupt im eigentlichen Sinne, da er direkt vom Kaiser ernannt wurde und nur diesem als Reichsamtsträger untergeordnet war. Der Landesausschuss bildete keine Landesregierung, weil er nur ein Organ der Selbstverwaltung war, der nicht dem Landtag, sondern dem kaiserlichen Ministerium verantwortlich und unterstellt ist. Die vom Landtag gewählten Mitglieder des Landesausschusses (deren Anzahl durch die Landesordnung bestimmt wurde und zwischen vier und acht Mitgliedern variierte) waren keine 286 Vgl. Jellinek, Staatsfragmente, S. 28; ders., Staatenverbindungen, S. 77; Ulbrich, Staatsrecht, § 27 S. 64, § 61 S. 161, § 62 S. 165; Tezner, Die Volksvertretung, S. 645 f.
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Landesamtsträger; sie erfüllten die Befehle des kaiserlichen Ministeriums. All dies lässt den Schluss zu, dass in den österreichischen Kronländern lediglich Behörden der Selbstverwaltung vorhanden waren.287 Die Organe der österreichischen Reichsratsländer verfügten nicht über Eigenschaften der Selbstgesetzgebung und vollständigen Selbstverwaltung, ebenso fehlte es an einer deutlichen Trennung der gesetzgebenden und vollziehenden Funktionen; hinzu kommt die Unterordnung des „Landeschefs“ unter die Reichsgewalt. All dies zusammengenommen lässt die Behauptung zu, dass es in den Kronländern der Österreichisch-Ungarischen Monarchie keine staatliche Organisation gab. Berücksichtigt man zudem, dass die Kronländer keine eigene Hoheitsgewalt hatten, kann man logischerweise den Schluss ziehen, dass die Reichsratsländer nach der Jellinekschen Terminologie keine nichtsouveränen Staaten, d. h. Gliedstaaten bildeten und somit die Habsburger Monarchie auch nach ihrem Ausgleich im Jahre 1867 und bis zu ihrem Untergang im Jahre 1918 kein Bundesstaat war.
287 Vgl. Jellinek, Staatsfragmente, S. 27 f.; Ulbrich, Staatsrecht, § 27 S. 65, § 64 S. 166 f.; Tezner, Die Volksvertretung, S. 644; Simon, Stellung der Länder, S. 72 f., 77 f.
Kapitel III
Paradigmenwechsel in Deutschland und Österreich: Einfluss des Grundsatzes der Freistaatlichkeit auf die Verfassungsgesetzgebung und Bundesstaatlichkeit A. Die Selbstorganisation der deutschen Länder in der Weimarer Republik 1. Allgemeine Anmerkungen: Zerfall des Monarchismus und inneres Selbstbestimmungsrecht der deutschen Einzelstaaten Der langwierige Weltkrieg bewirkte eine Krisensituation für die monarchisch regierten Staaten Europas. Die Februarrevolution 1917 in Russland und der augenblickliche Niedergang einer der ältesten europäischen Monarchien, der spätere Sturz der Provisorischen Regierung durch die Bolschewiki (Oktoberrevolution) beeinflusste auch die öffentliche Meinung und politische Situation in anderen „militärisch-aggressiven Autokratien“ (nach Woodrow Wilson), besonders im Deutschen Reich. Sowohl die sich zunehmend verstärkenden linken (sozialdemokratischen und kommunistischen) Stimmungen zwischen Soldaten an der Front und Arbeitern hinter der Front als auch die militärischen Misserfolge gegen die Entente führten letztendlich zum Sturz des Deutschen Kaiserreichs. Nachdem Wilhelm II. Anfang November 1918 gezwungen wurde, auf seine kaiserdeutsche Würde zu verzichten und vom preußischköniglichen Thron abzudanken, gewann dieser Umstand an Brisanz: Im Laufe weniger Tage dankten ausnahmslos alle deutschen Könige und Fürsten ab, was der Historiker Lothar Machtan metaphorisch als „kollektive Selbstentkrönung“ bezeichnet.1 Nicht nur die Abdankung des deutschen Kaisers, sondern auch der freiwillige und kampflose Verzicht auf die „gottgegebene“ Macht seitens der einzeldeutschen Staatsoberhäupter führte zur Entstehung einer Republik auf dem Territorium des Bismarckschen Kindes. Letzteres, also diese faktische „Selbstbeseitigung“ der Fürsten, hatte noch eine weitere Konsequenz: Ohne monarchische Vertretung in dem in der Präambel der RVausgerufenen „ewigen Bund“ der deutschen Herrscher war die kaiserdeutsche Bundesstaatlichkeit inhaltlos 1 Vgl. Machtan, Lothar, Die Abdankung: Wie Deutschlands gekrönte Häupter aus der Geschichte fielen, München 2016, S. 16.
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Kap. III: Paradigmenwechsel in Deutschland und Österreich
geworden. Der Niedergang des Monarchismus bedeutete logischerweise auch das Ende des einzigartigen monarchischen Bundesstaates. Mit der Beseitigung des dynastischen und aristokratischen Grundsatzes in den deutschen Einzelstaaten, welcher angesichts des in ihm angelegten Partikularismus eine potentielle Gefahr für das gesamte monarchisch-bundesstaatliche Gebäude des Reiches darstellte, ergab sich erstmals in der gesamtdeutschen Geschichte die Gelegenheit, einen echten, mit den ausländischen Vorbildern (USA, Schweiz) vergleichbaren Bundesstaat auf republikanischer und demokratischer Grundlage zu gestalten.2 Der kleindeutsche Dynastismus galt als konstitutives Element der monarchischen Bundestaatlichkeit. Dessen Wegfall sowie der Sieg des Republikanismus bedeuteten die Übernahme der Staatssouveränität durch das deutsche Volk. Die Ausübung dieser Souveränität wurde teilweise an die demokratisch gewählten Parlamente in dem Gesamtstaat und den Ländern übertragen. Art. 1 der am 11. August 1919 im thüringischen Weimar ausgefertigten Verfassung des Deutschen Reichs (sog. Weimarer (Reichs-)Verfassung) bestätigte den republikanischen Grundsatz im Staatsaufbau und bekräftigte das Volk als Träger der Staatsgewalt. Wenn dem kaiserdeutschen Bundesstaat das monarchisch-aristokratische Prinzip zugrunde lag, stellte sich die Frage nach der Rechtsnatur der deutschen Einzelstaaten. Einige zeitgenössischen Staatsrechtler waren der Meinung, dass den deutschen Einzelstaaten mit der Beseitigung des Dynastismus (in der WRV als „Länder“ bezeichnet; vgl. dazu Art. 2, 5, 8, 12 etc.) jegliche Gründe fehlten, die für eine eigenständige Staatlichkeit innerhalb der Reichsrepublik gesprochen hätten. Damit war gemeint, dass nach der Abschaffung der Monarchie die Staatssouveränität an das gesamte deutsche Volk, und nicht an die einzelnen Völker, übertragen wurde. Diese Souveränität wiederum wurde zunächst in Gestalt der Nationalversammlung und später durch den Reichstag sowie die Landtage ausgeübt.3 Eine andere – die herrschende – Meinung entsprach der klassischen Staatenstaatstheorie: Obwohl sich der Sprachgebrauch bundesverfassungsrechtlich gewandelt hatte und die deutschen Staaten (vgl. dazu Art. 1 RV) nunmehr als „bloße“ gebietskörperschaftliche Länder bezeichnet wurden, rechnete man den Gliedern der deutschen Republik trotzdem eine eigene Staatsqualität zu.4 Ungeachtet einzelner zeitgenössischer Ansichten, nach denen eine eindeutige theoretische Lösung des Länderstaatlichkeit-Dilemmas kaum denkbar war, dürfte ein dahingehender Lösungsansatz letztlich irrelevant sein, selbst wenn man eine entsprechende Lösung gefunden hätte. Denn diese Frage wäre rein akademischer Natur und hätte keinerlei praktische Wirkung auf die Stellung der 2
Vgl. Wittmayer, Leo, Die Weimarer Reichsverfassung, Tübingen 1922, S. 128 f. Vgl. Freytagh-Loringhoven, Axel Freiherr von, Die Weimarer Verfassung in Lehre und Wirklichkeit, München 1924, S. 38 f.; Wittmayer, Reichsverfassung, S. 161 ff. 4 Vgl. Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reichs, S. 39 f.; Stier-Somlo, Fritz, Deutsches Reichs- und Landesstaatsrecht, Bd. 1, Berlin und Leipzig 1924, S. 355; Thoma, Richard, Das Reich als Bundesstaat, in: Anschütz, Gerhard/Thoma, Richard (Hrsg.), Handbuch des Deutschen Staatsrechts, Bd. 1, Tübingen 1930, § 15 S. 170. 3
A. Die Selbstorganisation der deutschen Länder in Weimar
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Bundesglieder.5 Das hinter dieser Frage stehende Dilemma, ob die neuen reichsrepublikanischen Länder selbst Staaten sind oder nicht, wurde zu einer der Kernfragen der Staatswissenschaft der Weimarer Zeit. Diese Problematik wird in diesem Teil in groben Zügen betrachtet. Mit dem Wegfall der monarchisch-aristokratischen Machtstrukturen ging auch die faktische innerstaatliche Homogenität zwischen den Staatsorganisationen des Gesamtstaates und der Länder verloren. Mit der Übernahme der Souveränität erhielt das deutsche Volk auch das innere Selbstbestimmungsrecht, worunter eine freie Selbstorganisation zu verstehen ist. Inwieweit das Recht, ihre eigene Organisation nach freiem Ermessen zu bestimmen, den Gliedstaaten zusteht, wurde in Art. 17 I WRV geregelt und stand in direktem Zusammenhang mit der Frage nach der Staatsqualität der deutschen Länder und der ihnen eingeräumten Verfassungsautonomie in der inneren Ausgestaltung.
2. Gliedstaatlichkeit und Verfassungsautonomie der reichsrepublikanischen Länder aus organisationsrechtlicher Sicht Die Frage, ob die Länder der Weimarer Republik wirkliche Staaten waren oder nicht, kann unter Heranziehung der folgenden logisch-dogmatischen Begriffskette beantwortet werden. Die Staatsqualität steht den Gliedstaaten (sog. Länder- oder Gliedstaatlichkeit) nur insoweit zu, als sie eine eigene, nicht von der Zentralgewalt abgeleitete Herrschaftsgewalt besitzen und diese unabhängig von der Zentralgewalt in eigener Verantwortung ausüben. Auf welche Art und Weise die Ausübung dieser Gewalt stattfindet, bestimmen die Gliedstaaten in ihren ursprünglichen, nicht vom Gesamtstaat oktroyierten Verfassungen. Diese Art der selbstbestimmten Ausübung der Gewalt ist im Begriff der Verfassungsautonomie (-hoheit) bereits angelegt. In organisationsrechtlicher Hinsicht bedingt die Verfassungsautonomie die Organisationshoheit (-gewalt) der Gliedstaaten, d. h. es geht darum, in welchem Umfang die Gliedstaaten ihre innere Organisation für Zwecke der Ausübung einer eigenen Herrschaftsgewalt selbständig verankern dürfen. In Anlehnung an diese Reihenfolge lässt sich die Staatlichkeit der Bundesglieder theoretisch belegen oder widerlegen. Die für die Beurteilung der Gliedstaatlichkeit grundlegende Norm war Art. 5 WRV, nach dem die Staatsgewalt in Landesangelegenheiten durch die Organe der Länder auf Grund der Länderverfassungen ausgeübt wird. Diese Verfassungsnorm enthielt alle erforderlichen Elemente: Staatsgewalt, Kompetenz, Verfassungs- und Organisationsautonomie. Obwohl mit Art. 5 WRV eine für die Beurteilung der Gliedstaatlichkeit maßgebende Norm vorhanden war, bildete ebendiese Norm i. V. m. Art. 1 WRV den Ausgangspunkt für kontroverse Auffassungen.
5 Vgl. Bredt, Johann Victor, Der Geist der Deutschen Reichsverfassung, Berlin 1924, S. 118; Wittmayer, Reichsverfassung, S. 131.
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Kap. III: Paradigmenwechsel in Deutschland und Österreich
Die in der Staatswissenschaft der Weimarer Zeit herrschende Auffassung stützte sich auf die klassische Staatenstaatstheorie der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Das reichsrepublikanische Deutschland wurde, wie im Fall des Kaiserreichs, auch als eine Staatenverbindung, ein Bundesstaat und kein Staatenbund gedacht.6 In Anlehnung an die Jellineksche Bundesstaatstheorie und Genossenschaftslehre in der Darstellung von Hugo Preuß (sog. organische Staatstheorie) wurde der Bundesstaat als ein körperschaftlich zusammengesetzter Gesamtstaat betrachtet, der aus nichtsouveränen („einfachen“) Staaten (Gliedstaaten) besteht. Diese Gliedstaaten sind dem Bundestaat als höherer Staatskörperschaft einerseits unterworfen, andererseits sind sie an der Bildung des Gesamtwillens beteiligt.7 Art. 5 WRV bestätigte die Eigenstaatlichkeit der reichsrepublikanischen Länder und die Bundesstaatlichkeit des Reiches. Das wichtigste Merkmal des Bundesstaates als einer körperschaftlichen Vereinigung von Staaten war nach herrschender Meinung, dass sowohl der Gesamtstaat (Reich) als auch die Gliedstaaten (Länder) die Eigenschaft der Staatsqualität besaßen. Die einfache Formel – im Sinne der Staatenstaatstheorie – lautete: Die Länder sind Staaten, das Reich ist ein Bundesstaat.8 Hier stellt sich die Frage, ob die Bejahung der Staatlichkeit der deutschen Länder in der WRV gleichzeitig auch eine bundesverfassungsrechtliche Garantie dieser Staatlichkeit darstellt. Mit anderen Worten: Wird den deutschen Ländern das durch die Bundesverfassung gewährleistete Existenzrecht eingeräumt oder nicht? In Anlehnung an Art. 17 I WRV äußerte sich Friedrich Giese hierzu dahingehend, dass diese Vorschrift die Staatlichkeit der Länder anerkenne und ein Verbot gegen ihre Umwandlung in bloße Teileinheiten eines Einheitsstaates enthalte.9 Im Gegenzug zweifelte Max Wenzel daran, dass der durch Art. 17 I WRV gebotene Existenzschutz zugleich auch der Sicherung der Staatsqualität diene, gegen eine etwaige Entstaatlichung der deutschen Länder und deren substanzielle Umwandlung in bloße Selbstverwaltungskörper. Ein Gegenargument sah er in der Möglichkeit der Min-
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So äußerte sich der Abgeordnete Wilhelm Kahl in der 2. Sitzung des Verfassungsausschusses der Deutschen Nationalversammlung am 5. März 1919, vgl. Bericht und Protokolle des Achten Ausschusses über den Entwurf einer Verfassung des Deutschen Reichs, Berlin 1920, S. 23. 7 Vgl. Koellreutter, Otto, Die neuen Landesverfassungen, in: Anschütz, Gerhard/Thoma, Richard (Hrsg.), Handbuch des Deutschen Staatsrechts, Bd. 1, Tübingen 1930, § 13 S. 170; Anschütz, Gerhard, Das System der rechtlichen Beziehungen zwischen Reich und Länder, in: Anschütz, Gerhard/Thoma, Richard (Hrsg.), Handbuch des Deutschen Staatsrechts, Bd. 1, Tübingen 1930, § 26 S. 295 f. 8 Vgl. Giese, Friedrich, Die Verfassung des Deutschen Reiches. Taschenausgabe für Studium und Praxis, Berlin 1931, S. 49; Anschütz, in: HDtStR I, § 26, S. 196; Thoma, in: HDtStR I, § 15, S. 177; Stier-Somlo, Reichs- und Landesstaatsrecht I, S. 355; Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reichs, S. 39 f. 9 Vgl. Giese, Die Verfassung des Deutschen Reiches, S. 72 f.
A. Die Selbstorganisation der deutschen Länder in Weimar
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derung des Staatscharakters der Länder durch eine Verfassungsänderung im Rahmen der einfachen Reichsgesetzgebung.10 Eine kennzeichnende Besonderheit der Gliedstaaten, wenn sie dem Gesamtstaat untergeordnet sind und zugleich an der Bildung des Gesamtwillens beteiligt sind, kann auch zu der Schlussfolgerung führen, dass die Länder der Weimarer Republik „also auch nach der inzwischen vorgenommenen und in der Verfassung weiter vorgesehenen Herrschaftsminderung noch Staaten im Sinne des allgemeinen Begriffes [sind]“; sie sind „Grenzfall-Staaten“ (Hervorh. im Original).11 Diese Erörterung schlug eine Brücke zu einer anderen Auffassung, die im Folgenden näher dargestellt sei. Demgegenüber vertrat Fritz Poetzsch-Heffter die Ansicht, dass die deutschen Länder keine Staaten im eigentlichen Sinne sind. In Bezug auf die Länder wurde der Staatsbegriff wegen seiner, für die deutsche Staatswissenschaft eigentümlichen Elastizität weiter angewandt, da sie vormals eigenständige Staaten waren und in der Weimarer Republik noch hohe Selbstverwaltungskörper bildeten. Die Ausstattung der Gliedstaaten mit Hoheitsbefugnissen nach dem Vorbild des Alten Reiches sei nicht mehr zufällig. Daher können die reichsrepublikanischen Länder nur als nach Art von Staaten organisierte Gebilde angesehen werden.12 Die Staatsrechtslehre der Weimarer Zeit ging von dem Denkansatz aus, der zuvor in den vorangegangenen Jahrzehnten formuliert worden war, dass die Souveränität und die Staatsgewalt nicht dasselbe sind. Letztere bildet eine Eigenschaft des modernen Staatsbegriffs. Wenn aber die Staatsgewalt eine notwendige Eigenschaft eines jeden staatlichen Gebildes ist, die seiner rechtlichen Selbstbestimmung und Selbstfindung gilt, ist die Souveränität kein wesentliches Merkmal.13 Die Souveränität bedeutet Unabhängigkeit von jener höheren Herrschaftsgewalt. Dass diese Fähigkeit den reichrepublikanischen Ländern nicht zusteht, viel weniger noch, als sie den Einzelstaaten des Kaiserreichs zustand, war nach Gerhard Anschütz selbstverständlich und stand für die zeitgenössische Staatswissenschaft außer Zweifel.14 Während die „Nichtsouveränität“ der deutschen Länder allgemein bejaht wurde („Die Gliedstaaten eines Bundesstaates sind eben nicht souverän“, so Preuß15), blieb 10 Vgl. Wenzel, Max, Die reichsrechtlichen Grundlagen des Landesverfassungsrechtes, in: Anschütz, Gerhard/Thoma, Richard (Hrsg.), Handbuch des Deutschen Staatsrechts, Bd. 1, Tübingen 1930, § 52. S. 606. 11 Wenzel, Max, Der Begriff des Gesetzes. Zugleich eine Untersuchung zum Begriff des Staates und Problem des Völkerrechts, Berlin 1920, S. 335. 12 Vgl. Poetzsch-Heffter, Fritz, Handkommentar der Reichsverfassung vom 11. August 1919. Ein Handbuch für Verfassungsrecht und Verfassungspolitik, 3. Aufl., Berlin 1928, S. 79 f., 141. 13 Vgl. Stier-Somlo, Reichs- und Landesstaatsrecht I, S. 55, 58. 14 Vgl. Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reichs, S. 41. 15 Der Abgeordnete Preuß in der 11. Sitzung des Verfassungsausschusses der Deutschen Nationalversammlung am 20. März 1919, zit. nach Bericht und Protokolle des Achten Ausschusses, S. 110.
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Kap. III: Paradigmenwechsel in Deutschland und Österreich
die Frage nach der Rechtsnatur der Staatsgewalt im Bundesstaat weiter umstritten und spiegelte noch die weiter bestehende Meinungsverschiedenheit in der deutschsprachigen Staatsrechtslehre wider. In Anlehnung an die Waitzsche Bundesstaatstheorie gingen einige Befürworter der Gliedstaatlichkeit davon aus, dass die deutschen Länder wie bisher auch jetzt über eine eigene öffentliche Macht verfügen, die sie nicht qua Ableitung vom Gesamtstaat, sondern kraft eigenen Rechts ausüben. In der deutschen Reichsrepublik ist keine einheitliche Staatsgewalt, sondern eine zweifache Staatsgewalt, nämlich eine Reichs- und Landesstaatsgewalt, vorhanden. Von dieser Doppelung der Staatsgewalt im Reich sprach Art. 5 WRV, wonach die Staatsgewalt in den Reichs- und Landesangelegenheiten ausgeübt wird. Die Reichsgewalt und die Landesgewalten entspringen nicht aus einer Quelle (dem einheitlichen Deutschen Volk), sondern aus verschiedenen Quellen: Während die Zentralgewalt vom Gesamtvolk ausgeht, sind die Träger der Landesgewalten die jeweiligen Landesvölker (d. h. das preußische, bayerische, sächsische Volk usw.). Diese öffentlichen Gewalten sind originärer Natur und nicht vom Gesamtstaat übertragen oder abgeleitet. Der Besitz einer eigenen und wirksamen Staatsgewalt seitens der deutschen Länder ist historisch bedingt und belegt die Staatsnatur der reichsrepublikanischen Länder.16 Andere Befürworter der Gliedstaatlichkeit vertraten die Auffassung, dass Reichsgewalt und Landesgewalten gleichberechtigt seien, obwohl die Länder die durch die Bundesverfassung (gemeint ist Art. 17 I WRV) eingeschränkten und der Zentralgewalt untergeordneten Herrschaftsgewalten beibehielten. Ihre Abgrenzung ist trotzdem quantitativer, und nicht qualitativer Art.17 Der Berliner Staatsrechtslehrer und erste Reichsinnenminister der jungen deutschen Republik Hugo Preuß, einer der bedeutenden Schöpfer der Weimarer Verfassung, äußerte sich diesbezüglich wie folgt: Die Frage nach dem Vorrang der Gewalten innerhalb eines Bundesstaates könne überhaupt nicht beantwortet werden, weil sie ihrem Wesen nach absolut falsch sei. Die Natur des Bundesstaates als genossenschaftlicher Rechtsordnung bestehe darin, dass ein Träger der gesamten Staatsgewalt im Sinne der unbeschränkten Zuständigkeit überhaupt nicht existiere. Durch die Fassung des Art. 5 WRV sei nicht zu beantworten, ob die durch die Organe der Länder aufgrund ihrer eigenen Verfassungen ausgeübte Staatsgewalt von der Zentralgewalt abgeleitet und vom Gesamtstaat delegiert ist, da die Gliedstaaten in Landesangelegenheiten nach eigenem Willen handelten. So sprach Preuß von nur rechtlich normierten, also beschränkten Zuständigkeitsbereichen, innerhalb derer die Einzelwillen der Länder und der Gemeinwille des Gesamtstaates ausgeübt werden.18 16 Vgl. Giese, Die Verfassung des Deutschen Reiches, S. 49; Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reichs, S. 39, 71; Meißner, Otto, Das neue Staatsrecht des Reichs und seiner Länder, Berlin 1921, S. 355. 17 Vgl. Stier-Somlo, Fritz, Die Verfassung des Deutschen Reichs vom 11. August 1919. Ein systematischer Überblick, Bonn 1925, S. 39, 54. 18 Preuß, Hugo, Reich und Länder. Bruchstücke eines Kommentars zur Verfassung des Deutschen Reiches, Berlin 1928, S. 101 ff.
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Zur Fassung des Art. 5 i. V. m. Art. 1 WRV gab es auch eine Gegenansicht. Wenn nach der WRV im Deutschen Reich eine Staatsgewalt von einem Volk ausgehe, so sei unbegreiflich, woraus eine eigene Staatsgewalt der Länder entstehen soll. Die Gemeinden und andere Selbstverwaltungskörper (wie Teileinheiten eines dezentralisierten Einheitsstaates) verfügen auch über eine Gewalt, die jedoch zweifellos vom Staat abgeleitet sei. Aber wodurch unterscheidet sich die Herrschaftsgewalt der Gliedstaaten von den anderen, wenn selbst die WRV von einer einheitlichen Staatsgewalt spricht?19 Die Antwort bestehe darin, dass die Landesgewalt in der Tat eine abgeleitete Gewalt sei. Im Sinne des Art. 1 WRV sei das Deutsche Volk ein Staatsvolk in seiner Gesamtheit. Von ihm gehe eine einheitliche Staatsgewalt aus. Die Zentralgewalt (Reichsgewalt) sei daher eine ursprüngliche, „nationale“ Staatsgewalt. Bei Art. 5 WRV handele es sich um die Teilung der Staatsgewalt zwischen dem Gesamtstaat und den Ländern bei ihrer Ausübung. Daraus folge, dass die „eigene“ Landesgewalt nichts anderes sei als eine den deutschen Ländern zur Ausübung übertragene (delegierte) Gesamtstaatsgewalt (nicht nach dem Subjekt, sondern dem Objekt geteilte Gewalt).20 Für die Bestätigung des Staatscharakters der Gliedstaaten, die sich von bloßen Selbstverwaltungskörpern unterscheiden, sind zwei weitere Merkmale zu berücksichtigen: die Verfassungsautonomie und die eigene Organisationshoheit (-gewalt) der Gliedstaaten im Bundesstaat. Das eine Merkmal ist die jedem souveränen Staat immanente Fähigkeit, die Grundordnung seiner Herrschaftsgewalt in Form eines Staatsgrundgesetzes (einer Verfassung) selbständig zu regeln. Dies ist die Verfassungsautonomie (oder Selbstverfassunggebung).21 Einem souveränen Staat ist die Verfassungsautonomie der souveränen Gewalt ihrer Natur nach schon innewohnend. Allerdings ist die Souveränität keine notwendige Voraussetzung der Verfassungsautonomie: Das Beispiel der mit ihr ausgestatteten nichtsouveränen Gliedstaaten belegt das ausdrücklich.22 Im Fall der deutschen Gliedstaaten erlassen diese ihre Verfassungen kraft eigenen Rechts namens ihrer Verfassungsautonomie und eben nicht aufgrund einer vom Oberstaat erteilten Ermächtigung durch ein Gesetz. Für die reichrepublikanischen Länder ergab sich die Eigenschaft der Verfassungsautonomie aus Art. 5 WRV.23 Diese Verfassungshoheit darf aber für die nichtsouveränen Gliedstaaten nicht uneingeschränkt sein. Wenn man die Staatsqualität der Länder bejaht, muss ihre Grundorganisation an die Gesamtrechtsordnung zwecks der staatlichen Einheit gebunden sein. Verneint man hingegen die Staatlichkeit der Länder, so ist den 19
Vgl. Wittmayer, Reichsverfassung, S. 160 f. Vgl. Poetzsch-Heffter, Handkommentar, S. 77 f., 86 f., 96 f.; vgl. dazu auch: Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reichs, S. 38. 21 Vgl. Wenzel, Der Begriff des Gesetzes, S. 252; Giese, Die Verfassung des Deutschen Reiches, S. 73. 22 Vgl. Wenzel, Der Begriff des Gesetzes, S. 253. 23 Vgl. Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reichs, S. 71; Preuß, Reich und Länder, S. 139 20
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Bundesgliedern eine für die Staatsqualität entscheidende Befugnis, das eigene materielle Verfassungsrecht selbständig zu veranlassen, einfach entzogen.24 Der Staat ist eine rechtliche Abstraktion. Da er nicht wie ein Mensch seinen Willen selbständig bilden und ausführen kann, braucht der Staat zur Erfüllung seiner Aufgaben eine physische Ausgestaltung – hier spricht man von einem System von Organen. In der inneren Organisation des Staates befindet sich sein Wesen, das zu einer selbständigen Willens-, Macht- und Rechtseinheit berufen ist. Eine Staatsorganisation ist zur Erzeugung und Betätigung des Staatswillens notwendig.25 Unter die sich im Rahmen der Verfassungsautonomie vollziehende Grundordnung der Herrschaftsgewalt fallen insb. die Gestaltung der obersten Organe und die Festlegung ihrer Funktionen. Die Fähigkeit eines Staatsgebildes, eine eigene innere Organisation im Wege der Verfassungsgesetzgebung selbständig zu bestimmen, bezeichnet der Begriff der Organisationshoheit (-gewalt). Die WRV räumte den deutschen Ländern das Recht ein, die Staatsgewalt durch eigene, nicht vom Oberstaat konstruierte Organe gemäß den Vorschriften der Landesverfassungen auszuüben. Kraft der Landeskompetenzen (Art. 10 ff. WRV) sind die Gliedstaaten mit den Funktionen der Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtspflege einzurichten.26 Aus der komplexen Rechtsnatur des Bundesstaates ergibt sich die wichtige Aufgabe der Gesamtrechtsordnung, die staatliche Einheit und die Funktionsfähigkeit des Gesamtkörpers durch reibungslose Zusammenarbeit aller staatlichen (oder staatsartigen) Mitglieder zu gewährleisten. Wenn man von der Eigenstaatlichkeit der deutschen Länder ausgeht, fordert diese Aufgabe eine bundesverfassungsrechtliche Verankerung innerstaatlicher Schutzmechanismen. Lehnt man die Staatsnatur der Bundesglieder dagegen ab, werden solche Bestimmungen der Bundesverfassung im Gegenzug als Eingriffe in die „Staatlichkeit“ der Länder betrachtet, die nämlich diese Gliedstaatlichkeit widerlegen. Diese unterschiedlichen Auffassungen hinsichtlich der Eigenstaatlichkeit der deutschen Länder leiten über zu einem weiteren relevanten Aspekt im Kontext dieser Arbeit, nämlich zur Frage nach der verfassungsmäßigen Selbstorganisation der reichsrepublikanischen Länder.
3. Das innerstaatliche Homogenitätsgebot nach der WRV: Drei Anforderungen an die Länder Im Unterschied zur kaiserlichen RV, die den deutschen Einzelstaaten bei ihrer inneren Organisation einen unbegrenzten Gestaltungsspielraum eigeräumt und damit deren Staatsqualität nicht bezweifelt hatte, enthielt die WRV entsprechende Normativbestimmungen; in Anlehnung an diese Bestimmungen war die Landesstaats24
Vgl. Poetzsch-Heffter, Handkommentar, S. 78. Vgl. Stier-Somlo, Reichs- und Landesstaatsrecht I, S. 47 f., 69. 26 Vgl. Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reichs, S. 71; Giese, Die Verfassung des Deutschen Reiches, S. 50. 25
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organisation einzurichten. Vor allem handelt es sich um den Art. 17 I WRV, der die Forderung nach der bundesstaatlichen Homogenität enthielt. Die Vertreter der Länder, die Gegner der Gliedstaatlichkeit und einige Befürworter derselben stimmten jedoch darin überein, dass die Rechtsnormen des Art. 17 I WRV einen wesentlichen Eingriff in die Verfassungsautonomie der reichsrepublikanischen Länder darstellten. Während aber für die Gegner der Staatsqualität der Länder diese Verfassungsnorm als weiterer Beleg ihrer Position galt, nach der das innere Selbstbestimmungsrecht der Länder durch die Bundesverfassung so gut wie vernichtet wurde, was zu einer faktischen Entstaatlichung der deutschen Länder und der Umwandlung der Reichsrepublik in einen Einheitsstaat geführt hat,27 lautete die Gegenansicht, dass die Ingerenz des Gesamtstaates auf die innere Organisation durch das bundesstaatliche Homogenitätsgebot des Art. 17 I WRV überflüssig und für die Länderstaatlichkeit schädlich sei, was eine Kompetenzüberschreitung seitens des Oberstaates darstellen würde und daher aus der Reichsverfassung gestrichen werden müsse.28 Die meisten Theoretiker der Weimarer Zeit vertraten eine andere Auffassung hinsichtlich des im Art. 17 I WRV vorgeschriebenen Homogenitätsgebotes. Im Unterschied zum Bismarckschen Kaiserreich, das durch das dynastische Prinzip zu einer staatlichen Einheit zusammengesetzt worden war und daher keinen formalrechtlichen Homogenitätsgrundsatz gebraucht hatte, befand sich die junge deutsche Republik in einer schweren Lage. Ungeachtet der im November 1918 erfolgten Ausrufung des demokratischen Republikanismus gab es in den ersten Jahren der Weimarer Republik dennoch sehr ausgeprägte monarchische Restaurationstendenzen, demokratiefeindliche (allem voran kommunistische) Bestrebungen (besonders in Bayern) und – was für die Bundesstaatlichkeit besonders gefährlich war – auch zentrifugale Bewegungen innerhalb des deutschsprachigen Raums der ehemaligen Deutschen und Österreichisch-Ungarischen Monarchien. In dieser schwierigen politischen Situation musste der Verfassungsgeber, d. h. die Deutsche Nationalversammlung, bedenken, wie man den Grundsatz der Freistaatlichkeit bei der Gestaltung eines demokratischen Gesamtkörpers geltend machen kann. In Bezug auf das Bundesstaatsprinzip könnte dies durch die verfassungsrechtliche Verankerung des expliziten Homogenitätsgebotes erreicht werden. Daher wurde das Homogenitätsprinzip in der WRV so ausdrücklich anerkannt und weitgehend realisiert.29 Die Gestaltung der Landesverfassungen unter Berücksichtigung der Vorschriften der Bundesverfassung ist eine Rechtspflicht eines jeden Gliedstaates. Als Berichterstatter wies Innenminister Preuß vor der Nationalversammlung darauf hin, dass es in den modernen Bundesstaaten keine Bundesverfassung gäbe, die nicht die eine oder 27 Vgl. Freytagh-Loringhoven, Die Weimarer Verfassung, S. 40; Poetzsch-Heffter, Handkommentar, S. 78, 81; dazu noch Preuß, Reich und Länder, S. 139. 28 Vgl. den Abgeordneten Clemens von Delbrück in der 11. Sitzung des Verfassungsausschusses der Deutschen Nationalversammlung am 20. März 1919, vgl. Bericht und Protokolle des Achten Ausschusses, S. 112; Preuß, Reich und Länder, S. 137. 29 Vgl. Pleines, Homogenität, S. 32 f.
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andere Normativbestimmung für die Länderverfassungen enthalte. Eine solche bundesverfassungsrechtliche Regelung der inneren Organisation der Gliedstaaten stehe nicht im Widerspruch zu deren Souveränität, weil die deutschen Länder eben nicht souverän seien.30 Durch das bundesstaatliche Homogenitätsgebot des Art. 17 I WRV wurde die Verfassungsautonomie der deutschen Länder allerdings nicht aufgehoben, sondern eingeschränkt; ihre politische Selbständigkeit wurde nicht abgeschwächt, sondern an die gesamtstaatlichen Erfordernisse der republikanischen und demokratischen Rechtsordnung gebunden. Wird das neue Reich nach dem Vorbild eines Volksstaates (gemeint ist hier die Republik) aufgebaut, so erfordert dies für die Gewährleistung der Lebensfähigkeit des Bundesstaates auch eine organische Übereinstimmung der oberen und unteren Machtstrukturen („von oben nach unten“). Ein normierender Einfluss des Gesamtwillens, der durch die entsprechenden rechtszwingenden Vorschriften der Bundesverfassung ausgestaltet ist, auf die Staatsorganisation der Länder wird als unentbehrlich betrachtet: Es muss eine innerstaatliche Homogenität innerhalb des Gesamtstaates bundesverfassungsrechtlich sichergestellt werden.31 Das innere Selbstbestimmungsrecht der Gliedstaaten, das deren Verfassungsautonomie bedingt, muss indes unberührt bleiben. Diese ist bundesverfassungsrechtlich zwar beschränkt, aber nicht aufgehoben. Durch den Art. 17 I WRV wurden die Landesverfassungen inhaltlich nicht vorherbestimmt, sondern ihnen wurde nur die Verpflichtung auferlegt, die grundlegenden Grundsätze der Gesamtrechtsordnung beim Verfassungsaufbau zu befolgen. Die konkrete Ausgestaltung der inneren Organisation blieb in den Händen der Landesverfassungsgeber, die die bundesverfassungsrechtlichen Klammern einhalten mussten. Die Annahme der Landesverfassung fand ausschließlich im Rahmen der Verfassungsautonomie der Gliedstaaten und kraft ihrer eigenen Herrschaftsgewalt statt; die Landesverfassung ist ein Staatsgrundgesetz des jeweiligen Landes, das nicht vom Oberstaat sanktioniert oder oktroyiert wird. Daraus folgte, dass der Gesamtstaat als souveränes Gebilde die Verfassungsautonomie seiner Glieder nicht vorherbestimmt, sondern deren Grenzen (den Umfang des reichsaufsichtsfreien Gestaltungsspielraums) im Interesse der gesamtstaatlichen Durchführung des demokratischen Grundsatzes absteckt. Das Homogenitätsgebot gilt dabei als Instrument zur Erreichung dieses Ziels.32 Um die unterschiedlichen Länder des ehemaligen Kaiserreichs in den neuen Verband der deutschen Republik organisch einzureihen, legte die Bundesverfassung die Normativbestimmungen der innerstaatlichen Homogenität als Mindestmaß demokratischer Belange fest, welches der Gesamtstaat von seinen Gliedern einfordern muss. Dank dem bundesverfassungsrechtlichen Homogenitätsgebot wird in den landschaftlich und örtlich verschiedenen Ländern eine weitgehende Gleichartigkeit 30
Vgl. Bericht und Protokolle des Achten Ausschusses, S. 110. Vgl. Preuß, Reich und Länder, S. 136; Koellreutter, in: HDtStR I, § 13 S. 144. 32 Vgl. Koellreutter, in: HDtStR I, § 13 S. 144; Thoma, in: HDtStR I, § 15 S. 180; Anschütz, in: HDtStR I, § 26 S. 296; Wenzel, in: HDtStR I, § 52 S. 605; Preuß, Reich und Länder, S. 136. 31
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der Verfassungssysteme erreicht, was eine harmonische Existenz des Gemeinwesens bewirken soll.33 Wenn man davon ausgeht, dass die Verfassungsautonomie der Gliedstaaten durch die bundesstaatlichen Homogenitätserfordernisse nicht aufgehoben, sondern nur begrenzt wird, fordert dies seitens des Oberstaates die Gewährleistung eines freien Handlungsspielraums für die Länder innerhalb ihrer Verfassungsautonomie. Nach der herrschenden Meinung wurde einerseits die Unterwerfung der Länder unter das Reich auf die Vorschriften der WRV beschränkt und ihr Existenzrecht, d. h. die Eigenschaften der Eigenstaatlichkeit und Verfassungsautonomie, bundesverfassungsrechtlich garantiert. Etwaige Eingriffe seitens des Oberstaates in die inneren Angelegenheiten der Gliedstaaten aus Gründen einer jeweils gegebenen Zweckmäßigkeit wurden ausgeschlossen, soweit solche Eingriffe nicht in anderen Normen der WRV vorgesehen und begründet sind. In allen übrigen Fällen bedurfte eine Einengung der gliedstaatlichen Verfassungsautonomie eines verfassungsändernden Reichsgesetzes, d. h. die an das innerstaatliche Homogenitätsgebot des Art. 17 I WRV geknüpfte Verfassungsautonomie der deutschen Länder stand somit grundsätzlich unter dem Schutz des willkürliche Verfassungsänderungen erschwerenden Art. 76 WRV.34 Andererseits kann das Reich, wie der Unterstaatssekretär im preußischen Innenministerium Friedrich Freund ausdrücklich anmerkte, eine Gewährleistung für die gliedstaatlichen Verfassungsordnungen nur in einem sehr beschränkten Umfang übernehmen. Die Verfassungsautonomie der Länder kann vom Reich nur in den Grenzen des Homogenitätsgebotes (d. h. nur im Umfang von den Rechtsnormen des Art. 17 I WRV) garantiert werden.35 In diesem Zusammenhang stellt sich die „ewige“ Frage nach der inhaltlichen Bestimmtheit der homogenitätsgemäßen Richtlinien für die Gliedstaaten und der Zulässigkeit ihrer substanziellen Erweiterung durch den Oberstaat. Der homogenitätstragende Art. 17 I WRV enthielt drei Mindestvorschriften, die die Grenzen der Verfassungsautonomie der deutschen Länder in organisationsrechtlicher Hinsicht absteckten und zugleich einen relativ ungehinderten Raum für die innere Gliedstaatsorganisation eröffneten. Zu diesen bundesverfassungsrechtlichen Anforderungen gehörten die folgenden Normen: Jedes Land muss eine freistaatliche Verfassung haben (S. 1); Die Volksvertretung muss in allgemeiner, gleicher, unmittelbarer und geheimer Wahl von allen reichsdeutschen Männern und Frauen nach den Grundsätzen der Verhältniswahl gewählt werden (S. 2); Die Landesregierung bedarf des Vertrauens der Volksvertretung (S. 3). Mit diesen rechtszwingenden Verfassungsvorschriften strebte die Nationalversammlung nach dem Aufbau der organischen inneren Struktur des reichsrepublikanischen deutschen Bundesstaates. Die WRV verlangte von den Ländern die 33 Vgl. Wittmayer, Reichsverfassung, S. 53, 169; Preuß, Reich und Länder, S. 136; Koellreutter, in: HDtStR I, § 13 S. 144. 34 Vgl. Anschütz, in: HDtStR I, § 26 S. 296; Wenzel, in: HDtStR I, § 52 S. 605. 35 11. Sitzung des Verfassungsausschusses der Deutschen Nationalversammlung am 20. März 1919, vgl. Bericht und Protokolle des Achten Ausschusses, S. 112; Wenzel, in: HDtStR I, § 52 S. 605.
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Ausübung ihrer Herrschaftsgewalt in den Formen, die in prinzipieller Übereinstimmung mit den entsprechenden Formen der Zentralgewalt und dem Grundsatz der Volkssouveränität stehen sollten.36 Im Folgenden werden die reichsverfassungsrechtlichen Grundentscheidungen bezüglich der gliedstaatlichen Befugnis zur Selbstorganisation und die von ihnen gebotenen Gestaltungsmöglichkeiten im Rahmen des Art. 17 I WRV untersucht.
4. Die erste Anforderung: Jedes Land muss eine freistaatliche Verfassung haben (Grundsatz der Freistaatlichkeit) Art. 17 I 1 WRV schrieb den deutschen Ländern die Gestaltung einer freistaatlichen Verfassungsordnung vor. Die meisten zeitgenössischen Staatsrechtler gingen von der Auslegung aus, dass der Begriff „freistaatliche Verfassung“ einfach einen (terminologisch spezifischen) deutschen Ausdruck für die Bezeichnung der republikanischen Staatsform bildet.37 Selbst der Autor des Verfassungsentwurfes, Reichsinnenminister Preuß, äußerte sich dahingehend, dass mit dem Ausdruck „freistaatliche Verfassung“ eben die republikanische Staatsform gemeint war.38 Aber warum wurde in Bezug auf die Staatsorganisation der Länder das Adjektiv „freistaatlich“ anstelle des allgemein anerkannten und in der germanischen Staatswissenschaft verbreiteten Begriffs „republikanisch“ verwendet, wenn selbst die WRV vom Deutschen Reich als Republik sprach (Art. 1 S. 1)? Handelte es sich bloß um eine sprachliche Geschmacksfrage, also eine persönliche Sprachpräferenz der Schöpfer der Reichsverfassung? Die Beantwortung dieser Frage dürfte sich jedoch nicht auf reine Sprachpräferenzen beschränken. Der Begriff „freistaatliche Verfassung“ enthielt nämlich nicht nur das Erfordernis einer republikanischen, sondern auch demokratischen Verfassungsordnung für die deutschen Länder. Der Grundsatz der Freistaatlichkeit in Art. 17 I 1 WRV bedeutete die bundeverfassungsrechtliche Anordnung der Einrichtung demokratischer Republiken auf Landesebene.39 Diese Auslegung der Freistaatlichkeit bestätigte implizit auch Preuß, der später schrieb, dass „die republikanische und demokratische Gestaltung der Länder eine Lebens-
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Vgl. Wenzel, in: HDtStR I, § 52 S. 605; Wittmayer, Reichsverfassung, S. 169 f. Vgl. u. a. Bredt, Der Geist der Reichsverfassung, S. 119; Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reichs, S. 131; Wenzel, in: HDtStR I, § 52 S. 607. 38 Vgl. der Abgeordnete Preuß in der 11. Sitzung des Verfassungsausschusses der Deutschen Nationalversammlung am 20. März 1919, vgl. Bericht und Protokolle des Achten Ausschusses, S. 111; Preuß, Reich und Länder, S. 145. 39 Vgl. Giese, Die Verfassung des Deutschen Reiches, S. 73; Reißfelder, Manfred, Verfassungsautonomie und Verfassungshomogenität der deutschen Einzelstaaten in den Verfassungssystemen seit 1815, Frankfurt a. M. 1959, S. 74. 37
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bedingung für das republikanische und demokratische Reich [ist], die es durch seine Verfassung sicherstellen muß.“40 Mit der Vorschrift des Art. 17 I 1 WRV wurde erstmals in der deutschen Verfassungsgeschichte die formalrechtliche Homogenität der Staatsformen innerhalb des Bundesstaates bestimmt. Diese Rechtsnorm wurde aber nicht von allen Seiten unterstützt. Der Berichterstatter im Verfassungsausschuss, der Abgeordnete Konrad Beyerle, bezweifelte die Notwendigkeit dieser Vorschrift, die „einen so weitgehenden Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht der Gliedstaaten“ bedeuten kann.41 Der Abgeordnete Clemens von Delbrück ging noch weiter und schlug vor, das Wort „freistaatliche“ aus dem Artikel des Verfassungsentwurfs überhaupt zu streichen. In seiner Antwort betonte Preuß, dass diese Bestimmung für den inneren Zusammenhang des Gesamtstaates am wichtigsten sei: „Es ist auch gar nicht denkbar, daß bei der republikanischen Staatsform des Reichs in einem Einzelstaat die monarchische Staatsform möglich sein könnte.“42 Mit dem Erfordernis der homogenen Staatsformen innerhalb des Bundesstaates wurde die Einrichtung der unterschiedlichen Existenzformen der deutschen Länder nun komplett ausgeschlossen. Die im Interesse der innerpolitischen Entspannung und staatlichen Einheit des Gesamtkörpers eingeführte Regel musste einerseits als Schutzmechanismus gegen eine denkbare Wiedereinführung der monarchischen Staatsform in den deutschen Ländern gelten. Die landesverfassungsrechtliche Feststellung jeder Art von Monarchie, d. h. der Staatsform mit einem erblichen Oberhaupt, wäre reichsverfassungswidrig.43 Neben dem homogenitätsbedingten Verbot eines monarchischen sowie scheinmonarchischen Machtsystems in den Gliedstaaten strebten die Schöpfer der Reichsverfassung andererseits nach der Gestaltung demokratischer und rechtsstaatlicher Länderrepubliken nach britisch-amerikanischem und französischem Verständnis. Mit dem Grundsatz der Freistaatlichkeit forderte die WRV von den Ländern einen echten Republikanismus. Als Gegenbeispiel galt die sowjetrussische Räterepublik – eine Scheinrepublik mit der Herrschaft einer sozialen Klasse (des Proletariats).44 Unter Berücksichtigung der schweren innenpolitischen Lage nach der Abschaffung des Monarchismus und der Niederlage im Weltkrieg musste die reichsverfassungsrechtliche Homogenität der Staatsformen jegliche antidemokratischen Bestrebungen bei der Staatsorganisation der deutschen Länder unterbinden (bemerkenswert war der Fall der im April 1919 existierenden kommunistischen 40
Preuß, Reich und Länder, S. 137. Vgl. Abgeordneter Beyerle in der 11. Sitzung des Verfassungsausschusses der Deutschen Nationalversammlung am 20. März 1919, zit. nach: Bericht und Protokolle des Achten Ausschusses, S. 110. 42 Abgeordneter Preuß in der 11. Sitzung des Verfassungsausschusses der Deutschen Nationalversammlung am 20. März 1919, zit. nach: Bericht und Protokolle des Achten Ausschusses, S. 111. 43 Vgl. Wenzel, in: HDtStR I, § 52 S. 607; Preuß, Reich und Länder, S. 145 f. 44 Vgl. Giese, Die Verfassung des Deutschen Reiches, S. 73; Bredt, Der Geist der Reichsverfassung, S. 119 f.; Reißfelder, Verfassungshomogenität, S. 74. 41
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Bayerischen Räterepublik). Im Übrigen blieb den deutschen Ländern bei der Ausstattung ihrer Freistaatlichkeit ein gewisser Freiraum (gemeint ist das Zusammenspiel der Grundsätze der direkten [plebiszitären] und mittelbaren [repräsentativen] Demokratie). Der Grundsatz der Freistaatlichkeit kam in den Verfassungen der Weimarer Länder zum Ausdruck. Als Freistaaten wurden Bay (§ 1 I LVerf), Braunschw (Art. 1 I 1 LVerf), Brem (§ 1 I LVerf), Lübeck (Art. 1 LVerf), MecklSchw (§ 1 I LVerf), Old (§ 1 I LVerf), Sachs (Art. 1 I LVerf) und Thür (§ 1 LVerf) bezeichnet.45 Die Verfassungen von Lippe (Art. 1 I) und SchaumbLippe (§ 1) bestimmten diese Länder als selbständige Freistaaten. Bad (§ 1 LVerf), Hamb (Art. 1 LVerf) und Preuß (Art. 1 I LVerf) riefen Republiken aus. Nach den Verfassungen von Hess (Art. 1 I) und Württ (§ 1) wurden diese Länder als Volksstaaten bezeichnet. MecklStr determinierte sich als ein selbständiger und unabhängiger Staat im Rahmen der Deutschen Republik (§ 2 LVerf). Im Unterschied zu der US-amerikanischen Verfassung und der damaligen schweizerischen Bundesverfassung beschränkte sich die WRV nicht nur auf die Forderung der innerstaatlich homogenen republikanischen Staatsform. Art. 17 I WRV enthielt noch weitere rechtszwingende Vorschriften, in denen sich die Grundsätze der Staatsorganisation der deutschen Länderrepubliken entfalten.
5. Die zweite Anforderung: Jedes Land muss eine demokratisch gewählte Volksvertretung haben (Entwicklung des Demokratieprinzips) a) Rechtsnatur der Volksvertretung Laut Art. 17 I 2 WRV muss jedes Land eine Volksvertretung haben, die dem demokratischen Grundsatz entsprechend gewählt wird. Durch diese Verfassungsvorschrift wurde das für die deutschen Länder rechtszwingende Demokratieprinzip entwickelt. Das Vertretungsorgan des Landesvolkes musste wie der Reichstag (vgl. Art. 22 I 1 WRV) auf repräsentativ-demokratischer Grundlage gebildet werden. Das bedeutete, dass durch die demokratischen Wahlrechtsprinzipien der Allgemeinheit und Gleichberechtigung jede Art von antidemokratischer einseitiger Minderheitsoder Klassenherrschaft – Aristokratie, Oligarchie oder jedwede „Diktatur des Proletariats“ (insb. nach dem zeitgenössischen sowjetrussischen Muster der sog. Räterepublik) – auch auf Landesebene zu untersagen ist.46 Diese homogenitätsbindende 45
Hier sowie im Folgenden werden die Verfassungen der deutschen Länder der Weimarer Zeit zitiert nach: Wittreck, Fabian (Hrsg.), Weimarer Landesverfassungen. Die Verfassungsurkunden der deutschen Freistaaten 1918 – 1933, Textausgabe mit Sachverzeichnis und einer Einführung, Tübingen 2004. 46 Vgl. 11. Sitzung des Verfassungsausschusses der Deutschen Nationalversammlung am 20. März 1919, Bericht und Protokolle des Achten Ausschusses, S. 111; Anschütz, Die Ver-
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Vorschrift der Bundesverfassung musste zum einen die demokratische Vertretung eines jeden Landesvolkes auf dem Territorium des jeweiligen reichsrepublikanischen Gliedstaates sichern und die etwaige Einführung eines demokratiefeindlichen Wahlsystems verhindern. Zum anderen bedeutete die Bestimmung der Verhältniswahl nicht, dass die Länder an ein genaueres Verhältniswahlsystem gebunden waren: Die Länder hatten vielmehr das Recht, von den entsprechenden Normen des Reichstagswahlrechts abzuweichen.47 Die Volksvertretung – gewöhnlich „der Landtag“, in den freien Hansestädten Bremen, Hamburg und Lübeck hingegen „die Bürgerschaft“ – war das einzige Vertretungsorgan des Landesvolkes und die wichtigste Körperschaft, die die ihm zustehende Staatsgewalt ausübte. Die besondere rechtspolitische Stellung des Landesparlaments folgte aus dem Zusammenhang des zweiten und dritten Satzes des Art. 17 I WRV: Anders als auf Reichsebene, auf der die wichtigsten Staatsorgane – der direkt vom Volk gewählte Reichstag sowie der ebenfalls direkt vom Volk gewählte Reichspräsident – Mitträger der Zentralgewalt waren (vgl. Art. 20 ff., 41 WRV), bildete der Landtag den alleinigen Vertretungskörper auf Landesebene, dem die verfassungsgebende Entscheidungsmacht zukam. In dieser Funktion wurde das Landesparlament als repräsentative Körperschaft nur durch den direkt geäußerten Willen des Staatsvolkes (d. h. durch die Instrumente der plebiszitären Demokratie) eingeschränkt.48 Die Zahl der Abgeordneten der Volksvertretungen wurde von den Ländern selbständig bestimmt und variierte erheblich. Die Zahlen der Mandate bewegten sich zwischen 15 und 450: 15 Abgeordnete in SchaumbLippe, 21 in Lippe, 35 in MecklStr, 36 in Anh, 40 in Braunschw, 70 in Hess, 80 in Lübeck und Württ, 96 in Sachs, 128 in Bay, 160 in Hamb, 450 in Preuß; in Bad, MecklSchw, Old und Thür änderte sich die Anzahl der Mandate wegen der Besonderheiten des Wahlsystems nach oben mit 48 Mandaten in Old, nach unten mit 53 und 50 in drei übrigen Ländern.49 Die Legislaturperiode der deutschen Landesparlamente betrug in Bad, Bay, Lippe, MecklStr, Preuß, Sachs und Württ, später auch in Anh und Brem vier Jahre, in den übrigen Länderrepubliken drei Jahre.50 Die deutschen Länder als Gliedstaaten verfügten über eine Gesetzgebungshoheit (Selbstgesetzgebung), was sogar die Gegner der Länderstaatlichkeit bejahten.51 Die fassung des Deutschen Reichs, S. 131; Preuß, Reich und Länder, S. 146 f.; Wenzel, in: HDtStR I, § 52 S. 607; Reißfelder, Verfassungshomogenität, S. 74. 47 Vgl. Preuß, Reich und Länder, S. 147. 48 Vgl. Meißner, Staatsrecht, S. 46, 65; Leibholz, Gerhard, Übersicht über die Zuständigkeit der Landesparlamente, in: Anschütz, Gerhard/Thoma, Richard (Hrsg.), Handbuch des Deutschen Staatsrechts, Bd. 1, Tübingen 1930, § 54 S. 634; Preuß, Reich und Länder, S. 147. 49 Vgl. Jellinek, Walter, Die Zusammensetzung der Landesparlamente, insbesondere das Wahlrecht und die Wahlprüfung, in: Anschütz, Gerhard/Thoma, Richard (Hrsg.), Handbuch des Deutschen Staatsrechts, Bd. 1, Tübingen 1930, § 53 S. 620. 50 Vgl. Wittreck, Weimarer Landesverfassungen, S. 43 ff. 51 Vgl. Poetzsch-Heffter, Handkommentar, S. 76.
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Zuständigkeit der Landesparlamente war in der Terminologie Jellineks ein „rechtliches Können“, das durch den staatsbildenden Charakter des Landesvolkes bedingt wurde. Als Vertretungskörper war der Landtag für die Ausübung der dem Landesvolk eingeräumten pouvoir constituant zuständig: Die wichtigste Funktion der Volksvertretungen bildete die Ausübung der Verfassungs- und einfachen (laufenden) Gesetzgebung im Rahmen der Verfassungsautonomie und Kompetenz der Länder. Neben der Gesetzgebungsfunktion erfüllten die Landesparlamente die Aufgaben im Verwaltungsbereich. Sie waren für die Bildung der Landesregierung und die Kontrolle dieser und der anderen Verwaltungsbehörden zuständig und setzten auch den Landeshaushalt fest.52 Mit der grundsätzlichen reichsverfassungsrechtlichen Verankerung der an die demokratischen Prinzipien gebundenen Existenz und Zusammensetzung der Volksvertretungen blieb den deutschen Ländern kein allzu großer Spielraum für die Gestaltung der Landtage nach eigenem Ermessen. Daraus folgte eine der wenigen organisatorischen Möglichkeiten: Wäre es bundesverfassungskonform, einen aus zwei Kammern bestehenden Landtag zu gestalten? b) Parlamentarisches Einkammersystem Im Verfassungsvorentwurf von Preuß wurde in § 12 festgestellt, dass in jedem deutschen Freistaat eine aus einer Kammer bestehende Volksvertretung vorhanden sein muss. Im Verfassungsentwurf der Reichsregierung (Art. 16), der nach den Beschlüssen des Staatenausschusses in die Nationalversammlung eingebracht wurde, fehlte diese Forderung bereits. Später wurde in der Sitzung des Verfassungsausschusses mehrmals angemerkt, dass der Verfassungsentwurf kein für die Länder obligatorisches Einkammersystem unbedingt vorschreibe und deshalb den Ländern ein Spielraum zustehe, neben der Volkskammer ein zweites Parlamentshaus zu schaffen. Dabei sei aber zu beachten, dass die ausschlaggebende Stellung des Volkshauses durch die direkte Volkswahl und seine Bildungsfunktion der Landesregierung gesichert ist.53 In der zeitgenössischen Staatswissenschaft wurde diese Möglichkeit, die sich nach der Streichung aus dem Verfassungsentwurf des für die deutschen Länder zwingenden Einkammersystems ergab, nicht so eindeutig ausgelegt. Unumstritten war, dass die Länder berechtigt seien, ein zusätzliches Organ mit der gesetzgebenden Funktion zu schaffen. Umstritten wäre aber die Rechtsnatur eines solchen zweiten Parlamentshauses. Diese zweifelnde Auffassung gründete sich auf den systematischen Zusammenhang des zweiten und dritten Satzes des Art. 17 I WRV. Wenn es um 52 Vgl. Leibholz, in: HDtStR I, § 54 S. 630 ff. (Verweis auf Jellinek in Fn. 1); Meißner, Staatsrecht, S. 46, 67. 53 Vgl. die Abgeordneten Beyerle, Koch und Preuß in der 11. Sitzung des Verfassungsausschusses der Deutschen Nationalversammlung am 20. März 1919, Bericht und Protokolle des Achten Ausschusses, S. 110, 111.
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ein parlamentarisches Zweikammersystem geht, versteht man unter diesem das Zusammenspiel von zwei selbständigen, voneinander unabhängigen, getrennt tagenden und beschließenden Körperschaften, deren übereinstimmender Mehrheitsbeschluss den Willen des Parlaments bildet.54 Die Vorbilder für ein solches Zweikammersystem fanden sich sowohl in Großbritannien und den Vereinigten Staaten von Nordamerika als auch in den konstitutionell-monarchischen Einzelstaaten des Deutschen Kaiserreichs. In Letzteren stellte die zweite Kammer ein „Haus der Aristokratie“ dar, da sich diese Kammer aus den vom Monarchen ernannten Vertretern der herrschenden Klasse zusammensetzte. Mit Rücksicht auf die Abschaffung des dynastischen Prinzips und die Ausrufung des Grundsatzes der Freistaatlichkeit wäre die Gestaltung einer solchen antidemokratischen Parlamentskammer in den reichsrepublikanischen Ländern staatsrechtlich unzulässig. Die andere Variante wäre die Gestaltung der zweiten Kammer nach nordamerikanischem Vorbild: Wie der Senat müsste das Oberhaus der gliedstaatlichen Volksvertretung auch direkt von der Bevölkerung gewählt werden. Wenn es schon aus rein praktischer Sicht unzweckmäßig gewesen wäre, dass in den territorial nicht so großen und weniger bevölkerten Teileinheiten wie die deutschen Länder (ausgenommen vielleicht Preuß und Bay) eine Volksvertretung mit dem Zweikammersystem ausgestaltet würde, schien dies auch mit der Reichsverfassung unvereinbar. Nach der herrschenden Meinung durfte die Volksvertretung nur einheitlich sein und aus einer Kammer bestehen, weil Art. 17 I 2 WRV ihre Zusammensetzung an die rechtszwingenden Grundsätze der direkten Wahl durch das Landesvolk band. Die Einrichtung einer anderen Parlamentskammer, die nach den gleichen Wahlrechtsgrundsätzen zusammengesetzt wird, würde zum Vorhandensein zweier völlig gleichgearteter repräsentativer Körperschaften führen, was die Natur des parlamentarischen Zweikammersystems, die sich in den unterschiedlichen Herangehensweisen zur Zusammensetzung der Parlamentskammer zwecks Gewährleistung der Gewaltenbalance und -verschränkung innerhalb des gesamten Parlamentskörpers zum Ausdruck kommt, verletze.55 Einen möglichen Ausweg aus diesem staatsrechtlichen Dilemma könnte die Einrichtung eines quasiparlamentarischen Organs sein, das einige gesetzgebende Aufgaben an sich ziehen kann, ohne dazu eine wirkliche, das Volk repräsentierende Körperschaft darzustellen. Eine solche „zweite“ Kammer erfüllt allerdings Aufgaben, die für das Oberhaus in einem parlamentarischen Zweikammersystem charakteristisch sind, und spielt die Rolle eines Gegengewichts zu der wegen ihrer direkt gewählten Rechtsnatur politisch dominierten „ersten“ Kammer. Daraus folgt, dass der einzige Vertreter des Landesvolkes das direkt durch die Bevölkerung gewählte Einkammerparlament (in Art. 17 I 2 WRV als Volksvertretung bezeichnet) ist, das
54
Vgl. Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reichs, S. 134. Vgl. Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reichs, S. 134; Nieding, Homogenität, S. 81 f. 55
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aber durch ein in Analogie zum oberstaatlichen Reichsrat eingerichtetes Organ ergänzt werden kann.56 Das einzige Beispiel für die Einrichtung eines parlamentarischen Quasi-Zweikammersystems bildete das größte reichsrepublikanische Land Preußen. Nach Art. 31 PreußVerf wurde zur Vertretung der Provinzen (der Bestandteile des Landes) bei der Landesgesetzgebung und -verwaltung ein Staatsrat gebildet. Der Staatsrat bestand aus Vertretern der 13 Provinzen und des ihnen gleichgestellten Hohenzollernschen Landes in Württ, die von den Provinziallandtagen (kommunale Vertretungsorgane) gewählt wurden (Art. 32 f. PreußVerf). Seiner Rechtsnatur nach war der preußische Staatsrat ein Organ der territorialen Vertretung und ähnelte dem Reichsrat. Ihm wurden die Rechte der Mitwirkung an der Landesgesetzgebung eingeräumt. So war der Staatsrat berechtigt, die Gesetzesvorlagen durch die Landesregierung an den Landtag einzubringen und seine Gutachten an die Gesetzentwürfe der Landesregierung vor ihrer Einbringung in den Landtag zu geben (Art. 40 II, III PreußVerf). Dem Staatsrat stand ein Einspruchsrecht gegen die vom Landtag beschlossenen Landesgesetze zu. Macht der Staatsrat von diesem Recht Gebrauch, kann der Landtag den Einspruch mit einer Zweidrittelmehrheit überwinden. Im Fall einer nur einfachen Mehrheit erfordert der neue Beschluss des Landtages eine Bestätigung durch Volksentscheid, im entgegengesetzten Fall wird der Landtagsbeschluss hinfällig (Art. 42 PreußVerf). Wie gerade aufgezeigt wurde, stellte der preußische Staatsrat jedoch von der Rechtsnatur seiner Kompetenz her gesehen ein integriertes Gesetzgebungsorgan dar, obwohl er von der Art seiner Zusammensetzung her keine echte Volksvertretung im Sinne der Reichsverfassung bildete. Es handelte sich in der Tat um eine mittelbare, durch die Provinzen herausgebildete Vertretung des Landesvolkes.57 Inwiefern die Einrichtung einer solchen scheinbaren „zweiten“ Kammer der Volksvertretung reichsverfassungskonform war, erklärte die zeitgenössische Staatswissenschaft mehr oder weniger eindeutig. Der Oberstaat zweifelte die Zulässigkeit dieser verfassungsrechtlichen Möglichkeit Preußens nicht an, weil er seine Zwangsmittel (vgl. Art. 48, 108 WRV) gegen Preußen nicht eingesetzt hatte, was faktisch die reichsverfassungsrechtliche Zulässigkeit des Zweikammersystems in den deutschen Ländern bestätigen mag.
c) Vorzeitige Beendigung der Legislaturperiode des Landtages Im Unterschied zur Reichsebene, auf der der Reichspräsident als „Hüter der Verfassung“ und ein mit direktem Volksmandat unabhängiger Schiedsrichter zwi56
Vgl. Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reichs, S. 134 f.; Poetzsch-Heffter, Handkommentar, S. 143; Nieding, Homogenität, S. 82; Reißfelder, Verfassungshomogenität, S. 76 f. 57 Vgl. Meißner, Staatsrecht, S. 47.
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schen Parlament und Regierung idealerweise zwecks Gewährleistung der Machtbalance handelte, standen sich auf Landesebene allein der Landtag und die Landesregierung gegenüber. Das Fehlen eines Staatsoberhauptes in den deutschen Ländern erschwerte die gegenseitigen Bildungs- sowie Abbildungsmechanismen der Legislative und Exekutive. Das betraf u. a. das Maß der staatsrechtlichen Beteiligung der Landesregierung an der vorzeitigen Beendigung der Legislaturperiode des Landtages. Die Verfassungen der deutschen Länderrepubliken boten unterschiedliche Möglichkeiten.58 1) Anders als die Reichsverfassung schrieben die Verfassungen vieler Länder dem Landtag das Recht auf Selbstauflösung zu. In Bay (§ 31 LVerf), Braunschw (Art. 24 LVerf), MecklSchw (§ 30 II LVerf), MecklStr (§ 21 LVerf), Old (§ 55 I LVerf), Preuß (Art. 14 LVerf), Sachs (Art. 9 I LVerf) und Thür (§ 16 LVerf) konnte sich der Landtag selbst unter Berücksichtigung der dafür erforderlichen Beschlussfassungsquoren auflösen. Bezüglich der Anwendung des ihm zugeschriebenen Selbstauflösungsrechts durch den Landtag hatte die Landesregierung keine staatsrechtlich mögliche Einwirkung.59 2) Als Vertretungsorgan des Landesvolkes konnte das Landesparlament durch das Volk abberufen werden. Sämtliche deutsche Landesverfassungen erkannten die Möglichkeit der Auflösung des Landtages durch den Volksentscheid an. Während aber in den meisten Ländern jegliche Einwirkungsmöglichkeit der Landesregierung ausgeschlossen wurde und als Voraussetzung zur Ansetzung des Volksentscheids lediglich der „organisierte“ Wille des Landesvolkes galt, schrieben die Verfassungen von Anh (§ 11 II LVerf), Hess (Art. 24 I LVerf), Lippe (Art. 11 II LVerf), Sachs (Art. 9 II LVerf) und Württ (§ 16 I, II LVerf) vor, dass das Auflösungsverfahren des Landtages durch einen Beschluss der Landesregierung zur Festsetzung des entsprechenden Volksentscheids eingeleitet werden kann. In Anh und Lippe (in beiden Art. bzw. § 11 III LVerf) ruht in diesem Fall das Recht des Landesparlaments zur Abberufung der Landesregierung bis zur Entscheidung des Volkes.60 3) In einzelnen reichsrepublikanischen Ländern konnte allerdings die Landesregierung die Auflösung der Volksvertretung beeinflussen. In MecklStr hatte die Landesregierung im Fall der Einstimmigkeit das Recht, jeden Beschluss des Landtags zur Volksabstimmung zu bringen. Wird dieser Landtagsbeschluss durch die Volksabstimmung nicht bestätigt, ist das Landesparlament aufzulösen; andernfalls hat die Landesregierung zurückzutreten (§ 22 MecklStrVerf). Die oldenburgische Landesverfassung räumte der Landesregierung eine Option ein: Im 58 Vgl. Koellreutter, Otto, Die Staatsministerien und die Regierungssysteme in den Ländern mit Ministerialverfassung, in: Anschütz, Gerhard/Thoma, Richard (Hrsg.), Handbuch des Deutschen Staatsrechts, Bd. 1, Tübingen 1930, § 57 S. 675 f. 59 Vgl. Koellreutter, in: HDtStR I, § 57 S. 676. 60 Vgl. Koellreutter, in: HDtStR I, § 57, S. 676 (besonders Fn. 66); Meißner, Staatsrecht, S. 67.
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Fall des Vertrauensentzugs seitens des Landtags ist die Regierung berechtigt nach eigenem Ermessen zu entscheiden, ob sie zurücktritt oder die Volksvertretung auflöst (§ 40 VI). Ein besonderes Beispiel enthielt die preußische Verfassung: Die Auflösung des Landtags konnte durch Beschluss eines Sonderkollegiums, das aus dem Ministerpräsidenten und den Präsidenten des Landtags und des Staatsrats bestand, erfolgen (Art. 14 I).61 Die oben angeführten landesverfassungsrechtlichen Beispielfälle dienten der Veranschaulichung des organisatorischen Einflusses der Exekutive auf die Legislative im Rahmen des durch die Reichsverfassung eingeräumten Gestaltungsspielraums. Ein aggregiertes Bild des reichsverfassungsrechtlich zugelassenen Systems der Machtbeziehungen zwischen Landesparlament und -regierung sei im folgenden Teil dieses Kapitels dargestellt.
6. Die dritte Anforderung: Die Landesregierung bedarf des Vertrauens der Volksvertretung (Parlamentarische Regierungsform) a) Die Rechtsnatur des parlamentarischen Regierungssystems in den Ländern und die Stellung der Landesregierung Die Bindung der Landesregierung an das Vertrauen des Landesparlaments ist für parlamentarische Regierungssysteme charakteristisch. Durch die Forderung des Art. 17 I 3 WRV wurde den Verfassungssystemen der deutschen Länderrepubliken ein parlamentarisch-demokratischer Grundcharakter beigemessen. Diese Verfassungsvorschrift bildete nichts anderes als das Erfordernis der innerstaatlichen Homogenität der Regierungsformen mit dem Ziel, eine gleichartige innere Struktur des parlamentarischen Bundesstaates „von oben bis unten“ verfassungsrechtlich zu wahren.62 Mit der Abschaffung des dynastischen Monarchismus in den reichsdeutschen Einzelstaaten äußerte sich das Demokratieprinzip in der Verschiebung des Machtzentrums von der Krone auf das Parlament als das zur Ausübung der Volksherrschaft berufene Staatsorgan. Diese Verschiebung führte zum Primat der Volksvertretung innerhalb der gliedstaatlichen Verfassungssysteme. Diese gesonderte Stellung des Landesparlaments bedingte die Ausgestaltung seines Verhältnisses zu anderen Staatsorganen, besonders zur Landesregierung. Die Reichsverfassung gab nur den groben Rahmen für das Verhältnis von Legislative und Exekutive vor: Durch Art. 17 I 3 WRV wurde den Ländern die Einführung des Prinzips der parlamentarischen 61
Vgl. Koellreutter, in: HDtStR I, § 57 S. 675, 676; ders., Das parlamentarische System in den deutschen Landesverfassungen, Tübingen 1921, S. 11 f. (besonders Fn. 1). 62 Vgl. Wittmayer, Reichsverfassung, S. 73, 168; Preuß, Reich und Länder, S. 136; Nieding, Homogenität, S. 72.
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Ministerverantwortlichkeit auferlegt. Dieses Prinzip gilt als Kern der parlamentarischen Regierungsform.63 Die Schöpfer der WRV gingen bei der Verpflichtung auch der Länder zur parlamentarischen Abhängigkeit der Regierung von den in der Kaiserzeit gemachten Erfahrungen aus. Damals hatten die reichsdeutschen Regierungen des Vertrauens des Monarchen bedurft. Mit der Beseitigung der monarchischen Staatsform fiel die Staatsgewalt gerade dem Landesvolk zu, was ein Vertrauensverhältnis zwischen Landtag und Landesregierung bewirkte.64 Die Forderung nach einer verantwortlichen Regierung bedeutete keineswegs, dass diese Regierung bloß ein willenloses Vollzugsorgan der Volksvertretung bildete. Zugleich war auch nicht gefordert, dass die Landesregierung ausschließlich vom Landesparlament eingesetzt und von diesem auch jederzeit wieder abgesetzt werden kann. Die Norm des Art. 17 I 3 WRV musste dazu dienen, dass jedwede autokratische Form der Machtausübung – sowohl der sog. Parlamentsabsolutismus als auch eine Machtkonzentration in den Händen der Exekutive – ausgeschlossen war.65 Dem Landtag stand das Recht der vertrauensmäßigen Bildung und Kontrolle der Landesregierung zu, das aber kein absolutes Recht war. Wie schon bemerkt wurde, bleibt die Landesregierung im Rahmen des parlamentarischen Systems ein selbständiger, funktionsfähiger und vom Standpunkt der Gewaltenteilung aus betrachtet ein mit den anderen Staatsorganen gleichberechtigter Machtakteur. Es wäre unrichtig gewesen, die Landesregierung nur als von der Volksvertretung beauftragtes Organ zu betrachten.66 Als vom Volk zur Ausübung der staatlichen vollziehenden Tätigkeit berufenes Organ muss die Landesregierung in Übereinstimmung mit dem Demokratiegrundsatz dem Träger der Herrschaftsgewalt, d. h. dem Landesvolk, verantwortlich sein. Das bedeutet aber nicht, dass das Landesparlament als direkt legitimierter Vertreter des Volkes eine exklusive Stellung auf Landesebene einnimmt. Durch das Vertrauenserfordernis soll das Landesparlament die Vermittlung zwischen Regierung und Volk erleichtern. Diese mit dem Instrument der parlamentarischen Regierungsverantwortlichkeit ausgerüstete „Vermittlerrolle“ der Volksvertretung ermöglicht es dem Landesvolk, die dem Demokratieprinzip entsprechende Zusammensetzung und Tätigkeit der Landesregierung zu beeinflussen, weil die Übertragung der Funktion der Regierungsbildung sowie -abbildung an das Volk unzulässig wäre.67 63
Vgl. Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reichs, S. 136; Koellreutter, Das parlamentarische System, S. 2 f.; Abgeordneter Beyerle in der 11. Sitzung des Verfassungsausschusses der Deutschen Nationalversammlung am 20. März 1919, vgl. Bericht und Protokolle des Achten Ausschusses, S. 110. 64 Vgl. Reißfelder, Verfassungshomogenität, S. 75. 65 Vgl. Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reichs, S. 132, 136; Wenzel, in: HDtStR I, § 52 S. 607; Koellreutter, Das parlamentarische System, S. 8. 66 Vgl. Meißner, Staatsrecht, S. 90. 67 Vgl. Koellreutter, Das parlamentarische System, S. 12; Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reichs, S. 137.
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In Anlehnung an die Idee der Ausgestaltung des republikanischen Reiches als parlamentarischer Bundesstaat erforderte Art. 17 I 3 WRV von den Ländern die Einrichtung eines parlamentarischen Regierungssystems. Das bedeutete aber nicht, dass das reichsverfassungsrechtliche Erfordernis der homogenen Regierungsformen innerhalb des Gesamtstaates eine unbedingte inhaltliche Bindung an das Regierungssystem der Reichsrepublik darstellte. Dies hatte Preuß in der Sitzung des Verfassungsausschusses thematisiert und bestätigte diese Herangehensweise später publizistisch: Durch die entsprechende Vorschrift der Reichsverfassung sei für die deutschen Länder die der oberstaatlichen gleiche parlamentarische Regierungsform nicht vorgeschrieben.68 Im Unterschied zum Art. 54 WRV, nach dem der Reichskanzler und die Reichsminister zu ihrer Amtsführung des Vertrauens des Reichstags bedurften und ihr Rücktritt bei der ausdrücklichen Entziehung durch den Reichstag seines Vertrauens folgen musste, ging es in Art. 17 I 3 WRV nur um eine allgemeine Formulierung des parlamentarischen Vertrauenserfordernisses ohne weitere bestimmte Konsequenzen. Dies erlaubte den deutschen Ländern, eigene, grundsätzlich parlamentarische Regierungssysteme in unterschiedlichen Formen zu gestalten. Mit anderen Worten konnten die Gliedstaaten die Verhältnisordnung zwischen Parlament und Regierung notwendigerweise ausgehend vom Prinzip der parlamentarischen Verantwortlichkeit der Exekutive, aber auf unterschiedliche Weise landesverfassungsrechtlich festlegen.69 Nach der hier vertretenen Auffassung waren die reichsrepublikanischen Länder auch dazu berechtigt, eine von der parlamentarischen abweichende Regierungsform einzuführen, da sonst auf Reichsebene kein „reines“ parlamentarisches Machtsystem vorhanden war. Gemeint ist, dass die Errichtung des Amtes des Reichspräsidenten mit relativ weitreichenden Befugnissen das Staatssystem der Länderrepubliken zumindest an eine parlamentarische Demokratie mit verfassungspolitisch starker Präsidentschaft annähern oder sonst in eine semipräsidentielle Republik verwandeln konnte. Daraus folgte die Fähigkeit der deutschen Länder, in Analogie zum Reichspräsidenten ein Staatsoberhaupt landesverfassungsrechtlich festzusetzen. In diesem Zusammenhang wäre wohl denkbar, dass bspw. das Landesstaatsoberhaupt eine Landesregierung ausgehend von der parteipolitischen Aufgliederung im Landesparlament selbständig ernennen würde. Auf diese Frage soll an späterer Stelle in dieser Arbeit eingegangen werden (! S. 378 ff., 371 ff.). Der Landesregierung wird ein Teil der staatlichen Aufgaben übertragen, genauer gesprochen handelt es sich um Vollzugsbefugnisse. Obwohl die Landesregierung im Sinne des parlamentarischen Systems nur ein mittelbar zusammengesetztes Organ ist, ist sie ein Verfassungsorgan und übt die Staatsleitung aus. Diese Machtstellung bedingt, dass der Landesregierung zahlreiche Selbständigkeitsrechte gegenüber den 68
Vgl. Bericht und Protokolle des Achten Ausschusses, S. 111; Preuß, Reich und Länder, S. 148. 69 Vgl. Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reichs, S. 135 f.; Wenzel, in: HDtStR I, § 52 S. 615.
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anderen Staatsorganen eingeräumt werden. Unbeschadet des Prinzips der parlamentarischen Regierungsverantwortlichkeit wurde die organisatorische Kompetenz durch die Verfassungen zahlreicher deutscher Länder wesentlich gestärkt.70 Die Landesregierung – nach den meisten Landesverfassungen als „Staatsministerium“, in Bay (§§ 57 ff. LVerf), Hess (Art. 37 ff. LVerf) und Sachs (Art. 25 ff. LVerf) als „Gesamtministerium“, in Lippe (Art. 25 LVerf) als „Landespräsidium“ und nur in SchaumbLippe (§ 28 LVerf) als „Landesregierung“ bezeichnet – war in allen reichsrepublikanischen Ländern kollegial zusammengesetzt. Sie bestand aus dem Ministerpräsidenten und den Staatsministern; dem Ersteren stand die Entscheidung bei Stimmengleichheit zu. Die Zahl der Regierungsmitglieder wurde nur in den kleinsten Ländern Lippe und SchaumbLippe verfassungsrechtlich bestimmt (Art. 26 LippeVerf; § 29 SchaumbLippeVerf); in den übrigen Ländern wurde diese Befugnis verfassungsrechtlich auf die Landesgesetzgebung übertragen.71 Das parlamentarische Regierungssystem ohne selbständiges und machtfähiges Staatsoberhaupt birgt die Gefahr der Gleichgewichtsstörung des Ganzen in sich. Hier stellt sich die Frage, welche Folgen der Entzug des Vertrauens der Volksvertretung haben soll: Muss die Landesregierung sofort zurücktreten oder gibt es andere Möglichkeiten, diese Meinungsverschiedenheit zwischen Legislative und Exekutive zu lösen? Im Fall des Fehlens einer (idealerweise) politisch neutralen Instanz über die streitenden Staatsorgane wird die Konfliktbeilegung erschwert. Dies führt zur Frage nach der verfassungsrechtlichen Ausgestaltung des Instituts des Staatsoberhauptes in den deutschen Ländern der Weimarer Zeit. b) Das Staatsoberhaupt in den deutschen Länderrepubliken Obwohl die Reichsverfassung die Einrichtung eines außerhalb der Exekutive stehenden Staatsoberhauptes (Staatspräsidenten) nicht direkt untersagt und somit den Ländern einen Handlungsspielraum eingeräumt hatte, verzichteten die deutschen Länderrepubliken auf diese reichsverfassungskonforme Möglichkeit, was das Verhältnis zwischen Landesparlament und -regierung einerseits vereinfachte, andererseits jedoch auch erschwerte – vereinfachte, da es keinen dazwischenliegenden, den Grundsatz der Gewaltenteilung „störenden“ Machtakteur gibt: Im Verfassungssystem der Gliedstaaten wurde die Staatsgewalt vom Landesparlament als Vertretungsorgan des Volkes und der von ihm in verschiedenen Formen gewählten und nur ihm verantwortlichen Landesregierung ausgeübt.72 Das Verhältnis wurde aber auch erschwert, weil die bundesverfassungsrechtliche Forderung nach einem parlamentarischen Regierungssystem zu einem „reinen“ Parlamentarismus (lies: Vorherrschaft des Parlaments) in den Ländern führen konnte. 70 71 72
Vgl. Meißner, Staatsrecht, S. 46, 90 f.; Koellreutter, in: HDtStR I, § 57 S. 671. Vgl. Meißner, Staatsrecht, S. 91 f.; Koellreutter, in: HDtStR I, § 57 S. 667, 669. Vgl. Koellreutter, Das parlamentarische System, S. 7.
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Kap. III: Paradigmenwechsel in Deutschland und Österreich
Ein richtiges, mit der selbständigen Kompetenz ausgerüstetes Institut eines Staatsoberhauptes war dem Landesverfassungsrecht der Weimarer Zeit fremd. Nur die Verfassungen von Bad (§ 52 I 3 LVerf), Hess (Art. 37 I 2 LVerf) und Württ (§ 26 I 2 LVerf) kannten die Amtsbezeichnung „Staatspräsident“. Dieser Amtsträger war abgesehen von seiner Bezeichnung kein mit dem Reichspräsidenten vergleichbares Staatsoberhaupt. Ihm fehlte eine selbständige Kompetenz, er wurde vom Landesparlament gewählt und war nur der Vorsitzende eines Regierungskollegiums, d. h. „primus inter pares“. Dem badischen, hessischen und württembergischen Staatspräsidenten fehlte eine direkte Legitimation, er hing wie die anderen Regierungsmitglieder vom Vertrauen der Volksvertretung ab und konnte im Fall des parlamentarischen Vertrauensentzuges zum sofortigen Rücktritt gezwungen werden. Ohne den Einfluss auf die Bildung der Regierung (obwohl bspw. in Preußen der Ministerpräsident die übrigen Staatsminister selbständig ernennen konnte, waren sie jederzeit vom Landtag beim Verlust seines Vertrauens abzuberufen (Art. 45 i. V. m. Art. 57 I LVerf)) blieb die Amtsbezeichnung „Staatspräsident“ bloß eine Frage der Benennung. Die wenigen verbliebenen, für ein Staatsoberhaupt charakteristischen Befugnisse konnten daher allein dem Ministerpräsidenten übertragen werden.73 Der Ministerpräsident – in Bad, Hess und Württ der Staatspräsident (s. o.), in Brem der Präsident des Senats (§ 45 ff. LVerf), in Hamb der erste Bürgermeister (Art. 41 LVerf), in Lübeck der Bürgermeister (Art. 12 LVerf) und in Thür der Vorsitzende der Landesregierung (§ 45 I LVerf) – hatte die Aufgaben, die Regierungsgeschäfte in den Bereichen der Verwaltung und Gesetzgebung zu leiten und das Land nach innen und nach außen (im Sinne des Bundesverhältnisses, d. h. gegenüber dem Oberstaat) zu vertreten, soweit diese der Landesregierung als einem rein kollegialen Staatsorgan nicht übertragen wurden. Die Regierung als Gesamtkörper handelte in Braunschw (Art. 34 LVerf), Lippe (Art. 32 LVerf), MecklStr (§ 28 LVerf) und SchaumbLippe (§ 27 LVerf), d. h. das Spitzenorgan der Landesverwaltung erfüllte seine Aufgaben als nicht personalisierte Gemeinschaft, worin es in keinerlei Weise einem Staatsoberhaupt ähnelte. Nach den Landesverfassungen von Hess (Art. 41) und Sachs (Art. 28) wurde ausdrücklich einzig der Ministerpräsident mit der Vertretungsfunktion betraut. Da die reichsrepublikanischen Länder keine Präsidentschaft mit einem selbständigen Wirkungskreis eingeführt hatten, blieb im Rahmen des Grundsatzes der dem Parlament vertrauensmäßigen Regierung nur eine reichsverfassungskonforme Variante: Die Landesregierung wird durch den Landtag gebildet bzw. abberufen. c) Die parlamentarische Zusammensetzung der Landesregierung Die Zusammenstellung der Landesregierung von der aus dem demokratischen Wahlrecht hervorgehenden Volksvertretung bildet den Eckpfeiler des gesamten 73 Vgl. Meißner, Staatsrecht, S. 45; Wittmayer, Reichsverfassung, S. 170 f.; Nieding, Homogenität, S. 84.
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parlamentarischen Regierungssystems. Während der Beratung im Verfassungsausschuss äußerte sich Preuß klar dahingehend, dass die Wahl der Landesregierung durch die Volksvertretung als ausdrückliche Bekundung des Besitzes eines erforderlichen parlamentarischen Vertrauens im Sinne des Art. 17 I 3 WRV seitens der Regierung gilt.74 Diese Verfassungsbestimmung bot aber verschiedene Gestaltungsmöglichkeiten des Verfahrens der Bildung der Landesregierung. Dies geschah entweder unmittelbar, wenn der Landtag den gesamten Personalbestand bzw. die einzelnen Regierungsmitglieder wählte, oder mittelbar, wenn zunächst der Vorsitzende (Ministerpräsident) durch den Landtag gewählt worden war, der danach die übrigen Regierungsmitglieder unter ausdrücklicher oder stillschweigender Zustimmung der Volksvertretung ernannte.75 Wenn man das Vertrauen gewinnt, kann man es auch wieder verlieren. Um die Landesregierung als gleichberechtigtes Staatsorgan gegen einen willkürlichen Entzug des Vertrauens und die daraus folgende Auflösung abzusichern, könnte ihre verfassungsrechtliche Stellung auf unterschiedliche Weise gestärkt werden. Einerseits kann man der Regierung mehr Mitwirkungsrechte bei der Gesetzgebung einräumen.76 Andererseits kann das Auflösungsverfahren erschwert werden. Das letzte Mittel scheint organisatorisch viel wirksamer, es wurde daher von vielen Verfassungen der deutschen Länder eingeführt. Der Entzug des parlamentarischen Vertrauens konnte durch Misstrauensvotum seitens des Landtags erfolgen, welches alle Landesverfassungen vorsahen. Das vertrauensentziehende Verfahren wurde an die technischen und zugleich verfassungspolitischen Bedingungen gebunden. So war bspw. nach den Verfassungen von Bay (§ 55 IV LVerf), Lippe (Art. 35 I LVerf), Lübeck (Art. 14 I LVerf), Preuß (Art. 57 LVerf), Sachs (Art. 27 II LVerf) und Thür (§§ 39, 40 LVerf) für das Misstrauensvotum der Volksvertretung eine qualifizierte Stimmenmehrheit erforderlich. Die Landesverfassungen von Bay (§ 55 II LVerf), Brem (§ 53 III LVerf), Hamb (Art. 36 II LVerf), Lübeck (Art. 14 I LVerf), MecklStr (§ 25 I LVerf), Old (§ 40 VII LVerf), Preuß (Art. 57 II, III LVerf) und Thür (§ 39 II LVerf) verlangten außerdem, dass der Misstrauensantrag von einer bestimmten Zahl der Abgeordneten gestellt und innerhalb einer bestimmten Frist erörtert werden muss.77 Landesverfassungsrechtlich wurde der Mechanismus des Misstrauensvotums so geregelt, dass entweder die gesamte Regierung aufgelöst oder nur einzelne Regierungsminister entlassen werden konnten.78 Die Annahme des Misstrauensvotums führte in der Regel zum verpflichtenden Rücktritt der Landesregierung bzw. des Ministers. Die Regierung hatte in einigen Landesverfassungen weitere Handlungsmöglichkeiten im Fall eines Misstrauensvotums. So konnte der preußische Minis74 75 76 77 78
Vgl. Bericht und Protokolle des Achten Ausschusses, S. 111. Vgl. Meißner, Staatsrecht, S. 91; ausführlicher bei Leibholz, in: HDtStR I, § 54 S. 634 f. Vgl. Meißner, Staatsrecht, S. 91. Vgl. Koellreutter, in: HDtStR I, § 57 S. 674. Vgl. Reißfelder, Verfassungshomogenität, S. 77.
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terpräsident nach dem Entzug des Vertrauens seitens des Landtags im Amt weiterarbeiten, wenn er Gebrauch von seinem Recht auf Auflösung des Landtags gemacht hatte und der Ausschuss (s. o.) seinen Antrag befürwortet hatte (Art. 57 VI i. V. m. Art. 14 I 1 PreußVerf). Die Volksvertretung durfte der Landesregierung das Vertrauen nicht entziehen, soweit eine von der Regierung beschlossene Abstimmung über die Auflösung des Landtags im Rahmen des Volksbegehrens nicht erfolgt (Art. 57 I 3 i. V. m. Art. 14 I 1 PreußVerf; Art. 27 III SachsVerf). Umstritten sahen zwei folgende landesverfassungsrechtliche Regelungen bezüglich der Amtsperiode der Regierungsmitglieder aus. Die Verfassung des Freistaates Schaumburg-Lippe schrieb vor, dass die beamteten Mitglieder der Landesregierung auf Lebenszeit gewählt werden (§ 29 I 2). Obwohl nach § 38 LVerf die schaumburg-lippische Regierung durch den Entzug des Vertrauens durch den Landtag jederzeit und ohne weiteres abberufen werden konnte, kann die landesverfassungsrechtliche Regelung als im Widerspruch zum Grundsatz der Freistaatlichkeit stehend betrachtet werden. Die gleichen Bedenken erregte die ursprüngliche Fassung des Art. 7 I der Lübecker Landesverfassung, nach der die Mitglieder des Senates (d. h. die Landesregierung) von der Bürgerschaft (d. h. der Volksvertretung) auf zehn Jahre gewählt wurden. Obwohl diese LVerf auch das Verfahren des Misstrauensvotums vorsah (Art. 14 I), verstieß diese Verfassungsbestimmung gegen die Prinzipien der demokratischen und republikanischen Ausübung der Staatsgewalt. Einige zeitgenössische Staatsrechtler, wie bspw. Anschütz, Wenzel und PoetzschHeffter, waren der Ansicht, dass solche landesverfassungsrechtlichen Vorschriften hinsichtlich der Amtsperiode der Regierungsmitglieder dem Art. 17 I 3 WRV nicht widersprachen und wegen der Möglichkeit der Regierungsabberufung durch das Misstrauensvotum des Landtages mit dem reichsverfassungsrechtlichen Erfordernis der Regierungsarbeit, die auf einem grundsätzlichen Vertrauensverhältnis zum Parlament beruhte, völlig konform waren.79 Zutreffender scheint die Auffassung, nach der die entsprechenden Regelungen der schaumburg-lippischen und Lübecker Landesverfassungen über eine überlange Zeit zwischen den jeweiligen Regierungswahlen den Grundsatz der demokratischen Legitimation der Exekutive aushöhlten.80 Nach der hier vertretenen Auffassung ist die Bestimmung der lebenslangen oder über die Legislaturperiode der Volksvertretung hinausgehenden Amtsdauer der Regierungsmitglieder mit dem reichsverfassungsrechtlichen Prinzip, nach dem die Landesregierung des Vertrauens des Landtages bedarf, unvereinbar. Da die Legislaturperiode der Volksvertretung landesverfassungsrechtlich eingeschränkt wurde (! S. 175), bedarf die Landesregierung des Vertrauens der neuen Mitglieder des gesetzgebenden Organs. In den Fällen der Vorschriften der Landesverfassungen von Lübeck und SchaumbLippe fehlte eine Legitimationsgrundlage für die Regierungstätigkeit bei der Zusammensetzung des 79 Vgl. Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reichs, S. 136 f. (auch Fn. 1); Wenzel, in: HDtStR I, § 52 S. 616; Poetzsch-Heffter, Handkommentar, S. 142 f. 80 Vgl. Wittmayer, Reichsverfassung, S. 72 f.; Reißfelder, Verfassungshomogenität, S. 77 f.
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Landtags einer neuen Legislaturperiode, weil die Volksvertretung in ihrer aktuellen physischen Ausgestaltung der Landesregierung kein Vertrauen erteilte. Es könnte als zulässig betrachtet werden, wenn die Amtsdauer der Landesregierung an die Dauer der Legislaturperiode der Volksvertretung gebunden wäre (wie es in den meisten reichsrepublikanischen Ländern der Fall war) oder wenn die Befugnisse der zuvor ernannten Regierungsmitglieder von dem neu gewählten Landtag bestätigt würden. Das Vorhandensein des Misstrauensvotums in den Landesverfassungen von SchaumbLippe und Lübeck entsprach in diesem Kontext nicht dem Erfordernis der parlamentarisch vertrauensmäßigen Landesregierung, weil das Misstrauensvotum als eine außerordentliche Maßnahme im Fall der mangelhaften Tätigkeit der Regierung im Ganzen und der Regierungsmitglieder im Einzelnen gilt. ***
Erstmals seit der nicht in Kraft getretenen FRV enthielt die WRV das ausdrückliche organisationsrechtliche Homogenitätsgebot. Obwohl nach vereinzelt vertretenen Auffassungen der Art. 17 I WRV einen weitgehenden Eingriff in die Verfassungsautonomie der deutschen Länder darstellte, verblieb den Gliedstaaten allerdings ein nicht unerheblicher Spielraum zur Gestaltung ihrer inneren Organisation. Einerseits wurde eine vereinfacht konstruierte Staatsorganisation der Länder durch die nichtsouveräne Rechtsnatur der Gliedstaatlichkeit, der ein begrenzter Aufgabenkreis auf weniger bedeutsamen Gebieten der Staatstätigkeit zusteht, bedingt. Andererseits hatten selbst die Landesverfassungen der Weimarer Zeit die durch die relativ allgemein formulierten Homogenitätsbestimmungen der WRV gebotenen Gestaltungsmöglichkeiten nicht in vollem Umfang genutzt, was zu einer starken Uniformität der Machtstrukturen der deutschen Länderrepubliken führte. Bezeichnenderweise war dies charakteristisch nicht nur für die Landesverfassungen, die nach der Annahme der WRV in Kraft traten, sondern auch für die wenigen ihr vorangegangenen Verfassungen. Trotz der Schwäche des Weimarer Verfassungsmodells, die infolge des Sturzes der demokratischen Rechtsordnung u. a. zur Abschaffung des Föderalismus durch die Reichsgesetze zur Gleichschaltung der Länder mit dem Reich 1933 – 1934 führte, bildete die WRV in Anlehnung an die Tradition des Frankfurter Verfassungswerks eine feste Grundlage für die weitere Entwicklung des Homogenitätsprinzips in der deutschen Bundesstaatslehre und Verfassungspraxis.
7. Hans Nawiasky und seine „modernisierte Staatenstaatstheorie“ Die Gestaltung des ersten republikanischen Bundesstaates „von oben nach unten“ auf dem Territorium des ehemaligen Kaiserreichs war eine Anregung für die weitere Entwicklung und teilweise Fortführung der deutschen Bundesstaatslehre. Nicht nur die Analyse der konkreten bundesstaatsmäßigen Vorschriften der WRV, sondern auch die Betrachtung des allgemeinen Bundesstaatsbegriffs stand im Mittelpunkt
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zahlreicher theoretischer Erörterungen. Die Staatswissenschaft der Weimarer Zeit bot einige neue systematisierte Auffassungen der Bundesstaatsproblematik. Bedeutenden Einfluss auf die zeitgenössische Bundesstaatslehre hatte u. a. der Münchener Professor Hans Nawiasky, ein weiterer deutscher Staatsrechtslehrer österreichischer Herkunft. Obwohl sich Nawiasky als Anhänger der Reinen Rechtslehre von Kelsen sah, war seine Auffassung von dessen Bundesstaatstheorie (! S. 237 ff.) grundverschieden. Die in Anlehnung an die klassische staatenstaatstheoretische Waitzsche Herangehensweise ausgearbeitete Bundesstaatstheorie Nawiaskys könnte man als „modernisierte Staatenstaatstheorie“ bezeichnen. a) Der Kompetenzbegriff als Wesen des Bundesstaates Wie in der klassischen Staatenstaatstheorie bildete den Ausgangspunkt auch von Nawiaskys Konzeption die Behauptung, dass der Bundesstaat ein aus Staaten zusammengesetzter Staat sein soll. Wenn der Staatsbegriff auf alle Glieder des Bundesstaates extrapoliert wird, bedeutet dies, dass sowohl der Oberstaat als auch die Gliedstaaten die Träger einer individualisierten rechtlichen Herrschaft, eines in einer Rechtsordnung erscheinenden Willens sind. Daraus folgt, dass der Bundesstaat ein Staat ist, in dem soviel Rechtsordnungen wie Glieder vorhanden sind.81 Charakteristisch für jede Rechtsordnung ist ihrem Wesen nach die Ursprünglichkeit, also die Entstehung aus eigener Macht heraus. In einem Bundesstaat zeichnet sich die Rechtsordnung sowohl des Oberstaates als auch eines jeden Gliedstaates dadurch aus, dass ein ursprünglicher und unabgeleiteter Wille in Erscheinung tritt. Dies bedingt den Schluss, dass alle innerhalb des Bundesstaates vorhandenen Rechtsordnungen nebeneinanderstehen und keine der anderen übergeordnet bzw. untergeordnet sein darf; sie sind nicht nur bloß nebengeordnet, sondern gleichgeordnet. Der Oberstaat und die Gliedstaaten sind Gemeinwesen gleichen Grades, zwischen denen keine einseitige Abhängigkeit (Über-Unterordnungs- oder Subordinationsverhältnis), sondern eine gegenseitige Koordination vorliegt.82 Da der Bundesstaat seiner Rechtsnatur nach allerdings ein Staat bleibt, sollen alle Bundesglieder abgesehen von ihrer Ursprünglichkeit und Eigenherrschaft zusammen einen einheitlichen Körper des höheren Grades bilden. Gleich an dieser Stelle sei angemerkt, dass Nawiasky ein Befürworter eines dreigliedrigen Bundesstaates war: Die Rechtsordnungen des Oberstaates und der Gliedstaaten werden zu einer höheren Einheit – dem Gesamtstaat (Bundesstaat) – zusammengefügt. Die volle Herrschaft des Bundesstaates entsteht durch die Zusammensetzung der Herrschaften des Bundes und der Glieder. Genau darin liegt das eigentliche Problem der Bundesstaatlichkeit. Wenn man den Bund und die Glieder als wirkliche Staaten betrachtet, müssen sie einen eigenen ursprünglichen Willen haben. Dabei darf dieser jeweils ursprüngliche Wille nicht von dem Willen des jeweils anderen Teils abge81 82
Vgl. Nawiasky, Hans, Der Bundesstaat als Rechtsbegriff, Tübingen 1920, § 9 S. 21. Vgl. Nawiasky, Der Bundesstaat, § 9 S. 21, § 13 S. 25.
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leitet sein. Wenn aber der Bundesstaat ein willensfähiges Staatswesen darstellt, müssen die verschiedenen ursprünglichen Willen des Oberstaates und der Gliedstaaten irgendwie in Einklang gebracht werden: „Zum Staatenstaat gehört Willenstrennung, zum Staatenstaat Willenseinheit!“ (Hervorh. im Original)83 Vom Standpunkt der rechtlichen Einheit des Bundesstaates aus betrachtet muss dennoch eine Teilung zwischen diesen Rechtsordnungen erfolgen. Eine Antwort auf die dahinterstehende Fragestellung ließe sich wie folgt formulieren: Diese Teilung bezieht sich nicht auf den Willen als solchen. Das mögliche Objekt dieser Teilung bildet der Gegenstand des Willens, d. h. die von der jeweiligen Rechtsordnung geregelten Aufgabengebiete. Mit anderen Worten wird zwischen dem Oberstaat und den Gliedstaaten eine Teilung der Kompetenz (Zuständigkeiten) durchgeführt.84 Seinen Bundesstaatsbegriff bestimmte Nawiasky durch die Kompetenzverteilung. Der Bundesstaat ist nach seiner Auffassung ein Staat (Gesamtstaat), dessen Kompetenz durch die Übertragung von Teilkompetenzen mehrerer zusammengesetzter Glieder, die selber Staaten sind (Oberstaat und Gliedstaaten), gebildet ist.85 Wenn das wesentliche Merkmal der Bundesstaatlichkeit die Kompetenzverteilung zwischen dem Gesamtstaat und seinen Gliedern ist, ergibt sich die Frage nach der Zugehörigkeit der sog. Kompetenz-Kompetenz (nach Nawiasky Kompetenzhoheit), d. h. der Befugnis der Kompetenzbestimmung. Unter Kompetenzhoheit versteht man eine rechtliche Verfügungsmacht über die staatliche Existenz des Gesamtkörpers. Im Fall eines Bundesstaates bedeutet das, dass die Anwendung dieser konstitutiven Befugnis sowohl durch die Zentralisierung der Staatsgewalt zur Umwandlung in einen Einheitsstaat als auch durch die Lockerung des inneren Koordinationsverhältnisses bis zum Zerfall des Bundesstaates führen kann.86 Wenn der Besitz der Kompetenzhoheit das Staatsdasein bedingt, wäre die ursprüngliche und unabgeleitete Staatsgewalt an die Kompetenzhoheit gebunden. Daraus würde folgen, dass der Bundesstaat als Verband mehrerer eigenständiger Staaten Staatsqualität hat, sofern ihm die Kompetenzhoheit zusteht. Wenn diese allein den Gliedern eines zusammengesetzten Gesamtkörpers zukommt, besitzt die Vereinigung keine Eigenstaatlichkeit und bildet höchstens einen Staatenbund. Diese Auffassung erschien Nawiasky aber unzutreffend. Schon dem terminologischen Sinne nach ist die Kompetenzhoheit eine Unterart der Kompetenz. Die Kompetenz als Oberbegriff der verschiedenen Zuständigkeiten setzt die Aufzählung mehrerer Befugnisse des Staatsgebildes voraus. Kompetenzhoheit bedeutet, dass das Staatswesen berechtigt ist, diese Aufzählung im Rahmen seiner Rechtsordnung selbst zu regeln, einzelne Befugnisse einzubeziehen oder umgekehrt auszuscheiden. Das ist nach Nawiasky der Sinn der Kompetenzhoheit. Da für den Bundesstaat die Verteilung 83 84 85 86
Nawiasky, Der Bundesstaat, § 10 S. 23. Vgl. Nawiasky, Der Bundesstaat, § 10 S. 21 f. Vgl. Nawiasky, Der Bundesstaat, § 15 S. 29. Vgl. Nawiasky, Der Bundesstaat, § 25 S. 39.
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der vollen Kompetenz eines (komplexen) Staates auf mehrere zu einer rechtlichen Einheit verbundene Staatsgewalten charakteristisch ist, bildet die Kompetenzhoheit bloß einen der vielen Punkte im Kompetenzkatalog des willensfähigen Bundesstaates. Sie kann deshalb durch die Bundesverfassung sowohl dem Oberstaat als auch den Gliedstaaten eingeräumt werden.87 Die Kompetenzhoheit wurde in der Fachliteratur oftmals mit der höchsten Gewalt im Staat – mit der Souveränität – identifiziert. Nawiasky unterscheidet drei Lehrmeinungen: 1) die Souveränität ist mit der Staatsgewalt identisch; 2) in Anlehnung an Jellineksche Staatslehre kann man souveräne und nichtsouveräne Staatsgewalten unterscheiden; 3) die Souveränität kann gegliedert sein (voll- und halbsouveräne Staaten).88 Wenn die Souveränität eine staatsbildende Eigenschaft darstellt, so ist sie eine höchste Herrschaftsgewalt im Staat, die unabgeleitet und keiner anderen Macht unterworfen ist. Daher kann die Souveränität als absoluter Wert der Staatlichkeit logischerweise nicht aufgeteilt werden und eine Unterscheidung zwischen souveränen und halbsouveränen Staaten innerhalb des Bundesstaates ist unmöglich. Nawiasky lehnte auch die Vorstellung der Existenz nichtsouveräner Staaten ab. Da die Staatsgewalt von eigenen Rechts wegen existiert, d. h. von keiner anderen Herrschaftsgewalt abhängig und abgeleitet ist, muss sie zugleich die höchste Hoheitsgewalt im Staat darstellen. Danach scheint es unvorstellbar, dass eine durch eine andere beschränkte Gewalt die Eigenschaften der Ursprünglichkeit und Unabhängigkeit besitzt und einer uneingeschränkten Herrschaftsgewalt gleichgeordnet ist. Die Anerkennung einer beschränkten (nichtsouveränen) Staatsgewalt bedeutet nichts anderes als eine umformulierte Abhängigkeit (Unterwerfung) der beschränkten von der beschränkenden Gewalt.89 Nawiaskys Auffassung nach ist die Souveränität einfach eine Eigenschaftsbezeichnung der Herrschaftsgewalt (Staatsgewalt), die etwas ihr Immanentes akzentuiert. Sowohl die Zentralgewalt als auch die Einzelstaatsgewalten stehen auf gleich hoher Stufe und sind grundsätzlich gleichgeordnet. Daraus ergibt sich, dass der Gesamtstaat und alle seine Glieder (der Oberstaat und die Gliedstaaten) souverän sind. Nur dies ist nach Nawiasky die einzige logische Erklärung der Rechtsnatur des Bundesstaates.90 Das bedeutet aber überhaupt keine Teilung der Souveränität zwischen verschiedenen öffentlich-rechtlichen Ebenen innerhalb des Bundesstaates. Geteilt ist die Zentralgewalt (Gesamtstaatsgewalt) und nur nach dem Objekt, d. h. nach der Kompetenz. Jeder Teil dieser gesamtstaatlichen Herrschaftsgewalt – die Oberstaatsgewalt und die Gliedstaatsgewalten – ist seiner Art nach völlig gleichwertig und 87 88 89 90
Vgl. Nawiasky, Der Bundesstaat, § 25 S. 40 f. Vgl. Nawiasky, Der Bundesstaat, § 28 S. 46. Vgl. Nawiasky, Der Bundesstaat, § 28 S. 46 f. Vgl. Nawiasky, Der Bundesstaat, § 28 S. 47.
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mit der identischen Eigenschaft der Souveränität ausgestattet. „Wie bei der Teilung eines magnetisierten Eisens jedes Teilstück seine magnetische Eigenschaft behält, das Eisen, nicht die Magneteigenschaft geteilt wird, so wird bei der Teilung der – notwendig – souveränen Staatsgewalt die Staatsgewalt und nicht die Souveränität zerlegt.“91 Nawiaskys Erachtens ist jede Staatsgewalt im Bundesstaat souverän, was ihr immanent ist, aber nicht jede besitzt die vollkommene Zuständigkeitshoheit. Die aus dem Grundsatz der Kompetenzverteilung abgeleitete Definition des Bundesstaates zeigt, dass es sich beim Gesamtstaat um eine eher anderweitige staatliche Einheit handelt, als dies bei einem Einheitsstaat der Fall ist. Der Bundesstaat (Gesamtstaat) besitzt die Staatsgewalt (Zentralgewalt), welche durch eine Mehrheit von komplementären einzelnen Staatsgewalten (Oberstaatsgewalt und Gliedstaatsgewalten) ergänzt wird. Die Gleichstellung der Gesamtstaats- und Gliedstaatsrechtsordnungen wird durch ihre gegenseitige Bedingtheit erreicht. Die Einschränkung der gesamtstaatlichen Kompetenz erfolgt bei der komplementären Bestimmung der Kompetenz von den Gliedstaaten und umgekehrt. Mit anderen Worten: Da die gegenseitigen Befugnisse auf den beiderseitig herausgebildeten Gesamtwillen beruhen, sind diese nicht der einen Teilrechtsordnung zugunsten der anderen entzogen, sondern übereinstimmend mit dem Gesamtwillen auf diese Teilrechtsordnung übertragen. Daher stellen sowohl die Gliedstaaten als auch der Oberstaat nur die Teilstaaten dar, die als voneinander angewiesene Gemeinwesen zu einem Vollstaat (d. h. Gesamtstaat) vereinigt sind.92 b) Eigenstaatlichkeit der Glieder des Bundesstaates Wird der Bundesstaat durch die Kompetenzverteilung definiert, dem zufolge die Gliedstaaten aus ihrer Zuständigkeit einen bestimmten Teil einem höheren Gemeinwesen – dem Gesamtstaat – übertragen, ergibt sich die Frage nach der Rechtsnatur dieser Gliedstaaten. Die staatsrechtliche Komplexität des zusammengesetzten Staatskörpers bedingt eine Doppelstellung seiner Glieder: Auf dem Gebiet der dem Gesamtstaat zugewiesenen Zuständigkeiten sind sie entsprechend der Reichweite der gesamtstaatlichen Befugnisse rechtlich untergeordnete Gemeinwesen; innerhalb der verbliebenen Kompetenz sind die Gliedstaaten jedoch voll qualifizierte Staaten.93 Was aber unterscheidet die Gliedstaaten vom Gesamtstaat und was berechtigt die Annahme, dass die Gliedstaaten im Verhältnis zum Gesamtstaat gleichgeordnet sind? Wie oben gezeigt wurde, ist die Kompetenzverteilung ein schematischer Akt, der nur die Gleichstufigkeit aller Rechtsordnungen innerhalb des Bundesstaates ohne aber inhaltliche Auffüllung belegt. Nicht ohne Grund wird die Gliedstaatlichkeit 91
Nawiasky, Der Bundesstaat, § 28 S. 48. Vgl. Nawiasky, Der Bundesstaat, § 16 S. 29, 30, § 25 S. 41; ders., Grundprobleme der Reichsverfassung. Erster Teil: Das Reich als Bundesstaat, Berlin 1928, § 1 S. 3 f. 93 Vgl. Nawiasky, Der Bundesstaat, § 15 S. 29, § 39 S. 66 f. 92
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durch die eigene Herrschaftsgewalt (Staatsgewalt) gefüllt. Mit anderen Worten steht die Staatsqualität den Bundesgliedern nur dann zu, wenn eine eigene Macht innerhalb des bestimmten Zuständigkeitsbereiches ausgeübt wird. Die das Staatswesen bedingende Staatsgewalt – nach Nawiasky gleichbedeutend mit Herrschaft – erscheint in der Fähigkeit, die obligatorischen Rechtsnormen zu schaffen. Die eigene Rechtssetzung kommt dem Staat von seiner Natur aus zu, er schafft die Rechtsnormen frei, aus eigenem Willen, unabhängig von anderen Staatsgebilden, weil er eine eigene Herrschaftsgewalt besitzt („Macht aus eigenem Recht und Recht aus eigener Macht“).94 Die räumliche sowie sachliche Reichweite des Wirkungskreises ist für die Herrschaftsgewalt der Gliedstaaten belanglos, weil sie ihrer Natur nach eine ursprüngliche und unabgeleitete Macht ist. Der Unterschied in der Größe der Zentralgewalt und der Gliedstaatsgewalten liegt nur im Umfang der eigenen Kompetenz, die dem Gesamtstaat und den Gliedstaaten entsprechend der Kompetenzverteilung zusteht.95 Die Gliedstaatsgewalt äußert sich in erster Linie in der unabgeleiteten Gesetzgebungskompetenz der Glieder (sog. Eigengesetzgebung). Hier zeigt sich die Fähigkeit zur Rechtssetzung in vollem Maße. Die Gliedstaaten verfügen allerdings auch über eine eigene Verwaltung (sog. Eigenvollziehung) und eine eigene Gerichtsbarkeit. Letztere ist aber optional, da bereits eine eigene Gesetzgebung sowie ein eigener Vollzug ein Beleg für die Staatsqualität der Gliedstaaten unter Ausschluss ihrer Unterwerfung unter den Oberstaat sind. Grundsätzlich sind die Gliedstaaten selbständig, soweit ihre Kompetenz reicht.96 Nawiasky bestätigte die bundesstaatliche Natur des republikanischen Deutschen Reiches. Es ist ein zusammengesetzter Staat, in dem neben der Einheit (dem Reich) die Vielheit der Gliedstaaten (der Länder) steht. Abgesehen von der neuen Terminologie stand den deutschen Ländern eine Eigenstaatlichkeit zweifellos zu. Die reichsrepublikanischen Länder besaßen eine ursprüngliche, von Reichs wegen nicht abgeleitete Herrschaftsgewalt, was Art. 5 WRV ausdrücklich bestätigte. Die Gewalt der Gliedstaaten wurde zwecks ihrer Ausübung mit einem Staatsapparat ausgerüstet (dazu vgl. ! S. 195 ff.). Für den Staatsbegriff notwendige Elemente wie Volk und Gebiet waren in den deutschen Ländern auch vorhanden.97 Im juristischen Sinne sind die Länder wirkliche Staaten. Im politischen Sinne (diese Unterscheidung wurde in Anlehnung an Kelsens Reine Rechtslehre gemacht) zweifelte Nawiasky zunächst an
94 Vgl. Nawiasky, Der Bundesstaat, § 39 S. 65; ders., Bayerisches Verfassungsrecht, München u. a. 1923, § 13 S. 51, 52; ders., Die Grundgedanken der Reichsverfassung, München und Leipzig 1920, S. 46 f. 95 Vgl. Nawiasky, Grundgedanken der Reichsverfassung, S. 47. 96 Vgl. Nawiasky, Der Bundesstaat, § 39 S. 65, § 51 S. 79; ders., Das Reich als Bundesstaat, § 1 S. 2, § 2 S. 7; ders., Bay Verfassungsrecht, § 13 S. 51. 97 Vgl. Nawiasky, Das Reich als Bundesstaat, § 1 S. 1, 2, 3, § 2 S. 6; ders., Bay Verfassungsrecht, § 13 S. 50.
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der Staatlichkeit der Länderrepubliken, später erkannte er aber an, dass die deutschen Länder auch politisch eigenständig sind.98 c) Bundesverhältnis: Gegenseitige Rechte des Gesamtstaates und der Gliedstaaten Nach der Ansicht von Nawiasky ist das Bundesverhältnis als Koordinationsverhältnis gekennzeichnet und umfasst die sich wechselweise ergänzenden Rechtsbeziehungen zwischen dem Gesamtstaat und seinen Gliedern. Nach der Art des Rechtssubjektes unterscheidet man 1) die Rechte der Gliedstaaten gegenüber dem Gesamtstaat mit den entsprechenden Gegenpflichten des Letzteren und 2) die Rechte des Gesamtstaates gegenüber seinen Gliedern mit den entsprechenden Gegenpflichten der Letzten.99 1) Unter den Rechten der Gliedstaaten, denen die Pflichten des Gesamtstaates entsprechen, spielt in Nawiaskys Konzeption das Recht auf Zuständigkeit eine sehr gewichtige Rolle. Er merkte an, dass in der früheren Fachliteratur vielmals versucht worden war, ein eigenes Recht der Gliedstaaten auf deren Existenz nachzuweisen und damit die Gliedstaatlichkeit gegen ihre mögliche Vernichtung durch eine Zuständigkeitsänderung im Rahmen der dem Gesamtstaat zustehenden Kompetenz-Kompetenz zu sichern.100 Nach Nawiasky bildet das Recht auf Existenz einen Spezialfall des Zuständigkeitsrechts der Gliedstaaten. Durch ein eigenes Existenzrecht beansprucht jedes Glied des Bundesstaates ein gewisses Mindestmaß an Kompetenz. Mit anderen Worten sind kraft dieses Rechts die Gliedstaaten gegen einen etwaigen vollständigen Entzug ihrer staatsbildenden Kompetenz seitens des Gesamtstaates gesichert. Eine bloße Deklaration des gliedstaatlichen Existenzrechts ist jedoch ungenügend. Der Anspruch auf die Rücksichtnahme der Länderstaatlichkeit ist nur dann wirksam, wenn den Gliedstaaten ein Eigenrecht auf die Kompetenz zugesprochen wird. Nur dieses Recht ist juristisch relevant und gilt als Ausdruck der garantierten Existenz der Gliedstaaten. Das heißt schon die Zuständigkeitshoheit der Gliedstaaten als gleichberechtigte Mitglieder des Bundesstaates enthält die vom Gesamtstaat respektierte Fähigkeit zur eigenstaatlichen Organisation.101 2) Als ein weiteres wesentliches Merkmal, das die Staatsqualität der Gliedstaaten belegt, wird die Fähigkeit angesehen, eine eigene innere Organisation zu gestalten. Die Organisationsgewalt (oder Organisationshoheit) gilt als ein unentbehrliches Recht der Gliedstaaten. Nawiasky erkannte den Ländern die Bedeutung der eigenen Staatsorganisation zwar nicht ab, verwies aber darauf, dass, 98 Vgl. Nawiasky, Grundgedanken der Reichsverfassung, S. 45; ders., Das Reich als Bundesstaat, § 1 S. 3. 99 Vgl. Nawiasky, Der Bundesstaat, § 10 S. 22, § 51 S. 78, § 54 S. 82. 100 Vgl. Nawiasky, Der Bundesstaat, § 27 S. 46. 101 Vgl. Nawiasky, Der Bundesstaat, § 61 S. 93.
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wenn das Wesen der Bundesstaatlichkeit in der Verteilung der Kompetenzen zwischen dem Gesamtstaat und seinen Gliedern besteht und jedes Bundesglied nur über einen beschränkten Umfang verfügt, auch die innere Organisation an die Aufteilung der Staatsgewalt nach den Objekten gebunden ist. In diesem Zusammenhang bildet die Organisationshoheit nichts anderes als einen bestimmten Teil der rechtssetzenden Kompetenz.102 Hier äußerte sich Nawiasky ganz anders als bspw. Jellinek, für den eben die Staatsorganisation die Staatlichkeit der Gliedstaaten im Ganzen und deren Kompetenz im Einzelnen vorherbestimmte: Nawiasky räumte der Kompetenz die Priorität ein, aus der bereits eine eigene Staatsorganisation der Länder hervorgehe. Die durch die Aufteilung der Staatsgewalt innerhalb des Bundesstaates erfolgte Minderung der Organisationsgewalt der Gliedstaaten setzt keine Aufhebung ihrer Staatlichkeit voraus, soweit sie einen Kreis der hoheitlichen Befugnisse besitzen. Wenn aber andere Teile der Kompetenz fehlen können, ohne die Gliedstaatlichkeit zu gefährden, kann die Organisationshoheit der Länder durch die anderweitige Kompetenzverteilung ganz oder teilweise entzogen werden, was zu ihrer Herabsetzung auf die Stufe von Selbstverwaltungskörpern führt.103 Daher wird zu den Rechten des Gesamtstaates, denen die Pflichten der Gliedstaaten entsprechen, u. a. das Recht auf Bildung bestimmter Gliedstaatsorgane gezählt.104 Unter diesem Begriff versteht man nichts anderes als das strukturelle Homogenitätsgebot. Nawiasky merkte an, dass den Rechten der Gliedstaaten auf Teilnahme an der Bildung der Bundesorgane kein allgemeines Recht des Gesamtstaates auf Teilnahme an der Bildung der Gliedstaatsorgane entspricht. Den Gliedstaaten steht das Gebiet zu, in dem sie als selbständige Staatsgefüge handeln. Da die Gliedstaaten zu einem Ganzen zusammengesetzt werden, ist der Gesamtstaat berechtigt, die staatsrechtliche Einheit zu bewahren. Einerseits stehen dem Gesamtstaat gewisse Mittel zu, um im Notfall die Zusammengehörigkeit der Bundesglieder zu erringen und den Zerfall des Bundesstaates zu verhindern (die sog. Bundesexekution). Dies ist allerdings unter ganz bestimmten, engen Voraussetzungen erlaubt. Um einen solchen Fall zu vermeiden, werden dem Gesamtstaat Einflussmöglichkeiten in rechtlicher Form eingeräumt: Der Gesamtstaat kann auf den innerpolitischen Aufbau der Gliedstaaten, ihre Funktionen und ihren Bestand einwirken. Das Recht auf die Bildung bestimmter Gliedstaatsorgane entspricht der Fähigkeit des Gesamtstaates, die Staatsorganisation der Gliedstaaten zu beeinflussen.105 Die organisationsrechtliche Beteiligung des Gesamtstaates an der Durchführung des Willens der Gliedstaaten betrifft aber keine öffentlich-rechtlichen Einzelentscheidungen, sondern setzt den Einfluss „von oben“ hinsichtlich der gesamten 102
Vgl. Nawiasky, Der Bundesstaat, § 59 S. 89; ders., Bay Verfassungsrecht, § 13 S. 56. Vgl. Nawiasky, Der Bundesstaat, § 59 S. 88, 89; ders., Bay Verfassungsrecht, § 13 S. 56. 104 Vgl. Nawiasky, Der Bundesstaat, § 55 S. 84. 105 Vgl. Nawiasky, Der Bundesstaat, § 59 S. 88; ders., Das Reich als Bundesstaat, § 2 S. 7, § 10 S. 47. 103
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Willensbildung im Bereich der inneren Organisation voraus. Der Sinn des strukturellen Homogenitätsgebotes besteht darin, dass der Gesamtstaat nicht in die einzelnen Aspekte der Landesstaatsorganisation eingreift, sondern von vornherein eine gewisse Übereinstimmung der Grundstrukturen im Interesse des inneren Friedens gewährleistet.106 In der neuen Reichsverfassung wurde das strukturelle Homogenitätsgebot durch die Vorschriften des Art. 17 I verankert, nach dem den deutschen Ländern die Übereinstimmung der republikanischen Staatsform, die parlamentarische Regierungsform mit dem Primat der Volksvertretung und einer dieser verantwortlichen Regierung, die Wahlrechtsgrundsätze und das Verhältniswahlsystem vorgeschrieben wurden. So weitgehende bundesverfassungsrechtliche Normativbestimmungen für die Landesstaatsorganisation werfen jedoch die Frage nach der Beibehaltung der Staatsqualität der reichsrepublikanischen Länder in organisatorischer Sicht auf.107
d) Selbstorganisation der deutschen Länder im Rahmen des strukturellen Homogenitätsgebotes nach der WRV Nach Nawiasky bedeuteten die Vorschriften des Art. 17 I WRV eine weitgehende Uniformierung der Verfassungsgrundlagen der deutschen Gliedstaaten. Er wies auf die in der Staatswissenschaft der Weimarer Zeit vertretene Meinung hin, nach der im Unterschied zum Bismarckschen Obrigkeitsstaat die erste deutsche Republik dennoch einen organisationsrechtlichen Eingriff in die Freiheit ihrer Mitglieder zuließ. Daraus kann man vermuten, dass im Kaiserreich den Gliedstaaten eine freie Gestaltung der Staatsorganisation erlaubt wurde. Nawiasky hielt diese Auffassung für einen großen Irrtum. Abgesehen von den Verschiedenheiten der früheren Gliedstaatsverfassungen einigten sie sich in der rechtlichen Verankerung der herrschenden sozialen Gruppe (des Adels in den Monarchien und der Handelsaristokratie in den Hansestädten) unter gleichzeitigem Ausschluss oder erheblicher Einschränkung der Beteiligung der Bevölkerung am Entscheidungsprozess. Eine etwaige Änderung der verfassungsrechtlichen Ordnung in den Gliedstaaten war illusorisch, weil sie eine einstimmige Zustimmung aller Glieder des Kaiserreichs forderte, was in der Situation der politischen Vorherrschaft der Aristokratie fast unvorstellbar war (! S. 121 ff.; besonders im Fall Mecklenburgs). Die im Bismarckschen Reich vorhandene faktische Homogenität der Staatsformen bedeutete aber keineswegs eine fortdauernde Gleichförmigkeit der gliedstaatlichen Machtstrukturen. Nawiasky gelangte zu der wichtigen Schlussfolgerung, dass die entsprechenden formalrechtlichen Bestimmungen über eine gewisse Gleichförmigkeit der Verfassungsordnung in den Gliedstaaten mit dem tatsächlichen Vorhandensein der innerstaatlichen Homogenität unbedingt zusammentreffen sollen.108 106 107 108
Vgl. Nawiasky, Das Reich als Bundesstaat, § 10 S. 47 f., § 26 S. 129. Vgl. Nawiasky, Das Reich als Bundesstaat, § 11 S. 53. Vgl. Nawiasky, Das Reich als Bundesstaat, § 11 S. 53, § 32 S. 167, 168.
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Betrachtet man das Erfordernis der strukturellen Homogenität als unentbehrlich, stellt sich davon ausgehend die Frage, inwieweit das in der WRV enthaltene Homogenitätsgebot den deutschen Ländern einen freien Gestaltungsspielraum zugestand und inwieweit dies gerechtfertigt war. Zuallererst forderte Art. 17 I WRV im Rahmen der freistaatlichen Verfassungsordnung die Homogenität der Staatsformen: Die deutschen Länder waren zur republikanischen Staatsform verpflichtet. Einerseits bedeutete diese Verpflichtung die Unzulässigkeit der Wiedereinführung der Monarchie in den einzelnen Ländern, auch wenn es nur um ein „kulturelles Königtum“ gegangen wäre.109 Andererseits wäre die Gestaltung irgendeiner anderen als einer demokratischen Republik in den deutschen Ländern (wie bspw. einer Volksrepublik mit der Räteherrschaft) unter Berücksichtigung der damaligen innerpolitischen Spannungsverhältnisse schlichtweg gefährlich für die Existenz des Gesamtstaates. Im Unterschied zum monarchischen Regierungssystem mit der dynastischen und aristokratischen Vorherrschaft unterliegt ein freistaatliches Machtsystem stärker politischen Fluktuationen, weil die den Entscheidungsprozess beeinflussende Bevölkerung ihre Meinung (den sog. Volkswillen) leichter ändert. Das kann nach Nawiasky dazu führen, dass, wenn in den Gliedstaaten grundsätzlich unterschiedliche Staatsformen eingeführt werden, die politischen Gruppen ihre ideologischen Kämpfe auf den staatlichen Bereich verlegen und die Mittel der Staatsgewalt für ihre subjektiven Zwecke benutzen könnten. Eine solche politische Instrumentalisierung der gliedstaatlichen Machtstrukturen birgt die Gefahr einer Störung des inneren Friedens im Bundesstaat. Als Beispiel zog Nawiasky den bayerisch-sächsischen Streit vom Oktober 1923 heran. Die Spannungsverhältnisse zwischen der rechtsorientierten Regierung in Bayern und der linksgestalteten (Koalition von SPD und KPD) Landesregierung in Sachsen führten zu einer erheblichen politischen Krise, im Laufe welcher der Aufmarsch von Polizeikräften beider Länder an der Grenze des jeweiligen Nachbarn nahezu einen innerstaatlichen Kriegszustand darstellte. Und dabei hielt sich sowohl die bayerische als auch die sächsische Verfassung an die gleichen staatsorganisationsrechtlichen Grundsätze des Art. 17 I WRV, was aber eine jeweils diametral entgegengesetzte politische Umgestaltung nicht ausschließ. Nawiasky fragte sich weiter, was passieren könnte, wenn in einem Land jeweils eine Monarchie herrschte, in einem anderen Land eine parlamentarische Republik und in einem dritten Land eine Räterepublik. In diesem Zusammenhang gelangte er zu der Schlussfolgerung, dass die bundesstaatliche Forderung einer übereinstimmenden Staatsform in den Gliedstaaten keine Beschränkung der Länder, sondern eine Notwendigkeit des friedlichen Zusammenlebens der unterschiedlichen deutschen Länder bildet.110 Den im Art. 17 I 3 WRV geforderte parlamentarisch-republikanische Staatsaufbau der deutschen Länder veranschaulichte Nawiasky mit dem Bild einer dreistufigen Pyramide. Die breite Grundlage dieser pyramidalen Staatsorganisation der Länder 109 110
Vgl. Nawiasky, Das Reich als Bundesstaat, § 26 S. 130. Vgl. Nawiasky, Das Reich als Bundesstaat, § 32 S. 168.
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bildet das Landesvolk, bei dem der oberste politische Willen liegt und von dem alle Staatsgewalt ausgeht. Durch eine eigene Verfassung bestimmt das Landesvolk die innere Staatsorganisation. Die zweite, mittlere Stufe wird durch die vom Landesvolk direkt gewählte Volksvertretung besetzt, die dazu berufen ist, den Volkswillen umzusetzen. Auf der oberen Stufe dieser organisatorischen Pyramide steht die Landesregierung, die vom Landtag eingesetzt, ihm verantwortlich und zur Erfüllung der staatlichen (zuallererst vollziehenden) Aufgaben berufen ist. Die Abhängigkeit der einzelnen institutionellen Stufen verläuft grundsätzlich von oben nach unten.111 Bezüglich der Ausgestaltung der Staatsspitze hatten die deutschen Länder im Rahmen des reichsverfassungsrechtlichen Homogenitätsgebotes freie Hand. Es wäre völlig zulässig, das Staatssystem mit dem Institut eines selbständigen Staatsoberhauptes (Staatspräsidenten) auszustatten. Der Landesstaatspräsident könnte als ein ausgleichender Machtakteur gegenüber sowohl der Volksvertretung als auch der Landesregierung fungieren: Einerseits müsste ihm das Auflösungsrecht gegenüber dem Landtag eigeräumt werden, andererseits wäre er berechtigt, die Landesregierung einzusetzen bzw. abzuberufen. Es sollte aber ausgeschlossen werden, dass die verfassungsrechtliche Stellung eines solchen Staatsoberhauptes auf Landesebene funktionell dem früheren konstitutionellen Monarchen angenähert wäre. Um das zu vermeiden, sollte der Landesstaatspräsident bei dem Erlass aller Rechtsakte an die Gegenzeichnung der dem Landtag verantwortlichen Landesregierung gebunden werden. Die reichsrepublikanischen Länder hatten aber von diesem Recht keinen Gebrauch gemacht, weil es damals ein starkes politisches Bestreben war, dem gesamtstaatlichen Oberhaupt – dem Reichspräsidenten – keine Rivalen in Gestalt von Landesstaatspräsidenten gegenüber zu stellen.112 Art. 17 I 2 WRV forderte die Einrichtung einer Volksvertretung mit demokratischem Wahlrecht. Nawiasky hielt diese Bestimmung für eine Vorbedingung für eine Gleichartigkeit der gliedstaatlichen Verfassungsstrukturen. Diese bot die Gewähr dafür, dass kein Bevölkerungsanteil von der politischen Mitbestimmung ausgeschlossen ist und sollte jegliche Gruppen- oder Klassenherrschaft verhindern. Bezüglich der strukturellen Gestaltung der Volksvertretung in den Ländern teilte Nawiasky die Auffassung, dass die in der WRV vorgeschriebenen Wahlrechtsgrundsätze keine Grundlage für die Einführung eines Zweikammersystems bildeten und dass das Streben der größeren Länder nach einer Nachahmung des oberstaatlichen Parlamentsmodells eine Art der Umgehung der Normativvorschriften darstellte.113 Obwohl der Landtag im Rahmen des parlamentarischen Regierungssystems die Rolle des einzigen Vertretungskörpers des Landesvolkes auf sich nahm, kann er die Verwaltungsaufgaben wegen seiner „Vielköpfigkeit“ nicht selbst erfüllen. Die durch 111
Vgl. Nawiasky, Das Reich als Bundesstaat, § 11 S. 53, § 16 S. 74; ders., Bay Verfassungsrecht, § 16 S. 72. 112 Vgl. Nawiasky, Das Reich als Bundesstaat, § 11 S. 54; ders., Bay Verfassungsrecht, § 16 S. 77, § 19 S. 92 f. 113 Vgl. Nawiasky, Das Reich als Bundesstaat, § 11 S. 53, § 32 S. 169.
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den Volkswillen bedingten staatlichen Aufgaben werden nicht nur von den direkt gewählten Vertretern ausgeübt, die idealerweise Interesse und Anschauungen der Wahlberechtigten wahrnehmen, sondern auch von den Amtsträgern der Exekutive, die keine willenlosen Vollzieher der von der Volksvertretung erteilten Aufträge sind. Regierungsmitglieder sind Träger eigener Entschlüsse im Rahmen einer bestimmten Kompetenz. Es wäre aber auch im Lichte des bundesstaatlichen Homogenitätsgebotes mit der Natur des parlamentarischen Systems unvereinbar, eine unmittelbar vom Volk gewählte Landesregierung einzusetzen.114 Das parlamentarisch-demokratische Regierungssystem war Nawiasky nach aber kein Allheilmittel für die deutschen Länder. Wenn die Parlamentarisierung der inneren Machtverhältnisse eher zu den großen Gliedstaaten passt, wäre der reichsverfassungsrechtliche Zwang der kleineren Länder zu einer Politisierung ihrer Verfassungsordnungen überflüssig. Für sie wäre es passender, sich am Vorbild der Wahl des kommunalen Vollzugsorgans zu orientieren: Die Landesregierung könnte dann auf bestimmte Dauer unabhängig von den vorangegangenen politischen Störungen im Vertretungskörper gewählt werden.115 Unabhängig davon, dass Art. 17 I WRV ausdrückliche Homogenitätserfordernisse enthielt, wäre es unzutreffend, die Staatsorganisation der deutschen Länder für eine vom Oberstaat abhängige Staatsorganisation zu halten. Im Fall der für die Vollziehung berufenen Landesregierung handelte es sich nicht um eine Abhängigkeit von der Reichsregierung, ebenso wenig handelte es sich um eine unvereinbare Unterstellung gegenüber der Volksvertretung. Letztere war kraft ihrer unmittelbaren demokratischen Legitimation keiner Befehlsgewalt unterworfen. Alles zusammengenommen führte Nawiasky zu der Schlussfolgerung, dass jedes reichsrepublikanische Land über eine unabhängige und im Rahmen des bundesstaatlichen Homogenitätsgebotes selbständige Staatsorganisation verfügte.116
8. Herangehensweise von Carl Schmitt und Ernst Forsthoff an die Bundesstaatsproblematik: Substanzielle Gleichartigkeit (Homogenität) als Mittel zur Vermeidung eines existenziellen Konfliktfalls Eine besondere Stellung in der Bundesstaatslehre der Weimarer Zeit hatten die Auffassungen von Carl Schmitt, der einer der bekanntesten Staats- und Völkerrechtler des 20. Jahrhunderts wurde, und seines Schülers Ernst Forsthoff, später seinerseits auch einer der prominentesten Staatsrechtler der jungen Bundesrepublik, die beide zum Kreis der deutschen Juristen gezählt wurden, die den NS-Staat unterstützt und zudem versucht hatten, dem Nationalsozialismus eine staatsrechtliche 114 115 116
Vgl. Nawiasky, Bay Verfassungsrecht, § 16 S. 72 f., § 38 S. 291. Vgl. Nawiasky, Das Reich als Bundesstaat, § 26 S. 129 f., § 32 S. 169. Vgl. Nawiasky, Das Reich als Bundesstaat, § 11 S. 53.
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Legitimation zu verschaffen. Ungeachtet dieser späteren umstrittenen Seite in ihren Biographien beeinflussten Schmitt und Forsthoff die deutsche Bundesstaatslehre unbedingt und hatten eine originelle Herangehensweise zur bundesstaatlichen Homogenitätsproblematik. Im Grunde genommen hatte Schmitt seinen verfassungstheoretischen Bundesgedanken erarbeitet und Forsthoff diesen einige Jahre später in Anlehnung an die klassische Staatenstaatstheorie weiterentwickelt. Anders als früher wurden von ihnen jedoch die Begriffe der Souveränität und Kompetenz im Bundesstaat ausgelegt, was für das die selbständige Staatsorganisation bedingende Existenzrecht der Gliedstaaten von enormer Bedeutung ist. Der Bundesstaat, den Schmitt bloß als „Bund“ bezeichnete, „ist eine auf freier Vereinbarung beruhende, dem gemeinsamen Zweck der politischen Selbsterhaltung aller Bundesmitglieder dienende, dauernde Vereinigung, durch welche der politische Gesamtstatus jedes einzelnen Bundesmitgliedes im Hinblick auf den gemeinsamen Zweck verändert wird.“117 Aus diesem Begriff folgen die Eigenschaften des Bundesstaates. Der Bundesstaat umfasst jeden Gliedstaat in seiner Gesamtexistenz als politische Einheit und gliedert ihn als Ganzes in eine politisch existierende Verbindung ein. Der Bundesstaat ist daher ein existenziell selbständiger Gesamtkörper. Die bundesstaatliche Ordnung ist eine auf Dauer konzipierte Ordnung. Die rechtliche Grundlage der Existenz des Bundesstaates bildet die Bundesverfassung, die ihrer Rechtsnatur nach ein Verfassungsvertrag ist. Da ein Vertrag mindestens zwei Parteien voraussetzt, bestimmt der Verfassungsvertrag den Inhalt der Bundesverfassung und ist zugleich ein Bestandteil der Verfassung eines jeden Gliedstaates. Obwohl der Bund als ein politisch einheitliches Gemeinwesen ausgestaltet wird, bezweckt er gleichzeitig die Erhaltung der politischen Existenz aller Glieder unter dem gesamtstaatlichen Dach. Daraus folgt, dass den Gliedstaaten ihre politische Existenz durch die Bundesverfassung, auch wenn sie keine entsprechende Bestimmung explizit vorschreibt, garantiert werden muss. Die Gewährleistung der Gliedstaatsexistenz ist keine bloß vorübergehende Einzelregelung, sondern ein den Gliedstaaten zugekommener Status. Durch das abgeschlossene Regelsystem wird innerhalb des Bundesstaates ein status quo in existenzieller Sicht gewährleistet. Die bundesstaatliche Garantie der politischen Existenz der Gliedstaaten ergibt sich nach Schmitt aus dem Zweck der Selbsterhaltung sowie aus der Eigenschaft des Bundesstaates als einer dauerhaften Verbindung.118 Aus dem Wesen des Bundesstaates werden nach Schmitt drei rechtliche und politische Antinomien seiner Gesamtexistenz abgeleitet. Unter Antinomie versteht man eine spezielle Art des logischen Widerspruchs, bei der die zueinander in Widerspruch stehenden Eigenschaften gleichermaßen gut begründet bewiesen sind. Zu solchen existenziellen Antinomien des Bundesstaates zählte Schmitt die Folgenden: Die erste Antinomie besteht darin, dass einerseits der Bundesstaat die Selbsterhaltung, d. h. die Erhaltung der politischen Selbständigkeit eines jeden Gliedstaates 117 118
Schmitt, Verfassungslehre, S. 366. Vgl. Schmitt, Verfassungslehre, S. 367 f., 62 f.
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bezweckt und andererseits die Zusammensetzung verschiedener Glieder zu einer Einheit eine Minderung ihrer Selbständigkeit bestimmt in sich enthält. Diese Antinomie betrifft also das sog. Selbsterhaltungsrecht eines jeden Bundesmitglieds.119 Nach der zweiten Antinomie strebt einerseits jeder Gliedstaat danach, durch den Gesamtstaat seine rechtspolitische Unabhängigkeit zu erhalten und seine innere Selbstbestimmung zu sichern. Der Bundesstaat kann aber andererseits im Interesse der gesamtstaatlichen Sicherheit die inneren Angelegenheiten seiner Glieder nicht außer Betracht lassen. Diese Antinomie wird von dem sog. Selbstbestimmungsrecht der Gliedstaaten und der Forderung nach der innerstaatlichen Sicherheit bedingt.120 Die dritte („allgemeinste“) Antinomie: Der Bundesstaat als ein funktionsfähiges Staatswesen besitzt einen Gesamtwillen und eine politische Existenz. Die Gliedstaaten sind aber auch die politisch lebensfähigen Staatswesen mit einem eigenen Einzelwillen. Daraus erfolgt eine Doppelung der politischen Existenz im Bundesstaat: Es sind die Gesamtexistenz des Bundesstaates als Ganzes und die Einzelexistenz der Gliedstaaten als Teile vorhanden. Beide Arten der politischen Existenz stehen nebeneinander, soweit der Bundesstaat als solcher besteht. Weder darf die Gesamtexistenz des Bundesstaates die Einzelexistenz seiner Glieder abschaffen, noch darf die Existenz der Gliedstaaten die Existenz des Gesamtkörpers verletzen. Mit anderen Worten sind weder die Gliedstaaten dem Gesamtstaat subordiniert (keine Untertanen der Gesamtheit) noch ist der Bundesstaat seinen Gliedern unterworfen und von ihnen unabhängig. Das Wesen der Bundesstaatlichkeit liegt genau in diesem existenziellen Dualismus, der eine Verbindung des bundestreuen Zusammenlebens und der inneren rechtspolitischen Einheit einerseits mit der Fortexistenz verschiedener politisch selbständiger Teileinheiten andererseits darstellt. Der Bundesstaat und seine Glieder existieren im Zustand eines Gleichgewichts, von dem gewisse Pendelausschläge möglich sind (mit anderen Worten Dezentralisierung und Zentralisierung). Ein derartiger Schwebezustand birgt potenzielle rechtspolitische Konflikte in sich, die die Einheit des Bundesstaates gefährden können (s. u.).121 In dieser dritten Antinomie von Schmitt sieht man die Erscheinung der Waitzschen Bundesstaatstheorie, nach der sich Oberstaat und Gliedstaaten in einem Verhältnis der rechtspolitischen Nebenordnung befinden. Bei jeder Mehrheit der zur Einheit zusammengesetzten existenziell und politisch selbständigen Gemeinwesen ist die Entstehung eines etwaigen existenziellen Konflikts immer möglich. Für die friedliche Beilegung und Schlichtung derartiger Streitigkeiten innerhalb des Bundesstaates, die aus den obengenannten Antinomien entstehen können, sind einige Instrumente vorgesehen. Vor allem geht es hier um das Erfordernis der Homogenität (bundesstaatliches Homogenitätsgebot).122 Die Lösung der bundesstaatlichen Antinomien und die Vermeidung der dadurch bedingten 119 120 121 122
Vgl. Schmitt, Verfassungslehre, S. 370. Vgl. Schmitt, Verfassungslehre, S. 370 f. Vgl. Schmitt, Verfassungslehre, S. 371. Vgl. Schmitt, Verfassungslehre, S. 370, 371, 372, 375.
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Konfliktsituationen besteht darin, dass jeder Bundesstaat auf innerer Homogenität beruht. Unter Homogenität verstand Schmitt eine substanzielle Gleichartigkeit, „welche eine konkrete, seinsmäßige Übereinstimmung der Gliedstaaten begründet und es bewirkt, daß der extreme Konfliktsfall innerhalb des Bundes nicht eintritt.“123 Er unterschied zwischen den Arten der Homogenität. So könnte es sich um eine nationale Homogenität (Gleichartigkeit und Identität des Volkes) handeln, eine religiöse, zivilisatorische, soziale oder eine andere Art der Homogenität.124 Im Rahmen der Zielsetzung dieser Arbeit werden weiter die nationale und politische (Übereinstimmung der Staatsformen) Homogenität, durch die das strukturelle (organisationsrechtliche) Homogenitätsgebot bedingt wird, in Betracht gezogen. Die Lösung der ersten Antinomie besteht nach Schmitt darin, dass jedes Glied innerhalb der homogen gestalteten Staatengemeinschaft auf das Kriegs- sowie Selbstverteidigungsrecht verzichtet, ohne zugleich seinen Willen zur Selbsterhaltung zu verneinen oder zu vermindern.125 Der Wille zur Selbstbestimmung ist jeder politischen Existenz eigentümlich, sie kann nur durch eine fremde Einmischung verneint oder gefährdet werden. Im Bundesstaat bilden die Eingriffe des Gesamtstaates in die inneren Angelegenheiten seiner Glieder keine fremde Einmischung. Kein wirklicher Staat mit bündischer Grundlage kennt den freiwilligen Verzicht auf die Einmischung in die Angelegenheiten seiner Glieder. Das ist rechtlich und politisch möglich und zulässig, weil jeder Bundesstaat auf der inneren Homogenität beruht. Zur Behebung der zweiten Antinomie dient das Erfordernis der Gleichartigkeit des politischen Prinzips (Homogenität der Staatsformen). Schmitt verwies auf Charles-Louis de Montesquieu, der in seinem Werk „Vom Geist der Gesetze“ ausgesprochen hatte, dass der Bundesstaat aus Einzelstaaten der gleichen Rechtsnatur, v. a. aus republikanischen Staaten bestehen muss. Montesquieu stellte die Monarchie und die Republik einander gegenüber: Der Geist der Monarchie ist kriegerisch und hat eine expansionistische Natur; die republikanische Form der politischen Existenz des Staates ist ihrer Natur nach friedlich und bescheiden.126 Deswegen kommt Schmitt zu dem Ergebnis, dass die entgegengesetzten Arten der politischen Existenz (Monarchie, Republik oder Aristokratie) innerhalb des zusammengesetzten Staatswesens nicht vorhanden sein sollten. Und wenn es in der Bundesverfassung eine ausdrückliche Garantie der innerstaatlichen Homogenität gibt, betrifft diese gewöhnlich die Staatsformen der Glieder. Das bestätigten sowohl die damals geltenden Bundesverfassungen (wie die schweizerische aus dem Jahr 1874) als auch die historischen Beispiele (wie FRVoder die schweizerische Bundesverfassung von 1848). In Anlehnung an Nawiasky ging Schmitt auch davon aus, dass das Fehlen eines expliziten Homogenitätsgebotes in der Verfassung des Deutschen Kaiserreichs für die monarchischen Einzelstaaten keine 123 124 125 126
Schmitt, Verfassungslehre, S. 376. Vgl. Schmitt, Verfassungslehre, S. 376, 228 ff. Vgl. Schmitt, Verfassungslehre, S. 377. Vgl. Schmitt, Verfassungslehre, S. 376.
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Minderung, sondern eine faktische bundesstaatliche Garantie ihrer politischen Existenz bedeutete, weil die Möglichkeit der Umwandlung in eine demokratische Republik fast ausgeschlossen wurde.127 Die Lösung der zweiten Antinomie besteht also im Erfordernis der politischen (bevorzugt demokratischen) Homogenität, das nach Schmitt mit dem bundesstaatlichen Homogenitätsgebot verschmilzt.128 Die Homogenität bildet eine wesentliche Voraussetzung für die Bundesstaatlichkeit. Wenn substanzielle Gleichartigkeit vorliegt, ist ein Bundesstaat rechtlich und politisch vorhanden. Genau das Erfordernis der innerstaatlichen Homogenität dient als Instrument für die Lösung der dritten Antinomie: Wenn der Bundesstaat auf Grundlage der substanziellen Gleichartigkeit zwischen den Machtstrukturen des Gesamtstaates und der Gliedstaaten ausgestaltet wird, so sei der entscheidende, existenzielle Konfliktfall ausgeschlossen. Wegen der komplexen Rechtsnatur des Bundesstaates kann man einen derartigen Konflikt zwischen dem Bund und seinen Mitgliedern absolut nicht außer Acht lassen. Die Entscheidung eines etwaigen existenziellen Konfliktfalls wandelt sich deshalb in die Frage der Souveränität. Das Problem der Souveränität im Bundesstaat bleibt immer offen, soweit der Bundesstaat als Verbindung der politisch selbständigen Gemeinwesen existiert. Keine Lösung dieser schweren Frage bildet einerseits die Unterscheidung zwischen souveränen und nichtsouveränen Staaten (Jellinek) und andererseits zwischen Staatenbund und Bundesstaat, wenn im Ersteren souverän die Einzelstaaten verbleiben und im Letzteren allein der Gesamtstaat souverän ist (Laband, Meyer, Anschütz). Diese Auffassungen boten nach Schmitt unter Berücksichtigung der Bedeutung der souveränen Entscheidung eines existenziellen Konflikts innerhalb des Bundesstaates überhaupt keine Antwort. Spricht man von einem Bundesstaat, in welchem nicht die Gliedstaaten, sondern der Oberstaat oder der Bundesstaat als Ganzes (der Gesamtstaat) souverän ist, so stellt dieser Staatskörper tatsächlich einen souveränen Einheitsstaat dar.129 Da die Fragen der politischen Existenz innerhalb des Bundesstaates auf unterschiedlichen öffentlich-rechtlichen Ebenen (d. h. vertikal) und verschiedenen Tätigkeitsgebieten (d. h. horizontal) auftreten können, ist es möglich, dass die eine oder andere Entscheidung über eine solcher Fragen allein beim Gesamtstaat liegt oder dagegen den Gliedstaaten verbleibt. Das ist jedoch keine Teilung der Souveränität; eine solche Aufschlüsselung folgt aus der bundesstaatlichen Doppelexistenz. Hier findet keine Teilung der Souveränität im Verständnis der früheren Bundesstaatslehre statt, weil der die Souveränitätsfrage bedingende existenzielle Konfliktfall die politische Existenz als solche betrifft und die Entscheidung einer konkreten Konfliktsituation allein dem Oberstaat oder allein dem Gliedstaat ganz zusteht. In diesem Zusammenhang ist die Souveränität eine bloße Entscheidung „Entweder-Oder“, für die keine Teilung nach Objekten, keine Einschränkung oder Halbierung charakte127 128 129
Vgl. Schmitt, Verfassungslehre, S. 370, 376, 378. Vgl. Schmitt, Verfassungslehre, S. 388. Vgl. Schmitt, Verfassungslehre, S. 371, 372 f.
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ristisch ist.130 Aus dem Bundesstaatsbegriff, nach dem innerhalb des zusammengesetzten Staates eine Doppelung der politischen Existenz vorhanden ist, folgt, dass dem Wesen nach die Bundesgewalt und die Gliedstaatsgewalten politisch balancieren, d. h., weder der Oberstaat nimmt gegenüber den Gliedstaaten die Rolle des Souveräns ein noch die Gliedstaaten gegenüber dem Oberstaat. Wenn alle Mitglieder des Bundesstaates existenziell gleichberechtigt sind und der Gesamtstaat nach dem Homogenitätsprinzip aufgebaut ist, wäre dann der existenzielle Konfliktfall höchstwahrscheinlich ausgeschlossen und die Souveränitätsfrage bliebe weiter im Schwebezustand, da ihre Lösung keinen Sinn für den funktionierenden Bundesstaat hätte.131 Im demokratischen Staat liegt die Souveränität allein beim Volk. Wenn dieser Staat nach seiner Struktur einen Bundesstaat bildet, muss neben der demokratischen noch die nationale Homogenität vorhanden sein. Die dritte bundesstaatliche Antinomie wird auch durch die nationale Homogenität gelöst. Abgesehen vom Fall der Föderation sozialistischer Sowjetrepubliken, so merkte Schmitt an, darf die Substanz der Bundesstaatlichkeit in einer nationalen Gleichartigkeit der Bevölkerung liegen. Mit dem Erfordernis der homogenen Einheit des Volkes findet eine Abkehr statt von der Vorstellung einer selbständigen politischen Existenz der Gliedstaaten und die Nebenordnung des Gesamtstaates und der Gliedstaaten zugunsten einer durchgängigen Einheit wird überwunden.132 Nach Forsthoff war dies genau der Fall der Weimarer Republik. Da es in der Präambel der WRV um das Deutsche Volk, das sich diese Verfassung gegeben hatte, ging, kann man daraus entnehmen, dass genau das Gesamtvolk Träger der Souveränität und der verfassungsgebenden Gewalt war. Obwohl man die Souveränität allein dem Reichsvolk zukommen ließ, folgte durch die Bindung der deutschen Länder an die freistaatliche Verfassungsordnung (Art. 17 I WRV), dass die Bevölkerung der reichsrepublikanischen Länder trotzdem die Trägerin einer spezifischen politischen Eigenschaft der Selbständigkeit war. Die deutschen Länder der Weimarer Zeit hatten politische Einheiten gebildet; fraglich aber war, ob sie noch die Qualität wie die früheren Einzelstaaten des Kaiserreichs besaßen oder ob dies nicht mehr der Fall war.133 Auf diese Frage wird später eingegangen. Mit der Souveränitätsproblematik steht der Kompetenzbegriff im direkten Zusammenhang. Nach Schmitt können im Rahmen einer verfassungsrechtlichen Regelung den Mitgliedern des Bundesstaates keine unbegrenzten Befugnisse erteilt werden und daher ist jede Zuständigkeit eingeschränkt. Dies betrifft auch die sog. Kompetenz-Kompetenz, die in der Fachliteratur der Kaiserzeit fehlerhaft mit der
130
Vgl. Schmitt, Verfassungslehre, S. 378. Vgl. Schmitt, Verfassungslehre, S. 379; Forsthoff, Die öffentliche Körperschaft im Bundesstaat, S. 45. 132 Vgl. Schmitt, Verfassungslehre, S. 376, 388. 133 Vgl. Forsthoff, Die öffentliche Körperschaft im Bundesstaat, S. 93, 94. 131
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Souveränität verwechselt wurde.134 Diese „spezifische“ Art der Kompetenz unterscheidet sich von einer „normalen“ Kompetenz in nichts und ist auch nicht schrankenlos. Die Beschränktheit der die Kompetenz-Kompetenz bildenden Befugnis, die Bundesverfassung zu ändern, hat eine große Bedeutung nicht nur für die Bewahrung der gesamtstaatlichen Existenzform (Staatsform), sondern vielmehr für die Feststellung der Rechtsnatur der bundesstaatlichen Mitglieder (des Oberstaates und der Gliedstaaten). Daraus ergibt sich, dass sich die Tätigkeit des Bundesstaates auf eine kompetenzmäßige Aufteilung stützt. Selbst die Art der Kompetenzverteilung stellt jedoch kein Kriterium für oder gegen die Staatsqualität der Länder dar. Ob die Länder noch Staaten sind oder nicht, hängt davon ab, ob sie wirkliche Träger eines spezifischen politischen Willens seien, was sich aus dem Maß der organisatorischinstitutionellen Selbständigkeit ergibt.135 Anders als im Einheitsstaat erfolgt im Bundesstaat die Aufteilung der Kompetenz nicht unter den Organen eines und desselben Staatswesens, sondern zwischen den öffentlich-rechtlichen Ebenen (Oberstaat und Gliedstaaten); jede dieser Ebenen ist mit einer eigenen Herrschaftsgewalt (Staatsgewalt) ausgestattet. Im Unterschied zur früheren und zeitgenössischen Bundesstaatslehre war Forsthoff der Meinung, dass die Staatsqualität den Gliedstaaten nicht wegen der Ursprünglichkeit ihrer Herrschaftsgewalt zukommt, sondern die Staatsqualität wird durch die Regierungsfunktion dieser Gewalt bedingt. Unter Regierungsfunktion versteht man das Recht des Staates, eine eigene Politik sowohl im Gesetzgebungsbereich als auch beim Vollzug zu betreiben. Soweit die deutschen Länder über diese Regierungsfunktion bei der Ausübung ihrer Staatsgewalt legitim verfügen, unterscheiden sie sich von Selbstverwaltungskörpern und bilden wirkliche Staaten (ihre Staatsqualität ist aber naturgemäß begrenzt).136 Aus dem Besitz einer eigenen Regierungsfunktion seitens der Gliedstaaten folgt nicht, dass diese mit eigenen Organen der Gesetzgebung und der Vollziehung – dem Landesparlament und der Landesregierung – ausgestattet sind. Die Voraussetzung dafür wurzelt in der politischen Eigenexistenz der Gliedstaaten. Diese unantastbare Existenz der Gliedstaaten, die durch den Oberstaat nicht aufgehoben werden soll, bedingt die Fähigkeit zur inneren Ausgestaltung nach eigenem Ermessen (das sog. Recht der Selbstorganisation). Mit anderen Worten sind die Gliedstaaten berechtigt, eine eigene innere Staatsordnung selbständig zu regeln.137 Das Recht der Selbstorganisation wird durch die Gliedstaaten innerhalb der von der Bundesgewalt abgesonderten Freiheitssphäre ausgeübt. Diese Sphäre mit einem bestimmten „Maß organisatorischer Bewegungsfreiheit“ ist nichts anderes als die die gliedstaatliche Selbstorganisation abgrenzende Verfassungsautonomie, innerhalb derer den Glied134
Vgl. Schmitt, Verfassungslehre, S. 102 f. Vgl. Forsthoff, Die öffentliche Körperschaft im Bundesstaat, S. 31, 95. 136 Vgl. Forsthoff, Die öffentliche Körperschaft im Bundesstaat, S. 31, 33, 36, 96, 97. 137 Vgl. Schmitt, Verfassungslehre, S. 378; Forsthoff, Die öffentliche Körperschaft im Bundesstaat, S. 29, 32, 97. 135
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staaten ein Bereich der Staatstätigkeit als ein Absolutum, das nicht unter den Umfang der bundesstaatlichen Kompetenz fällt, zusteht.138 Als unabhängige und selbständige Staatsgebilde unterliegen die Gliedstaaten in ihrer organisatorischen Gestaltung keiner Aufsicht seitens des Oberstaates. Der Oberstaat ist deshalb nicht zuständig, den Gliedstaaten die innere organisatorischinstitutionelle Ausgestaltung zwingend vorzuschreiben.139 Obwohl ungebundene Eingriffe des Gesamtstaates gegenüber der gliedstaatlichen Freiheitssphäre nicht erlaubt sind, bedeutet dies nicht, dass eine Berührung überhaupt nicht stattfindet. Kraft der gedoppelten politischen Existenz innerhalb des Bundesstaates sind die Gliedstaaten Träger eines eigenen politischen Einzelwillens als potenzieller Souveränität, solange sie selbständige organisatorische Gemeinwesen bilden. Der Bundesstaat ist aber ein zur Einheit zusammengesetzter Staatskörper, in dem die einzelnen unterschiedlichen Glieder untereinander eng verbunden sind. Um den zur bundesstaatlichen Einheit im Widerspruch stehenden Gebrauch der den Gliedstaaten zustehenden Freiheitssphäre zu vermeiden, muss im Bundesstaat eine homogene innere Machtstruktur vorhanden sein. Unter Berücksichtigung des gewaltenteilenden Prinzips findet das bundesstaatliche Homogenitätsgebot seine Ausprägung in der Übereinstimmung der Grundlagen der gesetzgebenden und vollziehenden Gewalt. Eben daher schrieb die WRV in Art. 17 I den deutschen Gliedstaaten das Landesparlament und die ihm verantwortliche Landesregierung ausdrücklich vor, was mit dem gesamtstaatlichen Typus übereinstimmend sei.140 Forsthoff war der Ansicht, dass das Schwergewicht im Gesetzgebungsbereich beim Gesamtstaat und in der Verwaltung bei den Gliedstaaten liegt. Daraus ergibt sich die Wichtigkeit des Vollzugs für die Gliedstaaten. Er hielt die Einführung einer vertikalen, den Oberstaat und die Gliedstaaten durchsetzenden Vollzugsorganisation für unzulässig, weil die Verwaltungstätigkeit der unterschiedlichen öffentlichrechtlichen Ebenen an den verschiedenen Ordnungs- und Entscheidungsbegriffen orientiert und deshalb im Bundesstaat kein einheitliches System der vollziehenden Organe ausgestattet werden soll.141 Für die Bundesstaatskonzeption von Schmitt und Forsthoff hatte der Begriff der Homogenität einen zentralen Wert. Als substanzielle Gleichartigkeit verstandene Kategorie muss sie eine friedliche gemeinschaftliche Existenz aller Glieder innerhalb des Bundesstaates sichern und zugleich bedingen. Das bundesstaatliche Homogenitätsgebot dient als eine Sicherheitseinrichtung, welche nicht nur die wegen der Doppelung der politischen Existenz entstandenen bundesstaatlichen Widersprüche (sog. Antinomien) lösen, sondern auch das Auftreten eines etwaigen existenziellen Konfliktfalls innerhalb des Gesamtstaates ausschließen sollte. Nur bei der Entstehung einer solchen Konfliktsituation erhellt sich die Rechtsnatur der Souve138 139 140 141
Vgl. Forsthoff, Die öffentliche Körperschaft im Bundesstaat, S. 32, 97. Vgl. Forsthoff, Die öffentliche Körperschaft im Bundesstaat, S. 33. Vgl. Forsthoff, Die öffentliche Körperschaft im Bundesstaat, S. 34, 42, 95. Vgl. Forsthoff, Die öffentliche Körperschaft im Bundesstaat, S. 36 f.
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ränität im Bundesstaat. Für ihre Auflösung fällt die Souveränität unteilbar und restlos an den Gesamtstaat oder an die Gliedstaaten; beim normalen Verlauf beeinflusst aber die Souveränitätsfrage die innerstaatliche Entwicklung nicht. Die mit dem Souveränitätsbegriff gewöhnlich verbundene Frage nach der Kompetenz innerhalb des Bundesstaates läuft auf eine bloße Aufteilung der Befugnisse zwischen den öffentlich-rechtlichen Ebenen hinaus und hat keine konstitutive Bedeutung. Im Unterschied zu Jellinek, welcher der Staatsorganisation Priorität eingeräumt hatte, und zu Nawiasky, der gemeint hatte, dass die innere Organisation von der Kompetenz bewirkt wird, war für Schmitt und Forsthoff diese Korrelation zwischen Kompetenz und Organisation irrelevant. Nach ihrer Auffassung ergibt sich das Recht der Selbstorganisation aus der selbständigen politischen Existenz der Gliedstaaten, die Aufteilung der Zuständigkeitsbereiche findet kraft des durch die substanzielle Gleichförmigkeit bedingten Zusammenwirkens statt und aufgrund dieser Aufteilung erhalten die Organe der Gliedstaaten landesverfassungsgemäß ihre konkreten Befugnisse. Die gedoppelte politische Existenz innerhalb des Bundesstaates bedeutet aber keine bloße Koexistenz des Gesamtstaates und der Gliedstaaten. Zugunsten der staatlichen Einheit ist der Gesamtstaat berechtigt, bestimmte Eingriffe in die Freiheitssphäre der Gliedstaaten vorzunehmen. Dazu dient u. a. die Feststellung eines bundesstaatlichen Homogenitätsgebotes. Schmitt und Forsthoff erklärten aber nicht, inwieweit die innere Organisation der Glieder durch das Homogenitätserfordernis vorherbestimmt werden kann. Wichtig in ihren theoretischen Auffassungen war, dass die sich aus dem ursprünglichen Existenzrecht ergebende Selbstorganisation der Gliedstaaten wieder anerkannt und nicht an die ganz unterschiedlich ausgelegte Eigenschaft der Souveränität oder die Kompetenzaufteilung gebunden wurde.
B. Der Übergang Österreichs zur bundesstaatlichen Organisationsform 1. Der Zerfall der Österreich-Ungarischen Monarchie und die Entstehung der demokratischen Republik Deutschösterreich: Kampf um den Föderalismus Die Teilnahme am Ersten Weltkrieg stand das Kaisertum Österreich-Ungarn viel schwerer als sein Verbündeter das Deutsche Reich durch. Militärische Misserfolge, welche die Handlungsunfähigkeit des gesamten kaiserlich-königlichen Staatsapparats in der Kriegszeit zerstört und die alten Probleme der Struktur der mehrschichtigen ständischen Gesellschaft aufgebrochen hatten, führten zur Vertiefung der Nationalitätenfrage, die der Monarchismus nicht mehr zu lösen imstande war. Nach dem militärischen Zusammenbruch der Donaumonarchie wurde deren Auflösung faktisch vorbestimmt: Wie nach einem Domino-Effekt erklärten Anfang Oktober 1918 kroatische, serbische, slowenische und polnische Volksgruppen ihre Unabhängigkeit von der Habsburger Monarchie und riefen zum Aufbau eigener Staats-
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gebilde auf. Der Versuch der Zentralregierung, durch das kaiserliche Völkermanifest vom 16. Oktober 1918 die Monarchie zu retten, sollte Schiffbruch erleiden. Laut dem in der kaiserlich-königlichen Regierung vorbereiteten Plan musste Österreich-Ungarn zu einem Bundesstaat umgebaut werden, „in dem jeder Volksstamm auf seinem Siedlungsgebiete sein eigenes staatliches Gemeinwesen bildet.“142 Diese staatliche Neugestaltung sollte aber nicht alle Territorien der Doppelmonarchie betreffen. Unberührt blieben die Länder der ungarischen Krone, die Stadt Triest mit ihrem Siedlungsgebiet durfte durch die Willenserklärung ihrer Bevölkerung einen Sonderstatus erhalten. Die Territorien mit polnischer Mehrheit, die unter der Herrschaft der kaiserlich-königlichen Doppelmonarchie standen, erhielten hingegen keine Möglichkeit, sich mit dem im Jahre 1916 entstandenen (relativ) unabhängigen polnischen Staat zu vereinigen. Der nur halbherzige Lösungen enthaltende Plan der österreichischen Zentralregierung hatte als Nachwirkung den weiter forcierten Zerfall des Gesamtstaates: Ende Oktober 1918 hatte zunächst die ungarische Regierung die Realunion mit dem habsburgischen Österreich für erloschen erklärt. Danach nahmen Böhmen und Mähren offiziell Kurs auf die Bildung eines eigenen tschechoslowakischen Staates. Parallel bildeten die deutschen Abgeordneten des Reichsrates in Wien die Provisorische Nationalversammlung für Deutschösterreich, d. h. für die kaiserlichen Gebiete mit deutschsprachiger Mehrheit. Die Provisorische Nationalversammlung übernahm faktisch auch die Vollzugsbefugnisse. Die Ausübung dieser Vollzugsbefugnisse wurde dem Vollzugsausschuss (später: Staatsrat) anvertraut. Am 11. November 1918 dankte der zu diesem Zeitpunkt faktisch bereits machtlose Kaiser Karl zuerst als österreichischer Kaiser und zwei Tage später als ungarischer König ab. Aufgrund des Beschlusses der Provisorischen Nationalversammlung wurde in dem am 12. November 1918 verabschiedeten „Gesetz über die Staats- und Regierungsform“ Deutschösterreich als demokratische Republik (Art. 1) ausgerufen, die zugleich ein Bestandteil der Deutschen Republik sei (Art. 2 S. 1). Mit der Abschaffung des Monarchismus fiel die Staatsgewalt völlig an das österreichische Volk. Auf Zentralebene übernahmen die Ausübung der Hoheitsgewalt die Provisorische Nationalversammlung und der aus ihrer Mitte gebildete Staatsrat. Wie in den nichtdeutschsprachigen Ländern, die vom Staatskörper des Kaiserreichs abgetrennt wurden, übernahmen die ehemaligen kaiserlich-königlichen Staatsorgane die Gewalt in den deutschösterreichischen Ländern. Die früheren Kronländer als dezentralisierte Provinzen wandelten sich dank der revolutionären Entwicklung in Teileinheiten der deutschösterreichischen Republik mit einem höheren Grad an Selbständigkeit um. Niederösterreich, Oberösterreich, Steiermark, Kärnten, Tirol (mit Deutsch-Südtirol, jedoch ohne Welschtirol/Trentino), Vorarlberg, Salzburg, Deutschböhmen, das Sudetenland sowie die „Einschlussgebiete“ Iglau, Olmütz und Brünn (Sprachinseln mehrheitlich deutscher Städte auf tschechischem Gebiet) übernahmen die Funktionen der Staatsverwaltung auf Landes142 Völkermanifest vom 16. Oktober 1918, veröffentlicht in der Wiener Zeitung v. 17. 10. 1918, Nr. 240, zit. nach: Rumpler, Helmut, Das Völkermanifest Kaiser Karls vom 16. Oktober 1918. Letzter Versuch zur Rettung des Habsburgerreiches, München 1966, S. 89.
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ebene und zogen einzelne Gesetzgebungsbefugnisse in der Situation des Untergangs der „vertikalen“ kaiserlich-königlichen Staatsstrukturen an sich. Dies bedingte die Entstehung von Rechtsordnungen mit eigenständigen Gewalten auf dem Territorium Deutschösterreichs, die abgesehen von der verbürgten materiellrechtlichen Kontinuität mit den kaiserlichen Landesordnungen von 1861 auf neue Weise gebildet wurden.143 Das am 14. November 1918 beschlossene „Gesetz betreffend die Übernahme der Staatsgewalt in den Ländern“ sollte den Übergangsprozess erleichtern. Der Gegenstand dieses Gesetzes zeigte klar, dass die Zentralorgane des neugegründeten Staates Deutschösterreich diesen als einen dezentralisierten Einheitsstaat ansahen und dessen Ländern nur ein am Willen des Gesamtstaates gebundener, eingeschränkter Umfang von Kompetenzen zustehen sollte. Nach dem Gesetz wurden die Befugnisse der bisherigen Landtage der Reichsratsländer an die provisorischen Landesversammlungen übertragen, die bis zum Inkrafttreten der neuen, durch das Gesetz erlassenen Landesordnungen tagen sollten (§ 1). Einerseits wies die Feststellung dieser Norm in einem Staatsgesetz darauf hin, dass die Kompetenz der provisorischen Landesversammlungen ihrer Rechtsnatur nach eine delegierte Kompetenz war und die kaiserlichen Landesordnungen fortgalten, soweit sie mit der provisorischen Verfassung Deutschösterreichs vereinbar waren. Andererseits stellte die Formulierung des Gesetzes – „neuer, durch Gesetz erlassener Landesordnungen“ – eine Unklarheit dar, durch welches Gesetz die neuen Landesordnungen der deutschösterreichischen Länder angenommen werden müssten. Wenn man vermutet, dass die Landesordnung als definitive Verfassung des Landes durch ein Landesgesetz zu erlassen sei, so liegt der Schluss nahe, dass den deutschösterreichischen Ländern ein Gestaltungsspielraum eingeräumt werden könnte, innerhalb dessen diese frei und unabhängig vom Staat Deutschösterreich handeln dürften. Mit anderen Worten ginge es um die Verfassungsautonomie der Länder. Diese Vermutung fand später eine weitere Bestätigung: Im Unterschied zu der entsprechenden kaiserlich-königlichen Regel wurde das Erfordernis der Sanktionierung von Landesgesetzten durch die Zentralorgane mit der Verabschiedung des Gesetzes vom 14. März 1919 „Über die Volksvertretung“ beseitigt.144 Den provisorischen Landesversammlungen wurde durch das Staatsgesetz nicht nur die gleiche Gesetzgebungskompetenz, die zuvor den bisherigen Landtagen zugestanden hatte, gewährleistet, sondern auch viele andere Befugnisse wurden von 143
Vgl. Neschwara, Christian, Determinierung oder relative Autonomie? Zum Verhältnis von Landesverfassung und Reichs- bzw. Bundesverfassung, in: Schennach, Martin (Hrsg.), Rechtshistorische Aspekte des Österreichischen Föderalismus, Beiträge zur Tagung an der Universität Innsbruck am 28. und 29. November 2013, Wien 2015, S. 108 f.; Pernthaler, Peter/ Esterbauer, Fried, Der Föderalismus, in: Schambeck, Herbert (Hrsg.), Das österreichische Bundes-Verfassungsgesetz und seine Entwicklung, Berlin 1980, S. 325 f., 328. 144 Vgl. Kelsen, Hans, Die Stellung der Länder in der künftigen Verfassung Deutschösterreichs, in: Österreichische Zeitschrift für öffentliches Recht, 1919/1920, H. 1, S. 100 f., 102 f.
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den neuen deutschösterreichischen Ländern in Anspruch genommen. Dieser Umstand führte zu der Auffassung, dass anstatt einer – wie aus dem Titel des Staatsgesetzes folgte – Übernahme der Staatsgewalt in den Ländern durch die Zentralgewalt vielmehr gewissermaßen von einer Übergabe der Staatsgewalt an die Länder (in Gestalt der Lokalgewalten) die Rede sei. Diese Tatsache näherte die noch junge gegründete deutschösterreichische Republik einem Staat mit Ansätzen einer Bundesstaatlichkeit an.145 Der vor 1918 weitergeführte Streit zwischen den beiden großen Parteien (Föderalisten und Zentralisten) erhielt erneut Auftrieb. In der Kaiserzeit hatte der Bundesstaatsgedanke die Föderalisierung Österreich-Ungarns nach dem Nationalitätenprinzip vorausgesetzt und sich daher gegen die deutsche Dominanz gerichtet, was als Gegenreaktion eine „ideologische“ Einigung der deutschösterreichischen Zentralisten bedingte, die aber politisch gespaltet waren und daher die „autonomiemäßigen“ Interessen der nichtdeutschen Nationalitäten berücksichtigen sollten. In der Situation eines mononationalen Staates Deutschösterreich hingegen fehlte die nationale Komponente, welche die Gewährleistung der führenden Stellung der Deutsch-Österreicher durch zentralisierte Machtstrukturen mit zugleich einem bestimmten Grad an Autonomie von „nationalen Peripherien“ hätte rechtfertigen können. Daraus folgte der von vornherein postulierte Unitarismus der Republik Deutschösterreich. Einige der neuen deutschösterreichischen Länder (besonders Tirol und Vorarlberg) strebten aber nach einer Föderalisierung mit der entsprechenden Stellung als Gliedstaaten innerhalb des Gesamtstaatskörpers.146 Abgesehen von der leichten Akzession der Befugnisse der deutschösterreichischen Länder konnte es sich nur um ihre scheinbare Eigenständigkeit handeln. Materiellrechtlich sah es so aus, dass die Kompetenzhoheit bei der Zentralgewalt blieb: Schon nach ihrem ersten Beschluss vom 30. Oktober 1918 über die grundlegenden Einrichtungen der Staatsgewalt betraute sich die Provisorische Nationalversammlung allein selbst mit der Ausübung der „oberste[n] Gewalt des Staates Deutschösterreich“ (§ 1). Dies bedeutete, dass die Länder nur über eine delegierte und durch den Zentralstaat eingeschränkte Kompetenz verfügten.147 Organisationsrechtlich unterschied sich die Stellung der republikanischen Länder von den Kronländern auch nicht sonderlich. Auf Landesebene schrieb das Staatsgesetz grundsätzlich das gleiche System der Organe wie auf der Zentralebene vor. Neben die provisorische Landesversammlung trat der von ihr gewählte Landrat, der die Funktionen des bisherigen Landesausschusses übernahm (§ 2). Aus der Mitte der 145
Vgl. Kelsen, Hans, Die Verfassungsgesetze der Republik Deutschösterreich. Mit einer historischen Übersicht und kritischen Erläuterungen, Bd. 1, Wien und Leipzig 1919, S. 103; ders., Die Entwicklung des Staatsrechts in Österreich seit dem Jahre 1918, in: Anschütz, Gerhard/Thoma, Richard (Hrsg.), Handbuch des Deutschen Staatsrechts, Bd. 1, Tübingen 1930, § 14 S. 149. 146 Vgl. Ermacora, Felix, Vorstellungen und Wirklichkeit im österreichischen Föderalismus 1848 – 1970, in: Hellbling, Ernst/Mayer-Maly, Theo/Marcic, René (Hrsg.), Föderalismus in Österreich, Salzburg und München 1970, S. 29; Neschwara, Determinierung oder relative Autonomie?, S. 109. 147 Vgl. Kelsen, Verfassungsgesetze I, S. 103.
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provisorischen Landesversammlung war der Landrat zu wählen: An die Stelle des kaiserlich-königlichen Statthalters trat nunmehr der mit Stimmenmehrheit gewählte Landeshauptmann, durch Verhältniswahlen wurden zwei bis vier seiner Stellvertreter bestimmt (§ 3 I). Das heißt durch diese Vorschrift des Staatsgesetzes wurde das für die Zentralebene geltende Modell kopiert, welches neben dem durch Majoritätswahl berufenen Landeshauptmann die Minoritätsvertretung der drei großen damaligen politischen Parteien (Großdeutsche Nationalbewegung [später GDVP], CSP und SDAP) durch die Besetzung der Stellvertretung nach dem sog. Proporzsystem („Verhältniswahlen“) gesetzlich sichern sollte.148 In dieser Regelung der provisorischen Landesverfassungsgesetzgebung zeigt sich der Ursprung des späteren, allein für die österreichischen Länder charakteristischen Mechanismus des Proporzes bei der Berufung der Landesregierung, was faktisch das Ergebnis eines Kompromisses der damaligen großen Parteien war (ausführlicher zum Proporzsystem s. u. ! S. 228 ff., 335 ff., 385 ff.). In Anlehnung an die Rechtstradition der Kaiserzeit gehörten einerseits der Landeshauptmann und seine Stellvertreter zum Gesetzgebungsorgan, führten den Vorsitz und leiteten deren Verhandlungen (§ 3 II). Andererseits bildeten der Landeshauptmann und seine Stellvertreter die „Landesregierung“ und leiteten deren Amtsführung (§ 4 I i. V. m. § 3 II). Nach diesen Vorschriften stand der Landesrat (mit der Landesregierung als Kern) zugleich an der Spitze der Landesexekutive. Durch das Staatsgesetz wurde die Landesregierung als ein kollegiales Gremium eingerichtet, dessen Funktionalität nicht allein durch den Landeshauptmann oder einen seiner Stellvertreter, sondern in der Gesamtheit der Zusammensetzung gewährleistet wurde.149 Obwohl der Landeshauptmann mit dem Vorsitz in der Landesregierung betraut wurde (§ 5 I 1), blieb er innerhalb des Kollegiums nur „primus inter pares“: Der Landeshauptmann war nicht berechtigt, die Landesräte (Regierungsmitglieder) allein und selbständig zu ernennen. Allerdings oblag ihm die Vertretung der Landesregierung und des Staates (aber welches Staates – des Landes?) gegenüber den Landesbewohnern (§ 5 I 2). Mit diesen Aufgaben zusammen mit der abwechselnden Führung des Vorsitzes in der Landesversammlung ähnelte die Stellung des Landeshauptmannes der entsprechenden Stellung eines Staatsoberhauptes als Repräsentanten des Staates gegenüber der Landesbevölkerung und korrelierte mit dem System der kollegialen Zentralorgane, das Kelsen als „eine höchst kunstvolle Konstruktion“ bezeichnete.150 Die Provisorische Landesversammlung, der Landesrat, die Landesregierung und der Landeshauptmann mit seinen Stellvertretern auf Landesebene entsprachen der Provisorischen Nationalversammlung, dem Staatsrat, dem Staatsratsdirektorium und dessen drei wechselnden Präsidenten auf Zentralebene völlig.
148 149 150
Vgl. Kelsen, Verfassungsgesetze I, S. 109. Vgl. Kelsen, Verfassungsgesetze I, S. 109. Vgl. Kelsen, Verfassungsgesetze I, S. 111.
B. Der Übergang Österreichs zur bundesstaatlichen Organisationsform
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Durch das Staatsgesetz wurde die Teilung der öffentlichen Verwaltung in Staatsverwaltung und autonome Landesverwaltung aufgehoben (§ 9 I) und die Unterordnung der Landesregierung bei ihrer gesamten Amtsführung unter die zentrale Staatsregierung verankert (§ 8). Durch die Stellung des Landeshauptmannes als Vorsitzender der Landesregierung und des Landesrates wurde die Einheit der gesamten Landesverwaltung geschaffen, die an die Dienstanweisungen der deutschösterreichischen Zentralregierung gebunden und dieser verantwortlich war.151 Allerdings blieb wegen der Doppelung der vollziehenden Spitzeneinrichtungen (Landesrat und Landesregierung) der Dualismus innerhalb der Landesverwaltung, die zur Ausführung sowohl der Landesgesetze als auch der einzelnen Staatsgesetze und Befugnisse berechtigt worden war, weiter bestehen. Dieser Umstand legte den Grundstein für die spätere Unterscheidung zwischen der eigenen Landes- und der mittelbaren Bundesverwaltung, die zugleich von den Landesbehörden durchgeführt wurde (! S. 235 ff.). Die provisorische Verfassungsgesetzgebung ermöglichte es, die Republik Deutschösterreich gleichermaßen als dezentralisierten Einheitsstaat und als zentralisierten (unitarischen) Bundesstaat zu klassifizieren. Noch vor Inkrafttreten der endgültigen Bundesverfassung behauptete Adolf Merkl, der spätere Wiener Staatsrechtsprofessor, der zwischenzeitlich auch eine Professur in Tübingen innehatte, dass Österreich kurz davor gestanden habe, die „Kantonalverfassung“ (gemeint ist die Verfassungsart des beispielhaften Bundesstaates Schweiz) weitgehend zu übernehmen. Im Unterschied zu den Kronländern hatten die deutschösterreichischen Länder nicht bloß die Stellung von Selbstverwaltungskörpern, ihnen wurde auch das Recht der Selbstgesetzgebung eingeräumt, die sie im Rahmen der ihnen zustehenden Kompetenz durch die Landesversammlungen ausübten. Man kann aber bemerken, dass auch die ehemaligen Landtage Gesetzgebungsbefugnisse hatten. Das Gesetzgebungsrecht der provisorischen Landesversammlungen ging allerdings nicht seinem Inhalt nach, sondern seiner Form nach über den kronländischen Rechtzustand hinaus, weil es grundsätzlich unabhängig von der Einwirkung der Zentralgewalt ausgeübt worden war. Die deutschösterreichischen Länder genossen auch das Recht der Selbstverwaltung: Verfassungsrechtlich wurde den Ländern der Vollzug von Landesgesetzen als eine eigene, von der Aufsicht der Zentralgewalt freie Angelegenheit zugeordnet. Zugleich hatte man aber aus der Kaiserzeit das Erfordernis übernommen, nach dem jeder bedeutende Selbstverwaltungsakt an die Zustimmung der Zentralgewalt – früher des Monarchen, nunmehr der Zentralregierung – gebunden war.152
151
Vgl. Kelsen, ÖZÖR 1919/1920, S. 103; ders., in: HDtStR I, S. 149. Vgl. Merkl, Adolf, Österreichs Verfassung und ihr Schweizer Vorbild (1920), in: MayerMaly, Dorothea/Schambeck, Herbert/Grussmann, Wolf-Dietrich (Hrsg.), Adolf Julius Merkl. Gesammelte Schriften, Zweiter Band: Verfassungsrecht, Völkerrecht. Erster Halbband, Berlin 2002, S. 258 f., 261 f.; ders., Deutsch-Österreich als Bundesfreistaat (1920), in: Mayer-Maly, Dorothea/Schambeck, Herbert/Grussmann, Wolf-Dietrich (Hrsg.), Adolf Julius Merkl. Ge152
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Kap. III: Paradigmenwechsel in Deutschland und Österreich
Bis Herbst 1919 behielt die Zentralgewalt jedoch das Konzept Deutschösterreichs als eines dezentralisierten Einheitsstaates mit dem Zweck eines späteren Beitritts zur Deutschen Reichsrepublik bei, was die weiteren zentrifugalen Tendenzen innerhalb des jungen österreichischen Freistaates bedingte. Die konstituierende Landesversammlung in Vorarlberg beschloss die Landesverfassung, in der die Zugehörigkeit des Landes zum konkreten Gesamtstaat explizit nicht geregelt wurde, und schon im Mai 1919 begannen die Verhandlungen über den Beitritt des Landes zur Schweizerischen Eidgenossenschaft. Tirol, das andere Alpenland Österreichs, erklärte sich in seiner Landesordnung zum selbständigen Freistaat und hoffte weiterhin, ungeachtet der drohenden Abtrennung Südtirols, die Landeseinheit verfassungsrechtlich zu gewährleisten.153 Besonders schädlich war aber eine andere Tendenz innerhalb der zentrifugalen Bewegung. Merkl schrieb, dass der Föderalisierungsgedanke auch über die Grenzen der einzelnen deutschösterreichischen Länder hinausgriff: Sogar die einzelnen Landesteile und Bezirke wandten sich gegen die Länder als Träger der potenziellen Bundesstaatlichkeit Österreichs, was bereits zum Separatismus tendierte. Das größte Problem der aus dem verlorenen Krieg entstandenen, territorial verkleinerten, aber national einheitlichen österreichischen Republik war die Aufrechterhaltung der Existenz des Gesamtstaates, was durch die Zusammenhaltung der auseinanderstrebenden Staatsteile zu einem Staatsganzen erreicht werden konnte.154 Mit der Unterzeichnung des Friedensvertrages von Saint-Germain am 10. September 1919 war das Konzept Deutschösterreichs als Teil der Deutschen Republik nunmehr Vergangenheit. In Anlehnung an die Idee des Selbstbestimmungsrechts der Völker, für die die alliierten Mächte (insb. die Vereinigten Staaten von Nordamerika) eintraten, sollte das österreichische Volk ein eigenes Staatswesen haben. Durch das Gesetz vom 21. Oktober 1919 „Über die Staatsform“ änderte die Konstituierende Nationalversammlung (gewählt am 16. Februar 1919) den Namen des Staates gemäß den Vertragsbestimmungen von „Deutschösterreich“ in „Republik Österreich“. Parallel dazu liefen die Vorbereitungen zu den Entwürfen einer endgültigen Verfassung für (Deutsch-)Österreich, mit denen seitens der Staatskanzlei zunächst der Wiener Staatsrechtsprofessor Kelsen betraut wurde. Danach wurde der Staatssekretär Michael Mayr von der Staatsregierung beauftragt, die Vorentwürfe zu bearbeiten. Allen Verfassungsentwürfen lag die Idee zugrunde, dass die Republik Österreich in der endgültigen Verfassung als ein Bundesstaat ausgestaltet werden soll. In seinen Entwürfen beschrieb Kelsen die Republik (Deutsch-)Österreich als einen freien Bund souveräner (oder: selbständiger) Länder; in Mayrs Privatentwurf und später im
sammelte Schriften, Zweiter Band: Verfassungsrecht, Völkerrecht. Erster Halbband, Berlin 2002, S. 240 f. 153 Vgl. Neschwara, Determinierung oder relative Autonomie?, S. 109. 154 Vgl. Merkl, Österreichs Verfassung, S. 257; ders., Deutsch-Österreich als Bundesfreistaat, S. 240.
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Regierungsentwurf war die Rede von einem freien Bundesstaat, der aus selbständigen Ländern gebildet wird.155 In der bundesstaatlichen Verfassungsordnung der österreichischen Republik sahen die großen politischen Parteien ein Instrument, die Länder durch eine gelockerte (im Vergleich mit Deutschösterreich) staatsrechtliche Verbindung politisch näher zu verbinden und den Fortbestand des österreichischen Staates zu sichern.156 Demgemäß war die Entscheidung für die bundesstaatliche Form der Republik Österreich ein politischer Kompromiss. Eine formalrechtliche Umwandlung der österreichischen Republik in einen Bundesstaat und der Länder zu dessen Gliedstaaten hatte für die Rechtsnatur der Länder einen nominellen Charakter. Die Föderalisierung des österreichischen Staatsbaus führte zu einer für einen Bundesstaat ungewöhnlich weitgehenden Einschränkung der Verfassungsautonomie der Länder, da ihre Machtstrukturen weiterhin tief im kaiserlich-königlichen Verfassungsrecht wurzelten.157 Genau dieses Problem wird den Gegenstand der weiteren Untersuchung bilden.
2. Die Gliedstaaten der Ersten Republik: Die staatsrechtliche Natur der österreichischen Länder nach dem Bundes-Verfassungsgesetz von 1920 Die Gestaltung der ersten österreichischen Bundesverfassung konnte jedoch ohne Rückgriff auf den wissenschaftlich erarbeiteten Bundesstaatsbegriff nicht gelingen. Die Behandlung des wichtigsten Staatsgrundgesetzes wäre schlichtweg inhaltlos, wenn unklar bliebe, was in einer Bundesverfassung unter „Bundesstaat“ verstanden werden soll. Zu der Zeit der Ausarbeitung des B-VG herrschte in der österreichischen Staatswissenschaft die Auffassung, dass die Bundesstaatsglieder nicht bloß autonom, sondern eigenständig (souverän) seien, was entstehungsgeschichtlich bedingt ist: Die nun selbständigen Teile des Gesamtstaates, die selber früher eigenständige Staaten waren, mussten sich unter dem Einfluss der übermächtigen wirtschaftlichen und politischen Umstände zu einem Staat höherer Ordnung vereinigen und dabei diesem ein bestimmtes Maß ihrer eigenen Staatsgewalten übertragen. Der Föderalismus sieht die eigene Staatlichkeit nicht nur für den Gesamtstaat, sondern auch für dessen Glieder vor.158 Mit anderen Worten war damals die Staatenstaatstheorie in 155
Hier und weiterhin werden die Formulierungen aller Verfassungsentwürfe zitiert nach: Schmitz, Georg, Die Vorentwürfe Hans Kelsens für die österreichische Bundesverfassung, Wien 1981, S. 113 ff. 156 Vgl. Merkl, Österreichs Verfassung, S. 258. 157 Vgl. Neschwara, Determinierung oder relative Autonomie?, S. 110, 113; Merkl, Adolf, Bundesstaat „Republik Österreich“ (1920), in: Mayer-Maly, Dorothea/Schambeck, Herbert/ Grussmann, Wolf-Dietrich (Hrsg.), Adolf Julius Merkl. Gesammelte Schriften, Zweiter Band: Verfassungsrecht, Völkerrecht. Erster Halbband, Berlin 2002, S. 271. 158 Vgl. Seipel, Ignaz, Der Kampf um die österreichische Verfassung, Wien 1930, S. 16, 17.
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Waitzscher Auffassung noch verbreitet. Dies bestätigten auch die Dokumente der Konstituierenden Nationalversammlung. Aus dem von dem Sozialdemokrat Otto Bauer und dem späteren christsozialen Bundeskanzler Ignaz Seipel vorbereiteten Bericht für den Verfassungsausschuss der Konstituierenden Nationalversammlung folgte, dass der konstruierte österreichische Bundesstaat als ein aus Staaten zusammengesetzter Staat betrachtet werden soll. In diesem Bericht war die Rede von einem Oberstaat (Bund) und von Gliedstaaten (Länder), denen in gleichem Maße die Staatseigenschaft zukommt.159 Unter Berücksichtigung der politischen Geschichte Österreichs war die Anwendung des „klassischen“ staatenstaatstheoretischen Konzepts des Bundesstaates aber problematisch. Die österreichische Monarchie in ihren unterschiedlichen Gestaltungsvariationen stellte eine Verbindung mehrerer Teile dar, die schon vor ihrer Heranziehung zum österreichischen Staatswesen ein staatliches Leben besaßen und später über eine rechtlich eingeräumte Autonomie innerhalb des Gesamtstaates verfügten. Andererseits genossen die Völker Großösterreichs niemals eine eigene staatliche Organisation. Auch vor ihrer Eingliederung in das österreichische Staatswesen waren sie politisch und staatsrechtlich zersplittert und eine Rückkehr zur Idee der Gestaltung mehrerer Teilstaaten in Form einer lockeren staatsrechtlichen Verbindung würde diese Zerrissenheit nicht mindern, sondern wohl verschlimmern.160 Mit dem Zerfall des Kaiserreichs und der weitgehenden Verkleinerung des Staates Österreich entfielen die Voraussetzungen für eine Föderalisierung nach dem nationalen Prinzip. Es blieb nur der Weg der Errichtung eines staatsrechtlichen Föderalismus in der österreichischen Republik „von oben“. Die Idee der Föderalisierung der sog. Ersten Republik in Österreich traf jedoch auf Widerstand. Aus den Protokollen der Salzburger Länderkonferenz vom Februar 1920 ergibt sich, dass die SDAP strikt gegen die Bundesstaatlichkeit Österreichs war. Ihre Vertreter befürchteten, dass es zu einer „Zertrümmerung der ganzen Staatsverfassung und der Vereinheitlichung kommen würde“, wenn verfassungsrechtlich verankert wird, „daß die Landesversammlungen sich ihr Haus so einrichten, wie sie es brauchen“.161 Mit anderen Worten hielt die SDAP die Einräumung einer Verfassungsautonomie für die Länder mit daraus folgender Selbstorganisation als bedrohlich für die republikanische Gesamtordnung. Anderer Meinung waren die CSP und die GDVP, die für allgemeine Formulierungen der Bundesverfassung eintraten. So sollte bundesverfassungsrechtlich gesichert sein, dass „die Landesverfassungen nichts den Vorschriften der Bundesverfassung Zuwiderlaufendes enthalten, die Gesetzgebung von einem auf Grund des gleichen, geheimen, direkten und persön159 Vgl. Kulisch, Max, Die verfassungsgesetzliche Bezeichnung Österreichs als Bundesstaat, in: Wissenschaftliche Vierteljahrsschrift zur Prager Juristischen Zeitschrift, 1925, H. 2 – 3, S. 55 f. 160 Vgl. Seipel, Österreichische Verfassung, S. 18. 161 Zit. nach: Sima, Christian, Österreichs Bundesverfassung und die Weimarer Reichsverfassung. Der Einfluß der Weimarer Reichsverfassung auf die österreichische Verfassung 1920 bis 1929, Frankfurt a. M. 1993, S. 33.
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lichen Verhältniswahlrechts gewählten Landesparlament ausgeübt wird und die Landesregierung von diesem Landesparlament gewählt wird.“162 Hier kann man direkte Parallelen mit der entsprechenden Formulierung des Art. 17 I WRV ziehen. Die Christlichsozialen gingen davon aus, dass die österreichischen Länder selbständig seien, die Kompetenzen ausüben würden, die nicht dem Bund übertragen sind, und sich ihre Verfassungen selbst zu geben hätten. Hinsichtlich der Rechtsnatur der Verfassungsautonomie der Länder hatten die konservativen Parteien unterschiedliche Vorstellungen. Während die CSP nur eine Einschränkung der Verfassungsautonomie der Länder durch den Bund erlaubte, war die GDVP der Auffassung, dass die Verfassungsautonomie der Länder nur eine Ausführung der Grundsätze, die durch den Bund bezüglich der inneren Organisation der Länder bestimmt werden, darstellen sollte.163 Die ganz unterschiedlichen Herangehensweisen führten letztlich zu einem politischen Kompromiss mit dem Ergebnis der eigentümlich „österreichische[n] Prägung des Bundesstaates“.164 Das Bundesstaatsprinzip wurde im Bundes-Verfassungsgesetz vom 1. Oktober 1920 lakonisch formuliert: Nach Art. 2 B-VG ist Österreich ein Bundesstaat (Abs. 1), der aus den (individuell aufgezählten) selbständigen Ländern gebildet wird (Abs. 2). Im Unterschied zum Privatentwurf von Staatssekretär Mayr, der vorgesehen hatte, dass sich die selbständigen Länder der Republik Österreich zu einem freien Bundesstaat vereinigen, folgte aus Art. 2 II BVG nicht eindeutig, dass der Bundesstaat „Republik Österreich“ von den Ländern aufgrund ihrer Willensbildung ins Leben gerufen wurde.165 Mit der Verabschiedung des B-VG entstand rechtlich ein neuer Staat. Während im ersten Monat der Existenz Deutschösterreichs die Länder zum Beitritt zur jungen Republik seitens der Zentralorgane aufgefordert worden waren, fehlte ein solcher Mechanismus bei der faktischen Neugründung der österreichischen Republik und die Länder übten kaum Einfluss auf diesen politischen Prozess aus. Dieser Umstand führte zu der Schlussfolgerung, dass das neue Staatswesen nicht „von unten“ aufgebaut wurde, sondern es wurde unmittelbar „von oben“ dekretiert, dass nun ein Bundesstaat ausgerufen ist.166 Die Formulierung des Art. 2 II B-VG „wird gebildet aus“ bestätigt diese Behauptung vollkommen. Auf anderer Seite gab es die von einigen Ländern angestrebte Selbständigkeit. Das Ziel der Bundesverfassung war, sowohl die Einheit des Gesamtstaates als auch die Selbständigkeit seiner Teile, die von der staatlichen Einheit nicht bedingt, sondern nur beschränkt wird, zu gewährleisten. Anders als im Kaisertum und später in Deutschösterreich handelt es sich im Fall der B-VG nicht bloß um eine den Ländern eingeräumte Autonomie, sondern nun wird die Selbständigkeit der Gliedstaaten als die konstituierende Voraussetzung des österreichi162
Zit. nach: Sima, Österreichs Bundesverfassung und WRV, S. 33. Vgl. Sima, Österreichs Bundesverfassung und WRV, S. 34. 164 Ermacora, Felix, Österreichischer Föderalismus. Vom patrimonialen zum kooperativen Bundesstaat, Wien 1976, S. 59. 165 Vgl. Neschwara, Determinierung oder relative Autonomie?, S. 111. 166 Vgl. Seipel, Österreichische Verfassung, S. 74. 163
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schen Staatswesens anerkannt.167 Allerdings ist die Selbständigkeit der österreichischen Länder im Sinne des B-VG mit der staatlichen Souveränität nicht identisch. Während es in den Verfassungsentwürfen Kelsens um „souveräne (oder „selbständige“, um ein äquivalentes Adjektiv zu verwenden) Länder“ ging (Art. 1), die ihre Staatsgewalt dem Bund in bestimmten Angelegenheiten übertragen (Art. V K-E I + IV, Art. 7 K-E V, Art. 8 K-E II + III + IV), wurde im Privatentwurf von Mayr nur das Wort „selbständig“ verwandt, welches im Regierungsentwurf schlichtweg fehlte. Die Bundesverfassung übernahm den Wortlaut „selbständige Länder“, um einerseits eine andere, sich von autonomen Selbstverwaltungskörpern unterscheidende Stellung der österreichischen Länder hervorzuheben und andererseits deren Vergleichbarkeit mit echten Staaten auszuschließen. Die Beurteilung der staatsrechtlichen Natur der österreichischen Länder, ob diese Staatsqualität besitzen und über eine Verfassungsautonomie verfügen, kann sich nur aus der systematischen Analyse des Art. 2 B-VG mit anderen Verfassungsbestimmungen des 4. Hauptstücks „Gesetzgebung und Vollziehung der Länder“ (Art. 95 ff.) ergeben. Die in Art. 2 II B-VG postulierte Selbständigkeit der österreichischen Bundesländer erhält ihre inhaltliche Ausfüllung durch die Berechtigung der Länder zum Erlass eigener Landesverfassungen. Eine bloße bundesverfassungsrechtliche Anerkennung des Rechts der selbständigen Bundesländer auf Annahme eigener Grundgesetze bedeutet aber noch nicht, dass diese eine für echte Staaten charakteristische Gestaltungshoheit besitzen. Der Innsbrucker Staatsrechtsprofessor Max Kulisch schrieb, dass ungeachtet der Vielfalt der „positiven“ Begriffsbestimmungen des Staates die Staatswissenschaft zu einer einheitlichen Auffassung des „negativen“ Staatsbegriffs gelangt war, nach der keine Gebietskörperschaft ein Staat ist, wenn sie ihre ganze Organisation nicht selbst allein ändern darf. Gleichermaßen gilt dies auch für den Fall, dass einer Gebietskörperschaft von einer anderen nur ein Teil der Organisation überlassen wurde und dies unter der Maßgabe, dass „dieser Bestandteil ihrer Organisation nicht von ihr allein, sondern auch oder nur von einer anderen abgeändert werden darf.“168 Laut Art. 99 I B-VG kann die Landesverfassung durch das Landesverfassungsgesetz erlassen und abgeändert werden, nur insoweit dadurch die Bundesverfassung nicht berührt wird. Diese Verfassungsbestimmung zeigt, dass die Bundesverfassung nicht bloß eine inhaltliche Schranke der Landesverfassungsgesetzgebung, sondern ihre Geltungsgrundlage bildet. Daraus folgt, dass die Länder ihre Staatsorganisation durch den Oberstaat erhalten und über diese nicht nach eigenem Ermessen verfügen. Nach Kulischs Logik sind die Gebietskörperschaften, wenn diese ihre eigene Organisation nicht vollkommen beherrschen, keine Staaten und daher bildet Österreich keinen Bundesstaat.169
167 Vgl. Neschwara, Determinierung oder relative Autonomie?, S. 111; Pernthaler/Esterbauer, Der Föderalismus, S. 332. 168 Kulisch, Bezeichnung Österreichs als Bundesstaat, S. 57. 169 Kulisch, Bezeichnung Österreichs als Bundesstaat, S. 57 f.
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Ähnlicher Ansicht war Josef Lukas, seinerzeit Staatsrechtsprofessor österreichischer Herkunft in Münster. Er meinte ebenfalls, dass den österreichischen Ländern die Staatsqualität wegen des Nichtvorhandenseins der Fähigkeit zur Selbstorganisation fehlte. Anders als Kulisch stand Lukas nicht auf dem extremen Standpunkt, dass die Gebietskörperschaft, wenn sie über ihre innere Organisation nicht allein verfügt, überhaupt keinen Staat bilden soll. Danach wären auch die schweizerischen Kantone und die deutschen Länder keine Staaten. Lukas’ Erachtens fehlte den österreichischen Ländern die Fähigkeit zur Selbstorganisation deshalb, weil der Inhalt der Landesverfassungen allein durch die Bundesverfassung grundsätzlich vorbestimmt ist. Die Staatsorganisation der österreichischen Länder wird vom Oberstaat oktroyiert, während die Staatsorganisation der schweizerischen Kantone (Art. 6 II lit. b BVerf) und deutschen Reichsländer (Art. 17 I WRV) lediglich an das bundesverfassungsrechtliche Erfordernis gebunden ist. Unter Selbstorganisation verstand Lukas die Verfassungsgesetzgebung der Länder als Schaffung des eigenen Rechts. Obwohl die österreichischen Bundesländer das Landesrecht durch ihre Organe setzen, ist dieses von ihnen geschaffene Landesrecht nur das partikulare Recht des österreichischen Gesamtstaates, welches sich von dem entsprechenden Landesrecht der Kaiserzeit nicht sonderlich unterscheidet.170 Die Verankerung sowie die Änderung der Grenzen der Landesverfassungsautonomie steht allein dem Oberstaat zu. Daher erfährt die Landesgesetzgebung eine erhebliche Beschränkung im Sinne einer bloßen Ausführung des vom B-VG vorgegebenen „Grundrisses“. Die Landesverfassungen werden also lediglich zu „Ausführungsgesetzen“ unterhalb der Bundesverfassung; sie stellen keine genuin konstitutiven Akte der Länder dar.171 In Ermangelung der Fähigkeit zur Selbstorganisation bilden die österreichischen Länder keine Staatsgebilde, sie ähneln eher sehr komplexen Selbstverwaltungskörpern. Lukas solidarisierte sich weiter mit Kulisch und behauptete, dass Österreich ein bundesstaatsartiger Staat sei, dessen Organisation eher einem dezentralisierten Einheitsstaat entspricht.172 Nach Ludwig Adamovich sen., seinerzeit Staatsrechtsprofessor an der Universität Graz und Mitglied des Verfassungsgerichtshofes der Ersten Republik, war der Art. 2 B-VG als eine „programmatische Deklaration“ des Verfassungsgebers anzusehen, der Österreich als einen Bundesstaat einrichten wollte. Er verweigerte die theoretische Diskussion hinsichtlich der bundesstaatlichen Organisationsform Österreichs als für die Verfassungspraxis bedeutungslos, da sich das Verhältnis zwischen Bund 170 Vgl. Lukas, Josef, Bundesstaatliche und gliedstaatliche Rechtsordnung in ihrem gegenseitigen Verhältnis im Rechte Deutschlands, Österreichs und der Schweiz, in: Fleiner, Fritz/ Lukas, Josef/Richter, Lutz/Köttgen, Arnold (Hrsg.), Bundesstaatliche und gliedstaatliche Rechtsordnung, Verhandlungen der Tagung der deutschen Staatsrechtslehrer zu Frankfurt a. M. am 25. und 26. April 1929. Mit einem Auszug aus der Aussprache, Berlin und Leipzig 1929, S. 25 f., 38, 46 f. 171 Vgl. Neschwara, Determinierung oder relative Autonomie?, S. 113. 172 Vgl. Lukas, in: VVDStRL 6, S. 26; dazu auch Kulisch, Bezeichnung Österreichs als Bundesstaat, S. 58.
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und Ländern ausschließlich auf die positiven Vorschriften der Bundesverfassung stützt, welche die Republik Österreich als einen Bundesstaat anerkennt. Den normativen Inhalt des bundesstaatlichen Prinzips sah Adamovich sen. in zweifacher Hinsicht. Zum einen fand es seine Ausprägung in der Terminologie des B-VG: In Bezug auf sowohl den Bund als auch die Länder verwendet die Bundesverfassung die Ausdrücke „Staat“ und „staatlich“ in gleichem Maße. Zum anderen findet die Bundesstaatlichkeit ihre verfassungsrechtliche Gewährleistung in Art. 44 II a. F. BVG, nach dem die die Zuständigkeit der Bundesländer in Gesetzgebung oder Vollziehung einschränkenden Verfassungsgesetze sowie in den einfachen Gesetzen enthaltenen Verfassungsbestimmungen nur mit einer qualifizierten Zustimmung des Bundesrates angenommen werden dürfen. Zu den bundesverfassungsrechtlich „gesicherten“ Einrichtungen des Bundesstaates ordnete Adamovich sen. die Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern sowie die Beteiligung der Gliedstaaten an der oberstaatlichen Gesetzgebung durch die Einrichtung einer aus den Vertretern der Länder zusammengesetzten Parlamentskammer zu. Die Abschaffung einer dieser beiden Bestandteile der bundesstaatlichen Organisationsform könnte nur im Wege einer Gesamtänderung der Bundesverfassung erfolgen.173 Demgemäß betrifft diese bundesverfassungsrechtliche Garantie der Aufrechterhaltung des Bundesstaatsprinzips in Österreich die Staatsorganisation der Bundesländer in keiner Weise. Das erlaubt zu vermuten, dass das B-VG die Staatsorganisation der österreichischen Länder nicht als eine der konstitutiven Eigenschaften ihrer verfassungsrechtlichen Stellung betrachtet und sich das Recht auf innere Organisation der Bundesländer sowie die Bestimmung seines Umfanges voll und ganz vorbehält.
3. Das komplexe bundesstaatliche Homogenitätsgebot nach den Vorschriften des B-VG a) Allgemeines Konzept Mit der Annahme des B-VG im Herbst 1920 konnten die österreichischen Länder aus staatsrechtlicher Sicht eher als Staaten, Gliedstaaten eines Bundesstaates, denn als bloße Provinzen betrachtet werden. Dafür sprachen ihre relativ selbständige Gesetzgebungsgewalt und ihr Besitz eines großen Anteils der Verwaltung. Die Länder bildeten allerdings Teile eines staatsrechtlich einheitlichen Gebildes höherer Ordnung. Kraft des eigentümlichen Selbstbestimmungsrechts äußerten sich die Länder durch ihre (mehr ideologisch bedingten und symbolischen) Beitrittserklärungen für die Entstehung des neuen österreichischen Staates und beeinflussten
173 Vgl. Adamovich sen., Ludwig, Grundriss des österreichischen Staatsrechtes, 1. Aufl., Wien 1927, S. 50 f., ders., Grundriss des österreichischen Staatsrechtes, 2. Aufl., Wien 1932, S. 48 f.
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zumindest dessen Einheit.174 Im Rahmen eines Bundesstaates wäre die Staatseinheit eines aus selbständigen Teilen bestehenden Wesens nur durch die allgemein geltende verfassungsrechtliche Garantie erreicht. Den österreichischen Ländern als „Staaten im Sinne des Staatsrechts“ sollte gewöhnlich die Verfassungsautonomie zukommen. Der Sinn der Landesverfassungsautonomie besteht nicht nur darin, dass die Gliedstaaten ihre eigenen Verfassungen im Rahmen der Bundesverfassung erlassen, sondern diese auch ändern können.175 In Art. 99 I B-VG geht es genau um die Befugnis der Länder zur Änderung der von ihnen erlassenen Verfassungen durch das entsprechende Landesverfassungsgesetz. Die Verfassungsautonomie der Gliedstaaten ist aber nicht absolut und muss zwecks der Staatseinheit bundesverfassungsrechtlich eingeschränkt werden. Nach herrschender Meinung stellten die bundesverfassungsrechtlichen Vorschriften die Grundzüge für die österreichischen Landesverfassungen dar. Schon die meisten Verfassungsentwürfe der endgültigen österreichischen Bundesverfassung sahen nicht nur allgemeine Erfordernisse an die Verfassungsordnungen der Länder vor, sondern sie enthielten noch weitere grundlegende Bestimmungen, die ihrer Rechtsnatur nach ziemlich ausführlich waren. Nur der Tiroler Entwurf (TE) und der Verfassungsentwurf der Großdeutschen Partei (GDE) gingen von einem dezentralisierten Typus des geplanten Bundesstaates Österreich aus und verpflichteten den Oberstaat, die Landesverfassungen zu gewährleisten, wenn diese nicht gegen die Bundesverfassung verstoßen (Art. II TE, Art. 9 II, III GDE).176 Die Verfassungsautonomie der österreichischen Gliedstaaten wurde durch die normativen Vorschriften des 4. Hauptstücks des B-VG weitgehend beschränkt, die nicht bloße bundesverfassungsrechtliche Rahmenbedingungen für die gliedstaatlichen Ordnungen, sondern ein für die anderen Bundesstaaten (wie die Schweiz und Weimarer Republik) atypisches Eingreifen in den Gestaltungsspielraum der Bundesländer bildeten. Selbst Kelsen merkte (zusammen mit Merkl und Georg Froehlich) an, dass die durch die Bundesverfassung geregelten Grundzüge der Landesverfassungen vom Standpunkt des Bundesstaatsprinzips aus betrachtet „eine gewisse Anomalie“ darstellen; die Regelung der Verfassung der Gliedstaaten ist „eigentlich nicht Sache des Oberstaates“.177 Art. 99 I B-VG, der die Grundlage der Verfassungsautonomie der Länder bestimmte und vom gesetzestechnischen Standpunkt gesehen eine eigentlich überflüssige Vorschrift darstellte, setzt voraus, dass die Landesverfassung durch ein Landesverfassungsgesetz dann abgeändert werden kann, insoweit dadurch die Bundesverfassung nicht berührt wird. Mit anderen Worten kann eine Änderung in den Grundzügen der Landesverfassungsordnung nur unter Beachtung der Bundes174 Vgl. Merkl, Adolf, Staat und Länder (1920), in: Mayer-Maly, Dorothea/Schambeck, Herbert/Grussmann, Wolf-Dietrich (Hrsg.), Adolf Julius Merkl. Gesammelte Schriften, Zweiter Band: Verfassungsrecht, Völkerrecht. Erster Halbband, Berlin 2002, S. 280, 282. 175 Vgl. Kunz, Josef, Die Staatenverbindungen, Stuttgart 1929, S. 675. 176 Vgl. Sima, Österreichs Bundesverfassung und WRV, S. 31, 32. 177 Vgl. Kelsen, Hans/Merkl, Adolf/Froehlich, Georg, Die Bundesverfassung vom 1. Oktober 1920, Wien und Leipzig 1922, S. 194.
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verfassung erfolgen. Diese Änderung selbst kann wiederum durch ein verfassungsänderndes Bundesverfassungsgesetz geändert werden. Hier stellt sich indes die Frage, inwiefern der Oberstaat in die Landesverfassungsautonomie eingreifen kann.178 Durch eine so einschneidende Regel, bundesverfassungsrechtlich die Grundzüge der Verfassungsordnung der Gliedstaaten festzustellen, erhalten die Landesverfassungen die Rechtsnatur sog. Ausführungsgesetze zur Bundesverfassung (vgl. dazu auch ! S. 302 ff.).179 Anknüpfend an die Tradition des ersten verfassungsrechtlichen Versuchs der Umgestaltung des Kaisertums Österreich in einen Bundesstaat, was im § 111 KVE zum Tragen gekommen war, nach dem die durch konstituierende Landtage festzustellenden Landesverfassungen nur dann in Kraft treten sollten, wenn ihre Bestimmungen mit den in der Reichsverfassung aufgestellten Grundsätzen nicht im Widerspruch stehen, ließ Art. 99 I B-VG die Änderung der Landesverfassung (und logischerweise ihre ursprüngliche Verabschiedung aufgrund der Bundesverfassung) nur in dem Maße zu, dass die Bundesverfassung unberührt bleibt. Diese relativ allgemein formulierte Normativbestimmung dient als Grundlage für die innerstaatliche Homogenität. Im Interesse einer durchgreifenden Homogenität der gesamtstaatlichen Rechtsordnung werden gewisse Schranken in Bezug auf die Verfassungsautonomie der Gliedstaaten gesetzt. Das im 4. Hauptstück des B-VG anerkannte Recht der Bundesländer auf Selbstorganisation wird zugleich bundesverfassungsrechtlich beschränkt. Die Konkretisierung des Art. 99 I B-VG durch die weiteren Verfassungsvorschriften (Art. 95 ff. B-VG) erlaubt die Schlussfolgerung, dass die Organisation der österreichischen Gliedstaaten hauptsächlich von Bundes wegen vorbestimmt ist.180 Wie die anderen zeitgenössischen demokratischen Bundesverfassungen enthielt das österreichische B-VG das Prinzip der bundesstaatlichen Homogenität. Im Unterschied zur WRV, die in gewissem Maße als Vorbild für die endgültige Bundesverfassung der Ersten Republik galt, fand dieses Prinzip keine ausdrückliche und klare – wie es in Art. 17 I WRV der Fall war – normative Verankerung im B-VG. Mit anderen Worten wurde das Homogenitätsprinzip durch ein einfaches Homogenitätsgebot im B-VG nicht vertreten. Art. 99 I B-VG als die grundlegende Norm für die Staatsorganisation der österreichischen Bundesländer stellt eine Mischung dar aus einerseits dem Grundsatz der gesamtstaatlichen inneren Subordination, während die in ihrem Wirkungskreis selbständige Landesverfassungsordnung zusammen mit der oberstaatlichen Verfassungsordnung der Staatseinheit des Gemeinwesens dienen soll, und andererseits dem Grundsatz des Vorrangs des Bundesverfassungsrechts vor 178 Vgl. Kelsen/Merkl/Froehlich, Die Bundesverfassung, S. 194 f., 203; Kunz, Die Staatenverbindungen, S. 568, 675. 179 Vgl. Lukas, in: VVDStRL 6, S. 67. 180 Vgl. Adamovich sen., Ludwig, Der Kremsierer Entwurf und die österreichische Bundesverfassung, in: Österreichische Zeitschrift für öffentliches Recht, 1927, H. 4, S. 565 f.; Wittmayer, Leo, Österreichisches Verfassungsrecht, Berlin 1923, S. 7; Kulisch, Bezeichnung Österreichs als Bundesstaat, S. 57.
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dem Landesverfassungsrecht, welches allerdings anders als in der Deutschen Republik (Art. 13 I WRV: „Reichsrecht bricht Landrecht“) im B-VG keinen expliziten Niederschlag fand. Der Homogenitätsgrundsatz erhielt seine Ausprägung in den zahlreichen und ausführlichen Vorschriften des 4. Hauptstücks des B-VG, weshalb man im Fall der österreichischen Bundesverfassung von einem komplexen Homogenitätsgebot sprechen kann. Da das B-VG keine ausdrücklichen Homogenitätsklammern enthielt, konnten die grundlegenden Strukturprinzipien der Staatsorganisation auf Landesebene nur im Wege einer Systemanalyse der entsprechenden Bestimmungen der Bundesverfassung offengelegt werden. Nur einer der Verfassungsentwürfe erforderte von den zukünftigen Bundesländern eine freistaatliche Ordnung (Art. 9 I GDE).181 In Bezug auf die endgültige Verfassung ergab sich das Erfordernis an die demokratische und republikanische Ordnung der Bundesländer ohnehin aus dem Art. 1 S. 1 B-VG, nach dem Österreich eine demokratische Republik ist. Die endgültigen Landesverfassungen, die nach der Verabschiedung des B-VG angenommen worden waren, gingen von der Formulierung des Art. 2 II B-VG aus und bezeichneten den jeweiligen Gliedstaat bloß als „ein selbständiges (Bundes-)Land der [demokratischen] Republik (des Bundesstaates) Österreich“.182 Im Unterschied zu den Landesverfassungen der Weimarer Republik, in denen der Grundsatz der Freistaatlichkeit seine explizite Ausprägung fand (! S. 172 ff.), definierte nur die Vorarlberger Verfassung das Bundesland als einen selbständigen Staat, der alle Hoheitsrechte ausübt, die nicht ausdrücklich dem Bund übertragen sind (Art. 1 II LVerf), während die übrigen Landesverfassungen kein einziges Wort über die Staatsform des jeweiligen Landes enthielten. Ungeachtet dessen war Leo Wittmayer der Auffassung, dass die österreichischen Bundesländer im Rahmen des ihnen verbliebenen selbständigen Wirkungsbereichs (Art. 15 I B-VG) als „direktoriale Freistaaten“ mit dem Landeshauptmann an der Spitze der politischen Landesordnung gedacht waren. Bezüglich der Regierungsform wurde den Ländern eine „mittelbar auferlegte“ parlamentarische oder eine „halbparlamentarische“ Regierungsweise eingeräumt.183 Anders als Art. 17 I WRV betraf (und betrifft bislang) das komplexe Homogenitätsgebot des österreichischen B-VG nicht nur die Strukturprinzipien der Landesverfassungsordnung, aufgrund deren diese Ordnung durch das Landesverfassungsrecht konstituiert werden soll, sondern die gesamte Staatsorganisation der Bundesländer in dem Sinne, dass sie durch die bundesverfassungsrechtlichen Normativbestimmungen weitgehend vorherbestimmt wird. Da die zahlreichen Normen des 4. Hauptstücks des B-VG nicht bloß die Grundlagen der Verfassungsordnungen 181
Vgl. Sima, Österreichs Bundesverfassung und WRV, S. 32. Hier und weiter werden die Verfassungen der Länder der Ersten Republik zitiert nach: Adamovich sen., Ludwig (Hrsg.), Die Landesverfassungsgesetze. Mit erläuternden Bemerkungen und Verweisungen, 1. Aufl., Wien 1948; für Krnt und Slbg http://www.verfassungen.de/ at/; für Tirol http://alex.onb.ac.at/cgi-content/alex?aid=lgt&datum=1921&page=353&size=45 (Österreichische Nationalbibliothek). 183 Vgl. Wittmayer, Verfassungsrecht, S. 8, 17. 182
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der Länder, sondern deren innere Staatsorganisation unmittelbar regeln, kann man davon sprechen, dass das österreichische B-VG ein umfangreiches strukturelles Homogenitätsgebot vorsieht. Für die (relativ) selbständigen Gliedstaaten bildet die Fähigkeit zur eigenen Staatsorganisation ein wesentliches Element der Verfassungsautonomie. Die Landesverfassung bestimmt einerseits die materiellrechtliche Stellung der Landesorgane und die Grundformen ihrer gegenseitigen Wechselwirkung und andererseits ihre prozessrechtliche Stellung im Rahmen der Verfassungsordnung (bspw. das Gesetzgebungsverfahren) und die entsprechende Zusammenarbeit. Im Unterschied zu den Provinzen eines Einheitsstaates kommt den Gliedern eines Bundesstaates die Selbstorganisation zu. Daraus folgt, dass die Gliedstaaten über eigene Organe verfügen. Die Landesorgane sind nicht nur für den räumlichen, sondern auch den sachlichen Geltungsbereich der Gliedstaaten berufen. Diese sachliche Zuständigkeit der Landesorgane darf allerdings nicht „rein technisch-konstruktiv“ gedacht werden als eine einfache Befugnis der Ausführung von Landesrecht. Vielmehr muss diese „rechtstechnische“ Ausführungsaufgabe auf einen vom Oberstaat getrennten Willens- und Machtbereich des Gliedstaates begründet werden. Mit anderen Worten sind die Landesorgane für die Annahme der Rechtsakte von eigenem Rechts wegen kompetent. In dieser Hinsicht bilden die Landesorgane in keiner Weise Rechtsorgane im Sinne Staatslehre Kelsens (! S. 248 f.), sondern wirkliche Staatsorgane.184 Der aus dem Prinzip des Rechtsstaates abgeleitete Grundsatz der Gewaltentrennung gilt gleichermaßen bei der Gestaltung der Staatsorganisation der österreichischen Bundesländer. Aus der systematischen Verbundenheit des Art. 18 I BVG (Grundsatz der Gesetzmäßigkeit allen staatlichen Handelns) mit den einzelnen Vorschriften des 4. Hauptstücks des B-VG ergibt sich, dass die folgenden Staatsorgane bzw. Amtsträger die unentbehrlichen Elemente der gliedstaatlichen Organisation bilden: der Landtag als Gesetzgebungsorgan (Art. 95 I B-VG), die Landesregierung als vom Landtag zur Ausübung der Vollziehung berufenes oberstes Organ (Art. 101 I, III i. V. m. Art. 19 I B-VG) sowie der Landeshauptmann als eines der Mitglieder der Landesregierung, welcher das Land vertritt (Art. 105 I 1 i. V. m. Art. 101 III B-VG). b) Der Landtag aa) Rechtsnatur und Zusammensetzung Aufgrund der in der Bundesverfassung ausgerufenen Volkssouveränität (Art. 1 S. 2 B-VG) ist auch die Bevölkerung der österreichischen Bundesländer berufen, die ihr zustehenden Rechte auszuüben. Die Ausübung der Staatsgewalt folgt grundsätzlich durch das Repräsentativorgan, dem das Gesetzgebungsrecht zukommt. Die
184
Vgl. Kunz, Die Staatenverbindungen, S. 683; Nawiasky, in: VVDStRL 6, S. 63.
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Landesgesetzgebung umfasst alle Gegenstände, die nicht dem Oberstaat ausdrücklich zugewiesen sind (Art. 10 ff. B-VG).185 Im Unterschied zum deutschösterreichischen Staatsgrundgesetz, nach dem die einheitliche Legislative durch die Volksvertretung als Mehrheit von Organen (Reichs- und Landesparlamenten) ausgeübt worden war,186 wurde die gesetzgebende Gewalt der Bundesländer dem einzigen Organ – dem Landtag (im Verfassungsvorentwurf Kelsens als Landesversammlung bezeichnet) – anvertraut (Art. 95 I 1 BVG). Als Umsetzer des Volkswillens stellte der Landtag das wichtigste Organ auf Landesebene dar, dem allein die Gesetzgebung übertragen wird; daher ist die Delegation jedweder Art von Gesetzgebungsrecht an andere Stellen ausgeschlossen.187 In seiner Entwicklung ging das Gesetzgebungsrecht der österreichischen Länder von der obligatorischen Sanktionierung eines jeden Landesgesetzes durch den Kaiser bis zu einem suspensiven Veto (für bestimmte Fälle) und einer etwaigen Verweigerung der erforderlichen Gegenzeichnung seitens des Zentralstaates in Deutschösterreich aus. In der Bundesverfassung der Republik Österreich geht es selbstverständlich nicht um irgendeine Sanktion „von oben“. Obwohl der Oberstaat kein materielles Mitbestimmungsrecht an der Landesgesetzgebung hat, sind nach Art. 98 B-VG alle Gesetzesbeschlüsse der Landtage unmittelbar nach der Beschlussfassung des Landtages vor ihrer Kundmachung vom Landeshauptmann dem zuständigen Bundesministerium bekanntzugeben. Hat die Bundesregierung gegen einen Gesetzgebungsbeschluss des Landtages Bedenken, so kann sie innerhalb einer bestimmten Frist Einspruch erheben. Wenn der Landtag diesen Beschluss bei Anwesenheit von mindestens der Hälfte seiner Mitglieder wiederholt, muss der Gesetzesbeschluss bekanntgegeben werden. Einen weiteren Fall der Teilnahme des Bundes an der Landesgesetzgebung setzt Art. 97 II B-VG voraus. Insoweit ein Landesgesetz bei der Vollziehung die Mitwirkung von Bundesorganen vorsieht, muss zu dieser Mitwirkung die Zustimmung der Bundesregierung eingeholt werden. In der Stammfassung des B-VG galt die Nichterteilung dieser Zustimmung als quasi absolutes Veto der Bundesregierung, weil das betroffene Landesgesetz ohne ausdrückliche Zustimmung nicht bekanntgegeben werden konnte. Durch die B-VG-Novelle von 1925 wurde diese Regel erleichtert: Nun wurde die Bundesregierung an die achtwöchige Frist gebunden, im entgegengesetzten Fall, wenn sich die Bundesregierung nicht ausdrücklich gegen den Gesetzesbeschluss geäußert bzw. Schweigen gewahrt hatte, konnte der Gesetzesbeschluss nach dem Ablauf dieser Frist bekanntgegeben werden. Die beiden bundesverfassungsrechtlichen Vorschriften bilden in gewissem Maße ein suspensives Veto der Bundesregierung gegen die Landesgesetze. Obwohl Merkl der Ansicht war, dass diese Normen des B-VG keinen Eingriff in die Verfassungsautonomie der österreichischen Länder darstellten, weil der Bund eine solche Inanspruchnahme nur in dem Fall verwenden würde, wenn er die wirkliche Gefährdung 185 Vgl. Frisch, Hans, Lehrbuch des österreichischen Verfassungsrechtes, Wien 1932, S. 135. 186 Vgl. Merkl, Staat und Länder, S. 285. 187 Vgl. Kelsen/Merkl/Froehlich, Die Bundesverfassung, S. 195.
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von Bundesinteressen durch ein Landesgesetz vermutet,188 wäre eine solche Teilnahme des Oberstaates an der Gesetzgebung der Gliedstaaten in Deutschland nicht denkbar, wo die Länder als selbständige (souveräne) Teileinheiten des Bundesstaates mit einem gewiss freien Gestaltungsspielraum ausgerüstet sind. Hier trat die alte österreichische Staatstradition der Zentralisierung in Erscheinung. In Anlehnung an das klassische Erfordernis an die Homogenität der Wahlrechtsgrundsätze stellte das B-VG die Grundsätze für die Zusammensetzung der Landtage auf, welche aber die Verfassungsautonomie der Gliedstaaten eng begrenzen. Den österreichischen Bundesländern wurde die Zusammenstellung der Landtage aufgrund des gleichen, unmittelbaren, geheimen und persönlichen Verhältniswahlrechts aller nach den Landtagswahlordnungen wahlberechtigten männlichen und weiblichen Bundesbürger vorgeschrieben (Art. 95 I 2 B-VG). Die Landtagswahlordnungen durften die Bedingungen des aktiven und passiven Wahlrechts nicht enger ziehen als die Wahlordnung zum Nationalrat (Art. 95 II i. V. m. Art. 26 I B-VG). Daraus folgte die bundesverfassungsrechtliche Verpflichtung der Länder, ihre Wahlsysteme auf dem Grundsatz der Verhältniswahl zu begründen. Seiner Rechtsnatur nach ist der Landtag ein ausschließlicher allgemeiner Vertretungskörper auf Landesebene, dem allein das Gesetzgebungsrecht zusteht. Die Überlassung dieses Rechts an eine andere Stelle, auch an eine repräsentative Stelle, ist in der Logik des B-VG nicht zulässig. Dafür spricht auch das Erfordernis des Verhältniswahlrechts bei der Zusammensetzung des Landtages. Dies bedingte nach herrschender Meinung die Verankerung eines eindeutigen Einkammersystems in den österreichischen Ländern.189 Die ursprüngliche Fassung des B-VG überließ die Feststellung der Zahl der Landtagsabgeordneten den Bundesländern. In Art. 95 III 2 B-VG ging es um das allgemeine Erfordernis an die Länder, dass die Zahl der Abgeordneten auf die Wahlkreise im Verhältnis zur Bevölkerungszahl zu verteilen sei. Durch die B-VGNovelle von 1929 wurde Art. 95 um einen neuen Abs. 4 ergänzt, welcher einheitliche Regelungen bezüglich der nach der Bevölkerungszahl der einzelnen Länder abgestuften Höchstzahl der Mandate brachte. Der Grund für diese die Verfassungsautonomie der Bundesländer einschränkende Maßnahme seitens des Oberstaates lag darin, dass die Länder bei der Festsetzung der Abgeordnetenzahl die Vorschrift des Art. 95 III 2 B-VG ignorierten und diese tatsächlich in keinem Verhältnis zur Bevölkerungszahl stand.190 Obwohl diese neue bundesverfassungsrechtliche Vorschrift 188 Vgl. Merkl, Adolf, Die Verfassung der deutschösterreichischen Republik (1922), in: Mayer-Maly, Dorothea/Schambeck, Herbert/Grussmann, Wolf-Dietrich (Hrsg.), Adolf Julius Merkl. Gesammelte Schriften, Zweiter Band: Verfassungsrecht, Völkerrecht. Erster Halbband, Berlin 2002, S. 479 f.; ders., Die deutschösterreichische Bundesverfassung (1921), in: MayerMaly, Dorothea/Schambeck, Herbert/Grussmann, Wolf-Dietrich (Hrsg.), Adolf Julius Merkl. Gesammelte Schriften, Zweiter Band: Verfassungsrecht, Völkerrecht. Erster Halbband, Berlin 2002, S. 295; ders., Staat und Länder, S. 288. 189 Vgl. Wittmayer, Verfassungsrecht, S. 8; Adamovich sen., ÖZÖR 1927, S. 565. 190 Vgl. Adamovich sen., Grundriss I, S. 157; ders., Grundriss II, S. 149.
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das Ermessen der Länder beschränkt hatte, war sie nicht einheitlich, sondern den Gliedstaaten blieb durch die Feststellung der von der Bevölkerungszahl bedingten Höchstzahlen ein Handlungsspielraum.191 Für die Länder mit bis zu 250.000 Einwohnern durfte die Höchstzahl der Mandate 26 betragen, bis zu 500.000 Einwohnern 36 Mandate, bis zu 1.000.000 Einwohnern 48 Mandate und bis zu 1.500.000 Einwohnern 56 Mandate. Dementsprechend wurde die Zahl der Landtagsabgeordneten herabgesetzt in NÖ von 60 auf 56, in OÖ von 60 auf 48, in Krnt von 42 auf 36, in Tirol von 40 auf 36 sowie in Vbg von 30 auf 26. In Bgld und Slbg blieb die Mandatszahl gleich (36 bzw. 26). Für Wien wurde die Höchstzahl der Abgeordneten des Gemeinderates, der zugleich die Funktion des Landtages ausübt, statt 120 auf 100 festgesetzt (Art. 108 B-VG i. V. m. Art. II § 20 des Übergangsgesetzes 1929).192 Durch diese Vorschriften griff allerdings der Oberstaat in den dank der Verfassungsautonomie gewährleisteten Gestaltungsspielraum der Gliedstaaten ein. Die nicht stringent durchdachte Auffassung, nach der die Bundesverfassungsänderung keine einheitliche Regel vorschrieb, sondern bloß eine an die Bevölkerungszahl gebundene Obergrenze für die Zahl der Mandatsträger in den Landtagen einführte, widerspricht der Tatsache, dass durch die entsprechenden bundesverfassungsrechtlichen Normen der Autonomie der Bundesländer bei der Zusammensetzung ihrer Vertretungsorgane viel engere Grenzen gezogen wurden. bb) Legislaturperiode der Landtage Die kontinuierliche demokratische Legitimation der Staatsgewalt entsteht durch die periodischen Parlamentswahlen. Da das B-VG keine ausdrückliche Vorschrift dazu enthält, gingen die österreichischen Länder davon aus, dass sie im Rahmen des strukturellen Homogenitätsgebotes berechtigt sind, die regelmäßige Dauer der Legislaturperiode selbständig zu bestimmen. So betrug die Gesetzgebungsperiode im Bgld (Art. 12 I LVerf), in Krnt (§ 16 I LVerf), der Stmk (§ 10 I 1 LVerf) und in Tirol (§ 9 I 1 LVerf) 4 Jahre, in NÖ (Art. 12 S. 1 LVerf), Slbg (Art. 14 LVerf), Vbg (Art. 9 I LVerf) und Wien (§ 15 I i. V. m. § 116 II LVerf) 5 Jahre und nur in OÖ 6 Jahre (Art. 12 I LV). Die Landtagsabgeordneten schieden im Normalfall mit Ablauf der regelmäßigen Gesetzgebungsperiode aus ihrem Amt aus. Die Legislaturperiode des Gesetzgebungsorgans konnte aber auch vorzeitig beendet werden. Alle Verfassungen der österreichischen Bundesländer verankerten das Recht des Landtages auf Selbstauflösung. Im Bgld, in NÖ, OÖ (in allen Art. 14 LVerf) und Wien (§ 15 II LVerf) erfolgte dies durch einfaches Gesetz (mit dem entsprechenden Stimmenquorum), in den übrigen Ländern reichte ein einfacher Beschluss des Vertretungsgremiums. Mit anderen Worten waren die Landtage an die erschwerenden Voraussetzungen für die Selbstauflösung verfassungsrechtlich nicht gebunden. 191 192
Vgl. Frisch, Lehrbuch, S. 136. Vgl. Frisch, Lehrbuch, S. 136 (besonders Fn. 1 f.); Adamovich sen., Grundriss II, S. 149.
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Eigentümlich für das österreichische B-VG und fremd für die anderen Bundesverfassungen war die Möglichkeit der vorzeitigen Auflösung des Landesparlaments durch den Bund, was Kelsen (zusammen mit Merkl und Froehlich) vom Standpunkt der Bundesstaatsidee aus als „recht ungewöhnlich“ bezeichnete.193 Die Auflösung des Landtages durch den Oberstaat wurde allerdings an schwer erfüllbare Bedingungen gebunden. Art. 100 I 1 B-VG schrieb vor, dass jeder Landtag auf Antrag der Bundesregierung mit Zustimmung des Bundesrates vom Bundespräsidenten aufgelöst werden kann. Demgemäß sind am Auflösungsverfahren drei Bundesorgane teilzunehmen: die Bundesregierung als Antragsteller; der Bundesrat als Vertretungsorgan der Interessen der Bundesländer, dessen Zustimmung bei Anwesenheit der Hälfte der Mitglieder und mit einer Mehrheit von zwei Dritteln der abgegebenen Stimmen beschlossen werden muss (Art. 100 I 2 B-VG); dabei dürfen die Vertreter des Landes, dessen Landtag aufgelöst werden soll, an der Abstimmung im Bundesrat nicht teilnehmen (Art. 100 I 3 i. d. F. B-VG-Novelle von 1929); und der Bundespräsident, der nach der erteilten Zustimmung des Bundesrates den Landtag auflösen muss. Um diesen aus Sicht des reinen Bundesstaatsprinzips extrem fragwürdigen Mechanismus der Teilnahme des Bundes an der gliedstaatlichen Organisation zu rechtfertigen, wurde der politisch „bedeutungslose“ Bundesrat, der eigentlich die Länder vertreten und deren Interessen beim Bund wahren soll, ausnahmsweise in dieses „bundesexekutive“ Verfahren involviert.194 Interessanterweise kann aber die Legitimität der Entscheidung des Bundesrates in Frage gestellt werden, weil an der Abstimmung nicht alle seine Mitglieder teilnehmen können, d. h. ein Teil der Bundesratsmitglieder verfassungsrechtlich an seinen Rechten als Parlamentarier gehindert wird.195 Art. 100 B-VG bildet ein Beispiel der zwangsweisen Auflösung des Landesparlaments gegen den Willen der Mehrheit seiner Mitglieder. Das Bundesstaatsprinzip erkennt das Instrument der Bundesexekution an, die Rechtsnatur der entsprechenden Regelung des österreichischen B-VG wird nicht in Frage gestellt. Strittig sind aber die Gestaltung der Normenkette und ihre Relevanz. Im österreichischen Beispiel fehlt eine genaue Auflistung der Gründe für die Auflösung des Landesparlaments durch die zuständigen Bundesorgane. Adamovich sen. war der Auffassung, dass als Grund für eine Auflösung des Landesparlaments selbstverständlich nur ein inkonformes, mit den Interessen des Gesamtstaates unvereinbares Verhalten des Landtages gelten darf, wenn das Landesparlament bspw. seine bundesverfassungsrechtlich bestimmte Kompetenz andauernd überschreitet.196 Dieser allgemein formulierte Grund für die seitens des Oberstaates zwangsweise Auflösung des Landesparlaments ist kaum zu bezweifeln. Problematisch ist aber, dass das österreichische B-VG keine expliziten Voraussetzungen für die Einleitung des 193 194 195 196
Vgl. Kelsen/Merkl/Froehlich, Die Bundesverfassung, S. 214. Vgl. Pernthaler/Esterbauer, Der Föderalismus, S. 336. Vgl. Kelsen/Merkl/Froehlich, Die Bundesverfassung, S. 215. Vgl. Adamovich sen., Grundriss I, S. 77; ders., Grundriss II, S. 71 f.
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Auflösungsverfahrens enthält, der Bund verfügt in diesem Fall faktisch geradezu über ein unbegrenztes Ermessen. Man kann vermuten, dass die zuständigen Bundesorgane, sofern sie nicht an formalrechtliche Voraussetzungen gebunden sind, eine vorzeitige Beendigung der Legislaturperiode des Landtages in dem Fall anstreben könnten, wenn sie mit dem Widerspruch dieses Landtages gegen die parteipolitische Bundespolitik unzufrieden sind (eine solche Konstellation wäre durchaus denkbar, wenn in dem betreffenden Bundesland eine Partei regiert, während die Bundesregierung und die Mehrheit im Nationalrat zu einer anderen politischen Partei gehören, welche die Positionen der konkurrierenden Partei im Land verhindern möchte). Im Grunde genommen kann sich dieses schrankenlose „bundesexekutive“ Recht auf zwingende Auflösung des Landesparlaments auf die Funktionsfähigkeit der gesamten Organisation des Gliedstaates auswirken und die Landesverfassungsautonomie gefährden. c) Die Landesregierung aa) Landesverwaltung und parlamentarische Regierungsform der Länder Zusammen mit der Gesetzgebung gehört die Verwaltung zu den tragenden staatlichen Funktionen. Das Bundesstaatsprinzip fordert eine Trennung von Bundesund Landesverwaltung. Aus dem systematischen Zusammenhang der in den Art. 101 I, III und Art. 19 I B-VG enthaltenen Rechtsnormen folgt, dass die Landesregierung als eines der obersten Vollzugsorgane zur Ausübung der Landesvollziehung berufen ist. In diesem Sinne ist die Landesregierung für das Gebiet des jeweiligen Bundeslandes das oberste Vollzugsorgan in allen Angelegenheiten, die bundesverfassungsrechtlich in den selbständigen Wirkungskreis der Länder fallen.197 Dies bezweifelte Merkl, der davon ausging, dass die Gesetzgebungskompetenz auf einem bestimmten Gebiet keineswegs notwendig mit der Vollziehungskompetenz auf demselben Gebiet korreliert. Seiner Ansicht nach ist die Auffassung völlig unzutreffend, dass die Teilung der Verwaltungsagenden(-angelegenheiten) auf die Bundes- und Landeskompetenz (nach Art. 10 ff. B-VG als Bundes- und Landessachen) infolge ihrer funktionellen Zuordnung einem Organ, das für die Vollziehung dieser Verwaltungsagenden zuständig ist, erfolgt. Die daraus folgende Annahme, dass die Verwaltungstätigkeit der Bundesorgane ausschließlich die Bundesverwaltung und die Verwaltungstätigkeit der Landesorgane dementsprechend die Landesverwaltung bildet, wäre im Sinne der österreichischen Bundesverfassung schlichtweg unzutreffend. Der Gehalt der Bundes- bzw. Landesverwaltung wird durch das Kriterium der Funktion abgeleitet. In diesem Sinne ist die Bundesverwaltung der Inbegriff der Verwaltungsfunktionen, die in die Bundeskompetenz, die Landesverwaltung entsprechend der Inbegriff der Verwaltungsfunktionen, die in die Landeskompetenz fallen. Es mag so scheinen, dass nach dem Wortlaut des Art. 101 I B-VG die Voll197
Vgl. Adamovich sen., Grundriss I, S. 177, 179; ders., Grundriss II, S. 170.
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ziehung aller Landesgesetze allein der Landesregierung anvertraut ist und demzufolge wohl auch (da die Landesregierung – anders als der Landeshauptmann – ausschließlich zur Landesverwaltung berufen ist) aus dieser Verfassungsvorschrift die Zuordnung der Vollziehung von Landesgesetzen als Landessache erfolgt. Merkls Ansicht nach bedeutete die Formulierung des Art. 101 I B-VG „Die Vollziehung jedes Landes übt eine vom Landtag zu wählende Landesregierung aus“ keineswegs, dass die Vollziehung eines Landes nur dann erfolgt, wenn ein beliebiges Landesgesetz nicht bloß vorhanden ist, sondern wenn dieses die Landesvollziehung unmittelbar betrifft. Nur in diesem Fall wäre die Landesregierung zur Ausübung der Vollziehung berufen.198 Diese Auffassung, dass ein Landesgesetz zu seiner Vollziehung abweichend von der bundesstaatlichen Kompetenzverteilung andere als die Landesorgane befugt, bestätigte auch der österreichische VfGH. Wie ausgehend vom Art. 97 II B-VG kann ein Landesgesetz bei der Vollziehung die Mitwirkung von Bundesorganen vorsehen (die Bundesregierung muss aber dafür ausdrücklich zustimmen). In diesen Fällen übernehmen die Bundesorgane die einzelnen Funktionen des Landesvollzugs. Man kann hier somit von der Einrichtung einer „mittelbaren“ Landesverwaltung sprechen.199 Grundsätzlich verfügt die Landesregierung als eines der obersten Organe der Vollziehung über ein Monopol in den Verwaltungsangelegenheiten auf dem Territorium des jeweiligen Landes. Aus dem Wortlaut des Art. 101 I B-VG („eine vom Landtag zu wählende Landesregierung“) folgt nach herrschender Meinung auch, dass in den österreichischen Bundesländern ausschließlich das parlamentarische Regierungssystem eingeführt werden darf. Diese Regierungsweise wird durch das demokratische Verfassungsprinzip garantiert, welches vom B-VG vorbildlich als eine repräsentative Demokratie verstanden wird. Die Rechtserzeugung erfolgt hauptsächlich nicht direkt durch das Volk, sondern durch die von ihm gewählten Vertreter in den Parlamenten auf Bundes- und Länderebene, und diese repräsentativen Gremien wählen die obersten Vollzugsorgane. Indirekt sprach dafür auch die ursprüngliche Fassung (bis B-VG-Novelle von 1929) des Art. 19 I B-VG, nach der mit der Vollziehung von Bundes- und Landeskompetenzen die Volksbeauftragten (zu denen zählten auch die Mitglieder der Landesregierungen) betraut wurden, die von den Vertretungen des Volkes im Bund und in den Ländern bestellt wurden.
198
Vgl. Merkl, Adolf, Die verfassungsrechtlichen Grundlagen der österreichischen Verwaltung (1921), in: Mayer-Maly, Dorothea/Schambeck, Herbert/Grussmann, Wolf-Dietrich (Hrsg.), Adolf Julius Merkl. Gesammelte Schriften, Zweiter Band: Verfassungsrecht, Völkerrecht. Erster Halbband, Berlin 2002, S. 369, 370, 371. 199 Vgl. VfSlg 720/1926; dazu auch Adamovich sen., Grundriss I, S. 181 (besonders Fn. 1); ders., Grundriss II, S. 171 (Fn. 1).
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bb) Zusammensetzung der Landesregierung Gemäß Art. 101 III B-VG besteht die Landesregierung aus dem Landeshauptmann, der erforderlichen Zahl seiner Stellvertreter und weiteren Mitgliedern. Die Bestimmung des Amtstitels der Regierungsmitglieder ist der Landesverfassungsgesetzgebung überlassen, soweit der Bund von dem ihm durch Art. 21 V a. F. B-VG eingeräumten Recht auf Festsetzung einheitlicher Amtstitel für die Landesorgane keinen Gebrauch macht. Ungeachtet der Nichtanwendung der Norm des Art. 21 V a. F. B-VG in der Zeit der Ersten Republik erhielten die üblichen Regierungsmitglieder in allen Ländern (außer Wien) die faktisch einheitliche Amtsbezeichnung „Landesräte“. Gleichermaßen wurde die Frage nach der konkreten Zahl der Regierungsmitglieder den Landesverfassungen freigestellt. Alle Verfassungsentwürfe von Kelsen und Mayr enthielten zwar eine Bestimmung, nach der die Landesregierung „aus dem Landeshauptmann, seinem Stellvertreter und … bis … weiteren Mitgliedern [Besitzern]“ (in Mayrs offiziellem Entwurf ging es um „aus einem bis drei weiteren Mitgliedern“) bestehen sollte; d. h., die Zahl der Regierungsmitglieder und das Vorhandensein nur eines Stellvertreters des Landeshauptmannes sollte durch die endgültige Bundesverfassung verankert werden. Das B-VG sah jedoch von dieser einschränkenden Regelung ab und ließ den Ländern bezüglich der Einrichtung ihrer Regierungen völlig freie Hand. Der Grund für den Verzicht der Bundesverfassung auf eine solche Begrenzung der maximalen Zahl der Regierungsmitglieder lag in den Bedenken, dass dieses bundesverfassungsrechtliche Erfordernis ein Eingreifen in die Verfassungsautonomie der Länder darstellen konnte. Eine kritische Auffassung zu der den Ländern durch das B-VG gebotenen Möglichkeit, die Zahl der Regierungsmitglieder nach eigenem Ermessen festzusetzen, vertrat Adamovich sen. Unter Berücksichtigung des in Anlehnung an die Genfer Protokolle von 1922 angenommenen Reform- und Finanzprogramms, laut dem sich die Bundesregierung verpflichtete, die Herabsetzung der Zahl der Regierungsmitglieder in den einzelnen Bundesländern auf das mögliche Mindestmaß zu veranlassen (Punkt 23), wies Adamovich sen. darauf hin, dass viele österreichischen Länder den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz nicht befolgten und die Landesregierungen unabhängig von der Bevölkerungszahl gestalteten.200 Die Landesverfassungen gingen dabei tatsächlich von einem ganz eigenen Verständnis aus. Die Zahl der Regierungsmitglieder unterschied sich nach der hier vertretenen Auffassung von Land zu Land allerdings nicht so stark und dramatisch. Die Landesregierung im Bgld bestand aus sechs Mitgliedern (dem Landeshauptmann, einem Stellvertreter und vier Landesräten); in Krnt aus einem Landeshauptmann und vier Landesräten, von denen einer gegebenenfalls das Amt des Landeshauptmann-Stellvertreters ausübte; in NÖ aus sieben Mitgliedern (dem 200 Vgl. Adamovich sen., Ludwig, Zur Frage der verfassungsmäßigen Organisation der Landesverwaltung in Österreich, in: Zeitschrift für Verwaltung, 1923, H. 2 – 3, S. 34 f., 36.
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Landeshauptmann, zwei Stellvertretern und vier Landesräten); in OÖ und in der Stmk aus neun Mitgliedern, entsprechend aus dem Landeshauptmann und acht weiteren Mitgliedern bzw. dem Landeshauptmann, zwei Stellvertretern und sechs Landesräten); in Slbg aus fünf Mitgliedern (dem Landeshauptmann, zwei Stellvertretern und zwei Landesräten); in Vbg aus sieben Mitgliedern (dem Landeshauptmann, einem Stellvertreter mit dem Titel „Landesstatthalter“ und fünf Landesräten); in Tirol (seit 1927) konnte die Landesregierung aus fünf bis sieben Mitgliedern bestehen (dazu zählten der Landeshauptmann, sein Stellvertreter, drei ständige Landesräte und zwei weitere nichtständige Mitglieder, welche nur an den kollegialen Beratungen der Landesregierung teilnehmen konnten). Im Bundesland Wien übernahm der Stadtsenat die Funktion der Landesregierung, der Bürgermeister die Funktion des Landeshauptmannes und zwei Vizebürgermeister die Funktion seiner Stellvertreter (Art. 108 I i. d. F. B-VG-Novelle von 1929 i. V. m. §§ 137 und 36 III WStV). Die konkrete Zahl der Mitglieder des Wiener Stadtsenates bestimmt der Gemeinderat (Landtag) für die Dauer der Legislaturperiode; diese muss aber (außer dem Bürgermeister und seinen Stellvertretern) mindestens neun betragen (§ 36 I 1, II WStV).201 Durch die B-VG-Novelle von 1925 wurde allerdings der Mechanismus der Stellvertretung des Landeshauptmannes vereinheitlicht. Art. 105 I B-VG wurde um Normen ergänzt, nach denen der Landeshauptmann durch das von der Landesregierung aus ihrer Mitte bestimmte Mitglied vertreten wird; diese Bestellung ist dem Bundeskanzler zur Kenntnis zu bringen. Bezüglich der Zahl der Stellvertreter legten die Länder die bundesverfassungsrechtliche Vorschrift auf unterschiedliche Weise aus. Wie oben gezeigt wurde, war der Landeshauptmann in fünf Ländern durch ein Regierungsmitglied vertreten, in vier Ländern hatte er zwei Stellvertreter. Das Erfordernis der Bundesverfassung nach der obligatorischen Stellvertretung des Landeshauptmannes, welche der Bundesregierung mitgeteilt werden muss, entspricht naturgemäß dem Institut der mittelbaren Bundesverwaltung, welche dem Landeshauptmann als dem Hauptverantwortlichen für ihre Durchführung anvertraut wurde (Art. 103 I i. V. m. Art. 105 I 2 B-VG); im Fall seiner Verhinderung sollte es für die Bundesregierung eine klare Information darüber geben, wer von den Mitgliedern der Landesregierung die Verantwortung für die Ausübung der mittelbaren Bundesverwaltung auf dem Territorium des jeweiligen Landes übernehmen soll. Daraus folgte, dass neben dem vom Landtag gewählten Landeshauptmann-Stellvertreter ein weiteres Regierungsmitglied mit der Funktion der Stellvertretung in den Angelegenheiten der mittelbaren Bundesverwaltung berufen werden konnte. Deswegen hatten einige Landeshauptmänner zwei Stellvertreter.202 Bezüglich der Zusammensetzung der Landesregierung enthält das B-VG nur wenige Einzelheiten. Die Bestellung der Landesregierung muss aufgrund einer Wahl 201
Vgl. auch: Adamovich sen., Grundriss II, S. 196. Vgl. Adamovich sen., Ludwig, Die Reform der österreichischen Bundesverfassung, in: Österreichische Zeitschrift für öffentliches Recht, 1926, H. 2, S. 240. 202
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durch den Landtag erfolgen (Art. 101 I B-VG). Einer der Verfassungsvorentwürfe Kelsens forderte, dass die Wahl des Landeshauptmannes und seiner Stellvertreter einer Bestätigung durch die Bundesregierung bedürfen sollte (Art. 96 IV K-E II). Die endgültige Bundesverfassung übernahm diese Vorschrift aber nicht. Sie stellte nur an die Mitglieder der Landesregierung die Forderungen zur Wahlfähigkeit, dass diese dem Landtag nicht angehören müssen, aber zu diesem wählbar sind (Art. 101 II BVG). Eine genauere Ausgestaltung des Wahlverfahrens wurde vollkommen dem Landesgesetzgeber überlassen. Die Entscheidung der Länder für die konkrete Art der Zusammensetzung der Landesregierung bedingte die verfassungsrechtliche Stellung dieses Organs im Machtsystem auf Landesebene. Die Regierungsvorlage der definitiven Bundesverfassung bestimmte, dass die Landesregierung vom Landtag nach dem Mehrheitswahlprinzip zu wählen sei (§ 55 I RegVorl Schobers). Dieser Vorschlag wurde von der SDAP aus wahltaktischen Gründen bedingungslos abgelehnt, weil damit das Kabinett von den in den Ländern dominierten bürgerlichen Parteien allein ohne Teilnahme der Sozialdemokraten gebildet werden konnte.203 Nur Vorarlberg, Tirol und teilweise Wien entschieden sich für das Mehrheitswahlsystem bei der Zusammensetzung der Landesregierung. In Vorarlberg mussten der Landeshauptmann, der Landesstatthalter und die Landesräte vom Landtag in separaten Wahlgängen mit „unbedingter Stimmenmehrheit“ (d. h. absoluter Mehrheit) gewählt werden (Art. 29 LVerf). Die Mitglieder der Tiroler Landesregierung wurden vom Landtag mit einfacher Stimmenmehrheit gewählt (§ 27 V 1 i. d. F. LVerf-Novelle von 1927). In Wien war ein eigenartiges kombiniertes Wahlsystem vorhanden. So wurde der Bürgermeister als Landeshauptmann in einem besonderen Wahlgang mit einfacher Stimmenmehrheit gewählt (§ 33 WStV). Die weiteren Mitglieder der Landesregierung (Stadträte) wurden nach dem Verhältniswahlprinzip aufgrund der Wahlvorschläge der Parteien gewählt (§ 36 I WStV). Zwischen den zu wählenden Stadträten wurden in einem besonderen Wahlgang zwei als Vizebürgermeister gewählt, wobei das eine Mandat an die stärkste und das andere Mandat an die zweitstärkste Partei gehen musste, sofern die letzte Partei über mindestens ein Drittel der Mandate im Landtag verfügt (§ 36 III, IV WStV).204 Die übrigen österreichischen Länder (also die Mehrheit) machten von dem Verhältniswahlsystem (den sog. Proporz) für die Durchführung der Wahl der Landesregierung Gebrauch. Die Dominanz des Proporzsystems auf Landesebene bildete bis vor wenigen Jahren eine Besonderheit des österreichischen Bundesstaatsmodells. Der Sinn des Proporzes besteht kurz gesagt darin, dass die im Landesparlament vertretenen Parteien entsprechend ihrer Größenordnung auch in der Landesregierung vertreten sein müssen.205 Die Umsetzung des Proporzsystems auf Landesebene kritisierte Adamovich sen. seinerzeit sehr heftig. Im Unterschied zu einer nach dem 203 204 205
Vgl. Sima, Österreichs Bundesverfassung und WRV, S. 35, 36. Vgl. dazu Adamovich sen., Grundriss II, S. 197. Vgl. Bußjäger, Peter, Proporz, in: Vorarlberger Nachrichten v. 02. 06. 2017.
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Mehrheitswahlprinzip zusammengesetzten Regierung, die mit dem Vertrauen von zwei oder mehreren Koalitionsparteien gebildet ist und daher als einheitliches Staatsorgan gegenüber dem Parlament sowie nach außen hin selbständig auftreten kann, hat eine nach dem Grundsatz der Verhältniswahl vom Landtag bestellte Regierung eine völlig andere Stellung: In diesem Fall verwandelt sich die Landesregierung faktisch in einen Vollzugsausschuss des Landesparlaments, der nur im Auftrag des parlamentarischen Gremiums und nach dessen Weisungen als sein Bevollmächtigter handelt. Eine solche Landesregierung ist kein oberstes Vollzugsorgan mit eigenem Willen, sie bildet eher ein Abbild des Parlaments mit seinen politisch bedingten Meinungsverschiedenheiten, was der Funktionsfähigkeit und Autorität der Regierung schadet.206 Adamovich sen. war der Auffassung, dass die Bundesverfassung der Landesregierung eine andersartige verfassungsrechtliche Stellung zweifellos zuweisen wollte. Die Landesregierung soll das oberste Staatsorgan der Vollziehung auf dem Territorium des jeweiligen Landes darstellen, wie die Bundesregierung auf Bundesebene, und kaum etwas Vergleichbares mit dem früheren kaiserlich-königlichen Landesausschuss bzw. dem späteren Landesrat aus der Zeit Deutschösterreichs. Die Letzten bildeten unmittelbare Exekutivorgane, welche vom Landtag zur Ausübung der ihm zustehenden Landesverwaltung berufen wurden und keine eigenständige Regierungspolitik durchführten. Für Adamovich sen. war symptomatisch, dass die meisten österreichischen Landesverfassungen bei der Gestaltung der Landesexekutive keinen Unterschied zwischen der vom Landesparlament gewählten und der ihm politisch verantwortlichen Landesregierung einerseits und dem vom Landesparlament bestellten und von ihm organisatorisch und politisch abhängigen Landesausschuss (Landesrat) andererseits machten.207 Die Stellung der Proporzregierungen in den österreichischen Bundesländern wurde dagegen von Merkl gerechtfertigt. Seiner Ansicht nach stellte das Verhältnis zwischen Gesetzgebung und Vollziehung kein Verhältnis der Gleichordnung (d. h. Koordination) in der Sicht der klassischen Gewaltenteilungslehre dar, sondern ein Über- und Unterordnungsverhältnis (d. h. Subordination). Die Vollziehung als Tätigkeit zur Durchführung des in den Gesetzen gestalteten Rechts (Gesetzesausführung) wird ihrer Rechtsnatur nach und nach ihrem Zweck durch die Gesetzgebung bedingt. Daraus folgt rechtslogisch ein Unterordnungsverhältnis der exekutiven Funktionen gegenüber der Gesetzgebung. Die Begründung seiner Auffassung sah Merkl in Art. 18 I B-VG, nach welchem die gesamte staatliche Verwaltung nur auf Grund der Gesetze ausgeübt werden darf (verfassungsrechtliches Legalitätsprinzip oder Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Vollziehung208). Durch diese Verfas206
Vgl. Adamovich sen., ZfV 1923, S. 37 f. Vgl. Adamovich sen., ZfV 1923, S. 38. 208 Vgl. Grabenwarter, Christoph/Ohms, Brigitte (Hrsg.), Die österreichische Bundesverfassung. Bundes-Verfassungsgesetz in der gegenwärtigen Fassung mit wichtigen Nebenverfassungsgesetzen, 13. Aufl., Wien 2014, Art. 18 Anm. 1. 207
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sungsvorschrift ist die Unterordnung der Verwaltung unter die Gesetzgebung legitimiert und die organisatorische Abhängigkeit der Exekutive bedingt.209 Im Rahmen des Proporzsystems wird nur der Landeshauptmann in einem ersten Wahlgang mit einfacher (in Krnt mit absoluter, vgl. dazu § 33 III LVerf) Stimmenmehrheit gewählt. Grundsätzlich ist dies der Vertreter der stärksten Partei im Landtag oder der Kandidat einer der Koalitionsparteien. Die übrigen Regierungsmitglieder werden aufgrund des Kräfteverhältnisses der von ihnen vertretenen Landtagsparteien berufen. Im Bgld (Art. 36 II LVerf), in Krnt (§ 34 LVerf von 1924; § 33 IV, V LVerf von 1930), NÖ (Art. 30 II LVerf i. d. F. von 1930), OÖ (Art. 32 II LVerf), Slbg (Art. 35 II LVerf) und in der Stmk (§ 28 II LVerf) werden sämtliche weitere Mitglieder der Landesregierung in einem anderen Wahlgang bzw. in zwei getrennten Wahlgängen (zuerst die Landeshauptmann-Stellvertreter und danach die Landesräte) nach dem Grundsatz der Verhältniswahl gewählt.210 Die Amtsperiode der Landesregierung stimmt grundsätzlich mit der Gesetzgebungsperiode des Landtages überein. Sie kann durch Auflösung des Landtages auch vorzeitig beendet werden. In diesem Fall bleiben die Regierungsmitglieder weiter im Amt, bis der neue Landtag eine neue Landesregierung wählt. Die Landesregierung insgesamt und deren Mitglieder im Einzelnen als die von der Volksvertretung zusammengesetzten Gremien benötigen das Vertrauen des Volkes und sind daher dem Landtag politisch verantwortlich. Dieses Vertrauen kann vom Landesparlament durch Misstrauensvotum entzogen werden. Der Landtag kann sein Vertrauen sowohl der gesamten Landesregierung als auch einzelnen Regierungsmitgliedern (sog. Ministerverantwortlichkeit) versagen. In diesem Fall müssen die betreffenden Regierungsmitglieder sofort aus dem Amt ausscheiden. Eine solche Regelung enthielten die Landesverfassungen von Krnt (§ 37 LVerf von 1924; § 36 LVerf von 1930), Slbg (Art. 42 LVerf), der Stmk (§ 27 III LVerf), Vbg (Art. 33 I LVerf) und Wien (§ 39 WStV); im Bgld betraf das Misstrauensvotum allein den Landeshauptmann (Art. 43 I LVerf); in Tirol konnte der Landtag sein Misstrauen nur der gesamten Landesregierung aussprechen (§ 30 LVerf). Anders als in Weimarer Republik kannten die österreichischen Landesverfassungen keine Vertrauensfrage der Landesregierung, infolge derer sowohl die Landesregierung aus dem Amt ausscheidet als auch das Landesparlament aufgelöst werden kann.211 cc) Grundsätze der inneren Organisation der Landesregierung Die Art der Zusammensetzung der Landesregierung beeinflusst in gewissem Maße auch die Grundlage ihrer inneren Gestaltung. Adamovich sen. ging davon aus, dass bei dem Mehrheitswahlverfahren die Landesverfassung logischerweise zugunsten einer monokratischen Organisationsform (das sog. Ministerialsystem) ent209 210 211
Vgl. Merkl, Grundlagen der österreichischen Verwaltung, S. 353, 354. Vgl. auch Adamovich sen., Grundriss II, S. 39, 41. Vgl. auch Adamovich sen., Grundriss II, S. 178, 198 f., 200 f.
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scheidet, weil die Regierung ein einheitliches Willensorgan bildet, in dem jedem Mitglied zwecks einer raschen und sachgemäßen Geschäftsführung eine Reihe von Verwaltungsagenden zur selbständigen Leitung zukommt und nur einige Fragen eine kollegiale Beratung und Beschlussfassung erfordern. Anders sind die inneren Verhältnisse in der nach dem Verhältnisgrundsatz zusammengesetzten Regierung gestaltet. In der Proporzregierung ist der Personalbestand schon wegen des Wahlverfahrens politisch stark zersplittert und die Festsetzung eines monokratischen Führungssystems würde zu einer weiteren Spaltung innerhalb des Staatsorgans führen. Deshalb sollte die nach dem Proporz berufene Landesregierung eher auf dem Kollegialitätsprinzip basieren, das die gesamte Funktionsfähigkeit dieses Gremiums gewährleisten soll.212 Was die bundesverfassungsrechtlichen Regelungen betrifft, enthält das B-VG kein klar formuliertes Erfordernis hinsichtlich der inneren Organisation der Landesregierungen. Es scheint so, dass nach Art. 101 III B-VG die Landesregierung, die aus dem Landeshauptmann, der erforderlichen Zahl von Stellvertretern und weiteren Mitgliedern besteht, ein kollegiales Staatsorgan bilden muss. Aus dem systematischen Zusammenhang des Wortlauts des Art. 101 III mit dem entsprechenden des Art. 69 I B-VG, laut dem der Bundeskanzler, der Vizekanzler und die übrigen Bundesminister in ihrer Gesamtheit die Bundesregierung unter dem Vorsitz des Bundeskanzlers bilden, folgt nicht, dass der Landeshauptmann eine der Stellung des Bundeskanzlers analoge Stellung im Regierungskollegium hat. Für die Auffassung, dass die Bundesverfassung der Länder nicht zweifellos ein Kollegialsystem fordert, sprechen noch die anderen Vorschriften: So ordnet Art. 19 I B-VG den obersten Organen der Vollziehung genau die Mitglieder der Landesregierung und nicht die Landesregierung als Gesamtheit zu. Soweit es sich um die rechtliche und politische (aber viel weniger betroffene) Verantwortlichkeit der Regierung handelt, schreibt die Bundesverfassung ausdrücklich vor, dass nicht die Landesregierung als Kollegium, sondern die einzelnen Regierungsmitglieder dem Landtag verantwortlich sind (Art. 105 II i. V. m. Art. 142 II lit. c B-VG). Es wäre dann unverständlich, wenn in der Regierung, in der an der Beratung und Beschlussfassung alle Mitglieder kollegial teilnehmen, die rechtliche Verantwortlichkeit die einzelnen Regierungsmitglieder tragen.213 Eine indirekte Bestätigung der möglichen Einrichtung der Landesregierung nach dem monokratischen Prinzip fand Adamovich sen. auch in § 3 I des Bundesverfassungsgesetzes vom 30. Juli 1925 „betreffend Grundsätze für die Einrichtung und Geschäftsführung der Ämter der Landesregierungen außer Wien“, nach dem „die Abteilungen des Amtes der Landesregierung […] die ihnen nach der Geschäftseinteilung zukommenden Geschäfte […] unter der Leitung der Landes-
212
Vgl. Adamovich sen., ZfV 1923, S. 41 f. Vgl. Adamovich sen., ZfV 1923, S. 43; ein Gegenargument zur Frage der rechtlichen Verantwortlichkeit der einzelnen Mitglieder der kollegialen Regierung lieferte Prendl, Wilhelm, Zur Frage der verfassungsmäßigen Organisation der Landesverwaltung in Österreich, in: Zeitschrift für Verwaltung, 1923, H. 4, S. 105 f. 213
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regierung oder einzelner Mitglieder derselben [besorgen]“214 (Hervorh. durch den Verf.). Nach herrschender Meinung wurde die Entscheidung, ob die Landesregierung nach dem Kollegialitätssystem ausgestaltet werden soll oder ein bestimmter Teil der Verwaltungsgeschäfte der Regierung als Kollegium vorbehalten bleibt und die übrigen Verwaltungsgeschäfte (aber keinesfalls alle, ansonsten wäre die Landesregierung einfach kompetenzlos) ressortmäßig auf die einzelnen Regierungsmitglieder verteilt werden (monokratische Organisationsform), den Landesgesetzgebern überlassen.215 Die Organisationsform der inneren Tätigkeit der Landesregierung wurde generell in der Landesverfassung und ausführlich in der Geschäftsordnung der Regierung bestimmt. Die meisten österreichischen Länder entschieden sich für das Ministerialsystem. Die Landesregierung wurde durch die Landesverfassung verpflichtet, in ihrer Geschäftsordnung die Geschäfte zu bezeichnen, die der kollegialen Beratung und Beschlussfassung bedürfen (vgl. bspw. Art. 40 IV OÖVerf). Die restlichen Agenden der den Ländern zustehenden Verwaltungskompetenz wurden auf die Mitglieder der Landesregierung verteilt. Nur im Bgld (Art. 39 I 2 LVerf) und in Krnt bis 1930 (§ 39 I, III LVerf) wurde grundsätzlich die kollegiale Organisationsform der Landesregierung zugeordnet. d) Landeshauptmann und mittelbare Bundesverwaltung Nach dem österreichischen B-VG hat der Landeshauptmann eine doppelte staatsrechtliche Stellung. Einerseits führt der Landeshauptmann nicht nur den Vorsitz in der Landesregierung, sondern vertritt das jeweilige Land, d. h., er befindet sich an der Spitze des politischen Systems des Landes (Art. 101 III, 105 I 1 B-VG). Zusammen mit der Beeidigung durch den Bundespräsidenten (Art. 101 IV B-VG) wurde die Würde des Landeshauptmannes der Stellung eines Staatsoberhaupts angenähert.216 Andererseits ist er bundesverfassungsrechtlich verpflichtet, gewisse Verwaltungsfunktionen zugunsten des Oberstaates auszuüben. Hier geht es um die sog. mittelbare Bundesverwaltung, die dem Landeshauptmann und den ihm unterstellten Landesbehörden anvertraut ist (Art. 102 I B-VG). In dieser Eigenschaft kann der Landeshauptmann auch als ein Bundesorgan betrachtet werden. Nicht ohne Grund sahen einige Verfassungsentwürfe vor, dass der Landeshauptmann und seine Stellvertreter entweder von der Bundesregierung zu bestätigen seien (Art. 96 IV K-E II + III + IV) oder vom Bundespräsidenten auf Vorschlag des Landtages zu ernennen seien (Art. 68 II GDE). Die definitive Bundesverfassung beschreibt die Stellung des Landeshauptmannes als eines der obersten Landesorgane im Unterschied zum 214
Vgl. Adamovich sen., Grundriss II, S. 199. Vgl. Adamovich sen., ZfV 1923, S. 43; Merkl, Grundlagen der österreichischen Verwaltung, S. 374; Kelsen/Merkl/Froehlich, Die Bundesverfassung, S. 215. 216 Vgl. dazu Wittmayer, Verfassungsrecht, S. 17; Frisch, Lehrbuch, S. 139. 215
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Landtag und der Landesregierung nicht sonderlich ausführlich. Viel größeres Gewicht lag auf seiner Funktion als Chef der mittelbaren Bundesverwaltung im jeweiligen Bundesland. In der Stammfassung des B-VG wurde die mittelbare Bundesverwaltung allein dem Landeshauptmann anvertraut, er leitete die betroffenen Angelegenheiten monokratisch und jede Art der Mitbestimmung seitens des Regierungskollegiums, zu dem er nach dem B-VG gehört, wurde ausgeschlossen. Bei der Ausübung der Agenden der mittelbaren Bundesverwaltung sollten die unterstellten Landesbehörden dem Landeshauptmann mitwirken. In der Führung der mittelbaren Bundesverwaltung war der Landeshauptmann an die Weisungen der Bundesregierung und ressortmäßig zuständigen Bundesministerien gebunden und trug dafür gegenüber der Bundesregierung die Verantwortung. Die reale Lage nach der Verabschiedung des BVG sah so aus, dass es in den einzelnen österreichischen Ländern Bestrebungen nach der Teilnahme auch der übrigen Mitglieder der Landesregierungen an der Ausübung der mittelbaren Bundesverwaltung gab. Die neue Fassung des Art. 103 B-VG setzte voraus, dass die Landesregierung durch ihre Geschäftsordnung die Ausübung einzelner Kategorien von Angelegenheiten der mittelbaren Bundesverwaltung wegen ihres sachlichen Zusammenhanges mit Angelegenheiten des selbständigen Wirkungsbereiches des Landes im Namen des Landeshauptmannes von einzelnen Mitgliedern der Landesregierung beschließen kann (Abs. 2). Die B-VG-Novelle von 1925 bestätigte nun bundesverfassungsrechtlich die entsprechende Praxis, die einige Zeit in den Ländern üblich war. Gemäß Art. 103 II 1 B-VG wurde es dem freien Ermessen der Landesregierung als Kollegialorgan überlassen, ob sie diese Möglichkeit wahrnimmt, und falls ja, welche Angelegenheiten der mittelbaren Bundesverwaltung mit den gleichen Agenden der selbständigen Landesverwaltung unter Führung eines der Mitglieder der Landesregierung gekoppelt werden sollen. Bei der Beschlussfassung darüber stimmt der Landeshauptmann wie jedes andere Regierungsmitglied mit, hat jedoch kein Vorrecht, d. h., er kann bspw. kein Veto gegen die entsprechende Entscheidung der Landesregierung einlegen. Dies war eine fragwürdige Besonderheit des neuen Führungsmechanismus der mittelbaren Bundesverwaltung in den österreichischen Ländern. Das jeweilige Mitglied der Landesregierung ist in den Angelegenheiten der mittelbaren Bundeverwaltung an die Weisungen des Landeshauptmannes gebunden (Art. 103 II 2 B-VG). Die Ernennung dieses an der mittelbaren Bundesverwaltung mitwirkenden Regierungsmitglieds findet aufgrund kollegialer Entscheidung der Landesregierung statt, welche der Landeshauptmann allein nicht vorbestimmen kann. Allerdings wird die Tätigkeit des jeweiligen Mitglieds der Landesregierung im Bereich der mittelbaren Bundesverwaltung im Namen des Landeshauptmannes, der allein, und überhaupt nicht zusammen mit diesem Regierungsmitglied, für die Ausübung der betroffenen oberstaatlichen Verwaltungsagenden gegenüber der Bundesregierung die rechtliche Verantwortlichkeit nach Art. 142 B-VG trägt. Die Gebundenheit der Handlungen des jeweiligen Mitglieds der Landesregierung an die Weisungen des Landeshauptmannes, der in der gleichen Weise an die Weisungen der
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Bundesregierung und der zuständigen Bundesminister gebunden ist, bedeutet eine indirekte Subordination innerhalb des Bereichs der mittelbaren Bundesverwaltung, was wegen der geringen Funktionsfähigkeit dieses Verfahrens die inneren Verhältnisse in der Landesregierung, die wegen der proportionalen Organisationsform politisch erschwert sind, in organisatorischer Hinsicht Verwirrung schafft.217 Durch die Einrichtung der mittelbaren Bundesverwaltung wurde den österreichischen Ländern allerdings maßgeblicher Einfluss auf die Vollziehung des Oberstaates eingeräumt. Seine Funktion als formalrechtlich die Funktion eines monokratischen Chefs der mittelbaren Bundesverwaltung verstärkte die Stellung des Landeshauptmannes nicht nur innerhalb der Landesregierung, sondern auch im gesamten Vollzugssystem. So wurden dem Landeshauptmann im Rahmen der Führung der mittelbaren Bundesverwaltung neben den Landesbehörden auch die darin involvierten einzelnen Bundesbehörden untergeordnet (Art. 102 I 2 B-VG i. d. F. B-VG-Novelle von 1929). Daher scheint die These von Adamovich sen. mehr als fragwürdig, dass „in Österreich eine vollständige Trennung von Bundes- und Landesverwaltung lediglich in den obersten Instanzen verwirklicht [ist].“218 Dagegen war in der Ersten Republik eine allen echten Bundesstaaten charakteristische Verflechtung der Verwaltungsfunktionen des Oberstaates und der Gliedstaaten mit deutlichem Schwergewicht auf der Seite der Letzteren vorhanden. Ungeachtet dessen, dass die Staatsorganisation in den österreichischen Ländern bundesverfassungsrechtlich offensichtlich zugunsten der Gesetzgebungsorgane, die formalrechtlich die Zusammensetzung der Landesexekutive, deren laufende Tätigkeit und Auflösung im Fall des Vertrauensverlustes ausschließlich beeinflussten, ausgestaltet wurde, hatte die Legislative in den österreichischen Ländern anders als in den reichsdeutschen Freistaaten tatsächlich viel weniger Bedeutung im Vergleich zur vollziehenden Landesgewalt.
4. Die Dezentralisationstheorie von Hans Kelsen und die österreichische Bundesstaatslehre der Wiener Schule des Rechtspositivismus Die Darstellung des durch das B-VG ausgestalteten österreichischen Bundesstaatsmodells wäre unvollständig ohne die tiefgründigen und bahnbrechenden theoretischen Überlegungen eines der größten Rechtswissenschaftler des 20. Jahrhunderts, des damaligen Wiener Staatsrechtsprofessors und Mitglieds des (deutsch) österreichischen VfGH Hans Kelsen. Die von ihm zusammen mit seinen Kollegen der sog. Wiener Schule des Rechtspositivismus aufgrund der später dogmatisch
217 218
Vgl. Adamovich sen., ÖZÖR 1926, S. 241 ff.; ders., Grundriss II, S. 173. Adamovich sen., Grundriss I, S. 180; vgl. dazu auch ders., Grundriss II, S. 170 f.
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systematisierten sog. Reinen Rechtslehre219 entwickelte Bundesstaatslehre muss berücksichtigt werden, da diese nicht nur in vielerlei Hinsicht die Entstehung der österreichischen Bundesverfassung beeinflusste, sondern auch die gesamte Entwicklung der nationalgeprägten Herangehensweise an das Phänomen des Föderalismus auf Jahre hinaus vorbestimmte. a) Die Systematik des Bundesstaatsbegriffs Kelsens aa) Souveränität als wesentliches Merkmal eines jeden Staates: Zur Frage der Fehlerhaftigkeit der bisher herrschenden Bundesstaatstheorien Die im deutschsprachigen Raum lange Zeit herrschende sog. Staatenstaatstheorie ergab sich Kelsens Erachtens aus dem früheren Entstehungsablauf der bundesstaatlichen Organisationsform. Nach den Beispielen der ersten Bundesstaaten wurde eine axiomatische Regel aufgestellt, dass sich die bisher souveränen Staaten zu einem Verband zusammenschließen und diesem, der selber auch einen Staat bildet, unterstellt sind. Diese Verbindung kann nur unter der Bedingung erfolgen, dass sich die sich zusammenschließenden Gebilde ihren Charakter als Staaten und die daraus folgende Stellung ihrer Organe als oberste Staatsorgane vorbehalten. Mit anderen Worten sollen die Glieder weiterhin Staaten bleiben, ungeachtet des durch den Zusammenschluss der souveränen Einzelstaaten zu einer übergeordneten Gemeinschaft mit einer eigentümlichen staatlichen Qualität wesentlich geänderten Tatbestands. Betrachtet als die höchste Eigenschaft der Staatlichkeit muss dann die Souveränität in diesem Fall sowohl dem obersten Verband (Oberstaat) als auch den vereinigten Teilen (Gliedstaaten) zugeordnet werden. In diesem Sinne geht es um den formalen Souveränitätsbegriff. Ist dem Oberstaat und den Gliedstaaten zugleich die Souveränität zuerkannt, bedeutet dies folglich, dass die Kompetenz zwischen diesen vollständig aufgeteilt ist; sie handeln in ihren Wirkungskreisen selbständig und unabhängig voneinander. Daher stellt jeder einzelne innerhalb seines Bereiches den höchsten, souveränen Machthaber dar. Daraus folgt, dass in einem Bundesstaat zwei Souveräne – der Oberstaat und die Gliedstaaten – vorhanden sind, welche nebeneinander stehen, sich in einem Koordinations- und eben nicht in einem Subordinationsverhältnis befinden, wie die souveränen Einzelstaaten in der Völkergemeinschaft.220 Diese von der Zuordnung der souveränen Gliedstaaten einem höheren souveränen Oberstaat ausgehende Bundesstaatstheorie war per se eine kuriose Vorstellung, die in der praktischen Umsetzung keine Bestätigung finden konnte. Im Rahmen der Staatenstaatstheorie wurden die Akzente vertauscht: Nun konnte die Einrichtung 219 Vgl. Kelsen, Hans, Reine Rechtslehre. Einleitung in die rechtswissenschaftliche Problematik, Studienausgabe der 1. Auflage 1934, Tübingen 2008 (weiter unten Seitenverweis auf Originalausgabe). 220 Vgl. Kelsen, Hans, Allgemeine Staatslehre, Nachdruck der ersten Auflage von 1925, Wien 1993, S. 116, 199.
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eines Bundesstaates die Teilung der Souveränität zwischen dem Oberstaat und den Gliedstaaten zur Folge haben. Wird die bundesstaatliche Ordnung als eine souveräne Gemeinschaft mit den Eigenschaften der Einheit, Einzigkeit und Ganzheit betrachtet, so wäre es im materiellen Sinne möglich, dass der Inhalt der Gesamtordnung, ihre sachlichen Kompetenzen zwischen dem Oberstaat und den Gliedstaaten verteilt sind, d. h., es handelt sich um eine „geteilte“ Souveränität, sofern der Inhalt der Gesamtordnung auf eine zentrale und mehrere lokale Teilordnungen aufgeteilt ist (materieller Souveränitätsbegriff).221 Diese Interpretation fand allerdings keine Verbreitung in den deutschsprachigen wissenschaftlichen Kreisen, da die an die Bodinsche Lehre geknüpfte Darlegung der Staatssouveränität als eine einheitliche und unteilbare tragende Eigenschaft jeder echten Staatlichkeit sehr stark verwurzelt war. Daher wurde ein neuer Ausweg aus der bundesstaatlichen Antinomie durch die Verneinung der Souveränität als ein jedem Staat zustehendes Wesensmerkmal gefunden. Begründet von Jellinek ging die modifizierte Staatenstaatstheorie davon aus, dass der Bundesstaat durch die Staaten gebildet ist, allerdings kommt die Souveränität allein dem Oberstaat zu und die Gliedstaaten sind nichtsouveräne Staaten. Demgemäß wurde die Souveränität als notwendiges Staatselement ausgeschlossen. In dieser Auffassung könnte ein Glied in der Eigenschaft eines Staates existieren, obwohl es nicht souverän ist, und über sich eine höhere souveräne Ordnung – den Oberstaat – haben. Sowohl die Gliedstaaten als auch der Oberstaat sind Staaten; der Letztere unterscheidet sich trotzdem von den Ersteren wesentlich. Grundsätzlich muss zwischen dem Oberstaat und den ihm eingegliederten Teilstaaten keine inhaltliche Differenz entstehen. Wie der Oberstaat haben die Gliedstaaten eigenständige Kompetenzen in der Gesetzgebung und Vollziehung, sie besitzen Staatsorgane, d. h. diese Verbände haben Staatscharakter. Jedes Bundesstaatsglied kann die Zuständigkeit, die der Oberstaat gewöhnlich haben kann, von der Gesamtordnung durch Delegation erwerben. Mit anderen Worten sind die Gliedstaaten dem Oberstaat im Rahmen des Gemeinwesens untergeordnet, diese Unterordnung besteht nur in der Rangordnung der Geltung, aber auf keinen Fall in dem Geltungsinhalt. Der Staat bleibt souverän, sofern er eine absolut höchste Ordnung bildet, derer die Teilordnungen als nichtsouveräne Staaten unterstellt sind. Wenn oberhalb des Staates ein neuer Verband entsteht, so verliert dieser Staat die Souveränität und wandelt sich in einen nichtsouveränen Staat um. Der Verzicht auf die Souveränität als notwendiges Element des Staates bedeutet für die Gliedstaaten, dass sie keine absolut höchste, sondern eine relativ hochstufige Rechtsordnung innerhalb des Bundesstaates bilden. Da nach dieser Auffassung der (nichtsouveräne) Gliedstaat von dem (souveränen) Oberstaat nicht qualitativ, sondern quantitativ differenziert wird, kann nicht beantwortet werden, wodurch sich der Staat von einer Gemeinde als Gebietskörperschaft wesentlich unterscheidet. Während diese modifizierte Staatenstaatstheorie die Eigenschaft der Souveränität bei der Beurteilung der 221 Vgl. Kelsen, AStL, S. 117, 198 f.; ausführlicher ders., Das Problem der Souveränität und die Theorie des Völkerrechts. Beitrag zu einer Reinen Rechtslehre, Tübingen 1920, § 16 S. 62 ff.
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Rechtsnatur des Staates vermeiden wollte und zugleich versuchte, eine Linie zwischen den staatlichen Gliedern des Bundesstaates und nichtstaatlichen Gebietskörperschaften zu ziehen, wurde der Staat einerseits relativiert und andererseits verabsolutiert. Diese Auffassung war für Kelsen nicht vertretbar. Seiner Ansicht nach spielte in dieser Auffassung in der Tat wieder der Souveränitätsmoment eine entscheidende Rolle, welches die Differenz der nichtsouveränen Gliedstaaten von dem souveränen Oberstaat auf der einen Seite und den nichtstaatlichen Verbänden auf der anderen Seite vorbestimmte. Die theoretische Abkehr von der Staatssouveränität ist nur scheinbarer Natur, sie bedingt die Unterscheidung der Staaten von den nichtstaatlichen Gebilden weiter.222 bb) Territoriale Gliederung des Staates: Zentralisation und Dezentralisation Das soziale Gebilde namens „Staat“ als kollektive Einheit bildet eine Ordnung des menschlichen Verhaltens. Im Sinne der von Kelsen entwickelten Reinen Rechtslehre ist der Staat zugleich eine bestimmt qualifizierte Rechtsordnung. Im Gegensatz zu dem durch die traditionelle Rechtslehre postulierten Dualismus ging Kelsen von der Identität von Recht und Staat aus. Das Recht als Ordnung (Rechtsordnung) ist ein System einzelner Rechtsnormen (Normensystem). Eine Menge von Normen bildet ein geschlossenes einheitliches System nur dann, wenn die Geltung dieser Vielfalt auf eine einzige Norm als letzten Grund dieser Geltung zurückgeführt werden kann. Als gemeinsame Quelle konstituiert diese (abstrakte) Grundnorm die Einheit in der Vielheit aller ordnungsbildenden Normen. Daher ist der Staat in juristischer Sicht eine einheitliche Rechtsordnung.223 Der Staat bildet die höchste, souveräne Rechtsordnung (Rechtsgemeinschaft), soweit es über dieser staatlichen Rechtsordnung keine andere höhere Rechtsordnung gibt. Obwohl eine einzelne staatliche Zwangsordnung ihre Geltung tatsächlich auf einen bestimmten Raum (d. h. das Gebiet) und auf bestimmte Gegenstände (d. h. die Kompetenz) selbst beschränkt, besitzt der Staat einen räumlich und sachlich unbegrenzten Geltungsbereich. Genau diese Fähigkeit der staatlichen Rechtsordnung, ihre Geltung in territorialer und materieller Hinsicht auszudehnen, heißt nach der Reinen Rechtslehre Souveränität, welche allein dem Staat zukommt. Die moderne Rechtsgemeinschaft unterscheidet sich von den primitiven Formen des organisierten Zusammenlebens, indem sie einen gewissen Grad der Zentralisation erreicht hat.224 Die eine beliebige Rechtsordnung als System bildenden Normen stehen in zeitlicher und räumlicher Geltung nebeneinander. Eine etwaige territoriale Gliederung des Staates bildet in diesem Zusammenhang ein Spezialproblem des räumlichen 222 Vgl. Kelsen, AStL, S. 117 f.; ausführlicher dazu ders., Das Problem der Souveränität, § 15 S. 59 ff. 223 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 73, 83, 127, 129; ders., AStL, S. 163. 224 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 127 f., 129.
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Geltungsbereichs der die konkrete staatliche Rechtsordnung bildenden Normen. Aufgrund der allgemeinen Vorstellung des Staates als einheitliches Normensystem geht man im Regelfall davon aus, dass alle die staatliche Rechtsordnung bildenden Normen in gleicher Weise für das gesamte Hoheitsgebiet gelten (Territorialitätsprinzip) oder mindestens von einer einzigen normsetzenden Instanz ausgehen, d. h., mit den Worten der sog. Drei-Elemente-Lehre bedeutet dies, dass eine vom Zentralorgan ausgeübte einzige Staatsgewalt das gesamte Staatsgebiet und das gesamte Staatsvolk betrifft. Als klassisches Beispiel gilt der Einheitsstaat in Anlehnung an den Gedanken der der Einheit zugeordneten Vielheit der Normen in Hinsicht des räumlichen Geltungsbereichs der ordnungsbildenden Normen. Die für den Wandel von primitiven Formen des sozialen Zusammenlebens in einen Staat im modernen Sinne notwendige Zentralisation kann in einem gestalteten Staat nicht unbedingt vollständig sein. In der Rechtswirklichkeit kann sie teilweise realisiert sein, d. h., mit der Zentralisation der staatlichen Rechtsordnung korreliert auch die Dezentralisation dieser Ordnung. Von Natur aus ist eine zentralisierte Rechtsgemeinschaft diejenige, deren Ordnung ausschließlich aus den für das gesamte Staatsgebiet geltenden Rechtsnormen besteht, während eine dezentralisierte Rechtsgemeinschaft ein System von Rechtsnormen darstellt, die nur für die Teilgebiete Geltung haben. Mit anderen Worten: Wenn eine Rechtsgemeinschaft in Teilgebiete gegliedert ist, bedeutet dies, dass die sie konstituierende Rechtsordnung aus den Rechtsnormen mit verschiedenen räumlichen Geltungsbereichen zusammengesetzt ist. Dies nennt Kelsen Dezentralisation oder territoriale Gliederung der staatlichen Rechtsordnung.225 Die zwischen den zentralisierten und dezentralisierten Rechtsgemeinschaften bestehende Differenz kann nur rein quantitativ und nicht qualitativ sein. Die Möglichkeit des unterschiedlichen Rechtsinhalts für verschiedene Teilgebiete der Rechtsgemeinschaft kann verschiedene Grade haben. Zum einen bezieht sich die Dezentralisation auf eine bestimmte Stufe der Rechtsordnung. Im Sinne der Reinen Rechtslehre ist die Rechtsordnung nicht ein System gleichgeordneter Rechtsnormen, sondern eine Stufenordnung verschiedener Schichten von Rechtsnormen. Das Verhältnis zwischen den rechtssetzenden und erzeugbaren Normen stellt in räumlicher Hinsicht eine Über- und Unterordnung dar. Die die Rechtserzeugung bestimmende ist die höhere Norm, die bestimmungsgemäß erzeugte – die untergeordnete Norm. Vom Standpunkt der Dezentralisation aus betrachtet kann nur eine bestimmte Ebene des Stufenbaus der Rechtsordnung betroffen werden (bspw. die Verfassung im Fall der gesamten Dezentralisation oder nur die Verwaltung im Fall der teilweisen Dezentralisation bzw. Zentralisation).226 Zum zweiten kann die Dezentralisation nur die einzelnen sachlichen Belange (d. h. die Zuständigkeiten) betreffen. Aus dieser Sicht zerfallen die die Rechtsordnung bildenden Rechtsnormen in solche, die inhaltlich gleich für das gesamte Gebiet 225 226
Vgl. Kelsen, AStL, S. 164, 165 f. Vgl. Kelsen, AStL, S. 165 f.; ders., Reine Rechtslehre, S. 84 f., 128 f.
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der Rechtsgemeinschaft gelten, und solche, die inhaltlich differenziert nur für die Teilgebiete der Rechtsordnung Geltung haben (d. h. die Kompetenzverteilung).227 Und zum dritten wäre auch eine Situation denkbar, in der sich die Zentralisation und Dezentralisation als sich gegenseitig ergänzende Organisationsprinzipien im Laufe der Zeit in ein und derselben Rechtsordnung einander abwechseln. Die Dezentralisation kann unter Einbeziehung sowohl der einen als auch mehrerer (kombiniert) von diesen Möglichkeiten erfolgen.228 Die staatlichen Rechtsordnungen mit einem höheren Grad an Dezentralisation bilden die sog. Staatenverbindungen, zu denen der Staatenbund und der Bundesstaat als zwei Haupttypen gehören. Diese stellen Rechtsgemeinschaften dar, deren Rechtsordnungen aus Normen bestehen, von denen ein Teil räumlich für das gesamte Staatsgebiet und ein anderer Teil räumlich nur für Teilgebiete gilt. Die die bestimmten Gegenstände regelnden Normen sind auch in sachlicher Hinsicht gegliedert. Der Unterschied zwischen einem Staatenbund und einem Bundesstaat besteht aber einzig darin, dass der Umfang der durch die für das gesamte Gebiet der Rechtsgemeinschaft geltenden Normen geregelten Gegenstände im ersten Fall im Vergleich zum anderen Fall größer ist als der Umfang der durch die lokalen Normen geregelten Gegenstände. Mit anderen Worten unterscheiden sich die beiden Formen der Staatenverbindungen in dem Grad der Dezentralisation bzw. der Zentralisation der die Rechtsordnung bildenden Normen. Daraus folgt, dass aufgrund des Grades der Zentralisation der für das Gesamtgebiet geltenden Ordnung (gemeint ist die zentrale Kompetenz) und der Totalität aller von ihr umfassten Teilordnungen (gemeint ist die Intensität der zur Einheit der Rechtsordnung verbundenen lokalen Normen) der Bundesstaat noch als „Staat“ mit bündischem Element und der Staatenbund dagegen nur als „Bund“ von Einzelstaaten bezeichnet wird. In diesem Zusammenhang lehnte Kelsen die traditionelle Unterscheidung zwischen Bundesstaat als innerstaatliches Gebilde und Staatenbund als außenstaatliche (völkerrechtliche) Verbindung der Einzelstaaten ab: Für ihn bestand der Unterschied zwischen den Arten von staatlichen Rechtsordnungen nur in der graduellen Differenzierung, d. h. in der Dezentralisation.229 cc) Bundesstaatsbegriff nach der Dezentralisationstheorie Vom organisationstechnischen Standpunkt aus betrachtet versteht man unter dem Bundesstaat „einen spezifischen Typus der Dezentralisation“.230 Als eine dezentralisierte Rechtsordnung, in der die ihr bildenden Normen verschiedene Geltungsbereiche haben, ist der Bundesstaat dreifach gegliedert (die sog. Drei-Kreise-Lehre). 227
Vgl. Kelsen, AStL, S. 166. Vgl. Kelsen, AStL, S. 166. 229 Vgl. Kelsen, AStL, S. 194. 230 Kelsen, Hans, Österreichisches Staatsrecht. Ein Grundriss entwicklungsgeschichtlich dargestellt, Tübingen 1923, S. 165. 228
B. Der Übergang Österreichs zur bundesstaatlichen Organisationsform
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Durch die Gesamtverfassung, welche die höchste Stufe der jeweiligen Rechtsordnung bildet, wird die Einheit der Gesamtordnung der Rechtsgemeinschaft konstituiert. Dieser Normenkomplex (d. h. die Verfassung) begründet in territorialer und sachlicher Sicht mit Geltung für das gesamte Staatsgebiet das Entstehen der Totalordnung, obwohl die gesamte sachliche Kompetenz zwischen den lokalen Ordnungen zu verteilen ist. Das ist der Bundesstaat (Gesamtstaat) selbst. Aufgrund dieser Gesamtverfassung und von ihr delegiert wird die bundesstaatliche Gesamtordnung in weitere Normenkreise aufgegliedert, welche als Teilordnungen bezeichnet werden: eine Teilordnung mit räumlicher Geltung der sie bildenden Normen für das gesamte Staatsgebiet und mehrere Teilordnungen mit räumlicher Geltung der lokalen Normen nur für die Teilgebiete des Bundesstaates. Die Erste ist der sog. Oberstaat (Bund), die Letzteren sind die sog. Gliedstaaten (Länder). Der Oberstaat, obwohl die ihn bildenden Rechtsnormen für das Gesamtgebiet gelten, bildet auch bloß eine Teilordnung (einen Teilstaat), weil die Gesamtverfassung diesem nur bestimmte Angelegenheiten aus der gesamten, allein der Totalordnung (dem Gesamtstaat) zustehenden sachlichen Kompetenz zur eigenen selbständigen Regulierung delegiert. Die Gliedstaaten bilden kraft derselben Gesamtverfassung Teilordnungen, die auf den Teilgebieten des Bundesstaates für die anderen Angelegenheiten sachlich zuständig sind; diese sind allein der Gesamtverfassung untergestellt. Nach Kelsen können zwei Rechtsordnungen nicht Teile eines Ganzen bilden, wenn eine höhere, darüberstehende Rechtsordnung (d. h. das Ganze selbst) diese Teilung nicht vornimmt. Mit anderen Worten besteht der Bundesstaat als Gesamtrechtsgemeinschaft aus den durch die Gesamtverfassung delegierten Teilordnungen (Ober- und Gliedstaaten) und dem von ihr konstituierten Gesamtstaat. Im Fall einer bundesstaatlichen Rechtsordnung besitzt allein dieser Gesamtstaat die Qualität eines echten Staates (der Rechtsgemeinschaft).231 Zwischen dem Oberstaat und den Gliedstaaten gibt es keinerlei Über- und Unterordnungsverhältnis, beide Teilordnungen der bundesstaatlichen Rechtsgemeinschaft sind in der Rechtswirklichkeit einander koordiniert, zwischen ihnen besteht ein Koordinationsverhältnis. Von einer Koordination des Oberstaates mit den Gliedstaaten innerhalb des Bundesstaates kann nur in Bezug auf die Gesamtverfassung, die diese Teilordnungen vorbestimmt, die Rede sein. Es handelt sich um die vom Bundesstaatsprinzip geforderte Parität von Oberstaat (Bund) und Gliedstaaten (Ländern). Daraus, dass sich die beiden Teilordnungen nicht in einem Delegationsverhältnis zueinander befinden, folgt logischerweise nicht, dass diese überhaupt nicht untergeordnet, sondern unabhängig, vielmehr „souverän“ sind. Hier sah Kelsen den Fehlschluss aller bisherigen Bundesstaatstheorien, die die Auffassung einer gedoppelten sowie geteilten Souveränität innerhalb des Bundesstaates vertraten. Die Koordination von Oberstaat und Gliedstaaten in „horizontaler“ Hinsicht schließt eine Subordination in „vertikaler“ Hinsicht nicht aus (! S. 251 f.). Die beiden Teilord231 Vgl. Kelsen, AStL, S. 199 f.; ders., Die Bundesexekution, in: Giacometti, Zaccaria/ Schindler, Dietrich (Hrsg.), Festgabe für Fritz Fleiner zum 60. Geburtstag, Tübingen 1927, S. 130 f.; ders., in: VVDStRL 6, S. 57.
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Kap. III: Paradigmenwechsel in Deutschland und Österreich
nungen sind von der Gesamtverfassung delegiert und wären ohne diese nicht existenzfähig. Alle Teilordnungen innerhalb der dezentralisierten Rechtsordnung namens „Bundesstaat“ stehen in einem Delegationsverhältnis zur Gesamtordnung. Daraus folgt, dass weder der Oberstaat (Bund) noch die Gliedstaaten als „souveräne“ anerkannt werden können (sie sind nur die Teilordnungen), sondern die Eigenschaft der Souveränität allein dem durch die Gesamtverfassung konstituierten Bundesstaat (Gesamtstaat) als (dezentralisierten) Rechtsgemeinschaft zukommt.232 Wie Nawiasky sah Kelsen das Wesen der bundesstaatlichen Gesamtordnung in der Aufteilung der Kompetenzen. Im Bundesstaat sind die Kompetenzen in den Bereichen der Gesetzgebung und Vollziehung aufgrund der Gesamtverfassung zwischen dem Oberstaat und den Gliedstaaten verteilt. Nur innerhalb dieser Zuständigkeiten sind die Teilordnungen existent. Anders als Nawiasky, der der Meinung war, dass die sog. Kompetenz-Kompetenz der Gesamtheit des Oberstaates und der Gliedstaaten zukommt, sprach Kelsen die Kompetenzhoheit allein der Gesamtordnung zu.233 Vom Standpunkt der Staatenstaatstheorie aus betrachtet, nach der ein Bundesstaat aus dem Zusammenschluss ehemals souveräner Staaten entsteht, kann die Republik Österreich auf keinen Fall als Bundesstaat betrachtet werden, weil sie aus einem Einheitsstaat heraus umgestaltet wurde. Wenn aber unter Bundesstaat eine dezentralisierte Rechtsgemeinschaft verstanden ist, in der die Gesetzgebung und Vollziehung zwischen einer zentralen und mehreren lokalen Teilordnungen geteilt ist, so kann Österreich zweifellos als Bundesstaat gekennzeichnet werden. In diesem organisationstechnischen Sinne gestand Kelsen die einzelnen bundesstaatlichen Eigenschaften bereits der kaiserlich-königlichen sowie deutschösterreichischen Verfassungsordnung zu.234 b) Staatsrechtlicher Status der Gliedstaaten (Länder) Die wichtigste Aufgabe einer jeden Bundesstaatstheorie bestand darin, die Gliedstaaten eines Bundesstaates von den anderen Gebietskörperschaften theoretisch begründet zu unterscheiden. Die Staatenstaatstheorie sah den Ausweg aus dieser Situation in der Anerkennung des Staatscharakters bei den Bundesstaatsgliedern. Die Wiener Schule des Rechtspositivismus ging aufgrund ihrer monistischen Bundesstaatslehre davon aus, dass der Gliedstaat (das Land) als eine Teilrechtsordnung einerseits keine Gemeinde, kein Selbstverwaltungskörper ist. Sie lehnte aber andererseits zugleich die Staatsqualität der Gliedstaaten ab. In Anlehnung an die Jellineksche Terminologie bezeichnete Kelsen den Gliedstaat als ein 232 Vgl. Kelsen, AStL, S. 200; ders., Die Bundesexekution, S. 131, 132 (Fn. 1), 167; ders., in: VVDStRL 6, S. 57. 233 Vgl. Kelsen, in: VVDStRL 6, S. 57; ders., Die Bundesexekution, S. 138; ders., AStL, S. 208. 234 Vgl. Kelsen, Staatsrecht, S. 165 f.; Kelsen/Merkl/Froehlich, Die Bundesverfassung, S. 66.
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Staatsfragment. Das Land als Gebietskörperschaft (im Sinne als eine organisationstechnische Einheit) ist eine Zwischenstufe („ein Mittelding“ [sic!]) und unterscheidet sich von einem Staat einerseits und von einem Selbstverwaltungskörper andererseits nicht prinzipiell, sondern graduell: Diese Differenzierung berührt das Maß der Dezentralisation.235 Merkl, der andere Anhänger des Wiener Rechtspositivismus, bezeichnete die Gliedstaaten als Staatsteile und war der Ansicht, dass diese theoretische Umdeutung der „Gliedstaaten“ (gemeint ist die Negation ihrer Staatsqualität) im Wesentlichen keineswegs die ihnen positivrechtlich zustehende Rechtsstellung betrifft und verkleinert.236 Worin besteht aber diese graduelle Unterscheidung des Gliedstaates (des Landes) von einem Staat einerseits und einem bloßen Selbstverwaltungskörper andererseits? Der Gliedstaat als Teilrechtsordnung besitzt kein eigenes Gebiet und hat kein eigenes staatsbildendes Volk. Seine Wirksamkeit bildet sich durch den mit dem abgegrenzten Gebiet des Gesamtstaates (Teilgebiet) übereinstimmenden Geltungsbereich der Rechtsnormen heraus, unter welchen nur ein Teil des Gesamtvolkes – eine bestimmte Summe der Staatsbürger (die Bevölkerung des konkreten Teilgebiets) – fällt. Im Unterschied zu den Selbstverwaltungskörpern verfügt jedoch der Gesamtstaat über eine rudimentäre Staatsgewalt. Kelsen nahm an, dass das Recht zwar ohne Macht nicht bestehen kann, es ist aber doch der Macht nicht identisch. Das Recht ist im Sinne der Reinen Rechtslehre eine bestimmte Ordnung (oder Organisation) der Macht, d. h. eine Zwangsordnung der Rechtsnormen. Die dem Gliedstaat verliehene Eigenschaft einer Rechtsordnung entstammt der im Gliedstaat ausgeübten „Staats“Gewalt. Die Geltung der Teilrechtsordnung wird durch die Gewalt verschafft, die nur darum als „Staats“-Gewalt zu bezeichnen ist, dass sie ihren Ursprung und Geltungsgrund in der durch die Gesamtverfassung bestimmten Gesamtstaatsgewalt (Zentralgewalt) findet, d. h. die „Staats“-Gewalt der Länder von der Staatsgewalt des Gesamtstaates delegiert ist.237 Als Teilrechtsordnung hat der Gliedstaat im Unterschied zum Selbstverwaltungskörper die Kompetenz zur Verfassungsgebung. Nach dem Stufenbau im Sinne der Reinen Rechtlehre stellt die Verfassung die positivrechtlich höchste Stufe jeder Rechtsordnung dar. Die Verfassungsgebung bedeutet die Vollziehung der abstrakten ordnungsbildenden Grundnorm. Die Verfassung in materiellrechtlicher Hinsicht ist ein Akt höchster Rechtserzeugung, derer wesentliche Funktion darin besteht, die generellen Rahmen der Gesetzgebung und ihrer organisationsrechtlichen Ausübung zu verankern. Der Gliedstaat ist ermächtigt, nicht nur die in seiner Kompetenz fallenden Materien durch lokale Rechtsnormen inhaltlich zu bestimmen (Kompetenz 235 Vgl. Kelsen, AStL, S. 190 f.; ders., ÖZÖR 1919/1920, S. 119; Kelsen/Merkl/Froehlich, Die Bundesverfassung, S. 67. 236 Vgl. Merkl, Adolf, Zur deutschösterreichischen Bundesverfassung (1921), in: MayerMaly, Dorothea/Schambeck, Herbert/Grussmann, Wolf-Dietrich (Hrsg.), Adolf Julius Merkl. Gesammelte Schriften, Zweiter Band: Verfassungsrecht, Völkerrecht. Erster Halbband, Berlin 2002, S. 324. 237 Vgl. Kelsen, AStL, S. 191, 192; ders., Reine Rechtslehre, S. 81.
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Kap. III: Paradigmenwechsel in Deutschland und Österreich
zur Gesetzgebung oder sog. Gesetzgebungshoheit), sondern auch die Art und Weise sowie den Gegenstand dieser Rechtserzeugung zu regeln (d. h. eigene Verfassungsgebung). Genau dies ist die sog. Verfassungsautonomie der Gliedstaaten. Die gliedstaatliche Verfassungsautonomie umfasst nicht nur allein die Erzeugung genereller lokaler Rechtsnormen (d. h. die Gesetzgebung), sondern auch die Rechtsanwendung durch den Erlass individueller lokaler Normen (d. h. die Vollziehung).238 Obwohl die Gliedstaaten als Teilordnungen des Bundesstaates die Verfassungsautonomie besitzen, ist diese nur im Rahmen und aufgrund der Gesamtverfassung möglich. Während dem Oberstaat eine volle Verfassungsautonomie übertragen wird, ist die Kompetenz der Länder zur eigenen Verfassungsgebung von der Gesamtverfassung auch delegiert, aber wiederum von dieser häufig eingeschränkt. Mit anderen Worten verfügen die Gliedstaaten über eine durch die Gesamtverfassung beschränkte Verfassungsautonomie.239 Die im B-VG vorhandene Bezeichnung der österreichischen Länder als „selbständige“ Länder behandelte die Wiener Schule als eine erleichterte Fassung der schweizerischen Bundesverfassung von 1874, die den Kantonen die Souveränität (aber durch die Bundesverfassung beschränkte) zusprach (vgl. Art. 1, 3, 5). Dies war durch die damals herrschenden Tendenzen in der österreichischen Politik bedingt, was aber der „Selbständigkeit“ der Länder keinen juristisch relevanten Inhalt gab. Ob und inwieweit die Länder „selbständig“ sind, bestimmt allein die Bundesverfassung. Im Sinne der Dezentralisationstheorie wäre eine absolut selbständige Stellung der Länder als Glieder des Bundesstaates mit dem Bundesstaatsbegriff nicht vereinbar. Dies könnte auch durch den Einwand, dass (wie in allen Entwürfen der endgültigen Bundesverfassung Österreichs formuliert wurde) die selbständigen (souveränen) Länder dem Bund ihre Staatsgewalt (alternativ: Gesetzgebung und Vollziehung) in bestimmten Angelegenheiten übertragen sowie die in Art. 15 I B-VG verankerte allgemeine Kompetenzklausel zugunsten der Länder nicht widerlegt wird. Da die Republik Österreich im Vergleich zu den „klassischen“ Bundesstaaten auf einem anderen Weg entstanden ist, stellte sich die von den Ländern ausgehende Kompetenzverteilung einfach als gesetzestechnische Fiktion dar. Die österreichischen Länder als Teilrechtsordnungen bleiben „selbständig“, soweit dies die Bundesverfassung zulässt.240
238 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 85, 93; ders., AStL, S. 193, 208; ders., Die Bundesexekution, S. 133 ff. 239 Vgl. Kelsen, AStL, S. 193, 209; ders., Die Bundesexekution, S. 133, 135. 240 Vgl. Kelsen/Merkl/Froehlich, Die Bundesverfassung, S. 67, 80.
B. Der Übergang Österreichs zur bundesstaatlichen Organisationsform
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c) Innere Organisation der Gliedstaaten als Teilrechtsordnungen aa) Bundesstaatliche Homogenität im Sinne der Dezentralisationstheorie Die Verfassungsautonomie der Gliedstaaten reicht soweit, wie die die Gesetzgebung der Gliedstaaten betreffenden lokalen Verfassungsnormen selbst als Gesetze der Gliedstaaten und nicht als Gesetze des Oberstaates gelten. Aus der Beschränkung der gliedstaatlichen Verfassungsautonomie folgt, dass die Landesverfassung nur teilweise in die von der Gesamtrechtsordnung übertragenen Kompetenz selbst fällt und daher die Grundzüge der Gliedstaatsverfassungen durch die Gesamtverfassung (Bundesverfassung) mehr oder weniger weitgehend geregelt sind. Hier geht es um das klassische bundesstaatliche Homogenitätsgebot, obwohl sich weder Kelsen noch die anderen Vertreter der Wiener Schule des Rechtspositivismus explizit dazu äußerten. Da die Gliedstaaten über eine beschränkte Verfassungsautonomie verfügen, müssen die Grundzüge der gliedstaatlichen Rechtsordnung in der Gesamtverfassung enthalten sein und das Gesetzgebungsorgan des Gliedstaates darf die Landesverfassung nur im Rahmen der Gesamtverfassung ändern bzw. fortbilden. Zu diesen Grundzügen zählte Kelsen v. a. die Bestimmungen über die Staatsform der Bundesglieder: Die konkrete Entscheidung, sei es Monarchie oder Republik, ständische oder konstitutionelle Organisation, unmittelbare oder repräsentative Demokratie, ist in der Bundesverfassung garantiert, d. h. den Gliedstaaten zur Pflicht gemacht.241 Interessanterweise handelt es sich hier nur um die Homogenität der Staatsformen und nicht auch der Regierungsformen. Die Regelung bestimmter Grundzüge der Landesverfassungsordnungen durch die Gesamtverfassung, d. h. dieses engere Verständnis der verfassungsrechtlichen und gesetzgeberischen Rahmen der gliedstaatlichen inneren Organisation (strukturelles Homogenitätsgebot), war Kelsens Ansicht nach sowohl im Fall des republikanischen Deutschen Reiches als auch Österreichs vorhanden.242 Allerdings teilten nicht alle Zeitgenossen diese Meinung. Lukas kritisierte die entsprechenden Auffassungen Kelsens in seinem Werk „Österreichisches Staatsrecht“ (1923)243 : Während in Österreich die nähere Ausführung der im B-VG bestimmten Grundzüge der Landesverfassung den besonderen Landesverfassungsgesetzen überlassen ist, durch welche diese Grundzüge in den Ländern „bereits in Kraft getreten sind“, kann man hinsichtlich der in Art. 17 I WRV enthaltenen Richtlinien für die Staatsorganisation der reichsdeutschen Länder nicht sagen, dass diese „in Kraft getreten sind“. Genau darin sah Lukas den substantiellen Unterschied der Ausgestaltung des Homogenitätsgebotes in Art. 17 I WRV und im 4. Hauptstück des österreichischen B-VG.244
241 242 243 244
Vgl. Kelsen, AStL, S. 167, 209; ders., Die Bundesexekution, S. 134, 135. Vgl. Kelsen, Die Bundesexekution, S. 135; ders., Staatsrecht, S. 201. Vgl. Kelsen, Staatsrecht, S. 228. Vgl. Lukas, in: VVDStRL 6, S. 67 f.
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bb) Das System der Staatsorgane der Länder Das im Rahmen der territorialen Gliederung entstandene Problem des räumlichen Geltungsbereichs der ordnungsbildenden Rechtsnormen stellt primär ein statisches Moment der Dezentralisation dar. Neben der Frage nach den verschiedenen räumlichen Geltungsbereichen der die jeweilige Rechtsordnung konstituierenden Normen wird ein dynamisches Moment der Dezentralisation ersichtlich, nämlich die Entscheidung nach der Art und Weise der Erzeugung dieser Rechtsnormen mit verschiedenen Geltungsbereichen, dem Akt der Normsetzung und demgemäß den diese Rechtsnormen setzenden Organen. Von diesem Standpunkt aus betrachtet liegt die Unterscheidung zwischen der zentralisierten und dezentralisierten Rechtsgemeinschaft darin, ob die für das gesamte Gebiet oder nur für Teilgebiete geltenden Rechtsnormen von einem einzigen Organ oder von einer Vielfalt der Organe gesetzt werden.245 Anders als in einem Staat des primitiven Entwicklungsstadiums bildet die moderne Rechtsgemeinschaft zur Erzeugung und Vollziehung der ihre Ordnung konstituierenden Rechtsnormen gewisse arbeitsteilig funktionierende Organe heraus. Der Staat wird von der Reinen Rechtslehre als Apparat beamteter Organe betrachtet. Die Ausbildung eines Systems der arbeitsteilig funktionierenden Organe bewirkt den Begriff des Staatsorgans im engeren Sinne als eines rechtlich spezifisch qualifizierten, beamteten Organs.246 Nach Merkl ist für den Bundesstaat ein Dualismus und Parallelismus von Organen charakteristisch.247 Im Rahmen der Dezentralisation erfolgt die Aufteilung der sachlichen Kompetenzen nicht nur zwischen der Zentral- und Lokalordnungen, sondern auch stufenweise im Bereich der Rechtserzeugung. Im Bundesstaat sind sowohl die zentralen als auch lokalen Organe vorhanden, welche die in ihre Kompetenz fallenden Gegenstände durch die generellen und individuellen Normen zu regeln ermächtigt sind, soweit ihnen die von der Gesamtverfassung delegierte Kompetenz in der Gesetzgebung und/oder Vollziehung ganz oder teilweise zusteht. Die Lokalorgane (d. h. Organe der Gliedstaaten) unterscheiden sich von den Zentralorganen (Bundesorganen) nach dem Kriterium des Geltungsbereichs der von ihnen zu setzenden Rechtsnormen: Während das Bundesorgan zur Rechtssetzung von für das gesamte Territorium geltenden Normen befugt ist, versteht man unter Lokalorgan ein Organ, das nur die Rechtsnormen für ein Teilgebiet erzeugen darf.
245
Vgl. Kelsen, AStL, S. 167. Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 127, 131 ff. 247 Vgl. Merkl, Adolf, Zum rechtstechnischen Problem der bundesstaatlichen Kompetenzverteilung. Mit besonderer Berücksichtigung der deutschösterreichischen Bundesverfassung (1921), in: Mayer-Maly, Dorothea/Schambeck, Herbert/Grussmann, Wolf-Dietrich (Hrsg.), Adolf Julius Merkl. Gesammelte Schriften, Zweiter Band: Verfassungsrecht, Völkerrecht. Erster Halbband, Berlin 2002, S. 300. 246
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Die Teilrechtsordnung kann ihre Wirksamkeit nur durch den Willen der von ihnen selbst und nicht von einer anderen Teilrechtsordnung gebildeten Organe erlangen.248 Aus der Natur der Gliedstaaten als Teilordnungen folgt, dass deren Organe mit den Gemeindeorganen sowie den Organen eines Selbstverwaltungskörpers nicht identisch sind. Kelsen bezeichnet diese als „Staats“-Organe, weil sie nicht „direkte“ Organe des Staates selbst sind, sondern sie gehören einer der Teilrechtsordnungen dieses Staates an.249 Als „Staats“-Organe einer Teilrechtsordnung können die Organe der Gliedstaaten nur dann betrachtet werden, wenn sie Normen mit Geltung für ein Teilgebiet zu setzen haben. Diese sind die Landesorgane, soweit ihre Zugehörigkeit nach der Rechtsordnung bestimmt wird, die diese Organe selber kreieren. Da alle bundesstaatlichen Teilrechtsordnungen (sowohl der Oberstaat als auch die Gliedstaaten) durch die Gesamtverfassung delegiert werden, ergibt sich die Möglichkeit, dass ein Landesorgan von der Gesamtordnung zur Erzeugung der Rechtsnormen mit Geltung allein für ein Teilgebiet bestimmt werden kann. In diesem Fall bekommt das Landesorgan eine doppelte organisationsrechtliche Zugehörigkeit. Als ein entsprechendes Beispiel führte Kelsen das Gesetzgebungsorgan des Gliedstaates an. Dieses kann einerseits als ein Bundesorgan angesehen werden, weil es von der Bundesverfassung, die die Grundzüge der Landesverfassung bestimmt, bestellt ist. Andererseits besitzt das Landesparlament die Eigenschaft eines Gliedstaatsorgans, weil es die Rechtsnormen mit dem Geltungsbereich nur für die konkrete Teilrechtsordnung setzt.250 cc) Gesetzgebungsorgan Nach der Verfassung als höchster Stufe der Rechtsordnung folgt die Gesetzgebung, also die Erzeugung der generellen Rechtsnormen als Vollziehung der Verfassung. Im Rahmen einer dezentralisierten Rechtsgemeinschaft wird der Teilrechtsordnung ein Organ zur Erzeugung dieser generellen, aber nur für das Teilgebiet geltenden Normen zugewiesen. Dies ist das Gesetzgebungsorgan. Es muss ein Parlament sein, d. h. ein von der Bevölkerung des Teilgebiets direkt gewählter Vertretungskörper. Die essentielle Funktion dieses Organs des Gliedstaates ist, wie schon aus seiner Bezeichnung folgt, die Gesetzgebungskreation. Während die Selbstverwaltungskörper zur Verabschiedung nur lokaler Statuten berechtigt sind, werden im Gesetzgebungsorgan im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens die generellen Rechtsnormen in Gestalt der Landesgesetze verabschiedet. Diese Gesetze gehen von der eigenen „Staats“-Gewalt der Länder aus, der Gesetzgebungsprozess im Landesparlament hat einen „staatlichen“ Charakter und alle daran teilnehmenden Organe des Landes sind „Staats“-Organe, also keine Gemeindeorgane.251 248 249 250 251
Vgl. Kelsen, AStL, S. 176, 208; ders., ÖZÖR 1919/1920, S. 119. Vgl. Kelsen, AStL, S. 190 f. Vgl. Kelsen, AStL, S. 172, 176. Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 93; ders., AStL, S. 190 f.
250
Kap. III: Paradigmenwechsel in Deutschland und Österreich
Der Dualismus des Staatsapparats der dezentralisierten Rechtsgemeinschaft tritt besonders im Bereich der Gesetzgebung in Erscheinung. Im Bundesstaat handelt es sich um die Existenz zweier unterschiedlich organisierter legislativer Organtypen – eines zentralen und mehrerer peripherer Gesetzgebungsorgane. Letztere – die Landesparlamente – sind im Verhältnis zueinander und dem gesamtstaatlichen Parlament gleichgestellt. Die dezentralisierte Gesetzgebung in einem Bundesstaat bedeutet nicht, dass die unterschiedlichen Gesetzgebungsorgane nacheinander arbeitsteilig die Funktion der Normenerzeugung ausüben, sondern den Landesparlamenten werden die ausschließlichen Materien zur eigenständigen Behandlung eingeräumt. Den Sinn dieser Verteilung der gesetzgeberischen Funktion auf die unterschiedlichen Geltungsbereiche der Normen zwischen den zentralen und lokalen Gesetzgebungsorganen sah Merkl in dem Nebeneinanderstehen und Nebeneinanderfunktionieren der beiden Organtypen.252 Was ein Gesetzgebungsorgan des Gliedstaates von einem entsprechenden Gremium des Selbstverwaltungskörpers unterscheidet, ist, dass das Landesparlament neben der ordentlichen Gesetzesschöpfung auch zur Verfassungsgebung sowie -abänderung berechtigt ist. Dass dieses Organ einen von ihm setzenden Komplex der auf einem bestimmten Teilgebiet geltenden Rechtsnormen als „Gesetz“ bezeichnen darf, beeinflusst das Wesen dieses Organs oder der Rechtsordnung, welchem es zugehörig ist, nicht. Kelsen sah die von der herrschenden Bundesstaatslehre angeführte These, dass die Gliedstaaten Staatscharakter haben, weil sie ein Gesetzgebungsorgan besitzen und daher keine bloßen Selbstverwaltungskörper sind, jedenfalls als falsch an.253 Merkl schloss sich der Behauptung Kelsens an und fand den Grund der Verwurzelung des herrschenden Dogmas von der Staatlichkeit der Länder in der organisationstechnischen Eigentümlichkeit der doppelten Gesetzgebung im Bundesstaat. Die Vorstellung „ein Vertretungskörper – ein Staat“ führte zu dem Trugschluss, dass das Vorhandensein mehrerer Gesetzgebungsorgane zwingend die Annahme einer Mehrheit von Staaten innerhalb des Bundesstaates bedeutet. Dagegen war Merkl der Auffassung, dass die Existenz mehrerer Legislativorgane in einem einzigen Staat, d. h. die dezentralisierte Ausübung der Gesetzgebungstätigkeit, möglich sei, wenn man die Rechtsnatur der Gesetzgebung als Anwendung (Vollziehung) der Verfassung betrachtet.254 dd) Vollziehende Gewalt der Länder Was die Vollziehung der Gliedstaaten betrifft, widmete Kelsen diesem Aspekt der dezentralisierten Staatsorganisation keine allzu große Aufmerksamkeit. Der Erlass der Verwaltungsakte, durch die die individuellen Rechtsnormen gesetzt werden, findet im Rahmen der Vollziehung des Gesetzes – eines die generellen Normen 252 253 254
Vgl. Merkl, Kompetenzverteilung, S. 300 f. Vgl. Kelsen, AStL, S. 192. Vgl. Merkl, Kompetenzverteilung, S. 299 f. (Fn. 1).
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enthaltenen Rechtsaktes – statt. Mit anderen Worten befinden sich die Verwaltungsakte stufenweise unterhalb der Gesetze, d. h., die Vollziehung als eine der Funktion des Staatsapparats steht in einem sekundären Verhältnis zur Gesetzgebung.255 Die eigene Vollziehung kommt allerdings den Gliedstaaten ihrer Rechtsnatur nach zu. Während den Selbstverwaltungskörpern einzig die in bestimmtem Maße selbständigen Verwaltungsagenden überlassen werden, verfügen die Gliedstaaten als Rechtsordnungen höheren Grades der Dezentralisation selbstverständlich über bestimmte eigene Verwaltungsbefugnisse, die zur Vollziehung der generellen, innerhalb des entsprechenden Teilgebiets geltenden Rechtsnormen in Gestalt der Landesgesetze dienen. Dazu sind die arbeitsteilig funktionierenden Organe berufen, d. h. die Vollzugsorgane der Gliedstaaten, deren Tätigkeitsbereich grundsätzlich durch die von der bundesstaatlichen Gesamtordnung delegierte Gesetzgebungskompetenz der Gliedstaaten als Teilrechtsordnungen bedingt wird. Im Rahmen dieses Kompetenzbereichs fungieren die Vollzugsorgane als eigene „Staats“-Organe der Länder. Wie aber bereits oben gezeigt wurde, ging Kelsen davon aus, dass die Organe der Gliedstaaten zugleich Bundesorgane sind. In dieser Hinsicht wäre wichtig, die Stellung der Vollzugsorgane der Länder zu beurteilen, wenn sie zur Vollziehung der Bundesgesetze berufen sind. Wenn die Erzeugung eines Rechtsaktes in die Kompetenz des Oberstaates fällt, ist er ein Rechtsakt der Gesamtordnung, welcher auf die Einheit der ganzen Rechtsgemeinschaft bezogen ist. Gleichermaßen betrifft dies die Art des Organs, welches zur Vollziehung dieses Rechtsaktes berufen sei. Daraus folgt, dass in den Fällen der sog. mittelbaren Bundesverwaltung die die Bundesgesetze durchführenden Vollzugsorgane der Gliedstaaten nur als Bundesorgane, und nicht als die Gliedstaatsorgane auftreten. Mit anderen Worten werden die mit der Gesetzgebungskompetenz des Oberstaates korrelierenden Verwaltungsakte vom Oberstaat ausgehen und nicht vom Gliedstaat, wenn auch die Träger der Vollziehungsfunktion dieselben Organe sind, die bei der Erfüllung der Aufgaben innerhalb der selbständigen Vollziehungskompetenz der Gliedstaaten als Landesorgane tätig sind. Im Bereich der mittelbaren Bundesverwaltung sind die als „Staats“-Organe der Länder fungierenden Gremien unzweifelhaft Bundesorgane mit räumlich auf das bestimmte Territorium des Gesamtstaates beschränkter Kompetenz. Diese sind dann den zentralen vollziehenden Bundesorganen untergeordnet und an deren kompetenzbezogene Weisungen gebunden. Hier ergibt sich ein Ausnahmefall, wenn zwischen dem Oberstaat und den Gliedstaaten ein Über- und Unterordnungsverhältnis und kein eigentümliches Koordinationsverhältnis zustande kommt.256 Das nach dem österreichischen B-VG verankerte Institut der mittelbaren Bundesverwaltung (Art. 102 ff.) kann nach Kelsen nicht als eine Pflicht der Gliedstaaten als solche zur Ausübung dieser Art der Verwaltung angesehen werden. Im entgegengesetzten Fall wäre dann eine solche Deutung mit der dem Wesen des Bundes255 256
Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 93. Vgl. Kelsen, Die Bundesexekution, S. 138.
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staates nach immanenten Koordination zwischen den Teilrechtsordnungen unvereinbar. Da im Rahmen der mittelbaren Bundesverwaltung die Vollziehung bestimmter Bundesgesetze in unterer und mittlerer Instanz den Gliedstaaten, in oberster Instanz aber dem Oberstaat zugeordnet wird, scheint ein Über- und Unterordnungsverhältnis zwischen dem Oberstaat und den Gliedstaaten vorhanden zu sein. In der Tat geht es aber um ein Über- und Unterordnungsverhältnis innerhalb des Oberstaates, weil die Vollziehung der Bundesgesetze einerseits durch die zentralen (unmittelbaren) Bundesbehörden und andererseits durch die Gliedstaatsorgane als lokale (mittelbare) Bundesbehörden ausgeübt wird.257 ***
Die von Kelsen im Rahmen seiner Reinen Rechtslehre entwickelte Dezentralisationstheorie gehörte zu den sog. monistischen Bundesstaatstheorien, welche den Bundesstaat als ein geschlossenes Ganzes, dem allein die Staatsqualität zusteht, betrachten. Andererseits knüpfte die Dezentralisationstheorie an die sog. DreiKreise-Lehre (trialistische Bundesstaatstheorie) an und ging davon aus, dass innerhalb des Bundesstaates drei Rechtsordnungen vorhanden sind: Der Gesamtstaat (Bundesstaat) und unter seinem „Schirm“ stehende Gliedstaaten und Oberstaat. Im Gegensatz zu der herrschenden Staatenstaatstheorie, nach der der Bundesstaat ein Gemenge von Oberstaat und Unterstaaten bildet, stellte Kelsen die These von der rechtlichen Gleichberechtigung (Parität) von Bund und Ländern auf, welche ihrer Natur nach nur als von der Gesamtrechtsordnung (Gesamtstaat) delegierte Rechtsordnungen anzusehen sind. Diese theoretische „Triade“ in einem Bundesstaat (Gesamtstaat – Oberstaat – Gliedstaat) löste sofort die Kritik seiner Opponenten aus. Die Schwierigkeit bestand darin, die Existenz dieser die Bundesstaatlichkeit bedingten Gesamtrechtsordnung nachzuweisen. Nawiasky fragte sich, ob es wirklich Zufall sei, dass im deutschen und österreichischen Staatsrecht dieser konstruierte Gesamtstaat in seiner positivrechtlichen Erscheinung vollkommen mit dem Oberstaat zusammenfiel?258 Selbst Kelsen schrieb, dass der Bund mit der Gesamtrechtsordnung identifiziert ist.259 Daraus folgte faktisch, dass der Oberstaat – und eben nicht die „ideale“ Gesamtrechtsordnung – die bundesstaatlichen Grundlagen bestimmt und den freien Gestaltungsspielraum der Gliedstaaten festsetzt. Die als eine sehr föderalistisch formulierte Bundesstaatstheorie läuft tatsächlich darauf hinaus, dass der Bundesstaat, der sich von anderen staatlichen Organisationsformen nur quantitativ unterscheidet, eine spezifische Form der Dezentralisation des Einheitsstaates darstellt, sodass zwischen diesem als Grundtyp des Staatswesens und dem Bundesstaat nur ein gradueller Unterschied besteht.260
257
Vgl. Kelsen, Die Bundesexekution, S. 139 ff. Vgl. Nawiasky, in: VVDStRL 6, S. 61. 259 Vgl. Kelsen, Die Bundesexekution, S. 145. 260 Vgl. Ermacora, Vorstellungen und Wirklichkeit, S. 53 f.; Pernthaler, Peter, Österreichische Föderalismusbegriffe, in: Riedl, Franz Hieronymus/Veiter, Theodor (Hrsg.), Födera258
B. Der Übergang Österreichs zur bundesstaatlichen Organisationsform
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Bezüglich der inneren Organisation der Gliedstaaten als Teilrechtsordnungen ging die Dezentralisationstheorie von einem mehr zentralistischen Verständnis aus. Anders als die Staatenstaatstheorie, die den Gliedstaaten auferlegte, die mit der gesamtstaatlichen Verfassungsordnung übereinstimmenden Richtlinien bei der Gestaltung der eigenen Binnenstrukturen zu befolgen (ein klassisches Beispiel dieser Herangehensweise bildete Art. 17 I WRV), regelt die Bundesverfassung laut Kelsens Bundesstaatstheorie „mehr oder weniger weitgehend“ die Grundzüge der Gliedstaatsverfassungen, d. h., sie enthält gewisse Bestimmungen betreffend den materiellrechtlichen Inhalt der Landesverfassungen, v. a. über die Kompetenzverteilung und die Staatsorganisation. Im 4. Hauptstück des österreichischen B-VG, dem die Verfassungsvorentwürfe von Kelsen zugrunde gelegt wurden, ist genau diese Vorstellung erkennbar, welche die innere Organisation der Länder bundesverfassungsrechtlich weitgehend vorbestimmt (! S. 213 ff., 218 ff.). Nach nur knapp 15 Jahren wurde das normativ verankerte Bundesstaatsprinzip mit dem Sturz der Ersten Republik durch die „Selbstausschaltung“ des Nationalrates im März 1933, die Erlahmung des Verfassungsgerichtshofes und durch den Erlass der neuen Bundesverfassung vom 1. Mai 1934 (sog. Maiverfassung), welche die Gründung des austrofaschistischen Ständestaates ausgerufen hatte, abgeschafft. Obwohl nach der Maiverfassung Österreich weiter als Bundesstaat bezeichnet wurde (Art. 1), war es tatsächlich ein Staat ohne Bundesstaatlichkeit, da ihm eine demokratische und rechtsstaatliche Legitimationsgrundlage fehlte. In der kurzen Existenzperiode der Ersten Republik hatte sich noch keine richtige Bundesstaatstradition herausgebildet und es ist auch schwer zu prognostizieren, welche Entwicklungsrichtung der österreichische Bundesstaat im weiteren Verlauf genommen hätte. Ganz klar aber scheint die Tatsache, dass viele theoretische Auffassungen Kelsens und seiner Anhänger der Wiener Schule des Rechtspositivismus bei der Gestaltung des ersten österreichischen Bundesstaates prävalent waren und seine Weiterentwicklung nach der Wiedererrichtung 1945 vorbestimmten, was im nächsten Kapitel ausführlich untersucht wird.
lismus, Regionalismus und Volksgruppenrecht in Europa, Festschrift für Guy Héraud, Wien 1989, S. 327 ff.; Gamper, Staat und Verfassung, S. 89, 90.
Kapitel IV
Die Wiedererrichtung der Bundesstaatlichkeit in Deutschland und Österreich nach dem Zweiten Weltkrieg A. Das bundesstaatliche Homogenitätsgebot nach der Verfassungsurkunde des Parlamentarischen Rates und seine Entwicklung bis zur Deutschen Wiedervereinigung 1. Die Gründung der Bundesrepublik Deutschland und die Rechtsnatur der westdeutschen Länder Die Entstehung des republikanischen Föderalismus in den ehemaligen schwachkonstitutionellen Monarchien lief erschwert ab. Nach genau 15 Jahren erfolgte bereits der Sturz der freiheitlich-demokratischen Grundordnung im Ganzen und der antimonarchischen Bundesstaatlichkeit im Einzelnen zunächst in Deutschland 1933, und danach in Österreich 1934. Der große Verlust im Ersten Weltkrieg bedingte einerseits den Untergang der volksfeindlichen monarchischen Regime und ermöglichte den Staatsaufbau auf Grundlage der Demokratie und des Republikanismus. Andererseits beeinflusste eben die Rolle Deutschlands und Österreichs als Verlierer im Ersten Weltkrieg 1914 – 1918 die Entwicklung der Staatlichkeit in diesen Ländern: Nicht nur wirtschaftliche Schwierigkeiten, sondern auch die Selbstwahrnehmung der deutschen Völker als „Erniedrigte und Beleidigte“ führten bald zur Aushöhlung des Ideals einer wohlständigen Freistaatlichkeit. In der Zwischenkriegszeit erfuhr auch der Bundesstaatsgedanke keine vollständige Entfaltung in beiden jungen Republiken: Während im Deutschen Reich die Schwäche der bundesstaatlichen Gesamtordnung u. a. durch die politische Instabilität in den verfassungsrechtlich als eigenständig ausgeformten Ländern bedingt wurde, bildeten dagegen die „selbständigen“ Bundesländer der österreichischen Republik keine politisch funktionsfähigen Gebilde. Es fehlte demnach an einem starken Gegengewicht, das die Tendenz hin zu einer Zentralisierung des Machtapparats, d. h. das wesentliche Merkmal einer Diktatur, hätte bremsen können. Der Zweite Weltkrieg fügte der Staatlichkeit noch größeren Schaden zu: Als Teilen des besiegten „ewigen“ Dritten Reiches wurde Deutschland und Österreich die Staatssouveränität durch die Alliierten entzogen. Anders als im Revolutionsjahr 1918 konnte das deutsche bzw. österreichische Volk nach dem Ende des Zweiten
A. Das bundesstaatliche Homogenitätsgebot des Grundgesetzes
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Weltkriegs die eigene souveräne Herrschaftsgewalt bei der Gestaltung des inneren Staatslebens nicht nach freiem Ermessen ausüben. Es wurde ihm die Gestaltung der demokratischen Ordnung des westlichen (v. a. US-amerikanischen und britischen) Typus aufgezwungen. Die Ausgangskonstellation im Jahr 1945 unterschied sich von der Situation 1918 noch darin, dass die militaristische NS-Diktatur zur völligen Funktionsunfähigkeit des gesamten Staatsorganismus geführt hatte. Durch die Teilung Deutschlands in vier Besatzungszonen wurde einerseits eine schnelle Demontage des verbrecherischen Regimes angestrebt. Andererseits verfolgten die Besatzungsmächte den Zweck, die deutsche Staatlichkeit wiederherzustellen. Und dies schien erreichbar durch die Stärkung zunächst der unteren und mittleren Verwaltungsebenen, nämlich die Gemeinden und Länder. Diesem Bestreben entsprach die bundesstaatliche Organisationsform, welche neben der horizontalen Gewaltenteilung noch die Komponente der vertikalen Gewaltentrennung zwischen den öffentlich-rechtlichen Ebenen innerhalb des Gesamtkörpers vorsieht. In der Errichtung eines „vertikal gebietskörperschaftlich gegliederten Ganzen“ auf dem Territorium Deutschlands sahen die Besatzungsmächte eine besondere Chance, der Wiederholung eines rasanten Zusammenbruchs der demokratischen Grundordnung vorzubeugen. Mit anderen Worten wurde das Bundesstaatsprinzip in Bezug auf das Deutschland der jungen Nachkriegszeit v. a. als vertikale Gewaltenteilung nach dem Schema „Bund – Länder – Gemeinden“ verstanden.1 In den ersten Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg fehlte in diesem Schema nur die höchste Ebene – der Oberstaat. Bei der Neugestaltung Deutschlands wurde der für die deutsche Bundesstaatslehre und frühere Verfassungspraxis traditionelle Verlauf durchbrochen: Die Bundesrepublik Deutschland ist nicht aus einem Zusammenschluss der bisher unabhängigen Einzelstaaten entstanden, wie es gewissermaßen im Kaiserreich und später in der Weimarer Republik der Fall war. Außer Bayern, Bremen und Hamburg entsprachen die innerhalb der Besatzungszonen neu gebildeten Länder nicht den fast unverändert aus den alten Monarchien der Kaiserzeit hervorgegangenen Freistaaten der Weimarer Republik, sie waren eine Neuschöpfung der Besatzungsmächte. Die elf westdeutschen Länder bildeten keine Staaten im eigentlichen Sinne dieses Begriffs. Sie waren aber zugleich keine bloß administrativen Gebietskörperschaften. Die neuen westdeutschen Länder knüpften einerseits an die bundesstaatliche Tradition früherer Zeiten an, obwohl ihnen schon bald nach der Entstehung des NS-Regimes die Eigenständigkeit abgesprochen worden war. Durch die territoriale Neugestaltung der meisten deutschen Länder erhielten sie andererseits in der Situation des Fehlens eines gesamtstaatlichen Überbaus seitens der Alliierten die Hoheitsrechte des Gesamtkörpers gemäß natürlich den territorialen Verhältnissen und unter Aufsicht der alliierten Militärregierungen, u. a. das Recht, eigene Verfassungen zu kreieren. Es ging hier um die Verfassungsautonomie, die eines der wichtigsten Merkmale der Staatlichkeit bildet. Die westdeutschen Länder 1 Pleines, Homogenität, S. 49 f.; Stern, Klaus, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band 1: Grundbegriffe und Grundlagen des Staatsrechts, Strukturprinzipien der Verfassung, 2. Aufl., München 1984, S. 666.
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Kap. IV: Die Wiedererrichtung der Bundesstaatlichkeit
konnten allerdings nicht über eine absolute Verfassungsautonomie verfügen. Zum einen wurde das Recht der Länder zur eigenen Verfassungsgebung durch die Militärregierungen sanktioniert und nicht als aus dem Existenzrecht der Länder als Staatsgebilde hervorgegangen betrachtet. Zum anderen waren die Länder beim Erlass ihrer Verfassungen von der Zustimmung der jeweiligen Besatzungsmacht abhängig und konnten bei der inneren Gestaltung des Staatslebens nicht von den vorherbestimmten Richtlinien abweichen.2 Zur Gründung der Bundesrepublik verabschiedeten zwei Drittel der westdeutschen Länder eigene Verfassungen. Das erfolgte teils 1946 (Bay und Hamb), größtenteils aber 1947 (in den sechs restlichen Ländern). Nur drei Länder der britischen Besatzungszone – Nds, NRW und SchlH – erhielten ihre Verfassungsurkunden erst nach Inkrafttreten des GG. Diese Tendenz in der Verfassungsentwicklung der drei genannten westdeutschen Länder entsprach der heimischen Verfassungstradition der Besatzungsmacht, welche die untergeordneten Länder nicht zur Annahme einer geschriebenen Verfassung drängten.3 Die Schaffung der eigenen Verfassungen spiegelte einerseits die Entwicklung der neu gegründeten westdeutschen Länder zu festen staatsstrebenden Gebilden wider. Als Mitträger der deutschen Gesamtstaatlichkeit versuchten sie möglichst viel von der künftigen, aber zu jenem Moment noch fehlenden Bundesverfassung zu übernehmen.4 Unter Berücksichtigung dieser Tatsache sei hier die These aufgestellt, dass die seitens der Besatzungsmächte sanktionierte Fähigkeit der Länder zur eigenen Verfassungsgebung in einem nur durch die allgemein formulierten Prinzipien der Demokratie und des Republikanismus westlicher Prägung bedingten Umfang die Formulierung und die Tragweite des später im GG verankerten bundesstaatlichen Homogenitätsgebotes beeinflusste, was weiter unten analysiert werden soll. Andererseits erfolgte die eigene Verfassungsgebung der westdeutschen Länder doch mit Blick darauf, dass ein Gesamtstaat in Gestalt eines Bundesstaates über die Länder als Glieder dieses Gesamtkörpers aufgerichtet wird und die einzelnen Bestimmungen der schon beschlossenen Landesverfassungen, die mit der Bundesverfassung in Widerspruch ständen, außer Kraft gesetzt werden müssten. Ungeachtet der staatsbildenden Verfassungsautonomie der westdeutschen Länder hingen diese allerdings vom Willen der jeweiligen Besatzungsmacht ab und eine etwaige freie Entscheidung der Länder über den Beitritt oder Nichtbeitritt zum später gestalteten Gesamtstaat, welche für einen echten souveränen Staat charakteristisch wäre, war von vornherein ausgeschlossen. Dies beweist abermals, dass die innerhalb der Be2 Vgl. Reißfelder, Verfassungshomogenität, S. 90 f.; Mangoldt, Das Bonner GG, S. 126; Stern, Staatsrecht I, S. 666. 3 Vgl. Reißfelder, Verfassungshomogenität, S. 91. 4 Vgl. Vitzthum, Wolfgang Graf, Die Bedeutung gliedstaatlichen Verfassungsrechts in der Gegenwart, in: Vitzthum, Wolfgang Graf/Funk, Bernd-Christian/Schmid, Gerhard (Hrsg.), Die Bedeutung gliedstaatlichen Verfassungsrechts in der Gegenwart, Berichte und Diskussionen auf der Tagung der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer in Passau vom 7. bis. 10. Oktober 1987, Berlin und New York 1988, S. 21.
A. Das bundesstaatliche Homogenitätsgebot des Grundgesetzes
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satzungszonen entstandenen Länder nicht über eine wirkliche souveräne Staatlichkeit verfügten. Die Ausstattung der westdeutschen Länder mit dem Recht zu eigener Verfassungsgebung sollte nur zeigen, dass die Bevölkerung durch die Annahme der eigenen Verfassungsurkunde durch die von ihr gewählte parlamentarische Versammlung den von der jeweiligen Besatzungsmacht freigegebenen Weg zur Selbstregierung wählt und die Bereitschaft zum demokratischen Aufbau der politischen Ordnung hat.5 Die von den Besatzungsmächten verliehene „Verfassungsfähigkeit“ der westdeutschen Länder und die daraus erfolgte Übernahme von Aufgaben der noch nicht existierenden Gesamtrechtsordnung durch die Staatsorgane der Länder spielten unbedingt eine gewisse Rolle bei den Verhandlungen bezüglich der zukünftigen Organisationsform des gesamtdeutschen Staates. Fehlerhaft dürfte indes die Auffassung sein, dass die Entscheidung für die bundesstaatliche Ordnung Deutschlands von den Besatzungsmächten aufoktroyiert wurde. Der Wille der Besatzungsmächte zur bundesstaatlichen Organisationsform für Deutschland ist nicht zu leugnen. Allerdings war es auch die Überzeugung der Mitglieder aller verfassungsgebenden Instanzen, dem gesamtdeutschen Staat die Gestalt eines Bundesstaates zu geben und diese verfassungsrechtlich zu gewährleisten. Während aber die drei Besatzungsmächte zu einer lockeren Bündnisform nach schweizerischem Vorbild tendierten, entschieden sich die Verfassungsväter und -mütter aufgrund der traditionell deutschen Entwicklung des Bundesstaatsgedankens für einen funktionsfähigen und vollberechtigten Oberstaat.6 Im Frühjahr 1948 haben die drei Besatzungsmächte – die USA, Großbritannien und Frankreich – vereinbart, dem Teil des deutschen Volkes, der auf den Territorien der entsprechenden Besatzungszonen wohnhaft war, die Wahl einer verfassungsgebenden Versammlung zu erlauben. Dieses Organ sollte eine demokratische Verfassung ausarbeiten, die es „den Deutschen ermöglicht, ihren Teil dazu beitragen, die augenblickliche Teilung Deutschlands wieder aufzuheben, allerdings nicht durch die Wiedererrichtung eines zentralistischen Reiches, sondern mittels einer föderativen Regierungsform, die die Rechte der einzelnen Staaten angemessen schützt und gleichzeitig eine angemessene zentrale Gewalt vorsieht und die Rechte und Freiheiten des Individuums garantiert.“7 Hier ging es also nur um die westdeutschen Länder einschließlich Groß-Berlins ohne die entsprechenden Territorien der sowjetischen Besatzungszone. 5 Vgl. Maunz, Theodor, Deutsches Staatsrecht. Ein Studienbuch, 1. Aufl., München und Berlin 1951, § 18 S. 114, 115; Mangoldt, Das Bonner GG, S. 126; Vitzthum, in: VVDStRL 46, S. 21. 6 Vgl. Stern, Staatsrecht I, S. 666 f.; Maunz, Staatsrecht I, S. 118; Pleines, Homogenität, S. 50; Vitzthum, in: VVDStRL 46, S. 21. 7 Schlußkommuniqué der Londoner Sechs-Mächte-Konferenz über Deutschland vom 7. Juni 1948, zit. nach: Wernicke, Kurt/Schick, Rupert/Stelzl, Hans-Joachim/Risse, Horst (Hrsg.), Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949. Akten und Protokolle, Band 1: Vorgeschichte, bearb. v. Johannes Volker Wagner, Boppard am Rhein 1975, S. 12.
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Kap. IV: Die Wiedererrichtung der Bundesstaatlichkeit
Als Vorbereitungsphase zur Eröffnung der Plenar- und Ausschusssitzungen des Parlamentarischen Rates – so hieß die verfassungsgebende Versammlung Westdeutschlands – tagte zwei Wochen lang im August 1948 der sog. Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee – ein im Auftrag der Ministerpräsidenten der westdeutschen Länder zusammengesetzter Ausschuss der sachverständigen Beamten, – dessen Aufgabe es war, einen Verfassungsvorentwurf auszuarbeiten. Zum Schluss der Behandlungen wurde ein fast vollständiger Entwurf eines Grundgesetzes – der sog. Chiemseer Entwurf (ChE) – vorbereitet und zusammen mit einem begleitenden Bericht dem Parlamentarischen Rat zur Behandlung vorgelegt. Von September 1948 bis August 1949 tagte der Parlamentarische Rat, der aus 65 von den Landesparlamenten gewählten Abgeordneten sowie fünf eigeladenen Abgeordneten Groß-Berlins mit einem beratenden Status bestand. Zum Mai 1949 wurde aufgrund des Chiemseer Verfassungsentwurfs das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland ausgearbeitet, das vom Parlamentarischen Rat mit qualifizierter Stimmenmehrheit am 8. Mai 1949 verabschiedet worden war und nach dem Einverständnis der drei Militärgouverneure und der Ratifizierung durch zehn der elf westdeutschen Landesparlamente (außer dem Bayerischen Landtag) in Kraft trat. Entsprechend der Meinung der überwiegenden Mehrheit der Mitglieder des Parlamentarischen Rates und der beiden führenden politischen Parteien (CDU und SPD)8 entschied sich das GG für einen bundesstaatlichen Aufbau des Gemeinwesens namens „Bundesrepublik Deutschland“. Nach Carlo Schmid, dem damaligen Tübinger Staatsrechtsprofessor und Berichterstatter über das Bundesstaatsprinzip im Plenum des Parlamentarischen Rates, besteht Konsens darüber, dass der Bundesstaat durch eine Anzahl bestimmter Kennzeichen charakterisiert ist, obwohl es Meinungsverschiedenheiten bezüglich der Wesensmerkmale des föderalistischen Prinzips und des Bundesstaates als seiner Erscheinungsform gibt. Vor allem sah er es als eine der Eigenschaften des Bundesstaatsbegriffs an, dass der Bundesstaat ein in mehr oder weniger autonome Gebietskörperschaften gegliedertes Ganzes bildet. Diese Glieder müssen „Träger eigener Rechtsmacht“ sein und daher eine reale Fähigkeit haben, die ihnen zugewiesenen oder überlassenen Zuständigkeiten mit eigenen Organen und Mitteln selbständig zu erfüllen. Das ausgearbeitete GG entsprach Schmids Ansicht nach dieser wichtigsten Forderung in vollem Umfang. Nach dem GG ist das Bundesgebiet in Länder gegliedert, und diese Gliederung des Bundes in Länder kann auch durch eine Änderung des GG nicht aufgehoben werden (Art. 79 III GG). Die Länder sind zur Ausübung der Staatsgewalt berechtigt, soweit das GG selbst keine andere Regelung trifft oder zulässt (Art. 30 GG). Die Länder sollen ihrer Natur nach bei der Bestimmung der Formen und des Inhalts ihres staatlichen Lebens frei sein. Da dabei aber eine grundsätzliche Heterogenität zwischen der Verfas8
Vgl. Abgeordneter Adolf Süsterhenn (CDU) in der 2. und Abgeordneter Walter Menzel (SPD) in der 3. Sitzung des Plenums des Parlamentarischen Rates, in: Wernicke, Kurt/Schick, Rupert/Stelzl, Hans-Joachim/Risse, Horst (Hrsg.), Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949. Akte und Protokolle, Band 9: Plenum, bearb. v. Wolfram Werner, Boppard am Rhein 1996, S. 57 ff., 82 ff.; dazu auch Pleines, Homogenität, S. 50.
A. Das bundesstaatliche Homogenitätsgebot des Grundgesetzes
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sungswirklichkeit des Gesamtstaates und seiner Glieder in der Tat unmöglich ist, war Schmid der Meinung, dass die Gewährleistung einer grundsätzlichen Homogenität innerhalb des Bundesstaates eine Pflicht des Bundes sei. In Anlehnung daran bestimmt das GG, dass die Verfassungen der westdeutschen Länder, die die Eigenständigkeit dieser Länder dank der Entscheidung des das deutsche Gesamtvolk vertretenen Gremiums für die Bundesstaatlichkeit gewährleisten, gewissen Voraussetzungen einer republikanischen, demokratischen, sozialen und rechtsstaatlichen Grundordnung entsprechen müssen (Art. 28 I 1 GG).9 Demgemäß hatte Schmid auch das bundesstaatliche Homogenitätsgebot den unabdingbaren Merkmalen eines jeden Bundesstaates zugeordnet, welches das GG in seinem Art. 28 I 1 in Anlehnung an die WRV verankerte.
2. Entstehungsgeschichte des bundesstaatlichen Homogenitätsgebotes nach dem GG und seine Urbedeutung Bei den Beratungen sowohl im Herrenchiemseer Verfassungskonvent als auch in den Ausschüssen (v. a. für Zuständigkeitsabgrenzung und für Grundsatzfragen) und dem Plenum des Parlamentarischen Rates wurde überhaupt nicht zur Debatte gestellt, ob das zukünftige Grundgesetz die homogenitätstragenden Vorschriften in sich enthalten muss oder nicht. Zwischen den Schöpfern der Verfassungsurkunde bestand die einhellige Meinung, dass einerseits die Länder als Glieder des geplanten gesamtdeutschen Bundesstaates über Eigenständigkeit verfügen und diese frei ausüben sollen, was der langen verfassungsgeschichtlichen Tradition des starken einzeldeutschen Partikularismus entspricht. Andererseits hatten die Verfassungsgeber die Beispiele der völlig unterschiedlichen Entwicklung der verfassungsmäßigen Ordnungen der Länder nach der WRV, während der NS-Diktatur und in der sowjetischen Besatzungszone nach dem Zweiten Weltkrieg vor Augen. In diesem Zusammenhang wurde bezweckt, das bundesstaatliche Homogenitätsgebot auf solche Weise auszugestalten, dass es zum einen die Arbeitsfähigkeit der demokratischen Gesamtordnung des deutschen Bundesstaates gewährleistet und zum anderen eine gewisse grundsätzliche Gleichförmigkeit der Bundes- und Landesverfassungen sichert. Fraglich war daher, wie der Umfang der bundesverfassungsrechtlichen Normativvorschriften ausfallen muss, um dieses doppelte Ziel zu erreichen.10 Im ChE wurde das Homogenitätserfordernis auf folgende Weise formuliert (Art. 29):
9
Vgl. Abgeordneter Carlo Schmid in der 9. Sitzung des Plenums des Parlamentarischen Rates am 6. Mai 1949, in: Der Parlamentarische Rat IX, S. 438 f.; dazu auch Mangoldt, Das Bonner GG, S. 127; Pleines, Homogenität, S. 50. 10 Vgl. Mangoldt, Das Bonner GG, S. 127; Reißfelder, Verfassungshomogenität, S. 92; Barschel, Uwe, Die Staatsqualität der deutschen Länder. Ein Beitrag zur Theorie und Praxis des Föderalismus in der BRD, Heidelberg und Hamburg 1982, S. 196.
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Kap. IV: Die Wiedererrichtung der Bundesstaatlichkeit
1. Die Verfassungen der Länder müssen auf die allgemeine rechtliche Freiheit und Gleichheit aller Bürger gegründet sein. Die Länder müssen eine Volkvertretung haben, die aus allgemeinen, unmittelbaren, freien, gleichen und geheimen Wahlen hervorgeht; […] […] 3. Gesetzgebung, ausführende Gewalt und Rechtsprechung müssen, unbeschadet einer Verantwortlichkeit der Regierung gegenüber dem Landtag, durch gleichgeordnete Organe ausgeübt werden. 4. Die Verfassungsmäßigkeit des staatlichen Lebens in den Ländern wird vom Bund gewährleistet.11
Um zu erreichen, dass die Landesverfassungen im Grundsätzlichen mit der Bundesverfassung übereinstimmen würden, sollten folgende Elemente als „demokratische Mindestforderungen“ in das GG angenommen werden: a) Durch die Bindung der Landesverfassungen an die Grundrechte („allgemeine rechtliche Freiheit und Gleichheit aller Bürger“) musste der Demokratiegrundsatz auf Landesebene seine Erscheinung finden. Während der Beratungen im Ausschuss für Grundsatzfragen sind die Mitglieder zu der Schlussfolgerung gelangt, dass der Verweis auf die Grundrechte in den Normativvorschriften für das Verfassungsrecht der Länder überflüssig sei, weil es eine bloße Wiederholung des Inhalts des entsprechenden Grundrechtsartikels wäre; die in der Bundesverfassung formulierten Grundrechte sollen unbedingt geltendes Recht auch für die Länder sein. Das Ziel der homogenitätstragenden Normativvorschriften der Bundesverfassung muss sein, dass die Bestimmungen der Landesverfassungen den bundesverfassungsrechtlich formulierten Grundrechten nicht widersprechen würden. Daraus folgte der Vorschlag des Ausschusses für Grundsatzfragen, den entsprechenden Absatz auf folgende Weise zu formulieren (Art. 27 [29] I ChE): „Die Verfassungen der Länder müssen die rechtliche Freiheit und Gleichheit aller Bürger sichern.“12 Die Mitglieder des Ausschusses für Grundsatzfragen waren sich darüber einig, dass die Landesverfassungen den Grundprinzipien der Bundesverfassung entsprechen müssen. Der West-Berliner Abgeordnete Otto Suhr bemerkte aber dazu, dass die in das Grundgesetz des Bundes aufgenommenen Grundsätze der Staatsorganisation noch nicht bedeuten, dass sie auch für die Länder Bedeutung haben. Auf Vorschlag des Abgeordneten Ludwig Bergsträsser und des Ausschussvorsitzenden Hermann von Mangoldt wurde der erste Absatz des entsprechenden Artikels durch den Satz ergänzt, nach dem die Verfassungen der Länder den Grundsätzen demokratischer und sozialer Rechtstaatlichkeit im Sinne des Grundgesetzes, insb. den 11 Zit. nach: Bericht über den Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee vom 10. bis 23. August 1948, München o. J. [1949], S. 64. 12 12. Sitzung des Ausschusses für Grundsatzfragen am 15. Oktober 1948, zit. nach: Wernicke, Kurt/Schick, Rupert/Stelzl, Hans-Joachim/Risse, Horst (Hrsg.), Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949. Akte und Protokolle, Band 5/I: Ausschuß für Grundsatzfragen, bearb. v. Eberhard Pikart und Wolfram Werner, Boppard am Rhein 1993, S. 303 f., 311; Abgeordneter Hermann von Mangoldt in der 5. Sitzung des Hauptausschusses am 18. November 1948, in: Parlamentarischer Rat, Verhandlungen des Hauptausschusses, Bonn 1950, S. 59.
A. Das bundesstaatliche Homogenitätsgebot des Grundgesetzes
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allgemeinen Vorschriften des Art. 21 und des Teils XII über die Rechtspflege (im GG ist dies Art. 20 und Teil IX. Rechtsprechung), entsprechen (Art. 27 [29] II ChE).13 Der Redaktionsausschuss hielt Art. 27 [29] I ChE auch in der verkürzten Fassung des Ausschusses für Grundsatzfragen für überflüssig, weil die Bindung der Länder an die Grundrechte schon im Grundrechtsteil des ChE ausgesprochen worden war. In diesem Zusammenhang wäre es interessant daran zu erinnern, dass in der FRV die Homogenitätsregelungen genau dem Abschnitt über die Grundrechte des deutschen Volkes zugeordnet wurden und nach Ansicht von Kühne diese Abkehr zuerst der WRV und danach des GG von der grundrechtlichen Auffassung des Homogenitätsgebotes in Richtung einer bloß staatsorganisationsrechtlichen Kategorie nicht naturgemäß und fehlerhaft war (! S. 82 ff.). Weiter hatte der Redaktionsausschuss Bedenken, ob in Art. 27 [29] II ChE von den Verfassungen der Länder die Rede sein soll. Gemeint wurde, dass in der vom Ausschuss für Grundsatzfragen vorgeschlagenen Formulierung die Landesverfassungen allein im materiellen Sinne betrachtet wurden, während zur Zeit der Tagungen des Parlamentarischen Rates einige westdeutsche Länder überhaupt keine Verfassungen hatten. Da das Fehlen einer geschriebenen Verfassungsurkunde die tatsächliche Gewährleistung der Grundrechte nicht ausschließt, hat der Redaktionsausschuss den Antrag gestellt, statt „Verfassungen der Länder“ den Ausdruck „die verfassungsmäßige Ordnung der Länder“ einzusetzen. Obwohl der Vorsitzende des Ausschusses für Grundsatzfragen Mangoldt strikt gegen die Auffassung seiner Kollegen aus dem Redaktionsausschuss war, wurde der entsprechende Antrag erst durch den Hauptausschuss des Parlamentarischen Rates angenommen. Die endgültige Fassung wurde aber mit einer kleinen, indes inhaltlich wichtigen Ergänzung angenommen: Nun ging es um die verfassungsmäßige Ordnung „in den Ländern“. Diese Änderung war wegen der Ausdehnung der wahlrechtlichen Homogenitätsforderung auf die sich innerhalb der Länder befindlichen Gebietskörperschaften (Gemeinden und Kreise) bedingt.14 Anders als die WRV, die nur die freistaatliche Staatsform ausdrücklich erwähnte (Art. 17 I 1 WRV), fordert Art. 28 I 1 GG (Art. 27 I ChE i. d. F. des Hauptausschusses) die Konstituierung einer verfassungsmäßigen Ordnung in den Ländern, die den Grundsätzen des republikanischen, demokratischen und sozialen Rechtsstaates entsprechen muss. Diesen Unterschied findet Manfred Reißfelder nicht erheblich, „weil auch unter der Geltung der Weimarer Verfassung aus den materiell aufgestellten Erfordernissen des Art. 17 und der allgemeinen Bindung an die Grundrechte sich die Notwendigkeit der rechtsstaatlichen Demokratie ergab.“15 Man kann an dieser Schlussfolgerung zweifeln, weil einerseits in den Begriff „freistaatlich“ nicht bestimmt der Republikanismus zusammen mit Demokratie fiel. Darüber gab es 13 Vgl. 12. Sitzung des Ausschusses für Grundsatzfragen am 15. Oktober 1948, in: Der Parlamentarische Rat V-I, S. 304 f., 306, 308, 311. 14 Vgl. 5. Sitzung am 18. November 1948 und 27. Sitzung am 15. Dezember 1948 des Hauptausschusses des Parlamentarischen Rates, in: Verhandlungen des Hauptausschusses, S. 60, 62, 323, 325; dazu auch Reißfelder, Verfassungshomogenität, S. 94. 15 Reißfelder, Verfassungshomogenität, S. 94.
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bereits in der Staatswissenschaft der Weimarer Zeit keine einhellige Meinung (! S. 172 ff.). Andererseits wurde das bundesdeutsche GG bereits in einer anderen historischen Epoche angenommen als die WRV. Das Beispiel Großbritanniens zeigte deutlich, dass der moderne konstitutionelle Monarchismus mit dem demokratischen Grundsatz durchaus vereinbar ist. b) Weiter forderte der ChE, dass die westdeutschen Länder eine Volksvertretung haben müssen, welche aufgrund allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahlen zusammengesetzt wird. Im Unterschied zur WRV verzichteten die Schöpfer des GG auf die eindeutige Bindung der Länder an das Verhältniswahlsystem, welches sich als negativ erwiesen hatte, und räumten mehr Spielraum für die Gestaltung gemischter Wahlsysteme ein.16 Die aufgezählten Wahlrechtsgrundsätze, v. a. die Allgemeinheit und Unmittelbarkeit der Wahl der Volksvertretung, bewirkten mögliche Unklarheiten hinsichtlich einer eventuellen Einrichtung eines Zweikammersystems auf Landesebene. Der bayerische Abgeordnete Wilhelm Laforet forderte in der Sitzung des Hauptausschusses klarzustellen, dass in die bundesverfassungsrechtlichen Homogenitätsklammern solche repräsentativen Gremien hineinpassen wie der bayerische Senat, der nach der Landesverfassung von 1946 gleichzeitig auf die unmittelbare und mittelbare Zusammensetzung zurückging. Der Hauptausschussvorsitzende Schmid sicherte seinem Kollegen zu, dass daran kein Zweifel bestehen soll, weil noch während des Verfassungskonvents auf Herrenchiemsee davon gesprochen wurde, dass das GG mindestens eine repräsentative Körperschaft von den Ländern fordern wird17 (ausführlicher zu dieser Problematik s. u. ! S. 376 ff.). c) Um die Freiheit der Person in einem Staat vollkommen und dauerhaft zu gewährleisten, muss die Staatsorganisation auf dem Prinzip der Teilung und des Gleichgewichts der Gewalten aufgebaut werden. In einem Bundesstaat betrifft dies auch dessen Glieder. Von diesem Standpunkt aus betrachtet wurde im ChE vorgeschrieben, dass die Staatsgewalt in den Ländern durch die gleichgeordneten Organe der Gesetzgebung, der ausführenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt werden muss (Art. 29 III ChE).18 Demgemäß wurde in diesem Absatz der Grundsatz der Gewaltenteilung festgestellt. Dieser wurde aber noch mit dem Ausdruck „unbeschadet einer Verantwortlichkeit der Regierung gegenüber dem Landtag“ ergänzt. Die Formulierung bedeutete nichts anderes als die parlamentarische Verantwortlichkeit der Landesregierung, aber sie hat zu Debatten in den Ausschüssen geführt, ob für die Länder das parlamentarische Regierungssystem bundesverfassungsrechtlich vorgesehen sei, wie es in Art. 17 I 3 WRV der Fall war, oder nicht. Bedenken bestanden, weil nach der bayerischen Landesverfassung von 1946 der Ministerpräsident als Vorsitzender der Landesregierung von dem neugewählten 16
Vgl. Reißfelder, Verfassungshomogenität, S. 94. Vgl. 27. Sitzung des Hauptausschusses am 15. Dezember 1948, in: Verhandlungen des Hauptausschusses, S. 323. 18 Vgl. Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee, S. 27, 64. 17
A. Das bundesstaatliche Homogenitätsgebot des Grundgesetzes
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Landtag für die Dauer von vier Jahren gewählt wurde (Art. 44 I a. F. LVerf), was als „Regierung auf Zeit“ bezeichnet wurde. Einige Mitglieder des Ausschusses für Zuständigkeitsabgrenzung (u. a. der Vorsitzende Friedrich Wilhelm Wagner und der Abgeordnete Fritz Hoch) waren der Meinung, dass, wenn die Landesregierung auf Zeit gewählt wird, kein parlamentarisches Regierungssystem vorhanden sei. Der bayerische Abgeordnete Laforet opponierte, dass, obwohl die Verfassungsgebende Landesversammlung zugunsten einer vom Landtag auf Zeit gewählten Regierung entschieden hatte, Bayern trotzdem ein parlamentarisches System eingerichtet hat, weil der Ministerpräsident zurückzutreten gezwungen sei, „wenn die politischen Verhältnisse ein vertrauensvolles Zusammenarbeiten zwischen ihm und dem Landtag unmöglich machen“ (Art. 44 III 2 BayVerf). Um die etwaigen Auslegungsmissverständnisse in Zukunft zu vermeiden, schlug der Zuständigkeitsausschuss vor, den Satz über die parlamentarische Verantwortlichkeit der Landesregierung zu streichen.19 Die Frage nach der Notwendigkeit der normativen Verankerung der Verantwortlichkeit der Landesregierung gegenüber dem Landesparlament stand auch im Mittelpunkt der Behandlungen des Ausschusses für Grundsatzfragen. Ungeachtet dessen, dass die Mitglieder dieses Ausschusses (v. a. Schmid und Mangoldt) der Ansicht waren, dass den Ländern, obwohl das GG grundsätzlich auf dem Standpunkt der parlamentarischen Demokratie stand, die parlamentarische Regierungsweise als alternativlose Option nicht unbedingt vorgeschrieben werden müsse, wurde dennoch die Formulierung vorgeschlagen, dass die Landesregierung durch das Vertrauen der demokratisch gewählten Volksvertretung berufen sein muss (Art. 27 [29] II 2 ChE).20 In der endgültigen Fassung des zukünftigen Art. 28 I GG fand eine beliebige Erwähnung der Regierung als eines der Landesorgane kaum Niederschlag. Der Abgeordnete Thomas Dehler vom Redaktionsausschuss erklärte die vorgeschlagene Fassung mit Rücksicht auf die Hansestädte, in denen der Bürgermeister teilweise unmittelbar gewählt wird, was von der Fassung des Ausschusses für Grundsatzfragen nicht gedeckt würde.21 d) Eine bloße bundesverfassungsrechtliche Bindung der Länder an die Grundsätze der demokratischen Staatlichkeit genügt allerdings nicht. Die Schöpfer des GG waren der Auffassung, dass die bundesstaatliche Homogenität effektiv sein muss. Anders als nach der WRV wurde in Art. 29 IV [27 V] ChE bestimmt, dass die Verfassungsmäßigkeit des staatlichen Lebens (darunter wurde auch die Verfas19 Vgl. 10. Sitzung des Ausschusses für Zuständigkeitsabgrenzung am 8. Oktober 1948, in: Wernicke, Kurt/Schick, Rupert/Stelzl, Hans-Joachim/Risse, Horst (Hrsg.), Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949. Akte und Protokolle, Band 3: Ausschuß für Zuständigkeitsabgrenzung, bearb. v. Wolfram Werner, Boppard am Rhein 1986, S. 422 ff. 20 Vgl. 12. Sitzung des Ausschusses für Grundsatzfragen am 15. Oktober 1948, in: Der Parlamentarische Rat V-I, S. 311; 5. Sitzung des Hauptausschusses am 18. November 1948, in: Verhandlungen des Hauptausschusses, S. 59. 21 Vgl. 5. Sitzung des Hauptausschusses am 18. November 1948, in: Verhandlungen des Hauptausschusses, S. 60.
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Kap. IV: Die Wiedererrichtung der Bundesstaatlichkeit
sungswirklichkeit verstanden) den Grundprinzipien der gesamtstaatlichen Organisation entsprechen muss und daher vom Bund gewährleistet wird. Wenn dies in einem Land nicht der Fall sei, so hat der Bund den Rechtzustand in der Wirklichkeit des staatlichen Lebens herzustellen. Eine solche Aufsicht des Bundes über die Verfassungsmäßigkeit in den Ländern soll kein „Genehmigungsvorbehalt“ seitens des Bundes für die Verfassungen der Länder bilden. Durch das bundesverfassungsrechtliche Homogenitätsgebot als Normativvorschrift muss keine unmittelbar vom Bund ausgerichtete Vorherbestimmung des Landesverfassungsrechts stattfinden, sondern die Länder sind verpflichtet, ihre verfassungsmäßigen Ordnungen im Einklang mit der gesamtstaatlichen Grundordnung zu halten, was der Bund zu gewährleisten hat. Entspricht eine Landesverfassung nicht den homogenitätstragenden Erfordernissen der Bundesverfassung, so ist ein Streit darüber vom Bundesverfassungsgericht zu entscheiden.22
3. Das strukturelle Homogenitätsgebot im Koordinatensystem der nachkriegerischen Bundesstaatslehre und -praxis a) Die Bundesrepublik Deutschland als Bundesstaat: Begriff und typische Merkmale Abweichend von der WRV, die einer bestimmten begrifflichen Festlegung der Organisationsform der Weimarer Republik auswich, spricht das GG unmittelbar von der bundesstaatlichen Ausgestaltung Deutschlands. So wird in Art. 20 I GG der Gesamtstaat ausdrücklich als „Bundesstaat“ bezeichnet. Auf die bundesstaatliche Organisationsform des neuen Staates deutet ferner der Name „Bundesrepublik Deutschland“ hin, die zusammen mit der abgekürzten Bezeichnung „Bund“ vielfach im Text des GG verwendet wird. Unbezweifelbar entschied sich der deutsche Verfassungsgeber für den Typus des Bundesstaates. Die in der Nachkriegszeit herrschende Staatslehre betrachtete den Bundesstaat als einen der möglichen juristischtechnischen Typen der innerstaatlichen Gliederung und Verbindung, unter welchem in der besten Tradition der klassischen Staatenstaatstheorie ein aus mehreren Staaten zusammengesetzter Gesamtstaat verstanden wurde. In diesem Sinne ist der Bundesstaat eine durch die Verfassung des Gesamtstaates konstituierte Verbindung von Einzelstaaten, in der Letztere als Glieder des Bundesstaates selbst die Staaten sind (Gliedstaaten), aber auch die staatsrechtliche Verbindung selbst ein Staat darstellt (Zentral- oder Gesamtstaat). Im Bundesstaat sind die Gliedstaaten nicht bloße Selbstverwaltungskörper mit einem höherem Grad an Selbständigkeit, die dem
22 Vgl. Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee, S. 27 f.; Reißfelder, Verfassungshomogenität, S. 94.
A. Das bundesstaatliche Homogenitätsgebot des Grundgesetzes
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Zentralstaat untergeordnet sind, sondern es handelt sich vielmehr um zwei Ebenen von Staatlichkeit im Rahmen eines Gesamtkörpers.23 Wenn im Bundesstaat dessen Glieder gleichgeordnet sind, so entsteht indes die Frage nach dem Verhältnis zwischen den Gliedern. Im sog. Reichskonkordatsurteil aus dem Jahre 1957 wies das BVerfG darauf hin, dass die Bundesrepublik Deutschland, bestehend aus dem Bund und den Ländern, verfassungsrechtlich als ein Ganzes anzusehen ist, und im Geltungsbereich des GG die staatliche Einheit durch die Bundesrepublik Deutschland als Bundesstaat verwirklicht wird, deren Glieder der Bund und die Länder sind.24 Diese Auffassung führte dazu, dass es scheinen könnte, dass die Stellungnahme des BVerfG auf der Lehre von der Dreigliedrigkeit des Bundesstaates basiert. Die durch Kelsen und Nawiasky vertretene These von der dreigliedrigen Binnenstruktur des Bundesstaates besagt, dass der Bundesstaat in drei staatsorganisationsrechtliche Stufen aufgegliedert ist. Im Fall Deutschlands bedeutet das, dass dem Oberstaat (Bund) die Gliedstaaten (Länder) als gleichberechtigte Größe gegenüberstehen und alle zusammen den Gesamtstaat namens Bundesrepublik Deutschland bilden. Dass die Organträger von Gesamtstaat und Oberstaat allerdings identisch sind, war für Kelsen nicht mehr als eine historische Zufälligkeit. Im Sinne der Reinen Rechtslehre ist die physische Identität der Organträger unterschiedlicher Stufen nur Personalunion bei Verschiedenheit der Staatsorgane (! S. 247 ff.).25 Das deutsche Schrifttum der Nachkriegszeit lehnte zum größten Teil Kelsens Drei-Kreise-Lehre aus dem Grund ab, dass die grundgesetzliche Bundesstaatskonzeption nur Ebenen des Bundes- und Landesverfassungsrechts kennt. Das GG selbst spricht an einer Stelle von der „Bundesrepublik“, in den übrigen Fällen aber nur vom „Bund“, ohne die Begrifflichkeiten einheitlich anzuwenden. Anscheinend versteht man unter „Bundesrepublik“ den Bund zusammen mit den Ländern, also den Gesamtstaat, und unter „Bund“ dagegen den Bund als Gesamtheit der Bundesorgane, also den Oberstaat.26 Ungeachtet dieses inkonsistenten Sprachgebrauchs des GG gelangte das BVerfG schon bald zu der Schlussfolgerung, die Dreigliedrigkeitsthese in Bezug auf die Bundesrepublik Deutschland nicht weiter in Anspruch zu nehmen. Während im sog. Ersten Rundfunk-Urteil des BVerfG aus dem Jahre 1961 noch ein dreigliedrigkeitsmäßiger Satz zu finden war, laut dem „ob und inwieweit ein Land – mit Rücksicht auf den Grundsatz bundesfreundlichen Verhaltens – gegen den Bund auch einen verfassungsrechtlichen Anspruch darauf hat, daß der Bund die gemein23
Vgl. Mangoldt, Das Bonner GG, S. 126; Maunz, Staatsrecht I, S. 109 f.; ders., Staatsrecht XXIII, S. 222 f.; Stern, Staatsrecht I, S. 644 f. 24 BVerfGE 6, 309, 340, 364. 25 Vgl. Rudolf, Walter, Die Bundesstaatlichkeit in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, in: Starck, Christian (Hrsg.), Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz, Festgabe aus Anlaß des 25jährigen Bestehens des Bundesverfassungsgerichts, Band 2: Verfassungsauslegung, Tübingen 1976, S. 236. 26 Vgl. Maunz, Staatsrecht I, S. 110; ders., Staatsrecht XXIII, S. 223; Vitzthum, in: VVDStRL 46, S. 12 f.
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same Verfassungsordnung nicht in einer Weise mißachtet, die die Interessen der Länder als Gliedstaaten des Bundesstaats verletzt“27, lehnte das Gericht bereits im Urteil zur Neugliederung Hessen aus dem gleichen Jahre seine eigene These zur etwaigen Dreigliedrigkeit des deutschen Bundesstaates ausdrücklich ab. Am Beispiel der Aufteilung der staatlichen Befugnisse im Inneren zwischen den Organen des Bundes und denen der Länder führte das BVerfG aus, dass von einer Unterscheidung zwischen einem Zentralstaat (Oberstaat) und einem Gesamtstaat als zwei verschiedenen Rechtsträgern und Subjekten gegenseitiger verfassungsrechtlicher Rechte und Pflichten kaum die Rede sein kann. Es gibt neben dem Bundesstaat als Gesamtstaat nicht noch einen besonderen Zentralstaat; es geht eigentlich nur um eine zentrale Organisation, die zusammen mit den gliedstaatlichen Organisationen im Geltungsbereich des GG als Bundesstaat alle die staatlichen Aufgaben erfüllt, die im Einheitsstaat einer einheitlichen staatlichen Organisation zufallen.28 Mit anderen Worten besteht der Bundesstaat als Gesamtstaat nach der Vorstellung des Gerichts aus den Gliedstaaten und dem Oberstaat (Zentralstaat), welcher die ihm durch das GG übertragenen staatlichen Befugnisse und Aufgaben (vgl. Art. 30 GG) in Auftrag nimmt und der „durch die Verbindung der Länder zu einem Bundesstaat bewirkt wird.“29 Der Gesamtstaat namens „Bundesrepublik Deutschland“ ist also als ein „zweigliedriger“ Bundesstaat ausgestaltet, in dem die Länder (Gliedstaaten) dem Bund (Oberstaat) rechtlich nicht unterworfen sind und der Bund seinerseits von den Ländern nicht „abhängig“ und ihnen auch keineswegs „untergeordnet“ ist. Sowohl die Gliedstaaten als auch der Oberstaat üben eine volle, unabhängige und selbstentscheidende Staatstätigkeit aus. Innerhalb eines aus den einander zugeordneten politischen Teileinheiten zusammengesetzten Staates stellt das Verhältnis von Bund und Ländern keine prinzipielle Über- und Unterordnung dar: „Gleichordnung bei eigenständiger, Unterordnung bei fremdbestimmter Staatstätigkeit.“30 Der Oberstaat und die Gliedstaaten sind im Rahmen ihres eigenen Tätigkeitsbereichs grundsätzlich voneinander unabhängig, wenn sie aber auch zu wechselseitiger Loyalität (sog. Bundestreue) verpflichtet sind. Das Bundesstaatsverhältnis beruht vielmehr auf Koordination: Die Länder und der Bund sind einander koordiniert, gemeinsamen Zielen und Werten verbunden, was die gemeinsame Arbeit innerhalb des sinnvoll gegliederten Ganzen bedingt.31
27
BVerfGE 12, 205, 259. Vgl. BVerfGE 13, 54, 77, 78. 29 BVerfGE 13, 54, 78. 30 Vitzthum, in: VVDStRL 46, S. 15 Fn. 30. 31 Vgl. Maunz, Staatsrecht I, S. 110; ders., Staatsrecht XXIII, S. 224; Vitzthum, in: VVDStRL 46, S. 15 Fn. 30. 28
A. Das bundesstaatliche Homogenitätsgebot des Grundgesetzes
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b) Die Staatsqualität der westdeutschen Länder Wenn die Gliedstaaten dem Oberstaat nicht untergeordnet sind, sondern ihm gleichgeordnet, so ergibt sich die Frage nach ihrer Staatsqualität. Während einer der Sitzungen des Hauptausschusses des Parlamentarischen Rates äußerte sich Professor Mangoldt dazu, dass es schlechterdings unmöglich wäre, dass der Staatscharakter der Länder ein anderer als der des Bundes wäre.32 Ausgehend davon, dass das Bundesstaatsprinzip als ein Ausdruck der vertikalen Gewaltenteilung betrachtet wird, steht die Staatsqualität in einem föderativ gegliederten Gesamtstaat sowohl dem Oberstaat als auch den Gliedstaaten zu. Der Oberstaat räumt den Gliedstaaten ihre Staatlichkeit nicht ein, sondern vielmehr gewährleistet er sie ihnen.33 Fraglich ist dann aber, was für eine Rechtsnatur die Staatlichkeit der bundesdeutschen Länder hat und warum diese, wenn sie selbst Staaten darstellen, trotzdem nur als Gliedstaaten handeln und zu einem höheren Körper (d. h. dem Gesamtstaat) zusammengefügt sind. Die grundgesetzliche Bundesstaatlichkeit zeigt sich in doppelter Staatlichkeit. Schon in seinem ersten Urteil (dem sog. Südweststaat-Urteil) erkannte das BVerfG an, dass die Länder als Glieder des Bundesstaates Staaten sind.34 Später bestätigte es dies noch ausdrücklicher: „Das Eigentümlichste des Bundesstaates ist, daß der Gesamtstaat Staatsqualität und daß die Gliedstaaten Staatsqualität besitzen.“35 Ein wirklicher Bundesstaat ist nur dann vorhanden, wenn die zusammengeordneten Glieder dieses Gesamtgefüges über eine originäre, mit substanziellen Kompetenzen ausgestattete Hoheitsgewalt verfügen. Genau der Besitz einer unabgeleiteten Staatsgewalt unterscheidet die Gliedstaaten von bloßen Selbstverwaltungskörpern und autonomen Gebietskörperschaften. Ausgehend von der in Art. 30 GG enthaltenen Klausel, nach der den Ländern durch ihre Ausübung der staatlichen Befugnisse und Aufgaben ihre Staatlichkeit bewahrt wird, gelangte das BVerfG auch zu der Schlussfolgerung, dass die deutschen Länder mit eigener, wenn auch gegenständlich beschränkter, nicht vom Bund abgeleiteter, sondern von ihm anerkannter staatlicher Hoheitsmacht ausgerüstet sind.36 Im Sinne des Grundsatzes der vertikalen Gewaltenteilung ist die Staatsgewalt im Bundesstaat zwischen dem Oberstaat und den Gliedstaaten gegenständlich geteilt. Fraglich aber ist, ob die Glieder des deutschen 32 Vgl. 5. Sitzung des Hauptausschusses des Parlamentarischen Rates am 18. November 1948, in: Verhandlungen des Hauptausschusses, S. 59. 33 Vgl. Maunz, Staatsrecht I, S. 109; ders., Staatsrecht XXIII, S. 223; Stern, Staatsrecht I, S. 666. 34 Vgl. BVerfGE 1, 14, 34. 35 BVerfGE 36, 342, 360 f. 36 Vgl. BVerfGE 1, 14, 34; Lex, Hans Ritter von, Die Entwicklung des Verhältnisses von Bund und Ländern in der Bundesrepublik, in: Verfassung und Verwaltung in Theorie und Wirklichkeit, Festschrift für Wilhelm Laforet anläßlich seines 75. Geburtstages, München 1952, S. 52; Stern, Staatsrecht I, S. 667; Rudolf, Die Bundesstaatlichkeit, S. 240; Maunz, Staatsrecht XXIII, S. 227; Vitzthum, in: VVDStRL 46, S. 14.
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Kap. IV: Die Wiedererrichtung der Bundesstaatlichkeit
Bundesstaates – der Bund und die Länder – über eine originäre Hoheitsgewalt verfügen oder ob diese von irgendeinem Akteur abgeleitet ist. Mangoldt vertrat der Ansicht, dass es zum Wesen des föderativen Aufbaus gehört, dass der Bund (Gesamtstaat) seinen Gliedern einen bestimmten Teil der Staatsgewalt zur eigenständigen Ausübung überlässt.37 Im Gegensatz dazu war Bodo Dennewitz der Meinung, dass der Bundesstaat seine Funktion nur dann erfüllen kann, wenn jeder Mitgliedstaat ein gleiches Maß an Souveränität an die bundesstaatliche Obergewalt (d. h. an den Gesamtstaat) abgegeben hat und die Bundesorgane bundesverfassungsrechtlich die einheitliche Bundesgewalt ausüben.38 Hier erscheinen zwei schon bekannte Herangehensweisen zur Beurteilung der Natur der etwaigen Staatlichkeit der Bundesglieder. Einerseits wird der Bundesstaat als Ganzes betrachtet, welches seinen Mitgliedern (dem Oberstaat und den Gliedstaaten) einen Inbegriff an Hoheitsrechten durch die Bundesverfassung überträgt. Mit anderen Worten erfolgte aus der Sicht Mangoldts die Bildung der Bunderepublik „von oben“, in der ihre Glieder zur Ausübung der Staatsgewalt in dem Umfang befugt sind, soweit das gesamte Staatsgebilde dies rechtlich zulässt. Andererseits ging Dennewitz von der Entstehung der Bundesrepublik „von unten“ aus, wonach die Länder diese staatsrechtliche Dachorganisation ins Leben gerufen und sie durch die Entäußerung eines bestimmten Teils eigener Hoheitsrechte mit einem selbständigen Kompetenzbereich ausgerüstet haben. Je nach begrifflichem Ansatz kann die Rechtsnatur der deutschen Länder als wirkliche Staaten innerhalb eines Bundesstaates bestritten werden. Die grundgesetzliche Bundesstaatskonzeption beruht auf der Idee, dass die gesamte Staatsgewalt nicht in einer Hand vereinigt werden soll. In diesem Sinne hat die Bundesstaatlichkeit eine gewaltenteilende und zugleich freiheitsschützende Wirkung, welche im Grundsatz der vertikalen Gewaltenteilung zum Ausdruck kommt. In der Bundesrepublik Deutschland ist die Staatsgewalt gegenständlich auf den Bund und die Länder verteilt, die diese innerhalb ihrer Zuständigkeiten grundsätzlich autonom ausüben – die kompetenzmäßigen Entscheidungen treffen die Träger selbständig. Das heißt sowohl der Bund als auch die Länder haben die höchste unabgeleitete Gewalt innerhalb der verteilten Wirkungskreise; die Staatsgewalt ist sachlich geteilt, aber nicht hinsichtlich ihrer Intensität.39 Für die Originalität der Staatsgewalt der deutschen Länder spricht die Tatsache, dass der Bundesstaat namens „Bundesrepublik Deutschland“ nicht durch Verträge der Länder entstanden ist, wohl aber durch einen verfassungsrechtlichen Zusammenschluss der Länder zu einem neuen einheitlichen Gesamtgefüge unter gleich37
Vgl. Mangoldt, Das Bonner GG, S. 126. Vgl. Dennewitz, Bodo, Das Bonner Grundgesetz und die westdeutschen Länderverfassungen, in: Die Öffentliche Verwaltung, 1949, H. 18, S. 341. 39 Vgl. Mangoldt, Das Bonner GG, S. 126; Maunz, Staatsrecht I, S. 118; ders., Staatsrecht XXIII, S. 230; Grawert, Rolf, Die Bedeutung gliedstaatlichen Verfassungsrechts in der Gegenwart, in: Neue Juristische Wochenschrift, 1987, H. 38, S. 2331. 38
A. Das bundesstaatliche Homogenitätsgebot des Grundgesetzes
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zeitiger Aufrechterhaltung einer bestimmten Menge von Hoheitsrechten im Besitz der in die Gliedstaaten umgewandelten Länder. Damit ist hier aber ohne Belang, ob die westdeutschen Länder selbst zum Zeitpunkt der Gründung der Bundesrepublik durch einen staatsschöpferischen Rechtsakt des Landesvolkes (gemeint ist natürlich die Verfassung) ins Leben gerufene Staatsgebilde darstellten oder ob es sich bloß um von den Besatzungsmächten errichtete Verwaltungsbezirke handelte.40 In Anlehnung an eine der klassischen Vorstellungen wird in der Bundesstaatslehre der Nachkriegszeit wieder behauptet, dass die Fähigkeit der Gliedstaaten zum Besitz einer ursprünglichen Hoheitsgewalt mithin ihre Souveränität belegt. Diese These geht auf die langjährigen dogmatischen Debatten zurück, ob die Souveränität in einem Bundesstaat ihrer Natur nach teilbar sein kann oder dagegen einheitlich und unteilbar ist. Das BVerfG setzte in diesem traditionellen Begriffsstreit mehr oder weniger den Schlusspunkt. Mit der Anerkennung eines den Ländern zustehenden und unentziehbaren Kerns eigener Aufgaben als „Hausgutes“ rückte das Gericht die Souveränitätsproblematik im grundgesetzlichen Bundesstaat in den Hintergrund. Die deutschen Länder verfügen über eine Eigenstaatlichkeit, weil sie essentielle Elemente des Bundesstaates darstellen, ein unveräußerliches Stück der vom Gesamtstaat unabgeleiteten Hoheitsmacht besitzen und in ihrer Existenz bundesverfassungsrechtlich gesichert sind (vgl. Art. 79 III GG).41 Werden die Länder als wirkliche Staaten betrachtet, so muss im Sinne der klassischen Volkssouveränitätslehre ihre Staatsgewalt vom eigenen Staatsvolk ausgehen. Daraus folgt der nächste Streitpunkt: Wenn die Eigenstaatlichkeit der deutschen Länder durch das Innehaben einer ursprünglichen und vom Oberstaat nicht abgeleiteten staatlichen Herrschaftsgewalt bedingt wird, wird daher diese Staatsgewalt vom Gesamtvolk des Verbandes oder vom Landesvolk (im Sinne des Volkes als Bevölkerung des betroffenen westdeutschen Landes) ausgeübt. Für die Existenz eines gesonderten Landesvolkes als Inbegriff der den konkreten Gliedstaat besiedelten Einwohner spricht die Tatsache, dass sowohl das GG nach seiner Verabschiedung durch den Parlamentarischen Rat als auch die Verfassungen der Länder von den Landesparlamenten (im Fall des GG von der Mehrheit der Vertretungskörper der damals elf westdeutschen Länder), die unmittelbar von den Landesvölkern gewählt worden waren, angenommen werden mussten. Dazu kann man auch den Wortlaut des GG zählen: In der ursprünglichen Fassung der Präambel handelte es sich um „das Deutsche Volk in den Ländern“, was man als nichts anderes als die bloße Summe der Landesvölker interpretieren kann. An anderen Stellen, besonders in Art. 20 II GG, geht es jedoch um das „Volk“ ohne Attribut „deutsch“. Dies erlaubt noch zu vermuten, dass unter „Volk“ nicht das deutsche Volk in seiner Gesamtheit verstanden wird, sondern auch die Landesvölker miteingeschlossen werden sollten. Demgemäß sei denn unter „deutschem“ Volk mitunter das ganze deutsche Volk im ethnologischen Sinne gemeint, ohne den Zusatz „deutsch“ mitunter nur das staats40 41
Vgl. Maunz, Staatsrecht I, S. 118; ders., Staatsrecht XXIII, S. 227. Vgl. BVerfGE 34, 9, 19 f.; Grawert, NJW 1987, S. 2330 (auch Fn. 4).
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Kap. IV: Die Wiedererrichtung der Bundesstaatlichkeit
bildende Volk im Gesamtstaat „Bundesrepublik Deutschland“. In Bezug auf das Volk als eines der drei staatsbildenden organisationsrechtlichen Elemente enthält das GG keine einheitliche Terminologie; ferner spricht es bspw. in Art. 29 II 2 von der „Bevölkerung“ statt „Volk“. Das führt zu dem Schluss, dass allein die grammatikalische Auslegung des grundgesetzlichen Textes das Vorhandensein eines gesonderten Landesvolkes weder bestätigen noch widerlegen kann.42 Diesen Streitpunkt könnte man mit der Hilfe der historischen Auslegungsmethode eher klarstellen. Während einer der Plenarsitzungen des Parlamentarischen Rates berichtete Schmid vor seinen Kollegen, dass das „Staatsvolk des Bundes […] nicht aus den Bevölkerungen der einzelnen Länder [besteht], sondern es ist ein Ganzes, das nicht etwa in „Ländervölker“ auseinanderfällt, sondern das in den Ländern lediglich seine besondere territoriale Gliederung erfährt“ (Hervorh. im Original).43 Daraus folgt offenbar, dass von den Vätern und Müttern des deutschen GG nur ein einziges Volk als Träger der Souveränität konzipiert wurde, welches aber zugleich wegen der bundesstaatlichen Struktur des neuen deutschen Gemeinwesens räumlich aufgegliedert ist. Seine Teile als „Landesvölker“ sind zur Schöpfung der die Staatsqualität der Länder entfalteten Verfassungsakte berechtigt, bilden aber keine Gegengewichte zum deutschen Gesamtvolk, das den einzigen Träger der Gesamtsouveränität in der Bundesrepublik darstellt. c) Verfassungsautonomie der bundesdeutschen Gliedstaaten Als wirkliche Staaten üben die Länder eine eigene Hoheitsgewalt aus, welche nicht nur staatsbildend, sondern auch verfassungsgebend ist. Die Fähigkeit zur Selbstgebung einer eigenen Verfassung unabhängig von der Zentralgewalt belegt die Ursprünglichkeit der Gewalt der Gliedstaaten und hat im juristischen Schrifttum den Namen „Verfassungsautonomie“ erhalten. In dieser Hinsicht stellt der Tübinger Staats- und Völkerrechtsprofessor Wolfgang Graf Vitzthum eine enorm wichtige Frage hinsichtlich des Zusammenhangs von Staatlichkeit und Verfassungsautonomie der deutschen Länder. Diese ist doppelt formuliert und liegt darin, ob die Gliedstaaten Staaten sind, weil sie Verfassungen haben, oder ob diese umgekehrt Verfassungen haben, weil sie Staaten darstellen. Die im Nachkriegsdeutschland herrschende Staatslehre verneint den ersten Teil dieser Doppelfrage.44 Das Vorhandensein eines Rechtsaktes in irgendeinem Gebilde, dessen Änderung erschwert ist (die Verfassung im formellen Sinne), bildet noch keine Voraussetzung seiner Zugehörigkeit zum Bundesstaat. Zum einen zeigen die modernen Beispiele des südtirolerischen oder katalanischen Autonomiestatuts ausdrücklich, dass, obwohl diese ihrer Natur nach der gliedstaatlichen Verfassung verwandt sind (in for42
Vgl. Maunz, Staatsrecht I, S. 115 ff.; Stern, Staatsrecht I, S. 669. Abgeordneter Schmid in der 9. Sitzung des Plenums des Parlamentarischen Rates am 6. Mai 1949, zit. nach: Der Parlamentarische Rat IX, S. 439. 44 Vgl. Vitzthum, in: VVDStRL 46, S. 22. 43
A. Das bundesstaatliche Homogenitätsgebot des Grundgesetzes
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malrechtlicher Hinsicht als Rechtsakte der gemeinschaftlichen Gesetzesschöpfung des Zentralstaates und des Autonomiegebiets), die Verfügung über eine „Verfassung“ Südtirol und Katalonien nicht automatisch in echte Staaten umwandelt: Sie bleiben weiter bloß autonome Teileinheiten innerhalb eines entsprechend unitarischen Italiens und Spaniens. Zum anderen könnte es historisch bedingt sein, dass ein Gliedstaat bei der Zusammensetzung eines Gemeinwesens eine Verfassung im formellen und materiellen (als normative Grundordnung des Gebildes) Sinne bereits haben kann, wenn er vor der Errichtung des Bundesstaates einen selbständigen Einzelstaat mit eigener Verfassung dargestellt hatte, welche von der Bundesverfassung danach anerkannt wurde. Daher hat der formelle Aspekt für die Eigenstaatlichkeit der Bundesstaatsglieder keine entscheidende Bedeutung.45 Im Gegensatz dazu ist das materielle Element für die Gliedstaatlichkeit ausschlaggebend. In seinen Entscheidungen bezüglich der Staatsqualität der Länder äußerte sich das BVerfG präzise: In der Bundesrepublik Deutschland als einem föderativ gestalteten Staat stehen die Verfassungsräume des Bundes und der Länder grundsätzlich selbständig nebeneinander. Im Rahmen des Verfassungsraums steht den Ländern ein Kern eigener Aufgaben als „Hausgut“ zu, welche von den Ländern selbständig ausgeübt werden. Ob die deutschen Länder echte „Staaten“ sind, lässt sich nicht formal danach bestimmen, dass sie eine eigene Verfassung besitzen.46 Neben der Bundesverfassung stehend, ist die Landesverfassung ein wesentliches Element des besonderen Status der Gliedstaaten innerhalb der bundesstaatlichen Ordnung, das ihre Eigenstaatlichkeit belegt. Die Verfassungsautonomie der Gliedstaaten ist für die Bestimmung ihrer staatlichen Eigenschaft notwendig, gewährleistet ihre Selbständigkeit, Eigenverantwortlichkeit und Entwicklungsfähigkeit im Rahmen des zusammengesetzten Staatsgefüges, sofern sie die grundlegenden Angelegenheiten der gesamtstaatlichen Ordnung betrifft und dem Landesvolk zusteht. Die Landesverfassungen stellen die unerlässlichen Bestandteile der bundesstaatlichen Organisationsform dar, weil nur diese die den Gliedstaaten bundesverfassungsrechtlich zustehenden staatlichen Aufgaben und Befugnisse in den Rang der verfassungsstaatlichen Kompetenz erheben können. Die bundesverfassungsrechtliche Bindung, die konstitutionelle Substanz und der eigenständige Legitimationsgrund – das alles kennzeichnet die Verfassungsautonomie als Ausdruck der Gliedstaatlichkeit. Die Fähigkeit der Gliedstaaten zur eigenen Verfassungsgebung ist aber eine akzidentielle, nicht essentielle Eigenschaft der Eigenstaatlichkeit der Länder. Die Staatsqualität der Länder wird durch die materielle Komponente (d. h. den bundesverfassungsrechtlich gesicherten Kreis der eigenständigen Kompetenzen) vorherbestimmt, die eigenen Verfassungen stellen – in der für die Nachkriegsstaatslehre klassischen Formulierung – einen „Ausweis der Staatlichkeit“ dar.47 45
Vgl. Vitzthum, in: VVDStRL 46, S. 22 f. (u. a. Fn. 56 und 58). Vgl. BVerfGE 4, 178, 189; 6, 376, 382; 34, 9, 19 f.; 36, 342, 361; dazu auch Vitzthum, in: VVDStRL 46, S. 23; Rudolf, Die Bundesstaatlichkeit, S. 240; Stern, Staatsrecht I, S. 707. 47 Vgl. Vitzthum, in: VVDStRL 46, S. 23, 24; Grawert, NJW 1987, S. 2330. 46
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Kap. IV: Die Wiedererrichtung der Bundesstaatlichkeit
d) Homogenitätsgrundsatz und Staatsorganisation der Länder Die Staatsqualität sichert den deutschen Ländern einen eigenen politischen Gestaltungsspielraum zu, innerhalb dessen sie über eine Verfassungshoheit verfügen. Die von der Eigenstaatlichkeit bedingte Verfassungsautonomie setzt zugleich die Eigenverantwortlichkeit für den Verfassungsraum des jeweiligen Landes voraus. Einerseits gehört zum Bereich der selbständigen Zuständigkeiten der Gliedstaaten die freie Gestaltung der verfassungsmäßigen Ordnung. Insbesondere betrifft dies die organisatorischen Grundentscheidungen, u. a. die selbständige Normsetzung über die Errichtung der Landesverfassungsorgane, ihre Funktionen und ihre Kompetenzen. Dies bestätigte das BVerfG in seinen Entscheidungen ausdrücklich und mehrfach.48 Vom Regionalismus unterscheidet sich der Föderalismus als Organisationsprinzip u. a. durch die Fähigkeit der bundesstaatlichen Teileinheiten zu „konstitutioneller Selbstbestimmung“. Daher ist die Verfassungsautonomie der Gliedstaaten eines der wesentlichen Attribute ihrer Staatlichkeit. Seiner Natur nach ist der Bundesstaat von zentrifugalen und zentripetalen Tendenzen beeinflusst. Während die Verfassungsautonomie als „Ausweis der Staatlichkeit“ der Länder ein zentrifugales (aber notwendiges) Element bildet, braucht die Gesamtstaatlichkeit entsprechend die Instrumente, die zugleich die v. a. rechtspolitische Kongruenz innerhalb des Bundesstaates gewährleisten würden, also die entgegenstehende Zentripetalität sichern. Dies betrifft in gleichem Maße die institutionelle Ausgestaltung der Verfassungsordnung der Gliedstaaten.49 Ausgehend davon, dass das Landesvolk im Besitz einer eigenen verfassungsgebenden Gewalt ist, muss die Landesverfassung die Selbstorganisation des Gliedstaates, dessen Staatsfundamentalnormen und dessen Grundbeziehungen zu seinen Bürgern regeln können. Durch die Landesverfassung ist der verfassungsrechtliche Status des jeweiligen Gliedstaates auszuformen. Im Rahmen der bundesstaatlichen Gesamtordnung muss dieser gliedstaatliche Status dennoch mit der gesamtstaatlichen Verfassungsordnung übereinstimmen, da es auf jeden Fall um einen zusammengefügten Gesamtstaat geht. Dies ist die Forderung nach der innerstaatlichen Gleichförmigkeit, die in der Staatslehre als bundesstaatliche Homogenität bezeichnet wurde. Ein gewisses Maß an Homogenität ist ganz wichtig für die Stabilität der bundesstaatlichen Gesamtordnung und bildet daher ein notwendiges zentripetales Bauelement. Der Homogenitätsgrundsatz kommt in den entsprechenden Klauseln oder Verfahren zum Tragen. Das Ziel ist es, die Entstehung sowohl all-
48 Vgl. BVerfGE 4, 178, 189; 34, 9, 20; 36, 342, 360 f.; dazu auch Stern, Staatsrecht I, S. 667 ff.; Rudolf, Die Bundesstaatlichkeit, S. 240 f. 49 Vgl. Vitzthum, in: VVDStRL 46, S. 54 f.; Bothe, Michael in: Kommentar zum Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Band 2: Artikel 21 – 146, Reihe Alternativkommentare, Neuwied und Darmstadt 1984, Art. 28 Rn. 1.
A. Das bundesstaatliche Homogenitätsgebot des Grundgesetzes
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täglicher als auch extremer Konflikte innerhalb des Bundesstaatssystems normativ zu vermeiden und zu verhindern.50 Die normative Gestaltung des Homogenitätsgrundsatzes erfolgt durch eine Reihe bundesverfassungsrechtlicher Normativbestimmungen. Den Inbegriff dieser Bestimmungen bildet das sog. Homogenitätsgebot. Der Oberstaat kann durch die Normativbestimmungen in die Verfassungsautonomie nur dann eingreifen, soweit es die Bundesverfassung ausdrücklich bestimmt oder zulässt. Grundsätzlich können die Gliedstaaten ihren Verfassungsraum nach eigenem Ermessen ordnen. Wichtig ist, dass sie sich bei der Selbstorganisation an die grundlegenden Staatsstrukturprinzipien der Gesamtordnung halten, was das BVerfG als „Mindestmaß an Homogenität“ bezeichnet hat.51 Die homogenitätsfordernden und zugleich -sichernden Regelungen sind in Art. 28 GG enthalten. Anders als Art. 17 I WRV schreibt das GG nicht explizit vor, dass die bundesdeutschen Länder eine Verfassung haben müssen. Art. 28 I 1 GG fordert nur, dass die verfassungsmäßige Ordnung in den Ländern den durch das GG bestimmten Grundsätzen in Bezug auf die gesamtstaatliche Verfassungsordnung entsprechen muss. Im Unterschied zur WRV folgt aus Art. 28 GG die Feststellung der Verfassungsautonomie der Gliedstaaten nicht ausdrücklich. Aus der entsprechenden Formulierung des GG in ihrer Verbindung mit anderen Vorschriften (Art. 30, 70 I GG) geht allerdings hervor, dass der bundesstaatliche Verfassungsgeber die Verfassungsautonomie der Länder als die Bundesrepublik bildenden Gliedstaaten explizit anerkennt und durch Art. 28 GG diese an den Homogenitätsgrundsatz bindet. Soweit die bundesverfassungsrechtlichen homogenitätstragenden Normativbestimmungen nicht berühren, sind die deutschen Länder in ihrer Verfassungsautonomie nicht eingeschränkt, ihnen bleibt ein relativ großer Gestaltungsspielraum, der vom Gesamtstaat nicht begrenzt, sondern gesichert ist. Durch das Homogenitätsgebot des Art. 28 GG ist die Verfassungsautonomie der Gliedstaaten nur zugunsten der verfassungsrechtlichen Mindestgeschlossenheit des gesamten Bundesstaatssystems beschränkt. Wie das BVerfG betonte, fordert das GG durch die Bindung der Länder an die leitenden Staatsstrukturprinzipien bei der Gestaltung des eigenen Verfassungsraums nur die Erreichung einer gewissen Homogenität innerhalb der Bundesrepublik und nicht Konformität oder Uniformität.52 Die normative Gestaltung des Homogenitätsgrundsatzes ist in den jeweiligen Bundesverfassungen der verschiedenen Bundesstaaten auf unterschiedliche Weise geregelt: Das Homogenitätsgebot kann sowohl lose als auch rigide ausgestaltet werden. Der bundesdeutsche Verfassungsgesetzgeber entschied sich für ein relativ flexibles Homogenitätserfordernis. Die bundesstaatliche Homogenität in Deutschland ist nur in den „Grundsätzen“ geboten, an die die verfassungsmäßigen Ord50 Vgl. Grawert, NJW 1987, S. 2330; Vitzthum, in: VVDStRL 46, S. 15 Fn. 30; Lerche, in: VVDStRL 21, S. 85 ff.; Bothe, in: AK-GG II, Art. 28 Rn. 1. 51 Vgl. BVerfGE 36, 342, 361. 52 Vgl. BVerfGE 9, 268, 279; 11, 77, 85 f.; 27, 44, 56; 36, 342, 361; dazu auch Mangoldt, Das Bonner GG, S. 179; Rudolf, Die Bundesstaatlichkeit, S. 240 f.; Stern, Staatsrecht I, S. 666 f.; Grawert, NJW 1987, S. 2330.
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Kap. IV: Die Wiedererrichtung der Bundesstaatlichkeit
nungen in den Ländern gebunden sind. Die konkrete Ausformung dieser „Grundsätze“ – repräsentative Demokratie, republikanische Staatsform, Rechts- und Sozialstaatlichkeit – überlässt das GG grundsätzlich den Landesverfassungen. Es vermeidet eine für die Landesverfassungsordnungen unmittelbar verbindliche umfassende und bundeseinheitliche Regelung, vielmehr fordert es die Undurchdringlichkeit und bewahrt damit die bestimmte Eigenständigkeit der Gliedstaaten in ihren verfassungsautonomen Räumen.53 Die Voraussetzung für eine solche lockere Homogenitätsklausel im GG sieht man darin, dass die westdeutschen Länder nach dem Sturz der NS-Diktatur aus der gleichen Wiedergeburt der demokratischen und rechtsstaatlichen Gesinnung entstanden sind. Noch vor der Gründung der Bundesrepublik entsprachen die unter Aufsicht der westlichen Besatzungsmächte eingerichteten verfassungsmäßigen Ordnungen den Grundsätzen eines republikanischen und demokratischen Rechtsstaates nach dem Verständnis der westlichen Welt. Daher traten auch mit der Gründung des neuen deutschen Bundesstaates im Jahre 1949 keine Schwierigkeiten mit der Einhaltung der homogenitätstragenden Normativbestimmungen des GG in den Verfassungen der westdeutschen Länder auf.54 Das bundesstaatliche Homogenitätsgebot des Art. 28 GG stellt allerdings nicht nur allein die Forderungen an die Landesverfassungsordnungen zur Einhaltung der auch für die gesamtstaatliche Ordnung geltenden Staatsstrukturprinzipien dar. Diese verfassungsschützende Funktion des Homogenitätsgrundsatzes zeigt sich auf zweierlei Art. Das Homogenitätsgebot bindet nicht nur die Gliedstaaten, um die etwaige Schrumpfung der freiheitlichen Ordnung in den Ländern, wie es in der Weimarer Republik der Fall war, zu verhindern; es bildet zugleich eine inhaltliche Schranke für den Oberstaat, der das Staatsleben der Länder beeinflussen darf, soweit es das GG zulässt (d. h. die Selbstbeschränkungsfunktion des Homogenitätsgebotes). Im entgegengesetzten Fall würde das vom deutschen GG postulierte bundesstaatliche Organisationsprinzip verletzt und die bundesverfassungsrechtlich anerkannte Staatspersönlichkeit der Länder zunichte gemacht.55 Über das bundesstaatliche Mindestmaß an Homogenität hinaus haben die deutschen Länder Gestaltungsfreiheit. Die Homogenitätsforderung des Art. 28 GG wird ihnen als Verpflichtung zur eigenverantwortlichen Erfüllung auferlegt. Das GG enthält nur die Strukturvorgaben, aber keine konstitutiven Bestimmungen bezüglich der inneren Staatsorganisation der Länder. Obwohl die Organisationsverfassungen des Bundes und der Länder in keinem Über- und Unterordnungsverhältnis stehen (! S. 264 ff.),56 setzt das GG in der Formulierung des Art. 28 I mindestens eine vollständige Organisationsverfassung in jedem Bundesland voraus, die jedes deutsche 53
Vgl. Werner, Wesensmerkmale des Homogenitätsprinzips, S. 59, 61; Stern, Staatsrecht I, S. 646 (auch Fn. 10). 54 Vgl. Lex, FS Laforet, S. 53 f. 55 Vgl. Werner, Wesensmerkmale des Homogenitätsprinzips, S. 57; Reißfelder, Verfassungshomogenität, S. 93. 56 Vgl. BVerfGE 4, 178, 189.
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Land zwecks der Funktionsfähigkeit des Gesamtstaates willens- und entscheidungsfähig macht. Den deutschen Ländern als Trägern einer eigenen – wenn auch gegenständlich beschränkten – Hoheitsgewalt steht die selbständige Gestaltung der verfassungsmäßigen Ordnung zu, solange dies im Rahmen der Homogenitätsklausel des Art. 28 GG stattfindet. Nach der Meinung des BVerfG gehören zu der unantastbaren verfassungsmäßigen Ordnung der deutschen Länder die folgenden Elemente: „die Bestimmung der Regeln, nach denen sich die Bildung der Landesverfassungsorgane, ihre Funktionen und ihre Kompetenzen bemessen, […] die Vorschriften darüber, wie oft und bei welchen Gelegenheiten der Bürger von seinem Stimmrecht Gebrauch machen kann, und wann und unter welchen Voraussetzungen ein gewählter Landtag sein Ende findet.“57 Mit anderen Worten müssen die Landesverfassungen die für die Institutionalisierung des Staatssystems erforderlichen Normen zu der Organbildung, der Organbesetzung, den Organzuständigkeiten und den staatsleitenden Entscheidungsverfahren (wie bspw. den Gesetzgebungsprozess) festlegen. Eine derartige Konstituierung des Machtsystems in den Ländern ist erforderlich, weil ihnen ein Kern der Kompetenzen bundesverfassungsrechtlich zugesichert ist (vgl. Art. 30 GG), zu derer Ausübung die Landesstaatsorgane ermächtigt sind.58 Die homogenitätsbedingte Bindung der gliedstaatlichen Verfassungsordnungen an die in Art. 28 I GG aufgezählten staatsstrukturellen Grundsätze – Republik, Demokratie, Sozialstaatsprinzip und Rechtsstaatlichkeit – wirft wegen des Umfangs dieser rechtspolitischen Begriffe die Frage nach einerseits der Tragweite des grundgesetzlichen Homogenitätsgebotes und andererseits der konkreten inhaltlichen Auffüllung dieser normativ verankerten Forderung auf, welche den Gegenstand des nächsten Abschnitts der vorliegenden Arbeit darstellt.
4. Inhalt und Tragweite des Homogenitätsgebotes nach Art. 28 I GG: Staatsstrukturprinzipien und ihre organisationsrechtlichen Erscheinungsformen a) Umfang der grundgesetzlichen Homogenitätsforderungen Das Homogenitätsgebot des Art. 28 I GG als inhaltliche Schranke der gliedstaatlichen Verfassungsautonomie verlangt eine bestimmte Gestaltung der deutschen Landesverfassungen. Anders als im Deutschen Kaiserreich, in dem die Arbeitsfähigkeit des bundesstaatlichen Gefüges eher durch die majestätische Treue und Toleranz gegenüber dem preußischen König, d. h. staatsrechtlich auf nicht normierte Weise, erreicht wurde, enthält das bundesdeutsche GG in Anlehnung an die WRV eine normative Homogenitätsklausel, beschränkt also die Landesverfassungen nicht 57 58
BVerfGE 1, 14, 34. Vgl. Grawert, NJW 1987, S. 2331.
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auf eine bloße Empfehlung der innerstaatlichen Homogenität, sondern erzwingt sie durch eine „Muss-Bestimmung“. In diesem Sinne stellt das Homogenitätsgebot des Art. 28 I GG eine Normativbestimmung dar, d. h., es ist restriktiv auszulegen als eine explizite Einschränkung der gliedstaatlichen Verfassungsautonomie zwecks einer weitgehenden Gleichförmigkeit der Verfassungsordnungen sowohl zwischen den einzelnen Ländern als auch zwischen den Ländern und dem Bund.59 Allerdings fordert, wie aus der Rechtsprechung des BVerfG folgt, das GG in Art. 28 I materiell und strukturell nur ein Mindestmaß an Übereinstimmung und keine Konformität oder Uniformität, ohne die Eigenstaatlichkeit der deutschen Länder zu beeinträchtigen.60 Durch das bundesstaatliche Homogenitätsgebot sind die verfassungsmäßigen Ordnungen der Gliedstaaten an vier Grundsätze der gesamtstaatlichen Ordnung gebunden: Republik, Demokratie, Sozial- und Rechtsstaat. Diese Prinzipien bilden zusammen ein Minimum des politischen Habitus in der Bundesrepublik. Die grundgesetzliche Homogenitätsklausel wird im Unterschied zum Art. 17 I WRV in noch gröberen Zügen formuliert, was es ermöglicht, die Homogenitätsforderungen an die deutschen Länder als allgemeine „Richtlinien“ bzw. „Rahmen“ zu betrachten. Die Formulierung des Art. 28 I GG bedingt aber ein Auslegungsproblem. Den Ländern ist eine republikanische, demokratische, soziale und rechtsstaatliche Ordnung „im Sinne dieses Grundgesetzes“ vorgeschrieben. Da die erwähnten Prinzipien unbestimmte Rechtsbegriffe darstellen, deren Konturen nicht immer scharf sind, ist fraglich, ob wegen des Zusatzes „im Sinne dieses Grundgesetzes“ die verfassungsmäßigen Ordnungen der deutschen Länder an die Grundsätze in dem gleichen Sinne, wie es in Art. 20 GG für den Bund vorgeschrieben ist, gebunden sind. Kurz nach der Verabschiedung des GG schrieb Theodor Maunz, dass nach Art. 28 I GG jedes Bundesland die gleichen vier Merkmale der Staatsform aufweisen muss wie die Bundesrepublik selbst.61 Daraus folgt, dass für die Länder die homogenitätsmäßigen Grundsätze nur auf die Weise ausgelegt werden sollen, wie es für die Gesamtordnung vorgeschrieben ist (bspw. ausschließlich repräsentative Demokratie und parlamentarische Regierungsweise). Die spätere Nachkriegsbundesstaatslehre in Deutschland war und ist bisher jedoch einer anderen Auffassung. Das grundgesetzliche Homogenitätsgebot bedeutet nicht, dass die Länder an das für den Bund vorgegebene Modell im Allgemeinen und an jede konkrete Prägung der Staatsstrukturprinzipien im Einzelnen gebunden sind. Hier steht den Ländern ein Freiraum für die Variationen in der Ausgestaltung ihrer homogenitätsgebundenen verfassungsmäßigen Ordnungen zu. Die Landesverfassungen müssen keine inhaltsidentischen Abbilder des GG sein. Diese landesver-
59 60 61
Vgl. BVerfGE 4, 178, 189; Stern, Staatsrecht I, S. 705; Vitzthum, in: VVDStRL 46, S. 29. Vgl. BVerfGE 9, 268, 279; 36, 342, 360 f. Vgl. Maunz, Staatsrecht I, S. 122.
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fassungsfreundliche Auslegung befolgte auch das BVerfG in seiner Rechtsprechung.62 Das in Art. 20 I GG explizit verankerte Bundesstaatsprinzip bildet zusammen mit den anderen Prinzipien ein Wirkungsgefüge, in dem sie unter gegenseitiger Durchdringung und Begrenzung ihre spezifisch bundesverfassungsrechtliche Ausprägung finden. Für das Homogenitätsprinzip folgt daraus, dass der jeweilige in Art. 28 I GG aufgezählte Grundsatz in diesem grundgesetzlich bedingten Zusammenhang nicht mit den absoluten Begriffsinhalten für die Landesverfassungen verbindlich sein soll.63 Die Ordnungsfunktion ist eine der wichtigsten Funktionen einer jeden Verfassung. Die Verfassung ordnet den Staat organisatorisch, d. h., sie gestaltet den für die Ausübung der dem Staat zustehenden Aufgaben und Befugnisse zuständigen Staatsapparat.64 Das betrifft in gleichem Maße die Verfassungen der deutschen Länder. Aus organisatorischer Sicht beeinflussen die Ausformung der verfassungsmäßigen Landesordnung die Grundsätze der Demokratie, des Republikanismus und des Rechtsstaates am häufigsten. Die Erscheinungsformen dieser drei Prinzipien auf Landesebene werden weiter unten ausführlich behandelt. b) Der republikanische Grundsatz aa) Allgemeine Anmerkungen An erster Stelle fordert das GG von den Ländern die republikanische Staatsform. Zuerst könnte man der Republik die andere, früher häufiger vertretene Staatsform, nämlich die Monarchie gegenüberstellen. Es scheint so, dass das grundgesetzliche Homogenitätsgebot den Ländern keinen Spielraum zur eigenständigen Ausgestaltung der Staatsform einräumt, die Einführung der Monarchie in den westdeutschen Ländern wurde bundesverfassungsrechtlich eindeutig untersagt. Aus dem Wortlaut des Art. 28 I GG folgt dieser Schluss ganz klar und unbestritten. Aus historischer Perspektive kann man auch behaupten, dass die Väter und Mütter des GG sicher nicht davon ausgingen, dass diejenigen westdeutschen Länder, die zum Zeitpunkt der Verabschiedung des bundesdeutschen GG noch über keine geschriebene Verfassung verfügt hatten, sich alle in Zukunft für das monarchische Prinzip der Staatsorganisation entscheiden würden, da dessen Wiedererrichtung nur unter gewissen sozialpolitischen Vorbedingungen vorstellbar wäre. Die Ausgangslage nach dem Zweiten Weltkrieg sah auf jeden Fall ganz anders aus als nach dem Ersten Weltkrieg. Was aber 62 Vgl. z. B. BVerfGE 9, 268, 279; 27, 44, 56; dazu auch Bothe, in: AK-GG II, Art. 28 Rn. 4; Vitzthum, in: VVDStRL 46, S. 29; Pestalozza, Christian, Die Bedeutung gliedstaatlichen Verfassungsrechts in der Gegenwart, in: Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht, 1987, H. 9, S. 747. 63 Vgl. Werner, Wesensmerkmale des Homogenitätsprinzips, S. 61. 64 Vgl. Pestalozza, NVwZ 1987, S. 744.
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in dieser Zeitperiode, unmittelbar nach dem Sturz des NS-Regimes, viel stärker ausgeprägt war, war eine hohe Wahrscheinlichkeit der Entstehung der sog. Volksrepubliken in der sowjetischen Besatzungszone, was letztlich auch erfolgte und zur Gründung der unitären Deutschen Demokratischen Republik geführte. Daher sollte die bundesverfassungsrechtliche Verankerung des republikanischen (in enger Verbindung mit dem demokratischen) Grundsatzes als Sicherungsmittel gegen die etwaigen nichtfreiheitlichen Umwandlungen in den westdeutschen Bundesländern dienen.65 Neben der kategorischen Absage an die westdeutschen Ländern hinsichtlich der bundesverfassungsmäßigen Möglichkeit der Einführung der Monarchie66 entstand in der Nachkriegsbundesstaatslehre die theoretische Auffassung, dass die Gliedstaaten der Bundesrepublik kraft der ihnen zustehenden Verfassungshoheit dennoch die monarchische Staatsform hypothetisch einführen dürften. Dies wäre jedoch nur unter einer Bedingung denkbar: Im homogenitätstragenden Art. 28 I GG müsste dann das republikanische Prinzip gestrichen werden. Eine solche Abänderung der Vorschrift des Art. 28 I GG wäre verfassungsmäßig, weil diese in Art. 79 III GG nicht für unantastbar erklärt ist. Die Verfassungsgeschichte zeigt am Beispiel des Bismarckschen Reiches, dass die Koexistenz unterschiedlicher Staatsformen in den Gliedstaaten eines bundesstaatlichen Gesamtgefüges auch in der Bundesrepublik nicht schlechthin inhomogen wäre. Beispielsweise hielten die Kommentatoren der bayerischen Landesverfassung von 1946 die Wiedereinführung der Monarchie vor Inkrafttreten des bundesdeutschen GG noch im Wege des landesverfassungskonformen Änderungsverfahrens nach Art. 75 LVerf auch für möglich. Problematisch bei dieser Auslegung wäre es aber, ob die Errichtung einer Erbmonarchie auf Landesebene mit der durch die Klausel des Art. 79 III GG gesicherten Volkssouveränität im Sinne des Art. 20 II GG vereinbar wäre.67 bb) Staatsoberhaupt Die Staatsqualität der republikanischen bundesdeutschen Länder findet ihren Ausdruck u. a. darin, dass das gesamte Staatssystem im jeweiligen Land mit dem Organ gekrönt ist, welches die Gewährleistung der Funktionsfähigkeit des Staatsapparates auf sich nimmt und damit als Staatsoberhaupt angesehen wird. Dem Staatsoberhaupt obliegt zuallererst die repräsentative Vertretung des Landes nach innen (d. h. gegenüber dem Bund einerseits und den übrigen Gliedstaaten anderer65 Vgl. Werner, Wesensmerkmale des Homogenitätsprinzips, S. 59 f.; Reißfelder, Verfassungshomogenität, S. 95; Mangoldt, Das Bonner GG, S. 179; Stern, Staatsrecht I, S. 706. 66 Vgl. Mangoldt, Das Bonner GG, S. 179; Löw, Konrad, Was bedeutet „Republik“ in der Bezeichnung „Bundesrepublik Deutschland“?, in: Die Öffentliche Verwaltung, 1979, H. 22, S. 822. 67 Vgl. Maunz, Staatsrecht I, S. 40; Stern, Staatsrecht I, S. 582; Schweiger, Karl, in: Nawiasky, Hans (Hrsg.), Die Verfassung des Freistaates Bayern, Kommentar, 2. Aufl., München 2008 (1. Aufl. 1953), Art. 1 Rn. 5.
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seits) und nach außen (d. h. gegenüber dem Ausland). Nach der „positiven“ Begriffsbestimmung der republikanischen Staatsform wird das Staatsoberhaupt für eine bestimmte Zeit direkt vom Volk oder mittelbar von Repräsentanten des Volkes gewählt. Dies unterscheidet ihn vom Erbmonarchen oder vom Autokraten bzw. Diktator einer Scheinrepublik. Die verfassungsrechtliche Stellung des Staatsoberhaupts kann unterschiedlich sein: Sie hängt von der konkreten Form der Republik (präsidiale, semipräsidentielle oder parlamentarische Republik) ab. Alle westdeutschen Länder entschieden sich für die parlamentarische Regierungsform (ausführlicher dazu s. u. ! S. 382 ff.). Typischerweise kommen dem Staatsoberhaupt in einer parlamentarischen Republik folgende verfassungsmäßigen Zuständigkeiten zu: die Mitwirkung an der Regierungsbildung; das Recht zur Parlamentsauflösung; unter bestimmten Voraussetzungen ein suspensives Vetorecht gegen Gesetzesbeschlüsse des Parlaments; Vertretungsfunktion nach außen; das Recht zur Ernennung der Beamten; Ausfertigung und Verkündung der Gesetze; das Begnadigungsrecht.68 Die Erfüllung der genannten Befugnisse durch das Staatsoberhaupt ist auf seine wichtigste Funktion als Organträger ausgerichtet – das Staatsoberhaupt als Hüter und Wahrer der Verfassung spielt eine vermittelnde Rolle, um das gesamte Staatssystem in einer Krisensituation vor dem Absturz zu bewahren.69 Das bundesdeutsche GG, das der Gesamtordnung die parlamentarische Regierungsweise vorschreibt, die an der Spitze den Bundespräsidenten als Staatsoberhaupt mit allen oben erwähnten Befugnissen (Art. 54 ff. GG) hat, verpflichtet die Länder aber nicht, ein mit dem Bundespräsidenten gleiches Staatsorgan auf Landesebene zu schaffen. Die Auslegung des in Art. 28 I GG vorgeschriebenen republikanischen Prinzips lässt trotzdem zu, dass die Landesverfassungen einen wirklichen Staatspräsidenten (nicht aber bloß, wie es in ehemaligen westdeutschen Ländern Baden und Württemberg-Hohenzollern der Fall war, einen Ministerpräsidenten mit einer solchen Amtsbezeichnung) bundesverfassungskonform vorsehen könnten.70 Die westdeutschen Länder verzichteten auf die Schaffung eines besonderen Staatsorgans mit der entsprechenden Repräsentationsstellung freiwillig. Das bedeutet allerdings nicht, dass die Landesverfassungen die dem Staatsoberhaupt in der parlamentarischen Republik gewöhnlich zustehenden Befugnisse nicht kennen. Beim Nichtvorhandensein eines Staatspräsidenten in den Ländern sind seine potenziellen Zuständigkeiten auf andere Staatsorgane verteilt, nämlich auf das Landesvolk, die Volksvertretung und ihren Präsidenten, die Landesregierung und ihren Vorsitzenden (den Ministerpräsidenten).71 68 Vgl. Uhlitz, Otto, Zur Frage des Staatsoberhauptes in den Ländern, in: Die Öffentliche Verwaltung, 1966, H. 9 – 10, S. 293. 69 Vgl. Mangoldt, Das Bonner GG, S. 298. 70 Vgl. Maunz, Staatsrecht I, S. 122; Delbrück, Ernst, Ministerpräsident – Landtagspräsident. Zur Frage des Staatsoberhauptes in den Ländern, insbesondere in Schleswig-Holstein, in: Die Öffentliche Verwaltung, 1958, H. 14 – 15, S. 353. 71 Vgl. Uhlitz, DÖV 1966, S. 293, 295; Delbrück, DÖV 1958, S. 353.
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Kap. IV: Die Wiedererrichtung der Bundesstaatlichkeit
Die verfassungsmäßige Integrationsfunktion wurde in den westdeutschen Ländern den verschiedenen Organ- und Amtsträgern zugewiesen und nicht einem gesonderten Staatsoberhaupt. Dies lehnt sich noch an die Verfassungstradition der Weimarer Republik an, als die damaligen reichsrepublikanischen Länder (insb. Preußen) auf die Errichtung des Instituts eines Staatspräsidenten verzichteten. Dieser Verzicht war u. a. bedingt durch die Befürchtung, dass zwischen diesem und dem Reichspräsidenten (dessen Stellung nach der WRV viel stärker war als die seines Pendants in der Bundesrepublik) die Funktionsfähigkeit des Bundesstaatsmodells schädliche Reibungen entstehen könnten (! S. 180 ff., 195 ff.). Die Schöpfer der neuen bundesdeutschen Landesverfassungen waren auch der Ansicht, dass die Länder keinen zusätzlichen „Landesvater“ bräuchten, obwohl die Frage nach der Notwendigkeit eines eigenen Staatspräsidenten bei den entsprechenden Beratungen nach 1945 trotzdem aufgekommen war.72 Dies ist aber eine Herangehensweise an die Problematik des Landesstaatsoberhaupts eher aus der Perspektive der Zweckmäßigkeit dieses Instituts. Rein theoretisch wäre die Errichtung der Staatspräsidenten auf Landesebene völlig bundeverfassungskonform. Da das Staatsoberhaupt als ein abgesondertes und selbständiges Staatsorgan in den westdeutschen Ländern fehlte, war daher fraglich, wer diese verfassungsmäßige Integrationsfunktion auf Landesebene übernehmen soll. In den 1950 – 60er Jahren gab es eine interessante theoretische Diskussion hierzu. Es wurde bezweifelt, ob der traditionell als Staatsoberhaupt betrachtete Ministerpräsident in der Tat ein selbständiges, aus der Landesregierung abgesondertes Organ bildet. Einige Forscher vertraten die Meinung, dass in den westdeutschen Ländern der Parlamentspräsident die Repräsentationsstellung nach innen und außen hatte.73 Die Stellung des Ministerpräsidenten als Staatsoberhaupt wird aber später noch eingehender untersucht (! S. 390 ff.). c) Der demokratische Grundsatz aa) Allgemeine Anmerkungen Mit Rücksicht auf die gerade erlebte Vergangenheit unter der NS-Diktatur und die Tendenz in den östlich der Elbe gelegenen deutschen Ländern zum Aufbau von „Volksrepubliken“ nach sowjetischem Muster forderte man eine Abwehrhaltung Westdeutschlands gegenüber jeder Diktatur welcher Art auch immer. In jeder Diktatur ist das Volk als Träger der Souveränität von der Mitwirkung an der staatlichen Willensbildung ausgeschlossen. Dies ist der Fall nicht nur in Diktaturen mit einem einzelnen Herrscher, sondern auch in Diktaturen mit einer Partei oder einer 72
Vgl. Pestalozza, NVwZ 1987, S. 744 Fn. 2; Delbrück, DÖV 1958, S. 353. Ausführlicher zu dieser Diskussion vgl. Böttcher, Stefan, Die Rechtsstellung des Landtagspräsidenten, seine Rechte und Pflichten, Diss. iur. [Kiel 1956], S. 132 ff. (Verweis aus Uhlitz, DÖV 1966, S. 298 Fn. 36); Delbrück, DÖV 1958, S. 354 ff.; Uhlitz, DÖV 1966, S. 295 ff. 73
A. Das bundesstaatliche Homogenitätsgebot des Grundgesetzes
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Klasse an der Spitze (wie z. B. die sog. Diktatur des Proletariats). Daher verankert das GG in Art. 28 I u. a. das für alle Länder verpflichtende Prinzip der Demokratie im Sinne einer klassischen bürgerlichen Demokratie, die durch Gewaltenteilung und Mehrheitsherrschaft auf Grund von periodisch stattfindenden Wahlen geprägt ist, welche auch nach Art. 20 GG für den Gesamtstaat vorgeschrieben ist. Durch das homogenitätsmäßige Demokratiegebot des Art. 28 I GG ist den Ländern die Einführung eines volksdemokratischen Systems und jeder Art von Minderheits- oder Klassenherrschaft verwehrt, sei es eine Räterepublik oder Diktatur einer Partei bzw. eines Einzelnen.74 Der Grundsatz der bürgerlichen Demokratie muss aber zugleich nicht eng ausgelegt werden. Die für den Bund vorgeschriebene repräsentative Demokratieform (Art. 20 II GG) schließt jedoch nicht aus, dass den Ländern die Elemente der direkten Demokratieausübung zugelassen werden. Die Länder sind nach herrschender Meinung in der konkreten Gestaltung ihrer bürgerlich-demokratischen Regierungssysteme frei.75 Der Demokratiegrundsatz im Sinne des bundesdeutschen GG setzt das Mitgestalten der staatlichen Ordnung sowie im Bund als auch in den Ländern durch das Volk als Träger der Souveränität v. a. mittelbar durch seine Vertretungsorgane voraus. Dies muss in Form von Abstimmungen und Wahlen stattfinden, die frei, d. h. unbeeinflusst seitens Staates oder einer Monopolpartei, durchgeführt werden müssen (Art. 28 I 2 i. V. m. Art. 20 II GG).76 In diesem Zusammenhang sind für die reibungslose Ausübung der bürgerlichen Demokratie auf Landesebene die verfassungsmäßigen Gestaltungsprinzipien der Volksvertretung enorm wichtig. bb) Verfassungsmäßige Natur der gliedstaatlichen Volksvertretungen In Anlehnung an das in Art. 28 I 1 GG vorgeschriebene demokratische Prinzip als allgemeine Grundaussage wird im zweiten Satz nochmals ausdrücklich darauf hingewiesen, dass die Länder eine Volksvertretung haben müssen, die aufgrund bestimmter Wahlrechtsgrundsätze zusammengesetzt werden muss. Zusammen mit der bundesverfassungsrechtlichen Gewährleistung des Vorhandenseins einer Volksvertretung in jedem Bundesland fordert Art. 28 I 2 i. V. m. Art. 38 I 1 GG von den Ländern eine explizite Wahlrechtshomogenität: Die Volksvertretung muss aus allgemeinen (grundsätzlich werden alle volljährigen Staatsbürger zu den Wahlen zugelassen), unmittelbaren (nicht von den sog. Wahlmännern gewählt), freien (nicht vom Staat oder einer politischen Partei gelenkt), gleichen (die Stimmen aller
74
Vgl. Maunz, Staatsrecht I, S. 122; Reißfelder, Verfassungshomogenität, S. 95; Mangoldt, Das Bonner GG, S. 179; Pleines, Homogenität, S. 50; Stern, Staatsrecht I, S. 706; Bothe, in: AK-GG II, Art. 28 Rn. 7. 75 Vgl. Mangoldt, Das Bonner GG, S. 179; Bothe, in: AK-GG II, Art. 28 Rn. 8. 76 Vgl. Reißfelder, Verfassungshomogenität, S. 95.
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Kap. IV: Die Wiedererrichtung der Bundesstaatlichkeit
Wahlberechtigten haben gleiches Gewicht) und geheimen (die Stimmenabgabe ist nicht offen) Wahlen hervorgehen.77 Auf den ersten Blick mag es scheinen, dass das bundesstaatliche Homogenitätsgebot die deutschen Länder an das oberstaatliche Modell der repräsentativen Demokratie bindet. In der Tat fordert das GG keine völlige Angleichung des Wahlrechts im Bund und in den Ländern. Anders als die WRV schreibt das bundesdeutsche GG kein für die Gliedstaaten verbindliches Verhältniswahlrechtssystem vor. Die bundesdeutschen Länder bleiben grundsätzlich frei bei der Gestaltung des eigenen Wahlrechts. Es kann auf Landesebene ein reines Mehrheitswahlsystem oder ein aus Mehrheits- und Verhältniswahl gemischtes Modell, welches das Bundesrecht nicht kennt, eingeführt werden.78 Die homogenitätsmäßige Bindung des Landeswahlrechts an die Grundsätze der Wahlen zum Bundestag bedingt letztlich jedoch keinen so großen Spielraum für die landesverfassungsrechtlichen Gestaltungsabweichungen. Die Sperrquote für die Erlangung von Bundestagsmandaten mit 5 % ist mit Art. 38 I GG vereinbar und vom BVerfG als „gemeindeutscher Satz“ bezeichnet; daher ist sie gemäß Art. 28 I GG auch für die Länder übereinstimmend festgelegt.79 Wenn das GG die Wahlrechtshomogenität im Gesamtstaat feststellt und zugleich die repräsentative Demokratieform auf allen Ebenen zwecks der verfassungsrechtlichen Kontinuität bei der Ausübung der Volkssouveränität bevorzugt, so ergibt sich die Frage nach der möglichen Synchronisierung der Wahlen im Bund und in den Ländern. Die herrschende Lehre lehnt diese Modalität aber ab. Einige sahen den Grund dafür im Grundsatz der bundesstaatlichen (d. h. „vertikalen“) Gewaltenteilung, der „dem Volk durch das Nebeneinander von Bundestags- und Landtagswahlen eine besonders starke Beteiligung an der staatlichen Willensbildung [ermöglicht], die durch das Nebeneinander verschiedener Volksvertretungen in Bund und Land zusätzliche Hemmungen und Balancen schafft.“ Aus dieser Sicherungsfunktion der bundesstaatlichen Gewaltenteilung folgt, dass es unzulässig wäre, synchronisierte Wahltermine im Bund und in den Ländern „aus Rationalisierungsgründen“ festzulegen.80 Andere gingen von der Rechtsnatur des Homogenitätsgrundsatzes aus. Die Zusammenlegung der Wahlperiode könnte als Verstoß gegen das in Art. 28 I GG verankerte Homogenitätsgebot betrachtet werden, weil einerseits das Homogenitätsprinzip im Allgemeinen „auf die harmonische Abstimmung bundes- und gliedstaatlichen Zusammenwirkens ausgerichtet ist“ und nicht der Angleichung – in diesem konkreten Fall durch den gleichzeitigen Ablauf der Wahlperioden auf beiden 77 78
Rn. 9. 79
Vgl. Maunz, Staatsrecht I, S. 123; Stern, Staatsrecht I, S. 709. Vgl. BVerfGE 4, 31, 44; Mangoldt, Das Bonner GG, S. 179; Bothe, in: AK-GG II, Art. 28
Vgl. BVerfGE 1, 248, 256; 47, 253, 277; Stern, Staatsrecht I, S. 709 f.; Bothe, in: AK-GG II, Art. 28 Rn. 9. 80 Schmidt, Walter, Das Verhältnis von Bund und Ländern im demokratischen Bundesstaat des Grundgesetzes, in: Archiv des öffentlichen Rechts, 1962, H. 3, S. 269 (auch Fn. 52).
A. Das bundesstaatliche Homogenitätsgebot des Grundgesetzes
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Ebenen – der ober- und gliedstaatlichen Ordnungen dient,81 andererseits das grundgesetzliche Homogenitätsgebot im Einzelnen nur auf die Grundsätze beschränkt ist, was eine so konkrete Maßnahme wie eine Wahlrechtssynchronisierung ausschließt.82 Ähnliche Erwägungen betreffen die Struktur der vom Art. 28 I GG erforderten Volksvertretungen in den deutschen Ländern. Fraglich ist, ob ein parlamentarisches Zweikammersystem mit den Wahlrechtsgrundsätzen des Art. 28 I 2 GG vereinbar ist. Diese Frage wurde noch während der Beratungen im Parlamentarischen Rat mehrfach angesprochen und es wurde festgestellt, dass die Errichtung einer anderen Körperschaft neben dem Vertretungsorgan zulässig wäre (! S. 262). Die theoretische Abwägung der grundgesetzlichen Wahlrechtshomogenität führt zu zwei möglichen Optionen der Ausgestaltung einer zweigliedrigen Volksvertretung in den deutschen Gliedstaaten. Zum einen kann die zweite Kammer einen wirklichen Bestandteil des Landesvertretungsorgans darstellen, wenn die Volksvertretung in zwei selbständige, voneinander unabhängige, getrennt tagende und beschlussfähige Körperschaften gegliedert ist, deren übereinstimmender Mehrheitsbeschluss erst den Willen des Vertretungsorgans bildet. Zum anderen kann betrachtet werden, dass nur ein Gremium die wirkliche Volksvertretung ist, während die andere „Kammer“ nur eine zusätzliche Körperschaft darstellt. Der Wortlaut des Art. 28 I 2 GG, der nur die in bestimmter Weise – durch demokratische Wahlen – entstandene Vertretung des Volkes fordert, lässt aber beide Modalitäten zu. Man kann sich vorstellen, dass ein Land das parlamentarische Einkammersystem errichtet, während sich ein anderes Land für ein zweigliedriges Vertretungsgremium entscheidet, in dem die zweite Kammer allerdings auf unterschiedliche Weise organisiert werden könnte.83 Im Sinne der in Art. 28 I 2 i. V. m. Art. 38 I 1 GG aufgezählten Wahlrechtsgrundsätze kann in einem Land der Bundesrepublik kein Zweikammerparlament errichtet werden, dessen beide Kammern nach dem Vorbild der US-amerikanischen Gliedstaaten direkt vom Landesvolk zusammengesetzt werden. Die Existenz der zweiten „Kammer“ des Landesparlaments, die nicht gemäß den grundgesetzlichen Wahlrechtsgrundsätzen zustande kommt, wäre in dem Fall bundesverfassungskonform, wenn in dem betreffenden Bundesland nur das direkt gewählte Gremium namens „Volksvertretung“ materiell bedeutsame Gesetzgebungs- und Kontrollbefugnisse ausübt. Das war genau der Fall des bayerischen Senats, der als zweite Kammer des Landesparlaments einzig eine beratende, begutachtende und Vetofunktionen besaß. Laut Art. 34 BayVerf stellte der Senat eine Vertretung der sozialen, wirtschaftlichen, kulturellen und gemeindlichen Körperschaften des Landes dar. Die Homogenitätsmäßigkeit dieser Art der Zusammensetzung des bayerischen Senats kann bezweifelt und in Frage gestellt werden: Fraglich ist, ob diese Gestaltungsweise 81
Vgl. Werner, Wesensmerkmale des Homogenitätsprinzips, S. 67 f. Vgl. Krüger, Hildegard, Synchronisierte Wahlen?, in: Neue Juristische Wochenschrift, 1958, H. 33/34, S. 1274 ff. 83 Vgl. Maunz, Staatsrecht I, S. 123. 82
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Kap. IV: Die Wiedererrichtung der Bundesstaatlichkeit
den Wahlrechtsprinzipien des Art. 28 I 2 GG entspricht, weil die Senatoren nicht von allen wahlberechtigten Landesbürgern, sondern nur von den Angehörigen der jeweiligen Körperschaften zu wählen waren; die Kandidaten mussten auch den Körperschaften der von der Landesverfassung abgegrenzten Art angehören; Vertreter der Religionsgemeinschaften wurden nicht gewählt, sondern von diesen bestimmt (vgl. Art. 36 BayVerf). Die Errichtung einer zweiten Parlamentskammer, die nach Art der Zusammenfügung ein berufsständiges Organ darstellt, ist nach herrschender Meinung völlig bundesverfassungskonform und bildet keinen Verstoß gegen das grundgesetzliche Homogenitätsgebot des Art. 28 I GG, weil im Fall des bayerischen Senats dieser nur ein zusätzliches Repräsentationsorgan zur durch demokratische Wahl zusammengesetzten Volksvertretung bildete, und das Gebot der Teilnahme von Parteien an der politischen Willensbildung nach Art. 21 I GG erfüllt wurde, weil das GG den politischen Parteien ebenso wie den anderen gesellschaftlichen Kräften die Möglichkeit der Mitwirkung an der staatlichen Willensbildung bietet. Daraus folgend bestanden gegen die demokratische und homogenitätsmäßige Rechtsnatur des bayerischen Senats als zweiter Parlamentskammer keine Bedenken.84 d) Der rechtsstaatliche Grundsatz Wie die beiden anderen Grundsätze ist „Rechtsstaat“ auch ein unbestimmter Rechtsbegriff. Mit Rücksicht auf seine inhaltlich unübersehbare Ausweitung in alle Bereiche des staatlichen Lebens (Gewährleistung der Grundrechte, Teilung der Gewalten, Bindung der Gesetzgebung an die Verfassung, der Verwaltung und Rechtspflege an die Gesetzgebung – dies sind nur einige Erscheinungsformen des Rechtsstaatsprinzips) birgt der Grundsatz des Rechtsstaates die Gefahr in sich, dass seine Umsetzung als Bestandteil des bundesstaatlichen Homogenitätsgebotes zu einer Uniformität in der gliedstaatlichen Binnenorganisation führen könnte. In diesem Fall muss die Selbstbeschränkungsfunktion des Homogenitätsprinzips greifen, die eine Aushöhlung der Eigenstaatlichkeit der Länder verhindern soll. Als für die Verwirklichung der Volkssouveränität auf Grundlage der Verfassungsstaatlichkeit dienender Mechanismus läuft das Rechtsstaatsprinzip in staatsorganisationsrechtlicher Hinsicht auf den Gewaltenteilungsgrundsatz hinaus.85 Die Gewaltentrennung in einem demokratischen Verfassungsstaat kann auf unterschiedliche Weise ausgestaltet werden. Die Gewichte zwischen besonders Legislative und Exekutive können rechtspolitisch bedingt in jedem konkreten Staatssystem unterschiedlich aufgeteilt werden. Daraus entstehen die Staatsformen von bspw. einer parlamentarischen konstitutionellen Monarchie bis hin zu einer Präsi84 Vgl. Maunz, Staatsrecht I, S. 123; Dennewitz, DÖV 1949, S. 342; Mangoldt, Das Bonner GG, S. 179; Bothe, in: AK-GG II, Art. 28 Rn. 10. 85 Vgl. Werner, Wesensmerkmale des Homogenitätsprinzips, S. 60; Dennewitz, DÖV 1949, S. 341 f.; Nawiasky, Hans, Die Grundgedanken des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland, Stuttgart und Köln 1950, S. 66.
A. Das bundesstaatliche Homogenitätsgebot des Grundgesetzes
285
dialrepublik. Das für die deutschen Länder aufgrund des bundesstaatlichen Homogenitätsgebotes verbindliche Gewaltenteilungsprinzip kann nach Ansicht des BVerfG in der Landesverfassung auf unterschiedliche Weise ausreichend konkretisiert werden.86 Diese Stellungnahme des deutschen BVerfG dient als Legitimation der theoretischen Auffassung, dass die Länder bei der Ausgestaltung der eigenen Regierungssysteme weitgehend frei sind. Das heißt die Gliedstaaten können sowohl etwa ein Präsidialsystem mit direkter Volkswahl des Staatsoberhaupts als auch ein parlamentarisches Regierungssystem eigener Art einführen.87 Diese Auffassung ist aber in der deutschen Bundesstaatslehre nicht herrschend. Mit der Gründung der Bundesrepublik und kurz danach kamen Zweifel daran auf, ob die Regierungssysteme der westdeutschen Länder, die überwiegend auf parlamentarische Art ausgeformt waren, nach der Verabschiedung des GG weiterhin im Widerspruch mit den Mindestgrundsätzen des bundesstaatlichen Homogenitätsgebotes standen und dem Prinzip der demokratischen (lies: parlamentarisch-demokratischen) Gewaltenteilung, wie sie auf Bundesebene verankert wird (Art. 20 GG), entsprachen.88 Daraus folgend wurde behauptet, dass die Regierungssysteme der Länder im Grunde genommen dem oberstaatlichen Modell der Gewaltenteilung „im Sinne dieses Grundgesetzes“ zugunsten der besonderen Stellung des Landesparlaments als durch das Landesvolk direkt legitimiertes Vertretungsorgan und der starken Abhängigkeit der Landesregierung entsprechen sollten. Diese theoretische Skepsis an der bundesverfassungsrechtlichen Konformität der in den Ländern eingerichteten Regierungssysteme wurde vom BVerfG nicht so schnell überwunden. Lange Zeit gab die Rechtsprechung des Gerichts keine eindeutige Antwort bezüglich der Homogenitätsmäßigkeit der in den Ländern abweichend vom „reinen“ parlamentarischen Modell auf Bundesebene herrschenden Regierungssysteme. In einer der ersten Entscheidungen zu dieser Problematik äußerte sich das BVerfG hierzu noch nicht verbindlich: „So wird durch Art. 28 Abs. 1 Satz 1 GG die Form des parlamentarischen Regierungssystems, in dem die parlamentarische Verantwortlichkeit der Regierung gegenüber dem Parlament im Mißtrauensvotum Ausdruck findet, für die Landesverfassungen nicht zwingend vorgeschrieben.“89 Aus dieser Formulierung folgt, dass, wenn sich die Länder für eine parlamentarische Regierungsweise entschieden, nach Ansicht des Gerichts die Gliedstaaten nicht zur Einführung und Beibehaltung des parlamentarischen Systems nach oberstaatlichem Muster verpflichtet sind. In einem späteren Urteil wies das BVerfG bereits expliziter darauf hin, dass Art. 28 I 1 GG nicht fordert, dass „das parlamentarische Regierungssystem in einem Bundesland […] in allen Einzelheiten der Regelung, die dieses System im Grundgesetz gefunden hat, entsprechen 86 87 88 89
Vgl. BVerfGE 34, 52, 58; dazu auch BVerfGE 55, 207, 225 f.; 9, 268, 281 f.; 22, 103, 113. Vgl. Bothe, in: AK-GG II, Art. 28 Rn. 11. Vgl. Dennewitz, DÖV 1949, S. 342. BVerfGE 9, 268, 281.
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Kap. IV: Die Wiedererrichtung der Bundesstaatlichkeit
[müsse].“90 Ungeklärt blieb aber, ob sich aus dem Homogenitätsgebot des Art. 28 I 1 GG die verfassungsrechtliche Bindung der deutschen Länder an das parlamentarische Regierungssystem überhaupt ergibt, oder ob die Betrachtung des parlamentarischen Regierungssystems seitens des BVerfG durch die reale verfassungspolitische Lage verursacht war, dass praktisch alle westdeutschen Länder dieses System eingeführt hatten.91 Für die Regierungssysteme der deutschen Länder, die überwiegend auf parlamentarische Weise ausgeformt sind, erkannte das BVerfG das immanente Prinzip der Abhängigkeit der Regierung vom Parlament an. Die Entscheidung, auf welche Art und wie intensiv diese organisationsrechtliche Abhängigkeit ausgestaltet wird, ist den Ländern im Rahmen des ihnen durch die Homogenitätsklausel des Art. 28 I GG eingeräumten Gestaltungsspielraums frei belassen.92 Hier sieht man den wichtigen Unterschied zwischen dem bundesdeutschen GG und der WRV: Während Art. 17 I 3 WRV ausdrücklich und eindeutig bestimmte, dass die Landesregierung des Vertrauens der Volksvertretung bedarf, musste das BVerfG das Prinzip der parlamentarischen Abhängigkeit der Regierungen in den westdeutschen Ländern durch seine Auslegung ableiten, obwohl diese aus dem Wortlaut des Art. 28 I GG eindeutig nicht folgt. Die Argumente dafür lassen sich mittels der systematischen und v. a. der historischen Auslegung (! S. 180 ff.) finden. Das wichtigste Merkmal, welches den Unterschied zwischen den glied- und oberstaatlichen Gestaltungsarten des parlamentarischen Regierungssystems explizit aufzeigt, ist die Stellung des Ministerpräsidenten innerhalb des Gewaltenteilungssystems des jeweiligen Landes im Vergleich zur Stellung des Bundeskanzlers gegenüber dem Bundestag: Der Ministerpräsident kann abweichend sowohl eine stärkere (eher unabhängige) als auch eine schwächere (eher abhängige) Position innehaben.93 Die Intensivität des organisationsrechtlichen Abhängigkeitsverhältnisses zwischen Regierung und Parlament zeigt sich vorrangig in den Mechanismen der Zusammensetzung und Abberufung der Regierung. Traditionell für ein parlamentarisches Regierungssystem ist die Regierung vom Parlament zusammenzusetzen. Neun von elf westdeutschen Ländern schrieben die Wahl des Ministerpräsidenten durch den Landtag vor, welcher danach die weiteren Regierungsmitglieder beruft. Abweichende Regelungen galten für West-Berlin und die beiden Hansestädte: Das Berliner Abgeordnetenhaus und die Bürgerschaften in Bremen und Hamburg wählten alle Senatoren (Minister), d. h., das Landesparlament allein bestimmte das gesamte Kabinett. In West-Berlin wählte das Parlament auch den Regierenden Bürgermeister in einem separaten Wahlgang. In den Hansestädten 90
BVerfGE 27, 44, 56. Vgl. Menzel, Eberhard, Das parlamentarische System in den deutschen Ländern und die Toleranzgrenze des Art. 28 GG. Bemerkungen zum Urteil des BVerfG vom 22. 7. 1969 – 2 BvK 1/67 (DÖV 1969, 633), in: Die Öffentliche Verwaltung, 1969, H. 22, S. 768. 92 Vgl. BVerfGE 27, 44, 56. 93 Vgl. Maunz, Staatsrecht I, S. 122 f.; Grawert, NJW 1987, S. 2332. 91
A. Das bundesstaatliche Homogenitätsgebot des Grundgesetzes
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wählten die Senatoren den Präsidenten des Senats (Bremen) bzw. den Ersten Bürgermeister (Hamburg) aus ihrer Mitte, was aber bereits ein regierungsinternes Verfahren ohne Mitwirkung des Landesparlaments darstellte.94 Wie schon mehrmals betont wurde, bildet das Vertrauen ein Kernstück der Beziehungen zwischen Parlament und Regierung im Rahmen des parlamentarischen Systems. Zu den wichtigsten Mechanismen der institutionellen Zusammenarbeit der Legislative und Exekutive gehört v. a. das Misstrauensvotum, das fast allen westdeutschen Landesverfassungen bekannt war. Erteilt das Landesparlament der Landesregierung ein Misstrauensvotum, muss die Regierung zurücktreten. Die Länder sind aber an die grundgesetzliche Art des Vertrauensentzugs – das sog. konstruktive Misstrauensvotum – nicht gebunden: Während eine Reihe westdeutscher Länder (BadWürtt, Brem, Hamb, Nds, NRW und SchlH) sich zu dem nach dem Vorbild des Art. 67 GG gestalteten konstruktiven Misstrauensvotum bekannte, das die Ablösung der Regierung (Regierungschefs oder einzelner Mitglieder) an die gleichzeitige Wahl einer neuen Regierung (Regierungschefs oder einzelner Mitglieder) bindet, erlaubten die Verfassungen anderer Länder (Hess, RhPf und Saarl) dem Landesparlament den Vertrauensentzug, ohne dass eine neue Landesregierung sofort (aber binnen einer verfassungsrechtlich bzw. -gesetzlich bestimmten, reichlich kurzen Frist) gewählt werden müsste; im entgegengesetzten Fall, wenn das Landesparlament eine neue Regierung nicht fristgemäß beruft, tritt eine automatische Parlamentsauflösung ein, und nur in West-Berlin führte ein fristgemäß nicht verwirklichtes Misstrauen gegenüber der Landesregierung keineswegs zur Auflösung des Abgeordnetenhaueses.95 Allein die bayerische Landesverfassung kannte und kennt bisher keinen ausdrücklich und klar verankerten Mechanismus des Misstrauensvotums. Der bayerische Ministerpräsident hat – obwohl er vom Landtag gewählt wird und die weiteren Regierungsmitglieder nur mit der Zustimmung des Landtags berufen bzw. entlassen darf (Art. 44 I, 45, 46 BayVerf) – eine besondere Stellung im Gewaltenteilungssystem des Freistaates. Bei der Gestaltung seiner Regierungspolitik ist er selbständig und seine Verantwortung dafür gegenüber dem Landtag (Art. 47 II BayVerf) scheint als eine „unsichtbare“, eher parteipolitische statt formalrechtliche, weil ein Misstrauensvotum des Landesparlaments ihn nicht stürzen kann. Nach Art. 44 II 2 BayVerf muss der Ministerpräsident zurücktreten, wenn die politischen Verhältnisse ein vertrauensvolles Zusammenarbeiten zwischen ihm und dem Landtag unmöglich machen. Aber ob diese Voraussetzungen vorliegen, kann in der Tat allein der Ministerpräsident ermessen.96 Eine andere Diskussionsfrage stellt die zeitliche Begrenzung der Amtsperiode der Landesregierung dar. Und wieder enthält die bayerische Landesverfassung eine 94
Vgl. Menzel, DÖV 1969, S. 768. Vgl. Groß, Rolf, Zur geschäftsführenden Regierung, in: Die Öffentliche Verwaltung, 1982, H. 24, S. 1009; Maunz, Staatsrecht I, S. 123. 96 Vgl. Dennewitz, DÖV 1949, S. 342; Groß, DÖV 1982, S. 1009 f. 95
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Kap. IV: Die Wiedererrichtung der Bundesstaatlichkeit
Sonderregelung. Der bayerische Ministerpräsident als Kabinettsvorsitzender im Sinne des Art. 47 I BayVerf wurde nach Art. 44 I a. F. BayVerf für die Dauer von vier Jahren gewählt; daraus folgend ist die Amtszeit der Landesregierung als Kollegium auf vier Jahre begrenzt. Diese Regelung namens „Regierung auf Zeit“ stand noch im Fokus der Beratungen des Parlamentarischen Rates und wurde von seinen Mitgliedern als grundgesetzkonform anerkannt (! S. 262 f.). Grundsätzlich wird jedoch der Landesregierung das Vertrauen widerruflich erteilt und die Volksvertretung kann dieses durch ihren Beschluss entziehen. Im Rahmen eines parlamentarischen Regierungssystems ist es logisch, dass die Regierung, die vom Vertrauen des Parlaments abhängig ist, mit der Zusammensetzung des neu gewählten Vertretungsorgans eine demokratische Legitimation erneut erhalten muss. Nach dem bundesdeutschen GG (Art. 69 II) und den vielen westdeutschen Landesverfassungen bedeutet die Neuwahl des Landesparlaments das Ende der Amtszeit der Landesregierung: Vor einer neuen Zusammensetzung des Parlaments muss die Regierung zurücktreten. Die Landesverfassungen von WestBerlin, Hamb, RhPf und SchlH sahen aber nicht vor, dass die Amtsperiode der Landesregierung mit der Legislaturperiode des Landesparlaments verknüpft ist. In diesen Ländern blieb die Landesregierung im Amt, solange noch keine neue Regierung vom Parlament gebildet wird. Das Fehlen einer ausdrücklichen Rechtspflicht der Landesregierung zum Rücktritt und daher die Fortdauer ihrer Amtszeit über die Wahlperiode des Landesparlaments hinaus bildeten den Verhandlungsgegenstand im BVerfG. Am Beispiel der fehlenden Bindung der Amtsperiode der Landesregierung an die Legislaturperiode des Landtags in der schleswig-holsteinischen Landessatzung gelangte das BVerfG zu der heftig umstrittenen Schlussfolgerung, dass zu den nach Art. 28 I 1 GG für die Länder verbindlichen Grundsätzen des demokratischen Rechtsstaates im Sinne des GG das Prinzip des Art. 69 II GG, wonach das Amt des Regierungschefs in jedem Fall mit dem Zusammentritt eines neuen Parlaments endet, nicht gehört.97 Hier äußerte sich das BVerfG unmissverständlich, dass eine entsprechende Begrenzung der Amtszeit der Landesregierung bundesverfassungsrechtlich nicht geboten sei, und infolgedessen wird die Bestimmung der Funktionsperiode der amtierenden Landesregierung dem Ermessen des jeweiligen Landesgesetzgebers überlassen.98 ***
Abgesehen davon, dass das grundgesetzliche Homogenitätsgebot auch allein durch die Bindung an die freistaatlichen Grundsätze die verfassungsmäßigen Ordnungen der westdeutschen Länder trotzdem relativ weitgehend einschränkt, ist den Ländern allerdings ein nicht geringes Maß an Selbstorganisation geblieben. Bei ihrem eigenen Staatsaufbau können die Länder ein parlamentarisches Zweikammersystem und ein eigenes Staatsoberhaupt errichten; anders als ihre Vorgänger in 97
Vgl. BVerfGE 27, 44, 55 f. Vgl. Menzel, DÖV 1969, S. 768 f.; Groß, DÖV 1982, S. 1010 f.; Bothe, in: AK-GG II, Art. 28 Rn. 11. 98
B. Das Homogenitätsprinzip im österreichischen B-VG
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Weimarer Zeit sind sie nicht an ein konkretes Wahlsystem gebunden, ihnen ist freie Hand in Bezug auf die Art der Regierungsbildung und -abberufung sowie den konkreten Mechanismus ihrer Verantwortung gegenüber dem Landesparlament gelassen. Das bestätigt ein weiteres Mal, dass die deutschen Länder auch im Rahmen der Bundesrepublik ihre Staatsqualität nicht verloren und sich von bloßen selbstverwaltenden Gebietskörperschaften stark unterscheiden.99
B. Das Homogenitätsprinzip im Lichte der relativen Verfassungsautonomie der österreichischen Bundesländer und die Eigentümlichkeiten seiner verfassungsrechtlichen Ausgestaltung bis zum Beitritt Österreichs zur EU 1. Die Wiederinkraftsetzung des B-VG von 1920 i. d. F. von 1929 und der Neubeginn der Bundesstaatlichkeit in Österreich Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges wurde Österreich wie auch die Territorien der zukünftigen Bundesrepublik Deutschland zum Sommer 1945 in vier Besatzungszonen geteilt: die sowjetische (Bgld, NÖ, OÖ nördlich der Donau und östlich der Enns), die US-amerikanische (OÖ südlich der Donau und westlich der Enns, Slbg), britische (Krnt, Osttirol, Stmk) und die französische (Nordtirol, Vbg); die Hauptstadt Wien war seit April 1945 von der Roten Armee besetzt, zum September 1945 übernahmen aber die anderen Alliierten ihre vereinbarten Sektoren in der Stadt. Diese Besatzung verlief allerdings unter anderen Umständen als in Deutschland. Noch vor der Gesamtkapitulation der großdeutschen Wehrmacht und Niederlage des Dritten Reiches wurde am 27. April 1945 von den kurz zuvor wiederbzw. neugegründeten Volksparteien (SPÖ, ÖVP und KPÖ) die Unabhängigkeitserklärung unterzeichnet, nach der die Republik Österreich (inoffiziell sog. Zweite Republik) wiedererrichtet wurde. Am gleichen Tag wurde die provisorische Staatsregierung unter Karl Renner eingerichtet, welche aus Vertretern der drei Volksparteien bestand und vom sowjetischen Oberkommando in Österreich unterstützt wurde. Obwohl einerseits in der Moskauer Deklaration der Alliierten von 1943 betont wurde, dass Österreich für die Beteiligung am Krieg Verantwortung mitträgt, kamen die Alliierten andererseits darin überein, dass Österreich das erste Opfer der NS-Aggression war und sein Anschluss an das Dritte Reich im März 1938 erzwungen war. Die Rolle eines Opfers, das zur Teilnahme am Krieg als annektierter Teil HitlerDeutschlands gezwungen wurde, erleichterte Österreich den Prozess der Wiederherstellung der eigenen Staatlichkeit: Schon zum Ende des Jahres 1945 wurde der Nationalrat wieder gewählt und das B-VG von 1920 i. d. F. von 1929 wurde wieder in Kraft gesetzt. Zehn Jahre nach der Unabhängigkeitserklärung erhielt die Republik 99
Vgl. Nawiasky, Grundgedanken des GG, S. 70.
290
Kap. IV: Die Wiedererrichtung der Bundesstaatlichkeit
Österreich die volle Souveränität nach innen und nach außen (Staatsvertrag vom 15. Mai 1955), viel schneller als im Fall Deutschlands: Der Weg für die Wiedervereinigung Deutschlands als freier und vollkommen unabhängiger Staat wurde erst durch den sog. Zwei-plus-Vier-Vertrag vom 12. September 1990 freigemacht. Es gibt die Auffassung, dass Geschichte im Grunde zyklisch verläuft. Bestimmte Ähnlichkeiten im Ablauf der Errichtung der freistaatlichen Staatlichkeit in Österreich mögen Parallelen zwischen der Wiederherstellung Österreichs im Jahr 1945 und der Staatsgründung von 1918 – 1920 erlauben. Ähnlich wie nach der Revolution von 1918 beeinflussten konkurrierende Kräfte – Zentralisten und Föderalisten – die politische Agenda der kurz zuvor ausgerufenen Zweiten Republik. Ewald Wiederin merkt in diesem Zusammenhang an, dass die Frage nach der Wiedererrichtung Österreichs als Bundesstaat „in der Tat offen [war], viel offener, als sie es heute scheint.“100 Wie in der Entstehungsphase der Ersten Republik kam die Verhinderung der Verwendung der bundesstaatlichen Organisationsform seitens der Zentralregierung, diesmal aber noch von außen unterstützt. In der 2. Proklamation an das österreichische Volk vom April 1945 bestätigte der sowjetische Marschall Fjodor Tolbuchin, dass sich die Rote Armee an der in der Moskauer Deklaration von 1943 verankerten Idee der Wiederherstellung des unabhängigen Österreichs, aber im Verfassungsstand des Jahres 1938, d. h. bis zum Anschluss an das Dritte Reich, festhält. Mit anderen Worten würde der Sowjetunion die sog. Ständeverfassung von 1934 passen, weil sie die Übernahme der Macht durch die KPÖ erleichtern könnte. In dieser Verfassung ging es auch um einen scheinbaren Föderalismus, der die organisatorische Selbständigkeit der Länder faktisch nicht erlaubte. Daher wäre die Errichtung der Zweiten Republik als Einheitsstaat wohl erwünscht. Diese Idee teilte auch Renner, einer der Gründer Deutschösterreichs und großer Befürworter des Aufbaus Österreichs nach der Grundlage einer Kreisverwaltung (d. h. eines aus Selbstverwaltungskörpern bestehenden Einheitsstaates). Er war der Meinung, dass den österreichischen Ländern keine Autonomie mehr zustehen würde, weil sie von ihren Hoheitsrechten zur Verhinderung der in der Ersten Republik erfolgten Verfassungsmissbräuche, wie es ihnen in der Natur der Sache obliegt, keinen Gebrauch gemacht hatten. Daher kam diese Herangehensweise im Text der Unabhängigkeitserklärung vom 27. April 1945 nicht zufällig zum Tragen, dass die wiederhergestellte demokratische Republik Österreich „im Geiste der Verfassung von 1920“ (Art. I) und nicht „des Bundes-Verfassungsgesetzes von 1920“ oder zumindest „der Bundesverfassung von 1920“ (was formalrechtlich korrekter wäre) einzurichten sei.101 Ob die Zweite Republik künftig als Bundesstaat ausgestaltet werden sollte, blieb auch in normativer Hinsicht einstweilen offen. Das Verfassungsgesetz vom 1. Mai 100 Wiederin, Ewald, Einheitsstaat oder Bundesstaat? Diskurse und Entscheidungen 1945, in: Schennach, Martin (Hrsg.), Rechtshistorische Aspekte des Österreichischen Föderalismus, Beiträge zur Tagung an der Universität Innsbruck am 28. und 29. November 2013, Wien 2015, S. 185. 101 Vgl. Wiederin, Einheitsstaat oder Bundesstaat?, S. 187 f.
B. Das Homogenitätsprinzip im österreichischen B-VG
291
1945 über die vorläufige Einrichtung der Republik Österreich (Vorläufige Verfassung; im Folgenden VorlVerf) schrieb in § 4 I vor, dass die künftige frei gewählte gesamtstaatliche Volksvertretung (d. h. der Nationalrat) bestimmen sollte, ob und wie weit die bundesstaatliche Organisationsform nach den Bestimmungen des B-VG von 1920 i. d. F. von 1929 wieder in volle Geltung treten wird. Daher wurde die Wiedererrichtung des Bundesstaates in Österreich von der Provisorischen Staatsregierung unter Renner im Frühjahr 1945 in Frage gestellt. Allerdings ging die VorlVerf zugleich von der bisherigen bundesstaatsmäßigen räumlichen Ländereinteilung (§ 2 S. 1) und organisatorischen Gestaltung der Verfassungssysteme der Länder (§§ 18 ff., 30 ff.) aus. Bei der Verabschiedung der VorlVerf musste das Kabinett unter Renner auch die reale politische Lage auf dem Territorium Österreichs berücksichtigen: Zunächst fungierte es als Regierung für die sowjetische Besatzungszone. In anderen Teilen des Landes erfolgte parallel die Zusammensetzung der Landesregierungen, natürlich in Abstimmung mit den westlichen alliierten Siegermächten, die sich in die Regierungsbildung jedoch unterschiedlich stark einmischten. Anders als in der Gründungsphase in den Jahren 1918 – 1920 waren in Westösterreich nach dem Zweiten Weltkrieg ernsthafte Pläne einer Abspaltung nicht prävalent. Die Länder erkannten die Bildung der Zentralregierung in Wien an, sie haben aber den Prozess der Wiederherstellung der österreichischen Staatlichkeit nicht bloß unterstützt, sondern vielmehr beeinflusst.102 Der erste Schritt zur Wiedererrichtung der freistaatlichen Rechtsordnung in Österreich war die Verabschiedung der entsprechenden Verfassungsakte. Nach Art. 4 des Verfassungs-Überleitungsgesetzes vom 1. Mai 1945 (V-ÜG) traten an die Stelle des B-VG von 1920 i. d. F. von 1929, welches wegen des Demokratiesturzes in Österreich seit dem 5. März 1933 faktisch außer Kraft gesetzt worden war, die Bestimmungen der VorlVerf, die sechs Monate nach dem Zusammentritt der wieder demokratisch gewählten Volksvertretung außer Kraft treten müssten. Danach sind die Vorschriften des B-VG von 1920 i. d. F. von 1929 und die weiteren Verfassungsbestimmungen der einfachen Bundesgesetzgebung nach dem Stand vom 5. März 1933 wieder anzuwenden (Art. 1 V-ÜG). Durch die zunächst austrofaschistische und später nationalsozialistische Diktatur war die gesamte verfassungsmäßige Ordnung freistaatlicher Prägung aufgehoben worden, welche mit den Verfassungsakten aus dem Jahr 1945 wieder wirksam werden sollte. Dazu zählten nach der Ansicht des VfGH auch die österreichischen Landesverfassungen als Ausführungsgesetze zum B-VG (ausführlicher dazu s. u. ! S. 302 ff.), weshalb durch § 2 VorlVerf i. V. m. Art. 1 V-ÜG auch die Landesverfassungen nach dem 102 Vgl. Wiederin, Einheitsstaat oder Bundesstaat?, S. 196; Funk, Bernd-Christian, Die Bedeutung gliedstaatlichen Verfassungsrechts in der Gegenwart, in: Vitzthum, Wolfgang Graf/ Funk, Bernd-Christian/Schmid, Gerhard (Hrsg.), Die Bedeutung gliedstaatlichen Verfassungsrechts in der Gegenwart, Berichte und Diskussionen auf der Tagung der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer in Passau vom 7. bis. 10. Oktober 1987, Berlin und New York 1988, S. 69; Pernthaler, Peter, Die Staatsgründungsakte der österreichischen Bundesländer. Eine staatsrechtliche Untersuchung über die Entstehung des Bundesstaates, Wien 1979, S. 42 f.
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Kap. IV: Die Wiedererrichtung der Bundesstaatlichkeit
Stand vom 5. März 1933 wieder in Kraft gesetzt wurden.103 In der Übergangsperiode bis zum Zusammentreten des demokratisch gewählten Nationalrates wirkten die Verfassungen der österreichischen Länder jedoch nur suspensiv, was diese gleich wie das B-VG abgeleitet aus Art. 4 I V-ÜG betraf. Da die Frage nach der Wiedererrichtung der bundesstaatlichen Organisationsform in Österreich an die neu gewählte gesamtstaatliche Volksvertretung delegiert worden war (Art. 4 I V-ÜG), hatten die Vorschriften der wieder in Kraft gesetzten Landesverfassungen bezüglich der Ausübung der den Ländern bundesverfassungsrechtlich zustehenden Kompetenzen und der inneren Staatsorganisation eine suspensive Wirkung, da die entsprechenden Normen des 4. Hauptstücks des B-VG von 1920 i. d. F. von 1929 durch die Vorschriften der VorlVerf provisorisch ersetzt wurden. Die VorlVerf ihrerseits konzipierte Österreich in enger Anlehnung an die Verfassungsakte aus den Jahren 1918 – 1920 als Einheitsstaat mit Selbstverwaltung der Länder.104 In ihrer Stammfassung vertraute die VorlVerf die Ausübung der gesamten, also gemäß B-VG von 1920 i. d. F. von 1929 dem Bund und den Ländern zustehenden Gesetzgebung, allein der Provisorischen Staatsregierung an, solange eine frei gewählte Volksvertretung nicht zusammentritt (§ 18). Ähnlich wie in der Zeit Deutschösterreichs wurde die Verwaltung in den österreichischen Ländern auf zweierlei Weise organisiert. Einerseits wurde die staatliche Verwaltung in den Ländern, soweit nicht die zentralstaatlichen Sonderbehörden eingerichtet sind, durch den Landeshauptmann, dessen Stellvertreter und die ihm unterstellte Landeshauptmannschaft geführt (§ 30 I VorlVerf). Der Landeshauptmann als Leiter der staatlichen Verwaltung auf Landesebene und seine Stellvertreter waren von der Provisorischen Staatsregierung auf Vorschlag der im jeweiligen Land vertretenen politischen Parteien zu ernennen (mit anderen Worten nach dem Proporzgrundsatz) und als für ihre Amtsführung der Provisorischen Staatsregierung verantwortliche Amtsträger von dieser zu entlassen (§ 30 II, III, IV VorlVerf). Andererseits wurden die den Ländern als Selbstverwaltungskörper überlassenen wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Befugnisse (d. h. die Landesverwaltung) vom in jedem Land eingerichteten Provisorischen Landessausschuss ausgeübt (§ 31 I VorlVerf). Der Provisorische Landessausschuss als eine Art der Landesregierung bestand aus dem Landeshauptmann als Vorsitzender, seinen Stellvertretern und vier bis neun weiteren Mitgliedern, die vom Landeshauptmann mit Zustimmung der Provisorischen Staatsregierung aufgrund des Proporzsystems zu berufen waren und allein vom Landeshauptmann entlassen werden konnten (§ 31 II, III VorlVerf). Das heißt es gab in den österreichischen Ländern kurz nach Kriegsende wieder eine doppelte Struktur der Verwaltung, wie es vor der Verabschiedung des B-VG auch der Fall war.
103
Vgl. VfSlg 2985/1956, 3009/1956, 4340/1962; Koja, Friedrich, Das Verfassungsrecht der österreichischen Bundesländer, 2. Aufl., Wien und New York 1988, S. 6 f. 104 Vgl. Koja, Verfassungsrecht der Bundesländer, S. 9 f.; Wiederin, Einheitsstaat oder Bundesstaat?, S. 190.
B. Das Homogenitätsprinzip im österreichischen B-VG
293
Erst im Herbst 1945 rückte die Frage nach der Wiedererrichtung der Bundesstaatlichkeit in Österreich in den Vordergrund der politischen Agenda. Die Bundesstaatsidee wurde v. a. durch die im April 1945 gegründete ÖVP vertreten und von dieser stark unterstützt. Nach den intensiven Verhandlungen während der 1. Länderkonferenz, die vom 24. bis zum 26. September 1945 in Wien stattfand, einigten sich alle nationalen Parteien und die Vertreter der österreichischen Länder auf den Bundesstaat für die Zweite Republik, was eine Anpassung der VorlVerf erforderte. Während der vom 9. bis zum 10. Oktober 1945 in Salzburg abgehaltenen 2. Länderkonferenz waren die Details der bevorstehenden Umsetzung behandelt worden, nach dem die Provisorische Staatsregierung ein entsprechendes Verfassungsgesetz beschließ, welches auch die Genehmigung der Alliierten erhielt.105 Mit der Oktober-Novelle zur VorlVerf wurde die Kompetenzverteilung des B-VG von 1920 i. d. F. von 1929 wieder in Kraft gesetzt, die Gesetzgebung wurde den Ländern übertragen und die Provisorische Staatsregierung konnte nur im „zwingenden Bedarfsfall“ eine einheitliche gesamtstaatliche Regelung für die Angelegenheiten der Länderkompetenz treffen (§ 18 n. F. VorlVerf). Die Gesetzgebung der österreichischen Länder wurde aber bis zum Zusammentritt der frei gewählten Landtage von der Provisorischen Landesregierung ausgeübt und deren Gesetzesbeschlüsse durften nur mit der Zustimmung der Provisorischen Staatsregierung kundgemacht werden (§ 22a, 22b II VorlVerf). Nach der novellierten Fassung der VorlVerf bestand weiterhin die Teilung der Verwaltung auf Landesebene in eine staatliche und autonome Landesverwaltung. Mit der Durchführung der Landesverwaltung wurde die Provisorische Landesregierung betraut (§ 31 I n. F. VorlVerf), während das zweite Gremium – die Landeshauptmannschaft – für die Ausübung der staatlichen Vollziehungsbefugnisse in den Ländern weiter zuständig blieb. Daraus folgend konnten die Landesverfassungen auch nach der Novellierung der VorlVerf nur im eingeschränkten Umfang gelten. Erst mit dem 2. VerfassungsÜberleitungsgesetz vom 13. Dezember 1945 (2. V-ÜG), welches durch den demokratisch wiedergewählten Nationalrat beschlossen worden war, wurde die nach dem B-VG von 1920 i. d. F. von 1929 den Ländern zustehende Gesetzgebung von der Provisorischen Landesregierung auf die neugewählten Landtage übertragen (Art. VI III 2. V-ÜG), die die Provisorischen Landesregierungen zu berufen hatten (Art. IV I 2. V-ÜG). Mit dem Inkrafttreten des 2. V-ÜG am 19. Dezember 1945 waren die Bestimmungen des 4. Hauptstücks des B-VG von 1920 i. d. F. von 1929 wieder vollkommen anwendbar und die Verfassungen der österreichischen Länder erhielten hierzu volle Wirkung. Die endgültige Wiedererrichtung Österreichs als Bundesstaat nach dem Zweiten Weltkrieg bedeutete in der Tat, dass die Bundesstaatlichkeit der Zweiten Republik nach dem Vorkriegsmuster eingeführt wurde. In der Fachliteratur bekam die Phase bis gegen Ende der 1960er Jahre die Bezeichnung einer Stagnation in der Verfassungsentwicklung der österreichischen Länder, welche zur Einengung ihrer ver105
Vgl. Wiederin, Einheitsstaat oder Bundesstaat?, S. 198 ff.
294
Kap. IV: Die Wiedererrichtung der Bundesstaatlichkeit
fassungsrechtlichen Stellung geführt hatte. In dieser Zeit traten die Landesverfassungsgesetzgeber nicht als Architekten, sondern als Vollzieher auf: Ihnen blieb lediglich, auf die Änderungen des Bundesverfassungsrechts technisch zu reagieren. Daraus folgend sprach man damals von der „beschämenden Uniformität“ und „politischen Phantasielosigkeit“ der österreichischen Landesverfassungen.106 Wegen bestimmter Wendungen in der österreichischen Staatsrechtslehre, die auch baldige Änderungen in der Praxis des VfGH bedingten, war die am Ende der 1960er Jahre und Anfang der 1970er Jahre begonnene Entwicklungsperiode des Landesverfassungsrechts von einer Dynamik gekennzeichnet. Durch die Anerkennung einer zwar „relativen“ Verfassungsautonomie der österreichischen Länder erhielten diese bestimmte Impulse. In den 1970 – 80er Jahren reformierten die Länder eigene Verfassungen: Einige führten größere Novellierungen durch, andere gaben sich überhaupt neue Verfassungsakte (bspw. NÖ 1979, Bgld 1981, Tirol 1989).107 Gegenstand dieses Abschnitts ist die Problematik der Veränderung des österreichischen Bundesstaatsmodells in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in organisatorischer Hinsicht – von den Landesverfassungen in ihrer Eigenschaft als Ausführungsgesetze zum B-VG bis hin zur im Rahmen der vom Bund respektierten relativen Verfassungsautonomie der Länder, was für die Staatsorganisation der österreichischen Länder kennzeichnend war.
2. Die herrschende Bundesstaatslehre (Dezentralisationstheorie) im Wandel der Zeit a) Der Bundesstaatsbegriff: Der Bundesstaat „Republik Österreich“ als eine Art des stark dezentralisierten (Einheits-)Staates Während in Deutschland die staatenstaatstheoretische Auffassung bezüglich des Bundesstaatsbegriffs, wonach der Bundesstaat als eine Verbindung (Mehrheit) mehrerer selbständiger (aber nicht souveräner) Staaten zur Einheit eines (souveränen) staatlichen Gemeinwesens betrachtet wird,108 weiter herrschte, lehnte die 106 Vgl. Koja, Verfassungsrecht der Bundesländer, S. 11; Novak, Richard, Über den Beitrag der Länder zur Praxis der Verfassungsgesetzgebung im Bundesstaat, in: Zwink, Eberhard (Hrsg.), Salzburger Symposion zum Jubiläum 60 Jahre Bundesverfassung, Salzburg 1980, S. 61; ders., Bundes-Verfassungsgesetz und Landesverfassungsrecht, in: Schambeck, Herbert (Hrsg.), Das österreichische Bundes-Verfassungsgesetz und seine Entwicklung, Berlin 1980, S. 124 ff.; Funk, in: VVDStRL 46, S. 69 f. 107 Vgl. Koja, Verfassungsrecht der Bundesländer, S. 12; Funk, in: VVDStRL 46, S. 71 f. 108 Vgl. Ermacora, Felix, Über das Wesen des österreichischen Bundesstaates in Theorie und Praxis, in: Juristische Blätter, 1957, H. 20/21, S. 522; Adamovich jun., Ludwig/Funk, Bernd-Christian, Österreichisches Verfassungsrecht. Verfassungsrechtslehre unter Berücksichtigung von Staatslehre und Politikwissenschaft, 3. Aufl., Wien und New York 1985, S. 123 f.
B. Das Homogenitätsprinzip im österreichischen B-VG
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österreichische Staatsrechtslehre der Nachkriegszeit mit wenigen Ausnahmen109 eine solche Herangehensweise ab und folgte weiter der in der Zeit der Ersten Republik entstandenen Bundesstaatslehre im Sinne der Dezentralisationstheorie Kelsens. So wurde der Bundesstaat als ein spezifisch dezentralisierter (Einheits-)Staat und die Bundesstaatlichkeit in Österreich als eine Form der Dezentralisation der Staatsgewalt beschrieben.110 Der zunächst als bloß „programmatisch“ betrachteten Bestimmung des Art. 2 BVG, wonach Österreich ein Bundesstaat ist, gibt der VfGH kurz nach der Wiedererrichtung der österreichischen Staatlichkeit bereits einen normativen Inhalt.111 Abweichend aber von der originären Dezentralisationstheorie wird der Bundesstaat „Republik Österreich“ verfassungspraktisch und -theoretisch als ein zweigliedriges Staatswesen betrachtet: Dieses besteht aus dem Bund als Oberstaat und den Ländern als Gliedstaaten. Der Ausdruck „Republik Österreich“ bezeichnet den Bund und Länder umfassenden Gesamtstaat, welcher aber nur nach außen als Völkerrechtssubjekt fungiert; im innerstaatlichen Bereich handeln entweder Bund (Oberstaat) oder Länder (Gliedstaaten) im Sinne der „Staaten“.112 Der normative Sinn der Bestimmung des Art. 2 B-VG besteht darin, dass einerseits die staatlichen Aufgaben nicht allein dem Gesamtstaat obliegen, sondern sie sind vielmehr zwischen mehreren relativ selbständigen Gliedstaaten, welche für die Ausübung der Staatsgewalt auf den durch die Landesgrenzen bestimmten Territorien zuständig sind, und dem Oberstaat, der seine staatlichen Aufgaben auf dem Territorium des Gesamtstaates zu besorgen hat, aufgeteilt. Andererseits wird den Gliedstaaten ihre institutionelle Teilnahme an der oberstaatlichen Gesetzgebung gewährleistet.113 Die klassische Staatenstaatstheorie ging von der gewöhnlichen Vorstellung aus, dass ein Bundesstaat aus dem Zusammenschluss mehrerer bisher souveräner Staaten zu einem Gesamtstaat hervorgeht. Die Wiener Schule des Rechtspositivismus und später auch die in der Nachkriegszeit herrschende Lehre in Österreich kehrten sich davon in die Richtung ab, der Bundesstaat könne sowohl als Bündnis mehr oder minder selbständiger Gemeinwesen als auch aus der Ausgliederung eines bisher zentralisierten Staates in gewissermaßen selbständige Teileinheiten oder durch die Anordnung gewalthabender fremder Staaten zu einem Gesamtkörper entstehen. In jedem Fall ist der Bundesstaat ein Komplex selbständiger Rechtssubjekte, die po109 Vgl. Ringhofer, Kurt (Hrsg.), Die österreichische Bundesverfassung. Das BundesVerfassungsgesetz mit Kommentar, die wichtigsten verfassungsrechtlichen Nebengesetze und Staatsverträge sowie einfachgesetzliche Durchführungsvorschriften des Bundes, o. O. [Wien] 1977, S. 16. 110 Vgl. Koja, Friedrich, Allgemeine Staatslehre, Wien 1993, S. 352; Adamovich jun./Funk, Verfassungsrecht, S. 123. 111 Vgl. VfSlg 2455/1952. 112 Vgl. VfSlg 2092/1951, 2455/1952, 5676/1968; Adamovich sen., Ludwig, Handbuch des österreichischen Verfassungsrechts, 6. Aufl., Wien und New York 1971, S. 86 (besonders Fn. 25); Funk, in: VVDStRL 46, S. 58. 113 Vgl. VfSlg 2455/1952; Ringhofer, Bundesverfassung, S. 16.
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Kap. IV: Die Wiedererrichtung der Bundesstaatlichkeit
litische und juristische Macht ursprünglich hatten oder später erhielten. Die Bildung eines Bundesstaates durch den Zusammenschluss zu einem Gesamtstaat oder die Ausgliederung eines einheitlichen Staates führt zu einer Metamorphose der daran beteiligten Rechtssubjekte. Hierin geht es um das Maß der Selbständigkeit der einen Bundesstaat bildenden Gemeinwesen. Unter Berücksichtigung dieser Eigenschaft der Bundesstaatsglieder kann die Entstehung des Bundesstaates nicht zu einem Überund Unterordnungsverhältnis, sondern zu einem Koordinationsverhältnis zwischen Bund und Ländern führen, welches vom Wiener Rechtspositivismus als Parität von Bund und Ländern bezeichnet wurde.114 Genau die Korrelation der Selbständigkeit und Unselbständigkeit im verfassungsrechtlichen Status der Gliedstaaten liegt der Dezentralisationstheorie zu Grunde, was terminologisch in den Kategorien der Zentralisation und Dezentralisation des Staates in Erscheinung tritt. Erneuten Auftrieb bekam die rechtspositivistische Dezentralisationstheorie in der vom Innsbrucker und später Wiener Verfassungsrechtler Felix Ermacora entwickelten Staatslehre. Seiner Auffassung nach erscheint jeder Staat durch Rechtsträger, zwischen denen der eine als Gesamtrechtsträger auftritt und dem die Gewalt über sich selbst zukommt. Aus der Tatsache, dass dieser Gesamtrechtsträger allein handelt oder neben ihm noch weitere Rechtsträger stehen, folgt eine der Grundformen der Zentralisation und Dezentralisation – die „organisatorische Zentralisation und Dezentralisation des Staates“, welche die Einheit oder Vielheit der Rechtsträger erfasst.115 Zentralisation und Dezentralisation als staatsorganisatorische Formen wirken sich nicht auf den Inhalt der Gewalt aus, sondern auf ihre Träger. Der Rechtsträger ist die Personifikation des Staates und vereinigt in seiner Person die staatliche Rechtsordnung, also die gesamte Gesetzgebung, Vollziehung und Rechtsprechung. Wenn diese drei staatlichen Funktionen in einem Rechtsträger akkumuliert sind, handelt es sich um einen Gesamtrechtsträger.116 In dieser Hinsicht bedeutet die organisatorische Zentralisation, dass der Staat nur in einem Rechtsträger personifiziert wird, welcher der alleinige Träger der Staatsgewalt ist. Die Kompetenzen aller die Staatsgewalt ausübenden Organe werden von diesem einzigen Rechtsträger abgeleitet. Umgekehrt bedeutet die organisatorische Dezentralisation das Vorhandensein mehrerer Rechtsträger in einem Staat. Wenn dem Rechtsträger die gesamte Staatsgewalt mit gesetzgebenden, vollziehenden und rechtsprechenden Funktionen zusteht, führt die organisatorische Dezentralisation dazu, dass die staatliche Gewalt in einem Staatswesen durch mehrere Rechtsträger ausgeübt wird, was die Entstehung mehrerer „Staaten“ innerhalb des Gemeinwesens bedingt.117 114 Vgl. Ermacora, Felix, Allgemeine Staatslehre. Vom Nationalstaat zum Weltstaat, Bd. 2, Berlin 1970, S. 647 f.; ders., JBl 1957, S. 522; Adamovich jun./Funk, Verfassungsrecht, S. 162. 115 Vgl. Ermacora, AStL II, S. 885. 116 Vgl. Ermacora, AStL II, S. 886 f. 117 Vgl. Ermacora, AStL II, S. 886.
B. Das Homogenitätsprinzip im österreichischen B-VG
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Organisatorisch treten die Zentralisation und Dezentralisation in drei Formen hervor: 1) Eine vollkommene organisatorische Zentralisation des Staates liegt vor, wenn der Staat nur durch einen Rechtsträger der gesamten Staatsgewalt in Erscheinung tritt. Dies entspricht der unitarischen Organisationsform, also dem Einheitsstaat. 2) Wenn neben dem Gesamtrechtsträger noch weitere Teilrechtsträger vorhanden sind, die zugleich Träger der eigenen Gesetzgebung, Verwaltung und Gerichtsbarkeit sind, handelt es sich um eine vollkommene Dezentralisation nach dem Rechtsträger. Weil die Teilrechtsträger über ein Teil der selbständigen Legislative, Exekutive und Judikative verfügen, sind diese selbst Gesamtrechtsträger in eigenen territorialen Teileinheiten. Das birgt die Gefahr in sich, das gesamte Staatsgebilde bis zur völligen Zersplitterung zu dezentralisieren. Damit es sich um die vollkommene organisatorische Dezentralisation des einen Staates handeln könnte, müssen die Gesamt- und Teilrechtsordnungen durch die gesamtstaatliche Verfassung gebunden werden, welche die rechtliche Grundlage für die Ausübung der Staatsgewalt nicht durch die Organe des Gesamtstaates, sondern auch die Organe der Teilstaaten darstellt; die gesamtstaatlichen und gliedstaatlichen Organe sind in diesem Sinne Staatsorgane, derer Zuständigkeiten aus der Verfassung der Gesamtrechtsordnung abgeleitet werden. Unter diese Merkmale können sowohl der Staatenbund als auch der Bundesstaat als staatsorganisatorische Formen fallen. Ermacora führte hieraus Deutschland nach der WRV und dem GG als Beispiel einer solchen vollkommenen organisatorischen Dezentralisation an: Neben dem Gesamtrechtsträger in Gestalt des Reiches bzw. Bundes gibt es auch die Teilrechtsträger, also die Länder, die zugleich Träger einer eigenen Gesetzgebung, Verwaltung und Gerichtsbarkeit sind.118 3) Sowohl die Zentralisation als auch die Dezentralisation kann in organisatorischer Hinsicht jedoch unvollkommen sein. Es handelt sich hierbei darum, dass ein Staat weder vollkommen zentrasiert noch vollkommen dezentralisiert ist. Ermacoras Auffassung nach wird dies in der Praxis am häufigsten auftreten. Sowohl der Gesamtrechtsträger als auch die neben ihm stehenden Teilrechtsträger verfügen nicht allein über alle Gewaltinhalte. Im Fall einer unvollkommenen Zentralisation bzw. Dezentralisation des Staates ist gerade bemerkenswert, dass die Teilrechtsträger nicht alle drei staatlichen Funktionen ausüben, sondern nur einzelne dieser Funktionen. Diese organisatorische „Unvollkommenheit“ der Teilrechtsträger kann für die Gliedstaaten eines Bundesstaates oder die Teileinheiten eines dezentralisierten Einheitsstaates charakteristisch sein. Dies ist nach Ermacora in der Republik Österreich der Fall: Neben dem Bund als Gesamtrechtsträger bestehen noch die Länder als Teilrechtsträger, denen eigene (aber eingeschränkte) Gesetzgebung und Vollziehung, aber keine Gerichtsbarkeit zusteht.119 118 119
Vgl. Ermacora, AStL II, S. 887 f. Vgl. Ermacora, AStL II, S. 888.
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Kap. IV: Die Wiedererrichtung der Bundesstaatlichkeit
Die organisatorische Zentralisation und Dezentralisation des Staates als eine der Hauptformen dieser staatsrechtlichen Dichotomie bildet jedoch nur eine Stufe der Organisation der Staatsgewalt. Sie berücksichtigt allein die Rechtsträger und nicht die für diese handelnden Organe. Daraus folgt die zweite Hauptform, also die „inhaltliche Zentralisation und Dezentralisation des Staates“ oder die Zentralisation und Dezentralisation der Ausübung staatlicher Gewalt (Staatstätigkeit).120 Die Staatsgewalt wird von den Organen und Organwaltern ausgeübt. Da die Staatsgewalt in sich drei Funktionen – Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung – vereinigt, spricht man von Gesetzgebungs-, Vollziehungs- und Rechtsprechungsorganen. Bereits diese Ausübung der Staatsgewalt im Sinne der (horizontalen) Gewaltenteilung Montesquieus bezeichnet Ermacora als Dezentralisation in einer reinen Form. In jedem modernen Verfassungsstaat muss mindestens je ein Organ für die Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung tätig sein. Je stärker die Aufteilung dieser staatlichen Funktionen zwischen mehreren Organen ausfällt, umso vollkommener sei die inhaltliche Dezentralisation.121 Jedes einzelne Staatsorgan übt bestimmte Befugnisse aus. Der Umfang dieser Befugnisse weist dem einzelnen Organ seine Stellung im gesamten Staatssystem zu. Je umfangreicher die Befugnisse eines Organs sind, desto bedeutender wird dessen Stellung im Staat sein. Für die Problemstellung der Zentralisation und Dezentralisation der Staatstätigkeit werden nur die obersten Organe betrachtet. Nach Ermacora müssen die obersten Gesetzgebungsorgane an einem selbständigen Gesetzesinhalt unabhängig arbeiten, die obersten Verwaltungsorgane haben das Weisungsrecht in letzter Instanz und unterliegen selbst keiner Weisung mehr, und die obersten Gerichte sind grundsätzlich zur Entscheidung in letzter Instanz berufen.122 Ähnlich wie die organisatorische Zentralisation und Dezentralisation kennt die inhaltliche Zentralisation und Dezentralisation drei Erscheinungsformen: 1) Zentralisation der Staatstätigkeit liegt vor, wenn je ein Organ für die Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung zuständig ist; 2) Vollkommene Dezentralisation der Staatstätigkeit kommt dann zustande, wenn für die Durchführung der Gesetzgebung, Vollziehung und Rechtsprechung jeweils mehrere oberste Staatsorgane berufen werden; 3) Inhaltliche Dezentralisation ist unvollkommen, wenn nicht für alle drei grundlegenden Funktionen der Staatstätigkeit jeweils mehrere oberste Organe zuständig sind. Beispielsweise liegen die Verwaltung und die Gerichtsbarkeit in der Hand jeweils eines Staatsorgans, während die Gesetzgebung dezentralisiert ist, d. h. von mehreren obersten Organen unabhängig voneinander ausgeübt wird.123 Wenn der Oberstaat (Bund) als Gesamtrechtsträger im Bundesstaat auftritt, so steht ihm allein die sog. Kompetenz-Kompetenz (Kompetenzhoheit) zu, d. h., er kann die Verteilung von staatlichen Zuständigkeiten zwischen Ebenen regeln sowie das 120 121 122 123
Vgl. Ermacora, AStL II, S. 885, 888. Vgl. Ermacora, AStL II, S. 889. Vgl. Ermacora, AStL II, S. 890. Vgl. Ermacora, AStL II, S. 890 f.
B. Das Homogenitätsprinzip im österreichischen B-VG
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Verhältnis von Bundes- und Landesverfassungsrecht bestimmen. Im österreichischen Bundesstaatsmodell liegt das Übergewicht eindeutig beim Bund. In der Frage der Kompetenzverteilung ist dieser nur an die verfassungsgerichtliche bloße Forderung an die Aufteilung der staatlichen Funktionen zwischen dem Oberstaat (Bund) und den Gliedstaaten (Ländern) gebunden, welche aber gegen ihre Aushöhlung seitens des Bundes durch die „Ewigkeitsklausel“ des Art. 44 III n. F. B-VG gesichert wird. In Anknüpfung an die Reine Rechtslehre Kelsens kann das Verhältnis von Bundes- und Landesverfassungsrecht in der österreichischen Rechtsordnung als Stufenbau charakterisiert werden, nach dem die Bundesverfassung den höheren und das Landesverfassungsrecht den unterstehenden Normenkomplex darstellt. In dieser Hinsicht ist die Bundesverfassung als Rechtserzeugungsgrundlage für das Landesverfassungsrecht anzusehen. Daraus folgend wird in der Bundesverfassung bestimmt, wer zur Erzeugung der Landesverfassungen berufen ist (Organisationsrecht), in welchen Formen (wie) die Erlassung der Landesverfassungen erfolgen soll (Verfahrensrecht), und was der Inhalt der von den Ländern erzeugenden Verfassungen sein kann (Kompetenzvorschriften).124 Allerdings ist nicht zu vergessen, dass sowohl der Oberstaat als auch die Gliedstaaten gleichberechtigte Glieder eines Bundesstaates sind und zwischen ihnen ein Koordinationsverhältnis besteht. Mit der daraus folgenden Frage nach der Rechtsnatur der bundesstaatlichen Glieder, die sich von bloßen Selbstverwaltungskörpern unterscheiden, zugleich aber keine souveränen Einzelstaaten bilden, beschäftigt sich auch die in der Nachkriegszeit herrschende Bundesstaatslehre in Österreich. b) Staatsqualität der österreichischen Länder Zusammen mit der Wiederinkraftsetzung des B-VG von 1920 i. d. F. von 1929 und der daraus folgenden gleichzeitigen Bestätigung der bundesstaatlichen Organisationsform der Zweiten Republik traten die Landesverfassungen als Grundstatuten der österreichischen Länder nach dem Stand vom 5. März 1933 vollumfänglich in Kraft. Nach dem Beispiel der Bundesverfassung verzichteten die ersten Nachkriegslandtage auf die Verabschiedung neuer Verfassungen, es wurden die noch in der Zeit der Ersten Republik erlassenen Landesverfassungen in Kraft wieder ersetzt. Alle Landesverfassungen enthielten die rechtliche Selbstcharakterisierung des jeweiligen Landes als „[selbständiges] Bundesland der [demokratischen] Republik Österreich [des Bundesstaates „Republik Österreich“]“. Die entsprechenden Bestimmungen der Landesverfassungen galten unabänderlich auch in der Nachkriegszeit. Allein die vorarlbergische Verfassung von 1923 bezeichnete das Land als „selbständigen Staat“ (Art. 1 II LVerf). Mit dieser einzigen (aber eher allein terminologischen denn inhaltsreichen) Ausnahme stimmten die in den Landesverfas124 Vgl. Adamovich jun./Funk, Verfassungsrecht, S. 162; Funk, in: VVDStRL 46, S. 58 f.; Koja, Verfassungsrecht der Bundesländer, S. 13.
300
Kap. IV: Die Wiedererrichtung der Bundesstaatlichkeit
sungen festgestellten Selbstcharakteristiken der österreichischen Bundesländer mit dem in Art. 2 B-VG vorgegebenen Vorbild überein, nach dem die neun namentlich aufgezählten Teilrechtsordnungen der bundesstaatlichen Gesamtrechtsordnung „Republik Österreich“ selbständige Bundesländer im territorialen und politischen Sinne darstellen.125 Aufgrund der bundesverfassungsrechtlich anerkannten Selbständigkeit präzisieren die Landesverfassungen die Stellung der österreichischen Länder mit der Befugnis, alle dem Bund nicht explizit übertragenen (Hoheits-)Rechte in eigener Verantwortung auszuüben. Auch eine derartige Formulierung der Landesverfassung ist nichts anderes als eine Umschreibung (manchmal aber eine ausdrückliche Wiederholung) der Vorschrift des Art. 15 I B-VG, wonach in den selbständigen Wirkungsbereich der österreichischen Länder die Angelegenheiten fallen, welche nicht ausdrücklich durch die Bundesverfassung der Gesetzgebung oder auch der Vollziehung des Bundes übertragen sind (sog. Allgemeinzuständigkeitsklausel). Als eine der Kompetenzverteilungsbestimmungen des B-VG kann Art. 15 I laut Art. 44 I BVG nur durch einen Rechtsakt in Form des Bundesverfassungsgesetzes abgeändert bzw. aufgehoben werden, was zeigt, dass die sog. Kompetenz-Kompetenz, also die Befugnis zur Aufteilung der Zuständigkeiten auf den Gebieten der Gesetzgebung und Verwaltung nach dem österreichischen B-VG allein dem Bundesverfassungsgesetzgeber zukommt.126 Mit Hilfe der entsprechenden normativen Formulierungen versuchten die österreichischen Länder meist indirekt (eine Ausnahme bildete nur Vbg) ihre ursprüngliche Staatlichkeit im Bundesstaat „Republik Österreich“ zu betonen. Das BVG vermeidet, die in den Landesverfassungen beanspruchte Staatlichkeit ausdrücklich zu bestätigen, und benutzt die Auffassung „selbständige Länder“ als Aushängeschild. Dieser Abstand zwischen den bundes- und landesverfassungsrechtlichen Beurteilungen der staatsrechtlichen Natur der bundesstaatlichen Glieder gibt Anlass zu einer „neuen alten Frage“, ob die österreichischen Bundesländer als wirkliche Staaten betrachtet werden können oder nicht.127 Die Entstehung des österreichischen Bundesstaatsmodells erfolgte einerseits im Umfeld der im deutschsprachigen Raum herrschenden Bundesstaatslehre (gemeint ist die Staatenstaatstheorie), andererseits im Umfeld des heimischen politischen Kampfes zwischen Zentralisten und Föderalisten und zugleich des theoretischen Umdenkens der Rechtsnatur der Bundesstaatlichkeit durch die Wiener Schule des Rechtspositivismus, was alles zusammen die konkrete normative Gestaltung des Föderalismus maßgeblich beeinflusste (! S. 206 ff, 237 ff.). Zum einen verwendete das B-VG die Ausdrücke „Staat“ und „staatlich“ in einem sowohl den Bund als auch die Länder umfassenden Sinne. Der österreichische VfGH betonte in den ersteren Entscheidungen nach dem Zweiten Weltkrieg, dass der Bundesstaat „Republik 125 126 127
Vgl. Koja, Verfassungsrecht der Bundesländer, S. 43. Vgl. Koja, Verfassungsrecht der Bundesländer, S. 44. Vgl. Funk, in: VVDStRL 46, S. 73 f.
B. Das Homogenitätsprinzip im österreichischen B-VG
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Österreich“ aus dem Oberstaat (Bund) und den Gliedstaaten (Ländern) besteht, während auch den Ländern gemäß dem Bundesstaatsprinzip die Stellung von Staaten (Gliedstaaten) zusteht.128 Zum anderen werden die Glieder des Bundesstaates „Republik Österreich“ allein als „selbständige Länder“ bezeichnet (Art. 2 II B-VG). Die Verwendung eines so theoretisch relativen Begriffs wie „Selbständigkeit“ ist dazu berufen, die gesonderte – im Vergleich mit anderen staatlichen Teileinheiten – Stellung der Länder im bundesstaatlichen Gefüge hervorzuheben. Offensichtlich wird die Selbständigkeit der Länder der Souveränität nicht gleichgesetzt, was schon ihre Eigenschaft als Staaten in Frage stellt. Mit der Stellung als Glied des Staates ist die Souveränität im Sinne einer absoluten Eigenständigkeit und einer rechtlichen Ursprünglichkeit nicht vereinbar. In Anlehnung an die modernisierte Staatenstaatstheorie wurde in Bezug auch auf die österreichischen Länder umgesetzt, dass von nichtsouveränen, aber eben Staaten die Rede ist, die zur Ausübung ursprünglicher Gewalt berufen und mit eigener Kompetenz zur Gesetzgebung (u. a. Verfassungsgesetzgebung) und Vollziehung ausgestattet werden.129 Wenn die Souveränität als ein wesentliches Charakteristikum eines jeden Staatsgefüges und daher als eine Eigenschaft einer jeden staatsbildenden Rechtsordnung zu betrachten ist, die von keiner anderen Eigenschaft rechtlich abgeleitet wird, dann sind die österreichischen Bundesländer in diesem Sinne keine souveränen Staaten, weil allein die Bundesverfassung eine formal- und materiellrechtliche Erzeugungsgrundlage für die Landesrechtsordnungen darstellt. Die Verwendung des Begriffs „Selbständigkeit“ in Bezug auf die rechtliche Stellung der Länder innerhalb des österreichischen Bundesstaates ist historisch bedingt. Die Schöpfer des B-VG von 1920 wollten einerseits einen Bundesstaat in der Republik Österreich nach den damals herrschenden Ideen, also nach der für Deutschland klassischen Staatenstaatstheorie, errichten. Andererseits erkannte man, dass die österreichischen Länder zuvor keine souveränen Staaten gebildet hatten und sich zu einem Gesamtstaat „Republik Österreich“ mit der bundesstaatlichen Organisationsform nur als Teilrechtsordnungen dieses Gemeinwesens vereinigten, was ihre staatliche „Souveränität“ nicht begründe; daher konnte der neue österreichische Bundesstaat nur mit bestimmten Modifikationen geschaffen werden. Den österreichischen Ländern wurde der Staatscharakter abgesprochen, sie wurden als staatsähnliche Glieder des Bundesstaates „Republik Österreich“ eingerichtet, denen mit Ausnahme der Gerichtsorganisation die eigenen Staatsfunktionen zur Ausübung in einem sachlich und örtlich begrenzten Wirkungsbereich übertragen wurden. Die Länder als „Gliedstaaten“ unterscheiden sich von anderen Gebilden dank der Rechtsnatur des Bun-
128
S. 86.
Vgl. VfSlg 2092/1951, 2455/1952; Adamovich sen., Handbuch des Verfassungsrechts,
129 Vgl. Adamovich jun./Funk, Verfassungsrecht, S. 126; Adamovich jun., Ludwig, Die Zukunft des Föderalismus in Österreich, in: Laufer, Heinz/Pilz, Frank (Hrsg.), Föderalismus, München 1973, S. 377.
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Kap. IV: Die Wiedererrichtung der Bundesstaatlichkeit
desstaates, der einen qualifizierten, nämlich in höchstem Grad dezentralisierten Staat darstellt.130 Die bundesverfassungsrechtlichen Bestimmungen hinsichtlich der Stellung der österreichischen Länder innerhalb des Gesamtstaates, aus denen sich das Verhältnis der Delegation und teilweisen Determination, in dem die Landesverfassungsordnungen zur Bundesverfassung stehen, ergibt, bedingten die Anerkennung der Auslegung, nach der die Landesverfassungen bloß Ausführungsgesetze zum B-VG sind. Berücksichtigt man den rechtlichen Charakter der österreichischen Gliedstaaten als selbständige Länder, die die gleichen hoheitlichen Befugnisse wie der Bund (v. a. die Befugnis der eigenen Verfassungserzeugung) erhalten, wäre in dieser Hinsicht auch jenes Maß an bestimmte Verfassungsautonomie der Länder bundeverfassungskonform denkbar.131 c) Das Konzept der Landesverfassungen als Ausführungsgesetze zum B-VG und die spätere theoretische und verfassungsgerichtliche Anerkennung der (relativen) Verfassungsautonomie der Bundesländer Die kurz nach dem Zweiten Weltkrieg herrschende Staatslehre in Österreich, die weiter dem Grundgedanken der Reinen Rechtslehre Kelsens folgte, ging von der dreifachen Funktion der Bundesverfassung aus: Zum einen ist sie die Verfassung des Gesamtstaates „Republik Österreich“, der einen Bundesstaat darstellt (Art. 2 I BVG); zum anderen ist sie die Verfassung des Bundes (Oberstaates); und zum dritten bildet sie die Grundsatzverfassung für die Verfassungsakte der Bundesländer (Gliedstaaten).132 In Anlehnung an die Lehre des Stufenbaus der Rechtsordnungen wurde sowohl in der österreichischen Bundesstaatslehre als auch in der Rechtsprechung des VfGH lange Zeit die Auffassung vertreten, dass die Bundesverfassung als Erzeugungsgrundlage und die Landesverfassungen im Hinblick auf den Inhalt ihrer Regelungen in einem Rangverhältnis stehen, also als Grundsatzgesetz (das BVG) und Ausführungsgesetze zu diesem (die Landesverfassungen). Das B-VG selbst und die Ausführungsgesetze zu ihm, wozu nach der ursprünglichen Meinung des österreichischen VfGH auch die Landesverfassungen zu zählen hatten, bilden eine rechtliche Einheit. Die Landesverfassungen fungieren demnach als unbedingt notwendiger Teil der bundesstaatlichen Gesamtverfassung. Daraus folgend können die in Art. 99 B-VG erwähnten Landesverfassungsgesetze als Ausführungsgesetze zum B-VG in Bindung an die Grundzüge der Bundesverfassung Regelungen erlassen,
130 131
S. 58 f. 132
Vgl. Koja, Verfassungsrecht der Bundesländer, S. 19 f., 45; ders., AStL, S. 352. Vgl. Koja, Verfassungsrecht der Bundesländer, S. 21, 46; Funk, in: VVDStRL 46, Vgl. Ermacora, JBl 1957, S. 524.
B. Das Homogenitätsprinzip im österreichischen B-VG
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soweit dies in die Zuständigkeit der Länder fällt. Ohne die Verfassungen der Länder wäre das B-VG allerdings nicht vollziehbar.133 Die ersten zwei Jahrzehnte nach der Wiedererstellung der demokratischen gesamtstaatlichen Ordnung in Österreich wurden in der dortigen Staatslehre als Stagnation des Landesverfassungsrechts bezeichnet, was u. a. durch die dogmatische und verfassungsgerichtliche Herangehensweise an die Rechtsnatur der Verfassungen der österreichischen Bundesländer als bloße Ausführungsgesetze zur Bundesverfassung bedingt war. Als wesentlicher Impuls zur Überwindung dieser langjährigen, noch aus der Zeit der Ersten Republik entsprungenen Tendenz galt die 1967 erschienene, für die österreichische Bundesstaatslehre bahnbrechende Monografie von Friedrich Koja, seinerzeit Mitarbeiter des VfGH und ein Jahr später ordentlicher Staatsrechtsprofessor an der Universität Salzburg, über das Verfassungsrecht der österreichischen Bundesländer134, in der die Auffassung von den Landesverfassungen als „Ausführungsgesetze der Bundesverfassung“ für unhaltbar erklärt und den österreichischen Ländern – in Analogie zu den bundesdeutschen Ländern und schweizerischen Kantonen – die relative Verfassungsautonomie in der Gestaltung der eigenen Rechtsordnungen zugestanden wurde. Zugleich muss man erwähnen, dass Koja allerdings methodologisch eher dem Wiener Rechtspositivismus nahestand, also grundsätzlich ein Anhänger der Auffassung vom Bundesstaat als einer Form des dezentralisierten (Einheits-)Staates war.135 Wie aber konnte man argumentativ begründen, dass auch den österreichischen Ländern das Recht zustehen sollte, eigene Verfassungen im Wege einer eigenen Verfassungsgebung anzunehmen? Koja war der Meinung, dass sich die in der damaligen Lehre bevorzugte Erörterung des Verhältnisses von Bundes- und Landesverfassungsrecht nicht allein auf die Korrelation der Bundesverfassung als Grundsatzgesetz mit den Landesverfassungen als entsprechende Ausführungsgesetze beschränkt. Aufgrund der Analyse des aktuellen Textes des B-VG gelangte Koja zu der Schlussfolgerung, dass einige Regelungen im Bereich der Gesetzgebung und Vollziehung, die an sich zum typischen Inhalt einer Verfassung gehören, keinen Niederschlag in der Bundesverfassung gefunden hatten und es keine Verweisung gab, wer – der Bund oder die Länder – zu ihrer Erlassung berechtigt sind. Zu den solchen Gegenständen zählten bspw. die Dauer der Gesetzgebungsperiode der Landtage, die möglichen Instrumente der direkten Demokratie auf Landesebene, die Mechanismen der politischen Verantwortlichkeit der Mitglieder der Landesregierung sowie der Mitwirkung der Legislative an der Vollziehung von Landesgesetzen. In der Tat wurden diese Materien ohne bundesverfassungsrechtlichen Verweis durch die Landesverfassungen geregelt, fielen also faktisch in die Zuständigkeit der Länder. 133 Vgl. VfSlg 3134/1956, 3314/1958, 6103/1969; Koja, Verfassungsrecht der Bundesländer, S. 7, 17; Walter, Robert, Österreichisches Bundesverfassungsrecht. System, Wien 1972, S. 557, 558; Adamovich sen., Die Landesverfassungsgesetze I, Vorwort. 134 Koja, Friedrich, Das Verfassungsrecht der österreichischen Bundesländer, 2. Aufl., Wien und New York 1988 (1. Aufl. 1967). 135 Vgl. Funk, in: VVDStRL 46, S. 71 f.
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Kap. IV: Die Wiedererrichtung der Bundesstaatlichkeit
Genau diese verfassungstypischen Fragen, auf deren Regulierung das B-VG verzichtete, entkräften die bislang herrschende Auffassung von den Landesverfassungen als bloß zum B-VG erlassene Ausführungsgesetze. Der Sinn der Verfassungen der österreichischen Verfassungen geht viel weiter. Dank dieser Tatsache wurde die Problematik der bundesstaatlichen Homogenität nach dem österreichischen B-VG ins Spiel gebracht.136 Der Grad der Dezentralisation eines Staates hängt davon ab, ob sich diese nur auf die Kreierung materiellrechtlicher Normen oder auch auf die Erzeugung verfassungsrechtlicher Normen (im materiellen Sinne) bezieht, also ob die mit räumlicher Geltung allein für das Teilgebiet des Gesamtstaates zu erlassenden generellen Rechtsnormen nur den Inhalt oder auch die Form des Gesetzes sowie dessen Schöpfungsprozess (d. h. Gesetzgebungsverfahren) betreffen können. Wenn die in ihrer Geltung räumlich begrenzten generellen Rechtsnormen nicht nur inhaltlich bestimmte Materien, die in die der Teilgemeinschaft zugekommene Kompetenz fallen, sondern auch die Verfahrensordnung der Rechtserzeugung regeln können, v. a. wenn die jeweilige Teilgemeinschaft sich selbst eine eigene Verfassung geben kann, so steht solchen Teilgemeinschaften innerhalb eines Gesamtstaates ein bestimmter Freiraum – die Verfassungsautonomie – zu; die Verfügung über diese Verfassungsautonomie im Sinne der Dezentralisationstheorie Kelsens entspricht einem höheren Grad der innerstaatlichen Dezentralisation. In diesem Fall geht es um die Teilgemeinschaften mit der Stellung von „Gliedstaaten“ im Bundesstaat.137 Den österreichischen Bundesländern kommt die gewisse Verfassungsautonomie nicht deshalb zu, weil sie wirklich souveräne Einzelstaaten darstellen, sondern kraft einer der Bundesverfassung immanenten Konstruktion.138 Die Verfassungsautonomie als der den Ländern zustehende Gestaltungsspielraum wird aus dem Art. 99 I BVG abgeleitet, wonach die Landesverfassung als Rechtsquellentyp allein durch ein Landesverfassungsgesetz abgeändert werden kann, „insoweit dadurch die Bundesverfassung nicht berührt wird“. Diese wie beiläufig verwendete Form der Textgestaltung einer der grundlegenden Fragen der bundesstaatlichen Organisationsform zeigt in gewissem Maße den Inhalt der Verfassungsautonomie der österreichischen Länder, die insgesamt genommen und im Vergleich zu den beiden weiteren deutschsprachigen Bundesstaaten als eine schwache Verfassungsautonomie zu qualifizieren ist.139 Die österreichischen Bundesländer verfügen über eine relative Verfassungshoheit, weil ihre Gestaltungsspielräume durch die Bundesverfassung vorherbestimmt und begrenzt werden. Das B-VG hat den Bund und die Länder grundsätzlich gleichermaßen mit der Kompetenz zur Ausübung der staatlichen Aufgaben (mit Aus136
Vgl. Koja, Verfassungsrecht der Bundesländer, S. 18 f. Vgl. Koja, AStL, S. 349. 138 Vgl. Adamovich jun., Die Zukunft des Föderalismus, S. 377. 139 Vgl. Öhlinger, Theo, Die föderative Verfassung Österreichs, in: Die Öffentliche Verwaltung, 1978, H. 24, S. 904; Funk, in: VVDStRL 46, S. 58 f. 137
B. Das Homogenitätsprinzip im österreichischen B-VG
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nahme der Gerichtsbarkeit für die Länder) ausgestattet140, v. a. betrifft dies die eigene Kompetenz zu Gesetzgebung und Verfassungsgebung. Demnach ist der jeweilige Landesverfassungsgeber in der Regelung der Materien, welche unter die den Ländern zugesprochenen Zuständigkeiten fallen, frei, soweit die von ihm erlassenen landesverfassungsrechtlichen Regelungen den expliziten Bestimmungen der Bundesverfassung oder aus solchen Bestimmungen abzuleitenden Ordnungsprinzipien nicht widersprechen. Nach Art. 99 I B-VG wurde den Landtagen die Befugnis gegeben, die Landesverfassung in Form eines Landesverfassungsgesetzes zu erlassen. Den Gegenstand der Landesverfassungsgesetze können nicht allein die Vorschriften bilden, die zur Ausführung der Grundsatzbestimmungen der Bundesverfassung, wenn sie es ausdrücklich vorschreibt, zu verabschieden sind, sondern auch all solche, die den Inhalt einer Verfassung im materiellen Sinne bestimmen und nach Art. 15 I B-VG in den selbständigen Wirkungsbereich der Länder fallen. Die landesverfassungsrechtlichen Vorschriften aller Art dürfen allerdings nicht im Widerspruch zur Bundesverfassung stehen.141 Ende der 1960er bis Anfang der 1970er Jahre vollzog sich auch eine grundlegende Wende in der Rechtsprechung des österreichischen VfGH hinsichtlich der Anerkennung der Verfassungsautonomie der heimischen Bundesländer. Als erstes Zeichen der Änderung der gelebten Verfassungspraxis gilt das Erkenntnis des VfGH aus dem Jahr 1968, in dem das Gericht einerseits in Anlehnung an seine frühere Rechtsprechung bestätigte, dass die Landesverfassungsgesetze an die im B-VG enthaltenen Grundzüge gebunden sind, inhaltlich keine Vorschriften treffen dürfen, die mit der Bundesverfassung unvereinbar sind, sowie der Prüfung gemäß Art. 140 B-VG bezüglich ihrer Übereinstimmung mit der Bundesverfassung unterliegen. Andererseits ist der Landesverfassungsgesetzgeber berechtigt, sich innerhalb dieser vom B-VG vorgegebenen weit gezogenen (sic!) Rahmen frei zu bewegen und die entsprechenden landesverfassungsgesetzlichen Entscheidungen zu treffen.142 Der Ausdruck „Verfassungsautonomie“ in Bezug auf die innerstaatliche Stellung der österreichischen Länder ist hier ausdrücklich noch nicht zum Tragen gekommen, während ein Jahr später der VfGH in einem weiteren Erkenntnis die bislang gewöhnliche Konstruktion „Landesverfassungsgesetze als Ausführungsgesetze zum BVG“ immer noch verwendete.143 Aber schon seit Anfang der 1970er Jahre bekannte sich der österreichische VfGH ausschließlich zu der Auffassung, dass den Ländern vom B-VG eine Verfassungsautonomie eingeräumt wird, die jedoch nicht völlig unbegrenzt ist. Die in Art. 99 I B-VG enthaltene Formulierung erscheint nach Ansicht des VfGH als materiellrechtliche Einschränkung der Befugnis des Landesverfassungsgesetzgebers zur inhaltlichen Regelung der Landesverfassung. Dem Art. 99 I B-VG kommt allerdings kein kompetenzrechtlicher Charakter zu. Demnach 140 141 142 143
Vgl. VfSlg 2066/1950. Vgl. Koja, Verfassungsrecht der Bundesländer, S. 19, 21; ders., AStL, S. 360. Vgl. VfSlg 5676/1968. Vgl. VfSlg 6103/1969.
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Kap. IV: Die Wiedererrichtung der Bundesstaatlichkeit
ist die Verfassungshoheit der österreichischen Länder eingeschränkt, was bedeutet, dass die Bundesverfassung den Ländern eine relativ weitgehende Gestaltungsmöglichkeit einräumt, also die relative Verfassungsautonomie der österreichischen Länder anerkennt.144 Die im Fall der österreichischen Länder anerkannte (relative) Verfassungsautonomie kann nach Koja rechtlich mit zwei Merkmalen charakterisiert werden. In formell-qualitativer Hinsicht befindet sich das Verfassungsrecht der österreichischen Länder in einem Unterordnungsverhältnis zum Bundesverfassungsrecht. Obwohl das geltende B-VG das Prinzip „Bundesrecht bricht Landesrecht“ nicht kennt, ist das österreichische Bundesverfassungsrecht dem Landesverfassungsrecht normativ übergeordnet. Der Landesverfassungsgeber ist stark an die bundesverfassungsrechtliche Ordnung gebunden, also wird die Verfassungsautonomie der Bundesländer durch die gesamtstaatliche Verfassungsordnung begrenzt.145 Das Verhältnis des Bundes- und Landesverfassungsrechts in Österreich kann aber auch aus materiell-quantitativer Perspektive betrachtet werden. Es geht um die Reichweite der Verfassungsautonomie der Länder. Hier stellt Koja ein für das österreichische Bundesstaatsmodell charakteristisches staatsrechtliches Phänomen fest: Der Umfang der bundesverfassungsrechtlichen Regelungen in Bezug auf die Selbständigkeit der Länder ist so eingeengt, dass ihnen im Vergleich mit anderen deutschsprachigen Gliedstaaten ein nur geringer Gestaltungsspielraum verbleibt. Aufgrund der normativen Unterordnung des Landesverfassungsrechts unter das Bundesverfassungsrecht und der Zuordnung der sog. Kompetenz-Kompetenz an den Bund wird die Frage nach der Bestimmung der Reichweite und materiellrechtlichen Intensität der Verfassungsautonomie der österreichischen Länder allein in die Hände des Bundes gelegt.146 d) Homogenitätsprinzip und Landesstaatsorganisation im Rahmen des B-VG Die Doppelnatur des Bundesstaates besteht darin, dass die bundesstaatlichen Glieder einerseits selbständig sind und andererseits unter Wahrung ihrer Selbständigkeit zu einer funktionsfähigen Einheit namens Bundesstaat zusammengefügt werden sollen.147 Für einen demokratischen Bundesstaat ist es von existenzieller Bedeutung, dass seine Gliedstaaten aufgrund der nicht vom Oberstaat delegierten, sondern auf eigenem Willen beruhenden Verfassung ihre innere Organisation weitgehend – auch ohne durch vom Oberstaat erzeugte Rechtsnormen eingeschränkt zu sein – eigenständig regeln können. Demnach ist die Verfassungsautonomie der 144
Vgl. VfSlg 6783/1972, 7653/1975, 7791/1976, 9547/1982, 9886/1983, 11669/1988. Vgl. Koja, Verfassungsrecht der Bundesländer, S. 25; Funk, in: VVDStRL 46, S. 58. 146 Vgl. Koja, Verfassungsrecht der Bundesländer, S. 25; Adamovich jun./Funk, Verfassungsrecht, S. 162; Funk, in: VVDStRL 46, S. 59. 147 Vgl. Ermacora, AStL II, S. 648. 145
B. Das Homogenitätsprinzip im österreichischen B-VG
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Gliedstaaten nur insofern relativiert, als die Bundesverfassung explizit bestimmte Schranken enthält.148 Eine solche Einschränkung der Verfassungsautonomie der bundesstaatlichen Glieder stellt einen Eingriff zugunsten der Funktionsfähigkeit des Bundesstaates als Gesamtstaat dar, welche dank dem Prinzip der bundesstaatlichen Homogenität erreicht wird. Dieser Eingriff in die Verfassungsautonomie der Gliedstaaten kann nämlich mehr oder weniger weitreichend sein. Seine institutionelle Ausgestaltung (also das bundesstaatliche Homogenitätsgebot) hängt von den konkreten Bestimmungen der Bundesverfassung ab: Es können bloß Grundsätze vorgezeichnet, aber auch Details vorgegeben werden.149 Die Frage nach der Gewährleistung der innerstaatlichen Homogenität, also auf welche Weise der Landesverfassungsgesetzgeber den durch die Bundesverfassung begrenzten Gestaltungsspielraum auszufüllen hat, berührte der österreichische VfGH in einer Reihe seiner Erkenntnisse, welche folgende Auffassung des Gerichts erkennen lassen. Wenn und soweit die Ausgangswerte in der Bundesverfassung gegeben sind, bedeutet das, dass gleiche Sachverhalte nach dem Homogenitätsprinzip von Bundes- und Landesverfassungsrecht geregelt werden müssen: In jeder Landesverfassung werden die Materien durch nicht identische, allerdings dem Bundesverfassungsrecht gleichartige Vorschriften geregelt.150 Im Rahmen der ihnen zustehenden Verfassungsautonomie können die österreichischen Länder in ihren Landesverfassungen die Fragen der eigenen Aufbau- und Ablauforganisation gestalten: Sie dürfen sowohl die im B-VG enthaltenen Grundzüge für die Organisation der Länder konkretisieren als auch alle vom Bundesverfassungsrecht nicht erwähnten Gegenstände selbständig regeln. Die gesamten landesverfassungsrechtlichen Regeln hinsichtlich der inneren Organisation der Länder dürfen allerdings nicht gegen die im B-VG festgelegten Richtsätze verstoßen.151 Daraus folgt eine klassische Betrachtung der bundesstaatlichen Homogenität als Grundsatz der Gleichartigkeit der Bundes- und Landesverfassungsordnungen geltend auch für Österreich. Die Bindung des Landesverfassungsgebers an die in der Bundesverfassung bestimmten Grundsätze bedingt eine gewöhnliche Frage, inwieweit der Bundesverfassungsgeber diese staatsorganisationsrechtlichen Grundsätze aufstellen darf. Das ist nach Ermacora „eine Frage an sich“. Auf jeden Fall darf der Oberstaat die Grenzen nicht so weit ziehen, dass die bundesverfassungsrechtlichen Grundsätze den Ländern jede im Sinne des Art. 2 B-VG selbständige Gestaltung ihrer Verfassungsordnung unmöglich machen.152 Abweichend von der „minimalistischen“ Auslegung durch den österreichischen VfGH der bundesverfassungsrechtlich zugelassenen Begrenzung der Verfassungs148
Vgl. VfSlg 11669/1988; Adamovich jun., Die Zukunft des Föderalismus, S. 377. Vgl. Koja, AStL, S. 360 f. 150 Vgl. VfSlg 8321/1978; Koja, Verfassungsrecht der Bundesländer, S. 32. 151 Vgl. VfSlg 5676/1968, 9886/1983; Ermacora, JBl 1957, S. 524; Koja, Verfassungsrecht der Bundesländer, S. 24 f. 152 Vgl. Ermacora, JBl 1957, S. 525. 149
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Kap. IV: Die Wiedererrichtung der Bundesstaatlichkeit
autonomie der Länder zeigt tatsächlich der Text des B-VG, dass das Bundesverfassungsrecht sehr intensiv in die gliedstaatlichen Verfassungsfragen, insb. was die Staatsorganisation betrifft, eingreift. Das B-VG bestimmt nicht allein die Organisation des Erzeugungsorgans (des Landtages), dem die Ausübung der den Ländern zustehenden Gesetzgebung zugewiesen wird, und das Verfahren der Erzeugung der Landesverfassung (Art. 95 und 99 B-VG), das entsprechend der Stufenbaulehre Kelsens der bundeverfassungsrechtlichen Regulierung zugeordnet wird, sondern vielmehr auch den Inhalt der Landesverfassungen und lässt demnach den Ländern in einzelnen Belangen kaum Gestaltungsfreiheit. Die Vorschriften des 4. Hauptstücks des B-VG gehen über die für die Herstellung einer gewissen bundesstaatlichen Homogenität erforderlichen Grundsätze der Staatsorganisation hinaus, welche der Bund für die Länder festlegt, und stimmen lediglich teilweise mit den entsprechenden Regelungen der oberstaatlichen Organisation zusammen.153 Obwohl die Verfassungspraxis, beeinflusst von der v. a. durch Koja modernisierten herrschenden Dezentralisationsdogmatik, den österreichischen Bundesländern ihre Verfassungsautonomie zugestanden hatte, blieben diese auch in den 1970er und 1980er Jahren in der Frage der Gestaltung ihrer eigenen Staatssysteme nicht eigenständig: Die innere Organisation der österreichischen Länder wurde weiterhin durch die umfangreiche und weitgehende bundesverfassungsrechtliche Regulierung vorherbestimmt.
3. „Komplexe Bundesstaatslehre“ der Innsbrucker Schule (P. Pernthaler, F. Esterbauer, K. Weber, R. Novak) Zeitgleich mit der am Ende der 1960er Jahre begonnenen Neugestaltung der in der österreichischen Staatslehre herrschenden Dezentralisationstheorie hatte auch ein Prozess des von bisherigen Überlegungen abweichenden theoretischen Überdenkens des in Österreich vorgegebenen Bundesstaatsmodells eingesetzt, was in den 1970er und 1980er Jahren zu einer Institutionalisierung einer neuen staatswissenschaftlichen Schule im deutschsprachigen Raum geführt hat. Vertreten durch ihren Gründer, den Staatsrechtsprofessor an der Universität Innsbruck Peter Pernthaler, und dessen Schüler, später auch die Universitätsprofessoren Fried Esterbauer, Karl Weber (beide Innsbruck) und Richard Novak (Graz), bietet die sog. Innsbrucker Schule eine andere Vision des Wesens des Bundesstaates. Die in zahllosen Publikationen ausformulierte Auffassung der Innsbrucker Schule tritt der dominierten reinnormativen Dezentralisationstheorie entgegen und stellt sich ausdrücklich als eine antithetisch nicht-normative Bundesstaatsbetrachtung dar. Der kritische Ausgangspunkt dieser Vorstellung liegt darin, dass die der „reintheoretischen“ Herangehensweise gewöhnliche Erörterung des Bundesstaates alle historischen, politischen und sonst 153
S. 61 f.
Vgl. Koja, Verfassungsrecht der Bundesländer, S. 17, 20, 21, 25; Funk, in: VVDStRL 46,
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werthaften Prämissen vor die Klammern der Bundesstaatsproblematik setzt. Das Wesen des Bundesstaates soll nicht allein in rechtstheoretischer Hinsicht, sondern im Wege eines „Methodenpluralismus“ betrachtet und beurteilt werden – die historischen, politischen, soziologischen, ökonomischen und kulturellen Bedingungen der „Verfassungsentscheidung“ sind für die bundesstaatliche Organisationsform nicht außer Acht zu lassen. Methodologisch wäre eine Reduktion bloß auf die juristische Betrachtung des Föderalismus im Allgemeinen und des Bundesstaates als seiner Erscheinungsform im Einzelnen einfach fehlerhaft. Diese Form einer vielschichtigen Untersuchung des Wesens des Bundesstaates erhielt dank Weber die Bezeichnung der „komplexen Bundesstaatslehre“.154 Die Auffassungen der Innsbrucker Schule stellen sich nicht als bloß allgemeintheoretische dar, sie wurzelten nach der Auffassung ihrer Vertreter in den positivrechtlichen Bestimmungen der österreichischen Verfassungsgesetzgebung, welche – abweichend von der herrschenden Lehre – methodologisch in vielfältiger Weise ausgelegt werden sollen. Demnach bildet die sog. komplexe Bundesstaatslehre gleichermaßen eine juristische Theorie, der das positive nationale Verfassungsrecht zugrunde gelegt wird und die eine andersartige Auslegung der grundlegenden Kategorien der Bundesstaatslehre wie Souveränität, Staatsgewalt, Verfassungsautonomie und Homogenität bietet. a) Originäre Staatlichkeit der österreichischen Länder Grundsätzlich ähnelt die „österreichisch geprägte“ komplexe Bundesstaatslehre der klassischen deutschen Staatenstaatstheorie. Der Bundesstaat ist ein aus mehreren Staaten zusammengesetzter Gesamtstaat (Staatenstaat), also ein aus dem Oberstaat und den Gliedstaaten gebildeter Staatsverband, in dem diese autonomen Teileinheiten über eigene originäre Staatlichkeit verfügen. Zu der Schlussfolgerung über die originäre (ursprüngliche) Staatlichkeit der österreichischen Länder gelangt man nicht allein kraft theoretischer Erörterung, sondern auch aufgrund der expliziten Anerkennung der Staatlichkeit der Länder durch die Judikatur, wonach den Ländern gemäß dem Bundesstaatsprinzip die verfassungsrechtliche Stellung von Staaten (Gliedstaaten) zukommt.155 Als Träger originärer Staatlichkeit befinden sich weder Bund noch Länder in einem Über- und Unterordnungsverhältnis; sie sind nicht voneinander abhängig, also 154
Vgl. Weber, Karl, Kriterien des Bundesstaates. Eine systematische, historische und rechtsvergleichende Untersuchung der Bundesstaatlichkeit der Schweiz, der Bundesrepublik Deutschland und Österreichs, Wien 1980, S. 79; ausführlicher dazu Thienel, Rudolf, Ein „komplexer“ oder ein normativer Bundesstaatsbegriff?, in: Austrian Journal of Public and International Law, 1991, H. 42, S. 216 ff. 155 Vgl. Pernthaler, Staatsgründungsakte, S. 16; ders., Die Verfassungsautonomie der österreichischen Bundesländer, in: Juristische Blätter, 1986, H. 15/16, S. 477; ders., Österreichisches Bundesstaatsrecht. Lehr- und Handbuch, Wien 2004, S. 299; Thienel, AJPIL 1991, S. 218; VfSlg 2092/1951.
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Kap. IV: Die Wiedererrichtung der Bundesstaatlichkeit
weder ist die Staatsqualität der Länder vom Bund abgeleitet – daraus folgend sind die einzelnen Glieder dem Oberstaat nicht untergeordnet – noch besteht ein Subordinationsverhältnis innerhalb des Gesamtstaates zugunsten der Gliedstaaten. Dem Bundesstaatsbegriff ist der Dualismus der politischen Existenz immanent.156 Die originäre (ursprüngliche) Staatlichkeit äußert sich in zwei grundlegenden Eigenschaften. Zum einen muss der wirkliche Staat über die Souveränität verfügen, also die Fähigkeit, die existenziellen Entscheidungen nach innen und außen eigenständig, nach eigenem Ermessen zu treffen. Zum anderen geht es um die Kompetenzhoheit des Staates, d. h. ein Fragenkomplex, innerhalb dessen der Staat seine Hoheitsbefugnisse frei ausüben kann. Der Föderalismus als Gestaltungsprinzip eines aus mehreren selbständigen (eigenstaatlichen) Teileinheiten zusammengesetzten Gesamtkörpers wird je nach dem Standpunkt der Erhaltung der Einheit sowie der Selbständigkeit der Glieder unterschiedlich ausgelegt. Durch Art. 2 B-VG wurde Österreich als ein aus neun individuell benannten selbständigen Ländern gebildeter Bundesstaat konstituiert. Es kommt dadurch sowohl die bündische Einheit des Bundesstaates „Republik Österreich“ als auch die Selbständigkeit der zusammengesetzten Länder offensichtlich zum Ausdruck. Diese bundesverfassungsrechtliche Bestimmung sieht unzweideutig vor, dass die Selbständigkeit der Länder die konstituierende Voraussetzung des österreichischen Bundesstaatswesens bildet.157 Staatsrechtstheoretisch verweist die verfassungsgesetzliche Bezeichnung der österreichischen Bundesländer als „selbständig“ auf die Souveränitätsproblematik im Bundesstaat. Anders als die normativbezogene Dezentralisationstheorie betrachtet die komplexe Bundesstaatslehre die Souveränität nicht als Rechtsbegriff, sondern als ein pränormatives Phänomen, das sich in der Effektivität der Herrschaft äußert. Das Wesen der Souveränität besteht darin, dass ihr Träger eine unabgeleitete Rechtsordnung erstellen und durchsetzen kann. Daraus folgend kann die Souveränität nicht als Eigenschaft der Rechtsordnung, sondern vielmehr als ihre Voraussetzung betrachtet werden.158 Aus der Tatsache, dass im Bundesstaat sowohl der Bund als auch die Länder die originären staatlichen Ordnungen darstellen, geht der rechtstheoretisch logische Schluss hervor, dass alle Glieder des Bundesstaates über die Souveränitätsqualität verfügen. Die bundesstaatliche Gesamtrechtsordnung kann als eine „staatliche 156
Vgl. Weber, Karl, Elemente eines umfassenden Föderalismusbegriffes, in: Adamovich jun., Ludwig/Pernthaler, Peter (Hrsg.), Auf dem Weg zur Menschenwürde und Gerechtigkeit, Festschrift für Hans R. Klecatsky, dargeboten zum 60. Lebensjahr, Bd. 2, Wien 1980, S. 1023, 1024 f. 157 Vgl. Pernthaler/Esterbauer, Der Föderalismus, S. 326 f., 332; Pernthaler, Peter, Die Stellung der Länder in der Bundesverfassung, in: Schefbeck, Günther (Hrsg.), 75 Jahre Bundesverfassung, Festschrift aus Anlass des 75. Jahrestages der Beschlussfassung über das Bundes-Verfassungsgesetz, Wien 1995, S. 659. 158 Vgl. Weber, Kriterien des Bundesstaates, S. 82; Pernthaler, FS 75 Jahre Bundesverfassung, S. 659; Pernthaler/Esterbauer, Der Föderalismus, S. 328.
B. Das Homogenitätsprinzip im österreichischen B-VG
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Souveränitäts-Gemeinschaft von Bund und Ländern“ angesehen werden: Der Oberstaat (Bund) erhält seine rechtlich unaufhebbare (Teil-)Souveränität durch die Bundesverfassung; den Gliedstaaten (Ländern) als die Staatsqualität besitzenden Gebilden kommt die gleichgeordnete, unantastbare, aber durch die (Teil-)Souveränität des Oberstaates beschränkbare (Teil-)Souveränität zu. Am Beispiel Österreichs bedeutet dies nicht, dass die Gliedstaatssouveränität der Länder positivrechtlich begründet worden wäre. Die Gliedstaatssouveränität der österreichischen Länder wird durch die bundesverfassungsrechtlichen Bestimmungen (v. a. Art. 2 B-VG) vielmehr explizit als bestehend anerkannt.159 Souveränität als Voraussetzung einer obersten und unabgeleiteten staatlichen Rechtsordnung äußert sich in der Effektivität der Herrschaft auf einem bestimmten Territorium, also in der eigenständigen, „souveränen“Ausübung der Staatsgewalt auf dem Staatsgebiet. Hieraus folgt, dass für die Staatlichkeit der Besitz einer originären (ursprünglichen) Hoheitsgewalt eine ausschlaggebende Bedeutung hat. Eine unabgeleitete Staatsgewalt unterscheidet einen echten Staat von allen anderen staatsähnlichen Gebilden (bspw. von Selbstverwaltungskörpern). Das Wesen des Bundesstaates als einer komplexen Art der staatlichen Rechtsordnung besteht in der Teilung der Staatlichkeit zwischen Bund (Oberstaat) und Ländern (Gliedstaaten), also ist der Bundesstaat „ein verfassungsrechtlich gegliedertes Teilungssystem der Staatsgewalt“.160 Die österreichischen Länder sind wie der Bund unmittelbare Träger der eigenen Staatsgewalt, was die Bundesverfassung durch die Formulierung des Art. 2 II B-VG nicht bezweifelt. Die Frage nach den Trägern der Staatsgewalt innerhalb des Bundesstaates ist nicht nach dem Maßstab der positivrechtlichen Vorschriften (im Fall Österreichs der erst später verabschiedeten Bundesverfassung), sondern nach dem entstehungsgeschichtlichen Vorgang zu beantworten. Die Innsbrucker Schule geht davon aus, dass die österreichischen Länder 1918 wie auch 1945 ihre Staatlichkeit auf revolutionärem Wege bekommen haben, weil ihnen unter zeitgenössischen historischen sowie politischen Umständen eine eigene originäre Staatsgewalt zugekommen war. Die Fähigkeit der österreichischen Länder zum Besitz von ursprünglicher Staatsgewalt gründet sich auf die „historische Individualität“ der Länder, welche durch die individuelle Aufzählung aller selbständigen Bundesländer des Bundesstaates „Republik Österreich“ in Art. 2 II B-VG nicht vorausgesetzt, sondern bloß festgestellt wurde. Die Entstehung eines Bundesstaates hat unter keinen 159
Vgl. Pernthaler, Peter, Der österreichische Bundesstaat im Spannungsfeld von Föderalismus und formalem Rechtspositivismus, in: Österreichische Zeitschrift für öffentliches Recht, 1969, H. 19, S. 371; Pernthaler/Esterbauer, Der Föderalismus, S. 328, 333; Pernthaler, Peter/Esterbauer, Fried, Die Entstehung des österreichischen Bundesstaates als geschichtlicher Vorgang und staatstheoretisches Problem, in: Montfort. Vierteljahresschrift für Geschichte und Gegenwartskunde Vorarlbergs, 1973, H. 2/3, S. 146. 160 Vgl. Pernthaler, Staatsgründungsakte, S. 16 f.; ders., FS 75 Jahre Bundesverfassung, S. 660; ders., Allgemeine Staatslehre und Verfassungslehre, 2. Aufl., Wien und New York 1996, S. 293; ders., Bundesstaatsrecht, S. 299.
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Kap. IV: Die Wiedererrichtung der Bundesstaatlichkeit
Umständen die Aufhebung der unabgeleiteten Staatsgewalt der Teileinheiten und ihre Neubegründung durch den Gesamtstaat aufgrund der Bundesverfassung zur Folge. Ein Bundesstaat entsteht im Wege einer Vereinigung der originären (ursprünglichen) und unabgeleiteten Staatsgewalten von Ober- und Gliedstaaten. Demnach ist für einen Bundesstaat die Teilung der Staatlichkeit zwischen Bund und Ländern als Träger der originären, gleichgeordneten Hoheitsgewalten (sog. dual government) charakteristisch. Aufgrund des historischen Nachweises der gleichzeitigen und originären Entstehung der Staatsgewalt sowohl des Zentralstaates als auch der Gliedstaaten in Österreich kann die Staatlichkeit der Bundesländer nicht als durch die bundesverfassungsgesetzliche Delegation erworbene und daher vom Bund bestimmte und koordinierte, sondern vielmehr als aus dem politischen Prozess in den Ländern selbst gestaltete und verantwortete betrachtet werden. Der österreichische Bundesstaat wurde durch den Zusammenschluss mehrerer gleichermaßen souveräner Hoheitsgewalten (entsprechend des Oberstaates und der Gliedstaaten) gegründet.161 Wenn der Bund sowie die Glieder aber wirkliche Staaten mit den durch die Eigenschaften der Ursprünglichkeit, Gleichordnung und Selbständigkeit kennzeichnenden Hoheitsgewalten darstellen, handelte es sich hierbei eher um einen Staatenbund als Organisationsform des Zusammenlebens der beteiligten Einzelstaaten. Wenn sich die Teileinheiten allerdings zu einem Bundesstaat zusammenschlossen, sind ihre Hoheitsgewalten aufgrund des Zusammenwirkens zu einem Gesamtstaat mit lediglich im Ausmaß der Bundeskompetenzen beschränkter Souveränität auszuüben. Dies führt zu der nächsten wichtigen Eigenschaft der echten Staatlichkeit, also zur Fähigkeit der staatlichen Rechtsordnung zur Umgrenzung des eigenen Kompetenzbereiches. Die herrschende Dezentralisationstheorie geht davon aus, dass die sog. Kompetenz-Kompetenz allein dem Bund zusteht und die Länder ihre Zuständigkeiten im Wege der Delegation vom Bund erhalten (! S. 242 ff., 299 ff., 302 ff.). Die komplexe Bundesstaatslehre sieht es jedoch umgekehrt. Die Originalität und Selbständigkeit einer Staatsgewalt wird nicht nur durch ihren Inhalt, sondern auch durch ihren Umfang umschrieben. Mit anderen Worten kommt die ursprüngliche und oberste Staatsgewalt nur dann zustande, wenn sie sowohl ihre Grenzen wie auch die Intensität ihrer Ausübung (d. h. die Kompetenzhoheit) selbst bestimmen darf. Obwohl die Zentralgewalt gemäß dem österreichischen B-VG die Kompetenzhoheit in allen drei Bereichen der Staatstätigkeit (Gesetzgebung, Vollziehung und Gerichtsbarkeit) hat, ist dies nicht mehr als eine Frage der rechtstechnischen Kompetenzverteilung, was die institutionelle Kongruenz zwischen Zentralgewalt und Gliedstaatsgewalten grundsätzlich nicht beeinflusst. Verwurzelt im historischpolitischen Entstehungsvorgang der österreichischen Bundesstaatlichkeit und nachdem die österreichischen Länder ihre souveränen Hoheitsbefugnisse auf revo161 Vgl. Pernthaler, Staatsgründungsakte, S. 16, 53; Pernthaler/Esterbauer, Montfort 1973, S. 146; Weber, Kriterien des Bundesstaates, S. 82 f., 84; Pernthaler/Esterbauer, Der Föderalismus, S. 333; Pernthaler, JBl 1986, S. 479; ders., FS 75 Jahre Bundesverfassung, S. 660 f., 667; ders., Bundesstaatsrecht, S. 297, 300, 459.
B. Das Homogenitätsprinzip im österreichischen B-VG
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lutionärem Wege nach dem Zerfall der österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie erworben hatten, verzichteten die zukünftigen Bundesländer auf einen Teil ihrer eigentümlichen Zuständigkeiten zugunsten des Gesamtstaates, aber nur insoweit, dass dem Bundesstaat als Gesamtstaat durch die anerkannte Bundesverfassung Kompetenzen (einschließlich sog. Kompetenz-Kompetenz) eigeräumt würden. Und eben darin liegt ein wesentlicher Unterschied des Bundesstaates zu zwei weiteren innerstaatlichen Organisationsformen – dem Einheitsstaat und dem Staatenbund: Einerseits ist die Ermächtigung des Gesamtstaates in Gestalt des Oberstaates, Änderungen der Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern vorzunehmen, keine uneingeschränkte formale Befugnis, welche die Souveränität belegen würde, sondern materiell beschränkt (bspw. in Österreich durch die Bestimmung des Art. 44 II n. F. B-VG); andererseits dürfen die Gliedstaaten die Übertragung der eigenen Zuständigkeiten an den Bund nach eigenem Ermessen und jederzeit nicht aufheben, da dies nur im Wege der erschwerten grundlegenden Veränderung der gesamten bundesstaatlichen Verfassungsordnung möglich wäre.162 Ausgehend von der positivrechtlichen Anerkennung (Art. 2 II B-VG) der ursprünglichen Staatlichkeit der österreichischen Länder ist ihnen offengelassen, den Sinn ihrer Staatlichkeit in kompetenzrechtlicher Hinsicht zu bestimmen, was von der Aufgabenformulierung ihrer eigenen originären Staatsgewalt abhängt. Die Ursprünglichkeit der Staatsgewalt der Länder kommt materiellrechtlich an anderer Stelle zum Ausdruck: Durch die sog. Allgemeinzuständigkeitsklausel des Art. 15 I BVG verbleibt den Ländern ein selbständiger Wirkungsbereich, soweit die Bundesverfassung nichts anderes regelt, d. h. die ursprüngliche Kompetenzhoheit der Länder als Staaten eindeutig bestätigt wurde. Selbst die Verfassungsformulierung entkräftet die These der Dezentralisationstheorie hinsichtlich einer gewissen „Übertragung“ der Befugnisse in die Zuständigkeit der Länder. Die Generalklausel zugunsten der Länder kann auf folgende Weise ausgelegt werden: Alles, was die Bundesverfassung explizit nicht regelt, ist also nicht etwa nichtexistent, sondern fällt in den Kompetenzbereich der Länder als Träger der originären Staatlichkeit. Durch die Verbindung der bundesstaatlichen Kompetenzverteilung mit der ursprünglichen Staatsgewalt der Länder wird die offene Regelungsfreiheit der Gliedstaaten in ihrem Kompetenzbereich gewährleistet, was insb. durch den verschiedenen Kompetenzgebrauch den Unterschied entsprechend zwischen Ländern als Gliedstaaten und anderen Selbstverwaltungskörpern theoretisch deutlicher zeigt.163 162 Vgl. Pernthaler, Bundesstaatsrecht, S. 297; Pernthaler/Esterbauer, Montfort 1973, S. 138 f.; Pernthaler, FS 75 Jahre Bundesverfassung, S. 668 f.; ders., ÖZÖR 1969, S. 373. 163 Vgl. Pernthaler, FS 75 Jahre Bundesverfassung, S. 668 f.; ders., JBl 1986, S. 479; ders., ÖZÖR 1969, S. 376; ders., Entwicklungen der Landesverfassungen, in: Weinzierl, Erika (Hrsg.), Justiz und Zeitgeschichte, Symposionsbeiträge 1976 – 1993, Bd. 2, Wien 1995, S. 793; Pernthaler/Esterbauer, Montfort 1973, S. 147; Esterbauer, Fried, Kriterien föderativer und konföderativer Systeme. Unter besonderer Berücksichtigung Österreichs und der Europäischen Gemeinschaften, Wien 1976, S. 74 f.; Pernthaler, Peter/Weber, Karl, Landeskompetenzen und bundesstaatliches Homogenitätsprinzip im Dienstrecht, in: Martinek, Oswin (Hrsg.), Arbeitsleben und Rechtsordnung, Festschrift Gerhard Schnorr zum 65. Geburtstag, Wien 1988,
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Kap. IV: Die Wiedererrichtung der Bundesstaatlichkeit
In Bezug auf die österreichischen Länder verwendet das B-VG allerdings die Bezeichnung „selbständig“, keineswegs hingegen den Begriff „souverän“. Nach der Dezentralisationstheorie gilt diese positivrechtliche Begrifflichkeit als ein weiterer Beleg dafür, dass die „Gliedstaaten“ nur Gebietskörperschaften eines höheren Grades der quantitativen Dezentralisation darstellen und das Souveränitätsmerkmal allein dem Gesamtstaat zusteht. Pernthaler bestreitet diese These und geht davon aus, dass im Fall des Bundesstaates, wenn sowohl der Bund als auch die Länder unmittelbare Träger der originären Staatsgewalt sind, der Begriff der Souveränität im Sinne der Rechtskategorie „die staatliche Souveränität“ auf das innere wechselseitige Verhältnis zwischen den Gliedern kaum anwendbar sei. Die Lehre sieht den Ursprung der selbständigen Gewalt der Glieder im Selbstbestimmungsrecht, unter dem die Fähigkeit zur Selbstregierung verstanden wird. Hier handelt es sich aber um das innere Selbstbestimmungerecht, das nicht auf die Erlangung der völkerrechtlichen Souveränität (völkerrechtlich anerkannten Eigenstaatlichkeit der Glieder), sondern auf die Selbständigkeit innerhalb eines Staatswesens zielt. Die Selbständigkeit der Gliedstaaten gründet sich auf die freie Ausübung der originären, unabgeleiteten Hoheitsgewalt, die aufgrund des internen Selbstbestimmungsrechts das Landesvolk im Besitz hat. Mit anderen Worten ist die Selbständigkeit der Länder in der Souveränität des Volkes begründet (Volkssouveränität als Grundlage der Staatlichkeit der Länder).164 Dieser Gedanke führt zu dem nach der Staatsgewalt zweiten wesentlichen Element der Gliedstaatlichkeit im Sinne der Jellinekschen Drei-Elemente-Lehre – dem Staatsvolk. Dem Wesen des modernen demokratischen Staates entsprechend beruhen auch die Gliedstaaten als selbständige staatliche Rechtsordnungen auf dem allgemein anerkannten Selbstbestimmungsrecht der Völker. Dieses Recht wird den Völkern aufgrund der ihnen zustehenden Volkssouveränität, die ein pränormatives Phänomen darstellt, eigeräumt. In einem komplexen Staat wie einem Bundesstaat geht es in Bezug auf die die Länder bildenden Landesvölker allerdings nur um das innere Selbstbestimmungsrecht Letzterer, weil allein das Gesamtvolk das Subjekt des Selbstbestimmungsrechts und der staatlichen Souveränität „nach außen“ (im völkerrechtlichen Sinne) des Gesamtstaates ist.165 Der Ausdruck „Landesvolk“ kommt in der österreichischen Bundesverfassung überhaupt nicht und in den Landesverfassungen nur vereinzelt vor. Dank der Formulierung des Art. 1 S. 2 B-VG, wonach das Recht Österreichs als einer demoS. 558 f.; Weber, Karl, Wirtschaftseinheit und Bundesstaat, in: Seidl-Hohenveldern, Ignaz (Hrsg.), Österreich als einheitliches Wirtschaftsgebiet und die Europäische Gemeinschaft, Festschrift für Hans Klinghoffer, Wien und New York 1988, S. 152 f.; Pernthaler, Bundesstaatsrecht, S. 296. 164 Vgl. Pernthaler, ÖZÖR 1969, S. 376; ders., Staatsgründungsakte, S. 16; ders., JBl 1986, S. 477, 479; ders., AStL, S. 48; ders., FS 75 Jahre Bundesverfassung, S. 659 f. (besonders Fn. 4), 666 f. (besonders Fn. 62); ders., Bundesstaatsrecht, S. 459. 165 Vgl. Pernthaler, Staatsgründungsakte, S. 16; ders., JBl 1986, S. 477; Esterbauer, Kriterien föderativer und konföderativer Systeme, S. 76.
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kratischen Republik vom Volk ausgeht, scheint es, dass die Quelle der Staatsgewalt allein das Bundesvolk (Gesamtvolk) darstellt. Im Sinne der klassischen Staatslehre, nach der die Souveränität der Nationalstaaten als unteilbar zu erklären ist, ist diese Auffassung völlig korrekt. Unter Berücksichtigung des historischen Entstehungsvorganges des Bundesstaates „Republik Österreich“ in den Jahren 1918 – 1920 bzw. 1945 und der Volkssouveränität als präkonstitutioneller Kategorie wird eine solche Auslegung der Verfassungsbestimmung widergelegt. In historischer Hinsicht haben sich die österreichischen Landesvölker in revolutionärer Weise selbst konstituiert und den demokratischen Bundesstaat „Republik Österreich“ mitbegründet. Daraus folgend waren damals und bleiben bislang eben die Landesvölker die Quellen der originären Staatsgewalten der österreichischen Länder. Fraglich aber ist, ob das Landesvolk ein nur numerisch abzugrenzender Teil des Bundesvolkes ist oder ob es dabei um eine qualitative Einheit geht, die mehr als die bloße Summe der auf dem konkreten Teilgebiet des Gesamtstaates wohnenden Staatsangehörigen bildet.166 Der in Art. 1 S. 2 B-VG verwendete Begriff des österreichischen Volkes ist als Staatsvolk in Bund und Ländern zu verstehen, also als ein in die geschichtlich gewordenen Landesvölker gegliedertes Gesamtvolk. Das Landesvolk wird nicht nur als Vielheit aller „Landesbürger“ (obwohl die in Art. 6 B-VG vorgesehene Landesbürgerschaft in der Zweiten Republik verfassungsrechtlich suspendiert wurde167) betrachtet, sondern bildet auch eine konkrete geschichtliche Einheit. In dem letzteren Sinne ist das Landesvolk Träger des inneren Selbstbestimmungsrechts und ursprüngliche Quelle der originären Staatsgewalt des jeweiligen Landes.168 Die Selbständigkeit der bundesstaatlichen Glieder besteht darin, dass sie die dem Landesvolk als Träger der „pränormativen“ Souveränität (Volkssouveränität) und des inneren Selbstbestimmungsrechts zustehende, also originäre (ursprüngliche) Hoheitsgewalt ausüben können. Diese selbständig demokratisch legitimierte (in der Souveränität und Selbstbestimmung des Landesvolkes wurzelnde) Gewalt ist ihrer Rechtsnatur nach nicht nur eine bloße Ausübung der außerhalb der Bundeskompetenzen verbliebenen (anders gesagt: innerhalb dem Bund nicht überlassenen Kompetenzen) Befugnisse hinsichtlich der klassischen Bereiche der staatlichen Tätigkeit wie Gesetzgebung, Vollziehung und optional Gerichtsbarkeit, sondern vielmehr die Fähigkeit, eigene Erscheinungsform nach eigenem Ermessen zu errichten und die Grundlage für die Ausübung der gesetzgebenden, vollziehenden und 166
Vgl. Pernthaler, Peter, Land, Volk und Heimat als Kategorien des österreichischen Verfassungsrechts, Wien 1982, S. 23, 25; Pernthaler, Peter/Weber, Karl, Landesbürgerschaft und Bundesstaat. Der Status des Landesbürgers als Kriterium des Bundesstaates und Maßstab der Demokratie in den Ländern, Wien 1983, S. 31 f., 34; Pernthaler, JBl 1986, S. 477. 167 Vgl. Funk, in: VVDStRL 46, S. 77 f. (besonders Fn. 77); Esterbauer, Kriterien föderativer und konföderativer Systeme, S. 76. 168 Vgl. Pernthaler, Land, Volk und Heimat, S. 24, 25 f., 27; Pernthaler/Weber, Landesbürgerschaft und Bundesstaat, S. 32, 33; Pernthaler, Peter/Weber, Karl, Bundesverfassung und Föderalismus. Bemerkungen zum Stand der theoretischen und politischen Diskussion um das föderalistische Baugesetz der österreichischen Verfassung, in: Der Staat, 1982, H. 4, S. 582.
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Kap. IV: Die Wiedererrichtung der Bundesstaatlichkeit
rechtsprechenden Funktionen selbständig zu bilden. Mit anderen Worten ist die demokratisch legitimierte Hoheitsgewalt (Staatsgewalt) der bundesstaatlichen Glieder in erster Linie eine verfassungsgebende Gewalt, ein sog. pouvoir constituant. Die Fähigkeit, diesen die staatliche Rechtsordnung konstituierenden pouvoir constituant auszuüben, betrachtet die komplexe Bundesstaatslehre als Verfassungshoheit der Gliedstaaten.169 b) Verfassungsautonomie der Gliedstaaten Da die einen Bundesstaat bildenden Glieder (Bund und Länder) über eine eigene Staatlichkeit verfügen und daher in sich geschlossene Staatssysteme sind, gibt es in einem Gesamtstaat mit bundesstaatlicher Organisationsform mehrere (mindestens zwei) in der Souveränität und Selbstbestimmung des Volkes (des Bundes- bzw. Landesvolkes) wurzelnde Verfassungssysteme. Nach diesem bundesstaatlichen Trennungsprinzip sind die Verfassungsräume zwischen Bund und Ländern einerseits kraft der Eigenstaatlichkeit der beiden Glieder autonom und gleichrangig, andererseits aufgrund der Staatlichkeit des Gemeinwesens organisatorisch und funktionell miteinander verbunden. Ausdruck dieses Wechselspiels staatlicher Selbständigkeit der bundesstaatlichen Glieder und der Integration der demokratisch legitimierten Einzelstaatssysteme zugunsten des Gemeinwesens im Bundesstaat ist nämlich die Verfassungsautonomie (Verfassungshoheit).170 Die auch den Gliedstaaten zustehende Verfassungsautonomie bedeutet die Möglichkeit, ihre Staatswesen nach eigenen Vorstellungen einzurichten und auszugestalten, d. h., die Länder haben eine politische und rechtliche Selbstordnungsfähigkeit (Selbstgestaltungsfähigkeit) der staatlichen Rechtsordnung auf ihren Staatsgebieten in Anlehnung an den volkssouveränen Ursprung ihrer historischen Individualitäten.171 Die Verfassungsautonomie der Länder gründet direkt auf ihrer originären Staatlichkeit und ist unmittelbar vom Landesvolk hergeleitet. Dieser pouvoir constituant des Landesvolkes ist der entscheidende Unterschied zwischen Gliedstaaten und Selbstverwaltungskörpern. Den beiden Arten der Gebietskörperschaften (Gliedstaaten und anderen autonomen Selbstverwaltungseinrichtungen) steht eine gewisse Freiheit in der Frage der Ausformung der eigenen Ordnungen zur Verfügung. Der Ausdruck „Autonomie“ im Begriff der Verfassungsautonomie bedeutet hier allerdings nicht nur eine vom Zentralstaat erlaubte und beaufsichtigte relative Unabhängigkeit im Rahmen der allgemeinen Verfassungsvorschriften, wie es bei den 169 Vgl. Pernthaler/Weber, Landesbürgerschaft und Bundesstaat, S. 31; Pernthaler, JBl 1986, S. 477; Weber, FS Klinghoffer, S. 153; Pernthaler, Entwicklungen der Landesverfassungen, S. 789. 170 Vgl. Pernthaler, Bundesstaatsrecht, S. 301, 303, 459. 171 Vgl. Pernthaler, AStL, S. 293; ders., FS 75 Jahre Bundesverfassung, S. 667; ders., Bundesstaatsrecht, S. 299, 302 f.
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Kommunen und anderen Selbstverwaltungskörpern (z. B. Regionen eines dezentralisierten Einheitsstaates) der Fall ist, sondern eine ursprüngliche, nicht abgeleitete und inhaltlich nicht vorgeprägte rechtliche Selbstordnungsfähigkeit des Staatswesens, welche den Gliedstaaten kraft ihrer volkssouveränen und selbstbestimmten Staatlichkeit zukommt. Daher unterscheidet sich die Verfassungsautonomie der bundesstaatlichen Glieder von der Autonomie der Selbstverwaltungskörper nicht bloß graduell, wie es die Auffassung der Dezentralisationstheorie ist, sondern vielmehr rechtswesentlich.172 Die Verfassungsautonomie der Gliedstaaten als Ausdruck der Souveränität und Selbstbestimmung des Landesvolkes stellt – unabhängig von ihrer rechtlichen Qualität – die politische Grundentscheidung über die Staatlichkeit des jeweiligen Landes dar. Um diese Entscheidung zu treffen, ist die Verfassungsautonomie der Länder in einer normativen Form zu verwirklichen: Durch die Anknüpfung an die selbständige Verfassungshoheit der Länder kommt der Landesverfassung die Qualität eines Einheitsgrundes der gliedstaatlichen Rechtsordnung zu und daher bildet sie die oberste staatliche Grundordnung des Landes. Aus dem Wesen der Verfassungsautonomie der Länder folgt logischerweise, dass die Landesverfassung die politischen Grundentscheidungen und rechtlichen Grundvorstellungen enthält, welche das Landesvolk als Träger des pouvoir constituant für seine eigene Staatlichkeit gewählt hat.173 Die Verfassungsautonomie der österreichischen Länder kommt im B-VG nicht explizit zum Ausdruck. Sie ergibt sich aber aus der verfassungsrechtlich anerkannten (Art. 2 B-VG) ursprünglichen und nicht abgeleiteten Staatlichkeit der Länder als Glieder des Bundesstaates „Republik Österreich“, was auch in der späteren Rechtsprechung des VfGH bestätigt wurde und als „freie politische Gestaltbarkeit“ in den „sehr weit gezogenen“ Grenzen der Bundesverfassung angesehen wird.174 Daraus folgt die Frage nach dem Verhältnis der durch die Bundes- bzw. Landesverfassungen ausgeformten Bundes- bzw. Landesrechtsordnungen. Die Dezentralisationstheorie betrachtet die Verfassungsautonomie nicht als demokratisch legitimierten pouvoir constituant des Landesvolkes und damit als Konsequenz seiner inneren rechtspolitischen Selbstbestimmung, sondern als bundesverfassungsrechtliche Ermächtigung der Länder zur Ausfüllung eines vom Bund vorgegebenen Gestaltungsspielraums. Die Bundesverfassung und die Landesverfassungen sollten nach dieser Auffassung inhaltlich und formal eine „untrennbare rechtliche Einheit“ bilden, wobei die Landesverfassungen rangstufig „Ausfüh-
172 Vgl. Pernthaler, ÖZÖR 1969, S. 371, 375, 376; ders., JBl 1986, S. 478 f.; ders., FS 75 Jahre Bundesverfassung, S. 668; ders., Bundesstaatsrecht, S. 459, 460. 173 Vgl. Pernthaler, JBl 1986, S. 477, 478; ders., ÖZÖR 1969, S. 371; ders., Bundesstaatsrecht, S. 459, 460. 174 Vgl. Pernthaler, JBl 1986, S. 478; ders., Bundesstaatsrecht, S. 460, 461; VfSlg 5676/ 1968.
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Kap. IV: Die Wiedererrichtung der Bundesstaatlichkeit
rungsgesetze“ zur Bundesverfassung darstellen.175 Nach der komplexen Bundesstaatslehre ist die Verfassungsautonomie der Gliedstaaten ein positivrechtlicher Begriff, weil sie ihre Ausprägung in einem Rechtsakt mit Verfassungskraft (unabhängig von der Bezeichnung: Landesverfassung, Landesverfassungsgesetz, Landesordnung etc.) findet. Die jeweilige Landesverfassung stellt folglich eine originäre und der Bundesverfassung gleichgeordnete Rechtsgrundlage für die staatliche Landesrechtsordnung dar. Das Rangverhältnis von Bundes- und Landesverfassungen kann nicht isoliert vom Maß der jeweiligen Verfassungshoheit (d. h. des Bundes wie auch der Länder) betrachtet werden. Bezieht sich aber die gliedstaatliche Verfassungsautonomie ihrem Wesen nach auf die staatliche Souveränität und nicht ihrem Ursprung nach auf die Souveränität und das innere Selbstbestimmungsrecht des Landesvolkes, so würde daraus die Relativität der Stufenlehre offensichtlich folgen: Im Rahmen des gesamtstaatlichen Verfassungssystems, das bloß eine beliebige Summe der einzelnen Rechtsnormen mit verschiedenen Rangstufen bildet, wird die Verfassungshoheit der Gliedstaaten durch die Normen des Bundes konstituiert, d. h. ohne unmittelbaren Bezug zur Volkssouveränität. Mit anderen Worten beruht die Verfassungsautonomie der Gliedstaaten (und mithin die Landesverfassung als deren Ausdruck) auf der Staatssouveränität des Gemeinwesens und wird von ihm vorherbestimmt. Wenn aber die Landesverfassung als ein in der Verfassungshoheit des Landesvolkes verwurzeltes notwendiges Attribut der selbständigen Staatlichkeit der Länder anzusehen ist, so gelangt man logischerweise zu der Schlussfolgerung, dass die Verfassungsautonomie der Länder und die Landesverfassung als ihr normativer Ausdruck nicht vom Bund delegiert, ermächtigt oder eingerichtet, sondern als objektiv bestehend anerkannt sind.176 Die Landesverfassung ist in ihrem Kompetenzbereich eine ursprüngliche und der Bundesverfassung gleichgeordnete Grundlage der staatlichen Rechtsordnung der Länder. Der Inhalt der österreichischen Landesverfassungen richtet sich nach der Allgemeinzuständigkeit des Art. 15 I B-VG, die keinen abgeschlossenen Gehalt definiert, sondern ausdrücklich die Ursprünglichkeit der demokratisch legitimierten Staatsgewalt der Bundesländer widerspiegelt, welche durch die Bundesverfassung nicht begründet wird. Es geht aber um einen Bundesstaat und nicht den Staatenbund. Daher stellt die Bundesverfassung eine Rechtsgrundlage für die gemeinsame Staatlichkeit des Bundes und der Länder dar, welche ohne Verbindungen zwischen der Bundes- und Landesverfassungen funktionsunfähig wäre. Daher ist die Bundesverfassung jedoch ranghöher, soweit sie für die Landesverfassungen rechtsbindende Rahmenbestimmungen vorgibt. Im Sinne der Dezentralisationstheorie würde dies den (formellen) normativen Vorrang der Bundesverfassung vor der Landes175
Vgl. Pernthaler, Peter, Reform der Verfassung und der Verwaltung in den Ländern als Voraussetzung einer bürgernahen Erneuerung des Föderalismus in Österreich, in: Freiheitliche Akademie (Hrsg.), Föderalismuspolitik, Wien 1998, S. 6. 176 Vgl. Pernthaler, ÖZÖR 1969, S. 370; Pernthaler/Esterbauer, Montfort 1973, S. 147; Novak, Richard, Die relative Verfassungsautonomie der Länder, in: Rack, Reinhard (Hrsg.), Landesverfassungsreform, Graz u. a. 1982, S. 36.
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verfassung bedeuten und das Landesverfassungsgesetz nach Art. 140 B-VG nicht als Prüfungsmaßstab, sondern als Prüfungsgegenstand verstanden. Allerdings sieht Art. 99 I B-VG ganz deutlich die Landesverfassung als einen zusammenhängenden Ordnungsbereich an, der dem Landesverfassungsgesetz vorbehalten ist. Dieser Ordnungsbereich ist in seinen Grundzügen bereits durch die österreichische Bundesverfassung (im Sinne einer nicht kodifizierten gesamtstaatlichen Verfassung) festgelegt und kann allerdings kraft positivrechtlicher Anordnung der „Abänderung“ durch ein Landesverfassungsgesetz ihrem Regelungsgegenstand (d. h. der Bundesverfassung) entzogen werden. Die Verfassung der Gebietskörperschaft „Bund“ kann die Verfassungen der Gebietskörperschaften „Länder“ inhaltlich nicht vorherbestimmen, weil sie (d. h. die Bundesverfassung) sich ihrem Rechtsnormengegenstand nach überhaupt nicht nach den staatlichen Ordnungen der Länder richtet. Art. 99 I BVG stellt seiner Rechtsnatur und seinem Wortlaut nach eine Bestandsgarantie der auf der demokratisch legitimierten Verfassungshoheit beruhenden Landesverfassung dar, die eine Konstituierung der Landesverfassungsordnung durch die Bundesverfassung ausschließt und umgekehrt eine inhaltliche Schranke des pouvoir constituant der Gliedstaaten gebietet. Daher sieht die Innsbrucker Schule übereinstimmend mit der Wiener rechtspositivistischen Schule die Verfassungsautonomie der Länder als eine „relative“ Verfassungsautonomie an, also als eine durch die Bundesverfassung begrenzte Verfassungsautonomie.177 Die Verfassungsautonomie der Gliedstaaten impliziert nicht nur eine selbständige Normsetzungsfunktion, also die Fähigkeit, durch die Erlassung der eigenen Verfassung die staatliche Rechtsordnung nach freiem Ermessen auszuformen, sondern auch eine Garantie der Freiheit dieser Normsetzung. Obwohl die Verfassungsautonomie der Gliedstaaten durch die Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern materiellrechtlich abgegrenzt ist, wird auch gefordert, dass damit zugleich gegenüber dem Bund eine Garantiewirkung materiellrechtlicher Natur entstehen soll. Sogar in der Konstruktion des Rangverhältnisses zwischen dem B-VG als Grundsatzgesetz und den Landesverfassungen als Ausführungsgesetze sah Pernthaler eine „unübersteigbare Schranke der Eingriffsmöglichkeit des Bundes“ an, dass dem Landesverfassungsgesetzgeber ein bestimmter Spielraum konkretisierender, aber von ihrer Natur aus freier Normsetzungsbefugnis verbleiben muss. Mit der Anerkennung der in der Volkssouveränität verwurzelten Verfassungshoheit der Länder ist ferner eine etwaige Verfassungsmanipulation durch den Bund zu verhindern. Durch ein Bundesverfassungsgesetz würde eine Landesverfassung weder erlassen noch zumindest ersetzt bzw. abgeändert werden, ohne dadurch eine Gesamtänderung der Bundesverfassung i. S. d. Art. 44 II a. F.178 B-VG durchzuführen. Der Bund könnte im Wege der Kompetenzänderung die demokratisch legitimierte Verfassungsautonomie der Bundesländer nicht beseitigen, ohne dass dies ein Ver177
Vgl. Pernthaler, ÖZÖR 1969, S. 372; ders., JBl 1986, S. 479, 481; ders., Bundesstaatsrecht, S. 303, 461. 178 Bis Änderung durch das BVG vom 27. November 1984, wonach Abs. 2 a. F. Abs. 3 geworden ist.
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Kap. IV: Die Wiedererrichtung der Bundesstaatlichkeit
fassungsbruch wäre. Es muss also jede Kompetenzänderung durch den Bundesverfassungsgesetzgeber zuerst grundsätzlich erwogen werden, ob sie den pouvoir constituant der Länder in unzulässiger Weise beeinträchtigen würde, weil die beiden Typen von Verfassungsurkunden – das B-VG und die Landesverfassungen – im Grunde genommen rechtlich paritätisch sind und der Bundesverfassung keinesfalls jene uneingeschränkte Wirkungsmöglichkeit über den Landesordnungsbereich zukommt.179 Die Verfassungsautonomie der Gliedstaaten ist relativiert, die Bundesverfassung gibt ihr die Grenzen zum Zweck der Existenz und Funktionsfähigkeit des bundesstaatlichen Gemeinwesens. Diese Grenzen sind allerdings auch rechtspolitisch variabel und erweiterungsfähig,180 was zu der Frage nach dem institutionellen Gradmesser der dogmatisch höchstzulässigen Einengung der Selbständigkeit der Gliedstaaten im Rahmen eines wirklichen Bundesstaates führt. c) Das bundesstaatliche Homogenitätsgebot Betrachtet man den Bundesstaat als Ergebnis eines Zusammenschlusses von politisch selbständigen Trägern originärer Hoheitsgewalten, so ist das Bundesverhältnis, also das innere Verhältnis zwischen den bundesstaatlichen Gliedern, als Wechselwirkungsbeziehung der Selbständigkeit der Teileinheiten einerseits und ihrer Bindung an die gesamtstaatliche Organisationsstruktur andererseits anzusehen. Bezeichnet als Zentrifugalität und Zentripetalität gehören diese inneren Bestrebungen zum Wesen des Föderalismus als Organisationsprinzip und bilden eine Synthese, die dem Föderalismus den jeweiligen Charakter verleiht. Unter Zentrifugalität versteht man die Bestrebungen „vom Zentrum zur Peripherie“, was sich im Fall eines Bundesstaates in den permanenten Auseinandersetzungen der Selbständigkeit der Gliedstaaten gegenüber dem oftmals stärkeren Gesamtstaat äußert. Fehlt jedoch die Zentrifugalität als innerhalb des Bundesstaates permanent wirkende Kraft, so verwandelt sich die föderalistische Ordnung in ein zentralistisches Staatsgefüge mit unitarischer Binnenordnung. Die Zentripetalität ist dagegen das Prinzip der Zentralisierung der Staatsgewalt und bedeutet daher eine zumindest teilweise Übertragung von Kompetenzen der bundesstaatlichen Glieder zugunsten des dadurch gestärkten Gesamtgebildes, was zu einer „Vereinheitlichung“ des Bundesstaates führen soll. Die Balance beider Kräfte gewährleistet demzufolge die Stabilität und Funktionsfähigkeit einer bundesstaatlichen Gesamtordnung. Im Spannungsverhältnis von Zentrifugalität und Zentripetalität als zweier gewöhnlicher innerstaatlicher Strömungen liegt die Dynamik und die Dimensionierung der bun-
179 Vgl. Pernthaler, ÖZÖR 1969, S. 365, 366, 372, 373; Pernthaler/Esterbauer, Montfort 1973, S. 139. 180 Vgl. Novak, Die relative Verfassungsautonomie der Länder, S. 36.
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desverfassungsrechtlichen Schranken der gliedstaatlichen Verfassungsautonomie, die aufgrund des Homogenitätsprinzips abgeleitet werden.181 Wegen der Doppelnatur des Bundesstaates muss das innerstaatliche Verhältnis zwischen Oberstaat und Gliedstaaten auf eine solche Weise ausgestaltet werden, dass einerseits die durch den rechtlichen und politischen wie auch kulturellen, sozialen und wirtschaftlichen Pluralismus geäußerte Selbständigkeit der bundesstaatlichen Glieder gewährleistet ist und sich ungehindert entwickeln kann, und andererseits der aus diesen selbständigen Gliedern zusammengeschlossene Bundesstaat als eine lebendige staatsrechtliche Einheit organisiert werden kann. In diesem Sinne müssen die Bundes- und Landesverfassungsordnungen in den grundlegenden Belangen miteinander übereinstimmen, was durch die Annahme des Prinzips der bundesstaatlichen Homogenität durchgeführt wird. Demnach wird die Bundesverfassung als eine Art Kollisionsregel gelten, die innerstaatliche Rechtskonflikte vermeiden bzw. lösen sollte. Hierbei dürfen die homogenitätstragenden bundesverfassungsrechtlichen Regelungen nicht einen einseitigen Anspruch des Bundes und eine daraus folgende Verpflichtung der Länder zur Ausgestaltung der Staatsgewalt und ihres Ausübungsmodells nach dem oberstaatlichen Vorbild darstellen, sondern vielmehr eine Voraussetzung für die auf bündischer Grundlage vereinigten und in ihren Gewalten freiwillig selbstbeschränkten eigenständigen Bundesstaatsglieder zur solidarischen Anpassung der gewissen fundamentalen Gemeinsamkeiten zwecks der friedlichen und effektiven Koexistenz bilden.182 Anhand von bundesstaatlicher Homogenität soll im Bundesstaat eine notwendige Verbindung von der in der volkssouverän begründeten Selbständigkeit verwurzelten Verfassungsautonomie und der Eigenverantwortung der Gliedstaaten mit den Notwendigkeiten der innerstaatlichen Integration und Kooperation sowie der Einheit des bundesstaatlichen Gemeinwesens geschaffen werden. Da der Zusammenschluss der Teileinheiten zu einem Bundesstaat zunächst nur die Vereinheitlichung von bestimmten staatlichen Einrichtungen und Aufgaben durch deren Übergabe an den Bund bewirkt, wird den Gliedstaaten eine offene Regelungsfreiheit in ihrem verbliebenen Kompetenzbereich gewährleistet. Diese grundsätzliche Offenheit des Kompetenzgebrauchs durch die Gliedstaaten beeinflusst die Gestaltung eines bundesstaatlichen Homogenitätsgebotes, also die normative Verankerung des Homogenitätsprinzips in Gestalt eines Inbegriffs bundesverfassungsrechtlicher Homogenitätsregeln. Im Zweifel ist jede homogenitätstragende Norm der Bundesverfassung restriktiv zugunsten der selbständigen Regelungshoheit der Länder auszulegen. Die bei der Entstehung eines Bundesstaates erfolgende Aufgabenübertragung bedarf einer gewissen „Gleichgerichtetheit“ der Instrumente und Zielsetzungen der Erfüllung dieser Aufgaben, also der Übereinstimmung der Organisationsebenen in den 181 Vgl. Weber, FS Klecatsky II, S. 1025 f.; ders., FS Klinghoffer, S. 154; Pernthaler, Bundesstaatsrecht, S. 462. 182 Vgl. Pernthaler, FS 75 Jahre Bundesverfassung, S. 669; Pernthaler/Esterbauer, Der Föderalismus, S. 334; Pernthaler, Entwicklungen der Landesverfassungen, S. 794; Weber, FS Klinghoffer, S. 153.
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Kap. IV: Die Wiedererrichtung der Bundesstaatlichkeit
grundlegenden Gestaltungsprinzipien (d. h. die Homogenität). Wie weitreichend eine rechtliche Verbindlichmachung dieser strukturellen Übereinstimmung sein soll, folgt aus dem soziologischen Befund der Stabilität des innerstaatlichen Verhältnisses von Bund und Ländern, welcher für jeden Staat entstehungsgeschichtlich unterschiedlich zustande kommt. Ungeachtet dessen lässt sich beschreiben, welche bundesverfassungsrechtlichen Vorschriften das Wesen des Homogenitätsprinzips widerspiegeln. Das sind diejenigen Vorschriften, die darauf abzielen, die demokratisch legitimierte Selbständigkeit der Gliedstaaten der kooperativen Grundstruktur des bundesstaatlichen Gemeinwesens anzupassen. Alle vom Bund verfügten einseitigen Maßnahmen, die nicht der inneren Übereinstimmung, sondern der Identität von Regelungsinhalten und Instituten dienen, wären in diesem Zusammenhang dem bundesstaatlichen Homogenitätsgrundsatz als Bestandteil der wirklichen Bundesstaatlichkeit zuwiderlaufend.183 Der Rechtsbegriff „Verfassungsautonomie“ zeigt einerseits den verfassungsrechtlich ausgestalteten Zustand der Souveränität und Selbstbestimmung. Andererseits ist ihm mit dem Zusatz „relative“ eine inhaltliche Schranke des höherrangigen Rechts theoretisch immanent: Die Sicherstellung einer gewissen Binnenstruktur der Gliedstaaten im Rahmen des bundesstaatlichen Homogenitätsprinzips kann nur durch die Bindung der Gliedstaaten an die allgemeinen Systemgrundsätze bzw. institutionellen Grundtypen der Bundesverfassung (wie bspw. unmittelbare oder repräsentative Demokratie, Gewaltenteilung, Parlamentarismus, parlamentarische Verantwortung der Regierung etc.) geschehen. Problematisch dabei jedoch ist die Determinierung der Tragweite der Bindungswirkung dieser allgemeinen Grundsätze bzw. institutionellen Grundtypen der Bundesverfassung an die gliedstaatlichen Verfassungsordnungen. Die Ausformulierung derartiger „Bundesvorbehalte“ gegenüber der selbständigen Verfassungsautonomie der Gliedstaaten soll dem Grundsatz der klaren bundesverfassungsrechtlichen Begrenzung der möglichen Eingriffe des Bundes in die Verfassungsautonomie der Länder entsprechen.184 Das österreichische Bundesverfassungsrecht sieht kein allgemeines bundesstaatliches Homogenitätsgebot – kein mit dem bundesdeutschen vergleichbares „Mindestmaß an Homogenität“ – vor. Statt allgemeiner Prinzipien, an die die verfassungsmäßigen Ordnungen der Länder gebunden sein sollten, ordnet das B-VG in Art. 95 ff. klar begrenzte Befugnisse, Organisationsbeziehungen und Verfahrensmuster für die Ausübung der Staatsgewalt im Rahmen der Landesverfassungen an. Umfang und Dichte der entsprechenden Vorschriften der österreichischen Bundesverfassung gehen über den Gegenstand des „klassischen“ Homogenitätsgebotes in anderen Bundesstaaten hinaus: Es wird nicht bloß die Richtung der erwünschten und gesamtstaatskonformen Gestaltung der Landesstaatsgewalt vorgegeben, sondern
183 Vgl. Weber, FS Klecatsky II, S. 1028; ders., FS Klinghoffer, S. 153 f., 155; Pernthaler/ Weber, FS Schnorr, S. 559 f., 561. 184 Vgl. Pernthaler, JBl 1986, S. 479, 480; ders., Bundesstaatsrecht, S. 303.
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eine intensiv detaillierte bundesverfassungsrechtliche Bindung der Länder an die davon gewünschte rechtliche und politische Binnenstruktur.185 Anders als im Fall Deutschlands kann man in Art. 99 I B-VG dennoch eine Art bundesstaatlicher Homogenitätsklausel ausmachen, also den Ausgangspunkt für die normative Begrenzung der gliedstaatlichen Verfassungsautonomie durch die österreichische Bundesverfassung. Diese kann aus der Ermächtigung der Länder zur Erlassung und viel wichtiger Abänderung der Landesverfassung durch ein Landesverfassungsgesetz, „insoweit dadurch die Bundesverfassung nicht berührt wird“, abgeleitet werden. Fraglich könnte in diesem Zusammenhang sein, ob und in welcher Form die Verfassungsautonomie der österreichischen Länder durch die Grundprinzipien der Bundesverfassung i. S. d. Art. 99 I i. V. m. Art. 44 III B-VG eingeschränkt werden kann. Abweichend vom bundesdeutschen Modell, wonach die verfassungsmäßigen Ordnungen der Länder an die republikanische, demokratische, rechtsund sozialstaatliche Grundsätze i. S. d. Grundgesetzes gebunden sind (Art. 28 I 1 GG), also an die grundlegenden Systemgrundsätze der gesamtstaatlichen Rechtsordnung, lässt man in Österreich eine unmittelbare Bindung des Landesverfassungsrechts an derartige „allgemeine“ Grundsätze des Bundesverfassungsrechts nicht zu, weil diese gemäß Art. 44 III B-VG nach der ständigen Rechtsprechung des österreichischen VfGH das „höherrangige Bundesverfassungsrecht“ bilden, an das v. a. der Bundesverfassungsgesetzgeber unmittelbar gebunden ist. Der Landesverfassungsgesetzgeber ist dagegen unmittelbar nur an das „einfache Bundesverfassungsrecht“ gebunden, weil dieses die normative Konkretisierung des nur im Wege einer Gesamtänderung der Bundesverfassung erfahrenen „Verfassungskerns“ darstellt (vgl. dazu VfSlg 2455/1952). Daraus kann gefolgert werden, dass wenn ein Akt bzw. eine Bestimmung des Landesverfassungsrechts gegen Bundesverfassungsrecht verstößt, also auch der „Verfassungskern“ berührt werden kann; umgekehrt ist es aber keine etwaige „Berührung“ des „Verfassungskerns“ ohne gleichzeitige Verletzung des „einfachen Bundesverfassungsrechts“.186 Dogmatisch darf die Verfassungsautonomie der Gliedstaaten nicht über die auf Grundlage der Grundprinzipien der Bundesverfassungen formulierten normativen Beschränkungen hinaus eingeengt werden, worin eigentlich der Inhalt des Prinzips der bundesstaatlichen Homogenität liegt. Die methodische Schwierigkeit der Anwendung dieser allgemeinen Systemgrundsätze als Schranken der gliedstaatlichen Verfassungsautonomie besteht darin, dass diese Prinzipien verfassungstheoretisch nur aus den institutionellen Konkretisierungen selbst der Bundesverfassung entnommen werden können (vergleichbar ist die Formulierung des bundesdeutschen GG „Grundsätze[n] … im Sinne dieses Grundgesetzes“ [Hervorh. durch den Verf.]) 185
Vgl. Weber, FS Klinghoffer, S. 155; Pernthaler/Weber, FS Schnorr, S. 561; Novak, Die relative Verfassungsautonomie der Länder, S. 40 f.; Esterbauer, Kriterien föderativer und konföderativer Systeme, S. 33; Pernthaler, JBl 1986, S. 480. 186 Vgl. Pernthaler/Weber, Der Staat 1982, S. 583; Pernthaler, JBl 1986, S. 481; zu Art. 44 B-VG vgl. Klecatsky, Hans R./Morscher, Siegbert, Das österreichische Bundesverfassungsrecht, 3. Aufl., Wien 1982, S. 76 f., 341.
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Kap. IV: Die Wiedererrichtung der Bundesstaatlichkeit
und dabei durchaus unklar ist, ob diese Konkretisierungen gleicherweise für den Bund wie auch die Länder gelten sollen, wenn die Bundesverfassung dies nicht explizit vorschreibt. Es gibt gar keinen abstrakten „demokratischen Grundsatz“, sondern nur die aus dem Zusammenhang der bundesverfassungsrechtlichen Vorschriften abgeleitete „verfassungsmäßige Demokratie“, also den im Kontext des nationalen Verfassungsrechts normativ beschriebenen Demokratiegrundsatz. Gleichermaßen betrifft dies alle anderen Verfassungsprinzipien, die ihren Inhalt nur der konkreten normativen Verankerung aus der Bundesverfassung entnehmen dürfen. Daher versteht man unter der „Bundesverfassung“ i. S. d. Art. 99 I B-VG nicht bloß die verfassungsmäßigen Systemgrundsätze schlechthin, sondern ihre bundesverfassungsrechtliche Konkretisierung.187 Diese nicht unumstrittene Auffassung Pernthalers zeigt allerdings ganz klar, wo der Unterschied zwischen der modernen deutschen und österreichischen Bundesstaatslehre und jeweiligen -praxis im Verständnis der theoretischen Grundlage und normativen Umsetzung des bundesstaatlichen Homogenitätsprinzips liegt, was die Frage der Organisation der Staatsgewalt in den Ländern unmittelbar beeinflusst. d) Organisationshoheit der Gliedstaaten Innerhalb eines Bundesstaates gilt das sog. bundesstaatliche Trennungsprinzip, wonach zwischen Bund und Ländern als in sich geschlossene Staatssysteme keine organisatorischen und funktionellen Verbindungen gegeben werden dürfen, soweit die Bundesverfassung dies nicht ausdrücklich vorschreibt. Da die beliebige Staatsgewalt hauptsächlich durch die Organe ausgeübt wird, sind daher im Sinne des bundesstaatlichen Trennungsprinzips die Staatsorgane voneinander unabhängig (organisatorische Trennung). Diese Unabhängigkeit der Staatsorganisation ist ein Eckpfeiler der Staatsqualität der Länder, darin liegt ihr Unterschied zu Selbstverwaltungskörpern. In organisationsrechtlicher Hinsicht kann ein Staatswesen als Bundesstaat nur dann betrachtet werden, wenn ein Dualismus und Parallelismus von Organen der Staatsgewalt vorhanden ist und diese strukturell und funktionell voneinander getrennt sind. Daraus folgend bildet das bundesstaatliche Trennungsprinzip die Grundlage der „vertikalen“ Gewaltenteilung innerhalb des Bundesstaates.188 Das Landesvolk als Inbegriff aller auf dem Landesterritorium wohnhaften Staatsbürger stellt die Grundlage aller demokratischen Institutionen des jeweiligen Landes dar. Die Landesstaatsgewalt wird durch die vom Landesvolk legitimierten eigenständigen Organe ausgeübt, welche die Staatsordnung des Landes bilden. Als normativ ausgestaltete Form der Rechtsgrundlage der Landesrechtsordnung ist die Landesverfassung die rechtliche Grundnorm für den politischen Prozess im Land, sie ist also das Organisationsstatut und die Verfahrensordnung für den jeweiligen Gliedstaat. Die durch die Landesverfassung durchgeführte autonome Ausgestaltung 187 188
Vgl. Pernthaler, JBl 1986, S. 481 f.; ders., Bundesstaatsrecht, S. 464. Vgl. Pernthaler, Bundesstaatsrecht, S. 301.
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der Landesstaatsgewalt ist Ausdruck und Verwirklichung der Souveränität und des inneren Selbstbestimmungsrechts des Landesvolkes.189 Das die Stabilität und Funktionsfähigkeit des Gemeinwesens gewährleistende bundesstaatliche Homogenitätsprinzip erfordert allerdings ein Mindestmaß an struktureller Homogenität zwischen Bund und Ländern. Eine solche Schranke der gliedstaatlichen Verfassungsautonomie in der Frage der selbständigen Staatsorganisation der Länder wird in Österreich nicht durch die institutionelle Ausgestaltung der Staatsorganisation auf Bundeebene oder sonst irgendeinem „allgemeinen Standard“, sondern ausschließlich durch die konkreten und weitgehenden Vorschriften der Bundesverfassung (Art. 95 ff. B-VG) determiniert. Das österreichische B-VG übernahm viele Modelle der Verhältnisse zwischen den Organen der Legislative und Exekutive, welche für den früheren österreichischen Einheitsstaat eigentümlich gewesen waren, und die Staatsorganisation der Bundesländer an diese sehr stark band, dass für die Länder tatsächlich keine organisationsrechtlichen Klammern, sondern vielmehr ein einheitliches, vom Bund geformtes Muster vorgegeben wurde.190 Die demokratische und republikanische Staatsform wirkt nach Art. 1 B-VG „gesamtstaatlich“ und wird sowohl dem Bund als auch den Ländern verbindlich vorgeschrieben. Kraft seiner Souveränität und Selbstbestimmung tritt das Landesvolk als ein eigenständiger politischer Akteur auf. Für die Ausübung der ihm demokratisch zukommenden Hoheitsgewalt kann das Landesvolk sowohl repräsentative als auch plebiszitäre Einrichtungen kreieren. Einerseits ist das Landesvolk der Schöpfer des Landtages, der die selbständige Gesetzgebungsbefugnis und Budgethoheit als Vertretungsorgan (Parlament) erhält. Andererseits kann das Landesvolk seine souveräne Gewalt unmittelbar ausüben, also durch die Instrumente der direkten Demokratie.191 Diesbezüglich enthält das österreichische B-VG explizit keine entsprechend einschränkenden Bestimmungen, was zu der Schlussfolgerung führen könnte, dass diese Frage die Bundesländer verfassungsautonom regeln können. Gemäß der aktuellen Judikatur des österreichischen VfGH ist diese Möglichkeit allerdings ausgeschlossen, weil im entgegengesetzten Fall das bundesverfassungsrechtlich verankerte „parlamentarische Prinzip“ auf Landesebene sowie der bun-
189 Vgl. Pernthaler, Land, Volk und Heimat, S. 27; Pernthaler/Weber, Landesbürgerschaft und Bundesstaat, S. 31; Pernthaler, FS 75 Jahre Bundesverfassung, S. 667 f.; ders., Bundesstaatsrecht, S. 303; Pernthaler/Weber, FS Schnorr, S. 558. 190 Vgl. Weber, FS Klecatsky II, S. 1028; Pernthaler, JBl 1986, S. 485; ders., Reform der Verfassung in den Ländern, S. 6. 191 Vgl. Pernthaler/Weber, FS Schnorr, S. 562; Pernthaler, Land, Volk und Heimat, S. 27; Pernthaler/Weber, Landesbürgerschaft und Bundesstaat, S. 32; Pernthaler, Reform der Verfassung in den Ländern, S. 7.
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Kap. IV: Die Wiedererrichtung der Bundesstaatlichkeit
desverfassungskonforme Vorrang der repräsentativen Demokratie gefährdet wären.192 Das B-VG schreibt den österreichischen Ländern das parlamentarische Regierungssystem vor: Der Landtag ist nicht nur das Organ, dem die Ausübung der Gesetzgebung (auch der Verfassungsgesetzgebung) anvertraut ist (Art. 95 I 1 i. V. m. Art. 99 II B-VG), sondern auch das Kreationsorgan der Landesregierung (Art. 101 I B-VG). Aufgrund der Gegebenheiten des österreichischen Bundesstaatsmodells, wonach die ausdrücklichen Schranken der Verfassungsautonomie der Länder in der Bundesverfassung festzulegen sind, eine allgemeine Homogenitätsklausel fehlt und die grundlegenden Prinzipien der gesamtstaatlichen Verfassungsordnung nur mittelbare Geltung für die Länder haben, ist das Gewaltenteilungsprinzip im Rahmen des parlamentarischen Regierungssystems auf die Weise entweder des allgemeintheoretischen Grundsatzes der parlamentarischen Demokratie oder des auf Bundesebene angenommenen Modells der Beziehungen zwischen dem Parlament und der Bundesregierung auszulegen. Das in der Bundesverfassung verankerte „parlamentarische Prinzip“ für die österreichischen Bundesländer (Art. 95 ff. B-VG) bildet bereits eine so konkretisierte bundesverfassungsrechtliche Schranke der gliedstaatlichen Verfassungsautonomie, dass jede noch so geringe Abweichung der Landesverfassungsgesetzgebung von dem vorgegebenen Modell als möglicher Verstoß gegen das bundesstaatliche Homogenitätsprinzip angesehen werden kann. Dies betrifft gleichermaßen alle anderen Systemgrundsätze und institutionellen Grundtypen, sei es die repräsentative Demokratie (weitgehende bundesverfassungsrechtliche Bindung des Landeswahlrechts an die Grundsätze des Bundeswahlrechts (Art. 95 i. V. m. Art. 26 B-VG) und Detailregelungen über das parlamentarische Verfahren der Landes(-verfassungs-)gesetzgebung (Art. 97 und 99 B-VG)) oder die verfassungsrechtliche Stellung der politischen Spitzen in den Ländern (z. B. werden dem Landeshauptmann die mit dem Bundespräsidenten vergleichbaren typischen Staatsoberhauptfunktionen ausdrücklich zugewiesen). Dies alles zusammen führt zu einer Verdichtung der Verfassungsautonomie der österreichischen Gliedstaaten, der systematischen Aushöhlung ihrer demokratisch legitimierten Selbständigkeit und letztendlich zu einer Entgrenzung zwischen Ländern als eigenständigen Gliedstaaten und Ländern als bloßen Selbstverwaltungskörpern.193
192 Vgl. VfSlg 16241/2001; Pernthaler, Bundesstaatsrecht, S. 464; Gamper, Anna, Direkte Demokratie und bundesstaatliches Homogenitätsprinzip, in: Österreichische Juristen-Zeitung, 2003, H. 24, S. 441 ff. 193 Vgl. Pernthaler, JBl 1986, S. 485 f.; ders., Reform der Verfassung in den Ländern, S. 7; ders., Bundesstaatsrecht, S. 464, 480 f.; Pernthaler/Weber, FS Schnorr, S. 563.
B. Das Homogenitätsprinzip im österreichischen B-VG
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4. Normative Gestaltung des Homogenitätsprinzips in der Zweiten Republik a) Allgemeine Tendenzen Die Erlassung der Landesverfassung im Rahmen eines gewissen autonomen Bereiches der Länder gehört zum wesentlichen Inhalt des Bundesstaatsprinzips. Die Landesverfassung stellt u. a. ein Organisationsstatut dar, daher ist die Organisationshoheit eines der Wesensmerkmale der gliedstaatlichen Verfassungsautonomie, die durch die Judikatur des österreichischen VfGH aus den 1970er bis 1980er Jahren als Bestandteil der bundesstaatlichen Organisationsform anerkannt wurde. In diesem Zusammenhang ergibt sich, dass die Fähigkeit der österreichischen Bundesländer zur selbständigen Staatsorganisation als Element ihrer (relativen) Verfassungsautonomie unter den Regelungsgegenstand des Art. 44 III B-VG fällt und nur im Wege einer Gesamtänderung der Bundesverfassung per Volksabstimmung den Gliedstaaten entzogen werden könnte. Die staatliche Selbstorganisation der österreichischen Länder unterliegt allerdings dem Erfordernis der bundesstaatlichen Homogenität. Die neue Fassung des Art. 44 II B-VG aus dem Jahr 1984, nach der nun jede bundesverfassungsrechtliche Einschränkung der Zuständigkeiten der Länder in Gesetzgebung oder Vollziehung der Zustimmung der Länder im Bundesrat bedarf (also ist eine vom Bund veranlasste, einseitige Änderung der Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern ausgeschlossen), gewährleistet jedoch die Unantastbarkeit der bundesverfassungsrechtlichen Stellung der Landesorgane, welche zur Ausübung der obengenannten Zuständigkeiten berufen werden, überhaupt nicht. Mit anderen Worten wird einerseits die Existenz der eigenständigen Staatsorganisation der österreichischen Länder formaltheoretisch durch die Bundesverfassung gesichert, andererseits ist der Bund aufgrund des bundesstaatlichen Homogenitätsprinzips „österreichischer Prägung“ formalrechtlich berechtigt, die im B-VG enthaltenen „verfassungsrechtlichen Grundzüge für die Organisation der Länder“194 einseitig zu ändern, also die Binnenstruktur der Länder weiter einzuschränken oder wiederum aufzulockern. Durch die Abänderung bzw. Abschaffung einzelner Verfassungsbestimmungen des B-VG sowie der anderen Bundesverfassungsgesetze, insb. aber durch die Judikatur des VfGH aus den 1970er und 1980er Jahren, welche den noch aus der Zeit der Ersten Republik und der ersten 20 Jahren nach der Wiederherstellung der Bundesstaatlichkeit in Österreich stammenden restriktiven Charakter der Auslegungspraxis gemildert hatte, wurde die Intensität der bundesverfassungsrechtlichen Vorherbestimmung der Staatsorganisation der Bundesländer gewissermaßen vermindert, was weiter unten exemplifiziert wird. Obwohl der VfGH die Fähigkeit der Gliedstaaten, ihre innere Organisation weitestgehend selbständig regeln zu können, als für einen
194
Vgl. VfSlg 5676/1968, 11669/1988.
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Kap. IV: Die Wiedererrichtung der Bundesstaatlichkeit
demokratischen Bundesstaat existenziell bedeutsam anerkannt hatte,195 blieb die gesamte Konzeption des bundesstaatlichen Homogenitätsgebotes nach dem österreichischen Verfassungsrecht grundsätzlich unberührt: Bei der inhaltlichen Ausfüllung des in Art. 2 B-VG verankerten Bundesstaatsprinzips ist der Oberstaat (Bund) an drei Grundsätze – Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern, Mitwirkung der Länder an der oberstaatlichen Gesetzgebung durch den Bundesrat, und nunmehr aus dem Art. 99 I B-VG abgeleitete Verfassungsautonomie der Bundesländer – gebunden, wobei die Organisationshoheit (d. h. das Recht auf Selbstorganisation) der Länder in dieser Reihe der integralen Bestandteile der modernen österreichischen Bundesstaatlichkeit nicht erwähnt wird und diese als Element der relativen Verfassungsautonomie der Bundesländer selber durch die vom Oberstaat gesetzten homogenitätskonformen Normen relativiert wird. Daher ist der Gestaltungsspielraum der österreichischen Länder – im Vergleich zu dem entsprechenden Gestaltungsspielraum der bundesdeutschen Länder – weiterhin stark eingeengt geblieben, obwohl einzelne „Vergünstigungen“ im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts zustande gekommen waren. b) Parlamentarisches System und Stellung des Landtages aa) Rechtsnatur und Zusammensetzung Die Landtage, wie sie vom B-VG für alle Länder einheitlich bezeichnet werden, haben eine besondere Stellung innerhalb des Systems der staatlichen Organisation der österreichischen Länder. Diese stellen unmittelbar demokratisch legitimierte Staatsorgane dar, die die Interessen des gesamten Landesvolkes v. a. durch die (Verfassungs-)Gesetzgebung vertreten. Den österreichischen Landtagen wird nicht allein die Ausübung der Gesetzgebung (Art. 95 I 1 B-VG), sondern auch die Erlassung der Landesverfassung anvertraut (Art. 99 B-VG). In der Ausübung der ihnen „von der Bundesverfassung überlassenen Geschäfte“ (d. h. innerhalb der Länderzuständigkeiten nach Art. 11, 12 und 15 B-VG) sind die Landtage vollkommen autonom. In diesem Sinne stellt ein Landtag – entsprechend dem demokratischen Grundsatz des Art. 1 B-VG – ebenso wie die Bundesgesetzgebungsorgane eine Volksvertretung dar.196 Die Rechtsnatur der Landtage enthüllt sich nicht nur in der Eigenschaft einer zur Landesgesetzgebung berufenen Körperschaft, sondern auch durch ihre Mitwirkung an der Vollziehung des jeweiligen Landes (v. a. die Wahl der Landesregierung; ! S. 335 ff.) sowie durch deren Kontrolle (bspw. Resolutions-, Interpellations- und Enqueterechte). Da die Bundesverfassung nur die „Grundzüge“ der gliedstaatlichen Organisation bestimmt (laut der mit dem 4. Hauptstück des B-VG textuell über195
Vgl. VfSlg 11669/1988. Vgl. VfSlg Anh. 1/1955, 11669/1988; Koja, Verfassungsrecht der Bundesländer, S. 101; Ringhofer, Bundesverfassung, S. 294; Walter, Bundesverfassungsrecht, S. 558. 196
B. Das Homogenitätsprinzip im österreichischen B-VG
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einstimmenden prinzipiellen Auffassung des österreichischen VfGH), wird der Wirkungskreis der Landtage durch das B-VG nicht abschließend geregelt. Durch die eigene Verfassungsgesetzgebung sind die Länder berechtigt, den Wirkungskreis der Landtage zu ändern, also die durch das B-VG vorgesehenen Mitwirkungs- und Kontrollrechte in Bezug auf die Landesvollziehung (wie bspw. die Regierungsbildung) entsprechend den bundesverfassungsrechtlichen Strukturprinzipien und dem innerstaatlichen Homogenitätsgrundsatz detaillierter auszugestalten. Den Landtagen als Parlamenten wird die Regelungshoheit in der Frage der selbständigen Staatsorganisation der Länder eingeräumt. Die Art seiner Zusammensetzung und seine Befugnisse lassen es daher zu, den Landtag als einen „allgemeinen Vertretungskörper“ zu betrachten.197 Dem Landtag als Gesetzgebungsorgan steht die Eigenschaft der Ausschließlichkeit zu. Im Fall Österreichs bedeutet das, dass der Landtag zur Erlassung von Landes(-verfassungs-)gesetzen als ein einheitlich organisiertes Vertretungsorgan berufen wird. Das B-VG lässt den Landesverfassungen in diesem Bereich keinen Gestaltungsspielraum: Sie dürfen weder ein anderes Staatsorgan mit der Landesgesetzgebung betrauen noch die Ausübung der Gesetzgebungsbefugnisse an ein äußeres gegliedertes Gesetzgebungsorgan, also im Sinne der zwei getrennten Parlamentskammer, binden. Demnach wird den Ländern im Sinne des B-VG das Einkammersystem zwangsläufig vorgeschrieben (! S. 222 ff.).198 Die durch die B-VG-Novelle von 1929 eingeführten Höchstzahlen der Landtagsmitglieder (Art. 95 IV B-VG) wurden erstmals im Jahr 1959 korrigiert (die Mindestobergrenze der Bürgerzahl wurde auf 500.000 erhöht, wovon allein Vbg profitierte: Der Vorarlberger Landtag betrug bzw. beträgt bislang 36 statt 26 Abgeordnete; ! S. 225); zum Jahr 1977 wurden diese Höchstzahlen dann komplett aufgehoben. Seither konnten die Länder die Zahl der Abgeordneten frei festsetzen. In der Verfassungsrealität der Länder änderte die Abschaffung dieser extrem eingreifenden Norm der Bundesverfassung überhaupt nichts: Bisher halten sich die österreichischen Landesverfassungen faktisch an die vor 40 Jahren aufgehobenen bundesverfassungsrechtlichen Mandatszahlen.199 Bei der Gestaltung des Wahlrechts zu den Landtagen sind die österreichischen Länder an die bundesverfassungsrechtlich vorgegebenen Grundsätze gebunden. In seiner ständigen Rechtsprechung sprach der VfGH ausdrücklich aus, dass der Verfassungsgesetzgeber (gemeint ist sowohl der Bundes- als auch die Landesverfassungsgesetzgeber) für alle Wahlen zu den allgemeinen Vertretungskörpern in Österreich ein in den Grundzügen einheitliches Wahlrecht schaffen sollte.200 Hier 197
Vgl. VfSlg Anh. 7/1949, Anh. 3/1956, 3134/1956, 3193/1957, 4985/1965, 11669/1988; Koja, Verfassungsrecht der Bundesländer, S. 101; Walter, Bundesverfassungsrecht, S. 558. 198 Vgl. Koja, Verfassungsrecht der Bundesländer, S. 101; Ringhofer, Bundesverfassung, S. 294, 300; Walter, Bundesverfassungsrecht, S. 558. 199 Vgl. Koja, Verfassungsrecht der Bundesländer, S. 101; Funk, in: VVDStRL 46, S. 62. 200 Vgl. VfSlg 3426/1958, 3560/1959, 6106/1969, 8321/1978.
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Kap. IV: Die Wiedererrichtung der Bundesstaatlichkeit
geht es daher um eine klare Anforderung nach der bundesstaatlichen Homogenität des Wahlrechts. So bindet Art. 95 I 2 B-VG die Länder an den Grundsatz der Verhältniswahl. Durch dieses bundesverfassungsrechtliche Gebot sind die Länder bei der Gestaltung des eigenen Wahlrechts allerdings insoweit eingeschränkt, als die Bundesverfassungsgesetzgebung die expliziten Erfordernisse zum Landeswahlrecht feststellen. Mit anderen Worten ist der Landesverfassungsgesetzgeber an kein bestimmtes Wahlsystem im Rahmen des Verhältniswahlrechtsgrundsatzes gebunden, also bilden die bundesgesetzlichen Regelungen der Wahlen zum Nationalrat keinen Maßstab für die Ausgestaltung des gliedstaatlichen Wahlrechtssystems.201 Das weitere Gebot des B-VG, nach dem die Landtagswahlordnungen die Bedingungen des Wahlrechts und der Wählbarkeit zu den Landtagen nicht enger ziehen dürfen als die Wahlordnung zum Nationalrat (Art. 95 II B-VG), hindert nach der Auffassung des VfGH den Landesgesetzgeber nicht.202 bb) Dauer der Legislaturperiode und vorzeitige Auflösung des Landtages Die Festlegung der Dauer der Legislaturperiode ist angesichts der Verfassungsautonomie der freien Regelung der österreichischen Länder überlassen. Die Funktionsdauer des Landtages beträgt in OÖ sechs Jahre, in allen anderen Bundesländern fünf Jahre. Unter welchen Umständen die Mitglieder des jeweiligen Landtages vor Ablauf seiner Legislaturperiode entlassen werden können, ist grundsätzlich der Regelungsgegenstand der Verfassungs- bzw. Gesetzgebungskompetenz der Länder, soweit die Bundesverfassung keine ausdrücklichen Vorschriften dazu enthält. Das BVG sah damals und sieht bislang nur zwei Ausnahmefälle vor, in denen der Landtag im Wege der Bundesverfassungsgesetzgebung vorzeitig aufgelöst werden darf. Zum einen handelt es sich um den Art. 141 I lit. a B-VG, wonach der VfGH die Anfechtungen von Wahlen zu den allgemeinen Vertretungskörpern (zu denen u. a. die Landtage zählen) erkennt. Gibt der VfGH einer solchen Wahlanfechtung statt, führt dies aufgrund des aufhebenden Erkenntnis zur Wiederholung entweder des ganzen Wahlverfahrens oder bestimmter Teile von diesen und die betroffenen Mitglieder des allgemeinen Vertretungskörpers verlieren ihr Mandat, aber erst zum Zeitpunkt der Übernahme desselben durch die neugewählten Mitglieder (§ 70 I, V VfGG); also scheidet der Landtag aus seinem Amt vorzeitig aus (wie es bspw. nach dem Erkenntnis des VfGH zur burgenländischen LT-WO der Fall war203). Zum anderen kann jeder Landtag auf Antrag der Bundesregierung mit Zustimmung des Bundesrates vom Bundespräsidenten aufgelöst werden (Art. 100 I 1 Hs. 1 B-VG). Das Recht der erwähnten Bundesorgane, den Landtag vor Ablauf seiner 201 202 203
Vgl. VfSlg 8700/1979, 8852/1980. Vgl. VfSlg 8852/1980. Vgl. VfSlg 8321/1978.
B. Das Homogenitätsprinzip im österreichischen B-VG
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Funktionsdauer aufzulösen, ist inhaltlich grundsätzlich nicht präzisiert. Das B-VG setzt nur voraus, dass eine solche Auflösung jedoch nur einmal aus dem gleichen Anlass verfügt werden darf (Art. 100 I 1 Hs. 2 B-VG). Diese Normen des B-VG stellen einen schwerwiegenden Eingriff des Oberstaates in die Verfassungsautonomie der Länder dar. Dieser wird einerseits mit den verfahrensmäßigen Beschränkungen institutionalisiert: An dem Auflösungsverfahren sind drei Bundesorgane – unter ihnen auch der Bundesrat als Vertretungsorgan der Länder i. S. d. Art. 34 I BVG – zu beteiligen, die alle übereinstimmen sollen, dass ein Anlass vorliegt, der die vorzeitige Beendigung der Legislaturperiode des jeweiligen Landtages rechtfertigt. Unklar ist aber andererseits die obenerwähnte Formulierung des Art. 100 I 1 Hs. 2 BVG: Betrifft diese „Einmaligkeit“ der Landtagsauflösung „aus dem gleichen Anlass“ die nächste Zusammensetzung des neugewählten Landtages oder das konkrete Land oder überhaupt den Gebrauch dieses Rechts durch den Oberstaat? Es ist klar, dass für einen solchen Eingriff in die gliedstaatliche Verfassungsautonomie ein wichtiger Grund, etwa ein die Interessen des Gesamtstaates schwerwiegend beeinträchtigendes Verhalten des Landtages, vorhanden sein muss. In diesem Fall ist die zwangsläufige Auflösung des Landtages als ein Schutzmechanismus gegenüber dem drohenden Missbrauch aufgrund eines konsequent bundesverfassungswidriges Handelns zu betrachten.204 Allerdings beschreibt Art. 100 I B-VG diese Gründe nicht, was die Zulässigkeit und Verhältnismäßigkeit dieses bundesverfassungsrechtlichen Instruments in Frage stellt. Man kann aber der Auffassung widersprechen, wonach das Bundesstaatsprinzip gefährdet ist, wenn „ein Vollzugsorgan des Bundes eine nach demokratischen Grundsätzen gewählte Volksvertretung eines Landes jederzeit und beliebig oft wiederholbar auflösen kann.“205 Dazu kann man sagen, dass der österreichische Bundespräsident gemäß seiner bundesverfassungsrechtlichen Stellung nicht allein ein Vollzugsorgan darstellt, sondern das durch das gesamte Volk gewählte Staatsoberhaupt ist. Daher wäre die Zuweisung einer solchen Befugnis wie die zwangsläufige vorzeitige Auflösung des Landtages als eine Art Instrument der Bundesexekution an ihn vollkommen vorstellbar. Problematisch allerdings ist, dass dieses Auflösungsrecht – wie dieses im B-VG normativ ausgestaltet ist – den Bundesorganen in der Tat einen weiten Ermessungsspielraum lässt. Im Übrigen hat der Landesverfassungsgesetzgeber freie Hand in der Frage der vorzeitigen Beendigung der Legislaturperiode des Landtages, obwohl der Bundesverfassungsgesetzgeber in der Festlegung der weiteren bundesverfassungsrechtlichen Regeln dazu im Sinne des in Österreich vorhandenen bundesstaatlichen Ho204 Vgl. Ringhofer, Bundesverfassung, S. 311; Koja, Friedrich, Auflösung des Landtages durch den Bundespräsidenten. Wann endet die Legislaturperiode?, in: Der Staatsbürger. Schrift für Rechtsschutz und Grundfreiheiten der Person. Beilage der „Salzburger Nachrichten“, 1979, H. 14, S. 53 f.; Pernthaler/Esterbauer, Der Föderalismus, S. 336. 205 Motz, Michael/Pernthaler, Peter, Der Bundesstaat als staatsrechtliches Instrument der politischen Konfliktregelung am Beispiel der österreichischen Bundesverfassung, in: Esterbauer, Fried/Héraud, Guy/Pernthaler, Peter (Hrsg.), Föderalismus als Mittel permanenter Konfliktregelung, Wien 1977, S. 24.
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Kap. IV: Die Wiedererrichtung der Bundesstaatlichkeit
mogenitätsgebotes faktisch nicht beschränkt ist. Unter Berücksichtigung des parlamentarisch-demokratischen Prinzips haben alle Landesverfassungen festgestellt, dass sich der Landtag als demokratisch legitimiertes Vertretungsorgan vor Ablauf seiner Funktionsperiode durch ein Landesgesetz bzw. Landtagsbeschluss selbst auflösen kann. Zugleich verzichten die österreichischen Länder auf die Auflösung des Landtages im Verfahren einer Volksabstimmung, was als ein explizites Zeichen der rein parlamentarischen Demokratie gilt (ausführlicher dazu s. u. ! S. 374 ff.).206 Anders als in Deutschland dürfen die österreichischen Bundesländer von der Option der Auflösung des Landtages durch die Landesregierung absehen. Dies entspricht wieder dem österreichischen Verständnis des parlamentarischen Regierungssystems. Der Landtag als ein direkt vom Landesvolk gewähltes Staatsorgan kann nur von einem anderen gleichermaßen demokratisch legitimierten Staatsorgan aufgelöst werden. Da auf Landesebene kein in Hinsicht des Legitimationsgrades gleichstelliges Organ vorhanden ist und die Landesregierung selber ein dem Landtag verantwortliches Organ (Art. 101 i. V. m. Art. 105 B-VG) darstellt, würde so die Möglichkeit der Auflösung des Landtages durch die Landesregierung zum Wesen des parlamentarisch-demokratischen Prinzips im Widerspruch stehen.207 c) Die Landesregierung und ihre Organisation aa) Die Rechtsnatur der Landesregierung als oberstes Vollzugsorgan Die Landesregierung ist eines der konstituierenden Elemente des Staatssystems eines jeden Bundeslandes. Ihre staatsrechtliche Stellung im System der anderen Staatsorgane auf Landesebene ist das Ergebnis der historischen Entwicklung der Landesverwaltung von den monarchischen Staatsgesetzen aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bis zu den provisorischen Verfassungen der Jahre 1918 – 1919 und dem 1925 novellierten B-VG. Mit der Wiederherstellung der Bundesstaatlichkeit in Österreich wurde auch der bundesverfassungsrechtliche Status der Landesregierungen in den vorigen Stand wiedereingesetzt. In der Nachkriegszeit ging es um die Präzisierung und Erläuterung der durch die Bundesverfassung vorgegebenen Klammern hinsichtlich der Organisation der Landesregierung. Die Ausgangsnorm für die Stellung der Landesregierung innerhalb der Landesstaatsorganisation ist Art. 101 I B-VG, wonach die Vollziehung eines jeden Landes von der Landesregierung ausgeübt wird. Es ist offensichtlich, dass die Landesregierung nicht das einzige Staatsorgan im Bundesland ist, das mit der Verwaltung betraut wird. Gemäß Art. 20 I 1 B-VG wird die Verwaltung unter der Leitung der obersten Organe des Bundes und der Länder durch die auf Zeit gewählten oder er206
Vgl. Koja, Verfassungsrecht der Bundesländer, S. 136; Ringhofer, Bundesverfassung, S. 297. 207 Vgl. Ringhofer, Bundesverfassung, S. 297; Koja, Verfassungsrecht der Bundesländer, S. 136 (Fn. 125).
B. Das Homogenitätsprinzip im österreichischen B-VG
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nannten berufsmäßigen Organe geführt. Ferner zählt Art. 19 I B-VG u. a. die Mitglieder der Landesregierungen zu den obersten Organen der Vollziehung. Daraus ergibt sich, dass die Landesregierung als Gremium ein oberstes Vollzugsorgan jedes Landes darstellt, welches die obersten Verwaltungsgeschäfte im selbständigen Wirkungsbereich der Länder (also selbständige Vollziehung i. S. d. Art. 11, 12 und 15 B-VG sowie ähnlicher Kompetenzbestimmungen der Bundesverfassung) zu besorgen hat.208 Was unterscheidet aber ein „oberstes Vollzugsorgan“ von den einfachen Vollzugsorganen? Koja leitete anhand der Normen des B-VG zwei charakteristische Merkmale ab.209 Die „obersten“ Organe der Vollziehung zeichnen sich zum einen dadurch aus, dass einerseits nur sie weisungsberechtigt sind, also lediglich an das Gesetz und nicht auch an Weisungen der anderen Behörden gebunden sind, und andererseits der administrative Instanzenzug grundsätzlich bis zu ihnen als höchste Instanz kommt, über sie aber nicht hinausführt. Nur ein über diese beiden Eigenschaften verfügendes Verwaltungsorgan kann als „oberstes Vollzugsorgan“ (im weiteren Sinne) anerkannt werden.210 Zum anderen erfolgt die Überordnung eines Vollzugsorgans durch die Art seiner Bestellung. Unter den in Art. 19 I B-VG (i. V. m. Art. 69 I B-VG) aufgezählten Amtsträgern sind all diejenigen, die ihr Amt unmittelbar oder mittelbar vom Volk ableiten: Der Bundespräsident wird direkt vom Bundesvolk gewählt (vgl. Art. 60 I BVG); die Mitglieder der Bundesregierung (Bundeskanzler, Vizekanzler und Bundesminister) und die Staatssekretäre werden vom Bundespräsidenten als direkt vom ganzen Volk legitimiertem Organ ernannt (vgl. Art. 70 I B-VG) und sind vom Vertrauen der Volksvertretung (d. h. des Nationalrats) abhängig (vgl. Art. 74 I BVG); die Mitglieder der Landesregierungen als Kollegialorgane werden von den allgemeinen Vertretungskörpern – den Landtagen – gewählt und sind ihnen politisch verantwortlich, also können sie ihre Legitimierung gleichermaßen mittelbar vom Willen des Landesvolkes als Souverän ableiten. Demgemäß bedürfen die obersten Vollzugsorgane ferner zu ihrer Amtsführung des Vertrauens des Volkes selbst oder des vom Volk gewählten Vertretungskörpers bzw. Amtsträgers. Die in Art. 19 I i. V. m. Art. 69 I und 101 B-VG genannten Amtsträger stellen die obersten Vollzugsorgane im engeren Sinne dar.211 In diesem Zusammenhang ist die Landesregierung das oberste Vollzugsorgan sowohl im weiteren als auch im engeren Sinne.212 Im Rahmen der Länderzustän208
Vgl. Walter, Bundesverfassungsrecht, S. 582 f.; Ringhofer, Bundesverfassung, S. 313 f.; Koja, Verfassungsrecht der Bundesländer, S. 269. 209 Vgl. Koja, Verfassungsrecht der Bundesländer, S. 269 ff. 210 Vgl. Koja, Verfassungsrecht der Bundesländer, S. 270; Ringhofer, Bundesverfassung, S. 314. 211 Vgl. Koja, Verfassungsrecht der Bundesländer, S. 270 f. 212 Vgl. Koja, Verfassungsrecht der Bundesländer, S. 271.
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Kap. IV: Die Wiedererrichtung der Bundesstaatlichkeit
digkeiten ist nur die Landesregierung den anderen Landesbehörden gegenüber weisungsberechtigt und diese sind wiederum letztlich nur an die Weisungen der Landesregierung gebunden.213 Die Landesregierung als oberstes Organ der Vollziehung im Land bildet zugleich keine Unterbehörde des höchsten Vollzugsorgans des Bundes (gemeint ist die Bundesregierung), welche an die Weisungen der Oberbehörden (gemeint sind die Bundesministerien) gebunden sei.214 In diesem Sinne ist die Landesregierung das Pendant zur Bundesregierung: Sie ist nicht bloß ein Exekutivorgan, sondern ein Organ, dem staatsleitende und schöpferische, das gesamte Staatswesen (d. h. den Gliedstaat) betreffende Kompetenzen zustehen, also eine Regierungsgewalt.215 Die Landesregierung besteht nach Art. 101 III B-VG aus dem Landeshauptmann, der erforderlichen Zahl seiner Stellvertreter und weiteren Mitgliedern. Die Antwort auf die Frage, wie viele Stellvertreter des Landeshauptmanns und wie viele weitere Mitglieder der Landesregierung „erforderlich“ sind, überträgt die Bundesverfassung dem Landesverfassungsgesetzgeber zur selbständigen Entscheidung.216 Die österreichischen Landesverfassungen zeigten, dass bspw. nur ein Stellvertreter (im Bgld, in Tirol und Vbg) vorgesehen werden kann. Während in allen Bundesländern die „weiteren“ Mitglieder der Landesregierungen als „Landesräte“ bezeichnet werden, gibt die Wiener Verfassung den „weiteren“ Mitgliedern des Stadtsenats (d. h. die Landesregierung) den Titel „Stadträte“ (§ 34 i. V. m. § 114 WStV) und in Vbg wird der einzige Landeshauptmannstellvertreter als „Landesstatthalter“ benannt (Art. 28 II LVerf von 1923). Im letzteren Fall sah Koja – entsprechend der sehr stark geprägten zentralistischen Auffassung – einen Widerspruch zu der seines Erachtens expliziten bundesverfassungsrechtlichen Betitelung des den Landeshauptmann stellvertretenden Amtsträgers als „Landeshauptmann-Stellvertreter“, welche für alle Landesverfassungen von Bundesverfassungs wegen (Art. 101 III i. V. m. 105 I B-VG und § 1 BVG BGBl. 289/1925) verpflichtend sind.217 Die Landesregierung als Kollegium wird vom Landtag gewählt (Art. 101 I BVG). Anders als in Deutschland sind sämtliche Mitglieder der Landesregierung nicht aus der Mitte des Landtages zu wählen. Gleich wie für die Mitglieder der Bundesregierung (vgl. Art. 70 II B-VG) schreibt Art. 101 II B-VG vor, dass in die Landesregierung nur gewählt werden kann, wer zum Landtag wählbar ist, aber diesem zugleich nicht angehören muss. Da das B-VG eine Forderung nach der 213 Vgl. Walter, Bundesverfassungsrecht, S. 583; VfSlg 1641/1948, 3134/1956, 4117/1961, 4648/1964. 214 Vgl. VfSlg 2420/1952, 2555/1953, 4254/1962, 4259/1962, 4671/1964, 5985/1969, 6061/1969. 215 Vgl. Pernthaler, Peter/Weber, Karl, Landesregierung, in: Dachs, Herbert (Hrsg.), Handbuch des politischen Systems Österreichs, Wien 1991, S. 757, 761. 216 Vgl. VfSlg 5676/1968, 11669/1988; Adamovich sen., Handbuch des Verfassungsrechts, S. 267; Walter, Bundesverfassungsrecht, S. 578 f.; Ringhofer, Bundesverfassung, S. 314. 217 Vgl. Koja, Verfassungsrecht der Bundesländer, S. 277 (besonders Fn. 29).
B. Das Homogenitätsprinzip im österreichischen B-VG
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Wählbarkeit zum Landtag stellt, den ordentlichen Wohnsitz im betroffenen Bundesland zu haben (Art. 95 I 2 a. F.), konnten außerhalb des Landes wohnhafte Personen nicht in die Landesregierung berufen werden.218 bb) Zusammensetzung der Landesregierung Gemäß Art. 101 I B-VG übt eine vom Landtag zu wählende Landesregierung die Vollziehung des Landes aus, d. h., den österreichischen Ländern wird die obligatorische Wahl der Landesregierung durch den Landtag vorgeschrieben, was eines der zwei (zusammen mit der politischen Verantwortlichkeit der Regierung gegenüber dem Parlament) Grundelemente des parlamentarischen Regierungssystems darstellt. Dies bedeutet einerseits, dass eine der möglichen Bestellungsformen, nämlich die Wahl der Regierung bzw. ihrer Oberhäupter direkt vom Volk (was bspw. für die Schweizer Kantone charakteristisch ist), den österreichischen Ländern bundesverfassungsrechtlich explizit untersagt wird. Andererseits bekommt die parlamentarische Regierungsweise in den österreichischen Bundesländern eine besonders „reine“ Form durch die Kreierung der Landesregierung nach dem Ausschussmodell, also als „Vollzugsausschuss des Landtages“, was historisch bedingt ist (! S. 227 ff.). Die starke Abhängigkeit der Landesregierung vom Landtag äußerte sich in der Zusammensetzung der Landesregierung nach dem proportionalen System, welches in der Nachkriegszeit die herrschende Bestellungsform der österreichischen Landesregierungen war.219 Das B-VG legt die Zusammensetzung der Landesregierung in Form einer Wahl fest, zugleich aber ohne Verweis auf die konkrete Art dieser Wahl. Einerseits vertritt der österreichische VfGH die Auffassung, dass es sich bei der Bestellung der Landesregierung durch den Landtag wirklich um eine Wahl handeln muss: Im Fall der GO des Kärntner Landtages gelange er zu der Schlussfolgerung, dass die entsprechenden Vorschriften der LT-GO, nach der die zu wählenden Mitglieder der Landesregierung bloß aufgrund der dem Landtagspräsidenten von den Klubs überreichten Wahlvorschläge als gewählt erklärt werden, ohne dazu eine Abstimmung im Landtag als Gremium durchzuführen, sowohl dem Landes- als auch Bundesverfassungsrecht widersprechen.220 Andererseits ging das Gericht davon aus, dass, da das B-VG hinsichtlich der Art der Wahl der Landesregierungsmitglieder keine explizit formulierten Erfordernisse enthält, zur Regelung der Bestellungsfrage allein die Länder zuständig sind und diese an kein konkretes – bspw. in Anknüpfung an das 218 Vgl. Adamovich sen., Handbuch des Verfassungsrechts, S. 268; Walter, Bundesverfassungsrecht, S. 579 (auch Fn. 137); Ringhofer, Bundesverfassung, S. 314; Koja, Verfassungsrecht der Bundesländer, S. 279. 219 Vgl. Esterbauer, Kriterien föderativer und konföderativer Systeme, S. 85, 86; Pernthaler/Weber, Der Föderalismus, S. 336; Funk, in: VVDStRL 46, S. 82 f.; Pernthaler/Weber, Landesregierung, S. 755; Schäffer, Heinz, Aktuelle Probleme des Föderalismus in Österreich, in: Österreichische Juristen-Zeitung, 1981, H. 1, S. 7. 220 Vgl. VfSlg 6277/1970.
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Kap. IV: Die Wiedererrichtung der Bundesstaatlichkeit
entsprechende Verfahren der Bildung der Bundesregierung – Wahlsystem gebunden seien. Die Vorschriften über die Wahl der Landesregierung als eine Materie der gliedstaatlichen Organisationshoheit regelnde Normen stellen typisches materielles Verfassungsrecht dar und sollen daher in der Landesverfassung enthalten sein. Gebunden allein an die Grundsätze der Bundesverfassung, steht dem Landesverfassungsgesetzgeber die Möglichkeit der näheren normativen Determinierung bezüglich der Wahl der Regierungsmitglieder zur Verfügung. Dabei muss jede derartige konkrete landesverfassungsgesetzliche Ausgestaltung der Willensbildung des Landtages dem demokratischen Prinzip nach Art. 1 B-VG und dem allgemeinen Gleichheitsgrundsatz i. S. v. Art. 7 I B-VG i. V. m. Art. 2 StGG entsprechen. Daraus folgend können die Länder die Bestellung aller oder einzelner Regierungsmitglieder nach dem Verhältniswahlverfahren normieren, was aber die anderen dem demokratischen Prinzip entsprechenden Wahlsysteme (Mehrheitswahlrecht, Konkordanzprinzip oder eine Mischform aller erwähnten Systeme) in bundesverfassungsrechtlicher Hinsicht nicht ausschließt.221 Mit Ausnahme von Vbg und teilweise Wien sahen die österreichischen Bundesländer mehr oder weniger ausdrücklich (mit Rücksicht auf gewisse Modifikationen) das Verhältniswahlverfahren bei der Regierungsbildung vor. Das Verhältniswahlsystem (anders auch als Proporz bezeichnet) bedeutet im Fall der Zusammensetzung der Regierung, dass jede im jeweiligen Landtag vertretene politische Partei einen Anspruch auf Vertretung in der Landesregierung hat. Die Vertretung einer Partei im obersten Vollzugsorgan des Landes ist vom Ausgang der Landtagswahlen und ihrer dabei erzielten ziffermäßigen Stärke abhängig, also die Teilnahme an der Regierung erfolgt nach Maßgabe der parteiischen zahlenmäßigen Präsenz (Mandatszahl) im Landtag als Kreationsorgan der Landesregierung.222 Eine verhältnismäßig (nach dem Parteienproporz) zusammengesetzte Landesregierung gibt einerseits allen im jeweiligen Landesparlament vertretenen Parteien (besonders Minderheitenfraktionen) den Zugang zur obersten Vollzugsgewalt (die sog. Allparteien- oder Konzentrationsregierung). Den politischen Einfluss auf die Tätigkeit einer derartigen Regierung können die Parteienvertreter aber nur dann ausüben, wenn sie mit der selbständigen Leitung von Ressortbereichen betraut sind. Andererseits erleichterte der Proporz in der Situation einer „Koalitionsdemokratie“, wonach die großen Volksparteien (ÖVP und SPÖ, später auch FPÖ) die Bildung der Landesregierungen prägten, eine konstruktiv-konsensuale Verteilung der Ressorts innerhalb der Regierung zwischen den starken Großparteien ohne tatsächliche Teilnahme der kleineren parlamentarischen Parteien.223 221
Vgl. VfSlg 5676/1968, 6277/1970, 11669/1988, 12229/1989. Vgl. VfSlg 8852/1980; Ringhofer, Bundesverfassung, S. 315; Koja, Verfassungsrecht der Bundesländer, S. 279; Funk, in: VVDStRL 46, S. 83; Marko, Joseph, Die Verfassungssysteme der Bundesländer, in: Dachs, Herbert (Hrsg.), Handbuch des politischen Systems Österreichs, Wien 1991, S. 735. 223 Vgl. Funk, in: VVDStRL 46, S. 83; Pernthaler/Weber, Landesregierung, S. 760; Unkart, Ralf, Die Aufgabenverteilung in der Landesregierung, in: Funk, Bernd-Christian (Hrsg.), 222
B. Das Homogenitätsprinzip im österreichischen B-VG
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Seit dem Ende der 1980er Jahre haben sich die politischen Strömungen in den österreichischen Ländern geändert, was – nicht ohne Einfluss der damals aktuellen Judikatur des VfGH – zu einer Umgestaltung des landesverfassungsrechtlichen Modells der Regierungsbildung und dem Abbau des herrschenden Proporzes führte. Ausführlicher wird diese Frage im letzten Abschnitt dieser Untersuchung betrachtet (zur Entstehung des Proporzsystems in den österreichischen Bundesländern s. o. ! S. 228 ff.). cc) Die Prinzipien der Geschäftsführung der Landesregierung Allein aus dem Wortlaut des Art. 101 B-VG ist es nicht möglich zu entnehmen, ob die obersten Verwaltungsgeschäfte im selbständigen Wirkungskreis der Länder ausschließlich die Landesregierung als Kollegium (Kollegialitätsprinzip) zu betrauen haben oder ob diese Vollzugsbefugnisse – wie es gemäß Art. 69 I B-VG bei der Bundesregierung in der Regel der Fall ist – nach dem monokratischen Prinzip (Ressort- oder Ministerialsystem) aufgeteilt und ausgeübt werden dürfen: Nach Abs. 3 i. V. m. Abs. 1 besteht die Landesregierung aus dem Gemeinwesen der einzelnen Amtsträger (des Landeshauptmannes, seiner Stellvertreter und weiterer Regierungsmitglieder), also rein textuell ist eine kollegiale Geschäftsführung der Landesregierung vorgesehen. Diese mehr oder weniger klare Vorschrift des B-VG wurde aber demnächst durch das BVG vom 30. Juli 1925 „betreffend Grundsätze für die Einrichtung und Geschäftsführung der Ämter der Landesregierungen außer Wien“ (BGBl. Nr. 289/1925) faktisch ergänzt. Dieses BVG legt fest, dass die Abteilungen des Amtes der Landesregierung die ihnen nach der Geschäftseinteilung zukommenden Geschäfte im Rahmen des selbständigen Wirkungsbereiches des jeweiligen Landes nach den näheren Bestimmungen der Landesverfassung unter der Leitung der Landesregierung oder einzelner Mitglieder derselben besorgen (§ 3 I); in der GO des Amtes der Landesregierung ist insb. auch zu regeln, inwieweit der Landeshauptmann, die Landesregierung oder einzelne Mitglieder derselben, unbeschadet ihrer durch die Bundesverfassung und die Landesverfassung geregelten Verantwortlichkeit, sich bei den zu treffenden Entscheidungen oder Verfügungen oder sonstigen Amtshandlungen durch den Landesamtsdirektor oder sonstige höhere Beamte des Amtes vertreten lassen können (§ 3 III). Dazu wurde Art. 103 B-VG durch die B-VG-Novelle von 1925 auf die Weise geändert, dass die Landesregierung durch ihre GO einzelne Gruppen von Angelegenheiten der mittelbaren Bundesverwaltung wegen ihres sachlichen Zusammenhanges mit Angelegenheiten des selbständigen Wirkungsbereiches des Landes an die einzelnen Mitglieder der Landesregierung zur selbständigen Ausübung im Namen des Landeshauptmannes übertragen kann (Abs. 2).
Staatsrecht und Staatswissenschaften in Zeiten des Wandels, Festschrift für Ludwig Adamovich zum 60. Geburtstag, Wien 1992, S. 703.
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Kap. IV: Die Wiedererrichtung der Bundesstaatlichkeit
Aus dem Zusammenhang der obenerwähnten bundesverfassungsgesetzlichen Vorschriften folgt daher die Möglichkeit der Einführung des Ressortsystems neben (nicht aber anstelle) dem Kollegialitätsprinzip in der Landesregierung. In diesem Sinne ist das Staatsorgan namens „Landesregierung“ mehrfach binnendifferenziert und kann in folgenden Gestalten fungieren: als Kollegialgremium, in dem alle Entscheidungen kollegial getroffen werden, und als einzelne Amtsträger (Landeshauptmann und weitere Regierungsmitglieder), welche die ihnen übertragenen Befugnisse selbständig im Namen der ganzen Landesregierung ausüben dürfen.224 Die bundesverfassungsrechtliche Zulässigkeit der Geschäftsführung in der Landesregierung zusätzlich nach dem monokratischen Prinzip bestätigte auch der österreichische VfGH in seiner Rechtsprechung.225 Der VfGH hält an der grundsätzlichen Auffassung fest, dass die der Landesregierung zustehenden Geschäfte des selbständigen Wirkungsbereiches des jeweiligen Landes, soweit einzelne davon durch bundesverfassungsrechtliche Vorschriften ausdrücklich der Landesregierung als Kollegium oder dem Landeshauptmann als selbständigen Machtakteur (ausführlicher dazu s. u. ! S. 346 ff.) übertragen sind, teils dem gesamten Kabinett (Kollegialitätssystem), teils den einzelnen Regierungsmitgliedern (Ministerialsystem) zugewiesen werden können.226 Zu einer optionalen Einführung des Ministerialsystems ist aber nicht die Landesregierung ermächtigt. Die Ausgestaltung der Geschäftsführung in der Landesregierung nach dem monokratischen Prinzip kann allein im Wege der Landesverfassungsgesetzgebung geschehen, also eine derartige Entscheidung stellt eine Willenserklärung nur des Landesverfassungsgesetzgebers (d. h. des Landtages) dar. Der Landesverfassungsgesetzgeber sei aber zugleich befugt, das monokratische System oder eine Kombination von den beiden Systemen aufgrund eines Landesgesetzes einzuführen.227 Auf der Grundlage der Landesverfassung und eventuell der Landes(-verfassungs-)gesetzgebung kann die Landesregierung durch eigene GO eine Aufteilung der Aufgaben auf die einzelnen Mitglieder durchführen. Während die LR-GO die internen Verfahren der Landesregierung als Organ regelt, gilt die Referatseinteilung innerhalb der Regierung ausschließlich für den konkreten Personalbestand der Landesregierung, also bei jeder Neu- oder Umbildung der Landesregierung muss eine derartige Aufteilung der Aufgaben neu geregelt werden und ist daher an die Dauer der Amtsperiode gebunden.228 Der letzte Punkt bedingt eine
224 Vgl. Adamovich jun./Funk, Verfassungsrecht, S. 282; Pernthaler/Weber, Landesregierung, S. 760. 225 Vgl. VfSlg 4572/1963, 5846/1968, 6096/1969. 226 Vgl. VfSlg 7653/1975, 7725/1975, 8602/1979; Adamovich sen., Handbuch des Verfassungsrechts, S. 231 f.; Walter, Bundesverfassungsrecht, S. 584; Ringhofer, Bundesverfassung, S. 316. 227 Vgl. VfSlg 7653/1975; Ringhofer, Bundesverfassung, S. 316; Koja, Verfassungsrecht der Bundesländer, S. 326. 228 Vgl. VfSlg 7653/1975, 8602/1979.
B. Das Homogenitätsprinzip im österreichischen B-VG
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weitere Frage bezüglich der Zusammensetzung der Landesregierung, nämlich ihre Funktionsdauer. dd) Amtsdauer der Landesregierung und Ende ihrer Funktionen Wie auch der Landtag ist die Landesregierung ein ständig funktionierendes Staatsorgan auf Landesebene. Zeitlich wird nur die Amtsperiode des konkreten Personalbestandes der Landesregierung begrenzt, nicht aber der Landesregierung an sich. Da im Rahmen des parlamentarischen Regierungssystems, das für die österreichischen Länder bundesverfassungsrechtlich vorgeschrieben wird, die Landesregierung vom Landtag gebildet wird, kann man vermuten, dass die Funktionsdauer der Landesregierung auf die Legislaturperiode des ihr bestellten Landtages beschränkt sei. Dies sollte sowohl für den normalen Ablauf der Gesetzgebungsperiode als auch für den Fall einer vorzeitigen Auflösung des Landtages gelten. Da das B-VG explizit keine Forderung hinsichtlich der Funktionsdauer der Landesregierung stellt, gelangte der VfGH zu der Schlussfolgerung, dass die Amtsdauer einer Landesregierung eine kürzere oder längere Zeitspanne über die Gesetzgebungsperiode des ihr gewählten Landtages hinaus- und in die Gesetzgebungsperiode des neugewählten Landtages hineinreichen darf. Die Ausgangslage, dass gemäß Art. 101 I B-VG die Landesregierung vom Landtag zu wählen ist, hat nicht zur Folge, dass diese mit der Konstituierung des neugewählten Landtages zum unverzüglichen Rücktritt gezwungen sei.229 Die Verfassungen aller österreichischen Länder legten mehr oder minder ausdrücklich fest, dass die nach der Wahl des neuen Landtages noch im Amt befindliche Landesregierung die ihr anvertrauten Geschäfte im Regelfall bis zum Amtsbeginn der neuen Landesregierung fortzuführen hat. Der Amtsantritt der neuen Regierung erfolgt teils durch Neuwahl (Bgld, NÖ, Stmk, Wien), teils durch Angelobung (Krnt, Tirol, Vbg) und teils durch die Konstituierung bzw. Übernahme der Funktion (OÖ, Slbg).230 Es können aber auch Gründe für die vorzeitige Entlassung der ganzen Regierung oder einzelnen Regierungsmitglieder vorhanden sein. Dem Sinne des parlamentarischen Staatssystems nach ist die Regierung vom Parlament nicht nur zu wählen, sondern ihm auch politisch verantwortlich. Der Inhalt der vom Landtag als Kreationsorgan der Landesregierung ausgeübten politischen Kontrolle besteht in der rechtlichen Möglichkeit, die Geschäftsführung des obersten Vollzugsorgans des Landes zu überprüfen. Eines der organisations- und verfahrensrechtlichen Mittel (das aber eher in einem Extremfall des gegenseitigen Missverständnisses anzuwenden ist) der politischen Kontrolle des Landtages über die Landesregierung ist die Erteilung eines Misstrauensvotums. Zur Amtsführung bedürfen die Regierung sowie deren Mitglieder des ständigen Vertrauens des Parlaments und dem Letzteren kann 229
Vgl. VfSlg 8602/1979. Vgl. Ringhofer, Bundesverfassung, S. 315; Koja, Verfassungsrecht der Bundesländer, S. 297 f., 311. 230
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Kap. IV: Die Wiedererrichtung der Bundesstaatlichkeit
eine rechtliche Möglichkeit eigeräumt werden, durch einen unter Einhaltung bestimmter Vorschriften angefertigten Beschluss der Regierung das Vertrauen zu entziehen, was zur Ablösung der gesamten Regierung bzw. eines einzelnen Mitglieds führt.231 Ähnlich wie die Frage nach der Funktionsdauer der Landesregierung lässt das BVG die rechtliche Möglichkeit der Erteilung eines Misstrauensvotums durch den Landtag gegenüber der Landesregierung unerwähnt und stellt diese dem Landesverfassungsgeber zur Verfügung. Die meisten österreichischen Bundesländer (außer Wien und früher NÖ; in OÖ war es fraglich232) machten von diesem Recht Gebrauch und verankerten den Mechanismus des Misstrauensvotums in gewissem Maße. Sieht eine Landesverfassung das Verfahren zur Entziehung des Vertrauens gegenüber der Landesregierung vor, ist die Verwendung dieses Mittels der politischen Kontrolle des Landesparlaments über die Exekutive ganz eindeutig. Problematisch ist es aber in dem Fall, wenn eine solche landesverfassungsrechtliche Regelung fehlt. Kann in diesem Fall die Landesregierung trotzdem jederzeit vom Landesparlament abgesetzt werden, weil es dem Geiste des parlamentarischen Regierungssystems entspricht, wenn die Befugnis des Landtages zur Abberufung der Landesregierung mit der Befugnis zur Bildung derselben korrespondiert, oder muss eine derartige Befugnis des Landtages in der Landesverfassung ausdrücklich geregelt werden? Dazu gab es zwei diametral entgegengesetzte Meinungen. Adamovich sen. ging von der Verantwortlichkeit der Landesregierung gegenüber dem Landtag gemäß Art. 105 II BVG (obwohl dieser Artikel auf die rechtliche Verantwortlichkeit des Landeshauptmannes und der Regierungsmitglieder nach Art. 142 B-VG verweist) und der Bestellung der Landesregierung durch den Landtag nach Art. 105 I B-VG aus, denen zufolge der Grundsatz, wonach die Mitglieder der Landesregierung des Vertrauens des Landtages bedürfen und nicht gegen seinen Willen im Amt verbleiben können, ausnahmslos für alle österreichischen Länder Geltung hat. Daneben ist diese Form der parlamentarischen Verantwortlichkeit der Mitglieder der Landesregierung der bundesverfassungsrechtlichen Bestimmungen über die Verantwortlichkeit der Mitglieder der Bundesregierung analog zu gestalten.233 Eine ganz andere Ansicht hierzu vertraten Robert Walter, Professor für Staats- und Verwaltungsrecht in Wien, und der schon mehrfach erwähnte Koja: Aus der Bestellungsform der Regierung aufgrund derer Wahl durch einen allgemeinen Vertretungskörper kann eine Befugnis des Letzteren zur Abberufung der Regierung nicht definitiv abgeleitet werden. Die Vertrauensverweigerung durch einen ausdrücklichen Beschluss des Landtages kann die Landesregierung in ihrer Gesamtheit oder eines ihrer Mitglieder rechtlich zum Rücktritt nur dann zwingen, wenn dies in 231
Vgl. Adamovich sen., Handbuch des Verfassungsrechts, S. 399 f.; Walter, Bundesverfassungsrecht, S. 581; Koja, Verfassungsrecht der Bundesländer, S. 312, 315. 232 Vgl. Walter, Bundesverfassungsrecht, S. 581 Fn. 148; Koja, Verfassungsrecht der Bundesländer, S. 316 ff. 233 Vgl. Adamovich sen., Handbuch des Verfassungsrechts, S. 273 f., 400.
B. Das Homogenitätsprinzip im österreichischen B-VG
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der Landesverfassung auch explizit festgestellt ist. Demgemäß ist es den österreichischen Ländern völlig überlassen, die Befugnis des Landtages zur Verweigerung des Vertrauens gegenüber der Landesregierung in Form eines Misstrauensvotums (bemerkenswert ging es auch eventuell nicht um die mögliche Vertrauensfrage, vgl. dazu ! S. 233, 389) normativ zu verankern oder nicht.234 d) Der Landeshauptmann als selbständiger Amtsträger aa) Die verfassungsrechtliche Mehrfunktionalität des Amtes des Landeshauptmannes Wie es schon mehrfach hervorgehoben wurde, wird den österreichischen Ländern – anders als dem Bund – durch die Bundesverfassung ein reines parlamentarisches Regierungssystem vorgeschrieben, wonach die Landesregierung vom Landtag gewählt und kontrolliert wird. Innerhalb dieses Systems steht allerdings der Landeshauptmann in einer exponierten Stellung. Er ist organisatorisch und funktionell die eigentliche Schlüsselfigur nicht nur für das System der gliedstaatlichen Exekutive, sondern auch für die ganze Staatsorganisation des jeweiligen Bundeslandes. Während sich in der Ersten Republik das Wesen des Amtes des Landeshauptmannes durch seine doppelte Symbolfunktion – als Vorsitzender des Regierungskollegiums und als dem Status eines Staatsoberhauptes wesensgleicher Vertreter des jeweiligen Bundeslandes – auszeichnete (! S. 235 ff.), wird in der Nachkriegszeit diesem in der Terminologie von Wolfgang Pesendorfer eine „funktionelle Vervierfachung“ zugeschrieben. (Pesendorfer war seinerzeit Universitätsdozent für Staats- und Verwaltungsrecht in Linz und später Vizepräsident des österreichischen Verwaltungsgerichtshofes.) Zu den beiden obenerwähnten Erscheinungsformen des staatsrechtlichen Status des Landeshauptmannes (Staatsoberhaupt und Regierungschef) sind noch zwei weitere hinzuzufügen: Der Landeshauptmann ist Träger der mittelbaren Bundesverwaltung (Art. 103 B-VG; vgl. auch ! S. 235 ff.), also fungiert er in diesem Bereich der Verwaltung als der Bundesregierung sowie den einzelnen Bundesministern weisungsgebundenes und den weiteren Organen der Landesexekutive gegenüber weisungsberechtigtes Bundesorgan, und er ist der Vorstand des Amtes der Landesregierung (§ 1 I des BVG über Ämter der Landesregierungen), also der Behörde, die unter der Leitung der Landesregierung oder ihrer einzelnen Mitglieder die obersten Geschäfte der Landesverwaltung und unter der Leitung des Landeshauptmannes die Agenden der mittelbaren Bundesverwaltung führt. In der Eigenschaft als Träger der mittelbaren Bundesverwaltung erhält der Landeshauptmann eine doppelte Legitimierung und übt eine Mittelfunktion zur Verbindung der Bundes- und Landesverwaltung aus, was eine lange staatsrechtliche Tradition auf Landesebene in Österreich hat. Mit der Funktion des Vorstandes im Amt der Landesregierung kommen dem Landeshauptmann als oberstes Landesorgan nicht nur die 234 Vgl. Walter, Bundesverfassungsrecht, S. 581 Fn. 151; Koja, Verfassungsrecht der Bundesländer, S. 315, 319, 322.
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Kap. IV: Die Wiedererrichtung der Bundesstaatlichkeit
wichtigen Teile der Personal- und Organisationsgewalt des Landes, sondern auch eine Koordinationsverantwortung im Entscheidungsvorbereitungsverfahren zu, die sowohl die selbständige Landesverwaltung als auch die mittelbare Bundesverwaltung gleichermaßen betrifft. Daraus ergibt sich eine gleichrangig neben der Landesregierung angesiedelte Funktionsfülle, die dem Landeshauptmann im Staatswillensbildungsprozess des Landes deutlich mehr unmittelbare Einflussmöglichkeiten auf die Geschäftsführung innerhalb der Landesregierung eröffnet als eine (eingeschränkte) Koordinationsbefugnis des Bundeskanzlers gegenüber anderen Bundesministern.235 Koja verweist auf die österreichische Bundesverfassung, die nämlich zwischen den Organen, die zur Willensbildung berechtigt sind, und solchen, die als handlungsfähig zur Vertretung „nach außen“ berufen werden, unterscheidet.236 Die bundesverfassungsrechtliche Zuordnung der Funktionen eines faktischen Staatsoberhauptes des jeweiligen Landes an den Landeshauptmann, der Leitung der Landesregierung und ihres Apparats sowie der mittelbaren Bundesverwaltung stellt nicht bloß die Institutionalisierung des Landeshauptmannes als selbständiges oberstes Landesorgan („als Organ des selbständigen Wirkungsbereiches des Landes“, Art. 103 I B-VG) kaum in Frage, sondern belegt vielmehr sein Schwergewicht innerhalb der gesamten Staatssysteme der österreichischen Länder als Organ der Vertretung „nach außen“ und zugleich als wichtiger Entscheidungsträger. Seine Schlüsselrolle in den staatlichen Prozessen auf Landesebene wird in verfassungsrechtlicher Hinsicht an den Beispielen seiner Stellung als Staatsoberhaupt und Regierungschef weiter unten betrachtet werden. bb) Der Landeshauptmann als Staatsoberhaupt Unter den Bestimmungen der Bundesverfassung, die dem Landeshauptmann als einem der obersten Landesorgane die spezifischen Kompetenzen übertragen, ist eine Funktion besonders schwierig auszulegen. Art. 105 I 1 B-VG lautet: „Der Landeshauptmann vertritt das Land.“ Man kann auf den ersten Blick annehmen, dass diese Vorschrift einen ganz klaren Inhalt hat. Nach Ermacora sei der Landeshauptmann i. S. d. Art. 105 B-VG „im Bereich der Staatlichkeit der Länder Repräsentant des Landes und als Vorsitzender der Landesregierung auch ihr Repräsentant“.237 In den 1970er und 1980er Jahren stand aber die Auslegungsproblematik dieser Vertretungsbefugnis des Landeshauptmannes sehr deutlich im Blickpunkt der österreichischen Fachliteratur. Dieses Interesse an einem theoretischen Überdenken des 235 Vgl. Pesendorfer, Wolfgang, Der Landeshauptmann. Historische Entwicklung, Wesen und verfassungsrechtliche Gestalt einer Institution, Wien und New York 1986, S. 32 ff.; Walter, Bundesverfassungsrecht, S. 587; Pernthaler, Peter, Raumordnung und Verfassung, Band 2: Raumordnung, demokratischer Prozess und Rechtsschutz, Wien 1978, S. 105. 236 Vgl. Koja, Friedrich, Die Vertretungsbefugnis des Landeshauptmannes nach Art 105 Abs 1 B-VG, in: Österreichisches Verwaltungsarchiv, 1979, H. 3, S. 75. 237 Ermacora, Felix, Österreichische Verfassungslehre, Bd. 1, Wien 1970, S. 173.
B. Das Homogenitätsprinzip im österreichischen B-VG
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verfassungsrechtlichen Status der Landeshauptmänner (später aber geschlechtsneutral als Landeshauptleute bezeichneten) war durch die politische Verstärkung des Instituts des Landeshauptmannes in der Verfassungswirklichkeit nicht nur der entsprechenden Länder, sondern auch des Gesamtstaates zu der Zeit bedingt. Wegen des rechtspolitischen Schwergewichts mancher Landeshauptmänner wurde die zuerst im alltäglichen Sprachgebrauch in Bezug auf die Landeshauptmänner verwendete Bezeichnung als „Landesfürsten“ nun auch in die rechtswissenschaftliche Literatur übernommen.238 Das Problem lag sowohl im semantischen Inhalt des Wortes „vertreten“ als auch im genaueren rechtlichen Inhalt und Umfang der Vertretungsbefugnis des Landeshauptmannes nach der Bundesverfassung. Aus dem Wortlaut des Art. 105 I 1 B-VG ergibt sich die Vertretungsfunktion des Landeshauptmannes. Obwohl Pernthaler einerseits hervorhebt, dass den Ländern ein eigenes „Staatsoberhaupt“ explizit fehlt, erkennen er und die Innsbrucker Schule andererseits an, dass der Landeshauptmann in der Tat bestimmte Befugnisse eines wirklichen Staatsoberhauptes ausübt und ihm daher eine Art Staatsoberhauptfunktion zusteht.239 Noch deutlicher für die Eigenschaft des Landeshauptmannes als Staatsoberhaupt auf Landesebene sprachen sich Koja, Kurt Ringhofer und Pesendorfer aus. Dem Wortsinn nach versteht man unter „vertreten“ das rechtserhebliche Handeln (Abgabe und Empfang rechtserheblicher Erklärungen) einer Person im Namen einer anderen Person, wobei die rechtserheblichen Erklärungen solche Willenserklärungen darstellen, die auf die Begründung, Aufhebung oder Abänderung eines Rechtsverhältnisses gerichtet sind; derartige mit Vertretungswillen und -macht abgegebenen Willenserklärungen wirken unmittelbar für und gegen den Vertretenen.240 Aus dieser rein juristischen (eher aber juristisch-technischen) Herangehensweise Kojas ergibt sich, dass der Landeshauptmann i. S. d. Art. 105 I 1 B-VG berechtigt ist, für das Land als juristische Person bei der Ausübung seiner Hoheitsrechte und Erfüllung seiner Pflichten als handlungsfähiges Rechtssubjekt nach außen aufzutreten und daher rechtserhebliche Akte zu setzen (also im juristischen Sinne eines gesetzlichen Vertreters), wobei die Befugnis zur internen Willensbildung einem anderen Staatsorgan (als Vertretener) zukommen kann. Als Beispiel dafür dient die Berechtigung des Landeshauptmannes gemäß Art. 105 I 1 B-VG zum Abschluss von Vereinbarungen des jeweiligen Landes mit dem Bund oder einem anderen Land nach Art. 15a B-VG (sog. Gliedstaatsverträge), indem dieser bloß einen zur Unterzeichnung berechtigten Amtsträger darstellt, während die inhaltliche Willensent-
238
Vgl. Funk, in: VVDStRL 46, S. 83. Vgl. Pernthaler, Raumordnung und Verfassung II, S. 105; Novak, B-VG und Landesverfassungsrecht, S. 144. 240 Vgl. Koja, Verfassungsrecht der Bundesländer, S. 357; dazu auch Köbler, Gerhard, Juristisches Wörterbuch. Für Studium und Ausbildung, 7. Aufl., München 1995, S. 360 f. (Stellvertretung), 421 f. (Vertreter). 239
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Kap. IV: Die Wiedererrichtung der Bundesstaatlichkeit
scheidung darüber von den anderen Organen (Landtag oder Landesregierung in ihrer Gesamtheit) zu treffen ist.241 Viel zutreffender scheint allerdings die Meinung von Ringhofer, der dem Art. 105 I 1 B-VG, „soweit er nicht durch die Landesverfassung mit konkretem Inhalt erfüllt wird, eher politische als rechtliche Bedeutung“242 (Hervorh. durch den Verf.) zuschreibt. Aufgrund dieser bundesverfassungsrechtlichen Vorschrift ist der Landeshauptmann zur Vertretung des jeweiligen Landes berufen und gilt daher als Symbol der Einheit der gliedstaatlichen Verfassungsordnung. Der Landeshauptmann als Staatsoberhaupt vertritt sein Bundesland „nach außen“ in dem Sinne gegenüber dem Bund, anderen Bundesländern und auch dem Ausland. Während Ringhofer in Anlehnung an die lehrbuchmäßige Meinung Kelsens den österreichischen Ländern die Vertretung gegenüber dem Ausland im völkerrechtlichen Sinne abspricht,243 spricht sich Pesendorfer ausdrücklich dafür aus.244 Besonders relevant ist diese Ansicht im Lichte der Novellierung des Art. 16 B-VG im Jahr 1988 geworden, wonach die Länder ermächtigt worden waren, in den Angelegenheiten des selbständigen Wirkungsbereichs Staatsverträge mit an Österreich angrenzenden Staaten oder deren Teilstaaten abzuschließen (Abs. 1). Abgesehen davon, dass alle völkerrechtlichen Verträge des Gesamtstaates „Republik Österreich“ gemäß Art. 65 I 1 B-VG vom Bundespräsidenten abzuschließen sind, werden die entsprechenden Staatsvertragsverhandlungen – mit Zustimmung der Bundesregierung – allein von den Staatsorganen des jeweiligen Bundeslandes durchgeführt und der erfolgreiche Abschluss des Staatsvertrages obliegt dem Bundespräsidenten, auf Vorschlag der Landesregierung diesen Vertrag – aber mit der Gegenzeichnung des Landeshauptmannes – zu bewilligen (Art. 16 II B-VG). Aufgrund der grammatikalischen und systematischen Auslegung der Art. 65 I 1 und Art. 105 I 1 B-VG gelangt Pesendorfer zu der Schlussfolgerung, dass die Bundesverfassung eine mit der verfassungsrechtlichen Stellung des Bundespräsidenten als Staatsoberhaupt („Der Bundespräsident vertritt die Republik nach außen“) vergleichbare Vertretungsbefugnis dem Landeshauptmann zuschreibt; nämlich er tritt als dem Bund und weiteren Ländern innerhalb des Gesamtstaates „Republik Österreich“ sowie dem Ausland (allerdings im beschränkten Umfang) gegenüber repräsentativer Amtsträger (Staatsoberhaupt) auf. Daher ist die Zuordnung des Landeshauptmannes als Staatsoberhaupt auf Landesebene im Sinne seiner primären Funktionsausrichtung zu betrachten.245 Es wurde jedoch eine weitere Meinung hinsichtlich des Inhalts der Vertretungsbefugnis des Landeshauptmannes nach Art. 105 I 1 B-VG in der Fachliteratur 241
Vgl. Koja, Verfassungsrecht der Bundesländer, S. 353 f. Ringhofer, Bundesverfassung, S. 334. 243 Vgl. Ringhofer, Bundesverfassung, S. 334; Kelsen/Froehlich/Merkl, Die Bundesverfassung, S. 219. 244 Vgl. Pesendorfer, Der Landeshauptmann, S. 31 f. 245 Vgl. Pesendorfer, Der Landeshauptmann, S. 31 Fn. 115, S. 112 (auch Fn. 385). 242
B. Das Homogenitätsprinzip im österreichischen B-VG
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vertreten, wonach sich die in Rede stehende bundesverfassungsrechtliche Vorschrift kaum auf die Eigenschaft des Landeshauptmannes als Vertreter des jeweiligen Landes im Sinne eines Rechtssubjekts, sondern auf die Stellung des Landeshauptmannes als auf Landesebene oberstes Organ der mittelbaren Bundesverwaltung bezieht. Diese Auffassung folgt aus der Tatsache, dass es sich in den folgenden Sätzen des Art. 105 I B-VG um die Verantwortung des Landeshauptmannes im Bereich der mittelbaren Bundesverwaltung gegenüber der Bundesregierung und seiner Stellvertretung in den entsprechenden Verwaltungsgeschäften handelt.246 Koja widerlegt sorgfältig diese These in einem Aufsatz und wiederholt die Argumentation später in der neuen Auflage seines klassischen Werkes.247 Der erste Argument gegen diese These lautet, dass es sich nach der Auslegungssystematik des Art. 105 B-VG nicht allein um die mittelbare Bundesverwaltung (die vielmehr ausdrücklicher in Art. 102 und 103 B-VG geregelt wird), sondern eher um die rechtliche Verantwortung des Landeshauptmannes, seiner Stellvertreter und weiterer Regierungsmitglieder gegenüber dem Landtag nach Art. 142 B-VG handelt.248 Es ist auch zu bezweifeln, dass die Verhältnisse zwischen dem Bund und den Ländern im Bereich der mittelbaren Bundesverwaltung mit dem Wort „vertreten“ passenderweise beschrieben werden können (erstaunlicherweise spricht auch Ringhofer von der Unbeschränktheit der Vertretungsbefugnis des Landeshauptmannes im Bereich der mittelbaren Bundesverwaltung249). Dem Begriff nach bedarf der Vertretung ein Rechtssubjekt, das selbst nicht handeln kann. Im Fall der Organisation der mittelbaren Bundesverwaltung in Österreich stellt das Land gegenüber dem Bund kein Rechtssubjekt dar, sondern eine Verwaltungseinheit, in welcher in Gestalt der Landesvollzugsorgane die Bundesverwaltung auf mittlerer und unterer Ebene unter der Verantwortung gegenüber den Bundesvollzugsorganen geführt wird.250 Daraus folgend enthält Art. 105 I 1 B-VG keinen Verweis auf die Vertretungsstellung des Landeshauptmannes innerhalb der mittelbaren Bundesverwaltung, weil er ein unmittelbarer Träger dieser Form der Hoheitsverwaltung des Bundes ist und keine Vertretungsfunktion in Hinsicht des „vertikalen“ Verwaltungsaufbaus ausübt (vgl. Art. 102 I B-VG). Inhaltlich schreibt Art. 105 I 1 B-VG dem Landeshauptmann die Staatsoberhauptfunktion zur Repräsentation des Landes als Gliedstaat ohne zugleich irgendeinen Bezug zu rechtlich relevanten Willensakten zu.251 Diese Fülle des Landeshauptmannes als Entscheidungsträger ergibt sich allerdings aus der Verbindung mit seiner Stellung innerhalb der Landesregierung. 246 247 248
358 f. 249 250 251
Vgl. Walter, Bundesverfassungsrecht, S. 595 ff. (besonders S. 597). Vgl. Koja, ÖVA 1979, S. 76 ff.; ders., Verfassungsrecht der Bundesländer, S. 357 ff. Vgl. Koja, ÖVA 1979, S. 76, 77 ff.; ders., Verfassungsrecht der Bundesländer, S. 357, Vgl. Ringhofer, Bundesverfassung, S. 334. Vgl. Koja, ÖVA 1979, S. 77; ders., Verfassungsrecht der Bundesländer, S. 358. Vgl. Pesendorfer, Der Landeshauptmann, S. 114.
346
Kap. IV: Die Wiedererrichtung der Bundesstaatlichkeit
cc) Der Landeshauptmann und die Landesregierung Aus der Vorschrift des B-VG über die Zusammensetzung der Landesregierung (Art. 101 III B-VG) ergibt sich nicht ausdrücklich, dass der Landeshauptmann mit dem Vorsitz in diesem Gremium betraut wird. Allerdings verweist die Hervorhebung der Ämter von Landeshauptmann und seinen Stellvertretern unter den Regierungsmitgliedern (wobei sowohl der Landeshauptmann als auch seine Stellvertreter v. a. Mitglieder der Landesregierung sind) im systematischen Zusammenhang mit weiteren bundesverfassungsrechtlichen Vorschriften auf die vermutlich besondere Stellung des Landeshauptmannes innerhalb des Regierungskollegiums. Die konkrete Gestaltung des Amtes des Landeshauptmannes wird aber den Landesverfassungen in dem Umfang überlassen, soweit die Bundesverfassung den Landeshauptmann nicht mit expliziten Hoheitsbefugnissen ausstattet. Die österreichischen Landesverfassungen gingen von dieser stillschweigenden Bestimmung des B-VG aus und bestellten daher ausnahmsweise den Landeshauptmann zum Vorsitzenden der Landesregierung.252 Die Besetzung des Amtes des Vorsitzenden von Landesregierung bedingt zusammen mit der Stellung des Landeshauptmannes als Staatsoberhaupt eine besondere Konstellation des parlamentarischen Systems in den österreichischen Ländern und schließt die Möglichkeit aus, analog wie auf Bundesebene die Staatsorganisation der Länder auf dem Bereich der Exekutive einzurichten.253 Der Landeshauptmann führt den Vorsitz in der Landesregierung und kann zugleich als ordentliches Regierungsmitglied innerhalb des ihm anvertrauten bestimmten Ressorts agieren. Diese Bekleidung der zwei unterschiedlichen Funktionen stammt noch aus der Zeit, als aus dem Wortlaut und Systematik der Stammfassung des Art. 101 B-VG die Forderung nach dem Kollegialprinzip der Geschäftsführung in der Landesregierung folgte, wonach der Landeshauptmann nur als „primus inter pares“ handeln konnte. Das Problem besteht darin, dass wegen der in der Bundesverfassung (und möglich auch in der Landesverfassung) fehlenden Abgrenzung der Vollzugskompetenzen des Landeshauptmannes von den anderen Regierungsmitgliedern sowie der Zuweisung der Befugnisse an ihn durch die Bundesverfassung, die seinem Status als Staatsoberhaupt oder Träger der mittelbaren Bundesverwaltung entsprechen, die Stellung des Landeshauptmannes innerhalb der Landesregierung unpräzise ausgestaltet werden kann, was in der Tat eine Stärkung seines politischen Schwergewichts bewirkt. Anders als Bundeskanzler kann der Landeshauptmann nicht als „primus inter pares“, sondern vielmehr „primus supra ceterum pares“ handeln.254 252 Vgl. Pesendorfer, Der Landeshauptmann, S. 137; Koja, Verfassungsrecht der Bundesländer, S. 349 f. 253 Vgl. Pesendorfer, Der Landeshauptmann, S. 31. 254 Vgl. Veiter, Theodor, Die Stellung des Landeshauptmannes, in: Der Staatsbürger. Schrift für Rechtsschutz und Grundfreiheiten der Person. Beilage der „Salzburger Nachrichten“, 1960, H. 26, S. 2.
B. Das Homogenitätsprinzip im österreichischen B-VG
347
Aus dem Zusammenhang der den Rechtsstatus des Landeshauptmannes bestimmenden Vorschriften der Bundesverfassung ergibt sich, dass er – neben der Landesregierung und dem Landtag – ein oberstes Landesorgan ist. Der Landeshauptmann als selbständiger Amtsträger ist allerdings kein oberstes Organ der Landesvollziehung i. S. d. Art. 19 I i. V. m. Art. 101 I und Art. 11 ff. B-VG, soweit ihm die Bundes- und/oder Landesverfassung die Kompetenzen der Vollziehung i. S. v. Gesetzesvollziehung, also die Berechtigung zur Erlassung von Rechtsverordnungen und Bescheiden zwecks Durchführung der Bundes- und/oder Landesgesetze, nicht überträgt. In dem Fall, dass ihm als ordentliches Regierungsmitglied die Vollzugsbefugnisse zugewiesen werden, kann er dann als oberstes Organ der Landesvollziehung fungieren. Grundsätzlich werden die allgemeinen Vollziehungskompetenzen des Landeshauptmannes nicht in Konkurrenz zur Landesregierung geschaffen; sie verfügt über ein Monopol über die Vollziehung als Willensbildungsverfahren in dem Bereich der normativen Ausführung der Gesetze.255 Innerhalb des Regierungskollegiums gibt es keine formale Überordnung des Landeshauptmannes als oberstes Landesorgan im Sinne eines Weisungsrechts über die weiteren Mitglieder. In politischer Hinsicht kommt ihm aber der entscheidende Vorrang wegen seiner primären institutionellen Eigenschaft eines Staatsoberhaupts zu. Aus rechtlicher Perspektive wird der Landeshauptmann als Regierungsmitglied jedenfalls mit einem Ressort ausgestattet: Mit der Vorstandsfunktion des Landeshauptmannes als Regierungschef kommen ihm auch die immanenten Koordinationsbefugnisse sowie -verantwortung hinsichtlich der fachübergreifenden Fragen der Tätigkeit der Landesregierung zu. Darunter versteht man die Geschäftsführungsfunktion (Vorsitz und Durchführung der Sitzungen der Landesregierung, Geschäftsordnung, Antragstellung, Durchführung der Beschlüsse usw.) und Repräsentation der Landesregierung als Kollegialorgan (Regierungserklärungen gegenüber dem Landtag, Öffentlichkeitsarbeit usw.). Die Übernahme derartiger Funktionen unterscheidet den Landeshauptmann von den anderen Mitgliedern der Landesregierung; er tritt hier aber auch in der Eigenschaft eines obersten Landesorgans, nur mit der Befugnis zur Koordination der Gesamtpolitik der Landesregierung als mit entsprechenden Vollmachten bekleidetes oberstes Vollzugsorgan auf. Als ein oberstes Organ der Vollziehung i. S. d. Art. 19 I B-VG kann der Landeshauptmann nur dann betrachtet werden, wenn und soweit er ein Ressort wie ein anderes Regierungsmitglied führt. Seine ursprüngliche Aufgabe bleibt jedoch die Vorsitzfunktion.256 Die Integrierung des Landeshauptmannes in die Struktur der Landesregierung als einen spezifischen Bestandteil der Landesexekutive wurde auch dank des zwingenden Proporzsystems bei der Zusammensetzung der Landesregierung ermöglicht. Da bei der Beschlussauffassung innerhalb einer nach dem proportionalen Wahl255
Vgl. Koja, Verfassungsrecht der Bundesländer, S. 350 f., 354. Vgl. Pesendorfer, Der Landeshauptmann, S. 32 Fn. 115, S. 136 ff., 144 f. Fn. 476; Pernthaler, Raumordnung und Verfassung II, S. 105. 256
348
Kap. IV: Die Wiedererrichtung der Bundesstaatlichkeit
system gebildeten Regierung keine Einstimmigkeit erforderlich ist, erhält der Landeshauptmann als Vorsitzender des Kollegialgremiums und Vertreter der (im Regelfall) stimmenstärksten Landtagspartei faktisch einen maßgeblichen Einfluss auf die regierungsinternen Entscheidungsverfahren, was noch durch seine primäre Stellung als Staatsoberhaupt des ganzen Landes (lies: des Staates in organisationsrechtlicher Hinsicht als System aller Machtorgane) verstärkt wird.257 Der Landeshauptmann ist ein Mitglied der Landesregierung (Art. 101 III B-VG) und daher wie andere Regierungsmitglieder vom Landtag zu wählen (Art. 101 I BVG), was die anderen Kreationsformen, wie Direktwahl oder Ernennung durch den Bundespräsidenten oder den Bundeskanzler, ausschließt. Dazu fordert das B-VG noch die Einhaltung der Wählbarkeit zum Landtag, aber ohne gleichzeitige Mitgliedschaft in diesem (Art. 101 II B-VG). Im Übrigen enthält die Bundesverfassungsgesetzgebung keine weiteren Erfordernisse zur Wahl des Landeshauptmannes. Für ihn gelten gleichermaßen alle Auffassungen des österreichischen VfGH hinsichtlich der Wahlverfahren der Landesregierung. Den Bundesländern wird der Gestaltungsfreiraum eingeräumt, das konkrete Wahlmodell (Verhältnis- oder Mehrheitswahl sowie eine Mischform) und auf sonstigem Wege (in der Landesverfassung, einfachen Landesgesetzgebung oder LT-GO) festzulegen.258 Dies betrifft auch die Amtsdauer des Landeshauptmannes. Als Teil des Regierungsgremiums wird er für die Funktionsdauer der Landesregierung gewählt und hat mit der Wahl seines Nachfolgers durch den Landtag aus dem Amt zu scheiden. Dies gilt gleichermaßen sowohl für einen Regelfall des Ablaufs der Legislaturperiode als auch für die vorzeitige Abberufung des Landeshauptmannes als Regierungsmitglied sowie der Landesregierung in ihrer Gesamtheit. Die Landesverfassungen von Krnt (Art. 49 I LVerf von 1974), Slbg (Art. 42 LVerf von 1921 i. d. F. von 1931), Stmk (§ 27 III LVerf von 1926 i. d. F. von 1946) und Vbg (Art. 33 I LVerf von 1923) sahen die rechtliche Möglichkeit vor, das Misstrauensvotum gegenüber der gesamten Landesregierung oder der einzelnen Regierungsmitglieder zu erteilen. Im Bgld (Art. 56 II LVerf von 1981) und in OÖ (Art. 44 I, II LVerf von 1930 i. d. F. von 1991) konnten generell die Mitglieder der Landesregierung und in NÖ (Art. 39 LVerf von 1978) und Wien (§ 37 I WStV) ausdrücklich betont der Landeshauptmann und weitere Regierungsmitglieder verfassungsrechtlich wegen des Verlustes des parlamentarischen Vertrauens abberufen werden. Nur in Tirol (§ 30 LVerf von 1921) ließ die Landesordnung zu, ausschließlich die Landesregierung in ihrer Gesamtheit vorzeitig zu entlassen.
257
Vgl. Veiter, Der Staatsbürger 1960, S. 2; Pernthaler, Raumordnung und Verfassung II, S. 105. 258 Vgl. VfSlg 5676/1968, 6276/1970, 11669/1988, 12229/1989; Pesendorfer, Der Landeshauptmann, S. 46 ff.; Koja, Verfassungsrecht der Bundesländer, S. 278 ff.
C. Gegenwärtige Tendenzen
349
***
Der Landeshauptmann stellt einen besonderen Machtakteur im System der Staatsgewalt der österreichischen Länder dar. Ohne unmittelbare Legitimation, die bspw. der Bundespräsident als Staatsoberhaupt der Republik Österreich durch die direkte Wahl vom Volk erhält, kommen dem Landeshauptmann von Bundes- und Landesverfassungs wegen im Sinne der „funktionellen Vervierfachung“ Pesendorfers so zahlreiche Kompetenzen (er agiert als Staatsoberhaupt, Regierungschef, Träger der mittelbaren Bundesverwaltung und Vorstand des Amtes der Landesregierung) zu, dass er faktisch die führende Rolle in der operativen politischen Leitung des jeweiligen Landes spielt.
C. Gegenwärtige Tendenzen in dem theoretischen Verständnis und der praktischen Umsetzbarkeit des bundesverfassungsrechtlichen Homogenitätsgebotes für die Staatsorganisation der deutschen und österreichischen Länder 1. Allgemeine Anmerkungen und historischer Hintergrund Lange Zeit nach der Wiedererstellung der Bundesstaatlichkeit in Deutschland und Österreich nach dem Untergang der NS-Diktatur stand das Landesverfassungsrecht im Schatten des Bundesverfassungsrechts und das damit verbundene bundesverfassungsrechtliche Homogenitätsgebot hatte nur eine geringe praktische Relevanz für das gesamte deutsche bzw. österreichische Staats- und Rechtssystem. Es stellte eher ein „schlafendes“ Instrument des materiellen Verfassungsrechts dar. Mit den institutionellen Veränderungen Ende der 1980er Jahre erhielt auch die Homogenitätsproblematik wieder Auftrieb. Im Fall Deutschlands bedeutete die Wiedervereinigung von 1990 einen Anstoß für eine erneute Dynamik des normativen innerstaatlichen Homogenitätsgebotes. Nicht nur die fünf neuen (ostdeutschen) Bundesländer erhielten in diesem Zusammenhang die Chance einer demokratischen Verfassungsgebung, die sie mit großem Selbstbewusstsein und unter Bezugnahme auf den vom GG angebotenen bundesverfassungsrechtlichen Spielraum auch nutzten, sondern auch die „alten“ (westdeutschen) Länder verpassten diese einzigartige Möglichkeit nicht, um ihre Verfassungen in gewissem Maße zu revidieren. Als prägnantes Beispiel dieses Wandels gilt v. a. die Intensivierung plebiszitärer Elemente in den Landesverfassungen.259
259 Vgl. Möstl, Markus, Landesverfassungsrecht – zum Schattendasein verurteilt? Eine Positionsbestimmung im bundesstaatlichen und supranationalen Verfassungsverbund, in: Archiv des öffentlichen Rechts, 2005, H. 130, S. 356; Tettinger, in: Mangoldt, Hermann von/ Klein, Friedrich/Starck, Christian (Hrsg.), Das Bonner Grundgesetz, Kommentar, Band 2:
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Kap. IV: Die Wiedererrichtung der Bundesstaatlichkeit
In Österreich gab es dagegen keinen vergleichbar starken Schub für das Landesverfassungsrecht, dort verlief die Verstärkung der selbständigen Stellung der Länder eher sukzessiv. Angefangen mit der dogmatischen und judikatorischen Anerkennung der gliedstaatlichen Verfassungsautonomie in den 1970 – 1980er Jahren, erhielten die österreichischen Bundesländer dank der einzelnen Erkenntnisse des VfGH vom Ende der 1980er Jahre und des EU-Beitritts Österreichs im Jahr 1995 die Möglichkeit, neue Akzente in den eigenen Staatsorganisationen zu legen. So verabschiedete mehr als die Hälfte der österreichischen Länder (Krnt, OÖ, Slbg, Tirol und Vbg) im Laufe nur eines Jahrzehntes (von 1989 bis 1999) neue Verfassungen bzw. grundlegend revidierte alte Verfassungen. Das Ziel dieses letzten Abschnitts der Arbeit ist es, die Tendenzen in der Entwicklung des organisationsrechtlichen Homogenitätsgebotes in den deutschen und österreichischen Ländern unter Berücksichtigung des modernen theoretischen Verständnisses sowie der normativen Ausgestaltung und gerichtlichen Auslegung dieses verfassungsrechtlichen Instituts seit den 1990er Jahren bis heute aufzuzeigen und zu analysieren. Dies kann dazu beitragen, die allgemeine Frage zu beantworten, inwieweit der deutsche bzw. österreichische Föderalismus mit seiner Prämisse der bestimmten Eigenständigkeit der Länder auch heute noch tragfähig ist.
2. Die Verfassungshoheit und das Recht auf Selbstorganisation als Besonderheiten der Staatlichkeit der Länder a) Die Staatlichkeit der Länder im Sinne der Bundesverfassung Der Bundesstaat ist ein zweigliedriger Staat, ist also aus anderen Staaten derart zusammengesetzt, dass sowohl der Gesamtstaat (Zentral- bzw. Oberstaat, Bund) als auch die Gliedstaaten (Länder) Staatsqualität (Staatscharakter) haben. Diese doppelte Staatlichkeit von Bund und Ländern (sog. duplex regimen) gilt als die wichtigste Besonderheit des Bundesstaates. Während in Deutschland die Auffassung, dass der Bund und die 16 Länder als staatliche Gebietskörperschaften organisiert sind und die Länder daher über eine Eigenstaatlichkeit verfügen, in der hiesigen Bundesstaatslehre kaum mehr zu bestreiten ist, was auch durch die gefestigte Rechtsprechung des BVerfG bestätigt wurde,260 ist die Situation in Österreich daArtikel 20 bis 78, 4. Aufl., München 2000, Art. 28 Rn. 36; Dreier, in: Dreier, Horst (Hrsg.), Grundgesetz, Kommentar, Band 2: Artikel 20 – 82, 3. Aufl., Tübingen 2015, Art. 28 Rn. 52. 260 Vgl. Maunz, Theodor, Staatlichkeit und Verfassungshoheit der Länder, in: Isensee, Josef/Kirchhof, Paul (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Band IV: Finanzverfassung – Bundesstaatliche Ordnung, Heidelberg 1990, § 94 Rn. 2; Kersten, Jens, Homogenitätsgebot und Landesverfassungsrecht, in: Die Öffentliche Verwaltung, 1993, H. 20, S. 896; Tettinger, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG II, 4. Aufl. 2000, Art. 28 Rn. 18; Isensee, in: HStR VI, 2008, § 126 Rn. 15; Dittmann, in: HStR VI, 2008, § 127 Rn. 1; Nierhaus, in: Sachs, Michael (Hrsg.), Grundgesetz, Kommentar, 7. Aufl., München 2014, Art. 28 Rn. 1; Löwer, in: v. Münch/Kunig, GGK I, 6. Aufl. 2012, Art. 28 Rn. 1.
C. Gegenwärtige Tendenzen
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gegen von einer Dichotomie gekennzeichnet. Obwohl die dort lange Zeit herrschende Dezentralisationstheorie in den 1970 – 1980er Jahren heftig kritisiert worden war und auch der österreichische VfGH davon ausging, dass die Länder neben dem Bund selbständige (Glied-)Staaten darstellen, erlangte die Staatenstaatstheorie keine herrschende Stellung und der theoretischen Auffassung vom Bundesstaat als eines Staates, der eine stärkere Dezentralisation aufweist, kommt noch immer eine dezidiert starke Position innerhalb der heimischen Bundesstaatslehre zu.261 Unbestritten ist aber in den beiden Staaten, dass ihre jeweiligen Glieder über eine besondere Eigenschaft – sei die Bezeichnung Staatlichkeit oder bloß Selbständigkeit – verfügen. Betrachtet man diese Eigenständigkeit der Bundesländer als ihre Staatsqualität, wie es in Deutschland der Fall ist, ist es wichtig nicht zu verwechseln, dass die Staatlichkeit der Länder nicht im Sinne der Allgemeinen Staatslehre oder des Völkerrechts zu verstehen sei, sondern es geht vielmehr um eine derartige Staatsqualität der bundesstaatlichen Glieder, welche nach Maßgabe der Bundesverfassung bestimmt wird. Mit anderen Worten kann sich die Staatlichkeit der Länder nur in einer Staatenverbindung (d. h. im Bundesstaat) entfalten, die Bundesländer sind somit Staaten im Sinne der Bundesverfassung, also des nationalen Verfassungsrechts.262 Die grundgesetzliche Anerkennung der gliedstaatlichen Staatsqualität bedingt die terminologische Vielfältigkeit der deutschen Länder in der Bestimmung ihrer staatsrechtlichen Natur. Allem voran Bay und später zwei ostdeutsche Länder (Sachs und Thür) verwenden in ihren Eigenbezeichnungen den Begriff „Freistaat“ (zugleich sei hier indes angemerkt, dass nach Art. 44 I LVerf263 der Freistaat Thüringen nur ein Land der Bundesrepublik Deutschland ist). Das Saarland (seit seinem Beitritt zur Bundesrepublik im Jahr 1957) und Nds (mit der Verabschiedung der neuen Landesverfassung im Jahr 1993) definieren sich als „[Rechts-]Staat in der Bundesrepublik Deutschland“ (Art. 60 I SaarlVerf, Art. 1 II NdsVerf). Drei andere Länder (NRW, RhPf und SchlH) sind Gliedstaaten. Nach den Verfassungen von BadWürtt, Brem und Hess sind diese Länder Glieder der „deutschen Republik“. Die restlichen Mitglieder des modernen deutschen Bundesstaates werden ähnlich wie im GG als Länder bezeichnet. Daraus wird ersichtlich, dass sich die deutschen Bundesländer grundsätzlich zur Einbindung in eine gesamtstaatliche Ordnung bekennen und das 261 Vgl. Mayer, Heinz/Kucsko-Stadlmayer, Gabriele/Stöger, Karl, Grundriss des österreichischen Bundesverfassungsrechts, 11. Aufl., Wien 2015, Rn. 161; Schäffer, Heinz, Der österreichische Föderalismis – Zustand und Entwicklung, in: Burmeister, Joachim (Hrsg.), Verfassungsstaatlichkeit, Festschrift für Klaus Stern zum 65. Geburtstag, München 1997, S. 229; Weber, Karl, in: Korinek, Karl (Hrsg.), Österreichisches Bundesverfassungsrecht, Textsammlung und Kommentar, Wien u. a. 1999, B-VG, Art. 2 Rn. 4. 262 Vgl. Kersten, DÖV 1993, S. 896; Isensee, in: HStR VI, 2008, § 126 Rn. 65, 69; Dittmann, in: HStR VI, 2008, § 127 Rn. 9; Löwer, in: v. Münch/Kunig, GGK I, 6. Aufl. 2012, Art. 28 Rn. 1; Kloepfer, Verfassungsrecht I, § 9 Rn. 80. 263 Hier und weiterhin werden die Bestimmungen der deutschen Landesverfassungen nach Pestalozza, Christian (Hrsg.), Verfassungen der deutschen Bundesländer, 10. Aufl., Stand: 1. März 2014, München 2014 zitiert bzw. wird darauf verwiesen.
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Kap. IV: Die Wiedererrichtung der Bundesstaatlichkeit
Bekenntnis der Eigenstaatlichkeit eher eine Ausnahme darstellt.264 Gleichermaßen betrifft diese Auffassung auch die österreichischen Länder, die sich in den Grenzen des bundesverfassungsrechtlichen Verständnisses, wonach diese als „selbständige Länder“ des Bundesstaates „Republik Österreich“ nach Art. 2 II B-VG charakterisiert werden, halten. Eine historisch bedingte Ausnahme bildet die Vorarlberger Landesverfassung, die in Art. 1 II das Land Vorarlberg auch als selbständigen Staat bezeichnet. Wie oben hervorgehoben wurde, kann sich die Staatlichkeit der Länder normativ nur im bundesverfassungsrechtlich konstituierten Verhältnis zum Bund (Oberstaat) entfalten.265 Dies bedeutet aber überhaupt nicht, dass „die Länder in ihrer Staatlichkeit vom Bund abhängig sind.“266 Die Gliedstaaten verfügen wie andere wirkliche Staaten auch über ein Maß an Eigenständigkeit im Verhältnis zu Dritten. Die gliedstaatliche Staatlichkeit im Sinne der modernen (v. a. deutschen) Bundesstaatslehre unterscheidet sich allerdings von der klassischen Staatsqualität nach der Allgemeinen Staatslehre oder Völkerrechtslehre. Was die Merkmale dieser spezifischen Staatsqualität sind, ist weiter unten zu untersuchen. Dogmatisch wurde jahrhundertelang die Auffassung vertreten, dass sich Staatlichkeit durch den Besitz von Souveränität auszeichnet. Die Frage nach der Beurteilung der Rechtsnatur der Souveränität der Gliedstaaten bildete eines der Grundprobleme für die klassische Bundesstaatslehre. Gegenwärtig, während dank der Globalisierung selbst in den Nationalstaaten die Souveränität als eines der unabdingbaren Merkmale der Staatlichkeit in Frage gestellt wird, wird die Souveränität als ein immer weniger brauchbares und inkonsistentes Kriterium betrachtet, um den Bundesstaat von quasiföderalen Staatssystemen abzugrenzen. Die theoretische Diskussion über die Souveränität im Bundesstaat ist derzeit unfruchtbar. In der gesamten langwierigen theoretischen Diskussion über das Vorhandensein oder die Abwesenheit der Souveränitätseigenschaft bei den Gliedstaaten wandelten sich der rechtliche Inhalt und der politische Sinn der Souveränität mit der Relation, auf die das Kriterium der Souveränität angewandt wird. Wenn sich die Souveränität inhaltlich in der Beziehung eines Herrschaftssubjektes zu einem anderen entfaltet, so kann ein Verband nicht an und für sich souverän sein, sondern nur im Verhältnis zu einem anderen, der ihm nicht übergeordnet ist und der nicht an seiner Herrschaftsgewalt partizipiert. Eine eindeutige Antwort auf die Frage nach der Souve-
264 Vgl. Dittmann, in: HStR VI, 2008, § 127 Rn. 9; Herdegen, Matthias, Strukturen und Institute des Verfassungsrechts der Länder, in: Isensee, Josef/Kirchhof, Paul (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Band VI: Bundesstaat, 3. Aufl., Heidelberg 2008, § 129 Rn. 4. 265 Vgl. Kloepfer, Verfassungsrecht I, § 9 Rn. 80. 266 Kritisch zu Storr, Stefan, Verfassunggebung in den Ländern. Zur Verfassunggebung unter den Rahmenbedingungen des Grundgesetzes, Stuttgart u. a. 1995, S. 175.
C. Gegenwärtige Tendenzen
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ränität im Bundesstaat gibt es nicht. Daher vermag das Kriterium der Souveränität die Staatsqualität der Länder weder zu beweisen noch zu widerlegen.267 Aus eben diesem Grund ist die Antwort auf die Frage nach dem Staatscharakter der Länder in der Bundesverfassung verortet. Die Besonderheit der verfassungsrechtlichen Staatlichkeit der Länder besteht darin, dass ihnen als unmittelbaren Gliedern des Bundesstaates zugleich im Verhältnis zum Bund und zu den übrigen Gliedstaaten Eigenständigkeit (Eigenstaatlichkeit) gesichert ist. Die Eigenstaatlichkeit der Länder war die historische Voraussetzung der deutschen Bundesstaatlichkeit und ist konstitutives Element der grundgesetzlichen Entscheidung für die bundesstaatliche Organisationsform. Gewissermaßen lässt sich dies ebenso im Fall der österreichischen Bundesländer konstatieren. Im Sinne der Staatenstaatstheorie ist sowohl der Gesamtstaat als auch jeder Gliedstaat im Bereich seiner Kompetenzen ein Staat. Ausdruck dieser Eigenstaatlichkeit der Länder unter der Bundesverfassung ist die ihnen obliegende Ausübung der staatlichen Befugnisse im eigenen Wirkungsbereich. Dabei behalten die Länder subsidiäre Allzuständigkeit: Sie erfüllen die staatlichen Aufgaben, soweit die Bundesverfassung dies dem Oberstaat ausdrücklich nicht überträgt (Art. 30 i. V. m. Art. 70 I und 83 GG; Art. 15 I B-VG). Die Staatlichkeit der Gliedstaaten ist aber nicht eine bloße Vielfalt der einzelnen Aufgaben, sondern die Einheit der hoheitlichen Rechte (d. h. der Zuständigkeitsbereich). Im Bereich ihrer jeweiligen Kompetenzen sind die Länder berechtigt, rechtliche Regelungen ohne Zustimmung sowohl der Rechtsunterworfenen als auch des übergeordneten Rechtssubjektes (also des Oberstaates) verbindlich zu erlassen (d. h. die Gesetzgebungsautonomie, ausführlicher dazu s. u. ! S. 356).268 Die Staatlichkeit wird allerdings nicht allein mit dem kompetenzrechtlichen Aspekt vorherbestimmt. In der Abgrenzung der Kompetenzen zwischen Oberstaat und Gliedstaaten – die das deutsche BVerfG als nebeneinanderstehende Verfassungsräume des Bundes und der Länder bezeichnet269 – kommt die Staatlichkeit der Länder zum Tragen; das ist aber nur die Folge, nicht die Ursache. Diese erklärt das Wesen der Eigenstaatlichkeit der bundesstaatlichen Glieder nicht. Hier kann man dann eine Überprüfung nach dem klassischen Schema der sog. Drei-Elemente-Lehre durchführen, wonach das Staatsgebiet, das Staatsvolk und die Staatsgewalt die konstitutiven Elemente jeglicher Staatlichkeit bilden. Im Rahmen der vorliegenden Arbeit soll auf die zwei letztgenannten Elemente im Detail eingegangen werden. Wenn im Bundesstaat von einer doppelten Staatlichkeit die Rede ist, so kann man daraus vermuten, dass jedes Glied des Bundesstaates – sowohl der Gesamtstaat als auch die Gliedstaaten – durch den Willen eines einzelnen Volkes kreiert ist. Die 267 Vgl. Bußjäger, Peter, Homogenität und Differenz. Zur Theorie der Aufgabenverteilung zwischen Bund und Ländern in Österreich, Wien 2006, S. 1 f.; Isensee, in: HStRVI, 2008, § 126 Rn. 66, 68; Dittmann, in: HStR VI, 2008, § 127 Rn. 11. 268 Vgl. Maunz, in: HStR IV, 1990, § 94 Rn. 3; Isensee, in: HStR VI, 2008, § 126 Rn. 65, 121 f.; Dittmann, in: HStR VI, 2008, § 127 Rn. 9. 269 Vgl. BVerfGE 4, 178, 189; 103, 332, 350 f.
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Kap. IV: Die Wiedererrichtung der Bundesstaatlichkeit
moderne Bundesstaatslehre in Deutschland und Österreich geht überwiegend davon aus, dass es sich im Bundesstaat um dasselbe gesamtstaatliche Volk handelt, das in beiden Organisationen – also den Staatsorganisationen des Bundes und der Länder – verkörpert wird. Es gibt kein eigenes Landesvolk, das neben dem Bundesvolk stünde; es gibt ein einziges Staatsvolk (deutsches bzw. österreichisches), das zweifach zum Staat (Bundesstaat) organisiert wird. Der Begriff eines Landesvolkes kann man nur in einem metaphorischen Sinne als Zugehörigkeit eines Teils der Bevölkerung zu einem bestimmten Territorium verwendet werden. Juristisch gesehen geht es hier auch nicht um ein gesondertes Teilvolk im Sinne der Rechtslehre Kelsens, sondern um einen integralen Volksteil in räumlich und gegenständlich begrenzter Hinsicht (als Inbegriff aller auf dem Territorium des jeweiligen Bundeslandes wohnhaften deutschen bzw. österreichischen Staatsbürger).270 Die Beurteilung der Rechtsnatur des weiteren die Staatlichkeit der Länder definierenden Elements – der Staatsgewalt – findet in der gegenwärtigen Bundesstaatslehre keine Einhelligkeit der Lehrmeinungen und soll daher im Folgenden ausführlicher betrachtet werden. b) Staatsgewalt und Verfassungsautonomie der Länder Aus der Staatlichkeit der Länder folgt, dass ihnen eine eigenständige Staatsgewalt zusteht. So ist die ganz überwiegende Meinung in der deutschen Fachliteratur sowie der Rechtsprechung des BVerfG: Die Länder als Glieder des Bundesstaates sind mit eigener, nicht vom Bund abgeleiteter, sondern von ihm anerkannten und originären Hoheitsgewalt ausgestattet. Innerhalb ihrer Kompetenzbereiche üben die Länder die ihnen zugekommene Staatsgewalt unabhängig vom Oberstaat aus. Mit anderen Worten sind sie Inhaber der „konstitutionellen Eigenständigkeit“, welche durch die Ausübung der originären Staatsgewalt ihre verfassungsrechtliche Existenz und Rechtspersönlichkeit gewährleistet.271 Eine andere Auffassung steht in Widerspruch zum oben beschriebenen staatsrechtlichen Dogma. Laut dieser abweichenden Auffassung ist in einem Bundesstaat die Staatsgewalt mehreren selbständigen Trägern (d. h. dem Oberstaat und den Gliedstaaten) überantwortet, die über komplementäre Teile dieser Staatsgewalt
270
Vgl. Isensee, in: HStR VI, 2008, § 126 Rn. 47, 64; Dittmann, in: HStR VI, 2008, § 127 Rn. 17. 271 Vgl. BVerfGE 1, 14, 24; 9, 268, 279; 24, 367, 390; 60, 175, 207; Tettinger, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG II, 4. Aufl. 2000, Art. 28 Rn. 21; Isensee, in: HStR VI, 2008, § 126 Rn. 65; Dittmann, in: HStR VI, 2008, § 127 Rn. 9; Bartlsperger, Richard, Das Verfassungsrecht der Länder in der gesamtstaatlichen Verfassungsordnung, in: Isensee, Josef/Kirchhof, Paul (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Band VI: Bundesstaat, 3. Aufl., Heidelberg 2008, § 128 Rn. 42; Löwer, in: v. Münch/Kunig, GGK I, 6. Aufl. 2012, Art. 28 Rn. 2, 4; Kloepfer, Verfassungsrecht I, § 9 Rn. 84.
C. Gegenwärtige Tendenzen
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verfügen. Durch den Besitz einer derartigen „föderierten Staatsgewalt“ erkennt die Bundesverfassung den Staatscharakter jeweils Bund und Ländern zu.272 Die Existenz eines jeglichen Staates soll durch das Recht ausgeformt werden. Demnach ist die Beurteilung der Rechtsnatur der die Staatlichkeit konstituierenden Elemente (des Volkes und der Gewalt) wichtig. Wenn von einer handlungsfähigen Entität die Rede ist, muss diese über die Fähigkeit verfügen, sich selbst auf rechtliche Weise zu gestalten. Das Recht, für sich selbst Regeln zu setzen (Selbst-Rechtsetzung), heißt in der juristischen Fachliteratur „Autonomie“. Anders gesagt bedeutet Autonomie somit die rechtliche Gestaltungsfähigkeit, die einem Volk im Inneren eines Staates zukommt. Eine solche Regelsetzung kann allerdings den nach dem Grad der Eigenständigkeit unterschiedlichen Subjekten zugeordnet werden. Wenn ein Subjekt zur vollkommenen Selbst-Rechtsetzung berechtigt ist, welche allein auf die Selbstbestimmung des Volkes beruht, dann geht es um einen Staat im völkerrechtlichen Sinne und diese uneingeschränkte Regelsetzung heißt Souveränität. Wenn ein sich selbst verwaltendes Subjekt in einen Staat im völkerrechtlichen Sinne eigeordnet ist, ist seine rechtliche Gestaltungsfähigkeit auf unterschiedliche Weise zu beurteilen. Es kann sich sowohl um die Autonomie als auch um eine Art der Selbstverwaltung handeln. Aus der letztgenannten Fähigkeit ergibt sich, dass dieses Subjekt bloß einen Selbstverwaltungskörper (bspw. eine Kommune) nach Maßgabe der staatlichen Verfassung bildet. Eine Teileinheit des Bundesstaates ist einerseits definitiv kein Selbstverwaltungskörper. Sie ist aber andererseits kein Staat im Sinne des Völkerrechts. Worin besteht dann der Sinn einer derartigen gliedstaatlichen Autonomie und wie lässt sich diese von der bloßen Selbstverwaltung abgrenzen?273 Der grundlegende Unterschied zwischen der Autonomie der Gliedstaaten und anderen staatsrechtlichen Existenzweisen besteht darin, dass die bundesstaatlichen Glieder befugt sind, sich selbst Verfassungen zu geben. Diese Selbstgestaltungsbefugnis wird als Verfassungsautonomie (oder Verfassungshoheit274) bezeichnet. Aus der doppelten Staatlichkeit des Bundesstaates im Sinne der Staatenstaatstheorie folgt, dass sowohl der Gesamtstaat als auch seine Gliedstaaten ihre je eigene, von ihnen selbst bestimmte Verfassung besitzen. Die Verfassungsautonomie der Länder ist mit dem Bundesstaatsprinzip unmittelbar verknüpft. Die Frage nach dem Wesen und den Wirkungsmöglichkeiten dieser Verfassungsautonomie bildet den Prüfstein der gesamten umfassenden Problemstellung der Staatlichkeit der Länder.275
272
Vgl. Isensee, in: HStR VI, 2008, § 126 Rn. 15, 64. Vgl. Bußjäger, Homogenität und Differenz, S. 2; Gamper, Staat und Verfassung, S. 77 f.; Löwer, in: v. Münch/Kunig, GGK I, 6. Aufl. 2012, Art. 28 Rn. 5. 274 Zur terminologischen Diskussion vgl. Kersten, DÖV 1993, S. 896 (besonders Fn. 9), Tettinger, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG II, 4. Aufl. 2000, Art. 28 Rn. 3 (auch Fn. 8 f.); Löwer, in: v. Münch/Kunig, GGK I, 6. Aufl. 2012, Art. 28 Rn. 5 (auch Fn. 36). 275 Vgl. Tettinger, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG II, 4. Aufl. 2000, Art. 28 Rn. 3; Möstl, AöR 2005, S. 358; Dittmann, in: HStR VI, 2008, § 127 Rn. 1, 10; Nierhaus, in: Sachs, Grundgesetz, 7. Aufl. 2014, Art. 28 Rn. 1; VfSlg 16241/2001; Novak, Richard, in: Korinek, 273
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Kap. IV: Die Wiedererrichtung der Bundesstaatlichkeit
In der Verfassungsautonomie, also im Recht der Gliedstaaten auf eigene Verfassungsgebung, findet die Staatlichkeit ihren wichtigsten Ausdruck. „Die Verfassungsautonomie ist Ausweis der Staatlichkeit“, lautet ein häufig genanntes Dogma der deutschen Bundesstaatslehre.276 Es darf aber nicht verwirren, dass die Verfassungsgebung Staatlichkeit zur Voraussetzung hat. Verfassungsautonomie und Staatlichkeit der Länder sind „reziproke Größen“, sie stehen in enger Symbiose zueinander.277 Die Verfassungsautonomie bedeutet für die Gliedstaaten konstitutionelle Selbstbestimmung und Gestaltungsfreiheit ihres Verfassungsraums. Ihre normative Anerkennung findet sich in der Bundesverfassung: Sowohl das bundesdeutsche GG (Art. 28 I i. V. m. Art. 30 und 70 I) als auch das österreichische B-VG (Art. 99 I i. V. m. Art. 2) setzten das Recht der Länder auf eigene Verfassungsgebung voraus. Diese Verfassungsautonomie der deutschen und österreichischen Länder wird von den entsprechenden bundesverfassungsrechtlichen sog. Ewigkeitsregeln (Art. 79 III GG; Art. 44 III B-VG) umfasst.278 Dagegen herrscht in der österreichischen Bundesstaatslehre (und teilweise auch in der deutschen Fachliteratur) die Auffassung, dass die Verfassungsautonomie der Länder im Verständnis des österreichischen B-VG kein Ausdruck der Staatlichkeit der Länder sei, sondern die Zuständigkeit zur Gesetzgebung (Gesetzgebungsautonomie) darstelle, die die Gliedstaaten von Selbstverwaltungskörpern unterscheide.279 Diese Auffassung ist durch die nationalhistorischen und verfassungsrechtlichen Besonderheiten (! S. 213 ff., 302 ff.) bedingt, scheint aber grundsätzlich unzutreffend zu sein. Die Verfassungsautonomie der Gliedstaaten als deren rechtliche Gestaltungsfähigkeit setzt die Befugnis zur Erlassung einer Vollverfassung voraus. Karl (Hrsg.), Österreichisches Bundesverfassungsrecht. Textsammlung und Kommentar, Wien u. a. 1999, B-VG, Art. 99 Rn. 3. 276 Vgl. Isensee, in: HStRVI, 2008, § 126 Rn. 80; Dittmann, in: HStRVI, 2008, § 127 Rn. 1; Pützer, Hanns-Jakob, Landesorganisationshoheit als Schranke der Bundeskompetenzen. Ein Beitrag zum Kompetenzsystem des Bundesstaates, dargestellt am Beispiel der Fusionskontrolle über Landes- und Kommunalunternehmen, Frankfurt a. M. u. a. 1987, S. 329 (auch Fn. 22); Storr, Verfassunggebung, S. 170; Tettinger, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG II, 4. Aufl. 2000, Art. 28 Rn. 21. 277 Vgl. Storr, Verfassunggebung, S. 166 Fn. 488; Isensee, in: HStR VI, 2008, § 126 Rn. 80; Dittmann, in: HStR VI, 2008, § 127 Rn. 10; Novak, in: Korinek, Bundesverfassungsrecht, BVG, Art. 99 Rn. 6. 278 Vgl. BVerfGE 90, 60, 84 f.; 102, 224, 234 f.; VfSlg 16241/2001; Kersten, DÖV 1993, S. 898; Pützer, Landesorganisationshoheit, S. 329 f., 340 (besonders Fn. 53 und auch Fn. 54); Isensee, in: HStR VI, 2008, § 126 Rn. 80; Mehde, Veith, in: Maunz, Theodor/Dürig, Günter (Hrsg.), Grundgesetz, Kommentar, Band IV: Art. 23 – 53a, München 2017, Art. 28 Rn. 48 (Lfg. September 2017). 279 Vgl. Pesendorfer, Wolfgang, in: Kneihs, Benjamin/Lienbacher, Georg (Hrsg.), RillSchäffer-Kommentar Bundesverfassungsrecht, Wien 2001, Art. 99 S. 21; Gamper, Staat und Verfassung, S. 99; Pützer, Landesorganisationshoheit, S. 340 (Fn. 54) mit Verweis auf Hesse, Konrad, Bundesstaatsreform und Grenzen der Verfassungsänderung, in: Archiv des öffentlichen Rechts, 1973, H. 98, S. 17 f.
C. Gegenwärtige Tendenzen
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Diese Verfassungshoheit ist in erster Linie als eine in den Verfassungsnormen gesetzte Zusammenfassung von Grundsätzen über die Staatsform, den organisatorischen Aufbau, die Gestaltung des politischen, rechtlichen, sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Staatslebens und die Ausübung der Staatsmacht zu betrachten. Die Verfassungsautonomie der Länder darf nicht zu einer bloßen Gesetzgebung unter der Bundesverfassung (wie es in den hochdezentralisierten Selbstverwaltungskörpern eines Einheitsstaates der Fall ist) ausarten.280 Die Verfassungsautonomie ist mehr als eine besondere Form der Gesetzgebungskompetenz. Die Erlassung der Verfassung sowie weiterer Verfassungsgesetze stellt einen Akt der Verfassungsgebung, also der Ausübung der verfassungsgebenden Gewalt dar. In einem echten Bundesstaat erhält der Bund überhaupt keine Kompetenz, eine Landesverfassung zu erlassen, auch nicht im Wege der Ersatzvornahme durch Verfassungsoktroi. Die Landesverfassung geht allein aus dem politischen Willen des jeweiligen Gliedstaates hervor. In diesem Sinne ist die Hoheitsgewalt der Gliedstaaten – anders als die Gewalt der Selbstverwaltungskörper – als eine ursprüngliche und originäre Staatsgewalt mit der Fähigkeit zu charakterisieren, eine Vollverfassung für das Land zu geben (verfassungsgebende Gewalt), welche diese Staatsgewalt legitimiert und zugleich begrenzt.281 Die Legitimationsgrundlage dieser verfassungsgebenden Staatsgewalt der Gliedstaaten besteht im Träger der Gliedstaatlichkeit – im Landesvolk. Allein das Landesvolk ist berechtigt, sich selbst eine Verfassung zu geben, welche seine staatliche Ordnung, ihre Ziele und Grenzen in rechtlicher Form bestimmt. Es ist der Ursprung der verfassungsgebenden Gewalt und ist dazu befugt, die Staatsgewalt auszuüben. Diese Fähigkeit des Landesvolkes folgt aus dem inneren Selbstbestimmungsrecht, das jedem Volk zusteht.282 Man darf aber nicht vergessen, dass die Staatlichkeit der bundesstaatlichen Glieder nicht im Sinne der Allgemeinen Staatslehre und des Völkerrechts zu betrachten ist. Die Gliedstaaten bilden keine Staaten mit völkerrechtlicher Unabhängigkeit und uneingeschränkter Souveränität, sie sind Glieder eines Gesamtstaates mit bundesstaatlicher Organisationsform. Gleichermaßen betrifft dies auch das Landesvolk: Es ist kein Volk im Sinne des Völkerrechts, dem das Selbstbestimmungsrecht zusteht, sondern ein integrierter Teil des gesamten Staatsvolkes des Bundesstaates. In diesem Zusammenhang ist die verfassungsgebende Gewalt des Landesvolkes mit dem ungebundenen und ursprünglichen pouvoir constituant eines souveränen Staates nicht identisch. Diese Gewalt in einem Gliedstaat wird jedoch nicht mit einer abgeleiteten Befugnis zur Selbstverwaltung gleichgesetzt. Die verfassungsgebende Gewalt der Gliedstaaten ist vielmehr eine Gewalt sui generis oder ein 280
Vgl. Maunz, in: HStR IV, 1990, § 94 Rn. 25; Möstl, AöR 2005, S. 373. Vgl. Isensee, in: HStR VI, 2008, § 126 Rn. 80; Storr, Verfassunggebung, S. 175; Kloepfer, Verfassungsrecht I, § 9 Rn. 246. 282 Vgl. Maunz, in: HStR IV, 1990, § 94 Rn. 25; Isensee, in: HStR VI, 2008, § 126 Rn. 80; Storr, Verfassunggebung, S. 170; Gamper, Staat und Verfassung, S. 101. 281
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Kap. IV: Die Wiedererrichtung der Bundesstaatlichkeit
pouvoir constitué, also eine verfasste Gewalt, die einige Eigenschaften des pouvoir constituant aufweist, aber auch wegen der Gliedstaatlichkeit der Länder und damit ihrer Abhängigkeit von der Bundesverfassung mit abgeleiteter Gewalt vergleichbar ist. Eben dieser verfassungsgebenden Gewalt sui generis (pouvoir constitué) entspricht der Begriff der gliedstaatlichen Verfassungsautonomie.283 Der Träger der verfassungsgebenden Gewalt im jeweiligen Gliedstaat ist das Landesvolk, die Verfassungsautonomie beruht daher allein auf seinem Willen. Dem pouvoir constituant charakteristische Merkmale, wie seine Ursprünglichkeit, rechtliche Ungebundenheit, Unteilbarkeit, Unveräußerlichkeit sowie sein permanentes Vorhandensein stehen gewissermaßen der verfassungsgebenden Gewalt der Gliedstaaten zu. Das Landesvolk kann jedoch die Grundentscheidung über die Form seiner politischen Existenz nicht souverän (also unabhängig vom gesamtstaatlichen Willen) treffen. Die Staatsqualität der Länder ist an die in der Bundesverfassung verankerte Bundesstaatlichkeit gebunden. Die mit der Gliedstaatlichkeit der Länder verbundene Verfassungsautonomie ist unveräußerlich, sie steht allein dem Landesvolk zu. Sie wird durch die Bundesverfassung nicht begründet oder bedingt, sondern vorausgesetzt und begrenzt. Die mit dem pouvoir constituant eines souveränen Staates gewissermaßen vergleichbare Verfassungshoheit der Gliedstaaten kann von vornherein nur nach Maßgabe der Bundesverfassung unbeschadet zugleich ihrer Ursprünglichkeit und Originalität aus dem Willen des Landesvolkes bestehen. Darin besteht eine der Anomien des Bundesstaates: Die Länder verfügen über die verfassungsgebende Gewalt, die als Folge ihrer Staatsqualität zwar originär und vom Bund anerkannt, aber als Folge ihrer Gliedstaatlichkeit rechtlich nicht ungebunden ist.284 c) Die Organisationshoheit der Gliedstaaten In die Verfassungsautonomie der Gliedstaaten ist auch das Recht auf Selbstorganisation eingeschlossen, das die Gliedstaaten damit befähigt, ihre Staatsorganisation selbständig im Rahmen ihrer eigenen Verfassungen festzulegen. Für die deutsche bzw. österreichische Bundesstaatslehre ist die Ableitung der Organisationshoheit der Bundesländer (ihrer Selbstorganisationsfähigkeit) aus dem Wesen des Bundesstaates traditionell und wurde auch durch die ständige Rechtsprechung der Verfassungsgerichte anerkannt. Die Staatsorganisation ist eine der unabdingbaren Voraussetzungen der staatlichen Selbstfindung und Selbstbestimmung des jeweiligen Landes. Die rechtliche Wirkungskraft der gliedstaatlichen Staatsorganisation
283
Vgl. Storr, Verfassunggebung, S. 166 f.; Menzel, Landesverfassungsrecht, S. 140 ff. Vgl. Storr, Verfassunggebung, S. 166 f.; Maunz, in: HStR IV, 1990, § 94 Rn. 27; Isensee, in: HStR VI, 2008, § 126 Rn. 83; Möstl, AöR 2005, S. 352, 366 f. (auch Fn. 106). 284
C. Gegenwärtige Tendenzen
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wird durch die Landesverfassung gewahrt, in diesem Sinne ist sie ein Organisationsstatut des Gliedstaates.285 Eine derartige verfassungsrechtliche „Grundausstattung“ des Landes setzt die Schaffung, die Kompetenz und das Verfahren der obersten Staatsorgane voraus. Wegen der doppelten Staatlichkeit im Bundesstaat (duplex regimen) haben sowohl der Oberstaat als auch die Gliedstaaten die Berechtigung zur selbständigen Ausstattung der eigenen Staatsorganisation. Die Staatsorgane der Länder verfügen – wie die Bundesorgane – über die Organsouveränität und handeln daher innerhalb der ihnen zustehenden Wirkungsbereiche rechtlich unabhängig von den Bundesorganen, jedoch unter Einhaltung nicht nur der Landes-, sondern auch der Bundesverfassung. Dies wird dadurch bedingt, dass das Recht der Gliedstaaten auf Selbstorganisation, wie auch die gliedstaatliche Verfassungsautonomie selbst, nicht schrankenlos und an die Forderungen der Bundesverfassung gebunden ist. Die Organisationshoheit der Gliedstaaten hängt vom Ausmaß ihrer Verfassungsautonomie ab, welches von der Gesamtverfassung des konkreten Bundesstaates vorgegeben wird. Abhängig von der Machtstellung der Gliedstaaten innerhalb des Gesamtstaates kann die Tragweite der Verfassungsautonomie der Länder und daher ihrer Organisationshoheit bemessen werden: Je zentralistischer das gesamte bundesstaatliche Gebilde eingerichtet wird, desto enger ist die Verfassungsautonomie, die sich auf eine bloße Wiedergabe oder Detaillierung der vorgegebenen bundesverfassungsrechtlichen Regelungen reduziert. Daraus folgt der Schluss, dass das Recht der Gliedstaaten auf Selbstorganisation schwächer ausgeprägt wird, wenn die Landesverfassungen stark an die Bundesverfassung gebunden und ihre Inhalte durch diese intensiv determiniert sind.286
285
Vgl. Pützer, Landesorganisationshoheit, S. 324, 334, 380 (mit Verweis auf Hohrmann, Friedrich, Bundesgesetzliche Organisation landesunmittelbarer Selbstverwaltungskörperschaften: Formen und Zulässigkeit ihrer Einschaltung in die Ausführung von Bundesgesetzen durch den Bundesgesetzgeber, Berlin 1967, S. 98); Nierhaus, in: Sachs, Grundgesetz, 7. Aufl. 2014, Art. 28 Rn. 1; Löwer, in: v. Münch/Kunig, GGK I, 6. Aufl. 2012, Art. 28 Rn. 2; Isensee, in: HStR VI, 2008, § 126 Rn. 123; Gamper, Staat und Verfassung, S. 78. 286 Vgl. Isensee, in: HStR VI, 2008, § 126 Rn. 67, 86; Maunz, in: HStR IV, 1990, § 94 Rn. 5; Tettinger, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG II, 4. Aufl. 2000, Art. 28 Rn. 25; Gamper, Staat und Verfassung, S. 99, 101.
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Kap. IV: Die Wiedererrichtung der Bundesstaatlichkeit
3. Das Erfordernis der strukturellen Übereistimmung der Bundes- und Landesorganisationen, seine normative Gestaltung und sein theoretischer Inhalt (das organisationsrechtliche Homogenitätsgebot) a) Das Wesen des strukturellen Homogenitätsgebotes als bundesverfassungsrechtliche Normativbestimmung Seinem Wesen nach ist ein Bundesstaat durch das Vorhandensein mehrerer selbständiger Verfassungsräume gekennzeichnet. Mehrere Akteure – der Gesamtstaat und die Gliedstaaten – üben innerhalb dieser Kompetenzräume die einheitliche Staatsgewalt unabhängig voneinander aus und geben sich eigene Verfassungen (als Ausdruck ihrer verfassungsgebenden Gewalt unterschiedlicher Art), die damit die essentielle rechtliche Grundlage ihres staatlichen Lebens bilden. In dieser Hinsicht prägt sich einerseits die föderale Vielfalt und Eigenstaatlichkeit der Länder, andererseits die bündische Einheit und die bundesstaatliche Geschlossenheit aus. Dieser Umstand birgt die Gefahr in sich, dass innerhalb des Bundesstaates politische und rechtliche Spannungen sowie innere Konflikte zwischen den Ebenen entstehen können. Diese unbeachtet zu lassen kann die zentrifugalen Kräfte innerhalb des Bundesstaates entstehen lassen und daher das Gemeinwesen gefährdende Funktionsstörungen verursachen.287 Die selbständigen Verfassungsräume des Gesamtstaates und der Gliedstaaten existieren nicht beziehungslos, sie sind an das Erfordernis der staatlichen Einheit des Gesamtkörpers gebunden. Nur mit den gegenseitigen Verbindungen der verschiedenen Ebenen des Bundesstaates kann seine Funktionsfähigkeit erreicht werden. Um eine reibungslose Ausübung der einheitlichen Staatsgewalt sowie einen erforderlichen kompetenziellen und institutionellen Funktionszusammenhang von Landesund Bundesverfassungsordnungen herzustellen und zu sichern, muss eine gewisse Gleichartigkeit (Übereinstimmung) zwischen Gesamtstaat und Gliedstaaten in ihren konstitutiven strukturellen Merkmalen gewährleistet werden. Dafür wird das Homogenitätsgebot in der Bundesverfassung verankert. In diesem Sinne kommt der bundesverfassungsrechtlichen Homogenitätsklausel eine verfassungsschützende und konfliktverhütende Funktion zu. Ein der innerstaatlichen Gleichartigkeit dienendes Homogenitätsgebot muss die organisatorisch-institutionellen und materiellfunktionellen Voraussetzungen für einen relativ konfliktlosen Bestand des Bundesstaates schaffen.288 287 Vgl. Roters, in: Münch, Ingo von (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Band 2 (Artikel 21 bis Artikel 69), 2. Aufl., München 1983, Art. 28 Rn. 3; Dreier, in: Dreier, GG-Kommentar II, 3. Aufl. 2015, Art. 28 Rn. 53; Tettinger, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG II, 4. Aufl. 2000, Art. 28 Rn. 10; Kersten, DÖV 1993, S. 896; Dittmann, in: HStR VI, 2008, § 127 Rn. 2. 288 Vgl. BVerfGE 90, 60, 84; Isensee, in: HStR VI, 2008, § 126 Rn. 15; Dittmann, in: HStR VI, 2008, § 127 Rn. 2; Kersten, DÖV 1993, S. 897; Ermacora, JBl 1957, S. 550; Roters, in: v. Münch, GGK II, 2. Aufl. 1983, Art. 28 Rn. 4; Dreier, in: Dreier, GG-Kommentar II, 3. Aufl.
C. Gegenwärtige Tendenzen
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Die Ambivalenz der Rechtsnatur des Bundesstaates kommt auch zum Vorschein im bundesstaatlichen Homogenitätserfordernis, das eine Doppelbedeutung hat. Zur Gewährleistung der Staats- und Rechtseinheit des Bundesstaates soll das Homogenitätsgebot zum einen die konstitutionelle Gestaltungsfreiheit der Gliedstaaten an die Gesamtordnung nicht ungebunden lassen. Daher ist es die Aufgabe des Bundes, die Homogenität von Bundes- und Landesverfassungsordnungen rechtlich zu sichern. Ein solches Bedürfnis nach innerstaatlicher Übereinstimmung besteht nur dann, wenn die homogenisierende Gesamtrechtsordnung (Gesamtstaat) von der grundsätzlichen Eigenständigkeit der von ihr zusammengefassten Teileinheiten (Gliedstaaten) ausgeht. Damit soll durch das bundesstaatliche Homogenitätsgebot zum anderen die Verfassungsautonomie der Bundesländer als wesentlicher Bestandteil ihrer Staatlichkeit anerkannt und garantiert werden. In diesem Sinne ist die Verfassungsautonomie der Gliedstaaten insoweit durch den Gesamtstaat eingeschränkt, als dass die Funktionsfähigkeit des Bundesstaates auf rechtlichem Wege zu sichern ist, ohne zugleich das auf historische und regionale Gegebenheiten stützende Staatsleben der Länder aufzuheben.289 Da der Bund die Aufgabe zur Gewährleistung der innerstaatlichen Systemharmonie übernimmt, sind die entsprechenden Homogenitätsvorgaben in der Bundesverfassung als Grundstatut des Gesamtstaates zu verorten. Das Prinzip der innerstaatlichen Gleichartigkeit (Homogenität) ist in Gestalt eines normativen Homogenitätsgebotes verankert, welches somit beweist, dass sich die Bundes- und Landesverfassungsordnungen nicht in einem beziehungslosen Nebeneinander befinden sollen. In der deutschen und österreichischen Theorie und Praxis wird das bundesstaatliche Homogenitätsgebot einhellig als sog. Normativbestimmung betrachtet. Solche homogenisierenden Normativbestimmung sind in Deutschland Regeln des Art. 28 I, III GG und in Österreich Vorschriften des 4. Hauptstücks des B-VG (Art. 95 ff., v. a. Art. 99 I). Soweit die Bundesverfassung derartige Vorschriften vorgibt, wird die Selbstgestaltungsfähigkeit der Länder eingeschränkt und an die bundesverfassungsrechtlichen Vorgaben gebunden.290 Aus dem Begriff „Normativbestimmung“ kann man unumstritten ableiten, dass das bundesstaatliche Homogenitätsgebot in einer normativen Form verankert werden muss. Sowohl das bundesdeutsche GG als auch das österreichische B-VG sehen entsprechende homogenitätstragende Normen vor. Wie soll aber dieses Homogenitätsgebot als Normativbestimmung ausgestaltet werden? In Anlehnung an die frühere Bundesstaatslehre der Weimarer Zeit und teilweise die Praxis des BVerfG sieht die moderne deutsche Bundesstaatslehre in den Normativbestimmungen ge2015, Art. 28 Rn. 58; Tettinger, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG II, 4. Aufl. 2000, Art. 28 Rn. 10; Mehde, in: Maunz/Durig, GG IV, Art. 28 Rn. 48 (Lfg. September 2017). 289 Vgl. Nierhaus, in: Sachs, Grundgesetz, 7. Aufl. 2014, Art. 28 Rn. 7; Maunz, in: HStR IV, 1990, § 94 Rn. 5; Pützer, Landesorganisationshoheit, S. 334; Menzel, Landesverfassungsrecht, S. 253; Dittmann, in: HStR VI, 2008, § 127 Rn. 2, 10. 290 Vgl. Isensee, in: HStRVI, 2008, § 126 Rn. 80; Dittmann, in: HStRVI, 2008, § 127 Rn. 2; BVerfGE 96, 345, 368 f.; Menzel, Landesverfassungsrecht, S. 243.
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Kap. IV: Die Wiedererrichtung der Bundesstaatlichkeit
wisse „Rahmenbedingungen“ oder „Richtlinien“ für die Verfassungsautonomie der Länder. Damit handelt es sich um die bundesverfassungsrechtlichen Rahmen für die Länder, mit derer Hilfe der Gesamtstaat nicht so sehr die Bandbreite der Gestaltungsfreiheit der Länder bestimmt, sondern ein positives Verhalten der Länder voraussetzt und diese zu eigener bundesverfassungsmäßiger Regelungstätigkeit auffordert. Das normativ verankerte Homogenitätsgebot stellt einerseits eine unabdingbare Existenzvoraussetzung für das Bundesstaatsverhältnis und andererseits eine Grundlage für die bundesverfassungsmäßige Verfassungsgebung der Gliedstaaten dar. Aus dem bundesstaatlichen Homogenitätsgebot wird die Verpflichtung der Länder zur Einhaltung der in der Bundesverfassung festgelegten Vorgaben, innerhalb derer die Länder einen selbständigen Gestaltungsraum haben, abgeleitet. Kommen die Gliedstaaten ihrer Homogenitätsverpflichtung nicht nach, so ist der Bund berechtigt, die zulässigen Zwangsmittel einzusetzen, um die innerstaatliche Gleichartigkeit wiederherzustellen.291 In diesem Sinne fungiert das bundesstaatliche Homogenitätsgebot nach der deutschen Bundesstaatslehre in normativer Hinsicht als eine Kollisionsregel, die eine reibungslose Relation der Landesstaatsorganisation mit der gesamtstaatlichen Ordnung gewährleisten und etwaige Auseinandersetzungen zwischen den öffentlichrechtlichen Ebenen vermeiden soll. Die Einschränkung der Verfassungsautonomie der Länder im Wege der Feststellung der lockeren „Rahmenbestimmungen“ oder allgemeinen „Richtlinien“ führt dazu, dass dieses Homogenitätsgebot im Grunde „substanzschwach“ ist. Sein Wesen wird darauf zurückgeführt, dass die Grundausstattung der Ausübung der Landesstaatsgewalt auf eine Weise durchgeführt werden soll, die in keinem die Einheit der gegliederten Bundesstaatlichkeit gefährdenden Verhältnis zu den die Bundesverfassung tragenden Prinzipien stehen würde. Man kann daher die innerstaatliche Homogenitätsklausel nicht allein als eine bloß normative Bewältigung von Kollisionen zwischen den Rechtsordnungen innerhalb des Bundesstaates, sondern vielmehr als ein Teilmechanismus des gesamtstaatlichen Integrationsstrebens betrachten.292 Anders sieht die Homogenitätsklammern die österreichische Bundesstaatslehre an. Nach herrschender Meinung umfasst diese Kategorie nicht nur die Kollisionsregel (wie bspw. Art. 99 I B-VG), sondern auch jene Bestimmungen, die materiell-, kompetenz- und verfahrensrechtliche Homogenitätsanforderungen enthalten.293 291
Vgl. Menzel, Landesverfassungsrecht, S. 243 f.; Storr, Verfassunggebung, S. 170, 193 f., 198; Nierhaus, in: Sachs, Grundgesetz, 7. Aufl. 2014, Art. 28 Rn. 7; Tettinger, in: v. Mangoldt/ Klein/Starck, GG II, 4. Aufl. 2000, Art. 28 Rn. 13; Löwer, in: v. Münch/Kunig, GGK I, 6. Aufl. 2012, Art. 28 Rn. 12, 124; Dittmann, in: HStR VI, 2008, § 127 Rn. 27; Roters, in: v. Münch, GGK II, 2. Aufl. 1983, Art. 28 Rn. 12. 292 Vgl. Menzel, Landesverfassungsrecht, S. 242; Maunz, Theodor, Verfassungshomogenität von Bund und Ländern, in: Isensee, Josef/Kirchhof, Paul (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Band IV: Finanzverfassung – Bundesstaatliche Ordnung, Heidelberg 1990, § 95 Rn. 2; Storr, Verfassunggebung, S. 172. 293 Vgl. Gamper, ÖJZ 2003, S. 442.
C. Gegenwärtige Tendenzen
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Dieses „komplexe Homogenitätsgebot“ im österreichischen Verfassungsrecht hat einen langen Entstehungsgang (! S. 218 ff., 246 ff., 306 ff., 327 ff.). Sowohl in der deutschen als auch der österreichischen Bundesstaatslehre gilt das bundesstaatliche Homogenitätsgebot als Maßstab für sämtliche Landesverfassungsordnungen innerhalb des Gesamtstaates. Die Bundesverfassung setzt im Homogenitätsgebot als Normativbestimmung gewisse Grenzen der gliedstaatlichen Verfassungsautonomie voraus, außerhalb derer es den Ländern überlassen bleibt, in welcher Weise sie den eigenen Gestaltungsspielraum nutzen würden.294 Fraglich ist daher, was die rechtlichen Auswirkungen der in der Bundesverfassung bestimmten inhaltlichen Schranken der Landesverfassungsautonomie auf das Verfassungsrecht der Gliedstaaten sind. b) Die Rechtswirkungen des strukturellen Homogenitätsgebotes als Bestandteil- oder Durchgriffsnorm Wirkt das bundesstaatliche Homogenitätsgebot als eine bundesverfassungsrechtliche Kollisionsregel, ergibt sich demnach die Frage nach seinen rechtstechnischen Wirkungen in einem Kollisionsfall, wenn die verfassungsmäßige Ordnung im Gliedstaat mit den Homogenitätsvorgaben der Bundesverfassung nicht übereinstimmt. In seiner schwankenden Rechtsprechung sieht das deutsche BVerfG im Homogenitätsgebot des Art. 28 I GG eine Bestimmung, die in sich Eigenschaften sowohl einer sog. Bestandteilnorm als auch einer sog. Durchgriffsnorm vereint. Im bundesdeutschen GG gibt es Bestimmungen, die zugleich und unmittelbar als Bestandteilnormen in die Landesverfassungen hineinwirken: Die in der Bundesverfassung festgelegten allgemeinen verfassungsrechtlichen Grundsätze setzen als ungeschriebene Bestandteile auch die Landesverfassungen voraus. Unter den Durchgriffsnormen versteht man diejenigen Vorschriften des GG, die die Landesstaatsgewalt unmittelbar, d. h. ohne Transformationsakt, binden und anders als Normativbestimmungen den Ländern keine Umsetzungsvariationen lassen. In diesem Sinne bildet die bundesstaatliche Homogenitätsklausel eine Zwischenkategorie, indem sie zwar ohne explizite „Durchgriffswirkung“, aber als ein bundesverfassungsrechtlicher Bestandteil unmittelbar in die Landesverfassungen hineinwirken kann.295 In Teilen der deutschen Fachliteratur anerkannt,296 wurde herrschender Ansicht nach diese Konstruktion des Homogenitätsgebotes abgelehnt. Nach anderer Auffassung soll die Homogenitätsklausel nicht unmittelbar innerhalb der Landesver294 Vgl. Menzel, Landesverfassungsrecht, S. 245; Dittmann, in: HStR VI, 2008, § 127 Rn. 27; Kloepfer, Verfassungsrecht I, § 9 Rn. 96. 295 Vgl. BVerfGE 1, 208, 223; Nierhaus, in: Sachs, Grundgesetz, 7. Aufl. 2014, Art. 28 Rn. 4 f., 28 f.; Tettinger, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG II, 4. Aufl. 2000, Art. 28 Rn. 31; Dittmann, in: HStR VI, 2008, § 127 Rn. 25. 296 Vgl. z. B. Bartlsperger, in: HStR VI, 2008, § 128 Rn. 39 f.
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Kap. IV: Die Wiedererrichtung der Bundesstaatlichkeit
fassungsordnungen wirken. Dies liefe v. a. der vom BVerfG vertretenen Idee von den getrennten Verfassungsräumen des Bundes und der Länder zuwider und führe zu einer Verkehrung des Wesens des bundesstaatlichen Homogenitätsgedankens.297 Selbst das deutsche BVerfG bestätigt diese theoretische Auffassung in einer seinen späteren Entscheidungen: „Da die Länder im Rahmen ihrer Bindung an die Grundsätze des Art. 28 Abs. 1 GG im staatsorganisatorischen Bereich Autonomie genießen, müssen ihre staatsorganisatorischen Entscheidungen möglichst unangetastet bleiben und Eingriffe in ihren Verfassungsraum auf das geringstmögliche Maß beschränkt werden“298 (Hervorh. durch den Verf.). Das bundesstaatliche Homogenitätsgebot als Normativbestimmung hat Rahmencharakter. Die Rechtsgeltung der Rahmenbestimmungen des Art. 28 I GG bewirkt nicht, dass deren Inhalt unmittelbar Landesverfassungsrecht wird. Aufgrund der grundgesetzlichen Homogenitätsklausel ist das widersprechende Landesverfassungsrecht außer Kraft zu setzen; die Bundesverfassung darf aber keine positivrechtlichen Befehle geben, schafft also in diesem Fall nicht neues Landesverfassungsrecht. Darin besteht der grundsätzliche Unterschied des Homogenitätsgebotes zu den bundesverfassungsrechtlichen Durchgriffsnormen, dass es nicht unmittelbar in den Gliedstaaten verbindlich geltendes Verfassungsrecht setzt.299 Das Homogenitätsgebot als eine Rahmenbestimmung wird ebenfalls nicht Bestandteil des Landesverfassungsrechts, sondern bleibt Bundesverfassungsrecht. Art. 28 I GG gibt nur die strukturellen Impulse für das Landesverfassungsrecht; die Länder können innerhalb der ihnen zustehenden Verfassungshoheit ihre eigene Staatsorganisation im Detail regeln. In diesem Sinne sieht das bundesstaatliche Homogenitätsgebot lediglich die Verpflichtung der Länder gegenüber dem Gesamtstaat zur Verwirklichung der bundesverfassungsrechtlich verankerten organisatorischen Vorgaben vor. Die Länder müssen diese Vorgaben beachten, ihnen wird aber im bundesstaatlichen Homogenitätsgebot eine „Anpassungsprärogative“ eingeräumt.300 Daraus ergibt sich dann das Problem, was genau unter diesen homogenitätsmäßigen Vorgaben verstanden werden soll.
297
Vgl. Tettinger, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG II, 4. Aufl. 2000, Art. 28 Rn. 32. BVerfGE 103, 111, 141. 299 Vgl. Pieroth, Bodo, in: Jarass, Hans D./Pieroth, Bodo (Hrsg.), Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Kommentar, 12. Aufl., München 2012, Art. 28 Rn. 1; Maunz, in: HStR IV, 1990, § 95 Rn. 1; Roters, in: v. Münch, GGK II, 2. Aufl. 1983, Art. 28 Rn. 12; Dreier, in: Dreier, GG-Kommentar II, 3. Aufl. 2015, Art. 28 Rn. 50; Löwer, in: v. Münch/Kunig, GGK I, 6. Aufl. 2012, Art. 28 Rn. 12; Dittmann, in: HStR VI, 2008, § 127 Rn. 27. 300 Vgl. Maunz, in: HStR IV, 1990, § 95 Rn. 1; Löwer, in: v. Münch/Kunig, GGK I, 6. Aufl. 2012, Art. 28 Rn. 12; Dittmann, in: HStR VI, 2008, § 127 Rn. 27; Menzel, Landesverfassungsrecht, S. 245; Nierhaus, in: Sachs, Grundgesetz, 7. Aufl. 2014, Art. 28 Rn. 29. 298
C. Gegenwärtige Tendenzen
365
c) Der Umfang des strukturellen Homogenitätsgebotes (Bindung an Grundsätze oder konkrete Vorschriften) Als Gliedstaaten genießen die Bundesländer Verfassungsautonomie und können sich daher selbst Verfassungen geben. Die konstitutionelle Substanz der Landesverfassungen steht allerdings unter der Bedingung der Bindung an die Bundesverfassung, besser gesagt an die bundesverfassungsrechtliche Homogenitätsforderung.301 Die Intensität des bundesstaatlichen Homogenitätsgebotes, welches die Maßstäbe für die verfassungsmäßigen Ordnungen im Allgemeinen und die Staatsorganisationen der Länder im Einzelnen setzt, kann in der Tat unterschiedlich sein. Die Homogenitätsklausel kann auf folgende Weisen normtechnisch ausgestaltet werden. Um die strukturelle Gleichartigkeit zwischen Ländern und Bund zu gewährleisten, kann die Bundesverfassung in Gestalt des normativen Homogenitätsgebotes die verfassungsmäßigen Ordnungen der Gliedstaaten entweder allein an die grundlegenden Prinzipien der Gesamtordnung, was eine Reduzierung der Homogenitätsanforderungen auf bestimmte Mindeststandards bedeutet, oder an diese zusammen mit den einzelnen bundesverfassungsrechtlichen Bestimmungen grundsätzlichen Charakters binden. Die beiden normtechnischen Optionen bergen gewisse Risiken in sich. Zum einen kann eine bloße Bindung der Verfassungsordnungen der Gliedstaaten an die allgemeinen Grundsätze der Gesamtordnung zu Problemen führen, dass beim Fehlen ausdrücklicher bundesverfassungsrechtlicher Bestimmungen ein etwaiger Widerspruch der Homogenitätsforderung in Gestalt bloß implizit verankerter bundesverfassungsrechtlicher Prinzipien ohne ihre normative Detaillierung schwer erkennbar sein könnte. Die zweite Option, wonach die Bundesverfassung nicht allein den Weg der Transformation der tragenden Bauprinzipien auf Landesverfassungsordnungen wählt, sondern die homogenitätsbedürftigen Fundamentalnormen mit unmittelbarer Wirkung auf die gliedstaatlichen Verfassungsordnungen artikuliert, kann dazu führen, dass durch eine insoweit bundeseinheitliche Klausel (Homogenitätsgebot als Inbegriff der konkretisierten übereinstimmungsbedürftigen Vorschriften) die Verfassungsautonomie und daher die Organisationshoheit der Gliedstaaten sehr eingeengt wird. Die Bundesrepublik Deutschland nutzte historisch bedingt die erste Regelungsoption, die Republik Österreich entschied sich aus rechtspolitischen Gründen für die zweite Alternative.302 Ohne eine Beachtung der konkreten Modalität der normtechnischen Ausgestaltung der bundesverfassungsrechtlichen Homogenitätsklausel liegt dem Erfordernis nach der innerstaatlichen strukturellen Übereinstimmung zwischen Bund und Ländern die Bindung der Gliedstaaten an die Prinzipien der Gesamtverfassungsordnung zugrunde. Jegliches bundesstaatliche Homogenitätsgebot setzt die aus den bundesverfassungsrechtlichen Bauprinzipien abgeleiteten Vorgaben für die verfas301
Vgl. Kersten, DÖV 1993, S. 896; Möstl, AöR 2005, S. 373. Vgl. Gamper, Staat und Verfassung, S. 99; dies., ÖJZ 2003, S. 442; Pützer, Landesorganisationshoheit, S. 335; Mehde, in: Maunz/Durig, GG IV, Art. 28 Rn. 47 (Lfg. September 2017). 302
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Kap. IV: Die Wiedererrichtung der Bundesstaatlichkeit
sungsmäßigen Ordnungen der Gliedstaaten voraus. In diesem Sinne stellt das bundesstaatliche Homogenitätsgebot ein Mindestmaß (Mindeststandard) an innerstaatlicher Übereinstimmung dar, welches durch die staatsfundamentalen Grundsätze der Gesamtstaatsordnung gebildet wird. Damit wird im Vordergrund das Problem der Auslegung derartiger Grundsätze herausgestellt. Sei es eine enge oder eine weite Auslegung des Begriffs „Grundsatz“ im Allgemeinen und der konkreten Grundsätze der Bundesverfassung im Einzelnen – davon hängt die Bemessung des freien Gestaltungsspielraums der Gliedstaaten ab. Eine weite Auslegung birgt die Gefahr in sich, dass nicht nur die Grundsätze, sondern auch die aus diesen hergeleiteten konkreten Regeln den Verfassungsraum der Länder beeinflussen würden.303 Der Bund kann für die verfassungsmäßige Ordnung der Länder normativ nur den Maßstab setzen, welcher für ihn selbst eine unabdingbare Existenzgrundlage ist. Soweit es um die Bindung der Gliedstaaten an die verfassungsrechtlichen Grundsätze der Gesamtordnung geht, müssen sich die Länder bei der Gestaltung der eigenen Verfassungsräume an diejenigen Grundsätze halten, an die der Gesamtstaat selbst gebunden ist.304 In diesem Fall würde es sich um das bundesverfassungsrechtliche Homogenitätsgebot als Erfordernis der Gleichartigkeit der vertikalen Machtstrukturen und nicht um „Konformität oder Uniformität“ handeln. Aus einer „engen Interpretation“ des Art. 28 I GG durch das BVerfG folgt, dass das bundesstaatliche Homogenitätserfordernis allein auf die in diesem Absatz genannten Staatsstruktur- und Staatszielbestimmungen und innerhalb dieser wiederum auf die Einhaltung von Grundsätzen des „republikanischen, demokratischen und sozialen Rechtsstaates“ beschränkt ist. Der Sinn des grundgesetzlichen Homogenitätsgebotes besteht daher darin, dass die Staatsfundamentalentscheidungen der Länder in Übereinstimmung mit den für die Bundesstaatlichkeit substanziellen Grundsätzen stehen müssen. Durch eine derartige Homogenitätsforderung zieht die Bundesverfassung die Grenzen der Verfassungs- und Organisationshoheit der Bundesländer, derer Tragweite durch die Grundprinzipien der Gesamtordnung bestimmt wird. Innerhalb dieser Grenzen können die Gliedstaaten ihre verfassungsmäßigen Ordnungen frei gestalten.305 Art. 28 I GG fordert Gleichartigkeit im Prinzipiellen, nicht im Detail. Die konkreten Ausgestaltungen der oben genannten Grundsätze, die diese im deutschen GG in Bezug auf die Staatsorganisation des Bundes gefunden haben, sind für die Landesverfassungen nicht verbindlich. Die Bundesländer können in ihren Verfassungen 303 Vgl. BVerfGE 90, 60, 84; 103, 332, 349; Mehde, in: Maunz/Dürig, GG IV, Art. 28 Rn. 47 (Lfg. September 2017); Storr, Verfassunggebung, S. 194; Löwer, in: v. Münch/Kunig, GGK I, 6. Aufl. 2012, Art. 28 Rn. 9. 304 Vgl. Nierhaus, in: Sachs, Grundgesetz, 7. Aufl. 2014, Art. 28 Rn. 9; Dreier, in: Dreier, GG-Kommentar II, 3. Aufl. 2015, Art. 28 Rn. 53; Kloepfer, Verfassungsrecht I, § 9 Rn. 98. 305 Vgl. BVerfGE 90, 60, 84; 96, 345, 368 f.; 102, 224, 234; 103, 332, 349; Tettinger, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG II, 4. Aufl. 2000, Art. 28 Rn. 29; Löwer, in: v. Münch/Kunig, GGK I, 6. Aufl. 2012, Art. 28 Rn. 6; Pützer, Landesorganisationshoheit, S. 333; Dreier, in: Dreier, GG-Kommentar II, 3. Aufl. 2015, Art. 28 Rn. 62.
C. Gegenwärtige Tendenzen
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diese Grundsätze auf andere Weise konkretisieren oder profilieren: Sie sind an sämtliche Modalitäten der oberstaatlichen Organisation nicht gebunden.306 Was genau in diesen homogenitätstragenden Grundsätzen der Staatsstruktur- und Staatszielbestimmungen zustande kommen soll, ist in der deutschen und in geringerem Maße auch der österreichischen Fachliteratur sehr umstritten. Wie Michael Kloepfer diesbezüglich darauf hinweist, „[wird] [e]ine nüchterne Betrachtung vor allem dadurch erschwert, dass mit grundsätzlichen Argumenten für und wider die bundesstaatliche Ordnung und vor allem für und wider das erträgliche Maß an Divergenz zwischen den einzelnen Bundesländern regelmäßig auch verfassungspolitische Überlegungen ins Spiel kommen“.307 Das Problem der Inhaltsbestimmung dieser Grundsätze besteht eigentlich darin, dass hinsichtlich ihrer Auslegung die Bundesverfassung auf sich selbst zurückweist. Im Fall des bundesdeutschen GG werden die Anforderungen des Homogenitätsgebotes an die Ausgestaltung der verfassungsmäßigen Ordnungen der Länder innerhalb des Art. 28 I 1 in ein „Spannungsverhältnis“ von bloßen „Grundsätzen“ einerseits und dem Zusatz „im Sinne dieses Grundgesetzes“ andererseits gestellt. Fraglich daher ist, ob die Umsetzung der jeweiligen Grundsätze in die konkreten Regeln hinsichtlich der Gestaltung der Gesamtordnung auch für die Länder einen originären und verbindlichen Maßstab darstellt oder es in diesem Fall um die oberstaatlichen Ausgestaltungen geht, die kein zwingender Ausdruck dieser Grundsätze sind. Da es sich um Grundsätze als Typenbegriffe handelt, kann ihr Gehalt nur durch die konkretisierenden Ausführungsbestimmungen bestimmt werden.308 Wie weitgehend diese Grundsätze in normativer Hinsicht umgesetzt werden, ist allein die Entscheidung des nationalen Bundesverfassungsgebers. Die Ausführungsbestimmungen zu den jeweiligen Grundsätzen können in der Bundesverfassung minimal (wie bspw. Art. 28 I i. V. m. Art. 20 und 79 III GG) oder umgekehrt umfangreich (wie bspw. Art. 95 ff. i. V. m. Art. 1, 2, 15 I und 19 I B-VG) sein. Durch diese bundesverfassungsrechtliche Determinierung der Staatsstrukturprinzipien wird vorbestimmt, welches Ausmaß an Normierungsdichte der Gestaltungsfähigkeit den Ländern gelassen wird. Das Ziel dieser Herangehensweise ist die Verpflichtung der Gliedstaaten, die gesamtstaatlichen Staatsstrukturgrundsätze in den Landes-
306
Vgl. BVerfGE 90, 60, 84; 103, 332, 349; Tettinger, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG II, 4. Aufl. 2000, Art. 28 Rn. 29; Dreier, Horst, Einheit und Vielfalt der Verfassungsordnungen im Bundesstaat, in: Schmidt, Karsten (Hrsg.), Vielfalt des Rechts – Einheit der Rechtsordnung?, Hamburger Ringvorlesung, Berlin 1994, S. 122; ders., in: Dreier, GG-Kommentar II, 3. Aufl. 2015, Art. 28 Rn. 57; Dittmann, in: HStR VI, 2008, § 127 Rn. 12; Bartlsperger, in: HStR VI, 2008, § 128 Rn. 41; Pützer, Landesorganisationshoheit, S. 333; Mehde, in: Maunz/Dürig, GG IV, Art. 28 Rn. 47 (Lfg. September 2017). 307 Kloepfer, Verfassungsrecht I, § 9 Rn. 98. 308 Vgl. Dittmann, in: HStR VI, 2008, § 127 Rn. 12, 15; Mehde, in: Maunz/Dürig, GG IV, Art. 28 Rn. 47 (Lfg. September 2017); Storr, Verfassunggebung, S. 194.
368
Kap. IV: Die Wiedererrichtung der Bundesstaatlichkeit
verfassungen entsprechend den Vorstellungen der Bundesverfassung funktionsfähig umsetzen zu können.309 Das Maß der Bindung der gliedstaatlichen Verfassungsautonomie und Organisationshoheit an die bundesverfassungsrechtlichen Grundsätze kann unterschiedlich interpretiert werden. So vertreten einige Autoren die Auffassung, dass der Sinngehalt der Staatsstrukturprinzipien nicht allein aus den konkreten Vorschriften der Bundesverfassung über den jeweiligen Grundsatz (wie Art. 20 GG oder Art. 1 B-VG), sondern aus dem Gesamtkontext der Bundesverfassung zu erschließen ist. Im Fall Österreichs bedeutet dies, dass die jeweiligen Grundsätze ihre Ausprägung u. a. im 4. Hauptstück des B-VG (Art. 95 ff.) finden und entsprechend normativ ausgestaltet sind. Daher werden die Länder an die konkreten bundesverfassungsrechtlichen Ausdrücke gebunden. Enthält dieses 4. Hauptstück der Bundesverfassung keine normativen Einschränkungen für die Staatsgewalt der Bundesländer, so gibt es grundsätzlich keine Beschränkung und dem Landesverfassungsgeber wird damit freie Hand gelassen. In Deutschland stellt eine derartige Auslegung des Gehalts der in Art. 28 I 1 aufgelisteten Grundsätze eher eine Ausnahme denn eine Regel dar (s. o.). Die Staatsstrukturprinzipien des Homogenitätsgebotes des Art. 28 I GG stehen in einem Korrespondenzverhältnis zu den entsprechenden des Art. 20 GG. Das bundesstaatliche Homogenitätsgebot bewirkt u. a. die Sicherung der gliedstaatlichen Verfassungsautonomie durch ihren Vorrang innerhalb der Landesrechtsordnung. In diesem Sinne stellt Art. 28 I GG lex specialis zu Art. 20 GG dar, d. h., die Grundsätze des Art. 20 GG bleiben weiter gewahrt, ihre Artikulation und die Verantwortlichkeit für ihre Einhaltung werden aber durch Art. 28 I GG in den Rechtskreis der Bundesländer verwiesen. Daher sind die deutschen Länder bei der Gestaltung ihrer Staatssysteme nicht an das getreue Kopieren der grundgesetzlichen Muster gebunden.310 Die Umsetzung der bundesverfassungsrechtlichen Staatsstrukturprinzipien als Homogenitätsrahmen für die gliedstaatliche Verfassungsautonomie erfolgt in der Landesverfassungsgesetzgebung nicht durch eine bloße Verankerung dieser Prinzipien, sondern durch ihre normtechnische Ausgestaltung. Die Nichterwähnung der jeweiligen Grundsätze in der Landesverfassung bedeutet nicht, dass diese der konkreten Landesverfassungsordnung nicht zugrunde gelegt werden. Die Einhaltung der bundesverfassungsrechtlichen Staatsstrukturgrundsätze durch die Bundesländer kann mittelbar aus den konkreten organisationsrechtlichen Normen der Landesverfassung abgeleitet werden. Den Kern des strukturellen Homogenitätsgebotes in beiden Ländern bildet die Bindung der Staatsorganisation der Gliedstaaten an die demokratischen, republi309 Vgl. Storr, Verfassunggebung, S. 194; Löwer, in: v. Münch/Kunig, GGK I, 6. Aufl. 2012, Art. 28 Rn. 15. 310 Vgl. Tettinger, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG II, 4. Aufl. 2000, Art. 28 Rn. 38 f.; Pesendorfer, in: Rill-Schäffer-Kommentar Bundesverfassungsrecht, Art. 95 Rn. 3; Menzel, Landesverfassungsrecht, S. 247; Dittmann, in: HStR VI, 2008, § 127 Rn. 12.
C. Gegenwärtige Tendenzen
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kanischen und rechtsstaatlichen Grundsätze. Die beiden erstgenannten Prinzipien sind ausschließlich organisatorischer Natur, die Rechtsstaatlichkeit enthält sowohl materiell- als auch organisationsrechtliche Elemente.311 Mit der Bezugnahme auf den demokratischen Grundsatz werden die verfassungsmäßigen Ordnungen der Gliedstaaten zum allgemeinen Demokratieprinzip (Art. 20 I, II 1 GG; Art. 1 B-VG) verpflichtet. Wie auf Bundesebene geht die Staatsgewalt auch in den Ländern vom Volk aus und die Ausübung dieser Gewalt muss durch eine ununterbrochene Legitimationskette erfolgen. Diese bundesverfassungsrechtliche Grundentscheidung für die Volkssouveränität bindet die Länder im Rahmen des Homogenitätsgebotes an die demokratische Legitimation und Organisation der Staatsgewalt.312 Ein demokratischer Legitimationsbedarf betrifft nicht nur die Organe, sondern auch die Amtsträger: Einerseits ist für jeden Amtsträger, der Staatsgewalt im jeweiligen Land ausübt, eine persönliche demokratische Legitimation erforderlich (die sog. organisatorisch-personelle demokratische Legitimation), die entweder direkt vom Volk oder unmittelbar von seiner gewählten Vertretung vermittelt wird. Andererseits ist jeder Amtsträger für die Ausübung der Staatsgewalt gegenüber dem Volk verantwortlich (die sog. sachlich-inhaltliche demokratische Legitimation).313 In organisationsrechtlicher Hinsicht entfaltet sich das in der Bundesverfassung erwähnte allgemeine Demokratieprinzip u. a. in der Gewährleistung einer Volksvertretung, die aus demokratischen Wahlen hervorgeht (Art. 28 I 2 GG; Art. 95 BVG), der Einrichtung der obersten Vollzugsorgane (indirekt abgeleitet bspw. aus Art. 51 I, 93 I Nr. 2 GG; Art. 101 f., 105 B-VG) und im Grundsatz der Gewaltenteilung zwischen den Organen der Gesetzgebung, der Vollziehung und der Rechtsprechung (Art. 20 II 2 GG; gewissermaßen Art. 94 I i. V. m. Art. 1 B-VG). Das aus dem Zusammenspiel der demokratischen und rechtsstaatlichen Grundsätze314 hervorgegangene Prinzip der Gewaltenteilung (Gewaltentrennung) wird dazu aufgefordert, einen effektiven Einfluss des Volkes auf die Ausübung der Staatsgewalt durch die Staatsorgane zu sichern. Das Wesen dieses Prinzips besteht darin, nicht im wahren Sinne des Wortes eine absolute Trennung zwischen den Organen der Legislative, Exekutive und Judikative zu verwirklichen, sondern gegenseitige Kontrolle, Mäßigung und Begrenzung der Gewalten zu gewährleisten. In dieser funk311
Vgl. Pützer, Landesorganisationshoheit, S. 345. Vgl. BVerfGE 83, 60, 71 f.; 93, 37, 66; VfSlg 16241/2001; Tettinger, in: v. Mangoldt/ Klein/Starck, GG II, 4. Aufl. 2000, Art. 28 Rn. 41; Dittmann, in: HStR VI, 2008, § 127 Rn. 17; Löwer, in: v. Münch/Kunig, GGK I, 6. Aufl. 2012, Art. 28 Rn. 17; Pesendorfer, in: RillSchäffer-Kommentar Bundesverfassungsrecht, Art. 95 Rn. 3; Mayer, Heinz, Das österreichische Bundes-Verfassungsrecht. B-VG, F-VG, Grundrechte, Verfassungsgerichtsbarkeit, Verwaltungsgerichtsbarkeit. Kurzkommentar, 4. Aufl., Wien 2007, Art. 99 Rn. II.2. 313 Vgl. Tettinger, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG II, 4. Aufl. 2000, Art. 28 Rn. 50. 314 In der österreichischen Staatslehre ist die Gewaltentrennung allein Teil des Demokratieprinzips. Vgl. dazu: Pesendorfer, in: Rill-Schäffer-Kommentar Bundesverfassungsrecht, Art. 95 Rn. 8 Fn. 25. 312
370
Kap. IV: Die Wiedererrichtung der Bundesstaatlichkeit
tionalen Hinsicht soll keine scharfe Trennung, sondern eine Abgrenzung zwischen Gewalten mit gegenseitigen Verschränkungen und Balancierungen erreicht werden. Dies betrifft gleichermaßen sowohl die „horizontale“ als auch „vertikale“ Gewaltenteilung. In diesen Homogenitätsrahmen sind die Gliedstaaten berechtigt, abweichend vom oberstaatlichen Gewaltenteilungsmodell eine unterschiedliche organisatorische und prozeduale Verknüpfung der Funktionen der Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung vorzusehen, damit diese eine funktionsfähige und reibungslose Ausübung der aus der Volkssouveränität hervorgegangenen Staatsgewalt auf Landesebene gewährleisten könnte.315 Wie das Prinzip der Gewaltenteilung sowie die anderen Grundsätze organisatorischen Charakters im Einzelnen in der modernen deutschen und österreichischen Bundes- und Landesverfassungsgesetzgebung umgesetzt werden, ist weiter unten zu untersuchen. Der Ausgangspunkt eines jeden bundesstaatlichen Homogenitätserfordernisses ist die Einschränkung der gliedstaatlichen Verfassungsautonomie und Organisationshoheit durch die allgemeinen Grundsätze, an welche die bundesstaatliche Gesamtrechtsordnung selbst gebunden ist. Die Tragweite des Homogenitätsgebotes hängt von den gewählten Verwirklichungsmodalitäten ab. Im Fall Österreichs wird das Homogenitätsprinzip neben der Bindung der Länder an die Staatsstrukturgrundsätze auch in den mehr oder weniger detaillierten bundesverfassungsrechtlichen Bestimmungen normativ durchgesetzt, was den österreichischen Bundesländern für eigenständige organisatorische Entscheidungen wenig Freiraum lässt.316 Umgekehrt sind in Deutschland die bundesverfassungsrechtlichen Homogenitätsrahmen für die innere Gestaltung der gliedstaatlichen Verfassungsordnungen viel weiter auseinandergeschoben. Interessanterweise weisen die Landesverfassungen eine größere strukturelle Übereinstimmung auf, als dies das grundgesetzliche Homogenitätsgebot fordert. Der in Art. 28 I GG vorgegebene Gestaltungsspielraum wird von den deutschen Ländern in der Tat nicht vollkommen ausgeschöpft.317
4. Einzelne Probleme der Bindung der Staatsorganisation der deutschen und österreichischen Länder an die bundesverfassungsrechtlichen Staatsstrukturgrundsätze im Vergleich Inwieweit die Bindung der deutschen und österreichischen Länder an die bundesverfassungsrechtlichen Grundsätze im Rahmen des Homogenitätsgebotes bei der Ausgestaltung ihrer eigenen Staatsorganisationen im Einzelnen besteht, soll im Folgenden näher und vergleichend zu untersucht werden. 315 Vgl. Tettinger, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG II, 4. Aufl. 2000, Art. 28 Rn. 42, 49; Dittmann, in: HStR VI, 2008, § 127 Rn. 17, 22; Storr, Verfassunggebung, S. 194. 316 Vgl. Novak, in: Korinek, Bundesverfassungsrecht, B-VG, Art. 99 Rn. 7. 317 Vgl. Maunz, in: HStR IV, 1990, § 95 Rn. 6; Storr, Verfassunggebung, S. 178.
C. Gegenwärtige Tendenzen
371
a) Der republikanische Grundsatz Die Quintessenz des republikanischen Grundsatzes besteht darin, dass die Regierenden auf eine bestimmte Zeit direkt vom Volk oder von dessen Repräsentanten gewählt werden. In erster Linie betrifft diese Voraussetzung einer demokratischen Republik das Staatsoberhaupt und den Regierungschef. Auf Bundesebene in Deutschland werden sowohl der Bundespräsident als auch der Bundeskanzler von den Vertretungsgremien des Volkes gewählt: Im ersten Fall von der Bundesversammlung als einem besonderen Vertretungskörper auf fünf Jahre mit der Möglichkeit einer einmaligen anschließenden Wiederwahl (Art. 54 I, II, III GG), im zweiten Fall vom Bundestag als Parlament (Art. 63 I, II GG). Auf Bundesebene in Österreich wird der Bundespräsident direkt vom Volk auf sechs Jahre mit der Möglichkeit einer einmaligen Wiederwahl für die unmittelbar folgende Funktionsperiode gewählt (Art. 60 I, V B-VG); die Bundesregierung wird von ihm ernannt (Art. 70 I B-VG). Dagegen fehlt auf Landesebene die Figur eines mit dem Bundespräsidenten vergleichbaren Staatsoberhauptes. Einige Funktionen des Staatsoberhauptes übernimmt der Regierungschef, andere wiederum können vom Landesparlament und seinem Präsidenten zusammen oder getrennt übernommen werden (! S. 278 ff., 342 ff.). In diesem Sinne entsteht die Frage, ob eine mögliche Errichtung des einzelnen Postens eines Landesoberhauptes („Landesstaatspräsidenten“) mit der homogenitätsbedürftigen Bindung an die bundesverfassungsrechtlichen Staatsstrukturprinzipien und evtl. -bestimmungen vereinbar wäre. Nach herrschender Meinung im deutschen Schrifttum stünde eine derartige staatsrechtliche Entscheidung der Länder für eine „Präsidialdemokratie“, in der die Institutionalisierung eines Landesstaatsoberhauptes als Außenrepräsentationsorgan in Analogie zum Amt des Bundespräsidenten durchgeführt wird, dem Homogenitätsgebot des Art. 28 I GG nicht entgegen,318 wobei diese Möglichkeit noch vor Verabschiedung des GG bspw. in Bayern zur Debatte gestanden hatte, aber von dieser kein einziges Land der Bundesrepublik bislang Gebrauch machte319 (ausführlicher zu dieser Frage ! S. 277 ff., 382 ff.). In Österreich sieht die staatsrechtliche Lage anders aus. Die herrschende Ansicht darüber ist, dass nach Art. 105 I B-VG der Landeshauptmann mit den typischen Funktionen eines Staatsoberhauptes ausgestattet ist (! S. 348) und daher ein Entzug 318
Vgl. Dreier, Einheit und Vielfalt der Verfassungsordnungen, S. 123; ders., in: Dreier, GG-Kommentar II, 3. Aufl. 2015, Art. 28 Rn. 58; Klein, Hans H., Direktwahl des Ministerpräsidenten?, in: Ziemske, Burkhardt/Langheid, Theo/Wilms, Heinrich/Haverkate, Görg (Hrsg.), Staatsphilosophie und Rechtspolitik, Festschrift für Martin Kriele zum 65. Geburtstag, München 1997, S. 578; Tettinger, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG II, 4. Aufl. 2000, Art. 28 Rn. 46; Arnim, Hans Herbert von, Systemwechsel durch Direktwahl des Ministerpräsidenten?, in: Benz, Arthur/Siedentopf, Heinrich/Sommermann, Karl-Peter (Hrsg.), Institutionenwandel in Regierung und Verwaltung, Festschrift für Klaus König zum 70. Geburtstag, Berlin 2004, S. 373; Pieroth, in: Jarass/Pieroth, GG-Kommentar, 12. Aufl. 2012, Art. 28 Rn. 5; Hardegen, in: HStR VI, 2008, § 129 Rn. 34. 319 Vgl. Maunz, in: HStR IV, 1990, § 95 Rn. 7; Menzel, Landesverfassungsrecht, S. 446.
372
Kap. IV: Die Wiedererrichtung der Bundesstaatlichkeit
derselben durch den Landesverfassungsgesetzgeber bundesverfassungsrechtlich unzulässig wäre.320 Übernimmt der Chef der Landesexekutive die Vertretung des jeweiligen Landes „nach innen und nach außen“ sowie die weiteren, einem Staatsoberhaupt traditionell zustehenden Funktionen, so kommt eine andere organisationsrechtliche Möglichkeit in Frage, also die Direktwahl des Regierungschefs. Während auf Bundesebene in Deutschland eine klassische parlamentarische Regierungsform vorgesehen ist, spricht der überwiegende Teil des gegenwärtigen Schrifttums für einen etwaigen Übergang auf Landesebene zur Wahl des Ministerpräsidenten direkt vom Landesvolk, was den Homogenitätsforderungen des Art. 28 I GG wohl entsprechen würde.321 Im österreichischen politischen Diskurs wird mitunter die Forderung nach der Direktwahl von Landeshauptleuten diskutiert. Aus staatsrechtlicher Sicht gibt es allerdings eine eindeutige Antwort darauf: Die Einführung einer Direktwahl des Landeshauptmannes oder der gesamten Landesregierung ist nach der aktuellen Fassung des Art. 101 I B-VG ausdrücklich ausgeschlossen, wobei die Landesregierung durch den Landtag zu wählen ist. Ein Wechsel zur Wahl der Landesregierungsspitze vom Volk wäre nur im Wege der Gesamtänderung des B-VG möglich (Art. 44 III B-VG).322 Eine weitere Frage mit direktem Bezug auf den homogenitätsbedürftigen republikanischen Grundsatz, die sowohl in Deutschland als auch in Österreich im öffentlichen Raum periodisch diskutiert wird, ist die Begrenzung der Amtszeit des Regierungschefs auf maximal zwei Amtsperioden. Aktuell wird in Deutschland der Idee einer solchen Begrenzung viel Aufmerksamkeit geschenkt – nicht zuletzt aufgrund der Erfahrung der in der Geschichte der Bundesrepublik langwierigsten Bildung einer Koalitionsregierung auf Bundesebene. Im Januar 2018 verkündete der damals designierte bayerische Ministerpräsident Markus Söder seinen Vorschlag, die Amtszeit des Landesregierungschefs in Bayern auf zwei Funktionsperioden, also auf zehn Jahre zu begrenzen. Diese Initiative wurde von der bayerischen Staatsregierung normtechnisch schriftlich ausgefertigt und im April 2018 in den Landtag eingebracht. Die Idee einer Begrenzung der Amtszeit des Ministerpräsidenten fand aber keine Unterstützung in dem scheidenden Landtag der 17. Legislaturperiode. 320 Vgl. Novak, in: Korinek, Bundesverfassungsrecht, B-VG, Art. 99 Rn. 12; Steiner, Wolfgang, Landeshauptmann, in: Pürgy, Erich (Hrsg.), Das Recht der Länder, System. Band 1: Landesverfassungsrecht und Organisationsrecht, Wien 2012, Rn. 17; Esterbauer, Fried, Demokratiereform – Volkswahl der Regierung und Bundesstaatsreform, 2. Aufl., Wien 1997, S. 5. 321 Vgl. Dreier, Einheit und Vielfalt der Verfassungsordnungen, S. 123; ders., in: Dreier, GG-Kommentar II, 3. Aufl. 2015, Art. 28 Rn. 58; Klein, FS Kriele, S. 575 f.; Arnim, FS König, S. 373 f.; Dittmann, in: HStR VI, 2008, § 127 Rn. 19. 322 Vgl. Institut für Föderalismus (Hrsg.), 40. Bericht über den Föderalismus in Österreich (2015), Wien 2016, S. 20 (besonders Fn. 33); Liehr, Willibald, in: Korinek, Bundesverfassungsrecht, B-VG, Art. 101 Rn. 11; Bußjäger, in: Rill-Schäffer-Kommentar Bundesverfassungsrecht, Art. 101 Rn. 33.
C. Gegenwärtige Tendenzen
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Alle in der Öffentlichkeit erläuternden Argumente für diesen verfassungsrechtlichen Vorschlag haben allerdings eher politischen Charakter.323 Aus rein rechtswissenschaftlicher Sicht lässt sich diesen Argumenten zweifelsohne nicht zustimmen. Besonders der Verweis auf die Verfassungspraktiken von Frankreich und den USA, wo die Amtszeit für die Regierungsspitze auf zwei Funktionsperioden festgelegt wird,324 scheint in Bezug auf die Staatsorganisation der deutschen (und evtl. österreichischen) Bundesländer nicht unumstritten. In allen Ländern der Bundesrepublik ist derzeit eine klassische parlamentarische Regierungsform vorgegeben: Der Ministerpräsident allein oder die Landesregierung in ihrer Gesamtheit wird von der Volksvertretung gewählt und ist dieser gegenüber politisch verantwortlich. Währenddessen sind die USA eine Präsidialrepublik, wo die Exekutive mit dem Präsidenten an ihrer Spitze von der Legislative organisatorisch fast komplett getrennt ist. In Frankreich wiederum gibt es eine semipräsidentielle Republik, in der die Regierungsspitze in zwei Ämter (Staatspräsident und Ministerpräsident) geteilt ist und die Regierung allein vom Staatspräsidenten ohne Teilnahme des Parlaments ernannt wird. Ob eine mit den amerikanischen und französischen Präsidenten vergleichbare Begrenzung der Amtszeit der deutschen Ministerpräsidenten mit republikanischen und demokratischen Grundsätzen „im Sinne des Grundgesetzes“, also mit der Idee der parlamentarischen Demokratie vollkommen vereinbar ist, ruft aus der Sicht des bundesdeutschen Rechtssystems erhebliche Bedenken hervor.325
b) Der demokratische Grundsatz (Einzelne organisatorischen Aspekte des Rechtsstatus des allgemeinen Vertretungsorgans) aa) Zusammensetzung Aufgrund seiner Souveränität wird dem Volk auch auf Landesebene eine demokratische Vertretung bundesverfassungsrechtlich garantiert. Unter der Volks323 Vgl. 40. Bericht über den Föderalismus in Österreich (2015), S. 20 f. (besonders Fn. 34); Söder will Amtszeit des Ministerpräsidenten begrenzen, in: ZEIT Online v. 16. 01. 2018 http:// www.zeit.de/politik/deutschland/2018-01/bayern-markus-soeder-amtszeit-ministerpraesident (zuletzt besucht am 12. 04. 2018); Schnell, Lisa, Amtszeit des bayerischen Ministerpräsidenten begrenzen? Gute Idee! in: SZ.de v. 16. 01. 2018 http://www.sueddeutsche.de/bayern/vorschlagvon-markus-soeder-amtszeit-des-bayerischen-ministerpraesidenten-begrenzen-gute-idee-1.382 7325 (zuletzt besucht am 12. 04. 2018); Neumaier, Nikolaus/Mayer, Stephan, Soll die Amtszeit des Ministerpräsidenten begrenzt werden? in: BR24 v. 16. 01. 2018 https://www.br.de/nachrich ten/soll-die-amtszeit-des-ministerpraesidenten-begrenzt-werden-100.html (zuletzt besucht am 12. 04. 2018). 324 Vgl. Soll die Amtszeit des bayerischen Ministerpräsidenten auf zwei Perioden beschränkt werden? in: https://www.csu-landtag.de/index.php?ka=1&ska=1&idn=954#.Ws96Ja OsbDc (zuletzt besucht am 12. 04. 2018). 325 Ausführlicher dazu vgl. Gorskiy, Alexander, Zur verfassungsdogmatischen Frage einer möglichen Begrenzung der Amtszeit der deutschen Ministerpräsidenten – Am Beispiel der aktuell gescheiterten Verfassungsreform in Bayern, in: DÖV, 2019, H. 1, S. 21 ff.
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Kap. IV: Die Wiedererrichtung der Bundesstaatlichkeit
vertretung versteht die Bundesverfassung ein Landesparlament, das kraft der gliedstaatlichen Verfassungsautonomie nicht nur allein zur einfachen Gesetzgebung, sondern zur Verfassungsgebung für das jeweilige Land berufen ist. Mit dem vom Volk gewählten Parlament kommt der demokratische Grundsatz in organisationsrechtlicher Hinsicht besonders zum Ausdruck. In diesem Sinne tritt ein Landtag als ein „allgemeiner Vertretungskörper“ hervor, d. h. ein Organträger, der nicht die Interessen bestimmter, etwa nach Stand, Beruf oder Bekenntnis gleichartiger Personen, sondern die Interessen aller innerhalb eines bestimmten Gebietes lebenden Bürger vertritt.326 Das bundesverfassungsrechtliche Erfordernis nach einem direkt vom Landesvolk gewählten Vertretungskörper (Art. 28 I 2 GG; Art. 95 I 2 B-VG) ist Gegenstand einer Diskussion um die Stellung des Landesparlaments im institutionellen Entscheidungsprozess und die Möglichkeit der Einführung der direkten (plebiszitären) Demokratie in den Ländern. In Österreich gab der VfGH eine – in der Staatsrechtslehre sehr umstrittene – eindeutige Antwort, dass im Sinne des repräsentativ-demokratischen Grundsatzes (ausführlicher dazu ! S. 328 f.) der Landtag ein ausschließliches Gesetzgebungsorgan auf Landesebene bildet und die Einführung einer sog. Volksgesetzgebung, im Fall derer ein Gesetz auch gegen den Willen des Landtages vom Landesvolk durch Volksabstimmung verabschiedet werden könnte (wie im Fall des Art. 33 VI a. F. VbgVerf, der bereits Gegenstand eines Normenkontrollverfahrens bei dem VfGH war), mit der Gesetzgebungsfunktion des Landtages nach Art. 95 I 1 BVG unvereinbar wäre.327 Eine vorrangige Stellung der Landesparlamente innerhalb der Staatsorganisation wird auch in den deutschen Bundesländern zugesichert: Obwohl in den deutschen Landesverfassungen anders als im GG sowie in den österreichischen Landesverfassungen einige direktdemokratische Instrumente viel intensiver verwendet werden (s. u. ! S. 381 f., 382 ff.), können diese zulässigen Elemente der unmittelbaren Demokratie grundsätzlich das repräsentative System der Gliedstaaten theoretisch wie praktisch nur gewissermaßen ergänzen, aber nicht substituieren.328 Nach dem Wortlaut des deutschen BVerfG beschränkt sich das GG darauf, „den nach Art. 28 Abs. 1 Satz 1 GG zu gewährleistenden Grundsätzen der verfassungsmäßigen Ordnung in den Ländern in Bezug auf das Landesparlament Konturen zu geben“329 (Hervorh. durch den Verf.). Zugleich legt das BVerfG selbst in seiner 326 Vgl. VfSlg 17264/2004, 18932/2009, 19649/2012; Müller, Thomas, in: Korinek, Bundesverfassungsrecht, B-VG, Art. 95 Rn. 3 (Fn. 13); Mayer, Bundes-Verfassungsrecht, Art. 95 Rn. I; Dreier, in: Dreier, GG-Kommentar II, 3. Aufl. 2015, Art. 28 Rn. 61. 327 Vgl. VfSlg 16241/2001; Mayer, Bundes-Verfassungsrecht, Art. 95 Rn. I; kritisch dazu Pernthaler, Peter, Demokratische Identität oder bundesstaatliche Homogenität der Demokratiesysteme in Bund und Ländern, in: Juristische Blätter, 2000, H. 12, S. 808 ff.; Gamper, ÖJZ 2003, S. 443 ff. 328 Vgl. Menzel, Landesverfassungsrecht, S. 259; Dreier, in: Dreier, GG-Kommentar II, 3. Aufl. 2015, Art. 28 Rn. 61, Art. 20 Rn. 104 ff. 329 BVerfGE 102, 224, 234.
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aktuellen Rechtsprechung die Grenzen des demokratischen Grundsatzes relativ eng aus und bindet die deutschen Länder an die im Vergleich zu den Vorschriften des Art. 28 I 2 GG mehr detaillierteren Erläuterungen des Konzepts der demokratischen Legitimation in den Gliedstaaten.330 In organisatorischer Hinsicht sind die rechtlichen Verfahren der Zusammensetzung der Volksvertretung, also die zugrunde liegenden Grundsätze des Wahlsystems für den Grad der Verwirklichung der Demokratie auch auf Landesebene entscheidend.331 So müssen die in den deutschen Bundesländern vorliegenden Volksvertretungen nach Art. 28 I 2 GG aus allgemeinen, unmittelbaren, freien, gleichen und geheimen Wahlen hervorgehen. Die Landtage der österreichischen Gliedstaaten werden auf Grund des gleichen, unmittelbaren, persönlichen, freien und geheimen Wahlrechts der wahlberechtigten Landesbürger gewählt (Art. 95 I 2 B-VG). Bei den Wahlen der Volksvertretungen sind die Länder – in Deutschland aufgrund der Rechtsprechung des BVerfG332, in Österreich kraft der bundesverfassungsrechtlichen Bestimmung (Art. 95 II B-VG) – an die gleichen Wahlrechtsgrundsätze wie für die Wahlen des Bundesparlaments (Art. 38 I GG; Art. 26 I B-VG) gebunden. In den parallel geltenden bundesverfassungsrechtlichen Regelungen (Art. 28 I 2 i. V. m. Art. 38 I GG; Art. 95 II i. V. m. Art. 26 I B-VG) drückt sich der sog. Grundsatz der Homogenität der Wahlrechtsgrundsätze aus, der für alle Wahlen zu den allgemeinen Vertretungskörpern obligatorisch ist. Die in den Bundesverfassungen bereits erwähnten Grundsätze des Wahlrechts gelten für die Landesebene kraft des bundesstaatlichen Homogenitätsgebotes verbindlich. Diese sollen auch die landesverfassungsrechtliche Treue zu den in der deutschen bzw. österreichischen Bundesverfassung postulierenden Gedanken der repräsentativen Demokratie garantieren.333 Die Homogenität der Wahlrechtsgrundsätze bedeutet allerdings idealerweise keine absolute, sondern nur eine rechtstechnische Umsetzung dieser Grundsätze in den landesverfassungsrechtlichen Texten und lässt daher die Möglichkeit vom Bundeswahlrecht abweichender Einzelregelungen zu.334 Der Fall Österreichs zeigt aber, dass das Wahlrecht der Länder dermaßen an das Wahlrecht des Bundes gebunden ist, dass die Wahlrechtsgrundsätze auf beiden öffentlich-rechtlichen Ebenen praktisch identisch sind. So dürfen bspw. gemäß der neuen Fassung des Art. 95 II BVG335 die Landtagswahlordnungen die Bedingungen des aktiven Wahlrechts nicht enger ziehen als die Bundesverfassung für Wahlen zum Nationalrat, wobei die Bedingungen des passiven Wahlrechts nicht allein an die Regeln der Bundesverfassungen gebunden sind, sondern auch nicht weiter als die bundesgesetzlichen 330 Vgl. BVerfGE 93, 37, 66; Dreier, in: Dreier, GG-Kommentar II, 3. Aufl. 2015, Art. 28 Rn. 60. 331 Vgl. Kelsen, AStL, S. 345. 332 Vgl. BVerfGE 99, 1, 17 ff. 333 Vgl. Dittmann, in: HStR VI, 2008, § 127 Rn. 18. 334 Vgl. Dittmann, in: HStR VI, 2008, § 127 Rn. 20. 335 BGBl. I Nr. 41/2016 (n. F. ist am 1. Januar 2018 in Kraft getreten).
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Kap. IV: Die Wiedererrichtung der Bundesstaatlichkeit
Bestimmungen für Wahlen zum Nationalrat gezogen werden dürfen. In diesem Zusammenhang ist nicht verwunderlich, dass das österreichische B-VG die Landtagswahl nach den Grundsätzen der Verhältniswahl (zugleich aber ohne Bindung an eine konkrete Art des Verhältniswahlverfahrens) vorschreibt (ausführlicher dazu ! S. 222 ff., 329 f.). Anders als die WRV wird den bundesdeutschen Ländern ein konkretes Wahlsystem nicht vorgeschrieben. In Bezug auf die Ausgestaltung des Bundeswahlsystems ist der einfache Gesetzgeber nach der Auffassung des BVerfG und der Teile des Schrifttums frei.336 In diesem Zusammenhang wird auch den Ländern im Rahmen der Wahlrechtsgrundsätze nach Art. 38 I GG ein erheblicher Gestaltungsspielraum eingeräumt. Die deutschen Länder sind grundsätzlich frei bei der Auswahl eines Wahlrechtssystems, sei es das Verhältnis- oder Mehrheitswahlrecht sowie eine der vielen Mischformen; alle müssen nur mit den bundesverfassungsrechtlichen Wahlrechtsgrundsätzen vereinbar sein.337 bb) Zulässigkeit eines parlamentarischen Zweikammersystems Eine der umstrittenen organisationsrechtlichen Fragen des bundesstaatlichen Homogenitätsgebotes ist die Möglichkeit der Errichtung einer zweiten Parlamentskammer in den Ländern. Die Antworten auf diese im Schrifttum gestellte Frage fallen unterschiedlich aus aufgrund der Heranziehung zweier unterschiedlicher Auslegungsmethoden. Zum einen geht es um die grammatikalische Auslegung. So wird nach Art. 95 I 1 B-VG die Gesetzgebung in den österreichischen Ländern „von den Landtagen“ ausgeübt; diese Formulierung erlaubt in der Tat ganz unterschiedliche Interpretationen bezüglich der Struktur der Landtage. In den deutschen Ländern fordert Art. 28 I 2 GG, dass das Volk eine Vertretung haben soll. Man könnte annehmen, dass aus diesem Wortlaut folgt, dass in den deutschen Bundesländern im Sinne des strukturellen Homogenitätsgebotes nur ein einziger Vertretungskörper bestehen darf. Diese Auffassung wird aber nur vereinzelt vertreten.338 Im Gegensatz zu dieser Auffassung spricht die in der Bundesrepublik herrschende Lehre den Ländern nicht grundsätzlich die Möglichkeit ab, ein weiteres Vertretungsorgan landesverfassungsrechtlich vorzusehen. Die Existenz eines solchen „zusätzlichen“ Vertretungskörpers muss aber dem homogenitätsbedürftigen Demokratiegrundsatz entsprechen.339 Daraus folgt die Notwendigkeit der Heranziehung einer zweiten 336
Vgl. Dreier, in: Dreier, GG-Kommentar II, 3. Aufl. 2015, Art. 20 Rn. 98. Vgl. Roters, in: v. Münch, GGK II, 2. Aufl. 1983, Art. 28 Rn. 24; Tettinger, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG II, 4. Aufl. 2000, Art. 28 Rn. 85; Maunz, in: HStR IV, 1990, § 95 Rn. 5; Dittmann, in: HStR VI, 2008, § 127 Rn. 20; a. A. Menzel, Landesverfassungsrecht, S. 260 f. (auch Fn. 137); Dreier, in: Dreier, GG-Kommentar II, 3. Aufl. 2015, Art. 20 Rn. 98. 338 Vgl. Herdegen, in: HStR VI, 2008, § 129 Rn. 26. 339 Vgl. Bergmann, Gernot, Der Staatsgedanke im parlamentarischen Deutschland. Zur Verfassungsgeschichte und aktuellen Verfassungsdiskussionen, Baden-Baden 1994, S. 139; Isensee, Josef, Verfassungsreferendum mit einfacher Mehrheit. Der Volksentscheid zur Ab337
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Auslegungsmethode, also der systematischen Auslegung des normativ verankerten demokratischen Prinzips in Bezug auf die Gesetzgebungsorgane der Länder. Da für die österreichischen Länder ebenso wie für den Bund das repräsentativdemokratische Grundprinzip der Staatsorganisation gilt,340 ist Art. 95 I 1 B-VG auf die Weise systematisch ausgelegt, dass die Gesetzgebung in jedem Bundesland im Sinne eines Einkammersystems von einem Landtag auszuüben ist. Als allgemeiner Vertretungskörper besitzt der Landtag das Gesetzgebungsmonopol; dem Landesverfassungsgesetzgeber wird es nicht zugelassen, ein anderes Staatsorgan mit der Gesetzgebungsfunktion zu bekleiden oder den Landtag bei der Ausübung dieser Funktion an das Zusammenwirken mit einem anderen Gesetzgebungsorgan im Sinne einer zweiten Parlamentskammer zu binden.341 Ähnlich wie in Österreich fordert das bundesdeutsche GG eine demokratische Legitimation der Vertretungsorgane in den Ländern. Fraglich aber ist, ob es mit dem Demokratiegrundsatz „im Sinne des Grundgesetzes“ vereinbar wäre, wenn die aus der demokratischen Wahl hervorgegangene Volksvertretung aus zwei Gremien bestünde, die gleichgeordnet an der Ausübung der Staatsgewalt auf dem Gebiet der Landesgesetzgebung teilhaben. Die in der aktuellen deutschen Fachliteratur herrschende Meinung hält ein Zweikammersystem in den Ländern für bundesverfassungsrechtlich zulässig, sofern die erste Kammer aufgrund der unmittelbaren demokratischen Wahl eine dominierende Position hat oder die zweite Kammer nur eine beratende Funktion im Gesetzgebungsprozess ausübt.342 Die zwei letztgenannten Modalitäten bedingen die unterschiedlichen Optionen für die Ausgestaltung einer zweiten Kammer des Landesparlaments: Es kann entweder ein echtes oder ein unechtes Zweikammersystem eingerichtet werden. Unter einem echten (wirklichen) Zweikammersystem versteht man eine derartige Art der Organisation des Landesparlaments, wonach die zweite Kammer an der Gesetzgebung mehr oder minder gleichberechtigt mit der ersten teilnimmt. Dabei spielt es keine Rolle, ob diese zweite Kammer einen integrierten Bestandteil der in zwei Gremien gegliederten Volksvertretung oder eine zusätzliche Versammlung zur ersten
schaffung des Bayerischen Senats als Paradigma, Heidelberg 1999, S. 35; Tettinger, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG II, 4. Aufl. 2000, Art. 28 Rn. 42; Mehde, in: Maunz/Dürig, GG IV, Art. 28 Rn. 58 (Lfg. September 2017). 340 Vgl. VfSlg 13500/1993. 341 Vgl. Müller, in: Korinek, Bundesverfassungsrecht, B-VG, Art. 95 Rn. 3; Abbrederis, Philipp/Pürgy, Erich, Gesetzgebung der Länder, in: Pürgy, Das Recht der Länder I, Rn. 50; Mayrhofer, Michael, Landtagswahlen und Direkte Demokratie, in: Pürgy, Das Recht der Länder I, Rn. 1; Weber, Karl, Landesgesetzgebung und Landesregierung, in: Schambeck, Herbert (Hrsg.), Föderalismus und Parlamentarismus in Österreich, Wien 1992, S. 102; Mayer, BundesVerfassungsrecht, Art. 95 Rn. I. 342 Vgl. Storr, Verfassunggebung, S. 281 (auch Fn. 589 f.); Pieroth, in: Jarass/Pieroth, GGKommentar, 12. Aufl. 2012, Art. 28 Rn. 5.
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Kammer, die allein die demokratisch gewählte Volksvertretung ist, darstellt.343 Diese Auffassung wird allerdings zum Teil in der Literatur grundsätzlich abgelehnt: Die Einrichtung einer solchen Kammer, die im Gesetzgebungsprozess oder bei der Kreation der anderen Landesorgane echte Mitentscheidungsrechte besitzt, ohne dabei direkt vom Landesvolk ihre Legitimation zu bekommen, würde gegen die Homogenitätsforderung des Art. 28 I 2 GG verstoßen.344 Demgegenüber wäre auch eine Legitimation „zweiten Grades“ denkbar, wenn also die Legitimation der zweiten Parlamentskammer nicht direkt durch Volkswahl, sondern über die gewählten Repräsentativorgane der Kommunen hergestellt würde, wonach die direkt von der Bevölkerung einer Kommune gewählten Repräsentanten in diese zweite Kammer des Landesparlaments geschickt werden.345 Die Entscheidung des Landesverfassungsgebers, eine zweite Kammer gleichberechtigt zur Landesgesetzgebung einzuberufen, muss noch mit den entsprechenden Kontrollmechanismen dieser nicht direkt vom Volk legitimierten Kammer durch das allgemeine Vertretungsorgan verbunden und jederzeit revidierbar sein.346 In einem unechten („hinkenden“) Zweikammersystem ist neben der aus direkter Wahl hervorgegangenen Volksvertretung ein zweites Repräsentativorgan vorhanden, welches aber nach anderen Prinzipien zusammengesetzt und gebildet wird und daraus folgend eine eingeschränkte Gesetzgebungsfunktion ausübt. Art. 28 I 2 GG fordert, dass das Volk im jeweiligen Land eine demokratisch gewählte Vertretung haben muss. Dies stellt aber kein Gebot dar, dass eine mögliche zweite Parlamentskammer auch aus Volkswahlen hervorzugehen ist: Diese Kammer, die neben der ersten, direkt vom Landesvolk gewählten Kammer (welche herrschender Meinung nach allein die Volksvertretung ist) steht, kann nach anderen Prinzipien des Wahlrechts (bspw. ohne Allgemeinheit der Wahl) von bestimmten Gruppen der Bevölkerung gewählt werden. Derartige „Ständeparlamente“ (mit diesem Begriff bezeichnete Kelsen die berufsständischen Vertretungen347) erhalten keine demokratische Legitimation, weil sie die Interessen nicht des gesamten Volkes, sondern nur einzelner Gruppen und Organisationen vertreten und ihre Mitglieder nicht durch das Volk gewählt werden. Ebendas war der Fall des Bayerischen Senats (! S. 262, 283 f.), der zum 1. Januar 2000 per Volksentscheid abgeschafft wurde. Bezieht sich die Ausübung der Staatsgewalt als Inbegriff allen hoheitlichen Handelns mit Entscheidungscharakter auf eine konkrete Willensentscheidung des Volkes, so darf in diesem Sinne eine solche zweite Parlamentskammer ohne demokratische Legitimation an der Gewaltausübung teilnehmen. Dieser Parlamentskammer kann nur eine Konsultativfunktion zustehen. Die Existenz der zweiten Kammer würde dem ge343
Vgl. Maunz, in: Maunz/Dürig, GG IV, Art. 28 Rn. 36 (Lfg. Oktober 1996); Isensee, Abschaffung des Bayerischen Senats, S. 35. 344 Vgl. Roters, in: v. Münch, GGK II, 2. Aufl. 1983, Art. 28 Rn. 15; Storr, Verfassunggebung, S. 282. 345 Vgl. Menzel, Landesverfassungsrecht, S. 256 f. (auch Fn. 106). 346 Vgl. Storr, Verfassunggebung, S. 284. 347 Vgl. Kelsen, Hans, Vom Wesen und Wert der Demokratie, Tübingen 1920, S. 19 ff., 50.
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samtstaatlichen demokratischen Prinzip nur dann entsprechen, wenn dieses Gremium eine konsultative Beteiligung am Gesetzgebungsverfahren hat, also nur begutachtende Befugnisse bei Landesgesetzgebung ausübt, ohne dabei über ein (gar suspensives) Vetorecht zu verfügen. Die Verleihung von beratenden Mitwirkungsrechten an eine solche Parlamentskammer würde nicht gegen den Demokratiegrundsatz i. S. v. Art. 28 I 1 i. V. m. Art. 20 II 1 GG verstoßen, weil sie demgemäß nicht direkt an der Ausübung der Staatsgewalt teilnehmen würde, sondern nur an der Vorbereitung zur Ausübung der Staatsgewalt auf dem Gebiet der Gesetzgebung beteiligt wäre.348 Bei einem unechten Zweikammersystem kommt auch die mögliche Errichtung einer Gemeinde- oder Regionenkammer in Frage, wobei diesen die Mitwirkungsrechte an der Landesgesetzgebung bis hin zum suspensiven Vetorecht eigeräumt werden kann, da sie eine demokratische Legitimation durch das Landesvolk in den Kommunen erhält.349 Für eine weitere diskutierbare Option bezüglich der Ausgestaltung der zweiten Parlamentskammer auf Landesebene plädierte auch Maunz. Er ging davon aus, dass die zweite Kammer in den Ländern nach dem Vorbild des Bundesrates eingerichtet werden kann: „das, was im Bund als demokratisch angesehen wird, [kann] nicht in den Ländern ein Verstoß hingegen sein.“ Hier sah Maunz unter dem Gesichtspunkt des bundesstaatlichen Homogenitätserfordernisses keine verfassungswidrige organisationsrechtliche Möglichkeit. Als Antwort auf die Kritik von Wolfgang Roters350 merkte Maunz an, dass einer solchen zweiten Parlamentskammer nicht nur beratende Funktion mit Einwendungen gegen von der Volksvertretung verabschiedete Landesgesetze zustehen kann, sondern auch Befugnisse des Einspruchs oder der Zustimmung zu Gesetzen wie im Fall des Bundesrates verliehen werden könnten. Zugleich bliebe hier unverständlich, dass eine etwaige zweite Kammer in einem Land nach den gleichen Grundsätzen zusammengesetzt sein müsste wie der Bundesrat. Mit anderen Worten sprach sich Maunz tatsächlich auch für die bundesverfassungsrechtliche Möglichkeit der Ausgestaltung eines echten Zweikammersystems in den deutschen Ländern aus, in dem die zweite Parlamentskammer grundgesetzmäßig der ersten (also der Volksvertretung) im Gesetzgebungsprozess gleichgestellt werden kann.351
348
Vgl. Isensee, Abschaffung des Bayerischen Senats, S. 35; Storr, Verfassunggebung, S. 281, 282; Roters, in: v. Münch, GGK II, 2. Aufl. 1983, Art. 28 Rn. 15; Maunz, in: HStR IV, 1990, § 95 Rn. 7; Löwer, in: v. Münch/Kunig, GGK I, 6. Aufl. 2012, Art. 28 Rn. 17; Menzel, Landesverfassungsrecht, S. 256; Bergmann, Der Staatsgedanke im parlamentarischen Deutschland, S. 134 f. 349 Vgl. Bergmann, Der Staatsgedanke im parlamentarischen Deutschland, S. 134; Löwer, in: v. Münch/Kunig, GGK I, 6. Aufl. 2012, Art. 28 Rn. 17. 350 Vgl. Roters, in: v. Münch, GGK II, 2. Aufl. 1983, Art. 28 Rn. 16. 351 Vgl. Maunz, in: Maunz/Dürig, GG IV, Art. 28 Rn. 37 (Lfg. Oktober 1996).
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cc) Die Legislaturperiode und ihre vorzeitige Beendigung Ein wichtiges Merkmal einer funktionsfähigen Demokratie ist die zeitliche Begrenzung der Ausübung der Staatsgewalt durch den konkreten Personalbestand der jeweiligen Staatsorgane. Vor allem betrifft dies die Volksvertretung. Mit Rücksicht auf das bundesstaatliche Homogenitätsgebot, das die Übereinstimmung der Strukturgrundsätze auf beiden öffentlich-rechtlichen Ebenen fordert, ist die Periodizität der Legislaturperiode des Landesparlaments eine wichtige organisationsrechtliche Frage. Die beiden Bundesstaatsmodelle zeigen, dass das bundesverfassungsrechtliche Homogenitätserfordernis der demokratischen Legitimation der Volksvertretung die Dauer ihrer Gesetzgebungsperiode nicht deckt. Während in Österreich die Legislaturperiode des Nationalrates im Jahr 2007 von vier auf fünf Jahre erhöht wurde (Art. 27 I n. F. B-VG352) und daher nun faktisch im Einklang mit der Funktionsperiode von fast allen Landtagen (außer OÖ, wo der Landtag auf sechs Jahre gewählt wird (Art. 18 I LVerf)) steht, liegt in Deutschland die Legislaturperiode des Bundestages auch weiter bei vier Jahren (Art. 39 I 1 GG), wogegen in den letzten Jahrzehnten die Legislaturperiode der deutschen Landesparlamente von ursprünglichen vier (nur mit wenigen Ausnahmen) auf fünf Jahre verlängert wurde; derzeit ist es nur in Brem bei einer Gesetzgebungsperiode von vier Jahren geblieben (Art. 75 I 1 LVerf). Alle Argumente für und wider eine Verlängerung (und evtl. auch Verkürzung) der Legislaturperiode eines Landesparlaments haben grundsätzlich einen rechtspolitischen Charakter. Rein rechtsdogmatisch wäre eine solche Verlängerung bzw. Verkürzung der Legislaturperiode in Hinsicht der Wahrung des homogenitätsbedürftigen Demokratieprinzips in seiner normativen Prägung zu betrachten. Die Bundesverfassung überlässt die Regelung dieser Frage allein dem Landesverfassungsgeber. Die Länder verfügen also über einen bestimmten Gestaltungsfreiraum innerhalb des demokratischen Grundsatzes. Allerdings muss eine äußerste Grenze vorhanden sein, über welche die „Phantasie“ des Landesverfassungsgebers nicht hinausgehen darf. So soll die freie Äußerung der Meinung des Volkes in Form freier und geheimer Wahlen der gesetzgebenden Körperschaft „in angemessenen Zeitabständen“ stattfinden (Art. 3 des 1. ZPEMRK; BVerfGE 13, 54, 91), damit die demokratische Legitimation des allgemeinen Vertretungsorgans und seine Funktionsfähigkeit in absehbarer Zeitperspektive erneut bestätigt werden könnten. Die normative Verankerung dieses Spagats für die Legislaturperiode eines Landesparlaments, seien es drei, vier, fünf oder sechs Jahre, bleibt den Bundesländern frei überlassen unter Berücksichtigung der Essenz des herrschenden repräsentativ-demokratischen Grundsatzes.353 352
BGBl. I 2007/27 Vgl. Stern, Klaus, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band 2: Staatsorgane, Staatsfunktionen, Finanz- und Haushaltsverfassung, Notstandsverfassung, München 1980, S. 71; Menzel, Landesverfassungsrecht, S. 417 (auch Fn. 154 f.); Pestalozza, Einführung, in: Pestalozza, Verfassungen, Rn. 116; Leunig, Sven, Die Regierungssysteme der deutschen Länder, 2. Aufl., Wiesbaden 2012, S. 105 f.; Novak, in: Korinek, Bundesverfassungsrecht, BVG, Art. 99 Rn. 12. 353
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Neben dem regulären Beginn und Ende der Wahlperiode der Volksvertretung gibt es auch die Möglichkeit einer vorzeitigen Beendigung ihrer Tätigkeit. Ungeachtet der oben erwähnten denkbaren terminlichen Erwägungen ist das etwaige Recht der Parlamente zur Selbstauflösung als eines der Instrumente der vorzeitigen Beendigung der Legislaturperiode Anlass und Gegenstand einer theoretischen Diskussion. In dieser Frage kommt erneut zum Tragen, dass das bundesstaatliche Homogenitätsgebot in beiden Bundesstaaten die Regelung hinsichtlich dieses organisationsrechtlichen Aspekts ebenfalls den Landesverfassungen überlässt. Während in Österreich der Nationalrat vor Ablauf seiner Gesetzgebungsperiode durch einfaches Gesetz die Auflösung beschließen kann (Art. 29 II B-VG) und alle österreichischen Landesverfassungen das Selbstauflösungsrecht den Landtagen eingeräumt haben, abweichend nur in der Form des bevollmächtigten Rechtsaktes (Landesgesetz oder einfacher Beschluss des Landtages) und der zahlenmäßigen Voraussetzungen für die Antragstellung und Beschlussfassung, unabhängig von den die Selbstauflösung bedingten rechtlichen Anlässen, ist dem bundesdeutschen GG das Selbstauflösungsrecht des Bundestages bislang nicht bekannt, wogegen sich das Parlament in allen deutschen Ländern (in Brem erst seit 1994, in BadWürtt erst seit 1995) selbst auflösen kann. Dies zeigt, dass die Landesverfassungen an das bundesverfassungsrechtliche Vorbild hier nicht gebunden sind und die Möglichkeit zur Selbstauflösung des Landesparlaments abweichend gestalten können.354 Im Gegensatz zu dem österreichischen Verfassungsrecht insgesamt sowie dem deutschen Bundesverfassungsrecht kennen einige deutsche Landesverfassungen das Institut der plebiszitären Parlamentsauflösung (der sog. recall), wonach der Landtag per Volksentscheid aufgelöst werden kann. In sechs Bundesländern (BadWürtt, Bay, Berl, Brandbg, Brem und RhPf) hat das Landesvolk das Recht, auf eigene Initiative das allgemeine Vertretungsorgan durch den auf ein Volksbegehren folgenden Volksentscheid aufzulösen. Grundsätzlich wird diese Modalität der vorzeitigen Beendigung der Legislaturperiode des Landesparlaments in Theorie und Praxis anerkannt.355 Sie darf aber nicht auf die Weise ausgestaltet werden, dass das die Interessen der unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen vertretende Landesparlament als allgemeiner Vertretungskörper durch die einzelnen Interessengemeinschaften dem permanenten Druck der vorzeitigen Auflösung unterworfen würde, sobald unpopuläre, aber aus der Perspektive der Wahrung des Gemeinwohls not354
Vgl. Menzel, Landesverfassungsrecht, S. 417; Pestalozza, Einführung, in: Pestalozza, Verfassungen, Rn. 117 ff.; Leunig, Die Regierungssysteme, S. 107 ff.; Maunz, in: HStR IV, 1990, § 95 Rn. 7; Tettinger, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG II, 4. Aufl. 2000, Art. 28 Rn. 48; Dreier, Einheit und Vielfalt der Verfassungsordnungen, S. 122; ders., in: Dreier, GG-Kommentar II, 3. Aufl. 2015, Art. 28 Rn. 58; Herdegen, in: HStRVI, 2008, § 129 Rn. 32; Pieroth, in: Jarass/Pieroth, GG-Kommentar, 12. Aufl. 2012, Art. 28 Rn. 5; Nierhaus, in: Sachs, Grundgesetz, 7. Aufl. 2014, Art. 28 Rn. 15; Müller, in: Korinek, Bundesverfassungsrecht, B-VG, Art. 95 Rn. 15. 355 Vgl. Menzel, Landesverfassungsrecht, S. 418; Herdegen, in: HStR VI, 2008, § 129 Rn. 19, 32; Leunig, Die Regierungssysteme, S. 122 ff.; Pestalozza, Einführung, in: Pestalozza, Verfassungen, Rn. 117.
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wendige Entscheidungen in der Volksvertretung getroffen werden müssen.356 Rechtlich gesehen darf der repräsentativ-demokratische Grundsatz, welcher durch die normative Sicherung des bundesstaatlichen Homogenitätsgebotes dem deutschen und österreichischen Bundesstaatsmodell tatsächlich zugrunde gelegt wird, durch plebiszitäre Elemente wie bspw. eine Auflösung des Landtages nach Volksentscheid im Grunde genommen nicht ersetzt werden. In diesem Zusammenhang ist ein solcher „recall“ nur in einzelnen deutschen Ländern landesverfassungsrechtlich vorgesehen und kommt in der Verfassungspraxis dieser Länder eher selten zur Anwendung. Bisher gelang eine vorzeitige Auflösung des Landesparlaments durch das Landesvolk nur zweimal: im Saarl 1953 und in Berl 1981.357 c) Der (abgeleitete) Grundsatz der Gewaltenteilung aa) Die parlamentarische Regierungsform der Länder: Sind die Gliedstaaten normativ dazu gezwungen? Die im Rahmen des Gewaltenteilungsgrundsatzes möglichen unterschiedlichen Abgrenzungen der Kompetenzen von Staatsorganen sowie unterschiedlichen Mechanismen der Zusammensetzung und gegenseitigen organisatorischen Einwirkung setzen verschiedene Regierungsformen voraus. Im Hinblick auf die Homogenitätsproblematik ist fraglich, ob bei der Bindung der Gliedstaaten an die bundesverfassungsrechtlichen Staatsstrukturprinzipien (aus denen der Grundsatz der Gewaltenteilung nach deutscher bzw. österreichischer Staatsrechtslehre abgeleitet wird) die Regierungsform auf Landesebene mit der entsprechenden Regierungsweise im Bund übereinstimmen muss. In der Republik Österreich wird der Gewaltentrennungsgrundsatz aus dem repräsentativ-demokratischen Prinzip abgeleitet, welches vom VfGH als einer der „Grundzüge der Bundesverfassung“ qualifiziert ist, die die Verfassungsautonomie der Länder binden. Mit anderen Worten können sich die Gestaltungsmöglichkeiten der Gewaltentrennung nur innerhalb des Kerns des repräsentativ-demokratischen Bauprinzips bewegen, also der parlamentarischen Demokratie, das unter dem Schutz Art. 44 III B-VG steht. In diesem Zusammenhang werden den österreichischen Ländern sämtliche Regierungsformen außer der parlamentarischen bundesverfassungsrechtlich abgesprochen.358 Dies ist besonders interessant mit Rücksicht darauf, dass auf Bundesebene in Österreich zumindest kein rein parlamentarisches Regie356 Vgl. Mehde, in: Maunz/Dürig, GG IV, Art. 28 Rn. 62 (Fn. 3) mit Verweis auf das Urteil des BremStGH vom 14. Februar 2000, NVwZ-RR 2001, 1, 4. 357 Vgl. Weber, Albrecht, Direkte Demokratie im Landesverfassungsrecht, in: Die Öffentliche Verwaltung, 1985, H. 5, S. 183; Leunig, Die Regierungssysteme, S. 122; Pestalozza, Einführung, in: Pestalozza, Verfassungen, Rn. 118. 358 Vgl. VfSlg 13500/1993, 15302/1998, 16241/2001; Gamper, ÖJZ 2003, S. 444, 447; Novak, in: Korinek, Bundesverfassungsrecht, B-VG, Art. 99 Rn. 12; Mayer, Bundes-Verfassungsrecht, Art. 99 Rn. II.2.
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rungssystem vorgesehen und nach der hier vertretenen Auffassung eher eine semipräsidentielle Regierungsform seit der Verfassungsreform von 1929 vorhanden ist. So wird die Bundesregierung nicht vom Nationalrat gewählt, was einer klassischen parlamentarischen Demokratie entspräche, sondern vom Bundespräsidenten ernannt und vereidigt (Art. 70 I 1, 72 I 1 B-VG); er kann den Nationalrat nach eigenem Ermessen auflösen (Art. 29 I 1 B-VG). Die Stellung des Bundespräsidenten wird aber durch folgende Modalitäten abgeschwächt: Er kann einzelne Regierungsmitglieder nur auf Vorschlag des Bundeskanzlers entlassen (Art. 70 I 2 Hs. 2 B-VG) und ihm bleibt keine Auswahl, wenn der Nationalrat der Bundesregierung oder ihren einzelnen Mitgliedern das Vertrauen versagt, die Bundesregierung bzw. ein einzelnes Regierungsmitglied des Amtes zu entheben (Art. 74 I B-VG). Dieses Schema auf Bundesebene bedingt die Frage, welche bundesverfassungsrechtlichen Grundsätze bzw. Grundmuster und inwieweit diese das Landesverfassungsrecht determinieren dürfen, was in diesem konkreten Fall die Frage aufwirft, ob das strukturelle Homogenitätsgebot seinem Wesen nach eine Gleichförmigkeit der Regierungsformen in dem Gesamtstaat und den Gliedstaaten wirklich fordert.359 In der modernen deutschen Bundesstaatslehre wird teilweise die Zulässigkeit der Einführung eines präsidialen Regierungssystems in den Ländern anerkannt.360 Diese Meinung ist allerdings nicht unumstritten. Für eine solche Gestaltungsoption spricht, dass das bundesdeutsche GG keinen konkreten Anhaltspunkt für ein Verbot der präsidialen Regierungsform auf Landesebene bietet. Anders als in Art. 17 I WRV, wonach die reichsrepublikanischen Länder ausdrücklich auf die parlamentarische Regierungsform verpflichtet wurden (! S. 180 ff.), fordert Art. 28 I GG explizit kein bestimmtes Regierungssystem in den Gliedstaaten, was als Erweiterung ihres Gestaltungsspielraums zu verstehen ist.361 Der Eckpunkt eines möglichen systemumfassenden Überganges zur Präsidialdemokratie in den Ländern wäre die Einführung der Direktwahl des Ministerpräsidenten, dem allein die Ernennung bzw. Entlassung der Minister landesverfassungsrechtlich überlassen würde.362 Ein solches präsidiales Regierungssystem US-amerikanischer Prägung ist zweifellos vollwertig demokratisch, es wäre aber anderer Ansicht nach homogenitätsbedingt nicht demokratisch im Sinne des bundesdeutschen GG.363 Hier kommt dann die systematische Auslegung zum Tragen. Aus der Systematik des bundesdeutschen GG folgt, dass die demokratische Gesamtrechtsordnung der Bundesrepublik eine verantwortliche Regierung voraussetzt; die Länder werden 359
Vgl. Novak, in: Korinek, Bundesverfassungsrecht, B-VG, Art. 99 Rn. 12 Vgl. Herdegen, in: HStR VI, 2008, § 129 Rn. 34; Pieroth, in: Jarass/Pieroth, GGKommentar, 12. Aufl. 2012, Art. 28 Rn. 5; Nierhaus, in: Sachs, Grundgesetz, 7. Aufl. 2014, Art. 28 Rn. 15; Dreier, in: Dreier, GG-Kommentar II, 3. Aufl. 2015, Art. 28 Rn. 58. 361 Vgl. Menzel, Landesverfassungsrecht, S. 256. 362 Vgl. Arnim, FS König, S. 373 f.; Dreier, in: Dreier, GG-Kommentar II, 3. Aufl. 2015, Art. 28 Rn. 58. 363 Vgl. Löwer, in: v. Münch/Kunig, GGK I, 6. Aufl. 2012, Art. 28 Rn. 15; Menzel, Landesverfassungsrecht, S. 256. 360
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durch Art. 28 I 1 GG jedoch nicht an das konkrete Gewaltenteilungsmodell des Bundes (parlamentarische Regierungsform) gebunden.364 Nach der hier vertretenen Auffassung würde unter die Bestimmung einer gegenüber dem Landesparlament verantwortlichen Landesregierung statt einer präsidialen Regierungsform das semipräsidentielle Regierungssystem (wie bspw. in Frankreich oder auf Bundesebene in Österreich) fallen. So können in den deutschen Landesverfassungen die folgenden Modalitäten vorgesehen werden: Einerseits kann der Ministerpräsident direkt vom Landesvolk gewählt werden und die Minister werden von ihm allein ernannt bzw. entlassen; entzieht das Landesparlament der Landesregierung bzw. den einzelnen Mitgliedern das Vertrauen, muss die Landesregierung in ihrer Gesamtheit bzw. das einzelne betroffene Regierungsmitglied zurücktreten (diese Option ähnelt dem österreichischen Modell auf Bundesebene). Andererseits können die Ämter des Ministerpräsidenten und Staatsoberhauptes gesplittet werden. In diesem Fall kann das Staatsoberhaupt direkt vom Landesvolk gewählt werden; der Ministerpräsident sowie evtl. die weiteren Minister sind von ihm zu ernennen und vom Landtag zu bestätigen. Entzieht das Landesparlament der Landesregierung bzw. einem einzelnen Regierungsmitglied ihr Vertrauen, kann das Landesstaatsoberhaupt entweder die Landesregierung bzw. das betroffene Regierungsmitglied des Amtes entheben oder dem Landtag nicht zustimmen und diesen auflösen (diese Gestaltungsvariationen stimmen eher mit dem französischen Muster überein). Die andere Auffassung stützt sich sowohl auf die fallbezogene Praxis des BVerfG365 als auch die verfassungsreale Lage in den deutschen Ländern, welche sich ausnahmslos für eine parlamentarische Regierungsweise entschieden haben, und geht davon aus, dass sich die Länder bei der Ausgestaltung ihrer Regierungssysteme innerhalb der bundesverfassungsrechtlichen Vorgaben für die parlamentarische Regierungsform frei bewegen dürfen und an die auf Bundesebene wahrgenommene Form der parlamentarischen Demokratie nicht zwingend gebunden sind. Die Quintessenz der parlamentarischen Regierungsweise besteht in der Verantwortung der Regierung gegenüber Parlament für ihre Tätigkeit und den Kontrollrechten des Parlaments. Der dem Landesparlament verantwortlichen Landesregierung müssen allerdings diejenigen Befugnisse verbleiben, die eine selbständige und funktionsfähige Vollziehung auf Landesebene durch die Regierung mit ihrer gleichzeitigen Verantwortung gegenüber Volk in Gestalt der Volksvertretung gewährleistet. Die Erfüllung dieser Regierungsfunktionen kann nur im Rahmen des homogenitätsbedürftigen parlamentarischen Regierungssystems in den deutschen Ländern gewährleistet werden.366
364
Vgl. BVerfGE 9, 268, 281. Vgl. BVerfGE 9, 268, 281; 27, 44, 56. 366 Vgl. Isensee, in: HStR VI, 2008, § 126 Rn. 83; Dittmann, in: HStR VI, 2008, § 127 Rn. 19; Tettinger, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG II, 4. Aufl. 2000, Art. 28 Rn. 43; Kloepfer, Verfassungsrecht I, § 9 Rn. 101, 113. 365
C. Gegenwärtige Tendenzen
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bb) Die Bildung der Landesregierung Die oberste Leitung der Vollziehung in den Ländern wird der Landesregierung (dem Senat in den deutschen Stadtstaaten und dem Stadtsenat in Wien) zugetraut. Die Landesregierung besteht aus dem Vorsitzenden (dem Ministerpräsidenten in den deutschen Flächenstaaten, dem Landeshauptmann in den österreichischen Bundesländern, dem Regierenden Bürgermeister in Berl, dem Präsidenten des Senats in Brem, dem Ersten Bürgermeister in Hamb und dem Bürgermeister in Wien), seinen Stellvertretern und weiteren Mitgliedern. Während in Deutschland die Bestimmung des Kreises der Regierungsmitglieder und ihrer Zahl vollkommen dem Landesverfassungsrecht überlassen wurde, zählt das österreichische B-VG die bestimmten Mitglieder der Landesregierung auf (Art. 101 III), derer Zahl aber auch durch die Landesverfassungsgesetzgebung festgestellt wird. Anders als in den österreichischen Ländern, wo unter „weiteren Mitglieder[n]“ der Landesregierung die Landräte (für Wien Stadträte), welche dem Wesen ihres Amtes nach mit Ministern gleichbedeutend sind, zu verstehen sind, können in den deutschen Bundesländern zu den „weiteren Mitgliedern“ der Landesregierung auch Staatssekretäre367 und Staatsräte368 zählen. Für eine parlamentarische Regierungsform entschieden sich alle deutschen Länder in Anknüpfung an das grundgesetzliche Demokratieverständnis und alle österreichischen Länder von Bundesverfassungs wegen. Der Grundpfeiler der parlamentarischen Demokratie ist die Verantwortlichkeit der Regierung gegenüber dem Parlament, was stärksten Ausdruck in der Wahl und Abwahl der Regierung findet. Sowohl die deutsche als auch österreichische Bundesverfassung gibt den Ländern einen weit gesteckten Rahmen für die verfahrensrechtliche Ausgestaltung der Regierungsbildung sowie -abberufung.369 Während in allen österreichischen Bundesländern alle Regierungsmitglieder vom Landtag zu wählen sind, was aus der Bundesverfassung abgeleitet wird (Art. 101 I, III B-VG), erfolgt die parlamentarische Kreation der Landesregierung in den bundesdeutschen Ländern nur noch in Brem durch die Wahl aller Regierungsmitglieder (Art. 107 II LVerf). In den anderen deutschen Gliedstaaten ist die Mitwirkung des Landesparlaments an der Bildung der Landesregierung institutionell schwächer ausgeprägt. So wird in den sieben „alten“ Ländern der Regierungschef von der Volksvertretung gewählt, er ernennt die weiteren Mitglieder der Landesregierung, die aber noch der parlamentarischen Bestätigung oder Zustimmung bedürfen (Art. 46 II, III BadWürttVerf; Art. 45, 46 BayVerf; Art. 34 I, II HambVerf [seit 1996]; Art. 101 II 2, IV HessVerf; Art. 29 II, III NdsVerf; Art. 98 II RhPfVerf; Art. 87 I SaarlVerf). In allen „neuen“ und zwei „alten“ Bundesländern sowie in Berl ist das Regierungsbildungsverfahren an das Bundesmodell angelehnt: Das Landesparlament wählt nur den Regierungschef, der allein die 367
Vgl. Art. 45 II 4 BadWürttVerf; Art. 43 II BayVerf. Vgl. Art. 45 II 2 BadWürttVerf; Art. 107 I BremVerf; Art. 47 HambVerf. 369 Vgl. Menzel, Landesverfassungsrecht, S. 443; Dittmann, in: HStR VI, 2008, § 127 Rn. 19; Herdegen, in: HStR VI, 2008, § 129 Rn. 34. 368
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weiteren Regierungsmitglieder formalrechtlich unabhängig vom Parlament beruft (Art. 56 I, II 1 BerlVerf [seit 2006]; Art. 83, 84 BrandbgVerf; Art. 42, 43 MecklVVerf; Art. 52 NRWVerf; Art. 60 IV SachsVerf; Art. 65 III SachsAnhVerf; Art. 26 II SchlHVerf; Art. 70 III, IV ThürVerf). Die Mitglieder der Regierungen in den österreichischen Ländern müssen zum Landtag wählbar sein, aber diesem nicht angehören (Art. 101 II B-VG). Die gleiche Regel gilt in Brem: Die Senatsmitglieder können nicht gleichzeitig der Bürgerschaft angehören (Art. 108 I LVerf). Umgekehrt fordert die nordrhein-westfälische Landesverfassung, dass der heimische Landtag „aus seiner Mitte“ den Ministerpräsidenten wählt (Art. 52 I LVerf); die weiteren Regierungsmitglieder betrifft diese Regel nicht. Die Verfassungen von BadWürtt (Art. 46 I 2) und Bay (Art. 44 II) enthalten zusätzliche Anforderungen zum Lebensalter des Kandidaten zum Ministerpräsidenten und seiner Wählbarkeit zum Landtag (nur in BadWürtt). In den übrigen deutschen Landesverfassungen sind keine gesonderten Anforderungen zu den Regierungsmitgliedern vorgesehen, was bedeutet, dass auch Nichtparlamentarier als Mitglieder der Landesregierung gewählt werden können. Den bundesdeutschen und österreichischen Ländern wurde die Ausgestaltung der konkreten Form der Regierungsbildung bundesverfassungsrechtlich frei gelassen (! S. 227 f., 286, 335 ff.). Der jahrzehntelang traditionell vorherrschende sog. Proporz bei der Zusammensetzung der österreichischen Landesregierungen (mit Ausnahme von Vbg) wurde aufgegeben. Dies wurde wegen der geänderten politischen Strömungen und Rahmenbedingungen (Ende der zweiparteiischen Parität von ÖVP und SPÖ in den Landtagen) bedingt und daher wurde die Proporzregierung im öffentlichen Diskurs oftmals negativ beurteilt. In den letzten zwei Jahrzehnten wurde das Proporzsystem in Slbg und Tirol (beide 1999), im Bgld (2014), in der Stmk (2015) und in Krnt (2017) abgeschafft und das System einer Mehrheitsregierung eingeführt370, wonach die stimmenstärkste Partei zu Koalitionsgesprächen über die Regierungsbildung die weiteren Landtagsparteien einladen oder selbst eine Alleinregierung bilden kann. Demgemäß verbleibt das Proporzsystem nur in NÖ, OÖ und teilweise in Wien. Die verfassungspolitischen Argumente für und wider Mehrheits- oder Proporzregierung wurden in der Fachliteratur ausreichend dargestellt.371 Bundesverfassungsrechtlich ist es dem Landesverfassungsgeber freigestellt, 370 Vgl. Institut für Föderalismus (Hrsg.), 39. Bericht über den Föderalismus in Österreich (2014), Wien 2015, S. 7, 36; 40. Bericht über den Föderalismus in Österreich (2015), S. 37 f. 371 Vgl. Pernthaler, Reform der Verfassung in den Ländern, S. 8 f.; dazu auch ders., Mehrheitsregierung: Eine neue Chance für Demokratie und Parlamentarismus in den Ländern?, in: Journal für Rechtspolitik, 1999, H. 7, S. 202 ff.; Mühlböck, Armin/Neunherz, Alexander/ Strasser, Andreas/Tyma, Christine, Föderalismus in Österreich – Jänner 2002 bis Februar 2003: Zwischen Stillstand und Umbruch, in: Europäisches Zentrum für Föderalismus-Forschung Tübingen (Hrsg.), Jahrbuch des Föderalismus 2003: Föderalismus, Subsidiarität und Regionen in Europa, Baden-Baden 2003, S. 217 ff.; Fallend, Franz, „Der Proporz muss weg!“: Zur aktuellen Verfassungsreformdebatten in den österreichischen Bundesländern, in: Europäisches Zentrum für Föderalismus-Forschung Tübingen (Hrsg.), Jahrbuch des Föderalismus 2015: Föderalismus, Subsidiarität und Regionen in Europa, Baden-Baden 2015, S. 278 ff.
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aufgrund der länderspezifischen Eigenarten und konkreten Staatsrechtskultur eine entsprechende Entscheidung für eine der Formen der Regierungsbildung zu treffen. Die Bildung einer funktionsfähigen Landesregierung obliegt dem Landesparlament. In fünf deutschen Ländern ist der Landtag aufzulösen, wenn der Ministerpräsident binnen einer von der Landesverfassung bestimmten Frist nach dem Zusammentritt des neugewählten Landtages (Art. 83 III BrandbgVerf) oder nach der sonstigen Erledigung des Amtes des Ministerpräsidenten (bspw. Rücktritt des Amtsvorgängers) nicht gewählt wird (Art. 47 BadWürttVerf; Art. 44 V BayVerf372; Art. 87 IV SaarlVerf; Art. 60 III SachsVerf). cc) Die Abwahl der Landesregierung Die das parlamentarische Regierungssystem kennzeichnende Abhängigkeit der Regierung vom Vertrauen der Volksvertretung schlägt sich v. a. in den sog. Ablösungsmechanismen nieder: Wenn die Regierung wegen ihrer Tätigkeit die Unterstützung der Parlamentsmehrheit verspielt, kann sie auf Initiative von Parlamentsmitgliedern (sog. Misstrauensvotum) oder eigeninitiativ (sog. Vertrauensfrage) vom allgemeinen Vertretungskörpern abgewählt werden. Typisch für das parlamentarische Regierungssystem ist die dem Parlament eigeräumte verfassungsrechtliche Zuständigkeit, die politische Geschäftsführung der Regierung zu überprüfen. Eine eventuelle Regierungsabwahl durch Misstrauensvotum als Mittel der politischen Kontrolle des Landesparlaments über die amtierende Landesregierung ist mit Ausnahme Bay in den Verfassungen aller deutschen und österreichischen Bundesländer vorgesehen. Die Länder können diesen Ablösungsmechanismus verfassungsrechtlich abweichend von der Bundesverfassung (vgl. Art. 67 GG und Art. 74 B-VG) regeln, wovon sie auch bevorzugt Gebrauch machen.373 Fast alle deutschen Landesverfassungen stimmen mit der grundgesetzlichen Benennung des Regierungschefs als ausschließlicher Adressat des Misstrauensvotums überein. Nur in Brem (Art. 110 I LVerf) und formal in RhPf (in Art. 99 I LVerf geht es um den Ministerpräsidenten, die Landesregierung und die Minister) kann sich der Misstrauensantrag gegen die gesamte Landesregierung richten. Die Verfassungen von fünf österreichischen Gliedstaaten (Krnt, Slbg, Stmk, Tirol und Vbg) bezeichnen nach dem bundesverfassungsrechtlichen Muster die Landesregierung als Adressat des parlamentarischen Misstrauensvotums. In den übrigen Ländern Österreichs wird als solcher der Landesregierungschef benannt. In der Tat spielt dieses sprachliche „Jonglieren“ keine praktische Rolle: Wenn das Parlament dem Vorsitzenden der Landesregierung das Vertrauen entzieht, bedeutet dies den 372
Nur bei Tod oder Rücktritt des Vorgängers i. S. v. Art. 44 IV LVerf und nicht bei der Wahl eines Ministerpräsidenten nach Zusammentritt des neuen Landtags nach Art. 44 I LVerf. 373 Vgl. Dreier, in: Dreier, GG-Kommentar II, 3. Aufl. 2015, Art. 28 Rn. 58 (auch Fn. 258); Nierhaus, in: Sachs, Grundgesetz, 7. Aufl. 2014, Art. 28 Rn. 15.
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Amtsverlust der gesamten Regierung; wenn der gesamten Regierung das Vertrauen entzogen wird, führt dies unbedingt auch zum Ausscheiden des Regierungschefs aus dem Amt. In beiden Fällen läuft dies auf das gleiche Ergebnis hinaus: die vorzeitige Amtsbeendigung aller Mitglieder der Landesregierung. In den Verfassungen BadWürtt (Art. 56), Brem (Art. 110 I), RhPf (Art. 99 I, IV)374 und aller österreichischen Länder ist die Möglichkeit eröffnet, auch andere Regierungsmitglieder ihres Amtes durch Misstrauensvotum zu entheben. Eine solche verfassungsrechtliche Option, die auf Bundesebene in Österreich vorgesehen ist (Art. 74 I B-VG) und im deutschen GG allerdings fehlt, gibt den Volksvertretungen in den Gliedstaaten eine echte Möglichkeit, die Tätigkeit der Regierungsmitglieder einzelner Geschäftsbereiche wirksam zu kontrollieren.375 Die Folge der parlamentarischen Abwahl einzelner Regierungsmitglieder ist grundsätzlich ihr sofortiger Rücktritt. Nur in BadWürtt (Art. 56 LVerf) muss der Ministerpräsident auf Beschluss des Landtages das betroffene Regierungsmitglied aus dem Amt entlassen. Das Verfahren des Misstrauensvotums kann gemäß den landesverfassungsrechtlichen Vorschriften auf drei Arten geschehen: 1) Die meisten nach dem GG erlassenen deutschen Landesverfassungen schreiben die Regierungsabwahl durch ein sog. konstruktives Misstrauensvotum vor. In Anlehnung an Art. 67 GG wird das Misstrauensvotum an die Fähigkeit des Landesparlaments zur gleichzeitigen (oder binnen einer kurzen Frist) Wahl einer neuen Landesregierung bzw. eines neuen Regierungsmitglieds geknüpft.376 2) Die Landtage der meisten österreichischen Gliedstaaten knüpfen nach dem oberstaatlichen Muster den Regierungssturz nicht an die gleichzeitige Wahl eines Regierungsnachfolgers: Durch ein einfaches (oder destruktives) Misstrauensvotum erfolgt die Abwahl des regierenden Kollegiums, ohne gleichzeitig eine Neuwahl der Landesregierung zu erfordern. Diese Landesverfassungen lassen somit einen schlichten Vertrauensentzug zu. 3) In Berl, Brem, Hess, RhPf und Saarl sowie in NÖ und OÖ ist ein sog. suspensives Misstrauensvotum landesverfassungsrechtlich vorgesehen. Es bedeutet, dass die Abberufung der Landesregierung getrennt vom Akt der Regierungsbildung erfolgt, aber die Wahl der neuen Regierung binnen einer bestimmten Frist stattfinden muss. Nach Sven Leunig kann dies als „gestaffelt-konstruktives Misstrauensvotum“ bezeichnet werden, „da die Neuwahl eines Ministerpräsidenten innerhalb eines bestimmten Zeitraums wie beim konstruktiven Misstrauensvotum notwendig ist, will der Landtag nicht seine eigene Auflösung riskieren“377.
374 375 376 377
Bis 2006 auch in Berl (Art. 57 II 1 a. F. LVerf). Vgl. Herdegen, in: HStR VI, 2008, § 129 Rn. 44. Vgl. Herdegen, in: HStR VI, 2008, § 129 Rn. 42. Leunig, Die Regierungssysteme, S. 192.
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Dass die Regierung selbst die Vertrauensfrage vor dem Landesparlament stellen darf, ist charakteristisch für den Bund und einige deutsche Länder; das österreichische Bundes- sowie Landesverfassungsrecht kennt dieses Instrument nicht. Ähnlich wie der Bundeskanzler (Art. 68 GG) können die Ministerpräsidenten in Brandbg (Art. 87 LVerf), Hamb (Art. 36 LVerf), MecklV (Art. 51 LVerf), SachsAnh (Art. 73 LVerf), SchlH (Art. 36 LVerf) und Thür (Art. 74 i. V. m. Art. 75 II LVerf) sowie die Landesregierung „in ihrer Gesamtheit“ im Saarl (Art. 88 LVerf) aus eigener Initiative die Vertrauensfrage stellen. Hierfür können verschiedene Motive ausschlaggebend sein: Die Vertrauensfrage kann zur Disziplinierung der eigenen (Koalitions-)mehrheit im Landesparlament gestellt werden378 oder als „Waffe“ des Regierungschefs bei einer von ihm erwünschten Parlamentsauflösung dienen, wenn wegen des Koalitionszerfalls die Bereitschaft oder die Fähigkeit der Volksvertretung, die Regierungspolitik zu unterstützen, fehlt379. Die rechtlichen Folgen einer negativen Antwort auf die Vertrauensfrage unterscheiden sich von Land zu Land, sie sind aber für beide Beteiligten – Parlament und Regierung – gravierend. Nur im Saarl (Art. 88 I 2 LVerf) und in Thür (Art. 75 II LVerf) muss die Landesregierung bei dem abgelehnten Vertrauensantrag unverzüglich zurücktreten. Wenn die Parlamentsmehrheit in MecklV (Art. 51 LVerf) und SachsAnh (Art. 73 LVerf) die Vertrauensfrage mit „Nein“ beantwortet, löst der Präsident des Landtages auf Antrag des Ministerpräsidenten die Volksvertretung auf, wenn der Landtag aber binnen einer bestimmten Frist einen neuen Ministerpräsidenten nicht gewählt hat. Findet die Vertrauensfrage keine Zustimmung der Parlamentsmehrheit in Brandbg (Art. 87 LVerf) und SchlH (Art. 36 LVerf) und der Landtag wählt zugleich keinen anderen Ministerpräsidenten, dann hat der Ministerpräsident das Recht, die Legislaturperiode des Landtages vorzeitig zu beenden (zwischendurch kann der Landtag in Brandbg sich selbst auflösen; nur wenn er diese landesverfassungsrechtliche Gelegenheit nicht nutzt, wird er durch den Ministerpräsidenten aufgelöst). Solche fachterminologischen Konstruktionen („… hat der Ministerpräsident das Recht …“ [Art. 87 S. 2 BrandbgVerf] sowie „… kann der Ministerpräsident …“ [Art. 36 I 1 SchlHVerf]) lässt darauf schließen, dass dem Ministerpräsidenten nur eine Möglichkeit landesverfassungsrechtlich geboten wird, das Landesparlament aufzulösen. Der Ministerpräsident kann z. B. über die negative Antwort auf seine Vertrauensfrage erstaunt sein und nach gewissem Überdenken entscheiden, den Rücktritt seiner Regierungsmannschaft zu erklären. Interessante Lösungen bietet die hamburgische Landesverfassung: Im Fall der negativ beantworteten Vertrauensfrage kann die Volksvertretung binnen eines Monats nach Eingang des Vertrauensantrags 1) einen neuen Ersten Bürgermeister wählen, 2) dem amtierenden Ersten Bürgermeister nachträglich das Vertrauen aussprechen oder 3) sich selbst auflösen (Art. 36 I HambVerf). 378
Vgl. Leunig, Die Regierungssysteme, S. 197. Vgl. Stiens, Andrea, Chancen und Grenzen der Landesverfassungen im deutschen Bundesstaat der Gegenwart, Berlin 1997, S. 154. 379
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dd) Die verfassungsrechtliche Stellung des Landesregierungschefs Der Ministerpräsident in den deutschen Ländern bzw. der Landeshauptmann in den österreichischen Ländern spielt eine besondere verfassungsrechtliche und -politische Rolle im Staatsleben des jeweiligen Gliedstaates. Für sein Amt ist in verfassungsrechtlicher Hinsicht eine Mehrfunktionalität charakteristisch. Als Regierungsmitglied ist ihm nach allen deutschen bzw. österreichischen Landesverfassungen die Vorsitzführung in der Landesregierung ausdrücklich vorbehalten.380 Die Stellung des Regierungschefs innerhalb des Kabinetts ist unterschiedlich stark. Nur in Brem und Wien stellt der Senat ein aus den gleichrangigen Mitgliedern bestehendes Kollegium dar, in dem der Regierungschef nur als „primus inter pares“ fungiert. Der Bürgermeister hat den Vorsitz im Senat und Leitung seiner Geschäfte (Art. 115 II BremVerf; § 40 WStV), die Aufgabe der Landesregierung als Kollegium bleibt aber die Geschäftsverteilung zwischen einzelnen Mitgliedern (Art. 120 i. V. m. Art. 115 II und 118 IV BremVerf; § 132 I i. V. m. § 46 WStV). In Brem steht die Führungsfunktion der Verwaltung „nach […] den von der Bürgerschaft gegebenen Richtlinien“ sowie die Vertretungsfunktion allein dem Senat und nicht dem Bürgermeister zu (Art. 118 I 1, 2 LVerf). In Wien vertritt aber allein der Bürgermeister als Landeshauptmann von Bundesverfassungs wegen (Art. 105 I 1 B-VG) das Land (§ 135 I 1 WStV). In den weiteren deutschen bzw. österreichischen Ländern hat der Regierungschef eine beherrschende Stellung innerhalb der Landesregierung. In den deutschen Gliedstaaten ist der Ministerpräsident landesverfassungsrechtlich berechtigt, die Minister zu berufen und zu entlassen; dabei ist die Möglichkeit der Mitwirkung der Volksvertretung daran unterschiedlich stark verankert (! S. 385 f.). Die beherrschende Position des Ministerpräsidenten gründet sich auch auf seine Kompetenz, die Richtlinien der Politik bzw. die Regierungspolitik zu bestimmen.381 Im Rahmen dieser sog. Richtlinienkompetenz des Ministerpräsidenten leiten die weiteren Regierungsmitglieder die ihnen zugewiesenen Geschäftsbereiche (Ressorts) eigenständig und eigenverantwortlich.382 Einige Landesverfassungen enthalten besondere Bestimmungen bezüglich der ausschließlichen Kompetenz des Ministerpräsidenten 380
17. 381
Für Österreich vgl. Steiner, Landeshauptmann, in: Pürgy, Das Recht der Länder I, Rn. 4,
Art. 49 I BadWürttVerf; Art. 47 II BayVerf; Art. 58 II BerlVerf [bedarf aber der Bewilligung des Abgeordnetenhaueses]; Art. 89 BrandbgVerf; Art. 42 I 2 HambVerf; Art. 102 S. 1 HessVerf; Art. 46 I MecklVVerf; Art. 37 I 1 NdsVerf; Art. 55 I NRWVerf; Art. 104 S. 1 RhPfVerf; Art. 91 I 1 SaarlVerf; Art. 63 I SachsVerf; Art. 68 I SachsAnhVerf; Art. 29 I 1 SchlHVerf; Art. 76 I 1 ThürVerf; vgl. dazu Menzel, Landesverfassungsrecht, S. 446; Pestalozza, Einführung, in: Pestalozza, Verfassungen, Rn. 129. 382 Art. 49 I 4 BadWürttVerf; Art. 51 I BayVerf; Art. 58 V 1 BerlVerf; Art. 89 BrandbgVerf; Art. 42 II 1 HambVerf; Art. 102 S. 2 HessVerf; Art. 46 II MecklVVerf; Art. 37 I 2 NdsVerf; Art. 55 II NRWVerf; Art. 104 S. 2 RhPfVerf; Art. 91 II SaarlVerf; Art. 63 II SachsVerf; Art. 68 II SachsAnhVerf; Art. 29 II SchlHVerf; Art. 76 I 2 ThürVerf; vgl. dazu Herdegen, in: HStR VI, 2008, § 129 Rn. 51.
C. Gegenwärtige Tendenzen
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(vgl. Art. 58 BerlVerf; Art. 76 I i. V. m. Art. 78 ThürVerf). Anders wiederum sehen einige Landesverfassungen spezielle Kataloge mit Materien zur kollegialen Entscheidung in der Landesregierung vor (Art. 49 II BadWürttVerf; Art. 42 II 2 HambVerf; Art. 37 II NdsVerf; Art. 64 I SachsVerf; Art. 68 III SachsAnhVerf; Art. 76 II ThürVerf). Darin prägt sich das Zusammenspiel der kollegialen und monokratischen Organisationsgrundsätze aus.383 Mit Ausnahme Brem und Wien bewegen sich die deutschen und österreichischen Länder zwischen zwei Systemen. Zum Teil entschieden sich die Bundesländer (Berl, Brandbg, MecklV, NRW, SchlH und Thür, vorbehaltlich auch Sachs und SachsAnh) für ein starkes Kanzlerprinzip, wonach der Ministerpräsident wie der Bundeskanzler eine führende Rolle innerhalb der Regierung hat und es ein Übergewicht zugunsten des monokratischen (Ressort-) Systems bei der inneren Organisation der Landesregierung gibt. In anderen deutschen (BadWürtt, Bay, Hamb, Hess, Nds, RhPf und Saarl) und österreichischen (Bgld, Krnt, OÖ, Slbg, Stmk, Tirol und Vbg) Länder ist ein „Mischmodell“ vorhanden, wonach eine Bilanz der Kollegial- und Ressortprinzipien in den Landesverfassungen zum Tragen kommt. Die besondere Stellung des Regierungschefs wird allerdings nicht nur allein durch seine Vorsitzfunktion und (in Deutschland überwiegend landesverfassungsrechtlich verankerte, in Österreich faktisch bestehende und aus der impliziten Eigenschaft des Landeshauptmannes als ressortführendes Regierungsmitglied abgeleitete384) Richtlinienkompetenz bedingt, sondern auch wegen seiner Funktion der Vertretung des jeweiligen Landes nach außen. Während in Brem (Art. 118 I 2 LVerf),385 Hamb (Art. 43 S. 1 LVerf) und NRW (Art. 57 S. 1 LVerf)386 die Außenvertretung bei der Landesregierung in ihrer Gesamtheit liegt, wird in den österreichischen Ländern von Bundesverfassungs wegen (Art. 105 I 1 B-VG; ! S. 341 ff.) und in den restlichen deutschen Gliedstaaten nach den Landesverfassungen die Vertretungsbefugnis ausschließlich dem Vorsitzenden der Landesregierung eingeräumt. Durch die Ausstattung mit der Funktion der Außenvertretung ähnelt der Landesregierungschef dem Bundespräsidenten, der als Staatsoberhaupt bestimmte Repräsentations- und Integrationsbefugnisse ausübt. Da auf Landesebene das Amt des Staatsoberhauptes nicht vorgesehen wird (! S. 278 ff., 342 ff.), fungiert in allen österreichischen und den meisten deutschen Bundesländern der Landeshauptmann bzw. der Ministerpräsident 383 Für Österreich neuerlich vgl. VfSlg 18402/2008; Steiner, Wolfgang, Landesregierung, in: Pürgy, Das Recht der Länder I, Rn. 17. 384 Vgl. Esterbauer, Demokratiereform, S. 10; Steiner, Landeshauptmann, in: Pürgy, Das Recht der Länder I, Rn. 5. 385 In Brem ist der Präsident des Senats oder sein Stellvertreter zur Abgabe von rechtverbindlichen Erklärungen für die Freie Hansestadt Bremen ermächtigt (Art. 118 I 3 LVerf). 386 In NRW kann die Landesregierung diese Vertretungsbefugnis allerdings auf den Ministerpräsidenten, ein anderes Regierungsmitglied oder nachgeordnete Stellen (gemeint hier sind „Behörden auf allen Verwaltungsebenen des Landes, soweit sie nur eindeutig Weisungsbefugnissen der Landesregierung oder eines ihrer Mitglieder unterworfen sind.“ Tettinger, in: Löwer, Wolfgang/Tettinger, Peter J. (Hrsg.), Kommentar zur Verfassung des Landes Nordrhein-Westfalen, Stuttgart u. a. 2002, Art. 57 Rn. 17) übertragen (Art. 57 S. 2 LVerf).
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Kap. IV: Die Wiedererrichtung der Bundesstaatlichkeit
als faktisches Landesoberhaupt, dem landesverfassungsrechtlich neben der Vertretungsfunktion auch einige andere klassische Befugnisse des Staatsoberhauptes wie Unterzeichnung der Staatsverträge und Begnadigungsrecht übertragen sind. In diesem Sinne ist der verfassungsrechtliche Status des Ministerpräsidenten bzw. des Landeshauptmannes im Vergleich mit dem Bundeskanzler verfassungspolitisch viel stärker, weil dieser nicht nur allein der Regierungschef, sondern auch das Staatsoberhaupt des jeweiligen Landes ist, was in gewissem Maße seine Dominanz in der Vollziehung und auch der Gesetzgebung vorbestimmt.387
387 Vgl. Herdegen, in: HStR VI, 2008, § 129 Rn. 49 f.; Pestalozza, Einführung, in: Pestalozza, Verfassungen, Rn. 129; Menzel, Landesverfassungsrecht, S. 445 f.; Dreier, in: Dreier, GG-Kommentar II, 3. Aufl. 2015, Art. 28 Rn. 58; Esterbauer, Demokratiereform, S. 10.
Zusammenfassung Die vorangegangene Rekonstruktion des entstehungsgeschichtlichen Ganges der theoretischen und normativen Gestaltung des strukturellen (organisationsrechtlichen) Homogenitätsgebotes in Deutschland und Österreich im Vergleich hatte zum Ziel, drei Schlüsselfragen der innerstaatlichen Homogenitätsproblematik zu beleuchten, deren Antworten historisch und mit Rücksicht auf die nationalstaatlichen und -rechtlichen Besonderheiten der beiden deutschsprachigen Länder entsprechend unterschiedlich ausfielen. Zum einen ging es darum, was unter der strukturellen Homogenität, die zuerst als eine Idee in der germanischen Staatslehre entstanden ist und danach ihre rechtliche Verankerung als Normativbestimmung erhielt, zu verstehen ist (Wesen des strukturellen Homogenitätsgebotes). Zum anderen sollte herausgearbeitet werden, inwieweit das in der Bundesverfassung enthaltene bundesstaatliche Homogenitätsgebot die Selbständigkeit der Gliedstaaten auf dem Gebiet der Staatsorganisation determinieren und einschränken darf (Tragweite des strukturellen Homogenitätsgebotes). Anschließend wurde untersucht, welche besonderen Merkmale der konkreten normativen Gestaltung der tragenden Staatsstrukturprinzipien (Republikanismus, Demokratie und Gewaltenteilung) für die Staatsorganisation der deutschen und österreichischen Bundesländer aus der bundesverfassungsrechtlichen Homogenitätsklausel zu entnehmen sind (Erscheinungsformen des strukturellen Homogenitätsgebotes). 1. Vor dem Hintergrund des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation als ersten Archetypus eines zusammengesetzten Staatskörpers (Bundesstaates) entstand im 17. Jahrhundert die germanische Bundesstaatslehre. Von Anfang an gingen die Stammväter dieser Lehre davon aus, dass in einem zusammengefügten Staatsgebilde (sei es ein Bundesstaat oder ein Staatenbund) eine organisatorische Harmonie zwischen dem Ganzen und seinen Einheiten vorhanden sein muss, um eine gewisse Festigkeit dieses komplexen Gebildes zu gewährleisten (Hugo, Pufendorf). Eine solche innere Harmonie wäre durch eine bestimmte Ähnlichkeit der Verfassungsordnungen innerhalb des Gesamtkörpers zu erreichen. Nur mit einer Ausnahme (Pütter) hielten die meisten Staatsrechtler die Notwendigkeit einer Gleichförmigkeit der Gliedstaaten untereinander und mit dem Ganzen für eine der wesentlichen Eigenschaften des zusammengesetzten Staatsgebildes (Hugo, Behr). Unter einer solchen Gleichförmigkeit (der Begriff wurde interessanterweise erstmals von Pütter verwendet) versteht man nichts anderes als eine bundesstaatliche Homogenität. Um ein gewisses Maß an Gleichheit (Waitz) sämtlicher Glieder des Bundesstaates zu erreichen, bedarf es einer rechtstechnischen Verankerung dieses Erfordernis in der Bundesverfassung. Dies begründet aber nicht nur das Recht des Gesamtstaates in Gestalt des Oberstaates, die organisatorische Selbständigkeit der Gliedstaaten durch
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ein normativ gestaltetes Homogenitätsgebot einzuschränken, mit der korrespondierenden Pflicht der Gliedstaaten, dieses bundesverfassungsrechtliche homogenitätsbedürftige Gebot einzuhalten, sondern auch den Anspruch der bundesstaatlichen Glieder auf die Gewährleistung dieser innerstaatlichen Gleichförmigkeit seitens des Oberstaates (Behr). Daraus folgt eine zweifache Rechtsnatur des bundesstaatlichen Homogenitätsgebotes, die beiderseitige Rechte und Pflichten sowohl des Bundes als auch der Länder bedingt. Nach der primären Ausarbeitung der Idee einer für das zusammengesetzte Staatsgebilde notwendigen inneren Gleichförmigkeit wurde in der Mitte des 19. Jahrhunderts der erste Versuch unternommen, das Homogenitätsprinzip normativ zu verankern. Schon aber die ersten Verfassungsurkunden (die FRV für das ganze Deutschland und der KVE für Österreich als Teil des Deutschen Bundes), die jedoch letztlich nie in Kraft traten, stellten de facto bereits Blaupausen für die normative Regelung des Erfordernisses der strukturellen Homogenität in den späteren deutschen bzw. österreichischen Bundesverfassungen dar. Während die FRV ein bundesstaatliches Homogenitätsgebot ausdrücklich festlegte (§§ 186 f., 195), welches die allgemeinen Konturen für die Staatsorganisation der deutschen Einzelstaaten vorgab, enthielt der KVE keine explizit formulierte generelle Homogenitätsforderung an die Verfassungsstrukturen der österreichischen Länder, sondern nur eine Reihe von Einzelnormen (§§ 4 f., 34 f., 102 ff.), die die Organisation der Staatsgewalt auf Landesebene sehr weitgehend vorbestimmte. Die Gründung des Deutschen Reiches als ersten monarchischen Bundesstaates und das Fehlen entsprechender Homogenitätsvorschriften in der RV von 1871 waren Auslöser für eine weitere theoretische Diskussion in der germanischen Bundesstaatslehre, und zwar bezüglich der Frage, ob für das Bestehen eines zusammengesetzten Staatskörpers eine Gleichartigkeit zwischen den Machtstrukturen des Oberstaates und der Gliedstaaten vorhanden sein sollte (Westerkamp). Aus dem Fehlen der homogenitätsbedürftigen Normativbestimmungen in der RV folgte aber nicht, dass dem Staatsbau des Deutschen Kaiserreichs das Homogenitätsprinzip nicht zugrunde gelegt wurde. Dieses Beispiel zeigte, dass es eine Unterscheidung zwischen der angestrebten Homogenität innerhalb des Bundesstaates, welche durch die formalrechtlichen Vorschriften gewährleistet wird (wie in der FRV), und der faktischen Homogenität der Binnenstruktur, welche mittels anderer Instrumente (nämlich des monarchischen Prinzips im Bismarckschen Reich) erreicht werden kann (Nieding). Daraus folgte der Schluss, dass für ein reibungsloses Funktionieren eines Bundesstaates allein die normative Verankerung der Homogenitätsforderung in der Bundesverfassung (was nach Preuß für alle damals moderne Bundesverfassungen charakteristisch war) ungenügend ist; die entsprechenden bundesverfassungsrechtlichen Bestimmungen über eine gewisse Gleichförmigkeit der Verfassungsordnungen der Gliedstaaten mit der gesamtstaatlichen Verfassungsordnung müssen unbedingt mit dem tatsächlichen Vorhandensein der innerstaatlichen Homogenität übereinstimmen (Nawiasky).
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Der Untergang der beiden Monarchien im Jahr 1918 und die Ausrufung der föderativen Republiken in Deutschland und Österreich bedingten ein theoretisches Umdenken der Rolle der Homogenitätsforderung für die freistaatliche Bundesstaatsordnung. Das bundesverfassungsrechtliche Homogenitätsgebot wurde als ein demokratisches Instrument zur Erreichung einer weitgehenden Gleichartigkeit der Verfassungssysteme innerhalb des republikanischen Bundesstaates betrachtet (Anschütz, Thoma, Preuß, Koellreutter, Wittmayer). Als „substanzielle Gleichartigkeit“ (Schmitt, Forsthoff) verstandene Rechtskategorie muss die Homogenität eine harmonische Existenz des Gesamtstaates gewährleisten und zugleich bedingen. Daher stellt die Homogenität eine der wesentlichen Voraussetzungen der Bundesstaatlichkeit dar: Ist diese substanzielle Gleichartigkeit vorhanden, dann fungiert der Bundesstaat als eine rechtliche und politische Einheit. Wegen der Verdoppelung des staatlichen Lebens innerhalb des Bundesstaates liegt das Ziel des bundesverfassungsrechtlichen Homogenitätsgebotes nicht nur in der Prävention und Lösung der „Konflikte des täglichen Betriebs“ (Lerche), sondern auch in der Verhinderung der Entstehung eines etwaigen „existenziellen Konfliktsfalls“ (Schmitt). In diesem Sinne kommt der normativen Homogenitätsforderung eine verfassungsschützende und konfliktverhütende Funktion zu. Diese verfassungsschützende Funktion des bundesstaatlichen Homogenitätsgebotes entfaltet sich auf zweierlei Weise: Zum einen bindet die bundesverfassungsrechtliche Homogenitätsklausel zwecks der Staats- und Rechtseinheit des Gesamtstaates die Organisationshoheit der Gliedstaaten an die gemeinsamen Staatsstrukturprinzipien. Zum anderen muss das innerstaatliche Homogenitätsgebot die konstitutionelle Gestaltungsfreiheit der Gliedstaaten nur in dem Umfang einschränken, soweit dies für die Gewährleistung der Funktionsfähigkeit des Gesamtkörpers erforderlich ist. In diesem Sinne bildet das bundesverfassungsrechtliche Homogenitätsgebot auch eine inhaltliche Schranke für den Oberstaat (d. h. die Selbstbeschränkungsfunktion der normativen Homogenitätsklausel). Die Gliedstaaten sind verpflichtet, ihre Verfassungen unter Berücksichtigung der homogenitätsbedürftigen Vorschriften der Bundesverfassung selbst zu gestalten. Bezüglich der eigenen Staatsorganisation müssen die Landesverfassungen anknüpfend an die bundesverfassungsrechtliche Homogenitätsklausel die Organbildung, -besetzung und -zuständigkeiten regeln. In Deutschland wurde bzw. wird das bundesstaatliche Homogenitätsgebot (Art. 17 I WRVund Art. 28 I GG) auf die Weise verankert, dass die Länder bei der Institutionalisierung ihrer Staatssysteme nur an die grundlegenden Prinzipien der Gesamtrechtsordnung gebunden sind. Die konkrete Erfüllung dieser Verpflichtung wurde ihrem Ermessen überlassen. Im österreichischen B-VG wurden auch im Interesse einer innerstaatlichen Homogenität gewisse Schranken hinsichtlich der Staatsorganisation der Länder gesetzt. Im Unterschied zu deutschen Verfassungsurkunden wird das Homogenitätsprinzip in Österreich nicht in Gestalt eines generellen Homogenitätserfordernisses normativ verankert, sondern findet seine Ausprägung in den zahlreichen und ausführlichen Einzelvorschriften des B-VG (Art. 95 ff., besonders Art. 99 I); in diesem Fall spricht man von einem komplexen Homogenitätsgebot.
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Wenn dem Gesamtstaat zwecks der staatlichen und rechtlichen Einheit des Staatsgebildes sowie seiner Funktionsfähigkeit bestimmte normative Eingriffe in den Gestaltungsspielraum der Gliedstaaten (gemeint ist v. a. das bundesverfassungsrechtliche Homogenitätsgebot) erlaubt sind, schließt sich daran die theoretische Frage an, inwieweit dieses Erfordernis der innerstaatlichen Gleichförmigkeit zwischen den Machtstrukturen der Gliedstaaten und des Gesamtstaates durchgreifend sein darf. 2. Schon früh erkannte die germanische Bundesstaatslehre an, dass das Erfordernis der innerstaatlichen Homogenität keine absolute Gleichförmigkeit bedeutet. Durch die Bundesverfassung wird sowohl dem Oberstaat als auch den Gliedstaaten eine eigene Machtsphäre eingeräumt werden, innerhalb welcher es Handlungsfreiheit gibt. Die Gleichförmigkeit zwischen den Machtsphären innerhalb des Bundesstaates ist nur in den Grundlagen und den Hauptbestandteilen der Staatsorganisation zu erreichen (Behr). Die Gestaltungsspielräume des Oberstaates und der Gliedstaaten werden verfassungsrechtlich in dem Umfang eingeschränkt, soweit ein „gesundes Mittelmaß“ der bundesstaatlichen Gleichheit gesichert wird (Waitz). Da die Gliedstaaten innerhalb eigener Machtsphären die Staatsgewalt ausüben, wird ihnen bei der Konkretisierung der inneren Staatsorganisation freie Hand gelassen, was keine Aufhebung der Gesamtstaatlichkeit bedeutet (Behr, Jellinek). Für die Funktionsfähigkeit des bundesstaatlichen Gesamtkörpers ist ein gewisses Maß an Homogenität notwendig. Die Organisationshoheit der Gliedstaaten kann eingeschränkt werden, soweit die Bundesverfassung dies explizit bestimmt oder zulässt. Wie aber diese homogenitätsbedürftigen einschränkenden Vorschriften ausgestaltet werden, hängt von der konkreten Bundesverfassung und nationalen Rechtskultur ab. Hier sind zwei normtechnische Modalitäten möglich: Entweder bestimmt die Bundesverfassung in Bezug auf die Staatsorganisation der Gliedstaaten nur die Grundsätze vor oder diese Staatsstrukturprinzipien sind noch durch die weiteren detaillierten Vorschriften (Grundmuster) zu ergänzen. Sowohl in der Weimarer Republik als auch in der Bundesrepublik entschied sich der Verfassungsgeber für die erste Modalität: In diesem Fall stellt das bundesstaatliche Homogenitätsgebot als Normativbestimmung gewisse „Rahmenbedingungen“ oder „Richtlinien“ (Anschütz) für die Staatsorganisation der Länder dar, innerhalb welcher sich der Landesverfassungsgeber frei bewegen kann. Dabei handelt es sich um die Verpflichtung der Länder, sich bei der Selbstorganisation an die grundlegenden Staatsstrukturprinzipien der Gesamtrechtsordnung, die in der Bundesverfassung verankert sind, zu halten. Die konkrete Ausformung der staatsstrukturellen Grundsätze wird den Landesverfassungen überlassen. Das bundesverfassungsrechtliche Erfordernis der innerstaatlichen Gleichförmigkeit der Verfassungsstrukturen hat das deutsche BVerfG als „Mindestmaß an Homogenität“ bezeichnet. Anders als die deutschen Verfassungsurkunden, die nur die Strukturvorgaben für die Staatsorganisation auf Landesebene bestimmten, enthält das österreichische B-
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VG zahlreiche konstitutive Bestimmungen bezüglich des inneren Staatsaufbaus der Bundesländer. Die in der Ersten und später Zweiten Republik herrschende Bundesstaatslehre (vertreten v. a. durch die Wiener Schule des Rechtspositivismus) ging davon aus, dass die Vorschriften des 4. Hauptstücks des B-VG bloß die Grundzüge für die österreichischen Landesverfassungen darstellen. Diese Herangehensweise teilte auch der österreichische VfGH, der die Auffassung vertritt, dass die kraft des Homogenitätsprinzips in den Gegenstand des Bundes- und Landesverfassungsrechts fallenden Sachverhalte in jeder Landesverfassung durch nicht identische, sondern dem Bundesverfassungsrecht gleichartige Vorschriften geregelt werden müssen. Das Problem aber besteht darin, dass das B-VG selbst durch seine homogenitätsbedürftigen Normativbestimmungen (Art. 95 ff.) die Grenzen für die Organisationshoheit so eng zieht, dass den Ländern tatsächlich ein geringerer Gestaltungsfreiraum übrigbleibt. Wegen der Bindung der Staatsorganisation auf Landesebene nicht nur an die bundesverfassungsrechtlichen Grundsätze, sondern auch an die konkreten organisationsrechtlichen Vorschriften der Bundesverfassung, in denen diese Grundsätze ihre Entfaltung finden, verfügen die österreichischen Länder im Vergleich zu den deutschen Gliedstaaten nur über einen begrenzten Zuständigkeitsbereich auf dem Gebiet der eigenen Staatsorganisation. Die unterschiedlichen Herangehensweisen zur normtechnischen Ausgestaltung des Homogenitätsgebotes im deutschen und österreichischen Verfassungsrecht bedingen Merkmale, die jeweils nur für das eine oder das andere Bundesstaatsmodell charakteristisch sind. Allerdings gibt es eine Reihe von Besonderheiten, die das strukturelle (organisationsrechtliche) Homogenitätsgebot nach dem deutschen GG und dem österreichischen B-VG ungeachtet der unterschiedlichen historischen und nationalrechtlichen Umstände miteinander verwandt machen. 3. Die grundlegende Eigenschaft, die dem bundesverfassungsrechtlichen Homogenitätsgebot in Deutschland und Österreich immanent ist, ist das Erfordernis der Homogenität der Staats- und Regierungsformen. Es gehört zu den grundlegenden Kategorien der germanischen Bundesstaatslehre und entstand zusammen mit und anknüpfend an die Homogenitätsidee. Lange Zeit gab es aber keine Unterscheidung zwischen der Homogenitätsanforderung an die Staatsformen einerseits und die Regierungsformen andererseits. Es war anerkannt, dass ein stabiles, auf Dauer ausgerichtetes zusammengesetztes Staatswesen nur in dem Fall denkbar wäre, wenn seine Teileinheiten dieselbe Staatsform wie der Gesamtstaat haben (Pufendorf). Nicht alle Stammväter der germanischen Bundesstaatslehre erkannten aber die Notwendigkeit einer organisationsrechtlichen Homogenität der Existenzformen der Glieder des zusammengesetzten Staatskörpers an. Ausgehend vom Beispiel des Alten Deutschen Reiches wurde in der faktischen Heterogenität der Regierungsformen in den Gliedstaaten – sei es eine Erb- oder Wahlmonarchie, hansestädtische Republik oder Aristokratie (hier lag offensichtlich eine Begriffsverwechslung der Staats- und Regierungsformen vor) – keine potenzielle Gefahr für die Gesamtordnung gesehen (Pütter).
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In der Zeit des fast überall herrschenden Monarchismus wurde für den zukünftigen gesamtdeutschen Bundesstaat die Monarchie als ideale Staatsform betrachtet. Die Existenz republikanischer Einzelstaaten innerhalb des monarchischen Bundesstaates würde die Stabilität und Einheit des Gesamtstaates gefährden. Zugleich wäre auch ein Zusammenschluss der Republiken zu einem dynastischen Gesamtkörper undenkbar (Gagern). Genauso wurde im Lichte der Idee der monarchischen Bundesstaatlichkeit Großdeutschlands (welche ihren Niederschlag später im Deutschen Kaiserreich gefunden hat) die klassische Regel der inneren Homogenität der Existenzformen formuliert: Laut dieser müssen die Staatsformen der Gliedstaaten mit der entsprechenden Staatsform des Gesamtstaates übereinstimmen, während die Regierungsformen der Gliedstaaten von der gesamtstaatlichen Regierungsweise abweichen können (Treitschke). Diese Formel entstand unter den Bedingungen der damaligen Gegenüberstellung der Monarchie und der Republik als zwei grundsätzlich unterschiedliche Existenzformen der Nationalstaaten. Die konkrete Ausgestaltung dieser Staatsformen (gemeint ist die Regierungsweise) auf Bundes- und Landesebene hatte nur eine untergeordnete Bedeutung. Für das Wesen des Bundesstaates ist die Homogenität der Staatsformen innerhalb des Gesamtstaates vorteilhaft, aber nicht unbedingt notwendig (Waitz). Dieser Gedanke könnte in der bundesverfassungsrechtlichen Regel zum Tragen kommen, dass die Staatsform eines Gliedstaates nur mit der Zustimmung des Oberstaates geändert werden darf (diese Möglichkeit wurde normativ zuerst in der FRV und danach in der RV verankert). Das Vorhandensein unterschiedlicher Staatsformen der Gliedstaaten wäre allerdings für den Gesamtkörper nachteilig. Zugleich zweifelte Waitz daran, dass innerhalb derselben Staatsform eine gewisse Homogenität der Regierungsformen zu erreichen wäre. Jellinek hielt die Staatsform (sei es eine monarchische oder eine republikanische) des Gesamtstaates als eine absolute Schranke für die Gliedstaaten. In Anlehnung an seine Gewaltenteilungslehre sprach er sich für die parlamentarische Regierungsform in den bundesstaatlichen Gliedern aus. Man kann behaupten, dass genau in der kaiserdeutschen Bundesstaatlehre das Erfordernis der Homogenität nicht nur der Staats-, sondern auch Regierungsformen, wonach sich die Gliedstaaten bei der Gestaltung ihrer Regierungssysteme an dem oberstaatlichen Muster orientieren sollten, verortet wurde. Mit dem Zerfall des Monarchismus in Europa und der entsprechenden Änderung im rechtlichen Paradigma der Bundesstaatlichkeit in Deutschland und Österreich rückte der republikanische Grundsatz in den Vordergrund. In Anlehnung an Montesquieus Volkssouveränitätslehre im Allgemeinen und an Jellineks Staatslehre im Besonderen forderte Schmitt von den Ländern die gleiche Staatsform wie bei dem Gesamtstaat; dabei ist die Staatsform einer demokratischen Republik zwingend. Seinerseits überließ Kelsen die Entscheidung über eine konkrete Staatsform des Bundesstaates (sei es eine ständische oder konstitutionelle Monarchie bzw. eine repräsentativ-demokratische oder direktdemokratische Republik) der Bundesver-
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fassung; diese Wahl ist aber auch den Gliedstaaten zur Pflicht gemacht. Interessanterweise sprachen die beiden großen Staatsrechtler explizit nur von der Homogenität der Staatsformen; die Gleichförmigkeit der Regierungsformen wurde demnach unberücksichtigt gelassen. Normtechnisch wurde die Forderung nach der Homogenität der Staats- und Regierungsformen innerhalb des Bundesstaates auf folgende Weise ausgestaltet: In Österreich gingen bzw. gehen die Verfassungspraxis und die dortige Bundesstaatslehre vom repräsentativ-demokratischen Grundsatz aus, also von einer Republik mit überwiegend parlamentarischer Form der Demokratieausübung. In Bezug auf die Länder fordert das österreichische B-VG ausdrücklich eine parlamentarische Regierungsform (vgl. Art. 101 I, III B-VG). Tatsächlich stimmt die Regierungsform der österreichischen Länder mit der Regierungsweise des Bundes nicht vollkommen überein: Der Bundespräsident wird seit 1925 direkt vom Volk gewählt (Art. 60 I BVG), ihm ist ein Teil der Verwaltungsgeschäfte übertragen (Klausel des Art. 69 I 1 BVG) und er ist bei der Berufung der Bundesregierung formalrechtlich an das Ergebnis der Nationalratswahl nicht gebunden (Art. 70 I B-VG). All dies erlaubt die Schlussfolgerung, dass auf Bundesebene in Österreich keine klassische parlamentarische Regierungsform (nach der in dieser Arbeit vertretenen Auffassung handelt es sich in diesem Fall eher um eine schwache semipräsidentielle Republik) vorhanden ist, während von den Ländern bundesverfassungsrechtlich jedoch die Ausgestaltung eines „reinen“ parlamentarischen Regierungssystems gefordert wird. Die WRV schrieb den reichsdeutschen Ländern eine republikanische Staatsform vor („freistaatliche Verfassung“ nach Art. 17 I 1). Aus dem Erfordernis einer der des Vertrauens der Volksvertretung bedürftigen Landesregierung (Art. 17 I 3 WRV) war nach damals herrschender Meinung eine auch für die Länder obligatorische parlamentarische Regierungsform abzuleiten. Im Schrifttum wurde aber auch die Auffassung vertreten, dass die deutschen Reichsländer das Amt eines Staatspräsidenten (in Analogie zum Reichspräsidenten) einführen und entsprechend die eigenen Regierungssysteme nicht nach dem Muster einer parlamentarischen Demokratie ausgestalten konnten. Diese Ansicht gewann mit der Verabschiedung des bundesdeutschen GG weitere Befürworter: Art. 28 I GG fordert von den verfassungsmäßigen Ordnungen der deutschen Länder die Einhaltung u. a. des republikanischen Grundsatzes; zugleich fehlt im GG eine mit Art. 17 I 3 WRV vergleichbare Norm, welche die Landesregierung vom Vertrauen des Landesparlaments abhängig gemacht hätte. Das Fehlen einer expliziten Vorschrift im Besonderen und die etwaigen Interpretationsmöglichkeiten des Homogenitätsgebotes des Art. 28 I GG im Allgemeinen lassen Raum für Zweifel an der eindeutigen Gebundenheit der Verfassungsordnungen der deutschen Länder an die parlamentarische Regierungsweise. Aufgrund der modernen Verfassungsdogmatik und -praxis lässt sich feststellen, dass das bundesverfassungsrechtliche Homogenitätsgebot mindestens die Forderung nach der Gleichförmigkeit der Staatsformen innerhalb des Bundesstaates enthält. Die Möglichkeit der Nichtübereinstimmung der Regierungsformen der Gliedstaaten
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untereinander und mit der Regierungsform des Gesamtstaates ist verfassungsrechtlich ausdrücklich nicht ausgeschlossen und wäre daher durchaus denkbar. Während aber die österreichischen Länder eindeutig an die parlamentarische Regierungsweise bundesverfassungsrechtlich gebunden sind, können die deutschen Länder ihre Regierungsformen nicht ausschließlich an das gesamtstaatliche Vorbild binden, sondern auf unterschiedlichen Arten ausgestalten (zulässig wäre die Einführung einer präsidialen oder semipräsidentiellen Republik in den bundesdeutschen Gliedstaaten). In der Tat orientieren sich die deutschen Landesverfassungen an dem grundgesetzlichen Regierungssystem und haben auch die klassische parlamentarische Regierungsform übernommen. In Anknüpfung an das Erfordernis der normativen bzw. faktischen Homogenität der Regierungsformen entsteht bei der Gestaltung der Regierungssysteme der Länder die Problematik möglicher Abweichungen vom Regierungssystem des Bundes, welche ihren Niederschlag besonders in der möglichen Einführung des Amtes eines Landesstaatsoberhauptes bzw. der Wahl des Regierungschefs nicht vom Landesparlament sowie der Errichtung des Landesparlaments nach dem Zweikammersystem findet. Diese staatsorganisationsrechtlichen Möglichkeiten sind für die normative Gestaltung sowie theoretische Aufklärung des bundesstaatlichen Homogenitätsprinzips für die beiden Bundesstaatsmodelle charakteristisch und in beiden Ländern seit Jahren diskutierbar. Ausgehend vom normativen Inhalt der Forderung nach der Homogenität der Staats- und Regierungsformen werden diese Optionen der abweichenden Staatsorganisation auf Landesebene in Österreich fast einhellig abgelehnt, während in Deutschland deren praktische Durchsetzung (bspw. der frühere preußische bzw. bayerische Senat als zweite Parlamentskammer) und theoretische Begründung zulässig sind bzw. denkbar wären. 4. Ungeachtet der gemeinsamen Grundlage in Gestalt des Alten Deutschen Reiches und des parallelen Entwicklungsganges der Staatlichkeit ging das bundesstaatliche Homogenitätsgebot in Deutschland und Österreich unterschiedliche Wege. Die normative Gestaltung des Homogenitätsprinzips in den deutschen und österreichischen Verfassungsurkunden des 20. Jahrhunderts spiegelt diese historischen und nationalrechtlichen Gegebenheiten wider. Zwecks der innerstaatlichen Homogenität werden durch ein bundesverfassungsrechtliches Homogenitätsgebot die Rahmen für die Verfassungsautonomie und Staatsorganisation der Gliedstaaten vorgegeben. Bei dem Staatsaufbau sind die Länder an die homogenitätsbedürftigen Vorschriften der Bundesverfassung gebunden. Während aber das österreichische BVG für die Staatsorganisation der Bundesländer vergleichsweise enge Grenzen zieht (Art. 95 ff.), lässt Art. 28 I GG wegen des Rahmencharakters der bundesverfassungsrechtlichen Formulierung die tatsächliche Bandbreite der Homogenitätsforderung an die Staatsorganisation der deutschen Länder nur ex post erkennen, da die Bindung der Organisationshoheit der Gliedstaaten an die grundlegenden Staatsstrukturprinzipien viele Interpretationsmöglichkeiten eröffnet. Da das bundesverfassungsrechtliche strukturelle Homogenitätsgebot die Vorgaben für die Staatsorganisation der Länder gibt, also die Grundlagen des inneren Staatsaufbaus der
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Bundesglieder betrifft, ist die Sinndeutung dieses Gebotes im Unterschied zu den Fällen des Bundeszwangs, welcher von den Bundesorganen bei der Nichterfüllung durch die Gliedstaaten ihrer bundesverfassungsrechtlichen Verpflichtungen eher des operativen Charakters (wie bspw. Ausübung der Zuständigkeiten im Rahmen der bundesstaatlichen Kompetenzverteilung) ausgeübt wird, vom gesamtstaatlichen Verfassungsgericht nur aus nachträglicher Sicht festzustellen, ob es also seitens des jeweiligen Gliedstaates eine Verletzung der bundesstaatlichen Homogenitätsforderung gab. In der Tat verhalten sich, wie es die frühere und gegenwärtige Landesverfassungsgesetzgebung zeigt, die deutschen Länder bezüglich ihrer Selbstorganisation sehr vorsichtig und orientieren sich überwiegend an dem oberstaatlichen Gewaltenteilungsmodell, obwohl das normative Homogenitätsgebot dies nicht erfordert und einen größeren Gestaltungsspielraum einräumt. In Anbetracht dieser weitgehenden faktischen Übereinstimmung der Staatsorganisation der deutschen und österreichischen Länder mit der Staatsorganisation des Bundes und der Tatsache, dass die jüngsten für die Homogenitätsproblematik wesentlichen Entscheidungen der beiden Verfassungsgerichte zufälligerweise im Jahr 2001 getroffen wurden (BVerfGE 103, 111; VfSlg 16241/2001), stellt sich die Frage, ob das bundesstaatliche Homogenitätsgebot in Bezug auf die Staatsorganisation der Länder ein unentbehrliches und wirklich funktionierendes Institut oder eher einen Rechtsmechanismus „im Schlafmodus“, welcher allein im Fall der Entstehung eines „extremen Konfliktsfalls“ im Sinne Schmitts innerhalb des Bundesstaates zur Anwendung gebracht werden soll, darstellt. Aufgrund der hier durchgeführten rechtshistorischen und -vergleichenden Untersuchung ist die Auffassung zu vertreten, dass das strukturelle (organisationsrechtliche) Homogenitätsgebot als Bestandteil der bundesverfassungsrechtlichen Homogenitätsforderung nicht allein dem Zweck der Konfliktverhütung und -bewältigung dient, sondern vielmehr der Gewährleistung der alltäglichen Funktionsweise des bundesstaatlichen Gemeinwesens dient und jede Partei (Länder und Bund) gegenüber rechtlichen Maßnahmen der jeweils anderen Partei, die durch die stark veränderliche politische Konjunktur bedingt werden könnten, absichern muss. Die aktuellen Tendenzen auf dem Gebiet der Landesstaatsorganisation (wie bspw. die aktuelle Diskussion in Deutschland um die Möglichkeit der Begrenzung der Amtszeit des vom Parlament gewählten Regierungschefs) verdeutlichen, dass die Homogenitätsproblematik in beiden Ländern noch großes sowohl theoretisches als auch praktisches Potenzial hat.
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Personen- und Sachverzeichnis Adamovich sen., Ludwig 217, 218, 226, 229, 231 ff., 340 Ahrens, Heinrich 113 Alexander I., russischer Kaiser 59 Allgemeinzuständigkeit (Klausel der Länderkompetenz) 300, 313, 318 Althusius, Johannes 42 Anschütz, Gerhard 165, 186, 202, 395, 396 Ausweis der Staatlichkeit 271, 272, 356 Behr, Wilhelm Joseph 62 ff., 393, 394, 396 Bismarck, Otto von 113, 121, 122 Bodin, Jean 38, 40, 44, 45, 47, 96, 128, 144, 239 Brie, Siegfried 43, 69, 118, 122, 126, 141 ff., 149, Bundestreue 200, 266 Dezentralisationstheorie 120, 237, 243, 246, 247, 252, 253, 294 ff., 304, 308, 310, 312 ff., 317, 318, 351 Drei-Elemente-Lehre 73, 106, 144, 241, 314, 353 Drei-Kreise-Lehre, Dreigliedrigkeit 134, 242, 252, 265, 266 Ermacora, Felix 296 ff., 307, 342 Ewigkeitsklausel, -regel 299, 356 Forsthoff, Ernst 32, 198 ff., 395 Franz Joseph I., österreichischer Kaiser 97, 156 Gagern, Friedrich von 74 ff., 398 Gebietskörperschaft 162, 216, 217, 239, 240, 244, 245, 255, 258, 261, 267, 289, 314, 317, 319, 351 Gleichartigkeit, Gleichförmigkeit 27, 32, 33, 55, 67, 87, 95, 108, 109, 122, 170, 195, 197, 198, 201 ff., 205, 206, 259, 272, 276, 307, 360 ff., 365, 366, 383, 393 ff., 399
Gönner, Nicolaus 59 ff. Gustav Adolf, schwedischer König 39 Hänel, Albert 131 ff., 141, 143 Held, Joseph 119, 120, 129, 138, 143 Homogenität der Staats- und Regierungsformen 47, 85, 86, 89, 108, 118, 143, 173, 180, 195, 196, 201, 247, 398 ff. Homogenitätsprinzip 28, 29, 32 ff., 97, 100, 123, 169, 187, 203, 220, 277, 282, 284, 289, 306, 307, 321, 322, 324 ff., 370, 394, 395, 397, 400 Hugo, Ludolph 42 ff., 51, 54, 393 Jellinek, Georg 73, 143 ff., 156, 158, 160, 164, 176, 190, 194, 202, 206, 239, 244, 314, 396, 398 Kaltenborn, Carl von 120 Kelsen, Hans 120, 188, 192, 210, 212, 216, 219, 222, 223, 226, 229, 231, 237 ff., 265, 295, 299, 302, 304, 308, 344, 354, 378, 398 Klüber, Ludwig 71 ff. Koja, Friedrich 303, 306, 308, 333, 334, 340, 342, 343, 345 Kompetenz-Kompetenz, Kompetenzhoheit 127, 135, 139, 189, 190, 193, 203, 204, 209, 244, 298, 300, 306, 310, 312, 313 Konformität und/oder Uniformität 32, 187, 273, 276, 284, 285, 294, 366 Kühne, Jörg-Detlef 82 ff., 261 Kulisch, Max 216, 217 Laband, Paul 135 ff., 141, 143, 148, 202 Leibniz, Wilhelm Gottfried 47 ff., 54 Lerche, Peter 29, 395 Lukas, Josef 217, 247 Mangoldt, Hermann von 260, 261, 263, 267, 268 Maunz, Theodor 276, 379
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Personen- und Sachverzeichnis
Mejer, Otto 119 Merkl, Adolf 211, 212, 219, 223, 226 ff., 245, 248, 250 Meyer, Georg 128, 129, 141, 202 Mindestmaß an Homogenität / Übereinstimmung 29, 31, 32, 34, 273, 274, 276, 322, 396 Misstrauensvotum 94, 185, 186, 187, 233, 287, 339 ff., 348, 387, 388 Mohl, Robert von 113, 116, 117 Montesquieu, Charles-Louis de 201, 298, 398 Naturrecht 36, 42, 43, 51, 53, 144, 145 Nawiasky, Hans 187 ff., 201, 206, 244, 252, 265, 394 Nieding, Kurt 83, 87, 123, 124, 394 Organisationshoheit, Selbstorganisation 115, 127, 130, 133, 135, 140, 150 ff., 161, 163, 167, 168, 172, 193 ff., 204, 206, 214, 217, 220, 222, 272, 273, 288, 324, 327, 328, 336, 350, 358, 359, 365, 366, 368, 370, 395 ff., 400 Pernthaler, Peter 308 ff., 343 Pesendorfer, Wolfgang 341 ff., 349 Pleines, Wolfgang 82, 87, 123, 124 Pouvoir constituant 176, 316, 317, 319, 320, 357, 358 Preuß, Hugo 164, 166 Preußisch-österreichischer (deutscher) Dualismus 49, 50, 56, 57, 70, 75, 95, 113, 114, 121, 155 Proporz 210, 231 ff., 292, 336, 337, 347, 386 Pufendorf, Samuel von 45 ff., 119, 132, 393, 397 Pütter, Johann Stephan 49 ff., 57, 60, 62, 110, 393, 397 Rechtspositivismus 135, 237, 244, 245, 247, 253, 295, 296, 300, 303, 397 Reine Rechtslehre 192, 299 Relative Verfassungsautonomie 303, 304, 306, 319, 322 Russland, Sowjetrussland, Sowjetunion 68, 161, 173, 174, 203, 257, 259, 278, 280, 289 ff.
Schlie, Ulrich 51, 53, 54 Schmid, Karl (Carlo) 28, 258, 259, 262, 263, 270 Schmitt, Carl 29, 83, 198 ff., 395, 398, 401 Schulze, Herrmann 113, 117, 129, 141 Selbstverwaltungskörper 104, 127, 129 ff., 138 ff., 150, 152, 157, 164, 165, 167, 194, 204, 211, 216, 217, 244, 245, 249 ff., 264, 267, 290, 292, 299, 311, 313, 316, 317, 324, 326, 355 ff. Staatenstaat 42, 51, 62, 110, 114, 119, 128, 136, 149, 189, 309 Staatenstaatstheorie 42, 44, 47, 49, 51, 62, 78, 105, 109, 113, 114, 126, 130, 131, 141, 148, 162, 164, 187, 188, 199, 213, 238, 239, 244, 252, 253, 264, 295, 300, 301, 309, 351, 353, 355 Strukturelle (organisationsrechtliche) Homogenität 30, 32, 101, 196, 393, 394, 397 Strukturelles (organisationsrechtliches) Homogenitätsgebot 7, 29, 30, 35, 90, 187, 195, 201, 222, 225, 247, 360, 363, 365, 368, 376, 393, 397, 401 Treitschke, Heinrich von 113 ff., 398 Über- und Unterordnung 42, 43, 132, 136, 137, 142, 145, 157, 188, 232, 241, 243, 252, 266, 274, 296, 306, 309 Ulbrich, Joseph 156, 158 Vertikale Gewaltenteilung / Gewaltentrennung 43, 87, 90, 97, 101, 255, 267, 268, 282, 324, 370 Vertrauensfrage 233, 341, 387, 389 Waitz, Georg 105 ff., 113, 115, 117, 118, 120, 126 ff., 130, 131, 143, 145, 146, 166, 188, 200, 214, 393, 396, 398 Weber, Karl 308 ff. Westerkamp, Justus 122, 127, 394 Wilhelm II., deutscher Kaiser 161 Zachariä, Heinrich 109 ff. Zöpfl, Heinrich 119, 120 Zweikammersystem 79, 92, 94, 177, 283, 288, 377 ff., 400